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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 2. August 1999 Betr.: Schröder, Orthografie, SPIEGEL-Leser

er Bundes- Dkanzler war gut drauf, als er im Garten eines Restaurants in Han- nover die Redak- teure Stefan Aust, 53, Jürgen Leine- mann, 62, und Hajo Schumacher, 35, zum Gespräch empfing. Widerstände und Kritik der vergange-

nen Wochen schie- SANDBERG T. nen Gerhard Schrö- Schumacher, Leinemann, Schröder, Aust der erst richtig motiviert zu haben – wie immer, wenn viele ihn eigentlich schon abgeschrie- ben haben. Beinahe sechs Stunden lang, Abendessen eingeschlossen, sprach der Kanzler über mögliche Wahlniederlagen, über die Vermögensteuer und, natürlich, auch über sein Verhältnis zu Oskar Lafontaine, vor dessen angekündigtem Buch Schröder kein bisschen Angst hat: „Das war noch nie gut, wenn jemand gegangen ist und denen, die schwere Arbeit machen, Steine ins Kreuz wirft“ (Seite 26).

eginnend mit dieser Ausgabe hält sich auch der SPIEGEL – weitgehend – an Bdie Regeln der neuen Rechtschreibung, obwohl er vor knapp drei Jahren (nicht ganz unernst) signalisiert hatte, er werde „die Reform ignorieren, es bleibt beim ge- wohnten Deutsch“. Warum? Zum einen, weil die „Reformer“ in der Zwischenzeit ihre eigene Reform noch einmal reformiert und einigen Schwachsinn beseitigt haben; zum anderen, weil, zeitgleich mit den Nachrichten- agenturen, nahezu alle deutschen Zeitungen und Zeit- schriften nun in Neu-Deutsch schreiben und der SPIEGEL nicht als Mahnmal gegen eine überflüssige Reform allein in der Presselandschaft stehen kann und will. Dieser durchaus ehrenvolle Rückzug erfolgt auf der Grundlage eines gemeinsam mit dem Verlag Gruner + Jahr erarbeiteten Katalogs, der keineswegs alle Formen der Re- former übernimmt. Dort etwa, wo zwischen verschiedenen Schreibweisen gewählt werden kann, wird der SPIEGEL meist die traditionelle Variante wählen – Portemonnaie statt Portmonee, selbständig statt selbstständig –, er wird, SPIEGEL-Titel 42/1996 entgegen den Vorschriften, bei Ableitungen von Per- sonennamen auch weiterhin den großen Anfangsbuchstaben benutzen (Grimmsche Märchen, das Ohmsche Gesetz) und nie so trennen, dass nur ein einzelner Buch- stabe am Ende einer Zeile steht. Ein Mißstand, pardon: Missstand, bleibt der ganze Reform-Unfug dennoch.

in herzliches Willkommen 430000 neuen SPIEGEL-Lesern. Sie sind, so besagt Ees die „Media-Analyse Trend Herbst 99“, seit dem Frühjahr dazu gekommen. Das machte den SPIEGEL zum klaren Trend-Gewinner bei den aktuellen Wochenmagazinen. Damit steigerte sich die Reichweite des SPIEGEL gegenüber der letzten Erhebung von 8,5 auf 9,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Danke.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 31/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Mallorca – die heimliche Invasion Schröders Warnung an die Linke Seiten 22, 26 der Deutschen ...... 120 Interview mit Balearen-Premier Francesc Der Streit um die Vermögen- Antich über den Ausverkauf der Insel...... 126 steuer wird zum Symbol-Kon- Wolf Schneider über Deutsche auf Mallorca.. 128 flikt zwischen Gerhard Schrö- Eine Bürgermeisterin kämpft der und den SPD-Linken. Im gegen Auswüchse des Billigtourismus...... 130 SPIEGEL-Gespräch ermahnt Verschärfter Naturschutz führt zur der Kanzler seine Kritiker, sein Enteignung ausländischer Hausbesitzer ...... 134 Reformprogramm nicht zu zer- reden: „Ich kann jeden nur Deutschland davor warnen auszubüxen.“ Panorama: Streit um schwefelarmes Benzin / Unterdessen meldet sich SPD- Rüstungsexporte werden einfacher ...... 17 Fraktionschef Struck mit einem Finanzpolitik: SPD-Fraktionschef fordert radikale Senkung des Spitzensteuersatzes ...... 22 SANDBERG T. Radikalvorschlag: Spitzensteu- Ist die Vermögensteuer verfassungswidrig?..... 24 Schröder ersatz runter auf 35 Prozent. Kanzler: SPIEGEL-Gespräch mit Gerhard Schröder über Kritik aus der SPD und Deutschlands neue Rolle in der Welt ...... 26 Wahlen: Saar-Ministerpräsident Reinhard Klimmt unter Zugzwang...... 32 Affären: Edmund Stoibers Verstrickung Stoiber im Immobiliensumpf Seite 34 in die Immobilienpleite ...... 34 CSU-Chef Edmund Stoiber gerät in den Sog der Affäre um die staatliche Immobilien- Verbrecher: Warum der bundesweit gejagte gesellschaft LWS. Dokumente zeigen: Gegen heftigen Widerstand trieb er sie in ver- Mörder Dieter Zurwehme fliehen konnte...... 36 lustreiche Ost-Geschäfte. Sein Siegerimage bekommt nun erstmals Schrammen. Kriminalität: Das Netz der Albaner-Banden.. 42 Wie sich albanische Clans mit der italienischen Mafia arrangierten ...... 50 Enteignung: Widerborstige Schwaben blockieren Neubau der Stuttgarter Messe...... 62 Europa: Szenarien für die Zukunft...... 66 Manager: Die Dame im Herrenclub Seite 82 Wirtschaft Erstmals steht eine Frau an der Spitze Trends: Aus für Deutsche-Bank-Direktorin eines Computerkonzerns: Carleton Seebacher-Brandt? / Handyfirma E-plus Fiorina, die neue Chefin des US-Un- vor dem Verkauf? / Labour-Politiker mahnt ternehmens Hewlett-Packard, hat den DGB-Chef zum Kurswechsel...... 71 Aufstieg in die Manager-Elite geschafft. Geld: Der Clou mit den Katastrophen- Sie ist die einzige Frau, die einen der Anleihen / WestLB-Direktorin 30 amerikanischen Topkonzerne an- Margot Schoenen über die Zitterbörse ...... 73 führt. Fast überall in der Hightech-In- Musikindustrie: Online-Pioniere dustrie ist die Chefetage eine frauen- attackieren Großkonzerne ...... 74 freie Zone. Selbst im Silicon Valley ist Europa: Spekulationsaffäre in der Hausbank der EU-Kommission...... 77 es nicht anders – und wird wohl auch

Investmentbanken: Interview mit Goldman- / CORBIS-OUTLINE CAMP E. J. so bleiben: Das Netzwerk der Old Sachs-Deutschland-Chef Paul Achleitner über Hewlett-Packard-Chefin Fiorina Boys schottet sich ab. Megafusionen und Arbeitnehmerängste ...... 78 Bierindustrie: Japans Erfolgsmarke „Super Dry“ soll Deutschland erobern...... 80 Aktien: Umstrittene Geschäfte beim Internet-Auktionshaus ricardo.de...... 81 Managerinnen: Wie frauenfeindlich ist Kampf um die Straße Seite 100 das Silicon Valley?...... 82 Inline-Skates sind die erfolgreichs- te Erfindung der Sportartikelindus- Medien trie am Ende dieses Jahrtausends. Trends: Preiskartell der Privatsender? / 50 Millionen Menschen weltweit Der Vertragspoker von Pro-Sieben-Chef bewegen sich auf dem Schuhwerk Georg Kofler...... 85 fort, 10 Millionen allein in Deutsch- Fernsehen: Killerjagd der TV-Reporter / „Tagesschau“ im Sommerloch ...... 86 land. Jetzt könnten sie zum größ- Vorschau...... 87 ten Feind deutscher Autofahrer Springer-Verlag: Junge Chefredakteure werden: Die Rollschuh-Freunde entrümpeln ihre Blätter ...... 88 kämpfen um die Gleichstellung mit Radio: Ufologe als Kultmoderator ...... 91 den Radfahrern auf der Straße. Ihr Sportgerät soll das alternative Fort- Gesellschaft bewegungsmittel der mobilen Ge-

Szene: Mode mit Engelsflügeln / sellschaft werden. DPA Schauspielerin Silvia Hoffmann über ihre Selbstvermarktung ...... 93 Inline-Skater (in am Main) Tourismus: Urlaubsflirt mit dem Tod ...... 94

6 der spiegel 31/1999 Sport Skating: Auf Rollschuhen ins neue Jahrtausend ...... 100 Fußball: Die qualvolle Mission der deutschen Nationalelf in Mexiko...... 104

Ausland

OKAPIA Panorama: Nahost – Arafats Hilferuf an Syrien / CIA – Nachspiel zum Angriff auf Fabrik im Sudan...... 107 Balkan: Wenig Begeisterung für den Stabilitätspakt...... 110 Kosovo: Russische Friedensstifter stoßen auf Widerstand...... 112 Interview mit einem niederländischen Söldner über den Kampf gegen die Serben ... 114 Trekking-Touristen, Bergung von Canyoning-Opfern Serben: Blutige Rache der Albaner ...... 115 China: Falun Gong und das Fieber der Heilserwartung ...... 118 Tödliches Vergnügen Seite 94 REUTERS Spiegel des 20. Jahrhunderts Hunderttausende von Deutschen suchen im Abenteuerurlaub Naturerlebnisse und Das Jahrhundert des Kommunismus Nervenkitzel, ob beim Trekking im Himalaja oder beim Hai-Tauchen in der Karibik Die fatale Überdehnung des – manchmal ein tödliches Vergnügen: Vergangene Woche starben in der Schweiz sowjetischen Weltreiches ...... 137 mindestens 19 Touristen, die beim Canyoning eine Schlucht bezwingen wollten. Standpunkt: Der Mythos Castro ...... 150

Kultur Szene: Italienische Tenöre in der Krise / Justus Frantz bittet um „Unterstützung“ ...... 153 Die neuen Paten Seite 42 Architektur: Aufbruchstimmung am Bauhaus Dessau ...... 156 In der Organisierten Kriminalität sind Clans Sachbuch: Ekel – die Geschichte aus dem Kosovo und aus Albanien die Aufstei- einer Empfindung...... 159 ger der neunziger Jahre. Ihre Netze ziehen sich Bestseller ...... 161 über weite Teile Europas. Allein aus Deutsch- Kino: Der russische Film entdeckt land transferieren Schattenbanken über eine den Alltag...... 164 Film: Die US-Komödie „EDtv“...... 166 R. HAVIV / SABA R. HAVIV Milliarde Mark im Jahr auf den Balkan. Festspiele: Politische Scharmützel um Bayreuth und Salzburg...... 168 Waffenräuber in Albanien Ausstellungen: Die Düsseldorfer Schau „Heaven“ zeigt, was „Kult“ ist...... 174

Wissenschaft + Technik Prisma: Bonner Forscher züchten Hirnzellen / Meisterträume im Bauhaus Dessau Seite 156 Die Malaria erobert das Hochland ...... 177 Prisma Computer: Museum mit digitalen Frischer Wind weht durch die musea- Exponaten / Lügendetektortechnik zur len Ruhmeshallen in Dessau. Das Bau- Seelenentspannung...... 178 haus, berühmteste Architektur- und Medizin: Neue Behandlungsstrategien Designschule des 20. Jahrhunderts, für Depressive ...... 180 hat einen neuen Chef: Omar Akbar Interview mit dem Psychiater will in dem zu DDR-Zeiten verschla- Wolfgang Gaebel über die Diskriminierung von psychisch Kranken ...... 182 fenen Institut eine neue Streitkultur Computerspiele: Ballerpartys in Turnhallen.. 185 schaffen und die Meisterklassen wie- Großforschung: Physiker wollen derbeleben. Sein Reformkonzept pro- Berliner Teilchenbeschleuniger in den fitiert auch von der Renovierung der Nahen Osten schicken...... 186

Meisterhäuser – und die sind über- / OSTKREUZ RÖTZSCH J. Psychologie: Wirbel um US-Studie zum raschend bunt. Bauhaus-Eingang in Dessau sexuellen Missbrauch ...... 190 Automobile: Mit dem offenen TT drängt Audi in die Roadster-Oberliga ...... 192

Schatten auf der Seele Seiten 180, 182 Briefe ...... 8 Impressum ...... 14, 196 Häufig als „schlechte Laune“ verkannt, ist Depression in Wahrheit eine qualvolle Leserservice ...... 196 Krankheit, die tragisch enden kann – durch Selbstmord. Weil sie das Stigma der Geis- Chronik...... 197 teskrankheit fürchten, suchen zu wenige Opfer medizinische Hilfe. Mit Aufklärung Register...... 198 und neuen, verträglicheren Medikamenten wollen Psychiater Abhilfe schaffen. Personalien...... 200 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 202

der spiegel 31/1999 7 Briefe

Unbequeme Wahrheiten „Diese Mischung aus wissen- Nr. 29/1999, Debatte: Ist die Rationierung der schaftlicher Feinarbeit und Medizin unausweichlich? Warum sagt denn keiner, dass in einer Welt, Pioniergeist der Schatzsucher in der jeder Nahrung, Kleidung und Woh- klingt nach einem der letzten nung hat, Gesundheit zum höchsten Gut wird, für das die Menschen bereit sind, ei- Abenteuer. Ich melde mich nen immer höheren Teil ihres Einkommens auszugeben. Der Hemmschuh ist die gleich in der Tauchschule an.“ Zwangsversicherung der überwiegenden Mehrheit, die die Kosten des Gesundheits- Marcus Mende aus Stuttgart zum Titel „Goldrausch im Ozean“ wesens zum Klotz am Bein der Löhne SPIEGEL-Titel 29/1999 macht. Die marktwirtschaftlich orientierte Medizin der USA ist nicht nur wesentlich teurer, sie ist auch weitaus erfolgreicher. zu ermitteln. So war es keine Besonderheit, Frankfurt am Main Joachim Grüner Nautisches Dauerdesaster dass Schiffe auf unvermittelt vor ihnen auf- Nr. 29/1999, Titel: Goldrausch im Ozean tauchende Riffe aufliefen oder Versor- Meine Hochachtung vor dem Mut von gungsstützpunkte meilenweit verfehlten. Herrn de Ridder und Herrn Dißmann, die- Ich soll Aktien von Firmen kaufen, die in Seedorf (Schlesw.-Holst.) Frank Hartmann se für die gesamte „Gesundheitsindustrie“ 2000 Meter Tiefe nach Schätzen suchen, unbequemen Wahrheiten anzusprechen. die 200 Jahre alt sind? Da kann ich mein Dass das Suchen und Bergen von Schiffen Eine Gesellschaft, die stets mehr Initiative Geld auch gleich in die Ostsee schmeißen. mit Wertladungen im Ozean nicht von Träu- und Verantwortung des Einzelnen fordert, Hamburg Kirsten Waldmann mern, sondern Spezialisten realisiert wird, gibt ausgerechnet die Verantwortung für beweisen die Anfragen von Unterwasserar- das höchste Gut, die eigene Gesundheit, Herzlichen Glückwunsch zu dem informa- chäologen und Geophysikern, die an Expe- leichtfertig in die Hände einer Milliarden tiven und differenzierten Bericht. Dazu ditionen teilnehmen möchten. „Schatzsu- machenden Medizin- und Pharmamaschi- wäre noch zu ergänzen, dass im Museum für che“ bedeutet neben der präzisen Recher- nerie, die dank abermillionen chronisch Kunst und Gewerbe Hamburg Kranker prächtig gedeiht. Wenn aber zu noch bis zum 22. August eine 90 Prozent die eigene Lebens- und Ausstellung zu dem Thema zu Ernährungsweise für eine gute Gesundheit sehen ist: „Franck Goddio’s verantwortlich sind, gleichzeitig die Zahl Schätze aus der Tiefe – der „Wohlstandskranken“ aber immer wei- Weißes Gold versunken – ent- ter zunimmt, stimmt doch die gesamte Ge- deckt – geborgen“. Die Schau sundheitspolitik nicht. Der Wahnsinn der zeigt chinesische Keramik des chemisierten, mit immer mehr Zusatzstof- 11. bis 16. Jahrhunderts aus fen belasteten Lebensmittel, des Einsatzes fünf chinesischen Dschun- tausender Medikamente mit unvorherseh- kenwracks, die Franck God- baren Langzeitschäden sollte schnellstens dio mit seinem Team vor der gestoppt werden. Das Wichtigste ist eine Küste der Philippinen gebor- Gesundheitserziehung. Die Einsparungen gen hat. 60 Monitore zeigen durch Vorbeugung wären enorm und könn-

die Taucher bei der Arbeit G. FOURNIER ten neue, nützliche Werte schaffen und und geben dem Besucher die Taucher am Fundort der Dschunke „Investigator“ nicht nur Vorhandenes „reparieren“. Möglichkeit, die Bergungen Weitgehend orientierungslos die Meere befahren Stahnsdorf (Brandenburg) Stefan Jaster zu verfolgen. Hamburg Cornelia Ewigleben che in den Archiven, den Einsatz hochent- Gesundheit lässt sich eben nicht gerecht ver- Museum für Kunst und Gewerbe wickelter Unterwassertechnik und EDV. teilen, da sie abhängig von der freiwilligen Wracksuche und -bergung mit den richti- Lebensgestaltung (Rauchen,Trinkgewohn- Hier wird noch einmal deutlich, welch Fas- gen Partnern kann heute ein seriöses und lu- heiten und so weiter) ist. Gesundheit muss zination noch heute von dem Untergang hi- kratives Business sein, das eine archäologi- als wesentlicher und teurer Lebensmotor storischer Schiffe ausgeht, vor allem, wenn sche Vorgehensweise nicht ausschließt. von allen anerkannt werden, das sollten be- wertvolle Fracht an Bord war. Besonders in- Oldenburg Olaf Lühring reits Schule und Elternhaus vermitteln. teressant sind die Ursachen für dieses nau- Marine Salvage Group Offshore Ltd. Friedrichstadt Dr. Felix-Rüdiger Giebler tische Dauerdesaster. Denn nicht nur Wind und Wellen, Kanonen oder technische Un- glücke führten zu dieser dramatischen Zahl Vor 50 Jahren der spiegel vom 4. August 1949 an Untergängen.Verantwortlich hierfür war Der italienische Großindustrielle Camillo Castiglioni verhandelt mit vielmehr die schlichte Tatsache, dass die Ka- Marschall Tito Über die Rückgabe Triests an Italien. Churchill wird der pitäne noch weit bis ins 18. Jahrhundert hin- Lüge bezichtigt Hatte er der Formel „bedingungslose Kapitulation“ ge- ein weitgehend orientierungslos die Meere genüber Nazi-Deutschland doch voll zugestimmt? Große Arbeitslosig- befuhren, auch wenn ihnen die besten Kar- keit in Australien Als Folge der Kraftprobe zwischen Regierung und Gewerkschaften beim Bergarbeiterstreik. Anklage gegen den Chemie- ten und Kompasse zur Verfügung standen. riesen Du Pont „Größte einzelne Konzentration industrieller Macht in Denn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gab den USA“. Trockenheit in Westeuropa Viel Sorgen um wenig Wasser. es keine wirklich verlässliche Methode, die Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Position eines Schiffes durch Bestimmung Titel: Italiens höchst bezahlter Filmstar Anna Magnani der geografischen Länge hinreichend exakt

8 der spiegel 31/1999 Werbeseite

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Werbeseite beitet wird. Jeder Angestellte, der unter Bedingungen, die Schüler manchmal ertragen müssen, arbeiten müsste, wür- de in einen unbefristeten Streik treten. Gießen Sven Fürle

Um der Schule fern bleibende Kinder davor zu bewahren, kriminell zu wer- den, ergreifen Polizisten diese, bringen sie wie Kriminelle auf ihr Revier, ver- hören sie und begleiten die Schüler schließlich zurück in ihre Klassen, wo sie dem Hohn und Spott der Mitschüler ausgesetzt sind. Das ist der pädagogi- sche Super-Gau. Denn nicht nur Dau- erschwänzer werden erwischt, sondern auch solche, die einmal, und das unter Umständen angetrieben durch andere, eine Schulstunde nicht besuchen. So wird Schuleschwänzen kriminalisiert.

A. KULL / VISION PHOTOS Dabei sollte man lieber die Ursachen Intensivstation: Geldwerte Konsequenzen erforschen. Polizisten dürfen niemals anstatt Pädagogen die Erziehung über- Mein Alptraum nach 20-jähriger freiberufli- nehmen. Denn Artikel 1 der Grundrechte cher Tätigkeit als Vertragsarzt sieht so aus: gilt auch für Schüler, deren Würde gleicher- Unvermeidlich gebiert jede Legislaturperi- maßen zu schützen ist. ode unter zunehmend heftigeren Geburts- Bensheim/Bergstraße Felix Sommer wehen zumindest eine Gesundheitsreform, die jedes Mal mehr oder minder offen von der Annahme ausgeht, dass Ärzte zu viel Zulässige Datenübermittlung verdienen, zu viel verordnen und es zu vie- Nr. 28/1999, Bonn/Moskau: Profitiert die Mafia vom le davon gibt. Wie schaffe ich es nichtsde- Datenaustausch der Sicherheitsbehörden? stowenigertrotz, den Konkurs als Kleinbe- trieb im Zukunftssektor Dienstleistung zu Sicher ist es richtig, dass man beim interna- vermeiden? Survival for the fittest or the tionalen Datenaustausch die Hoheit über fiesest? die Daten verliert. Das gilt auch gegenüber Isny (bayern) Dr. Wofgang Bensch Italien, Belgien oder Frankreich. Ist die Lö- sung angesichts der fortschreitenden Inter- Sowenig medizinischer Fortschritt ohne Ge- nationalisierung der Kriminalität keine Da- winnstreben und Risikobereitschaft der Ent- ten an das Ausland zu geben? Im Plutonium- wickler unmöglich ist, sowenig ist die Aus- Untersuchungsausschuss wurde deutlich, schaltung von Placebomedizin und von un- dass gerade das Misstrauen gegen russische sinniger Diagnostik ohne die Eigenverant- Behörden zum Import des Plutoniums ge- wortung und ohne die geldwerten Konse- führt hat, und gerade der SPIEGEL hat dan- quenzen für die realen oder eingebildeten kenswerterweise die potenzielle Gefähr- Patienten möglich. dung der Bevölkerung durch die fehlende Hilden (Nordrh.-Westf.) H. G. bollig Zusammenarbeit deutlich gemacht. Das Plu- tonium wäre nie hier gelandet, hätte es 1994 schon eine vertrauensvolle Zusammenar- Pädagogischer Super-Gau beit mit den russischen Polizeibehörden ge- Nr. 29/1999, Schulen: Polizei gegen Schwänzer geben. Wir können angesichts der Krimina- litätslage nicht ausschließlich auf den busch- Das ist ja wohl das Lächerlichste, was ich je trommelähnlichen Informationsaustausch gehört habe, dass Schuleschwänzen oft der über Interpol setzen. Beginn oder die Ursache einer kriminellen Bonn Frank Hofmann Karriere ist. Die liegt wohl eher im sozialen MdB/SPD Milieu oder am falschem Umgang. Ich bin Schulschwänzer, aber ich verkaufe keine Es wird suggeriert, Russland – und damit Drogen, erpresse niemanden, klaue nicht, zugleich die russische Mafia – erhalte von verprügele niemanden und knacke keine deutschen Strafverfolgungsbehörden In- Autos. Und dann soll ich mich von der formationen, die unter anderem US-ame- Polizei vorführen lassen dürfen? Da würde rikanischen Strafverfolgungsbehörden vor- ich beim Bundesverfassungsgericht klagen. enthalten blieben. Diese Darstellung ist in Neu-Ulm Simon Martin jeder Hinsicht falsch. Artikel 6 des Ab- kommens regelt ausführlich Fragen des Da- Erstaunt hat mich die Angabe, nur vier Pro- tenschutzes. Insbesondere kommt eine mille der Volks- und Sonderschüler seien Weitergabe von Informationen nicht in Fra- Dauerschwänzer. Das lässt darauf schließen, ge, sofern die Verhältnismäßigkeit nicht ge- dass bereits mit viel Druck und Angst gear- geben ist, oder „wenn die übermittelnde

12 der spiegel 31/1999 Briefe

Stelle Grund zur Annahme hat, dass da- durch gegen den Zweck eines innerstaatli- chen Gesetzes verstoßen würde oder schutzwürdige Interessen der betroffenen Personen beeinträchtigt würden“. Ferner wird der Eindruck vermittelt, „die strenge Zweckbindung“ der Daten werde durch das OK-Abkommen ausgehebelt.Aber ge- nau dies wird sowohl in dem unter daten- schutzrechtlichen Aspekten neu konzi- pierten BKA-Gesetz als auch durch Artikel 6 Absatz 2 des Abkommens gewährleistet. Die Entwicklung der Kriminalität in Euro- pa macht es notwendig, die polizeiliche Zusammenarbeit zu intensivieren. Mit Po- len, der damaligen ∏SFR, Ungarn, Bulga- rien, Rumänien, Weißrussland, Lettland, Ukraine, Kasachstan, Usbekistan und Kyrgystan konnten entsprechende Koope- rationsabkommen bereits in den zurück- liegenden Jahren unterzeichnet werden. Bei der Übermittlung personenbezogener Daten an die Russische Föderation besteht keine Informationspflicht, es erfolgt viel- mehr jeweils eine Einzelfallprüfung, wo- bei eine Übermittlung nur bei solchen Straftaten möglich ist, bei denen von einer Beteiligung international organisierter Kri- T. GEIGER / TANDEM T. Innenminister Schily, Bundesgrenzschützer Intensivere polizeiliche Zusammenarbeit minalität ausgegangen werden kann. Die Übermittlung von Daten aus dem Schen- gener Informationssystem ist unzulässig; Europol darf Daten an Drittstaaten aus- schließlich auf der Grundlage von Abkom- men übermitteln. Berlin Otto Schily Bundesminister des Innern

Völlig unbegründet Nr. 29/1999, Funktionäre: Fahnder beim NOK Es ist richtig, dass beim Nationalen Olym- pischen Komitee (NOK) und bei mir Haus- durchsuchungen vorgenommen worden sind. Es gibt aber keine Ermittlungen ge- gen Herrn Henze, den Generalsekretär des NOK, oder einen weiteren NOK-Ange- stellten. Der Verdacht gegen mich ist völ- lig unbegründet. Es sind keine Zahlungen geleistet worden, die meinen Wechsel vom Posten des NOK-Generalsekretärs zum NOK-Präsidenten beträfen. Frankfurt am Main Walther Tröger Präsident des NOK

der spiegel 31/1999 Briefe

Bönningstedt – Paradies habe bei der Recherche für diverse TV-Do- für Senioren und Haus- kumentationen bereits vor mehr als zehn frauen. Hier hat ihr Le- Jahren einige der in Ihrem Bericht erwähn- ben wieder einen Sinn. ten Materialien im damaligen Staatlichen Ob lauernd hinter der Filmarchiv der DDR einsehen und auswer- Gardine oder verbor- ten können. Auch die erwähnte „Konzert- gen zwischen gestutzten lager“-Sequenz ist in meinem 1991 ausge- Hecken, gemeinsam strahlten TV-Feature „Totentanz – Kabarett verteidigen die Bieder- hinter Stacheldraht“ enthalten. Die inkri- männer ihre Insel der minierte Äußerung des Fernsehansagers Glückseligkeit gegen wird zudem fälschlicherweise dem seiner- marodierende Brand- zeit populären Kabarettisten und Schau- stifter und Raubritter. spieler Willi Schaeffers in den Mund gelegt. Hasloh (Schlesw.-Holst.) Schaeffers, einstiger Freund jüdischer Emi- Hannes Schmidt granten wie Kurt Tucholsky und Rudolf

R. JANKE / ARGUS R. JANKE Nelson, war zwar 1938 von Goebbels zum Bönningstedter Nachbarn: Freieres Lebensgefühl Die Nachbarschaftskon- Chef des renommierten Berliner „Kabarett trolle hat auch was für der Komiker“ gemacht worden, allerdings sich. Auch in Holland gibt es diese sozialen war er zu keinem Zeitpunkt Mitglied der Vorgeschobene Sorge? Kontrollen. Es wird mit deutlich sichtbaren NSDAP. Nach meinen Recherchen wurde Nr. 29/1999, Kriminalität: Angst in der Provinz – Schildern darauf hingewiesen und erzeugt die erwähnte Ansage 1938 in der TV-Sen- Nachbarn schieben Wache bei Anwohnern ein freieres Lebensgefühl. dung „Bunte Veranstaltung des Fernseh- Lohra (Hessen) James Knikker senders“ von dem Conférencier Kurt Wall- Jeder, der soziale Kontrolle als uneinge- ner vorgetragen. Ihn zeigt auch das von Ih- schränkt positiv empfindet, macht sich nen abgedruckte Porträtfoto. selbst etwas vor.Wenn Sie aber die Bürger Keinesfalls Lockerungen Berlin Volker Kühn Bönnigstedts Ihrem (sicher nicht ganz un- Nr. 28/1999, Panorama: Gen-Datei Regisseur und Autor berechtigten) Spott aussetzen, sollte das Trauma, das durch einen Einbruch erlitten Es kann keine Rede davon sein, dass in wird, nicht unerwähnt bleiben. Es sind den bayerischen Justizvollzugsanstalten meist nicht die materiellen Verluste, die Gefangene zur freiwilligen Abgabe von quälen. Vielmehr verstört die Erkenntnis, Speichelproben zum Vollzug des DNA- im Zweifelsfall das Zuhause als meist ein- Identitätsfeststellungsgesetzes mittels ,,sub- zigen Fluchtpunkt dem Zugriff feindlicher tiler Zwangsmittel“ veranlasst werden.Al- Fremder wenigstens zeitweilig preisgege- lerdings hat die Verweigerung einer Ein- ben zu haben. verständniserklärung Auswirkungen auf Herdecke (Nrdrh.-Westf.) Susan-S. Breitkopf die Gewährung von Vollzugslockerungen, aber lediglich im Zeitraum zwischen der Als ehemaliger Bewohner des Nachbaror- Verweigerung und dem Erlass des dann

tes Quickborn ist mir bekannt, dass die notwendigen Beschlusses durch das Ge- KÜHN V. Menschen die Sorge über Kriminalität nur richt sowie der anschließenden Entnahme. Kurt Wallner Willi Schaeffers vorschieben, um unter ihresgleichen zu Willigt nämlich ein Gefangener in die Ab- Dem Falschen in den Mund gelegt bleiben. In Wirklichkeit geht es primär um gabe nicht ein, so wird so schnell als mög- eine soziale Abgrenzung gegenüber nicht lich der Beschluss des zuständigen Gerichts so reichen Mitbürgern. Das erkennt man zur Entnahme und molekulargenetischen auch daran, dass diese Menschen sich nie Untersuchung der Speichelprobe bean- Zweifelhafte Ehre in öffentlichen Gremien engagieren, son- tragt. Solange die Abnahme noch nicht Nr. 30/1999, Hohlspiegel dern nur in privaten elitären Vereinen wie stattgefunden hat, ist das Risiko eines im Golfsport, in denen eine Aufnahmege- Rückfalls größer. Es sollte deshalb wohl Sie gestatten AFP die zweifelhafte Ehre ei- bühr den Kontakt mit Normalbürgern ver- selbstverständlich sein, dass Gefangene, nes Auftritts in der Rubrik „Hohlspiegel“. hindert. die wegen Straftaten von erheblicher Be- Wie Sie in der AFP-Originalmeldung nach- Hamburg Rasmus Helt deutung – insbesondere wegen Sexual- lesen können, stammt die Formulierung so straftaten – verurteilt sind, bis zur Abnah- nicht von uns. Uns ist unklar, wieso nicht me der Speichelprobe keinesfalls in den die Zeitung angegeben wurde, deren Re- Genuss von Vollzugslockerungen wie Aus- daktion den Fehler offensichtlich in die VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panora- gang oder Freigang kommen können. Meldung hinein redigierte. ma, Finanzpolitik (S. 24), Kanzler, Europa: Michael Schmidt-Klin- genberg; für Wahlen, Affären, Verbrecher, Kriminalität, Enteignung, München Gerhard Zierl Berlin Norbert Wortmann-Im Brahm Tourismus: Clemens Höges; für Trends, Geld, Finanzpolitik (S. 22), Bayerisches Staatsministerium der Justiz Agence -Presse Musikindustrie, Europa, Investmentbanken, Bierindustrie, Aktien, Managerinnen, Springer-Verlag, Radio: Gabor Steingart; für Fern- sehen, Szene,Architektur, Sachbuch, Bestseller, Kino, Film, Festspie- AFP hat Recht; die Zeitung war „Die le, Ausstellungen: Dr. Mathias Schreiber; für Skating, Fußball: Alfred Eingesehen und ausgewertet Glocke“ aus Oelde. –Red. Weinzierl; für Panorama Ausland, Balkan, Kosovo, Serben, China, Titel, Chronik: Dr. Olaf Ihlau; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Nr. 24/1999, TV-Geschichte: Filmdokumente des Fernsehens der NS-Zeit gefunden Dieter Wild; für Prisma, Medizin, Computerspiele, Großforschung, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Psychologie, Automobile: Johann Grolle; für die übrigen Beiträge: vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Per- So verdienstvoll es ist, dass der SPIEGEL veröffentlichen. sonalien, Rückspiegel: Gudrun Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Heinz 54 Jahre nach Kriegsende auf Filmbeiträge P. Lohfeldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brands- für das NS-Fernsehen hinweist – so „un- twiete 19, 20457 Hamburg) zugänglich“ wie behauptet war das Bild- TITELILLUSTRATION: Alfons Kiefer für den SPIEGEL Einer Teilauflage dieser Ausgabe liegt die Verlegerbeila- material aus der Nazi-Zeit nicht. Ich selbst ge uniSPIEGEL/SPIEGEL-Verlag, Hamburg, bei.

14 der spiegel 31/1999 Werbeseite

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S. SCHULZ / RETRO Export von Panzern, U- Booten und anderem Rüs- tungsgut. Der Kodex war 1998 unter Druck Frank- reichs und Großbritanniens recht großzügig ausgefal- len. Der grüne Außenminis-

DPA ter Joschka Fischer unter- Deutsches U-Boot für Israel (vergangene Woche in Haifa), „Leopard 2“-Panzer nahm zwar bei den Kolle- gen aus den anderen EU- RÜSTUNGSEXPORT Staaten einen Anlauf, die Maßstäbe strenger zu fassen; er erlitt aber, so grüne Freunde, eine „Bauchlandung“. Fischer möchte nun ein mögliches Milliardengeschäft mit Pan- Grüne Bauchlandung zern für die Türkei als Hebel nutzen, um mehr Freiheitsrechte für die Kurden zu erwirken.Wenn die Türken seiner Einladung PD-Linke und Grüne sind mit der Absicht gescheitert, die zum EU-Beitritt folgen wollten, müssten sie rasch den Krite- SRegeln für Waffenexporte zu verschärfen. Noch in diesem rienkatalog für Menschenrechte erfüllen, den die EU 1993 für Monat will das Bundeskabinett neue Richtlinien beschlie- Bewerber aufgestellt hat. Dann könne die Weigerung des ßen. Der Entwurf lässt noch mehr Spielraum als die alten Außenamts, Exporte von „Leopard 2“- und „Fuchs“-Panzern Vorschriften vom April 1982. Er hat bereits den Bundessi- zu genehmigen, überprüft werden. Der Kanzler gilt als aufge- cherheitsrat passiert, einen geheim tagenden Ausschuss des schlossen.Wann immer der Milliarden-Deal samt der Sicherung Kabinetts. Künftig dient ein allgemein gefasster Verhal- deutscher Arbeitsplätze zur Sprache komme, registrierten Be- tenskodex der Europäischen Union als Richtschnur für den obachter, bekomme Gerhard Schröder „leuchtende Augen“.

PROFESSOREN EU-KOMMISSION der Kanzler, die Entscheidung sei gefal- len. Hartnäckig setzte Prodi nach, viel- Kurzfristig billiger Schwierige leicht sei es doch sinnvoll, wenn Schrö- der noch einmal mit dem Oppositions- undesbildungsministerin Edelgard Kleiderordnung führer Schäuble telefonieren würde. BBulmahn will es in Zukunft voll- Schröder erklärte, das sei eine Frage der ständig den Ländern überlassen, ob n der Spitze der EU-Kommission Kleiderordnung – also Schäubles Sache, Hochschullehrer verbeamtet werden Aherrscht Verwunderung über das bei ihm anzurufen. Prodi machte dar- oder nicht. Nach Ansicht der SPD-Poli- eisige Klima zwischen Regie- aufhin selbst einen Vorstoß tikerin „muss ein Professor nicht Be- rung und Opposition in bei Schäuble. Der aber war amter sein“. Für die Länder wird es je- Deutschland. Anlass war der ebenfalls nicht bereit, zum doch finanziell wenig attraktiv sein, Versuch des designierten Hörer zu greifen. Schäuble neue Professoren nur als Angestellte zu Kommissionspräsidenten Ro- fürchtete das Verlierer- beschäftigen: Da in den nächsten Jahren mano Prodi, in letzter Minute Image, wenn Schröder ihn bis zu 50 Prozent der Dozenten in den noch einen Unionspolitiker bei dem Telefonat kalt auf- Ruhestand gehen, kommen auf die Lan- zum zweiten deutschen Kom- laufen ließe. Prodi verbittert desregierungen hohe Pensionszahlun- missar neben einem rot-grü- zu Vertrauten: „Das ist der gen zu. Werden die dann neu eingestell- nen Kandidaten zu machen. erste Staat, den ich kenne, ten Professoren als Angestellte beschäf- Bundeskanzler Gerhard in dem der Regierungschef

tigt, müssen die Länder für diese sofort Schröder (SPD) hatte zum REUTERS und der Oppositionsführer Beiträge zur Rentenversicherung ab- Erstaunen des höflichen Ita- Prodi nicht miteinander telefonie- führen – sind sie Beamte, werden die lieners sein Anliegen Anfang ren.“ Der Vorfall hat auch Pensionen erst in zwei bis drei Jahr- Juli ungewöhnlich rüde abgeblockt. Er das Verhältnis Prodis zum Kanzler zehnten fällig. wolle darüber nicht mehr sprechen, so ernsthaft belastet.

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BENZIN „Wirkungslose Gängelei“ ach Autoherstellern und Umweltschüt-

Nzern üben nun auch Vertreter der Mine- / ARGUS H. SCHWARZBACH ralölindustrie heftige Kritik an der rot-grünen Raffinerie bei Heide in Schleswig-Holstein Bundesregierung, weil sie die Steuerbegüns- tigung für schwefelarmen Sprit auf Ende 2001 verschieben will. 2000 angekündigt hatte. Doch einige Mineralölhersteller inter- Shell-Vorstand Fritz Vahrenholt kritisiert: „Wer flächen- venierten, weil die Umrüstung ihrer Raffinerien mehr Zeit er- deckende Tempolimits und Rasenmähverbote gegen Som- fordere. „Wir wissen“, so Vahrenholt, „dass bei einem Schwe- mersmog plant, anstatt für eine zügige Einführung schwefel- felgrenzwert von 50 ppm die Kohlenwasserstoff-Emissionen armen Benzins zu sorgen, setzt auf wirkungslose Gängelei an- von Katalysatorfahrzeugen um fast 20 Prozent sinken – anders statt auf moderne Umwelttechnologie.“ als flächendeckende Tempolimits wäre das echte Vorbeugung Grund für das Verdikt des früheren hamburgischen SPD-Um- gegen Sommersmog.“ Kohlenwasserstoff ist eine der wichtig- weltsenators ist der Bonner Plan, erst ab November 2001 die sten Vorläufersubstanzen von Ozon. Shell und Elf machen jetzt Mineralölsteuer auf gewöhnlichen Sprit um zwei Pfennig an- einen Rückzieher. Sie wollen den neuen Kraftstoff vorerst nicht zuheben und die auf schwefelarme Kraftstoffe um einen Pfen- flächendeckend einführen, obwohl sie dazu technisch schon im nig zu senken – was Rot-Grün ursprünglich für „spätestens“ Juli nächsten Jahr in der Lage wären.

PDS für die Genossen. So plädiert der PDS- EXPO Vormann dafür, Unternehmen, die ihre Gysis Wettbewerbs- Gewinne in den Betrieb stecken, steu- Pavillon in letzter erlich besser zu stellen als private Sozialismus Haushalte. Bei Tarifverhandlungen soll- Minute ten nicht Lohnerhöhungen im Vorder- er Chef der PDS-Bundestagsfrak- grund stehen, sondern flexible Arbeits- eil bisher erst 5 der 194 angemel- Dtion, Gregor Gysi, will seiner Partei zeitregelungen und betriebliche Mitbe- Wdeten Nationen und internationa- offenbar eine Kehrtwende in stimmung. Auch den Staat len Organisationen mit dem Bau ihrer der Wirtschafts- und Sozial- will Gysi zurückdrängen: Pavillons am hannoverschen Kronsberg politik verordnen. In zwölf „Eine Reihe öffentlicher begonnen haben, machen sich die Thesen hat er Anforderungen Dienstleistungen kann durch Expo-Planer in Hannover Sorgen. Um an einen „modernen Sozia- staatseigene Betriebe in ih- Geld zu sparen, schieben viele Teilneh- lismus“ formuliert – als „not- rer bisherigen Form offen- mer den Baubeginn auf den letztmögli- wendige Antwort“ auf das sichtlich nicht effizient ge- chen Termin. sozialdemokratische Reform- währleistet werden.“ Gysi Das könnte eng werden: Im städtischen papier von Gerhard Schröder nimmt sich auch der Rente Planungsamt werden sich lediglich drei und Großbritanniens Premier an. Die von der PDS gefor- Sachbearbeiter um die teils komplizier- Tony Blair. Gysi preist die derte soziale Grundsiche- ten Bauanträge kümmern können. So Errungenschaften der Sozial- rung könne im Alter „keine hat beispielweise Japan einen Pavillon

demokratie und warnt davor, S. SPIEGL vollständige Absicherung ganz aus Papier angekündigt, auch eine diese leichtfertig einer neoli- Gysi des im Erwerbsleben er- Konstruktion aus erdbebensicherem beralen Politik zu opfern. reichten hohen Lebensstan- Bambus ist geplant – ein Baustoff, für Für Aufsehen dürfte das Papier, das in dards“ sein. Wer als Rentner gut leben den es hierzulande keine DIN-Norm dieser Woche zur Diskussion gestellt wolle, müsse eben selbst vorsorgen: gibt. werden soll, aber vor allem PDS-intern „Dafür können viele inzwischen privat Ein logistisches Chaos wird auch auf sorgen. Es steckt voller Zumutungen aufkommen.“ der Riesenbaustelle der Nationen-Pavil- lons selbst erwartet, falls alle Länder erst kurz vor Expo-Beginn anfangen zu bauen. Überhaupt noch nicht sicher ist WOHNGELD Mietzuschüsse bekommen. Das Wohn- freilich, dass es alle Pavillons auch geld Ost will er den Westnormen anpas- tatsächlich geben wird. So hat beispiels- Anpassung im Osten sen: Sonderregelungen für die neuen weise die Türkei, die am Rande des Eu- Länder sollen auslaufen wie etwa Ex- ropa-Boulevards siedeln soll, noch nicht undesbauminister Franz Müntefe- tra-Freibeträge und erhöhte pauschale einmal einen Plan für ihren Pavillon, Bring (SPD) will das Wohngeld refor- Abzugsmöglichkeiten. Stattdessen auch wurden im Staatshaushalt noch mieren. Ab Januar 2001 sollen Gering- möchte Müntefering die Mietobergren- keine Mittel bereitgestellt. Die Expo be- verdiener in Westdeutschland pro Mo- ze beim Wohngeld bundesweit im ginnt am 1. Juni 2000 – dem Himmel- nat um durchschnittlich 80 Mark höhere Schnitt um 20 Prozent anheben. fahrtstag.

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GRÜNE Bauen und bremsen Cuxhaven 23 7 Stade um ersten Mal treten grüne Parlamen- Hamburg tarier dafür ein, den Bau einer Auto- Planung 26 bahn „zügig voranzutreiben“, so ihr An- 27 trag für den niedersächsischen Landtag. Im überarbeiteten Bundesverkehrswege- 1 plan sollen demnach vorrangig rund 500 Bremen Millionen Mark für den „Lückenschluss“ der A 31 bei Bad Bentheim bereitgestellt konzentration vor dem geplanten Jahr werden. Die Fertigstellung der einst von 2008 möglich. Im Gegenzug solle die den Grünen heftigst bekämpften Beton- SPD-Regierung eine geplante A 26 nach piste zwischen Emden und Ruhrgebiet Stade bei Hamburg für den „vordring- („Ostfriesenspieß“) sei mit dieser Mittel- lichen Bedarf“ abmelden. Der nieder- sächsische Verkehrsminister Peter Fischer hält dagegen an „allen Autobahnbauten“ NIEDERLANDE fest. Insbesondere die A 26 zur Entlastung Planung der Gemeinden entlang der stau- und unfallträchtigen Bundesstraße 73 sei für 30 „die wirtschaftliche Entwicklung“ der Enschede Osna- Region Unterelbe „unabdingbar“. Zu- 31 1 brück dem sei mit dem Beginn von vorbereiten- den Arbeiten auf der A-26-Trasse ein Münster 20 km „Baubeginn“ im Sinne des Bundesver- kehrswegeplans bereits vollzogen.

HOOLIGANS Holzstücken auf Offenbacher Fans los- gegangen. Mehrere Personen wurden Sehenden Auges verletzt. Die Polizei hatte daraufhin zwar die Tribüne geräumt, doch weder ie Staatsanwaltschaft Mannheim Festnahmen veranlasst noch die Perso- Dhat gegen hessische Polizeibeamte nalien der Gewalttäter festgestellt. „Die ein Prüfverfahren eingeleitet, um zu haben sehenden Auges den Landfrie- klären, ob sie sich der Strafvereitelung densbruch toleriert“, sagt ein Mannhei- im Amt schuldig gemacht haben. Hin- mer Staatsanwalt. tergrund sind die Krawalle beim Spit- Nur mit Hilfe der Fernsehbilder konn- zenspiel der Fußball-Regionalliga Süd ten einige wenige Täter identifiziert am 13. Mai zwischen den Offenbacher werden. Ein bereits vorbestrafter Kickers und Waldhof Mannheim. Rund 18-jähriger Neonazi wurde inzwischen 20 Mannheimer Hooligans hatten eine wegen schweren Landfriedensbruchs abgesperrte Zuschauertribüne gestürmt angeklagt und sitzt in Untersuchungs- und waren mit bis zu zwei Meter langen haft. ONLINESPORT Ausschreitungen zwischen Mannheimer und Offenbacher Fans im Mai

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ihrer knapp 20000 Einwoh- Am Rande ner 100 Mark als „Dividen- de des Unternehmens Stadt“ (Bürgermeister Erdnüsse für alle Siegfried Deffner) auszu- zahlen. Die Bürgerinnen Die Deutsche und Bürger sollen sich das Bank hat es Geld im September bar im nach Übernah- Rathaus abholen können. Die Aktion geht zurück auf me der ameri- einen Vorstoß des Bürger- kanischen Bankers Trust vorge- meisters. Der CSU-Mann hatte im März angeregt, 2 zogen, deren Vorsitzenden nicht Millionen von 5,6 Millio- weiter zu beschäftigen. Deutsche- nen Mark Haushaltsüber- Bank-Chef Rolf Breuer zahlt ihm schuss 1998 „an die Bürger zurückzugeben“ (SPIEGEL nun runde 185 Millionen Mark W. M. WEBER W. 12/1999). dafür, dass er schweigt und nichts Deffner Weil nach der Bayerischen tut. Dazu gibt es einiges anzu- Gemeindeordnung die KOMMUNEN „Verschenkung und die unentgeltliche merken. 1.) Der Kapitalismus ist Überlassung von Gemeindevermögen echt irgendwo fies ungerecht. 2.) unzulässig“ ist, wollten die Aufsichts- Wir würden schon für sehr viel Bares behörden den Beschluss des Gersthofe- ner Stadtrats vom 28. April zunächst weniger Geld nichts tun. 3.) Sagen aufheben. Nach einem persönlichen Ge- wir: die Hälfte? 4.) Rufen Sie uns vom Rathaus spräch Deffners mit Innenminister Günther Beckstein (CSU) lenkte dieser bitte an, Herr Breuer. rstmals erhalten die Bewohner einer jedoch ein und erlaubte es dem zustän- Offenbar ist Vorstandschef Breu- Ebundesdeutschen Kommune Geld digen Landratsamt, im Rahmen der „Er- er Menschenkenner. Er selbst aus ihrem Stadtsäckel zurück – wahr- messensaufsicht von einer förmlichen scheinlich auch zum letzten Mal. Nach Beanstandung abzusehen“. Das Innen- geißelte diese Zahlung mit den dreimonatiger Prüfung und umfangrei- ministerium hält das Vorgehen der bitteren Worten: „Mancher kriegt chem Schriftwechsel mit dem bayeri- Schwaben dennoch weiterhin für eben mehr, als er verdient.“ Bes- schen Innenministerium gestattete das rechtswidrig. „Noch einmal werden wir Augsburger Landratsamt der Stadt das nicht mitmachen“, so Beckstein- ser hätten wir das auch nicht sa- Gersthofen vergangene Woche, jedem Sprecher Christoph Hillenbrand. gen können. Solche Abfindungen sollen es dem

Arbeitslosen (Bäcker, Schweißer, BUNDESWEHR nach den Plänen auch einer der beiden Chefredakteur,Vorstandschef) er- beamteten Staatssekretäre im Verteidi- gungsministerium. leichtern, sich mit dem Los der Generalstab für Arbeitslosigkeit abzufinden. Si- Scharping cher, das Glück, Arbeit zu haben, ie die oberste Führung der Bun- Nachgefragt lässt sich nicht mit Gold aufwie- Wdeswehr gestrafft und hoch do- gen, aber so eine Abfindung trös- tierte Posten eingespart werden kön- Zur Kasse, bitte! tet. Damit diese gewaltigen Sum- nen, lassen Bundesverteidigungsminis- ter Rudolf Scharping (SPD) und die men den Neidfaktor des breiten neue Wehrstrukturkommission jetzt Publikums nicht über die revolu- prüfen. Die Überlegungen im Ministeri- um zielen darauf, die Kompetenzen des tionsfördernde Marge treiben, hat Generalinspekteurs zu erweitern und in man sich angewöhnt, sie „Pea- Berlin eine Art Generalstab einzurich- Soll die 1996 abgeschaffte nuts“ zu nennen, also Erdnüsse. ten. Dem würden die Inspekteure von Steuer auf besonders hohe Heer, Luftwaffe und Marine unterstellt. Vermögen wieder eingeführt Also, Herr Breuer, wir stehen be- Deren bisherige Führungsstäbe, die in werden? reit. Wir können uns auch ohne Bonn bleiben sollen, könnten mit den GESAMT WEST OST Arbeit beschäftigen. Zum Bei- für den täglichen Truppendienst zustän- digen Führungskommandos zusammen- ja 55 52 66 spiel damit: mal ganz gemütlich gelegt werden. Anders als bisher bekä- ein paar Millionen Erdnüsse me der Generalinspekteur, der nur Be- nein 39 42 26 durchzählen. rater der Regierung ist und die Planung verantwortet, direkte Kommandogewalt Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 27. und 28. Juli; über die Truppe. Eingespart werden soll rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe

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Werbeseite Deutschland

FINANZPOLITIK „35 Prozent – und Schluss“ Der Streit um die Vermögensteuer entzweit die SPD.Viele Genossen fordern eine Sonderabgabe für Millionäre – als Symbol der Gerechtigkeit. Die Truppen des Kanzlers bereiten derweil einen radikalen Kurswechsel in die andere Richtung vor: eine Steuerreform à la FDP.

enn der Pfeifenraucher Sein Brandbrief offenbart scho- Peter Struck für etwas be- nungslos die wachsenden Flieh- Wkannt ist, dann für sein kräfte in der Partei. redliches Bemühen, seine Fraktion Ungebremst streben Modernisie- und die eigene Partei zusammen- rer und Traditionalisten auseinan- zuhalten. Doch nun hat der SPD- der, für die alles entscheidende Fra- Fraktionschef über die Reform des ge der Sozialdemokratie fanden sie deutschen Steuersystems nachge- bislang keine gemeinsame Lösung: dacht und präsentiert einen Vor- Wie nämlich definieren die Genos- schlag, der ihm den Ruf des Revo- sen am Ende des 20. Jahrhunderts luzzers einbringen könnte – und den Begriff der sozialen Gerechtig- der Partei eine Zerreißprobe. keit? Ist dazu mehr Sozialstaat Struck fordert eine Steuer- vonnöten? Oder eher weniger? reform, „die ihren Namen auch ver- „Die Antwort darauf ist der Lack- dient“. Seine Überlegung: „Wir mustest für die SPD“, glaubt Sieg- brauchen ein ganz einfaches Sys- mar Mosdorf, Staatssekretär im tem mit höchstens drei Steuersät- Wirtschaftsministerium und beken- zen: 15, 25 und 35 Prozent – und nender Schröder-Anhänger. dann Schluss.“ Im Gegenzug soll- Links stehen jene, die das Ideal ten alle Ausnahmen und Schlupf- der Gerechtigkeit auf traditionel- löcher verschwinden, von der Ver- lem Wege erreichen wollen – per lustzuweisung bis zu den Freibe- Umverteilung.Auf der anderen Sei- trägen. te stehen jene, für die eine gerech- Der Vorschlag ist sensationell. te Politik vor allem mit Chancen- Denn das Dreistufenmodell stammt gleichheit zu tun hat, nicht bloß mit

eigentlich aus dem Parteiprogramm M. DARCHINGER simpler Gleichmacherei. Sie for- der Liberalen. Doch der Ideenklau Steuerreformer Struck, Schröder: „Ein einfaches System“ dern mehr Eigenverantwortung und ist dem Ober-Genossen keineswegs nähern sich dabei unwillkürlich peinlich. „Was die FDP da vorschlägt, ist gegen die Kürzungspläne. Die Gewerk- Positionen, die von vielen Traditionssozis doch völlig richtig“, sagt Struck, „mit Hans schaften erkennen ihre Genossen nicht als neoliberal abqualifiziert werden. Eichel bin ich mir da völlig einig.“ mehr wieder, die Landwirte buhen den Den ersten Schritt seiner Revolution von Auch der Rückendeckung durch den Kanzler aus, die Ortsvereine sind verunsi- oben vollzog der Kanzler kurz vor der Eu- Kanzler kann sich Struck sicher sein. Schon chert. Wohin driftet Schröders SPD? ropawahl. Zusammen mit Briten-Premier seit längerem liebäugelt Schröder mit dem Erst war es der Ärger um die 630-Mark- Tony Blair propagierte er „neue Konzepte Gedanken, den Spitzensteuersatz runter- Jobs, der die Genossen aufbrachte, dann für veränderte Realitäten“. Dann legten zubringen – und ein klareres, übersichtli- das Gesetz gegen die Scheinselbständig- die Gefolgsleute des Kanzlers nach. cheres Steuersystem zu schaffen. Mit die- keit, und nun das Sparpaket von Hans Erst übersetzte Sparkommissar Hans ser Idee bekommt die Debatte, die der Eichel. „Die Leute fürchten, dass es erneut saarländische Ministerpräsident Reinhard nur die Kleinen trifft“, sagt der SPD- Klimmt mit seiner Forderung nach Neu- Bundestagsabgeordnete Friedhelm Julius auflage der Vermögensteuer angestoßen Beucher, der für seine Nähe zur Basis be- hat, eine neue Dimension. kannt ist: „Und sie fragen: Geht es beim Was zunächst wie das Manöver eines Sparen wirklich gerecht zu?“ Provinzfürsten aussah, der um seine Wie- So gesehen, zielt Klimmts Vorstoß auf derwahl bangt, hat sich zu einer Grund- den Kern des ambitionierten Sparpro- satzdiskussion entwickelt – einem Kampf gramms, der Saarländer stellt die Legiti- um die „Seele der Sozialdemokratie“ mationsfrage: Wenn schon Langzeitar- (Klimmt). Unter dem Banner der Steuer- beitslose und Rentner belastet werden, ist gerechtigkeit wird ein erbitterter Streit dar- es dann nicht recht und billig, dass auch über ausgetragen, wie viel Gleichheit von Millionäre einen Beitrag leisten müssen? Staats wegen noch wünschenswert ist – Unter dem Deckmäntelchen der Mo- und wie viel Entmündigung des Einzelnen. dernisierung, so fürchtet Klimmt, werde in

Während die Regierung im Umzugs- der SPD „die Gerechtigkeit ausgemustert“. BECKER & BREDEL chaos versinkt und das halbe Kabinett ur- Traditionalisten Lafontaine, Klimmt* laubt, formiert sich im Lande Widerstand * Am 1. Mai in Saarbrücken. Seele der Sozialdemokratie?

22 der spiegel 31/1999 5683 Strammer Zuwachs... 5362 ...aber schräge Geldvermögen privater Haushalte in Deutschland Verteilung in Milliarden Mark 4955 Anteil des 4652 Geldvermögens* 4312 4092 Haushalte Vermögen 5,5% 3716 3486 31,7%

555,2 495,6 44,8% 340,7 283,3 1193,5 1166,5 darunter 254,0 1129,0 Aktien- 249,8 1033,7 187,2 vermögen 199,9 930,6 59,2% 1484 850,2 Spar- 743,5 761,0 einlagen 1191,4 1265,5 49,7% 1055,7 1108,9 922,7 524 Wert- 822,5 Quelle: 686,1 747,4 Deutsche papiere Bundesbank, 170 festverzinst Statistisches Bundesamt 9,1% 1960 1970 1980 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 *Westdeutschland

Eichel die Modernisierungsrhetorik in Mark und Pfennig, dann forderte Wirtschafts- minister Werner Müller das Ende aller staatlichen Allmachtsphantasien: Der An- teil der öffentlichen Hand an der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes solle von jetzt fast 50 auf unter 40 Prozent sinken. Doch in ihrer Fixierung auf die neue Mitte haben Schröder und seine Strategen, so glauben die Kritiker, sträflich unter- schätzt, dass ein beträchtlicher Teil der SPD-Anhänger nach wie vor ausgeprägte Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat hegt. „Die sind irritiert und allein gelassen und bleiben bei den Wahlen einfach zu Hause“, urteilt der Parteienforscher Franz Walter. Als Nächster könnte Klimmt die Irrita-

tionen an der Basis spüren; derzeit liegt er PEOPLE IMAGE in Umfragen hinter seinem CDU-Heraus- Wohlhabende Deutsche*: 14,5 Billionen Mark in Häusern, Wertpapieren, Privatjets forderer Peter Müller (siehe Seite 32). Auch das regierungskritische Institut für lichen Einwände gegen eine Vermögens- Zudem gehört diese Einnahmequelle des Demoskopie in Allensbach formuliert besteuerung.“ Fiskus zu den unwirtschaftlichsten Abga- nüchtern: „Es kann keine Rede davon sein, Aus Sicht traditionsbewusster Sozis ist ben überhaupt. Es müssten bundesweit dass klassische sozialdemokratische Ideen der Griff zur Vermögensteuer verständlich. tausende zusätzlicher Finanzbeamte aus- aus der Mode gekommen sind.“ Schließlich gehören den Bundesbürgern schwärmen, um den Wert jedes einzelnen Und so erschallt der Ruf nach der Ver- Häuser,Wertpapiere und Privatjets im Wert Grundstücks oder Hauses zu schätzen. mögensteuer nicht nur im Saarland. Be- von 14,5 Billionen Mark. Allein das Geld- Wohl deshalb sind die meisten SPD- reits Anfang Juni forderte die streitbare vermögen, so heißt es in einer aktuellen Länder gegen eine Wiedereinführung. „Das Sozialpolitikerin Anke Fuchs vor der ver- Studie des Deutschen Instituts für Wirt- bringt für die Haushaltskonsolidierung sammelten Fraktion eine „Konsolidie- schaftsforschung (DIW), summiert sich auf nichts“, meint Gernot Mittler, Finanzminis- rungssteuer für Besserverdiener“ – sehr 5,7 Billionen Mark – und wächst stetig. Sol- ter von Rheinland-Pfalz. zum Ärger des Kanzlers. Denn Schröder che Zahlen machen sinnlich, zumal das Ohnehin sind die Hoffnungen, diese lehnt die Wiedereinführung der Reichen- Vermögen laut DIW „sehr ungleich ver- Sondersteuer schaffe einen sozialen Aus- steuer ab: „Wir werden dazu kein Gesetz teilt“ ist. gleich, trügerisch. Die meisten Finanz- vorlegen“, das sei allein Sache der Länder. Doch die Vermögensteuer hilft da kaum wissenschaftler halten sie schlicht für Das Machtwort hilft bisher wenig. So weiter.Von der alten Bundesregierung wur- ungerecht. Denn sie schlägt bei Vermö- hält Fraktionsvize Joachim Poß die Steuer- de sie abgeschafft, nachdem das Bundes- genswerten zu, die aus schon versteuerten erhöhungsdebatte zwar für verfrüht, in verfassungsgericht 1995 ein bahnbrechen- Einkommen angeschafft wurden. einem Brief an alle SPD-Abgeordneten des Urteil über die Reichensteuer fällte. Vor allem aber fürchten die Gegner der schrieb er aber Ende vergangener Woche: Vermögensteuer, dass angesichts einer sol- „Es bestehen keine grundsätzlichen recht- * Beim Derby in Hamburg im Juli. chen Abgabe noch mehr wohlhabende An-

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leger ins Ausland getrieben würden. Alle Versuche jedenfalls, mit höheren Steuersät- zen die Reichen stärker zur Kasse zu bitten, sind bisher fehlgeschlagen: Theo Waigels Orakel aus Karlsruhe Zinsabschlag auf Kapitalerträge provozier- te bloß eine Massenflucht nach Luxemburg; Ist die Vermögensteuer tatsächlich verfassungswidrig? und die erhöhte Erbschaftsteuer veranlasste Fachleute bestreiten das entschieden. reiche Deutsche lediglich dazu, ihren Nach- lass in anonymen Stiftungen in der Schweiz ls Sensation feierten Steuer- stellte Maxime überhaupt verbindlich oder Liechtenstein zu bunkern. experten und Finanzjuristen ei- ist. Das wäre sie nur, wenn sie einen Als Ausweg bietet sich, das Ausland Anen Leitsatz, den das Bundes- „tragenden Grund“ des damaligen weist die Richtung, eine radikale Steuerre- verfassungsgericht am 22. Juni 1995 in Beschlusses darstellt. Doch für verfas- form an. Weg mit allen Ausnahmen, weg seiner Vermögensteuer-Entscheidung sungswidrig erklärte der Senat die Ver- mit allen Schlupflöchern – und runter mit ausgab. Doch die Freude dauerte nicht mögensteuer, weil sie Grundstücke an- den Steuersätzen. Das würde dazu führen, lange: Seit Jahren streiten die Experten ders belastete als sonstige Vermögens- dass sich kein Millionär mehr gegenüber darum, wie dieser „Halbteilungs- werte. Senatsmitglied Ernst-Wolfgang dem Fiskus arm rechnen könnte. grundsatz“ zu verstehen ist – und ob Böckenförde hielt in seinem abwei- Doch an eine wirkliche Reform des Steu- sich der Staat daran halten muss. chenden Votum fest, die Aussagen zur errechts wagten sich die Sozialdemokraten Die Steuerbelastung für Bürger und Steuer-Obergrenze seien „entbehrlich“, bislang nicht heran. Zwar schaffte die Re- Unternehmen darf 50 Prozent nicht und warf den Kollegen „Kompetenz- gierung zu Jahresbeginn rund 70 Ausnah- übersteigen – so wird die Aussage des überschreitung“ vor. „Manches spre- meregeln ab, doch letztlich fehlte dem La- Zweiten Senats häufig interpretiert. che dafür“, so der Bundesfinanzhof vor fontaineschen Gesetzeswerk der Mut. Im- Doch von exakt 50 Prozent ist keine einem Jahr, dass der Halbteilungs- mer noch ist es trickreichen Steuerkünstlern Rede: Verfassungsrechtlich gerade noch grundsatz „lediglich eine unverbindli- möglich, die Abgabenlast durch Abschrei- zumutbar sei eine Steuerlast, die „in che Meinungsäußerung“ von Kirchhof bungsmodelle für Flugzeuge oder Wind- der Nähe einer hälftigen Teilung zwi- und Kollegen bedeute. kraftanlagen kräftig nach unten zu drücken. schen privater und öffentlicher Hand Schon die Argumentation der sieben So steckt das deutsche Steuerrecht trotz verbleibt“, orakelten die Richter. Sind Richter gibt Anlass zu Zweifeln. Nach aller Reformbemühungen noch immer vol- 54 Prozent nah genug, oder darf es ein ler Absurditäten und Wider- bisschen mehr sein? sprüchlichkeiten.Allzu lange Die offene Obergrenze soll gelten, nämlich ließen sich die Poli- wenn die Vermögensteuer „zu den tiker aller Couleur vom übrigen Steuern auf den Ertrag“ hin- Prinzip der Einzelfallgerech- zutritt. Aber gilt die Grenze auch, wenn tigkeit leiten, also der Vor- sie allein schon mit den übrigen Steu- stellung, mittels detaillierter ern überschritten wird? Unklar bleibt Regeln könne der Staat es al- auch, ob neben „Steuern auf den len recht machen. Doch häu- Ertrag“ wie Einkommen-, Körper- fig produzierten sie genau schaft- und Gewerbesteuer noch ande- das Gegenteil dessen, was sie re Steuern mitzurechnen sind, etwa anstreben: nicht mehr Ge- Umsatzsteuer, Kirchensteuer oder So- rechtigkeit, sondern weniger. lidaritätszuschlag. So ist die Tierzucht steu- Unterschiedlich wird auch gedeutet, erlich gesehen noch immer

worauf sich die „hälftige Teilung“ ge- KLINK / ZEITENSPIEGEL T. besser gestellt als die Auf- nau bezieht. Dabei gab es wenigstens Verfassungsrichter in Karlsruhe zucht von Kindern. Da wer- dazu nachträglich Interpretationshilfe Geringer Spielraum für die Regierung den mit der Kilometerpauschale all jene von Verfassungsrichter Paul Kirchhof, belohnt, die billig auf dem Land leben und auf den die umstrittene Passage zurück- dem Grundgesetz, so die dürre Be- mit der täglichen Autofahrt in die Stadt die geht. Bei der „steuerlichen Gesamtbe- gründung zum Halbteilungssatz, diene Umwelt schädigen. Mit dem gleichen Recht lastung der Einnahmen“, so Kirchhof in der Gebrauch des Eigentums „zu- könnten Innenstadtbewohner eine steuer- einem späteren Interview, „sind auch gleich“ dem Privatnutzen und dem liche Entlastung dafür verlangen, dass sie alle steuerlichen Entlastungen mitzu- Allgemeinwohl. „Im allgemeinen“, höhere Mieten bezahlen und in ihrer Knei- rechnen, alle Freibeträge, alle Betriebs- wunderten sich selbst Gegner der Ver- pe mehr Geld für ein Bier ausgeben. und Werbungskosten, alle abzugsfähi- mögensteuer wie der Steuerrechtler Unter Experten herrscht schon seit lan- gen Sonderausgaben“. Klaus Tipke, „versteht man unter ,zu- gem weitgehend Einigkeit, wie ein gerech- Durch solche Gestaltungsmöglich- gleich‘ aber nicht ,zu gleichen Teilen‘, tes Steuersystem beschaffen sein muss: keiten liegt die effektive Ertragsbelas- sondern soviel wie ,gleichzeitig‘“. π Als Grundregel Nummer eins gilt die tung für Arbeitnehmer und Unterneh- Ob das Verfassungsgericht den ne- Übereinkunft, dass jeder gemäß seiner men deutlich unter den eigentlichen bulösen Grundsatz in weiteren Ent- Leistungsfähigkeit zur Finanzierung des Steuersätzen, stellt der Bielefelder Ver- scheidungen bestätigt, ist fraglich: Der Gemeinwesens beiträgt, was hier zu fassungs- und Steuerrechtler Joachim Steuerreformer im Richtergewand, Paul Lande in der Steuerprogression ihren Wieland fest: „Da bleibt noch genü- Kirchhof, scheidet zum Jahresende aus Ausdruck findet. Dieser Grundsatz wird gend Spielraum zur Wiedereinführung dem Zweiten Senat aus. Und bei er- durch etliche Sonderregeln unterlaufen. der Vermögensteuer.“ neuten Verfahren zur Vermögensteuer π Grundregel zwei ist das Gleichheits- Dabei ist gar nicht sicher, ob die mit hätten mittlerweile die Kollegen vom prinzip, die „Magna Charta des Steuer- sieben zu eins Richterstimmen aufge- Ersten Senat das Sagen. Dietmar Hipp rechts“, wie Roman Herzog als Präsi- dent des Bundesverfassungsgerichts urteilte. Gemeint ist, dass jeder bei glei-

24 der spiegel 31/1999 415 Verrat an sozialdemokratischem Glau- Erbvermögen bensgut. Einen Spitzensteuersatz von un- in Deutschland ter 40 Prozent wagte noch niemand offen zu fordern – Struck ist der Erste. in Milliarden Mark 302 Auch im Finanzministerium reift der- weil die Erkenntnis: Die erste Steuerre- form der Regierung, im März noch unter der Ägide Lafontaines verabschiedet, greift 5,9 zu kurz. Die „politische Willensbildung“ 223 für einen nochmaligen, dann aber radika- 5,3 len Anlauf sei in vollem Gange, versichern Quelle: 175 Mitarbeiter von Eichel. Die Ministerialen BBE träumen von einer Reform, die „besser als 140 Petersberg“ ist – eine Anspielung auf das Konzept der alten Regierung, das einen 102 Eingangssteuersatz von 15 Prozent vorsah und einen Spitzensatz von 39 Prozent. 1987 19901993 1996 1999 2002 Auf die Schnelle, glauben Struck und 4,1 die Ministerialen, lässt sich solch ein großer Wurf kaum machen, doch die Vorarbeiten sollen möglichst bald beginnen. Struck: 3,5

ACTION PRESS ACTION „Die Reform kommt nach der nächsten Erbin Gloria von Thurn und Taxis (M.) Bundestagswahl. Derzeit können wir das Neue Steuer für Reiche? 3,0 Wachsender im Haushalt noch nicht verkraften.“ Anteil Das Projekt hätte gigantische Ausmaße: chem Einkommen gleiche Steuern zahlt, 2,6 Erbschaftsteuer Über 100 Milliarden würde eine so weit- also der Angestellte ebenso viel wie der in Milliarden Mark reichende Reform kosten, schätzt FDP- freischaffende Künstler oder der Bauer. Finanzexperte Hermann Otto Solms: „Das π Die dritte Grundregel verlangt Transpa- kann man nur in Stufen verwirklichen.“ renz. Danach muss das System so ein- 1991 1993 1995 1997 1999 2001 Etwa 60 bis 70 Milliarden Mark des Entlas- fach und verständlich gestaltet sein, dass Quelle: BMF tungsvolumens ließen sich dabei gegen- jeder auch ohne Fachliteratur oder Steu- finanzieren, wenn alle Ausnahmetat- erberater zu seinem Recht kommt. mehr begünstigen als die meisten Arbeit- bestände gestrichen würden. Gerade ein Plus an Transparenz wäre nehmer – mit einem Steuersatz von 35 Pro- Eine Operation mit Schmerzen, beson- ein Beitrag für mehr Steuermoral. Nichts zent, der deutlich unter dem privaten ders für gestandene Sozis: Denn funktio- untergräbt die Zahlungsbereitschaft stärker Höchstsatz von künftig 48,5 Prozent liegt. nieren kann das Drei-Stufen-Modell nur, als der Verdacht, dass die Gesetze ausge- Allmählich schwant immer mehr So- wenn alle Sonderregeln verschwinden. So rechnet die Gewieften und Trickreichen zialdemokraten, dass sie mit ihrem bishe- müssten der Aktion auch sämtliche Steu- begünstigen, und dies proportional zum rigen Vorgehen die Mängel des Steuersys- eroasen des kleinen Mannes zum Opfer Einkommen: Wer besser verdient, kann tems eher vergrößern als beseitigen. „Wir fallen, etwa die Kilometerpauschale. Als sich auch bessere Beratung leisten. müssen die Steuerlast für alle Bürger sen- die Kohl-Regierung dies bei ihrer Peters- Die rot-grüne Koalition hat in den ersten ken“, fordert Modernisierer Mosdorf, „und berger Steuerreform ansatzweise versuch- neun Monaten ihrer Amtszeit gleich wie- den Menschen mehr Luft zum Atmen ge- te, jaulte die Republik auf. Und der dama- derholt gegen alle drei Prinzipien ver- ben. Es geht um eine neue Balance von lige SPD-Chef Lafontaine begründete mit stoßen. Die Gesetze zur Ökosteuer und Leistung und Gerechtigkeit.“ dieser „sozialen Ungerechtigkeit“ die zur Besteuerung der 630-Mark-Jobs gerie- Doch die Debatte um den Kurswechsel Blockade im Bundesrat. ten zu bürokratischen Monstern mit un- hat in der SPD gerade erst begonnen. Die Parolen von einst geraten allmählich zähligen Ausnahmen. Während alle anderen Parteien, der grüne in Vergessenheit. Mittlerweile sieht Frak- Der Vorliebe fürs Steuern durch Steuern Koalitionspartner inklusive, schon längst tionschef Struck keine Alternative zu einer entspringt auch das rot-grüne Konzept zur eine mutige Reform in Aussicht stellen, tun Radikalreform: „Um Gerechtigkeit herzu- Unternehmensbesteuerung. Ausgerechnet die Genossen sich damit noch schwer. Bis- stellen, haben wir keine andere Wahl.“ die Arbeiterpartei SPD will die Firmen lang galt jeder Vorstoß in diese Richtung als Christian Reiermann, Ulrich Schäfer

Wo wird wie zugelangt? Stärkere Vermögensbesteuerung und Geringere Vermögensbesteuerung Verschiedene Strategien niedrigere Einkommensteuersätze und höhere Einkommensteuersätze der Besteuerung USAGroßbritannien Schweiz FrankreichNiederlande Deutschland im Staat New York Aufkommen aus Vermögensteuern* 11,0%10,6% 7,0% 5,1% 4,4% 3,0% Anteil am gesamten Steueraufkommen 1996

Spitzensteuersatz 45,8%40,0% 42,4% 61,6% 60,0% 55,9% nichtgewerblicher Einkommen einschließlich eventueller beginnt ab einem zu versteuernden Einkommen in Mark: Zuschläge, Stand 1998 498426 79403 722212 87060 92141 120042 *zu den Vermögensteuern zählen Abgaben auf Besitz (Vermögensteuer, Gewerbekapitalsteuer und Grundsteuer) sowie auf den Vermögensverkehr (Erbschaft- und Schenkungsteuer, Grunderwerbsteuer und Kapitalverkehrsteuer); Quelle: OECD, BMF

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Steine ins Kreuz“ Bundeskanzler Gerhard Schröder über Gegner in der eigenen Partei, die Debatte um die Vermögensteuer, sein Verhältnis zu Oskar Lafontaine und die neue Rolle Deutschlands in der Welt

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, man muss Politik so machen, dass man jeden Sonntag eine Wahl ge- winnen kann. Im Moment würden Sie wohl nach einem Wahlsonntag im Sommerloch verschwinden. Schröder: Na ja, es kommt natürlich darauf an, in welchen Zeiträumen man plant. Die Bundestagswahl wird ja an ei- nem ganz bestimmten Sonntag stattfinden, nämlich im Jahre 2002, vermutlich im Herbst. Der Wähler wird uns dann sehr konkret daran messen, ob wir unsere Versprechungen umge- setzt haben oder ob wir in der Mitte scheitern. Das sage ich all denjenigen, die jetzt gute Ratschläge geben. SPIEGEL: Derzeit rutschen Sie auf der Beliebtheitsskala hin- ter Rudolf Scharping und Joschka Fischer. Schröder: Das wundert mich nicht. Denn wenn Minister ihre Fachbereiche so ungewöhnlich gut machen, wie Rudolf Schar- ping und Joschka Fischer es tun, dann ist klar, dass die Leu- te sie loben. Auch viele CDU- ler sagen das ja.Wenn Sie aber für das Gesamte verantwort- lich sind und für das Gute wie das weniger Gute stehen, dann muss sich auch das nieder- schlagen. Dann können Sie

nicht der freundliche Herr blei- DPA ben, den Sie als Oppositions- Kanzler Schröder*: „Von einem neuen Selbstbewusstsein würde ich schon sprechen“ politiker leicht spielen können. SPIEGEL: Offenbar sind die Wähler nicht da- land, in Thüringen, in Sachsen, in Bran- Ich kann jeden nur davor warnen auszu- mit zufrieden, wie Sie Ihren Job machen. denburg und Berlin verlieren. büxen. Was, glauben Sie, missfällt ihnen? Schröder: An so etwas denke ich gar nicht. SPIEGEL: Sie meinen Ihren Koalitions- Schröder: Interessanterweise – und das ist In der Zwischenzeit kann in der Tat die partner? für mich wichtig – ist zur Zeit die Zustim- eine oder andere Schwierigkeit auch bei Schröder: Ich meine jetzt die Koalition, mung zum Sparprogramm größer als zu Wahlen in den Ländern auftauchen, aber auch die eigene Partei. Es ist gefährlich, denen, die es durchsetzen müssen. Ich ent- ich glaube mehr deswegen, weil die andauernd öffentlich eine Debatte über decke darin eine Kluft zwischen dem, was Unsicherheit besteht: Kann der Schröder Details des Programms zu führen. Damit die Bürger wünschen, und der Frage: Hat seine Truppen hinter dem Paket ver- laufen wir Gefahr, dass diese Unsicher- die Regierung die Courage und die politi- sammeln, oder büxen da welche aus? heit in der Erwartung „Setzen die das sche Kraft, das Sparprogramm durchzu- durch?“ nicht kleiner, sondern grö- setzen? * Mit dem österreichischen Kanzler Viktor Klima, US- ßer wird. Ich kann nur sagen: Wir Präsident Bill Clinton und dem französischen Präsiden- SPIEGEL: Beides wird ja nicht wachsen, ten Jacques Chirac am vergangenen Freitag auf der werden es durchsetzen. Da bin ich opti- wenn Sie bei den Landtagswahlen im Saar- Balkan-Konferenz in Sarajevo. mistisch.

26 der spiegel 31/1999 SPIEGEL: Das haben wir alles auch schon von Helmut Kohl gehört. Schröder: Genau darum geht es – dass wir klarmachen, und zwar deutlich, dass es jetzt anders läuft als in der Ära Kohl. Was war denn da? Die haben ein Reformprogramm vorgelegt, dann hat die Debatte begonnen, und alle Interessengruppen haben gesagt, so geht das nicht. Also sind die vor jeder ein- zelnen Lobby eingeknickt, und zum Schluss kam nichts Vorzeigbares heraus. SPIEGEL: Ja, und genau so haben auch Sie dann weitergemacht. Schröder: Nein. Jetzt wird das anders sein – auch wenn zunächst das gleiche Spiel be- ginnt: Walter Riester legt ein notwendiges, wichtiges und richtiges Rentenprogramm vor, das wirklich zu einer Ausgewogenheit führen kann zwischen Jung und Alt. Sofort zetert ein mehrstimmiger Chor: Ihr müsst auf die Bedenken eingehen, am besten macht ihr gleich eine Große Koalition, min-

destens eine große Rentenkoalition. Selbst K. MÜLLER der DGB sagt, wir müssen der CDU ent- Minister Scharping, Fischer*: „Klar, dass die Leute sie loben“ gegenkommen. SPIEGEL: Und was sagen Sie? steuerung angeht. Davon werden wir kei- te, ist, dass mir die Verantwortung zuge- Schröder: Ich sage: nein, so nicht! Ich bin ja ne Abstriche machen. Zweitens sagen alle wiesen wird, während dieses Steuerauf- bereit, mit der Union, mit der FDP, mit al- ernsthaften Finanzwissenschaftler, dass die kommen bei den Ländern bleibt. len Kräften, die ein Interesse an der Sache Abgrenzung zwischen betrieblicher und SPIEGEL: Dann wird die Vermögensteuer haben, zu reden. Aber nicht um jeden privater Vermögensteuer – um die es ja wohl gar nicht kommen. Die Forderung Preis. geht – so schwer zu ziehen ist, dass man entspringt doch dem Eindruck, dass bei Ih- SPIEGEL: Reden Sie auch mit den Kritikern eine Bürokratie einsetzen müsste, die das, nen – wie bei den Konservativen – die Rei- im eigenen Lager? was bei einer verfassungsgemäßen Be- chen vom Sparen ausgenommen sind. Schröder: Natürlich. Wobei ich ausdrück- steuerung herauskäme, wieder auffräße. Schröder: Das stimmt nicht. Kritik kommt lich sage, dass die Bundestagsfraktion da SPIEGEL: Und diese Bürokratie müssten die aus den Reihen der Reichen doch gerade sehr, sehr weit ist. Aber manch einer vom Länder bezahlen. deshalb, weil wir den Spitzensteuersatz linken Flügel der Partei wird noch begrei- Schröder: Genau. Auf dieser Ebene bin ich nicht ausreichend gesenkt hätten.Wer sich fen müssen, dass diese Form der Ausein- gesprächsbereit: Wenn sich die Länder im jedoch das Gesamtpaket ansieht, stellt fest, andersetzung weder seinen Zielen hilft Bundesrat zusammentun und zur Bundes- dass von sozialer Unausgewogenheit keine noch der Gesamtpartei. regierung kommen und sagen, wir möchten Rede sein kann. Dieser Vorwurf ist mir un- SPIEGEL: Sie haben die wahlkämpfenden gern, dass das eine Steuer wird, über deren verständlich. Ministerpräsidenten vergessen. Reinhard Einführung und Höhe die Länder selbst SPIEGEL: Man muss dabei auch über Perso- Klimmt im Saarland macht eine andere Po- bestimmen und auch allein die Verantwor- nen reden. Zunächst war Oskar Lafontaine litik. tung übernehmen wollen, dann wird die als Verfechter des Gerechtigkeitsmodells Schröder: Dass der eine oder andere sich Bundesregierung fair sagen: Darüber kön- sehr stark. Sie haben sich zurückgehalten. auch mal gegen die Regierung in Bonn nen wir reden. Schröder: Man soll Historie auch Historie oder gegen die Führung der SPD profiliert, SPIEGEL: Das ist dann allein Sache der sein lassen, selbst wenn es noch nicht so ist eine Erfahrung, die einem wie mir, der Länder? lange her ist. selbst schon hinter jedem Busch gesessen Schröder: Ja. Dann gibt es im Föderalismus SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht etwas zu hat, nicht fremd ist. Aber wenn es zum eine solide Konkurrenz zwischen denen, einfach? Die Probleme kommen ja nicht Schwur kam, hat Reinhard Klimmt immer die die Vermögensteuer erheben wollen, nur aus 16 Jahren Kohl, sondern auch aus noch bewiesen, dass er ein zuverlässiger und denen, die sie nicht erheben wollen. den ersten sechs Monaten Ihrer Amtszeit. Mitstreiter ist. Das wird auch in Zukunft so Für mich ist die Debatte beendet.Wir wer- Schröder: Das ist der weniger bedeutende sein. Ich bin da nicht sonderlich ängstlich. den den Ländern anbieten: Ihr könnt die Teil. Da gab es gewiss auch Nachbesserun- Im Übrigen will er mit seiner Kritik an der Kompetenz für die Erhebung bekommen, gen, die überflüssig waren. Was uns wirk- Bundesregierung wohl auch klarmachen, da euch die Einnahmen aus der Steuer oh- lich Schwierigkeiten macht, sind die un- dass er die Verantwortung für sein Wahl- nehin zustehen. Was ich nicht so gern hät- terbliebenen strukturellen Reformen aus ergebnis allein übernehmen will. der Kohl-Ära, die wir jetzt Parteifreunde Schröder, Lafontaine*: SPIEGEL: Und die Vermögensteuer, die er „Bis heute kein Motiv“ durchsetzen müssen, zum einfordert? Wollen Sie die jetzt auch? Teil gegen unsere Klientel. Schröder: Nein, die Bundesregierung hat SPIEGEL: Aber Ihre Glaub- klar gesagt, aus welchen Gründen sie das würdigkeit wäre größer, hät- nicht will. Erstens führen wir keine Steuer- ten Sie gleich begonnen. erhöhungsdebatte. Das ist der Kern unse- Schröder: Ja, Entscheidun- res Programms, was die Unternehmensbe- gen darf man nicht auswei- chen, das ist die wichtigste Erfahrung meiner ersten * Oben: am 23. Juni im Hauptquartier der Kfor-Truppen in Prizren im Kosovo; unten: am 27. September 1998 auf Monate. Wer es versucht, der Wahlparty vor dem Bonner Erich-Ollenhauer-Haus. DPA den holen die Versäumnisse 27 Deutschland ein. Die Glaubwürdigkeit müssen wir jetzt man dann aber gemeinsam etwas erreicht ren wir das. Das hat es mir leicht gemacht, sozusagen nachträglich begründen, auch hat, stellen sich, jedenfalls für mich, Loya- mit Oskar auszukommen und Rücksicht durch die Durchsetzung dieses Programms. litäten ein, auf die ich auch wirklich ge- auf ihn zu nehmen. SPIEGEL: Diese Strukturreform wäre mit achtet habe. Diese Tatsache bringt einen SPIEGEL: Nun sind Sie ja der Gewinner. Lafontaine nicht machbar gewesen? dann vielleicht zu Kompromissen, die man Schröder: Mag sein. Aber ich bin nicht da- Schröder: Da bin ich nicht sicher, weil er ge- besser nicht gemacht hätte. von ausgegangen, dass es unter allen Um- legentlich aus dem Bauch viel weiterge- SPIEGEL: Zum Beispiel? ständen zum Bruch kommen würde. Bis hende Vorschläge gemacht hat. Erinnern Schröder: Ich habe die Auseinandersetzung heute kenne ich nicht sein Motiv. Sie sich an die angekündigte Neugestal- mit der Bundesbank immer für unsinnig SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, Lafontaines tung der gesamten Arbeitslosenversiche- gehalten. Die kann man in Deutschland Nachfolger als Finanzminister, Hans Ei- rung. Diesen Vorschlag hat er auf dem Par- sowenig gewinnen wie einen Kulturkampf. chel, will innerhalb von zwei Legislatur- teitag unmittelbar nach der Bundestags- Doch ich habe nichts gesagt. perioden einen ausgeglichenen Haushalt wahl gemacht, ohne jede Absprache. Ich SPIEGEL: Haben Sie in der Zwischenzeit erreichen. Sein Vorbild ist Bill Clinton. Der saß daneben und war wie vom Donner einmal mit ihm gesprochen? hat dafür sieben Jahre gebraucht. gerührt. Schröder: Ich habe seinerzeit versucht, ihn Schröder: Hans Eichel hat seine Absichts- SPIEGEL: Haben Sie Angst vor seinem anzurufen. Damals hat er ein Gespräch ab- erklärung an bestimmte Voraussetzungen Buch? gelehnt. Jetzt habe ich einen Freund von geknüpft, die man beachten muss. Er hat Schröder: Nein. Das war noch nie gut, wenn nämlich gesagt: Mit dem Programm, das jemand gegangen ist und denen, die schwe- „Ich habe die Auseinander- wir vorhaben, wollen wir Wachstum för- re Arbeit machen, Steine ins Kreuz wirft. setzung mit der Bundesbank dern. Wachstum bedeutet ein Mehr an Das goutiert keine Öffentlichkeit und erst Steuereinnahmen, und dieses kann – bei recht nicht die SPD. für unsinnig gehalten“ gleichzeitiger Weiterführung des Sparkur- SPIEGEL: War es psychologisch schwierig, ses – dazu führen, dass wir einen ausgegli- mit einem Parteivorsitzenden und Finanz- ihm, den auch ich gut kenne, gebeten, ihn chenen Haushalt bekommen, ohne dass minister in einer Person zu tun zu haben? zu fragen, ob er reden wolle. Und er hat ge- der Sozialstaat kaputt gespart wird. Das Schröder: Möglich, aber bei Psychologie sagt, er brauche noch Zeit. wollen wir ja alle miteinander nicht. Und geht es ja meist um Dinge, die einem nicht SPIEGEL: Die Zeit braucht er jetzt, um ein das werden wir auch nicht tun. so klar sind. Ich halte es nicht für ausge- Buch mit einer Abrechnung zu schreiben. Aber dass der Umbau des Sozialstaates schlossen, dass der unbedingte Wunsch, Schröder: Er soll diese Zeit haben. nötig ist und dass wir ihn anpacken, haben eine im Wahlkampf und vorher erfolgrei- SPIEGEL: Sie müssten doch eigentlich bei wir mit Riesters Rentenprogramm bewie- che Beziehung nicht in Schwierigkeiten zu allen Freundschaftsbeteuerungen gewusst sen. Das ist der Zusammenhang, in dem bringen, einen unfreier gemacht hat, als haben, dass es vor allem eine politische Hans Eichel denkt. man sonst ist. Freundschaft war, die irgendwann mal so SPIEGEL: Mussten Sie beim Sparprogramm SPIEGEL: War Lafontaines Befreiungsschlag oder ähnlich enden musste. von Ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch auch einer für Sie? Schröder: Ich weiß nicht, ob man das weiß. machen? Schröder: Nein, „Befreiungsschlag“ will ich Im Übrigen waren diese Freundschaftsbe- Schröder: Das brauchte ich nicht. Das Pro- es nicht nennen, weil es ja auch Schwie- teuerungen nicht verlogen. Wenn es je Po- gramm des Finanzministers ist innerhalb rigkeiten und Enttäuschungen mit sich ge- litiker gegeben hat, die sich ähnelten, was kürzester Zeit durch das Kabinett ge- bracht hat. ihre Herangehensweise an Politik angeht gangen. Jeder der Beteiligten, einschließ- SPIEGEL: Was heißt das? und ihre ganze Lebensauffassung, dann wa- lich des Verteidigungsministers, hat gesagt: Schröder: Ich war ja nun Kanzler gewor- Das Sparprogramm 2000 ist unbedingt den, was er auch mal werden wollte.Wenn * Am 23. Juli auf dem Weg nach Prizren. nötig. Balkan-Beauftragter Hombach, Kanzler Schröder*: „Von einer ungeklärten Position kann keine Rede sein“ F. OSSENBRINK F. SPIEGEL: Gegenüber dem Parlament haben Sie aber keine Richtlinienkompetenz. Schröder: Und gegenüber der Partei auch nicht. Leider schon gar nicht gegenüber dem SPIEGEL. SPIEGEL: Was wird aus dem Ziel, die Ar- beitslosigkeit zu beseitigen? Schröder: Die Arbeitslosigkeit verringert sich als Folge dessen, was auf dem Tisch liegt. SPIEGEL: Es war ursprünglich mal Ihr ers- tes Ziel. Schröder: Es bleibt auch das wichtigste Ziel. Die Jugendarbeitslosigkeit ist seit mei- nem Amtsantritt um zweistellige Raten zurückgegangen. Insgesamt liegt die Ar- beitslosenzahl unter vier Millionen. SPIEGEL: Ja, es ist ein schöner Sommer. Sind Sie eigentlich überrascht, dass es – abge- sehen von kritischen Bemerkungen eini- ger Juso-Parteisoldaten und im Wahlkampf bedrängter sozialdemokratischer Minis- F. OSSENBRINK F. terpräsidenten – keine wirklich massive / GRAFFITIM. STORZ Kritik aus der SPD an Ihrer Spar- und Re- SPD-Nachwuchs Bury, Hauer: „Eine gewisse Kontinuität der Generationen sollte schon sein“ formpolitik gibt? Schröder: Ich bin nicht davon überrascht, SPIEGEL: Setzen Sie deshalb auf die Jun- Schröder: Nein, nicht geschäftsführend, das denn ich kenne – anders, als man mir ge- gen? würden die anderen nicht akzeptieren. legentlich unterstellt – die Partei gut. Un- Schröder: Ja.Als Parteivorsitzender und als SPIEGEL: Wer wird das, Franz Müntefering sere Mitglieder und Anhänger verstehen, Kanzler habe ich mir vorgenommen, wann oder Scharping? dass wir mit den Reformen auch jene un- immer es sachlich vertretbar ist, Leute zwi- Schröder: Es ist mit Rudolf Scharping be- erträgliche Differenz beseitigen zwischen schen 30 und 40 in Ämter zu bringen. Des- sprochen, dass das eine Sache ist, die Franz dem, was die arbeitenden Menschen brut- halb habe ich auch den 33-jährigen Hans Müntefering machen kann. to verdienen und netto in der Kasse haben. Martin Bury ins Kanzleramt geholt. Das SPIEGEL: Neben dem Ministeramt? Das ist der eine Punkt. war sehr bewusst. Das muss weitergehen. Schröder: Ja, davon gehe ich aus. Sie begreifen auch, dass Eichels Sparpro- SPIEGEL: Nur im Kanzleramt? SPIEGEL: Welche Rolle bleibt dann für den gramm und der Umbau der Sozialversi- Schröder: Das muss auch im Parteivorstand Geschäftsführer Ottmar Schreiner? cherungssysteme dazu führen werden, die so sein. Man darf nicht nur diejenigen neh- Schröder: Keine Veränderung. Ottmar Beiträge der Beschäftigten nicht höher, men, die aus den Jugendorganisationen Schreiner ist zu mir gekommen und hat ge- sondern geringer werden zu lassen, oder über Quoten gekommen sind und sagt: Ich will eine Chance, die Organisation während diejenigen, die heute 25 oder 35 dann automatisch reinrutschen wollen. auf Vordermann zu bringen. Franz Münte- Jahre alt sind, sicher sein können, dass sie Man muss auch mal andere holen, die früh fering wird dann eine besondere Verant- im Alter ebenfalls noch von den sozialen Verantwortung übernommen haben – Sig- wortung bekommen, aber an den formalen Sicherungssystemen profitieren. mar Gabriel aus Niedersachsen beispiels- Kompetenzen wird sich nichts verändern. SPIEGEL: Ist Ihnen der grüne Koalitions- weise oder den Umweltminister im Saar- SPIEGEL: Warum ausgerechnet Münte- partner dabei eine Hilfe? land Heiko Maas oder ein paar sehr gute fering? Schröder: Durchaus. Die Grünen haben junge Abgeordnete aus den neuen Bun- Schröder: Ich glaube, er hat in seiner Zeit sich entwickelt von einer Ein-Punkt-Partei, desländern oder junge Frauen wie Nina als Geschäftsführer bewiesen, dass er das die nur Ökologie und Atom im Sinne Hauer. kann. Insofern ist das auch ein Stück Ein- hatte, zu einer Partei, die im Wirtschafts- SPIEGEL: Sind Sie dabei, sich eine eigene gehen auf Bedürfnisse der Partei. politischen durchaus sehr rationale, sehr Gefolgschaft aufzubauen? SPIEGEL: Für welche Aufgaben sollen denn marktnahe Forderungen vertritt. In der So- Schröder: Nein, das ist nicht das Ziel.Aber Ihre Stellvertreter zuständig sein? zialpolitik orientieren die Grünen sich sehr eine gewisse Kontinuität der Generationen Schröder: Für alle, die in der Politik denk- stark an dem Subsidiaritätsprinzip. sollte schon sein, gar nicht so sehr meinet- bar sind: Außen- und Sicherheitspolitik, SPIEGEL: Das klingt, als seien die einstigen wegen. Ich habe ja nicht am Zaun des Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Dazu Alternativen realitätstauglicher als Teile Adenauerhauses gerüttelt. zählt auch die Entwicklungshilfe ebenso der SPD? SPIEGEL: Das wäre wohl auch die falsche wie die Medienpolitik. Und wir brauchen Schröder: Man darf den einen nicht gegen Adresse gewesen. Oder wollten Sie die jemanden für die Grundwertediskussion. den anderen ausspielen. Das ist nun wirk- CDU auch gleich noch übernehmen? Ich denke, wir werden ein Tableau der be- lich nicht mein Job. Schröder: Des Ollenhauer-Hauses, ja sonderen Verantwortlichkeiten für die SPIEGEL: Ist es nun Ihr Job, in der SPD ähn- (lacht). Stellvertreter schaffen. Sonst besteht die liche Veränderungen herbeizuführen, wie SPIEGEL: Haben Sie Zeit genug für Regie- Gefahr, dass sich die Partei vernachlässigt sie Joschka Fischer in Bezug auf Krieg und rung und Partei? fühlt. Das darf nicht sein. Frieden bei den Grünen bewirkt hat? Schröder: Alle stellvertretenden Parteivor- SPIEGEL: Sie haben das Schröder-Blair-Pa- Schröder: Einige in der SPD müssen sich sitzenden müssen mehr Funktionen über- pier im Kanzleramt geschrieben. Soll das über die Frage klar werden: „Was steht nehmen. Und einer soll eine besondere so bleiben, dass die Planung und die Pro- verteilungspolitisch noch zur Verfügung?“ Verantwortung für die innere Organisation grammatik der SPD dort formuliert wird? Die Antwort kann am Ende nur lauten: kriegen. Schröder: Nein, das Papier ist in Zusam- nur Teile dessen, was zuvor produziert SPIEGEL: Ein geschäftsführender Stellver- menarbeit mit Blair und seinen engsten worden ist. treter? Mitarbeitern entwickelt worden.

der spiegel 31/1999 29 AFP / DPA Regierungschef Schröder*: „Die Partei darf sich nicht vernachlässigt fühlen“

SPIEGEL: Das hätte die SPD-Baracke ja auch SPIEGEL: Sie sagen, die Regierung habe die re deutsch-französische Verhältnis für jün- machen können. Außenpolitik neu justiert. Kommt jetzt gere Menschen anders legitimiert werden Schröder: Da muss niemand Angst haben. die Nachkriegsgeneration und trumpft muss als für frühere Generationen. Wir Die Programmdebatte der SPD wird nicht auf? müssen die Gesellschaften näher zueinan- aus dem Kanzleramt organisiert, sondern Schröder: Nein. Aber von einem neuen der bringen. Regierungskontakte sind in Gremien der Partei. Selbstbewusstsein würde ich schon spre- wichtig. Aber es geht um die Herausarbei- SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, was hat der chen. Diese Generation hat die Aufgabe, tung von gemeinsamen Werten in der Kul- Kosovo-Krieg für die Stellung der Bundes- deutsche Außenpolitik, soweit sie nicht eu- tur, im Sozialen und natürlich auch im republik Deutschland in Europa und der ropäisch ist, nicht nur im Rückgriff auf Ver- Wirtschaftlichen. Welt verändert? gangenheit zu definieren. Die dürfen wir SPIEGEL: Gibt es zu den Engländern auch Schröder: Ich glaube, dass wir Deutsche ein solches Sonderverhältnis? durch die Beteiligung am Kosovo-Krieg „Berlin wird mittel- und Schröder: Europa muss ein Interesse daran deutlich gemacht haben, dass wir – auch langfristig eine der spannendsten haben, dass Großbritannien sich noch angesichts der Schrecken eines Krieges – mehr als bisher in die EU integriert. Die ebenso wie unsere Partner bereit und in der Metropolen der Welt“ britische Regierung wird zu entscheiden Lage sind, die volle Verantwortung für Sta- haben, ob – ich meine eher: wann – sie der bilität und Sicherheit zu übernehmen. Das nicht verdrängen, sie bleibt präsent. Aber Eurozone beitreten will. Und wir haben gilt vor allem innerhalb des Bündnisses. entscheidend muss sein, was wir künftig ein Interesse daran, ihr diesen Schritt zu SPIEGEL: Warum haben Sie den zentralen wollen. erleichtern. Job des Nato-Generalsekretärs nicht für SPIEGEL: Sind wir also jetzt das, was die SPIEGEL: Wie gefährlich könnten Unruhen die Deutschen reklamiert? Amerikaner uns schon mal nachgesagt ha- in Russland für Deutschland werden? Schröder: Es war Rudolf Scharpings Ent- ben, nämlich „partners in leadership“? Schröder: Wir versuchen, dort ökonomi- scheidung, dieses Amt nicht anzustreben. Schröder: Ich glaube, wir sind auf dem Weg. sche Stabilität zu fördern. Die von uns ge- SPIEGEL: Haben Sie ihn beeinflusst? Aber wir sind es als Teil Europas. Nicht währten Kredite sind ein Beitrag zur Si- Schröder: Wenn Rudolf Scharping den Pos- die Nationalstaaten werden Partner Ame- cherheitspolitik. Die Stabilität im Osten ten bei der Nato gewollt hätte, hätte ich rikas, sondern ein gemeinsam handelndes wird auch weiterhin eine besondere Auf- ihm keinen Stein in den Weg gelegt. Auch Europa wird es mehr und mehr werden. gabe Deutschlands bleiben. wenn es mir schwer gefallen wäre. Denn er SPIEGEL: Gibt es keine Krise im deutsch- SPIEGEL: Die Westmächte waren noch nie macht seine Sache gut und ist deshalb französischen Verhältnis? bereit, diese Summen als eine Leistung für wichtig für die Regierung. Schröder: Allem, was da jetzt so geredet die Sicherheitspolitik anzurechnen. SPIEGEL: Wäre dieser Posten dennoch zu wird, zum Trotz: Wir sind auf einem guten Schröder: Vor dem Fall des Eisernen Vor- haben gewesen, mit einer anderen Person? Weg. Nun muss man warten und das, was hangs gab es auch gute Gründe dafür.Aber Schröder: Nein, nur mit Rudolf. Der politi- wir neu begonnen haben, reifen lassen. jetzt muss die besondere Rolle bei der Sta- sche Zuschnitt eines Kandidaten für das Amt SPIEGEL: Aber die Zeit der Romantik ist bilisierung Ost- und Südosteuropas, die wir des Nato-Generalsekretärs muss ja auch die auch für Sie vorbei? in der Vergangenheit geleistet haben und in anderen Nato-Partner überzeugen. Schröder: Es geht nicht um Romantik, dar- Zukunft leisten werden, anerkannt werden um ging es eigentlich nie. Heute müssen als unser spezifischer Beitrag, der den al- * Am vergangenen Mittwoch im Park des Kanzleramtes wir klarmachen, dass – bei aller Erinne- ler anderen überragt.Wenn es um unseren auf dem Weg zur letzten Kabinettssitzung in Bonn. rung an die Vergangenheit – das besonde- Beitrag für die militärische Sicherheit geht,

30 der spiegel 31/1999 Deutschland muss dies auch in Rechnung gestellt werden. SPIEGEL: Wie wird sich die Rolle Deutsch- lands verändern, wenn die östlichen Nach- barn langsam in die EU hineinwachsen? Schröder: Ich habe mit Freude zur Kennt- nis genommen, dass Günter Verheugen von Herrn Prodi mit den Aufgaben der Erwei- terung betraut wurde. SPIEGEL: Das war auch Ihr Wunsch? Schröder: Das war auch mein Wunsch, aber letztlich Romano Prodis Entscheidung. Wir Deutsche müssen dafür sorgen, dass dieser Prozess der EU-Erweiterung auf kei- nen Fall aufgehalten wird. Das ist auch eine Lehre aus der Kosovo-Krise. Im Übrigen haben wir ein Interesse an der Zügigkeit dieses Prozesses, schon im Hinblick auf die deutsche Industrie. SPIEGEL: Bringen Sie von der Konferenz in Sarajevo Ergebnisse mit, die zur Stabilisie- rung der Region beitragen, oder war dieses Treffen nur Symbolik? Schröder: Nein, nicht nur. Es war ein poli- tischer Auftakt für den Stabilitätspakt, der jetzt mit Leben erfüllt werden muss. Das Nächste wird die Einleitung des Geber-

Prozesses sein. Aber unterschätzen Sie & PARTNER BACH PRESSEFOTO auch die Wirkung von Symbolik in dieser Kanzleramtsbaustelle in Berlin: „Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner?“ Region nicht. Sarajevo ist nicht irgendeine Stadt. Es ist von hoher Bedeutung für die SPIEGEL: Ist das alles, was Sie jetzt be- in den Gebäuden der Vergangenheit sit- Menschen in Südost-Europa, wenn die schreiben, die neue Politik der Berliner Re- zen? Staats- und Regierungschefs der bedeu- publik? Schröder: Das glaube ich nicht. Ich sitze tendsten Staaten sich persönlich für die Schröder: Wenn ich mich auf die Arbeit in beispielsweise im Staatsratsgebäude der Stabilität dieses Raumes in einer Stadt en- Berlin freue, denke ich nicht so sehr an DDR. Dort bin ich 1985 einmal von Erich gagieren, die für Krieg, aber auch für Frie- Veränderungen in Deutschlands Außen-, Honecker in dem Saal empfangen worden, den in unserem Jahrhundert steht. Sicherheits- und Innenpolitik als vielmehr in dem am 25. August die erste Kabinetts- SPIEGEL: Bodo Hombachs Position als Bal- an eine Veränderung der Politiker. Die Her- sitzung nach dem Umzug stattfindet. kan-Beauftragter ist auch nach der Konfe- ausforderungen und die Widersprüchlich- Natürlich erinnere ich mich daran, dass mir renz ungeklärt. Die Europäische Kommis- keiten einer Großstadt sind andere als die die SED-Leute damals gesagt haben: Ihr sion hat ihm einen eigenen Stab verwei- einer bedeutenden Mittelstadt. Ich glaube, müsst immer wählen, wir bleiben ewig. gert, und seine Kompetenz und Aufgaben dass sich der Stil ändern wird. Aber dass ich nun dort regiere, hat keine sind vage. Was erwarten Sie von ihm? SPIEGEL: Ändert sich der Bezug zur Realität emotionale Wirkung auf mich. Schröder: Von einer ungeklärten Position des Landes? SPIEGEL: Die Vergangenheit Deutschlands kann keine Rede sein. Die Europäische Schröder: Ja. In Bonn saßen Politiker und reicht ja über die DDR zurück. Union hat die Position Bodo Hombachs in Journalisten dicht aufeinander. Das wird Schröder: Gewiss, aber für mich selbst einer sogenannten Gemeinsamen Aktion in Berlin anders werden. Ich bin überzeugt, ändert sich auch nicht die Politik des- rechtsförmlich völlig klar und in allen dass die Stadt mittel- und langfristig eine wegen, weil der Finanzminister künftig Punkten festgelegt. Bodo Hombach arbei- der spannendsten Metropolen der Welt im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium tet bereits mit voller Energie an seinen werden wird. Es gibt keinen Ort, der so als sitzt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, neuen Aufgaben. Nach meinem Eindruck Brücke zwischen Ost und West geeignet dass sich Joschka Fischer jeden Tag in von der Konferenz in Sarajevo wird dies ist wie Berlin. seinem Büro seufzend an Hjalmar Schacht auch von den betroffenen Staaten sehr an- SPIEGEL: Wird es die Politik beeinflussen, erinnert. erkannt. wenn ihre Macher – jedenfalls zum Teil – SPIEGEL: Sie bekommen in Berlin ein sehr viel monumentaleres Kanzleramt, als Sie in Schröder, SPIEGEL-Redakteure*: „Entscheidungen darf man nicht ausweichen“ Bonn hatten. Schröder: Stimmt. Und das erkenne ich – je fertiger es wird, immer deutlicher – als ein Stück guter deutscher Architektur. Trotz- dem – wenn ich dabei gewesen wäre, als es geplant wurde, hätte ich Herrn Schultes, den ich für seine Arbeit sehr bewundere, gesagt: Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner? SPIEGEL: Herr Bundeskanzler Schröder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Hajo Schumacher, Jürgen Leinemann, Stefan Aust im

T. SANDBERG T. Garten des Lokals „Wiechmann“ in Hannover.

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Müller, den schon in der benachbarten ler für Sticheleien: „Die schämen sich für WAHLEN Pfalz kaum jemand kennt. ihren einstigen Helden.“ Der Einser-Jurist Der CDU-Herausforderer an der Saar weiß: Sein Gegenspieler, der mit Lafontaine Kampf hat es geschafft, den Amtsinhaber nervös privat und politisch unverändert dicke ist – zu machen. „Klimmt ist dabei zu ver- ob beim gemeinsamen Kochen oder auf krampfen“, stellt Müller, 43, erfreut fest. Touren durchs nahe gelegene Elsass –, zuckt um die Kohle Mit einem Gegner namens Lafontaine wäre bei solchen Sätzen zusammen. das kaum gelungen. Für den hochfahren- Als Wahlkämpfer verfügt Müller über Saar-Ministerpräsident Klimmt den Saar-Regenten war der Oppositions- ein beachtliches Repertoire: Auf der Straße führer im Landtag einfach Luft. gibt er den Agitator („Unterschreiben Sie steht unter Druck – mit einem Auch nach dem Sieg der SPD im Bund hier, damit das Rentenchaos aufhört“), in prominent besetzten Team könnte schien die Zukunft der Sozis gesichert – der Kneipe macht er auf Kumpel („Man ihn Herausforderer Peter dank einem wunderbaren Saar-Modell: darf alles nicht so eng sehen“). Müller am 5. September schlagen. Der Finanzminister an den Fleischtöpfen Vor allem aber hat sich Müller im Ge- im „Reich“, wie der Rest der Republik in gensatz zu Klimmt mit einem unkonven- n dem Spieler im blauen Trikot mit dem kleinen Grenzland immer noch heißt, tionellen Team umgeben, das Aufbruch- der Nummer 15 kommt so leicht sorgt dafür, dass es daheim an nichts fehlt. stimmung verbreiten soll. In der Hightech- Akeiner vorbei. Der ältere Herr auf Vorbei. Dass die Genossen verbreiten, Firma IDS des Wirtschafts-Informatikers der Libero-Position kämpft um jeden Ball der Privatmann Oskar werde bis zum Wahl- August-Wilhelm Scheer doziert er: „Kaum mit bulligem Körpereinsatz. tag politisch abstinent bleiben, nutzt Mül- ein Bundesland hat neuen Gründergeist so Als kraftvoller Verteidiger muss sich sehr nötig wie das Saarland.“ Hobby-Fußballer Reinhard Klimmt, 56, Dass der parteilose Professor in Müllers derzeit nicht nur auf dem Rasen beweisen. „Zukunftsteam“ mitmacht, gilt in Saar- Der saarländische Ministerpräsident ist brücken als Coup. Scheer gehört zu den er- auch politisch gefährlich in die Defensive folgreichsten Unternehmern des Landes. geraten. Nach 14 Jahren SPD-Herrschaft In enger Verzahnung mit seinem Hoch- an der Saar droht dem Nachfolger von schuljob ist es ihm gelungen, ein expan- Oskar Lafontaine eine derbe Niederlage. dierendes Software- und Beratungshaus Bei der Landtagswahl am 5. September hochzuziehen (SPIEGEL 20/1999). könnte die CDU die Wende packen. Uni- Als Müller im Februar bei Scheer son- onsstrategen wittern eine reelle Chance, dierte, war er einfach schneller als die seit es ihnen bei den Kommunal- und Eu- Konkurrenz. „Ich kann mich einer demo- ropawahlen im Juni gelang, die Regie- kratischen Partei nicht verweigern“, sagt rungspartei klar zu schlagen. In den Städ- der Professor verschmitzt. Nach einem ten und Gemeinden des Saarlandes (1,1 CDU-Wahlsieg will er ehrenamtlich in der Millionen Einwohner) steigerte sich die Staatskanzlei mitarbeiten. CDU um 7,5 Prozent auf 45,8 Prozent und So steht Scheer als Symbolfigur für Mül- liegt jetzt 3,5 Prozentpunkte vor der SPD. lers wichtigstes Projekt: den Ausstieg aus Klimmt steht massiv unter Druck. Dass der Kohle. Das Saarland müsse ohne den der ernste, bedächtige Genosse neuerdings Bergbau, der zur Zeit noch 13 000 Men- eine politische Granate nach der anderen schen Arbeit gibt, „lebensfähig werden“. in den Strafraum der eigenen Leute bolzt, Gewerkschafter beschimpfen Müller nun

um Punkte als parteiinterner Oppositions- A. VARNHORN als „Landesverräter“. führer zu sammeln, liegt vor allem an ei- Fußballer Klimmt Ebenso viele Emotionen wie der Kampf nem Mann mit dem Allerweltsnamen Peter Granaten in den eigenen Strafraum um die Kohle erregt ein weiterer Promi in Müllers Team: Michel Friedman (CDU), Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Ju- den in Deutschland. Der Frankfurter Rechtsanwalt berät Müller vor allem in bil- dungs- und kulturpolitischen Fragen. Bei- de kennen sich seit vielen Jahren. „Ich schätze ihn als Freund, weil er sehr ehrlich und sehr geradlinig ist“, lobt Friedman. Für Müller erweist sich Friedman freilich auch auf erschreckende Weise als Risiko- faktor: „Auf ihn werde ich mit Abstand am häufigsten angesprochen“, erzählt der Kandidat. Sprüche der Marke „Was sollen wir mit dem Juden im Saarland“ seien üb- lich: „Das Ausmaß des Antisemitismus hat mich überrascht und schockiert.“ Friedman selbst teilt die Überraschung nicht, die Ressentiments seien im Saarland nicht anders als überall in Deutschland. Für die CDU sei sein Auftritt im Wahl- kampf „von großer symbolischer Bedeu- tung“, glaubt er: „Für die einen bin ich mit

BECKER & BREDEL meiner Politik Zündstoff, für die anderen Wahlkämpfer Müller: „Unterschreiben Sie hier“ Balsam.“ Dietmar Pieper

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Werbeseite Deutschland

AFFÄREN „Der Nimbus ist hin“ Bayerns Ministerpräsident Stoiber gerät wegen des Millionendebakels einer staatlichen Wohnungs- baugesellschaft unter Druck. Er setzte das riskante Ost-Engagement des Unternehmens gegen massiven Widerstand durch. Die CSU fürchtet nun um das Macher-Image ihres Vorsitzenden.

er Brief an den „sehr geehrten Herrn Kollegen“ und „lieben Ge- Dorg“ war rüde im Ton und knallhart in der Sache. Er müsse „Deiner Auffassung entschieden widersprechen“, ließ Edmund Stoiber (CSU) seinen Parteifreund Georg von Waldenfels wissen: „Schon den An- satz“ der Überlegungen „teile ich nicht“. Auch warf Stoiber dem Kabinettskollegen indirekt vor, dessen Haus verbreite die Un- wahrheit über Besprechungen zwischen den beiden Ministerien. Das von Stoiber unterschriebene Schrift- stück vom 12. August 1991 bringt den bayerischen Ministerpräsidenten, CSU- Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten in spe jetzt in schwere Bedrängnis. Erstmals seit seinem Amtsantritt vor über sechs Jah- ren droht der Strahlemann der Union in den Strudel einer Affäre zu geraten. Was der Opposition aus SPD und Grü- nen weder bei den Amigo-Geschichten von Stoibers Vorgängern Franz Josef Strauß und Max Streibl noch bei den skandalösen

Vorgängen um den Bäderunternehmer und H. DARCHINGER J. Steuerflüchtling Eduard Zwick gelang, Ministerpräsident Stoiber: Rüde im Ton, knallhart in der Sache könnte angesichts des öffentlich geworde- nen Millionendebakels bei der staatlich do- Peinlich für Stoiber ist, dass er mit den Bereits wenige Monate später jedoch minierten Landeswohnungs- und Städte- schwer fassbaren Vorgängen bei der LWS machte das Finanzressort erhebliche Be- baugesellschaft Bayern GmbH (LWS) nun mehr zu tun hat, als er und seine Staats- denken geltend; es übermittelte diese dem funktionieren: dem Regierungschef Stoi- kanzlei zunächst glauben machen wollten. Innenministerium am 5. Februar 1991 in ber mit dem Image des erfolgreichen Kri- Denn aus dem Brief vom 12. August 1991 deutlichen Worten. Nachdem das Schrei- senmanagers einen schwarzen Fleck auf geht eindeutig hervor, dass sich der dama- ben monatelang unbeantwortet blieb, der weißen Weste zu verpassen. lige, für den Wohnungsbau zuständige In- wandte sich Waldenfels schließlich am 22. Das „Fiasko“ bei der LWS habe Stoiber nenminister Stoiber nach dem Zusam- Juli 1991 persönlich an Stoiber. „selbst angerichtet und politisch zu ver- menbruch der DDR gegen den massiven „Im Gegensatz zur Haltung der Ge- antworten“, urteilt der Vize-Chef der SPD- Widerstand von Finanzminister Walden- schäftsführung, die ein verstärktes Enga- Fraktion im Landtag, Franz Maget: „Wir fels dafür einsetzte, den Aktionsradius der gement der LWS im Bauträger- und Bau- haben eine unglaubliche Affäre, und der LWS auf die neuen Länder auszudehnen – betreuungsbereich anstrebt“, schrieb der Ministerpräsident steckt mittendrin.“ und in das riskante Bauträgergeschäft mit Finanzminister, „bin ich der Meinung, dass Schon keimt bei Sozialdemokraten in Gewerbeimmobilien einzusteigen. Eine sich die LWS angesichts ihrer strukturellen Bonn und Berlin gar die Hoffnung, der verhängnisvolle Weichenstellung, in deren Probleme aus dem operativen Geschäft Siegertyp aus dem Süden könnte durch Folge das Unternehmen nur knapp am zurückziehen und sich im Wesentlichen auf die LWS-Affäre so beschädigt werden, dass Konkurs vorbeischrammte und bislang 367 die Verwaltung und den Ausbau des Woh- er als nächster Herausforderer für Kanzler Millionen Mark in den Sand gesetzt hat. nungsbestandes konzentrieren soll.“ Bau- Gerhard Schröder nicht mehr in Frage Bis 1991 hatte die Gesellschaft lediglich trägergeschäft und Grundstückshandel, käme. Bayerns SPD-Chefin Renate Wohnungen, und zwar in Bayern, errichtet warnte der Finanz- den Innenminister, sei- Schmidt jedenfalls, zugleich stellvertre- und ihre rund 21000 Einheiten vermietet en „riskant und könnten die LWS in er- tende Bundesvorsitzende ihrer Partei, kon- und verwaltet. Kurz nach der Wende, im hebliche Schwierigkeiten bringen“. statiert: „Der von Stoibers Heerscharen April 1990, beschloss der Aufsichtsrat aber Auf dem Waldenfels-Brief notierte Stoi- gepflegte Nimbus des Unbefleckten ist einstimmig ein „neues Unternehmenskon- ber hinten handschriftlich: „Diese Auffas- hin.“ Falls Stoiber „sich überhaupt traut, zept“. Dieses sah vor, die Bereiche Bauträ- sung teile ich nicht.“ Auf der Vorderseite das Risiko einer Kanzlerkandidatur ein- germaßnahmen sowie „Grundstücksan- und forderte er von seinen Beamten, zweimal zugehen, muss er das nach dieser Millio- -verkäufe zu stärken“. In dem Gremium wa- unterstrichen, eine „klare Antwort“. nenpleite ohne falschen Heiligenschein ren damals sowohl das Stoiber-Ministerium Die fiel in dem Brief vom 12.August 1991 tun“. als auch das Finanzministerium vertreten. dann tatsächlich so aus. Er halte daran fest,

34 der spiegel 31/1999 so Stoiber an den Finanzminister, dass die über die weitere – höchst unerfreuliche – mus Sauter alle Verantwortung abwälzen LWS „auch künftig operativ tätig bleiben Entwicklung unterrichtet. zu können, um selbst nicht in die Affäre muss“. Zudem teile er „ausdrücklich die Am 25. März 1997 informierte der da- hineingezogen zu werden, dürfte allerdings Gedanken und Forderungen“ des Amts- malige LWS-Aufsichtsratschef und Bau- nicht mehr aufgehen. „Stoibers plumpes chefs seines Hauses. Der hatte unter an- Staatssekretär im Innenministerium, Al- Ablenkungsmanöver ist gescheitert“, kon- derem das „hohe wohnungspolitische In- fred Sauter (CSU), seinen Regierungschef statiert ein wichtiger CSU-Mann. teresse“ des Freistaats daran bekundet, über „aktuelle Schwierigkeiten“ der Ge- Aufklären soll das LWS-Debakel ab „dass die LWS in Sachsen und Thüringen sellschaft. Sauter, heute Justizminister, mel- Herbst ein Untersuchungsausschuss des gute Beispiele des Wohnungsbaus schafft“. dete, das LWS-Eigenkapital von 46 Millio- Landtags. Außerdem prüft die Staatsan- Um „die Arbeit der LWS nicht durch nen Mark sei „aufgebraucht“, die Gesell- waltschaft München I aufgrund einer An- Unsicherheiten über die künftige Unter- schaft aber dennoch „nicht überschuldet“. zeige seit vergangener Woche, ob sie gegen nehmensstrategie zu belasten“, stellte Wal- „Voraussichtlich schon 1998“ werde sie die früheren Mitglieder von Geschäfts- denfels seine Bedenken am 15. Oktober „den ,Turn around‘ 1991 zurück – nicht ohne nochmals auf die geschafft haben“. mit Stoibers Linie „verbundenen Risiken“ In Wirklichkeit er- hinzuweisen. Listig fügte der Finanzminis- wirtschaftete die ter in dem Schreiben an Stoiber hinzu, er LWS 1998 wieder ein „hoffe, dass sich Deine Auffassung, die Minus, diesmal 19 strukturellen Probleme der LWS könnten Millionen Mark, auch ohne erhebliche Einschränkung der nach 119 Millionen in Geschäftstätigkeit dauerhaft gelöst wer- 1997. Am 5. August den, als richtig erweisen wird“. 1998, wenige Wochen Das tat sie nicht. vor der Landtags- C. LEHSTEN / ARGUM C. LEHSTEN / ARGUM Wie recht Waldenfels mit seinen Beden- wahl, unterrichtete HELLER / ARGUM F. ken hatte, sollte sich in den folgenden Jah- Sauter den Minister- CSU-Politiker Faltlhauser, Sauter, Waldenfels ren geradezu bilderbuchhaft bestätigen. präsidenten darüber, „Ablenkungsmanöver gescheitert“ Die LWS stieg mit Eifer und Großzügigkeit dass die „Bankver- ins gewinnträchtige Bauträgergeschäft ein bindlichkeiten der LWS“ auf 447 Millionen führung und Aufsichtsrat Ermittlungen we- – in dem schönen Gefühl, der Staat werde Mark geklettert und „Kapitaleinlagen der gen Untreue einleiten muss. Das wäre inso- sie im Zweifel schon vor der Pleite be- Gesellschafter von rund 150 Millionen Mark fern pikant, als sie dann gegen den eigenen wahren. Dabei verloren sie zwischen 1995 notwendig“ seien, sonst sei „der Fortbestand Justizminister, gegen Sauter vorgehen und und 1998 weit über 300 Millionen Mark.Al- der LWS-Gruppe gefährdet“. dessen Immunität aufheben lassen müsste. lein 55 Millionen mussten für das Zwi- Stoiber, der sich überaus gern zugute Egal wie die Untersuchungen enden – ckauer Objekt „Am Kornmarkt“, 22 Mil- hält, sich um alles und jedes ihm wichtig er- der CSU-Spitze ist klar, dass Stoiber aus der lionen für das „Straßberger Tor“ in Plau- scheinende Detail selbst zu kümmern, Affäre nicht unbeschädigt hervorgeht. en und weitere 22 Millionen für „Laetitia“ schritt laut Staatskanzlei nicht ein. Natürlich sei „der Gesamtvorgang LWS für in Kempten als drohender Verlust in die Für ihn, so der Ministerpräsident, sei den Ministerpräsidenten imageschädlich“, Bilanz eingestellt werden. 1997 „die Aussage des Aufsichtsrats ent- räumt der CSU-Fraktionschef im Landtag Dafür, dass die von Stoiber durchge- scheidend“ gewesen, „dass die LWS bald Alois Glück ein. Obwohl dem Ministerprä- setzte Unternehmensstrategie sich zu ei- wieder schwarze Zahlen schreiben wer- sidenten „kein Fehlverhalten vorzuwerfen“ nem solchen Desaster entwickelte, macht de“: „Darauf habe ich mich verlassen.“ sei, werde er „als Chef des Unternehmens Finanzminister Kurt Faltlhauser (CSU) die Den Vorwurf, für das LWS-Fiasko maß- Bayern haftbar gemacht für Fehler, die „Fülle von sehr schwerwiegenden Ma- geblich verantwortlich zu sein, weist Stoi- andere in der Firma begangen haben“. nagementfehlern“ der LWS-Geschäfts- ber energisch zurück. Die Entscheidung „Das, was hier gelaufen ist, ist ein- führung sowie die „lückenhafte Überwa- von 1991, sich im Trägergeschäft zu enga- fach nicht kompatibel mit dem Stoi- chung“ durch den Aufsichtsrat ver- gieren, sei schließlich „keines- ber-Bild, das wir über Jahre antwortlich (SPIEGEL 30/1999). wegs ein Freibrief für waghal- aufgebaut haben“, gesteht Stoiber selbst wurde, auch sige Immobilienge- ein anderer CSU-Mann nachdem er im Mai schäfte gewesen“. ein. 1993 in die Staats- Stoibers Kal- Wolfgang PLAUEN kanzlei gewechselt ZWICKAU kül, auf seinen KEMPTEN Krach, „Straßberger Tor“ war, immer wieder „Am Kornmarkt“ bisherigen Inti- „Laetitia“ Heiko Martens kalkulierter Verlust kalkulierter Verlust kalkulierter Verlust 22 55 22 Millionen Mark Millionen Mark Millionen Mark S. THOMAS (l.); W. NÜRBAUER / ARGUM NÜRBAUER (l.); W. S. THOMAS ROGGENTHIEN Verlustobjekte der LWS: „Fülle von sehr schwerwiegenden Managementfehlern“

der spiegel 31/1999 35 AP Polizeifahndung nach Zurwehme bei Stadthagen: Spuren quer durch Deutschland

Die Hatz forderte auch unschuldige Op- VERBRECHER fer: Ein Wanderer aus Köln, den eine Zeu- gin für Zurwehme hielt, wurde in Thürin- gen bei einem katastrophalen Polizei- Einer gegen alle einsatz erschossen (SPIEGEL 27/1999). Zeitweise kam auch ein Pflastermaler in Eine Menschenjagd wie die nach dem entsprungenen Mörder Dresden in Gewahrsam. Viele Jahre hat es eine Verbrecherjagd Dieter Zurwehme hat es lange nicht gegeben. Trotz ein- dieser Dimension nicht mehr gegeben: Ei- schlägiger Vita hatten Psychiater ihn mehrfach falsch beurteilt. ner gegen alle, Fahnder, die zu spät kom- men, dazu die Frage der Populisten, wes- m Gefängnis zu Rheinbach empfing er derem mit einer Telefonüberwachung. halb eigentlich einer wie Zurwehme nicht häufig Besuch aus dem nahen Kloster Aber immerhin fanden sie auf einem Was- für immer weggesperrt bleibe. IMaria Laach – Bruder Severin kam, um serglas in einer der Mord-Wohnungen ei- Auch in seinem Fall hatten sich Psycho- mit ihm über Gott zu reden und über die nen Fingerabdruck Zurwehmes. Experten gleich reihenweise widerspro- Welt. Der Strafgefangene Dieter Zurweh- Bei Stadthagen am Schaumburger Wald chen. Mal warnte ein Fachmann vor Zur- me, ein Mörder, Vergewaltiger und Räu- versuchte er dann, ein Mädchen zu verge- wehmes Gefährlichkeit, kurz darauf emp- ber, galt dem Pater als wissbegieriger, be- waltigen; sie verletzte ihn an den Genita- fahl ein anderer, nach vielen Jahren des lesener und intelligenter Mann. lien, Blut floss – mittels DNA-Analyse Vollzugs lockerer zu sein. Zurwehme lernte Latein und Franzö- konnte er als Täter identifiziert werden. Dabei gilt Zurwehmes Biographie vielen sisch, übte sich in Maschine schreiben und Quer durch Deutschland hat Zurwehme Kriminologen und Psychologen als gera- Geschäftskorrespondenz, und wenn er ei- weitere Spuren hinterlassen: In Frankfurt dezu klassisch: außerehelich geboren, mit nen Tag Urlaub von der Zelle hatte, kam versetzte er im Pfandhaus einen Feldste- vier Wochen zur Adoption freigegeben, der auch die Kultur nicht zu kurz: In Pader- cher, im Bodensee-Städtchen Lindau ver- Ziehvater ein überaus gestrenger Mann. born besichtigte er den Dom, bei Detmold lor er Portemonnaie samt Ausweisen. Hin- Der angenommene Sohn war das einzige das Hermannsdenkmal. weise auf ihn gingen massenweise ein wie Kind der Zurwehmes. Etwa die Hälfte seines Lebens hat Zur- ehedem bei Terroristen der Roten Armee Spielkameraden durften nicht ins Haus, wehme, 57, schon in Gefängnissen zuge- Fraktion. In Thüringen will ihn eine Frau denn der Vater, von Beruf Zugführer, bracht. 165-mal durfte er Freigang ge- gar fotografiert haben. schlief tagsüber häufig. Dieter schwänzte nießen, seit er vor vier Jahren nach Biele- feld verlegt wurde. Vom 166. Freigang, am 2. Dezember vergangenen Jahres, kehrte er nicht mehr zurück – und wurde zum meist- gesuchten Mann Deutschlands. Wochen- lang durchkämmten schwerbewaffnete Polizeihundertschaften mit Hunden, Hub- schraubern und Infrarotkameras Felder und Wälder, zuletzt vor allem bei Han- nover und im Berliner Grunewald. Denn vor knapp fünf Monaten soll Zur- wehme auf seiner Flucht zwei ältere Frau- en und zwei Männer in Remagen gefesselt und erstochen haben. Die Beweislage ist

zwar dürftig, deshalb ermittelten die Fahn- DPA FOTOS: der auch in andere Richtungen, unter an- Mörder Zurwehme, Gefängnis Steinhagen: „Hohes Maß an Niederträchtigkeit“

36 der spiegel 31/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland oft die Schule, kam ins Erziehungsheim, Mit der schlappen Empfehlung, „Förde- lief weg. Mit 12 Jahren, noch nicht straf- rung durch Gespräche“ anzubieten, wurde mündig, versuchte er, eine 15-Jährige aus- Zurwehme in den offenen Vollzug der zurauben. Mit 16 stand er zum ersten Mal Außenstelle Steinhagen des Gefängnisses vor Gericht – wegen Diebstahls und Un- -Senne verlegt. terschlagung. Er wurde zu einer Freiheits- Am 10. September 1996 widerrief die strafe „von unbestimmter Dauer“ verur- Gefängnisleitung vorübergehend Zurweh- teilt, mindestens 6, höchstens 30 Monate. mes Genehmigung für Ausgänge und Ta- Den engen Verhältnissen daheim im klei- gesurlaube. Bei therapeutischen Ge- nen ostwestfälischen Ort Ottbergen nahe sprächen, hieß es, seien „risikobehaftete Höxter suchte Zurwehme junior wenig spä- Erklärungen“ des Häftlings registriert wor- ter zu entkommen. Er setzte sich ins fran- den: Zurwehme hatte erzählt, dass er, zösische Metz ab und bewarb sich dort bei wenn er eine attraktive Frau sehe, überle- der Fremdenlegion. Der Ausreißer hatte ge, „ob er sie wohl vergewaltigen könne“. sich fünf Jahre älter gemacht; als der Oft komme ihm die „spontane Idee, dar-

Schwindel auffiel, schickten ihn die Werber PRESS ACTION über nachzudenken, was wäre“, wenn er der Legion nach Hause zurück. Angebliches Zurwehme-Foto aus Thüringen vom Ausgang „nicht zurückkehre“. Im November 1972 überfiel er, weil er Spiel mit den Experten Seinen Antrag auf vorzeitige Entlassung wieder einmal Geld brauchte, die Mitar- lehnte die Strafvollstreckungskammer des beiterin eines Immobilienbüros in Düren wehme angemieteten Schließfach im Köl- Landgerichts Bielefeld am 27. August ver- und bedrohte sie mit einem Fahrtenmesser. ner Hauptbahnhof eine weitere Waffe, ein gangenen Jahres ab. Der Gefangene, be- Als die Frau schrie, tötete er sie mit fünf Elektroschock-Stab und Handfesseln ge- gründeten die Richter, sei „nicht in der Stichen in den Hals. funden wurden, irritierte ihn nicht. Lage“, Schwierigkeiten und „Belastungen, Das Schwurgericht verurteilte Dieter Mit Psychologen und Psychiatern spiel- die sich aus zwischenmenschlichen Kon- Zurwehme wegen Mordes und zweier Ver- te Zurwehme offenbar meisterhaft: Ein Zu- fliktsituationen“ ergeben können, „zu er- gewaltigungen im März 1974 zu lebens- gang zu den „Denk- und Reaktionsweisen fassen und zu beherrschen“. Deshalb müs- langer Haft. „Diese Taten“, sagte der Zurwehmes“ sei „immer wieder mit se mit neuen Straftaten Zurwehmes ge- Gerichtsvorsitzende Herbert Schartmann, Bemühen gesucht“ worden, heißt es in ei- rechnet werden. seien „geprägt von einem hohen Maß an nem Behördenpapier. Aber „letztlich“ Im Oktober hob das Oberlandesgericht Niederträchtigkeit und Gefühlsrohheit“. habe er „nicht gefunden werden“ können. Hamm die Bielefelder Entscheidung auf Zurwehme habe „gnadenlos getötet“. Zurwehmes Mimikry-Haltung zeitigte und ordnete eine neue Untersuchung an. Im Gefängnis galt er von Beginn an als freilich zunächst keinen Erfolg. 1993 be- Dazu sollte es nicht mehr kommen. strebsamer Einzelgänger. Seit Januar 1988 fand das Landgericht Kleve, die „Schuld- Stattdessen zeigte sich, dass die skepti- bekam Zurwehme regelmäßig Hafturlaub. schwere“ seiner Taten von damals gebiete schen Bielefelder Landgerichtsrichter Im September 1989 entschloss sich die Ge- eine Vollstreckung von mindestens 24 Jah- Recht hatten. fängnisleitung sogar, die Zahl seiner Ur- ren. Zudem habe sich der Häftling „über- Freigänger Zurwehme, der inzwischen laubstage von 12 auf 21 pro Jahr zu er- haupt erst einmal“ im Jahr 1992 bei einem als Koch in einem Bielefelder Restaurant höhen. Ein Missbrauch dieser Lockerun- Einzelgespräch „völlig öffnen können“. Er, arbeitete, kehrte am 2. Dezember nicht in gen, urteilte der inzwischen verstorbene der nie eine emotionale Beziehung zu die Haftanstalt zurück. Die „Entwei- Psychiatrie-Professor Paul Bresser, werde Frauen hatte, müsse lernen, „mit dem chung“, heißt es in einem internen Doku- bei Zurwehme mit „an Sicherheit gren- weiblichen Geschlecht umzugehen“, vor ment der Haftanstalt, sei offenbar eine zender Wahrscheinlichkeit nicht erwartet“ allem sei „die gesamte Sexualproblema- „Kurzschlusshandlung“ gewesen – nach ei- – der Experte irrte sich gewaltig, und dafür tik“ aufzuarbeiten. nem Streit mit dem Restaurantchef. hätte beinahe jemand anderes büßen Das geschah nicht. Denn in einem Gut- Mehrfach hatten Fahnder seither glän- müssen. achten von 1995 kam eine pensionierte Me- zende Gelegenheiten, den Flüchtigen zu Im Februar 1990 wurde Zurwehme dizinaldirektorin zu dem Schluss, bei Zur- fassen. Ganz dicht waren sie in Lindau während seines 14. Hafturlaubs in Berg- wehme bestehe keine „gesonderte be- dran. Ein Mädchen hatte am 11. Mai bei der heim bei Köln festgenommen. Er hatte eine handlungsbedürftige Sexualproblematik“. dortigen Polizei eine Geldbörse mit Per- junge Frau beim Aussteigen aus sonalausweis, Führerschein, einem Bus („Komm mit mir!“) Scheckkarte und Adressenliste mit einer Gaspistole bedroht. abgegeben. Am gleichen Sie riss sich los, er wurde im Abend rückten die Zielfahn- Bahnhof gestellt. Zurwehme der an und stellten Zurwehme erklärte später, er habe nur mal mit einem 25-köpfigen Kripo- sehen wollen, „wie jemand Trupp nach. Tags darauf borg- reagiert, wenn er eine Waffe te Zurwehme sich einen vor der Nase hat“. Schlüssel für die Toilette einer Dieser Ausreißer beunruhig- Schrebergartenanlage. Zur ver- te die Psychologen erstaunli- abredeten Rückgabe des cherweise kaum. Die Tat sei so Schlüssels am nächsten Mor- „rätselhaft, wie menschliche gen um 10 Uhr kam der Ge- Handlungen gelegentlich sind“, suchte nicht – die Polizei lag orakelte ein Gutachter in vergeblich auf der Lauer. schwer zu verstehender Läs- „Ein Polizeibeamter“, trös- sigkeit. Jedenfalls sei die tet sich der Lindauer Kripo- Attacke, konstatierte er, „kein Chef Reinhard von der Grün, Ausdruck einer fortbestehen- „muss auch mal eine Nieder-

den kriminellen Energie“. ZEITUNG R. DÖRR / AACHENER lage einstecken können.“ Auch dass in einem von Zur- Zurwehme-Opfer in Düren (1972): „Gnadenlos getötet“ Georg Bönisch, Andrea stuppe

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Werbeseite L. DELAHAYE / MAGNUM / AGENTUR FOCUS UÇK-Soldaten in Prizren (im Juni): Einbrecher mussten einen Teil der Beute für die Heimat spenden

KRIMINALITÄT „Sprache der Morde“ Familienclans aus dem Kosovo und Albanien haben über weite Teile Europas kriminelle Netzwerke gespannt. Gewalttätigkeit und Verschwiegenheit sind die Schlüssel ihres Erfolgs. Über Schattenbanken transferieren sie stattliche Summen in die Heimat.

an nennt ihn in Hamburg den „Pa- Straßen Kokain verkaufen, kümmert sich habe. Aber das nützte ihm nichts. Im Ver- ten“. Wer ihn kennt, ist wie hyp- der Pate selbstverständlich nicht. Aller- lauf der ethnischen Säuberungen ließ Mnotisiert durch seine Ausstrahlung. dings kam der Verdacht auf, dass er auf ein serbischer Kommandeur die Liegen- Von seinen Landsleuten wird der Albaner höherer Ebene vom Großhandel mit dem schaften des Paten im Kosovo samt Hotel aus dem Kosovo als Idol verehrt. Er führt Rauschgift profitiert. und exklusivem Spielclub kurz und klein ein rauschendes Nachtleben und ist tags- Dass der Pate möglicherweise auch am schlagen. über ein sorgender Familienvater. Krieg auf dem Balkan verdiente, ist aus sei- Immerhin blieben dem Clan reichlich Natürlich kann er sich die schicksten Au- nen Aktivitäten zu schließen. In der heißen Besitztümer in Hamburg, gut gehende Lo- tos leisten, im Glücksspiel fiel er als Genie Phase zog er Fäden zur Omnipol, einer kale, Grundstücke und ein Geflecht von auf, das Zockerprominenz schon einige Dachfirma tschechischer Waffenschmieden, Firmen. Allerdings weiß man nicht ganz hunderttausend Mark abzunehmen ver- auch zu einem Gewehr-Großhändler in Mo- genau, was ihm alles gehört. Derartige stand. Mit seinen Brüdern und Vettern re- naco und schließlich zu italienischen Stra- Kreise pflegen ihre Besitzverhältnisse präsentiert er eine amorphe Macht. tegen, die sich im Schmuggel auskennen. durch Liechtensteiner Holdings zu tarnen. Nie würde der ehrenwerte Herr seine Seine Beziehungen reichen bis zu Sali Be- Wer die anonymen Anteilsscheine hält, ist Hände mit Sexgeschäften schmutzig ma- risha, der in Albanien eine mafiose Regie- am Ende nicht nachzuvollziehen. chen. Er hält sie bloß auf für freiwillige rung führte. Einige Schatten fielen schon auf den Zuwendungen von Landsleuten aus dem Als die Kämpfe im Kosovo tobten, brüs- Clan: Ein Verwandter wurde rechtskräftig Rotlichtmilieu. Um die Kleindealer aus Al- tete sich der Pate, dass er 100 bestens aus- wegen Beihilfe zu einem Auftragsmord ver- banien und dem Kosovo, die auf Hamburgs gerüstete Männer in die Heimat geschickt urteilt, ein anderer sitzt unter dem Ver-

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Europaweites Netz Albaner-Kriminalität im Westen

Festnahme von „Albaner-Willi“ in Hamburg

Strich an der Hamburger Süderstraße Beschlagnahmte Waffen für das Kosovo in Ancona (im April) FOTOS: DPA (l. o.); H. SCHWARZBACH / ARGUS (l. u.); AP (r.) H. SCHWARZBACH (l. o.); DPA FOTOS:

dacht der räuberischen Erpressung in Un- Skandinavien und zur Schweiz eine Art eingeprägt.Aber zur Wahrheit gehört auch tersuchungshaft. Knotenpunkt bildet, ins Visier der Polizei: die andere Seite, die durch kollektives Er- „Es ist wie eine Sisyphusarbeit“, sagt „Hochkarätige Kriminelle“, wie Steffen schrecken über Massaker, Vertreibungen Kriminaldirektor Manfred Quedzuweit, in Lux sagt, in der Mainmetropole zuständig und Brandstiftungen verdrängt worden ist. Hamburg zuständig für die Bekämpfung für die Bekämpfung der Organisierten Kri- Aus der leidgeprüften Gesellschaft des der Organisierten Kriminalität (OK). Natür- minalität. Die Leute, die er eingekreist hat, Kosovo, aus dem Armenhaus Albanien und lich zielt er auf den „Charismatiker“, den pflegen einen unauffälligen, aber gehobe- den Minderheiten in Mazedonien und will er unbedingt kriegen. Quedzuweit weiß nen Lebensstil, haben komfortable Miet- Montenegro stammen auch die Täter, die sehr viel über seine Zielperson: „Unser oder Eigentumswohnungen und fahren Au- über weite Teile Europas mit einem hohen großes Problem ist nicht rechtlicher, nicht tos der Oberklasse. Sie treffen sich in Eis- Grad an Gewalttätigkeit kriminelle Netze organisatorischer, nicht taktischer Natur, cafés oder Restaurants von Landsleuten. gespannt haben. Zwar haben die Fahnder sondern die Mystifizierung der Gefahr, so Wenn sie telefonieren, reden sie verschlüs- diverse Fäden zu fassen bekommen, ge- dass sich viele Leute nicht trau- selt und wechseln häufig die nug, um auf das Ausmaß und die Art der en, gerichtsverwertbare Aussa- Karten ihrer Handys. Lux ope- kriminellen Kooperation schließen zu kön- gen zu machen. Dabei könnten „Sie riert „mit der ganzen Klaviatur nen, aber noch lange nicht genug: Der wir sie wirksam schützen.“ drohen unserer Möglichkeiten“ und große Durchblick fehlt. In Hamburg zeigt sich exem- eher, sie weiß doch: „Es bedarf der Ge- „Wir sind aber nicht wehrlos“, sagt Jür- plarisch das Problem, das Fahn- prügeln eher, duld.“ Womöglich jahrelang. gen Storbeck, der aus Deutschland stam- der nicht nur in Deutschland, Im neuesten „Lagebild“ des mende Leiter von Europol in Den Haag. sondern europaweit haben. Es und sie Bundeskriminalamtes werden Mit dem Computerhirn des europäischen gibt eine ganze Reihe albani- schießen die erkannten, aber nicht über- Polizeiamtes werden neuerdings von den scher Paten: Dem bayerischen eher“ führten Größen aus dem Kosovo Konventionsstaaten eingehende Informa- Landeskriminalamt fiel ein Dut- so skizziert: „Diese Führungs- tionen aus laufenden Ermittlungsverfah- zend albanischer Namen immer personen hatten eine uneinge- ren und abgeschlossenen Prozessen, aus wieder in verschiedenen Verbrechenszu- schränkte Entscheidungsgewalt innerhalb Zolldateien und vielfältigen anderen Quel- sammenhängen auf. Auch einige „charis- ihres regionalen Betätigungskreises. Der len analysiert. Durch Vernetzung der lokal matische Führungsfiguren“ hat der Leiter Kerngruppierung gehörten häufig Familien- angefallenen Daten wurden verdächtige des Dezernats Organisierte Kriminalität, mitglieder des Anführers an. Innerhalb der grenzüberschreitende Verbindungen sicht- Josef Geißdörfer, ausgemacht. Führungsebene wurden keine Angehörigen bar und schon eine Reihe neuer Ermitt- In Frankfurt geriet eine Gruppierung, die anderer Nationalitäten geduldet.“ lungsverfahren in Schwung gebracht. in einem weit verzweigten Netzwerk mit Die Bilder des Grauens im Kosovo ha- Nach jüngster Sprachregelung bei den Verbindungen nach Osteuropa, Italien, ben sich der westeuropäischen Zivilisation Ermittlern Europas firmieren die Zielper-

der spiegel 31/1999 43 Werbeseite

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Werbeseite sonen als „ethnische Albaner“, egal, woher sie stammen. Die kriminellen Clans struk- turieren sich nach ihren familiären Bin- dungen und Beziehungen, die über die Staatsgrenzen auf dem Balkan hinweg- reichen. Ihre Netze ziehen sich entlang der Bal- kanroute durch die osteuropäischen Staa- ten, sie verdichten sich in Griechenland und Italien, in der Schweiz und in Deutschland und führen schließlich bis nach Skandinavien. Einzelne Verästelun- gen reichen nach Spanien, Portugal und Großbritannien, sogar bis in die USA. Noch nie hat sich aus einer so kleinen Volksgruppe in so kurzer Zeit eine so star- ke Energie in der Illegalität entfaltet. Gleichwohl ist es nur eine Minderheit, die durch ihr Gangstertum ihre ganze Ethnie belastet, so dass viele andere durch ein Wechselbad zwischen kollektivem Erbar- men und ungerechtfertigtem Generalver- dacht erschüttert werden. Wie die Fische schwammen die Leute, die zu allem bereit waren, in dem riesigen Exodus ihrer Volksgruppe. Sie zählt nicht mehr als 6,6 Millionen Menschen, von denen etwa 3 Millionen in Albanien und 1,8 Millionen im Kosovo ihre Heimat haben. 1988 waren im Kosovo die ersten Mas- sendemonstrationen von Albanern gegen die auftrumpfende Serbenmacht zu ver- zeichnen. Eine politische Emigration setz- te ein. Vor allem junge Kosovaren, die sich nicht in den Wehrdienst bei der jugoslawi- Albanische Flüchtlinge in Bari (1991): „Held ist der, der zu allem bereit ist, um seine Familie schen Armee pressen lassen wollten, mach- ten sich auf die Wanderschaft. Nur 30 Albaner lebten vor zehn Jahren re Leute ein, und auch in Großbritannien Wie im Kosovo kam auch im Nachbar- in Großbritannien, inzwischen nahm die keimte auf, was in anderen Ländern längst staat Albanien eine Mischung aus Armuts- kleine Gesellschaft um 30 000 Köpfe zu, ein Problem der inneren Sicherheit ge- flucht und krimineller Emigration in vor allem aus der gebildeten, englisch spre- worden war. Schwung. Als der stalinistische Hof zer- chenden Elite des Kosovo. No problems. Chancenlos, wie die jungen Emigranten fiel, setzte 1990 ein Sturm auf westliche Dann aber schleuste Albaniens Banden- überwiegend waren, aber überwältigt von Botschaften ein. Rostige Seelenverkäufer kultur durch eine Kanalconnection von der glitzernden Konsumwelt liefen sie landeten 1991 an italienischen Küsten eine Calais nach Dover mit Lastern ganz ande- Landsleute an, Verwandte, Bekannte, die Flüchtlingsfracht zum Er- schon länger im Westen mehrheitlich albanische barmen an, danach flitz- Belgrad waren. Heutige Größen te eine wachsende Arma- Exodus Bevölkerung in den Netzwerken be- da winziger Gummiboo- Albaner in Europa Zahl der Albaner griffen sehr schnell, dass te durch die Lücken der ihnen eine willige Ge- BOSNIEN- stärker werdenden Pa- HERZE- folgschaft zuwuchs. trouillen. Auf dem Land- GOWINA SERBIEN Schweizer Strafverfol- weg zog eine Karawane ger merkten als erste von 500 000 Menschen Kosovo schon 1989, wie sich da aus Albanien ins benach- Es leben zur Zeit: MONTE- ein Gewaltpotenzial neu- barte Griechenland. 40 000 in Schweden NEGRO BULGARIEN er Qualität zusammen- 40 000 Pri∆tina Durch den serbischen 1,8 Millionen braute. In einem Dro- Druck wuchs die Diaspo- Podgorica genverfahren gegen Ko- 30 000 in Großbritannien ra-Gemeinde von Koso- Skopje sovo-Albaner gingen varen in Deutschland auf 25 000 in Belgien ernst zu nehmende MAZEDONIEN annähernd 400 000 und 400 000 in Deutschland Adria Tirana Morddrohungen gegen die nächstgrößte in der 420 000 den Ermittlungsrichter, 200 000 in der Schweiz Schweiz auf knapp 3 Millionen seine Fahnder und den 200 000 Angehörige. In 100 000 in Italien Dolmetscher ein. Zu ALBANIEN Italien sammelten sich GRIECHENLAND ihrem Schutz mussten Vlorë um die 100 000 „ethni- 65 000 mehrere Beamte versetzt sche Albaner“, in Schwe- in der Türkei werden. den 40 000, im kleinen Kriminelle Clans „eth- 500 000 100 km Belgien 25 000 (siehe in Griechenland nischer Albaner“ ma- Grafik). chen alles, was schnelles

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tend. Ihr Erfolg inspirierte Aber das ist noch immer nicht alles. Die Landsleute zur Nachahmung Fahnder stießen auf professionelle Spen- auch in anderen Regionen. deneintreiber, die gegen Provision von drei Ein Bestandteil der Netz- bis zehn Prozent sowohl legal arbeitende werke ist ein weit verzweig- Kosovaren als auch Kriminelle gleicher- tes System von kosovari- maßen abkassierten. Verdächtige Einbre- schen Schattenbanken. Ku- cher gaben in Verhören zu, dass sie zwi- riere transportieren Bargeld schen „10 und 15 Prozent der Beute“ als in speziellen Gürteln und in Spende abliefern mussten. Die Eintreiber Jacken mit vielen Taschen in wussten also augenscheinlich, wer sein die Heimat. Sie tragen Sum- Geld wie verdiente, und sie hielten die men von bis zu sechs Millio- Hand auf. nen Mark am Leib. In einigen Fällen konnte verdächtigen Auf diese Weise wird nach Reisebüros Hehlerei mit Diebesbeute nach- Schätzung des Bundesauf- gewiesen werden. Auch Quittungen über sichtsamts für das Kredit- 3000 Mark fielen auf, eine Summe, die in wesen „locker“ über eine Albanerkreisen für die Schleusung aus dem Milliarde Mark im Jahr trans- Kosovo nach Deutschland gehandelt wird. feriert, allein aus Deutsch- „Tatsächlich tauchten innerhalb weniger land. Das archaische Ge- Wochen Verwandte der Spender als Asyl- schäft läuft auch in anderen bewerber in Deutschland auf“, fand Ländern. Emigranten, die mit Bruckert heraus. Und das ist noch immer ihren legalen Einkünften die nicht alles. Familie in der Heimat unter- „Wir haben Hinweise“, sagt Bruckert, stützen, benutzen die Schat- „dass unter dem Deckmantel politischer tenbanken ebenso wie Un- Parteien und humanitärer Hilfe über dieses terweltler, für deren Zwecke Netz von Tarnfirmen Gelder für einige sie ideal sind: Geldwäsche Großfamilien im Kosovo eingesammelt dieser Art hinterlässt keine wurden, die auch den Krieg der UÇK fi- Spuren. nanzierten.“ Als nordrhein-westfälische Es war Zufall, dass die Staatsschützer die Vorstandsmitglieder deutsche Polizei auf die eines offiziellen albanischen Geldsammel- Schattenbanken stieß. Als in Vereins überprüften, spuckte der Compu-

GAMMA / STUDIO X Düsseldorf gegen das albani- ter gleich zu mehreren „kriminalpoli- gut durchzubringen“ sche Reiseunternehmen Eu- zeiliche Erkenntnisse“ wegen fahrlässiger rolinda wegen illegaler Be- Körperverletzung, Missbrauch von Aus- Geld verheißt. Auffällig ist, dass sie nicht schäftigung ermittelt wurde, ging ein Amts- weispapieren, illegalen Waffenbesitzes und „delikttreu“ sind, wie Kriminalisten sagen, hilfeersuchen nach Braunschweig. versuchten Diebstahls aus. wohl aber ihre Spezialitäten haben. Im Die Fahnder, die dort ein Reisebüro durch- Überall, wo Banden „ethnischer Alba- Drogenhandel legten sie in kurzer Zeit eine suchten, fanden weder Reiseprospekte noch ner“ operieren, ist aus Kripo-Kreisen zu verblüffende Karriere hin. Brutalität kenn- Buchungsunterlagen. Die Com- hören, was der Hamburger zeichnet ihren Vormarsch im Rotlicht- puter waren nicht angeschlossen Fahnder Detlef Ubben knapp milieu. Selbstverständlich waren sie zur und die Drucker noch nie in Be- „Der Wolf und nüchtern ausdrückt: „Sie Stelle, um auf dem Balkan den Durst nach trieb. „Die Büroeinrichtung“, leckt drohen eher, sie prügeln eher, Waffen zu stillen. sagt der Braunschweiger Krimi- sein eigenes und sie schießen eher.“ Das Phantastische Renditen warf auch der naloberrat Rainer Bruckert, „war Fleisch, Bundeskriminalamt verzeich- Transport Verzweifelter über die Adria reine Kulisse.“ Schließlich zeigte nete im „Lagebild“ bei der OK- oder über Landrouten ab, oft mit „Schleu- sich, dass die Eurolinda-Filialen das fremde Klientel aus dem Kosovo eine sungsgarantie“ und „Kinderrabatt“. Be- rund 150 Millionen Mark in das aber „extreme Gewaltbereitschaft“ gnadete Schmuggelstrategen sorgten für Kosovo transferiert hatten, an- frisst er“ wie auch eine „äußerst massive einen umgekehrten Fluss der Waren, nach geblich für „humanitäre Zwecke“ und brutale Gewaltausübung“. denen man daheim lechzte: Autos, Kame- (SPIEGEL 51/1998). Die deutsche Polizei geht bei ras, Schmuck, aber auch ganze Partien von Aber das ist nicht alles. Mittlerweile ver- Einsätzen gegen albanisch sprechende Ban- gestohlener Kleidung und was sonst so die fügen OK-Ermittler aus Salzgitter, die den den grundsätzlich davon aus, dass sie be- Lager westlicher Hehler hergaben. Fall übernahmen, über eine Liste von 200 waffnet sind. Auch als organisierte Einbrecher wur- angeblichen Reisebüros, Lebensmittelge- Die Gewaltbereitschaft ist einer der den Albaner europaweit berüchtigt. Der schäften und Folkloreläden, die UÇK-De- Schlüssel für ihre Erfolgsgeschichte. Bün- Hamburger Polizei fiel bereits 1993 ein ko- votionalien und Tonträger mit Heldenge- delung und Kooperation verschiedener sovarisches Einbrecherkollektiv auf: in- sängen anbieten: womöglich Tarnfirmen, Clans ergeben gleichsam ein ganzes zwischen ungefähr tausend Mann stark, die nicht nur als Schattenbanken dienen. Schlüsselbund. Charakteristisch für die die wie Heuschrecken über Straßenzüge Als ein Kriminalbeamter die Standorte albanische Unterwelt ist, dass man weiß, herfielen und ein Haus nach dem anderen nach Postleitzahlen geordnet auf eine Kar- wer wo sitzt, was er macht und wozu aufbohrten. Vor dem Fahndungsdruck wi- te übertrug, wurde ein Netz sichtbar, das er sich bei Bedarf auch noch eignen chen sie ins Umland aus und legten in ei- sich quer durch die Republik zieht, mit könnte. ner Nacht hunderte von Kilometern Schwerpunkten in Hamburg, Hannover, Mit allen Finessen der Kommunika- zurück. Führende Köpfe wanderten ab und im Ruhrgebiet, in Frankfurt, Ludwigsha- tionstechnik, mit Handys und Internet, bildeten in Brüssel, Marbella und Madrid fen, Mannheim und Stuttgart. Lediglich werden die Bedingungen einer neuzeitlich- Filialen. Seither läuft die Verwertung von der deutsche Osten fehlt, mit Ausnahme archaischen Welt erzeugt, in der jeder Schecks und Schmuck grenzüberschrei- von Rostock. einen genauen Überblick über die anderen

der spiegel 31/1999 47 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland „Das Geschäft ist alles“ Wie sich Albaner-Clans mit der italienischen Mafia arrangierten

s ist der 21. November 1998, ein römischer Ermittler: „Das Geschäft Gefechte mit vielen Toten, als die Zu- Windstärke acht auf der Adria. ist alles.“ gereisten Fuß fassten. Sie machten sich ESeit vier Tagen versucht ein Und das läuft nicht schlecht. Etwa große Teile der Unterwelt rasch unter- Schlauchboot durch die aufgewühlte 4000 Mark kostet eine Prostituierte in tan, vor allem wegen ihrer – so staun- See die italienische Küste zu errei- Albanien, eine 16-Jährige, bei der Fa- te die Staatsanwältin aus dem Antima- chen. Aber der Sturm ist selbst für die milie gekauft, ist meist schon für die fia-Team, Laura Barbaini – „beein- zwei 200-PS-Außenbordmotoren zu Hälfte zu haben.Am italienischen Ufer druckenden Gewaltbereitschaft“. stark. Die 20, vielleicht auch 25 Men- erhöht sich ihr Marktwert auf bis zu Anders als Gangstern vom alten ita- schen an Bord frieren erbärmlich, sind 20000 Mark. Ein Mädchen, so die Kal- lienischen Schlage half den Albanern völlig am Ende. Nadia, ein fünfjähri- kulation der Branche, kann die Summe ein völlig rückständiges Frauenbild, jeg- ges Mädchen, stirbt in den Armen ih- in einem Monat wieder einbringen. liche Reste von Menschlichkeit gegen- rer Mutter. Frauenhandel und Prostitution sind über der „kostbaren Ware“ aus dem Als das Boot umschlägt, haben die das Hauptgeschäft der meisten krimi- Geschäft zu halten. Eine „totale Ver- entkräfteten Menschen wenig Chan- nellen Albaner-Clans. Dazu kommt in achtung von Frauen“ stellte die Anti- cen: Nur die Besatzung und vier junge Apulien der illegale Menschentransport mafia-Staatsanwältin Maria Sodano im- mer wieder fest. Die „Ware“, häufig sind es noch Kin- der, wird mit brutalsten Methoden auf den Strich gezwungen: Mädchen, die mit falschen Versprechungen nach Ita- lien gelockt wurden und sich zieren, werden so lange von Bandenmitglie- dern vergewaltigt, bis sie gefügig sind. Oder ihnen wird gedroht, der Familie, den jüngeren Geschwistern daheim in den albanischen Dörfern werde etwas zustoßen, wenn sie nicht willig seien. Binnen weniger Jahre haben die Al- baner so einen beachtlichen Markt- anteil erobert mit eigener und dazuge- kaufter „Ware“. Von etwa 50000 Pros- tituierten in Italien sind rund 30000 importiert, zwei Drittel davon stam- men aus dem kleinen Albanien. Eine schlagwütige Truppe 20-Jähri- ger, schlecht ausgebildet, aber zu allem bereit, bildet die Basis einer Skipeta- ren-Truppe. Kommandiert werden sie von einem Boss, Mitte dreißig, besser ausgebildet, schon ein paar Jahre in

AGENTUR ARCIERI AGENTUR Italien und mit den Regeln der Unter- Polizeifahndung nach Albanern (in Bari): Die Erben der Mafia welt vertraut. Die Anführer sprechen fünf, sechs Sprachen, haben verwandt- Frauen schaffen es zurück in das über die Adria – Fahrpreis derzeit: etwa schaftliche Beziehungen nach West- manövrierunfähige Boot. 1000 Mark pro Kopf, Kinder mit Rabatt. wie nach Osteuropa und Kontakte in Der Vormann der Bootscrew berich- Die alteingesessene Mafia hält sich die albanische Politik und Wirtschaft. tet über Handy, das von der italieni- die „Albanesi“ in vielen Regionen in- „Die albanischen Clans sind die schen Polizei abgehört wird, von der zwischen per Vertrag vom Hals. In Apu- wirklichen Erben der kalabrischen Katastrophe. Sein Chef, ein 30jähriger lien haben sich die albanischen Clans ’Ndrangheta“, sagt Mafia-Chefanklä- Albaner, hört zu und sagt: „In Ord- mit den Kollegen der Sacra Corona ger Piero Luigi Vigna. nung, aber die Frauen, die Prostituier- Unita gütlich geeinigt: Der Handel mit „Auch im Gefängnis kommandieren ten, die sind gerettet?“ – „Die Frauen? Heroin,Waffen und geschmuggelten Zi- nun die Albaner“, schrieb der Mailän- Die kostbare Ware ist in Sicherheit.“ garetten bleibt den Einheimischen vor- der Anstaltsdirektor Luigi Pagano in Selbst für abgebrühte Mafia-Jäger ist behalten, dafür werden die Geschäfte einem Alarmbrief an das Justizminis- die Menschenverachtung der neuen der Albaner mit Frauen und Flüchtlin- terium. Vergewaltiger und Zuhälter, Banden aus Albanien und dem Kosovo gen nicht gestört. früher die Letzten in der Gefängnis- außergewöhnlich. „Ein Menschenleben Die Arbeitsteilung lief nicht von An- hierarchie, seien nun die Bosse: „Nie- zählt in den Kreisen rein gar nichts“, so fang an so reibungslos, es gab blutige mand wagt sie zu berühren.“

50 der spiegel 31/1999 FOTOS: J. SESSINI / GAMMA STUDIO X J. FOTOS: Bandenhauptquartier im nordalbanischen Bajram Curri: Der Polizeichef quittierte den Dienst und erschoss neun Menschen hat.Auch wenn man weit auseinander lebt, wiederkehren, aber auch als befindet man sich wie im Dorf. Moment der Rechtfertigung „Man kennt sich, man ist verbunden von Kriminalität in einer durch gemeinsame Beziehungen und eine anderen Kultur. „Der Wolf mehr oder minder hohe Wertschätzung, leckt sein eigenes Fleisch, das man kooperiert legal und kriminell, man fremde aber frisst er“, heißt registriert den Aufstieg und Abstieg der ein albanisches Sprichwort. anderen in dem stetigen Wandel der Chan- Familiäre Loyalität stellt cen“, beobachtete Kriminaldirektor Qued- nach alter Tradition den zuweit. höchsten Wert dar. Im Dar- Es sind Relikte einer archaischen Stam- winistischen Kampf ums Da- mesgesellschaft, die sich nicht nur in vielen sein hat das Wohlergehen des einheimischen Arenen zeigen, sondern ge- Clans Vorrang vor Recht und rade bei der Unterwanderung der westli- Moral. So kann es sogar ge- chen Zivilisation einen enormen Wettbe- Blutrache-Opfer in Albanien: „Kult des Heldentums“ schehen, dass Töchter in die werbsvorteil mit sich bringen. Aus einer Prostitution verkauft wer- uralten Tradition rührt er her, der „amo- fern sie sich in kriminelle Netzwerke ein- den, obwohl zum männlichen Kodex die ralische Familiarismus“, den Ethnologen fügen, eine nahezu ideale Basis. Beschützung der weiblichen Angehörigen beschreiben. Ergänzend zur Clan-Solidarität steht gehört. „Die Aufopferung für die Familie Wie dick der Saft ist, der im „Blutbaum“ nach der traditionellen Überlieferung eine geht vor“, sagt der Ethnologie-Professor fließt, zeigt ein vor allem in gebirgigen Re- extreme Abgrenzung gegen Fremde. Jeder, Christian Giordano aus dem schweizeri- gionen Albaniens und des Kosovo verbrei- der nicht in das Wir-Gefühl einbezogen schen Freiburg, ein Spezialist für Fragen tetes Denken in Abstammungskategorien. wird, gilt als potenzieller Feind. In epischen der Ehre auf dem Balkan und im Mittel- Männer können in der Regel ihre Linien bis Liedern werden noch immer jene wilden meerraum. ins 7., manchmal gar bis ins 15. Glied ver- Vorfahren als heldenhaft und ritterlich ge- Auch auf den jungen Männern lastet folgen, während die durch Verheiratung in priesen, die Osmanen, Serben und Monte- durch einen „Kult des Heldentums“, wie andere Stämme weggegebenen Frauen oft negrinern nicht nur den Beutel nahmen. Giordano beobachtete, ein kolossaler nur zwei bis drei Verzweigungen ihres Fremden, Nichtzugehörigen, Nichtmen- Druck: „Sie müssen ungeheuer tapfer sein, „Milchbaums“ kennen und in der Genea- schen den „Kopf abzuschneiden“ wurde Held ist der, der zu allem bereit ist, um logie unwichtig sind. in den Gesängen idealisiert – „eine Ideo- seine Familie gut durchzubringen. Sie ha- Getragen von den männlichen Mitglie- logie abgrenzender Dehumanisierung“, für ben sehr wohl ein Unrechtsbewusstsein, dern der Sippe, ergibt sich ein Wir-Gefühl, die die Ethnologin Stephanie Schwandner- aber sie erkennen es nicht an, weil für sie das bei der Emigration in die vom Indivi- Sievers in einer interdisziplinären Arbeits- das andere System wichtiger ist.“ dualismus gezeichnete Außenwelt ein be- gruppe für Konfliktforschung an der Frei- Sie kommen aus einer konfliktreichen trächtliches Potenzial darstellt. Eine typi- en Universität Berlin zahlreiche Belege zu- Gesellschaft mit einer traditionellen Wehr- sche Balkanfamilie hat heutzutage um die sammentrug. haftigkeit. Jahrhundertelang wurde das Po- 60 Angehörige, bisweilen kommen auch Das kompromisslose Freund-Feind-Den- tenzial einer Familie an der Zahl ihrer waf- 150 Verwandte zusammen. Verstärkt noch ken, losgelöst aus den ursprünglichen Zu- fentragenden Männer bewertet, die ihre durch Allianzen mit Nachbarn und Freun- sammenhängen, sieht sie in den „gewalt- Herden gegen Viehräuber verteidigten und den sind solche Beziehungsgeflechte, so- tätigen Nationalismen auf dem Balkan“ „das Geheimnis des Hauses und seiner In-

der spiegel 31/1999 51 tegrität“ hüteten; so wurde die Beschüt- zung nicht wehrhafter Frauen und Kinder umschrieben. Bis heute sagt man: „Der Mann ohne Waffen ist ein Weib.“ Wenn er entehrt wurde und nach der archaischen Symbolik als „Schwarzge- sicht“ dasteht, heißt es: „Die Seife des Mannes ist das Pulver.“ Ehre und Schande, zugeordnet den Farben Weiß und Schwarz, sind überragende Begriffe in der patriar- chalischen Gesellschaft, die ihre Welt in extremen Gegensätzen beurteilt. Will der Mann wieder weiß werden, hat er die heilige Pflicht zur Rache. So be- stimmt es der Kanun, ein Gewohnheits- recht, das dem mittelalterlichen Fürsten Lekë Dukagjin zugeschrieben wird: ein my- thischer Held, der gegen die vordringen- den Osmanen Widerstand geleistet haben

soll, aber historisch nicht recht zu belegen PRESS ACTION ist. Erst 1933 schrieb der Franziskaner- Opfer im albanisch-türkischen Bandenkrieg in Hannover (1996): Ein Dutzend Tote mönch Shtjefen Gjeçov die mündlich durch Jahrhunderte überlieferten Regeln auf. verlangt der Kanun Blutrache: „Wasch dir die Loyalität zum eigenen Clan ist, so Der Kodex enthält etliche zivilrechtli- dein beschmutztes Gesicht oder werde ehr- schwach blieb sie gegenüber einem ab- che Vorschriften, aber auch Anweisungen los.“ Wer aber ehrlos bleibt, stirbt eine Art strakten Staat, so dass sowohl in Albanien zur familiären Arbeitsteilung, für Hoch- sozialen Tod. als auch im Kosovo rechtliche Strukturen zeitszeremonien und die Sitzordnung bei Der Anspruch der Stämme auf rechtli- unterentwickelt sind. Festgelagen.Wer die Normen befolgt, stei- che Selbstregulation bis hin zu Blutrache Angesichts der serbischen Unter- gert sein Ansehen, Verstöße mindern es. hielt sich Jahrhunderte gegen die osmani- drückung versammelten sich im Kosovo Für schwere Ehrverletzungen, wie sie sche Herrschaft, überdauerte, wenn auch 1990 tausende von Albanern, um nach dem durch Mord an einem Bruder, Vergewalti- geschwächt, im kommunistischen Totalita- Kanun Stammeszwisten abzuschwören gung einer Frau aus der Sippe oder auch rismus und steht bis heute im Gegensatz und sich gemeinsam zu wehren. Dagegen nur einen Wortbruch entstehen können, zum staatlichen Gewaltmonopol. So stark flammten in Albanien gerade mit dem Deutschland

Wegfall des Kommunismus Blutfehden auf. Zeil aus einer Maschinenpistole abfeuerte, gliedern einer Gruppe gezeigt, „welche Art So quittierte im vergangenen Jahr der Po- kamen von weit her. Aus Rache für eine von Fehlverhalten welche Art von Sank- lizeichef der Banden-Hochburg Bajram erlittene Erniedrigung in der Untersu- tionen nach sich zieht“, beobachtete Curri im Norden Albaniens den Dienst, chungshaft tötete er einen Landsmann am Geißdörfer. um die Ermordung seines Bruders zu Tag von dessen Entlassung und verletzte Zwar hat das Schießen und Morden rächen: Er tötete neun Menschen – einen nebenbei zwei Passanten. nachgelassen, aber das ist ein Zeichen, dass für jede Kugel, die den Bruder traf. „Brisant“ ist für den Ethnologen Gior- eine höhere Stufe der Organisierten Kri- Umso schockierender wirken solche dano angesichts der vielen Leichen, die Al- minalität erreicht ist: Man profitiert von martialischen Rituale, wenn sie in die baner im Westen hinterließen, das Thema der Gewaltgeschichte, und viele Dinge fü- Großstädte des Westens importiert wer- der Blutrache: „Einerseits spielt sie eine gen sich von selbst. „Es wird ungleich den: Es ging um die verletzte Ehre des Rolle, andererseits wird sie als Ressource schwerer, einen polizeilichen Erfolg zu er- „Blonden Genci“ in einer dubiosen Ab- ausgenutzt. Die Ehre wird inszeniert und zielen“, vermerkt das Bundeskriminalamt. rechnung beim Kokainhandel. Zwischen instrumentalisiert.“ Mit archaischem Zin- Wenn schließlich doch ein Albaner im zwei Wir-Gruppen aus Albaniens Süden nober können die Anführer hierarchisch Verhör sitzt, sagt er in der Regel nichts und Norden tobte 1994 in Hamburg mo- organisierter Gruppen ihre Sol- und erst recht nichts über an- natelang ein Krieg. daten motivieren, und die jun- dere Albaner. Die Chance, Ver- Getroffen von zwei Kugeln, fiel im „Club gen Krieger schießen, um hel- Gegen die dächtige zum Reden zu bringen, 88“ auf der Reeperbahn der nördliche An- denhaftes Prestige zu gewinnen, Verschwiegen- „tendiert gegen null“, musste führer sterbend vom Hocker, ein Gefolgs- obwohl es um ganz andere Hin- heit der Alba- Geißdörfer immer wieder fest- mann taumelte mit ausgetretenem Gedärm tergründe geht. ner wirkt die stellen. Humane Umgangsfor- in die Davidwache.Am Ende waren sieben „Die Sprache der Morde“ men können Männer aus einer junge Albaner verletzt. Ganz wie ein Held, analysiert der Münchner Krimi- Omertà der Kultur, in der Gefangene rabiat mit extremer Loyalität, befreite schließlich naldirektor Geißdörfer nach Mafia gerade- behandelt und sogar gefoltert Albert Xhelo von der Südgang einen Kum- „Sinn, Bedeutung und Aussage- zu löchrig werden, nicht beeindrucken. panen, der nach einer Schießerei von dem kraft“: Ein gezielter Schuss kann „Rechtsstaatliches Verhalten Kaufmann Bernd Heede festgehalten wor- den Anspruch auf Vorherrschaft der Strafverfolgungsbehörden den war. Er tötete den Deutschen mit ei- signalisieren und als Investition in die Zu- in Deutschland wurde von kosovo-albani- nem Kopfschuss und wurde in der Öffent- kunft die Geschäfte erleichtern, sei es im schen Tatverdächtigen oft als Schwäche ge- lichkeit zur Inkarnation hemmungsloser Drogenhandel oder im Rotlichtmilieu. wertet“, heißt es im „Lagebild“ des Bun- Kaltblütigkeit. Gewalt gegen Außenstehende stabilisiert deskriminalamts. Auch die 36 Schüsse, die der Kosovo- das Wir-Gefühl. Handelt es sich, wie nicht Loyalität zur Wir-Gruppe führt zu einer Albaner Safet Azemaj ebenfalls 1994 am selten in kriminellen Albaner-Kreisen, um Verschwiegenheit, gegen die sich die Omer- helllichten Tag in der belebten Frankfurter eine interne Abrechnung, so wird allen Mit- tà sizilianischer Mafia-Familien geradezu Deutschland löchrig ausnimmt.Auch dann, wenn die Be- ter von Wohnungen, als Halter von De- weise erdrückend sind, leugnen Albaner in pots, als Anwerber von Kurieren dominie- der Regel ihre Taten und verschmähen ren Albaner. Strafmilderung durch ein Geständnis.Wer- Manche ortskundigen Residenten bie- den Männer mit Schusswunden abtrans- ten sich Landsleuten auch in anderen portiert, die nichts sagen wollen oder nichts Gangsterangelegenheiten als Ansprech- mehr sagen können, wie in drei Münchner partner an. Tschechien ist nicht nur be- Fällen, kann die Polizei nur ermitteln: „Hin- kannt für eine Perlenkette von Depots, tergrund Rauschgift.“ sondern auch als Stammsitz hochkarätiger Im Heroinhandel sind Albaner die Auf- Hintermänner. Der Pilsener Pate, eine auch steiger der neunziger Jahre. Türken vor in Deutschland gesuchte Größe im Heroin- allem kurdischer Herkunft, die tradi- tionell Nummer eins auf diesem Ge- biet waren, befinden sich im Abstieg. Unangefochten beherrschen sie allerdings den Großhandel und verkaufen nach Er- kenntnissen des Schweizer Bundesamtes für Polizeiwesen auf höchster Ebene rie- sige Mengen von Heroin an Kunden aus Kosovaren in einem Lastwagen (Röntgenbild des der albanischen Minderheit in der Türkei. britischer und skandinavischer Kollegen Einher ging, wie auch das Kölner Zoll- außerdem einen Klüngel von 19 Albanern

kriminalamt registrierte, auf der Balkan- / DPA PA ab, dem die Ausfuhr von rund 360 Kilo- route ein struktureller Wandel im Schmug- Autofähre Frankreich – England gramm Heroin nachgewiesen werden gel. Laster waren als Verstecke mittlerwei- Schleusungsgarantie und Kinderrabatt konnte – im Straßenverkauf ein Wert von le viel zu verdächtig. Um die Gefährdung annähernd 30 Millionen Mark. der Ware zu minimieren, wurden entlang handel, trat allerdings ab: Bei einem Aus- Das kleine Land mit seiner langen Gren- der Strecke durch Osteuropa Depots an- flug nach Ungarn wurde er kürzlich in der ze zu Bayern und Sachsen gilt auch als gelegt und Weitertransporte in kleinen Ge- Budapester Pension Bety gefasst, mit ei- beliebtes Rückzugsgebiet für Leute, die binden mit Familienautos, Kleinbussen und nem tschechischen Pass, den ein korrupter vorübergehend aus dem Westen ver- Wohnwagen organisiert. In der recht auf- Beamter ausgestellt hatte. schwinden müssen und sich eine neue wendigen Logistik für den so simplen, aber Bei der Aktion „Kanal“ griff die tsche- Identität verschaffen wollen. In der Tsche- überaus sicheren Ameisenverkehr, als Mie- chische Polizei mit Hilfe von Hinweisen chischen Republik verästeln sich die Wege lichkeiten“ eine Dealer-Clique von an- ken 1996 durch einen spektakulären Show- nähernd 200 Mitgliedern sprengen konnte. down vertrieben wurde. Im „Blue Night“, „Die Familienbande reichten von der einer türkischen Bar mit Geheimtür zu ei- Kleinfamilie bis zu ganzen Dörfern“, sagt nem Puff, flogen in 20 Sekunden 19 Ku- Kriminaldirektor Emil Sommer. Die ein- geln: zwei Tote, vier Verletzte, aber keine zelnen Bandenmitglieder seien bereits in Angeklagten, da weder das mit Pudelmüt- der Heimat rekrutiert worden und hätten in zen maskierte Kommando noch die Auf- Ludwigshafen ihre festen Ansprechpartner traggeber zu überführen waren. gehabt. Nun fielen in der Nachbarstadt Als „Albaner-Willi“ in die Legalität ab- Mannheim bei Heroingeschäften „ganze springen und ein Hotel in seiner maze- Dorfgemeinschaften“ aus dem Kosovo auf, donischen Heimat bauen wollte, wurde konnte der Leiter des Drogendezernats er Anfang Juli unter dem Vorwurf ver- Karlheinz Mann bereits feststellen. haftet, ausbeuterische Zuhälterei betrie- In Berlin haben sich Landsleute, die nach ben zu haben: „Punktgenau, wie das nur der Wende als Hütchenspieler anfingen, sehr selten gelingt“, sagt Kriminalist Qued- umorientiert auf einen Aufstieg im Rausch- zuweit. gifthandel und im Rotlichtmilieu – gegen Die Rotlichtgröße hatte gerade im Lokal

AP die mächtige Konkurrenz von zehn arabi- „Joker“ an der Reeperbahn Hof gehalten Zolls in Calais): Phantastische Renditen schen Sippen, „die uns in Sachen Schutz- und von Untergebenen lauter braune Um- geld und Drogen vor große Probleme stel- schläge entgegengenommen. In seinem der Droge und mit ihr die Informations- len“, wie ein Sprecher des Landeskrimi- Grand-Cherokee-Jeep wurden rund 80000 flüsse nach Süd, West und Nord. nalamtes sagt. Mark beschlagnahmt – Peanuts im Ver- Nach Art der Dominotheorie fiel im süd- Zwei Jahre lang lieferten sich in Hanno- gleich zu den Vermögenswerten von fünf deutschen Raum eine Stadt nach der an- ver Albaner und Türken vor allem kurdi- Millionen Mark, auf welche die Polizei auf deren in die Hände albanischer Heroin- scher Abstammung einen regelrechten Grund von Finanzermittlungen noch re- ringe: Das Bundeskriminalamt registrierte Krieg mit einem Dutzend Toten. Seither flektiert. inzwischen eine „Marktbeherrschung“ in beherrschen Albaner das Geschäft mit har- Was sich in deutschen Städten zeigt, hat Bayern und Baden-Württemberg. ten Drogen. etliche Parallelen jenseits der Grenzen.Auf In Rheinland-Pfalz wurde Ludwigshafen Auf einem Strich in dem unwirtlichen dem Schweizer Heroinmarkt eroberten von hochwertigem Heroin zu Dumping- Hamburger Industriegebiet an der Süder- nach Angaben des Bundesamtes für Po- preisen geradezu überschwemmt, bis eine straße erwirtschaftete eine Clique um „Al- lizeiwesen Albaner vor allem aus dem 1997 eingesetzte Sonderkommission durch baner-Willi“ mindestens 20 Millionen Mark Kosovo ein „Quasimonopol“ – mit einer Zugriff auf maßgebliche „Führungspersön- im Jahr, seit die letzte Konkurrenz von Tür- Mischung aus Gewalt und Dumping. Be- Werbeseite

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Werbeseite Deutschland sonders empört schweizerische Fahnder der Einsatz von albanischen Kindern, die den Stoff in ihren Schulrucksäcken von Stadt zu Stadt transportieren. Fast so erfolgreich sind ihre Landsleute im Norden Europas. Der oberste schwedi- sche Drogenfahnder Walter Kegö verdäch- tigt einige wenige Kosovo-Clans, die stra- tegisch günstig an der Süd- und Westküste wohnen, für 80 Prozent der Heroineinfuhr nach Skandinavien verantwortlich zu sein. Als er das öffentlich sagte, wurde er wegen Hetze gegen eine Volksgruppe kri- tisiert. „Albaner sind die neuen Paten Mai- lands“, schreibt das italienische Nachrich- tenmagazin „L’Espresso“. Albanische Clans haben Kontakte zur sizilianischen Cosa Nostra, der kalabrischen ’Ndrangehta und der neapolitanischen Camorra ge- knüpft, besonders eng ist die Allianz mit der in Apulien operierenden Sacra Corona Unita. Die Kooperation zwischen der italieni- schen Mafia und albanischen Clans blitzte bereits 1993 in Hamburg auf: Aus Palermo flogen zwei Mafiosi ein und richteten den albanischen Glücksspieler Bahri Berisha aus dem Kosovo in einem Hinterhof von St. Pauli hin. Der Auftragsmord führte der Zockerszene vor, was passiert, wenn man wie Berisha seine Spielschulden, rund 60000 Mark, nicht bezahlt. Zugleich wur- de die verletzte Ehre eines Landsmannes durch Blutrache gesühnt. In Italien behielten sich die Mafiosi den Handel und Schmuggel mit Waffen vor, überließen aber albanischen Zuhältern das schmuddelige Geschäft mit dem Sex. Oft sind es gekaufte, aber auch geraubte Töch- ter aus der Heimat, die sie mit brachialen Methoden in die Prostitution zwingen (sie- he Kasten Seite 50). Als ein Flüchtlingsmädchen aus dem Ko- sovo in der Nähe der albanischen Hafen- stadt Vlorë entführt werden sollte, warf sich ihr Vater dazwischen. Die Bande schoss sofort. Jola Spasolli, 16, starb, ihr Vater wurde schwer verletzt. Eindringlich warnte die Uno-Flüchtlingskommissarin Sadako Ogata vor dem Unwesen der Frau- enhändler, die auch in Lagern Ausschau hielten, um für Sexmärkte in der Europäi- schen Union Nachwuchs zu beschaffen. Kinderprostitution ist auch in Griechen- land eine perverse Spezialität, die vor al- lem Albaner zu bieten haben. Seit die Un- ruhen 1997 in Albaniens Süden Unmengen von Waffen aus geplünderten Militärdepots unters Volk brachten, sind die Verwandten in der griechischen Unterwelt bis an die Zähne gerüstet und expandieren dyna- misch in den Handel mit Drogen, die Ver- breitung von Falschgeld und bewaffnete Raubüberfälle. Eine Welle von Gewalttaten alarmierte Griechenlands Öffentlichkeit.Allein im er- sten Vierteljahr 1999 wurden 59 Albaner unter Mordverdacht verhaftet.Wie ein Fa-

58 der spiegel 31/1999 nal wirkte die Kaperung ei- Lehrstück zeigt sich für das europäische nes Busses in der Umgebung Haus, dass vom Beben auf dem Balkan un- von Thessaloniki. Mit Waf- zählige Auswirkungen ausgehen, die weit fen wurde er über die Gren- entfernt vom Epizentrum spürbar sind. ze ins albanische Elbasan Solange Albaniens Gangsterkultur nicht entführt.Als dort die Polizei durch ein funktionierendes Rechtssystem den Bus stürmte, wurden in Schach gehalten wird, solange in Euro- ein Gangster und ein Fahr- pas erbärmlichstem Entwicklungsland die gast erschossen. Not vorherrscht, dürfte der kriminelle Sechs Wochen später die Druck auf andere Länder anhalten. zweite Bus-Entführung in Nachwuchs in den Jahrgängen, die in je- derselben Gegend: Der mit der Gesellschaft für ein kriminelles Aben- Handgranaten bewaffnete teurertum anfällig sind, gibt es reichlich. Albaner verlangte für seine „Die Bäuche albanischer Mütter sind stär- fünf Geiseln ein Lösegeld ker als die serbische Arroganz“, lautete eine von 250 Millionen Drach- Parole des Widerstands im Kosovo. So ist zu men (rund 1,5 Millionen erwarten, dass junge Männer als Speer- Mark). Nach 24 Stunden spitzen ihrer Sippen das, was daheim ka- entriss ein griechischer Poli- puttgegangen ist, durch gesteigerte Akti- zist dem übermüdeten Ent- vitäten ersetzen wollen. Die einen Hände führer eine Granate, ein bauen auf, die anderen schaffen im Westen Scharfschütze erschoss den herbei, was sie kriegen können.

Gangster. AP Für Kriminaldirektor Quedzuweit „ist In Belgien haben Albaner Entführter Bus in Thessaloniki (im Mai) erkennbar, dass herausragende Täter aus in kürzester Zeit die Vor- Gangster und Geisel in Albanien erschossen der Kriminalität in die Legalität wechseln macht im Rotlichtmilieu er- wollen“. Dabei sieht er „die Gefahr, dass obert und zehnmal mehr Mädchen aus der Nachrichten-Magazin „Knack“ eine Titel- durch ihren Einfluss und ihre Einbindung Heimat auf den Strich geschickt, als die geschichte über das „Balkan-Kartell“, das in archaische Strukturen angestrebte Auf- stärkste Konkurrenz der Polinnen aus- die ganze Palette der Kriminalität beherr- bauziele kleiner ausfallen und der Wohl- macht. Wie eine Soldateska kämpfen die sche, „normloser und gewalttätiger als alles stand dieser Leute größer wird“. Zuhälter nun um den Zugriff auf alle ost- andere, was man sich vorstellen kann“. Ariane Barth, Wolfram Bickerich, europäischen Prostituierten. „Der Krieg Das sind die alarmierenden Begleit- Maik Großekathöfer, Peter Onneken, wütet bei uns“, so überschrieb das belgische erscheinungen des albanischen Exodus.Als Hans-Jürgen Schlamp Werbeseite

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Werbeseite ENTEIGNUNG Asterix im Schwabenland Die Stuttgarter Messe will auf die grüne Wiese umsiedeln, doch ein paar widerborstige Bauern weichen nicht. Nun soll ihnen ihr Land genommen werden. errliches Ackerland erstreckt sich

nördlich des Stuttgarter Flughafens: / ZEITENSPIEGEL BARTH T. FOTOS: Hhunderte Morgen bester Lösslehm- Geplantes Messegelände am Flughafen: Hochmütig wie die Römer – vor der Schlacht Krume, noch dazu richtig gelegen für die Lieblingsfruchtfolge deutscher Bauern – satz siebtgrößte deutsche Messe aus der bahnhof an der Messe kippt, bestärken den Winterweizen, Sommergerste, Bauland. engen Stuttgarter City absetzen kann. Zie- Rebellen nur in seiner Überzeugung: „Die „Wenn ich das verkaufen würde, müsste le der Projektgesellschaft Neue Messe bis spinnen, die Stuttgarter!“ ich nie mehr arbeiten“, sagt Walter Stäbler, zum Jahr 2004: 10000 Arbeitsplätze für die Bereits Ende vergangenen Jahres hat der Landwirt aus dem Umlandstädtchen Lein- Region, Verdopplung der Hallenfläche auf Landtag mit den Stimmen von CDU, FDP felden-Echterdingen. Denn die Planer einer 100000 Quadratmeter, eine „Landesmesse“ und drei SPD-Abgeordneten ein Landes- neuen Stuttgarter Messe wollen für die als Antwort auf die Expansion der Kon- messegesetz beschlossen, das eine Enteig- Äcker am Airport Millionen hinblättern. kurrenten München und Leipzig. nung möglich macht. Damit die Aufständi- Ziel: eine komplette Ausstellungswelt für Mit seiner Weigerung ist Landwirt schen nicht schon gegen das Gesetz klagen eine Milliarde Mark auf der Fläche der Stäbler deshalb für die einen der dümmste können, ist der Standort darin nicht mit Nachbargemeinde. Bauer mit den dicksten Kartoffeln, für die Namen genannt, aber so eindeutig umzin- Doch in Leinfelden-Echterdingen, Sitz anderen Symbol des Widerstands eines gelt, dass kein anderer in Frage kommt. jenes Ehapa-Verlags, der die Menschheit kleinen Dorfes gegen eine feindliche Über- Zudem meldeten allerlei Auguren der mit den Comics von Asterix und Obelix ge- macht.Als hätten die Asterix-Hefte auf die Landesregierung das willkommene Ergeb- gen die Obrigkeit aufhetzt, droht ihnen der Akteure im Messestreit abgefärbt, führten nis: Das Gutachterbüro Weidleplan, das für Himmel auf den Kopf zu fallen: Stäbler sich Stuttgarter Honoratioren nämlich so Stadt und Land auch bei der Flughafen-Er- will die Millionen nicht.Weder er noch 100 hochmütig auf wie die Römer in Kleinbo- weiterung arbeitet, sprach sich für Lein- andere Grundstücksbesitzer des Ortes, we- num – vor der Schlacht. felden aus. Ein gut erschlossenes ehemali- der die Verwaltung noch der Gemeinderat Mit den paar „Krautbauern“ werde man ges Militärgelände in Böblingen, dem Land von Leinfelden-Echterdingen wollen Schei- doch wohl noch fertig, tönte Daimler- mehrfach angedient und sofort bebaubar, ne für Steine. Chrysler-Vorstand Jürgen Hubbert; Wirt- blieb für Weidleplan zweite Wahl. Dabei betrachtet Landesvater Erwin schaftsminister Walter Döring (FDP) In Eilmärschen führen die Stuttgarter Teufel (CDU) das Großprojekt sogar als meierte schon vor dem letzten Standort- nun Hilfskohorten heran, um Tatsachen zu „Meilenstein“ für den Wirtschaftsstandort Suchlauf alle Alternativen ab: „Darüber schaffen: Erst kürzlich hat die Regional- Baden-Württemberg. Und dafür will er diskutiere ich nicht.“ Die Investitionen versammlung den Bauplänen zugestimmt, notfalls seine widerborstigen Untertanen von Leipzig und München vor Augen, eine bis Oktober werden 30 Architekten ihre durch ein eigens geschaffenes Landesgesetz große Allianz aus CDU, SPD und FDP im Zeichnungen vorlegen. enteignen – für eine Messe hat es so etwas Rücken, unterschätzte auch Kabinettschef Doch Messegegner wie Leinfelden-Ech- in Deutschland noch niemals gegeben. Teufel den Aufstand im Rübenland. terdingens Anwalt Michael Quaas fühlen 65 Hektar im grünen Winkel zwischen Erst als seine Unterhändler der störri- sich gerüstet. Je mehr das Tempo verschärft der Autobahn nach München und dem schen Kommune nicht mal mit 35 Millio- werde, umso härter werde nach Ende des Flughafen soll die kleine Speckgürtel-Kom- nen Mark ihr Grün abschwatzen konnten, Planfeststellungsverfahrens in zwei Jahren mune freiräumen, damit sich die nach Um- dämmerte den Messegesellschaftern Stadt der Konflikt vor Gericht. Quaas: „Für Stuttgart und Land Baden-Württemberg: Straßen, Schienenwege und Kanäle darf ein Die 35000 Einwohner der vier zusammen- Land ein Enteignungsgesetz machen, nicht gewürfelten Fildergemeinden könnten es aber für einen Gebäudekomplex wie die ernst meinen. Messe.“ Seine Bauern wollen notfalls bis Zu spät, denn inzwischen hatte sich de- vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. ren Majestix Wolfgang Fischer mit der Pa- Selbst hohe CDU-Politiker schätzen das role aufs Schild gestellt: „Ich bleib’ beim Risiko einer Niederlage auf 30 Prozent, sie Nein und wenn ich damit untergehe.“ Der halten eine Verzögerung durch Prozesse um SPD-Oberbürgermeister fürchtet bei einer mindestens zwei Jahre für wahrscheinlich. Belagerung durch zwei Millionen Messe- Schon grübeln manche Christdemokraten, besucher im Jahr die Dauerverstopfung ob es nicht besser wäre, rechtzeitig auf einen des Ortes und das Ende der Gemütlich- anderen Standort umzuschwenken. keit. Linderung ist zwar versprochen. Doch Sollte es dazu kommen, wüssten die die Verzögerungen beim Ausbau des noto- störrischen Dörfler von Leinfelden-Echter- rischen Autobahn-Stauknotens „Echter- dingen schon, wie man das feiert: mit ei- Messe-Gegner Fischer dinger Ei“ und die Ungewissheit, ob die nem großen Festgelage bis tief in die „Die spinnen, die Stuttgarter!“ Bahn aus Geldmangel den geplanten Fern- Nacht. Jürgen Dahlkamp

62 der spiegel 31/1999 Werbeseite

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Werbeseite EUROPA Barbecue auf Treibsand Eine Expertengruppe der EU hat Szenarien für die Zukunft Europas entwickelt: vom Bürger- krieg bis zur Verwirklichung des sozialdemokratischen Traums. n einem Samstagnachmittag im De- zember 2003 explodieren gleich- Azeitig drei Autobomben in der Re- gent Street, auf dem Kurfürstendamm und den Champs-Élysées. Hunderte von Bür- gern sterben beim Einkaufsbummel, tau- sende werden verletzt. Die Attentate sind das Werk einer ter- roristischen Organisation, die ein paar hundert Kilometer jenseits der Grenzen der Europäischen Union einen Kampf um die knappe Ressource Wasser entfesselt hat, den „Durst-Krieg“. Frankreich, Deutsch- land und Großbritannien erzwingen auf einer Son- dersitzung des EU-Rats die Entsendung von Bo- dentruppen in das Kri- sengebiet. Nach sechs Monaten und 25000 Toten ist der Durst-Krieg beendet – nicht aber der Kampf

gegen die aufrührerische M.-S. UNGER Nachbarschaft der EU. Thébault Der Präsident der Kom- mission zieht eine klare Grenze: „Euro- pa endet dort, wo Chaos und Barbarei beginnen.“ Der Kommissionspräsident des Jahres 2003 wird Romano Prodi heißen, und die harsche Abgrenzungsformel hat ihm eine 15-köpfige Gruppe von Futurologen in den Mund gelegt, die im Auftrag seines Vor- gängers Jacques Santer seit 1997 mögliche Szenarien für die Entwicklung Europas in den nächsten zehn Jahren erdacht hat. Das Terrorszenario mit dem Titel „Turbulente Nachbarschaft“ ist die düsterste Projek- tion der Prognostiker. In einem vielstufigen Diskussionspro- zess, an dem rund 60 Experten aus den Generaldirektionen der Kommission be- teiligt waren, kristallisierten die Szenario- Koordinatoren ihre fünf Zukunftsentwürfe heraus. Sie enthalten gemeinsame Ent- wicklungslinien, aber durch unterschied- liche Gewichtung führen sie zu gegensätz- lichen Ergebnissen. Die Zukunft Europas kann politisch ge- staltet werden, lautet die Botschaft, auch wenn viele Trends unumkehrbar sind. „Wir wollen eine Debatte auslösen“, sagt

der spiegel 31/1999 Deutschland

2010 – was wird aus Europa? Fünf Zukunftsszenarien, erarbeitet von der „Forward Studies Unit“ der Europäischen Kommission DPA; WTN/Pandis/Telepress DPA; „GETEILTE „TRIUMPHIERENDE „TURBULENTE VERANTWORTUNG“ MÄRKTE“ NACHBARSCHAFT“ π Dezentralisierung, Verantwortung und π Freier Wettbewerb wie in den USA, π Wachsende internationale Spannungen Transparenz als Ergebnis einer radikalen Staat auf ein Minimum reduziert wegen des Kampfes um Naturressourcen wie Reform des öffentlichen Sektors π Wirtschaftliches Wachstum und geringe Wasser, bewaffneter Konflikt am Rand der EU π „Wettbewerbs-Korporatismus“ als Modell Arbeitslosigkeit bei Zunahme des Niedriglohn- π Reformen im Innern der Staaten der Partnerschaft zwischen Gewerkschaften, sektors und der sozialen Ungleichheit werden vernachlässigt, Unternehmen und Regierung π EU mit 30 Mitgliedstaaten, Abnahme der Wettbewerbsfähigkeit π 28 EU-Mitgliedsländer, 12 Beitritts- aber ohne engere politische Union π EU-Erweiterung fast vollendet, kandidaten, Erweiterung der Euro-Zone, Währungsunion und Binnenmarkt EU-Institutionen werden populärer funktionieren einigermaßen

„KREATIVE GESELLSCHAFTEN“ „HUNDERT BLUMEN“ π Zunehmende Ungleichheit führt 2002 zu massivem Aufruhr in einigen π Die Bevölkerung verliert das Vertrauen in Politik und Großkonzerne, Mitgliedstaaten und zur radikalen Erneuerung der politischen Klasse ziviler Ungehorsam, Steuerbetrug und Wahlenthaltung breiten sich π Umbau der Steuer- und Sozialsysteme, Umweltschäden und gesell- immer mehr aus schaftlich nützliche Tätigkeiten werden dabei stärker berücksichtigt π Wissensgesellschaft mit vielen kleinen Firmen, π Stark dezentralisierte EU, langsame Erweiterung, Selbstorganisation der Wirtschaft nach dem Muster des Internet stärkere politische Kontrolle des Euro und des Binnenmarktes π Schwächung der EU-Institutionen, Erweiterung auf halbem Weg blockiert

Jean-Claude Thébault, 48, der Leiter der bei Entlastung des Faktors Arbeit. Alle Doch am Schluss der Diskussionen Gruppe. Europäer haben das Recht, mehrere Ar- schien vielen das Patchwork-Szenario „Die Gilles Bertrand, Chefkoordinator des beitsjahre gemeinnützigen Tätigkeiten zu hundert Blumen“ wahrscheinlicher: „Zur Projekts und Absolvent eines Studiums in widmen. Die Pensionäre des Jahres 2006, Jahrhundertwende erwartete die Öffent- „Business Science“, hat zur anschaulichen so das grüne Szenario, „sehen endlich ih- lichkeit gar nichts mehr, weder von den Darstellung der Zukunftsvisionen die Form re Träume von 1968 wahr werden“. Die Politikern noch vom Big Business.“ der Erzählung gewählt.Aus der Perspektive Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft Der Mangel an Vertrauen löste die gro- des Jahres 2010 berichtet er zum Beispiel aus dem Osten Europas können sich aller- ße Krise der Jahre 2000 bis 2005 aus – über „Kreative Gesellschaften“. dings mit den grünen Kreativen kaum Produkt-Boykott, Sabotage, massenhafte Es beginnt mit einem radikalen Spar- befreunden. Wahlenthaltung – die Autoritäten gelten programm. Die Spaltung in Arm und Reich Der argentinische Präsident erklärt bei nichts mehr, und die Leute nehmen ihre nimmt zu, im März 2002 revoltiert halb Eu- einem Besuch in Brüssel: „Es ist schwer Angelegenheiten selbst in die Hand. ropa auf der Straße. In Essen wird ein Fir- zu sagen, ob Europa ein Leuchtfeuer für Darüber schwebt eine „ziemlich schat- menchef von seinen Mitarbeitern gelyncht, den Rest der Welt ist oder eine Barbecue- tenhafte Europäische Union“. Pessimis- weil er Entlassungspläne ankündigte. Party auf Treibsand.“ ten behaupten, „die einzige Integra- Das Europäische Parlament ist ins stille Als die „Forward Studies Unit“ ihre tion, die es noch gibt, ist die der Mafia- luxemburgische Mondorf-les-Bains geflo- Szenarien ausgewählten Experten-Grup- Gruppen“. hen. Das Brüsseler „Berlaymont“, der nach pen vorstellte, erfreute sich in der ersten Die Visionäre wollen sich auf keines ih- einer Asbestsanierung gerade wieder ein- Diskussionsrunde das Szenario „Geteilte rer Szenarios festlegen lassen. Jedes Modell geweihte Sitz der Kommission, steht in Verantwortung“ höchster Beliebtheit: eine „ist möglich“, sagt der nüchterne Jurist Thé- Flammen, und die Schweiz erklärt sich be- Reform des europäischen Wohlfahrtsstaats, bault, „es ist vollständig Open End“. Und reit zur Aufnahme von Europa-Flüchtlin- die am Prinzip des vom Staat geleiteten der Autor der Euro-Fiktionen, Bertrand, gen – oberhalb reichlich bemessener Ein- Konsensmodells festhält – „the European wählte als Motto seiner Erzählungen aus kommensgrenzen. way“. Der ehemalige sozialistische Kom- dem Jahr 2010 einen Spruch des argentini- Das Ergebnis der Revolte ist ein grünes missionspräsident Jacques Delors, der die schen Schriftstellers Jorge Luis Borges: Europa mit Steuern auf Kapital und in- Studiengruppe 1989 gegründet hatte, war „Wir wissen nur eines über die Zukunft – ternationale Finanztransaktionen, Ener- bei einer Präsentation begeistert: „Das ist sie wird nicht wie die Gegenwart aus- gieverschwendung und Umweltschäden ja der sozialdemokratische Traum.“ sehen.“ Michael Schmidt-Klingenberg

der spiegel 31/1999 67 Werbeseite

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Werbeseite Trends Wirtschaft

JAPAN Düstere Zahlen apanische Ökonomen kritisieren die Jrosigen Wachstumsprognosen ihrer Regierung. Pünktlich zum Kölner Welt- wirtschaftsgipfel hatte Tokio Ende Juni den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts auf Jahresbasis auf 7,9 Prozent hochge- rechnet. Die Datenbasis dafür sei viel zu dünn, kritisiert Volkswirt Hiroshima Ya- mamura vom NLI Research Institute in Tokio. Denn der Prognose legte die Re- gierung das erste Quartal 1999 zu Grun- de: In diesem Zeitraum stützten freilich inzwischen ausgelaufene staatliche Pro- gramme noch die Konjunktur, gegen-

über dem Vorquartal wuchs die Wirt- B. BOSTELMANN / ARGUM schaft um 1,9 Prozent. Im Vergleich mit Sommer dem Vorjahreszeitraum dagegen errech- TELEKOM net Yamamura nur ein Plus von 0,1 Pro- zent. Für das laufende Fiskaljahr erwar- tet er ein Wachstum von nur 0,4 Pro- Kostspieliges Kabel zent: „Japans Wirtschaft hat sich noch nicht erholt.“ Im September will Tokio osige Aussichten verspricht die Deut- Internet-gestützten Telefonie verlaufen, neue Prognosen verkünden. Taichi Sa- Rsche Telekom potenziellen Käufern die schon bald auf dem TV-Kabel an- kaiya, Chef der staatlichen Wirtschafts- des TV-Kabelnetzes, das sie aus Kartell- geboten werden und im Jahr 2005 bereits planungsagentur EPA, erwartet düstere gründen veräußern muss. In den ver- 3,7 Milliarden Mark Umsatz bringen soll. Zahlen: „Ein Minus ist möglich.“ gangenen Tagen ließ Konzernchef Ron Und das bei kaum noch zu unterbie- Sommer ein „streng vertrauliches“ Me- tenden Preisen: Denn als monatliche Tausend Nikkei- 22603,20 morandum der Investment-Bank Roth- Grundgebühr für den Internet-Telefon- Index 22 schild an Kaufkandidaten verschicken. anschluss wird in dem Geschäftsplan ein Danach wird der Umsatz aus dem TV- Preis zwischen 15 und 19 Mark zu Grun- 20 Netz von heute rund 2,5 Milliarden Mark de gelegt. Die Gesprächsminute soll bis zum Jahr 2005 auf knapp 9 Milliarden innerhalb Deutschlands zwischen fünf 18 Mark hochschnellen. Der Zuwachs soll und acht Pfennig kosten.Allerdings müs- 17491,34 nicht aus den klassischen Fernsehge- sen potenzielle Käufer erst einmal schäften kommen, sondern aus völlig kräftig investieren – und das nicht nur 16 neuen Diensten. So würden, heißt es in beim Kaufpreis, der nach Telekom- dem Papier, bereits in fünf Jahren rund Vorstellungen bei deutlich über 20 Mil- 14 1,7 Millionen Haushalte nicht mehr übers liarden Mark liegen soll. Um das Netz 12948,12 Telefon, sondern per TV-Kabel in das In- für die neuen Angebote umzurüsten, 12 Bruttoinlandsprodukt ternet kommen. Damit lasse sich ein zu- heißt es in dem Papier, müssten bis zum in Billionen Yen sätzlicher Umsatz von mehr als einer Jahr 2005 außerdem mehr als 6,4 Mil- 483,2 500,3 507,9 495,2 Milliarde Mark erwirtschaften. Noch liarden Mark in neue Technik investiert rasanter werde die Entwicklung der werden. 1995 1996 1997 1998 1999

DEUTSCHE BANK der Bank angedient. Seebacher-Brandt machte die Liaison selbst vor kurzem Ende einer Karriere? öffentlich und sorgte so für Schlagzei- len in der Presse und Wirbel in der rigitte Seebacher-Brandt, Leiterin Bank. Vor allem die Arbeitnehmer-Ver- Bder Abteilung „Kultur und Gesell- treter sind sauer: „Es geht nicht an, schaft“ bei der Deutschen Bank, ver- dass der Chef seiner Geliebten einen lässt das Institut zum Jahresende. Das hoch dotierten Posten verschafft. Die zumindest sagte Vorstandschef Rolf Frau wird schließlich bezahlt wie ein Breuer vergangene Woche im Kreise Bereichsvorstand“, schimpfte ein Ge- mehrerer Aufsichtsräte. Die Kontrolleu- samtbetriebsrat. Gegenüber dem SPIE- re der Bank begrüßten den Weggang. GEL wollte Deutsche-Bank-Chef Breu- Seebacher-Brandt ist seit Jahren die er die Personalie weder dementieren Geliebte von Breuers Vorgänger Hilmar noch bestätigen: „Sie werden sicher

Kopper. Der heutige Aufsichtsratschef PRESS ACTION verstehen, dass ich zu Frau Seebacher- hatte ihr 1995 den Job als Kulturchefin Seebacher-Brandt, Kopper Brandt nichts sage.“

der spiegel 31/1999 71 Trends

TELEKOMMUNIKATION GEWERKSCHAFTEN E-plus im Angebot Mehr Jobs und mehr Geld? WE und Veba wollen sich nun doch Rvon ihrer Mobilfunktochter E-plus Der britische Labour-Abgeordnete Denis MacShane, 51, kritisiert in einem offenen trennen. Vergangene Woche verhandel- Brief an den DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte die Haltung der deutschen Ge- ten beide Konzerne mit Investmentban- werkschaften zu dem Papier „Dritter Weg und die Neue Mitte“, das Premiermi- kern über den Preis. Angestoßen hatte nister Tony Blair und Bundeskanzler Gerhard Schröder verfassten. die neue Verhandlungsrunde die Invest- ment-Bank Sal. Oppenheim. Sie hält ch kann mich noch er- ten wir unsere Zukunft vor- zur Zeit den 17-prozentigen Anteil des innern, wie überdrüssig bereiten. dritten E-plus-Eigners, Vodaphone, um Iich als junger Gewerk- Es sind eure Mitglieder und ihn für den britischen Konzern zu ver- schaftsfunktionär der Arti- meine Wähler in meiner kaufen. Die Angebote, die für diesen kel in unserer Presse war, ehemaligen Stahl- und Koh- Anteil abgegeben wurden, so ein Veba- in denen die Flexibilitäts- lebergwerksregion in Süd- Manager, seien so hoch, dass auch RWE bereitschaft der deutschen Yorkshire, wo ich Abgeord- und Veba, die E-plus eigentlich an die Gewerkschaften gepriesen neter bin, die die praktische Börse bringen wollten, nun verhandeln. wurde – im Gegensatz zu Seite der Globalisierung Für den Verkauf wird E-plus mit 24 bis den rigiden Regeln der bri- erleben. 30 Milliarden Mark bewertet. Angebote tischen Gewerkschaften. Wenn sie in ein Flugzeug von France Télécom und dem französi-

Erst später, als ich die Ar- UPPA steigen, um ans Mittelmeer, schen Mischkonzern Vivendi liegen vor. beitsmärkte in verschiede- MacShane nach Florida oder Thailand nen Ländern selbst kennen zu fliegen, stimmen sie mit lernte, begriff ich, dass die deutsche ihrem Geldbeutel für eine globale Wirt- Flexibilität dazu beitrug, einen anpas- schaft.Weil sie ins Einkaufszentrum ge- sungsfähigen Arbeitsmarkt zu unter- hen, um nach den billigsten T-Shirts, stützen, während britische Tradition – Computern oder Nike-Turnschuhen zu auf die wir so stolz waren – sich im schauen, unterstützen SPD- und New- Grunde gegen die Interessen des briti- Labour-Wähler die Globalisierung. schen Arbeiters wendete. Das primäre Ziel der Sozialdemokratie Ich erinnere an all dies, weil ich in Ihrer im 21. Jahrhundert wird es sein, den Kritik lese, dass die Labour-Regierung weltweiten Lebensstandard zu verbes- zu schnell und zu weit auf der Straße sern – und nicht, die niedrigeren Stan- des Dritten Weges der Modernisierung dards, die es gibt, auf einen gemeinsa- schreitet und bereit ist, Flexibilität und men Nenner zu bringen. Um dies zu Partnerschaft in einer Art zu vertreten, erreichen, müssen, wie Blair und Schrö- die sich negativ auf den Arbeitnehmer der argumentieren, Millionen von neu- auswirkt. Aber es ist fraglich, ob die en Arbeitsplätzen in Europa geschaffen Politik des Dritten Weges und der Neu- werden. Faire Arbeitsbedingungen müs- en Mitte tatsächlich so schlecht für Ar- sen auch für flexible Arbeitsmärkte mit beitnehmer und Gewerkschaften ist. einer Vielfalt an Jobs mit variablen Ar- Nehmen wir drei Aspekte: Beschäfti- beitszeiten gelten. Holland und Schwe- gung, Löhne und Gewerkschaftsmit- den etwa haben die größte Anzahl an gliedschaft. In Großbritannien sind, seit Teilzeitkräften in Europa, während sie E-plus-Werbung Tony Blair Premierminister wurde, alle gleichzeitig ein hohes soziales Sicher- drei angestiegen. Seit Mai 1997 sind heitssystem aufrechterhalten. 500000 neue Stellen geschaffen worden, Sie schreiben über die Bundesrepublik: QUELLENSTEUER 100000 neue Stellen für junge Arbeits- „Wir sind ein Hochlohnland, und wir lose mit eingerechnet. Mit der Verringe- wollen dies auch bleiben.“ Ja, sicher, Erfolgreiche Fahnder rung der Zinsen und der öffentlichen viele eurer Mitglieder erfreuen sich an Schulden sind die Löhne angestiegen. hohen Löhnen. Aber Gewerkschaften inen unerwarteten Geldsegen be- Zum ersten Mal seit 20 Jahren können dürfen nicht nur ihre Mitglieder vertre- Eschert die Quellensteuer dem Fis- britische Gewerkschaften einen Anstieg ten, die gute und auch gut bezahlte Jobs kus. In den ersten fünf Monaten dieses in ihrer Mitgliederzahl verzeichnen. haben, sondern auch Zweidrittel der ar- Jahres verbuchten die Finanzämter bei Wenn man Gewerkschafter ist, ist dies beitenden Bevölkerung, die nicht in Ge- der sogenannten Zinsabschlagsteuer die beste Nachricht. werkschaften organisiert sind, und die rund 20 Prozent mehr Einnahmen als Mehr Jobs, mehr Bezahlung und mehr vier Millionen, die überhaupt kein Ein- im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Gewerkschaftsmitglieder. Kann das für kommen beziehen. Hintergrund der plötzlichen Steigerung den DGB unattraktiv sein? Wenn Gewerkschaften und die neue So- von 6,329 Milliarden auf 7,573 Milliar- Wir Sozialdemokraten sind alle stolz auf zialdemokratie im nächsten Jahrhundert den Mark ist nach Einschätzung von unseren hundert Jahre langen Kampf ge- überleben und gedeihen wollen, dann Finanzexperten auch der Erfolg der gen Diktatur und für soziale Marktwirt- verdient die Politik des Dritten Wegs Steuerfahndung in den Bankenverfah- schaft.Aber anstatt uns auf den Lorbee- und der Neuen Mitte Unterstützung – ren: Einmal überführte Fiskus-Flüchtlin- ren der Vergangenheit auszuruhen, soll- und keine Verurteilung. ge zahlten nun auch in den Folgejahren ordnungsgemäß ihren Obolus.

72 der spiegel 31/1999 Geld

6000 AKTIEN DAX 5000 „Übertriebene Zinsängste“ 4000 3000 WestLB-Researchdirektorin Margot SPIEGEL: Die Aktienkurse sackten in den Schoenen, 56, über den Einbruch an vergangenen Tagen weltweit weg.Warum? 2000 den Aktienmärkten Schoenen: Viele Anleger haben Angst, 1000 dass die Zinsen in den USA und auch in Europa steigen werden. Die sind neben den Unternehmensgewinnen der wich- 1989 1991 1993 1995 1997 1999 tigste Einflussfaktor für die Börsen.Wenn ZINSEN 10 die Zinsen tatsächlich weiter steigen, wür- Umlaufrendite deutscher 9 de das die Attraktivität der Rentenmärk- Staatsanleihen te erhöhen. 8 7 SPIEGEL: Sind die Zinsängste nicht etwas übertrieben? 6 5 Schoenen: Wir haben das Schlimmste be- reits überstanden, das stimmt. Da sich 4 Quelle: Datastream das Wachstum des Bruttosozialprodukts 3 in den USA abschwächt, rechne ich sogar wieder mit niedrigeren Zinsen. Gerade Aktienkurse bei der sich abzeichnenden in Europa sehe ich weit und breit kein in- konjunkturellen Erholung steigen wer- flationäres Potenzial. Da haben die Märk- den. Dann steht sehr viel internationales te sicher übertrieben. Geld ante portas, dass nach Europa SPIEGEL: Also grünes Licht für wieder stei- fließen wird. gende Aktienkurse? SPIEGEL: Wie viel kann der Deutsche Ak- Schoenen: In Amerika sind die Aktien- tienindex zulegen? märkte stark überbewertet. Dort habe ich Schoenen: Wenn wir die nächsten Wo- große Zweifel hinsichtlich der Gewinn- chen der Unsicherheit überstanden ha-

M. WOLTMANN entwicklung der Unternehmen. Aber für ben, ist ein Plus von deutlich über zehn Schoenen Europa bin ich sehr optimistisch, dass die Prozent möglich.

AKTIEN KATASTROPHEN-ANLEIHEN amerikanischen Ostküste Versicherungs- schäden für mehr als eine Milliarde Dol- Peinliche Panne Wetten auf das Wetter lar verursacht hätte. Auch Erdbebenrisi- ken in Tokio und im kalifornischen San iagen-Anleger, die ihr Aktiendepot mmer mehr Versicherungen finanzie- Francisco sind mittlerweile als Anleihe Qelektronisch bei der Deutschen Iren die Schäden von Hurrikan und „verbrieft“ und werden an der New Yor- Bank unterhalten, konnten sich am Hochwasser mit sogenannten „Katastro- ker Börse gehandelt. Deutsche Versiche- Freitag vor zwei Wochen freuen – zu- phen-Anleihen“. Die Papiere bringen bis rungen haben ebenfalls mehrere Anlei- mindest kurzfristig: Sie hatten plötzlich zu zehn Prozent Zinsen, bergen dafür hen bei Fondsgesellschaften oder ande- die dreifache Menge der Papiere auf aber ein hohes Risiko. So hätten die Be- ren Versicherungen platziert. Demnächst dem Bildschirm stehen, obwohl die sitzer einer Anleihe der US-Versicherung sollen auch Privatanleger diese Formen deutsche Biotechnologie-Firma ihre Ak- USAA Inc. ihr Geld komplett verloren, der Geldanlage beziehen können. tien nur im Verhältnis eins zu zwei ge- wenn zwischen dem 15. Juni 1997 und splittet hatte. „Es war ein technisches dem 15. Juni 1998 ein Hurrikan an der Hurrikan über Mittelamerika Versehen“, erklärt Walter Schumacher von der Deutschen Bank. Allerdings habe die weltgrößte Bank ihr teures Missgeschick binnen zwei Tagen selbst bemerkt – so dass diejenigen Kunden, die ihren Depotauszug per Post bekom- men, nie etwas von den Freiaktien er- fahren haben. Einige Internet-Kunden dagegen haben die Qiagen-Papiere so- fort verkauft – und den Überraschungs- profit damit sofort realisiert. Das großzügige Geschenk wird ihnen jedoch nicht erhalten bleiben. Schumacher zeigt sich stur: „Wir sind dabei, die

Transaktionen rückabzuwickeln.“ PRESS SIPA Popstar Jackson Hitparade per Mausklick

AP

MUSIKINDUSTRIE Klicken, zahlen, tanzen Revolution im Musikgeschäft: Einzelne Songs und ganze Konzerte sollen über den Computer ins Wohnzimmer transportiert werden. Junge Online-Pioniere machen den Konzernen zu schaffen – die rechnen schon jetzt mit Millionenverlusten.

n New York spüre er das Feuer, das bereits in vollem Gange. Firmen wie Ama- alle ordentlich lizenziert. Pro Song zahlen er in Berlin vermisst, sagt Bernhard zon.com haben gezeigt, wie leicht der Ein- die Bezieher fürs Runterladen zunächst IFritsch, 38. Aus der Welthauptstadt will kauf von Büchern per Computer läuft. Ge- noch stolze Preise zwischen 1,85 und 3,70 der Deutsche das Musikgeschäft revolu- sucht, bestellt und gezahlt wird über den Mark, später werden die Songpreise un- tionieren – über das Internet. Bildschirm, geliefert in kurzer Zeit. willkürlich fallen. Die kühne Vision des studierten Ton- Noch leichter als Bücher ist die Wa- Die Produzenten von CDs ahnen längst, meisters, der seit ein paar Monaten in Man- re Musik zu vertreiben. Medienexperte was auf sie zukommt. Ihre Marketingma- hattan im 23. Stock eines alten Bürohauses Fritsch will ein eigenes technisches System schine ist ausgerichtet auf den Vertrieb residiert, könnte sogar aufgehen. durchsetzen: Seine Kunden sollen die Mu- über Plattenläden, das Online-Geschäft mit Längst sind die technischen Möglichkei- sik über eine hauseigene Software aus dem seinen neuen Regeln beherrschen sie nicht ten vorhanden, dem Musikfreund die ge- Computer holen und auf speziellen Gerä- – zumindest nicht besser als ihre Angreifer. wünschte Ware billiger und auf bequeme- ten abspielen. Für die gesamte Musikindu- Viele Stars werden ihre Lizenzverträge re Weise als bisher zu liefern. strie wäre damit ein neuer Standard ein- demnächst wohl – zu besseren Konditionen Nichts wird mehr so sein, wie es war. geführt – im Wettlauf gegen andere Inter- – mit Internet-Labels abschließen. Der Weg von der ersten Musikwalze über net-Rebellen und die Plattenkonzerne. Hinzu kommt: Heute schon wird über Schellack- und Vinylplatten bis zur CD und Der Plan ist revolutionär. Keine CD das World Wide Web reichlich Musik ver- dem digitalen Tape ist an eine neue Bie- mehr, keine Bänder – Tina Turner, Bob trieben, meistens illegal; die Konzerne ver- gung gelangt. Die Musik kommt über den Marley oder John Coltrane kommen bald dienen daran nichts.Vergebens versuchten Computer ins Wohnzimmer, zum Vergnü- in Top-Qualität über den PC ins Haus, und sie, vor Gericht die unkontrollierte Ver- gen des Verbrauchers, zum Entsetzen der das alles legal. Klicken, zahlen, tanzen. breitung von Musik über das Internet zu etablierten Musikindustrie. Im Handel mit Die 200000 Titel, die Fritsch zum Start verhindern. Im vergangenen Jahr ging der dem gedruckten Wort ist die Revolution über das Internet weltweit anbietet, sind Absatz von CDs deutlich zurück, ge-

74 der spiegel 31/1999 Wirtschaft

sich inzwischen Millionen ihre ganz per- Musik ist nun mal leicht zu transportie- sönliche Hitparade aus dem PC, die Songs ren. Anders als bei Büchern oder Kleidung werden meist gratis von hunderten von An- müssen dem Besteller keine Pakete oder bietern ins Netz gestellt. Nach Schätzungen Transporter geschickt werden – die begehr- der Musikbranche schwirren – illegal – ten Töne sind gleich da, über die Telefon- 200 000 Musikstücke durchs Netz. „Wie leitung. „Wenn man die Top 40 einfach auf sollen wir die Stars von morgen produzie- Knopfdruck übers Internet herunterziehen ren, wenn wir für unsere Produkte keinen kann, sind wir machtlos“, sagt Benedikt Pfennig sehen?“, fragt Martin Schäfer vom Lökes, Marketingmanager bei Warner. deutschen Phono-Verband. Im Jahr 2004 werde das Internet-Ge- Dank MP3 überspielen vor allem junge schäft mit dann vier Milliarden Dollar be- Leute ihre Lieblingslieder am heimischen Computer entweder über einen CD-Bren- ner auf eine Compact Disc oder aber auf spezielle MP3-Abspielgeräte. Der popu- lärste davon („Rio Player“) ist immerhin über eine Million Mal im Einsatz. „MP3 rocks the web“, titelt das Bran- chenblatt „Wired“: MP3 erschüttert das Netz und längst auch die Industrie. Der Wandel ist für die großen Fünf des Musik- gewerbes – die Multis Sony, Warner, EMI, Universal und Bertelsmann – zur Exi- stenzfrage geworden. Nach etlichen Fusio- nen und Akquisitionen kontrollieren sie inzwischen zwar weltweit 80 Prozent des Marktes – doch von der Do-it-yourself-Be- Poplady Madonna wegung bleiben sie vorerst ausgeschlossen. Extra-Erlöse mit Und die Aussichten werden noch düste- Song-Rechten rer, wenn ein Mann wie Fritsch das heute noch anarchische Geschäft professionell ACTION PRESS ACTION organisiert. Denn bald schon wird eine Art EVERKE T. Kopierschutz das illegale Herunterladen Internet-Pionier Fritsch schätzter Schaden durch Online-Piraterie: erschweren – dann schlägt die Stunde der Wettlauf mit den Multis 20 Millionen Mark. 1999 erwartet die Mu- kommerziellen Online-Händler. sikindustrie einen stärkeren Einbruch. Allein in diesem Jahr will seine Firma reits acht Prozent aller Musikverkäufe aus- Eine Erfindung des Fraunhofer-Instituts MCY.com 250 Millionen Mark investieren. machen, schätzt die Forschungsfirma Mar- in Erlangen löste den Alptraum der Plat- Für seine Offensive hat er sich 30 Partner ket Tracking International. Und bis 2010 tenriesen aus. Die Wissenschaftler schufen gesichert, darunter fünf Großinvestoren. steige der Anteil auf ein Fünftel. eine Möglichkeit, die für die Übertragung Fritsch will nicht nur bekannte Musik- In der Vergangenheit hatten die Chefs von Informationen notwendigen Daten titel liefern, sondern auch neue Talente för- der Musikriesen das neue Medium erst deutlich zu verringern. Nach diesem Verfah- dern und Konzerte anbieten. So plant er im ignoriert und dann als Teufelszeug be- ren, MP3 genannt, ist für ein Musikalbum Internet das Comeback der legendären kämpft. Unterdessen schrumpften ihre Ge- im Internet nur ein Zehntel der Bytes einer Jackson Five, allerdings ohne Superstar winne, vor allem wegen hoher Marketing- handelsüblichen CD erforderlich. Michael Jackson. Dafür trällert dessen Bru- ausgaben. Bis zu eine Million Mark kostet Schnell wurde MP3 zur Chiffre für den der Randy mit – er ist Mit-Gesellschafter es, ein potenzielles Hitalbum zu entwi- modernen Musikmarkt. Weltweit holen bei MCY.com. ckeln – doch 90 Prozent der Produktionen

Musik aus dem Netz Wie MCY.com Kunden aus dem Internet mit Musik versorgen will Mediaways

MCY erwirbt bei Musikern und Verlagen die Veröffentlichungs- rechte für das Internet. Die 2 Der Kunde wählt im Online-Angebot Auf den Groß- Musiker erhalten für abgerufene Musikstücke aus und lädt sie im rechnern des Computer- Titel eine Provision. MP3-Format auf seinen Computer. Dienstleisters Mediaways sind 1 Bei der Anmeldung teilt der Dort kann er die Musik mit einem alle Musikdaten gespeichert. Kunde MCY seine Kreditkarten- speziellen Programm abspielen daten mit, bei jedem abgerufe- (z.B. für eine Party) oder auf Das Abspielgerät NETrax nen Titel wird sein Konto seiner Festplatte speichern. von MCY.com belastet.

3 Die digitalen Musikdaten können in einem Abspielgerät gespeichert oder auf andere Speichermedien überspielt werden. Wirtschaft

Und natürlich wollen sie auch im Netz Beats und Bits UNIVERSAL MUSIC Anteile am weltweiten Musikmarkt GROUP vertreten sein. „Wir sind aufgewacht“, sagt und Präsenz im Internet Deutsche Grammophon, 50% Wolf Gramatke, Deutschland-Chef des Mu- Island, Motown, Motor sikkonzerns Universal. MP3 habe „etwas in Gesamtumsatz: knapp 40 Music, Philips Classics, Bewegung gesetzt und neuen Bedarf Milliarden Dollar ANDERE Polydor INTERNET bei jungen Zielgruppen geweckt“. Bis- 21,6 23 her bieten Stars wie Madonna auf getmusic.com Web-Seiten nur kurze Klangproben Proze WARNER MUSIC GROUP n n Online-Verkauf an, künftig jedoch soll das Internet i t Atlantic, Elektra, East- Downloads dicke Extra-Erlöse bringen. west, Maverick, Sub Pop 14,5 14 So gründete Universal zusammen 37 % BMG ENTERTAINMENT 50% mit der Bertelsmann-Tochter BMG im Ariola, Arista, Bad Boy, Frühjahr die Firma Getmusic.com. Dabei INTERNET 15,7 11,2 BMG Classics sollen die Erfahrungen eines großen Pilot- cdnow.com 37 % projekts der Plattenfirmen mit der Deut- INTERNET schen Telekom genutzt werden, bei dem Online-Verkauf 40000 Titel auf Abruf zu kaufen sind. 50% Downloads SONY MUSIC EMI musicmaker.com Bis Jahresende will Getmusic.com Mu- (geplant) Columbia, Epic, Blue Note, Capitol, Online-Verkauf sikkanäle im Internet sowie einen eigenen Internetdirekt- Refugee Camp, Sony/ Caroline, EMI Classics, Downloads CD-Verkauf anbieten. Konzernstars wie marketing ATV, Sony Wonder Priority,Virgin Whitney Houston sollen bald auch einzeln übers Internet zu ordern sein. Musik habe scheitern. Für Nachdenken über die Inter- ty durfte einen neuen Song nur zwei Tage sich als „Killer-Kategorie im Internet“ her- net-Zukunft blieb da offenbar kaum Zeit. ins Netz stellen, bis sein Vertragspartner ausgestellt, heißt es in einem internen Stra- „Die Industriegrößen waren so scharf dar- Warner intervenierte. Bis dahin war das tegiepapier von Bertelsmann. auf, jeden Erfolg von MP3 niederzuma- Stück 150000-mal angeklickt worden. Die Antwort der Rivalen Sony und chen, dass die großen Vorteile der digitalen Fast alle der 18 000 Künstler von Warner heißt CDNow. Die beiden Multis Distribution weitaus weniger genutzt wer- MP3.com sind unbekannt. Sie heißen kauften jeweils 37 Prozent der Anteile den als möglich“, meint Mark Mooradian, Streaming Geeks oder Lotusland und ma- des Online-Musik-Grossisten (mehr als Analyst der Marktforschungsfirma Jupiter. chen Karriere jenseits von Radiostationen 2,3 Millionen Kunden). Im Direktmar- Damit aber wurden die Branchenriesen an- und Fernsehsendern. keting will das Duo 300 000 CDs aggressiv greifbar für jeden Herausforderer, der auf Er gehe andere als die traditionellen anbieten. Sony will in Plattenläden Mu- unbekannte Musiker, aggressive Preise und Wege der Industrie, sagt Firmengründer sikzapfsäulen aufstellen, mit denen sich eine neue Kultur setzt. Robertson. Das sei „eine Straße, auf der jeder die Wunschtitel aus dem Netz ho- In den USA wurde ein kalifornischer die Musiker volle Kontrolle über ihr len kann. Jungunternehmer mit Milchbubengesicht Schicksal und die Rechte an ihrer Arbeit Rivale EMI dagegen kaufte im Juni die zum Schrecken der Branche. Bei der Fir- behalten“. Er sehe die Digitalmusik als ein Online-Firma Musicmaker.com. Dabei stellt mengründung im März 1998 hatte Michael Baby: „Es kann noch nicht laufen und spre- sich der Musikfan im Netz seine Wunsch- Robertson, 32, die Idee, seine Online- chen, aber es lernt gerade.“ CDs zusammen, die dann die neue EMI- Musikfirma nach dem Technikstandard MP3.com ist nur der bekannteste Ver- Tochter produziert und zuschickt. MP3.com zu nennen. Den Namen kaufte treter einer Reihe von Online-Musikfirmen „In zehn Jahren sehen die Musikkon- der frühere Computerprogram- wie etwa Musicmaker.com. Die zerne ganz anders aus als heute“, pro- mierer einem Internet-Freak für findigen Neuen setzen – bisher phezeit Multimedia-Experte Jan Hen- 1000 Dollar ab. „Es ist noch – auf Nischen. dric Buettner von Bertelsmann. Sie seien Robertsons Mischung aus Mu- eigentlich So offeriert EMusic die dann vor allem „Marketing-Agentur der sikbox und Radio wird derzeit ganz Singles des verstorbenen Multi- Künstler“. angeklickt wie kein anderes Mu- einfach und talents Frank Zappa für 99 Cents Die Dominanz der großen Fünf löse sikangebot im Netz. Mit dem billig, das Stück. Songs.com plant ei- sich auf, glaubt er, „künftig repräsentieren Verkauf von CDs und Werbe- nen Abo-Service, bei dem mo- nicht mehr 100 Leute in den Konzernen flächen macht MP3.com zwar eine Platte natlich 25 Titel für 4,99 Dollar den Weltmusikgeschmack“. Stattdessen noch viel Verlust – im ersten zu machen“ in den Haushalt geschickt wer- werde das Geschäft „demokratischer“ und Vierteljahr 1999 rund 1,4 Millio- den. Vor kurzem war das neue laufe über „Communities“, Interessenge- nen Dollar bei 670000 Dollar Umsatz –, Album der Rap-Formation Public Enemy meinschaften von Fans bestimmter Mu- doch bei Aktionären ist Robertson ein Star. über Atomic Pop sogar eher im Internet als sikstilen. Gleich nach dem Börsengang Mitte Juli in den Plattenläden. „Es ist eigentlich ganz „Die Karten werden neu gemischt“, sagt schoss der Kurs von 28 auf über 100 Dollar einfach und billig, eine Platte zu machen“, auch Achim Fehlau, Chef der größten eu- hoch. Inzwischen ist MP3.com mit 100000 findet Rapper Chuck D. von Public Enemy. ropäischen Online-Musikvertriebsfirma Online-Songs rund 4,6 Milliarden Mark Die Großen der Branche reagierten Boxman. In drei Jahren sei Musik auf Ab- wert. zunächst mit juristischen Waffen auf die ruf über das Internet ein Massenmarkt. Ein guter Teil der ausgegebenen Aktien Herausforderer. Detektivmaschinen durch- Dann möchte auch der Berliner Fritsch liegt beim französischen Luxusfabrikanten stöbern das Netz nach Dateien mit illegal mit einem geplanten Jahresumsatz von Bernard Arnault (Luis Vuitton, Hennessy), aufbereiteter Musik. 1999 wurden allein rund 600 Millionen Dollar zu den Großen aber auch die Rocksängerin Alanis Moris- 100 Web-Seiten dichtgemacht. im Internet-Musikgeschäft gehören. Im sette ist reich geworden. Ihr Aktienpaket, Heute setzt die Industrie auf eine neue September will sich seine MCY.com am das sie für eine Sponsoring-Aktion von Technik, die den Datenklau im Internet Neuen Markt in Frankfurt, der Börse für MP3.com bei ihrer letzten Tournee erhielt, unmöglich machen soll. Im Rahmen des Zukunftswerte, über 100 Millionen Mark ist Dutzende von Millionen Dollar wert. Branchenprojekts „Secure Digital Music holen. Fritsch will das Geld investieren: Einen Auftritt bei MP3.com freilich un- Initiative“ arbeiten etwa IBM und Micro- „Die digitale Revolution hat doch erst be- tersagte ihre Plattenfirma. Auch Tom Pet- soft an technischen Standards. gonnen.“ Hans-Jürgen Jakobs

76 der spiegel 31/1999 F. STOCKMEIER / ARGUM STOCKMEIER F. Ehemaliger EIB-Mitarbeiter De Nicola (in Luxemburg): Vertuschungsversuche aufgedeckt

Spekulationen dem Europäischen Parla- Vizepräsident Roth bestreitet vehement EUROPA ment übergeben hat. Das Papier handelt jegliche Form der Fehlspekulation: „Bei von Vertuschungsversuchen, von mögli- dem Betrag von 239 Millionen Wertbe- Wie im chen schwarzen Geschäften und der Kopf- richtigung handelt es sich effektiv um losigkeit des Managements. Buchverluste, die auf den massiven Zins- Glaubt man den Schilderungen des Ex- anstieg im Jahr 1994 zurückzuführen sind“, Spielsalon Mitarbeiters Carlo De Nicola, glich der sagt er. Überdies seien bei einer Sonder- Händlerraum damals einem Spielsalon. prüfung durch die Wirtschaftsprüfergesell- Schlamperei oder Betrugsaffäre? Mitarbeiter seien von ihren Vorgesetzten schaft KPMG keinerlei Betrugsmanöver zu Geschäften nur mit bestimmten Bro- festgestellt worden. Die Europäische kern angehalten worden, die teilweise das Bei einer Verwaltungsratssitzung im De- Investitionsbank, das Geldhaus Dreifache der marktüblichen Kommission zember 1994 übten Aufsichtsräte allerdings der EU, gerät wegen erhielten. Allein mit einer seltsamen Ge- harsche Kritik und korrigierten die Ver- Spekulationsverlusten in Verruf. sellschaft auf der Kanalinsel Jersey seien harmlosung der Verluste: „Das Ergebnis 1993 Positionen über 1,2 Milliarden Euro ist, dass die Bank nun ärmer ist, als sie rüher, da arbeiteten in den Großban- abgewickelt worden. Inwie- andernfalls gewesen wäre“, ken die Profitmaximierer, die Infla- weit es Schummeleien bei den heißt es im Sitzungsprotokoll. Ftionstreiber und die Machtmenschen. Margen gab, habe niemand Mitarbeiter der Wertpapier- Solche Geschäftemacher gehörten ge- kontrollieren können. abteilung wurden versetzt, stoppt. Die Banken seien „zu verstaatli- Denn das Kontrollsystem Geschäftsbereiche umstruk- chen“. So sprach der Ober-Juso Wolfgang war löchrig. Teilweise hätten turiert. Roth in einem „Playboy“-Interview in den die Händler der Europäischen Nach der parlamentari- Siebzigern: „Weg vom Konkurrenzprinzip, Investitionsbank ihre Orders schen Sommerpause will der weg vom Egoismus!“ von zu Hause per Telefon dänische Europaabgeordnete Heute, in den späten Neunzigern, steht durchgegeben, ohne Aufzeich- Freddy Blak einen Untersu- der frühere Sozialist einer öffentlichen nung der Gespräche. Eine täg- chungsbericht über das merk-

Großbank als Vizepräsident vor und ver- liche Prüfung ihrer Gewinne PRESS ACTION würdige Gebaren des öffentli- sucht die Schäden seiner Wertpapierhänd- oder Verluste war nicht mög- EIB-Vizepräsident Roth chen Instituts publizieren. ler zu beschönigen – von Profitgier will er lich, da die Bank über kein Haushaltskontrolleur Blak hat nun allerdings nichts wissen. entsprechendes Computerprogramm ver- dem Bankpräsidenten schon vorab einen Verluste in Höhe von 77 Millionen Euro fügte. Ihre Ergebnisse konnte die Wert- heiklen Fragenkatalog zukommen lassen. und zusätzliche Wertberichtigungen von papierabteilung dem Brief zufolge nur Der Parlamentarier ist sich sicher, „dass 239 Millionen Euro musste die Europäi- anhand der Aufrechnungen in der Buch- dort viel zu viel vertuscht wird“. sche Investitionsbank (EIB) 1994 verbu- haltung prüfen – mit dreimonatiger Ver- Auch der amtierende Präsident des chen, nachdem ihre Händler mit Renten- zögerung. Europäischen Rechnungshofs, Bernhard papieren spekuliert hatten. Der Luxem- Bereits im ersten Halbjahr 1994 sum- Friedmann, moniert die fehlende Kontrol- burger Bank – ihre Eigner sind die 15 Mit- mierten sich die Verluste auf rund 169 Mil- le der Investitionsbank: „Eine öffentliche gliedstaaten der EU – war das Minus nur lionen Euro und im zweiten Halbjahr auf Bank muss sich genauer in die Karten se- eine winzige Notiz im Jahresbericht wert, nochmals mehr als 70 Millionen. Die Händ- hen lassen.Aber die sind sehr widerwillig.“ Peanuts also. Für Ex-Juso Roth handelt ler der Bank wickelten ein Bonds-Volu- Friedmanns Prüfer haben einen Sonder- es sich um wirtschaftlich unbedeutende men von rund 2,5 Milliarden ab, die Zinsen bericht über jene Förderprogramme vorge- „Buchverluste“. stiegen, die Renditen der Papiere fielen. legt, die von dem Institut abgewickelt wer- In Wahrheit herrscht Aufregung im Haus Doch von einer Risikoabsicherung sahen den. Das Geldhaus zeigte sich verschlos- am Boulevard Konrad Adenauer, seitdem sie ab, „weil sie weiterhin an steigende Ge- sen: Die Prüfer dürfen die Bank – nur einen ein ehemaliger Mitarbeiter der Bank ei- winne glaubten“, schreibt Ex-Mitarbeiter Steinwurf vom Rechnungshof entfernt – nen vertraulichen Bericht über die wilden De Nicola. nicht betreten. Sylvia Schreiber

der spiegel 31/1999 77 lich soetwas wieErfüllungsgehilfen. Wir Banker sind letzt- enten angetrieben. den schließlichvon den Wünschen derKli- Derartige Transaktionen wer- nichts zutun. damit sicherauchzugenommen. hat deren Bedeutung märkten tätig sind, DaInvestmentbanker anKapital- Rolle. Wirtschaft insgesamt eineimmergrößere Kapitalmärkte spielenzweifelsohne fürdie the Universe? Fühlen SiesichalsMasterof Finanzszene. banker sinddieneuenStarsderglobalen und ihr Wunsch nachhohen Provisionen nicht nahe? Liegen da Allmachtsphantasien teiligt. Deutschen BankmitBankers Trust –be- ler/Chrysler biszumZusammenschlussder men –von Thyssen-Krupp über Daim- len größeren Deals deutscher Unterneh- 78 SPIEGEL: Achleitner: SPIEGEL: Bank-Manager Breuer, Newman: Partner Schrempp,Eaton: Achleitner: SPIEGEL: etet uinfee,dieRollederInvestmentbankerweltweite unddieZukunftdesdeutschenKapitalismus Fusionsfieber, „Sie unterschätzen dieManager“ Goldman Sachswar annahezual- Sind nichtdie Investmentbanker Herr Achleitner, die Investment- die Herr Achleitner, i ihretnct Aberdie Mit Sicherheitnicht. Mit Machthat dieseigentlich alAhete,DushadCe o oda ah,überdas Deutschland-Chefvon GoldmanSachs, Paul Achleitner, Knirschen im Weltkonzern „Es mussSinnmachen“ beim HandelmitUnternehmen? die Triebkräfte dieseswahnsinnigen Booms folgshonorar. gibtesinderRegel auchkein Er- haben, der Zeitunglesen. Kein Klientwürde diesgerne in ren kann. einzelne Transaktionen nichtkommentie- aufzustellen undstrategische Änderungen sich im Wettbewerb immerwiederneu weltweiten Strukturwandels gezwungen, deutschen Manager sindangesichts des Auch die und überschätzen dieBanker. was aus der eigenen Sichtvertretbar ist. aktionen sein Angebot danachausrichten, Unternehmen mussbeisolchen Trans- Jedes umjedenPreis zugewinnen. um, Angebot Olivetti zuübertrumpfen? mit einemhöheren Sie ihrnichtgeraten, Telekom falsch gelaufen? Warum haben Achleitner: Achleitner: SPIEGEL: Achleitner: SPIEGEL: der spiegel der spiegel Und indiesemkonkreten Fall? Was istdennbeiderDeutschen Es geht grundsätzlich nichtdar- Sie unterschätzen dieManager i ednvrthn dassich Sie werden verstehen,

AFP / DPA T. KLINK / ZEITENSPIEGEL INTERVIEW Wirtschaft anderen Aspekten ab.anderen Aspekten der Transaktion undvielen hängt von derKomplexität Entlohnung letztlichist, Wie hochdie ihn darstellt. was „Erfolg“ für mit uns, Der Klientdefiniert vorher erfolgshonoriert bezahlt. wird einInvestmentbanker Wenn wir keinen Erfolg hen Sieleeraus? ge- scheitert, lecom Italia, schen Telekom undder Te- wie diezwischenderDeut- ner Transaktionbezahlt? mille desBörsenwertes ei- Achleitner: SPIEGEL: Achleitner: SPIEGEL: zung zuhelfen. manager beiderUmset- ten alseine Art Projekt- demKlien- bankers istes, Funktion desInvestment- Die gel von denKlienten. Ideen kommen inderRe- Dieguten Ideen haben. dasswirdieguten chen, EsisteinMär- bankern. der Hilfe von Investment- Hierfür bedienensiesich übrigens sehrerfolgreich. unddies vorzunehmen, Werden SieinPro- Wenn eineFusion, 31/1999 Warum nicht? In derRegel nauso wird esinderZukunftsein. Ge- später kannichdavon nichtserkennen. 20Jahre ternehmungen dominiertwerde. voll amerikanischermultinationaler Un- zum Jahre 1980 die Welt von einerHand dassbis ganz konkludent nachgewiesen, Jean-Jacques Servan-Schreiber hat damals schon mal Anfang dersechziger Jahre. einbringen können. wieder inderZeitdesPatentschutzes her- damitsiedieseKosten triebsnetz haben, dieeinweltweites Ver- men notwendig, Deshalbsindgroße Unterneh- nen Dollar. neuen Pharmaprodukts über500Millio- Heutekostet dieEntwicklungeines statt. ten fürdieEntwicklungneuerProdukte dem Hintergrund enormwachsender Kos- dieser Strukturwandel war einfach not- Auch der Landwirtschaft indie Industrie. artige Diskussion–beimÜbergang von der Traditionsname übrig bleibt? der Traditionsnameübrig sodassnichtmalmehr mengesetzt werden, auseinander genommen undneuzusam- dass Traditionsunternehmen wieHoechst etürg diesichMärkte aufteilen? Welt übrig, noch einpaarwenige Unternehmeninder BleibenamEndenur fusionen verkündet. eine neueQualität. Dasist Jahren nochnichtvorstellen konnte. diemansichvor einpaar ßenordnungen, Ölbranche erreichen dieKonzerne Grö- Achleitner: SPIEGEL: Achleitner: SPIEGEL: Achleitner: SPIEGEL: Deutschland-Chef von GoldmanSachs. ein Österreicher: Paul Achleitner, 42, Als Vater derErfolge inDeutschlandgilt Übernahmen inDeutschland möglich. Thyssen undKruppsindselbstfeindliche Sachs begleitetenZusammenschluss von Bank beteiligt. Seitdemvon Goldman von Bankers Trust durch dieDeutsche sammen undwaren beiderÜbernahme führten HoechstmitRhône-Poulenc zu- schen DaimlerundChrysler eingefädelt, deals: Ihre Berater haben dieFusion zwi- spezialisiert aufdiegroßen Übernahme- ist diegrößte Investmentbank der Welt, Goldman Sachs Sinn macht. Aktionäre unddasUnternehmenselbst dassdie Transaktion fürdie Wichtig ist, In derPharmaindustrieoder Fast täglichwerden neueMega- Ist esdafürwirklich notwendig, Es gab schoneinmaleineder- Diese Entwicklungfindet vor Diese Befürchtungen gab es

F. STOCKMEIER/ARGUM wendig, und die Gesellschaft hat zu einem Zusammenschluss zweier auch ihn bewältigt. Das werden wir Unternehmen kommt, können in der diesmal ebenfalls schaffen. Regel ja auch Manager des über- SPIEGEL: Wann funktioniert die Über- nommenen Unternehmens eine ent- nahme eines Unternehmens – und scheidende Rolle in dem neuen Un- warum geht so vieles schief? ternehmen spielen. In den USA fin- Achleitner: Eine Fusion braucht eine den viele Fusionen statt, in denen zwingende strategische Logik. Die gerade das übernommene Unter- Transaktion muss Sinn machen. Au- nehmen das nachfolgende Manage- ßerdem muss die Zusammenarbeit ment stellt. zwischen den Menschen stimmen. SPIEGEL: Und das Management des Letztlich ist der menschliche Faktor alten wird mit vielen, vielen Millio- immer das Entscheidende. Die Ma- nen ruhig gestellt. nager müssen miteinander können. Achleitner: Es wäre auch in Deutsch- Selbstverständlich ist auch die Ak- land wünschenswert, mehr Interes- zeptanz im Kapitalmarkt notwendig. sensidentität von Mitarbeitern und Die kommt aber in der Regel dann, Eigentümern herzustellen, indem das wenn die anderen Voraussetzungen Management, aber auch die übrigen stimmen. Mitarbeiter am Erfolg des Unter- SPIEGEL: Zur Zeit knirscht es bei nehmens, der sich im Aktienkurs DaimlerChrysler gewaltig zwischen spiegelt, beteiligt werden.Aber es ist den beiden Unternehmen. Werden zu simpel zu sagen, die machen es

die kulturellen Unterschiede bei sol- B. BOSTELMANN / ARGUM nur, damit sie reich werden. chen Megafusionen immer noch un- Proteste gegen Thyssen-Krupp: Komplizierte Integration SPIEGEL: Es erleichtert die Entschei- terschätzt? dung aber ungemein. Achleitner: Natürlich gibt es solche Unter- lichen Firmenübernahmen, und zwar aus Achleitner: Ich glaube, dass viele Manager schiede in einem globalen Unternehmen, ganz pragmatischen Gründen. Der Käufer am langfristigen Erfolg ihres Unterneh- ob sie nun organisch oder durch Fusionen hat dann nämlich ein Informationsproblem, mens interessiert sind. Daran arbeiten sie, entstehen.Aber hier lesen viele Leute viel er weiß nicht genau, was ihn erwartet. Au- darin sehen sie ihr Lebenswerk. Die Un- zu viel hinein. Als Deutschsprachiger, der ßerdem entsteht eine Sieger/Besiegte-Men- abhängigkeit eines Unternehmens ist kein in einem amerikanischen Unternehmen ar- talität, die die Integration sehr kompliziert Selbstzweck. Entscheidend ist doch, ob das beitet, bin ich der Meinung, dass diese an- macht. Deshalb glaube ich, dass unfreund- Unternehmen langfristig wettbewerbsfähig geblichen Kulturgegensätze viel zu sehr liche Firmenübernahmen letztlich nur in und erfolgreich ist. Wenn das Unterneh- hochgespielt werden. Ausnahmefällen eine gute Sache sind. men selbständig bleibt, aber total an Be- SPIEGEL: Die Übernahme von Telecom Ita- SPIEGEL: Bisher haben sich gerade die Ame- deutung verliert und damit Arbeitsplätze lia durch Olivetti ist ein Stück europäischer rikaner auf dem deutschen Markt sehr aufs Spiel gesetzt werden, dann haben sie Industriegeschichte. Wäre so eine feind- zurückgehalten. Woran liegt das? ihre Aufgabe als Manager nicht richtig er- liche Übernahme inzwischen auch in Achleitner: Sicher daran, dass es zunächst füllt. Wenn sie umgekehrt ihr Unterneh- Deutschland möglich? mal in Amerika selbst sehr viele Möglich- men einbringen in ein größeres, das we- Achleitner: Ich glaube, grundsätzlich ja. Das keiten gibt, die erst genutzt werden wollen. sentlich erfolgreicher ist, dann haben sie et- passiert im Mittelstand jeden Tag mehr- Außerdem gibt es sicher hier eine ganze was geleistet, wofür ihnen letztlich sowohl fach in Deutschland.Warum soll es bei bör- Reihe von Hemmnissen, die dafür sorgen, die Aktionäre als auch die Mitarbeiter sennotierten Unternehmen anders sein? dass sie eher vorsichtig agieren. dankbar sein werden. SPIEGEL: Weil sich die deutschen Manager SPIEGEL: In Amerika werden Manager bei SPIEGEL: Ist der Kapitalismus deutscher Prä- dagegen wehren werden – so wie Thyssen- einer Übernahme durch ihre Aktienoptio- gung im Zeitalter globaler Kapitalmärkte Chef Dieter Vogel die feindliche Übernah- nen reich. In Deutschland werden sie durch überlebensfähig? me durch Krupp abgewehrt hat. die Fusion nicht reich, sie werden nur mög- Achleitner: Wir müssen und sollten kei- Achleitner: Manager sind den Interessen des licherweise entmachtet. Ist der Widerstand nesfalls alles akzeptieren, was Amerika Unternehmens und seiner Eigentümer, gegen Übernahmen deshalb so groß? uns vorgibt. Wir haben einen eigenen, nämlich der Aktionäre, verpflichtet. Ich bin Achleitner: Ich glaube, hier unterschätzen europäischen Weg. Wir haben unsere ei- allerdings kein Befürworter von unfreund- Sie die deutschen Manager erneut.Wenn es genständigen Traditionen, wir haben un- sere eigenständigen Strukturen, und ich sehe keinen Grund, dass wir sie aufge- Die Topberater bei Firmenfusionen ben sollten. Wir müssen sie nur immer Transaktionsvolumen 1998 in Milliarden Dollar wieder der Realität anpassen, um nicht zu erstarren. 956,8 1. Goldman Sachs SPIEGEL: Was bleibt dann vom deutschen 2. Merrill Lynch 639,7 Modell? 3. Morgan Stanley Dean Witter 632,5 Achleitner: Die soziale Marktwirtschaft 4. Salomon Smith Barney 488,8 muss wieder mehr als ordnungspolitisches Konzept verstanden werden, das im Diens- 5. Credit Suisse First Boston 410,5 te für mehr Wachstum und mehr Beschäf- 6. JP Morgan 317,3 tigung steht. Dann sind Mitbestimmung, 7. Lehman Brothers 228,0 Konsens, die Art und Weise, wie man miteinander umgeht, auch die soziale 8. Donaldson, Lufkin & Jenrette 214,5 Abforderung für den Einzelnen, Elemente 9. Chase Manhattan 174,7 Quelle: Securities eines dynamischen Modells, das es zu Achleitner in der Frankfurter Niederlassung 10. Lazard Houses 162,8 Data Company verteidigen gilt. Interview: Armin Mahler, Christoph Pauly

der spiegel 31/1999 79 Nach dem Zweiten Weltkrieg verdräng- te Bier sogar Sake als Nationalgetränk.Vor allem im Sommer, wenn die schwüle Hit- ze wie ein feuchtes Laken auf das Inselland drückt, fliehen durstige Japaner in die Bier- gärten, die häufig auf den Dächern der Kaufhäuser aufgebaut sind. Den japanischen Markt teilen sich die vier Großbrauereien Asahi, Kirin, Sapporo und Suntory. Untereinander bekämpfen sie sich fast gnadenlos: Zu jeder Jahreszeit werfen sie neue Biersorten auf den Markt. Da deutsche Brauereien den fünftgröß- ten Biermarkt der Welt (nach den USA, China, Deutschland und Brasilien) hochmütig den Japanern überließen, ver- markten diese das deutsche Bierimage eben selbst: Die Brauerei Kirin beklebt ihre Flaschen mit Etiketten wie „Brau- meister“, „Bockbier“ und „Dunkel“, Sap- poro braut sein Luxusbier „Yebisu“ nach

T. WAGNER / SABA WAGNER T. dem deutschen Reinheitsgebot. Kellnerin in einem Tokioter Biergarten: Großer Durst bei schwüler Hitze Doch neuerdings wird es eng auf Nip- pons Biermarkt. Wegen der Wirtschafts- auszuhebeln vermochten? Wie soll hier zu flaute streichen Firmen ihren Angestellten BIERINDUSTRIE Lande der Stammtisch mit einer Marke er- die Spesen für die beliebten Trinkgelage obert werden, die mancher mit „super- nach Feierabend. Die Brauereien, die teil- Super-Flop mit trocken“ übersetzen könnte? weise auch gentechnisch veränderte Orchi- Bei Asahi jedoch kennt man die Befind- deen und Tomaten züchten, führen einen lichkeit der Deutschen. „Wir bewundern Preiskrieg mit neuen Billigbieren. „Super Dry“? die deutsche Biertradition“, versichert Wa- Nun drängen die Brauereien auch ver- tanabe, der hiesige Trinkbräuche auf dem stärkt ins Auslandsgeschäft, und Asahi setzt Der japanische Getränkeriese Münchner Oktoberfest studiert hat. Der dabei ganz auf „Super Dry“. Vor zwölf „spritzige Geschmack“, den der Reis in Jahren forderte der Konzern – damals die Asahi will die Deutschen mit einem „Super Dry“ erzeuge, werde bestimmt Nummer drei der japanischen Brauereien „spritzigen“ Bier beglücken. Die auch viele Deutsche begeistern. Schließ- – die Konkurrenz erstmals mit der neuen Marke zielt auf junge Trendsetter. lich sei „Super Dry“ das am dritthäufigsten Marke heraus. Mit dem für japanische Oh- verkaufte Bier der Welt, hinter Budweiser ren exotisch klingenden Namen und einer enn Seiichi Watanabe wissen will, und Bud Light. schrillen Werbekampagne eroberte Asahi wie die Geschäfte seiner Firma In Deutschland wollen die Japaner sich im Nu die modebewusste Jugend. Wlaufen, schaut er aus dem Hoch- auf keinen Fall mit dem Nischendasein ei- Im vergangenen Jahr übertrumpfte die hausbüro auf Tokio herab. Glüht die Son- nes Spezialbiers für abenteuerlustige Fein- Firma bei traditionellen Bieren erstmals ne gnadenlos über der Häuserwüste, ist schmecker begnügen. Bis zum Jahr 2005 Nippons Marktführer Kirin. Jetzt will Projektleiter Watanabe siegesgewiss: „Das soll der Jahresumsatz in Asahi weltweit aggressiv treibt die Leute in die Biergärten.“ Europa von 640000 Litern Japanischer Bierbrauer angreifen. Watanabes Hochhaus – die golden glit- im vergangenen Jahr auf „Asahi“ Die Entscheidung für zernde Fassade ist einem überschäumen- rund zwölf Millionen Liter 1357,2 1400 „Super Dry“ ist konzern- den Bierglas nachgebildet – beherbergt die steigen. „Super Dry“ will UMSATZ 1300 intern gefallen. Nur die in Milliarden Yen Schaltzentrale der japanischen Asahi- Asahi in der Tschechei 1200 wohl wichtigste Grundlage Brauerei. Hier tüfteln die Manager ständig brauen lassen, in Deutsch- 951,2 1100 für einen Erfolg – eine neue Werbestrategien aus, um Nippons land soll es die Binding 1000 kluge Marketingstrategie – Biertrinker für die hauseigene Marke „Su- Brauerei vertreiben. 900 scheint noch unklar. per Dry“ zu gewinnen. Der Einstieg in den hie- Markttests haben erge- Demnächst steht den Strategen bei Asa- sigen Markt hat für die Ja- 1993 94 95 96 97 98 ben, dass deutsche ju- hi ihre bisher größte Herausforderung be- paner Symbolwert. Nach 36,3 40 gendliche Trendsetter vor. Das japanische Unternehmen drängt Öffnung des Landes Mitte 30 zum Wechsel bereit 17,9 auf den deutschen Biermarkt, und dann des 19. Jahrhunderts brach- 20 wären. Doch wenn die müssen die Japaner anspruchsvolle Bier- ten Deutsche den Japanern 23,3 Japaner eingefleischte GEWINN vor Steuern 10 trinker darüber aufklären, dass es sich bei die Braukunst bei. Dafür in Milliarden Yen deutsche Biertrinker für 0 der Flüssigkeit mit der seltsamen Bezeich- sind ihnen die japanischen 1993 94 95 96 97 98 „Super Dry“ gewinnen nung „Super Dry“ nicht etwa um ameri- Biertrinker noch heute wollen, müssen sie sich MARKTANTEIL am japanischen kanisches Motoröl handelt, sondern um dankbar: In Trinklokalen Biermarkt 1998 ein paar Argumente Nippons beliebtestes Bier – ein Gebräu wie dem Tokioter „Hof- in Prozent einfallen lassen. aus Malz, Hopfen, Mais und Reis. bräuhaus“ schmettern sie Watanabe preist sein Bier Die deutschen Bierbrauer werden ver- allabendlich „Ein Prosit auf Kirin Asahi noch immer so an, als rede mutlich mit dem Kopf schütteln: Haben die Gemütlichkeit“. Japa- 38,4 39,5 er zu seinen Landsleuten: die Japaner noch nichts vom deutschen nerinnen im bayerischen 5,3 15,8 „Besonders gut schmeckt Reinheitsgebot gehört, das selbst französi- Dirndl schenken das Bier in andere Super Dry zu rohem sche und belgische Konkurrenten nicht eisgekühlten Gläsern aus. 1,0 Suntory Sapporo Fisch.“ Wieland Wagner

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und wurde mit seiner Firma eBay zum Mil- wies das Landgericht Hamburg die Kla- AKTIEN liardär. Überall auf der Welt ahmten Fir- ge ab. men das eBay-Konzept nach. Das Urteil hatte für den Sieger ricar- Eierkocher Bei der üblichen Internet-Auktion stel- do.de dennoch böse Folgen. In seiner len Privatleute ihr Angebot ins Netz, billi- schriftlichen Begründung erläuterte das gen Plunder oder wertvolle Antiquitäten. Gericht Ende Mai die Rechtslage: Zwar im Netz Per Mausklick geben die zuvor registrier- müsse die einstweilige Verfügung des Ver- ten Interessenten ihr Angebot ab. Eine eins wegen Wettbewerbsverstoßes zurück- Die Deutsche Bank brachte mit ganze Reihe Firmen in Deutschland ver- gewiesen werden, da die Firma in gutem anstalten solche Auktionen online. Glauben und nicht „sittenwidrig“ gehan- ricardo.de eine Firma an die Dieses sogenannte Private-to-private- delt habe. Aber die Versteigerung neuer Börse, die rechtlich umstrittene Geschäft betreiben auch Glänzer, Linkwitz Waren sei gleichwohl rechtswidrig, und das Geschäfte betreibt. und Wiskemann. In erster Linie aber ma- müsse ricardo.de hinfort beachten. chen sie etwas anderes: Sie bestellen neue er Hamburger Auktionator Peter Fabrikware – darunter Ramsch, Auslauf- Bröker ist „richtig empört“ über modelle und Restposten –, geben die un- 37 Dseinen Vereinsvorsitzenden. Was verbindliche Preisempfehlung des Her- 36 Walter Meyer, der Anführer des Vereins stellers an und versteigern Artikel wie CD- Hamburger Auktionatoren, vorhatte, sei Spieler oder Eierkocher im Netz. 35 Erste Notierung „ein absoluter Skandal“. Die ricardo.de-Gründer glaubten, dass 21.7.99 Meyer wollte für sich und die acht wei- sie sich rechtlich gut abgesichert hätten. 34 36,8 teren Vereinsmitglieder jeweils 111 000 Ein Bund-Länder-Ausschuss sah keine Pro- 33 Mark Schweigegeld kassieren. Die Inter- bleme für eine solche Internet-Auktion, net-Firma ricardo.de bot dem Verein und und die Hamburger Wirtschaftsbehörde seinen Mitgliedern für eine Million Mark bescheinigte der Firma, dass sie dieses Ge- Keine 30.7.99 ricardo.de-Aktien, wenn die Auktionato- werbe ausüben dürfe. weiteren ren gegen ein Urteil des Land- 28,0 gerichts Hamburg keine Beru- Gebote? fung einlegen und wenn alle im Fallender Kurs des Quelle: Verein über den Vorfall „abso- Online-Auktionshauses Datastream lutes Stillschweigen“ wahren würden. Juristische Querelen hätten Dennoch ging das Auktions- den Börsengang der ricardo.de haus mit unverändertem Kon- im vergangenen Monat emp- zept an die Börse, auch wenn findlich gestört. Der schnelle die Westdeutsche Landesbank Aufstieg der Firmengründer zu aus dem Bankenkonsortium Multimillionären wäre nicht so ausgestiegen war. Die Anleger schnell zu schaffen gewesen. rissen sich um die Papiere zum Im Tempo der Internet-Bran- Emissionskurs von 28 Euro.Am che haben die promovierten ersten Börsentag schoss der Volkswirte Stefan Glänzer, 38, Kurs um über 30 Prozent hoch. Christoph Linkwitz, 37, und Dabei hatte die Deutsche Stefan Wiskemann, 37, ihre Fir- Bank die Aktien in die höchste ma hochgebracht. Am 25. Au- Risikoklasse, die Gruppe 5, ein- gust 1998 starteten sie ihr vir- gestuft, nur für Zocker. Und in tuelles Auktionshaus ricardo.de, ihrem Verkaufsprospekt hatte am 27. Mai dieses Jahres wan- sie auf „Zweifel an der gewer- delten sie die GmbH in eine AG berechtlichen Zulässigkeit“ um, und als die Aktien der Mini- hingewiesen: Es sei „denkbar“, Gesellschaft (rund 20 Beschäf- dass die Vorschriften der Ge-

tigte, 5,7 Millionen Mark Um- / PICTURE PRESS / KONRAD A. KLOVER werbeordnung „die Geschäfts- satz, 2,5 Millionen Mark Ver- ricardo.de-Gründer Wiskemann, Linkwitz, Glänzer: Risikoklasse 5 tätigkeit der Gesellschaft be- lust) am 21. Juli erstmals am treffen“. Allerdings: Gerichts- Neuen Markt gehandelt wurden, war die Die Auskunft war wohl voreilig. In verfahren wegen Verstoßes gegen die Ge- Firma über 500 Millionen Mark wert. Deutschland gibt es eine Gewerbeordnung werbeordnung seien „nicht anhängig, an- Die Erfolgsstory hat einen kleinen und eine Versteigererverordnung. Die Pa- gedroht oder zu erwarten“. Schönheitsfehler. Knapp zwei Monate vor ragrafen mögen antiquiert sein, aber sie Wo kein Kläger ist, gibt es keine Klage. dem Börsengang urteilte das Landgericht sind eindeutig: Nur gebrauchte Waren dür- ricardo.de versteigert munter weiter die Hamburg in einer Streiterei zwischen rea- fen versteigert werden. fabrikfrische Ware. Bis Ende vergangener len und virtuellen Auktionatoren, dass ri- Er veranstalte „keine Auktion, sondern Woche freuten sich Hamburger Auktiona- cardo.de in dem Gewerbe illegal arbeitet. Verkauf gegen Höchstgebot“, verteidigt toren auf das erwartete Schweigegeld. Die Deutsche Bank hätte als Anführer ei- sich Vorstand Glänzer, seine Internet-An- Doch das Angebot gilt nicht mehr. nes Bankenkonsortiums die Firma womög- gebote würden nicht gegen die Gewerbe- Die Hansestadt hat noch ehrbare Kauf- lich gar nicht an die Börse bringen dürfen. ordnung verstoßen. leute: Die Auktionatoren Peter Bröker und Eine Versteigerung per Internet ist nor- Der Verein Hamburger Auktionatoren Volker C. Grethe weigerten sich, die Ver- malerweise weder illegal noch originell. sah das anders und beantragte eine pflichtung zum „absoluten Stillschweigen“ Vor vier Jahren war der Amerikaner Pierre einstweilige Verfügung, um ricardo.de zu unterschreiben.Vergangenen Freitag tra- Omidyar erstmals auf die Idee gekommen das Geschäft untersagen zu lassen. Im April ten sie aus dem Verein aus. Hermann Bott

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Hightech-Paradies Silicon Valley: Die Dollars fließen in die Taschen der Banker und Investoren, der Firmenchefs und Gründer – und die

MANAGERINNEN Einsame Eva Mit Hewlett-Packard-Chefin Carleton Fiorina hat es erstmals eine Frau an die Spitze eines Computerkonzerns geschafft. Doch der Old-Boys’-Club der Hightech-Industrie bleibt intakt.

irgendwo in den USA lässt sich ihrer Führung einer der erfolgreichsten in mehr verdienen als im Silicon Val- der Geschichte der Wall Street war. Nley, nirgends steigen die Gehälter Fiorina hat keine eigenen Kinder, und schneller, Jobs gibt es im Überfluss – das ihr Mann begab sich in Frührente, als Tal ist ein Paradies für Gründer, Investoren ihm klar wurde, dass seine Gemahlin auf und Banker. der Überholspur fährt. Sie ist derzeit das Der heiße Aktienmarkt macht pro Tag einzige weibliche Wesen, das einem der

64 der 2,3 Millionen Einwohner zu Mil- amerikanischen 30 Topkonzerne vorsteht. / CORBIS-OUTLINE CAMP E. J. lionären, schätzt David Kaplan,Autor eines Mit ihr werden nun ganze 3 der 500 größ- Hewlett-Packard-Chefin Fiorina Buches über die Neureichen-Gesellschaft ten US-Unternehmen von Frauenhand Was Männer und Frauen trennt, ist das Geld im Silicon Valley. Die Söhne dieser High- geleitet. tech-Society erzählen sich auf dem Weg Auf einen Zweitjob als Vorzeigedame Die einzige Frau, die sich zu den Milliar- zum Kindergarten von Daddys neuem Fer- hat Fiorina jedoch keine Lust: „Mein Ge- dären des Silicon Valley zählen darf, ist rari oder Maserati – Wagen, die Altersge- schlecht mag interessant sein“, sagt sie, Meg Whitman, Chefin des Online Auk- nossen anderswo auf der Welt nur vom „aber darum geht es hier nicht.“ Ihre tionshauses eBay, anders als HP eine junge, Auto-Quartett kennen. Ernennung, so hofft die „einflussreichs- gerade mal vier Jahre alte Gründerfirma. Die Dollarströme fließen in die Taschen te Frau im amerikanischen Business“ Wie Fiorina hat man sie von außen in die der Banker und Investoren, der Firmen- („Fortune Magazine“), zerschlage ein für Firma geholt – das gilt in der Hightech- chefs und der jungen Gründer – und die alle Mal das Stereotyp notorischer weib- Branche als ungewöhnlich. Meist sind es, sind in den meisten Fällen männlich. Die licher Erfolglosigkeit in der Hightech- wie bei Microsoft, die Gründer selbst, die Eva zu den vielen Adams erscheint fast Industrie. mit ihrem Unternehmen groß werden. Er- ausschließlich auf Werbeplakaten, halb Doch das kann noch dauern: Fiorinas folgsgeschichten à la Bill Gates beginnen nackt natürlich, das neueste elektronische Kolleginnen besetzen nicht einmal fünf mit einem Start-up. Für Frauen ist der Be- Mini-Notizbuch in die Bikinihose ge- Prozent aller Chefsessel der über 44200 ginn oft schon die Endstation. klemmt. Technologiefirmen in den Vereinigten Dabei fehlt es in den USA keineswegs an Zum ersten Mal, seit es Computer gibt, Staaten, berichtet Steven Parker von Unternehmerinnen. Im Land der ganztä- hat jetzt eine Frau den Aufstieg in die Ma- CorpTech, einer branchenspezifischen gigen Kinderbetreuung gründen Frauen nager-Elite geschafft: Carleton Fiorina, 44, Datenbank. fortwährend neue Firmen: Innerhalb der wurde Chefin des Silicon-Valley-Unter- Auch die Ränge unterhalb der Führungs- vergangenen sieben Jahre hat sich die An- nehmens Hewlett-Packard (HP). Der Com- spitze sind fest in Männerhand: Nur sieben zahl der Unternehmen unter weiblicher puterhersteller (Umsatz: 47 Milliarden Prozent der Manager sind weiblich. Die Ägide fast verdoppelt. Dollar) hat die Power-Lady dem Telekom- Topfrauen verdienen im Schnitt 520 000 Dass die Gründerinnen am Ende nicht munikationsgiganten Lucent Technologies Dollar im Jahr, ihre männlichen Kollegen mit den Goldjungen des Silicon Valley weggeschnappt, dessen Börsengang unter gehen mit 765000 Dollar nach Hause. Schritt halten können, liegt nur zum Teil

82 der spiegel 31/1999 wann in ihrer Karriere damit konfrontiert langweilig und nur etwas für Hacker, für worden“, berichtet sie. Wie Carleton Fio- verbohrte Stubenhocker“. Sie hat deshalb rina hüten sich jedoch ihre Kolleginnen, eine Stiftung gegründet, die Gymnasiastin- die Männer öffentlich als Chauvinisten an- nen Lust aufs Programmieren machen soll. zuklagen – schließlich sind die meisten ab- Das Fehlen weiblicher Vorbilder ist einer hängig vom Wohlwollen der Risikofinan- der Hauptgründe dafür, dass in den Ver- zierer oder der Arbeitgeber. einigten Staaten so wenige Frauen Infor- „Es gibt dieses Bild vom idealen Start- matik studieren. Den Mangel an Nach- up-Gründer, dem genialen Programmie- wuchstalent spüren heute alle Firmen der rer“, analysiert Anita Borg. Unfassbar Branche, er kostet die Arbeitgeber jährlich schlau müsse der sein, kreativ, dafür dürfe er ungekämmt daherkommen und sich un- beholfen benehmen. „Auf jeden Fall aber ist er männlich.“ Sobald eine Person den Raum betrete, die nicht in dieses Bild passt, habe sie verloren. Katrina Garnett, eine der wenigen er- folgreichen Unternehmerinnen im Silicon

A. FREEBERG Valley, hat erlebt, wie eng der Old-Boys’- sind meistens männlich Club die Grenzen akzeptablen Verhaltens für Frauen absteckt: Um auf ihr Start-up daran, dass wenige Frauen Informatik stu- CrossWorlds aufmerksam zu machen, hatte dieren: 1997 waren unter den Diplomanden die Informatikerin sich vom Starfotogra- 22 Prozent Frauen, unter den Doktoranden fen Richard Avedon im kleinen Schwarzen etwas über 14 Prozent. ablichten lassen. Sie schaltete die Anzeige Was Männer und Frauen im Valley wirk- in großen Publikumszeitschriften wie „Va- lich trennt, ist das Geld, genauer: der Kon- nity Fair“ und „Fortune“. „Ich habe eine takt zu den Kapitalgebern, die hier Ven- Grundregel gebrochen“, erzählt sie, und ture Capitalist oder Business Angels der Stolz darauf glitzert ihr noch heute in

heißen. den Augen. AP Wenn es um Dollars geht, ähnelt die Mit dem Marketing-Erfolg zog Garnett eBay-Chefin Whitman neue Internet-Ökonomie, die das nächste auch Häme, Spott und Wut auf sich. Ein Jeden Tag 64 Millionäre Jahrtausend revolutionieren soll, eher den Mitglied ihres eigenen Aufsichtsrats tobte, Verhältnissen um die Jahrhundertwende, diese Frau gehe offenbar „auf den Strich“. bis zu mehr als sieben Milliarden Mark, als die Herren sich nach dem Dinner zu Entrüstung inspirierte auch die US-Presse, hat ein Wirtschaftskonsortium im Silicon Zigarren und Brandy ins Rauchzimmer vom „Wall Street Journal“ („Sex Sells“) Valley ausgerechnet. zurückzogen, während die Damen bei ei- bis zu kleinen Branchenblättern, zu zotigen Der Tenor sämtlicher Untersuchungen ner Tasse Tee Tüchlein bestickten. Die Ge- Berichten darüber, in welcher Beziehung lautet: Die Mädels werden schon in der sellschaft im Silicon Valley funktioniert die Qualität ihrer Software zur Tiefe des Schule abgetörnt, klassische Erziehung zu nach den Regeln der Old-Boys’-Clubs, der Ausschnitts stünde. Bescheidenheit und andere angeblich klassischen Männerbünde. „Ich wollte über die Anzeige auch mit weibliche Tugenden tragen dazu bei, das Selten äußern die Finanziers ihre Ab- dem Vorurteil aufräumen, dass nur dröge Studium macht es schlimmer, und die we- wehr gegen das andere Geschlecht so deut- Computerfreaks in diesem Geschäft glück- nigen, die sich trotz allem hindurchge- lich wie die Partner jener Risikokapitalfir- lich werden“, sagt Garnett. Mädchen ent- schleppt haben, stoßen an die sogenannte ma, bei der Melanie Swan, 31, vorstellig schieden sich nämlich für andere Berufe, gläserne Decke, die von den Old Boys ein- wurde. Als sie auf Kapitalsuche für ihr meint sie, „weil sie denken, Technologie sei gezogen wurde. Und das wird wohl auch Start-up GroupPurchase ging, so bleiben, heißt es in einer noch blieben ihr ganze zehn Minuten, unveröffentlichten Studie der die E-Commerce-Geschäftsidee zu Carnegie-Mellon-Universität, bis präsentieren. Dann unterbrach sie Frauen nicht mehr das Gefühl ha- einer der potenziellen Geldgeber. ben, sich selbst und ihre ganze Er- „Wir investieren chauvinistisch, scheinung gegen den Strich bürs- hat er mir gesagt“, berichtet Swan, ten zu müssen, um dazuzu- „aus Tradition. Ich dachte erst, er gehören. scherzt.“ Oder bis mehr Männer so den- Meistens sei „der Sexismus sub- ken wie Rich McGinn, der Chef til wie diese Folter, bei der einem von Lucent Technologies, der bei stetig Wasser auf dieselbe Stelle der Gründung des Unternehmens am Kopf tropft“, sagt Anita Borg. Carleton Fiorina und einige an- Sie ist eine der wenigen erfolgrei- dere Frauen ins Führungsteam chen Programmiererinnen des holte. Dass er damit ein Sonder- Silicon Valley, berät seit neuestem ling geblieben ist, wird ihm bei je- Bill Clinton und hat das „Insti- dem Firmenbesuch im Silicon Val- tute for Women and Technology“ ley deutlich. Fast ausschließlich in Palo Alto gegründet, das den begegnet er Männern, und das Frauen den Weg ins Männerland stört ihn: „Dann stellen sich mei- ebnen soll. ne Nackenhaare auf, und ich

„Jede einzelne Frau, die ich in E. MILLETTE denke: Irgendetwas stimmt hier der Branche kenne, ist irgend- Unternehmerin Garnett: „Ich habe eine Grundregel gebrochen“ nicht.“ Rafaela von Bredow

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Werbeseite Trends Medien

FERNSEHEN Kofler will mehr Freiheiten erhandlungspoker bei Pro Sieben: In den nächsten Wochen stehen VGespräche zwischen dem Aufsichtsrat und Pro-Sieben-Chef Georg Kofler, 42, über dessen Vertrag an, der Ende 2000 ausläuft. Kofler stellt Forderungen, von denen unklar ist, ob die Stammaktionäre Rewe und Thomas Kirch sie erfüllen wollen. Seinem Aufsichtsratsvorsitzenden, Rewe-Chef Hans Reischl, hat Kofler signalisiert: „Ich will einige zu- sätzliche unternehmerische Freiheiten für Privatengagements, wenn sie sich mit dem Posten des Vorstandsvorsitzenden vereinbaren lassen.“ Der Fernsehmanager ist unter anderem an dem Einkaufssender HOT und dem Multimedia-Unternehmen Kabel New Media beteiligt und wähnt sich bei den Verhandlungen in starker Position. Er müsse nicht in bit- tender Stellung auf einen neuen Vertrag warten. Leitende Kirch-Mana- ger sehen das ein bisschen anders. Die Kursentwicklung der Pro-Sieben- Aktie sei schwach, und Kofler habe sein Ziel nicht erreicht, mit Pro Sie- ben einen Marktanteil von über zehn Prozent zu erobern. Kritisiert wird auch die schwache Position im Vorabendprogramm. Dort bringt die teu- re Auftragsproduktion „Mallorca“ nur magere Quoten. Skeptisch sehen Kirchs Verantwortliche zudem Koflers Pläne für den Nachrichtensender N 24. Für Verärgerung im Hause Kirch haben schließlich kritische Äuße- rungen Koflers über die Zukunft des von Leo Kirch vorangetriebenen digitalen Fernsehens gesorgt.Als Nachfolgekandidaten werden Pro-Sie- ben-Fernsehchef Ludwig Bauer und der Chef der Vermarktungsfirma

MGM, Michael Wölfle, genannt. Kofler bezeichnet alle Spekulationen PRESS ACTION über einen bevorstehenden Abgang als „kompletten Unsinn“. Kofler (mit Moderatorinnen Asumang, Atwell)

KRIEGSBERICHTE nen Pfund (etwa 45 Millionen Mark) WERBESPOTS Verlust gemacht hatte. Seither fürchten Lob von allen Seiten die Auslandskorrespondenten des Sen- RTL auf dem Rückzug ders, der Service könne mit anderen reunde und Feinde im Kosovo-Krieg BBC-Programmen zusammengelegt er Sender RTL und sein Vermarkter Fverbünden sich, um den Fernseh- werden. Sowohl die frühere serbische DIP reagierten mit einer Kurskorrek- Nachrichtenkanal BBC World zu retten. Informationsministerin Radmila Milen- tur auf Ermittlun- Die seriöse, weltweit zu empfangende tijeviƒ als auch der albanische Minister- gen des Kartellamts TV-Nettowerbeeinnahmen Konkurrenz für den US-Kanal CNN präsident Pandeli Majko forderten nun wegen angeblicher (Time Warner) war ins Ge- in Briefen den Erhalt illegaler Preisab- 7,4 7,9 8,1 rede gekommen, nachdem von BBC World. sprachen. RTL der Sender im vergangenen Selbst Nato-Sprecher nahm ein Tarifmo- in Milliarden Mark Geschäftsjahr 15,6 Millio- Jamie Shea erklärte, dell zurück, das für +7,8% er habe sich wäh- 20-Sekunden-Spots +6,3% rend der Angriffe deftige Preiser- +3,3% der westlichen Alli- höhungen vorsah. Veränderung zum Vorjahr anz auf die Informa- Da sofort Debatten tionen der Briten über die Preise auf- 1997 1998 1999 verlassen; deren Pro- kamen, die von den gramm sei der „bes- Rivalen Pro Sieben und Sat 1 so ähnlich te, und zwar durch- gewählt wurden, zog RTL zurück. Die gehend beste 24- Kartellvorwürfe hätten „das Klima zwi- Stunden-Nachrich- schen uns und dem Markt gestört“, sagt tenkanal“. So viel IP-Chef Walter Neuhauser. Die RTL- Lob scheint auch in Volte sei ein „Schritt der Vernunft“, ur- der Zentrale Ein- teilt der Düsseldorfer Mediaagentur- druck zu machen: Es Chef Jürgen Ströbel, ein Preisanstieg gebe keine Pläne für von 15 Prozent sei „des Guten wirklich eine Auflösung oder zu viel“. Sat 1 und Pro Sieben freilich Zusammenlegung bleiben bei ihren Preisen. Die drei Fir- von BBC World, er- men hatten ihre neuen Preise in ähnlich widerte ein Sprecher laufenden Schreiben angekündigt. Das BBC-Studio der Fernsehanstalt. Kartellamt ermittelt weiter.

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QUOTEN Wetter und Zuschauerzahlen Unfassbar Sonnen und abschalten der „Tagesschau“ in Millionen 1998 10,0 9,0 8,0 7,0 1999 n diesem Jahr ist das Sommerloch enn die Biergärten überfüllt sind Montag Montag Iein Maisfeld. Oder ein Hochsitz am Wund die Holzkohlengrille qual- 27. Juli 26. Juli Waldesrand. Oder einfach nur ein men, dann haben die Sender allen Dienstag Dienstag Feldweg, auf dem der mutmaßliche Grund, ihr Programm mit Wiederholun- 28. Juli 27. Juli Mörder Dieter Zurwehme seinen in- gen aufzufüllen. Denn sobald draußen Mittwoch Mittwoch zwischen einigermaßen abgemager- die Sonne scheint, lässt die Lust am 29. Juli 28. Juli ten Körper zum werweißwievielten Drinnenhocken und Glotzen deutlich Donnerstag Donnerstag Male vor den Hundertschaften der nach. Das gilt sogar für die meistgesehe- 30. Juli 29. Juli Polizei in Sicherheit gebracht hat. ne Informationssendung, die „Tages- inklusive Dritte Programme und 3Sat Abend für Abend machten in der ver- schau“. So schalteten von Montag bis gangenen Woche die Donnerstag vergangener Woche bei son- Hauptnachrichten- nigem Wetter durchschnittlich 7,1 Millio- wolkig/Regen wolkigheiter/wolkig heiter sendungen – hier- nen Zuschauer die Nachrichten ein, im bei in der abso- gleichen Zeitraum des Vorjahres wa- 9,6 Millionen. Die weiteren Aussichten: luten Pole-Posi- ren es bei wolkig-regnerischem Wetter viel Sonne, wenig Zuschauer. tion: „18:30“ auf Sat 1 – mit der Topmeldung des Tages auf: Nichts Neues vom „Kil- ler von Remagen“. Und am nächsten Tag mit tödlicher Gewissheit: Wieder nichts Neues vom Remagen-Killer. Und am darauf folgenden Tag: Keine Spur vom Killer. Enzensbergers The- se vom „Nullmedium“ Fernsehen er- hält in diesem heißen Sommer die notwendige Präzisierung: Die Null- nachricht als Mega-Event, dargebo- Briefmarken-Helden Mecki, Tabaluga, Rabe Rudi ten von Nullnull-Reportern im Korn- feld, die immer wieder heftig mit der TV-STARS Herausgeber aller Briefmarken, erst- deutschen Sprache rangen und null mals die wirklichen Helden der Jugend zu berichten hatten außer der be- Biene Maja zum Kleben ab. Und das sind die Stars des Kinder- trüblichen Tatsache, dass auch sie fernsehens: Käpt’n Blaubär, die Maus, nicht wissen, wo der Killer von Re- s war ein trauriger Abwärtstrend, der Sandmann, Biene Maja und Pu- magen steckt und desgleichen seiner- Eden die Post in den vergangenen muckl. Die neuen Motive kamen besser zeit auch nicht vorhersagen konnten, Jahren verzeichnete. Die Jugendsonder- an, die Post überwies 9,2 Millionen ob, wann, wo und gegebenenfalls wie briefmarken hatten der „Stiftung Deut- Mark an die Stiftung. In diesem Som- der Killer von Remagen (gab es nicht sche Jugendmarke“ 1996 nur 7,4 Millio- mer wechselte zwar das Gewinnerteam, mal „Die Brücke von Remagen“?) ge- nen Mark eingebracht – abgebildet wa- wieder aber posieren TV-Figuren: der fasst werden würde. ren Hunderassen. Pferdemarken kamen kleine Eisbär, der Rabe Rudi, Mecki und Es mag den ausgebufften Nachrich- 1997 gerade noch auf 6,9 Millionen Tabaluga. Twipsy, das Logo der Expo tenprofis gar nicht in den Sinn ge- Mark. Im vergangenen Jahr bildeten die 2000, durfte im Voraus Modell stehen; kommen sein, wie tief philosophisch, sonst so konservativen Programm- und ab diesem Winter wird es in einer Trick- ja geradezu abgründig antikisch ihre Kunstbeiräte des Finanzministeriums, filmserie zu sehen sein. allabendliche Wahrheitssuche war – und ist. Immer wieder bekennen sie sich – frei nach Sokrates – dazu, dass sie nichts wissen, dass ihnen die Welt PROJEKTE Versicherungen plaudern. Auf ein großes Rätsel ist: dass sie eben keinen Fall will Stichler, die auch nicht erklären können, warum Lyrik für die Frau zuvor beim Hessischen Fernse- Teamchef Erich Ribbeck immer wie- hen eine Kultursendung mode- der eine Gurkentruppe aufs Feld er Kampf um weibliche rierte, „tantig wirken“. Des- schickt und was mit den sechs nack- DZuschauer ist noch lange halb darf sich der Titel ihres ten Lümmeln von der Reichstags- nicht entschieden. Vom 30. Au- Informationsmagazins auch kuppel geschehen sollte. Wir wissen gust an will das ZDF mit einer reimen: In „Volle Kanne, Su- nur eines: Gebt uns mehr von diesen neuen Service-Sendung seine sanne …“ sollen Fragen von

geilen platonischen News, die nichts Frauenquote zumindest stär- ZDF der Kategorie „Wie züchte ich sind als die Idee einer Nachricht, die ken und schickt eine Modera- Stichler Champignons im Keller?“ hätte sein können, wenn es eine torin ins Studio: Susanne schon einmal „mit einem Au- Wirklichkeit gäbe, die jemand kennt. Stichler, 29, soll von Montag bis Freitag genzwinkern“ beantwortet werden. Ob Zurück ins Studio. ab 9.03 Uhr jeweils eine halbe Stunde das den Zuschauern wirklich zu einer über Gesundheit, Haushalt, Mode und reichen Pilzernte verhilft?

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bewältigte Schock über den frühen Hitchcockmania auf allen Kanälen. Vorschau Tod der Mutter inspirieren ihn besten- Diese Collage dokumentiert vor allem falls zu einem mystischen PC-Spiel. die Vielzahl der Nachahmungstäter. Einschalten Allmählich löst sich seine innere Star- Seit Jahrzehnten werden des Meisters re. Das Psychodrama von Nachwuchs- Gänsehautszenen, vom Mord unter der regisseur Florian Gärtner überzeugt Dusche bis zum Angriff der Killervö- mit einer intelligenten Dramaturgie, gel, kopiert, variiert – oder parodiert. leisen Spannungen und glaubhaften Wie 1977 von Komiker Mel Brooks in Darstellern – und wurde in diesem Jahr „Höhenkoller“: Erst wird er im Park auf dem Max-Ophüls-Festival ausge- von Tauben gejagt, dann unter der Ho- zeichnet. teldusche vom Portier erschlagen, aller- dings mit einer zusammengerollten À la Hitchcock Zeitung. Und durch den Abfluss rinnt Dienstag, 23.50 Uhr, West III kein Blut, sondern Druckerschwärze. Alfred Hitchcock, Meister des subtilen Richter, Harloff in „Drachenland“ Horrors, wäre am 13. August 100 Jahre Duell der Richter alt geworden: Grund genug für eine Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Drachenland Gleich zwei Richter gieren nach dem Dienstag, 22.45 Uhr, ZDF Posten des Gerichtsvorsitzenden. Bei- Hannes (Marek Harloff), erfolgreicher de, die jungdynamische Constanze Ad- Designer von Computerspielen, hat ler (Nina Petri) und ihr verbissener zwar noch immer ein weiches Kinder- Kollege Wosil (Rudolf Kowalski), brin- gesicht, aber das Naturell des End- gen den notwendigen Ehrgeiz mit. zwanzigers scheint eisgekühlt. Erst als Aber auch die Kompetenz? In einem sein Vater erkrankt, kehrt er für ein politisch brisanten Fall – einem Brand- paar Tage aus seiner Wahlheimat Kali- anschlag auf ein Haus, in dem auch fornien in seine Geburtsstadt Berlin Ausländer wohnen – will sich jeder der zurück. Zu spät. Ihm bleibt nur noch, Kontrahenten profilieren. Doch vor die Beerdigung zu organisieren und lauter kleinen Machtkämpfen und den Haushalt aufzulösen. Das aber er- großen Karriereträumen geht ihnen die ledigt er so systematisch und gelassen Ratio abhanden. Beiden fällt es schwer, wie einen Großeinkauf im Supermarkt. die widersprüchlichen Aussagen des Weder der Geliebten des Vaters (Peggy Angeklagten zu entwirren. Das auf Lukac) noch seiner Ex-Freundin (Julia Realitätsnähe getrimmte Krimi-Szena- Richter) gelingt es, ihn zu einem per- rio kommt gelegentlich hölzern daher. sönlichen Wort, gar zu einer emotiona- Wie im wirklichen Leben allerdings

len Geste zu bewegen. Die tristen Erin- WDR spielen die Leiden der Opfer auch in nerungen an seine Kindheit, der nie Regisseur Hitchcock diesem Gerichtssaal die kleinste Rolle.

Ausschalten

Der Rächer im Bett Angeklagten, befindet ihn vorerst für Dienstag, 20.15 Uhr, RTL 2 unschuldig und verliebt sich in ihn. Ausgerechnet eine Richterin (Bonnie Be- Diagnose des Spannungsdetektors: delia) steht in diesem US-Krimi unter kein Ausschlag. Mordverdacht – zu Unrecht. Ihr eigener Liebhaber brachte sie in den juristischen Dumm gelaufen Schlamassel. Immerhin hat der Mann ein Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben überzeugendes Motiv aufzuweisen: Die Ein Jungbauer vom Niederrhein (Bernd Richterin schickte einst seinen Vater auf Michael Lade), der milieugerecht mit den elektrischen Stuhl. Das Urteil: viel Gummistiefeln über den Acker stapft, Verwirrung und plumpe Spannungsef- und die Nutte Sabrina (Christiane Paul), fekte. Die Strafe: Ausschalten ohne Be- die wahlweise in roten Dessous oder im währung. Tigerlook über den Kiez stöckelt und durch den Matsch stolpert, müssen zu- Der Mörder in meinem Bett fällig zur gleichen Zeit eine Leiche ent- Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 sorgen und kommen sich dabei näher. Zur Abwechslung steht in diesem US- Der dröge Klamauk zwischen Misthau- Thriller ein Arzt (Ken Olin) unter Mord- fen und Müllhalde, 1997 von Regisseur verdacht – zu Recht? Eine Fachfrau für Peter Timm inszeniert, langweilte schon Lügendetektoren (Patricia Wettig) hat das Kinopublikum: Nur 8000 Menschen offenbar weder ihre Geräte noch ihre sahen sich den Film an – und kein Gefühle im Griff. Sie prüft den schönen Schwein guckte zu. Lade, Paul in „Dumm gelaufen“

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440 440 Chefredakteur seit 1. Oktober 1998: Kai Diekmann

430 Chefredakteur seit 1. Januar 1996: Manfred Geist 420 417 410

400

390

380

Verkaufte Auflage Anzeigenerlöse Quartalswerte in Tausend jährlich in Millionen Mark 97,1

80,9 76,7 76,6 71,3 1. Halb- jahr 53,9 Quelle: A. C. Nielsen Werbe- Quelle: A. forschung S + P GmbH S. JAKOBS 1994 1995 1996 1997 1998 1999 „Welt am Sonntag“-Chef Diekmann: Rückkehr aus Panama

SPRINGER-VERLAG Raus aus dem Muff Erster Erfolg für Springer-Zeitungsvorstand Claus Larass: Die neuen Chefredakteure Mathias Döpfner und Kai Diekmann haben die Traditionsblätter „Welt“ und „Welt am Sonntag“ modernisiert. Auflagen und Anzeigenerlöse steigen – vorerst.

uf den Ausblick freut sich Mathias und an die Spitze der verstaubten und recht verstanden hatte. Einen „gedruckten Döpfner immer noch jeden Tag. In rechtsgewirkten „Welt am Sonntag“ holte Salon“ wollte er ihnen verkaufen, als hät- Aseinem Büro im 16. Stock des Sprin- er mit dem Kanzler-Biografen Kai Diek- ten sie keine anderen Sorgen gehabt. ger-Hochhauses an der Berliner Kochstraße mann, 35, einen, der einst bei „Bild“ sein Bis sich Döpfner mit einem zünftigen liegt ihm die Hauptstadt zu Füßen. Da hin- Stellvertreter war und ihm beim Stopfen Saumagen-Essen verabschiedete, G+J die ten der Reichstag, da vorne der Potsdamer manchen Sommerlochs phantasievoll zur „Wochenpost“ verkaufte und alles noch Platz und da unten die Konkurrenz von der Hand ging. So etwas verbindet. viel schlimmer wurde. Denn nach dem Tap- linken „Tageszeitung“. Sogar dem Bun- Bei Döpfner lag die Sache schon anders. ferkeitsposten in Berlin hatte sich G + J- deskanzler könnte er mit einem großen Als er vor rund einem Jahr die Chefre- Chef Schulte-Hillen für seinen ehemaligen Fernrohr auf den Schreibtisch gucken. daktion der „Welt“ übernahm, hob ein Assistenten gleich das nächste Himmel- Dass er überhaupt so weit oben ange- großes Staunen an.Ausgerechnet Döpfner, fahrtskommando ausgedacht: Es war die kommen ist, hat er dem langjährigen der eigentlich immer auf der falschen Par- Chefredaktion der „Hamburger Morgen- „Bild“-Chef Claus Larass zu verdanken. ty war. Zum Beispiel damals, als ihn der post“, einer Boulevardzeitung, die vor al- Der war im Januar 1998 von Vorstandschef Gruner +Jahr-Vorstandsvorsitzende Gerd lem mit einem Quiz namens „Mopeln“ und August Fischer zum Zeitungsvorstand be- Schulte-Hillen zum Chefredakteur der Kleinanzeigen („Alt, griffig und nicht zu rufen worden und hatte den überalterten kränkelnden „Wochenpost“ machte, deren bremsen“) Aufmerksamkeit erregt. Ein Objekten des Verlages prompt eine rigoro- Redakteure so gern darüber schrieben, Blatt, für das es eigentlich einen braucht, se Verjüngungskur verordnet. Beim ma- warum Currywurst-Essen im Osten ir- der mit heruntergelassenem Krawatten- roden publizistischen Flaggschiff „Welt“ gendwie authentischer ist, und deren bür- knoten den ganzen Tag Schlagzeilen raus- inthronisierte er den 35jährigen Döpfner, gerbewegte Leserschaft Döpfner nie so haut. Keinen wie Döpfner also, den pro-

88 der spiegel 31/1999 Innerhalb eines Jahres hat der chroni- sche Verlustbringer seine Auflage immer- hin um 7 Prozent auf 235000 Exemplare steigern können, auch beim Anzeigenum- satz verzeichnet der Verlag ein Plus von 27 Prozent. Das kleine „Welt“-Wunder tröstet Vorstand Claus Larass über die übrigen Verlagsdaten auf seinem Schreib- tisch hinweg. Denn bei „Bild“, „Bild am Sonntag“ oder „B. Z.“ gingen die Auflagen im Vergleich zum zweiten Vorjahresquar- tal nach unten – „Bild“ verlor gar 175 000 Exemplare. Während Mathias Döpfner noch über- legte, wie er aus der Mopel-„Mopo“ was Vernünftiges machen kann, kurvte Kai Diekmann gerade mit einem Ford Bronco zwischen Miami und Panama herum – nachdem ihn der damalige Vorstandsvor- sitzende Jürgen Richter bei der „Bild“ hin- ausbugsiert hatte. Letztendlich spülte der Machtkampf Richter hinweg, Larass in den Vorstand und Diekmann in seinen „Traumjob“. Denn bei der „WamS“ zeigt er es allen mal so richtig. Den Ex-Kollegen von der „Bild“, dass er das Liebesleben der Brigit- te Seebacher-Brandt enthüllen kann, de- nen von der „Bunten“, dass es noch viel bunter geht, und all jenen, für die er we- gen seiner Kanzler-Biografie „Ich wollte Deutschlands Einheit“ auf ewig Kohls „ra- sender Untertan“ („Tempo“) ist, dass er

S. SCHRAPS selbst einen „taz“-Reporter bei sich im „Welt“-Chefredakteur Döpfner Blatt duldet. Natürlich nur, wenn der auch Ideologische Altlasten entsorgt lustig schreiben kann. 250 Chefredakteur Jetzt müssen nur noch die Leser frischer seit 1. Juli 1998 movierten Musikwissenschaftler, der all werden – zur Übung blies Diekmann die Mathias den Spott, der über ihm ausgekübelt wur- Fotos schon mal so gewaltig auf, dass zu- 240 Döpfner 234 de, tapfer an seinen dreiteiligen Anzügen mindest den Altvorderen des Verlages noch abperlen ließ. ganz schwindlig wird, wenn sie es sich am 230 Chefredakteur seit 2. Mai 1995 Doch dann kam der erlösende Anruf. La- Sonntag im Strandkorb auf Sylt bequem Thomas Löffelholz rass hatte hinter Döpfners vergeblichem machen. Wirken einen mächtigen Gestaltungswillen Doch die Entwicklung zum Knall- 220 erkannt und gesehen, dass sich da zwei auf- bonbon ist ganz in Larass’ Sinne. „Die 215 einander zu bewegen, die eigent- ‚Welt am Sonntag‘ soll allen, die 210 lich schon abgeschrieben waren. Döpfner hat in der Woche ihr schönes Der glücklose Chefredakteur erkannt, dass Regionalblatt lesen, die Welt 200 und die vor sich hindämmernde näher bringen. Deswegen muss „Welt“, die ganz früher als libe- es mit der be- es eine moderne, weltoffene rales Schmuckstück gegolten hat- liebten Eigen- Zeitung ohne jede Provinzia- te, sich später aber zum erzkon- bluttherapie lität sein“, sagt er mit Blick auf servativen Sprachrohr des Verle- diesmal nicht die Konkurrenz, die durch die Verkaufte Auflage Anzeigenerlöse gers und seiner noch rechteren getan ist Gründung kostenloser Blätter Quartalswerte in Tausend jährlich in Millionen Mark Nachfolger entwickelte – und de- Springers Sonntagsmonopol ren Durchschnittsleser in den knacken will. vergangenen Jahren stramm auf die fünfzig Zur Abwehr frisst Diekmann nun den zu marschierten. ganzen Tag Zeitungen in sich hinein, hat 80,3 74,9 74,7 Nur wenige Monate nach Döpfners Verbesserungsvorschläge, auch für die Kon- 70,3 Amtsantritt erhielt die muffige „Welt“ eine kurrenz, parat, aber auch Lob. Die „taz“ 65,0 1. Halb- jahr neue Optik und wirkt plötzlich lebendiger, war in der Kosovo-Berichterstattung „ganz aufgeräumter und moderner als die eben- vorn“, und bei der „FAZ“ sei momentan 48,148,1 falls renovierte „Berliner Zeitung“ und der das Feuilleton der beste Teil – „ungefähr örtliche „Tagesspiegel“. Der Meinungs- seit Frühjahr“. Und dann fischt er ein fast und Kulturteil wurde ausgeweitet, das In- unberührtes Blatt aus dem Papierkorb, um ternet als Zusatzmedium entdeckt. Selbst sich noch einmal zu vergewissern, dass des- der Chefredakteur – ganz Mann der neu- sen Aufmachung heute besonders mies war. en Zeit – chattet zuweilen mit den Lesern Nach umfassender Lektüre rekrutiert 1994 1995 1996 1997 1998 1999 im World Wide Web. der ehemalige Soldat im Pressestab der

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drängt, die täglich mithelfen, das dop- pelseitige Meinungsforum zu füllen. Vom PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky bis hin zum CSU-Mann Peter Gauweiler darf je- der mal ran. Und – einsamer Höhepunkt der Kulturrevolution – auf der ersten Seite verarbeitet ein ehemaliger „Titanic“- Chefredakteur Tag für Tag seine Erleb- nisse als Fernsehzuschauer. „Wenn erst einmal feststeht, dass es sich bei der ‚Welt‘ um ein weltoffenes konservati- ves Blatt handelt, kann man eine große Bandbreite entwickeln“, sagt Zeitungs- vorstand Larass. Glasnost bei Springer, zumindest ein bisschen. So übermütig ist die Stimmung, dass im Verlag einige bereits den Rechen- schieber aus der Tasche holten und dar- über sinnierten, wie bei entsprechendem Anzeigenzuwachs schon bei einer „Welt“- Auflage von 250000 Exemplaren ein Plus in der Bilanz möglich wäre. Und das nach Jahrzehnten der Verluste – mit zuletzt rund

J. DIETRICH / NETZHAUT DIETRICH J. 70 Millionen Mark im Jahr. Springer-Vorstände Fischer, Larass: Besser als „FAZ“ und „Süddeutsche“ zusammen? So weit will Vorstand Larass nicht den- ken – zumal es im allgemeinen Jubel auch Bundeswehr seine Autoren-Truppe fürs Regelmäßigkeit vor den Kopf. Unlängst gehörige Misstöne gibt: So legten „Welt“ Wochenende – aus dem großen deutschen ließ er gar zu, dass der SPD-Ost-Experte und „Welt am Sonntag“ zwar an Auflage Who’s who. Je prominenter, je besser, wo- Egon Bahr gelobt wurde – für manchen zu, verloren aber laut der neuesten Me- bei das Alter keine Rolle spielt: Peter von Altgedienten ein Sakrileg: „Den Chefre- dia-Analyse an Lesern. Ein einzelnes Zei- Zahn, 86, erklärt den Mythos der Kenne- dakteur hätte Axel Cäsar persönlich vor tungsexemplar wandert also durch weniger dys, Peter Scholl-Latour, 75, führt eine Art die Tür gesetzt“, dröhnte einer von ihnen, Hände als bisher.Auch die Verjüngung der Kriegstagebuch, und Erich Loest, 73, fliegt als Döpfner gerade mal draußen war. Leserschaft erweist sich als zähe Angele- mit Kanzler und Hubschrauber ins Koso- Ganz elegant hat der sich einiger ideolo- genheit: Der Nutzer der „Welt am Sonn- vo. „Man muss sich immer fragen, ob der gischer Altlasten entledigt. Der ehemalige tag“ ist im Schnitt immer noch 49 Jahre alt, Autor eine innere Beziehung zum Thema Kulturredakteur Rainer Zitelmann betreut bei der „Welt“ immerhin findet eine zag- hat“, sagt Diekmann, und dann schaut heute die politisch eher unverdächtige hafte Verjüngung statt. er mal, welche Telefonnummern so im Immobilienseite. Und der viel- „Man muss nachhaltig in die Adressbuch stehen. malige Chefredakteur Herbert ‚Welt‘ investieren – gerade jetzt, Seine Mischung aus Optik, bunten The- Kremp, vom alten Springer im- Die Verjün- wo es ganz gut läuft“, sagt Claus men, zuweilen politisch Brisantem und mer dann geholt, wenn ihm das gung der Larass – über 150 Millionen den Anekdoten etlicher Kolumnisten hat Blatt zu liberal wurde, beruhigt Leserschaft Mark sollen innerhalb von fünf bisher Erfolg. Allein von April bis Juni heute panische Abonnenten, die erweist Jahren in die Restaurierung des kletterte die Auflage um über 30000 auf darüber sinnieren, ob „die Bun- sich als Flaggschiffs gesteckt werden. 439 965 Exemplare – obwohl der Markt desrepublik jetzt von Atheisten Schließlich hatte Verlagschef der Wochenzeitungen insgesamt etwas regiert wird“. Leser schreiben – äußerst zähe Fischer schon frühzeitig getönt, rückläufig ist. die Zeitung antwortet, heißt die Angelegenheit die „Welt“ solle besser werden „Beide Personalentscheidungen haben undankbare Disziplin. als „‚Süddeutsche Zeitung‘ und sich als richtig erwiesen“, sagt denn auch An die 50 Journalisten – rund ein Drit- ‚FAZ‘ zusammen“. Nun bekommt sie erst Larass – dabei könnten seine Jungs, Döpf- tel der Redaktion – hat Döpfner neu ein- einmal ein eigenständiges Feuilleton. ner und Diekmann, unterschiedlicher gestellt. Denn früh musste er erkennen, Selbst an eine engere Zusammenarbeit kaum sein. Dort der hoch aufgeschossene dass es mit der im Springer-Verlag belieb- zwischen „Welt“ und „Welt am Sonntag“ Nachwuchs-Weltmann, hier der gestande- ten Eigenbluttherapie diesmal nicht getan wird gedacht. Korrespondenten sollen ver- ne Boulevard-Journalist, der immer noch in sein würde. Seine Mannschaft kommt von stärkt gemeinsam genutzt werden, schon der guten alten Springer-Journalisten-Kluft der „FAZ“, vom „Tagesspiegel“ oder von jetzt produziert die „Welt“ für die „Welt steckt: Jeans, Streifenhemd, blaues Jackett der Münchner „Abendzeitung“. „Die am Sonntag“ die Immobilienseite, eine um- mit Goldknöpfen. Und die Haare schön ,Welt‘ hat in letzter Zeit ein großes, poli- gekehrte Kooperation ist für den Stellenteil zurückgegelt. tisches Herz bekommen“, staunt Michael geplant.Alles eher auf Zuruf, keine starren Doch sie ergänzen sich offenbar. Döpf- Jürdens, rechte Hand von Schröders Re- Kooperationsstrukturen, betonen Döpfner ner symbolisiert nach außen die politi- gierungssprecher Uwe-Karsten Heye. und Diekmann. sche Öffnung des Verlages, Diekmann Seine eigene politische Kompetenz hat Beide wollen vor allem eines vermeiden kümmert sich um den inneren Frieden, in- der frühere „FAZ“-Musikrezensent Döpf- – die unter konkurrierenden Kollegen dem er die ein oder andere Springer-Feder ner weitgehend outgesourct. Für ihn kom- üblichen Rempeleien. So preist man sich aufnimmt, die Döpfner klammheimlich mentieren der Historiker Michael Stürmer denn auch gegenseitig ebenso demonstra- ausgemustert hat. oder auch der flexible Alt-68er Thomas tiv wie lautstark. „Der Kai Diekmann“ Der bezeichnet sich zwar selbst als kon- Schmidt, der Döpfner schon seit „Wo- mache seinen Job „wirklich prima“, sagt servativ-liberal – denen, die in ihm einen chenpost“-Zeiten hinterhereilt. Döpfner, Diekmann revanchiert sich artig: Gewährsmann für die politische Linie des Die alte Kommentatoren-Riege wird „Der Mathias ist für die ,Welt‘ ein Glücks- Verlags sehen, stößt er aber mit schöner auch von prominenten Gastautoren ver- fall.“ Oliver Gehrs

90 der spiegel 31/1999 RADIO Schwebende Dreiecke Art Bell, Amerikas schrägster Radiomoderator, spricht über Verschwörungen, Morde und Außerirdische. Millionen hören ihm zu. er Mann klingt, als sei er auf der Flucht. Zum Luftholen scheint er Dkaum Zeit zu haben: „Sie sind hin- ter mir her“, keucht er ins Telefon, „sie peilen mich schon an.“

Es ist weit nach Mitternacht, doch Art SOQUI / SYGMA T. Bell ist plötzlich wieder hellwach. Mit ei- Ufo-Parade in Roswell (New Mexico)*: „Sie wollen uns auslöschen“ nem Ruck fährt er in seinem gelben Le- dersessel empor, in seinem fensterlosen sondern auch die erfolgreichs- Studio, das früher mal ein Schlafzimmer ten nächtlichen Quassel-Pro- war. „Sag uns mehr, schnell“, ruft er ins Mi- gramme des Landes. krofon. Und als hätte der Anrufer nur auf In letzter Zeit wird der Gu- dieses Signal gewartet, legt er los. ru der Paranoiden allerdings Abgehauen sei er, aus dem geheimsten mehr und mehr selbst zum Armee-Testgelände der Welt, das sie hier Mysterium. Er wohnt seit Jah- nur kurz „Area 51“ nennen. Nun müsse er ren am Rande der Wüstensied- alle warnen, bevor sie ihn wieder einfan- lung Pahrump, schräg gegen- gen. „Außerirdische haben das Militär in- über dem Bordell „Chicken filtriert“, ruft er durchs Telefon, die Stim- Ranch“. Obwohl er erst kürz- me überschlägt sich: „Und, Art, die Regie- lich einen neuen Millionenver- rung weiß es. Sie wollen uns auslöschen.“ trag abschloss, haust er noch Dann reißt die Verbindung ab, es folgt nur immer in der gleichen einfa- ein Knacken. chen Hütte, aus der heraus er

So geht es Nacht für Nacht in Art Bells G. MOSS / OUTLINE auch sendet. Sie ist 65 Meilen Radiostudio, einer einsamen Baracke in- Radiotalker Bell: Guru der Paranoiden von Las Vegas entfernt – und mitten der Wüste von Nevada. Hier ruft an, umgeben von den Kultstätten wer Stimmen hört, wer Außerirdischen Da berichtete ein verstörter Zahnarzt- der schnell wachsenden amerikanischen nachsteigt, wer dem Unerklärlichen be- patient, wie er nach seiner letzten Be- Ufo-Gemeinde: dem geheimnisvollen Area gegnet ist. Hier melden sich die Schlaflosen handlung plötzlich des Nachts Stimmen 51, dem Death Valley und dem Untertassen- Amerikas, die Verfolgten, die Verrückten – hörte – bis er darauf gekommen sei, dass Landeplatz Roswell. und immer mehr hören zu. ihm sein Dentist während der Narkose ei- Hier heulen nachts Kojoten, und gele- Was als obskurer Radiotalk begann, ist nen Chip eingepflanzt haben müsse, über gentlich kann man Schüsse hören, weil wie- längst zu einem Multimedia-Kult gewor- den ihn nun die CIA ablausche. der ein paar Verrückte in der Wüste bei den, dessen Klientel den Wüstenemigran- Anrufer wollen Chemikalien in Kon- Vollmond zielen üben. „Alles ist hier ten Bell wie einen Guru verehrt. Rund densstreifen entdeckt haben und vermu- größer“, sagt Bell, hinter dessen Holzhüt- 15 Millionen Fans drehen zu mitter- ten, die Armee teste heimlich neue Kampf- te Satellitenschüsseln und eine riesige An- nächtlicher Stunde ihre Radios auf die stoffe über den Vorstädten Amerikas. Sie tenne aufragen, „du siehst ziemlich ver- Talk-Frequenz und lauschen den Berich- haben zugesehen, wie Außerirdische eine rückte Sachen, und das verändert dich.“ ten über unheimliche Begebenheiten der Kuh missbrauchten, einen Elch in ihr Im Oktober schließlich verschwand Bell dritten Art. Raumschiff beamten oder eine ganze Rin- zwei Wochen aus dem Äther, wollte nie Weitere Millionen verfolgen die Show derherde abschlachteten: „Art, warum tun wieder senden. Etwas „Schreckliches, Be- per Internet (www.artbell.com). Sie medi- sie das?“ drohliches“ habe sich ereignet, erklärte er tieren gemeinsam für den Weltfrieden oder Das Programm ist Ausdruck einer in später. Sein 18jähriger Sohn hatte einen debattieren in dutzenden von Chat-Grup- Amerika wachsenden Begeisterung für Lehrer angezeigt, weil dieser ihn angeb- pen über die Mysterien des Alltags: schwe- Verschwörungstheorien, Weltallmythen lich sexuell missbraucht habe. bende Dreiecke, geheimnisvolle Helikop- und apokalyptische Zukunftsvisionen. Bis Zwar ist Bell senior wieder jeden Abend ter, leuchtende Flächen am Nachthimmel. in die Morgenstunden dauert die Veran- auf Sendung, doch etliche Hörer zweifeln, Nichts scheint Bell zu wahnwitzig, kein staltung, die mittlerweile über 460 Sender ob es noch der echte Bell ist. Einige mei- Assistent filtert die Anrufer. Hörer er- im ganzen Land ausstrahlen. „Dreamland“ nen, die Regierung habe ihn heimlich durch zählen von ihrer letzten Reise in einer Zeit- und „Coast to Coast“, so heißen Bells ein Double ersetzt: „Sie haben ihn ausge- maschine („drei Sekunden bis Christi Ge- Sendungen, sind nicht nur die skurrilsten, wechselt“, sagt ein Tankstellenwärter in burt“) oder wollen wissen, welche Musik Pahrump. „Er wurde ihnen zu gefährlich, sie auf dem Sirius spielen („hoffentlich kei- * Am 7. Juli 1997 zum 50. Jahrestag eines angeblichen weil er zu viel wusste.“ nen Rap“). Ufo-Absturzes. Mathias Müller von Blumencron

der spiegel 31/1999 91 Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

PROMOTION SPIEGEL: Wird selbst finanzierte Eigenwerbung für junge Schauspieler demnächst die Regel? Hoffmann: Im Filmgeschäft ist es wichtig, Kreati- Lob von Shirley vität und Mut zu beweisen. Vieles ist hier Glück- Die Hamburger Schauspielerin Silvia Hoffmann, 33, über ihre Werbekampagne in eigener Sache

SPIEGEL: Frau Hoffmann, Sie haben auf der Berli- nale im Februar Plakate mit Ihrem Konterfei und Ihrer Telefonnummer aufgehängt und ähnliche Postkarten verteilt. Hat’s was genützt? Hoffmann: Allerdings. Es haben sich zum Beispiel eine Vereini- gung von Hollywood-Schauspielerinnen bei mir gemeldet und der Agent von Shirley MacLaine, die von meiner Aktion be- geistert gewesen sein soll. SPIEGEL: Lob für Zivilcourage bringt noch keine Aufträge. Hoffmann: Das war ja auch nicht alles. Eine große Agentur hat mich unter Vertrag genommen. SPIEGEL: Und jetzt geht’s ab nach Hollywood? Hoffmann: Natürlich wäre großes Kino eine Herausforderung, und

es wäre aufregend, in den USA zu arbeiten.Vorerst reicht es mir PRESS ACTION aber, in Deutschland bekannter zu werden. Dafür habe ich mei- Hoffmann, Postkarte ne ersparten 10000 Mark investiert, und es hat sich gelohnt. SPIEGEL: Sie haben im „Tatort“ und in „Für alle Fälle Stefanie“ sache. Wenn man in einem Film mitgespielt hat, der ein Kas- gespielt. Sind Sie nicht schon ganz gut im Geschäft? senschlager wurde, hat man ein positives Image. Das muss man Hoffmann: Es reichte nicht. Es gibt sehr viele Schauspieler in schnell nutzen. Die anderen, die nicht so viel Glück hatten, Deutschland, und die bedeutenden Agenturen nehmen meist müssen sich was einfallen lassen, um Aufmerksamkeit zu erre- nur Stars in ihre Karteien auf. Ich musste mir schon was Be- gen. Aber da gibt es noch genügend Möglichkeiten, und Spaß sonderes einfallen lassen. macht es ja auch.

MODE Beflügelte Flaneure rendforscher Matthias Horx machte sie als „Kultobjekte der Neunziger“ aus: die TEngel. Die Liebe der Designerin Maria Becker, 32, zu den zauberhaften Schwebe- wesen reicht 30 Jahre länger zurück. „Fast von Geburt an“, erinnert sich die

B. BEHNKE goldlockige Berlinerin, sei sie „von Engeln fasziniert gewesen“. In Beckers Atelier in Klock mit „Galaxia“ der Pariser Straße werden die Himmlischen aus ihren Seinsformen Unsichtbarkeit, Kerzenhalter oder Jahresendflügelpuppe herausbugsiert. Dafür reichen ein weißes BALKONE T-Shirt und wattierter, zu Flügelchen versteppter Baumwollstoff. Im Unterschied zu Beckers einleuchtendem mattgoldenem Rucksack aus wattierten Schwingen – ideal Süßer Selbstbestäuber für Himmelsschlüssel, Handy und Puderdose – gehört Chuzpe dazu, mit dem Engels- T-Shirt auf die Straße zu gehen. Besonders in der ruppigen Hauptstadt. Da wird ein anche Städter entwickeln den Ehr- beflügelter Flaneur Mgeiz, auf ihrem Balkon alles Obst schon mal angeschnauzt, zu ernten, das es in Nachbars Garten ob er sich denn wohl für gibt. Dann pflanzen sie einen Pfirsich- was Besseres halte. Soll- baum in einen Kübel. Der Kerl wächst te Beckers Lieblings- und wächst und sprengt eines Tages den komödiantin Anke En- Topf. Solches Unglück zu verhindern gelke sich demnächst, ist selbstgewählte Lebensaufgabe des wie vorgesehen, mit den Hamburgers Peter Klock, 52. In seiner Schwingen in der Sat-1- Baumschule im holsteinischen Witzeeze Wochenshow präsentie- hat sich der Gärtner auf die Veredelung ren, dürfte es damit vor- von Kübelobst spezialisiert. Sein bei sein. Bis dahin rät Prachtstück, Pfirsich „Galaxia“, stammt Becker sensiblen Nach- aus China. Die seltsam platte Form ver- wuchsengeln, mit Woody gleicht Züchter Klock je nach Stim- Allen zu kontern – der mung mit einem Ufo oder einer Frika- fragte sich einst, weshalb delle. Galaxia ist nicht bloß süß und saf- Engel fliegen können, tig, sondern auch winterhart und Selbst- und gab sich gleich selbst

bestäuber, fruchtet also sogar in Höhen, S. BERGEMANN / OSTKREUZ die Antwort: „Weil sie in denen Bienen schwindelt. Becker, Model mit Rucksack sich so leicht nehmen.“

der spiegel 31/1999 93 Gesellschaft

TOURISMUS Sehnsucht nach dem Kick Hunderttausende von Deutschen suchen im Urlaub Nervenkitzel und Naturerlebnisse – eine ganze Industrie hat sich auf diesen Trend eingestellt und liefert wohldosierte Abenteuer. Doch das jüngste Unglück in der Schweizer Saxet-Schlucht zeigt auch: Der Spaß kann tödlich enden.

s war gegen halb fünf am Nachmit- tag, als 45 Abenteuertouristen, von Eacht Führern begleitet, in die tiefe Schlucht der Saxet in der Schweiz hinab- stiegen. In der reißenden Klamm nahe Wil- derswil im Berner Oberland waren sie beim sogenannten Canyoning auf der Su- che nach dem ultimativen Urlaubskick. Sie seilten sich am vergangenen Diens- tag langsam in den Gebirgsbach ab. Ge- schützt durch Neoprenanzüge, Schwimm- westen und Helme, wollten sie eine Strecke von knapp 400 Metern zurücklegen – über Felsbrocken kraxeln, an flachen Stellen das ausgewaschene Flussbett entlangrutschen und, so weit es geht, durch das tobende Wasser schwimmen. Rund 35000 Frauen und Männer haben in den vergangenen sechs Jahren beim ört- lichen Reiseveranstalter Adventure World solche Canyoning-Trips im Saxet-Bach ge- bucht, und Geschäftsführer Georg Hoedle war zufrieden damit, dass es „höchstens mal einen Beinbruch“ gab. Doch diesmal wurde die Suche nach dem Nervenkitzel zur Tragödie: Die Tou- risten aus Australien, Großbritannien, Neu- seeland, Südafrika und der Schweiz ahnten nicht, was sich hoch über ihnen zusam- menbraute. Viel zu beschäftigt waren sie damit, Halt zu finden in den Fluten des Gebirgsbachs. Immer wieder rutschten ihre Hände an den bemoosten Steilwänden ab, die sich zu beiden Seiten wohl 20 Meter hoch auftürmen. Plötzlich brach über dem Gebirgsbach ein heftiges Gewitter los: Die Saxet-Klamm schwoll in Sekunden zu einem reißenden Strom an, Überlebende berichten von einer „kleinen Welle“, auf die eine „massive Wasserwand“ gefolgt sei, stellenweise sechs Meter hoch und von gewaltiger Kraft. Für 16 Ausflügler und 3 Führer wurde der Wildbach zur tödlichen Falle, 2 wurden am Freitag noch vermißt. An der Unglücks- stelle ist die Schlucht gerade zwei Meter breit, ein schneller Ausstieg war nicht möglich. Vergeblich versuchten die Klet- terer, sich auf Felsvorsprünge zu retten. Hilflos wurden sie die Saxet hinabgeris- sen, etliche der Opfer, ertrunken oder von Geröll erschlagen, trieben 3,5 Kilome- ter weit durch das Flüsschen Lütschine Freeclimber

U. WIESMEIER / LOOK U. Ritus der Moderne * Am australischen Mount Arapile. in den Hafen von Bönigen am Brienzer See. mutmaßt. Er verließ das Schweizer Unter- Extremsportler, beschwört den „Transfer- Offenbar überlebten nur die Ersten und die nehmen 1996, weil Sicherheitsstandards effekt des intimen Umgangs mit Extremsi- Letzten, die in die Schlucht kamen. missachtet worden seien. Das Desaster tuationen in das private und berufliche Le- Der Tod in der Schweiz zeigt, dass Ex- habe er „kommen sehen“. ben“.Wer durch die Arktis gestapft ist, den tremtrips oder Abenteuerurlaube stets auch Adventure World gehört zu einer boo- kann der Abteilungsleiter daheim nur noch Flirts mit der Gefahr sind. In den Pyrenäen menden Industrie, die sich auf die Freun- schwer schrecken. kommen nach Angaben des Deutschen Al- de des Risikos eingestellt hat. Der Umsatz Wenn es etwa im Himmel über Oberst- penvereins jährlich zwei bis drei Menschen wächst mit zweistelligen Raten pro Jahr. dorf plötzlich rauscht und der gelernte beim Canyoning ums Leben, in den deut- Entdecker auf Zeit wandern im Hima- Zimmermann Matthias Pinn, 38, in einer schen Alpen ein bis zwei. laya, paddeln in Kanus den kanadischen Linkskurve zur Landung neben seinem El- Von Gefahren unbeirrt oder gar angezo- Yukon hinab oder tauchen in der Karibik ternhaus ansetzt, wissen die Einheimi- gen, begeben sich immer mehr Deutsche al- zu Hai-Schwärmen hinab. Die Lateinleh- schen, dass der Gleitschirmpilot für die ler Alters- und Einkommensklassen auf die rerin Barbara Thoms, 58, aus Hannover Verwirklichung seines Lebenstraums trai- AP(l.); REUTERS (r.) Bergung eines Gewitteropfers, Canyoning-Sportler (im schweizerischen Saxet-Bach): Tragödie beim Flirt mit der Gefahr

Suche nach dem Kick in der Freizeit, auf die war zu Ostern zum fünften Mal in der Sa- niert. Im Frühjahr 2000 will er, den Schirm kleine Flucht vor dem grauen Alltag. hara unterwegs und bekennt, inzwischen im Gepäck, auf den Mount Everest klettern Freeclimber hängen oft nur mit einer „süchtig nach der Wüste“ zu sein. In der und von dort ins Basislager gleiten – er Hand an senkrechten Felswänden, Para- gleichen Region war zuvor der frühere Ar- wäre der Erste, dem das gelingt. glider stürzen sich mit Gleitschirmen beitsminister Norbert Blüm auf den Ge- Zwei Jahre radelten der Freiburger In- Hänge hinab. Je nach Mut, Budget und per- schmack gekommen. Er hatte sich zwei dustriemeister Peter Materne, 45, und die sönlichen Lebensumständen suchen Ur- Wochen lang einer Kamelkarawane ange- Sekretärin Elena Erat, 40, auf Mountain- laubs-Abenteurer nach einer Welt, in der schlossen und verzehrte in den Weiten der bikes um die Welt. Sie hatten ihre Jobs Nervenkitzel und Naturerlebnisse locken. Sahara „das beste Brot, das ich je in mei- gekündigt; nach 45000 strapaziösen Kilo- Der Tod der jungen Leute in der Schweiz nem Leben gegessen habe“. metern durch 28 Länder kehrten sie in den wäre vielleicht vermeidbar gewesen. Ein Die meisten brechen für ein paar Wo- Breisgau zurück. Feuerwehrmann aus Wilderswil sei extra chen aus, andere, wie Klaus Sparwasser, 41, Heide und Erich Wilts, beide 57, hatten zur Schlucht gegangen, um die Gruppe an- für länger. Der Biologe aus dem hessischen vor acht Jahren genug Geld zurückge- gesichts des drohenden Gewitters zu war- Eppstein steckte rund 100000 Mark in ei- legt, um endgültig auszubrechen. Mit ihrer nen, gab Feuerwehrkommandant Markus nen ausgedienten Bundeswehr-Unimog Stahljacht „Freydis“ segeln sie seither um Gerber zu Protokoll. Die Führer schlugen und rüstete ihn zu einem Allrad-Wohn- die Welt. Sie verloren die Lust am Segeln wohl auch eine Warnung des Bauern Mar- mobil um. Mit Lebensgefährtin Andrea selbst dann nicht, als sie am Südpol stran- tin Seematter in den Wind. Heumann, 40, einer Apothekerin, will sich deten und monatelang bei Außentempera- Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Sparwasser „ein, zwei Jahre lang“ einen turen von minus 30 Grad in einer Schutz- die fünf überlebenden Führer wegen des Lebenstraum erfüllen und die letzten frei hütte ausharren mussten. Derzeit halten der Verdachts der fahrlässigen Tötung. Gerich- lebenden Populationen des Przewalski- frühere Geschäftsführer und die Ärztin aus te werden klären müssen, ob der Veran- Pferdes suchen – in der Mongolei. Cuxhaven Kurs auf die Inselwelt Mela- stalter Adventure World am Saxet-Bach Manche Abenteuerurlauber hoffen, als nesiens. möglicherweise „die Sicherheit für den veränderte Menschen in die gewohnte Um- Die Sehnsucht nach dem wilden Leben Profit“ geopfert hat, wie der neuseeländi- gebung zurückzukehren. Auch der CDU- sei „ein Mega-Trend“, sagt Remo Masala, sche Canyoning-Führer David Erikson Politiker Heiner Geißler, in seiner Freizeit Direktor der LTU-Touristik, die Entwick-

der spiegel 31/1999 95 se, im Jahr 2010 werde, glaubt der Ham- burger Freizeitforscher Horst Opaschow- ski, beinahe jeder dritte im Jahresurlaub nach irgendeiner Art Thrill suchen. Die Tou- rismusindustrie werde sich, so der Soziolo- ge, zu einer „Erlebnisindustrie entwickeln, die Freiheit von der Stange verkauft“. „Im Urlaub faulenzen will heute kaum noch jemand“, sagt Hauser-Exkursionen- Chef Manfred Häupl. Der Abenteuertrend habe sogar „die klassische Bildungsreise, den Trümmer-Tourismus, abgelöst“, meint Daniel Kraus, Geschäftsführer von Wikin- ger-Reisen. Es sind meist keine Zivilisationsdeserteu- re, die sich da, fast immer im Schutz von Gruppen, auf den Weg in die Natur machen. Mit Lehrern, Hausfrauen, einem Werkzeug- macher, einem Steinmetzmeister, einer Heb- amme, einem Zahntechniker, einem Bau- unternehmer und einem Fabrikanten schlug sich der Leimener Roland Kiemle, 62, ver- gangenes Jahr durch die Wildnis Alaskas. Die Deutschen übernachteten in Zelten, brachten ihren Proviant nachts in Bäumen vor Grizzlys in Sicherheit und lebten drei Wochen fern der Zivilisation. Manch einer hatte „noch nie eine Axt in der Hand“, sagt Kiemle, Chef der Adventure Com- pany. Bei ihm lernten die Reisenden, wie sie bei Regen Feuer machen können – und dass Birkenrinde dafür am besten geeignet ist. Abends, so Kiemle, ein Pionier des Abenteuertourismus, „legen sich die Leu- te zufrieden in ihren Schlafsack“. Die scheinbare Gefahrlosigkeit in der westlichen Welt, glaubt Hans Hartmann, Psychologie-Professor in Augsburg, gebäre einen „Erlebniswahn“ und treibe die Men- schen dazu, „Gefahren zu provozieren und lustvoll ganz überflüssige Strapazen auf sich zu nehmen“.

FOTOS: M. PINN FOTOS: Der Kick wird überall gesucht. In den Al- Gleitschirmflieger Pinn* pen lassen sich jährlich rund 100000 Frau- Linkskurve zum Elternhaus en und Männer in Schlauchbooten von reißenden Flüssen durchschütteln. Tausen- lung dieses Marktsegmentes sei „nach de werfen sich beim Bungee-Jumping vom oben offen“. Hamburger Fernsehturm oder von öster- Fast 100 000 Urlauber haben in dieser reichischen Staumauern, hunderte kraxeln Saison Erlebnisreisen aus dem Necker- mit bloßen Händen als Freeclimber durchs mann „Young & Sports“-Katalog des Bran- sächsische Elbsandsteingebirge. chenmultis C&N Touristik gebucht. Rund Ihre Anfänge hatte die professionell or- 30000 Deutsche suchen mit der LTU-Toch- ganisierte Jagd nach dem Thrill jenseits des ter Marlboro Reisen ihr Abenteuer in den Atlantiks. In den Vereinigten Staaten wer- USA, in Kanada oder Australien; vor drei den die Barrieren festgelegt, die überwin- Jahren waren es erst knapp 5000. reise-Veranstalter des Deutschen Alpen- den muss, wer Anerkennung in der Ge- Unter der Kuratel von Wikinger-Reisen vereins, Gipfel dieser Welt. 7000 Abenteu- meinde der Extrem- und Funsportler ge- pirschen in dieser Saison rund 20000 Ur- rer lassen sich von Bergführern des Unter- winnen will. lauber durch unwegsames Gelände. Allein nehmens Hauser Exkursionen auf Trek- Noch vor ein paar Jahren galt der Tri- in Ecuador, Südafrika und Nepal wollen king-Routen geleiten, die meisten in Nepal athlon von Hawaii als das Spitzenereignis dieses Jahr 5000 Deutsche, geführt von Wi- und Tibet. des Massenmartyriums. Wer an einem Tag kinger-Guides, mit der Natur und sich Das Geschäft floriert nicht nur bei den 3,8 Kilometer schwimmen, 180 Kilometer selbst kämpfen. Großen der Branche. In ihrem Schatten hat radeln und bei 32 Grad im Schatten einen 12604 Frauen und Männer, 15 Prozent sich in Deutschland ein Netz von rund 500 Marathonlauf überstehen kann, wird zum mehr als 1997, erklommen im vergange- Kleinveranstaltern etabliert, bei denen in- „Ironman“ – auch viele Deutsche geben nen Jahr mit dem Summit Club, dem Berg- zwischen jährlich weit über 100000 Deut- Jahr für Jahr ihren Urlaub dafür her. sche Erlebnisreisen buchen. Inzwischen haben aber andere Heraus- * Vor dem Flug vom Omu Di Cagna auf Korsika; am Süd- 1990 wagte sich nicht einmal jeder zehn- forderungen die oberen Plätze in der Hier- gipfel des Mount Everest. te deutsche Tourist auf eine Abenteuerrei- archie der Plackereien errungen. Das „Fur-

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reichlich Trainingsangebote: Karl-Josef Metzmacher etwa, ein Experte mit 16 Jahren Er- fahrung an den eisigen Polkap- pen, veranstaltet „Arktische Seminare“, deren Lerninhalte auch in den Schnee- und Eis- höllen des Himalayas hilfreich sein können. Die Teilnehmer entscheiden, ob sie bei den

FOTOS: E. WILTS FOTOS: Metzmachers „im Kühl- oder Expeditionsjacht „Freydis“, Segler-Ehepaar Wilts*: Überleben bei minus 30 Grad Gefrierhaus, in der freien Na- tur oder im Bett“ nächtigen. nace Creek“-Rennen, eine 508-Meilen- 3000 bis 4000 Mark, die in Massen Auch den Spezialausrüstern bescheren Schinderei per Fahrrad mit Start in Kali- einen Pauschalurlaub mit „Erlebnisbau- die Abenteuereisenden zweistellige Zu- fornien, gilt als Meilenstein des modernen steinen“ buchen. „Die haben einen Ten- wachsraten. Die Hamburger Firma Globe- Freizeitmasochismus. nislehrer gehabt, Squash gespielt, sich ir- trotter, mit 200000 Versandkunden und 90 Hoch im Kurs steht in den USA auch eine gendwann Rollerblades gekauft und wollen Millionen Mark Jahresumsatz Marktführer andere Variante der Torturen: Base-Jum- jetzt einen neuen Kick“, sagt Masala. in Europa, verkaufte im vergangenen Jahr ping, der Sprung von Brücken und Felsen Die Sehnsucht danach befällt erlebnis- rund 1000 Satelliten-Navigationsgeräte, vor mit der Hoffnung, dass sich der Fallschirm hungrige Deutsche auch daheim. Rund 1000 fünf Jahren waren es gerade 10. zeitig öffne. „Verletzte gibt es fast nie, nur Abenteuerprofis ziehen mit ihren Dia-Pro- Globetrotter-Mitinhaber Klaus Denart, Tote“, sagt Base-Jumper Frank Garnbalie, jektoren durch die Säle und Hallen der Re- 56, erregte 1963 Aufsehen, als er in einem der schon hunderte von Sprüngen überlebt publik. Die erstklassige fotografische Aus- Sarg den Nil hinabpaddelte. Heute erfreut hat. 1997 starben 39 Springer. Jedweden Ex- beute von 63 Afrika-Reisen zeigte der ihn, dass die Globetrottergemeinde pro tremsport hält Psychologe Hartmann für ei- Münchner Motorrad-Abenteurer Michael Jahr allein bei ihm 50000 Packungen Astro- nen modernen Initiationsritus der Jugend, Martin, 35, in den vergangenen Monaten nautennahrung ordert, für insgesamt aber auch für „Vergewisserungsrituale ver- bundesweit mehr als 70000 Zuschauern. 400000 Mark. unsicherter Erwachsener“. Martin macht einen Jahresumsatz von deut- Selbst brave Destinationen wie das „Die Reise aus der Warenwelt“, analy- lich mehr als einer Million Mark – den Erlös Billigurlaubsland Türkei oder die Domini- siert der Schriftsteller Hans Magnus En- seines mit 30000 Exemplaren bestverkauften kanische Republik mühen sich, mit Aben- zensberger, sei „ihrerseits zur Ware Afrika-Bildbandes nicht eingerechnet. teuerangeboten ihr Image zu verändern. geworden“. Die Tourismusindustrie pro- Wer sich nicht nur mit Dias oder Büchern Auf Mallorca, einst Metapher für den duziere das Konsumgut Freiheit nach aufs Abenteuer vorbereiten will, findet gar zweiwöchigen Spießerurlaub mit Brat- Maßgabe industrieller Logik – wurst, verspricht TUI „wilde Aben- „durch Normung, Montage und teuer“ etwa beim Herabseilen in Serienfertigung“. engen Schluchten und bei einer So servieren Tourismusfabriken „Cavingtour“ durch dunkle Tropf- das Abenteuer oft in mundgerechten steinhöhlen. Da mag LTU nicht Häppchen, die sie „Erlebnisbaustei- nachstehen. Das Reiseunternehmen ne“ getauft haben. Wem der Mut kreierte „Turkey Action“ und testet fehlt, dem wird die Herausforderung erstmals in dieser Saison, ob Türkei- stückweise offeriert. Alle Abenteu- Urlauber Spaß an Rafting oder Jeep erangebote müssten, so LTU-Direk- fahren finden. tor Masala, „auf einen Tag herun- Dabei sind selbst derartige An- tergefahren werden können“. gestellten-Abenteuer keineswegs Es sind nach Einschätzung der immer ungefährlich. Schon schein- LTU vor allem Besserverdienende bar harmloses Trekking in den un- zwischen 20 und 35 Jahren mit mo- teren Höhenregionen des Himalaya natlichen Nettoeinkommen von kann unangenehm werden. Gerade noch rechtzeitig landete ein He-

* In einer argentinischen Forschungsstation am BONGARTS likopter im Frühjahr vergangenen Südpol. Trekking (in den USA): Exotisch, aber wie zu Hause Jahres in 3200 Meter Höhe auf ei-

der spiegel 31/1999 97 FOTOS: M. MARTIN / LOOK M. MARTIN FOTOS: Afrika-Abenteurer Martin (in der Ténéré-Wüste): Eine Million Mark Umsatz mit Diashows

die Touristen aus den Industrieländern wa- deutung für Abenteurer. Erste Adresse ist ren es leid, sich auf Plumpsklos zu hocken. der „Treffpunkt“ der Deutschen Zentrale Wie zu Hause soll es weitab der Heimat für Globetrotter (http://www.dzg.com). sein, aber doch exotisch, „zugleich zu- Eine Christina, 23, aus Bremen, sucht da gänglich und unzugänglich, zivilisations- beispielsweise Reisepartner für Neusee- fern und komfortabel“ (Enzensberger). land. Jemand anderes erbittet „News von Viele deutsche Urlauber seien tagsüber Tinu und Daniella, die irgendwo zwischen auf der Suche nach einem Abenteuer „wie Australien, Indien und Pakistan unterwegs nem nepalesischen Trekkingpfad, um eine weiland Robinson Crusoe“, sagt ein Tou- sind“. höhenkranke junge Norddeutsche zu ber- rismusexperte.Am Abend aber wollten sie „Was treibt den Menschen in Regionen, gen. Zum Preis von 2500 US-Dollar flog er „nun mal nicht Freitag treffen, sondern ei- in denen er sich den Hintern abfriert, wenn sie ins Spital von Katmandu. Der deutsche nen Ober, der ihnen Pasta serviert wie zu er sich beim Stuhlgang nicht beeilt?“, frag- Reiseveranstalter hatte seine Guides nicht Hause beim Italiener um die Ecke“. te sich Expeditionsleiter Michael Vogeley, mit Funkgeräten ausstatten wollen – ein Nur Kopfschütteln löst solches Treiben 54, als er im vergangenen Jahr die erste Sherpa musste stundenlang laufen, bevor unter denen aus, die sich, wohl zu Recht, Nordpol-Skiexpedition des Deutschen Al- er vom nächsten Funkposten aus Hilfe ru- als wahre Abenteurer fühlen. Bierdosen penvereins zum Erfolg führte. fen konnte. im Kühlschrank sind der einzige Luxus, Ein pensionierter Eisenbahner, ein Eher für Heiterkeit sorgte unter deut- den sich die Segler Ute, 44, und Arwid Mar- Holzunternehmer, der Produktionsleiter schen Abenteuerführern das Ungemach, das tinkat, 59, aus dem niedersächsischen We- eines Optik-Fabrikanten, ein Gärtner, ein einem etwas genierlichen deutschen Kanu- demark leisten, wenn sie mit ihrem Kata- Malermeister und ein Apotheker hatten je- ten in Kanada am Yukon widerfuhr – ob- maran von Sansibar aus in See stechen, weils 15000 Mark bezahlt und waren dabei, wohl es böse hätte ausgehen können. Der um kleine Inseln im Indischen Ozean an- um sich im Urlaub durch das „Labyrinth Zahnarzt aus Nordrhein-Westfalen wollte zulaufen. gefrorenen Irrsinns“ (Vogeley) zu schin- seine Notdurft nicht in Sichtweite seiner Immer wieder arbeiten sie zwei, drei den. Die Gruppe war sich nach den Wor- Reisegruppe verrichten und suchte einen Jahre lang in der Umgebung von Hannover ten ihres Führers am Schluss darin einig, wirklich stillen Ort. Erst drei Tage später als Handwerker, ehe sie für längere Zeit „dass es glücklich macht, etwas zu tun, was fand die Besatzung eines Rettungshub- aussteigen, um die Welt kennen zu lernen. vorher nur wenige aus eigener Kraft ge- schraubers den hoffnungslos Verirrten. Im kommenden Frühjahr wollen die Mar- schafft haben“. Carsten Holm Viele der „Soft-Adventouristen“ (Bran- tinkats sich auf den Weg in chenjargon) verzichten freilich nur ungern den Pazifik machen und auf heimischen Komfort. Sie nölen, wenn zurückkommen, „wenn das sie in ihrer Lodge am Everest in einem Geld alle ist“. 25000 Mark sol- Sonnenstrahl das filigrane Muster eines len für zwei Jahre reichen. Spinnennetzes entdecken, sie stöhnen auf, 5000 Hochseeskipper sind wenn auf dem Jomoson-Trekk am nepale- inzwischen schon im Cuxha- sischen Annapurna-Massiv auf 3000 Meter vener Verein „Trans Ocean“ Höhe die Solaranlage ihrer Lodge ausfällt zusammengeschlossen, einer und am Morgen kein warmes Wasser aus Organisation, die sich vor al- der Dusche fließt. lem um Weltumsegler küm- Seltsam mag auf die Einheimischen jener mert. Monat für Monat treten Zug von Maultieren gewirkt haben, der vor 40 bis 60 weitere Segler bei. Jahresfrist bis ins knapp 2000 Meter hoch Allein 1998 kamen 21 von ei- gelegene Himalaya-Dorf Gandrung führte. ner Weltumseglung zurück.

Über und über waren die Lasttiere mit Zunehmend gewinnt auch R. HOFFMANN Kloschüsseln westlicher Bauart bepackt – das World Wide Web an Be- Sahara-Reisender Blüm: Zwei Wochen auf Kamelen

98 der spiegel 31/1999 Werbeseite

Werbeseite MROTZKOWSKI Teilnehmer bei der Blade Night in Berlin: Sternfahrt für das Verkehrsmittel des neuen Jahrtausends

SKATING „Die Straße gehört uns“ Inline-Skates sind die erfolgreichste Innovation der Sportartikelindustrie im ausgehenden Jahrtausend. 50 Millionen genießen weltweit die Freiheit auf Rollen. Weil die Straße für sie jedoch bislang tabu ist, kämpfen die Rollschuhfans um die Gleichstellung mit den Radfahrern.

ür den jungen Mann im „Superman“- Es ist „Blade Night“ in auch eine politische Kund- Pulli geht an diesem Berliner Som- Berlin-Mitte. Jeden zweiten gebung. Fmerabend ein Traum in Erfüllung. Ro- Mittwoch startet vor dem Denn dass die Blade ger, 23, fährt Slalom auf dem Mittelstreifen S-Bahnhof Tiergarten die- Night als Demonstration der Straße des 17. Juni und trinkt dabei se Stadtrundfahrt der be- angekündigt wird, dient Beck’s Bier aus der Dose. sonderen Art: Auf einer po- nicht nur als Trick, um die „Mein drittes“, triumphiert der Student lizeilich abgesperrten Rou- Straße autofrei zu bekom- aus Braunschweig und prostet zwei Polizis- te rollt die Gemeinde der men. Sie hat wirklich einen ten zu, die am Straßenrand stehen. Da Inline-Skater vorbei am verkehrspolitischen Impe- plötzlich klingelt sein Handy. Die Freundin Reichstag, am Roten Rat- tus: Die Inline-Skater sehen ist dran. „Eine Super-Fete“, berichtet Ro- haus entlang und durchs ihr Sportgerät als das alter- ger und hält das Gerät in die Luft, damit Brandenburger Tor. Punkt native Fortbewegungsmit- die Liebste daheim einen akustischen Ein- 21 Uhr wird gestartet, an- tel der mobilen Gesell- druck bekommt. derthalb Stunden später ist schaft des neuen Jahrtau- Gleich hinter Roger folgt ein Gleichge- der sommerliche Spuk vor- sends.

sinnter, der einen Kinderwagen vor sich bei; zuletzt kamen 20 000 BERLIN PRESS Auf Rollen ins neue Mil- her schiebt. Er hat einen mächtigen Ghet- zur Sternfahrt durchs Re- Skater-Happening Blade Night lennium. Damit ist der vor- toblaster auf das Gefährt geladen, aus den gierungsviertel. läufige Höhepunkt einer Lautsprechern dröhnt Techno. Neben ihm Die Rollschuhsause im Zentrum der Entwicklung erreicht, die so nicht abzuse- drehen vier Damen in kurzen Radlerhosen Macht, die in dieser Woche bereits zum hen war.Wann immer Trendsportarten aus und knallgelben Tops Pirouetten und krei- 21. Mal steigt, dient vielen Zwecken: Sie ist Amerika nach Europa schwappten, war auf schen die Parole der Party in die Nacht: heiteres Feierabendhobby, die Leistungs- eines Verlass: Ob City-Roller, BMX-Rad „Die Straße gehört uns.“ schau einer Sportbewegung, sie ist aber oder Snakeboard – nach einem kurzen

100 der spiegel 31/1999 Sport R. RAY / GAMMA STUDIO X R. RAY H. SYKES Inline-Skate-Veranstaltungen in Paris, in Eastbourne: „Bei uns geht es nicht um Friede, Freude, Eierkuchen“

Zwischenhoch verschwanden die Spaß- magazine wie „Inline“, die „Off-Road- Dienstschluss nutzen. In ihrer Bewegungs- gefährte stets in der Versenkung. Skates mit Stollenreifen und Federung“ freiheit fühlt sich diese Gruppe stark ein- Auch die Einführung der Ur-Inline- testen oder Skate-Reisen entlang der geschränkt. Denn rein rechtlich gelten In- Skates verlief nicht gerade zukunftswei- Asphaltpisten Venezuelas anbieten: „Als line-Skates als Spielzeug oder Sportgerät. send. Als 1760 der Belgier John Josef Mer- mythenumrankt galt diese Straße schon, In der Straßenverkehrsordnung werden lin am englischen Hof seine Erfindung als sie noch ein Feldweg war.“ In speziel- ihre Benutzer als Fußgänger eingestuft – präsentierte, geriet die Premiere des Holz- len Skate-Schulen wird, ähnlich wie beim und gehören somit auf den Gehweg. schuhs mit Metallrollen zum Debakel. Der Unterricht für Autofahrer, die fachgerech- Das soll nun anders werden. Weltweit Tüftler rauschte in einen Spiegel. te Bedienung in Theorie und Praxis ge- streiten neuerdings Skater für ihr Recht In Fahrt kam das Fußvehikel erst wieder lehrt; in Nordrhein-Westfalen steht Inline- auf die Straße. Vorbild ist New York, wo 1980, als die Eishockeyspieler Scott und Skaten bereits auf dem Lehrplan. Rollschuhfahrer längst zu Teilnehmern im Brennan Olsen aus Minnesota einfach Rol- Zum Siegeszug verhalf dem Wunder- Straßenverkehr gehören. len an die Kufen ihrer Schlittschuhe schuhwerk vor allem die Nutzbarkeit In Paris skaten jede Woche 20000 Men- schraubten, um im Sommer auf Asphalt für Jung und Alt. Die Hamburger Inline- schen, begleitet von Polizisten auf Inlinern, trainieren zu können. Die Firma Roller- Skate-Schule, mit 46 000 Absolventen durch die Innenstadt: Zum „City-Run“ blade, mittlerweile Marktführer, kaufte die die größte in Deutschland, bietet einen vorbei am Eiffelturm reisen mittlerweile Idee und landete damit auf dem Rummel- Kurs „Fit ab 50“ an. Wettkampforientierte Gesinnungsgenossen aus ganz Europa an. platz der Trendsportarten einen Coup. Zeitgenossen können sich beim Skate- In Barcelona kurvten unlängst Radler und Der Asphaltschlittschuh, dessen Berei- Marathon oder Speed-Skaten entfalten, Skater gemeinsam über die Ramblas. Ver- fung im Gegensatz zum Rollschuh nicht wo Spitzengeschwindigkeiten bis zu gangene Woche versammelten sich 7000 parallel, sondern in Reihe angeordnet ist, 60 Stundenkilometer erreicht werden. Rollschuhfans zu einem Happening im eng- hat einen weltweiten Boom ausgelöst. In Auch der Hang nach Weltrekorden, deut- lischen Eastbourne. den USA tummeln sich 24 Millionen Ska- liches Indiz für überbordenden Fanatis- Die Blade Night in Berlin ist der ter auf den Straßen, weltweit wird ihre mus, hat die Inline-Branche erreicht: deutsche Beitrag im globalen Kampf um Zahl auf über 50 Millionen geschätzt.Auch Mathias Lillge aus Bad Freienwalde legte die Freiheit auf Rollen. Anfänglich sorgte in Deutschland ist der Sport bereits fester jüngst 1000 Kilometer binnen 89 Stunden der Aufmarsch in der Demo-Hochburg – Bestandteil der modernen Freizeitgesell- und 13 Minuten zurück. Berlin bringt es auf rund 2000 Ver- schaft. 10 Millionen schnüren das rasante Als Sonderform hat sich bei Jugendli- sammlungen pro Jahr – für Irritationen. Schuhwerk, womit die Anhängerschaft chen „Aggressiv-Skating“ etabliert. Mat- Den 30 Teilnehmern bei der ersten Blade größer ist als jene der in Vereinen organi- thias, 21, Kampfname „Psycho“, hat es in Night im Juni 1998 begegnete die kra- sierten Fußballer (6,3 Millionen). dieser Szene, die sich am liebsten in wallgeschädigte Hauptstadt-Polizei mit Der Sportartikelbranche haben die Stie- schlabbrige Klamotten hüllt und HipHop vergitterten Mannschaftsbussen und in fel zu neuem Schwung verholfen. 3,2 Mil- hört, schon zu etwas gebracht.Viermal pro Kampfmontur. lionen Paar Skates – Preis zwischen 150 Woche wirbelt er im Hamburger „Skate- Zwischenzeitlich geriet das Schaulaufen und 1500 Mark – wurden in Deutschland land“, einem Abenteuerspielplatz für Inli- der Skater dann zum Politikum. Verkehrs- vergangenes Jahr verkauft. Die Umsätze ne-Draufgänger, über Rampen meterhoch senator Jürgen Klemann wollte die übertreffen die von Golf- oder Tennis- durch die Luft oder rotiert in der Halfpipe. „Spaßveranstaltung“, die regelmäßig den schlägern bei weitem. Unter Jugendlichen Sieben Finger sowie das Wadenbein brach Verkehr in Berlin-Mitte zum Erliegen rangiert Inline-Skating in der Beliebtheit sich der Profiskater bislang. Aber egal: bringt, schlicht verbieten. Der Christ- hinter Basketball, Fußball und Beach- „Hauptsache Hardcore.“ demokrat kollidierte allerdings mit der volleyball bereits auf Rang vier. Mit 85 Prozent stellen allerdings jene Verfassung der Bundesrepublik Deutsch- Und das alles ohne die Schirmherrschaft Skater die Mehrheit, die ihre Inliner als land: Jede Blade Night ist als Kundgebung des deutschen Vereinswesens. Für die nöti- Fortbewegungsmittel ins Büro, zur Uni angemeldet – womit die Skater, ebenso ge Infrastruktur sorgen stattdessen Fach- oder zum entspannten Ausflug nach wie die Initiatoren der „Love-Parade“, nur

der spiegel 31/1999 101 Werbeseite

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Werbeseite Sport ihr Recht auf Versammlungsfreiheit aus- schöpfen. Den Vergleich mit der alljährlichen Tech- FUSSBALL no-Party hält Blade-Night-Begründer Jan- Philipp Sexauer, 32, indes für unange- bracht: „Bei uns geht es nämlich nicht um Im auswärtigen Dienst Friede, Freude, Eierkuchen.“ Ziel von Rechtsanwalt Sexauer ist die Gleichstel- Mit dem Ausscheiden beim Confederations Cup geriet die lung der „Inliner mit dem Fahrrad“. Nun ist der Jurist auf dem besten Weg, Haupt- Mexiko-Reise der Nationalelf zur schmerzhaften Standortbestim- feind teutonischer Autofahrer zu werden. mung. Der einzige Gewinner des Trips heißt Michael Preetz. Beim ADAC beobachtet man die Akti- vitäten der Skater mit zunehmender Be- uf dem Mannschaftstisch stand mutierte der Teamchef nach Beobachtung klemmung. Bislang setzt der Interessen- nichts als eine angebrochene Fla- der „Frankfurter Allgemeinen“ vorige Wo- vertreter hiesiger Kraftfahrer noch auf Asche brauner Tequila. Eingerahmt che vom Optimisten zum „Besserwisser“. „Konsultation“. Im Schulterschluss mit von einer Pappkulisse, die ein mexikani- Zwei Teams hatte der Deutsche Fußball- dem Inline-Hersteller K 2 und der Shell sches Bergdorf darstellen sollte, hatte sich Bund zur mexikanischen Goodwill-Tour AG bietet der Automobil-Club seit April in im Ballsaal des Hotels Presidente Inter- aufgeboten – das eine sollte auf dem Rasen „Skate-Colleges“ sogar Inline-Training an. Continental eine offenbar kränkelnde um Sympathien werben, das andere, eine Sollten sich die Attacken auf die freie Fahrt deutsche Fußballauswahl um das narkoti- stattliche Ansammlung von Altstars und für deutsche Autofahrer jedoch ausweiten, sierende Hausmittel versammelt – passen- Funktionären, auf diplomatischem Parkett. werde man sich „massiv dagegen wehren“, derweise vor der Apotheke. Der Ausflug war von geringem Erfolg ge- sagt ein ADAC-Sprecher. krönt. Nur einer über- Für Horst Hahn-Klöckner, Bundesge- zeugte gleich in beiden schäftsführer des Allgemeinen Deutschen Mannschaften dieses aus- Fahrrad-Clubs und großer Fürsprecher der wärtigen Dienstes: Micha- Skate-Bewegung, ist das nichts weiter als el Preetz, 31, Mittelstürmer das Pfeifen im Wald. Spätestens mit der von Hertha BSC Berlin. Ausweitung von Tempo 30 in Städten – im- Als Ribbeck, ungewohnt merhin Zielvorgabe der Bundesregierung – dünnhäutig, den Zusam- würden für Skater die Straßen frei: „Da menhang zwischen deut- kann sich die Autolobby wehren, so lange schen Vereinsinteressen sie will.“ und dem Trainingsrück- Die Zukunft der Inliner als Verkehrs- stand seiner Nationalspie- teilnehmer hat Volker Nagel, Dozent an ler referierte, sprach der der Universität Hamburg, erforscht. Die Coach von oben herab: Frage „Bahn frei für Skater?“ beantwortet „Jetzt schön langsam zum er in einem „sportwissenschaftlichen Plä- Mitschreiben.“ Als Preetz doyer“ mit: „Jein.“ Nagel hält die Freiga- nach der physischen Un- be der Straßen aus Sicherheitsgründen pässlichkeit gefragt wurde, noch für bedenklich. Geschätzte 500 Mil- wählte er mit simpler Logik lionen Mark bezahlten die Krankenkassen einen Quervergleich aus 1998 für die Behandlung havarierter Skater. dem Bundesliga-Alltag: Andererseits sieht der Sportwissenschaft- Neulich hätten seine Kolle-

ler den schnellen Schuh – abgasfrei, leise, GES gen von der Berliner Her- parkplatzunabhängig – durchaus als „idea- Deutsches Fußball-Fiasko*: „Schön langsam zum Mitschreiben“ tha ein Testspiel gegen den les Nahverkehrsmittel“. Notwendig wäre Regionalligaclub Wacker zunächst jedoch eine „Sensibilisierung der Links von der Fassade mit dem Schild Burghausen verloren – der Trainingsaufbau Autofahrer“ für die künftigen Nachbarn an „Farmacia“ wartete Teamchef Erich Rib- sei halt auf den Bundesligastart am 13. Au- der Ampel. beck auf das bestellte Fassbier deutscher gust programmiert. Erste Anzeichen für diesen Prozess gibt Brauart und fragte ungeduldig in die Run- Und selbst das Rätsel, warum der es schon. In einem Urteil des Oberlandes- de: „Gibt’s hier eigentlich auch was zu es- Teamchef seine Not vor Reisebeginn nicht gerichts in Karlsruhe werden Autofahrer sen, oder was?“ offen kundgetan hatte, wusste Preetz plau- erstmals aufgefordert, „besondere Rück- Die Bayer AG, Förderin der deutschen sibel zu begründen: „Wenn er vorher schon sicht“ auf Skater zu nehmen. In Frankfurt Bewerbung um die Weltmeisterschaft 2006, sagt, wir sind nicht fit und kriegen nur auf wurde im Zuge eines Modellversuchs eine hatte in Guadalajara eingeladen. Der DFB- die Ohren, dann fragt jeder: Wie kann der Tempo-30-Zone für Skater freigegeben. In Delegation bereitete ihr diplomatischer die Mannschaft noch motivieren?“ Bremerhaven und Hamburg hat sich die Auftrag auch auf dieser Bühne erkennba- Außendarstellung ist das Spezialgebiet Polizei bereits auf die neuen Verkehrsteil- re Mühe. des in der vorigen Saison mit 23 Toren treff- nehmer eingestellt: Hier patrouillieren Be- Das peinliche 0:4 beim Konföderatio- sichersten Bundesliga-Akteurs. Preetz, seit amte auf Inline-Skates. nen-Pokal gegen Brasilien, Deutschlands 1994 Vizepräsident der Vereinigung der Dass es bis zum endgültigen Durchbruch höchste Niederlage seit 45 Jahren, hatte Vertragsfußballspieler (VdV), vertritt „die noch dauern kann, mussten Blade-Night- Ribbeck seiner größten Stärken beraubt: Position, dass man am Umgang mit den Teilnehmer nach Abschluss ihrer letzten Eleganz und Eloquenz. Im vergangenen Medien arbeiten kann“. Das gelte für Na- Demo feststellen. Als einige mit der S-Bahn September angetreten, um die schlappe tionalspieler genauso wie für den gewöhn- nach Hause fahren wollten, wurden sie von Ware Nationalelf wortreich zu verkaufen, lichen Vereinsprofi, schließlich „leben wir Polizisten aufgefordert, die Skates auszu- im Zeitalter der Kommunikation“. Die ziehen. Die meisten traten den Heimweg * Evanilson und Mehmet Scholl beim 0:4 gegen Brasilien Clubs, rät der kickende Funktionär, sollten auf Socken an. Gerhard Pfeil am vorvergangenen Samstag in Guadalajara. Journalisten einladen und Schulungen ab-

104 der spiegel 31/1999 FOTOS: A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN FOTOS: Torschütze Preetz (beim 2:0 gegen Neuseeland): „Der hält nicht nur den Kopf hin, der hat was drin“ halten, statt ihre Großverdiener zu pudern urlaub verbrachte er zwei in der Obhut tanz eines Trainers spricht („Sie war ein wie Bettlägerige: „Die Überversorgung“ des Fitmachers Bernd Restle. gleichwertiger Gegner“), spielt Preetz mit ist ihm ein Gräuel, wenn er sieht, dass Auch wenn Preetz es „etwas albern“ den Kameraden am Nachmittag Skat. deutsche Profis ohne Hilfe aus dem Club- fände, sich als Werbeträger für die WM Wie Oliver Bierhoff, mit dem AC Mai- sekretariat nicht im Stande sind, „ihren 2006 zu sehen: Der peinliche Eindruck, den land italienischer Meister geworden, gilt Personalausweis zu verlängern“. die Deutschen nach dem 0:2 gegen die der Sohn eines Kochs und einer Bank- Der gebürtige Düsseldorfer, dessen Vita USA und ihrem vorzeitigen Ausscheiden angestellten als Spätentwickler, dem die bis vor zwei Jahren bestenfalls der Titel am Samstagmorgen hinterließen, wäre Experten in den ersten zwei Dritteln der „Torschützenkönig der Zweiten Liga Süd wohl zu verhindern gewesen. Den mexi- Karriere die Voraussetzungen für die Erst- 1991/92“ aufhellte, avancierte im fernen kanischen Gastgebern kamen die Aussa- klassigkeit absprachen. „Diese Bierhoff- Mexiko sportlich zum Musterdeutschen. gen von Ribbeck und die Leistungen der Vergleichsnummer“ nervt ihn, obwohl man Im Match gegen Neuseeland, wo die Deut- Spieler vor, als würde ihre Veranstaltung die Stärken beider Stürmer in derselben schen selten die Schrittfrequenz des nicht recht gewürdigt. Region orten könnte. Der Berliner Team- Schiedsrichters überboten, schoss er das Der Kick war so müde, dass auch die kollege Sixten Veit fand heraus, dass erste Tor und gab die Vorlage zum zweiten. professionellen WM-Werber nichts mehr „Preetz nicht nur den Kopf hinhält, son- Dass die mangelnde Fitness, die Millio- zu retten vermochten. Franz Beckenbauer, dern was drin hat“. nen-Verdiener wie Jörg Heinrich bei jeder als Kampagnenchef der Initiator des Me- Unter Geschäften versteht Preetz etwas Gelegenheit entschuldigend anführen, bei xiko-Trips, musste sich von Weltverbands- anderes, als VIP-Tarife fürs Autoleasing Preetz nicht erkennbar ist, hat einen simp- präsident Sepp Blatter anhören, dass die auszuhandeln. Er wirbt für Immobilien- len Grund. Als Einziger hat sich der 1,92- Teilnahme am Confederations Cup „nichts anteile zur Altersvorsorge: „Das macht Meter-Mann auf die Mittelamerika-Mission mit der Kandidatur für 2006“ zu tun habe; Sinn“, findet er.Weiteren Werbeangeboten vorbereitet: Von vier Wochen Sommer- Karl-Heinz Rummenigge dribbelte ein biss- ist er aufgeschlossen, „die Ausweitung mei- chen mit den Kindern des vom DFB fi- ner Karriere auf den internationalen Be- nanzierten Waisenhauses von Querétaro, reich“ werde bei der Akquise helfen. was die mexikanischen Medien schlicht ig- Zielgerichtet wie im Strafraum plant norierten; Günter Netzer setzte sich nach Preetz sein zweites Berufsleben.An freien dem 0:4-Auftakt in den Urlaub ab; und Alt- Abenden in Mexiko übte er für seine Ab- star Rudi Völler brillierte bei den Honneurs schlussprüfung am Düsseldorfer Institut bloß als zwinkerndes Maskottchen und für Sport, Freizeit und Touristik. Den An- blieb weitgehend stumm. schlussvertrag für einen Posten im Hertha- Im sportiven Bereich der Delegation Management hat er mit Hinweisen auf An- hatte selbst Mannschafts-Doyen Lothar gebote „aus halb Europa“ erkämpft. Matthäus an Salonfähigkeit eingebüßt. Stets hat er irgendeinen späteren Nutzen Der weltläufige Franke weiß schon seit im Blick, auch dann, wenn er auf dem Ra- 1985, als er mit „Zumos Rache“ in Be- sen so viel rennt wie in Mexiko. Denn rührung gekommen sein will, dass man „wenn die anderen sehen, der wartet nicht „hier in Mexiko anders lebt, auch von der bloß vorne auf den Ball, dann kommt mir Hygiene her“. Doch als er am Morgen nach das auch innerhalb der Gruppe zugute“. Bayer-Empfang und anschließendem Dis- Dass es zwischen Akzeptanz unter co-Besuch dem Training fernblieb, dichtet Kollegen und Popularität unter Fußball- ihm das Blatt „El Occidental“ prompt fans zuweilen feine Unterschiede gibt, Allüren an: Nach „un par de aspirinas“ bekam Preetz in Guadalajara beim Besuch werde der „rastende Matthäus“ seine des Tanzlokals vorgeführt. Unvermittelt vermeintlichen Kniebeschwerden sicher unterbrach der Discjockey das Programm, kuriert haben. und auf die spanische Version von Während der künftige US-Profi bei Emp- Nenas „99 Luftballons“ folgte die Durch- Botschafter Beckenbauer (in Querétaro) fängen am Tisch der DFB-Funktionäre sitzt sage: „Wir begrüßen bei uns: Lothar Dribbeln mit Waisenkindern und über seine Elf schon wie aus der Dis- Matthäus!“ Jörg Kramer

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Werbeseite Panorama Ausland

NAHOST salem düpiert fühlt, sucht der Autono- über die Golanhöhen zurückstellen, bis mieführer den Schulterschluss mit sei- der von den Israelis im Wye-Abkommen nem Erzrivalen im arabischen Lager, Sy- zugesagte Truppenabzug aus dem West- Hilferufe nach riens Staatschef Hafis el-Assad, von dem jordanland erfolgt sei. Der Hilferuf es heißt, dass er sich vor Arafats Bruder- kommt Syrien gelegen. Assad misstraut küssen ekelt. Bei der Begegnung mit dem dem israelischen Premier, den er nach Damaskus Palästinenserpräsidenten am vergange- dessen Wahl im Mai noch als „ehrlich nen Dienstag hatte Barak von seinem und aufrichtig“ lobte. Über die syrische ufgrund der Vorstöße des neuen is- Gesprächspartner einen Aufschub des is- Staatspresse lässt er ihm nun „Haarspal- Araelischen Ministerpräsidenten Ehud raelischen Rückzugs aus dem Westjor- terei“ vorwerfen – wie einst der israeli- Barak zur Wiederbelebung des Friedens- danland verlangt.Arafat empfand das als sche Premier Jizchak Rabin will angeb- prozesses sieht sich Palästinenserpräsi- Zumutung und bat über einen Emissär lich auch Barak nicht über einen Rück- dent Jassir Arafat zu einer ungewohnten Damaskus um Beistand: Syrien solle die zug vom, sondern nur noch auf dem Go- Allianz genötigt: Weil er sich von Jeru- eigenen Verhandlungen mit Jerusalem lan verhandeln. Das aber ist für Assad unakzeptabel. Assad lässt die Zeitungen gegen Barak giften: Der wolle mit seinen Friedensbeteuerungen nur die ange- knacksten Beziehungen zu Washington verbessern, um Hilfsgelder und Waffen- lieferungen zu erhalten.

Israelische Panzer auf den Golanhöhen, Gesprächspartner Barak, Arafat AP (l.); AFP / DPA (r.) AP (l.); AFP / DPA

ITALIEN früheren Regierungen den Bausündern regelmäßig gegen eine Strafgebühr erteilt wurden, zuletzt vom Ministerpräsidenten Bagger gegen Schwarzbauten Silvio Berlusconi, werde es nicht mehr geben, das versicherte jetzt der zuständige Minister Enrico Micheli. Allenfalls alte, ie italienische Regierung will 232000 Wohnungen räumen kinderreiche oder kranke Mieter könnten einen begrenzten Dund abreißen lassen, die seit 1994 illegal gebaut wurden. Räumungsaufschub beantragen. Allen übrigen Bewohnern Dazu gehören luxuriöse Villen am Meer, riesige graue Hoch- würden ab August die Räumungsbescheide zugestellt. An- hausblöcke im Naturschutzgebiet und von der Mafia auf schließend sollen Bagger in Marsch gesetzt werden. Ackerland hochgezogene Siedlungen mit tausen- den von Einwohnern. In Tor San Lorenzo etwa, nicht weit von Rom, leben 20000 von 26000 Ein- wohnern illegal am gesetzlich geschützten Dünen- strand. In einem Großkomplex bei Caserta wurden nicht nur Hotel und Kirche wild gemauert, sondern sogar die Kaserne der Carabinieri. In Sizilien wur- den 600 Behausungen über Nacht ins antike Tal der Tempel gesetzt. Über 32 Millionen Quadratme- ter sind so in den vergangenen Jahren ohne Ge- nehmigung planiert und zementiert worden. Im- mobilien für knapp 30 Milliarden Mark wurden darauf gesetzt und häufig an die Mieter verkauft. Drei Viertel der Wild-West-Bauten stehen im Sü- den Italiens, vor allem in Kampanien und Apulien. Nachträgliche Baugenehmigungen, wie sie von

Illegal errichteter Wohnblock bei Neapel ROPI

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CIA wem die Fabrik gehört. Als sich der sau- di-arabische Besitzer Salah Idris – im fes- ten Glauben an ein Missverständnis – bei Blind gebombt der US-Regierung meldete, reagierte die- se mit dem Einfrieren seiner Konten. napp ein Jahr nachdem US-Präsident Grund: Verdacht auf terroristische Ver- KBill Clinton eine Fabrik im Sudan bindungen. bombardieren ließ, droht dem Geheim- Der Geschäftsmann engagierte ein Team dienst CIA erneut eine peinliche Panne: Washingtoner Spitzenanwälte, ehemali- Die vorgelegten Beweise gegen die phar- ger CIA-Mitarbeiter, einstiger Regierungs- mazeutische Anlage Shifa in Khartum angestellter und unabhängiger Labors und sind mehr als dürftig. Die CIA hatte nach klagte gegen die USA und die Bank of der Zerstörung behauptet, dass in Shifa America. Im Mai musste das Weiße Haus ein Vorprodukt für das Giftgas VX herge- einlenken. Idris wurde nicht mehr als Ter- stellt wurde. Außer- roristen-Anhänger verdächtigt, die 24 Mil- dem hätte die An- lionen Dollar auf seinen Konten wurden lage zum militärisch- freigegeben. Auf eine Entschuldigung industriellen Kom- wartete der Geschäftsmann vergebens. plex Sudans gezählt, Nun erwägt er eine Klage auf Entschädi- der vom Top-Terro- gung für die Fabrik, die er fünf Monate risten Ussama Ibn vor der Bombardierung für 30 Millionen Ladin, dem mut- Dollar gekauft hatte. Seine Chancen sind maßlichen Drahtzie- nicht schlecht: Denn die US-Regierung her der US-Bot- steht unter dem Verdacht des überstürz- Pharmazeutische Fabrik Shifa in Khartum nach schaftsanschläge in ten Handelns. Kenia und Tansania, Der Angriff erfolgte drei Tage nachdem hat die CIA als einziges Beweismittel le- finanziell unterstützt Clinton seiner Frau und der Nation seine diglich eine Bodenprobe vorgelegt, die werde. In Wahrheit Schürzenjägeraffäre mit der Praktikantin angeblich aus der Nähe des Werksgelän-

DPA wussten die Ameri- Monica Lewinsky gestand. Die Belege des des stammt. Die Erde enthält Spuren des Ibn Ladin kaner nicht einmal, US-Geheimdienstes sind dürftig: Bislang Nervengift-Bestandteils Empta. Ein Ex-

NATO Brüssel nicht interessiert. Daraufhin POLEN schlug Briten-Premier Tony Blair seinen Schotte wird Chef Verteidigungsminister vor. Vergangenen Nichts für Deutsche Freitag begrüßten die Botschafter des ls schottischer Bürger kämpfte er Bündnisses die Nominierung des 53- ehn Jahre nach der Wende hat sich Avehement für ein Verbot von Hand- jährigen Robertson für die Nachfolge ZPolens Regierung auf die Grund- feuerwaffen: George Robertson hatte des im Herbst scheidenden Spaniers Ja- prinzipien der Reprivatisierung geei- 1996 erlebt, wie ein Geistesgestörter in vier Solana. Der Berufspolitiker mit nigt. Nur polnische Staatsbürger, die seinem Wohnort Dunblane 16 Schulkin- dem schnarrenden schottischen Akzent zwischen 1944 und 1962 rechtswidrig der und deren Lehrerin erschoss. Als engagiert sich für eine eigenständigere enteignet worden waren, sollen entschä- britischer Verteidigungsminister gibt er europäische Verteidigungspolitik und für digt werden. Forderungen deutscher sich als Super-Falke: Gegen den „Kriegs- die deutsch-britische Freundschaft. Vertriebener werden damit ausgeschlos- verbrecher“ Milo∆eviƒ sen. Der Wert der damals konfiszierten hätte er am liebsten Bo- Immobilien wird auf 95 Milliarden dentruppen eingesetzt; Mark geschätzt. Die Regierung rechnet den Nato-Luftkrieg ge- mit rund 170000 Forderungen in einer gen Serbien verglich er Gesamthöhe bis 65 Milliarden Mark. mit Englands Kampf ge- Um den Haushalt nicht zu gefährden, gen Hitler-Deutschland. will sie aber nur 60 Prozent des tatsäch- Nun wird Robertson lichen Immobilienwertes erstatten. Häu- neuer Nato-Generalse- ser und Grundstücke, die sich heute im- kretär, weil der deut- mer noch im Besitz des Staates befin- sche Verteidigungsmini- den, werden zurückgegeben, für andere ster Rudolf Scharping Objekte Privatisierungsgutscheine aus- nicht zur Verfügung gestellt. Die Polnische Vereinigung der steht. Das hatte Kanzler Eigentümer von Immobilien lehnt dies Gerhard Schröder vori- ab und fordert zudem Wiedergutma- ge Woche US-Präsident chung für Nazi-Enteignungen, vor allem Bill Clinton mitgeteilt; für den Raub an jüdischem Besitz. In auch Scharpings Vor- New York haben elf ehemals in Polen

gänger Volker Rühe DPA lebende jüdische Immobilienbesitzer war an dem Job in Robertson im Kosovo den polnischen Staat bereits verklagt.

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RUSSLAND Spritmangel im Erdölreich usslands Autofahrer hatten sie Rschon vergessen – die zu Sowjet- Sommerzeiten mit ärgerlicher Regel- mäßigkeit ausbrechende Benzinkrise mit langen Blechschlangen vor allen Zapfsäulen. Doch in diesem Jahr kehrte die Plage ins erdölreiche Land zurück: Vor allem in den Südregionen winden sich kilometerlange Kolonnen um die Tankstellen. Im Schwarzmeer-Kurort Sotschi muss mittlerweile ein ganzer Arbeitstag an Wartezeit aufgewendet werden, um wenigstens eine halbe Tankfüllung zu erstehen. Im Stawropo- ler Gebiet warnen Behörden vor länge- ren Autoreisen ohne Reservekanister. Und das Wolgograder Bezirksparlament

FOTOS: AP dem Raketenangriff

pertenteam konnte später weder in der zugeben, dass er die Probe nicht etwa Fabrik-Ruine noch um sie herum die selbst genommen hatte, sondern von ei- Chemikalie feststellen, fand jedoch etli- nem ägyptischen Agenten zugespielt be- che Packungen des Schmerzmittels Ibu- kam. Die Nilrepublik ist ein erbitterter profen. Nun musste der Geheimdienst Feind des Militärregimes in Khartum.

BURKINA FASO Hort der Subversion

as Land ist bettelarm, militärisch unbedeutend und AP Dhat nur elf Millionen Einwohner. Dennoch beunru- Warteschlange an Tankstelle higt Burkina Faso (früher Obervolta) seine Nachbarn: Staatschef Blaise Compaoré, 48, unterhält zwielichtige forderte gar von Präsident Jelzin, die Verbindungen mit Oppositionellen und Rebellenführern. Benzinpreise einzufrieren und teilweise So finden Exilpolitiker wie Kongo-Brazzavilles gestürzter privatisierte Ölkonzerne wieder zu ver- Präsident Pascal Lissouba und Tuareg-Aufständische Auf- staatlichen. Denn die vernachlässigen nahme in der Hauptstadt Wagadugu. Jonas Savimbi, Boss heimische Kunden aus gutem kapitalis- der angolanischen Unita, fliegt hin und wieder ein, um tischem Grunde: Steigende Preise auf seinen in Burkina Faso lebenden Sohn zu besuchen und dem Weltmarkt ermöglichen jenseits Geschäfte abzuwickeln. Zwei Führer, die den Sahelstaat der russischen Grenzen höhere Profite, als Nachschubbasis für ihre Bewegung nutzen durften, beispielsweise in Moldawien und in der sind aufgestiegen: Charles Taylor, früher Milizenchef und Ukraine, wo für besseren Sprit bereits heute Präsident von Liberia, und Foday Sankoh, Chef der mehr als zwei Mark pro Liter gefordert blutrünstigen Guerrilla von Sierra Leone, der nach einem und gezahlt werden. In Moskau mit sei- Friedensabkommen vom Juli Partner in der Re- nem dichteren Tankstellennetz sind gierung seines Landes wird. Wegen seiner „Njet“-Schilder an Kassenhäuschen Verbindungen zu Regime-Gegnern schnei- noch selten, aber dafür steigen die Prei- den die Staatschefs etlicher se beinahe täglich um einige Kopeken MALI Nachbarländer zunehmend auf inzwischen durchschnittlich 70 den Burkina-Faso-Präsiden- Pfennig pro Liter, seit Mai eine Verteue- NIGER Wagadugu ten. Nigerianische Offiziere rung um das Eineinhalbfache. Regie- der westafrikanischen Ein- rungschef Sergej Stepaschin hat staatli- BURKINA FASO greiftruppe Ecomog, die in Li- che Intervention angekündigt – und beria und Sierra Leone ver- dafür prompt Beifall aus allen politi- ELFEN- BENIN suchte, Frieden zu schaffen, schen Lagern erhalten: Mit den Bürgern

BEIN- TOGO nennen Compaoré offen ei- Autofahrern möchte es im Wahljahr kei- GHANA KÜSTE nen Kriegstreiber. Präsident Compaoré ne Partei verderben.

A n 500km tlantischer Ozea der spiegel 31/1999 109 Gipfeltreffen in Sarajevo: Das Organigramm der Interessengemeinschaft Balkan ist so kompliziert wie ein elektronischer Schaltplan

BALKAN Diplomatie mit dem Brotkorb Der Stabilitätspakt soll Staaten der Balkan-Region, die zuletzt nur noch ihre sozialistische Vergangenheit verband, wieder zusammenschmieden. Die Idee stammt aus dem Westen, die Begeisterung im Osten ist gedämpft.

atürlich trinkt er Bier aus Sarajevo, Quadrat zu machen: den Balkan zur In Sarajevo ist Hombach nicht fehl am wenn er schon in Sarajevo ist, und blühenden Landschaft. Europas traditions- Platz. Nicht einmal im feinen silbergrauen Nnicht importiertes aus Budweis. reicher Schlachtstätte will er Frieden und Mercedes, der ihn am vergangenen Don- Auf diese Weise stärkt er sich und den bos- Wohlstand bringen helfen – einer Region, nerstag durch die notdürftig aufpolierte, nischen Standort. Natürlich ist er nicht die vom Alpen-Südrand bis fast zur Ägäis von einer Armada aus 20000 Sicherheits- müde, trotz eines 18-Stunden-Tags. Weit und von der Adria bis zum Schwarzen kräften abgeriegelte bosnische Hauptstadt nach Mitternacht noch sitzt er taufrisch in Meer reicht. in Richtung Gipfeltreffen gleiten lässt. der Bar des Grand Hotels und Denn kaum etwas von singt das Hohelied der Balka- dem, was der Krieg hier an- nesen – Bodo Hombach, gerichtet hat, ist dem Nord- Deutschlands Kanzleramts- rhein-Westfalen wesensfremd minister a. D. Kaum hat er – kaputte Telefonleitungen, sein neues Amt angetreten, zerrissene Familien, ruinier- als EU-Sonderkoordinator für te Volkswirtschaft. Alles ge- den Stabilitätspakt in Süd- habt. Hombach ist gelernter osteuropa, schon läuft das Fernmeldehandwerker, gra- hier wie geschmiert. Findet duierter Sozialarbeiter und Hombach. Autor eines Werks namens Ende Juni unter tätiger Mit- „Die Zukunft der Arbeit“. wirkung von Bundeskanzler Wo er hinblickt, sieht er Auf- Gerhard Schröder und mit gaben, nicht Hindernisse. dem Segen der westlichen Als zur Eröffnung des Gip- Wertegemeinschaft installiert, fels in Sarajevos alter Olym-

ist der SPD-Stratege fest ent- AP piahalle, die zwischen neuen schlossen, den Kreis zum Kanzler Schröder in Sarajevo: Hilfe zur Selbsthilfe Gräberfeldern aus dem Bos-

110 der spiegel 31/1999 Ausland

Kosovo- und Balkan-Beauftragten, Gebern Was zählte, war die Geste, das Symbol und Nehmern. – auf einer Bühne mit Bill Clinton und Das Kosovo, lässt Hombach durchbli- Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard cken, zähle bei dem Titanenwerk, das er ab Schröder tummelten sich die Präsidenten sofort zu schultern gedenke, noch zu den und Premiers des Südostens: verdiente Re- leichteren Übungen. Eine Milliarde werde formkommunisten wie Kiro Gligorov (Ma- das kosten, vielleicht ein bisschen mehr. zedonien), Milan Ku‡an (Slowenien), Milo Schon bei dem Thema aber legen die Djukanoviƒ (Montenegro) und Armee-Ge- EU-Bürokraten ihre Stirnen sorgenschwer neräle mit Hang zu Marionetten-Uniform in Falten. Als einzig „belastbare“ Scha- und starker Hand wie Franjo Tudjman densermittlung liegt ihnen eine Studie der (Kroatien). Kommission vor, wonach von exakt 206150 Wieder gemeinsam in einem Boot zu sit- Häusern im Kosovo 120 000 beschädigt zen, das Balkan heißt und von der atlanti- oder völlig zerstört seien. Deren Reparatur schen Wertegemeinschaft zu Wasser gelas- werde 1,1 Milliarden Euro kosten. sen wurde, kommt viele schwer an. Tudj- Beinahe rührend mutet an, wie die mul- man, Ku‡an und der Ungar Victor Orbán tinationale Rettungsmaschine nun auf die hatten sich erst spät zum Kommen ent- Balkan-Schluchten zuzurollen beginnt; wie schieden. Mit den armen, kriegsgebeutel- nach dem hundert Milliarden Mark teuren ten Brüdern hätten sie am liebsten nicht Krieg gegen Milo∆Eviƒs Staat nun auf Mark mehr viel zu tun. Sie sehen sich – mit Aus- und Pfennig summiert werden soll, was es nahme Kroatiens zu Recht – schon an der kostet, das durch eigene Waffen Zerstörte Schwelle zur EU-Mitgliedschaft. wieder aufzubauen. Andere, wie Rumäniens Präsident Emil Um die insgesamt 13 zerschmetterten Constantinescu, fühlten sich bisher verges- Brücken will sich die Europäische Investi- sen und begriffen den Gipfel als Chance. tionsbank kümmern. Sie kennt die Preise; Noch kurz vor seiner Abreise nach Sarajevo die Vorgängermodelle hatte sie zum Teil hatte Constantinescu sich einen öffentli-

FOTOS: AFP / DPA FOTOS: auch schon finanziert. Millionen Euro sind in Brüssel verplant nien-Krieg steht wie ein Mahnmal aus für die Besoldung von Zöllnern, die dann besserer Zeit, die Führer der bosnischen einen Beitrag zum Kosovo-Haushalt er- Volksgruppen neben ihm noch über die wirtschaften sollen – in einer Provinz, die zu Rückkehr Vertriebener streiten, ist Hom- 70 Prozent von Landwirtschaft der archai- bach in Gedanken schon fast am Ziel: schen Sorte lebt. Auch die neu rekrutierten Misslänge der Stabilitätspakt, verkündet Finanzbeamten begleitet der fromme er, es wäre „ein unvertretbares politisches Wunsch des EU-Generaldirektors Francois Versagen“. Lamoureux, „dass die Bürger Kosovos so Als er 24 Stunden später Sarajevo wie- bald wie möglich Steuern zahlen werden“. der verlässt, ist klar: 35 Staats- und Regie- Spezialisten der Weltbank haben eine rungschefs haben ihre Absicht bekräf- letzte kommerzielle Bank im Kosovo ent- tigt, Europas Südosten zu befrieden; Fi- deckt: die Vojvodjanska Banka. Bei ihr gin- nanzierungszusagen von kurzfristig zwei gen bisher die Rentenzahlungen für 10000 Milliarden Dollar werden das Kosovo über Albaner ein, die als Gastarbeiter im Aus- den Winter bringen. Und: Der Wille der land waren. Selbst der Fortbestand dieser westlichen Welt zur Vorstellung, auf dem Bank ist inzwischen gefährdet. Die Kfor Balkan könnte alles gut werden, wenn erlaube der angespannten Sicherheitslage dauerhaft die Waffen schwiegen und wegen derzeit keine „bewaffneten Wächter Wohlstand sich breit machte, ist ausge- für Geldtransporte“, sagt ein Weltbank- Balkan-Koordinator Hombach prägt. Experte: „Neues Bargeld zu bekommen Den Kreis zum Quadrat machen Im symbolschweren Wortgewitter von ist deshalb unmöglich.“ „historischer Chance“, „historischer Zä- Außerdem dürfen auf Grund der gegen chen Wutausbruch in Richtung der westli- sur“ und „neuer Vision“ unterzugehen Jugoslawien verhängten Wirtschaftssank- chen Machthaber erlaubt: „Keiner rührt droht dabei, dass beinahe jeder etwas an- tionen, die unverändert auch für Kosovo auch nur einen Finger für uns.“ deres meint, der beim Wiederaufbau des und Montenegro gelten, Hilfsorganisatio- Der Krieg war teuer für Jugoslawiens Balkans künftig dabei sein will – von de- nen noch keine Aufträge an lokale Unter- Anrainer. Nicht nur für Albanien und Ma- nen, die erst einmal nur Dächer decken nehmen vergeben. Und weil das Eigentum zedonien, die zeitweise über eine halbe und Wasserleitungen flicken wollen im Ko- am Gros der Zink- und Nickelminen wie an Million Flüchtlinge aus dem Kosovo bei sich sovo, bis zu jenen, die von demokratisch den Kraftwerken von Jugoslawien rekla- aufnahmen.Auch für Bulgarien, Rumänien, unterfütterten Marktwirtschaften im stra- miert wird, fehlt es auch an Rechtssicher- Bosnien-Herzegowina und Kroatien. tegischen Vakuum zwischen Österreich heit für potentielle Investoren. Durch die Nato-Luftschläge wurden die und der Türkei träumen. „Je länger es dauert, desto mehr beun- Handelswege in Richtung Westeuropa un- Das Organigramm der Interessensge- ruhigt mich, dass die Fähigkeit, den Krieg zu terbrochen, fiel der regional bedeutende meinschaft Balkan ist so kompliziert wie organisieren, bei weitem unsere Fähigkeit Absatzmarkt Serbien aus, sank das Ver- ein elektronischer Schaltplan. Unter dem übertrifft, den Wiederaufbau zu koordinie- trauen ausländischer Investoren. Nach ei- Dach von Uno, EU und OSZE, flankiert ren“, hatte Romano Prodi, der designierte ner im Juni vom Internationalen Wäh- vom kritischen Auge der Experten aus Präsident der EU-Kommission, bereits im rungsfonds (IWF) vorgelegten Studie ha- Weltbank und Europäischer Investitions- Vorfeld des Gipfels zu Protokoll gegeben. ben indirekte Kriegslasten die jungen bank, tummelt sich ein schwer überschau- Doch für Kleinkram und Bürokratensorgen Marktwirtschaften auf dem Balkan ausge- bares Heer von Koordinatoren, Helfern, war dann in Sarajevo wenig Zeit. rechnet zu dem Zeitpunkt wieder zurück-

der spiegel 31/1999 111 Ausland geworfen, als sie erstmals seit 1990 Wachs- tumsraten erwirtschafteten. Allen sagt Hombach jetzt, sie müssten KOSOVO begreifen, dass ein „Miteinander in Süd- osteuropa nicht Bremsspur, sondern Be- schleunigungsspur“ auf dem Weg zur ge- Die unerwünschten samteuropäischen Zusammenarbeit sei. Brücken und Autobahnen sollen grenz- überschreitend gebaut werden. Hombach Friedensstifter verkündet in einem Ton, der wenig Zwei- fel zulassen soll: „Der Friede braucht öko- Mit radikaler Ablehnung begegnen die Albaner Moskaus nomischen Fortschritt und umgekehrt.“ Das ist, im Kern, die Schnittmenge aus Friedenstruppe. Berichte über eine Beteiligung russischer Joschka Fischers Konzept einer vorbeu- Söldner an serbischen Kriegsgräueln belasten die Mission. genden Außenpolitik und Kanzler Schrö- ders Traum von neuen Märkten – Diplo- ie Jungs von der 126. taktischen gekämpft. Russland wollte seine Dividen- matie unter Zuhilfenahme des baumeln- Gruppe der U. S. Army in Gnjilane de einstreichen für die Mithilfe beim Ein- den Brotkorbs. „Europa ist nicht nur eine Dhatten fabelhafte Arbeit geleistet. lenken des Serbenführers Slobodan Handelsorganisation, sondern auch eine Tagelang waren die Experten für psy- Milo∆eviƒ und zudem Einfluss auf die Demokratie“, sagt Hombach in Sarajevo. chologische Kriegführung im amerikani- Nachkriegsentwicklung im Kosovo neh- Der bullige Macher, von Berufsdiploma- schen Sektor des Kosovo unterwegs, um men. „Wir müssen eventuellen Versuchen, ten und Langgedienten im Helfermilieu der- Versöhnung unter den verfeindeten die aufständische Provinz aus dem jugo- zeit noch als „new Kid on the Block“ miss- Volksgruppen zu predigen. Vor allem in slawischen Staatsverband herauszubrechen, trauisch beäugt, von der EU-Kommission mit Kamenica: In der 7000-Seelen-Gemein- entgegenwirken“, begründete die Mos- knappen Mitteln bedacht, strebt eine markt- de blieben nach Kriegsende 3000 Ser- kauer Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ die wirtschaftliche Variante der Aufbauhilfe ben zurück – inmitten siegestrunkener Notwendigkeit militärischer Präsenz. an: „Ich bin nicht der Weihnachtsmann, Albaner. Das zähe Verhandeln mit den Amerika- und das habe ich denen auch gleich gesagt.“ Die sollten doch, baten die neuen Ver- nern endete in einem Kompromiss. Zwar Im Klartext heißt das: Hilfe zur Selbsthilfe walter über Lautsprecher, künftig keine zerschlugen sich die Träume der Russen ja, langfristige Alimentierungen nein. Granaten mehr in die Häuser ihrer serbi- vom eigenen Stationierungsraum für ihre Ein bisschen was wird’s trotzdem ko- schen Gegner werfen und in der Öffent- „10. selbständige Luftlandebrigade“. Doch sten. Von etwa 50 Milliarden Euro für den lichkeit auf das Victory-Zeichen verzich- mit vier Bataillonen sind sie nun im deut- Wiederaufbau der Region mit Ausnahme ten, den Siegesgruß ihrer Befreiungsarmee schen, amerikanischen und französischen Serbiens geht eine Schätzung der EU- UÇK. Sektor dabei. Kamenica, der kleine Ort in Kommission aus. Erwünscht war künftig als Ob so viel Geld fließt und wer zahlen einziger Gruß der hochge- Antirussischer Protest im Kosovo: Gellendes Pfeifkonzert soll, ist unklar.Von jeder Mark, die die EU stellte Daumen. „Heben Sie in den Balkan steckt, zahlt Deutschland 28 den Finger für den Frieden“, Pfennig. „Eine gerechte Verteilung der La- appellierten die Nato-Ver- sten“ mahnt Hombach in Sarajevo an und treter überall auf ihren schaut dabei scheinbar zufällig nach links Plakaten. In Kamenica funk- außen – dort sitzt Bill Clinton. tioniert das recht gut – je- Das Dayton-Abkommen 1995 über die denfalls, wenn die Amerika- Zukunft Bosniens hat Clinton noch mit ner durch den Ort fahren. Slobodan Milo∆Eviƒ ausgehandelt, der jetzt Doch dann kamen die als Kriegsverbrecher angeklagt ist. Bos- Russen. Seit das Fallschirm- nien hat fünf Milliarden Dollar Unterstüt- jäger-Bataillon aus Pskow in zung erhalten, 200 000 Tote zu beklagen die alte Zementfabrik am und eine inoffizielle Arbeitslosenrate von Ortsrand eingerückt ist, hält 80 Prozent. In Jugoslawien aber ist Mi- sich kein Albaner mehr an lo∆Eviƒ noch an der Macht. die feine amerikanische Art. Ohne Milo∆Eviƒ kein Frieden, mit ihm Tauchen russische Solda- kein Frieden? „In der gleichen Sekunde, in ten mit ihren wuchtigen der die politischen Probleme Serbiens Panzerwagen auf der Dorf- gelöst sind“, sagt Bodo Hombach, werde straße auf, verfallen die Kin- auch dort der Stabilitätspakt seine segens- der in ein gellendes Pfeif- reiche Wirkung entfalten. konzert. Statt nach oben In einer Sekunde aber ändert sich nichts zeigt der Daumen nach un- auf dem Balkan. Als Schröder, Hombach ten, ältere Albaner führen und die anderen Deutschen am Freitag ihre Hand unmissverständ- ihre Maschinen Richtung Heimat bestei- lich zum Hals: Den Neu- gen, bleiben die Sfor-Soldaten der Bun- ankömmlingen gehöre die deswehr einsam am Rand der Stadt zu- Kehle durchgeschnitten. Sie rück. Vor dem Eingangstor ihrer Kaserne sind unerwünscht im Koso- steht ein Bosnier. Er sagt: „Denen da drin vo. Serbenfreunde. habe ich unlängst neue Leitungen gelegt. Wochenlang hatte Mos- Die richten sich ein, als blieben sie 30 Jah- kau erbittert um eine Be- re. Und ich glaube, das ist gut.“ teiligung an der interna-

Winfried Didzoleit, Walter Mayr tionalen Kfor-Streitmacht REUTERS

112 der spiegel 31/1999 AP Russische Fallschirmjäger an einem Checkpoint bei Mali∆evo: „Die Albaner wollen uns boykottieren“

den Bergen östlich von Pri∆tina, ist für die beit an. Einen Tag später zeigte ihm der serbischen Grenze, warum fährt der Alte Russen der entscheidende Test: Gelingt ih- Mann die kalte Schulter. Kein Zweifel: nicht dorthin?“ nen die Befriedung der beiden miteinander „Die UÇK hat ihn bearbeitet, die Albaner Vor dem Schlagbaum der Zementfabrik verfeindeten Volksgruppen, müsste die sollen uns boykottieren.“ von Kamenica drängen sich täglich dut- Nato ihre skeptische Haltung gegenüber So sehen sich die Russen nun auch von zende Hilfe suchender Serben: schwange- den Russen überdenken. den Albanern in eine Rolle gedrängt, die re Frauen und Bronchialasthmatiker, die Oberleutnant Jurij Tataru, der russische sie ohnehin für ihre wichtigste halten: sich ins Lazarett wollen; Bauern, die sich über Bataillonsarzt, ist mit seinen Leuten ohne um die Verlierer des Kosovo-Krieges – die Behandlung an amerikanischen Check- Illusionen ins Kosovo eingerückt. Er kennt zurückgebliebene Serben – zu kümmern. points beschweren; serbische Familien aus die Meldungen, auf die sich auch die Al- Die tägliche Patrouille der Pskower Fall- Bosnien, die ihr Flüchtlingsquartier im baner von Kamenica berufen, wenn sie die schirmjäger beginnt heute in der Mo∆e Pi- Ortshotel räumen sollen. Russen als „Mörder“ bezeichnen, die ge- jade Nr. 5. Der Auftrag: Der Vorsitzende Doch zufrieden mit den Russen sind meinsam mit den Serben „unsere Häuser der serbischen Dorfgemeinschaft von Bos- auch die Serben nicht. Nebenan, in der zerstört und unsere Familien massakriert“ ce, der hier in der Stadt eine Wohnung hat, Kneipe von Narovan Stanojeviƒ, die längst haben: Da sind die selbst im Moskauer soll evakuiert werden. Sichtlich genervt kein Albaner mehr betritt, erregen sie sich Fernsehen gesendeten Bilder von der Lei- stopft der Funktionär unter dem Gejohle noch immer über den Fall der beiden Al- che des russischen Reserveoffiziers Witalij der Nachbarskinder säckeweise Kleidung, ten aus dem Nachbardorf. Die hatten bei Bulach aus Chabarowsk, den die UÇK in Lebensmittel und einen Videorecorder in den Russen flehentlich um Hilfe gebettelt, Tarnuniform, mit russischen Militärpapie- den Bauch des russischen Panzerwagens. als die UÇK ihre Häuser räumen und in ren und 4000 Rubel in der Tasche fand. Oberleutnant Sergej Pachomorow ist der Brand stecken ließ. „Schreiben Sie uns ei- Russische Freiwillige, sagen die Albaner, Auftrag zu unmilitärisch („Der denkt, wir nen Brief“, lautete der Bescheid des her- hätten rund um Orahovac Minenfelder an- sind eine Art Lastwagen“) – es ist ihm auch beigerufenen Oberleutnants. gelegt, gemeinsam mit serbischen Parami- peinlich den Amerikanern gegenüber, die Moskaus Truppe hat Probleme mit der litärs Albaner getötet und Häuser geplün- seine Patrouille mit gepanzerten Humvee- kosovarischen Wirklichkeit. Die Pskower dert – selbst die deutsche Kfor-Truppe stieß Jeeps begleiten. Eine vertrauensbildende Fallschirmjäger haben sich zunächst im bei ihrem Einzug in Prizren noch auf fünf Maßnahme. „Im Notfall“, sagt Sergeant Zementwerk eingeigelt. Aufgabe Nummer Dutzend Russen mit Kalaschnikows. Ein Victor Brown, „greifen unsere Hubschrau- eins sei es, so der Befehl des Oberkom- Spezialverband, so erfuhr die Nato, war ber zur Feuerunterstützung ein.“ mandierenden, „die eigene Sicherheit zu eigens dazu eingesetzt, um Spuren serbi- Die Kolonne schiebt sich nach Firiceje gewährleisten“. Zweite Aufgabe aus Sicht scher Verbrechen zu beseitigen. Leichen hinauf, ein serbisches Bergdorf inmitten der Soldaten ist das Geldverdienen. 1000 gefallener Kämpfer wurden möglichst nach von Maisfeldern. Tataru, der Chirurg, Dollar bekommen sie im Kosovo als Sold Serbien geschafft und dort verbrannt. will Miladin Stojanoviƒ versorgen, den 70- gezahlt, das 20fache des daheim Üblichen. 2500 Russen sollen laut UÇK während Jährigen, den vor Tagen eine Kugel traf, Kein Wunder, dass keine Zeit für wirk- des Krieges im Kosovo eingesetzt gewesen als er mit dem Nachbarn Pferde auf die liche Aufklärungsarbeit unter den Alba- sein. Diese Zahl dürfte arg übertrieben Weide trieb. Der Freund ist tot, die Kugel nern bleibt. Aber es fehlt wohl auch an sein. Bataillonsarzt Tataru sagt, es seien für Stojanoviƒ prallte an dessen Brust- dem Willen, die Muslime sind den Russen „Einzelfälle“ gewesen. Deshalb gebe es knochen ab. suspekt. Die Ausbilder haben den politi- auch keinen Grund für die Ablehnung, auf Das Krankenhaus von Kamenica wei- schen Blick ihrer Soldaten vor dem Abflug die er bei den Albanern stößt. gert sich, den Serben aufzunehmen. Fehmi aus Pskow ohnehin sehr einseitig geschärft. Als der kleine Ukrainer im Krankenhaus Mehmeti hält das für gerecht: „Früher Das lässt Kommandeur Major Wladimir seinen Antrittsbesuch machte, bot ihm der ließen uns die Serben nicht in ihre Kran- Tarassow allerdings nicht erkennen, wenn Chefarzt ohne Zögern die Zusammenar- kenhäuser. 20 Kilometer sind es bis zur die Amerikaner zu ihren Meetings in der

der spiegel 31/1999 113 Zementfabrik anrücken. Die Nato-Männer strahlen Selbstsicherheit aus, Tarassow dagegen offenbart Unsicherheit. Fast schon unterwürfig bittet der Russe, am nächsten Tag russische Last- wagen mit Lebensmitteln an den amerika- nischen Checkpoints durchzulassen. Scur- lock gibt gnädig sein Okay, aber als der Major Klagen der Serben vorbringt, pocht er auf Geschlossenheit: „Wir müssen zei- gen, dass Russen und Amerikaner unter demselben Dach handeln, unter dem Dach der Kfor.“ Schließlich regen die Nato-Leute einen

symbolischen Friedensakt in Kamenica an: KASSIN P. ein Fußballspiel, bei dem ein russisch-ame- Russische und deutsche Soldaten mit UÇK-Waffen: „Die anständigsten Nato-Leute“

rikanisches Team gegen Serben oder Al- baner antreten soll. In Mali∆evo würden Albaner nie gegen Russen Fußball spielen. Das zerstörte „Die Toten waren Russen“ Städtchen im Gebiet Drenica ist nur noch Der Söldner Marco van Eekeren über seinen Einsatz im Kosovo zu „0,008 Prozent“ von Serben bewohnt und in deutscher Kfor-Hand, wie Bürger- meister Gani Krasniqi zufrieden anmerkt. Schawrow. Ich habe auch ein Doku- Wer hierher Russen schickt, muss fahr- ment der serbischen Armee gesehen, lässig sein oder voller Hintersinn: Die Fall- auf dem Zahlungen an Russen aufgelis- schirmjäger des 51. Tulaer Luftlanderegi- tet waren. ments, die den Checkpoint an der Straße SPIEGEL: Gehörten die Russen zur re- Richtung Albanien besetzt haben, können gulären russischen Armee, oder waren auf keinerlei Verbündete zählen. es Söldner? Dass die Albaner den russischen Solda- van Eekeren: Ich bin sicher, dass die ten nicht einmal Unterkunft gewähren Leute im Auftrag der russischen Armee wollten, erklären sie mit einer Inschrift im für die serbische Armee kämpften. Dar- Krankenhaus neben dem Checkpoint. „Wir auf deuteten jedenfalls die Papiere hin, haben es begonnen, die Russen werden es van Eekeren die wir bei ihnen gefunden haben. vollenden“, steht da von serbischer Hand SPIEGEL: Hat Sie die Anwesenheit von wie ein Menetekel an die Wand geschrie- Der ehemalige Berufssoldat der nie- Russen überrascht? ben. Erst die Deutschen setzten durch, dass derländischen Streitkräfte, Marco van van Eekeren: Nein. Ich wusste, dass Rus- die Russen im benachbarten Banja ein Eekeren, 36, kämpfte für die albani- sen schon in Kroatien und Bosnien bei Dach über dem Kopf bekamen. sche Befreiungsarmee UÇK. den Serben mitgekämpft hatten. Oberleutnant Igor Rodionow und seine SPIEGEL: Sind Ihnen mehr Fälle von Leute, in Mali∆evo mit Tomatenwürfen SPIEGEL: Weshalb haben Sie als Hollän- Russen im Kosovo bekannt? empfangen, halten die Deutschen für „die der am Krieg im Kosovo teilgenom- van Eekeren: Ja, in Djakovica gibt es in anständigsten Nato-Leute“. Doch seit kur- men? einer ehemaligen Disco ein Lazarett. zem sind ihre Mentoren weg und die Rus- van Eekeren: Serben haben 1992 in Kar- Da haben Russen ihre Namen an die sen allein – mit 400 bis 500 Albanern und lovac meine kroatische Frau und unser Wand geschrieben. Zudem berichteten mit dem Waffencontainer, in dem vom chi- zweijähriges Kind umgebracht. Seitdem Angestellte eines großen Krankenhau- nesischen MG bis zum deutschen Welt- melde ich mich freiwillig, wann immer ses, dass bei ihnen verwundete Russen kriegskarabiner alles liegt, was Albanern es Krieg gegen die Serben gibt. Ich behandelt wurden. Bei den Serben ha- an Schießzeug abgenommen wurde. Pi- war schon in Kroatien und in Bosnien ben aber auch Bulgaren, Tschechen und kanterweise müssen die Russen laut Kfor- dabei. ein paar Polen mitgekämpft. Beschluss den Schlüssel gemeinsam mit der SPIEGEL: Im Kosovo sollen Russen auf SPIEGEL: Waren Russen an Massakern UÇK verwalten. serbischer Seite gekämpft haben. Ha- gegen Kosovaren beteiligt? Dass die Deutschen gingen und die Rus- ben Sie Russen getroffen? van Eekeren: Hier in Djakovica gibt es sen bleiben, hat ganz Mali∆evo entsetzt. van Eekeren: Ja. Mitte Mai glaubten wir zwei Leute, die ein Massaker überleb- Schließlich könnten die Slawen am Check- nach einem Gefecht bei Ko∆are ten; sie berichten, dass Russen dabei point nicht mal albanische Papiere lesen. zunächst, dass wir ein paar Serben er- waren. Manche wie der Wirt Bytyçi Ramadan schossen hätten. Dann fanden wir her- SPIEGEL: Wissen Sie, ob die Serben auf glauben gar an einen neuen Krieg. „Russi- aus, dass die Toten Russen waren. Sie ein Kopfgeld ausgesetzt haben? sche Truppen sind für uns dasselbe wie SPIEGEL: Wie haben Sie das festgestellt? van Eekeren: Das kann sein. Aber das serbische Truppen.“ Das hat Krasniqi, ein van Eekeren: Wir fanden bei den Toten hatten sie auch schon in Kroatien und Aktivist des Kosovo-Parlaments, dem rus- russische Pässe und Schriftstücke, die in Bosnien. Mich kann das nicht schre- sischen Kosovo-General Popow ins Gesicht von Militärbehörden in Moskau und in cken. Ich werde dabei sein, wenn es gesagt. Dann hat er entschuldigend hinzu- Belgrad unterschrieben waren. Der wieder Krieg mit den Serben gibt – in gefügt: „Eine Mutter, deren Kind umge- Name des einen Russen war Anatolij drei bis vier Monaten in Montenegro. bracht worden ist – wie kann die zwischen einem guten und einem schlechten Russen unterscheiden?“ Christian Neef

114 der spiegel 31/1999 Ausland

und er behauptet: „Wir kennen die Orga- Doch der Hauptfrust der serbischen SERBEN nisatoren, doch die Kfor ist nicht an ihnen Bauern entlädt sich auf die Regierung im interessiert.“ Verdächtigt werden auch fernen Belgrad. Die hat, so der Serbe Ni- Schwarzer zwei Albaner aus den einzigen beiden Fa- cola, „die Kosovo-Serben schändlich ver- milien, die im serbischen Dorf leben. Einer kauft“. von ihnen sei vor zwei Jahren wegen se- Allerdings: Einsicht über selbst began- Freitag paratistischer Aktivitäten verurteilt wor- genes Unrecht zeigt keiner in Gra‡ko. den. Als der Krieg begann, habe man den „Massengräber?“, fragt ein Dorfbewohner. Die Serben leben in ständiger Albanern „Schutz“ angeboten. Doch die „Die sind doch nur Erfindungen albani- hätten die Flucht vorgezogen. scher Fanatiker.“ Die dem Westen vorge- Angst. War das Massaker an Die Häuser der verschwundenen Alba- führten verbrannten Häuser seien über- den 14 Bauern der Auftakt eines ner seien dann von „irgendeiner Armee“ wiegend serbische. albanischen Rachefeldzugs? ausgeräuchert worden, sagt einer der Ser- Um zu erfahren, dass das Massaker nicht ben.Achselzuckend fügt er hinzu, von wel- zufällig in Gra‡ko geschah, genügt die s war eine Nacht des Grauens. Die cher, das wisse er nicht. Vor zwei Wochen Fahrt ins Nachbardorf Hallac. Dreimal, er- Bauern aus dem serbischen Dorf waren die beiden Albaner dann plötzlich zählt der Kolonialwarenhändler Cozim EGra‡ko hatten nur den Weizen wieder da und kündigten den serbischen Emini, hätten die Nato-Kampfjets Gra‡ko einbringen wollen, 14 Männer waren Nachbarn einen „schwarzen Freitag“ an. angegriffen. Denn dort sei ein Quartier der losgezogen. Doch ihre Mörder lauerten Die Männer und Frauen des serbischen jugoslawischen Armee gewesen. Deshalb im nahen Wald mit Gewehren, Messern Dorfes mit seinen rund 80 Häusern haben hätten sich die örtlichen Serben an Ver- und Äxten. die Taschen für die gemeinsame Flucht be- treibungen und Plünderungen beteiligt, da- Das erste Massaker dieses Ausmaßes, reits gepackt. Nur wenn ein Teil der serbi- von ist der Albaner überzeugt. seit die Kfor-Friedenstruppe im Kosovo sta- schen Armee und Polizei zurückkehrten, Am 18. April seien im zwei Kilometer tioniert ist, löste internationale Betroffen- sagen sie, fühlten sie sich sicher. „Wir wa- entfernten Ribar 26 Albaner getötet wor- heit aus. Das Haager Kriegstribunal kün- gen nicht mehr, das Dorf zu verlassen“, den, am 19. April in Hallac 20. Emini führt digte eingehende Untersuchungen an. klagt ein buckliger Alter. die Liquidierung noch einmal vor, stellt Als die Bauern nicht zurückkehrten, er- Die jahrelangen Peiniger wurden nach sich auf dem kleinen Platz im Dorf an eine zählt die 22-jährige Witwe Rade ◊iviƒ, hät- dem verlorenen Krieg gegen die Nato Hauswand und hebt die Hände: „So wur- ten die Dorfbewohner zunächst an eine selber zu Gepeinigten. Dass der den Ser- den elf von ihnen erschossen.“ Mit dem Entführung gedacht. „Aber wir hatten ben versprochene Schutz nur eine leere Schlachtruf: „Ihr habt die Nato gerufen, Angst, in der Dunkelheit zu dem Feld zu Floskel ist, scheint offensichtlich. Nur drei jetzt sollt ihr sie bekommen“, hätten mas- gehen.“ gepanzerte Kfor-Fahrzeuge, mit Soldaten kierte Serben den Dorfbewohnern Geld Dreimal wurde der nahe gelegene briti- aus Nepal, haben seit der Bluttat am Dorf- und Schmuck abgenommen. Viele von ih- sche Kfor-Stützpunkt in Lipljan telefonisch platz Stellung bezogen. Patrouille wird nen seien aus Gra‡ko gekommen. verständigt. Doch die Soldaten fühlten sich nicht gefahren. Die Familien der beiden Albaner, be- überfordert: Man habe weder freie Fahr- Die Beteuerung des Führers der UÇK- hauptet Emini, seien bei lebendigem Leib zeuge noch Personal zur Verfügung. Erst als Befreiungsarmee, Hashim Thaçi, hinter der in die Brunnen vor dem Haus geworfen ein besorgter Bauer persönlich vorsprach, Tat stünden allenfalls „Personen, die sich worden. Auch Emini kennt keine Gnade: schickte die Schutzmacht gegen 22 Uhr ein fälschlicherweise als UÇK-Angehörige aus- „Wir wollen die Serben hier nicht mehr Team. Um zwei Uhr morgens verkündete geben“, klingt eher zynisch als Vertrauen sehen.Wie könnten wir sie noch als Nach- ein britischer Major kühl: Das Terrain sei erweckend. barn akzeptieren?“ Renate Flottau untersucht, 14 Leichen seien gefunden worden.Am näch- Beerdigung von Massaker-Opfern: „Wir wagen nicht mehr, das Dorf zu verlassen“ sten Tag könnten die An- gehörigen die Opfer identi- fizieren. „Die haben sogar das Ge- wehr auf uns gerichtet“, be- richtet eine andere Bauers- frau. Großmutter ◊iviƒ ver- lor ihre zwei Söhne. „Es wäre besser, ein Stein zu sein als eine Mutter“, ruft sie unter lautem Wehklagen und dem gleichzeitigen Wie- gen ihres drei Monate alten Enkels. Milan Jani‡ijeviƒ zeigt auf die Todesanzeige mit den 14 Namen und Fotos, die an ei- nem Mast neben der ortho- doxen Kirche klebt: „Die vier in der ersten Reihe, das sind meine Familienan- gehörigen.“ Mindestens 50 albani- sche Terroristen, vermutete Jani‡ijeviƒ, hätten an dem

Massaker teilgenommen, AFP / DPA Werbeseite

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CHINA Im Fieber der Heilserwartung Der Grazer Arzt und China-Experte Thomas Ots über die Hintergründe des Verbotes der Falun-Gong-Bewegung

Ots, 52, lehrt Chinesische Medizin an der und -Kassetten als eine weitere Demon- Universität Graz und promovierte über stration des absurden und weltfremden die Qigong-Bewegung, aus der Falun- Denkens der Pekinger Gerontokratie. Gong entstanden ist. US-Außenministerin Madeleine Albright geißelte die erneute Missachtung der Men- orwürfe der schwersten Art führte schenrechte. die Pekinger Regierung an, als sie Kann eine Gesundheitsbewegung, deren Vam 22. Juli die Falun-Gong-Bewe- Anhänger sich in ganz China im Morgen- gung verbot: Illegalität, Aberglauben, Ge- grauen in der Öffentlichkeit zu Freiübun- sundheitsschädlichkeit, Zerstörung des gen treffen und die inzwischen auch viele Geistes der Menschen, Gefährdung der öf- Anhänger im Ausland hat, gesellschaftli- fentlichen Ordnung, Sabotage an der wohl- che Veränderungen auslösen, vor denen verdienten gesellschaftlichen Ordnung, Be- sich die Mächtigen fürchten müssen? Die trügerei, regierungsfeindliche Aktivitäten, Antwort heißt: Ja. ja sogar „Banditentum“ wurden der Orga- Die Klammer zwischen Körpererfah- nisation angelastet. rung, Gesundheitsbewegung, moralischer Deren Führer wiesen diese Anschuldi- Ausrichtung und Umsturzgedanken ist die gungen weit von sich. Sie verstehen sich als Heilserwartung. Heilserwartungsbewegun- Teil der Qigong-Bewegung, wie sie in Chi- gen sind ein transkulturelles Phänomen. na nun schon seit 1980 außerordentlich po- Sie entstehen immer dann, wenn eine hi- Polizeifahndung nach Falun-Gong-Mitgliedern auf pulär ist. storische Epoche zu Ende geht. Liegt in Der Weltöffentlichkeit erschien das Pe- dieser Situation eine neue, handfeste ideo- sehr leiden müssen. Die spontane Antwort kinger Verbot sowie die Vernichtung von logisch-moralische Vision vor, geht der auf die neue Freiheit war die „Demokrati- hunderttausenden Falun-Gong-Büchern Epochenwechsel relativ geräuschlos und sche Bewegung“, in China bekannt als „Pe- konfliktarm über die Bühne. kinger Frühling“. Ihr deutlichster Ausdruck Bricht aber eine Epoche langsam aus- war die „Mauer der Demokratie“ im Her- einander, ohne dass sich im Denken der zen von Peking, unweit des Regierungssit- Menschen bereits Visionen einer neuen Zu- zes. Täglich hängten hier Menschen aus kunft herausgebildet haben, ziehen sich dem ganzen Land Wandzeitungen auf. die Menschen auf und in ihre Leiblichkeit Als sich dann aber zunehmend Kritik an zurück. Diese Situation gebiert die Hin- der Politik der KP zeigte, es in Peking gar wendung zur eigenen Körperlichkeit, zur zu Demonstrationen kam und schließlich Körperwahrnehmung, zum Körperbe- der Platz des „Himmlischen Friedens“ zur wusstsein.Von hier ist es dann nur noch ein Tribüne einer noch ungerichteten Bewe- kleiner Schritt hin zu wahrnehmender gung für freies Reden wurde, ließ die Leiblichkeit, zum Schöpfen neuer Ideen Parteiführung im Dezember 1979 über aus der leiblichen Bewegung. Nacht die „Mauer der Demokratie“ von al- Nicht selten treten in solchen Phasen len Wandzeitungen säubern. Dies war ein Bewegungsmuster auf, in denen sich die großer Schock für all diejenigen, die darin Akteure „gehen lassen“ und uns dabei an schon den Beginn einer neuen Ära gesehen Trance und Katharsis erinnern. „Keinem hatten. Gedanken Glauben schenken, der nicht im Kurz darauf und im Zusammenhang mit Freien geboren ist und bei freier Bewe- dem vorläufigen Ende der Demokratiebe- gung“, sagte Nietzsche und hat damit den wegung entstand in China das, was später Kern dieser Erfahrungen beschrieben, die das „Qigong-Fieber“ genannt wurde. über den Weg vom Leibkult und neuer Mo- Während der Kulturrevolution waren die ralität zum Wunsch nach Umsturz und alten Qigong-Übungen mit ihren drei Säu- Schaffung von etwas Neuem führten und len Atmung, Bewegung und geistige Len- immer noch führen. Alle untersuchten kung wegen ihrer angeblichen Nähe zum Heilserwartungsbewegungen entwickelten „Aberglauben“ verboten gewesen. Nun, sich aus leiblichen Erfahrungen der beson- als nach dem kurzen Pekinger Frühling deren Art. nicht der Sommer, sondern eine Eiszeit Als 1978 die Große Proletarische Kul- folgte, zogen sich viele Menschen in die turrevolution letztendlich abgebrochen Innerlichkeit und Stille des Qigong zurück. wurde, ging ein Aufatmen durch das chi- Doch dabei kam es zu einem histori-

AP nesische Volk, denn allzu viele Menschen schen „qualitativen Sprung“: Eine Schüle- Zerstörung von Falun-Gong-Kassetten – ein großer Teil der Spitzenkader und de- rin des Kranich-Qigong, eines der vielen Regierungsfeindliche Aktivitäten ren Familien eingeschlossen – hatten zu neuen Qigong-Stile, die nach 1979 ent-

118 der spiegel 31/1999 wünschen annimmt. Werden die Hoffnun- gen der Individuen in einer Ideologie ge- bündelt, entsteht eine Heilsbewegung, die eine baldige tiefgreifende Veränderung der Welt und das Eintreten eines perfekten, idealen Zustandes proklamiert. Gesellt sich dazu eine charismatische Führerpersön- lichkeit, kann es der gelingen, die Anhän- ger der Heilslehre zu organisieren und in Bewegung zu setzen. Während der letzten 20 Jahre hatte es mehrere Qigong-Meister in China gege- ben, die es schafften, tausende bis zehn- tausende Menschen zu versammeln. Doch erst der seit 1996 in den USA lebende und nun von der chinesischen Führung mit Haftbefehl verfolgte Li Hongzhi, Begrün- der der Falun-Gong-Bewegung, scheint alle Anforderungen an eine charismatische Per- sönlichkeit zu erfüllen. Dabei spielt es keine Rolle, dass Li erst Ende der achtziger Jahre in Kontakt mit Qigong gekommen ist und erst 1992 be- gann, sein Falun- Gong zu verbreiten. Wie alle charismati- schen Persönlichkei- ten besitzt er eine „Aura“, die Men-

FOTOS: AFP / DPA FOTOS: schen, die ihn ken- dem Pekinger Tiananmen: „Nach der KP die größte gesellschaftliche Kraft in China“ nen lernen, in ge- treue Anhänger und standen, verlor in Peking beim Üben die konger „China-watching“-Journal „Con- unbedingte Vertei- Kontrolle über sich und geriet in trance- temporary“ festgestellt: „Nach der KP diger seiner Person artige, kathartische „spontane Bewegun- stellen die schnell wachsenden Qigong- einerseits so-wie in gen“. Die damit verbundene Befreiung von Organisationen die größte gesellschaft- entschlossene Geg- Unterdrückung wirkte so ansteckend, dass liche Kraft in China dar.“ Als Teil einer Meister Li Hongzhi ner andererseits auf- kurze Zeit darauf diese Form des Qigong breit angelegten Kampagne wurden 1990 spaltet. mit den „spontanen Bewegungen“ zu der Parks mit dem Ziel durchkämmt, Qigong- Wie bei den meisten charismatischen bekanntesten überhaupt wurde. Lehrer zu erfassen. Qigong-Veranstal- Führern rankt sich um Li Hongzhis 1984 soll es etwa 60 Millionen Übende tungen mit mehr als 1000 Teilnehmern Jugendjahre und seine Erziehung ein des Kranich-Qigong gegeben haben. Über- wurden verboten. undurchschaubares Geflecht von Vermu- all sah und hörte man morgens Gruppen Unzweifelhaft fanden sich schon in der tungen, Gerüchten und Märchen. Stereo- von Übenden, die sich nicht mehr ruhig, Qigong-Bewegung der späten achtziger typisch zieht sich durch die selbstentwor- sondern ungezügelt und wild, nicht mehr Jahre Heilsvorstellungen. Dass hieraus fenen Lebensbeschreibungen der Qigong- leise, sondern laut verhielten. Die Men- zunächst noch keine Massenbewegung mit Meister meist einer von zwei Wegen, auf schen schienen sich durch wilde Bewegun- gesellschaftsveränderndem Potenzial her- denen sie ihr charismatisches Sendungs- gen, Lachen und Weinen von der Last der vorging, lag auch an der wirtschaftlichen bewusstsein erlangt haben: letzten Jahre zu befreien. Entwicklung Chinas: Der aufblühende Entweder durchlitten sie eine schwere Auf die nächste Stufe dieser gesell- Kleinkapitalismus war eine zu starke Kon- Krankheit, durch die sie geläutert wurden schaftlichen Katharsis führten Vorhersagen kurrenz. und die ihnen – sehr häufig – Visionen der kommender Größe. Zahlreiche neu ent- Doch das Ende der als „Eiserne Reis- zukünftigen Bewegung beschert hatte. standene Qigong-Zeitschriften schilderten schüssel“ bekannten Fürsorge des Staates Oder sie gaben an, von einem einsamen in Wort und Bild eine verheißungsvolle Zu- gegenüber seinen unproduktiven Indu- Mönch – womöglich kurz vor dessen Tod kunft. Das Qigong-Fieber hatte die gesam- strien machte viele Menschen arbeitslos. und als einziger Schüler – in sein Wissen te Gesellschaft ergriffen. Sogar die chine- Die sich hieraus ergebende neue und teils eingeweiht worden zu sein. Bei Li über- sischen Streitkräfte forschten über Qigong. skurrile Ungleichheit zwischen Arm und wiegt die zweite Variante. Charismatische Ende der achtziger Jahre wurde der Grat Reich in China sowie der offensichtliche Führerpersönlichkeiten gewinnen nicht zwischen Gesundheitsbewegung und einer Zerfall der moralischen Ordnung bildeten durch die Logik ihrer Argumentation, son- neuen moralisch-ideologischen Organisa- den fruchtbaren Boden, auf dem das jun- dern im Gegenteil durch die Unbestimmt- tion überschritten. Die Qigong-Zeitschrif- ge Pflänzchen Qigong gedieh. heit ihrer Aussagen. ten zeigten immer häufiger religiöse Moti- Heilserwartungsbewegungen wurzeln – Ob die Bewegung des Falun-Gong die ve, vor allem des Buddhismus. Von einer schrieb 1966 der Ethnologe Vittorio Lan- chinesische Gesellschaft nachhaltig ver- gesellschaftlichen Kraft des Marxismus ternari – in einer bestimmten geschichtli- ändern wird, kann nur die Geschichte konnte man hier nichts mehr lesen. chen Situation, die von Teilen der Gesell- zeigen. Aber die Bewegung ist wie die So nimmt es nicht Wunder, dass schon schaft als unerträglich beziehungsweise als gesamte Qigong-Bewegung seit Ende der Mitte der Achtziger die KP skeptisch wur- Krise empfunden wird. Daraus entwickelt Kulturrevolution ein untrügliches Zeichen de. Eine Gegenbewegung wurde ins Leben sich ein Bedürfnis nach einer tiefgreifenden „eines Zeitalters des Niederganges“, wie es gerufen, denn bereits 1990 hatte das Hong- Umgestaltung, welches die Form von Heils- Li Hongzhi selber ausdrückt. ™

der spiegel 31/1999 119 Titel Rückkehr der Vandalen 70000 deutsche Immobilienbesitzer, dreieinhalb Millionen Urlauber – die Mallorquiner bekommen es langsam mit der Angst zu tun. Die neue Regierung in Palma will jetzt die Germanisierung eindämmen.

Mallorquinisches Künstlerdorf Llucalcari: Ohne die Urlauberflut wären die Balearen längst verdorrt und entvölkert

rei Wochen verbrachte die Witwe und Filmpartnerin von Humphrey DBogart („Key Largo“) im Frühjahr auf Mallorca. Lauren Bacall, 74 und noch immer eine beeindruckende Erscheinung, stand für einen spanischen Streifen vor der Kamera. Die Hollywood-Diva lernte die Schönheiten von Europas beliebtestem Ur- lauberparadies schätzen. Aber die US-Schauspielerin bekam auch etwas mit von den Sorgen der alteingeses- senen Inselbewohner. Schnippisch stellte sie bei der Pressekonferenz vor ihrem Ab- flug die Frage: „Ist es wahr, dass die Deut- schen die ganze Insel kaufen wollen?“ Das täten sie wohl gern, und sie könnten es auch, wenn man sie weiter läßt. Denn

J. MOREY / A. SEPULVERDA / WHITE STAR MOREY / A. SEPULVERDA J. Protestdemo gegen „Wetten, dass …?“ „Wir haben die Schnauze voll“ Platja de Palma Die Zivilisation außer Kraft gesetzt

von sich reden machen mit kolonialisti- schen Allüren und dem Aufbau einer Pa- rallelgesellschaft. Wem gehört Mallorca? Überwiegend noch den Mallorquinern. Doch der Trend arbeitet gegen sie. „Hasta los cojones“ – sehr frei übersetzt: „Wir ha- ben die Schnauze voll“ –, hieß es jetzt erst- mals auf den Straßen Palmas. Und De- monstranten trugen Transparente mit der kategorischen Mahnung: „Mallorca ist nicht Deutschland“. Der Anlass für den Aufruhr war ei- gentlich läppisch, jedenfalls aus deutscher Sicht. Für Thomas Gottschalks Fernseh- Show „Wetten, dass ...?“, in der auch bei Spaniern beliebte Popstars wie Ricky Martin und Lou Bega auftraten, hatte das ZDF am 17. Juli die Stierkampfarena von

G. HUBER / LAIF (l.); U. KLUYVER / AGENTUR FOCUS KLUYVER / AGENTUR ( r.) G. HUBER / LAIF (l.); U. Palma de Mallorca angemietet – aus- schließlich reserviert für 6000 deutsche wie einst die germanischen Vandalen, die ma de Mallorca. Es gibt Direktverbindun- Besucher, Einheimische erhielten keinerlei sich verheerend um das Jahr 450 auf den gen selbst aus Hof und Kassel, aus Pader- Tickets. „Ausverkauft“ verkündete, auch Balearen festsetzten, drängen nun deren born und Schwerin. noch auf deutsch, ein Schild am Kassen- zivilisierte Nachfahren mit aller Macht in Jetzt, in der Hochsaison, landen täglich häuschen. diesen Teil des Mittelmeers. Nur: Diesmal rund hundert deutsche Maschinen in Pal- Empört über diese „Fiesta colonial“, erfolgt die Landnahme nicht mit dem ma.Vergangenen Monat kamen im Schnitt marschierte mit Trillerpfeifen und Trom- Schwert, sondern mit der Überlegenheit jede Woche etwa 100000 Deutsche dort an, meln ein Häuflein Demonstranten zur des Geldbeutels. davon über 20 000 aus Düsseldorf, mehr vergeblichen „Reconquista“, zur Rücker- Die Angst vor Überfremdung, vor einer als 11000 aus Frankfurt. oberung der Arena auf. Ihr Anführer, ein totalen Germanisierung geht um unter den Touristen sind schlimmstenfalls Plagen italienischer Komiker, erklärte nachher in 610000 einheimischen Bewohnern. Neun wie Heuschrecken, die irgendwann auch Leserbriefen, diese Aktion habe sich nicht Millionen Urlauber drängeln sich jährlich wieder verschwinden. Doch immer mehr gegen die Deutschen allgemein, sondern auf Mallorca, balgen sich um die 550000 Mitteleuropäer, insbesondere Deutsche, gegen diese besondere „Arroganz“ ge- Betten. Und mit 3,5 Millionen stehen die setzen sich auf den Balearen für immer richtet. „Palma, deutscher als je zuvor“, Deutschen in diesem Jahr noch klarer an fest. titelte „El Mundo“ über den „Akt deut- der Spitze der ausländischen Touristen, Mindestens 70000 Bundesbürger, so die scher Aggression“. weit vor Engländern, Franzosen, Skandi- neueste Statistik, sind dort inzwischen Was da an Unmut aufschäumte, schöpf- naviern. Haus- oder Wohnungseigentümer. Das te aus tieferem Grund: wachsende Kein anderer Ort auf der Welt wird überfordert die Integrationskraft der Alt- Ressentiments, vor allem bei der jüngeren von Deutschland aus so häufig angeflo- eingesessenen, vor allem auf der Haupt- Generation der Mallorquiner, über die gen wie der Airport Son Sant Joan in Pal- insel Mallorca, zumal einige der Neubürger Begleiterscheinungen eines Massentouris-

der spiegel 31/1999 121 mus, der sie zu Verlorenen und Zweitklas- sigen im eigenen Land zu machen droht. Sicherlich: Ohne die Urlauberflut wären die Balearen längst verdorrt und entvölkert wie manche griechische Insel. Die sieben Milliarden Mark, welche die Touristen nach Mallorca und deren kleinen Schwestern Ibiza, Formentera und Menorca schaffen, haben die Balearen zu einer vergleichs- weise reichen Region gemacht. Hier wird das zweithöchste Pro-Kopf- Einkommen (25 240 Mark) Spaniens er- zielt (nach Madrid), hier liegt die Ar- beitslosenquote (13,8 Prozent) weit unter dem Durchschnitt. Das Wirtschaftswachs- tum lag in den vergangenen Jahren jeweils bei fünf Prozent. Für dieses Jahr wird ein Anstieg von sechs Prozent erwartet, das ist etwa doppelt so viel wie in Gesamt- Spanien. Doch krass gewachsen ist unter den Bo- denständigen auch die Kluft zwischen Arm und Reich – jenen wenigen, die mit dem Besitz und Verkauf von Land Millionen machten (und ihr Schwarzgeld mit Vorlie- be in Tourismusprojekten der Dominika- nischen Republik anlegten), sowie der Segelboote in der Bucht von Cala Pi: „Ist es wahr, dass die Deutschen die ganze Insel kaufen Mehrzahl der Mallorquiner, die mit den horrenden Preisschüben nicht mehr mit- lation überrollt zu werden“ (siehe Inter- doch, es hat, wie man weiß, nicht beson- halten können. Das gilt insbesondere für view Seite 126). ders viel gebracht. junge Familien. Die haben den sich sprei- Deutsche Politiker haben sich aus „Wurstkönig“ Horst Abel aus Fulda, seit zenden Luxus vor Augen und selber kaum mallorquinischen Angelegenheiten meist 30 Jahren Inselresident, mischte sich in- noch eine Chance, etwa eine Eigentums- herausgehalten. Es gab Ausnahmen, aber nenpolitisch nur einmal kurz ein. Weil die wohnung zu erwerben. das waren keine Sternstunden der politi- deutschen Insulaner ungerecht behandelt und „in den spanischen Parteien unterge- Der deutsche „Wurstkönig“ verzichtete auf die Gründung buttert“ würden, wollte er für die Kom- munalwahl eine eigene Partei gründen, die einer eigenen Partei, weil er um sein Geschäft fürchtete. „Deutschen Freunde in Spanien“. Die Amigos traten dann aber doch nicht an, Da sei in den 16 Jahren seiner konser- schen Kultur. Die Liberalen ließen Partei- nachdem die politische Konkurrenz zum vativen Amtsvorgänger mit einer laxen chef Wolfgang Gerhardt im Bundestags- Boykott von Abel-Würstchen aufgerufen Baupolitik „unglaublich gesündigt“ wor- wahlkampf in Palma eigenhändig ein Rie- hatte. Das Geschäft war Horst Abel letzt- den, kritisiert der soeben als neuer Balea- senposter kleben, auf dem sie „Schöne lich wohl wichtiger als die Gerechtigkeit. ren-Premier vereidigte Sozialist Francesc Ferien“ wünschten. Kürzlich bekannte auch Bundeskanzler Antich. Der Chef einer aus sechs Parteien Und FDP-Para Jürgen Möllemann Gerhard Schröder den Mallorquinern: „Ich gebildeten Regenbogen-Koalition begrün- stürzte sich per Fallschirm auf deutsches bin und bleibe Mallorca-Fan.“ Er trug da- det die Angst seiner Landsleute vor einem Wahlvolk an der Platja de Palma, um mit ein wenig dazu bei, den schlechten Ein- Ausverkauf der Insel an die Deutschen mit Gummibärchen und Sonnencreme „mit druck zu verwischen, den der damalige dem „Gefühl, von der Immobilien-Speku- Steuerschutzfaktor 98“ zu verteilen. Je- CSU-Bundestagsabgeordnete Dionys Jobst

Prominente Immobilienbesitzer auf Mallorca Preise wie in Hamburg-Blankenese oder München-Grünwald ACTION PRESS ACTION S. NOWEL ACTION PRESS ACTION Willi Weber Ehepaar Elstner Goldie Hawn, Alida Gundlach Titel

Haus meiner Träume erwerben Nicht unwesentlich beteiligt am Entste- wird, um dort zwei Monate im hen der Ballermann-Unkultur waren die Jahr zu verbringen“. Fernsehteams vom Privatsender RTL 2, die Das Kulturgeographische Insti- hier mit Hilfe von tätowierten Kampftrin- tut der Universität der Balearen kern und mitgebrachten Bumslieschen ei- hat in einer wissenschaftlichen nen Spaßreport nach dem anderen runter- Untersuchung festgestellt, dass die kurbelten. Sie schmissen fünf Runden und meisten Touristen nicht nach Mal- riefen: „Nun man los!“ Und dann ging’s lorca kämen, um einer fremden los. Jedes Jahr ein bisschen toller. Kultur zu begegnen.Wer hätte das Bernd Eichingers Spielfilm „Ballermann gedacht? 6“, der im Oktober vorletzten Jahres in Und wer noch Zweifel hat, der die Kinos kam, verpasste dem Trubel-Spot kann die These an der überfüllten einen leichten Dämpfer. Er zeigte unter Platja de Palma in L’Arenal über- anderem besoffene Frohnaturen, die unter prüfen – vor allem im „Balneario Klängen von Hans Albers und Guildo Horn 6“, den der deutsche Volksmund in ihr Sauerkraut pinkelten, um es an- in „Ballermann 6“ verballhornt schließend zu verzehren. hat. Hier ist das Epizentrum der Die Mallorquiner empfanden den Film Heimsuchung Mallorcas durch die als das, was er wohl auch war: als Auffor- modernen Vandalen. Es ist kein derung an den D-Mark-Pöbel, ihre Insel anderer Ort auf Erden, an dem zu besuchen, weil er da folgenlos die Zivi- sich Deutschtum in dermaßen ab- lisation außer Kraft setzen konnte. Das stoßender Weise artikuliert. ließen sie sich nicht gefallen. Aus gegebe- Was die hässlichen Deutschen nem Anlass ergriff der Inselrat energische hier wirklich wollen, das dröhnt Maßnahmen gegen die Banalisierung der

G. HUBER / LAIF dem Betrachter schon von fern im mallorquinischen Sommerfrische, und wollen?“ Sprechchor entgegen: „Saufen, „Bild“ musste vermelden: „Ballermann hat fressen, ficken und die Kinder Bier Ruh’“. 1994 mit seinem Vorschlag hinterlassen holen schicken!“ Und neuerdings: „Ich will Seitdem ist es verboten, nackt auf den hatte, Mallorca als 17. Bundesland für zeheehn nackte Friseusen mit richtig feuch- Tischen zu tanzen, mit Schaschlik zu Deutschland einzukaufen. ten Haar’n!“ schmeißen und nach Mitternacht zum Typisch für den Stimmungswandel auf Gunter Sachs, Sabine Christiansen, Stechschritt „Eviva España“ zu singen. Der Mallorca, dass derzeit in Palmas Buchläden Reinhard Mohn und die anderen Premi- besseren Optik wegen wird das klebrige ein sentimentales Porträt der Insel voller um-Deutschen, die auf Mallorca eine Im- rote Kultgetränk Sangría neuerdings auch schwarzem Humor der mobilie besitzen, waren nicht mehr in Fünf- oder Zehn-Liter-Plas- Renner ist: „Un turista, un hier vermutlich noch nie. tikeimern serviert, sondern in armlangen muerto“ (Ein Tourist, ein Die deutschen Kolonisten Gläsern mit Schmuckzitrone. Damit er Toter) des Autors Román meiden Ballermann und nicht so schnell dun macht, ist auf Anord- Piña Valls. Der definiert L’Arenal wie Vegeta- nung der Behörden auch das Mischungs- den Touristen als „Feind, rier den Schlachterladen. verhältnis geändert worden: mehr O-Saft, Drogenhändler; als Krabbe Doch der Ekel der Elite weniger Rotwein und Rum. mit einem Nest am Meer; vor dem entfesselten Vul- Aber Ruhe herrscht in Ballermann des- als Fahrradfahrer, dem ich gärhedonismus ihrer un- halb noch lange nicht. Die Zahl der Touris- hinterherfahren muss und gezogenen Landsleute hat ten, die auf Mallorca im Suff vom Hotel- der mir seinen Hintern bie- in L’Arenal die Lust am balkon fallen und sich den Hals brechen ten wird; als Hooligan, der Saurauslassen stets nur be- (laut „La Vanguardia“ zwischen 40 und 90 mit seinem Mietwagen in flügelt. im Jahr) ging dadurch nicht wesentlich mein Geschäft donnert; als zurück. Erfahrene Zecher haben jetzt näm-

Millionärsschwein, das das S. NOWEL Claudia Schiffer lich immer einen Flachmann voll Rum in DPA K. SIEPMANN PEOPLE IMAGE Dieter Wedel Peter Maffay Ehepaar Kollo Titel

der Badehose, mit dem sie die Sangría gen die Horden aus dem Norden. Die Gas- Im Übrigen sind die Briten aggressiver. scharf machen. Und in den deutschen tronomie vertritt hier den Standpunkt: „Die Deutschen schwanken, aber sie Läden an der Strandpromenade kann Wer vor morgens um vier Uhr schlafen schwanken diszipliniert“, schreibt Pedro man sich den Stoff noch immer nach will, soll woanders hinziehen. Und die Prieto, Kolumnist von „Ultima Hora“. Es seinem ganz persönlichen Standvermögen Behörden sahen das bislang wohl ähnlich. ist eher selten, dass sie gewalttätig werden anrichten lassen. Selbstverständlich im Vor allem, weil die lauten Kneipen mit den wie Anfang Juli, als nach einer Massenkei- Plastikeimer. deutschen Namen vielfach spanische Be- lerei am Ballermann zwei Touristen und Außerdem geht das große Saufen, Rülp- sitzer haben. So gehört das „Oberbayern“, ein Kellner schwer verletzt ins Kranken- sen und Grölen in der „Schinkenstraße“ das wohl lukrativste Lokal der Insel, der haus eingeliefert werden mussten. und in der „Bierstraße“ unvermindert hef- Familie Barceló, die als die reichste Sippe Kein Wunder, dass der touristische tig weiter. Die Polizisten, die hier die öf- auf den Balearen gilt. Dauerexzess Abwehrkräfte auf der Insel fentliche Ordnung bewachen sollen, küm- In den britischen Hochburgen von Pal- mobilisiert. Noch ist der mallorquinische mern sich nicht darum, wenn nachts um ma Nova und Magaluf geht es nicht ziviler Nationalismus nicht sonderlich militant, drei die Szene dröhnt. Sie gehen nur zu. Im Gegenteil. Die Holiday-Hooligans eher charmant. manchmal mit Schlagstöcken gegen die aus Großbritannien sind zwar längst nicht „Wir mögen die Deutschen, und zwar rumänischen Hütchenspieler vor, die hier so zahlreich wie die aus Deutschland.Aber nicht nur, weil sie uns Wohlstand gebracht betrunkene Proleten abzocken. das „Coach and Horses Inn“ in Magaluf haben“, sagt die Professorin für Sozial- Die Nachbarschaftsorganisation Mara- bringt es um Mitternacht (obwohl es viel psychologie Maria Antònia Manassero von villa, in der sich hundert spanische Famili- kleiner ist) auf mindestens ebenso viel De- der Balearen-Universität, „aber wir möch- en aus L’Arenal zusammengeschlossen ha- zibel wie der „Bierkönig“ in L’Arenal, der ten nicht, dass hier Identitäten bis zur Un- ben, führt einen aussichtslosen Kampf ge- immerhin 3000 Plätze hat. kenntlichkeit miteinander vermanscht wer-

Pollença Vorwiegend MALLORCA englischer Einfluß N

Preiskategorien pro m2 für Grundstücke: Spitzenlage von 6 bis 12 Mark ausgewählte geplante Immobilienprojekte Pollença gute Lage ab 3,50 Mark Golfplatz mittlere Lage ab 1,75 Mark einfache Lage ab 0,12 Mark Massen- Artà Starker Wider- Quelle: Bellevue a tourismus stand gegen den t a n Badia Ausverkauf der Insel u n d’Alcúdia Deià Künstlerkolonie der Sóller a m siebziger und achtziger Jahre T r Sa Pobla Deià Can Picafort Valldemossa: Großprojekt für e geschlossene Urbanisation d Inca a Artà Port d’Andratx: r r 18 Villengrund- e stücke mit Blick S auf Sa Dragonera Ses Fonts: Sineu Son Vida Palma Anlage mit 32 („Kampen“) Apartments Los Lagos: Cala Millor Andratx Calvià 102 Apartments Manacor

Sa Magaluf Porreres Dragonera L’Arenal Llucmajor Felanitx Port d’Andratx Nova Santa Ponça: Beton- „Düsseldorfer Loch“ Luxuswohnanlage, küste Campos S´Horta: Eigentumswohnungen 11 Villen in exponier- L’Arenal 60 Apartments und sind ab 8000 Mark ter Lage, Cas Concos 40 Reihenhäuser Palma am Golfplatz pro Quadratmeter zu 21 Häuser im Finca- Stadtpalais erwerben Stil, Clubanlage, zwischen 5 und eine Villenanlage 15 Millionen Santanyí „Cortijo“ sowie Mark Camp de Mar: ein Residenzkomplex Reihenhausanlage aus 50 Apartments „Hamburger Hügel“ mit 70 Einheiten mit Panorama-Blick Costa d’en Blanes: Son Antem: 31 Maisonette- 232 Apart- La Ràpita: 10 Kilometer wohnungen ments auf 311 Parzellen mit Meerblick dem Golfplatz für Einzelhäuser

124 der spiegel 31/1999 M. GUMM / WHITE STAR Deutsche Urlauber auf der Strandpromenade von L’Arenal: „Sie geben es ja zu, dass sie uns vertreiben wollen“ den.“ Kultureller Reichtum lebe von der blüht, wenn man die Deutschen gewähren verkauft, neulich kam sogar eine Sammel- Vielfalt. lässt. Sie geben es ja zu, dass sie uns ver- bestellung aus Deutschland. Professor Manassero sagt, die deutschen treiben wollen.“ Wie flächendeckend der Ausverkauf sei, Touristen sollten sich an den Stränden aus- Die ADM hat einen tüchtigen Schuss sagt Magdalena Mayol, das könne man an toben. „Aber das Innere der Insel gehört Blut-und-Boden-Mix im Programm. Sie dem Dorf Biniagual sehen. Es liegt nicht uns, das ist unser Herzland“ (corazón del fordert ein Gesetz, das es Nicht-Mallor- weit vom geografischen Zentrum der Insel. país). Hier will sie keine Deutschen: „Sie quinern – also auch Festland-Spaniern – Ein deutscher Industrieller hat es komplett sind einfach zu reich für die Integration.“ unmöglich macht, Immobilien auf der In- mit 15 Häusern und 1,7 Millionen Qua- Mit den Briten hätten sie solche Probleme sel zu kaufen. dratmetern umliegender Ackerfläche ge- nicht. „Das sind auch Insulaner, die ver- Magdalena Mayol hat ihr Credo zwei- kauft, nachdem es jahrelang leer stand. stehen uns besser.“ sprachig auf ein T-Shirt drucken lassen. Es Biniagual ist ein Schmuckstück: sensi- Magdalena Mayol aus Vilafranca, Grün- lautet auf Deutsch: „Ich bin von oben bis bel restaurierte Häuser, kopfsteingepflas- derin der „Union zur Verteidigung Mal- unten Mallorquiner, gemischt von Arabern, terte Straßen, makellose asymmetrische lorcas“ (ADM), äußert sich über die Inva- Juden und Katalanen. Ich verkaufe mich Blumenrabatten. Alles perfekt mallorqui- sion der Deutschen weniger verbindlich: nicht, mein Land auch nicht, und damit nisch. Man kann sehen, dass hier hoch „Die Fremden nehmen uns unser Land, Ende.“ 5000 Exemplare davon sind schon kompetente einheimische Gärtner und zerstören unsere Bräuche Handwerker am Werk waren. Nichts und bedrohen unsere Iden- deutet darauf hin, dass das Dorf eine deut- tität.“ sche Kolonie ist. Hier gibt’s nicht mal Zäu- Der Starhexer David Cop- ne, das ist ganz selten bei den Deutschen perfield, ständiger Begleiter auf Mallorca. des deutschen Supermodels Biniagual gilt als eines der schönsten Claudia Schiffer, das bei Dörfer der Insel. Trotzdem ist es – mal ab- Andratx eine ganze Land- gesehen von ein paar Arbeitern vom Fest- zunge okkupiert, hat Mag- land – meist unbewohnt. Denn die Ei- dalena Mayols schlimmste gentümer und ihre Freunde kommen nur Befürchtungen bestätigt. Er ein paar Wochen im Jahr hierher. Und in habe erklärt, so behauptet Palma hausen junge Familien zu sechst in Mayol, dass er am liebsten Zwei-Zimmer-Wohnungen, weil der Wohn- die Mallorquiner alle weg- raum knapp ist. zaubern möchte, um mit sei- Gut 35000 Bundesbürger leben ständig

ner Claudia allein zu sein. FOCUS SCHULZ / AGENTUR M.-O. auf der Insel, schätzt Bernd Jogalla, Chef- „Da sehen Sie, was uns Golfplatz an der Costa Canyamel: Leben in Ghettos redakteur des deutschsprachigen „Mallor-

der spiegel 31/1999 125 Titel

ca Magazin“. Das brave Wochenblatt boomt, hat derzeit 160 Seiten, strotzt von Anzeigen und bietet in seiner jüng- sten Ausgabe mehr als 3000 Immobilien „Da wurde gesündigt“ an. Auch Jogalla, seit sechs Jahren auf der Insel, spürt eine „sensibilisierte“ Balearen-Premier Antich über den Ausverkauf Mallorcas Grundhaltung der Mallorquiner gegenüber den Import-Germanen, „allerdings hat Francesc Antich, 40, Rechts- Landschaft. Leider aber lieben mich noch keiner angemacht, weil ich anwalt, wurde vorigen Diens- die Deutschen auch ihre Deutscher bin“. tag als Ministerpräsident Zäune und Mauern, die alte Nur etwa 8000 Deutsche sind offiziell einer von den Sozialisten Wegerechte ignorieren. Zu als Dauergäste registriert. Die Masse der geführten Mitte-links-Regie- viele Deutsche kaufen zu viel Residenten lebt hier – legal – ohne die Be- rung der autonomen Balea- Land und kapseln sich dann scheinigung einer „residencia“. Das hatte,

ren-Region vereidigt. M. GUMM / WHITE STAR sozial ab. Auch das muss sich unter anderem, die segensreiche Folge, dass ändern. ihnen die spanischen Banken Zinsen ab- SPIEGEL: Herr Präsident, haben die SPIEGEL: Sind Ihnen die deutschen gabenfrei auszahlten: Vermögenserträge Mallorquiner Angst vor einem Aus- Kampftrinker von Ballermann 6 lieber? von Ausländern, die offiziell mehr als sechs verkauf ihrer Insel an die Deutschen? Antich: Für mich ist ein Arbeiter, der Monate außerhalb des Landes wohnten, Antich: Das Gefühl, von der Immobili- Urlaub macht, genauso viel wert wie waren steuerfrei. Erst seit Januar ziehen enspekulation überrollt zu werden, ein Millionär. Allerdings schadet der die Banken eine 25prozentige Quellen- richtet sich nicht nur gegen die Deut- Sauf-Tourismus dem Image von Mallor- steuer ab – wenn der Resident nicht nach- schen, sondern gegen alle Ausländer … ca, wir wollen einen Tourismus mit weist, dass er in Deutschland steuerpflich- SPIEGEL: … doch die Deutschen liegen Würde. tig ist. mit Abstand vorn und besitzen in- SPIEGEL: Was bedeutet das konkret? Das Gros der Deutschen bevorzugt ein zwischen 20 Prozent des bebaubaren Antich: Dass wir bei Ballermann und Leben in selbstgewählten Ghettos, die in- Bodens. Schinkenstraße notfalls mit einer Ein- tern „Hamburger Hügel“ heißen oder Antich: So ist es wohl. Nur: Die ent- schränkung der Öffnungszeiten Aus- „Kampen“ und „Düsseldorfer Loch“. Die sprechenden Verkaufsangebote waren wüchsen begegnen werden. Außerdem wenigsten bemühen sich um Integration. eben vorhanden, da wurde in der Ver- wollen wir die Hoteliers ani- gangenheit unglaublich gesündigt. Die mieren, andere Programme Proteste jetzt auf den Straßen Mallor- anzubieten. Statt mit Sonne, cas, aber auch auf Ibiza und Menorca Sand und Sex sollten die Ba- richten sich gegen ein wild wucherndes learen auch mit dem kultu- Bauwachstum, das die Tatsache igno- rellen, sportlichen und um- riert, dass es hier um eine zerbrechliche weltbewussten Tourismus Natur auf begrenztem Territorium werben.Wir werden dazu den geht. Bei diesen horrenden Preis- nördlichen Teil der Tramunta- schüben haben junge Einheimische na-Bergregion zum Natur- keine Chance mehr auf eine Eigen- schutzpark machen und mehr tumswohnung. Das schmerzt und muss Fahrradwege anbieten. sich ändern. SPIEGEL: Das Gros der Mas- SPIEGEL: Mit welchen Maßnahmen – ei- sentouristen hat andere Vor- nem Baustopp oder mit Zuzugs- und lieben. Verkaufssperren wie in Teilen von Dä- Antich: Die soll es auch weiter nemark und Schweden? genießen, aber dieses Mas-

Antich: Dazu haben wir nach den senkontingent ist ausge- / ARGUS H. SCHWARZBACH EU-Vorschriften keinerlei gesetzliche schöpft. Es darf sich nicht wei- Flughafen Palma: „Deutscher als je zuvor“ Grundlage. Aber wir können zum ter erhöhen, soll Mallorca vor Schutz unserer Lebensqualität künftig dem Kollaps bewahrt werden.Wir plat- 60 Prozent dieser Zuwanderer, so er- eine restriktivere Baupolitik betreiben, zen im Sommer aus den Nähten. Da mittelte Professor Pere Salva, sprechen we- beginnend mit dem Stopp von 20 ge- kann nichts mehr hinzukommen. der Spanisch noch Mallorquinisch. „Es gibt planten Urbanisationen. Bei den bis- SPIEGEL: Deshalb die Idee einer Touris- ja die Versuchung, faul zu sein“, gesteht her gültigen Baugesetzen unserer kon- mussteuer von etwa 1000 Peseten? der Publizist Wolf Schneider, der vor vier servativen Amtsvorgänger gab es zu Antich: Dieses Geld soll umwelt- Jahren aus Hamburg nach Mallorca aus- viele Ausnahmen, vor allem in den Küs- fördernd investiert werden, auch deut- wanderte (siehe Seite 130). tenregionen.Außerdem müssen wir die sche Seebäder haben ja eine Kurtaxe. In keinem anderen Urlaubsgebiet haben Parzellierung der ganz großen Fincas Wir werden darüber Anfang nächsten sich die Deutschen eine derart intakte In- auf Grundstücke mit Mindestgrößen Jahres entscheiden und eine Formel fin- frastruktur aufgebaut wie auf Mallorca. von wenigstens 30000 Quadratmetern den, die dabei Mehrfachbesucher und Heimat total: In den Supermärkten gibt es begrenzen. pendelnde Residenten nicht benach- von Schwarzbrot und Magerquark bis zum SPIEGEL: Bei Fincas sind die Deutschen teiligt. Klopapier und Kaminholz aus Buche so doch geradezu Aufbau-Künstler. SPIEGEL: Wem wird Mallorca in zehn ziemlich alles aus deutschen Landen. Antich: Das ist wahr. Kaputte Häuser Jahren gehören? Abends wird auf die deutschen Fernseh- werden von den Deutschen liebevoll Antich: Den Mallorquinern selbstver- kanäle geschaltet, am Morgen die „FAZ“ restauriert. Das passt oft perfekt und ständlich und allen, die Mallorquiner über eigenen Zustellservice ins Haus ge- harmonisch in die mallorquinische werden wollen. Interview: Olaf Ihlau bracht. Die deutsche Kolonie ist weitgehend autark. Sie hat ihre eigenen Bäcker und

126 der spiegel 31/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel Stummer Prunk in Marmor und Acryl Wolf Schneider über Deutsche auf Mallorca Schneider, 74, Publizist, Sachbuch- blößungslust hat die Erde wohl alles in im Handumdrehen.) Allmählich freun- Autor und Sprachästhet, lebt seit 1995 allem ein bisschen hässlicher gemacht. den sich die meisten Residenten an mit ganzjährig als Resident auf Mallorca. Und ebenso mit den Mallorquinern der Gelassenheit, mit der die Einhei- Arm in Arm sehen viele Residenten in mischen ihren Alltag meistern. Auch ie das Geld bringen, liebt man den Ferienvillen das eigentliche Ärger- mit der Arbeitsmoral der Handwerker, nicht, das ist schon wahr. Aber nis. In Marmor und Acryl, mit Doppel- wenn sie da sind; oft ist sie höher als in Dwenn die einheimischen Zei- garagen, schweren Toren und barocken Deutschland, gepaart mit einem Quan- tungen auf Mallorca den dosierten Hass Erkern haben sie von Küsten, Buchten, tum Lebensart und jenem natürlichen auf die Deutschen pflegen, so sagt das Hängen rücksichtslos Besitz ergriffen, Stolz, der es verbietet, ihnen ein Trink- über die Stimmung der Mallorquiner im Dutzend übereinander gestapelt, geld herablassend zu gewähren. nicht mehr aus als der oft undosierte 400 Quadratmeter Wohnfläche für Sprechen die deutschen Residenten Deutschenhass der englischen Boule- höchstens fünf Wochen im Jahr; 47 Wo- fließend Spanisch? Leider nur ein Teil vardzeitungen über die Stimmung der chen lang prunken die Engländer. Burgen der Verschwen- Gewiss, es gab da zwei Geschmack- dung stumm vor sich hin, losigkeiten: vor zwei Jahren den ge- haben Aussicht geschän- scheiterten Versuch eines deutschen det, Land verschlungen Wurstfabrikanten und Diskothekenbe- und Wanderwege ver- sitzers, eine Partei der Deutschen zu baut. gründen, und vor drei Wochen den ge- Wer nun von den Re- lungenen Versuch des ZDF, die Stier- sidenten sagt, sie seien kampfarena von Palma zu Gunsten der größtenteils ganz nette Sendung „Wetten, dass …?“ in eine Leute, ja netter als die deutsche Kolonie zu verwandeln. in Deutschland, alles in Zweimal deutsche Dummheit, spa- allem, flexibler nämlich, nisch übertrieben – sonst läuft alles so aufgeschlossener, un- friedlich auf Mallorca und so normal, ternehmungslustiger als dass es Schlagzeilen einfach nicht her- die Daheimgebliebenen, gibt. Rummel, Pöbel, Schickeria, Suff, nicht ihrem Bauspar- Inselkoller, Fremdenfeindlichkeit – das häuschen verhaftet, im

gehört zum Mallorca-Bild wie die Lei- Herzen keinen Garten- M. GUMM / WHITE STAR che zum Krimi, und die Wirklichkeit zwerg – der stößt auf Wi- Mallorca-Resident Schneider: Modell für Europa bleibt auf beiden Feldern weit zurück. derspruch. Bei den deut- Wer die Bettenburgen so wenig mag schen Residenten, versteht sich. Denn von ihnen. Denn da gibt es ja die Ver- wie die Paläste, hat reichlich Platz, um die Deutschen, Meister in so vielem, suchung, faul zu sein (deutsche Ärzte, sie zu meiden, und nur hie und da lassen sich auch darin von keinem Volk deutsche Banken, deutsche Restau- reicht ein auftrumpfender Deutscher der Erde übertrumpfen, dass sie sich rants), und überdies ein Ärgernis: Ob- an die Hochnäsigkeit heran, die die gegenseitig auf die Nerven gehen, ja wohl Franco, der alle Regionalsprachen Engländer einst an den Tag legten, als einander zu verachten wünschen. unterdrückte, schon seit 24 Jahren tot sie die Welt beherrschten. Residenten also. Saufen sie? Nicht ist, hat sich gerade in den letzten Jah- Nun sind die Deutschen ja von drei- mehr, als ihre Jahrgänge es in Deutsch- ren das Katalanische vor das Spanische erlei Art: In der Menge dominieren land tun; höchstens, dass die lauen geschoben. Viele Hinweisschilder – die Touristen, im Bauvolumen die Sommernächte und Spaniens prächtige auch für Touristen – sind allein in Ka- Eigentümer der Ferienvillen; die rund Weine dann und wann ein zusätzliches talan gehalten. 30000 deutschen Residenten – Leute, Gläschen provozieren. Kennen sie den Sind die Residenten integriert, die ganz oder überwiegend auf Inselkoller, sind sie von Frust zerfres- haben sie sich eingepasst, wollen sie Mallorca leben – sind leiser als die ers- sen? Von „Insel“ spürt man nichts, bei an ihrer neuen Heimat etwas ändern? ten, und so protzig wie die zweiten diesen Flugverbindungen. Voll integriert ist eine kleine Minder- stellen sie sich meist nicht zur Schau. Ärgern sich Residenten über spani- heit, und Einfluss nehmen will die Arm in Arm mit den Mallorquinern sche Sitten und Unsitten? Zu Anfang Mehrheit nicht. So, wie es ist, finden neigen die Residenten dazu, die Touris- schon. Der Handwerker, der erst in drei sie es schön: das Klima, die Landschaft, ten zu belächeln oder die Nase über sie Wochen kommen kann, ist höflich ge- das Meer und das friedliche Neben- zu rümpfen – wenn sie sich in papagei- nug, seinem Kunden nicht mit dieser einander der Kulturen mit einem enfarbenen Trainingsanzügen durch traurigen Wahrheit ins Gesicht zu sprin- bisschen wechselseitigen Respekt. Wer Palmas schicke Straßen wälzen oder gen – „mañana“ sagt er, und das sollte mich in Ruhe lässt, den muss ich ja wenn sie nackte Kugelbäuche in Re- man nicht mit „morgen“ übersetzen, nicht auch noch lieb haben. Modell für staurants und Bankfilialen schleppen; sondern mit „irgendwann, es brennt ja Europa! So, genau so wäre es auszu- die Kombination von Reise- und Ent- nicht“. (Brennt es wirklich, kommt er halten.

128 der spiegel 31/1999 Banker, Tischler und Tierärzte, Anwälte ger Jahre und setzte Mitte und Optiker. Für fast jede Dienstleistung der neunziger mit voller steht ein Landsmann zur Verfügung. Wucht ein. Dass Mallorca „Wir sind die Alternative zum Heimflug rechtzeitig ein Mobilfunk- nach Deutschland“, preist der Chirurg und ISDN-Netz aufbaute, Andreas Overbeck die Dienste seines In- hat den Zustrom verstärkt: ternationalen Facharztzentrums an. Das Zu der guten Verkehrsan- Zentrum wurde vor gut zwei Jahren gleich bindung kam eine weitge- gegenüber dem Fähren-Anleger in Palma hend störungsfreie Telekom- eröffnet, obwohl es damals schon das Deut- munikation. sche Ärztehaus gab. Dank ISDN-Rufumlei- Mit Overbeck („Wir operieren auch am tung, mit Handy und Fax Wochenende“) sind neun Fachärzte an lässt sich für ein paar Tage in Bord. Gerd Bossmann kümmert sich um der Woche oder einige Mo- Potenzstörungen, Frank Poblotzki um den nate im Jahr die Kanzlei richtigen Sitz der Zahnprothese. Den kran- oder die Firma in Deutsch- ken Hund verarzten drei deutsche Dokto- land regieren. Etwa 2000 Un- res aus der Euro-Tierklinik. ternehmer, Autoren, Film- Dominique Andreas Arens, Repräsen- und Fernsehstars, PR-Mana- tant der feinen Kölner Privatbank Sal. Op- ger und Künstler, so schät- penheim, sorgt in Palma dafür, dass das zen Kundige, betreiben ihre

Geld der Reichen arbeitet. E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL Geschäfte von den Balearen Im vergangenen Jahr hat Beate Uhse Deutscher Supermarkt auf Mallorca aus. einen Shop aufgemacht, die AOK ist da Flachmann mit Rum in der Badehose Zu den Mallorca-Fans, die und die Bausparkasse BHW mit einer ständig pendeln, gehört der zehnköpfigen Truppe. Die Deutsche Bank auf Mallorca niederlassen, werden zur Sa Münchner Feinkostkönig Gerd Käfer. Für hat 15 Filialen auf der Insel, die Drogerie- Nostra weitergeleitet. zahlungskräftige Gastgeber organisiert Kä- kette Schlecker acht Läden. Den Yacht- Das aus dem Norden strömende Geld fer rauschende Partys auf Mallorca, Köche Eignern meldet Radio Mallorca auf hat die Insel reich gemacht, bringt aber und Dekorateure läßt er aus München ein- Deutsch die Vorhersagen des Deutschen neue Probleme. Augenfälliges Beispiel ist fliegen. Die Ferienvilla hat manchen wie Seewetteramtes für die Balearen, jeden das tägliche Verkehrschaos in Palma: In etwa den westfälischen Bekleidungsfabri- Abend um halb sieben, „langsam, zum Mitschreiben“. „Die deutschen Touristen sollen sich an den Stränden austoben. Der Einfluss der wohlhabenden Resi- denten ist allgegenwärtig. Die alte mallor- Aber das Innere der Insel gehört den Mallorquinern.“ quinische Banca March, das führende Kre- ditinstitut der Insel, druckt Konto-Auszü- den letzten sechs Jahren hat sich die Zahl kanten Gerry Weber auf die Idee gebracht, ge auch auf Deutsch.Angestellte der Spar- der Autos vervierfacht. dass sich mit einer Dependance auf der In- kasse Sa Nostra haben Deutsch gebüffelt, Auch das Leihwagengeschäft floriert. sel Geld verdienen läßt. ihr Institut hat Kooperationen mit den Hasso Schützendorf hat es zu einer Flotte Urlaubs- und Geschäftsreisen verbinden Stadtsparkassen Düsseldorf, Berlin, Frank- von 4000 Autos gebracht. sich nahtlos. Die ARD-Moderatorin Sabine furt, München und Hannover abgeschlos- Der Aufstieg zur Lieblingsinsel der Schö- Christiansen hat sich gleich an zwei Fir- sen: Kunden dieser Sparkassen, die sich nen und Reichen begann Ende der achtzi- men auf Mallorca beteiligt. Mit Ehemann Theodor Baltz und einem weiteren deutschen Partner besitzt sie die Sathero Me- dia, die unter anderem mit Lizenzrechten handelt – und auch mit Grundstücken.Aus- schließlich im Immobilien- gewerbe tätig ist die East Side Company in Palma, die dem Ehepaar Christiansen / Baltz allein gehört. Auf branchenfremdem Terrain tummelt sich auch der Berliner Konzertveran- stalter Peter Schwenkow („Ich bin ein alter Rock’n’ Roller“): Der Chef der Deut- schen Entertainment AG hat mit dem Hamburger Makler Matthias Kühn die Immobili- enfirma La Isla Development gegründet und mit Roland- Fred Rauschmayer, Deutsch- lands größtem Trauring-Her-

B. GEILERT / G. A. F. F. / G. A. F. B. GEILERT steller, die Grundstücksge- Touristen am Ballermann 6: Aussichtsloser Kampf gegen die Horden aus dem Norden sellschaft David Investment.

der spiegel 31/1999 129 Titel Dompteuse im Paradies Die Bürgermeisterin von Calvià, der reichsten Balearen-Gemeinde, kämpft gegen die Auswüchse des Billigtourismus – und sprengt dabei schon mal ein Hotel in die Luft.

ie meisten Poli- Nájera, ebenso resolut wie freundlich, Luft gejagt. Beim Abbruch von Häusern, tiker haben auf kam Mitte der Siebziger aus dem Bas- die den Blick aufs Meer versperrten, lenk- Djede Frage eine kenland selbst als Touristin auf die Insel, te sie persönlich die Abrissbirne.Wo einst Antwort parat. Marga- verliebte sich in einen Calviàner und die Bausünde Hotel Atlantic stand, wach- rita Nájera Aranzábal blieb. Ihre Jugendliebe ist seit langem ihr sen jetzt wieder Pinienbäume im Sand. greift dagegen gern Mann. Gemeinsam erlebte das Paar in In der Bauabteilung ihres Rathauses zum Filzstift und zu ei- den vergangenen 25 Jahren einen bei- stapeln sich die Anträge. Zu viele Men- nem Blatt Papier, will spiellosen Bauboom, dessen Ergebnis die schen wollen Fincas errichten und die sie ihre Botschaft an Region heute zu ersticken droht. Mandelhaine vor der Stadt damit in Be- den Mann bringen. Auf den Straßen der Küstenorte stau- tonwüsten verwandeln. Selbst Einheimi-

M. GUMM / WHITE STAR Dann zaubert die en sich die Mietwagen vor den Betonsilos, schen mit Optionen auf Bauland erteilt Nájera spanische Sozialistin aus den Wasserhähnen kommt gechlortes sie Absagen. mit ein paar Strichen Nass, die Müllkippen sind randvoll. Den Nájeras Aktionismus bescherte der Pfeile, Kreise und Diagramme auf den ersten Öko-Kollaps hat Mallorca bereits Touristenhochburg 1997 sogar einen Um- Bogen, immer schön übersichtlich skiz- hinter sich: 1995 bis 1997 mussten Schif- weltpreis der Europäischen Union. Nun ziert und alles logisch miteinander ver- fe zwei- bis dreimal die Woche Wasser gedeihen an den Stränden der Gemeinde bandelt. Die schwarz-weißen Sinnbilder nach Palma bringen, weil die Brunnen wieder Algenfelder im Wasser, die den symbolisieren Bevölkerungsdichte, Tou- versiegt waren. Sandstrand wachsen lassen. ristenströme, Müllaufkommen, Wasser- Nájeras vielleicht wichtigste politische Die bislang schwierigste Aktion der vorrat und Lebensqualität. Erkenntnis aus dieser Zeit lautet: „Die Bürgermeisterin war die Verkehrsberuhi- Die Quintessenz der Schautafeln, die Touristen sind nicht das Problem. Wir gung der Strandpromenade in Peguera. die Ökonomin mit der Verve einer Mori- selbst sind das Problem.“ Heute ist die Weil Massen von Autos die Straße tatensängerin kommentieren kann, ist im- 45-Jährige so etwas wie die Dompteuse blockierten, sollte sie in eine Fußgänger- mer dieselbe: „Wir haben zwei Möglich- des Freizeitparadieses. zone verwandelt werden – doch die Ho- keiten“, sagt sie, „entweder wir gehen Seit acht Jahren residiert Nájera in tel- und Restaurantbesitzer fürchteten unter, oder wir ändern uns.“ Hinter ihre ihrem modernen Rathaus, einem freund- Schwund in der Kasse und demonstrier- bedrohliche These setzt sie ein gewin- lichen Neubau aus Glas, Marmor und ten sogar öffentlich gegen die Pläne der nendes Lächeln. ockergelber Steinfassade. An den Wän- Stadtchefin. Nájera ist die Bürgermeisterin der Ge- den hängen fröhliche Gemälde mallor- Die Baskin scheuchte die Bautrupps meinde Calvià, der touristischen Metro- quinischer Künstler, über die Flure laufen dennoch an die Küstenstraße. Ein halbes pole im Südwesten Mallorcas. Die Strän- adrette junge Männer und Frauen. Jahr lang dauerten die Bauarbeiten, vie- de der Region sind jetzt so dicht bevöl- Die Angestellten verehren ihre Che- le anliegende Hotels wurden mit EU-Zu- kert wie Karstadt um neun Uhr nach An- fin, denn Nájera ist eine Lokomotive für schüssen renoviert. Als die Umbauphase pfiff des Sommerschlussverkaufs. die gute Sache. „Misión posible“ nennt endlich abgeschlossen wurde, waren vie- In den fünfziger Jahren war Calvià ein sie ihr Programm, eine „erfüllbare Auf- le Geschäftsleute „fast pleite, und ich war armes, verschlafenes Städtchen am Fuße gabe“. Sie bremst den Tourismus, wo es in der Straße nicht besonders beliebt“. des Berges Galatzó. Die 3000 Bewohner nur geht. Sechs Absteigen in Strandnähe Heute bekommt die energische Politi- lebten von dem, was der trockene Boden hat sie den Besitzern abgekauft und in die kerin in jedem Restaurant an der Prome- hergab. Wer keine Arbeit fand, verdingte sich auf Kuba, in Argentinien oder Hotelsprengung auf Mallorca: „Entweder wir gehen unter, oder wir ändern uns“ Deutschland als Gastarbeiter. Heute braucht kein Bewohner der Ge- meinde mehr seine Heimat zu verlassen, um Arbeit zu finden. 15000 Jobs bei rund 35 000 Einwohnern hängen direkt am Tourismus. Calvià zählt zu den reichsten Gemeinden Spaniens, mehr Umsatz macht auf den Balearen keine Kommune. „Wir verdanken den Touristen fast al- les, was wir heute haben“, sagt Nájera. Über anderthalb Millionen Menschen zieht es im Jahr an den insgesamt 53 Ki- lometer langen Küstenstreifen der Ge- meinde. Zwei Millionen Tagestouristen

aus anderen Teilen der Insel kommen / WTHITE STAR R. RABAL noch dazu.

130 nade mindestens einen „café solo“ vom Chef spendiert. Denn ausgerechnet die So- zialistin hat der mallorquini- schen Kleinbourgeoisie mit der ihr zur Verfügung ste- henden staatlichen Macht eine größere Profitrate be- schert: „Die verdienen jetzt alle das Doppelte“, sagt sie. Nun träumt Nájera von ei- ner geschlossenen autofreien Uferpromenade am Westzip- fel der Insel. Ihr Umbau bringt noch mehr Geld in die Kassen, und jedes renovierte Hotel mit Bidet im Bade- zimmer und Mülltrenncon- tainern im Hinterhof bedeu- tet einen Hooligan weniger, weil der sich 100 Mark auf- wärts pro Übernachtung nicht mehr leisten kann.

Die soziale Auslese ist von M. GUMM / WHITE STAR Nájera durchaus gewollt, Touristenhochburg Calvià: „Viele Söhne und Töchter sehen nicht ein, warum sie noch etwas lernen sollen“ denn sie führt vor allem nachts zur Straßenberuhigung: Reiche firmen. Die Gewinnspannen der Leute prügeln sich selten und sind meist Die beliebteste Urlaubsinsel der Deutschen Bauträger seien traumhaft, berich- nur still besoffen. Eigentlich läuft alles Größe der Insel: 3640 km2 etwa 20% des bebaubaren tet ein Insider: „Für eine Marge von nach Plan. Nur um den Seelenzustand Landes in deutschem Besitz 30 Prozent steht bei denen keiner des Inselnachwuchses macht die Ehefrau Küstenkilometer: 555 km auf.“ und Mutter sich Sorgen. Einwohner: 610 000 davon in Palma: 305 000 Im Schlepptau der Touristen und Ihre Kinder, 18 und 19 Jahre alt, werden Deutsche: ca. 70 000 Immobilienbesitzer Residenten lassen sich von Jahr zu in einer Welt groß, in der schöne Frauen davon ca. 8000 mit offiziellem 3500 Jahr mehr deutsche Betriebe auf knappe Bikinis und reiche Männer dicke Wohnsitz auf der Insel geschätzt Mallorca nieder. Der Lebensmittel- Portemonnaies in teuren, kurzen Hosen Discounter Lidl & Schwarz will tragen. Die Spaziergänge am Hafen 2924 3000 demnächst auf die Insel, ebenso der führen an Motoryachten vorbei, die so Deutsche Handelskonzern Tengelmann. Die groß sind wie Einfamilienhäuser und de- Urlauber Drogeriekette Schlecker plant zwei in tausend 2500 ren Liegegebühr per anno das Jahresge- D dutzend weitere Filialen, auch die halt einer mallorquinischen Lehrerin be- jährlicher Deutsche Bank wird ihr Filialnetz trägt. Die größte Gefahr, die in dieser Touristen- 2000 erweitern. vergnügungssüchtigen Freizeitgesellschaft strom nach Mit den Touristen und Mil- lauert, ist ein Sonnenbrand. Mallorca 1500 lionären zieht es ein buntes Völk- Calvià ist eine junge Gemeinde. Die chen auf die Insel: Immobilienbe- Hälfte der Einwohner ist unter 25 Jahre 1000 trüger, verkrachte Existenzen und alt. Viele Söhne und Töchter „sehen gar naive Jobber, die sonnige Vorstel- nicht ein, warum sie noch etwas lernen lungen über die Arbeit auf Mallor- sollen“, klagt die Bürgermeisterin. Zur ca haben. 35 Mann hat Bäckermei- Lebensgestaltung reiche denen ein Mo- 1985 8890 92 94 96 98 99 ster Herbert Klug in den letzten an- torroller und die Aussicht, ein gut gehen- derthalb Jahren gefeuert: Bäcker- des Restaurant zu erben. Der wirtschaftliche Boom wird vom Im- burschen, die auf Klugs Stellenangebote Die nächste Kampagne, die die ele- mobiliengeschäft angetrieben; Grund- von Deutschland nach Santa Ponça ge- gante Kunstliebhaberin auf den Weg brin- stückshandel und Bauwesen sind der Mo- kommen waren. gen will, soll deshalb dem Nachwuchs tor, der Mallorcas Wirtschaft hochtourig In manchen Kneipen wechselt zweimal den rechten Weg weisen. Schon bald will schnurren läßt. im Jahr der Pächter. Immer wieder kom- sie ihre Mitarbeiter zu einer Jugendkon- Zwar zirkuliert das Geld der Touristen men neue Deutsche, die glauben, mit San- ferenz zusammenrufen. und Residenten zu einem guten Teil in ei- gría, Warsteiner und Thüringer Bratwurst Die Bürgermeisterin ist voller Taten- nem geschlossenen Kreislauf, von der Ni- reich zu werden. Die meisten von ihnen drang, denn Margarita Nájera war gerade vea-Dose bei Schlecker bis zur ADAC- kehren noch ärmer zurück, als sie gekom- erst mit ihrem Mann im Urlaub. Im Yachtversicherung in Palma. Doch ohne men sind – oder sie fangen erst gar nicht an beschaulichen Norden Mallorcas hat sie deutsches Kapital würde die Wirtschaft wie jener Beinahe-Existenzgründer, der ei- sich erholt von all den Ungeheuern aus Mallorcas schlappmachen. nen Zeitungskiosk in L’Arenal kaufen woll- Beton, die sie noch in die Luft sprengen Von der touristischen Attraktivität der te, weil dort so viele Deutsche seien. „Dem müsste. Claus Christian Malzahn Insel leben nicht nur Kellner und Busfah- Mann habe ich nur gesagt“, so die Unter- rer. Ausländisches Geld fließt auf die Kon- nehmensberaterin Ursula Müller-Breit- ten der spanischen Hotelketten und Bau- kreutz, „machen Sie doch einen Kiosk vor

der spiegel 31/1999 131 Titel

dem Kölner Hauptbahnhof auf, da sind Seine Preisliste für Wohnungen und Rei- notarielle Beurkundung bindend. So schlie- noch mehr Deutsche.“ henhäuschen in weniger attraktiven Lagen ßen Käufer und Verkäufer – gern auch vor Die Diplom-Kauffrau, die das Mallorca- fängt bei 106000 Mark für ein 48-Quadrat- dem Notar – zwei Verträge. In dem einen Büro der Kölner Wirtschaftsberatung meter-Appartement an. Auch Mallorca- steht der tatsächliche Kaufpreis, in dem Michael Horbach leitet, warnt mit Nach- Fans, die über die Bausparkasse finanzie- anderen der Preis, der gegenüber dem Fi- druck: „Nur wer in Deutschland erfolg- ren und zumeist 250000 bis 300000 Mark nanzamt deklariert wird. reich war, setzt sich hier durch.“ ausgeben, treiben die Preise. Das hat für beide Seiten Vorteile. Der Zu dieser Gruppe gehört der Rüdeshei- Wie in Deutschland gilt auch auf Mal- Verkäufer kommt an Geld, von dem das Fi- mer Tischlermeister Ingo Schuster, 31, der lorca die Regel: Je teurer das Eigenheim, nanzamt nichts wissen soll. Der Käufer Ende 1997 mit seiner Frau nach Santa desto seltener eine Hypothek. Für gedie- wiederum, der für die Villa in Wahrheit Ponça auswanderte, wenig später fünf Leu- gene Villen fließt häufig Bares aus Luxem- 2 Millionen Mark, offiziell aber nur 1,1 Mil- lionen zahlt, pumpt damit 900000 Mark Wenn die Schatten auf der Seele länger werden, Schwarzgeld in den Wirtschaftskreislauf zurück – eine ideale Geldwäsche. Und er kehren viele heim – frustrierter, als sie gekommen sind. spart sechs Prozent Grunderwerbsteuer. „Ziemlich erschüttert“ war Bäckermei- te einstellte und jetzt wegen Überlastung burger oder Schweizer Depots. Ein hoher ster Klug, als ihm vor drei Jahren ein spa- manchen Auftrag ablehnen muss. Bankkredit wäre auch schwierig: Zwischen nischer Rechtsanwalt den Kaufvertrag für Schuster, der in Deutschland einige Aus- dem notariell beurkundeten Kaufpreis und ein Häuschen nach Köln faxte. Die Summe, zeichnungen einheimste, fertigt „alles nur dem tatsächlich gezahlten Betrag klafft die im Kaufvertrag stand, sollte er auf ein nach Maß“, Barmöbel aus Wurzelfurnier eine gewaltige Lücke. Konto überweisen, exakt den gleichen mit Intarsien beispielsweise. Derzeit ar- Nach alter Landessitte ist auf den Preis, Betrag bar dem Verkäufer abliefern. beitet er für einen Norddeutschen an ei- den der Notar in der „escritura“ registriert, „Schwarzgeld hat die Insel groß gemacht“, nem Ankleidezimmer aus poliertem Ma- ein Aufschlag von mindestens 50 Prozent, weiß der Bäcker inzwischen. Bei Barzah- hagoni mit versteckten Türen. Seine Kun- oft 100 Prozent fällig. In Spanien ist, anders lung gibt ihm sein Arzt 20 Prozent Rabatt. den haben Geld, und „viele lassen es auch als in Deutschland, auch bei Grundstücks- Natürlich kennen die spanischen Finanz- raushängen“. geschäften ein persönlicher Vertrag ohne ämter die Praktiken, aber sie haben sie mit Das Geld der Deutschen hat die Mieten hochgetrieben und Grund und Boden für viele Einheimische unerschwinglich ge- macht – in den letzten drei Jahren haben sich die Immobilienpreise verdoppelt. Grundstücke in den attraktiven Lagen um Andratx liegen auf der gleichen oder gar höheren Preislage wie die Villengebiete von Hamburg-Blankenese oder München- Grünwald. Die Preise klettern weiter, denn tausen- de von Deutschen, darunter nicht nur Rei- che und Rentner, sondern zunehmend auch jüngere Familien, wollen sich den Traum vom Leben in der Sonne erfüllen. Nach ei- ner Studie der Landesbausparkasse LBS gibt es 800 000 potentielle Spanien- und vor allem Mallorca-Interessenten. Um diese Leute, die mit 50 oder späte- stens 60 Jahren aussteigen wollen, küm- mern sich Experten wie der Diplomvolks- wirt Christoph Albeck von der Allianz Fi- nanz- und Vermögensplanung, einer Toch- tergesellschaft des Münchner Versiche- rungskonzerns. In diesem Jahr hat Albeck, 31, sein Büro nach Palma verlagert und sitzt seitdem häufiger im Flugzeug. Er rechnet seinen Kunden aus, wann sie genug Geld für einen kommoden Ruhestand angehäuft haben, berät beim Firmenverkauf in Deutschland und bei der Anschaffung einer Villa auf Mallorca. Seine auswanderungswilligen Kunden haben eins gemeinsam: „Alle ver- dienen wirklich gut.“ Die Kundschaft von Axel Menke in Cala Millor sieht ein bißchen anders aus. Der Vertriebsleiter Mallorca N/O der BHW Im- mobilien GmbH berät „nicht gerade die Hautevolee“, doch er hat in den letzten zwölf Monaten ,„überdurchschnittlich gut verkauft“. Windmühlen bei Sant Jordi: „Die Fremden nehmen uns unser Land, zerstören unsere Bräuche

132 der spiegel 31/1999 mediterraner Gelassenheit jahrzehnte- lorca abgesetzt hatte. Wegen solcher Lap- Denn verknapptes Bauland treibt die Prei- lang toleriert. Doch unterdessen ist die palien, glaubten Schindler und seine Bera- se noch höher. Stimmung umgeschlagen. „Der spanische ter, behelligen die Spanier erfahrungs- „Es gibt in Europa zu Mallorca keine Fiskus hat eine härtere Gangart ange- gemäß keinen Ausländer. Alternative“, sagt Matthias Kühn, der sich schlagen“, sagt Oppenheim-Repräsentant Schindler hatte sich geirrt. Seit fünf Mo- selbst als „der größte“ Makler der Insel Arens, „als erste merken das die vermö- naten sitzt er in Auslieferungshaft. annonciert (Umsatz 1998: 200 Millionen genden Deutschen.“ Dass die neue Balearen-Regierung nun Mark). Der blonde Hanseat hat auf den Jetzt überprüfen Finanzbeamte jeden eine restriktivere Baupolitik ankündigt, Balearen 100 Büros und ebenso viele An- Kauf, bei dem sie einen allzu krassen Un- kümmert die Gilde der Makler kaum. gestellte. terschied zwischen dem Wert der Immobi- lie und dem deklarierten Preis vermuten. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben sie Steuerhinterziehungen in Höhe von 88 Millionen Mark aufgedeckt – mehr als im gesamten Vorjahr. Zwar geht es den Spaniern ausschließ- lich darum, Steuern einzutreiben. Bei all- zu protzigem Auftreten der reichen Resi- denten geht freilich hin und wieder ein de- zenter Hinweis an deutsche Behörden. Ra- che und Neid sind die besten Verbündeten der Fahnder. Wie sehr sich die Zusammenarbeit zwi- schen dem mallorquinischen und dem deutschen Fiskus verbessert hat, bekam der Verleger Peter Schindler zu spüren, der sich mit hohen Steuerschulden nach Mal- M. GUMM / WHITE STAR Makler Kühn „Keine Alternative zu Mallorca“

Hauptvorteil der deutschen Lieblingsin- sel bleibt, so sieht es Kühn: Sie ist billig und einfach zu erreichen. Erst neulich, erzählt Kühn, seien ein Freund und er von Ham- burg aus um die Wette gereist – der Kum- pel nach Sylt, Kühn nach Mallorca. Der Bekannte brauchte mit dem Auto fünf Stunden, um anzukommen, Kühn mit Taxi und Flieger nicht mal vier. Macht Mallorca glücklich? Nicht automatisch, sagt der Psychologe Achim Tobias, der in Llucmajor deutsche Macken behandelt. „Ich staune oft, mit welcher Naivität die Leute hierher kom- men.“ Der Umzug auf die Insel stürze vie- le in die Krise. „Sie denken, jetzt habe ich eine schöne Finca, das Wetter ist toll, es darf mir ei- gentlich nicht schlecht gehen.“ Das Ge- genteil ist aber die Regel. Wer vor Proble- men zu Hause flüchte, mache alles nur noch schlimmer. Denn: „Das soziale Um- feld ist weg, die Sicherheit ist weg, da spitzt sich die Situation zu.“ Nach zwei, drei Jahren stellt sich bei nicht wenigen der Inselkoller ein, mit Depressionen, Ehekrach und Suff. Jeder zweite Mallorca-Deutsche, so schätzt To- bias, hat Alkoholprobleme. Und wenn die Schatten auf der Seele länger werden, keh- ren sie heim – frustrierter, als sie gekom-

K. BOSSEMEYER / BILDERBERG men sind. Hermann Bott, und bedrohen unsere Identität“ Olaf Ihlau, Erich Wiedemann

der spiegel 31/1999 133 Titel

ten viel Aufsehen mit einer Anzeigen- kampagne, in der Prominente wie US- Schauspieler Michael Douglas angepran- gert wurden, dessen Ferienrefugium über Flucht in die karstigen Hügel der Felsküste von Valldemossa hängt. „Wir können nicht als einzige für einen Irrtum Um Bausünden der Vergangenheit zu ahnden und den der Verwaltung zu Opfern gemacht wer- den“, protestiert Schwartz. Keine Ge- Wildwuchs einzudämmen,wurden in Spanien die meinde der Umgebung habe den gefor- Gesetze verschärft. Jetzt droht vielerorts ausländischen derten Naturschutzplan. Danach wären an Grund- und Hausbesitzern die Enteignung. die tausend Fincas nunmehr illegal. Seit in Meernähe kaum ein Streifen ie vier Villen, mit Naturstein ver- führte neue Balearenregierung aufs Panier mehr zu ergattern ist, zieht es die Bau- kleidet und mit gebrannten Ziegeln geschrieben. Früher schreckten die Spani- herren auf der Suche nach Ruhe in die kar- Dgedeckt, liegen versteckt hinter vio- er davor zurück, selbst Bauruinen abzu- stigen Hügel des Küstenhinterlands. Dort letten Bougainvilleen und weißem Olean- reißen. Doch in den vergangenen Monaten lassen sie Wacholderbüsche und Krüppel- der. Sie schmiegen sich perfekt an den wurden vielerorts Grund- und Hausbesit- kiefern roden, um ihre weißen Paläste zu Hang und sind von der Küstenstraße aus zer plötzlich enteignet. Unter den Opfern pflanzen. nicht zu sehen. Sein verwunschenes oft absurd anmutender Versuche, die Kü- Allerdings: So mancher, dem ein schlau- Traumhaus hat sich hier, im Nordwesten sten für die Einheimischen zurückzuer- er Bauer seinen brachliegenden Acker ver- Mallorcas direkt über der malerischen obern, sind auch viele Deutsche. kaufte, bekam mächtigen Ärger, wenn er ei- Bucht von Llucalcari, der spanische Ex- Die begehrtesten Plätze, wo die Wellen nen verfallenen Stall zur stattlichen Wohn- Diplomat und Schriftsteller Fernando fast vor die Veranda schwappen, sind jetzt hütte ausbaute. Das erfuhr kürzlich Boris Schwartz bauen lassen. tabu. Die Neuregelung des spanischen Küs- Becker auf Mallorca. Die Fertigstellung seines opulenten Herrenhauses bei Artà Die meiste Gefahr droht den sonst so misstrauischen Deutschen wurde gestoppt, die Gemeinde verhängte eine Geldstrafe in Höhe von 12000 Mark. von den Abzockern unter ihren eigenen Landsleuten Seit vergangenem Jahr gilt eine rigide Bodenordnung („Ley del suelo“). Sie legt Der Berliner Axel Ball plante mit ei- tengesetzes soll garantieren, dass der fest, wo und unter welchen Bedingungen nem örtlichen Architekten für Schwartz Strand öffentlich zugänglich bleibt. Des- Häuser entstehen dürfen. Unterschieden und drei weitere, diesmal ausländische Ei- halb darf ein 100 Meter breiter Streifen, wird zwischen städtischem Bauland („ur- gentümer Landhäuser im traditionellen von der Küste aus landeinwärts gemessen, bano“), Naturschutzgebiet („no urbaniza- Stil. Die kleine Gemeinde Deià erteilte nicht mehr bebaut werden. Vielerorts ist ble“), das unangetastet bleiben muss, und eine Baugenehmigung, die Balearenregie- der Schutzstreifen noch ausgedehnter: 500 „suelo urbanizable“, Grund, den eine Ge- rung gab ebenfalls ihr Okay. Das war vor Meter auf den Balearen. meinde gemäß Vorschriften – zum Beispiel zwölf Jahren. Vehement wehren sich Fernando über eine Mindestgröße – in Bauland ver- Doch im Januar ordnete das Oberste Ge- Schwartz und seine Mitstreiter in Llucal- wandeln kann. richt der Balearen den Abriss der vier Vil- cari gegen den Rausschmiss aus Mallorcas „Die Rechtssicherheit hat sich heute ent- len von Millionenwert an. Der Schriftstel- vielleicht romantischster Bucht. Sie erreg- scheidend verbessert“, behauptet Anwalt ler und seine Nachbarn, ein Unternehmer aus Berlin und ein deutsches Paar, das in der Dritten Welt arbeitet und in Llucalca- ri seinen einzigen europäischen Wohnsitz hat, warten nun bange auf die Räumungs- order und die anrückenden Abrissbagger. Zugegeben: Der grüne Umweltverband GOB hatte vor zehn Jahren gegen den Bau in der Bucht mit dem Pinienwäldchen geklagt. Aber das nahm damals kaum jemand ernst. Nun aber bekamen die Grünen in letzter Instanz Recht: Die Häu- ser hätten nie bewilligt werden dürfen, da Deià seinerzeit keinen „speziellen Plan zum Schutze pittoresker Landschaf- ten“ besaß. Um Naturschutz hatten sich die Ge- meinden auf Mallorca und dem spanischen Festland nie sehr geschert. Doch jetzt reut es die Spanier, dass sie zügellos die schöns- ten Flecken verkauften, seit der erzkatho- lische Diktator, Generalísimo Francisco Franco, seinen rückständigen Sonnenstaat wenigstens für ausländisches Kapital und Touristen öffnete. Nun soll eine klar definierte Bauord- nung den Wildwuchs eindämmen und die Sünden der Vergangenheit ahnden. So hat

es sich auch die von den Sozialisten ge- M. GUMM / WHITE STAR 134 Doch erst als die Wiesenbergs mit ihrem Sohn nach der „escritura“ beim Notar drei Wochen in der Finca lebten, stellten sie fest, dass die Kinderzimmer im fußboden- beheizten Keller feucht waren. Beim ersten Besuch im Winter mit ihrem neugebore- nen Baby zeigte sich überdies, dass der So- larstrom nicht fürs Heizen reicht. Natürlich weigerte sich der Vorbesitzer, die Beseiti- gung der Mängel mitzubezahlen. Die Wiesenbergs hatten sich bei der Su- che nach ihrem Alterssitz unter Zeitdruck gefühlt. Mallorca – für sie der schönste Platz in zwei Flugstunden Entfernung von

FOTOS: ACTION PRESS ACTION FOTOS: zu Hause – würden sie sich bei den stei- Becker-Landhaus bei Artà, Mallorca-Besucher Becker: Zu üppig gebaut genden Preisen bald nicht mehr leisten können. Jaime Lamas, der auf Mallorca die Deut- Deutschen sollten sich abgewöhnen, in Die frische Begeisterung der Behörden sche und Schweizerische Schutzgemein- Spanien Verträge „ganz locker auf der Ser- für „zonas verdes“ trifft auch einen Arzt schaft für Auslandsgrundbesitz vertritt. In viette“ schließen zu wollen, spottet der Ju- aus Düsseldorf. Der hatte nach vier Jahren seinem Büro in der Altstadt von Palma, rist, der in Wien und Hannover studierte Suche sein Traumgrundstück in der zu Cal- mit Blick aus dem 11. Stock über die Ka- und als österreichischer Vizekonsul fun- vià gehörigen, bereits in den achtziger Jah- thedrale und den Königspalast bis zum giert. ren erschlossenen Urbanisation Golf San- Jachthafen, empfängt er viele, die sich auf Die meiste Gefahr drohe den sonst so ta Ponça gefunden: 1349 Quadratmeter in den Balearen niederlassen wollen. Er rät ih- misstrauischen Deutschen von ihren eige- der ersten Linie mit freiem Blick auf dun- nen, „für die komplizierte Vertragsgestal- nen Landsleuten, warnt der Anwalt. Weil kelblaues Wasser und die Malgrat-Inseln. tung“ der Kaufoption, zur Regelung der Kaufwillige die Spanier für wenig gesetzes- Bevor er im Februar 1998 den Kauf beim Zahlung und der Grundbucheintragung ei- treu hielten und ihre Sprache meist nicht Notar perfekt machte, hatte der Mediziner nen eigenen Anwalt einzuschalten. Denn in verstünden, ließen sich viele auf so- eine schriftliche Bestätigung des Bauamts Spanien ist der Notar nicht dafür zustän- genannte Berater ein. eingeholt. Die wies seine Parzelle als „sue- dig, den Käufer über Mängel aufzuklären. Diese Typen, deren einzige Qualifika- lo urbano“ aus, bebaubar mit einem Ein- Er muss zwar einen aktuellen Grundbuch- tion oft ist, Deutsch zu sprechen, obwohl familienhaus. auszug anfordern, um zu prüfen, ob das sie häufig eindrucksvolle Visitenkarten ver- Zu Hause ließ er einen spanischen Ar- Grundstück lastenfrei ist. Im übrigen pro- teilen, kassieren Provisionen für Hilfe beim chitekten Pläne zeichnen. Bei der ersten tokolliert er nur. Kauf oder bei der Organisation von Bau- Vorlage im vergangenen Sommer mahnte Lamas’ Büro sorgt auch für eine Art Auf- arbeiten. Bisweilen verschwinden sie, ohne das Bauamt Veränderungen an. Doch als lassungsvormerkung, die bislang in Spani- etwas geleistet zu haben. Gegen solche der Architekt des Klinikbesitzers zu Ostern en unbekannt war, so dass der Klient kein Abzocker ist schlecht klagen, viele sind Bauantrag stellen wollte, beschied ihn die Risiko mehr eingeht, an einen Mehrfach- weder in der Heimat noch in Spanien ge- Behörde, seit Dezember 1998 sei die Par- verkäufer und Optionshai zu geraten. Die meldet.Außerdem dauern Verfahren lange, zelle mit 14 weiteren Grundstücken am und der Kläger muss in jedem Fall die Kos- Meer zur Grünzone erklärt worden. Die ten tragen. Einspruchsfrist sei verstrichen. „Ganz bestimmt nicht unbedarft“ kauf- Kristin Servin, die dem Arzt aus dem te Jürgen Wiesenberg, 42, aus Gummers- Rheinland die Wunschlage vermittelt hatte, bach vor einem Jahr ein Haus bei Montuïri wundert sich, dass nur drei der vier auf Mallorca für etwa 305000 Mark einem nebeneinander liegenden Parzellen um- Holländer ab. Dennoch würde er heute gewidmet wurden. Auch sonst stehen die manches anders abwickeln: zum Beispiel Baukräne in der Siedlung nicht still. Genau selbst deutschen Maklern weniger glauben, hinter dem Terrain ihres Kunden bietet der einen Gutachter einschalten und beim No- größte Makler der Insel, Kühn & Partner, tar schriftlich vereinbaren, dass der Vor- auf einem roten Schild seine Dienste für besitzer für verborgene Mängel aufkommt. den Verkauf des Neubaus an, von dem erst Am letzten Tag einer Immobiliensuche die Fundamente existieren. „Der geht jetzt gefiel dem Ehepaar eine „finca rústica“ im zum doppelten Preis weg“, argwöhnt der Inselinnern. „Wunderschönes Steinhaus, düpierte Arzt. ungefähr 250 Quadratmeter auf 7000 Quad- Der Rheinländer fühlt sich um einen ratmeter Grundstück, isoliert, Fußboden- Lebenstraum betrogen. Beweise für die heizung, Solarstrom …“, so pries einer der Kosten habe der Bauamtsleiter verlangt, renommiertesten Makler das Objekt für aber er könne nicht die gesamte Kaufsum- 32 Millionen Peseten (376000 Mark) an. me belegen, klagt der Mediziner. Nach Bei der Besichtigung merkten die Deut- ortsüblicher Praxis habe er sich gezwungen schen, die in zwei Jahren intensiver Suche gesehen, beim Notar einen Umschlag mit schon 20 Häuser geprüft hatten, dass die Barem zu übergeben. Wohnfläche nur etwas mehr als halb so „Es geht mir um mein Recht zu bauen“, groß war wie im Exposé angegeben. Sie schimpft der Arzt. Das will er durch alle In- handelten den Preis herunter. stanzen suchen, notfalls bis zum Europäi- schen Gerichtshof. Schließlich könne man Landhaus in Llucalcari auf Mallorca ihn nicht „zwangsenteignen wie früher in Warten auf die Abrissbagger der DDR“. Helene Zuber

der spiegel 31/1999 135 Werbeseite

Werbeseite X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS: 1. Lenin und die Oktoberrevolution (29/1999); 2. Stalin und der Gulag-Staat (30/1999); 3. Das Sowjetimperium (31/1999); 4. Gorbatschow und das Ende des Systems (32/1999) FOTOS: MESSERSCHMIDT / SCHAPOWALOW (l.o.); R. BOSSU / SYGMA (r.o.); SIPA PRESS (r. u.) PRESS (r. SIPA (r.o.); R. BOSSU / SYGMA (l.o.); MESSERSCHMIDT / SCHAPOWALOW FOTOS: Kreml in Moskau; Breschnew, Honecker in Ost-Berlin (1979); Kanalbau in Usbekistan (1935); Tschechen auf Sowjetpanzer in Prag (1968)

Das Jahrhundert des Kommunismus Das Sowjetimperium Auf dem Höhepunkt ihrer Macht herrschten die Sowjets über mehr als hundert Völker in zwölf Zeitzonen. Das Reich, hoch gerüstet, verplemperte Milliarden, um zu überleben. Am Ende war es zahlungsunfähig und löste sich von selbst auf.

der spiegel 31/1999 137 Das Jahrhundert des Kommunismus: Das Sowjetimperium Spiegel des 20. Jahrhunderts NOVOSTI Rotarmisten vor dem Brandenburger Tor (1945): „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ Das überdehnte Reich Von Klaus Wiegrefe s war das größte Landreich, das die verkündete, aber andere Völker unter- Großreich nach. Es ist wohl das einzige Im- Menschheit je gesehen hat.Wenn die jochte. perium in der Menschheitsgeschichte, in ESonne hinter dem Thüringer Wald im Als an einem verschneiten Mittwoch zu dem sich am Ende alle ausgebeutet fühlten, Westen untergeht, stehen die Berge im Weihnachten 1991 zwei Kremlgardisten die die Herrschenden wie die Beherrschten. fernöstlichen Kamtschatka bereits im Mor- rote Fahne mit Hammer und Sichel vom Ungarn, Polen, Tschechen und Slowa- genlicht. Dazwischen dehnte sich über Kreml holten, trauerten nur wenige dem ken fanden, dass der große Bruder ihnen zwei Kontinente und zwölf Zeit- ein ineffizientes Wirtschaftssystem zonen das Sowjetimperium. aufgezwungen hatte, Kasachen Allein das sowjetische Kern- und andere Asiaten waren es leid, reich, die UdSSR, bedeckte ein dass sie ihre Rohstoffe billig an die Sechstel des Festlandes der Erde; Moskauer Zentrale abzugeben Karakalpaken und Tschuktschen, hatten. Und die Russen, die ver- kaukasische Bergjuden und russi- meintlichen Profiteure des Rei- sche Christen, Koreaner und Kur- ches, beklagten, das Imperium sei den lebten unter dem roten Stern, für sie nur ein Verlustgeschäft ge- dessen fünf Zacken den Anspruch wesen. Sie hatten Milliarden inve- des Kommunismus auf alle Erd- stiert, um es zusammenzuhalten. teile symbolisieren sollten. Wie einst die römischen Cäsaren 74 Jahre und 49 Tage lang mussten auch die Generalsekretä- drückte die Sowjetunion diesem re der KPdSU erfahren: Erobern Jahrhundert ihren Stempel auf, ist leichter als bewahren. eine Weltmacht, die unter unge- Wie trunken von der eigenen heuren Opfern den deutschen Ag- Machtfülle, prophezeite noch 1971 gressor besiegte und selbst Mil- Leonid Breschnew, der vierte AKG lionen Menschen umbrachte, die EUPRA Herrscher in der Geschichte der Menschheit eine Heilslehre Lenin (1919), Stalin-Plakat (1944): Völker unterjocht der Sowjetunion, dass „der volle

138 der spiegel 31/1999 Triumph der Sache des Sozialismus im Mitglied werden können. Vorerst reichte nicht auszumachen. Bis in die fünfziger Weltmaßstab unausbleiblich“ sei. sie von der Düna und dem Dnjestr im We- Jahre wurde das Wohlstandsgefälle zwi- Doch während die Römer ihr Reich mit sten bis nach Wladiwostok im Osten, da- schen den europäischen und asiatischen großem politischem Verstand über ein zwischen lebten über 100 Völkerschaften. Republiken der UdSSR immer kleiner. Dreivierteljahrtausend brachten, hielt sich Lenins Nachfolger Stalin machte die Die Kremlführer investierten Milliarden das Sowjetreich nicht einmal ein Zehntel UdSSR zu einem zentralen Einheitsstaat in den Aufbau von Rüstungsschmieden und der Zeit; es scheiterte an seinen Schwächen unter russischer Dominanz. Unnachsichtig Stahlwerken, Schulen und Universitäten – auch die gewaltige Überdehnung gehör- teilte er die Muslime in Mittelasien in fünf im Süden der UdSSR. Eine Infrastruktur te dazu. Angetrieben vom Glauben an die Über- legenheit des eigenen Systems, hatten sich die Kremlführer auf Kriege in Korea und Afghanistan eingelassen, die Milliarden Dollar kosteten, gaben sie Geld an Ver- bündete, von denen sie an der Nase her- umgeführt wurden, und ließen sich in den siebziger Jahren in eine neue Runde des Rüstungswettlaufs gegen die USA ziehen, den sie nicht gewinnen konnten. Der Wunsch nach einem Imperium hat- te einen Staat entstehen lassen, dessen Stärke im Krieg lag und dessen Schwächen im Frieden offenbar wurden. Die Mobili- sierung der Gesellschaft für den weltweiten Sieg des Sozialismus ließ Flexibilität als Schwäche und Veränderung als Bedrohung erscheinen. Der Aufbau einer gigantischen Rüstungsindustrie ermöglichte dem real existierenden Sozialismus zunächst sein Überleben, dann seinen Siegeszug – und stand später einer Entwicklung zum Wohl- stand unüberwindbar im Wege.

Ökonomisch überfordert und ideolo- AFP / DPA gisch überlebt, degenerierte die Sowjet- Protest gegen die Sowjetunion in Vilnius (1990): Erobern ist leichter als bewahren union am Ende des 20. Jahrhunderts zur eindimensionalen Macht, die nur noch mit künstliche Republiken auf. Führungsposi- galt es dort erst zu schaffen. Tadschikistan, ihrer Weltraumfahrt und mit ihren Waffen tionen besetzte er dort mit Russen, die er größer als Griechenland, verfügte nach der zur Weltspitze zählte; am Übergang ins zu tausenden in den nichtrussischen Ge- Revolution über ein einziges Krankenhaus; dritte Jahrtausend war das zu wenig. bieten des Reiches ansiedelte. für 48 Völker mussten in der UdSSR Die größte historische Leistung der so- Völker wie Krimtataren und Meßche- Schriftsprachen erst entwickelt werden. wjetischen Kommunisten stand am Schluss. ten, Tschetschenen und Deutsche, die dem Turkmenistan und Tadschikistan ließen Michail Gorbatschow, letzter Generalse- Georgier verdächtig erschienen, wurden sich zeitweise den ganzen Haushalt von kretär der KPdSU, verzichtete 1989 dar- später nach Sibirien und Mittelasien ver- der Moskauer Zentrale finanzieren. Auf auf, Panzer und Soldaten in Marsch zu set- schleppt, geschickt forcierte der Despot durchschnittlich ein bis zwei Prozent des zen, als Deutsche und Osteuropäer gegen die wirtschaftliche Spezialisierung der Re- Sozialprodukts schätzt der ungarische die heimischen Sowjetkopien aufstanden. publiken und Regionen, um sie aneinander Ökonom Karoly Kiss die Alimente, welche Beinahe ohne Tote brach zwei Jahre später zu ketten. Effizienz spielte keine Rolle. Si- allein die russische Sowjetrepublik RSFSR das Kernreich, die Sowjetunion, zusam- birisches Erdöl wurde in der Ukraine ver- zwischen 1965 und 1975 nach Mittelasien men – ein einzigartiger Vorgang. So fried- edelt, Usbekistan von kasachischem Ge- transferierte. lich hat sich kein anderes Großreich aus treide abhängig, Leningrader Textilfabri- Stalin glaubte an ein „Wolfsgesetz des der Geschichte verabschiedet. ken verarbeiteten Baumwolle aus dem Kapitalismus“, dessen Kernsatz lautete: Das Problem der Überdehnung hatte Süden der UdSSR. Die asiatischen Repu- „Die Rückständigen werden geschlagen.“ sich bereits kurz nach der russischen Re- bliken mussten das ganze Land billig mit Seinem unterentwickelten Reich wollte er volution gestellt. Lenin gelang es, das zer- Rohstoffen versorgen. Stalin holte sich dieses Schicksal ersparen: „Wir aber wol- fallene Zarenreich geografisch weitgehend Baumwolle preiswert aus Usbekistan, len nicht die Geschlagenen sein. Nein, das wieder zu errichten.Aber der Bürgerkrieg Buntmetalle aus Kirgisien, Erdöl aus Ka- wollen wir nicht!“ Die UdSSR habe zehn gegen die Armeen der Antibolschewisten sachstan. Jahre Zeit, zum Westen aufzuholen. dauerte drei Jahre und kostete zehn Mil- Heute behaupten ehemalige Sowjetbür- Den Preis der Crash-Industrialisierung lionen Menschen das Leben. ger aus den zentralasiatischen Republiken bezahlten im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ Das Reich bekam 1922 den Namen Uni- gern, sie seien von der Moskauer Zentrale Sowjetunion die Arbeiter und Bauern. Der on der Sozialistischen Sowjetrepubliken fortwährend ausgebeutet worden. Doch so „geniale Führer“ presste ihnen mit Nied- (UdSSR). Eine geografische Begrenzung eindeutig sind Gewinner und Verlierer der riglöhnen, Umsatzsteuern und Lebens- fehlte – in der UdSSR sollte die ganze Welt Umverteilung innerhalb der Sowjetunion mittelrationierung das Kapital ab, das er „Wenn ich sterbe, werden euch die Imperialisten ersäufen wie einen Wurf junger Katzen.“ Josef Stalin, 1952

der spiegel 31/1999 139 Das Jahrhundert des Kommunismus: Das Sowjetimperium

für seine Großbauten des Sozialismus der Antifaschismus wie ein Schutzwall vor Die Städte in Böhmen, Galizien und Sie- brauchte. seine Westgrenzen. benbürgen wurden so grau und trostlos Später rechtfertigten Stalinisten aller Zufrieden fuhr Stalin in den Nachkriegs- wie die sowjetischen Trabantenstädte, die Länder die barbarische Industrialisie- tagen auf einer Weltkarte, die er sich in Volkswirtschaften so ineffizient wie die so- rungspolitik ihres Idols mit der Behaup- seine Datscha bringen ließ, mit dem Finger wjetische, die Lager in Buchenwald und tung, die Sowjetunion hätte andernfalls den die Grenzen seines Imperiums ab: „Im dem Sudetenland so grausig wie der Gulag. Zweiten Weltkrieg verloren.Wirtschaftshi- Norden ist alles in Ordnung. Finnland hat Bis in die fünfziger Jahre hinein kämpften storiker haben indes mit Computersimula- uns beleidigt, also haben wir die Grenze Partisanen in den Wäldern Polens, des Bal- tionen das Wachstum der Sowjetwirtschaft verschoben. Die Baltischen Staaten – das tikums und der Ukraine gegen die Herr- nachgestellt. Ein sanfter Übergang, so ihr ist uraltes russisches Land! Nun gehört es schaft Moskaus. Ergebnis, hätte es auch getan. wieder uns. Alle Belorussen, alle Ukrai- Ausgesuchte Genossen, die in der So- Und den gefährlichsten Feind seines Im- ner, alle Moldawier leben zusammen. Im wjetunion geschult wurden, verinnerlich- periums, Adolf Hitler, hatte Stalin selbst Westen ist alles in Ordnung.“ ten dort: „Von der Sowjetunion lernen heißt gemästet. Die KPD, von Moskau gelenkt, Während andere Imperien, etwa das Rö- siegen lernen.“ Der KPdSU ergeben, sorg- tat alles, um die Demokratie von Weimar mische Reich, offen für die Errungen- ten sie dafür, dass sich für Moskaus Wille zu zerstören; sie trug dazu bei, dass der schaften der besetzten Völker waren, form- immer auch ein Weg fand. Nach der Rück- „Führer“ den Weg an die Macht fand. 1932 te Stalin aus seinem Glacis Osteuropa ein kehr in ihre Heimatländer sprachen sie rus- organisierten Kommunisten mit NS-Be- Abbild der Sowjetunion. „Wer ein Territo- sisch, kochten russisch (wie der ostdeut- triebszellen gemeinsam den großen Ver- rium erobert, zwingt ihm auch sein System sche Auslandsspionage-Chef Markus Wolf) kehrsstreik in Berlin. Die SA wiederum auf“, beschrieb er einem jugoslawischen und besaßen Pässe der Sowjetunion. gab die Parole aus: „Unsere Fahne ist rot, Genossen die Maxime seines Imperiums, Immerhin beförderte das sowjetische der Feind steht rechts.“ „anders kann es nicht sein.“ Modell Agrargesellschaften wie Bulgarien, Die Tür nach Berlin hielt sich Stalin stets offen. „Wenn es geht, sind wir offensiv, wenn es nicht geht, warten wir ab“, erläu- terte Molotow später das Grundgesetz des sowjetischen Imperiums. Am 23. August 1939 verhandelte er mit Hitlers Außenmi- nister Joachim von Ribbentrop einen Nach- mittag und eine halbe Nacht lang. Dann überraschten sie die Welt mit dem Nicht- angriffspakt zwischen Nazi-Deutschland

Spiegel des 20. Jahrhunderts und Sowjet-Russland. Stalin bekam fast al- les zugesprochen, was die Zaren schon be- sessen hatten: Ostpolen und die baltischen Staaten, das rumänische Bessarabien und die Nordbukowina sowie Finnland, das sich allerdings widersetzte. Im November 1940 wollte Molotow noch nachlegen und forderte von Hitler zusätz- lich Bulgarien, Rumänien, die Dardanel- len und den dänischen Sund, um die Aus- gänge des Schwarzen Meeres und der Ost- see zu beherrschen. Doch da plante der Führer des Dritten Reichs bereits seinen Angriff. Dem Sowjetimperium gab der Triumph über Hitler Legitimität. Fortan legte sich Propagandabrigade in Turkmenistan (1936): Schriftsprachen erst entwickeln

Aufstieg und Niedergang des Reiches 1938 Einführung der kyrillischen Schrift in Zentralasien August/September: Eroberung 1939 Annexion Ostpolens bis zum Fluss Bug, Eingliede- der japanischen Kurilen-Inseln rung der Westukraine (Galizien) und des westlichen 1948 Bruch mit dem kommuni- 1918 Januar: Ausrufung der Russischen Sowjetrepublik Teils Belorusslands auf Grund des geheimen Zusatzab- stischen Jugoslawien unter Tito 1922 April: diplomatische Anerkennung durch Deutsch- kommens zum Hitler-Stalin-Pakt; Angriff auf Finnland, 1949 Januar: Gründung des Rates für gegen- land; Josef Stalin wird erster Generalsekretär der KP; daraufhin erfolgt Ausschluss aus dem Völkerbund seitige Wirtschaftshilfe (Comecon) in Moskau; Dezember: Gründung der 1940 März: Finnland muss im Frieden August: erster sowjetischer Atomwaffen- Union der Sozialistischen von Moskau Teile Kareliens abgeben; versuch; Sowjetrepubliken (UdSSR), August: Annexion der rumänischen Oktober: Gründung der Volksrepublik China dazu gehören Russland, Gebiete Bessarabien und Nordbukowina und der DDR Belorussland, die Ukraine sowie Estlands, Lettlands und Litauens 1950 Beistandspakt mit China und Transkaukasien 1945 Februar: Auf der Konferenz von Jalta 1953 Stalin stirbt am 5. März; 1933 Anerkennung erlangt Stalin von Roosevelt und Churchill 17. Juni: Volksaufstand in Ost-Berlin mit durch die USA die Anerkennung der nach Westen verlegten Hilfe sowjetischer Panzer niedergeschlagen 1936 Beteiligung am sowjetisch-polnischen Grenze; 1955 Gründung des Militärbündnisses Bürgerkrieg in Spanien Juli/August: Auf der Konferenz von Potsdam Warschauer Pakt unter dem Oberkommando der Sowjetunion mit Waffen, Beratern BILDERDIENST ULLSTEIN setzt Stalin die Annexion des nördlichen und Geheimpolizei Soldatinnen der Volksfront in Spanien Ostpreußens mit Königsberg durch; 1961 August: Mauerbau in Berlin

140 der spiegel 31/1999 Polen und Rumänien in das Indu- ständig abrüsteten, ihre Luftwaffe striezeitalter. Zu hunderttausenden und Flotte der Sowjetunion über- mussten Bauern und Landarbeiter gäben und Amerikas Kommunisten zwischen Ostsee und Donau die ins Weiße Haus einzögen, „würde Scholle verlassen; sie rackerten in Stalin dahinter eine Falle wittern“, Traktorkombinaten und wohnten in diagnostizierte 1946 Russlandken- Städten wie Nova Huta (Polen), Ei- ner George Kennan den paranoiden senhüttenstadt oder Dimitrowgrad Argwohn des roten Zaren. (Bulgarien), die im Schnellverfah- 1950 ließ Stalin sich gar von sei- ren hochgezogen wurden. nem nordkoreanischen Verbündeten Eine ganze Generation bekam Kim Il Sung in den Koreakrieg zie- erstmals Zugang zu höherer Schul- hen, gegen den er sich zunächst ge- bildung und kostenlose medizini- sträubt hatte. Ein Angriff auf Süd- sche Versorgung. Der Sowjetunion korea, so hatte er Kim 1949 beschie- dankten es viele mit lebenslanger den, sei „nicht nötig“.Aber Kim ließ Loyalität. Die alten Männer, die in seinem Drängen nicht nach, und 1989 in Prag, Ost-Berlin oder Sofia Stalin gewann 1950 den Eindruck, aus den Ämtern gejagt wurden, ent- die Amerikaner würden ein Über- stammten diesen Jahrgängen. rennen Südkoreas akzeptieren – eine Kurzfristig war die Herrschaft schwerwiegende Fehleinschätzung. über Osteuropa für Moskau ein US-Präsident Harry Truman, der lohnendes Unterfangen. Stalin schon einen amerikanischen Rück- presste den osteuropäischen Staa- zug vom asiatischen Festland erwo- ten mehr Kapital ab, als die USA im gen hatte, schickte im Auftrag der Rahmen des Marshallplans nach Uno 350000 GIs an die Korea-Front, Westeuropa transferierten. Allein verdreifachte den Verteidigungsetat aus der Sowjetischen Besatzungs- und entschloss sich, den Aufbau der zone, seit 1949 DDR, ließen Stalin deutschen Bundeswehr voranzu- und seine Nachfolger Bahngleise, treiben. Zum Waffenstillstand kam

Güter und Maschinen für mehr PRESS SIPA es in Korea erst 1953, als Stalin als 14 Milliarden Dollar abtrans- Ölarbeiter in Baku (1933): Von Moskau ausgebeutet? starb. Der Koreakrieg kostete Mos- portieren. kau Milliarden Dollar. Der Kreml-Chef wollte die totale Kon- beschleunigten die Gründung der Bundes- Seinen Nachfolgern hinterließ Stalin ein trolle über Osteuropa. Der Diktator habe republik und gründeten die Nato; der Kal- Reich, an dessen Zukunft er selbst nicht ein „veraltetes Sicherheitskonzept“ ge- te Krieg begann. mehr glaubte. „Wenn ich sterbe“, prophe- habt, monierte später Stalins ehemaliger Dabei hätte der Diktator nur ein wenig zeite er ihnen kurz vor seinem Tod, „wer- Außenminister Maxim Litwinow. Es habe Fingerspitzengefühl zeigen müssen. In den euch die Imperialisten ersäufen wie gelautet: „Je mehr Land man hat, um so si- Frankreich und Italien waren der Sowjet- einen Wurf junger Katzen.“ cherer ist man.“ union die Sympathien zugeflogen, weil sie Imperien müssen flexibel und integrati- Doch mit jedem Marionettenregime, das die Hauptlast des Krieges gegen Hitler onsfähig sein, um zu überleben. Der neue Stalin in Budapest, Bukarest oder War- getragen hatte. Drei Jahre brauchte Lon- Parteichef Nikita Chruschtschow verstand schau errichtete, provozierte er die über- dons Labour-Premier Clement Attlee, um dies offenbar und versuchte, legenen USA. Als er im Februar 1948 in mit der größten Propagandakampagne der das Reich zu reformie- Prag ein rotes Regiment einsetzte, drehte britischen Geschichte in Friedenszeiten ren. Er schickte Mil- sich im Westen endgültig die Stimmung. seine Landsleute auf den Kalten Krieg ein- lionen der oh- Die Amerikaner, die ihre Truppen bereits zustimmen. nehin unproduk- weitgehend aus Europa abgezogen hatten, Der misstrauische Stalin hat den Westen tiven Zwangs- entschlossen sich, in Europa zu bleiben, nie verstanden. Selbst wenn die USA voll- arbeiter nach

1962 Kuba-Krise: Nach der Stationierung 1979 Kuba und die UdSSR unterstützen in Abzug sowje- sowjetischer Raketen auf der Karibikinsel Nicaragua die marxistischen Sandinisten tischer Truppen verhängen die USA eine Seeblockade; 1981 In Polen verhängt General Wojciech Jaruzelski aus Afghanistan und die UdSSR zieht die Raketen wieder ab das Kriegsrecht und verbietet die unabhängige der von Moskau mitfinan- 1964 Leonid Breschnew wird Generalsekretär Gewerkschaft Solidarno´s´c zierten 50000 kubanischen der KPdSU 1985 KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow Soldaten aus Angola; 1969 Gefechte zwischen sowjetischen und beginnt mit Reformen (Glasnost und Perestroika) Fall der Berliner Mauer chinesischen Truppen um die Damanski-Insel 1987 Der INF- 1990 Freie Wahlen in der DDR; der kommuni- im Ussuri-Fluss, die China für sich beansprucht Vertrag mit den stische Ostblock zerfällt, die UdSSR greift nicht ein 1971 Verträge über Freundschaft und USA regelt die 1991 Juni: Wahl Boris Jelzins zum Präsidenten Zusammenarbeit mit Indien und Ägypten; Abschaffung Russlands, Auflösung des Comecon; Militärabkommen mit dem Irak von 2703 Juli: Auflösung des Warschauer Paktes; 1974 SS-20-Atomraketen mit mehreren Mittelstrecken- Herbst: Einstellung von Hilfszahlungen an Kuba; Sprengköpfen sind einsatzbereit Atomraketen Abzug aller Truppen aus Vietnam und der 1975 Waffenlieferungen an die marxistisch 1989 Ein- Mongolei; orientierte MPLA im angolanischen Bürgerkrieg stellung der Dezember: Gründung der Gemeinschaft

1977/78 Äthiopien wird bei der kommunistischen Militärhilfe für AFP/DPA Unabhängiger Staaten (GUS) durch elf Revolution Unterstützung versprochen Nicaragua; Soldat mit Sowjetwaffen in Angola Republiken der ehemaligen Sowjetunion

der spiegel 31/1999 141 Das Jahrhundert des Kommunismus: Das Sowjetimperium

der DDR. Das sei „echte Hilfe“ gewesen. Für die Sowjetunion wurde das osteu- ropäische Vorfeld teuer. 1961 erfüllte Chruschtschow der DDR- Führung ihren heikelsten Wunsch – er ge- stattete ihr den Bau der Mauer. Schon 1953, so belegen Akten, welche die amerikani- sche Historikerin Hope Harrison in Mos- kauer Archiven fand, hatte Ulbricht ge- drängt, West-Berlin vom Ostteil der Stadt durch Grenzanlagen abzuschnüren.Außen- minister Molotow hatte damals abgelehnt, da eine solche Maßnahme „nur Bitterkeit und Enttäuschung hervorrufen“ würde. Ulbricht, dem das Volk davonlief, gab sich nicht geschlagen und forderte weiter eine „rigorose Abschnürung“. Sonst sei „der Zusammenbruch der DDR unver- meidbar“. Da beugte sich Chruschtschow dem Drängen und stimmte dem Mauerbau zu. Sie trennte die Deutschen für die näch-

KEYSTONE / SYGMA KEYSTONE sten 28 Jahre; die DDR blieb im sowjeti- Aufstand in Budapest 1956: „Wie ein Nagel im Kopf“ schen Imperium. Den Sowjetvölkern versprach Chru- Hause, lockerte die Zensur und förderte hieße es im Westen, wir wären dumm und schtschow, 1970 die USA zu überholen und die Konsumgüterindustrie. schwach, was das gleiche ist.“ Mindestens zehn Jahre danach das marxistische Para- Den nichtrussischen Völkern in der 2700 Menschen starben in den siebentägi- dies, den Kommunismus, zu errichten. Um Sowjetunion räumte er neue Rechte ein. gen Kämpfen. Einschusslöcher sind in den auf dem Weg dahin schneller voranzukom- Sie erhielten eigene Wirtschaftsverwal- Straßen Budapests noch heute zu sehen. men, rüstete er die teuren Streitkräfte teil- tungen und durften nun selbst über die Chruschtschow steckte in einem Dilem- weise ab. „Brauchen wir eine so große Ar- 200000 Industriebetriebe und 100000 Bau- ma. Er wollte Stalins Methoden nur un- mee?“, fragte er seine Genossen und lie- stellen des riesigen Landes mitbestimmen, gern anwenden, andererseits die Herr- ferte gleich die Antwort: „Das hat keinen

Spiegel des 20. Jahrhunderts die vorher direkt von Moskau gesteuert schaft über Osteuropa nicht aufgeben. Da Sinn.“ Sie reduziere nur „unser ökonomi- wurden. Die deportierten Nationen re- die Sowjetunion ihre Alliierten dominier- sches Potential“. 1,2 Millionen Soldaten habilitierte er größtenteils oder nahm hin, te, musste sie ihnen dann auch in Krisen wollte er nach Hause schicken, vergaß al- wenn sie ohne Erlaubnis in ihre Heimat beistehen. Der erste Ostblockchef, der sich lerdings, für sie Wohnungen zu bauen. Die zurückkehrten. das zu Nutze machte, war Walter Ulbricht. Reform blieb im Ansatz stecken. Im Februar 1956, auf dem 20. Parteitag Er erklärte die DDR zum Schaufenster Anstatt auf Soldaten setzte Chru- der KPdSU, räumte er vor den entsetzten des Sozialismus und forderte ständig Roh- schtschow auf interkontinentale Atomra- Genossen ein, dass Vorgänger Stalin sich stoffe für seine Wirtschaft. Chruschtschow keten, die dem brüchigen Imperium Macht des Massenmordes schuldig gemacht hatte. „lieferte uns sogar Valutaware“, erinnert und Prestige sichern sollten. „Ohne diese Die Rede erschütterte die kommunistische sich noch heute leuchtenden Auges Ger- Dinger“, erkannte Chruschtschow, „wird Welt: Moskau, das Rom der roten Gläubi- hard Schürer, langjähriger Planungschef niemand mit uns sprechen.“ gen, verlor nun auch für viele Kommu- Da der Aufbau der Atomstreitkräfte nisten seinen Unfehlbarkeitsnimbus. nur langsam voranging, griff Chru- Die osteuropäischen Satellitenstaa- schtschow zwischenzeitlich zum Bluff. ten führte Chruschtschow zunächst am Die Sowjetunion produziere Raketen lockeren Zügel. Er sprach von einem Revolten gegen Moskau „wie eine Würstchenmaschine, Rakete „sozialistischen Commonwealth“, in Der amerikanische Diplomat nach Rakete“, prahlte er. Sein Sohn, dem jede KP ihren „eigenen Weg zum ein Raketenbauingenieur und seit An- Sozialismus“ suchen dürfe. George F. Kennan im Mai 1945 fang 1999 Amerikaner, wusste, dass der Als sich 1956 die Ungarn gegen die Die russische Regierung trägt jetzt Vater damals über nicht einmal ein Herrschaft Moskaus erhoben, sowjeti- sich selbst gegenüber die schwere Dutzend verfügte: „Wie kannst du so sche Panzer in den engen Straßen- Verantwortung, die eroberten Pro- etwas sagen?“ Chruschtschows Ant- schluchten Budapests mit Molotow- wort: „Wir schrecken so die Amerika- vinzen im Zustand der Unterwer- cocktails bewarfen und 600 Soldaten ner ab.“ töteten, erwog er gar, dem rebellischen fung zu halten. Denn es lässt sich Der Bildhauer Ernst Neiswestny Land Blockfreiheit zuzugestehen. „Ich kaum bezweifeln, dass viele der hatte wohl die Zwiespältigkeit des hätte keine Einwände“, erklärte er ge- betroffenen Völker der russischen Parteiführers im Sinn, als er Chru- genüber einer chinesischen Besucher- Herrschaft mit Unruhe und Wider- schtschows Grabmal je zur Hälfte aus delegation am 29. Oktober auf Stalins willen begegnen werden. Und er- weißem und schwarzem Marmor ehemaliger Datscha in Lipki. folgreiche Revolten gegen Moskaus schlug. 1962 kam die schwarze Seite Dann überschlief der sprunghafte Autorität könnten das ganze Ge- zum Vorschein, als Chruschtschow in Generalsekretär die Lage. „Das Un- bäude der Sowjetmacht erschüt- der Kuba-Krise die Menschheit an den garn-Problem bohrte wie ein Nagel in tern. Rand eines Atomkriegs brachte. meinem Kopf“, berichtete er in seinen Revolutionär Fidel Castro, der 1959 Aus: Georg F. Kennan, „Memoiren eines Erinnerungen. Am nächsten Morgen Diplomaten“, München 1971 in Havanna die Macht erobert hatte, gab er den Befehl, den Aufstand nie- war ursprünglich kein Kommunist ge- derzuschlagen: „Wenn wir nachgäben, wesen (siehe Seite 150). Aber unter an-

142 der spiegel 31/1999 Werbeseite

Werbeseite Das Jahrhundert des Kommunismus: Das Sowjetimperium SIPA PRESS SIPA Sowjetraketen bei Militärparade in Moskau (1990): „Ohne diese Dinger wird niemand mit uns sprechen“

derem die Politik der USA, in ihrem Hin- den, ob im Kreml Zyniker oder Gläubige Kommunisten herausforderten, konnten im terhof allein bestimmen zu wollen, ließ ihn regierten. Chruschtschow, das haben die Westen auf viel Sympathie, aber wenig Un- 1960 ins östliche Lager schwenken. „Wir Archive inzwischen preisgegeben, glaubte terstützung zählen. Der Weltfrieden, so der haben unser ganzes Leben lang darauf ge- tatsächlich an die Überlegenheit des eige- Bonner Ostpolitiker Egon Bahr, sei „noch wartet, dass ein Land ohne Eingriff der Ro- nen Systems. Dabei demonstriert sein wichtiger als Polen“. ten Armee kommunistisch wird“, jubelte Schicksal die große, die entscheidende Damals galt im sowjetischen Imperium Politbüro-Mitglied Anastas Mikojan. Schwäche des Imperiums: Es war nicht re- die Breschnew-Doktrin, wonach kein Mit- Auch Chruschtschow freute sich. „Niki- formierbar. Wie ein toter Ast im Wind glied des Warschauer Paktes ohne Moskaus ta liebte Kuba“, erinnerte sich später konnte es in den Stürmen des Kalten Krie- Erlaubnis seinen eigenen Weg gehen durf- Castro. Jahrelang hatte der Kremlchef ge- ges nur halten oder brechen. te. Die Brutalität, mit welcher der Kreml gen Zigarren polemisiert, weil sie „kapita- Mit immer neuen Reformen versuchte seinen Machtanspruch gegen die tsche- listische Objekte“ seien. Nach Castros Chruschtschow, den Menschen das Leben choslowakischen Reformer durchsetzte, Sieg konnte Chruschtschow beruhigt Ha- im Sowjetimperium zu erleichtern, ohne ließ auch Genossen am eigenen System

Spiegel des 20. Jahrhunderts vannas anbieten: „Seit der Revolution auf die Macht aus den Händen zu geben. zweifeln. „Von nun an herrschte Apathie“, Kuba sind das marxistisch-leninistische „Wenn man sich nicht darum kümmert, erinnerte sich später der polnische Histo- Zigarren.“ dass der materielle und kulturelle Wohl- riker und Dissident Jerzy Holzer. Eine Invasion Kubas durch Amerikaner stand wächst“, erklärte er 1964, „werden Die Doktrin trug den Namen Leonid und Exil-Kubaner wollte Chruschtschow die Menschen einem heute noch zuhören, Breschnews, der Chruschtschow nachge- unbedingt verhindern; das Ansehen der auch noch morgen, aber dann werden sie folgt war und 18 Jahre lang Generalse- UdSSR als Schutzmacht stand auf dem sagen: Wieso versprichst du uns immer al- kretär der KPdSU blieb. Spiel. Castro hatte Chruschtschows Gere- les für die Zukunft? Über das Leben nach Breschnew hatte in der ukrainischen de von der überlegenen sowjetischen dem Tode hören wir schon von den Popen Waffenschmiede Dnjepropetrowsk Karrie- Atomstreitmacht geglaubt und also der genug.“ re gemacht – und so fanden die Forderun- Stationierung sowjetischer Atomraketen Einige Wochen später setzte eine Kreml- gen seiner Rüstungsmanager und Generäle auf seiner Insel zugestimmt. Dabei betrug Kamarilla ihn ab; die bleierne Schwere der bei ihm stets ein offenes Ohr. Ende der das sowjetisch-amerikanische Stärkever- Stagnation legte sich über das Reich. sechziger Jahre erzielten die UdSSR bei hältnis bei Atomraketen damals 1 zu 17. Während der Kuba-Krise hatte die Welt den strategischen Atomraketen Parität mit Als US-Präsident John F. Kennedy mit die Gefahr eines Atomkriegs erstmals wirk- den USA. Krieg drohte, zog Chruschtschow die sta- lich erfasst, danach begannen die Super- Die Folgen der gigantischen Aufrüstung tionierten Raketen prompt zurück; im Ge- mächte ihre Entspannungspolitik. Die waren paradox: Sie garantierte den Welt- genzug bauten die Amerikaner ihre Rake- Angst vor einem Atomkrieg verschaffte machtstatus der UdSSR und unter- ten in der Türkei ab und ließen Kuba fortan dem Imperium eine Überlebensfrist. minierte ihn zugleich. Die CIA schätzte weitgehend in Ruhe. Es war ein „großer Als 1968 Reformkommunisten in Prag die sowjetischen Rüstungsausgaben der Sieg für uns“, urteilte Chruschtschow in versuchten, einen Sozialismus mit mensch- Breschnew-Jahre auf über zwölf Prozent seinen Memoiren. lichem Antlitz zu errichten, fragte das des Sozialprodukts. Die amerikanischen Für Moskaus Generäle war Kuba ein Ge- Moskauer Politbüro in Washington nach, Analytiker wurden dafür als Kalte Krieger winn. Von der Insel aus ließ sich der trans- ob die Amerikaner die Blockgrenzen re- gescholten, inzwischen haben Ökonomen atlantische Funkverkehr der Nato gut be- spektieren würden. US-Präsident Lyndon errechnet, dass es womöglich das Zwei- lauschen. Für die sowjetische Staatskasse B. Johnson bejahte; am 21. August rollten fache war. hingegen erwies sich der westlichste Au- sowjetische Panzer den Prager Frühling Wie ein riesiger Krake überzog die ßenposten des Sowjetimperiums als Ru- nieder. Die Möglichkeiten des Westens, „Oboronka“, der sowjetische Rüstungs- belgrab. Bis 1991 versenkte der Kreml jähr- „Ereignisse in der kommunistischen Welt sektor, das Land. 9 Ministerien, 50 Ent- lich mehrere Milliarden Dollar Militär- und zu beeinflussen“, so Johnsons Außenmini- wicklungsbüros, 150 zentrale Waffenfa- Wirtschaftshilfe in Castros Pleitewirtschaft. ster Dean Rusk, seien „sehr begrenzt“. briken und dreimal so viele Forschungs- Solange das Sowjetimperium existierte, Auch Polens Arbeiter, die 1980 mit einrichtungen planten oder produzierten ist im Westen viel darüber gerätselt wor- Streiks das morsche Regime der eigenen Waffen, die dann nicht dazu taugten, das „Seit der Revolution auf Kuba sind das marxistisch-leninistische Zigarren.“ Nikita Chruschtschow, Generalsekretär der KPdSU, 1963

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kleine Afghanistan zu bezwingen. Fast je- satz an Kapital und Arbeitskräften. Unter Breschnew wusste, dass seine deut- der zweite Wissenschaftler brütete über Breschnew zeigten sich die Grenzen des schen, polnischen oder tschechoslowaki- Panzer, Granaten und Raketen. Fast elf extensiven Wachstums. schen Genossen unter besonderem Er- Millionen Menschen arbeiteten für den Rüs- Die vom Weltmarkt abgeschottete wartungsdruck ihrer Völker standen. Mit tungssektor, in Moskau allein jeder Vierte Staatswirtschaft, deren Investitionen fast über 130 Milliarden Dollar direkten und – eine gewaltige Geldverschwendung. nur der Schwer- und Rüstungsindustrie zu- indirekten Subventionen versuchte er in Zwangsläufig war das nicht. Mehrmals flossen, verzeichnete Nullwachstum. So- den siebziger Jahren, den osteuropäischen machte der Westen Abrüstungsangebote, weit die Führungskaste idealistischen Elan Vasallen zu helfen. und manche waren durchaus ernst gemeint. gehabt hatte, war dieser längst in opportu- Dem SED-Generalsekretär Erich Ho- So hoffte US-Präsident Jimmy Carter, Be- nistischem Karrierismus erstarrt. Die necker war das nicht genug. Er verkaufte ziehungen zu Moskau „wie zu England“ er- Sowjetunion war eine eindimensionale zusätzlich Öl, das er aus der Sowjetunion reichen zu können. Er bot 1977 „tiefe Ein- Supermacht: ohne ideologischen oder kul- bezogen hatte, gegen harte Devisen in den schnitte“ in die strategischen Arsenale bei- turellen Appeal, ohne Wirtschaftskraft, ein Westen. 1977 wurde das den Sowjets zu der Seiten an. Doch Breschnew, der sonst „Obervolta mit Raketen“, wie Helmut dreist. „Wenn sie bei uns Valutawaren häufig die „Bürde des Wettrüstens“ be- Schmidt einmal spottete. kaufen, müssen sie uns natürlich Valuta- klagte, nahm den Vorschlag nicht ernst und Im osteuropäischen Westen des Impe- waren liefern“, erklärte Breschnews Pre- lehnte ab. Noch Jahre später bereuten riums fiel die ökonomische Schwäche des mier Alexej Kossygin. sowjetische Diplomaten dieses Nein. „Vaterlandes aller Werktätigen“ zuerst ins Die DDR geriet im gleichen Jahr in Imperien neigen dazu, urteilte kürzlich Gewicht. 1938 waren Bulgaren und Rumä- Zahlungsschwierigkeiten, 1982 war sie der Historiker Alexander Demandt, „wei- nen auf dem gleichen Leistungsniveau wie fast pleite. Nur der Bonner Milliardenkre- ter und weiter wachsen zu wollen, bis Griechen und Türken gewesen; Tschechen dit, den Franz Josef Strauß vermittelte, die Füße den Körper nicht mehr tragen“ verdienten so viel wie Österreicher und rettete den ostdeutschen Staat vorüber- können. Berauscht von der eigenen mi- Finnen; Ungarn und Polen ging es nicht gehend vor dem Bankrott. „Unsere inne- litärischen Macht, schickte Breschnew schlechter als Italienern und Portugiesen. re ökonomische Kraft hat wirklich nicht Waffen, Erdöl, Devisen und gereicht“, resümierte hinter- Berater an wirkliche oder an- her Planungschef Schürer, gebliche Marxisten in Ent- „also mussten wir die Ver- wicklungsländer.Von 1965 bis schuldung im Ausland er- 1986 erhielt allein das kom- höhen.“ munistische Vietnam Hilfe in Moskau beobachtete mit Höhe von fast 30 Milliarden Sorge die Schuldenberge, die Dollar. in Berlin und Warschau an-

Spiegel des 20. Jahrhunderts Nach Angola sandte er 1976 gehäuft wurden. „Man kann eine Flugzeugladung seiner nur das verbrauchen, was Reden und Militärberater; er man erzeugt hat“, mahnte unterstützte die Entsendung Breschnew. Helfen konnte er kubanischer Truppen nach immer weniger.Als Honecker Afrika. Als Somalia 1977 wieder einmal um zusätzliche Äthiopien angriff, half er mit Rohöllieferungen bat, rettete einer Luftbrücke, welche die sich der malade Generalse-

Niederlage der Äthiopier ver- AFP / DPA kretär in Sarkasmus. Er wisse hinderte. Zwei Jahre später Prosowjetisches Plakat in Kabul (1986)*: Imperialer Anspruch gar nicht, was die DDR mit gab er nach langem Zögern dem Öl wolle. Das stinke dem Drängen der afghani- doch, und „wenn man einen schen Kommunisten nach und Fleck abbekommt, geht er kommandierte 120000 Mann nicht wieder heraus“. nach Afghanistan; rund 14000 Der imperiale Anspruch Soldaten wurden getötet. der Sowjetunion war zu ei- Moskaus Ruf in der Dritten nem kaum noch tragbaren Welt war ruiniert. Ballast der Kreml-Herrschaft Unter dem Eindruck des geworden; er wog um so amerikanischen Rückzugs aus schwerer, je morbider das Vietnam nahm Breschnew an, Kernreich wurde. Auf niedri- der Westen würde die Statio- gem Niveau und mit chinesi- nierung der Europa und Asien schen Lösungen wie dem bedrohenden sowjetischen Massaker am Pekinger Tian- Mittelstreckenraketen vom anmen-Platz hätte es wohl

Typ SS-20 akzeptieren. Doch / JÜRGENS PHOTO TASS noch eine Weile überleben die Nato antwortete mit ihrer Sowjetpanzer in Afghanistan (1981): Sinnloser Krieg können. In der DDR rechnete Nachrüstung. das SED-Politbüro bereits da- Breschnew war zu diesem Zeitpunkt be- 50 Jahre später hatte sich eine riesige Wohl- mit, den Lebensstandard drastisch senken reits schwer krank und zur Führung nicht standsschere geöffnet. Die Pro-Kopf-Ein- zu müssen. mehr fähig; wie erstarrt verfolgte sein ver- kommen der Westeuropäer waren nun bis Doch noch immer erhob die KPdSU greistes Politbüro den Niedergang. zu sechsmal so hoch wie die im Osten des den Anspruch, die Geschichte zu voll- Dem Imperium fehlte nicht nur ein Kopf, alten Kontinents. Marktwirtschaft und De- enden. Ein unbekannter Provinzfunk- auch das Fundament bröckelte. Gut 50 Jah- mokratie leuchteten lockend jenseits der tionär namens Michail Gorbatschow be- re lang hatte die Sowjetunion mit einer Mauer. kam 1985 vom Politbüro den Auftrag, simplen Methode die Planwirtschaft vor- das marode Reich zu modernisieren und angetrieben: Sie erhöhte ständig den Ein- * Mit dem kyrillischen Wort für „Danke“. so die Herrschaft der Partei zu bewah-

146 der spiegel 31/1999 A. NOGUES / SYGMA 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung in Ost-Berlin (1989)*: Sturmwind der Wahrheit über Vergangenheit und Gegenwart ren. Die Sowjetunion sollte „in das Die Völker Osteuropas, auf ihre Chance tionalstaaten bescherte. Die KPdSU löste 21. Jahrhundert als eine Weltmacht“ ein- lauernd, nahmen Gorbatschow im Som- sich in ihre Bestandteile auf; die UdSSR treten. mer 1989 beim Wort. Der Generalsekretär folgte nach. Am 11. März 1990 erklärte sich Es war diese Illusion der Reformierbar- wollte ihnen den eigenen Weg nicht ver- Litauen für unabhängig, Kasachstan bilde- keit, die Gorbatschow zur welthistorischen weigern. Knapp zehn Jahre nach dem te anderthalb Jahre später den Schluss. Figur werden ließ. Er setzte einen Prozess Aufstand der Solidarnos´c´ wählten sich die Zwischendrin, während des Putsches in Gang, den er selber nicht mehr steuern Polen eine bürgerliche Regierung. Die Ost- von Parteiapparatschiks, Generälen und konnte. „Perestroika“, der halbherzige deutschen stürzten die SED in zehn Wo- Geheimdienstlern gegen Gorbatschow im Umbau von Partei und Wirtschaft, brach- chen, Tschechen und Slowaken brauchten August 1991, zeigte sich die besondere Me- te nicht die Wende, sondern beschleunigte zur Wende nur noch zehn Tage. lange aus Ideologie und Imperialismus ein den Niedergang; „Glasnost“, das offene Kanzler Helmut Kohl dankte Gorba- letztes Mal. Es war der Zerfall der Sowjet- Wort über die Verhältnisse, entfachte einen tschow mit Milliardenkrediten; sie rette- union, der die roten Reaktionäre zur Re- Sturmwind der veröffentlichten Wahrheit ten die Sowjetunion im Mai 1990 vor der bellion trieb. über Vergangenheit und Gegenwart, über Zahlungsunfähigkeit. Den Untergang ver- Mit ihrer Niederlage wurde die Sowjet- Verteidigungslasten und Produktions- hinderten sie nicht. union samt der Kommunistischen Partei kennziffern. Jahrzehntelang hatte die KPdSU das Im- begraben. Um Geld und damit Zeit für Reformen perium dominiert; nun wurde sie für Mi- Am 8. Dezember 1991 beschlossen die zu gewinnen, beendete Gorbatschow den sere und Armut, Ökokatastrophen und Vet- Staatschefs von Belorussland, der Ukraine sinnlosen und blutigen Afghanistankrieg, ternwirtschaft verantwortlich gemacht. In und Russland: „Die UdSSR als Völker- ließ Atomraketen verschrotten und kün- den Republiken der Sowjetunion sprangen rechtssubjekt und als geopolitische Rea- digte den osteuropäischen Verbündeten an, die Kommunisten auf den Zug der Zeit, lität hört auf zu bestehen.“ Gorbatschow, ihnen Öl und Gas künftig nur noch zu der Osteuropa eine Renaissance der Na- Präsident ohne Staat, trat am 25. Dezember Weltmarktpreisen zu verkaufen. zurück.Verabschiedet wurde er nicht mehr. Doch Gorbatschow konnte die Kosten * Vorn: Nicolae Ceau≠escu (Rumänien),Todor Schiwkoff des Imperiums gar nicht so schnell senken, (Bulgarien), Wojciech Jaruzelski (Polen), Milos Jake∆ Klaus Wiegrefe, 34, ist SPIEGEL-Redak- wie es die Krise erfordert hätte. (∏SSR), Michail Gorbatschow, Erich Honecker. teur.

LITERATUR Fritjof meyer: „Weltmacht im Abstieg“. C. Bertels- 1993; 340 Seiten – Die Folgen der Perestroika und der Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und mann, München 1984; 320 Seiten – Prognose des Zer- Siegeszug des Nationalismus. internationale Studien (Hrsg.): „Sowjetunion falls des sowjetischen Imperiums. Erhard Stölting: „Eine Weltmacht zerbricht“. Eich- 1990/91“. Carl Hanser Verlag, München 1991; 416 Sei- Hans-Henning Schröder: „Sowjetische Rüstungs- born Verlag, Frankfurt am Main 1990; 312 Seiten – Ge- ten – Aufsatzsammlung zur Sowjetunion im Um- und Sicherheitspolitik zwischen ‚Stagnation‘ und schichte der sowjetischen Nationalitätenpolitik. bruch. ‚Perestroika‘“. Nomos Verlag, Baden-Baden 1995; Vladislav Zubok, Constantine Pleshakov: „Inside Manfred Hildermeier: „Geschichte der Sowjetunion 648 Seiten – Der Einfluss von Militär und Rüstungs- the Kremlin’s Cold War. From Stalin to Khrushchev“. 1917 – 1991“. Verlag C. H. Beck, München 1998; 1208 industrie in der Ära Gorbatschow. Harvard University Press, Cambridge 1996; 348 Sei- Seiten – Gesamtdarstellung auf dem neuesten Stand Gerhard und Nadja Simon: „Verfall und Untergang ten – Scharfe Kritik junger russischer Historiker an der Forschung. des sowjetischen Imperiums“. Verlag dtv, München der sowjetischen Nachkriegspolitik.

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STANDPUNKT Exotik des Verfalls Das Moskauer Modell auf Kuba / Von Carlos Widmann ongotrommeln dröhnten seit dem Als Castro und seine Freunde 1953 ver- chen.Außerdem waren die Kommunisten Morgengrauen, Lastwagen voller suchten, in bewaffneter Opposition zum die einzige politische Organisation auf BZuckerrohrschneider strömten in Diktator Batista eine Kaserne zu stür- Kuba, die sich der Errichtung des Sozia- die Hauptstadt: 16 Monate nach seinem men, wurden sie von der KP-Führung als lismus nicht widersetzen würde. triumphalen Einmarsch in Havanna ließ „kleinbürgerliche Putschisten“ verurteilt. Anfang Januar 1959, wenige Tage nach der Comandante Fidel Castro die Kuba- Castros jüngerer Bruder Raúl, heute sein dem Sturz der alten Diktatur und sei- ner den 1. Mai im neuen Geist feiern. Stellvertreter in Staat und Partei, wurde nem Einzug in Havanna, gab Castro bei- Eine trotzig klingende, bedeutungs- damals zur Strafe aus der kommunisti- läufig bekannt, dass die Kommunistische schwere Parole wurde bei dieser Mas- schen Jugend verstoßen. Partei legalisiert worden sei. Bald mach- senkundgebung 1960 unter die te er sie zur allein herrschenden Leute gebracht. „Elecciones para Staatspartei – wobei er ihre alte qué?“, skandierten die Stimmungs- Führungsriege entmachtete und macher des Regimes: „Wahlen – Schritt um Schritt durch seine ei- wozu?“ genen Leute ersetzte. Noch mochte Castro, wie ihm bis Die KP erwies sich fortan als heute zugute gehalten wird, nicht nützliches Instrument der kubani- gewusst haben, welche Richtung er schen Revolution. Und diese ist – der kubanischen Revolution geben nun schon seit 40 Jahren – iden- wollte. Erst die frontale Gegner- tisch mit der Person Fidel Castros. schaft des übermächtigen Nach- Ein abservierter Altkommunist barn USA, so ist plausibel argu- fand das Spiel, das Fidel mit Kubas

Spiegel des 20. Jahrhunderts mentiert worden, habe ihn in die KP getrieben hat, einer „Reinkar- Arme der Sowjetunion getrieben. nation Machiavellis“ würdig. Im Offenkundig wusste der gelern- Rückblick nimmt sich leicht als te Rechtsanwalt Dr. Fidel Castro Teufelei eines berechnenden Stra- Ruz aber von Anfang an genau, tegen aus, was in Wirklichkeit Er- was er nicht wollte: Er zeigte eine gebnis intuitiver Entscheidungen tiefe Abneigung gegen demokrati- und kühler Menschenkenntnis sche Spielregeln und die Abhaltung war: ein Brettspiel zwischen Guer- von Wahlen. Seine „direkte De- rilleros und Genossen, in dem Ca- mokratie“, schwärmte Castro in je- stro auf beiden Seiten stand und ner Mai-Rede, sei tausendmal sau- keine der Figuren wissen ließ, wel- berer als die des Westens. ches Schicksal ihr zugedacht war. Damit erntete er viel Zustim- Den Kommunisten verschaffte mung zumindest auf der Ehren- er schon 1959 die Kontrolle über

tribüne: Dort saßen zum ersten AP Kubas Gewerkschaften sowie die Mal Delegationen aus der Sowjet- Castro, Chruschtschow bei der Uno (1960) ideologische Schulung der Streit- union, der Volksrepublik China „Reinkarnation Machiavellis“ kräfte. In der Wirtschaft trieb Fidel und einigen Ostblockstaaten. Den die Sozialisierung allerdings viel Anfang hatte wenige Wochen vorher eine Dennoch wies Castro den prominen- weiter, als die Kommunisten damals für historische Figur gemacht: Anastas Mi- ten Altgenossen Carlos Rafael Rodríguez vernünftig hielten. kojan, ein Kampfgefährte Lenins und nicht zurück, als der im Sommer 1958 in Dafür machte er die Zusammenarbeit Stalins, Vizepremier der Sowjetunion. der Sierra Maestra auftauchte: Die mit der KP zum Prüfstein, an dem er die Diese Besucher wirkten als Sensation, wählerschwache KP hatte die Macht- Loyalität seiner Mitkämpfer maß: Wer da Kuba zum Ostblock nicht einmal di- chancen des revolutionären Guerrilla- sich als Antikommunist entpuppte, fiel in plomatische Beziehungen unterhielt. Führers noch rechtzeitig erkannt. Ungnade, kam vor ein Revolutionsgericht Doch nach Moskau hatte Castro einen Was Castro seinerseits an den Kom- und oft für Jahrzehnte ins Arbeitslager. guten Draht – über Kubas kleine kom- munisten reizvoll gefunden haben dürf- Die enge Verbindung Castros mit den munistische Partei. Von ihrer Hilfe hatte te, waren wohl ihre guten Beziehungen Kommunisten war somit ein entschei- Fidel schon als 20-Jähriger profitiert, zur „anderen“ Weltmacht – wie auch ihr dender Faktor bei der Hinwendung Ku- 1947, als er zum Vizepräsidenten der Ju- chronisch schlechtes Gewissen: Durch bas zum Sozialismus sowjetischen Typs. rastudenten avancierte. Zusammenarbeit mit dem von Castro ge- Der andere war die aggressive Haltung Graue Eminenz der Partei war der in stürzten Diktator Batista hatte die KP der Amerikaner. Die entsprang freilich Polen geborene Komintern-Agent Yun- sich schwer kompromittiert. zum Teil einer alptraumhaften Befürch- ger Semiovich, der in Kuba Fabio Grobart Eine Kaderpartei von reuigen Sündern tung, die sich bald als nur allzu begrün- hieß und für strenge Linientreue sorgte. konnte Castro nach seinem Sieg gut brau- det erweisen sollte: Die Sowjetunion kön-

150 der spiegel 31/1999 ne auf Kuba, vor Amerikas Haustür, Mit- de, Maschinen, Düngemittel und Er- ihre Kleider, ihre Bücher, ihre Schall- telstreckenraketen mit Atomsprengköp- satzteile nur noch gegen Devisen zu ha- platten, ihre Haustiere, ihre Möbel. fen stationieren. ben waren. Von der Trostlosigkeit anderer Über- Gewiss hätten die Russen das kost- Seither dümpelt die Revolution vor reste des versunkenen Sowjetreichs hebt spielige Experiment eines karibischen So- sich hin. Ohne Devisen geht nichts, und Kuba sich durch sein subtropisches Klima zialismus nicht so entgegenkommend fi- Devisen kommen nur vom Zuckerexport, und die rhythmisch pulsierende Lebens- nanziert, wenn Castro sie nicht mit der von Überweisungen der exilkubanischen lust der Nachkommen afrikanischer Skla- strategischen Trumpfkarte gelockt hätte. Emigranten aus den USA und vom früher ven ab. Und vor dem schlimmsten Elend Aber auch der neue US-Präsident John viel geschmähten Tourismus – dem ein- der Dritten Welt wird das Land durch F. Kennedy hätte sich von der CIA im zigen Wirtschaftszweig der Insel, der ge- seine stabile Bevölkerungszahl bewahrt: April 1961 kaum zu dem katastrophalen sunde Wachstumsraten aufweist. Die hat Kuba den USA zu danken, die exilkubanischen Invasionsversuch in der Ein notwendiges Übel nennt Castro seinen Flüchtlingen jahrzehntelang poli- Schweinebucht verleiten lassen, wäre die Reisenden aus Kanada und Deutsch- tisches Asyl boten, sowie der energischen nicht ständig die Gefahr geheimer russi- land, Italien und Spanien, für die eine Abtreibungspraxis des Regimes. scher Raketenbasen auf Kuba beschwo- Privilegienwelt geschaffen wurde. Zu ihr Dass die Säuglingssterblichkeit in Ha- ren worden. vanna geringer sei als in Washington D. C. Als schließlich Nikita Chruschtschow – wie unlängst noch in internationalen im Jahr darauf mit Castros Zustimmung Jahrbüchern zu lesen war –, muss als un- die Bedrohung wahr machte und tatsäch- wahrscheinlich gelten. Die hohe Alpha- lich Raketen nach Kuba verschiffte, sah betisierung und umfassende Gesund- Castro sich schnell zur Schachbrettfigur heitsfürsorge der Kubaner hingen allzu degradiert: Die Supermächte einigten sehr von sowjetischen Subventionen ab – sich über seinen Kopf hinweg, das Zeit- und die Krankenhäuser leiden mehr denn alter der Entspannung einzuleiten. je unter dem Handelsembargo der USA. Von da an hatte die Insel für die Rus- Viele stolze Errungenschaften der Re- sen vor allem Schaufensterwert. Die Drit- volution schwinden dahin – ebenso wie te Welt sollte sehen, dass das sowjetische das Charisma ihres Führers. Daran än- Modell in einem Entwicklungsland funk- derte auch nichts, dass der Papst dem Re- tionierte. Und Castro durfte in Afrika volutionär die Ehre gab und 1998 Kuba und Lateinamerika vorführen, dass seine besuchte. Der „Líder Máximo“ Fidel Ca- Revolution exportierbar sei. stro hat im letzten Jahrzehnt offenkundig Kubas „Internationalisten“ – Soldaten, auch intellektuell abgebaut; von rabuli- Ärzte, Lehrer, Ingenieure – befriedigten stischem Rundum-Geschimpfe abgese- das Nationalgefühl der Kubaner, erran- hen, fällt ihm in seinen stundenlangen gen Prestige in der Dritten Welt, wurden Reden seit langem nichts mehr ein. zu Hause als neue Elite gefeiert. Frei vom Schlendrian, der alles auf der Der Schiffbruch sozialistischer Expe- Insel prägt, ist nur der Polizeiapparat. rimente in Chile und Nicaragua, Angola Die Ausbilder der ostdeutschen Stasi fan- und Mosambik hat freilich auch kubani- den in Kuba gelehrige Schüler. Men- sche Revolutionäre demoralisiert, zumal schenrechtler und Regimegegner werden da es im eigenen Lande bergab ging: So- heute gründlicher verfolgt denn je. Fern-

zialistische Misswirtschaft und der Boy- GAMMA / STUDIO X sehen und Zeitungen sind fest im Griff kott der USA taten ihre Wirkung. Und in Johannes Paul II., Castro auf Kuba (1998) der Apparatschiks, Castro selbst umgibt Moskau zeigte Michail Gorbatschow kei- Charisma geschwunden sich mit Jasagern. Das Überleben des ein- ne Lust, den karibischen Ableger der zigen Regimes, das neben China und Weltrevolution weiterhin mit Milliarden haben – wie in vorrevolutionärer Zeit – Nordkorea am alten Kommunismus fest- Dollar pro Jahr zu beatmen. gewöhnliche Kubaner keinen Zutritt. hält, ist ein Kuriosum, aber kein Wunder. „Dann wurde uns auch noch die Son- Von dort dringen Dollars belebend in Dafür behielt die gestrandete Revolu- ne abgeschaltet“: So empfanden es viele den Kreislauf der privaten Markt- und tion ihren Charme für Nichtkubaner: mit in Havanna, als die Sowjetunion im- Mangelwirtschaft ein, in dem die Kuba- verwitterten Wandparolen wie „Sozia- plodierte, ihr Imperium und sich selbst ner – da sie sonst kaum etwas erwerben lismus oder Tod!“, mit greisen, medail- auflöste. Der Planet Kuba verlor nicht oder erzeugen können – den Fremden lenbehängten Guerrilleros und der allge- nur eine ideologische Lichtquelle: Er und den Nachbarn das Naheliegende an- genwärtigen Exotik des Verfalls. verdunkelte buchstäblich, weil sowjeti- bieten: Sie vermarkten ihr altes Auto, ihr sche Öllieferungen zum Vorzugspreis Essen, ihre Schlafzimmer, manche auch Carlos Widmann, 61, ist SPIEGEL-Re- aufhörten, Treibstoff Mangelware wur- ihre Körper. Sie verkaufen oder tauschen porter in Paris.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

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KUNSTMARKT „Wer so ein teures Bild erwirbt, be- wahrt darüber tiefes Stillschwei- gen“, erläutert Rokuro Kuroda von Wo ist die der Wirtschaftsdetektei Tokyo Sho- ko Research. Insgesamt lagern in Tresoren japanischer Gläubiger- „Grimasse“? banken Gemälde im Wert von rund zehn Milliarden Dollar. Neureiche n aller Welt bangten Kunstlieb- Japaner kauften die Kunstwerke Ihaber letzte Woche um das während der aufgeblähten Hoch- Schicksal des Van-Gogh-Gemäldes konjunktur der späten Achtziger „Porträt des Dr. Gachet“. Das Van- weltweit auf. Angesichts des Akti- Gogh-Museum in Amsterdam woll- enbooms an der Wall Street er- te das Bild für eine Ausstellung scheint es daher nur konsequent, leihen, konnte den oder die derzei- tigen Besitzer jedoch nirgends aus- findig machen. Der japanische Pa- pierfabrikant Ryoei Saito hatte das Gemälde 1990 bei Christie’s in New York für die Rekordsumme von 82,5 Millionen Dollar ersteigert; 1996 starb der kauzige Japaner hoch ver- schuldet im Alter von 79 Jahren. Mit Grauen erinnerten sich Van- Gogh-Fans jetzt an Saitos Wunsch, Van-Gogh-Gemälde „Bildnis des Dr. Gachet“ (1890) „Dr. Gachet“-Versteigerung (1990) sich nach seinem Tod mit dem Mei- sterwerk einäschern zu lassen; Saitos ehemalige Angestellte dass nun US-Investoren den van Gogh erworben haben. Dem taten dessen Drohung als „Scherz“ ab. Offenbar zu Recht: Das Porträt des Van-Gogh-Freundes Gachet – vom Künstler selbst als Gemälde sei Anfang des Jahres in die USA verkauft worden, sag- „Grimasse“ bezeichnet – drohte schon öfter Gefahr: Im „Drit- te der Präsident der Internationalen Auktionsorganisation, Kiyo- ten Reich“ wurde es als Beispiel für „entartete Kunst“ im Frank- nori Yamamoto. Den Käufer wollte er nicht nennen, die Kauf- furter Städel Museum beschlagnahmt und von Reichsmarschall summe soll zwischen 64 und 96 Millionen Mark betragen haben. Hermann Göring nach Amsterdam verkauft.

ORCHESTER letzte Woche gleich zwei offenbar ha- KULTURPOLITIK stig zusammengestoppelte Episteln Bettelstab & Taktstock ohne genaue Absenderangabe auf dem Sieg für Goethe Umschlag („Postfach 701040, 22010 aum hat der Pianist und Dirigent Hamburg“), dafür voll herzerweichen- em Bundes-Kulturinstitut Inter Na- KJustus Frantz, 55, beichten müssen, dem Tremolo. Das Orchester sei „etwas Dtiones, das von Bonn aus die Öf- dass seine „Philharmonie der Natio- Einmaliges“, jeder Musiker „auch Bot- fentlichkeitsarbeit Deutschlands im nen“ Millionenschulden angehäuft hat, schafter des Friedens“. Doch die bösen Ausland betreibt, drohen Einsparungen da tauscht der wendige Musiker auch deutschen Behörden würden hier mit in Millionenhöhe. Das geht aus einem schon den Taktstock mit dem Bettel- ihrer Forderung nach Lohnsteuer- und bislang unveröffentlichten Bericht des stab. Obwohl Sponsoren für die Schul- Sozialabgaben „die Ärmsten der Armen Bundesrechnungshofs hervor. Danach den aufkommen, fanden Liebhaber sei- auspressen“, und das wäre „das Aus für soll Inter Nationes (Etat 1999: 48 Millio- nes Klangkörpers in ihren Briefkästen dieses wunderbare Orchester gewesen, nen Mark) die politische Öffentlich- das auch als Vertreter keitsarbeit in Zukunft ganz dem Bundes- unseres Landes der Welt presseamt überlassen, die auswärtige ein frei nach Thomas Kulturpolitik den Goethe-Instituten. In- Mann ,besseres Deutsch- ter Nationes, 1952 gegründet in Konkur- land‘ zeigt“. Und des- renz zum Goethe-Institut, droht damit halb: „Ich brauche Ihre endgültig die Bedeutungslosigkeit. Die Unterstützung.“ Er sel- Empfehlungen des Rechnungshofs äh- ber werde als leuchten- neln der Forderung von Goethe-Insti- des Vorbild „auf mehre- tut-Präsident Hilmar Hoffmann. Hoff- re Millionen Mark ver- mann, der den eigenen Etat allein im zichten, um weiter den nächsten Jahr um fast 15 Millionen Begabten, aber auch den Mark kürzen soll, hatte angeregt, Inter Schwächsten zu helfen. Nationes mit dem Goethe-Institut zu- Ich glaube, dass wir alle sammenzulegen. Dadurch, so Hoff- etwas Richtiges tun“. Ihr mann, könnten „Kosten in der Höhe

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Wort in Gottes Ohr, hei- von mindestens sechs bis sieben Millio- „Philharmonie der Nationen“-Chef Frantz, Musiker liger Frantziskus! nen Mark eingespart werden“.

der spiegel 31/1999 153 Szene

LITERATUR Adel vergiftet un schnüffelt er schon zum siebten NMal durch die Gassen von Venedig, immer auf der Suche nach der Wahrheit – Commissario Guido Brunetti. Er ist darüber zu einer der beliebtesten De- tektivfiguren der deutschen Krimi-Leser geworden und seine Schöpferin, die Amerikanerin Donna Leon, 56, zur rei- chen Frau. Diesmal lässt sie ihren melancholischen Beamten in den höchsten veneziani- schen Kreisen ermitteln, im Adel der Stadt, der „Nobiltà“. FOTOGRAFIE Vor ein paar Jahren war der junge Roberto, Spross des gräflichen Hauses Lorenzoni, entführt worden. Die über- Geblümter aus wohlhabende Familie hatte zwei Lösegeldforderungen erhalten, dann brach der Kontakt mit den Entführern Alptraum Barney-Fotos „Marina’s Room“ (1987), „The ab. Roberto schien verschwunden zu sein. Doch plötzlich legt ein Bauer in ei- rauen in roséfarbenen Morgenmän- in authentischer Oberschichtkulisse ab. nem Bergdorf beim Fteln vor roséfarbenen Tapeten, ge- Ihre mit Perlen behängte Mutter im Ess- Pflügen die verwes- blümte Seifenschalen vor geblümten zimmer, ihre Schwester vor dem holz- te Leiche eines Gardinen: Die Welt der amerikanischen verkleideten Großleinwandfernseher Mannes frei. Man Fotografin Tina Barney, 54, ist bis ins und schließlich sich selbst – in pastell- findet bei der Lei- Badezimmer ein Alptraum in Pastell, farbenem Rock auf geblümter Chaise- che einen Ring mit Blumenmustern und Plüsch. Seit etwa longue. Ihre mal spontanen, mal insze- dem Wappen der 20 Jahren lichtet die Tochter aus rei- nierten Aufnahmen, unter dem Titel Lorenzonis. Bald chem Haus ihre gediegene Umgebung „Fotografien von Familie, Sitte und ist es gewiss: Der Tote ist Roberto, der einzige Sohn des Conte. Er wur- de offenbar kurz Kino in Kürze nach der Entführung erschossen. Fein- fühlig, aber hartnäckig dringt Brunetti „Hilary & Jackie“. Dass eine große Liebe selten ohne Hass zu haben ist, verschweigt in die vergifteten Familienstrukturen Hollywood meist, denn die unbehagliche Wahrheit schmälert die Wirkung des aus Neid, unerwiderter Liebe und Ge- Happy Ends. Dagegen schwelgt dieses britische Drama, das die Lebensgeschichte schäftsinteressen ein, und der gewiefte der hochbegabten, charismatischen Cellistin Jacqueline du Pré (1945 bis 1987) er- Leser ist kein bisschen überrascht dar- zählt, geradezu in Hassliebe-Beziehungen. Die Musi- über, wen Brunetti schließlich als Übel- kerin lebt in inniger Rivalität zu ihrer Schwester Hilary, täter enttarnt. pflegt eine heiß-kalte Beziehung zu ihrem kapriziösen Aber das kennen (und schätzen) Leon- Gatten, dem Maestro Daniel Barenboim, und bekriegt Freunde ja: Der Autorin geht es nicht gelegentlich selbst das Cello, mit dem sie ihr Leben um den möglichst kunstvoll gedrechsel- teilt: Dann stellt Jackie das kostbare Stück einfach hin- ten Kriminalfall, der nur mit höchstem aus ins Schneetreiben. Die filmische Biografie entstand Kombinationstalent entwirrt werden nach den Memoiren der beiden überlebenden Du-Pré- kann, sondern um die spezifische At- Geschwister, die ihre gefeierte Schwester als kompli- mosphäre eines bestimmten Milieus, zierten, auch selbstsüchtigen Menschen darstellen. Die seine Regeln und Rituale. Und da macht Enthüllungen machten die Buchvorlage in Großbritan- ihr an suggestiver Erzählfreude so nien zum Skandal, denn Jacqueline du Pré, deren Kar- schnell niemand etwas vor. Nebenbei riere und Leben früh von Multipler Sklerose zerstört wird auch noch das früher immer so wurden, gilt unter Musikenthusiasten als Säulenheilige. bruchsichere Familienleben der Brunet- Die stilistisch unsichere Verfilmung (Regie: Anand tis selber einer kleinen Prüfung unter- Tucker), die oft zu billigen gefühlssteigernden Tricks zogen. Der Commissario übersteht sie greift, schwingt sich immer dann zum echten Furioso genauso unbeschadet wie die unver- auf, wenn sie die schmerzhaften schwesterlichen Ban- meidlichen Quälereien seines inkompe- de schildert. Dann spielen die fabelhaften Hauptdar- tenten Vorgesetzten. stellerinnen – Emily Watson als Jackie, Rachel Grif- fiths als Hilary – das Dur und Moll einer Beziehung

zwischen zwei Frauen aus, die in der jeweils anderen POLYGRAM Donna Leon: „Nobiltà“.Aus dem Amerikanischen von Monika Elwenspoek; Diogenes Verlag, Zürich; 304 Sei- das eigene, verpasste Leben gespiegelt sehen. Watson in „Hilary & Jackie“ ten; 39,90 Mark.

154 der spiegel 31/1999 Kultur

OPER Hormonelle Mutation Am Rande taliens Opernhäuser schlagen Alarm: Was Frauen lieben IIm Heimatland des Belcanto sterben die Tenöre aus. Carusos Nachfahren ha- issenschaftler suchen nicht nur ben das Singen verlernt. So blieben sie- Wnach der Weltformel, sie be- ben von zehn Tenorstellen bei der schäftigen sich auch mit praktischen Mailänder Scala unbesetzt; in Turin Dingen des Alltags.Warum zum Bei- trällerte von 40 Bewerbern nicht einer spiel ein Brot stets mit der gebutter- überzeugend. Die Florentiner Opernlei- ten Seite auf den Boden fällt. Von tung sucht resigniert Nachwuchstenöre besonderem Nutzwert sind Studien, in Argentinien. An den Konservatorien die Bekanntes empirisch untermau- dominieren Jünglinge aus Korea und Ja- ern und damit den „Hab’s mir schon pan. Wie ein ansteckendes Fieber, klagt gedacht!“-Effekt auf eine solide Marcel Seminara, Chorchef der römi- Grundlage stellen. Aus Italien kommt schen Oper, sei die männliche Stimm- jetzt die Kunde, dass Frauen vor al- bandschwäche über die Alpen gekom- lem „mächtige und reiche Männer“ men, habe schon Rom erreicht und wer- lieben. Männer, die „interessant und de bald auch Sizilien, die letzte Bastion achtbar“, aber ohne Macht

FOTOS: TINA BARNEY FOTOS: des gepflegten Knödelns, erobern. Es sind, können nicht mithal- Graham Cracker Box“ (1983) fehle „die Erde zum Singen“, erklärt ten, und einer, der nur der Turiner Chorleiter Bruno Casoni „schön“ oder „intelligent“ Form“ von Sonntag an im Museum das rätselhafte Artensterben. Warum ist, bleibt am besten gleich Folkwang in Essen zu sehen (bis 10. Ok- die neuen Zeiten freilich nur den Män- bei der Mama wohnen. tober), befriedigen den voyeuristischen nern das Arienschmettern verleiden, die Damit wird endlich wis- Jedermannswunsch, hinter die geblüm- Damen dagegen ausreichend Tonvolu- senschaftlich erklärbar, was ten Gardinen eines versnobten, spießi- men im Brustkorb haben, bleibt rätsel- wir noch nie verstehen gen Teils von Amerika zu blicken – und haft. Vielleicht, mutmaßt die Zeitung konnten: warum zum Bei- nicht selten verbissene oder gelangweil- „La Stampa“, sei die „mysteriöse hor- spiel die 26-jährige, wohlbeleibte te Menschen mit einem Übermaß an monelle Mutation“ ein weiterer Aus- Anna Nicole Smith dem 89jährigen schlechtem Geschmack zu entdecken. druck „der männlichen Identitätskrise“. Öl-Tycoon J. Howard Marshall II. verfallen war und warum fast täglich irgendeine hübsche 20-Jährige sich an die grau behaarte Männerbrust AUTOREN eines betagten Filmstars wirft. Der gut aussehende, junge Kabelträger Grass hat bei dieser Konkurrenz auch dann keine Chance, wenn er Klavier spie- oder nicht Grass? len kann, was ja in den alten Zeiten, als Romantik noch geholfen hat, ein oder nicht sein Jahrhundert: Frauenherzen schmelzen ließ. Liebe SDas ist hier die Frage. Günter Grass’ Ego-Wälzer „Mein Jahrhun- macht schon lange nicht mehr blind, dert“ (SPIEGEL 27/1999) hat in lang- sie schärft vor allem die Wahrneh- beinigen sowie kurzsichtigen Kreisen mungskraft für Einfluss, Ruhm und Verwirrung gestiftet. In seinem Buch andere Vermögen. Doch schon die nämlich berichtet der Dichter, in Ich- nächste Untersuchung bringt Trost, Form, er habe sich schon Anfang der obwohl sie scheinbar das Gegenteil fünfziger Jahre in die Kessler-Zwil- beweist. 68 Prozent der deutschen linge „verguckt“ und die „sächsi- Frauen meinen, dass sich eine Frau schen Zuchtgewächse“ ans Pariser zwischen Kind und Karriere ent- Lido vermittelt. Die „Neue Revue“ scheiden müsse. Aller Emanzipa- ging der Sache nach und erfuhr von tionspropaganda zum Trotz wissen den Kesslers: „Unsinn, wir kennen die Frauen offenbar, wo ihr natürli- Herrn Grass nur flüchtig“, und ins cher Platz ist. Wenn schon nicht in Lido kamen sie von allein. Bange der Chefetage, dann lieber doch da- Frage der „Neuen Revue“: „Der heim, am Herd – eines reichen und

große G. G., trübt ihn die Erinne- / STEIDL GÜNTER GRASS mächtigen Mannes. Nur so kann das rung?“ Und in einem zweiten An- Kessler-Zwillinge in Grass’ „Mein Jahrhundert“ Sprichwort gemeint sein, eigener lauf noch banger: „Ist Grass gar Herd sei Goldes wert.Was gewiss nur nicht Grass?“ Jedenfalls: „Er verwirrt seine Leser.“ Die „Neue Revue“ hat er ver- bis zur nächsten Umfrage gilt, etwa wirrt, was nicht schlimm ist, aber jeder andere Leser merkt, dass Grass in verschiede- über schwache Männer und das ne Rollen schlüpft, somit beim Boxeraufstand (1900) dabei sein konnte und als Kess- Glück jenes starken Geschlechts, das ler-Förderer der Spross eines Düsseldorfer Waschmittelkonzerns sein will. Neue Re- einst das schwache hieß. cherche für „Neue Revue“: Kennt der Konzern einen Spross namens Grass?

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ARCHITEKTUR Der Direktor als Störenfried Der Mythos Bauhaus ging um die ganze Welt, doch in Dessau verwahrloste das Erbe. Nun werden die berühmten Meisterhäuser restauriert, zudem will der neue Bauhaus-Direktor die Designschule zum Zentrum der Kritik am modernen Städtebau machen.

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ Gropius-Doppelhaus für Kandinsky und Klee in Dessau: „Diktatur des Rechtecks“

äuser werden Mythen auf ganz sau, waren überraschend schön, ihre in den Seitdem genießt – auch weil so wichtige ähnliche Weise wie Menschen: Es zwanziger Jahren als exzentrisch empfun- Bauhaus-Meister wie Walter Gropius und Hhilft, wenn sie schön sind, außeror- dene, kubische Einfachheit bescherte dem Mies van der Rohe ins Exil gingen und an dentlich schön. Und wenn ihr Aussehen technischen Optimismus der Zeit auf An- renommierten amerikanischen Universi- mit den Sehnsüchten einer Zeit zusam- hieb die ideale Form. täten lehrten und Erfolge feierten – die menfällt – umso besser. Wenn dann noch Aber die kühle Schöne, kaum war sie er- puristische Eiswürfel-Ästhetik aus Dessau eine allzu kurze Blütezeit, tragische Ver- blüht, wurde nur wenige Jahre von den Po- einen mythischen Ruf. Ein nicht zu unter- strickung, Verkennung, vielleicht noch ein litikern in Weimar und Dessau geduldet. schätzender Ruhmesfaktor: Die authen- früher Tod hinzukommen, etwa wie im Fall Am 20. Juli 1933, vor 66 Jahren, musste Lud- tischen Geburtsstätten dieses deutschen von Marilyn Monroe, ist die Sache mit dem wig Mies van der Rohe, der damalige Bau- Designwunders, Weimar und Dessau, wa- ewigen Ruhm so gut wie gebongt. haus-Chef, nach einer Gestapo-Attacke sein ren jahrzehntelang, hinter dem Eisernen Mit dem Bauhaus verhält es sich ganz Institut dichtmachen. Gerade mal 14 Jahre Vorhang, der Welt entrückt – und damit ähnlich wie mit Marilyn. Die ersten be- hatte der Traum von einer „Wiedervereini- ideal als Projektionsfläche für allerlei Hel- deutenden Häuser dieser berühmtesten Ar- gung aller werkkünstlerischen Disziplinen“ denträume. chitekturschule des 20. Jahrhunderts, Lehr- (Bauhaus-Manifest) gedauert, insgesamt be- Nach der Wende 1989/90 wurden die gebäude und Lehrerwohnhäuser in Des- suchten lediglich 1250 Eleven die Schule. trotz „Erbe“-Propaganda unter Erich

156 der spiegel 31/1999 will sein ehrenvolles Amt nutzen, um aus den akkurat gestylten Gropius-Räu- men die erdrückende Ehrfurcht ihrer Be- wunderer zu pusten und lauter ungezoge- ne Fragen zu stellen. Er möchte am liebsten wieder Avantgarde sein – vor allem aber die Avantgarde einer neuen Kritik am Bau- haus-Mythos und seinen zum Teil verhee- renden Fernwirkungen. Diese Kritik wurde bisher meist von außen an Gropius und seine Mitstreiter her- angetragen. Sie zielte auf die „Diktatur des Rechtecks“, wie US-Autor Tom Wolfe in sei- ner Polemik „From Bauhaus to Our House“

Bauhaus-Direktor Akbar „Sich ordentlich streiten“

(1981) formulierte, und auf die ästhe- tische Sprachlosigkeit jener nackten, geo- metrischen Elementarformen, die zumal Ludwig Mies van der Rohe unter dem Mot- to „Weniger ist mehr“ durchgesetzt hatte. Die formale Reduktion, die auf Fassa- den-Ornamentik weitgehend verzichtet, fügt sich geradezu ideal der bauindustriel- len Typenbildung. Dieser Tatbestand hat ihren Siegeszug im weltweiten Kisten- und Kasten-Einerlei ebenso befördert wie die propagandistische Wirkung der Gropius- Devise, zur Moderne gehöre nun einmal eine „neue Einheit“ von Kunst und Technik. Der neue Bauhaus-Direktor will nun das alles im Hause des Erfinders kritisch auf- arbeiten und weiß durchaus, dass er damit

FOTOS: J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. FOTOS: eine riesige Weltgemeinde gegen sich auf- Kandinsky/Klee-Haus (innen): „Das Treppenhaus ist so lustig“ bringen wird. Akbar will das Bild vom technisch-rationalen Einheitsstil aufbre- Honecker ziemlich verrotteten Baujuwelen herrschte am magischen Ort freundliche chen und an die eher malerischen Bau- im Osten von den Architekturliebhabern Verlegenheit – es raschelte, außer ein Stra- haus-Varianten erinnern, die viel zu wenig aller Länder geradezu gestürmt. Die meis- tegiepapier über das „industrielle Garten- beachtet werden. ten verließen allerdings das Objekt ihrer reich“ von Übermorgen, nicht viel. „Das Treppenhaus ist meine ganze Freu- Schau-Begierde geradezu schockiert: Ins- Seit einigen Monaten jedoch weht in de“, schwärmte etwa Maler-Genie Lyonel besondere die vier Meisterhäuser, wie das Dessau ein frischer Wind: Der neue Bau- Feininger über sein Dessauer Meisterhaus, berühmte Schulgebäude entworfen vom haus-Direktor Omar Akbar, 51, entwickelt „so lustig mit dem roten Geländerstrei- Bauhaus-Gründer Walter Gropius, waren kühne Pläne, und von den Meisterhäusern fen auf den kobaltblauen glatten Treppen- innen und außen vernachlässigt, entstellt, lässt die Stadt immerhin drei aufwendig wangen.“ verwahrlost. Eines wurde im Zweiten Welt- wiederherstellen – nach dem bereits reno- Außen monoton, innen vielfältig und krieg bis auf die Grundmauern zerstört, vierten Feininger-Haus sind nun die Dop- bunt – die Bauhaus-Ästhetik war ur- ein anderes in DDR-Zeiten zur Poliklinik pelhäuser von Paul Klee/Wassily Kandin- sprünglich viel komplexer und spannungs- umgebaut. sky (fast fertig) und Georg Muche/Oskar reicher, als es der Mythos wahrhaben will. In den ersten Jahren nach Mauerfall und Schlemmer (in Planung) an der Reihe. Eindrucksvoller und plastischer als das Fei- Wende, unter dem schon seit DDR-Tagen Architekt Akbar, ein gebürtiger Afgha- ninger-Haus beweist dies die fast fertige amtierenden Bauhaus-Direktor Rolf Kuhn, ne, der seit 40 Jahren in Deutschland lebt, Restaurierung jener Behausung, die sich

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Bauhaus-Direktor Akbar indes plädiert ungeduldig dafür, „vor allem an die Zu- kunft zu denken“. Es könne nicht die Auf- gabe des neuen Bauhauses sein, sagt er in Anspielung auf die Arbeit seines Vor- gängers, am Bestand herumzuwerkeln und weltweit noch den letzten Original- Breuer-Stühlen hinterherzujagen. Son- dern: „Wir müssen uns mit den großen Themen aus dem Alltag der Leute beschäf- tigen.“ Und dafür soll eine neue Art Meister- klasse her, die das Thema Architektur so lebensnah wie möglich reflektiert. Noch in diesem Spätsommer, wie es aussieht

AKG ab Anfang September, werden sich 25 jun- ge Architekten, Dichter und Geisteswissenschaft- ler aus aller Welt für ein Jahr in Dessau tref- fen, debattieren, entwer- fen, verwerfen und sich vor allem „ordentlich Dessauer Schulgebäude: Glanz der Askese streiten“, so lautet der Wunsch des Chefs. dereinst die Maler-Promis Kandinsky und freiheitlich, wie es immer Gleich als erstes soll Klee in friedlicher Doppelhaus-Gemein- heißt, oder war er nicht sich die selbst ernann- schaft teilten. vielmehr unerhört auto- te Rabaukenbande dem Was die Fachzeitschrift „Bauwelt“ nach ritär? wohl dringlichsten städ-

der Wiederherstellung des Feininger-Hau- Der Direktor als obers- / BAUHAUS-ARCHIV G. LEPKOWSKI tebaulichen Problem wid- ses schrieb, gilt nun erst recht für das Kan- ter Störenfried – es sieht Sessel von Marcel Breuer men: Trostlose Vororte, dinsky-Klee-Domizil: „Man darf wirklich so aus, als könne der städtische Gewerbebra- überrascht sein: Die Meisterhäuser waren Stadt und dem Bauhaus Besseres nicht pas- chen und wie man sie wiederbeleben kann. bunt!“ Und wie: In der Kandinsky-Woh- sieren: Das erste Mal seit Jahrzehnten gibt Dass die tristen Peripherien der Großstäd- nung war ein Zimmer knallorange, eine es hier offen ausgetragene Streitereien um te auch ein Erbe der Moderne, also streng Wand sogar goldfarben – 170 Farbtöne Kunst und Politik, heftige Debatten über genommen des Bauhauses sind, reizt Ak- haben Restaurateure in verschiedenen das alte und das neue Bauen. bar an dem Thema besonders. Schichten gefunden, vom Weiß-in-Weiß, Bei der Renovierung der Meisterhäuser Er weiß: Nach dem urbanistischen Tri- was Historiker bisher für bauhaustypisch wurde etwa darüber diskutiert, ob wirk- umph der funktionalen und industriellen hielten, keine Spur. lich, wie Denkmalpfleger vorschlugen, je- Nüchternheit, die nun einmal von der Bau- Auch vieles andere, was bisher als un- der Millimeter wieder auf Originaltreue zu haus-Kiste mit Flachdach symbolisiert umstößliche baugeschichtliche Glaubens- trimmen sei oder doch auch Spuren der wird, wollen die Leute wieder Seele. lehre galt, wird nun in Dessau neu be- Nazis und der DDR-Zeit erhalten bleiben Am Ende eines von der Moderne ge- trachtet. „Keine Tabus“, verkündet der sollten. Man einigte sich auf einen Kom- segneten, mehr noch: gebeutelten Jahr- temperamentvolle Architektur-Theoretiker promiss: ein wenig Spurensicherung, vor hunderts ist nun wieder offen, welche Art Akbar und fügt lustvoll Diabolisches hin- allem aber die authentische Farbseligkeit. von Bauhaus auf den Schild gehoben und zu: Die Ästhetik der Des- sich vielleicht sogar sauer habe nicht nur über- durchsetzen wird. raschend fröhliche, son- Die Freunde des ande- dern auch menschenver- ren, des seelenvollen, des achtende Züge, sie sei farbigen Bauhauses sind streckenweise viel zu kühl, zurückgekehrt, und so zu standardisiert, auf die haben die Fortschrittskri- Masse bezogen und er- tiker wieder Sitz und schreckend verächtlich ge- Stimme im ehemaligen genüber dem Individuum. Zentrum der Fortschritts- Akbar interessiert sich propaganda. nicht zuletzt für politische Wenn fortan neben Fragen wie diese: Hat Wal- dem asketischen Glanz ter Gropius nicht doch ver- auch und vor allem das sucht, mit den Nazis zu ko- Elend der berühmten operieren? Führte Gropi- Schule besprochen wird, us seine Akademie tatsäch- wird das dem Bauhaus lich so demokratisch und letztlich nicht schaden. Denn erst wenn sich * Wassily und Nina Kandinsky, Schwäche zu Schönheit Georg Muche, Paul Klee und gesellt, lebt ein My- Walter Gropius am Tag der Eröff- nung des Bauhaus-Schulgebäudes BAUHAUS-ARCHIV thos wirklich. in Dessau am 4. Dezember 1926. Bauhaus-Gründer*: Kurze Blütezeit, tragische Verstrickung Susanne Beyer

158 der spiegel 31/1999 SACHBUCH Was das Grausen lehrt Ist Abscheu angeboren, oder werden wir zum Ekel nur erzogen? Ein Berliner Professor hat die Geschichte der „starken Empfindung“ erforscht. Ein Ergebnis von vielen: Frauen sind leichter angewidert als Männer.

ollte er das 40. Lebensjahr erreichen, Schminke Ähnliches.“ Im Mittelpunkt ste- scheu. Vor Übersättigung beispielsweise: werde er „wahrscheinlich ein altes he immer die Abscheu vor der Fäulnis. Immanuel Kant schrieb, dass „nichts so SMädchen mit vorstehenden, etwas Aber wo bleiben dann Spinnen, Ratten und verekelt als lauter Süßigkeit“. von der Oberlippe entblößten Oberzäh- die übrigen bewährten Untiere? Erst kurz vor 1800, zeigt Menninghaus nen heiraten“, notierte Franz Kafka mit 28 Andere haben längst bemerkt, dass Wi- nun, nahmen Ästhetiker das Abstoßende Jahren im Tagebuch. Doch so alt könne er derwärtiges nur dann unerträglich wird, genauer ins Visier, weil sie sein Gegenteil, kaum werden. Dagegen spräche schon „die wenn es sich in körperlicher Nähe befindet. den schönen, glatten, jungen Körper, zum Spannung, die sich mir über die linke Doch was wirkt am sichersten: Schleim, Kunstideal erheben wollten*. Theater-Pio- Schädelhälfte öfters legt, die sich wie ein Mief, Fettiges, Klebriges oder bestimmte nier Gotthold Ephraim Lessing nannte eine innerer Aussatz anfühlt“. Schonungslos hielt der junge Jurist aus Prag seine Gedan- kenbilder fest, nicht nur für sich privat. „Geradezu unheimlich“ wurde dem Li- teraturwissenschaftler Win- fried Menninghaus zu Mute, als er beim Wiederlesen von Kafkas Büchern eine Mon- strosität nach der anderen fand. Drang da etwas ans Licht, das jahrhundertelang tabu gewesen war? Oder lebte der Schriftsteller nur bewusst aus, was Menschen insge- heim stets gefesselt hat? Könnten Kafkas beklem- mende Texte sogar erklären helfen, wie Ekel in der Kunst überhaupt wirkt – vom anti- ken Sagenhelden Marsyas, den der Kunstgott Apoll, nachdem er ihn im Musizie- ren übertrumpft hatte, bei le- bendigem Leibe abhäutete und aufhängte, bis zum bri- tischen Schock-Künstler Da- mien Hirst, der Tierleichen in Formalinbassins einlegt? Menninghaus, 46, kam fast AKG zufällig an sein Thema. Der PRESS ACTION Berliner Professor für ver- Ekel-Phantasien Hölle (nach Hieronymus Bosch), Spinnenfurcht: „Wahrer Blick ins Wesen der Dinge“? gleichende Literaturwissen- schaft untersuchte das Schönheitsideal der Bildmuster? Immerhin wollen Psycholo- „gepletschte Nase mit vorragenden deutschen Klassik. Plötzlich, mitten in der gen nachgewiesen haben, dass Frauen an- Löchern“ besonders widerwärtig, und er dicksten Theorie, über den ästhetischen fälliger für Ekel sind als Männer und dass sparte nicht mit Belegen dafür, „wie Schriften von Kant und Goethe, fiel ihm gebildetere Leute sich im allgemeinen we- schmutzig die Hottentotten sind“ – nur um auf: Vom Abstoßenden, das dort unent- niger leicht ekeln. die Vorbildlichkeit der berühmten „Lao- wegt ausgegrenzt wird, weiß kaum einer Vielleicht sind sie einfach literarisch ab- koon“-Skulptur in Rom zu begründen. etwas. Bunt mischen sich in Sachen Ekel gebrüht. Schon eine Tragödie aus dem al- „Schlappe bis auf den Nabel herabhan- Fakten und Hypothesen. ten Griechenland, der „Philoktet“ von So- gende Brüste“ entsetzten Herrn Lessing Da behauptet zum Beispiel ein Phäno- phokles, führt den gequälten Titelhelden menologe: „Alles Ekelhafte hat etwas zu- mit offenen, eitrigen Wunden vor. Auch in * Winfried Menninghaus: „Ekel. Theorie und Geschich- gleich Auffallendes und Schleierhaftes, ei- der Bibel treten immer wieder Aussätzige te einer starken Empfindung“. Suhrkamp Verlag, Frank- ner giftigen roten Beere oder einer grellen auf. Aber es gibt noch ganz anderen Ab- furt am Main; 592 Seiten; 58 Mark.

der spiegel 31/1999 159 ebenso. Damit schloss er sich einer langen Männer-Tradition an, die im alten Weib den Inbegriff des Ekligen sah. Runzelige Vetteln mit Triefaugen und zahnlosen Mün- dern lauern als Gegenbild hinter vielen da- maligen Versuchen, den zart gerundeten Idealkörper zu beschreiben. Natürlich entdeckten Jüngere schnell, dass solche Horrorbilder die Phantasie wecken. Beim Erzromantiker Achim von Arnim wimmelt es schon von Hexen, Zom- bies und anderen Halbnaturen. Die Par- teigänger der Klassik waren verständli- cherweise entsetzt. Erst „piquant“, dann „frappant“, bald nur noch „choquant“, so

Kafka bekannte sich zu seiner „Sehnsucht nach etwas leicht Widerlichem, Peinlichem“ komme der feine Geschmack auf den Hund, warnte Arnims Zeitgenosse Fried- rich Schlegel. Doch alle Wächterworte nützten nichts. Bereits Charles Baudelaire brachte um 1857 „Darmwürmer“ und die Läuse von Bettlern zu literarischen Ehren. Mit Vet- tel-Versen, worin jemand den „zerquälten Busen einer abgelebten Metze / küsst und isst“, schockte der Pariser Poet genüsslich seine Leser. Sogar die Geliebte besang er als Aas – Wahrheitssuche bis zum Erbre- chen. Die bis heute zugkräftigste Begründung für Reisen in die Unterwelt der eigenen Seele aber lieferte erst 1871 Friedrich Nietzsche: Wer sich ekele, habe soeben „ei- nen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan“. Pastorensohn Nietzsche fand „et- was Ekelhaftes und Widriges vom schlech- ten Geschmack, eine Mucker-Sentimenta- lität“ selbst im Neuen Testament. Die „zuckrige, schleimige, demütige Ergebung“ von Moralaposteln der Gründerzeit wi- derte den Denker sowieso an. „Ekel, Ekel, Ekel“ – mit diesem Erkenntnis-Schrei bricht Nietzsches Held Zarathustra zu- sammen, bevor er als Lehrer der ewigen Wiederkunft aufersteht. Ganz anders deutete wenig später Sig- mund Freud die Verbindung von Ekel und Einsicht. Für den Vater der Psychoanalyse war der Abscheu vor den eigenen Aus- scheidungen ein Hauptergebnis des Zivi- lisationszwanges. Ein Kleinkind zeige „anfänglich keinen Ekel vor dem Exkre- mentellen“. Seinen Fund baute Freud zur Kulturlehre aus: Zeitlebens versuche jeder Mensch, seelisch zu verdauen, dass ihm seine urtümliche „Perversionsfreiheit“, die tierische Lust an Aa und Bäbä, durch el- terliche Gewalt ausgetrieben wurde. „Ich kann Dir kaum ausführen, was sich mir alles in – Dreck auflöst“, raunte Freud voll Forscherehrgeiz dem Freund Wilhelm Fließ zu. „Es stimmt ganz zur Lehre vom innerlichen Stinken.“ Auch Kunst, so leg- te der Wiener Couch-Pionier es sich später

der spiegel 31/1999 Kultur zurecht, sei bloß ein Weg, „unsere eigenen schmutzung“ sah. Beim Existentialisten nicht viel zu bereitwillig den Schock, an Phantasien … ohne Schämen zu genie- Jean-Paul Sartre heißt es im Roman „Der den der Kunstbetrieb seit hundert Jahren ßen“, eine Hintertür zur Schmutz-Selig- Ekel“ kategorisch: „Ich bin es selbst.“ gewöhnt ist? Der vorsichtige Professor keit früher Kindertage. Bloß: Wem nützt so ein Satz? Und wagt kein Schlusswort. Zumindest eins je- Natürlich protestierten viele Zeitgenos- liefern heutige Künstler wie Cindy Sher- doch beweist sein Panorama: Auch in Zu- sen gegen derartig simple Erklärungen. man, die mit „abject art“, etwa Fotos von kunft bleibt das Widerliche ein Motor der Und doch schien die Kunst selbst zu be- Erbrochenem, weiterhin bei Galeriegän- Kultur – ganz ohne Ekel geht die Chose weisen, dass an der These vom untergrün- gern Würgegefühle auslösen möchten, nicht. Johannes Saltzwedel digen Ekel etwas dran sein musste. Paral- lel zu Freud und Nietzsche enthüllte der Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich Dramatiker August Strindberg die Höllen Bestseller ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ der Ehe. Expressionisten malten und be- dichteten Kadaver.Aber das verblüffends- Belletristik Sachbücher te Reservoir bleiben für Menninghaus die 1 (3) Donna Leon Nobiltà 1 (1) Sigrid Damm Christiane und Prosawerke Franz Kafkas. „Da war ich wirklich erstaunt“, gibt der Literaturken- Diogenes; 39,90 Mark Goethe Insel; 49,80 Mark ner zu. „Als ich systematisch suchte, fand 2 (2) Waris Dirie Wüstenblume sich immer mehr, es hörte nicht auf.“ 2 (1) John Irving Witwe für ein Jahr So schildert Kafka in der Skizze „Ein Diogenes; 49,90 Mark Schneekluth; 39,80 Mark Leben“, wie „eine stinkende Hündin, reichliche Kindergebärerin, stellenweise 3 (2) Henning Mankell Die falsche 3 (3) Corinne Hofmann Die weiße schon faulend“, den Erzähler so verfolgt, Fährte Zsolnay; 45 Mark Massai A1; 39,80 Mark dass er nur warten kann, wie sie in einem Winkel „auf mir und mit mir gänzlich ver- 4 (4) Henning Mankell Die fünfte Frau 4 (7) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist wesen“ wird, „das Eiter- und Wurmfleisch Zsolnay; 39,80 Mark ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark ihrer Zunge an meiner Hand“. Bilder puren Abscheus drängten sich 1 5 (4) Ruth Picardie 5 (6) Walter Moers Die 13 /2 Leben ihm schon auf, wenn er nur jemanden beim Es wird mir fehlen, des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark Essen beobachtete: das Leben Das Einschlucken der heißen Suppe, das 6 (–) Günter Grass Wunderlich; 29,80 Mark Hineinbeißen und gleichzeitige Ablecken Mein Jahrhundert Ein Leben mit des nicht geschälten Salamistumpfes, das dem Krebs: Eine schluckweise ernste Trinken des schon Steidl; 48 Mark junge Journalistin beschreibt warmen Bieres, das Ausbrechen des ihre Krankheit Schweißes um die Nase herum. Eine Wi- Vom Boxeraufstand derlichkeit, die durch gierigstes Anschau- zur Love-Parade: Geschichtsstunde des en und Beriechen nicht auszukosten ist. Großdichters 6 (5) Klaus Bednarz Ballade vom Immer wieder zelebrierte der einge- Baikalsee Europa; 39,80 Mark fleischte Vegetarier seine Ekel-Lust an tie- 7 (6) Dale Carnegie Sorge dich rischem Essen. Ob er den Verzehr der „saf- 7 (5) John Grisham Der Verrat nicht, lebe! Scherz; 46 Mark tigen jüdischen Würste“ beschrieb, die Hoffmann und Campe; 44,90 Mark „rundlich wie Wasserratten“ seien, oder 8 (10) Jon Krakauer In eisige Höhen nur im Vorbeigehen eine „abgeschlachtete 8 (8) Marianne Fredriksson Simon Stopfgans“ erwähnte, „anzusehen wie eine Malik; 39,80 Mark W. Krüger; 39,80 Mark tote Tante“: Überall setzte er obsessiv das Widerwärtige in Phantasien fort, bis zur 9 (7) Maeve Binchy Ein Haus in Irland 9 (9) Daniel Goeudevert detaillierten Beschreibung der eigenen fau- Mit Träumen beginnt die Realität Droemer; 39,90 Mark lenden, schmerzenden Zähne. Rowohlt Berlin; 39,80 Mark Junge Mädchen erschienen seinem zer- 10 (11) Minette Walters Wellenbrecher setzenden Blick abgelebt und vettelhaft. 10 (8) Guido Knopp Kanzler – Die Goldmann; 44,90 Mark „Ich will nur die dicken ältern“, gestand Mächtigen der Republik Kafka im Tagebuch ein. Er bekannte sich zu seiner „Sehnsucht … nach etwas leicht 11 (10) P. D. James Was gut und C. Bertelsmann; 46,90 Mark Widerlichem, Peinlichem, Schmutzigem: böse ist Droemer; 39,90 Mark 11 (13) Jon Krakauer Auf den Gipfeln noch in dem Besten, was es hier für mich gab, war etwas davon, irgendein kleiner 12 (12) Paulo Coelho Der Alchimist der Welt Malik; 39,80 Mark schlechter Geruch, etwas Schwefel, etwas Diogenes; 32 Mark Hölle“. Und dann verglich er sich mit dem 12 (12) Gary Kinder Das Goldschiff ewigen Juden, „sinnlos wandernd durch 13 (9) John le Carré Single & Single Malik; 39,80 Mark eine sinnlos schmutzige Welt“. Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark „Schriftsteller reden Gestank“: War 13 (11) Peter Kelder Die Fünf über dies Kafka-Fazit hinaus eine Steige- 14 (13) Terry Brooks Star Wars – „Tibeter“ Integral; 22 Mark rung möglich? Tatsächlich hat Menning- Episode 1: Die dunkle Bedrohung haus Denker gefunden, die der Erkenntnis- 14 (15) Bodo Schäfer Der Weg zur ekel noch übler umtrieb. Georges Bataille Blanvalet; 29,90 Mark finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark etwa, der im Gefolge der Surrealisten die befreiende Gewalt des Widerwärtigen fei- 15 (14) Tom Clancy Operation Rainbow 15 (14) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch erte und als „Wesen der Erotik die Be- Heyne; 49,80 Mark Berlin; 39,80 Mark

der spiegel 31/1999 161 Werbeseite

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KINO Sehnsucht nach Volkshelden Nach Jahren des Niedergangs erholt sich der russische Film mit preisverdächtigen Werken. Provokative Alltagsgeschichten, junge Schauspieltalente und historische Sujets finden wachsendes Interesse auch im Westen.

in junger Neureicher, ein staatlicher Verleih in 1500 Kopien „neuer Russe“, breitschultrig, an die Lichtspielhäuser von Lenin- EBorstenschnitt, goldene Arm- grad bis Wladiwostok sandte. banduhr, fläzt sich in seinen neuen Darunter war viel Ideologisches BMW. Er bemerkt nicht, dass in ei- und handwerklich Schwaches, doch nem Wohnblock gegenüber ein auch Kunstwerke von Weltrang wie fronterfahrener Scharfschütze mit die Filme Sergej Eisensteins („Pan- einem Spezialgewehr auf ihn an- zerkreuzer Potemkin“, „Iwan der legt. Der Attentäter, ein pensio- Schreckliche“) und Gegenwartsfil- nierter Eisenbahner, will sich rä- me, die im Westen Beachtung fan- chen, denn der „neue Russe“ hat den. In den achtziger Jahren gehör- gemeinsam mit zwei Freunden sei- ten dazu etwa Eldar Rjasanows ne Enkelin vergewaltigt. „Bahnhof für zwei“ und Wladimir Der Schütze zielt genau auf den Menschows „Moskau glaubt den Tank des Wagens, drückt ab, das Tränen nicht“, der 1981 einen Oscar Fahrzeug fliegt in die Luft, die Ex- erhielt. plosion schleudert den Fahrer aus Als sich die Sowjetunion auflös- dem Auto. Der junge Mann über- te, war die Aufnahmetechnik ver- lebt mit schweren Verbrennungen, schlissen, die Studios waren pleite, die Regisseure ratlos. Zeitweilig wurden im Nachwende-Rußland kaum mehr als ein Dutzend Filme jährlich gedreht. Derzeit entstehen in vier Studios rund 40 Leinwand- arbeiten pro Jahr, von denen jeweils maximal 50 Kopien in den Verleih gehen. Nach Jahren des Nieder- gangs, in denen vorwiegend ame- rikanische Movies, nicht sel-

P. KASSIN P. ten drittklassige, die Kinos okku- Goworuchin-Film „Der Woroschilower Schütze“ pierten, erlebt der russische Film „Hymne auf die Selbstjustiz“ jetzt einen allmählichen Wieder- aufstieg. bis in die Provinz. Als Video angeboten, Im Februar dieses Jahres, als Nikita

RPG fand „Der Woroschilower Schütze“ bereits Michalkows „Barbier von Sibirien“ in der Regisseur Goworuchin in den ersten zehn Verkaufstagen mehr als Startwoche doppelt so viele Zuschauer Störrischer Einzelkämpfer 35000 Abnehmer und wurde Spitzenreiter fand wie „Titanic“ aus Hollywood, wurde unter den einheimischen Filmen. deutlich, dass die Russen nach guten ein- auch das Tatwerkzeug zwischen den Bei- Der Gegenwartsfilm über den rüstigen heimischen Filmen regelrecht dürsten. nen des Vergewaltigers ist arg lädiert. Rentner Iwan Fjodorowitsch, glänzend ge- Goworuchins spottbillig produzierter Die Szene aus dem neuen Film „Der spielt von Michail Uljanow, 71, einem Alt- „Woroschilower Schütze“ zeigt jetzt, dass Woroschilower Schütze“ des Moskauer Re- star des russischen Kinos und Theaters, der nicht nur Michalkows kostspieliger Ver- gisseurs Stanislaw Goworuchin, 63, findet zum volkstümlichen Rächer avanciert, trifft such, Hollywood mit dessen eigenen Me- bei den Zuschauern ein kräftiges Echo. Im den Nerv einer Nation, die nach Jahren thoden und Effekten zu schlagen, Erfolg gut gefüllten Kinosaal im russischen Bade- der Wirren wieder zu vaterländischen Vor- an der Kasse verspricht. Goworuchin dreh- ort Dagomys bei Sotschi an der kauka- bildern und Helden aufschauen möchte. te in der Provinzstadt Kaluga, 200 Kilome- sischen Schwarzmeerküste brandet nach Die Russen, traditionell filmbegeistert – ter südwestlich von Moskau. Der sparsame der Explosion des BMW Beifall auf. Jung 63 Prozent von ihnen halten nach der Um- Einsatz der Mittel machte seine Alltagsskiz- und Alt vereint schadenfrohes Lachen – be- frage eines Moskauer Meinungsforschungs- zen realitätsnah. Der Regisseur nutzte Pri- freiend, böse, auch ein wenig befremdlich, instituts das Kino für „die anziehendste vatwohnungen als Kulisse, in denen, wie als entlade sich plötzlich im Kino die Wut Form der Kunst“ –, haben mit dem Zerfall in Rußland verbreitet, Teppiche an den eines Volkes auf rabiate Wendegewinner. der Sowjetunion zugleich auch einen bei- Wänden hängen. Die nötigen Volksaufläu- Der neue Film Goworuchins, bekannt spiellosen Niedergang der nationalen Film- fe bestritt er mit Statisten aus dem Stadt- durch Spielfilme und Dokumentationen, kunst erleben müssen. teil. Die Rolle des missbrauchten Mädchens etwa über Alexander Solschenizyn, füllt Die UdSSR produzierte pro Jahr in 23 spielte die 17jährige Schauspielschülerin die russischen Kinos von der Hauptstadt Studios durchschnittlich 150 Filme, die ein Anja Sinjakina mit beachtlichem Talent.

164 der spiegel 31/1999 P. KASSIN P. Proschkin-Film „Die russische Revolte“: „Die Leute bei uns interessieren sich mehr für den Menschen als für die Story“

Goworuchins Held versucht zunächst, KP-Chefs Gennadij Sjuganow. Mit dem offenkundig auf die kollektive unterbe- die Verbrecher durch Anzeige bei der Po- Kommunistenführer, einem Konservativen wusste Liebe der Russen zu Rebellen, die lizei und Staatsanwaltschaft ihrer Strafe unter roter Flagge, verbindet ihn ein un- das Volk aus einer ausweglosen Lage be- zuzuführen, doch scheitert er an korrupten stillbarer Hang zum Russisch-Nationalen freien wollen. und zynischen Beamten. Hilflos sitzt er mit und zum „Volkspatriotismus“. Mit den Sowohl auf das russische als auch auf allen Kriegsauszeichnungen an der Brust Kommunisten ist sich der Regisseur einig das westliche Publikum zielt die russisch- vor einem Staatsanwalt, der das Verfahren im Kampf für eine „moralische Zensur“, französische Koproduktion „Ost-West“ des einstellt, aus Mangel an Beweisen. gegen Pornografie und Sittenverwilderung. französischen Regisseurs Regis Wargnier. Da verkauft der Rentner seine Datscha, Zugleich schimpft er über Radau-Anti- Die Geschichte über russische Emigranten, fährt nach Moskau und erwirbt auf dem semiten und orthodoxe Kommunisten in die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Frank- Schwarzen Markt ein Gewehr mit Ziel- den Reihen der KP. reich in die Sowjetunion zurückkehren, wo fernrohr und Schalldämpfer. Zwei der Tä- Anders als Michalkow, der mit seinem die meisten im Lager landen, wird in Paris ter verletzt er durch Schüsse schwer, der „Sibirischen Barbier“ auf einen Oscar am 1. September ihre Premiere erleben. Dritte verliert aus Angst vor einem An- hofft, ist Goworuchin die Reaktion des aus- Im Film spielt Oleg Menschikow, 38, die schlag den Verstand. ländischen Publikums recht gleichgültig. Hauptrolle, der neue Star des russischen In der russischen Öffentlichkeit fand Go- Nie fiele es ihm ein, um des weltweiten Er- Kinos und Theaters, den Zuschauern im woruchins Film ein gespaltenes Echo.Wäh- folgs willen wie Michalkow ein Klischee- Westen bereits aus den beiden Michalkow- rend die Armeezeitung, die immer noch Russland mit brummenden Bären und Filmen „Die Sonne, die uns täuscht“ und „Roter Stern“ heißt, dem Regisseur be- trunkenen Tölpeln in Szene zu setzen. „Der Barbier von Sibirien“ als ausdrucks- scheinigt, er beschreibe treffend „die Aus- Auf die Russen kommt es ihm an. Und starkes und impulsives Talent bekannt. weglosigkeit der Lage des kleinen Man- für die Gefühle und Vorstellungen, die bei Produziert wurden sowohl „Ost-West“ nes“, warf ihm der Kritiker Wladimir Woi- den Seinen zu Hause sind, hat er als „po- und „Russki bunt“ als auch „Der Woro- nowitsch in der liberalen „Moskowskije litischer Scharfschütze“ („Iswestija“) ein schilower Schütze“ von Igor Tolstunow, 42, Nowosti“ empört vor, sein Film sei eine feines Gespür. dem Generaldirektor der Moskauer Film- „Hymne auf die Selbstjustiz“. Bei seinen Landsleuten nimmt Goworu- gesellschaft NTW-Profit, die zur Most-Me- Zumindest bringt der Held seine schul- chin ein wachsendes „Gefühl der eigenen dia-Gruppe des Tycoons Wladimir Gus- digen Opfer nicht um, obwohl er es könn- Würde“ und eines nationalen Selbstbe- sinski gehört. Tolstunow, ein kosmopoliti- te. Es scheint, als habe sich Goworuchin in wusstseins wahr, dem er sich „filmisch scher Intellektueller, sieht die Wallungen dem alten Eisenbahner Iwan Fjodorowitsch nähern“ möchte. des russischen Publikums vor allem aus vor allem ein Ebenbild an gradliniger Stur- Ein weiteres Projekt, zu dem er das nüchtern geschäftlicher Perspektive. „Un- heit schaffen wollen. Der Regisseur ist als Drehbuch schrieb, hat womöglich Chan- ser Kino ist europäisch und unterscheidet parteiloser Abgeordneter der Duma, de- cen, auch außerhalb Russlands ein Erfolg sich vom amerikanischen“, sagt der Profi ren Kulturausschuss er vorsitzt, unmittel- zu werden: der Film „Russki bunt“ (zu ohne Ressentiments. „Die Leute bei uns in- bar politisch engagiert. In der Duma ist er Deutsch: „Die russische Revolte“) über teressieren sich mehr für den Menschen ein störrischer Einzelkämpfer von sehr rus- den Bauernrebellen Jemeljan Pugatschow als für die Story.“ sischer Widersprüchlichkeit, die sich west- aus dem 18. Jahrhundert. Zur russischen Diskussion über eine licher Rationalität mitunter entzieht. Der Film des Regisseurs Alexander Quote, welche die Verbreitung ausländi- So verdammt der konservative Go- Proschkin, der im Oktober zunächst in scher Filme begrenzen könnte, um den woruchin die bolschewistische Revolution Russland anläuft, ist als historisches Drama einheimischen Film zu fördern, verhält sich als „kriminell“ und verklärt die Zarenzeit, frei nach Werken des Schriftstellers Alex- Produzent Tolstunow ambivalent: „Natür- etwa in dem Dokumentarfilm „Das Russ- ander Puschkin angelegt. Regisseur Prosch- lich würde uns das erst einmal helfen.Aber land, das wir verloren haben“. Im Parla- kin, der seine „romantische Betrachtung die Leute wollen nicht irgendwelche, ment wiederum steht er oft an der Seite Pugatschows“ zugleich für eine „sehr sondern vor allem gute russische Filme seines Freundes und Billard-Partners, des zeitgenössische Geschichte“ hält, setzt sehen.“ Uwe Klußmann

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zwischen den Beinen kratzen sollte, avan- drei Viertel des Publikums meinten bei FILM ciert er in wenigen Tagen aus dem Nichts Umfragen, ihr Ed habe diese Zicke nicht zu einem Star, der Drehbuchschreiber nei- verdient. Die Show läuft. Chaos-Tage disch machen könnte. Aber kann jemand noch er selbst blei- Erst spannt er Ray (Woody Harrelson) ben, wenn er pausenlos in der Öffentlich- locker die zaghafte Shari (Jenna Elfman) keit existiert? Wie werden seine Bekann- mit Ed aus. In der anschließenden Familienkrise, ten damit fertig? Vergangenes Jahr war in die wie alles andere in Echtzeit ausge- den Kinos die „Truman Show“ zu sehen, Lässt sich ein normales Leben strahlt wird, taucht urplötzlich Eds Vater deren Titelheld von klein auf ohne sein (gespielt vom großen alten Dennis Hop- Wissen ein Leben für die Kameras führt. vor Fernsehkameras führen? per) auf, der vor Jahren verschwunden war. Truman entkommt zuletzt aus der Schein- Die US-Komödie „EDtv“, ein Dann setzt sich auch noch Shari ab: Fast idylle eines riesenhaften Studios, das Echo der „Truman Show“, sein bisheriges Dasein beher- spielt mit der skurrilen Idee. bergte. In „EDtv“ (Regie: Ron Ho- a hat er endlich das Mädchen ge- ward) braucht niemand aus funden, nach dem er sich schon so Kulissen in die wirkliche Welt Dlange sehnte. Blumen hat er ihr mit- zu fliehen. Stattdessen fragt gebracht, nachgelaufen ist er ihr, ihretwe- der Film, ob nicht die Wirk- gen hat er sich mit seinem Bruder zerstrit- lichkeit zur Kulisse verkom- ten. Aber es nützt alles nichts: Shari läuft men könnte. Damit erfasst er weg, so ehrlich es Ed auch meint. Denn nie das Thema vom großen Bru- kommt er allein. Wo Ed geht und steht, der Fernsehen anders, realis- folgt ihm ein Kamerateam samt Übertra- tischer. Tatsächlich haben gungswagen; alle Nachbarn können ver- schon etliche Menschen ihr folgen, was der harmlose Videoverkäufer Leben rund um die Uhr im In- von nebenan tut. ternet zur Schau gestellt. Dar- Natürlich mussten sich die Fernseh- aus einen Publikumshit zu mogule von „True TV“, dem bedrohten machen, hindern die US-Sen- Kabelkanal, einen ziemlich beschränkten der wohl nur ein paar läppi- jungen Mitbürger aussuchen, als sie zur sche Persönlichkeitsrechte. Rettung ihrer Zuschauerquoten die Idee So hätte das Stück durch- entwickelten, das nackte Leben live zu aus eine beklemmende Para- zeigen. Ed Pekurny, der Nobody mit dem bel auf die Macht des Me- sympathischen Mienenspiel, kommt ihnen diums werden können, in der für das Experiment gerade recht. Für we- Tradition von „Network“ und nig Geld heuert Programmchefin Cynthia anderen Filmen. Doch den Jungen an, der beim Probedreh in ei- „EDtv“ soll nun mal eine ner Bar die Anekdoten so viel besser er- Komödie sein. Deshalb darf zählen konnte als sein aufdringlicher Bru- sich das Familienchaos nicht der Ray. zum Horror eines Ibsen-Dra- Und so skeptisch ihre Vorgesetzten mas auftürmen, und auch die gucken, Cynthias Plan geht auf. Als Ed durchaus menschlich gezeich-

(Matthew McConaughey) gelernt hat, dass UIP FOTOS: nete Programmleiterin Cyn- er sich nicht unbedingt vor der Kamera Verführerin Hurley in „EDtv“: Trost für den Helden thia – glaubhaft verkörpert von Ellen DeGeneres – kann ihren überraschenden Erfolg nur kurz ge- nießen. Gerade hat sie begonnen, den von Sha- ris Abgang geknickten Ed zu trösten, in- dem sie ihm wie zufällig das Model Jill (ziemlich unecht: Elizabeth Hurley) über den Weg laufen lässt, da erkennt ihr Haupt- darsteller, dass selbst die beste Gage nicht seine Identität aufwiegen kann. „Ich nehme das bisschen Würde, das mir noch übrig ist, und steige aus“, erklärt Ed tapfer seinen Arbeitgebern. Und als der Fernsehboss ihm drohen will, denkt er sich eine Strategie aus, die den Sender zum Abschalten zwingt. So siegt das kamerafreie Leben am Ende fast mühelos über den trügerischen Bild- schirmruhm. Trotzdem – und gerade das ist die Stärke von „EDtv“ – hinterlässt das Unterhaltungsstück zartbitteren Argwohn. Wer weiß, ob Quotenjägern irgendwo an- ders nicht bald ein ganz ähnliches Rezept einfällt, den Voyeurismus anzuheizen: Holz- „EDtv“-Darsteller McConaughey, Elfman: „Ein bisschen Würde“ auge, sei wachsam. Johannes Saltzwedel

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leichtert gewesen, allen voran der erste Mann im Staat, Bundespräsident Thomas FESTSPIELE Klestil. Denn der konservative Landesherr hatte sich für das, laut „Kronenzeitung“, „belgische Intendanten-Auslaufmodell“ Watschen im Weihetempel ohnehin ein paar passende Worte zurecht- gelegt, ausgerechnet in seiner Eröffnungs- Salzburg und Bayreuth, Europas erste Festivaladressen, sind in der rede. Es gebe da „Kritiker der Festspielidee“, Krise: Auf der Bühne werden Musteraufführungen immer die wollten „Konfrontation statt Harmonie seltener, in den Kulissen pokern Politiker. Von Klaus Umbach und ,Stückezertrümmerung‘ statt humani- stischem Bildungstheater“. In Salzburg m ein Haar wären die diesjähri- schen Neutöner und knapp 50 Musikern aber habe „das besonders Schöne und Klu- gen Salzburger Festspiele noch vor diente sie immerhin als Textraster für 90 ge durch Wort und Musik seelisches Hei- Uder Eröffnung kopflos geworden: Minuten gedämpfter Avantgardeklänge. matrecht“, hier müssten „Stil und Ge- Hinter den Kulissen hatte der Intendant Aber nun war da ja noch die Regie. Da schmack auch in Zukunft maßgeblich blei- Gerard Mortier, 55, nämlich wieder mal liefen jede Menge Blaumänner mit Gelb- ben“. In Österreich, zitierte Klestil ein von Rücktritt gesprochen, diesmal im helm herum, ein betresster Offizier tauch- Bonmot des Schriftstellers Robert Musil, Ernst. te auf einem Ochsen aus der Versenkung „wurde immer nur ein Genie für einen Mit seiner Drohung, auf der Stelle und auf, Sänger schleppten Gestein heran, her- Lümmel gehalten, aber niemals, wie es an- nicht erst mit Vertragsende 2001 das Weite um und von dannen; aber mehr als eine derswo vorkam, der Lümmel schon für das zu suchen, überraschte der streitbare Fla- Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Chori- Genie“. me allerdings nicht seine vielen Widersa- sten kam nicht dabei heraus. Mortiers Replik auf die Watschen-Rede cher vor Ort, sondern den heuer meistho- Dieser quälende Leergang brachte Berio kam, „persönlich und vertraulich“, post- fierten Festspielgast: den italienischen denn auch gehörig in Harnisch.Was ihm da wendend: „Sie sprachen von Stil und Ge- Komponisten Luciano Berio, 73, den Mor- unter die Augen komme, sei „deprimie- schmack, und daher ist es mir sicherlich tier selbst an die Salzach gelockt hatte. rend“, polterte er, alles „Form ohne In- erlaubt, Ihnen zu sagen, dass ich mich ge- Erstmals seit 13 Jahren stand mit Berios halt“ und „deutscher Minimalismus“. wundert habe, dass Sie das Podium einer Auftragswerk wieder mal eine neue Oper Anders als geplant, entschied auf dem Festspielprogramm, erstmals in der erboste Komponist con fuo- der Geschichte des Festivals war eine Welt- co, dürfe diese öde Inszenierung premiere sogar als Eröffnungsgala ange- nun nicht zu den Folgeauf- setzt: In der Felsenreitschule wurde am führungen nach Paris und Lon- vorletzten Wochenende Berios heftig um- don exportiert werden.Am lieb- tuschelte Novität „Cronaca del Luogo“ sten hätte der Komponist den (Chronik des Ortes) uraufgeführt. Salzburgern sogar noch das Pre- „Azione musicale“ hat Berio selbst das mierenrecht entzogen. Aber da Opus genannt und leichtsinnigerweise Frau war Mortier vor: Wenn Berio Gemahlin Talia Pecker Berio das span- die Uraufführung platzen und nungslose Libretto, eine Art Schöpfungs- ihn auflaufen lasse, müsse er als geschichte, verfassen lassen. Was immer, Intendant stehenden Fußes ab- außer Langeweile, die polyglotte Textmix- treten. tur aus Altem Testament und Literaturzi- Kein Zweifel: Die Gralshüter

taten auch bewirken sollte – dem italieni- in der Alpenrepublik wären er- AP Festspielpremieren in Salzburg („Cronaca del Luogo“), Bayreuth („Lohengrin“, o.): Hier das Schöne und Kluge, dort Lebkuchenkost DPA Werbeseite

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Eröffnungsrede gebraucht haben, um ex grin“-Premiere klärte erst einmal Bayerns Cathedra Ihre Interpretation der Fest- Landesherr die Gäste auf: Bayreuth, so Ed- spielgedanken als die ,wahre‘ zu bezeich- mund Stoiber, sei eine nationale Angele- nen, dort, wo in demokratischem Sinne genheit und der Bund in der Pflicht. kein Widerspruch möglich war.“ Er, so der Diesen Appell fand Naumann nun völlig Intendant, habe „unter Einsatz all meiner deplaziert. Der Berliner Kunstverweser Energie nach der Karajan-Zäsur dafür Sor- verwahrte sich auf der Stelle gegen Stoi- ge getragen, die Internationalität der Fest- bers Versuch, die edle Erschütterung durch spiele weiter zu steigern“. Man müsse Wagners Gralserzählung „fünf Minuten, „voreingenommen sein, um das nicht an- nachdem der Vorhang gefallen war, durch zuerkennen“. Bierzelt- und immer öfter Champagner- Während in Salzburg das Gedribbel um zeltsprüche zu ruinieren“. Künftig werde

Mortiers Nachfolge im Crescendo des DPA er Stoibers Empfänge boykottieren – eine Wahlkampfs (Österreich entscheidet im Bayreuther Festspielchef Wagner Drohung, die er später dann doch nicht so Oktober über den neuen Nationalrat) rasch Muntere Beben belebten den Hügel bierernst verstanden wissen wollte. an Biss und Schwung gewinnt, scheint die Zu spät; Bayreuth war längst Vilshofen, Frage der Erbfolge in Bayreuth, dem zwei- diesem bösen Buben sei er unersetzlich – und aus den Kulissen dröhnte Theaterdon- ten Festspielzirkus der europäischen No- Bayreuth in Not, seine Gemeinde in Rage. ner. Naumann rechnete den Bayreuthern belkultur, erst einmal ausgesessen: Wolf- „Mehr Wagner – weniger Naumann“ vor, dass sie, unterm Strich, nur eine Kür- gang Wagner bleibt und bleibt. forderten schilderbewehrte Protestanten zung von 239 000 Mark Bundeszuschuss Kaum hatte der unverwüstliche Pa- beim Eröffnungsdefilee am Hügel und hiel- verkraften müssten. Parteigenosse Mronz triarch im SPIEGEL-Gespräch (29/1999) ten den anrollenden Staatsgästen Plakate tat diese Rechnung als „Zahlenakrobatik“ verkündet, er „weiche nicht von dieser vor die Windschutzscheibe, auf denen sich ab; in Wahrheit kämen nächstes Jahr Stelle“, da geriet die ganze Dynastie aus ein Geier mit schwarzrotgoldener Schärpe 480000 Mark weniger in die Schatulle der dem Häuschen, und muntere Beben be- das Festspielhaus krallt. Gralsburg – für deren Hausherrn ein ra- lebten den Grünen Hügel. Gleich in der ersten „Lohengrin“-Pause benschwarzes Sommerloch. Dabei hatte der auf Lebenszeit amtie- steckte Bayreuths SPD-Oberbürgermeister Gleichwohl verteidigte der Komponi- rende Festspielchef Wolfgang Wagner, 79, Dieter Mronz seinem Genossen und Lo- sten-Enkel seine „sozialverträglichen“ Ein- seine Nibelungentreue zum großväterli- gennachbarn Naumann ein Rechtsgutachten trittspreise (bis zu 350 Mark) auch für das chen Weihetempel ganz schön trickreich zu; Thema und Tenor: Der Bund sei bei den nächste Jahrtausend. Naumann dagegen begründet: Kultur-Staatsminister Michael Festspielen auf Euro und Cent gefordert. plädierte für eine „angemessene Anpas- Naumann werde den Bundeszuschuss zum Beim Staatsempfang nach der musika- sung an die in Deutschland üblichen Fest- Festival kürzen, und bei der Bataille mit lisch soliden, szenisch konfusen „Lohen- spielpreise“: Pro Saison sei so ein Gewinn von 2,5 Millionen Mark „leicht zu erwirt- ten Namen durch das Land des Hechelns, schaften“. alles heiße Tipps mit lauem Kern. Mal soll Vom putzmunteren Sommertheater ani- es den Berlin- und neuerdings auch Bay- miert, mischte nun auch die geldschwere reuth-müden Dirigenten Daniel Baren- „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ boim an die Salzach verschlagen. Dann mit: Der Bund solle entweder mit ganzem kommt wieder der Zürcher Opernchef Herzen und ganzem Säckel zu seinem Ver- Alexander Pereira ins Gerede, und ganz sprechen stehen oder als Zuschussgeber völ- spinnerte Traumtänzer loben den ehema- lig ausscheiden – unter Verlust, versteht sich, ligen Hamburger Opernintendanten Peter seiner Mitbestimmungsrechte im Geschiebe Ruzicka ins Salzburger Oberstübchen oder der Festspiele und deren Nachfolgediskus- gar – Schlagobers auf all dem Kaffeesatz – sion. „Eine Zwischenlösung“, so der neue die abgängige „Zeit“-Feuilletonistin Sigrid

Vorsitzende Karl-Gerhard Schmidt, könne ANZENBERGER RIGAUD / AGENTUR P. Löffler. Tollhaus Festspielhaus. es „nach dem, was passiert ist, nicht geben“. Salzburger Festspielchef Mortier Halt, manchmal doch Traumhaus. Jean- Ja, was ist denn passiert? Der übliche Schlagobers auf dem Kaffeesatz Philippe Rameau (1683 bis 1764), französi- Krieg und Knatsch. Zu fragen bleibt, ob scher Komponist mit Standbein im Barock die etablierten Festspiele nicht längst zu gischen Staatsoper zugemutet hat, ist der und Spielbein im Rokoko: Seine Oper „Les sündhaft überteuerten Renommierspekta- neue Bayreuther Schwanengesang des eng- Boréades“ steht jetzt auf dem Salzburger keln verkommen sind, die sich wichtiger lischen Inszenators Keith Warner ein Hala- Festspielprogramm. Klingt nach Lücken- nehmen, als sie sind; warum der band- li auf tumbe Recken und totes Federvieh. büßer und ist ein Glücksfall. scheibengeschädigte Bayreuth-Gast Tho- Und gemessen an den „Meistersingern“ Selten so gestaunt. Ein dreistündiges Di- mas Gottschalk vom Publikum liebevoller von Stuttgart, wo der Regisseur Hans Neu- vertissement voll Grazie, Eleganz und sexy beäugt wird als der Schwanenritter Roland enfels die Butzenscheiben nur so scheppern Schwung wird da choreografiert, aus stock- Wagenführer; wieso die Phalanx von acht lässt, tischt Wolfgang Wagner in seinem steifen Opernritualen im Fußumdrehen eine funkelnagelneuen Lamborghinis vor Salz- Nürnberg alles auf, was das Lebkuchenherz wirbelnde Revue. Mit diesem Stück schlägt burgs Großem Festspielhaus mehr laut- begehrt. Der Grüne Hügel, keine Frage, das Ancien Régime der Musik alle Berios. starkes Entzücken erregt als Berios Urauf- kreißt rückwärts ins nächste Jahrtausend. Ursel und Karl-Ernst Herrmann haben führung – ja, die Festspiele feiern sich Dann, im Jahr 2001, könnte allerdings den Augenschmaus auf die Bühne gezau- längst um ihrer selbst willen. auch Salzburg die Anbindung an den Hin- bert, und Sir Simon Rattle, Berlins künf- Auf den Bühnen ist jedenfalls wenig pas- terwald wieder schaffen. Bereits diese Wo- tiger Philharmoniker-Chef, dirigiert gleich- siert.Verglichen mit den frech-frivolen „Lo- che soll für Mortiers Nachfolge eine Fin- sam mit der Wunderkerze. Im Miche- hengrin“-Kapriolen, die der Regisseur Peter dungskommission auf Brautschau gehen, lin der Musik: drei Sterne für drei Stern- Konwitschny den Besuchern der Hambur- und schon geistern wieder die erlauchtes- stunden. ™ Werbeseite

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AUSSTELLUNGEN Das Kreuz als Werbetrick Ist es egal, ob man an Jesus glaubt oder an Elvis Presley? Eine Düsseldorfer Trendschau spiegelt das „Religiöse“ von Fan-Kulten, Werbestrategien und Schönheitsrezepten in Werken der zeitgenössischen Kunst. Der Künstler tritt als Priester und als Opfer auf.

ott ist tot, Lady Di ist tot, und Mi- chael Jackson geht es auch nicht so Gbesonders. Macht nichts. Im Him- mel der Anbetung sind sie allesamt gut auf- gehoben. Diese Überwelt hat jetzt in der Düssel- dorfer Kunsthalle eine Filiale aufgemacht – eine glitzerbunte Trendschau namens „Heaven“*. Fan-Kulte zwischen Sakralem und Trivialem werden da in vielen Unter- arten durchgespielt, und typisch: Ein und derselbe Produzent liefert, wenn es dar- auf ankommt, ebenso willig modische Ido- le wie auch solche von würdiger Tradition. So hatte die Ausstellungsleitung beim Süd- tiroler „Art Studio Demetz“, das zumeist fromme Figuren für den US-Export schnitzt, eine Madonna Diana bestellt. Die farbig bemalte, leicht überlebensgroße Sta- tue bekam ihre Spezialkapelle in der „Dresses“-Installation Schau, doch ein Firmenrepräsentant sah überdies die Chance, öffentlich für seine Heiligen-Fabrik zu werben, und offerierte noch einen segnenden Heiland aus dem Katalog. Der steht nun, wohlvertäut, mit ausgebreiteten Armen auf dem Kunsthal- lendach, und der evangelische Stadtsuper- intendent wundert sich, was „Jesus alles aushalten kann“. Muss er wohl. Zwischen Göttern und Abgöttern will die Ausstellungskuratorin, die in Düsseldorf verheiratete Israeli Do- reet LeVitté Harten, ausdrücklich nicht mehr unterscheiden. Statt inhaltsschwere Dogmen zu sortieren, erklärt sie glatt die Rituale der Star-Verehrung, die Mythen der Werbung oder der Soap-Operas, den Kult einer von Mode und Kosmetik gepredigten synthetischen Schönheit zu gleichwertigen

Erscheinungen – als Ausdrucksform jener A. FUCHS FOTOS: gemeinschaftsstiftenden Religiosität, die Ausstellungsmacherin LeVitté Harten mit „Big Baby 3“ von Mueck der Menschheit offenbar unentbehrlich ist. Als sie selber, studienhalber, zum Elvis- mit farbigen Rechteck-Flächen zu be- Bedarfsfall kitschig. Da Presley-Ort Graceland fuhr und da von schwören suchte. Nur als – sonst verbor- wallen exotische Gewän- ganzen Pilgerscharen gefühlvoll umarmt gene – archäologische Spuren sind jetzt in der, Stars wie Presley, wurde, war sie peinlich berührt.Außerdem der Düsseldorfer Kunsthalle auch noch ein Jackson oder Leonardo aber auch sehr bewegt. fragmentarischer Schriftzug des Schama- DiCaprio posieren im Viele Künstler fühlen sich in solche In- nen Joseph Beuys (im Fußboden vor der Phantasiekostüm auf brunst ein, und sei es aus ironischer Dis- Ersatzheiligen Diana) und ein Gold-Qua- Bild-Ikonen oder als Ke- tanz. Lange vorbei ist die Nachkriegszeit, drat des Zeremonienmeisters James Lee ramikfiguren, und es geht zu der etwa der New Yorker Maler Barnett Byars (hoch oben an der Decke eines auch nicht ohne nackten Newman das „Erhabene“ in einer Art jü- Schausaals) freigelegt worden. Horror ab. discher oder calvinistischer Bild-Askese Den im Durchschnitt etwa 40-jährigen Eine Französin mit „Heaven“-Akteuren liegt der katholische dem Künstlernamen Or- * Bis 17. Oktober. Katalog im Hatje Cantz Verlag, Ost- Pomp von Prozession und Reliquienver- lan nimmt selber religiöse fildern; 256 Seiten; 48 (Buchhandelsausgabe 78) Mark. ehrung näher. Sie mögen es drastisch, im Rollen auf sich. In Videos

174 der spiegel 31/1999 ist sie auf dem Operationstisch eines „Was für ein Spektakel!“ –, so bestaunt Mann bei der Eröffnung vorigen Donners- Schönheitschirurgen zu sehen, „Reliqui- de Duve auch die theatralisch wirkungs- tag auch in einer Performance der Marok- are“ stellen ihr „Körpergewebe“ aus, wie volle Kreuzigung auf Golgatha; dem präg- kanerin Majida Khattari einher – unter ei- es bei solchen Korrekturen der Natur übrig nanten Kreuz-„Logo“ attestiert er „alles, nem Tschador mit dem blasphemisch auf- bleibt. Priesterin und zugleich Opfer eines was die Werbeleute vor Neid rasen lässt“. gestickten Markennamen Coca-Cola in blutigen Kults, passt sich Orlan der „Ge- Schon vor 2000 Jahren also habe sich der arabischen und lateinischen Lettern. sellschaft des Spektakels“ an – so formu- Austritt aus dem „Religiösen“ vollzogen. „Bist Du schön?“, so beispielsweise kann liert der belgische Kunstphilosoph Thierry Das sollten die „Heaven“-Künstler bitte jeder Besucher beim „Dream of Beauty de Duve, der „Heaven“ im Ausstellungs- mehr als „illustrieren“, nämlich „tragen“. 2.0“ anfragen, den Kirsten Geisler in lang- katalog mit einer verstiegenen Theorie Was immer damit gesagt sein soll: Zu wieriger Computer-Tüftelei programmiert überwölbt. Natürlich wird das Druckwerk viel verlangt ist es bestimmt. „Heaven“ hat – einem artifiziellen kahlköpfigen Phan- als „Kultbuch“ angepriesen. bietet keinen schlüssigen Bild-Essay, son- tom, das verschämt den Kopf senkt oder dern eine lockere, stellenweise krause An- wiegt, bei direkteren Avancen aber eine ar- thologie über die Zweitverwertung reli- rogante Miene aufsetzt oder in perlendes giöser Formeln. Bei manchem Belegstück Gelächter ausbricht. „Natürliche Schönheit fragt sich, ob es überhaupt zum Thema gibt es ja beinahe nicht mehr“, sagt die gehört. Das hyperrealistisch modellierte, Künstlerin, doch als Schöpfergöttin arbeitet doch im Format monströse Riesenbaby des sie mit Handicap. Nur 30 Animationen hat Briten Ron Mueck etwa scheint sich aus ei- ihr „Dream“ bislang in petto, und sagen ner Hexenküche in den Düsseldorfer kann er nichts weiter als: „Talk to me“ und „Himmel“ verirrt zu haben. Und so herz- „I am a virtual“. erweichend, wie es der von der Ausstel- Es würde einen wenig wundern, wenn lungsmacherin im Traum gefundene Schau- auch die Football-„Tigers“ aus Princeton, Untertitel verspricht, geht es kaum zu: „An von der Französin Sylvie Blocher befragt, exhibition that will break your heart“. wörtlich dasselbe antworteten – diese von Leitbild ist vielmehr die kühle, andro- Fans angehimmelten, doch hier in ihre Rol- gyne Schönheit, zu der ein angehender len und ihre vergitterten Schutzhelme ein- Modedesigner für das „Heaven“-Werbe- gesperrten Sport-Idole. „Are you a ma- plakat kosmetisch hergerichtet worden ist. sterpiece?“, heißt die Video-Installation, So schaut er aus blitzblauen Augen an der und gewiss, als Meisterwerke sehen sie sich Kunsthallenfassade zum segnenden Chris- alle. Für Fragen zu Gott und Welt jedoch, tus empor. In Person hüpfte der junge wie sie auf vielen kleinen Monitoren auf- von Ladda blitzen, ist der Athlet auf dem großen Bild- schirm meist deutlich unzuständig. Soll wirk- lich jemand an diese Burschen glauben? Warum dann nicht gleich an jene leeren Roben, die der Ameri- kaner Justen Ladda aus Draht und gläser- nen Lüsterperlen gebas- telt und zwischen Kü- belpalmen aufgebaut hat? Verheißungsvoll blinkend, lassen sie elegante Frauengestal- ten ahnen und outen sich doch zugleich als Blendwerk. Nicht einmal bei Laddas Landsmännin mit dem glitzernden Namen Jessica Dia- mond hält der Glanz, was er zu versprechen scheint. Ihr Bronzebar- ren mit der messiani- schen Prägung „Elvis Alive“ ist nur ober- flächlich ein wenig ver- goldet. Aber schließlich, wer wüsste es nicht, war Kunsthalle (l.), Künstlerin Khattari mit Performance-Tänzer Kunst schon immer eine Düsseldorfer Ausstellung „Heaven“ Glaubenssache. Götter und Götzen aus derselben Fabrik Jürgen Hohmeyer

der spiegel 31/1999 175 Werbeseite

Werbeseite Prisma Wissenschaft

MALARIA Seuchenzug im Hochland ie Malaria breitet sich aus: Einer der schwersten Ausbrüche der Dletzten Jahre hat das Gebiet um die Stadt Kisii im westlichen Kenia erfasst. Worauf der Anstieg in dem bis vor fünf Jahren von der Seuche kaum berührten Landstrich beruht ist rätselhaft. Kisii liegt 1800 Meter über dem Meeresspiegel, so hoch, dass die den Er- reger übertragenden Moskitos meist nicht lange überleben – ent- sprechend selten waren früher Malaria-Fälle. Aber in den letzten drei Monaten wurden allein im Bezirkskrankenhaus von Kisii 18000 Malariafälle registriert, 300 Menschen erlagen der Krankheit. Ro- nald Rosenberg, Militärarzt und Leiter einer Malaria-Forschungs- gruppe der U. S. Army in Kenia, vermutet, dass die ungewöhnlich starken Regenfälle und die zunehmende Resistenz der Erreger ge- gen Malaria-Medikamente dafür verantwortlich sind.Vielleicht wer- de der Trend noch verstärkt durch verbesserte Verkehrsanbindun-

gen: Hochlandbewohner reisten öfter in die von Malaria verseuch- S. PETERSON / GAMMA STUDIO X ten Ebenen – und brächten die Seuche nach Hause mit. Patientin beim Malaria-Test in Kenia

UMWELT FORSCHUNG Traumschiffe verschmutzten die Meere Jungbrunnen itte der neunziger Jahre haben Schiffe der Royal Caribbean Cruises Ltd. in der fürs Hirn MKaribik, vor den Küsten Kaliforniens und Alaskas, aber auch direkt vor New York Öl und chemische Abfälle illegal ins Meer gespült. Vorletzte Woche gestand die in deutsch-amerikanisches Wissen- Reederei, zweitgrößte im weltweiten Traumschiffgeschäft, gegenüber dem US-Justiz- Eschaftlerteam hat aus embryonalen ministerium die Verstöße ein und erklärte sich zur Zahlung eines Bußgelds in Höhe Stammzellen von Mäusen im Labor die von 18 Millionen Dollar bereit. Das Unternehmen war wegen gleicher Delikte schon Vorstufen von be- im vergangenen Jahr zu einer 9-Millionen-Dollar-Strafe verurteilt worden. Nun stimmten Hirn- und räumte die Reederei ein, dass zusam- Nervenzellen ge- men mit den übrigen Abwässern zu- züchtet. Diese inji- dem Gifte aus chemischen Reinigun- zierten die Forscher gen und Fotolabors ins Meer gespült erbkranken Ratten, wurden. Reederei-Chef Jack Williams denen der natürliche „bedauerte zutiefst“, dass „eine Schutzschild der Gruppe unserer Angestellten wissent- Nervenfasern, das lich Umweltschutzgesetze verletzt“ Myelin, fehlte. Bei hätten. Nach Angaben der Justiz- sechs der neun be- behörden hat die Reederei jährlich handelten Tiere bil- pro Schiff einige 10000 Dollar allein dete sich das Schutz-

HALEBIAN / GAMMA STUDIO X dadurch eingespart, dass sie weniger gewebe innerhalb Royal-Caribbean-Schiff vor New York Ölfilter brauchte. von zwei Wochen.

Der Erfolg, so der / JOKER M. GLOGER Bonner Neuro- Mediziner Brüstle pathologe Oliver LUFTFAHRT der „4. Generation“ zu entwickeln, der Brüstle, Mitglied des Forscherteams, den russischen Sitzen überlegen wäre, biete „erregende Aussichten für die Be- Russensitz für US-Jet sind gescheitert. Das gegenwärtig für handlung menschlicher Krankheiten“. die F-22 vorgesehene US-Modell ver- Die gleiche Strategie könne in einigen ine verbesserte Version des Schleu- sagt bei extremen Fluggeschwindigkei- Jahren bei angeborenen neurologischen Edersitzes, mit dem sich zwei russi- ten: Jenseits von 450 Knoten (830 km/h) Leiden wie der seltenen Pelizaeus- sche Piloten beim Pariser Aerosalon im müssen Aussteiger mit Verletzungen Merzbacher-Krankheit erfolgreich sein. Juni aus ihrem abstürzenden Kampfjet rechnen. Der russische Sitz vom Typ Die von dieser Myelin-Mangelkrankheit in Sicherheit katapultieren konnten, K-36/3.5 dagegen bietet dem Piloten an- Betroffenen erreichen nur selten das wird möglicherweise auch in einem der geblich noch bei einer Ausstiegsge- dritte Lebensjahrzehnt. Dereinst, so modernsten Jagdflugzeuge der USA als schwindigkeit von 700 Knoten (etwa Brüstle, könnten vielleicht sogar Patien- Standardausrüstung eingebaut. Versu- 1300 km/h) guten Schutz. Noch in die- ten, die an der Myelin-Krankheit Multi- che der US-Industrie, für die Lockheed sem Jahr könnte der verbesserte Sitz ple Sklerose leiden, mit Hilfe dieser Martin F-22 einen eigenen Schleudersitz erprobt werden. Technik geheilt werden.

der spiegel 31/1999 177 Prisma Computer

STRESS ine Technik, die durch Kriminalfilme berühmt wurde, soll Enun in den Dienst der Seelenruhe gestellt werden: die Messung des elektrischen Hautwiderstandes. Beim Lügende- Kontrolle fürs Gemüt tektortest hilft sie angeblich, die Wahrheit ans Licht zu fördern. Jetzt bietet die Firma „Netzwerk-Media“ dasselbe Prinzip für Entspannungsübungen an. Mit „SkinTalk“, einem Messgerät für den ohmschen Widerstand der Haut, will der Würzburger Multimediaverlag den PC fähig zum „Stressmanagement“ ma- chen. Im einfachsten Fall misst die Apparatur mittels zweier Elektroden an Zeige- und Mittelfinger die Veränderungen der Hautleitfähigkeit und bildet den Kurvenverlauf auf dem Com- putermonitor ab. Steigt die Erregung, so sondern die Schweißdrüsen mehr salzhaltige Flüssigkeit ab, der Wider- stand sinkt. Das Gerät lässt sich jedoch auch nutzen, um die Grundzüge des autogenen Trainings und des „Biofeedbacks“ zu erlernen: Auf dem Bildschirm erscheint beispielsweise ein Kreis, der um so mehr wächst, je ruhiger sein Betrachter wird. Offensichtlich richtet sich Netzwerk-Media mit diesem Produkt (Preis: 379 Mark) an Kunden, die der Esoterik-Szene nahe

F. BOXLER F. stehen. Dafür sprechen zumindest die ziemlich psychedelisch anmutenden Farben der Messgerät für Hautwiderstand Oberfläche.

SOFTWARE teln. Den „Instant Messenger“ des In- ternet-Riesen AOL nutzen inzwischen Krieg der Kontakter 40 Millionen Anwender. Jetzt setzt Microsoft alles daran, auch dieses Feld m Chaos des Internet sind die raren mit seinem „MSN Messenger“ für sich Iherausragenden Ideen hart um- zu erobern. Dieses Programm versteht kämpft. Geradezu ein Krieg ist jetzt um nicht nur das eigene Dateiformat, son- die „Instant Message“-Software ent- dern auch das des Konkurrenten AOL. brannt. Diese kleinen Programme von AOL kappte daraufhin die Datenleitung Firmen wie ICQ Inc („ICQ“), Excite zum „MSN Messenger“ und änderte („Pal“) oder AOL („Instant Messen- das Übertragungsprotokoll. Bis Ende ger“) erleichtern das Plaudern im Netz: vergangener Woche besserte Microsoft Sie signalisieren, welcher Freund oder fünfmal nach und stellte jedes Mal die Bekannte gerade ebenfalls vor dem Brücke wieder her. Bildschirm sitzt – vorausgesetzt dieser benutzt ein Programm derselben Firma. Auf diese Weise lassen sich dann kurze Textbotschaften in Echtzeit übermit- MUSEEN Pac-Man ins Archiv n wenigen Jahrzehnten könnte Nin- Itendos Game Boy für immer ver- schwunden, die Website, die über den Skandal um Monica Lewinsky berichte- te, unwiderruflich gelöscht sein. James Bradburne, seit sieben Monaten Direk- tor des Frankfurter Museums für Kunst- handwerk, will Strategien entwickeln, wie Museen digitale Objekte archivie-

ren könnten. Unter dem Namen „Digi- DPA tal Craft“ will der langjährige Mitarbei- Ur-Computer „Z1“, Erfinder Zuse (1989) ter des Amsterdamer Multimediainsti- tuts „newMetropolis“ drei Jahre lang ellen PC abspielen, oder ist die Installa- Kriterien dafür suchen was aus der Da- tion nur fachgerecht, wenn sie auf zeit- tenwelt bewahrenswert ist. Dann, so genössischer Hardware läuft? Eine hofft Bradburne, werden die Konserva- denkbare Lösung für das Dilemma, spe- toren endlich wissen, wie sie der Nach- kuliert der Museumsdirektor, könnte welt etwa ein Computerspiel präsentie- auch die Präsentation einzelner Spiel- ren sollen: Lässt man Pac-Man auf aktu- verläufe auf Video sein.

178 der spiegel 31/1999 Werbeseite

Werbeseite L. PSIHOYOS / MATRIX / AGENTUR FOCUS Depressive Patientin bei Lichttherapie: Jede Verrichtung des Alltags kostet übermenschliche Mühen

MEDIZIN Finsternis der Seele Jeder Zehnte erkrankt einmal im Leben an Depression. Doch viele Ärzte erkennen das potenziell tödliche Volksleiden nicht oder behandeln es falsch. Neue Erkenntnisse der Hirnforschung versprechen jetzt wirksamere und verträglichere Medikamente.

s war die schlimmste Erfahrung sei- Was sich im Körper abspielt, wie traumatische Erlebnisse nes Lebens. Schrecklicher noch als wenn Schwermut derart außer in früher Kindheit, etwa Miss- Ezuzusehen, wie seine Frau an Krebs Kontrolle gerät, haben For- brauch oder grobe Vernach- starb. „Ich schäme mich zuzugeben, dass scher in den letzten Jahren zu- lässigung, das Opfer anfällig meine Depression für mich schlimmer war nehmend enträtselt. Auf ihren für den Trübsinn machen kön- als ihr Tod“, schreibt der britische Autor Computerbildschirmen mach- nen. Mosaiksteinchen gleich Lewis Wolpert, „aber es ist wahr.“ ten Neurobiologen Gedanken beginnt sich die Fülle der ein- Als er vor einigen Jahren an der De- und Gefühle im Kopf des De- zelnen Befunde zu einem Bild pression erkrankte, war Wolpert noch pressiven sichtbar; andere se- zusammenzufügen, wenn es glücklich verheiratet, als Wissenschaftler zierten Gehirne von Selbst- auch an manchen Stellen erfolgreich und frei von materiellen Sor- mordopfern und suchten dar- schemenhaft bleibt – was gen. Kein Schicksalsschlag hatte ihn ge- in nach Spuren der Krankheit. letztlich zur Depression führt, troffen, nichts war da, was jene lähmende Denn wie Empfindungen auf ist bislang unklar.

Traurigkeit hätte erklären können, die ihn chemische Signale im Hirn REX FEATURES „Noch scheint es“, sagt der befiel: „Ich kreiste nur noch um mich zurückgehen, so ist auch die Wolpert Psychiater Charles Nemeroff selbst, war vollkommen negativ und dach- Gemütskrankheit Depression von der Emory-Universität in te die meiste Zeit an Selbstmord.“ Wol- ein organisches Leiden, nicht anders als Atlanta, „als würden Forscher verschiede- pert erlebte die Depression als entartetes Schnupfen oder ein gebrochenes Bein. ner Disziplinen mit verbundenen Augen Gefühl – sie verhalte sich zu Traurigkeit Von einer anderen Seite nähern sich Psy- jeder einen anderen Körperteil eines rät- wie Krebs zum normalen Zellwachstum. chologen dem Phänomen: Sie untersuchen, selhaften, riesigen Geschöpfs ertasten.“

180 der spiegel 31/1999 Wissenschaft

Wenn sich Ende dieser Woche 10000 Stafettenlauf der Hormone Wirkungsweise der neuen CRH-Blocker Psychiater in Hamburg zu ihrem dies- Reaktion des Körpers auf Stress jährigen Weltkongress versammeln, wer- den Diagnose und Behandlung dieser ge- Medikament spenstischen Krankheit zu den meistdis- kutierten Themen zählen. CRH-Rezeptor „Die Psychiater warten verzweifelt auf 2 NERVENZELLE Antidepressiva mit neuen Wirkmecha- STRESS nismen“, sagt Steven Hyman, Direk- CRH 2- tor des US-amerikanischen National GEHIRN 1 Rezeptor Institute of Mental Health. Denn heu- Signal tige Medikamente verschaffen dem Hypothalamus CRH Leidenden meist erst nach Wochen Linderung. CRH Jeder zehnte Mensch erlebt min- Hypophyse destens einmal in seinem Leben eine 1 CRH dockt an bestimmte Das neue Medika- depressive Episode. Die Seelenfins- Rezeptormoleküle auf der ment blockiert die ternis sucht Arme und Reiche heim, Zelloberfläche an. Dies CRH-Rezeptoren. Die Alte und Junge, schon bei dreijährigen ACTH- setzt eine biochemische Signalübertragung Kindern kann sie auftreten. Keineswegs Botenstoff Signalkette in Gang. wird unterbrochen. ist die Depression nur ein Problem ge- langweilter Großstadtmenschen: Nach Da- Antidepressivum Prozac (deutscher Han- ten der Weltgesundheitsorganisation WHO delsname: Fluctin) erschienen mehr als macht sie in Industrieländern den zweit- 1 hundert Bücher – scheint es fast, als sei es größten Anteil der Krankheitslast aus, in Sieht der Mensch sich einer Ge- schick geworden, eine kleine Depression zu der Dritten Welt steht die Schwermut im- fahr ausgesetzt, bildet der Hypo- pflegen. Wer mitteilt, „total depressiv merhin an vierter Stelle. Grundlage der thalamus vermehrt CRH. Dieses drauf“ zu sein, meint meist so viel wie: Berechnung war dabei, wie viel gesunde, Hormon greift an verschiedenen „Ich habe heute schlechte Laune.“ Ver- produktive Lebenszeit eine Krankheit Stellen des Gehirns an; es löst kannt wird, was eine klinische Depression ihren Opfern raubt. unter anderem Ängstlichkeit und wirklich ist: eine qualvolle, potenziell töd- Durch ihre Antriebsschwäche sind Schlafstörungen aus. In der Hy- liche Krankheit, behaftet mit dem Stigma schwer Depressive oft völlig außer Gefecht pophyse bewirkt es die Aus- von Wahnsinn und Willensschwäche. gesetzt; jede Verrichtung des Alltags schüttung des Botenstoffs ACTH. „Peinlich berührtes Schweigen, die scheint übermenschliche Mühen zu kosten. Dieser wiederum regt die Neben- plötzliche Eile des gerade noch so Wissbe- „Ich lag ganz ruhig da und überlegte, wie nierenrinde zur Produktion des gierigen“ erlebte Verena Hoehne häufig, man spricht, versuchte herauszufinden, wie Stresshormons Kortisol an. wenn sie die Frage nach ihrem Gesund- man Wörter formt. Ich bewegte die Zunge, heitszustand beantwortete. Aus Scham doch es kam kein Ton“, schreibt der ame- Neben- scheuen viele Depressive den Arztbesuch; KORTISOL rikanische Autor Andrew Solomon. niere stattdessen bemühen sie sich, von ihren Wie Solomon wagte sich in den letzten Nächsten mit Durchhalteparolen à la „reiß Jahren eine Reihe prominenter Depressiver dich zusammen“ traktiert, die Krankheit mit ihren Erfahrungen an die Öffentlich- auszusitzen. Suchen die Verzweifelten keit. Den Anfang machte der US-Schrift- 2 doch Hilfe, stellt der Arzt aus Unkenntnis steller William Styron mit „Sturz in die Niere häufig nicht die richtige Diagnose. Nacht“, die manisch-depressive Ärztin Kay Zu wenige Patienten kommen in den Redfield Jamison beschrieb in „Meine ru- Genuss einer Behandlung, wie sie dem helose Seele“ ihr Leiden als ebenso uner- Stand der Forschung entspricht: eine Kom- träglich wie inspirierend, und die Schweizer 2 bination von Psychotherapie und Psycho- Journalisten Verena Hoehne und Ruedi Jo- pharmaka. „Depressive“, klagt der Bon- Kortisol gelangt in die Blutbahn suran veröffentlichten ihren Briefwechsel und versetzt den Körper in Kampf- ner Psychiater Peter Falkai, „sind in über das Leben mit der Schwermut. Auch bereitschaft: Es steigert Blutdruck, Deutschland noch immer unterversorgt.“ Lewis Wolpert, eigentlich ein führender Herzschlag und die Energieversor- Unbehandelt ist eine schwere Depressi- Entwicklungsbiologe, ließ sich durch seine gung der Muskeln, dämpft Hunger on lebensgefährlich. Schätzungen zufolge Leidensgeschichte zu einem Buch inspirie- und Sexualtrieb. Ab einer bestimm- bringen sich 10 bis 15 Prozent der Er- ren, das er „Malignant Sadness“ (Bösarti- ten Konzentration wirkt Kortisol im krankten um. Die vermutlich etwa 25000 ge Traurigkeit) nannte. Hirn der weiteren Ausschüttung von Deutschen, die jedes Jahr Selbstmord be- „Es ist für mich ein Gefühl absoluter CRH und ACTH entgegen. Bei De- gehen, dürften zum größten Teil depressiv schreiender Panik, Todesangst“, schreibt pressiven funktioniert diese sein. Bei Menschen unter 40 ist der Suizid Hoehne, „Angst, mich aufzulösen. Angst, Rückkopplung nicht. nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste dass ich an einem Spiegel vorbeigehe und Todesursache. mich darin nicht mehr sehe.“ „Die Dachsparren waren dazu da, mich Andere wiederum schildern daran aufzuhängen“, schreibt der Schrift- ihre Depression als Zustand steller Styron, „die Garage, um dort Koh- absoluter Leere, als Unfähig- lenmonoxid einzuatmen. Die Badewanne keit, etwas zu empfinden. sollte das aus meinen Arterien strömende Angesichts der Schwemme Blut aufnehmen.“ einschlägiger Literatur – al- Die Depression unterjocht das Bewusst- lein über das in den Medien Blutkreislauf sein, sie tilgt alle Erinnerungen an glückli- als „Glückspille“ gefeierte che Zeiten. Hilflos ist der Kranke seinem

der spiegel 31/1999 181 Wissenschaft „So einem gibt man keine Arbeit“ Interview mit dem Psychiater Wolfgang Gaebel über die Diskriminierung von Schizophrenen und Depressiven

Gaebel, 52, Direktor der Psychiatri- Gaebel: Absolut. Das er- schen Klinik der Universität Düssel- zeugt Stress, und Stress dorf, koordiniert in Deutschland das beeinflusst Entstehung Anti-Stigma-Programm der Weltpsy- und Verlauf der Krank- chiatriegesellschaft WPA, die Ende die- heit. Der Patient ent- ser Woche in Hamburg tagt. wickelt Ängste und Ver- meidungsverhalten. Statt SPIEGEL: Ein zentrales Thema des Psy- sich in die Gesellschaft zu chiatrie-Weltkongresses ist, dass viele integrieren, zieht er sich psychisch Kranke nicht angemessen zurück. behandelt werden. Liegt die Verant- SPIEGEL: Wie soll das Pro- wortung dafür bei den Ärzten? gramm der WPA die Vor- Gaebel: So wie ich wohl Schwierigkei- urteile ausräumen? ten hätte, körperliche Erkrankungen si- Gaebel: Wir können nicht cher zu diagnostizieren, haben andere auf einen Schlag ein Fachdisziplinen ein eher rudimentäres ganzes Land verändern. Wissen über Psychiatrie.Wir brauchen In Deutschland konzen- eine bessere Fort- und Weiterbildung trieren wir uns auf einige gerade der Allgemeinmediziner, zu de- Zielregionen. Zunächst nen die meisten Patienten mit latenten machen wir Umfragen, Formen psychischer Erkrankungen um Kenntnisse und Vor- kommen. Zudem führt die Kostendis- urteile der Bevölkerung kussion dazu, dass neue, teurere Medi- zu identifizieren. Dann kamente nicht verschrieben werden, befragen wir Kranke und obwohl sie weniger Nebenwirkungen deren Angehörige, ob und haben. Das heißt sparen am falschen wie sie Diskriminierung Ort, weil die neuen Mittel von den Pa- erlebt haben. An diesen tienten seltener abgesetzt werden, so- Punkten wollen wir an-

mit die Rückfallquoten senken und des- / LAIF BAATZ U. setzen. halb letztlich kostengünstiger sind. Psychiater Gaebel: „Die Klischees bleiben hängen“ SPIEGEL: Liegen erste Er- SPIEGEL: Auf dem Kongress will die gebnisse vor? Weltpsychiatriegesellschaft WPA ein Gaebel: Untersuchungen zeigen, dass Gaebel: Wir haben 1996 in Kanada ein Aktionsprogramm gegen die Stigmati- das fremdgefährdende Potenzial Schi- Pilotprojekt gestartet. Ein Schwerpunkt sierung psychisch Kranker vorstellen. zophrener nur geringfügig höher ist als war die Aufklärungsarbeit an Schulen. Was erleben Ihre Patienten als Stigma? das der Normalbevölkerung. Aggressi- Es ist uns gelungen, die Einstellung der Gaebel: Stigma heißt Brandmarkung on kann während einer akuten Episo- Schüler zu verändern. Auch die Medi- eines Menschen. Ein psychisch Kran- de ein Problem sein, betrifft aber fast en berichteten zunächst positiver über ker in einer akuten Phase fällt auf. nur die engere Familie. Zwischen sol- psychische Krankheiten. Leider war Durch die Nebenwirkungen der Medi- chen Phasen führen die Patienten oft dieser Effekt nicht von Dauer. kamente bewegt er sich schlurfend, ein unauffälliges Leben. SPIEGEL: Die Erkenntnisse der Hirnfor- zeigt wenig Reaktionen, wenig Mimik. SPIEGEL: Wie reagieren die psychisch schung zeigen, dass psychische Störun- Aber auch wenn der Patient nicht akut Kranken, wenn sie sich stigmatisiert gen im Grunde nichts anderes sind als krank ist, bleiben die Klischees an ihm fühlen? körperliche Erkrankungen. Entlastet hängen. Schizophrene zum Beispiel Gaebel: Sie teilen die Vorurteile. Es gibt dieses Wissen die Patienten? gelten als gespaltene Persönlichkeiten, unter ihnen richtige Hierarchien, De- Gaebel: Früher wurde den Angehöri- als unberechenbar und gefährlich. Wer pressive sind besser gelitten als Schi- gen oft die Schuld an der psychischen zugibt, in einer psychiatrischen Klinik zophrene. Viele wollen auf keinen Fall Erkrankung zugeschoben. Das hat sehr gewesen zu sein, wird nicht mehr vor- psychisch krank sein, wollen keine Me- viel Leid und Schuldgefühle über die rangig als Mensch gesehen, sondern als dikamente nehmen und werden darin Familien gebracht. Die heutigen, stär- Schizophrener. So einem gibt man kei- oft von ihrer Familie bestärkt. Deshalb ker medizinisch geprägten Erklärungs- ne Arbeit, so einen möchte man nicht haben sie Schwierigkeiten, die Be- modelle bieten da ein Stück Entlastung. in seiner Nähe haben. handlung zu akzeptieren, die wir ih- Trotzdem darf der Patient sich nicht SPIEGEL: Hat die Furcht vor Schizo- nen vorschlagen – wenn sie überhaupt einfach zurücklehnen und sagen: „Na phrenen nicht eine gewisse Berechti- zum Arzt kommen. ja, wenn es das Hirn ist, kann ich nichts gung? Immerhin war es eine Schizo- SPIEGEL: Verstärkt es die Krankheit, machen.“ Psychotherapien erfordern phrene, die 1990 ein Attentat auf Oskar wenn der Patient sich auch noch mit ein hohes Maß an Motivation und Mit- Lafontaine verübte. Selbstverachtung quält? arbeit. Interview: Alexandra Rigos

182 der spiegel 31/1999 aus der Balance geratenen Hirn ausgelie- Kletterpflanzen gleich treiben Nerven- pus soll durch Depression an Substanz ver- fert, das ihm vorgaukelt, sein Leiden wer- zellen normalerweise immer neue Fasern, lieren. de nie ein Ende haben. mit denen sie Kontakt zu anderen Neuro- Nicht alle Forscher trauen den Diesen Zustand düsterster Seelenqual nen aufnehmen – so lernt das Gehirn, so Schrumpfbefunden. Möglicherweise lassen haben Neurobiologen in bunte Computer- speichert es Erinnerungen ab. Doch bei sich die Beobachtungen schlicht durch Un- bilder übersetzt. Auf Tomogra- Depressiven scheint das Hirn zu terernährung erklären – Appetitlosigkeit fen-Scans leuchten diejenigen erstarren wie die Vegetation im zählt schließlich zu den Hauptsymptomen Hirnareale auf, in denen der Während der Winter. der Depression. „Das ist mit Vorsicht zu ge- Stoffwechsel auf Hochtouren Depression Dies könnte mit einem Mangel nießen“, warnt Florian Holsboer vom läuft, die also im Moment der scheint an Nervenwachstumsfaktoren Münchner Max-Planck-Institut für Psy- Aufnahme aktiv sind. Im Hirn das Gehirn zusammenhängen, spekuliert der chiatrie, „Depressionen führen nicht zur Depressiver enthüllen die To- zu erstarren Neurobiologe Ronald Duman Verminderung der Hirnsubstanz, wohl aber mogramme einen Doppeldefekt: von der Yale-Universität: „Mög- zu Veränderungen der Hirnfunktionen.“ Teile des präfrontalen Cortex, wie Pflanzen licherweise büßt der Kranke so Einiges deutet darauf hin, dass sich die angenehme Gefühle verar- im Winter seine gedankliche Flexibilität hinter den vielfältigen Symptomen der beiten, dämmern dahin, wäh- ein.“ Duman wies nach, dass im Depression nicht eine Krankheit verbirgt, rend der Mandelkern, Quelle finsterer Hirn Depressiver geringere Mengen be- sondern mehrere – so wie Schnupfen glei- Emotionen wie Angst und Wut, wild stimmter Wachstumsfaktoren zirkulieren, chermaßen durch Viren und Pollen flackert. wie der Substanz BDNF (brain-derived ausgelöst werden kann. „In zehn Jahren „Ursprung der Depression könnte ein neurotrophic factor). Von ihr ist bekannt, werden wir vielleicht zehn Typen von Defekt der Nervenentwicklung im präfron- dass sie in der frühen Phase der Hirnent- Depression kennen“, sagt der Neurologe talen Cortex sein, der dann eine Kaskade wicklung Verbindungen zwischen Nerven- Mark George von der Medical University von Störungen in anderen Systemen aus- zellen im Hippokampus stärkt, der Schalt- of South Carolina, „die auf verschiedene löst“, vermutet der Psychiater Wayne Dre- stelle für Lernen und Erinnerung. biologische Störungen zurückgehen und vets von der University of Pittsburgh. Umstritten ist, ob das Gehirn nach der unterschiedlicher Behandlung bedürfen.“ Dass sich wichtige Hirnfunktionen, mög- Genesung wieder so tickt wie zuvor – oder Was auch immer Ursache der Krankheit licherweise sogar die Struktur der grauen ob die Seelenfinsternis bleibende Verhee- ist und was Symptom – sicher ist, dass in Masse bei Depressiven verändern, wissen rungen hinterlässt. Für diese Befürchtung den allermeisten Fällen Depression und die Forscher erst seit kurzem. Lange glaub- liefern Arbeiten mehrerer US-Forscher In- Stress zusammenhängen wie die zwei Ge- ten sie, die Krankheit sei lediglich Folge ei- dizien. So vermaß Psychiater Drevets einen sichter eines Januskopfes. Jeder noch so nes zu niedrigen Spiegels bestimmter Bo- bestimmten Teil des präfrontalen Cortex – nichtige Anlass bringt den Gebeutelten aus tenstoffe im Gehirn, also ein chemisches er war bei depressiven Suizidopfern um 40 der Fassung: „Lächerliche Dinge – meine Durcheinander. Das Denkorgan selbst mit Prozent verkleinert. Lesebrille, ein Taschentuch, ein Schreib- seinen Nervenschaltkreisen hielten sie für In ebendiesem Areal stießen Forscher utensil – wurden zum Gegenstand meiner stabil, fest verdrahtet wie ein Computer. von der University of Mississippi auf ver- Besitzgier“, schreibt William Styron. „Eine große Überraschung“, sagt Bruce kümmerte Neuronen und eine reduzierte „Wann immer ein Gegenstand verlegt war, McEwen, Neurobiologe an der New Yorker Zahl von Gliazellen, die Stütz- und Pfle- erfüllte mich wahnsinnige Bestürzung.“ Rockefeller University, „ist die strukturelle gefunktionen für die eigentlichen Nerven- Normalerweise schüttet der Körper bei Plastizität auch des erwachsenen Gehirns.“ zellen übernehmen. Auch der Hippokam- Gefahr das Stresshormon Kortisol aus, das ihn fit macht für das, was angelsächsische Spuren der Schwermut Tomogramme des depressiven und gesunden Hirns Forscher „fight-or-flight-reaction“ nennen: den Feind vermöbeln oder wegrennen. Dazu schaltet der Botenstoff Müdigkeit, Hunger und sexuelle Bedürfnisse ab, lässt das Herz schneller schlagen und leitet alle Seitenansicht Energie in Körperteile um, die gerade ge- Stoff- braucht werden. Ist die brenzlige Situation wechsel- gemeistert, klingen die Symptome ab. Der aktivität Depressive allerdings lebt unter Dauer- stress – wie eine hakende Schallplatte spult hoch sein Körper das Schreckprogramm wieder und wieder ab. Die Folgen: Schlaf- und Ap- DEPRESSIVER PATIENT GESUNDE VERGLEICHSPERSON petitlosigkeit, Unlust, Reizbarkeit. Dauerärger im Alltag kann das Stressre- gulationssystem aus dem Lot bringen, Mobbing im Büro etwa oder eine Ehekri- Vorderansicht se; ebenso Schicksalsschläge wie der Ver- lust eines geliebten Menschen. Doch nicht alle Menschen werden unter derart belas- niedrig tenden Umständen krank. Zu einem guten Teil bestimmen die Gene, wie verletzlich die Psyche eines Menschen ist: Leidet ein eineiiger Zwilling TRAURIGE VERSUCHSPERSON DEPRESSIVER während der GENESUNG an Depression, so wird sein Geschwister (medikamentös ausgelöst) mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Pro- zent ebenfalls erkranken. Bei depressiven und traurigen Personen sind Teile des limbischen Systems stärker aktiv Daneben spielen vermutlich schreckli- (rot) als bei gesunden. Areale der Großhirnrinde dämmern hingegen dahin (grün). che Kindheitserlebnisse eine Rolle. Die Psy- chologin Christine Heim von der Emory-

der spiegel 31/1999 183 Wissenschaft FOTOS: W. M. WEBER W. FOTOS: Psychiater Holsboer, Labormaus (bei Experiment zur Angstmessung)*: „Die Tiere fürchteten sich sogar vor der Paarung“

Universität wies nach, dass traumatische ren Zwecken entwickelt.Auf welchem bio- benwirkungen der Pillen – Schlappheit, se- Erfahrungen die Funktion des Stress-Sys- chemischen Wege etwa die vielgerühmten xuelle Unlust, Kopfschmerzen – am eige- tems dauerhaft verändern können: Frauen, Substanzen der Prozac-Generation, die se- nen Leib verspürte. Studien zeigen, dass die als Mädchen sexuellen Missbrauch er- lektiven Serotonin-Wiederaufnahmehem- die Rückfallquote höher ist, wenn der Pa- litten hatten, reagierten noch im Erwach- mer, gegen Depression helfen, ist unklar. tient keine Psychopharmaka einnimmt. senenalter auf jede kleine Unannehmlich- Zwar beobachteten Forscher bei Depressi- Wie eine Bronchitis kann die Depressi- keit mit einer Kortisolschwemme. ven Störungen des Serotonin-Stoffwech- on in eine chronische Form übergehen, die Die Stressreaktion ähnelt einem Stafet- sels, und diese kuriert Prozac. Doch die den ganzen Körper in Mitleidenschaft tenlauf, bei dem chemische Signale von Pille schlägt erst nach etlichen Wochen an zieht. Um das Zwei- bis Dreifache steigt Organ zu Organ rasen (siehe Grafik Seite – ein Zeichen dafür, dass die Substanz nicht das Herzinfarktrisiko des Depressiven, weil 181). Eine zentrale Rolle spielt eine Sub- direkt, sondern auf Umwegen seine Blutplättchen aus bisher stanz namens CRH (Corticotropin relea- der Krankheit entgegenwirkt. ungeklärten Gründen leichter sing hormone), die zugleich Schlüssel ist zu Die große Mehrheit der Pati- Meist schicken verklumpen. Vor allem Frauen einem weiteren Symptom der Depression: enten, aber auch manche Ärzte Hausärzte sitzt das Leiden wortwörtlich in der Ängstlichkeit. stehen einer Pillenkur für das ihre Patienten den Knochen – es fördert Osteo- Das bewiesen der Psychiater Holsboer Gemüt noch immer skeptisch ge- mit ein paar porose. und sein Team im Tierversuch: Mäuse, de- genüber. Wer Psychopharmaka tröstenden Unsinnig wäre es jedoch, aus- nen CRH ins Hirn gespritzt wurde, verlo- schlucke, so die Befürchtung, schließlich auf Pillen zu setzen. ren allen Mut; andere Nager, denen ein für dessen Persönlichkeit verändere Worten nach „Eine schwere Depression er- die CRH-Signalkette notwendiges Rezep- sich. Kritiker warnen vor einem Hause fordert immer die Kombination torgen fehlte, gebärdeten sich ausgespro- Zeitalter des chemisch vorfabri- von Medikamenten und Psy- chen keck.Versuche, einen Stamm von La- zierten Glücks. US-Amerikaner konsu- chotherapie“, sagt Holsboer. Nur bei mil- borratten zu züchten, die besonders viel mieren Prozac schon heute als Life-Style- deren Symptomen reicht die Therapie aus CRH ausschütten, schlugen beinahe fehl: Droge, verfüttern die Tabletten an Kinder, – oder, alternativ, die Tablettenkur. Gute „Die Tiere“, erzählt Holsboer, „hatten so- ja sogar an Haustiere. Erfolge zeigen die Verhaltenstherapie und gar Angst, sich zu paaren.“ Die Prozac-Hysterie verschleiert die die kognitive Psychotherapie, die dem Pa- Ihre Versuche inspirierten die Münch- Realität: Depressive werden häufig falsch tienten seine wiederkehrenden schwarzen ner Forscher zu einem neuartigen Wirk- oder gar nicht behandelt. Eine Erhebung Gedanken und Zirkelschlüsse abgewöh- stoff gegen Depression: einer Substanz, die der WHO ergab, dass in Deutschland nur nen soll.Weniger geeignet scheint die Psy- im Hirn die Andockstellen für CRH jeder zehnte Kranke vom Hausarzt ein choanalyse, da sie den Depressiven ver- blockiert und den Unruhestifter so lahm Antidepressivum erhält. Meist schicken führt, sich düsteren Erinnerungen hinzu- legt. Seit dem Frühjahr laufen klinische Allgemeinmediziner ihre Patienten mit ein geben. Versuche an 30 Patienten, in wenigen Mo- paar tröstenden Worten nach Hause. Ge- In hartnäckigen Fällen können Elek- naten beginnt eine internationale Groß- rade mal jeden hundertsten psychisch An- troschocks als letztes Mittel Linderung studie. Bislang soll das Medikament keine geschlagenen überweisen sie zum Nerven- bringen; besondere Spielarten der De- Nebenwirkungen gezeigt haben; wie gut arzt – kein Wunder also, dass jede zweite pression wie die herbstliche Verstimmung es allerdings wirkt, bleibt abzuwarten – Depression unerkannt bleibt. SAD (seasonal affective disorder) lassen noch haben die Forscher keine Ergebnisse „Antidepressiva abzulehnen ist so sich durch Lichttherapie kurieren. publiziert. „Aber ich bin nicht grundlos lächerlich, als zöge man heutzutage hoch Bei mehr als 80 Prozent der Kranken al- optimistisch“, sagt Holsboer. zu Ross in den Krieg“, urteilt Andrew So- lerdings schlagen Pillen und Psychotherapie Sollte sich das Medikament bewähren, lomon, obwohl er die unangenehmen Ne- gut an. „Nach vielen quälenden Wochen wäre es das erste Antidepressivum, dessen ging es mir langsam besser“, schreibt Lewis Wirkmechanismus die Mediziner genau Wolpert, „es gab gute und schlechte Tage, * Bei dem Versuch sind zwei Stege durch Plexiglaswän- verstehen. Die bisherigen Mittel waren de geschützt, die anderen zwei schweben frei; es wird die aber die Hauptsache war: Ich konnte den meist Zufallstreffer, ursprünglich zu ande- Zeit verglichen, die das Tier auf ihnen verbringt. Unterschied spüren.“ Alexandra Rigos

184 der spiegel 31/1999 Technik

COMPUTERSPIELE Derbes Geballer Lan-Partys sind Treffpunkte von Computerfreaks. Dort schalten sie ihre Rechner zusammen und proben nächtelang den Krieg.

chwer bewaffnet wirft sich „Doc Devil“ in die virtuelle Schlacht: kur- Szer Sprint die Treppe hinauf, schnel- le Drehung und eine gezielte Salve aus der Deckung. In der Ferne zerplatzt ein Geg- ner und taucht nach wenigen Sekunden wundersam regeneriert an anderer Stelle wieder auf. Beim „Deathmatch“ vier gegen vier hat gewonnen, wer als erster 60 fina- le Treffer platziert. Normalerweise schaltet sich der Braun-

schweiger „Doc Devil“ alias Alexander Fer- B. BEHNKE racuti, 22, für derlei Kämpfe über das In- Lan-Party (in Hittfeld): Rattern im Kopfhörer ternet mit Gleichgesinnten aus der ganzen Welt zusammen. Die fotorealistische Dar- Clans ihre leistungsstarken Rechner in Ga- wie „Half-Life“, „Quake“ oder „Unreal“ stellung von Wänden und Waffen liefert die ragen oder Turnhallen. Binnen weniger mit Sturmgewehren, Bazookas und Hand- eigene Festplatte, die Raumkoordinaten für Stunden koppeln sie bisweilen hunderte granaten.Alle Teilnehmer tragen Kopfhörer. die Spielfiguren der Teamkollegen und Computer zu einem Netzwerk zusammen, Lärmende Lautsprecher sind verboten. Die Gegner kommen über das Netz. das problemlos den Datenverkehr eines Kakophonie hunderter ratternder Maschi- Aber weil stundenlanges Daddeln über mittelständischen Unternehmens abwi- nengewehre und explodierender Granaten die Telefonleitung langsam und teuer ist, ckeln könnte. könnte die Konzentration stören. Geschla- verbinden die Spieler ihre Rechner immer Am vorletzten Wochenende betreute fen wird zwischen den Tischreihen, im Auto häufiger direkt miteinander. Erst wenn sie zum Beispiel die kleine Neu-Wulmstorfer oder gar nicht. im „Local Area Network“ (Lan) verkabelt Firma „TNX Total NetworX“ im nieder- Eine technische Subkultur ist entstan- sind und rund 1500-mal schneller als über sächsischen Hittfeld das Turnier „Planet In- den, die ihre eigenen Regeln pflegt und gewöhnliche ISDN-Leitungen Daten aus- somnia 4“ für 320 Kombattanten. „Für uns“, ihre eigene Sprache spricht. Auf Lan-Par- tauschen, ist der ruckelfreie Abschuss auf sagt TNX-Geschäftsführer Malte Kanebley, tys wird nicht gespielt, sondern „gezockt“, dem Bildschirm garantiert. 23, „ist es einfach eine Herausforderung, der Gegner nicht getötet, sondern „ge- Jedes Wochenende schleppen in Ham- in kürzester Zeit die technischen Probleme fraggt“. Und wer „campt“, hat den Gegner burg, Hagen oder anderswo sogenannte in den Griff zu bekommen.“ Für US-ame- aus einer sicheren Abschussposition um- rikanische Treffen, wo gelegt – eine verpönte Taktik, nur etwas für Sponsoren aus der EDV- „Lamer“, Weicheier eben. Branche auf Lan-Partys Das derbe Ballergenre ist eine Domäne mitunter zehntausende der Männer, Durchschnittsalter Anfang 20. Dollar Preisgeld auslo- Sie organisieren sich im Internet unter ben und ihre zukünftige „www.zockparty.de“, spielen in Ligen und Kundschaft rekrutieren, führen zum Beispiel unter „www.clanba- hat Kanebley nichts üb- se.com“ Listen der Weltbesten. Die Spieler rig, schließlich studiert suchen den Adrenalin-Kick der stunden- er Betriebswirtschaft, langen Hochkonzentration, die Herausfor- Schwerpunkt: Non-Pro- derung, nicht nur gegen Computer zu be- fit-Organisationen. stehen, sondern gegen intelligent agieren- Punkt 18 Uhr öffne- de Menschen. ten sich die Türen des Nur wer mehrere tausend Mark in die Veranstaltungszentrums Hardware steckt und monatlich bis zu „Burg Seevetal“. Zwei 80 Stunden für das Training der Auge- Stunden später waren Hand-Koordination opfert, hat eine mehr als 300 PC über Chance auf die vorderen Ränge. Stamm- geliehene Glasfaserlei- gäste der Baller-Treffen sind deshalb vor tungen vernetzt. Drei allem Studenten, die ihr Spielgerät mit Tage und zwei Nächte gut bezahlten EDV-Dienstleistungen ver- lang starren die Spieler dienen. dann auf ihre Monitore Frauen verirren sich extrem selten auf und beharken sich in so- Lan-Partys. „Meine Freundinnen können Computer-Spiel „Half-Life“: Kampf mit Bazookas genannten 3D-Shootern das überhaupt nicht nachvollziehen“, sagt

der spiegel 31/1999 185 Technik

Heike Seitner, 31, Hausfrau und Mutter. Als eine von lediglich zwei teilnehmenden weiblichen Kämpfern wirkt sie wie eine GROSSFORSCHUNG Exotin. So Testosteron-gesteuert wie ihre Pseu- donyme „Doc Devil“, „Erazor“ oder „Cy- Umzug in die Wüste berkilla“ vermuten lassen, sind die zocken- den Kerle nicht. Eigentlich verlassen sie Deutsche Forscher wollen den alten Berliner ganz gern für ein paar Tage den einsamen Platz hinter dem heimischen Bildschirm Elektronenspeicherring Bessy I in den Nahen Osten und wärmen sich an der physischen Be- verschenken. Dient er dort dem Frieden? gegnung mit Gleichgesinnten. Wären sie nicht Informatikstudenten, ür einen Pensionär ist Gustav-Adolf ten Aussichten aber scheint Jassir Arafats sondern Automechaniker, hätten sie Voss, 70, derzeit viel unterwegs. Es palästinensische Autonomiebehörde zu vielleicht einen Manta-Fahrer-Club ge- Fzieht ihn in Gegenden, wo es, wie er haben. In diesen Tagen läuft die Bewer- gründet oder wären einem Harley-David- sagt, „viele Steine und wenig Bäume“ gibt. bungsfrist aus.Anfang nächsten Jahres soll son-Verein beigetreten. „Ich komme hier- Sein Anliegen: Er möchte ein Geschenk die Entscheidung fallen. her“, sagt Ferracuti, Student der Erzie- loswerden. In der neuen Heimat soll Bessy – der hungswissenschaften, „weil ich dann die Voss ist Teilchenphysiker, und sein Prä- „Berliner Elektronenspeicherring für Syn- Leute treffe, die ich sonst nur aus dem sent ist von recht ungewöhnlicher Gestalt. chrotronstrahlung“ – fortsetzen, was er an Netz kenne.“ Man besucht sich auch ab- Äußerlich ähnelt es einer Riesenschildkrö- der Spree seit Anfang der achtziger Jahre seits der Duelle und pflegt regen E-Mail- te, es wiegt so viel wie eine Dampfloko- getan hat: Röntgenlicht hoher Intensität Kontakt. motive und hat einmal 70 Millionen Mark liefern, das Grundlagenforschern unter- Auch Florian Krug, Favorit im 3D- gekostet. Seit 17 Jahren steht im Berliner schiedlichster Fachrichtungen Einblicke in Shooter „Quake“, Sport- und Geografie- Bezirk Wilmersdorf der Teilchenbeschleu- die atomare Struktur der Materie erlaubt. Student, entspricht kaum dem Klischee niger BessyI, ein sogenanntes Synchrotron. Die edlen Spender, organisiert in einer vom pickligen Computerfreak. Gerade Unter der Schirmherrschaft der Unesco GmbH, die Synchrotron-Strahlzeit an For- hat er seine Leichtathletik-Prüfung mit soll dieses „Weltklasse-Forschungsgerät“ scher vermietet, handeln nicht aus ganz eins bestanden. „Flos“ jüngerer Bruder nun, so der von Voss und seinen Kollegen uneigennützigen Motiven: Denn im Som- „Haplo“ entwickelt zwischen dem tak- ausgeheckte Plan, demontiert, in die Wüs- mer letzten Jahres wurde Bessy II, ein 200 tischen Einsatz an der „Railgun“ Pläne, te geschickt und dort wieder zusammen- Millionen Mark teures Synchrotron der Su- „mit einer wirklich netten Frisörin“ anzu- gebaut werden. perlative, in Betrieb genommen. bandeln. Die Interessenten stehen Schlange: Mit- Mit mehr als 33000-fach höherer „Bril- Die Triebabfuhr findet nicht nur beim te Juni hoben bei einem Expertentreffen in lanz“ als Bessy I strahlt der viermal größe- Ballern statt. Üblicherweise sind die Tref- Paris Abgesandte aus Zypern, Ägypten, re Nachfolgering Licht mit Wellenlängen fen auch Umschlagplatz für Computer- der Türkei und Iran die Hände. Die bes- von Ultraviolett bis zur harten Röntgen- spiele, Musikstücke und Pornomaterial – strahlung ab. Für einen Parallel- alles digital aufbereitet und abrufbar. Giga- betrieb beider Großforschungs- byteweise „saugen“ die Teilnehmer den geräte fehlt das Geld. Schon Inhalt ganzer Festplatten von Rechner zu kursieren in der Forscherszene Rechner. Auch Filme rasen über die Da- deshalb bissige Bemerkungen: tenleitung oder werden mit Hilfe von CD- Die Bessy-Transplantation wird Brennern binnen Minuten kopiert. Schon als „hochinteressante Form der Tage vor dem offiziellen Starttermin kur- Entsorgung“ verhöhnt. sierte in Hittfeld der Hollywoodstreifen Die Verfechter des Umzugs „Wild Wild West“. hingegen verweisen darauf, dass Doch der Spaß am „Saugen“ und „Frag- sich die Synchrotrontechnik we- gen“ ist getrübt. In jüngster Zeit häufen gen ihrer vielseitigen Einsatz- sich Berichte, in denen die Spieler als möglichkeiten immer größerer dumpfe, moralisch enthemmte Computer- Beliebtheit erfreut. freaks dargestellt werden. Außerdem gab Als Quelle für diese Strahlung es Probleme, weil die Veranstalter immer dienen negativ geladene Elek- wieder auch Jugendliche unter 18 in die tronen, die, ähnlich wie bei Hallen ließen. Und die meisten 3D-Shoo- einer Fernsehröhre, von einer ter stehen auf dem Index der Bundes- Glühkathode abgestrahlt, bis prüfstelle für jugendgefährdende Schrif- fast auf Lichtgeschwindigkeit be- ten. Inzwischen kontrollieren die Ver- schleunigt und schließlich in ein anstalter auf den meisten Partys die ringförmiges Vakuumrohr („Spei- Ausweise. cherring“) eingespeist werden. Jenseits der 30 erlischt offenbar das In- Starke Magnete halten die Ele- teresse an den Schlachten im Netz. Bei den mentarteilchen über Stunden auf rasenden Verfolgungsjagden können Ältere derselben Umlaufbahn. Dabei nicht mithalten, lieber weichen sie auf Lan- senden die Elektronen hochfre- Strategiespiele wie „Starcraft“ aus. Außer- quente Strahlung aus. dem droht der Spott der Arbeitskollegen: Biologen, Chemikern und „Für Leute über 50“, sagte ein Akademiker, Physikern dient Synchrotron- einer der wenigen Teilnehmer in Hittfeld, die die 40 überschritten hatten, „sind wir E. RICHARD / SYGMA * In Washington, kurz vor den Friedens- doch alle geisteskrank.“ Harro Albrecht Clinton, Arafat*: Synchrotron auf der Wunschliste gesprächen von Wye 1998.

186 der spiegel 31/1999 chemiker Reinhard Brandt. Die Bessy-Maschine, warnt der Forscher, könne mit bö- sem Willen auch in eine Produktionsstätte für den Bombenstoff Plutonium verwandelt werden – und das ausgerechnet in Nahost. Richtig an Brandts Hor- rorvision ist, dass sich mit Beschleunigern prinzipiell auch Protonen, positiv ge- ladene Wasserstoffkerne, in Schwung bringen lassen. Protonen wiederum erzeu- gen, wenn sie mit hoher Energie auf ein Ziel aus nicht spaltbarem Uran tref- fen, Plutonium samt einem Cocktail anderer Nuklide. Doch dass dies heimlich

J.-P. BÖNING / ZENIT J.-P. möglich wäre in einer An- Elektronenspeicherring Bessy I: „Hochinteressante Form der Entsorgung“ lage, in der Forscher aus un- terschiedlichsten Ländern Strahlung zur Aufklärung molekularer fende Betrieb – solche Summen würden arbeiten, ist schwer vorstellbar. Wichtiger Strukturen oder der atomaren Zusam- die Forschungsbudgets der Beschenkten noch: Mit den in einer umgebauten Bessy- mensetzung von Oberflächen. Auch in der bei weitem überfordern. Anlage erzielbaren Strahlstärken ließen Halbleiterentwicklung, der Mikromecha- Trotzdem stehen die Realisierungs- sich relevante Plutoniummengen kaum her- nik oder der Erforschung neuer Medika- chancen nicht schlecht. Denn geht es nach stellen. „Natürlich muss man das wissen- mente werden Synchrotrone immer wich- der Unesco, soll Bessy I den Keim bilden für schaftlich prüfen, bevor ein solcher Trans- tiger. „Das ist keine elitäre Wissenschaft“, ein internationales Forschungszentrum fer läuft“, sagt der Darmstädter Physiker schwärmt Voss, „sondern Forschung mit nach dem Vorbild des Europäischen Kern- Wolfgang Liebert, der sich seit Jahren mit enormer Breitenwirkung in vielen Le- forschungszentrums Cern bei Genf. Unab- den Möglichkeiten der heimlichen Weiter- bensbereichen.“ hängig von der Standortentscheidung könn- verbreitung von Atomwaffen auseinander Aber was nützt eine Elektronenschleu- ten dann alle interessierten Länder For- setzt. Doch auch er mag nicht glauben, dass der in der Wüste? Zumindest ist die Idee, schergruppen entsenden – auch Israel. ausgerechnet ein vergleichsweise kleines ein Synchrotron in Umzugskisten zu ver- Die Bessy-Transaktion packen und irgendwo anders auf der Welt biete die Chance, jubelte wieder aufzustellen, nicht neu: Die Nie- der Unesco-Generaldirek- derlande demontierten bereits eine Anlage, tor Federico Mayor, als um sie im Forschungszentrum Dubna bei „Wissenschaft für den Frie- Moskau wieder zusammenzuschrauben. den“ den Entspannungs- Ein japanisches Synchrotron wird dem- prozess im Nahen Osten nächst Wissenschaftler in Thailand mit voranzutreiben. Elektronenstrahlung versorgen. Das Stichwort Frieden, 80 bis 90 Prozent der Experimente, die so das Kalkül der Initia- gegenwärtig an etwa 45 über den Globus toren, werde potenzielle verteilten Synchrotron-Anlagen durchge- Geldgeber großzügig stim- führt werden, könnten nach Schätzung der men. Genannt werden die Verfechter eines Bessy-Ortswechsels mit Europäische Union, die rei- einer aufgerüsteten Bessy-I-Anlage bewäl- chen arabischen Ölstaaten tigt werden. oder die USA.

Im Nahen Osten würde der Berliner Besonders die Palästi- BILDERDIENST ULLSTEIN Speicherring eine große Lücke schließen. nenser zeigen sich selbstbe- Bessy I in Wilmersdorf: Riesenschildkröte als Präsent Nirgends zwischen Teheran und Nikosia, wusst. Sie seien „bestens Istanbul und Kairo existiert eine Syn- vorbereitet“, dem Berliner Pflegekind eine Synchrotron heimlich als Plutoniumfabrik chrotron-Quelle, während Schwellenlän- neue Heimat zu bieten, schrieb Jassir genutzt werden könnte. der wie Brasilien, Singapur oder Indien Arafats zuständiger Minister an die Unesco. „Um einen Faktor eine Million zu längst über eigene Anlagen verfügen. Ein Bei den Nahost-Friedensgesprächen von schwach“, beteuert der technische Ge- neues Gerät vergleichbarer Qualität käme Wye versprach US-Präsident Clinton schäftsführer von Bessy, Eberhard Jaesch- dreimal teurer als die Bessy-Transaktion. den Verhandlungsparteien Finanzhilfe.Auf ke, seien die selbst nach der geplanten Auf- Trotzdem bleiben die Folgekosten der der Wunschliste der Palästinenser taucht rüstung erreichbaren Stromstärken. Von deutschen Großzügigkeit für die meisten neben Posten für Krankenhaus-, Schul- dem Synchrotron, so sein Resümee, gehe der potenziellen Empfänger unbezahlbar. und Straßenbau auch das Synchrotron- „keinerlei Gefährdung aus, wohin auch Das Wissenschaftsblatt „Nature“ schätzt, Projekt auf. immer diese Anlage transferiert würde“. dass etwa 20 Millionen Dollar für Transfer, Sollte sich die Finanzierungsfrage be- „Töricht und überflüssig“ findet der Bes- Wiederaufbau und Modernisierung von friedigend lösen lassen, müssen die Bessy- sy-Umzugsbeauftragte Voss die Bomben- Bessy bereitgestellt werden müssten; 10 Transplanteure dennoch mit Querschüssen Debatte: „Der Brandt bellt einfach den Millionen Dollar pro Jahr kostet der lau- rechnen. Schuld ist der Marburger Kern- falschen Baum an.“ Gerd Rosenkranz

der spiegel 31/1999 187 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Doch die Studie barg Sprengstoff, der Anfang letzten Monats explodierte: Ohne Gegenstimmen (bei 13 Enthaltungen) ver- abschiedete das US-Repräsentantenhaus eine Resolution, in der die Verfasser des Artikels scharf verurteilt wurden. Die Ab- geordneten forderten Nachbesserung: „Kompetente Untersuchungen“ sollten sich künftig „bestmöglicher Methoden be- dienen“ mit dem Ziel, dass „Öffentlichkeit und Politiker“ ihr Verhalten an „akkuraten Informationen“ ausrichten könnten. Die Empörung der Volksvertreter galt einem Reizthema, das wie kaum ein ande- res die Öffentlichkeit in Wallung zu bringen vermag – dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Autoren der Studie, die Psychologen Bruce Rind von der Temple University in Philadelphia und Robert Bauserman von der University of Michigan sowie der Er- ziehungswissenschaftler Philip Tromovitch von der University of Pennsylvania, woll- ten überprüfen, ob sexueller Kindesmiss- brauch tatsächlich so schwere und blei-

ARD / WDR bende Schäden verursacht, wie von den Filmthema sexueller Missbrauch*: Die Daten über Langzeitfolgen sind dürftig meisten angenommen wird. Das Fazit des Forschertrios: Die Daten, um diese Behauptung wissenschaftlich zu PSYCHOLOGIE untermauern, sind dürftig. Die in den 59 Untersuchungen befragten Opfer sexuellen Missbrauchs seien zwar im Durchschnitt Schrille Fanfare „ein wenig instabiler“ als ihre Kommilito- nen. Insgesamt aber seien bleibende nega- Drei Psychologen behaupten, die psychischen Folgen tive Folgen unter jungen Männern kaum, bei jungen Frauen nur bei einer Minderheit sexuellen Missbrauchs würden weit überschätzt. auszumachen. Der US-Kongress verdammte ihre Forschungsarbeit. Mehr noch: Bei einer differenzierten Be- urteilung aller Daten ließen sich die Ab- ass einmal der US-Kongress erbit- sammen rund 36000 Schülern und Schüle- weichungen im emotionalen Befinden der tert über sie debattieren würde, rinnen an US-Colleges untersucht worden Jugendlichen nicht eindeutig auf den se- Dhätte sich wohl keiner der drei For- war. Das Ergebnis ihrer „Meta-Analyse“ xuellen Missbrauch zurückführen. scher träumen lassen. Eigentlich ging es präsentierten sie auf 32 eng bedruckten Sei- Zwar hätten viele Verfasser der unter- doch nur um eine Fleißarbeit. ten im „Psychological Bulletin“. suchten Studien ihre Ergebnisse so gedeu- Fast ein Jahrzehnt lang hatten sie die Wis- Das kleine Fachblatt wird von der Ame- tet – doch nur, weil sie einen entscheiden- senschaftsliteratur zu ihrem Thema gesich- rican Psychological Association (APA) her- den Faktor kaum beachtet hätten: das tet. 59 Arbeiten nahmen sie sorgfältig unter ausgegeben und erscheint in einer Auflage familiäre Umfeld. Gerade diejenigen die Lupe, in denen die Seelenlage von zu- von knapp 6000 Exemplaren. Entsprechend Jugendlichen, die besonders unter den gering war das Echo: Monatelang blieb jed- Folgen sexuellen Missbrauchs litten, seien * Szene aus dem Fernsehfilm „Schande“. wedes Feedback aus. oft in Familien aufgewachsen, in denen Wissenschaft

Alkoholismus oder Gewalttätigkeit auf der Doch bis zu diesem Bekenntnis drangen Werte der Familie zu untergraben“ und das Tagesordnung stand. Damit, so die drei offensichtlich nur wenige Leser des APA- „Rechtssystem umzustoßen“. Autoren, entstehe eine Gemengelage, in Bulletins vor. Lieber zupften sie sich ein- In die schrillen Fanfarenklänge vom der kaum zu beurteilen sei, welche Störung zelne Aussagen aus der Studie heraus, um „Poster-Girl der christlichen Fundamenta- auf den sexuellen Missbrauch und welche sie erbost zu zerpflücken oder aber begeis- listen“ („Vanity Fair“) stimmte unverzüg- auf andere Umstände zurückzuführen ist. tert zu feiern. lich ein Chor Gleichgesinnter ein. Auch Die Durchsicht der Studien ergab sogar, So zitierte die pädophile „Man-Boy viele Psychotherapeuten schlossen sich dass von den Befragten, die vor ihrem Love Association“ Ende letzten Jahres auf dem Entrüstungsgeschrei an. Schließlich 18. Lebensjahr, nach der in den USA ge- ihrer Website die Studie als angeblichen hatten sie viel Mühe darauf verwandt, die bräuchlichen Definition, „sexuell miss- Beweis dafür, dass „nicht erzwungene ge- „unterdrückte Erinnerung“ an sexuellen braucht“ worden waren, „mehr als 37 nerationsübergreifende Erfahrungen jun- Missbrauch als Ursache epidemisch um Prozent der Schüler und 11 Prozent der ger Menschen oft sehr positiv und vorteil- sich greifender „Multipler Persönlichkeits- Schülerinnen diese sexuellen Erfahrungen haft für die Betroffenen“ sein könnten. störungen“ dingfest zu machen. positiv einstuften“. Diese Erwähnung im Internet entfachte Die populistische Grundstimmung Dies schürt den Verdacht, dass der Be- wenig später den Volkszorn. Denn als sie im schwappte in den US-Kongress. Prompt griff des „Missbrauchs“ viel zu undifferen- März dieses Jahres davon erfuhr, meldete klatschte die „Christian Coalition“ Beifall: ziert verwendet wird. Mediziner und sich Laura Schlessinger, Amerikas bekann- Die Politik habe „die APA für die wider- Staatsanwälte, Politiker und Fa- wärtige und sozial unverant- milienverbände in den USA las- wortliche Veröffentlichung der sen alle Formen sexueller Über- Studie“ abgewatscht. griffe durch Erwachsene gleich- Die Verabschiedung der wertig in die Missbrauchsstatistik „Resolution 107“ fiel den Ab- einfließen. Nach dem Alter der geordneten umso leichter, als Opfer oder der Handlung der Tä- auch die APA verschreckt den ter unterscheiden sie nicht. Rückwärtsgang einlegte. Nichts verdeutlicht eindringli- In einem Brief an den Spre- cher die absurden Folgen dieser cher der republikanischen Praxis als ein Beispiel der drei Mehrheit im Repräsentanten- US-Forscher: Sie stellen den Fall haus räumte APA-Direktor „eines fünfjährigen Mädchens, Raymond Fowler, der zu- das von seinem Vater wiederholt vor monatelang die „Rind- vergewaltigt“ werde, dem eines Studie“ als „gute wissen- 15-jährigen Jugendlichen gegen- schaftliche Arbeit“ verteidigt über, der sich „mit einem nicht hatte, nun kleinlaut ein, der mit ihm verwandten Erwachse- Artikel sei „aufhetzend“ und nen sexuell einlässt“. Unstrittig mit der APA-Grundhaltung seien die schweren physischen zum Schutz von Kindern

und psychischen Schäden, die / OUTLINE G. LAVY „nicht vereinbar“. dem Mädchen drohen. Doch US-Moderatorin Schlessinger: „Poster-Girl der Fundamentalisten“ Darüber hinaus sicherte ebenso klar sei, dass Fallbeispiel Fowler zu, die bereits veröf- zwei „nur den Bruch sozialer Normen re- teste Radio-Talkmoderatorin, zu Wort. „Ich fentlichte und von Gutachtern nicht bean- präsentieren könne, ohne dass dem Teen- konnte einfach nicht glauben, was ich da standete Studie nochmals „überprüfen“ zu ager daraus ein persönlicher Schaden er- las“, verkündete „Dr. Laura“ den 20 Mil- lassen – ein bislang einmaliger Vorgang wachsen“ müsse. lionen Hörern ihrer dreistündigen Talk- in der 107-jährigen Geschichte des US- Nachdrücklich betonen die Autoren, show, die täglich von 485 Radiostationen Psychologenverbands. dass sie weder den sexuellen Missbrauch in den USA und Kanada ausgestrahlt wird. Fowler: „Wir sehen ein, dass wir nicht von Kindern und Jugendlichen „billigen“, Getreu ihrem Motto „Beten, lehren, nör- nur den wissenschaftlichen Wert von Arti- noch dass der Hinweis auf „nicht feststell- geln“ geißelt die 52-jährige Moralapostelin keln beachten müssen, sondern auch ihre bare Folgeschäden“ einen Täter von Schuld seither die Studie als Versuch, die Pädo- Auswirkungen auf die öffentliche Mei- freispricht. philie zu „normalisieren“, die „hehren nung.“ Rainer Paul Technik

Deshalb kam es den Audi-Oberen recht ungele- gen, dass ein Testfahrer des Fachblatts „Auto, Motor und Sport“ einen riskanten Selbstversuch wagte. Das führende Motormedium hatte dem Sportwagen in einer früheren Ausgabe be- reits gute Noten erteilt, als sich ein Redakteur im letz- ten Frühjahr mit einem TT Quattro noch einmal recht nah an den Grenzen der Physik bewegte. Als er da- bei den rechten Fuß vom Neuer Audi TT Roadster: Bauhauskunst oder rollender Alessi-Toaster? Gaspedal nahm, brach das Heck ohne Vorwarnung aus. AUTOMOBILE Der Grenzgänger am Volant des Testwagens Skulptur auf wurde der Situation durch beherztes Gegenlenken wieder Herr, ein Ungeüb- Rädern ter aber hätte sich seiner Meinung nach mit der Ka- Audi drängt mit dem TT Roadster rosse gedreht. Sein Ur- in den Boom-Markt der teilsspruch vom „kriti- schen Fahrverhalten“ traf offenen Zweisitzer. Käufer müssen die Audianer, die sich gern sich wegen langer Lieferzeiten als technische Speerspitze bis zum Sommer 2000 gedulden. des VW-Konzerns sehen, empfindlich; der Testbe- m italienischen Umbrien, wo sie auf richt wurde Thema einer kurvenreichen Straßen zwischen Peru- Vorstandssitzung. Igia und Assisi stolz ihr neustes Gefährt Die Audi-Techniker ent- vorführten, konnten die Ingolstädter Au- schieden sich für die Offen- tomobilbauer zufrieden sein: Nur verhal- TT-Roadster-Cockpit: Grenzgänger am Lenkrad sive: Sie räumten zwar ein, ten nörgelte die versammelte Journaille dass das Querbeschleuni- am Audi TT Roadster herum. Das Gefährt, das in Deutschland vom gungspotenzial des TT Quattro im Ver- Ein Tester bekrittelte die unhandlich zu 10. September an bei 1500 Händlern ste- gleich zur frontgetriebenen Basisversion bedienenden Sicherheitsgurte, ein ande- hen wird, lässt sich mühelos und äußerst durch Fahrwerksmodifikationen gewach- rer stöhnte kurz auf, als ihm die Fumme- sportlich vorantreiben. Mit der 225 PS star- sen sei. Der Fachblatt-Tester habe das „mit lei beim Versenken des Stoffdachs auf die ken Quattro-Variante, die, ein elektro- seinem Popometer, das feinste Regungen Nerven ging. Sanfte Töne des Mäkelns, hydraulisch bedienbares Verdeck inklu- verspürt, durchaus richtig empfunden“, vorgetragen in mezzopiano – das kommt sive, zum Preis von 69627 Mark angebo- sagt Technik-Vorstand Werner Mischke. einem „summa cum laude“ der Autokritik ten wird, können Eilige in 6,7 Sekunden Aber das sei „ein sportwagentypisches Ver- gleich. auf 100 Stundenkilometer sprinten. Erst halten“. Fazit: „Wir wollten das Auto genau Tatsächlich ist Audi mit der offenen bei Tempo 237 haben sie nichts mehr zu- so haben.“ Variante des Erfolgsmodells TT zum Ein- zulegen. Die Kunden sehen das offenbar ähnlich. stiegspreis von 58 674 Mark für das 180 Von ihrem Plan, im TT auch schmalbrüs- Wegen der anhaltend großen Nachfrage PS starke Basismodell ein guter Wurf ge- tigere Motoren mit einer Leistung von 125 hat Audi in Ingolstadt 50 Millionen Mark lungen. und 150 PS anzubieten, nahmen die Audi- investiert und die Produktionskapazität Konsequent haben die Designer die Manager Abstand – wenn auch erst ein- von knapp 40000 auf 50 000 Stück pro Jahr puristische Formensprache des 1,8-Liter- einhalb Jahre vor dem Anlaufen der Seri- gesteigert. Überlegungen, den Osnabrücker Coupés, von dem seit vorigen Spätsommer enproduktion. Mit ihren starken Aggrega- Karosseriebauer Karmann einzuspannen, mehr als 40000 Exemplare verkauft wur- ten drängen die mittelbayerischen Sport- um die langen Lieferzeiten zu verkürzen, den, in der dachlosen Version fortgeführt. wagen in die Liga des Porsche Boxter, des wurden verworfen. Ein Hardtop soll im nächsten Sommer Mercedes SLK und des BMW Z3 – Wer den offenen TT genießen will, wird folgen. zunächst hatten sich die Ingolstädter eher sich gedulden müssen. Neben den 1500 Ob die futuristische Frischluftvariante an Mazdas niedriger positioniertem MX-5 Fahrzeugen für die Salons der Händler des Audi TT stilistisch an die „Bauhaus- orientiert. werden in diesem Jahr nur noch weitere kunst“ (Firmensprecher Rudolf Schiller) Extrem gefordert, reagiert der TT 2000 Roadster im ungarischen Audi-Werk erinnert oder mehr einem „rollenden Quattro allerdings „nicht so lammfromm, Györ montiert. Die werden, prognostiziert Alessi-Toaster“ („Auto-Bild“) gleicht – wie es Audi-Kunden von anderen Modell- Inlands-Vertriebschef Heinz-Hermann Na- selbst Überrollbügel und Stoffkapuze ver- reihen gewöhnt sind“, räumt Firmen-Spre- gel, „in zwei bis drei Wochen ausgebucht mögen den Eindruck nicht zu mindern, cher Schiller ein. Der kräftigste TT kann sein“.Wer leer ausgehe, könne den Frisch- dass da eher eine Skulptur als ein Kraft- im Grenzbereich giftig werden wie ein luft-TT „erst im zweiten Quartal 2000“ fahrzeug geschaffen wurde. Porsche. fahren. Carsten Holm

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196 der spiegel 31/1999 Chronik 24. bis 30. Juli SPIEGEL TV

SAMSTAG, 24. 7. ABRÜSTUNG Russlands Ministerpräsident MONTAG Sergej Stepaschin reist zu US-Vizepräsi- 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 MASSAKER Russland gibt der Nato eine dent Al Gore und vereinbart neue Ver- SPIEGEL TV REPORTAGE Mitschuld am Tod von 14 serbischen Bau- handlungen über den Abbau strategi- ern im Kosovo; sie sind vermutlich Opfer scher Atomwaffen. Das Jahrhundert der Kriege albanischer Rachemörder. Kfor-Soldaten Teil 2: Der totale Krieg hatten die Leichen Freitagabend ent- MITTWOCH, 28. 7. deckt. KRIEGSVERBRECHEN Vor dem Uno-Tribunal SCHLAPPE Die deutsche Fußball-National- in Den Haag fordert die Anklage eine le- elf verliert in Mexiko beim Confedera- benslange Haftstrafe für den kroatischen tions Cup das Auftaktspiel gegen den General Tihomir Bla∆kiƒ. viermaligen Weltmeister Brasilien mit 0:4. KRITIK Der saarländische Ministerpräsi- SONNTAG, 25. 7. dent Reinhard Klimmt wirft Kanzler Ger- hard Schröder eine Abkehr von sozial- ARBEITSBEGRÄBNIS Algeriens Präsident demokratischen Grundwerten vor. Abdelaziz Bouteflika und Israels Pre- mierminister Ehud Barak – zwischen bei- ABSCHIED Die Bundesregierung trifft sich den Ländern herrscht offiziell Kriegszu- zur letzten Kabinettssitzung in Bonn. stand – nutzen die Trauerfeier für Marok- H. BRUNSWIG kos König Hassan II. zur Annäherung. DONNERSTAG, 29. 7. Hamburger Innenstadt 1943 AMOKLAUF In Atlanta tötet der Anlagebe- TRIUMPHFAHRT Der Amerikaner Lance Dokumentation – mit bislang unveröf- Armstrong, schon Sieger im Kampf gegen rater Mark Barton zwölf Menschen, be- vor er fünf Stunden später gestellt wer- fentlichtem Archivmaterial – über den seine Hodenkrebs-Erkrankung, gewinnt Zweiten Weltkrieg, der mehr Opfer unter in Paris die 86. Tour de France. den kann. Er erschießt sich vor seiner Festnahme. Die Tat ist das schlimmste der Zivilbevölkerung forderte als je eine kriegerische Auseinandersetzung zuvor. MONTAG, 26. 7. Massaker in der Geschichte der amerika- nischen Olympia-Stadt. TEMPOLIMIT Bundesumweltminister Jürgen DONNERSTAG Trittin will Autofahrer bei hohen Ozon- HAFTBEFEHL Die chinesischen Behörden 22.05 – 23.00 UHR VOX werten bremsen: Ab dem Jahr 2000 soll erlassen einen Haftbefehl gegen den in die Höchstgeschwindigkeit für Pkw auf New York lebenden Gründer des Falun- SPIEGEL TV EXTRA Autobahnen 100, auf Landstraßen 80 Gong-Kults und bitten Interpol um Bei- Das Harley-Davidson-Fieber Stundenkilometer betragen. stand bei der Fahndung. Pro Jahr werden etwa 140 000 Motor- räder produziert. Alle fünf Jahre bedankt DROHUNG Um Uni-müden Professoren FREITAG, 30. 7. sich die Firma mit einem Fest. Für eine beizukommen, will die Hochschul-Rekto- kleine Gemeinde im österreichischen renkonferenz das Disziplinarrecht ver- BALKANGIPFEL Zur Konferenz über die Zu- Kärnten bedeutet das Ausnahmezustand. schärfen. kunft Südosteuropas treffen sich Staats- und Regierungschefs aus 35 Ländern in Über den Kult um das Zweirad aus Mil- waukee. DIENSTAG, 27. 7. der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. ALPENDRAMA Mindestens 19 Abenteuer- ZITTERPARTIE Mit einem blamablen 0:2 SAMSTAG urlauber sterben bei einer Canyoning- verliert die deutsche Fußball-National- 22.10 – 00.15 UHR VOX Tour in den Schweizer Bergen, nachdem mannschaft gegen die US-Boys beim sie von einem Unwetter überrascht wor- Confederations Cup in Guadalajara und SPIEGEL TV SPECIAL den waren. scheidet aus. Vom Blanken Hans und Buhne 16 – Beobachtungen an der deutschen Sonntag, 25. 7.: Nordseeküste 30 Jahre nach Ob hanseatische Millionäre oder Ke- dem legendären gelclubs aus dem Ruhrgebiet: Im Som- Hippie-Fest in mer zieht es Menschen unterschiedlichs- Woodstock endet ter Herkunft an die plattdeutschen das dreitägige Strände zwischen Sylt und Borkum. Zu Revival-Festival Krabbenpul-Partys, Champagnernächten im US-Staat New oder langen, einsamen Streifzügen durchs York mit einer Watt. Orgie der Gewalt. SONNTAG 22.10 – 23.00 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Deutschland im Dunkeln – die Sonnen- finsternis zwischen Hoffen und Bangen; Endstation Bahnhofsplatz – mysteriöse Todesserie unter obdachlosen Jugend- lichen in Augsburg; Pfusch am Bau – die teuren Tricks deutscher Handwerker. AP

der spiegel 31/1999 197 Register

Gestorben organisator der frühen Documenta-Aus- stellungen verhalf er ihnen zu großen öf- Manfred Schmidt, 86. Es war eine klassi- fentlichen Auftritten. Doch als Haftmann sche Erfolgsstory: Mit seinem Meisterde- 1959 verkündete: „Die Kunst ist abstrakt tektiv „Nick Knatterton“ traf der Zeichner geworden“, war seine Diagnose nur noch die Stimmung der Adenauer-Jahre, und seit- bedingt zeitgemäß; Pop-, Op- und Polit- her hat sein kantiger Strich viele Leserge- Kunst stießen ihn ab.Als erster Direktor der nerationen amüsiert. Wohl auch, weil Neuen Nationalgalerie in Berlin (1967 bis 1974) konnte er seine Kennerschaft und sein Renommee noch für große Ausstellungen und wichtige Erwerbungen ausspielen, be- vor er sich in eine freie Schriftstellerexis- tenz zurückzog. Werner Haftmann starb vergangenen Donnerstag in München.

Harry Edison, 83. Er hat erstaunlich weni- ge Aufnahmen unter eigenem Namen ge- macht. Dabei war er einer der besten Trom- peter seiner Zeit, sparsam in seiner Impro- visation, mit unverkennbarem Ton, doch in den Diskografien ist er vor allem immer

CINETEXT (l.); DPA (r.) CINETEXT (l.); DPA wieder als Mitglied hervorragender Bands zu finden. Bei Count Basie war Harry Schmidt nie die Schattenseiten seiner Kar- „Sweets“ Edison am richtigen Platz, zwölf riere vertuschte: Der dürre Bremer Journa- Jahre lang hat er neben Könnern wie Buck list mit Segelohren war zur Nazi-Zeit im Clayton oder Hot Lips Berliner Zeitungskonzern Ullstein tätig. Page zum unverwech- Aber schon 1947 zeigte ein „Bilderbuch für selbaren Sound der Überlebende“ den Pazifisten von besserer Basie-Band beigetra- Seite, und 1950 ließ er in der „Quick“ einen gen.Als Frank Sinatra Serienhelden auftreten, der ihm 1935 ein- ihn ins Orchester gefallen war: Nick Knatterton. „Der Schuss Nelson Riddle holte, in den künstlichen Hinterkopf“ wurde ein stellte sich heraus, Volltreffer, und prompt zwang die James- dass Edison keine Bond-Parodie Schmidt zu wöchentlicher Noten lesen konnte.

Comic-Fron. Knatterton („Kombiniere …“) „Wenn du ein Loch ARCHIV HAMBURG JAZZ kümmerte sich um den „Stiftzahn des hörst“, sagte Frankie Caprifischers“ oder die „Goldader von daraufhin, „füll’s einfach aus.“ Es war der Bloody Corner“, bis selbst die wohlgerun- richtige Rat, Sinatras Erfolge mit dem Or- deten Damen um ihn – Virginia Peng, Lori chester Riddle haben auch etwas mit ge- Zontal oder Rita Heuwurz – legendär wa- stopften Löchern zu tun. Harry Edison starb ren. 1953 verriet Schmidt dem SPIEGEL: vergangenen Dienstag in Columbus, Ohio. „Man nehme eine leichte Bonner Pflaume und etwas Klamotte, Sex und ein halbgeist- Alfons Dalma, 80. Der Austrokroate, als reiches Aperçu“ – eine Mischung, die noch Stepan Tomi‡iƒ in Dalmatien geboren, von heute zündet. Manfred Schmidt starb am 28. Dominikanern geprägt und bald Redakteur Juli in Ambach am Starnberger See. beim „Hrvatski Narod“ („Kroatisches Volk“), dem Organ des faschistischen Usta- Werner Haftmann, 87. scha-Regiments von Ante Paveliƒ, lernte sei- Er war ein Schwärmer, ne ersten deutschen Sätze bei der kroati- Bilder deutete Werner schen Gesandtschaft in Berlin.Während Hit- Haftmann gern als lers Statthalter Paveliƒ 1945 hingerichtet „Gleichnisträger des in- wurde, begann für den „Tschuschen“ ein neren träumenden Le- unaufhaltsamer journalistischer Aufstieg, bens“. Aus dem Krieg wenn auch, so Kollegen, als „Hassfigur der heimgekehrt, trat der Linken“. Nach Jahren bei den „Salzburger Kunsthistoriker wäh- Nachrichten“, wechselte er als Vize-Chef- rend der späten vierzi- redakteur zum „Münchner Merkur“. Als

ger und in den fünfzi- DPA Bewunderer von Franz Josef Strauß, für des- ger Jahren in Deutsch- sen „Bayernkurier“ er ebenfalls schrieb, war land als unüberhörbarer Herold für die da- seine Karriere gesichert. Dass er später als mals noch umstrittene Moderne hervor, für Chefredakteur des ORF vom Sozialdemo- ihre Klassiker, besonders engagiert aber für kraten Bruno Kreisky eliminiert wurde, war seine eigene Generation. Deren Protagoni- für den Christsozialen „kein Schock“, aber sten rühmte er in seinen Schriften wie ei- doch kleinlich und „haxelbeißerisch“. Al- ner monumentalen Geschichte der „Male- fons Dalma starb vergangenen Mittwoch in rei im 20. Jahrhundert“ (1954), und als Mit- Wien.

198 der spiegel 31/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Benito Mencucci, 63, Besitzer des römi- schen Vier-Sterne-Hotels Atlante Star, wird reich beschert, wenn Papst Johannes Paul II. stirbt. Für den Fall nämlich hat der Ho- telier vorab dem US-Fernsehgiganten CBS zum Preis von rund 300000 Mark die Ter- rasse seiner Herberge vermietet: Mit frei- em Blick auf den Petersdom und die berühmte weiße Rauchsäule, die vom Va- tikan aufsteigt, wenn ein neuer Papst ge- wählt wurde. Zudem werden die rund 100 CBS-Leute, die aus dem Konklave ein TV- Spektakel machen sollen, im Hause Men- cucci absteigen (Preis pro Doppelzimmer: R. BIANCHI / AZIMUT Mencucci

600 Mark). TV-Konkurrenten aus aller Welt rangeln derzeit um die wenigen römischen Standorte mit Domblick, um am Tag X den rechten Hintergrund für die Liveschaltun- gen bieten zu können.

David Stein, 38, Physiker beim ameri- PRESS ACTION kanischen Geheimdienst CIA, und Jim Roberts Gillogly, Computerwissenschaftler aus Ka- lifornien, haben eine Nuss geknackt, an Julia Roberts, 31, höchst bezahlter Hollywoodstar und Pretty Woman der romanti- der professionelle Geheimnistuer und schen Komödie „Notting Hill“, erinnert sich noch genau an den stillen Ort, an dem Amateur-Kryptografen aus aller Welt seit sie sich erstmals berühmt fühlte: „Ich war mit meiner Mutter im Kino. Ich musste mal fast zehn Jahren gescheitert sind. Unab- verschwinden und plötzlich fragte jemand sehr laut ‚Mädchen in Kabine Nummer eins, hängig voneinander gelang es beiden, die warst du das in Mystic Pizza?‘ Ich stockte und sagte ‚Ja, das war ich.‘“Heute nimmt Inschrift der Skulptur „Kryptos“ im Hof Roberts, deren neuester Film „Runaway Bride“ (erneut mit Partner Richard Gere) ge- des CIA-Hauptquartiers in Langley (US- rade in den US-Kinos anläuft, eher Notiz von Menschen, die sie nicht kennen. Auf Staat Virginia) zu entziffern. Darauf sind einer Dinnerparty wurde sie von einem Gast gefragt, was sie denn so mache. „Ich bin an die 2000 Buchstaben gestanzt, deren Schauspielerin, sagte ich, als plötzlich jemand dazwischenfuhr: ‚Du weißt nicht, wer Folge zunächst sinnlos erscheint. Doch die Julia Roberts ist?‘ Woraufhin alle auf diese arme Frau losgingen. Ich hingegen war be- darin enthaltene Botschaft ist mehrfach eindruckt. Ich dachte, diese Frau hat wirklich ein eigenes Leben.“ und hoch kompliziert verschlüsselt. Stein hatte nach mehr als 400 Stunden mit Papier und Bleistift Erfolg. ten und der Abwesenheit des Lichts liegt Gillogly, der die Inschrift nie im die Nuance der Illusion.“ Original gesehen hatte, arbeite- te mit einem eigens geschriebe- Walter Kolbow, 55, Parlamentarischer nen Computerprogramm. Im Staatssekretär im Verteidigungsministeri- Wettkampf Mann gegen Maschi- um, seit April als „humanitärer Beauftrag- ne gelangten beide zeitgleich ans ter der Bundesregierung“ in Mazedonien Ziel. Fast – denn das Geheimnis und Albanien, musste – für einen Politiker der letzten 97 Buchstaben blieb eher ungewöhnlich – eine Reduzierung sei- noch im Dunkeln. Und der erste ner Bezüge hinnehmen. Dem Beamten Teil der Botschaft liest sich auch wurde wegen seines Jobs an vorderster dechiffriert beinahe so kryptisch Front jetzt seine Bundestagspauschale

wie der Rest des Puzzles. Kost- / TWP G. MARTINEAU gekürzt, 30 Mark pro versäumter Bundes- probe: „Zwischen feinen Schat- Stein tagssitzung. Rund 20 Sitzungen hat Kol-

200 der spiegel 31/1999 bow, von seinen Mitarbeitern der „Vi- Jacques Chirac, 66, französischer Staats- zekönig“ genannt und während des Krie- präsident, festigte seinen Ruf als Lieferant ges immer vor Ort, verpasst. Dabei hat er deftiger Aussprüche, denen er seine Popu- noch Glück, dass die Bundestagsverwal- larität – über 63 Prozent – offenbar eher tung sein Fernbleiben von Sitzungen als verdankt als politischen Aktionen. Bei der „entschuldigtes Fehlen auf Grund einer Beisetzungsfeier für seinen alten Freund Dienstreise“ wertet, sonst wären gleich 150 Mark pro Sitzung fällig gewesen.

Jesse Ventura, 48, ehemali- ger Profi-Catcher und seit dem vergangenen Jahr Gou- verneur des US-Bundesstaa- tes Minnesota, will nach 13 Jahren Abstinenz wieder in den Ring steigen. Am 22. Au- gust, so verkündete „The Body“ geschmückt mit seinen Catcher-Erkennungszeichen

Federboa und Strass-Sonnen- PRESS SIPA brille, wolle er bei einem Tur- Chirac nier in Minneapolis als Gast- Catcher an alte Zeiten anknüpfen. „Nur König Hassan II. von Marokko, in brüten- weil ich Gouverneur bin, heißt das noch der Hitze in Rabat, kommentierte der ge- lange nicht, dass ich keinen Spaß mehr ha- nervte Gaullist die über vierstündige Trau- ben darf.“ Die Kampfbörse von 100 000 erzeremonie vernehmbar: „Wir werden Dollar will Ventura wohltätigen Zwecken hier einen Sauna-Weltrekord aufstellen“, spenden. Was er jedoch mit dem auf über und setzte stöhnend noch eins drauf: eine Million Dollar geschätzten Erlös aus „Scheiße, ist das heiß hier.“ Ehefrau Ber- den Nebengeschäften machen wird, be- nadette, eine geborene Chodron de Cour- hielt der Gouverneur für sich. Kritiker cel (66), missbilligte – ebenfalls gut ver- sehen darin eine allzu einträgliche Ver- ständlich – durch ihren schwarzen Schlei- quickung von öffentlichem Amt und pri- er hindurch die derben Töne ihres Gatten: vater Geschäftstüchtigkeit, die „einen neu- „Jacques, zügeln Sie Ihre Sprache, wir sind en moralischen Tiefstand“ markiere. Doch hier nicht in der Provinz.“ Ventura hält bereits eine weitere Über- raschung bereit: Bei den übernächsten Prä- Gernot Erler, 55, stellvertretender Vorsit- sidentschaftswahlen 2004 will er seinen zender der SPD-Fraktion im Bundestag, Hut in den Ring werfen. „Glaubt ja nicht, ärgert sich über die Sicherheitsleute am das sei geprahlt. Ich kann gewinnen, genau Reichstag. Für die weiten Wege in Berlin wie in Minnesota!“ hat sich der Menschenrechtsexperte ein ge- brauchtes Fahrrad gekauft.Wie aus Bonn gewohnt, parkte der 1,90-Meter-Mann kürzlich das Rad direkt am Parlament – von dort wurde es durch Sicher- heitskräfte aus dem Reichs- tagsbereich „entfernt“. Tags darauf radelte Erler wieder zum Reichstag. Nun wollten die Sicherheitsleute seine Durchfahrtkarte nicht akzep- tieren. Die gelte nur für Autos. Am nächsten Tag erlebte Erler noch eine neue Variante. Der Durchfahrtschein wurde ak- zeptiert, allerdings musste er absteigen und schieben. Nun bat er seinen Parteifreund Wolfgang Thierse, etwas gegen die Radlergegner zu unterneh- men. Mit Erfolg. Der Bundes- tagspräsident lässt jetzt am Osteingang des Reichstags

DPA schon mal einen Radständer Ventura aufstellen.

der spiegel 31/1999 201 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Bunt Zitate und fröhlich ist das Treiben von Kellnern, Brötchenverkäufern, Touristen, Hambur- Aus der „Frankfurter Rundschau“ über gern und Zugereisten, Bettlern, Geschäfts- die rechte Szene in Brandenburg, die leuten – und allem, was eine Metropole der SPIEGEL-Bericht „Der braune All- ausmacht: Kirchenglocken, fleißige Knöll- tag“ (Nr. 23/1999) beschrieben hatte: chenschreiber und Straßenmusiker.“ Anfang Juni war Cottbus aufgeschreckt, als der SPIEGEL den „braunen Alltag“ in der Stadt beschrieb. Stadtverwaltung, Polizei, Industrie- und Handelskammer nahmen so- fort mächtig übel, warfen dem Nachrich- tenmagazin Unseriosität und maßlose Aus dem oberösterreichischen Kleinanzei- Übertreibung vor … Doch die Wirklichkeit ger „Korrekt“ belehrte die Übelnehmer schnell eines an- deren. Nur fünf Tage später wurden die Afrikaner in der Straßenbahn verprügelt Aus den „Potsdamer Neuesten Nachrich- … Der Fußballspieler Moudachirou Ama- ten“: „Die verweste Leiche, die am Sonn- dou verließ ein Jahr vor Vertragsende die tag in einem Waldstück im Landkreis Bar- Lausitz und den Zweitligisten FC Energie nim gefunden worden ist, wurde durch Cottbus, um für den Karlsruher SC zu mehrere Schüsse in Kopf und Oberkörper kicken. Vorher machte er öffentlich, dass erschossen.“ er und seine Lebensgefährtin immer wieder in der Stadt angepöbelt worden waren. ,,Ich werde als Negerschlampe beschimpft, wenn Aus der „Nassauischen Neuen Presse“: ich hier mit Moudachirou einkaufen gehe“, „Schily sprach sich für eine konsequente erzählte die 22-jährige Zahnarzthelferin, Rückführung von lebenden Kosovo-Alba- „andere Leute schütteln den Kopf oder nern aus.“ mustern uns von oben bis unten, wenn wir zusammen vorbeigehen.“

Die „Neue Westfälische“ zum Report über den Bertelsmann-Konzern: „Vom Buchclub zur Internet-Firma – Kultur- kampf bei Bertelsmann“ (Nr. 30/1999):

Fast die Spucke wegbleiben muss dem Gü- Aus einer Pressemitteilung des Bundes- tersloher allerdings, wenn er in diesen Tagen verbandes Deutscher Versicherungs-Kauf- in der neuesten Ausgabe eines Hamburger leute Nachrichten-Magazins lesen muss, wie ein Redakteur aus der norddeutschen Elb-Me- tropole die Bertelsmann-Stadt bei seinem Besuch erlebt hat. Da ist vom „Krähwinkel der Republik“ die Rede und von einer Stadt, „in der an klaren Frühjahrstagen ein leich- ter Dung-Geruch über die Häuser zieht und die Lokalzeitung ‚Die Glocke‘ heißt“. Wir Aus der „Aargauer Zeitung“ wollen nicht monieren, dass es in manchen Teilen dieser Stadt leider eher nach ver- branntem Holz denn nach Mist riecht und Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Der dass der Magazin-Kollege … offenbar nicht Mann weiß genau, was durch Rheindorfs zur Kenntnis genommen hat, dass es in die- Kehlen rinnt: Paul Norhausen.“ ser Stadt auch noch andere und sogar auf- lagenstärkere Tageszeitungen gibt ... Viel- leicht geben wir hier in Gütersloh aber auch Aus der „Leonberger Kreiszeitung“ über irgendwann mal ein Nachrichten-Magazin Friedrich W. J. von Schelling: „Dass aus … heraus.Und dann schlagen wir zurück: dem Pfarrersbub einmal einer der bedeu- Da wird dann von einer selbst ernannten tendsten Philosophen des deutschen Idea- Medienhauptstadt in Norddeutschland die lismus werden sollte, ahnte wohl niemand Rede sein, in der an klaren Frühlingstagen bei seiner Geburt 1775.“ das Elbwasser zum Himmel stinkt. Oder in der manche Ewiggestrigen immer noch versuchen, ihre Geschäfte mit Schiffen zu Aus der Schweizer „SonntagsZeitung“ machen, die wochenlang über das große über Brigitte Seebacher-Brandt: „Nun wur- Wasser tuckern, während anderswo, bei- de also auch Hilmar Kopper schwach im spielsweise in Gütersloh, längst das Inter- Spannungsfeld zwischen ihrem Intellekt net-Zeitalter mit weltweiten und rasend und ihren Beinen.“ schnellen Datenautobahnen begonnen hat.

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