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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 6. November 2000 Betr.: Titel, Oracle, Eta, Britney Spears er erste US-Präsident George Washington (1732 bis 1799) ist ein Nationalheld. DKaum ein Schulkind, das nicht jenes kolossale Gemälde kennt, auf dem er 1776 den vereisten Delaware-Fluss überquert und damit den Aufbruch zur eigenen, unab- hängigen Nation beginnt. Der Deutsche Emanuel Leutze hat die Szene 1851 gemalt, die jetzt zum Titelbild des SPIEGEL wird – im Boot allerdings eine frische Besatzung. Die Pose Washingtons nimmt der scheidende Präsident Bill Clinton ein, denn egal, ob Al Gore oder George W. Bush an diesem Dienstag sein Nachfolger wird, Clinton hat die Rich- tung vorgegeben. „Deshalb ist von Wahlfieber so wenig zu spüren“, sagt Titel-Autor Erich Follath, „Amerika ist nicht fasziniert von der Wahl, son- AKG dern von sich selbst“ (Seite 234). Leutze-Gemälde (1851)

och regiert indes Bill Clinton – vergangene Woche sogar unversehens in ein SPIE- NGEL-Gespräch hinein, das Michaela Schießl, 38, und Rafaela von Bredow, 33, mit dem Chef des Software-Konzerns Oracle, Larry Ellison, führten. Sie waren im New Yorker Hotel Four Seasons verabredet und hatten sich schon gewundert, dass im Flur Geheimdienstagenten und Scharfschützen aufgezogen waren. Das war keine Marot- te des extrovertierten Oracle-Chefs, sondern galt dessen Zimmernachbarn Clinton. Und der ließ mitten im SPIEGEL-Gespräch Ellison einen Zettel reichen: „The president wants to chat with you, from 4:20 to 4:25.“ Die SPIEGEL-Frauen hatten Verständnis, das Interview wurde unterbrochen. Schießl: „So viel Zeit muss sein“ (Seite 136).

ls SPIEGEL-Redakteurin Helene Zuber 1986 über moderne spanische Frauen Arecherchierte, fiel ihr die Telefonistin Cristina Cuesta auf, damals 24. Die terro- ristische Eta hatte ihren Vater ermordet, doch die Trauer führte Cuesta nicht in den Hass, sondern zum Willen, künftig für Versöhnung zu werben: Sie beschloss, immer dann mit Gleichgesinnten auf die Straße zu gehen, wenn der Konflikt im Baskenland wieder einen Toten gefordert hatte – egal von welcher Seite. Gelegenheit dazu bekam sie etwa 400-mal. Zuber, 43, traf die mutige Frau jetzt in San Sebastián, einer Eta-Hoch- burg: „Ständig auf der Hut sein zu müssen ermüdet mich“, gestand Cuesta, denn sie hat Todesdrohungen erhalten und wird inzwischen von Leibwächtern begleitet. „Ent- mutigend ist, dass nicht einmal alle baskischen Demokraten gemeinsam gegen die Eta Front machen wollen“, so Zuber (Seite 262).

ie meisten Eltern tun für ihre Kinder fast alles – auch wenn es wehtun mag. Also Dmachte sich SPIEGEL-Autor Henryk M. Broder, 54, auf, um mit seiner zwölf- jährigen Tochter Hanna ein Konzert von Britney Spears, 18, zu besuchen. Rund 10000 schwärmende Teens hatte die amerikanische Pop- Ikone in Halle 7 der alten Leipziger Messe gelockt. „Nicht direkt meine Lieblingsmusik“, stellte Bro- der hernach höflich fest; die Diskrepanz zu seinem letzten Konzertbesuch ist aber auch arg groß: Das war irgendwann Ende der sechziger Jahre in Lon- don, und auf der Bühne röhrte Rocklegende Janis Joplin. „Ich habe mich wie auf einem fremden Pla- neten gefühlt“, fasst Broder seine jüngste Konzert- erfahrung zusammen, doch entscheidend war eben: M. JEHNICHEN Broder mit Tochter Hanna „Meiner Tochter hat es gefallen“ (Seite 196).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 45/2000 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Kampf um Clintons schillerndes Erbe: Amerika im Erfolgsrausch der Babyboomer ...... 234 Bush-Panne auf der Zielgeraden...... 240 Geheimdossiers für Karlsruhe Seiten 29, 30 Die Bilder des Clinton-Fotografen ...... 242 Mit Innenansichten aus der NPD – Agentenberichten und abgehörten Telefonaten – Amerikas Partner wollen Gore ...... 244 SPIEGEL-Gespräch mit Politikwissenschaftler will die Bundesregierung in Karlsruhe das NPD-Verbot durchsetzen. Der ehemalige Chalmers Johnson über Arroganz Verfassungsrichter Hans Hugo Klein räumt dem Verbotsantrag große Chancen ein. und Grenzen der globalen Supermacht USA ..... 252 Deutschland Panorama: Schäubles vergebliche Jobsuche / AOK droht Rot-Grün ...... 17 Verkehr: Das neue Milliardenloch der Bahn...... 22 Interview mit Reinhard Klimmt über die Dauerkrise der Bahn...... 24 Zuwanderung: Wem gehört die Leitkultur?...... 26 CDU: Wolfgang Bosbach, der stille Modernisierer der Union ...... 28 NPD-Verbot: Spitzelberichte aus der Partei sollen Verfassungsgericht überzeugen...... 29 Ex-Verfassungsrichter Hans Hugo Klein über W. KNAPP / THEMA W. die Aussichten eines Antrags auf NPD-Verbot..... 30 / ZEITENSPIEGEL A. LOBE Bundestag: Kokser auf allen Fluren?...... 34 Klein NPD-Protest gegen das geplante Verbot CDU Hessen: Anklage gegen Kanther? ...... 35 Die geheimen Helfer der Landespartei ...... 36 Europaparlament: Eine junge Frau bringt die Grünen zur Verzweiflung...... 40 CSU: Christsoziale halten an vorbestraftem Bürgermeister fest ...... 46 Herr der Paragrafen Seite 130 Gesundheit: Laborreform verschlechtert Versorgung der Patienten ...... 48 Mit seinen Plänen zur privaten Altersvorsorge droht Arbeitsminister Walter Riester Bürgerrechtler: Bärbel Bohleys neues Leben.... 52 ein ähnliches Debakel wie bei seinem 630-Mark-Gesetz: Die Vorschriften sind Terrorismus: Dramatische Wende widersprüchlich, lebensfremd und nützen vor allem der Versicherungswirtschaft. im Lockerbie-Prozess ...... 56 Strafjustiz: Die wechselnden Prozessaussagen des Opec-Attentäters Hans-Joachim Klein...... 64 Green Card: Der bürokratische Alltag der Computerexperten ...... 70 Abschiebung: Die Tricks der Asylschwindler ..... 72 Seite 56 Kabarett: Neues von den „Wasserwerkern“...... 88 Neue Spuren, alte Rätsel Hauptstadt: Entscheidung über Seit Anfang Oktober ist der den Schlossplatz ...... 90 Freiwillige: Die gemeinnützigen Helfer...... 94 Lockerbie-Prozess unterbrochen. Manager kümmern sich um Arbeitslose...... 105 Grund: Neue, „komplexe und SPD: SPIEGEL-Gespräch mit Wolfgang Clement hoch sensible“ Informationen über die Verunsicherung der Wähler...... 112 (Staatsanwaltschaft). Sie mehren Kriminalität: Daum und der Drogensumpf ...... 119 Zweifel an der Schuld der Ange- Verbrechen: Die tödlichen Pannen im klagten. Erneut im Visier der Er- Fall Schmökel...... 120 mittler: Eine von Syrien und Iran Wirtschaft unterstützte palästinensische Ter- Trends: Ermittlungen gegen WestLB / rororganisation, die kurz vor dem AP Überraschender Gewinnsprung bei Infineon...... 123 Geld: Abschwung bei Biotech / Die Highflyer Attentat in Deutschland aktiv war. PanAm-Wrack (nahe Lockerbie, 1988) der Londoner Technologiebörse ...... 125 Musikindustrie: Warum sich der Bertelsmann- Konzern mit US-Internet-Piraten verbündet ...... 126 Interview mit Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff über seinen Napster-Deal ..... 128 Sozialstaat: Der Problemfall Walter Riester...... 130 „Total durchgeknallt“ Seite 136 Software: SPIEGEL-Gespräch mit Oracle-Chef Larry Ellison über den Umbau des Konzerns..... 136 Er gilt als Rambo des Silicon Banken: Über 40 Millionen Mark Jahresvergütung Valley: Mit rauen Manieren – für einen Deutsche-Bank-Angestellten...... 146 wurde Software-Unterneh- Konkurse: Hätte der Bremer Vulkan mer Larry Ellison zum zweit- gerettet werden können?...... 150 reichsten Mann der Welt – Affären: Flucht aus Taiwan ...... 154 Berufe: Das harte Leben eines hinter Bill Gates, dem ewi- Staubsaugervertreters ...... 158 gen Rivalen. Ellisons Konzern Medien Oracle macht inzwischen gu- Trends: Interview mit dem neuen Premiere-World- te Geschäfte mit Internet- Chef Manfred Puffer / Top-Models im Netz ...... 165 Firmen, einer Branche, die Fernsehen: Sportreporter Waldemar Hartmann der Selbstdarsteller wegen über seine Fast-Entlassung / der einst hohen Börsenkurse Quotenflaute beim „Literarischen Quartett“...... 166 AP kritisiert. Ellison: „Der Markt Vorschau ...... 167 Online-Journalismus: Die Erfolgsstory Ellison war total durchgeknallt.“ der norwegischen „Netzzeitung“ ...... 168

6 der spiegel 45/2000 Literaturverfilmung: Uwe Johnsons „Jahrestage“ als TV-Vierteiler ...... 171 Digital-TV: Das Fernsehen der Zukunft im Test .. 178 Gesellschaft Szene: Bissige Affen / Die Zukunft des Liebesbriefs...... 195 Jugendidole: Pop-Lolita Britney Spears ...... 196 Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange über Britneys Geständnisse...... 198 Drogen: Schilys peinliche Internet-Panne ...... 202 Jugend: Schüler üben Demokratie...... 208 Frauen: Betrogene Gattinnen rechnen ab...... 212 Sport Wettkämpfe: Olympische Indianerspiele im Amazonasbecken ...... 218 Tennis: Interview mit Trainer Eric von Harpen über Anna Kurnikowa und Spielerinnen-Neid ... 223 T. MÜLLER Staffellauf mit Baumstämmen Ausland Panorama: Zusammenbruch des Irak-Embargos / Belgrader Gold-Transporte in die Schweiz ...... 231 Kosovo: Comeback des Pazifisten Rugova...... 258 Olympia aus dem Dschungel Seite 218 Europa: Dunkle Geschäfte beim Beitrittskandidaten Zypern ...... 260 Indianer aus 31 brasilianischen Stämmen trafen sich zu einem sportlichen Wettkampf, Interview mit dem Präsidenten des türkischen der wie ein Gegenentwurf zum kommerziellen Sport der Ersten Welt wirkt. Tauzie- Nordzypern, Rauf Denkta≈, über die neue hen und Blasrohrschießen zogen Tausende von Zuschauern an. Kriegsgefahr auf der geteilten Mittelmeerinsel..... 261 Spanien: Zerreißprobe für das Baskenland ...... 262 Frankreich: Der Untergang des Chemiefrachters ...... 266 Türkei: Die Selbstmörderinnen von Batman ..... 268 Zeitgeschichte: Das Geheimnis Endlager für Treibhausgase Seiten 306, 310 des Kriegskaisers Hirohito ...... 272 Serie: Die Welt im 21. Jahrhundert Ist es möglich, große Mengen Kohlendioxid in Wäldern oder am Meeresgrund zu ent- Kunst: Ausstellungsmacher Harald Szeemann sorgen? Auf der Weltklimakonferenz in Den Haag sollen bereits Emissionen gegen über den Einfluss von Internet und Aufforstungen verrechnet werden. Kritiker wie der Umweltautor Dirk Maxeiner Globalisierung in der bildenden Kunst ...... 276 warnen vor einer grünen Planwirtschaft: „Eine Klimaregulierungsbehörde entsteht.“ Film: Digitale Techniken verändern das Kino ... 280 Essay: Die Sehnsucht nach dem Authentischen 286 Literatur: Neue Schreibkultur im Internet ..... 294 Wissenschaft · Technik Prisma: Verbrecherjagd mit Phantombild aus dem Genlabor / Grüner Diamant auf Weltreise... 303 Kluges Erzähl-Comeback Seite 336 Klima: Meeresdüngung gegen den Treibhauseffekt ...... 306 Er hat fast 23 Jahre als Erzähler geschwiegen: Alexan- Umweltautor Dirk Maxeiner über der Kluge, der Geschichtsphilosoph unter den deutschen den Machbarkeitswahn der Klimaschützer...... 310 Autoren, zugleich erfolgreicher Filmemacher und Pro- Luftfahrt: Tödlicher Fehlstart in Taipeh ...... 314 duzent, überrascht mit einer über 2000 Seiten umfas- Seuchen: Neue BSE-Tote in England – Beginn des großen Sterbens? ...... 316 senden „Chronik der Gefühle“ – Novellen und Botanik: Kunstdschungel unter Riesenkuppel... 321 Gedankenskizzen, die das 20. Jahrhundert höchst sub- Tiere: 200-jährige Grönlandwale entdeckt...... 329 jektiv deuten. „Mich interessieren die Verfallserschei- A. POHLMANN Kultur nungen der Macht“, sagt Kluge im SPIEGEL-Gespräch. Kluge Szene: Konkurrenz der Girl-Groups / Jostein Gaarders neuer Roman ...... 333 Autoren: SPIEGEL-Gespräch mit Alexander Kluge über seine „Chronik der Gefühle“...... 336 Debatte: Reinhard Mohr über Leitkultur ...... 342 Kino: Spike Lees „Summer of Sam“ ...... 346 Die singende Jungfrau Seiten 196, 198 Karrieren: Comeback der Diva Ingrid Caven ... 350 Bestseller...... 350 Britney Spears, der neueste Pop-Superstar aus Amerika, hat eine Theater: „Arschkarte“ uraufgeführt...... 352 Lücke auf dem Musikmarkt entdeckt: Die singende Jungfrau im Baugeschichte: Streit um die bauchfreien Top, die betet, ihre Familie liebt und am liebsten Nazi-Siedlung Prora...... 356 Hot Dogs isst, bietet den moralischen Gegenentwurf zu Ma- Film: „Vergiss Amerika“ – donna oder Monica Lewinsky. Auch in Deutschland, wo ein eindrucksvolles Debüt...... 360 Interview mit der Regisseurin Vanessa Jopp ...... 362 Spears derzeit tourt, wird das saubere Mädchen aus der Pop: Neues vom Latin-Star Ricky Martin...... 364 Provinz von jugendlichen Fans als Idol verehrt. Warum es so schwer fällt, sich dem naiven Charme der Pop- Briefe...... 8 Lolita zu entziehen, beschreibt die Schriftstellerin Alexa Impressum...... 14, 368 Hennig von Lange, 27. Leserservice ...... 368 Chronik ...... 369 Register...... 370 D. SAMANNS / DDP D. SAMANNS Popstar Spears Personalien ...... 372 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 374

der spiegel 45/2000 7 Briefe

nern zu schlafen. Aber es bringt einfach nichts, denn im Zweifelsfall ist man allein „Die eindeutigen Gewinner des vor der Glotze, während die anderen am gesellschaftlichen Großexperiments verregneten Sonntag mit ihrem Partner im Bett frühstücken. „Emanzipation“ sind und waren München Moritz Jahn Therapeuten und Scheidungsanwälte. „In den achtziger Jahren“, schreibt die Au- Die absoluten Verlierer die Scheidungs- torin, „kamen dann Sonderpraktiken wie sadomasochistische Übungen in Mode.“ kinder. Und die führen nun wieder Sadomasochismus ist ebenso wie Homo- zusammen, was zu einer Familie gehört.“ sexualität kein Modetrend der siebziger, achtziger oder neunziger Jahre, sondern Eckhard Kuhla aus Gilching in Bayern zum Titel „Die neue Zweisamkeit“ in dieser Zeit lediglich sichtbarer geworden SPIEGEL-Titel 43/2000 – und dazu hat nicht zuletzt der SPIEGEL beigetragen. Berlin Kathrin Passig wenn man keinen Partner hat. Aber Im Zweifelsfall allein vor der Glotze es könnte doch auch daran liegen, dass Was bitte haben die von Ihnen vorgestell- Nr. 43/2000, Die neue Zweisamkeit: eine Beziehung eben in die Brüche ge- ten Protagonisten der neuen Zweisam- Sehnsucht nach der Beziehungsidylle gangen ist, dass der Richtige noch nicht keit mit der Realität des überwiegenden dabei war oder man – kaum zu glauben – Teils der Menschen hier zu Lande gemein- Dank für diesen informativen Artikel. im Moment wirklich keine Beziehung sam? Wer gehört denn schon zu den Pri- Gleichwohl gilt für Ehepaare und andere möchte. vilegierten, die nach dem Aufstehen brun- Paarkombinationen, was uns der Dichter München Katrin Landstorfer chen, golfen, tauchen und reiten gehen Beckett ins Stammbuch geschrieben hat: können? Die Analyse „Wo zwei sind, da ist auch schon der Zwei- Warum sind 80 Pro- des Artikels stimmt fel.“ Radikaler, poetischer auf den Punkt zent der Männer zehn insoweit, dass als Ge- gebracht hat es aber Jochen Laabs mit sei- Monate nach einer genpol zur immer käl- nem „Isländischen Liebesgedicht“: „Ich Trennung in neuer Be- ter und feindseliger bin der Bottich / Du drin der Hering / Und ziehung und nur 50 werdenden sozialen das Salz zwischen uns / ist die Liebe / die Prozent der Frauen Realität das Ideal ei- uns haltbar macht und zerfrisst.“ erst nach drei Jahren? ner funktionierenden Wiesbaden Winfried Kretschmer Die Frauen haben erst Zweisamkeit gesetzt mal keinen Bock mehr, wird – und deshalb Wenn du dran bist, wird die Liebe dich die Socken für einen zwangsläufig scheitern aufspüren wie eine Cruise Missile. Denn anderen zu waschen, muss. Ein besseres Ar- wenn du sagst: „Im Moment will ich sie die Männer brauchen gument gegen die Ehe aber nicht“, dann erwischt sie dich ganz si- die Bequemlichkeit, als die ständig wach- cher! Ja, ja, das Herz ist eine miese Ge- die eine Partnerschaft sende Zahl der ein- gend. ihnen bietet. schlägigen Beratungs- Köln Simon Rosell Vitoria (Spanien) stellen gibt es doch Steffi & Ole Nordmann wohl nicht. Wenn es eine Sehnsucht gibt, dann ist es Münster Günter Klemm die nach berauschendem Beischlaf ohne Dieser Artikel ist auf Aids und Anekdoten. Das ist jedenfalls Papier gebannte Rea- Dem in Ihrer Titelab-

das Resultat unserer Sex-Studie Deutsch- lität! Auch ich kenne AP handlung mit skepti- land 2001 (150000 befrage Personen), die das Bed-Hopping. Mit Langzeit-Paar Becker schem Unterton er- wir mit dem Buchtitel „Die impotente Ge- unzähligen Sexual- Das Herz ist eine miese Gegend wähnten, von Dean sellschaft“ in Kürze vorstellen werden. partnern Spaß haben, Ornish verfassten Band Deutschland im ausgehenden Jahr 2000 ist aber etwas Langfristiges …? Nicht in Sicht. „Die revolutionäre Therapie: Heilen mit ein Jammertal des Sex und ein Tränen- Genau das ist es aber, was man vermisst. Liebe“ dürfte trotz seines Aufsehen erre- areal, wo es um Gefühle geht. Gleichzeitig Das Problem ist, je länger man allein ist, genden Postulats nur ein eher einge- befinden wir uns im Zeitalter nicht auf- desto schwerer wird es, sich auf jemanden schränkter Neuigkeitswert zuzubilligen hören wollender Impotenz. Die Impotenz einzustellen. Früher hab ich gedacht, es ist sein: Gewahrte man doch bereits in der hat die Führerrolle in einer Gesellschaft das Beste, mit immer wechselnden Part- griechischen Antike diesen aufschluss- übernommen, der nichts mehr wichtig ist und die in den Medienauswüchsen von „Big Brother“ sich nicht an die Zeiten der Vor 50 Jahren der spiegel vom 8. November 1950 Big-Mother-Brust erinnert. Bürgermeisterwahl in der Kleinstadt Schnapsleichen und manipulierte Wegberg (Nordrh.-Westf.) Stimmzettel. Korruption und Drogen bei Entnazifizierungs-Sonder- Dr. Johann Wolfgang Krüll beauftragten Man will was vom Leben haben. Der Fall des Massen- mörders Pleil Tatort Zonengrenze. Waffen nach Indochina Mörser, Über Ihren Titelbericht zur neuen Zwei- Flaks und Panzer für Legionäre. Maos Truppen auf dem Weg nach Tibet Panik auf dem Dach der Welt. US-Ärzte befürworten künstliche samkeit habe ich mich sehr geärgert. Denn Befruchtung bei Sterilität Gemüse allein hilft nicht. „Das Missverständ- was ist das Fazit? Alleine ist man nichts nis“ von Albert Camus Furcht und Grauen in Stuttgart. wert, ein Leben ohne Partner scheint fast Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de nicht lebenswert. Darüber hinaus wird Titel: Irène Skorik, Münchens neue Primaballerina man als sozial inkompetent abgestempelt,

8 der spiegel 45/2000 Werbeseite

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Werbeseite Briefe reichen Zusammenhang; wie sonst könnte das Wort „therapeúein“ neben den hinlänglich bekannten noch weitere gar nicht so entlegene Bedeutungen, etwa im Sinne von „Auf- merksamkeit erweisen, freundlich behandeln“ oder auch „verehren, die- nen“ und „hochachten“, ja „um jemandes Gunst werben“, umfassen – ein- deutige semantische Hin- weise aus der Frühzeit des abendländischen Den- kens auf die Relevanz eines nunmehr so spekta- kulär präsentierten Sach- verhalts.

Burghausen (Bayern) BILDERDIENST ULLSTEIN Martin P. Kreutzhuber Deutsche Staatsoper Berlin: Zu viel Staatsknete

Um wirklich zufrieden und rundum glücklich in einer Partnerschaft leben zu können, muss Erfolg verdrängt? man vermutlich erst lernen, hochgesteckte Nr. 43/2000, Intendanten: Die bundesweite Krise der Ideale gegen die reale Welt einzutauschen. Musiktheater eskaliert Harrislee (Schlesw.-Holst.) Linus Jung Wenn es nicht so traurig wäre … Da tagt die „Deutsche Opernkonferenz“ tatsäch- Jahwe sei gelobt lich in Zürich!? Den Damen und Herren Nr. 43/2000, USA: scheint entweder immer noch zu viel be- Begeisterung über Joe Lieberman ziehungsweise wenigstens ausreichend Staatsknete zur Verfügung zu stehen … Henryk Broder hat mir die Ehre er- oder sie haben den Ernst der Lage immer wiesen, mich als „dienstältesten lin- noch nicht begriffen. In beiden Fällen: ken jüdischen Systemkritiker der weiter so, Herr Stölzl! USA“ zu apostrophieren. Broder sei Berlin Wolf-Rainer Bartknecht herzlich gedankt, aber ich erinnere mich an eine Reklame in den New In den öffentlichen Diskussionen um die Yorker U-Bahnen: Sie ,Strukturreform‘ der Berliner Opernhäu- zeigt einen Indianer- ser irritiert, dass die Existenz der Staats- häuptling, sichtlich oper Unter den Linden und der Deutschen vergnügt geräucher- Oper missverständlich als ein Ergebnis der tes Rindfleisch auf Berliner Teilung dargestellt wird. Es sollte Roggenbrot verzeh- dringend auf jene Traditionen hingewie- rend. (Corned beef sen werden, die beide Häuser lange vor on rye ist eine ost- dem Mauerbau als zwei voneinander un-

PHOTO RESPONSE PHOTO jüdische Delikatesse.) abhängige Institutionen in Berlin auswei- Birnbaum Darüber die Inschrift: sen. Die Staatsoper existiert bekanntlich „Man braucht nicht seit 258 Jahren, die Staatskapelle sogar seit jüdisch zu sein, um Levys Roggen- über 430 Jahren. Deutschland und Berlin brot zu verzehren.“ Man muss nicht haben die Pflicht, beide Häuser gleicher- Jude sein, um kritisch über unser maßen unabhängig voneinander zu erhal- System zu denken. Es genügt, ein ten und zu fördern. Bei der Staatsoper Un- Mindestmaß an Anstand zu besitzen – ter den Linden handelt es sich keineswegs und etwas von unserer Geschichte um eine „Kulturinstitution der ehemaligen zu verstehen. Die großen Systemkriti- DDR“, mit deren Identitätsverlust man sich ker im letzten Jahrhundert (Beard, im Fall der geplanten ,Strukturreform‘ ab- Dewey, Harrington, Mills, Murray, finden würde. Niebuhr) waren meistens keine Juden. Berlin Ralf Pleger Übrigens bin ich nicht mal der dienst- älteste linke jüdische Kritiker. Es Die Kritiker der Fachzeitschrift „Opern- gibt, SPIEGEL-Lesern wohl bekannt, welt“ haben jüngst nicht das Orchester der unseren säkularen Oberrabbiner, Nor- Oper Stuttgart, sondern mehrheitlich die in man Mailer, und etliche mehr. Jahwe der Staatsoper Unter den Linden behei- sei gelobt. matete Staatskapelle Berlin zum „Orches- Washington Professor Norman Birnbaum ter des Jahres“ gewählt. Die Stuttgarter Oper kann sich über mehrere andere Aus-

12 der spiegel 45/2000 zeichnungen der Zeitschrift freuen. Ver- mutlich hat Herr Umbach den Berliner Er- folg schlicht verdrängt, wo er doch immer so tapfer gegen ihn gekämpft hat. Berlin Dr. Stephan Adam Persönlicher Referent des Intendanten der Deutschen Staatsoper Berlin

Wie im Trickspiegel Nr. 43/2000, Reliquien: Wissenschaftler prüfen Turiner Jesus-Grabtuch

Selbst wenn es gelänge, den Nachweis zu erbringen, das Turiner Grabtuch stamme aus der Zeit, in der Jesus lebte und starb, wäre noch nicht bewiesen, dass er es war, der darin eingehüllt wurde. Alicante (Spanien) Gernot Förster

Im Turiner Grabtuch sehe ich eine, wie auch immer produzierte, Fälschung. Fol- gendes Experiment sollte überzeugen kön- nen: Der Ohr-zu-Ohr-Abdruck von einem realen Gesicht wird flach ausgelegt ver- breitert und damit wie in einem Trickspie- gel verzerrt aussehen, der Abdruck von ei- nem fotoähnlichen Relief wie ein Foto oder T. PETILLOT / SIPA PRESS / SIPA PETILLOT T. Turiner Grabtuch Von Ohr zu Ohr normales Spiegelbild oder eben wie das Bild auf dem Grabtuch. Da das Turiner Grabtuch wie ein Foto wirkt, ist seine Le- gende für mich nicht nachvollziehbar und aus ähnlichen oder gleichen Gründen wohl auch dem Vatikan nicht. Remscheid (Nordrh.-Westf.) Dirk Josteit

Wie erklären sich eigentlich die Grabtuch- Forscher, dass das Bild auf dem Tuch zwei- dimensional ist, wenn doch das Tuch um den Körper herumgewickelt gewesen sein soll? Christus wurde schließlich gekreuzigt (Markus 15, 22-39) und nicht mit der Dampfwalze überfahren. München Ralf Hensmann der spiegel 45/2000 13 Briefe

ren? Durch die wachsen- gierten Technikfeindlichkeit nun aber die de Verelendung werden Talente aus armen Ländern abzuschöpfen wiederum jene Massen ist purer Chauvinismus, noch Schlimmeres von minderqualifizierten der massenhafte Import fremder Arbeiter, Menschen in die Indu- gar ihre Germanisierung („Integration“). strieländer kommen, die Berlin Christine M. Pfeiffer dort gerade nicht ge- braucht werden. Mit ei- ner gerechten Weltwirt- Vom Schwanz her aufgezäumt schaftsordnung – ein Nr. 43/2000, Euro: Traum vergangener Zei- Wann geht Notenbankchef Duisenberg? ten – hat das alles nichts zu tun. Zur Vereinfa- Big an „Big Wim“ sind seine toupierte chung und noch schnel- Föhnfrisur und sein Mundwerk. Dazwi-

A. BASTIAN / CARO A. BASTIAN leren Reaktion auf die schen wenig Feingefühl im Hirn. Wieso ist Türkischer Gemüseladen in Berlin: Der falsche Weg? heimischen Markterfor- es ein Problem, ihn loszuwerden? „Un- dernisse sollte man auf fähigkeit“ heißt das Zauberwort. Damit Wahlen verzichten und die Unterneh- schafft man schon seit eh und je in der Pri- Sozialverträgliches Frühableben mensvertreter das Land regieren lassen. vatwirtschaft die Leute aus dem Verkehr, Hamburg Stephan Soder Nr. 43/2000, Einwanderung: selbst wenn sie weniger Schaden anrichten. Wie viele Ausländer braucht das Land? Ein Mann aus dieser Hierarchie wird selbst Die einen sehen die deutsche Zukunft mit dem Unfähigkeitsstempel wieder einen Der Artikel beschreibt das Problem der we- durch Fremde gefährdet und rufen „Aus- guten Job finden. Beispiele gibt es ja genug. niger werdenden Deutschen ausgezeichnet. länder raus“, die anderen fordern die kon- Campione (Tessin) Hans Stahl Nur bei den Lösungsvorschlägen wird aus- trollierte Einfuhr nützlicher Ausländer, weil schließlich die Einwanderung betrachtet. sie glauben, damit Deutschlands Zukunft Ein zweiter Weg, der gemeinsam mit der zu sichern. Beides ist Rassismus … Einwanderung begangen werden muss, ist Lengerich (Nordrh.-Westf.) die Umwandlung der Gesellschaft in eine Alexander Reisenhofer kinderfreundliche Gesellschaft. Frauen müs- sen in die Lage versetzt werden, trotz Kind Vorsicht, die Prognose von einem „Aus- arbeiten gehen zu können. Zurzeit werden sterben“ der Deutschen ist Wasser auf üble unter dem Einfluss der CDU – siehe Land rechtsradikale Mühlen. Eines der am dich- Brandenburg – die Kinderbetreuungszeiten testen bevölkerten Länder ist kein „Raum in Kitas drastisch reduziert, eine arbeitslo- ohne Volk“, wenn Deutschland, das vor

se Frau bekommt keinen Kita-Platz und so zehn Jahren 16 Millionen Neubürger auf- DPA weiter. Das ist genau der falsche Weg. nahm, in 50 Jahren wieder auf den alten Europäische-Zentralbank-Chef Duisenberg Berlin Harald Mencke Stand schrumpft. Übrigens käme eine hal- Wenig Feingefühl be Million neuer Menschen jährlich auch „Raum ohne Volk?“ Nicht Jakutien ist ge- zu Stande, wenn man Kinderreiche und Nicht Herr Duisenberg ist das Problem – meint, auch nicht Alaska – um Deutschland allein Erziehende nicht mehr in die Armut das Problem besteht darin, dass es diesem geht es, um unsere überbevölkerte, zube- stürzt. Der Lebensstandard hängt gar nicht hochintelligenten Professor aus den Nie- tonierte Heimat, die offenbar nach poli- von der Zahl der Arbeitskräfte ab, sondern derlanden langsam dämmert, dass der Euro tisch korrekter Konsensmeinung Zuwan- von deren Produktivität, sonst wäre China so nicht funktionieren kann. Das Pferd derung braucht. Die Wirklichkeit sieht an- das reichste Land. Zuwanderung wünscht wurde vom Schwanz her aufgezäumt: ders aus: Weder ich noch meine Kinder sich die lohndrückende Industrie, und die In hoch entwickelten Volkswirtschaften brauchen „Zuwanderung“, sondern dieje- Regierenden möchten derart ihre Ver- kann eine Einheitswährung nur funk- nigen, die auf der globalen Suche nach säumnisse in der Bildungs- und Beschäfti- tionieren, wenn eine einheitliche Wirt- „Human Resources“ zynisch mit dem Ef- gungspolitik vertuschen. Nach der propa- schafts-, Finanz- und Sozialpolitik vor- fekt kalkulieren, dass sich die arbeitende handen ist. Nichts davon ist in Europa Bevölkerung durch die Drohung mit dem in Sicht. lrgendwann wird Herr Duisen- Import hoch motivierter, anspruchsloser berg aus seinem Herzen auch keine Mör- Arbeitskräfte zunehmend unter Druck set- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dergrube mehr machen wollen und uns dieser Ausgabe für Panorama, Verkehr, Zuwanderung, CDU, NPD- zen lässt. So wird Ausbeutung effektiviert! Verbot (S. 30), Bundestag, Europaparlament, Green Card, Haupt- diese Erkenntnis mitteilen. Vorher muss Also: Schnauze halten, um nicht als Rechts- stadt, Freiwillige, SPD, Jugend, Chronik: Dr. Gerhard Spörl; für er nur noch als Zentralbankchef zurück- NPD-Verbot (S. 29), CDU Hessen, CSU, Gesundheit, Bürgerrecht- extremist diffamiert zu werden, und zäh- ler, Terrorismus, Abschiebung, Kriminalität, Verbrechen, Drogen: treten. neknirschend weiterackern bis zum sozial- Ulrich Schwarz; für Trends, Geld, Musikindustrie, Sozialstaat, Soft- Hamburg Dominic Graf Bernstorff ware, Banken, Konkurse, Berufe, Online-Journalismus, Digital-TV: verträglichen Frühableben! Gabor Steingart; für Affären, Panorama Ausland, Titelgeschichte, Neumarkt (Bayern) Günter Haustein Kosovo, Europa, Spanien, Frankreich, Türkei, Zeitgeschichte: Hans Hoyng; für Fernsehen, Literaturverfilmung, Szene, Jugendidole Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- (S. 198), Frauen, Autoren, Debatte, Kino, Karrieren, Bestseller, Theater, Baugeschichte, Film, Pop: Susanne Weingarten; für Wett- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Durch ein Einwanderungsgesetz werden kämpfe, Tennis: Alfred Weinzierl; für Die Welt im 21. Jahrhundert: Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] erst die Probleme verschärft, die man zu lö- Jürgen Petermann; für Prisma, Klima, Luftfahrt, Seuchen, Botanik, Tiere: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Brie- sen vorgibt. Wenn die hoch qualifizierten fe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Menschen aus den armen Ländern in einem Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Karl- In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet gnaden- wie endlosen Konkurrenzkampf Heinz Körner (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) sich in der Heftmitte ein Beihefter der Firma Loewe Opta, der Industrieländer untereinander abge- TITELBILD: Illustration Robert Rodriguez für den SPIEGEL Krobach. Eine Teilauflage enthält einen Beikleber der Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Frankfurter Rundschau, /Main, sowie des SPIE- worben werden, wie soll sich dann der wei- Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme in elek- tronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfälti- GEL-Verlag/Abo, Hamburg. In einer Teilauflage dieser terhin bestehende Trend der Verarmung gungen auf CD-Rom. SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen Schöffel, der ohnehin armen Länder jemals umkeh- Schwabmünchen, und ars mundi, Hannover.

14 der spiegel 45/2000 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland

CDU Abfuhr für Schäuble inen Dämpfer hat das Verhältnis zwi- Eschen Wolfgang Schäuble und seiner Nachfolgerin im CDU-Vorsitz, Angela Merkel, bekommen. Anlass sind Überle- gungen Schäubles, im kommenden Früh- jahr den Vorsitz der CDU-nahen Konrad- Adenauer-Stiftung zu übernehmen. Der frühere Parteivorsitzende habe seiner Nachfolgerin Merkel eine Reihe unan- nehmbarer Bedingungen gestellt, berich- ten übereinstimmend Mitglieder des Stif- tungsvorstands. So soll Schäuble verlangt haben, dass Vertraute von Altkanzler Helmut Kohl wie der frühere Kanzler- amtsminister Anton Pfeifer sowie Kohl selbst aus den Stiftungsgremien ver- schwinden. Merkel lehnte dies ab. Bedenken gegen Schäuble bestehen

außerdem, weil der Ausgang möglicher DPA Ermittlungen wegen uneidlicher Falsch- Schäuble, Merkel, Zentrale der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin bei Bonn aussage im Zusammenhang mit einer 100000-Mark-Spende des Geschäftsmannes Karlheinz Schreiber nach wie vor ungewiss ist. Schreiber ließ inzwischen über seine Anwälte die Staatsanwaltschaft auffordern, gegen Schäuble zu ermitteln. Nachdem er mit seinem Vorstoß bei Merkel gescheitert sei, heißt es in der CDU, strebe Schäuble nun den Vorsitz der Europäischen Volkspartei (EVP) an. Den hat derzeit der frühere belgische Premier Winfried Martens inne. Bei der Neuwahl 2002 könnte Schäuble für den Vorsitz kandidieren, um dann aus dem konservativen Samm- lungsbündnis eine echte europäische Partei zu machen. Doch auch hier ist der Konflikt mit seinem Vorgänger und Erzrivalen Kohl programmiert. Wie Schäuble sucht auch Kohl sein politisches Wir- kungsfeld vornehmlich auf europäischer Ebene. Erst kürzlich traf er sich mit Martens. H. LOHMEYER / JOKER H. LOHMEYER

GESUNDHEIT vor der Bundestagswahl den Wählern kariert.“ Auch die positive Wirkung die Stimmung zu vermiesen. In einem der Steuerreform werde beeinträchtigt. Kasse droht Kanzler Brief an das Kanzleramt schreibt AOK- Bereits zum Januar dieses Jahres hat Chef Roland Sing, es müsse davon aus- die AOK Baden-Württemberg ihren ie AOK Baden-Württemberg droht gegangen werden, dass die Beitragssät- Beitragssatz um einen halben Prozent- DBundeskanzler Gerhard Schröder, ze spätestens im Herbst 2001 um min- punkt auf 13,5 Prozent des Brutto- mit Beitragserhöhungen rechtzeitig destens einen halben Prozentpunkt stei- arbeitslohns erhöht. gen würden. Die Gesundheitspolitik, wetterte Sing in Interviews, habe „den Geburtsfehler, dass dabei keine wirksame Kostenbegrenzung vorgese- Zitat hen“ sei. Der AOK-Chef kritisiert un- ter anderem die von der Bundesregie- „Da müsste man auch das rung geplante Kürzung von Kassen- Auto verbieten.“ beiträgen für Arbeitslosenhilfe-Emp- Der hessische FDP-Fraktionsvorsitzende fänger. „Mit der Beitragserhöhung“, Jörg-Uwe Hahn in einer Landtagsdebatte so Sing an den Kanzler, „würden die zum NPD-Verbot, in der ein Grüner daran nachhaltig zu unterstützenden Bemü- erinnert hatte, dass bereits etwa hundert Menschen durch rechtsextreme Gewalt P. ALBAUM / JOKER ALBAUM P. hungen der Bundesregierung, die getötet wurden AOK-Werbefahne Lohnnebenkosten zu senken, konter-

der spiegel 45/2000 17 Panorama

SPENDENAFFÄRE einem Pfand von 50 Untersuchungsausschuss Pfennig belegen will, möchte es bei Einweg- in Bayern? flaschen zahlreiche Ausnahmen zulassen. m bayerischen Landtag wird es mögli- Das jedenfalls geht Icherweise bald einen Untersuchungs- aus einem internen ausschuss zur Spendenaffäre um den Arbeitspapier des Um- Geschäftsmann Karlheinz Schreiber ge- weltministeriums zur ben. Die Fraktionen von SPD und Grü- Novelle der Ver- nen lassen derzeit Material zusammen- packungsverordnung tragen und prüfen, wie der Untersu- hervor. chungsauftrag definiert werden könnte So soll der Käufer von und welche bayerischen Belange der Flaschenweinen eben- Affäre vom Berliner Parteispendenaus- falls ein Pfand ent- schuss nicht abgedeckt werden. Dabei richten, aber nicht auf

würden sich die Nachforschungen nicht APIX alle: Ausgenommen nur mit Verstrickungen prominenter Spirituosen im Supermarkt sind „Perl-, Schaum-, CSU-Mitglieder in den Schmiergeld- Wermut- und Dessert- skandal befassen. Im Mittelpunkt soll UMWELT weine“. Nach den Vorstellungen des die Einflussnahme der Generalstaats- Ministeriums dürfen neben Schampus- anwaltschaft München auf das Ermitt- und Schnapstrinkern auch Kaffee- lungsverfahren in Augsburg stehen. Kein Pfand genießer ihrer Neigung weiter pfand- Durch Interventionen wurden Durch- frei nachgehen. Es gelte zu verhindern, suchungen verhindert und die Voll- dass Sekt und Spirituosen sowie „Kon- streckung von Haftbefehlen verzögert. auf Schnaps densmilch, Kaffeesahne und ähnliches Auch die Rolle des bayerischen Justiz- von der unmittelbaren Pfandpflicht ministeriums will die Opposition unter- ei seinen Plänen für ein Pfand erfasst werden“, heißt es in dem Pa- suchen. Von ihren rot-grünen Parteikol- Bauf Einwegverpackungen („Dosen- pier. legen im Bundestag waren die Bayern in pfand“) verstrickt sich das Bundes- Grund: Pfand wird nur dort erhoben, den vorigen Wochen mehrfach aufgefor- umweltministerium zunehmend in bü- wo eine umweltfreundliche Alternative dert worden, tätig zu werden. Mitte die- rokratische Widersprüche. Während es – etwa Mehrwegflaschen – besteht. Die ses Monats reist deshalb eine Delegation künftig alle Getränkedosen, gleichgültig gibt es aber zu Sekt- oder Schnaps- der bayerischen Grünen zum Informati- ob sie Bier oder Cola beinhalten, mit flaschen nicht. onsaustausch in die Bundeshauptstadt.

FUTTERMITTEL JUSTIZREFORM Vitamine Schweigende Mehrheit mit Dioxin ie rot-grün regierten Länder wollen Dihren Widerstand gegen die geplan- eue Dioxin-Fälle be- te Justizreform offenbar aufgeben. Bei Nlasten die Futtermittel- der Abstimmung im Rechtsausschuss branche. Deutsche Kon- des Bundesrats stimmten nur noch die trolleure wiesen große von der Union sowie die rot-schwarz Mengen der hochgiftigen und sozial-liberal regierten Länder ge- Umweltchemikalie in Vita- gen die von Justizministerin Herta min-Mischungen für Nutz- Däubler-Gmelin geplante Straffung der

und Heimtiernahrung BERMES / LAIF Zivilprozesse – die SPD-Länder enthiel- nach. Der in Belgien her- Rinder-Fütterung ten sich oder stimmten dafür. Bisher gestellte Grundstoff (Cho- hatte sich Nordrhein-Westfalen zusam- linchlorid) war in Spanien weiterverar- gen aus dem Verkehr gezogen“ worden. men mit anderen Flächenländern wie beitet und nach Deutschland exportiert Teilweise „sehr hohe Dioxin-Gehalte“ Bayern und Baden-Württemberg vor al- worden. Das spanische Unternehmen spürten die deutschen Kontrolleure lem dagegen gewehrt, dass in Zukunft setzte der Futtervormischung Sägemehl auch in Kupfer- und Zinkverbindungen auch kleinere Fälle in zweiter Instanz zu, das mit dem Holzschutzmittel aus Korea und der Türkei auf. Solche nicht mehr vor die Landgerichte, son- Pentachlorphenol (PCP) verseucht war Stoffe werden Futtermitteln zum Bei- dern vor die Oberlandesgerichte kom- und deshalb auch Dioxin-Spuren ent- spiel für Kälber, Schafe und Schweine men sollen. Das würde für die Bürger hielt, so die bisherige Erkenntnis des als Spurenelemente beigemischt. Die längere Wege bedeuten. Nun schwieg Ständigen Ausschusses für Tierernäh- US-Umweltbehörde Epa warnt unter- NRW sogar bei den eigenen Anträgen; rung der EU. Dem Bundeslandwirt- dessen vor Zinkzusätzen aus China, die eine Mehrheit gegen die Reform ist bei schaftsministerium zufolge sind inzwi- mit den giftigen Schwermetallen Cadmi- der Schlussabstimmung diesen Freitag schen „die hochbelasteten Vormischun- um und Blei verseucht sein können. nicht mehr zu erwarten.

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FDP im Vergleich zu 1999 schon um 700000 Mark reduzierte Spendenziel von etwa Kassenwart einer Million Mark für 2000 verfehlt die FDP voraussichtlich weit. Spitzenlibera- verliert Kredit le kritisieren besonders, dass sich Thiele gern vor Treffen mit möglichen Mäze- arl-Ludwig Thiele, Bundesschatz- nen aus der Wirtschaft drücke und die Cmeister der FDP, gerät in seiner lästige Pflicht stattdessen seinem Bevoll- Partei unter Druck. Hochrangige Libe- mächtigten Walter Eschweiler überlasse. rale halten ihn für eine Fehlbesetzung Seinen Vorgänger vergrätzte Thiele, als und drängen auf sein Ausscheiden. Für er den Kontakt zu einem sechsköpfigen diesen Montag haben Hermann Beraterteam abbrach, das Solms Otto Solms, Klaus Kinkel, Gün- mühsam aufgebaut hatte. ter Rexrodt sowie Bundesge- Als Wunsch-Nachfolgerin für schäftsführer Hans-Jürgen Beer- Thiele wird in Führungskreisen feltz nun ein Krisengespräch mit bereits die ehemalige Schatz- dem Kassenwart angesetzt. Par- meisterin Irmgard Schwaetzer teiobere werfen ihm Versagen gehandelt. Sie könnte, falls beim Spendeneintreiben vor. In Thiele nicht vorher zurücktritt, den ersten sechs Monaten seiner den glücklosen Osnabrücker al- Amtszeit schaffte Thiele gerade lerdings erst im nächsten Mai mal 270000 Mark für die klamme beim Parteitag in Düsseldorf ab- Parteikasse heran, nur halb so lösen. Offen ist jedoch, ob

viel wie Vorgänger Solms im OSSENBRINK F. Schwaetzer für den Posten be- vorangegangenen Halbjahr. Das Thiele reitstünde.

VERKEHR ler in Zusammenarbeit mit dem BASF- Konzern entwickelt hat. 2004 soll der Öko-Auto-Kanzler Necar 5, der seinen Kraftstoff Wasser- stoff aus Methanol gewinnt, auf den it einer „Weltpremiere“ soll die Markt kommen; ein Stadtbus auf Mvon Bundeskanzler Gerhard Brennstoffzellenbasis soll schon 2002 Schröder (SPD) als Antwort auf den ge- ausgeliefert werden. stiegenen Ölpreis geforderte „Techno- Kanzler Schröder plädiert für eine logie-Offensive“ eingeleitet werden. neue Energiepolitik „im engen Schul- Am kommenden Dienstag will der terschluss mit der Wirtschaft“. Die Kanzler gemeinsam mit DaimlerChrys- Entwicklung der Brennstoffzelle und ler-Chef Jürgen Schrempp in Berlin das Energie sparender Technologien könne abgasarme Brennstoffzellen-Auto „Ne- den deutschen Unternehmen einen car 5“ präsentieren, das DaimlerChrys- immensen Zukunftsmarkt erschließen. W. KNAPP / THEMA W. Brennstoffzellen-Forschung bei DaimlerChrysler

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Am Rande Kippende Pinguine in ordentlicher Krieg hat Eauch sein Gutes. Nehmen wir zum Beispiel den Falkland- krieg zwischen Großbritannien und Argentinien 1982. Der hat der FOTOS: I. GOROVENKO FOTOS: Wissenschaft ein neues Rätsel Ehemaliges US-Militärlabor, Betts-Siedlung beschert: Seit damals berichten ALTLASTEN geführt worden, so die US-Militärs. britische Mili- Nach dem Abzug der Truppen 1995 tärpiloten, dass Giftgas in Frankfurt gingen die Gebäude in deutsche Hände die Pinguine, über. Die Behörden erhielten nach die den Haupt uf einem ehemaligen US-Militär- Auskunft des Frankfurter Umweltamts Agelände in Frankfurt am Main ist die Information, in dem Bau sei ein bevölkerungs- eine brisante Altlast aufgetaucht. Ein „Kriminallabor“ gewesen. anteil auf den komplettes Gebäude, das demnächst Der heutige Eigentümer, die Firma Falklands stel- abgerissen werden soll, diente nach in- Sahle mit Sitz in Greven bei Münster, len, immer umkippen, wenn sie offiziellen Angaben amerikanischer Mi- bekam nach Angaben des Geschäfts- litärs als Labor einer geheimen Abtei- führers Eckart Vogler beim Kauf ledig- mit dem Hubschrauber überflo- lung für chemische Kriegführung. In lich den Hinweis, es handele sich „um gen werden. Die neugierigen Tie- dem streng abgeschirmten Bau, der zur ein CIA-Gebäude“. Voglers Firma will re legen den Kopf so weit in den Betts-Militärsiedlung gehörte, seien das Gelände räumen und dort eine Nacken, bis Schwerkraft und Tierversuche mit Kampfgasen durch- Wohnsiedlung errichten. Schwerpunkt sie auf den gefie- derten Hintern fallen lassen. Nun sind damals auch Argenti- SCHULE sechs Monate oder länger im Ausland. nier umgefallen, was ebenfalls mit „Wir wollen den Anteil auf über fünf Verschickung ins Prozent anheben“, sagt Bildungsminister dem Erscheinen der britischen Steffen Reiche (SPD). Er hat bereits Truppen zusammenhing, aber in Ausland mehrere Sparkassen und Banken hinter England kaum jemanden wirklich sich, die mit günstigen Zinssätzen Eltern störte, weil genau das ja auch der m Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit dafür gewinnen wollen, für Auslands- Iplant Brandenburgs Bildungsministe- aufenthalte ihrer Kinder zu sparen. Au- Sinn der ganzen Aktion gewesen rium einen bundesweit einmaligen Mo- ßerdem haben sich Banken und deren war. Zudem hat ein uniformierter dellversuch: das elterliche „Bildungsspa- Stiftungen bereit erklärt, Stipendien aus- Argentinier einen weitaus gerin- ren“ für Schulaufenthalte im Ausland. zuloben. Von den Bewerbern wird laut geren Drolligkeitsfaktor als ein Bislang verbringen weniger als ein Pro- einer Ministeriumsvorlage „religiöse und zent aller brandenburgischen Schüler ethische Toleranz“ erwartet. befrackter Pinguin. Jetzt sollen die Kollateralschäden Nachgefragt unter den Pinguinen wissen- schaftlich untersucht werden. Bri- Zu Hause bleiben gegen rechts tische Verhaltensforscher ziehen los, um die Falkland-Pinguine Am 9. November sind Demonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit testhalber noch einmal flachzule- und Antisemitismus geplant. Was halten Sie davon? gen – und um der Frage nachzu- weiß nicht/ist mir egal Ich halte eine Demonstra- gehen, ob die Tiere sich womög- tion für eine gute Idee, lich gestört fühlen. Man muss sich Ich werde selbst an einer 3% West 3/Ost 2 werde selbst aber nicht Demonstration teilnehmen. in das Wesen eines Pinguins nicht 5%West 4/Ost 7 daran teilnehmen. Eine Demonstration ist mal gut einfühlen können, um 8%West 8/Ost 8 doch nur Heuchelei. 68% diese Frage rundheraus mit Ja be- West 67/Ost 70 antworten zu können. Dazu be- Ich halte nichts von dem 16% darf es wohl kaum der Wissen- Ziel der Veranstaltungen. West 17/Ost 13 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 31. Oktober und schaft. Und bevor einer fragt: Für 1. November; 1000 Befragte die Argentinier gilt dasselbe.

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DEUTSCHE BAHN Die Milliarden-Katastrophe Anstatt Erfolg versprechend an die Börse fährt die Deutsche Bahn AG in die roten Zahlen. Um bis zu 17 Milliarden Mark verfehlt der Staatskonzern bis 2005 seinen Plan. Güterverkehr, Transitreisen und Urlauber führen zugleich zu immer neuen Rekord-Blechlawinen.

iel zu früh landete Verkehrsminister Reinhard Klimmt mit starkem VRückenwind aus Berlin in Stuttgart. Bis zur feierlichen Eröffnung eines Teilab- 4000 Grob verschätzt 4220 schnitts der Bundesstraße 14 in der Lan- Gewinnerwartungen für die Deutsche Bahn AG bis 2004 deshauptstadt in der vergangenen Woche in Millionen Mark blieb noch eine gute halbe Stunde Zeit. 3000 Kurz entschlossen inspizierte der Minis- ter bei einem Spaziergang seinen Aufga- 2332 benbereich – und erschrak: Auf einer neu 2000 Planzahlen von 1999 gebauten, zweigleisigen Bahnstrecke „tat 1614 sich binnen 30 Minuten null Komma 1000 1228 1214 nichts“, erzählt Klimmt, „während neben- dran der Autoverkehr toste“. 550 240 Das Aha-Erlebnis des Ministers ist für 0 Millionen Bürger seit Jahren tägliche Er- –837 –1000 –995 * Auf einer Lok beim internationalen Bahngipfel „rail tec –1250 2000“ in Dortmund. L. JARDAI / MODUS Planzahlen von 2000 Quelle: Bundesverkehrsministerium –2000 2000 2001 2002 2003 2004 Klimmt, Mehdorn* Herbe Verluste fahrung. 95 Kilometer Stau auf der A3 zwi- schaftlichen Ermittlungen gegen ihn. We- 2004 soll dann, mit einem Profit von 240 schen Frankfurt und Würzburg, jahrelange gen zweifelhafter Aktionen zu Gunsten des Millionen Mark, die Wende geschafft sein. Kanalbauarbeiten in Hamburg, sieben Stun- 1. FC Saarbrücken in den neunziger Jahren Wahrscheinlich aber muss sich Klimmt den Verspätung im ICE von Nürnberg nach droht dem ehemaligen Club-Präsidenten noch auf Schlimmeres gefasst machen, München: Während Autos und Lkw die Klimmt ein Strafbefehl in Höhe von rund denn bei der Bahn, deren Bestandsauf- Straßen verstopfen, fahren Züge oftmals gar 90 Tagessätzen. Bliebe das Gericht unter 91 nahme noch nicht abgeschlossen ist, kur- nicht oder verspätet. Die mobile Gesell- Tagessätzen – und Klimmt mithin verschont sieren derzeit noch viel drastischere Zah- schaft ist erstarrt: Deutschland steht im Stau von einem Eintrag in seinem polizeilichen len: Danach kämen auf das Unternehmen – oder wartet auf den nächsten Zug. Führungszeugnis –, müsste er, obgleich poli- 2001 Verluste von 1,5 Milliarden Mark zu, Besserung ist nicht in Sicht. Am Mitt- tisch angeschlagen, wohl nicht ernsthaft die in den beiden Folgejahren auf je zwei woch dieser Woche wird Klimmt im Kabi- um sein Amt fürchten. Milliarden Mark steigen sollen. 2004, wenn nett einen Verkehrsbericht vorlegen, der Große politische Sorgen macht ihm der- Klimmt schon mit Gewinnen rechnet, wür- das Ausmaß der Misere nur schlecht ver- zeit ohnehin eher die Bahn mit ihrem ak- den demnach nochmals über 900 Millio- hüllt: Es wird noch enger auf deutschen tuellen Finanzdesaster. nen Mark Miese anfallen; erst in fünf Jah- Straßen, und die Bahn fällt als attraktive Dabei schien alles so gut anzufangen, ren wäre dann die Wende geschafft. Alternative weitgehend aus. als Hartmut Mehdorn im Dezember 1999 Längst hat sich Mehdorn von den Ver- Der Horror steckt in ministeriellen Zah- DB-Chef wurde. Auch mit Hilfe der Expo antwortlichen aus jener Zeit getrennt. Zwei lenkolonnen, auf 120 Seiten Papier. Den sollte der Gewinn für 2000 auf über eine Männer aber sind seit Jahren im Amt: Fi- Prognosen zufolge rauscht die nächste Stei- Milliarde Mark steigen, der Börsengang nanzvorstand Diethelm Sack und Marke- gerungswelle des Güterverkehrs an: Im 2004 dem Bund Milliarden in die Kasse tingchef Klaus Daubertshäuser, der bis vor Jahr 2015 werden rund 60 Prozent mehr spülen. Im Überschwang bezogen Meh- kurzem den Nahverkehr leitete. Beide wer- Güter über die Straße rollen als noch 1997. dorns Mannen neue Büros im Sony-Tower den wohl, heißt es nun im Unternehmen, Zusätzlich sorgen Urlaubsreisen und Tran- am Potsdamer Platz, einer der teuersten die Bahn verlassen müssen. sitfahrten durch die Republik für eine Immobilien Berlins. Der angestrebte Börsengang für 2004 Blechlawine, die das Land nur schwer ver- „Ich fühle mich in der Rolle eines Pia- rückt so oder so in weite Ferne. Schnelles kraften dürfte. nisten“, hatte der neue Chef geschwärmt: Handeln tut deshalb Not, um die Bahn zu Nicht genug damit, muss Klimmt im Ka- „Der muss zunächst das Klavier stimmen, retten. Regierungsvertreter nennen bedrü- binett dramatische Nachrichten aus der dann seine Noten zurechtlegen und ckende Mängel im Nah- und Güterverkehr. ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN DPA BONN-SEQUENZ / ULLSTEIN BILDERDIENST BONN-SEQUENZ / ULLSTEIN

Größter Verlustbringer der Bahn ist das Schie- Güterzüge sind meist über 30 Jahre alt und In 15 Jahren rollen Schätzungen zufolge 60 nennetz. Mehrere Milliarden Mark sollen nun fahren mit durchschnittlich 18 km/h durchs Prozent mehr Güter über die Straße als in Gleis- und Signalanlagen investiert werden. Land. Im IC-Kurierdienst geht es schneller. noch 1997. Die Bahn schafft kaum Abhilfe.

Konzernzentrale der Deutschen Bahn AG schließlich darauf achten, dass er die rich- Größter Verlustbringer allerdings ist das (DB) berichten: An Stelle der erwarteten tigen Töne anschlägt.“ Schienennetz – es ist flächendeckend über- Gewinne von insgesamt über zehn Milli- Diese Träume endeten in den vergange- altert und reißt den ganzen Konzern nieder. arden Mark bis 2004 wird der Konzern in nen Tagen mit schrillen Missklängen. Sel- Rund die Hälfte der 32000 Eisenbahn- den kommenden drei Jahren herbe Verlus- ten zuvor ist ein Unternehmen so hart ab- brücken stehen, vor allem in der Provinz, te machen. Unter dem Strich ergibt sich gebremst worden wie nun die Deutsche über 75 Jahre, zwei Drittel der 740 Tunnel laut Klimmt für die Zeit bis 2005 eine Plan- Bahn. Die der Regierung jetzt vorliegenden wurden schon im 19. Jahrhundert gebaut, abweichung von bis zu 17 Milliarden Mark. Zahlen zeigen das Ausmaß des Desasters. und auch die Stellwerke, mit denen die „Das Ergebnis ist eine Katastrophe“, räumt Die geplanten DB-Gewinne erweisen Weichen gesteuert werden, sind häufig ur- Klimmt ein (siehe Interview Seite 24). sich größtenteils als Phantasieprodukt. So alt; manche stammen aus der Epoche von Beton kennzeichnete buchstäblich die hatte das ehemalige Bahnmanagement für Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ deutsche Verkehrspolitik in der Bonner 2000 einen Profit von 1,2 Milliarden Mark und werden noch über Seilzüge gesteuert. Republik. Rot-Grün wollte die Wende hin erwartet, der jährlich steigen und 2004 die Weil in der Vergangenheit die milliar- zum fairen Wettbewerb zwischen den Ver- Traummarke von 4,2 Milliarden Mark er- denschweren Investitionen zu wenig in den kehrsträgern – bis heute ein leeres Ver- reichen sollte (siehe Grafik). Bestand gesteckt wurden, sind Gleise und sprechen. Anstatt einer steil ansteigenden schwar- Fuhrpark hoffnungslos ausgeleiert: Loko- Klimmt muss sich derzeit mit anderem zen Gewinnkurve zieht Klimmt für die Bahn motiven und Waggons im Güterverkehr beschäftigen. Denn in Kanzleramt und Mi- nun eine tief rote, abfallende Linie; von 2001 zuckeln, bei einem Durchschnittstempo nisterium warten die Verantwortlichen die- bis 2003 fallen Verluste von jährlich über von 18 km/h, größtenteils schon seit 30 bis se Woche auf das Ende der staatsanwalt- 800 Millionen bis 1,2 Milliarden Mark an. 40 Jahren über die Gleise. Das Durch-

der spiegel 45/2000 23 Deutschland „Wirklich das letzte Mal“ Verkehrsminister Reinhard Klimmt über neue Milliardenlöcher bei der Deutschen Bahn AG und den angestrebten Börsengang

SPIEGEL: Herr Klimmt, bei der Deut- ackern, um die Plandaten möglichst zu SPIEGEL: … dafür verstopfen umso schen Bahn AG haben sich neue Mil- verbessern. mehr Lkw die Autobahnen. Müssen liardenlöcher aufgetan. Wie kommt’s? SPIEGEL: Wie konnte es denn zu solch Sie nicht faire Wettbewerbsbedingun- Klimmt: Die finanzielle Situation des gewaltigen Abweichungen in den Kal- gen zwischen Schiene und Straße er- Unternehmens ist äußerst problema- kulationen kommen? möglichen? tisch. Genau genommen ist das Ergeb- Klimmt: Da gibt es viele Gründe. Die Klimmt: Wir haben bei den Investiti- nis der bahninternen Bestandsaufnah- früher Verantwortlichen im Unterneh- onsmitteln für Straße und Schiene erst- me eine Katastrophe, die wir nun be- men und beim Bund haben wohl aus malig im Haushalt 2001 gleichgezogen, wältigen müssen. politischen Gründen manche Zahlen so wie es in der Koalitionsvereinbarung sehr optimistisch eingesetzt – um die angepeilt war. Nun muss die Bahn sich Bahnreform wirklich durchzubringen. verstärkt anstrengen, um wirtschaftlich Später haben dann die Bahner in Teil- zu arbeiten und alle Rationalisierungs- bereichen die Wirklichkeit ignoriert. reserven auszuschöpfen. Leere Züge SPIEGEL: Einige langjährige Führungs- sind weder ökologisch noch ökono- kräfte sind immer noch im Amt, so der misch vernünftig. Wer in die letzte Ecke Finanzvorstand Diethelm Sack. War- der Republik zusätzliche Gleise legen um drängt der Bund nicht auf perso- will, kann so ein Minusgeschäft nicht nelle Konsequenzen? der Bahn aufhalsen. Klimmt: Ich bin nicht im operativen Ge- SPIEGEL: Flitzen Sie auch so gern im schäft der Bahn tätig. Vorstand und Sportwagen durch die Lande wie der Aufsichtsrat müssen jetzt nach der Dia- Grüne Rezzo Schlauch?

BECKER&BREDEL / ACTION PRESS BECKER&BREDEL / ACTION gnose die Therapie entwickeln. Meh- Bahnreformer Klimmt dorns Verdienst ist es, die Wahrheit auf „Alle müssen ackern“ den Tisch gelegt und mit den Illusionen aufgeräumt zu haben. SPIEGEL: Konzernchef Hartmut Meh- SPIEGEL: Kann der Bund erneut der dorn wollte das Unternehmen bis 2004 Bahn aufhelfen? für die Börse fit machen. Ist der Plan Klimmt: Wir bemühen uns nach Kräften, noch realistisch? aber die Bundesregierung ist keine Klimmt: Eindeutig nein, dieser Plan ist Gelddruckmaschine. Ich darf daran er- vom Tisch. Die Hoffnung, im Jahr 2004 innern, dass wir die Bahn mit insge- eine Bahn mit glänzenden Gewinnper- samt 34 Milliarden Mark im Haushalt spektiven an die Börse bringen zu kön- stehen haben – das reicht schon bald nen, hat sich als Kinderglaube erwie- an den Verteidigungsetat heran. Die sen. Wann ein Börsengang der Bahn Bahnreform zielte auch darauf ab, die möglich sein wird, lässt sich seriös zur- Belastungen des Bundeshaushalts auf zeit nicht sagen. ein vernünftiges Maß zu reduzieren … SPIEGEL: Was hat die Bestandsaufnahme SPIEGEL: … tatsächlich müssen Sie im- konkret ergeben? mer wieder nachschießen, demnächst Klimmt: In den Planungen bis zum Jahr sechs Milliarden Mark aus den UMTS- 2005 fehlen entgegen dem ursprüngli- Zinsersparnissen. chen Szenario bis zu 17 Milliarden Klimmt: Ohne die Bahnreform hätte der Mark. Bisher hatte die Bahn damit ge- Bund in den vergangenen sechs Jahren rechnet, rasch in die Gewinnzone zu nicht 203 Milliarden Mark für das Ei- gelangen. Jetzt wären wir schon froh, senbahnwesen ausgegeben, sondern wenn sie spätestens 2005 wirtschaftlich glatte 100 Milliarden Mark mehr. Die- arbeiten kann und nicht mehr nur Ver- sen Erfolg kann man nicht kleinreden. ICE vor der Ex-DB-Konzernzentrale in Berlin: „Die luste schreibt. SPIEGEL: Das ist aber auch der einzige SPIEGEL: Es ist nicht das erste Mal, dass Erfolg. Weder arbeitet die Bahn wirt- Klimmt: Es wäre blöd zu leugnen, dass die Bahn ihre Plandaten nach unten schaftlich, noch ist es gelungen, Ver- das Auto Bestandteil unserer Kultur ist. korrigiert … kehrsströme in nennenswertem Umfang Ähnlich das Flugzeug: Die USA er- Klimmt: … aber jetzt muss es das letzte von der Straße auf die Schiene zu ver- reicht man am einfachsten per Flug- Mal sein, wirklich das letzte Mal. Das lagern. zeug. Von Berlin nach Hannover aber wissen Herr Mehdorn und seine Leute. Klimmt: Das stimmt nur teilweise, im komme ich unschlagbar schnell mit Nun darf keiner bei der Bahn mehr mit Nahverkehr hat die Schiene enorm zu- dem Zug – das ist attraktiv. verdeckten Karten spielen, alle müssen gelegt … Interview: Petra Bornhöft, Frank Hornig

24 der spiegel 45/2000 schnittsalter der Waggons im Nahverkehr besetzten Beamte und zweifelt allerdings ein Mit- beträgt über 20 Jahre; viele der so ge- CDU-Politiker wichtige glied des wissenschaftli- nannten Silberlinge, von außen mit Graffiti Posten im Konzern. Bei chen Beirats für das Mi- beschmiert, innen verlottert, wirken sogar der Bahn, so sehen es Ver- nisterium den Zeitplan. deutlich älter. treter der rot-grünen Re- Womöglich kann am Da ist es kein Wunder, dass die Un- gierung, wurde jahrelang Ende die Bahn aus dem zufriedenheit der Deutschen mit ihrer oftmals an der Realität drohenden Verkehrskol- Bahn und deren ewigen Ausreden („Wir vorbei nicht anders ge- laps doch noch Nutzen bitten um Ihr Verständnis“) seit langem plant als weiland in der ziehen. Daran arbeitet wächst. Spektakuläre Pannen bestätigen DDR: Hauptsache, das DB-Chef Mehdorn mit ihre Skepsis. Plansoll ist erfüllt. Drin- seinen Unternehmensbe- So mussten Fahrgäste des bei Würzburg gend notwendige Repara- ratern von McKinsey. Seit havarierten ICE „Balthasar Neumann“ An- turen und Investitionen in drei Wochen prüfen die fang Oktober über drei Stunden in einem den Bestand sind deshalb Consultants die Zahlen, Tunnel warten, bevor die Reise weiterging. unterblieben. um dann einen Sanie-

In einem anderen, völlig überlasteten Zug Dabei sollte die Bahn- MELDEPRESS rungsplan zu entwickeln. wurden 150 Passagiere von Polizisten hin- reform vor allem für mehr Mehdorn, Schröder Bei ihrer Suche nach ausgedrängt. Die „Bild“-Zeitung machte Verkehr auf der Schiene Deutschland steht im Stau nicht betriebsnotwendi- gleich eine Serie über die „Trottel-Bahn“ sorgen. Doch daran ist die gen DB-Töchtern müssten daraus – und traf damit die Stimmung: Im DB gescheitert – so die bittere Bilanz des sie schnell fündig werden: Putzkolonnen Kundenmonitor 2000, der die Zufrieden- neuen Verkehrsberichts. Selbst bei steigen- oder die Fahrplandruckerei gehören kaum heit der Verbraucher mit 51 Wirtschafts- den Benzinpreisen, so das Regierungspa- zum Kerngeschäft. branchen von Auto bis Telefon misst, be- pier, „konnte die Bahnreform jedoch bis- Vor allem beim Personalbestand von legt die DB trotz forscher Werbung („Die lang keinen zusätzlichen Schub zu Gunsten 240 000 Mitarbeitern dürften die Unter- Bahn kommt“) wie schon vergangenes des Verkehrsträgers Schiene bewirken“. nehmensberater immer noch auf erhebli- Jahr den letzten Platz. Der Grund für all diese Probleme ist ches Rationalisierungspotenzial stoßen, Wie konnte es nur so weit kommen, wo schnell gefunden: Ein ernsthafter Wettbe- nicht zuletzt in der Holding und in den doch 1994 die ehemalige Behördenbahn werb auf der Schiene findet nicht statt, so Zentralen der Konzerntöchter: 50 Prozent kurz vor dem Kollaps durch die Bahnre- das ernüchternde Fazit des Verkehrsbe- der Verwaltung sollen abgebaut werden. form in ein florierendes Unternehmen ver- richts. Auch sechs Jahre nach der Bahnre- „Wir starten jetzt eine Sanierungsoffen- wandelt werden sollte? In einem ersten form ist der DB-Konzern immer noch ein sive, um unser Produkt zu verbessern und Schritt hatte die Unionsregierung damals träger Monopolist. mehr Verkehr auf die Schiene zu holen“, Aber auch zwischen den drei Verkehrs- sagt Mehdorn, der so „eine neue Stufe der trägern Bahn, Auto und Flugzeug herrscht Bahnreform zünden“ möchte. kein fairer Wettbewerb: Das System Schie- Der Bahnchef entwickelt unverdrossen ne ist gegenüber den Konkurrenten hoff- neue Traumszenarien: Mit zusätzlichen In- nungslos im Nachteil, vor allem weil die vestitionen von über zehn Milliarden Mark Kosten für Straßen- und Luftverkehr nicht will er dafür bis 2005 die Weichen stellen. annähernd im gleichen Umfang bei den Ein Großteil soll ins Schienennetz fließen, Nutzern eingetrieben werden. Autofahren zum Beispiel in ein satellitengestütztes Sig- und Fliegen ist, im Verhältnis zu den Ge- nalsystem. Am Ende, so seine Vision, wird samtkosten, viel zu billig. eine blitzblanke Bahn im Kreis- und Takt- Beinahe alle Experten raten dringend zu verkehr durch Deutschland brausen und drastischen Reformen. Heftig umstritten ist von zentralen Knoten aus, wie im Luftver- vor allem die zuletzt von der Regierungs- kehr, strahlenförmig die Regionen er- kommission unter Vorsitz des früheren Te- schließen. Ein neues, leicht verständliches lekom-Managers Wilhelm Pällmann vor- Preissystem soll dann den heutigen Tarif- geschlagene Straßenbenutzungsgebühr. wirrwarr – und damit den Stau in der Schal- Doch die mächtige Asphaltlobby be- terhalle – beenden und jede Menge neue drängte den Kanzler und seinen Minister. Kunden in die jetzt neu bestellten Züge und Die gelobten öffentlich Schonung der Au- bald renovierten Bahnhöfe locken. tomobilisten – und machen nun einen Weil das aus eigener Kraft nur schwer zu Rückzieher. Folgen einer Pkw-Maut hatten schaffen ist und Erlöse aus einem Börsen- die Beamten unter dem Begriff Öko-Sze- gang mittelfristig nicht mehr in Betracht nario berechnet: In der Endfassung ihres kommen, wird im Kanzleramt und im Ver- Berichts heißt das Gleiche jetzt „Überfor- kehrsministerium derzeit eine völlig neue

A. FROESE / CARO derungsszenario“. Vor dessen Prämissen, Option geprüft: Ein rascher Teilverkauf ei- Regierung ist keine Gelddruckmaschine“ eine „drastische Kostenbelastung der Sek- ner Minderheitsbeteiligung an der Bahn toren Straße und Luftverkehr“, schreckt von vielleicht 25 Prozent an ausländische sämtliche Altlasten getilgt; fortan sollte die Rot-Grün zurück. „Ein gesamtgesell- Interessenten könnte frisches Kapital be- DB, wie die Lufthansa, aus eigener Kraft schaftlicher Konsens“, so die Begründung, sorgen und zugleich einen Hebel für harte am Markt bestehen und Profite machen. „dürfte nur schwer herstellbar sein.“ Sanierungsschnitte schaffen. Mögliche Das war, so wird jetzt klar, eine Illusion. So will Klimmt am Mittwoch im Kabinett Käufer wie die East Japan Railways können Über Jahre regierte die Politik eigennützig in die Zustimmung für den weitgehenden Ver- sich einen Einstieg vorstellen. das Unternehmen hinein, plante im Ein- zicht auf harte Eingriffe einholen. Nur die Bahnchef Mehdorn wäre vorbereitet – heitsrausch, gemeinsam mit dem ersten DB- Schwerverkehrsabgabe soll ab 2003 kom- ein Buch über den Erfolg der Japaner, „The Chef Heinz Dürr, überdimensionierte und men: Zunächst 25 Pfennig pro Kilometer, Privatization of Japanese National Rail- völlig unrentable Großprojekte wie den Ver- ansteigend bis auf 40 Pfennig im Jahr 2015. ways“, gehört derzeit zu seiner liebsten kehrsknoten in Berlin. Noch bis vor kurzem „Ein Beginn 2003 ist nicht zu schaffen“, be- Lektüre. Petra Bornhöft, Frank Hornig

der spiegel 45/2000 25 Hilflos erlebt die Union, wie Bundes- kanzler Gerhard Schröder (SPD) ihr mit seiner „Konsens“-Politik Themen, Begrif- fe und gesellschaftliche Verbündete stiehlt. Manager und Wirtschaftsverbände sind von der Union, ihrem traditionellen Part- ner, ins Schröder-Lager übergelaufen. Jetzt, so fürchten Unionspolitiker, wolle Schrö- der der CDU/CSU mit seiner Anti-rechts- Kampagne auch den Kernbegriff der Kon- servativ-Bürgerlichen rauben. „Erst klaut Schröder uns die Mitte, dann die Wirtschaft und jetzt auch noch die Nation“, klagte so- gar der CDU-Linke Heiner Geißler. In der alten Bundesrepublik waren die Rollen – wenn es ums Vaterland ging – klar verteilt. CDU und CSU verstanden sich als Staatsparteien der ordentlichen, fleißigen, rechtschaffenen Patrioten. Sozialdemokra- tische Kanzler waren in den Augen der Union entweder Vaterlandsverräter – wie Willy Brandt – oder mindestens in der „falschen Partei“ wie Helmut Schmidt. Ausländische Arbeitnehmer galten als geduldete Gäste. Helmut Kohl personifi- zierte das Lebensgefühl der westdeutschen Wiederaufbaugeneration wie kein Zweiter. Vorbei: Zehn Jahre nach der deutschen Einheit sitzen in Berlin an den Schalthe-

R. KLOSTERMEIER / VISION PHOTOS R. KLOSTERMEIER beln der Macht Symbolfiguren der einsti- Gesprächspartner Spiegel, Merkel: Konflikt zwischen Traditionalisten und Modernisierern gen Chaoten- und Gammlergeneration: Der frühere Jungsozialist Schröder be- stimmt die Richtlinien der Politik, Ex-Stei- ZUWANDERUNG newerfer Joschka Fischer vertritt die äuße- re, Ex-RAF-Anwalt Otto Schily die innere Sicherheit. Gewandet in feine Dreiteiler, Kulturkampf ums Vaterland verkörpern sie jenen Staat, den CDU und CSU Jahrzehnte vor ihnen verteidigten. Der rechte Unionsflügel muckt auf: Die Konsensbereitschaft Im bürgerlichen Schafspelz, so die Ana- lyse der Unionsrechten, verschiebe die rot- in der Ausländerpolitik halten die National- grüne Koalition die politische Achse der konservativen für eine Unterwerfung unter linke Leitkultur. Republik nach links. Der sächsische CDU- Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz be- er CDU-Bundestagsabgeordnete unterwirft. Sogar ein paar CSU-Politiker klagt ein „verdrehtes Wertebewusstsein“ Martin Hohmann hat am Donners- müssen hinterhertrotten, da sich Parteichef im Land – nicht nur wegen der 68er, son- Dtag, dem 9. November, noch Ter- Edmund Stoiber maulend, aber politisch dern auch wegen der Nachwirkungen der mine frei. Wenn der Bundestag seine Sit- korrekt dem Aufruf angeschlossen hat. SED-Ideologie im Osten. zung unterbricht, wird er auf keinen Fall Für eine Weile hatten sich die depri- Dazu kommen die Ausländer, sie- am Brandenburger Tor mit den Spitzen des mierten Rechten in der Union, die seit ben Millionen inzwischen. Frustriert und Staates gegen Rassismus und Gewalt de- Adenauers Zeiten unter deutscher Leit- ohnmächtig müssen CDU und CSU die monstrieren. Der 52-jährige Jurist aus der kultur immer auch ihre politische Führung Veränderungen im Einwanderungsland Gegend um Fulda, Wahlkreisnachfolger im Bund verstanden, am Kulturkampf-Vo- Deutschland mit ansehen. Der Abschied von Alfred Dregger, ist stinksauer, dass sei- kabular ihres Fraktionschefs Friedrich von der Vorstellung eines kulturell homo- ne Partei gemeinsam mit Sozialdemokra- Merz berauscht. Hinter der Diskussion um genen deutschen Volkes, ergänzt um ein ten, Grünen, PDS und Gewerkschaften die Zuwanderung von Ausländern ver- paar anpassungswillige „Gastarbeiter“, „gegen rechts“ protestiert. „Beschissen“ steckte sich ihr Anspruch, das deutschere rührt an die konservativen Grundfesten. nennt er dieses „disparate Signal“ an die Deutschland zu verkörpern. Kein Wunder, dass die meisten Abgeord- Unionsanhänger. Nun wollen manche Parteiobere nicht neten Merz bejubelten, als der sein Plä- In der rechtsradikalen Wochenzeitung nur den umstrittenen „Leitkultur“-Begriff doyer für eine deutsche „Leitkultur“ in „Junge Freiheit“ wettert Hohmann: „Mit aus dem Verkehr ziehen, sondern schließen der jüngsten Fraktionssitzung bekräftigte. den Feinden von gestern und heute ge- sich auch der „Gegen rechts“-Demonstra- Der Konflikt zwischen „Traditionalisten“ meinsam zu marschieren ist eine Entschei- tion am 9. November an – einem Tag, der und „Modernisierern“ ist nach der SPD dung, die uns nicht helfen wird.“ nicht nur an den Fall der Mauer erinnert, auch in der Union entbrannt. Während die Damit steht Hohmann in der CDU/CSU- sondern auch an die Revolution von 1918, Traditionalisten sich in ihrer Wagenburg Fraktion bei weitem nicht allein. Viele Uni- Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in einrichten, blicken kluge Parteileute wie onspolitiker sind erbittert, dass sich die München 1923 und die antijüdischen Po- der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos CDU-Spitze mit ihrer Teilnahme an der De- grome der „Reichskristallnacht“ von 1938 längst nach vorn. Den pragmatischen Fran- monstration einer rot-grünen Leitkultur – so – an mehrere disparate Daten des düsteren ken interessiert nur noch, wie rasch man sehen sie es – im Lande für jeden sichtbar Teils deutscher Geschichte also. die Unionswähler daran gewöhnen könne,

26 der spiegel 45/2000 Deutschland dass Deutschland doch ein Einwande- politik aufeinander zu. Der saarländische gen, die in Deutschland das Gefühl haben, rungsland sei, nachdem man bislang das Ministerpräsident Peter Müller, der die aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein.“ Gegenteil versichert hatte. CDU-Zuwanderungskommission leitet, be- Auch bei den Grünen geraten ideologi- CDU-Parteichefin Angela Merkel, zwi- tont: „Ein parteiübergreifender Konsens sche Positionen in Bewegung. Parteichefin schen den Fronten, rückt unter dem Druck ist erstrebenswert.“ Wenn auch die Kom- Renate Künast setzte sich vergangene Wo- der Rechten Stück für Stück von ihrer Po- mission der Bundesregierung ein „kon- che vom Begriff „Multikulti“ ab. Dieses sition ab. Ihr Versuch, den Begriff „Leit- sensfähiges Konzept“ entwickle, „wäre es Wort sei ähnlich unscharf wie „Leitkultur“ kultur“ aus dem Eckpunktepapier zur Zu- möglich, noch in dieser Legislaturperiode und werde deshalb schon länger von den wanderungspolitik, das im CDU-Präsidi- zu einer entsprechenden Regelung zu kom- Grünen nicht mehr verwendet. um an diesem Montag beschlossen werden men“, so Müller. Die Erregung im eigenen Lager über soll, zu streichen, scheiterte. Fraktionschef Auch CDU-Vize Jürgen Rüttgers und der den Abgesang auf eine grüne Lieblings- Merz legte erfolgreich sein Veto ein. Auf künftige CDU-Generalsekretär Laurenz idee blieb gering. Lediglich der Grünen- Protest des hessischen Ministerpräsiden- Meyer wünschen sich ein gemeinsames Er- Europaparlamentarier Daniel Cohn-Ben- A. VARNHORN BECKER&BREDEL Christdemokraten Koch, Müller*: Veto gegen allzu liberale Formulierungen ten Roland Koch und anderer waren zuvor gebnis der Parteien vor dem Wahlkampf dit, der den Positionswechsel aus der noch die Formulierung „Deutschland ist 2002. Allerdings müsse sich „die Zuwan- Ferne in Straßburg offenbar nicht mit- ein Einwanderungsland“ und „das Boot ist derung nach der Integration richten und bekommen hatte, monierte in der „Tages- noch nicht voll“ getilgt worden (siehe auch nicht umgekehrt“, sagt Rüttgers. Meyer zeitung“: „Den Zeitpunkt der Äußerun- Seite 342). fügt hinzu: „Das kann aber nur gelingen, gen halte ich für fatal – und falsch.“ Er je- Die Traditionsbataillone hält Merkel mit wenn wir gleichzeitig über Zuwande- denfalls, versicherte der in diesem Punkt uralten Arien der Adenauer- und Kohl-CDU rung, Integration und Asylverfahren spre- traditionalistische Grüne, werde an dem bei Laune: Die Frage nach der Leitkultur, so chen. Diese Themen gehören untrennbar Begriff der multikulturellen Demokratie Merkel, „mündet für mich in eine Debatte zusammen.“ festhalten. über unser Verständnis von Nation“ – und SPD und Grüne sind einem Kompromiss In Wahrheit stehen weder die „Leit- SPD und Grüne hätten „ein gestörtes Ver- nicht abgeneigt. Die Sozialdemokraten, das kultur“ noch die „multikulturelle Demo- hältnis zu ihrem Vaterland“. zeigte die Diskussion vergangene Woche kratie“ zur Debatte, sondern die ganz Dennoch: Wie beim demokratischen im Parteivorstand, fürchten, die Zuwan- konkreten Grundlagen, die das alltäg- Protest gegen die gewaltbereiten Schläger derung könne in der kommenden Bundes- liche Miteinander der Bewohner hier zu der NPD rücken die besonnenen Kräfte tagswahl den eigenen Anhang spalten. Lande ermöglichen. Wie weit geht das aller Parteien auch in der Zuwanderungs- Selbst der linke Juso-Chef Benjamin Mik- Toleranzgebot für die ansässigen Deut- feld sorgt sich um das „neue Unten“ in der schen? Wo ist, andererseits, die Grenze der * Links: im Januar 1999 bei der Kampagne gegen die dop- Gesellschaft, das den Eindruck bekommen Geduld? pelte Staatsbürgerschaft in Wiesbaden; rechts: im März könnte, von der Politik allein gelassen zu Als gemeinsamer Nenner der Parteien 1999 in Saarbrücken in der Wehrmachtsausstellung des werden. „Wir brauchen eine doppelte In- und als Leitfaden für die Integration Hamburger Instituts für Sozialforschung; unten: im August in Eberswalde beim Besuch im „Afrikanischen Kultur- tegration“, so Mikfeld, „derjenigen, die schälen sich die Prinzipien des Grundge- verein“. nach Deutschland kommen, und derjeni- setzes heraus. „Diejenigen, die kommen, müssen die Prinzipien des Grundgesetzes Grüne Künast*: Abkehr von Multikulti akzeptieren“, fordert Grünen-Chefin Künast. Merkel stimmt ausdrücklich zu. Ihr CDU-Kollege Müller verlangt sogar, Zuwanderer sollten eine Verpflichtungser- klärung auf die Verfassung leisten. Der streitbare Christdemokrat Geißler präzisiert, das Grundgesetz garantiere zwar Meinungsfreiheit auch „für Mullahs“ – aber sie dürften dennoch „nicht die Dis- kriminierung von Frauen predigen“. Die „Beschneidung von Frauen“ sei „schwere Körperverletzung“ und ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Ulrich Deupmann, Tina Hildebrandt, Christoph Mestmacher M. EBNER / MELDEPRESS

27 mosexuell lebende Menschen sollten wei- terhin in den Streitkräften nicht als Vorge- setzte eingesetzt werden.“ – „Der Mann ist eben Rheinländer“, beschreiben Partei- freunde die Methode Bosbach. Bosbach fordert die Videoüberwachung öffentlicher Plätze, er will Schulschwänzer von der Polizei suchen lassen und Graffiti- sprayer in den Knast schicken. Und trotz- dem käme niemand darauf, den fröhlichen Rheinländer in einen Topf mit Manfred Kanther oder dem Fraktionshardliner Er- win Marschewski zu stecken. Denn anders als frühere CDU-Innenpolitiker ist Bos-

W. SCHUERING W. bach „kein Ideologe und Scharfmacher“, Parteifreunde Bosbach, Merz: Stammkundschaft bei Laune halten wie Volker Rühe lobt. Seit der begeister- te Karnevalist im Fraktionsvorstand der Müller für das CDU-Präsidium verfasste, Union mitredet, soll dort durchaus häufiger CDU heißt es, dass „Zuwanderung für eine Ge- gelacht werden. sellschaft auch eine große Chance der Be- Einerseits hat Bosbach eine klassische Frohsinn mit reicherung bietet“. Das Asylrecht bleibe CDU-Vita: konservatives Elternhaus, Mess- gewährleistet. Nicht durchsetzen konnten diener, Junge Union, CDU, regelmäßiger sich Müller und Bosbach allerdings mit Kirchgänger, Familienvater (drei Töchter). Methode dem Versuch, den umstrittenen Begriff Andererseits hat er seinen beruflichen Auf- „Leitkultur“ durch „Akzeptanz eines ge- stieg – wie viele Sozialdemokraten – auf Der rheinische Fraktionsvize meinsamen Grundwertekanons“ zu erset- dem zweiten Bildungsweg erreicht. zen. Fraktionschef Merz beharrte auf sei- Tennis ist sein aufregendstes Hobby. „To- und ehemalige Karnevalsprinz nem Reizwort. tal normal“ sei er eben, sagt Bosbach von Wolfgang Bosbach Jahrelang hatten sich liberale CDU- sich, und genau darin dürfte auch das Ge- modernisiert heimlich die Union. Politiker wie Heiner Geißler, Rita Süss- heimnis seines Erfolgs liegen. In Berlin gilt muth und die jungen Fraktionsmitglieder der Aufsteiger mit dem Normalo-Image eim FC Bundestag hat der Mann mit um Peter Altmaier zuvor an einer moder- schon als möglicher Staatssekretär oder der braven Scheitelfrisur nicht mal neren Ausländerpolitik abgearbeitet – ohne Innenminister in einem CDU-Schatten- Beine feste Trikotnummer. Seit sechs Erfolg. Weil sie zu viel wollten, erreichten kabinett. Jahren kickt Wolfgang Bosbach in der Fuß- sie am Ende nichts als reflexhafte Ableh- Nicht Konrad Adenauer oder Helmut ballmannschaft der Volksvertreter mit, „en- nung in ihrer eigenen Partei. Kohl sind Bosbachs politische Vorbilder, gagiert-rustikal“ und mit mäßigem Erfolg, Bosbach dagegen hat früh begriffen, dass sondern „mein Vorgänger im Wahlkreis, wie der CDU-Politiker selbstkritisch fin- nichts erreicht, wer die falschen Leute auf Franz Heinrich Krey“, für den Bosbach 15 det, dazu noch „peinlicherweise im linken seiner Seite hat. Als ehemaliger Leiter ei- Jahre lang gearbeitet hat. Von ihm habe er Mittelfeld“. Er habe überhaupt erst zwei nes Supermarkts weiß er, dass man zwar gelernt, „dass jede Veranstaltung im vor- Tore geschossen, sagt der 1.-FC-Köln-Fan, Laufkundschaft gewinnen, aber auch die politischen Raum wichtiger ist als eine po- das letzte liege Monate zurück: Bundestag Stammkundschaft bei Laune halten muss. litische Sitzung“ und „dass man die Men- gegen Wüstenrot. Das Urteil seines Mann- So findet sich in Bosbachs Bauchladen für schen mögen und auf sie zugehen muss“. schaftskapitäns Klaus Riegert (CDU) fällt jeden etwas. Verbindung zum wahren Leben hält er trotzdem freundlich aus: „Technisch ver- Die Liberalen freuen sich, wenn es in mit Hilfe seiner Anwaltskanzlei, wo Bos- siert und ballsicher“ sei Bosbach, „auf je- seinem Konzept zur Homo-Ehe heißt: „Es bach vor allem Wirtschafts- und Steuer- den Fall einer der Aktivposten“. ist nicht Sache der Politik, den Menschen sachen bearbeitet, und über Gattin Sabine. Das, so die Meinung vieler Parteifreun- vorzuschreiben, wie sie zu leben haben.“ Beim Frühstück gibt es durchaus mal Kritik, de, lässt sich auch für die politische Per- Und die Konservativen sind beruhigt, wenn vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen formance des geschickten Aufsteigers sa- Bosbach drei Seiten weiter klarstellt: „Ho- ist Bosbach seiner Frau zu konservativ. gen. Vor acht Monaten wurde Bosbach, bis Kalkulierte Politik und dato allenfalls als ehemaliger Karnevals- spontane Alltagsfreuden prinz von Bergisch Gladbach bekannt, als gehen bei ihm mühelos zu- einer von acht Stellvertretern des Frak- sammen: Am 11. 11. nimmt tionschefs Friedrich Merz gewählt. Seit- der Fraktionsvize morgens dem hat der 48-Jährige gezeigt, dass er an einer Mahnwache in Offensive und Deckung nach hinten auch dem Betrieb teil, der in auf den heiklen Feldern der Innen- und seinem Heimatort die Rechtspolitik beherrscht. meisten Zwangsarbeiter Mit einer Mischung aus konservativer beschäftigte. Rhetorik und fortschrittlicher Substanz ist Abends ist Bosbach es Bosbach bei den für die Union schwie- dann wieder Vorsitzender rigen Themen Ausländerpolitik und Homo- der „Großen Gladbacher“ Ehe gelungen, das inhaltliche Vakuum sei- und eröffnet die Karnevals- ner Partei für eine behutsame Öffnung zu session. Da verteilt er den nutzen. Orden „Närrischer Bergi- In einem Eckpunktepapier zur Zuwan- scher“ an den örtlichen Be-

derung, das Bosbach gemeinsam mit dem / IMAGES.DE GIRIBAS J. stattungsunternehmer Fritz saarländischen Ministerpräsidenten Peter Ausländer vor Schloss Bellevue: Behutsame Öffnung Roth. Tina Hildebrandt

28 der spiegel 45/2000 Deutschland

NPD-VERBOT Schilys anonyme Zeugen Mit abgehörten Telefonaten und Spitzelberichten aus der NPD will die Bundesregierung Karlsruhe überzeugen, dass die rechtsextreme Partei verboten gehört. Das Problem: Die Zeugen, V-Leute des Verfassungsschutzes, stehen vor Gericht nicht zur Verfügung.

enn die Kameraden der NPD, auf gen die Meldungen ihrer Agenten vor und Innenansichten Stück für Stück preisgege- Mitgliederversammlungen und erklären, dass der Lieferant sorgsam über- ben werden. Sogar in einem Exemplar, das Wan Stammtischen, unter sich sind, prüft und stets zuverlässig gewesen sei. Schily in der vergangenen Woche in der bekommt das Grundgesetz schon mal Ob das so funktioniert, ist zweifelhaft. Geheimschutzstelle des Bundestags hin- Schrammen: Ein Liedermacher greift zur Die NPD wird alle Aussagen bestreiten und terlegte, damit die Abgeordneten sich Gitarre und stimmt den Udo-Jürgens-Ohr- die Offenlegung der Identität der Infor- selbst ein Bild machen können, fehlen ei- wurm „Mit 66 Jahren“ an. Der Text ist für manten verlangen. Auch der ehemalige nige der besonders heiklen Passagen. das völkische Publikum überarbeitet: „Mit sechs Millionen Juden, da fängt der Spaß erst an, bis sechs Millionen Juden, da ist der Ofen an … Wir haben reichlich Zyklon B.“ Beste Stimmung habe da bei den Rechten ge- herrscht, der Refrain sei immer wieder begeistert mitgesungen worden, be- haupteten V-Männer ge- genüber dem bayerischen Verfassungsschutz. Fast zweihundert sol- cher Innenansichten der Nationaldemokraten ha- ben die Verfassungsschüt- zer für das geplante Ver- botsverfahren gegen die rechtsextremistische Par- tei zusammengetragen – alles, was die Spitzel im Lauf der letzten Jahre so anlieferten. Mitschriften und Gedächtnisprotokol- le von Brandreden sind

ebenso darunter wie / VERSION H. SACHS heimlich mitgeschnittene NPD-Protest (im Oktober in Düsseldorf): „Kanaken abknallen“ Tonbänder. Die so gewonnenen Erkenntnisse aus Verfassungsrichter Hans Hugo Klein hält Vor allem um den Beweis zu erbringen, dem Innenleben der NPD sind möglicher- die Verwertung von anonymen Zeugen für dass die NPD „aggressiv-kämpferisch“ ge- weise prozessentscheidend. Denn nur mit ein „Problem“. Das Gericht, so Klein im gen den Staat vorgeht, werden die Spitzel- ihrer Hilfe wird es nach Einschätzung der SPIEGEL-Interview, würde sicher „alles berichte aber wohl gebraucht. Denn wie Experten in Otto Schilys Innenministerium unternehmen, um zu vermeiden, dass sich ernst es ihnen mit ihrer Ablehnung ge- gelingen, die hohen Hürden für ein Par- an einer solchen Aussage das Verfahren gen das demokratische Gemeinwesen teiverbot zu überspringen. Nur so seien entscheidet“ (siehe Seite 30). tatsächlich sein soll, geben die rechten Ka- die Verfassungsrichter zu überzeugen, dass Vielen Geheimdienstlern geht schon die der nach Überzeugung der Verfassungs- die einstige Altherrenpartei NPD tatsäch- Variante mit den Behördenzeugnissen zu schützer lieber nur in kleiner Runde preis. lich zu einem Sammelbecken der gewalt- weit. Sie fürchten die Enttarnung ihrer Lie- Die „wesentlich schärferen gewaltbe- bereiten Rechtsextremen mutiert ist. feranten, von denen es manche in der NPD fürwortenden Erklärungen maßgeblicher Der Prozess in Karlsruhe, so viel ist si- weit nach oben gebracht haben. Funktionsträger“, heißt es in dem Papier, cher, wird Rechtsgeschichte schreiben. Weil Ein 560-seitiges Dossier, in dem der ab- seien „mehrheitlich nur per Behörden- die Staatsspitzel nicht als Zeugen im Ge- gewandelte Udo-Jürgens-Song nebst etli- zeugnis zu belegen“. richtssaal aufmarschieren sollen, will die chen anderen Episoden aufgeführt ist, Das Mitglied des Bundesvorstandes der Bundesregierung die Richter mit so ge- wurde vorsorglich als „amtlich-geheim- Partei Sascha Roßmüller etwa soll vor nannten „Behördenzeugnissen“ beein- Quellenschutz“ eingestuft. Erst wenn es bayerischen Kameraden im Juli 1998 er- drucken: Die Verfassungsschutzämter le- denn unbedingt sein muss, sollen die üblen klärt haben, was die NPD mit den regie-

der spiegel 45/2000 29 Deutschland

SPIEGEL: Eine totalitäre Herrschaft? Klein: Ja. In programmatischen Bekun- dungen von NPD-Funktionären heißt es „Die NSDAP als Vorbild“ immer wieder, dass sich „Liberalismus und Volksgemeinschaft gegenseitig aus- Der ehemalige Verfassungsrichter Hans Hugo Klein über die schließen“. Damit wird deutlich, dass so- wohl der demokratische als auch der Chancen, in Karlsruhe ein Verbot der NPD zu erwirken menschenrechtliche Bestandteil der Ver- fassung Ziel der Angriffe SPIEGEL: Herr Klein, Sie waren als Ver- vor der Machtergreifung der NPD sind. fassungsrichter von 1986 bis 1996 für Par- 1933 entspricht. NPD-Funk- SPIEGEL: Was gleichzeitig al- teienrecht zuständig. Hat der Antrag auf tionäre greifen die alte les „Fremde“ als Bedro- Verbot der NPD Aussicht auf Erfolg? Goebbels-Losung auf, dass hung diskreditiert. Klein: Schon die bekannten programma- der Feind mit seinen eige- Klein: Nicht nur, auch die tischen Schriften und Verlautbarungen nen Waffen geschlagen wer- politische Freiheit der Mit- der NPD-Funktionäre sind Grund genug, den müsse … glieder dieser Volksge- einem Verbotsantrag gute Erfolgsaus- SPIEGEL: … und der Feind meinschaft soll ja beseitigt sichten einzuräumen. ist die parlamentarische werden. Fremdenhass ist SPIEGEL: In Berlin gibt es Befürchtungen, Demokratie? nur eine von mehreren dass das Gericht ein Verbot als unver- Klein: Das „System“, wie Ausdrucksformen für die hältnismäßig ablehnen könnte. es in der NPD immer wie- Missachtung von Men- Klein: Die Frage der Verhältnismäßigkeit der verunglimpfend heißt. schenrechten. Aber natür- spielt für das Gericht keine Rolle. Auch Auch dieser Begriff stammt lich macht man in der NPD darauf, wie groß die Gefahr ist, die von bekanntlich von der kein Hehl aus seinem Ras-

der NPD ausgeht, kommt es nicht an. NSDAP. In einer NPD-Pu- KNAPP / THEMA W. sismus, bezeichnet „Ras- Wenn die NPD die ernst zu nehmende blikation heißt es: „Das Ex-Richter Klein senmischung“ als Völker- Absicht hat, unsere verfassungsmäßige System hat keine Fehler, „Perfidie der NPD“ mord, beschwört die „Art- Ordnung anzugreifen, ist sie verfassungs- das System ist der Fehler.“ erhaltung des deutschen widrig, und dann spricht das Verfas- SPIEGEL: Eine solche Fundamentaloppo- Volkes“ – das ist nationalsozialistische sungsgericht zwingend ein Verbot aus. sition lässt das Grundgesetz nicht zu? Ideologie in Reinform. Alles andere betrifft nur die politische Klein: Nicht in der Konsequenz, in der die SPIEGEL: Ist das schon ein Verbotsgrund? Entscheidung, ob man den Verbotsantrag NPD das propagiert. Der NPD-Vorsitzen- Klein: Ja. Schon aus dem Verfassungsge- stellt. de Udo Voigt hat Anfang des Jahres im richtsurteil 1952 gegen die SRP, die ja eine SPIEGEL: Kann man das, was einzelne Parteiorgan „Deutsche Stimme“ geschrie- Nachfolgeorganisation der NSDAP war, Funktionäre und Mitglieder der NPD von ben, man werde das „Übel“ bei der Wur- ergibt sich, dass eine mit nationalsozialis- sich geben, der Gesamtpartei anlasten? zel packen und „mit Stumpf und Stiel aus- tischer Politik verwandte Zielsetzung we- Klein: Was führende Parteifunktionäre der reißen“. Man will die „absolute Macht“, der mit den Freiheit gewährleistenden NPD oder ihrer Unterorganisationen versteht die NPD nicht als „eine Partei ne- noch mit den demokratischen Bestandtei- äußern, ist der Partei ganz klar zuzu- ben den Bonner Parteien, sondern gegen len unserer Grundordnung vereinbar ist. rechnen. Selbst die Aussagen und das sie“. Das richtet sich offen gegen Wesens- SPIEGEL: Nun heißt es aber, es müsse eine Verhalten der einfachen Anhänger kann elemente unserer Verfassung … „aggressiv-kämpferische Haltung“ dazu- man einer Partei vorwerfen. SPIEGEL: … gegen Gewaltenteilung, Mehr- kommen. Was ist damit gemeint? SPIEGEL: Worin liegt der Angriff auf die parteiensystem, Volkssouveränität. Klein: Die Bereitschaft, ein gegen die frei- demokratische Grundordnung? Klein: Gerade da zeigt sich die Perfidie der heitlich-demokratische Grundordnung Klein: Aus dem mittlerweile bekannten NPD: Man stellt den Begriff der „Volks- gerichtetes Programm auch in die Tat um- Material wird ganz deutlich, dass die NPD souveränität“ zwar an sich nicht in Abre- zusetzen, wenn die Möglichkeit dazu be- die repräsentative Demokratie und freie de, stülpt darüber aber den Begriff der steht, egal ob mit oder ohne Gewalt. Wahlen ablehnt und allenfalls als Vehikel „Volksgemeinschaft“, also das blutsmäßig SPIEGEL: Wie zeigt sich das bei der NPD? ansieht, um die Macht zu erlangen und definierte Volk, dessen Souveränität sich Klein: Für die NPD ist es ja gar keine Fra- dann nicht mehr herzugeben, was ja der nicht in freien Wahlen durch die Mehrheit ge, „ob“ das „System“ beseitigt werden von NPD-Funktionären als vorbildhaft der Individuen realisiert, sondern durch soll, sondern nur, wann dieses Ziel erreicht gerühmten Taktik Hitlers und der NSDAP die „Herrschaft der Besten“ bewirkt wird. werden kann. Ihr so genanntes „Drei-Säu- len-Konzept“ – erst der „Kampf um die Mitglieder der „Skinheads Sächsische Schweiz“: „Herrschaft der Besten“ Köpfe“, dann „Kampf um die Straße“ und dann „um die Wähler“ – arbeitet klar dar- auf hin. Wenn man dazu nimmt, dass im Fall eines NPD-Wahlsiegs den verhassten „Systempolitikern“ offen mit „Lynchjus- tiz“ und einem „zweiten Nürnberg“ ge- droht wird, bei dem diesmal sie hängen sollen, dann macht das unwiderleglich deutlich, dass auf aggressiv-kämpferische Weise der Systemwechsel angestrebt wird. SPIEGEL: Ist der NPD auch anzulasten, dass sie zum Sammelbecken für Mitglie- renden Politikern zu tun gedenke. O-Ton: „Keiner von diesen wird uns entkommen, der von bereits verbotenen rechtsextre- dafür werden wir schon sorgen. Alle Flug- mistischen Organisationen geworden ist? häfen und Wege, die aus dem Land führen, Klein: Natürlich, das war ja schon beim werden dichtgemacht. Anschließend war- Verbot der SRP ein wesentliches Argu- tet der Strang.“ ment. Auch in die NPD traten in den In leichten Variationen finden sich sol- sechziger Jahren viele ein, die schon che Aussagen auch bei anderen Funk- zuvor in der NSDAP oder der SRP aktiv tionären. In trautem Kreis wird der Vor- waren. Mittlerweile spielt die personelle sitzende des Zentralrats der Juden, Paul Anknüpfung zu den in jüngerer Zeit ver- Spiegel, etwa von Kadern der NPD-Ju- botenen rechtsextremistischen Organisa- gendorganisation schon mal als „jüdischer tionen eine entsprechende Rolle. Drecksack“ geschmäht, oder gefordert, SPIEGEL: Könnte das Verfassungsgericht die Abschiebung aller Ausländer müsse auch Erkenntnisse berücksichtigen, die „mit der Pistole am Kopf“ durchgesetzt von V-Männern des Verfassungsschutzes werden. „Kanaken“ gehörten „abgeknallt“, stammen, ohne diese zu enttarnen? und mit „Ausländern verheiratete Deut- Klein: Das wäre sicher ein Problem, weil sche“ natürlich auch. das nicht ausdrücklich geregelt ist. Das Eindruck bei den Verfassungsrichtern Gericht könnte, wenn es auf die Aussage soll auch die Karriere von notorischen Na-

eines Zeugen ankäme, dessen Identität zis wie Anton Pfahler machen. Pfahler, der / VERSION C. DITSCH aus Staatsschutzgründen nicht aufgedeckt in den siebziger Jahren bei der berüchtig- NPD-Funktionär Roßmüller werden kann, eventuell ein so genanntes ten Wehrsportgruppe Hoffmann für die Von V-Leuten belastet „Behördenzeugnis“ zulassen, also eine Beschaffung von „Militärfahrzeugen“ zu- schriftliche Stellungnahme der Behörde, ständig war, beherbergte 1998 monatelang bei den „Nationalen Revolutionären Zel- ähnlich wie es auch im Strafprozess mög- auf seinem Grundstück im bayerischen Sin- len“, die Anschläge gegen Linke vorberei- lich ist. Das Bundesverfassungsgericht ning die Verlagsgesellschaft des NPD-Par- teten. Szczepanski führte eine wirre Dop- würde aber sicher alles unternehmen, um teiorgans „Deutsche Stimme“. Im Okto- pelexistenz: Einerseits tauchte er etwa im ber 1999 wurde Pfahler wegen Juni dieses Jahres als mutmaßlicher Ab- Verstoßes gegen das Kriegswaf- nehmer einer Rohrbombe auf, andererseits fenkontrollgesetz zu drei Jahren verpfiff er den Hersteller beim Verfas- und acht Monaten Haft verur- sungsschutz. teilt. Der NPD-Anhänger hatte Für den Fall, dass es in Karlsruhe eng mit Maschinenpistolen und werden könnte, lässt Schily sein Ministe- Handgranaten gehandelt. Der rium zudem bereits an einer Gesetzesän- Verfassungsschutz ist sicher, derung arbeiten. Da das G-10-Gesetz, das dass die „Waffengeschäfte teil- die Verwendung der von den deutschen weise unter den Augen der Mit- Geheimdiensten abgehörten Telefonge- arbeiter der ,Deutschen Stim- spräche reglementiert, ohnehin novelliert me‘“ erfolgten. werden muss, soll eine auf den ersten Blick Auch in der NPD-Zentrale simple juristische Feinjustierung vorge- ahnt man, dass die Informatio- nommen werden, die es erlaubt, die Pro- nen der Spitzel das Verbotsver- tokolle mitgeschnittener Telefonate von fahren in Karlsruhe entscheiden Neonazis in Karlsruhe vorzulegen. Etliche könnten. Dagegen hat die Par- von diesen Rechtsextremisten sind längst in teispitze „Plan B“ entwickelt: der NPD oder paktieren mit ihr. Parteichef Udo Voigt und seine Der Vorschlag stammt vom bayerischen Juristen wollen belegen, dass Innenminister Günther Beckstein (CSU). der Staat mit „Einflussagenten Der hatte eigens die Abschriften abgehör- Gewaltkriminalität in die NPD ter Gespräche vorgelegt, um Schily davon

B. THISSEN transportiert“ habe. zu überzeugen, wie wichtig auch dieses Innenminister*: „Verunglimpftes System“ Die Theorie ist kühn – aber Material für den Kampf um das NPD- die Verteidigungsstrategie be- Verbot sei. zu vermeiden, dass sich an einer solchen unruhigt die Verfassungsschützer dennoch. Der CSU-Mann glaubt, dass man nicht Aussage das Verfahren entscheidet. Denn das Treiben ihrer V-Leute geht bis- einmal das Gesetz ändern müsse. Schilys SPIEGEL: Könnte die NPD versuchen, sich weilen hart an die Grenze des Erlaubten. Verfassungsrechtler sind sich da nicht so si- im laufenden Verfahren reinzuwaschen? Als besonders heikel gilt etwa der Fall des cher. Sie favorisieren, im G-10-Regelwerk Klein: Sie müsste sich von all den Funktio- ehemaligen NPD-Organisationsleiters Ber- eine Passage einzufügen, die die Verwen- nären und Mitgliedern trennen, die jemals lin-Brandenburg, Carsten Szczepanski. Der dung in Verbotsverfahren ausdrücklich solche Äußerungen von sich gegeben ha- wegen Mordversuchs vorbestrafte Neona- zulässt. ben. Sie müsste ihre Programmatik grund- zi diente unter dem Decknamen „Piato“ Schily schwant, dass die Debatte um die legend ändern – im Grunde müsste sie jahrelang dem brandenburgischen Verfas- Gesetzesänderung den Streit um das NPD- sich auflösen und als demokratische Par- sungsschutz (SPIEGEL 28/2000). Verbot noch einmal verschärfen wird. „Das tei neu gründen. Interview: Dietmar Hipp Der Fall werde in Karlsruhe noch eine ist nur im Sinne einer Klarstellung“, ver- „große Rolle spielen“, hat die NPD schon sucht er die Sache tief zu hängen. * Günther Beckstein (Bayern), Otto Schily, Fritz Behrens angekündigt. Szczepanski war eine der Der peinliche Eindruck, dass der Staat (NRW) am 26. Oktober in Düsseldorf. zentralen Figuren in der als besonders ge- eigens Gesetze ändert, um die NPD loszu- walttätig geltenden Skinheadszene von werden, soll vermieden werden. Aber der Königs Wusterhausen, engagierte sich auch Verdacht ist in der Welt. Georg Mascolo

der spiegel 45/2000 31 Werbeseite

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heimlichten Strahlenunfalls im Ural. Die Aufnahmen stammten aus einem Haus in Tscheljabinsk. „Hier finden wir ein paar der jüngsten Opfer“, heißt es, von Trauer- musik begleitet. „Die Bilder verkrüppel- ter Kinder und an Leukämie leidender An- wohner des Katastrophengebiets gehen an Pharmakologe Sörgel die Nieren“, notierte damals das „Deut- sche Allgemeine Sonntagsblatt“ in seiner Fernsehkritik. In Wahrheit waren die Kinder nicht im Ural gefilmt worden, sondern 1500 Kilo- meter entfernt in einer Moskauer Klinik. Bevor Lettmayer sie in seinen vermeint- lich aktuellen Beitrag einbaute, lagerten die Bilder bereits zwei Jahre in einem

FOTOS: AKTE 2000 / SAT 1 2000 / SAT AKTE FOTOS: Archiv. Sat.1-Drogenprobe AP Als wenig später der Schwindel aufflog, Tatort Reichstag: Die Finger gut gewaschen verwies Lettmayer auf branchenübliche Kniffe. „Ich kann Ihnen in jedem zweiten proben anzubieten, dürfte schnell zum Film Bilder zeigen“, ließ er sich zitieren, BUNDESTAG Flop werden. „die ungenau, oder wenn Sie so wollen, Wissenschaftler Sörgel hat nach eigenem unkorrekt sind.“ Stoff vom Bekunden kaum Erfahrung mit Kokain- Im jüngsten Kokainbeitrag dürfte dies tests. Eine genaue Analyse des Stoffs, die ohne seine Hilfe schwer fallen. Gegen Aufschluss hätte geben können über Kon- Gepflogenheiten seriöser TV-Magazine Wischmopp sistenz und mögliche Quellen, unterblieb stöberte Lettmayer mit Kamera und Pröb- aus Zeitmangel. chentasche allein durch die Klos im Reichs- Kokser im Bundestag? Ein Kokssammler Lettmayer wiederum hat tag. Einen neutralen Beobachter, der die in seiner Branche nicht den besten Leu- Latrinenwischerei samt Abgabe der Proben Sat.1-Reporter begab sich auf mund. Schon bei der Spurensuche igno- hätte bezeugen können, wollte er offenbar Spurensuche. Er hat aller- rierte der Rechercheur Sörgels explizite nicht mitnehmen. dings nicht den besten Leumund. Anweisung, sich Kacheln und Klobrillen So blieb zunächst ungeklärt, ob in den mit Handschuhen zu nähern. Doch habe Toiletten tatsächlich kräftig gekokst wurde, olfgang Zeitlmann, 59, hatte es sich der 36-Jährige, wie Moderator Meyer oder der Stoff vom Wischmopp des Reini- offenbar schon lange geahnt. „Im treuherzig versichert, immer die Finger gut gungspersonals oder vom Reporter selbst WHause gibt es politische Kräfte, gewaschen. Er traut Sörgels schriftlicher quer durch die Toiletten geschleppt wurde. die die Drogenbenutzung legalisieren wol- Erklärung und eigener Menschenkenntnis: Doch sein Chef Meyer hat für derlei Ar- len“, verkündete der CSU-Rechtsexperte „Bei uns macht der Mann seit Jahren einen beitsweise offenbar vollstes Verständnis: und folgerte: „Vermutlich aus eigenem In- einwandfreien Job.“ „Das wäre ja aufgefallen, wenn Männer teresse.“ Nach somit geklärter Motivlage Lettmayer, der sich bis zum vergangenen sich gemeinsam im Klo einschließen.“ gelte nur noch zu ermitteln, „wie weit man Freitag selbst nicht befragen lassen mochte, Ohnehin gibt sich der adrette Moderator, das den Grünen anhängen kann“. könnte sich an andere Zeiten erinnern. So dessen Firma Meta Productions seit fünf Drogenhöhle Bundestag? Das Parlament flimmerte am 12. Juli 1994 um 21.15 Uhr bei Jahren die „Akte“-Reporterserie für Sat.1 ein Hort von Koksern? Muss, wie Enter- West 3 eine Reportage über den Bildschirm, produziert, höchst überrascht vom Echo tainer Harald Schmidt spottete, der Fuß- die dem Journalisten später noch „ziemliche auf die jüngste Sendung. „Wir wollten nur ball-Lehrer und Daum-Nachfolger Rudi Bauchschmerzen“ bereitete. Grund: In sei- belegen, dass Kokain überall sein kann“, Völler („Ich bin sauber“) nun auch die Lei- ner Reportage wurde gelogen. sagt Meyer. tung der Bundesregierung übernehmen? Er zeigte in einer über 90 Sekunden lan- Damit steht er nach Auffassung von Ex- Wie ein Donnerschlag hallte in der ver- gen Sequenz deformierte Säuglinge. Sie perten auf der sicheren Seite. Laut Analy- gangenen Woche das Urteil des Nürnberger seien, so der Kommentar, Opfer eines ver- se hatte Lettmayer aus einem beliebigen Pharmakologen Fritz Sörgel durch Berliner Taxi eine Koksmenge von 3,21 Mikro- Parlamentsflure und Redaktionen: „Ein gramm gekratzt – deutlich mehr als in je- Drogenhund wäre im Deutschen Bundestag der Reichstagstoilette. Im vergangenen wohl fündig geworden.“ Im Auftrag des Jahr fand ein britisches Institut an nahezu Sat.1-Magazins „Akte 2000“ hatte der Pro- allen untersuchten Geldscheinen Kokain- fessor Putzlappen, Marke Sagrotan, unter- spuren. „Kokain ist eine Substanz, die sehr sucht, mit denen der Reporter Martin Lett- leicht fliegt“, sagt Gustav Drasch, Toxiko- mayer 28 Herrentoiletten im Reichstag loge und Rechtsmediziner an der Univer- durchgewischt hatte. Die Analyse ergab an- sität München. „Als das Landeskriminal- geblich gleich 22 Kokainfunde in Konzen- amt Haaranalysen einführte, musste das trationen zwischen 2,86 und 0,0796 Mikro- Labor monatelang gereinigt werden, um gramm. alle alten Kokainspuren zu beseitigen.“ Der „Scoop“ („Akte“-Chef Ulrich Mey- Für die von Sat.1 als Junkies verdäch- er) des Schneestöberers, der Bundestags- tigten Parlamentarier weiß Drasch Entlas- präsident Wolfgang Thierse empörte, den tendes zu berichten: „Wer will, kann Ko-

Ältestenrat beschäftigen soll und den CSU- BREUEL-BILD kain auch in ägyptischen Mumien nach- Abgeordneten Eduard Lintner nötigte, als- Sat.1-Moderator Meyer weisen.“ Veronika Hackenbroch, gleich seinen schütteren Schopf für Haar- „Der Mann macht einen einwandfreien Job“ Alexander Neubacher

34 der spiegel 45/2000 A. GEBHARD / DDP CDU-Politiker Kanther im Wiesbadener Untersuchungsausschuss: „Sicher falsch gehandelt“

CDU HESSEN „Der Sack ist zu“ Der ehemalige Bundesinnenminister Manfred Kanther muss mit einer Anklage wegen Untreue rechnen – ebenso wie jene, die ihm beim Verschieben von CDU-Millionen in die Schweiz halfen. Doch womöglich sind ihre Finanztricks bereits verjährt.

eun Stunden lang drückte der Mann, der von 1970 bis 1998 führende Äm- gestaltet werden können, wenn die Union christdemokratische Bundesinnen- ter in seiner Landespartei innehatte. nur von dem Geld gewusst hätte. Durch die Nminister a. D. den Rücken durch, Schwere Vorwürfe erheben die Ermittler „ständigen Bartransaktionen“ habe zudem nippte dann und wann am Wasserglas und auch gegen den früheren hessischen CDU- stets Gefahr bestanden, dass Geld abhan- sagte es laut für alle: Er habe „sicher falsch Schatzmeister Casimir Prinz zu Sayn-Witt- den kommt. gehandelt“, als er 1983 ein Millionenver- genstein, 83, der die mehr als 20 Millionen „Der Sack ist von unserer Seite rechtlich mögen seiner Partei in die Schweiz schaf- Mark gemeinsam mit Kanther versteckt zu“, so die Leitende Oberstaatsanwältin fen ließ. Doch strafbar sei das nicht. und später in kleinen Portionen zurückge- Hildegard Becker-Toussaint. Jetzt sei es an So nutzte der Zeuge Manfred Kanther, holt hat. Horst Weyrauch, 68, der langjähri- den Beschuldigten und ihren Rechtsan- 61, seinen Auftritt vor dem Wiesbadener ge Finanzberater der Partei, soll sich als wälten, mit triftigen Argumenten zu kon- Untersuchungsausschuss im vorigen Monat, Helfer schuldig gemacht haben, ebenso tern: „Die müssten genauso fundiert etwas um schon einmal die Rolle der angeklagten drei weitere Christdemokraten, die nach dagegenhalten.“ Unschuld zu üben. Kaum ein Räuspern Überzeugung der Fahnder in illegale Ak- Als größte Schwachstelle haben die Ver- dämpfte während der Marathonsitzung die tionen in der Landesgeschäftsstelle ver- teidiger eine wichtige juristische Formalie Stimme des schneidigen Politikers, der vie- strickt waren. ausgemacht: Die Geldverschiebung sei le Jahre lang als Erzengel der inneren Das Verfahren mit dem Aktenzeichen schon zu lange her – die Frage, ob sie straf- Sicherheit „law and order“ gepredigt hatte. 6 Js 320.4/00 wird wohl Rechtsgeschichte bar war oder nicht, spiele letztlich keine Die Staatsanwaltschaft in der hessischen schreiben, wie immer es ausgeht. Alles Rolle mehr. Der Frankfurter Strafverteidi- Landeshauptstadt jedoch hält den einst- deutet darauf hin, dass die Staatsanwalt- ger Eberhard Kempf, der Weyrauch ver- mals obersten Verbrechensbekämpfer der schaft den Fall nun rasch vor Gericht brin- tritt, zeigt sich deshalb gelassen: „Die An- Republik inzwischen selbst für einen Kri- gen will. Kanther auf der Anklagebank – gelegenheit ist nach meiner festen Über- minellen. Gemeinsam mit Spezialisten des das wäre der erste Bundesinnenminister, zeugung verjährt.“ Untreue kann nur fünf Landeskriminalamts und der Steuerfahn- der sich wegen Untreue einer öffentlichen Jahre lang verfolgt werden. dung haben die Ermittler Dutzende von Verhandlung stellen muss. Die Hüter des versteckten Schatzes hat- Zeugen befragt und Zehntausende von Do- In einem acht Seiten langen Vermerk ten nach eigenen Angaben zwar niemals kumenten ausgewertet, um den Verdacht haben die Ermittler ihre wichtigsten Er- vor, ihr Geheimnis zu offenbaren. Doch zu erhärten, Kanther habe seiner eigenen gebnisse zusammengefasst. Kanther und die letzte Tarnung des Gesamtvermögens Partei durch die Geldverschiebung schwe- Co. hätten das Geld nur nach „Gutdün- fand 1993 statt, klar außerhalb der Ver- ren Schaden zugefügt. ken“ zurückgeführt, die CDU Hessen habe jährungsfrist: Weyrauch und Wittgenstein Jetzt halten die Strafverfolger den Be- nicht über ihre Millionen verfügen kön- gründeten die Stiftung „Zaunkönig“ in weis für erbracht – es wird eng für den nen. Sogar Wahlkämpfe hätten üppiger Liechtenstein, über die sie fortan das beim

der spiegel 45/2000 35 DeutschlandDeutschland „Summe netto an CDU“ Die hessischen Christdemokraten unterhalten ein Netz von Hilfsvereinen, die in das dubiose Finanzgebaren der Partei verwickelt sind.

er Verein mit dem staatstragen- Im Falle des Instituts für Gegründet wurde der den Namen residiert ganz un- berufliche und politische Hochschulverein 1984 im Dscheinbar. Lediglich durch ei- Bildung kann Geschäfts- Sitzungszimmer des lang- nen Briefkasten (Postfach 1234) ist das führer Saenger nicht er- jährigen CDU-Finanzbera- Institut für berufliche und politische klären, wieso der haupt- ters Horst Weyrauch. Den Bildung e. V. an seinem Sitz in der mit- amtliche CDU-Kassierer Vorsitz übernahm Par- telhessischen Gemeinde Rosbach ver- Lehmann den Verein in teischatzmeister Casimir treten. Dort wohnt auch Hartmut Saen- seiner Erfolgsbilanz auf- Prinz zu Sayn-Wittgen- ger, der Geschäftsführer des Vereins. führt: „Das hat mich sehr stein. Saengers Arbeitsstätte ist weniger geärgert, das gehört dort Vereinsziel sei es vor bescheiden: Der Rosbacher CDU-Kom- nicht rein.“ allem, das RCDS-Bildungs- munalpolitiker leistet treue Dienste für Obwohl der Verein, ein und Sozialwerk zu finan- den Landesverband der Partei, der sei- staatlich geförderter „Trä- zieren, sagt der ehema- ne Zentrale in einer Wiesbadener ger der Jugend- und Er- lige Vereinsschatzmeister

Gründerzeitvilla unterhält. Bis Anfang wachsenenbildung“, keine S. HUSCH / TERZ Stephan Bender, Ex-Part- dieses Jahres verschoben dort die Parteiarbeit machen darf, CDU-Mann Saenger ner in der Kanzlei Wey- CDU-Verantwortlichen Schwarzgeld gehört CDU-Politik zum „Sehr geärgert“ rauch. Das Geld komme aus diversen Quellen. Programm. Laut Protokoll „von ganz normalen Spen- In das Schattenreich der Partei ist der Vorstandssitzung vom 17. Novem- dern, die auch einmal einem SOS-Kin- auch Saengers Institut eingebunden. ber 1997 zeigte sich Saenger „beson- derdorf etwas geben“. Laut Vermerk des langjährigen CDU- ders erfreut über einen Pressebericht“, Die Hochschulförderer Wittgenstein Wirtschaftsbeauftragten Joachim Leh- der einen Besuch des damaligen Bun- und Weyrauch haben den RCDS auch mann kassierte der Verein allein 1998 desinnenministers Manfred Kanther in aus dem illegalen Schweizer Honigtopf eine Summe von 80000 Mark unbe- einer Hanauer Schule ausschmückt. gefüttert. Erste Hinweise darauf wur- kannter Herkunft. Lehmann, eine Dass Kanther bei den Schülern und den zwar im Januar dieses Jahres hef- Schlüsselfigur des Finanzskandals, ru- Lehrern in seinem Wahlkreis gut an- tig dementiert. Doch nur ein paar brizierte diesen Betrag an den offiziell kam, lag laut Protokoll auch an der Wochen später musste die CDU ein- von der CDU unabhängigen Verein als „mit dieser Schule betriebenen außer- räumen, der Studentenverband habe Parteispende („Summe netto an CDU“). schulischen Bildungsarbeit“ durch 100000 Mark kassiert. Das Bildungsinstitut ist nicht die ein- Saengers Institut. Auch im Fall des Hochschulvereins zige Tarnadresse der hessischen CDU. Saenger führt auch die Geschäfte der versucht die Partei, die Zusammenhän- Die Partei unterhält seit vielen Jahren Hessischen Akademie für politische ge zu verschleiern. Die hessische Gene- ein Netzwerk von Vorfeldorganisatio- Bildung, die vor allem Kommunalpoli- ralsekretärin Otti Geschka behauptet, nen, die scheinbar unabhängig sind, tiker und Nachwuchskader der Union der Hessische Verein für Hochschul- tatsächlich aber von den Christdemo- schult. Dafür überweist das Land Zu- politik habe mit der CDU nichts zu tun. kraten gesteuert werden. Die Hessische schüsse, genau wie an andere partei- Da kennt sie ihre Partei schlecht. Akademie für politische Bildung e. V., nahe Vereine. Dietmar Pieper die ihren Sitz in der CDU-Landesge- Der Unterschied liegt bei den Spen- schäftsstelle hat, ist bereits Thema im dern. Die CDU-Akademie kassierte al- Wiesbadener Untersuchungsausschuss lein 1998 und 1999 rund eine Million zur Finanzaffäre, weil sie für Zwecke Mark – die Vereine anderer Parteien der Partei in großem Stil Spenden kas- können davon nur träumen. Weil die siert hat (SPIEGEL 36/2000). Gönner das Geld teilweise als direkte Ebenso dürften sich die Abgeordne- Hilfe für Parteichef Roland Koch de- ten für die Verflechtungen interessie- klarierten, prüft der Wiesbadener Un- ren, die den Hessischen Verein für tersuchungsausschuss das Finanzgeba- Hochschulpolitik e. V. und das RCDS- ren der Akademie. Bildungs- und Sozialwerk Hessen e. V. Zu den Spendern der Akademie verbinden. Das Kürzel RCDS steht für zählte mit einer Gabe von 20000 Mark den Ring Christlich-Demokratischer im Jahr 1995 auch der Hessische Verein Studenten, die CDU-nahe Studenten- für Hochschulpolitik – eine Adresse, organisation, die von dem Bildungs- unter der sich zentrale Figuren und Sozialwerk vielfältig profitiert. der Finanzaffäre versammelt haben.

* Ende Oktober bei einem Empfang für hessische CDU-Chef Koch* Vereine und Landwirtschaftsverbände. Hilfe von Gönnern aus dem Netzwerk

36 der spiegel 45/2000 Schweizerischen Bankverein (heute UBS) deponierte Vermögen kontrollierten. Seine eigenen Herzprobleme, sagte Weyrauch den Staatsanwälten, sowie „das fortge- schrittene Lebensalter von Prinz Wittgen- stein“ seien die Gründe für die Umstel- lung gewesen: „Die Treuhandschaft sollte unabhängig werden von dem persönlichen Schicksal einzelner Personen.“ „Als potenziellen Nachfolger“ in der Stiftung Zaunkönig habe er, erklärte Wey- rauch, einen der Gesellschafter seiner da- maligen Frankfurter Wirtschaftsprüfer- kanzlei benannt, den Rechtsanwalt Ste- phan Bender. Vielleicht war die Vorsorge nicht gründ- lich genug. Bender konnte sich bei einer Zeugenaussage nur noch schwach daran erinnern, dass er sich einmal bereit erklärt habe, in einer Konto-Angelegenheit not-

falls als „Ersatzmann“ für Weyrauch ein- M. URBAN zuspringen. Er sei sich „ganz sicher, dass in CDU-Helfer Weyrauch: Nachfolge-Regelungen für den „Zaunkönig“ diesem Zusammenhang nie von einem Treuhandvermögen des CDU-Landesver- Wittgenstein lehnt eine Aussage bei der ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Der bands Hessen gesprochen wurde“. Später Staatsanwaltschaft ab. Seine Frankfurter CDU-Chef hatte im jüngsten Rechen- sei nie mehr die Rede davon gewesen, so Verteidiger, der Rechtsprofessor Peter Cra- schaftsbericht seiner Partei mit falschen Bender, deshalb sei er davon ausgegangen, mer und dessen Sohn Steffen Cramer, hal- Angaben operiert, woraufhin die Wirt- „dass sich das Thema erledigt habe“. ten die Auffassung der Straf- schaftsprüfer ihr Testat wider- Irgendwie erledigt hatte sich der Millio- verfolger selbstverständlich riefen. Die Ermittler dagegen nendeal auch für Kanther, erzählte er den für „völlig falsch“. gaben sich viel Mühe, in der Staatsanwälten. Mitte der neunziger Jahre Was wäre, argumentie- „schriftlichen Lüge“ Kochs habe er „die Sache für endlich beendet ge- ren die Wittgenstein-Anwälte, keine mögliche Straftat zu ent- halten“. Der penible Jurist will aber „kei- wenn die drei Eingeweihten decken – er habe ja nicht nur nen Anlass zu Nachfragen und Recher- die Parteimillionen Anfang ans Geld, sondern auch an chen“ gesehen haben. Tatsächlich lagen der achtziger Jahre unter sich den Ruf seiner Partei denken auf dem Geheimkonto am Ende noch 17 aufgeteilt hätten? Eine solche müssen: „Unter dieser Vor- Millionen Mark – mit Zins und Zinseszins. Straftat, sagt Cramer junior, aussetzung war dem Landes- Im Verfahren vertritt sich Kanther selbst, „wäre zweifellos verjährt“. vorsitzenden nicht möglich, schließlich sei er ja, erklärte er den ver- Nach Meinung des Verteidi- eine Untreuehandlung zu er- blüfften Staatsanwälten, in solchen Rechts- gers ist es „offenkundig unsin- kennen.“ fragen besser zu Hause als jeder Anwalt. nig“, den drei alten Herren Wittgensteins Verteidiger

Begleitet von einem handschriftlichen Brief heute deshalb den Prozess zu PRESS ACTION Cramer junior kommen die schickt Kanther zu seiner Verteidigung machen, „weil sie das Geld im Prinz Wittgenstein Formulierungen bekannt vor: schon mal eine druckfrische Klageschrift, Ausland für die CDU betreut CDU-Geld gemehrt „So argumentieren sonst nur welche die Bundes-CDU im Streit um die und gemehrt haben“. Verteidiger.“ Cramer ist si- Zuschüsse des Bundestagspräsidenten in Die Ermittler sehen das natürlich an- cher: „Nach den Kriterien, die sie bei Auftrag gegeben hat – das alte Netzwerk ders. Beginnen könne die Verjährung erst, Herrn Koch anwendet, hätte die Staatsan- funktioniert noch. so die Staatsanwaltschaft, „wenn das Ge- waltschaft auch das Verfahren gegen Prinz samtgeschehen vollständig abgeschlossen Wittgenstein einstellen müssen.“ Doch es ist“. Das sei erst im Januar 1998 der Fall ge- gelte wohl „zweierlei Maß“. wesen, als Kanther den CDU-Landesvor- Ein Risiko für Koch und Jung bleibt sitz an Roland Koch übergab und Wittgen- jedoch: Eine CDU-Buchhalterin, die im stein sein Amt als Schatzmeister nieder- Dezember, angeblich „in Panik“, ein Kas- legte: „Ab diesem Zeitpunkt hatte kein senbuch geschreddert und später ein Vorstandsmitglied der CDU Hessen mehr anderes nachgefertigt hat, wird voraus- Kenntnis von der Existenz des Geldes in sichtlich wegen Urkundsdelikten belangt. der Schweiz.“ Und die Ermittler versuchten, aus der Der heutige CDU-Chef Roland Koch geständigen Frau noch mehr herauszu- und sein Stellvertreter Franz Josef Jung holen. dürften diese Einschätzung mit Freude Ein Staatsanwalt nahm die langjährige hören. Ministerpräsident Koch steht unter treue CDU-Mitarbeiterin im März beiseite anhaltendem Druck der Opposition, weil und erklärte ihr, es sei doch schwer zu glau- viele Abgeordnete hoffen, ihn als Mitwis- ben, dass sie das Kassenbuch „ohne wei- ser der schwarzen Kassen entlarven zu teren Auftrag vernichtet“ habe. Ob sie sich können. denn nicht lieber durch eine Aussage „ent- Schon einmal behandelten die Wies- lasten“ wolle, statt aus „falsch verstande-

S. HUSCH / TERZ badener Staatsanwälte den Ministerprä- ner Loyalität“ zu schweigen. sidenten sehr zuvorkommend. Im Februar Bislang blieb die Frau bei ihrer Darstel- dieses Jahres lehnten sie es ab, gegen Koch lung. Georg Mascolo, Dietmar Pieper

der spiegel 45/2000 37 Werbeseite

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„Was ist ein geplatztes Trommelfell gegen Tausende Tote im Kosovo?“ EUROPAPARLAMENT Dass ihr frei flottierendes Enfant terrible im Europaparlament sitzt, haben die Grünen allerdings selber verschuldet. „Es Die grüne Sahra war ein Bärendienst, so ein junges Mäd- chen nach Europa zu schicken“, meint Von einer jungen Kollegin fühlen sich die deutschen Grünen Rühle heute. Weil sich Realos und Linke vor der im Europaparlament gemobbt. Dabei ist Ilka Schröder Kandidatenkür auf dem Parteitag in Er- nur so provozierend und frech, wie die Grünen einst waren. furt nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten, gab es im März vergan- link flitzt Ilka Schröder, 22, durch lich ungewöhnlich für die Grünen, auch genen Jahres unversehens einen demokra- die Wartehalle des Frankfurter Flug- wenn sie von der Antiparteienpartei der tischen Wettbewerb um die besten Listen- Fhafens. Eben blinkt hier noch ihr ro- Anfänge mittlerweile weit weg sind. plätze. ter Anorak auf, dort der kurze Haarschopf, Jämmerlich waren die Grünen bei der Und plötzlich stand da Ilka Schröder – dann ist die schmächtige Frau im Gewusel Europawahl 1999 untergegangen. Sie jung, weiblich und so herrlich frech, wie die der Menschen verschwunden – als wollte konnten nur noch sieben anstatt zwölf Ab- Grünen es vorzugsweise in ihrer senti- sie ihre Spur verwischen. geordnete ins Parlament entsenden. Und mentalen Erinnerung sind: „Die Alten ma- Dabei will die Grünen-Abgeordnete des unter den wenigen war Ilka Schröder aus chen Krieg, die Jungen Europa.“ So je- Europaparlaments doch nur ein paar Tage Berlin-Neukölln, ein Spross aus dem un- mand ziert die alternde Partei, fanden die verreisen. Wohin? „Sag ich nicht.“ Warum tersten Wurzelwerk der Partei, das einst Delegierten: Listenplatz fünf, ein Ticket nicht? „Ich habe meine Gründe.“ Welche? sinn- und existenzstiftend war, nun aber nach Brüssel. „Sag ich nicht.“ als störend empfunden wird. Zudem war Ilka Schröder trotz ihrer Ju- Diese sture junge Frau soll schuld dar- Sie stellt Fragen, über die die Grünen gend keine Unbekannte: Als 15-Jährige an sein, dass die deutschen Grünen im endlos und erbittert diskutiert haben – baute sie das bundesweite Grün-Alterna- Europaparlament nur noch ein schmäh- früher. Sie provoziert, verletzt Tabus und tive Jugendbündnis mit auf, seit 1996 ist lich zerstrittenes Häuflein sind, dem der fügt sich in bester Grünen-Tradition keinen sie Vorstandsmitglied der europäischen Spott der übrigen 41 bunten Fraktionskol- Autoritäten. Parteiräson, was ist das? Grünen Jugend. legen gilt. Während der angegraute Staatsmann „Meine Idee von Politik hat nichts mit Mit provozierenden Sprüchen über Joschka Fischer im Juni in an ei- Parteipolitik zu tun“, sagte die jüngste Krieg und Frieden, Armut, Wohlstand und nem Festakt zur Verleihung des Karlsprei- Europaabgeordnete kurz nach der Wahl, Asyl soll sie zwei der ehemals sieben deut- ses an US-Präsident Bill Clinton teilnahm, „sondern eher damit, aktiv zu sein. Ich schen Parlamentarier zur SPD geekelt, reihte sich Parteifreundin Ilka ein paar will gute Dinge tun.“ Fraktions-Schatzmeisterin Heide Rühle an Straßen weiter in eine lautstarke Demon- Sie kaufte mal einen Atomkraftgegner den Rand der Demission und viele andere stration gegen beide „Kriegstreiber“ ein. aus der Haft frei, weil der seine Geldstra- Grüne zur Verzweiflung getrieben haben. Den Farbbeutel-Wurf auf den Bundes- fe nicht bezahlen wollte, dann wieder ver- Ihr selbst droht wegen solcher Verfehlun- außenminister auf dem Parteitag in Biele- teilte sie in Berlin Trillerpfeifen und rote gen ein Parteiausschlussverfahren – ziem- feld 1999 fand sie nicht weiter erheblich: Farbe an Demonstranten, um ihnen eine

Grüne EU-Parlamentarier Schröder, Cohn-Bendit: „Sie nervt, aber die Fraktion muss in der Lage sein, ihr Grenzen zu setzen“ M. GRONEMBERGER / REPORTERSS / LAIF (li.);M. GRONEMBERGER / REPORTERSS (re.) REUTERS Werbeseite

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„phantasievolle“ Störung des Bundes- Flüchtlinge leisten, die „Dienstleistungen“ negaten zur SPD emigrierten. Der eher lin- wehrgelöbnisses zu ermöglichen. der Schlepper in Anspruch zu nehmen, um ke und in der Fraktion hoch angesehene Im Dezember vergangenen Jahres reiste nach Europa zu gelangen. Kreissl-Dörfler hatte schon seit einiger Zeit die Europaparlamentarierin nach Seattle, Als Ceyhun jetzt zur SPD konvertierte, mit seiner Partei gehadert und mangelnde um die Proteste gegen die Welthandels- war Ilka Schröder zufrieden: „Es fällt mir Einbindung und Unterstützung durch die konferenz zu beobachten und prügelnde schwer, darin einen Verlust für die grüne grüne Bundespartei beklagt. Der Realo Polizisten zu fotografieren. Fraktion zu sehen“, verbreitete sie in einer Ozan Ceyhun wiederum war lange schon Als zur Eröffnung der Expo die Polizei mit „Schily con Ceyhun“ überschriebenen mit der SPD im Gespräch. Die Trauer der das „Anti-Expo-Camp“ durchsuchte, warf Erklärung: „Zusammen mit dem alten und grünen Fraktionsführung über diesen Ver- sie den Beamten schlanker Hand vor, neuen Parteifreund Otto Schily kann Ozan lust hielt sich in Grenzen: Sie nahm ledig- „in die Fußstapfen ihrer jugoslawischen Ceyhun sich jetzt ungestörter seinem wich- lich „zur Kenntnis“, dass Ceyhun gegangen Kollegen unter Milo∆eviƒ“ ist – von Bedauern keine zu treten. Spur. Immerhin stieß sie im Die Berliner Parteifüh- Frühjahr aber auch eine rung glaubt, dass Ilka Schrö- große Debatte über das ders Eskapaden ein Aus- amerikanische Abhörsystem löser für das Zerbröseln der Echelon an, mit dem E- deutschen Gruppe in der Mails, Faxe und Telefonate Brüsseler Fraktion sind. weltweit abgefangen und „Die Äußerungen, die da ausgewertet werden können. kommen, sind keine grünen Das brachte ihr noch Positionen“, befindet Partei- Respekt ein, aber dann ka- chefin Renate Künast und men immer mehr dieser kündigte eine „ergebnis- Querschüsse, die Schröder offene“ rechtliche und poli- selbstironisch „Denkpause“ tische Prüfung des Falls nennt. So heißt ein kleines, Schröder an. stichelndes Mitteilungsblatt, „Soll mir nur recht sein“,

das sie Freunden schickt und AP sagt Ilka Schröder, die sich auch ins Internet stellt – Krawalle in Seattle (1999): Prügelnde Polizisten fotografiert fest auf dem Boden grüner www.ilka.org. Wertvorstellungen wähnt Eine OSZE-Mission müsse nach tigsten politischen Projekt widmen: dem und die Partei beileibe nicht freiwillig ver- Deutschland entsandt werden, um die Ausbau der Festung Europa.“ lassen will: „Ich mag das Programm der „staatliche und nichtstaatliche Verfolgung Eine Woche später floh der nächste Grü- Grünen, das ist eine gute Grundlage für von MigrantInnen“ zu untersuchen, ist ne zur SPD: Wolfgang Kreissl-Dörfler, 49. praktische Politik.“ dort etwa als ernst gemeinter Vorschlag zu Er verband mit seinem Ade den Rat, die Für Schatzmeisterin Rühle war nach lesen. Und: „Wer sicherstellen will, dass Nervensäge Ilka endlich rauszuschmeißen. dem Abgang des zweiten Grünen das Maß Deutschland weiterhin Kriege führen und Die ganze Aufregung um jedoch voll. „Es gibt keine gewinnen kann, sollte 2002 unbedingt die ihre Person kann sich Ilka politischen Gemeinsamkei- Grünen unterstützen.“ Schröder nur so erklären: ten mit Frau Schröder“, sagt Nicht alle Parteifreunde finden das ko- „Die anderen sind so hyste- sie, „mit ihren Dummheiten misch. Erst haben sie stirnrunzelnd zuge- risch, weil ich auf die Dis- hat sie sich außerhalb der schaut, dann mit anschwellendem Unmut krepanz zwischen Grünen- Partei gestellt.“ und schließlich mit nackter Wut reagiert: Programm und grüner Poli- Rühle, die früher mal „Wir sind keine Selbstfindungsgruppe“, tik hinweise.“ Sie sieht sich Bundesgeschäftsführerin der rügt das grüne Urgestein Friedrich-Wilhelm als verlängerten Arm der Grünen war, müht sich

Graefe zu Baringdorf, seit 1984 Mitglied außerparlamentarischen Op- DPA schon seit einiger Zeit ver- des Europäischen Parlaments, das „spät- position und wirkt wie eine Kreissl-Dörfler gebens, den grünen Trüm- pubertäre Verhalten“ seiner Fraktionskol- Gralshüterin der reinen Leh- merhaufen im EU-Parlament legin. „Diejenigen, die gute Arbeit gemacht re, eine grüne Sahra Wagen- zu ordnen. Nun drohte sie haben, gehen jetzt, und die, die Unfug ma- knecht. mit ihrem Rücktritt: „Ich chen, bleiben.“ Das Mädel sei schlicht kann nicht mehr verantwor- Gegangen ist vor knapp drei Wochen „eine dumme Gans“ und ten, dass Frau Schröder öf- zunächst der türkischstämmige Abgeord- habe eben „eine Vollmeise“, fentliche Mittel benutzt, um nete Ozan Ceyhun, 40, mit dem Ilka Schrö- meint dagegen lapidar der ihren Unsinn zu verbreiten“, der schon länger im Clinch lag. Als im Juni Sprecher der Grünen-Frak- erklärte sie.

58 illegale Einwanderer aus China erstickt tion im Bundestag, Dietmar S. HUSCH / TERZ Sanft gedrängt, auch von in einem Container im Hafen von Dover Huber. Ceyhun der Bundesparteiführung, gefunden worden waren, forderte Ceyhun Der erfahrene Rebell Da- Abtrünnige Grüne bleibt Rühle aber nun – vor- schärfere Polizei- und Grenzmaßnahmen niel Cohn-Bendit von den Von Bedauern keine Spur erst – im Amt. „Die Fraktion gegen die Schlepper-Kriminalität. französischen Grünen be- in Straßburg hat mir ihr Ver- Damit habe der Kollege den Toten noch trachtet die Vorgänge gelassener und trauen ausgesprochen“, sagt sie, „und Frau „zusätzlich ein Messer in den Rücken“ ge- nimmt die grüne Sahra weniger ernst. Schröder die Grenzen gezeigt. Einstimmig.“ stochen, zischte Schröder via Presseer- „Niemand tritt wegen Ilka Schröder aus Einstimmig? „Na klar, ich war doch auch klärung. Ihre Vorstellung von Einwande- der Fraktion aus“, sagt er, „sie nervt, aber dafür“, sagt Ilka Schröder. Schließlich habe rung hatte sie schon früher erläutert: „Die die Fraktion muss in der Lage sein, ihr sich die Fraktion ganz allgemein der Schleuser-Branche an der EU-Ostgrenze Grenzen zu setzen.“ Grundlagen ihrer gemeinsamen Zusam- sollte subventioniert werden“ – schließlich In Wahrheit war sie natürlich auch nicht menarbeit vergewissert: „Da steh ich voll könnten es sich nur noch wohlhabende der einzige Grund, weshalb die beiden Re- hinter.“ Hans-Ulrich Stoldt

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Dennoch: Im Rathaus geht die Angst um Bürgermeister gar nicht. „Sehr unästhe- CSU vor dem 7. November. An diesem Tag will tisch“ werde der Mann von Badegästen die CSU Pöpel wieder als Bürgermeister- empfunden, schrieb Pöpel, auch wirke er Toilettenbriefe kandidaten nominieren. Dass er dann im wegen seiner „zu kleinen Dienstkleidung“ kommenden März auch gewählt wird, gilt störend auf die Besucher. Pöpel räumte als sicher: Mit mehr als 60 Prozent der ihm vier Monate Zeit ein, um abzuspecken, aus Bayern Stimmen siegte der Christsoziale bei ver- anderenfalls drohte er arbeitsrechtliche gangenen Wahlen. Nun fürchten Beamte Konsequenzen an. Auf Mitteilungen eines Im bayerischen Rehau regiert der Kommune um ihre berufliche Zukunft. leitenden Beamten antwortet Pöpel schon Denn hinter der Rehauer Hochglanzfassa- mal mit dem Hinweis: „Künftige Schrei- ein christsozialer Bürgermeister de herrscht Krieg. Mit einer Petition an ben von Ihnen landen im Papierkorb.“ nach Gutsherrenart. Doch den Landtag und Bittbriefen an Minister- Auch mit Dienstgeheimnissen nimmt es die CSU hält an dem vorbestraften präsident Stoiber hofft vor allem die ÖTV, der Stadtchef offenbar nicht so genau. Parteifreund fest. Pöpels Kandidatur noch zu stoppen. Nachdem ein früherer Mitarbeiter die Alt- Seit Jahren nämlich lässt der Bürger- stadtsanierung kritisiert hatte, schickte Pö- enn Edgar Pöpel, 62, von Franz meister offenbar viel Phantasie walten, pel den Stadträten „zu Ihrer persönlichen Josef Strauß spricht, legt er bei- wenn es darum geht, unliebsame Mitar- Orientierung“ vertrauliche Daten aus der Wnahe zärtlich seine Hand auf die beiter zu schikanieren – vor allem, wenn Personalakte. Darin hieß es, der Mann sei Bronzebüste des verstorbenen CSU-Vor- sie dem Personalrat angehören. Ein ge- in die Nervenklinik eingeliefert worden sitzenden. „Strauß ist mein Vorbild“, sagt parktes Auto vor dem Rathaus ließ er vom und wegen Alkoholmissbrauchs nur ein- der Bürgermeister der nordbayerischen Bauhof mit schwerem Gerät einkesseln. geschränkt verwendungsfähig. Stadt Rehau mit fester Stimme. Der Wagen gehörte einem Angestellten, Den bisher höchsten Bekanntheitsgrad Doch auch Pöpel hat einen Verehrer – den Pöpel aufgefordert hatte, sich einen erreichten Pöpels so genannte Toiletten- den bayerischen Ministerpräsidenten Ed- anderen Parkplatz zu sichern. briefe. Dem Personalratschef und Leiter mund Stoiber. Nicht länger Bill Clinton, Auch der Bademeister, ein gestandenes des Liegenschaftsamts Helmut Auer warf sondern Edgar Pöpel werde er sich künf- Mannsbild, fiel in Ungnade. Als er sich in Pöpel vor, er verbringe einen wesentlichen tig zum Vorbild nehmen, rühmte Stoiber den Personalrat wählen ließ, gefiel das dem Teil seiner Arbeitszeit auf dem Klo oder 1998, als ihm in Rehau als „Mann des zumindest nicht im Büro, umgerechnet 1,5 öffentlichen Lebens“ die „Goldene Kar- Stunden wöchentlich. Der Beweis: Auer toffel“ verliehen wurde. Der bayerische meldete dem Bauamt eine ausgefallene Be- Regierungschef riet allen Bürgermeistern leuchtung in der Herrentoilette. Pöpel: seines Landes, sich an Pöpel ein Beispiel „Damit bringen Sie selbst zum Ausdruck, zu nehmen. dass Sie sich noch während der Dunkelheit Verständlich, auf den ersten Blick. Denn unmittelbar nach Dienstbeginn auf die Toi- Rehau ist in den fast 18 Jahren, in denen lette begeben und damit Ihren Diensther- der CSU-Mann regiert, zur wirtschaftlich ren ausnutzen wollten.“ stärksten Stadt Bayerns aufgestiegen. In Die Beamten wehren sich vor Gericht: einer Region mit rund neun Prozent Ar- Edgar Pöpel ist mittlerweile wegen Nöti- beitslosenquote ist der Rehauer Arbeits- gung und Verrat von Dienstgeheimnissen markt leer gefegt, die Baubranche boomt, rechtskräftig verurteilt, die Staatsanwalt- die Stadt ist beinahe schuldenfrei. Pöpel schaft Hof hat nach neuen Strafanzeigen bekam vom Bund der Steuerzahler Bayern weitere Ermittlungsverfahren eingeleitet. wegen vorbildlicher Haushaltsführung den 1993 kürzte das Verwaltungsgericht Ans-

Sparehrenpreis überreicht. M. WEBER W. bach dem Bürgermeister in einem Diszi- plinarverfahren die Bezüge für ein halbes Jahr, jetzt reichte der Stadt- rat eine neue Dienstaufsichtsbe- schwerde ein. Pöpel droht nun laut ÖTV die Amtsenthebung. Edgar Pöpel indes glaubt an eine „gezielte Rufmordkampagne“, die von der ÖTV unterstützt werde. Die Gewerkschaft wolle ihn aus ideologischen Gründen und wegen seiner Erfolge weghaben. „Neid und Missgunst feiern hier fröhliche Urständ“, sagt der Bürgermeister. Die CSU steht trotz allem zu ihrem Pöpel. Ihr Chef Stoiber al- lerdings ist offenbar verunsichert, ob er noch länger an seinem Vor- bild festhalten soll. Nach den Pro- testen aus Rehau heißt es nun in der Staatskanzlei, der Minister- präsident habe sich mit seiner Pö- pel-Eloge anno ’98 auf die Kom- mune insgesamt und nicht auf ein-

FOTO-RIEDL zelne Personen bezogen. CSU-Bürgermeister Pöpel, Industriestadt Rehau: Krieg hinter der Hochglanzfassade Conny Neumann

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ren aus Sicht der KBV me- dizinisch nicht notwendig. Häufig vermerkten Ärzte auf ihren Überweisungsscheinen nicht genau, welche Unter- suchungen sie tatsächlich an- forderten. Das ermöglichte den Labors, die Leistungs- menge selbst zu vergrößern – in der Branche hieß das „Scheine veredeln“. Beim Eindämmen der Tricksereien sind die Refor- mer aber übers Ziel hinaus- geschossen. Um 15 Prozent sollte die Zahl der Laborun-

W. M. WEBER W. tersuchungen reduziert wer- Medizinisches Großlabor (in Augsburg): Fünf Mark pro Kassenpatient und Quartal den, doch die Mediziner schickten nach Statistiken die neue Zurückhaltung haben kann, lässt des Berufsverbands der deutschen La- GESUNDHEIT eine Epidemie im badischen Dorf Kraichtal- borärzte gleich 40 Prozent weniger Pro- Münzesheim erahnen. Innerhalb von vier ben in die Labore. Viele Ärzte, kritisiert Gefährliche Wochen erkrankten dort über 40 Kinder an Petersen, seien „wie gelähmt und unter- eitrigem Husten und Fieber. Kein Arzt er- lassen notwendige Untersuchungen“. kannte die Ursache – eine Mycoplasmen- Alle Laboruntersuchungen, die ein Arzt Nebenwirkung Infektion. in Auftrag gibt, sind seit der Reform bud- Erst als ein Patient mit Lungenentzün- getiert – ein Internist darf etwa fünf Mark Der Versuch, die Abrechnungs- dung in die Klinik eingeliefert wurde, wur- pro Kassenpatient und Quartal aufwenden. de das Gesundheitsamt benachrichtigt, das Kommt er mit dem Geld aus, erhält er am tricksereien in medizinischen Labors Blutuntersuchungen veranlasste. Der be- Quartalsende einen Wirtschaftlichkeits- zu beenden, gelang radikaler als handelnde Arzt hatte darauf verzichtet. bonus – bei einem Internisten mit 1000 Pa- erwartet. Folge: Die Versorgung der „Durch die Laborreform sind die Ärzte zum tienten sind das etwa 3000 Mark. Jede Patienten hat sich verschlechtert. Rumbasteln gezwungen“, klagt der Medi- Mark, die über das Budget hinausgeht, wird ihm vom Bonus abgezogen. ei seinem Hausarzt klagte Heinz D. Mancher Arzt verzichtet da lieber aus Hamburg über starke Schmer- Gesundgespart? auf die Medizin als auf sein Geld Bzen in der Brust. Nach einem EKG Wie durch weniger Laboruntersuchungen und vermutete der Mediziner einen Herzin- die Zahl der gemeldeten Infektionskrankheiten • verschreibt oftmals breit wirkende farkt. Um Sicherheit zu haben, veranlasste zurückgeht Antibiotika ohne genaue Unter- er eine Blutuntersuchung. Doch statt 40 Quelle: Robert-Koch-Institut suchung. Die sind billig im Preis, Mark für den zuverlässigen Troponin-Test aber reich an Nebenwirkungen; auszugeben, entschied sich der Doktor für Salmonellen Rota-Viren Hepatitis A • untersucht den Patienten nur bei eine veraltete, aber billige Methode. Bei „Durchfall-Viren“ konkreten Schmerzen. Für Vor- der beliefen sich die Gebühren auf nur 50 12863 16587 735 sorgeuntersuchungen oder Kon- Pfennig. Der Test war negativ, der Patient vor der Reform: 1. Quartal 1999 trolle langfristiger Erkrankungen wurde nach Hause geschickt. bleibt im Budget kein Platz; Als die Schmerzen zunahmen, machte • verschiebt Laboruntersuchungen sich der Mann ohne Einweisung auf den aufs nächste Quartal, wenn das Weg ins Krankenhaus. Dort bestätigte ein Budget erschöpft ist; Troponin-Test den Infarktverdacht. Der Pa- –30% –16% –15% • schickt Patienten oft ohne Vor- tient kam auf die Intensivstation. untersuchung direkt zum Spe- Für den Freiburger Mediziner Eiko Pe- zialisten oder in die Ambulan- 9022 13900 628 tersen ist D. „nicht zuletzt ein Opfer der nach der Reform: 1. Quartal 2000 zen der Krankenhäuser. Laborreform“. Das Leben des Patienten Trotzdem verteidigt KBV-Exper- sei gefährdet gewesen, weil ein Arzt mehr te Andreas Köhler die Reform. Der auf die Wirtschaftlichkeit seiner Arbeit ziner Dieter Hassler, der den Fall rekon- erste Versuch, die jahrelangen Fehlent- denn auf das Wohl des Kranken geachtet struierte. Die Folge sei alarmierend: „Wir wicklungen zu bereinigen, sei ein „ge- habe. Und das, so der Infektiologe, sei werden infektiologisch zu einem Land der nialer Erfolg“. Und die unerwünschten eine gefährliche Nebenwirkung der Neu- Unwissenden.“ So nahm die über Jahre Auswirkungen bei meldepflichtigen In- ordnung, mit der die Kassenärztliche Bun- konstante Zahl der Salmonellenvergiftun- fektionskrankheiten habe man korrigiert, desvereinigung (KBV) im Juli 1999 die gen um 30 Prozent ab. Für Wolfgang Kiehl, indem man sie wieder von der Budgetie- Korruption in medizinischen Labors zu un- Epidemiologe am Robert-Koch-Institut, gibt rung ausgenommen habe. terbinden versuchte. Seitdem gilt: Wer we- es dafür „keine medizinische Erklärung“. Doch die Zahl der entdeckten Infek- niger Laboruntersuchungen in Auftrag gibt, Da bleibt nur diese: Salmonellenvergiftun- tionsfälle hat sich, das weisen Statistiken wird belohnt. gen wurden nicht mehr festgestellt. von Hans Rodt, dem Vorsitzenden des Nicht nur in Einzelfällen ist das Leben Dass eine Reform im Laborbereich not- Laborverbands, aus, nicht normalisiert. der Patienten in Gefahr. Vor allem die Ein- wendig war, ist unbestritten. Die Zahl der Rodt: „Die Ärzte sind verunsichert und dämmung von Infektionskrankheiten be- Laboruntersuchungen war in den letzten verzichten weiterhin auf die Untersu- darf der Labordiagnostik. Welche Folgen Jahren kontinuierlich gestiegen. Viele wa- chungen.“ Sebastian Raedler

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BÜRGERRECHTLER Gärtnerin am Hang Die Symbolfigur der DDR- Revolution hat genug von deutscher Politik. Bärbel Bohley beginnt in Kroatien ein neues Leben. ie Luft über den dalmatinischen Bergen Kroatiens ist warm und Ddunstig, der Blick von der Terrasse der „Villa Bärbel“ reicht weit übers Meer zu den Buchten der Insel Bra‡: Bärbel

Bohley, 56, die ostdeutsche Bürgerrechtle- / MELDEPRESS A. VOELKEL rin, hat ihren neuen Lebensplatz sorgfältig Aussteigerin Bohley (vor ihrem Haus in —elina): „Geistiger Stillstand in Deutschland“ gewählt. Unten am Fuß ihres Hauses in dem klei- Stippvisiten in der Heimat fest. Ob der Sarajevo nen Dorf —elina nahe der Hafenstadt Split arme Punk, der an der U-Bahn mit seinem KROATIEN verblasst auf einem Partisanendenkmal ein Hund um eine Mark bettele, oder der rei- Split roter Stern; vom Eiland gegenüber wurde, che Unternehmer, der herummosere, dass —elina BOSNIEN- ebenfalls geschichtsträchtig, für den Bau er zu viele Steuern zahle – die Deutschen Bra‡ HERZEGOWINA des Reichstags und des Weißen Hauses seien „ein Volk von Jammerern“. Hvar Marmor abgetragen und verschifft. Deutsche Politik findet die Wortführerin 30 km Unweit der Villa Bärbel besitzt eine Fa- des Wendeherbstes 1989 heute „langwei- Adria milie aus Kassel ein Haus, eine deutsche lig“. Kanzler Schröder erinnere sie inzwi- Freundin will noch nachziehen. Bohley schen an Erich Honecker: „Er geht durchs wurde ein Terrassenlabyrinth mit drei klei- schwebt eine Deutschen-Kolonie vor, fern Land und verkündet.“ Ob Greencard oder nen Wohnetagen, einem Freiluft- und ei- der deutschen „Fun-Gesellschaft“. die Holzmann-Rettung – die eigentlich nem Mansardenatelier – falls die gelernte wichtigen politischen Debatten, wie Kunstmalerin Bohley nach längerer Schaf- eine über Einwanderung oder die fenspause mal wieder arbeiten will. Zukunft der produzierenden Indu- Die Bewohner von —elina, allesamt strie, fänden nicht statt: „Ich frage Kroaten, haben sie trotz der Ehe mit einem mich, um was geht es eigentlich, Bosnier rasch akzeptiert. Vor wenigen Mo- drei Prozent Wirtschaftswachstum naten wurde sie sogar zur Bürgermeisterin rauf oder runter, was soll das?“ gewählt, obgleich sie die Landessprache Die Konsequenz der ehemaligen nur mangelhaft beherrscht. Seit Bohley im Dissidentin: der Rückzug ins Pri- Herbst 1999 nach —elina kam, organisierte vate. Bärbel Bohley begann ein sie in dem armen Weiler immerhin schon völlig neues Leben. Sie heiratete die Modernisierung der Straßenbeleuch- wieder und heißt nun Bohley- tung. Als Nächstes will sie die Bürger des Lukiƒ. Ihren Mann Dragan, 54, ein Ortes an einem großen Tisch versammeln Bauunternehmer und früherer Ab- – der letzte Weltkrieg hatte die beiden Fa-

K. MEHNER fahrtsskiläufer der jugoslawischen milienclans von —elina in Ustascha- und Bürgerrechtlerin Bohley* Nationalmannschaft aus Sarajevo, Tschetnik-Anhänger entzweit. Nicht ewig die „Sozialtante“ bleiben lernte sie in Bosnien kennen. Es Nach den aufreibenden Jahren in Sara- war Liebe „auf den ersten Blick“, jevo wollte Bohley nicht länger im unwirt- Eine Rückkehr nach Berlin stand für die erzählt er gern. Sie sei ihm auf der Straße lichen Bosnien bleiben: „Ich habe kein Symbolfigur der DDR-Revolution nach in Sarajevo entgegengekommen, und er Helfersyndrom.“ In Deutschland, fürchte- ihrem mehrjährigen Engagement in Bos- habe gewusst: „Das ist sie.“ Bohley lächelt te sie, wäre sie auf Jahre die „Sozialtante“ nien gar nicht erst zur Diskussion. „Die dann viel sagend und schweigt; öffentlich geblieben. Bis heute schreiben ihr Opfer deutsche Saturiertheit geht mir auf die romantische Gefühle zu zeigen ist nicht des SED-Regimes, die keine Genugtuung Nerven“, sagt Bohley, während sie einen ihre Sache. erfahren haben, und ehemalige DDR-Bür- duftenden Eintopf aus selbst gezogenen Gut drei Jahre lang hatte die Ost-Berli- ger, die sich in der neuen Republik nicht Auberginen, Tomaten und Paprika auf den nerin im Auftrag der Europäischen Union zurechtfinden, und bitten sie um Hilfe. Küchentisch setzt. Dächer für die im Krieg zerstörten bosni- Doch selbst wenn sich die ehemalige Deutschland befinde sich in einer „geis- schen Häuser bauen lassen – ein Kno- Bürgerrechtlerin noch aufrichtig über den tigen Krise“, die nur verdeckt werde durch chenjob, der die zierliche Frau fast an ihre Einzelfall erregen kann – wie bei dem Baut- das „materielle Streben“, stellte sie bei physischen Grenzen führte. Gleichzeitig zen-Insassen, der sich mit seiner Haftent- verdiente sie so viel wie nie zuvor. Von schädigung ein Auto kaufte und deshalb * Bei einer Großdemonstration für freie Wahlen in der dem Geld baute sie sich zusammen mit seine Berechtigung auf Sozialhilfe verlor –, DDR im November 1989 in Berlin. Ehemann Dragan das Haus in Kroatien. Es erscheinen ihr die Nöte und Leiden vieler

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Deutscher nach den Erfahrungen in Bos- ter Helmut Kohl herlaufe“, und welcher nien inzwischen deutlich relativiert. „Ehrgeiz“ sie treibe, „dieses Leiden“, das Ihr Umzug nach Kroatien ist jedoch al- mit dem Amt verbunden sei, „auf sich zu lem voran eine private Entscheidung. Das nehmen“. Ehepaar Bohley-Lukiƒ mochte sich gegen- Schlimmer als bei den Christdemokraten seitig nicht zumuten, im jeweiligen Land sei es jedoch bei den Grünen, wo es quasi des anderen als Ausländer zu gelten. Der zum Parteiprogramm gehöre, den Mitglie- Plan war, noch mal von vorn anzufangen, dern Meinungsfreiheit vorzuspiegeln: „Es fern von Erwartungen und Vorurteilen. ist wahrscheinlich leichter, bei der CDU Bohley wollte auch persönlich etwas als Christ authentisch zu bleiben denn als Neues wagen: Als Mutter eines heute 30- Idealist bei den Grünen.“ jährigen Sohnes hatte sie während ihrer Schließlich wirft die Balkan-Erfahrene siebenjährigen Ehe mit einem Maler aus dem diplomatischen Personal der Bundes- Halle nie mit ihrem Mann zusammenge- republik in Bosnien vor, eher an seinen lebt. „Und jetzt klappt das überraschend Karrieren als an seinen Aufgaben inter- gut“, sagt sie und berichtet, wie sie erstmals essiert zu sein. Wie der heutige Kanzler- im Leben so etwas wie ein Hausfrauenda- Berater in außenpolitischen Fragen und sein führt: Gärtnern am Hang, Hausarbei- frühere Stellvertreter des EU-Chefkoordi- ten und Spaziergänge mit dem jungen La- nators in Bosnien, Michael Steiner, der sich brador-Hund —elo. 1997 laut Bohley habe ablösen lassen, weil Das Ehepaar hat häufig Be- such aus Deutschland oder Bosnien. Sonst vergehen die Tage hier in —elina eher ereig- nislos. Gemeinsames Teetrin- ken morgens um 7 Uhr, Mittag- essen um 13 Uhr, abends sehen sie die Nachrichten, jeder seine – Lukiƒ bosnisches Fernsehen, Bohley die Tagesschau. Die Verständigung untereinander scheint auch ohne viele Worte zu funktionieren – Dragan ver- steht sich auf das Deutsche etwa ebenso gut wie Bohley auf das Serbokroatische.

Vorläufig scheint Bohley an- / DER SPIEGEL S. KOELBL gekommen. Warum nicht den Ehepaar Bohley-Lukiƒ*: „Liebe auf den ersten Blick“ Rest des Lebens hier verbrin- gen? „Ich konnte schon immer gut nichts er nicht zum Nachfolger von Carl Bildt be- tun und einfach nur vor mich hingucken“, rufen wurde, sähen viele Ex-Jugoslawien sagt Bohley. offenbar als „Arbeitsbeschaffungspro- Weder die Distanz von tausend Kilome- gramm für Karrieristen“. tern noch die wiedergefundene Gelassen- Dass ihre Ansichten selten mehrheits- heit haben ihr jedoch die Lust genommen, fähig sind, stört die Radikaldemokratin, die gesellschaftlichen Verhältnisse in die aus Gewohnheit keine Artikel über sich Deutschland auf die ihr eigene Weise kühl liest („Das würde ich gar nicht aushalten“), zu sezieren. Immer noch pflegt sie jenes ul- kein bisschen. So glaubt sie fest daran, dass timative Urteil, das viele nervt und von Volksentscheide „eine heilsame Debatte Betroffenen oft nicht leicht auszuhalten ist. anstoßen“ – selbst wenn am Ende die Ein- Langjährigen Weggefährten wie den führung der Todesstrafe oder ein Auslän- Unions-Bundestagsabgeordneten Vera derstopp stünde. Oder dass die konse- Lengsfeld, 48, und Arnold Vaatz, 45, krei- quente Jagd auf Kriegsverbrecher wichtig det Bohley an, die CDU, unter deren Me- sei, „um Millionen Menschen zu zeigen, chanismen und Zwängen sie offensichtlich dass Gerechtigkeit etwas bedeutet“. Da litten, nicht längst wieder verlassen zu ha- müsse sogar in Kauf genommen werden, ben – aus „Angst vor dem Bedeutungs- dass ein Zugriff womöglich „das Leben von verlust“. Schon die SED-Genossen, sagt 30 Spezialkräften kostet“. Bohley, habe sie damals nicht dafür kriti- Dann schenkt sie den kroatischen Rot- siert, dass sie „reinen Herzens“ Mitglie- wein in allen Gläsern nach, widmet sich der der Partei wurden, sondern dafür, dass den Nudeln mit Basilikum aus ihrem Gar- sie, als sie mit deren Praxis nicht mehr ein- ten und sagt, wie beiläufig, dass sie an- verstanden waren, „nicht mehr hinausge- gesichts des „geistigen Stillstands“ in gangen“ seien. Deutschland im Moment nichts erkennen Bei der CDU-Vorsitzenden Angela Mer- könne, wofür sich ihr Einsatz lohne. kel frage sie sich, welche Grundmentali- Lieber geht sie noch ein wenig hinaus in tät jemand mitbringe, der „zehn Jahre hin- die sternenklare Nacht, um mit Dragan und —elo eine Runde zu drehen. * In einem Restaurant in —elina. Susanne Koelbl

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Werbeseite Deutschland GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA Wrackteile des PanAm-Jumbos „Maid of the Seas“ (nahe der schottischen Ortschaft Lockerbie 1988): „Bombe an Bord“

TERRORISMUS „Dramatische Wende“ In einem der aufwendigsten Verfahren der jüngeren Rechtsgeschichte bahnt sich ein Eklat an. Im Prozess gegen die mutmaßlichen Lockerbie-Attentäter mehren sich die Zweifel an der Schuld der Angeklagten. Neue Spuren führen nach Syrien, Deutschland und Norwegen.

ord Advocate Colin Boyd rang sicht- eine vorläufige Aussetzung des Verfahrens. en Papieren ergäben. Erst dann könne wei- bar um Fassung. Am 9. Oktober bat Er habe „am 4. Oktober komplexe und ter verhandelt werden. Das Gericht ent- LSchottlands Chefankläger die vier hoch sensible“ Informationen erhalten, sprach seinem Antrag. Richter, die einen der grausamsten Terror- über die er „zurzeit keine weiteren Anga- Am vergangenen Dienstag wurde der akte der letzten Jahrzehnte sühnen sollen, ben machen“ könne. Die Unterlagen seien Prozess erneut vertagt – diesmal auf Bitten „mit Bedauern“ und belegter Stimme um „aus einem fremden Land“ übersandt wor- der Verteidigung. Auch die Anwälte, Wil- den und für die „Beweisführung im vor- liam Taylor und Richard Keen, die am liegenden Fall relevant“. 23. Oktober von der Staatsanwaltschaft Der Kompromiss-Prozess Bei dem „Fall“, der seit dem 3. Mai Kopien der Dokumente erhalten hatten, nach schottischem Recht im niederländi- beschränkten sich in ihrer Begründung auf Das Verfahren gegen die beiden Libyer ist schen Kamp Zeist verhandelt wird, han- rätselhafte Andeutungen. ein Novum in der Rechtsgeschichte – Er- delt es sich um den Bombenanschlag auf Taylor erklärte, Mitarbeiter seiner Kanz- gebnis eines politischen Kuhhandels. eine Boeing 747 der US-Fluggesellschaft lei hätten mehrere Personen in einem eu- Nachdem Amerikaner und Schotten 1991 Pan American (PanAm). Die Maschine war ropäischen Land befragt, das „zurzeit nicht Haftbefehl gegen die mutmaßlichen At- am 21. Dezember 1988 über der schotti- genannt werden könne“. Die Polizei dieses tentäter erlassen hatten, weigerte sich der schen Ortschaft Lockerbie explodiert. Alle Staates, der in den Lockerbie-Ermittlun- libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi, 259 Insassen des Jumbo-Jets die Beschuldigten auszuliefern. Die „Maid of the Seas“ und 11 Folge: Ein Embargo-Beschluss der Verein- Dorfbewohner kamen damals ten Nationen. ums Leben. 1993 erklärten sich die Libyer zur Auslie- Bislang sehen es die Vertre- ferung bereit, aber nur in ein „neutrales ter der Anklage als gesichert Land“. Amerikaner und Briten lehnten ab. an, dass die libyschen Geheim- 1994 schlug Robert Black, Rechtsprofes- agenten Amin Chalifa Fuheima sor an der Universität Edinburgh, ein und Abd al-Bassit Ali al-Mi- schottisches Gericht in den Niederlanden, krahi die Tat ausgeführt haben. dem Sitz des Internationalen Gerichts- Das Motiv: Rache für einen hofs, vor. US-Luftangriff auf Tripolis. Libyen akzeptierte, schließlich 1999 auch Dennoch, so Boyd, sei es, im die USA und Großbritannien. Kamp Zeist, Interesse eines „fairen Verfah-

ein ehemaliger Militärstützpunkt, wurde rens für die Angeklagten“ un- DPA FOTOS: zum Gerichtssitz umgebaut. abdingbar, „schwierige Fragen“ Beschuldigte Fuheima, Mikrahi (1992) zu klären, die sich aus den neu- „Schwierige Fragen“

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Werbeseite Deutschland gen bislang keine Rolle gespielt habe, sei für den jähen Richtungswechsel „kooperativ“, bestehe jedoch für weitere ausschlaggebend waren. Immer- Ermittlungen auf einer formalen Anfrage hin lebt der Chef der PFLP-GC, des Gerichts. Ahmed Dschibril, in Damaskus Darüber hinaus müssten Interviews mit und erfreut sich seit Jahrzehnten weiteren Zeugen im Mittleren Osten, in den der Protektion des syrischen Re- USA und Deutschland geführt werden, ehe gimes. die Verhandlung fortgesetzt werden können. Ermittlungen gegen von Syri- Die Geheimniskrämerei auf beiden Sei- en unterstützte Terroristen, so ten ist mehr als nur Prozesstaktik. Terro- der Verdacht, passten 1991 nicht rismus-Experten wie Vincent Cannistraro, ins außenpolitische Konzept von der bis Ende 1990 die Lockerbie-Ermitt- Amerikanern und Briten. Denn lungen der amerikanischen Central Intelli- mit dem Einmarsch der Truppen gence Agency (CIA) leitete, werten sie als Saddam Husseins in Kuweit im „dramatische Wende“. August 1990 hatten sich die Ver- Ein Eklat bahnt sich an. Nach jahrelan- hältnisse im Nahen Osten geän- gen Ermittlungen, in denen Fahnder gut dert. Syrien wurde zum Verbün- 15000 Zeugen aus 50 Ländern vernommen deten des Westens und schickte und mehr als 100000 Beweisstücke unter- Truppen für die Operation „De- sucht haben, gibt es offenbar Spuren, die sert Storm“ – ein wichtiger bislang übersehen oder ignoriert worden Schritt für die Akzeptanz der sind. Einer der aufwendigsten Mordpro- Anti-Irak-Koalition in der arabi- zesse der jüngeren Geschichte, geschätzte schen Welt. Kosten: 1,6 Millionen Mark pro Woche, Auch manche Polizisten und droht zu platzen. Geheimdienstler, die mit dem Vor allem Taylors Andeutung, die neu- Lockerbie-Attentat befasst wa- en Recherchen hätten bislang unbekannte ren, glauben, die Ermittlungen

Fakten über eine 1988 in Deutschland ope- AFP / DPA seien auf dem Altar geostrategi- rierende palästinensische Terrorgruppe, die PFLP-GC-Chef Dschibril: Im Auftrag der Iraner? scher Überlegungen geopfert „Volksfront für die Befreiung Palästinas- worden. Sie sind noch immer Generalkommando“ (PFLP-GC), zu Tage Luftdruck einen Zeitzündmechanismus überzeugt, dass die Drahtzieher des gefördert, alarmierte die Fachwelt. auslöst. Eine Vorrichtung, die nur dann Anschlags nicht in Tripolis, sondern in Der Grund: Am 26. Oktober, knapp zwei Sinn ergibt, wenn man ein Flugzeug in der Teheran sitzen und die PFLP-GC mit der Monate vor Lockerbie, waren in verschie- Luft sprengen will. Ausführung beauftragt haben. Angeblich denen deutschen Städten 16 Mitglieder der In einem ähnlichen Gerät derselben wollte Ayatollah Chomeini Rache für den Organisation nach mehrwöchiger Obser- Marke war auch der Sprengsatz versteckt, versehentlichen Abschuss eines Iran-Air- vation festgenommen worden. In einer der im Frachtraum der Boeing 747 über Jets über dem Persischen Golf durch den Wohnung in Frankfurt beschlagnahmten Lockerbie explodierte. Mehr als zwei Jah- US-Raketenkreuzer „Vincennes“. 290 Ira- Fahnder ein riesiges Waffenarsenal sowie re lang hatten sich die Ermittler deshalb ner waren bei dem Unglück im Juli 1988 mehrere Kilo Plastiksprengstoff und TNT. auf die PFLP-GC, ihr Umfeld und ihre po- getötet worden. Im Wagen des Anführers der Gruppe, litischen Verbindungen im Mittleren Osten Die alte These von der Iran-PFLP-GC- Hafez Kassem „Dalkamoni“, der in Neuss konzentriert. Erst im Herbst 1991 waren Connection hatte schon vor der Ausset- verhaftet wurde, lag ein zur Bombe um- sie, gewissermaßen über Nacht, auf die li- zung des Prozesses in Kamp Zeist zuneh- funktioniertes Radio vom Typ „Toshiba bysche Spur umgeschwenkt. mend an Plausibilität gewonnen. Denn den Bombeat“. Die Höllenmaschine hatte ei- Angehörige der Opfer hatten schon da- Verteidigern der beiden Libyer war es ge- nen Höhenzünder, der bei bestimmtem mals geargwöhnt, dass politische Gründe lungen, die Anklage in wesentlichen Punk- ten zu erschüttern. Beispiel Nr. 1: Nach Ansicht der Staats- anwaltschaft ist die Bombe, die in einem rotbraunen Samsonite-Hartschalenkoffer im Frachtraum des Jumbos explodierte, vom maltesischen Flughafen Luqa aus auf den Weg gebracht worden. Die beiden Libyer, die auf der Mittel- meerinsel als Angestellte der Libyan Arab Airlines getarnt arbeiteten, sollen den Bombenkoffer an Bord des Air-Malta-Flu- ges KM 180 nach Frankfurt geschmuggelt haben. Dort wurde das unbegleitete Gepäckstück, laut Anklage, auf den PanAm-Zubringerflug 103 nach London transferiert, wo es in den Frachtraum der Unglücksmaschine umgeladen worden sei. Doch im Prozess konnte die Staatsan- waltschaft noch nicht einmal beweisen, dass es am 21. Dezember 1988 an Bord des

SIPA PRESS SIPA * Mit dem späteren Staatspräsidenten Ali Akbar Hasche- Ayatollah Chomeini (r.)*: Rache für den Abschuss des Iran-Air-Jets? mi Rafsandschani.

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Werbeseite Fluges KM 180 einen unbe- ihren Kollegen von der Bun- gleiteten Koffer gab. Die La- despolizei. Ab dem 14. Juli er- deliste stimmte exakt mit der innerte sich Giaka an alles, Zahl der von den Passagieren was ihm im Verlauf seiner aufgegebenen Gepäckstücke dreijährigen CIA-Karriere überein. Die als Zeugen gela- nicht eingefallen war. denen Fluggäste sagten uniso- Harold Hendershot, der no aus, sie hätten ihr Gepäck FBI-Mann, der ihn damals am jeweiligen Zielflughafen vernommen hatte, musste in vollständig vorgefunden. Zeist gleich nach seinem Beispiel Nr. 2: Der Auftritt Schützling in den Zeugen- des Hauptbelastungszeugen stand. Entsprechend elend Abd al-Madschid Giaka Ende war sein Auftritt. Er räumte September in Kamp Zeist. Die ein, dass Giakas Aussagen be-

Aussagen des ehemaligen li- DPA züglich des Koffers zunächst byschen Geheimdienstlers ge- PFLP-GC-Radiobombe (1988): Höllenmaschine mit Höhenzünder „vage“ gewesen seien. In den genüber Angehörigen des folgenden Monaten habe er amerikanischen Federal Bureau of Investi- Nach Aktenlage konnte er jedoch sei- seine Ausführungen jedoch zunehmend gation (FBI) hatten im November 1991 zu nen Agentenführern keine brauchbaren In- präzisiert. den Haftbefehlen gegen Fuheima und Mi- formationen über den Anschlag auf den Danach wurde Hendershot, der von An- krahi geführt. PanAm-Jumbo liefern. Die notierten 1989 fang an bei den Lockerbie-Ermittlungen Am Vorabend des Attentats will Giaka resigniert: „Es scheint, dass PanAm 103 im dabei war, immer wortkarger. Als die Ver- die Angeklagten mit einem rotbraunen Kreise seiner Kollegen kein Thema ist.“ teidiger Taylor und Keen ihn nach einem Hartschalenkoffer auf dem Flughafen von Einer seiner damaligen Kollegen war der PFLP-GC-Angehörigen befragten, den er Malta gesehen haben. Darüber hinaus hat- Angeklagte Fuheima. 1989 in Schweden vernommen hatte, ließ te er in FBI-Vernehmungen zu Protokoll Statt dessen nervte die intern P1 ge- ihn sein Gedächtnis ganz im Stich. gegeben, Fuheima sei im Besitz von zehn nannte Quelle mit „Enthüllungen“ über Kaum glaubhaft, denn Mohammed Abu Kilo Sprengstoff gewesen, die Mikrahi be- Oberst Gaddafi und den heutigen maltesi- Talb war damals der Hauptverdächtige. schafft habe. schen Präsidenten Guido de Marco. Beide Zum Zeitpunkt der Vernehmung saß er be- Vor Gericht blieb von den belastenden seien Freimaurer, die die Welt ins Unglück reits in schwedischer Haft, wegen mehre- Einlassungen nicht viel übrig. Die Anwäl- stürzen wollten. Die Bedeutung seiner ab- rer Bombenattentate in Skandinavien. Auf te präsentierten frühere Aussagen des strusen Geschichten versuchte P1, laut Antrag der Lockerbie-Ermittler durch- Überläufers, in denen er die Koffer-Episo- CIA-Berichten, mit der Behauptung zu un- suchten schwedische Polizisten, im Beisein de mal im Oktober, mal im November, mal termauern, er sei mit dem letzten libyschen Hendershots, die Wohnung des PFLP-GC- „irgendwann“ im Dezember datierte. König Idris verwandt. Mannes in Uppsala. Auch das Datum der Entdeckung des Im September 1989 waren die US-Ge- Sie fanden Schaltuhren, barometrische Sprengstoffs, August 1986, passte nicht in heimen offenbar der Märchen ihres Zu- Zünder und einen Taschenkalender, in die Argumentationskette der Anklage. Hin- trägers überdrüssig. In einem Bericht, dem das Datum 21. Dezember 1988 dick zu kommt: Das Material, das er in Fuhei- der von den Anwälten im Gericht aus- umkreist war – der Tag des Anschlags auf mas Büro gesehen habe, so Giaka in Kamp zugsweise vorgelesen wurde, regten sie den PanAm-Clipper „Maid of the Seas“. Zeist, sei konventionelles TNT gewesen. an, die monatlichen Zahlungen von 1000 Darüber hinaus war das Apartment voll Der Sprengsatz der Lockerbie-Bombe be- Dollar an Giaka zu stoppen, wenn er nicht mit Kleidungsstücken aus Malta. stand jedoch aus reinem Plastiksprengstoff bald brauchbare Informationen liefere. Die Doch aus all dem konnte, wollte oder der Marke Semtex. blieben aus. Dennoch dauerte es bis Juli durfte Hendershot vor Gericht keine Schlüs- Als absolutes Desaster für Lord Advo- 1991, ehe die CIA-Leute ihren Problemfall se ziehen. Dabei galten die Funde den Fahn- cate Boyd erwiesen sich Berichte der CIA, endgültig los wurden – dank des FBI. Dort- dern damals als entscheidender Durch- mit denen er die Glaub- hin hatten sie Giaka ver- bruch. Denn auch in dem Koffer, in dem die würdigkeit Giakas unter- wiesen, als dieser wieder Bombe explodierte, hatten sich, wie krimi- mauern wollte. Die waren einmal um Geld gebettelt naltechnische Untersuchungen ergaben, den Verteidigern, Skandal hatte. Textilien gleicher Herkunft befunden. im Skandal, nur in zensier- Am 13. Juli arrangierten Fest steht ebenfalls, dass der PFLP-GC- ter Form übergeben wor- sie für ihn, auf einem US- Terrorist im Herbst 1988 mehrfach nach den; die Anklagevertreter Kriegsschiff vor der Küste Malta und Zypern reiste – meist dann, wenn kannten sie in vollem Wort- Maltas, ein Treffen mit auch Dalkamoni, der Chef des in Deutsch- laut. Erst Ende August er- land operierenden Komman- hielten die Anwälte umfas- dos, auf den Inseln weilte. send Akteneinsicht. Vielleicht kann ja Abu Giaka hatte sich, wie aus Talb, der in Schweden zu le- den Dokumenten hervor- benslanger Haft verurteilt geht, bereits im August wurde, dazu gebracht wer- 1988 – vier Monate vor den, dem Gericht zu er- Lockerbie – in der US-Bot- klären, wie all diese Einzel- schaft auf Malta als Infor- heiten zusammenhängen. Er mant angeboten; angeblich soll, auf Antrag der Vertei- aus Unzufriedenheit über digung, nach der Prozess- die Zustände im libyschen unterbrechung in Kamp Geheimdienst. CIA-Leute Zeist aussagen. vor Ort nahmen sich sei- Khreesat, Dalkamoni (Observationsfotos) Bis dahin dürften, so Tay- ner an. Bislang unbekannte Fakten lor am vergangenen Diens-

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Werbeseite Deutschland GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA Schottische Lordrichter in Kamp Zeist: Hoch sensible Informationen tag, die neuen Hinweise so weit ausre- Deutschland fünf Bomben konstruiert Jugoslawien war 1988 ein wichtiger cherchiert sein, dass er sie verwenden habe. Im Rahmen der Aktion „Herbst- Stützpunkt für die PFLP-GC. Dort resi- kann, wenn er den Palästinenser ins laub“ war aber nur eine gefunden worden. dierte der Quartiermeister und Spreng- Kreuzverhör nimmt. Dann könnte es nicht Der Gipfel der Schlamperei: Drei weitere stofflieferant Dalkamonis, Mobdi Goben, nur für die Schotten und Amerikaner, son- wurden erst im Frühjahr 1989 gefunden – genannt der Professor. Anfang Dezember dern auch für die Deutschen eng werden. bei erneuten Durchsuchungen der ehema- stürmten jugoslawische Polizisten, nach Denn die Gemeinschaftsaktion von Bun- ligen Verstecke der Gruppe. Eine blieb ver- Hinweisen deutscher Behörden, sein Haus deskriminalamt (BKA), Bundesnachrich- schwunden. Die Schotten und Amerikaner in Kru∆evac. Die Ausbeute der Razzia: 7,5 tendienst (BND) und Bundesamt für Ver- gingen damals davon aus, dass sie den Kilo Semtex-Plastiksprengstoff, zwei Kilo fassungsschutz (BfV) gegen TNT, 484 Bombenzünder die PFLP-GC im Herbst 1988 und Dutzende Meter Spreng- war nicht der große Schlag kabel. gegen den Terrorismus, als Die Jugoslawen lieferten den ihn die Behörden gern Goben jedoch nicht an die darstellen. Bundesrepublik aus, sondern Fast alle Erfolge des Un- setzten ihn in ein Flugzeug ternehmens mit dem Code- nach Damaskus. Was dann namen „Herbstlaub“ wurden geschah, liegt bis heute im durch Schlamperei und man- Dunkeln. Das könnte schon gelnde Koordination in kür- bald anders sein. zester Zeit wieder zunichte Nach SPIEGEL-Informa- gemacht. Was die Polizisten, tionen soll es sich bei den ge- die die Terroristen verhafte- heimnisvollen neuen Unter- ten, nicht wussten: In der lagen „aus einem fremden Gruppe war ein Agent des Land“ um Aufzeichnungen jordanischen Geheimdiens- und Dokumente Mobdi Go- tes. Beim BND soll man dar- bens handeln. über im Bilde gewesen sein, Den hat es angeblich auf

hatte es aber offenbar nicht AP verschlungenen Pfaden nach für nötig gehalten, dies den Gericht in Kamp Zeist, Bewacher: Prozess nach schottischem Recht Norwegen verschlagen, wo Kollegen im BfV und im er vor nicht allzu langer Zeit BKA mitzuteilen. Pikanterweise handelte PanAm-Jumbo zerstörte und 270 Men- eines natürlichen Todes gestorben sein soll. es sich bei dem Mann um den Bomben- schen den Tod brachte. Einer seiner Vertrauten, so ein Ermittler, bastler der Truppe, Marwan Khreesat. Eine These, die nicht völlig aus der Luft habe die Papiere der dortigen Polizei über- Der wurde, als seine echte Identität klar gegriffen war und die im Kontext der neu- geben. war, aus der Untersuchungshaft entlassen en Entwicklungen wieder aktuell werden Ob sie echt sind, steht dahin. Angesichts und setzte sich ab. Um seine Tarnung zu könnte. Denn auch im Nachklapp zur der Aufregung bei Staatsanwaltschaft und wahren, wurden auch andere Mitglieder Aktion „Herbstlaub“ dauerte die Pannen- Verteidigung spricht einiges dafür. Mikra- des Kommandos auf freien Fuß gesetzt. serie der Sicherheitsbehörden an. Als Be- his Anwalt Taylor scheint überzeugt, eine Nur Dalkamoni und sein Stellvertreter blie- amte einige der entlassenen Terroristen Art Nibelungenschatz gehoben zu haben. ben in Haft. weiter observierten, fiel ihnen auf, dass Den Richtern gegenüber gab er an, das Nach der Tragödie von Lockerbie mel- sich einer von ihnen „mit einem ra- Konvolut enthalte Angaben über Bau- und dete sich Khreesat über Mittelsmänner dioähnlichen Gegenstand“ im Gepäck, per Funktionsweise der Bombe und erkläre beim BKA und wies mehrfach darauf hin, Bahn über Wien nach Belgrad absetzte. auch, „wie die Bombe an Bord des Flug- dass er während seines Aufenthalts in Niemand stoppte ihn. zeuges gekommen sei“. Gunther Latsch

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Werbeseite Deutschland I. GOROVENKO Verteidiger Kempf, Angeklagter Klein: „Ich bin kein Mörder; ich habe keinen Menschen umgebracht“

STRAFJUSTIZ „Niemand setzt mich unter Druck“ Ein Verräter will Hans-Joachim Klein, der vor 25 Jahren die Opec-Konferenz überfallen hat, nicht sein. Und doch belastet er ehemalige Kampfgefährten. Dann verlässt ihn der Mut. Schließlich gibt er noch mehr preis. Von Gisela Friedrichsen

ieles irritiert an diesem Angeklag- Fast ein Vierteljahrhundert hat Hans-Jo- maligen Gesinnungsgenossen vom Terro- ten. Er macht seine Zuhörer erst achim Klein, 52, anschließend in der Ille- rismus abgewandt. Er war der erste pro- Veinmal ratlos. Was soll das, was er galität gelebt, die meiste Zeit in Frankreich. minente Aussteiger. Ein Mann mit klarer hier vorbringt? Mit einer Französin hat er zwei Kinder. Linie also? Er sieht schlecht aus. Grau und bitter Seine Tochter ist heute 18, der Sohn 14. Seit dem 17. Oktober wird ihm in Frank- das zerfurchte Gesicht. Oft presst er die Ein echter Terrorist war er im Frankfurt furt am Main vor der 21. Strafkammer des Arme an den Körper, kriecht in eine dicke der siebziger Jahre nicht lange, ein paar Landgerichts der Prozess gemacht. Und dort Jacke hinein wie in einen Panzer. Ein Monate allenfalls. So rasch und entschlos- ist nun ein Angeklagter zu erleben, der sich Mensch in seinem Kerker. Man findet nicht sen wie er hat sich kaum einer seiner ehe- keineswegs eindeutig und gradlinig darstellt. spontan Zugang zu ihm. Am 21. Dezember 1975 hat er mit fünf anderen die Konferenz der Organisation Stationen im Leben von Erdöl exportierender Länder (Opec) in Hans-Joachim Klein Wien überfallen. Drei Tote blieben zurück: ein Polizist, ein irakischer Sicherheits- 1947 in Frankfurt am Main geboren beamter und ein libyscher Opec-Mitarbei- 1974 erster Kontakt zu den ter. Als einziger der Täter wurde er durch „Revolutionären Zellen“ einen Bauchschuss schwer verletzt. Die Teilnahme an jenem Überfall war 1975 Überfall auf die Opec-Konferenz seine erste und letzte Gewalttat. Das Bild in Wien mit drei Todesopfern des Verletzten ging damals um die Welt. 1977 Brief an den SPIEGEL, Im April 1977 schickte er dem römischen öffentliche Absage an den Terroris- SPIEGEL-Korrespondenten seinen Revol- mus, seitdem auf der Flucht vor ver samt Munition, warnte in einem Brief Polizei und ehemaligen Gesinnungs- vor Mordanschlägen gegen zwei jüdische genossen Gemeindevorsteher in West-Berlin und Frankfurt und erklärte seinen Ausstieg aus 1979 Buchveröffentlichung „Rück- der Terrorszene. Er sei „zwar nicht vom kehr in die Menschlichkeit“ Saulus zum Paulus geworden. Aber vom Saulus zum wieder vernünftig politisch 1998 Festnahme in Frankreich denkenden und handelnden Menschen“. 1999 Auslieferung nach Deutschland Zu dieser Zeit galt er in der arabischen Welt als Held, der noch im Angesicht des Klein nach dem Opec-Überfall 1975 Todes für die Palästinenser kämpfte. Un- In der arabischen Welt ein Held

geachtet dieses Ruhms stieg er aus. AP

64 der spiegel 45/2000 Das Gericht kennt natürlich Kleins Buch Klein bestreitet, mit der Tötung der drei „Rückkehr in die Menschlichkeit“ von Männer im Opec-Gebäude etwas zu tun 1979, mit dem er Sympathisanten der gehabt zu haben. „Ich bin kein Mörder. Terrorszene zur Umkehr zu bewegen such- Ich habe keinen Menschen umgebracht – te. Darin kommt manche Beschwernis des nicht einmal auf einen geschossen.“ Jungen aus desolaten Verhältnissen auf Spätestens an dieser Stelle seiner Aus- dem Weg in die linke Polit-Szene zur Spra- sage stellt sich die Erinnerung an einen an- che. Zum Beispiel: „Ich versuchte mich am deren „berühmten“ Aussteiger aus der Ter- Anfang zwei- oder dreimal in die laufenden roristenszene ein: Peter-Jürgen Boock. Sein Diskussionen einzubringen. Das geschah Schatten beschwert seitdem jeden Ange- alles sehr hilflos, auch und vor allem, weil klagten, selbst den reuevollsten Aussteiger, ich so große Artikulationsschwierigkeiten der sich wegen linksterroristischer Strafta- hatte und z. T. noch habe, und hastig, weil ten vor Gericht verantworten muss. Boocks ich ungeheure Sprachhemmungen hatte, Schatten liegt auch auf Klein. vor so vielen Genossen zu reden. Ich Boock sagte sich 1979 von der RAF, der brauchte auch etwas Zeit, um auf das zu Roten Armee Fraktion, los. Im Januar 1981 kommen, was ich ausdrücken/sagen woll- wurde er verhaftet. Im ersten Prozess in te. Und nachdem einige Genossen anfingen Stuttgart-Stammheim bestritt er, an Ge- zu lachen oder Aufhören! zu rufen, ließ walttaten direkt beteiligt gewesen zu sein. ich mich mit feuerroter Birne Gleichwohl wurde er zu drei- – wegen der Blamage – wieder mal Lebenslang und zusätz- auf den Stuhl sinken und hielt lich 15 Jahren Haft verurteilt. künftig das Maul.“ Dieses Urteil wurde im Straf- Der Vorsitzende Richter maß aufgehoben. Im zweiten Heinrich Gehrke, 61, versucht, Stammheimer Boock-Prozess Klein bei der Schilderung sei- wurde nur ein Lebenslang ver- nes Lebenswegs an diese hängt. In seinem Schlusswort früheren Äußerungen zu erin- sagte Boock: „Ich bin kein nern. Er baut eine Brücke. „Sie Mörder. Ich habe niemals auf hatten doch keinerlei theoreti- einen Menschen geschossen. sche Kenntnisse wie die Stu- Ich war niemals dabei, als Men-

denten. Hatten Sie denn das DPA schen getötet wurden oder als Gefühl, mitreden zu können, Vorsitzender Gehrke auf sie geschossen worden ist.“ oder eher, dass man Ihnen vor- „Haben Sie Angst?“ In einer Erklärung von Häft- gab, was Sie denken sollten? lingen der RAF, die im Okto- Haben Sie überhaupt verstanden, worüber ber 1988 in „Konkret“ veröffentlicht wurde, debattiert wurde? Hatten Sie nicht Min- hieß es: „Seine Geschichte ist ein hochge- derwertigkeitsgefühle?“ bauter Dom auf verlogenen Stelzen.“ „Nö“, sagt Klein und betritt die Brücke Das Bild von Boock wurde noch brüchi- nicht. Er habe damals angefangen, die ger, als im Zug der Wende RAF-Aussteiger, „Frankfurter Rundschau“ und den SPIE- die in der ehemaligen DDR Unterschlupf GEL zu lesen. Er habe sich informiert. Nur gefunden hatten, auszusagen begannen. In an Mitscherlichs Schriften habe er schwer dieser neuen Situation legte er im Frühjahr zu kauen gehabt. Doch „zugehörig habe 1992 gegenüber der Bundesanwaltschaft ich mich durchaus gefühlt“. eine „Lebensbeichte“ ab: Er war an den Kleins Angaben nach der Festnahme in Beschlüssen der RAF beteiligt. Er hat als Frankreich haben dazu geführt, dass einer eine von vier Personen an der Entführung der einstigen Genossen, Rudolf Günter von Hanns Martin Schleyer in Köln mitge- Schindler, 57, jetzt neben ihm auf der An- wirkt – er war für einen nachgerückt, der klagebank sitzt. Klein hat auch Sonja Su- nicht mittun wollte. Man wusste, dass das der als frühere Kampfgefährtin schwer be- Attentat nur gelingen konnte, wenn alle lastet – er, der nie zu einem „Verräter“ hat- Begleiter Schleyers erschossen würden. te werden wollen, wie er inbrünstig schrieb Boock hat geschossen. Drei Polizisten und sagte. und Schleyers Fahrer starben. Boock hat Auch in diesem Punkt weicht er in der das Fluchtfahrzeug gefahren und Schleyer Hauptverhandlung hinter das, was er vor später bewacht. der Polizei und Staatsanwaltschaft schon zu In „Konkret“ wurde Boock auch ein Protokoll gegeben hat, zurück. Er wisse al- „moralisch leerer Mensch“ genannt. Und lenfalls etwas vom Hörensagen. seine Ex-Ehefrau schrieb: „Typ, du hast Gehrke ist erstaunt: „Was hat diesen ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit.“ Wandel bewirkt? Haben Sie Angst? Fühlen Boock lebt heute in Freiheit, in im bes- Sie sich bedroht? Sie hatten das ‚Verraten‘ ten Sinn geordneten Verhältnissen. Wie doch eigentlich schon hinter sich, Sie hat- Klein hatte er eine desolate Kindheit und ten den Namen Schindler doch schon ge- Jugend hinter sich, als er den Weg in den nannt, Sie kennen doch die Fragen! Sie ha- Terrorismus beschritt. Seine verkrüppelte ben sich mit Ihrer Vergangenheit länger Biografie entlastet ihn nicht, sie macht aber und intensiver auseinander gesetzt als seinen Umgang mit der Wahrheit ver- manch anderer!“ „Niemand setzt mich un- ständlicher. Im Zwang von Erziehungs- ter Druck“, ist die Antwort. heimen erfuhr er die Prägungen, die ihn

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gesprochen wird, ist er außer Stande, die Situation intellektuell zu bewältigen. Er lässt sich anwerben. Anders der Bundes- außenminister: „… von dieser Phase revo- lutionärer Politik haben wir uns abge- wandt, weil wir erkannt hatten, dass sie letztendlich in den Terrorismus führt.“ Nennt Klein die Namen Schindler und Suder heute, weil diese es waren – zusam- men mit anderen, die inzwischen tot sind –, die ihn damals in den Untergrund lock- ten? Nachdem er ausgewichen ist und ab- geschwächt hat, lässt er seine Anwälte vor Gericht eine Erklärung verlesen, die noch über das hinausgeht, was er der Staatsan- waltschaft gesagt hat: Er habe Schindler in Wien nicht nur „mit Sicherheit“ gesehen, sondern sich mit ihm auch in Cafés getrof- fen, um Details über das Innere des Opec- Gebäudes zu erfahren. Taktisch unklug?

REUTERS Er hat keine Taktik. Ihn prägen die Spuren Verteidiger Euler, Angeklagter Schindler: Opfer einer Verwechslung? des Eingesperrtseins in der Illegalität. Hat er in Wien auf Menschen geschos- erst so spät sprechen ließen. Im Heim hat- heiratete der Vater wieder und nahm den sen? Viele Zeugen von damals leben nicht te er gelernt, sich herauszuschwindeln. Er Sohn zu sich. mehr, andere wollen nicht nach Frankfurt hatte gelernt, wie man sich verstellen kann, „Sie wollten wohl lieber bei Ihrer Pfle- kommen. Einer, damals Chauffeur für die wenn man nicht an den nächsten Tag gemutter bleiben“, sagt der Vorsitzende. Opec, weiß noch, dass ein maskierter Tä- denkt, sondern nur an den Augenblick. „Meinen Sie, dass ich gefragt wurde?“, ant- ter, Klein war als Einziger vermummt, „wie Auch Boock hat, als er sich öffentlich wortet Klein. Es waren die fünfziger Jah- narrisch“ um sich geschossen habe. Ob je- lossagte, keine Namen preisgegeben. Sein re. Da wurden Kinder nicht gefragt. mand getroffen wurde? Das weiß er nicht. Ausstieg und dieses Schweigen wurden Es ging von Beginn an schief. Der Jun- „Carlos“, seinerzeit Anführer des Kom- rasch zu einem Bild besonderer Gnaden- ge rannte von zu Hause weg, er wollte in mandos und zu Lebenslang verurteilt, wird würdigkeit stilisiert. Ob er vielleicht mehr ein Erziehungsheim. Diesen Jungen hat kommissarisch vernommen werden, Paris zu bereuen hatte, hat keiner derer, die sich niemand lieb gehabt. will kein Risiko beim Transport eingehen. für ihn einsetzten, drängend gefragt. Er beginnt eine Lehre als Was wird er aussagen? Er Boock konnte der Versuchung des Bil- Automechaniker. Eine kurze wird den „Verräter“ um je- des, das man über ihn stülpte, nicht wi- Jugendstrafe wegen Beteili- den Preis belasten wollen. derstehen. Er war ein Niemand gewesen. gung an Autodiebstählen. Es Spuren vom Tatort? Zu- Erst die Straftaten hatten etwas aus ihm wird ihm ein Job in einer sammen mit dem Erken- gemacht. Nun genoss er plötzlich Respekt Gaststätte im Frankfurter nungsdienst, so berichtet ein und Unterstützung. Westend vermittelt, wo die Hofrat a. D., damals Ein- Sein taktischer Umgang mit der Wahr- linke Szene verkehrt. Er satzleiter der Polizei, sei ein heit erschien immer wie ein schnurgera- sperrt die Ohren auf. Wor- Putzgeschwader der Opec der Weg. Er fuhr nicht Kurven wie Klein. über da geredet wird! eingetroffen. „Wir standen Er ist intelligenter, geschickt und wortge- Er geht zu Teach-ins, zu da auf verlorenem Posten.“ wandt. Er muss nicht, wie Klein, von sich Demonstrationen. Er liest Und sonst? Der Mitange- sagen: „Ich hab meine Grenzen mit dem Flugblätter. Er lernt „Stra- klagte: Die „FAZ“ berichte- Intellekt.“ Boock spielte perfekt den Ideal- ßenkämpfer“ und „Hausbe- te über einen Entlastungs- menschen, der sich ehrlich aus den Ver- setzer“ kennen und die Ro- zeugen, der belegen soll, strickungen des Terrorismus gelöst hat und te Hilfe, die gegen die Hoch- dass Schindler Opfer einer es verdient, dass man ihm die Chance ei- sicherheitstrakte in den Verwechslung sei. Ob diese

ner Rückkehr gewährt. Gefängnissen kämpft. Er, / TELEPRESS PANDIS Hoffnung der Verteidiger Klein ist dieses Talent nicht gegeben. Er der sich so schwer tut mit Inhaftierter „Carlos“ (1994) Schindlers, Hans Wolfgang ist auch nicht so beweglich, einen schnur- dem Reden, bewundert die Vernehmung in Paris Euler und Hans-Jürgen Fi- geraden Weg einhalten zu können. Was Cohn-Bendits und Joschkas. scher (E-Mail-Adresse: eu- ihn so schwer zugänglich und wider- Wenn der heutige Bundesaußenminister lenfi[email protected]), aufgeht? Sie bezweifeln sprüchlich wirken lässt – es ist dieser kur- über diese Zeiten damals in Frankfurt massiv Kleins Glaubwürdigkeit. Für die venreiche, steinige Weg von einer Wahr- spricht, klingt das so: „Im Übrigen habe aber steht gelassen die Klein-Verteidigung, heit zur nächsten. Das ist nicht Taktik. ich nie bestritten, dass ich fast zehn Jahre Eberhard Kempf und Eva Dannenfeldt. Kleins Mutter hat sich drei Monate nach lang auch unter Einsatz von Gewalt die Klein, dieser Angeklagte aus einer Ge- der Geburt des Kindes umgebracht. Sie verfassungsmäßige Ordnung der Bundes- spensterwelt, in der es noch Verräter gab, erschoss sich zu Hause mit der Dienst- republik umstürzen wollte. Wir haben uns heute outet man sich in einer Talkshow, waffe des Vaters, der Polizeibeamter war. nicht an die Regeln des Strafgesetzbuchs hat sich ehrlich aus den Verstrickungen des Im Krieg hatte man sie wegen „Rassen- gehalten. Zu dieser Zeit wurde manchmal Terrorismus gelöst. „Für zehn Minuten schande“ ins KZ Ravensbrück gesperrt. sehr wild geredet …“ Opec hab ich mein ganzes weiteres Leben Der unterernährte Junge kam ins Kran- Der Tod von Holger Meins, der im Ge- ruiniert“, resümiert er. Die drei Toten sind kenhaus, ins Heim, dann zu einer Pflege- fängnis verhungerte, ist für Klein wie für in seinem isolierten Leben immer größer, familie. Das war wohl noch die beste Zeit viele andere eine Zäsur. Als er von Mit- immer mächtiger geworden. Sie haben Be- im Leben des Hans-Joachim Klein. Dann gliedern der „Revolutionären Zellen“ an- sitz von ihm genommen. ™

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einen akademischen Abschluss vorweisen müssen. Gerade junge Unternehmen wie die Ber- liner Dooyoo können diese Bedingungen schwerlich erfüllen. Kaum einer der 70 Mit- arbeiter, die sich zwischen wackeligen Ikea-Regalen und Tapeziertischen in einer ehemaligen Fabrik im Stadtteil Friedrichs- hain niedergelassen haben, verdient derzeit mehr als 70000 Mark im Jahr. Zwar kom- men Aktienoptionen hinzu, mit denen die Beschäftigten direkt am Erfolg des Unter- nehmens beteiligt werden sollen, aber der – noch ungewisse – Wert der Optionen darf laut Green-Card-Verordnung nicht dem Jahresgehalt zugerechnet werden. Ähnlich praxisfremd ist die Vorschrift, alternativ ein abgeschlossenes Hochschul- studium vorweisen zu müssen. Gleich zwei der sechs Dooyoo-Firmengründer haben ihr Studium abgebrochen. Mindestens 15

C. JUNGEBLODT ehemalige Praktikanten schmissen die Uni, Programmierer Ajjampur: Praxisfremde Vorschriften weil sie im rasant wachsenden Unterneh- men auch ohne Diplom einen festen Job bis-Projektleiter Michael Rubas vergebens bekamen. „Es ist schwachsinnig“, sagt GREEN CARD nach einer Bleibe für sieben Computer- Frohn-Bernau, „dass wir bei Bewerbern spezialisten, die er in Südafrika angeheu- aus dem Ausland plötzlich auf Examens- Tipps fürs ert hatte. Mehrere Banken weigerten sich noten achten sollen.“ zudem, den hoch dotierten Experten eine Derweil ist das Interesse an ausländi- EC-Karte auszustellen. schen Experten ungebrochen. Allein in der Nachtleben Anderswo sperren sich Ausländer- Boombranche Informationstechnologie behörden und Arbeitsämter. Vergebens fehlen den deutschen Unternehmen derzeit Bürokratische Hürden, Ausländer- versuchte Felix Frohn-Bernau, Chef der etwa 75000 Fachkräfte. Für die erfolgreiche Berliner Internet-Firma Dooyoo, einem Vermittlung eines spezialisierten Program- feindlichkeit und Arbeitsminister Green-Card-Bewerber aus Argentinien zur mierers kassieren Headhunter mehrere Walter Riester behindern den Anerkennung seines Hochschulabschlus- tausend Mark Provision. Zuzug ausländischer Fachkräfte ses bei den deutschen Behörden zu ver- Dabei beschränkt sich der Mangel längst nach Deutschland. helfen. „Wer an den falschen Sachbearbei- nicht nur auf Informatiker. Weil die Zahl ter gerät“, so Frohn-Bernaus Erfahrung, der Hochschulstudenten an ingenieur- und ber seine neue Heimat weiß Rohith „muss sich auf einen wochenlangen Pa- naturwissenschaftlichen Fakultäten seit Ajjampur bislang vornehmlich Gu- pierkrieg einrichten.“ Jahren zurückgeht, sucht die Wirtschaft Ütes zu berichten. Ende September Für Verdruss sorgen die Bedingungen, händeringend auch nach Ingenieuren, Che- kam der 24-Jährige aus dem Dorf Dawan- die Bundesarbeitsminister Walter Riester mikern und Physik-Absolventen. „Wir lau- gere im Süden Indiens via Bangalore und (SPD) an die Green Card geknüpft hat. fen von einem Engpass in den nächsten“, Zürich nach Berlin, um in der Internet- So schreibt dessen Arbeitserlaubnis nach warnt Bundesbildungsministerin Edelgard Firma Datango seinen neuen Job als der „Verordnung über die Arbeitsgeneh- Bulmahn (SPD). Programmierer anzutreten. Dort haben migung für hoch qualifizierte ausländische Die Bundesregierung denkt deshalb nun ihm die Kollegen nicht nur zu einer re- darüber nach, die Green Card auf andere spektablen Wohnung im Stadtteil Kreuz- Branchen auszuweiten und nach den Com- berg verholfen, sondern auch gleich mit puter-Indern auch Biotech- und Maschi- Tipps fürs Nachtleben versorgt. „Unan- nenbau-Inder zuzulassen. Derzeit werden genehm kalt“, so Ajjampur, „ist neuerdings ausländische Studenten noch zurückge- nur das Wetter.“ schickt, sobald sie ihr Examen in der Ta- Da haben andere schon größeren Ärger sche haben – selbst wenn ihnen ein Job- gehabt. Knapp 2500 ausländische Infor- angebot vorliegt. matikexperten sind nach Deutschland Dabei sei es doch „abenteuerlich“, sagt gekommen, seit Anfang August die von Bundeskanzler Schröder, „auf die Kennt- Bundeskanzler Gerhard Schröder ange- nisse hoch qualifizierter ausländischer Wis-

regte Green-Card-Verordnung in Kraft trat. / NOVUM SCHMIDT W. senschaftler zu verzichten“. Bald sollten Doch anstatt die dringend benötigten Green-Card-Initiator Schröder* daher auch Experten ohne Informatikstu- Gastarbeiter mit offenen Armen zu emp- „Abenteuerlicher Verzicht“ dium in den Genuss einer Green Card fangen, häufen sich Klagen über büro- kommen können. kratische Hemmnisse und aggressive Fachkräfte der Informations- und Kom- Als Bremser im Bundeskabinett betätigt Fremdenfeindlichkeit. munikationstechnologie“ vor, dass aus- sich indes Arbeitsminister Riester, der So musste der Software-Hersteller Debis ländische Bewerber entweder mindes- schon der Einwanderung von Computer- Systemhaus erfahren, dass der Erfolg von tens 100000 Mark Jahresgehalt oder aber experten nur widerwillig zustimmte. „An Wohnungssuchenden in der Metropole eine Ausweitung der Green Card“, so München offenbar auch von deren Haut- * Am 24. Februar auf der CeBit mit BDI-Chef Hans-Olaf Riester kategorisch, „ist derzeit nicht ge- farbe abhängt. Wochenlang fahndete De- Henkel und Mannesmann-Arcor-Chef Harald Stöber. dacht.“ Alexander Neubacher

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Werbeseite BILD ZEITUNG BILD Razzia in Hamburger Asylbewerberheim: Falsche Namen, falsche Daten, falsche Länder

ABSCHIEBUNG Alias aus Angeblichstan Die Innenminister des Bundes und der Länder wollen überführte Asylschwindler schneller ausweisen, doch das Auswärtige Amt Joschka Fischers blockt ab. So halten Ausländer mit falschen Namen und verschwundenen Pässen weiter die Behörden zum Narren.

ein erster Name war „Jack“ und ganz keinen Pass – angeblich auf der Flucht die krasse Ausnahme unter den 7,3 Millio- passabel. Zwar zählt „Jack“ in Ruan- verloren. nen Ausländern in Deutschland. Doch als Sda nicht zu den Traditionsvornamen. Zwar verbieten sich auch solche Fälle Kronzeugen der Anklage gegen einen Aber als der Asylbewerber Jack M. 1994 als Vorwand für die fremdenfeindliche ohnmächtigen Rechtsstaat eignen sich Asyl- ohne Pass in Hamburg ankam, bestand im- Hetze der Rechtsextremen – sie sind nur bewerber vom Typ „Dealinger“ wie kaum merhin die Chance, dass er wirklich so hieß eine zweite Delinquentengruppe. Schon – oder sich wenigstens beim Schwindeln seit Jahren klagen die Ausländerbehörden, mehr Mühe gegeben hatte als die Schwarz- Geplatzte Abschiebung geändert hat sich so gut wie nichts. afrikaner „Wolfgang Overath“ und „Franz Woran die Rückführung abgelehnter Dabei schadet niemand sonst dem Ideal Beckenbauer“. Asylbewerber scheitert des Asylgedankens mehr als die Schar Umso enttäuschender war der zweite Beispiel Frankfurter der Trickser und Täuscher. Quer durch die Name, den er sich zugelegt hatte. Gar nicht Flughafen: 1999 ins- passiver Parteien wollen Politiker diese Klientel mal, dass er zwei Namen besaß, zwei Ge- gesamt 354 Fälle Widerstand 84 deshalb abschieben, sogar einen Deal burtstage hatte und überhaupt nicht aus der Länder mit Bundesinnenminister Otto Ruanda, sondern aus Nigeria kam – so was Schily (SPD) gibt es: Als Ausgleich für das erleben die Beamten der Ausländerbehör- aktiver Widerstand 38 Ja der unionsregierten Länder zur so ge- de öfter mal. Aber „Dealinger O.“, das war nannten Altfall-Regelung, die vor einem dreist. Abbruch aus Gesundheitsgründen 37 Jahr rund 23000 Ausländern ein Bleibe- „Dealinger O.“, zwischenzeitlich mit recht sichern sollte, versprach Schily mehr Drogen erwischt, vor seinem Heimflug Ablehnung durch Flugkapitän 29 Härte gegen notorische Flunkerer. Doch abgetaucht, jetzt für die Behörden „un- bei der Gegenleistung hapert es jetzt, und bekannt verzogen“, ist nach Grobschät- Flugverspätung, Flugannullierung 26 nicht nur CDU-Innenressort-Chefs platzt zungen des Nürnberger Bundesamts für deshalb der Kragen. fehlende Dokumente 22 die Anerkennung ausländischer Flüchtlin- Allein im Stadtstaat Hamburg verhin- ge einer von mindestens zehntausend fehlende Sicherheitsbegleitung 19 dern rund 3000 mutmaßliche Schummler abgelehnten Asylbewerbern, die mit dem Ablehnung durch Fluggesellschaft 16 ihre Abschiebung; die Hansestadt zahlt je- Staat Versteck spielen, um nicht abge- keine Aufnahme im Zielland 13 den Monat vier Millionen Mark für ihren schoben zu werden. Falsche Namen, Lebensunterhalt. Im benachbarten Nie- falsche Geburtsdaten, falsche Herkunfts- dersachsen taxiert der zuständige Beamte länder, die Geschichten getürkt, die Pässe sonstige Ursachen 70 im Innenministerium, Hans-Hermann gefälscht. 90 Prozent haben überhaupt Gutzmer, die Zahl der Namensnepper auf

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nen müssen, dass sich die meisten forschen Vorschläge nur schwer durchsetzen lassen. In einem ersten Berichts- entwurf aus seinem Haus wimmelt es dazu von Formulierungen wie „Rechtsgrundla- ge nicht ersichtlich“, „organisatorisch nicht zu bewältigen, „mit Blick auf Erleichte- rungen im Reisever- kehr unverhältnis- mäßig“; ein zweiter Entwurf, Mitte Okto- ber nachgereicht, ist kaum energischer for- muliert. Auch für eine Warndatei mit Namen

SPIEGEL TV möglicher Schlepper Schleuser-Aktion an der deutsch-tschechischen Grenze: Versteckspiel mit dem Staat hat es nicht gereicht; ob die Ausländerbe- mindestens 1200 und den Schaden für das wie Nigeria oder Ghana, die als wahre Hei- hörden je Zugriff auf die Visa-Datei des allgemeine Rechtsempfinden nah an der matländer vieler Passtäuscher gelten. Bei Ausländerzentralregisters bekommen, wird Unerträglichkeitsgrenze: „Man braucht Verdacht, dass ein Deutschland-Visum zur schon lange und jetzt noch länger geprüft. keinen Asylantrag mehr, um bis zum Le- Reise ohne Wiederkehr missbraucht wer- Die Bremser sitzen im Auswärtigen Amt. bensende hier zu bleiben. Man muss nur den könnte, sollte deshalb, so das Petitum Fischers Beamte argumentieren mit der- seine Papiere wegwerfen.“ der Länder, das Botschaftspersonal allen zeit „fehlenden Rechtsgrundlagen“, sie Etwa 400000 ausreisepflichtige Auslän- Antragstellern Fingerabdrücke abnehmen fürchten zudem internationalen Knatsch – der dürften zurzeit in Deutschland leben, und ihren Ausweis kopieren. Ziel: „Iden- und der Minister Ärger mit seiner Partei. darunter knapp 130 000 Kosovaren und titätsklärung erleichtern, Rückführung er- Besonders das Sammeln von Fingerab- 28 000 Bosnier, deren Landsleute nach möglichen“. drücken sei eine „derart drastische Maß- Ende des Bürgerkriegs schon zu Hundert- Außerdem verlangen die Länder eine nahme“, dass man davon besser „Abstand tausenden heimgekehrt sind. Aber dane- härtere Gangart des Bundes gegen 29 nehmen“ solle, sonst seien „beträchtliche ben zählte das Ausländerzentralregister Staaten, die sich bockbeinig dagegen weh- negative Auswirkungen in unseren Bezie- Ende Juni auch 14138 Einwanderer, die la- ren, ihre mutmaßlichen Staatsbürger aus hungen zu anderen Staaten“ zu befürch- pidar unter dem Sammelposten „Herkunft Deutschland wieder in Empfang zu neh- ten. Im Übrigen dürfe man aber auch nicht ungeklärt“ vermerkt waren, knapp 4500 men. Wenn scharfe diplomatische Noten die „zusätzliche hohe Arbeitsbelastung der mehr noch als Ende 1997. nicht reichten, müsse notfalls sogar die Ent- Auslandsvertretungen vergessen“. Das sind nicht alles Münchhausen-Fälle wicklungshilfe gekürzt werden. „Die vom Auswärtigen Amt wollen – niemand in Deutschland führt da genau Doch aus den Wünschen der Länder immer die Edlen sein“, giftet der baden- Buch. Aber die Zahl weist doch auf die wird wohl nichts. Weder aus den Fingerab- württembergische Innenminister Thomas Geschleusten und Geschleppten, die zu drücken noch aus den Passkopien, noch Schäuble (CDU), „zur Cocktailparty ge- Geheimnisträgern ihrer wahren Identität aus der Kürzung der Entwicklungshilfe. hen ist eben schöner, als bei der Rück- werden, weil man Namenlose aus Nir- Stattdessen wird Schily den Länderkolle- führung mitmachen.“ gendwo nicht abschieben kann. So wenig gen nach dem jetzigen Stand bei der Innen- „Vom Diplomaten-Smoking perlen sol- wie Alias-Existenzen aus Angeblichstan. ministerkonferenz in zwei Wochen eröff- che Probleme natürlich ab“, setzt sein hes- Bereits im April haben sischer Parteifreund Volker Bouffier hinter- SPD- und CDU-geführte her. „Man kann doch schon jetzt absehen, Länder deshalb einen dras- dass wieder nichts passieren wird“ – ein Er- tischen Forderungskatalog gebnis, das den niedersächsischen Ressort- an Schily geschickt (SPIE- kollegen Heiner Bartling (SPD) genauso GEL 20/2000), den eine empören würde: „Die deutsche Außen- hochrangige Staatssekretärs- politik darf sich nicht zu weit von den in- runde verabschiedet hatte. nenpolitischen Problemen entfernen.“ Die Länder verlangten, dem Brodeln lässt die staatsmännische Ge- unhaltbaren Zustand ein lassenheit der Außenämtler auch den Ham- Ende und vor allem bei den burger Jörg Klussmann, rechte Hand von Diplomaten des grünen Au- SPD-Innensenator Hartmuth Wrocklage in ßenministers Joschka Fi- Ausländerfragen. Wie sich das Fischer- scher Druck zu machen. Ministerium zu der Behauptung versteige, Die Innenbehörden rei- es gehe ja nur um wenige Einzelfälle, das ben sich vor allem am aus sei ein „deprimierendes Zeugnis“ für die ihrer Sicht zu laschen Ver- Denkweise der Diplomaten und offenbare

halten der deutschen Bot- A. HERZAU / SIGNUM „auf erschütternde Weise die mangelnde schaften in Problemstaaten Abschiebung am Frankfurter Flughafen: Kurzer Hebel Wahrnehmung“ im Außenressort, entrüs-

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Werbeseite Deutschland tet sich der Beamte in einem internen Ver- weshalb das Bürgerkriegsland in Westafri- merk zum Schily-Entwurf. ka als angebliche Herkunftsnation so be- In der Tat spielen sich in den Ländern liebt ist, dass sich die Grenzschützer in Ko- Tag für Tag Szenen ab, so absurd, dass Go- blenz mittlerweile fragen, „ob da über- gol seine Freude gehabt hätte und Godard haupt noch einer lebt“. Natürlich könne einen Film darüber drehen könnte. er Krio, behauptet der Mann, aber wenn er Erste Szene: Bonn-Bad Godesberg. Der nur einen Satz auf Krio sage, müsse er an Bundesgrenzschutz , bundesweit seine Mutter denken und weinen. Also zuständig für die Passbeschaffung von Aus- kann er jetzt doch nicht Krio sprechen. ländern aus fünf Afrika-Nationen, will in „Es gibt Leute, die halten sich über zehn der Botschaft von Sierra Leone die Staats- Jahre hier“, klagt Hans Engel, Abteilungs- angehörigkeit eines Schwarzafrikaners leiter im Düsseldorfer Innenministerium; überprüfen lassen. Auf die Frage, wie er „bei manchen schaffen wir es nie“, resi- nach Deutschland gekommen sei, erklärt gniert ein Koblenzer Beamter vom Bun- dort der Asylbewerber, dass sein Vater desgrenzschutz. Zu findig sind die Täu- Zauberer sei. Augen zu, Augen wieder auf, scher, zu groß die Widerstände vieler aus- plötzlich sei er in Deutschland gewesen. ländischer Botschaften. Zweite Szene: Braunschweig, die Zen- Mal spaziert ein Schwarzafrikaner bar- trale Anlaufstelle für Asylbewerber. Im fuß in die nigerianische Vertretung: Es hat Haus 42 hat das Land Niedersachsen 34 sich herumgesprochen, dass nigerianische Schummelkandidaten zusammengezogen, Diplomaten bei der Vorführung Wert auf um ihre Identität aufzuklären. Der Sach- ein gepflegtes Erscheinungsbild legen und bearbeiter fragt einen Asylbewerber aus umso ungehaltener werden, wenn sie vom

Liberia, auf welche Schule er gegangen sei, AP Landsmann hören müssen, dass ihm die wie sein Lehrer heiße, wie die Landes- Grünen-Politiker Fischer deutschen Behörden seine Schuhe ge- währung gestückelt sei. Der Mann weiß Furcht vor internationalem Knatsch stohlen haben. Mal beschimpft einer den nicht viel über Liberia, er steht mitten in Botschafter, ein anderer wechselt mitten der Anhörung auf und geht; der Sachbe- bewerber, die aus ganz Baden-Württem- im Gespräch seinen Namen, der nächste arbeiter hält ihn nicht auf. berg zusammengezogen worden sind und sagt gar nichts, weil er kein Wort seiner Dritte Szene: Ludwigsburg, Sammelvor- behaupten, seine Landsleute zu sein. Einer vorgeblichen Landessprache versteht. führung, organisiert von Grenzschutz und soll einen Satz auf Krio sagen, Krio spricht „Manchmal fährt man mit 15 Sierra Leo- Ausländerbehörden. Ein Botschaftsvertre- man in Sierra Leone. Nach Sierra Leone nern hin und kommt mit keinem einzigen ter Sierra Leones befragt gut hundert Asyl- kann zurzeit nicht abgeschoben werden, zurück“, grantelt ein Innenbeamter. Der Mann beobachtet typische zu Hause in der Meldedatei steht. Wellen: Kaum dass es irgendwo in Unbekannt und unerwünscht Nur der Ausländer kann die Num- der Welt drunter und drüber geht, Wie Hamburg versucht, Asylbewerber aus mer kennen, kennt sie aber natür- Abschiebungen dorthin also un- afrikanischen Staaten mit Sammelinter- lich nicht, weil er ja nicht aus Liba- möglich sind, geben in Deutschland views zu identifizieren und abzuschieben non oder Syrien kommt. Sagt er. ungewöhnlich viele Asylbewerber Zahl der Fälle von September 1999 bis Mitte 2000 Quelle: Ausländer- Als besonders widerborstig gilt dieses Herkunftsland an. Vor Jahren insgesamt: 881 davon abgeschoben: 70 behörde Hamburg Vietnam – Helga Haunschild, Refe- war es in Afrika Liberia, heute heißt rentin für Asyl- und Flüchtlings- 214 der Favorit Sierra Leone. vorgeladene Asylbewerber recht im niedersächsischen Innen- So bringen die Sammelvor- davon identifiziert ministerium, kann sich denken, führungen, von Grenzschützern davon abgeschoben warum: „Die brauchen einfach die abfällig „Botschaftstourismus“ ge- 149 Devisen, die ihre Vietnamesen von nannt, nach Schätzungen von Diet- 125 hier nach Hause schicken.“ mar Martini-Emden, Chef des Trie- 102 87 Ägypten, China, Nigeria – die rer Ausländeramts, auch „deutlich Liste der widerspenstigen Staaten unter 50 Prozent Identifizierungen“. 52 ist lang, die der Schwierigkeiten Martini-Emden hält als Ge- 36 33 noch länger. Oft sind Passersatz- schäftsführer der „Clearingstellen- 8 papiere nur Tage gültig; platzt die Tagung Passbeschaffung“ die Län- 2 0 0 Abschiebung, fangen die Behör- der auf dem Laufenden, wo gerade eine Auswahl: NIGERIAGUINEA LIBERIA SIERRA LEONE den wieder von vorn an. Oder der Sammeltermine angesetzt sind, da- Botschafter mag erst zu einer Sam- mit sie sich mit ihren üblichen Ver- melvorführung anreisen, nachdem dächtigen anschließen können. Keiner kann man sowieso nichts mehr kaputtma- Zimmer- und Transitfrage zu seiner Zu- könnte deshalb so viele Geschichten über chen“. Eritrea verlangt nach seiner Erfah- friedenheit geklärt sind: Hotel Maritim, die Macken und Marotten in den Bot- rung drei Zeugen, dass der Abschiebekan- Mercedes Benz. schaften erzählen wie er, aber er bleibt lie- didat aus Eritrea kommt – woher nehmen? Die Innenbehörden wissen solche Hin- ber wortkarg, aus Angst, dass sein Geschäft Im Fall Äthiopien muss der Vorgeführte weise durchaus zu schätzen. „Eine Schach- sonst noch mühseliger wird. „Wir sitzen an unterschreiben, dass er freiwillig zurück- tel Pralinen, ein Blumenstrauß zum Ge- einem äußerst kurzen Hebel in den Ver- kehrt – warum sollte er? burtstag können nicht schaden“, plaudert fahren, jeder Zentimeter, der uns noch ver- Libanon und Syrien wiederum bestehen ein Insider über seine Sonderdiplomatie. loren geht, tut uns weh.“ darauf, dass die deutschen Behörden bei Andere hüten einen Schatz an Anekdoten, Bei Äthiopien und Eritrea hält sich aber der Vorführung die Registernummer mit- wie sie sich durch freundliche Gesten in nicht mal Martini-Emden zurück – „da liefern, mit der ihr angeblicher Staatsbürger den Botschaften hochgedient haben – erst Werbeseite

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Werbeseite Deutschland A & W FOTO Mutmaßlicher Rauschgift-Dealer auf der Polizeiwache in Hamburg-St. Georg: Muskelschwäche am Arm des Gesetzes zu den Durchwahlnummern, dann zu den des Gesetzes verrät. 226 Ausländer wurden Für die Polizei in deutschen Großstädten Handy-Verbindungen. In Gesandtschaften, seit Februar 1998 dorthin geschickt, um gehören Ausländer ohne Pass schon lange die seit Jahren kaum noch Geld aus der sich mindestens zweimal in der Woche ein- zum Lagebild. In Hamburg etwa prägen Heimat erhalten, um ihr Personal zu be- trichtern zu lassen, dass sie in Deutschland Schwarzafrikaner, die nicht abgeschoben zahlen, kommen deutsche Beamte ohne keine Perspektive haben. Nur bei 55 lüfte- werden können, seit Jahren die Drogen- solche Nummern gar nicht erst durch. ten die Beamten die wahre Identität, aber szene auf den Straßen. „Die überwiegen- Damit die Kontakte halten, Wissen nicht 87 setzten sich zwischenzeitlich ab. de Zahl der Intensivtäter in der Klein- verloren geht, haben die Behörden die Die meisten ins Ausland, hofft ein In- dealerszene sind Asylbewerber unklarer Pass-Beschaffungsverfahren in den ver- nenministerialer in Hannover und rekla- Herkunft“, bestätigt der Leiter des Rausch- gangenen Jahren immer mehr zentralisiert. miert schon spurloses Verschwinden als Er- giftdezernats, Thomas Menzel. Der Grenzschutz in Koblenz soll künftig folg. Für Pro-Asyl-Sprecher Bernd Mesovic Im hessischen Frankfurt verrät ein Erfolg die Verfahren mit acht weiteren Staaten an ein Armutszeugnis: „Da nimmt der Rechts- die kriminelle Dimension: Seit 1997 hat sich ziehen, auch viele Bundesländer ha- staat sehenden Auges das Abtauchen hin.“ dort die Gemeinsame Arbeitsgruppe In- ben die komplizierte Materie bei wenigen Kai Weber, Geschäftsführer des nieder- tensivtäter (GAI) von Polizei und Auslän- Behörden konzentriert. Denn zu häufig sächsischen Flüchtlingsrats, wirft der Bun- derbehörden 394 Gesetzesbrecher mit waren die 800 Ausländerämter in Deutsch- desregierung „eine beispiellose Brutalisie- 17855 angezeigten Delikten abschieben las- land in der Vergangenheit überfordert. sen. 60 bis 70 Prozent, schätzt Gruppen- Trotzdem wird das Problem größer, Immer mehr Asylbewerber leiter Walter Hofmann, hatten versucht, nicht kleiner. Während die Asylbewerber- tischen das Gleiche auf: „Schiff ihre Identität zu verschleiern. Bei 15 mut- zahlen sinken – von knapp 167000 im Jahr maßlichen Eritreern, Äthiopiern und Li- 1995 auf gut 138000 im vergangenen Jahr groß, Fahne unbekannt“ banesen, jeder mit mehr als 30 Delikten –, notiert Heiko Haferlach, Gruppenleiter auf dem Kerbholz, ist auch die GAI-Trup- im Braunschweiger Abschiebe-Zentrum, rung der Abschiebepolitik“ vor. Noch vor pe am Ende. Hofmann: „Bei denen stehen dass die Zahl der Papierlosen immer mehr zehn Jahren habe für viele Staaten ein Ab- wir auf dem Schlauch“ – die Botschaften zunimmt. Für Haferlach ein Fall von gutem schiebestopp gegolten. „Heute sollen Men- spielen nicht mit. Coaching: Regelrechte Schleuserschulen schen sogar ins vom Bürgerkrieg zerrütte- Wenn die Heimat-Botschaft aber doch vermutet er mittlerweile in Westafrika. Im- te Angola zurückgeschickt werden; da Passersatzpapiere ausgestellt hat und der mer mehr Asylbewerber, sagt er, tischten kann ich doch keinem verübeln, wenn er Abschiebetermin feststeht, misslingt in vie- genau die gleiche Geschichte von Verfol- behauptet, aus Sierra Leone zu kommen.“ len Fällen der letzte Akt. Nach einer inof- gung und Flucht auf: „Jedes Mal Schiff Mesovic plädiert schon aus „huma- fiziellen Auflistung des Bundesgrenz- groß, aber Fahne unbekannt.“ nitären Gründen“ dafür, lieber nachzuge- schutzes am Frankfurter Flughafen sind im Solche Legenden lassen sich schwer ben, als Verfahren endlos zu verlängern. vergangenen Jahr 354 Abschiebungen über knacken, auch nicht in Niedersachsen, das Abschiebe-Zentren wie in Braunschweig den Rhein-Main-Airport gescheitert, die mit seinen beiden Abschiebe-Zentren in seien ohnehin keine Lösung. Durch Härte meisten – 122 Fälle – am aktiven oder pas- Braunschweig und Oldenburg als Hard- in die Grauzone getrieben, könnten sich siven Widerstand des Ausländers. Auch liner-Land gilt, obwohl deren Statistik nicht viele Asylbewerber nur noch mit Bagatell- das ein Kapitel einer unendlichen Ge- Stärke, sondern Muskelschwäche am Arm delikten über Wasser halten. schichte. Jürgen Dahlkamp

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Damals wie jetzt wird das KABARETT Programm mit dem gleichen Marsch anfangen. Hieß es in Mit deinem Bonn: „Wir sind die Wasser- werker aus Ritas Parlament ...“, wird es in Berlin heißen: schicken Pony „Wir sind die Wasserwerker aus Wolfgangs Parlament.“ Die Kabarett-Truppe des Bundes- Der Bundestagspräsident heißt ja mittlerweile Wolfgang tages, in Bonn entstanden, macht Thierse. Der Reim ist dersel- in Berlin weiter. Damit auch be geblieben: „Wir sind die die Berliner was zu lachen haben. Wasserwerker und liegen voll im Trend.“ umorpolitisch lag Bonn im Epizen- Nämlich der rot-grünen trum der alten Republik. Köln war Koalition. Vier der acht Ka- Hgleich um die Ecke und Mainz auch barettisten gehören der SPD nicht weit weg. Die Rheinländer, von Na- (neben Mehl Jella Teuchner, tur aus heiter und lebensfroh, nahmen Reinhold Hemker und Eckart nichts wirklich ernst, außer ihren Karneval, Kuhlwein) an, zwei den Grü- die „fünfte Jahreszeit“. nen (Ulrike Höfken, Winfried Berlin ist ganz anders. Weit im Osten Hermann), einer der CDU gelegen, sind nicht nur die Winter kälter, (Axel Fischer). Der Mann am auch die Menschen wirken durchweg ver- Klavier ist parteilos und kein schnupft und unterkühlt. Als Zeichen gu- Abgeordneter, sondern ein ter Laune gilt schon, wenn sie sich morgens Naturwissenschaftler, der ein um zehn Uhr mit „Mahlzeit!“ grüßen. Institut für Atmosphärenphy- Doch jetzt bekommt Berlin eine Chance, sik in Kühlungsborn leitet:

mit Bonn gleichzuziehen. Das Bundestags- MELDEPRESS Franz-Josef Lübken. kabarett „Die Wasserwerker“, scherzhaft „Wasserwerker“-Kabarettisten*: „Das Volk unterhalten“ Ulrike Mehl hätte gern auch „Die sechste Fraktion“ genannt, auch jemanden von der PDS nimmt an diesem Mittwoch seinen Betrieb da bat Bundestagspräsidentin Rita Süss- in der Truppe. „Es gab auch schon Inter- muth den FDP-Abgeordneten und Bre- essenten, aber da hätte die CDU nicht mit- merhavener Hobby-Kabarettisten Manfred gemacht.“ Und den einzigen CDU-Vertre- Richter („Die Müllfischer“), eine „inter- ter im Ensemble zu vergraulen und damit fraktionelle Truppe“ zusammenzustellen, zum humoristischen Ableger der Regie- um die Feier „mit selbst gemachter Abge- rung abzusinken, möchte sie nicht riskie- ordnetenkultur“ anzureichern. Der Libe- ren. Auch die überparteiliche Witzischkeit rale aus dem Norden fand acht weitere hat taktische Grenzen. Freiwillige, darunter den SPD-Abgeordne- Die Diplomingenieurin macht auch zu ten und Städtebau-Experten Peter Conra- Hause in Schleswig-Holstein politische di und den CDU-Schlagzeuger und Klein- Kleinkunst. „Die marinierten Heringe“ – künstler Wolfgang Börnsen. neben ihr ein ehemaliger Abgeordneter, Das erste Programm der „Wasserwer- ein Unternehmer und „einer aus dem Öf- ker“ hieß „Neue Adler braucht das Land“ fentlichen Dienst“ – touren durch das Land und wurde am 29. Oktober 1992 im Sit- und trommeln für die SPD. Beim letzten zungssaal der CDU/CSU-Fraktion aufge- Wahlkampf haben sie auf die Melodie von führt. Dass die Premiere nicht im Plenar- „Seemann, lass das Träumen“ ein „wun-

M. EBNER / MELDEPRESS saal stattfand, hatte einen realsatirischen derschönes Lied“ gesungen: „Volker, lass Kabarett-Chefin Mehl Grund: Einige Abgeordnete fanden es das Träumen“. Dass CDU-Kandidat Rühe Überparteiliche Witzischkeit „würdelos“ und „nicht angemessen“, dass die Wahl verlor, lag aber nicht unbedingt an der Stelle, „wo die deutsche Einheit be- am Einsatz der „marinierten Heringe“. in der Hauptstadt auf. Das Programm heißt schlossen wurde“, gespottet und gelacht In Berlin allerdings wollen die „Wasser- „K(l)eine Spree-Renzchen“, steht unter der werden sollte. Nachdem der Bundestag werker“ Gerechtigkeit walten lassen. Alle Schirmherrschaft des Bundestagspräsiden- umgezogen war, durften die Bundes-Ka- kommen dran, die einen mehr, die anderen ten und behandelt sensible Themen wie barettisten doch noch im „Wasserwerk“ weniger. Ulrike Mehl hat sich Angela Mer- „Die Irrfahrten der Abgeordneten“ und auftreten, zu Füßen des Bundesadlers und kel vorgenommen und ihr ein Lied auf den „Die deutsche Einheit“ im zehnten Jahr ohne Rücksicht auf die Historie des Ortes. Leib geschrieben: „Wunderbares Mäd- nach der Wende. Die Berliner Premiere soll auf exterrito- chen“, auf die Melodie von „Marina“: „Bei „Wir wollen ja, dass die Leute lachen“, rialem Gelände stattfinden, in der Botschaft Tag und Nacht denk ich an dich, Angela. sagt die Chefin der Truppe, die SPD-Ab- der Tschechischen Republik in der Wil- Mit deinem schicken Pony fängst du geordnete Ulrike Mehl, 44, aus dem Wahl- helmstraße. Man hätte auch in der bayeri- Wähler …“ kreis Rendsburg-Eckernförde. Als Politi- schen Landesvertretung spielen können, Doch würde die CDU-Chefin sich zur ker solle man „dem Volke dienen“, als Ka- aber man habe schon mal bei den Tsche- Premiere anmelden, sie bekäme einen barettisten „das Volk unterhalten“. chen in Bonn gespielt, und es sei „ein tol- Platz in der ersten Reihe. Damit sie Am Anfang war nur eine vage Idee. Im ler Abend“ gewesen, erzählt Ulrike Mehl. beim Refrain mitsingen kann: „Wunderba- Herbst 1992 stand der Umzug des Bundes- res Mädchen, früher ’n kleines Rädchen, tags aus dem Bonner Wasserwerk in den * Reinhold Hemker und Eckart Kuhlwein im Juni 1995 im bist ein Superstar du heute, oh oh, oh oh, neuen Plenarsaal auf der Tagesordnung, Bonner Wasserwerk. oh oh.“ Henryk M. Broder

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über diese Aufgabe die Köpfe heiß. Berli- hues und den rot-grünen Politikern Rein- HAUPTSTADT ner Lokalmatadore verknäulten sich im hard Klimmt, Wolfgang Thierse, Michael Für und Wider einer möglichen Rekon- Naumann und Franziska Eichstädt-Bohlig. Steinerne Hülle struktion des 1950 gesprengten Hohenzol- Einer raschen Entscheidungsfindung ist lernschlosses. Ganz, teilweise oder gar diese Zusammensetzung nicht unbedingt Soll das Schloss wieder aufgebaut nicht sollte die steinerne Hülle des Schlos- dienlich. Aber der Kommissionsvorsitzen- werden? Die Regierung ses wieder errichtet werden. de Hannes Swoboda findet, dass es gemüt- Seit dem Umzug an die Spree mischen lich auch vorangeht: „Im Jänner fangen erhofft sich von einer Kommission sich Minister und Bundestagsabgeordnete wir an“, verspricht Wiens ehemaliger konsensfähige Vorschläge in die Debatte: Das Gelände gehört zu etwa Stadtbaurat und heutiger Chef der öster- für Berlins historische Mitte. gleichen Teilen dem Bund und dem Land reichischen Sozialdemokraten im Europa- P. ADENIS / G.A.F.F. P. Berliner Schlossplatz mit Schloss-Attrappe (1993): „Spannendste Aufgabe in Europa“

on Tag zu Tag wird der Berliner Berlin. Entscheidungen, so der Kulturpoli- parlament. Für die Erarbeitung der Rat- Schlossplatz hässlicher. Baustel- tische Sprecher der Union, Norbert Lam- schläge, „die derzeit spannendste städte- Vlen, Parkplätze, Ausgrabungsstätten mert, müssten „ähnlich wie beim Holo- bauliche Aufgabe in Europa“, veranschlagt und ein Rummelpark sind über das Areal caust-Mahnmal am Ende gemeinsam vom er etwa ein Jahr: „Alles andere wäre verstreut, wo einst die Hohenzollern resi- Parlament getroffen werden“. Pfusch.“ dierten. Die Union ist in der Expertenkommis- Mittlerweile zeichnet sich eine mögliche Mühsam versuchen die Berliner Stadt- sion allerdings nicht vertreten. Der Abge- Nutzung ab. Klaus-Dieter Lehmann, Prä- verschönerer die Freifläche vor dem ordnete Dietmar Kansy (CDU) klagt, dies sident der Stiftung Preußischer Kultur- provisorischen Kanzleramt mit Rollrasen sei „keine seriöse Behandlung der Op- besitz und zugleich Kommissionsmitglied, ansehnlicher zu machen. Am Rande, in position“. In der Ära Kohl sei die SPD in hat vorgeschlagen, die außereuropäischen Richtung Osten, zerlegen Sanierer den vergleichbaren Fällen immer beteiligt wor- Kunstwerke der Stiftung aus dem Berliner asbestverseuchten Palast der Republik zu den. Die Nichtberufung in die Kommission Bezirk Dahlem in die unmittelbare Nach- einem Stahlskelett. empfindet die Union als besonders krän- barschaft zur Museumsinsel zu verlagern. Flaneure meiden den kend, weil eigentlich nie- Die Idee, die wichtigsten musealen Schät- Schlossplatz. Allenfalls Bau- Das Berliner mand „außer dem Mütter- ze Berlins auf engstem Raum, umgeben stellen-Touristen verirren genesungswerk und der von herausragender Architektur, zu prä- sich bisweilen an den un- Stadtschloss Gewerkschaft der Eisen- sentieren, fasziniert viele. wirtlichen Ort. Denn ähn- wurde 1698 nach Plänen bahner“ fehlt, wie die Eine Gruppe ließ sich von der Begeiste- lich wie die alte Bundes- des Architekten und Bild- „Frankfurter Allgemeine“ rung bisher nicht anstecken: die Abgeord- regierung tut sich die rot- hauers Andreas Schlüter für mäkelt. neten im Haushaltsausschuss. Die Vertre- grüne Koalition schwer mit Friedrich III., Kurfürst von Tatsächlich sind von der ter der rot-grünen Bundestagsfraktionen Entscheidungen darüber, Brandenburg, errichtet und Bundeszentrale für politi- verständigten sich in der vorvergangenen was sie ins Zentrum der nach 1706 von Eosander sche Bildung über den Ost- Woche ausdrücklich darauf, der Bund dür- von Göthe beträchtlich Berliner Republik bauen Berliner Publizisten Fried- fe nur sein Grundstück kostenlos einbrin- erweitert. will. rich Dieckmann bis zu gen. „Mehr als diese rund 200 Millionen Immerhin hat das Kabi- Im Februar 1945 brannte Ernst Freiberger, Pizza-Fa- Mark können wir nicht zur Verfügung stel- nett am Mittwoch vergan- das Gebäude nach einem brikant und Vermieter des len“, sagt der Grüne Oswald Metzger. gener Woche die Experten- Luftangriff teilweise aus. Bundesinnenministeriums, Ähnlich spitz hatte schon der ehemalige kommission „Historische die verschiedensten gesell- Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) Mitte Berlins“ ernannt. Sie 1950 veranlasste Walter schaftlichen Interessen ver- alle Wünsche abgeblockt. Sein eigenes soll endgültig herausfinden, Ulbricht die Sprengung der treten. Konzept einer „public-private-partner- wie, zu welchem Preis und „Junker-Trutzburg“, um einen Außerdem sitzen in der ship“ scheiterte mangels Interesse der In- zu welchem Zweck das Platz für Massenaufmärsche Kommission aber auch vestoren. Kleinlaut muss Minister Klimmt Areal zwischen Lustgarten, zu schaffen. Jerry Speyer, ein New Yor- jetzt einräumen, dass die Haushaltspoliti- Auswärtigem Amt sowie 1993 warb ein privater ker Immobilien-Tycoon, der ker sich erneut gegen Kultur- und Bau- Ex-Staatsratsgebäude zu ge- Förderverein mit einer auf Unternehmensberater Ro- experten durchgesetzt haben. Umso mehr stalten und zu nutzen wäre. Plastikbahnen gemalten land Berger und der pensio- hofft der SPD-Mann auf die Überzeu- Seit zehn Jahren reden Schlossfassade für die Wie- nierte Finanzstaatssekretär gungskraft der Kommission: „Warten wir sich ganze Hundertschaften dererrichtung des Gebäudes. Peter Klemm neben Archi- doch erst mal ab, was die Fachleute emp- von Politikern und Bürgern tekten wie Josef Paul Klei- fehlen.“ Petra Bornhöft

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Werbeseite 94 bei München. 30. September aufderFlugzeugwerft inOberschleißheim Barbecue-Party zuGunsten der Kinderhilfe Horizon am Kirchberger, KlausJ.Behrendt, Heinz Hoenig beieiner von Bayern, Björn Hergen Schimpf,Peter Maffay, Sonja Speichert, Frauke Ludowig, IrisBerben,PrinzLeopold Konstantin von Bayern; stehend: Claudia Jung,Sandra * Vorn, kniend:Katja Riemann,LeslieMandoki,Prinz D Prominente beiWohltätigkeitsveranstaltung*: fällt aus dem Rahmen. Erhilft ehrenamtlichfällt ausdemRahmen. auf einerBaustelle –dochseindritter Job in einemArchitekturbüro oderauchmal Bauingenieurwesen undarbeitet nebenbei Mann geht indenVorruhestand.“ „Egal was, schnell.Mein nurmöglichst te, fügte dieBesucherin seufzend hinzu: ihren genauen Vorstellungen fragen konn- der Bremer Freiwilligenagentur sienach von Heinz Janningwissen. Bevor derChef Das Ehrenamt kommt zuneuen Ehren. Inseiner„zivilenBürgergesellschaft“ willKanzler Schröder die Thorsten Kreßner, 31, studiert inLeipzig Doch einejunge Generation von freiwilligen Helfern willvor allemSpaßundSelbstverwirklichung. parat habe,wollte dieBesucherin sienicht„einfür paarEhrenämter“ ie Damehatte essehreilig.Ober Deutschen zumehrgemeinnützigem Engagement bewegen –unddamitdenStaatentlasten. der spiegel Pflege derSeele Lebensaufgabe inderSinnkrise der Bundesrepublik derzeit einegefragte kenbett undfragt: „Möchten Siereden?“ meist abersetztsiesicheinfach ansKran- liestsiedenPatientenhaus. Manchmal vor, geht einmalinderWoche ineinKranken- ehrenamtlich schwer Kranke. Hennicke während ihres Einsatzes tragen, besuchen von derFarbe derKittel haben,diesie der eineLebensaufgabe. kenhaushilfe fanddieFrührentnerin wie- „Grünen Damen“ derEvangelischen Kran- technik inHalleverloren hatte. Beiden Archiv Schweiß- desZentralinstituts für nachderWendeals siegleich ihre Stelle im beitsjahren ineinetiefe Sinnkrise geraten, „Da bleibtmaneinbisschenKind.“ lebendig“ seidas,sagterzurBegründung. und turnt mitdenKleinen.„Schönundso auf Kinderfesten, bastelt undsingt,malt Unentgeltliche Helfer wiediesesindin Die „Grünen Damen“, dieihren Namen Regina Hennicke, 63,war nach40Ar- 45/2000 FREIWILLIGE Deutschland

ACTION PRESS PEOPLE PICTURE Spezies. Seit Politiker landauf, landab das freiwillige Engagement in der „Bürgerge- sellschaft“ preisen, gelten die unentgeltli- chen Helfer als eine Art Allheilmittel gegen diverse Leiden im vereinten Deutschland. Rechtsradikale Anschläge? Die Bür- gergesellschaft ist gefordert. Hohe Ar- beitslosenzahlen und überlastete Sozial- kassen? Die Bürgergesellschaft soll es richten. „Große Kräfte“, glaubt der CDU- Fraktionschef in Baden-Württemberg, Günther Oettinger, werde die Bürgerge- sellschaft freisetzen, weil Freiwillige „die Staatsquote zurückdrängen und den So- zialstaat effektiver gestalten“ könnten. Eine „riesige schlafende Ressource“ hat auch der nordrhein-westfälische Minister- Hilfreiche Dienste Rangliste der wichtigsten ehrenamtlichen Tätigkeitsfelder ehrenamtlich aktive Menschen in Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahre 11 Sport 6 Schule, Kindergarten Freizeit 6 (z. B. Kleingartenverein) 5 Religion 5 Kultur, Musik 4 Sozialer Bereich 3 Politik Berufliche 2 Interessenvertretung 2 Rettungsdienste, Feuerwehr 2 Umweltschutz, Tierschutz Jugendarbeit, 2 Erwachsenenbildung 1 Gesundheit 1 Justiz 1 Sonstiges

präsident Wolfgang Clement (SPD) aus- gemacht. Bei Gerhard Schröder heißt die neue Wunderwaffe „zivile Bürgergesellschaft“, und der Kanzler glaubt, sie könne helfen, in der globalisierten Welt die „Zivilisie- rung des Wandels“ zu schaffen. Im wild wuchernden Medizinbetrieb beispielswei- se möchte der Regierungschef die zivile Bürgergesellschaft künftig zum Wohle aller wirken lassen: „Ohne finanzielle, geistige und in diesem Fall buchstäblich körperliche Selbstbeteiligung der Versicherten“, so So- zialdemokrat Schröder, sei das Gesund- heitswesen nicht mehr vorstellbar. Gefor- dert sei „mehr Eigenverantwortung, die zu Gemeinwohl führt“. Die Grünen planen, den zivilen Wehr- ersatzdienst in eine Art Freiwilligenhilfs-

Lebensmittel für die Hamburger Tafel Gefragte Spezies

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Werbeseite dienst umzuwandeln, da Vor allem „Spaß“ erwar- beim absehbaren Schrump- ten die modernen Helfer von fen der Wehrpflichtigenar- ihrem Einsatz, fanden die mee auch das Heer der Ver- Befrager von Infratest Bur- weigerer nicht mehr in alter ke heraus. Ein Wunsch, den Stärke zum zivilen Einsatz die Ehrenamtlichen alten bereitstehen könnte – ohne Schlages nicht einmal zu solche Helfer droht zahlrei- denken, geschweige denn zu chen Sozialdiensten der Zu- formulieren gewagt hätten. sammenbruch. Rund hundert Ehrenamt- Doch mit drängenden liche arbeiten zum Beispiel Worten von oben oder insti- im Bremerhavener „Lotte- tutionalisierten Freiwilligen- Lemke-Haus“ – zehn Helfer

jahren ist die neue Genera- / VISION PHOTOS R. KLOSTERMEIER mehr, als die Einrichtung an- tion von Ehrenamtlichen Student Marcus (hinten l.), Freunde*: Angebote im Internet gestellte Mitarbeiter hat. Sie nicht zu motivieren. Appelle machen mit den Hausbe- nach dem Motto „also Kinder, ihr müsst sätzliche Qualifikationen. Ausgesucht wird, wohnern Spaziergänge, kaufen mit ihnen euch mehr engagieren“ rühren ihn „nun was den eigenen Bedürfnissen am ehesten ein, lesen ihnen vor oder bedienen sie im gerade nicht“, sagt Medizinstudent Benja- entspricht. Das sei „wie beim Verkaufen“, heimeigenen „Café Sammeltasse“. Nur für min Marcus, 23, der in Berlin zusammen findet Banker Schnell. „Man muss einfach die reguläre Pflege sind sie nicht zuständig. mit Freunden Angebote für freiwilliges En- sagen, okay, das ist freiwillige Arbeit, und „Wir pflegen Ihre Seele“, lautet ihr Leit- gagement übers Internet verbreitet. das sind eure Vorteile, ganz klar.“ spruch, und alles, was nach Pflicht aussieht, „Man müsste, man sollte – das bringt Rund ein Drittel der Bundesbürger ab 14 ist strikt tabu. „Freiwillige“, sagt Alice Fröh- doch gar nichts“, glaubt auch der Hallen- Jahre engagiert sich derzeit ehrenamtlich – lich, die den Dienst aufbaute, „müssen gar ser Bankangestellte Michael Schnell, 28. in der Freiwilligen Feuerwehr oder bei ei- nichts. Sie können, wenn sie wollen.“ In der „Der Entschluss muss von innen kom- ner Armentafel, als ehrenamtliche Oma Praxis heißt das, wenn jemand am Montag men.“ Einfach „mal kreativ sein“ möchte oder als Baumpfleger. Das ergab im ver- Steffen Kicinski, 37, der ehrenamtlich für gangenen Jahr eine repräsentative Erhe- ein Hallenser Kinderfreitzeitprojekt kocht. bung im Auftrag des Bundesfamilienminis- Vorbei sind die Zeiten, als unbezahl- teriums. Ein weiteres Viertel der Deutschen te Helfer, angetrieben von christlichem könnte sich danach vorstellen, in Zukunft Pflichtgefühl oder sozialdemokratischer irgendwo ohne Lohn mitzuhelfen. Arbeitersolidarität, jahrzehntelang mit be- Auch die Jungen, fand das Münchner So- dingungsloser Hingabe auf ihrem einmal zialforschungsinstitut Infratest Burke her- eingenommenen ehrenamtlichen Posten aus, sind besser als ihr Ruf. Mit 37 Prozent ausharrten. liegt der Anteil der 14- bis 24-Jährigen so- Wer sich heute engagiert, will nicht als gar noch über dem Durchschnitt. Ausputzer irgendwo hingeschickt werden, Bei den Jugendlichen zeigt sich jedoch wo sich der Sozialstaat gerade zu verab- mehr noch als bei den Älteren, wie sehr sich schieden droht, sondern will selbst ent- die Motive für das freiwillige Engagement scheiden, was er wo wie lange macht. Frei- gewandelt haben. Zu Beginn der neunziger

williges Engagement, so der Münchner So- Jahre hatten die Wissenschaftler der Shell- M. JEHNICHEN zialpsychologe Heiner Keupp, müsse „den Jugendstudie die Engagement-Bereitschaft Freiwilliger Koch Kicinski Menschen etwas bringen: Sinn oder Le- der Nachwachsenden noch so beschrieben: „Einfach mal kreativ sein“ bensfreude – am besten beides“. „Soziale Bewegungen ja, aber ohne mich.“ Der unentgeltliche Einsatz ist von einer Zehn Jahre später ist das Misstrauen feststellt, dass er überhaupt keine Lust hat, selbstlosen Tat zu einem klar benannten gegen traditionelle Verbände und politi- den vereinbarten Termin am Mittwoch ein- Tauschgeschäft geworden. Die Engagier- sche Parteien mit ihren hierarchischen zuhalten – ein Anruf genügt. ten des 21. Jahrhunderts spenden Zeit und Strukturen geblieben. „Die alte Haltung“, „Freiwillige kommen freiwillig, die erwarten dafür eine Gegenleistung: neue so Sozialforscher Keupp, „sich für alles gehören nicht in Dienstpläne“, betont die Bekanntschaften zum Beispiel oder zu- und jedes moralisch verantwortlich zu Ehrenamtsmanagerin und hält den nur auf fühlen, hat sich über- den ersten Blick schlichten Grundsatz auch lebt.“ dann konsequent aufrecht, wenn bei per- Aber auch auf viele sonellen Engpässen im Pflegedienst die Ältere hat das traditio- Versuchung übergroß ist, die kostenlosen nelle Ehrenamt mit sei- Helfer doch mal schnell in den regulären nem Verzicht-Image ei- Dienst mit einzubeziehen. ne abschreckende Wir- Bei der Berliner Telefonseelsorge wer- kung. „Davor hat man den die verzweifelten Anrufer von mehr als vielleicht Respekt, aber 130 Freiwilligen getröstet und beraten. Die mit einem selbst soll es meisten Helfer sind berufstätig. Fotogra- möglichst nichts zu tun fen sind darunter und Lehrer, Elektriker haben“, sagt der Bre- und Verwaltungsangestellte. Der Einsatz mer Freiwilligenagen- ist hart, täglich werden bis zu 60 Gespräche turchef Janning. geführt, auch auf anstrengende Nacht- schichten müssen sich die Ehrenamtlichen einrichten. * Von der Gruppe www.ehren-

G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING amtlich.de, rechts neben Mar- Dennoch hat die kirchliche Einrichtung Ehrenamtliche Großeltern, Leih-Enkel: Weg vom Verzicht-Image cus: Valentin Zacharias. in Berlin Jahr für Jahr mehr Bewerber, als

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Werbeseite Deutschland sie unterbringen kann. In den telefonischen reitschaft“ seit vier Jahren den „durch- weiß Agenturgeschäftsführer Janning, Seelsorgediensten anderer Städte ist es gängigen Trend“ ausgemacht, „sich über „trauen sich nicht.“ ebenso. ein freiwilliges Engagement zusätzliche Wer sich zum freiwilligen Engagement Der Grund für den Ansturm: Der te- Lern-, Kontakt- und Qualifizierungsmög- entschließt, hat Janning gelernt, „der muss lefonische Trostdienst bietet seinen frei- lichkeiten“ zu erschließen. Selbstbewusstsein haben“. Die meisten Ar- willigen Mitarbeitern kostenlos eine gründ- Der Berliner Treffpunkt, der seit 1988 beitslosen aber können gerade damit nicht liche Ausbildung in Gesprächsführung. existiert, gehört mit der Münchner Agen- dienen. „Die kriegen etwas Tolles“, sagt Elfrie- tur „Tatendrang“ zu den ältesten Freiwil- In den Niederlanden, wo der Einsatz ligenagenturen in Deutschland. Finanziert von Freiwilligen ebenso wie in Groß- wird das Projekt, in dem vier Mitarbeite- britannien und den USA eine lange Tradi- rinnen beschäftigt sind, vom Berliner Se- tion hat, wird deshalb um Erwerbslose nat. Pro Jahr vermittelt die Agentur rund ganz besonders geworben – vor allem, um 400 Interessierte. sie aus dem gesellschaftlichen Abseits Als der Treffpunkt eine Statistik seiner zu holen. Klientel aufstellte, fiel besonders ein Trend „Leute mit guter Ausbildung und guter auf: Fast 60 Prozent derjenigen, die 1999 in gesellschaftlicher Position können ganz einen Freiwilligenjob vermittelt wurden, leicht dabei sein“, sagt Henk Kinds, der in waren Alleinstehende. Viele Frauen über Amsterdam eine international tätige Bera- 50, Männer quer durch alle Altersklassen; tungsfirma für den Einsatz von Freiwilligen Berufstätige und Rentner, Studenten und hat. Wichtiger sei es deshalb, bei Menschen Arbeitslose – Großstadtsingles auf der Su- „mit schlechter Ausbildung und ohne Ar- che nach „Wahlverwandtschaft“, sagt Ca- beit“ Begeisterung für freiwilliges Engage-

F. KALKMANN / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF HOOGTE / HOLLANDSE KALKMANN F. rola Schaaf-Derichs. ment zu wecken, „damit sie mitmachen in Ehrung für Freiwillige in den Niederlanden Unter den möglichen Interessenten sind der Gesellschaft“. „Mitmachen in der Gesellschaft“ es besonders die Arbeitslosen, die sich mit Dafür gibt es im westlichen Nachbar- dem freiwilligen Engagement schwer tun. land rund 150 Freiwilligenzentralen, in de- de Weißbach von der Berliner Telefon- Nach Paragraf 118 des Arbeitsförderungs- nen eigens dafür ausgebildete Profis mit seelsorge, „und sie wissen, dass sie damit gesetzes dürfen sie sich pro Monat nicht den Interessierten nach einem passenden etwas anfangen können“ – beruflich und mehr als 14 Stunden einem freiwilligen En- Helferjob suchen. Viele Berater sitzen zen- privat. gagement widmen. tral im Rathaus, finanziert werden sie meis- Besonders bei 20- bis Mitte-30-Jährigen Aber nicht nur die gesetzlichen Restrik- tens von den Kommunen. hat Carola Schaaf-Derichs von der Berliner tionen halten viele Erwerbslose vom un- Begonnen hat der Ausbau des nieder- Freiwilligenagentur „Treffpunkt Hilfsbe- entgeltlichen Helferjob ab. „Die meisten“, ländischen Freiwilligensektors Anfang unheimlich viel Geld in die Förderung des Freiwilligensektors gepumpt.“ Aktivisten in Deutschland können davon nur träumen. Hier gibt es bisher nur vier Freiwilligenagenturen, die von den großen Wohlfahrtsverbänden unabhängig sind und deren Finanzierung wenigstens einiger- maßen gesichert ist. Die Ende 1997 von der damaligen Familienministerin Claudia Nol- te (CDU) gegründete Stiftung „Bürger für Bürger“, die als bundesweite Lobby für Frei- willigenengagement gedacht war, dämmert inzwischen ohne finanzielle Ausstattung vor sich hin. Nolte-Nachfolgerin Christine Berg- mann (SPD) mochte den Zuschuss von jähr-

D. BALTZER / ZENIT D. BALTZER lich 800000 Mark nicht mehr bezahlen. Freiwillige bei der Feuerwehr: Begeistertes Engagement „Wir bekommen viel Sympathie, in der ganzen Republik, auf allen Ebenen“, sagt der achtziger Jahre. Holland hatte willigen nur solche Aufgaben übernäh- Janning, aber wenn es dann ums Geld gehe, eine schwere Wirtschaftskrise. Die Sozial- men, zu denen angestellte Profis keine Zeit sei davon meist nichts mehr zu spüren. kassen konnten, wie heute in Deutsch- hätten. Eine Erfahrung, die auch viele kleine land, die Lasten kaum noch bezahlen. Der Um das sicherzustellen, gibt es in Initiativen machen, die sich im Osten des Wohlfahrtsstaat wurde zurückgefahren, Holland inzwischen einen neuen Berufs- Landes couragiert gegen rechte Gewalt an die Stelle von Vollzeitjobs traten stand, den „Freiwilligenmanager“. Er wird stemmen. vielerorts Teilzeitangebote. Freiwillige, so von Vereinen, Heimen oder Hilfsorganisa- Etwa das „Netzwerk für Demokratische schien es, sollten als Lückenbüßer benutzt tionen eingestellt, um den Einsatz der kos- Kultur“ im sächsischen Wurzen. Wenn die werden. tenlosen Helfer zu regeln und deren Inter- jugendlichen Initiatoren für eine Informa- Mittlerweile sei die Sorge, die freiwillig essen zu wahren. tionsveranstaltung einen Raum suchen, fin- Engagierten könnten bezahlte Jobs killen, Bei der niederländischen Wohlfahrts- det sich in der Stadtverwaltung meist nie- in den Niederlanden kein Thema mehr, organisation „Humanitas“ beispielsweise mand, der für die Raumvergabe zuständig sagt Experte Kinds. „Es braucht keine sind 150 bezahlte Mitarbeiter für die Eh- sein will. „Wir werden“, so Netzwerk-Mit- Verdrängung zu sein, wenn man das gut renamtlichen zuständig. „In Holland“, sagt glied Frank Schubert, 22, „von einer Person regelt.“ Voraussetzung sei, dass die Frei- der Bremer Agenturchef Janning, „wird zur anderen geschickt.“ Findet sich schließ- Werbeseite

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lich doch eine Möglichkeit, so kann es vor- kommen, dass der zuständige Amtsleiter 450 Mark Miete von den jungen Ehren- amtlichen verlangt. Ein paar Tage Elend So wenig konkrete Hilfe die Freiwilligen manchmal vom Staat erwarten können, so Firmen schicken ihre Manager zu Arbeitslosen oder Straftätern – stark ist der Widerstand von Gewerk- und heben so das Konzern-Image. schaftern und Arbeitnehmern; die ver- dächtigen die unentgeltlichen Dienstleister, ine Woche lang „haben einen Nachhol- sie würden ihnen die Jobs wegnehmen. will Christian Wit- bedarf, ihre Position in Wie groß die Angst davor ist, musste Eten, 44, seinen der Gesellschaft klarzu- jüngst Olaf Ebert von der Freiwilligen- Schreibtisch bei der stellen.“ agentur in Halle erfahren. Der gelernte Deutschen Bank in der In Deutschland war Pädagoge, der seit Juli 1999 Helfer ver- Hamburger City verlas- das Münchner Projekt mittelt, hatte vor Teilnehmerinnen eines sen und sich unter die- „Switch“ im vergange- Umschulungskurses über seine Arbeit jenigen mischen, „die nen Jahr der Vorreiter berichtet. vielleicht nicht so viel für den „SeitenWech- Die Damen mittleren Alters lauschten Glück hatten wie ich“. sel“. Das Austauschpro- interessiert – bis ihnen Ebert eine Liste mit Er nimmt an einem gramm zwischen Füh- Ehrenamtsangeboten präsentierte. Gesucht

noch ungewöhnlichen J. PALME rungsetage und sozialer wurde dort unter anderem ein „Hausmeis- Projekt teil, das in Banker Witten Misere wird von zwei ter in einem Sportverein“ – für die Kurs- den Niederlanden, den Abstecher ins Abseits Mitarbeiterinnen im So- teilnehmerinnen ein klarer Fall von Ar- USA, Großbritannien zialreferat der Bayern- beitsplatzvernichtung. Sie protestierten oder der Schweiz allerdings schon Tra- Metropole organisiert. Bisher haben lautstark. dition hat: Manager helfen, freigestellt acht Manager des Siemens-Konzerns Vergeblich versuchte Ebert ihnen zu von ihren Unternehmen, für ein paar mitgemacht und zum Beispiel in der erklären, dass es sich bei dem vermeint- Tage in sozialen Einrichtungen mit. Bahnhofsmission ausgeholfen. Im lichen Hausmeisterposten nur um einen Das Vorhaben nennt sich „Seiten- November startet die nächste Helfer- Helfer für vier Stunden die Woche han- Wechsel“, und der Hamburger Orga- gruppe ihren Einsatz. „Unsere Erfah- dele. Seine aufgebrachten Zuhörerinnen, nisator des Austauschprogramms, die rung ist, dass da was sitzen bleibt“, sagt allesamt Langzeitarbeitslose, waren nicht hanseatische „Patriotische Gesellschaft Birgit Schweimler vom Münchner mehr zu beruhigen. Der Rest des Vor- von 1765“, offeriert es als „besonderes Weiterbildungsangebot“. 3000 Mark Teilnahmegebühr zahlt die Deutsche Bank für das Praktikum ihres Personalberaters. Ein Drittel da- von bekommt das Aids-Hospiz „Ham- burger Leuchtfeuer“, für das Witten im Januar arbeiten will. Vorbild für den „SeitenWechsel“ ist ein gleichnamiges Projekt in der Schweiz, das seit 1991 besteht: Von der Aidshilfe bis zur Sozialpsychiatrie bieten 130 Institutionen Praktikums- plätze für Damen und Herren aus den Chefetagen an. „Der Gewinn“ für die Unternehmen sei „ein menschlich kompetenter Führungsstil“. Viele Sei- tenwechsler, ergeben die Erfahrungen

in der Schweiz, kümmern sich auch / ARGUM HELLER F. nach ihrem Abstecher ins gesellschaft- Bahnhofsmission in München: Aushilfe aus der Führungsetage liche Abseits weiterhin um „ihre“ Ein- richtung. Sozialreferat. „Die sind sehr beein- trags ging in ihren Beschimpfungen un- In den USA, wo es „Volunteering“ druckt.“ ter. „Wenn wir uns nicht klar genug ab- seit langem gibt, wird von Unterneh- Auch bei den sozialen Einrichtungen grenzen“, hat Ebert aus der turbulenten men ganz selbstverständlich erwartet, ist die anfängliche Skepsis „gegen den Sitzung gelernt, „geraten wir in Teufels dass sie sich gesellschaftlich engagie- Sozialtourismus für eine Woche“ in- Küche.“ ren – nicht nur mit Geld, sondern auch zwischen der Zuversicht gewichen. Die Wie jugendlicher Helfer-Elan irgendwo mit der Tatkraft ihrer Mitarbeiter. Das Besucher aus den Konzernen, hofft zwischen bürokratischem Beharrungs- hilft der Gemeinschaft und poliert das eine Mitarbeiterin vom Münchner vermögen und ängstlicher Abwehr der eigene Image auf. Verein für Sozialarbeit, könnten doch Beschäftigten versickern kann, damit hat „Die Firmen“, sagt der Amsterda- „als so eine Art Botschafter“ an ihren Daniel Friedrich, 21, einschlägige Erfah- mer Henk Kinds, der mit seiner Firma angestammten Arbeitsplatz zurück- rung gemacht. Der Psychologiestudent hat- „Community Partnership Consultants“ kehren – mit mehr Verständnis für te vor einigen Jahren die Idee, in einer niederländische Unternehmen bei die da unten, die nicht so leicht hoch- Kinderpsychiatrie ehrenamtlich Theater- ihrem Einsatz fürs Gemeinwohl berät, kommen. aufführungen anzubieten. Nach einigem Suchen fand er eine Ein- richtung, die sich seinen Plan anhörte und

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Werbeseite Deutschland ihn vier Wochen später zum Vorstellungs- nung. Vor einiger Zeit habe er bei einem gespräch bat. Der zuständige Mitarbeiter Ortsverein eine Diskussion moderiert, zu war begeistert, alles schien nach Monaten der auch, „o Wunder, zwei neue Gesich- des Suchens und Verhandelns endlich ge- ter“ erschienen waren. klärt – bis ihm die Organisation einige Zeit Doch die Freude über den Zuwachs leg- später lapidar mitteilte, mit Ehrenamtli- te sich bald, als Pott beobachtete, wie der chen arbeite man grundsätzlich nicht zu- Informationsabend für die beiden Neulin- sammen. ge zu einer ständigen „Sitzprobe“ wurde. Aus dem „Frusterlebnis“ hat Daniel Kaum hatten sie sich irgendwo nieder- zusammen mit Medizinstudent Benja- gelassen, wurden sie wieder hochge- min Marcus und anderen Freunden die scheucht, weil sie den Stammplatz irgend- Konsequenz gezogen, in der Freizeit tele- eines Alteingesessenen erwischt hatten. fonisch Angebote für Freiwillige zu sammeln und auf einer eigenen Internet-Seite (www.eh- renamtlich.de) zu prä- sentieren. Inzwischen teilen auch die anderen in der Gruppe seine Erfahrung, dass gute Ideen in so- zialen Einrichtungen längst nicht immer gut ankommen. „Viele Or- ganisationen“, sagt Va- lentin Zacharias, „wis- sen gar nicht, welche Helfer sie brauchen, und

dann ist ihnen der Auf- OSSENBRINK F. wand zu groß, das her- Helferin Doris Schröder-Köpf*: Wunderwaffe Bürgergesellschaft auszufinden.“ In Deutschland, hat auch der Amster- „Ich möchte ja nicht wissen“, sagt Pott, damer Experte Kinds festgestellt, „gibt es „was die hinterher erzählt haben.“ zwar viele und rasche Veränderungen im Vor knapp drei Jahren hat der Awo- Denken über das Ehrenamt, aber ebenso Mann deshalb damit begonnen, gestande- viele Probleme, die Ergebnisse in die Pra- ne Haupt- und Ehrenamtliche auf die neue xis umzusetzen“. Zeit einzuschwören. In einem dicken Der Bremer Geschäftsführer Janning Handbuch werden ihnen Tipps präsentiert, berät deshalb auch Organisationen, wie wie mit den Freiwilligen „behutsam und sie für Freiwillige attraktiver werden kön- pfleglich“ umzugehen ist – angereichert nen. Zu seinen Kunden zählen Kinder- mit Beispielen, wer in welchem Regional- heime oder Behinderteneinrichtungen, büro schon dazugelernt hat. aber auch Verbände wie die Arbeiter- Auch eigene Freiwilligenagenturen hat wohlfahrt (Awo). sich die Awo inzwischen zugelegt, um Wie viele große Sozialorganisationen das Image des muffigen Traditionsverban- mit ihren traditionellen Milieus, kämpft des mit zu viel Staatsnähe loszuwerden. die Awo seit Jahren mit Nachwuchs- Andere Wohlfahrtsverbände wie Caritas problemen. In vielen Ortsvereinen liegt oder Diakonie versuchen ebenfalls, mit das Durchschnittsalter der Mitglieder bei solchen Agenturen an die neuen Hel- über 60 Jahren, mancherorts haben die fer heranzukommen. Aber, weiß Awo- Awo-Aktivisten selbst die 70 schon über- Mann Pott, „jeder Wechsel des Flusslaufs schritten. ist schwierig, wenn man selbst darin Natürlich ist diesen Veteranen des Eh- schwimmt“. renamts nur schwer begreiflich zu machen, Immerhin hofft der Fachmann fürs Eh- dass da Neue kommen, die, statt sich an- renamtliche, dass sich heute bei der Ar- zupassen, eigene Ideen durchsetzen wol- beiterwohlfahrt nicht mehr wiederholen len. Die nicht von Hilfsbereitschaft reden, würde, was vor zwei Jahren noch als selbst- sondern von Selbstverwirklichung. Die verständlich galt: Damals hatte sich bei der kein Mitgliedsbuch wollen und stattdessen Awo ein Mann gemeldet – mit einer neu- gleich nach ihrem Auftauchen klarstellen, en Idee. Er möchte gern, hatte der Besu- wie viel Zeit sie haben. cher den Verbandsfunkionären vorgetra- Manchmal, sagt Projektleiter Ludwig gen, zur Freude älterer Menschen ein Bio- Pott, der bei der Awo fürs Ehrenamtliche top anlegen. zuständig ist, beginne der innerverband- Die Reaktion der Awo-Verantwortli- liche Kulturkampf schon bei der Sitzord- chen kam prompt: „Um Gottes willen, da fallen die alten Leute nur rein.“ Der * Bei einer Benefiz-Veranstaltung zu Gunsten des Sor- Mann mit dem guten Vorsatz wurde weg- gentelefons für Kinder in Berlin am 23. September. geschickt. Karen Andresen

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir haben keine Zeit zu verlieren“ Wolfgang Clement, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, über die Unsicherheiten der SPD-Anhänger, den Wandel der Industriegesellschaft und Versäumnisse im Umgang mit gewalttätigen Fußballanhängern

SPIEGEL: Herr Clement, seitdem die Regie- Clement: Es gibt zweifel- rung von Bonn nach Berlin, die Macht von los Orientierungsschwierig- West nach Ost verzogen ist, sucht Nord- keiten. Es muss uns gelingen rhein-Westfalen nach seiner neuen Rolle. – so schwer das in einer Zeit Sein Ministerpräsident, wie es scheint, auch. des Umbruchs ist –, auch und Wohin soll der NRW-Sonderweg führen? gerade den Schwächeren, Clement: Wir sind längst angekommen – den Benachteiligten wieder als stärkstes der deutschen Länder mitten Perspektiven zu geben … in Europa, mit einer besonders engen Ver- SPIEGEL: … indem Sie der flechtung zwischen Benelux und Nord- SPD nahe legen, ihre „Ge- rhein-Westfalen. Das ist ein Wirtschafts- rechtigkeitsideale zu über- raum von 44 Millionen Menschen mit der denken“? Wirtschaftskraft Großbritanniens. Da liegt Clement: Ach was! Indem auch unsere Zukunft. wir ihnen die Gewissheit ge- SPIEGEL: Dennoch hat Nordrhein-Westfalen ben, dass wir auf einem gu- an politischem Gewicht verloren … ten Weg sind. Wenn wir es Clement: Das kann ich, wenn ich in die Zei- jetzt nicht schaffen, wann tungen schaue, nicht erkennen. denn? Wir haben einen lang SPIEGEL: Wenn Sie in die Düsseldorfer Zei- dauernden Aufschwung. Wir tungen schauen. haben in Nordrhein-West- Clement: Nein, in die Berliner Zeitungen. falen innerhalb von zwei Früher war der Einfluss Nordrhein-West- Jahren mehr als 150000 zu- falens viel unmerklicher. Die räumliche sätzliche Arbeitsplätze ge- Distanz sorgt für mehr Klarheit. Die Ver- schaffen. Wir haben eine Dy- flechtungen lösen sich auf, und es ergeben namik am Arbeitsmarkt wie sich klare Interessenkonstellationen. seit 20 Jahren nicht mehr. Es SPIEGEL: Diese Verflechtungen waren für ist an der Zeit – das will ich viele beruhigend, sie fühlten sich aufgeho- damit sagen –, das Jammer- ben. Jetzt scheint es, als ob gerade sozial- tal hinter uns zu lassen. demokratischen Anhängern der Wandel zu SPIEGEL: Alles, was Sie sa- schnell geht. gen, spricht den Kopf an. Clement: Richtig ist: Die Unsicherheit ist Den Bauch der Leute errei- groß. Das zeigt sich auch in unseren Wahl- chen Sie damit nicht. ergebnissen. Aber die Menschen sind sehr Clement: Sind Sie sicher? wohl zu gewinnen für die notwendigen SPIEGEL: Im Bauch ist die Veränderungen. Sie gehen in erstaunlicher Angst. Weise mit. Wir haben in Nordrhein-West- Clement: Mag sein, aber ge- falen ja nicht nur den strukturellen Umbau wiss nicht mehr bei der jun- der Industriegesellschaft zu bewerkstelli- gen Generation. gen, sondern zugleich mit den Folgen der SPIEGEL: Die läuft Ihnen Globalisierung umzugehen. Wir tun das doch auch weg.

D. HOPPE / NETZHAUT Clement: Wir werden sie Modernisierer Clement: „Die Menschen gehen mit“ schon zurückgewinnen. Die junge Generation hat diese aber auf einer ökonomischen Grundlage, Angst nicht, sie hat auch keinen Grund die so gut ist wie seit 20 Jahren nicht mehr. dazu. Das wäre doch gelacht! Es gibt keine Deshalb werden wir die vorhandenen Un- bessere Perspektive als die heutige, ein Eu- sicherheiten auch überwinden. ropa ohne Grenzen aufbauen zu können. SPIEGEL: Irritiert Sie nicht, wenn bei der SPIEGEL: Wie erklären Sie dann Ihre Wahl- Oberbürgermeister-Wahl in Köln die Wahl- ergebnisse gerade in NRW? Sie haben jetzt beteiligung in einstigen SPD-Hochburgen über ein Jahr lang ein Tal der Tränen durch- auf 20 Prozent sinkt? schritten. Es fing bei den Kommunalwahlen Clement: Wen könnte das kalt lassen. an, dann kam die Landtagswahl, und jetzt

L. JARDAI / MODUS L. JARDAI SPIEGEL: Das ist doch Ihre Klientel, die zu war es bei der OB-Wahl in Köln wieder so. Genossen im Ortsverein Köln-Pulheim Hause bleibt. Die erkennt Ihre sozialde- Clement: Man kann halt nicht immer ge- „Enormer Reformbedarf“ mokratische Politik nicht mehr wieder. winnen.

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SPIEGEL: Man könnte aber mal wieder ge- rechte Entlohnung und allgemeinen Wohl- Clement: Durch seinen Abgang fehlt es viel- winnen. stand zu verzichten. leicht an Spannung, aber nicht an Ergeb- Clement: Wir sind in Nordrhein-Westfalen – SPIEGEL: Finden Sie im Wandel immer die nissen. wie seit langer Zeit – die unangefochtene richtige Form der Ansprache? SPIEGEL: Wer vertritt heute seine Stimme Führungspartei, und es spricht nichts dafür, Clement: Wer weiß! Wenn Sie Verände- und Position in der SPD? dass sich das ändert. Natürlich gibt es auch rungen herbeiführen wollen, müssen Sie Clement: Seine Stimme war in meiner Schwächen. Aber was hier zu Lande statt- auch etwas abverlangen. Dann können Sie Wahrnehmung eher eine scharf akzentu- findet, das ist ja auch keine Spielerei, son- nicht immer fragen, ob Sie das in der je- ierende, weniger eine im Inhalt eigene. dern eine postindustrielle Revolution. Das weils richtigen Tonlage tun. Da mag schon wird vielleicht nur nicht überall erkennbar, einmal eine Geste ausrutschen, ja, das „Am Ende gewinnt der, weil in Ostdeutschland zeitgleich ein ande- stimmt. der den Mut hat, rer Wandel stattfindet. Aber auch im indu- SPIEGEL: Sie müssen die Leute mitnehmen. striellen Umbruch unseres Landes kommt es Die fühlen sich schnell überfordert. den richtigen Weg zu gehen“ zu Verwerfungen, die Wählerschaften ver- Clement: Ich weiß nicht, worauf Sie diese ändern. Aber am Ende gewinnt der, der den Einschätzung stützen. SPIEGEL: Sie würden doch heute keinen Mut hat, den richtigen, wenn auch schwie- SPIEGEL: Man muss sich nur die SPD-Wahl- Rentenwahlkampf mehr machen, wie Sie rigen Weg zu gehen. ergebnisse in Nordrhein-Westfalen im letz- ihn 1998 betrieben haben. SPIEGEL: An was denken die Leute in NRW, ten Jahr anschauen. Clement: Nein, das ist wohl wahr … wenn sie Wolfgang Clement an ihrer Spit- Clement: Unser Landtagswahlergebnis war SPIEGEL: … war aber maßgeblich auf Oskar ze sehen? in der Rückschau mit knapp 43 Prozent Lafontaine zurückzuführen. Clement: Ich hoffe, sie nehmen wahr, dass nicht von den schlechtesten Eltern, mein Clement: Eben. wir uns in Nordrhein-Westfalen auf der Ansehen übrigens auch nicht. SPIEGEL: Ein Europa ohne Grenzen, Ein- Höhe der Zeit bewegen. SPIEGEL: Die Verunsicherung der Menschen wanderer, Ausländer – auch das löst Ängs- SPIEGEL: Und deshalb hören die Leute von ist doch unstreitig. Nicht umsonst hat Ihr te aus. Bis wann müssen Sie die Zuwande- ihrem Landesvater, „begrenzte Ungleich- Landesvorsitzender Franz Müntefering den rungsfrage regeln? Clement: Wir werden es regeln, aber ein Muss gibt es im Moment gar nicht. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns in Deutschland ein bisschen mehr administrative Flexi- bilität erlaubten. Es ist doch absurd, wie wir uns schwer tun, für Unter- nehmen der Kommunikationsbran- che Ausländer hereinzulassen oder ausländische Professoren an eine deutsche Uni zu berufen. Nicht für alles und jedes bräuchten wir gleich eine Gesetzesänderung. SPIEGEL: Woran hat es bisher ge- fehlt? Clement: Wir müssen die deutsche Nabelschau überwinden und wie- der in europäischen und internatio- nalen Zusammenhängen zu denken und zu handeln lernen. Und wir müssen unseren Bürgern zugleich die Gewissheit geben, dass der Blick über die Grenzen keine Ausflucht ist vor ihren Ansprüchen auf Ausbil- dungs- und Arbeitsplätze. SPIEGEL: Ist ein Parteienverbot für

F. ROGNER / NETZHAUT F. die NPD die richtige Reaktion, um Wahlkämpfer Müntefering in Köln: „Schonungslos sagen, was ist“ Rechtsextremisten und Antisemiten zu begegnen? heit im Ergebnis“ könne durchaus nütz- Slogan von der „Sicherheit im Wandel“ Clement: Eindeutig ja. Wenn ich mir an- lich sein. geprägt. Müssen Sie nicht auf die Ängste schaue, was es an Gewaltbereitschaft und Clement: Sie nehmen vermutlich eher das mehr eingehen als bisher? an systematischem Antisemitismus aus der Konkrete von mir wahr, so zum Beispiel, Clement: Entschuldigung, wir sind hier nicht NPD gibt, dann finde ich heute: Hier sind dass jeder, der bei uns einen Ausbildungs- im Wahlkampf, sondern bei der Arbeit. wir zu lange unaufmerksam gewesen. platz haben will, auch einen bekommt. SPIEGEL: Gerade drum. SPIEGEL: In Ostdeutschland hat es schon SPIEGEL: Sie definieren soziale Gerechtig- Clement: Wir sind in einer Phase des Um- eine Menge Opfer durch Rechtsextremisten keit anders als vor zehn Jahren. baus unseres Landes. Es geht deshalb auch gegeben. Aber erst der Brandanschlag Clement: Ja. Ich halte die Feststellung für nicht um Slogans, sondern um die richtige auf die Düsseldorfer Synagoge hat Ihr richtig, dass wir Gleichheit in den Ergeb- Orientierung. Dabei muss man sich und an- Bewusstsein angestoßen … nissen nicht erzielen können. Das war auch deren auch etwas abfordern. Das geht, Clement: So ist es nicht. Aber ich muss zu- vor zehn Jahren nicht möglich, und das wenn man das tut, ohne das Gerechtigkeits- geben, dass ich es nicht für möglich gehal- hätten wir auch schon damals klären kön- empfinden der Menschen zu verletzen. ten habe, dass bei uns noch einmal nen. Aber diese Feststellung heißt nicht, SPIEGEL: Früher hat Oskar Lafontaine der Brandsätze gegen eine Synagoge flie- auf Chancengerechtigkeit, leistungsge- SPD Orientierung verliehen. Fehlt er jetzt? gen würden. Das war ein Rückschlag,

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Werbeseite Deutschland der auch mein nordrhein-west- diese Frequenzen in Spanien fast fälisches Selbstverständnis getrof- verschenkt und hier zu teuerstem fen hat. Geld versteigert werden, ist ein SPIEGEL: Und deswegen wollen Sie Unding. Das schafft völlig schiefe jetzt die NPD verbieten und bei Wettbewerbsverhältnisse in Euro- DVU und Republikanern ein Ver- land. So wird uns das Werk nicht bot prüfen lassen? gelingen! Clement: Die NPD ist eine Partei, SPIEGEL: Sie gelten als Anhänger die den demokratischen Staat ag- einer entfernungsabhängigen Pkw- gressiv bekämpft. Aus ihr heraus Steuer. werden Rechtsbrüche begangen Clement: Dafür bin ich, ja. und verfassungsfeindliche Aktio- SPIEGEL: Bis wann soll sie einge- nen gesteuert. Einer solchen Or- führt werden? ganisation darf man nicht gestat- Clement: Ab 2003 kommt die ent- ten, sich im legalen öffentlichen fernungsabhängige Besteuerung Raum zu bewegen. Ich denke, wir für die Lkw. Unmittelbar danach sind geradezu verpflichtet, einen muss sie für die Pkw kommen. Verbotsantrag zu stellen. SPIEGEL: Und die Kfz-Steuer? SPIEGEL: Wenn sie nicht vom Bun- Clement: Ich glaube, dass wir bis desverfassungsgericht verboten dahin zu einem schrittweisen Um- wird, ist das der Persilschein für bau der gesamten Verkehrsbe- die Partei. steuerung kommen müssen. Clement: Nein, diese Einschätzung SPIEGEL: Vielleicht marschiert die wird sich in jedem Fall als falsch er- Landesregierung an der Spitze der weisen. Modernisierung, die Landespartei SPIEGEL: Die Verbotsforderung ist hält von Moderne in ihrem Innern auch das Eingeständnis, dass Sie nicht viel. nicht mehr weiterwissen? Clement: Richtig ist, dass wir auch Clement: Es ist konsequent, dass in der Partei enormen Reformbe- wir so handeln, aber längst nicht darf haben. Franz Müntefering genug, um den Rechtsextremismus sagt: Wir haben rund ein Jahr Zeit, zu überwinden. Deshalb begnügen und dieses Jahr wollen wir nutzen, wir uns damit auch nicht. um schonungslos zu sagen, was ist. SPIEGEL: Zu spät. SPIEGEL: Was ist denn? Clement: Sicher waren wir nicht Clement: Es ist notwendig – pau- fehlerlos. Wir hätten zum Beispiel schal gesprochen –, den gesell- der wachsenden Gewaltbereitschaft schaftlichen Veränderungsprozess in unserer Gesellschaft – nehmen auch in unserer Partei zu verkraf- Sie nur den Hooliganismus in un- ten, organisatorisch und program-

seren Fußballstadien – nach mei- D. SCHMID / BILDERBERG matisch. Bis Mitte nächsten Jahres ner Meinung früher und konse- Kohle-Denkmal in Lünen: „Eine postindustrielle Revolution“ muss der Umbau unseres Landes- quenter entgegentreten müssen. verbands gelingen. SPIEGEL: Noch ein Thema, das dem Clement: Das sehe ich eher umgekehrt. Die SPIEGEL: Haben Sie manchmal Angst, dass Wandel unterliegt: Welche Rolle soll der EU-Kommission müsste da eingreifen, wo Ihnen die Zeit davonläuft, wenn Sie zu Nationalstaat zwischen Europa und die Staaten das Ganze aus den Augen ver- langsam vorangehen mit Veränderungen? den deutschen Bundesländern künftig lieren. Das tut sie aber gerade nicht. Dass Clement: Ja, natürlich. Das liegt aber ver- noch haben? die EU beispielsweise keine gemeinsame mutlich nicht an meinem Naturell, sondern Reaktion auf die Ölpreisentwicklung zu wir haben tatsächlich keine Zeit zu verlie- „Wir hätten den Hooligans in Wege bringt und stattdessen zuschaut, ren. Ich habe immer unsere Nachbarn, die den Fußballstadien konsequenter wenn einzelne Mitgliedstaaten mit sekto- Niederlande, vor Augen. Im Vergleich ha- ralen Beihilfen für bestimmte Branchen ben wir in Deutschland mit den notwendi- entgegentreten müssen“ vertragswidrig handeln, ist ein schwerer gen Reformen um mindestens zehn Jahre Fehler. So macht man die europäische zu spät begonnen. Entsprechend sind auch Clement: Die Frage ist zunächst, welche Währungsunion jedenfalls nicht stark. die Unterschiede. Wir müssen die Zeit nut- Rolle die Europäische Union spielen soll. SPIEGEL: Der schwache Euro ist auch eine zen, erst recht diese Zeit der ökonomi- Ich bin dafür, dass Brüssel sich auf die Folge … schen Prosperität. wirklich überwölbenden europäischen Auf- Clement: … dieser mangelhaften Politik. SPIEGEL: Sie wollen keine Zeit verlieren, gaben konzentriert und sich nicht bis in Nehmen Sie die UMTS-Frequenzen: Dass dafür verlieren Sie Menschen? die örtlichen Angelegenheiten ein- Clement: Sie meinen Wähler? mischt. Clement beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ohne Risiko geht’s nicht“ Ohne Risiko geht das nicht, das SPIEGEL: Die EU greift doch des- stimmt. Aber umgekehrt gilt: wegen ein, weil die einzelnen Mit- Wer das Risiko nicht eingeht, glieder vor allem das eigene Inter- gewinnt auch die Wählerinnen esse im Auge haben und das Ganze und Wähler nicht. Davon bin aus dem Auge verlieren. ich überzeugt: Wer jetzt Zeit ver- liert, den bestraft das politische Leben. * Mit den Reakteuren Jürgen Leinemann, Horand Knaup und Andrea Stuppe in der SPIEGEL: Herr Clement, wir dan- früheren NRW-Landesvertretung in Bonn. DARCHINGER F. ken Ihnen für dieses Gespräch. 116 Werbeseite

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ner im Gespräch – als KRIMINALITÄT sich im Sommer ein V-Mann bei der rhein- Lieferung land-pfälzischen Poli- zei mit einem Tipp meldete: Zwischen frei Haus dem Flecken Ahr- brück in der Eifel Der wegen Kokainbesitzes und dem Kurort Aa- chen habe sich eine verdächtigte Trainer Christoph neue Dealerszene ent- Daum belastete sich selbst am wickelt. stärksten – er könnte dennoch Während Daum mit glimpflich davonkommen. dem Essener Strom- konzern RWE über er Fußballtrainer Christoph Daum, eine millionenschwe- das gilt in diesen Wochen ständig re Werbekampagne Dneuer Erkenntnisse als immer noch („Das Denken hat die gesichert, war ein penibler Arbeiter. Sein Richtung geändert“) Assistent Roland Koch wirkte während der verhandelte, obser- Spiele von Bayer Leverkusen an seiner vierte die Polizei drei Seite wie ein gut dotierter Schriftführer – Tatverdächtige: den Fouls, Abwehrfehler und Fehlpässe wur- Kneipier Josef W.,

den säuberlich dokumentiert. ZEITUNG A. POHL / BILD den früheren Hotel- Wer ein solches Faible für Notizen hat, Tatverdächtiger Daum: „Mich findet niemand“ Bediensteten Rüdiger kann offenbar nicht anders, selbst wenn er K. und Bernd R., ei- Kokain im Blut hat. Sein Hang zum Do- zwischen 2 und 20. Daums Befund bedeu- nen Sozialhilfeempfänger aus Aachen, der kument wird dem Privatmann Daum viel- tete fast Rekord im Kölner Uni-Institut. schon im vergangenen Jahr wegen Rausch- leicht noch Pein bereiten – er lieferte sei- „Der Christoph“, sagt ein alter Freund, gifthandels zu einer 18-monatigen Be- nen Anklägern nämlich das bislang einzi- und er meint es gar nicht ironisch, „der währungsstrafe verurteilt worden war. ge schriftliche Beweisstück frei Haus. Christoph war immer Tabellenführer.“ Nach bisher vorliegenden Aussagen soll Als am vorvergangenen Freitag Fahnder Ob alle Erkenntnisse auch ausreichen, Daum bei einem der drei vor Monaten 100 die Villa des angeblichen Kokainschnup- wirklich den strafbewehrten „Erwerb“ von Gramm Kokain gekauft haben. Das könn- fers Daum im Kölner Stadtteil Hahn- Kokain zu belegen, ist ziemlich fraglich; te, falls es denn bewiesen wird, eine Frei- wald durchsuchten, lag dort ein Schreiben allein der Drogenkonsum, ist er auch noch heitsstrafe von etwa einem Jahr oder eine herum, an das sie sonst ohne weiteres so hoch, ist nicht strafbar. saftige Geldstrafe nach sich ziehen. Am 17. nicht gekommen wären – das Ergebnis der Von unterschiedlichen Ansätzen her er- Oktober wurde deshalb das Ermittlungs- Haaranalyse durch das Institut für Rechts- mitteln die Staatsanwaltschaften Köln und verfahren gegen den nichts ahnenden medizin der Universität Köln. Das Papier Koblenz gegen den Mann, der fast Bundes- Daum eingeleitet. gehöre eigentlich in den „Kernbereich der trainer geworden wäre. Drei weitere Be- Bernd R. soll versucht haben, Daum un- ärztlichen Schweigepflicht“, so ein leiten- schuldigte sitzen in Untersuchungshaft, ter Druck zu setzen und dessen Lebens- der Ermittler der Kölner Staatsanwalt- während Daum sich auf seiner Flucht wandel der Konkurrenz von Bayern Mün- schaft. durch Florida in der Rolle eines neuen chen zu verzinken, vulgo: Erpressung. So Der Befund der Spezialisten, die Daum Dr. Kimble gefällt – „mich findet hier nie- steht es im Haftbefehl gegen den Mann. allen Widerständen zum Trotz selbst be- mand. Das habe ich schon gut gemacht“, Der herz- und zuckerkranke Aachener auftragt hatte, ist eindeutig. Sie filterten ließ er „Bild“ am Telefon wissen. bestreitet den Erpressungsversuch. Er habe Daum nur „warnen“ wollen, dass die Dro- gensache „hochkommen“ werde, beteuerte er seinem Anwalt Uwe Gildhoff gegenüber. Die Staatsanwaltschaft Köln musste auf die positive Haarprobe reagieren und nahm wie die Kollegen aus Koblenz eben- falls Ermittlungen auf. Mehrere Personen boten sich als Informanten an. Die Tipp- geber wurden von der Kripo gehört, aber als sie dann konkret werden sollten, über- fiel sie, so ein Beamter, „ziemlich schwere Amnesie“. Derzeit überlegt der Staatsan- walt, ob er den früheren Nationalspieler BILD ZEITUNG BILD FOTOS: M. ZENDER / WOCHENZEITUNG FOTOS: Jimmy Hartwig laden soll. Der hatte auf Tatverdächtige Josef W., Bernd R., Rüdiger K.: Drogen für den Trainer? allen Kanälen behauptet, er wisse, dass Daum auf Koks gewesen sei. aus dem Haar eine hohe Dosis des Meta- Die Koblenzer Ermittler waren auf im So rettet den Pedanten Daum trotz boliten Benzoylecgonin, eines Stoffwech- Metier durchaus üblichen Umwegen auf des Fauxpas mit dem Analyseergebnis selprodukts nach Kokaingebrauch. Daum aufmerksam geworden. Der Trai- womöglich, dass es gegen den Verdächti- Zu Deutsch: Daum muss in den vergan- ner, der „den Erfolg braucht wie der gen Daum zwar viele Vorwürfe gibt, aber genen Monaten kräftig konsumiert haben, Süchtige die Droge“ („Frankfurter Allge- kaum strafrechtliche Beweise. Womit sein Kokain-Parameter betrug 72 – bei ei- meine“), schien sich gerade seinen Lebens- Daum wieder ein ganz gewöhnlicher Kok- nem Gelegenheitskokser liegt der Wert traum zu erfüllen. Er war als Bundestrai- ser wäre. Georg Bönisch

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ten Mal ausbrechen. Die Amnestiewelle 1989 brachte auch ihm die Freiheit. 1993 er- hielt er wegen Vergewaltigung und sexuel- len Missbrauchs eines Kindes mit Todes- folge fünf Jahre und sechs Monate Haft. Weil er während einer Flucht im April 1994 die zwölfjährige Christine W. verge- waltigte und fast zu Tode würgte, wurde die Haftstrafe auf 14 Jahre aufgestockt. Viermal noch flüchtete Schmökel in drei Jahren. Dennoch wurden seine Haftbedingun- gen immer weiter gelockert. Seinem Man- danten, sagt Anwalt Karsten Beckmann, „wurde damit kein Gefallen getan“. Schmökel, der nur einen Schulabschluss der achten Klasse hat, besitze allerdings die Gabe, so Beckmann, den Therapeuten

DPA vorzugaukeln, er mache Fortschritte. Er Fahndung nach dem flüchtigen Schmökel: „Lebende Zeitbombe“ selbst habe „bis gestern geglaubt, mein Mandant ist nicht gemeingefährlich“. Dietmar Weist, erkannte: „Dort läuft eine Im brandenburgischen Strafvollzug mit VERBRECHEN lebende Zeitbombe herum.“ Und Bran- seinen überalterten Gefängnissen sind Pan- denburgs Innenminister Jörg Schönbohm nen beinahe obligatorisch. Im Maßregel- Nichts gelernt (CDU), sonst ein Hardliner, stellte mit vollzug entkamen allein zwischen 1994 und Rücksicht auf den Koalitionspartner SPD 1998 aus den Landeskliniken 32 psychisch Wieder einmal entsprang ein lapidar fest: „Wenn ein solcher Verbrecher Kranke, einer verübte während seiner durch die Gegend läuft, kann man nicht sa- Flucht im Oktober 1998 zwei Raubmorde. psychisch kranker Verbrecher – und gen, wir haben alles richtig gemacht.“ Da vor der Wende in den DDR-Psychia- löste eine neue Debatte Doch der zuständige Sozialminister Al- trien keine Straftäter eingesessen hätten, über den deutschen Strafvollzug aus. win Ziel (SPD) schloss persönliche Konse- klagt ein Arzt, seien viele Mitarbeiter auch quenzen vorerst aus, sein Staatssekretär heute noch nicht vorsichtig genug: „Die eiße Blumen schwammen zum Herwig Schirmer trat statt seiner zurück. denken nicht daran, dass sie es mit gefähr- Gedenken an die Opfer auf dem Eine Sonderkommission der Landesregie- lichen Mördern zu tun haben.“ WRhein, Bundestagspräsidentin rung berät seit dem Wochenende wieder So war es wohl auch bei Schmökel, der Rita Süssmuth zeigte Verständnis für die einmal, wie die Opfer besser zu schützen sogar seine kranke Mutter in Strausberg Bürgerängste. 1,2 Millionen Deutsche ver- seien. besuchen durfte. Dabei stach er einen Pfle- langten per Unterschriftenliste im Dezem- Im Fall Schmökel wurde offenbar falsch ger nieder und verschwand. Ähnlich wie ber 1996 einen besseren Schutz der Ge- gemacht, was falsch zu machen war – als vor knapp zwei Jahren der Gewaltverbre- sellschaft vor Sexualstraftätern. habe es die Morde an Natalie und Kim nie cher Dieter Zurwehme, der die Polizei Vor vier Jahren fanden sie überall offe- gegeben. Der Gewaltverbrecher war statt neun Monate narrte und auf seiner Flucht ne Ohren. Die siebenjährige Natalie war in im Strafvollzug in der Landesklinik Neu- vier Menschen ermordete sowie zwei Bayern von einem einschlägig Vorbestraf- ruppin untergebracht, obwohl ihn ein Gut- Mädchen zu vergewaltigen versuchte, ten ermordet worden, wenige Tage tauchte Schmökel spurlos unter – nach der Aktion wurde die zehn- bis er einem Psychiater der Klinik jährige Kim aus dem niedersäch- am Donnerstagabend die Blut- sischen Varel umgebracht. Die tat an dem Rentner telefonisch Balance zwischen sicherer Verwah- beichtete. rung der Täter und Therapie, er- Der Flüchtige war von Johannes klärten Experten aller Parteien, B. offensichtlich in der Bungalow- werde neu justiert. Anlage überrascht worden und hat- Doch in der vergangenen Woche te sofort zugeschlagen. Unter dem zeigte sich, dass Politik und Justiz Fahndungsdruck – ihm waren am nichts dazugelernt haben – den 60 Freitag rund 500 Polizisten, Bun- Jahre alten Berliner Johannes B. desgrenzschutzbeamte sowie Ziel- kostete es das Leben. Er wurde fahnder auf den Fersen, Hub- Donnerstagabend von dem ent- schrauber überflogen selbst nachts flohenen Gewaltverbrecher Frank mit Infrarot-Kameras die Wälder – BILD ZEITUNG BILD Schmökel in Strausberg, rund 20 AP fühle er sich offenbar, glaubte ein Kilometer östlich der Hauptstadt, Fahndungsbild, Täter Schmökel: „Nicht therapierbar“ Polizeipsychologe, wie ein „Tier im mit einem Spaten erschlagen. Der Käfig“, ein anderer erklärte, in dem Kinderschänder brauchte wohl das Auto, achter als „nicht therapierbar“ eingestuft zu vermutenden „affektiven Erschöp- einen grünen Hyundai Pony, 70 Mark Bar- hatte. Die Gewalt-Karriere des schon zu fungszustand“ folge Schmökel unbere- geld, die Papiere und die EC-Karte des DDR-Zeiten auffällig gewordenen Rinder- chenbaren, „fast animalischen Instinkten“. Rentners, um seine Flucht fortsetzen zu zuchtarbeiters spricht für diese Diagnose. Auch die besten Gesetze, sagte Süss- können. Mit 16 wurde Schmökel wegen Rowdy- muth vor vier Jahren, könnten nicht alle Die Nachricht vom Tod des gehbehin- tums und Körperverletzung verurteilt. 1988 Taten verhindern. Die mörderische Flucht derten Berliners belebte die alten Reflexe dann erstmals wegen versuchter Verge- von Frank Schmökel wird die Debatte neu neu. Der Polizeichef von Frankfurt (Oder), waltigung. Schon damals wollte er zum ers- entfachen. Irina Repke, Steffen Winter

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INDUSTRIE reichlich Aktien zum Ausgabekurs von 26 Mark bekamen: Jeder, so Milliardengewinne klagt jetzt ein einfaches Betriebsrats-

F. ROGNER / NETZHAUT F. mitglied vor dem Arbeitsgericht Ha- bei Infineon BHW-Zentrale in Hameln meln, durfte damals 6153 Aktien zeichnen – die übrigen Betriebsräte m vergangenen Geschäftsjahr hat der BAUSPARKASSEN hätten wie die normalen Angestellten IMünchner Chiphersteller Infineon maximal 768 Aktien bekommen. Nach viel mehr verdient als erwartet. Am Mehr Aktien für dem Betriebsverfassungsgesetzes darf Dienstag dieser Woche wird Infineon- ein Betriebsratsmitglied weder benach- Chef Ulrich Schumacher in seiner ers- Betriebsräte teiligt noch begünstigt werden. Das ten Bilanzpräsentation seit dem Börsen- BHW hält „die Vorwürfe für unbegrün- gang im März dieses Jahres einen Ge- eim BHW, Deutschlands zweitgröß- det“. Ob sich die Spitzen-Betriebsräte Bter Bausparkasse, werden wichtige beim derzeitigen Kurs von 24,40 Euro Betriebsräte besonders pfleglich behan- nach Ablauf der Haltefrist über einen delt. Beim Börsengang im April 1997 steuerfreien Gewinn von gut 130 000 zählten auch der Gesamtbetriebsratsvor- Mark freuen können, ist offen. Wie viele sitzende und sein Stellvertreter zu dem Aktien die beiden geordert haben, fällt kleinen Kreis der Auserwählten, die für das BHW unter das Bankgeheimnis.

KONZERNE Holzmann und WestLB streiten um 87 Millionen Mark ie Westdeutsche Landesbank (WestLB) muss möglicherweise bis zu 87 Millio- Dnen Mark an den Baukonzern Philipp Holzmann zurückzahlen – und zwar in Folge eines feindlichen Übernahmeversuchs, bei der die WestLB 1994 eine wichti- ge Rolle spielte. Einerseits war Bankchef Friedel Neuber seit 1993 Aufsichtsrat der

W. v. BRAUCHITSCH v. W. RWE. Deren Tochter, die Hochtief AG, wollte damals die Philipp Holzmann AG Schumacher schlucken. Andererseits wurde Neuber von Holzmann gebeten, fünf Prozent der Aktien des Konzerns zu kaufen, um genau diesen Übernahmeversuch zu verhin- winn von weit über zwei Milliarden dern. Neuber ließ sich nicht nur die Re-Finanzierungskosten und jeden Wertver- Mark bekannt geben. Davon profitiert lust der Aktien ausgleichen, sondern verlangte obendrein noch eine „Marge“, be- vor allem der Siemens-Konzern, der richten Insider. Nach dem Kursverfall der Holzmann-Aktien stellte die WestLB nach noch immer 71 Prozent an der Halb- Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwälte in Frankfurt drei Scheinrechnungen leiterfirma hält. Siemens-Chef Heinrich für nicht erbrachte Beratungsleistungen über 87 Millionen Mark plus Mehrwert- von Pierer, der einen Tag nach Schu- steuer aus. Holzmann zahlte damals. Die neue Konzernführung bei Holzmann ver- macher seine Zahlen bekannt gibt, wird handelt jetzt mit der WestLB, ob diese Rechnungen rechtens waren und will, falls einen Gewinn von gut sechs Milliarden es Rückzahlungsansprüche gebe, diese auch geltend machen. Die Bank versichert, Mark ausweisen – gut ein Viertel des alle Zahlungen seien „in voller Höhe mit Rechtsgrund erfolgt“. Konzerngewinns kommt damit von Infineon. Weniger Freude an dem Chip- Neuber hersteller hatten bislang die übrigen Ak- tionäre der Siemens-Tochter. Wer beim Run auf die begehrten Hightech-Papiere im vergangenen März nicht zum Zug kam und die Anteile zum Anfangskurs von 70 Euro einkaufte, musste in den vergangenen Monaten Kurseinbußen von fast 25 Prozent hinnehmen. Schu- macher überlegt nun, ob er den ent- täuschten Aktionären eine Dividende zahlen soll – vor dem Börsengang hatte er dies strikt abgelehnt. Eine Dividende läge auch im Interesse des Großak- tionärs: Siemens will sich im nächsten Jahr von weiteren Infineon-Anteilen trennen, eine Gewinnausschüttung könnte potenzielle Kleinaktionäre

locken. AP Trends J. SACKERMANN / DAS FOTOARCHIV / DAS SACKERMANN J. Düsseldorf

STROM naten heimlich an einer Kooperation gearbeitet, die den Kon- zernen gefährlich werden könnte. Bereits im Januar wollte das kommunale Unternehmen mit den Stadtwerken von München, Konkurrenten gestoppt? Darmstadt und Mainz zusammenarbeiten, um dann bundesweit gegen die Ex-Monopolisten anzutreten – mit guten Chancen: in weiterer Rückschlag droht dem ohnehin schleppenden Die neue Stadtwerke AG würde auf Anhieb zu den größten EWettbewerb auf dem deutschen Strommarkt. Mehrere Ex- Stromversorgern Deutschlands gehören und könnte seine Posi- Monopolisten, darunter der Essener Stromprimus RWE, ver- tion ausbauen. Denn dem Verbund sollten schon in den nächs- suchen mit verlockenden Angeboten, die Gründung eines ten Monaten weitere Stadtwerke beitreten. Konkrete Gespräche neuen potenten Wettbewerbers zu verhindern. Bis zu zwei Mil- gibt es mit Leipzig und Hannover. Doch nun droht der Deal in liarden Mark haben die einzelnen Energieversorger den Düs- letzter Minute zu scheitern, weil die Milliarden die Verschul- seldorfer Stadtvätern für eine Übernahme ihrer Stadtwerke in dung der Stadt Düsseldorf lindern würden. „Die meisten Düs- Aussicht gestellt. Grund für den außergewöhnlich hohen Betrag: seldorfer Stadtväter“, so ein RWE-Aufsichtsrat, „plädieren Die Düsseldorfer Stadtwerke haben in den vergangenen Mo- inzwischen für einen Verkauf an uns.“

INTERNET IMPORTE Angriff auf Online- China schlägt zurück Banken b Glühbirnen, Fernseher, Fahrräder Ooder CD-Boxen: Immer häufiger er führende Anbieter von versuchen chinesische Unternehmen DWirtschafts- und Finanzin- nach Ansicht ihrer europäischen und formationen im Internet, die amerikanischen Konkurrenten, mit Wallstreet-Online AG aus Düs- Dumpingpreisen in ausländische Märkte seldorf, greift etablierte Direkt- einzudringen. Die Zahl der Anti-Dum- banken wie Consors und Comdi- ping-Klagen gegen China stieg deshalb

rect an. Firmenchef André Kol- M. WOLTMANN in letzter Zeit steil an: Von 1999 bis zum binger, 25, will künftig die Leser Kolbinger Frühjahr dieses Jahres leitete die EU- seiner Websites direkt zum Ak- Kommission 15 Verfahren ein. Folge: tienkauf animieren: Mit einem einfa- Internet-Seite halten; bereits jetzt bleibt Exporteinbußen von über 23 Milliarden chen Klick auf der Informationsseite der Surfer im Schnitt mehr als 90 Mi- Mark. So sei, klagen Pekinger Außen- können sie vom 18. November an sofort nuten auf Wallstreet-Online.de. Kolbin- händler, der Verkauf von Fahrrädern Aktien der jeweiligen Firma kaufen ger profitiert bei dem Modell von einer nach Europa total zusammengebrochen. oder verkaufen. Die Gebühr – 14,95 Vermittlungsgebühr für Käufe und Ver- Die Chinesen, die sich von Amerika- Euro pro Transaktion zuzüglich üblicher käufe. Zudem startet er in Berlin ein nern und Europäern ungerecht behan- Provisionen – würde seine Berliner „Trading-Center“, in dem sich Aktien- delt fühlen, wollen jetzt juristisch ag- Wallstreet-Online Trading GmbH für fans informieren und Wertpapiere han- gressiver auftreten und auch hohe Kos- Transaktionen ab 8000 bis 10000 Mark deln können. In drei weiteren Städten ten für Anwälte nicht scheuen. Derzeit im Vergleich zu bekannten Online-Ban- sind ähnliche Center geplant. Mit der verklagen drei chinesische Chemieher- ken zu einem der preisgünstigsten An- Expansion zielt Wallstreet-Online auf steller amerikanische, japanische und bieter machen, behauptet der Vorstands- den für 2001 geplanten Börsengang. deutsche Konkurrenten, darunter die chef. Mit dem Angebot will Kolbinger Als Chef des Aufsichtsrats fungiert der BASF. Sie hätten, so der Vorwurf, neue Zielgruppen ansprechen und seine frühere Porsche-Chef und General- Acrylsäureester zu unfair niedrigen 200000 Nutzer noch länger auf seiner Electric-Manager Arno Bohn. Preisen verkauft.

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Biotech-Werte in Euro 45 180 35 60 160 40 34 50 140 35 33 120 40 30 100 32 30 25 80 31 60 20 20 30 40 10 15 20 29 2000Quelle: Datastream 2000 2000 10 0 28 0 Mai Juni Juli Aug. Sep. Okt. Nov.Feb.Mai Aug. Nov. Okt. Nov.1996 1997 1998 1999 2000

BIOTECHNOLOGIE Kurs von Girindus seit Ende Juni nach revidierten Umsatzpro- gnosen gefallen. Die Analysten von Independent Research emp- Die Flops nehmen zu fehlen die Aktie jetzt spekulativen Anlegern zum Kauf: Girin- dus habe sich strategisch neu ausgerichtet und sei, vor allem ach dem Ende des Internet-Hypes gelten Biotechnologie- nach der Übernahme der Labore von Aventis Pharmaceuticals, NAktien als Hoffnungswerte am Neuen Markt, und tatsäch- ein begehrter Partner der Pharmakonzerne bei der Erforschung lich entwickelte sich der Index der Biotech-Werte deutlich bes- neuer Wirkstoffe. Die Firma profitiere von den zunehmenden ser als der Nemax, der Index aller Aktien am Neuen Markt. Forschungs- und Entwicklungsaufträgen der Konzerne. Bei Doch inzwischen häufen sich die Flops. So rutschte die dänische PlasmaSelect, deren Kurs seit Ende August um über 70 Prozent Genmab schon am ersten Tag unter den Ausgabekurs: Das Un- abrutschte, rät Independent Research hingegen zum Verkauf. ternehmen hat weniger als 30 Beschäftigte und nur Hoffnungen Weit weniger riskant sind die Aktien von Biotech-Firmen, die auf die klinischen Tests seiner Medikamente, die auf mensch- eine breitere Produktpalette haben – wie die großen US-Firmen lichen Antikörpern basieren und darum besser verträglich sein oder die deutsch-niederländische Qiagen. Im dritten Quartal hat sollen als die Konkurrenzmedikamente. Um 67 Prozent ist der Qiagen seinen Gewinn deutlich gesteigert.

AKTIEN E-COMMERCE 22 Internet-Kaufhaus-Aktien in Dollar Techmark schlägt Nemax 18 Hoffnung auf Alloy Online n London feierten am vergangenen Donnerstag die 14 Weihnachten Börsianer den ersten Geburtstag von Techmark, dem 10 I 1999 2000 Hightech-Segment der britischen Börse. Trotz der Krise 6 ieben Wochen vor bei den Telekommunikations- und Computerwerten hat N D J F M A M J J A S O N D SWeihnachten beginnt sich der Techmark 100 mit den 100 wichtigsten Werten 60 jetzt die entscheidende bisher mit einem Plus von über 40 Prozent besser als 50 Phase für Online-Händler der Neue-Markt-Index Nemax 50 entwickelt. Den größ- 40 Etoys wie das Warenhaus Ama- ten Schock verursachte der Zusammenbruch des – aller- 30 zon, das Einkaufsportal dings nicht börsennotierten – Online-Modehändlers 20 Quelle: Datastream Alloy oder den Spielzeug- Boo.com bereits im Mai. Deshalb war die Talfahrt in 10 versender Etoys. Im 1999 2000 den vergangenen Wochen weniger steil als beim Neuen vierten Quartal erwirt- Markt. Schwergewichte unter den 240 Techmark-Firmen N D J F M A M J J A S O N D schaften sie zum Teil mehr sind Logica und Eircom. Das Softwareunternehmen Lo- 100 als 40 Prozent des gica hat gerade 90 Jahresgeschäfts. Die 80 Hightech-Indices für 1,2 Milliarden 70 Amazon Marktforscher der Gartner Mark die Ham- Group schätzen den Veränderung seit dem 4. November 1999 60 140 in Prozent burger PDV Un- 50 weltweiten Umsatz im ternehmensbera- 40 E-Commerce von Oktober 120 Nemax 50 tung gekauft. Bei 30 1999 2000 bis Dezember auf 20 der ehemals staat- N D J F M A M J J A S O N D 19,5 Milliarden Dollar, 100 lichen Telefonge- 85 Prozent mehr als im sellschaft Eircom Vorjahreszeitraum – 80 aus Irland ging knapp die Hälfte davon entfällt auf Nordamerika. Trotz der hohen 60 der Kurs hoch, Zuwächse sehen Investoren die Zukunft des E-Commerce weil Vodafone skeptisch. Viele Papiere haben in diesem Jahr erheblich gelitten. 40 eine Übernah- Die Amazon-Aktie hat zwischenzeitlich mehr als zwei Drittel ihres meofferte für das Wertes verloren, erholt sich aber gerade ein wenig. Rund 20 Quelle: Mobilfunknetz eine Milliarde Dollar Umsatz will Amazon im vierten Quartal Datastream Techmark 100 vorgelegt hat. erwirtschaften. 0 Nov.Jan. Nov. 1999 2000 der spiegel 45/2000 125 Wirtschaft

MUSIKINDUSTRIE Das Ende der Anarchie Die Allianz zwischen Bertelsmann und der Internet-Tauschbörse Napster könnte den elektronischen Handel revolutionieren. Künftig wollen die Anbieter für Musik – und später auch für Texte, Bilder und Filme – Geld verlangen. Aber werden die Nutzer auch zahlen?

n den Bars seiner Heimatstadt Brock- Die Dynamik, mit der sich Napster ver- Dazu wird es wohl nicht kommen. Am ton bekommt Shawn Fanning noch nicht breitet hat, ist beispiellos, die Probleme Dienstag vergangener Woche gab der Ber- Ieinmal ein Budweiser. Mit seinen 19 Jah- sind es allerdings auch: Die großen Musik- telsmann-Konzern in New York überra- ren ist der Studienabbrecher nach den Ge- konzerne fühlen sich durch Fannings Ak- schend eine Allianz mit Napster bekannt. setzen des US-Bundesstaates Massachusetts tivitäten in ihrer Existenz bedroht – und Der Medienriese will sich an dem Tausch- zu jung, um ein Bier bestellen zu dürfen. überzogen ihn mit Urheberrechtsklagen. ring beteiligen und bekommt so auf einen Doch er ist alt genug, um weltweit die Für kurze Zeit musste der Dienst sogar Schlag Zugriff auf Millionen potenzieller Musikindustrie zu erschüttern. eingestellt werden, denn was Napster Kunden. Bertelsmann will den Charakter Vor anderthalb Jahren hat Fanning harmlos „file sharing“ (Daten miteinander von Napster als Tauschbörse bewahren, Napster erfunden, einen Musikbasar, auf teilen) nennt, ist für die meisten Enter- mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dem Internet-Nutzer kostenlos Songs ih- tainment-Konzerne nichts anderes als kri- dass künftig für den Erhalt von Musik ge- rer Lieblingsbands tauschen können. Mit minelles Raubkopieren. zahlt werden soll. seinem Projekt hat der junge Hobby- Dabei hat Napster bisher keinen Weg Das aber kann nur funktionieren, wenn Programmierer eine Entwicklung in Gang gefunden, mit dem eigenen Angebot Geld neben der Bertelsmann-Musiktochter gesetzt, die selbst nach den Maßstäben des zu verdienen. Hätte nicht der Wagnis- BMG auch die anderen Musikgiganten Internet mehr als erstaunlich ist. kapital-Geber John Hummer im Mai (Universal, Sony, EMI und Warner) bei Mit fast 40 Millionen Mitgliedern ist 15 Millionen Dollar investiert und einen Napster mitmachen, also ausgerechnet Napster inzwischen die größte und am neuen Vorstandschef, den Silicon-Valley- an jener Plattform, die sie bisher mit schnellsten wachsende Gemeinschaft, die Anwalt Hank Barry, eingesetzt, wäre die allen juristischen Mitteln zu bekämpfen es im Netz gibt. Jeden Tag kommen 200000 Tauschbörse wohl längst am Ende. „Be- versuchen. neue Surfer dazu. Nie zuvor hat jemand so vor Napster geschlossen wird“, drohte Doch die gemeinsame Front der Musik- viele Mitglieder in so kurzer Zeit gewon- Hummer damals den Musikbossen, „muss Majors zeigt schon länger feine Risse. Den nen – ohne Werbekampagne, nur durch man es von meinen kalten, toten Fingern misstrauischen Topmanagern der interna- Mundpropaganda. kratzen.“ tionalen Musikindustrie war nicht entgan-

Popstars Jennifer Lopez, Courtney Love, Robbie Williams: „Bevor Napster geschlossen wird, muss man es von meinen kalten, toten Fingern kratzen“ T. BERGSACKER / CORBIS SYGMA (li.); P. MACDIARMID (re.) MACDIARMID (li.); P. / CORBIS SYGMA BERGSACKER T. AP ter-User als Kunden halten könnte: „Sind das alles Kriminelle? Es sind vor allem un- sere Kunden!“ Die Signale wurden in Palo Alto ver- standen. In Dutzenden von Gesprächen an verschiedenen Orten der USA einigten sich Barry und Schmidt in den vergangenen Wochen auf die Grundzüge des Deals. Der eigentlich zuständige Vorstand, BMG-Chef Michael Dornemann, spielte bei den Verhandlungen keine nennenswerte Rol- le. Seine Ablösung an der Spitze der Bertelsmann-Musiksparte steht unmittel- bar bevor. Das „Projekt Thunderball“, so der in- terne Codename, ist weit mehr als nur ei- ner der millionenschweren Beteiligungs- deals, wie ihn die Gütersloher derzeit beinahe jede Woche mit Internet-Firmen abschließen. Vorstandschef Middelhoff hat sich auf eine gigantische Wette eingelassen. Wenn er gewinnt, könnte er dem elektronischen Handel eine neue Richtung geben. „Wir sind wirklich begeistert“, schwärmte Star- Analystin Mary Meeker von der Invest- mentbank Morgan Stanley Dean Witter in

M. RICHARDS / CONTACT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR M. RICHARDS / CONTACT einer ersten Stellungnahme. Falls Middelhoffs Rech- KÜNFTIG nung aufgeht, wäre der Be- Napster-Gründer Fanning Aus den Mitgliedsbeiträgen werden weis geführt, dass auch mit 38 Millionen Anhänger ohne Werbekampagne die Tantiemen an Künstler und digitalisierten Konsumgü- Neues Geschäfts- Plattenfirmen gezahlt. tern Geschäfte zu machen modell für Napster sind: mit Musik, Bildern, Übertragung Austausch von Musik- der Rechte Texten, Spielen und Fil- gen, wie sich Bertelsmann-Chef Thomas dateien im Internet PLATTEN- men, die sich der Verbrau- Middelhoff um ihren gemeinsamen Feind FIRMEN cher direkt auf den Rech- Tantiemenzahlung Fanning bemühte. Beim jährlichen Treffen TEILNEHMER ner laden kann. der Medienbosse im Juli in Sun Valley MUSIKER Dagegen würde der bis- (Idaho) hatte sich Middelhoff demonstrativ her übliche Versand von Annahme NAPSTER Mitglieds- neben dem Napster-Gründer platziert. und Weiter- beiträge Büchern, Videos oder „Thomas, du sitzt auf der falschen Seite“, leitung von CDs, die über das Netz le- frotzelten die Kollegen. Der Bertelsmann- Adressen TEIL- diglich bestellt, aber per Chef blieb sitzen. NEHMER Post ausgeliefert werden, Austausch Immer wieder hatte Middelhoff ver- von Musik- wie ein überholtes Ge- sucht, die anderen Musikkonzerne für eine dateien schäftsmodell wirken. gemeinsame Online-Initiative zu gewin- Der Einsatz ist ver- nen. Anfang August traf er sich in gleichsweise gering: Ber- BISHER TEILNEHMER New York mit dem Seagram-Boss Edgar telsmann gibt dem angeschlagenen Unter- Bronfman, dessen Medienbeteiligungen Napster verwaltet Adressen und Musikdateien nehmen einen Kredit in Höhe von 50 wie Universal Music („Bon Jovi“, „U 2“) seiner Teilnehmer. Die Nutzer tauschen diese Millionen Dollar. Dafür bekommt es die untereinander aus. inzwischen von dem französischen Option, sich mehrheitlich zu beteiligen. Mischkonzern Vivendi geschluckt worden Das allerdings geschieht nur, sofern der sind. Doch Bronfman, einer der Wortfüh- später in ein benachbartes Café wech- schwelende Rechtsstreit zwischen Napster rer der amerikanischen Musikindustrie, selten. Beim großen Café Latte wurden und dem Rest der Musikindustrie beige- blieb stur. Eigene Modelle hatte er nicht an- sich Schmidt und Barry einig: Gemeinsam legt wird. zubieten. wollte man versuchen, einen Deal auszu- Noch sind die Kernfragen, die über Er- Middelhoff gab fast schon die Hoffnung arbeiten. folg oder Misserfolg des Projekts entschei- auf, sich mit den Musikkonzernen noch zu In der Woche darauf signalisierte Mid- den, nicht geklärt: Wie genau soll das neue einigen. Ernüchtert genehmigte er Andreas delhoff öffentlich, dass bei Bertelsmann ein Geschäftsmodell aussehen? Auf welche Schmidt, dem Chef der Bertelsmann-E- Stimmungsumschwung stattgefunden hat- Weise wird künftig das Raubkopieren ver- Commerce-Group, mit den Napster-Leuten te. Auf der Kölner Musikmesse Popkomm hindert? Mehr noch: Wie viele Mitglieder Kontakt aufzunehmen. kritisierte er, die Musikindustrie habe auf der 38-Millionen-Gemeinde sind wirklich Bereits wenig später, am 12. August, saß die Herausforderungen durch Napster und bereit, für Musikstücke nun plötzlich zu Schmidt im kalifornischen Palo Alto in ei- Co. nicht mit einer „Nach-Vorne-Strate- zahlen? Ist die Zeit des wilden Datenklaus nem kleinen Konferenzraum Napster-Vor- gie“, sondern nur mit einer „Abwehrhal- endgültig vorbei? standschef Barry gegenüber. Die Atmo- tung und Distanz“ reagiert. Die ersten Reaktionen der Napster-Fans sphäre an diesem Samstagnachmittag war Im Marketing habe man nicht genügend lassen jedenfalls ahnen, dass die Über- so entspannt, dass beide Männer wenig darüber nachgedacht, wie man die Naps- zeugungsarbeit möglicherweise schwierig

der spiegel 45/2000 127 Wirtschaft

len. Die so ermittelte Zahlungsbereit- schaft liegt deutlich über 5 Dollar, sie liegt für rund 70 Prozent der User bei un- gefähr 15 Dollar. Das ist doch ein sehr „Zielstrebiger Bursche“ guter Wert. AOL kostet übrigens 21,95 Dollar pro Monat. Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff, 47, über seinen Deal SPIEGEL: Wie viel muss Bertelsmann für den Einstieg zahlen? mit dem 19-jährigen Napster-Gründer Shawn Fanning Middelhoff: Konkrete Zahlen kann ich lei- der nicht nennen. Aber ich kann so viel SPIEGEL: Herr Middelhoff, haben Sie als Middelhoff: Wir können uns vorstellen, sagen, dass wir einen Millionen-Kredit Teenager Musik im Radio mitgeschnitten? dass es mehrere Angebote geben wird: geben, damit jetzt Technologie und Bu- Middelhoff: Klar hab ich das gemacht. Ich Eine Art Promotion-Service, der – wie siness-Modell weiterentwickelt werden habe sogar die Uhr gestellt, damit ich die erwähnt – kostenlos ist, wo man in ein- können. Ist diese Arbeit geleistet, können Hitparade genau pünktlich erwische. zelne Songs reinhören kann. Ein erwei- wir unseren Kredit umwandeln in eine SPIEGEL: Und diesen Spaß wollen Sie den terter Bereich, für den man eine Art Mit- Beteiligung an Napster, die dann zu einer jungen Leuten jetzt vermiesen. Die kos- gliedsbeitrag zahlt und dafür eine be- Mehrheit für Bertelsmann führen wird. tenlose Online-Musiktauschbörse Naps- stimmte Menge an Musikstücken erhält. SPIEGEL: Das heißt, auch der Totalverlust ter soll kommerzialisiert werden. Künftig Und wer dann mehr will, kann ein Pre- Ihres Einsatzes ist nicht ausgeschlossen? müssen die User ihr Taschengeld an die mium-Angebot wählen. Middelhoff: Die Firma Napster ist gerade Musikkonzerne überweisen. SPIEGEL: Von einer 5-Dollar-Grundgebühr mal eineinhalb Jahre alt, aber mittler- Middelhoff: Genau das Gegenteil ist ist die Rede. weile zur zweitgrößten Internet-Firma richtig. Es wird auch weiterhin einen Middelhoff: Es gibt noch keine Festlegun- aufgestiegen. Das Unternehmen hat das kostenlosen Promotionsbereich geben. gen, da wir zuerst mit den anderen Mu- Zeug dazu, in ein paar Monaten von der Wenn wir bei Bertelsmann nicht ein ge- sikkonzernen sprechen. Es wird keinen Nutzung und von der Mitgliederzahl her naues Gefühl dafür entwickelt hätten, Alleingang Napster/Bertelsmann geben. die größte Internet-Company der Welt was der Kunde vom Internet erwartet, wäre Napster geschlossen worden. Den- ken Sie nur an die Klage der Musik- industrie. Die meisten Majors würden lieber – wie gehabt – komplette CDs ver- kaufen, nicht einzelne Lieder. Ich da- gegen bin der festen Überzeugung, dass File-Sharing, also der Austausch einzel- ner Musikstücke, ein festes Element des Online-Vertriebs von Musikprodukten sein wird. Wir müssen jetzt nur eine gute Balance finden zwischen den Interessen der Musikliebhaber einerseits und den Interessen der Künstler, Komponisten und der Musikindustrie andererseits. SPIEGEL: Auch Bertelsmann hatte sich zunächst der Klage der Musikindustrie angeschlossen. Warum jetzt dieser Sin- neswandel?

Middelhoff: Weil wir, die gesamte Musik- AP industrie, Zeit gebraucht haben, um ein Bertelsmann-Chef Middelhoff (2. v. r.)*: „Es wird keinen Alleingang geben“ Verständnis zu entwickeln dafür, was File-Sharing bedeutet. Heute wissen wir, SPIEGEL: Andere Start-ups bieten einen zu sein. Aber natürlich besteht auch das dem Ins-Netz-Stellen einzelner Musik- ähnlichen Service wie Napster. Besteht Risiko der Totalabschreibung dieses Kre- stücke, dem Tauschen und Runterladen nicht die Gefahr, dass die Kunden nach dits, was ich nicht hoffe. gehört die Zukunft. Den Verkauf von Einführung eines Bezahlsystems abwan- SPIEGEL: Ihr Gegenspieler bei Napster ist kompletten CDs wird es weiter geben, dern? ein 19-Jähriger. Wie verlässlich sind die aber die Jüngeren wollen ihre eigene CD Middelhoff: Das glaube ich nicht. Napster Verabredungungen mit Shawn Fanning? zusammenstellen. Wir registrierten 13 ist dafür bekannt, dass es den besten und Middelhoff: Sie sind sehr verlässlich, ich Millionen Nutzer von Napster im Mai, zuverlässigsten Service, eine einfach zu habe keinen Zweifel daran, dass Shawn wir haben heute 38 Millionen. Mittler- bedienende Software und auch die bes- und Hank Barry, der sehr vertrauens- weile sind auf dieser Plattform 152 Mil- ten Community-Elemente anbietet. Die würdige CEO von Napster, sich an die lionen Musiktitel verfügbar, und pro Tag Größenunterschiede, fast 40 Millionen bei Verabredungen halten. Ich habe großen werden ungefähr 20 bis 30 Millionen Napster und eine Million bei Gnutella, einer Respekt vor diesem jungen Mann, der Songs getauscht. Dieses Wachstum ist instabilen Plattform, sind gravierend. Wir ein sehr zielstrebiger Bursche mit großen unwahrscheinlich, da konnten wir nicht haben die User aber auch schon vor Ab- Talenten ist. Er hat auf mich einen ähn- zuschauen und mit erhobenem Finger schluss unserer Verhandlungen befragen lich tollen Eindruck gemacht wie ein an- auf die jungen Leute zeigen. lassen, wie viel sie bereit wären zu zah- derer Firmengründer, der dann später SPIEGEL: Wie sieht denn das neue Ge- zum Star der Internet-Wirtschaft aufstieg: schäftsmodell aus? Wie viel sollen die * Mit Napster-Vorstand Hank Barry, Bertelsmann- Steve Case von AOL. Musikfreunde künftig zahlen? Manager Andreas Schmidt, Shawn Fanning. Interview: Gabor Steingart

128 der spiegel 45/2000 Nur wenige haben bisher den Schritt gewagt, von ihren Kunden Gebühren zu kas- sieren. So verlangt das On- line-Auktionshaus EBay seit Anfang Februar in Deutsch- land Provisionen von bis zu drei Prozent für jedes abge- schlossene Geschäft und eine Gebühr für jedes Produkt,

ACTION PRESS ACTION das die Mitglieder anbieten Fans beim Popkonzert: „Sind das alles Kriminelle?“ wollen. Die Zahl der Waren, die bei EBay ersteigert wer- wird. Für viele geht in diesen Tagen eine den können, hat daraufhin zwar erheblich Welt unter. abgenommen. Ihr Wert aber ist gestiegen, Das seien „Kapitalisten-Schweine“, und die Qualität des Angebots hat sich ver- flucht „lordspanq“ im Forum auf der bessert. Napster-Internet-Seite. „Als nächstes be- Auf einen ähnlichen Effekt setzt nun auch rechnen sie uns noch jede E-Mail“, be- Bertelsmann. Bisher schwankte die Qualität schwert sich „syini666“ und fordert: „Das der Musikdaten erheblich, die im Napster- muss gestoppt werden.“ Manche aber zei- Netz kursierten. Nach dem komplizierten gen auch Verständnis. „Nichts ist kosten- Herunterladen mussten die Nutzer oft Feh- los“, hält „camper_chuck“ dagegen und ler bei der Übertragung feststellen – viele schimpft: „Ihr seid eine Bande verwöhnter Songs brechen in der Mitte ab. Babys.“ Solche Unzulänglichkeiten sollen bald Der Streit ist so alt wie das Internet. Als der Vergangenheit angehören, verspricht das World Wide Web 1993 seinen Siegeszug Schmidt. „Diejenigen, die wirklich beste startete, gab es keine Regeln und keine Qualität haben wollen, werden auch be- Kontrolle. Dass jeder kostenlosen Zugang reit sein, etwas mehr dafür zu zahlen“, zu allen Informationen besaß, gehörte zum hofft er. Grundverständnis der Surfer. Der Vorteil für den Kunden: Er bekommt Als diese anarchische Phase schon bald die Musik legal in Hi-Fi-Qualität. Der Vor- vorbei war, brach das große Jammern aus. teil für Bertelsmann und alle Konzerne, die Die ersten Firmen gingen ins Netz und be- sich möglicherweise noch an Napster betei- gannen damit, Waren und Dienstleistungen ligen werden: Sie bekommen Geld von Leu- anzubieten. ten, die bisher ihre Produkte benutzt haben, Trotzdem ist noch immer fast alles, was ohne dafür zu zahlen. im Netz angeboten wird, kostenlos ver- Wer Mitglied wird, kauft also nicht die fügbar. Ob Börseninformationen oder Ver- einzelnen Musiktitel, sondern erwirbt das sicherungstarifrechner, ob Preisvergleichs- Recht, Musikdateien zu laden. Napster- maschinen oder Streckenplaner: Für solche Chef Barry hat einen monatlichen Pau- Dienste zahlt der Surfer nichts außer den schalbetrag von 4,95 Dollar als mögliche Telefongebühren. Mitgliedsgebühr genannt. Die Anbieter finanzieren ihren Service Doch Musik soll nur der Anfang sein. meist durch Werbung – mehr schlecht als Bertelsmann verfügt über einen giganti- recht. Für sie gab es Wichtigeres, als Ge- schen Fundus an digitalisierten Gütern: ne- winn zu machen: Sie wollten möglichst vie- ben den Musiktiteln der BMG vor allem le Besucher auf ihre Seiten ziehen. Der über Bücher. Mit Random House kontrol- Profit sollte später folgen. liert der Konzern den größten englisch- sprachigen Verlag der Welt. Pop-Star Geri Halliwell Aus Napster könnte schon bald eine „Meilenstein für die Musikgeschichte“ Plattform werden, über die digitalisierte Inhalte für das elektronische E-Book her- untergeladen werden könnten. Spiele oder Filme sollen später folgen. Die entscheidende Frage wird jetzt sein, ob Bertelsmann die anderen Medienkon- zerne davon überzeugen kann, bei Naps- ter einzusteigen. Denn ein kommerzieller Tauschring, der nur die Bertelsmann-Stars Santana oder Whitney Houston anbietet, Courtney Love (Universal) oder Jennifer Lopez (Sony) aber außen vor lässt, hat nur wenig Chancen auf Erfolg. Bertelsmann-Unterhändler Schmidt gibt sich optimistisch: „Die ersten Gespräche mit den anderen Majors waren viel ver- sprechend.“ Konstantin von Hammerstein, Alexander Jung RETNA / INTER-TOPICS

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SOZIALSTAAT Der Regulierer Arbeitsminister Walter Riester ist zum Problemfall der rot-grünen Regierung geworden – weil seine gut gemeinten Reformen stets als bürokratische Ungeheuer enden, die dem Bürger das Leben erschweren. Auch die private Zusatzrente droht zum Opfer Riesterscher Ordnungswut zu werden.

nem Taschenrechner die Vorlagen nach, die ihm seine Beamten hineingereicht haben. Keiner soll später sagen können, er wisse nicht, wovon er rede. „Die Menschen ha- ben einen Anspruch darauf, dass man den Problemen auf den Grund geht.“ Keine Frage, Arbeitsminister Riester ver- körpert einen Politikertypus, wie ihn die Deutschen eigentlich lieben – akribisch, aufrecht, bescheiden. Ein echter Sympa- thieträger, wenn da nur nicht die Gesetze wären, mit denen er den Sozialstaat an den Wandel der Gesellschaft anzupassen ver- sucht, und die regelmäßig vor allem eines zur Konsequenz haben: das Leben der Bür- ger zu erschweren. In diesen Tagen steht wieder so eins an, das „Altersvermögensaufbaugesetz“, und wenn ihm nicht noch jemand in letzter Se- kunde in den Arm fällt, wird es enden wie beim 630-Mark-Gesetz oder bei seiner Ver-

F. MATZERATH / DDP MATZERATH F. ordnung zur Bekämpfung der Schein- Sozialexperte Riester: Für jedes Problem den passenden Paragrafen selbständigkeit, die geradezu zum Syno- nym für rot-grüne Regelungswut wurden. ls eine seiner hervorstechendsten bringt er am liebsten beim Heimwerken im Diesmal geht es um die private Alters- Eigenschaften nennt Walter Riester Kärntener Ferienhaus, und eher würde er vorsorge, mit der die Arbeitnehmer nach Aseine Verlässlichkeit. Da wird ihm sich die Zunge abschneiden, als schlecht den Plänen der Regierung künftig ihre niemand widersprechen. Kein anderes Ka- über einen Politikerkollegen zu reden. Rente aufstocken sollen, ein zentrales Ele- binettsmitglied ist sich in den vergangenen „Über Bande zu spielen, lehne ich ab.“ ment der angekündigten Rentenreform. zwei Jahren so treu geblieben, jedes Im- Solidität schätzt der Arbeitsminister auch Die Idee ist einfach: Damit die Bundes- poniergehabe ist dem Arbeitsminister auch in der Sache. Oberflächlichkeiten oder bürger Gefallen an der neuen Vermögens- heute noch fremd. „Symbolpolitik“, wie er es nennt, sind ihm anlage finden, die zur Sicherung des Ru- Seine Stoppelfrisur lässt sich Riester ein Graus. Anstatt mit Genossen ein Bier zu hestands nach Einschätzung aller Fachleu- nach wie vor von seiner Frau mit dem zischen, sitzt er häufig noch spät abends in te unerlässlich ist, wird der Staat künftig Elektroschneider richten, den Urlaub ver- seinem Amtszimmer und rechnet mit ei- entsprechende Sparbeiträge mit Zulagen

Sparen fürs Alter ANLAGEBEDINGUNGEN Vom nächsten Jahr an sollen alle Rentenversicherten eine zu- Gefördert werden sätzliche private Altersvorsorge aufbauen. Die Sparbeträge Rentenversicherungen, werden mit Zulagen oder Steuervorteilen staatlich gefördert. Investmentanteile Variante 2: steuerfreier oder Bankguthaben, Variante 1: staatliche Grund- die folgende Bedingun- Vorsorgebeitrag für jeden gen erfüllen: zulage für jeden Renten- Rentenversicherten versicherten in Mark jährlich 360 in Prozent des Bruttoeinkommens • laufende Beitrags- leistung 315 4,0 3,5 • keine Auszahlung vor 270 Erreichen der Alters- 3,0 grenze zusätzliche Zulage 225 2,5 für jedes Kind 180 • Garantie der einge- 300 2,0 zahlten Beiträge 135 262,50 225 1,5 • Auszahlung in monat- 90 187,50 lichen Raten bis 150 1,0 45 112,50 ans Lebensende 75 0,5 37,50 Quelle: Arbeitsministerium, 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 ab 2008 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 ab 2008 Stand Anfang November 2000

130 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite ginnt er zu prüfen und zu rechnen, lässt je- den Eventualfall bedenken und immer neue Missbrauchsszenarien durchspielen. So passiert es, dass etwa ein Gesetz, das lediglich verhindern sollte, dass immer mehr Unternehmen reguläre Stellen in vie- le sozialversicherungsfreie Minijobs auf- spalten, auf 36 Seiten anschwoll, mit 18 un- terschiedlichen Fallgruppen, zu deren Er-

A. FRÖSE / CARO (li.); A. BASTIAN / CARO (re.) / CARO (li.); A. BASTIAN A. FRÖSE / CARO läuterung das Ministerium wiederum eine 50-seitige Broschüre braucht. Die Folgen sind überall in der Wirtschaft ablesbar: War die Anstellung einer 630- Mark-Kraft früher eine An- gelegenheit weniger Minu- ten, müssen die Personalab- teilungen nun über die Le- bensverhältnisse der Bewer- ber mehr wissen als über das Reformopfer Rentner*, Aushilfe Stammpersonal: ob sie im „Regeln der Wirklichkeit anpassen“ Hauptberuf selbständig sind, angestellt, pensioniert oder und Steuervorteilen fördern – so ist es je- beamtet, wie viel sie auf denfalls versprochen. der hohen Kante haben und Doch Riester wäre nicht Riester, wenn er was der Ehepartner so treibt. nicht auch dieses klare Konzept in seinem rung“ des Sozialstaats sinnieren, darüber, Mittlerweile berechnen Lohnbuchhal- Gesetzentwurf mit so vielen Auflagen und dass man angesichts einer sich rasant ver- tungsfirmen für die Verwaltung eines Mini- Einschränkungen versehen hätte, dass ändernden Arbeitswelt „neue Regeln“ jobs den gleichen Pauschalsatz wie für kaum noch jemand beurteilen kann, ob brauche und überhaupt zu „einfachen, kla- einen Vollzeitbeschäftigten. ihm die angebotene Sparvariante mehr ren, übersichtlicheren Gesetzen“ kommen Die Liste solcher Bürokratie-Ungeheuer nutzt oder schadet. So hat der Arbeitsmi- müsse. Doch es ist wie verhext: Wann im- ist lang, und es ist nicht einmal böser Wil- nister den Katalog der förderungswürdi- mer sich Walter Riester einer Sache an- le, der Riester dazu bringt, immer neue gen Kapitalanlagen so eng geschnitten, dass nimmt, wünschen sich die Betroffenen am Vorschriften zu ersinnen. Zu Recht kann er praktisch keiner der über 70 Millionen lau- Ende, er hätte es bleiben lassen. darauf verweisen, dass er nie eigenmächtig fenden Versicherungsverträge, mit denen Dabei ist es häufig nicht so sehr die Idee, gehandelt habe. die Deutschen ja bereits privat fürs Alter die viele empört, es ist die Ausführung. So wie er der Erste ist, der pünktlich am vorsorgen, auf die Vorgaben passt. Dass die alten Mitbestimmungsrechte in Kabinettstisch sitzt, so eifrig ist er auch Wer also künftig die Sparhilfe nutzen der Internet-Welt nicht mehr passen, dass bemüht, es dem Kanzler und allen Minis- will, muss in jedem Fall eine neue Police die lebenslange Vollzeitbeschäftigung bei terkollegen recht zu machen – und eben abschließen – selbst wenn er bereits über einem einzigen Arbeitgeber immer seltener darin liegt sein Unvermögen. Riester ist mehrere Lebensversicherungen oder In- wird, dass an einem zweiten Standbein für zum Problemfall der rot-grünen Regierung vestmentfonds verfügt. Besonders absurd: die Rente kein Weg vorbeiführt – all dies geworden, nicht weil er sich einer Aufga- Die monatliche Sparprämie beträgt bei ei- hat Riester wohl erkannt. Doch dann be- be verweigert, sondern weil er die ihm ge- nem Normalverdiener am stellten Aufträge immer hundertfünfzig- Anfang gerade mal 25 Mark, prozentig zu erfüllen sucht. Im Ergebnis ein Betrag, der bei jedem bewirkt er deshalb häufig das Gegenteil Abschluss zunächst nicht von dem, was eigentlich beabsichtigt war. mehr finanziert als die Pro- Beispiel Green Card: Gedacht war eine vision der Versicherungs- Regelung, die es Unternehmen erlauben agenten, die sich bereits auf sollte, ausländische Computerfachkräfte das erwartete Zusatzgeschäft schnell und unkompliziert anzuheuern. von bis zu 30 Millionen Neu- Heraus kam ein Entwurf, der die Anwer- verträgen freuen. Kein Wun- bung an derart viele Bedingungen und der, dass bei einer ersten An- Prüfverfahren knüpfte, dass jede Umschu- hörung fast alle Experten lung eines Chemielaboranten zum IT-Ex- den Gesetzesentwurf als perten zeitsparender gewesen wäre. Ger- „monströs“ und „viel zu hard Schröder zog schließlich die Not- kompliziert“ ablehnten. bremse und betraute das Kanzleramt mit Es ist schon eigenartig: der Detailarbeit (siehe Seite 70). Kaum ein Minister ist so fest Beispiel befristete Arbeitsverträge: Ur- davon überzeugt, dass ihm sprung des Gesetzes war die Überlegung, der Ehrentitel eines Refor- auch künftig zeitlich begrenzte Beschäfti- mers gebührt, kein ande- gung zu ermöglichen, ohne dass dies zu so rer kann so beredt über genannten Kettenverträgen führt. Riester

die „notwendige Modernisie- / IMAGES.DE WEYCHARDT löste das Problem auf seine Weise und ver-

* Bei Demonstration gegen Renten- Finanzminister Eichel kürzungen in Berlin. Arbeit am Gegenentwurf 132 Werbeseite

Werbeseite ordnete, dass eine Firma zwar jemanden folg an der Höhe des Sozial- innerhalb von zwei Jahren mehrmals be- etats und dem jährlichen Pa- fristet einstellen darf, dann aber nie wieder. ragrafenausstoß zu bemes- Wer also beispielsweise als Student zur sen. Dass diese Fachbeam- Aushilfe in einer Bank gejobbt hat, muss tenschaft vor allem Einwän- selbst zehn Jahre später ein Angebot, dort de und Bedenken vorzutra- wieder zeitweise zu arbeiten, ablehnen. gen hat, wenn Gesetzesver- Beispiel Teilzeit: Um den Arbeitsmarkt einfachungen anstehen, ist so zu flexibilisieren und so mehr Jobs zu schaf- gesehen nicht weiter ver- fen, sollte der Minister die Teilzeit fördern. wunderlich. Doch anstatt diese attraktiver zu machen, Auf welch verhängnisvolle indem er hemmende Vorschriften beseitig- Weise sich Riesters Detail- te, verankerte Riester in seinem vor zwei versessenheit mit der Ord- Monaten vorgelegten Gesetz einfach einen nungsliebe seiner Beamten allgemeinen Teilzeitanspruch für alle. Im verbindet, zeigen nun auch Ergebnis wird dies dazu führen, dass die die Vorschläge des Arbeits- Unternehmen künftig schon bei der Ein- ministeriums zur Förderung stellung solche Bewerber aussondern, die von Betriebsrenten, die beim später häufig eine Teilzeitstelle wünschen – Aufbau einer privaten Al- wie etwa Frauen mit Kindern. tersvorsorge eine wichtige Rolle spielen. Wieder ist die Grundidee des Projekts ein- leuchtend: So sollen künftig auch all die privaten Renten- verträge einen staatlichen Zuschuss bekommen, die Unternehmen für ihre Mitar-

AP beiter abschließen. Und wie- Anlageobjekt Eigenheim, Börse der macht ein unscheinbarer 30 Millionen Neuverträge? Passus im Gesetzentwurf die gute Absicht zunichte. als Jugendsekretär und dann Denn anders als bei den heutigen Be- als Tarifexperte bei der IG triebsrenten sollen die Firmen bei den neu- Metall, und wenn er in die- en Verträgen nach dem Riester-Modell So- ser Zeit eines gelernt hat, zialbeiträge abführen. Das nützt zwar den

P. FRISCHMUTH / ARGUS FRISCHMUTH P. dann, wie man für jedes Pro- staatlichen Rentenkassen, die Riester über blem den entsprechenden diesen Umweg auch noch stärken will, Anders als die traditionellen Sozialpoli- Paragrafen findet. Schon zu Beginn seiner lässt aber das Interesse der Arbeitgeber tiker vom Schlage eines Rudolf Dreßler Gewerkschaftskarriere hatten die Flächen- an einer Ausweitung der Betriebsrenten oder Norbert Blüm, die einfach den Wan- tarifverträge einen solchen Grad von Un- schlagartig schwinden. Damit nicht genug: del der Industriegesellschaft ausblendeten verständlichkeit erreicht, dass mancher Be- Gerade die populärste Form der Betriebs- und den Sozialstaat deshalb auch nicht für triebsrat die Papiere ungelesen in seinem rente, die so genannte Pensionsrückstel- modernisierungsbedürftig hielten, weiß Aktenschrank verstaute, wie der Minister lung, will Riester mit Verweis auf steuer- Riester genau, dass Reformen unaus- gern augenzwinkernd berichtet. Riesters rechtliche Probleme gar nicht fördern. weichlich sind. Nur heißt das bei ihm eben Meisterstück, der Metall-Tarifvertrag von Dass der Arbeitsminister sehenden Au- noch lange nicht, dass der Staat seinen Zu- 1997 zur Altersteilzeit, erwies sich als so ges dabei ist, ausgerechnet bei der wichti- griff auf die Bürger lockern soll. praxisfern, dass viele Betriebe ihn einfach gen Rentenreform einen neuen Gesetzge- „Wir müssen die Regeln an die verän- ignorierten. bungsunfall zu verursachen, haben mittler- derte Wirklichkeit anpassen“, sagt der Mi- Dass der gelernte Fliesenleger dennoch weile auch die Spitzen der Koalition ge- nister und meint damit: Die Vorschriften lange Zeit als nachdenklicher Neuerer galt, merkt. Um das Schlimmste zu verhüten, müssen halt ausgefeilt und differenziert ge- als Querkopf und „phantasievoller Den- lässt Finanzminister Hans Eichel nun in sei- nug sein, damit sie den Ansprüchen einer ker“ („Süddeutsche Zeitung“), verdankt er nem Hause zumindest die Frage klären, hoch entwickelten Volkswirtschaft genü- seiner Gabe, im richtigen Moment die rich- welche weiteren Anlageformen bei der pri- gen. Dass gerade die Vielzahl von zum Teil tigen Fragen zu stellen. Es ist ja nicht so, vaten Altersvorsorge zugelassen werden einander widersprechenden Regeln den dass Riester nicht alle Stichworte des aktu- könnten. So arbeiten die Beamten im Fi- Einzelnen belastet, dass viele schlicht über- ellen Talkshow-Diskurses bedienen kann, nanzministerium derzeit an einem Gegen- fordert sind, sich im Dickicht immer neu- vom „vernetzten Denken“, das heute entwurf, der auch bereits abgeschlossene er Steuer- und Sozialgesetze zurechtzufin- vonnöten sei, bis zum „virtuellen Unter- Lebensversicherungen als förderungswür- den – diese Einsicht mag der Arbeitsminis- nehmen“, das die Arbeitswelt revolutio- dig gelten lässt. Zudem soll der Katalog der ter zwar für sich reklamieren, sein Handeln nieren werde. Nur bleibt es eben bei den zugelassenen Kapitalanlagen möglicher- bestimmt sie erkennbar nicht. Fragen, ganz nach dem Motto: Gut, dass wir weise erweitert werden. Aber vielleicht kann man auch nichts an- mal darüber geredet haben. Bei einer Intervention könnte sich Eichel deres erwarten von einem Mann, der fast Zweifellos würde Riester mancher Ärger ebenfalls auf einen Auftrag seines Vorge- sein ganzes Berufsleben einer Organisation erspart bleiben, wenn er wenigstens einer setzten berufen. Schon vor Wochen soll gedient hat, zu deren Selbstverständnis es Behörde vorstände, die gewohnt ist, prag- Schröder mit Blick auf die Rentenentwür- gehört, die Arbeitswirklichkeit Tausender matisch zu handeln. Doch unglückseliger- fe aus dem Arbeitsministerium gewarnt ha- von Betrieben in ein einziges Regelwerk zu weise ist das Arbeitsministerium der letz- ben: „Wenn wir nicht aufpassen, vermas- pressen. 30 Jahre hat Riester in der Ge- te Hort überzeugter Sozialingenieure, die seln die uns auch noch diese Reform.“ werkschaftsbürokratie verbracht, zunächst seit Jahren darauf getrimmt sind, ihren Er- Jan Fleischhauer, Michael Sauga

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich bin verrückt nach Sieg“ Oracle-Chef Larry Ellison über sein Macho-Gehabe, den Kampf gegen SAP und den Umbau seiner Software-Firma im Silicon Valley

SPIEGEL: Mr. Ellison, Sie lassen SPIEGEL: Sie Armer. In Ihrer Fir- sich gern von Bodyguards be- ma Oracle haben Sie vor drei gleiten, heute drängelt sich Jahren den Steuerknüppel wie- außerdem ein Dutzend Scharf- der an sich gerissen, nachdem schützen vor Ihrer Hotelsuite. Sie sich eher rar gemacht hatten. Übertreiben Sie jetzt nicht ein Waren Sie unzufrieden mit dem bisschen? Kurs der Firma? Ellison: Nein. Das sind nicht mei- Ellison: Kein Grund zur Klage. ne, die gehören zu Bill Clinton. Oracle ist die zweitgrößte Soft- Der Präsident kommt nachher ware-Firma der Welt, wir domi- auf einen Schwatz vorbei. nieren den Markt für Daten- SPIEGEL: Das freut Sie? banksoftware, und ich hätte kürz- Ellison: Oh ja, ich liebe diesen lich um ein Haar Bill Gates als Kerl. Er ist ein unglaublicher reichsten Mann der Welt über- Mann, brillant, charismatisch holt. Es war einfach an der Zeit, und spektakulär. Wir alle wer- die Firma zu globalisieren, sie auf den ihn sehr vermissen. Ohne die Internet-Zeit umzustellen. ihn wird es todlangweilig. SPIEGEL: Wie sieht das aus, das SPIEGEL: Viele Amerikaner ha- Umstellen? ben die Nase voll von Clintons Ellison: Vor allem haben wir die Skandalen. Schrebergärten ausgemistet und Ellison: Das ist doch Heuchelei. die Technik vereinheitlicht, in- Der Mann hat Ungeheures für dem wir unsere eigene Internet- unser Land geleistet. Und was Software eingeführt haben. Nun hat er verbrochen? Ein mächti- läuft unser weltweites Geschäft ger, mittelalter, verheirateter zentral über zwei Rechner in Mann hatte Sex mit einer jungen Kalifornien. Vorher hatte jede Frau und stritt es ab. Na und? Je- Landesfiliale eigene Marketing- der von uns hat ein Hobby, das und Verkaufssysteme sowie ei- ist eben seins. Ich würde ihn so- gene Technikteams. Stellen Sie fort wiederwählen. Am Diens- sich nur vor: Wir arbeiteten tag schreibe ich einfach seinen weltweit auf 97 unterschied- Namen auf den Wahlzettel – aus lichen E-Mail-Systemen und

Protest. REUTERS brauchten für jedes Spezialis- SPIEGEL: Sie haben eine Schwä- Firmenchef Ellison, Werbepartner*: „Neue Klasse von Geräten“ tenteams. Aus diesen lokalen che für Männergehabe. Drei- Besonderheiten erwuchs mit der mal waren Sie verheiratet, lie- Zeit ein seltsames Feudalsystem. ben außerdem schnelle Autos, SPIEGEL: Die Landesfürsten hör- Renn-Yachten, Flugzeuge … ten nicht mehr auf Sie, ihren Ellison: Vielleicht habe ich emo- König? tionale Probleme. Aber kom- Ellison: Ja. Jeder hat gemacht, merzielles Fliegen ist objektiv was er wollte. Das ging so weit, unerträglich. Ich bevorzuge mei- dass Landeschefs ohne Rückfra- nen italienischen Kampfjet … gen die Preise für unsere Soft- SPIEGEL: … mit dem Sie Ihren ware änderten. Plötzlich koste- Nachbarn den Schlaf rauben … te das gleiche Produkt in Frank- Ellison: … aber heute bin ich mit reich weniger als in Deutschland meinem Gulfstream-Jet vom Si- – eine Unmöglichkeit im Inter- licon Valley nach New York ge- net-Zeitalter, wo jeder auf dem kommen. Leider ist der ziem- virtuellen Marktplatz Preise ver- lich langweilig. Bis auf Start und gleichen kann. Landung macht der Autopilot SPIEGEL: Wie haben Sie diese alles allein. Strukturen geknackt? Ellison: Es war schwierig, die Traditionen zu durchbrechen. Zu * Basketball-Star Shaquille O’Neal bei der

Präsentation eines neuen Network-Com- AP den Kanadiern mussten wir eine puters. Oracle-Konzernzentrale in Redwood: „Schrebergärten ausgemistet“ Sondereinheit schicken. Die ha-

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Werbeseite Wirtschaft ben die Sache als eine Frage nationaler maligen Einstellungen. Das war, als würde Souveränität betrachtet. Den meisten an- ein Gast in ein Restaurant gehen und der deren war der Widerstand zu kostspielig. Koch fragte ihn: „Wie viel Pfeffer soll ich ins Wer nämlich bei seinem System bleiben Essen tun? Wie viel Gramm Knoblauch? wollte, musste selber dafür aufkommen. Bei welcher Temperatur soll ich die Kartof- Das half bei der Überzeugungsarbeit. feln garen?“ Da würde ich sagen: „Vielen SPIEGEL: Nun haben Sie alles wieder unter Dank, ich will einfach nur Kalbsschnitzel – Kontrolle? Sie sind schließlich der Chefkoch!“ Ellison: Und wie! Ich kann jetzt das ganze SPIEGEL: Und Sie tischen Leuten, die einen Geschehen in allen Büros der Welt per Salat wollen, ein Fünf-Gänge-Menü auf. Mausklick verfolgen. Ellison: Keiner wird zum Essen gezwungen, SPIEGEL: Sie haben den Feudalismus in Ab- und bezahlt wird nur, was verspeist wurde. solutismus verwandelt? SPIEGEL: Sie stellen alles auf den Tisch und Ellison: Das klingt so negativ. Sagen wir lie- hoffen auf die Willensschwäche der Kun- ber, in Choreografie. Oder Orchestrierung. Jetzt schreibt der Komponist die Musik, wie es sich gehört. Jeder spielt sein Instru- ment, und wir alle folgen derselben Melo- die. Auf diese Weise haben wir allein im vergangenen Geschäftsjahr eine Milliarde Dollar eingespart. SPIEGEL: Sie haben rationalisiert, aber wo bleibt der Umsatzzuwachs? Ellison: Die Einsparungen waren ja nur Phase eins. Viel faszinierender ist Phase zwei. Wir können jetzt mit Hilfe des Inter-

net mit einem Partner wie Sun oder Hew- AP lett-Packard gemeinsame Angebote ma- SAP-Chef Plattner chen, einen gemeinsamen Verkauf und „Zu Tode erschreckt“ Service. Der Kunde sieht uns dabei als eine virtuelle Firma. den, die zum Dessert, das im Lokal ge- SPIEGEL: Die Konkurrenz sieht in Ihnen genüber viel besser ist, nicht extra das Res- eher den begnadeten Marktschreier. Wäh- taurant wechseln wollen. Ist das nicht ein rend Oracles Kompetenz bei Datenbanken Rezept aus der Giftküche? Die Kopplung unumstritten ist, wird die Qualität Ihrer von Betriebssystem und Browser brachte anderen Internet-Produkte bezweifelt. Es Ihren Erzfeind vor Gericht. gilt in der Branche regelrecht als Wunder, Ellison: Sie meinen Microsoft. Dass wir wie dass Oracle plötzlich eine Internet-Firma Gates mehr von unseren Produkten ver- sein will. kaufen wollen, indem wir sie so eng wie Ellison: Es freut mich, wenn die Konkurrenz möglich miteinander verzahnen? Da kann mich bewundert. Was soll sie auch sonst ich nur sagen: schuldig im Sinne der An- tun? Wir haben im ersten Quartal im Da- klage. Leider aber haben wir, anders als tenbankgeschäft 32 Prozent zugelegt, 93 Microsoft, mit 40 Prozent Marktanteil kein Prozent der börsennotierten Dot-coms be- Monopol. Dabei wäre gegen ein schönes nutzen unsere Software für ihre Web-Seiten. Monopol nichts einzuwenden, solange es SPIEGEL: Ihr neuestes Produkt ist ein inte- legal entstanden ist. Microsoft aber hat ver- griertes Software-Paket, eine bequeme Ge- sucht, mit dem Windows-Betriebssystem- samtlösung für die Kunden: Wer 9i kauft, Monopol auch ein Browser-Monopol zu bekommt sowohl die begehrte Daten- erlangen. Das ist verboten. Es ist eine banksoftware als auch über 70 weitere schlimme Sache, das Gesetz zu brechen. Oracle-Internet-Programme. Bezahlt wird SPIEGEL: Sie tragen heute Heiligenschein. nur, was benutzt wird, und die Computer Ellison: … Sehen Sie ihn leuchten? der Kunden sollen zur bedienerfreundli- SPIEGEL: Wie passt der zu Ihrem Ruf vom chen Nutzung auf die Oracle-Software ein- Rambo des Silicon Valley, der jeden Riva- gestellt werden. Kopieren Sie da nicht eine len mit harten Bandagen bekämpft? Ein alte Idee von SAP? Ex-Mitarbeiter, heute Chef des Internet- Ellison: Aber ja! Diese Gesamtpakete, so Dienstes Salesforce.com, behauptet, Sie genannte Suites, haben SAP groß gemacht. hätten in Ihrer Eigenschaft als Verwal- Und heute sind die Walldorfer nicht mehr tungsrat seiner Firma die Geschäftsidee ge- fähig, sie zu machen. stohlen. SPIEGEL: SAP wurde damals harsch kriti- Ellison: Unsinn. Es war ursprünglich meine siert, bis die Firma das Paket wieder in Geschäftsidee. Ich habe in Marc Benioffs Einzelprodukte auflöste. Vielleicht sind die Start-up investiert. Doch dann begann er, Ihnen einen Schritt voraus? zu expandieren und mein Terrain anzu- Ellison: Heutzutage verlangen die Kunden greifen. Da musste ich mich wehren. Bequemlichkeit. Die große Auswahl macht SPIEGEL: Sie kämpfen Ihre Geschäftsduelle sie doch nur verrückt. Jeder hatte bislang sogar im Privatleben weiter, etwa bei Se- einen anderen komplizierten Mix, unsere gelregatten gegen den SAP-Chef Hasso Software aber läuft mit den nötigen ein- Plattner. Legendär ist die Geschichte, als

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40 Große Software-Unternehmen Aktienkurse in Dollar

30 120 140 75 260 40 Sun 120 65 20 100 Microsystems 220 100 30 10 55 80 80 180 45 0 60 20 60 140 2,2 1998 1999 2000 40 35 23,0 20 15,7 6,8 5,1 10 Umsatz jeweils 10,1 40 25 100 letztes Geschäftsjahr 0 in Milliarden Dollar 1998 1999 2000 1998 1999 2000 1998 1999 2000 1998 1999 2000 1998 1999 2000

Ihre Mannschaft Plattners in Seenot gera- es nie sein. Ich behaupte nicht, dass wir heit, als wir noch in Wäldern und an Flüs- tenes Schiff im Stich gelassen hat und der mit brüderlicher Liebe für unsere Mit- sen lebten. Man kann sich dort auf das We- SAP-Mann vor Wut Ihrer Crew den nack- bewerber erfüllt wären, aber wir haben sentliche besinnen. Etwa darauf, seine Zeit ten Hintern zeigte. weder SAP noch IBM, noch sonst wen aus- nicht mit Leuten zu verschwenden, die Ellison: Wir hätten diese peinliche Episode gelöscht. man nicht liebt. nie erwähnt. Plattner hat angefangen, die- SPIEGEL: Sie lassen sich von einem Zen- SPIEGEL: Japaner sind bekannt für Zurück- se Geschichte überall rumzuerzählen. Aber Mönch ein japanisches Haus mit Mineral- haltung und Bescheidenheit. Sie aber wol- ich sage Ihnen eines: Meine Seeleute haben wassersee bauen, 100 Millionen Dollar darf len immer gewinnen, um jeden Preis. sich zu Tode erschreckt. Bevor Hasso sei- das kosten – mehr als Bill Gates’ Techno- Ellison: Nicht alles, was ich tue, ist wett- ne Hosen das nächste Mal runterlässt, soll- haus. Was fasziniert Sie so an Japan? kampforientiert. Ich spiele klassische Gi- te er ein Fitness-Center besuchen. Ellison: Es ist mehr ein Garten als ein Haus. tarre und lese. Aber es stimmt, ich bin ver- SPIEGEL: Sie können die Bubenspiele nicht Die Idee ist, im Garten zu wohnen, im Ein- rückt nach Sieg. Mir geht es wie dem Foot- lassen. Leben Sie noch nach dem Dschin- klang mit der Natur. Europäische Archi- ballspieler Roger Staubach, der einst für gis-Khan-Motto: „Es genügt nicht zu ge- tektur, wie Notre Dame oder Windsor die Dallas Cowboys spielte. Wenn der das winnen, alle anderen müssen verlieren“? Castle, orientierte sich an Obrigkeiten, an Spielfeld betrat, wurde er zu einem ande- Ellison: Ich habe diesen Spruch in den acht- Gott oder einem König. In den Geräu- ren Menschen: völlig fokussiert aufs Ge- ziger Jahren in Japan aufgeschnappt, und schen, Gerüchen und der perfekten Karg- winnen. So ticke ich auch. Dieser unbe- er hat mich beeindruckt. Aber es war heit eines japanischen Gartens findet ein dingte Siegeswille wird von Führungsper- nie meine Geschäftsphilosophie und wird Mensch dagegen Kontakt zur Vergangen- sönlichkeiten auch erwartet. SPIEGEL: Bill Gates können Sie SPIEGEL: Wie bitte? immer noch nicht schlagen. Er Ellison: Ich komme in Teufels ist reicher als Sie und sein Erfolg Küche, das sind schließlich mit PC-Software ungebrochen. alles meine Kunden. Nichts Was ist mit Ihrer Prophezeiung, gegen Kaliber wie EBay, Ama- der PC würde bis zum Jahr 2000 zon oder Yahoo. Aber ehrlich: ausgestorben sein? Der Markt war doch total Ellison: Als ich damals über den durchgeknallt. Da wurden Hun- Network Computer sprach, defutterlieferanten mit Web- meinte ich eine neue Klasse site plötzlich wie Technolo- von Geräten, die mit dem Inter- gie-Firmen bewertet. Petsmart, net verbunden sind. Und was Pet.com, es wimmelte nur

haben wir heute? Netzfähige EVERKE T. so von Hundekuchen im Netz. Handcomputer, Funktelefone, Ellison beim SPIEGEL-Gespräch*: „Hundekuchen im Netz“ Das soll eine tolle neue Idee Pager. sein? Hab ich da was verpasst? SPIEGEL: Und PC in rauen Mengen. die Effizienz. General Electric zum Beispiel, Wie ist damit das große Geld zu ver- Ellison: Ich finde es ja auch erstaunlich, dass unser größter Kunde, will mit Hilfe des In- dienen? in diesem Jahr wohl zum ersten Mal mehr ternet zehn Milliarden Dollar sparen. SPIEGEL: Sind Sie sauer, mit solchen Fir- PC als Fernseher in der Welt verkauft wer- SPIEGEL: 43 der 50 größten Internet-Firmen men in den gleichen Technologie-Topf ge- den. Aber in Deutschland und Frankreich sind ebenfalls Ihre Kunden. Wird das Dot- worfen zu werden? hat sich das Geschäft deutlich verlangsamt com-Sterben bedrohlich für Oracle? Ellison: Ach was, ich hatte meinen Spaß da- – der Markt ist gesättigt. Vielleicht lag ich Ellison: Schauen wir mal genau hin – was ist mit. Die Situation war so grotesk, dass ich mit dem Jahr 2000 ein bisschen zu früh. passiert? Deren Aktien haben 90 Prozent mit ein paar Freunden vor eineinhalb Jah- Aber im nächsten Jahr wird es so weit sein. an Wert verloren, und uns geht es immer ren sogar die ultimative Dot-com-Web- SPIEGEL: Ihr Aktienkurs hat sich – trotz noch gut. Die US-Wirtschaft ist ebenfalls site gegründet habe. Wir nannten sie Börsensturz – relativ gut gehalten. Wie er- bei bester Gesundheit. Es gibt nur ein paar „Heyidiot.com“ – unser Produkt war die klären Sie sich das? Leute, die auf einen Schlag weniger reich Heyidiot.com-Aktie, unsere Geschäftsidee Ellison: Ganz einfach. Unsere größten Kun- sind, als sie waren. Das war doch der einfach der Verkauf der Aktie. Das Papier den sind all diese langweiligen, traditio- Grundfehler: viel zu viele wurden zu sollte nur auf Auktionen gehandelt wer- nellen, soliden Großunternehmen wie schnell reich. den, so hätte der Kurs nur raufgehen kön- Citibank, General Motors und Deutsche Te- nen, nie runter. Eine todsichere Sache. lekom. Genau bei denen wird übrigens sicht- * Mit den Redakteurinnen Michaela Schießl und Rafaela SPIEGEL: Herr Ellison, wir danken Ihnen bar, was das Internet wirklich revolutioniert: von Bredow im Hotel Four Seasons in New York. für dieses Gespräch. Werbeseite

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Werbeseite Prozent an der Bank mit ihren mittlerwei- le 900 Beschäftigten beteiligt hatte. Sein Vorstandskollege Michael Philipp, damals noch der für das weltweite Aktiengeschäft zuständige Investmentbanker, war da we- sentlich enthusiastischer: „Unsere Platzie- rungskraft wird durch diese Allianz sehr gefördert.“ Die Investmentbanker, die der Deut- schen Bank gerade ein Rekordergebnis vor Steuern von 5,9 Milliarden Euro für die ersten neun Monate beschert haben, woll- ten die NDB unbedingt übernehmen. Denn über eine Tochtergesellschaft ist Kontos Firma auch als einer der größeren Aktien- händler an der amerikanischen Technolo- giebörse Nasdaq aktiv. Zurzeit kaufen Investmentbanken wie Goldman Sachs oder Merrill Lynch viele freie Händler auf,

W. v. BRAUCHITSCH v. W. um auch diesen Geschäftszweig zu kon- Deutsche-Bank-Chef Breuer: „Ein erster, kleiner Schritt“ trollieren. Als sich Ende Juli der erste Übernah- stellt. Kontos allein stehen über 40 Millio- meinteressent für die NDB meldete, war BANKEN nen Mark zu. Der Gehälterwahnsinn geht der ehemalige Wertpapierhändler Kontos in eine neue Runde. in seinem Element. Der Preis für sein Un- Teurer Kauf Dabei steht der National Discount Bro- ternehmen ging immer mehr in die Höhe, ker nicht gerade glänzend da. Trotz Dis- als sich im September weitere Interessen- Der Gehälterwahnsinn geht weiter: countpreisen für die Abwicklung von Wert- ten an dem Wettstreit um seine Firma be- papiergeschäften aller Art haben die Ame- teiligten. Der Chef einer kleinen US-Bank rikaner bisher nur rund 270000 Depots bei Der Bieter mit den tiefsten Taschen war bekommt von der Deutschen Bank der Bank eröffnet, auf denen insgesamt gut die Deutsche Bank. In dem entscheidenden eine Jahresvergütung von elf Milliarden Dollar liegen. Statt eines Treffen am 6. Oktober lockte Kevin Parker, über 40 Millionen Mark garantiert. Gewinns von neun Cent je Aktie musste für die Deutsche Bank im Verwaltungsrat NDB zum 31. August einen Verlust von der National Discount Broker, mit einem er die Internet-Seite der ameri- sechs Cent für das vergangene Quartal aus- Gehaltstopf von 60 Millionen Dollar an zu- kanischen Online-Bank National weisen. sätzlichen Prämien für die Topmanager im WDiscount Broker (ndb.com) auf- Die Zahl der Kunden hat sich in diesem Unternehmen. Nur die zunächst gebote- ruft, hört eine Ente quaken. Die Ente ist Zeitraum nur um 23300 erhöht, während nen 46,50 Dollar je Aktie behagten Kontos Kult. An manchen Tagen haben zusätzlich deutsche Discountbanken wie die Nürn- nicht. Schließlich erhöhte Parker auf 49 über 400 000 Amerikaner auf Dollar. Damit war die Deutsche dem Anrufbeantworter der Bank Bank bereit, gegenüber dem aus New Jersey das Quaken Börsenkurs eine Prämie von fast hören wollen. 100 Prozent zu zahlen. Für Arthur Kontos, den Prä- Am 10. Oktober stimmte der sidenten von National Discount Vorstand der Deutschen Bank Broker (NDB), ist das Maskott- dem Deal zu. Wenn bis zum 21. chen seiner Firma „ein Symbol November genug Aktionäre von für Reichtum“. NBD die Offerte akzeptieren, Zumindest ihm persönlich, können Kontos und seine Leute das steht fest, wird die Ente jede jubeln. Unter der Überschrift Menge Geld einbringen. Mitte „Interests of Certain Persons“ Oktober hat die Deutsche Bank sind in dem Übernahmedoku- angekündigt, dass sie die elft- ment fein säuberlich die gewal- größte Online-Bank der USA tigen Millionengehälter doku- für rund eine Milliarde Dollar mentiert. Kontos selbst führt die übernehmen will. Kontos hat Liste mit einem Garantiegehalt bereits die Offerte akzeptiert. für 2001/2002 von gut 18 Millio- Er besitzt immer noch 13,6 Pro- NDB-Website, Vorstand Kontos: Verlustreiche Minibank nen Mark an. Dazu kommen zent der Aktien. Wenn die noch Deutsche-Bank-Aktien im Angebotsfrist Ende November ausläuft berger Consors mehr als doppelt so viel Wert von fast 23 Millionen Mark. Sein und nichts dazwischen kommt, wird Zulauf hatten. Gegen die großen Markt- oberster Aktienhändler erhält insgesamt Kontos rund 300 Millionen Mark kassie- führer in Amerika wie Charles Schwab 23 Millionen Mark. Weitere neun Spit- ren können. oder Fidelity hat die Online-Bank, die in zenmanager sollen rund 60 Millionen Mark Damit nicht genug. Wenn Kontos und Amerika auf einen Marktanteil von einem in cash und in Aktien erhalten, wenn sie weitere zehn Manager der amerikanischen Prozent kommt, kaum eine Chance. der Bank die Treue halten. Minibank bei ihrem neuen Eigentümer aus Deutsche-Bank-Chef Rolf Breuer nann- Auf der Sitzung des Aufsichtsrats der Deutschland durchhalten, wird ihnen ein te denn auch den Einstieg bei NDB „einen Deutschen Bank, die der Übernahmeofferte Gehaltspaket von jährlich rund 140 Millio- ersten, kleinen Schritt“, nachdem sich die bereits zustimmte, wurden die Wahnsinns- nen Mark zunächst bis 2002 in Aussicht ge- Deutsche Bank im Mai mit zunächst 16 gehälter nicht erwähnt. christoph Pauly

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Werbeseite Wirtschaft FOTOS: DPA FOTOS: Schiffbauwerft in Bremen (1996), Ex-Vulkan-Chef Hennemann (1999): Selbst ein Freispruch ist denkbar

wollte, musste die Treuhand den maroden KONKURSE Werften mehr als zwei Milliarden Mark mitgeben, um sie loszuwerden. Im Gegen- zug sollte der Bremer Konzern die Werften „Ich vertraue dem Gericht“ in Mecklenburg-Vorpommern auf Welt- marktniveau hochrüsten und zusätzlich für Hat der Ex-Chef des Bremer Vulkan Staatsgelder veruntreut? Ist einige Jahre eine festgelegte Zahl von Ar- beitsplätzen aufrechterhalten. er schuld an der spektakulären Pleite des Schiffbaukonzerns? Die Treuhand willigte ein, aus den zwei Ein Gericht müht sich noch immer, diese Fragen zu beantworten. Milliarden Mark ratenweise dreistellige Millionenbeträge auszuzahlen, lange be- riedrich Hennemann hat sich nicht Gericht bestellter Gutachter kam zum Er- vor das Geld bei den Werften wirklich verändert. Warum sollte er auch? Er gebnis, dass Hennemann „in zentralen gebraucht wurde. Auch am Zinsvorteil soll- Fist sich keiner Schuld bewusst, und so Punkten der Anklage unschuldig“ („Han- te der Empfänger ausdrücklich mitver- verfolgt der ehemalige Chef des Bremer delsblatt“) sei. Fazit des Gutachters: Ob- dienen. So hatte der Vulkan von Anfang Vulkan äußerlich kühl und emotionslos wie jektiv gesehen war der Vulkan bis zuletzt an überschüssige Liquidität en masse. War immer den Prozess, in dem es für ihn um zu retten. das nun eigenes Geld des Vulkan oder alles geht: um seine Vergangenheit, um sei- Dennoch forderte die Staatsanwaltschaft fremdes? ne Zukunft und um seine Ehre. eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren, die Hennemann und seine Mitvorstände je- Seit nunmehr 14 Monaten wird in Bre- Verteidiger plädierten auf Freispruch. Und denfalls arbeiteten mit den Millionen men gegen Hennemann verhandelt. Die das Gericht? Das stellte seinen Urteils- vollkommen frei. Sie installierten ein Anklage wirft ihm Untreue vor: 854 Mil- spruch zurück und steigt – sicher ist sicher konzernumspannendes System der so lionen von mehr als zwei Milliarden – wieder in die Beweisaufnahme ein. genannten Cash-Concentration, in dem Mark, die der Konzern als Mitgift für die Nun werden noch einmal Wirt- die überschüssige Liquidität zirkulierte maroden Werften im Osten erhalten hat, schaftsprüfer als sachverständige Zeugen und Verbundunternehmen für kurzfristi- soll er widerrechtlich dafür verwendet ha- gehört. Sie sollen beantworten, ob die 854 ge, aber auch dauerhafte Verbindlichkeiten ben, Finanzlöcher im Westteil des Schiff- Millionen Mark „aus bilanzrechtlicher zugute kam. fahrtskonzerns zu stopfen. Sicht als eigenes Geld des Konzerns anzu- Die Ostwerften wurden – dank der Weil der Konzern im Frühjahr 1996 Kon- sehen“ waren. Denn dann wäre Henne- großzügigen Zahlung aus der Staatskasse – kurs anmelden musste, stehen indirekt mann frei gewesen, es für den Vulkan zu die größten Einzahler. Nutznießer waren auch Hennemanns Visionen vom mariti- verwenden, wie immer er wollte. Oder ob Vulkan-Firmen wie der notleidende Mön- men Großkonzern vor Gericht. Hat er, so das Geld, wie die Anklage argumentiert, chengladbacher Maschinenbauer Dörries das Wirtschaftsmagazin „Capital“ damals, den Tochterunternehmen in Ostdeutsch- Scharmann AG, bei dem bis zum Vulkan- den „Konzern sehenden Auges in die Ka- land gehörte, für die Hennemann nach Konkurs 253 Millionen Mark verblieben. tastrophe“ geführt? Meinung der Staatsanwälte eine Vermö- Die Treuhandanstalt jedenfalls wusste, Noch bevor die Bremer Strafrichter den gensbetreuungspflicht eingegangen sei. dass der Vulkan die Millionen nicht nur Angeklagten Hennemann erstmalig zu Ge- Ausgangspunkt dieser strafrechtlichen zinsbringend und kurzfristig anlegte. Aber sicht bekamen, fällten drei parlamentari- Kontroverse sind Verträge, die zwischen die Behörde hatte keine Möglichkeit, Hen- sche Untersuchungsausschüsse – in Bre- dem Bremer Vulkan und der ehemaligen nemann daran zu hindern. Denn dafür ga- men, Bonn und Schwerin – ihr Urteil: Treuhandanstalt in den Jahren 1992 und ben die Privatisierungsverträge nichts her, schuldig. 1993 geschlossen wurden. Mit diesen Ver- wie auch die damalige Treuhand-Präsi- Doch Hennemann lässt sich nicht un- trägen übernahm der Vulkan von der Treu- dentin Birgit Breuel als Zeugin vor dem terkriegen. „Ich vertraue diesem Gericht“, hand, also aus Staatsbesitz, vier Schiffbau- Bremer Gericht eingestand. sagt er. betriebe in Wismar, Rostock und Stralsund. Das war ärgerlich, denn die EU-Kom- Seine Sache steht so schlecht nicht, so- Weil damals niemand außer dem Vul- mission, die einen Teil der Milliarden als gar ein Freispruch ist denkbar. Ein vom kan die ehemaligen DDR-Firmen haben staatliche Beihilfen zu genehmigen hatte,

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Werbeseite Wirtschaft machte Druck auf die Treuhand. Die Hennemann widersetzte sich, gab dann Brüsseler forderten, dass „die deutsche Chronik eines Untergangs doch weitgehend nach. Denn die Londoner Regierung gegenüber der Kommission Investmentbank Lehman Brothers hatte mit Jahresberichten eines unabhängigen ihm ein Schuldscheindarlehen über 300 Wirtschaftsprüfers belegt, dass die Beihil- Millionen Mark angeboten – völlig unbesi- fezahlungen ausschließlich den Werften chert. Der Kredit der Hausbanken, so Hen- im Gebiet der ehemaligen Deutschen 1987 nemanns Kalkül, ließe sich kurzfristig wie- Demokratischen Republik zugute kom- Friedrich Hennemann, Senatsdirektor für Wirt- der ablösen. men“. Eine unmissverständliche Anwei- schaft und Außenhandel, wird Vorstand beim Es kam ganz anders: Der Bremer „We- sung Brüssels an die Bonner Regierung Bremer Vulkan, im November Vorsitzender. serkurier“ berichtete vom „Liquiditäts- und deren verlängerten Arm, die Treu- 1992 engpass“ und dem 300-Millionen-Kredit. handanstalt. Aber war sie auch bindend Prompt brach die Vulkan-Aktie ein, sie er- 11. August Vulkan übernimmt die MTW Schiffs- für den Vulkan? holte sich nie wieder. Als nächstes zerstritt werft GmbH in Wismar von der Treuhandanstalt Folgt man dem vom Gericht bestellten (THA) und sagt 562,2 Millionen Mark Investitio- sich der Vulkan-Aufsichtsrat: Hennemann Gutachter, dem Münchner Betriebswirt- nen und den Erhalt von 2510 Arbeitsplätzen bis musste abtreten, weil die Banken ein Ulti- schaftswissenschaftler Wolfgang Lück, kam Ende 1995 zu, die Treuhand die Zahlung von matum gestellt hatten – Geld oder Henne- es darauf gar nicht an. Der Konzern, so 1,012 Milliarden Mark. mann. Danach blieb der Vulkan monatelang 1993 ohne Führung. Aufgeschreckte Lieferan- 18. Februar Vulkan übernimmt die Volkswerft ten verlangten Vorkasse, Kunden zahlten GmbH Stralsund (VWS), soll bis Ende 1996 nur gegen Sicherheiten. Auch Lehman Investitionen von 487 Millionen Mark und 2200 Brothers bliesen ihre Schuldschein-Plat- Arbeitsplätze sicher stellen, die THA sagt 999,3 zierung ab. Aus der Liquiditätslücke von Millionen Mark zu. 300 Millionen Mark wurden bis Mitte Fe- bruar 1996 rund 2,2 Milliarden Mark. April MTW und VWS legen überschüssige Liqui- Ab Mitte Januar 1996 bereitete die Treu- dität als Termin- und Festgelder zu lukrativen hand-Nachfolgerin BvS die Abkoppelung Zinsen beim Bremer Vulkan Verbund an, beteili- der Ostwerften aus dem Vulkan vor. Das gen sich später am konzernweiten Cash- sollte nochmals Geld kosten und erforder- Management. te neue Genehmigungen aus Brüssel. Dazu 1995 aber mussten die alten Beihilfen offiziell als AP 14. Mai Nach der Bremer Bürgerschaftswahl verloren erklärt werden – verursacht durch Demonstrierende Vulkan-Mitarbeiter (1996) schließt die SPD eine große Koalition mit der unrechtmäßiges, besser noch kriminelles Monatelang ohne Führung CDU, die das Wirtschafts- und das Finanzressort Handeln. erhält. Die Argumente dafür besorgte sich die Lück, hatte bis zuletzt ausreichend Ver- BvS mit Hilfe der Kölner Wirtschaftsprü- mögensreserven, um daraus Liquidität von Juli Wegen Einnahmeverschiebungen benötigt ferfirma KPMG. In einem Bericht für die knapp 2,5 Milliarden Mark schöpfen zu der Vulkan kurzfristig 300 Millionen Mark. BvS bezeichnete KPMG die Geldverwen- können – weit mehr als die 854 Millionen 6. September Die Lokalzeitung „Weserkurier“ dung durch den Bremer Vulkan als also, die den Ostwerften mit dem Konkurs berichtet über 300-Millionen-Kredit; die Vulkan- „Zweckentfremdung“. Der entscheidende verloren gingen. Aktie fällt um fast zwanzig Prozent und erholt sich Begriff war gefallen, ausgesprochen von Eine kühne Analyse. Aber warum über- nie wieder. einem der größten und angesehensten lebte der Vulkan dann nicht, wenn denn so 11. September Machtkampf im Vulkan- Wirtschaftsprüfer Deutschlands. viel Geld mobilisierbar war? Weil, so der Aufsichtsrat; nach mehrstündiger Unterbre- Der damalige BvS-Präsident Heinrich Gutachter, der Konzern „mindestens chung wird als einstimmiger Beschluss proto- Hornef präsentierte in Berlin vor der Pres- während der letzten drei Monate im Jahr kolliert: „Der Vorsitzende des Vorstandes, Herr se den Bericht als „Ergebnis der Prüfung 1995 mehr oder weniger strategisch Dr. Friedrich Hennemann, hat angeboten, sein durch die KPMG“, und die sei „schlimmer führungslos und faktisch handlungsunfähig Vorstandsmandat zur Verfügung zu stellen.“ als befürchtet“. Da der „bei weitem größ- war“. te Teil“ der Gelder im Cash-Management Das Ende des Vulkan begann mit der 1996 des Vulkan „nach den Ermittlungen der Bürgerschaftswahl im Mai 1995. Danach 24. Februar Die Bundesanstalt für vereinigungs- KPMG vertragswidrig“ verwandt wurde, teilte die SPD die Macht mit der CDU – bedingte Sonderaufgaben stellt Strafanzeige konnte die BvS „nicht anders reagieren und Hennemann verlor die politische Un- „gegen Verantwortliche des Bremer Vulkan“ als durch eine Strafanzeige gegen die terstützung, die ihm in der Vergangenheit wegen Veruntreuung von 854 Millionen Mark. seinerzeit beim Bremer Vulkan Verant- über fast alle Probleme hinweghalf. 26. Februar Die Bremer Staatsanwaltschaft wortlichen“. Als der Vulkan im Juli 1995 wegen Ein- nimmt die Ermittlungen auf. Den Bericht selbst bekamen die Journa- nahmeverschiebungen kurzfristig rund 300 listen nicht zu Gesicht. Sonst hätte jeder so- Millionen Mark benötigte, schien das für 1. Mai Vergleichsverwalter Jobst Wellensiek fort lesen können, was die BvS verschwieg: einen Konzern mit immerhin sechs Milli- stellt Konkursantrag. Die KPMG hatte die ihr vorgelegten Aus- arden Mark Umsatz kein Problem. Die Vul- 1997 künfte und Unterlagen gar nicht überprüft. kan-Führung glaubte, die 300 Millionen Die Ziele der Treuhand-Nachfolger aber „mit einem Telefonanruf“, so der damali- 15. August Die Vulkan-Werft in Bremen Vege- wurden erreicht: Brüssel genehmigte 1997 ge Finanzvorstand Rüdiger Zinken, besor- sack fährt die letzte Schicht; allein in Bremen für mehr als eine Milliarde Mark neue Bei- gehen tausend Arbeitsplätze verloren. gen zu können. hilfen, mit denen die Werften an skandi- Doch die Hausbanken des Konzerns leg- 1999 navische Unternehmen vergeben wurden. ten sich quer: Sie verlangten, unter 8. September In Bremen beginnt der Hennemann steht vor Gericht – und nach Führung der Commerzbank, die Verpfän- Strafprozess gegen Friedrich Hennemann. den übrigen Verantwortlichen für den Un- dung aller Sicherheiten, die beim Vulkan tergang des Bremer Vulkan fragt schon lan- damals vorhanden waren. ge keiner mehr. Klaus Schuster

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Werbeseite sentant für Südostasien mit Sitz in Singapur, wurde aber bereits seit dem 22. April 1999 mit internationalem Haftbefehl gesucht. Holzer schilderte dem BKA, wie er und sein Sohn an jenem 3. Juli 1999 Pfahls zum Flughafen brachten: Nichts deutete auf eine überstürzte Flucht hin. Seit Pfahls am 15. Juni das Militärkrankenhaus Veterans General Hospital in der Hauptstadt Taipeh verlassen hatte, wo er wegen „Schwindel- gefühlen und Taubheit der rechten Glied- maßen“ behandelt worden war, residierte er im „China Trust Executive Home“, auch „KG-Suite“ genannt. Das vornehme Ho- tel liegt in einem Vorort Taipehs, umgeben von teuren Nachtclubs. Kurz vor 18 Uhr hielt dort ein schwarzer Mercedes. Gestellt wurde die Limousine von „Capital Motors“, der offiziellen tai- wanischen Mercedes-Vertretung. Während des gesamten Aufenthalts von Pfahls in Tai- wan hatte die Firma den damaligen Mana- ger betreut und ihm beispielsweise zwei Mobiltelefone (Nummern: 0937-043211 und 0932-030900) zur Verfügung gestellt. Capi- tal-Motors-Mitarbeiter Shih Hong-Yu war

M. KNOPP eigens für Pfahls’ Wohlergehen zuständig. Präsident Habibie, Manager Pfahls*: Vermittlung sensibler Geschäfte Im dichten Berufsverkehr dauerte die Fahrt zum Flughafen gut eine Stunde. Laut Computer checkte Pfahls sein Gepäck ex- AFFÄREN akt um 19.01 Uhr ein. Fast zeitgleich gaben drei taiwanische Geheimagenten ihre Kof- fer auf. Es handelte sich offenbar um einen „Wir kommen da durch“ gemeinsam geplanten Flug, denn sie hatten ihre Tickets beim selben Reisebüro wie Neue Hinweise im Fall Pfahls: Der ehemalige Verfassungsschutz- Pfahls gekauft (Buchungscode 4040). Vater und Sohn Holzer waren dort zusammen Präsident ist offenbar mit Hilfe deutscher mit einem gewissen Herrn Wang unter der Freunde und des taiwanischen Geheimdienstes abgetaucht. Kennnummer 4172 registriert. Dem BKA-Protokoll zufolge half Hol- s war am 3. Juli vergangenen Jahres, Elf Aquitaine. Am 28. August offenbarte zer dem Freund noch durch die Passkon- kurz nach 19 Uhr, als taiwanische Ge- sich Holzer dem Wiesbadener Bundes- trolle. Erst im Flieger will er ihn wieder Eheimdienstler auf dem Tschiang-Kai- kriminalamt erstmals umfassend über das gesehen haben. Doch die Ermittler be- schek-Flughafen bei Taipeh einen ganz spe- Verschwinden seines engen Freundes zweifeln, dass dies die volle Wahrheit ist. ziellen Reisenden trafen: den früheren Pfahls. Pfahls hätte eigentlich die Kontrolle nicht Staatssekretär im Bundesverteidigungsmi- Zusammen mit den anschließenden ganz so selbstverständlich passieren kön- nisterium und Verfassungsschutz-Präsi- BKA-Ermittlungen werfen Holzers Aussa- nen, wie Holzer es darstellt. Die Taiwaner denten Ludwig-Holger Pfahls. gen ein neues Licht auf müssen geholfen haben – Die Herren schienen bestens miteinan- die Absetzmanöver des der Flüchtige besaß näm- LUDWIG-HOLGER PFAHLS der bekannt. Man plauderte auf Englisch prominentesten deut- lich keine gültigen Pässe im Bereich der Passkontrolle. Dann ent- schen Flüchtlings. Dem- machte als persönlicher Referent mehr. schwand die Gruppe in einer VIP-Lounge. nach haben nicht nur Tai- von Franz Josef Strauß Karriere. Am 28. Mai hatte ein Um 20 Uhr hob die Maschine der Flug- wans Geheimdienst Guo- Der promovierte Jurist wurde deutscher Diplomat dem gesellschaft Cathay Pacific (Flug CX 451) jia Anquanju, sondern 1985 Chef des Bundesamtes für Patienten Pfahls am nach Hongkong ab. Bei Schampus und Ka- auch der Zeuge Holzer Verfassungsschutz und 1987 Krankenbett im 19. Stock viar verbrachten die Agenten und der selbst sowie dessen Sohn Staatssekretär im Verteidigungs- des Veterans General Deutsche den Flug in der Ersten Klasse. Nikolaus beim Abtau- ministerium mit umfangreichen Hospital mitgeteilt, seine Beobachtet hat diese Szenen einer du- chen des Ex-Managers Kompetenzen. Nach der Affäre deutschen Identitätspa- biosen Partnerschaft der Geschäftsmann und CSU-Politikers mit- um geheime Waffenlieferungen piere seien ab sofort Dieter Holzer, ein ehemaliger Kontakt- gewirkt. aus NVA-Beständen an Israel ungültig; er halte sich il- mann des Bundesnachrichtendienstes Pfahls gilt als eine 1991 arbeitete er als Topmana- legal in Taiwan auf. Pfahls (BND). Gegen ihn ermittelt die Saar- der Schlüsselfiguren im ger von DaimlerChrysler in Süd- besaß zu jener Zeit meh- brücker Staatsanwaltschaft seit einer Wo- Schmiergeld-Skandal um ostasien. Im Juli 1999 tauchte rere Pässe, darunter ei- che wegen des Verdachts der Geldwäsche die umstrittene Lieferung Pfahls, 57, unter – er soll nen ungültigen (Nummer in der Affäre um den Verkauf der einstigen von „Fuchs“-Panzern an 3,8 Millionen Mark Schmiergel- 823 4021 943, ausgestellt Leuna-Werke an den französischen Ölmulti Saudi-Arabien 1991. Zum der für die Lieferung von am 10. Dezember 1992 in Zeitpunkt des Fluges nach „Fuchs“-Panzern an Saudi-Ara- seinem Wohnort Tegern- * Bei der Eröffnung der „Technogerma“-Messe in Jakar- Hongkong war er noch bien angenommen haben. see), den er am 31. De- ta am 1. März 1999. DaimlerChrysler-Reprä- zember 1997 auf dem

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Werbeseite Flughafen Brüssel als gestohlen gemeldet chen einen Safe gemietet. Ende Juli sprach hatte. dann bei der Hotelleitung ein Sing Chong Deutschland unterhält zu Taiwan keine Jooi vor, wies sich mit einem malaysischen diplomatischen Beziehungen. AA-Beamte Reisepass (Nummer A 7390 152) aus und werden vor einer Entsendung in die „Re- belegte glaubhaft, im Auftrag von Ludwig- publik China“ beurlaubt, um Peking nicht Holger Pfahls zu handeln. Sing entnahm zu verärgern. Auch ein Auslieferungsab- der Box 6660 D-Mark, 1630 Hongkong- kommen besteht nicht. Das machte die Ab- Dollar, 261 Singapur-Dollar und 634 US- wicklung des Falls besonders schwierig. Dollar. Als deutsche Emissäre nach langem di- Schleierhaft sind dem BKA auch die plomatischem Gerangel am 2. Juli 1999 im Umstände einer weiteren Taiwan-Reise Außenministerium in Taipeh einen for- Dieter Holzers. Am 17. Mai dieses Jahres mellen Auslieferungsantrag stellten, baten traf er mit der Cathay Pacific in Taiwan sie, den Gesuchten so lange im Land zu ein, in seinem Schlepptau laut Unterlagen halten, bis ihn BKA-Beamte abholen kä- der Airline ein gewisser Sigi Lengl. men. Doch schon tags darauf spazierte Ob der identisch ist mit dem ehemaligen Pfahls unbehelligt durch die Passkontrolle. CSU-Staatssekretär Siegfried Lengl, lässt Dabei spielten die Holzers offenbar eine sich vor Ort nicht mehr feststellen. Als die weitaus wichtigere Rolle, als sie zugeben. CBI Anfang August den Computer der In einem BKA-Schreiben vom 31. Juli die- Grenzkontrolleure prüfte, waren die Ein-

ses Jahres an den taiwanischen Partner- M. WEBER W. reisedaten beider Besucher gelöscht, und dienst CBI (Central Bureau of Investiga- Zeuge Holzer mithin war auch keine Ausreise verzeich- tion) heißt es: Klar sei mittlerweile, dass Szenen einer Partnerschaft net. Dies trage eindeutig die Handschrift Pfahls’ Flucht von Dieter Holzer und sei- des taiwanischen Geheimdienstes und nem Sohn Nikolaus in die Wege geleitet tigen Pass hatte, geht das BKA davon aus, militärischen Abschirmdienstes, heißt es oder zumindest unterstützt wurde. dass Hongkong ihm die Einreise höchst- beim CBI. Wie das CBI ermittelte, war Dieter Hol- wahrscheinlich verweigerte. Pfahls’ zweite Für die international weitgehend iso- zer bereits im Mai in Taiwan erschienen, Ehefrau Birgit, zu diesem Zeitpunkt in Sin- lierten Taiwaner ist die Interessenlage klar: um Pfahls zu helfen. Bei der Einreise zeig- gapur, versichert dem SPIEGEL, sie habe Zum Schutz gegen einen möglichen An- te er seinen deutschen Reisepass (Num- an jenem Abend einen Anruf ihres Mannes griff von Pekings Kommunisten benötigt mer 233 3046 003) vor. Eigenartigerweise aus Taiwan erhalten: „Birgit, wir kommen das Militär moderne Waffen, und die liefert ist aber im Computer der Einwanderungs- da schon durch.“ in erster Linie Washington. Um dieser Ab- behörde unter dieser Passnummer der Flog Pfahls also noch in derselben Nacht hängigkeit zu entgehen, hat sich ein „Deut- Name „Holger, Dieter, Hans“ verzeichnet. zurück? Belog er seine Frau, um ungestört scher Freundeskreis“ des Geheimdienstes Weitere Rätsel geben die hektischen Ak- untertauchen zu können? Oder sagt Birgit Guojia Anquanju in der Vergangenheit als tivitäten von Nikolaus Holzer auf, der Pfahls die Unwahrheit? äußerst kreativ erwiesen. Die Beziehun- Pfahls’ Assistent bei DaimlerChrysler in Als sie am 4. Juli in Tai- gen zwischen Guojia An- Singapur gewesen war. Allein zwischen peh eintraf, habe sie in quanju und dem BND dem 30. Mai und dem 3. Juli 1999 reiste er der Hotelsuite nur noch gelten als ausgezeichnet. viermal nach Taiwan. Koffer und Kleider des Im Frühsommer weilte Ein Trip erregte das besondere Interes- Ehemanns vorgefunden, eine hochrangige BND- se der Zielfahnder. Am 27. Juni traf der berichtet Birgit Pfahls. Delegation in Taiwan. Holzer-Sohn mit dem Flug BR 232 der Eva Überstürzt sei sie deshalb Sensible Geschäfte wie Air aus der indonesischen Hafenstadt Su- am nächsten Morgen ge- die Munitionierung zwei- rabaya in Taipeh ein. Von Surabaya aus gen fünf Uhr zum Flug- er U-Boote aus nieder- lässt sich die Ferieninsel Bali per Zug und hafen gefahren und habe ländischen Werften, die Fähre in wenigen Stunden erreichen. Da eine Maschine nach mit Torpedos aus deut- Nikolaus Holzer auch in den Wochen nach Hongkong mit Anschluss schen Bauelementen be- dem Abtauchen seines Chefs mehrmals auf nach Deutschland be- stückt wurden, ließen sich der Insel gesichtet wurde, vermuteten die stiegen. An den Namen Ende der achtziger Jahre Strafverfolger zunächst, dass Pfahls sich des Hotels könne sie sich über Indonesien arran-

unmittelbar nach seiner Flucht aus Taiwan nicht mehr erinnern, der MÜNCHEN / ARD REPORT gieren. Als Vermittler bei auf Bali versteckt hielt. sei nur „in Chinesisch“ Holzer-Sohn Nikolaus vergleichbaren Geschäf- Die DaimlerChrysler-Pressestelle in angeschrieben gewesen. Hektische Aktivitäten ten hatte sich immer wie- Stuttgart ist zu keiner Auskunft bereit, ob Doch an der Fassade des der ein Indonesier her- Holzer die Reisen während seiner Ar- Gebäudes prangt unübersehbar die vorgetan, der vergangenes Jahr in den Ver- beitszeit für den Konzern tätigte oder dafür Leuchtreklame „KG-Suite“. Und: Bis zum dacht geriet, er habe mitgeholfen, Pfahls Urlaub genommen hatte. 13. Juli hat dort Capital Motors die Rech- vorübergehend auf Bali zu verstecken: Doch das BKA verfolgt jetzt noch eine nung für „Mr. & Mrs. Pfahls“ beglichen. Bacharuddin Jusuf Habibie, Ex-Staatsprä- andere Spur: Dieter Holzer sagte aus, Eine weitere Ungereimtheit: Laut Un- sident und langjähriger Gefolgsmann des Pfahls sei am 3. Juli 1999 nach der pünkt- terlagen der taiwanischen Meldebehörden früheren indonesischen Diktators Suhar- lichen Landung um 21.35 Uhr in der chi- hatte Birgit Pfahls bei ihren insgesamt drei to, dazu ein guter Freund von Helmut Kohl nesischen Sonderverwaltungsregion von Aufenthalten in Taiwan jeweils das Grand und Pfahls’ Förderer Franz Josef Strauß. „Hongkonger Beamten“ in Empfang ge- Hyatt als Wohnsitz angegeben. Die ausge- Achtmal reiste Habibie zwischen 1990 nommen worden. „Ich warte hier auf mei- bildete Krankenschwester bestreitet aller- und 1997 nach Taiwan und traf dabei auch ne Frau“, habe Pfahls gut gelaunt zu Hol- dings, das Hotel, die erste Adresse am den damaligen Präsidenten Lee Teng-hui. zer gesagt. Platz, je betreten zu haben. Als Pfahls jedoch in Taiwan im Kranken- Da der Flüchtling mit internationalem Ehemann Ludwig-Holger hingegen hat- haus lag, hat Habibie nachweislich Taiwan Haftbefehl gesucht wurde und keinen gül- te im Grand Hyatt bis nach seinem Abtau- nicht besucht. Jürgen Kremb

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es ein guter Tag. Wenn er nichts verkauft, hat er kein Geld verdient: Vorwerk zahlt BERUFE ihm keinen Basislohn. Der Türsummer brummt, Herr Krincke stellt den einen Koffer in den ersten Stock. „Wo darf ich einstöpseln?“ „Mit beiden rauflaufen wäre falsch“, sagt er. Zu viele Koffer verschrecken den Kun- Der Vertreter gilt als die unterste Stufe in der den an der Tür. „Keine Angst, ich will nicht bei Ihnen Status-Pyramide der Berufe. Der Prototyp dieser Spezies arbeitet einziehen“, ist sein Standardspruch. Mit bei der Firma Vorwerk und ist Staubsauger-Profi. dem zweiten Koffer schnauft er in den vier- ten Stock. Immer unterm rau Pollak? Machen Sie mal auf, ich Dach anfangen. Schall steigt hab was für Sie.“ Herr Krincke nach oben, wenn man unten Fdrückt sich gegen die Tür. Er weiß, anfängt, wissen die Leute dass Frau Pollak öffnen wird: „In der Neu- oben schon Bescheid. gier steckt ja auch die Gier.“ Oben lugt Frau Pollak aus Oliver Krincke, 31, ist kein studierter ihrer Wohnung. Krincke Psychologe, er ist Vorwerk-Vertreter. Ei- bemüht sich, ihre Hand zu ner von 4700 deutschen „Fachberatern“, greifen. Körperkontakt ist wie die Firma ihre Außendienstmitarbeiter das schnellste Mittel gegen bezeichnet. Drücker oder Klinkenputzer „brauch ich nicht“, „hab ich nennt der Volksmund die Geschniegelten, schon“, „will ich nicht“. Also weshalb die meisten der über 60000 deut- eine Broschüre in die Hand schen Handelsvertreter „selbständig“ mur- gedrückt. „Kennen Sie schon meln, wenn man sie nach ihrem Beruf die Aktion gesundes Woh- fragt. nen von Vorwerk?“ Ihr Job gilt bei vielen als letzte Stufe Herr Krincke weiß, dass eines Abstiegs, dicht vor dem Nichts. Ab- die ersten drei Sekunden die hängig von Verkaufsprovisionen, immer wichtigsten sind: schuppen- unterwegs, die Demütigung gehört für die frei und fröhlich-nett ist sein meisten Vertreter zur täglichen Arbeit. Ge- Outfit. Und deshalb ist auch gen so viel Feindseligkeit hilft nur der keiner der folgenden Sätze Rückhalt der Kollegen. zufällig, spontan oder Morgens um acht treffen sie sich in „Die Heißluftdusch, die unbeabsichtigt. „Frau Kleingruppen zum „Das wird ein großar- Heißluftdusch, die kann Pollak, ich wollte nur tiger Tag“ in deutschen Autobahn-Knei- mir sehr gefallen. Sie wissen, wie das Pulver pen, Dorf-Gaststätten und Imbiss-Restau- ist nicht nur zum Föhnen angekommen ist, das rants. Nach der Hau-ruck-Motivation und da, nein, wärmt auch mein Kollege vor ein einem Kaffee dämmert die fahle Gewiss- paar Monaten bei Ih- noch den Opapa …“ heit, dass es jetzt den anderen Kollegen nen abgegeben hat?“ genauso geht wie einem selber: Allein Nachdenken bei Frau mit Staubsauger, Teppich-Shampoos und Pollak. Eine Mischung aus

FOTOS: K. WIEDENHÖFER „Welcher Kollege? Welches Vertreter Krincke, Kundin: „Saugen, blasen, föhnen“ Pulver?“ und „Was will der Kerl?“ ist die ideale Basis, Ersatzrotationsbürsten an rund hundert um nachzulegen: „Der hat bei Ihnen nichts Türen klingeln. abgegeben? Na, so was!“ „Immer zweimal“, sagt Krincke, „denn Krinckes euphorisches Erstaunen ist so zweimal klingeln Freunde und Bekann- routiniert, dass er manchmal schon ant- te.“ Ungefähr 40 Türen öffnen sich an ei- wortet, bevor die Hausfrau den Kopf ge- nem durchschnittlichen Tag. Hinter 10 schüttelt hat. „Dann nehmen Sie einmal darf der Mann seinen Vorwerk-Kobold dieses Pulver in die Hand. Gut, nicht? Wie vorführen. fühlt sich das an? Weich oder eher unan- Kobold, der „Hausfrau treuester Beglei- genehm?“ ter“ (Werbetext), wurde 1930 patentiert. Die Kundin fängt an, sich an Herrn Ruhm erlangte er vor allem durch seinen Krincke zu gewöhnen. Wegschicken fällt multifunktionalen Einsatz: „saugen, blasen, jetzt immer schwerer. „Frau Pollak, jetzt föhnen“. So sangen Vorwerk-Mitarbeiter tun Sie mir mal einen Gefallen und streu- in den dreißiger Jahren zu der Melodie von en dieses Pulver dort auf Ihre Laufstraße.“ „O Tannenbaum“: „Die Heißluftdusch, Bei dieser Bitte berührt Herr Krincke leicht die Heißluftdusch, die den Unterarm der Hausfrau. Frau Pollak „Jetzt tun Sie mir mal einen kann mir sehr gefal- tut, was zu tun ist: Sie streut. „Ich bin mal Gefallen und streuen dieses len. Sie ist nicht nur nicht knauserig, ich gebe Ihnen noch etwas Pulver dort auf Ihre Laufstraße. zum Föhnen da, nein, von meinem Pulver dazu.“ Ich bin mal nicht knauserig, wärmt auch noch den Da liegt die weiße Krümelei nun auf ich gebe Ihnen noch etwas von Opapa …“ dem Teppich. Krincke hat es fast geschafft. meinem Pulver dazu.“ Wenn Krincke drei „Wo darf ich denn mal einstöpseln?“ ist Kobolde verkauft, war der letzte Schritt, um in die Wohnung von

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Frau Pollak zu gelangen. Der Vertreter te, so knapp 200 000 Mark dreht auf: „Jetzt hören Sie mal, wie leise brutto pro Jahr“, sagt er. Als „Ich will Ihnen ja nichts aufschwatzen, der ist, das freut auch den Nachbarn.“ Koch bekam er früher 2300 aber ich sehe es an Ihren Augen, Es ist kurz vor zwölf, eigentlich will Mark im Monat netto. Selbst- dass Sie den Sauger haben wollen.“ Frau Pollak mit dem Kochen anfangen. bewusster, redegewandter und Fischstäbchen und Flockenpüree soll es ge- partnerschaftstauglicher sei er durch den ben, sagt sie. Er überhört es. Es muss zu den Job geworden. Sagt seine Frau auch. Sagt Grundfertigkeiten von Handelsvertretern er. Frau Pollak ist das egal. Sie will den gehören, Einwände und Unbehagen zu ig- Kobold nicht. norieren. „Na, wer arbeitet hier, Sie oder „Wir hatten vor zwei Tagen eine Beerdi- das Gerät?“ – „Ja, aber der saugt doch gar gung, ich sag es ganz ehrlich, die hat uns nicht?“, wundert sich die Hausfrau. „Nein, ganz schön geschröpft.“ Es bleibt ihm natürlich saugt der nicht, der massiert nur nichts, als seine Staubsauger wieder einzu- die Zellulose in Ihrem Teppich.“ packen. „Wissen Sie, ich sag meinen Kun- Langsam ahnt Frau Pollak, dass der den immer: ‚Sie müssen sich wohl fühlen. adrette Mann mit Schlips und Kragen sich Wenn Ihnen ein solcher Dreck nichts aus- ihrer bemächtigt hat. Dass es ihm nicht nur macht – auf Wiedersehen!‘“ Jetzt ist aus dem um die „Aktion gesundes Wohnen“ geht. „Schmutz“ doch noch „Dreck“ geworden. Dass er das Testpulver nicht gleich wieder Die nächste Tür, das gleiche Spiel: Hän- wegsaugen wird, sondern erst einmal deschütteln, „ich wollte nur wissen, wie gründlich einmassiert: damit das Kom- das Pulver … Was? Nichts abgegeben? plettprogramm vorgeführt werden kann. Nehmen Sie mal dieses … Jetzt tun Sie mir „Geben Sie mir einmal Ihre Hand, Frau mal einen Gefallen … dort auf Ihre Lauf- Pollak! Nicht fürs Leben, nur für den straße … ich bin mal nicht knauserig … wo Augenblick.“ Er malt ihr mit seinem Mont- kann ich denn hier einstöpseln?“ blanc-Kugelschreiber einen Punkt in den Krinckes nächster Kunde ist Herr Handteller. Es kitzelt. Frau Pollak kichert. Reinecke, Rentner. Sein altes Vorwerk- Herr Krincke lacht. „Sehen Sie, so funk- Gerät war so robust, dass es die Ehefrau tioniert das Reinigungspulver. Die Zellulo- überlebte. „Da sehen Sie mal, was für Qua- se bindet die Tinte. Und genauso dann den litätsprodukte Vorwerk baut.“ Herr Krin- klebrigen Schmierschmutz. Ihr Kräusel- cke nickt so vehement, dass Herr Reinecke mag. Herr Krincke sieht, wie sich seine 300 Velours bleibt so schön wie am ersten Tag.“ auch nicken muss. Mark Provision aus dem Staub machen. Herr Krincke spricht nie von „Dreck“, „Wie viel soll er denn kosten?“ 1490 Mark Ein letzter Versuch: „Oder sechsmal 174 Vorwerk hat ihm gesagt, das klinge zu vor- zu sagen wäre zu viel. Also wieder den Kun- Mark.“ Doch auch das ist Herrn Reinecke wurfsvoll, „Schmutz“ sei besser. Wenn er den löffelchenweise füttern: „Sie zahlen ein- noch zu teuer, zumal er ein Prinzip hat: von Milben, Hautschuppen und Sporen er- malig 430 Mark bei Erhalt des Gerätes, dann „Ratenzahlung – nie!“ zählt, kratzt er sich mitunter unauffällig – haben Sie vier Wochen Zahlungspause, und Der Vertreter gibt sich verstört: „Was am Ärmel oder versteckt am Hals. „Ir- dann zahlen Sie noch einmal dreimal 342 habe ich denn jetzt falsch gemacht, das gendwann färbt das auf die Kundin ab, und Mark, und dann gehört der Kobold Ihnen.“ Problem habe ich hier zum ersten Mal. Ich sie kratzt sich auch. Und ekelt sich. Und Das ist Rentner Reinecke deutlich zu will Ihnen ja nichts aufschwatzen, aber ich will etwas dagegen tun.“ teuer, zumal auch das Argument „Sie wer- sehe es an Ihren Augen, dass Sie den Sau- den ein Leben lang von der Firma Vor- ger haben wollen.“ Der Mann hat ein „Ich sag meinen Kunden immer: werk betreut“ ihn nicht recht überzeugen schlechtes Gewissen, bleibt aber stur. ‚Sie müssen sich wohl fühlen. Wenn Mittagspause. Manöverkritik. Möhren- Ihnen ein solcher Dreck nichts gemüse. Kollege „Tiger-Kalle“ unterhält die Runde, erzählt von seinen Zwillingen: ausmacht – auf Wiedersehen!‘“ „Ich hätte nie gedacht, dass meine Schrot- flinte noch so funktioniert, dass da noch ein Rund drei Millionen Staub- Doppeldecker drin ist.“ So kalauert sich sauger werden jedes Jahr ver- die Runde fit fürs Nachmittagsgeschäft. kauft, etwa 500000 davon von Das, sagt Krincke, läuft meist besser als Vorwerk (Umsatz 1999: 2,48 am Vormittag. Doch dieser Tag ist irgend- Milliarden Mark). Der Wup- wie anders, viel Lauferei, das automati- pertaler Teppich-Riese liegt sierte Ritual von Begrüßen, Anfassen, Ein- damit vor Miele, Bosch und stöpseln – nur kein Erfolg. AEG. Der Direktverkauf, den Nach zehn Stunden Arbeit fährt Oliver keiner der Konkurrenten un- Krincke nach Hause. Er hat 27 Mark er- terhält, ist am Erfolg nicht wirtschaftet, für eine Staubsauger-Ersatz- ganz unschuldig. Der Mann bürste. Doch das stört den Mann nicht, von Vorwerk gilt deshalb als sagt er und präsentiert einen Zettel, den er Prototyp des Vertreters – so- für jüngere Kollegen entwickelt hat. Eine gar ein Dokumentarfilm hat Sofortmaßnahme gegen Klingelfrust und sich schon einmal mit dieser für PG („positive Geisteshaltung“): Spezies beschäftigt. „Ich weiß, wer aufgibt, hat nie Erfolg … Einer der selbständigen Ich werde jetzt fröhlich weitermachen, dann „Fachberater“ ist Herr Krin- werde ich die glücklichen Umstände erwi- cke. Er gilt als einer der be- schen … Ich liebe meinen Beruf. Ich gehe zirksbesten Vertreter. „Ich jetzt frohen Herzens zu den Menschen,

verdiene mehr als viele Ärz- FOTOS: K. WIEDENHÖFER denen ich helfen kann.“ Katrin Wilkens 161 Werbeseite

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FERNSEHEN nach der Aufnahme neuer Investoren auf einer soliden Basis. Wir haben die Zeit, uns zu ent- falten. „Mehr Tempo“ SPIEGEL: Wenn alles so toll liefe, wären Sie ja wohl kaum geholt worden. Wie wollen Sie ei- Kirch-Finanzchef Manfred Puffer, 37, gentlich die Wende schaffen? gelernter Investmentbanker und Puffer: Premiere World ist ein Premiumpro- designierter Chef von Premiere World, dukt, das für Qualität, Vielfalt und Werbefrei- über die Erfolgschancen von Pay-TV heit steht. Es ist viel Marktpotenzial vorhan- den, das wir heben wollen. SPIEGEL: Trotz eines gigantischen Werbe- und SPIEGEL: Aber wie? So läuft beispielsweise die Marketingaufwands von rund 300 Millionen neue Zeichentrickserie „Futurama“ zuerst im

Mark stagniert Premiere World bei rund 2,2 PREMIERE Free-TV-Kanal ProSieben Ihres Haupteigen- Millionen Abonnenten. Haben Sie eine Er- Puffer tümers Leo Kirch. Steht Premiere World wirk- klärung für den Schlamassel? lich für Fernsehpremieren? Puffer: Was heißt hier Schlamassel? Wir zählen mit unserer Puffer: Hier die Reihenfolge zu ändern kann ein Ansatzpunkt Abonnentenzahl zu den 20 kundenstärksten Unternehmen in sein. Premiere World steht für das Fernsehen der Zukunft – Deutschland. 1,7 Millionen beziehen unser digitales Angebot, dazu gehören sicherlich eine breite Exklusivität im Programm- das war eine starke Aufbauarbeit. Von dieser Basis kann die Ent- angebot sowie personalisierte Leistungen. wicklung jetzt mehr Tempo aufnehmen. SPIEGEL: Sie sind erst im April von der HypoVereinsbank in SPIEGEL: Alle Abo-Ziele wurden verfehlt, die Finanzpläne müs- den Kirch-Konzern gewechselt. Sind Sie ein Troubleshooter? sen laufend umgeschrieben werden. Puffer: Nein, mir geht es um langfristige Arbeit. Ich hoffe, dass Puffer: Ich möchte mich an der Zukunft ausrichten und keine ich in zwei bis drei Jahren Premiere World erfolgreich an die Vergangenheitsbewältigung betreiben. Das Unternehmen steht Börse führen werde.

ZDF Sozis gegen Stolte n der SPD regt sich Widerstand gegen eine Ilängere Amtszeit von ZDF-Intendant Die- ter Stolte, 66. Der unionsnahe Senderchef hatte überraschend der „Welt“ gesagt, er könne sich vorstellen, nach Ablauf seines Vertrages im März 2002 fünf Jahre weiterzu- arbeiten: „Es macht mir Spaß, für das ZDF zu schuften.“ Damit würde Stolte sein Vor- bild Karl Holzamer übertreffen, der als 70-Jähriger den ZDF-Chefsessel räumte. Nach einer Bundesratssitzung kamen die SPD-Mi- nisterpräsidenten Wolfgang Clement (Nord- rhein-Westfalen) und Kurt Beck (Rheinland- Pfalz) überein, dass Stolte kaum der richtige Mann für die Zukunft des Casta im Internet ZDF sei, heißt es in den Staatskanz- INTERNET respublica.fr/pdecker/Cindy/cindy.htm leien. Es sei „un- länger suchen. Meist holen die Be-

A. MANN / ACTION PRESS / ACTION A. MANN glaubwürdig, das Schön im Netz wunderer der Models keine Geneh- Stolte Programm zu ver- migung ein, das Recht der Beautys jüngen, während das auptsache sexy: Fans von Top- am eigenen Bild kann so verletzt wer- Management immer älter wird“, so ein Spit- HModels stellen zuhauf Fotos ihrer den. „Ist ein Model einmal bekannt, zenbeamter. Außerdem fühlen sich Clement Idole aus Katalogen und Magazinen taucht es immer wieder im Internet und Beck, der jetzt neuer Chef der SPD-Me- ins Internet. So tauchen Schönheiten auf“, sagt Hermann-Josef Omsels, dienkommission wird, geleimt, da der ZDF- wie Laetitia Casta (www.geoci- Anwalt für Internet-Recht. Gehen die Chef im Verwaltungsrat stets von Abschied ties.com/domchris/laetitia_casta.htm) Stars gegen die Piraterie vor, nehmen geredet habe. Für Stolte hat der Widerstand oder Gisele Bündchen (http://mem- die Firmen, die den Internet-Platz Folgen: Ohne die SPD-Vertreter käme die für bers.nbci.com/Giselepics) tausend- bereitstellen, die strittigen Seiten wie- eine Wiederwahl nötige Drei-Fünftel-Mehr- fach im Web auf. Während Cindy der vom Netz – doch schon bald ent- heit im Fernsehrat nicht zu Stande. Sprecher Crawfords offizielle Seite www. stehen neue Seiten. „Was hier pas- der beiden Länderchefs bestätigen, dass es cindy.com leicht zu finden ist, muss siert, ist schwierig zu verfolgen“, sagt ein Gespräch über das ZDF gegeben habe, zu der Surfer nach den freizügigen Fotos Jurist Omsels, „steht ein Server in In- Inhalten aber wollen sie nichts sagen. auf der Fan-Page unter http://perso. donesien, kommt man nicht dran.“

der spiegel 45/2000 165 166 mit Harryanzulegen. Finsternis Ehre, sichalsFürst der Nur Harald Schmidtverdient die ist dermächtige Zauberer gecastet: Blick insSpätprogramm, und schon Voldemort, Harrys Gegenpart. Ein Löffler. BleibtnochderböseLord wie dieTV-Kulturpolitesse Sigrid ihre Hausaufgaben sogründlich Keine andere machtstets zung fest: Freundin Hermine steht dieBeset- lich sein.Für Harrys strebsame Küche soll aufHogwarts javorzüg- Alfred „Eintopf“ Biolek.Die nauso wiederAllround-Experte richten-Lächler Peter Hahnege- nen sichdergütig-autoritäre Nach- ist scharf:Alszweite Besetzungeig- hätte? Allerdings, dieKonkurrenz torin Joanne K.Rowling erträumt Dumbledore, wieihnsichdieAu- Internat leiten –einOberlehrer heit, nichtblendenddasZauber- fe, Autorität undAllerweltsweis- vor Schirm, könnte demflachen der Potterist anlangenAbenden Welche derTV-Nasen, fragt sich Blick aufdieFernsehwelt geschärft. Der ZauberderLiteratur hatden Lesen nichtsgewesen? Nichtganz. die Glotze hatunswieder. Außer linge mitdenvierSchwarten durch, irgendwann sindwirZauberlehr- Tricks seinerZunfterlernt. Doch nat, wo derHokuspokus-Bube die Hogwarts gereist, zujenemInter- auf Zaubertour gewesen, nach K Medien e:Knt r i anvnRei- men: Könnte er, einMannvon Harry gegenHarry Harald unser Experte für dieTagesthe-unser Experte für Lesevolk istmitHarryPotter urze Tage, lange Nächte –das men. Dawäre Ulrich Wickert, blüffend schnellzusam- Personal findetsichver- n ih a Das und sieheda: ken schweifen, wohl welche seine Gedan- Rolle imZau- berbestseller übernehmen? So lässt der Zuschauer verlust? EinSportmoderator, dersich Sport alleine. cherweise hätte ichgesagt: Machteuren nicht, was mitmirpassiertwäre. Mögli- um michgekämpft hat,dannwüsste ich gegeben hätte, derwirklich Wenn esHerrn Fuchs nicht mann macht.ImErnst: Gottes Waldemar Hart- aber nuneinmalleider der Kamera machen,den wollte genau denJob vor Tage schlauergeworden. bar imVerlauf weniger auf. Frau Kreuzer istoffen- kommt auchgroße Freude viel Gutes übersichhört, wende. wenn Aber manso rascht überdieseKehrt- Hartmann: SPIEGEL: kompetent. zualtundwenigsei Hartmann Bildschirm verschwinden.Angeblich Kreuzer,seiner Chefin, Marianne vom rator derARD, sollte nachdem Willen Waldemar 52,Sportmode- Hartmann, D SPIEGEL: Hartmann: SPIEGEL: gestanden? Chefin vielleichtimWeg Moderator“. „ein äußerstkompetenter undguter Fuchs ließsiedannverlauten, Sieseien Gespräch mitFernsehdirektor Gerhard oft aufdemSchirm sehen.Nach einem setzten. Diewollte Sienichtmehrso ben SieeinProblem mitIhrer Vorge- Deutschland eine Sache für Minderhei- Deutschland eineSachefür flogen. Kultur imFernsehen bleibtin Der Skandalbonusistrasch wiederver- der letzten Sendungzeigen deutlich: voll waren. DochdieZuschauerzahlen Reich-Ranicki, demLeiter derRunde, Krach zwischenLöffler undMarcel Löffler, ablöste unddieZeitungen vom desTV-Debattierzirkels,glied Sigrid tikerin Iris dasGründungsmit- Radisch August, alsdieHamburger Literaturkri- Zwar stiegen dieQuoten kurzfristig im ein SpielohnevieleZuschauer. as „Literarische Quartett“ bleibt Und sehnbetroffen der spiegel „Macht euren„Macht alleine“ Sport Fürchten einenImage- Sienicht Haben SieIhrer Herr Hartmann,offenbar ha- So istes.Sie Ich war über- QUOTEN 45/2000 Moderator Hartmann MODERATOREN habe keine Ahnung–dasmusswehtun. von einerFrau sagen lassen muss,er sehen? alter Macho. Hartmann: SPIEGEL: in michgegangen. Lägen dieDinge anders, dannwäre ich Hartmann: SPIEGEL: Hartmann: wo dieKamera steht. stellungsbeauftragte Männer? für Frage stellen: Wann kommt derGleich- eigentlichdig. Aber müsste mandie auftragte. Frauen Dieistnurfür zustän- Sie: EsgibtjaeineGleichstellungsbe- habe, klingtesaberschöner. Wissen ein traditionelles Rollenverständnis. Vorgesetzte hat.Ichhabenämlichnoch schwierig, wenn einManneineFrau als den Vorhang zuundalleFragen offen.“ mäßig beendet:„Und sehnbetroffen / dem Reich-Ranicki dieSendungregel- ten. Dahilft nurderBrecht-Spruch, mit „Das Literarische Quartett“ Quelle: GfK Marktanteile inProzent Febr. 2,8 Wann Fern- istmanzualtfürs Um nichtzusagen: Siesindein Wenn mannichtmehr sieht, So, wieichesformuliert Ich halte für esgrundsätzlich April F. KRUG / ACTION PRESS 2,6 auch nichternst nehmen. das, was siegesagt hat, ben. Deswegen kannich wir beidemiteinander ha- sönlichen Problems, das waren Ausdruck einesper- tionsleiter war. eingestellt, alsichRedak- ten. Schließlichhabeichsie ich wohl mitJabeantwor- Hartmann: SPIEGEL: Hartmann: SPIEGEL: schlossen? vollkommenfür ausge- haben könnte, halten Sie zumindest inTeilen Recht kompetent? 3,2 uiAg Okt. Aug. Juni Dass Frau Kreuzer Ist Frau Kreuzer Ihre Attacken Die Frage muss 5,9 3,1

ZDF Fernsehen

Vorschau USA sendet das ZDF Berichte, Inter- holfene Passagen nicht und hat ein views und Reportagen; die ARD ver- klares Auge für den fremden Alltag. kündet von 23.55 Uhr an: „The Winner Seine Czernowitzer Elegie, 1999 für Wag the Dog Is …“; die Wahlsendungen auf CNN den Deutschen Filmpreis nominiert, Montag, 22.15 Uhr, ZDF und N-tv beginnen um 23.00 Uhr. hätte auch Celan erfreut. Der US-Präsident fummelt an einer jungen Frau herum, die Presse kriegt Enthüllung einer Ehe Utta Danella – es raus – und schon herrscht Feuer Mittwoch, 20.30 Uhr, ARD Der schwarze Spiegel unterm Dach des Weißen Hauses. Ein Als Jana Westphal (Nina Hoger) eines Freitag, 20.15 Uhr, ARD raffinierter Berater (Robert De Niro) Tages in der Sakkotasche ihres Mannes Nein, kein Bericht über ein neues und ein alternder, eitler Hollywood- einen Lippenstift entdeckt, vermutet Nachrichtenmagazin, sondern die Produzent (Dustin Hoffman) insze- Verfilmung eines Buchs von Utta Da- nieren eigens einen Krieg gegen Alba- nella (Branchen-Spitzname: Utta Sa- nien, um ihrem Auftraggeber trotz nella), die mit gut verkauften Trivial- des Sex-Skandals die Wiederwahl zu romanen wie „Regina auf den Stu- sichern. Barry Levinsons Kinofilm fen“ den Wahrern der Hochkultur von 1997 hätte schlimmstenfalls eine Schauer über den Rücken jagt. Klar, biedere, überzogene Anklage werden dass dieser Fernsehfilm (Regie: Rainer können gegen den allgemeinen Sit- Boldt) keine filigrane Kunstetüde für tenverfall in Washington. Dass er es die Hofer Filmtage werden würde. nicht wurde, verdankt der Regisseur Ein verwitweter Möbelfabrikant (Pe- Monica Lewinsky, dem Witz des ter Bongartz) mit ziemlich missrate- Drehbuchautors David Mamet und Horwitz, Hoger in „Enthüllung …“ nen Kindern wird zu einem faulen vor allem dem grandiosen Hoffman, Deal nach Mallorca gelockt, durch- der dem Film erst zu seiner heimli- sie, dieser habe ein Verhältnis mit einer schaut aber dank eines Callgirls (Son- chen Botschaft verhilft: Hollywood ist anderen Frau. Tatsächlich fühlt sich der ja Kirchberger) den Schmu. Wo Auf- mächtiger als Washington. Lehrer Roman (Dominique Horwitz), klärung ist, da ist auch schnell Liebe: Vater von zwei Kindern, zum Weibli- chen hingezogen, sehr sogar – allerdings anders, als Jana vermutet hatte. „Ich will eine Frau sein“, gesteht er ihr unter Tränen: Roman, der im Biologieunter- richt seinen Schülern erklärt, was Meta- morphose bedeutet, ist transsexuell. Für beide beginnt mit dieser Offenbarung ein quälendes Hin und Her zwischen sexueller Identitätssuche und dem Ver- such, ihre Ehe zu retten. Regisseur Michael Verhoeven, erfahren in der Aufarbeitung von Tabuthemen („Das schreckliche Mädchen“), verzichtet da-

bei auf Fummeltrienen-Klischees und ARD / DEGETO wohlfeilen Voyeurismus. Doch auch Szene aus „Der schwarze Spiegel“ wenn die Hauptfigur ein Lehrer ist: Et- was weniger Didaktik hätte dem Film Der Fabrikant freit die leichte Dame, gut getan. die Sippschaft ist entsetzt, besonders als der Alte beim Geschlechtsakt da- Herr Zwilling und Frau Zuckermann hinscheidet und die Witwe alles erbt. Mittwoch, 23.30 Uhr, MDR Nun drohen Verbrechen und Lange- Er ist ein Griesgram mit tiefen Falten im weile für den, der sich mehr als nur Gesicht; sie ist eine quecksilbrige Grei- leidlich spannende Unterhaltung ver- sin, die ihm seinen Pessimismus auszu- sprochen hat. reden versucht: Jeden Abend besucht Herr Zwilling die 90-jährige Frau Zu- Wetten, dass …? De Niro, Hoffman in „Wag the Dog“ ckermann. Dann kocht sie für ihn, und Samstag, 20.15 Uhr, ZDF das ungleiche Freundespaar schaut fern. Wetten, dass Thomas Gottschalk auch Die Nacht der Entscheidung Der Dokumentarfilmer Volker Koepp diesmal wieder alle „Big Brother“- Dienstag, 22.15 Uhr, ZDF hat den beiden ihre Geschichten ent- Sender und Westerwellen auf die Den Showdown zwischen George W. lockt: Erinnerungen an den Holocaust Plätze verweisen wird? Zumal er für Bush und Al Gore hätte selbst Holly- und das vernichtete jüdische Leben in jede Zielgruppe die passenden Gäste wood kaum spannender inszenie- Czernowitz, jener Stadt in der Bukowi- eingeladen hat: die Backstreet Boys ren können, obwohl es den beiden na, aus der auch der Dichter Paul Celan für die Teenager, Eros Ramazzotti für Hauptdarstellern an Charisma ge- stammte. Koepp passt sich dem Rhyth- Mutti, Rod Stewart für Papi und Ma- bricht. Zur Präsidentenwahl in den mus der Porträtierten an, glättet unbe- donna für alle.

der spiegel 45/2000 167 Medien

Gründer Hauge, Skeid, Mitarbeiter „Unsere Dimension ist Geschwindigkeit“ P. LOCHEN / SCANPIX LOCHEN P.

ONLINE-JOURNALISMUS News and more Die norwegischen Macher von „Nettavisen“ haben geschafft, wovon Medienmanager hier zu Lande noch träumen: eine profitable Zeitung nur im Internet zu etablieren. Jetzt drängen die Gründer nach Deutschland – mit neuen Nachrichten-Angeboten und dem alten „Stern“-Chef Michael Maier.

n Totsagungen herrschte kein Man- lionen Internet-Nutzern zur Kult-Größe: Hauge, der in den vergangenen Jahren gel: „Ihr müsst Videos zeigen, sonst Die ausschließlich online verbreitete Pu- auch als Leiter für Expeditionen zum Aseid ihr bald erledigt“, sagten die blikation liefert täglich Schlagzeilen für Nord- und Südpol von sich reden machte. einen. Die anderen warnten vor dem auf- rund 200000 Leser, 74 Prozent der Bevöl- Am Mittwoch dieser Woche geht kommenden E-Commerce: „Anders lässt kerung kennen sie. „Nettavisen“ selbst zur Attacke über. Das sich euer Projekt nie finanzieren.“ Und da Hier erklärt der norwegische Finanzmi- Unternehmen, das nach einigen Anteilsver- waren noch die Mahnungen, endlich ins nister seinen Staatshaushalt, der Premier schiebungen inzwischen dem Medienkon- seichte Fach zu wechseln: „Ohne Sex wird beantwortet online die Fragen der Leser. zern Bertelsmann und dessen Ableger Ly- das nichts mit euch.“ Und die Unternehmen schalten „Werbe- cos Europe gehört, startet in Deutschland. Der Computer- und Finanzjournalist banner“, die kleinen blinkenden Rekla- Auf diesem schwierigen Markt soll ge- Knut Ivar Skeid, 44, und sein Partner Odd mebotschaften auf den Redaktionsseiten. lingen, was in Oslo geklappt hat: ein neu- Harald Hauge, 44, vorher zeitweilig auch Als einziger Online-News-Service in Eu- es Medium für eine neue Mediengesell- als Aktienhändler aktiv, hörten gut zu – ropa schreibt „Nettavisen“ schwarze Zah- schaft zu installieren – in Konkurrenz zu und ignorierten die vielen Ratschläge. Sie len. „Unsere Dimension ist Geschwindig- den gedruckten Tageszeitungen und ihren setzten auf Journalismus pur, auf schnelle keit“, sagt Gründer Skeid: „Aktuelle News Online-Ablegern. Nachrichten aus Politik, Wirtschaft, Sport, reichen zum Erfolg, wenn man sie hat.“ Das kühne Projekt der „Netzeitung“ aus auf die Recherchekraft einer eigenen Re- Das Rezept vom Turbo-Journalismus, Berlin trifft auf eine in hohem Maße sen- daktion, auf das geschriebene Wort. Und bei dem die Redaktion rund um die Uhr sibilisierte Branche. In vielen Verlagen und sie gewannen – Leser, Reputation und im- neue Meldungen präsentiert und alte Mel- TV-Sendern sitzen Manager und Kreative mer wieder willige Geldgeber. dungen überarbeitet, will das Wikinger- über Konzepten für neuartige Internet- Ihre Erfindung „Nettavisen“ (zu Duo schnell exportieren. „Mich wundert, Publikationen. An Ideen herrscht kein deutsch: „Netzeitung“) brachte es im klei- dass solche Internet-Zeitungen nicht schon Mangel, und auch an Geld fehlt es nicht. nen Norwegen mit seinen 4,5 Millionen längst in anderen europäischen Märkten Alle spüren: Wer jetzt nicht ins Online- Einwohnern und den mittlerweile 2,4 Mil- gegründet wurden“, sagt Chefredakteur Publishing einsteigt, verpasst die Zukunft.

168 der spiegel 45/2000 Konkurrenz aus dem Netz Anteil der Internet-Nutzer, die Nachrichten-Websites besuchen in Prozent

NORWEGEN DEUTSCHLAND USA FRANKREICH 3. Quartal 2000, wöchentlich August* August* August* vg.no stern.de msnbc.com lemonde.fr Tageszeitung 30,8 Illustrierte 5,0 Nachrichtensender 12,5 Tageszeitung 3,5 dagbladet.no 22,4 focus.de 4,8 cnn.com 9,1 liberation.com 2,4 Tageszeitung Nachrichtenmagazin Nachrichtensender Tageszeitung nettavisen.no spiegel.de time.com europeinfos.com Internet-Zeitung 18,5 Nachrichtenmagazin 3,6 Nachrichtenmagazin 4,8 Radiosender 2,1 Quelle: MMXI Europe, aftenposten.no Norsk Gallup bild.de nytimes.com dna.fr 11,7 * nur Nutzung von 2,6 4,5 1,0 Tageszeitung zu Hause Tageszeitung Tageszeitung Tageszeitung

Der Axel Springer Verlag beispielsweise auch hier: aktuelle News und vertiefende gelockt würden, desto mehr Geld lasse sich will über 100 Millionen Mark in die Online- Information aus Datenbanken. bei Werbekunden erzielen. Die nur von Version seines Flaggschiffs „Bild“ stecken. Die Internet-Gemeinde lässt sich auch Werbeeinkünften abhängigen Norweger je- In den nächsten Jahren soll Bild.de dank von Negativmeldungen aus den USA nicht denfalls machten im Februar erstmals einen über hundert Journalisten zum großen En- die Entdecker-Lust nehmen. Dort kämpft kleinen Gewinn. Dieses Jahr verdoppelt tertainment-Portal aufsteigen. Konkurrent etwa das börsennotierte Internet-Magazin sich ihr Umsatz auf 8,5 Millionen Mark, Gruner + Jahr wiederum setzt auf den „Salon“ nach dicken Verlusten ums Über- und 2001 soll das Geschäft um weitere Business Channel und den Computer leben. Sogar die rentable Online-Tochter 50 Prozent wachsen. Channel, Internet-Sites, die für klar defi- der „New York Times“ musste angesichts Für die Kapitalgeber, die seit 1996 eine nierte Interessengruppen schnelle und prä- der kritischen Haltung von Investment- Summe von über zehn Millionen Mark in zise Informationen anbieten. Die Kirch- bankern ihre Börsenpläne zurückstellen. „Nettavisen“ steckten, hat sich das Pro- Gruppe investiert in journalistische Ange- Die aufbruchswillige Medienindustrie be- jekt gelohnt. Anfang 1999 zahlte die schwe- bote aus der Welt des Sports: aktuelle wegt sich in einem Markt voller Unschär- dische Internet-Firma Spray Network, die Spielszenen im Video, Tabellenstände, fen. Wie lässt sich ein journalistisches Pro- kürzlich wiederum von Lycos übernom- Interviews mit Spielern und Trainern. fi-Angebot auf Dauer finanzieren? Reichen men wurde, rund 45 Millionen Mark für So viel Innovation war nie. Die derzeit die Werbeerlöse, oder muss nicht doch das die Online-Zeitung. noch eher schwach ausgeprägte Internet- elektronische Handelsgeschäft, der E-Com- Den Start-up-Unternehmern Skeid und Leidenschaft der Deutschen – nur jeder merce, angekurbelt werden? Wie wird das Hauge kam zugute, dass die etablierten Vierte ist drin – soll durch attraktive An- mobile Internet – nach dem Poker um die norwegischen Zeitungsverlage jahrelang gebote weiter gepuscht werden. UMTS-Lizenzen – das Geschäft verändern? ihre Online-Seiten verkümmern ließen. So So will der TV-Marktführer RTL sein „Die Werbung folgt dem Publikum“, konnte „Nettavisen“ mit eigenen Meldun- vor kurzem aufgepepptes Online-Potpour- sagt „Nettavisen“-Gründer Hauge – je gen glänzen und sparte Marketing-Gelder. ri RTL World zum Freizeit-Fixpunkt für mehr Leute von einem Internet-Angebot Konsequent nutzten die Gründer aus Oslo junge Leute machen. Mit einer deutlich die Vorteile einer kleinen Or- aufgestockten Mannschaft und einem neu- ganisation, die auf Schluss- en Konzept baut auch der SPIEGEL seine termine, Papierkontingen- Online-Tageszeitung aus. Und im Burda- te und Druckwalzen kei- Verlag stehen aus dem Börsengang von Fo- ne Rücksicht zu nehmen cus Digital noch über 100 Millionen für In- braucht. Die 30 „Nettavi- vestitionen zur Verfügung. Kerngeschäft sen“-Redakteure – zum Ver- gleich: das größte Boule- Internet-Macher Maier vardblatt des Landes hat 300 „Neues digitales Publizieren“ – setzen sie bei Bedarf im Pulk auf wichtige Themen an: Naturkatastrophen, Wirt- schaftsaffären oder Sport- großereignisse zum Beispiel. Zu den Hits des Online- Blatts gehörte jüngst ein Be- richt über Amouren des Tee- nie-Stars Britney Spears, er wurde 30000-mal angeklickt. Als „Nettavisen“ beim Re- gierungswechsel im März als erstes Medium die neue Mi- nisterliste veröffentlichte, re- gistrierten die Rechner in der ersten Ta- geshälfte sogar 700000 Zugriffe. Manches Projekt wurde auch am Leser vorbei produziert. Eine Sieben-Tage-Re- portage über Kasachstan fand nur 56 In- teressenten – „die teuersten Klicks unserer

L. CHAPERON Geschichte“, witzelt Manager Skeid. Seit- 169 dem sind außenpolitische Themen weni- ger prominent vertreten, auch Rezensio- nen aus Oper und Schauspiel fehlen. „Im Internet gibt es keine Gnade“, sagt Grün- der Hauge, man müsse sich eben nach dem Publikum richten. Als „Teil eines Gesamt- pakets“ böte „Nettavisen“ aber immer auch unpopuläre wichtige Stoffe an. Mit Exklusivstorys wollen sich die Stra- tegen aus Norwegen künftig stärker von der Konkurrenz absetzen, zwei erfahrene Polizeireporter sind angeheuert. Sie sollen sich um „Qualitäts-Morde“ kümmern, so heißen im Jargon der Osloer Journaille bizarre Geschichten rund um Gewalttaten, die für viele Fortsetzungen taugen. Die „Nettavisen“-Geschichten lesen die meist männlichen Nutzer vorwiegend am Arbeitsplatz – Mittagszeit ist Prime Time. Während „Nettavisen“ morgens um neun Uhr lediglich 20000 Klicks aufweist, sind es um 13 Uhr mehr als 100000. Abends um 19 Uhr sind es dann wieder 20 000 – dann gehört der Online-User offenbar der Fa- milie und dem Freundeskreis. Auch in Deutschland wollen die Skan- dinavier die Informationshungrigen zu- nächst im Büro ansprechen – und später über Handy-Dienste. Die von der Firma Oracle entwickelte Software gilt den Ma- chern insgeheim als größter Trumpf. Vom „neuen digitalen Publizieren“ spricht Chefredakteur Michael Maier, 42. Der Österreicher, der zuvor der „Berliner Zeitung“ und der Illustrierten „Stern“ vor- stand und dort Mitte 1999 geschasst wurde, will online vieles anders machen als offline: Feuilleton und Kommentar sollen ver- schmolzen werden, ein neues Ressort „Uni- versität“ entsteht, animierte Cartoons sind geplant, und die Recherche läuft im Inter- net selbst – im Drei-Schicht-Betrieb von sechs Uhr morgens bis nach Mitternacht. So rühmt sich Maier, seine „Netzeitung“ habe Quartalszahlen der Firma Yahoo in Deutschland frühzeitig gemeldet – ein Mit- arbeiter hatte sie auf einer Web-Seite der Agentur Bloomberg entdeckt. „Unsere Stärke ist nicht, dass draußen Reporter her- umlaufen und Leute interviewen, sondern dass wir uns im Netz gut auskennen“, er- klärt der gelernte Kirchenmusiker. Im Großraum eines Neubaus in Berlin- Mitte, vor dessen Fenster metropolenge- recht die S-Bahn vorbeirattert, arbeitet der- zeit eine 30-köpfige Redaktion, die nach und nach vergrößert werden soll. Anders als in Norwegen trifft die Truppe in Deutschland auf Großverlage, die allesamt bereit sind, viele Millionen zu investieren. Der Mitgründer und „Netzeitung“-Ge- schäftsführer Skeid, der zwischen Oslo und Berlin pendelt, will sich davon nicht be- irren lassen. Er glaubt an die elektronische Zukunft und sieht die gute alte Tageszei- tung schon dahinsiechen: „In 20 Jahren gibt es die gedruckte Zeitung nicht mehr.“ An Totsagungen herrscht kein Mangel. Hans-Jürgen Jakobs

170 der spiegel 45/2000 Medien

LITERATURVERFILMUNG Frauen im Sturm der Geschichte Der Regisseurin Margarethe von Trotta gelingt ein kleines TV-Wunder: Sie verwandelt Uwe Johnsons literarisch verschraubte Chronik „Jahrestage“ in einen gefühlvollen Fernsehbilderbogen über deutsche Schicksale im Schatten von Krieg und Diktatur.

in Roman steigt aus dem Meer: Leuchtfeuer, in Nebelgebiete, Stürme und Unglück die große Liebe der jungen Frau „Abends ist der Strand hart von der Flautenzonen begeben. Um mit einem zerstörten. ENässe, mit Poren gelöchert, und brauchbaren Drehbuch zurückzukommen, Zugleich muss der Leser all die Qualen, drückt den Muschelsplitt schärfer gegen bedurfte es der Verschlagenheit eines See- Skrupel und Verzweiflung teilen, die John- die Sohlen. Die auslaufenden Wellen räubers, denn nur schwer ist dem Erzeuger son mit dem Vorgang des Erinnerns hat. schlagen ihr so hart gegen die Knöchel, dieses Ozeans aus Impressionen, Gedan- Über das Vergangene, so sieht es der dass sie sich oft vertritt.“ Sie, die Frau in kensplittern und Realitätsfetzen eine süffi- Schriftsteller, kann sich niemand erheben. den Wellen, ist die Heldin des schaumge- ge Story abzujagen. Das Vergangene sucht den Menschen in borenen Romans, Gesi- Was Johnson in „Jahrestage“ auftürmt, seiner Gegenwart heim, es treibt mit im ne Cresspahl. bedeutet für den Leser Schwerstarbeit. Er Strom des Aktuellen, es beutelt das Sub- An den Strand wird muss sich nicht nur auf das einlassen, was jekt. Am schlimmsten: Es ist womöglich sie nun zurückkehren, noch gar nicht vergangen. diesmal als Fernsehhel- Schriftsteller Johnson (1983) So werden in der vierbändigen Chronik din: In der letzten Szene Skrupel und Verzweiflung die Erinnerungen überlagert von Be- der vierteiligen TV-Ver- filmung* von Uwe John- sons 1800-Seiten-Chro- nik-Ungeheuer „Jahres- tage“** steht Cresspahl wieder mit den Füßen im

Sand – vor sich das G. SOMMER Meer, neben sich Tochter und Freundin, hinter sich auf der Düne die Toten, die ihr Leben bestimmten, und in sich eine Erkenntnis: „Als Kinder bei Gewitter in einer Kornhocke haben wir ge- dacht: Uns sieht keiner. Wir werden alle gesehen.“ Es sind 17 Jahre vergangen seit der Vollendung von Johnsons Riesenwerk, das der Kritiker Joachim Kaiser wohl zu Recht als „Zeit-Mo- saik von einsamer schrift- stellerischer Meisterschaft“ feierte und das sein Kollege Marcel Reich-Ranicki wohl zu Unrecht einst als „kunst- lederne mecklenburgische Chronik“ voller raunender Verklärung des Kleinstadtle- bens abtat. Nun endlich, von Dienstag kommender Woche

an, ist die Heimholung der BETKE / WDR J. „Jahrestage“ ins Reich des „Jahrestage“-Stars Borsody, Axel Milberg: Hinter dem Lächeln scheint Trauer auf Fernsehens zu besichtigen. Ob Kunstleder oder meisterliches Mo- Gesine Cresspahl, die es nach New York schreibungen der Stadt New York, vom saik – eins war klar: Wer immer Johnson zu verschlagen hat, ihrer zehnjährigen Toch- Zitieren aktueller Zeitungsmeldungen, von Fernsehen machen wollte, würde sich auf ter Marie über die Vergangenheit in Schicksalsskizzen, vor allem aber von eine Fahrt voller Untiefen, verwirrender Deutschland erzählt: wie die Nazi-Zeit in den dramatischen Ereignissen zwischen dem mecklenburgischen Kaff Jerichow Ge- August 1967 und August 1968. Vietnam- * Sendetermine: Dienstag, 14., Donnerstag, 16., Dienstag, sines Kindheit verdunkelte, wie sich die krieg, politische Morde an Robert Kenne- 21., Mittwoch, 22. November, jeweils 21.00 Uhr. ** Uwe Johnson: „Jahrestage“. Suhrkamp Verlag, Frank- Hoffnungen auf den Sozialismus zerschlu- dy und Martin Luther King, die Rassenun- furt am Main; 1728 Seiten; 75 Mark. gen, wie die Flucht in den Westen und ein ruhen, der Prager Frühling – alles das

der spiegel 45/2000 171 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Medien sind für Johnson auch Jah- in Deutschland“), wäre am der „New York Times“, Namen und restage, an denen die unver- liebsten ans Grab von John- Ortsangaben betreffen – eine Sisyphos- gangene Vergangenheit der son geeilt, der sich 1984, erst arbeit. Kriegs- und Nachkriegszeit 49, zu Tode gesoffen hatte, Diese Entwirrung machte klar, wie vie- mit der Sechziger-Gegenwart „um ihn um Verzeihung zu le Personen und Orte aus dem Johnson- aufs Irritierendste zusam- bitten, dass wir Film aus ihm Kosmos nicht in den Film gelangen menprallt. gemacht haben“. Margarethe würden. Doch es gab nicht nur das Pro- Vermag irgendjemand so von Trotta, die (an Stelle von blem der Fülle, sondern auch eins des eine komplizierte wie ambi- Frank Beyer) die Regie über- Mangels: Sosehr Johnson mit Beschrei- tionierte Erzählstruktur in nahm, fühlte sich während bungen von Plätzen und Ereignissen aast, ein Fernsehstück zu überset- der Dreharbeiten vom so karg schildert er seine Heldin Gesine, zen? Soll man, kann man Schriftsteller beobachtet: das Zentrum der Erinnerung. Die ledige heute eine Geschichte dar- „Manchmal hatte ich das Ge- Bankangestellte mit kleiner Tochter und

über erzählen, wie eine PRESS / ACTION GRABKA T. fühl, Johnson lächelt mir so- komplizierter deutsch-deutscher Vergan- Frau vor mehr als 30 Jahren Regisseurin Trotta gar zu, und manchmal dach- genheit erscheint bei Johnson als Frau ihrer Tochter Geschichten „Johnson lächelt mir zu“ te ich, warum er jetzt wütend ohne Unterleib. erzählt, die – von damals aus an seiner Pfeife raucht und Cresspahls Privatleben in New York be- gesehen – auch schon gut 30 Jahre zurück- gar nichts mehr sagt. Aber ich habe im- steht im Roman vor allem aus beobach- lagen? mer versucht, ihn mir irgendwie versöhn- tender Zeitungslektüre, aus Sorgen um die Es war ein ziemlich verschworener Hau- lich zu stimmen.“ Entwicklung der Tochter Marie, die wohl- fen um den damaligen WDR-Fernsehmann Sie standen sichtlich in der Furcht behütet in einer katholischen Schule ganz Martin Wiebel, der das Wagnis der Verfil- des Herrn. „Das Drehbuch-Werkstatt- allmählich zu politischem Bewusstsein er- mung vor zehn Jahren anging. Ein jetzt bei Regal“ heißt ein Kapitel im Begleitbuch. wacht, und aus Andeutungen über eine Suhrkamp erschienenes Taschenbuch „Mut- Darin beschreibt Christoph Busch, neben Beziehung zu D. E., dem aus Mecklenburg maßungen über Gesine“ gibt Auskunft über Steinbach der zweite Drehbuchautor, wie stammenden Professor und Freund, der für die Entstehung des Vierteilers – es liest sich die TV-Macher die literarisch verschraub- die US-Luftwaffe arbeitet. auf den ersten Blick wie eine einzige Ent- te Vorlage auseinanderschraubten und Um die Kriegs- und Nachkriegsvergan- schuldigung beim großen Meister Uwe*. für jeden Tag – der Roman besteht aus genheit mit der Sechziger-Jahre-Gegen- Peter Steinbach, einer der Drehbuchau- 367 Tageseintragungen – das Geschrie- wart zu verklammern, galt es für die Fern- toren („Heimat“, „Klemperer – Ein Leben bene nach drei Ebenen sortierten: sehautoren, die handlungsarme New Yor- Sätzen, die in der New Yorker Gegen- ker Gegenwart aufzuwerten – sie schildern * Martin Wiebel (Hrsg.): „Mutmassungen über Gesine“. wart spielen, Sätzen, die Vergangenheit ausführlich und voller Emotionen das Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.; 268 Seiten; 19,90 Mark. wachrufen, und Sätzen, die Artikel aus weibliche Miteinander – erst zwischen Mutter und Tochter, später din Anita in jungen Jahren. In kommt eine Freundin Gesines einer herzanrührenden Szene aus der Gymnasialzeit hinzu, offenbart die Schülerin, wie Anita, die die Cresspahls in sie von Russen vergewaltigt New York besucht. und körperlich zerstört wur- So nehmen die Frauen de, aber trotzdem oder gerade Johnsons Roman in Besitz – deswegen die russische Spra- von Trottas Regie enthusias- che und Kultur in sich ein- tisch unterstützt. Wo in der saugt. Vorlage ein verzweifelter Neben all den starken Frau- Dichter vor der Wucht der Er- en behauptet sich allerdings ei- innerung in tausend und eine ner wie ein Fels in der weibli- Wortwelt flieht, stellen sich im chen Brandung: Matthias Ha-

Film Frauengesichter dem BETKE / WDR J. bich als Gesines Vater, ein Sturm der Vergangenheit ent- „Jahrestage“-Darsteller Habich: Fels in der weiblichen Brandung wortkarger Tischler, der seine gegen. Frau nicht retten konnte, aber Das ist sicher eine Vereinfachung, aber vor den Schrecken der Nazi-Welt in den re- dafür seine Tochter. Ein Hitler-Gegner, der eine gelungene, denn die überragende Ge- ligiösen Wahn flüchtet, verliert bei Trotta trotzdem zum Opfer des Stalinismus wird, sine-Darstellerin Suzanne von Borsody den Schrecken, der ihre Tochter Gesine mürrisch und verschlossen, im Grunde an- weiß, wie man Andeutungen spielt, wie fast zerstört. ständig, aber unfähig zur Arbeit an der Er- Trauer hinter einem Lächeln aufscheint, Dafür entschädigen andere Szenen wie innerung. wie man Beschädigungen aus der Vergan- die, in der erste Zuneigung aufkeimt zwi- Es sind die Frauen, die im Film das Ver- genheit in einem Blick aufhebt, also be- schen dem Flüchtlingsjungen Jakob und gessene zurückholen. Ob Johnson es so ge- wahrt und zugleich mildert. dem Teenager Gesine, von Stefanie Char- meint hat, ist ungewiss. Das Fernsehen hat Sichtlich liebt Regisseurin Trotta die lotta Kötz mit einer Mischung aus verletz- sich zu dieser Lösung entschlossen – und Frauen, die Johnson geschaffen hat. tem Stolz und eigensinniger Zuversicht sie überzeugt. Manchmal zu sehr. Gleich im ersten Teil stark gespielt. Gesines Erkenntnis in der letzten Szene verrutscht ihr in allzu verständnisvoller Auch in Gesines mecklenburgischer am Meer – „Wir werden alle gesehen“– Weichzeichnung die Figur der Lisbeth, Ge- Gymnasialzeit – am Bürokratismus der mit den Toten im Rücken brauchen die sines Mutter. DDR-Obrigkeit zerbrechen gerade die Mitwirkenden an diesem Film nicht zu Die Tragödie einer Frau, die sich vor der letzten sozialistischen Ideale – sind es die fürchten. Sie können sich sehen lassen. Enttäuschung ihres Mannes, der nur ihr Frauenfiguren, die in der Erinnerung blei- Vielleicht lächelt Johnson sogar. zuliebe in Deutschland geblieben ist, und ben, vor allem Katrin Bühring als Freun- Nikolaus von Festenberg Werbeseite

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Fernsehmanager Lauff, Digital-TV-Angebote: Millionen von Zuschauern sollen Reisen oder Pizza ordern und Filme runterladen

Werner Lauff festzustellen, ob es den an- DIGITAL-TV gepeilten Kunden Kabulske tatsächlich gibt. Kabulske wohnt in Glabotki, einem Ort „zwischen Gladbeck, Bottrop und Gel- Kabulske im Datenstau senkirchen“ und: „Er ist unsere Zielgrup- pe.“ Doch die ist bisher genau so virtuell Medienkonzerne wie Bertelsmann arbeiten am TV der Zukunft: wie Kabulske. Lauff benutzt die proletarische Namens- Bessere Übertragungsmöglichkeiten sollen Fernseher und schöpfung, um das Massenpublikum zu be- Internet miteinander verbinden. Doch erste Tests sind ernüchternd. schreiben, das die Bertelsmann Broadband Group bei dem Versuch anpeilt, den deut- ie Zukunft ist eine Dose. Bei Jörg nur auf seinem Rechner genießen – noch schen Fernsehmarkt zu revolutionieren. In Rohn hängt sie an der Wand. Das fehlen die notwendigen Decoder, um über Zukunft – so die kühne Vision – sollen Mil- Dkleine, unscheinbare Ding, in dem den Fernseher an die BBG-Angebote her- lionen von Zuschauern vor ihren internet- ein Breitbandkabelmodem steckt, hat den anzukommen: ein virtuelles Filmarchiv kompatiblen Fernsehern sitzen, Reisen Frankfurter Raumausstatter an die Spitze zum Beispiel, in dem er die „Die Hits oder Pizza ordern, sich in Programm-Chats des medialen Fortschritts katapultiert – der Busenqueen“ abrufen kann, den „Rat- einmischen und sich jederzeit Pop, Politik ausgerechnet ihn, der zwar einige Dutzend geber Lust“ oder aber „Rennschwein Rudi und Pornos auf den Bildschirm laden. Fantasy-Romane, aber bis vor kurzem we- Rüssel“. Etwa 125 so genannte Inhaltepartner – der Computer noch Fernseher besaß. Doch nachmittags, wenn noch andere von RTL bis zur Deutschen Welle – will die Doch diese Zeiten sind vorbei. Rohn, Tester in der Nachbarschaft an ihren Com- BBG dafür bereits gewonnen haben. Aus der bei der Arbeit gern die „Bild“-Zeitung putern sitzen, bleibt der TV-Genuss oft ge- „Bertelsmann-Playout-Centern“ sollen un- liest, hat jetzt eine neue und großartige nug begrenzt: Die Bilder ruckeln, weil der begrenzt viele Abruf-Filme und Texte ins Aufgabe: Er soll nichts weniger als die Zu- Verteil-Rechner überlastet ist. System fließen – theoretisch. kunft des Fernsehens testen. Oder das, was Der Internet-Zugang und die abrufbaren Denn noch ist die Technik nicht so weit. die Manager der Bertelsmann Broadband Musikvideos dagegen sind so schnell, dass Herkömmliche Telefon- oder ISDN-Kabel Group (BBG) dafür halten. das Navigationsmenü Mühe hat, mit ihnen können die großen Datenmengen nicht be- Nach über einem Jahr der Vorbereitung Schritt zu halten. Während Rohn durch die wältigen, die dann durch das Netz gepumpt will der Ableger des Gütersloher Medien- Angebote des Musikkanals surft, behaup- werden müssen. Schon der Versuch, on- konzerns seine neuen Fernsehkonzepte tet die Programmübersicht („Wo bin ich?“) line Mini-Videos im Format einer Brief- endlich in der Praxis erproben – an „Beta- unverdrossen: „Unterhaltung/ Spielfilm/ marke auf den Bildschirm zu holen, führt Testern“ wie Rohn, die man kostenlos mit Moviechannel“. Rohn wird seiner Bertels- oft genug zum Datenstau. der notwendigen Ausrüstung ausgestattet mann-Betreuerin einiges berichten können Bertelsmann setzt auf neue Breitband- hat: der Dose mit dem Breitbandkabel- – telefonisch, denn die Chat-Funktion ist Übertragungssysteme, die um ein Vielfa- modem, einem Computer und einem Hoch- noch nicht aktiviert. ches leistungsstärker sind als die bisher ge- geschwindigkeits-Internet-Zugang. Testse- Mit Testern wie dem Frankfurter Raum- bräuchlichen Kabelsysteme: auf moderne her Rohn kann die neue TV-Welt bisher ausstatter versucht BBG-Geschäftsführer Kupfer-Koaxialkabel, ADSL-Telefonnetze

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Werbeseite Medien oder drahtlose Richtfunkverbindungen. sen“, „Er soll ihr Geld ge- Damit aber ist die Republik zur Zeit noch ben“, „Es soll so weiterge- unterversorgt. Vor allem die Telekom habe hen, wie der Regisseur es die Datenrate bei ihrem ADSL-Produkt wollte“). T-DSL „auf ein Zehntel des Möglichen Doch aufgeschlüsselt nach künstlich reduziert“, kritisiert Lauff. Dafür Gruppenmerkmalen ergab seien die Preise „prohibitiv hoch“. Uner- sich ein anderes Bild: „Die müdlich wirbt er daher um weitere Netz- Jüngeren, schneller Denken- anbieter für eine „Breitband-Allianz“. den, medienerfahrenen und Doch der Fernsehkonsument der Zu- höher Gebildeten bewerte- kunft braucht auch eine so genannte Set- ten den Film positiver und top-Box, also einen Decoder wie die spannender, je interaktiver d-box, mit deren Hilfe das Bezahl-TV-An- er war.“ gebot Premiere World entschlüsselt wird. Doch die Erkenntnisse des

Die d-Box kommt für Bertelsmann aller- / LAIF M. SASSE hannoverschen Psychologen dings nicht in Frage. Sie ist bisher nicht Digital-TV-Showroom (in Hamburg): Fiktiver Prolo-Kunde halten einige der Anbieter „rückkanalfähig“, das heißt, sie kann Da- der neuen interaktiven Fern- ten nur vom Sender zum Empfänger, aber Und danach hatte ich keine Lust mehr.“ sehdienste nicht davon ab, auch die sprich- nicht umgekehrt transportieren. Auch —anov nutzt den für Tester kosten- wörtliche „Oma von nebenan“ ins Visier Lauffs Programmangebot benötigt einen losen Hochgeschwindigkeits-Internet-Zu- zu nehmen. So will die Potsdamer Arte- Decoder, der sehr viel mehr können muss: gang. Doch für Reportagen und Filme ist media AG 16000 Kabelhaushalte im bran- Er soll die Internet-Sprache verstehen, mit der PC nur bedingt geeignet: „Es reicht, denburgischen Cottbus an ihr breitbandi- einem eingebauten Hochleistungsprozes- wenn ich meine Arbeitszeit davor verbrin- ges System mit dem programmatischen Na- sor den Heim-PC ersetzen sowie über ein ge. Und meine Freundin setzt sich da nicht men „Tve-Commerce“ anschließen. Kabelmodem und eine Zugangskontrolle dran, weil ihr so nah vor dem Schirm leicht „Wenn die Oma Essen auf Rädern be- verfügen. Doch an diesem Wunderapparat schwindlig wird.“ stellen möchte, bekommt sie das Menü muss noch gearbeitet werden. Der fiktive Prolo-Kunde Kabulske wür- vom Laden bei ihr um die Ecke gezeigt“, Die BBG hat daher in den einigen hun- de solche Mühen der Pionierphase wohl sagt Artemedia-Vorstand Nicholas Denis- dert Testhaushalten nur eine abgespeckte kaum auf sich nehmen. Für den hanno- sen. Und wenn ein Autofahrer die Online- Version ihres Angebots installiert. So kann verschen Medienpsychologen Peter Vor- Werbung für ein Motorrad auch nach der Beta-Tester Toni —anov aus Köln bisher derer gehören Beta-Tester wie Rohn und 15. Einblendung ungesehen wegklickt, soll das System sein Desinteresse an Motor- rädern registrieren und es lieber mit dem Das Bertelsmann-Modell für interaktives Fernsehen „Smart watcher“ neuen Pkw-Spot versuchen. Lernfähige Benutzerprofile könnten das möglich ma- Testphase: chen, meint Denissen: „Je mehr ich fern- Personalcomputer sehe, desto passender ist das Programm.“ mit spezieller Karte und Kabelmodem Mit heftigem Werben und Verkaufen wollen alle Anbieter interaktiver Pro- gramme die geplanten günstigen Nutzungs- Kabelnetz tarife wieder reinspielen. So soll das Ber- zum Empfangen telsmann-Modell wahrscheinlich etwa zehn und Senden, Mark Grundgebühr im Monat kosten, mit breitband- fähig Zuschlägen für Blockbuster, Erotikfilme zentraler oder Special-Interest-Angebote. Programmserver regionaler Server zukünftig: Doch noch ist vieles Phantasie. Während wird von 125 Anbietern, „letzte Meile“ Fernseher das Bertelsmann-System bislang nicht z.B. TV Today, dpa, Travel- vor dem Haushalt; mit digitaler wirklich „wie Fernsehen aussieht, aber wie Channel, Vox und ARD, hält alle angebotenen Set-Top-Box Internet funktioniert“ (Eigenwerbung), mit Inhalten beliefert und Videos, Dienste und vereint Fernsehprogramm, setzt die konkurrierende Kirch-Gruppe mit wöchentlich aktualisiert Sendungen abrufbereit Video-on-demand und Internet ihrer Online-Tochter Kirch New Media voll auf den Computer, da in Deutschland erst nur eingeschränkt online einkaufen, ob- —anov zum jüngeren, flexibleren Teil der 80000 Haushalte an rückkanalfähige Breit- wohl der Mazedonier keine Berührungs- Bevölkerung, der mit der interaktiven Re- bandnetze angeschlossen sind. Dagegen ängste hat: „Ich hab ja schon meinen letz- volution Schritt halten kann: „Die Alters- soll es bis zum Jahresende über 20 Millio- ten Urlaub übers Netz gebucht.“ grenze verläuft etwa bei 30, 35 Jahren.“ nen Internet-Nutzer geben. Der Unternehmensberater wohnt mit Solche so genannten Smart Watchers Ein „völlig neuartiges Online-Erlebnis“ seiner Freundin in einer Genossenschafts- könnten schon bald nicht nur ihr Pro- verspricht Rainer Hüther, Vorstandschef siedlung im rechtsrheinischen Ortsteil Hö- gramm beliebig zusammenstellen, sondern der Kirch New Media: „Hochklassige be- henberg. Die ganze Nachbarschaft hängt auch den Fortgang der Handlung eines wegte Unterhaltung in Bild und Ton, kom- am neuen Hochleistungsnetz des lokalen Films beeinflussen. Doch wer will das biniert mit der Informationstiefe des In- Kabelanbieters Netcologne. schon? Vorderer befragte in einer Psycho- ternet.“ Kirch-Sender wie ProSieben und Der TV-Pionier genießt es, einen Film studie über 400 Testpersonen aller Alters- Sat.1 sollen integriert werden. einfach unterbrechen oder zurückfahren stufen. Die zunächst wenig überraschende Hüther will auch eher träge und schlich- zu können wie an einem DVD-Recorder. Erkenntnis: Ein 30-minütiger Spielfilm te Gemüter nicht überfordern: Stets beste- Doch auch er hat den Frust mit der High- wurde nicht dadurch spannender, dass die he „die Möglichkeit, sehr schnell zwischen tech-Glotze erlebt: „Einen alten Science- Tester an drei Stellen der Handlung den interaktiver und passiver Unterhaltung zu Fiction-Film konnte ich nur bis zur Hälf- weiteren Verlauf einer Sequenz per Knopf- wechseln“. Auch bei Kirch wird man auf te sehen, dann war der Server überlastet. druck bestimmen konnten („Er soll sie küs- Kabulske achten. Oliver Driesen

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Werbeseite Szene Gesellschaft

MODE Schlüpfer im Rampenlicht as der Mensch gern am Leib Wträgt, das leidet. Die Folge: Ge- rade die liebsten Kleidungsstücke sind oft die schäbigsten. Mal ist der Stoff aufgeraut, mal zeugen verwaschene

A. SEGHILANIC Farben oder seltsame Flecken von ei- Berberaffe, Besitzer nem bewegten Leben. So ausgeleiert das gute Stück auch ist – oft verbie- HAUSTIERE ten süße Erinnerungen des Besitzers den Gang zum Altkleider-Container. Vom wilden Doch nicht jeder traut sich im Zeital- ter des Markenfetischismus noch mit Affen gebissen Gammel-Outfit an die frische Luft. Solchen Feiglingen bieten nun zwei rug einst der statusbewusste deut- Jung-Designerinnen praktische Sta- Tsche Punk stets Ratte zum Ketten- tushilfe an. Gegen 50 Mark Gebühr Outfit, so schmückt heute der französi- versehen Silke Wawro und Kirsten sche Halbstarke seine Lederjacke gern Hermans die abgeliebten Lumpen- mit einem Berberäffchen. Die possier- stücke mit ihrem „Volksware.org“- lichen Pelzträger verleiten so manchen Schildchen. Denn prangt „ein unbe- Passanten zum Streicheln. Doch das kanntes Label“ neben dem Loch im rächt sich häufig – die Tiere können Pullover, so Wawro, „bekommt der herzhaft zubeißen. Ausgewachsen wer- Betrachter den Eindruck, es handelt den sie über zehn Kilogramm schwer. sich um Mode“. Das wiederum ver-

Gerade die – oft aus Vereinzelung ent- leihe „dem Loch die Existenzberech- VOLKSWARE.ORG FOTOS: standene – Aggressivität der Affen reizt tigung“. Zusätzlich landet die Vorort-Rüpel von Paris und Mar- der Fummel samt Foto und seille. Sie haben den Kletterer als Kult- Lebensgeschichte im In- objekt entdeckt. Allerdings können die ternet. Rund 250 Teile, Herrchen offenbar nicht begreifen, dass darunter auch ein Schlüp- sich ihre plüschigen Statussymbole we- fer, stehen schon im digi- der zähmen noch zum Kampf abrichten talen Rampenlicht. Derzeit lassen. Daher setzen die enttäuschten ist die „Volksware.org“- Ziehväter ihre Lebendspielzeuge immer Kollektion im Berliner häufiger in Parks aus. Ergebnis: Keift Büro für Graphik (Tor- ein wütendes Berberäffchen aus dem straße 102, bis zum 9. No- Gebüsch, vergeht sogar Rottweilern und vember) ausgestellt. Volksware.org-Kollektion Pitbulls die Lust am Gassi-Gehen.

SCHREIBKULTUR Wyss: Jedes Lebensalter hat seine eigene Liebeskultur. Ein An- lass für einen Brief im Alter kann der nahe Tod sein. Junge Amors Zettelchen Paare schreiben dagegen aus dem Grund, den man allgemein mit solchen Briefen verbindet: dem Verliebtsein als solchem. Die Züricher Germanistin Eva Lia Wyss, 38, über SPIEGEL: Haben Liebesbriefe im Zeitalter von E-Mails und Liebesbriefe im Wandel der Zeit Handy-Kurzmitteilungen noch eine Zukunft? Wyss: Sicher. Der Liebesbrief erhält dadurch sogar eine ganz SPIEGEL: Frau Wyss, im Rahmen Ihres neue Bedeutung. E-Mails sind oft für Paare, die eine Fernbe- Forschungsprojekts haben Sie mehr als ziehung führen, der Regelfall. Der handgeschriebene Brief 4000 Liebesbriefe archiviert und unter- stellt für sie daher etwas ganz Bedeutendes dar. sucht. Warum erklären sich Menschen SPIEGEL: Was hat sich mit der Zeit noch verändert? überhaupt schriftlich ihre Zuneigung? Wyss: Ein Phänomen der letzten 20 Jahre sind die Liebeszet- Wyss: Mal soll jemand umgarnt werden, telchen. Das sind kleine Notizen, die man dem Partner hinter- mal möchte der Autor seine eigenen Ge- lässt. Sie kamen auf, weil sich die Formen des Zusammenle- fühle beschreiben. Mit manchen Briefen bens verändert haben: Es gibt Paare, die zwar zusammen soll ein Missverständnis geklärt werden. schlafen, aber nicht zusammen wohnen; andere stehen zumin- Jüngere Menschen greifen zum Füller, dest nicht mehr gleichzeitig auf. Trotzdem möchten sich die um eine Situation nicht von Angesicht Liebenden verabschieden. Auch wurden Männer früher nicht zu Angesicht meistern zu müssen. mit zärtlichen Kosenamen angesprochen. Erst seit den siebzi- SPIEGEL: Schreiben Ältere aus ger Jahren finden sich in den Briefen auch niedliche Namen

anderen Anlässen als Junge? Wyss D. GERBER für die Herren – wie Schubbel, Amor oder Götterfunke. 195 Gesellschaft

JUGENDIDOLE Die Rache der Provinz Britney Spears, die Lolita der Popmusik, ist ein Mädchen wie Tausende andere Mädchen – nur dass sie es an die Spitze geschafft hat. Von Henryk M. Broder

ops! She did it again! Sie hat 80 Mi- hören sich an wie sie und bewegen sich und brachte sie auf einer Tanzschule unter. nuten gesungen und getanzt, ihre wie sie. Nur mit dem Unterschied, dass sie Mit zehn gewann Britney 1000 Dollar bei OHüften geschwenkt und ihren es geschafft hat. Denn im Showbusiness dem Wettbewerb „Miss Talent USA“, mit Bauchnabel vorgeführt, sich zweimal in regiert nicht nur der Zeitgeist, sondern elf bekam sie eine Zahnspange und trat den Bühnenhimmel heben lassen und am auch der Zufall. beim „Mickey Mouse Club“ auf. Mom zog Ende die vorgesehene Zugabe gegeben. Woanders sorgt er dafür, dass zwei Flug- mit ihr nach Orlando in Florida, wo die 10000 Britney-Spears-Fans drängten sich zeuge in 10000 Meter Höhe zusammen- Sendung bis Ende 1994 produziert wurde. in der größten Halle der alten Leipziger stoßen, im Falle von Britney hat er dafür Man ahnt hinter solchen Eckdaten den Messe, wo früher Traktoren vorgeführt gesorgt, dass ein Mädchen aus der Klein- unheimlichen Selbstverwirklichungsdrang wurden, und jeder Fan der „Teenie-Rake- stadt Kentwood in Louisiana, nicht weit der Mutter, der auf die Tochter übertragen te“ („Stern“) war überzeugt, sie würde nur von New Orleans, mit gerade 18 Jahren wird. Tatsächlich dauerte es nicht lange, für ihn abheben. berühmter ist als jeder Opernstar. Obwohl und Britney bekam eine Gelegenheit, ihre Sandra aus Dessau, gerade elf Jahre sie bis jetzt nur zwei Alben veröffentlicht erste Platte aufzunehmen: „ … Baby One alt, hatte ein Transparent mitgebracht, das hat. Britney Spears ist, unter anderem, die More Time“. Sie wurde ein Super-Hit und sie nur mit Hilfe ihres Vaters heben Rache der Provinz an den Metropolen. Britney ein Super-Star. Seitdem sind ge- konnte: „Britney – you are the Greatest“, Marie und Madleen aus Gera, beide zwölf, waren ohne Eltern gekommen, tru- gen Zahnspangen, schwarze Tops und weiße Hemden, die sie über dem Nabel verknotet hatten. Auch sie hatten eine Message, die sie loswerden wollten: „Brit, we love you!“ Die jüngsten Besucher waren sechs Jahre alt, sie wurden von ihren Eltern huckepack getragen, damit sie aus hun- dert Meter Entfernung ein paar hüpfende Punkte auf der Bühne sehen konnten. Egal: Was man live kaum ausmachen konnte, wurde auf die bei solchen Anlässen üb- lichen Groß-Leinwände projiziert. Britney für alle, überlebensgroß und immer in Bewegung. Und alle für Britney. Über 2000 Dop- pelgängerinnen des Wundermädchens hat- ten sich bei der „Bravo“ zum Double-Wett- bewerb gemeldet, drei von ihnen durften das Original in Stuttgart treffen: die 14-

jährige Fabienne, die 16-jährige Alexandra M. JEHNICHEN und die 18-jährige Nina. Natürlich waren Fans bei Spears-Konzert (in Leipzig): Britney für alle, alle für Britney sie begeistert: „Sie ist total lieb.“ Dass Teenies für Stars schwärmen, ist Schon mit drei Jahren, schreibt Britneys nau zwei Jahre vergangen, eine Ewigkeit weder neu noch auffallend. Dass die Stars Biografin Astrid Dobmeier, „sah die klei- im Leben einer 18-Jährigen, eine Sekunde nur wenig oder gar nicht älter sind als ihre ne Britney einfach süß aus“, am liebsten auf dem Fließband der Musikindustrie. Fans, ist spätestens seit den Backstreet klaute sie ihrer Mutter Lippenstifte und Britney Spears hat nicht einmal ihren Boys auch nicht ungewöhnlich. Einerseits Lidschatten und malte sich damit „von Namen geändert, wie es die meisten im beginnen die Karrieren immer früher, an- oben bis unten“ an. Sie war vier Jahre alt, Showbiz tun. Sie ist noch immer „das net- dererseits enden sie auch immer schneller. als sie von der Mutter im baptistischen Kir- te Girl von nebenan“, betet morgens und Shirley Temple wäre heute mit zwölf Jah- chenchor angemeldet wurde. Mit acht hat- abends und ist „ständig auf Tour, hat vie- ren erledigt und Heintje schon lange vor te Britney nur einen großen Wunsch: „Sie le TV-Termine, muss Interviews geben und dem Stimmbruch ausgemustert. wollte berühmt werden!“ Das heißt, sie neue Songs aufnehmen“. So gesehen ist Britney, die „blonde Pop- wollte ins Fernsehen. Dennoch hat sie ihre Persönlichkeit im Lolita“ („BamS“), nur ein weiteres Pro- Mom fuhr mit ihr zu einem Casting-Ter- Laufe der Jahre weiterentwickelt, wenn dukt der globalen Spaßgesellschaft, sozu- min in Atlanta. Doch das Kind war zu jung, auch vorsichtig. War zu der Zeit, als sie im sagen ein weiblicher Benjamin Lebert der um einen Job zu bekommen. Da fuhr Mom „Mickey Mouse Club“ auftrat, Pizza ihr Musik von Weltformat. Crazy. Tausende, mit ihr nach New York („So viele Men- Lieblingsessen, so sind es heute Spaghetti wenn nicht Millionen, sehen aus wie sie, schen, so viele Taxis – und dieser Lärm!“) und Hot Dogs.

196 der spiegel 45/2000 Britney Spears ist das perfekte „role mo- Popstar Spears del“, ein Vorbild für Millionen junger Moralische Alternative Mädchen, die einerseits Karriere machen zu Madonna und und andererseits mit Mom und Dad nicht Monica Lewinsky brechen möchten, die moralische Alterna- tive zu Madonna und Monica Lewinsky. Auf die Frage, ob sie die Einladung von Außerirdischen akzeptieren würde, mit ihnen eine Weile zu leben, antwortet sie: „Nein, meine Familie würde mir fehlen. Aber wenn sie auch mitkommen könnte – vielleicht.“ On stage ist Britney mal das unschuldi- ge Schoolgirl in kariertem Rock und mal die verführerische Lolita im engen Top, im wahren Leben spielt sie immer nur eine Rolle: die der singenden Jungfrau. Für ei- nen Boyfriend, sagt sie immer wieder, habe sie „einfach keine Zeit“, eine ihr zuge- schriebene Romanze mit Prinz William sei nur „ein hübsches Gerücht“. Ein anderes Gerücht mag sie dagegen nicht dementieren. Ihr Ex-Freund Reg Jones, mit dem sie laut Biografin Dobmei- er „von Mitte 1996 bis Dezember 1998 zu- sammen“ war, soll gesagt haben: „Auch wenn es mir keiner glaubt, aber wir haben

Spears-Konzert in Bremen Singende Jungfrau im engen Top

in den ganzen zweieinhalb Jahren nie miteinander geschlafen. Erstens fühlte sich Brit noch zu jung, zweitens hat sie den festen Vorsatz, als Jungfrau in die Ehe zu gehen.“ Solche Geschichten, wahr oder gut er- funden, sind es, die den Marktwert der 18- Jährigen in die Höhe treiben. Eine Virgo intacta im Showbusiness – wann hat es das zum letzten Mal gegeben? Unter den ungezählten Britney-Internet- Seiten gibt es auch eine der „Gesellschaft der zukünftigen Ehemänner von Britney Spears“. Denn wer mit Brit „zusammen

FOTOS: DDP FOTOS: sein“ möchte, der muss auch bereit sein, sie 197 Gesellschaft

zu heiraten. Oder etwas, das ihren Namen trägt, zu kaufen. Beim Leipziger Konzert letzten Mittwoch stand ein junger Mann mit einem selbst gemalten Plakat in der Mission: Glück ist possible Menge: „Britni – Marry Us All“, flehte er im Namen aller Jungs in Sachsen. Die Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange In solchen Momenten bleibt dem Fan über Britney Spears und ihre zauberhaften Geständnisse nur der Griff zu den „Britney Collectibles“ aus dem Britney-Spears-Katalog. Unter Lust, ihre Mama von der Matratze zu „Have A Date With Britney“ werden da treten, um mich an ihrer Stelle tröstend neben Badetüchern und Lavalampen gleich an Britney zu pressen. vier Fotokalender angeboten. Auch die Denn die Sache mit dem Berühmt- Konzertbesucher, die schon 75 Mark für sein scheint nicht immer lustig zu sein. einen Stehplatz in der Menge bezahlt In ihrem neuen Lied „Lucky“ trällert haben, werden gnadenlos abgezockt: Ein sie von der Unbill des Starruhms: Britney-Mousepad kostet 30 Mark, ein „She’s so lucky, she’s a star/ But she cry, Britney-Plüschbär 40 Mark, eine Britney- cry, cries in her lonely heart.“ Dicke Mütze 50 Mark, ein Britney-Top (rot) 60 Tränen kullern ihr dabei im Video über Mark und ein rosa Hut, wie sie ihn kurz in

R. HECKE die Wangen. Mutterseelenallein liegt der Show trägt, gleich 105 Mark. sie auf ihrer riesigen, mit Satinlaken Das alles sind Kollateralerscheinungen Hennig von Lange, 27, veröffentlichte dekorierten Spielwiese. eines Gewerbes, das gar nicht anders kann, die Romane „Relax“ und „Ich bin’s“. Vor lauter Dankbarkeit für so viel als auch noch seinen eigenen Abfall zu ver- Sie lebt in Berlin. Vertrauen möchte ich flüstern: „Sexy, markten. Die „falschen Bedürfnisse“, von weine nicht. Auch wenn die Leute denen früher immer die Rede war, sind ga- m liebsten mag ich an Britney, behaupten, dass dein Busen nicht echt rantiert echt. Und wenn Britney den dass sie ganz ungeniert über ist. Der fühlt sich trotzdem toll an.“ Stones-Titel „(I Can’t Get No) Satisfaction“ Aihre hässlichen Füße plaudert: So ist das eben, wenn man eine Pop- singt, dann klingt das so, als wäre sie über „Sie sind so schrecklich groß, und ich Ikone ist. Da muss man Rede und ihren Lidschatten unglücklich. Es ist Rock habe auch hässliche Zehen. So ver- Antwort stehen, was den eigenen Body aus dem Reformhaus der Gefühle, benut- krüppelt irgendwie!“ angeht. zerfreundlich und umweltverträglich. Danke, Britney, danke. Ich habe zwar keine hässlichen Füße, aber dafür andere Problemzonen, die mich un- glücklich machen. Jetzt, wo ich das mit deinen Füßen weiß, geht es mir schon viel besser. Das ist aber noch nicht alles. Brit- ney kaut außerdem noch an den Fin- gernägeln, „obwohl meine Mutter stän- dig mit mir schimpft“. Und schon male ich mir aus, wie Britney zu Hause mit Hot Pants in der Küche steht, einen verknurzelten Fuß über den anderen gestellt, die Augen erschrocken aufge- klappt, und sich von ihrer Mama rü- gen lassen muss: „Du böses, böses Mädchen! Du warst wieder unartig!“ Da bleibt der kleinen, beschämten Brit- ney nichts anderes übrig, als lieb zu hauchen: „Oops! … I Did It Again“. Alle anderen denken bei dem Song- Titel an Sex. Autsch! Dabei ist Britney doch so unschuldig. Ich kann mir stun- denlang im Fernsehen ihre Interviews ansehen, in denen sie scheinbar ohne

Hintergedanken grinsend vor sich hin- REUTERS quasselt: „Wenn ich zu Hause bin und Spears-Auftritt in New York: Rock aus dem Reformhaus mein Dad auf Geschäftsreise ist, dann schlafe ich immer bei meiner Mum im Es ist eindeutig: Britneys Mission ist Draußen vor der Halle 7 der alten Leip- Bett – wie früher, als ich klein war.“ es, alle glücklich zu machen. Jeden ziger Messe stehen zwei Mädchen, beide Ich hänge an ihren Lippen und über- Abend klappt sie ihr Tagebuch auf und jünger als Britney Spears. „Ich möchte lege, was in diesem gestylten Geschöpf notiert „Gebete, Träume und Wünsche“. wirklich wissen, ob sie es noch nie gemacht vor sich geht. Ich meine, dieses Mäd- Autsch! „Ich kann mir ein Leben ohne hat“, sagt die eine. „Ich kann es mir nicht chen ist noch nicht einmal 20 und funk- Gott nicht vorstellen!“ Autsch! „Gebe- vorstellen, sie wird doch bald 19“, antwor- tioniert wie ein prächtig programmier- te, Träume, Wünsche!“ Alles ganz ge- tet die andere. ter Roboter. Sogar in mir weckt sie die heim. Eine Lolita, die Gott verfallen ist. Kommt Zeit, kommt Rat. Der nächste Superstar wird bestimmt wieder eine ganz geile Schlampe sein. ™

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Werbeseite ML. PIRROTTINA / BONGARTS ML. PIRROTTINA IMAGO Bodybuilder, positiv getesteter Fußballer Cornelius (l.): Pillen für „dramatischen Muskelwuchs“ und „Sex Drive“

der-Regierung Pech mit den von ihr ge- DROGEN förderten Internet-Seiten hat: Im Früh- jahr musste Christine Bergmann einen Link auf der Homepage ihres Familienminis- „Werde riesig!“ teriums sperren lassen. Besucher der Web- Seite waren mit wenigen Klicks bei Call- Eine von Innenminister Otto Schily finanzierte Bibliothek im boys und Angeboten für Sex-Spielzeug gelandet. Internet ist beliebt bei Sportlern und deren Betreuern. Ebenso leicht ist es für Sportler, über Aber: Links führen direkt zu Dopingdealern in den USA. die IAT-Seiten an die Kraft spendenden Mittel des US-Schwarzmarkts heranzu- er Eintritt in die bunte Warenwelt Das elektronische Archiv verweist nicht kommen. Sponet führte bis Donnerstag der Muskel-Drogen kostete nur ein nur auf einige tausend Literaturstellen vergangener Woche unter dem Schlagwort Dpaar Mausklicks. Mit dem Zeiger aus dem Bereich der Leibesübung, es „Doping“ 98 Aufsätze. Ein Klick auf die zunächst auf das Stichwort „Anabolika“ führt auch zu praktischen Hilfen für Ath- Nummer 21 („Link-Seite Ausdauer und gefahren, dann auf „Steroide“ gedrückt, leten und deren Betreuer. Aber: Mit mehr“) lenkte direkt in die USA, wo Präpa- schließlich auf „Store“ gerollt, und schon Links zu großen US-Dealern erleichtert rate zur chemischen Unterstützung der konnte jedermann alles bestellen, was den das IAT nicht nur die Verbreitung von Kondition bestellt werden können. Und die Menschen dermaßen verän- Nummer 25 („Steroide“) leite- dert, so versprach es die Wer- te den Surfer zu „bigsport“, ei- bung, „dass du ein größeres T- nem profunden Kenner des Shirt brauchst“. Muskelwachstums bei Kraft- Direkt in den USA können sportlern. Sportfreunde übers Internet Wer sich einmal an dieser etwa das Aufbaupräparat „An- Stelle des World Wide Web be- drostenedione 300“ für einen findet, tummelt sich in der Gift- Sonderpreis von 24,89 Dollar küche des Leistungssports. bestellen. Attraktiv ist auch der Trainer und Athleten erhalten „Prohormone Combo Pack“, hier unter viel versprechenden ein Mix aus drei Starkmachern Namen wie „Anabolika-Bibel“ für den sensationellen Preis oder „Neue-Hoffnung-Medi- von 59,95 Dollar. Schöner zin“ Erfahrungsberichte übers noch: das Dopingmittel „Real Dopen, Dosierungstipps, Hin- Deca Durabolin“ für „drama- weise auf neue Mittel. Händler tischen Muskelwuchs“ und Internet-Seite im Sponet-Rahmen: Ein Klick auf Nummer 25 preisen Aufputschmittel wie „Sex Drive“. Koffein und Ephedrin an, mas- Den schnellen Kontakt zum Dealer in Dopingmitteln in Europa. Wenn Deutsche senhaft auch Starkmacher wie Androstene- Amerika hat ausgerechnet der Bundesin- die Präparate beziehen, können sie belangt dion. Das unter Athleten so beliebte Nan- nenminister geebnet. Als Finanzier des werden. drolon und klassische Anabolika werden deutschen Spitzensports fördert Otto Schi- Für die Bundesregierung ist die Do- unter dem Slogan angeboten: „Werde rie- ly am Institut für Angewandte Trainings- pinghilfe aus Leipzig doppelt peinlich. sig!“ Der Versand sei ganz einfach, heißt wissenschaft (IAT) in Leipzig den Aufbau Denn Schily gibt sich gern den Anschein es weiter, die bestellten Waren würden einer „virtuellen sportwissenschaftlichen des erfolgreichen Anti-Drogen-Kämpfers: noch am gleichen Tag verschickt. Für die Bibliothek“ – Fachleute sind voll des Lobes Deutschland sei „in der Dopingbekämp- US-Dealer ist Sponet somit ein wichtiger über „Sponet“, die „ultimative Findma- fung und in der Dopingforschung weltweit Türöffner für den europäischen Markt. schine für Sportwissenschaftler, Trainer führend“, rühmte er im Sommer. Zudem Um sein Ziel zu erreichen, den „Infor- und Sportler“ (Eigenwerbung). ist es nicht das erste Mal, dass die Schrö- mations- und Wissenstransfer unter Nut-

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Werbeseite Gesellschaft zung moderner Medien“ voranzutreiben, ein Gericht im Einzelfall prüfen, ob ein hatte das IAT in den vergangenen Monaten Straftatbestand vorliegt, wenn etwa Links in einschlägigen Kreisen stark für die vir- zu Dealern aufgezeigt würden. tuelle Bibliothek geworben – und damit Welche Haftungsmaßstäbe bei Links gel- auch potenzielle Abnehmer von Doping- ten, sei in der Rechtswissenschaft „sehr mitteln erreicht. umstritten“, sagt der Hamburger Anwalt Unter Dopern hat das IAT ohnedies Wolfram Lohse aus der Kanzlei Wittich, einen guten Namen. Im ehemaligen For- der über Verantwortung im Internet pro- schungsinstitut für Körperkultur und Sport moviert hat. Eine gefestigte Rechtspre- (FKS) in Leipzig arbeiteten bis zur Wende chung gebe es nicht, besonders nicht in rund 600 Wissenschaftler zumeist im Ge- Bezug auf Suchmaschinen. Zum Nachteil heimen an der Medaillenproduktion für der Leipziger sei aber zu berücksichtigen, die DDR. Mediziner und Pharmakologen dass Sponet nach eigenen Angaben die auf- forschten nach neuen Dopingmitteln. gelisteten Quellen sogar mit Hilfe von Einiges Wissen wurde in die neue Zeit Fachleuten ausgewählt und analysiert hat, hinübergerettet. Professor Rüdiger Häcker sie also kennen müsste. etwa, der letzte Ärztliche Direktor des Dass deutsche Sportler bereits übers In- FKS, ließ sich Androstenedion als Nasen- ternet versorgt werden, gilt als sicher. Im spray patentieren, das heute weltweit Ab- vergangenen Jahr war eine Dopingprobe nehmer und Nachahmer findet. Mit Hilfe des Fußballers Thomas Ziemer positiv. Der von Sponet kommen nun also die alten Profi des 1. FC Nürnberg hatte von einem FKS-Erfahrungen übers Internet nach Betreuer Tribulus terrestris erhalten. Der Deutschland zurück. Andere Wissen- Extrakt sollte die Regenerationsfähigkeit schaftler wie Gudrun Fröhner und Manfred erhöhen, er wird im Internet als Geheim- Reiß, die laut Dokumenten und Aussagen tipp gehandelt. Das Mittel steht zwar nicht ehemaliger Kollegen zu kundi- gen Insidern des DDR-Sport- wunders zählten, arbeiten wei- ter für das IAT. Insgesamt sind in Leipzig noch 80 Mitarbeiter beschäftigt. Um deutsche Ath- leten optimal auf Weltmeister- schaften und Olympia vorzube- reiten, überweist Schily jährlich über acht Millionen Mark. Dass das IAT nun aber übers Internet zum Dopinghandel beitragen könne, sei „absolut nicht in unserem Sinne“ sagt

der zuständige IAT-Abteilungs- SPORTS ONLINE leiter Roland Regner. Als ihn Ringer Leipold: Verunreinigtes Kraftpulver? der SPIEGEL mit den Links zu den Händlern konfrontierte, meinte Reg- auf der Dopingliste, ist aber, wie Untersu- ner, das sei für ihn „völlig neu und über- chungen zeigten, häufig mit anabolen In- raschend“. Man sei mit dieser Art der Do- haltsstoffen kontaminiert. kumentation „noch sehr unerfahren – jetzt Ende Oktober wurde Manuel Cornelius, müssen wir da noch mal reingucken“. Fußballer bei Tennis Borussia Berlin, trotz Das ist geschehen. Nachdem der SPIE- positiven Nandrolon-Tests vom Deutschen GEL wegen der Links beim Bundesinnen- Fußball-Bund freigesprochen. Nachunter- ministerium nachgefragt hatte, reagierte suchungen hatten ergeben, dass das von Leipzig umgehend und löschte den Do- ihm eingenommene US-Produkt „Speed pingtext 25 („Steroide“). Andere Links Kreatin“ verseucht gewesen war. Auch der indes blieben weiter offen. „Natürlich in Sydney positiv auf Nandrolon getestete haben wir sofort den Auftrag erteilt“, sag- Ringer-Olympiasieger Alexander Leipold te eine BMI-Sprecherin, „entsprechen- aus Schifferstadt macht nun geltend, dass de Daten herauszuwerfen.“ Zweck von Nahrungsmittelzusätze verunreinigt gewe- Schilys Projektförderung sei der Aufbau sen sein müssten. einer wissenschaftlichen Datenbank, Geld Für Zoll und Kriminalpolizei ist der gebe es nur, wenn dieser Zweck erfüllt Handel der Cyber-Kriminellen ein ernstes werde. Problem geworden. Das Bundeskriminal- Inwieweit das IAT für die Seiten, auf die amt in Wiesbaden hat eine eigene Beob- es verweist, verantwortlich gemacht wer- achtungsgruppe eingerichtet, nachdem sich den kann, berührt eine grundsätzliche in den letzten Jahren das Dealen übers In- Frage des Internet-Rechts. Der ausdrückli- ternet vervielfacht hat. Derzeit erwischen che Hinweis von Sponet auf „Haftungs- die Fahnder aber nur einen Bruchteil der ausschluss“, so der Düsseldorfer Rechts- illegalen Einfuhren. Bei jährlich 1,3 Mil- anwalt Tobias Strömer, ein Fachmann für liarden ausgelieferten Päckchen und Pake- Internet-Recht, sei unerheblich und daher ten ist flächendeckende Kontrolle nahezu auch „völlig überflüssig“. Letztlich müsse unmöglich. Udo Ludwig

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Kinder beginnen sich JUGEND selbst aktiv politische Informationen zu be- Frühe Übung schaffen.“ Die Kumulus-Leute Kinder sollen möglichst früh für trafen mit ihrem „Pro- jekt Juniorwahl“ bei Politik interessiert werden. deutschen Politikern Deshalb dürfen Schüler in Baden- aber zunächst auf Un- Württemberg in einem verständnis. Als sie zur eigenen Wahlakt abstimmen. schleswig-holsteinischen Landtagswahl im ver- emokratische Werte „sollten gerade gangenen Februar die beim Umgang mit Jugendlichen Kieler Parlamentarier Dwirklich ernst genommen werden“, um Unterstützung an- sagt der junge Mann. „Teilhabe an politi- schrieben, erhielten sie schen Prozessen muss von klein auf geübt nicht eine einzige Ant-

werden“, ergänzt sein Freund. „Engage- / MELDEPRESS A. MELDE wort. ment für die Demokratie müsste das Nor- Demokratie-Trainer Müller, Wolff: Engagement als Normalfall Auch in Nordrhein- male sein, nicht die Ausnahme“, bekräfti- Westfalen stießen die gen beide. ford (Kalifornien), Wisconsin und Arizona Demokratie-Trainer auf keine Gegenliebe. Wenn die Berliner Ökonomie-Studen- State, erbrachte erstaunliche Resultate. Er sehe keinen Sinn darin, ein „apoliti- ten Gerald Wolff, 27, und Sascha Müller, 27, Demnach führt die frühe Demokratie- sches, fiktives Projekt“ zu fördern, ant- über ihre Aktivitäten sprechen, klingt das Übung vor allem bei Kindern aus unterpri- wortete der damalige SPD-Fraktionschef ziemlich hochtrabend – ungefähr so, wie vilegierten Schichten zu verstärktem poli- Manfred Dammeyer. Im Übrigen könne sich ein Bundespräsident den aktiven Bür- tischem Interesse und verdoppelt die Häu- man „die Lehrer nicht dienstlich ver- ger in der Zivilgesellschaft vorstellt. figkeit der Lektüre politischer Zeitungen. pflichten, eine Spaßwahl durchzuführen“, Doch Wolff, Müller und ihre Mitstreiter Vor allem aber tragen die Schüler die Poli- erklärte ein Sprecher des Bildungsministe- des Vereins Kumulus e. V. meinen es ernst. tik in ihre Familien. Damit, so meinen die riums. Genervt vom Ausschluss der Jugend aus Forscher, erhielten die Eltern eine „zweite Beim dritten Anlauf, zur Wahl in Ba- dem Politikbetrieb, opfern sie einen großen Chance“ zur politischen Sozialisation. So- den-Württemberg im kommenden März, Teil ihrer Freizeit, um Jugendlichen politi- gar im traditionell wahlmüden Amerika fanden Juniorwahl-Initiatoren Unterstüt- sche Teilhabe zu ermöglichen. So sammel- stieg so die Wahlbeteiligung unter den be- zung bei der Stuttgarter Kultusministerin ten sie vergangenes Jahr bei Berliner troffenen Eltern um bis zu zehn Prozent. Annette Schavan (CDU). Die Ministerin Schülern deren hundert wichtigste „Fra- will zunächst einer repräsentativen Aus- gen an Politiker“ und übergaben sie wahl von Schulen ab der achten Klasse die Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Teilnahme an der Juniorwahl empfehlen. Anschließend organisierten sie Diskussi- Landtagspräsident Peter Straub (CDU) sig- onsrunden mit Thierse in Berliner Schulen nalisierte, dass er – professionelle Organi- und mit Mitarbeitern von Joschka Fischer sation vorausgesetzt – die Schirmherrschaft im Auswärtigen Amt über „Jugend- übernehmen könnte. verdrossenheit der Politik“ sowie „Macht Die Landeszentrale für politische Bil- und Moral“. dung beteiligt sich an der Erarbeitung Mit ihrem jüngsten Projekt wollen Wolff des Unterrichtsmaterials, das per CD an und Müller nun eine bundesweite Demo- alle Schüler verteilt werden soll. Und an- kratie-Aktion auslösen: Bei politischen ders als in den USA soll zudem die Stimm- Wahlen sollte auch für nicht wahlberech- abgabe gleich elektronisch und per Inter- tigte Jugendliche ein paralleles Wahlver- net erfolgen. Die Infrastruktur will die fahren an Schulen eingeführt werden, „Forschungsgruppe Internetwahlen“ des schlagen sie vor. Zwar ändere das nichts am Osnabrücker Informatikers Dieter Otten Wahlausgang. Mit der Vorbereitung im Un- stellen. terricht, so hoffen sie, ließen sich aber ver- Für die anfallenden Kosten, rund eine tieftes politisches Bewusstsein und Kennt- halbe Million Mark, will die Stuttgarter nis demokratischer Abläufe bei jungen Landesregierung mangels Etatposten al- Leuten herbeiführen. lerdings nicht aufkommen. „Ab sofort“, so Das klingt naiver, als es ist. In den USA versprechen Wolff und Müller, werde Ku-

hat ein vergleichbares Projekt erstaunli- AP mulus wie das amerikanische Vorbild bun- chen Erfolg. Die dortige Initiative „Kids Kinder-Wähler in den USA desweit um Sponsoren werben, möglichst Voting“ hat bereits 6000 Schulen mit rund „Die Begeisterung ist enorm“ bis hinein ins Bundespräsidialamt. fünf Millionen Schülern zur Teilnahme ge- Denn die Projekt-Präsentation beginnt wonnen. Mit einem eigens entwickelten Darum sei ein ähnliches Vorhaben stets mit einem Zitat aus der gemeinsamen Unterrichtskonzept prüfen die Lehrer mit auch in Deutschland „unbedingt nütz- Erklärung von Johannes Rau sowie der den Schülern zuvor die Kandidaten und lich und unterstützenswert“, meint der Vorgänger Roman Herzog und Richard von deren Programme. Am Wahltag gehen die Mainzer Wahlforscher Jürgen Falter. Der Weizsäcker aus dem September 1999. „Vor Schüler genau wie die Wahlberechtigten Politikwissenschaftler konnte während allem muss die jüngere Generation“, so in die Wahllokale und geben dort auf ge- eines USA-Aufenthalts den Effekt bei kündeten die ersten Bürger der Republik sonderten Stimmzetteln ihr Votum ab. seinen eigenen Kindern beobachten, die damals, „stärker als bisher von klein auf in Die Begleitforschung, durchgeführt von in Minneapolis am Kids Voting teilnah- demokratische Lebensformen hineinwach- drei Wissenschaftlerteams der Unis Stan- men. „Die Begeisterung war enorm, die sen können.“ Harald Schumann

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Werbeseite Gesellschaft CINETEXT Männermordende Frauen im Film*: Das Leben ohne Macker in den Griff bekommen

nung aufgeschrieben: Der Schriftsteller Joel FRAUEN Rose zieht nach qualvollen Wochen der Un- entschiedenheit zu seiner Lektorin, die, wie er findet, mehr Glamour habe. Das Leiden der Betrogenen Chandernagor und Texier hatten zuvor Romane verfasst. Die autobiografischen Eine neue Art von Bekenntnisbüchern zieht international eine Bekenntnisbücher aber wurden zu ihren größten Erfolgen: „Die erste Frau“ stand große Leserschaft in Bann: Autorinnen, deren Männer auf Platz eins der französischen Bestseller- eine Geliebte haben, beschreiben ihr Eheunglück. Nun präsentiert liste, „Geh weg, ich will dich“ war ein Hit eine Berliner Journalistin das Protokoll eines Liebesverrats. in den USA und wurde in zehn Länder verkauft. ie Frau versteckt sich. Der dichte Das Buch beginnt mit dem Satz: „Mein Dabei sind die Ich-Erzählerinnen das Pony hängt über den Rand ihrer Mann betrügt mich, ich weiß es genau“ – Gegenteil jener patenten Heldinnen, wel- DBrille, deren Gläser die obere Ge- eine Feststellung, so einfach formuliert, che die Frauenliteratur der neunziger Jah- sichtshälfte abdecken. Von den Seiten zie- dass die Zerstörungskraft ihrer Botschaft re zuhauf hervorgebracht hat. Die bekom- hen sich Haarsträhnen wie ein Vorhang zu. darüber fast verloren geht. Doch genau das men das Leben ohne Mann spielend leicht Wenn sie das Kinn in die Hand stützt, ver- macht die Faszination des Textes aus: Er ist in den Griff, notfalls bringen sie die decken ihre Finger den Mund. Dann ist die ein radikales Protokoll von Macker, wie in Ingrid Nolls Frau, die sich Anita Lenz nennt, ganz ver- Eifersucht, Hass, Selbstankla- Kriminalroman „Die Häupter schwunden. ge und dem Versuch, eine fast meiner Lieben“, eben um Anita Lenz ist ihr Künstlername, eine zerrissene Ehe wieder zu- oder ruinieren – wie im Hol- Tarnkappe über ihrer anderen Existenz als sammenzuflicken. lywood-Film „Die Teufelin“ Berliner Journalistin und Sachbuch-Auto- Abrechnungen mit abtrün- – die untreuen Ex-Gatten fi- rin. Wahrscheinlich braucht sie das Gefühl, nigen Männern gelten derzeit nanziell und gesellschaftlich. unsichtbar zu sein, auch wenn es eine auf dem Buchmarkt als Er- Das Leben ist aber nicht so Selbsttäuschung ist – und sie wäre die Ers- folgsgenre. In den letzten Mo- heiter, wie die Fiktion es vor- te, die das zugeben würde. Denn Anita naten sind bereits zwei the- gaukelt, vor allem ist es nicht Lenz, 55, hat mit unerbittlicher Offenheit matisch verblüffend ähnliche so gerecht – und diese Erfah- aufgeschrieben, was sie bei ihrer Recherche Bücher erschienen: In „Die rung teilen offenbar Hun- in sich selbst gefunden hat. erste Frau“ erzählt die Pari- derttausende von Leserinnen „Wer liebt, hat Recht“ lautet der Titel ih- ser Schriftstellerin Françoise mit den betrogenen und ver-

res unlängst erschienenen Romans, der ei- Chandernagor, 55, wie ihr OPALE lassenen Buch-Autorinnen. gentlich eine Autobiografie ist und vom Mann, der sie seit Jahren be- Autorin Chandernagor Die Versprechen der banalsten und dramatischsten Thema han- trügt, sie zum Abendessen in Lautes Jammern Emanzipationsbewegung ha- delt, dem Liebesverrat: Sie entdeckt, dass ein teures Restaurant einlädt. ben sich nicht erfüllt, die se- ihr Mann nicht nur eine Geliebte hat, son- Dort verkündet er ihr, dass er sie nun end- xuelle Befreiung hat vor allem den Män- dern seit kurzem mit dieser auch einen ge- gültig verlassen werde – wegen einer jün- nern das Recht auf Hedonismus verschafft. meinsamen Sohn. geren Frau. Frauen jenseits der Menopause müssen im- Die in New York lebende Französin Ca- mer noch zusehen, wie Männer in der Mid- * „Die Häupter meiner Lieben“ (1999) mit Heike Ma- therine Texier, 53, hat in „Geh weg, ich will life Crisis mit einer Jüngeren ein neues Le- katsch, Andrea Eckert, Christiane Paul. dich“ ihre Geschichte von Betrug und Tren- ben anfangen, mit oder ohne Kinder, aber

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Werbeseite Gesellschaft immer in der Illusion, Alter und Tod noch Michael. Lenz habe ihn „als Liebhaber leben ausschließlich aufs Wochenende ver- mal hinausschieben zu können. Den „Ma- ignoriert“, und deshalb „sei es einfach legen musste. chostolz, mit 55 Jahren noch mitgespielt geschehen“. Sicherlich hat Lenz schon beim Schrei- zu haben“, diagnostiziert Lenz in ihrem Die Betrogene ist von diesem Moment ben mit dem Gedanken gespielt, ihre Sze- Buch und wirft dem untreuen Mann und an zerrissen zwischen dem Wunsch, ihren nen einer Ehe zu veröffentlichen. Als sie Jung-Vater vor: „Du hast mich alt ge- Mann zum Teufel zu jagen, und der Angst, ihrem Verlagslektor gestand, sie könne das macht.“ ihn zu verlieren. Helmut bietet an, seine vereinbarte Sachbuch über einen SS-Hoch- Chandernagors Buch ist voll von lautem Geliebte und den Sohn zu verlassen, und stapler nicht termingerecht abliefern, gab Jammern, Selbstmitleid, Selbstgerechtig- in der gemeinsamen Verzweiflung dient sie ihm stattdessen das Ehe-Protokoll. Er keit und dem unverständlichen Festhalten dem Paar Sex plötzlich als Trost und Ver- las es und schlug sofort vor, daraus ein an einem Mann, der ein Monster zu sein gewisserung, aber auch zur Selbsttäu- Buch zu machen. scheint; und auch Texier erschöpft sich in schung. Denn als Lenz mehr über Helmuts „Mein Mann hat ein Baby bekommen, Vorwürfen, ohne je das eigene Versagen Liebschaft erfährt, wird ihr klar, dass die ich habe eine Kopfgeburt produziert“, sagt zu erkunden. Dagegen gräbt sich Lenz tief Geliebte nicht ungewollt schwanger wurde: Lenz, „es gibt mir meine Selbstachtung in die eigene Psyche und schaufelt hervor, Helmut hatte es darauf angelegt, mehr als und meine Würde zurück.“ Sie wolle kein was in 28 Ehejahren dort vergraben wurde. die Frau sogar. Opfer sein, sondern mit ihrem Mann Lenz hat den Bericht einer gleichziehen, auch wenn sein Kind nach Verlassenen, offenbar angetrie- 18 Jahren immer noch da sei und ihr Buch, ben von Zorn und Enttäu- so prognostiziert sie, bestenfalls in der Bi- schung, innerhalb von nur sie- bliothek verstauben werde. ben Wochen aufgeschrieben, Schon deshalb möchte Lenz, dass „Wer zwischen dem 9. Dezember liebt, hat Recht“ auch als Roman bestehen 1999 und 29. Januar 2000. Ge- kann. Aber so eindringlich das Buch als dacht war er für sie selbst, für Fiktion auch wäre – seine Wucht und Über- ihren Mann und für den ge- zeugungskraft gewinnt es aus dem Exhibi- meinsamen erwachsenen Sohn. tionismus der Autorin und aus der Tatsa- Wahrscheinlich erklärt die che, dass sich der Verrat tatsächlich so ab- Tour de Force, in der „Wer gespielt hat. liebt, hat Recht“ entstand, die Noch vor der Veröffentlichung des irritierende und faszinierende Buchs hatte Iris Berben Interesse ange- Distanzlosigkeit, mit der Lenz meldet, in einer Verfilmung die Haupt- ihre widersprüchlichen Gefüh- rolle zu spielen. Inzwischen hat ihr Sohn le, ihre Liebe und ihre Eifer- Oliver den Stoff für seine Filmproduk-

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. sucht, ihren Selbsthass und ihre tionsfirma gekauft, die Regie wird Matti Autorin Lenz: „Das Buch gibt mir meine Würde zurück“ Selbstgerechtigkeit aufgeschrie- Geschonneck übernehmen. ben hat. Wo so viele Leserinnen und Leser sich Lenz und ihr Mann Helmut, ein Lite- Auch das Pathos, mit dem Lenz ihr Lie- für die Lebenskrise der Mittfünfziger in- raturprofessor, führen eine Fernehe: besdrama beschreibt, ist unzensiert geblie- teressieren, sind auch die Zuschauermas- Sie wohnt bequem mit dem Hund in ben: „Hörst du nicht die Grillen in meiner sen nicht weit. Demnächst geht Iris Berben der großen Berliner Altbauwohnung, er Brust, lauter als alle Zikaden in den Pi- erst einmal mit dem Buch auf Lesereise, reist am Wochenende aus Tübingen an. nien von Marseille“, schreibt sie. Und wei- sie wird es auf CD lesen, und sie wirbt in Seit Jahren geht das so, und sie denkt, er ter: „Helmut hilf mir! Bitte. Bitte. Bleib Anzeigen. sei zufrieden mit der Lösung, weil sie bei mir und lass Frau und Kind im Stich, Lenz selbst will nicht öffentlich auftre- es ist. oder alles ist zu Ende.“ ten. Sie hat vertraglich festgelegt, dass sie Als sie ihn kurz nach einem gemeinsa- Die Schonungslosigkeit, mit der Anita zu keiner Talkshow geht, und Lesungen men Italien-Urlaub anrufen will, ist er nicht Lenz sich betrachtet, wirkt dann fast erlö- kommen für sie höchstens irgendwo in der zu erreichen. Lenz schöpft Verdacht, wühlt send – wenn sie etwa zugibt, ihr Leben Provinz in Frage. „Ich will mein Privat- später in seinen Quittungen herum und lang keinen einzigen Orgasmus gehabt zu leben schützen“, sagt sie. Ihr Buch endet stellt ihn zur Rede. Erst gesteht er der haben. Sie wirft sich auch vor, dass sie die am 1. Januar 2000, „und was danach pas- misstrauischen Ehefrau die halbe, schließ- Bedürfnisse ihres Mannes ignoriert habe: siert ist, bleibt meine Sache“. lich die ganze Wahrheit: Er hat eine 46- nach einer schönen Wohnung, nach den Jedenfalls, solange es ihr gelingt, sich jährige französische Geliebte und mit die- netten Bekannten, die sie in Berlin spontan hinter dem Pseudonym Anita Lenz zu ver- ser seit ein paar Wochen einen Sohn, einladen konnte, während er sein Sozial- stecken. Marianne Wellershoff

BÜCHER ZUM THEMA Anita Lenz: „Wer liebt, hat Françoise Chandernagor: „Die erste Frau“. Catherine Texier: „Geh weg, ich will dich“. Recht“. Verlag Kiepenheuer Piper Verlag, München; 320 Seiten; Droemer Verlag, München; 232 Seiten; & Witsch, Köln; 39,80 Mark. 34,90 Mark. 188 Seiten; 16,90 Mark. Das Paar in diesem autobiografischen 18 Jahre Ehe, zwei Töchter, die Protago- Die Ich-Erzählerin freut Roman führt eine so genannte offene nistin ist glücklich. Doch eines Tages er- sich auf die Geburt eines Beziehung; lange glaubt die Frau, dass klärt ihr Mann mit kühlen Enkelkindes, als sie durch das gut für beide ist. Am Worten, dass er sie nicht Zufall erfährt, dass ihr Ende jedoch muss sie er- mehr liebe – „du hast Mann gerade Vater ge- kennen, dass dieses Modell mich erstklassig ange- worden ist – er hat ein „nur theoretisch funktio- schmiert“, schreibt Texier Kind mit einer anderen. Lenz schildert, niert“. Der Mann ver- in ihrem so wütenden wie wie sich Eifersucht mit einem verzweifel- lässt sie – wegen einer traurigen Bericht. ten Rest Liebe zu dem Betrüger mischt. Jüngeren.

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FOTOS: T. J. MUELLER Kanurennen auf dem Rio Tocantins: „Siegen ist nur euch Weißen wichtig“

WETTKÄMPFE Olympia am Amazonas Geld und Segen für die „Brasilianischen Indianerspiele“ kamen dereinst von Sportminister Pelé. Inzwischen nehmen 31 Stämme an den archaischen Wettbewerben teil. Die Ureinwohner des südamerikanischen Landes bringen den Sport zu seinem Ursprung zurück.

ehn Tage war Binã unterwegs, um schießen sie mit ihren Gift- mit seinem Blasrohr auf eine weiß pfeilen Affen und Faultiere Zangestrichene Melone zu schießen. aus den Baumkronen. Aber Eine Woche dauerte die Flussfahrt mit Mo- eine Melone? Binã ist sicht- torboot und Kanu von seinem Heimatdorf lich irritiert. tief im Urwald an der Grenze zu Peru. Drei Er sieht sich schüchtern Mal musste er das Flugzeug wechseln, bis um, setzt das Rohr an den er endlich in der sandigen Arena von Ma- Mund und pustet. Der Pfeil rabá steht, einer Goldgräber- und Händ- geht im Sand nieder. „Das lerstadt im Süden des Amazonasbeckens. war nur zur Übung“, dröhnt Jetzt hat er Lampenfieber. der Ansager über Mikrofon. 5000 Zuschauer feuern ihn an, johlen, Stadion, Athletendorf: 19 verschiedene Sprachen Nach drei Schüssen gelingt klatschen in die Hände. Nervös peilt Binã Binã der erste Treffer. Zum mit seinem etwa drei Meter langen Blas- 1000 km Glück haben die Matís kei- rohr die Frucht an, die wie ein großer VENEZUELA ne Konkurrenz, sie sind als Mond an einem Holzgerüst baumelt. Binã Atlantik Einzige mit dem Blasrohr ist Kazike, also Häuptling, des Indianer- KOLUMBIEN gekommen. Die Ehre ist ge- stammes Matís. Da schießt man besser Marabá rettet. nicht daneben. ECUADOR Amazonas „Dabei sein ist alles“, Zumal die Matís als Meister im Umgang bemüht Carlos Terena eine Manaus mit der Zarabatana gelten, dem Blasrohr Manaus überkommene olympische PERU Tocantins aus Bambus. Bis auf 30 Meter Entfernung BRASILIEN Formel. „Siegen ist nur 218 Matís-Indianer beim Blasrohrschießen: Eine Melone statt eines Affen als Ziel euch Weißen wichtig.“ Der dicke Kazike Pelé, der damals Sportminister war, gab Jahren fünf Millionen Menschen umfasst vom Stamm der Terena ist Chef der das Geld, umgerechnet rund 800000 Mark, haben soll, einen Sonderstatus: Kein Wei- „Dritten brasilianischen Indianerspiele“. und den Indianern freie Hand für die ßer darf einen Indio verurteilen, Indianer Das ist der offizielle Name, im Volk sind Organisation. „Pelé hat als Schwarzer haben ihre eigene Gerichtsbarkeit. die Spiele als „Indio-Olympiade“ be- Sinn für ethnische Minderheiten“, sagt Und im vergangenen Oktober auch ihr kannt. Terena. drittes Olympia. Auf einer Insel im breiten 631 Vertreter von 31 ver- Rio Tocantins haben die schiedenen Stämmen sind Veranstalter die Arena und nach Marabá gereist. Eine das olympische Dorf er- Woche lang messen sie sich richtet. Der Strand flim- in Sportarten wie Kanufah- mert in der gleißenden ren und Bogenschießen, Sonne; dennoch setzen Lanzenwurf und Tauziehen. Tausende Zuschauer von Zu den exotischeren Diszi- Marabá über. plinen zählt der 500-Meter- Auf dem Eiland gibt es Staffellauf mit einem hun- kein Bier; das nationale Ge- dert Kilo schweren Baum- setz, wonach Alkoholaus- stamm und das Kampfrin- schank an Indianer verbo- gen, Uka-Uka genannt. ten ist, gilt auch während Aus allen Ecken des Rie- der sieben Wettkampftage. senlandes sind sie gekom- Trotzdem ist die Stimmung men, mit Bussen und Flug- im olympischen Dorf aus- zeugen, Kanus und Fluss- gelassen. In 13 Malocas, dampfern, zu Fuß und mit palmgedeckten Langhäu- dem Auto. Viele haben ihre sern, haben die Indianer Frauen und Kinder mitge- ihre Hängematten aufge- bracht. Die schwierigste An- spannt. Die Schlafräume reise hatten die Wai-Wai aus Häuptling, Sportlerin: Kontakte über Stammesgrenzen hinaus traditionell verfeindeter dem Norden des Bundes- Stämme sind sorgfältig ge- staates Pará. 86 Stromschnellen mussten 300000 Indios leben in Brasilien, über- trennt. „Xavante und Karajá in einer Hüt- sie mit ihren Kanus überwinden. Aber die wiegend in abgeschiedenen Reservaten. te – das gibt Zoff“, sagt Terena. Noch vor Gaudi wollten sie sich auf keinen Fall ent- Wer sie als Weißer besuchen will, muss einigen Jahren haben sich die beiden Krie- gehen lassen. sich eine Genehmigung bei der Funai, der gervölker bis aufs Blut bekämpft. Vor vier Jahren richtete Brasiliens Re- Indianerbehörde, besorgen. In der Lan- Wie unlängst in Sydney herrscht auch gierung die ersten Indianerspiele aus. Car- desverfassung genießt die Ur-Bevölkerung, im olympischen Dorf von Marabá ein los Terena hatte die Idee; Fußballkönig die bei der Landung der Europäer vor 500 buntes Sprachengewirr. Mit seinem Hän-

der spiegel 45/2000 219 Sport gemattennachbarn vom mit Verspätung, beim Stamm der Kaiowá kann Schwimmen im seichten Binã sich nicht verstän- Fluss haben sie Grund digen. 19 verschiede- unter den Füßen, und ne Sprachen schwirren beim Kanu-Rennen ken- durch die Hütten, nur tern mehrere Einbäume wenige Kaziken reden gleich nach dem Start. portugiesisch. Das hat Erst beim Fußball er- zuweilen skurrile Folgen: wacht der Kampfgeist. Bei der vorigen Olym- Bei den morgendlichen piade rannte eine Läufe- Turnieren bolzen und rin unbeirrt weiter, als sie dribbeln Männer und die Ziellinie erreicht hat- Frauen wie Profis. Die

te. Sie hatte nicht ver- MUELLER J. T. FOTOS: unbequemen Stollen- standen, dass es sich nur Ringkampf schuhe streifen viele In- um einen 100-Meter-Lauf dianerinnen nach weni- handelte. gen Minuten wieder ab. Indes, beim Flirten Zum Endspiel, dem brauchen die Indianer kei- Amazonas-Klassiker Xa- nen Dolmetscher. Wenn vante gegen Terena, das es dämmert, schlägt sich im städtischen Stadion der Xikrim-Jüngling mit von Marabá ausgetragen der Erikbaksa-Schönheit wird, scheint die ganze in die Büsche, der Xa- Stadt auf den Beinen. vante-Mann turtelt fröh- Nur die Matís bleiben auf lich mit der Munduru- der Insel in ihrer Hütte. ku-Frau. Angeregt vom Erst vor 15 Jahren haben libertären Ambiente, tät- sie Kontakt zu Weißen schelt ein Häuptling vom bekommen, das brasilia- Stamme der Xingú unge- nische Fußballfieber hat niert den Po einer hüb- Tauziehen sie noch nicht angesteckt. schen Sportstudentin aus So nehmen Binã und Marabá – was der Dame seine vier Stammesge- jedoch zu weit geht. Sie nossen bei der Indio- schiebt die Hand beiseite. Olympiade jene Exoten- Genau genommen ist rolle ein, die Eric Mous- Marabá eine Hochburg sambani, der Schwimmer von Indianerfeinden: aus Äquatorialguinea, bei Goldsucher, Rinderzüch- den richtigen Olympi- ter und Holzhändler ha- schen Spielen in Sydney ben in dieser Gegend erst innehatte. Denn sportlich den Urwald vernichtet geriet der Auftritt der und dann seine Bewoh- fünf Matís zum Desaster: ner verscheucht. Die Luft Beim Bogenschießen, ne- ist schwer und diesig vom ben der Blasrohrvor- Rauch der Brandrodun- führung der einzige gen. „Wir tragen die Abschlussfeier Wettbewerb, an dem sie Spiele hier nur aus, weil Indianerspiele in Marabá teilgenommen hatten, wir eine Insel für uns ha- Alkoholausschank verboten landeten sie auf dem vor- ben“, sagt Terena. letzten Platz. Entsprechend verwandelt sich das Doch Binã ficht das nicht an. Sein Blas- Gelände am Abend in einen riesigen Fol- rohr hat er für 200 brasilianische Reais ver- kloremarkt, auf dem die Indianer ihr kauft, auch seine Ohrringe und die Kette Kunsthandwerk anbieten. Für einen brasi- aus Affenzähnen hat er versetzt. Standhaft lianischen Real bemalen sie den Bleichge- erwehrt er sich jetzt einer Touristin aus sichtern die Wangen. Als die Naturschutz- São Paulo, die ihm noch den letzten Arm- behörde den Verkauf von Federschmuck reifen abschwatzen will. „Der ist heilig“, verbieten will, weil dafür seltene Papagei- sagt er in gebrochenem Portugiesisch. en gerupft werden, rufen die Kaziken zum „Den verkaufe ich nicht.“ Protest auf. „Meine Familie lebt von den Was ihm bei den Spielen am besten ge- Federn“, entrüstet sich Muxí, Häuptling fallen hat? „Der Strand und die Mädchen“, der Tembé. deshalb will er beim nächsten Mal in zwei Auch am Tage stehen die Wettkämpfe Jahren wieder dabei sein. Doch jetzt reiche in bemerkenswertem Kontrast zum pro- es, ihn zieht es zurück zu seinen zwei Frau- fessionellen, kommerziell entarteten Sport en und fünf Kindern in den Dschungel. der Ersten Welt: Leibesübungen sind Denn in einem seien sich alle Indianer auf der Insel zweckfreies Tun, eine Neben- einig, versichert Muxi, der weise Häuptling sache mit hohem Vergnügungsfaktor. der Tembé: „Am schönsten ist es, wenn Zum Tauziehen erscheinen viele Krieger wir unter uns sind.“ Jens Glüsing

220 der spiegel 45/2000 Werbeseite

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SPIEGEL: Was haben Sie bemängelt an ihrem Spiel? TENNIS van Harpen: Drei Aspekte: ihre mangelnde Konzentrationsfähigkeit, ihre Ungeduld bei langen Ballwechseln und ihre Ignoranz ge- „Wie eine kleine Königin“ genüber meinen taktischen Anweisungen. SPIEGEL: Hätte sie gern einen Trainer, der nach ihrer Pfeife tanzt? Der Erfolgstrainer Eric van Harpen über das Scheitern van Harpen: Mag sein. Aber was bringt ihr seiner Zusammenarbeit mit Anna Kurnikowa, den Neid zwischen das? Anna hat kürzlich im Finale von Mos- den Spielerinnen und die Sonderbehandlung der Stars kau gegen Martina Hingis 3:6, 1:6 verloren. Sie schlug 21 Winner, Hingis nur Van Harpen, 56, führte die Spa- 15. Bei den unerzwungenen Feh- nierin Conchita Martinez und lern sah die Quote so aus: Anna die Schweizerin Patty Schnyder hatte 44, Hingis 11. Das ist ty- in die Weltspitze, ehe er 1999 pisch. Es war doch klar, dass wir Coach der Russin Anna Kurni- daran arbeiten mussten. Der Ri- kowa wurde. In den sechziger sikofaktor in ihrem Spiel ist viel Jahren stand der Holländer als zu groß. Anna ist zu hektisch. Fußballprofi im Tor von Rot- Spielerinnen, die einen Ball- Weiß Oberhausen. wechsel so schnell beenden wol- len wie sie, haben etwas zu ver- SPIEGEL: Herr van Harpen, als bergen. Sie wissen, dass ihr Re- Trainer von Anna Kurnikowa hat- pertoire nicht ausreicht, um für ten Sie bis vor kurzem einen der alle Situationen die passende begehrtesten Jobs im internatio- Antwort zu haben. nalen Frauentennis. Dennoch ha- SPIEGEL: Ist auch ihre Dauerprä- ben Sie gekündigt. Was hat Sie an senz in der Öffentlichkeit ein einer längeren Zusammenarbeit Grund dafür, dass sie sich ihre mit der russischen Spielerin ge- Defizite nicht mehr eingesteht? hindert? van Harpen: Das war auch für van Harpen: Als ich vorigen Herbst mich eine neue Erfahrung. Wo anfing, mit Anna Kurnikowa zu wir hinkamen: Mindestens 25 arbeiten, dachte ich, es sei eine Journalisten waren vor Ort. Ich reizvolle Aufgabe, sie in die Top bin einer, der beim Training gern Five zu bringen. Aber ich musste mal einen lockeren Spruch los- einsehen, dass ich meine Pläne lässt: „Verdammt noch mal, jetzt mit ihr nicht verwirklichen konn- beweg endlich deinen Hintern!“, te. Wir haben grundverschiedene oder so etwas. Das musste ich mir Ansichten über den Begriff Pro- verkneifen, weil ich nicht die fessionalität. Schlagzeilen für den nächsten Tag SPIEGEL: Sie werfen Kurnikowa liefern wollte. Ich hätte nichts als eine zu lasche Einstellung vor? Probleme mit Kurnikowas Ma-

van Harpen: Ich halte ihr vor, dass M. BAZ nagement gehabt. Also habe ich sie nicht diszipliniert genug an Glamourgirl Kurnikowa: „Opfer des eigenen Marketings“ gegen mein Naturell gearbeitet, sich arbeitet. Sie hat das Talent, und das geht auf Dauer nicht gut. um unter die ersten fünf zu kommen und SPIEGEL: Und Sie waren der Böse, weil Sie SPIEGEL: Keine Spielerin wird so hem- auf lange Sicht in der Weltspitze zu blei- auf ihren Schwächen herumgeritten sind? mungslos vermarktet wie Kurnikowa: PR- ben. Doch sie setzt nicht alles dafür ein. van Harpen: Ein Mädchen wie Anna steht Termine, Foto-Shootings, Schauturniere Manchmal habe ich mich gefragt: Will sie vor einer paradoxen Situation. Sie nimmt rund um den Globus. Über 90 Prozent der überhaupt ganz nach oben kommen? an manchem Tag mehr Geld ein als ihr etwa 14 Millionen Dollar, die sie pro Jahr SPIEGEL: Wie hat sich das gezeigt? Trainer im ganzen Jahr, und dennoch muss verdient, erhält sie aus Werbeverträgen. Hat van Harpen: Ihr bestes Ranking bisher war sie täglich die Einsicht aufbringen, seinen sie überhaupt noch Zeit fürs Training? Platz neun. Da habe ich von ihr erwartet, Anweisungen auf dem Platz zu folgen. van Harpen: Der Aufwand, den sie für ihre dass sie mich anspornt: Auf geht’s, Coach, Dazu gehört eine gewisse Reife. Anna Kampagnen betreibt, führt natürlich zu In- jetzt sind wir dran, niemand verdrängt uns war noch nicht so weit. Sie ist lau- mehr aus den Top Ten! Aber es kam nichts. nisch. Wenn es nicht so läuft, wie SPIEGEL: Erklärt sich Kurnikowas mangeln- sie sich das vorstellt, wird sie des Engagement auch dadurch, dass die 19- trotzig. Jährige hofiert wird wie kaum eine andere SPIEGEL: Wie haben Sie dann rea- im Circuit, obwohl sie bis vorige Woche giert? noch kein Profiturnier gewonnen hatte? van Harpen: Mich hat das fast zum van Harpen: Anna bekommt hier eine Li- Wahnsinn getrieben, und ich habe mousine, da ein Paar Diamant-Ohrringe, gerätselt: Warum heuert sie mich dort ein Haus. Überall wird sie behandelt an, wenn sie das Gegenteil dessen

wie eine kleine Königin. Ein Wort ist ihr tut, was ich von ihr verlange? / BONGARTS A. HASSENSTEIN deshalb fremd: Disziplin. Denn eine kleine Königin tut nur das, worauf sie Lust hat. Tennisprofi Kurnikowa, van Harpen Genau so hat Anna oft auch gespielt. „Danke schön, das war’s“

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Werbeseite teressenkonflikten mit ihrer sportlichen SPIEGEL: Dennoch: Auch die Trainingsfaul- Entwicklung. Sie ist das Opfer ihres eige- heit der Schweizerin ist legendär. nen, perfekten Marketings. van Harpen: Das hat sich gebessert. Es SPIEGEL: Wann haben Sie erkannt: Es ist stimmt: Lange hat sie nur von der Leich- vorbei mit Anna Kurnikowa? tigkeit ihres Spiels gelebt. Jetzt ist sie ge- van Harpen: Bei einem Training in den zwungen, härter an sich zu arbeiten. Sonst USA. Ich hatte ihr schon öfter im Affekt könnte sie mit dem Power-Tennis der jun- gesagt: Mir reicht’s. Dann war es eine Sa- gen Generation nicht mehr mithalten. che von drei Sekunden. Ich habe ihr die SPIEGEL: Gehört muskelbepackten Spiele- Bälle in die Hand gedrückt und gesagt: rinnen wie den Williams-Schwestern die thanks a lot, I’m gone – danke schön, das Zukunft? war’s. Sie ist in die eine Richtung geflogen, van Harpen: Es wird kein neues Tennis mehr zu einem Turnier nach Stanford, ich in die geben. Die Technik ist bei allen Schlägen andere, zurück auf meine Finca nach Mall- ausgereizt, und auch beim Material der orca. Wir haben keinen Satz mehr darüber Rackets ist keine Revolution in Sicht. Was verloren. Später habe ich ihren Manager bleibt? Körperkraft, Athletik. Bisher ist nie- Phil de Picciotto angerufen. Dem habe ich mand so weit gegangen wie Venus und Se- nur gesagt: Tut mir leid, aber es hat keinen rena Williams. Sinn. SPIEGEL: In der Branche wird das Auftreten SPIEGEL: Seither wird Anna Kurnikowa von des Williams-Clans argwöhnisch beäugt. ihrer Mutter trainiert. Reicht das aus, um van Harpen: Das liegt vermutlich daran, dass mit den Top-Spielerinnen mitzuhalten? nur Farbige dazugehören. Vater Richard, van Harpen: Anna muss schon sehr viel Los- Mutter Oracene, der Rechtsanwalt, der glück haben, wenn sie mal ein Turnier ge- Physiotherapeut, die persönlichen Freunde, winnen will. Beim Masters kommende Wo- die Welt der Williams ist eine Welt für sich. che in New York wird sie voraussichtlich Für die USA, ihre Heimat, sind sie ein nicht gesetzt sein. Also wird sie gleich auf Glücksfall: zwei Schwestern, die aus dem eine der Favoritinnen treffen. Es wäre eine Ghetto kommen und nun die Szene be- Sensation, wenn Anna da weiterkommt. herrschen. Interessanterweise hat mir Va- SPIEGEL: Kurnikowas Konkurrentinnen be- ter Williams vor anderthalb Jahren ange- klagen, sie werde trotz ihrer Erfolglosig- boten, Venus und Serena zu trainieren. keit bevorzugt behandelt. SPIEGEL: Warum haben Sie nicht zugesagt?

van Harpen: So ist eben das Geschäft. Mehr- AFP / DPA van Harpen: Ich verstehe mich gut mit Ri- mals im Jahr treffen sich die Turnierdirek- Tennis-Schwestern Venus, Serena Williams chard Williams, doch ich wäre der einzige toren und erstellen Listen der beliebtesten „Eine Welt für sich“ Weiße in ihrer engsten Umgebung gewe- Spielerinnen: für Europa, für die USA, für sen. Das erschien mir zu brisant. In der Asien. Kurnikowa steht auf diesen Listen Amélie Mauresmo, sie sei ein halber Mann. Mediengesellschaft wäre schon aus Grün- der Privilegierten ganz oben. Sie anerkennt nie, wenn ihre Gegnerin bes- den der Political Correctness jedes Wort SPIEGEL: Die französische Weltklassespie- ser war. Jennifer Capriati hat in Zürich der von mir auf die Goldwaage gelegt worden. lerin Nathalie Tauziat hat in ihrem Buch Russin Lina Krasnorutskaja nach dem SPIEGEL: Trauen Sie Venus zu, dass sie das „Les dessous du tennis féminin“ diesen Matchball den Handschlag verweigert, weil Frauentennis über Jahre so beherrschen Trend kritisiert: Nur noch die Show zähle. die sich nach Capriatis Doppelfehlern laut- wird wie einst Steffi Graf? van Harpen: Für Tauziat, die in der Welt- stark angefeuert hatte. Und wenn Kurni- van Harpen: Sie ist die derzeit beste Spiele- rangliste vor Kurnikowa steht, ist das un- kowa verliert, dann sitzen die anderen in rin, aber auf lange Sicht? Fast ausgeschlos- gerecht. Sie weiß aber auch, wie wichtig der Kabine vor dem Fernseher und johlen. sen. Venus ist verletzungsanfällig. Außer- Anna als Zugpferd ist. Andererseits: Ist es SPIEGEL: Was unterscheidet Spielerinnen dem haben alle ambitionierten Spielerinnen gerecht, dass Kurnikowa bei einem Schau- wie Hingis, Venus Williams oder Lindsay erkannt, dass körperliche Fitness eine turnier in einer Stunde mehr verdient als Davenport von Kurnikowa? Grundvoraussetzung ist. Graf war eine Pio- ihr Trainer in einem ganzen Jahr? van Harpen: In den wichtigen Momenten nierin. Sie hat dem Begriff Professionalität SPIEGEL: Sie fühlten sich unterbezahlt? eines Matches spielen die nur Bälle, die sie eine neue Dimension verliehen. Und sie van Harpen: Nein, ich bin sehr großzü- beherrschen. Hingis ist in vielem überle- hat in den schwierigsten Situationen ihr gig von der Familie behandelt worden. Aber gen. Ihre größte Stärke ist ihr perfekt ge- bestes Tennis gespielt. Bei ihr gab es keinen ich habe ihr mal einen Vorschlag gemacht: schultes Auge. Sie erkennt sofort, wenn Unterschied zwischen Training und Match. Ich arbeite 363 Tage im Jahr umsonst für ihre Gegnerin eine Ecke des Spielfelds SPIEGEL: Venus Williams donnert den Ball dich, und zwei Tage arbeitest du für mich. nicht abdeckt – und dort landet dann der bei ihrem Aufschlag mit mehr als 200 Stun- SPIEGEL: Was hat sie geantwortet? Ball. denkilometern übers Netz – härter als man- van Harpen: Sie hat gelacht. Und cher Mann. Hätte sie eine dann hat sie mir einen Vogel ge- Chance gegen einen Top-Ten- zeigt. Spieler? SPIEGEL: Schürt der PR-Wert der van Harpen: Mit der Dynamik Kurnikowa den Neid zwischen bei den Männern hat Frauen- den Spielerinnen? tennis nichts zu tun. Es gibt van Harpen: Die Spielerinnen gön- kaum eine Sportart, in der der nen sich generell kaum etwas. Unterschied zwischen den Ge- Ihre Rivalität tragen sie öffentlich schlechtern so groß ist. Williams

aus. Martina Hingis sagt von PRESS / ACTION PRIOR / ALLSPORT GARY kann gegen Andre Agassi spie- len, bis ihr ein Bart wächst – sie Weltranglisten-Erste Hingis wird kein Spiel gewinnen. „Perfekt geschultes Auge“ Interview: Michael Wulzinger 227 Werbeseite

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tag voriger Woche landeten dort acht Passagiermaschinen. Sie brachten vor allem Gäste einer Messe, auf der mehr als 1500 Fir- men aus 45 Ländern vertreten sind, darunter namhafte Kon- zerne wie der Autohersteller Peugeot Citroën. 14 arabische Länder schickten sogar Minister in den bislang geächteten Irak, der sich weiter aus der Isolation löst: Noch in diesem Monat sol- len der Linienflugverkehr mit Moskau aufgenommen und die seit 18 Jahren geschlossene Pipe- line-Verbindung mit Syrien wie- der geöffnet werden. Der Irak fördert täglich 2,4 Millionen Bar- rel und ist damit der sechst-

AFP / DPA größte Erdölproduzent der Welt. Internationale Messe in Bagdad Beim derzeitigen Preis von über 30 Dollar pro Barrel bedeutet die IRAK Umstellung der Zahlungsweise, dass die Nachfrage nach der Ge- meinschaftswährung im Monat Boykottfront zerfällt um annähernd 1,8 Milliarden Euro steigen wird. Vorhaltungen it der Entscheidung, Ölexporte nicht mehr in der „Feind- aus Washington kontern die

Mwährung“ Dollar, sondern künftig nur noch in Euro DPA europäischen Boykottbrecher abzurechnen, bedankt sich Saddam Hussein für die zuneh- Saddam Hussein mit dem Hinweis auf die Praxis mende Bereitschaft, die 1990 wegen des Überfalls auf Kuweit etlicher US-Unternehmen: Über verhängten Uno-Sanktionen gegen sein Land zu brechen. So europäische Tochtergesellschaften und Joint Ventures profitie- haben in den vergangenen sechs Wochen internationale Flug- ren auch amerikanische Firmen – wie die Ölförderausrüster gesellschaften über 40-mal Bagdad angeflogen, allein am Diens- Halliburton und Baker Hughes – vom Geschäft mit Saddam.

KANADA sich landesweit profilieren kann. Day, schuhfahrer mit Helm und Knieschutz. 50, ist seit Sommer Chef der rechtskon- Inzwischen beweisen Umfragen, dass Vabanque-Spiel servativen Allianz-Partei. Der frühere sich Chrétiens Vabanque-Spiel nicht Hilfspastor soll nicht nur die kleinbür- auszahlen könnte. Zwar traut niemand um die Macht gerlichen Stammwähler der Allianz im dem Newcomer einen Wahlsieg zu, westkanadischen „Bibel-Gürtel“ bei der doch sein voraussichtlich gutes Ab- hne Not hat sich Regierungschef Stange halten, sondern vor allem neue schneiden könnte eine Minderheitsre- OJean Chrétien, 66, möglicherweise Anhänger in den Städten des Ostens ge- gierung der Liberalen erzwingen. Das in eine Sackgasse manövriert. Der Fran- winnen. Statt über seine kontroversen wäre nicht nur das politische Ende für kokanadier, unter anderem Minister in Ansichten zu Todesstrafe und Abtrei- den Ministerpräsidenten, sondern wür- der Regierung des kürzlich verstorbe- bung zu diskutieren, verhöhnt Day das de auch das Land wieder in Unsicher- nen Ex-Premiers Trudeau und seit sie- „müde“ Regierungslager und führt sich heit stürzen. Denn die drittgrößte Partei ben Jahren selbst mit absoluter Mehr- auf wie ein kanadischer Möllemann: im Parlament besteht aus Québecer Se- heit regierender liberaler Ministerpräsi- Mal zeigt er sich als Pilot, mal als Roll- paratisten, die Kanada spalten wollen. dent, hat für den 27. No- vember Parlamentswahlen angesetzt – 20 Monate vor Ablauf seines Mandats. Chrétiens Begründung: Er müsse „liberale Werte“ verteidigen. In Wahrheit will der gewiefte Politiker seinem Herausforderer Stockwell Day rechtzeitig den Weg zur Macht

blockieren – bevor dieser AP FOTOS:

Herausforderer Day, Ehefrau, Premier Chrétien Panorama

NAHOST bracht werden. Solche Gefühle können Sie nicht wie einen Lichtschalter ausknipsen. „Verschiedene Sprachen, Wir brauchen dringend einige Tage ohne Beerdigungen. verschiedene Ohren“ SPIEGEL: Die Toten sind vor allem Palästi- nenser, die von der israelischen Armee er- Friedensnobelpreisträger Schimon Peres, schossen wurden. Auch international wird 77, über den Versuch, die Gewalt in den Ihnen unverhältnismäßig gewaltsames Palästinensergebieten aufzuhalten Vorgehen angelastet. Peres: Selbst wenn man von exzessiver SPIEGEL: Auch nach dem Waffenstillstand, Gewalt spricht, wir haben nie angegriffen. den Sie mit Palästinenserpräsident Arafat Ohne die Attacken hätte die Armee nicht ausgehandelt haben, ging die Gewalt wei- zurückschlagen müssen. ter – am Donnerstag der Bombenanschlag SPIEGEL: Kann Ihre Vereinbarung mit Ara- im jüdischen Westteil von Jerusalem, am fat wirklich den Durchbruch bringen? Freitag neue Zusammenstöße. Hält sich Peres: Lassen Sie es mich so sagen: Ohne Arafat nicht an das Wort, das er Ihnen die Verständigung von Gaza-Stadt stün- gab? den wir vor einem vollständigen Schei- Peres: Uns war von Anfang an klar, dass tern, einem totalen Verlust der Kontrolle, wir ein paar Tage brauchen werden, um vor noch mehr Toten, noch mehr Wut und die Spirale der Gewalt zu durch- Gewalt. Mit dem Waffenstill- brechen. Aber ich sehe den Ver- stand haben wir eine Chance such auf der palästinensischen von 50 bis 60 Prozent, aus dem Sprengstoffanschlag in Jerusalem am vorigen Seite, die Ausschreitungen in Teufelskreis auszubrechen. den Griff zu kriegen. Das ist ein SPIEGEL: Vertrauen Sie Arafat chen Welten wir leben. Auf beiden Seiten Schritt in die richtige Richtung. noch? ist die Wahrnehmung hochgradig verstellt SPIEGEL: Wie lange soll das täg- Peres: Wir haben uns Arafat durch Furcht, Misstrauen und Gerüchte. liche Blutvergießen denn noch nicht ausgesucht, er repräsen- SPIEGEL: Hat Arafat Ihnen das Gefühl ver- weitergehen? tiert sein Volk. Als ich am Mitt- mittelt, er wolle am Friedensprozess fest- Peres: Auf beiden Seiten sind wochabend über die Grenze in halten? Mitglieder der Autonomiebehörde

tiefe Emotionen im Spiel, die AFP / DPA den Gaza-Streifen fuhr, wurde erklärten noch am Freitag, die Intifada ge- mit Waffen zum Ausdruck ge- Peres mir klar, in welch unterschiedli- gen Israel gehe weiter.

UGANDA JUGOSLAWIEN Killer aus den Tropen Gold in die Schweiz un droht die Ebola-Seuche, die seit ihrem Ausbruch vor er am 5. Oktober in einem Volksauf- Nzwei Monaten mindestens 84 Menschen in Nord-Uganda Dstand entmachtete ehemalige jugosla- dahingerafft hat, auch auf den Süden des Landes überzugreifen. wische Präsident Milo∆eviƒ sowie seine Während alle bisher registrierten 267 Ebola-Infizierten aus der Anhänger versuchen offenbar, letzte finan- Region Gulu stammten, starb am vergangenen Donnerstag ein zielle Pfründen aus dem Land zu schleu- Armeeangehöriger im 425 Kilometer sen. Dabei werden westliche Staaten ge- entfernten Mbarara an der Seuche. Der nutzt. Während etwa die Schweiz offiziell

Soldat war in Gulu stationiert gewesen bei der Suche nach heimlichen Devisen- DPA und offensichtlich bereits erkrankt, be- konten der jugoslawischen Linken Auf- Milo∆eviƒ vor er sich auf die Reise machte. Die klärungsarbeit zusichert, soll Gerüchten Wirtstiere der Ebola-Erreger verbergen zufolge die Fluggesellschaft Swissair regelmäßig Pakete mit sich tief im tropischen Regenwald. So- Gold, Edelsteinen und Devisen in die Schweiz befördern. So lange ihr Verbreitungsgebiet unberührt wurden am 26. Oktober zwei Pakete von insgesamt 59 Kilo- bleibt, stellen sie keine Gefahr für den gramm Gold aus dem Bergwerk Bor, Versand-Nr. 5161/B- Menschen dar. Doch das Urbarmachen 300, Spediteur Jugosped, unter dem Ausfuhrnamen „Sartid des Dschungels sowie Flüchtlings- und Smederevo“ in die Container der Swissair auf der Parkposi- Touristenströme schleppen immer tion C1 geladen und – wie die chiffrierte Depesche (Nr. mehr bisher unbekannte Erreger in die 5887) des Flughafens an die Auftraggeber lautet – „im letz- besiedelte Welt ein. Da das menschli- ten Gepäckabschnitt abgestellt“. Die Swissair habe pünktlich che Immunsystem nicht auf die Killer um 15.05 Uhr den Flughafen verlassen. Unterschrift: Major aus den Tropen eingestellt ist, breiten Zoran Pekoviƒ. Der Belgrader Flughafen wird nach wie vor sich die Keime oft epidemieartig aus. von Polizeioffizieren kontrolliert, die dem Milo∆eviƒ-Regime Trotz des jüngsten Todesfalls wollen nahe standen. Um die Plünderung der letzten Goldreserven

AP Ugandas Behörden keine Reisebe- aus dem Bergwerk Bor zu stoppen und ihre weitere Verar- Beerdigung eines schränkungen für das Seuchengebiet beitung zu verhindern, legten vergangene Woche Oppositi- Ebola-Opfers verhängen. onsanhänger das Förderband lahm.

232 der spiegel 45/2000 Ausland

Autonomiebehörde zu, weil sie in den ver- elis und Palästinenser sprechen in ver- gangenen Wochen mutmaßliche islamisti- schiedenen Sprachen für verschiedene sche Terroristen freiließ. Ohren. Peres: Arafat muss die Hamas und den SPIEGEL: Welche Hoffnungen verbinden Islamischen Dschihad bekämpfen, und das Sie mit der Rückkehr an den Verhand- hat er in der Vergangenheit auch schon lungstisch? Schon vor dem Ausbruch der getan. Denn Terroranschläge schaden auch Gewalt steckte der Friedensprozess in der ihm. Sackgasse. SPIEGEL: Haben Sie die Hoffnung, an den Peres: Zunächst müssen wir verwirk- Verhandlungstisch zurückzukehren? lichen, worüber wir uns einig sind. Da- Peres: Arafat hat mir versichert, er sei – bei halten wir an den Kompromissvor- wie Barak – bereit, im Anschluss an die schlägen von Camp David fest. Die Men- US-Wahlen nach Washington zu fahren. schen müssen sehen, dass es vorangeht. Das heißt für mich, er will wieder ver- Dann nehmen wir uns die strittigen Punk- handeln. Gespräche in Washington könn- te vor … ten die Grundlage legen für eine Erneue- SPIEGEL: … Jerusalem und die Frage der rung des Friedensprozesses. Souveränität über den Tempelberg. Kann SPIEGEL: Warum sind Sie so optimistisch, es da eine Lösung geben? wenn Arafat schon seine Zusage nicht ein- Peres: Es gibt schon 20 neue Ideen, wie gehalten hat, zusammen mit Barak einen man sich einigen könnte. gleich lautenden Aufruf zum SPIEGEL: Glauben Sie an einen

REUTERS Ende der Gewalt zu verkünden. Durchbruch noch während der Donnerstag Peres: Er hat einen Appell ver- auslaufenden Amtszeit von US- öffentlicht, allerdings mit ei- Präsident Bill Clinton? Peres: Wir werden uns sehr genau anse- nem anderen Text als verein- Peres: Wir dürfen uns nicht un- hen, was die palästinensische Führung un- bart. Ich war zuerst überrascht. ter zu großen Druck setzen las- ternimmt. Gibt es neue Gewalt, müssen Aber als ich mir seine Erklärung sen. Wenn einige Fragen mehr wir auch die Gründe dafür untersuchen. dann ansah, konnte ich verste- Zeit brauchen, müssen wir sie Die Autobombe in Jerusalem war kein Akt hen, dass er unter bestimmten uns nehmen. Wenn wir alles in der palästinensischen Führung. Zwängen steht. Er kann sein einem einzigen Sprung lösen

SPIEGEL: Premierminister Ehud Barak wies Volk, das auf die Straße geht, DPA wollen, laufen wir Gefahr, uns die Verantwortung dafür gleichwohl der nicht vor den Kopf stoßen. Isra- Arafat das Genick zu brechen.

GROSSBRITANNIEN RUSSLAND Bobbies bewaffnen sich Offensive im Eis chutzpolizisten in Nottingham haben mit der bewährten Tradi- olitiker im Kreml möchten die Zone der russischen Ho- Stion gebrochen, dass Bobbies in der Regel nur mit einem Pheitsgewässer in der Arktis auf fast das Doppelte aus- Knüppel und Handschellen auf Streife gehen. Da in Nottingham dehnen – von 200 auf 350 Meilen. Iwan Glumow, Vize- nicht mehr der edle Robin Hood mit Pfeil und Bogen böse Reiche minister für Naturressourcen, hat einen entsprechenden ausraubt, sondern Drogenhändler sich Feuergefechte liefern, Vorstoß bei der Uno angekündigt. Den Anspruch auf das stecken sich Polizisten neuerdings Terrain begründet Moskau mit Untersuchungsergebnissen, vor Patrouillengängen Pistolen die das Forschungsschiff „Akademik Fjodorow“ geliefert des Typs Walther P 990 in den hat. Resultat: Der Festlandsockel vor der Küste sei größer Holster. Bislang sorgen drakoni- als bisher angenommen und stehe daher in weiten Teilen sche Gesetze – dank derer Besit- allein Russland zu. Viele Politiker fürchten indessen, dass zer illegaler Schusswaffen für andere an der Nutzung des Meeresbodens interessierte Jahre ins Gefängnis wandern – Staaten, vor allem die USA, sich den russischen Ansprü- dafür, dass viele Kriminelle lieber chen widersetzen werden. Gestritten wird besonders um unbewaffnet ihrem Beruf nachge- Energiereserven. Un- hen. Nicht zuletzt damit wird er- ter dem Meeresgrund klärt, dass die Mordrate in Lon- vermuten Forscher don nur knapp halb so hoch ist 4,9 Billionen Kubik- wie etwa in Berlin. Vor diesem meter Kohlenwasser- Hintergrund ist die Bewaffnung stoffe. Bereits die So- der Bobbies umstritten. Das Lon- wjetunion, deren Tra- doner Innenministerium forderte ditionen in Moskau jetzt einen Bericht von der Not- wieder hoch im Kurs tinghamer Polizei an, obwohl die stehen, betrachtete seit ihrer Bewaffnung im Februar das nördliche Eis- AP BRITSTOCK / IFA BRITSTOCK noch keinen einzigen Schuss ab- meer de facto als Polizeipatrouille in London gefeuert hat. ihren Machtbereich. MS „Akademik Fjodorow“

der spiegel 45/2000 233 Titel

Millenniums-Feuerwerk über Manhattan: „Niemals war das Versprechen auf Wohlstand so strahlend“ Clinton und die Klone Gore und Bush liegen Kopf an Kopf beim Kampf ums Weiße Haus – aber die meisten Amerikaner geben sich desinteressiert und selbstzufrieden. Sie vertrauen darauf, dass der Boom der letzten Jahre anhält. Hat Glückskind Clinton das Land wirklich fit gemacht für die Internet-Zeiten?

berdimensional groß prangten die Willkommen in den Vereinigten Staaten Sonderrechten der farbigen Minderheiten Lettern auf der Titelseite der „New von Amerika, „Gottes eigenem Land“ und bestimmen. ÜYork Post“: DYNASTY. Die Erbfol- letzte verbleibende Supermacht, in der Eine Weichenstellung auch über mögli- ge, die da beschworen wurde, bezog sich heißesten Phase des Wahlkampfs: cherweise häufigere militärische Einsätze in auf die Yankees, die gegen die Mets die Einige hunderttausend Wechselwähler Krisenregionen – nie in der modernen Ge- Baseball-Meisterschaft gewonnen hatten – könnten entscheiden, wer für die nächsten schichte hat ein Land die Welt militärisch schon zum wiederholten Male. Im Inneren Jahre zum mächtigsten Mann der Welt (wie übrigens auch wirtschaftlich und kul- des Blattes das Übliche: Millionenpreise wird. Eine Weichenstellung für die Zukunft turell) so dominiert wie die USA, die mehr beim Lotto; dramatische Kursgewinne an des Landes – der neue Präsident wird in für Rüstung ausgeben als die fünf nächst- der Wall Street, die einen Teil der drama- seiner Amtszeit beispielsweise bis zu mächtigen Staaten zusammengenommen. tischen Verluste der Vortage wieder wett- vier der neun Obersten Richter neu er- Gefordert ist ein Mann im Weißen Haus, machten; das mit Spannung erwartete De- nennen und allein durch diese Entschei- der führen und delegieren kann, der sich but der Schaupielerin Donna Hanover in dung die Zukunft von so zentralen Fragen auf die Entschärfung von Konflikten ver- „Die Vagina-Monologe“. wie der Legalität der Abtreibung und den steht und trotzdem glaubhaft die Diktato-

234 der spiegel 45/2000 AP GARSE / SIPA PRESS / SIPA GARSE Kursfieber an der Börse: „Das Wahlvolk ist nicht vergrätzt“

US-WIRTSCHAFT US-MILITÄR US-KULTUR Mit der INTERNET-ÖKONOMIE hat Amerika Ein Netz von 65 großen STÜTZPUNKTEN sichert HOLLYWOODS Hits und Popmusik „made in eine neue Ära eingeläutet. Ein BÖRSEN- amerikanische Präsenz in aller Welt, eine USA“ sind im afrikanischen Busch genau so BOOM ohnegleichen sichert die Vorherr- HIGHTECH-BEWAFFNUNG, der keine Armee Ver- erfolgreich wie in asiatischen Metropolen; schaft des Dollar auf den Finanzmärkten. gleichbares entgegensetzen kann, gegebenen- ENGLISCH ist die dominierende Sprache Die GLOBALISIERUNG garantiert die Ausbrei- falls den Sieg über jeden Gegner. Der Einsatz rund um die Welt: Nie zuvor hat eine Nation tung des amerikanischen TURBO-KAPITALIS- von GIs auf allen Kontinenten macht die USA dem Globus so unverkennbar ihren Stempel MUS auf die gesamte Weltwirtschaft. Mit aber auch zur ZIELSCHEIBE von terroristischen aufgedrückt – nationale VIELFALT und regio- dem Reichtum wächst die Ungleichheit. Angriffen der Unterlegenen. nale Eigenart bleiben auf der Strecke. ren in den Schurkenstaaten der Dritten Große Konzerne wie Microsoft entwerfen Welt abschreckt – ein Spagat etwa von derzeit Lehrpläne schon für Fünfjährige und Gandhi bis Godzilla. wollen sie stromlinienförmig auf Internet- Aber deshalb Wahlfieber? Karrieren vorbereiten; das Geldhaus Liber- Kaum ein Hauch ist im Amerika dieser ty Financial hat einen „Special Mutual Tage davon zu spüren. Lähmende Lange- Fund“ für Elfjährige aufgelegt. Corporate weile liegt über dem Land, politische Apa- America sei „allgegenwärtig und lebensbe- thie prägt die Vereinigten Staaten, von stimmend“ geworden, schreibt der Sozial- Alaska bis Alabama – als wollten die Ame- kritiker Morris Berman in seinem Buch rikaner diese Wahlen nur irgendwie hinter „Zwielicht der amerikanischen Kultur“, sich bringen, um sich endlich wieder, mit Reichwerden zu einer nationalen Obsession. wem auch immer an der Staatsspitze, den So hip sind die Konzerne der Internet- wichtigen Dingen des Lebens zu widmen: Industrien geworden, „dass sie und nicht Baseball beispielsweise, der Jagd nach dem irgendwelche Fuzzis mit elektrischen Gi- nächsten Paycheck beim Zweit- und Dritt- tarren oder anstrengende Maler und Lite- Job (Unterklasse) oder nach dem neuesten raten den kulturellen Untergrund beset- BMW (Oberklasse). zen“, schreibt der Autor Martin Kilian in Dieses Land hat andere Prioritäten als seinem neuen Buch „Yo, Amerika“. Dazu den Kampf um Washington – und glaubt trägt schon ihr Äußeres bei: Die neuen offensichtlich nicht mehr daran, dass der Top-Manager sehen oft aus wie der Drop- Mann im Weißen Haus einen so großen out von nebenan: Nike-Turnschuhe, Jeans, Unterschied für ihren Alltag bedeutet. Die T-Shirts. Vorbilder, die Sehnsüchte haben sich seit Dafür haben es die salbungsvollen und der Aufbruchstimmung in der frühen Clin- meist erzkonservativen Fernsehprediger ton-Ära dramatisch verändert – von links- schwerer als früher, die lange Zeit auf al- liberal zu neoliberal, von den Alten Indu- Clinton-Zeitschriftentitel len Kanälen Erlösung durch Glauben – und strien zum Neuen Markt. Gesucht wird Bills Erbe Spenden zu ihren Gunsten – predig-

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Familie Bush (1950)* Manschettenknöpfe vom Großvater

Präsidentschaftskandidat George W. Bush, Ehefrau Laura: Rächer seines von den Demokraten

Mannes der Welt (Paul Allen, Microsoft- Mitbegründer, 36 Milliarden) so zu schnei- den, dass alle an Bord nass wurden. „Ein Streich unter Heranwachsenden, kann ich

AP (li.); GEORGE BUSH LIBRARY (o.) AP (li.); GEORGE BUSH LIBRARY nur empfehlen“, kommentierte er. Pilot George W. (1968) Soziales Engagement steht nicht gerade Außenseiter der Erfolgsfamilie im Zentrum des Denkens dieser Selfmade- Männer. Das erfolgsbesessene, nie von ge- ten. Amerika ist toleranter geworden genseitigem Neid zerfressene Amerika in den letzten Jahren: Vom ständigen scheint ihnen das nicht zu verübeln. Eben- Beobachten der Börsenkurse und so wenig wie dem Super-Golfer Tiger Woods dem Geldverdienen erschöpft, haben oder der Super-Sprinterin Marion Jones ihre

offensichtlich immer weniger Ameri- GEORGE BUSH LIBRARY zig Millionen schweren Werbeverträge. kaner große Lust, sich über die Ge- Zwillings-Vater Bush (1982) Hollywood regiert – und lässt den Präsi- fahren der Pornographie Gedanken Als Familienoberhaupt gereift denten gerade mal mitspielen. Clinton durf- zu machen. Die Nation verzeiht te Clinton mimen, in einem Film über ein Seitensprünge – die Mehrheit auch ihrem meine Kinder werden mich eines Tages fra- sterbendes Mädchen, dem er den letzten Präsidenten. gen: Was hast du in dieser Zeit gemacht?“ Wunsch erfüllte: einen Besuch im Weißen Mammon, und zwar als Mittel zum eige- Bei vielen 68ern war Geld noch ein Haus. Wenn der Starregisseur Steven Spiel- nen Luxus, ist für viele der neue Gott. Und schmutziges Wort. „Plünderung und La- berg (mit dem Gates in der Medienfirma das Internet, das allen einen gleich schnellen dendiebstahl kann dir ein High verschaf- Dreamworks geschäftlich verbunden ist) zu Zugriff auf die nächste Information, auf die fen“, proklamierte der Polit-Hippie Jerry einem Dinner bittet, ist der Präsident bereit, nächste Chance verheißt, ist sein Medium. Rubin. Nun hat er eine Drehung um 180 auch wichtige außenpolitische Besuche zu Ein Taxifahrer in New York, der an sei- Grad gemacht: Geld sei das neue Rausch- verschieben. Er schwärmt von Sharon Stone. nem kleinen TV-Schirm neben dem Lenkrad mittel, meint er, und der neue Rausch habe Er sieht sich begeistert Julia Roberts an – Nasdaq-Zukunftswerte handelt und dabei neue Helden geschaffen. vor allem, wenn die eine sozial engagierte Millionen macht. Ein 16-Jähriger, der im ka- Microsoft-Chef Bill Gates ist so einer – Kämpferin wie in „Erin Brokovich“ spielt. lifornischen Palo Alto mit einem neuen Soft- eine Art Sonnenkönig des Informations- Amerika – du hast es besser? Ist es das, ware-Programm eine Erfolgsfirma aus dem zeitalters, 60 Milliarden Dollar schwer. Er wovon Bill Clinton vor acht Jahren geträumt Boden stampft. „Irgendwie scheinen alle baute sich ein Schloss namens „Xanadu“ hat, als er wie ein neuer Kennedy ins Weiße in diesen Jahren Millionäre zu werden“, mit 45 Zimmern, die teuerste Privatvilla Haus einzog? Politische Botschaften via schreibt die Autorin Maureen Dowd. „Und der Welt. Oracle-Boss Larry Ellison (58 Hollywood, Laisser-faire statt sozial enga- Milliarden) machte sich gerade im Mittel- gierter Beeinflussung der Wirtschaft: Steu- * Mutter Barbara, George W., Vater George, Großeltern meer vor Capri den Spaß, mit seinem ern die Vereinigten Staaten in diese Dorothy und Prescott Sheldon in Midland (Texas). Powerboot die Yacht des drittreichsten Richtung?

236 der spiegel 45/2000 wolle er gar nicht nach Washing- ton, sondern „euch da draußen in Amerika“. Der Republikaner suggerierte, es ginge bei der Wahl 2000 gar nicht so sehr um politi- sche Inhalte, sondern um „Cha- rakter“, um Führungskraft. Kandidat Bush kokettierte ge- schickt mit seinen Defiziten, sei- ner manchmal erschreckenden Unkenntnis wichtiger Fakten. Bei einem Interview hatte er un- ter anderem den Ministerpräsi- denten Indiens nicht benennen können. „Was für ein Glück, dass jetzt dieser Milo∆eviƒ weg ist“, sagte Bush vorletzte Woche. „Schon wegen der vielen unaus- sprechlichen Silben.“ Das amü- sierte die Amerikaner, geht es doch den meisten von ihnen mit diesen komplizierten Ausländer- namen ebenso. Und selbst ein so böser Scherz wie der des TV-Talkmasters Jay Leno konnte dem Kandidaten wenig anhaben: „In Texas haben sie jetzt einen Mann mit dem IQ von 63 hingerichtet. Kaum zu glauben – nicht einmal vor sei- nesgleichen macht dieser Bush

AFP / DPA H. BENSON mehr Halt!“ gedemütigten Vaters Golfspieler George W. Bush*: „Bücher waren ihm ein Gräuel“ Al Gore fand lange keine Ein- stellung zur Taktik seines Geg- Politik lief jedenfalls in der Boulevard- ausforderer war und für einen Machtwech- ners. Auch seine Imageberater versuchten, presse weitgehend unter Kleingedrucktem sel kämpfte, wer für eine Fortsetzung der de- mit Humor die Schwächen des Kandidaten – und nicht nur auf den Sportseiten war der mokratischen Dominanz im Weißen Haus zu überdecken – Gore allerdings wirkte da- Traum von einer Dynastie unverkennbar. warb. Selbst die Nominierungsparteitage der bei wie ein Musterschüler, der peinlich auf 61 Prozent der Amerikaner waren zuletzt Republikaner und Demokraten glichen mit Kumpel macht. „Ich werde nicht immer ein mit Bill Clintons Amtsführung zufrieden. ihrem Pep Talk und den bis auf die Sekun- besonders aufregender Politiker sein, aber Er hatte damit als einziger Nachkriegsprä- de programmierten und inszenierten Bei- ich werde euch nie im Stich lassen“ – das sident höhere Popularitätswerte als zum fallsszenarien wie ein Ei dem andern – und ging noch. Aber dann ließ sich der Vize- Beginn seiner Präsidentschaft. Viele Ame- ein wenig auch den Jubelfesten einer ehe- präsident in einem Werbefilm von seinen rikaner wünschten sich nichts anderes als maligen Weltmacht: KPdSU plus Konfetti. Imageberatern tatsächlich auf lockeren Vo- eine Fortsetzung, als Kontinuität: Yankees „Dies ist ein bemerkenswerter Augen- gel trimmen. Gab vor, in der Freizeit gern forever, Bill forever. blick in der Geschichte unseres Volks. Nie- riskant zu surfen, den Kindern Iglus zu bau- Der mächtige Schatten des begnadeten mals war das Versprechen auf Wohlstand en und den Gartengrill anzuwerfen. Kommunikators im Weißen Haus überla- so strahlend“, formulierte einer der Kan- Dabei weiß jeder, dass Gore ein Intel- gerte die Diskussionen über Amerikas Zu- didaten, dabei fast Wort für Wort Bill Clin- lektueller ist und die kaum vorhandene kunft. Und so entwickelte sich der Wahl- tons letzte Ansprache zur Lage der Nation Freizeit vor seinem PC verbringt – alles kampf in der Schlussphase zu einer Suche andere als „easy-going“. In seinen Bewe- nach dem idealen Clinton-Klon (minus der „Was für ein Glück, dass dieser gungen robotersteif, wie ein schon existie- sexuellen Ausschweifungen des Originals). Milo∆eviƒ weg ist“, sagt Bush, render Beweis für die These des Informa- „Wer übernimmt Clintons dritte Amts- tikers Ray Kurzweil, Mensch und Compu- zeit?“, fragte Frank Rich in seiner „New „schon wegen dieser vielen ter glichen sich eines Tages so an, dass man York Times“-Kolumne. unaussprechlichen Silben“ sie nicht mehr auseinander halten könne. Natürlich merkten die jede Umfrage aus- Image statt Substanz, Talkshow-Auftrit- wertenden, jede Kandidatenminute ver- übernehmend. Der das so kämpferisch hin- te statt ernsthafter Diskussionen um Sach- planenden, von jeden Skrupeln und jegli- ausposaunte, war Oppositionsführer Bush. fragen: Gores Wahlkampf-Strategie wurde cher politischer Substanz freien Image- Vor George W.’s Umarmungen war gar durch die Vorgaben seines Gegners be- berater beider Parteien, wie der Hase lief. nichts sicher: weder Babys noch die Pro- stimmt. Auch der Demokrat konzentrierte Sie trimmten Al Gore, aber auch George gramme seiner Gegner. Er gab sich als über- sich bei seinen Argumenten überwiegend W. Bush auf Status quo. „Wir haben ein- parteilicher Versöhner, als charmanter Mann auf die „Schaukelstaaten“, auf die wenigen fach kein vergrätztes Wahlvolk, das die des Volkes. Als begnadeter Populist, der um hunderttausend Unentschiedenen, die Bastarde rausschmeißen will“, erklärte der die Vorbehalte gegenüber Big Government nach der Arithmetik über Sieg und Nie- republikanische Stratege Sal Russo. in der Hauptstadt wusste. Nicht „denen da derlage entscheiden. Und so war es bei den Wahlkampfreden in Washington“ vertraue er, sagte Bush, als Dabei war für Gore stets oberstes Gebot: gar nicht leicht herauszuhören, wer von den möglichst wenige potenzielle Wähler ver- beiden denn nun der republikanische Her- * Vor seinem Amtssitz in Austin (Texas). ärgern, „Minenfelder vermeiden“ (Bera-

der spiegel 45/2000 237 Titel ter-Jargon). Obwohl der Vizepräsident ein strikter Befürworter schärferer Waffenge- setze ist, sprach er das Thema kaum an. In den wichtigen, womöglich entscheidenden „Swing States“ Pennsylvania und Michigan leben viele Jäger und andere Waffen- enthusiasten. Die „Message“ jedes Präsi- dentschaftskandidaten wird immer mehr auf Zielgruppe getrimmt. Wer sich so auf Minderheiten konzen- triert und so nach Präferenzen auf sehr be- grenzten Politikfeldern agiert, riskiert die Lustlosigkeit der Mehrheit. Die Wirtschaft läuft gut, die meisten Wähler trauen offen- sichtlich beiden Kandidaten zu, das Schiff auf Kurs zu halten – ein Grund für die all- gemeine Lethargie. Bei der Wahl 2000 springt aber auch deshalb kein Funke über, weil sich viele Amerikaner offensichtlich von den Tricks und Manipulationen der Po- lit-Profis abgestoßen fühlen. Sie sind zy- nisch und illusionslos geworden, und die jüngste „Basisarbeit“ der Parteistrategen hat sie darin bestärkt: „Spontane“ Anrufe beider Kandidaten wurden großflächig ins

Telefonnetz eingespeist. „Die Menschen se- AP hen die Wahl immer mehr als eine Art Dra- Junior Al, Familie (1957)*: Mit zehn erwachsen ma, das keine direkte Auswirkun- gen auf ihr Leben hat“, sagt der Kulturkritiker und Buchautor Neal Gabler („Life the Movie“). „Selbst Politik-Junkies werden zu Nicht- wählern.“ Oder sie entscheiden sich für Ralph Nader, den Kandi- daten der Grünen. Der Verbrau- cheranwalt sagt, die beiden großen Parteien hätten „sich verkauft“ an ihre reichen Gönner und Spezial- interessen. In manchen Bundes- staaten wollen bis zu acht Prozent dem Außenseiter ihre Stimme ge- ben – zum Schaden von Al Gore, da viele von ihnen ehemalige An- hänger der Demokraten sind. Erst in den letzten Wochen der Wahlkampagne ging der Vizeprä- sident mit Sachargumenten ver- stärkt zum Angriff über. Er zeigte, dass es doch Unterschiede zum Programm seines Kontrahenten

gab: Gore plant Steuersenkungen DPA nur für mittlere und untere Ein- Demokratischer Präsidentschaftsbewerber Gore: „Minenfelder vermeiden“ kommen und würde einen Groß- teil des erwarteten Haushaltsüberschusses Ölverbrauchs drängen, in den Nationalparks für die Verbesserung des desolaten Schul- von Alaska Ölbohrungen verbieten – Bush systems und die Sanierung der Sozialversi- setzt beim Umweltschutz allein auf freiwil- cherung aufwenden sowie Schulden abbe- lige Leistungen der Industrie und will von zahlen; Bush dagegen verspricht allen Gesetzen nichts wissen. Wie er überhaupt großzügige Steuersenkungen, nicht weni- auf das Gute im Menschen setzt (der dann ger als 40 Prozent der Milliardengelder kä- seine guten Taten absetzen darf): Er ver- men dem einen Prozent der Superreichen sprach, „Steuerzahlern neue Anreize zu ge- zugute; Pensionsfonds sollen künftig bis zu ben, für die Wohlfahrt zu spenden“. einem Sechstel ihres Kapitals auf dem Ak- Gore will Wahlkampf-Materialschlach- tienmarkt anlegen dürfen. Eine Gore-Re- ten wie die jetzige dem amerikanischen gierung würde auf eine Reduzierung des Volk künftig ersparen: Nach europäischen

AP Modellen soll künftig der Staat verstärkt

* Oben: Mutter Pauline, Schwester Nancy, Vater Albert vor dem Washingtoner Kapitol; unten: als Kriegsreporter in Soldat Gore (1971)* Vietnam. Freiwillig an die Front 238 fühlte sich mit Al Gore und den anderen bei den Überlandfahrten „wie Rockstars“. Der Bus war für die Blumenkinder-Generation ein fast mythisches Fortbewegungs- mittel: Tom Wolfe hatte Ende der sechziger Jahre den Trip einer Kommune quer durch die USA be- schrieben („Unter Strom“) – als eine Art Odyssee der Gegenkultur. Zum ersten Mal nach 1976 war im Jahr 1992 die Wahlbeteiligung wieder angestiegen. Clinton woll- te voller Enthusiasmus die Poli- tik wieder „zum größten und eh- renvollsten Abenteuer machen“, wie es John Bunyan in „Die Pil- gerreise“ geschrieben und Ken- nedy immer wieder zitiert hatte. Schluss mit der Katerstimmung, die zwölf Reagan-Bush-Jahre zu- rückgelassen hatten: Staatsschul- den, die auf fast zwei Drittel des Bruttosozialprodukts angewach- sen waren – die Zinslast machte einen höheren Betrag aus, als Washington im letzten Bush-Jahr für Bildung und Wissenschaft zu- sammen aufgewendet hatte. Hab- gier hieß damals das Schlagwort der Wall Street, wo sich Schwind- ler mit Insidergeschäften die Ta- schen voll stopften.

D. BURNETT / CONTACT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR D. BURNETT / CONTACT Bill Clinton, sein Vize und vor Familie Gore*: Zu Hause zwischen Difficult und Defeated allem die sozial engagierte First Lady Hillary hatten einen Plan, den Werbeaufwand der Parteien finanzie- senior vor acht Jahren nun auch den Junior wie sie die konservative Versteinerung der ren. Den Kandidaten blieben so die Bettel- politisch zu begraben! Republikaner-Ära aufbrechen konnten: Sie Dinner, auf die sie derzeit angewiesen sind, Doch nichts ist bei dieser Wahl so wie wollten die Schandmale des amerikanischen weitgehend erspart. Auch in dieser Frage bei der von 1992, und das weiß auch Bill Systems beseitigen – endlich den Ärmsten ist Konkurrent Bush wieder mehr für den Clinton. Damals ging es um einen Meilen- würdige Lebensbedingungen und eine Status quo – als säße sein Vertrauter im stein für die amerikanische Nation, jetzt Krankenversicherung verschaffen; dabei Weißen Haus. gerade mal um eine Wegmarke. Damals aber die Vorteile des amerikanischen Wegs Bill Clinton aber, der Amtsinhaber und stand ein Generationenwechsel auf dem nicht gefährden, sondern noch verstärken – begabteste aller Volkstribunen, spielte in Programm, eine Wachablösung. die Mobilität der Arbeitnehmer, die Flexi- diesem Wahlkampf bis zuletzt kaum eine Zum ersten Mal hatte ein Babyboomer, bilität des Arbeitsmarkts, die Innovations- öffentliche Rolle. Gore wollte „sein eige- ein 68er, geprägt von Vietnamkrieg und lust der Unternehmer. ner Mann“ sein, fürchtete offensichtlich Woodstock, beim Kampf ums Weiße Haus Bei der Wahl 2000 will sich das Land von der Persönlichkeit des Präsidenten nur perpetuieren; 1992 wollte es sich rund- überstrahlt, von seinen Skandalen ver- Gore wollte „sein eigener erneuern, so wie das die USA wohl in je- dunkelt zu werden. Doch Gores Distanz zu Mann“ sein – und koppelte sich der Generation einmal versuchen. Clinton führte dazu, dass sich der Vize im- Clinton hat nach acht Jahren Regierungs- mer mehr auch von den Erfolgen der ge- von den Erfolgen der gemein- zeit einerseits eine glänzende Bilanz aufzu- meinsamen Regierungsarbeit abkoppelte samen Arbeit mit Clinton ab weisen: Die Wirtschaft feiert die längste – und damit von seinem größten Faust- Boom-Periode ihrer Geschichte, kein größe- pfand. gesiegt. Clinton schlug mit Bush senior ei- rer Konflikt auf der Welt kann ohne Wa- Wie muss es Bill Clinton in den Fingern nen Kriegshelden, der wie seine Vorgänger shington gelöst werden (freilich sind auch und in der Stimme gejuckt haben, wie es die Uniform seines Landes getragen hatte mit Washingtons Hilfe nicht alle zu lösen). ihn gekränkt haben, dass die Gore-Truppe und vom moralischen Universum des Zwei- Clinton hat andererseits eine düstere Bi- nicht einmal nach seinem Expertenrat ge- ten Weltkriegs geformt worden war. Und er lanz aufzuweisen: Noch immer sind 35 Mil- fragt hat! Wie hätte er – stünde das Gesetz war angetreten, aufzuräumen mit der muf- lionen Amerikaner ohne Krankenversiche- nicht gegen die dritte Amtszeit – diesen figen Spießigkeit und der Ego-Gesellschaft rung, und auch wenn die Zahl derer, die un- unbedarften Politiklehrling in der Luft zer- der Republikaner-Ära. ter der Armutsgrenze leben, leicht gesunken rissen! Was für ein Triumph wäre das ge- Neuanfang versprach jede seiner Bewe- ist, bleibt sie erschreckend: 32 Millionen. wesen: nach dem Sieg über George Bush gungen, jedes seiner Worte. Er spielte Sa- Und nie war die Kluft zwischen Reich und xofon in Talkshows, ließ sich von seinem Arm so groß wie heute. Ein Top-Manager Team „Elvis“ titulieren, kokettierte damit, verdient das 400fache eines Arbeiters. * Töchter Kristin, Sarah, Vater Al, Mutter Tipper, Schwie- gersohn Schiff, Tochter Karenna mit Baby Wyatt, Sohn jünger als Mick Jagger zu sein. Für längere Was bleibt übrig von der Clinton-Ära, Albert III. Wahlkampfreisen nahm er den Bus – und was ist das Vermächtnis des ersten Rock-

der spiegel 45/2000 239 Titel „Das beste Land der Erde“ Eine Jugendsünde trübt die Siegesgewissheit des Kandidaten George W. Bush.

enn heute Freitag ist, dann habe meine Vergangenheit nie ver- ein fatales Echo erzeugen. Als Publi- sind wir morgen höchstwahr- heimlicht.“ kum bei den Wahlkampfauftritten kom- Wscheinlich in Florida oder viel- Vergebens. Als sei der Golfkrieg neu men nur noch handverlesene Fans in leicht in Wisconsin.“ Es sind nur noch ausgebrochen, verbreitete der Nach- Frage. wenige Tage bis zum Wahltermin am richtensender CNN im Viertelstunden- So wird auch der Auftritt vor republi- 7. November, und Megan Moran ver- takt die Spitzenmeldung von dem jahr- kanischen Getreuen im State Fair Park liert bisweilen die Übersicht. Längst hat zehntelang verheimlichten Alkoholver- von West Allis (Wisconsin) zum Heim- sich die Logistikexpertin aus dem Stab gehen des Republikaners. Und nur drei spiel. Der Gouverneur arbeitet sich tap- von George W. Bush den fer durch seinen Themenkatalog: „Mehr Terminplan um den Hals Sorge für unsere Senioren“, „das Militär gehängt. Auf bierdeckel- stärken“, „kein Kind zurücklassen“, großen Karten sind die sich „Gesundheitsreform für alle“. Keine ständig ändernden Wahl- überflüssigen Details, lieber herzerwär- kampfziele des Kandidaten mende Appelle an die Seele Amerikas: verzeichnet – Montag: New „Unsere Nation ist großartig, das beste Mexico, Dienstag: Kalifor- Land auf dem Antlitz der Erde.“ nien und Oregon, Mittwoch: Bush hat gelernt, sein Publikum zu Washington, Minnesota, bezirzen. Längst ist er nicht mehr der Iowa. Dann ein Abstecher ewig grinsende, leicht unbedarfte Kan- nach Michigan und West Vir- didat. An seinem mangelnden Artiku- ginia, und das Wochenende lationsvermögen hat er hart gearbeitet. gipfelt in einem hektischen Zuweilen ist dem Kandidaten trotz Zickzack durch ein halbes aller Sorgen die Freude anzusehen, mit Dutzend weiterer US-Bun- der er die rhetorischen Vorlagen seiner desstaaten. Redenschreiber zielgenau platziert: Der Countdown zur Wahl „Wenn Al Gore das Internet erfunden ist ein beinhartes Marathon hat“, höhnt George W. über eine Prah- durch die besonders um- lerei des Vizepräsidenten, „warum fan- kämpften Staaten. Die atem- gen dann die Web-Adressen stets mit lose Jagd durch die USA www an?“ soll die Parteiaktivisten mo- Der Gag zieht immer. Zwar ver- bilisieren, unentschiedene spricht der „mitfühlende Konservative“ Wähler umwerben und vor (Bush über Bush) „nach Washington zu allem eine Aura von Sieges- gehen und dort den parteilichen Gra- gewissheit verbreiten. benkrieg, Zwist, Beschimpfungen und Doch das fällt dem Texas- alle Scheußlichkeit zu beenden“, doch Gouverneur plötzlich sehr er kann auch kräftig unter die Gürtel- schwer, seit er am vorigen linie schlagen.

Donnerstag von der eige- AFP / DPA Bush, der eben noch mit treuem Au- nen Vergangenheit eingeholt Kandidat Bush: „Vergangenheit nie verheimlicht“ genaufschlag für einen „neuen Stil und wurde: An einem Wochen- zivilisierten Umgang miteinander“ plä- ende vor 24 Jahren, so berichteten Tage vor der Wahl füllten die Wochen- dierte, erinnert seine Zuhörer an die Fernsehsender aus Maine, habe der da- endzeitungen ihre Titelseiten mit dem Abgründe der Monica-Lewinsky-Affä- mals 30-Jährige betrunken am Steuer Fehltritt jenes Kandidaten, der seinen re, ohne Clinton und dessen wieder- eines Autos gesessen. Bush junior, demokratischen Gegner monatelang holte Eskapaden direkt zu erwähnen: damals noch in seiner Playboyphase, vor allem mangelnder Glaubwürdigkeit „Wir brauchen einen Führer im Weißen musste 150 Dollar Strafe zahlen und geziehen hatte. Haus, der weiß, was Verantwortung vorübergehend den Führerschein ab- Entsprechend schlecht ist die Stim- bedeutet.“ geben. mung an Bord des gecharterten Bush- So ist sein Stab allen Enthüllungen Zwar hat der Kandidat längst einge- Jets mit dem Logo „Victory 2000“. Die zum Trotz zufrieden. „Der Gouverneur räumt, er habe „wilde Wanderjahre“ ausgelassene Partyatmosphäre der ver- ist in Hochform, wir sind auf dem Weg hinter sich. Doch sofort tauchten wieder gangenen Monate hat der Angst Platz zur Präsidentschaft“, sagt Kommunika- die alten Gerüchte auf, der Präsiden- gemacht, den bereits sicher geglaubten tionschefin Karen Hughes. tensohn habe einst auch mit härteren Sieg auf den letzten Metern noch zu Und Megan Moran weiß inzwischen Drogen experimentiert – Kokain vor al- verspielen. auch, wo die Wahlkampfkarawane am lem. Fast flehentlich beschwört Bush die Der Kandidat meidet den persönli- Montag vor dem Urnengang enden Medien, ihm doch jetzt nicht noch in al- chen Kontakt zu mitreisenden Journa- wird: „In Austin, Texas – rechtzeitig zur lerletzter Minute alles zu versauen: „Ich listen – jeder unüberlegte Satz könnte Siegesfeier“. Stefan Simons

240 der spiegel 45/2000 ’n’-Roll-Präsidenten? Haben Comeback- Kid Bill und seine Babyboomer das Land wirklich fit für die Zukunft der neuen In- ternet-Industrien gemacht, haben sie die demokratischen Institutionen gestärkt – oder hat der Mann aus Arkansas das höchs- te Amt des Staates irreparabel beschädigt? Stationen einer Reise im Oktober 2000, die quer über das Land führt, wie einst die Bus-Tour der wahlkämpfenden Clinton- Truppe: in eine Stadt in Texas; aufs Land nach Tennessee; an die Wall Street von New York. Der Himmel ist die Grenze: Bush-City

Midland atmet Öl, denkt Öl, lebt Öl. Es ist / CORBIS SYGMA PAGE T. sogar die Zeitrechnung der texanischen US-Soldaten, Vietkong-Verdächtige (1965): Als Kriegsgegner verlor Vater Gore die Wahl Kleinstädter. „Damals, als wir den Stoff gefunden haben“, sagen die Menschen, legal über die Grenzen kamen, wurden wenn sie die Mitte der zwanziger Jahre aber noch härter verfolgt als früher. Für meinen; „als die Blase platzte“ heißt Mit- Texas ist das keine ideologische Frage. Es te der Achtziger. braucht frisches Blut, wenn das Geschäft Es gibt ein Petroleum Museum und je- boomt. den Oktober eine Internationale Öl-Show. Midland ist eine manische Stadt, mit ex- Der Hogan Park Golf Course bietet an tremen Ausschlägen nach oben und unten: Loch zehn außer der Sandkuhle noch eine Nach Jahren der Depression stehen die ortstypische Schwierigkeit: Der Golfer Zeichen nun schon seit Anfang der Neun- muss einen Bohrturm inmitten des Platzes ziger auf himmelhoch jauchzend. Auch, umspielen. „Ich weiß nicht, wie viel Pro- weil die Menschen nach Pleiten nie aufge- zent von mir dieses Midland einnimmt“, geben haben, sondern hoffnungsfroh im- sagt George W. Bush. „Aber wer mich ver- mer wieder neue Unternehmen gründe- stehen will, muss verstehen, wie dieser Ort ten. „Diese Stadt gehört den Risikofreudi- tickt.“ Midland hilft auch zu begreifen, gen“, sagt George W. Bush. „Es ist meine warum Bill Clinton bei den Reichen und Stadt.“ Tatsächlich spiegelt das Auf und Superreichen des Landes so anerkannt ist. Ab Midlands, das „Wir lassen uns nicht un-

Nicht dass man viele Demokraten unter terkriegen“ perfekt sein Leben wider. FOCUS / WOODFIN / AGENTUR B. UZZLE CAMP den 95000 Midlanders fände – Dschiihsus, Er wurde 1946 in Connecticut geboren, Blumenkinder in Woodstock (1969) no, allein bei dem Gedanken schütteln sie wo sein Vater, der spätere Präsident, zwei Magical Mystery Tour mit Bon Jovi sich im „Cattleman’s“ über ihren Steaks Jahre später sein Studium an der Eliteuni- und Budweisers, die Knarren neben sich versität Yale abschloss. Er war noch keine Im Weißen Haus, wo ihn Mutter Barba- liegend oder draußen, im Handschuhfach vier Jahre, als seine Eltern mit ihm nach ra beim Dinner mit der britischen Queen ihres Mercedes, verstaut: Dies ist tiefstes Midland zogen. Bush senior und seine re- sicherheitshalber weit weg vom Ehrengast Republikaner-Territorium. solute Frau Barbara bauten innerhalb we- gesetzt hatte, kämpfte er sich feuchtfröhlich Sie sind hier alle für die Todesstrafe und niger Jahre ein erfolgreiches Öl-Imperium zu Ihrer Majestät Elizabeth II. vor und sag- durchaus stolz darauf, dass ihr Bundesstaat auf. George junior verriet wenige andere te: „Gestatten, ich bin das schwarze Schaf vorn liegt bei der Zahl der Exekutionen. Interessen als Baseball. der Bushs. Wer ist das in Ihrer Familie?“ Viele leben in Gated Communities außer- „Bücher waren ihm ein Gräuel“, sagt Die überraschte Queen, not amused, ließ halb des Stadtkerns. Zäune schützen die sein alter Schulfreund Terry Throckmor- ihn laut Augenzeugen abblitzen: „None of Villen, private Wachfirmen die schnellen ton, „und eigentlich hatte er immer ir- your business.“ Motorboote und die Privatflieger am Han- gendwelchen Blödsinn im Kopf.“ Überle- Erwachsen wurde George W. Bush erst bensgroß war wohl schon damals der Schat- mit 40. Als Laura, eine Bibliothekarin, die „Ich bin das schwarze Schaf der ten des Vorbild-Vaters: George junior war er zwischenzeitlich geheiratet hatte, ihn we- Bushs. Wer ist das in Ihrer der Schrecken der Lehrer, wurde einmal gen seiner Alkohol-Exzesse zu verlassen sogar verhaftet, als er einen Weihnachts- drohte. Als er sah, wie seine Zwillingstöch- Familie?“, fragte George W. die kranz aus einem Hotel in Midland stahl. ter in den Kindergarten kamen und ihn als britische Königin Elizabeth II. Trotz Schulzeiten im Internat von Andover Vater brauchten. Doch geschäftlich wollte (auch da war der Papa mal gewesen), trotz und wollte es nicht klappen. Die Freunde gar, für deren Parkplätze es eine Wartelis- Abschlüssen in Yale und Harvard, trotz Pi- wurden zu Millionären, seine Firma „Ar- te gibt. „Der Himmel ist die Grenze“, lau- lotentraining bei der Nationalgarde und ei- busto“ ging Pleite. Auch als Bush junior tet der offizielle Stadt-Slogan. genem Geschäftsstart 1976 als Öl-Unter- endlich trocken war, sprudelte kein Öl. Schon mehr als ein Drittel der Einwoh- nehmer in Midland: George junior blieb Sein Leben lang wollte George W. Base- ner Midlands sind Latinos. Die meisten ka- der Außenseiter in der Erfolgsfamilie. ball Commissioner werden (viel mehr, ge- men als Ölarbeiter aus Mexiko, einige aber Bei einer Feier der Bushs steuerte er ein- stand er seinen Midland-Freunden noch sind auch Executives. Es ist in der Ära der mal eine matronenhafte Freundin seiner vor wenigen Monaten, als Präsident der großen amerikanischen Freihandelszone Mutter an und sagte: „Was ich schon immer USA). Das klappte nicht. Aber immerhin leichter geworden, Aufenthaltsgenehmi- mal wissen wollte: Wie ist das eigentlich schaffte er es, Miteigentümer einer Base- gungen in den USA zu bekommen. Die il- mit Sex über 50?“ ball-Mannschaft zu werden, der „Texas

der spiegel 45/2000 241 Titel

Saxophonspieler Clinton im Januar 1994 auf der Datscha des russischen Staatschefs Boris Jelzin Bilder des Präsidenten-Fotografen McNeely: Den Charakter des mächtigsten Staatenlenkers bloßgestellt

ls Schatten des Präsidenten, mit weißem Hemd und Seidenkrawatte, Awar der Vietnam-Veteran und Clin- Blendend und blendnerisch ton-Fotograf Robert McNeely überall dabei – in den Korridoren des Weißen Hauses, Clintons Fotograf, der mit seinem Chef nie über Politik auf Auslandsreisen und bei einem Pizza-Es- sprach, veröffentlicht die besten von 500000 Aufnahmen. sen mit der Praktikantin Monica Lewinsky. 227 Aufnahmen von rund einer halben Mil- lion hat der offizielle Fotograf des Präsi- denten nun in dem Band „The Clinton Years“ zusammengetragen – mit blenden- den und blendnerischen Motiven, die den Charakter seines Chefs eindringlich in Schwarzweiß bloßlegen. McNeely versi- chert, mit Clinton nie über Politik gespro- chen zu haben. Dennoch sprechen die Fo- tos Bände: Sie zeigen die Geschmeidigkeit Clintons und dessen Launen, Szenen einer Ehe sowie die Macht und Ohnmacht des wichtigsten Staaten- lenkers der Welt. Einmal sitzt Clinton allein am Kabinetts- tisch, nach vorn ge- beugt, die Schultern hochgezogen: ein Mann, der offen- kundig keinen Aus- FOTOS: R. McNEELY / THE WHITE HOUSE / THE WHITE R. McNEELY FOTOS: Clinton beim Besuch des Dalai Lama im April 1994 weg wusste.

242 der spiegel 45/2000 Rangers“. Als späterer Manager des Teams wurde er geschäftlich erfolgreich und ge- sellschaftlich vorzeigbar. Noch einmal hat George W. gezögert, ob er wirklich in die riesigen Fußstapfen des Vaters treten sollte. Nach dessen Amts- antritt ließ er von Bush seniors Wahl- kampfstab eine Untersuchung anfertigen, was aus den Kindern von Präsidenten wur- de. Doch auch als er las, dass zwei von John Adams’ Söhnen zu Alkoholikern wur- den, ließ er sich nicht abschrecken, sondern konzentrierte sich aufs Positive: Der dritte Sohn war Adams ins Präsidentenamt nach- gefolgt. 1993, nach der Wahlniederlage seines Vaters gegen Bill Clinton, kündigte Bush Seine Frau Laura drohte, George W. Bush wegen seiner Alkohol-Exzesse zu verlassen – erst da hörte er auf zu trinken

seine Kandidatur für den Gouverneurs- posten an; nun in einer neuen, endlich selb- ständigen Rolle, die ihm sehr gefiel – als Rächer seines von den Demokraten ge- demütigten Vaters. George W. gewann im November 1994 gegen die favorisierte de- mokratische Amtsinhaberin Ann Richards. Vier Jahre später wurde er mit einer Mehr- heit von 69 Prozent wieder gewählt. Er hat härtere Maßnahmen gegen die Jugendkriminalität durchgesetzt, die Schu- len durch private Konkurrenz zu verbes- sern versucht, „überflüssige“ Sozialhilfe gestrichen. Und George W. hat sich allzeit und ganz treu als Freund des Big Business gezeigt: Nirgendwo in den USA darf die Großindustrie so ungestört die Umwelt ver- schmutzen wie in Texas. Houston hat in Bush juniors Amtszeit Los Angeles als Ehepaar Clinton im November 1996 Smog-Kapitale Amerikas abgelöst. In Odessa, Midlands nur 20 Kilometer ent- fernter, hässlicher Schwesterstadt, müssten Fabriken wie die des Kunststoffherstellers Huntsman wohl nach europäischen Richt- linien längst geschlossen werden: Hochgif- tige Benzoldämpfe verpesten die Luft. Es war der Politikstil, der die Texaner größtenteils für ihren Gouverneur einnahm: Er versuchte – obwohl Mann der Großin- dustrie – parteiübergreifend zu arbeiten und gab sich als integrierende Kraft einer neu- en Mitte. „Ich konnte Bill Clinton nie lei- den“, sagt der Bush-Freund und ehemalige Geschäftspartner Mike Conaway in Mid- land. „Aber ich muss sagen, alle Achtung, wie der Präsident nach seinem Start als Lin- ker in die Mitte gerückt ist und sich seine Träumereien abgewöhnt hat. Ich denke, die- se Politik hat George W. beeinflusst – er hat sich ihm von der anderen Seite angenähert.“ Auch die anderen Erfolgsunternehmer von Midland können der Amtszeit Bill Clinton mit Vizepräsident Gore 1993 Clintons durchaus Positives abgewinnen. Diesen Clinton mögen sie hier in Bush- City: den Champion des Freihandels. Den

der spiegel 45/2000 243 Titel „Der Teufel, den wir kennen“ Viele US-Partner ziehen Vizepräsident Gore dem weniger bekannten Rivalen Bush vor.

M. - S. UNGER Amerikas europäische Partner: Die Unerfahrenheit des Republikaners weckt Sorgen bei den Alliierten

önnten die Japaner darüber ent- nisteriums ihre Hoffnungen hinter einem tung. Der Demokrat scheint koopera- scheiden, wer sich ab dem 20. Ja- Sprichwort: „Der Teufel, den wir kennen, tionsbereiter und berechenbarer in all den Knuar 2001 mit der exklusivsten Pri- ist uns lieber als der, den wir noch nicht großen Problemen, zu deren Lösung Bill vatanschrift der USA schmücken darf, kennen.“ Clinton kaum noch, eine frisch gewählte wäre George Walker Bush der Einzug in Gut bekannt ist in den Hauptstädten US-Administration dafür umso mehr bei- die Privatgemächer auf der ersten Etage der Welt bislang nur einer der beiden, Al tragen könnte. von 1600 Pennsylvania Avenue garantiert. Gore. Schon als Senator, aber vor allem Von der Euro-Krise bis zum Klima- Der Sieg des Gouverneurs von Texas im als Clinton-Stellvertreter jettete der Mann wandel, von der Rüstungskontrolle bis Kampf ums Weiße Haus in Washington aus Tennessee rund um den Globus, um zum weltweiten Kampf gegen Menschen- würde in Tokio wohl mit Strömen von Rüstungskontrolle zu fördern und die Um- rechtsverletzungen, vom Kosovo bis zum Reiswein begossen. welt zu schützen. Nahen Osten geht nichts mehr ohne Wa- Denn der Tort, den Präsident Bill Clin- Der Texaner hingegen weiß allenfalls shingtons Beitrag. ton Amerikas engstem asiatischem Ver- von seinem welterfahrenen Präsidenten- Natürlich hat der außenpolitische No- bündeten angeblich angetan hat, schmerzt Vater, wie es in der Fremde aussieht: Nur vize Bush ein potentes Beraterteam be- noch immer: Im Sommer 1998 besuchte dreimal hat der 54-jährige George W. bis- rufen – vorwiegend aus dem Adressbuch er den Angstnachbarn China, ohne die lang Amerika verlassen und dabei kaum seines alten Herrn. Der designierte Stell- treuen Vasallen auf der Insel auch nur mit mehr als ein halbes Dutzend Länder be- vertreter Richard Cheney war Vaters Ver- einer Stippvisite der anhaltenden ameri- sucht – aber nicht einmal so wichtige US- teidigungsminister, der wahrscheinliche kanischen Wertschätzung zu versichern. Partner wie Gerhard Schröder oder Tony Außenminister, Golfkriegsgeneral Colin Sollte nun sein Vize Al Gore zum mäch- Blair. Eine Blitztour durch Europa, gleich- Powell, dessen höchster Militärberater. tigsten Staatsführer der Welt aufrücken, sam zum Aufpolieren seines Lebenslaufs, Gleichwohl wird letztlich Bush Jr. die „könnte der Druck auf Japan noch stärker hatte der Bewerber um die Führung der unvermeidlichen Konflikte zwischen In- wachsen als unter der derzeitigen US-Re- einzigen Supermacht kurzfristig abgesagt ternationalisten und Isolationisten ent- gierung“, warnt düster die größte Tages- – der Wahlkampf zu Hause war wichtiger scheiden müssen, in die seine Partei tra- zeitung Japans, „Yomiuri Shimbun“. Der als die Erfahrung in Übersee. ditionell zerfällt. Doch schon die ersten gewerkschaftsnahe und chinafreundliche Nicht nur die Macht der Gewohnheit Marksteine, die George W. setzte, ver- Demokrat werde bei den Handelskonflik- bewegt Alliierte, Partner und potenzielle schreckten die Partner. ten zwischen den beiden größten Wirt- Gegner zu ihrer Gore-freundlichen Hal- „Amerikas Interesse“ soll wieder das schaftsnationen der Welt vermutlich eine zentrale Kriterium werden, nach dem in noch schärfere Haltung einnehmen. einem Bush-White-House entschieden Mit der eindeutigen Vorliebe für den würde. Friedenserhaltende Einsätze etwa, oppositionellen Bewerber, die offiziell gar unter dem Kommando der Vereinten natürlich – wie in allen Hauptstädten der Nationen, lehnt der Texaner rundheraus Welt – hinter einem Schleier diplomati- ab. Das dürfen andere machen. scher Neutralität verborgen wird, steht Das Amerika des George W. will nicht Japan ziemlich allein. länger Weltpolizist spielen. Auf die Frage,

Überall sonst verstecken – strikt an- AP ob nicht auch regionale Konflikte, massi- onym, versteht sich – Diplomaten von europäischen Botschaftern in Washington Partner Gore, Blair bis zu Sprechern des Pekinger Außenmi- Rund um den Globus gejettet

244 gewendeten Wirtschaftspolitiker, der sich, einmal im Amt, schnell von der im Wahl- ve Menschenrechtsverletzungen oder programm angesagten BTU-Tax trenn- Hungerkatastrophen die Lebensinteres- te, einer Energiesteuer. Den ideologisch sen der Supermacht berühren und deren Flexiblen, der sich nach den ersten chao- Eingreifen erzwingen könnten, blieb der tischen Monaten den republikanischen Texaner bislang eine Antwort schuldig. Berater David Gergen in seinen Stab Der „Abzug vom Balkan“, den seine holte. außenpolitische Chefberaterin Condo- Aber genau diesen schnellen Über- leezza Rice, ebenfalls ein Erbe aus der gang vom Auch-Idealisten zum Nur-noch- Administration des Vaters, ankündigte, Realpolitiker werfen Clinton andere veranlasste die amtierende Außenminis- vor. Der Wirtschaftsprofessor Robert B. terin Madeleine Albright zu einer schar- Reich hatte voller Enthusiasmus sein fen Replik. Der politische Schaden vor Amt als Arbeitsminister im ersten Kabi- allem bei den Nato-Partnern ließ sich da- nett Clinton angetreten. Dem zweiten woll- mit allerdings nicht mehr beheben. te er nicht mehr angehören, weil er mein- Der jüngste Alarmruf der Uno-Kom- te, nichts Fundamentales in Sachen sozia- mission zur Beobachtung der Klimaver- ler Gerechtigkeit sei geschehen: änderung setzt vor allem den Luftverpes- Noch immer besaßen 10 Prozent der ter Nummer eins, Amerika, unter Druck, Amerikaner 70 Prozent der – stark anstei- mehr zum Erhalt lebensverträglicher Be- genden – Aktien, mit den Plänen zu einer dingungen auf dem Planeten zu tun. Gore umfassenden Krankenversicherung war die tritt dafür ein, Bush ist strikt dagegen. Regierung kläglich an der allmächtigen Nur in Abstimmung mit Moskau will Pharmalobby gescheitert. der Demokrat zudem Washingtons Pläne „Clinton laviert nach rechts, wenn für eine landesweite Raketenabwehr ver- der Wind so bläst, und das tut er jetzt“, folgen und gilt deshalb im Moskauer erläuterte Wahlkampfmanager Dick Außenministerium als eine „Hoffnung Morris dem Arbeitsminister. „Aber er ver-

zum Besseren“. Der Republikaner hin- liert nie sein Ziel aus den Augen.“ Reich / CORBIS SYGMA L. STONE gegen möchte den einst vom konservati- fragte nach: „Welches Ziel denn genau?“ Illegale Immigranten ven Ahnherrn Ronald Reagan geforder- Morris: „Seine Wiederwahl ins Weiße Texas braucht frisches Blut ten Schutzschirm so schnell und so um- Haus.“ fangreich wie möglich realisieren – ohne Bill Clinton schaffte es, mit einer weitaus Ethno-Mix Rücksicht auf die Sorgen der Verbünde- niedrigeren Wahlbeteiligung als beim ers- ten und die Warnungen von Moskau und ten Mal. Das Glück blieb ihm treu: Die Bevölkerung in den USA 1999 Peking vor einem neuen Wettrüsten. Wirtschaft boomte weiter. Zum großen Hispanics Asiaten % Derartig eng gesteckte Nationalinter- politischen Wurf fehlte ihm aber trotz vie- 11,7 % 3,8 essen bleiben nicht einmal in Japan un- ler sinnvoller Regierungsinitiativen wie den Weiße beachtet. Die einflussreiche Tageszeitung 68000 zusätzlich angestellten Polizisten – Schwarze 72,2 % „Asahi“ warnt bereits vor allzu großen wohl auch der letzte kreative Elan. 12,3 % Hoffnungen auf Bush: „Wenn es mit der Bush junior hat sich zu Clintons Regie- US-Wirtschaft nicht lief, wurde auch un- rungsstil selten geäußert, aber er verfolg- ter republikanischen Regierungen grau- te nach Aussagen seiner Freunde den sam auf Japan eingehauen.“ Mann im Weißen Haus genau. Manchmal Und auch der mächtige Nachbar auf kam er auch nach Mid- dem Festland blickt ohne große Erwar- land in den exklusiven Gesamt: Bevölkerung in Kalifornien 273 Millionen tungen auf den 7. November. Der chine- Petroleum Club. Dann in Prozent sische KP-Chef Jiang Zemin sieht das legten sie ihm seinen Quelle: U.S. Census Bureau 1999 50 Verhältnis zwischen der bevölkerungs- Lieblingssong „Wake Weiße reichsten und der wirtschaftsstärksten Na- Up, Little Suzie“ auf 1990 57 Zu Höherem geboren: tion der Welt „manchmal heiter, manch- und redeten von den al- Hispanics, 1999 50 Gore-Country mal trübe, aber nach dem Gewitter klärt ten Zeiten, als sie noch Asiaten, es sich immer auf“. Frösche mit Dynamit in Schwarze 1990 43 Es ist ein weites, fruchtbares Da mögen auch deutsche Diplomaten die Luft jagten. George Hügelland mit großen Her- in Washington mit Plattitüden nicht W. ist ein Mann, der rensitzen und gemütlichen zurückstehen. Ängste, ein Sieg des kon- alte Freunde nicht vergisst und es wie Clin- Dörfern. Country- and Western-Music servativen Kandidaten könne dem be- ton genießt, Hände zu schütteln und auf weht über den Cumberland-Fluss, eine drängten Euro womöglich noch schwerer Rücken zu klopfen. Immer noch ist er ganz knappe Autostunde östlich von Nashville zusetzen, beruhigte einer von ihnen mit seines Vaters Sohn. Tränen schießen ihm (Tennessee). „You are entering Gore Coun- dem Satz: „Nichts wird so heiß gegessen, in die Augen, wenn er an „sein schönstes try“ steht auf einem verwitterten Schild wie es gekocht wird.“ Erlebnis“ zurückdenkt: als Papa ihm bei nahe der 2600-Seelen-Gemeinde Carthage Lediglich Außenminister Joschka Fi- der Amtseinführung als Gouverneur die und zwischen den Weilern Difficult scher gelang eine noch profundere Ein- Manschettenknöpfe des Großvaters über- (Schwierig) und Defeated (Geschlagen). schätzung: „Die Wahlen sind innen- reichte. „Diese Dörfer von Tennessee habe ich politisch wichtiger als außenpolitisch“, „Das war ergreifend“, sagte George W. immer als meine Heimat empfunden“, belehrte er die deutsche Öffentlich- Bush zu seinen Kumpels. „Vor allem, wenn pflegt Präsidentschaftskandidat Gore in In- keit. Siegesmund von Ilsemann man weiß, dass Vater sich einen idealen terviews zu sagen. Ihre Namen nennt er nie Sohn etwa so vorstellt wie diesen Al – und mag dabei neidisch an Bill Clinton Gore.“ denken, an dessen Heimatort in Arkansas.

der spiegel 45/2000 245 „A place called Hope“ eigne- Er lässt sich von Clinton te sich wunderbar für die schriftlich zusichern, bei al- Wahlkampfwerbung. Aber len wichtigen Kabinettssit- „A place called Defeated“? zungen dazugeholt zu wer- Die Farmer, die sich heute den. Er stürzt sich in die Ar- im B&B-Drive-In am Cooke- beit, verblüfft immer wieder ville Highway zu Bier und ge- mit Detailkenntnissen und grillten Hähnchen treffen, hilft wesentlich dabei, die glauben an den Sieg des Lo- aufgeblähte Regierungsbüro- kalmatadors. Die Gores sind kratie zu verschlanken. Er hier noch mehr ein Bestand- hat großen Anteil an der Ge- teil der Gemeinschaft und lo- setzgebung, die den neuen

kalen Folklore als die Bushs FOCUS / AGENTUR E. REED / MAGNUM Medien ihren Siegeszug er- in Midland. Al war in dieser Obdachloser in New York: Mehr Geld für die Wohlfahrt möglichte. Aber immer steht Kneipe Stammgast wie sein sich Al Gore auch selbst im Vater. Und eigentlich war allen klar, dass aus (auf der Farm) Hühner zu hypnotisieren Wege. Für Erich Segals Roman „Love dem Kleinen, der allen immer einen Gefal- versuchte oder (in der Stadt) einen Dinner- Story“ seien seine Frau Tipper und er die len tun wollte, einmal etwas Großes würde. Abend über den Niedergang der Metapher Vorbilder gewesen – belegen konnte er dies Wenn George W. mit 40 Jahren erwach- in Amerika abhielt: „Ich bin mit der Nei- nicht. Und Gore behauptete, in Vietnam sen wurde, so wurde Al junior etwa mit gung aufgewachsen, erst nach dem Kopf, beschossen worden zu sein – nachweislich zehn Jahren erwachsen. dann nach dem Herzen zu handeln.“ falsch. Das wurde zu einem unübersehba- Er konnte als Baby gerade kriechen, da Eine Seminararbeit an der Harvard Uni- ren Charakterzug des Vize, zu einem An- war er schon im Büro von Präsident Tru- versity beschäftigte sich mit dem „Einfluss griffspunkt für Bush: sein Geltungsdrang, man. Er war kaum in der Schule, da nahm des Fernsehens auf die Präsidentschaft“. Er seine Gefallsucht. ihn Vizepräsident Nixon in einer Sitzungs- versuchte sich in Nashville als Zeitungsre- Der Vizepräsident, der immer auf den pause mit aufs Podium hoch über dem US- dakteur, berichtete als Armeereporter aus Wortlaut des Gesetzes pochte, wurde ganz Senat und gab ihm den Hammer zum Spie- Vietnam – er hatte sich freiwillig zum Ein- nach Washington-Art zum Insider: Er bog len. Er war gerade Gymnasiast, da ließ ihn satz gemeldet, um den Kontrahenten seines sich das Gesetz zurecht, wenn er sich un- der Vater ein Telefongespräch mit dem neu- Vaters keine Wahlkampfmunition zu lie- beobachtet fühlte. Er nutzte sein Amtstele- en Präsidenten John F. Kennedy mithören fern. Vietnamkriegsgegner Gore senior ver- – und bereute es bitter: JFK gebrauchte lor 1970 dennoch die Wahl – und weinte bit- „Ich bin mit der Neigung Schimpfworte, für die Al senior den Sohn terlich. Politik bestimmte nicht das Leben, aufgewachsen, erst nach dem noch nicht reif fand. es war das Leben. Gore junior hatte in Wahrheit zwei Plät- Der Alte wollte, dass der Junge die Kopf und dann nach dem Herzen ze, an denen er aufwuchs. Einmal die Fa- politische Fackel weitertrug, dazu hatte er zu handeln“, sagt Al Gore milienfarm in Tennessee, dann ein Zwei- ihn schließlich erzogen. Und Al junior er- Zimmer-Apartment im Fairfax Hotel von füllt einmal mehr die Erwartungshaltung. fon im Weißen Haus zum Spendensammeln Washington. Sein Vater saß für die Demo- Mit 28 Jahren wird er Kongressabgeord- für den Wahlkampf, er zapfte dubiose Quel- kraten erst im Kongress, später war er 18 neter, mit 36 Senator, mit 39 bewirbt er len an. So hielt er Clinton den Rücken frei, Jahre lang Senator für Tennessee. Al ge- sich um die Präsidentschaftsnominierung auch als der Präsident in die Lewinsky-Af- wöhnte sich rasch an das „Doppelleben“ – der Demokraten – und scheitert nur knapp. färe und in ein Amtsenthebungsverfahren und dass Politik es bestimmte. Er nimmt sich eine kurze Auszeit, schreibt stolperte. Auf Al Gore konnte sich der Com- Er lernte, sich jeder Situation perfekt ein kluges Buch über Politik und Umwelt mander-in-Chief verlassen. Der Vize nann- anzupassen, ein Ausbund von Disziplin, („Earth in the Balance“). Er ist 44, als Bill te ihn in den düstersten Stunden öffentlich ob in der Eliteschule der Hauptstadt oder Clinton ihn zu seinem Vize erwählt. Ein ge- „einen der größten Präsidenten in der Ge- auf der Farm. Schon als Teenager sog er nialer Schachzug des politischen Naturta- schichte der Vereinigten Staaten“ – über- Wissen auf wie ein Schwamm. Suchte sei- lents aus Arkansas: Gore ergänzte den Gla- trieben wie immer, loyal wie immer. ne Grenzen und erprobte seine Macht über mour des Sonnyboys mit Sachkenntnis und In der Kneipe seines Heimatorts in Ten- seine Umwelt. Beispielsweise, indem er Solidität. nessee würden sie Al Gore den Einzug ins

US-Wirtschaft in der Ära Clinton Bruttoinlandsprodukt (BIP) Durchschnittliches Jahresbrutto- Arbeitslosenquote in Prozent in Milliarden Dollar 9000 einkommen je Haushalt in Dollar 8000 6,9 250000 Top-5-Prozent 7000 6000 200000 Clinton wird 6,1 Präsident 5,6 1993 94 95 96 97 98 99 5,4 150000 Oberes Fünftel Haushaltsbilanz in Prozent des BIP 4,9 * 2,3 4,5 4,2 ÜBERSCHUSS 0,8 1,4 100000

1993 94 95 96 97 98 99 2000 50000 *geschätzt Unterstes Fünftel 0,3 Quelle: U.S. Census Bureau, OECD, Datastream 1,4 0 2,9 2,2 3,9 DEFIZIT 1985 8789 91 93 95 97 99 1993 94 95 96 97 98 99

246 der spiegel 45/2000 Titel

Weiße Haus sehr gönnen – aus persönli- mehr einfangen; nicht einmal ein Drittel chen Gründen. Aus politischen weniger. Wo der 18- bis 25-Jährigen werden wohl wählen früher Farmland war, sind jetzt Einkaufs- gehen. Die junge Elite kümmert sich aus- zentren entstanden – und Fertigungsanlagen schließlich ums Geldverdienen am Neuen wie die des japanischen Autoherstellers Nis- Markt oder um den Spaß mit der musika- san. „Den ausländischen Firmen und den lischen Internet-Tauschbörse. Sie sind nicht reichen Internet-Kids haben sie im Weißen mehr die „Kinder von Marx und Coca- Haus den Weg geebnet“, sagt ein Nachbar Cola“, wie Regisseur Jean-Luc Godard ein- der Gores, der nur Jim genannt werden will. mal die 68er genannt hat; sondern die Kin- „Aber die Farmer und die kleinen Leute der von Nasdaq und Napster. haben sie nicht besser gestellt. Und die Wohlfahrtsreform war richtig brutal.“ Selbst eine Prognose des Clinton-Ge- Die Revolution der sundheitsministeriums bestätigte dies – Dot-Commies eine Million Kinder würden zusätzlich ver- In New York City sprechen die Medien von armen, wenn das Programm durchgezogen der neuen „Millionärs-Mittelklasse“ – und wäre. Die Regierung ließ sich nicht beirren: das in durchaus mitleidigem Ton. Essenszuschüsse für die Bedürftigsten so- Wer gerade mal eine Million US-Dollar wie für Immigranten wurden beschnitten, besitzt, hat Probleme, sich im Big Apple ein Gelder für Behinderte gekürzt; allein er- einigermaßen luxuriöses Leben zu ma- ziehende Mütter wurden in den Arbeits- chen. Ein Vier-Zimmer-Appartement in ei- markt hineingezwungen. ner attraktiven Gegend ist um diesen Preis

Das Gesetz ebnete die Zusammenarbeit nicht zu haben. Personal Trainer, Schön- FOCUS / AGENTUR / MATRIX L. PSIHOYOS mit dem republikanisch dominierten Kon- heitschirurg, Garderobe, das alles geht ins Computer-Millionär McNealy gress, es kam dem „gesunden Volksemp- Geld. Das Abendessen in einem In-Lokal Das große Protzen finden“ nahe. Es ging Gore gegen den wie dem „AZ“ in Mid-Manhat- Strich (sein jetziges Wahlkampfprogramm tan kostet für ein Paar mit zwei ist in sozialen Fragen wieder ehrgeiziger). Kindern gut und gern tausend Aber er hatte sich einer Tendenz gebeugt, Dollar. die er einmal so beschrieb: „Ich begann Was für ein Glück, dass die meinem eigenen politischen Urteilsvermö- wirklich Reichen in Amerika zu- gen zu misstrauen, so fragte ich die Mei- nehmen: In der Clinton-Ära hat nungsforscher um Rat.“ sich die Zahl der Zehn-Millio- Extremer machte das noch sein Boss: nen-Männer auf 275000 vervier- Stellenweise sah es so aus, als würde im facht; 41000 davon leben in New Weißen Haus nur noch nach Umfragen re- York. In besonderen Seminaren giert. Clinton entschloss sich sogar dazu, werden die Kinder der Super- seinen Urlaub nicht wie geplant im wohl- reichen von Psychologen auf habenden Martha’s Vineyard zu verbrin- ihre Existenz vorbereitet. gen, sondern in Wyoming – weil das an- Der Kampf ums Weiße Haus geblich besser ankam. Und sein Berater hat für die Elite der New Eco- Morris riet ihm in Sachen Lewinsky nach nomy wie die Internet-Tycoons Umfragen zur Lüge – die Öffentlichkeit Jerry Yang und Scott McNealey würde auf die Wahrheit negativ reagieren. wenig Gewicht. Sie wissen, dass So etwas ist für die einfachen Menschen mit dem Notenbankpräsidenten auf den Feldern von Difficult und Defeated Alan Greenspan ein Mann im

nicht nachvollziehbar. Einen manipulier- Amt ist, der unabhängig und in- INTER-TOPICS ten und manipulierenden Präsidenten wol- tuitiv jede Geldmarktentschei- Internet-Tycoon Yang, Microsoft-Milliardär Gates len sie nicht. Sie sind gegen die Anti-Rau- dung richtig trifft. Sie wissen in- Mit Washington nicht viel am Hut cher-Politik, die Gore so vehement vertritt: zwischen auch, dass Clinton nicht Schließlich haben viele Farmer hier Ta- als Linker, sondern als Wirtschaftsliberaler bakfelder. Aber Al Gores geliebte Schwes- in die Geschichtsbücher eingehen will. ter Nancy, eine starke Raucherin, ist 46- „Wir sind in das Informationszeitalter ein- jährig an Lungenkrebs gestorben. „Ich getreten, in die globale Ökonomie“, sagte kann ihm nicht übel nehmen, dass ihn das der Präsident bei seiner Rede zur Lage der beeinflusst hat“, sagt Nachbar Jim. Nation 1998. „Wir haben einen Dritten Weg Während George W. seinen Heimatstaat gefunden.“ Und er forderte ein Programm, Texas klar gewinnen dürfte, steht es in Ten- das nun Gore vertritt: Haushaltsdisziplin, nessee auf Messers Schneide. Als wolle er mehr Geld für Erziehung und Forschung – die alten, siegreichen Rock-’n’-Roller-Zeiten ansonsten: Laisser-faire. Die Daten-Auto- von 1992 beschwören, begab sich Al Gore bahnen: freigeschaltet. Die wirklichen (Lieblingsalbum: „Magical Mystery Tour“ Straßen: oft Bürgerinitiativen und deren der Beatles) letzte Woche auf eine Busreise Spenden überlassen – „Adopt a highway“. durch die weite amerikanische Provinz: Tip- Was aber passiert, wenn die so viel per war dabei, der Vizepräsidentschafts- beschworene weiche Landung ausbleibt, kandidat Joe Lieberman und seine Frau Ha- die überhitzte amerikanische Ökonomie in dassah, dazu der Rockstar Jon Bon Jovi. die Kernschmelze übergeht? Wirtschafts- Aber die jungen Amerikaner kann Gore wissenschaftler wie Paul Krugman halten

mit einem solchen Nostalgie-Trip kaum das zumindest für möglich. Der Invest- FOCUSAGENTUR / FOCUS PLUS

der spiegel 45/2000 Werbeseite

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War da nicht mal was – mit einer Prak- tikantin namens Monica, mit einem Amts- enthebungsverfahren? Die Republikaner, meint Clinton in dem Interview, sollten sich „für das Impeach- ment-Verfahren beim amerikanischen Volk entschuldigen“ – schließlich habe er sich ja auch für sein persönliches Fehlverhalten entschuldigt. Clinton wird mit seinen 54 Jahren bald der jüngste Ex-Präsident seit Theodore Roosevelt sein. Der wurde mit dem Ruhe- stand nie fertig, schoss auf alles, was ihm vor die Flinte kam – bei afrikanischen Sa- faris allein 17 Löwen, 20 Rhinozerosse, 11 Elefanten. Roosevelt schoss sich auch auf seine Nachfolger ein, verbittert bis ans Le- bensende. Wird es auch Clinton so gehen, wenn das grelle Scheinwerferlicht erlischt?

REUTERS Er habe noch seinen Mustang-Sportwa- Kontrahenten Bush, Gore*: Mehr Geld für Erziehung und Forschung gen, erzählt er. Nein, er könne sich nicht vorstellen, dass der Neue im Weißen Haus ment-Boom hat die Profite und die Aktien- „Bobos“. Dieser Elite soll nichts Geringeres darunter leide, dass er weiterhin Präsident märkte aufgepumpt. Sollten die Wertpa- gelingen als die Vereinigung zweier wider- sein wolle. Er könne das Leben auch jenseits piere dramatisch fallen, würden sich die sprüchlicher Prinzipien: der intellektuellen des Weißen Hauses durchaus genießen. Konsumenten zurückhalten und mehr spa- Welt der Boheme-Hippies der sechziger Jah- Dem amerikanischen Autor Joe Klein ren. Weder Bush noch Gore haben bei re und der knallharten Internet-Unterneh- („Primary Colors“) führte Clinton neulich ihren Wahlversprechen einen solchen Kon- mer und Börsianer der Achtziger und Neun- vor, wie er sich das ausmalt. Auf dem junktureinbruch auch nur in Erwägung ge- ziger – erleuchtete Kapitalisten. Heimweg nach einer Veranstaltung in Wa- zogen – er passt nicht zum Daueroptimis- Der bürgerliche Bohemien ist gleichzei- shington ließ er zum Entsetzen seiner Leib- mus in Amerika. tig politisch liberal und ökonomisch kon- wächter die Wagenkolonne stoppen: Der Wer nicht spekuliert, hat in Manhattan servativ, er ist für das Recht auf Abtrei- Präsident hatte ein McDonald’s-Restaurant kaum mehr eine Chance. Die ehemalige bung, schärfere Waffengesetze und setzt gesichtet und konnte nicht widerstehen. In Mittelklasse – darunter Ärzte, Professoren, sich im Ausland für Ziele wie den Schutz dem Chaos um ihn herum bestellte er in al- Angestellte – kämpft gegen einen immer der Regenwälder ein. Er beruhigt sein Ge- ler Ruhe ein Chicken-Sandwich und „ton- höheren Schuldenberg. 40 „Anonyme wissen durch bewussten Konsum – indem nenweise Pommes“: „Wenn ich schon wie- Schuldner“-Hilfsgruppen haben sich zu- er Stoffe aus Tibet kauft. „Dies ist eine Eli- der Normalbürger sein muss, dann benehm sammengefunden und spenden sich ge- te, die erzogen wurde, gegen Eliten zu re- ich mich besser auch wie einer.“ genseitig Trost. bellieren. Die Bobos sind wohlhabend, Und so wird sich bald der Mann verab- Das große Protzen mag bei den Milliar- ohne habgierig zu sein“, sagt Autor schieden, der eines der größten politischen dären noch en vogue sein, bei der neuen Brooks. „Sie haben es an die Spitze ge- Generation der Dot-Commies ist es nicht schafft, ohne zu offensichtlich auf andere „Wenn ich schon wieder Normal- angesagt. Die jungen Leute, die 16 Stunden herunterzuschauen.“ Für die Innenpolitik bürger werden muss, dann arbeiten, tun das meist in spartanischen interessiert sich diese neue Elite nicht. Absteigen in Brooklyn oder Queens: Bett, benehme ich mich auch so“, sagte CD-Player, Espresso-Maschine. Luxus ist ™ Clinton und ging zu McDonald’s nicht out, aber vertagt – um etwa 20 Jah- re. Sie planen den Rückzug aus dem Ar- er ist nun der bessere Clinton- Talente der amerikanischen Nachkriegs- beitsleben bis 40. Viele sind Single, kaum Klon, wer der Bill-ohne-Peinlich- zeit war. Ein Präsident, der das Machbare einer ist politisch interessiert. Wkeiten, von dem Amerika zu träu- durchsetzte und seine Visionen schnell – „Bush oder Gore – das hat keinen rea- men scheint? Bei den Wählern, die „Clin- manchmal gar zu schnell – zu den Akten len Bezug mehr zu unserem Leben“, sagt tons Regierungsleistung gutheißen“, aber legte. Ein Präsident, der seinen selbstzer- der Programmierer Paul Smith. Mit den ihn „persönlich nicht mögen“, liegt er- störerischen Zug nie besiegen konnte und Babyboomern und Blumenkindern kann staunlicherweise der Republikaner George von dem vor allem ein Satz in Erinnerung der 22-Jährige nichts anfangen. Sein Loft ist W. Bush mit 55 Prozent gegenüber Al Gore bleiben wird: „I did not have sexual rela- schwarz und hat weder Stuhl noch Bett, (24 Prozent) klar in Front. Und immer noch tions with that woman.“ keine Dekoration. Manchmal träumt er da- nicht soll sich der Präsident auf Gores Aber auch dieser Satz wird verblassen, von, aufs Land zu ziehen, das Telefon ab- Wunsch in die Schlussphase des Wahl- wenn erst Bush oder Gore ins Weiße Haus zumelden und ohne Elektrizität bei Ker- kampfs einmischen dürfen. eingezogen sind. Der amerikanische Phi- zenschein zu leben – wie das so viele schon In einem gerade veröffentlichten Inter- losoph Ralph Waldo Emerson hat einmal tun. Aber sein Logo für sein Internet-Pro- view mit dem US-Magazin „Esquire“ geschrieben: „Jeder Held wird einmal ein gramm auf dem Bildschirm ist eine Nelke. schwärmt der Präsident davon, der Job Langweiler.“ Der amerikanische Autor David Brooks habe ihn zu einem besseren Menschen ge- Im Moment haben die Parteistrategen glaubt, jenseits der Yuppies und Dot-Com- macht, die USA sei durch seine Amts- beider Seiten ein anderes Problem, das sie mies einen neuen Trend in den USA ausge- führung ein besseres Land geworden. Die mit fieberhaften Auftritten und starken macht zu haben: Amerikas Zukunft gehört Zeit im Weißen Haus sei eine „wunderba- Sprüchen in den letzten Wahlkampfstun- demnach den „Bourgeois Bohemians“, den re Erfahrung, auch für meine Familie, mei- den angehen: Wie macht man aus einem ne Frau, meine Tochter“. William Jefferson Langweiler einen Helden? * Mit dem New Yorker Erzbischof Edward Egan. Clinton ist mit sich im Reinen. Erich Follath

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Werbeseite Titel

SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Rolle eines Ersatz-Rom“ Politikwissenschaftler Chalmers Johnson über das imperiale Auftrumpfen der einzigen Supermacht, die Grenzen und Rückschläge ihrer globalen Mission

davon überzeugt, dass ihre Rolle in der Welt eine tugendhafte ist und ihre Handlungen praktisch unfehlbar sind – gut für andere wie für sie selbst. Die Amerikaner suchen ihre Macht bis in jeden Winkel der Erde auszudehnen und benutzen dabei ihr Kapital dazu, ein Weltwirtschaftssystem nach ihrem Gusto durchzusetzen, was das auch immer die jeweiligen Länder kosten mag. SPIEGEL: Wir sehen niemanden, der Washington diese globale Rol- le streitig machen könnte. Johnson: Hochmut kommt immer vor dem Fall. Aus der Geschichte

A. KOESTER wissen wir, dass Weltreiche früher oder später kritische Stadien er- Chalmers Johnson reichen. Amerika ist arrogant, überheblich, selbstsicher. Für lehrte als Asienexperte mit dem Schwer- die meisten Amerikaner war es punkt China/Japan von 1962 bis 1992 noch 1988 unvorstellbar, dass die politische Wissenschaften an der Univer- Sowjetunion drei Jahre später ver- sity of California in Berkeley und San schwinden würde – auseinander- Diego. Der aus Arizona stammende Ge- gebrochen und am Ende. lehrte war während des Kalten Krieges SPIEGEL: Ein merkwürdiger Ver- zwischen Ost und West – so die gleich – das Sowjetreich war vol- Selbsteinschätzung – „eine Speerspitze“ ler innerer Widersprüche, wirt- des US-Establishments und seiner impe- schaftlich ausgepowert und von rialen Ambitionen sowie Berater der CIA. den Amerikanern im Wettrüsten Heute ist Johnson, 69, der nunmehr das ausgeblutet. „Japan Policy Research Institute“ leitet, Johnson: Was die Sowjetunion zu ein harscher Kritiker der Hegemonial- Fall brachte, war ihre imperiale

ansprüche amerikanischer Außen- und Überdehnung, nicht der Wettbe- AFP / DPA Militärpolitik. werb mit den USA oder die Un- New Yorker Siegesparade nach Golfkrieg (1991) fähigkeit zur Reform. Amerikaner „Amerika ist arrogant, überheblich, selbstsicher“ denken, sie seien gegen das russi- SPIEGEL: Herr Professor, werden die USA sche Schicksal immun. Das ist falsch. Ame- SPIEGEL: Gleichwohl müssen Öl- und Bör- auch unter ihrem neuen Präsidenten die rikaner haben wenig Talent für Veränderung. senschock die Amerikaner weniger in Un- Welt als Supermacht dominieren? SPIEGEL: Eines der Hauptthemen im US- ruhe versetzen als andere. Johnson: Das ist und bleibt die erklärte Ab- Präsidentschaftswahlkampf war die Frage, Johnson: Das stimmt, und es stimmt nicht. sicht, ob der Präsident nun Gore oder Bush wie der Haushaltsüberschuss verteilt wird. Schauen Sie sich mal im Fernsehen die heißen wird. Die Unterschiede zwischen Und da spielen Sie die Kassandra und re- endlosen Anzeigen für Börsenmakler Demokraten und Republikanern sind hier den von einem bevorstehenden Zusam- an, den Nasdaq oder die Internet- nicht von tiefer, grundsätzlicher Natur. menbruch? Firmen – all das, was Rudolf Hilferding Und beide wollen das Militärbudget, das Johnson: Überschuss? Am liebsten würde „Finanzkapital“ genannt hatte: Nun sagt schon jetzt größer ist als die Ausgaben für das amerikanische Militär, das auf dem aber jeder Wirtschaftstheoretiker von Verteidigung weltweit, noch einmal kräftig besten Wege ist, sich in ein autonomes Sys- Adam Smith bis John Hobson, dass der aufstocken. tem zu verwandeln, davon jeden Dollar überwiegende Einfluss von Finanzkapital SPIEGEL: Die „unersetzliche Nation“, wie ausgeben. Nach der Wahl am 7. November an Stelle von Fertigungsprozessen ein In- sich die Amerikaner gern nennen, hält ihre beginnt ein neuer politischer Zyklus. Es ist diz ist für eine kapitalistische Wirtschaft in allumfassende Präsenz eben für unver- durchaus vorstellbar, dass dann der Wirt- der Krise. zichtbar. schaftsboom ins Stottern gerät, es zu einer SPIEGEL: Wie alle prosperierenden Staaten Johnson: So formuliert das unsere politi- abrupten Wende und zum ökonomischen des Westens sind die USA auf dem Weg zu sche Elite. Die Amerikaner sind zutiefst Niedergang kommt. einer Dienstleistungswirtschaft …

252 der spiegel 45/2000 Johnson: … was für die normalen US- Familien heutzutage bedeutet, sich mit zwei Jobs mehr schlecht als recht über Wasser zu halten. Was stellen wir selber denn noch her? Ich fahre einen Honda, der angeblich in Ohio produziert wird. Von uns stammt aber nicht viel mehr als der Plastikhalter für den Kaffeebecher; alles, was das Auto zu einem guten Fahrzeug macht, kommt in Wahrheit aus Japan. Oder nehmen Sie so schöne Sachen wie Kassettenrecorder oder CD-Spieler. AP Opfer des Anschlags auf den Zerstörer „Cole“ „Vergeltung für imperiale Politik“

Da kann mit den Japanern keiner mit- halten. SPIEGEL: Die USA sind noch immer ein Net- toimporteur von Kapital. Johnson: Wir sind angewiesen auf den ste- tigen Zustrom ausländischer Investitionen und haben selber keine Ersparnisse. Unse- re hohen Produktionskosten treiben alle Herstellungsprozesse in die Niedriglohn- länder. Beispiel China: Ein Teil der Boeing- Bauteile wird mittlerweile in einer Militär- fabrik der Volksbefreiungsarmee in Xian hergestellt. Das macht Sinn für eine Firma, über einen kürzeren Zeitraum. Aber langfristig gesehen ist der strukturelle Einfluss verheerend: Es folgt möglicherweise der Zusammenbruch der Nachfrage. Denn die Leute, die die Pro- dukte herstellen, können sich die Sachen nicht leisten – sei es in Indien, Mexiko oder China. Und bei uns sind die Durchschnitts- familien zunehmend verschuldet. Wir kau- fen Billigprodukte, aber auf Kosten eines immer größeren Handelsdefizits. Unsere Wirtschaft steht auf tönernen Füßen. SPIEGEL: Gibt es denn nicht die Möglich- keit, dass sich diese Gesellschaft und ihre Institutionen als flexibel erweisen und er- neuern? der spiegel 45/2000 253 Titel

Johnson: Weil wir die Strukturen des Kal- fe gehoben – mit dem Ziel, dass der Rest ten Krieges erhalten haben. Wir benutzen der Welt wie wir aussehen soll. unsere Märkte, um unsere Klientelstaaten SPIEGEL: Im 19. Jahrhundert nannte man an der Leine zu halten. Und damit meine das Imperialismus, heute wohl Globalisie- ich nicht die Europäer; ich meine die US- rung. Protektorate in Ostasien, die wir indes wie Johnson: Amerikaner lieben es, Euphemis- souveräne Staaten behandelt haben. men zu erfinden. Freie Welt oder Globali- Historiker werden künftig einmal berich- sierung. Das klingt schön, latinisiert und ten, dass das wichtigste Ergebnis des Kal- gaukelt Unvermeidbarkeit vor. Aber das ten Krieges das heimliche Wirtschafts- ist Bullshit. Globalisierung ist eine ameri- wunder der asiatischen Staaten war. Unser kanische Ideologie. Sie steht für Ausdeh- Handelsbilanzdefizit verdanken wir doch nung zu unseren Bedingungen und für vor allem dem Austausch mit zwei Staaten Freihandel, solange der uns nützt. Solange – China und Japan. Da steckt die Negativ- abrechnung von 300 Milliarden Dollar. „Amerikas imperiale Strategie SPIEGEL: Mit Japan war das der Deal aus braucht die prahlerische den Zeiten des Kalten Krieges. Johnson: Und dieser Deal gilt noch immer. Demonstration seiner Die Japaner sagen: Ihr wollt Militärbasen in militärischen Macht in Europa“ unserem Land, dafür bekommen wir den privilegierten Zugang zu eurem Markt. wir die Bedingungen in Indonesien, Süd- Daran kann man nur die Vermutung knüp- korea oder Brasilien diktieren können. fen, dass der Kalte Krieg mehr war als simp- Aber solch eine Politik muss Gegenwehr le Eindämmungspolitik oder die Reaktion hervorrufen gegen einen Staat, der welt- auf die sowjetische Bedrohung; es war auch weit noch immer 65 größere Militärstütz- die Entwicklung und der Erhalt eines US- punkte unterhält. Imperiums – vor allem in Ostasien. SPIEGEL: Dies ist eine der Grundthesen Ih-

AP SPIEGEL: Jetzt tischt uns aber ein ehemali- res umstrittenen, jetzt auch auf Deutsch Anschlag auf US-Botschaft in Nairobi (1998) ger CIA-Berater wilde Verschwörungsge- erschienenen Buches „Blowback“**. Mit „Weltmächte haben ein kurzes Gedächtnis“ schichten auf. dem CIA-Terminus „Rückstoß“ beschrei- Johnson: Von wegen. Das ist keine Ver- ben Sie die unbeabsichtigten Folgen für Johnson: Zu den wenigen Elementen, schwörungstheorie als vielmehr der Ver- frühere amerikanische Operationen, Ver- die für unsere Erneuerung sprechen, such zu erklären, warum die Vereinigten geltungsschläge für Amerikas imperiale gehört die Einwanderungspolitik. Die ist Staaten auch nach dem Ende des Kalten Politik – etwa jetzt den Anschlag auf den einmalig. Wir bekommen noch immer die Krieges noch immer Kalte-Kriegs-Bezie- Zerstörer „Cole“ im Jemen. besten Menschen aus der ganzen Welt. hungen zu anderen Staaten fortführen oder Johnson: Der Anschlag ist ein perfektes Bei- Bei IBM in New York riecht es um die gar noch verstärken. Wir wissen heute, dass spiel. Typisch für Weltmächte ist ihr kurzes Mittagszeit vor allem nach Curry – die der Nationale Sicherheitsrat in den späten Gedächtnis für Dinge, die sie anderen Völ- meisten der Spitzenkräfte dort sind aus vierziger Jahren über die Idee beriet, ein kern antaten. „Blowback“ war als War- Bangalore. Die Einwanderungspolitik ist globales kapitalistisches System unter nung gedacht für künftige Vergeltungsakte eine unserer großen Stärken. Aber sonst Führung der USA zu schaffen. Das allein wegen heimlicher US-Operationen. Der sieht es duster aus. Eigentlich müsste der würde uns eine friedliche Welt bescheren. Anschlag auf die „Cole“, auf den Pan-Am- Dollar im Keller stecken, dürften wir Ame- Solange die Sowjetunion machtvoll exis- Jumbo über dem schottischen Lockerbie, rikaner uns gar keine Auslandsreisen mehr tierte, waren wir zur Vorsicht gezwungen. auf US-Botschaften in Afrika oder das New leisten. Aber als Clinton an die Macht kam, wurde Yorker World Trade Center – all das sind SPIEGEL: Warum ist das noch nicht passiert? das imperiale Projekt wieder aus der Tau- Vergeltungsakte für unsere imperiale Poli- tik. Etwa für den seinerzeitigen Luftangriff Mudschahid in Afghanistan*: „Terrorismus ist die Waffe der Schwachen“ auf Libyen (1986) oder das sinnlose Ab- feuern von Marschflugkörpern auf ein Mudschahidin-Lager in Afghanistan oder eine pharmazeutische Fabrik im sudanesi- schen Khartum. SPIEGEL: Will sagen: Die Mudschahidin, die einst von den USA mit Stinger-Raketen zum Kampf gegen die Sowjets in Afghanis- tan ausgerüstet wurden, wenden sich nun- mehr als „Terroristen“ gegen ihre einstigen Förderer? Johnson: Terrorismus ist die Waffe der Schwachen, mit der sie ungeschützte Zie- le des Staates angreifen, dessen Opfer sie geworden sind. Auch der nunmehr als Chefterrorist gesuchte Ussama Ibn Ladin war ein ehemaliger Protegé der USA bei der Bekämpfung der Sowjets in Afgha-

* Mit amerikanischer Stinger-Rakete im Kampf gegen die Russen. ** Chalmers Johnson: „Ein Imperium verfällt“. Karl Bles-

GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA sing Verlag, München; 320 Seiten; 42,90 Mark. Werbeseite

Werbeseite nistan. Er wandte sich erst ganz erhebliche Unterschie- 1991 gegen uns, weil die Sta- de – Bush etwa will die US- tionierung amerikanischer Soldaten aus Friedens- Truppen in seiner Heimat einsätzen auf dem Balkan ab- Saudi-Arabien während des ziehen, und er schlägt mit Golfkriegs gegen seine reli- dem Pushen des Raketenab- giösen Überzeugungen ver- wehrsystems eine härtere stieß. Gangart gegenüber den Die Anschläge auf amerika- Atommächten Russland und nische Botschaften in Afrika, China an. für die Ibn Ladin verantwort- Johnson: Bush steht für einen lich sein soll, wären also Macho-Unilateralismus und keine grundlosen Terrorakte, eine gewaltige Militärmaschi- sondern ein Beispiel für solch ne, während Gore das Beste einen „blowback“. Ich fürch- wie das Schlechteste der US- te, wir Amerikaner müs- Außenpolitik vertritt, so wie sen uns wegen unserer impe- sie sich seit dem Golfkrieg rialen Überdehnung noch entwickelt hat. auf viele dieser gewaltsamen Bush, dessen außenpolitische Vergeltungsschläge gefasst Berater allesamt kalte Krie- machen. ger aus der Reagan-Admini- SPIEGEL: Sind „blowbacks“ stration sind, möchte den mi- auch im Verhältnis zu Europa litärisch-industriell-universi- zu erwarten? tären Komplex auf dem Johnson: Ohne Frage, das hat Niveau des Kalten Krieges schon längst begonnen. Den- weiterlaufen lassen. Dafür ist ken Sie nur an die Empörung er bereit, die Beziehungen zu

in Italien nach den 20 Toten AP Russland aufs Spiel zu setzen des Seilbahnunglücks von Ca- Proteste vor US-Stützpunkt auf Okinawa und China mit dem Raketen- valese, weil ein amerikani- „Die Strukturen des Kalten Krieges blieben erhalten“ abwehrprogramm zu ernied- scher Marinepilot glaubte, rigen. Das ist eine extrem dort bei einem Übungsflug Kunststückchen stützen unsere Macht auf Marschflugkör- gefährliche Außenpolitik. Aber sie wird vollführen zu müssen. per, Flugzeugträger und finanzielle Mani- zur Überdehnung der Macht Ameri- SPIEGEL: Solch menschliches Versagen wird pulationen statt auf die Mittel der Diplo- kas und zum Beginn seines Niedergangs es immer und überall geben. matie, der Entwicklungshilfe und des führen. Johnson: Gewiss, aber es geht hier um internationalen Rechts. Wir sind widersin- SPIEGEL: Sie waren jahrzehntelang eine Amerikas imperiales Gehabe, das schwer nig reich, und dennoch zahlen wir unsere Stütze des Establishments, und nun pro- erträglich ist. Ein Kriegsgericht – nicht etwa Uno-Beiträge nicht. filieren Sie sich als schärfster Kritiker in Italien, sondern in Nord-Carolina – SPIEGEL: Sie porträtieren Amerika wie der Regierung. Wie geht das zusam- sprach alle Cavalese-Beteiligten frei, und einen übergewichtigen Riesen mit einem men? kleinen Gehirn. Johnson: Warum soll man nicht dazuler- „Wir ernten die Früchte, die wir Johnson: Haben wir ein Gehirn? Da bin ich nen? Meine neuen Einsichten bestehen säten; unsere Politiker, nicht mal so sicher. In überzentralisierten darin, dass ein Jahrzehnt nach dem Ende Ländern wie Frankreich oder Japan wäre der Sowjetunion und dem Verschwinden eingelullt vom absurden das Verschwinden der Hauptstadt eine Ka- einer echten Bedrohung sich bei uns nichts Reichtum, sind drittklassig“ tastrophe. Sollte aber morgen Washington geändert hat. D.C. vom Erdball verschwinden, würde Die Amerikaner werden irgendwann ihre bisher zahlten die USA keinerlei finanziel- man das hier in Kalifornien gar nicht mer- Dominanz verlieren, aber sie werden, so- le Entschädigungen. ken. Vielleicht wäre man sogar froh. Wa- lange es geht, weltweit die Rolle eines Er- Solche Vorfälle lenken in Europa die Auf- shington ist wahrscheinlich die korrupteste satz-Rom spielen wollen. Sobald Washing- merksamkeit auf die Frage, warum denn Hauptstadt der westlichen Hemisphäre. tons Vorherrschaft zusammenbricht, war- eigentlich 55 Jahre nach Ende des Zweiten Hier ist alles für Geld verfügbar. tet China schon in der Kulisse. Weltkriegs und ein Jahrzehnt nach dem SPIEGEL: Noch einmal zur Außenpolitik: SPIEGEL: Demnach wäre es vielleicht doch Fall der Berliner Mauer noch so viele US- Gibt es da zwischen Bush und Gore nicht besser, sich mit der Pax Americana zu ar- Soldaten in Italien, Deutschland, England rangieren wie einst die Eu- oder Spanien stehen. Die sowjetische Be- ropäer mit der Pax Romana? drohung ist entfallen, aber Amerikas im- Johnson: Vermutlich lebt es periale Strategie braucht offensichtlich die sich stets am besten an der Pe- prahlerische Demonstration seiner mi- ripherie. Die „Pax Romana“ litärischen Macht in Europa. Doch wird war in einem gewissen Maße das nicht mehr lange gut gehen. mehr Ausdruck von Zivilisa- SPIEGEL: Das klingt bitter, beinahe fata- tion denn von Imperium. Es listisch. gibt abgesehen von Rockmu- Johnson: Wir ernten die Früchte, die wir sä- sik-Fans wenige Leute, die mit ten; unsere Politiker, eingelullt vom ab- den USA den Begriff von Zi- surden Reichtum, sind drittklassig. Wir vilisation verbinden. SPIEGEL: Herr Professor John-

* Mit den Redakteuren Stefan Simons und Olaf Ihlau in A. KOESTER son, wir danken Ihnen für Johnsons Haus bei San Diego. Johnson (M.) beimSPIEGEL-Gespräch*: „Neue Einsichten“ dieses Gespräch.

256 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite schen Schlacht gegen die Türken vor 600 Jahren. Auf den Terror serbischer Freischärler- verbände folgten Kriminalität und ma- fiose Schattenwirtschaft mancher UÇK- Kriegshelden. „Albaner haben weniger Toleranz für die Verbrechen ihrer eigenen Leute als für die der Serben“, sagt Ramiz Kelmende, „Vertreibung und physische Angriffe durch Serben, das ist eines. Aber Gewalt durch Albaner – das verzeihen sie nie.“ Die Stimmen der Enttäuschten sam- melte Rugovas LDK. Doch der Weg zu einem unabhängigen Staat „Kosova“ scheint nach der politi- schen Wende in Belgrad vorerst blockiert. Nach internationalem, auch durch die Uno-Resolution 1244 bestätigtem Recht gehört die Krisenprovinz weiterhin zum

FOTOS: C. JOERGENSEN FOTOS: Staatsverband Jugoslawien. Dessen neu Rugova-Anhänger in Pri∆tina: Der Weg zum unabhängigen Staat ist vorerst blockiert gewählter demokratischer Präsident Voji- slav Ko∆tunica, ein serbischer Patriot, ist folg Rugovas, „nach 50 Jahren Kommu- nicht gewillt, die Kosovaren einfach zie- KOSOVO nismus glaubt hier niemand mehr an ei- hen zu lassen. nen Gott, aber der geduldige Rugova ist „Ko∆tunica würde sich den Respekt der Strohhalm in der in der Gottlosigkeit der Strohhalm der Welt erwerben, wenn er das Kosovo aus Menschen.“ Nach all den Jahren der Re- seinem Kolonialstatus entlässt“, sagt Ru- pression und dem unsicheren Neubeginn govas außenpolitische Sprecherin Edita Ta- Gottlosigkeit steht der Mann mit dem Seidenschal, hiri. Deren Chef gibt sich, wie es seine au- dem Symbol des passiven Widerstands ge- tistische Art ist, recht zugeknöpft. Politisches Comeback eines gen die Serben-Dominanz, für Ruhe und Doch ist er bereit zum Dialog mit den Kontinuität. Belgrader Demokraten. Das wiederum Autisten: Rugovas Wahlsieg in der Der smarte UÇK-Vormann Thaçi aber, lässt Thaçi grollen: „Rugova kann mit Krisenprovinz eröffnet die auf den seit den gescheiterten Rambouillet- Ko∆tunica sprechen, aber nicht hier im Ko- Chance zum Dialog mit Belgrad. Friedensverhandlungen vor allem Ameri- sovo, dazu soll er nach Belgrad fahren.“ kaner und Westeuropäer gesetzt hatten, Erste Signale deuten auf ein verändertes berschwängliche Freude ist Hamz während Rugova als altmodisch und „ver- Klima: Am Mittwoch voriger Woche ent- Hoti nicht gewohnt. Dafür gab es braucht“ galt, erlitt ein Desaster. „Die ließ Ko∆tunica die Dichterin und Ärztin Üin den zehn langen Jahren serbi- Leute identifizieren die UÇK mit der Kri- Flora Brovina, die prominenteste der über scher Unterdrückung, in den vier Mona- minalität der Nachkriegszeit“, erklärt Ba- 900 verschleppten Albaner, die seit dem ten des Krieges, die er in einem Versteck ton Haxhiu, Chefredakteur der unabhän- Nato-Luftkrieg im Frühjahr 1999 noch im- in Pri∆tina verbrachte, aber auch in den gigen Tageszeitung „Koha Ditore“ diese mer in serbischen Gefängnissen einge- anderthalb Jahren des Friedens seit der Schlappe. sperrt sind. erfolgreichen Nato-Intervention keinen Die schwedischen Kfor-Sol- Anlass. daten indes, die hinter Sandsä- Doch nun „ist ein Traum in Erfüllung ge- cken den Eingang der serbischen gangen“, sagt Hamz, 67, „eine neue Zeit Enklave von Gra‡anica sichern, beginnt“. Drei Stunden hatte er geduldig in wollen an ein friedfertiges multi- der Schlange am Wahllokal gestanden und ethnisches Leben in der zerrüt- dann für die Demokratische Liga (LDK) teten Region noch immer nicht des Literaturwissenschaftlers und Pazifis- so recht glauben: Knapp 90 zer- ten Ibrahim Rugova, 56, gestimmt. störte Kirchen und 600 Morde Mit der ersten freien Kommunalwahl in an Serben seit Ende des Krieges der befriedeten, aber nicht beruhigten Pro- begründen ihr Misstrauen. Je- vinz Kosovo sei ein „historischer Schritt in des Auto, das in das serbische Richtung Demokratie getan“, jubelte auch Ghetto um das spätmittelalterli- der Franzose Bernard Kouchner, Chef der che Kloster fahren will, wird Uno-Verwaltung Unmik in diesem interna- streng auf Waffen kontrolliert. tionalen Balkan-Protektorat. Gewinner Rugova: Symbol des Widerstands Für Pater Sava, den serbisch- Mit 58 Prozent der abgegebenen Stim- orthodoxen Mönch und elo- men und der Mehrheit in 26 der 30 Ge- Viele Vertraute Thaçis und einstige quenten Sprecher der verängstigten Min- meindebezirke hatte Rugovas LDK nach UÇK-Kommandanten waren mit Korrup- derheit in der Enklave, muss Rugova dem vorläufigen Wahlergebnis vor allem tion, Schmuggel und Mord in Verbindung nun erst beweisen, „wer er wirklich ist“. die PDK-Extremisten um den vormaligen gebracht worden, überdies mit barbari- Bisher hätten mit dem Albaner-Führer UÇK-Guerrillaführer Hashim Thaçi klar schen Racheakten an den Serben. keinerlei Gespräche stattgefunden, be- distanziert. Von vormals einer viertel Million leben klagt der Geistliche. „Wir brauchen mehr „Albaner brauchen eine Geschichte, ei- derzeit nur noch etwa 90 000 Serben in Selbstkritik auf beiden Seiten“, sagt Sa- nen Mythos“, deutet Ramiz Kelmendi, 70, ihrem mittelalterlichen Stammland rund va, „alle glauben, sie seien die einzigen einer der Mitbegründer der LDK, den Er- um das Amselfeld, Stätte der histori- Opfer.“ Carolin Emcke

258 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite für die Union erweisen. Laut Erweiterungskom- missar Günter Verheugen gehört die Republik der Zypern-Griechen „auf je- den Fall zu denjenigen, die der Beitrittsreife am nächsten sind“. Ende 2001 könnte der Aufnah- mevertrag unterschrifts- reif sein. Ein bizarrer Kandidat begehrt Mitgliedschaft. Der 180 Kilometer lange Waffenstillstandsstreifen, bewacht von Uno-Blau- helmen, trennt seit 26 Jahren knapp 670000 Zy- pern-Griechen im Süden der Insel von 200000 Zy- pern-Türken im Norden. Nach jahrelangen Über-

AP griffen der Griechen ge- Griechisch-zypriotischer Polizeiposten an der Waffenstillstandslinie: 180 Kilometer Stacheldraht gen die türkische Min- derheit und einer dro- henden Annexion durch das Athener Ob- EUROPA risten-Regime hatten Truppen der Türkei 1974 den Norden besetzt; derzeit sind dort 35000 türkische Soldaten stationiert. Die Bizarrer Kandidat politische Instabilität zog dunkle Geschäf- temacher auf die Insel. Kein Zufall, dass Zypern drängt in die EU, doch ein Beitritt der geteilten Mittel- der Clan des ehemaligen Serben-Diktators Slobodan Milo∆eviƒ Millionen Dollar auf meerinsel birgt einen Sprengsatz – zwischen griechischen der Insel versteckte. und türkischen Einwohnern könnte blutiger Streit entflammen. Schon 1990 bewarb sich die Zypern-Re- publik im Süden um Aufnahme in die EU. as Arbeitszimmer von Rauf Denk- TÜRKISCHE REPUBLIK NORDZYPERN Wegen der Teilung der Insel blieb der Antrag ta≈ ist ein Hort friedlicher Gebor- nur von der Türkei anerkannt jahrelang unbeachtet liegen. Im Dezember genheit. Zu beiden Seiten des mit 1999 aber beugten sich die D Einwohner: ca. 235 000 Türken Akten, TV-Fernbedienungen, Fotos, PC- inkl. türkischer Siedler und Soldaten Staats- und Regierungschefs Tastatur und Zeitschriften eingedeckten Anteil an der Gesamtfläche: 36,3% der EU einer Erpressung Schreibtisches zirpen gelbbraune Kana- Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 1999: ca. 4500 US-Dollar durch die Regierung Grie- rienvögel in messinggoldenen Käfigen. Kyrenia chenlands. Beim Helsinki- Der heimelige Präsidentenbau liegt in Demarkations- Gipfel beschlossen sie, eine Pistolenschussweite hinter den Sandsack- linie seit 1974 Auf Zypern Regelung der Zypern-Frage Famagusta sind 1215 barrikaden und Maschinengewehr-Nestern Nikosia Uno-Soldaten sei „keine Vorbedingung“ der „Grünen Linie“, die den türkischen ZYPERN und 34 Uno- mehr für eine Entscheidung Nordteil vom griechischen Süden der Polizisten über den Beitritt. Hauptstadt Nikosia trennt. Larnaka stationiert. Athen hatte erfolgreich Inmitten seiner trügerischen Idylle Paphos mit seinem Vetorecht gegen Limassol britische stemmte sich vorletzten Freitag der kleine, Militärbasen die Aufnahme der anderen Beitrittsanwär- wohlbeleibte Präsident der „Türkischen ter gedroht. Beim Beschluss des Rates der Republik Nordzypern“ in seinem Schreib- REPUBLIK ZYPERN EU über die Erweiterung ist Einstimmigkeit sessel nach vorn. Er zog die Schultern hoch Einwohner: ca. 670 000 griechische Zyprioten erforderlich. „Keine Regierung in Athen und kündigte mit leiser Stimme neues Blut- Anteil an der Gesamtfläche: 63,7% inkl. 2,8% britische würde im Amt überleben“, so der grie- vergießen an. Militärbasen und 3,7% Pufferzone unter Uno-Verwaltung chisch-zypriotische Außenminister Yian- Die Europäische Union solle sich vor Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 1999: 13 678 US-Dollar nakis Kassoulides, „wenn sie der Aufnah- dem „gefährlichen Fehler“ hüten, so der me Polens, Sloweniens, Ungarns, Estlands 76-Jährige, die griechische Republik Zy- minderheit, deren Marionetten-Republik und Tschechiens zustimmen würde, Zy- pern als alleinige Vertreterin der geteilten internationale Anerkennung fehlt und die pern aber in der ersten Beitrittsgruppe Mittelmeerinsel in die Gemeinschaft auf- von der politischen Entwicklung in Euro- nicht dabei wäre.“ zunehmen. Die Zypern-Griechen würden pa überrollt wurde? Joschka Fischer nimmt Nimmt die EU die geteilte Insel am 1. Ja- ihren von der EU bestätigten Alleinvertre- Denkta≈ ernst. Im ungünstigen Fall könn- nuar 2005, dem wahrscheinlichsten Bei- tungsanspruch mit Gewalt durchsetzen te die Erweiterung der EU wegen des trittstermin, als Mitglied auf, holt sie sich ein wollen. Seine Zypern-Türken, unterstützt ungelösten Zypern-Problems aufgehalten Problem ins Haus, das sie bisher sorgsam vom türkischen Militär, wüssten sich zur werden und sogar scheitern. Die Zypern- bei den Vereinten Nationen beließ. Die Tei- Wehr zu setzen (siehe Interview). Frage, so der deutsche Außenminister, ber- lung der Insel würde vertieft, die Spannun- Nur Bluff und Bangemacherei eines ver- ge „gewaltige Sprengkraft“. Die geteilte gen zwischen Griechen und Türken erhöht bitterten Anführers der türkischen Insel- Mittelmeerinsel könnte sich als böse Falle – womöglich bis hin zum Schießkrieg.

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Jetzt schon ist das Wohlstandsgefälle be- achtlich. Im griechischen Süden beträgt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 13678 Dollar, im Norden liegt es bei etwa 4500 Dollar. Hilfen aus Brüssel würden nur den „Dann gibt es Krieg“ Süden reicher machen, das abgespaltene Zypern der Türken ginge leer aus. Der Präsident des türkischen Nordzypern, Rauf Denkta≈, über die Bei solchen Aussichten mag das Parla- Teilung der Insel und die Aufnahme des Südens in die EU ment der Niederlande einer EU-Aufnahme der geteilten Insel nicht zustimmen. Vor- SPIEGEL: Herr Denkta≈, die nächste Run- SPIEGEL: Der deutsche EU-Erweite- sorglich hat es eine Resolution verabschie- de der Uno-Zyperngespräche läuft an. rungskommissar Verheugen wirft Ihnen det, die Lösung des Problems bleibe Vor- Warum reden die Türken und Griechen öffentlich vor, Sie seien realitätsfern. bedingung, ungeachtet des Helsinki-Be- der Insel nicht vernünftig miteinander? Realität ist, dass die EU in Helsinki ent- schlusses der Regierungschefs. Denkta≈: Die griechisch-zypriotische schieden hat, Zypern ohne Vorbedin- Verweigert aber nur ein Parlament der Gegenseite ist nicht die verfassungs- gungen aufzunehmen, also auch geteilt. EU-Mitgliedstaaten die Ratifikation des mäßige Regierung von Denkta≈: Akzeptiere ich Beitrittsvertrags, scheitert die Aufnahme Zypern. Das war die 1960 die Realität nicht oder Zyperns. Die Abgeordneten in Athen wür- gebildete Regierung, die er? Wie können denn die den sich zur Revanche bei anderen Kandi- einer funktionalen Föde- griechischen Zyprioten daten quer legen. Das „Wagnis Erweite- ration vorstand, in der ein Zypern repräsentie- rung“ (Kommissionspräsident Romano beide Bevölkerungsgrup- ren, wenn es dort zwei Prodi) müsste im Chaos enden. pen ihre eigenen Regie- Völker gibt, zwei separa- „Wir müssen uns kümmern“, drängt rungsstrukturen hatten – te Demokratien? Die im Außenminister Fischer. Er hat sich deshalb in der Exekutive, in der Süden wollen die Allein- im Februar mit dem international geächte- Legislative, in der Justiz. regierung sein und haben ten Denkta≈ in Hamburg getroffen. Den Es gab also in Wahr- doch seit 37 Jahren zu Mann gebe es, und eine Lösung sei nur heit schon damals keinen einem Viertel der Bevöl- mit ihm möglich. einheitlichen Staat. Die kerung keinen Kontakt Seit voriger Woche wird unter Leitung Griechenseite zerstörte mehr, haben einem Vier- der Uno nun erneut versucht, Denkta≈ und 1963 die partnerschaftli- tel der Bevölkerung seit

den griechisch-zypriotischen Gegenspieler che Republik und riss den AP 37 Jahren politische und Glafkos Klerides wenigstens an denselben Titel „Regierung von Zy- Politiker Denkta≈ (r.) wirtschaftliche Embar- Verhandlungstisch zu bringen. Denn auch pern“ an sich. Sie ver- „Embargo seit 37 Jahren“ gos auferlegt. Ist das ge- jetzt noch, in der fünften Runde der im sucht nun, die Zypern- recht? vorigen Dezember begonnenen Vermitt- Frage durch die EU-Mitgliedschaft ohne SPIEGEL: Wir sprechen nicht über Ge- lungen, sprechen die beiden Präsidenten unsere Zustimmung für sich zu ent- rechtigkeit, sondern über Realpolitik. nicht direkt miteinander. scheiden. Sie sollten den Tatsachen ins Auge Der peruanische Uno-Vermittler Alvaro SPIEGEL: Wie soll das geschehen? sehen. de Soto muss weiterhin zwischen den bei- Denkta≈: Der Präsident der Zypern- Denkta≈: Ich bin eine Tatsache. Mein den Hotels der feindlichen Brüder Er- Griechen, Glafkos Klerides, erklärt, Land ist eine Tatsache. Warum sieht klärungen hin- und hertragen lassen. Von wenn wir in der EU sind, hat das man dem nicht ins Auge? einem „entscheidenden Durchbruch kann Schutzversprechen der Türkei für die SPIEGEL: Wie werden Sie reagieren, nicht die Rede sein“, glaubt auch Verheu- türkischen Zyprioten keine Wirkung wenn die EU das geteilte Zypern auf- gen, weder für die „nächste“ noch für die mehr. nimmt? „übernächste“ Zeit. SPIEGEL: Eine Rückkehr in einen ge- Denkta≈: Dann gibt es Krieg. Im EU- Zuweilen überkommen den Erweite- meinsamen Bundesstaat mit weit rei- Parlament und in den anderen EU-Or- rungskommissar grundsätzliche Zweifel, chenden Rechten für die Zypern-Tür- ganen werden die griechischen Zyprio- ob die Ausdehnung der EU ins östliche ken lehnen Sie ab? ten sofort argumentieren: Wir sind ein Mittelmeer – geografisch gehört Zypern zu Denkta≈: 83 Prozent der griechischen Mitgliedsstaat und leiden unter türki- Asien – überhaupt sinnvoll ist und warum Zyprioten sprechen sich gegen eine scher Besatzung. Dann werden sie einen die EU bis auf 80 Seemeilen an den Liba- Föderation aus. Wie kann also Herr so genannten kleinen Krieg beginnen non und 150 Seemeilen an Israel heran- Klerides behaupten, er sei bereit, mit und möchten am liebsten die EU in mir über eine Föderation zu sprechen? einen Krieg gegen die Türkei hinein- Die will er doch nicht wirklich. Des- ziehen. halb bin ich für einen Staatenbund, SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass eine Konföderation aus zwei Staaten, Ihre Republik Teil der Türkei wird? die sich zusammentun und internatio- Denkta≈: Wir brauchen die Türkei im- nal als ein Staat vertreten sind. Mit mer stärker zum Überleben. Sonst ha- einer konföderalen Flagge und mit ben wir doch keine Chance. Wir wer- den Flaggen der beiden einzelnen Staa- den alles tun, was für unser Überleben ten. Mit dem gemeinsamen Dach ei- erforderlich ist, wenn die EU den ner Regierung, die uns gegenüber der schrecklichen Fehler macht, nur den Außenwelt vertritt und mit einer Ro- griechischen Teil trotz des ungelösten tation im Amt des Präsidenten. Nach Zypern-Problems aufzunehmen. Jeder, innen hingegen sollte der jeweils eige- der einigermaßen bei Trost ist, muss die nen Regierung freie Hand gelassen Lösung der Zypern-Frage vor dem Bei-

APT werden. tritt wollen. Präsident der Zypern-Griechen Klerides (r.) Dialog von Hotel zu Hotel

der spiegel 45/2000 261 rücken soll. Er tröstet sich mit der Aus- sicht, Zypern dann wenigstens „unter die Herrschaft unseres Rechts zu kriegen“. Das sei kein geringer Gewinn für Europa. „Ein Liechtenstein reicht uns.“ Die sehr niedrige Arbeitslosigkeit im südlichen Teil der Insel, üppige Wachs- tumsraten (1999: 4,5 Prozent) und höhere Einkommen als etwa in Portugal nähren überdies die Hoffnung, es klopfe, neben all den armen Schluckern aus dem Osten, endlich ein potenzieller Netto-Beitrags- zahler an der Clubtür der EU an. Aber die zypriotischen Wachstumsmo- toren könnten schon bald heißlaufen. Der Boom wurde mit hohen Staatsschulden und in zweifelhaften Wirtschaftszweigen entfacht. Zypern gilt international – trotz aller Dementis aus Nikosia – als idealer Standort für Zigarettenschmuggler, Dro- gen- sowie Mädchenhändler und insbe- sondere für Geldwäscher. Mit einem EU-Beitritt brächen böse Zei- ten auch für eine andere Branche an: Über 5000 Offshore-Firmen ließen sich allein 1999 auf Zypern nieder, insgesamt waren es am Jahresende damit schon über 40000. Die Büros oder Briefkästen der Firmen lie- gen zwar mitten im Land, nur steuerlich gelten sie als „offshore“, vor der Küste: Sie zahlen ganze 4,25 Prozent Körper-

schaftsteuern für in Zypern ausgewiesene AP Gewinne. Anti-Terror-Demonstration in Madrid: „Es lebe die Freiheit“ So wird erklärlich, warum das winzige Zypern im vergangenen Jahr mit Direkt- investitionen in Höhe von 2,9 Milliarden SPANIEN Dollar zweitgrößter Kapitalanleger in Russ- land war, nach den USA mit 3,2 Milliarden Dollar, aber vor Deutschland mit 876 Mil- Sackgasse der Gewalt lionen. Das entspricht etwa einem Drittel des gesamten zypriotischen Bruttoinlands- Blutiger als zuvor will die Eta den eigenen Basken-Staat produkts. Das seien die Milliarden der Russen- herbeibomben. Doch auch der Widerstand gegen die Terroristen mafia, die in Zypern gewaschen würden, wächst. Der Graben zwischen den Lagern wird tiefer. glauben Ermittler. Etwa 10000 Russen le- ben in der Hafenstadt Limassol. In offi- unkt acht entrollen die Menschen auf risten, ist Cristina Cuesta bisher jedes Mal ziellen Papieren deutscher und europäi- der von Linden begrünten Plaza de in der ersten Reihe zu finden. Mit ihren scher Behörden finden sich regelmäßig „in- PGuipúzcoa in San Sebastián ihre Pla- Freunden hält sie ein Transparent hoch: terne“ Vermerke wie: „Es gibt immer kate und Spruchbänder. Um die Terroristen „Eta raus“. Die Frau mit den roten Haaren wieder Indizien, dass ein Teil der Firmen als Nazis zu brandmarken, haben sie ein S unter der Baskenmütze ruft: „Es lebe die illegale Aktivitäten ausübt (insb. Geld- durch SS-Runen ersetzt: „Eta asessina“ Freiheit.“ wäsche).“ steht da, Mörder-Eta. Und noch eine Absonderlichkeit hat der Die Demonstrationen, zu denen Hun- Beitrittskandidat aufzuweisen. 185 Qua- derttausende in allen Städten Spaniens zu- dratkilometer Zyperns gehören zu Groß- sammenströmen, sind dieses Jahr bereits britannien. Das britische Hoheitsgebiet, zum düsteren Ritual geworden. Schon 19 zwei Militär- und Abhörbasen in schönster Mordopfer gingen auf das blutige Konto Strandlage, die sich die einstige Kolonial- der militanten Separatisten von „Euskadi macht 1960 bei der Entlassung Zyperns in ta Askatasuna“, Baskenland und Freiheit. die Unabhängigkeit gesichert hatte, ist Zuletzt starben in Madrid ein Militärrich- nicht Teil der EU. ter, sein Leibwächter und sein Chauffeur, „Als EU-Mitglied werden wir die Schen- als Terroristen eine Autobombe explodie- gener Vorschriften zur Sicherung der ren ließen. Ein Bus ging in Flammen auf, Außengrenzen der Gemeinschaft strikt er- über 60 Personen wurden verletzt, 400 füllen“, kündigte Nikosias Chefunter- Wohnungen beschädigt. Zwei Tage später, händler Georgios Vassiliou mit sichtlicher am vorigen Mittwoch, zündeten die Extre- Vorfreude an. Er will „die Briten hinter misten einen Sprengsatz in Barcelona. Stacheldraht setzen“. Dirk Koch, Bei den Mahnwachen im baskischen Hans-Jürgen Schlamp San Sebastián, einer Hochburg der Terro- AFP / DPA

262 der spiegel 45/2000 Ausland FOTOS: M. GUMM / WHITE STAR M. GUMM / WHITE FOTOS: Bürgerrechtlerin Cuesta vor Gedenktafeln für Terroropfer, Bürgermeisterin San Gil (M.): „Die Angst lastete wie ein Stein auf uns“

Die Bürgerrechtlerin Cuesta, 38, ist Prä- werden auf Schritt und Tritt von Leib- zufrieden stellen. Sie beharren auf dem sidentin der Bewegung ¡Basta ya! (Es wächtern begleitet. Sie müssen Schutz su- eigenen Baskenstaat, der auch das be- reicht!). Zusammen mit Intellektuellen und chen vor den Freunden von Esther Agirre, nachbarte Navarra und das französische Künstlern hatte sie im Februar die Gruppe einer Spitzenpolitikerin von Euskal Herri- Pays Basque umfassen soll. ausgerechnet in der Provinz des Bas- tarrok (Wir baskischen Bürger), dem poli- Gegen die „Besatzungsmacht Spanien“ kenlandes gegründet, die sich durch eine tischen Arm der Eta. rufen Agirre und ihre Partei angeblich nur besondere Häufung von Gewalttaten, aber Die Menschenrechtlerin, die konserva- zum zivilen Ungehorsam auf, „ganz im pa- auch von Befürwortern der Unabhängig- tive Bürgermeisterin und die radikale Poli- zifistischen Geist von Gandhi“. Hinter dem keit auszeichnet. Gerade hat das Europa- tikerin – Frauen in den Dreißigern – rechtlich Zulässigen versteckt sich die An- parlament ¡Basta ya! den Sacharow-Preis stecken beispielhaft das Spektrum der Ge- wältin gern. Doch in der Region zogen ihre für Menschenrechte verliehen. sellschaft im Baskenland ab. Sie lassen jene Genossen bereits von Haus zu Haus, um Die Frauen und Männer, die sich an die- tiefen Gräben erkennen, die Demokraten selbst gemachte baskische Pässe zu vertei- sem Herbstabend versammelt haben, um von Terroristen, aber auch Nationalisten len und ein Register der wahren Basken an- dagegen anzukämpfen, dass die baskische von jenen trennen, die sich sowohl als Bas- zulegen. Gesellschaft in angststarre Lähmung ver- ken wie auch als Spanier verstehen. Ein Untersuchungsrichter am Nationalen fällt, klatschen ausdauernd Beifall für die Esther Agirre, 30, hält sich von den De- Gerichtshof ließ jetzt einige ideologische Opfer. Auch den Lebenden gilt die Ova- monstranten der Plaza de Guipúzcoa fern. Mitstreiter verhaften. Er glaubt beweisen tion, all denen, die sich trauen, die selbst Bei einer Cola in der Szenekneipe der Se- zu können, dass sie nach Plänen der Eta ernannten Freiheitskämpfer als Mörder zu paratisten im Zentrum ihres Wohnorts handeln, um „den Staat verrückt zu ma- entlarven. räumt sie ein, sie sei „betrübt“ über die chen“. Die Justiz kriminalisiere jetzt schon In San Sebastiáns Altstadt, dort, wo Tou- neue Welle der Gewalt. „Aber“ – sie Ideen ganz wie einst Franco, meint dage- risten gern Tapas essen, sind Wände mit wischt ihre langen hellblonden Haare mit gen Agirre, die sich von den Terroristen- „Gora Eta“, es lebe Eta, beschmiert und der Hand aus der hohen Stirn – „hier jägern in Madrid persönlich bedroht fühlt. dazu mit dem Signum der Terrororganisa- herrscht ein bewaffneter Konflikt, deshalb Denn der Richter hat auch die Aus- tion, der um eine Axt gewundenen Schlan- gibt es viele Menschenrechtsverletzungen, landsbeauftragte und 15 Mitarbeiter von ge. Wer sich öffentlich gegen ein souverä- auch von der anderen Seite.“ Euskal Herritarrok angeklagt: Er wirft ih- nes Baskenland ausspricht, wird bedroht. Mit der anderen Seite meint Agirre den nen vor, dem Apparat der Eta anzugehören Viele Abgeordnete, Sozialisten wie Kon- spanischen Staat und seine Verfassung, die und das Untertauchen von Attentätern servative, aber auch Journalisten, Hoch- dem „ältesten Volk Europas aufgezwun- außerhalb Spaniens zu organisieren. Dafür schulprofessoren und Künstler haben sich gen wurde“. Auch das Autonomie-Statut, gebe es keine Beweise, wehrt sich Agirre. in diesem blutigen Sommer entschlossen, das den Basken nach dem Ende der Fran- Bislang schützte sie die Immunität als Ab- die Heimat zu verlassen. Bürgerrechtlerin co-Diktatur eigene Polizei, baskischen Un- geordnete des baskischen Parlaments vor Cuesta und andere zum Bleiben ent- terricht an den Schulen und das Privileg einer Verhaftung. schlossene Eta-Gegner wie María San Gil, gab, selbst die Steuern einzuziehen, kann Die radikale Baskin empört sich über Vizebürgermeisterin von San Sebastián, überzeugte Nationalisten wie Agirre nicht den spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar. Seine Drohung, die Leute Atlantik Bayonne FRANK- der Eta-nahen Partei müssten „zu Bett ge- San REICH hen, ohne zu wissen, ob sie hinter Gittern Sebastián LABOURD Bilbao BASSE- wieder aufwachen“, bezieht sie auf sich. VIZCAYA NAVARRE Auch ihr Mann Joseba Permach gehört als GUIPÚZCOA SOULE Sprecher der Partei an. Was soll aus ihrer einjährigen Tochter werden, wenn „beide Pamplona Vitoria Eltern im Gefängnis landen“, fragt sie sich ALAVA und, an die Adresse des Regierungschefs NAVARRA gerichtet, wie viele Tote er noch in Kauf nehmen will, bis er endlich das Grundrecht SPANIEN auf Selbstbestimmung anerkennt. Baskenland in der Vision der Am Rand des Demonstrationsplatzes, Nationalisten 20 km unter den Arkaden des Verwaltungsge- bäudes, sind junge Burschen in Springer- stiefeln aufgezogen. Feindselig starren sie Autobomben-Anschlag in Madrid auf das Heer der Eta-Gegner. Besonders Die Morde folgen einander immer schneller eine magere hoch gewachsene Frau im

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Schottenrock, die sich ganz vorne neben automaten oder Läden von vermeintlichen einem Protestplakat aufgestellt hat, erregt „españolistas“ schleudern. Sollte anderer- ihr Missfallen. seits die Regierung in Madrid ihre Re- Es ist María San Gil, 35, die Vizebürger- form der Terrorismusgesetze durchbrin- meisterin des noblen Seebads. Ihre kon- gen, könnten künftig schon Minderjährige servative Volkspartei hat dieses Jahr schon ab 14 bis zu zehn Jahre fern der Heimat vier Gemeinderäte begraben müssen. Das eingesperrt werden. reicht auch ihr. Seit dem Ende eines 14-monatigen Waf- San Gil hat eine elf Monate alte Tochter fenstillstands vor einem Jahr folgen die und einen dreijährigen Sohn. Sie ist Baskin Eta-Morde in immer kürzeren Abständen wie Agirre und wuchs in San Sebastián als aufeinander. „Die Menschen gewöhnen Tochter eines Schreibwarenhändlers auf. sich an die immer gleichen Reaktionen der Doch weil sie der in Madrid regierenden Politiker auf die Attentate“, stellt die Ak- Volkspartei angehört, so die blutige Logik tivistin Cuesta bitter fest, das stumpft ab. ihrer Heimat, kann sie nie mit ihren Kindern „Zum Heulen“ findet sie diese Sackgasse. spazieren gehen. Ihren Sie hatte einst Jour- Weg ins Rathaus ändert nalistin werden wollen, sie täglich, acht Leib- um von den Kriegs- wächter begleiten sie, schauplätzen der Erde oft muss sie sogar unter- zu berichten, wie die wegs noch Kleider oder berühmte Oriana Fal- den Wagen wechseln, laci. Doch als die Eta um mögliche Verfol- vor 18 Jahren ihren Va- ger abzuschütteln. Doch ter umbrachte, musste selbst an ihrem Arbeits- sie feststellen, dass sie platz droht Gefahr. „zur Zeugin des Kriegs Im Büro gegenüber im eigenen Land“ ge- residiert die Fraktion worden war. Anstatt von Euskal Herritarrok. die Heimat nach dem

Zwei Parteigenossen, STAR M. GUMM / WHITE Mord an ihrem Vater Kollegen im Stadtrat, Radikale Nationalistin Agirre zu verlassen, gründete führten unlängst eine „Wie viele Tote noch?“ sie 1986 mit 20 Gleich- Demonstration an, in gesinnten eine erste der sie María San Gil mit dem Tod be- schüchterne Friedensbewegung. Seither drohten. Die Bürgermeisterin klagte. zog sie für jedes Opfer des baskischen Kon- Dass ihre Parteifreunde der Bürger- flikts auf die Straße, auch für jene, die in meisterin das Leben zur Hölle machen, fin- den achtziger Jahren von den Todes- det die radikale Anwältin Agirre nicht wei- schwadronen staatlicher Sicherheitskräfte ter verwunderlich. Gegenwärtig herrsche umgebracht wurden. eben eine „politische Konfrontation“ mit „Die Angst lastete wie ein Stein auf den Leuten von der Volkspartei. uns“, erinnert sich Cuesta. Viele baskische Warum aber greifen junge Gesinnungs- Familien behandelten Angehörige von Eta- genossen zur Gewalt? Die Politiker hätten Opfern wie Aussätzige. Mütter erzählten es eben nicht geschafft, der Jugend Lö- ihren Kindern lieber, der Vater sei bei sungen anzubieten, behauptet Agirre. Für einem Unfall gestorben, nur um sie vor die Gewaltbereitschaft sucht sie Erklärun- ihren Mitschülern nicht zu brandmarken. gen aus einer noch weiter zurückliegen- Seit Cuesta als Sprecherin von ¡Basta den Vergangenheit: „Angenommen, ein ya! auch politisch Position bezogen hat, ist Junge, der heute bei der Eta ist, stammt aus sie zum Freiwild geworden. Den eigenen Guernica und sein Großvater kam um, als Staat, in dessen Namen die Bande tötet, die Nazis im Auftrag Francos die Stadt lehnt sie ab. Denn solange Eta mordet, bombardierten …“ Auge um Auge, Zahn dürften Demokraten kein gemeinsames um Zahn bleibt auch in der neuen Gene- Ziel mit den Terroristen verfolgen. ration die Losung der Separatisten. Nach einer halben Stunde haben die De- In den 25 Jahren seit Francos Tod dreh- monstranten ihre Transparente eingerollt. te sich die Spirale der Gewalt ohne Unter- Cuesta schüttelt ihren Rotschopf und zün- brechung weiter. Über 700 Menschen det sich eine Zigarette an. „Heute ist kein brachten die Terroristen in dieser Zeit um, besonders optimistischer Tag“, sagt sie und etwa 5000 Basken kamen in Haft, meist lacht heiser wie zum Trotz. Wer weiß, wie fern der Heimat. Dies nennt Agirre Men- lange sie der ständigen Bedrohung noch schenrechtsverletzung und setzt Polizei- standhalten kann. aktionen mit Eta-Anschlägen gleich. Der Es reicht! Warum, so fragt sie sich, kön- Hass zwischen den Familien der Opfer und nen die Töchter der radikalen Baskin Agir- Täter, zwischen angeblichen „Verrätern“ re und der Baskin San Gil, die sich zu- der baskischen Sache und den „Patrioten“ gleich als Spanierin bekennt, nicht endlich wächst noch immer. friedlich zusammen aufwachsen? Jugendliche können Heldenstatus in Eine solche Zukunftsvision hält Esther ihren Cliquen erwerben, wenn sie Mo- Agirre allerdings für total unrealistisch. Es lotowcocktails gegen die Autobusse, Geld- ist doch Krieg. Helene Zuber

264 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite Sinkender Chemiefrachter „Ievoli Sun“ Giftige Abfälle in Hülle und Fülle versenkt

te, sollen es dagegen 28500 sein. Frank- reich wiederum hat dort große Mengen Munition aus dem Zweiten Weltkrieg ab- geladen. Frachtschiffe verloren während der letzten Jahre in der Gegend mehrmals Container mit hochwirksamen Pestiziden. Rund um die „Ievoli Sun“ überwacht jetzt die Marine eine für die Schifffahrt verbotene Sperrzone im Umkreis von drei Seemeilen. Minensuchboote haben erste Wasser- und Luftproben entnommen, das Ergebnis der Untersuchungen stimmte die Behörden und die normannischen Fischer eher zuversichtlich. Zwar trat aus einem

DPA der Tanks im Wrack Styrol aus, aber nur in äußerst schwacher Kon- GROSSBRITANNIEN Portsmouth zentration. Wie groß der Schaden Nach dem Seenotruf Route der „Ievoli letztlich werden kann, lässt der „Ievoli Sun“ wird Sun“ vom 29. bis 31. Oktober sich dennoch schwer vorher- FRANKREICH das Schiff Richtung sagen. Der Ölkonzern Shell, Frankreich abge- schleppt Die „Ievoli Sun“ in dessen Auftrag die flüssige Traumhaftes Britisches liegt in 70 m Tiefe Styrol-Fracht transportiert Hoheitsgebiet wurde, bekannte sich zu sei- Cherbourg 50 km ner Verantwortung und will zu Groß- die Ladung so bald wie mög- Material Der „Graben von Casquets“ britannien ist bis zu 170 m tief. lich abpumpen lassen. Militärs und Umweltschützer Französisches Die See rund um die Un- Hoheitsgebiet FRANKREICH glücksstelle ist besonders St. Malo versuchen erstmals reich an Schalentieren. Für gemeinsam, das Giftunglück im Morlaix die Fischer der südlichen Ärmelkanal einzudämmen. Normandie hat gerade die Tatsächlich kennen die Umweltschützer Saison der Jakobsmuscheln begonnen. ie Katastrophe hat alte Feinde diesen Abschnitt der viel befahrenen Nach einer Sitzung mit Wissenschaftlern versöhnt: Ein nationales Bündnis Schifffahrtsstraße mit ihren gefährlich star- gaben sie sich zuversichtlich: „Unsere Ware Dschmiedet plötzlich die französische ken Strömungen besser als die Marine. Erst ist sauber. Styrolverseuchter Fisch würde Marine und ihre einstigen Gegner von der im Juni haben sie die Fosse des Casquets sich verfärben und nach Plastik riechen.“ Umweltschutzorganisation Greenpeace zu- untersucht, einen bis zu 170 Meter tiefen Der Unfall zeigt einmal mehr, wie ge- sammen – ein historischer Kompromiss, Meeresgraben, der seit einem halben Jahr- fährdet die Kanalküsten sind, trotz des bewirkt durch den Untergang des italieni- hundert vor allem Großbritannien und sorgfältig überwachten Verkehrs. Auf drei schen Giftfrachters „Ievoli Sun“ 35 Kilo- Frankreich als wilde Müllkippe dient. „Schienen“, regelrechten Meeresautobah- meter vor dem Kap von La Hague. Die 115 Meter lange „Ievoli Sun“, die nen, durchqueren jeden Tag 600 bis 700 „Wir freuen uns über die Zusammen- in ihren zwölf Stahltanks Isopropylalko- Schiffe nach vorheriger Anmeldung den arbeit, sie sind auf unseren Schiffen will- hol, Methyl-Ethyl-Keton und 4000 Tonnen Ärmelkanal, ein Drittel davon mit gefähr- kommen“, sagt Korvettenkapitän Bertrand hochgiftiges Styrol transportierte, liegt seit lichen Gütern. Zwischen Westeuropa und Hudault über die gelb gekleideten Helfer vorigem Dienstag auf ihrer linken Flanke in dem Mittelmeer findet ein reger See- mit dem schwarzen Greenpeace-Logo, die 70 Meter Tiefe, nur drei Kilometer vom frachtverkehr mit chemischen Produkten plötzlich zu Dutzenden den Hafen von Graben von Casquets entfernt. Wäre sie statt. Die meist mittelgroßen Transporter Cherbourg bevölkern. dort hinuntergerauscht, könnten die Kata- müssen nach spezifischen Regeln gebaut Es ist das Ende eines langen Kriegs strophenschützer jeden Versuch, die La- sein, die 1994 in einem internationalen Ko- zwischen dem Militär und den militanten dung zu bergen, vergessen. dex auf 230 Seiten festgelegt wurden. Ökologen, die sich erbittert gegen Frank- Der Ort des Untergangs befindet sich Einem europäischen Abkommen zufol- reichs Atombombentests wehrten. 1985 immerhin so nah an der tückischen Furche, ge sollte ein Viertel aller Schiffe in den an- hatten Geheimagenten die „Rainbow dass Greenpeace zunächst sogar den bösen gelaufenen Häfen auf ihren Zustand hin Warrior“ der Umweltschützer in Neusee- Verdacht hegte, der französische Hochsee- überprüft werden. Mangels Inspektoren land versenkt, 1995 enterte ein Marine- schlepper „Abeille-Flandre“ habe den kontrollieren die französischen Behörden kommando die „Rainbow Warrior II“ vor leckgeschlagenen Havaristen absichtlich aber nur 13 Prozent. So können immer Mururoa. dorthin gezogen. wieder Schrottpötte durch die Maschen Greenpeace spart nicht an Mitteln, um Giftige Abfälle wurden in Hülle und Fül- schlüpfen. das Ausmaß des jüngsten Unglücks im Är- le dort unten verstreut. Die britischen Für Notfälle hält die Marine zwei Hoch- melkanal aufzuklären: Taucher, Toxikolo- Behörden haben zugegeben, zwischen 1950 seeschlepper in ständiger Bereitschaft. Am gen, Ingenieure, ein schwimmendes Labor und 1963 an die 17000 Fässer mit schwach späten Donnerstagnachmittag setzte vor und ein Unterwasserroboter mit Videoka- radioaktivem Müll an dieser Stelle ver- der bretonischen Küste ein türkischer Che- meras werden aufgeboten. „Die haben ein senkt zu haben. Nach Filmaufnahmen, die mie-Tanker einen Notruf ab. Die „Abeille- Material, davon können wir nur träumen“, Greenpeace erst im Juni von den ver- Flandre“ lief wieder einmal aus: Alltag im schwärmt ein Offizier. rosteten und geborstenen Behältern mach- Ärmelkanal. Romain Leick

266 der spiegel 45/2000 Werbeseite

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eller Statistik auf 100000 Menschen jedes Jahr etwa 15 Suizide kommen, sind es in TÜRKEI der Türkei nur 2,5. Im vorwiegend kur- disch besiedelten Südosten des Landes, so ergab eine Studie der Tigris-Universität „Und keiner hält mich auf“ von Diyarbakir, hat sich dieser Wert in den vergangenen Jahren jedoch fast verdop- Eine Welle von Selbstmorden junger Frauen sucht pelt. Die aktuellen Zahlen aus Batman lie- gen um das Zehnfache über diesem Wert. die Stadt Batman im Südosten Anatoliens heim. Ärzte, Was die Psychologen besonders beun- Soziologen und der Staat suchen nach Erklärungen. ruhigt, ist die Geschlechterstatistik. Welt- weit wie auch im türki- yla Yildiz sprach kein Wort, als sie gesucht, die bis ins ferne schen Durchschnitt sind eingeliefert wurde. Mit leeren Au- Ankara Soziologen, Ärzte es zu zwei Dritteln Män- Agen, wie hingeworfen, saß sie im und Politiker alarmiert. ner, die Selbstmord be- psychiatrischen Beobachtungsraum der Allein in den vergange- gehen. Im Südosten des Universitätsklinik von Diyarbakir. Wenn nen vier Monaten, zählt Landes ist es genau um- die Schwestern fragten, was ihr denn feh- der Chefredakteur der ört- gekehrt – fast doppelt so le, drehte sie den Kopf weg und rieb nur lichen Tageszeitung „Bat- viele Frauen wie Männer die Hände am Unterleib, als hätte sie man Çagda≈“ auf, haben bringen sich um. Bauchschmerzen. 50 junge Frauen versucht, „Soziale und familiäre „Es hat Stunden gedauert“, sagt Dr. sich umzubringen, 29 von Probleme“ lautet die üb- Aytekin Sir, „bis wir das Problem verstan- ihnen sind gestorben. Die liche Sprachregelung zur den.“ Männer eines Nachbarclans hatten meisten haben sich er- Erklärung des plötzlichen das Mädchen aus der südostanatolischen hängt, viele stürzten sich Frauensterbens. Was sich Stadt Batman missbraucht. Die Männer ih- aus dem Fenster. Manche hinter der flachen Formel rer eigenen Familie schlugen und folterten haben sich mit den Waffen verbirgt, ist die skan- sie seit Monaten für diese angebliche Ehr- ihrer Väter oder Ehemän- dalöse Rückständigkeit losigkeit. ner erschossen; andere von Türkisch-Kurdistan: „Ich werde mich umbringen, Herr Dok- schluckten, was sie an Me- Die Republik hat beim tor“, sagte Ayla, als sie schließlich Worte dikamenten oder Giften Aufbau ihrer Südostpro- fand. Der Arzt verschrieb der jungen Frau zu fassen kriegten: Anti- vinzen versagt, Besse- Antidepressiva und drohte Vater und Brü- biotika, Haushaltsreiniger, rung ist nicht in Sicht. Ar- dern mit der Polizei – vergebens. Ein hal- Rattengift. „Diese Suizid- mut, religiöse Bigotterie bes Jahr später erhängte sich das Mädchen, welle hat mit einer sol- Selbstmörderin Aslan und ein mittelalterlicher dessen wahrer Name aus rechtlichen Grün- chen Wucht eingesetzt“, Opfer von bösen Gerüchten Feudalismus bestimmen den nicht genannt werden kann. sagt der Psychiater Sir, wie vor hundert Jahren Aylas Freitod vor mehr als einem Jahr „dass sie alle unsere Statistiken auf den den Alltag der türkischen Kurden. Die war ungewöhnlich für die fromme Pro- Kopf stellt.“ schwersten Opfer der Vernachlässigung vinzstadt nahe der syrischen Grenze, doch Die Türkei hat, wie die meisten vom Is- bringen nach wie vor die Frauen. über die Lokalpresse hinaus machte der lam geprägten Länder, im internationalen „Meine männlichen Kameraden!“, Fall keine Schlagzeilen. Inzwischen hat Vergleich eine eher niedrige Selbstmord- sprach Staatsgründer Mustafa Kemal eine Serie von Selbstmorden Batman heim- rate: Während in Deutschland laut offizi- Atatürk einst: „Unsere Frauen sind emp- findsam und von Geist beseelt wie wir auch. Benötigen sie noch unsere selbst- süchtige Aufsicht? Lassen wir sie ihre Ge- sichter der Welt zeigen und lassen wir sie die Welt sorgfältig betrachten. Es gibt nichts, was wir dabei zu fürchten hätten.“ Atatürks Worte aus dem November 1925 – im herbstlichen Batman des Jahres 2000 klingen sie wie Hohn. Auf den Straßen und in den Teehäusern der Raffinerie- und Agrarstadt sind fast nur Männer zu sehen. Die Frauen und Mädchen, wenn sie nicht zu Hause auf die Kinder aufpassen, sind von Sonnenaufgang an zum Baumwoll- pflücken auf den Feldern. Spätnachts kar- ren Lastwagen sie dutzendweise in die Stadt zurück. Todmüde versuchen sie, nicht von der Ladefläche zu fallen. Kaum eine dieser Frauen kann lesen und schreiben, fast alle sprechen ausschließlich Kurdisch. Die wenigsten haben je auch nur eine Volksschule von innen gesehen. „Nie-

M. GÜLBIZ / NEXUS / AGENTUR FOCUS / NEXUS AGENTUR M. GÜLBIZ mand schickt hier seine Töchter zur Schu-

Armenviertel im osttürkischen Batman Kaderschmiede der Extremisten Werbeseite

Werbeseite Ausland le“, sagt ein Händler auf dem gewirtschaftet. Wer, wie vor staubigen Gemüsemarkt hin- allem die Mädchen, nicht ter dem Bahnhof. „Die einmal zur Schule gehen Mädchen zählen nicht. Wenn darf, für den gibt es wenig, du hier einen nach der Zahl was seinem Leben einen seiner Kinder fragst, wird er Sinn geben könnte. dir meistens nur sagen, wie Im Norden von Batman, viele Söhne er hat.“ auf einer majestätischen An- Für viele Familien in Bat- höhe, thront die prachtvolle man ist die Schule ein Ort S¸efket-Ba≈ak-Moschee. In der Verderbnis, an dem Jun- seinem klimatisierten Büro gen und Mädchen ohne jede und mit einem Telefon in religiöse Kontrolle zusam- jeder Hand bereitet sich der menkommen. Das Leben Bezirksmufti Yüksel Kay- von Töchtern und Söhnen ist mak auf das Freitagsge- aber Vätersache in den bet vor. Auch diesmal wird Elendsvierteln der Stadt: Bis er wieder über die leidigen heute werden Mädchen für Selbstmorde predigen müs- 1000 bis 10000 Mark regel- sen. Das staatliche Reli- recht verkauft – häufig an Junge Frauen in Batman: In archaischen Riten gefangen gionsdirektorat in Ankara Männer, die wesentlich älter hat sich entschlossen, in der sind und die sich das Braut- Angelegenheit die Initiative geld leisten können. zu ergreifen, und gab erst Wenn die Tochter sich ge- einmal eine Studie in Auf- gen den archaischen Ritus trag. wehrt und einen anderen Auch der Mufti, ein mo- Bräutigam will, ist sie verlo- derner Religionsbeamter, ren. Ein kurzes Lächeln, ein sieht im gnadenlosen Patri- falscher Blick in Gegenwart archat und in der sozialen Fremder genügt, und der Rückständigkeit seines Be- „Namus“, die Familienehre, zirks den Hauptfaktor für ist besudelt. das Martyrium der verzwei- Mehr als die Hälfte der felten Frauen. Er rate den Selbstmorde in den vergan- Vätern, ihre Kinder zu un- genen Monaten gehen auf terstützen, sagt er, statt über Zwangsehen, Rufmord oder sie zu verfügen: „Aber es ist familiäre Vernachlässigung nicht einfach. Diese Leute von Frauen zurück. Über die haben gestern noch in einem 17-jährige Fadile Aslan aus Dorf ohne Wasser und Strom dem Stadtteil Huzur hatten gelebt – heute haben sie eine

sich Nachbarn das Maul zer- FOCUS / NEXUS AGENTUR M. GÜLBIZ FOTOS: Satellitenantenne und sehen, rissen, Çiçek Bozkir aus dem Baumwollernte in Ostanatolien: „Niemand schickt Töchter zur Schule“ wie die Popstars und Fuß- Distrikt Be≈iri war von einem baller in Istanbul leben.“ 60-Jährigen entführt worden. Die fünffache keine Empfindung ihres eigenen Wesens In einigen Abschiedsbriefen, die man Mutter Ayla Ye≈ilfidan verzweifelte, weil aufbauen. Ihre Väter reden nicht mit ihnen, gefunden hat, taucht der Refrain eines ak- ihr Mann eine „Kuma“, eine Zweitfrau, ins ihre Mütter haben selber nichts zu sagen.“ tuellen türkischen Popsongs auf: „Heute Haus brachte. Als die Kinder schliefen, Verschärft wird die Problematik durch Abend werde ich sterben, und keiner hält ging sie in den Garten und erhängte sich an die Folgen des 15-jährigen, inzwischen ab- mich auf.“ Genau da liege das Problem, einem Maulbeerbaum. ebbenden Bürgerkriegs im türkischen Süd- sagt der Mufti Kaymak: Fernsehserien, Fil- Bei vielen Männern in Batman hält sich osten, der Hunderttausende Familien aus me, billige Popsongs – all das heize die die Bestürzung über die Selbstmorde in ihren Dörfern vertrieben und heimatlos ge- Sehnsucht und Verzweiflung der jungen Grenzen. „Diese Stadt ist das Zentrum der macht hat. Mädchen nur zusätzlich an. türkischen Hizbullah“, sagt ein junger Leh- Noch vor 20 Jahren war Batman ein „Batman ist gewachsen wie eine Hor- rer, den der Dienstplan in die kurdische größeres Dorf am Rande einer stinkenden montomate anstatt wie ein Baby, das die Provinz verschlagen hat, „was willst du da Erdölraffinerie. Seit Anfang der Achtzi- Brust bekommt“, sagt Kaymak. Die Macht erwarten?“ Die Radikalislamisten hatten ger schwollen die Slumviertel um den der Moderne, die wie ein Sturm über die in den vergangenen Jahren die Nation mit Bahnhof und an den Ausfallstraßen an. In- Landflüchtlinge hereingebrochen sei, ma- einer Serie grausamer Fememorde an reli- zwischen zählt die Stadt fast 400000 Ein- che gerade die Jugendlichen in ihrem Glau- giösen Abweichlern schockiert. „Für diese wohner. Sowohl die Islamisten als auch die ben unsicher. Leute ist das Weibliche an sich etwas marxistisch-nationalistische Arbeiterpartei Eine Broschüre mit dem schönen Titel Schmutziges, Unreines. Die fassen ihre Kurdistans (PKK) fanden jahrelang willi- „Der Mensch – Gottes Meisterwerk“, die Frauen nicht einmal an, wenn sie mit ihnen gen Nachwuchs in den primitiven Lehm- Kaymak zu Tausenden unter den Baum- ins Bett gehen.“ baracken. wollpflückerinnen verteilen ließ, soll sie Für die Psychologin Rahime Hacioglu „Woran auch immer die jungen Leute auf den rechten Weg zurückführen. Gut, vom Staatskrankenhaus Diyarbakir liegt früher geglaubt haben“, sagt die Psycho- dass zumindest die Mädchen sie nicht lesen im Gefühl innerer Wertlosigkeit denn auch login Hacioglu, „es gab ihnen ein Gefühl können: Die irdischen Qualen, zitiert der die Hauptursache für die Selbstmorde der von Identität, es hat ihre Persönlichkeit ge- Mufti den Propheten, seien unbedeutend, Frauen: „Die Mädchen hier nehmen sich stützt.“ Nun haben sowohl die religiösen verglichen mit dem, was einen Selbstmör- selber überhaupt nicht wahr, sie können Fanatiker als auch die PKK weitgehend ab- der im Jenseits erwarte. Bernhard Zand

270 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland SIPA PRESS SIPA Japanischer Angriff auf Pearl Harbor*: Die westliche Großmacht zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg provoziert

Von 1937 an ließ Hirohito einen „heili- ZEITGESCHICHTE gen Krieg“ gegen China führen. 1941 gab er den Befehl zum Überraschungsangriff auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor. Erzogen zum Rassenwahn Dabei zerstörten die Japaner große Teile der amerikanischen Pazifikflotte und pro- Vergangenheitsbewältigung auf Japanisch: Hof-Historiker arbeiten vozierten die westliche Großmacht zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Doch an einer Mammut-Biografie über Kaiser die Rolle des Showa-Tenno in dem blutigen Hirohito. Besonders umstritten ist seine Rolle als Kriegsherr. Geschichtsdrama ist immer noch nicht rest- los geklärt und deshalb heftig umstritten. eden Morgen überquert Keita Kita, 47, Seine Gegner verachten ihn als rang- mitten in Tokio einen Burggraben und höchsten Kriegsverbrecher, seine Anhän- Jpassiert ein streng bewachtes, eisen- ger sehen ihn ganz anders. Für sie war der beschlagenes Tor. Dahinter, versteckt im zierliche Monarch, der bei seinen Auftrit- weitläufigen Gelände des Palastgartens, ten so weltfremd wirkte, nur eine Mario- liegt Kitas Arbeitsplatz – das Archiv des ja- nette seiner Generäle und Berater. panischen Kaisers. Vertiefte er sich nicht am liebsten in sein Was der Historiker Kita und seine 26 akademisches Hobby, die Meeresbiologie? Mitarbeiter hier erforschen, gilt in Japan War Hirohito nicht doch jener Pazifist, als als hoch brisant und ist in Teilen immer den ihn rechte japanische Politiker auch noch ein Staatsgeheimnis: die Biografie des heute noch rühmen? Sie glauben, Hiro- 1989 im Alter von 87 Jahren verstorbenen hito habe sich nach den Atombomben- Kaisers Hirohito. Abwürfen auf Hiroschima und Nagasaki Die Hof-Chronisten versinken fast im August 1945 mutig gegen seine Militärs hinter hohen Stapeln von Akten, Briefen durchgesetzt und aus Sorge um seine Un- und Büchern. Ihr Material zeichnet die tertanen die Kapitulation angeordnet. einzigartige Karriere des Mannes nach, Schon seit zehn Jahren arbeitet Kitas der 1926 als Gottkaiser den Chrysanthe- Team an der Biografie, die vom Kaiserli- men-Thron bestieg, seine Nation als Ober- chen Hofamt in Auftrag gegeben wurde. befehlshaber in die demütigende Nieder- Bis Ende März 2011 will es seine Chronik lage des Zweiten Weltkriegs führte und mit Hilfe zahlloser Originalquellen fertig sich nach 1945 mit einem tristen Schatten- stellen. Das Riesenwerk soll 24 Bände von dasein als machtloses „Symbol des Staa- je 1000 Seiten umfassen. tes und der Einheit des Volkes“ abfinden Ob Hirohitos Lebensgeschichte, bisher musste. mit 110 Millionen Yen (gut 2,3 Millionen Postum haben die Japaner ihrem frühe- Mark) Steuergeldern finanziert, allerdings ren Kaiser jenen Namen verliehen, den jemals veröffentlicht wird, ist ungewiss – auch seine Ära trug: „Showa – Erleuchte- die Biografie seines geistig verwirrten Va- ter Friede“. Doch keine Ehrenbezeichnung ters, des 1926 verstorbenen Kaisers Taisho, könnte unpassender sein. Allein in Asien verstaubt seit Jahren im Hof-Archiv. kosteten von Japan angezettelte Kriege Im Fall Hirohito befindet sich das Kai- rund 24 Millionen Menschen das Leben. serhaus in einem besonderen Dilem-

* Oben: am 7. Dezember 1941; unten: als Oberbefehls- Kaiser Hirohito*

haber der Streitkräfte am 8. Dezember 1941. SÜDD. VERLAG „Wir müssen angreifen“ 272 Werbeseite

Werbeseite Ausland ma. Zwar gebieten es Respekt und Tradi- striktem Rassendenken. Dem späteren Kai- sen angreifen.“ Demonstrativ inspizierte tion, auch über den umstrittenen Monar- ser musste es daher als natürliche Aufgabe er am Neujahrstag 1945 mit Kaiserin Na- chen des 20. Jahrhunderts eine Biografie erscheinen, die „weißen Kolonialmächte“ gako Kamikaze-Piloten bei ihrer letzten anzufertigen, aber selbst die Hof-Chronis- aus Asien zu vertreiben und die Nachbar- Mahlzeit, bevor sie zu ihren Selbstmord- ten schrecken davor zurück, Hirohitos bri- staaten zu unterjochen. kommandos starteten. Jedes Mal, wenn sante Tagebücher aus den privaten Gemä- Über die Angriffspläne seiner Militärs Hirohito von erfolgreichen Kamikaze-Ak- chern des Palastes anzufordern. gegen China, Südostasien und die USA tionen hörte, verbeugte er sich rituell vor Dass er zumindest in seiner Jugend re- zeigte sich Hirohito seit den dreißiger Jah- den Toten. gelmäßig Tagebuch führte, halten viele Ge- ren blendend unterrichtet. Da ihm Heer, Im Mai 1945 besichtigte er dann das aus- schichtswissenschaftler für gesichert. Aber Marine und Kabinett jeweils getrennt vor- gebombte Tokio. Aber statt nun endlich auch als Kaiser machte er sich möglicher- trugen, liefen alle Informationskanäle beim die Waffen zu strecken und weitere un- weise private Notizen. Kita fürchtet, durch Monarchen zusammen. Seinen Einfluss nötige Opfer zu vermeiden, wie es ihm allzu neugierige Anfragen den Argwohn übte er hauptsächlich durch bohrende Fra- gemäßigte Hofadlige längst rieten, sorgte seiner Auftraggeber zu wecken: „Zunächst gen aus, und die wirkten wie Befehle: Hiro- der Herrscher sich um das Überleben des einmal wollen wir Vertrauen schaffen.“ hito, resümiert Bix, war zwar kein Dikta- Kaiserhauses. Er suchte nach einem siche- Die Forscher erinnern sich, wie beharr- tor, aber der „führend Beteiligte“. ren Versteck für seine Insignien – Spiegel, lich das Kaiserliche Hofamt auch die Ver- Dass der Tenno aggressiven Kriegs- Juwelen und Schwert. öffentlichung der Tagebücher von Prinz plänen widersprochen hätte, lässt sich da- Nach der Kapitulation am 15. August Takamatsu zu verhindern suchte. Die Auf- gegen nicht belegen. Höchstens forderte 1945 feilte Hirohito eifrig am neuen Image als Friedens-Tenno. Als wichtigsten Ver- bündeten gewann er den US-Besatzungs- general in Japan, Douglas MacArthur. Die- ser verschonte ihn, damit sich die geschla- genen Japaner der Besatzung willig füg- ten, von einer Anklage beim Tokioter Kriegsverbrecherprozess von 1946 bis 1948. Dennoch musste der Kaiser zunächst um seinen Thron bangen. Nicht nur im Aus- land, sogar bei Hofe wurde der Ruf nach Abdankung laut. Im März 1946 empfing er seine engsten Ratgeber und probte die neue Verteidigungslinie: Als konstitutio- neller Monarch habe er den Krieg nicht verhindern können. Dieser so genannte Monolog kam erst nach Hirohitos Tod ans Licht. Er ist eine der wenigen unmittelbaren Äußerungen des Tenno über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg. Doch viele Zitate, die seine Wegbegleiter überliefern, zeigen den an- deren Hirohito: einen unbeugsamen Herr- scher, der sich vor allem um seine Zukunft

AFP / DPA als Monarch sorgte. Hiroschima nach dem Atombombenabwurf 1945: Suche nach einem sicheren Versteck Durch sein öffentliches Schweigen zur Kriegsschuldfrage schuf Hirohito die zeichnungen des 1987 verstorbenen jünge- er zuweilen „mehr Siegessicherheit, bevor Grundlage für jenes tiefe Misstrauen, das ren Kaiser-Bruders legen nahe, dass sich er die Nation in den Krieg führte“. Dabei zwischen Japan und seinen Nachbarn bis Hirohito Japans militärischer Unterlegen- wusste Hirohito ebenso wie sein Stab, dass heute herrscht. Zugleich half er Japans heit durchaus bewusst war, als er den An- die USA, die Japan vor allem wegen des Konservativen, die unselige Vergangenheit griff auf Pearl Harbor anordnete. China-Krieges mit einem Öl-Embargo be- zu verklären. Sie predigen die Rückbesin- Vor drei Jahren kamen die Tagebücher legt hatten, nicht zu besiegen waren. nung auf autoritäre Werte der frühen Sho- des Prinzen doch heraus – wie schon zuvor Aber noch stärker als den Krieg fürch- wa-Zeit und wollen von einer Entschuldi- die Erinnerungen anderer ehemaliger hö- tete er Aufstände im Land. Seit der Welt- gung für den Angriffskrieg nichts hören. fischer Berater. Denn seit Hirohitos Tod wirtschaftskrise von 1929 vermochte Ja- Darüber müsse die Geschichte befinden, trauen sich immer mehr Zeitzeugen oder pans autoritäres Herrschaftssystem soziale wischte Japans Premier Yoshiro Mori das deren Nachfahren an die Öffentlichkeit. Unruhen kaum noch zu kontrollieren. Thema noch vor kurzem beiseite. Besonders krass zeichnet der in Tokio Auch aus Sorge um die Monarchie ent- Im kommenden April tritt ein neues Ge- lehrende US-Historiker Herbert Bix das Bild schied sich Hirohito, seine nationalistischen setz in Kraft, mit dessen Hilfe Bürger die eines politisch äußerst aktiven Kaisers, der Militärs auf das Feld der Ehre zu treiben. Offenlegung amtlicher Akten verlangen sich bis in Details über Japans Kriegsstrate- Am Tag des Angriffs auf Pearl Harbor können. Wären die erst einmal freigege- gie informieren ließ. Bix’ neue, 800 Seiten notierte Hirohitos Marineberater Eiichiro ben, könnte sich Historiker Kita vielleicht starke Biografie beschreibt den Showa-Ten- Jo: „Den ganzen Tag lang trug der Kaiser auch besser mit kritischen Fachkollegen no – ebenso kritisch wie seriös – als Ober- seine Marineuniform und schien in glän- wie Bix streiten, dem er jetzt pauschal wi- befehlshaber, der von strategischen Fragen zender Stimmung zu sein.“ Und als sich derspricht, ohne dies belegen zu können. geradezu besessen war und bisweilen sogar das Kriegsglück nach der Niederlage von „Der Showa-Tenno war zwar Japans in operative Entscheidungen eingriff. Midway im Juni 1942 gegen Japan wende- Staatsoberhaupt“, verteidigt Kita seine kai- Schon als Kind wurde Hirohito demnach te, drängte ein gereizter Tenno seine Ad- serfreundliche Auffassung, „aber politisch für die Rolle des Kriegsherrn gedrillt. Sei- miräle, gefallene Vorposten wie die Pazifik- verantwortlich war er nicht.“ ne konservativen Lehrer erzogen ihn in insel Saipan zurückzuerobern: „Wir müs- Wieland Wagner

274 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite • 8. Die Zukunft der Kultur

• 8.1. Die Vermischung der Weltkulturen • 8.2. Technik und Ästhetik • 8.3. Die Zukunft der Weltreligionen • 8.4. Bildung und Wissen

SPIEGEL-GESPRÄCH „KUNST BLEIBT ARCHAISCH“ Ausstellungsmacher HARALD SZEEMANN über die Globalisierung der Ästhetik und den Einfluss von Internet und Technik auf das Verständnis von Kunst

SPIEGEL: Herr Szeemann, Sie gelten als Szeemann: … und dabei habe ich gemerkt, Publikum. Werden Museen künftig über- Sciene-Fiction-Fan, Utopist und Visionär. dass das nicht funktioniert. 1967 habe ich haupt noch eine Rolle spielen ? Wenn Sie 50 Jahre weiterdenken – wie eine Ausstellung über Science-Fiction ge- Szeemann: Es gibt Versuche, Ausstellungen wird die Kunstwelt aussehen? macht: Da wurde im Jahr 4004 ein US-Bür- im Internet zu machen. Doch dort ist kei- Szeemann: Im Gegensatz zur Technik pro- germeister italienischer Herkunft auf der ne wirkliche Begegnung zwischen Mensch duziert Kunst immer archaische Werte. Das Jagd erschossen – die Autoren waren also und Kunstwerk möglich. Gerade dieses Er- wird auch so bleiben. Außerdem wird wieder bei klassischen Mafiamethoden an- leben im realen Raum ist aber wichtig. Nur Kunst auch in 50 Jahren noch von einzel- gekommen. So ist es immer: Je weiter wir dort wird vermittelt, dass es wirklich um et- nen Personen gemacht: welche Visionen uns in die Zukunft denken, desto schneller was Einmaliges, etwas Authentisches geht. sie haben, wie sie auf die Welt reagieren. kommen zur Hintertür wieder die Saurier Das Internet ist für meine Begriffe kein SPIEGEL: Aber die Welt wird sich ändern. Sie rein. Uns fallen doch nur die alten Verhal- künstlerisches Medium. phantasieren doch gern in die Zukunft … tensweisen ein, je archaischer, desto besser. SPIEGEL: Die meisten Menschen glauben al- SPIEGEL: Das Internet ist längst Realität – lerdings, das Internet werde in Zukunft un- Das Gespräch führten die Redakteurinnen Ulrike Knöfel auch für viele Künstler. Mit ihren Projek- ser Leben total verändern. Wir kaufen und Katja Thimm. ten im Netz erreichen sie ein weltweites übers Internet ein, schreiben Romane im

276 der spiegel 45/2000 D. SANDISON

„Serena in Suspense“ von Tom Shannon, „My Bed“ von Tracey Emin: „Alle Formen von Kunst existieren problemlos nebeneinander“

chen hat, dass es verhasst ist und dass die danebentreffenden Amerikaner Belgrad bombardiert haben. Das waren beladene Tränen. Diese intensive, unmittelbare At- mosphäre kann mit dem Internet nie er- reicht werden. SPIEGEL: Wird Kunst in Zukunft wieder mehr gesellschaftliche, politische Aussa- gen machen, sich einmischen wollen? Szeemann: Nicht mehr oder weniger als heute. Wir haben im Westen längst einen Zustand erreicht, wo alle Formen von Kunst problemlos nebeneinander existie- ren. Der Osten ist noch lange nicht so weit. Beuys hatte also leider Unrecht. Er hatte ja immer gehofft, dass, wenn die Mauer fällt, der Hase der Intuition von Sibirien flugs zu uns Rationalisten rennt und alles eins wird. SPIEGEL: Was hält den Hasen auf? Szeemann: Alles zerfällt wieder in ethni-

AFP / DPA sche und nationale Gebilde. Vor einigen Wochen habe ich Kollegen aus Skopje, Ti- rana, Sarajevo, Belgrad und Za- Netz und sehen uns Bilder – Kunst – in ausgestellt, das ein wahrer Ge- greb getroffen. Dort wird in den virtuellen Museen an. niestreich ist. Es zeigt Arbeitslo- „Viele Künstler nächsten Jahren ungeheuer viel Szeemann: Das Internet ist hilfreich, um se in Lebensgröße in einer Reihe sind im Spin- passieren. Die Künstler möchten Informationen zu bekommen und um zu vor neutralem Hintergrund. über die Kultur wieder so etwas kommunizieren, es ist, wie Amazon-Grün- Wenn man das riesige Panorama nennetz der wie eine gemeinsame balkani- der Jeff Bezos das definierte, eine schma- zum ersten Mal sieht, glaubt man Selbstbespie- sche Identität herstellen – nach le Kompetenzebene, vergleichbar der Elek- diese Leute anzugucken. Aber dem Motto: „We are Balcanics!“ trizität, die einige Dinge schneller machte, wenn man länger davor steht, gelung hängen Damit sind sie weiter als die Po- andere revolutionierte. Schon als das Fax merkt man, dass vielmehr sie den geblieben“ litiker. zum Bürostandard wurde, konnten wir Betrachter angucken. Oder die SPIEGEL: Ist das nicht auch eine schneller große Ausstellungen machen. junge Serbin Vesna Vesiƒ, die in Form von Nationalismus? SPIEGEL: Das Internet – ein reines Service- ihrem Video einfach weint. Weinen ist Szeemann: Wenn es um ein gemeinsames instrument? natürlich eine internationale Sprache. Aber Selbstbewusstsein geht, mit dem sich die- Szeemann: Ich habe vor ein paar Jahren das bei ihr hat das eine doppelte Bedeutung: se Künstler auch gegen die Interpreta- Werk „Viewer“ des Amerikaners Garry Hill Sie ist traurig darüber, was ihr Volk verbro- tionsmacht des Westens stellen, dann fin-

der spiegel 45/2000 277 • 8. Die Zukunft der Kultur • 8.2. Technik und Ästhetik AP „Modulation in Sync, 2000“ von Nam June Paik: „Die Diskussion um vermeintliche Exotik hängt mir zum Hals heraus“ de ich das ungeheuer positiv. Aber als ich auftritt. In dem Video „Turbulent“ darf ein Wahrheitskommission entlarvt. Solche in- gefragt wurde, ob ich eine Ausstellung mit Mann vor Publikum singen, eine Frau aber tensive Kunst haben wir bei uns nicht. Das 30 Künstlern aus dem Balkan mache, habe nur in einem leeren Saal. Da spielt sie auf wird noch lange dauern, bis bei uns so etwas ich abgesagt. Von dieser geografischen For- dramatische Weise auf das Thema Ge- Eindringliches wieder entsteht. Wir werden mel – 30 Chinesen, 30 Balkaner, 30 Kore- schlechterkampf an, aber auch auf die Be- durch unsere Saturiertheit gebremst. aner – haben wir uns im Westen verab- wegung zur Befreiung der Frau in Iran. SPIEGEL: Dennoch ist es der westliche schiedet. Doch dann haben mich die Kol- SPIEGEL: Geschlechterkampf ist auch ein Markt, der den Wert der Kunst bestimmt legen dort gefragt: „Wissen Sie, was Balkan globales Thema. und Künstler aufs Podest hebt. Selten heißt? Blut und Honig.“ Da war ich sofort Szeemann: Ja, aber es sind die regionalen stehen da Künstler, die in Afrika, Asien positiv geladen, das wäre ein übergeord- Wurzeln, die globalisierte Kunst – mit The- oder Osteuropa arbeiten. Sie gelten als neter Ausstellungstitel. men, die im Orient so Nachzügler oder SPIEGEL: Weil „Blut und Honig“ an Krieg relevant sind – bei uns Exoten. und Schlaraffenland gleichzeitig erinnern – erst nachvollziehbar „Das Internet Szeemann: Für mich eine Art fremdartiges Schreckensparadies? und spannend machen. existieren diese Un- Szeemann: Es geht nicht um das Exotische, SPIEGEL: Die westlichen ist kein terschiede nicht. das Fremde; im Gegenteil, von diesem an- Künstler kreisen aber künstlerisches Ehrlich gesagt, diese tiquierten Denken müssen wir weg. Aber am liebsten um ihr ei- vermeintliche Exo- an den politisch angespannten Orten pas- genes Ego, ihr Leben, Medium“ tik oder die Diskus- siert viel mehr in der Kunst. Ich versuche, ihre Familie, ihre Kind- sion darüber hängt Künstler zu präsentieren, die in ihren Län- heit. Szeemann, 67, mir zum Halse her- dern etwas verändern wollen, und Kunst, Szeemann: Ja, viele sind wurde durch die aus. Das ganze 20. die subversiv ist. Das ist eine Qualität, die in diesem Spinnennetz Documenta 1972 Jahrhundert war uns verloren gegangen ist. In Ländern wie der Selbstbespiegelung als Ausstellungsma- schließlich eine Vor- Kroatien, Armenien oder der Ukraine wer- hängen geblieben. Na- cher weltbekannt. bereitung dafür, dass den dagegen gerade ungeheure künstleri- türlich gibt es Ausnah- Im nächsten Jahr wir fremde Künstler sche Energien freigesetzt. men, die starke Kunst leitet er zum zwei- akzeptieren. Ange- SPIEGEL: Viele Künstler verstehen sich als machen. Wie die Britin ten Mal die Bienna- fangen haben damit Teil einer globalisierten, grenzenlosen Tracey Emin … le in Venedig. die Expressionisten

Kunstszene und halten die regionale Zu- SPIEGEL: … die ihr ei- NERI / GRAZIA C. CERCHIOLI mit ihrer Bewunde- ordnung für überholt. In der Ausstellung genes Bett, samt be- rung afrikanischer „Norden“, die vor kurzem in Wien zu se- nutzten Kondomen, im Museum ausge- Skulpturen als Energie-Äquivalente zu hen war, haben die beteiligten skandinavi- stellt hat. ihrem eigenen Suchen und Finden. schen Künstler sich dagegen jedenfalls ge- Szeemann: Es braucht ja nicht ihr Bett zu SPIEGEL: Auf dem Markt werden nicht- wehrt: Sie leben in New York, reisen oft sein, sie macht phantastische Zeichnungen. europäische und nichtamerikanische Künst- nach Tokio und arbeiten gern in Berlin. Vor allem aber fasziniert mich zurzeit Süd- ler erst beachtet, wenn der westliche Szeemann: Aber denken Sie an die Irane- afrika mit Künstlerinnen wie Minette Vári Kunstbetrieb sich herablässt, sie als neuen rin Shirin Neshat, die zwar in New York und ihrer Arbeit „Oracle“, wo sie nackt und Trend zu feiern. Sie selbst haben den chi- lebt, aber in ihren Videos stets im Tschador kahl rasiert ist, kotzt und die Sprüche der nesischen Künstler Wang Du auf der letz-

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Werbeseite • 8. Die Zukunft der Kultur • 8.2. Technik und Ästhetik

kums, allemal erreicht wird. „Sie lieben es“, beobachtete Disney-Manager Phil Barlow bei E-Vorstellungen. Unter Filmemachern ist das Echo da- gegen geteilt – nicht zuletzt aus Sorge vor noch mehr Hollywood-Dominanz: Der technische Vorsprung in der E-Film- Sparte stärkt auch bei den Inhalten die Vorherrschaft der US-Studios. Zudem: Bei Innenaufnahmen weichen die Ergebnisse von herkömmlicher Tech- nik und elektronischen 24p-Kameras wie Sonys „HDW-F 900“ noch voneinander ab. Das Fachblatt „Filmecho-Filmwoche“ fand sogar, dass es sich nach wie vor „um zwei unterschiedliche Medien handelt“. Michael Ballhaus, Professor beim „Filmstudium“ der Hamburger Universi- tät und gefragter Kameramann bei Quali- tätsprojekten, empfiehlt den Studenten, sich auf die „Technik der Zukunft“ einzu- stellen, möchte selbst aber weiterhin „be-

DAS WERK AG DAS stimmte Sachen lieber auf Film drehen“. Filmemacher Wenders (r.) im Digitalstudio* : Aussöhnung mit dem Todfeind Regisseur Wim Wenders hat sich die einst verhasste „Todfeindsprache“ der di- gitalen Bilder schon angeeignet. Wen- ders, der seinen Kuba-Film „Buena Vista EIN MAUSKLICK, UND DIE KASSE STIMMT Social Club“ teilweise mit digitalen Ama- Die Digitaltechnik verändert Hollywood und die Filmkultur. teur-Camcordern gedreht hat, erwartet sogar neue Impulse für die Kinokultur: Theoretisch könne mittels einfacher Di- ine Welt jenseits unserer Vorstellungs- in der Bundesrepublik auf 2,5 Milliarden gitalausrüstung „jeder Filmstudent, der Ekraft“ verspricht Wald Disneys neues- – anderthalbmal so viel wie der Jahres- etwas auf dem Kasten hat“, alle Kinos ter Zeichentrickfilm: Vorn brüllen die umsatz in deutschen Kinos. der Welt erreichen. Echsen, und im Hintergrund entrollt sich Die Umrüstungskosten können Pro- Allerdings wird die bevorstehende Ki- spektakulär das Urweltpanorama. duzenten und Verleiher leichten Herzens novernetzung auch schärfere Erfolgskon- Der Lichtstrahl für das Kinobild aufbringen, denn mit der neuen Technik trolle erlauben. Angaben über Anzahl kommt aus dem kleinen Loch vor dem geraten sie in eine „win win und Reaktion der Zuschauer er- Vorführraum wie immer – aber nicht win“-Situation, wie Sony-Ma- reichen dann auf direktem Weg mehr von der Filmrolle. Eine schim- nager Niederehe glaubt. Al- Der Film die Verleihzentrale. Zielgrup- mernde Fläche aus 1,3 Millionen mikro- lein für Herstellung und kommt nicht pengenaue Kinoreklame wür- feinen Reflektoren flirrt hinter der Optik Transport von Kopien gibt die de möglich. Kein Problem des Projektors: Durch elektrostatische Filmwirtschaft bisher jährlich mehr in der mehr, Angebot und Präsenta- Kräfte bis zu 5000-mal pro Sekunde be- über zehn Milliarden Mark Blechbüchse tion der Werbung auf das „so- wegt, lenken die winzigen Spiegel ihre aus; davon könnte sie künftig ziale Umfeld“ des Kinos zuzu- Lichtpunkte auf die Leinwand. an die 90 Prozent sparen. Hol- ins Kino, son- schneiden – und warum dann Disneys „Dinosaurier“ sind Vorboten lywood will in den nächsten dern per Inter- nicht gleich als Einblendung des Kinos von morgen. Vom Drehort bis vier Jahren jeden Film auch net als Datei wie beim Autorennen? zur Wiedergabe funktioniert alles nur im digitalen Format anbieten, Zudem rückt ein Alptraum noch digital. Der Film kommt nicht mehr die Ufa-Kinowerbung will in der Filmemacher näher: kor- in der Blechbüchse ins Kino, sondern als Deutschland fürs Erste 500 Abspielorte rigierende Eingriffe des Produzenten Datei – und bald wohl gar als Satelliten- mit digitaler Technik für Satellitenüber- noch im Kino. Bisher entscheiden, bei al- Beam direkt aus Hollywood. tragung ausrüsten. ler Einflussnahme der Geldgeber auf Die Technik für vollelektronisches Kino Noch erreicht auch die hochauflösen- Drehbücher und Schnitt, einzig die Zu- läuft weltweit schon in rund 30 Licht- de E-Technik neuesten Standards nicht schauer über den Geschäftserfolg, so- spielhäusern, unter anderem in Berlin, immer die Schärfe und Farbtiefe einer bald die Filmrollen erst einmal im Um- Düsseldorf und Köln. Ausrüster rechnen frisch vom Negativ gefertigten Erstko- lauf sind. damit, dass „E-Cinema“ in zwei Jahren pie. In der Praxis allerdings kommen statt Dieses ärgerliche Restrisiko der Stu- überall eingeführt wird – ein historischer dieser „Sahneversion“ (Filmregisseur dios lässt sich beim „E-Cinema“ noch Akt, denn damit fiele, so der Sony-Ma- Wim Wenders) nur Massenkopien ins beseitigen. Floppt ein Film wider Erwar- nager Horst Niederehe, „die letzte Bas- Kino, deren Qualität von der neuen Elek- ten, lassen sich die umsatzstörenden Pas- tion analoger Informationstechnik“. tronik, zumindest im Urteil des Publi- sagen nachbessern und die Dateiände- Die Branche freut sich auf den Boom: rung umgehend an alle Digitalkinos über- Den Ausrüstungsbedarf bei den Abspiel- * Beim Nachbearbeiten eines Videoclips der Toten mitteln. Ein Mausklick, und die Kasse stätten schätzen Branchendienste allein Hosen. stimmt wieder. Christian Habbe

280 der spiegel 45/2000 COURTESY BARBARA GLADSTONE BARBARA COURTESY Szene aus „Fervor“ von Shirin Neshat Videoauftritt nur im Tschador

ten Biennale in Venedig zum ersten Mal ei- nem breiten Publikum vorgestellt, und so- fort erzielten seine Werke hohe Preise. Ist das eine Form von Kolonialismus, wenn Europäer bestimmen, dass plötzlich asiati- sche Kunst wichtig und wertvoll ist? Szeemann: Ich war sehr froh, dass ich die Chinesen vorgestellt habe, bevor die Ver- marktung anfing. Was die Künstler nach- her an Bekanntheitsgrad zulassen, ist ihre Sache. Aber dass sie erst diese kultu- relle Plattform hatten, finanziert durch öf- fentliches Geld, ist sehr wichtig. Denn die- se öffentliche Aura prägt das Image des Künstlers: Er gilt sozusagen als jungfräu- lich, noch nicht vom Kunstbusiness ver- dorben. SPIEGEL: Das äußerliche Erscheinungsbild der aktuellen Kunst – ein wenig Trash, ein bisschen trendige Farbe, viel Plas- tik – wirkt auf allen Kontinenten ähnlich. Wird es zu einer totalen Einheitsästhetik kommen? Szeemann: Im Grunde ja. Die Globalisie- rung bringt Gleichschaltungen mit sich. Doch wichtig ist, dass man mit demselben Material, dem gleichen Ausdrucksmittel unterschiedliche Wirkungen erzielen kann. Der Chinese Chen Zhen hat in Lyon 1997 einen Doppeltisch gebaut: Auf der einen Seite standen westliche, auf der anderen Seite östliche Stühle, und in der Mitte war auf Chinesisch zu lesen: „Das ewige Miss- verständnis“. Das war eine pointierte welt- politische Analyse, für die sich ein westli- cher Künstler nie interessiert hätte. SPIEGEL: In der Architektur gleichen sich die Aussagen aber überall auf der Welt an: der spiegel 45/2000 281 • 8. Die Zukunft der Kultur • 8.2. Technik und Ästhetik

Murakami-Skulptur „Hiporon“, Künstler Wang Du, Installation „Die öffentliche Aura prägt das Image des Künstlers“ AFP / DPA AP

Shopping Malls, Betonklötze, futuristische noch bessere Filme mit weniger Zeit, Ma- „La Platea dell’ umanità“, also Plattform Büro-Anlagen aus Glas und Stahl. terial und Arbeit – also auch in Zukunft mit der Menschheit – das klingt schon gut. Szeemann: Wenn Chinesen – wie in Schang- weniger Geld – machen können. Und dass SPIEGEL: Sie wollen die Biennale zu einem hai – den amerikanischen Baustil nachah- sie mit wenig Aufwand irrsinnig viel Opu- Gesamtkunstwerk mit Kinofilmen, Thea- men, ist das fürchterlich. Dann entstehen lenz oder Raffinesse suggerieren können. ter, Musik und bildender Kunst arrangie- Disney-Kopien. Das Problem haben sich die SPIEGEL: Es ist aber auch denkbar, dass mit ren. Wie soll das denn aussehen? Europäer aber ebenso aufgehalst. Wer nach Hilfe dieser Technik in immer kürzeren Szeemann: Wir werden neun Regisseure fra- Arezzo fährt, um sich an Piero della Fran- Abständen immer mehr Filme produziert gen, ob sie etwas für uns machen. Keine cescas Fresken zu laben, muss erst einmal an und auf den Markt gespuckt werden. Wird Hollywood-Stars, sondern Leute wie Lars dem größten architektonischen Kack vorbei. das Publikum die Bilderflut noch aufneh- von Trier, David Lynch, John Waters, Abbas Oder, wie der irische Schriftsteller Samuel men, verarbeiten können? Kiarostami. Außerdem werden wir Shake- Beckett gern sagte: Da waren nicht Archi- Szeemann: Da ist Pipilotti Rist, die Schwei- speare-Verfilmungen zeigen – aber nur aus tekten, sondern Arschitekten am Werk. zer Videokünstlerin, ein Paradebeispiel. Indien – und dazu im Theater von Eimun- SPIEGEL: Verändert die technisierte Welt, Sie sagt selbst: „Ich weiß ja gar nicht mehr, tas Nekrosius „Othello“ aufführen lassen. die uns umgibt – der ständig flimmernde ob ich am Abend im Wald spa- SPIEGEL: Dieser Mix klingt ziem- Fernseher, der allgegenwärtige PC-Monitor zieren gegangen bin oder ob ich lich abgedreht. Welche Musik – unsere Sehgewohnheiten und damit un- den Wald nur im Fernsehen ge- „Die nächste passt dazu? ser Verständnis von Ästhetik? sehen habe. Ich bin ein typisches Biennale wird Szeemann: Arnold Schönbergs Szeemann: Die junge Generation kann da- Fernsehkind.“ Dennoch geht die- Kompositionen, die haben doch mit umgehen. Videos zum Beispiel sind se junge Generation sehr wähle- noch ehrgeizi- auch schon Wassily Kandinsky doch längst ein Teil ihrer Sprache. Das gilt risch und frei zugleich mit der ger: ,Plattform angeregt. Haben Sie schon mal auch für die Künstler. Es gibt da den jun- Masse von Bildern um. indische Shakespeare-Filme ge- gen Chinesen Zu Wang, von dem ich in SPIEGEL: Auf der vergangenen der Mensch- sehen? Aber was mir besonders diesem Jahr „Rainbow“ gesehen habe, ein Biennale haben Sie etliche Vi- heit‘ klingt gefällt, sind Instrumente, mit de- wirklich beeindruckendes Video. Es han- deokünstler gezeigt. Auf der nen man erst wenig gearbeitet delt von der alten Prügelstrafe. Man sieht nächsten, 2001 in Venedig, der schon gut“ hat, wie die Feuerorgel von Hen- nicht, wie geschlagen wird, sondern nur ersten im neuen Jahrtausend … ry Dunant, die ich mal rekon- einen nackten Rücken, der sich langsam Szeemann: … habe ich vor allem das Pro- struieren ließ. Dunant ist ja, nachdem er aus grünlich, dann rötlich verfärbt. Gleichzei- blem, dass ich eine Steigerung meiner dem Komitee vom Roten Kreuz ausge- tig ist das Klatschen einer Peitsche oder selbst vollbringen muss. schlossen wurde, mit dieser Feuerorgel eines Stockes zu hören – auch ein Beispiel SPIEGEL: Ihrer selbst? durch Europa gezogen. Die Töne klingen für Kunst, die so intensiv ist, dass es mir in Szeemann: Ja, weil mein Motto für die ver- wie eine singende Säge. Und er hat gesagt: den Fingern juckt, ihn sofort auszustellen. gangene Biennale 1999, „dAPERTutto“ – „Eigentlich müsste der Mensch durch die- SPIEGEL: Im Film ist inzwischen alles möglich. das bedeutet so viel wie „alles ist überall“ se wunderschönen Töne so viel besser wer- Digitale Techniken erlauben es, im Nach- – sehr gut ankam. Beim nächsten Mal muss den, dass ein Rotes Kreuz gar nicht mehr hinein jedes Bild beliebig zu manipulieren. alles noch ehrgeiziger werden. Deshalb sol- nötig ist.“ Szeemann: Das muss doch befreiend wirken len alle Künste vertreten sein, der Tanz, die SPIEGEL: Herr Szeemann, wir danken Ih- für Filmemacher, wenn sie auf diese Weise Musik, das Kino. Ich nenne das Ganze ja nen für dieses Gespräch.

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ESSAY DÄMON DER ECHTHEIT

Digitale Technik und das Internet eröffnen grenzenlose Möglichkeiten fürs Fälschen und Kopieren. SPIEGEL-Redakteur JOHANNES SALTZWEDEL über die Sehnsucht nach dem Authentischen, das in allen Bereichen des Lebens immer rarer wird.

ie Dinger in der Vitrine soll, echt ist oder nicht, ist letzt- sahen aus wie dunkle, lich gleichgültig“, grübelte, an- D meist recht platte Steine. geregt von der Khuza-Posse, Bei näherem Hinsehen war zu der Frankfurter Kritiker Hen- erkennen, dass manche ein ning Ritter über ein anderes Loch hatten. Nur wenn der Schaustück in Berlin. „Denn es Ausstellungsbesucher die Be- geht nur um die Assoziationen, schriftungen las, konnte er die er beim Betrachter wecken langsam stutzig werden. soll.“ „Fischorakel“ oder „Be- Vielleicht aber achten Aus- schwerdefigur“ nannten sich stellungsbesucher gerade dar- die urtümlich wirkenden Teile. um so vehement aufs Gütesie- Stammen sollten sie aus der le- gel des Authentischen, weil es gendären jungsteinzeitlichen immer rarer zu werden scheint. Kultur der Khuza in Südsibiri- Vom Schreibtischlämpchen im en, eines Volkes vom Baikalsee Bauhaus-Stil bis zu ganzen In- mit ausgeprägter Neigung zur terieurs und Modelinien, vom Melancholie. Die Khuza, hieß gründerzeitlich gestylten Plas- es weiter, hätten sich die Welt tik-Bucheinband bis zur teuer als Ring vorgestellt und darum aussehenden Armbanduhr aus unentwegt den Verlust der Mit- Fernost, vom Musik-Sample bis te beklagt. Doch kaum war die zum Zeitschriftenlayout: Alles Berliner Ausstellung „Sieben scheint heute kopierbar, nir- Hügel“, eine kunstvoll-assozia- gends gibt es mehr Garantien tiv gestaltete Reise durch die für Einzigartigkeit. Werden die Kulturgeschichte der Mensch- Grenzen des Machbaren im heit, vergangenen Mai eröffnet, gleichen Tempo erweitert wie da kam auch schon ans Licht, bisher, dann könnte schon bald wie es mit den ringgläubigen der erste Versuch starten, Men- Khuza wirklich stand. Das süd- schen eins zu eins zu reprodu- sibirische Volk hat nie existiert. zieren wie das britische Klon-

Klaus Heid, 42, ein Künstler aus AKG schaf Dolly. Karlsruhe, hat sich 1995 den Duchamp-Installation: „Wenn ich es mache, ist es Kunst“ Natürlich waren es Künstler, Nörglerstamm ausgedacht und die als Erste mit den neuen konnte nun dank einer „sugges- Möglichkeiten des Abkupferns tofiktiven Methode“, sprich: spielten. Längst haben die aus schlitzohriger Erfinderkunst, Längst haben die aus Zeitungsfetzen und Zeitungsfetzen und anderem ihre Überreste präsentieren. Müll komponierten Dada- Humbug? Blödelei? Co-Ku- anderem Müll komponierten Dada-Collagen Collagen von Kurt Schwitters rator Gereon Sievernich tat einen Ehrenplatz in den Gale- sich recht schwer bei seiner Er- einen Ehrenplatz in den Galerien rien, und die aus unveränderten klärung, dass unter den vielen Alltagsdingen bestehenden gezeigten Objekten auch die- „Ready-mades“ von Marcel ser ethnologische Jux „im tra- Duchamp, Klassiker der mo- ditionellen Sinne echt“ sei – als Konzeptkunstwerk eben. Doch dernen Museumsästhetik, wurden sogar schon selbst identisch ko- insgeheim wird sich der Ausstellungsmacher über die Empörung piert, von der Künstlerin Elaine Sturtevant. „Wenn ich es mache, der Journalisten gefreut haben: Nichts wirkt so erregend, nichts ist es Kunst“, verkündete jüngst die Britin Tracey Emin, die ihr macht darum auch so sicher Schlagzeilen wie ein Fälschungsvor- ungemachtes Bett öffentlich zur Schau stellte und es inzwischen wurf. Das mag paradox scheinen in einer Zeit, in der kein Do- für viel Geld an einen Sammler verkauft hat. Das klingt rotzfrech, kument und kein Objekt vor dem Kopieren sicher ist. „Ob der ist aber gerade als verzweifelte Rebellion des Persönlichen und Fußabdruck des Buddha, der das ‚ozeanische Gefühl‘ illustrieren Originalen gegen das Einerlei der Fließbandware gemeint. „Das

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Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ sehmachern kein Aufwand zu schade, keine Extra-Kamera zu nannte der Kulturphilosoph Walter Benjamin seinen von Stu- teuer. Und was die Mattscheibe nicht liefern kann, verspricht das denten einst gern kopierten Aufsatz darüber, dass durch Verviel- Tourismusgewerbe. fältigung genau die Qualität entschwinde, um die es einmal in der Echte Indianer oder Hindutempel, ungezähmte Wildnis oder Kunst gegangen war: die „Aura“ einzigartigen Sinnes. originale Volksriten sind für viele ein entscheidendes Argument, Heutigen Analytikern der multiplen Medienwelten kommt Ben- stundenlang im Flugzeugsitz auszuharren. Da kommt es am Ende jamins These freilich fast banal vor. Er habe „nicht seinen besten gar nicht mehr so darauf an, wer die ersehnte Offenbarung als echt Gedanken“ gehabt, als er vom Auraverlust schrieb, meint Hillel beglaubigt. Nicht einmal für viele der Bestaunten selbst ist das Schwartz, ein Kulturhistoriker aus Kalifornien. Verloren gehe noch eine Gewissensfrage: So halten nur wenige standhafte Über- vielmehr „unsere Sicherheit, dass wir selbst noch lebendig sind“. lebende des japanischen Urvolks der Ainu den simplen Tanz- Da könnte etwas dran sein: rhythmen ihrer Ahnen die Zappelnd im Netz der hundert- Treue; die Medien des Landes fach vervielfältigten Konsum- haben sie, ähnlich wie es in und Trendangebote, pausenlos Hinter dem Appetit aufs Eigentliche ,Volksmusik‘-Hitparaden des fortgerissen von medial in Westens geschieht, fast völlig „Echtzeit“ gelieferten Attrak- verbirgt sich fast immer die Sehnsucht nach zu genormten synthetischen tionen und allem, was gerade Muntermachern aufpoliert. als „echt cool“ gilt, wird der verwurzelter Identität Das stört die Wenigsten, Mensch des anbrechenden In- denn hinter dem Appetit aufs ternet-Zeitalters sich immer Eigentliche verbirgt sich fast häufiger selbst fremd. Wo Be- immer die Sehnsucht nach ver- nutzeroberflächen, Kommuni- wurzelter Identität. „So stark kationsdesign, Trendscouts und ist unser Wunsch, uns in dem Imageberater die Wirklichkeit wiederzufinden, was wir ein- prägen, kommt die Frage auf: mal gewesen sein müssen, dass Bin das noch ich, der hier denkt Schwindel uns mehr fesselt als und handelt? Läuft nicht in Geschichte“, schreibt Hillel meinem Tun bloß ein Pro- Schwartz mit fasziniertem gramm ab, ob genetisch oder Schauder. Ist das Rezept erst gesellschaftlich, psychisch oder bekannt, dann entfaltet ein politisch? Ist mein Mitmensch, Konzentrat aus Kopien darum trotz aller entlarvenden Statis- oft mehr Wirkung als das Ori- tik, am Ende nur eine un- ginal. durchschaubare „Black Box“, Disneyland, das Urbild aller die mir bestenfalls äußerlich Themenparks, macht es vor. In entfernt ähnelt? seiner nach Unterhaltungsfor- Die bloße Frage macht miss- men sortierten Welt von „Ad- trauisch – und nährt das Ver- ventureland“ bis „Fantasy- langen nach eindeutigen, gegen land“ wandert der Besucher alles Hinterfragen immunen gleich am Anfang durch die Tatsachen. Und je schemenhaf- „Main Street, U. S. A.“. Ihr ter das Gestöber des Kopierten Häuserbild ist nicht einfach der und Austauschbaren wird, des- Abklatsch einer irgendwo vor- to heller, aber auch ferner handenen alten Yankee- leuchtet dahinter das Authenti- Straßenflucht, sondern will sche, Eigentliche, Wesentliche mehr sein: der Extrakt aller auf. Freilich beginnt damit amerikanischen Kleinstadt- gleich das nächste Paradox: Ge- idyllen, die gebaute Idee kom- rade wo es am künstlichsten zu- munaler Gemeinschaft. geht, werden Echtheit und Sind solche von Vermark- Natürlichkeit besonders innig tern konfektionierten Mythen

beschworen. Ein Werbespot, AKG aus der Retorte die Zukunft? der reine Alpenmilch in der Paik-Videoinstallation: Der Mitmensch – eine Black Box? Dafür sprechen einige Indizien Schokolade verspricht und – zum Beispiel dass ehrwürdi- dazu glückliche Kühe auf satt dunkel-grünen Almen zeigt, weckt ge Galerien den meisten Andrang immer dann verzeichnen, Mythenträume von romantischer Natur-Geborgenheit. Manche wenn mit viel Werbeaufwand die Sonderschau für einen ein- Wodkamarken unterscheiden sich vom Konkurrenzprodukt zigen farbenfrohen Künstler angesagt wird. Worum Claude allenfalls in der Art, wie sie sich als das Eigentliche, Bewährte prä- Monet kämpfte, was Jan Vermeer wollte, worin Vincent van sentieren. Aber die Formel wirkt: Mögen auch nur ein paar Mil- Gogh besser war als die Kollegen, das spielt kaum noch ligramm frische Sahne unter notarieller Aufsicht in den industri- eine Rolle: Im Zeitalter des Zappens schmelzen die oft ell erzeugten Tiefkühlspinat geträufelt sein, der Käufer schmeckt schon von Plakaten, Illustrierten und Bildschirmen vertrau- auf einmal echte Hausmannskost. ten bunten Werke zu einem Stil-Image, einer virtuellen Ikone Nicht nur Dinge, auch die Erlebnisse mit ihnen lassen sich zusammen. Wie die Pyramiden, die in keinem Ägypten- durch den Qualitätsstempel des Authentischen besser verkaufen. Pros-pekt fehlen, werden solche vagen Geschmacksmuster – Um ihren Zuschauern Wirklichkeit zu zeigen, ihnen das kostba- und beileibe nicht nur visuelle – laut Hillel Schwartz zum re Gefühl zu geben, sie seien unmittelbar dabei, ist den Fern- „externalisierten Gedächtnis“, zum tröstlichen Anhaltspunkt

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Werbeseite • 8. Die Zukunft der Kultur • 8.2. Technik und Ästhetik

dafür, dass es im Dschungel der Lebenswelt Zusammenhänge le Geschlechterrolle als „gender“ von der naturgegebenen zu un- geben muss. terscheiden. Aber gerade das kann die bislang vollkommen selbst- Zu groß darf die Menge des angeblich Originalen allerdings verständliche Identität des Einzelnen in neue Unsicherheit stürzen. auch nicht werden. Nur Seltenes bleibt schließlich gefragt; Im großen Maßstab entspricht solchen Leiden am Selbst das Copyright-Anwälte leben geradezu davon, dass Nachahmungen weltweit immer dringlichere Problem, worin eigentlich an einer und Surrogate in Umlauf sind, und auch die Auktionatoren wä- Kultur oder Religion das Eigentümliche und Authentische beste- ren vermutlich kaum entzückt, wenn keines ihrer raren Stücke hen soll. Glaubt es einer genau zu wissen, kann er als Unter- mehr mit einem anderen vergleichbar wäre. Wozu es führen drücker oder Fundamentalist enden. Tolerantere würden die müsste, wenn die ganze Welt Grübeleien um kulturelle Iden- auf einmal von unverfälschten tität am liebsten verbieten. Dingen und Traditionen wim- Aber auch sie haben keine melte, das haben der Autor Patent-Antwort auf Lager. Thomas Kapielski und der Ver- Der Bielefelder Soziologe leger Bernd Kramer jüngst in Georg Stauth glaubt zu wissen, Berlin humorvoll getestet. warum. Für westlich geprägte Die beiden Pfiffikusse ver- Menschen, erklärte Stauth kürz- langen, dass die Unesco in die lich in einem klugen, knappen exklusive Liste des „Weltkul- Büchlein, bleibe der Gradmes- turerbes“ auch ihre Kreuzber- ser zivilisatorischer Entwick- ger Kneipe „Zum Goldenen lung vorerst „das zur Unver- Hahn“ aufnehmen solle. Be- wechselbarkeit und Einzigartig- gründung: Die Destille sei samt keit hochgezüchtete Individu- Personal „ein einzigartiges so- um“. Selbst wer also frohgemut zial- und milieuästhetisches En- die multikulturelle Welt ausrufe, semble“, wo „gastronomische werde dieses Echtheits-Ideal Könnerschaft in unverwechsel- nicht los, er verliere nur häufig barer Manier zelebriert“ wer- das Wissen um die unumgängli- de. Gerade derart „vollendet che eigene Beschränktheit. Bald belebte Räumlichkeiten“ aber schliddere er daher wieder in gerieten durch „gewinngierige ein „enthistorisiertes Authenti- Wühlarbeiten und Designsucht zitätsdenken“ hinein, und die postmodern gleichgeschalteter Suche nach dem Wesentlichen Architekten“ immer mehr in beginne von vorn. Gefahr. So gesehen müsste bald Was tun also mit dem Dämon jeder Stammtisch, jede Park- der Echtheitssuche, wenn er bank und jeder potenzielle Lili- sich weder abschütteln noch er- Marleen-Laternenpfahl von sticken lässt? Vielleicht enthält Denkmalschützern bewacht gerade Stauths kühle Warnung sein. den entscheidenden Hinweis: Klar, dass es dazu nicht kom- Nur durch Traditionsbewusst- men wird. Klar aber auch, dass sein lässt sich die berechtigte

Menschen vorzugsweise dort, FOCUS L. AMOS / AGENTUR (ob.);J. (u.) AKG Sehnsucht nach dem Authenti- wo es auf Vertrauen und Cha- Osterinseln, Giacometti-Plastiken: Suche nach dem Wesentlichen schen regulieren. „Wer seine rakter ankommt, mit der Akri- Vergangenheit vergisst, ist dazu bie von Kunstfahndern dem verdammt, sie zu wiederholen“, Authentischen nachjagen. Aus- hat der US-Philosoph George gerechnet in der Demokratie „Kahl und einsam steht das ,authentische‘ Santayana einmal geschrieben. hat sich dieses Verlangen zu ei- In diesem Satz steckt auch die nem kunstvollen öffentlichen Ich da, ständig im Zweifel, ständig auf der Botschaft: Wer das Authenti- Spiel zwischen Macht und Mo- sche auf Flaschen ziehen will, ral entwickelt. „Würde der ech- Suche nach neuer Befestigung“ macht seine Rechnung ohne die te Al Gore bitte mal aufste- Geschichte. Sinn kann es nur hen?“, titelte kürzlich voller dank Herkunft geben, und das Hohn das Londoner Magazin Gefühl der Echtheit erst recht. „The Economist“ über die verblüffenden Image-Verrenkungen des „Kahl und einsam steht das ,authentische‘ Ich da, ständig im US-Präsidentschaftskandidaten, der bei seinen Auftritten allen, Zweifel, ständig auf der Suche nach neuer Befestigung“, resü- aber auch allen Wählern eine Schokoladenseite zeigen will. miert Georg Stauth mit Nietzsche-Pathos seinen Rundblick Im täglichen Polit-Zirkus hat die Frage nach dem authentischen durch die globalisierte Gegenwart. Fürs kommende Jahrhundert Charakter also durchaus witzige Seiten. Für den Alltag vieler Men- enthält diese Bilanz ein Bündel von Aufgaben, die kein schen jedoch ist sie ernst, ja bedrohlich geworden. Wer etwa in sei- Lehrplan abdecken, kein nem eigenen Körper dermaßen fremd zu sein glaubt, dass er sich Gesetz lösen und kein noch Johannes Saltzwedel, schließlich zu einer Geschlechtsumwandlung durchringt, hat in so ausgefuchstes elektroni- 38, schreibt über der Regel ein Fegefeuer von Selbstzweifeln und bangen Fragen sches Netzwerk überneh- Geisteswissen- nach seinem authentischen Ich durchquert – und muss dann oft men kann: eigene und schaften. Sein Haupt- noch lange die Skepsis seiner Umgebung erdulden. Zwar sind fremde Herkunft zu erken- thema ist die kultu- postmoderne Wissenschaftler schon längst emsig dabei, die sozia- nen und zu respektieren. relle Überlieferung. DER SPIEGEL

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Werbeseite • 8. Die Zukunft der Kultur • 8.2. Technik und Ästhetik W. BELLWINKEL W. Online-Literaten Naters, Lager: Unter Aufsicht baden gehen

Werke auf der Literatur-Website „Am Pool“ „Wir sind jung, wir sind auf Draht“ – das ist schon fast die ganze Idee

LITERATUR NIE MEHR VERGRIFFEN Was wird, wenn alle „drin“ sind, aus den Büchern? „E-Books“ und „Books on demand“, über das Netz verbreitet, verändern die Verlagslandschaft. Aber es gibt auch Ansätze zu einer eigenständigen Internet-Literatur.

ls gelte es, ein Menschenrecht auf Ein Mann ganz allein schreckte die den: „If you pay, the story rolls. If you Veröffentlichung durchzusetzen, tum- Verleger auf. Als er im März, damals don’t, the story folds.“ Über 110000 Fans Ameln sich im Internet die Hobby- noch mit Unterstützung seines Verlags bezahlten. Inzwischen ist die vierte Liefe- Autoren. Ein eilig Volk von Möchtegern- Simon & Schuster, die Erzählung „Riding rung von „The Plant“ online. Dichtern entleert seine Poesiealben ins the Bullet“ im Internet ver- „Es erheitert und befriedigt Netz und verfasst Romane über Befind- öffentlichte und gleich am ers- mich“, sagt Kings deutscher Ver- lichkeiten und Reminiszenzen. ten Tag 400000 Downloads re- Buchideen leger Lothar Menne (Ullstein), Das Buch, in den letzten Jahren schon gistrierte, hatte Stephen King könnten im „dass nicht einer der Konzern- als Schwundprodukt abgeschrieben, erlebt die Printwelt das Fürchten ge- strategen das Thema des elektro- seine Renaissance – auch wenn es in seiner lehrt. Netz getestet nischen Verlegens weithin hör- klassischen Form schwarz auf weiß zwi- Ein halbes Jahr später wagte werden, ihre bar zur Sprache gebracht hat, schen zwei Deckel gepresst, an Bedeutung er den Großangriff, indem er sondern ein Autor.“ verlieren wird. Dank dem Internet werden den Roman „The Plant“ von Preise sich „Ihr handelt nicht mit Papier, Werke nie mehr vergriffen sein: In der un- der Schublade ins Netz und, der Nachfrage ihr handelt mit Sprache und endlichen Bibliothek der Zukunft steht das gegen einen Dollar pro Kapitel, anpassen Ideen“, so empfindet Menne Ste- vergessen geglaubte Traktat aus dem 19. auf die Bildschirme seiner Fan- phen Kings Botschaft an das Ver- Jahrhundert neben den erotischen Phan- gemeinde beförderte – mit dem lagsgewerbe – auch wenn er es tasien der Hausfrau beim Staubsaugen. fast altmodischen Appell an die Ehre für höchst unwahrscheinlich hält, dass die Die Verlage, die sich starr auf den nächs- und Ehrlichkeit der Leser, sein Copyright gedruckten Seiten jemals aufgegeben ten Bestseller oder auf den Kampf um die als Autor zu respektieren: „Das ist alles, werden. Buchpreisbindung konzentrieren, hätten was ich habe als ein Schreiber.“ Eine Dennoch beeilen sich nunmehr die Ver- diese Entwicklung, die sie um ihre Groß- Fortsetzung der Geschichte sollte es nur lage, ihren Autoren die elektronischen Fes- machtansprüche bringen kann, beinahe geben, wenn mindestens 75 Prozent von seln anzulegen. Hektisch streiten in New verschlafen. ihnen den Tribut an ihn entrichten wür- York und inzwischen auch in Deutschland

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Werbeseite • 8. Die Zukunft der Kultur • 8.2. Technik und Ästhetik F. STOCKMEIER / ARGUM STOCKMEIER F. Internet-Literatin Berkenheger: Zeit für die Bombe J. RÖTTGER / VISUM / MANAGER MAGAZIN / VISUM MANAGER RÖTTGER J. Verleger Menne: „Es erheitert und befriedigt mich“

Verleger und Agenten um die E-Rights, die Arnold betreute „Lyrikedition 2000“ ver- teratur in den neuen Medien eher zöger- Rechte auf digitale Vermarktung. fügbar, deutsche Gedichte aus den letzten lich. Schon im Mai gründete Time Warner 50 Jahren. Wo immer Schriftsteller sich ins Internet eine Tochterfirma, i-Publish, die vor allem „Vielleicht schlägt die Stunde der kleinen wagen, tun sie das am liebsten hordenwei- kürzere Werke bekannter Autoren wie und mittleren Häuser“, meint der Verleger se. Seit Rainald Goetz seinen „Abfall für Nicholas Sparks – die Rosamunde Pilcher Michael Klett, die sich, ohne die bürokra- alle“ ein Jahr lang ins Netz entsorgte, der US-Literatur –, aber auch die von De- tische Schwerfälligkeit der Konzerne, sorg- kommt es nun immer häufiger vor, dass bütanten online, als E-Book veröffentlicht. fältig um Lektorat und Marketing selbst Autoren virtuelle Wohngemeinschaften Anfang nächsten Jahres folgt der zum Ber- kümmern und Herstellung und Vertrieb und Selbsthilfegruppen gründen, in denen telsmann-Konzern gehörende Traditions- Spezialfirmen überlassen. Immer häufiger sie sich über die Schwierigkeiten beim Ver- verlag Random House mit seinem digitalen aber, so Klett, würden Autoren zu Selbst- fertigen der Gedanken im Internet austau- Imprint @random. Die Schönwetterpro- verlegern und Verlage zu „medienneutra- schen oder über die Wetterbedingungen in pheten in eigener Sache sagen bereits len Contentagenturen“. Südostasien und manchmal sogar über ihre Wachstumsraten in zweistelliger Höhe Texte; nur sollte bloß keiner dabei an die voraus. Gruppe 47 denken. Noch allerdings verkauft sich das E- „Echte Das ambitionierteste und strengste die- Book eher schleppend, selbst die PC-Kids ser Mitschreibprogramme, „Null“, lässt interessieren sich kaum für das allzu schwe- digitale sich inzwischen bei Dumont in Buchform re, benutzerunfreundliche und nicht gera- Literatur kann – beziehungsweise auf losen Bögen – stu- de billige Lesegerät. gar nicht dieren: eine nahezu klassische Anthologie Vielversprechender erscheint derzeit (www.dumontverlag.de/null). noch das „Book on demand“, nicht nur gedruckt Am „Pool“, wo unter der Oberaufsicht für die Bibliomanen, sondern vor allem für werden“ von Elke Naters („Königinnen“) und Sven

Autoren, die niemals hoffen dürfen, das C. THIEL / OSTKREUZ Lager („Phosphor“) Pop-Literaten, Jour- Klassenziel einer Auflage von 10000 Ex- Roberto Simanowski, 36, Herausgeber der nalisten und Künstler baden gehen können, emplaren zu erreichen. Ihre Werke wer- Online-Publikation „dichtung-digital“ plätschert es manchmal ganz munter vor den, in Deutschland zumeist bei Libri, auf sich hin (www.ampool.de); derweil das „Fo- einem Server gespeichert und können in rum der 13“ sich eher als Literaturbe- der Buchhandlung um die Ecke oder im Oder, umgekehrtes Szenario, es werden triebsrat versteht, der ebenjenen, den Fräu- Netz angefordert werden, in fünf Minuten ganz neue Konglomerate entstehen, in de- leinwundern und Armani-Autoren und ist das Buch fertig und geht in den Ver- nen Bücher nur eine elektronische Ware ihren Propagandisten, ein wenig auf die sand; noch sind die Druckmaschinen al- neben anderen sind. Buchideen könnten Finger sehen will (www.forum-der-13.de). lerdings sehr teuer. vorab im Netz auf ihren Verkaufswert ge- „Wir sind jung, wir sind auf Draht“, das Seit März kann man so zum Beispiel testet werden, die Preise sich gleich Bör- ist schon fast die ganze Idee dieses litera- beim „Verlag der Criminale“ vergriffene senkursen der Nachfrage anpassen. rischen Gesamtdatenwerks. „Das Netz Werke von Felix Huby oder Jörg Fauser Während die Encyclopaedia Britannica selbst ist das Dokument eines Generatio- wieder ordern. Im Herbst ist „on demand“ nur noch auf CD-Rom oder im Netz zu ha- nenbruchs“, schrieb der „Null“-Projekt- die vom Literaturkritiker Heinz Ludwig ben ist, vollzieht sich der Vormarsch der Li- leiter und -herausgeber Thomas Hettche

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Werbeseite Bestsellerautor King „Ihr handelt nicht mit Papier, ihr handelt mit Sprache und Ideen“ G. BENNETT / DOT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR G. BENNETT / DOT

über die etablierten und halbetablierten Münchner Autor Georg M. Oswald, der in nicht mehr druckbaren Texte der Hyper- Autoren, für die erstmals die „Rituale des allen drei Projekten mitgeschrieben hat; Fiction, die auch multimedial, mit Anima- Bleistifts“ nicht mehr gelten. „man kann nicht so leise sein wie in der tion und Soundeffekten, daherkommen Der „Pool“ hingegen sollte, so Elke Na- Literatur“. Wer das Fenster seines Arbeits- können und bei denen die Leser selbst zu ters, mehr ein „Schreibbüro“ sein – für die zimmers sperrangelweit öffnete wie Mat- (Mit-)Autoren werden. „Zettels Traum di- jugendlichen Medienarbeiter und Image- thias Politicky mit seinem „Marietta-Pro- gital“, nennt Kiepenheuer&Witsch-Lektor pfleger, die ihre dem Alltäglichen abge- jekt“, an dem die Leser im Internet mitar- Martin Hielscher diese jüngsten elektroni- trotzten Werke zu Markte tragen müssen; beiten durften, der hat danach alles hübsch schen Abschweifungen. für ihr neues Projekt „The Buch“, das im noch mal mit dem Füller neu geschrieben. So tummeln sich auf dem digitalen Spiel- nächsten Jahr erscheinen soll, werden sie In der online-Publikation „dichtung- platz häufiger die Text-Ingenieure als die ihre Texte noch einmal bearbeiten, online, digital“ erscheinen, herausgegeben von Literaten. Am Ende könnte das Spektakel aber nicht öffentlich. Roberto Simanowski, alle zwei Monate wichtiger werden als die Inhalte, warnt so- Die Literatur im Netz lebt von ihrer Aura Theorien und Rezensionen zur Netzlitera- gar Simanowski. Manche der Verfasser lin- der Unmittelbarkeit und Authentizität; tur. „Echte digitale Literatur kann gar nicht ken ihre Leser oder User nicht bloß mit ei- doch solange Schnelligkeit, Kürze und gedruckt werden“, meint der Literatur- nem Fensterchen hier und einem Mausklick Flüchtigkeit noch keine literarischen Kate- wissenschaftler. Im Gegensatz zur Litera- da, sondern können, statt sich nur in Java gorien sind, sind neue Ausdrucksformen tur im Netz, dieser „Schmuggelware“, ist Script zu üben, wirklich schreiben – wie die oder gar Genres aus dem Internet nicht zu bei der Netzliteratur das Medium eine Vor- Münchnerin Susanne Berkenheger („Hil- erwarten. Es geht, wie der Dumont-Lektor aussetzung für ihre Entstehung. In dieses fe!“ und „Zeit für die Bombe“), „Zeit“-In- Christian Döring sagt, hier mehr um „so- Genre gehören kollaborativ verfasste Wer- ternet-Literaturpreisträgerin von 1997. ziale Experimente“ als um ästhetische. Er ke nach dem Vorbild der Chat-Groups und Doch auch in solchen Fällen scheitert habe herausfinden wollen, wie es ist, „mit MUDs (Multi-User-Dungeons) mit ihren die Lektüre oft an schlichten Widerstän- mehreren Schriftstellern in einen – virtuel- Rollenspielen, aber auch die nicht linea- den: am Überdruss oder am Absturz des len – Raum eingesperrt zu sein“, sagt der ren, verlinkten, labyrinthischen, jedenfalls Systems. Annette Meyhöfer

IM NÄCHSTEN HEFT: • 8.3. Die Zukunft der Weltreligionen

Weltethos: Ist eine friedliche Koexistenz der Glaubensrichtungen möglich? Fundamentalismus: Die Ohnmacht der Politiker im Nahen Osten Esoterik: Die bunte Vielfalt im Supermarkt der Designer-Religionen B. BRECELJ / PLUS 49 / VISUM B. BRECELJ / PLUS Buddhistische Mönche DIE KAPITEL IN DER ÜBERSICHT: 1. Medizin von morgen 2. Bevölkerungswachstum und knappe Ressourcen 3. Das Informationszeitalter 4. Planet Erde – gefährdeter Reichtum 5. Die Zukunft der Wirtschaft 6. Technik: Werkstätten der Zukunft 7. Globale Politik 8. Die Zukunft der Kultur 9. Künftige Lebenswelten 10. Die Grenzen der Erkenntnis

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EDELSTEINE Hochkarätige Zwillinge er Dresdner „Grüne Diamant“ –

Dseltenster Edelstein der Welt, 40 SMITHSONIAN Karat schwer und durch eine natürli- Model mit „Grünem Diamant“, che radioaktive Quelle grün gefärbt – Farbedelstein „Blue Hope“ ist in einer verschwiegenen Aktion über den Atlantik transportiert wor- träumt hatte, die beiden Superklun- den. Bereits Anfang Oktober brachte ker an einem Ort zu vereinen. Beide der Chef des Schatzkammermuseums Steine stammen aus der indischen in Dresden, Dirk Syndram, die Pre- Golconda-Mine. Der „Hope“ gelang- tiose ohne Leibwächter im Linien- te 1668 in den Besitz des Sonnen- flugzeug nach New York. Am Tag der königs Ludwig XIV. Der Grüne Dia- Präsentation auf der 5th Avenue wur- mant, er ist in eine Hut-Agraffe ein- de das Empire State Building grün gearbeitet, wurde 1741 vom Sachsen- angestrahlt. Derzeit ist die Leihga- herrscher August III. für den unge- be im Naturkundemuseum von Wa- heuren Preis von 400000 Talern ge- shington zu sehen. Sie liegt direkt ne- kauft (Die damaligen Baukosten für ben dem „Blue Hope“, einem tief- die Dresdner Frauenkirche betrugen blauen 45-Karäter, der als Kronjuwel 288000 Taler). Noch bis zum 15. Ja- der USA gilt. Eingefädelt wurde die nuar werden die hochkarätigen Zwil- Aktion von dem US-Juwelier Ronald linge im Museum der US-Hauptstadt

Winston, der seit langem davon ge- H. WINSTON präsentiert.

RECHTSMEDIZIN ABFALLBESEITIGUNG Huckepack-Verfahren die ameri- kanisch-norwegisch-deutsche Fir- Genetisches Phantombild für Tieflader ma MSO. Bis zum Jahr 2003 will das Unternehmen eine Art die Verbrecherjagd auf hoher See stählernen Tieflader von 150 mal 85 Metern bauen. Auf See werden riminalbiologen entwickeln derzeit eine neuarti- in mächtiger Schwimmtank die Rumpfrohre des Schwimm- Kge DNS-Analyse, die Hinweise auf die Ethnie Eaus Stahl soll künftig ausge- tanks geflutet, bis er sich unter und damit auf die Haut- und Augenfarbe eines Täters diente Bohrinseln in einem Stück die Plattform schieben kann. liefern soll. Bisher setzt man solche Genanalysen vor aufnehmen und zum Abwracken Dann wird das Wasser ausge- allem für die Überführung bereits ermittelter Tatver- an Land schleppen. Mit dieser pumpt, der Tank steigt auf und dächtiger ein: Die Rechtsmediziner Idee reagiert die Petrochemie auf hebt die Bohrinsel zum Abtrans- gewinnen Erbgut aus Blut, Sperma das Verbot, die Öltürme einfach port empor. Fünf Ölgesellschaften oder Haaren vom Tatort und ver- zu versenken. Ersonnen hat das haben bereits ihr Interesse ange- gleichen es mit dem Erbgut des meldet. Allein in der Nord- mutmaßlichen Täters. Nun könnte see stehen in den nächsten der genetische Fingerabdruck auch Jahren fünf Millionen Ton- zum genetischen Phantombild wer- nen Bohrtechnik zum Ver-

A. ZELK den und bei der gezielten Fahn- schrotten an. Brinkmann dung nach Tätern helfen. „Asiaten, Europäer und Afrikaner wird man auf diese Weise auseinander halten können“, sagt Bernd Brinkmann von der Universität Münster. Rechtsmediziner der Humboldt-Universität in Berlin gaben der Polizei bereits Hinweise über die Ethnie eines Täters. Die Gruppe um Lutz Roewer unter- suchte dazu das männliche Y-Chromosom. Einerseits sind die meisten Täter männlich; zum anderen ver- erbt sich das Y-Chromosom direkt vom Vater auf den Sohn und wird nicht vermischt. Genetische Merk- male von 41 europäischen Bevölkerungsgruppen haben die Berliner schon in ihrer Datenbank gespei- chert (http://ystr.charite.de). MSO-Abschlepptank im Bergungseinsatz (Computersimulation)

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COMPUTERSPIELE ARCHÄOLOGIE Kampf gegen den Mond Sport und wei Jahre nach seinem Erfolg mit Z„Zelda“ hat der Nintendo-Program- mierer Shigeru Miyamoto („Donkey Spiele Kong“, „Super Mario“) neue Abenteu-

C. ROHN er um den Computerknirps er wohl ungewöhnlichste Ruine des Bühnengebäudes von Aizanoi Link fertig gestellt. Diesmal DVergnügungstempel der steht der grün berockte Held Antike ist von Architekten des Rekonstruktion der Arena von Aizanoi unter Dauerstress. Ein aus Deutschen Archäologischen der Umlaufbahn geratener Instituts in Berlin rekonstruiert Mond rast auf sein elektroni- worden. Die unter Kaiser Ha- sches Königreich zu. Die ers- drian (117 bis 138 n. Chr.) er- Wettkampf-Stadion te Zelda-Version hat weltweit Link richtete Anlage von Aizanoi in etwa sieben Millionen Käu- der Zentraltürkei ist eine Mi- fer angelockt und war vom Magazin schung aus Sportstadion und „Next Generation“ zum „Spiel des Theater. Vorn saßen die Be- Bühnengebäude Jahrhunderts“ erklärt worden. Auch sucher in einem Halbrund und diesmal überschlagen sich die Tester. schauten Komödien. Auf der Die Urteile der US-Fachpresse reichen Theater anderen Seite erstreckte sich von „genial“ bis zu „absolut phantas- eine 216 Meter lange Arena, in tisch“. „The Legend of Zelda – Majora’s der blutige Tierhatzen und ath- Mask“ (Preis: 149 Mark) erscheint am letische Wettkämpfe stattfan- 17. November in Deutschland. den. Der aus Marmor errichte- te Komplex fasste etwa 12000 Quelle: DAI Personen. Bei einem Erdbeben GESUNDHEIT stürzte das architektonisch einmalige Gebäude zusammen. Um seine ursprüngliche Gestalt zu ermitteln, wurde jetzt jeder einzelne Steinquader der Ruine vermessen, Erfolgsgeschichte und die Daten wurden in einen speziellen Grafikcomputer eingespeist. mit Lücken ast alle Länder der Erde verzeichnen Feinen Rückgang der Kindersterblich- ENERGIE keit. Das zeigt eine Studie der Welt- gesundheitsorganisation. In den fünf- Windmüller ziger Jahren erlebten 18 Prozent aller Kinder ihren fünften Geburtstag nicht. im Größenrausch Im letzten Jahr waren es nur noch 7 Prozent. Ausnahmen von dem positiven uropas Windkraft-Techniker Trend machen einige Länder in Afrika, Eentwickeln immer riesenhafte- die hohe Aidszahlen aufweisen. Auch in re Stromspargel. In diesen Tagen Nordkorea ist die Quote – infolge von beginnt die Firma Vestas mit der Mangelernährung – wieder gestiegen. Serienproduktion einer Zwei-Me- gawatt-Anlage, deren Luftschrau- Kurzes Leben be einen Durchmesser von 80 Me- Todesfälle pro 1000 Kinder tern hat. Die Firma Nordex brütet in den ersten fünf Lebensjahren derweil an einem Stahlturm mit Finnland, Japan, 1995 bis 1999 Norwegen, Schwe- 109 Meter Höhe. Noch giganti- 5 scher sind die Pläne der Firma den, Singapur Durchschnitt Deutschland, 7 weltweit: 70 Enercon in Aurich. Weil die neuen Großbritannien Großmodelle ohnehin ein kom- Italien 8 plettes Umstellen der Produktion erforderten, so ein Sprecher, habe USA 9 man sich zum „Quantensprung“ Russland 22 entschlossen: Die Enercon-Techni- China 38 ker basteln an einer Windmühle mit 4,5 Megawatt Nennleistung. Türkei 44 Der Rotor (Durchmesser: 112 Iran 52 Meter) soll auf einen über 120 Meter hohen Turm geschraubt Indien 103 werden. Damit würde die gesam- Afghanistan 271 te Anlage höher ragen als der Köl- Niger 334 Zwei-Megawatt-Windkraftwerk ner Dom.

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KLIMA Tiefseegrab für Treibhausgase Mit einem spektakulären Experiment wollen deutsche Forscher Kohlendioxid im Meer versenken. Auf der Weltklimakonferenz in Den Haag soll bereits darüber verhandelt werden, wie Wälder als CO2-Endlager genutzt werden können. Kritiker warnen jedoch vor einer grünen Planwirtschaft.

n Bord der „Polarstern“ muss sich Forscher vom Bremerhavener Alfred-We- meere wirken wie riesige Puffer: Sie Victor Smetacek in diesen Tagen gener-Institut für Polar- und Meeresfor- schlucken gewaltige Mengen an Kohlen- Aeine Menge Spott anhören. „Na schung (AWI). Nach der Verklappung der dioxid. Aufgenommen wird das Treib- Bauer Smetacek“, feixen die gestandenen Kraftbrühe erwartet er im rund hundert hausgas von mikroskopisch kleinen Meeres- Schiffstechniker, wenn er die Messe betritt, Quadratkilometer großen Zielgebiet zwi- organismen, etwa Kieselalgen. Sie verwan- „wann fahren wir endlich die Gülle aus?“ schen Südafrika und der Antarktis deshalb deln das im Wasser gelöste Gas mit Hilfe Der Professor für Meeresbiologie lächelt je- „eine ordentliche Algenblüte“. des Sonnenlichts in Kohlenhydrate und des Mal gequält zurück. Die eigentliche Ernte des maritimen nehmen diese, wenn sie absterben, mit in Nach seinen Plänen wurde der deutsche Großexperiments jedoch werden Festplat- die Tiefe. Auf diesen Algenfriedhöfen wer- Forschungseisbrecher in einen schwim- ten voller Messdaten sein, die das 56-köp- den Millionen Tonnen Kohlendioxid jedes menden Traktor verwandelt. Auf dem Ar- fige Wissenschaftlerteam mit Bojen, Was- Jahr dem globalen Stoffkreislauf entzogen. beitsdeck des 20000-PS-Schiffes schwappt serproben und Satellitenaufnahmen ge- So einfach das Prinzip klingen mag, so in großen Wassertanks eine dunkle Brühe winnen will. Smetacek hofft damit, „eines wenig wissen die Forscher bislang über die aus gelöstem Eisensulfat. Anfang dieser der größten Geheimnisse der Klimafor- Zusammenhänge des Kohlendioxid-Aus- Woche soll die Mannschaft das Gemisch schung“ aufklären zu helfen. tausches zwischen Land, Wasser und Luft. über ein Rohr in den Ozean pumpen. Denn unter der schäumenden Gischt des Im globalen Zirkulationssystem gibt es vie- „Für die Meeresalgen wirkt Eisen wie Südozeans verbirgt sich nach Ansicht vie- le solche Lecks, wo Teile des Kohlendioxids Dünger. Sie brauchen dieses Spurenele- ler Wissenschaftler ein zentrales Stellrad herausfallen und in mehr oder weniger si- ment für ihr Zellwachstum“, erklärt der für die globale Wettermaschine. Die Welt- cheren Speichern eingelagert werden.

Atmosphäre 760 Menschlicher Eintrag 90 92 jährlicher Zuwachs: 3 60 61,41,1 6,4 Beim Verfeuern fossiler Reserven sowie durch Brandroden entweichen jährlich mehr als 6 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Luft. CO2-Senken wie Ozeane und Wälder nehmen jähr- lich in der Nettobilanz nur rund 3 Mil- liarden Tonnen Kohlenstoff auf. So steigt die Menge des Kohlenstoffs in der Atmosphäre und verstärkt den Treibhauseffekt. Photo- Waldverlust Verrottung synthese Gasaustausch Verbrennung zwischen Meer fossiler Reserven und Atmosphäre Humus 1580 Pflanzen 610

Ozean-Oberschicht 1020 91,6 Photo- 100 50 synthese Verrottung 40 Kohlenstofftransport durch Meeresströmungen Meereslebewesen 3 4 6 Versenkter Kohlenstoff organischer Koh- <700 Ozean-Mittelschicht und 38 100 Die Organismen der oberen Meeres- Kreislauf des Klima-Gases lenstoff gelöst Tiefsee 0,2 schichten, vor allem Algen, entziehen der Auf der Erde zirkulieren Atmosphäre Kohlenstoff. Sie sinken in 50 Billionen Tonnen Kohlenstoff oberste Sedimentschicht 150 mittlere und tiefe Wasserschichten, wo durch verschiedene, miteinan- insgesamt 38 100 Milliarden Tonnen Koh- der verschränkte Kreisläufe. lenstoff gespeichert sind. 0,2 Milliarden Klimawirksam ist dabei der Tonnen werden – vorwiegend als Kalk–im Kohlenstoff in der Atmosphäre. Meeressediment auf Dauer eingelagert. 306 Vor allem um diese „Senken“ geht es oxid freigesetzt wurde – kommende Woche auch auf der Welt- etwa durch Vulkaneruptio- klimakonferenz in Den Haag. Denn dort- nen, Waldbrände oder Kli- hin würden Wissenschaftler, Politiker und maverschiebungen –, ist an Wirtschaftsvertreter am liebsten einen anderer Stelle besonders Großteil jener mehr als sechs Milliarden viel Kohlendioxid der At- Tonnen Kohlenstoff schaffen, die jedes Jahr mosphäre entzogen wor- bei der Verbrennung fossiler Rohstoffe frei den und in irgendwelchen werden. „Senken“ verschwunden. Für die Endlagerung der Treibhausgase „Durch diesen Effekt blie- bleibt unter Umständen nicht mehr allzu ben erdgeschichtlich be- viel Zeit. Das zumindest legt eine noch un- deutsame Vorgänge ohne veröffentlichte Studie des Uno-Wissen- extreme Auswirkungen in schaftsgremiums für den Klimawandel der CO2-Konzentration – nahe, die den Gipfelteilnehmern vorliegt. beispielsweise, als Nord- Einige Details sind bereits durchgesickert: afrika sich von einer üppi- „Die Erwärmung der Erde schreitet rapide gen Savanne zur Sahara voran“, glaubt Kevin Trenberth, einer der wandelte“, erläutert AWI- federführenden Wissenschaftler der Stu- Forscher Smetacek. „Zwi- die. Mittlerweile geht der Meteorologie- schen Land und Meer muss Professor vom National Center for Atmo- folglich ein Selbstregulie- spheric Research in Boulder (Colorado) bis rungsmechanismus existie- zum Jahre 2100 von einem weltweiten ren, der genau diesen Aus- Temperaturanstieg um bis zu 6 Grad Cel- gleich bewirkt.“ sius aus – 2,5 Grad mehr als in der voran- Eine plausible Erklä- gegangenen Studie. rung, die den klimahisto- Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wür- rischen Messdaten auch de bei gleich bleibendem CO2-Ausstoß die standhält, ist die so ge- Konzentration des Klimagases auf 700 nannte Eisen-Hypothese. „parts per million“ (ppm) steigen. Das Im Ozean gibt es offenbar wären fast doppelt so viel wie heute. „Wür- Stellen, wo trotz ausrei- den wir zum Beispiel alle Wälder der Erde chend vorhandener Nähr- aufforsten, wie sie vor der Besiedelung stoffe Meeresalgen nur

durch den Menschen gestanden haben, fie- AWI kümmerlich gedeihen. „Ih- le der CO2-Gehalt der Atmosphäre nur um Eisbrecher „Polarstern“: Schwimmender Traktor nen fehlt das Spurenele- 40 bis 70 ppm“, verdeutlicht Trenberth die ment Eisen“, erläutert Dimension des Anstiegs. bertus Fischer, Polarforscher am AWI in Smetacek. „Doch immer dann, wenn die- Wie stark diese hohen Kohlendioxid- Bremerhaven, der den CO2-Gehalt der ses Spurenelement durch staubige Winde Konzentrationen aber tatsächlich das Kli- Atmosphäre anhand von antarktischen Eis- vom Land herantransportiert wird, blühen ma verändern, können Modellierer mit bohrkernen für die letzten 400000 Jahre die Algen auf und binden CO2.“ ihren Computern bislang nur höchst unge- rekonstruiert hat. Wie gut dieses Wechselspiel zwischen nau simulieren. „Wir wissen nur, dass sich Bei seinen Untersuchungen stieß Fischer Wüste und Weltmeer wirklich funktioniert, in der jüngeren Erdgeschichte keine ver- zudem auf eine erstaunliche Stabilität: „Die will Smetacek mit seinem Eisendüngungs- gleichbaren Beispiele finden“, sagt Hu- Konzentration von Kohlendioxid in der Experiment herausfinden. Auf der „Polar- Luft schwankte zwar zwischen Warm- und stern“ kreuzt er deshalb durch eines der Eiszeit, sie überstieg allerdings niemals den weltweit größten eisenarmen Meeresgebie- Maximalwert von 300 ppm. Nie zuvor ist sie te. Es erstreckt sich wie ein Gürtel zwischen in derart kurzer Zeit auf ein ähnlich hohes der Antarktis und Amerika, Afrika und Au- Niveau geklettert wie heute.“ stralien. Wie viele Algen dort wachsen, wird Der Glaziologe vermutet daher, dass im an weit entfernter Stelle entschieden: in den Stoffkreislauf der Erde ein selbstregulie- Halbwüsten der Gobi, im indisch-pakista- rendes System existiert, das nischen Grenzgebiet oder zumindest solange funktio- der Sahel-Zone. Dort nimmt niert hat, bis der Mensch der Wind den eisenhaltigen Erdgas, 5000 – 10 000 die Dampfmaschine erfun- Staub auf und bläst ihn über Erdöl, Kohle den hat. Durchaus vorstell- die raue See. bar ist, dass auch die der- Bereits vergangenen Mo- zeitigen Rekordwerte ir- nat veröffentlichte eine gendwann wieder auf neuseeländische Forscher- Quelle: Geo, Nature natürliche Weise fallen gruppe im Wissenschafts- werden. Fischer: „Um das magazin „Nature“ die Er- 00 Kohlenstoffspeicher zu erreichen, dürfte der gebnisse ihres Eisendün- in Milliarden Tonnen Mensch allerdings keinen gungs-Experiments. Die Kohlenstoffabgabe weiteren Kohlendioxid- Wissenschaftler lösten ein in Milliarden Tonnen pro Jahr Ausstoß verursachen.“ starkes Algenwachstum Immer dann, wenn im aus, das sich auf einer spe-

Kohlenstoffaufnahme Lauf der Erdgeschichte an AWI ziellen Satellitenaufnahme in Milliarden Tonnen pro Jahr einer Stelle des Systems un- Meeresbiologe Smetacek deutlich als hellgrüne Sichel gewöhnlich viel Kohlendi- Gülle für den Ozean abzeichnet. Doch wirkt das

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pertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Dass dies technisch geht, führt seit we- nigen Jahren der norwegische Energie- konzern Statoil vor: 240 Kilometer vor der Küste Südnorwegens, im Sleipner-Feld, fällt bei der Erdgasgewinnung Kohlen- dioxid an. Die Ingenieure schöpfen das Gas ab und pumpen es in eine 200 Meter dicke Sandsteinschicht. Ein Wissenschaftlerteam vom Ener- gie-Laboratorium des Massachusetts In- stitute of Technology überprüft seit die- sem Sommer gar, ob sich Kohlendioxid direkt in der Tiefsee verklappen lässt. Gesponsert wird das Projekt von Indu- striefirmen wie Ford, General Motors und Total Fina Elf. Untersucht wird, ob

STATOIL CO2 etwa in Form von Trockeneis-Klum- Bohrplattform zur CO2-Versenkung*: In erschöpfte Erdgasstollen gepumpt pen oder tröpfchenweise aus einer Un- tersee-Pipeline versenkt werden könnte. Phytoplankton auch auf Dauer als CO2- Schon heute lässt sich Kohlendioxid aus In Tiefen von mehreren tausend Metern, Senke? Smetacek will nun herausfinden, Abgasen von Kraftwerken herausfiltern. wo extrem hoher Druck herrscht, wird ob die Algen tatsächlich in die Tiefsee ab- Wie das geht, demonstriert der schwedi- Kohlendioxid flüssig. Projektleiter Ho- sinken und der Atmosphäre langfristig sche ABB-Konzern in einer Modellanlage ward Herzog hofft, dass sich in einer Mul- Kohlendioxid entziehen. im US-Bundesstaat Oklahoma. In einem de auf dem Meeresgrund ein stabiler CO2- Die natürlichen Selbstheilungskräfte des aufwendigen chemischen Prozess, der pro See bildet. Planeten wecken derweil schon die Phan- Tonne Kohlendioxid 40 bis 70 Dollar kos- Das umliegende Wasser würde sich dann tasie bei Forschern und Ingenieuren, vor al- tet, ziehen die Ingenieure das Treibhausgas allerdings in eine saure Brühe mit pH-Wer- lem aber bei Politikern und Wirtschafts- heraus. ten zwischen fünf und sieben verwandeln vertretern. Die Klimamacher glauben den Bislang wird das gewonnene CO2 beim – für viele Lebewesen eine tödliche Um- Kohlendioxid-Haushalt mit künstlichen Gefriertrocknen von Hühnern oder als gebung. „Dieser Technik-Optimismus un- Eingriffen wieder ins Lot bringen zu kön- Kohlensäure in der Getränkeindustrie tergräbt die Bemühung, alternative Ener- nen (siehe Seite 306). verwendet. „Wenn es in großen Mengen giequellen zu nutzen“, bemängelt Peter Zur Beseitigung des CO2-Abfalls wird anfallen sollte, könnte es in leere Erd- Frumhoff von der Vereinigung kritischer auf der Klimakonferenz in Den Haag gasstollen gepumpt werden“, empfiehlt Wissenschaftler in Cambridge im Magazin vor allem eine Form der Müllkippe fa- Peter Hennicke, Vizepräsident des Wup- „Nature“. vorisiert: der Wald. Denn Pflan- Im besonderen Maße regt das Ei- zen sind mit derzeit 610 Milliar- sendüngungs-Experiment von AWI- den Tonnen einer der wichtigsten Forscher Smetacek die Phantasie der Kohlenstoff-Speicher. Die Idee: Wer Geo-Ingenieure an. Seinen Berech- beispielsweise ein neues Kraftwerk nungen zufolge wären die Meeres- errichten will, soll den damit ver- algen im südpolaren Seegebiet bei üp- bundenen CO2-Ausstoß durch An- piger Eisendüngung in der Lage, bis pflanzung eines Waldes kompensie- zu einer Milliarde Tonnen Kohlenstoff ren können. im Jahr zusätzlich zu binden. Insge- „Der Wald ist aber gleichzeitig samt könnte der Mechanismus über auch ein unsicherer Ort, um Kohlen- einen Zeitraum von zwei Jahrhun- stoff zu lagern“, warnt Will Steffen derten zwischen 30 und 50 Milliarden von der Schwedischen Akademie Tonnen Kohlenstoff der Atmosphäre der Wissenschaften. Bei steigenden entziehen. Smetacek: „Das ist im-

Temperaturen dünstet die Biomasse SEAWIFSNASA LAB MARINE / PLYMOUTH merhin fünfmal so viel wie der jähr- mehr Kohlendioxid aus – besonders Satellitenbild einer Algenblüte*: Stellrad fürs Weltklima liche Gesamtausstoß an Kohlenstoff drastisch, wenn Wald- oder Sumpf- durch den Menschen.“ boden austrocknet. „Die Biomasse Messungen der Meeresströmungen könnte sich schlagartig in eine Koh- haben zudem ergeben, dass im Süd- lendioxid-Quelle verwandeln“, warnt polarmeer ständig gewaltige Wasser- Wolfgang Cramer, Professor am Pots- massen in die Tiefsee absacken – dam-Institut für Klimafolgenfor- durch diesen marinen Fahrstuhl wür- schung. de das Treibhausgas in ein sicheres Allemal sicherer wäre es, die Treib- Grab befördert. hausgase gleich an der Quelle zu ent- Kritiker warnen allerdings, bei ei- sorgen. Einige Ingenieure schlagen ner großflächigen Düngung könnte die deshalb großtechnische Lösung gegen Nahrungskette im Südpolarmeer aus den Klima-GAU vor. den Fugen geraten. Auch Smetacek bezweifelt, dass die Welt so einfach zu retten ist: „Die Natur lässt sich nicht so * Oben: Anlage von Statoil in der Nordsee; unten: nach Eisendüngung durch neuseeländische Mee- FOCUSSPL / AGENTUR einfach an ihren eigenen Klimareglern resforscher. Kieselalgen im Ozean: Fahrstuhl zum Meeresgrund drehen.“ Gerald Traufetter

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dringend der geregelten Bewirtschaftung bedürfen.“ Und er fügte hinzu: „Das Kyo- to-Protokoll ist ein erster Schritt in diese Richtung.“ Basar der Bürokraten Dieses Protokoll, das Mitte November auf dem Weltklimagipfel in Den Haag von Dirk Maxeiner über den Machbarkeitswahn der Klimaschützer der Staatengemeinschaft endgültig unter- zeichnet werden soll, ist gleichsam das Manifest der Klimabürokraten. Darin ist Maxeiner, 47, ist maforscher Hans-Joachim Schellnhuber in nicht nur die sinnvolle direkte Verringe- ehemaliger Chefre- einem Beitrag für das britische Magazin rung von Kohlendioxid-Emissionen vor- dakteur der Zeit- „Nature“. Der Direktor des Potsdam-Ins- gesehen, etwa durch sparsamere Autos schrift „Natur“. Der tituts für Klimafolgenforschung beklagt, und effiziente Kraftwerke. Ausdrücklich auf Umweltthemen dass die „Umgestaltung der Ökosphäre“ geht es im Kyoto-Protokoll auch um Quo- spezialisierte Autor leider nur „planlos“ durch „individuellen tierung, Zuweisung, Regulierung und Ver- („Lexikon der Öko- Opportunismus“ erfolge; dann erwägt er rechnung von Kohlendioxid-Mengen – und Irrtümer“) lebt in ein gezieltes „Redesign“ des Globus mittels dabei, das ist der Wahnwitz, soll sogar der

W. M. WEBER W. Augsburg. „Geoengineering“. natürliche Kohlenstoff-Kreislauf mitein- Schellnhuber schwebt unter anderem bezogen werden. or 50 Jahren verkündete der sowje- eine „organischere“ Verteilung von Arbeit, Ein wachsender Apparat von Kli- tische Ministerrat den „Großen Sta- Energie und Stoffströmen vor: Nahrungs- mabürokraten und Wissenschaftsfunk- Vlinschen Plan zur Umgestaltung der mittelanbau sollte vor allem in den ge- tionären, von Politikern und Wirtschafts- Natur“. Die Ströme Irtysch, Ob und Jenis- mäßigten Zonen konzentriert werden, er- lobbyisten hält sich tatsächlich für befähigt, sej sollten umgeleitet, Wüsten fruchtbar ge- neuerbare Energiegewinnung in den Sub- langfristig die planetaren Stoffströme steu- macht und das Klima in Sibirien gemildert tropen, Erholungstourismus in den Tropen. ern zu können. Eine riesige Klimaregulie- werden. In den Köpfen der Planer reifte „Wir könnten über eine proaktive Kon- rungsbehörde ist im Entstehen – nur hat ein noch phantastischeres Projekt: das Ab- trolle der planetaren Variabilität nachden- das noch keiner so richtig gemerkt. schmelzen der Eiskappen am Nordpol. Die ken“, doziert der Klimaforscher. Zur Ab- Um das Ziel einer „kohlenstoffarmen Paradies-Pläne wurden nie verwirklicht. wehr einer möglichen Eiszeit hält er sogar Weltwirtschaft“ (so der deutsche Umwelt- Was den Sowjetingenieuren nicht ge- die „wohl überlegte Injektion von Desi- minister Jürgen Trittin) zu erreichen, lang, schafft der Industriemensch womög- gner-Treibhausgasen“ für denkbar. Das wollen die Industrieländer laut Kyoto-Pro- lich ganz nebenbei. Ungewollt könnte er kann ja heiter werden. tokoll den Ausstoß von sechs Treibhausga- durch massenhafte Verbrennung fossiler Schellnhuber ist nicht irgendein ver- sen bis zum Jahr 2012 insgesamt um 5 Pro- Brennstoffe dafür sorgen, dass es auf Erden rückter Professor. Der gelernte Physiker zent unter die Werte von 1990 senken. Nach wärmer wird. Bewiesen ist das alles noch ist Vorsitzender des „Wissenschaftlichen dem Willen Australiens, Kanadas, Japans nicht, bislang bewegt man sich noch immer Beirates der Bundesregierung Globale Um- und der USA sieht das Papier vor, dabei in Modellwelten und Computersimulatio- weltveränderungen“ und hat eine einfluss- nicht nur den CO2-Ausstoß durch Schlote nen. Doch anders als zu Stalins Zeiten se- reiche Funktion im Uno-Wissenschaftsgre- oder Auspuffrohre zu berücksichtigen, son- hen viele Forscher und Politiker heute eine mium für den Klimawandel. dern auch dessen Aufnahme in natürlichen Erderwärmung als Katastrophe an. „Wir stehen am Anfang eines neuen Senken, beispielsweise Wäldern. Nur eines hat sich seit damals nicht Zeitalters“, proklamiert auch sein Kollege Eine unlösbare Aufgabe: Die Wissen- geändert: der Machbarkeitswahn der Tech- Professor Ernst-Detlef Schulze, „der schaftler stehen im Wald und pfeifen. So ist nokraten. Heute sind es ausgerechnet die Mensch gestaltet aktiv die Stoffkreisläu- das angesehene Internationale Institut für Klimaschützer, die das Klima machen wol- fe.“ Auf der Jahresversammlung der Max- angewandte Systemanalyse kürzlich mit len. Um ihren Alptraum der Erderwär- Planck-Gesellschaft erläuterte der Direktor dem Versuch gescheitert, eine verlässliche mung abzuwenden, halten sie es für erfor- am Institut für Biogeo- Kohlenstoff-Bilanz der derlich, den Planeten nach einem großen chemie in Jena die Ziele DIE KLIMASCHÜTZER Biosphäre Russlands auf- Plan zu bewirtschaften. der Treibhaus-Internatio- wollen auf ihrer Konferenz in Den zustellen. Schon die Fra- Ein groteskes Beispiel für den neuen nale: „Es gibt globale Haag Kohlendioxid-Quellen ge, wie viel CO2 die Wäl- Trend lieferte unlängst der deutsche Kli- Gemeinschaftsgüter, die (Kraftwerke, Autoverkehr) mit der aufnehmen, so kapi- Kohlendioxid-Senken (Wäldern) tulieren die Forscher, sei verrechnen. nicht genau zu beantwor- ten. „Unter Einbeziehung der Senken ist das Proto- koll von Kyoto unkontrollierbar und undurchführbar.“ Der Kohlenstoff-Haushalt der Erde stellt – entgegen dem in der Öffentlichkeit herrschenden Ein- druck – noch immer ein großes Rät- sel dar. Die Klimaforscher sind außer Stande anzugeben, welchen Beitrag Ozeane, Flüsse, Wälder, Fel- der oder Landwirtschaft genau leis- ten, ganz zu schweigen von den Austauschvorgängen, die unter wechselnden Klimabedingungen M. GRECCO / AGENTUR FOCUSM. GRECCO / AGENTUR ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN stattfinden. Kein Mensch kann ex- Kohlekraftwerk in den USA, Waldlandschaft in Sibirien: Kahlschlag für den Klimaschutz? akt sagen, welche Mengen an Koh-

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Werbeseite Wissenschaft lenstoff die natürlichen Speicher („Sen- der Kernkraft jetzt den blauen Klimaengel ken“) tatsächlich aufnehmen. verleiht, dann müssen die Deutschen ganz, Je nachdem, unter welchen Bedingun- ganz tapfer sein. Mögliche Folge: Wer in gen Wälder wachsen, können sie mehr der Dritten Welt ein Atomkraftwerk hin- oder weniger große Mengen Kohlendioxid stellt, darf zu Hause mehr Auto fahren. schlucken. Ganz zu schweigen von Natur- Wie einst die Sowjet-Pläne zur Umlei- katastrophen – allein die jüngsten Wald- tung von Flüssen in der Steppe von Ka- brände in den USA haben schätzungswei- sachstan versiegten, so strandet der Kli- se ebenso viel Kohlendioxid freigesetzt wie maschutz immer häufiger im ideologischen alle deutschen Haushalte pro Jahr zu- Absurdistan. Doch werden fixe Ideen nur sammen. oft genug wiederholt, so werden sie auch Der in Kyoto beschlossene „Clean De- wahr und ihnen ist ein ewiges Leben be- velopment Mechanism“ macht die Sache schieden. Die Aufkäufer für Kohlendioxid- noch verwickelter. Dahinter steckt zu- Ausgleichsflächen sind jedenfalls längst un- nächst mal eine gut klingende Idee: Ein terwegs – von der argentinischen Pampa Unternehmen, das in Deutschland mehr bis in die afrikanische Savanne. Costa Rica Kohlendioxid produziert als erlaubt, soll hat bereits 200000 Tonnen an Kohlenstoff- dieses in fernen Ländern einsparen können Zertifikaten verscherbelt. – etwa durch Anpflanzung einer Plantage In Deutschland rangeln derweil die Bör- in Afrika oder die Modernisierung eines se in Frankfurt und die Strombörse in Leip- Kraftwerks in China. zig um die lukrative Abwicklung des Kli- Doch wie viele Ideen, die am grünen maschutz-Handels. Nationen oder auch Tisch geboren wurden, wird auch diese in der Praxis scheitern. Erstes Problem: Wel- che Art Wald speichert auf welchem Boden unter welchen Klimabedingungen wie viel Kohlendioxid – und für wie lange? Der- zeit gleicht die Verrechnung einer Voodoo- Zeremonie. Zweites Problem: Wie unterscheidet man eine Plantage, die ohnehin ange- pflanzt werden sollte, von einer, die allein aus Klimaschutzgründen sprießt? Hier wird wohl nur eine Gesinnungsprüfung weiterhelfen. Überdies schwant Artenschützern Schlimmes: Schnell wachsende, ökologisch problematische Palmöl- und Kautschuk- Plantagen sind schon heute Hauptgrund

für die Vernichtung des ursprünglichen Re- / IMAGES.DE N. MICHALKE genwaldes. Als Kohlendioxid-Speicher Klimaforscher Schellnhuber aber könnten sie als Tauschobjekte auf dem „Kontrolle der planetaren Variabilität“ Klima-Basar durchaus nützlich sein. Kommt nun also der Kahlschlag für den Unternehmen sollen Emissionszertifikate Klimaschutz? erhalten, mit denen an der Klima-Börse Die Förderung von effizienten Indu- frei gehandelt werden kann. Wer über sei- strieanlagen oder sauberen Kraftwerken in ne Quote hinaus Kohlendioxid in die Luft ärmeren Ländern scheint auf den ersten pustet, muss zukaufen; wer weniger Dreck Blick unproblematisch. Doch kommt man macht, als ihm eigentlich zusteht, kann auch hier durch die Fixierung auf das ver- Zertifikate verkaufen. meintliche Klimaproblem in Teufels Küche. Auf der Klimakonferenz in Den Haag Wer nach einem wirklich Klima schonen- wird unweigerlich die große Stunde der den Kraftwerk sucht, kann böse Überra- Emissionshändler und Quotenkrämer schungen erleben. schlagen. Nur auf das Klima wird der Ba- Bei der Gewinnung von Strom aus Was- sar keinen Einfluss haben. serkraft zum Beispiel können im Extrem- Wohin das alles führen wird, können die fall bis zu zehnmal mehr Treibhausgase Klimabürokraten bei den Brüsseler Land- freigesetzt werden als bei der Verbrennung wirtschaftsbürokraten erfahren, die zur von Kohle. Wie das? In stehenden Gewäs- Eindämmung der Milchschwemme die sern bildet sich vor allem Methan, ein 20- Milchquoten erfanden. Dies führte zu so mal stärkeres Treibhausgas als Kohlendio- schönen Berufsbildern wie den „Sofamel- xid. kern“: Früher hatten diese Bauern Kühe im Nach dem Willen Japans und der USA Stall, heute tun sie gar nichts mehr und le- sollen auch Atomkraftwerke in den ben dabei prima. Sie verkauften oder ver- „Clean Development Mechanism“ aufge- pachteten die von Brüssel zugeteilte Milch- nommen werden. Ach du grüne Neune: quote. Atomkraft. Doch es ist nun einmal nicht zu In ganz Europa leben heute Tausende leugnen: Atomwirtschaft macht viel Ärger, Sofamelker. Bis es die ersten Klimamelker aber wenig Kohlendioxid. Wenn die Uno gibt, ist nur noch eine Frage der Zeit. ™

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Werbeseite Singapur-Airlines-Absturz in Taipeh Tückische Böen von bis zu 90 km/h

(CWC) seiner Maschine ist jedem Flugka- pitän vertraut. Sie wird vom Hersteller im „Flight Operations Manual“ festgelegt. Für Verkehrsflugzeuge liegen die maxi- mal zulässigen CWC-Werte bei Seitenwind (von 90 Grad) zwischen rund 33 km/h für kleinere Passagierjets und etwa 45 km/h für Jumbos. In der Unglücksnacht gab es nach Auskunft der örtlichen Flugleitung Böen von bis zu 90 km/h. Anders als im Flug, wo der Pilot bei star- ken Seitenwinden die Nase seines Jets in

DPA den Wind stellt und so stets eine sichere Fluglage zu halten vermag, sind selbst die schwersten Passagiermaschinen auf der Rollbahn so seiten- windanfällig wie Schwer- LUFTFAHRT laster bei Sturm. Zum Ausgleich der Tod im Taifun Windkräfte kann der Pilot beim Start nur das Seiten- Sekunden nach dem Start ruder betätigen. Selbst die mächtige, mehr als scheu- zerschellte ein Jumbo nentorgroße Flosse am der Singapore-Airlines in einem Heck eines Jumbos aber Feuerball. Der Pilot startete versagt, wenn heftige Sei- offenbar von der falschen Bahn. tenwinde am Rumpf eines abhebenden Giganten rüt-

oong Chee Kong, Kapitän von Singa- AP teln. pore-Airlines-Flug SQ006, der vom Bergung von Absturzopfern: War das Wetter „akzeptabel“? Bei kritischen Windbe- FFlughafen der taiwanischen Haupt- dingungen entscheidet al- stadt Taipeh nach Los Angeles startete, muss belsturms seien die Witterungsbedingun- lein der Kapitän, ob Start oder Landung es wie ein makabres Déjà-vu vorgekommen gen, behauptete die Luftverkehrsbehörde möglich sind. Flugsicherungsbehörden sein. Er habe einen Gegenstand auf der von Taipeh, „akzeptabel“ gewesen. schließen Flughäfen nur bei extremen Wet- Rollbahn gesehen und ihm nicht mehr aus- Doch die durch den Sturm über den Flug- terlagen – etwa wenn ein Orkan unmittel- weichen können, erklärte der Pilot später. hafen getriebenen Regenmassen begrenz- bar über einem Airport tobt. Frankfurt Nur wenige Sekunden danach, sein Boeing- ten die Sicht auf unter 600 Meter. Nur so zum Beispiel, sagt Flughafensprecher Klaus 747-400-Jumbo hatte gerade abgehoben, scheint erklärbar, dass der Singapore-Air- Busch, sei „in den letzten zehn Jahren zerschellte die Maschine am Grund. lines-Crew beim Start offenbar ein folgen- nicht einmal wegen Sturms geschlossen Die Aussagen des Kapitäns erinnern an schwerer Irrtum unterlief. Wie die taiwani- worden“. das Concorde-Desaster im Juli auf dem Pa- sche Flugsicherheitsbehörde am Freitag ver- Berüchtigt für seine tückischen Winde riser Flughafen: Damals hatte ein Blech auf gangener Woche erklärte, sprächen alle In- ist der auf einer künstlichen Insel errichtete der Startbahn einen Reifen des Überschall- dizien dafür, dass Kapitän Kong von der Flughafen von Hongkong. 1999 hatte eine jets aufgeschlitzt, Teile des explodierenden falschen Bahn gestartet sei. Windbö einen Jet der China Airlines beim Pneus durchschlugen einen Treibstofftank, Statt wie angewiesen auf die so genann- Aufsetzen auf die Bahn seitlich erfasst. Die die brennende Air--Concorde stürz- ten „05L“ zu rollen, bog der Jumbo offenbar Maschine schlug hart auf, ein Teil der rech- te auf ein Hotel und explodierte. Keiner der auf die wegen Renovierungsarbeiten ge- ten Tragfläche brach, der Jet überschlug 109 Insassen überlebte das Unglück. sperrte Parallelbahn „05R“ ein. Ein solcher sich und blieb auf dem Rücken liegen. Drei Am Dienstag vergangener Woche, um Fehler ist für Linienpiloten kaum erklärbar. Passagiere starben, 200 der insgesamt 357 23.18 Uhr Ortszeit, ging der Absturz ein Gesperrte Startbahnen sind nicht beleuchtet. Insassen wurden verletzt. wenig glimpflicher ab: Aus dem kerosin- Kapitän Kong und seiner Crew hätte also Die Crew war zuvor vor den so ge- schwangeren Jet, der in einem Feuerball auffallen müssen, dass sie auf eine „tote“ nannten Scherwinden gewarnt worden. zerschellte und in drei Teile barst, konnten Bahn rollten. Als sie dennoch zum Start be- Doch wiederholt wurden andere Piloten sich Dutzende Passagiere und Crew-Mit- schleunigten, rammte der Jet, so die Flug- in Hongkong von den tückischen Böen glieder retten. Dennoch waren von den 179 sicherheitsbehörde, zwei Schauffellader. überrascht, ohne dass Flughafen-Meteoro- Menschen an Bord bis Ende der Woche 81 Nur Minuten vor Flug SQ006 war eine logen diese zuvor erkannt hatten. Ab 2001 Opfer zu beklagen. andere Passagiermaschine sicher gestartet. sollen daher neue technische Einrichtun- Während die Concorde bei Tageslicht Bei einem aufziehenden Taifun heißt das, gen Scherwinde erfassen und Starts und und gutem Wetter abgehoben war, startete wie Piloten wissen, aber nicht viel. Hefti- Landungen sicherer machen. der Jumbo bei Nacht, Sturm und peit- ge Winde, die plötzlich und machtvoll ein- Für Piloten, so ein Lufthansa-Kapitän, schendem Regen. Ausläufer des Taifuns fallen, können jeder Passagiermaschine gibt es bei widrigen Windbedingungen nur „Xangsane“, der wenige Stunden später zum Verhängnis werden. eins: Immer von der „ungünstigsten Va- auf Taiwan verheerende Schäden anrich- Gefährlich, so ein Linienpilot, seien Bö- riante ausgehen“ und lieber einen Start tete, hatten den Tschiang-Kai-schek-Flug- en, die ein Flugzeug von der Seite packen. oder eine Landung abbrechen – „Angst- hafen erreicht. Trotz des aufziehenden Wir- Die maximale „Crosswind-Komponente“ hasen leben länger“. Ulrich Jaeger

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SEUCHEN Ansteckung durch Spenderblut? Der Rinderwahn fordert unter den Briten immer mehr Todesopfer. Experten sorgen sich, denn womöglich sind auch Schafe, Hühner und Schweine infektiös. Langsam und rätselhaft breitet sich BSE nun schon unter den Rindern Kontinentaleuropas aus – und jetzt sogar unter den Menschen.

atthew Parker ist nur 19 Jahre alt sunde Tiere sind in die Nah- geworden. Er starb nach monate- rungskette gelangt. Die Folgen Mlangem Verfall so elend wie die dieses beispiellosen Massenex- meisten der jetzt schon mindestens 85 BSE- periments: In diesem Jahr stie- Opfer in Großbritannien: taub, stumm, gen die vCJK-Fall-Zahlen plötz- blind, orientierungslos, ohne Kontrolle lich an. Sie sind, Tote und Tod- über Gliedmaßen, Darm und Blase. kranke zusammengenommen, Parker ist bereits drei Jahre tot. Für BSE- auf 29 geklettert (siehe Grafik). Forscher aber ist sein Schicksal hochak- Die mögliche Nummer 30 tuell, denn er wohnte in dem Ort Arm- liegt todgeweiht im Kranken- thorpe in South Yorkshire. Genau hier ist haus von Aberdeen, mal zu- im September wieder ein Mensch an der ckend, mal apathisch. Erst vor neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob- sieben Wochen wurde die Ver- Krankheit (vCJK) gestorben. Sarah Roberts dachtsdiagnose vCJK bei Donna war 28 Jahre alt und hatte die gleiche Schu- McIntyre, 21, gestellt. „Donna le besucht wie Parker, sie hatte sogar in hat immer gern Fleisch geges- der gleichen Straße gewohnt. Ein Zufall? sen“, sagt ihr Vater Billy, ein Schlimmer noch hat es das Dorf Queni- Elektriker. „Sie liebte Burger borough erwischt, das 130 Kilometer von und Fleischpasteten.“ Armthorpe entfernt liegt. 2300 Menschen Vorletzte Woche zeigte das leben hier, 5 von ihnen sind an vCJK ge- britische Fernsehen die qualvol- storben, der menschlichen Variante des le Agonie der 14-jährigen Zoe Rinderwahns. Der vorerst Letzte starb erst Jeffries. Sie ist das bisher jüngs- im September: Christopher Reeve, 24. te BSE-Opfer. Ihre Mutter Wieso gibt es diese „Cluster“, wie die Helen erzählte, dass Zoe schon Forscher solche Anhäufungen von Erkran- als Zweijährige am liebsten Bur- kungen nennen? Was haben die BSE-Op- ger aß – dreimal die Woche. fer gemein? Warum und wie haben sie sich Drei Tage nach der Ausstrah-

infiziert? Stehen sie nur am Anfang eines PRESS / BULLS S. WALKER lung war das Mädchen tot. verheerenden Seuchenzuges? BSE-Opfer Jeffries, Mutter: Lieblingsspeise Burger Dann wurde bekannt, dass Niemand weiß eine Antwort. 15 Jahre, die neue Form von Creutzfeldt- nachdem BSE als Rinderkrankheit ent- Frage gestellt. Ungewiss ist nun wieder fast Jakob auch bei einem 74-Jährigen diagnos- deckt wurde, breitet sich unter Experten, alles – der Ursprung der Seuche ebenso tiziert wurde. Alte Menschen galten bis- Behörden und Verbrauchern eine bisher wie die Übertragungswege, vor allem die lang als gefeit gegen die Hirnkrankheit. nicht da gewesene Ratlosigkeit aus. Was geeigneten Gegenmaßnahmen. Von nun an ist nicht mehr auszuschließen, bislang als halbwegs gesichertes Wissen Sicher scheint nur eines: Noch immer dass vCJK tatsächlich schon viele Alte be- galt, wird durch die jüngsten Ereignisse in kann niemand für die Sicherheit von Fleisch fallen hat, sie aber in den Kliniken mit Alz- garantieren, denn die Wissens- heimer-Dementen verwechselt werden. 29* basis zu BSE ist nach wie vor „Wir sehen jetzt den Beginn eines vCJK- Beginn des Sterbens schmal. Forscher schließen Ausbruchs unter Menschen“, urteilt das bri- Creutzfeldt-Jakob- 18 nicht mehr aus, dass der Erre- tische Wissenschaftsblatt „New Scientist“. Todesfälle in Großbritannien ger selbst in Körpern und Pro- Mittlerweile gehen Forscher in ihrem Best- 14 dukten lauert, die bislang als Case-Szenario von einigen hundert Toten unverdächtig galten. BSE-Erre- aus. Es könnten aber „viel, viel mehr sein“, ger, so das Resümee der jüngs- räumt Agrarminister Nick Brown ein. Er 10 10 ten Erkenntnisse, könnten in erwartet, schlimmstenfalls, 136000 Opfer. Hühnern stecken, in Schafen, Oder werden es noch mehr? Die Lämmern, Schweinen, in Spen- menschliche Abart des Rinderwahns hat derblut – selbst in Gelatine. die britischen Inseln verlassen. Zwei vCJK- 3 Jeder Brite, so hat der For- Tote gibt es bereits in Frankreich, für min- scher Stephen Dealler berech- destens zwei weitere Todesfälle besteht net, hat seit Mitte der achtziger vCJK-Verdacht. Schulen in Paris haben Jahre im Schnitt 50 BSE-ver- vergangene Woche Rindfleisch vom Kanti- seuchte Portionen Rindfleisch nenplan gestrichen. 19951996 1997 1998 1999 2000 verzehrt. Mindestens 750000 Bei den Rindern erweist sich BSE als *18 Tote, 7 Todkranke, 4 Tote mit noch ausstehendem pathologischen Befund; Stand: 28.Okt. infizierte, äußerlich meist ge- nach wie vor nicht kontrollierbar. 82 fran-

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Gelatine. Sie wird auch aus zerstoßenen Wirbelsäulen hergestellt. Das Rückenmark in den Wirbelsäulen gilt als Hochrisiko- material. „Nach unseren Erfahrungen mit BSE sollten wir sehr viel vorsichti- ger vorgehen“, sagt der Prionenforscher John Collinge vom Londoner Imperial College. Vorsicht zeigten die Briten in der BSE- Krise häufig erst dann, wenn es zu spät war. Sieben der vCJK-Toten waren Blut- spender. Ihr Blut, so gestand kürzlich die National Blood Authority, wurde, wie es üblich war, mit anderem Spenderblut ver- panscht und in Umlauf gebracht. Über ein Dutzend Empfänger verseuch-

BULLS PRESS BULLS ten Blutes konnten Mediziner namentlich Metzger in Großbritannien ausfindig machen. Sie entschieden, ihnen Schlimmstenfalls 136000 Opfer? zu verheimlichen, was geschehen ist. Wer vom Risiko nichts weiß, so die Devise, der zösische Kühe sind in diesem Jahr an BSE lebt glücklicher; und wer sich angesteckt erkrankt. 1999 waren es nur 30. Die Maß- hat, dem ist ohnehin nicht zu helfen. In nahmen der Behörden, BSE einzudäm- den USA gilt schon länger ein Blutspende- men, greifen offensichtlich nicht. Und verbot für jeden, der sich länger als weni- während Deutschland sich stur für BSE- ge Monate in Großbritannien aufgehalten frei deklariert, hegen Verbraucherschützer hat. Hans Kretzschmar, CJK-Forscher der und Forscher daran wachsende Zweifel. Universität München, hält eine solche Re- Systematische Tests sollen ab nächstem gelung auch in Deutschland für geboten. Jahr erstmals Klarheit bringen. Doch was wäre, wenn sich auch andere Britische Veterinäre haben in diesem Tiere als BSE-Überträger erwiesen? Hüh- Jahr 1032 BSE-Kühe gezählt. Fast alle wur- ner und Schweine haben wie die Rinder den vor 1996 geboren und haben sich aller lange Zeit verseuchtes Futter bekommen. Wahrscheinlichkeit nach über verseuchtes Sie werden davon nicht krank, aber neue Futter angesteckt. Erst seit 1996 ist die Ver- britische Experimente an Mäusen deuten wendung von Rinderprodukten im Futter darauf hin, dass sie die Erreger gleichwohl verboten. In wenigen Jahren, so jubelten übertragen könnten. Forscher und Behörden, sei BSE im Rin- Vor allem Schafe gelten als hoch- derbestand ausgerottet. verdächtiges BSE-Reservoir. Die britische Das scheint nicht zu gelingen. Mindes- Lebensmittelbehörde hat letzte Woche ver- tens acht Tiere haben BSE bekommen, ob- langt, Schafe routinemäßig auf BSE zu un- wohl sie nach 1996 auf die Welt gekom- tersuchen. „Es gibt die theoretische Mög- men sind. Ein gleiches lichkeit“, so ein Sprecher, Mysterium meldet die Exportierte Seuche „dass BSE in den britischen Schweiz. Dort sind zwei Schafherden präsent ist.“ BSE-Fälle in Europa Kühe am Rinderwahn er- Die Gefahr ist groß ge- im Jahr 2000/ Insgesamt krankt, denen nie ver- nug, manchem Experten seuchtes Futter vorgesetzt Großbritannien den Appetit zu rauben. worden war. „Irgendwo in Irland 1032/177390 „Ich persönlich“, sagt der dem Maßnahmenpaket gibt 90/538 Münchner Kretzschmar, es noch Löcher“, sagt Dag- Deutschland „würde kein Schaf aus Eng- mar Heim vom Bundes- –/6* land essen.“ Erschrocken amt für Veterinärwesen in Frankreich reagiert auch Albert Os- Bern. „Aber wir wissen 82/162 terhaus von der Univer- nicht, wo.“ sität Rotterdam, Mitglied Die Briten haben schon Portugal der EU-Expertenkommis- mögliche Infektionsquel- 99/458 Schweiz sion zur Untersuchung BSE- len ausgemacht: Blut, Talg 28/360 ähnlicher Krankheiten. „In * und Gelatine. Diese Tier- eingeschleppte Fälle Schafen“, sagt er, „könnte produkte dürfen als Einzi- das gefährliche BSE ausse- ge noch seit 1996 an Wiederkäuer ver- hen wie die für Menschen harmlose Schafs- füttert werden. Damals galt als sicher, krankheit Scrapie.“ Infizierte, aber noch dass davon keinerlei Risiko ausgehe. Das nicht kranke Tiere könnten leicht bis ins würde jetzt kaum ein Forscher mehr be- Fleischregal gelangen und Menschen mit haupten. dem Rinderwahn anstecken. Kürzlich hat eine Studie bewiesen: Mit Ob es diesen Infektionsweg gibt, räumt BSE-verseuchtem Schafsblut können zu- Liam Donaldson ein, der Chef der briti- mindest andere Schafe infiziert werden. schen Gesundheitsbehörde, sei jetzt „wahr- Bei Rindern steht der Beleg dafür noch scheinlich die wichtigste unbeantwortete aus. Im Verdacht steht auch wieder die Frage“. Marco Evers

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Werbeseite FOTOS: S. ROBERTS / GROWBAG S. ROBERTS FOTOS: Regenwaldkuppeln des „Projekt Eden“ in Cornwall: Kunstwind aus meterdicken Rüsseln zur Stärkung der Baumriesen

BOTANIK Regensicher durch den Regenwald Im Südwesten Englands wächst der größte künstliche Dschungel der Welt heran. Das „Projekt Eden“, ein Paradiesgarten im Gewächshaus, ist das verwegene Werk eines ehemaligen Rockmusikers. Schon jetzt stehen die Besucher vor den Riesenkuppeln Schlange.

achts, wenn das Pu- schaft Cornwall. Wo früher blikum fort ist, wer- Porzellanerde geschürft wur- Nden die Urwaldgi- de, entsteht nun ein Para- ganten geschaukelt. Aus me- diesgarten mit Wäldchen, terdicken stählernen Rüs- Gemüserabatten, Orchideen seln faucht ringsum warme und Plantagen: das „Projekt Luft in die Kuppeln. Und Eden“. schon schwanken Ölpalmen, Tim Smit plant nicht nur Balsabäume und himmelho- ein Inventar des Pflanzen- he Bambusse geruhsam reichtums. Der herkömmli- knarzend im Kunstwind. che Botanische Garten, fin- „Das ist ihre Abendgym- det Smit, ist langweilig genug. nastik“, sagt Tim Smit, 45. Dort beäugt das Publikum „Sie brechen uns sonst ei- die abertausendste Varietät nes Tages zusammen.“ der Rose neben dem sel- Solche Probleme hat vor- tenen Bromelien-Hybriden. her noch niemand gehabt. Und im Boden stecken – Der britische Unternehmer „wie auf dem Friedhof“, Smit ist der Erste, der einen sagt Smit – die Tafeln mit Regenwald in einem ge- Bauherr Smit: „Kriegsgeist schüren ist das Einzige, was ich kann“ der lateinischen Artbezeich- schlossenen Raum zu voller nung. Höhe emporwuchern lässt. Und er baut deshalb zu schnell in die Höhe und bleiben In der alten Grube will Smit dagegen dafür das mit Abstand größte Gewächs- dünn und schwach. Da hilft nur das Schau- ein „lebendes Theater der Pflanzen“ auf- haus der Welt: Die gewaltigen Kuppelbau- keln: Es stärkt die Stämme, und das Wur- führen. Hier kommen nur Gewächse auf ten, bis zu 50 Meter hoch, erstrecken sich zelwerk krallt sich fest. die Bühne, sagt er, „die eine Geschichte zu über fast einen Kilometer. Die Regenwaldkuppeln liegen halb ver- erzählen haben“. Die Bäume haben es in diesem Heim steckt in einer verlassenen Kaolingrube an Am besten geht das im Ensemblespiel: viel gemütlicher als draußen; sie schießen der Südwestküste Englands, in der Graf- Da rauscht ein Hain von Ölpalmen, in de-

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Werbeseite Wissenschaft ren Schatten Gemüse gezogen wird wie im sinken schwere Dampfschleier nieder. Hoch schlimmste Tag in meinem Le- westlichen Afrika. Dazu kleine Plantagen droben im Gegenlicht kriechen jetzt noch ben“, sagt er. „Ich gondelte in von Bananen, Zuckerrohr oder Tee, wo et- die Arbeiter wie Spinnen an den stähler- einer Limousine über die liches über den Anbau zu erfahren ist. Und nen Streben und Speichen entlang. Das Champs-Élysées, der Champa- wer einem der Pfade durch den Dschungel Wabengitter ist bespannt mit Luftkissen gner schäumte, und ich zerfloss folgt, steht plötzlich vor einem malaysi- aus einer Wunderfolie namens ETFE, die in Tränen.“ schen Hausgarten und darf, mit etwas so durchsichtig ist wie Glas, aber hundert- Dem Vielbewanderten geht es Glück, von den 20 Arten der Passionsfrucht mal leichter. Nur so ließ der kühne Bau nur gut, solange er in die Zu- kosten. Im Ensemble gibt es aber kunft stürmt – hinter ihm her auch Solisten. Zum Beispiel die Projekt Eden die Depression, die ihn ereilt, Seychellennusspalme mit ihrer Paradies im Gewächshaus sobald etwas fertig ist. Vor zehn bombastischen, bis zu 20 Kilo- Jahren nahm sein Dasein die gramm schweren Nuss, deren 300 Meter entscheidende Wende. Da stieß eingekerbte Gestalt etwas Hin- er eines Tages in Cornwall auf terbackenartiges hat. Ein gebo- die Ruine einer Gartenanlage, rener Publikumsliebling. Die nur 20 Kilometer von der Gru- Palme ist vom Aussterben be- Regenwald- be entfernt, in der jetzt das droht, weil die Touristen in ihrer kuppeln Eden-Projekt heranwächst. Heimat gern die Schalen kaufen. Mediterrane Das Landgut Heligan gehörte Auch dieses Gewächs trägt sei- Klimazone über Jahrhunderte dem Ge- nen Teil zur Hauptfrage bei: Was schlecht der Tremaynes. Dann machen die Menschen aus der kam der Erste Weltkrieg. Kaum Pflanzenwelt? Wo kommen all einer der vormals 22 Gartenar- die Drogen, Seile, Gewürze, beiter hat ihn überlebt. Bald Kleider, Farben und Autoreifen darauf starb auch der letzte her? Das „Projekt Eden“ will das Erbe, und die Ländereien ver- in vielerlei Szenerien zeigen – bis In Terrassen wilderten. angelegter Besucher- hin zum Ylang-Ylang-Baum, aus Freiluftgarten Auf dieser verwunschenen dem der Zauberduftstoff für zentrum Stätte verbrachte der Archäologe Chanel No. 5 gewonnen wird. Smit die nächsten Jahre seines Die Eröffnung ist für das kom- Cardiff Lebens. Es gelang ihm, Dutzen- mende Frühjahr geplant. Im In- de von freiwilligen Helfern zu neren der Kuppelbauten, ent- Projekt Eden Southampton entflammen und am Ende auch worfen von dem Architekten noch Leute mit Geld. Bald l al Nicholas Grimshaw, sind gerade w Plymouth sich verwirklichen, kämpften sich Räumtrupps mit rn o 100 Kilometer die Pflanzgärtner am Werk. Die C der bis zu 110 Me- Spitzhacken und schwerem Ge- ersten Baumgruppen stehen ter ohne Stützen rät durchs Gestrüpp, rissen Bäu- noch etwas verlegen in der ka- überwölbt. „Wenn me mitsamt den Wurzeln aus, thedralischen Weite beisammen. Planier- es hagelt“, sagt Smit, „dann ist das ein Ge- fanden mit Metalldetektoren raupen ebnen gewundene Wanderwege, prassel hier drinnen wie in einer riesigen Hunderte alter Pflanzschilder im und Kräne senken meterhohe Palmen in Snare Drum.“ Boden und legten nach und nach ihre Setzgruben. Der gelernte Archäologe spielte früher den riesigen alten Garten frei. Wenn die Bäume ausgewachsen sind, er- Keyboard in einer Rockband, schrieb eine Heute lustwandeln die Besucher wieder hebt sich ihr Kronendach vor dem Halb- Menge Songs und hatte Erfolg als Produ- zwischen Taschentuchbäumen und kunst- rund eines theatralischen Felssturzes. Ein zent von Musikern, von denen er nicht all- voll verflochtenen Eichenpärchen. Im Mit- Wasserfall rauscht in Kaskaden 25 Meter zu viel hielt, darunter die singende telpunkt aber steht der Nutzgarten. Früher tief in ein Flüsschen hinab, das sich vielfach Schmalznudel Barry Manilow. lieferte er fast alles, was Herrschaft und schlängelt, ehe es in einen Mangroven- Anfang der Achtziger landeten zwei sei- Gesinde brauchten, bis hin zu Melonen sumpf mündet. Die Luft ist heiß und feucht. ner Werke in der französischen Hitparade und Wein. Nun wird der Garten wieder Aus 180 Nebelwerfern unterm Kuppeldach auf Platz eins und zwei. „Das war der bearbeitet wie ehedem. Zu sehen ist die eine Südfrucht gepäppelt: Nach heutigen Löhnen hätte ein Ex- emplar rund 600 Mark gekostet. Das Publikum war auf Anhieb entzückt von den „Lost Gardens of Heligan“. Letztes Jahr kamen 350000 Besucher. Und der ruhe- lose Smit rettete sich flugs ins nächste Großvorhaben, das „Projekt Eden“. Der Erfolg bleibt ihm, wie es scheint, auf den Fersen. Schon jetzt stehen vor der Grube jeden Tag Tausende von Besuchern Schlange; insgesamt 430000 wa- ren es in diesem Jahr. Sie zahlen zehn Mark Eintritt, obwohl sie noch nicht einmal in die Kuppeln hinein dürfen. Es genügt ihnen, der Entstehung des „achten Weltwunders“ beizuwohnen, wie die britische Tageszeitung „Independent“ unlängst orgelte. Die Schaulustigen setzen Hel- me auf und lassen sich in Trak- torzügen durch den Schlamm karren. Sie spähen auf die blin- kenden Bagger und Raupen- schlepper im Talkessel hinab, lu- gen in die lichten Kuppeln und freuen sich auf den Tag, an dem sie sagen können: Wenn ihr wüss- tet, wie es damals hier aussah! Der beste Bauplatz für ein Riesentreibhaus war die alte Grube wahrlich nicht. Überall lauerten Quellen, die erst ge- stopft werden mussten. Die Fels- wand, an der die Regenwald- kuppeln lehnen, machte auch

F. GRAF LUCKNER GRAF F. keinen guten Eindruck. Damit Smit-Projekt „Lost Gardens of Heligan“: Ananas für alle dank Pferdemistheizung der Stein nicht abrutscht, trieben die Arbeiter 2000 Ankerbolzen komplette Subsistenzwirtschaft eines vik- ren voll schaufeln die Arbeiter alle fünf bis zu zwölf Meter tief hinein. Am Ende torianischen Landgutes. Es war dieses ver- Wochen in die Heizkammer; länger hält mussten sie auch noch die Kuppeln selber schollene Lebensmodell, das die Restau- die Wirkung nicht an. Früher musste auch mit mächtigen Heringen aus Stahl an den ratoren am meisten bezauberte. noch ein Gartenbursche in der Nähe schla- Erdboden nageln. Der Wind, der über die Sogar der alte Ananasgraben ist wieder fen und alle zwei Stunden die Temperatur Grube fegt, könnte sie sonst emporreißen. in Betrieb, originalgetreu beheizt von kom- prüfen, weil oft genug eine Anlage in Flam- Ein Film zeigt dem Publikum das Werk postierendem Pferdemist. 200 Schubkar- men aufging. Aufwendiger wurde kaum je des Planierens, Ausschachtens und Einrüs- Wissenschaft tens als heroisches Spektakel. Wer will, kann danach im Shop naturbelassenen Ingwersirup und Ananasschösslinge kaufen. Im Besucherzentrum stehen Pavillons, die den Reichtum der Kautschukprodukte erläu- tern oder die bewegte Ge- schichte der Rauschmittel. Und den Kindern bietet sich ein mechanisches Pup- penspiel in Lebensgröße: Zu sehen ist eine Familie in der Küche, und der Reihe nach verschwindet krachend, klap- pernd, zischend alles in der Kulisse, was aus Pflanzen ge- macht ist: Bücherbord, Bücher, Essen, Kleider, Tisch und Stüh- le. Am Ende wird die ganze Familie mangels Biomasse hin- weggerafft. Tim Smit scheut keineswegs solche simplen Spektakel. „Die Wissenschaft muss natürlich gewinnen“, sagt er. „Aber nur knapp.“ Botanische Akribie ist ihm, dem Laien, ohnehin fremd. Lieber macht er Ausstellungen über die großen Kontroversen der Gegenwart – von den Ba- nanenkriegen der Neunziger über die Kakaopflücker, die teils heute noch wie Sklaven schuften, bis hin zur genetisch gedopten Landwirtschaft: Was spräche eigentlich gegen eine Pflanze, aus der oben Äpfel herauswachsen und unten Kar-

toffeln? / GROWBAG S. ROBERTS Nichts ist ausgeschlossen in Kuppeldach, Arbeiter: 110 Meter freitragendes Gewölbe seinem Riesengewächshaus außer der Tierwelt. In dem feuchtwarmen Die Pflanzen der Dürregebiete sind heikle Dschungel könnte jede Art zur Plage Akrobaten des Mangelleidens; eine jede werden. Höchstens, dass einmal eine ab- braucht ihren höchsteigenen Notstand. gezählte Legion von Schmetterlingen ent- Einmal bewässert zur Unzeit, und sie geht sandt wird, um die Blütenpflanzen zu zugrunde. bestäuben. Aber nur Männchen, damit Tim Smit aber denkt längst schon wieder es keine Nachkommen gibt. Und eines ans Anstiften neuer Projekte. „Das ist das Tages sollen im Unterholz ein paar Wach- Einzige, was ich wirklich kann“, sagt er. teln schlagen und handverlesene Geckos „So was wie Kriegsgeist schüren“, sagt er, über die Bäume krauchen. Damit hat es „nur ohne Krieg. Übrigens, kennen Sie sich. Fitzcarraldo?“ Das ist der Mann, der ein Es ist schon schwer genug, die Pflanzen Dampfschiff durch den Urwald und über in Schach zu halten. Im wuchernden Ge- ein Gebirge schleppen ließ. Ein entfernter dränge des Regenwaldes hausen findige Vetter im Geiste. Kämpfernaturen, die mit allen Mitteln dem Das nächste Thema des Rastlosen ist Licht entgegenstreben. „Manche Schöss- die Krise der Weltmeere. Die besten Köp- linge“, sagt Smit, „kommen mit drei Mi- fe der Wissenschaft will er für die Suche nuten Licht am Tag aus. Die kann man nach Lösungen begeistern und zugleich kaum bändigen.“ dem Publikum die Attraktionen bieten, Ein zweiter, etwas kleinerer Kuppelbau die es für die Sache gewinnen. Und wel- beherbergt die gemäßigt warmen Zonen: cher Ort wäre eines solchen Vorhabens Pflanzen aus Südafrika, Kalifornien und würdig? dem Mittelmeerraum. Ein drittes Ge- „Eine künstliche Insel vor der Westküs- wächshaus für die Wüsteneien der Welt te von England“, erwidert Smit, ohne zu soll später hinzukommen. Dies wird die zögern, „gespeist von einem Strömungs- wahre Herausforderung für die Botaniker: kraftwerk.“ Manfred Dworschak

326 der spiegel 45/2000 Werbeseite

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ger behaupteten, die alterslosen Solitäre wie viel Zeit seit dem Tod der Organismen TIERE an ihren Narben wiederzuerkennen. vergangen ist. Biologen blieb lange Zeit nichts anderes Bada entdeckte, dass derselbe Umbau Methusalems übrig, als das Höchstalter der samtschwarz auch schon bei lebenden Tieren stattfindet schimmernden Meeresbewohner grob zu – und zwar in jenen Körperteilen, die von schätzen. Anhaltspunkte für die Alters- der ständigen Erneuerung durch den Stoff- der Meere bestimmung waren Körperlänge, die Far- wechsel abgeschnitten sind, etwa in Zäh- be der Augenlinsen oder der Grad der nen oder Augenlinsen. Um die Analyse- Neuer Weltrekord im Tierreich: Narbenheilung. Als biologische Schall- methode zu testen, ließen sich Bada und mauer der in der zweiten Hälfte des 19. sein Team Gewebeproben aus den Augen- Grönlandwale, so fanden Jahrhunderts von Walfängern fast ausge- linsen von 48 erlegten Grönlandwalen zu- Biologen heraus, können über 200 rotteten Tiere galten lange Zeit 30 bis 40 schicken. Die Forscher führten die Unter- Jahre alt werden. Jahre. suchungen im Blindverfahren durch: Sie Mit Badas neuer Methode steht die Al- wussten nicht, ob die jeweiligen Proben wei der Harpunenspitzen sahen aus, tersermittlung der schwimmenden Fettfa- von jungen, erwachsenen oder betagten als wären sie von Steinzeitmenschen briken auf sichererem Boden. Die von sei- Walen stammten. Doch in allen Fällen Zaus Feuerstein geschlagen worden. nem Team gewählte Technik, die auf der stimmten die Ergebnisse der Laboranalyse Die anderen hatten ihre Besitzer kunstvoll Analyse einer bestimmten, im Körper der mit dem Augenschein vor Ort überein. aus grauem Schiefer geschliffen. Bei einigen offenbar sehr alten männli- Die Inupiat, die Eskimos Alaskas, bargen chen Tieren kam dann heraus, womit nie- diese Tatwerkzeuge in den vergangenen Wer lebt am längsten? mand gerechnet hatte: Vier der Wal-Me- Jahren aus der nahrhaften Fettschicht Höchstalter verschiedener Lebewesen thusalems waren zwischen 135 und 180 Jah- („Blubber“) von zuvor erlegten Grönland- Grönlandwal 200 Jahre re alt, als sie den Harpunierkünsten der walen. Die Artefakte waren eine Sensation: Alaska-Eskimos zum Opfer fielen. Das äl- Mit solchen vorsintflutlichen Waffen hatten Stör 152 teste Beutetier hatte sogar rund 200 Jahre die Ureinwohner Alaskas schon seit etwa im Eismeer gelebt. 1870 nicht mehr Jagd auf die Meeresriesen Schildkröte 150 Zwei weitere Forscherteams sollen nun gemacht. die spektakulären Messergebnisse über- Nach diesen Funden korrigierten die Bio- Mensch 122 prüfen. Bada rechnet noch mit weiteren logen das vermutliche Höchstalter der bis zu Überraschungen. Auch andere Walarten, 90 Tonnen schwer werdenden Kolosse deut- Krähe 118 spekuliert der Wissenschaftler, könnten es lich nach oben. Die vor der Nordküste Alas- Aasgeier 101 auf ein weit höheres Alter bringen als bis- kas getöteten Meeressäuger, so ihre Schluss- her angenommen. folgerung, mussten weit über 100 Jahre alt Esel 100 Doch wie konnte es den Meeresgreisen gewesen sein. Als unerfahrene Jungtiere gelingen, den Speeren ihrer Jäger jahr- waren sie ihren Jägern offenbar in der zwei- Karpfen 100 hundertelang zu entgehen? Offenbar han- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten delte es sich um besonders vorsichtige und Mal vor die Harpunen geschwommen – und Adler 80 erfahrene Tramper der Meere. Da sie mit dann verletzt entkommen. ihren gewaltigen Köpfen fast meterdickes Nun zeigt eine Analyse des Geochemi- Eis zum Luftholen durchbrechen können, kers Jeffrey Bada vom kalifornischen Meeressäuger vorkommenden Aminosäu- hielten sie sich bei ihren Wanderungen ver- Scripps-Institut für Ozeanografie: Die Rie- re beruht, diente bisher der Altersdatie- mutlich nur selten in eisfreien, für ihre Jä- sen der Meere können sogar noch viel äl- rung von Fossilien. ger leicht zugänglichen Gegenden auf. ter werden. Mit einem neuen molekular- Lebende Organismen benutzen und pro- Im hohen Alter kam ihnen wohl schließ- biologischen Verfahren hat der US-For- duzieren fast ausschließlich die linksdre- lich auch zugute, dass die Eskimos ihre scher ebenfalls Grönlandwale untersucht, hende Form dieser Aminosäure. Erst nach Beute mit kulinarisch geschultem Auge die kurz zuvor von den Inupiat erlegt wor- dem Tod verwandelt sich ein Teil des links- auswählen: Der wie Pudding wabbeln- den waren. Das Ergebnis: Zumindest ei- drehenden Lebensbaustoffes allmählich in de Blubber junger Wale hilft nicht nur nes der Eismeer-Tiere war offenbar über einen rechtsdrehenden. Aus dem Verhält- fabelhaft durch die nährstoffarmen Win- 200 Jahre alt – ein einsamer Rekord im nis der beiden Aminosäure-Sorten zuein- termonate – er schmeckt auch viel bes- Tierreich (siehe Grafik). ander lässt sich bei Fossilien bestimmen, ser. Günther Stockinger Brächten es zum Beispiel auch Pottwale auf ein solch biblisches Al- ter, könnte sogar der legendäre Moby Dick noch immer sein Unwe- sen in den Weltmeeren treiben. Zumindest den Inupiat war es seit langem bekannt, dass sich unter den in kleinen Gruppen oder auch ein- zeln lebenden Tieren wahre Methu- salems befinden mussten. Durch ihre Erzählungen von den gefährli- chen Waljagden mit Nussschalen und Handharpunen geisterten seit jeher Exemplare, die offenbar nicht

totzukriegen waren. Greise Waljä- MINDEN / SAVE

Grönlandwal bei der Futtersuche Lebt Moby Dick noch? Werbeseite

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STARS Verdüsterte Diva ie Filmgöttin war alt und krank, und sie verbarg ihren DVerfall vor der Welt: Wenigstens der Mythos Marlene Dietrich (1901 bis 1992) sollte unvergänglich und strahlend bleiben. Wie einsam und deprimiert sich Deutschlands ein- ziger Kino-Weltstar des 20. Jahrhunderts im Alter wirklich fühlte, zeigen einige neu entdeckte Karten und Briefe an ihre New Yorker Freundin Bianca Berger aus den Jahren 1976 bis 1980. Die Originale, die der Antiquar Knut Ahnert in Man- hattan von jüdischen Emigranten aus Berlin erworben hat- te, standen vergangenes Wochenende auf der ersten inter- nationalen Berliner Antiquariatsmesse für 16 500 Mark zum Verkauf. Im Dezember 1976 berichtet die Dietrich von ihrem Alters- sitz Paris nach New York, dass ihr Mann Rudolf Sieber „ge- storben ist und ich vollkommen kaputt bin … Ich laufe im- mer noch herum ohne Ziel und ohne Mut … Natürlich wa- ren wir getrennt, aber nur geographisch, nie im Herzen. Also ich versuche, nicht dauernd zu weinen, und versuche meine Memoiren zu schreiben“. Obwohl sie dies ein Jahr später als „scheußlichste Arbeit meines Lebens“ bezeichnet, sind die Memoiren doch ihre einzige Einnahmequelle. In Pa- ris quälen den greisen Star besonders die Feiertage, „man ist noch alleiner als sonst“. Aus dem Haus geht sie sowieso kaum, und fremde Leute – schreibt die Dietrich im Mai 1980 – könne sie „nicht vertragen, weil die mich nur anstarren“. Dietrich STILLS / STUDIO X / STUDIO STILLS

POP paraden stürmte. Verkaufserfolge dürfte KONZERTE ihnen auch diese Sammlung bescheren Kampf der Girl-Giganten – die makellos aufpolierten Balladen Zweite Chance eignen sich hervorragend zur Beschal- ie haben über 35 Millionen Alben lung von Großraumbüros, Fahrstühlen für Mendelssohn Sverkauft und eine Rekordserie von und Wartezimmern. Nur mit der Girl- Nummer-eins-Hits hingelegt, nun wol- Solidarität ist es, wenn man der briti- ine „Große Fest-Musik“ war für das len die britischen Spice Girls jene Pop- schen Musikpresse glauben kann, nicht EJubiläum bestellt. Trotzdem fühlte Party weiterfeiern, die sie in den neun- mehr weit her: Zwischen den vier sich Felix Mendelssohn Bartholdy nicht ziger Jahren zu Weltstars gemacht hat: Band-Damen – Ginger Spice stieg 1998 recht wohl, als er 1828 den Auftrag an- „Forever“ (Virgin) heißt optimistisch aus – flogen angeblich im Aufnahme- nahm, zum 300. Todestag von Albrecht die in dieser Woche erscheinende dritte studio die Fetzen, und auch draußen Dürer eine Kantate zu liefern: Das Text- CD der Mädchenband, die einst mit auf dem Musikmarkt müssen die Spice buch triefte von Frömmigkeit und dem Schlachtruf „Girl Power“ alle Hit- Girls um ihre Mädchenmacht fürchten. Deutschtümelei, und „vor einem ent- Denn die gleichfalls setzlichen Publicum und dem Hofe“ britische Konkur- Feierstimmung zu wecken, das war kein renz-Girlband All dankbarer Job. Gleich nach der Auf- Saints beweist mit führung wollte der 19-jährige Kompo- ihrem aktuellen nist die Partitur am liebsten verbren- Werk „Saints & Sin- nen. Doch er tat es nicht – so kann das ners“ (Eastwest / Werk nun am 10. November im Kon- Warner) fabelhaften zerthaus Berlin nach 172 Jahren zum Stil und ungleich zweiten Mal aufgeführt werden. Dass größere musikali- die in der Berliner Staatsbibliothek auf- sche Substanz. Auch gespürten Notenblätter eine Wiederbe- in den Charts ist sie lebung lohnen, bezeugen schon die Ur- bestens platziert. teile von damals: „Viel gute und manche Frisst die musikali- eigentümliche Gedanken“ habe Men- sche Girl-Revolu- delssohn gehabt; „tüchtige kontrapunk-

CAPITAL PICT. / INTER-TOPICS PICT. CAPITAL tion ihre stolzesten tische Arbeit“, ja „genialen Schwung“ Spice Girls Heldinnen? hatten die Kritiker herausgehört.

der spiegel 45/2000 333 Szene

LITERATUR Sofies Welt-All anchmal, wenn er in den Spiegel Mschaue, erblicke er einen „trauri- gen Primaten“, sagt Jostein Gaarder, 48. Das ist tiefgestapelt; der strubbelige Nor- weger und ehemalige Gymnasiallehrer, dessen Philosophie-Abenteuerroman „Sofies Welt“ in 45 Sprachen die Welt umrundete, ist mindestens ein phanta- sievoller Primat. Es geht ihm um die letzten Fragen und die ersten Dinge, und sein neues Buch zielt aufs große Ganze. Es heißt lockend „Maya oder Das Wun- der des Lebens“, und das meint, was Charles Darwin herausfand: die Evolu- tion. Wieder also ein Abenteuerroman und wieder, wie in „Sofies Welt“, ein li-

terarisches Vexierspiel mit dem Buch im VON LIECHTENSTEIN DES FÜRSTEN SAMMLUNGEN Buch. Imaginierter Rembrandt-Gemälde „Amor mit Seifenblase“ (1634) Autor ist ein Englän- der namens Spooke MUSEEN (klingt nach „spook“, Gespenst, Spuk), und im Mit- Götter aus dem Versteck telpunkt steht der Evolutionsbiologe ein Flächenstaat kann mit der Kunst-pro-Kopf-Quote des Minilandes Liech- Frank, ein norwegi- Ktenstein (32000 Einwohner) konkurrieren. Von seinem größten Kunstschatz war scher Melancholikus bislang allerdings nicht viel zu sehen. Die 1300 Bilder, darunter ein Rubens-Kon- wie Gaarder selbst. volut von Weltrang, gehören dem Fürstenhaus. 1945 hatte es sie aus Wien diskret Auf einer For- in die Residenz Vaduz verbracht und seither nur sporadisch Teile davon ausgestellt. schungsreise gerät Das ändert sich: Ein neues „Kunstmuseum Liechtenstein“, das kommenden Sonn- er auf die kleine tag eröffnet wird, bietet zumindest einer wechselnden Sammlungsauswahl auf Dau- Fidschi-Insel Taveuni und in merkwür- er einen Schauplatz. Es vereint die Herrschaftsleihgaben mit Bürgerschenkungen dige Gesellschaft. Vor allem ein spani- und staatlichen Ankäufen, speziell Skulpturen des 20. Jahrhunderts. Der kubische sches Liebespaar fesselt ihn, denn das Betonbau ist von einer privaten Stiftung finanziert worden, den laufenden Betrieb Gesicht der Frau kommt ihm höchst be- trägt die Landesregierung. Zum Start illustrieren rund 60 Bilder aus fürstlichen Be- kannt vor. Die Evolution mit ihren Rät- ständen, darunter ein 1995 für 8,5 Millionen Mark ersteigerter „Amor mit Seifen- seln, vor allem dem des Bewusstseins, blase“ von Rembrandt, den Schau-Titel „Götter wandelten einst …“ rückt bald in den Mittelpunkt der Insel- Gespräche; Frank, der zunächst den kühlen Wissenschaftler gibt, debattiert darüber auch mit einem Gecko, der sei- ne Ginflasche blockiert. Aber bald wird TANZTHEATER der Evolutionsbiologe zum Sinnsucher: Ist doch nicht nur alles blanker Zufall? Sex oder Schweiß? Gewitzt und fachmännisch führt Gaar- der den Leser in ein Lebenslabyrinth, an ahnt kaum, was soll es das zunehmend phantastisch erscheint. Mbedeuten: Wofür steht „S“? Oder bleibt für den Menschen doch al- So heißt das Stück, das Sasha les nur „maya“, wie die Inder sagen, Waltz Dienstag dieser Woche an Blendwerk? Und woher kennt Frank der Berliner Schaubühne als Ur- das Gesicht der Spanierin? Als er im aufführung präsentiert – die Fort- Prado von Madrid schließlich vor Goyas setzung ihres Erfolgswerks „Kör- „Nackter Maja“ steht, erkennt er die per“. Es gehe, sagt die Tanz- Dame wieder. Lag sie etwa Modell, vor chefin, um „Begierde, Sinnlich- 200 Jahren? Alles wird möglich bei keit und die Geschlechter“. Steht Gaarder und der Mensch sogar zum „S“ also für Sex, Schweiß und Bewusstsein erhoben: „Das Auge, das Sperma? Viel einfacher: „S“ war

ins Universum schaut, ist das Auge des die hausinterne Abkürzung für A. RIVAL Universums selbst.“ Ein Leser mehr. „Sashas“ neues Projekt. Dabei Waltz-Tanzstück „S“ blieb es. Denn, so sagt Waltz, bei dieser Thematik „passiert ohnehin alles Fleisch – weil, so die Choreografin, Jostein Gaarder: „Maya oder Das Wunder des Lebens“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Hanser im Kopf der Zuschauer“. Denen zeigt „Kleider immer eine kulturelle, soziale, Verlag, München; 432 Seiten; 39,80 Mark. die Truppe nun wieder viel nacktes geschichtliche Bedeutung vermitteln“.

334 der spiegel 45/2000 Kultur

FILM SPIEGEL: Fehlen im deutschen Kino die „schönen Verlierer“? Am Rande „Wahre Helden“ Heinzen: Auf jeden Fall. Im- mer haben wir Extreme – Der Düsseldorfer Drehbuch- Sönke Wortmann und Wim Alarm der Alten autor Georg Heinzen, 47, über Wenders, das Unernste und seinen Film „Gran Paradiso“ das Angestrengte. Im briti- er Dichter, denkt man, ist ha- und liebenswerte Verlierer schen Kino dagegen wird dem Dbituell grauhaarig, raucht Pfei- Turbokapitalismus oft Wider- fe, trägt Cordhosen und äußert sich SPIEGEL: Herr Heinzen, diese stand geboten. Da scheitern mit sonorem Tremolo ungefragt, Woche startet „Gran Paradi- Leute zwar wirtschaftlich, aber höchst besorgt zu allen drän- so“. Stimmt es, dass ein SPIE- STORCH J. aber in der Mitmenschlichkeit genden Fragen der Zeit. Sein von GEL-Artikel Sie 1993 auf die Heinzen gewinnen sie. Das sind für Grübelfalten und Krähenfüßen zer- Idee zum Drehbuch brachte? mich die wahren Helden. furchtes Antlitz erglänzt höchstens Heinzen: Ja. Darin ging es um ein eigen- SPIEGEL: Bergfilm, das heißt für viele: dann jugendfrisch, wenn ihn am artiges soziales Projekt: Strafgefangene Luis Trenker. Wie haben Sie Produzen- Bahnhof die appetitlichste Nach- tragen und begleiten Behinderte durchs ten für Ihr Drehbuch begeistert? wuchskraft der örtlichen Uni-Buch- Gebirge. Den Artikel habe ich aber Heinzen: Geldgeber zu finden war handlung abholt, wo der Mann des schnell weggelegt. Als Autor muss man tatsächlich mühsam. Dabei erzähle ich sich selbst auf den Weg machen. gar kein Alpenkitschmärchen, sondern Wortes abends vor elf interessierten SPIEGEL: Was war spannend an dem die Geschichte einer Reifeprüfung. Volkshochschul-Intellektuellen aus Stoff? SPIEGEL: Aber ganz ohne Gipfel geht die seinem neuen Werk vorliest. Heinzen: Eigentlich gelten Knackis und Chose nicht. Dieser wohlvertraut-verknautsch- Behinderte doch als Verlierer. Und in Heinzen: Zugegeben, da bin ich vorbe- te Dichter-Schlag soll nun, o je, die Berge gehen normalerweise nur die lastet. Mein erster Viertausender war vom Aussterben bedroht sein. Be- Starken. Nun tun sich Schwache zusam- der Gran Paradiso – und ich bin damals sorgt meldet jedenfalls die Vorsit- men und werden plötzlich zu Gewin- daran gescheitert. Durch das Schreiben zende des britischen Autorenver- nern, „beautiful losers“ sozusagen. habe ich die Tour nachgeholt. bandes skandalöse Praktiken von Shakespeares Insel. Deborah Mog- gach, zarte 52, wittert hem- mungslosen Jugendwahn in Kino in Kürze heimischen Verleger- kontoren und „Lust auf Anderes“. Wer sich noch interessiert für die französischen Filme, die in schlägt Alarm im deutschen Kinos immer rarer werden, kennt das temperamentvolle Autoren- und Namen der Al- Komödiantenpaar, das in der Branche „Les Jabac“ heißt: Agnès Jaoui, 36, eine ten. Geistesgröße solide Schönheit mit durchdringend klarem Blick, und Jean-Pierre Bacri, 46, ein habe als Maßstab kantiger Kahlkopf, der zum leberleidenden Choleriker prädestiniert scheint, sind ausgedient, nun werde in ihrer Heimat absolute Lieblinge. Ihr neuer Streich „Le goût des autres“ (auch alles verlegt, was „jung mit „Der Geschmack der anderen“ übersetzbar) hat daheim über drei Millionen und schön“ ist. Elfen statt Dickens Zuschauer gefunden und ist in der Oscar-Auswahl – was hier zu Lande nur Fran- – Beauty statt Brontë. kophile neugierig machen wird. Also ganz kurz: „Les Jabac“ (erstmals führt nun Ein Beispiel hat Ms. Moggach auch Agnès Jaoui auch Regie) pflegen die typisch französische Art von Schauspieler- parat. Eine gewisse Amy Jenkins kino, bürgerliche Sittensatire mit Boulevardtouch, stets eine Spur zu gefällig, habe für ihr Debütstück zwei Mil- doch stets gekonnt und elegant. lionen Mark Vorschuss kassiert, nur weil sie gerade mal Anfang 30 und „Blair Witch 2“. Gut ein Jahr nach der verblüffenden Pseudo-Dokumentation „The Blair Witch Project“ beginnt der Spuk von neuem. Leider ist vom Schnitzeljagd- eine Augenweide sei. Zwar waren Charme des ersten Teils die Kritiken verheerend, aber das nichts übrig: Zwar ver- tröstet die reife Kollegin auch nicht, ulkt Regisseur Joe Ber- denn Amys Roman wurde zigtau- linger anfangs den irrwit- send Mal verkauft. Tja, was soll zigen Erfolg des Billig- sein? Rosamunde Pilcher ist 76, hat Schockers, in dem ein mehr Falten als Trude Unruh von paar altkluge Filmstuden- den Grauen Panthern, bekommt ten bei ihrer Hexenjagd im nie den Nobelpreis und bringt es Wald mysteriös zu Tode dennoch locker auf eine Weltauf- kamen. Dann aber schus- lage von 18 Millionen. tert er aus lauter bewähr- Vielleicht, Ms. Moggach, sollte die ten Versatzstücken eine englische Sprache außer „Kinder- Schauersaga zurecht, die garten“, „Hinterland“ und „Zeit- keine Hexe aus ihrem Ver- steck locken würde. Damit geist“ noch ein anderes teutoni- nicht genug: „Blair Witch sches Wort importieren. Wie wär’s 3“ ist bereits in Planung. Szene aus „Blair Witch 2“ mit Neidgesellschaft?

der spiegel 45/2000 335 Kultur

SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich liebe das Lakonische“ Nach gut zwanzigjährigem Schweigen als Erzähler legt Alexander Kluge jetzt ein kolossales Prosawerk vor: Die zweibändige „Chronik der Gefühle“ ist ein epischer Kraftakt – und der so kühne wie fragwürdige Versuch, unsere Gegenwart in der Geschichte zu spiegeln.

nter den bekannten deutschen Autoren sei Alexander Adorno vermittelte den jungen Mann, angeblich um ihn von Kluge „der unbekannteste“, schrieb vor knapp 23 Schriftstellerträumen zu befreien, zum Kino-Altmeister Fritz UJahren Hans Magnus Enzensberger an dieser Stelle. Lang, bei dem Kluge eine Zeitlang assistierte. Daran hat sich bis heute wenig geändert – kein Wunder: Fortan gab es zwei künstlerische Verlockungen: Literatur Nach dem Prosawerk „Neue Geschichten. Hefte 1-18“, das und Film. Kluges erster Prosaband „Lebensläufe“ erschien der Lyriker und Essayist Enzensberger damals rezensierte 1962, sein Spielfilmdebüt „Abschied von gestern“ wurde im (SPIEGEL 1/1978), gab es jahrzehntelang keine größeren September 1966 bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt. poetischen Veröffentlichungen aus Kluges Feder. Und so ging es munter parallel weiter: Im Kino trat Kluge mit Wenig sprach dafür, dass er sich je als Schriftsteller Produktionen wie „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ zurückmelden würde: In der Zwischenzeit hatte der promo- (1967), „Die Patriotin“ (1979) oder „Der Angriff der Gegen- vierte Jurist die Welt des Fernsehens erobert, hatte als Chef wart auf die übrige Zeit“ (1985) an, daneben publizierte er der TV-Produktionsfirma DCTP mit unabhängigen Program- die Bücher „Schlachtbeschreibung“ (1964) und „Lernprozes- men im Privatfernsehen – darunter anspruchsvollen Inter- se mit tödlichem Ausgang“ (1973). views – das Massenmedium unterwandert. Leicht konsumierbar waren weder Kluges Filme noch seine Doch nun ist der Literat Kluge, 68, urplötzlich wieder da – kühlen, chronistenhaften Prosatexte. Doch seit jeher konnte und gleich mit einem starken Auftritt: In zwei Bänden von sich der Autor über treue Anhänger freuen: Er wurde als insgesamt mehr als 2000 Seiten, unter „Chronist des Jahrhunderts“ und dem Titel „Chronik der Gefühle“ in ei- „Wächter der Differenz“ gefeiert, ja als ner Kassette zusammengefasst, legt er der letzte wahrhaft Moderne – und sei- gesammelte Prosaschriften vor. Und ne „Chronik der Gefühle“ wurde soeben er ist fleißig gewesen: Weit mehr als die von den Kritikerjury der SWF-Besten- Hälfte der Textmasse ist in den vergan- liste auf den ersten Platz gehoben. genen zehn Jahren entstanden, ange- Besonders getreue Kluge-Leser kön- regt vor allem durch die Wende, „als nen sich nun an einen Vergleich zwi- das russische Riesenreich zusammen- schen alten und neuen Textfassungen brach“, wie Kluge es im SPIEGEL-Ge- machen: Der Autor, der sein Werk stets spräch formuliert. als große Baustelle verstanden hat, ließ Der in München lebende Tausendsas- es sich nicht nehmen, seine frühen Wer- sa war immer schon für Überraschun- ke, zum Teil überarbeitet, neben die in gen gut. Ende der fünfziger Jahre, den neunziger Jahren entstandene Pro- kaum hatte er sich als Anwalt etabliert, sa zu stellen. Ein Gesamtkunstwerk: war er vom Film fasziniert: Sein philo- jede Menge Geschichten – und viel Be-

sophischer Lehrmeister Theodor W. A. POHLMANN griffsarbeit.

SPIEGEL: Herr Kluge, über 2000 Seiten Umbruch 1945, also nach dem Zweiten „Chronik der Gefühle“ – da läuft anschei- Weltkrieg, nicht. nend etwas über, das sich jahrelang auf- SPIEGEL: Heißt das: Die Ereignisse des ver- gestaut hat. Wie kommt es, dass der er- gangenen Jahrzehnts haben Sie zurück an folgreiche TV-Mann Kluge jetzt so plötzlich den Schreibtisch gelockt? wieder unter die Schriftsteller gegangen Kluge: Ja. In den achtziger Jahren hatte ich ist? Autor Kluge eigentlich nichts Zukunftsweisendes mit- Kluge: Das kommt daher, dass ich immer zuteilen. Das änderte sich mit der Zeiten- Schriftsteller war und geblieben bin, auch wende vor zehn Jahren, als das russische wenn ich mir zwischendurch viel Zeit ge- Alexander Kluge: Riesenreich zusammenbrach. Damals nommen habe – zum Nachdenken und für „Chronik der Gefühle“. konnten all die Energien, die in dem ge- andere Aktivitäten. Ich finde aber, dass die Suhrkamp Verlag, waltigen Eisschrank UdSSR aufbewahrt Lebensläufe aus der Zeit um 1945 – ihnen Frankfurt am Main; und eingeschlossen waren, plötzlich aus- galt mein erstes Buch aus dem Jahr 1962 – zwei Bände in wandern. Das veränderte auch uns. So ent- durch die Lebensläufe von 1989/90 und die Kassette, zusammen stand zumindest für die Phantasie eine völ- der jüngsten Jahrhundertwende, was die lig neue Welt, die von Anfang an meine 2040 Seiten; subjektive Seite betrifft, enorm überholt Neugier geweckt hat – etwa wenn Orches- werden. So viel dramatisch Neues wie zwi- 98 (geb. 160) Mark. termusiker aus Odessa plötzlich auf Sylt schen 1990 und 2000 gab es selbst bei dem Kurkapelle spielen und viele andere, sehr

336 der spiegel 45/2000 K. ERIKSSON Autoren Müller, Kluge (1984) „Das Wichtige muss kurz daherkommen“

tanten von Herrschaft auf den verschie- densten Schauplätzen – „noch immer hielt der Firmengründer die Macht zusammen“, heißt es einmal. Ist das Thema Macht der heimliche rote Faden Ihres Werks? Kluge: Macht an sich fasziniert mich nicht, mich interessieren die Verfallserscheinun- gen der Macht – zum Beispiel, was im In- neren der Menschen geschieht, wenn große Reiche zusammenbrechen. Damit befasst sich ein umfangreiches Kapitel des ersten Bandes. Wirkliche Machtverhältnisse las- sen sich, ähnlich der realen Personenver- netzung, nicht traditionell monodisch, son- dern nur polyphon erzählen – schon sechs Meter neben dem großen Mann gibt es den Assistenten oder den Bodyguard, der etwas ganz anderes will als er und von dem sein Tun dennoch abhängt. Bei all dem spielt der Zufall eine ungeheure Rolle – dem kann ich in Romanformen des 19. Jahr- hunderts nicht gerecht werden. SPIEGEL: Sie versuchen, auch wenn es zunächst nur um die vergangenen 50 Jahre geht, eine Totalität der Geschichte darzustellen. Wäre die Beschränkung auf einen kleinen Ausschnitt nicht leserfreund- licher? Kluge: Mein wichtigstes Vorbild sind die

A. KAISER / G.A.F.F. „Berliner Abendblätter“ des Heinrich von Kluge-Thema Maueröffnung (November 1989): „Energien konnten auswandern“ Kleist. Der schaute jeden Morgen nach: Was ist passiert in Berlin und Preußen? konkrete, scheinbar absurde Geschichten ständig. Wirklichkeit, meine ich, ist porös, Daraus baute er seine kurzen Geschichten plötzlich möglich werden. sie hat Lücken. Sie ist auch offen für ganz – lauter Ausschnitte. Bei mir sollen solche SPIEGEL: Einerseits sammeln Sie als Chronist unwahrscheinliche Geschichten, die dann Ausschnitte oder Erzählungen zeigen, wie Geschichten ein, in dokumentarischer Ab- überhaupt nicht dokumentarisch wirken der Aufeinanderprall von Geschichte und sicht; andererseits erfinden Sie Geschich- und dennoch authentisch sind – wie zum Gefühlen beide beeinflusst. Wobei die ten, etwa das Kapitel „Heidegger auf der Beispiel die Story von Blüchers Schein- Chronik zeigt, dass die Gefühle über Jahr- Krim“. Das finden wir – milde formuliert – schwangerschaft … hunderte erstaunlich konstant bleiben. etwas verwirrend. Ein gewollter Effekt? SPIEGEL: … die Sie im Kapitel „Verwilder- SPIEGEL: Kleist hat Novellen geschrieben, Kluge: Verwirrung stärkt die Muskeln der te Selbstbehauptung“ erzählen. Oder die keinen Roman. Also sind Sie eigentlich ein Einbildungskraft. Der Roman wechselt sei- Geschichte von den französischen Revolu- Novellist? ne Form, wenn sich eine neue Zeit öffnet, tionären, die etwas Sturz-Konservatives Kluge: Einverstanden. Von Heiner Müller sei es nach der Französischen Revolution wollten, nämlich nach alten Plänen antike habe ich die Liebe zum Lakonischen, die oder nach dem Zusammenbruch des Kom- Bauwerke wiedererrichten: als „Pflanz- Kürze. Ich lese Kleist durch Müllers Brille. munismus 1990. Da bin ich mir sicher. Eine stätten antiker Tugend“. Was wichtig ist, muss kurz daherkommen, neue Epoche gibt zunächst einmal Rätsel Kluge: Auch das ist absolut wahr. wie eine Medizin. Mein Roman setzt sich auf, also fange ich an zu erzählen. Und das SPIEGEL: Offiziere, Generäle, Wissenschaft- aus vielen Novellen zusammen. auf zweifache Weise: indem ich mich ein- ler, Staatsmänner wie Gorbatschow, Ken- SPIEGEL: Und was bindet, außer den Buch- fühle – das ist dann der dokumentarische nedy oder Karl der Große bilden das Per- deckeln und dem Autorennamen, die Tei- Gestus. Ich traue Dokumenten nie voll- sonal Ihrer Prosaskizzen: lauter Repräsen- le zu einem Ganzen zusammen?

der spiegel 45/2000 337 Kultur

Kluge: Gerade weil die „Chronik“ ein Tep- etwa in der Figur einer Stasi- pich aus zahlreichen unwahrscheinlichen Agentin, die auch nach der Wen- Begebenheiten ist, stellt sich mir die Fra- de Männer erotisch anwirbt. In ge nach dem Zusammenhang besonders Ihren früheren Geschichten spiel- streng. Ich habe zunächst keinen Zusam- te das Thema eine größere Rolle. menhang, sondern versuche erzählend Könnte es doch eines Tages noch herauszufinden, was das eine mit dem einen altmodischen Liebesroman anderen zu tun hat. Ich versuche, alle Tei- von Ihnen geben? le in eine Balance, in ein Gleichgewicht zu Kluge: Ich kann nicht ausschlie- bringen, ein proportioniertes Gefüge zu ßen, dass ich, wenn eine einzelne schaffen. Person mich genügend fasziniert, SPIEGEL: Und findet sich schließlich der Zu- auch einmal eine ausführlichere, sammenhang des großen Ganzen? romanhafte Erzählung um sie her- Kluge: Der Zusammenhang ist da, aber um schreibe. Meine Mutter wäre

schwer zu fassen – wie bei einer Land- / VERSION C. DITSCH so eine Person. schaft. Und ich suche eine ganz bestimm- Ex-Terrorist Mahler (2. v. l.)*: „Alles vorausgesehen“ SPIEGEL: Und Sie selbst? Wie wäre te: meine Landschaft der Gefühle, bezogen es mit einer Autobiografie? auf die letzten 50 Jahre. Das Verbindende Kluge: Nein, der Philosoph weiß ja in der Kluge: Das würde mich nicht interessie- ist die Perspektive, die vom Jahr 2000 aus Regel vorher schon, was er sagen will. Ich ren. Ich bin mir nicht wichtig genug. Neh- rückwärts blickt und allgemein gesagt das, erzähle, um herauszufinden, was sich sagen men Sie mein Leben als Anwalt: Da vertut was eine Kapitelüberschrift die „Unheim- lässt. man viel Schrott-Zeit. Andererseits steckt lichkeit der Zeit“ nennt – außerdem das SPIEGEL: Klingt schön paradox, aber auch natürlich in der „Chronik der Gefühle“ Urvertrauen, das uns Menschen immer ein wenig kokett. Denn Sie trauen sich auch einiges von mir selbst, denn ich bin es wieder in den unmöglichsten Situationen durchaus eine Menge kompakter Aussa- ja, der sich in all diese Figuren und Ge- glauben macht, die Welt werde es gut mit gen zu, sogar selbstbewusste Sentenzen schichten einfühlt. Ich fühle mich nur wich- uns meinen. Erst dieses Urvertrauen er- wie „Nichtverständigung ist die Grundla- tig im Zusammenhang mit anderen Men- möglicht es uns, die Unheimlichkeit der ge der Ehe“. schen. Deshalb sieht man mir ja auch bei Zeit zu ertragen. Kluge: Das ist nur die Umschreibung für meinen Fernseh-Interviews so gut wie nie SPIEGEL: Das erinnert ein wenig an Mar- „love politics“: Jeder verbirgt etwas vor ins Gesicht. tin Heideggers „Sein und Zeit“. Sind dem anderen, das hält sie zusammen. SPIEGEL: Gegen so viel Bescheidenheit Sie in Wahrheit mehr Philosoph als Er- SPIEGEL: Dem Thema Liebe nähern Sie sich spricht, dass Sie ältere Arbeiten von sich, zähler? in Ihren neuen Texten nur sehr zögerlich, etwa die „Lebensläufe“ und die „Schlacht- beschreibung“, in Ihr neues Gesamtwerk Generalfeldmarschall Blücher*: „Offen für ganz unwahrscheinliche Geschichten“ montiert haben – und zwar so, als stamm- ten die Texte von heute. Ist solch ein Recycling für einen passionierten Chroni- sten nicht ein seltsam unhistorisches Verfahren? Kluge: Die Zeit von, sagen wir, 1962 ist mir so gegenwärtig wie eine Parallelwelt, die zehn Zentimeter von mir entfernt liegt. Die Texte von damals gehören zu meinem heutigen Bewusstsein, ich brauche sie als Grundriss für die neuen Geschichten, die dadurch erst als Bilder in ein und demsel- ben Raum – in meinem Zeit-Raum – lesbar werden. Darum habe ich an den älteren Texten auch einiges geändert. SPIEGEL: Gleichzeitig suchen Sie im Ak- tuellen das Archaische, nach dem Motto: „Das Wirkliche an dieser Gegenwart ist die Schubkraft von 20 Milliarden Jahren.“ Unter Gegenwart verstehen Sie ein Jahr- hundert. Würde dieses Geschichtsbild das Erzählen entlang der Lebensgeschichte eines Romanhelden erlauben? Kluge: Nein. SPIEGEL: Bezweifeln Sie denn grundsätz- lich die Möglichkeit, heute noch – oder wieder – traditionell zu erzählen? Kluge: Als Leser liebe ich solche langen, traditionellen Geschichten wie Tolstois Eheroman „Anna Karenina“. Aber wenn ich selbst schreibe, halte ich diese Art

* Oben: mit NPD-Funktionären und dem Ex-Republi- kaner-Chef Franz Schönhuber (2. v. r.) auf einer Presse- konferenz in der Berliner NPD-Bundesgeschäftsstelle im September; unten: in der Schlacht an der Katzbach 1813,

AKG nach einem Aquarell von Carl Röchling (um 1900). Werbeseite

Werbeseite von Literatur für abkürzbar. SPIEGEL: Sind Sie ein Anhän- In den gewonnenen Freiraum ger der Ästhetik des Hässli- treten unsichtbare „Helden“, chen, also immer noch der nämlich Eigenschaften, die in gute alte Linke, der den Bürger allen Menschen wirksam sind, und sein klassisches Schön- aber sich im Einzelnen nicht heitsideal attackiert? immer zeigen: Empfindungen, Kluge: Links ist ein Begriff, der Mentalitäten, Ressentiments, an die Sitzordnung im revolu- der gute Wille. Sie marschieren tionären Konvent aus dem getrennt und schlagen vereint. Jahre 1793 in Frankreich an- Im Verhältnis zu uns Men- knüpft. Der tagte – ich er- schen sind sie Riesen. zähle das in einer Geschichte SPIEGEL: Das klingt reichlich – in einem Neubau, der ei- abstrakt. Sie zweifeln demnach gentlich für die Pathologie der am Begriff der Person, die das Sorbonne bestimmt war. Da Verstreute sammelt und in ei- saß man in einem Amphi- ner einzigen Lebensgeschichte theater und schaute hinunter zentriert? auf Minister, die bald tot Kluge: Die Person ist eine Büh- sein würden. Die Partei, die ne, eine Idee. Wir brauchen da links die Guillotine ver- und lieben sie. In Wirklichkeit waltete, zu der zähle ich mich liegt aber das „Persönliche“ nicht, insofern bin ich nicht weit unterhalb der Person: links – ich trauere um den Auch mein Knie ist eine Per- König, den darf man nicht son, ebenso der kleine Mann umbringen, der soll ruhig wei- im Ohr – oder Gogols Nase. terleben. Das Gehirn ist vernetzt mit al- SPIEGEL: Aber sonst? lem, der einzelne Mensch ist Kluge: Ein Projekt wie die vernetzt mit allen anderen Emanzipation, das halte ich Menschen, wir müssten, allein für ein listenreiches Spinnen- um ein einziges Gehirn darzu- netz. Wenn ich mich politisch stellen, ein Aggregat bauen, das äußere oder als Anwalt auf- so riesig wie Groß-London ist, trete, reihe ich mich dort ein, zugleich tragen wir alle viele wo Jürgen Habermas steht Jahrtausende unserer Entwick- oder Oskar Negt. Doch wenn

lungsgeschichte mit uns herum. AKG ich als Vorachtundsechziger SPIEGEL: Wenn alles derart Revolutionsterror*: „Den König darf man nicht umbringen“ die 68er-Bewegung betrachte, komplex miteinander verbun- wird es kritisch, da wurden den ist – wovon ja auch das Computer- sich nicht vom Computer darstellen oder ähnliche Fehler gemacht wie 1793. Dass ei- Weltnetz eine Ahnung gibt –, müsste die gar berechnen. Es gibt hier nur die Me- ner der Akteure von ’68, Horst Mahler, Literatur dann nicht gegen diese univer- thode der vorsichtigen Annäherung an das heute auf der politischen Rechten agitiert, sale Vernetzung rebellieren, ästhetischen Komplexe. wundert mich überhaupt nicht – ich habe Widerstand leisten, indem sie sich etwa SPIEGEL: Ist Ihr Buch deshalb so umfang- es vorausgesehen. zur geschlossenen Romanhandlung be- reich geworden? SPIEGEL: Offenbar sind Sie ein Seher. An kennt? Könnte nicht gerade die alt- Kluge: Nein, nicht deshalb, denn ich lasse einer Stelle Ihres Buches schauen Sie so- modische Erzählhaltung der Web-Wirk- viel weg, ein Drittel dessen, was ich für gar in den Kopf des Philosophen Adorno lichkeit einen eigenen Entwurf entgegen- dieses Buch verfasst habe, ist gestrichen. und wissen, dass er sich während einer halten? Plötzlich erschiene das netzartige Kombiniert werden die mit Bleistift ge- bestimmten Versammlung „tot gestellt“ Erzählen Ihrer „Chronik“ fast als braver schriebenen Geschichten, die zusammen- hat. Realismus … genommen einen Katalog der Gefühle er- Kluge: Ich kannte Adorno. Er hat mir die- Kluge: Mein Buch heißt „Chronik der Ge- geben, dann später am Computer. se Geschichte selbst erzählt. fühle“ – sucht also nach der subjektiven SPIEGEL: Wenn Sie ein Wappentier hätten, SPIEGEL: Von ihm stammt auch der Satz: Seite der Geschichte. Bei mir sind die Ge- welches wäre es: der Löwe, das alte Macht- Das Ganze ist das Unwahre – ein Plä- fühle gewissermaßen der Held. Sie lassen symbol? Oder die Spinne als Symbol der doyer für das Fragment, das Detail, globalen und historischen Vernetzung? für die Trümmer-Ästhetik des Alexander Kluge: Mir gefallen Fledermäuse. Ja, auch Kluge? die Spinne gefällt mir. Kluge: Vielleicht spüre ich das Ganze ja am SPIEGEL: Aber wenn man sie vergrößert, heftigsten in seiner Zertrümmerung. sieht sie ziemlich hässlich aus. SPIEGEL: Angenommen, da kommt nun ein Kluge: Nach Ovid heißt die Urmutter der junger Autor, betrachtet Ihr Werk als Stein- Spinnen Arachne, eine sehr schöne Frau, bruch, als Mischung aus Trümmerberg, die in einen Wettstreit mit Athene trat Fundgrube und Antiquariat, und plündert und die schönere Geschichte webte – ge- es für einen eigenen Roman, einen sozu- rade darum wurde sie ja bestraft und zur sagen richtigen Roman. Würde der Jurist Spinne degradiert. Kluge wegen Verletzung des Urheberrechts dagegen klagen?

F. SCHUMANN / DER SPIEGEL SCHUMANN F. Kluge: Nein, ich würde mich geehrt fühlen. * Oben: zeitgenössisches Flugblatt aus Frankreich von Autor Kluge (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* 1793; unten: mit den Redakteuren Mathias Schreiber und SPIEGEL: Herr Kluge, wir danken Ihnen für „Mir gefallen Fledermäuse“ Volker Hage. dieses Gespräch.

340 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur

DEBATTE Operation Sauerbraten

Der Leitkultur-Streit ist der neueste Akt im deutschen Selbstfindungstheater. Gerade die Erregung ist typisch deutsch. Wieder gilt: Wo Kultur im Spiel ist, hört der Spaß auf. Von Reinhard Mohr

m Ende werden wieder einmal die Franzosen kulturell Weise: „Wir können doch gar nicht anders, als dieses Land, in dem profitiert haben: „Le Leitkültür“ wird als vorerst letzter wir leben, zu lieben. Deswegen hassen wir es ja auch so.“ Asprachlicher Direktimport aus Deutschland reüssieren – Da kann ein Brite den Reichstag umbauen, ein gebürtiger Pole nach „Le Weltschmerz“, „Le Angst“ und „Le Waldsterben“. das Jüdische Museum entwerfen, ein Amerikaner das Berliner Ho- Dafür zumindest gebührt dem tapferen Sauerländer Friedrich locaust-Mahnmal gestalten und der Bundesligist „Energie Cott- Merz internationalistischer Dank, der mit seiner forschen Be- bus“ nahezu komplett mit ausländischen Fußballspielern antreten griffsbesetzung einen Pflock in die deutsche Multikulti-Duselei zu – „es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage, was rammen versuchte und doch nur im Treibsand von Globalisierung ist deutsch, niemals ausstirbt“ (Friedrich Nietzsche). und New Economy, anglophiler Pop-Kultur und Habermasschem Jetzt heißt es Gesicht zeigen. Vom Ex-CDU-Chef Rainer Verfassungspatriotismus versank. Barzel bis zum Umweltminister Jürgen Trittin, vom „Bild“-Ko- Die „linke Leitkultur des Zeitgeists“ („FAZ“) schlug gnaden- lumnisten Peter Boenisch bis zu Gregor Gysi, von linken wie los zurück und ließ den vermeintlich trennscharfen Begriff, der konservativen Publizisten hagelte es Kritik: Ein „Mac Guffin“ à an die Trias von Kirch- la Hitchcock sei Merz’ gang, Frühschoppen und Kampflosung zur Wieder- Sonntagsbraten gemahnt, gewinnung der christde- in jene Kakophonie der mokratischen Diskurshe- „Streitkultur“ einmün- gemonie, ein „semanti- den, die es doch zu über- scher Sack“, reaktionäre winden galt. Die media- Anspielung auf eine „fik- le und intellektuelle tive kulturelle Homoge- Streuwirkung der Opera- nität“, mindestens aber tion Sauerbraten war überflüssig, ja schädlich enorm, und fast jede und gefährlich. größere Tageszeitung eta- Die Verteidiger des blierte flugs ihre Serie schillernden Begriffs zum Thema. „Leitkultur“ mit seinen „Was ist deutsch?“ war Anklängen an Führung die Leitfrage der „Welt“, und Unterordnung hatten, auch wenn ihr Feuilleton- was Wunder, Schwierig- chef Eckhard Fuhr so- keiten, ihn „inhaltlich zu gleich einräumte, „nor- füllen“, wie die CDU-Vor- mativ“ ließe sich dies sitzende Angela Merkel

„über die von der Verfas- 49 / VISUM / PLUS G. SCHLÄGER im Jargon der Alternativ- sung gesetzten Normen Deutsche Schützen: Trias von Schnaps, Kirchgang und Sonntagsspaziergang kultur aus den siebziger hinaus nicht bestimmen“. Jahren formulierte. Sei’s drum, auch Deutschlands moralische Leitfigur Harald Roland Koch, brutalstmöglicher Affären-Aufklärer aus Hessen, Schmidt („Ich stehe zu deutschem Wasser“) kam in seiner Late- sprach von der größeren „Anpassungserwartung“ an „diejenigen, Night-Show ohne den Begriff nicht mehr aus. Selbst die Affäre um die zusätzlich ins Land kommen“. Wolfgang Schäuble wünschte Christoph Daums Kokainsucht, allerneuester Teil der deutschen sich die „Eingliederung fremder Kulturen“, und CSU-Chef „Leitkultur“ auch im Bundestag (geflügeltes Wort: „Wenn du Edmund Stoiber hatte schon immer vor dem multikulturellen sagst, dass du krank bist, dann verzeih ich dir“), geriet zeitweise „Mischmasch“ gewarnt. in den Hintergrund. Nur im abgeschotteten „Big Brother“-Con- tainer ahnten Daniela, Walter und Harry noch nichts. ass es auch in der konservativen „FAZ“ den Kampf zweier kul- Der Soziologe Wolf Lepenies erinnerte an die deutsche Tradi- Dtureller Leit-Linien gibt, zeigte die Kritik des Feuilletonisten tion der politischen Romantik mit ihrem „Pathos des Gemein- Christian Geyer an der Unschärfe des Begriffs, die „von der rechts- schaftsgedankens“ und jenem „Nationalismus, der sich stärker auf philosophischen Selbstverständlichkeit bis zum rechtsextremen Kulturstolz und völkisches Überlegenheitsgefühl gründet“ als auf Ideologem“ reiche: „Gefasel bleibt es trotzdem, und rassistisch Politik und demokratisches Regelwerk. Und tatsächlich, schon ausbeutbar ist es allemal.“ Georg Paul Hefty dagegen, verant- die 68er, heute an der Regierung, machten ihre einschlägigen Er- wortlich für „Zeitgeschehen“, lebt in einer ganz anderen Vorstel- fahrungen im revolutionären Kulturkampf gegen die Leit-Ästhe- lungswelt. Zum Auftakt einer „FAZ“-Serie schrieb er in vollem tik von Hirschgeweih, Nierentisch und Sofakissen. Ernst: „Integration ohne Leitkultur ist wie Zu-Bett-Gehen ohne Die deutsche Debattenkultur jedenfalls präsentiert sich in Hoch- Bett.“ Die Leitkultur als gesamtideelle Matratze der Gesellschaft – form – und in tiefstem Ernst. Wenn Kultur im Spiel ist, hört der immerhin ein schönes Beispiel für die lebendige deutsche Meta- Spaß auf. Wieder einmal bestätigt sich Kurt Tucholskys Erkennt- phernkultur. nis, dass die Deutschen nie „so außer sich geraten, wie wenn sie Am Ende seiner Ausführungen gab Hefty ganz unmetaphorisch zu sich selbst kommen wollen“. Wolf Biermann sagt es auf seine jene tief sitzenden Ängste preis, die sich hinter der Begriffsmagie

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Werbeseite Kultur verbergen, Ängste, die gleichzeitig beschworen und mobilisiert Bolz selbst sagt, die Jüngeren in die Weltkultur von Internet, Harry werden: „Ließe man hingegen die verschiedenen Kulturen ,mul- Potter und HipHop hineingeboren werden und die Älteren, Erfolg- tikulturell‘ dauerhaft nebeneinander stehen, würde auf lange reichen ihre Geschäfte mit ihr machen, fühlen sich andere Teile der Sicht eine angriffige, unduldsame, zuwanderungs- und vermeh- Bevölkerung verunsichert und in dem, was für sie immer noch rungsreiche Kultur die anderen in Bedrängnis bringen.“ Identität, Tradition und Heimat bedeutet, bedrängt und bedroht. Gerade jene, die den gewalttätigen Rechtsextremismus und Antisemitismus für eine vernachlässigenswerte Randerscheinung o liegt auch über der „Leitkultur“-Debatte der Schatten halten, fürchten sich besonders vor der vermuteten „angriffigen“ Svon Angst und Abwehr – und dies in einem Augenblick, da die Unberechenbarkeit vor allem islamischer „Parallelkulturen“ in Zuwanderung eher abnimmt, die Arbeitslosigkeit sinkt, das Deutschland, ohne Genaueres zu wissen. Schon jetzt freuen sich Gewicht Deutschlands wächst und die boomende Wirtschaft dar- die Wortfuchtler auf das zündende Wahlkampfthema 2002. um bangt, nicht genügend qualifizierte ausländische Arbeitskräfte Dass eine „zunehmen- zu bekommen. Wo sonst de Vielfalt von oft wenig stets von Chancen die miteinander verbundenen Rede ist, regiert die Rhe- Parallelgesellschaften oder torik des Risikos, eine Lebenswelten gerade für merkwürdige Mischung moderne Gesellschaften aus neuem Nationalstolz charakteristisch ist“, wie und alter Ängstlichkeit. Dieter Oberndörfer, Pro- Dass die Einwanderungs- fessor für Politikwis- gesellschaft (aus der auch senschaften, bemerkte, viele wieder abwandern) kommt den verspäteten keine Erfindung von Mul- Patrioten allenfalls dann in tikulti-„Gutmenschen“ ist, den Sinn, wenn sie durch sondern eine Folge der für Manhattan spazieren. Deutschland so gewinn- Gleichwohl: Es ist jene reichen Globalisierung, notorische Angst vor spielt da keine Rolle mehr. „Überfremdung“, die hier, Immer noch krankt die fernab der Fußgänger- aktuelle Selbstfindungsde- zonen, Wohnblocks und batte, die sich nicht zufäl- Stammtische, unmissver- lig mit der Diskussion über

ständlich zum Ausdruck DPA Rechtsextremismus, Anti- kommt – daneben ein Multikulti-Umzug in Berlin: Wie viel Wirklichkeit vertragen wir? semitismus und NPD-Ver- merkwürdig verspannter, bot überschneidet, an feh- kleinmütiger Definitions- und Regelungsdrang gerade jener Leit- lender Souveränität, daran, dass hier zu Lande lieber über „deut- Artikler, die sonst gern nach „Deregulierung“ rufen. sche Gepflogenheiten“ (Roland Koch) und die Metaphysik des Die Gretchenfrage, etwas akademisch formuliert, lautet: Wie Sauerbratens schwadroniert wird, als auf die Spaghetti-Teller zu muss ein pluralistisches Gemeinwesen gestaltet sein, um ein Zu- schauen, die längst die Realität bestimmen. sammenleben verschiedener Lebensformen, kultureller Prakti- „Heimat Babylon“ ist der Titel eines klugen Buches von Da- ken und moralischer Vorstellungen zu ermöglichen, ohne dass die niel Cohn-Bendit und Thomas Schmid über das „Wagnis der mul- Gesellschaft in voneinander abgeschottete Subkulturen zerfällt? tikulturellen Demokratie“, in dem die Autoren schon 1992 eine Kurz: Wie viel Wirklichkeit vertragen wir – und wie kompliziert schlichte und zugleich folgenreiche Feststellung treffen, die erst darf sie sein? jetzt, im Trockeneisnebel der Wortschlacht, begriffen zu werden Kein Zufall, dass all die schiefen Metaphern und verunglückten scheint: „Deutschland ist ein Einwanderungsland – und das bringt Sätze, die semantische Unmöglichkeit, „Leitkultur“ sinnvoll zu auch Probleme mit sich.“ definieren, die inneren Widersprüche und Paradoxien der laufen- Das eine gilt nicht ohne das andere. Wer die Realität anerkennt, den Debatte spiegeln, in der zu selten Klartext gesprochen wird. erkennt auch ihre Konflikte an – ohne Verdrängung, Beschönigung oder Dramatisierung. Und er muss sie zu lösen versuchen – auch ange Zeit wurde zu Recht der mangelnde Wirklichkeitssinn der die mit dem islamischen Frauenbild, den Tendenzen zur Ghetto- LLinken beklagt – nun müssen die demokratischen Rechten die bildung, den Problemen in der Schule und auf dem Kiez. Probe aufs Exempel ablegen: Ende der Gespensterdiskussion. Die stärkste Waffe der Integration, so die Autoren, sei der „de- Auf der einen Seite der leidenschaftlich tönende, philologi- mokratische – also der prinzipienfeste und flexible – Umgang mit sche, polemisch-ideologische Streit um Worte, auf der anderen der verwirrenden, manchmal ärgerlichen und manchmal beflü- Seite der nüchterne Hinweis auf Selbstverständlichkeiten: gelnden Vielfalt der multikulturellen Gesellschaft“. Zu dieser „Deutsch sprechen können und sich an die Gesetze halten – was Vielfalt, darauf wies Gustav Seibt in der „Zeit“ hin, gehören aber noch?“, fragt der Publizist Norbert Bolz und antwortet gleich auch jene jüngeren deutschen Literaten, Theatermacher und selbst: „Wer zahlt, wählt, lernt und sich an die Gesetze hält, muss Künstler, die „Humor und Gemüt“ wiederentdeckt und dabei gar nicht mehr integriert werden – er gehört schon dazu. Mehr an „zum ersten Mal seit Generationen ein untragisches, nichtmar- gesellschaftlicher Homogenität gibt es nicht.“ tialisches Verhältnis zur Nation“ entwickelt haben. Abgesehen davon, dass demnach Tausende „völkisch“ einge- Es könnte sein, dass der Streit um die „Leitkultur“, in dem übri- stellte Ostdeutsche, die in Brandenburg und sonst wo ihre „na- gens kaum jemand Goethe, Dürer, Bach oder Humboldt (schon tional befreiten Zonen“ gegen alles Fremde notfalls mit dem gar nicht die jüdisch geprägte „Leitkultur“ im Berlin der Weima- Baseballschläger verteidigen, offiziell als „nicht integriert“ gelten rer Republik) erwähnt hat, den Beginn eines großen ideologischen müssen – worum geht das ganze Bohai, wenn es so einfach wäre? Rückzugsgefechts markiert – auf dem Weg zu einer neuen, Bolz’ eigene Antwort, die er in Eberswalde, Neuruppin und tatsächlich selbstbewussten und weltoffenen deutschen Realität: Dessau wiederholen sollte: „Wir müssen heute lernen, Kultur Hegels gute alte Dialektik. nicht als Identität, sondern als Differenz zu verstehen.“ Wie sagt der Franzose: „Ah, c’est ça, le neue deutsche Wirk- In dieser Formulierung eines Intellektuellen, so zutreffend lischkait.“ sie ist, steckt der ganze Sprengsatz der Debatte. Während, wie Allons enfants, merci Friedrich! ™

344 der spiegel 45/2000 Werbeseite

Werbeseite und Freizeit auf das Angenehmste zu ver- binden, indem er nach Feierabend mit sei- ner Chefin schläft. Ansonsten hängt dieser Vinny (John Leguizamo) am Ende einer Sackgasse mit seiner Clique herum, wirft Tabletten ein und Mädchen gierige Blicke nach, und wenn der Nachwuchs-Macho mit seiner Frau Dionna (Mira Sorvino) durch die Discos zieht, lässt er sie manchmal ein- fach auf der Tanzfläche stehen und schiebt mit ihrer Cousine eine schnelle Nummer im Auto. Aids ist anno ’77 noch unbekannt, zwei Gefahren bleiben: dass seine Frau ihn erwischt – oder der „Son of Sam“. Doch die Bedrohung durch den Killer schweißt das Viertel nicht zusammen, im Gegenteil: Die Nerven liegen blank, die emotionalen Fliehkräfte beginnen zu wirken. Auch Vinnies Freund Ritchie (Adrien Brody) bekommt diesen Wahn zu spüren.

MFA Weil Ritchie beschließt, das Discomode- „Summer of Sam“-Darsteller Leguizamo, Sorvino: Die emotionalen Fliehkräfte wirken Diktat seiner Kumpel zu ignorieren, sich stattdessen mit Stachelfrisur und Nieten- Letztes Jahr wurde Berkowitz, inzwi- halsband schmückt und in einer Punkband KINO schen 46, wieder wütend, und wieder spielt, gilt er als verdächtig: Wer so her- schaffte er es damit auf die Titelseiten. umläuft, glauben sie, der könne auch ein Mein Freund Denn bis ins Hochsicherheitsgefängnis in Mörder sein. Als sie auch noch herausbe- den Catskill Mountains, wo Berkowitz eine kommen, dass Ritchie sein Geld mit Auf- 300-jährige Haftstrafe abzusitzen versucht, tritten in einem Schwulen-Club verdient, Harvey hatte sich herumgesprochen, dass der Re- persönliche Betreuung einiger Gäste auf gisseur Spike Lee einen Kinofilm über den der Toilette inklusive, geraten die Männer Im Sommer 1977 lähmt eine Fall gedreht hatte: „Summer of Sam“, der in Lynch-Stimmung. diese Woche auch in Deutschland startet, Es ist überhaupt die Atmosphäre jenes Hitzewelle New York – und reiße aus purer Geldgier alte Wunden wie- Sommers, die überdrehte Mischung aus Pa- die Furcht vor einem Serienkiller. der auf, wetterte Berkowitz. Im Knast zum ranoia und Amüsierwillen um jeden Preis, Jetzt erinnert Regisseur Spike gläubigen „Son of Christ“ konvertiert, ora- die Lee ebenso meisterhaft wie eitel nach- Lee an diesen „Summer of Sam“. kelte er, Gott wolle nicht, „dass ich auf je- zeichnet. Am Fortgang der Geschichte ver- manden böse werde“. Deshalb werde er liert er im Laufe des Films sichtlich die Lust, r ist vermutlich der einzige Serien- beten: „Für Spike Lee und seine Familie“. und die Hauptfiguren interessieren ihn of- mörder, der nicht nur seine .44er-Ma- Das Gebet wurde offenbar erhört. Mr. fenbar so sehr wie kaputte Klimaanlagen Egnum beherrschte, sondern auch die Lee und Familie sind, soweit bekannt, wohl- (Ausnahme: Mira Sorvino, die Hure mit Zeichensetzung. David Berkowitz schoss auf, und „Summer of Sam“ wurde von den Herz aus Woody Allens „Mighty Aphro- seinen Opfern meist direkt ins Gesicht, doch meisten US-Kritikern verrissen, floppte zu- dite“); stattdessen konzentriert Lee sein wenn er in Briefen an den New Yorker dem an der Kasse. Dabei ist Berkowitz’ blu- ganzes Können auf den grellen Glanz von „Daily News“-Kolumnisten Jimmy Breslin tiger Irrwitz – er glaubte ’77. Damals hatte er in New seine Untaten feierte – unter dem Pseudo- damals, die Todesbefehle York erste Regieerfahrun- nym „Son of Sam“–, zeigte er immerhin für kämen vom Nachbars- gen gesammelt; in „Sum- Sprache ein Gefühl. „Er wusste, wo ein Se- Hund, einem Labrador na- mer of Sam“ kehrt er in mikolon hingehört“, lobte Breslin; das war mens Harvey – nur eine der Rolle eines Fernsehre- allerdings das einzig Erfreuliche, was sich Episode im großen Siebzi- porters an die alten Brenn- über Berkowitz sagen ließ. ger-Jahre-Panorama, das punkte zurück. Denn bis ihn die Polizei im August 1977 Spike Lee entworfen hat. Wie die aufblitzenden endlich schnappte, hatte Berkowitz, ein Lee, 43, seit seiner Lichter einer Discokugel übergewichtiger Postangestellter, nicht nur Großstadt-Moritat „Do the erhellt „Summer of Sam“ sechs Menschen getötet und sieben schwer Right Thing“ (1989) der Facetten der kollektiven Er-

verletzt. Vor allem lähmte die Angst vor wohl wichtigste schwarze AP innerung New Yorks an ein seiner willkürlichen Wut ganze Stadtteile, Regisseur der Welt, betritt Serienmörder Berkowitz (1977) wildes Jahr: Alle schwitzen, mehr noch als die Rekord-Hitze in jenem damit neues Territorium, „Ich bete für Spike Lee“ der Mob plündert, Elvis Sommer. Weil der „Son of Sam“ es auf im wörtlichen Sinn: „Sum- Presley stirbt, Punk wird junge Frauen mit langen dunklen Haaren mer of Sam“ ist der erste Film Lees, der fast populär, das „Saturday Night Fever“ gras- und auf Paare, die nachts in geparkten Au- ausschließlich in einem weißen Viertel siert, die Schickeria tanzt im Studio 54 und tos knutschten, abgesehen hatte, wagten spielt, nämlich der Italo-Gemeinde der New tauscht die Partner im berüchtigten Swin- viele New Yorker ihrer Libido nur noch in Yorker Bronx. „Dead End“, Sackgasse, ger-Club „Plato’s Retreat“. der eigenen Wohnung nachzugeben; eini- heißt es hier überall, auf den Straßenschil- Und immer, wenn die heiteren Hits von ge Frauen trauten sich sogar bloß mit blond dern wie im Leben. Abba den Zuschauer in trügerische Sicher- gefärbten Haaren auf die Straße. Diese Dennoch versucht der junge Vinny – wir heit lullen, tappt der „Son of Sam“ durch Demütigung hat so mancher dem Mörder sind im Land der unbegrenzten Möglich- die Straßen – Harveys Auftrag im Kopf, bis heute nicht verziehen. keiten: ein heterosexueller Friseur –, Beruf den Revolver in der Hand. Martin Wolf

346 der spiegel 45/2000 Werbeseite

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KARRIEREN Ein deutsches Märchen In Frankreich feiert die Fassbinder-Muse Ingrid Caven ein Comeback – als Romanheldin und Sängerin.

atürlich wird Ingrid Ca- leicht und grazil, mit Pirouetten ven das schwarze Kleid und waghalsigen Sprüngen. Sei- Nwieder tragen – jenes ne biografische Annäherung an magische Gewand, das ihr der die Diva ist aufgebaut als Abfol- Couturier Yves Saint Laurent ge von geradezu filmischen Sze- einst in einem Ausbruch schöp- nenbildern, die sich zu einem ferischer Leidenschaft aus ei- deutschen Lebenslauf der Nach- nem Ballen Satin auf den nack- kriegszeit zusammensetzen. ten Leib schneiderte – „wie ein Zugleich führt der Autor ei- Mikrochirurg, der kunstvolle nen makabren Dialog mit ei- Schnitte durch die Haut zieht“, nem Toten: Ohne den 1982 ver- so sah es jedenfalls Cavens Ge- storbenen Regisseur Rainer fährte Jean-Jacques Schuhl. Werner Fassbinder, der Caven In der Robe des Meisters zur Schauspielerin machte und schaffte die Caven ihren gro- von 1970 bis 1972 mit ihr ver- ßen Durchbruch im Pariser Va- heiratet war, würde es Schuhls riété Pigall’s, wo sie mit rau- Roman nicht geben. chiger Stimme und lasziven Neben Fassbinders Leiche Gebärden ein deutsch-franzö- fand man einen Zettel, ausge- sisches Liedprogramm vortrug. rissen aus einem Drehbuch. Mit Das ist mehr als 20 Jahre her, zittriger Schrift hatte Fassbinder und damals feierte man sie als 18 Punkte in Stichworten no- neue Edith Piaf. Doch bald ver- tiert: die (echten und imagi-

gaß das launische Pariser Pu- X / STUDIO / GAMMA ANDERSEN U. nierten) Lebensetappen von blikum die deutsche Diva. In- Autor Schuhl Ingrid Caven, mit der er gern grid Caven, so schien es, gehör- Böser Zauber? gemeinsam dahingeschieden te einer vergangenen Zeit an. wäre. Unter anderem prophe- Jetzt aber ist die „Stimme der achtziger zeite der Sterbende ihr das „Ende mit Jean- Jahre“ gleich doppelt wieder da: als Sänge- Jacques“. Ein letzter Versuch, die Frau, die rin wie als Heldin eines hochgepriesenen ihm entglitten war, zurückzurufen – eifer- biografischen Romans. Ende dieses Monats süchtig über Scheidung und Tod hinaus. wird die Caven, 62, in den Folies-Bergère Schuhl war erschüttert, fühlte sich aber und im Odéon-Theater auftreten, mit Lie- auch herausgefordert. War dieser Nachlass dern ihrer neuen CD „Chambre 1050“ – eine Art böser Zauber? Jedenfalls sah und im schwarzen Kleid. Es könnte der tri- Schuhl darin einen „Stab, den ich über- umphale Schlussakkord ihrer Karriere wer- nehmen wollte“. Er begann, die Caven aus- den. Deren Verlauf lässt sich nun nachlesen zuforschen, versteckte und verdrängte Er- in „Ingrid Caven“, dem Buch ihres Lebens- innerungen hervorzuholen, eine Biografie gefährten Schuhl, das vorige Woche mit zu schreiben, in der alle Fakten stimmen dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde**. und die sich doch liest wie ein Märchen – In Frankreich sorgt diese höchste Ehrung ein deutsches Märchen wohlgemerkt, an- unweigerlich für eine Bestseller-Auflage. gesiedelt in einer Welt, in der die Sehn- Für Schuhl, 59, ist das Werk eine umju- belte Rückkehr aus dem Schatten des Kul- turbetriebs, in dem er ein Vierteljahrhun- dert lang verschwunden war. 1972 hatte er den Roman „Rose Poussière“ veröffentlicht – ein Insider-Tipp, von dem gerade 2500 Exemplare verkauft wurden; vier Jahre spä- ter folgte „Télex no 1“. Danach herrschte Schweigen, Schuhl verbrachte seine Zeit an der Seite Cavens mit Zeitunglesen. Jetzt aber zeigt er wieder, was er kann: Schuhl schreibt wie ein Schlittschuhläufer,

* Im Film „Schatten der Engel“. & SCHEIKOWSKI JAUCH ** Jean-Jacques Schuhl: „Ingrid Caven“. Gallimard Ver- Paar Fassbinder, Caven (1975)* lag, Paris; 300 Seiten; 110 Francs. Eifersüchtig über den Tod hinaus

350 der spiegel 45/2000 sucht wichtigstes Lebensgefühl ist und Ver- derstrebend Rede und Antwort. Doch nun, zückung dicht neben dem Entsetzen liegt. da ihr Leben vor aller Augen ausgebreitet Die Caven, die auf der Bühne laut Schuhl liegt, fühlt sie sich befreit: „Was schmerzlich immer noch „die Kaltblütigkeit eines Tore- oder obszön war, ist mit einmal sehr leicht ro, die Konzentration eines buddhistischen geworden, wie von mir gefallen, als hätte Mönchs und die vitale Phantasie einer Puff- ein Teil meines Lebens nichts mehr mit mir mutter“ besitzt, stand ihm zunächst nur wi- zu tun.“ Romain Leick

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich Bestseller ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (2) Dietrich Schwanitz Bildung und der Feuerkelch Carlsen; 44 Mark Eichborn; 49,80 Mark

2 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter 2 (1) Lance Armstrong Tour des Lebens und der Gefangene von Askaban Lübbe; 36 Mark Carlsen; 30 Mark 3 (6) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben 3 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter DVA; 49,80 Mark und der Stein der Weisen Carlsen; 28 Mark 4 (5) Sebastian Haffner Geschichte 4 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter eines Deutschen DVA; 39,80 Mark und die Kammer des Schreckens 5 (3) Florian Illies Generation Golf Carlsen; 28 Mark Argon; 34 Mark 5 (5) Rosamunde Pilcher Wintersonne 6 (4) Bodo Schäfer Der Weg zur Wunderlich; 49,80 Mark finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 6 (7) Henning Mankell Mittsommermord 7 (–) The Beatles The Beatles Zsolnay; 45 Mark Anthology Ullstein; 128 Mark 7 (6) Charlotte Link Die Rosenzüchterin Blanvalet; 48 Mark

8 (8) Donna Leon In Sachen Wundertüte aus dem Privatarchiv: Die Signora Brunetti Diogenes; 39,90 Mark berühmteste Popgruppe der Welt dokumentiert 9 (10) Zeruya Shalev ihren Weg zum Ruhm Liebesleben 8 (–) Wolfgang Schäuble Berlin; 39,80 Mark Mitten im Leben C. Bertelsmann; 42 Mark 9 (7) Hans J. Massaquoi Bettvergnügen: Eine biedere Ehefrau Neger, Neger, Schornsteinfeger! verfällt der Erotik Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark eines tyrannischen Egozentrikers 10 (10) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 10 (12) Bernhard Schlink Liebesfluchten Diogenes; 39,90 Mark 11 (9) André Kostolany Die Kunst über Geld nachzudenken 11 (9) John Grisham Das Testament Econ; 39,90 Mark Heyne; 46 Mark 12 (8) Pascale Noa Bercovitch 12 (11) Nicholas Sparks Das Schweigen Das Lächeln des Delphins Ullstein; 36 Mark des Glücks Heyne; 36 Mark 13 (11) Ian Kershaw Hitler 1936 – 1945 13 (14) Sándor Márai Die Glut DVA; 88 Mark Piper; 36 Mark 14 (12) Joschka Fischer Mein langer 14 (13) Marianne Fredriksson Lauf zu mir selbst Inge und Mira W. Krüger; 39,80 Mark Kiepenheuer & Witsch; 29,90 Mark 15 (15) Sándor Márai Das Vermächtnis 15 (14) Sigrid Damm der Eszter Piper; 32 Mark Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark

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romantische Gefühl, das früher Liebes- von Amüsierwillen ausgedacht. Statt: „Ge- THEATER sehnsucht hieß. hen Sie in das Gefängnis. Gehen Sie nicht Für den unbändigen Trieb zum Seelen- über Los“, sollte es etwa heißen „Ziehen Feuchte Gefühle glück und das klägliche Scheitern daran Sie die Arschkarte.“ findet der Text manchmal frech-frivole Me- Das Brettspiel hat sie wegen absehbarer Die Autorin Gesine Danckwart taphern. Einer der jungen Männer berich- Erfolglosigkeit verworfen und stattdes- tet gehetzt von einem verpatzten Aben- sen das Stück geschrieben. Doch immer könnte ein Star des deutschen teuer: „Geht dieser Tunfisch aus der Tür noch blitzen gelegentlich Momente auf, Theaters werden. Ihr neuer Coup: und gibt mir noch ihre Telefonnummer, in denen die vier wie Kandidaten in ei- das Stück „Arschkarte“, weil in ihr drinnen ein Gefühl rumfeuchtet, ner hinterhältigen, abgefeimten TV-Show uraufgeführt in Göttingen. von dem sie gleich ihren Freundinnen er- wirken. zählen muss.“ Aber wie alle Danckwart-Texte ist auch anchmal läuft rein gar nichts Entwicklungen machen die vier Zeit- dieses Stück vor allem ein Versuch, Mo- mehr so, wie es soll. Das Leben geist-Ritter von der traurigen Gestalt na- nologe aufzubrechen und gegeneinander Mplätschert dahin, in Bett und Herz türlich keine durch. Sie drehen sich mit zu schneiden. In „Girlsnightout“, Danck- herrscht tote Hose und an der Börse Bais- klingendem Wort-Spiel amüsant auf der warts bisher größtem Erfolg (1999), geht se. Selbst der Plausch mit Kumpeln in der Stelle, so wie dereinst die neckischen Bal- es um drei Frauen, die sich für eine Sau- coolen Bar, neudeutsch „Lounge“, kreist lerinen im Ballettröckchen auf der Spiel- se durchs Nachtleben rüsten, in „Kö- ums leuchtend-leere Nichts. Nur manch- dose im Kreise tanzten. der“ (2000) stranden sechs einsame deut- mal gerinnt der Frust zur Selbsterkennt- Eigentlich, erzählt die sche Großstädter in einer nis: „Arschkarte gezogen“. Autorin, entstand das Stück ungarischen Badeanstalt Vier Zeitgeist-Loser dieser leichten Art aus einer Idee zu einer und entblößen die blanke hat die Berliner Autorin Gesine Danck- Art Gesellschaftsspiel. Eine Seele. wart, 31, für ihr fünftes Stück mit dem spre- neudeutsche Variation von Danckwart, die 1992 in chenden, nicht zu viel versprechenden Ti- „Monopoly“ hatte sich Berlin gemeinsam mit ih- tel „Arschkarte“ erfunden. In der Regie Danckwart in einem Anfall rem Stamm-Regisseur Al von Remsi Al Khalisi, 33, wurde es am ver- Khalisi die Off-Bühne gangenen Donnerstag im Jungen Theater Autorin Danckwart „Theaterdock“ gründete, in Göttingen uraufgeführt. „Chaos neu bündeln“ beschreibt ihre Arbeiten Ein Quartett von jungen selbst als „Trash-Collagen“, Menschen (Agnes Giese, Nad- in denen sie versuche, das ja Petri, Jens Kraßnig und „Chaos neu zu bündeln“. Stefan Rudolf) – modisch im Mit diesem Müll-Bün- Siebziger-Synthetik-Look ge- del ist sie gut im Geschäft.

wandet – stolpert in einen kar- E. SASSE Das Hamburger Thalia gen Raum (Bühne und Kos- Theater plant eine Art tüme: Jessica Westhoven), der Werkschau, und für das Bar, TV-Studio oder Wohn- Dresdner TiF (Theater in der zimmer sein könnte. Vier of- Fabrik) entsteht ein Stück zum fenbar Erfolgreiche, denen Thema Arbeit. der Erfolg nicht reicht. Irgend- Ihr künstlerisches Programm etwas fehlt. ist ebenso klar wie modisch: Sie sprechen im Stakkato der „Keine Psychologie und kei- verletzten Sieger, Gespräche ne Geschichten“. Realismus – führen sie nicht. Wirklichkeits- igitt. und Wahrheitspartikel schwir- Und so setzt sie auch in ren durch ihre Worte, und „Arschkarte“ alles auf das manch ein Fetzen einer vagen schillernde Geflecht aus An- Erinnerung. „Gestern“, sagt deutungen, Verweisen und As- eine der Frauen, „da habt ihr soziations-Schnipseln. Aber ihr doch auch geredet. Da haben Gefühl für Rhythmus, Musika- wir uns doch unterhalten über lität und Poesie von Sprache etwas. Da hatten wir ein The- und Szenen ist so stark, dass ma, Quatsch, verschiedenste der Abend trägt. Und auch ihr Themen.“ Regisseur lässt Schauspielern Und so geht es mit dem und Text die Freiheit, sich zu Potpourri der Phrasen munter entfalten. weiter. Aber immer, und das ist Gerade mal 55 Minuten dau- das große Talent der Autorin, ert die Aufführung. Dann ist schimmert beiläufig unter dem auf der kleinen Bühne unend- kunstvoll angehäuften Sprach- lich viel gesprochen worden schutt eine große, unerhörte und alles gesagt. Sehnsucht durch: Alle vier Gesine Danckwart freilich wollen sie erleben, die „Auf- träumt inzwischen schon von regung meines Herzens und den großen Häusern. Ihre meines Körpers“. Dieses große „Arschkarte“ könnte sich auf dem Weg dahin als Grand mit

* Mit Nadja Petri, Jens Kraßnig, Agnes GELLERT J. Vieren erweisen. Giese, Stefan Rudolf. „Arschkarte“-Inszenierung in Göttingen*: Stakkato der Sieger Joachim Kronsbein

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Werbeseite Kultur M. WITT Prora-Bauten Prolliger Abklatsch mondäner Kurorte

terordnen. Auf jeden Fall wäre die Anlage – das ist noch zu erahnen – eine Ferien- fabrik von irrwitzigen Ausmaßen gewor- den: Sie sollte im Zehn-Tages-Takt je 20000 WILK DESIGN WILK S. ENDERS zwangserholte Gäste ausspucken. Investor Georg, Prora-Sanierungsentwurf: Pseudo-Schick für den Massengeschmack Der KdF-Masterplan sah vor, das Reichs- volk im Kollektiv einzulullen, damit es hernach dankbar arbeiten und kämpfen BAUGESCHICHTE werde. „Prora“, sagt Politologe Reichel, „schärft das Bewusstsein für nur angeblich freundliche und zivile Seiten am Nazi-Re- Surfen vor Hitlers Bettenburg gime, die noch heute verharmlost werden.“ Viele NS-Verheißungen, ob der Volks- Teile des NS-Seebads Prora werden zu Ferienwohnungen. Wagen aus Wolfsburg oder der Urlaub auf Rügen, blieben ohnehin Schall und Rauch. Eine umstrittene Aktion: Die Sanierung der denkmalgeschützten Als Hitler 1939 in Polen einfiel, stand Prora Anlage auf Rügen gilt als nachträgliche Verharmlosung. erst im Rohbau. Nie durften sich seine Untertanen in den KdF-Strandkörben der rora, eine Geisterstadt an Rügens der sich gegen das bequeme Verdrängen Rügener Sonne entgegenstrecken. Ostküste, wirkt sogar bei Sonnen- der NS-Zeit ausspricht, hält Prora für eines Ausgerechnet aus der propagierten Fe- Pschein unheimlich. Die braun ver- der wichtigsten erhaltenen Architektur- rienidylle für jedermann soll mit der an- putzten Häuser der 4,5 Kilometer langen zeugnisse aus der NS-Zeit. Umso fragwür- stehenden Teil-Veredelung doch noch et- Anlage, ihre endlosen, miefigen Flure, von diger, warnt er, wäre eine „schnelle Ver- was werden: Die Investoren wollen ein denen Tausende Zimmer abgehen, haben hübschung“. Stück Prora entkernen, um bis 2002 im- den Charme einer Strafkolonie. Einst soll- Gefordert wird die vorsichtige Instand- merhin 549 Eigentumswohnungen unter- te die Anlage zu einem der größten See- haltung. Denn das Seebad ist, obwohl nie zubringen. Titel der Spekulanten-Träume: bäder der Welt werden – und zum Vorzei- vollendet, gebauter Größenwahn, der als „Euromar – Leben am Meer“. geprojekt der Nazis. Stattdessen wurde sie abschreckendes Mahnmal erhalten bleiben Bei den Euromar-Partnern handelt es eine DDR-Kaserne und für Jahrzehnte ein sollte: Die Stadt aus Stahlbeton, die sich sich um die Immobilienunternehmer Bau- Sperrgebiet. wie ein erstarrter Wurm am Strand ent- consult aus Köln und Wasa aus Hamburg, Dass die denkmalgeschützten Gebäude langzieht, entstand ab 1936 als prolliger an letzterer ist Otto Paulick, Anwalt und verfallen, gilt unter Kennern seit längerem Abklatsch mondäner Kurorte. Ex-Präsident des FC St. Pauli, beteiligt. als Skandal. Doch nun gibt es einen we- Auftraggeber war die NS-Volksverblen- Einst folgte Paulick der Ruf, wenig Sinn sentlich größeren Anlass zur Erregung: Ein dungsorganisation „Kraft durch Freude“ für stimmige Bilanzen zu haben. Teil von Prora soll fürs neue Millennium (KdF). Spaßig wäre die von ihr geleitete Er- In Prora bieten er und seine Partner aufgeputzt werden. Investoren wollen holung freilich nicht geworden. „Urlaub Wohnungen mit Namen wie „Moltke“ zwei der Wohnblöcke (Gesamtlänge: ein nach Trillerpfeife“ nennen Geschichtsex- oder „Big Family“ an. Häufigste Variante: Kilometer) mit Balkonen und viel Glas zu perten das KdF-Prinzip. Zwei Schlafzimmer, zwei Bäder, Abstell- Pseudo-Schick für den Massengeschmack Schon die architektonische Monotonie flächen für Surfbretter und für alle ein Tor, verhelfen. mit ihren immer gleichen Bettenburgen, an dem sich Besucher anmelden müssen. So mancher Experte befürchtet eine Ver- Liegehallen und Treppenhäusern sollte wie Das Konsortium hat sich jedenfalls für fälschung architektonischer Tatsachen. Der eine Gehirnwäsche wirken: Hier, so die mehr als zehn Millionen Mark den Teil von Hamburger Politikprofessor Peter Reichel, Botschaft, muss sich jeder der Masse un- Prora gesichert, für den der Bebauungs-

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Werbeseite Kultur plan Ferienwohnungen zulässt. Und Inves- wurde nichts daraus. Eine Studie riet tion der Unterlegenheit“ ein. Euromar geht tor Paulick rutschte der Satz heraus, dass schließlich zur Integration von Ferienwoh- gern in diese Form der Defensive. sich in „Prora ein Massentourismus ent- nungen und Hotels mit einer Kapazität von So schwärmt Georg lieber vom Steuer- wickeln wird“. Er kennt sich aus, ist er mehreren tausend Betten. Ein Zugeständ- vorteil, den die Wohnungskäufer der denk- doch Aufsichtsrat einer Hotelkette, die im nis an Investoren? malgeschützten Gebäude abschöpfen Nachbarort Binz einen Ferienpark betreibt. Mittlerweile würden die resignierten könnten. Eben dieser Denkmalschutz hält Gerade den Binzern missfiel die Gefahr Behörden wohl jeden Zentimeter einzeln ihn nicht davon ab, das Erscheinungsbild massiver Konkurrenz aus Prora. Darum abgeben. Prora, warnt jedoch Politologe des Baus massiv zu verändern. werben die Investoren jetzt mit Weichspül- Reichel, könne nur dann demonstrieren, Nur wozu gibt es eine Denkmalpfle- Vokabular. Inzwischen hat Paulicks Ge- mit welchem Aufwand die Nazis die Frei- ge, wenn sie bis zur Selbstverleugnung schäftspartner Martin Georg, Chef von zeit der Menschen kontrollierten, wenn es Kompromisse eingeht? Der Job werde Bauconsult, die Rolle des Euromar-Spre- möglichst vollständig erhalten bliebe. nicht leichter, gibt Klaus Wienands zu, chers übernommen. Er sinniert über die Gern, heißt es bei der Oberfinanzdirek- Leiter der Abteilung Praktische Denk- „Faszination Wasser“, sagt dann aber, tion Rostock, hätte man an einen Entwick- malpflege in Vorpommern, wenn viel Prora müsse wieder seiner ursprünglichen ler verkauft, der die gesamte Immobilie sa- Kapital hinter einem Vorhaben stecke. Funktion zugeführt werden. Soll heißen: niert. Doch die „besondere Historie“ habe „Denkmalpfleger“, gesteht er, „fühlen „Natürlich werden die meisten Käufer die Interessenten gerade aus dem Ausland ab- sich nicht immer gut bei ihren Entschei- Wohnungen als Feriendomizil benutzen.“ geschreckt. Wer weiß, was noch ans Licht dungen.“ Deutschland hat nicht nur auf Rügen ein Problem mit baulichen Hinterlassenschaf- ten aus der Nazi-Zeit. Hitler war, typisch Diktator, vom Bauwahn getrieben. In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage, sind etliche NS-Bauten erhalten. Es dau- erte Jahrzehnte, bis das Erbe zum öffent- lichen Thema wurde. Berlin dagegen setzt dem Olympiastadion aus den dreißiger Jah- ren gelassen ein bombastisches Dach auf. „Dazu musste nur“, motzt ein Historiker, „Herr Beckenbauer mit einer Weltmeis-

CH. LINKS VERLAG CH. LINKS terschaft winken.“ Auch auf Rügen, wo sich NS- und DDR-Historie treffen, ist die Situation durchaus heikel. Die Bauten müssen, sollen sie nicht verfallen, genutzt wer- den. Aber ein wirklich schlüs- siges Gesamtkonzept fehlt. Angesiedelt haben sich bis- Prora-Ansicht (1939): Architektonische Zwangshandlung her nur einzelne Mieter – etwa eine Disco und ein Wiener Kaf- Immerhin wende er sich, so Georg, mit kommt? Es ist nicht einmal be- feehaus. Inmitten des gespens- einem Quadratmeterpreis von 3500 Mark kannt, wie viele Zwangsarbeiter tischen Leerstands bieten

an Klienten mit kleinem und mittlerem nach Prora verschleppt wurden, AKG sie kuriose Anlaufpunkte. Im Einkommen – von den 90 Sozialwohnun- um den Bau voranzutreiben. KdF-Plakat „KdF-Museum“ werden neben gen aber, von denen einmal die Rede war, Investor Georg hat da kei- Urlaub vorm Kampf Original-Geschirr auch Film- will er nichts wissen. Und auch wenn er ei- ne Berührungsängste. „Sonst“, aufnahmen gezeigt. Da gibt ei- nen anderen Eindruck erwecken will: Noch sagt er, „müsste ich auch verlangen, dass ne alte Dame zu Protokoll, sie sei während ist der aktuelle Deal nicht rechtsgültig. Der der Bundestag den Reichstag meidet, weil des Krieges in Prora ausgebildet worden Finanzausschuss des Bundestags muss dort das Ermächtigungsgesetz erlassen und erinnere sich noch an die „schöne noch abstimmen, ob die bundeseigene Im- wurde.“ Auch sein Architekt Rudolf Hop- Zeit“. Gegen solche Verklärung kommt mobilie verkauft werden darf. pe geht unbekümmert mit Proras Ge- auch eine eigens gegründete Dokumenta- Dass auf Rügen der Bedarf an Ferien- schichte um. Der KdF-Architekt Clemens tionsstelle in Prora nicht an. wohnungen gedeckt sei, treffe, so der Ge- Klotz habe dort eine „pfiffige“ Architektur Immerhin: Es gibt bereits weitere Inter- schäftsmann, nicht für Standorte in Was- im Bauhausstil entworfen. essenten für andere Ecken von Prora. Zum sernähe zu. In Prora liege der „schönste Wohl kaum. Zwar übernahm Klotz Ele- Beispiel Oliver Erbacher, der in sanierten Strand Deutschlands“ vor der Haustür. Wo mente der Architektur der zwanziger Jah- Schlössern Ponyhöfe betreibt „und mal was sonst, wenn nicht am Meer, fragt Georg, re. Doch er modellierte sie zur NS-Propa- mit Wasser machen will“. Prora sei für ihn könne der Urlauber besser „Kraft tanken“? ganda um. Das kilometerlange Aneinan- nur interessant, wenn er ein Erlebnisbad So ähnlich hatten es auch die „Kraft derreihen uniformer Gebäude wirkt wie bauen dürfe, in dem er „Fun und Action“ durch Freude“-Polemiker formuliert. Statt eine architektonische Zwangshandlung. Im bieten könne. Es wäre wahrlich nicht das der Urlauber kamen aber die Rote Armee Kriegsfall sollte der Mega-Bau zum Laza- erste auf Rügen. Seine Chancen sind trotz- und schließlich die Nationale Volksarmee rett umfunktioniert werden: So viel zu den dem gut, die Leute vom Bundesvermö- der DDR – sie übte dort auch das Spren- zivilen Seiten der Nazis. gensamt haben signalisiert, dass mit den gen: Heute liegen im Norden der Anlage Dennoch: Hoppe findet die Prora- Denkmalschützern zu reden sei. riesige Betonbrocken herum. Erst 1992 Architektur „normal“. Wer behauptet, Und dann wären da noch die Leute von wurde Prora als Militärstandort aufgege- schreibt der Kunsthistoriker Hans-Ernst Euromar, die versprechen, 2003 noch zwei ben. Die Bundesregierung hatte nur eines Mittig, dass sich NS-Architektur nicht von weitere Blöcke kaufen zu wollen. „Natür- im Sinn: die Altlast zu verkaufen. Jahrelang anderer unterscheide, nehme eine „Posi- lich nicht zu jedem Preis.“ Ulrike Knöfel

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Werbeseite FILMVERLAG DER AUTOREN FILMVERLAG „Vergiss Amerika“-Darsteller Harloff, Petri, Knizka: Durch dumme Zufälle und Schicksalsschläge bekommt das Leben plötzlich Konturen

FILM Mach nur einen Plan „Vergiss Amerika“, das eindrucksvolle Kinodebüt der Regisseurin Vanessa Jopp, schildert eine Dreiecks-Liebesgeschichte in der ostdeutschen Provinz – und das Elend des Erwachsenwerdens. ast wortlos, mit ernsten, erschöpften Vielleicht sollte man sich kurz ausma- die-Welt-Typen Benno hat er erst mal kei- Gesichtern wuchten sie den Mann len, mit welchem Bombast die meisten, vor ne Chance. Schon als die drei am nächsten Faus dem Auto, ächzend schleppen keinem melodramatischen Effekt zurück- Morgen an der Badestelle am Fluss her- sie ihn hinauf durchs steile, enge Treppen- schreckenden deutschen Film- und Fern- umplanschen, werden Anna und Benno haus. Und obwohl sie alle wissen, dass das sehregisseure von diesem Unfall und seinen ein Paar. Leben nie wieder so sein wird wie zuvor, Folgen erzählen würden, um zu verstehen, Doch damit ist keineswegs alles ent- scheinen sie sich die allergrößte Mühe zu was die Wucht dieser Szene in Jopps Spiel- schieden. Im Grunde handelt das Kino- geben, jetzt bloß nichts von diesem Wissen film ausmacht: Selbst von großen Kata- debüt der Regisseurin Jopp, 30, genau da- zu zeigen: keine Gefühle, keine Wut und strophen erzählt „Vergiss Amerika“ ohne von: wie das im Ungefähren, Unbestimm- keine Verzweiflung. große Worte und in genauen, sparsamen, ten geführte Leben junger Leute durch Davids Vater ist zurück aus dem Kran- manchmal schmerzlich intimen Bildern. scheinbar schicksalshafte Ereignisse, durch kenhaus. Der Mann ist bei der Arbeit ver- „Vergiss Amerika“ ist eigentlich ein Film bewusste Entscheidungen und dumme Zu- unglückt und wird nie wieder laufen kön- übers Erwachsenwerden – und über eine fälle plötzlich Konturen bekommt – und nen. Der Unfall selbst ist in Va- komplizierte, komische, chao- wie diese Konturen sich wieder verwi- nessa Jopps Spielfilm „Vergiss tische Liebe zu dritt. David schen. Amerika“ nicht zu sehen – dafür Schnell ist (Marek Harloff) und Benno Anna, Benno und David werden erst mal aber die Anstrengung, die es heraus, in wen (Roman Knizka), beide in der auseinander gerissen und halten doch zu- David, seinen Bruder, die Mutter sich das gleichen ostdeutschen Klein- sammen: Anna zieht es nach Berlin, wo und auch den Invaliden selbst Mädchen ver- stadt aufgewachsen, sind Freun- sie sich zur Schauspielerin ausbilden lässt. kostet, den Anschein von Nor- liebt – und de. Die ersten Bilder des Films David muss seinen Zivildienst ableisten malität zu wahren: Das Leben zeigen sie bei einem wunder- und auf der Insel Rügen Vögel beobachten. muss weitergehen, irgendwie. doch ist nichts bar sinnlosen und ziemlich Benno lernt bei der Bundeswehr das Fall- Dann aber ist Davids Vater entschieden pubertären Jungs-Spiel: Sie schirmspringen. in der Toilette zum ersten Mal tauchen nachts in einem alten Im Grunde sehnen sich alle drei nach allein seit seiner Rückkehr aus dem Kran- Brunnen nach Münzen. Und werden da- dem Ausbruch aus der Kleinstadt, nach kenhaus. Und plötzlich bricht ein furcht- bei von Anna (Franziska Petri) überrascht, dem Aufbruch in eine größere, verlocken- bares Schluchzen aus dem stämmigen, die hübsch und blond ist und neu in der de Welt. Nur lässt die Provinz sie nicht los: immer noch kraftstrotzenden, aber nun Stadt. Als sein Vater verunglückt, muss David, fast vollkommen hilflosen Mann heraus. Es dauert nicht lange, bis heraus ist, in der eigentlich (ebenfalls in der Hauptstadt) Es dauert nur ein paar Sekunden, dann wen sich Anna verliebt. Der schmale, lei- Fotograf werden wollte, zurück zu seiner hat er sich wieder im Griff – weil er kei- se David ist ein Träumer, der immer ein Familie. Benno fällt nichts Besseres ein, als ne Wahl hat und weil er das selbst auch bisschen verloren in die Welt schaut, und einen Autohandel mit amerikanischen weiß. gegen den lauten, lebhaften Was-kostet- Straßenkreuzern zu eröffnen, und lässt sich

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mit zwielichtigen polnischen Geschäfts- leuten ein. Und auch Anna hat den Schau- spieler-Frust in Berlin bald satt und ver- bringt die meisten Tage in Bennos Auto- „Wie sind die Leute im Osten?“ Klitsche. Jopps Film handelt also vom Schei- Die Regisseurin Vanessa Jopp über ihren tern toller Pläne und Visionen, von Kind- Debütfilm „Vergiss Amerika“, die Angst vorm Scheitern heits-Abschied und Erwachsenen-Elend – und Skinheads am Drehort und interessiert sich doch weniger für das Allgemeine dieses Dramas als für die Men- SPIEGEL: Wie war es, im Osten zu dre- schen, denen es wiederfährt. „Vergiss Ame- hen? rika“ ist auch das, was man einen Schau- Jopp: Gemischt. Wir sind auf ganz herz- spielerfilm nennt. liche und offene Menschen gestoßen, Die melancholische Beharrlichkeit in aber auch auf solche, die uns die Tür Marek Harloffs Gesicht, wenn er um die vor der Nase zugeknallt haben. Ich Liebe des Mädchens kämpft, das eigent- weiß nicht, ob das wegen des Drehs ge- lich dem anderen gehört; die Aufschnei- schah oder weil wir Wessis waren. So dergesten von Roman Knizka, die nur ein Filmteam ist ja anstrengend. Das notdürftig die Unsicherheit dieses Kerls kommt morgens um vier Uhr in eine übertünchen; und die trotzige Sanftmut Bar, alle sind ganz aufgekratzt und wol- von Franziska Petri – erst sie machen die len noch Bier trinken. Ich glaube, die atmosphärische Kraft dieses Films aus. Crew des Hotels, in dem wir zehn Wo- Schon gut, nebenbei spielt „Vergiss chen gewohnt haben, war heilfroh, als Amerika“ in der ehemaligen DDR. Natür-

A. POLING / FOTEX A. POLING wir endlich abreisten. lich wird es wieder ein paar Schlaumeier Filmemacherin Jopp SPIEGEL: Der Film erzählt unter ande- geben, die lautstark fragen, was die west- „Mein Gott, aus mir wird nichts mehr“ rem vom Abdriften ins rechte Milieu. deutsche Regisseurin Jopp denn vom Sind Sie während der Dreharbei- Kleinstadtleben dort verstehe – was von SPIEGEL: Frau Jopp, in „Vergiss Ameri- ten rechtsextremen Jugendlichen be- fern an die absurde Debatte im „Literari- ka“ träumen die Hauptfiguren Anna, gegnet? schen Quartett“ erinnert, wo der West- Benno und David davon, Schauspiele- Jopp: In einer Tankstellen-Szene spiel- Autor Michael Kumpfmüller unlängst dafür rin, Autoverkäufer und Fotograf zu ten Skinheads mit, leider ist sie aus dem kritisiert wurde, dass sein Roman „Ham- werden. Aber sie alle scheitern. Kennen Film geschnitten worden. pels Fluchten“ teilweise in einem deut- Sie das Gefühl? SPIEGEL: Waren das echte Skins? schen Osten spiele, den er so genau gar Jopp: Das ist mir sogar sehr vertraut. Jopp: Ja, einer war echt, aber das wuss- nicht kennen könne. „Vergiss Amerika“ ist ja mein Ab- te ich vorher nicht. Auf jeden Fall ka- Jopp, die an der Münchner Filmhoch- schlussfilm an der Filmhochschule. Da- men dann ein Dutzend Skinheads zur schule studierte und nebenbei auch in den vor habe ich drei volle Jahre versucht, Tankstelle. Sie haben ge- Filme zu drehen, die aber nicht finan- droht, hundert Kumpel ziert wurden. Da dachte ich zwi- anzurufen und uns in den schendurch wirklich, mein Gott, aus Arsch zu treten, weil der mir wird nichts mehr. Film ihnen angeblich ein SPIEGEL: „Vergiss Amerika“ kommt jetzt schlechtes Image auf- in die Kinos. Sind Sie nun eine richti- drücken wollte. Ihre Kri- ge Regisseurin? tik haben sie aber nicht Jopp: Irgendwie ja. Wenn mich jetzt näher begründet, wohl jemand fragt, was ich von Beruf bin, weil sie betrunken waren. traue ich mich zu sagen: Regisseurin. Wir haben dann die Poli- Am Anfang der Dreharbeiten habe ich zei gerufen. Sobald die das nicht gewagt. Inzwischen aber dre- auftauchte, waren die he ich meinen zweiten Film und merke: Skins verschwunden. Nach dem Debüt hat man nicht plötz- SPIEGEL: Rechtsextremis-

lich die Gewissheit, alles zu können, mus, Arbeitslosigkeit – DER AUTOREN FILMVERLAG aber wenigstens ein paar Erfahrungen, das Leben der Jugend- Szene aus „Vergiss Amerika“: Glück und Fluch der Provinz auf die man zurückgreifen kann. lichen in „Vergiss Ameri- SPIEGEL: Warum haben Sie sich als ka“ erscheint sehr düster. Wird Ihr USA erste Erfahrungen im Film- und Westlerin einen Ost-Stoff ausgesucht? nächster Film fröhlicher? Schauspielermetier gesammelt hat, inter- Jopp: Meine Drehbuchautorin Maggie Jopp: Ich finde gar nicht, dass das Leben essiert sich ohnehin vor allem für die sprö- Peren und ich hatten uns schon seit län- im Film so traurig wirkt. Aber prinzi- de Schönheit der Landschaft zwischen gerem dafür interessiert, wie die Leute piell glaube ich, dass ich von Erfolg, Halle und der polnischen Grenze. Und im Osten eigentlich sind. Bei einer Rei- Glück und Hoffnung nur dann erzählen sie zeigt in ihrem Film, was jeder Film, je- se durch die neuen Bundesländer bin kann, wenn ich auch vom Scheitern er- des Buch (im besten Fall) schafft: eine ich dann auf ganz irre Landschaften ge- zähle. Ich mag Filme, in denen es um eigene Welt. stoßen – und auf ein anderes Gefühl Freundschaft und Liebe, Ängste und In diesem Fall ist es eine Welt voller von Deutschland. Für mich als west- Wünsche geht. Schließlich ist das der Katastrophen, mal großen, mal kleinen, deutsche Filmemacherin ist dieses Ge- Stoff, aus dem Menschen sind. und voll vergeigter Hoffnungen – und in fühl sehr spannend und neu. Interview: Christine Koischwitz dieser schönen, traurigen Welt sagt ein Schluchzer manchmal mehr als tausend Worte. Wolfgang Höbel

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Puente mitgenommen: „Das war das erste Mal, das ich die traditionelle Musik meiner Heimat bewusst hör- te. Ich war begeistert.“ Enrique, in seiner Familie „Kiki“ genannt, wollte schon früh selbst auf einer Bühne stehen und bewun- dert werden. Seine Karriere hatte mit Werbespots für Limonade und Zahnpasta begonnen, im Alter von elf Jahren bewarb er sich bei der populären Latin-Boygroup Menudo – und wurde abgewiesen. Er sei zu klein, hieß es. Aber Enrique gab nicht auf, be- warb sich immer wieder aufs Neue. Nach seinem zweiten erfolglosen Versuch riet ihm der Manager, einen Basketball zu kaufen. „Er meinte, ich würde damit schneller wachsen“, erzählt Martin. Beim dritten Anlauf zeigte sich das Menudo-Manage- ment beeindruckt von so viel Hart- näckigkeit und engagierte ihn. Damals, so Martin, erschien ihm das Popgeschäft als „ein großes, irr-

ALL-ACTION / INTER-TOPICS ALL-ACTION witziges Spiel – ich war scharf auf Latino-Star Martin: „Ich war scharf auf Geld, Ruhm und Mädchen“ Geld, Ruhm und Mädchen“. Fünf Jahre dauerte der Menudo-Rummel, Appeal zur Symbolfigur des Latin-Booms dann war Martin zu alt und verließ die POP im Musikgeschäft zu werden. Stars wie Band. Er trieb sich in New York herum, ge- Madonna baten ihn zum Duett, der Brite noss – nach dem streng reglementierten Sieger im George Michael besang in einem Lied Mar- Boygroup-Leben – die neue Freiheit. tins schöne Augen, und die jordanische Nach seinem spanischsprachigen Solo- Königin Rania bat darum, bei einem Gala- Debütalbum spielte er in der erfolgreichen großen Spiel diner neben dem Sänger sitzen zu dürfen. TV-Serie „General Hospital“ mit und be- In dieser Woche kommt nun Martins kam ein Engagement im Broadway-Musi- Mit Hits wie „Livin’ la Vida Loca“ jüngstes Album „Sound Loaded“ (Colum- cal „Les Misérables“. Seinen Durchbruch bia/Sony) heraus, abermals eine Sammlung zum Weltstar schaffte er allerdings als Pop- brachte es der Puertoricaner Ricky von sommerleichten Melodien, der in der musiker. Martins erstes englischsprachiges Martin zu Weltruhm – und wird Musikindustrie ein Millionenerfolg pro- Album verkaufte sich weltweit rund 15 Mil- nun nicht bloß als Sänger, sondern gnostiziert wird. Denn Latin-Pop, ein Mix lionen Mal, sein Auftritt bei der Verleihung auch als Sexsymbol gefeiert. aus lateinamerikanischer Folklore, eu- der „Grammy“-Musikpreise geriet 1999 ropäischen Pop-Melodien und US-Rock, ist zum umjubelten Triumph. hythmische Beckenbewegungen, in den Hitparaden nach wie vor erfolgreich: Seit Martin ein Superstar ist, beschäfti- glaubt Enrique José Martin Morales, Rock-Veteran Carlos Santana verdankt der gen sich Boulevardblätter ausgiebig mit der Rsind mitunter ein Akt gesellschafts- Latin-Mode eine zweite Karriereblüte, und Frage, ob er nun schwul oder hetero sei; politischer Aufklärung. „Wir Lateinameri- auch die Schauspielerin Jennifer Lopez fei- auch wird er mitunter von Paparazzi gejagt: kaner müssen uns seit Jahrzehnten mit Vor- ert als Sängerin Triumphe. „Vor ein paar Monaten war ich mit dem urteilen und Klischees herumschlagen, die Für Martin, der nicht bloß von weibli- Fahrrad unterwegs und wurde fast von ei- lange überholt sind“, klagt der Mann, der chen Fans, sondern auch von vielen Homo- nem der Typen totgefahren“, klagt er. An- unter dem Namen Ricky Martin Millionen sexuellen als Idol verehrt wird, ist Latin-Pop sonsten scheinen ihn Spekulationen über von Pop-Fans begeistert. „Viele Menschen allerdings keineswegs bloß eine Mode. „Es seine Sex-Vorlieben zu amüsieren. „Der glauben, dass in einem Land wie Puerto geht um eine Lebenshaltung. Latin-Pop ist Popstar Ricky Martin“, sagt Martin, „ist Rico bis heute alle Kinder auf Eseln reiten vor allem Wohlfühlmusik, sinnlich und lei- nur eine Projektionsfläche für die Phanta- und alle Männer Messer in den Stiefeln tra- denschaftlich“, schwärmt Martin, „sie be- sie der Fans. Solange mir niemand zu nahe gen. Damit muss endlich Schluss sein.“ rührt alle sozialen Klassen und alle Gene- kommt, ist das völlig in Ordnung.“ Martin, 28, ist selbst in Puerto Rico auf- rationen gleichermaßen.“ Anfang des Jahres empfing US-Präsident gewachsen, und er hält es für seine Mis- In seiner Jugend, so berichtet der Sän- Bill Clinton den engagierten Sänger im sion, „der Welt zu zeigen, wie modern und ger, sei der Musikgeschmack junger Puer- Weißen Haus. Martin nutzte die Gelegen- reich unsere Kultur ist“. Bei dieser Über- toricaner am sozialen Status orientiert ge- heit prompt zum Polit-Talk. „In meiner zeugungsarbeit ist der Pop-Botschafter wesen: „Wer wohlhabend und gebildet er- Heimat halten amerikanische Streitkräfte höchst erfolgreich – auch dank seines ero- scheinen wollte, hörte amerikanischen Militärübungen ab“, berichtet er, „dabei tischen Beckenschwungs, den Kritiker so- Rock, Salsa galt als Musik der Armen.“ kommen immer wieder Zivilisten zu Tode. gar mit den Bewegungen von Elvis, seiner- Martin, Sohn eines Psychologen und ei- Ein untragbarer Zustand.“ Clintons Mitar- zeit „the pelvis“ genannt, vergleichen. ner Buchhalterin, schwärmte für die Musik beiter nahmen sich der Sache an. Rhyth- In den vergangenen Jahren hat es Ricky von David Bowie und Boston. Eines Tages mische Beckenbewegungen, so scheint es, Martin geschafft, mit Welthits wie „Maria“ aber habe seine Mutter ihn zu einem Kon- bringen mitunter selbst die große Politik in und „Livin’ la Vida Loca“ und seinem Sex- zert der Latin-Stars Celia Cruz und Tito Schwung. Jörg Böckem

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Redaktion: Karen Andresen, Stephan Burg- 3509343, Fax 3509341 Deutschland, Österreich, Schweiz: dorff, Dr. Hans Michael Kloth, Julia Koch, Bernd Kühnl, Joachim Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Mohr, Hans-Ulrich Stoldt, Klaus Wiegrefe. Autoren, Reporter: REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND E-Mail: [email protected] Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, Ulrich Deupmann, Hans- BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, übriges Ausland: Joachim Noack, Hartmut Palmer; Berliner Büro Leitung: Jürgen Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 New York Times Syndication Sales, Paris Leinemann, Hajo Schumacher (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 Susanne Fischer, Martina Hildebrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. 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Elias, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y Christian Malzahn, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 E-Mail: [email protected] Zuber. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt PARIS Dr. Romain Leick, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) Erich Wiedemann 42561211, Fax 42561972 Frankfurt am Main WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Stampf (stellv.). Redaktion: Philip Bethge, Jörg Blech, Manfred Dwor- 2-2-92, Peking 100600, Tel. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fens- Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Steh- ky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, mann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm PLZ, Ort Andreas Salomon-Prym, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst Tappe, Dr.Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Hans-Jürgen Vogt, PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schu- Ich möchte wie folgt bezahlen: Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wil- mann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland kens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt ❑ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung TITELBILD Stefan Kiefer; Thomas Bonnie, Iris Kuhlmann, Monika Zucht BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles ❑ Ermächtigung zum Bankeinzug REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND 1 INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Kirsten Wiedner, Peter Zobel von /4-jährlich DM 65,– BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, KOORDINATION Katrin Klocke Kultur und Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 LESER-SERVICE Catherine Stockinger BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Bankleitzahl Konto-Nr. 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Geldinstitut DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 54 vom 1. Januar 2000 Tel. 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368 der spiegel 45/2000 Chronik 28. Oktober bis 3. November SPIEGEL TV

SAMSTAG, 28. 10. EXPO-ENDE Nach 153 Tagen schließt in MONTAG Hannover die Expo 2000. Die erste Welt- 23.15 – 23.45 UHR SAT.1 KANZLER-REISE Gerhard Schröder tritt ausstellung auf deutschem Boden zog SPIEGEL TV REPORTAGE trotz Nahostkrise eine fünftägige Reise 18 Millionen Besucher an – ursprüngliche nach Ägypten, Syrien, Libanon, Jor- Schätzung: 40 Millionen. 58 Stunden Qual nonstop – danien, Israel und in die autonomen Pa- Weltmeisterschaft der Dreifach-Triathleten lästinensergebiete an. FLUGZEUG-ABSTURZ Beim ersten tödlichen 11,4 km Schwimmen, 540 km Radfah- Absturz einer Singapore-Airlines-Maschi- ren und 126,6 km Laufen. Schlafentzug HERBSTSTÜRME Die schwersten Stürme ne sterben 81 von 179 Insassen. Der Pilot und Ernährungsdefizite erzeugen Hallu- seit 1987 fordern am Wochenende in hatte irrtümlich eine gesperrte Startbahn Großbritannien fünf Tote. In Nordfrank- benutzt und beim Abheben zwei Bau- reich sterben drei Menschen, Deutsch- fahrzeuge gerammt. land bleibt weitgehend verschont.

EHRUNG Der Schriftsteller Volker Braun MITTWOCH, 1. 11. erhält den Georg-Büchner-Preis, die höchste deutsche Literatur-Auszeichnung. POKAL-PLEITE Der deutsche Fußball-Re- kordmeister Bayern München scheitert in SONNTAG, 29. 10. der zweiten Runde des DFB-Pokals sen- sationell am Viertligisten 1. FC Magde- KOSOVO Die Partei des gemäßigten Alba- burg. nerführers Ibrahim Rugova siegt bei den von der OSZE organisierten ersten Kom- DONNERSTAG, 2. 11. munalwahlen nach dem Krieg. SPIEGEL TV NAHOST Ein Bombenattentat des Islami- WM-Zieleinlauf im Ostseebad Lensahl MONTAG, 30. 10. schen Dschihad in Jerusalem überschattet den Beginn des gerade ausgehandelten zinationen, Euphorien, Ohnmacht und ETA-ANSCHLAG In Madrid tötet eine Auto- Waffenstillstands. Eines von zwei Todes- bombe baskischer Separatisten einen Schmerzen. Nur wenige Extrem-Sportler opfern ist die Tochter des Führers der sind trainiert genug, die Qualen dreier Richter des Obersten Gerichtshofs, sei- Nationalreligiösen Partei, Jizchak Levy. nen Leibwächter und seinen Chauffeur. Tage und zweier Nächte zu überstehen. Über 60 Menschen werden verletzt. RAUMFAHRT Ein amerikanischer und zwei russische Astronauten beziehen die in- DONNERSTAG LEICHEN-BERGUNG Aus der neunten Sekti- 22.05 – 23.00 UHR VOX on des in der Barentssee gesunkenen rus- ternationale Raumstation ISS. Sie sollen sischen Atom-U-Boots „Kursk“ werden knapp vier Monate im All bleiben. SPIEGEL TV EXTRA acht weitere tote Seeleute geborgen. SCHACH Der Russe Wladimir Kramnik Zwischen Himmel und Erde – entthront Weltmeister Garri Kasparow, Helikopter-Schwertransporte in den Alpen DIENSTAG, 31. 10. der den Titel 15 Jahre getragen hatte. Vorbei an Hochspannungsmasten und Felswänden lenken die Hubschrauber- TANKER-UNGLÜCK Vor der Normandie sinkt der Chemikalientanker „Ievoli Sun“ mit FREITAG, 3. 11. piloten tonnenschwere Stahlträger. Ihre mehreren tausend Tonnen Gift an Bord. Feinde: Elektroleitungen, dichter Nebel TRIEBTÄTER Der brandenburgische Sozial- und starke Windböen. FUSSBALL-AKTIEN Der erste Börsengang staatssekretär Herwig Schirmer tritt eines Bundesligisten beginnt als Flop. zurück, nachdem der zum sechsten Mal SAMSTAG Die Aktie von Borussia Dortmund sackt entwichene Sexualverbrecher Frank 22.00 – 0.05 UHR VOX am ersten Handelstag deutlich unter Schmökel auf der Flucht einen neuen den Ausgabekurs von elf Euro. Mord begangen hat. SPIEGEL TV SPECIAL Die Wache – Vor Taiwan schlagen Wel- Polizeirevier Hamburg-St. Georg len über dem panamai- Mehrere Wochen lang wurde die schwie- schen Frachter „Manila rige Arbeit von 270 Schutzpolizisten, Spirit“ zusammen, der kurz Zivilfahndern und Milieuaufklärern des darauf im Taifun sinkt. Kommissariats 11 am Hamburger Stein- damm beobachtet. SPIEGEL TV durfte Einsätze begleiten, an Verhören teilneh- men und im Zellentrakt der Wache drehen.

SONNTAG 22.15 – 23.05 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Absolut gesellschaftsfähig – woher kommt die neue Lust am Klatsch? Kampf um den Kiez – wie Rockerbanden das Rotlichtmilieu erobern; die Trutzburg der Eiferer – Reportage über israelische Sied- ler in Hebron. REUTERS

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gestorben ihre Nachkriegs-Karriere auf Italien und Spanien, doch in Fellinis „Vitelloni“ präg- Josef Felder, 100. Der gelernte Schriftset- te die einst von Hollywood Umworbene zer gehörte zu jenen legendären 94 Reichs- sich wenigstens einmal weltweit ein. Ihren tagsabgeordneten der SPD, die am 23. größten Triumph aber hatte sie mit 17 als März 1933 mit ihren Gegenstimmen zu Hit- „Madla aus der Ziegelei“ (1932). Noch Jah- lers Ermächtigungsgesetz ein letztes, heroi- re später war das jüdisch-tschechische Ehe- sches Zeichen gegen die anbrechende Dik- paar Körbel davon so beeindruckt, dass tatur setzten. Ein politisches Urerlebnis es sein Baby „Madlenka“ nannte: Die hatte Felder bei Kriegs- heutige US-Außenministerin Madeleine ende 1918, als er den Albright trägt den Filmnamen der späteren Sozialisten Kurt Eisner Goebbels-Geliebten. Lída Baarová starb als Redner auf der am 27. Oktober in Salzburg. Münchner Theresien- wiese miterlebte. Nach Sir Steven Runciman, 97. Seine Rollen im Eisners Ermordung Leben fielen dem britischen Historiker wie 1919 gründete Felder von selber zu: Als Sohn eines reichen Vis- eine Ortsgruppe der count in Eton und Cambridge erzogen,

Unabhängigen Sozial- M. WEBER W. wandte er sich aus Neigung zur Vielfalt der demokratischen Partei Kunst und Geschichte von Byzanz zu; als Deutschlands (USPD), schloss sich aber Kulturdiplomat, der neben dem akade- 1922 der Mehrheits-SPD an. Als Partei- misch Üblichen auch Bulgarisch, Russisch redner und Redakteur der Augsburger und Türkisch beherrschte, knüpfte er auf „Schwäbischen Volkszeitung“ griff der vielen Reisen Verbindungen bis nach Sy- Mittzwanziger, dessen Volksschullehrer in rien und weiter. Der lange, schlanke Jung- Mindelheim der spätere Gründer des anti- geselle war „Großer Redner“ der grie- semitischen Wochenblatts „Der Stürmer“ chisch-orthodoxen Kirche und tanzender Julius Streicher gewesen war, wortgewandt Derwisch ehrenhalber; die Nazis an. Nach dem SPD-Verbot floh pointensicher konnte Felder ins Ausland, kehrte im Mai 1934 er von Begegnungen aber aus Furcht vor Repressalien gegen sei- mit Lawrence von ne Familie zurück. Die Nazis steckten den Arabien oder Ludwig Lungenkranken für zwei Jahre in das KZ Prinz von Hessen er- Dachau. Nach dem Krieg war der Sozial- zählen. Immer aber demokrat für einige Jahre Chefredakteur blieb der Privatgelehr- des „Vorwärts“ und von 1957 bis 1969 Mit- te, unter dessen vielen

glied des Bundestags. Josef Felder starb M. MACLEOD Büchern die bis heu- am 28. Oktober in München. te unübertroffene Ge- schichte der Kreuzzüge herausragt, ein ele- Lída Baarová, 86. Als Hitlers Filmzar gant-ironischer Gentleman, dem sprachli- machte Propagandaminister Joseph Goeb- cher Schliff über alles ging: „Klio, die Muse bels sich manches Sternchen gefügig, doch der Geschichte, war ja auch schrecklich sein Verhältnis zu dem tschechischen Ufa- snobistisch.“ Sir Steven Runciman starb Star („Barcarole“) war eine Passion, die am 1. November in Radway. nur ein Führerbefehl beenden konnte: Das Drehverbot trieb die Diva 1938 nach Prag Steve Allen, 78. Der Erfinder der Late zurück. Dort wurde die Baarová 1945 als Night Show war ein Multitalent. Nicht nur Nazi-Kollaborateurin anderthalb Jahre ins schuf Allen 1953 mit seiner TV-Sendung berüchtigte Pankrác-Gefängnis gesperrt. „Tonight“, in der er mit Prominenten plau- Zwar beschränkte das Goebbels-Stigma derte und das Tagesgeschehen scharfzün- gig kommentierte, ein neues Fernsehfor- mat, das weltweit die Programme erober- te; außerdem komponierte er rund 8500 Songs und spielte in diversen Filmen – so 1955 die Hauptrolle in der „Benny Good- man Story“. Auch der Typus der Unter- haltungssendung, in der Leute hereinge- legt werden, in Deutschland als „Versteckte Kamera“ bekannt, geht auf den begna- deten Entertainer zurück. Er begeisterte sein Publikum als verkleideter Polizist in New York. Er stoppte – heimlich gefilmt – ein Taxi, schmiss eine Salami auf den Rück- sitz und befahl dem verdutzten Fahrer: „Bringen Sie die zur Grand Central Sta- tion!“ Steve Allen starb am 30. Oktober

THOMAS&THOMAS in Los Angeles. Werbeseite

Werbeseite Personalien

Daryl Hannah, 39, langbeiniger Valéry Giscard d’Estaing, 74, Hollywood-Star („Splash“, „The früherer Staatspräsident in Real Blonde“), hat bei ihrem Frankreich, machte seinem Ruf schauspielerischen Ausflug in alle Ehre, einer der schärfsten das Londoner West End mit politischen Analytiker der Re- Widrigkeiten zu kämpfen. Dort, publik zu sein – mit gelegentli- auf der Bühne des Queen’s chem Hang zum Skurrilen. In Theatre, spielt sie die Hauptrol- seinem jetzt erscheinenden le in dem Stück „Das verflixte Buch-Neuling „Les Français“ se- siebte Jahr“. Schmerzlich ist da- ziert Giscard d’Estaing zunächst bei für die Dame das noch im- messerscharf den „politischen mer geltende tierische Qua- Niedergang“ Frankreichs. Dann rantäne-Gesetz der Engländer. folgt die detaillierte Schilderung Weshalb sie schon mal von tiefer einer Bistro-Begegnung mit ei- Sehnsucht getrieben nach Los nem Engländer in Paris, der ihm Angeles fliegt, nur um ihren klei- so ähnelt, dass eine Passantin er- nen Zoo zu besuchen, acht Hun- staunt ausruft: „Wie merkwür- de, vier Pferde, zwei Vögel und dig, der hat ja den Kopf von Gis- eine Katze. In der übrigen Zeit card.“ Aufklärung bahnt sich an, behilft sie sich mit den Bildern als sein Bier trinkender Gast auf einer Videokamera, die sie vor eine Autogrammbitte hin einen ihrer Menagerie aufgebaut hat Gänsekiel zückt und den in Er- und die nun unentwegt per mangelung von Tinte in Giscards Internet Bilder ihrer Lieblinge Kaffee tunkt. Der Brite ist ein nach London schickt. Schlimmer kongeniales Phantom: Edmund noch als der Trennungsschmerz Burke (1729 bis 1797), Politiker, wütet aber, so scheint es, ihre Essayist und Feind der Französi- Angst vor Öffentlichkeit. Wann schen Revolution, ist aus dem immer die als scheu bekannte Jenseits zurückgekehrt, um den Schauspielerin ins Zentrum der Polit-Literaten zu beauftragen, Aufmerksamkeit rückt, „verhal- die „andere, die wahre“ Ge- te ich mich wie ein Reh im schichte Frankreichs zu schrei- Scheinwerferlicht. Ich erstarre. ben, eben „Les Français“. Ein Ich werde katatonisch. Ich kann prominenter Buchkritiker sieht nicht mehr denken. Ich kann die Bistro-Begegnung der drit- mich nicht bewegen, ich kann ten Art nüchtern: „Giscard ist nichts hören, nichts sehen.“ Bei endgültig übergeschnappt.“ dieser Selbstanalyse wundert

dann doch, dass die Rezensionen CINETEXT (u.) PRESS (o.); BULLS Tony Blair, 47, britischer Pre- zu ihrem Auftritt im Londoner Hannah in „Das verflixte siebte Jahr“, in „Splash“ (1984) mierminister und Hobbygitar- West End so richtig übel nicht rist, war, bevor er sich der Poli- waren. Immerhin spielte in Billy Wilders chen Eucharistischen Konzelebration“ des tik zuwandte, eine Zeit lang Manager von Filmversion vom „Verflixten siebten Jahr“ päpstlichen Oberkulturbeauftragten, Kar- Rockbands. Dieser Tätigkeit verdankte der Marilyn Monroe 1955 die Hauptrolle. dinal Paul Poupard, am 29. November in damalige Student auch der Basilika San Paolo Fuori le Mura, seinen Spitznamen: Wolfgang Schrempp, 51, Italien-Präsi- spendiert der von Schrempps großem Bru- „Mr. Ten Per Cent“, dent des deutsch-amerikanischen Daim- der geführte Autogigant das Rahmenpro- weil er nach den Auf- lerChrysler-Konzerns in Rom, öffnet der gramm: Die Dresdner Staatskapelle unter tritten seiner Gruppen Wirtschaft himmlische Pforten: Erstmals Giuseppe Sinopoli spielt das Mozart-Re- stets zehn Prozent der darf ein Automulti in Rom einen Gottes- quiem. Im Gegenzug darf der Finanzier Gagen einbehielt. Doch dienst finanzieren. Damit zieht das bislang dezente Werbung für seine Firma machen, scheint Blair unter Ma- eher auf profane Sport-, Gesangs- oder deren Spitzenprodukt traditionell mit ei- nagement mehr ein

Tanzdarbietungen orientierte „Sponso- nem Stern verziert, mithin schon immer Nehmen als ein Geben AP ring“ nun in das Sakrale ein. Zur „Feierli- himmelwärts orientiert war. verstanden zu haben. Blair

Kim Jong Il, 58, Staatschef von Nordkorea, befindet sich auf der Höhe der Zeit. Als die amerikanische Außen- ministerin Madeleine Albright, 63, dem Führer des ge- legentlich als „Schurkenstaat“ gebrandmarkten Landes ihre Aufwartung machte, lockte sie mit dem Angebot, er könne sie „jederzeit telefonisch erreichen“ („Pick up the phone any time“). Der bislang bis zur geistigen Rück- ständigkeit als verschlossen geltende Chef der stali- nistischen Diktatur erwiderte indes sehr internett: „Ge- ben Sie mir bitte Ihre

AFP / DPA Albright, Kim Jong Il E-Mail-Adresse.“ Theo Sloot von der Gruppe „Jaded“ erin- Gerhard Schröder, 56, Bundeskanzler, tat nert sich: „Tony war kein guter Manager. auf seiner Nahostreise einen Missgriff. Er war nie bei Proben dabei, und nie ka- Beim feierlichen Besuch der Holocaust- men von ihm musikalische Anregungen. Erinnerungsstätte Jad Waschem in Jerusa- Er kam immer erst am Ende eines Gigs mit lem sollte Schröder die Ewige Flamme, die seinem schwarz gestreiften weißen Blazer, lächelte viel und sagte: ,Gut gemacht Jungs‘, und holte sich sei- nen Gagenanteil.“

Bill Clinton, 54, US-Präsident, po- sierte für die Dezember-Ausgabe der amerikanischen Herren-Zeit- schrift „Esquire“. Der scheidende Staatsmann, dem eine kräftige Prise Spottlust zu eigen ist, sitzt auf einem Drehstuhl, die Beine weit geöffnet, die fast riesenhaften Pranken liegen locker auf den Knien, die hellblaue Krawatte zielt pfeilartig direkt in den Schritt – ein Bild, überstrahlt von einem viel-

sagend dicken Grienen. „Ein sehr REUTERS FOTOS: phallisches Foto“, so ein „Es- Schröder in Jad Waschem quire“-Mitarbeiter. Und der Inter- net-Klatsch-Reporter Matt Drudge, der die zum Gedächtnis der sechs Millionen von Geschichte auf seiner Webseite vorab aus- den Nazis ermordeten Juden brennt, per breitete, lästert, das Foto lasse sich am bes- Hebel höher schlagen lassen. Stattdessen ten beschreiben als ,Monicas Anblick‘ und erlosch die Flamme. Der „peinlichste Faux- sei wohl mit einem Weitwinkel-Objektiv pas, den ein deutscher Staatsmann bei aufgenommen, was die eigentümliche „Ver- einem Israelbesuch begehen kann“, don- größerung“ des präsidentiellen Unterleibs nerte die „Times“. Die Israelis nahmen die erkläre. Umrahmt wird das Titelbild von Sache gelassener. Als Ministerpräsident der Schlagzeile „Das bis heute aufschluss- Ehud Barak vergeblich versuchte, das Feu- reichste Porträt“. Dazu liefert der „Es- er in Gang zu setzen, sprang ein in Jeans quire“ ein Clinton-Interview, in dem der gekleideter Techniker herbei und entfach- „Lame Duck“-Präsident erklärt, dass er te die Flamme mit einem Feuerzeug. noch immer auf eine Entschuldigung der Republikaner warte, die ihn mit einem Jürgen Reimann, 55, Bundesgrenzschutz- Impeachment-Verfahren überzogen. „Sie direktor, hat mit der Äußerung, dass bunte baten das Land nie um Verzeihung für das Plakate „mit blühenden Landschaften, su- Impeachment, sie entschuldigten sich nie per Straßen und glücklichen Köpfen“ in für all die Dinge, die sie getan haben.“ deutschen Auslandsvertretungen die ille- gale Einreise fördern, seine Karriere ver- plappert. Schon das Auswärtige Amt hatte den Spitzenbeamten aus dem Innenminis- terium nach seiner Bemerkung bei einer Grenzschutztagung in Lahnstein vor zwei Wochen schwer gerüffelt. Nun hält ihn auch sein eigenes Ministerium offenbar nicht mehr für geeignet, Präsident des Grenz- schutzpräsidiums Mitte in Fuldatal zu wer- den. Weil der Präsidentenstuhl nur mit Zu- stimmung des Kabinetts neu besetzt werden darf, gilt Reimann, bisher Leiter des Schlüs- selreferats „Grenzsicherheit, Luftsicherheit und Bahnpolizei“ im Innenministerium, nicht mehr als durchsetzbar. Ein anderer Weg, um den in Ungnade gefallenen Spit- zenbeamten abzuschieben, scheint Innen- minister Otto Schily ebenfalls verbaut. Zwar wird im kommenden Jahr der Chefposten der Grenzschutzdirektion Koblenz frei – eine Personalie, die nicht durchs Kabinett muss. Aber dort wäre Reimann dann aus-

AP gerechnet für die Abschiebung abgelehnter „Esquire“-Titel Asylbewerber zuständig.

der spiegel 45/2000 373 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der Münchner „tz“: „Klaus R.s Zitate Audi blieb im Straßengraben liegen, sah keinen Ausweg mehr und jagte sich mit Das Branchenblatt „Media & Marke- einem Gewehr eine Kugel durch den ting“ zu der Finanzstudie Kopf.“ „Soll und Haben 5“, die im SPIEGEL- Verlag erschienen ist:

Der Finanzdienstleistungs-Markt boomt. Aber die Studie „Soll und Haben 5“, die SPIEGEL und „manager magazin“ aufge- legt haben, zeigt: Fast zwei Drittel der Deutschen glauben, dass Versicherungen wenig nützen, obwohl die Deutschen im Durchschnitt überversichert sind. 80 Pro- Aus einer Broschüre der Spielzeugfirma zent haben keine Lust, sich damit zu be- Lego schäftigen, oder fühlen sich schlicht über- fordert.

Aus den „Osnabrücker Nachrichten“: „Wer Das „Handelsblatt“ zu der SPIEGEL- bei Dämmerung ohne Licht fährt, ver- Meldung „Panorama – Intrigen stößt gegen die Straßenverkehrsordnung. gegen Schröder?“, wonach der frühere Geschieht das nicht, kann daraus bei Vorstandsvorsitzende des Stahl- einem Unfall eine Mitschuld abgleitet wer- produzenten Salzgitter AG, Hans- den.“ Joachim Selenz, in mehreren Schreiben an Bundeskanzler Gerhard Schröder schwere Vorwürfe gegen deutsche Wirtschaftsführer erhob (SPIEGEL Nr. 44/2000):

Die Umstände des Verkaufs der heutigen Salzgitter AG von der Preussag AG an das Aus der „Bild“ Land Niedersachsen vor fast drei Jahren beschäftigt jetzt die Justiz. Die Staatsan- waltschaft Braunschweig hat nach Anga- Aus der „Neuen Presse“: „Zur Vorbeu- ben eines Sprechers Vorermittlungen ein- gung sollten Reisende vor und während geleitet. Anlass sind Briefe des einstigen des Fluges genügend trinken, ab und zu Preussag- und Salzgitter-Managers Hans- aufstehen und beim Sitzen öfter die vor- Joachim Selenz an Bundeskanzler Ger- deren Füße und die Zehen bewegen.“ hard Schröder (SPD), deren Inhalt das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in dieser Woche veröffentlicht hatte. Darin Aus einem Prospekt von Bertelsmann für behauptet Selenz, Preussag-Vorstandschef Geschenkideen: „Lassen Sie sich an den Michael Frenzel habe ihm und den ande- Schauplatz der wohl schönsten Liebesro- ren Vorständen seiner damaligen Stahl- manze Hollywoods entführen: In Ricks Tochter bis zu einer Million DM pro Kopf Café treffen sich Ingeborg Bachmann und angeboten, wenn sie dem Verkauf der Humphrey Bogart („Schau mir in die Au- Preussag Stahl an einen ausländischen In- gen, Kleines“) …“ teressenten zustimmen würden. Eine Preussag-Sprecherin lehnte am Dienstag jede Stellungnahme ab.

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, auf die vom CDU- Bundestagsabgeordneten Erwin Marschewski gestellte Schriftliche Frage an die Bundesregierung „Wie viele Aus der „Neuen Apotheken Illustrierten“ Botschaften der Bundesrepublik Deutschland und wie viele Goethe- Institute beziehen zu dienstlichen Aus der Münchner „tz“: „Der exotische Zwecken die Wochenmagazine Karim (28) hat der Fränkin die Augen ver- DER SPIEGEL und/oder „Focus“?: dreht.“ Zu dienstlichen Zwecken beziehen 181 Auslandsvertretungen 196 Stück des Nach- Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Am richtenmagazins DER SPIEGEL und 35 Devisenmarkt in Frankfurt wurden zeit- Auslandsvertretungen 35 Stück des Nach- weise Kurse von nur noch 0,8291 Dollar richtenmagazins „Focus“ sowie 107 Goe- für einen Euro genannt. Eine Mark war the-Institute den SPIEGEL und 46 Goethe- damit fast 2,36 Dollar wert.“ Institute den „Focus“.

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