FRANKREICH Pioniere der Kriminologie Der französische Mediziner Alexandre Lacassagne (1843–1924) und sein Assistent (1877-1966) entwickelten die Kriminalwissenschaften maßgeblich weiter.

r beschäftigte sich mit der Identifi - war jener des französischen Serienmör - Ezierung verwester Leichen, prüfte ders Joseph Vacher, der mindestens sie - Mordfälle mit neuen kriminalisti - ben junge Frauen und vier Männer ver - schen Methoden nach und zählte zu den gewaltigt und umgebracht hatte. Er hat - ersten Fachleuten, die den Todeszeit - te sich von hinten an seine Opfer heran - punkt mithilfe des Grades des Insekten - geschlichen, ihnen die Kehle durchge - befalls schätzte: Der Arzt Alexandre schnitten, sie vergewaltigt und ihnen Lacassagne führte in der zweiten Hälfte danach den Körper aufgeschlitzt. Er des 19. Jahrhunderts in Frankreich mo - wurde deshalb als „französischer Rip - derne Methoden der Kriminologie ein. per“ bezeichnet. Lacassagne hatte die Er dokumentierte auch, welche Spuren Aufgabe zu prüfen, ob der Mörder, der bestimmte Faustfeuerwaffen auf den keine Reue zeigte, zurechnungsfähig Projektilen hinterließen. Außerdem be - war. Vacher hatte nämlich behauptet, schäftigte er sich mit Toxikologie. dass er sich bei der Tötung eines Hun - Alexandre Lacassagne wurde am 17. des mit Tollwut angesteckt und die August 1843 geboren, studierte an der Morde in einer damit zusammenhän - Militärschule Straßburg Medizin und genden „Raserei“ begangen habe. Gut - arbeitete in einem Militärspital in . achter Lacassagne vertrat die Ansicht, Danach war er Rechtsmediziner in dass Vacher sadistisch veranlagt und und beschäftigte sich mit neuen Metho - Alexandre Lacassagne (1843–1924): hochgradig asozial sei. Schon in jungen den der Kriminalistik und Kriminologie. Gerichtsmediziner und Kriminologe. Jahren hatte Vacher Tiere gequält und Sein Interesse galt auch der Kriminalso - andere Gewalttaten verübt. Der Serien - ziologie und Kriminalpsychologie. Er mörder wurde aufgrund des Gutachtens gründete die Zeitschrift „Archives de von Lacassagne für zurechnungs- und l'Anthropologie Criminelle“, in der Bei - schuldfähig erklärt, zum Tod verurteilt träge zu den Themen Rechtsmedizin und am 31. Dezember 1898 enthauptet. und kriminologische Anthropologie ver - Auch nach der Ermordung des fran - öffentlicht wurden. zösischen Staatspräsidenten Marie Fran - „Unverbesserliche Kriminelle.“ çois wurde Alexandre La - Be - cassagne als Gutachter herangezogen. einflusst von , vertrat Der italienische Anarchist Sante Gero - Alexandre Lacassagne zunächst die nimo Caserio hatte Carnot am 25. Juni Theorie vom „geborenen Verbrecher“, 1894 in Lyon niedergestochen und töd - wich aber später davon ab und war der lich verletzt. Der Attentäter verzichtete Ansicht, dass das soziale Umfeld der aber darauf, sich psychiatrisch begut - „Nährboden der Kriminalität“ sei. La - achten zu lassen. Er wurde am 6. Au - cassagne befürwortete die Todesstrafe gust 1894 hingerichtet. für „unverbesserliche Kriminelle“ und Alexandre Lacassagne verfasste eine unterstützte die Initiative eines befreun - Reihe von Fachbüchern. Er starb am 24. deten Politikers zur Einrichtung von September 1924 in in Südwest - Strafkolonien zur Verbannung von Wie - frankreich. Edmond Locard (1877-1966): derholungstätern. „Sherlock Holmes von Frankreich.“ Lacassagne beschäftigte sich auch „Sherlock Holmes von Frankreich.“

mit der Schädellehre („Phrenologie“) Ein Assistent von Alexandre Lacassag - D R A des Mediziners ten. 1802 wurde ihm in Wien ein Lehr - ne an der Universität Lyon, Edmond M R E

(1758-1828). Gall hatte versucht, einen verbot erteilt. Der Arzt zog daraufhin Locard (1877-1966), wurde ebenfalls V S E G

Zusammenhang zwischen Begabung nach Berlin und 1807 nach Paris. als Kriminalwissenschaftler berühmt. R O E G und äußeren Merkmalen herzustellen Locard, genannt „Sherlock Holmes von ,

Studium von Verhaltensmustern. S N und die Kopfform unterschiedlich be - Frankreich“, formulierte ein Grundprin - O M M gabter Personen zu studieren. Er hatte Alexandre Lacassagne war auch der ers - zip der forensischen Wissenschaft: „Je - O C A I

vermutet, dass verschiedene Gehirnre - te Arzt in Frankreich, der Verhaltens - de Berührung hinterlässt eine Spur“ D E M I

gionen für verschiedene Funktionen muster bestimmter Gewalttäter studier - (Locard’sche Regel). Er entwickelte un - K I W verantwortlich sind. Daraus hatte er die te, um einen eventuellen psychopathi - ter anderem die chemische Spurenunter - : S O T

Schädellehre abgeleitet. Die Lehre Galls schen Hintergrund feststellen zu kön - suchung und die Mikrostaubspuren- O F war schon zu seinen Lebzeiten umstrit - nen. Einer seiner spektakulärsten Fälle Analytik weiter. 82 ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 11-12/19 KRIMINOLOGIE

Edmond Locard, geboren am 13. De - zember 1877 in Saint-Chamond als Sohn des Wissenschaftlers Arnould Loucard, studierte Medizin und später Rechtswissenschaften. 1908 studierte Locard in Paris das biometrische Sys - tem des Anthropologen Alphonse Ber - tillon (1853–1914). Bertillon, ab 1888 Leiter des Erkennungsdienstes der Pari - ser Polizei, vermaß zur Personenidenti - fizierung die Körper von Untersu - chungshäftlingen und anderen Straftä - tern und legte Karteikarten mit Fotos an. Sein Verfahren wurde auch in ande - ren Ländern angewandt, darunter in Österreich. Locard unternahm mehrere Studienreisen ins Ausland, er besuchte auch die k. k. Polizeidirektion Wien. Nach einem Anstieg der Gewaltkri - minalität in Lyon richtete Locard 1910 bei der Polizei in Lyon ein forensisches Labor ein, in dem Beweismittel gesam - melt und ausgewertet wurden und das sich mit Grundlagenforschung in foren - sischen Gebieten beschäftigte, wie Bal - listik, Toxikologie und Identifizierung. Ab 1914 entwickelte Locard Kriterien für die Fingerabdruckidentifizierung, um die Zuverlässigkeit zu steigern. Er verfeinerte die Handschriftenanalyse und entwickelte ein System zur Analyse von Staub in der Kleidung von Ver - dächtigen sowie eine Methode zur Ana - lyse von Blutspuren. Während des Ersten Weltkriegs wur - de Locard, der elf Sprachen beherrschte, zum Dekodieren geheimer Nachrichten herangezogen. 1929 gründete er mit Marc Bischoff (Schweiz), Georg Popp (Deutschland), Christiaan Jacobus van Ledden Hulsebosch (Niederlande) und Siegfried Türkel (Österreich) in Lausan - ne die „Académie Internationale de Cri - minalistique“ („Internationale Akade - mie für Kriminalistik“) mit Sitz in Wien. Die Akademie stellte während des Zweiten Weltkriegs ihre Arbeit ein. Locard veröffentlichte mehr als 40 Werke auf dem Gebiet der Kriminalistik und der forensischen Wissenschaft, da - runter „Traité de criminalistique“, ein siebenbändiges, zwischen 1931 und 1935 erschienenes Lehrbuch der Krimi - nalistik. Locard beschäftigte sich auch mit Li - teratur, Malerei, Musik und Philatelie und schrieb darüber Artikel und Bücher. Er war Mitglied mehrerer akademischer Gesellschaften und wurde vielfach ge - ehrt und ausgezeichnet. Edmond Locard starb am 4. April 1966 in Lyon. Werner Sabitzer

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