Daniel Bensaïd Was Ist Trotzkismus?
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Daniel Bensaïd Was ist Trotzkismus? Der Autor Daniel Bensaïd, geboren 1946 in Toulouse, ist Hochschullehrer für Philo- sophie an der Universität Paris VIII (Saint-Denis) und langjähriges Füh- rungsmitglied der »Ligue Communiste Révolutionnaire«, der französi- schen Sektion der IV. Internationale. Im Jahr 1968 war er, zusammen u.a. mit Daniel Cohn-Bendit, führend an der Bewegung des 22. März an der Universität Nanterre beteiligt. Er veröffentlichte etwa 25 Bücher, darunter Walter Benjamin, sentinelle messianique (1990); La Discordance des temps. Essais sur les crises, les classes, l’histoire und Marx l’intempestif. Grandeurs et misères d’une aven- ture critique (XIXe-XXe siècle) (beide 1995); Qui est juge? Pour en finir avec le tribunal de l’Histoire, (1999); Le nouvel internationalisme. Contre les guerres impériales et la privatisation du monde und Un monde à changer. Mouvements et stratégies (beide 2003); Une lente impatience (2004). Daniel Bensaïd Was ist Trotzkismus? Ein Essay ISP•Köln Das vorliegende Buch erschien unter dem Titel Les Trotskysmes 2002 in der Reihe Que sais-je? beim Verlag Presses Universitaires de France in Paris. Die deutsche Ausgabe wurde überarbeitet. Der Text wurde von Harald Etzbach, Paul B. Kleiser und Patrick Ramponi aus dem Französischen übersetzt. Wilfried Dubois suchte die Zitate heraus und erstellte eine neue Bibliographie. Das Titelbild wurde von Paul B. Kleiser während des 2. Europäischen So- zialforums im Herbst 2003 in Paris aufgenommen. Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-89 900-108-7 ISP Neuer ISP Verlag GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln Mail: [email protected] Der Neue ISP Verlag ist Mitglied von aLiVe (assoziation Linker Verlage). Deutsche Erstausgabe, August 2004 © Presses Universitaires de France, Paris © für die deutsche Ausgabe: Neuer ISP Verlag GmbH Satz: GNN-Stuttgart Umschlaggestaltung: Druckcooperative Karlsruhe Gesamtherstellung: difo-Druck, Bamberg Alle Rechte vorbehalten. Jede Form der Verwertung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. 1 2 3 4 5 – 08 07 06 05 04 Inhalt Vorwort Die Aktualität des Trotzkismus . 7 1. Kapitel Das Gepäck des Exodus . 13 2. Kapitel Trotzkis letzter Kampf . 26 3. Kapitel Erbschaft ohne Gebrauchsanleitung . 38 4. Kapitel Die verstreuten Stämme . 52 5. Kapitel Warten auf Godot . 66 6. Kapitel Der Entrismus - oder: wie ihn beenden? . 76 7. Kapitel Die Geschichte sitzt uns im Nacken . 84 8. Kapitel Epochenwechsel . 95 Zum Schluss und zur Weiterführung . 103 Bibliographie . 105 Namenregister . 129 Vorbemerkung Der Autor des vorliegenden Buches war gleichzeitig seit 1966 Akteur der Geschichte, die hier beschrieben wird. Der vorliegende Essay erhebt nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Arbeit über die trotzkistischen Strö- mungen zu sein. Dazu bräuchte es eine Arbeit von einer ganz anderen Di- mension. Hier geht es in großer Bescheidenheit darum, einige Zusammen- hänge zu erhellen und politischen und theoretischen Kontroversen einen Sinn zu geben, die jene bewegte Geschichte gekennzeichnet haben. Obwohl noch nicht viel Zeit vergangen ist und ich mich bemüht habe, ein Verständ- nis aus einer gewissen Distanz heraus zu entwickeln, möchte ich nicht be- haupten, immer jener Subjektivität entgangen zu sein, wie sie nun einmal persönlichen Erfahrungen und Engagements eigen ist. Eine ganz elementa- re Ehrlichkeit verpflichtet mich, dies dem Leser und der Leserin zu sagen. Auf ganz verschiedene Weise haben Pierre Frank, Adolfo Gilly, Michel Lequenne, Michael Löwy, Daniel Pereyra, Rodolphe Prager, François Sa- bado, Alan Thornett und Charles André Udry zu dieser Arbeit beigetragen. Ihnen sei gedankt, außerdem Pierre Broué und Michel Dreyfus, Claude Pennetier und der Mannschaft des «Maitron« (Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier français/Biographisches Lexikon der französischen Arbeiterbewegung), die einen unschätzbaren Beitrag zur Geschichte der trotzkistischen Strömungen geleistet haben. Eine solche Geschichte aller- dings muss erst noch geschrieben werden. Daniel Bensaïd 6 Die Aktualität des Trotzkismus Die Gedächtnislücken des ehemaligen französischen Premierministers Lio- nel Jospin hinsichtlich seiner Mitgliedschaft in einer trotzkistischen Orga- nisation haben ein neues Interesse am Phänomen des »Trotzkismus« ge- weckt. Seit geraumer Zeit geistert sein Gespenst wieder durch die Medien- landschaft. Mittlerweile gehört es in Frankreich sogar fast zum guten Ton, einmal im Leben »Trotzkist« gewesen zu sein. Dieses Gelegenheitsinteres- se wird indes von einer historischen und politischen Unwissenheit beglei- tet, die einen exotischen Begriff umgibt, den die meisten Zeitgenossen mit der Legende der russischen Revolution, mit dem Petrograder Sowjet, dem Sturm auf das Winterpalais oder den legendären Erfolgen der Roten Armee im Bürgerkrieg verbinden. Kulturell beschlagene Menschen assoziieren da- mit das Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst, das Leo Trotz- ki 1938 zusammen mit dem Surrealisten André Breton verfasst hat. Film- freunde erinnern sich vielleicht an den (ziemlich schlechten) Film von Jo- seph Losey über Trotzkis Ermordung, mit Richard Burton in der Titelrol- le und Alain Delon als Stalins ferngesteuertem Mörder. Nach den Enthüllungen über die Vergangenheit des ehemaligen französi- schen Ministerpräsidenten waren diverse Feuilletonisten und Kommentato- ren – nicht ganz frei von Heuchelei – der Meinung, dass jener »ideologische Lebensabschnitt« von Jospin nicht in Frage gestellt werden sollte. Denn für einen brillanten Studenten der 1950er Jahre, für »ein Kind von Budapest und Suez«, sei es keineswegs unehrenhaft gewesen, gleichzeitig mit den na- tionalen Befreiungskämpfen und den antibürokratischen Aufständen in Po- len und Ungarn 1956 zu sympathisieren. Unter dem Vorwand, nicht mit den Wölfen heulen zu wollen, schlossen die »Freunde der Sowjetunion« und die Führer der offiziellen Kommunistischen Parteien ihre Augen vor der kriminellen Kehrseite der angeblich »insgesamt positiven Bilanz« des Stalinismus und über die blutige Geschichte der »großen proletarischen Kulturrevolution« in China. Doch Jospins Schweigen hat auch die Vermu- tungen und Verdächtigungen über eine geheime und konspirative Welt von Gruppen ins Kraut schießen lassen, die mit dem beunruhigenden Begriff »Entrismus«1 verbunden waren, welcher polizeilichen Hirngespinsten gele- 1 Dieser Begriff bezeichnet die Tätigkeit von Trotzkisten in den großen Parteien der Arbei- terbewegung, der Sozialdemokratie und den KPen. Jospin arbeitete als »Trotzkist« in der Sozialistischen Partei (d.Ü.) 7 gen kommt. Drei einleitende Kommentare scheinen daher unabdingbar für ein historisches Verständnis dessen, was sich als »Trotzkismus« charakteri- sieren lässt. 1. Die Bezeichnung »Trotzkismus« selbst war ursprünglich eine abwer- tend gemeinte und zum Zweck der Stigmatisierung geprägte Bezeichnung seitens seiner Gegner. In den 1930er Jahren, in der Zeit der Schauprozesse also, in den dunkelsten Momenten des Jahrhunderts, erfanden die intellek- tuellen Handlanger des Kreml sogar das Oxymoron »Hitlerotrotzkismus«. Noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts verbreitete der Sold- schreiber des Stalinismus à la française, Léo Figuères, die Mär vom »Trotz- kismus als Anti-Leninismus«. Diese verleumderische Behauptung kam dem Anbringen einer Art »gelbem Stern« gleich. Die lange Reihe derer, die Na- talja Sedowa, Trotzkis Lebensgefährtin, »Phantome, deren Stirne Ein- schußlöcher tragen«,2 genannt hat, legt Zeugnis dafür ab: Andreu Nin, der in den spanischen Kerkern des NKWD verschwand; Rudolf Klément, in Frankreich ermordet; Pietro Tresso, liquidiert von seinen Mitgefangenen des maquis (Parisanen gegen die Wehrmacht); Tha-Tu-Thau und seine Ge- nossen, von den vietnamesischen Stalinisten ermordet; die griechischen Trotzkisten und Trotzkistinnen, die durch die Agenten der griechischen Kommunistischen Partei den Tod fanden; Zavis Kalandra, 1950 hingerich- tet durch die tschechischen Stalinisten. Leo Trotzki selbst war zuvor 1940 in Mexiko von seinen Mördern heimgesucht worden. Tausende von Opfern der großen Säuberungen und der Moskauer Prozesse waren in den 1930er Jahren erschossen worden oder in der Anonymität des Gulag verschwun- den. Auch wenn die sog. Trotzkisten der 1930er Jahre zur Ausgrenzung mit einer infam konnotierten Bezeichnung versehen wurden, zogen sie die Selbstbezeichnungen »Bolschewiki-Leninisten«, »revolutionäre Marxisten« oder »internationalistische Kommunisten« vor, allesamt Pleonasmen, die notwendig geworden waren, um sich vom »Kommunismus« zu unterschei- den, der durch die bürokratische Reaktion verunglimpft worden war. 2. Trotzkismus im Singular verweist auf einen gemeinsamen historischen Ursprung, doch wirkt das Wort heute relativ abgenutzt. Trotz des Bezugs auf die programmatischen Grundlagen, die Trotzki in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ausgearbeitet hatte, haben die einschneidenden Er- eignisse des Jahrhunderts zu Differenzierungen geführt, so dass man unter- schiedliche, aus dem »Trotzkismus« hervorgegangene Strömungen unter- 2 Victor Serge, Leo Trotzki. Leben und Tod, Wien, München, Zürich: Europaverlag, 1978, S. 279. 8 scheiden kann, deren Unterschiede manchmal größer sind als ihre Gemein- samkeiten. Bei der Erbschaft ist die Pietät der Erben nicht immer die beste Garantie für ihre Treue und häufig gibt es in der kritischen