Die österreichische Außenpolitik unter und

Am 17. Oktober 1919 wurde der Staatsvertrag von Saint-Germain von der Konstituierenden Nationalversammlung ratifiziertl. Das Kabinett Renner II trat zurück, um gleich darauf - mit geringfügigen Änderungen als Kabinett Renner III vom Plenum gewählt zu werden. Der sozialdemo­ kratische Staatskanzler - zugleich Staatssekretär für Äußeres' - glich die österreichische Außenpolitik den neuen europäischen Machtverhält• nissen an. Der Anschluß an Deutschland mußte wenigstens aufgeschoben werden. Dafür verschrieb sich der Kanzler umso mehr der Idee des Völker• bundes. Diese "Weltorganisation der freien Nationen" sollte den Frieden si­ chern und die internationale Zusammenarbeit fördern. In dieser Gemein­ schaft mitzuwirken, schien die einzig versprechende Alternative zu sein. Mit dem Beitritt Österreichs erhoffte er sich nicht zuletzt eine Chance, den Anschluß an Deutschland doch noch zu verwirklichen. Obwohl das Pariser Friedensvertragswerk einen solchen zwar - ohne internationale Zustim­ mung - untersagte, sollten nicht nur der "deutsche Sozialdemokrat" Renner, wie er sich selbst bereits zu Zeiten der Monarchie gefühlt hatte, sondern auch sein Nachfolger im Außenamt an dieser Vision festhalten. Mit der Unterzeichnung und der Ratifikation des Staatsvertrags von Saint­ Germain glaubte Renner den Beginn einer neuen Phase der europäischen Politik gekommen. Nun, so verkündete er im Ausschuß für Äußeres am 22. November 1919, konnten die einst gegnerischen Lager wieder daran­ gehen, ein normales Verhältnis zueinander aufzubauen. Durch die starken friedensvertraglichen Bindungen und die fatale wirtschaftliche und soziale Lage der Alpenrepublik setzte der Kanzler beinahe seine gesamte Außen• politik mit Wirtschaftspolitik gleich. Zwei Aufgaben besaßen demnach oberste Priorität: Die in Saint-Germain übernommenen Verpflichtungen nach Kräften zu erfüllen sowie bestmögliche Beziehungen mit allen Staaten zu pflegen, nicht zuletzt, um die erforderliche Unterstützung zur Milderung der Not in Österreich zu erhalten. Als vorrangigste Leitlinie strebte Renner aber an, Völkerbundpolitik zu be­ treiben: "Völkerbundpolitik machen aber besagt: Wir betrachten uns nach dem Friedensschluß als ein Glied der durch die Friedensschlüsse von Ver­ sailles und St. Germain in Konstituierung begriffenen, von den Puissances

1 Am 16. Juli 1920 sollte er dann tatsächlich in Kraft treten. Zur Entwicklung Öster• reichs nach dem Staatsvertrag siehe u. a. Kar! R. Stadler, Hypothek auf die Zukunft. Die Entstehung der österreichischen Republik 1918-1921 (Wien - Frankfurt - Zürich 1968). 2 Vgl. dazu etwa Renate Schulla, Kar! Renner als Leiter des Staatsamtes für Äußeres 1919-1920. In: Österreich in Geschichte und Literatur 17 (1973). 10 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr

principales geleiteten abendländischen Kulturgemeinschaft, als ein vor­ läufig noch leidendes Glied, das jedoch durch den Völkerbund selbst zu einem mittätigen Glied jener Gemeinschaft und im bescheidenen Verhält• nisse seiner Größe und Kulturbedeutung gleichberechtigt werden soll und alle seine sonstigen Ideale den künftigen Entschließungen dieser abend­ ländischen Kulturgemeinschaft anvertraut. Außer dieser führen wir keine Politik." (ADÖ 3/387) Bereits am 22. September 1919 hatte Konsul Max Hoffinger im Staats amt für Äußeres eine streng vertrauliche "Denkschrift zur Neuorganisation der auswärtigen Vertretungsbehörden Deutschösterreichs" (ADÖ 3/362) ver­ faßt. Weitgehende Sparsamkeit und das Hauptaugenmerk auf die Entwick­ lung der wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Ausland galten auch hier als Gebot der Stunde. Hoffinger hielt es jedoch für gefährlich, die "rein politische Seite der Auslandsvertretung außer Auge zu lassen". Für die Durchsetzung der vitalsten Interessen "Deutschösterreichs" würde auch der Völkerbund allein nicht genügen. In weiser Voraussicht schätzte Hoffinger den Völkerbund nicht als "Schiedsgericht unabhängiger Männer" ein. Umso nötiger erschien es des­ halb, in den Hauptstädten jener Mächte, "die - wenigstens auf absehbare Zeit hinaus - die Geschicke der Welt leiten und dem Völkerbund ihren Willen aufzwingen werden", durch fähige Diplomaten vertreten zu sein. "Die richtige Frage im richtigen Augenblick vor den Völkerbund zu bringen, wird die wichtigste Kunst unserer auswärtigen Politik sein, und sie kann nur gelingen, wenn wir einerseits wichtige Glieder des Völker• bundes in Einzelfragen für unsere Auffassung gewinnen und die allge­ meine Weltlage jederzeit geschickt auszunutzen im Stande sind." Hoffinger hielt es für besonders entscheidend, daß die österreichischen Vertreter in Zukunft keinesfalls die "lächerliche Rolle der Diplomaten machtloser Kleinstaaten" spielten. Um Österreich vor dem "Vergessen­ werden in seinem Elend zu bewahren", sollten sie vielmehr derart gut in­ formiert sein, daß ihre Einschätzung sogar die Diplomaten der europäi• schen Großmächte zugunsten der Alpenrepublik beeinflußen könnte. Hof­ fingers Ansicht nach kamen für diese schwierige Aufgabe aber nur ver­ sierte Außenamtsbeamte und keine Newcomer in Frage. Darüber hinaus durften die österreichischen Vertreter im Ausland gegen­ über ihren Kollegen - vor allem aus den Nationalstaaten - nicht rang­ mäßig schlechtergestellt sein, d. h. sie mußten vom bloßen Geschäftsträger zum Gesandten ernannt werden. Voraussetzung für eine gedeihliche politi­ sche Tätigkeit sei zudem die Unterstützung des Missionschefs durch zu­ mindest einen Konzeptsbeamten des Auslandsdienstes. Schon allein für die Heranbildung eines gut ausgebildeten Nachwuchses wären den wich­ tigsten Missionen auch jüngere Kräfte des Konzeptdienstes beizugeben. Weiters sollten nach Möglichkeit "effektive Konsularvertretungen" den österreichischen Gesandten unterstützen. Hoffinger sprach sich dabei vom politischen wie vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt entschieden für Berufs- und gegen Honorarkonsuln aus. Die Instruktion des Staatsamts für Äußeres für den Gesandten in Paris, Johann Andreas Eichhoff, von Ende September 1919 (ADÖ 3/363) betonte Die österreichische Außenpolitik unter Kar! Renner und Michael Mayr 11 wiederum den "Ruf nach internationaler Gerechtigkeit" als das Leitmotiv der österreichischen Außenpolitik. Stets sollte gegenüber dem Ausland durchklingen, daß die Österreicher "ein durch den Krieg schuldlos ins Elend gebrachtes" und "durch den Friedensvertrag bitter enttäuschtes Volk sind." Aller Widrigkeiten zum Trotz sei die Erste Republik jedoch ent­ schlossen, die Pflichten des Friedensvertrags loyal und gewissenhaft zu er­ füllen. Die Aufnahme in den Völkerbund, als "Hochburg der internatio­ nalen Gerechtigkeit" stelle jedenfalls das "ganze Streben und Wollen auf internationalem Gebiete" dar. Die Instruktion zeichnete auch das beabsichtigte Bild von Österreich in der Zukunft: Die Erste Republik als friedfertiger Kleinstaat, der Geheim­ bündnisse ablehnt. "Unsere Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit soll un­ sere Stärke sein ..." Der europäischen Staatenwelt sollte freilich zu Bewußtsein kommen, "daß ihre unverkennbaren Interessen an der Er­ haltung der sozialen Ruhe und Ordnung im Herzen Europas ebenso wie die Befriedigung ihrer finanziellen Forderungen von der Wiedererlan­ gung unserer Arbeitsfähigkeit abhängt". Dazu war aber nach Ansicht des Außenamts auch die Sicherstellung "unentbehrlicher Lebensnotwen­ digkeiten". erforderlich, Kohle, Rohstoffe für die Industrie und beson­ ders Lebensmittel. Vor allem vom Gesandten in Paris sollte auf die Unklarheiten und Wider­ sprüche des Friedensvertrages eingegangen werden, jedoch keinesfalls in zu kritischem Ton, um etwaige Empfindlichkeiten zu vermeiden. Selbst­ verständlich wurde auch hervorgehoben, mit den Nachbarstaaten im besten Einvernehmen leben zu wollen. "Der natürliche Austausch der wirt­ schaftlichen Güter" mit der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und Jugo­ slawien - allem voran stand dabei die Kohleversorgung - sei "als das elementarste Menschenrecht des Volkes hinzustellen, das nur in einer den politischen Bedürfnissen der Staaten entsprechenden Weise geregelt werden muß". Als Bedingung "freundnachbarlicher" Beziehungen zu Un­ garn galt jedenfalls dessen loyaler Verzicht auf das Burgenland. Die kulturelle Zusammengehörigkeit mit der deutschen Nation mußte nachdrückliehst zur Geltung gebracht, das Anschlußverbot als Verletzung der wirtschaftlichen Interessen Österreichs dargestellt werden. Mit den deutschen Vertretern sollten die "wärmsten und herzlichsten Bezie­ hungen" aufrecht erhalten bleiben. Die Anschlußidee durfte allerdings nur "leidenschaftslos als eine nationale und wirtschaftliche Selbstverständlich• keit" behandelt werden, "deren Erfüllung wir allerdings nicht eigen­ mächtig herbeiführen, sondern gemäß dem Friedensvertrage vor dem Forum des Völkerbundes durchsetzen werden". Zu Frankreich, von dem Österreich sogar in der Südtirolfrage maßgebliche Unterstützung erhoffte, seien herzliche Beziehungen anzustreben. Als wichtigste Stützen galten jedoch fortan die Vereinigten Staaten und - in zweiter Linie - Großbritannien. Unter allen Umständen mußte der Ein­ druck vermieden werden, Österreich könnte daran interessiert sein, die so­ ziale und politische Ordnung des Pariser Friedensvertragssystems um­ stürzen zu wollen. Es sollte den wichtigsten Mächten hingegen zu Be­ wußtsein kommen, daß es sich bei den Österreichern um ein "schwer heim- 12 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr gesuchtes, unter bitterem Elende leidendes, aber durchaus rechtschaffenes und arbeitsames Volk" handelte. Primäres Ziel war freilich der Kampf gegen Hunger und Versorgungsnot. Der Republik drohte erneut ein äußerst strenger Winter. Die Produktion im Inland fiel nur unzureichend aus, die heimische Ernte brachte nicht die erhoffte Entlastung. Außerdem war der Ententekredit erschöpft, und es mangelte an den notwendigen Zahlungsmitteln für Einkäufe im Ausland. Aufgrund des Rohstoffmangels drohte der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister Jakob Reumann mit der Einstellung der Elektrizitäts• werke, des Straßenbahnverkehrs und verschiedener Industriebetriebe. Seit seiner Rückkehr aus Saint-Germain ließ Renner mehr als 30 Tele­ gramme von Wien an die Pariser Friedenskonferenz absenden, um die Lebensmittel- und Kohleversorgung zu urgieren. In einer Depesche vom 30. September drohte er zum Beispiel: "In wenigen Wochen schon wird in Österreich kein Mehl sein und Ernährungskatastrophe eintreten." Am 19. November bekam Ministerpräsident Georges Clemenceau in seiner Ei­ genschaft als Präsident der Friedenskonferenz wiederum die folgende Nachricht: "Nächste Woche ist in großen Teilen Österreichs weder Brot noch Mehl vorhanden; auch in den übrigen Teilen Österreichs nur ver­ kürzte Brotrationen. Seit langem erbetene Getreideaushilfe noch immer nicht bewilligt, geschweige denn auf dem Wege. Da auch keine anderen Le­ bensmittel vorhanden, ist die Situation unhaltbar. Erbitte sofortige Bewilli­ gung der 30.000 Tonnen italienischen Getreides und Veranlassung, daß die italienische Regierung die Absendung verfüge" (ADÖ 3/385). Der Staatskanzler hatte zweifellos recht, die Ursache für die triste Situa­ tion im Auseinanderbrechen der alten Wirtschaftsgemeinschaft und Frei­ handelszone der Doppelmonarchie zu suchen. Durch die Gründung der Nachfolgestaaten waren sechs Zollgrenzen entstanden und der Warenver­ kehr somit erheblich erschwert worden. Vor dem Plenum der Konstituie­ renden Nationalversammlung am 21. November 1919 verglich Renner die Alpenrepublik mit einer wirtschaftenden Hausfrau: "Wir haben in unserem deutschösterreichischen Gebiete noch immer die Herde in den Wohnungen und Küchen; aber über die Kohle verfügt nicht Deutschösterreich, über die verfügen Tschechen und Polen. Wir haben noch die Küchengerätschaften, wir haben noch die Pfannen; aber über das Mehl, das wir brauchen, ver­ fügt Ungarn, Jugoslawien und Rumänien. Wir haben die Lampen zum Be­ leuchten der Zimmer; aber über das Petroleum verfügen die Polen und die Rumänen. Mit einem Wort: alle Bedürfnisse des täglichen Lebens, alle Be­ darfsartikel, die jeder täglich braucht, die wir haben müssen, stehen außer• halb der Einflußsphäre dieser Regierung, stehen unter der Gewalt anderer Staaten, und der freie Verkehr und die freien Beziehungen zwischen diesen anderen Staaten und uns bestehen nicht mehr" (ADÖ 3/385). Der späte Friedensschluß und die fast ein Jahr dauernde Ungewißheit hätten die Situation zusätzlich erschwert. Nun war es Österreich auch nicht mehr möglich, die Produkte aus dem Ausland zu kaufen. Es mußten Kompensationsverträge geschlossen werden, Ware gegen Ware. Öster• reich, so klagte Renner, präsentiere sich mittlerweile von aller Welt ab­ hängig, von der Entente, von den Nachbarstaaten, von jeder gesellschaftli- Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 13 chen oder ökonomischen Störung in der Welt. "So von der Hand in den Mund kann man ein Volk nicht leben lassen ... es zehrt allmählich nicht nur das leibliche, sondern auch das Nervenkapital unseres Volkes auf. Unser Volk kann das nicht mehr ertragen und wir müssen ernsthaft be­ fürchten, daß alle Bemühungen, es zur Ruhe zu mahnen und an seine Be­ sinnung zu appellieren, vergeblich werden." Daher verlangte der Kanzler - abgesehen von allen politischen Überlegungen - schon vom rein menschlichen, moralischen Standpunkt Unterstützung durch das Ausland. Voll Pathos forderte er deshalb die internationale Staatengemeinschaft auf: "Laßt diesen Untergang eines schuldlosen, unglücklichen Volkes nicht zu, tut als Völker unter Völkern uns gegenüber eure Bruderpflicht!" Doch ein Ende der Misere war nicht abzusehen. In Wien konnten täglich pro Kopf nur mehr 100 Gramm Brot und Mehl ausgegeben werden. In Ost­ österreich gab es vielerorts überhaupt kein Brot mehr. Auch die Plünde• rungen nahmen zu. Bereits im Januar 1920 drohte Wien gänzlich ohne Le­ bensmittel zu sein. Da die Agrarproduktion Mittel- und Osteuropas selbst im argen lag, war eine wirksame Unterstützung nur aus der westlichen Hemisphäre zu erwarten. In einem Akt fortgeschrittener Verzweiflung bat Renner am 3. Dezember die Gesandten der Großmächte in die Staats­ kanzlei. Von österreichischer Seite wohnten noch die Staatssekretäre Hans Loewenfeld-Russ (Ernährungswesen), Richard Reisch (Finanzen), Johann Zerdik (Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten), Ludwig Paul (Verkehrswesen) und Sektionschef Richard Schüller dieser Konferenz bei. Der Kanzler machte dabei den ausländischen Diplomaten ohne Um­ schweife klar, daß Österreich - ohne kurzfristige Hilfe - aus eigener Kraft nicht mehr imstande sei, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Aktion zeitigte Erfolg, denn nur wenige Tage danach erhielt Renner eine Einladung, zum Obersten Rat nach Paris zu reisen. Am 11. Dezember traf die österreichische Delegation in der französischen Hauptstadt ein. Ihr gehörten weiters Loewenfeld-Russ, Reisch und Schüller an. Das Inter­ esse der öffentlichen Meinung in Frankreich war erstaunlich groß. Die De­ legationsmitglieder waren sich durchaus ihrer demütigenden Lage bewußt. So meinte etwa Loewenfeld-Russ, daß die Deutschen, obwohl besiegt, eine Großmacht geblieben, der Österreicher dagegen zum "Niemand und Bettler" geworden war. Vor dem Organisationskomitee der Reparationskommission erklärte Renner jedenfalls in aller Deutlichkeit, "daß er es nicht wagen könne, nach Wien zurückzukehren, ohne Brot und Kredite mitzubringen". Und der Staatskanzler erinnerte Clemenceau an seine Zusage in der Begleitnote zum Vertrag von Saint-Germain, Österreich zu helfen3 • Dem Obersten Rat legte Renner die schier hoffnungslose Situation Österreichs noch einmal offen. Die Alpenrepublik stelle praktisch das Zentrum der ökonomischen

3 "Die alliierten und assgziierten Mächte haben gleichwohl keineswegs den Wunsch, die unglückliche Lage Osterreichs zu erschweren, im Gegenteil wünschen sie leb­ haft, alles, was in ihren Kräften steht zu tun, um dem Volk zu helfen, sich seiner neuen Lage anzupassen und wieder zur Wohlfahrt zu gelangen." - Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in St. Germain-en-Laye, Bd.2 (Wien 1919) 313. 14 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr

Depression in Europa dar. Der Mangel an Rohstoffen mache es Österreich aber unmöglich, seine Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die Republik könne das notwendige Minimum an Lebensmitteln und Kohle nur durch einen ausreichenden Kredit der alliierten Westmächte erlangen. Höchste Eile sei geboten, denn selbst die augenblickliche Gewährung eines Kredits zur Nahrungsmittelbeschaffung müsse zu spät kommen, würde das tat­ sächliche Eintreffen der Lebensmittel aus Übersee doch zwei Monate in Anspruch nehmen. Für die Zwischenzeit benötige Österreich daher zusätz• lich Nahrungsmittel aus Westeuropa. Durch den Zusammenbruch der Kro­ nenwährung bat Renner die aus den europäischen Beständen erhaltenen Lebensmittel in Naturalien kreditiert zu erhalten. Renner hatte Clemenceau überzeugt. Auch die Pariser Öffentlichkeit zeigte sich ihm wohlgesonnen, doch noch war keine Entscheidung gefallen. Die Verhandlungen sollten schlußendlich bis Februar andauern. Ohne greifbares Ergebnis trat die Delegation daher die Rückreise nach Wien an. Renner hatte um die Gewährung eines langfristigen Kredits von 100 Mil­ lionen Dollar und die Freigabe gewisser österreichischer Vermögenswerte aus dem Generalpfandrecht, um weitere Kredite und Rohstoffe für den Wiederaufbau zu beschaffen, gebeten. Doch er erhielt lediglich die Zusage, daß sich die Reparationskommission mit dem von Loewenfeld-Russ konzi­ pierten Ernährungsprogramm und den gestellten Anträgen befassen werde. Die österreichische Öffentlichkeit zeigte sich über das Resultat de­ primiert'. In Paris hatte der Staatskanzler auch die Vorarlberger Frage den Mächten vorgebracht, freilich ganz im Sinne der Wiener Zentralregierung. Die ekla­ tante wirtschaftliche Not in Österreich hatte im kleinsten Bundesland die Anschlußbewegung an die Schweiz nur gestärkt, ebenso in den deutschen Kantonen der Eidgenossenschaft. Bundesrat Felix Calonder ermutigte mit einer Rede im Berner Parlament am 21. November diese Tendenzen noch zusätzlich5• Renner vertrat freilich die Auffassung, daß bei aller Rücksicht auf das nationale Selbstbestimmungsrecht sich nicht jedes "Segment eines Volkes" vom Ganzen verabschieden könnte. In der Tat hatte die Vorarlberger Frage auch im Staatsvertrag von Saint­ Germain keinerlei Berücksichtigung gefunden. Renner und der christlich­ soziale Vizekanzler, , der bekanntlich selbst aus dem Ländle stammte, übten sich in einer - von der Entente befürworteten - Art Ver­ zögerungs- und Hinhaltetaktik. Anläßlich seiner Reise nach Paris verein­ barte er mit Landeshauptmann in Buchs, über die Vorarlberger Frage ein Memorandum zu entwerfen, um damit das Selbstbestimmungs­ recht für das Ländle zu begründen. Vorher würde die Frage in Paris nicht zur Sprache gebracht werden. Renner ahnte freilich, daß die Entente an der Integrität Österreichs nicht mehr rütteln wollte. Tatsächlich be­ fürchtete der Oberste Rat durch einen Anschluß Vorarlbergs an die Schweiz das Auseinanderbrechen der Alpenrepublik und stellte schlußend-

4 Walter Rauscher, Karl Renner. Ein österreichischer Mythos (Wien 1995) 199-205. 5 Vgl. Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945. Serie A: 1918-1925, Bd. 2.7. Mai bis 31. Dezember 1919 (Göttingen 1984) Nr.240. Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 15

lich die Unabänderlichkeit der Grenzen des Staatsvertrages fest. Alle sepa­ ratistischen Bewegungen waren zu verurteilen. Trotz dieser Erklärung, die einer endgültigen Entscheidung gleichkam, sollten die Christlichsozialen 6 in aber ihren Plan noch nicht zur Gänze aufgeben • Renner meinte, den Vorarlbergern bereits bis zum Äußersten entgegenge­ kommen zu sein. Im Falle einer weiteren antiösterreichischen Entwick­ lung spekulierte er sogar mit der Unterstützung durch italienische Truppen, um der Agitation ein Ende zu bereiten. Einer Verletzung des Staatsvertrages von Saint-Germain oder der bestehenden Gesetze beab­ sichtigte er, "mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzu­ treten"7. Am 20. Dezember berichtete der Staatskanzler dem Plenum der National­ versammlung über seine Parisreise, die er in politischer Hinsicht als vollen Erfolg darstellte. Die österreichische Delegation sei ungleich freundlicher von Presse und Politikern aufgenommen worden als zur Zeit der Friedens­ verhandlungen. Der größte Teil der durch den Krieg hervorgerufenen Empfindlichkeiten schien überwunden. Die französischen Zeitungen hätten Österreichs Anliegen sogar eifrigst unterstützt. Seine Koalitions­ regierung besitze außerdem das volle Vertrauen der Westmächte. Selbst Renner sah sich jedoch gezwungen einzuräumen, daß das wirtschaftliche Ergebnis der Verhandlungen sich bloß als eine "Ankündigung eines Er­ folges" darstelle. Das bedeutete weniger euphemistisch ausgedrückt, daß Österreich für die nahe Zukunft nur höchst mangelhaft versorgt war (ADÖ 3/400). Um den totalen Zusammenbruch und die Aufteilung auf die Nachbar­ staaten zu verhindern, entschied sich Renner, den Ring der feindseligen Staaten zu sprengen. Österreich brauchte außerdem Verbündete in der Burgenlandfrage. Der Kanzler entschloß sich zur Annäherung an Prag, wo man aus Gründen der Anerkennung des Pariser Friedensvertragswerkes und der führenden Rolle Prags in Mitteleuropa einen solchen Schritt leb­ haft begrüßte. Eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen mußte auch die deutsche Minderheit kalmieren. Die Abgeordneten und die Vertreter der sudetendeutschen "Landesregierungen" waren bereits am 24. Sep­ tember von der österreichischen Nationalversammlung feierlich verab­ schiedet worden. Zudem darf nicht vergessen werden, daß beide Staaten in Ungarn, wo im Sommer 1919 die Reaktion unter Kontreadmiral Mikl6s Horthy die Räteherrschaft Bela Kuns vertrieben und abgelöst hatte, einen gemeinsamen Gegner besaßen. Aus Budapest, das noch des Friedensver­ trags harrte, drohte Restauration und Revanchismus. Für eine Annäherung an die CSR sprach aber auch, daß sich in der Tsche­ choslowakei gleichfalls die Sozialdemokraten unter Ministerpräsident Vla­ stimil Tusar in einer der Alpenrepublik ähnlichen Koalition an der Regie-

6 Walter Goldinger und Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918-1938 (Wien - München 1992) 54f.; vgl. außerdem Otto Ender, Vorarlbergs Schweizer-Anschluß-Bewegung von 1918-1922 (=Schriften zur Vorarlberger Lan­ deskunde 5,1952); Daniel Witzig, Die Vorarlberger Frage (1918-1922) (Basel- Stutt­ gart2 1974). 7 Rauscher, Renner, 204f. 16 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr rung befanden. Nicht zuletzt war die Aufbereitung einer guten Gesprächs• basis auch dem wohl fähigsten österreichischen Diplomaten der Zwischen­ kriegszeit, Ferdinand Marek, zu verdanken. Der gebürtige Prager hatte in Leitmeritz das deutsche und in Königgrätz das tschechische Gymnasium besucht, in Wien studiert und in der Monarchie den Posten eines Sekretärs in der Brünner Handelskammer bekleidet. Marek, der nicht nur fließend Tschechisch sprach, sondern auch über ausgezeichnete Kontakte zu Toma!!; Masaryk und Edvard Bene!!; verfügte, sollte die Mission sodann auch durchgehend bis zum März 1938 führen. Gegenüber dem tschechoslowakischen Vertreter in Wien, Robert Flieder, regte Renner bilaterale Verhandlungen an einem "unauffälligen" Ort an. Flieder gegenüber sprach er - bezugnehmend auf die Entwicklung in Un­ garn - sogar von der Notwendigkeit einer Föderation zwischen Öster• B reich, der Tschechoslowakei und Jugoslawien • Der tschechoslowakische Außenminister hielt eine Zusammenkunft mit Renner - und zwar in Prag - allerdings nicht bloß als "sehr wünschenswert und als ein politisches Er­ eignis ersten Ranges namentlich in internationaler Richtung". Bene!!; ver­ sprach sich von einem "freundschaftlichen Einvernehmen" - gerade in Hinblick auf die ungarische Entwicklung - eine Festigung der internatio­ nalen Stellung der beiden Staaten (ADÖ 3/376). Freilich gab Bene!!; dabei vor, mit dem Staatskanzler zwar über Fragen der Staatsangehörigkeit sowie über wirtschaftliche und Minderheitenprobleme, keinesfalls aber über eine Allianz oder Föderation verhandeln zu wollen. Eine politisch ori­ entierte Konföderation lehne er, so ließ er es Geschäftsträger Marek jeden­ falls wissen, "vollkommen ab und werde sie, so lange er etwas zu sagen habe, jederzeit ablehnen" (ADÖ 3/378). Am 10. Januar 1920 traf schließlich die österreichische Delegation in Prag ein. In sichtlich entspanntem Klima versicherte Renner in seiner streng geheimen Unterredung mit Außenminister Bene!!;, daß sich die Stimmung in Österreich gewandelt und sich die Bevölkerung mit dem Friedensver­ trag und der Eigenstaatlichkeit der CSR abgefunden habe.9 "Die Vergan­ genheit ist begraben, was war, ist gewesen und wir müssen vom Frischen neu anfangen ... Der deutsche Nationalismus, der früher insbesondere durch den deutsch-böhmischen Einschlag in der österreichischen Politik genährt war, ist heute vorüber." Was nun den Revisionismus und restaura­ tive Strömungen der Ungarn anbelangte, führte der Staatskanzler aus, daß die magyarische Führungsschichte schon aus innenpolitischer Notwendig­ keit auf die territoriale Integrität des Königreichs bestehen müsse. Sie könnten den Friedensvertrag gar nicht annehmen, sonst breche das ganze

8 Karl F. Richter, Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der Repu­ blik Österreich in der Zwischenkriegszeit. In: Gleichgewicht - Restauration - Re­ vision. Die Außenpolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Europa­ system der Pariser Vororteverträge, hg. von Karl Bosl (München - Wien 1976) 355-380; hier 360 ff. 9 Siehe auch Unterhändler des Vertrauens. Aus den nachgelassenen Schriften von Sektionschef Dr. Richard Schülier, hg. von Jürgen Nautz (=Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte 9, Wien-München 1990) 244f.; Rauscher, Renner, 206-211. Die österreichische Außenpolitik unter Kar! Renner und Michael Mayr 17

Regime zusammen. Die Engländer, so meinte Renner, die Budapest zu einem Brückenkopf ihres Einflusses ausgestalten wollten, würden die Ma­ gyaren dabei unterstützen. In Österreich wären dagegen die monarchisti­ schen Bestrebungen - geschrumpft auf einen kleinen christlichsozialen Kreis - nicht mehr bedenklich. Der Kanzler hob aber hervor, daß Öster• reich bei seinem kleinen Berufsheer nur defensiv agieren könne. "Wenn man uns von den 30.000 Mann Soldtruppen befreien würde, könnten wir eventuell ein ganz anderes Engagement eingehen." Benes beruhigte den Staatskanzler wiederum hinsichtlich des Schicksals der deutschen Mino­ rität. Renner hielt in diesem Zusammenhang die Anwesenheit von Masaryk, Tusar und Benes an der Staatsspitze für wichtig, benötige doch die Wiener Regierung in Böhmen die nationale Ruhe, um zu Hause eine ruhige Politik betreiben zu können. Das von Renner und Benes unterzeichnete Geheimprotokoll vom 12. Ja­ nuar versprach so dann gegenseitige diplomatische und politische Unter­ stützung im Falle einer ungarischen Bedrohung. Die Lieferung von Waffen an Ungarn sollte künftig verhindert und das Königreich dabei einer "sehr strengen Blockade" unterworfen werden. Die CSR und Österreich garan­ tierten einander die volle und konsequente Einhaltung des Friedensver­ trages, "insbesondere hinsichtlich des Gebietes von Westungarn". Aus­ drücklich wurde betont, daß diese Abmachungen nur defensiven Charakter besaßen. Auf Ansprüche, die vertraglich nicht beinhaltet waren, wollten so­ wohl die Alpenrepublik als auch die Tschechoslowakei verzichten. Für den Fall eines magyarischen Angriffs auf einen der beiden Staaten sollte in freien bilateralen Vereinbarungen eine etwaige militärische Kooperation erwogen werden. Die Frage der nationalen Minderheiten wurde als rein internes Problem des jeweiligen Staates betrachtet. Beide Teile sagten sich zudem die gegenseitige Unterstützung in der Abwehr einer habs­ burgischen Restauration zu. Eine Donaukonföderation wurde ebenfalls abgelehnt. Trotzdem wollten beide Länder wirtschaftlich enger zusam­ menarbeiten (ADÖ 3/410). Diese Abmachungen sollten zwar geheim bleiben, doch bereits am Tag der Unterzeichnung des Geheimprotokolls zeigte sich die Budapester Zeitung "Az ujsag" bestens über dessen Inhalt informiert.10 Renner mußte jedoch auch mit einem für die Öffentlichkeit präsentabIen Erfolg in die Heimat zurückkehren. Das Resultat wurde allerdings als sehr dürftig angesehen. So kam man etwa überein, Kommissionen für die Regelung der Grenz­ fragen, des Minderheitenschutzes, der Staatsbürgerschaft, von Schieds­ sprüchen sowie für Verkehrs- und Versorgungsprobleme zu bilden. Erst nach langwierigen Verhandlungen konnte ein Abkommen über eine täg• liche Lieferung von 500 Waggons Kohle abgeschlossen werden. Darüber hinaus wurde Österreich für die Dauer von zweieinhalb Monaten eine Zuckermenge von insgesamt 2500 Waggons in fünf Teillieferungen zuge­ standen.

10 Lajos Kerekes, Von St. Germain bis Genf. Österreich und seine Nachbarn 1918-1922 (Wien - Köln - Graz 1979) 161 f. 18 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr

Trotzalldem wertete Renner - ähnlich wie Benes - die Entspannung der bilateralen Beziehungen als beachtlichen Erfolg. Ohne Zweifel konnte die österreichische Delegation, die am 13. Januar Prag wieder verließ, fest­ stellen, von durchwegs freundlichen Gastgebern empfangen worden zu sein. Selbst mit Staatspräsident Masaryk, der sich in der Vergangenheit wenig schmeichelhaft über den österreichischen Kanzler geäußert hatte, führte Renner eine befriedigende Unterredung über gesamteuropäische Fragen. Nur Karel Kramar und Finanzminister Alois Rasin hielten sich den Zusammenkünften demonstrativ fern. Das Klima zwischen den beiden mittlerweile so ungleichen Nachbarn hatte sich jedenfalls merklich verbes­ ll sert . Nichtsdestoweniger blieb die massive öffentliche Kritik nicht aus. Am 14. Januar gestand Renner vor dem Kabinettsrat auch durchaus ein, in wirtschaftlicher Hinsicht weit hinter den ohnedies bescheidenen Erwar­ tungen geblieben zu sein. Trotzdem versicherte er, aufgrund der politi­ schen Schwierigkeiten, in denen sich selbst die Tschechoslowakei befinde, das Äußerste erreicht zu haben (ADÖ 3/412). In seinem Bericht im Aus­ schuß für Äußeres betonte Renner wiederum den Wunsch Österreichs nach geordneten Friedensbeziehungen gerade mit der Tschechoslowakei, mit der die Alpenrepublik wirtschaftlich am innigsten verbunden sei. Der Staatskanzler unterstrich die entscheidende Bedeutung der Konsolidie­ rung der beiden benachbarten Staaten für ganz Mitteleuropa. Er erklärte die Überwindung "einer leidvollen Vergangenheit voller Mißverständnisse und Zerwürfnisse" ebenso zur Aufgabe wie die Anbahnung einer amikaIen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der beiden aufeinander so angewie­ senen Staaten. Dies bedeute deswegen keinesfalls ein Bündnis, sondern le­ diglich gute Nachbarschaft. "Mag das unmittelbare Ergebnis der Prager Zusammenkunft", so lautete sein Resurne, "insbesondere nach seiner wirt­ schaftlichen Seite hin, wenig befrieden, so bedeutet es doch den Durch­ bruch durch eine Mauer von Feindseligkeiten, die erste offene Verständi• gung mit einem Nachbarstaat und damit das Ende der Vereinsamung, unter der wir so schrecklich zu leiden haben. Es ist ein erster, zaghafter Schritt, der uns aus der Verlassenheit herausführt; der erste bescheidene Schritt auf dem Weg ins Freie" (ADÖ 3/415). Die de-facto-Anerkennung des Pariser Vertragssystems durch die Prager Abmachungen, die Abwendung des gebürtigen Südmährers von der sude­ tendeutschen Frage als ein internes Problem der Tschechoslowakei sowie die deutliche antiungarische Politik forderte eine starke Opposition heraus. Sowohl die Großdeutschen als auch Teile der christlichsozialen Partei betrachteten die Prager Reise als Verrat, als Verletzung der Neutra­ litätspolitik und als Beispiel für die Fortsetzung einer Geheimdiplomatie vergangener Zeiten. Auch Generalkonsul Alfred Rappaport warnte in seiner Denkschrift vom 14. Januar 1920 vor einer Beteiligung Österreichs an der "Einkreisung Ungarns". Vielmehr sah er Vorteile darin, zu allen Nachfolgestaaten inklusive Ungarns freundschaftliche Beziehungen zu

11 Am 7. Juni 1920 sollte sodann in Brünn ein V:~rtrag über Staatsbürgerschaft und Minderheitenschutz unterzeichnet werden (ADO 3/447). Die österreichische Außenpolitik unter Kar! Renner und Michael Mayr 19

pflegen. Neben dem wirtschaftlichen Interesse könnte Österreich schließ• lich bei den Streitigkeiten der Nachbarstaaten untereinander die Rolle des "ehrlichen Maklers" übernehmen, "wozu wir einerseits gerade durch unsere Schwäche, andererseits durch Vertrautheit mit den Verhältnissen besonders berufen erscheinen" (ADÖ 3/413). In einer parlamentarischen Anfragebeantwortung versicherte Renner da­ gegen, daß mit der Tschechoslowakei kein die beiden Staaten unmittelbar verpflichtendes Übereinkommen, kein Staatsvertrag geschlossen worden war. Konfrontiert mit dem Vorwurf des Bittganges erinnerte er daran, daß der Vertrag von Saint-Germain Österreich sowohl in bezug auf Kohle- und Lebensmittellieferungen als auch hinsichtlich einer Kredithilfe nicht zu unterschätzende Rechte und Ansprüche gewährte. Doch dafür mußte man eben entsprechende Pflichten übernehmen. Der bekannt wandlungsfähige Pragmatiker betonte nun, daß "geschichtlich, sachlich und volklich" Öster• reichs nächster Weg nach Prag führe. Und er nahm auch zum Vorwurf Stellung, die deutsche Minderheit in der CSR im Stich gelassen zu haben: "Das Los unserer ehemaligen deutschen Staatsgenossen in der tschecho­ slowakischen Republik wird unserem Volke immer am Herzen liegen, aber eine richtige Einschätzung der realen Machtverhältnisse in der Welt und unserer eigenen Kraft wird uns darüber belehren, daß die sechseinhalb Millionen Österreicher in dem wirtschaftlichen und politischen Zustand, in dem sie sich heute befinden, außerstande sind, irgendwie sich zum Schützer der drei Millionen Deutschen in der Tschechoslowakei aufzu­ werfen" (ADÖ 3/421). Renner schloß im Gegensatz zum bürgerlichen Flügel der Christlich­ sozialen eine Orientierung zum Horthy-Regime - schon wegen der Bur­ genlandfrage - aus. Das Verhältnis der beiden Nachbarn zu einander blieb gespannt bis feindselig. Bereits in den ersten Augusttagen 1919 war das Burgenland von magyarischen Freikorpseinheiten besetzt worden. Im Zuge dessen wurde das Land nicht bloß von den Bolschewisten Bela Kuns, l2 die teilweise nach Österreich ins Exil geflüchtet waren , "gesäubert", son­ dern auch an den Sympathisanten eines Anschlusses an Österreich blutige Vergeltung geübt. So herrschte im Burgenland der "weiße Terror". Die Auf­ forderung Wiens an Budapest, die ungarischen Truppen aus dem Burgen­ land abzuziehen, wurde von Horthy martialisch beantwortet. Sollten öster• reichische Einheiten es wagen, ihren Fuß auf "vaterländischen" ungari­ schen Boden zu setzen, würde mit ihnen wie mit "Einbrecherbanden" ver­ fahren werden13.

12 Im Zuge der Verhandlungen zum österreichisch-sowjetischen Repatriierungsab­ kommen, das am 5. Juli 1920 in Kopenhagen abgeschlossen wurde (ADÖ 3/450), er­ reichte Wien nicht nur eine merkliche Beschleunigung der Heimkehr österreichi• scher Kriegsgefangener, sondern es gelang auch die Abschiebung der ungarischen ~ätefunktionäre nach Rußland. - Hanns Haas, Das Kopenhagener Abkommen. In: Osterreichische Osthefte 22 (1980) 1, 32-54. 13 Zur Burgenlandfrage vgl. Eduard Hohenbichler, Republik im Schatten der Monar­ chie. Das Burgenland ein europäisches Problem (Wien - Frankfurt - Zürich 1971); Akten und Dokumente des Außenamtes (State Department) der USA zur Burgen­ land-Anschlußfrage 1919-1920, hg. von Jon D. Berlin (= Burgenländische For­ schungen 67, Eisenstadt 1977). 20 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr

Bereits im Herbst 1919 hatte sich Renner an Clemenceau gewandt und die Zusammenarbeit mit Benes gesucht. Die Entente aber zögerte. Mit dem Ende der Räte-Herrschaft in Ungarn hatte sich die Situation grundlegend geändert. Schon um gegen etwaige Aspirationen Österreichs für einen An­ schluß an Deutschland über ein Druckmittel zu verfügen, blieb vorerst eine deutliche Unterstützung für die Erste Republik aus. Daneben machten sich jedoch selbst die deutschsprachigen westungarischen Großgrundbesitzer für den Weiterverbleib des Burgenlandes bei Ungarn stark. Renner ging aber davon aus, daß mit dem noch ausstehenden ungarischen Friedensver­ trag eine für Österreich positive Entscheidung zu erwarten war, und so verzichtete er auf eine militärische Aktion. Die Magyaren forderten da­ gegen eine unter der Aufsicht ungarischer Behörden durchgeführte Volks­ abstimmung und boten dem Burgenland Autonomie an. Österreich wollte man Zugeständnisse machen in Form von wirtschaftlichen Kompensa­ tionen, Präferenzzöllen, ja sogar mit der Fortführung der alten österrei• chisch-ungarischen Wirtschaftseinheit. Wien lehnte diese Angebote frei­ lich ab. In der Nationalversammlung am 19. Februar erklärte Renner die Stellung der Regierung zur Burgenlandfrage. Laut Friedensvertrag gehöre das Bur­ genland ohnehin schon de iure zu Österreich, dieser Streitpunkt sei somit eine "entschiedene Sache". Das Burgenland oder Deutschwestungarn, als das es vielfach noch bezeichnet wurde, gehöre klar zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet. Im Gegensatz zur ungarischen Auffassung der hi­ storischen Grenzen ging Renner nach wie vor vom Prinzip des geschlos­ senen nationalen Wirtschaftsgebietes aus. Die Inkorporation der Deut­ schen Westungarns stellte für ihn nur die Wiedergutmachung einer alten, historischen Annexion dar. Die österreichische Regierung wolle "das Land wirklich befreien und zu sich selbst kommen lassen". Eine Volksabstim­ mung sollte keinesfalls unter der Besetzung durch eine der beiden Streit­ parteien, sondern von den Landesbehörden selbst durchgeführt werden. Die Frage des Plebiszits war für ihn ohnedies höchstens eine Frage zwi­ schen Österreich und dem Burgenland selbst, keineswegs aber eine zwi­ schen Wien und Budapest. Westungarn sollte die Verfassung eines öster• reichischen Bundeslandes, die Freiheit zur Wahl eines Landtages und einer Landesregierung gegeben werden (ADÖ 3/430). Ende März erhielt die Erste Republik, nachdem der Staatskanzler wenige Tage zuvor die Entente-Vertreter wieder einmal auf die wirtschaftliche und soziale Not Wiens sowie auf die drohende Anarchie aufmerksam ge­ macht hatte, endlich einen Warenkredit für 200.000 Tonnen Mehl aus Ame­ rika gewährt. England, Frankreich und die skandinavischen Staaten schlossen sich dieser Aktion an. Zur Abdeckung dieser Kredite mußte allerdings Staatseigentum verpfändet werden, sodaß die Verschuldung weiter anstieg. Am 30. März erreichte Renner wiederum durch die Vermittlung des Ge­ sandten Pietro Paolo Tomasi Marchese della Torretta die offizielle Einla­ dung Ministerpräsident Francesco Nittis zu einem Staatsbesuch zu Ostern in Rom. Der süditalienische, linksorientierte Politiker, ein Mitglied des letzten Kriegskabinetts, wollte, wie es hieß, das Verhältnis zu Deutschland Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 21 und Österreich "bereinigen". Renner erhoffte sich davon den Ausbau der italienisch-deutschen Beziehungen als Ausgleich zu den Bestrebungen Paris' und Prags in Mitteleuropa. Österreich durfte allerdings keinesfalls für italienische Sonderinteressen verpflichtet werden und damit eine Ver­ stimmung Englands und Frankreichs bewirken. Schließlich könnte da­ durch auch Jugoslawien gegen Österreich auf den Plan gerufen werden. Aber die Alpenrepublik benötigte angesichts der noch offenen Kärnten• und Burgenlandfrage die Unterstützung Italiens. Selbst in der Südtirolpro• blematik hoffte man in Österreich auf Konzessionen. Ohne viel Zeit für Vorarbeiten reiste Renners Delegation, der auch die Staats- bzw. Unterstaatssekretäre Loewenfeld-Russ, Paul, Zerdik und Wilhelm Ellenbogen (Staats amt für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten) sowie Sektionschef Schüller angehörten, mit dem ehemaligen 14 Hofzug Kaiser Karls nach Rom, wo sie am 7. April ankam • Tags darauf kam es zur Begegnung mit dem König, am 9. April machte der Kanzler dem Papst seine Aufwartung. Während kirchenpolitische Ver­ handlungen durchwegs vermieden worden waren, führte Renner mit Nitti gleich drei Unterredungen. Hinsichtlich einer italienischen Unterstützung für eine rasche Volksabstimmung in Kärnten waren die Bemühungen von Erfolg gekrönt. Österreichs Anschluß an Deutschland wollte Nitti hingegen nicht vor dem Völkerbund fördern, stellte ein Großdeutschland an der Brennergrenze doch für Rom eine unerfüllbare Zumutung dar. Renner ver­ mochte dem italienischen Ministerpräsidenten zudem bloß eine mündliche Zusage hinsichtlich der Gewährung einer Autonomie für Südtirol abzu­ ringen. Nitti weigerte sich standhaft, eine schriftliche Verpflichtung einzu­ gehen (ADÖ 3/438). Am 12. April kam es zum Abschluß eines Geheimvertrags, in welchem sich Italien verpflichtete, die territoriale Integrität der Alpenrepublik zu schützen. Auch in diesem Abkommen wurde sowohl einer Habsburgerre­ stauration als auch einer Donaukonföderation eine klare Absage erteilt. Österreich erhielt die Zusage einer Unterstützung Italiens gegen jeden Ag­ gressor. Diese Defensivallianz richtete sich in der Praxis einerseits gegen ein jugoslawisches Vorgehen in Kärnten wie andererseits gegen die unga­ rischen Ansprüche in der Burgenlandfrage. Analog zum Abkommen mit Benes wurde auch diesmal die Behandlung der Minderheiten - also der deutschsprachigen Südtiroler - zur rein inneren Frage erklärt. Dagegen versprach Renner, Italien über alle wirtschaftlichen und politischen Ver­ handlungen mit anderen Staaten zu unterrichten (ADÖ 3/441). Diese unge­ wöhnlich enge Bindung wurde am Ballhausplatz nach Renners Abgang schon bald als "sehr peinlich" empfunden. Offiziell wurde das Abkommen zwar nie gekündigt, fand aber nach dem Besuch Ignaz Seipels in Rom auch keine Erwähnung mehr.

:~ Zur Rom-Reise siehe: Stefan Malter, Wien und Rom nach dem Ersten Weltkrieg. Osterreichisch-italienische Beziehu!}gen 1919-1923 ( = Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Osterreichs 66, Wien - Köln - Graz 1978) 31-45; Rauscher, Renner, 213-216. 22 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr

Die österreichische Öffentlichkeit empfand den Besuch beim "Erbfeind" keineswegs so positiv, wie ihn Renner immer wieder darzustellen ver­ suchte. Das schriftlich nicht fixierte Autonomieversprechen Nittis schien im Vergleich zum Wunsch einer Rückkehr Südtirols völlig ungenügend zu sein. Renners Verhalten wurde von konservativen und nationalen Kreisen als unterwürfig und geschmacklos, seine Politik als dilettantisch verurteilt. Die Reise und die Vereinbarungen - so meinte man - glichen einer Un­ terwerfung gegenüber den Siegern des Ersten Weltkriegs. Um dem "Ver­ räter" Italien zu gefallen, sei Südtirol endgültig preisgegeben worden. Die Polemik übersah dabei, daß ein Beharren auf der Position von 1918/19, eine unversöhnliche Haltung gegenüber den Nachbarn, die Erste Republik wohl einer internationalen Isolation und damit Hunger und Chaos ausge­ setzt hätte. Im Ausschuß für Äußeres betonte Renner so auch die Wichtigkeit der Wie­ derherstellung normaler Beziehungen und die Aufnahme von Verhand­ lungen über die Durchführung des Staatsvertrags von Saint-Germain. Der Staatskanzler sprach davon, "daß mehrhundertjährige Mißverständnisse zwischen den beiden Völkern aus der Welt geschafft und ihre Beziehungen auf neue Grundlagen gestellt sind". Beide Regierungen würden loyal darangehen, den Friedensvertrag auszuführen und Italien zudem die öko• nomischen Schwierigkeiten Österreichs berücksichtigen. Italien sollte Österreich nicht nur bei der Aufnahme in den Völkerbund, sondern auch bei der Sicherung seines in Saint-Germain garantierten Besitzstandes un­ terstützen. Die Frage der deutschen Bevölkerung in Südtirol blieb dabei wie gesagt ausgespart. Die wirtschaftlichen, verkehrstechnischen, finanz-, handels- und ernährungspolitischen Abmachungen schienen ihm wich­ tiger, als sich aussichtslosen nationalen Anliegen anzunehmen. Italien versprach einen Vorschuß von 20.000 Tonnen Mehl und Getreide für den sofortigen Abtransport nach Österreich. Außerdem beteiligte sich das Königreich mit 100 Millionen Lire an dem interalliierten Kredit für die Al­ penrepublik und stellte die für den österreichisch-italienischen Eisenbahn­ verkehr dringend benötigte Kohle zur Verfügung. Renner bezeichnete die Vereinbarungen als einen "verheißungsvollen Anfang". Sie revidierten den Friedensvertrag von Saint-Germain zwar nicht, leiteten aber immerhin seine Durchführung ein, wobei auf die schwierige Lage der Republik Rück• sicht genommen würde. Und so hielt er sie schlicht für die Voraussetzung für eine "dauernde Versöhnung beider Nationen" (ADÖ 3/441). Die Versorgungslage besserte sich Anfang Mai mit dem Einlaufen der er­ sten Dampfer aus Übersee in Triest tatsächlich. Ende September sollte schließlich die gesamte Lieferung im Wert von 24 Millionen Dollar durch­ geführt sein. Damit war die Brot- und Mehlversorgung Österreichs endlich wieder für längere Zeit gesichert. Am 10. Juni 1920 zerbrach dagegen die aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen gebildete Koalitionsregie­ rung. Die Idee einer Minderheitsregierung war rasch verworfen. Man ent­ schied sich vielmehr für eine sogenannte "unpolitische Übergangsregie• rung" mit dem christlichsozialen Staatssekretär für Verfassungs- und Ver­ waltungsreform, Michael Mayr, als Vorsitzendem und dem sozialdemokra­ tischen Staatssekretär für soziale Verwaltung, , als Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 23

dessen Stellvertreter. Renner verblieb in dem am 7. Juli gebildeten Pro­ porzkabinett immerhin Staatssekretär für Äußeres. Vor dem Hintergrund des russisch-polnischen Krieges entwarf er am Ball­ hausplatz die Konzeption eines übernationalen Sicherheitssystems in Mit­ teleuropa. Renner vermutete, daß Frankreich und vielleicht auch England die internationale Staatengemeinschaft bis zum nächsten Frühjahr unter starken Druck setzen könnten und einen Krieg gegen Sowjetrußland vor­ bereiteten. Dagegen mußte schon jetzt Vorsorge getroffen werden. Jeder Krieg zwischen Ost und West würde den vollständigen Ruin der mitteleu­ ropäischen Staaten und wahrscheinlich ihre Bolschewisierung bedeuten. Die "Mittelstaaten" sollten daher mit einer gemeinsamen Politik eine neu­ trale Barriere dagegen aufrichten. Innerhalb dieser gesicherten Gruppe konnten sich dann die Einzelstaaten einem kriegerischen Konflikt ent­ ziehen. Die bestehenden Abkommen und Friedensverträge sollten aus­ drücklich keine Änderung erfahren. Renner glaubte, mit einer solchen Neutralitäts-Entente die Franzosen daran zu hindern, sich für Europa ruinösen Hegemonieplänen hinzugeben. Den Bolschewisten würde sie wiederum den Vorwand einer unmittelbaren Bedrohung entziehen, durch den sie den Kriegswillen in Rußland aufrecht­ erhielten und die Idee des Marxismus nach Westen tragen wollten. Dieser mitteleuropäische Neutralitätspakt machte nach Renners Ansicht den Rü• stungsanstrengungen beider Seiten ein Ende. Gleichzeitig vermittelte er der ungeduldigen und revolutionswilligen Bevölkerung die beruhigende politische Vision, daß die zentraleuropäischen Staaten mit ihrer Auffas­ sung einer "sozialen Demokratie" sowohl den Imperialismus des Westens als auch den Bolschewismus des Ostens ablehnten. Der Außenstaatssekretär sah allerdings nur dann eine Chance auf die Ver­ wirklichung dieses Plans, wenn er nicht von Österreich, als einem kleinen, besiegten Land, sondern von anderen Staaten propagiert würde. Daher wollte er die Initiative Italien überlassen. Wien sollte sich ganz zurück• halten, Prag vorgeschoben und Berlin erst offiziell durch die römische Re­ gierung mit dieser Konzeption befaßt werden (ADÖ 3/461 bzw. 3/461 A). Für die neugegründeten siegreichen Nationalstaaten bedeutete aber nicht ein möglicher Ost-West-Konflikt, sondern vielmehr eine habsburgische Re­ stauration und ungarische Revanchegelüste eine anhaltende und ernste Gefahr. Die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien fühlten sich über die gesamte Zwischenkriegszeit von einer ungarischen Aggression, die die Grenzziehungen anfocht, bedroht. Eine Zusammenarbeit der Nach­ folgestaaten der Habsburgermonarchie schien in der Folgezeit deshalb immer nur gegen, aber nie mit Ungarn möglich. Schon am 14. August 1920 schlossen daher die CSR und Jugoslawien einen akzentuiert antimagyari­ schen Vertrag ab. Dieser bildete den Ausgangspunkt der noch folgenden bilateralen Abkommen mit Rumänien, die in ihrer Gesamtheit schließlich die drei Staaten zur "Kleinen Entente" formierten. Gestützt auf das Au­ ßenamt, dachte Renner aber keineswegs daran, Österreich an die Kleine Entente zu binden. Zwar versuchte er zu ihren drei Mitgliedsstaaten ein freundschaftliches Verhältnis zu unterhalten und die Wirtschaftsbezie­ hungen auszubauen, doch vor einer slawisch dominierten Mitteleuropa- 24 Die österreichische Außenpolitik unter Kar! Renner und Michael Mayr politik ohne Deutschland schreckte er zurück. Diplomatisch zog er sich auf ein diesbezügliches Werben Prags und Belgrads mit dem formalen Argu­ ment aus der Affäre, daß die Alpenrepublik gar nicht das Recht besitze, an solchen Abmachungen teilzunehmen. Zwischen Österreich und Jugoslawien stand zudem noch die Kärntner Frage. Der Staatsvertrag von Saint-Germain sah bekanntlich drei Monate nach seiner Ratifikation durch das Ausland eine Volksabstimmung unter internationaler Kontrolle vor. Bis dahin wurde die südliche Zone A von südslawischen, die nördliche Zone B von österreichischen Einheiten be­ setzt. In Zone B sollte freilich nur dann ein Plebiszit abgehalten werden, falls sich die Mehrheit in der Zone A für das südslawische Königreich ent­ scheiden würde. Wenige Tage nach Inkrafttreten des Friedensvertrages von Saint-Germain am 16. Juli 1920 nahm die Alliierte Abstimmungskom­ mission ihre Tätigkeit in Kärnten auf, wo seit Monaten von beiden Seiten wahre Propagandaschlachten initiiert worden waren. Renner fuhr gemeinsam mit dem Staatssekretär für Heereswesen, Julius Deutsch, und dem Innenstaatssekretär nach Kärnten, um mit der Landesregierung und den Landespolitikern den Vorgang des Ple­ biszits zu besprechen. Da die südslawischen Besatzungstruppen die Bevöl• kerung in der Zone A mit oft gewaltsamen Mitteln schwer unter Druck setzten, befürchtete Renner, daß die Volksabstimmung dort für Österreich ungünstig ausgehen könnte. Auf der Konferenz von St. Veit an der Glan am 27. Juli (ADÖ 3/459) äußerte er deshalb sogar die Idee, in der südlichen Zone auf das Plebiszit überhaupt zu verzichten. Es sei besser, so argumen­ tierte er, Jugoslawien einen Teil des umstrittenen Gebietes zu überlassen, als womöglich alles zu verlieren'5• Doch die Kärntner zeigten sich auf­ grund von Umfragen ihrer Vertrauensleute hinsichtlich des Ausgangs opti­ mistisch. Das Resultat der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 sollte ihnen recht geben, denn immerhin 59 Prozent der Bevölkerung ent­ schieden sich für einen Weiterverbleib des Landes bei Österreich. Die Lan­ deseinheit blieb damit gewahrt. Jugoslawien wollte das Ergebnis aller­ dings nicht kampflos zur Kenntnis nehmen und ließ Truppen in die Zone A einmarschieren, die jedoch aufgrund eines Beschlusses der Pariser Bot­ l6 schafterkonferenz bald wieder umkehren mußten • In den letzten Monaten als Außenstaatssekretär setzte sich Renner vehe­ ment für einen Beitritt Österreichs zum Völkerbund ein. England und Frankreich bekundeten auch durchaus den Wunsch, Österreich möge sich um die Aufnahme bewerben. Renner erhielt vom Kabinettsrat am 8. No­ vember 1920 die Zustimmung für ein Ansuchen beim Völkerbund in Genf (ADÖ 3/480). Am 15. Dezember 1920 wurde schließlich die Aufnahme mit einer Stimmenthaltung (Australien) beschlossen (ADÖ 3/488). Der Präsi• dent des französischen Senats, Bourgeois, vergaß freilich nicht, die ent-

15 Wilhelm Neumann, Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918-1920. Legenden und Tatsachen (Klagenfurt 1970) 64-192. 16 Zum Plebiszit vgl. auch die einzelnen Beiträge in: Kärntens Volksabstimmung 1920, hg. von Helmut RumpIer (Klagenfurt 1981) sowie Martin Wutte, Kärntens Frei­ heitskampf 1918-1920 (Klagenfurt 31985). Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 25 scheidende Rolle Paris' zu betonen und sprach gleichzeitig die Hoffnung aus, daß die Aufnahme keine den Intentionen und freundschaftlichen Ge­ sinnungen Frankreichs widerstreitende Wirkungen zeitigen würde, insbe­ sondere, daß die gleich darauf in den Zeitungen aufgetauchten Nach­ richten unrichtig seien, "wonach unser erster Schritt im Völkerbunde die Bewerbung um den Anschluß an Deutschland sein wird" (ADÖ 3/489). Nach den Nationalratswahlen bildete der Historiker, Archivar und Univer­ sitätsprofessor Michael Mayr nun als Bundeskanzler am 20. November 1920 eine neue Regierung. Als Ressortleiter für die auswärtigen Angele­ genheiten fand er besonders die Burgenlandfrage als ungelöstes Problem vor. Budapest glaubte freilich, gerade von der neuen - christlichsozial do­ minierten - Bundesregierung namhafte Zugeständnisse als Kompensa­ tion für Lebensmitteltransporte zu erlangen. Ein Autonomieplan für West­ ungarn wurde ausgearbeitet, der das strittige Gebiet allerdings beim Kö• nigreich beließ. Auch nach dem Friedensvertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 blieb das Burgenland ungarisch besetzt. Und Budapest warnte Frank­ reich vor einer Vergrößerung Österreichs, das sich doch nur an Deutsch­ land anschließen wolle. Die ungarische Diplomatie wandte sich auch nach Rom, das der Ersten :Republik die Autonomie Westungarns anbieten sollte. Im Rahmen der österreichisch-ungarischen Verhandlungen zu einem bila­ teralen Handelsvertrag in Budapest wollte Außenminister Imre Graf Csaky immer noch nichts von einer friedensvertragsgemäßen Übergabe des Streitobjekts wissen und betonte seinen Willen zum Widerstandl7 • Un­ garn ratifizierte allerdings den Friedensvertrag von Trianon am 16. No­ vember. Als Mayr vor dem Nationalrat am 4. Dezember 1920 deutlich machte, zuerst das Burgenland in Besitz nehmen und bestenfalls danach über gewisse Zugeständnisse verhandeln zu wollen, reagierte Budapest empört. Aufgrund des nachdrücklichen Drängens Wiens beschloß die Pa­ riser Botschafterkonferenz schließlich am 22. Dezember, daß das Burgen­ land an die Alliierte Militärkommission in Ödenburg zu übergeben sei. Es wundert nicht, daß sich daraufhin die österreichisch-ungarischen Bezie­ hungen weiter verschlechterten und Freischartruppen im Burgenland selbst vor Terrorakten nicht zurückschreckten. Ungarn versuchte Öster• reich zudem wirtschaftlich zu erpressen, drängte auf bilaterale Verhand­ lungen noch vor der Ratifikation des Friedensvertrages und strebte eine Zweiteilung des umstrittenen Gebiets an. Die Bundesregierung beabsich­ tigte freilich, lediglich über Details - und nach der Übergabe des Burgen­ lands - mit sich reden zu lassen. Die Botschafterkonferenz sprach letzt­ lich allerdings doch kein Machtwort zugunsten Österreichs, sondern ver­ schob die endgültige Entscheidung auf Betreiben Ungarns am 22. Januar 1921 auf langwierige bilaterale Besprechungen. Diese Verhandlungen be­ gannen in Wien am 23. Februar. Graf Csaky wies dabei darauf hin, daß die alte Grenze zwischen Österreich und Ungarn sich mit wenigen Aus­ nahmen den geographischen Verhältnissen anpasse. Es handle sich dabei also um eine "natürliche Grenze". Zudem wies er das österreichische Argu­ ment, wonach das Burgenland ein produktives Gebiet sei, zurück. Sek-

17 Kerekes, Von St. Germain bis Genf, 257. 26 Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr tionschef Robert Davy aus dem Bundesministerium für Inneres und Unter­ richt machte dagegen aufmerksam, daß sich die österreichische Regierung gar nicht mehr in der Lage befinde, über das strittige Gebiet frei zu dispo­ nieren. Die Grenzbestimmungen von Saint-Germain und Trianon seien in dieser Frage praktisch ident. Bereits beschlossene Verfassungsgesetze zum einen und die Entscheidung der Pariser Botschafterkonferenz vom 22. Juli 1920 zum anderen würden Wien derart die Hände binden, "daß die Erreichung eines Einverständnisses über einzelne Punkte des Grenzzuges das Ziel dieser Verhandlungen bleiben muß" (ADÖ 3/507). Doch diese sollten schließlich ohne zählbares Ergebnis enden (ADÖ 3/538). Der erste Restaurationsversuch Karl Habsburgs in Ungarn führte natur­ gemäß auch zu Irritationen in Österreich. Im Ausschuß für Äußeres am 31. März 1921 wie gegenüber ausländischen Diplomaten betonte der Bun­ deskanzler Österreichs neutrale und verfassungskonforme Haltung. Der wortgewaltige Führer der sozialdemokratischen Opposition und ehemalige Außenstaatssekretär, Otto Bauer, verlangte von der Regierung, "alle diplo­ matischen Mittel aufzuwenden, um allen Mächten unzweideutig klar zu machen, dass ein Mann, der auf den österreichischen Thron Anspruch erhebe, in Ungarn nicht König werden könne." Bauer forderte weiters - angesichts eines möglichen Konflikts Ungarns mit der Kleinen Entente - militärische Vorkehrungen zur Grenzsicherung (ADÖ 3/515). Die aufge­ brachten Sozialdemokraten stellten tags darauf im Nationalratsplenum eine dringliche Anfrage, in der unter anderem verlangt wurde, den Ex­ Kaiser beim Betreten "deutschösterreichischen Bodens [sic!] verhaften zu lassen und seine Durchreise in ein anderes Land nur als Gefangenen der deutschösterreichischen Regierung und nur unter Bedingungen, die volle Bürgschaft gegen Störung der Sicherheit der Republik durch diese Reise bieten, zu gestatten". Der christlichsoziale Mayr erklärte alle Wünsche der Sozialdemokraten auch zu seinem eigenen Anliegen und versicherte des­ halb, "alle jene Sicherheitsvorkehrungen [zu] treffen, welche die volle Bürgschaft gegen die Störung der Ruhe und Sicherheit der Republik durch diese Reise bieten" (ADÖ 3/517). Das Verhältnis zwischen Österreich und der Tschechoslowakei besserte sich dagegen kontinuierlich. Am 2. Februar 1921 kam es zur Entrevue Bun­ deskanzler Mayrs mit Außenminister Benes im Zug Leoben-Graz. Es war ein äußerst einvernehmliches Gespräch, das dabei geführt wurde. Benes hob ausdrücklich hervor, die kriegerischen Gefühle in den Nachfolge­ staaten abbauen zu wollen. Vor allem das Verhältnis zwischen Prag und Wien müsse sich wieder "regulär" gestalten, komme Österreich doch als wichtiges Exportgebiet für die CSR in Betracht. Gleichzeitig erklärte er sich bereit, die Alpenrepublik in der westungarischen Frage zu unter­ stützen. Donaukonföderation und Anschluß an Deutschland wurden von beiden als Utopie verworfen. Mayr versprach für den Anschluß nichts zu tun, "die Bevölkerung müsse jedoch erst erzogen werden" (ADÖ 3/496). In einer geheimen Äußerung vom 4. Februar 1921 bezeichnete Lega­ tionsrat Lothar Egger freilich die "moeglichste Drangsalierung Oester­ reichs in jeder Beziehung" als das Leitmotiv der bisherigen Prager Außen• politik. Diese sollte dazu dienen, der Alpenrepublik ihre Ohnmacht vor Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 27

Augen zu führen und "hoechstwahrscheinlich auch ein uneingestandenes Endziel vorbereiten, naemlich die Zwingung Oesterreichs, an die Tsche­ choslowakei behufs Anbahnung eines besseren Verhaeltnisses bittend her­ anzutreten". Mit dem Beginn ostentativen Wohlwollens von seiten Frank­ reichs, mit dem Beschluß der Ententemächte, Österreich zu unterstützen, mußte auch Prag seine Politik ändern, "und die Zeichen einer gewissen Anbiederung ... stellen sich ein". "An die Stelle der bisherigen Drangsalie­ rungspolitik", so kam Egger zum Schluß, "ist eine solche der politischen Annaeherung getreten, die allein eine wirtschaftliche bewirken kann, und deshalb muß die Entrevue vom 2. d. M. als ein Wendepunkt in den Bezie­ hungen politischer und wirtschaftlicher Natur zwischen den beiden Staaten bezeichnet werden" (ADÖ 3/495). Und tatsächlich gestalteten sich l8 besonders die diplomatischen Kontakte immer enger • Sowohl die Außen- als auch die Innenpolitik Österreichs in den letzten Mo­ naten des Kabinetts Mayr 11 wurden freilich erneut von der Anschlußfrage beherrscht. Gerade von den Sozialdemokraten wie Bauer und Renner wurden statt des Terminus "Österreich" noch immer die mittlerweile völ• kerrechtlich inkorrekte Bezeichnung "Deutschösterreich" verwendet. In der letzten Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Ok­ tober 1920 war die Resolution des Großdeutschen Sepp Straffner ein­ stimmig angenommen worden, binnen sechs Monaten eine Volksabstim­ mung über den Anschluß an Deutschland anzuordnen. Die Landtage in Innsbruck und Salzburg installierten ihrerseits im Mai bzw. November so­ genannte Anschlußkommissionen. Tirol wollte Wien unter Druck setzen, indem es beschloß, spätestens am ersten Sonntag im März 1921 die Ab­ stimmung durchzuführen. Schließlich wurde der Termin des Plebiszits für den 24. April festgesetzt. Die Großdeutschen beantragten am 10. Februar 1921 ein Gesetz zur Durch­ führung der Volksabstimmung, deren Ziel ja bloß die Erforschung der Volksmeinung sein sollte (ADÖ 3/499). Die Landeshauptleute hatten wie­ derum am 1. Februar 1921 im niederösterreichischen Landhaus die länder• weise Abstimmung beschlossen; die Sozialdemokraten sprachen sich da­ gegen für eine bundesweite aus. Während seiner Aufenthalte in London und Paris im März bekam aber Bundeskanzler Mayr den Druck des Ober­ sten Rats zu spüren. Die Westmächte drohten mit der Einstellung der Hilfsaktion für Österreich. Das Tiroler Plebiszit fand trotzdem statt und brachte ein Ergebnis von 98,8 Prozent Ja-Stimmen für einen Anschluß an die Weimarer Republik. Nach einer Demarche der Westmächte fuhr Mayr nach Salzburg und Graz, wo die Abstimmungen für den 29. Mai bzw. 3. Juli angesetzt worden waren. In Salzburg mußte sich die Landesregierung letztendlich von der Beteiligung am Plebiszit zurückziehen, die Volksabstimmung sollte nur als eine reine

18 Über den Verlauf des bilateralen Verhältnisses in den zwanziger Jahren siehe z. B.: Walter Rauscher, , Edvard Benes und der Mitteleuropagedanke in den Qsterreichisch-tschechoslowakischen Beziehungen 1927-1929. In: Mitteilungen des Osterreichischen Staatsarchivs 43 (1993) 342-365; F. Gregory Camp bell, Con­ fron~ation in Central Europe. Weimar Germany and Czechoslovakia (Chicago 1975) paSSIm. 28 Die österreichische Außenpolitik unter Kar! Renner und Michael Mayr

Parteiveranstaltung gelten. "Die Bundesregierung" - so ließ Mayr seinen Missionschefs in einem Zirkular vom 22. Mai wissen - "hat sich daher auch unter Protest gegen diese Abstimmung entschlossen, aus dem Ergeb­ nisse derselben keinerlei Konsequenzen zu ziehen. Insbesondere wird sie es ablehnen, das Abstimmungsergebnis entgegenzunehmen und an den Völkerbund weiterzuleiten. Es war nicht möglich, das gänzliche Unter­ bleiben der Volksbefragung auch in dieser privaten Form zu erzielen, da sich starke fremde Einflüsse in Salzburg ... erwiesenermassen gegen den Willen der Bundesregierung in dieser Frage geltend gemacht haben." Die Anschlußbewegung würde eben umso mehr an Bedeutung gewinnen, je länger die Notlage Österreichs andauere. Die Hilfsaktion aus dem Ausland erdulde demgemäß keinen weiteren Aufschub (ADÖ 3/535). Bereits Mitte April hatte die französische Presse die Anschlußbewegung "als Fusstritte gegen jene Alliierten" bezeichnet, "die nach Kraeften helfen wollen". Am Quai d' Orsay verlieh man der Erwartung Ausdruck, daß wei­ tere einschlägige Veranstaltungen wohl unterlassen werden würden. "Solche fruchtlose Manifestationen wie die in Tirol seien im Interesse der hilfsbereiten Stimmung in den alliierten Staaten sehr zu bedauern." Die Unterlassung weiterer Plebiszite für den Anschluß, so kam man zum Schluß, "sei die unabaenderliche Vorbedingung fuer jede weitere Hilfelei­ stung seitens der Entente". Rom stilisierte die Sanierungsfrage für die Al­ penrepublik zum politischen Problem hoch. Man könne unmöglich Öster• reichs finanzielle Situation verbessern, damit dieses sich dann an Deutsch­ land anschließe (ADÖ 3/539). Eindringlich warnte man Wien: "Sollte tat­ sächlich der Anschlussgedanke greifbare Formen annehmen, so werde die Vereinigung unter allen Umständen verhindert werden. Frankreich werde dafür Sorge tragen und den Nachbarn freie Hand geben, Oesterreich mili­ tärisch zu besetzen" (ADÖ 3/205). Nichtsdestotrotz fiel das Salzburger Re­ sultat jedenfalls mit 99,3 Prozent der Stimmen deutlich für den Anschluß aus. Als es Mayr mißlang, die Steiermärkische Landesregierung zur Absetzung ihrer Volksabstimmung zu überreden, trat sein Kabinett am 1. Juni zu­ rück. Dabei bat selbst Berlin - schon aus Rücksicht auf die oberschlesi­ sche Frage und die Beziehungen zu Italien -, weitere Abstimmungen zu unterlassen. Die Resultate in Tirol und Salzburg genügten vollauf, um daraus propagandistisches Kapital besonders in den USA und Großbritan• nien zu schlagen (ADÖ 3/540 und 541). Nach jugoslawischem Druck und neuerlich gehegten Aspirationen auf die Draugrenze in Unterkärnten, der Einschaltung der Pariser Botschafterkonferenz, der massiven Einmi­ schung Frankreichs und Italiens sowie internem Druck innerhalb der christlichsozialen Partei widerrief der in Graz schlußendlich am 23. Juni die Abstimmung!9.

19 Vgl. etwa Alfred D. Low, The Anschluss Movement, 1931-1938, and the Great Powers (New York 1985) 14-20; Stanley Suval, The Anschluss Question in Germany and , 1918-1932 (Baltimore/London 1974); Goldingerund Binder, Geschichte der Republik, 78-82. Die österreichische Außenpolitik unter Karl Renner und Michael Mayr 29

Die Irritation über die Abstimmungen hatten Österreichs inferiore interna­ tionale Stellung neuerlich nur zu deutlich aufgezeigt. Die als erdrückend empfundenen Bestimmungen des Staatsvertrags von Saint-Germain, die Absperrung Österreichs von den traditionellen Versorgungsgebieten und Absatzmärkten, der eklatante Kapitalmangel sowie chauvinistische und prohibitive Tendenzen der Nachbarn hinderten die Alpenrepublik nach­ haltig, endlich vom Objekt zum Subjekt im System der Nachfolgestaaten aufzusteigen. Walter Rauscher