DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 5. Januar 2004 Betr.: Titel, Mahnmale, US-Wahlkampf icht mehr so fruchtbar wie einst sind Ndie Deutschen, und sie mehren sich nicht mehr gern – stark geschrumpft ist die Geburtenrate der Nation in der Nach- kriegszeit. Vor allem junge Akademikerin- nen entscheiden sich gegen Kinder und für die Karriere, als zu anstrengend erscheint ihnen der moderne Zweikampf in den Dis-

ziplinen Job und Mutter. Nicht leicht hat- MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL ten es die SPIEGEL-Redakteurinnen Anke Voigt, Dürr Dürr, 34, und Claudia Voigt, 37, bei ihren Recherchen denn auch, Termine mit berufstätigen Müttern abzustimmen. Babysitter und Kindergärten mussten mitspielen, auch bei den SPIEGEL-Frauen: Dürr hat zwei Söhne, 5 und 2, Voigt einen Sohn, 3. SPIEGEL-TV- Kollegin Britta Sandberg, 40, Mutter einer Tochter, 3, beschreibt, warum vielen Französinnen der Spa- gat zwischen Beruf und Erziehung gelingt. Jochen Bölsche, 58, der bei der Titelgeschichte die Feder führte, hat Erfahrungen mit zwei Kinder-Genera- tionen gesammelt: Der dienstälteste Redakteur im Hamburger SPIEGEL-Haus ist Vater zweier erwach- sener Kinder und, seit 16 Monaten, Großvater einer Sandberg, Tochter Viva Enkeltochter (Seite 38).

mmer wieder eingeholt wird die Berliner Republik von der Vergangenheit, und wie Ihilflos sie bald 59 Jahre nach Kriegsende im Umgang mit dem schweren Erbe der Nazi-Zeit ist, haben die SPIEGEL-Redakteure Stefan Berg, 39, und Henryk M. Bro- der, 57, beim neuen Denkmalstreit beobachtet. Die ersten von 2751 Beton-Stelen für das Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor sind schon aufgestellt, nicht weit davon soll an die verfolgten Homosexuellen und, separat, an Sinti und Roma erinnert werden. Aber auch die Verbände der Vertriebenen, der Opfer von Euthanasie und NS-Militärjustiz fordern Stätten des Gedenkens – und führen einen teils absurden Kampf gegen das Vergessen. „Es wäre sinnvoller gewesen, ein gemeinsames Denkmal für alle Opfer der Nationalsozialisten zu schaffen“, so Berg, „aber niemand hat den Mut, die Entscheidung jetzt noch zu revidieren“ (Seite 128).

as Rennen ist offen, und wenn sich der republikanische US-Präsident George DW. Bush am 2. November zur Wiederwahl stellt, könnte es so knapp ausgehen wie vor vier Jahren. Drei Protagonisten des Wahlkampfs traf der Washingtoner SPIEGEL-Korrespondent Gerhard Spörl, 53, die Orte waren zum Teil ungewöhnlich. Den demokra- tischen Bewerber Howard Dean sprach er in dessen Wahl- kampfzentrale im US-Bundesstaat Vermont, John Edwards, ursprünglich Favorit unter den Demokraten, im Washing- toner Turtle Park – wo Spörls Tochter, 3, und Edwards’ Kinder gelegentlich in der Sandkiste spielen. Mit Bushs Wahlkampfleiter Karl Rove plaudert der SPIEGEL-Mann bisweilen am Tresen einer Reinigungsfirma der Hauptstadt, beim Wäscheabholen. In zwei Wochen beginnen die De- mokraten damit, in Vorwahlen den Herausforderer Bushs

zu bestimmen. „Dean hat die besten Chancen, gegen den RICK FRIEDMAN Präsidenten anzutreten“, sagt Spörl (Seite 92). Spörl, Dean

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 2/2004 3 In diesem Heft

Titel Kindermangel gefährdet das Sozialsystem ..... 38 Wie Französinnen Kinderwunsch Präsidentenwahl: SPD deutet Verzicht an Seite 22 und Karriere miteinander vereinbaren ...... 46 Warum so viele Akademikerinnen keine Gerhard Schröder hält es für denkbar, Kinder wollen ...... 49 dass die SPD keinen eigenen Bewerber zur Bundespräsidentenwahl nominiert, Deutschland falls die Union eine Frau als Kandidatin Panorama: DNA-Tests für alle aufstellt. Außerdem bietet der Kanzler Strafverdächtigen? / Europäische Linkspartei / im SPIEGEL-Gespräch der Opposition FDP fordert Gratis-Kitas ...... 15 an, mit ihr über Konzepte zur Steuer- Konjunktur: Wie die Bundesrepublik vereinfachung zu reden, wenn nicht – von den guten Zahlen wie im Vermittlungsausschuss – jeder anderer Nationen profitieren kann ...... 18

MARC DARCHINGER MARC Subventionsabbau diskreditiert werde. Regierung: SPIEGEL-Gespräch mit Kanzler Gerhard Schröder über die Erneuerung der Forschungs- und Bildungspolitik und Schröder die Wahl des Bundespräsidenten ...... 22 Forschungspolitik: Das erste politische Zauberwort des neuen Jahres heißt Innovation ...... 29 Union: Die mühsame Suche der C-Parteien Seite 60 nach einem gemeinsamen Steuermodell ...... 31 Bekehrung eines Gentech-Bauern Terrorwarnungen: Die Panik Weniger Schädlinge auf dem Feld, mehr erreicht Deutschland ...... 32 Geld in der Kasse: Der Bauer Gottfried Strafjustiz: Mordprozess vor Glöckner war ein Freund der Gentech- dem Landgericht Passau fast 20 Jahre Industrie. Vier Jahre lang baute er gen- nach der Tat ...... 54 manipulierten Mais auf seinen Feldern an und verfütterte ihn an die Kühe. Dann Gesellschaft starben fünf seiner Tiere – seitdem ist Szene: Körpergeruch zur biometrischen Glöckner ein Vorzeige-Bauer für die Gen- Identifizierung / Studie über die gesundheits- tech-Gegner von Greenpeace. fördernde Kraft von Schokolade / Umstrittener US-Wahlkampf mit Werbe-E-Mails ...... 57 Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 59 Greenpeace-Aktionisten / LAIF LANGROCK / ZENIT PAUL Landwirtschaft: Ein hessischer Bauer und seine Erfahrungen mit Genmais ...... 60 Ortstermin: Die längste Skihalle der Welt – in Bottrop ...... 65 Wie Metro die Welt erobert Seite 68 Wirtschaft Trends: Große Unterschiede bei Deutschland ist der Düsseldorfer Handy-Strahlung / Katastrophenstimmung Metro AG längst zu klein gewor- im Einzelhandel / „Playboy“-Ärger den. Knapp die Hälfte seines Mil- bei Germanwings ...... 66 liardenumsatzes erwirtschaftet der Globalisierung: Die deutsche Metro AG Handelskonzern mittlerweile im erobert die Welt – und paktiert Ausland, von Marokko bis zum dabei bisweilen mit fragwürdigen Regimen .... 68 Mekong – ein Fallbeispiel für die Rabatte: Werbe-Gag oder Modell mit Chancen der Globalisierung, aber Zukunft – manche Firmen überlassen ihren auch deren Risiken. Denn mitunter Kunden die Preisgestaltung ...... 74 Arbeitsmarkt: Auf der Suche nach paktieren die Manager dabei mit einem Job fallen viele auf / DER SPIEGEL ERICH FOLLATH höchst dubiosen Politikern. windige Geschäftemacher herein ...... 76 Prozesse: Vor einem New Yorker Gericht Metro-Eröffnung (in Indien) wird erstmals der Größenwahn eines einstigen Top-Managers aufgearbeitet ...... 78

Medien Trends: Interview mit RTL-Chef Gerhard Der Mahnmal-Wahn Seite 128 Zeiler über TV-Highlights des neuen Jahres / „Hörzu“ verliert weiter an Auflage ...... 81 Die Denkmalkultur der deutschen Hauptstadt leidet un- Fernsehen: Caroline Goldie über ihre ter einem absurden Wettbewerb der Opfergruppen: Nach neue Doku-Reihe „Guten Morgen, Kabul“ / dem verzögerten Baubeginn des großformatigen Holo- Traumquote für „Dinner for One“ ...... 82 caust-Mahnmals wollen auch Sinti und Roma, Homo- Vorschau / Rückblick ...... 83 sexuelle, Euthanasie-Opfer, Vertriebene und die Deser- Presse: SPIEGEL-Gespräch mit dem teure der Wehrmacht eigene Gedenkstätten erhalten. LANGROCK / ZENIT PAUL WAZ-Geschäftsführer Bodo Hombach über das kriselnde Zeitungsgeschäft ...... 84 Werbung: Die Post-Postille „Einkauf aktuell“ Baustelle des Berliner Holocaust-Mahnmals treibt Verleger auf die Barrikaden ...... 87

6 der spiegel 2/2004 Ausland Panorama: Suche nach brisantem Atommaterial auf dem Balkan / Exekution bei Moskauer Geiseldrama? / Chinas Medien fordern Rechtsschutz ...... 89 USA: Demokraten rüsten zur Schlacht ums Weiße Haus ...... 92 Amerikas anfällige Wahlmaschinen ...... 94 SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Paul Kennedy über die Verstrickung der Weltmacht im Irak und den Einfluss der Neokonservativen auf George W. Bush ...... 95 Iran: Erdbebendiplomatie nach der Katastrophe von Bam ...... 97 Interview mit Hundestaffelführer Jürgen Faßhauer ...... 97 Frankreich: Ein dynamischer Aufsteiger

WILLIAM B. PLOWMAN / AFP B. PLOWMAN WILLIAM bringt Chirac in Bedrängnis ...... 98 Demokratischer Präsidentschaftsbewerber Dean Kaukasus: Die Islamisten machen in Tschetscheniens Nachbarrepubliken mobil ... 100 Malaysia: Ex-Vizepremier Anwar Erste Runde im US-Wahlmarathon Seite 92 Ibrahim über seine Haft und die ausbleibende Demokratisierung in seinem Land ...... 102 Ein Bankierssohn aus republikanischer Familie, der sich am liebsten als Landarzt mit Ägypten: Görings Yacht Bodenhaftung gibt, will US-Präsident George W. Bush das Weiße Haus streitig machen. sucht neuen Besitzer ...... 104 Der Demokrat Howard Dean, Gegner des Irak-Kriegs und zunächst als Außenseiter be- spöttelt, ist inzwischen dabei, seine Parteikonkurrenten aus dem Rennen zu werfen. Sport Wellenreiten: Die Surf-Elite hat ein neues Big-Wave-Revier in Europa entdeckt ...... 106 Formel 1: Das Wettrüsten im Windkanal ..... 108 Giganten im Ozean Seite 106 Wissenschaft · Technik Prisma: Gentest enttarnt Bei der Suche nach den höchsten Wellen der aggressiven Prostatakrebs / Ohrabdruck Welt dringen Surfer in immer neue Dimensio- für die Verbrecherjagd ...... 111 nen vor. Ins Blickfeld geraten nun bislang unbe- Expeditionen: Der britische Antarktis- kannte Reviere in Europa. Schon bald erwartet Abenteurer Ernest Shackleton schickte für die Szene einen Ritt auf einem 30-Meter-Brecher. den eigenen Ruhm seine Leute in den Tod ... 114 Medizin: Schicksalsschlacht gegen

Wellenreiter in der Biskaya ERICH GAUCHE die Kinderlähmung ...... 119 Psychiatrie: Wie sich die Seelenleiden von Deutschen und Türken unterscheiden ... 120 Nanotechnik: Interview mit dem US-Chemiker George Whitesides Qualvoller Tod im Eis Seite 114 über das Bauen mit Atomen ...... 122 Als heldenhaften Antarktis-Pionier verehren die Kultur Briten Ernest Shackleton. Nun belegen Archiv- Szene: Das St. Pauli Theater will sich mit funde, dass er seine Versorgungsmannschaft „Ross der „Dreigroschenoper“ sanieren / Sea Party“ auf ein Himmelfahrtskommando ge- Lesen statt rauchen – Aufkleberkampagne schickt hatte. Drei Männer starben, als sie Pro- des S. Fischer Verlags ...... 125 viantlager für den Abenteurer anlegten. Bislang Gedenken: Die wunderbare Mahnmal-Vermehrung zu Berlin ...... 128

C. MONTEATH / HEDGEHOGHOUSE.COM C. MONTEATH kennt kaum jemand die Geschichte – der Ruf des Bestseller ...... 134 Schutzhütte der „Ross Sea Party“ Nationalhelden sollte nicht beschädigt werden. Kino: Die Regisseurin Sofia Coppola und ihr Tokio-Film „Lost in Translation“ ...... 135 Exzentriker: Interview mit dem britischen Vasenmaler und Transvestiten Grayson Perry über den Zwang zum Schock ...... 136 Coppolas Tochter Seite 135 Autoren: Der erotische Roman „Die chinesische Geliebte“ von Hong Ying ... 138 Francis F. Coppola schrieb mit Werken wie „Der Pate“ Filmgeschichte. Seine Tochter Briefe...... 8 Sofia führt seit 1999 Regie. Mit ihrem Lie- Impressum ...... 140 besfilm „Lost in Translation“ ist sie endgül- Leserservice ...... 140 tig aus dem Schatten ihres Vaters getreten. Chronik...... 141 Register ...... 142 Coppola Personalien ...... 144 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 146

EXTRAPRESS / ACTION PRESS / ACTION EXTRAPRESS TITELBILD: Illustration Alfons Kiefer für den SPIEGEL 7 Briefe

Ehren wir also den genialen Denker aus Königsberg. Aber überhöhen sollten wir „Wie wäre es, wenn arabische Gelehrte ihn auch nicht. ihre Gesellschaften mit Kants Freilassing (Bayern) Dr. Horst Wünsche Lehren aufklären würden? Der fanatische Leider konnte Ihre sonst so vorzügliche Titelgeschichte über Kant doch nicht der Terrorismus würde so über die Versuchung widerstehen, diesen als Ge- grauen Zellen bekämpft, alternativ zu währsmann der SPIEGEL-Position im Irak- Krieg vorzuführen. Dies ist aber gewagt, den Geschossen der Willigen.“ weil Kant streng zwischen Recht und Poli- tik unterschieden hat: So hat er niemals ein Recht auf Revolution akzeptiert, und Helmut Schell aus Gersthofen (Bayern) zum Titel „Das Projekt Aufklärung – ‚Der bestirnte Himmel über mir doch war er sein Leben lang ein begeister- SPIEGEL-Titel 1/2004 und das moralische Gesetz in mir‘ – 200 Jahre nach Kant“ ter Anhänger der großen Französischen Revolution, selbst angesichts ihres blutigen Ausgangs. Den verantwortungslosen Le- zis so sehr gefiel. Das System Kants war galismus vieler heutiger Völkerrechtler, der Zu kühl, um cool zu sein scharfsinnig, aber auch gefährlich. Denn vorwiegend Diktatoren nützt, hätte er mit Nr. 1/2004, Titel: Das Projekt Aufklärung – Kant hat wirklich die Metaphysik, die dem Kategorischen Imperativ wohl schwer- „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Glanzleistung der antik-griechischen und lich vereinbar gefunden. Gesetz in mir“ – 200 Jahre nach Kant auch deutsch-mittelalterlichen Hochkultur Renate Cortez untergraben. Übrigens konnte sein König Leider kürzen Sie die berühmten Worte Friedrich, der „Große“ genannt, nichts mit Lange habe ich keinen so engagierten Kants über Aufklärung und selbständiges ihm anfangen. Der hielt sich an Voltaire. und mitreißenden Text über ein „sprödes“ Denken um den Vorwurf geistiger Faulheit Thema wie die Kantsche und Feigheit, den der Philosoph einem Philosophie gelesen. Vie- „großen Teil der Menschheit“ macht. Kant len, vielen Dank an die weist darauf hin, wie bequem es sei, un- Autoren! Mir selbst fällt es mündig zu bleiben und sich von anderen ja, wie vielen anderen, Leuten Denkvorgaben machen zu lassen. schwer, Kantsche Werke So dürfte es wohl immer sein. Heute, da ra- zu lesen, aber seine Be- tionales Verhalten, dem Zeitgeist entspre- gründung der kritischen chend, gern durch eine Art Soziofrömme- Vernunft als Richtschnur lei, genannt Political Correctness, ersetzt des Lebens und als Impf- wird, erscheint der Vorwurf geistiger Faul- stoff gegen Fanatismus, heit und Feigheit besonders aktuell. Aberglauben, Krieg … ist Sankt Augustin (Nrdrh.-Westf.) Josef Wille für mich eine unvergäng- liche Kulturleistung – und 1000 Dollar Kopfgeld für denjenigen aus immer aktuell. dem alten Europa, der US-Präsident Bush Gifhorn (Nieders.) den Kantschen Kategorischen Imperativ Dr. Ulrich Berger geduldig, einfühlsam und mit einfachen Worten erklären kann! Kant taugt tatsächlich Leipzig Hans-Dieter Kern nicht zum Superstar, denn er hat Grenzen aufgeho- Es ist Ihnen wirklich hervorragend gelun- ben, ohne neue zu setzen, gen, die Folgen der postmodernen Igno- und zwingt gleichzeitig mit ranz von Kants Werk und die bitter nötige dem moralischen Gesetz in Rückbesinnung auf seine (überlebens-) uns den Einzelnen zur wichtigen Ideen deutlich zu machen. Eine Selbstverantwortung. Da- Pflichtlektüre für alle, die politische und ge- mit entfällt jeder Kuschel- sellschaftliche Verantwortung tragen (und faktor, selbst der des reui- für die gymnasiale Oberstufe sowieso). Nur gen Sünders. Zu kühl, um

Hegel ist mir etwas zu gut weggekommen. SCHULZE/ TRANSIT TOM cool zu sein. Ennigerloh (Nrdrh.-Westf.) Kant-Ehrung an der Grabstätte*: Bitter nötige Rückbesinnung Lüdenscheid Reinhard Fink Klaus Dieter Höfer

Der sonst so erfrischend kritisch wirkende Vor 50 Jahren der spiegel vom 6. Januar 1954 SPIEGEL hat bei Immanuel Kant eine Lob- Gerüchte über sowjetische Pläne für die Vierer-Konferenz Den Spieß preisung geboten, die den kundigen Leser umdrehen. Holland drängt auf Zollunion und freie Rheinschifffahrt verwundert. Der zweifellos geniale Kant Deutschland blockt ab. Europa-Union-Verband in Finanznot Neue Statuten war immerhin auch der Wegweiser in den gegen alte Schulden? Stuttgarter Oberbürgermeister lässt Illustrierte deutschen Idealismus Hegels. Der dann beschlagnahmen Gerichtsassessor kassiert Dienstaufsichtsbeschwerde. Filz im Bayerischen Rundfunk Programmgestalter Huber mit angetrauter den dialektischen Materialismus von Karl textender Sekretärin vorm Arbeitsgericht. Marx befruchtete und andererseits den Na- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. * Traditionell legen Kaliningrader Brautpaare Blumen Titel: Journalist Hugh Cudlipp nieder.

8 der spiegel 2/2004 Briefe

denfalls nicht nachvollziehbar. Die predi- Darwin tot, Jesus lebt? gen gelegentlich mit der Kalaschnikow in Nr. 52/2003, Religionen: Fundamentalistische Christen der Hand. Und der Hinweis, Matthäus Ka- aus Deutschland missionieren in aller Welt pitel 28, Vers 19-20 nicht mehr zu beachten, weil die dort geäußerten Worte in der Ver- Die mit Vehemenz vorangetriebene Mis- gangenheit durch die Politik missbraucht sionierung durch Evangelikale und Pfingst- worden sind, ist etwa so logisch wie die ler ist nur zu deutlich von einem Denken Empfehlung, nicht mehr zum Arzt zu ge- geprägt, das seit 1945 als erledigt angesehen hen, weil die Medizin bis weit in die Frühe werden sollte. Die offen propagierte Into- Neuzeit hinein Quacksalberei war. leranz gegenüber anderen Kulturen und Schallstadt (Bad.-Württ.) Glaubensstrukturen und deren Ausrottung Prof. Dr. Lothar Käser ist wohl eher Kennzeichen eines modernen Kreuzzuges denn ein Akt christlicher Was diese bekehrungswütigen „Antidar- Nächstenliebe. Es zeigt sich immer wieder: winisten“ da verbreiten, ist kein lebendiger Geschichte wiederholt sich, insbesondere Glaube, sondern toter Dogmatismus. in der Religion. Velten (Brandenburg) Edgar Hintze Saarbrücken Sascha Marx In Ihrem Bestreben, die SPIEGEL-Leser Die Arbeit evangelikaler Missionen mit is- über die Arbeit der deutschen „Fundi-Mis- lamischen Extremisten, den Konquistadoren sionare“ zu informieren und gar vor ihnen und den Kreuzzügen zu vergleichen grenzt zu warnen, zeigen Sie selbst bewunderns- an Rufmord und zeugt von Unwissenheit werten missionarischen Eifer. Diesen Eifer und Ignoranz. Denn es werden weder versuchen wir auf den Missionsfeldern Schwerter geschwungen, noch Leute aber durch andere wichtige Prinzipien in zwangsbekehrt oder gar Bomben gezündet. Grenzen zu halten: Sorgfalt und Gewis- Auch der Vorwurf der Kulturzerstörung ist senhaftigkeit, Kontext-Verständnis von un- nur insofern haltbar, als es immer eine Ver- voreingenommenen Aussagen, Respekt vor änderung der bestehenden Kultur gibt, wenn zwei Kulturen miteinan- der in Berührung kommen, auch beim Bau von Krankenhäusern übrigens! Wer in ein Land geht und nur Krankenhäuser baut, sollte das im Übrigen auch nicht unter dem Namen „Mission“ tun. Praktische Hilfe ist sehr wichtig, aber die Men- schen müssen an Leib und Seele gesund werden. Knittlingen (Bad.-Württ.) Konrad Schmid

Weihnachten – da ist es ja klar, was kommen musste. Der SPIEGEL

packt mal wieder seine blasphemi- / DER SPIEGEL UDO LUDWIG sche Seite aus und knüppelt ein Missionars-Ehepaar Göhner (in Lira) bisschen auf das Christentum ein. Gesundheit für Leib und Seele Zunächst einmal meinen Dank an die Autoren, die zu unterscheiden wissen der Würde anderer Menschen, um nur ein zwischen echten Christen und Scharlata- paar zu nennen. Diese Prinzipien, die ich nen. Ferner freut es mich, dass Sie die hu- auch im Journalismus erwarten würde, las- manen Leistungen und den Mut der christ- sen in Ihrem Artikel sehr zu wünschen lichen Missionare anerkennen. Natürlich übrig. Ihrem Ziel, SPIEGEL-Leser davon können Sie weiter an den verstaubten On- zu überzeugen, dass evangelikale und kel Darwin und seine Theorien glauben. pfingstliche Missionare erzkonservative, Fragen Sie mal einen Physiker, wann er einfältige Sektierer sind, sind Sie ohne zum letzten Mal ein Molekül aus dem Zweifel sehr nahe gekommen. Nichts erzeugt hat. Goethe tot, Darwin tot, Lira (Uganda) Siegmar Göhner Nietzsche tot – Jesus lebt. München Christian Böhner Fehlt nur noch, dass diese Missionare – statt mit psychischem Druck zu erpressen Wie kann man Vertreter von Pfingstkir- – mit der Anwendung von körperlicher Ge- chen, die sich zur Zerstörung von Kulturen walt drohen. Ja, genau so kommen wir bekennen, mit Mitarbeitern der AEM in dem Weltfrieden ein Stück näher. Wie wäre einen Topf werfen? Zugegeben: Es gibt es denn mal mit Pluralismus, liebe Fanati- auch unter ihnen schwarze Schafe. Mir als ker aller Religionen. Und viel wichtiger: Ethnologen begegnen die allermeisten mit dem Recht eines Jeden auf freie Selbst- ziemlich anders. Sie mit muslimischen Ex- verwirklichung. tremisten gleichzusetzen erscheint mir je- Nürnberg Dominik Groll

10 der spiegel 2/2004 Briefe

Wählerpotenzial von circa 20 Prozent wird nur dann erschlossen, wenn sich die FDP Unversöhnliches Verlangen zur glaubwürdigen Alternative zu den Po- Nr. 51/2003, Frankreich: Chirac will den Vormarsch des Islam aufhalten pulisten in allen Parteien entwickelt. Wer jedem Grüppchen mit Geschenken hinter- Ihr Artikel liefert einen weiteren Beweis herläuft, gewinnt weder Profil noch dafür, dass Multi-Kulti leider nur in be- Wählerstimmen, sondern entwertet gleich- grenztem Maß funktioniert. Man muss ak- zeitig den Begriff der politischen und zeptieren, dass der Mensch eben kein wirk- marktwirtschaftlichen Liberalität – und den liches Vernunftwesen ist, und solange das eigenen Führungsanspruch. so bleibt, wird es solche Probleme und Freiburg Dr. Christoph Münzer noch viele andere auf dieser Welt geben. Jyväskylä (Finnland) Karl Arvid Schultheis Eine sehr eigenartige Partei, diese so ge-

HILDA LOBINGER HILDA nannte liberale Partei FDP! Sie will den Theaterprojekt* (in München) Die Schlussfolgerung dieses an sich guten Mittelstand als Wähler und klammert sich Schlechte Aussichten Artikels ist vollkommen falsch und unlo- gleichzeitig an die ganzen Zwangsmit- gisch. Nur die klare Trennung von Staat gliedschaften wie zum Beispiel die der und Kirche garantiert Multikulturalismus: Handels- und Handwerkskammern! Und Anspruch auf Leistungen weder Kopftuch noch Kruzifix in der Schu- Relikte aus dem Dritten Reich werden von Nr. 52/2003, Beschäftigung: Hoch bezahlte TV-Stars le. Leider wurde im Namen der Toleranz der FDP sogar besonders gepflegt. Die von erhalten zwischen den Engagements Arbeitslosengeld den Anfängen nicht gewehrt, daher der schätzungsweise 90 Prozent der mittel- Radikalismus. Die Pflicht des Staates ist ständischen Unternehmer kategorisch ab- Arbeitslosengeld ist eine Versicherungs- es, intolerant gegen Intoleranz zu sein. gelehnte Kammerdiktatur wird hochgehal- leistung. Wenn der Gesetzgeber zur Ab- Die Vereinigung muslimischer Frauen „Ni ten von einer so genannten liberalen Par- führung von Sozialversicherungsbeiträ- pute, ni soumise“ (Weder Hure noch un- tei! Daher und aus den vom SPIEGEL gen verpflichtet, kann er die Auszahlung terwürfig) wurde leider nicht erwähnt. Die- geschilderten Gründen: nicht wählbar. nicht verweigern. Sinnvoller wäre es, die se wehrt sich gegen das phallokratische Ulm Peter Drück unrealistische Definition von selbständiger Credo: Unsere Frauen, Schwestern und Arbeit in Deutschland einmal zu überden- Töchter sind unsere Ehre. Sie hält dage- Es ist schon lange offensichtlich, dass es ken und Schauspieler von der Sozialver- gen: Wir sind einzig eure Töchter und nicht sich bei der FDP nicht um eine politische sicherungspflicht zu befreien. Das würde eure „Ehre“. Das Tragen des Kopftuchs Partei im klassischen Sinne handelt, son- sich für manchen Schauspieler rechnen. signalisiert nämlich: Ich dern um eine verkappte Nicht aber fürs Arbeitsamt – schlechte Aus- bin ehrenwert, du dage- Lobby. Politische Ansich- sichten also. gen, Mädchen ohne Kopf- ten werden zeitweise, Brüssel Dr. Axel Spörl tuch, bist eine Hure. wenn es opportun er- Sierre (Schweiz) scheint, in den Vorder- Da hat doch jemand den Begriff „Sozial- Jutta Kummer grund geschoben. An- staat“ falsch verstanden. Wenn solch „tol- sonsten ist dieser Inter- le Schauspieler“ wie diese Serien-Mimen Was spricht denn gegen essenverband für Ärzte, während ihres Engagements so viel Geld das französische Vorha- Apotheker, Anwälte, Ar- bekommen, haben sie gefälligst selbst dafür ben? Soweit ich es Ihrem chitekten sowie die mit- zu sorgen, dass sie während der Ferien Artikel entnehmen kann, telständische Industrie über die Runden kommen. Und für ihre gilt das Verbot gegen kle- ganz ungeniert damit be- Altersversorgung können sie auch selbst rikale Zeichen für jede schäftigt, alles für seine etwas tun. Religion. Warum also Klientel zu tun: sie von Leipzig Gunther Schirmer sollte sich Frankreich ge- Steuerzahlungen zu be- genüber einer Religion, freien und gleichzeitig Schauspieler versteuern ihre Gagen ganz der es auch nicht mehr mit Subventionen zu be- normal und zahlen alle gesetzlichen Sozi- verpflichtet ist als dem Ju- schenken. Der durch- alabgaben. Sie tragen ihren Teil bei zu un- den- oder Christentum, schnittliche Arbeitneh-

serem Sozialwesen und haben Anspruch nachgiebig zeigen? War- MOUSSE / ABACA mer aber wird von der auf die Leistungen. Ich bedauere sehr, dass um sollte sich eine Schu- Musliminnen bei Demo (in Paris) FDP-Lobby quasi als Sie nur die Gagen von Tatort-Kommissaren le, die bereit war zu Kom- Phallokratisches Credo Wirtschaftsparasit hinge- als Rechenbeispiel genommen haben. Sie promissen, dem unver- stellt, denn er verlangt hätten die eines „namenlosen“ Schauspie- söhnlichen Verlangen (von Wünschen kann Gehalt, Urlaubsgeld und Sozialleistungen – lers bei einem Tournee-Theater-Unterneh- man hier wohl nicht mehr sprechen) gera- einfach unerhört … Im Bundestag fehlt men dagegen setzen können. Vier Wochen de einer Religion beugen, wenn alle ande- eine Ethikkommission zwecks Unterschei- unbezahlte Proben, 60 Vorstellungen in ren Weltreligionen es vermögen, sich an- dung zwischen politischen Parteien und Kleinstädten, Selbstversorgung und für zupassen? verkappten Lobbygruppen. drei Monate Arbeit circa 6000 Euro brutto Kronshagen (Schl.-Holst.) Steffen Bock Barsbüttel (Schl.-Holst.) – auch das bedeutet „Schauspielerei“. Günter und Sylvia Korek Möchten Sie weiterhin ins Theater gehen oder schöne Filme sehen? Möchten Sie sich Sehr eigenartig weiterhin von Schauspielern anrühren las- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Nr. 52/2003, FDP: Die Furcht der Liberalen schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. sen? Dann gönnen Sie diesen Menschen vor der Freiheit Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] das, was ihnen zusteht! Köln Birgit Menzel Mit Ihrem Artikel sprechen Sie vermutlich nicht nur vielen FDP-Mitgliedern aus dem In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet * Mit Arbeit suchenden Schauspielern. Herzen. Das oft beschworene liberale sich eine Beilage der Firma Küchen-Loesch, Nürnberg.

12 der spiegel 2/2004 Panorama Deutschland

KRIMINALITÄT Bei Verdacht DNA-Test er schleswig-holsteinische Innenmi- Dnister Klaus Buß will die Möglich- keiten für den Einsatz von DNA-Tests in der Verbrechensbekämpfung erheblich ausweiten. Der SPD-Politiker, der am kommenden Montag den Vorsitz der In- nenministerkonferenz übernehmen wird, schlägt vor, dass die Polizei von jeder Person, die sie erkennungsdienstlich be-

handelt, einen genetischen Fingerab- BERND THISSEN / DPA druck nehmen kann. „Der Beweiswert Speichelentnahme für DNA-Analyse, Buß des DNA-Materials ist dem herkömmli- chen Fingerabdruck und anderen Identi- Gegenwärtig darf die Polizei Datei, täglich kommen etwa fikationsverfahren weit überlegen“, be- nur mit einem richterlichen 300 neue hinzu. Erken- gründet Buß seinen Vorstoß. Beschluss einen DNA-Test nungsdienstliche Maßnah- Bislang hatten diese Forderung eher Uni- am Verdächtigen vorneh- men dagegen können die onspolitiker vertreten, etwa Bayerns In- men, meist wird dazu eine Beamten bei jedem einer nenminister Günther Beckstein (CSU). Speichelprobe entnommen. Straftat Verdächtigen vor- Bei einigen SPD-Innenministern und Gespeichert werden dürfen nehmen, wenn dies zur Auf- Grünen-Politikern war das Konzept, für die Daten derzeit nur bei klärung nötig ist – also selbst das die Strafprozessordnung geändert schweren Straftaten wie bei mutmaßlichen Taschen- werden müsste, auf wenig Gegenliebe Mord oder Vergewaltigung. dieben. Die Fingerabdruck- gestoßen. Sie fürchten Datenmissbrauch Das Bundeskriminalamt datei des BKA enthält und die Überfrachtung der Dateien mit (BKA) hat mehr als 300000 Merkmale von mehr als drei

Informationen über Kleinkriminelle. DNA-Datensätze in seiner PRESS NIBOR / ACTION Millionen Personen.

BUNDESPRÄSIDENT EUROPAWAHLEN CSU für Schäuble Linke gründen Partei ntern hat sich die CSU auf den ehemaligen CDU-Chef Wolfgang Schäuble echtzeitig zu den Europawahlen wollen acht Ials Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten verständigt. Führende RLinksparteien des Kontinents, darunter die CSU-Politiker wollen Schäuble in dieser Woche am Rande der Klausurta- PDS, an diesem Wochenende im Berliner Abge- gung der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth ihre Unterstützung signali- ordnetenhaus eine gemeinsame europäische Par- sieren. Offiziell ist Schäuble am Mittwochmorgen zu einem Gespräch über tei gründen. Bei dem Treffen an historischer die Außen- und Europapolitik nach Bayern eingeladen. CSU-Landesgrup- Stelle – im Abgeordnetenhaus wurde 1918 die penchef Michael Glos bekundete bereits seine „persönliche Präferenz für KPD gegründet – wollen die Parteienvertreter Wolfgang Schäuble“. einen Aufruf verabschieden, im Entwurf heißt Damit hält sich die es: „Die Zeit ist reif für eine Partei der Europäi- CSU auch eine erneu- schen Linken.“ Die neue Vereinigung will die te Kanzlerkandidatur „Profitdominanz zurückdrängen und die Herr- ihres Parteichefs Ed- schaft des Kapitalismus überwinden“. Für das mund Stoiber offen, Treffen zugesagt haben bereits der Chef der itali- der bisher ebenfalls als enischen kommunistischen Partei PRC, Fausto möglicher Präsident- Bertinotti, die Sekretärin der Kommunisten schaftskandidat galt. Frankreichs, Marie-George Buffet, und der Grie- Die Hoffnungen von che Nikos Konstantopoulos von der Koalition CDU-Chefin Angela der Linken und des Fortschritts. Auch der Ex- Merkel, ihren Konkur- PDS-Chef Gregor Gysi will erscheinen. Für die renten aus Bayern PDS bedeutet die Teilnahme in Berlin, dass sie durch dessen Wahl ihre Annäherungsversuche an die Sozialistische zum Staatsoberhaupt Internationale der sozialistischen und sozialde- auszuschalten, würden mokratischen Parteien beenden wird. Man wer-

demnach unerfüllt DARCHINGER FRANK de nicht Mitglied in zwei Zusammenschlüssen bleiben. Schäuble, Ehefrau Ingeborg sein, heißt es aus der Parteispitze.

der spiegel 2/2004 15 Panorama

NORDRHEIN-WESTFALEN Wehrmachtsausstellung in Nazi-Burg? ach dem Willen des NRW-Kulturministers Michael Ves- Nper (Bündnis 90/Grüne) soll die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung ihren Dauer- standort auf der Ordensburg Vogelsang in der Eifel bekom- men. Das Gebäude diente im Dritten Reich als Kaderschmiede für den Parteinachwuchs; heute liegt es im Sperrgebiet der belgischen Armee, die bis 2006 dort abziehen wird. Neona- zis feiern auf Internet-Seiten die Burg Vogelsang bereits als künftigen Wallfahrtsort. Vesper hofft, durch eine Nutzung für die Wehrmachtsausstellung diesen Personenkreis von dem Ort fern halten zu können. Jan Philipp Reemtsma, Chef des Instituts für Sozialforschung, hat grundsätzlich keine Ein-

wände gegen Vespers Plan. Allerdings will er sich nicht an den EIFEL / FÖRDERVEREIN NATIONALPARK PAULY Kosten für das aufwendige Projekt beteiligen. Ordensburg Vogelsang in der Eifel

ATOMSCHMUGGEL Hilfe aus Pakistan er aufgeflogene Schmuggel zerlegter Gas- DUltrazentrifugen nach Libyen, in denen sich Uran für eine Atombombe anreichern lässt, ist offenbar mit Hilfe führender pakistanischer Wis- senschaftler zu Stande gekommen. Die Ermittler verfolgen Hinweise, wonach eine Gruppe von drei bis vier Ingenieuren und Geschäftsleuten aus mehreren Ländern in den Handel verwickelt sein soll. Das Schwarzmarktkonsortium habe die Bau- teile in einem südasiatischen Land aufgetrieben

WULF PFEIFFER / DPA WULF und die Zentrifuge mit pakistanischem Know-how Ölklumpen am Sylter Strand konstruiert. Anschließend habe man sie Libyen verkauft. Im Oktober 2003 war der Frachter UMWELT „BBC China“, der der Bremer Reederei Beluga Shipping gehört und von einem Schiffsagenten Altölannahme in Häfen aus dem niedersächsischen Leer beladen wurde, mit der brisanten Fracht gestoppt worden. Hiesige mweltschützer fordern nach der Verschmutzung der Westküste Sylts Ermittler gehen davon aus, dass die Aussage des Umit Ölklumpen eine kostenlose Altölannahme für Schiffe in allen Schiffsagenten, er sei über den wahren Inhalt des Häfen. „Wenn es weltweit nichts mehr kostet, das Öl abzugeben, werden Frachtguts getäuscht worden, zutrifft. Der Deal, die illegalen Einlassungen schnell aufhören“, sagt Christian Bussau von der der ein Volumen in zweistelliger Millionenhöhe Umweltschutzorganisation Greenpeace. Die Annahmestellen könnten über haben soll, wurde offenbar von der libyschen Re- höhere Hafengebühren finanziert werden. Auch deutsche Behörden und gierung bereits vor Jahren eingefädelt und sollte Politiker unterstützen die Idee. Durchsetzbar sei die kostenlose Entsorgung erst jetzt abgewickelt werden. laut Bussau aber nur, wenn jeder Staat in Europa mitmache. Ansonsten würden höhere Hafengebühren Schiffsbesitzer abschrecken, deutsche Hä- fen anzulaufen. Bisher sperren sich die anderen europäischen Seenationen, entsprechende internationale Vereinbarungen abzuschließen. Vorvergangene Woche waren an der Nordseeinsel Ölreste angeschwemmt worden und hatten die Strände auf 25 Kilometern verdreckt. Die Herkunft des Altöls ist ungeklärt. Die Aufklärungsquote von Ölverschmutzungen in deutschen Gewässern ist gering. „Uns fehlen die finanziellen und personellen Mittel, um die Nord- und die Ostsee flächendeckend zu kontrollieren“, kritisiert ein Sprecher

des Havariekommandos in Cuxhaven. Bei rund 160000 Schiffsbewegungen HASENPUSCH DIETMAR pro Jahr finden nur etwa 590 Kontrollflüge statt. „Beluga Superstition“ (die heutige „BBC China“)

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FUSSBALL wann dann bisweilen deutlich, etwa 1988 gegen Werder . Im Rückspiel Stasi am Spielfeldrand verzichtete der Club aus Angst vor Kon- trollen auf die Psychopharmaka, verlor anze Fußballmannschaften wurden prompt mit 0:5 und schied aus. Gin der DDR mit Hilfe von Doping- Gleichzeitig kontrollierte ein Heer In- mitteln schnell und aggressiv gemacht, offizieller Mitarbeiter, dass die Spieler hat der Potsdamer Historiker Giselher angesichts der verabreichten Mittel nicht Spitzer herausgefunden. So seien bei misstrauisch wurden. Besonders die Dynamo Berlin einmal 15 Spieler mit populären Clubs seien von der Stasi Aufputschsubstanzen voll ge- „hochgradig durchherrscht“ pumpt worden, unter ihnen gewesen, so Spitzer, um Falko Götz, heute Trainer auch Informationen über beim Bundesligisten TSV Partnerwahl und sexuelle 1860 München, schreibt Spit- Neigungen der Spieler zu zer in seinem Buch „Fußball bekommen. Beliebte Trainer – Leichtathletik – Triathlon“ wie der Dresdner Klaus (Meyer & Meyer Verlag). Se- Sammer, Vater des späteren rienmeister Dynamo setzte in Nationalspielers Matthias

Europacup-Heimspielen WEIKEN / BONGARTS OLIVER Sammer, sind rund um die Amphetamine ein und ge- Götz Uhr beschattet worden.

BILDUNGSPOLITIK Kindergarten mit 1,5 Milliarden Euro jährlich. Finanziert werden sollen die FDP für Gratis-Kita Maßnahmen im Wesentlichen durch eine Verkürzung der Gymnasialzeit auf ie FDP will für Kinder von drei Jah- zwölf Schuljahre im gesamten Bundes- Dren bis zum Vorschulalter eine kos- gebiet. Allein dadurch könnten mindes- tenlose Betreuung „im Umfang eines tens 2,7 Milliarden Euro jährlich einge- Halbtagsplatzes“ schaffen. Das sieht ein spart werden, heißt es in dem Papier. Positionspapier unter dem Titel „Für eine Allianz von Familien- und Bildungs- politik“ von Generalsekretärin Cornelia Pieper vor. Vom fünften Lebensjahr an soll der Nachwuchs dann in einer obliga- torischen „Kinderschule“ auf die Grund- schule vorbereitet werden. In „verbindli- chen Diagnosetests“ soll das sprachliche Niveau festgestellt und ein etwaiges De- fizit in Pflichtkursen behoben werden. Die Gesamtkosten für ein verbindli- ches Vorschuljahr beziffert Pieper mit

880 Millionen Euro, die Mehrkosten RTN für einen kostenlosen Halbtagsplatz im Kinderbetreuung in einer Kita

FLOWTEX Anklage abgelehnt n der milliardenschweren FlowTex- vorgeworfen, er habe 1996 und 1997 IAffäre ist die Mannheimer Staatsan- „dienstlich erlangte ermittlungsrelevante waltschaft mit der Anklageerhebung Kenntnisse“ nicht an sie weitergeleitet. wegen des Verdachts der versuchten Zu jener Zeit waren sowohl bei der Strafvereitelung gegen einen früheren Staatsanwaltschaft Karlsruhe als auch Sachgebietsleiter der Karlsruher Steuer- Mannheim Verfahren gegen Verantwort- fahndung gescheitert. Das Karlsruher liche der FlowTex-Gruppe anhängig, die Landgericht lehnte die Eröffnung des jedoch eingestellt wurden. Drei Jahre Hauptverfahrens gegen den „straf- später flog der bisher größte deutsche und disziplinarrechtlich unbelasteten, Wirtschaftsbetrug auf. Seit 21 Monaten dienstlich integren und untadeligen versucht ein Untersuchungsausschuss Steuerfahndungsbeamten“ mangels des baden-württembergischen Landtags hinreichenden Tatverdachts ab. Die herauszufinden, ob Politik und Behör- Anklagebehörde hatte dem Beamten den die Täter begünstigt haben.

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ZIELSKE / BILDERBERG Exportgüter in Bremerhaven: Zuerst springen die Ausfuhren an, dann wird der Rest der Wirtschaft mitgerissen

KONJUNKTUR Welt vor der Wende In den USA boomt die Wirtschaft, China meldet neue Rekorde, und selbst notorische Krisen- Kandidaten wie Japan und die Staaten Südamerikas legen kräftig zu. Der weltweit erhoffte Aufschwung scheint so kräftig auszufallen, dass er nun auch Deutschland erfasst.

ls Konjunkturforscher ist Gustav schwierig. Besonders wenn sie die Zukunft Die Berliner Regierung hört die Bot- Adolf Horn ein Meister der Relati- betreffen.“ schaft mit Wohlgefallen. Nach dem Re- Avierung. Der Experte des Deut- Doch nun hat sich Horn, der Meister der formgezerre der vergangenen Monate schen Instituts für Wirtschaftsforschung Möglichkeiten, festgelegt: „Dieses Jahr brauchen Kanzler Gerhard Schröder, Wirt- (DIW) in Berlin trifft selten eine Aussage, wird besser als das vergangene.“ Nach drei schaftsminister Wolfgang Clement und Fi- ohne sie sofort durch ein „vielleicht“ zu Jahren des Dauerdümpelns werde die deut- nanzminister Hans Eichel nichts dringlicher entschärfen. Gern bemüht Horn auch sche Wirtschaft „die Stagnation nach oben als Erfolgsmeldungen. Und aus keinem Kombinationen der Sorte „Wenn, dann“ durchbrechen“. anderen Bereich sind sie ihnen so will- oder: „Unter der Bedingung, dass…“ Auch Wenn ein Mann wie Horn plötzlich der- kommen wie aus der Wirtschaft. „könnte“, „dürfte“ und „müsste“ fehlen art klare Sätze von sich gibt, dann muss er In Umfragen liegt Schröders SPD nur bislang nie in seinen Stellungnahmen. sich seiner Sache sicher sein. Und er ist noch bei 27 Prozent. In diesem Jahr müssen Konjunktur und Konjunktiv gehören für nicht der Einzige. die angeschlagenen und demotivierten So- Horn und seine Kollegen in den Prognose- Auch Horns Kollegen rechnen inzwi- zialdemokraten eine Europa- und 13 Land- abteilungen der großen Wirtschaftsfor- schen fest damit, dass die Weltwirtschaft tags- und Kommunalwahlen bestehen. Nur schungsinstitute und Banken untrennbar die Wende geschafft hat und 2004 ein Jahr wenn die Konjunktur endlich auch in zusammen. Sicher sind sich die Volkswir- des Wachstums wird. Was sie so sicher Deutschland anzieht, hat die Regierung die te eigentlich nur in der Erkenntnis, dass macht: Zum ersten Mal seit Jahren wach- Chance, noch mal davonzukommen. Mark Twain mit seinem oft bemühten sen wieder alle großen Wirtschaftsregio- Nachdem er seine Agenda 2010 am Frei- Bonmot Recht hatte: „Prognosen sind nen der Welt gleichzeitig. tag vor Weihnachten mühevoll über die

18 der spiegel 2/2004 parlamentarischen Hürden gehievt hat, Und so wird selbst Deutschlands Volks- verspricht der Kanzler im SPIEGEL-Ge- wirtschaft zulegen, wenn auch wohl deut- spräch (siehe Seite 22), „nicht wieder lich langsamer als die seiner Nachbarn. Die zurückzufallen und sich der trügerischen Experten prognostizieren ein mageres Plus Hoffnung auf eine hinreichende Dividen- von 1,5 bis 2 Prozent. de aus einem wirtschaftlichen Aufschwung Das DIW wird am Dienstag dieser Wo- hinzugeben. Die Strukturreformen dürfen che als letztes der großen Orakel seine Vor- nicht vernachlässigt werden“. aussage veröffentlichen. Danach wird die Eine „Politik der ruhigen Hand“, wie in deutsche Wirtschaft 2004 um 1,4 Prozent seiner ersten Legislaturperiode, soll es wachsen. Im internationalen Vergleich ist nicht noch einmal geben. Schröder und sei- das nicht viel, aber immerhin mehr als in nen Mitstreitern ist nicht verborgen ge- den vergangenen drei Jahren zusammen. blieben, dass der prophezeite Aufschwung Doch die Zahlen können nicht darüber mit Deutschland nur wenig, mit dem Rest hinwegtäuschen, dass der Aufschwung in der Welt aber viel zu tun hat. Deutschland an den meisten Arbeitslosen Vor allem die USA sind es, die – wie so wohl vorbeirauschen wird – die Zuwächse oft – als treibende Kraft hinter der welt- sind zu gering, als dass neue Jobs geschaffen weiten Erholung stehen. In rasantem Tem- würden. So mickrig ist der Zuwachs, dass die po wächst die amerikanische Wirtschaft Zahl der Beschäftigten 2004 sogar um wei- aus der Flaute. Allein im dritten Quartal tere 0,3 Prozent abnehmen dürfte. Im Jah- 2003 legte sie um mehr als acht Prozent zu. resschnitt werden etwa 4,3 Millionen Men- Die Amerikaner sind nicht allein. Erst- schen keinen Job haben, rechnen die DIW- mals steuern auch die Chinesen merklich Forscher vor. Das wä- zum globalen Wachstum bei. Mit 1,3 Mil- EU-Wachstum ren ungefähr so viele liarden Menschen ist China der größte Geschätzte wie vergangenes Jahr. Markt der Welt. Das Schwellenland zieht Veränderung des BIP Weniger Jobs und mit seinen anhaltend hohen Wachstums- 2004 gegenüber genauso viele Arbeits- raten inzwischen auch die Volkswirtschaf- Vorjahr in Prozent lose? Dafür gibt es ten der Nachbarländer mit nach oben. Griechenland 4,2 mehrere Gründe: Nach Und selbst notorische Krisen-Kandida- Irland 3,7 jahrelanger Suche resi- ten wie Japan oder die Staaten Südameri- Spanien 2,9 gnieren immer mehr kas, die über Jahre stagnierten, überra- Großbritannien 2,8 Menschen und verab- schen mit bemerkenswerten Zuwächsen. Finnland 2,5 schieden sich in die so

In einem solchen Umfeld ist es fast unver- Schweden 2,2 genannte stille Reser- ECKEHARD SCHULZ / AP meidlich, dass auch die europäischen Dänemark 2,0 ve. So fallen viele nicht SPD-Politiker Clement, Schröder, Eichel Volkswirtschaften wachsen – und den Luxemburg 1,9 zuletzt wegen der Völker, an die Regale! Nachzügler Deutschland mitreißen. Österreich 1,9 Hartz-Gesetze durch Insgesamt dürfte die Weltwirtschaft in Belgien 1,8 die offizielle Statistik Deutschland im internationalen Vergleich diesem Jahr mit mehr als vier Prozent so Frankreich 1,7 der Nürnberger Bundes- indes weit hinten. Zuwachsraten von vier, stark zulegen wie schon lange nicht mehr. Deutschland 1,6 anstalt. fünf Prozent wie noch in den siebziger Jah- Auch der Welthandel wächst mit prognosti- Italien 1,5 Mit seinem Ma- ren sind längst Vergangenheit. Die Bundes- zierten acht Prozent fast doppelt so schnell. Portugal 1,0 ger-Wachstum liegt republik wird in diesem Jahr am Rande ih- Niederlande 0,6 Wachsende Welt Beitrittsländer 3,8 2004 8,7 Bruttoinlands- 8,4 produkt 8,0 2002 in Billionen 10,4 10,1 Dollar 4,0 1,2

Quelle: General- direktion für Wirt- schaft und Finanzen der EU USA3,8 EU CHINA JAPAN einschließlich Beitrittsländer 2,8 2,5 2,6 2,1 Wirtschafts- 1,7 wachstum 1,2 Quellen: OECD, Nationales in Prozent gegenüber 0,9 Chinesisches Büro für Vorjahr, 2003 und Statistik, Deutsche Bank 0,1 2004 Schätzung Research 2002 03 04 2002 03 04 2002 03 04 2002 03 04

der spiegel 2/2004 19 Transrapid (in Shanghai), Konsumenten (in den USA): Alle Regionen der Welt wachsen wieder gleichzeitig rer Möglichkeiten wachsen. Dieses so ge- Seit sieben Quartalen wächst Japans Auch für Deutschland ist China ein nannte Wachstumspotenzial, das Ökono- Ökonomie wieder. Am Ende des Fiskal- wichtiger Markt geworden. Fast die Hälfte men für Deutschland mit 1 bis 1,5 Prozent jahres, das in Japan traditionell im März des deutschen Exportwachstums im ver- taxieren, wird damit völlig ausgeschöpft. ausläuft, dürfte die Wachstumsrate gut gangenen Jahr geht auf Bestellungen aus Und die Impulse dafür kommen nicht über zwei Prozent liegen. China zurück, hat Joachim Fels, Europa- aus dem Inland. Zwar wird die Steuerre- Und auch wenn Japans Unternehmen Chefvolkswirt der amerikanischen Invest- form zumindest teilweise vorgezogen, doch auf den Weltmärkten noch weit von der mentbank Morgan Stanley, errechnet. die Entlastung an anderer Stelle gleich wie- Dominanz früherer Jahrzehnte entfernt Die eindrucksvollsten Zahlen aber kom- der eingesammelt. sind, erleben japanische Produkte wie die men derzeit aus den Vereinigten Staaten. „Die Finanzpolitik wirkt immer noch re- aus der Auto-Industrie doch weltweit eine Für das gerade abgelaufene Winterquar- striktiv“, beklagt DIW-Forscher Horn. Renaissance. Nicht nur in Deutschland tal erwarten die Experten ein Plus von Auch die nun beschlossenen Reformen der konnten Honda, Toyota und Co. im ver- fünf Prozent. Viele Unternehmen haben Sozialsysteme und des Arbeitsmarkts sind gangenen Jahr ihren Marktanteil kräftig wieder begonnen, vorsichtig zu investie- noch zu frisch, um für ein höheres Wachs- ausbauen. ren. Die Zuversicht der Verbraucher, ein tum zu sorgen. Solche Strukturmaßnah- „Die Gesamtwirtschaft bewegt sich in wichtiger Indikator für das allgemeine men brauchen Jahre, bis sie wirken. die richtige Richtung“, jubelt Tetsuo Miya- Konsumverhalten, hat sich deutlich ver- Nur ein Bereich sorgt für Euphorie: der zaki, Finanzvorstand des größten japani- bessert. Export. Trotz kräftiger Aufwertung des schen Stahlkochers JFE Holdings. Auch Schon ist in amerikanischen Wirt- Euro ordern ausländische Kunden, vor al- die Volkswirte großer Banken geben sich schaftsblättern vom „Bush Boom“ die lem in Amerika, deutsche Autos, Maschi- zuversichtlich. Die Erholung stehe auf Rede, denn der Aufschwung wird durch nen und Werkzeuge. Im abgelaufenen Jahr „deutlich soliderer Basis“ als die anderen eine beispiellose staatliche Finanzspritze verkauften die Deutschen für 135 Milliar- Anläufe zum Aufschwung, die sich im befördert. Schon im vergangenen Jahr den Euro mehr Waren ins Ausland, als sie Nachhinein stets als Fehlstarts herausge- von dort bezogen – ein neuer Rekord. Und stellt hätten. Zwischen Hoffen und Bangen ein Ende des Booms ist nicht absehbar. Verantwortlich für die Erholung sind Damit wird sich wohl auch der bevor- nicht staatliche Konjunkturprogramme, mit Wachstumsprognosen für Deutschland 2004 stehende Aufschwung nach traditionellem denen die Regierung stets vergebens ver- Bundesregierung 1,5% – 2,0% deutschem Muster entwickeln: Zuerst sucht hatte, die Wirtschaft in Fahrt zu brin- BANKEN springen die Ausfuhren an, anschließend gen. Auslöser sind vielmehr stärkere Inves- Commerzbank 2,0% wird der Rest der Wirtschaft mitgerissen. titionen der Unternehmen und steigende „Im Windschatten einer zügigen Export- Exporte in die asiatischen Nachbarländer – Dresdner Bank 2,0% entwicklung kommen zuerst die Investi- allen voran China. Deutsche Bank 1,7% tionen, dann erholt sich die Beschäftigung, Das kommunistische Riesenreich hat in INSTITUTE und die verfügbaren Einkommen steigen. den vergangenen Jahren einen wahren Ent- Institut für Weltwirtschaft 1,8% Am Ende springt der private Verbrauch wicklungsschub erlebt. Zum ersten Mal in Rheinisch-Westfälisches Institut 1,8% an“, beschreibt Ulrich Hombrecher, Chef- der jüngeren Weltwirtschaftsgeschichte ifo-Institut 1,8% ökonom der West LB den Mechanismus. spielt das Land eine wichtige Rolle: als Ex- HWWA 1,7% Deutschland und Europa profitieren da- porteur von Billigprodukten wie auch an- IWH 1,6% mit vom weltweiten Aufschwung, der in- spruchsvollen Konsumgütern und als wich- DIW 1,4% zwischen selbst die Japaner erreicht hat. tiger Käufer von Rohstoffen. So stieg zum Mehr als zehn Jahre lang war das einstige Beispiel der Bedarf der Chinesen an Kup- INTERNATIONALE INSTITUTIONEN Wirtschaftswunderland der Dauerpatient fer und Nickel dramatisch; südamerika- EU-Kommission 1,6% der Weltwirtschaft. Das Schlimmste scheint nische Lieferanten wie Chile profitierten IWF 1,5% nun auch dort überstanden. davon. OECD 1,4%

20 der spiegel 2/2004 traktiver macht, belasten den Dollar eben- so wie das enorme Leistungsbilanzdefizit von rund fünf Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts. Die Amerikaner importieren sehr viel mehr, als sie aus- führen – und das auf Pump. Noch in den neunziger Jahren tauschten die Investoren aus aller Welt ihre Yen und Pfund bereitwillig in Dollar und legten sie in den USA an, in der Hoffnung, in dem ewigen Boomland ordentliche Renditen zu erzielen. Die Folge war ein stetig steigen- der Dollar-Kurs. Doch die Anleger haben umgedacht. Weil sie die eindrucksvollen US-Konjunk- turzahlen für ein Strohfeuer halten, bricht die Nachfrage nach amerikanischen Wert- papieren deutlich ein. In der Folge verliert der Dollar an Kraft, und der Kurs des Euro steigt schier unaufhaltsam. Wenn diese Entwicklung so sprunghaft verläuft wie in den vergangenen Wochen,

JOSE GIRIBAS / KEYSTONE (L.); / KEYSTONE JOSE GIRIBAS (R.) / GETTY IMAGES CAIN THOMAS WILLIAM können die Konsequenzen fatal sein. Die rapide Verteuerung des Euro würde zu senkte die Bush-Administration die Steu- einer Belastung für die deutsche Wirt- erlast der amerikanischen Konsumenten schaft werden. Den Unternehmen fehlt und Unternehmen um viele Milliarden die Zeit, sich auf die neuen Verhältnisse Dollar. Hinzu kamen staatliche Ausgaben- einzustellen. programme für Verteidigung und Sicher- Deutsche Waren werden im Ausland im- heit im Umfang von knapp 90 Milliarden mer teurer, weil die Kundschaft mehr Dollar, die zumindest kurzfristig ebenfalls Dollar aufbringen muss, um die gleiche das Wachstum stimulieren. Ware zu bezahlen. Für Preissenkungen, Notenbank-Präsident Alan Greenspan um den höheren Euro-Kurs auszugleichen, sorgt zudem schon seit Monaten für eine fehlt den meisten Anbietern aber der Spiel- regelrechte Geldschwemme. Im Juni senk- raum. te er die Leitzinsen auf einen historischen Und der Dollar dürfte auch im neuen Tiefstand von einem Prozent und flutet die Jahr weiter schwächeln. Sollte der Kurs Wirtschaft so mit billigem Geld. Derart der EU-Einheitswährung deutlich über 1,30 niedrig sollen die Zinsen auch in abseh- Dollar steigen, wird es kritisch. „Dann barer Zukunft bleiben, hat Greenspan an- kriegen wir Probleme“, meint Banken- gekündigt. volkswirt Fels. Ende vergangener Woche Die Politik der Amerikaner ist damit warnten die ersten Ökonomen, die eu- zwar die wichtigste Kraft hinter dem welt- ropäische Zentralbank müsse womöglich weiten Aufschwung, doch gleichzeitig auch bald mit stützenden Dollar-Käufen inter- dessen größte Gefahr. „Die US-Konjunktur venieren. ist nach wie vor das größte Risiko“ für die Solange die Wirtschaft wächst, ist das Erholung der Weltwirtschaft, sagt Morgan- Risiko halbwegs beherrschbar, doch Pessi- Stanley-Ökonom Fels. misten befürchten, dass die Amerikaner „Kruden Keynesianismus“ nennt die spätestens in der zweiten Jahreshälfte als „Financial Times“ jene Politik des leichten Käufer deutscher Waren weitgehend aus- Geldes, die darauf hofft, nach den Rezep- fallen könnten. Denn dann ebbt die kon- ten des britischen Ökonomen John May- junkturelle Wirkung der letzten Bush-Steu- nard Keynes mit staatlichen Ausgaben und ersenkung langsam ab. niedrigen Zinsen dauerhaft Wachstum zu Spätestens dann können sich die Deut- erzeugen – was in den siebziger Jahren schen nicht mehr darauf verlassen, dass die schon einmal gescheitert ist. Internationale des Wachstums ihrer eige- Mit seinen gigantischen Ausgabepro- nen Wirtschaft weiter auf die Sprünge grammen und der ebenso großzügigen helfen wird. Steuerreform (die vor allem die Wohl- Der Kanzler hat die Gefahr erkannt. In habenden begünstigte) hat George W. Bush seiner Neujahrsansprache beschwor Schrö- innerhalb kürzester Zeit den US-Haushalt der die Deutschen, mehr zu kaufen: „Ver- ruiniert. War sein Vorgänger Clinton noch gessen Sie nicht, dass Sie es zu einem stolz auf Überschüsse, summierte sich das großen Stück selbst in der Hand haben, Staatsdefizit der Amerikaner im vergange- wie es mit der Wirtschaft in Deutschland nen Jahr auf unvorstellbare 400 Milliarden weitergeht. Auch Sie ganz persönlich kön- Dollar. nen Konjunkturmotor sein.“ Die unsoliden Staatsfinanzen und die Was der Sozialdemokrat meint: Völker, Niedrigzinspolitik der US-Notenbank, die an die Regale! Jan Fleischhauer, europäische Staatspapiere für Anleger at- Christian Reiermann, Jörg Schmitt

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Kandidatin schauen wir uns an“ Bundeskanzler Gerhard Schröder über seine Reformpläne für das neue Jahr, die Dauerkonflikte mit der eigenen Partei und die im Mai anstehende Präsidentenwahl

eher vom Schlingerkurs ge- prägten Regierungszeit? Schröder: Das mit dem Schlin- gern muss ich pflichtgemäß zurückweisen. Natürlich ver- ändert man sich über das Be- stehen solcher Herausforde- rungen, das kann gar nicht an- ders sein. SPIEGEL: Sie empfinden sich als gefestigter, unbeirrbarer als vorher? Schröder: Unbeirrbarer, auch freier. SPIEGEL: Ahnten Sie von An- beginn Ihrer ersten Amtspe- riode, dass es in diesem Land so viel Reform- und Verände- rungsbedarf geben würde? Schröder: Sicher nicht in die- ser Konsequenz. In der Außen- politik wurde das schnell klar. Die Bereitschaft etwa, uns am Kosovo-Krieg zu beteiligen, war – so merkwürdig das im Nachhinein klingen muss – auch eine Voraussetzung dafür, in einem anderen Fall Nein sagen zu können. In der In- nenpolitik hat mich das Aus- maß schon überrascht. SPIEGEL: Weil so wenig davon vorhersehbar war? Schröder: Weil vieles völlig un- vorhersehbar war! Vorweg natürlich der 11. September und die Folgen für die Welt- wirtschaft. Darüber hinaus hatten wir zu Beginn des Jahrhunderts den Boom im Neuen Markt, der mit einem Zusammenbruch und erheb-

MICHAEL DALDER / DPA MICHAEL DALDER lichen Turbulenzen bei Ban- Kanzler Schröder (bei seiner Neujahrsansprache): „Selten traten Probleme derart komprimiert auf“ ken und Versicherungen en- dete. Es hat selten eine Zeit SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, unter den Vorgänge, die in einem inneren Zusam- gegeben, in der die Probleme derart kom- Topthemen des zu Ende gegangenen Jah- menhang stehen. Der Zuwachs an Selb- primiert auftraten. res ragen aus deutscher Sicht mit dem Irak- ständigkeit in der Außenpolitik – an mehr SPIEGEL: Aber nicht alles war Schicksal. Krieg und den innenpolitischen Reformen Verantwortung und Eigenverantwortlich- Einige in der Endphase der Kanzlerschaft zwei Ereignisse von besonderem Gewicht keit, wenn Sie so wollen – muss materiell Helmut Kohls noch durchgepaukte Ent- heraus. Würden Sie sagen, dass Sie dar- durch Reformen im Inneren unterlegt sein. scheidungen sind von Ihrer Koalition rück- über ein anderer geworden sind? Nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland gängig gemacht und dann wieder in Kraft Schröder: Das kann man selber schwer be- kann glaubwürdig eine selbstbewusste Rol- oder auf die Tagesordnung gesetzt wor- urteilen, aber es sind beides große Her- le im Bündnis spielen. den. Wir erinnern an den berühmten „de- ausforderungen gewesen, die viel Kraft und SPIEGEL: Und nun haben wir einen Kanzler, mografischen Faktor“. auch eine Menge an Durchhaltevermögen der für sein Volk deutlich kenntlicher ge- Schröder: Die Demografie in unseren Ren- erfordert haben. Im Übrigen waren das worden ist als in den ersten Jahren einer tenkonzepten zunächst nicht genügend

22 der spiegel 2/2004 berücksichtigt zu haben war gewiss ein schaft vor allem auch nach den Schwächen zeitmodelle sein Know-how zur Verfügung Fehler. Den haben wir korrigiert. forscht, die wir unbedingt beseitigen müs- stellte, hat uns weitergebracht. SPIEGEL: Wie geht es nun weiter, nachdem sen. Und wir brauchen keine neuen Gre- SPIEGEL: Zumal die Externen offenbar ver- die Reformagenda 2010 im Wesentlichen mien, sondern wir brauchen, was man Pri- lässlichere Partner sind als die Abgeord- beschlossen ist und möglicherweise ein vate-Public-Partnership nennt, also eine neten Ihrer Regierungsfraktionen. Dass es kleiner Aufschwung ins Haus steht? enge Zusammenarbeit zwischen Staat, da für den Kanzler bei der Verabschiedung Schröder: Das Wichtigste ist, nicht wieder Wirtschaft und Wissenschaft. der Arbeitsmarktgesetze mit immerhin zurückzufallen und sich der trügerischen SPIEGEL: Sie haben bereits zu einem Ge- zwölf Abweichlern noch einmal einen kräf- Hoffnung auf eine hinreichende Dividen- spräch eingeladen. tigen Schuss vor den Bug gab, haben Sie de aus einem wirtschaftlichen Aufschwung Schröder: Zunächst einmal wird der frü- scheinbar ungerührt als Nebensächlichkeit hinzugeben. Die Strukturreformen dürfen here BMW-Vorstandsvorsitzende Joachim abgetan. nicht vernachlässigt werden. SPIEGEL: Eine Politik der ruhigen Hand schließen Sie also aus? Schröder: Mit Sicherheit. Wir brauchen aus ökonomischen, aber auch aus gesellschaft- lichen Gründen ein modernes Zuwande- rungsrecht und die Weiterentwicklung der Rentenreform, eine Entbürokratisierung bei der Riester-Rente und den Einbau dessen, was wir den Nachhaltigkeitsfak- tor nennen. Der berücksichtigt steigende Lebenserwartung und Beschäftigungs- situation. In 2004 müssen wir außerdem den ernst gemeinten Versuch unterneh- men, in Bereichen, in denen Deutschland ökonomisch seine führende Position ver- loren hat, wieder Spitze zu werden. SPIEGEL: Das von Ihnen gewählte klingen- de Stichwort in diesem Zusammenhang heißt „Innovationsoffensive“. Schröder: Ja – und ich möchte damit ins- besondere zwei Felder besetzen. Zunächst geht es um das, was man im klassischen Sinne als Innovation begreift, also die In- vestitionen der Gesellschaft, der Wirt-

schaft, aber auch des Staates in Forschung TIM WEGNER / LAIF und Entwicklung. Mich beunruhigt die Tat- Nanotechnologisches Labor in Saarbrücken sache, dass wir auf der einen Seite, etwa in „Einerseits werden, etwa in der Biotechnologie, stärkere Investitio- der Biotechnologie, aus ökonomischen Gründen stärkere Investitionen fordern, nen gefordert, andererseits Forschungsrestriktionen aufgebaut.“ auf der anderen Seite aber Forschungsre- striktionen aufbauen. Milberg gegenüber dem Präsidium der SPD Schröder: Die Diskussion über Disziplin SPIEGEL: Weil da zu viele Bedenkenträger noch in dieser Woche seine Vorstellungen und Geschlossenheit wurde schon häufi- mitmischen? entwickeln und danach Jürgen Kluge von ger geführt – interessanterweise immer Schröder: Wir sind zu restriktiv. Im Deut- McKinsey vor dem SPD-Vorstand reden. dann, wenn es sich um Weggabelungen schen Bundestag hat es eine Mehrheit ge- Ich selber habe für den 15. Januar eine handelte wie im Vorfeld der Entscheidung geben, die unter dem Druck der Gesell- Reihe von Experten zu mir gebeten. über die Teilnahme am Krieg gegen die Ta- schaft nach meiner Auffassung partiell zu SPIEGEL: Dürfen wir daraus folgern, dass liban. Ich habe dafür dennoch eine Kanz- zurückhaltend war. der Kanzler weiterhin vornehmlich nach lermehrheit erreicht – sicher mit dem Mit- SPIEGEL: Und das will der Kanzler nicht außerparlamentarischen Kombattanten tel der Vertrauensfrage, das man nicht im- länger hinnehmen? Ausschau hält, wie das in der Vergangen- mer anwenden kann. Schröder: Hier wird die Diskussion in eini- heit ja schon mit Männern wie Bert Rürup SPIEGEL: Aber immer öfter indirekt durch gen entscheidenden Punkten ebenso neu oder Peter Hartz geschah? Rücktrittsdrohung. beginnen müssen wie auf dem zweiten Schröder: Eine zeitgemäß handelnde Re- Schröder: Wir haben die benötigte Mehr- Feld, dem gesamten Bereich der Bildung. gierung kann auf den Erfahrungsaustausch heit bekommen – wie in allen anderen Wir brauchen da bei aller Konkurrenz un- mit solchen Leuten nicht verzichten. Je- Fällen jene, die jeweils gebraucht worden ter den Ländern nationale Standards. Und mand wie der Siemens-Chef Heinrich von ist. Immer wenn es darauf ankam, hat die wir benötigen, was die Schule anbelangt, Pierer, dessen Firma in China eines der Koalition gestanden. ein verändertes Elternverständnis. Man führenden deutschen Unternehmen ist, SPIEGEL: Dass Sie Ihrer Partei und dem darf in dieser Gesellschaft nicht alles beim weiß natürlich besser, wie dort der Markt Bündnispartner zuweilen schweres Gepäck Staat abladen. funktioniert, als zum Beispiel ein Staatsse- zugemutet haben, bestreiten Sie aber nicht. SPIEGEL: Sie möchten nun einen „In- kretär im Wirtschaftsministerium. Schröder: Ich musste das tun. Ich bin in novationsrat“ und einen „Hightech-Mas- SPIEGEL: War Herr Hartz für Sie letztlich diesem Prozess der Durchsetzung der Re- terplan“ aus der Taufe heben. Was ver- wichtiger als jeder Arbeitsminister? formen immer mehr zu der Auffassung ge- birgt sich hinter solchen schillernden Schröder: Das will ich so nicht sagen. Er langt, dass es eine vernünftige Alternative Begriffen? hatte eine andere Aufgabe. Doch die Tat- dazu nicht gibt. Schröder: „Masterplan“ heißt, dass man in sache, dass ein ausgewiesener Praktiker SPIEGEL: … um letztlich unter Schmerzen Gesprächen mit Wissenschaft und Wirt- auf den Feldern Tarifpolitik und Arbeits- nur einen kleinen Schritt voranzukommen.

der spiegel 2/2004 23 Schröder: Ich sehe das anders. Wir haben die Agenda 2010 durchgesetzt, was viele uns nicht zutrauten. Wir haben politisch und mental viel verändert. Die entschei- dende Erkenntnis liegt allerdings darin, dass sich unsere Gesellschaft unter dem Einfluss der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung ökonomisch immer rascher verändert und mit diesem Tempo mithalten muss. Man kann also nicht sagen: Jetzt ist die Agenda 2010 beschlossen und Ruhe im Karton. SPIEGEL: Aber Sie bleiben dabei, dass der Bürger – wie versprochen – zumindest bis auf weiteres mehr Geld in der Tasche hat als zurzeit? Schröder: Das lässt sich leicht berechnen. Ich hoffe darüber hinaus, dass nach Über- windung der ökonomischen Schwierigkei- ten die Zuversicht wächst und sich deswe-

gen das Konsumentenverhalten ändert. / E-LANCE MEDIA ROGE / REUTERS THIERRY SPIEGEL: Und dann käme in einem zweiten Kanzler Schröder beim EU-Gipfel in Brüssel Aufgalopp tatsächlich die große Steuer- „Wir wollen lediglich, was wir an Bevölkerung haben, auch im reform? Angesichts des bevorstehenden Superwahljahrs erscheint uns das als ein Zusammenhang mit der Stimmengewichtung dargestellt sehen.“ fast haltloses Versprechen. Schröder: Ich bin wirklich gerne bereit, Ministerpräsidenten durchgreifenden Sub- Schröder: Die Union muss ihre Vorstellun- über jedes Konzept der Vereinfachung zu ventionsabbau verhinderten, wird es mit gen einbringen. Gibt sie ihre Position auf, reden – aber nicht so, dass sich die Oppo- mir nicht mehr geben. Die Union muss ein immer nur niedrigere Tarife in die Welt zu sition über niedrigere Steuersätze verbrei- Konzept vorlegen, dem die CDU-Minis- posaunen und gleichzeitig jeden Subven- tet und ich darüber öffentlich nachzuden- terpräsidenten – und nicht nur Herr Stoi- tionsabbau zu diskreditieren, kann man ken habe, wie die finanziert werden sollen. ber – geschlossen zustimmen. reden – auch in Wahlkampfzeiten. Das Theater, wie wir es im Vermittlungs- SPIEGEL: Wie soll sich dann aber etwas be- SPIEGEL: Deutschland hat mit die jüngsten ausschuss erlebt haben, wo die CDU- wegen? Ruheständler und die ältesten Studenten, Deutschland aus deren Reihen sich gerade eine Welle SPIEGEL: Aber sicher auch nicht erst nach Schröder: Haben wir nicht vor. von Protesten erhebt. Wie bewerten Sie der Wahl. SPIEGEL: Wie lange bleibt Ihr Kassenwart die? Ist das gegen die Sparpolitik der Re- Schröder: Eben. Ich habe häufig gesagt, ich Hans Eichel noch, der eigentlich ja nicht gierung gerichtet – oder bahnt sich da eine fände es an der Zeit, dass eine Frau Präsi- mehr möchte? allgemeine Politisierung an? dentin würde, und dabei bleibe ich. Auf der Schröder: Ich sehe überhaupt keinen Schröder: Die sehe ich noch nicht. Jeden- anderen Seite habe ich zu akzeptieren, dass Grund, über Kabinettsumbildungen zu grü- falls keine, die mit ’68 vergleichbar wäre. diese Koalition keine Mehrheit in der Bun- beln. Das gilt für alle Personen. SPIEGEL: Stichwort Wahlkampfjahr: Ihre desversammlung hat, und insofern wäre es SPIEGEL: Hat Ihr Schwur auch andere Grün- Partei wird von immer neuen Rückschlä- einfach nur fair, wenn diejenigen, die sich de? Sind Sie über die Jüngeren und deren gen heimgesucht, und auch der Kanzler einer Mehrheit berühmen können, irgend- mangelnden Vorwärtsdrang enttäuscht? hat schon einmal deutlich bessere Zeiten wann konkret werden. Dann wird man se- Schröder: Wenn ich die letzten fünf Jahre gesehen. Gibt es aus Ihrer Perspektive be- hen, wie man darauf reagiert. Revue passieren lasse – ich will nicht über trachtet so etwas wie eine zentrale Bot- SPIEGEL: Werden Sie auf jeden Fall einen die reden, die im Bundestag sitzen oder schaft, die Sie notfalls auch gegen den Wil- Kandidaten oder eine Kandidatin benen- Juniorminister beziehungsweise Juniormi- len der SPD durchsetzen würden? nen? nisterin sind –, dann habe ich schon eine Schröder: Nein. Der SPD-Parteitag hat Schröder: Das hängt davon ab. Befürchtung: Es wird immer weniger Leu- sich gerade erst mit großer Mehrheit hinter SPIEGEL: Das heißt, es könnte auch sein, te geben, die sich politisch engagieren. Je- meinen Reformkurs gestellt. Das, was dass der Bewerber der konservativen Par- denfalls auf diesem Level, weil sie dabei ein ich Ihnen versucht habe zu erläutern, teien bei Ihnen eine so große Akzeptanz Missverhältnis zwischen der unvermeid- wird ohne große Kontroversen Programm hat, dass Sie keinen eigenen aufstellen? lichen Belastung und der Würdigung ihrer der Partei und sicher auch der Koalition Schröder: Man kann das nicht ausschließen, Arbeit sehen. sein. auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht SPIEGEL: Schwingen da eigene Erfahrungen SPIEGEL: Es gibt in diesem Jahr – am 23. Mai sehr groß ist. Aber wenn man schon darauf mit? Gab es im abgelaufenen Jahr Phasen, – noch ein hochinteressantes Datum: hinweist, der Kandidat müsse von der po- in denen Sie keine Lust mehr hatten? Deutschland sucht einen neuen Bundes- tenziellen Mehrheit benannt werden, muss Schröder: Keine einzige, in der mir auch präsidenten. Haben Sie das Rennen schon man zugleich auch die innere Freiheit ha- nur der Gedanke gekommen wäre, den verloren gegeben? ben zu sagen: Die Kandidatin, wenn sie in- Bettel hinzuschmeißen. Schröder: Es geht dabei nicht um Gewinnen tegrationsfähig ist, schauen wir uns vorur- SPIEGEL: Auch wenn Sie nie an Rücktritt ge- oder Verlieren, sondern zunächst einmal teilsfrei an. dacht haben: Was war der Tiefpunkt? Jener um die Frage: Wann macht man Vorschlä- SPIEGEL: Halten Sie für möglich, das Wahl- Sonntagabend im Februar, als Niedersach- ge? Es ist gesagt worden, möglichst nicht zu jahr 2004 noch mit anderen spektakulären sen verloren ging? früh, aus Respekt vor dem amtierenden Akzenten zu beleben? Wir denken da an Schröder: Das war mit Sicherheit schwierig Präsidenten. eine Kabinettsreform. und auch schmerzlich. Ich hatte das Land Deutschland

menhang mit der Stimmengewichtung dar- gestellt sehen, um es zum Nutzen Europas einzusetzen. SPIEGEL: Denkbare Initiativen für einen neuen Verfassungsentwurf werden also von Ihnen und Jacques Chirac nicht unterstützt? Schröder: Wir haben das, was wir für rich- tig halten, auf den Tisch gelegt. Bis spätes- tens Ende 2004 muss sich zeigen, ob wir auf dieser Grundlage eine Entscheidung zu Stande bekommen. Natürlich wird man schauen müssen, wo man dem einen oder anderen entgegenkommen kann. Konzes- sionen bei der Stimmengewichtung im Rat kommen aber nicht in Frage. SPIEGEL: Spricht so ein Kanzler, der insge- heim ein Europa der zwei Geschwindig- keiten favorisiert? Schröder: Ich wünsche mir das nicht, aber ich habe mich darauf einzustellen, dass die Entwicklung in diese Richtung laufen könnte. SPIEGEL: Kaum etwas beschäftigt die bun- desrepublikanische Bevölkerung im Hin-

FRANK OSSENBRINK FRANK blick auf Europa mehr als die Frage einer Siemens-Chef Pierer im Dezember 2003 in China Vollmitgliedschaft der Türkei. Welche Hal- „Eine zeitgemäß handelnde Regierung kann auf den tung nehmen Sie dazu ein? Schröder: Seit 1963 wird den Türken die Erfahrungsaustausch mit solchen Leuten nicht verzichten.“ Vollmitgliedschaft versprochen – und dass sich vor allem ein Mann wie der amtieren- 1990 gewonnen – und ich konnte ja meinen hat das Gefühl, die Franzosen seien vor- de Ministerpräsident Erdogan auf den Weg eigenen Anteil am Misserfolg nicht ver- nehmlich daran interessiert, mit Berlin zu macht, eine Gesellschaft zu bauen, die eine drängen. Hab ich auch nicht. kooperieren, und die Union der 25 kommt Synthese zwischen islamischer Religion SPIEGEL: Lassen Sie uns zu dem kommen, erst an zweiter Stelle. und westlichen Wertvorstellungen werden was Sie eingangs unter das Motto „Mehr Schröder: Der Konflikt in Brüssel Mitte De- könnte, ist unübersehbar. Wenn das aber Selbständigkeit und Eigenverantwortlich- zember war im Kern ein Konflikt um die gelänge, wäre das ein Sicherheitszuwachs keit in der Außenpolitik“ gestellt haben. unterschiedliche Gewichtung europäischer für Europa, der gar nicht hoch genug zu Wie steht es denn nun wirklich um das arg und nationaler Interessen. Für Deutsch- veranschlagen ist. Wir dürfen die Türken strapazierte transatlantische Verhältnis? land und Frankreich geht die Integration nicht zurückweisen. Muss da noch nachgearbeitet werden? der EU im Zweifel vor. SPIEGEL: Und mit dieser Einstellung werden Schröder: Die Notwendigkeit, diese Bezie- SPIEGEL: Was die Spanier und insbesondere Sie notfalls auch den Europawahlkampf hungen zu pflegen, ist völlig unbestritten. die Polen anders sehen. bestreiten? Beide Seiten sind an einem guten trans- Schröder: Ja. Vor allem die erst seit 13 Jah- Schröder: Wenn uns das aufgezwungen atlantischen Verhältnis interessiert. ren wieder souveränen Polen tun sich wird, werden wir ihn so führen. Ich möch- SPIEGEL: Der US-Präsident setzt in den wi- schwer, ein Stück dieser Souveränität an te das eigentlich nicht, aber wie ich die derspenstigen Partner aus Berlin wieder die EU abzugeben. CSU kenne, wird sie es wollen. hinreichendes Vertrauen? SPIEGEL: Und das auch noch an die Bun- SPIEGEL: Eine Frage zu Ihrem – wenn man Schröder: Ich denke, dass die Amerikaner desrepublik, die in Brüssel mehr Mitspra- das so sagen darf – Freund Wladimir Putin. vor allem unser Engagement in Afghani- che für sich reklamiert hat. Beginnt Sie dessen steter Machtzuwachs stan sehr wohl zu schätzen wissen. Nach- Schröder: Stimmt so nicht! Wir wollen le- zu ängstigen? haltiger als wir ist da keiner tätig, und ohne diglich, was wir an Bevölkerung haben, in Schröder: Nein. Ich halte Wladimir Putin uns sähe alles viel schlechter aus. Und demokratischer Weise auch im Zusam- für einen Menschen, der Russland zu einer wenn ich mir anschaue, wie das wirklich demokratischen Ge- jetzt im Irak läuft, nehme ich für sellschaft umgestalten will und mich in Anspruch, als Erster auf eine ganz enge Beziehung über die Notwendigkeit der zum Westen – zu dem, was er Schuldenreduzierung, mindes- sich unter christlichem Abend- tens großzügiger Umschuldung land vorstellt – setzt. Seinen bis hin zum Teilerlass, geredet Umgang mit der Presse darf zu haben. Wir haben geliefert, man kritisieren, aber die Wah- was wir intendiert hatten. len sind fair gewesen. Wenn SPIEGEL: Der Schulterschluss mit dann jemand eine Zweidrittel- Frankreich scheint im abgelau- mehrheit im Parlament be- fenen Jahr enger als je zuvor in kommt, hat man das zu respek- der Geschichte der Bundesre- tieren. Tut man anderswo ja publik geworden zu sein. Man auch. SPIEGEL: Herr Bundeskanzler,

* Mit den Redakteuren Stefan Aust, Hans- DARCHINGER MARC wir danken Ihnen für dieses Joachim Noack und Gabor Steingart. Schröder beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ich rede über jedes Konzept“ Gespräch.

28 der spiegel 2/2004 Große Konzerne lagern ihre Forschungs- einrichtungen immer häufiger aus. Bei FORSCHUNGSPOLITIK Unternehmen der Spitzentechnologie sank die Produktion 2002 um zehn Prozent. Die Beschäftigungsquote in der Informa- „Sind wir noch so gut?“ tions- und Kommunikationswirtschaft liegt in Deutschland bei 1,5 Prozent, in den Der Kanzler ruft 2004 zum Jahr der Innovation aus. Noch ehe Niederlanden bei 3,2 Prozent, in Schweden bei 2,8 Prozent. Gerade in diesem Bereich ganz klar ist, was er damit meint, gibt es Ärger mit den ist das Innovationstempo besonders hoch. Grünen. Sie fürchten einen Rückfall in vorökologische Zeiten. Zwar hat die rot-grüne Koalition den Forschungsetat des Bundes in fünf Jahren s klingt fast wie Hohn oder unfrei- Es geht aber auch darum, dass die SPD um knapp eine Milliarde Euro erhöht, für willige Komik. Der Kanzler ruft 2004 in den kommenden zwölf Monaten 14 2004 aber wieder um insgesamt 240 Mil- Ezum Jahr der Innovation aus. Gleich- Wahlkämpfe bestreiten muss. Das Wort In- lionen gekürzt. Vor allem jedoch: Der er- zeitig ist nicht sicher, wann DaimlerChrys- novation ist wie geschaffen dafür. Es klingt hoffte Schub ist ausgeblieben. Für diese ler und Telekom endlich das innovative nach Hoffnung und ist so schwammig, dass Schwerfälligkeit gibt es nach Ansicht von satellitengestützte System zur Erfassung mehr oder weniger alles damit gemeint sein Experten und Politikern vor allem drei der Lkw-Maut installieren können. kann. Auch die anderen Parteien werden Gründe: Anders gesehen: Das Versagen der sich dieses Wortes bemächtigen. •„Alles fährt auf Sicherheit“, so Münte- beiden Vorzeigekonzerne belegt, wie Derzeit wird an vielen Papieren zum fering. „Für die Dynamik einer Volks- dringend sich der Forschungsstandort Thema Innovation gearbeitet. Schon jetzt wirtschaft ist das ein Riesenproblem.“ Deutschland wandeln muss. Die SPD- zeichnet sich ab, dass es in der Koalition zu Zum gleichen Befund kommt eine Analy- Auf den Lorbeeren ... WERT DER EXPORTE gemessen am Bruttoinlandsprodukt 2002

Deutschland 35,90% Frankreich 27,06% Großbritannien 26,12% Japan 11,16%

USA 9,72% Quelle: Sachverständigenrat ... ausgeruht? FORSCHER je tausend Beschäftigte Japan 9,26 USA 8,08 Frankreich 6,14 Deutschland 6,07 Großbritannien 5,54 Quelle: Eurostat 2001 WOLFGANG THIEME / DPA WOLFGANG Mikrotechnologie-Forschung (in Zwickau): „Alles fährt auf Sicherheit“

Parteispitze und die Bundestagsabgeord- Streit kommt. Die Grünen fürchten, dass se vom Bundesverband Informationswirt- neten sollen sich von Montag an eine die SPD zum alten Wachstumsbegriff schaft, Telekommunikation und neue Me- Woche lang mit diesem Thema befassen. zurückkehren will: Alles, was sich verkau- dien (Bitkom): „Deutschland ist führend Demnächst wird ein „Innovationsrat“ ins fen lässt, muss entwickelt und produziert bei den Ängsten seiner Einwohner vor Leben gerufen. werden. Dazu gehörte dann auch Kern- freiheits-, gesundheits- und umweltschäd- Er rührt an den Nerv der Republik. und Waffentechnik. lichen Auswirkungen von Informations- „Sind wir noch so gut, dass wir uns die Einig sind sich die Politiker über die und Kommunikationstechnologien.“ Preisaufschläge und damit unseren Le- mangelnde Innovationsfähigkeit des Lan- • Es gibt kaum noch Gründer, die ihre bensstandard im Vergleich zu Konkur- des. Die „schlimmste Meldung“ 2003 sei Ideen in erfolgreiche Unternehmen um- renzländern leisten können?“, fragt Hans- gewesen, dass Deutschland im Vorjahr erst- wandeln. Zum Beispiel hat der Deut- Jörg Bullinger. Er ist Präsident der Fraun- mals mehr Hochtechnologie importiert als sche Karlheinz Brandenburg 1988 das hofer-Gesellschaft, des führenden Instituts exportiert habe, sagt Franz Müntefering, Dateiformat MP3 entwickelt, die maß- für angewandte Forschung in Europa. Fraktionschef der SPD im Bundestag. gebliche Komprimierungstechnik für Die Reformen von 2003 können besten- Auch der jüngste „Bericht zur technolo- Musikdateien. Es gelang der deutschen falls dafür sorgen, dass die Unternehmen gischen Leistungsfähigkeit Deutschlands“, Industrie jedoch nicht, die millionen- ihre Kosten senken. 2004 geht es um die den die Fraunhofer-Gesellschaft jährlich schwere Idee zu vermarkten. Frage, mit welchen Produkten sie auf dem für die Regierung erarbeitet, stellt dem • Es fehlt Geld. Für kleine und mittlere Weltmarkt noch konkurrenzfähig sind. Land ein mäßiges Zeugnis aus. Unternehmen sei „das gegenwärtig größ-

der spiegel 2/2004 29 Deutschland

te Problem“, Kapital für ihr Wachstum Sicher ist ansonsten nur: Anders als die Deshalb sind sie nun besonders wach- zu beschaffen, schreibt Bitkom. Bildung haben Forschung und Entwicklung sam. Alarmiert hat sie die Rücksichtslosig- Um die Probleme zu lösen, setzt Ger- kaum zusätzliche Gelder zu erwarten. keit, mit der Schröder die Hanauer Sie- hard Schröder auf ein vertrautes Mittel: Er Stattdessen sollen die vorhandenen Mittel mens-Atomanlage nach China verkaufen will eine Kommission gründen, die ihn effizienter investiert werden. „Man wird wollte und obendrein anregte, das euro- beraten soll. „Wir brauchen keine neuen auch streichen und wehtun müssen“, kün- päische Waffenembargo gegen die Volks- Gremien“, sagt der Kanzler im SPIEGEL- digt der zuständige SPD-Haushälter Cars- republik aufzuheben. Gespräch (siehe Seite 22). In seinem „Inno- ten Schneider an. Mit heftigem Krach rechnet die grüne vationsrat“ jedoch werden 15 oder 16 Leu- Forschung werde vor allem dort geför- Spitze vor allem im Bereich der Ener- te sitzen, die formal allein er bestimmt. dert, heißt es in einem Vermerk des ver- gie- sowie der Bio- und Gen-Technologie. Für den 15. Januar hat Schröder Experten antwortlichen Ministeriums von Edelgard Schröders Satz, man müsse in der Bio- und Wirtschaftsbosse zum „abendlichen Bulmahn, wo „zukunftssichere Arbeits- Politik „ohne Scheuklappen“ vorgehen, Gespräch“ ins Kanzleramt geladen, um plätze“ zu erwarten seien, wo sich die wird beim Koalitionspartner mit „ohne über den Innovationsrat zu sprechen. Führung einer Technologie erhalten oder Hemmungen“ übersetzt. Kandidaten für die Runde sind unter an- ausbauen lässt und wo deutsche Unter- In ungewohnter Heftigkeit lästern die derem der deutsche McKinsey-Chef Jürgen nehmen auf dem globalen Markt als Sys- Grünen derzeit hinter den Kulissen über Kluge, Siemens-Boss Heinrich von Pierer, temführer operieren. den Kanzler und seinen Wirtschaftsminis- Berthold Leibinger, Chef des Maschinen- Das schafft bei den Grünen Unbehagen. ter Wolfgang Clement. Sie stünden für die bauers Trumpf, Joachim Milberg, bis 2002 Sie fürchten, dass es ihren Lieblingspro- Industriepolitik der siebziger Jahre und BMW-Boss, Wilfried Bockelmann, Tech- jekten an den Kragen gehen soll. Anders einen kritiklosen Fortschrittsoptimismus. nikvorstand bei VW, sowie der Fraunhofer- als beim Thema Sozialumbau ahnen sie, Reinhard Loske, Experte für Forschung Präsident Bullinger. dass sich SPD und Union rasch auf ei- und Energie in der Bundestagsfraktion, Innerhalb eines halben Jahres sollen die nen gemeinsamen Kurs einigen könnten. beobachtet bei Schröder „eine gewisse Experten einen Innovationsplan ausarbei- „Schröder sagt Wachstum, Wachstum, Attitüde, ökologische und ethische Fragen an den Rand zu drängen“. Er verfolge eine „Durchbrecher“-Strategie nach dem Mot- to: „Alles, was Wachstum hemmt, ist vor- modern und stört.“ Nichts fürchten die Grünen mehr als den Vorwurf, Socken strickende Feinde des technologischen Fortschritts zu sein. Mit ihren ethisch und sozial begründeten Ein- wänden gegen ein Wachstum um jeden Preis begeben sie sich auf eine Gratwan- derung: Wie können grüne Urthemen, etwa Umwelt- und Verbraucherschutz, ent- staubt und von einer überladenen Büro- kratie befreit werden, ohne dass man den Kern antastet? Die Grünen müssten für qualifiziertes Wachstum stehen, „ohne un- seren Modernisierungsanspruch aufzuge- ben“, mahnt die Fraktionsvorsitzende Göring-Eckardt. Loske, der für die Klausur seiner Frak-

MARKUS HANSEN / ACTION PRESS HANSEN / ACTION MARKUS tion am kommenden Wochenende in Wör- Bildungsministerin Bulmahn: Förderung für Systemführer litz ein Arbeitspapier verfasst hat, plädiert für erneuerbare Energien und dezentrale ten. Jede Branche wird untersucht. Wel- Wachstum. Merkel sagt Jobs, Jobs, Jobs. Lösungen statt teurer Großprojekte. cher Standard wird geboten? Was kann Dahinter verbirgt sich bei beiden Volks- Der Rolle als Wachstumsfeinde wollen besser gemacht werden? parteien ein Innovationsbegriff, der uns zu die Grünen zudem dadurch entgehen, dass Bullinger gefällt an der Idee, dass Poli- eng ist“, sagt Katrin Göring-Eckardt, Frak- sie das Thema Innovation auch auf Bil- tik und Wirtschaft zusammenarbeiten. Da tionschefin der Grünen im Bundestag. „Wir dung, Gesellschafts- und Familienpolitik zwei Drittel der Forschungsgelder nicht wollen eine werteorientierte Wachstums- mit dem Schwerpunkt Kinderbetreuung vom Staat kämen, sondern von Unterneh- politik, und Ökologie ist ein Teil davon.“ ausweiten. „Wer die Bedeutung der so men, könne Innovationspolitik nur den Es geht um nicht weniger als den Grün- genannten weichen Standortfaktoren nicht Rahmen für die Entwicklung neuer Pro- dungsmythos der Partei. Anfang der sieb- begriffen hat“, sagt der grüne Wirtschafts- dukte setzen. ziger Jahre geriet der Glauben an techno- experte Fritz Kuhn, „der hat nicht ver- Wie dieser aussehen wird, ist noch logischen Fortschritt und damit verbunde- standen, was in der Welt los ist.“ offen. Bei den Klausuren in der kom- nes Wachstum ins Wanken. Tote Fische im Ob Schröder das so intus hat wie Kuhn, menden Woche in Weimar und Leipzig Rhein, die Ölkrise, Waldsterben, Chemie in wird sich zeigen. Er neigt eher dazu, den sollen erste Konturen erkennbar werden. Nahrungsmitteln und ansteigende Arbeits- Begriff Innovation eng auszulegen. Wenn Unter anderem Kluge (McKinsey) und losenzahlen erschütterten das Zutrauen in er ihn denn überhaupt richtig ernst nimmt. der ehemalige BMW-Chef Milberg sol- die Industriegesellschaft. Der erste Bericht Seinen siegreichen Wahlkampf 1998 hat er len dabei sein. Nachholbedarf sehen die des 1968 gegründeten Club of Rome mit unter dem Slogan „Innovation und Ge- Berater Schröders insbesondere in den seinen düsteren Prognosen über die End- rechtigkeit“ geführt. Hätte das Folgen ge- Bereichen Pharma, Gentechnik und Un- lichkeit der Ressourcen löste Debatten und habt, müsste der Kanzler 2004 nicht zum terhaltungselektronik. Auch die Informa- Ängste aus. Umweltschutz wurde zu einem Jahr der Innovation ausrufen. tionstechnologie wird weiter höchste Pri- Kernthema aller großen Parteien, die Grü- Tina Hildebrandt, Horand Knaup, orität haben. nen verdanken ihm ihre Existenz. Gerd Rosenkranz

30 der spiegel 2/2004 Steuermodelle der Union CDU CSU Linear- Tarif Stufentarif progressiv

Nettoent- Mrd. ¤ Mrd. ¤ lastung 24 10–15 gegenüber dem Eichel-Tarif 2005

Spitzen- 36 % 39 % steuersatz ab 40 000 ¤ ab 50 000 ¤

Eingangs- steuersatz 12 % 13 %

Grund- 8000 ¤ 8000 ¤ freibetrag pro Person pro Person MARC DARCHINGER MARC MICHAEL H. EBNER Kontrahenten Merz, Stoiber*: Das Konzept der Schwesterpartei halten die Bayern für nicht finanzierbar

Einen Drei-Stufen-Tarif mit Sätzen von die CSU.“ Stoiber dagegen erntete von UNION 12, 24 und 36 Prozent, wie ihn Merkel, den Delegierten in Leipzig kaum Pflicht- Merz & Co. einführen wollen, lehnt Stoiber applaus. Kreuther ab. „Anders als die CDU präferiert die So hält sich denn auch die Bereitschaft CSU einen linear-progressiven Tarif“, heißt der Bayern, sich schnell mit den Freunden es in dem Konzept. Bedeutet: Mit jedem aus den 15 anderen Ländern zu einigen, in Kampfansage zusätzlich verdienten Euro steigt die Belas- engen Grenzen. Zwar heißt es in dem Steu- tung, ganz wie im bestehenden System. erpapier der CSU offiziell, eine fachliche CSU-Chef Edmund Stoiber will Der Eingangssteuersatz soll bei 13 Pro- Abstimmung könne es noch im Januar ge- zent liegen, der Spitzentarif bei 39 Pro- ben; auch von einer gemeinsamen Sitzung sich mit einem eigenen zent. Dafür greift der Höchstsatz aber erst beider Parteipräsidien im März ist die Rede. Steuerkonzept als soziale Alter- ab 50000 Euro Jahreseinkommen. Bei der Aber die CSU muss in diesem Jahr kei- native zu CDU-Chefin CDU sind es 36 Prozent ab 40000 Euro. ne eigene Wahl bestreiten. „Wir haben kei- Angela Merkel profilieren. Das Konzept der Schwesterpartei halten nen Zeitdruck“, sagt der Parlamentarische die Bayern für nicht finanzierbar. Ein Loch Geschäftsführer ihrer Berliner Landes- it den Wünschen für das neue Jahr von 24 Milliarden Euro hat man in Mün- gruppe, Peter Ramsauer. Dass die Christ- ist es auch in der Union so eine chen errechnet. Auch Friedrich Merz räumt demokraten nach dem Bruch der Hambur- MSache. „Am besten, die CSU sagt ein, dass sich zumindest im Jahr eins seiner ger Koalition schon im ersten Wahlkampf einfach Ja zu dem, was wir auf unserem Reform eine solche Lücke auftun würde. stecken, ficht die Bayern nicht an. „Wir sind Parteitag in Leipzig beschlossen haben“, Zudem lehnt die CSU die Streichung we- keine Filiale der CDU“, sagt ein ranghoher befand CDU-Finanzexperte Friedrich Merz sentlicher Subventionen sowie alle Steuer- Christsozialer und verweist auf die Zwei- zu Silvester. Die von ihm vorgeschlagenen vergünstigungen – wie sie Merz plant – ab. Drittel-Mehrheit im bayerischen Landtag. Steuersätze seien „absolute Obergrenze“ Eigenheimzulage, Pendlerpauschale, Ar- Zwar lassen Stoiber-Getreue durch- und müssten „im internationalen Vergleich beitnehmerpauschale und Sparerfreibetrag blicken, dass der Chef mit einem Stufen- eher noch weiter herunter“, fand Merz. sollen am besten ganz beibehalten oder al- tarif notfalls leben könne. Doch beim Doch daraus wird wohl nichts. Denn lenfalls wenig gekürzt werden. Dafür wol- Thema Subventionsabbau und Spitzen- CSU-Chef Edmund Stoiber will in dieser len die Bayern andere Steuerarten in ihre steuersatz will der Parteivorsitzende hart Woche ein eigenes Konzept für eine Steuer- Reform einbeziehen, darunter eine Abgel- bleiben. Er will am Ende als derjenige da- reform vorstellen, das sich von den Be- tungsteuer auf Kapitalerträge – eine Idee, stehen, der die sozialen Härten des Merz- schlüssen der CDU deutlich abhebt. Zur von der sich wiederum die CDU erst kürz- Konzepts gemildert hat. Auf diese Weise, Inszenierung hat Stoiber einen Ort ge- lich verabschiedet hat. Einzige Gemein- so die Hoffnung, könne er die Marktlücke wählt, der in der Unionstradition eher für samkeit: Vom Fiskus verschont bleiben pro zwischen Gerhard Schröder, der auf seine Konflikt statt für Konsens steht: die Klau- Person jeweils 8000 Euro, das so genannte SPD Rücksicht nehmen muss, und der surtagung der CSU-Landesgruppe im ober- steuerfreie Existenzminimum. Insgesamt Radikalreformerin Merkel ausfüllen. Als bayerischen Wildbad Kreuth. Hier kün- will die CSU Bürger und Betriebe um 10 bis Imagebeschreibung schwebt Stoibers Be- digte 1976 der damalige Parteichef Franz 15 Milliarden Euro entlasten. ratern vor: konsequenter als der Bundes- Josef Strauß die Fraktionsgemeinschaft mit Allein mit fachlichen Gegensätzen lässt kanzler, aber sozialer als die CDU-Chefin. den Christdemokraten auf (nach ein paar sich der Zwist der Schwestern nicht er- Nach gleichem Muster lehnte der mäch- Wochen widerrief er freilich). klären. Es geht wie immer auch um Macht- tige Ministerpräsident bereits die von der Nun beginnt wieder ein Jahr mit einer fragen. CDU beschlossene Kopfpauschale in der Kampfansage der Bayern an die große Auf Merz sind die Christsozialen spätes- Krankenversicherung ab. Die öffentlichen Schwester. „Die CSU wählt als erste Partei tens seit dem letzten CDU-Parteitag An- Reaktionen haben Stoiber bestärkt. Bei ei- einen umfassenden Ansatz“, heißt es in fang Dezember 2003 nicht gut zu sprechen. ner Umfrage des Instituts Emnid zum An- dem Steuerpapier, das Mitte der Woche „Ich habe ja ziemlich viel Zustimmung für sehen der Spitzenpolitiker lag er jüngst mit vorgestellt wird. Erstmals liege damit ein mein Konzept bekommen, von A bis Z, 57 Prozent klar vor Merkel (42 Prozent). durchgerechnetes Konzept vor, so das von den Arbeitgebern bis zum Zentralko- Das Rennen um die Kanzlerkandida- Selbstlob der Verfasser. mitee der PDS“, hatte sich Merz gebrüstet tur in zwei Jahren halten die CSU-Stra- und unter Beifall und Gelächter höhnisch tegen deshalb noch lange nicht für ent- * Mit dem bayerischen Staatsminister Erwin Huber (r.). hinzugefügt: „Da ist auch noch Platz für schieden. Christoph Schult

der spiegel 2/2004 31 Deutschland

Anti-Terroreinsatz vor Hamburger Krankenhaus CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS / E-LANCE MEDIA CHARISIUS / REUTERS CHRISTIAN

vertraulichen Geheimdienstinformationen TERRORWARNUNGEN plaudert und sogar Quellen und verdäch- tige Gruppen namentlich nennt“, handle höchst „unprofessionell“. Nockemann kon- Ein Hauch von Bagdad terte am Freitag, er ertrage „lieber unqua- lifizierte Anwürfe von Herrn Schily als Vor- Der Streit um einen Großeinsatz der Hamburger Polizei würfe von Opfern und Angehörigen nach einem Anschlag“. zeigt: Die Flut von Hinweisen auf islamistische Der Eklat wirft Fragen auf, um deren Anschläge überfordert deutsche Sicherheitsexperten. Beantwortung sich die Sicherheitspolitiker bislang weitgehend gedrückt haben: Wie ie Schelte aus Berlin war derb, aber Nockemanns Polizisten beschlossen, zu geht Deutschland angemessen mit der Ter- sie kam Hamburgs Innensenator klotzen und nicht zu kleckern: Ein Hauch rorgefahr im eigenen Land um? Ist es rich- DDirk Nockemann gerade recht. Ge- von Bagdad wehte durch Wandsbek, als tig, wie in New York oder San Francisco lassen lehnte sich der Law-and-Order-Mann die Bereitschaftspolizei mit gepanzerten ganze Straßenzüge und Brücken zu sper- am Freitagnachmittag vergangener Woche Fahrzeugen vor dem Bundeswehrkran- ren, wenn es vage Hinweise auf mögliche in seinem Schreibtischstuhl zurück und las kenhaus auffuhr. Anwohner durften nur Attentate gibt? Oder ist die Flucht nach all die Zeitungsmeldungen über seine Ent- mit Ausweispapieren passieren, Beamte vorn ein Fehler, weil sie Panik schürt und scheidung. Bis vor wenigen Tagen kannte stellten Container auf, um die Zufahrts- Ermittlungen behindert? den Politiker von der stramm rechten Par- straße zum Hospital zu blockieren. Für Fahnder ist es in Hoch-Zeiten des tei Rechtsstaatlicher Offensive außerhalb Eine Autobombe an der Elbe statt am Terrorismus fast unmöglich geworden, aus der Hansestadt kaum jemand, nun aber leg- Euphrat – das hätte die Republik verän- der Flut von Warnungen jene Informatio- te sich gar Bundesinnenminister Otto Schi- dert. Hätte. Denn bis Ende vergangener nen herauszufiltern, die zu Recht drasti- ly (SPD) öffentlich mit ihm an und warf ihm Woche fehlte den Ermittlern jedes Indiz, sche Maßnahmen erfordern. Seit dem 11. vor, er habe Terrorermittlungen „mindes- dass es sich bei dem Warnhinweis um mehr September gehen allein beim Bundeskri- tens erschwert, wenn nicht gar vereitelt“. als eine Tatarenmeldung handeln könnte. minalamt (BKA) Monat für Monat rund Grund für die plötzliche Popularität Keine Täter, kein Sprengstoff, keine Spu- hundert Hinweise auf mögliche Terrortaten Nockemanns ist ein Großeinsatz der Ham- ren. Und weil Nockemann zudem öffent- ein. Mal denunzieren übereifrige Bürger burger Polizei am Tag vor Silvester, der lich „einen amerikanischen Geheimdienst“ fremdländische Nachbarn, mal wollen aber einen ganzen Stadtteil in den Ausnahme- als Quelle der Warnung genannt und als auch befreundete Nachrichtendienste et- zustand und die Republik in Unruhe ver- Verdächtige Mitglieder des Qaida-Ablegers was aufgeschnappt haben. setzte. Das Bundesamt für Verfassungs- Ansar-e Islam geoutet hatte, schien er ein Vor allem die Amerikaner überhäufen schutz hatte den Hamburger Kollegen eine leichtes Opfer für Kritik. die Sicherheitsbehörden weltweit mit va- Warnung amerikanischer Geheimdienstler Schily warf dem Kollegen „Geschwät- gen Gerüchten. Oft stammen die Hinweise zukommen lassen, nach der zwei muslimi- zigkeit“ vor, und auch SPD-Generalse- aus Verhören von Qaida-Verdächtigen, die sche Terroristen einen Bombenanschlag kretär Olaf Scholz meldete sich, schließlich nicht nur wertvolle Details nennen, son- auf das Bundeswehrkrankenhaus in Ham- ist Wahlkampf in Hamburg: Ein Innense- dern auch gern mal falsche Spuren legen. burg-Wandsbek planten. nator, der „zwischen Tür und Angel aus Die Analyse des Rohmaterials bleibt den je-

32 der spiegel 2/2004 Ansar-e Islam gilt Ermittlern derzeit als etwa haben einschlägige Erfahrungen mit die aktivste Gruppe aus dem Umfeld von US-Hinweisen auf bevorstehende Bom- al-Qaida in Europa. Die Bundesanwalt- benpläne. Ein namentlich bekannter Qai- schaft leitete kurz vor Weihnachten ein so da-Verdächtiger aus Hannover bereite ei- genanntes Strukturverfahren ein, bei dem nen Anschlag auf Bundeswehrlager nahe geklärt werden soll, ob auch in Deutsch- der Landeshauptstadt vor, hatte die CIA land eine Teilorganisation der einige hun- den deutschen Behörden gemeldet, ein dert Mann starken Gruppe aus dem Nord- Brennstoffdepot solle in Flammen aufge- irak arbeitet. Am vergangenen Freitag ar- hen. Der Plan trage den Namen „Operati- retierten Polizisten den geistigen Führer on Stunde Null“. Null war allerdings nur der Gruppe, Mullah Krekar, in dessen eins: das Ergebnis der Ermittlungen. Asyl-Land Norwegen. Krekar, der Osama Erschwert wird die Diskussion über den REINER ZENSEN JOERG SARBACH / AP JOERG SARBACH Bin Laden als „Juwel in der Krone des Is- Umgang mit solchen Tipps dadurch, dass Kontrahenten Nockemann, Schily lam“ preist, soll in Mordtaten im Nordirak im Nachhinein nur selten zu klären ist, ob Unqualifizierte Anwürfe? verwickelt sein. Zwei mutmaßliche Ansar- wirklich eine Gefahr bestanden hat. Für Unterstützer sitzen seit Anfang Dezember Chaos im internationalen Luftverkehr sorg- in Hamburg und München in Haft wegen ten beispielsweise in den vergangenen Ta- des Verdachts, arabische Freiwillige für den gen mehrere Warnungen der Amerikaner, Kampf gegen die Besatzer in den Irak ge- nach denen neue Anschläge mit Flugzeu- schleust zu haben. gen bevorstünden. Schon zu Weihnachten Auch deshalb handelten die Hamburger hatte Air France deshalb sechs Flüge von Ermittler so schnell. Keine drei Stunden Paris nach Los Angeles streichen müssen – nach Eingang der amerikanischen War- Hintergrund waren FBI-Angaben über nung war die Hansestadt im Ausnahmezu- „verdächtige“ Passagiere. stand. „Die Bewertung des Schreibens“, Die angeblichen Terroristen unter den so der stellvertretende Verfassungsschutz- Reisenden entpuppten sich allerdings als chef Manfred Murck, „ließ keinen Spiel- harmlose Zeitgenossen: Unter Verdacht ge- raum“ – eine Einschätzung, die allerdings raten waren unter anderem eine ältere chi- nicht alle Sicherheitsexperten teilen. nesische Dame, ein walisischer Versiche-

KNUT FJELDSTAD / AP FJELDSTAD KNUT Das BKA hatte zwar geurteilt, „in der rungsvertreter und ein Kind, das genauso Islamisten-Führer Krekar Gesamtschau“ werde der Hinweis „als rea- heißt wie ein gesuchter islamischer Extre- In Norwegen verhaftet listisch angesehen“, gleichzeitig hatten die mist aus Tunesien. Auch British Airways Experten aber gezögert: Eine „abschlie- wurde Opfer der Sicherheitsmanie: Am weiligen nationalen Behörden vorbehalten ßende Bewertung des Hinweises“ sei Donnerstag und Freitag voriger Woche fie- – ein undankbarer Job. „nicht möglich“. len die Flüge von Heathrow nach Wa- So war es auch in Hamburg. Am Mon- Ähnlich sah es auch der BND, der von shington US-Warnungen zum Opfer. Die tag vergangener Woche hatten die Ameri- einer Reihe „wenig konkreter Hinweise“ Maschinen, so die Briten, sollten mögli- kaner wieder einmal eine jener Warnungen sprach. Geheimdienstler sind sich inzwi- cherweise über der amerikanischen Haupt- gestreut, die inzwischen schon rund um schen nicht einmal mehr sicher, ob Ham- stadt gekapert werden. Feiertage üblich sind. Ein knapp gehaltenes burg überhaupt gemeint war: Es könnte Sosehr die Amerikaner zu radikalen Rundschreiben ging nicht nur an das Bun- sich auch um Homburg gehandelt haben. Maßnahmen neigen, so wenig schätzen desamt für Verfassungsschutz und den In einer Klinik in der saarländischen Stadt sie es allerdings, wenn Informationen Bundesnachrichtendienst (BND), sondern werden US-Angehörige versorgt – und sie aus dem sensiblen Geheimdienst-Ge- auch an die Dienste in Spanien, Frankreich liegt wesentlich näher an dem anderen an- schäft durchsickern. Der Fall Nockemann und Großbritannien. Von bevorstehenden geblichen Ziel, der Air-Base im Rhein- habe größeren Kollateralschaden ange- Anschlägen der Organisation Ansar-e Islam Main-Gebiet. richtet, fürchtet deswegen ein Sicherheits- in ganz Europa war darin die Rede. Wie schwer selbst detaillierteste Anga- experte – die Amerikaner seien über das Brav leiteten die Kölner Geheimdienst- ben über bevorstehende Attentate zu be- Hamburger Vorgehen „ganz und gar nicht ler den deutschen Teil per Fernschreiben urteilen sind, zeigen Beispiele aus ande- amused“. Per Hinrichs, Alexander Osang, nach Hamburg weiter. Es war nur eine ren Bundesländern. Die Niedersachsen Holger Stark, Andreas Ulrich knappe Seite, gestempelt „VS – geheim“, aber sie war mit beunruhigenden Details gespickt. Zwei Selbstmordattentäter, heißt es in dem Papier, planten Autobomben-An- schläge „auf die US-Militärbasis in Frank- furt am Main und das Militärkrankenhaus in Hamburg“. Beide Attentäter seien An- fang Dezember mit gefälschten Pässen in Deutschland eingereist und hielten sich seit- dem vermutlich in der Bundesrepublik auf. Die Verfassungsschützer nannten Namen der beiden Männer – möglicherweise Brü- der – und teilten mit, beide seien Mitglie- der von Ansar-e Islam. Ihre wahre Iden- tität sei allerdings nicht geklärt, ebenso we- nig ein genaues Anschlagsdatum.

Sicherheitspatrouille über New York

Flucht nach vorn / AFPMIKE HVOZDA Titel

Problemfaktor Kind 2004: „Mütter sind immer die Angeschmierten“ Land ohne Lachen Deutschland schrumpft – und ergraut. Die Bundesrepublik rangiert mit ihrer Geburtenrate unter 190 Staaten auf Platz 185. Vier von zehn deutschen Akademikerinnen verzichten auf Mutterglück und Mutterstress. Sind die Frauen in den Gebärstreik getreten – oder die Männer in den Zeugungsstreik?

ann immer Angela Merkels CDU- Kandidaten Gummi mit dem Spruch: „Ich Wie die Unionsjugend sieht sich die Re- Nachwuchstruppe während der will rein. Du willst es doch auch.“ publik plötzlich mit den Folgen eines Phä- Wvergangenen Jahre in den Wahl- Nun müssen sich die Jungunionler was nomens konfrontiert, das sie jahrzehnte- kampf zog, durfte ihr wirksamstes Neues einfallen lassen. lang verdrängt hatte: Deutschlands Frauen Werbemittel nicht fehlen: das schwarze „Früher galt es als chic, Kondome als bringen im Schnitt nur noch 1,35 Kinder Kondom. Werbegag zu verteilen“, sagt ihr Bundes- zur Welt; 2,1 aber wären erforderlich, um Verhüterli in Tüten verteilte die Junge vorsitzender Philipp Mißfelder, „das ma- die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Union in Berlin („Safer Politics“) ebenso chen wir jetzt nicht mehr.“ Den CDU-Ju- Bei gleichbleibender Lebenserwartung wie in Bremen („Für sicheren Verkehr“). nioren hat sich mittlerweile erschlossen, würde die Wohnbevölkerung, ohne Zuwan- Zu Rathauswahlen in Schleswig-Holstein dass es der Nation an Nachwuchs mangelt derung, alljährlich um 200000 Menschen verschenkte sie Latex mit der Losung: – und da wollen die jungen Konservativen schrumpfen; das entspricht der Größe von „Dein erstes Mal? – Mach’s kommunal!“ mit ihren Präservativen, Gott verhüt’s, Lübeck oder . Schon jetzt gibt es Und in Baden-Württemberg gaben ihre nicht noch Beihilfe leisten. ganze Straßenzüge ohne Kinderlachen.

38 der spiegel 2/2004 PETER ROGGENTHIN (L.); INTERFOTO (R.) PETER ROGGENTHIN (L.); INTERFOTO Weniger Kinder...... mehr Alte Geburten je Frau im Alter von 15 bis 45 Jahren Anteil der 60-Jährigen und Älteren 2,5 an der Bevökerung Kinderreiche Familie (1955) 2,4 „Kinder kriegen die Leute sowieso“ 2,3 Ostdeutschland 2050* publik allmählich in einen Gerassic Park, in 2,0 dem jeweils ein Berufstätiger für einen % Rentner aufkommen muss. 37 Ähnlich dramatisch wie zurzeit hat sich 1,5 1,4 2001 das Land, abgesehen vom Zweiten Welt- krieg, zuletzt während der Pestepidemien 24 % des Mittelalters verändert. Dennoch: Be- Westdeutschland völkerungspolitik stand in Berlin kaum je 1,0 1,2 auf der Tagesordnung; schon das Wort er- *unter Annahme eines langfristigen innerte peinlich an Adolf Hitler und die Zuwanderungs- Mutterkreuze, mit denen die Braunen die saldos von 200000 Menschen Gebärfreudigkeit fördern wollten. 1960 65 70 75 80 85 90 95 2000 Als „weiches Weiberthema“ ist Fami- lienpolitik von Männern aller Parteien lan- Rechte wie linke Denker warnen vor mer neuen Sparideen vorpreschen, weil ge Zeit verspottet worden. Gerhard Schrö- üblen Folgen für Land und Leute. Die gras- nicht mehr genug junges Kapital in die Kas- der – vier Ehen, kein leibliches Kind – sierende Kinderlosigkeit führe zu einem sen fließt; CDU-Mann Mißfelder schlug be- flapst im Kanzleramt zwar nicht mehr „geistigen Verarmungsprozess“, mahnte reits vor, älteren Patienten keine künstli- wie in seinen politischen Flegeljahren, jüngst Ex-Bundespräsident Roman Herzog. chen Hüftgelenke mehr zu bezahlen. dass „Topfblumen und Kinder“ nicht „in Noch schärfer urteilt der Reformpädagoge „Kinder kriegen die Leute sowieso“ – einen anständigen Haushalt“ gehörten. Hartmut von Hentig: Ein Leben ohne Kin- diesen Glaubenssatz des Altkanzlers Kon- Doch dass Familienpolitik „Gedöns“ der bewirke „moralische Verwahrlosung“. rad Adenauer hat die Generation der heu- sei, rutschte ihm noch vor ein paar Jahren In Euro und Cent beziffern lassen sich te 30- bis 45-Jährigen gründlich widerlegt. heraus. bereits die materiellen Folgen. Mittlerwei- Rund 26 Prozent der 1960 geborenen Frau- Einen Anlauf der SPD, mit besseren le sind all die sozialen Sicherungssysteme en sind kinderlos, unter den Akademike- Kinderbetreuungsangeboten und mehr in Schieflage geraten, die auf dem Prinzip rinnen sogar 42 Prozent. Ganztagsschulen bei jungen Familien zu des Generationenvertrags basieren, jenes Schon um das Jahr 2010 wird die Repu- punkten, verpatzte Generalsekretär Olaf nirgendwo niedergeschriebenen Pakts, der blik, bei gleichbleibender Lebenserwartung Scholz mit seinem Geschwätz von der nur zwei Postulate umfasst: und ohne zusätzlichen Zuzug, wahrschein- „Lufthoheit über den Kinderbetten“. Auf Paragraf 1. Füllt in jungen Jahren die lich eine halbe Million Einwohner weniger ähnliches Niveau begab sich CDU-Che- Kassen, aus denen die Renten und Pflege- haben als heute. Bis 2050 könnte die Be- fin Merkel mit Bürgerschreck-Parolen gelder für die Senioren fließen. völkerungszahl von jetzt 82,5 auf 70 Mil- vom Sozi, der eines Tages „an Ihrer Haus- Paragraf 2. Seid fruchtbar und mehret lionen oder noch darunter fallen. tür klingelt, das Kind aus dem Laufställ- euch, damit es in eurem Alter genügend Der Retro-Trend wäre weniger folgen- chen reißt“ und „der Mutter am besten junge Menschen gibt, die euch unterhal- reich, stiege nicht zugleich das Durch- noch ein rotes Stirnband von Ché Gueva- ten können. schnittsalter – teils weil weniger Kinder ge- ra umbindet“. Wohin es führt, wenn große Teile einer boren werden, teils weil der medizinische Beschäftigt mit dem üblichen Alltagsge- Generation Paragraf 2 beharrlich missach- Fortschritt die Menschen immer länger le- zänk, merkte kaum ein Politiker auf, als die ten, dämmert vielen Deutschen, seit Re- ben lässt. Schon im Jahr 2035 werden die Weltbank im Sommer verlautbarte, dass gierung und Opposition erbittert um Ren- Deutschen das älteste Volk der Welt sein – die Bundesrepublik eine der niedrigsten tenkürzungen ringen und Politiker mit im- eine graue Revolution verwandelt die Re- Geburtenraten der Welt aufweist: Deutsch-

der spiegel 2/2004 39 land rangiert unter 190 Staaten sage und schreibe auf dem 185. Platz. „Manche Nachrichten sind eigentlich ungeheuerlich, sorgen aber trotzdem nicht für Schlagzeilen“, wunderte sich der „Ta- gesspiegel“ über die Null-Reaktion: „Kein öffentlicher Aufschrei folgte, Rufe nach ei- nem Krisengipfel blieben aus.“ Dass der Kindermangel nun doch noch zum Politikum wurde, hat vor allem Ed- mund Stoiber bewirkt. Der CSU-Chef überraschte Freund und Feind mit der For- derung, die Rentenkassen auf zuvor kaum je debattierte Weise zu sanieren: mit Hilfe von Beitragserhöhungen für Kinderlose. Stützen kann sich Stoiber unter anderem auf den Münchner Professor Hans-Werner Sinn. „Der Hauptgrund für die erforderli- chen Rentenkürzungen liegt in der Kin- derarmut“, argumentiert der Chef des Ifo- Instituts für Wirtschaftsforschung. Wichti-

ge Ursache des Kindermangels wiederum PRESS / ACTION NIEDERMÜLLER THOMAS sei das Rentensystem, das eine Art „Voll- Ehepaar Stoiber, Enkelkinder: Freund und Feind überrascht versicherung gegen Kinderlosigkeit“ dar- stelle und Eltern nicht länger zu Gunsten drei Kindern mindestens nötig wäre“, ein- Kultus- und Jugendministerin Annette Kinderloser benachteiligen dürfe. fach so „für Tauchurlaube“ und ähnlichen Schavan (CDU) auf eine „große Lebenslü- Auch Sozialministerin Ulla Schmidt will Luxus verprassten, wie die „Zeit“-Leitar- ge“ der Deutschen zurück: auf die lange Kinderlose nun verstärkt heranziehen. Ar- tiklerin Susanne Gaschke schreibt. Zeit gehegte Annahme, Babymangel lasse beitnehmer ohne Kinder sollten, forderte Die anderen wiederum jammern dar- sich durch verstärkte Zuwanderung aus die Sozialdemokratin vorletzte Woche, für über, dass Frauen im kinderfeindlichen dem Ausland kompensieren. die Pflegeversicherung einen Zuschlag von Deutschland alles nur falsch machen kön- Dabei wissen Experten: Wenn die Über- pauschal 2,50 Euro pro Monat zahlen. nen, wie „Amica“-Autorin Meike Winne- alterung lediglich mit Hilfe der Zuwande- Seit Politiker und Experten mit solchen muth meint. Eine Frau, klagt sie, habe le- rung Jüngerer gestoppt werden soll, müss- und ähnlichen Modellen schwanger gehen, diglich die Wahl, auf welche Weise sie „die te Deutschland „bis 2050 netto 188 Mil- entzweit eine „neue Art von Klassen- Angeschmierte“ sein wolle: lionen Einwanderer aufnehmen“, wie der kampf“ („Berliner Zeitung“) die Deut- 1. Du bekommst ein Kind und bleibst zu Bielefelder Bevölkerungsforscher Herwig schen: Kindseltern und Kinderlose strei- Hause. Du wirst als tumbe Hausfrau be- Birg ausgerechnet hat. Die Zahl sei deshalb ten über Ursachen und Konsequenzen des schimpft, die zu bequem ist zum Arbeiten. so groß, erläutert der Wissenschaftler, „weil Bevölkerungsrückgangs – häufig hochgra- 2. Du bekommst ein Kind und arbeitest jüngere Einwanderer den Altenquotienten dig emotionalisiert. weiter. Du wirst als Rabenmutter be- nur kurzfristig verringern, aber langfristig Da lästern die einen über die egoisti- schimpft, die weder dem Kind noch dem erhöhen, wenn sie selbst zur Gruppe der schen Schmarotzer, denen die Kinderer- Job wirklich gerecht wird. 60-Jährigen und Älteren gehören“. ziehung „einfach zu anstrengend“ sei, weil 3. Du bekommst kein Kind. Du wirst Erreichbar wäre das irrwitzig anmuten- sie „Konsum für angenehmer halten als als egozentrische, unreife, gefühlskalte So- de Ziel einer Zuwanderung von 188 Mil- nervtötende Stunden mit Holzbauklöt- wieso-nicht-ganz-richtige-Frau beschimpft. lionen Menschen wohl nur mit Immigran- zen“; und sie mokieren sich über Kinder- Dass der Konflikt ums Kinderkriegen ten aus fernen Kulturkreisen – und mit ent- lose, die „die halbe Million Euro (Exis- nicht schon Jahre zuvor ausgebrochen ist, sprechend hohem Integrationsaufwand. tenzminimum), die zum Großziehen von führen Fachpolitiker wie die Stuttgarter Denn das Gros der europäischen Staaten leidet, bei einer durchschnittlichen Gebur- tenrate von 1,5 Kindern pro Frau, unter ähn- Prognose mit einem langfris- Auf den Kopf gestellt tigen Zuwanderungssaldo von licher Auszehrung wie die Bundesrepublik. Bevölkerung in Deutschland; Angaben in tausend Personen 200 000 Personen pro Jahr Westeuropäisches Schlusslicht ist das ver- Alter in Jahren und mittlerer Lebenserwartung meintlich kinderfreundliche Italien, wo 100 100 100 Frauen heutzutage nur noch 120 Bambini Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen 90 90 zur Welt bringen. Nach einer österreichi- schen Studie wird die Bevölkerungszahl von 80 80 Old Europe bei anhaltendem Trend in den 70 70 nächsten 100 Jahren von 376 Millionen auf 60 60 290 Millionen Menschen zurückgehen. Weltweit herrscht die entgegengesetzte 50 50 Tendenz vor. Uno-Statistiker rechnen für 40 40 die kommenden drei Jahrhunderte mit ei- 30 30 ner weiteren Zunahme der Erdbevölke- rung von jetzt 6,3 auf 9 Milliarden. In die- 20 20 ser Zeitspanne werde sich der Anteil der 10 1910 2002 2050 10 Europäer fast halbieren, der Anteil der Afrikaner nahezu verdoppeln. 800 400 0 400 800 800 400 0 400 800 800 400 0 400 800 Woher auch immer künftig Zuwanderer Quelle: Statistisches Bundesamt nach Deutschland kommen sollen – Immi-

40 der spiegel 2/2004 MICHAEL URBAN / DDP MICHAEL URBAN Kanzler Schröder beim Weltkindertag 2003*: „Wirklich ziemlich am Ende der Skala“ granten passen sich rasch den Usancen des Der so genannte Pillenknick in den be- Familienministerin Renate Schmidt – Ziellandes an: In Deutschland lebende wegten Jahren nach 1968 leitete ein, was mit 60 Jahren dreifache Mutter und vier- Ausländerinnen bringen im Schnitt auch der Frankfurter Wissenschaftler Reimut fache Großmutter – zieht aus den Statisti- nur 1,4 Kinder zur Welt. Reiche die „Homosexualisierung der Se- ken den richtigen Schluss, dass es über- Trügerisch ist auch die Laien-Hoffnung, xualität“ nennt: Während dank Pille nun flüssig sei, irgendjemanden zum Kinder- mit ein paar kräftigen Geldspritzen oder auch die Heteros erstmals massenhaft von kriegen zu beschwatzen. Der Staat müsse sonstigen Sofortmaßnahmen könne so mal der „Trennung der Lust- von der Zeu- vielmehr die Hindernisse aus dem Weg eben die Gebärfreude gefördert und der gungsfunktion“ profitierten, entwickelten räumen, die einer Umsetzung des durch- Abwärtstrend gewendet werden. sie, so der Sexualforscher, ein ganz ähnli- aus vorhandenen Kinderwunsches im We- In Wahrheit ist die Geburtenrate der ches Sozialverhalten wie die Schwulen. ge stünden. nächsten Jahrzehnte weitgehend program- Die traditionelle Ehe-Ethik – „bis dass Leicht gesagt, schwer getan. Denn da miert. Weil die Zahl der potenziellen Müt- der Tod euch scheidet“ – verlor den „Status gibt es zum Beispiel die Gruppe jener, die ter bereits seit langem sinkt und Ungebo- der Unbedingtheit“; das Modell Lebens- wollen, aber nicht können – ein, zum Teil rene nun mal keine Nachfahren in die Welt partnerschaft wurde zunehmend von Le- aus Scham, häufig tabuisiertes Thema. setzen können, läuft die Negativentwick- bensabschnittspartnerschaften abgelöst. Bei schätzungsweise jedem sechsten lung, so Birg, ab „wie ein Uhrwerk“. Wann immer die Karriere einen Ortswech- Paar mit Kinderwunsch leidet zumindest Selbst wenn sich alle gebärfähigen sel erforderte, waren locker Verbandelte einer der Partner unter Fruchtbarkeits- Frauen in den nächsten 20 oder 30 Jahren bereit, auf dem Altar der Selbstverwirkli- störungen, in etwa der Hälfte der Fälle liegt entschlössen, je zwei Kinder zur Welt zu chung die „bestehende Partnerschaft not- die Ursache beim Mann. bringen, doziert der Wissenschaftler, „wür- falls zu opfern“ – Phänomene, die der Se- Seit Jahrzehnten registrieren Wissen- den sich die Bevölkerungsschrumpfung und xualwissenschaftler zuvor eher in der schaftler in Industriestaaten eine Abnahme die demografische Alterung bis 2080 fort- Schwulenszene ausgemacht hatte. der Spermienzahl und -kraft. Mittlerweile, setzen“. Habe sich ein Prozess wie der Ver- Kinder großzuziehen galt fortan nur konstatiert der Gießener Urologe Wolf- lauf der Geburtenrate nämlich erst einmal noch als eine Option unter vielen. Logisch, gang Weidner, verfüge in Deutschland „je- „ein Vierteljahrhundert in die falsche Rich- dass seit den Siebzigern immer mehr He- der zweite Mann über eine eingeschränk- tung entwickelt“, dauere es „ein Dreivier- teros zur Kategorie der kinderlosen Dop- te Samenqualität“. teljahrhundert, ihn wieder umzulenken“. pelverdiener stießen, auf Soziologisch Die Reihe der ermittelten oder vermu- Ein Konzept gegen den Kindermangel „dink“ (double income, no kids) genannt. teten Ursachen ist lang. Sie reicht von Al- setzt eine Analyse der Ursachen voraus – Andere zogen das Single-Dasein vor und koholmissbrauch und Allgemeinerkran- die aber sind außerordentlich vielschichtig vergnügten sich auf der Dauersuche nach kungen über Hodenerwärmung durch enge und vielgestaltig. „dem richtigen“ mit möglichst vielen Plastikwindeln oder modische Unterwä- Unstrittig ist, dass die Einführung der falschen Partnern. sche bis hin zu Giften wie Dioxinen, Pesti- Anti-Baby-Pille in den Sechzigern und auch Trotz des gesellschaftlichen Wertewan- ziden oder künstlichen Östrogenen aus der die Liberalisierung des Abtreibungsrechts dels und trotz sinkender Kinderzahlen ist Tiermast oder aus der Anti-Baby-Pille, die (Motto: „Mein Bauch gehört mir“) wichti- der Kinderwunsch verblüffenderweise re- ins Grund- und Trinkwasser geraten. ge Voraussetzungen für den Geburten- lativ konstant geblieben: Junge Deutsche Nicht nur Männer sind betroffen. „Auch schwund geschaffen haben: Erstmals war erhoffen sich heute im Schnitt 2,2 Kinder, die Zahl unfruchtbarer Frauen nimmt in- es Frauen möglich, ohne Bevormundung also sogar etwas mehr als nötig, um den folge der Belastung durch Industrie- und durch Pfarrer oder Richter die Kinderzahl Bevölkerungsbestand stabil zu halten. Agrarchemikalien immer mehr zu“, er- selbst zu bestimmen – ein Fortschritt, den Die „enorme Lücke“ zwischen Kinder- mittelten Forscher der Berliner Charité. heute nur rechte Außenseiter zurückdre- wunsch und realisierter Geburtenzahl (von Sind Frauen während der Schwangerschaft hen wollen. 1,35 Kindern), erkannte die „Frankfurter starken Belastungen durch Umweltgifte Allgemeine“, „stellt einen Skandal dar, der ausgesetzt, so entdeckten dänische und * Mit Teilnehmern der Aktion „Wenn ich Bundeskanzler gleichwohl öffentlich eher beschwiegen britische Wissenschaftler, produzieren die wär“ im Kanzleramt. wird“. von ihnen zur Welt gebrachten Söhne spä-

der spiegel 2/2004 41 Titel ter zu wenig Spermien – ein teuflischer dreißig“, glaubt die Hamburgerin, „würden die Männerwelt sei in den „Zeugungs- Zirkelschluss. sich an eine Frau binden, die schon ein Kind streik“ getreten – vor allem, weil sie „nicht Und so gern auch die Warnungen auf hat. Die meisten sind zu egoistisch.“ windeln“ wolle. Beweis: Zigarettenschachteln von manch einem Andere, die einen Partner haben, schie- „Ja, Schatz, aber nicht dieses Jahr – viel- verdrängt oder verulkt werden („Tauchen ben das Kinderkriegen lange vor sich her leicht übernächstes?“ Wie viele Frauen in der Schwangerschaft hebt den Meeres- – und kommen dann doch nicht aus den haben diesen Satz schon gehört? Gegen- spiegel“) – unter Medizinern unumstritten Startlöchern: Achtung, fertig, kinderlos. probe: Wie viele Männer haben ihn schon ist die Berechtigung des Hinweises: „Rau- Zwar gaukelt die boomende Reproduk- gehört? chen kann die Spermatozoen schädigen tionsmedizin den Frauen vor, sie hätten Immer mehr Kerle, glaubt „taz“-Autorin und schränkt die Fruchtbarkeit ein.“ Bei auch noch in der Mitte des fünften Le- Ulrike Winkelmann, spielten ihren biolo- der künstlichen Befruchtung ist die Er- bensjahrzehnts gute Chancen, schwanger gischen Vorteil voll aus: „Welchen Grund folgschance von Nichtraucher-Paaren dop- zu werden. Doch allem medizinischen Fort- sollte ein Mann haben, sich jetzt die Näch- pelt so groß wie die von Rauchern. schritt zum Trotz sinkt die Schwanger- te mit Babygeschrei ruinieren zu lassen, Daneben gibt es die Gruppe derer, die schaftswahrscheinlichkeit im Lauf der Zeit wenn er das in zehn Jahren ebenso gut wohl können, aber nicht wollen. rapide ab – von 23 Prozent pro Zyklus bei noch tun kann?“ Auch Männer hätten ge- Zu ihnen zählt die Hamburger Psycho- 25-Jährigen auf 5 Prozent bei 40-Jährigen; lernt, ihre Lebenschancen cool zu kalku- login Susie Reinhardt, 41, die „seit zwölf die Fehlgeburtenrate schnellt ab 45 Jahren lieren: „Dazu gehört, dass sie sich jederzeit Jahren in einer festen Partnerschaft“ lebt auf mehr als 50 Prozent empor. eine jüngere Frau suchen können, wenn und partout kinderlos bleiben will. „Schon Die hohe Kinderlosigkeit, vor allem bei die jetzige zu alt zum Kinderkriegen ge- als Kind habe ich nicht gern mit Puppen ge- Akademikerinnen, hat auch politische Ur- worden ist oder sich zu alt dafür fühlt.“ spielt“, sagt sie: „Ich finde Kinder interes- sachen. Dazu zählt der Berliner Soziologie- So steigt, nicht nur unter Akademike- sant, wenn sie etwa sechs werden und man Professor Hans Bertram vor allem die „ex- rinnen, der Anteil der Nichtgebärenden KLAUS LIEBICH Baby-Boom in der DDR (1961), Demonstration gegen den Paragrafen 218 (1970), Disco-Szene (2003): Nach Babyboom und Pillenknick ist sich mit ihnen unterhalten kann. Zu Babys treme Länge des Studiums“ und den ebenso wie das Alter der Erstgebärenden. fühle ich mich einfach nicht hingezogen, „schwierigen Einstieg in den Beruf“. Ber- Die Zeiten, als Frauen in der DDR ihr ein Familiendasein reizt mich nicht.“ tram: „Das ist möglicherweise die Konse- erstes Kind im Durchschnitt mit 21 Jahren Susie Reinhardt kennt viele Gleichge- quenz eines nicht reformierten Bildungs- bekamen, sind passé. Je später aber das sinnte, über deren Lebensweise und Le- und Berufssystems.“ erste Kind zur Welt kommt, desto geringer benshaltung sie ein Buch („Frauenleben Gerade Karrierefrauen mit Babywunsch ist die Chance, dass weitere folgen – was ohne Kinder“) verfasst hat. Die Motive be- fehlt zudem oft der zeugungswillige Part- dazu beiträgt, dass in Deutschland nur wusst kinderloser Frauen, hat sie erfahren, ner. Vor allem Männer, die in zerrütteten noch 10 Prozent der Frauen ein drittes Kind würden von der Gesellschaft häufig nicht Ehen groß geworden sind, schrecken Un- gebären, obwohl 25 Prozent in jungen Jah- akzeptiert; Frauen wie sie müssten gegen tersuchungen zufolge vor einer Eltern- ren von drei Kindern träumen. das Vorurteil ankämpfen, sie wünschten schaft zurück, zumal mit einer selbständi- Oft auch erstirbt bald nach der Geburt sich insgeheim doch Kinder, hätten nur kei- gen, selbstbewussten Frau – zu sehr quält des Erstlings der Wunsch nach weiterer nen Mann gefunden. sie der Gedanke, angesichts einer Schei- Nachkommenschaft. Während in jener Die Sekretärin Tanja von Hacht, 37, ist al- dungswahrscheinlichkeit von weit über 30 Phase Sexualität und Außenkontakte nicht lein erziehende Mutter eines Sechsjährigen. Prozent schon bald zum Zahlvater eines selten schwinden, schaukeln sich Binnen- Weil sie Kindererziehung für „die schönste Kindes degradiert zu sein, das sie gerade konflikte hoch. „Kinderschitt, Ehekitt“ – Nebensache der Welt“ hält, würde die ge- mal alle 14 Tage sonntags knuddeln dürfen. das war einmal. schiedene Frau gern noch einmal schwanger Befinden sich Deutschlands Akademi- Familienberatern ist das Dilemma geläu- werden. Doch der attraktive Single hat bis- kerinnen im „Gebärstreik“, wie der christ- fig: Nachdem beide vor der Geburt berufs- lang vergebens Ausschau gehalten. „Höchs- liche „Rheinische Merkur“ vermutet? tätig waren und sich auch die Hausarbeit tens zehn Prozent aller Männer über Ganz im Gegenteil, kontert die linke „taz“, partnerschaftlich geteilt haben, bleibt die

42 der spiegel 2/2004 junge Mutter, mangels Betreuungsalterna- Staat per Kindergeld je kompensieren Die Einkommensschere klafft sogar noch tiven, häufig allein im Haus und fühlt sich kann. Nicht die Ausgaben, die ein Kind sehr viel weiter auseinander, als diese Zah- im Stich gelassen; der Vater flüchtet sich verursacht, sagt Regierungsberater Bert len verraten: Die Mehrheit der deutschen unterdessen vor dem Babygeschrei in Rürup, seien in vielen Fällen das eigentli- Mütter kann dank unflexibler Kita-Öff- Überstunden und genießt den innerfami- che Problem, sondern der Wegfall der Ein- nungszeiten nur Teilzeitjobs annehmen, liären Machtzuwachs, den ihm die neue nahmen. während Kinderlose fast immer Vollzeit ar- Rolle des Alleinernährers beschert. Weil Deutschland in Sachen Kinder- beiten. Und was die berufstätigen Mütter Sicher ist: Der Kindermangel, geboren betreuung, so Rürup, „fast so was wie verdienen, geht großenteils für die Be- aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ursa- ein Entwicklungsland“ ist, können viele treuung der Kleinen drauf – der Beruf wird chen, lässt sich allein mit Geld nicht behe- schlechter gestellte Eltern wiederum das gleichsam zum unbezahlten Hobby. ben – und schon gar nicht allein mit der nötige Geld für Pampers und Playmobil Hohe Betreuungskosten, niedrige Ein- jahrzehntelang gängigen Methode, Kin- kaum selbst verdienen. Denn wenn sich in kommen – der Teufelskreis hat Kinder- dergeld mit der Gießkanne zu verteilen. der Bundesrepublik Nachwuchs ankündigt, reichtum zum größten Armutsrisiko in Als Maßstab für erfolgreiche Familien- muss allzu oft ein Elternteil seine Berufs- Deutschland werden lassen. „Es gibt viele politik galt noch jeder Bundesregierung die pläne in den Wind schreiben. Methoden, sich dauerhaft zu ruinieren“, fast schon obligatorische Erhöhung dieser Während kinderlose Paare zu 90 Pro- sagt Hellmut Puschmann, Ex-Präsident des Transferzahlungen. Mehr Kindergeld als in zent als Doppelverdiener Geld scheffeln, Caritasverbandes, „eine der erfolgver- Deutschland gibt es heute nur in Luxem- sind nur bei 70 Prozent der Elternpaare sprechendsten in Deutschland ist die Grün- burg; auch bei den Gesamtausgaben für beide Partner berufstätig. Die Quote sinkt dung einer mehrköpfigen Familie.“ Bei ei- Familien rangiert die Bundesrepublik mit mit zunehmender Kinderzahl – nur noch nem Durchschnittseinkommen von 30000 jährlich 59 Milliarden Euro bei den Indu- 55 Prozent der Familien mit drei Kindern Euro im Jahr muss eine vierköpfige Fami- striestaaten in der Spitzengruppe. beziehen ein zweites Gehalt. lie heute mit weniger Geld auskommen,

36,7 % 33,6 % DOMINIK BUTZMANN / ZENIT / LAIF (R.) / ZENIT DOMINIK BUTZMANN Mutterschaft nur noch eine Option unter vielen 30%

Verschwendetes Geld? Ob bei der Ge- gesamt als ihr das Steuerrecht als Existenzmini- burtenrate, der Bekämpfung der Fami- 25% mum zubilligt; daran ändert auch die lienarmut, der Bildungsbilanz oder der 25,1 % jüngste Steuerreform nichts. Frauenerwerbsquote – auf all diesen Fel- Single-Boom Fast vergessen sind die schönen Ver- dern liegt die Bundesrepublik abgeschlagen sprechungen aus dem Wahlkampf 2002. auf den hinteren Rängen. Einpersonenhaushalte 20% Außenminister Joschka Fischer warb für „Wir sind wirklich ziemlich am Ende der in Deutschland; eine „Politik auf Kindernasenhöhe“. SPD- Weltskala“, räumte Bundeskanzler Schrö- Anteil an Haushalten Wahlstratege Franz Müntefering tönte, die insgesamt der vor SPD-nahen Managern ein. Von ei- 15% Zeit sei „reif für einen neuen Gesell- nem „Eliteversagen“ spricht eine schaftsvertrag zu Gunsten der Familie“. Führungskraft aus dem Familienministeri- 25- bis 44-Jährige 11,4 % Mittlerweile hat die Finanznot viele Vor- um: „Wir haben 15 bis 20 Jahre ge- haben zunichte gemacht. Die im SPD- schlampt.“ 10% Wahlprogramm annoncierte Umgestaltung Verkannt haben die Planer beispiels- des Ehegatten-Splittings „zu Gunsten der weise, dass der Verzicht auf Fortpflanzung 9,2 % Förderung von Kindern“ wurde gestrichen. 4,6 % in vielen Fällen nicht einem Mangel an 5% Das Erziehungsgeld verkam zur Sozialfür- Wohlstand entspringt – auch das Gegenteil sorge; den vollen, ohnehin seit 1986 nicht ist richtig. Hoch qualifizierte Besserver- mehr erhöhten Satz erhalten künftig nur ab 1991 mit diener in sicheren Positionen haben, wenn neuen Bundesländern noch Geringverdiener. sie sich zeitweise für den Erziehungsjob Selbst von den Projekten, die SPD und entscheiden, mehr zu verlieren, als der 7075 80 85 90 95 2000 Grüne im Koalitionsvertrag fest vereinbart

der spiegel 2/2004 43 haben, ist wenig geblieben. Neben den 2000 vorhandenen wollten die Koalitionä- re „10000 zusätzliche Ganztagsschulen auf- bauen“. Jährlich eine Milliarde Euro woll- te der Bund bereitstellen, allerdings nur für die Investitionen. Die laufenden Kosten sollen die nicht minder Not leidenden Länder und Kom- munen tragen – ein aussichtsloses Unter- fangen. Bislang sind gerade mal 35 Millio- nen Euro aus dem Programm abgerufen. Auch die Betreuung der Vorschul- und Kleinkinder, im Wahlkampf noch ein Top- thema, ist weit nach unten gerutscht. Dabei ist die öffentliche Sorge für den Nachwuchs fast überall im Lande dürftig. Nur für 8,5 Prozent der Kleinkinder unter drei Jahren steht ein Krippenplatz bereit. Positive Aus- nahmen wie die Kleinstadt Laer im Müns- terland zeigen, dass auf bessere Angebote in kurzer Zeit ein beachtlicher Kindersegen folgen kann (SPIEGEL 44/2003). Spätestens bis 2006, hatte Renate Schmidt versprochen, werde es wenigstens für jedes fünfte Kind unter drei Jahren einen Be- treuungsplatz geben. Heute bekennt die Sozialdemokratin, das sei „bei allen An- strengungen“ nicht zu schaffen – die zu- ständigen Kommunen wollen erst Geld se- hen, bevor sie neue Aufgaben schultern. Immerhin soll ein „Kinderzuschlag“ von monatlich 140 Euro für rund 150000 Kin- der von Geringverdienern gezahlt werden – Hilfe für Menschen, die lediglich sich selbst über Wasser halten können, nicht aber auch noch Nachwuchs, und die auf diese Weise

aus der Sozialhilfe (künftig: Arbeitslosen- / LAIF / ZENIT BALTZER geld II) herausgeholt werden sollen. Junge Türkinnen in Deutschland: Auch bei den Zuwanderern sinkt die Geburtenrate Der Union ist dank ihrer Oppositions- rolle die familienpolitische Nagelprobe er- chen Rentenbeiträge und erwerben die Beitragszahler großziehen, sorgen die So- spart geblieben. Doch auch sie hat sich gleichen Anwartschaften wie ihre kinder- zialabgaben für eine stete Umverteilung klammheimlich von ihren einstigen Wahl- losen Altersgenossen. der Einkommen von Familien zu Gunsten kampfschlagern verabschiedet. Weil so der Zusammenhang zwischen von Kinderlosen. Kanzlerkandidat Stoiber war mit dem Altersvorsorge und Kinderaufzucht gänz- An die 100000 Euro sei ein Kind für die Plan durchs Land gezogen, ein so genann- lich verloren ging, habe das System „auf Rentenversicherung der Zukunft wert, kal- tes Familiengeld von bis zu 600 Euro pro dramatische Weise die gesellschaftlichen kuliert Sinn. Über die Anrechnung von Er- Kind und Monat auszuschütten. Die dafür Normen verändert“, sagt Sozialreformer ziehungszeiten erhielten die Mütter (und nötigen rund 30 Milliarden Euro wollte der Sinn. Weil Eltern zugleich die künftigen selten die Väter) mit der Rente gerade mal CSU-Zauberer aus den Erträgen des Wirt- elf Prozent dieser Summe zurück – und schaftswachstums finanzieren, das ihm als das auch nur, wenn sie 80 Jahre alt werden. Morgengabe bei seinem Einzug in die Re- Schrumpfendes Volk Nach Ansicht Sinns und der meisten sei- gierungszentrale vorschwebte. Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bei ner Fachkollegen geht die andauernde De- Mittlerweile ist der Union diese Forde- unterschiedlichen Zuwanderungsszenarien batte über die Generationengerechtigkeit rung ziemlich peinlich. Als CDU-Basisleu- Zuwanderung pro Jahr* folglich am Kern des Problems vorbei: An te kürzlich in Hannover nachhakten, was Gerechtigkeit mangele es weniger zwi- 300 000 denn aus dem schönen Plan geworden sei, 80,0 schen Jung und Alt als zwischen Kinder- blieb Parteichefin Merkel eine Antwort 82,5 Mio. losen und Eltern innerhalb der jeweiligen Mio. 200 000 schuldig. 75,1 Generation, gleich welchen Alters. Völlig offen ist, ob und wann sich das 100 000 Mio. Ähnlich lautete auch der Tenor eines Parlament daranmacht, ein altes Grund- Grundsatzurteils, mit dem die Karlsruher übel der Familienpolitik zu beheben, für 68,5 Verfassungsrichter schon vor zwölf Jahren Mio. das Rote wie Schwarze verantwortlich sind: der Rentenversicherung die „Benachtei- die unfaire Verteilung der Steuer- und So- ohne Zu- ligung namentlich der Familien mit meh- ziallasten, die Kindseltern systematisch ge- wanderung ** reren Kindern“ attestiert haben. Folglich * langfristiger Zuwande- genüber Kinderlosen benachteiligt. rungssaldo unter Annahme einer forderte das höchste deutsche Gericht, da- Ausgerechnet das umlagefinanzierte mittleren Lebenserwartung mals noch unter Vorsitz des späteren Bun- ** bei gleichbleibender Lebenserwartung 53,7 deutsche Rentensystem belohnt den Ver- Quelle: Statistisches Bundesamt Mio. despräsidenten Herzog, es sei „sicherzu- zicht auf Kinder am höchsten. Denn seit je stellen, dass sich mit jedem Reformschritt zahlen Arbeitnehmer mit Kindern die glei- 2002 2010 2020 2030 2040 2050 die Benachteiligung der Familie tatsäch-

44 der spiegel 2/2004 Mit der Steuerreform jedoch kassierte die Koalition einen Teil dieses Gewinns gleich wieder ein, weil die Freibeträge mit jeder Steuersenkung an Wert verlieren. Vor allem aber verlagerten die Regie- renden jeglicher Couleur in den vergange- nen zehn Jahren einen immer größeren Teil der Steuerlast auf die Mehrwertsteuer, die keine Rücksicht auf die Familienein- kommen nimmt. Für die indirekten Steu- ern, die mittlerweile 50 Prozent des ge- samten Aufkommens ausmachen, müssen Familien wegen des Konsumbedarfs ihrer Kinder unverhältnismäßig viel beitragen. „Besonders perfide“, urteilt der hessi- sche Sozialrichter Jürgen Borchert, wirke dabei die Ökosteuer. Zum einen zahlen Fa- milien wegen des höheren Energiever- brauchs im Haushalt viel mehr als Kinder-

NORBERT MICHALKE NORBERT lose. Zum anderen finanziert Rot-Grün mit Ganztagsschule (in Berlin-Wedding): „Politik auf Kindernasenhöhe“ der Ökosteuer eine Senkung der Renten- beiträge, die kinderlosen Arbeitnehmern lich verringert“. Doch sowohl die Regie- weit weniger für die private Altersvorsorge genauso zugute kommt wie Eltern. Pro Per- rung Kohl als auch ihre rot-grünen Er- sparen könnten. Tatsächlich gehe es um son gerechnet hat ein Single darum dank ben haben dieses höchstrichterliche Votum den „Verzicht auf die staatliche Bestrafung der Senkung der Rentenbeiträge im Jahr ignoriert – nach Meinung des Ex-Verfas- des Kinderkriegens“. 2000 mehr als viermal so viel eingespart sungsrichters Paul Kirchhof „ein Skandal Auch Udo Di Fabio, der konservative Vor- wie eine vierköpfige Familie. des Rechtsstaates“. denker des Zweiten Senats des Verfassungs- „Familien sind nicht arm, sie werden Konsequenterweise legten die Richter gerichts, prangert die Benachteiligung der arm gemacht“, folgert Borchert. bei der nächsten Gelegenheit noch einmal Erziehenden an: Inzwischen seien „die wirt- Wie es anders geht, demonstrieren die nach. Als ein Vater von zehn Kindern gegen schaftlichen und sozialpolitischen Weichen Franzosen. Voriges Jahr verblüfften sie die den Einheitsbeitrag in der Pflegeversiche- eindeutig so gestellt, dass die Entscheidung europäischen Nachbarn sogar mit Nach- rung klagte, bescheinigte das Gericht auch für die große Familie wirtschaftlich weiten richten über gravierende Engpässe in Ent- diesem System die Verfassungswidrigkeit Einkommensgruppen verschlossen ist, wol- bindungskliniken: Über 800 000 Kinder und forderte die „Entlastung der kinderer- len sie nicht in relativer Armut leben“. wurden geboren, im Schnitt 1,9 Kinder pro ziehenden Beitragszahler“. Doch sowohl Nicht minder drastisch als das Sozial- Frau – Spitze auf dem Kontinent. die Schröder-Regierung als auch die Mer- recht schlägt das Steuersystem auf die Der Babyboom ist weniger ein Verdienst kel-CDU scheinen entschlossen, dieses Ur- Familieneinkommen durch. Zwar hat Rot- kinderfreundlicher Nordafrikaner mit fran- teil ebenfalls weithin zu ignorieren. Grün – auch das auf Forderung der Karls- zösischem Pass als die Frucht einer Fami- Den Politiker-Boykott gegen ihre Urtei- ruher Richter – mittlerweile das volle Exis- lienpolitik, die Paris konsequent fortset- le werden sich die Verfassungsrichter ver- tenzminimum für Kinder steuerfrei gestellt. zen will – auch um den Preis wachsender mutlich nicht mehr lange gefallen lassen. Verschuldung. Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier for- Eine Milliarde Euro macht die Regierung dert ein „striktes Gegensteuern“: Der Staat Nachwuchssorgen von Premierminister Jean-Pierre Raffarin sei gefordert, „die Familien vor allem im LEBENDGEBORENE von diesem Jahr an etwa für eine „Ge- Bereich des Sozial- und Steuerrechts weit PLATZ LAND je tausend Einwohner * burtsprämie“ locker, 800 Euro pro stärker als bisher zu entlasten“. 1. Somalia 49,9 Kind soll es geben. Das Geld soll be- Insofern folgt Stoibers Vorschlag zum 2. Niger 49,4 reits vor der Geburt ausgezahlt wer- familienfreundlichen Umbau der Renten- 3. Afghanistan 48,5 den, um die ersten Anschaffungen zu versicherung lediglich den höchstrichterli- 80. Indien 23,8 erleichtern. chen Vorgaben. Ginge es nach der CSU, 108. Türkei 19,8 Im Zentrum der Umverteilung steht in würden Arbeitnehmer einen um 50 Euro Frankreich eine Familienkasse, die ein üp- 114. Brasilien 19,1 pro Kind gesenkten Beitrag zur Altersver- piges Arsenal an Zuschüssen bereithält: sorgung zahlen, die daraus entstehenden 136. China 14,8 Geburtsbeihilfen, Erziehungsgeld, Wohn- Fehlbeträge müssten durch höhere Zah- 140. USA 14,3 geld, Unterstützung zum Schuljahresbe- lungen der Kinderlosen ausgeglichen wer- 148. Frankreich 12,5 ginn sowie für Alleinerziehende. Einige den – eine Forderung, die Merkel noch im Hilfen sprudeln erst ab dem zweiten Kind, vorigen März vehement unterstützt hatte. 154. Niederlande 12,1 das Kindergeld spielt eine Nebenrolle. Doch kaum hatte Stoiber das Konzept 156. Dänemark 12,0 Flankiert wird das staatliche Füllhorn, vorgestellt, inszenierten CDU-Politikerin- 163. Großbritannien 10,8 das zehn Millionen Haushalte versorgt, von nen einen Proteststurm. Stoiber „spaltet 170. Spanien 10,0 einer betont familienfreundlichen Steuer- das Land“, empörte sich etwa CDU-Präsi- politik. Das zu versteuernde Einkommen din Hildegard Müller; sein Konzept be- 176. Japan 9,4 wird nicht für den Haushalt, sondern pro deute eine „Bestrafung“ der Kinderlosen. 185. Deutschland 8,7 Kopf berechnet: Jedes Kind verringert die Doch diese Argumentation stellt die 186. Ukraine 8,7 Steuerschuld erheblich, Durchschnittsver- 187. Italien 8,6 Wirklichkeit auf den Kopf, meinen Fach- * im Jahr diener mit drei Kids zahlen dank Kinder- leute wie der Ökonom Sinn. Denn es seien 188. Georgien 8,2 2002 splitting überhaupt keine Einkommen- 189. Lettland die Eltern, die im Rentenrecht benachteiligt 8,2 Quelle: steuer mehr. Obendrein können sie mit ei- 190. Hongkong (China) würden, weil sie wegen der Kinderkosten 8,1 Weltbank nem Aufschlag bei der Rente rechnen. Die-

der spiegel 2/2004 45 MANFRED WITT (L.); WITT MANFRED (R.) A. FACELLY Zur Kinderkrippe umgebaute frühere Chirac-Wohnung in Paris, Ehepaar Chirac im Elysée-Palast: Plexiglas vorm Kamin Rabenmütter gibt es nicht Warum es Frauen in Frankreich gelingt, Beruf und Familie zu vereinbaren.

ie Szene ist an Symbolik kaum zu Die Opferhaltung, mit der viele deut- Französische Mütter aller Schichten überbieten: Wo Jacques Chirac sche Frauen sich dem vermeintlichen eint die historisch verwurzelte Überzeu- Deinst unter acht Meter hohen Wohl ihres Kindes unterordnen, ist für gung, dass Fremdbetreuung einem Kind Decken gut 450 Quadratmeter mietfrei Französinnen kaum nachvollziehbar. Die nicht schadet, sondern im besten Fall sein als Privatwohnung nutzte, robben jetzt Karriere den Kindern zuliebe oder den Leben bereichert. Den unerschütterlichen bis zu 67 Babys und Kleinkinder über das Kinderwunsch der Karriere zuliebe auf- deutschen Glauben, eine physische Dau- Eichenparkett. zugeben ist für die meisten von ihnen kei- erpräsenz der Mutter sei das Beste fürs Chiracs Nachfolger im Amt des Pariser ne akzeptable Entscheidung. Kind, teilen nur wenige. Bürgermeisters, der Sozialist Bertrand Die Französinnen üben sich lieber im Die Tradition der staatlich organi- Delanoë, hatte die feudale Dienstwoh- modernen Dreikampf: Sie sind Mutter, sierten Kinderbetreuung wurzelt im nung gleich nach seiner Wahl zur Kinder- arbeiten und bleiben bei alldem – im an- 19. Jahrhundert. Die ersten französischen krippe umbauen lassen. Seit September gestrebten Idealfall – immer noch ande- Vorschulen für Kinder ab drei Jahren 2003 können die Rathaus-Bediensteten ren Dingen zugewandte und begehrens- („écoles maternelles“) wurden 1881 ge- hier ganztags ihren Nachwuchs im Alter werte Frauen. gründet, weil der Staat meinte, die Fa- von drei Monaten bis zu drei Jahren un- Diese Grundeinstellung findet sich in milie schützen zu müssen, die Kinder- terbringen. Den historischen Kaminen allen Gesellschaftsbereichen, sie prägt erziehung nicht der Kirche überlassen wurde vorsichtshalber ein Plexiglas- auch die französische Familienpolitik. Ein zu dürfen. Schutz verpasst. flächendeckendes Netz aus Babysitter- „Eine Frau, die ihre Kinder einer an- Die Botschaft ist so kalkuliert wie me- Agenturen und professionellen Kinder- deren Person anvertraut, wird in Frank- dienträchtig: Für Privilegienwirtschaft wird mädchen-Vermittlungen überzieht Paris reich nicht stigmatisiert“, sagt die Fami- im Pariser Rathaus unter Delanoë kein wie andere Städte. Rein logistisch wäre es lienforscherin Jeanne Fagnani, „und das Geld mehr ausgegeben – für Kinder umso bei ausreichenden finanziellen Mitteln hat viel mit den historischen Erfahrun- mehr. 239 Millionen Euro will allein die kein Problem, sein Kind von der Geburt gen zu tun.“ Die Soziologin am renom- Stadt Paris in den kommenden vier Jahren an 24 Stunden lang betreuen zu lassen. mierten Forschungsinstitut CNRS ist Mut- in die Betreuung von Kindern bis zu drei Gut situierte Pariserinnen nehmen ter zweier Kinder, heute 28 und 30 Jahre Jahren investieren und damit ein zentrales mit großer Selbstverständlichkeit einen alt, die mit drei Monaten in die staatliche Wahlversprechen Delanoës einlösen. Service in Anspruch, der in Deutsch- Kinderkrippe („crèche“) gekommen wa- Denn in Paris fehlen derzeit 4500 bis land einen kollektiven Mütteraufschrei ren. Anders als damals, so Fagnani, wür- 5000 Krippenplätze. Und in Frankreich verursachen würde: den so genannten den „crèches“ wie die „écoles maternel- sind berufstätige Frauen mit Kindern zu „sortie de clinique“-Dienst. Säuglings- les“ von Familien aller Schichten als einer durchaus ernst zu nehmenden pflegerinnen kommen nach dem Ver- „kindgerechte, die Entwicklung fördern- Wählergruppe angewachsen: 72,3 Prozent lassen der Klinik für mehrere Wochen de Betreuungseinrichtungen und nicht als aller Französinnen mit zwei Kindern und und viel Geld ins Haus, um sich von 8 Notlösung empfunden“. immerhin 51 Prozent aller Mütter mit drei Uhr abends bis 8 Uhr morgens um das Nicht zuletzt weil Frauen im Dienstleis- Kindern arbeiten voll – und sie tun das Neugeborene zu kümmern. Nächtliches tungssektor gebraucht wurden, ersetzte ohne schlechtes Gewissen. Aufstehen entfällt bei diesem Versor- Valéry Giscard d’Estaing in den siebziger Für Französinnen hört das Berufsleben gungskonzept, das Stillen allerdings auch Jahren „Mutterschaftspolitik durch Fami- nicht auf, wenn sie Mutter werden. Kin- – vielen Französinnen ist das ohnehin zu lienpolitik“. Zuschüsse für Mütter, die zu der sind eine willkommene Bereicherung, umständlich, weil es sie „zu sehr vom Hause blieben, entfielen; das Geld floss in aber kein Grund zur Selbstaufgabe. Kind abhängig macht“. Krippen- und Vorschulplätze.

46 der spiegel 2/2004 Seither arbeiten viele Französinnen ganztags, ganz ohne Gewissensbisse. „War- um soll ich für eine relativ kurze Zeit, in der die Kinder klein sind und intensivere Be- treuung brauchen, meine gesamte beruf- liche Karriere aufgeben?“, fragt Marielle Taylor, 59, Advertising Manager für Euro- pa bei IBM und Mutter zweier Söhne, heu- te 27 und 25. Jeweils drei Monate nach der Geburt fing sie wieder an zu arbeiten. Kam Taylor nach Reisen aus den USA übermüdet und vom Jetlag geplagt zurück, ging sie mit den Kindern erst einmal ins Kino, um zwei Stunden schlafen zu kön- nen. Auf eines allerdings hat sie verzichtet – auf ein drittes Kind: „Das hätte ich ir-

gendwie nicht mehr geschafft.“ / LAIF FALKE Kinderpsychologinnen wie die Fachau- Kinder in Afrika: Verdoppelung des Bevölkerungsanteils binnen 300 Jahren? torin Sylviane Giampino bestätigen die Französinnen in ihren Ansichten über früh- se Politik setze „klare Anreize, dass Kin- mischen Kalkül: Statt Almosenverteilung kindliche Erziehung. „Ein Leben in Ge- der insbesondere auch in den sozial wird Gesellschaftspolitik gemacht. meinschaft, außerhalb der Familie“, sagt intakten Familien der Mittelschicht groß- Diese Möglichkeit scheint sich, bei aller Giampino, sei für Kinder „eine wichtige gezogen werden“, lobt der deutsche Freundschaft mit Paris, den Berliner Re- intellektuelle und affektive Bereicherung“. Ökonom Sinn den französischen Weg. genten erst allmählich zu erschließen – Die These wird zumindest nicht wider- Verfassungsrichter Di Fabio hat das Gleiche ebenso wie die Möglichkeit, Kommunen legt von der in den Siebzigern geborenen vor Augen: Solange unterhaltsberechtigte und Unternehmen zu mehr Kinderfreund- Generation, die ihr Kinderleben in Ganz- Kinder noch bei ihren Eltern leben, sei lichkeit zu ermutigen. tagsbetreuung verbracht hat: Keine einzi- „deren Einkommen steuerrechtlich auf Was da möglich ist, demonstriert die ge Studie weist auf Beeinträchtigungen die Zahl der Köpfe zu verteilen“, schlägt Stadt Nürnberg. Im Juni 2000 rief der oder Entwicklungsstörungen hin. Wider er vor. Stadtrat ein „Bündnis für Familie“ aus, um manche deutsche Überzeugung hat das Neben der materiellen Hilfe gehört die in der fränkischen Metropole ein „positives französische System keine Generation see- Kinderbetreuung zum Kern französischer Klima für Kinder“ zu schaffen. Seither tref- lisch und emotional verarmter Menschen Familienpolitik. Folge: Viele junge Mütter fen sich in wechselnden Konstellationen hervorgebracht. alle, die in der Spielzeugstadt mit Kindern Glückliche und ausgeglichene Mütter ha- zu tun haben: Behördenleiter und Ver- ben auch glückliche und ausgeglichene Alternde Eltern bandsvertreter, Unternehmer und Lehrer, Kinder – das ist die Grundüberzeugung Durchschnittsalter verheirateter Mütter Kirchenleute und, natürlich, Eltern. vieler berufstätiger Französinnen. Hinzu bei der Geburt ihres ersten Kindes Das Runder-Tisch-Prinzip zwingt die kommt eine zweite, sehr französische Er- 29,0 Planer zum Perspektivenwechsel – und sei kenntnis: „Wenn sich alles immer nur um 29 es auch nur bei der Schaltung einer Ampel das Kind dreht, ist das einfach nicht gut für Westdeutschland oder der Gestaltung einer Grünfläche. 28 das Kind“, sagt Gabrielle de la Ville-Baugé, 27,1 28,4 „Stadtentwicklungspolitik wird heute von 34, Geschäftsführerin einer Pariser Wer- 27 wirtschaftlichen Zwängen diktiert“, sagt beagentur, Mutter zweier Söhne (sieben Ostdeutschland Oberbürgermeister Ulrich Maly, „das und fünf Jahre alt) und im vierten Monat 26 Bündnis bringt auf eine lockere, selbstbe- 24,9 schwanger. Sie hat einen Vier-Fünftel- 25 Quelle: Destatis wusste Art auch die nicht ökonomischen Job, ihrer Ansicht nach „das Idealmodell Interessen wieder mit ins Spiel.“ schlechthin“. An vier Tagen in der Woche 1991929394 9596 97 98 99 2000 Vor allem ist das Nürnberger „Bündnis arbeitet sie voll. Der schulfreie Mittwoch ist für Familie“ ein Ideen-Laboratorium, in den Kindern vorbehalten. steigen wenige Monate nach der Geburt dem praxistaugliche Lösungen für die Bald nach der Geburt ihres dritten Kin- wieder in den Beruf ein. Das Kind kommt großen wie kleineren Nöte des Nach- des will sie in den Beruf zurückkehren, zu einer Tagesmutter oder in die Kinder- wuchses entstehen. So können Eltern neu- „weil mir sonst einfach etwas fehlt“. Außer- krippe, beides wird bezuschusst. erdings mit einem „Familienpass“ allerlei dem hätten es „Nur-Hausfrauen“ mit Kin- Neben der traditionellen Ganztagsschu- Rabatte einheimsen – im Hallenbad, in dern in Frankreich schwer: „In manchen le gibt es die Vorschule, die „école mater- Restaurants und beim Einkaufen. Kreisen wird man da fast sozial geächtet.“ nelle“, die nahezu jedes Kind von seinem Bayerns Sozialministerin Christa Ste- Wenngleich auch französische Frauen dritten Geburtstag an besucht. Immerhin wens (CSU) will das Nürnberger Modell oft verzweifeln am Kraftakt zwischen Ar- jedes zweite Kind unter drei Jahren findet nach der Testphase am liebsten auf den beit, Kinderversorgung und Alltagsorgani- einen Platz in einer Krippe. Freistaat ausdehnen. „Mit der Gratis-Sem- sation an der Seite von Macho-Männern Und der Ausbau wird weitergehen: 200 mel beim Bäcker oder dem Rabatt beim und viele nicht aus emanzipatorischen, Millionen Euro würden für 20 000 neue Schuhkauf können Unternehmen zeigen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen ar- Krippenplätze investiert, verspricht Pre- dass Familien in unserer Gesellschaft will- beiten – ein Vorteil kommt ihnen allen zu- mierminister Raffarin. Daneben gibt es ei- kommen sind“, schwärmt die Ministerin. gute: „Rabenmütter“ gibt es in Frankreich nen Boom für Tagesmütter: 450000 Frau- Auch ihre Berliner Kollegin Renate nicht – weder als Muster gesellschaftlicher en arbeiten als staatlich anerkannte „nou- Schmidt hat das Modell aus ihrer Heimat- Vorverurteilung noch als Vokabel. nou“ – ein „Zukunftssektor“, schwärmt stadt zur Top-Priorität erklärt: „Ein sehr Britta Sandberg der Premier. So folgt Frankreichs Fami- gutes Instrument“, lobt sie die Initiative; lienpolitik stets auch einem harten ökono- eine neue Arbeitsstelle im Ministerium soll

der spiegel 2/2004 47 Titel weitere Gründungen vorantreiben. Auf an- lockt ein Ministerialer: „Wir rennen offene „Ich wollte immer schon beides: Familie deren Politikfeldern verspürt die Leiterin Türen ein.“ und Beruf“, sagt Teilzeit-Direktorin Stein des kompetenzarmen „Ministeriums für Mit einem Bombardement von Exper- und erinnert sich an ihre Kinderzeit: Gesellschaft“ (Schmidt) ihre Machtlosig- tengutachten versucht das Familienminis- „Wenn ich gefragt wurde, ob ich lieber keit – vor allem auf dem Notstandsgebiet terium, die Bresche noch zu verbreitern. Schokolade oder Gummibärchen wolle, Nummer eins, bei den Krippenplätzen. Von der Prognos AG ließ Schmidts Res- hieß die Antwort natürlich: beides!“ Weil die klammen Kommunen nicht mit- sort jüngst zehn mittelständische Unter- Die studierte Ethnologin hat eine ziehen, setzt Schröders Frau fürs Familiä- nehmen darauf abklopfen, welche Kosten siebenjährige Tochter und einen dreijäh- re voll auf die deutsche Wirtschaft: Von eine familienorientierte Personalpolitik rigen Sohn; die Frau, mit der sie sich den Unternehmen erhofft sie sich verstärkt verursacht – Ergebnis: keine. Denn 300000 die Stelle teilt, ist Mutter eines Kindes. flexible Arbeitszeiten und gut organisierte Euro auf der Sollseite standen Einsparun- Stein: „Wenn ich die Kollegin morgens an- Kinderbetreuung. gen von 375000 Euro gegenüber. rufe und nur sage: ,Wir haben die Läuse‘, Auch manchem Konzernlenker däm- „Eine familienfreundliche Unterneh- muss ich nichts lange erklären.“ Die an- mert mittlerweile, dass weniger Nachwuchs menskultur ist keine Wohltat, sondern dere versucht dann, ihre Termine mit zu auf Dauer weniger Nachfrage bedeutet – rechnet sich auch betriebswirtschaftlich“, übernehmen. und mittelfristig zu Fachkräftemangel führt. redet der Schmidt-Verbündete und DIHK- Trotz aller Angebote der KfW und eines Im globalen Wettbewerb werden kinder- Präsident Ludwig Georg Braun den Chefs Hortplatzes für die Tochter benötigt auch reiche Konkurrenten den Deutschen oh- ins Gewissen. In seiner Melsunger Medi- Stein zusätzliche private Kinderbetreuung. nehin bald Probleme bereiten: Junge Na- zintechnik-Firma gibt es 16 verschiedene Sie hat ein Aupairmädchen „und ein dop- tionen, das belegen Studien, sind innova- Schichtmodelle mit mehr als 100 Arbeits- peltes Netz von Babysittern“. Die kommen tiver, dynamischer und damit potenziell zeit-Varianten. vor allem zum Einsatz, wenn ein Kind auch erfolgreicher als angehende Rentner- Als vorbildlich in Sachen Familien- krank ist, Schulferien sind oder die Mama republiken wie Deutschland. freundlichkeit gilt die KfW-Bankengruppe auf Dienstreise muss. Armutsfalle Kind Einkommenssituation 2004 von Durchschnittsverdienern mit einem Jahresbrutto von 30000 Euro Single Ehepaar Ehepaar Ehepaar Angaben in Euro kein Kind 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder Nettoeinkommen einschließlich Kindergeld 18412 23847 25695 27543

Betrag, den der Staat als Existenzminimum 7664 21136 26944 32752 steuerlich freistellt, inklusive Betreuungsaufwand

Betrag, um den das Netto- einkommen über oder unter +10748 +2711 –1249 –5209 dem Existenzminimum liegt

Nach dieser Berechnung hat eine Familie mit zwei oder drei Kindern weniger als das steuerliche Existenzminimum zur Verfügung. FRANK OSSENBRINK FRANK Familienministerin Schmidt*: „Die Wirtschaftsverbände haben gelernt, dass wir keine Feinde sind“

Wie sehr der Standort Deutschland auf in am Main. Schon im Foyer, Ihr Mann ist selbständig und viel unter- die Ressource Baby angewiesen ist, zeigt gleich neben der schweren Drehtür, fällt wegs, also nicht einplanbar. So teilt die eine Studie der Baseler Prognos AG. „Das eine elektronisch gesteuerte Schiebetür Mutter das Los vieler verheirateter Frauen, Beschäftigtenpotenzial“, heißt es da, „be- auf, die auch mit einem Kinderwagen leicht deren Männer gut verdienen: „Finanziell grenzt die Wertschöpfung.“ Und: „Eine passierbar ist. Daneben steht: „Eingang El- gesehen könnte ich genauso gut zu Hause Politik, die die Rahmenbedingungen für tern/Kind“. bleiben“, sagt sie, „ein Großteil meines eine höhere Geburtenrate schafft, trägt Mit dem Kinderwagen in die Bank? Das Nettogehalts geht für Kinderbetreuung dazu bei, langfristig höhere Wachstumsra- kommt hier oft vor: Die KfW hat schon drauf.“ ten zu generieren.“ seit 30 Jahren einen betriebseigenen Für den Arbeitgeber allerdings lohnt Mit ihren Appellen findet die Familien- Kindergarten und Hort mit 45 Plätzen, bei es sich, das „Humankapital“, das Ba- ministerin bei Managern ein zunehmend Betriebsfesten sind Kinder ausdrücklich bette Stein und ihre Kollegin darstellen, positives Echo. Für eine „Allianz für die erwünscht. Zudem gibt es einen Familien- zu nutzen. Das wurde von Mitarbeitern, Familie“ hat sie alle großen Wirtschafts- service samt Notkindergarten, der auch die sich für die Einrichtung einer betriebs- verbände sowie den DGB als Partner Tagesmütter und Aupairs vermittelt. eigenen Kinderkrippe engagieren, exakt gewonnen, dazu die Bertelsmann-Herrin Familiengerecht ist beispielsweise die 60- errechnet und nachgewiesen. Liz Mohn und so ziemlich alle promi- Prozent-Stelle von Babette Stein, 40. Die Rentabilität – das scheint in Deutsch- nenten Reform-Gurus des Landes, von zweifache Mutter teilt sich die Leitung der land mittlerweile das stärkste Argument Peter Hartz über Bert Rürup bis zu Ro- Unterabteilung „Geschäftspolitik“ in der für Kinderfreundlichkeit zu sein. land Berger. KfW-Entwicklungsbank mit einer Kollegin. Jochen Bölsche, „Die Wirtschaftsverbände haben ge- Die Tandem-Lösung wurde vom Chef Petra Bornhöft, Annette Bruhns, Horst von Buttler, Anke Dürr, lernt, dass wir keine Feinde sind“, froh- erdacht, nachdem ein Modellversuch in ei- Dietmar Hipp, Hans Michael Kloth, ner anderen Abteilung erfolgreich verlau- Alexander Neubacher, Norbert F. Pötzl, * In ihrem Büro, mit Berliner Kita-Kindern. fen war. Harald Schumann, Claudia Voigt

48 der spiegel 2/2004 MANFRED WITT (L.); WITT MANFRED (R.) A. FACELLY Zur Kinderkrippe umgebaute frühere Chirac-Wohnung in Paris, Ehepaar Chirac im Elysée-Palast: Plexiglas vorm Kamin Rabenmütter gibt es nicht Warum es Frauen in Frankreich gelingt, Beruf und Familie zu vereinbaren.

ie Szene ist an Symbolik kaum zu Die Opferhaltung, mit der viele deut- Französische Mütter aller Schichten überbieten: Wo Jacques Chirac sche Frauen sich dem vermeintlichen eint die historisch verwurzelte Überzeu- Deinst unter acht Meter hohen Wohl ihres Kindes unterordnen, ist für gung, dass Fremdbetreuung einem Kind Decken gut 450 Quadratmeter mietfrei Französinnen kaum nachvollziehbar. Die nicht schadet, sondern im besten Fall sein als Privatwohnung nutzte, robben jetzt Karriere den Kindern zuliebe oder den Leben bereichert. Den unerschütterlichen bis zu 67 Babys und Kleinkinder über das Kinderwunsch der Karriere zuliebe auf- deutschen Glauben, eine physische Dau- Eichenparkett. zugeben ist für die meisten von ihnen kei- erpräsenz der Mutter sei das Beste fürs Chiracs Nachfolger im Amt des Pariser ne akzeptable Entscheidung. Kind, teilen nur wenige. Bürgermeisters, der Sozialist Bertrand Die Französinnen üben sich lieber im Die Tradition der staatlich organi- Delanoë, hatte die feudale Dienstwoh- modernen Dreikampf: Sie sind Mutter, sierten Kinderbetreuung wurzelt im nung gleich nach seiner Wahl zur Kinder- arbeiten und bleiben bei alldem – im an- 19. Jahrhundert. Die ersten französischen krippe umbauen lassen. Seit September gestrebten Idealfall – immer noch ande- Vorschulen für Kinder ab drei Jahren 2003 können die Rathaus-Bediensteten ren Dingen zugewandte und begehrens- („écoles maternelles“) wurden 1881 ge- hier ganztags ihren Nachwuchs im Alter werte Frauen. gründet, weil der Staat meinte, die Fa- von drei Monaten bis zu drei Jahren un- Diese Grundeinstellung findet sich in milie schützen zu müssen, die Kinder- terbringen. Den historischen Kaminen allen Gesellschaftsbereichen, sie prägt erziehung nicht der Kirche überlassen wurde vorsichtshalber ein Plexiglas- auch die französische Familienpolitik. Ein zu dürfen. Schutz verpasst. flächendeckendes Netz aus Babysitter- „Eine Frau, die ihre Kinder einer an- Die Botschaft ist so kalkuliert wie me- Agenturen und professionellen Kinder- deren Person anvertraut, wird in Frank- dienträchtig: Für Privilegienwirtschaft wird mädchen-Vermittlungen überzieht Paris reich nicht stigmatisiert“, sagt die Fami- im Pariser Rathaus unter Delanoë kein wie andere Städte. Rein logistisch wäre es lienforscherin Jeanne Fagnani, „und das Geld mehr ausgegeben – für Kinder umso bei ausreichenden finanziellen Mitteln hat viel mit den historischen Erfahrun- mehr. 239 Millionen Euro will allein die kein Problem, sein Kind von der Geburt gen zu tun.“ Die Soziologin am renom- Stadt Paris in den kommenden vier Jahren an 24 Stunden lang betreuen zu lassen. mierten Forschungsinstitut CNRS ist Mut- in die Betreuung von Kindern bis zu drei Gut situierte Pariserinnen nehmen ter zweier Kinder, heute 28 und 30 Jahre Jahren investieren und damit ein zentrales mit großer Selbstverständlichkeit einen alt, die mit drei Monaten in die staatliche Wahlversprechen Delanoës einlösen. Service in Anspruch, der in Deutsch- Kinderkrippe („crèche“) gekommen wa- Denn in Paris fehlen derzeit 4500 bis land einen kollektiven Mütteraufschrei ren. Anders als damals, so Fagnani, wür- 5000 Krippenplätze. Und in Frankreich verursachen würde: den so genannten den „crèches“ wie die „écoles maternel- sind berufstätige Frauen mit Kindern zu „sortie de clinique“-Dienst. Säuglings- les“ von Familien aller Schichten als einer durchaus ernst zu nehmenden pflegerinnen kommen nach dem Ver- „kindgerechte, die Entwicklung fördern- Wählergruppe angewachsen: 72,3 Prozent lassen der Klinik für mehrere Wochen de Betreuungseinrichtungen und nicht als aller Französinnen mit zwei Kindern und und viel Geld ins Haus, um sich von 8 Notlösung empfunden“. immerhin 51 Prozent aller Mütter mit drei Uhr abends bis 8 Uhr morgens um das Nicht zuletzt weil Frauen im Dienstleis- Kindern arbeiten voll – und sie tun das Neugeborene zu kümmern. Nächtliches tungssektor gebraucht wurden, ersetzte ohne schlechtes Gewissen. Aufstehen entfällt bei diesem Versor- Valéry Giscard d’Estaing in den siebziger Für Französinnen hört das Berufsleben gungskonzept, das Stillen allerdings auch Jahren „Mutterschaftspolitik durch Fami- nicht auf, wenn sie Mutter werden. Kin- – vielen Französinnen ist das ohnehin zu lienpolitik“. Zuschüsse für Mütter, die zu der sind eine willkommene Bereicherung, umständlich, weil es sie „zu sehr vom Hause blieben, entfielen; das Geld floss in aber kein Grund zur Selbstaufgabe. Kind abhängig macht“. Krippen- und Vorschulplätze.

46 der spiegel 2/2004 Seither arbeiten viele Französinnen ganztags, ganz ohne Gewissensbisse. „War- um soll ich für eine relativ kurze Zeit, in der die Kinder klein sind und intensivere Be- treuung brauchen, meine gesamte beruf- liche Karriere aufgeben?“, fragt Marielle Taylor, 59, Advertising Manager für Euro- pa bei IBM und Mutter zweier Söhne, heu- te 27 und 25. Jeweils drei Monate nach der Geburt fing sie wieder an zu arbeiten. Kam Taylor nach Reisen aus den USA übermüdet und vom Jetlag geplagt zurück, ging sie mit den Kindern erst einmal ins Kino, um zwei Stunden schlafen zu kön- nen. Auf eines allerdings hat sie verzichtet – auf ein drittes Kind: „Das hätte ich ir-

gendwie nicht mehr geschafft.“ / LAIF FALKE Kinderpsychologinnen wie die Fachau- Kinder in Afrika: Verdoppelung des Bevölkerungsanteils binnen 300 Jahren? torin Sylviane Giampino bestätigen die Französinnen in ihren Ansichten über früh- se Politik setze „klare Anreize, dass Kin- mischen Kalkül: Statt Almosenverteilung kindliche Erziehung. „Ein Leben in Ge- der insbesondere auch in den sozial wird Gesellschaftspolitik gemacht. meinschaft, außerhalb der Familie“, sagt intakten Familien der Mittelschicht groß- Diese Möglichkeit scheint sich, bei aller Giampino, sei für Kinder „eine wichtige gezogen werden“, lobt der deutsche Freundschaft mit Paris, den Berliner Re- intellektuelle und affektive Bereicherung“. Ökonom Sinn den französischen Weg. genten erst allmählich zu erschließen – Die These wird zumindest nicht wider- Verfassungsrichter Di Fabio hat das Gleiche ebenso wie die Möglichkeit, Kommunen legt von der in den Siebzigern geborenen vor Augen: Solange unterhaltsberechtigte und Unternehmen zu mehr Kinderfreund- Generation, die ihr Kinderleben in Ganz- Kinder noch bei ihren Eltern leben, sei lichkeit zu ermutigen. tagsbetreuung verbracht hat: Keine einzi- „deren Einkommen steuerrechtlich auf Was da möglich ist, demonstriert die ge Studie weist auf Beeinträchtigungen die Zahl der Köpfe zu verteilen“, schlägt Stadt Nürnberg. Im Juni 2000 rief der oder Entwicklungsstörungen hin. Wider er vor. Stadtrat ein „Bündnis für Familie“ aus, um manche deutsche Überzeugung hat das Neben der materiellen Hilfe gehört die in der fränkischen Metropole ein „positives französische System keine Generation see- Kinderbetreuung zum Kern französischer Klima für Kinder“ zu schaffen. Seither tref- lisch und emotional verarmter Menschen Familienpolitik. Folge: Viele junge Mütter fen sich in wechselnden Konstellationen hervorgebracht. alle, die in der Spielzeugstadt mit Kindern Glückliche und ausgeglichene Mütter ha- zu tun haben: Behördenleiter und Ver- ben auch glückliche und ausgeglichene Alternde Eltern bandsvertreter, Unternehmer und Lehrer, Kinder – das ist die Grundüberzeugung Durchschnittsalter verheirateter Mütter Kirchenleute und, natürlich, Eltern. vieler berufstätiger Französinnen. Hinzu bei der Geburt ihres ersten Kindes Das Runder-Tisch-Prinzip zwingt die kommt eine zweite, sehr französische Er- 29,0 Planer zum Perspektivenwechsel – und sei kenntnis: „Wenn sich alles immer nur um 29 es auch nur bei der Schaltung einer Ampel das Kind dreht, ist das einfach nicht gut für Westdeutschland oder der Gestaltung einer Grünfläche. 28 das Kind“, sagt Gabrielle de la Ville-Baugé, 27,1 28,4 „Stadtentwicklungspolitik wird heute von 34, Geschäftsführerin einer Pariser Wer- 27 wirtschaftlichen Zwängen diktiert“, sagt beagentur, Mutter zweier Söhne (sieben Ostdeutschland Oberbürgermeister Ulrich Maly, „das und fünf Jahre alt) und im vierten Monat 26 Bündnis bringt auf eine lockere, selbstbe- 24,9 schwanger. Sie hat einen Vier-Fünftel- 25 Quelle: Destatis wusste Art auch die nicht ökonomischen Job, ihrer Ansicht nach „das Idealmodell Interessen wieder mit ins Spiel.“ schlechthin“. An vier Tagen in der Woche 1991929394 9596 97 98 99 2000 Vor allem ist das Nürnberger „Bündnis arbeitet sie voll. Der schulfreie Mittwoch ist für Familie“ ein Ideen-Laboratorium, in den Kindern vorbehalten. steigen wenige Monate nach der Geburt dem praxistaugliche Lösungen für die Bald nach der Geburt ihres dritten Kin- wieder in den Beruf ein. Das Kind kommt großen wie kleineren Nöte des Nach- des will sie in den Beruf zurückkehren, zu einer Tagesmutter oder in die Kinder- wuchses entstehen. So können Eltern neu- „weil mir sonst einfach etwas fehlt“. Außer- krippe, beides wird bezuschusst. erdings mit einem „Familienpass“ allerlei dem hätten es „Nur-Hausfrauen“ mit Kin- Neben der traditionellen Ganztagsschu- Rabatte einheimsen – im Hallenbad, in dern in Frankreich schwer: „In manchen le gibt es die Vorschule, die „école mater- Restaurants und beim Einkaufen. Kreisen wird man da fast sozial geächtet.“ nelle“, die nahezu jedes Kind von seinem Bayerns Sozialministerin Christa Ste- Wenngleich auch französische Frauen dritten Geburtstag an besucht. Immerhin wens (CSU) will das Nürnberger Modell oft verzweifeln am Kraftakt zwischen Ar- jedes zweite Kind unter drei Jahren findet nach der Testphase am liebsten auf den beit, Kinderversorgung und Alltagsorgani- einen Platz in einer Krippe. Freistaat ausdehnen. „Mit der Gratis-Sem- sation an der Seite von Macho-Männern Und der Ausbau wird weitergehen: 200 mel beim Bäcker oder dem Rabatt beim und viele nicht aus emanzipatorischen, Millionen Euro würden für 20 000 neue Schuhkauf können Unternehmen zeigen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen ar- Krippenplätze investiert, verspricht Pre- dass Familien in unserer Gesellschaft will- beiten – ein Vorteil kommt ihnen allen zu- mierminister Raffarin. Daneben gibt es ei- kommen sind“, schwärmt die Ministerin. gute: „Rabenmütter“ gibt es in Frankreich nen Boom für Tagesmütter: 450000 Frau- Auch ihre Berliner Kollegin Renate nicht – weder als Muster gesellschaftlicher en arbeiten als staatlich anerkannte „nou- Schmidt hat das Modell aus ihrer Heimat- Vorverurteilung noch als Vokabel. nou“ – ein „Zukunftssektor“, schwärmt stadt zur Top-Priorität erklärt: „Ein sehr Britta Sandberg der Premier. So folgt Frankreichs Fami- gutes Instrument“, lobt sie die Initiative; lienpolitik stets auch einem harten ökono- eine neue Arbeitsstelle im Ministerium soll

der spiegel 2/2004 47 PETER SCHINZLER Filmproduzentin Krampe mit Sohn Vincent und Tochter Paula: Telefonkonferenz auf dem Weg zum Supermarkt „Wie schafft ihr das bloß?“ Frauen haben die Wahl: Karriere, Kinder – oder den Kompromiss. Gerade Akademikerinnen entscheiden sich besonders oft für den Verzicht aufs Kind. Was müsste passieren, damit das anders wird? Erfahrungsberichte zeigen: Mit Familienpolitik allein ist das Problem nicht zu lösen.

riane Krampe braucht keinen Gedanken nach. Bei diesen Spaziergängen der Matratze im Arbeitszimmer ihrer Alt- Wecker. Um sechs Uhr ruft Vincent, formen sich flüchtige Einfälle und Beob- bauwohnung in Hamburg-Eppendorf, das Azwei Jahre alt. Er will dann nur achtungen zu Ideen und Konzepten. Pros- jetzt auch als Spielzimmer dient. Ihr Mann eins: Kaufmannsladen spielen. Ein bisschen ke ist selbständige Literaturagentin, ver- arbeitet bei einer Bank und ist schon seit benommen verlangt die Mutter Holzgur- heiratet und hat keine Kinder. zwei Stunden weg. Die Mutter türmt Bau- ken und Gummibärchen. Das Kind tippt Um neun Uhr morgens sitzt Wiltrud klötze, der elf Monate alte Konstantin ver- begeistert auf der Kasse herum, alle ande- Houy, 37, mit ihrem Sohn Konstantin auf sucht, sich an den Bücherregalen hochzu- ren im Haus schlafen noch. Es ist die ein- ziehen. Von Hektik keine Spur. Früher, in zige Stunde am Tag nur für sie und ihn. UMFRAGE: ZEIT FÜR KINDER ihrem ersten Leben als Managerin in der Irgendwann macht sich Krampe einen Unternehmensberatung KPMG Consul- Kaffee, die dreijährige Paula wacht auf, „Wie oft haben Sie ein schlechtes ting, hatte Houy um diese Zeit oft schon wütend, denn es ist ihr Kaufmannsladen. das erste Meeting hinter sich. Frühstücken, anziehen, neues Geschrei. Gewissen, weil Sie glauben, we- Arbeiten, Mutter werden oder beides? Dann klingelt das Kindermädchen, Ariane gen Ihrer Berufstätigkeit zu we- Wie soll man leben, heute, als Frau in Krampe hat Zeit für fünf Sätze mit ihrem nig Zeit für Ihr Kind zu haben?“ Deutschland? Mann. Es ist neun Uhr, als sie Paula in den Spätestens mit Mitte dreißig stehen alle Kindergarten fährt, dann hat sie 13 Kilo- sehr oft/oft Frauen vor dieser Frage. Bei Deutschlands meter Ruhe. So weit ist es bis zu ihrem 43% Akademikerinnen allerdings stellt sie sich Büro im Münchner Lehel. Krampe, 42, ist offenbar schärfer als bei anderen. Häufiger eine der erfolgreichsten Filmproduzen- gelegentlich denn je verweigern sie die Mutterrolle. tinnen Deutschlands. 26% 42 Prozent haben keine Kinder, sagt die Um neun Uhr morgens spaziert Christi- aktuelle Statistik. Dabei sollten diese Frau- NFO Infratest für den SPIEGEL ne Proske, 37, mit ihrem Golden Retriever fast nie/nie vom 9. bis 11. Dezember; en, so wünschen es Bildungsforscher, die an der Isar entlang ins Büro. Es regnet, ein 251 befragte berufstätige geistige Elite von morgen großziehen: Die 31% Männer und Frauen mit leichter Nebel steigt auf. Der Hund läuft Kindern unter 18 Jahren Pisa-Studie hat gezeigt, dass der Schul- vor, tobt sich aus, und Proske hängt ihren erfolg der Kinder unmittelbar mit dem Bil-

der spiegel 2/2004 49 PETER SCHINZLER (L.); SIMONE SCARDOVELLI (R.) (L.); SIMONE SCARDOVELLI PETER SCHINZLER Literaturagentin Proske, Mutter Houy mit Sohn Konstantin: Karriere machen oder Bauklötze türmen? dungsgrad der Mutter zusammenhängt. zu trennen wie die Fotos und Preise auf en begegnen schnell dem Vorwurf, ihre Wenn sich aber zu viele Akademikerinnen ihrem Schreibtisch. Dort, wo sich die Wel- Kinder zu vernachlässigen – vor allem, ins Kinderzimmer zurückziehen, ist das ten überschneiden, befindet sich das wenn der Beruf ihnen auch noch Spaß auch eine Katastrophe. Gut ausgebildete schlechte Gewissen. bringt. Oft kommt der Vorwurf von den Menschen wie sie sind das wichtigste Po- Vor einigen Wochen hatte Krampe sich Geschlechtsgenossinnen, die jetzt Vollzeit- tenzial der rohstoffarmen Industrienation einen Nachmittag für die Kinder reserviert, mütter sind. Deutschland. Und es wurde eine Menge in als ihre Sekretärin anrief und sagt: „Aria- In den neuen Bundesländern arbeiten sie investiert: Ein Studienplatz kostet bis ne, es tut mir Leid, Telefonkonferenz, die immerhin 23 Prozent der Mütter mit Klein- zu 175000 Euro. können nur jetzt.“ Es ging um die Finan- kindern den ganzen Tag, der Osten hat da Aber wie kann man Karrierefrauen Lust zierung eines neuen Projekts und um sehr seine eigene Tradition. In der DDR war es auf Kinder machen? viel Geld. Krampe verfrachtete die Kinder normal, dass die Mütter fünf Monate nach Und wie kann man Frauen, die Kinder ins Auto und versprach ihnen, zum Super- der Geburt wieder arbeiten gingen. Das wollen, eine Karriere ermöglichen? markt zu fahren, weil sie den Supermarkt Recht auf Arbeit war allerdings zugleich Den heute 30- bis 40-jährigen Frauen in lieben und auf der Fahrt dorthin am ehes- auch eine gesellschaftliche Pflicht. Westdeutschland fehlt das Rollenvorbild: Gehen Frauen, die in der DDR auf- Die meisten Mütter blieben zu Hause und UMFRAGE: KINDERBETREUUNG gewachsen sind, deshalb unkomplizierter waren für die Kinder da. Kam man mittags mit ihrer Rolle als Mutter und berufstätige von der Schule, stand das Essen auf dem „Hätten Sie mehr Kinder, Frau um? Sylvia Chybiak kommt aus der Tisch. Aber während vor allem Mittel- wenn das Betreuungsangebot DDR. „Ich habe das Selbstbewusstsein und schichtmütter ihren Töchtern in den Sieb- die Leidenschaft für meine Arbeit von mei- zigern das traditionelle Ideal vorlebten, in Deutschland besser wäre?“ ner Mutter gelernt“, sagt sie. „Meine Mut- predigten sie ihnen das Gegenteil: Macht NFO Infratest für den ter hat mir immer vermittelt, du bist mir Ja, hätte mehr Kinder SPIEGEL vom 9. bis 11. Karriere! Macht euch unabhängig von Dezember; 314 befragte wichtig, aber die Arbeit auch.“ einem Ernährer! Diesen Widerspruch 21% Männer und Frauen mit Chybiak, 40, ist eine schmale, große Frau Kindern unter 18 Jahren; versuchen die Töchter nun zu leben. Sie an 100 fehlende mit Perlohrringen und schulterlangen, blon- sind die Generation, die den Umbruch Nein, wäre egal Prozent: „weiß nicht“ den Haaren, sie lebt als freie Fotografin in schaffen soll. Berlin. Es ist fast Mittag, Chybiak trinkt 76% grünen Tee. Bevor sie etwas sagt, denkt sie riane Krampe fährt einen Sportwagen, ziemlich lange nach, so, als ob sie ihre Sät- Asie trägt flache Schuhe, sie spricht ze im Kopf noch mal überprüfen würde. schnell. Sobald sie das Büro ihrer Firma ten ruhig bleiben. Sie war noch mitten im „Ich habe meine Mutter extra gefragt, „teamworx“ betreten hat, macht sie drei Gespräch, als viel zu früh der verdammte wie das damals für sie gewesen ist, mich Sachen auf einmal: telefonieren, Post durch- Supermarkt auftauchte. Also fuhr sie dar- den ganzen Tag in die Krippe zu geben, sehen, Kaffee trinken. an vorbei. „Mama, ‚Minimal‘“, kreischten denn ich erinnere mich nicht mehr“, sagt Auf der einen Seite ihres Schreibtischs die Kinder auf der Rückbank. „Frau Kram- Chybiak. Hart sei es gewesen, hat die Mut- stehen Fotos von ihren Kindern, auf der an- pe, sind Sie noch da, wo sind Sie denn?“, ter gesagt. Oft war es morgens noch dunkel. deren zwei deutsche Filmpreise. Eine der fragten die Geschäftspartner am Telefon. In Chybiak ist selbst allein erziehende Auszeichnungen bekam sie als Produzen- so einem Moment glaubt sie, dass alle den- Mutter; ihr Sohn Victor ist dreieinhalb tin von „Tanz mit dem Teufel“, der Ge- ken: „Die kriegt’s eben doch nicht auf die Jahre alt. Er geht in die Krippe, seit er schichte der Oetker-Entführung. Sie war Reihe, soll sie sich doch entscheiden zwi- knapp zwei ist. Die Fotografin hätte es hochschwanger mit ihrem Sohn Vincent, schen Beruf und Kindern.“ sich nicht leisten können, noch länger zu als sie den Preis entgegennahm. „Finde ich Diese Zerrissenheit zwischen Arbeit und Hause zu bleiben, sie wollte es allerdings toll, dass du so auftrittst“, sagte damals ein Familie empfinden viele berufstätige Frau- auch nicht. Kollege zu ihr. „Wie hätte ich sonst auftre- en auch deshalb so stark, weil ihre Rolle in „Kinder brauchen Kinder“, sagt sie, ten sollen?“, fragt Krampe. Deutschland noch immer nicht selbstver- „und in einer Krippe lernen sie, früh selb- Die Welt zu Hause, die sie jeden Morgen ständlich ist. Nur neun Prozent der west- ständig zu werden.“ Ein Leben ohne Ar- mit einem leichten Bedauern verlässt, und deutschen Frauen wagen es, ganztags in beit kann sich Chybiak nicht vorstellen. ihre Arbeitswelt, auf die sie sich jedes Mal den Beruf zurückzukehren, bevor der „Niemals möchte ich eine Hausfrau sein, trotzdem freut, sind nicht immer so sauber Nachwuchs drei Jahre alt ist. Solche Frau- abhängig vom Geld eines Mannes.“

50 der spiegel 2/2004 ULRIKE SCHAMONI (L.); MICHAEL DANNENMANN (R.) SCHAMONI (L.); MICHAEL DANNENMANN ULRIKE Fotografin Chybiak mit Sohn Victor, McKinsey-Direktorin Streit: Niemals abhängig sein vom Geld eines Mannes

Die zwei Jahre nach Victors Geburt Business-Lounge vorstellen. 1999, fünf Jah- gärten haben meist starre Öffnungszeiten, konnte sie einigermaßen gut leben von So- re nach ihrem Berufseinstieg, hatte sie ihre Arbeitgeber verlangen aber Flexibilität. zialhilfe, Erziehungsgeld und Kindergeld, Ziele erreicht. Und nun? „Plötzlich fehlte 36 Prozent aller Frauen, die keine im „das wäre in der DDR unmöglich gewe- der Kick“, erzählt sie. Stattdessen wurde Haushalt lebenden Kinder haben, arbei- sen“. Ein zweites Kind ist für Chybiak aber der Wunsch nach einem Kind immer ten Vollzeit, aber nur 17 Prozent der Frau- undenkbar. Dann müsste sie ihre Existenz größer. en mit Kindern. Rund 60 Prozent aller als Fotografin aufgeben und würde „in die In einem guten Jahr, wenn ihr Sohn zwei westdeutschen und sogar 90 Prozent der Sozialhilfe zurückfallen“, sagt sie. Sie hät- ist, will Houy sich eine Tagesmutter suchen ostdeutschen Mütter ohne Job würden te dann zwei arme Kinder und keinen Job. und wieder arbeiten, in Teilzeit. gern arbeiten, wenn sie denn ihr Kind gut Aber im Moment hat sie andere Sorgen: untergebracht wüssten. m 13.30 Uhr sitzt Ariane Krampe, die Welche Wandkacheln für das Bad harmo- Aber was ist die Alternative? Karriere UMünchner Filmproduzentin, an ihrem nieren am besten mit den Bodenfliesen, statt Kind? Schreibtisch und liest ein Drehbuch. Sie die sie letzte Woche ausgesucht hat? Ihr Clara Streit hat Erfolg und verdient stochert nebenbei in einem Salat, den ihre Sohn mag die silbrig-glänzenden. „Ich ge- Geld, eine Menge Geld. Streit ist die erste Sekretärin aus dem italienischen Restau- Frau bei McKinsey Deutschland, die es in rant an der Ecke geholt hat. UMFRAGE: KIND UND BERUF die oberste Führungsebene der Unterneh- Die Literaturagentin Christine Proske aus mensberatung geschafft hat. Anfang des München isst um 13.30 Uhr zusammen mit „Nimmt Ihr Arbeitgeber auf Jahres hat sie mit einem Papier über den ihren acht Mitarbeiterinnen zu Mittag. Sie Ihre Bedürfnisse als Eltern/ drohenden Niedergang des Bankenstand- sitzen an dem langen Holztisch in der Küche orts Frankfurt für Unruhe in den Führungs- ihrer Agentur „Ariadne-Buch“. Es gibt Nu- Familie ausreichend Rücksicht?“ etagen gesorgt. deln. Der Golden Retriever kriegt Chappi. Ja Die 35-Jährige ist mit der Mittags- Proske ist stolz auf ihre erfolgreiche maschine aus New York gekommen. Sie Agentur; es war nicht selbstverständlich in 58% hat zu Hause geduscht, das war in ihrem ihrer Familie, dass sie als Tochter studieren NFO Infratest für den SPIEGEL vom Terminkalender so eingeplant. Nun sitzt würde. Ihre Eltern waren nur deshalb Nein 9. bis 11. Dezember; 251 befragte sie lächelnd hier, im 21. Stock des Japan- berufstätige Männer und Frauen dafür, „weil die Scheidungsraten heute so mit Kindern unter 18 Jahren; towers, dem Frankfurter Büro von McKin- hoch sind“. Wenn sie gefragt wird: „Haben 31% an 100 fehlende Prozent: sey. Sie trägt ein graues Schneiderkostüm, Sie auch Kinder?“, sagt sie mittlerweile „weiß nicht“/keine Angabe eine weiße Bluse, ein geknotetes Halstuch, immer: „Nein. Und ich habe bewusst kei- die Jacke hat sie über die Stuhllehne ne.“ Das stumme Bedauern im Blick der nieße jeden Tag mit meinem Kind“, sagt gehängt. Neben ihr steht eine Zimmer- anderen geht ihr auf die Nerven. sie, „und für eine Krippe ist er mir einfach palme, und hinter der Panoramascheibe Wiltrud Houy, die Hamburger Unterneh- noch zu klein.“ versinkt Frankfurt im Nebel. mensberaterin im Erziehungsurlaub, ver- So wie die Unternehmensberaterin den- „Wir würden gern verhindern, dass Frau lässt um 13.30 Uhr ihre Altbauwohnung, ken viele Mütter in Deutschland: Für die Streit wie eine kinderfeindliche, seelenlo- den kleinen Sohn hat sie natürlich dabei. Entwicklung eines Kleinkindes sei es am se Karrierefrau rüberkommt“, sagt der Der Weg führt zu „Harrys Fliesenmarkt“, besten, zu Hause bei der Mutter zu sein, Pressesprecher. Es ist seltsam, dass er das Kacheln für das Haus aussuchen, das die Fa- glauben drei Viertel aller Westdeutschen. sagt, denn die Frau, über die er spricht, ist milie gekauft hat und gerade umbaut. „Das Belegen lässt sich dieser Glaube nicht, im auffallend gut gelaunt. Die Worte fröhlich, ist im Moment mein Projekt“, sagt sie. Gegenteil. Studien wie die des Münchner lustig, happy kommen oft vor bei ihr. Die Projekte, die sie früher geleitet hat, Staatsinstituts für Frühpädagogik deuten Streit spricht über die guten Möglichkei- waren einige Dimensionen größer, führten darauf hin, dass soziale Fähigkeiten und ten, als Angestellte bei McKinsey Kinder sie zum Teil wochenlang in die USA. Noch Intelligenz durch die Krippenbetreuung ge- und Beruf miteinander vereinbaren zu mit 32 schob sie den Gedanken an ein stärkt werden. können, „zumindest auf der mittleren Kind weg: „Ich wollte den Manager-Titel, Belegt dagegen ist, dass es vielen Frauen Führungsebene“. In ihrer Position sei das Mitarbeiter führen, im Ausland arbeiten“, schwer fällt, nach der langen Zeit des Er- selbstverständlich schwieriger, „aber auch sagt sie, und so wie sie aussieht, Blazer, ziehungsurlaubs wieder in den Beruf ein- nicht unmöglich“. Nur brauche man dazu perfekt dezentes Make-up, kann man sie zusteigen, und der Mangel an Betreuungs- einen Mann, der bereit ist, zu Hause zu sich auch jetzt noch gut in der Lufthansa- plätzen macht es noch schwieriger. Kinder- bleiben. In den USA, in Frankreich oder

der spiegel 2/2004 51 JÖRG LADWIG (L.); MICHAEL DANNENMANN (R.) JÖRG LADWIG (L.); MICHAEL DANNENMANN Generalanwältin Kokott mit ihren Kindern, Karriereberaterin Freis, Ehemann: Kein Mensch kriegt Kinder, um Deutschland zu retten

England seien diese Lebensmodelle gesell- Als der Kleine ein Jahr alt war, ging sie fällt der Mutter um den Hals, die Größeren schaftlich sehr viel akzeptierter. „Viele mit ihm und einem Kindermädchen nach verabschieden sich kurz, bevor sie zu Frauen hier zu Lande finden solche Männer Harvard. Freunden fahren. nicht attraktiv“, sagt Streit und lacht ein Nach vier Monaten an der Elite-Uni Kritik an ihrer Lebensform („Das kann tiefes Lachen, „dann sind sie selber schuld.“ holte ihr Mann das Kind, wie abgemacht, man den Kindern doch nicht antun!“) er- 40 Prozent aller Frauen in Führungspo- zurück nach Deutschland, wo er es zu- reicht die Juraprofessorin gewöhnlich sitionen leben als Singles. Diese Zahl steht sammen mit seiner Mutter betreute. „Mein nicht. Wenn doch, argumentiert sie volks- in einem Papier von McKinsey zum Thema Mann war immer stolz auf mich und hat wirtschaftlich: „Was sind für Steuergelder „Familie – Arbeit – Zusammenhalt“. mich immer unterstützt – so, wie das ja in meine Ausbildung geflossen – es wäre Lebt die McKinsey-Spitzenfrau Streit in eigentlich der Vernunft entspricht, oder?“, doch reine Verschwendung, wenn ich das einer festen Partnerschaft? „Ja“, sagt sie. sagt Kokott, eine schmale Frau mit er- nicht nutzen würde.“ Aber warum deshalb Möchte sie Kinder? „Ich kann es mir staunlich leiser, ruhiger Stimme. auf Familie verzichten? vorstellen, aber ich habe nie den Eindruck Als die Juristin nach einem Dreiviertel- gehabt, dass es unbedingt sein muss.“ jahr aus Harvard zurückkam, hatte sie ihre ie viele Frauen das tun und wie dra- Und darum ist es vermutlich kein Zufall, Wmatisch deswegen die demografische dass auf diesem Bürostuhl hoch über UMFRAGE: STEUERENTLASTUNG Entwicklung in Deutschland verläuft, das Frankfurt eine Frau wie Clara Streit könnte die Bochumerin Britta Freis, 35, sitzt – nicht kinderfeindlich und schon „Hätten Sie mehr Kinder, notfalls fachkundig erläutern – schließlich gar nicht seelenlos, aber eben eine Kar- wenn sie steuerlich deutlich ist sie promovierte Sozialgeografin. Sie hat rierefrau. Ohne Kind. sich gegen Kinder entschieden. „Mir ist die entlastet würden?“ Verantwortung zu groß.“ s gibt sie, die Ausnahmefrauen, die al- NFO Infratest für den Klingt egoistisch? Ist es auch, nur: Die Ja, hätte mehr Kinder SPIEGEL vom 9. bis 11. Eles mühelos zu vereinbaren scheinen. Dezember; 314 befragte Gründe, Kinder zu kriegen, sind genauso Juliane Kokott, 46, ist so eine. Frau Pro- 23% Männer und Frauen mit egoistisch wie die, keine zu bekommen. Kindern unter 18 Jahren; fessor Dr. Dr. Kokott. Sie hat drei Söhne an 100 fehlende Kein Mensch kriegt Kinder, um Deutsch- und zwei Töchter (zwischen 4 und 16 Jah- Nein, wäre egal Prozent: „weiß nicht“ land zu retten. re alt), einen Mann (erfolgreicher Rechts- „Ich traue mir einfach nicht zu, ein anwalt) und dazu auch selbst einen Job: 75% Kind so zu erziehen, dass es einigermaßen Seit Oktober ist Kokott die deutsche Ge- klarkommt im Leben“, sagt Freis. Sie ist neralanwältin beim Europäischen Ge- heute Leiterin der Karriereberatungs- richtshof in Luxemburg. Viel einfluss- Doktorarbeit fertig. Es war bereits ihre stelle an der Ruhr-Universität. Der blon- reicher kann man als Juristin in Europa zweite. den Frau mit dem energischen Blick wür- nicht werden. So ging es weiter: ein Kind, zwei Kar- de man die Lösung jedes Problems zu- Wie man so etwas schafft? Indem man riereschritte. Es sei ein „innerer Drang“, trauen. Aber Kinder? Lieber nicht. „Plötz- über ein schlechtes Gewissen und „Was die der sie antreibe, sagt Kokott. Dürfte sie lich hast du da einen pubertierenden Neo- anderen wohl sagen“ gar nicht erst nach- sich nicht regelmäßig in komplizierte juris- nazi zu Hause auf dem Sofa sitzen – denkt, sich eine feste Truppe qualifizierter tische Gedankengebäude versenken, wäre und dann?“ Helferinnen sucht und wild entschlossen sie ein unglücklicher Mensch – und viel- Ihre Freundinnen haben inzwischen fast seinen Weg geht. leicht braucht es einfach die Kraft von fünf alle Nachwuchs. „Wie schafft ihr das bloß?“, Als Kokott mit 29 zum ersten Mal Kindern, um sie dort regelmäßig rauszu- fragt sie die immer wieder mit einer Mi- schwanger wurde, passte das eigentlich ziehen, hinein in den Alltag. schung aus Skepsis und Bewunderung. nicht in ihren Plan. Sechs Wochen vor der Tatsächlich wirkt sie keineswegs vergeis- „Wahrscheinlich bin ich einfach feige“, Geburt machte sie das zweite Juristische tigt, wenn sie am späten Nachmittag zwi- sagt Freis, „und habe dadurch ein sehr Staatsexamen. Kurz zuvor hatte sie außer- schen ihren Kinder steht und schnell noch schönes, freies Leben.“ Sie und ihr Mann, dem ein Stipendium angeboten bekom- den Zwölfjährigen beauftragt, einen dicken der ebenfalls an der Uni beschäftigt ist, ha- men: ein Jahr wissenschaftlich arbeiten – Socken für Nikolaus in die Kindergarten- ben sich gerade eine großzügige Wohnung an einer Uni ihrer Wahl, weltweit. Kann tasche seiner kleinen Schwester zu packen. mit Garten gekauft – mit nur einem Gehalt man so ein Angebot unter diesen Um- Und auch die Kinder scheinen fröhliche, wäre die nicht finanzierbar. Im Tanzkurs ständen annehmen? Juliane Kokott tat es: unbeschwerte Kinder zu sein. Die Kleine haben sie das goldene Abzeichen erreicht,

52 der spiegel 2/2004 Titel und am Wochenende sind sie oft mit den Trekking-Rädern unterwegs. Die gemein- samen Hobbys, gibt Freis zu, hätten sie sich allerdings „erst erfinden müssen“. In diese Verlegenheit kommen Eltern mit Kin- dern nicht. Die Organisation des Alltags bleibt bei Familien fast immer an den Frauen hängen, hat Freis in ihrem Bekanntenkreis beob- achtet, und die Statistik sagt es auch: Nur zwei Prozent der Männer gehen in Erzie- hungsurlaub, Tendenz stagnierend, seit Jahren. Bei der Teilzeit sieht es ähnlich entmutigend aus. Die Männer helfen, wo sie können, das schon – aber das „Wo“ be- stimmen sie, das „Wann“ beschränkt sich meist auf das Wochenende. Und die Frau- en trauen ihnen wenig zu: ein Teufelskreis. Schließlich gehen viele Beziehungen über diesem Dauerstress in die Brüche. Ein nachahmenswertes Modell der modernen Familie habe sie noch nirgends gesehen, sagt Freis. Wenn die Bochumerin gegen 17 Uhr ihr Büro verlässt, hat sie zwei Stunden nur für sich. Um 19 Uhr treffen ihr Mann und sie zu Hause ein, essen in aller Ruhe und er- zählen sich, was so los war im Büro. Nach dem Essen trinken sie einen Espresso und rauchen einen Zigarillo dazu. Sylvia Chybiak, die Berliner Fotografin, sitzt um 19 Uhr noch mal im Studio, sie hat ihren Sohn mitgebracht, sie muss dringend noch Fotos durchschauen, die sie für ein ja- panisches Magazin gemacht hat. Was sollte sich ändern in Deutschland, damit das Leben von arbeitenden Müttern leichter wird? „Arbeitgeber sollten Frauen in Deutschland nicht länger danach beur- teilen, ob sie Kinder haben oder wollen, sondern nach ihren beruflichen Fähigkei- ten“, sagt Chybiak. Ihr Sohn fährt Karus- sell auf einem Drehstuhl. „Ich bin stolz“, sagt sie, „dass ich mein Leben als allein erziehende Mutter und Fotografin so hin- kriege, und dass ich die meiste Zeit auch noch fröhlich bin dabei.“ Christine Proske spaziert um 19 Uhr mit ihrem Hund an der Isar zurück nach Hau- se. „Ich würde mich gerne nicht mehr dafür rechtfertigen müssen, dass ich keine Kinder bekomme“, sagt Proske. Wiltrud Houy, die Unternehmensbera- terin im Erziehungsurlaub, hat gerade ihren Sohn mit Milchbrei gefüttert. „In den USA und in Frankreich ist es viel einfa- cher, nach einer kurzen Pause ins Berufs- leben zurückzukehren“, sagt sie. „In Deutschland fehlt nicht nur die Infrastruk- tur, sondern auch die Akzeptanz.“ Die Kinder der Filmproduzentin Ariane Krampe sitzen um 19 Uhr in der Bade- wanne, Wasserschlacht. Krampe versucht ihr Handy vor der Überschwemmung zu retten, es ist ziemlich laut und nass hier. „Es wäre schön“, sagt Krampe, „wenn es noch viel mehr Frauen gäbe, die diesen Wahnsinn wagen.“ Anke Dürr, Claudia Voigt der spiegel 2/2004 53 Deutschland

keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und verschwand, wie er gekommen war. Die STRAFJUSTIZ Leiter ließ er neben der Straße im Gras liegen, das Höschen warf er auf irgend- eine Wiese, sein zerrissenes Oberhemd, an „Fast schlimmer als der Tod“ dem einige Knöpfe im Kampf mit Roswitha abgesprungen waren, steckte er in den Vor 18 Jahren wurde in Niederbayern eine junge Müll. Dann ging er nach Hause und legte sich ins Bett. Frau umgebracht – ein Verbrechen, das jetzt erst aufgeklärt Es dauerte 18 Jahre, bis die Polizei auf werden konnte. Von Gisela Friedrichsen Erwin M. kam, obwohl er fast immer in unmittelbarer Nähe des Tatorts lebte. Nur as mag sich im Kopf des Erwin M. Es kam so, wie es jeder vernünftige seiner Frau hatte er zwei Tage vor ihrer damals abgespielt haben? Da geht Mensch vorausgesehen hätte. Die Schla- Niederkunft im November 1985 die Tat ge- Wein Mann von 29 Jahren nach der fende schreckt entsetzt hoch, als ihr der standen, als er nämlich wie alle anderen Arbeit ins Dorfwirtshaus, trinkt ein paar Eindringling ins Gesicht greift. Sie schlingt männlichen Griesbacher zwischen 16 und Halbe am Stammtisch, macht sich kurz die Decke um sich und flieht in Todesangst 60 ins Gemeindeamt vorgeladen wurde, nach ein Uhr auf den Heimweg – und über- zum Fenster; Erwin M., mit offener Hose, um die Fingerabdrücke abzugeben. Sogar legt im Gehen, dass er eigentlich gern wie- hinterher. Er packt die sich verzweifelt der Pfarrer wurde aufgefordert. Offenbar FOTOS: THOMAS EINBERGER / ARGUM THOMAS FOTOS: Angeklagter M., Familie (Anfang der achtziger Jahre), Opfer Kornexl: „Eine ganze Gemeinde unter Mordverdacht“ der mal eine Frau hätte. Denn die seine ist Wehrende und drückt zu, bis sie sich nicht hatte es Erwin M. nicht mehr ausgehalten. im siebten Monat schwanger mit dem zwei- mehr rührt. Roswitha Kornexl, 31, geschie- Er schwitzte Blut und Wasser, sah sich un- ten Kind und lässt ihn nicht mehr. den, von Beruf Näherin, wohnhaft in Un- entrinnbar entdeckt. Seiner Frau stellte er Da fällt ihm die Roswitha ein, die lebt tergriesbach am Rand des Bayerischen die Tat als einen Unfall dar: Roswitha Kor- doch allein. Und eine recht fesche Frau ist Waldes, ist tot. nexl sei beim Oralverkehr erstickt. sie obendrein. Er kennt sie zwar nur flüch- „Die Frau hat nichts getan, als dass sie Die Ehefrau, streng katholisch, wollte tig, aber das ist ihm im Moment egal. Das auf der Welt war“, sagt ihr Bruder heute, daraufhin keine Einzelheiten mehr wissen. Haus, in dem sie wohnt, liegt auf seinem und es klingt selbst nach der langen Zeit Sie schwieg über all die Jahre – gepeinigt Weg. Und das Fenster der Schlafkammer noch sehr traurig und bitter. von der Angst vor Verhaftung und dem zu steht halb offen. Denn es ist August und Erwin M. legte die Leiche aufs Bett erwartenden Gerede in einem Markt- auch nachts noch warm. Wie kommt man zurück. Er zog ihr das Höschen aus und flecken, in dem jeder jeden kennt. Außer- da bloß hinauf? Der Mann schaut sich um. manipulierte mit einer sieben Zentimeter dem: das Haus, die Schulden, die Kinder. Gegenüber ist eine Baustelle. Da steht eine dicken Kerze an der Frau, angeblich, um Doch die Ehe war seitdem keine Ehe mehr, Leiter. Eine Säge findet er dort ebenfalls, sie wieder wachzubekommen. Was denkt auch wenn sie insgesamt 24 Jahre lang be- denn die Leiter ist zu lang. Er sägt, stellt sie er, wenn er heute so etwas der Polizei er- stand. Erst als M. seiner Frau vor zwei Jah- an die Hauswand und steigt hoch. zählt? Er kann sich doch ausrechnen, dass ren offenbarte, eine junge Brasilianerin, Was hat er erwartet? Dass eine Frau ei- man ihn fragt, ob er nicht besser den Not- die er bei Montagearbeiten in Südamerika nen fremden Mann, den es drängt zu fens- arzt gerufen oder Erste Hilfe geleistet hät- kennen gelernt hatte, erwarte ein Kind von terln und der sie mitten in der Nacht im te. Er habe Angst gehabt, sagt er, dass es ihm, war sie zur Scheidung bereit. Erwin Bett überfällt, beglückt in die Arme herauskommt, was er mit der Roswitha M. überließ ihr das Haus („Schweigegeld“, schließt? Dass sie gar dankbar ist für sein vorhatte. Und dass seine Frau von seinem ereiferten sich die Leute), zog nach Passau Interesse? Wo hatte Erwin M. in der Nacht nächtlichen Ausflug erfährt. und heiratete die Brasilianerin. zum 24. August 1985 seinen Verstand gelas- Damals wischte er mit dem Höschen sei- Als er am 26. Mai vergangenen Jahres sen, als er sich sagte: Ich probier’s einfach. nes Opfers Fensterbrett und Leiter ab, um festgenommen wurde, erwartete diese Frau

54 der spiegel 2/2004 Haus beobachtet haben, ein anderer einen blonden Mann … „Im Wirtshaus machte man Witze über das Opfer“, erinnern sich die Geschwister. Am Samenerguss soll sie erstickt sein, haha. Es habe auch geheißen: Was wollte die überhaupt bei uns? Die ist doch gar nicht aus Untergriesbach, sondern aus Wegscheid. Warum ist sie nicht dort ge- blieben, wo sie herkam? „Unsere Eltern sind regelrecht eingegangen, sie sind nicht mehr zur Ruhe gekommen. Der Va- ter ist darüber gestorben, und unsere Mut- ter ist seitdem ein Wrack“, sagt eine der Schwestern der Toten. Dass über Roswitha schlecht geredet wurde, sei für die Familie fast schlimmer gewesen als ihr Tod. Erwin M. hatte 1985 seine Fingerabdrü- Tatort Untergriesbach: „Die Frau hat nichts getan“ cke abgegeben und rechnete anfangs täg- lich mit seiner Festnahme. Doch es geschah ihr zweites Kind von ihm. Sie war im sieb- der Kriminalpolizei, der Mörder stamme nichts. Ein Experte des Landeskriminal- ten Monat – wie M.s erste Frau zur Tatzeit. aus dem Untergriesbacher Gemeinde- amts vermerkte beim Abgleich mit dem Und nun sitzt die 31-Jährige, die mit zwei bereich? Warum nicht aus Obernzell? War- sichergestellten Material: „Keine Über- älteren Kindern der Armut in ihrer Heimat um nicht aus München?“, fragte ein Le- einstimmung“. Die Polizei ging damals hatte entfliehen wollen, in Deutschland, serbriefschreiber in der Zeitung. Nicht ein- von Tür zu Tür und fragte nach Hinweisen. muss für ihre Kinder allein sorgen, spricht mal 70 Prozent der Männer, die an der Ak- Als sie zu M. kam, öffnete niemand, denn kein Wort Deutsch, und der Mann befindet tion hätten teilnehmen sollen, erschienen. er war mit seiner Frau beim Arzt. Die sich unter Mordanklage im Gefängnis. Wie Offenbar hatte ein jeder Angst, auch nur Polizisten gingen – und kamen nicht mehr doch eine Tragödie immer wieder neue in die Nähe dieses Verbrechens zu gera- wieder. Tragödien gebiert. ten. Wieso ich?, fragten viele und gingen Die Jahre vergingen. Für M. interessier- Nach der Tat 1985 fragten die örtlichen einfach nicht hin. Die Aktion wurde ab- te sich kein Fahnder. Erst nachdem sich im Zeitungen, ob im Kornexl-Fall „das per- gebrochen. Herbst 2002 drei Ermittler der Passauer fekte Verbrechen“ gelungen sei. Denn es Breiten sich erst einmal Misstrauen und Kriminalpolizei des ungeklärten Falls er- gab keine Spuren. Oder vielmehr: Man Unsicherheit aus, gedeihen auch Tratsch neut annahmen und zwei Asservaten, ei- ging ihnen nicht nach. Der Bruder der und Verdacht. Für die Einwohner Unter- nem Kamm mit Schuppen, der unter dem Getöteten, Helmut Fesl, der sie damals griesbachs war inzwischen jeder Nachbar Bett der Toten gefunden worden war, und fand, vermutete sofort ein Gewaltverbre- ein potenzieller Mörder. Es gab nur noch den zum Glück sichergestellten Spuren chen, so wüst sah es in dem Schlafzimmer ein Thema: Einer von uns muss es sein. In unter Roswitha Kornexls Fingernägeln, mit aus, und holte den Notarzt. Die Polizei der Zeitung hieß es: „Eine ganze Gemein- moderner Kriminaltechnik zu Leibe rück- kam „und stand bloß rum“, wie sich Fesl de unter Mordverdacht“. Denn die Polizei ten, ging es voran. Die Spuren wurden ei- erinnert. „Nur zusammengeschissen ha- vermutete, der Täter habe genaue Orts- ner DNA-Analyse unterzogen, die 1985 ben sie mich, weil ich was angefasst hatte, kenntnisse gehabt. noch nicht möglich gewesen war. Und sie- als ich sie fand.“ Mit wem hatte Roswitha Kornexl Kon- he da: Das genetische Material am Kamm Obwohl die Tat an einem Samstag ge- takt? Wer verkehrte bei ihr? Sie lebte zu- passte zum Nagelschmutz. Das Opfer hat- schehen war, begann erst am Montag die rückgezogen, kaum jemand wusste etwas te im Kampf den Täter gekratzt. Spurensicherung. Der Einsatz einer Hun- über sie. Aha, eine junge, hübsche Frau, Nun endlich holte man nach, was 1985 destaffel und einer 60 Mann starken Son- eine Näherin, daher wohl interessiert an versäumt worden war. Im Mai vergangenen derkommission, die Unschuldige derb in Mode, von der man nichts weiß. Da stimmt Jahres klopfte die Polizei noch einmal bei die Mangel nahm, brachte keinen Erfolg. doch was nicht. Sicher hat sie einen oder M. an. Nach kurzem Zögern habe der in- 400 Personen wurden vernommen. Eine gar mehrere Liebhaber, die man bloß des- zwischen 47-Jährige gestanden, heißt es, Nachbarin der Toten etwa musste Rede halb nicht kennt, weil sie von weither kom- erleichtert, dass die Last nun endlich weg und Antwort stehen, ob ihr Mann fremd- men, von München oder so. Ein Anwohner sei. Allerdings bestreite er jede Tötungs- gehe und ob sie Reizwäsche tragen müsse. wollte einen „Ami-Schlitten“ vor dem absicht. Hat er sich damals etwa gedacht, Die Nachforschungen über das Intim- die Roswitha, deren Lebensgefähr- leben der Dorfbewohner blieben freilich te ein Jahr zuvor an einem Gehirn- genauso erfolglos wie mehr als 30 Haus- schlag gestorben war, wird gewiss durchsuchungen und Aufklärungsflüge froh sein, wenn wieder einmal ein eines Polizeihubschraubers. Und eine als Mann zu ihr kommt? Lockvogel eingesetzte Kripo-Beamtin war- M. wird sich vom 13. Januar an tete eine Woche lang vergebens auf einen vor dem Landgericht Passau wegen Kontakt mit dem Täter. Denn man rech- Mordes verantworten müssen – für nete fest mit weiteren Verbrechen des die Angehörigen des Opfers ein „Sex-Monsters“. Trost, sicher. Endlich wissen sie, Fast drei Monate nach der Tat kam es zu wer so viel Leid über die Familie der Fingerabdruck-Aktion, die von den gebracht hat. „Doch jetzt fragen die Einwohnern Untergriesbachs nur wider- Leute, ob uns der arme Mann mit willig angenommen wurde, weil man sie seiner jungen Familie nicht Leid tut. für „entwürdigend“ und einen „unlogi- Analyse von DNA-Material Er hat unsere Schwester ermordet. schen Rundumschlag“ hielt. „Wer sagt Die Schuppen passten zum Nagelschmutz Dafür sollen wir ihn bedauern?“™

der spiegel 2/2004 55 Szene Gesellschaft

Klüger werden mit: Peter Eicher

Der 58-jährige Gauvorstand im Bayerischen Trachtenverband über Volkskultur und Fernsehen

SPIEGEL: Der Gauverband I des Baye- rischen Trachtenverbands hat gerade entschieden, dass seine Mitglieder ULRICH PERRY / DPA PERRY ULRICH W. KNAPP / THEMA W. nicht mehr in volkstümlichen TV- Riechsensor, Iris-Erkennung Sendungen auftreten dürfen. Warum? Eicher: Wir wollen nicht, dass das KRIMINALITÄT Volkstümliche mit echtem bayeri- schen Brauchtum vermischt wird, und wollen auch nicht länger mit an- Fälschungssicherer Duft sehen, wie unsere Volkskultur ver- schaukelt wird. b Terroristen, illegale Einwanderer Computer veranlassen, erst hochzula- SPIEGEL: Inwiefern? Ooder simple Kreditkartendiebe – den, wenn der Benutzer dufttechnisch Eicher: In Sendungen wie dem die internationale Verbrechensbekämp- identifiziert ist. Dank der Bakterien „Musikantenstadl“ werden Leder- fung setzt auf die Zukunft biometri- auf der Haut und körpereigenen Duft- hosen zu T-Shirts getragen, der Land- scher Technologie, die Menschen stoffen wird der individuelle Geruch hausstil als Tracht verkauft – nichts anhand des Fingerabdrucks, des Iris- ununterbrochen produziert. Er ist im- passt zusammen. Ein traditionsbe- Abgleichs, der DNA-Analyse und der mer vorhanden, auch wenn untrainier- wusster Mensch ist entrüstet, wenn Stimmerkennung identifiziert. Nun te Nasen ihn nicht wahrnehmen. Das er so etwas sieht. Auch das Lied- schlägt der britische Geheimdienst in von einem Sensor erkannte codierte gut wird verschandelt. In diesen einer Studie vor, den Menschen künf- Duftmerkmal ließe sich problemlos auf Sendungen wird tig über seinen Körpergeruch zu identi- der Kreditkarte oder dem Personal- im Winter der fizieren. So könnten zum Beispiel ausweis fixieren. Die britischen Sicher- Enzian besungen, Autos mit Sicherheitsvorkehrungen heitsexperten loben die Methode als dabei sind unse- ausgestattet werden, die den Besitzer fälschungssicher, denn ein Deodorant, re Lieder dem zunächst am Körpergeruch erkennen, das den spezifischen Körpergeruch Jahreskreis ange- bevor der Wagen sich starten lässt. verändern oder überdecken könnte, sei passt. Und Jo- Eine ähnliche Vorrichtung könnte noch nicht erfunden. deln ist im Fern- sehen kein Jo- deln, das ist Zun- genakrobatik.

GENÜSSE Kakaobohne beweisen möchte. Tier- M. WEBER WOLFGANG SPIEGEL: Aber versuchen zufolge verlangsame Kakao Eicher vielen Zuschau- Gesund dank die Zellalterung. US-amerikanische ern gefällt das. Ernährungswissenschaftler begründen Eicher: Das ist ja auch in Ordnung. Schokolade die günstigen Eigenschaften der Kakao- Aber die sollen dann nicht denken, bohne mit dem hohen Anteil von Poly- dass das, was sie sehen, Bayern ist. ass der Genuss von Schokolade die phenolen, Pflanzenstoffen, mit denen Bei einer solchen Außendarstellung DStimmung aufhellt, ist bekannt. auch die gesundheitsfördernde Wir- müssen wir uns nicht wundern, wenn Auch dass dieser psycholo- kung von Rotwein und uns alle für Seppel halten. gische Vorteil vom physio- grünem Tee erklärt wird. SPIEGEL: Dem Gauverband I ge- logischen Nachteil der er- Polyphenole schützen die hören über 40000 Mitglieder an. Wie heblichen Kalorienzufuhr Zellen und helfen dabei, werden Sie überprüfen, ob ein begleitet wird: Schokolade Stress abzubauen. Zusätz- Mitglied in diesen Sendungen auf- wird als Dickmacher immer lich erhöhen sie die Kno- tritt? mit schlechtem Gewissen chendichte und reduzieren Eicher: Das sind doch immer die genossen. Alles nur die hal- schädliche Blutfette, die Gleichen. Meistens erfahre ich von be Wahrheit, sagt jetzt als Mitverursacher von einem Auftritt im Vorfeld. Da gibt’s ein Forscherteam, das – Arteriosklerose und Herz- Nachbarvereine, irgendwer kennt gesponsert vom weltweit infarkt gelten. 36 Frei- irgendwen, der es uns meldet. zweitgrößten Hersteller willige in Frankreich und SPIEGEL: Haben Sie mit einigen Sün- von Schokoladenkuvertü- Kanada werden sich dern vor dem Beschluss gesprochen? ren, Barry Callebaut in deshalb in den nächsten Eicher: Selbstverständlich. Es gab der Schweiz – nach Erfolg Monaten einer Sechs- viele persönliche Gespräche. Aber versprechenden Tierver- Wochen-Diät mit drei ver- die denken nach wie vor, dass sie

suchen die gesundheitsför- PRESS / ACTION OREDIA SARL schiedenen Schokoladen- nichts falsch machen. dernden Eigenschaften der Wertvolle Kalorien sorten unterziehen.

der spiegel 2/2004 57 Szene Was war da los, Monsieur Meunier?

Der französische Journalist Ber- trand Meunier, 40, über das legendä- re Foto einer landenden Boeing 747 auf der Karibikinsel St. Martin

„Ich bin mit meinen Freunden oft an diesen Strand gegangen. Touristin- nen gucken. Ein besonders großer Spaß war es, wenn eine zum ersten Mal da war und es plötzlich höllisch laut wurde und nach Kerosin stank, weil wieder so ein Flugzeug landete. Wir haben dann immer so getan, als ob wir die Mädchen retten würden. Bei den Starts allerdings bin sogar ich in meine Wohnung geflüchtet, weil die Hitze der Turbinen nicht zu ertragen war. Meines Wissens nach ist noch nie ernsthaft etwas passiert. Und jedem, der das Foto für eine Montage hält, sage ich: Fahre hin, den Strand gibt es immer noch und den Flughafen auch. Nur ich bin

nicht mehr da, ich lebe inzwischen X / STUDIO / SAOLA / IMAPRESS AUBERT LUDOVIC auf Mauritius.“ Meunier (Kreis) am Strand von St. Martin (1996)

SACHBUCH regung beim Jagen gehörte INTERNET zu den Selbstverständlich- Prügelstrafe auf der Jagd keiten seiner Jugend auf Spam vom einem slowenischen Gut er Autor bekennt sich: Die Jagd auf wie die vom autoritären Abgeordneten DWildtiere eröffne einen „Freiraum für Vater angeordnete Prügel-

Verbrechen bis zum Mord und für sexuel- ZÜRICH / DPA KEYSTONE strafe bei Verhaltensfehlern merikas Kongressabgeordnete le Lust“– ähnlich wie der Krieg. So be- Par in des Sohns während der Abereiten sich auf die nächste ginnt Paul Parin, 87, in Zürich lebender Fuchsjagd. Dennoch blieb Wahl vor, und die technikbegeister- Ethno-Psychoanalytiker, seine unter dem Parin zeitlebens leidenschaftlicher Jäger. ten unter ihnen versuchen, die Titel „Die Leidenschaft des Jägers“ zu- Ein Widerspruch, den er mit Hilfe der Wähler durch Werbe-E-Mails, so sammengefassten, teils autobiografischen Psychoanalyse aufklären möchte: Das genannte Spams, von ihren Vor- Erzählungen. Kein Buch für Jäger, son- Kind identifiziere sich mit dem jagenden zügen zu überzeugen. Nach Anga- dern eines für Leser, die noch nie begrei- Vater, es sei zugleich Rebell und genieße ben der „New York Times“ haben fen konnten, was Menschen dazu ver- es unbewusst, das Wild als „Imago des sich mindestens 40 Abgeordnete anlasst, nächtelang mit der Flinte in der Vaters“ kaltblütig zu töten. Deshalb sei entschlossen, E-Mail-Listen bei Hand auf Hochsitzen zu frieren: Es ist die die Jagd weniger ein Sport als ein archa- Adresshändlern zu kaufen. Einige „Licence for Sex And Crime“. Parin weiß isches Ritual, angetrieben von der „Gier, Abgeordnete sind schon im Besitz es aus eigener Erfahrung. Sexuelle Er- fern vom Fortschritt der Technik töten zu der Listen und verschicken nun läs- können“. Kritische Selbstbeobachtung tige, digitale Massenbriefe. Diese und nüchterne ethnologische Berichte von Art der Eigenwerbung ist preis- Reisen nach Westafrika schützen Parin da- wert, praktisch – aber politisch un- vor, selbst Opfer seiner Leidenschaft zu klug. Verbraucherorganisationen in werden und Jägerlatein zu produzieren. den USA kritisieren schon seit län- Er nimmt auch die Erzählungen von der gerem, dass diese Art der Wahl- Jagd unter die Lupe – und stellt fest: werbung durch Steuergelder finan- Erst durch die Weitererzählung überstan- ziert wird. Außerdem erinnern dener Gefahren fühle sich der Jäger als Bürgerrechtler daran, dass die Poli- Angehöriger einer Elite. tiker erst vor wenigen Wochen ein Gesetz verabschiedet haben,

HONK-PRESS / ACTION PRESS HONK-PRESS / ACTION Paul Parin: „Die Leidenschaft des Jägers“. Europäische das die Zahl der Spam-Mails ver- Jäger auf der Pirsch Verlagsanstalt, Hamburg; 204 Seiten; 19,90 Euro. ringern soll.

58 der spiegel 2/2004 Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE se sei Dotty einfach verwirrt gewesen durch das Lachen und Schreien der bei- den Jungen. Anne sei eine erfahrene Hundehalte- Wahrscheinlich ein wenig gereizt rin, sagte der Nächste, ein Spezialist für Hundebisse. Die Verletzungen seien Wie Prinzessin Anne ihrer Mutter das Weihnachtsfest verdarb durch die Schneidezähne entstanden, nicht durch die gefährlicheren Fang- s war, jedenfalls an den Maßstä- setz, zu ahnden im äußersten Fall mit zähne; folglich habe der Hund nicht ben des Hauses Windsor gemes- einer Haftstrafe für den Halter und dem töten wollen, sondern nur spielen. Esen, ein ganz passables Jahr für Tod des Tieres. Den Ausschlag gab ein Hundepsy- Prinzessin Anne, Pferdenärrin, Hunde- Es war ein kalter, regnerischer Vor- chologe, ein ernster Mann mit 22 Jahren liebhaberin und einzige Tochter von mittag in Slough, einem hässlichen Berufserfahrung. Er habe die Hunde zu Königin Elizabeth II. – jedenfalls bis zu Städtchen westlich von London, als Hause besucht, sagte er, und mit der jenem Montag vor Heiligabend. Prinzessin Anne im schwarzen Range häuslichen Situation sei er sehr zufrie- Zwar war im Mai bekannt gewor- Rover vor dem Bezirksgericht vorfuhr. den. Dotty sei „ein ganz lieber, ver- den, dass ihr Ehemann Timothy Lau- Stundenlang hatten Fernsehreporter spielter Hund“. Wären die beiden Jungs rence aus dem gemeinsamen Haus aus- einfach stehen geblieben, an- gezogen war, und im November hatte statt in Panik davonzulaufen, es diese alberne Geschichte um eine hätte sie wahrscheinlich das angebliche homosexuelle Affäre ihres Interesse verloren. Bruders Charles mit einem Diener ge- Zur Urteilsverkündung geben. bat die Richterin Prinzessin Andererseits hatte das Königshaus Anne, sich zu erheben. Die auch diese Verdrießlichkeiten am Ende Angeklagte sei „eine außer- überstanden, und als Anne vor Schloss gewöhnlich verantwortungs- Sandringham, dem Landsitz ihrer Mut- bewusste Hundehalterin“, ter, vorfuhr, freute sie sich auf das Weih- sagte sie, das Ganze ein nachtsfest. „sehr, sehr unglücklicher Vor- Die 53-Jährige ließ zuerst ihre Bull- fall“. Das Urteil, „im Namen terrier aus dem Auto, darunter die ihrer Majestät der Königin“, Hündinnen Florence und Dorothy, die von Mutter zu Tochter ge- sie zärtlich Dotty nennt. Die Corgis wissermaßen: Dotty sei künf- ihrer Mutter sprangen kläffend die Trep- Aus dem „Hamburger Abendblatt“ tig in der Öffentlichkeit an pe herunter, vorneweg Pharos, der der Leine zu führen, zudem Lieblingshund der Königin. und Zeitungsjournalisten sich die Zeit solle ein Hundetrainer das Tier erzie- Die Corgis gelten, neben Pferderen- mit Vorberichten und dem Austausch hen. Sollte sich Ähnliches wiederholen, nen, als einzige Leidenschaft von Köni- von Gerüchten vertrieben, der kleine müsse Dotty getötet werden. gin Elizabeth. Ihr Fressen werde auf Saal war voll besetzt. Anne hatte noch einmal Glück einem silbernen Tablett aufgetragen, Die Angeklagte, hochgeschlossene gehabt. heißt es, zum Frühstück gebe es Marme- weiße Bluse, navy-blaue Strickjacke, Alles ging gut, 13 Monate lang, bis ladentoast. Im Garten trügen die Hun- starrte ohne erkennbaren Ausdruck zum 22. Dezember, als die Corgis der de Gummischuhe, zum Schutz gegen nach vorn. Königin auf die Bullterrier zustürmten. spitze Steine. Ob ihr Name Anne Elizabeth Alice Diesmal war es nicht Dotty, sondern Flo- Die Corgis liefen frei herum, und Laurence sei, wollte die Richterin wis- rence, die ihrem Frauchen den Gehor- auch Anne hatte ihre Kampfhunde nicht sen. sam verweigerte. Sie stürzte sich sofort an die Leine genommen. Ein Fehler, „So ist es.“ auf Pharos und biss ihm in die Hinter- wie sich herausstellen sollte. Ob die Adresse richtig sei, beine. Wahrscheinlich war sie durch die Es war das zweite Mal, dass Gatcombe Park, Grafschaft Autofahrt ein wenig gereizt. Der Corgi ihr dieser Fehler unterlief. Gloucestershire? winselte noch, dann war Ruhe. Am Erst im November 2002 „Jawoll.“ nächsten Tag wurde er eingeschläfert. hatte Anne wegen Dotty vor Ob sie sich zu dem Vor- Mit ihrer Tochter soll die Königin die Gericht gestanden. Die Hün- wurf äußern wolle? Festtage über nicht gesprochen haben. din hatte am Ostermontag „Schuldig“, antwortete Anfangs war der Verdacht auf Dotty ge- jenes Jahres im öffentlichen die Prinzessin. Dann über- fallen, inzwischen gilt sie als unschuldig. Teil des Schlossparks von ließ sie die Angelegenheit Was aus Florence wird, ist offen. Es Windsor zwei Jungen ange- den Fachleuten. sieht so aus, als sei Anne, die „verant- fallen und gebissen. Die An- Dotty, sagte ihr Verteidi- wortungsbewusste Hundehalterin“, mit klage zählte Bisswunden und ger, ein junger Mensch mit den Tieren etwas überfordert. Blutergüsse auf, außerdem untadeligen Manieren und Kurz nach Weihnachten, meldete die seien die Jungs, sieben und untadeligem Akzent, sei ein „Sun“, fiel Florence ein Dienstmädchen zwölf Jahre alt, durch den ungestümer und fröhlicher der Königin an. Hauke Goos Zwischenfall traumatisiert Hund, ein großer Welpe,

worden – ein klarer Verstoß / DPA BATCHELOR BARRY dem Bösartigkeit vollkom- Weitere Informationen unter gegen das Kampfhunde-Ge- Prinzessin Anne, Hunde men abgehe. Möglicherwei- www.spiegel.de/dossiers

der spiegel 2/2004 59 Gesellschaft ANDREAS VARNHORN ANDREAS Landwirt Glöckner: Immer Gutes in möglichst großer Menge

LANDWIRTSCHAFT Der achte Tag Vier Jahre lang pflanzte Bauer Gottfried Glöckner manipulierten Mais auf seine Felder. Er war der perfekte Verbündete der Gentech-Industrie. Dann starben ihm fünf Kühe. Jetzt ist er der perfekte Verbündete von Greenpeace. Von Uwe Buse

ls Gottfried Glöckner die Welt noch tief profilierten Gummistiefeln an den kurz unter dem Giebel, hängt unüberseh- berechenbar schien, war er ein ver- Füßen, stritt mit den Besetzern, zog den bar und stolz ein Schild: Weidenhof steht Alässlicher Verbündeter des Schwei- Schrott und den Beton aus seiner Erde, der da, darunter ist eine perfekte Kuh zu zer Agro-Konzerns „Syngenta“. Wenn der seine Maschinen ruinieren sollte, und dann sehen. Konzern einen Bauern brauchte, der in öf- pflanzte er neu. Seit seiner Jugend arbeitet Glöckner in fentlichen Diskussionen die Möglichkeiten Glöckner war ein Missionar der Gen- Ställen und auf dem Acker. Immer wirt- der Gentechnik pries und die Risiken fort- technik, er war laut, unübersehbar und un- schaftete er konventionell, sprühte Herbi- redete, war Glöckner zur Stelle. beirrbar. Er glaubte an weniger Schädlin- zide und Insektizide nach Plan, um das Wenn der Konzern jemanden brauchte, ge auf dem Feld, an höhere Erträge, an Futter für seine Kühe zu ernten. Sein Ehr- der seine Felder für den Anbau von gen- mehr Geld in seiner Kasse und an eine bes- geiz war, die Ernten zu erhöhen, die Leis- manipuliertem Mais zur Verfügung stellte, sere, weil effektivere Landwirtschaft. tung seiner Kühe zu steigern. Nie wollte er stimmte Glöckner zu. Glöckners Hof liegt in den Hügeln Hes- ein Ökolandwirt sein, der vermeintlich Und wenn die militanten unter den Gen- sens. Die Erde ist hier schwarz und schwer, Besseres in geringerer Menge herstellt. technik-Gegnern Glöckners Pflanzen ver- und auf ihr, abseits des Dorfes Wöl- Glöckner wollte immer Gutes in möglichst gifteten, Beton und Eisen im Boden ver- fersheim, stehen ein paar Klinkerbau- großer Menge. senkten, Hanf pflanzten und ihn als Dro- ten. Wohngebäude, Wirtschaftsgebäude, Gern testete er neue Pflanzenschutz- genbauern diffamierten, schüchterte das Stall, eine Garage für Maschinen und mittel, neue Futterzusätze. Er sah keine Ri- Glöckner nicht ein. Er ging hinaus auf sein Autos bilden ein Quadrat, fast ganz ge- siken darin. Schließlich war alles erprobt, Feld, ein mächtiger Mann in Latzhose, mit schlossen. Auf der Frontseite des Stalls, analysiert, zertifiziert. Und wenn uner-

60 der spiegel 2/2004 PAUL LANGROCK / GREENPEACE / DDP LANGROCK / GREENPEACE PAUL Greenpeace-Aktivisten vor dem Robert-Koch-Institut in Berlin: Der Konvertit Glöckner wurde ihr Kronzeuge wartet doch einmal Probleme auftauchen lich legten sich die Kühe hin, mit Schaum zusätze ein? Ist der Genmais doch eine Ge- sollten, ließen sie sich mit Hilfe der Tech- vor dem Mund, Krämpfe schüttelten ihre fahr? Ist er eine Zeitbombe? nik lösen. Das System funktioniert, daran Körper. Der Tierarzt konnte sie nicht Er begann zu forschen, als Autodidakt, glaubte Glöckner fest. retten. zeitweise investierte er die Hälfte seiner Er war der perfekte Verbündete der Glöckner konnte sich das Sterben nicht Arbeitszeit in das Projekt, über 10000 Euro Gentech-Industrie. Bis zum Sommer 2001, erklären, fünf Kühe in einem Sommer. Er gab er aus in drei Jahren für Analysen, Un- als ihm fünf Kühe starben, und ihr Tod sein ist ein Bauer, der Landwirtschaft als ge- tersuchungen, mühselig fügte er Wissens- Weltbild in Trümmer legte. zielte Optimierung der Natur begreift. Die splitter zu etwas zusammen, das er heute Jetzt ist er der perfekte Verbündete von Leute im Dorf sagen, er sei sehr penibel, ein Gesamtbild nennt. Greenpeace. sehr stur und sehr ehrgeizig. Glöckner do- Und nun sitzt er am Tisch in seinem Ess- Bis zu diesem Zeitpunkt im Sommer kumentiert seine Arbeitsschritte genau, no- zimmer, einem kargen, weiß geputzten 2001 glaubte Glöckner genau zu wissen, tiert ausgebrachte Mengen, erzielte Resul- Raum. Es ist ein milder Wintertag, die Ern- was richtig war und was falsch, was wis- tate. Den ungeklärten Tod seiner Tiere sah te ist längst eingebracht, der Hof liegt ru- senschaftlich gesicherte Tatsache war, was hig, nur ein Helfer reinigt draußen unbewiesene Spekulation und überstei- Glöckner war ein Missionar der die Maschinen. gerte Angst. Der Genmais, den er anbau- Gentechnik. Er glaubte an höhere Erträge Vor Glöckner auf dem Tisch lie- te, war gesundheitlich unbedenklich, für und an mehr Geld in seiner Kasse. gen seine Akten. Er hat sie auf- Menschen und Tiere. Er wurde auf meh- gestapelt, sie bilden einen Berg, reren Hunderttausend Hektar in den USA er als persönliche Niederlage, als einen gebaut aus Zahlen, vielsilbigen Worten und und in Kanada angebaut, er wurde geern- Makel, den er zu tilgen hatte. Anmerkungen in seiner Kinderschrift. tet und an Kühe verfüttert. Die Milch der Er begann, seine Unterlagen zu durch- Glöckner ist stolz auf diese Ansammlung Tiere war einwandfrei, das Fleisch war suchen, studierte die einschlägige Fach- von neuen Fakten. Aus ihnen konstruiert es auch. literatur, korrespondierte mit Mikro- er sein aktuelles Bild der Welt. Aus diesen unumstößlichen Fakten, aus biologen. Glöckner räuspert sich, ruckelt auf sei- Studien, Analysen und wissenschaftlichen Er stellte Fragen, viele Fragen, viel zu nem Stuhl herum, als fühle er sich un- Versuchen hatte er sich sein Weltbild ge- viele Fragen für jemanden, der kein Wis- behaglich, dann sagt er: „Ich habe mich zimmert. senschaftler ist: Wieso verändert sich der getäuscht, damals. Die Kühe können nur Glöckners Abschied von seiner alten pH-Wert im Pansen der Kuh? Warum fluk- durch den Mais gestorben sein.“ Er müs- Welt begann am 9. Januar 2001. Als er an tuiert der Aminosäuregehalt im Magen um se seine Kühe schleichend vergiftet diesem Tag seine Kühe untersuchte, den 24 Prozent? Bildet der überschüssige Stick- haben. Stall säuberte, entdeckte er, dass einige stoff Zellgifte? Wieso bricht die Milchpro- Diese Sätze hat er schon häufig formu- Tiere an Durchfall litten, Euterödeme ka- duktion der Kühe erst vier Tage nach dem liert, aber sie fallen ihm immer noch nicht men hinzu, dann Blut in der Milch. Schließ- Absetzen der leistungssteigernden Futter- leicht, das erste Mal war es ein Bekenntnis,

der spiegel 2/2004 61 Gesellschaft kaum kleiner als die Abkehr eines Gläubi- Schild, auf ihm steht „Syngenta“, über grünen Gentechnik, der Genmanipulation gen von seiner Kirche. dem „g“ schwebt ein Blatt in freundlichem in der Landwirtschaft, entschieden. Bessere Der Mais, den Glöckner an seine Kühe Grün. Geschäfte könnten möglich sein. verfütterte, ist eine Variante einer Hoch- Im ersten Stock des Verwaltungsgebäu- „Wir haben Herrn Glöckner so lange un- leistungssorte, genannt „Pactol CB“, der des liegt das Büro von Hans-Theo Jach- terstützt, wie wir konnten“, sagt Jachmann ein Gen einer Bazille eingebaut wurde, mann, er ist Deutschland-Chef des Kon- und nippt an einem Glas Mineralwasser „Bacillus thuringiensis“, 176 Versuche zerns und Gottfried Glöckners ehemaliger ohne Kohlensäure, „er war ein glühender benötigten die Wissenschaftler des Schwei- Geschäftspartner. Es ist ein bescheidener Verfechter der Gentechnik, und wir waren zer Agro-Konzerns Syngenta, um ein zu- Raum, ein Holztisch, ein paar Stühle, drei Geschäftspartner, gute Geschäftspartner.“ frieden stellendes Ergebnis zu erhalten. Treckerbilder an der Wand. Jachmann Glöckner habe sich unermüdlich „mit den Daher der Name des neuen Pflanze: sammelt diese Maschinen, 16 stehen bei Gegnern der Technik angelegt“. Bt-176. ihm zu Hause. Sein Favorit ist ein „Bull- Aus diesem Grund habe sich Syngenta Das Gen versetze die Pflanze in die dog“ der Firma Lanz. verpflichtet gefühlt, Glöckner zu helfen, Lage, ein Insektengift zu produzieren, das Jachmann braucht kein die Darmwand eines seiner Feinde, des großes Büro, denn er ist hier sel- Genmais ist nicht sexy, er macht nicht Maiszünslers, perforiere. So informierte ten zu finden. Meist sitzt er im schlank, liefert keine zusätzlichen Syngenta, die Nummer drei im globalen Flugzeug, im Auto, ist auf dem Vitamine, er tötet ein obskures Insekt.

als die Kühe starben und sein Betrieb in Schwierigkeiten ge- riet. Untersuchungen wurden mitfinanziert, „rund 42 000 Euro haben wir ihm überwie- sen“, sagt Jachmann, er macht eine kurze Pause, setzt das Glas Wasser wieder auf den Tisch, und beendet den Satz: „Natürlich ist das kein Schuldanerkenntnis.“ Syngenta bot Glöckner das Saatgut an, weil er ein guter Kunde war und weil er ein ge- eigneter Kandidat für eine Mission zu sein schien, die der Konzern zu besetzen hat- te. Es ging darum, die Gen- technik auf Deutschlands Fel- dern zu etablieren. Glöckner nahm das Ange- bot an, er tat es nicht aus Neugier, aus Wissensdurst, er hatte gerechnet und erkannt, dass er wohl Geld sparen würde durch den verminder- ten Einsatz von Giften, durch einen wahrscheinlich höheren Ertrag. Glöckner zweifelte Ernte auf Glöckners Feld: Der Mais war groß, gesund und stark nicht an dem Erfolg. Noch stand seine Welt. Saatgutgeschäft, nach der Konstruktion der Weg zu internationalen Treffen des Kon- Der Mais wuchs auf 5000 Quadratme- Pflanze die Fachöffentlichkeit und Kun- zerns, zu Verbandssitzungen der Gentech- tern, der Landrat, die Polizei, die Land- den. Fresse sich die Larve in den Genmais, Industrie, zu Symposien, Konferenzen, Po- wirte, an deren Felder der Genmais grenz- sterbe sie schnell. Das Sprühen von Insek- diumsdiskussionen. Jachmann ist so etwas te, sie alle waren informiert, ebenso die tiziden, um den Maiszünsler zu stoppen, wie das Gesicht einer öffentlichkeitsscheu- Molkerei, die Milch von Glöckners Kühen entfalle. Gesundheitliche Schäden von Kuh en Branche, deren Vertreter sich oft miss- kaufte. und Mensch seien bislang nicht bekannt. verstanden fühlen. Er ist ein kompakter 1997 sähte er den neuen Mais aus. Als Die Deutschland-Zentrale des Agro- Mensch, aufgewachsen auf einem Bauern- die Pflanzen wuchsen, standen sie gut und Konzerns Syngenta steht im Gewerbe- hof und vielleicht deshalb direkt im Um- gerade auf dem Feld. Glöckner genoss die- gebiet-Ost von Maintal-Dörnigheim, einer gang mit seinen Mitarbeitern, die sich sen Anblick, so etwas lasse das Herz eines Schlafstadt, eine halbe Autostunde von bemühen, an seiner Nase vorbeizuschauen. echten Landwirts höher schlagen, erinnert Frankfurt entfernt. Sie ist schief wie die eines Boxers, der schon er sich. Nach der Ernte mischte Glöckner Hinter einem Zaun stehen ein paar ge- viele harte Treffer einstecken musste. den Mais zum ersten Mal dem normalen wollt unauffällige Flachbauten, errichtet Auf dem Tisch unter den Treckerbildern Futter unter. vom amerikanischen Konzern Honeywell, läuft das Aufnahmegerät von Jachmanns Den Kühen ging es gut. der hier früher Militärtechnik produzierte Pressesprecher. Gentechnik ist ein sensibles Es waren Schwarzbunte, Milchkühe, um und auch kein Interesse an unnötiger Auf- Thema, da kann es leicht zu Missverständ- die 60 Stück, die Glöckner großzog und merksamkeit hatte. Der einzige Hinweis nissen kommen. Und das wäre sehr bedau- melkte, jedes Tier eine hochgezüchtete auf den aktuellen Besitzer findet sich erlich, gerade in diesen Wochen. In Brüssel Milchproduktionsstätte, die auf Störungen auf dem Rasen. In Hüfthöhe ist da ein und Berlin wird bald über die Zukunft der sensibel reagiert.

62 der spiegel 2/2004 In den beiden folgenden Jahren erhöh- einem Leberknödel herum, der zwischen genmanipulierte Pflanzenarten zu geneh- te Glöckner den Anteil des genmanipu- Kartoffelpüree und Sauerkraut einge- migen. lierten Maises im Futter, er registrierte kei- keilt ist. Jetzt, nach fünf Jahren, sieht es so aus, ne Nebenwirkungen bei den Kühen. Der Jachmann ist ein Veteran der Branche, als werde die EU-Kommission das Mora- Maiszünsler war fort. er weiß, dass die Produktion und der Ver- torium endlich beenden, um Strafzöllen Im Jahr 2000 verfütterte Glöckner noch kauf von genmanipulierten Pflanzen in in Milliardenhöhe zu entgehen. Die EU mehr Genmais an seine Tiere. Deutschland auf absehbare Zeit kein ein- wurde von den USA verklagt, vor dem Den Kühen ging es immer noch gut. faches Geschäft sein wird. Schiedsgericht der Welthandelsorganisa- Glöckner trieb den Anteil an Genmais Aber Jachmann ist auch stur, er ähnelt tion. Es geht um Importbeschränkungen, weiter in die Höhe. Dann fraßen die Tiere Glöckner, und so überhört er regelmäßig Amerikas Farmer wollen ihren Genmais in nur noch Genmais. Sie bekamen Durchfall. die Ratschläge von seinen Kollegen, von Europa verkaufen. Es wird neue, schärfe- Das geschah im Frühjahr 2001. Managern, die nationale Filialen Syngen- re Gesetze geben, die den Umgang, die Glöckner fütterte zusätzlich Heu. Die tas außerhalb Europas führen: „Lass das Produktion und den Verkauf von gentech- Milchleistung der Herde ging zurück, ihr doch sein“, sagen sie ihm, „das bringt nisch manipulierten Pflanzen regeln, aber Gesundheitszustand blieb instabil, über doch nur Verluste.“ Der Konzern ver- mit ihnen kann Jachmann leben. Monate. Der Tierarzt war ratlos. Am 8. Mai diene in Europa, in Deutschland doch Er betrachtet diese Entwicklung mit vor- starb die erste Kuh. Vier weitere folgten. mit dem Verkauf von konventionellem sichtigem Optimismus, denn er weiß, Ge- Das zuletzt verendete Tier wurde in die Veterinärpatho- logie der Universität Gießen eingeliefert und untersucht. Der zuständige Tierarzt konn- te keine präzise Todesursache nennen. Er diagnostizierte le- diglich eine chronische Ent- zündung des Brustfells und eine chronische Entzündung der Gebärmutterschleimhaut. Glöckner ließ weitere Pro- ben nehmen, von anderen Tieren aus seinem Stall. Auch diese Proben lieferten keine eindeutigen Erklärungen für den Tod der fünf Kühe. Es wurde wieder Sommer, und draußen auf den Feldern stand ein weiterer Jahrgang des genmanipulierten Maises. Die Pflanzen waren stark, ge- sund, groß. Jetzt betrachtete Glöckner sie mit Unbehagen. Er begann Briefe zu schrei- ben, an das Robert-Koch-In- stitut, Berlin, Zentrum für Gentechnologie, zuständig für die Unbedenklichkeit gen-

manipulierter Organismen, MICHALKE NORBERT an die Syngenta GmbH. Auf Gentechnik-Experte Buhk: „Das ist keine Wissenschaft, das ist Esoterik“ weißem Papier äußerte er den Verdacht, dass der Genmais seine Kühe Saatgut gutes Geld. Aber Jachmann will setze allein schaffen noch keine kaufberei- getötet haben könnte. Möglicherweise sei es nicht sein lassen. Deutschland dürfe ten Konsumenten. 80 Prozent der Deut- für den Mais eine Kuh nur ein weiterer kein gentechnisches Entwicklungsland schen seien gegen Gentechnik auf ihren Schädling. Im Februar, am 22. des Monats, bleiben. Tellern, und Jachmann weiß auch, dass sein stellte Glöckner die Fütterung mit genma- Vor zehn Jahren begann Jachmann sei- Produkt nicht geeignet ist, die Deutschen nipuliertem Mais ein. ne Mission. Er war dabei, als deutschen zu bekehren. Der Mais mit dem Extragen Es dauerte nicht lange, bis Greenpeace Landwirten in Bad Rappenau die ersten bietet dem Landwirt Vorteile, aber nicht von Glöckners Verwandlung erfuhr. Die Genmais-Pflanzen präsentiert wurden. Sie dem Endverbraucher. Genmais ist nicht Umweltaktivisten kannten ihn, sie hatten stammten aus Frankreich und durften das sexy, er macht nicht schlank, liefert keine dafür gesorgt, dass ihm früher die Felder Sicherheitsgewächshaus nicht verlassen. zusätzlichen Vitamine, keine Antidepres- ruiniert wurden. Dankbar nahmen sie Jachmann erlebte die wenigen Jahre siva. Er tötet nur ein Insekt, das kaum je- Glöckner, den Konvertiten, als Kronzeugen der grünen Gentechnik, in denen die Bran- mand kennt. in ihr Lager auf. Im vergangenen Dezem- che hoffte, dass aus einem Projekt bald Das Vorteilhafteste, was sich über den ber präsentierten sie ihn und seine Ge- ein gutes Geschäft werden würde, es war Bt-176-Mais sagen lässt, ist, dass er Tiere schichte vor der Sitzung eines wichtigen die Zeit, als die Zahl der Versuchsäcker und Menschen keinen Schaden zufügt. Stu- EU-Ausschusses. wuchs, auch wenn viele von Gentechnik- dien bewiesen das, sagt Jachmann. Unab- „Uns war klar, dass die Sache irgend- Gegnern abgeräumt wurden. Dann kam hängige Experten bezeugten es. wann an die Öffentlichkeit gelangen wür- das EU-Moratorium, im Jahre 1998, und Doktor Hans-Jörg Buhk, angestellt beim de“, sagt Jachmann, er sitzt jetzt in der die Branche begrub ihre Hoffnungen. Die Robert-Koch-Institut in Berlin, dort Leiter Syngenta-Kantine und stochert lustlos in Politiker in Brüssel weigerten sich, neue des Zentrums für Gentechnologie, ist im

der spiegel 2/2004 63 Gesellschaft

Auftrag des Staats zuständig für die Ge- eine kleine Pause um des Effektes willen, arbeitete er allein. Glöckner fühlte sich oft fahrenabschätzung von genmanipulierten „Esoterik.“ unverstanden, hingehalten, abgeschoben Organismen. Buhk ist einer der erfah- So wie all die anderen denkbaren, aber von den Experten, und irgendwann wäh- rensten Experten auf diesem Gebiet. Er höchst unwahrscheinlichen Gefahren, die rend dieser langen Zeit begann Glöckner, tat seinen Dienst schon vor 18 Jahren Gentechnik-Gegner so gern aufzählten. Es die Dinge umzudeuten, baute sich aus in Hessen, als Joschka Fischer dort Um- gebe einen Unterschied zwischen dem, Missverständnissen und Wissenslücken ein weltminister war und noch Turnschuhe was man wissen müsse, um etwas zu ent- paar Verschwörungstheorien. trug. scheiden, und dem, was man zu wissen Wichtige Proben von Kühen seien ver- „Der Bt-176-Mais ist hinlänglich er- wünsche. schwunden aus einem Labor, angeblich, forscht, und er gilt als sicher“, sagt Buhk. weil eine Kühlzelle ausgefallen war. „Kann Er sitzt entspannt hinter seinem Schreib- man das glauben?“, fragt Glöckner. Ist Syn- tisch. Er weiß, dass er in einer verunsi- genta-Chef Jachmann nicht mit einem die- cherten Gesellschaft lebt, und er hat sich in ser so genannten unabhängigen Experten ihr eingerichtet. Eine Generation werde es befreundet, haben sie nicht zusammen dauern, bis die Gentechnik akzeptiert sei, studiert? Und warum trägt dieses Unter- so lautet seine Prophezeiung. suchungsergebnis aus dem amerikanischen „Der Herr Glöckner“, sagt Buhk, der Syngenta-Labor keine Unterschrift? Ist das habe sich sehr um eine qualifizierte Mei- normal? nung bemüht, das sei ihm anzurechnen, Heute ist Glöckner wieder unangreifbar, aber ihm fehlten natürlich ein paar Grund- wie vor dem Tod seiner Kühe. Die Welt ist lagen. Buhk versucht nicht herablassend wieder berechenbar, nur mit umgekehr-

zu klingen, aber er kann es nicht vermei- VARNHORN ANDREAS tem Vorzeichen. Die Gentechnik ist nicht den: „Unsere Experten haben seine Argu- Syngenta-Chef Jachmann gut, sondern böse. Experten sind nicht mentation und seine Zweifel nicht nach- „Lass das sein, das bringt nur Verluste“ verlässlich, sie lügen. Glöckner ist wieder vollziehen können.“ ein perfekter Verbündeter, diesmal von Die Tatsache, dass Glöckner seine Kühe Auf seinem Hof, in seinem Zimmer, an Greenpeace. In gewisser Weise hat er über mehrere Jahre mit Genmais gefüttert seinem Tisch sitzt Gottfried Glöckner, um- sich nicht bewegt, ist er sich treu ge- habe, länger als jeder Wissenschaftler in geben von seinen Akten. Es sind Hunder- blieben. einem Feldversuch, ändere nichts: „Das te von Seiten, sie schützen ihn vor Buhk Glöckner steht auf von seinem Tisch. Er war keine Wissenschaft“, sagt Buhk mit und anderen Experten, die ihn nicht ernst fühlt sich gut, er hat wieder eine Meinung, einer Prise Verachtung in der Stimme. Das nehmen wollen. sie ist fest gefügt. Nun kann das Leben wei- beweise gar nichts, sei pure Spekulation. Drei Jahren hat er in diese Akten in- tergehen. „Solche Überlegungen sind“, Buhk macht vestiert, dazu viel Energie und Geld. Meist Die Kühe müssen gefüttert werden. ™ White Bottrop Ortstermin: Im Ruhrgebiet erzählt die längste Skihalle der Welt kleine Geschichten über den Standort Deutschland.

aare im Partnerlook wedeln vorbei gen Brachen der Schwerindustrie, die sich Filialen aus Nordrhein-Westfalen und Um- durchs Dämmerlicht, auf der „Pfand- weithin in die Landschaft fressen. Rings gebung entsandten Teilbelegschaften, die Pler Alm“ drinnen sitzen sie vor Wei- um die schmale, lange Halle graben Men- sich bei Skischuhtänzen und bei Jagertee zenbier und Apfelstrudel. Ein Luis Trenker schen und Maschinen der Zeche Prosper- kreativ näher kommen durften. in Öl schaut aus der Holzvertäfelung, ge- Haniel noch immer tonnenweise die Stein- Richtung Ausgang findet sich eine Ga- rahmt von Nudelhölzern und gusseisernem kohle aus dem Grund, auf Staatskosten so- lerie Prominenter, die sich in Bottrops Kochgerät. Es fehlen die abgebrochenen zusagen, aber mit großer Tradition. Seit ewigem Eis auch schon vergnügten oder Skispitzen an den Wänden, aber nicht die 140 Jahren wird in der Gegend Bergbau sonstwie als Ehrengäste vorbeischauten. schweren Stiefelschritte auf hohlem Hüt- betrieben, Ski gefahren erst seit Beginn Wolfgang Clement ist zu sehen, er war da tenboden, wenn das Ruhrgebiet entschlos- des Jahrtausends, 2001. an einem Wintertag, das Foto wurde vor sen zum Après-Ski schreitet: willkommen Es sind die Leute vom Alpincenter, die der „Alm“ gemacht, im Freien. Clement in Bottrop, Alpincenter, längste Skihalle jetzt von Arbeitsplätzen reden. Die Straßen macht den Mund zum Schmunzeln spitz, er der Welt, made in Germany. Mittagszeit, der Nebentisch bestellt als Aperitif „vier Pils, vier Korn“, die Höhen- luft macht Durst. 113 Meter über Normal- null, draußen auf dem welligen Buckel einer Abraumhalde rumort im Sommer im- merhin der „höchste Biergarten des Ruhr- gebiets“, während sie drinnen bei Minus- graden durch den Kunstschnee pflügen auf Snowboards und taillierten Kurzskiern. Der zugehörige Pressesprecher, er trägt einen rustikalen Norwegerpullover, be- richtet von 750000 zahlenden Besuchern im Jahr 2002, Tendenz steigend, 2003 sol- len es trotz Dosenpfand, Sommerloch und sonstigem Reformstau noch mehr gewesen sein. Die Kundschaft kommt von weit her, sogar aus Amsterdam, sie kommt vor allem im Winter. „Ski fahren“, sagt der Sprecher, „hat eben eine ganz klare Saisonalität.“ Im Alpincenter Bottrop, Ausfahrt Bottrop- Boy, hätten sie es gern anders. Man bietet schließlich „Echt-Ski-Ver- hältnisse“ das ganze Jahr, das Konzept hat sich der frühere Ski-Champion Marc Girar-

delli ausgedacht, und herausgekommen ist ENKER NORBERT FOTOS: Bottrop: eine Halle, die nach Schwimm- Bottroper Retortenpiste: „Echt-Ski-Verhältnisse“ bad riecht, im Schlauch steht feuchtkalt die Luft, minus fünf Grad unter der niedrigen in Bottrop mögen noch immer „Glückauf“ sieht aus, als hätte er eben gesagt: Solche Decke, Windstille über 640 Meter Piste, 30 heißen und die Kneipen „Zum Pütt“. Aber Initiativen brauchen wir! Unternehmer- Meter breit, stumpfer Kunstschnee, kein die Zukunft, jeder weiß es, wird solchen geist! Nicht jammern, dass im Sommer kein Baum, kein Strauch, ein Skilabor. ökonomischen Retortenbabys wie der hie- Schnee da ist! Skihallen bauen! Die Sportler, die zu Tal kurven auf sigen „Pfandler Alm“ gehören. Sein Bild ist umgeben von Schnapp- locker gefüllter Bahn, fahren ihre Linien Bottrop, Prosper-Haniel. Wo Kumpel schüssen anderer Prominenz. Stefan Raab, ernst, konzentriert, sie sehen aus, als schö- waren, ziehen Komparsen in Skipullovern Verona Feldbusch, Anke Engelke halten ben sie Schichtdienst. Zum Bürobetrieb ein, und das Stück, in dem sie wirken, heißt ihre Zähne ins Blitzlicht. Auch Jürgen fehlt nur, dass sie beim Vorbeifahren nicht mehr Kohle und Stahl made in Ger- Drews war schon da. Er signierte, wie die „Mahlzeit!“ rufen. Aber niemand ruft. Und many, sondern Event & Fun sponsored by Fotos zeigen, in großer Stimmung und kaum einer lacht. Nur die Werbeplakate Veltins. Porsche hat auf dem Bottroper Hü- leichthändig eine Frauenbrust mit schwar- entlang den Wänden hinunter zur „Talsta- gel seinen Geländewagen Cayenne prä- zem Filzstift. tion“ reden. Sie erzählen von den Bergen. sentiert (und ihn unter großem Hallo die Kein Zweifel, die Epoche der Schwer- Von Sonne. Von Südtirol. Vom Himmel. Piste hinauffahren lassen), Reiseveranstal- industrie geht auch in Bottrop zu Ende. Das Alpincenter insgesamt erzählt vom ter feierten ihre neuen Fernwehkataloge Zeche, so wird hier bald nur noch die Auf und Ab am Standort Bottrop, wie ein im Schnee. T-Mobile, Karstadt, Siemens, Rechnung heißen, die am Ende von allen i-Punkt markiert die Anlage die gewalti- BMW und reichlich andere Firmen und zu zahlen ist. Ullrich Fichtner

der spiegel 2/2004 65 Trends

FUSSBALL VfB Stuttgart lernt von Top-Konzernen ußball-Bundesligist VfB Stuttgart will Fsich auch wirtschaftlich zu einem Vorzeigeclub mausern. Auf Initiative seines neuen Präsidenten Erwin Staudt, 55, führt der einst krisengeschüttelte VfB als erster deutscher Sportverein das in der Industrie entwickelte System der Balanced Scorecard (BSC) ein. Das von der amerikanischen Harvard Business

School entworfene Konzept misst an- DOMINIK BUTZMANN hand eines vorher festgelegten Kata- Kundinnen im Handy-Laden logs von Kriterien den wahren Erfolg eines Unternehmens. Gemessen werden MOBILFUNK nicht nur harte Zahlen wie verkaufte Tickets, Merchandising-Erlöse oder Mitgliederbestand, sondern auch „wei- Handys strahlen wenig roße Unterschiede in der Strahlungsintensität ermittelte das Bundesamt für GStrahlenschutz in seiner jüngsten Untersuchung von 236 aktuellen Handy- modellen. Demnach schwankt die so genannte spezifische Absorptionsrate (SAR), mit der die vom Handy ausgehende Strahlung beziffert wird, je nach Modell zwischen 0,005 Watt pro Kilogramm (LG G7000) und 1,45 Watt pro Kilogramm (Samsung SGH-Q200). Damit bleiben zwar alle Handys unterhalb des von der Strahlenschutzkommission vorgeschriebenen Grenzwertes von 2 Watt pro Kilo- gramm. Um die Diskussion über Elektrosmog nicht weiter anzuheizen, will die Mo- bilfunkbranche aber auch weiterhin keine Werbung für besonders strahlungsarme Handys machen. Zum Ärger der Strahlenschützer, die ihre Testergebnisse auch im Internet veröffentlicht haben, geben die Hersteller die jeweiligen SAR-Werte nur im Kleingedruckten der Bedienungsanleitung an. Dabei könnten, so das Bundes- amt, fast 60 Handy-Modelle sogar mit dem Ökolabel „Blauer Engel“ ausgezeich- net werden, da ihr Wert unter der als besonders strahlungsarm geltenden Marke liegt. Bislang hat aber noch kein Hersteller das Prädikat beantragt. „Ich halte es für

THOMAS KIENZLE / AP KIENZLE THOMAS nicht nachvollziehbar“, klagt Amtssprecher Dirk Daiber, „dass diese Form der Bundesliga-Spiel verantwortlichen Produktinformation immer noch nicht gegeben wird.“

che“ Faktoren wie zum Beispiel die Effizienz der Ju- gendarbeit. VfB- EINZELHANDEL lich und erreichte erst bei minus acht Präsident Staudt, Prozent den Tiefpunkt. Erst mit drasti- bis Anfang 2003 Rote Weihnacht schen Rabatten erlebte die Branche, so Chef von IBM das Fachblatt „Textilwirtschaft“, ganz Deutschland, will iele Kunden, wenig Umsatz – so das am Ende „so etwas wie ein Weihnachts- Staudt so eine „wöchent- VFazit zahlreicher Einzelhändler zum wunder“. Die tiefrote Gesamtbilanz liche Kontrolle der Abschluss des Weihnachtsgeschäfts. Mit konnte der leichte Zuwachs im Schluss- wirtschaftlichen Kennzahlen des Ver- einem Umsatzrückgang von rund drei spurt allerdings kaum verbessern. eins gewinnen“, um dadurch beim ge- Prozent hat sich die Hoffnung, zumin- planten Umbau des Vereins zu einem dest das schon schlechte Ergebnis von mittelständischen Konzern flexibler 2002 wieder zu erreichen, endgültig zer- reagieren zu können. Neben dem mo- schlagen. Nur rund 8 Milliarden Euro dernen Benchmarking will der Verein gaben die Bundesbürger nach ersten auch Mitarbeiter in die USA schicken, Berechnungen im vergangenen Weih- damit sie dort lernen, wie auf profes- nachtsgeschäft aus – 1999 waren es noch sionelle Weise Spenden gesammelt mehr als 13 Milliarden Euro. Inoffiziell werden können. Staudt möchte den sprechen Experten bereits vom schlech- bisher klammen Bundesligisten aller- testen Weihnachtsgeschäft seit mehr als dings nicht wie andere Vereine an die zehn Jahren. Besonders hart getroffen Börse bringen, sondern als Kommandit- wurden die Textilhändler. Seit Mitte

gesellschaft auf Aktien etablieren, um November sank ihr Umsatz kontinuier- SCHULZ / KEYSTONE VOLKMAR so strategische Kapitalanleger gewinnen zu können. Schaufenster zur Weihnachtszeit

66 der spiegel 2/2004 Wirtschaft

UNTERNEHMER lich sind Sie an der Münchner Agentur Nova Models interessiert? „Zweite Chance“ Esch: Es ist noch zu früh, darüber zu reden, aber Nova ist mit Sicherheit ein Horst-Dieter Esch, 60, Ex-Pleitier interessanter Name. Wir schauen uns und Chef der US-Model-Agentur Wil- aber auch in Hamburg nach einem ge- helmina, über seine Rückkehr nach eigneten Partner um. Deutschland und das Geschäft mit der SPIEGEL: Die Zeit der Supermodels à la Schönheit Claudia Schiffer oder Linda Evangelista ist vorbei. Hat das Model-Geschäft die SPIEGEL: Vor 20 Jahren legten Sie mit Glanzzeiten nicht längst hinter sich? Ihrem Baumaschinen-Imperium eine der Esch: Es boomt weiter, wird sich aber größten deutschen Pleiten hin. Danach verändern. Frühere Supermodels, wie mussten Sie über vier Jahre in Haft, be- Schiffer & Co., werden in Zukunft im- vor Sie in New York ein mer mehr durch Film-, neues Leben begannen als Musik- und Sportstars Chef der Model-Agentur ersetzt. Der Bedarf an Wilhelmina, die nun in Mün- Models für das Katalog- chen ihre erste Dependance geschäft wird gleichzeitig außerhalb der USA eröff- weiter steigen. net. Plagt Sie Heimweh? SPIEGEL: Trotzdem suchen Esch: Nein, für die Rück- Sie ein zweites Standbein. kehr gibt es rein geschäft- Der Name Wilhelmina liche Gründe. Deutschland soll künftig Kosmetik- ist der größte Katalogmarkt produkte schmücken. der Welt – und das Katalog- Esch: Wilhelmina ist in geschäft macht 65 Prozent den USA ein guter Name,

unseres Umsatzes aus. Hier / GETTY IMAGES / TWIN IMAGES ROBIN PLATZER den fast jede Frau kennt. auf Dauer nicht präsent zu Wilhelmina-Model, Esch Da macht es Sinn, in das sein wäre ein Fehler. Lizenzgeschäft mit Kos- SPIEGEL: Wenn man ans Model-Ge- metika einzusteigen, zum Beispiel mit schäft denkt, kommen einem Mailand einem Hersteller wie Estée Lauder. und Paris in den Sinn, nicht Quelle Aber auch Beiersdorf wäre für eine oder Otto. solche Kooperation eine erste Adresse. Esch: Wir verkaufen weder Glamour SPIEGEL: Wird Ihnen Ihre Pleite-Ver- noch Sex. Wilhelmina ist eine Agentur, gangenheit hier zu Lande noch übel die den Schwerpunkt im Katalog und genommen? im Geschäft mit den Werbeagenturen Esch: In Amerika hat jeder eine zweite hat und dort auch ihre Zukunft sieht. Chance. Ich hoffe und glaube, dass man SPIEGEL: Um in Deutschland schnell Fuß mir die auch in Deutschland geben zu fassen, brauchen Sie Partner. Angeb- wird.

LUFTFAHRT Delikate Dreingaben er harte Wettbewerb unter den Ddeutschen Billigfluglinien strebt neuen Höhepunkten zu. Um die Kun- den enger an sich zu binden, setzt der Lufthansa-Ableger Germanwings neuer-

dings sogar Nacktfotos ein. Wer Ende BILDERDIENST BONN-SEQUENZ / ULLSTEIN vergangenen Jahres von Köln oder Germanwings-Maschine Stuttgart aus im Streckennetz der Air- line verkehrte, bekam auf Wunsch ein den Absatz, bis Ende vergangener Wo- Gratis-Exemplar des „Playboy“ über- che wurden von der „Playboy“-Jubi- reicht. Um mitreisende Mütter mit Kin- läumsausgabe zum 50-jährigen Bestehen dern nicht zu brüskieren, beschlossen des Blattes mehrere zehntausend Exem- die Germanwings-Manager, die Maga- plare verteilt. Weniger begeistert rea- zine unter einem goldenen Schutz- gierte nach Angaben von Arbeitnehmer- umschlag zu verstecken. Aufschrift: „Bei vertretern das überwiegend weibliche den tollen Reportagen ist es fast ein biss- Bordpersonal des Billigfliegers. Vor chen schade, dass wir nicht Langstrecke allem männliche Fluggäste hätten die fliegen.“ Nach Auskunft eines Firmen- delikate Beigabe als Steilvorlage für sprechers fanden die Exemplare reißen- schlüpfrige Bemerkungen genutzt.

der spiegel 2/2004 67 Wirtschaft MUELLER-STAUFFENBERG / ULLSTEIN BILDERDIENST / ULLSTEIN MUELLER-STAUFFENBERG Metro-Elektronikkaufhaus in Hamburg, Metro-Großmarkt in Ho-Tschi-minh-Stadt (Vietnam): Weltkonzern auf Einkaufstour

GLOBALISIERUNG Cash am Mekong Von Marokko über Moskau bis nach Vietnam: Die deutsche Metro AG expandiert in atemberaubendem Tempo. Der Handels- konzern tritt weltweit mit genormten Märkten auf – und paktiert notfalls mit fragwürdigen Regimen. Von Erich Follath

Metro-Sex. Modewort 2003, ausgehend te Sitzgruppen. Statt kostbarer Kunst von einem neuen, weich gespülten Män- empfangen den Besucher bunt bemalte nertyp (Beispiel: David Beckham), der Wände, und Blumenschmuck gilt hier of- laut Trendforschern den hart auftrump- fenbar als Verschwendung. Selbst die Büros fenden Macho abzulösen beginnt. Der Me- gehobener Angestellter wirken, als hätten tro-Sexuelle geht zur Maniküre, benutzt sich die Herren nur aus dem Baumarkt be-

Kosmetika und liebt – außer sich selbst – dienen dürfen. Und wenn Metro-Vor- / MUNICHPRESS.DE NITSCHK GORAN vor allem den Einkaufsbummel. standschef Hans-Joachim Körber, 57, aus Firmengründer Beisheim (2001) seinem Fenster blickt, bietet sich eine „Geheimnis-Krämer“ im Hintergrund ass die Metro Group mit ihrer Fir- mäßig aufregende Aussicht: Parks und menzentrale protzt und prunkt, Parkplätze, Vorstadt-Düsseldorf. Bonjour, mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt Dkann man wirklich nicht sagen. Provinz. von Rumänien, Nigeria oder Vietnam. Die Hier scheint eine Unternehmensleitung Doch die Wahrheit ist: Im Reich der Me- Gehaltsliste des Unternehmens ist länger noch einem der eigenen Werbesprüche zu tro geht die Sonne nie unter. Die Firma als das Einwohnerregister von Mainz oder glauben – und zu folgen: Geiz ist geil. Ins hat Niederlassungen in 28 Ländern, von Magdeburg, Kiel oder Kassel: 235000 Be- Neudeutsch der Führungskräfte übersetzt: Marokko über Indien bis Russland und schäftigte. Understatement ist en vogue. China. Der Jahresumsatz des Konzerns, Es geht weiter aufwärts, in schwieriger Die Eingangshalle des größten deut- fünftgrößter seiner Branche weltweit, be- Zeit, in einer schwierigen Branche. Wäh- schen Handelsunternehmens zieren schlich- trug im Jahr 2002 51,5 Milliarden Euro – rend der deutsche Einzelhandel in den

68 der spiegel 2/2004 ERICH FOLLATH / DER SPIEGEL ERICH FOLLATH DPA Metro-Eröffnungen in Indien (o.), der Ukraine*: „Ein schmaler Grat“ ersten neun Monaten dieses Jahres 0,8 Pro- geln, beispielsweise jeden Samstag an der den Preis guter Beziehungen zur Regie- zent des Vorjahresumsatzes verlor, hat die Hamburger Mönckebergstraße, im größ- rung des Gastlandes alles akzeptieren oder Metro, wie sie Ende Oktober stolz verkün- ten Elektronikmarkt der Welt. gar unterstützen? dete, um 5,8 Prozent zugelegt. Auch die Kaum Beratung. Viele Kunden, junge vor „Die Metro und ihr Exportmodell des Börse würdigt die Erfolge: Das Dax-Unter- allem, in sich selbst und die turnhallenwei- Cash & Carry lassen sich nur für den ver- nehmen konnte nach vorausgegangener te Hightech-Welt versunken: Fast könnte stehen, der die Geschichte des Unterneh- Talfahrt seinen Kurs seit März 2003 mehr man meinen, die Trendforscher hätten den mens kennt“, sagt Vorstandschef Körber, als verdoppeln – trotz einer im internatio- Begriff von den Metro-Sexuellen für die der den lange Zeit so geheimnisumwitter- nalen Maßstab eher bescheidenen Rendite. Käufer im Metro-Geschäft erfunden. ten Konzern in den vergangenen Jahren Wäre in Deutschland jemand gezwun- Die Saturns und Media Märkte mit ihren neu positioniert und zunehmend transpa- gen, in seinem ganzen Leben nur in Ge- Schnäppchen sind Erfolgsinseln in einer rent gemacht hat. schäften der Handelskette zu kaufen, er sturmzerzausten Branche, insofern täuscht Doch mit Auskünften über den „Alten“ käme gut über die Runden: Lebensmittel der samstägliche Ansturm in Hamburg. Die hält sich der neue Boss, seit 1999 im Amt, gibt’s beim Warenhaus Real, Hemden und Konsumenten machen sich in diesen Zeiten auffällig zurück. Keine Diskussion über Hosen bei Kaufhof, Computer und CDs der Rezession ansonsten ziemlich rar. Die den Mann, mit dem die Ursprünge der bei Saturn, Bretter und Bohrmaschinen Metro käme lange nicht so gut zurecht, Weltfirma im Guten wie im Schlechten un- beim Baumarkt Praktiker – allesamt Ver- wäre sie aufs Inlandsgeschäft begrenzt. trennbar verbunden sind, über einen der triebslinien der Metro Group, bei der jedes Die Kaufhof-Warenhäuser etwa dürften schillerndsten und umstrittensten deut- Mal die Kassen klingeln. Und wie sie klin- 2003 rote Zahlen schreiben, der deutsche schen Wirtschaftsführer: Otto Beisheim, Markt gilt, bis auf die Elektronikläden, weit- auch genannt: „der Geheimnis-Krämer“. gehend als ausgereizt. Über 48 Prozent ih- res Umsatzes, Tendenz steigend, macht die DER GRÜNDERMYTHOS Metro AG heute im Ausland – auch einen Wenn Beisheims Name fällt, senken sich die Großteil ihrer Gewinne. Die Düsseldorfer Stimmen der Metro-Abteilungsleiter – ob expandieren weltweit rasant. Zwei Milliar- aus schlichter Ehrfurcht oder unbestimmter Die Metro Group betreibt in 28 Staaten den Euro wird der Vorstand allein in diesem Angst heraus, ist schwer zu sagen. 2113 Filialen, davon 1520 in Deutschland. Jahr vor allem in Osteuropa, in Russland, Neulich erst hat ER sich wieder in eine Indien und China investieren. Aktionärsversammlung gemischt, unauf- UMSATZ 2002 51,53 Milliarden Euro Aber warum gerade dort, weshalb in fällig, als sei ER ein Kleinanleger und nicht Vietnam und nicht in Usbekistan? Welche ein Milliardär, im Besitz von 18,8 Prozent GEWINN 2002 502 Millionen Euro kulturellen Eigenheiten der Gastländer gilt es zu berücksichtigen? Welche Konzepte * Im Oktober 2003 mit Tempeltänzerinnen in Bangalore; BESCHÄFTIGTE 235 283 kommen an, welche sind womöglich schäd- im August 2003 mit dem Patriarchen Filaret und dem Box- lich? Und was kann man, was darf man um Star Witalij Klitschko in Kiew.

der spiegel 2/2004 69 aller Metro-Aktien. ER fährt immer noch gern zu einer Metro-Neueröffnung ins Aus- land mit und lässt dann – öffentlichkeits- scheu – alle Fotos einsammeln, auf denen ER zu sehen ist. ER feiert Anfang Januar seinen 80. Geburtstag in dem selbst finan- zierten, brandneuen 460-Millionen-Euro- Beisheim-Center am Potsdamer Platz, sei- nem prächtigen Denkmal mit Büros, Res- taurants, zwei Hotels und einem eigenen Penthouse über den Dächern von Berlin. Die Einladungen zum Fest im kleinen Kreis sind schon rausgegangen. „Was, Ihre ist noch nicht angekommen?“, heißt es auf den Metro-Chefetagen, wenn man den an- deren verunsichern will. Otto Beisheim wurde als Sohn eines Gutsverwalters in Vossnacken bei Essen geboren. Weil den Eltern eine Schulaus- bildung bis zum Abitur zu teuer schien, schickten sie den begabten Sprössling zu ei- ner Lehre in die Lederindustrie. Seine Kar- riere in der Nazi-Zeit liegt im Dunkeln, und Beisheim tat nie etwas dazu, sie auf-

zuhellen. Aus einer Krankenakte der ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL Wehrmachtsauskunftsstelle geht angeblich Beisheim-Center (am Potsdamer Platz in Berlin): Denkmal für 460 Millionen Euro nur hervor, dass er als 19-Jähriger bei der Waffen-SS war und als Scharführer bei der grundsätzlich keine Interviews gibt, ähnlich alten Kader-Kommunisten als Regierungs- Division „Leibstandarte Adolf Hitler“ 1943 wie andere große Handelsfürsten der Wirt- chef. Jedenfalls bricht eine hochrangige verletzt wurde. schaftswunderzeit – die Aldi-Brüder etwa. Abordnung unter Führung von Vorstands- Nach dem Krieg arbeitet sich der Ehr- Bei den Festen in Rottach-Egern, wo er chef Körber demnächst auf ins zentral- geizige zum Prokuristen eines Elektroge- am Tegernsee ein Haus besitzt, zeigt er asiatische Almaty (mit Abstechern nach schäfts hoch und bildet sich bei Reisen fort. sich äußerst selten – und dann „in Tracht, Teheran und Taschkent, um die dortige Um das Jahr 1960 lernt er in den USA den Modell Musikantenstadl, und mit einem Geschäftslage zu erkunden). Cash & Carry-Großhandel kennen, eine mausgrauen Steinklopferhut“ (wie Gesell- Wenn Körber & Co. sich auf so eine Rei- Handelsform, bei der mit einer Kunden- schaftsreporter Michael Graeter berichtet). se machen, dann sind die Expansionspläne karte ausgewiesene Einzelhändler oder Beisheim besitzt auch in Lugano eine Vil- im entscheidenden Stadium. Dann können Restaurantbesitzer ihre Waren selbst ab- la und ist inzwischen Schweizer Staatsbür- sich die obersten Unternehmenspfadfinder holen und sofort bezahlen. Beisheim macht ger. Er soll immer noch den Cent ehren Gerd Becker, seit 35 Jahren Metro-Mann, sich 1964 mit der abgekupferten Idee und meilenweit für billige Lebensmittel und Heinz Pfeiffer, seit 17 Jahren dabei, selbständig und gründet in Mülheim an der fahren, heißt es. Aber er spendet auch für schon mal zurücklehnen: Das Wichtigste Ruhr den ersten deutschen Markt dieser Universitäten achtstellige Summen. ist getan. Art. Er erweist sich als glänzender Orga- Manchmal zahlt sich so viel Großzügig- Ein Generalstab braucht Karten. Die nisator und trickreicher Finanzjongleur. keit aus: Die TU Dresden machte ihn zum Diagramme mit ihren Kästchen und Pfeilen Das Konzept setzt sich durch – auch mit Ehrendoktor. Oft aber verdrießt Beisheim und um Aufmerksamkeit heischenden Far- Hilfe branchenerfahrener Teilhaber, die die Undankbarkeit der Menschen: Vor zwei ben haben die beiden bei jeder Sitzung zur sich anschließen. Jahren etwa zog er eine Spende in Millio- Hand. „Spirit of commerce“ steht über al- Bei seiner Personalpolitik hat Beisheim, nenhöhe für ein Kongresszentrum am Te- lem. So heißt der Leitspruch des Unter- der bald ins Ausland expandiert und über gernsee zurück, als ihm die lokale SPD nehmens, und das nicht nur, weil „Geist den Kaufhof in den Einzelhandel einsteigt, Verschandelung der Umwelt vorwarf. des Handels“ irgendwie provinziell nach nicht immer eine glückliche Hand. Seine Beisheim ist verwitwet und hat keine Weinbrand oder Poltergeist klingt: Körber Nähe zum Medienunternehmer Leo Kirch Kinder. Der Silberhaarige, der ein bisschen hat im Konzern generell Englisch zur und seine Internet-Begeisterung verführen aussieht wie der ältere Bruder des Herrn Amtssprache gemacht. Anfang der neun- ihn in den neunziger Jahren zu dubiosen Kaiser aus der Fernsehwerbung für ein Ver- ziger Jahre ist die Metro AG noch ein vor- Geschäften, bei denen er manchmal wie sicherungsunternehmen, spielt Golf, rudert wiegend in Deutschland agierendes, auf ein Strohmann wirkt, dann wieder wie ein und schwimmt, heißt es aus seiner Umge- Westeuropa und die Türkei beschränktes Marionettenspieler, der die Fäden zieht. bung. Ein weiteres Hobby: Er sieht akri- Unternehmen. Doch Wachstumschancen Die Metro-Geschichte, so wie sie von bisch genau die Metro-Geschäftsberichte sieht das Management in den schon da- dem Unternehmen selbst dokumentiert durch – vor allem auf Schwächen. mals gesättigten Märkten kaum noch. Des- wird, springt im Zeitraffer über die Jahr- halb werden nach und nach neue Chancen zehnte. 1996 geht die Metro an die Börse. DIE CREW FÜRS GROBE in den osteuropäischen Aufbruchländern Fachleute bezeichnen die Umwandlung der Als Nächstes also Serbien, Staat Nummer gesucht, zuerst 1994 in Polen, wo die Me- durch zahlreiche Zukäufe immer weiter 29 im Metro-Reich. Die Eröffnung des ers- tro inzwischen der größte ausländische Ar- verschachtelten Gruppe als überfällig. Zu- ten Cash & Carry-Markts in Belgrad ist beitgeber ist. dem genießt die Metro damals einen eher schon terminiert, für Frühjahr 2004. Und Nach der Volksrepublik China, Russ- düsteren Ruf, braucht finanziell und per- dann wird vielleicht Kasachstan erschlos- land, Vietnam und Japan geht die Metro im sonell dringend Auffrischung. sen, wo sie so viel Erdöl haben – aber auch Jahr 2003 mit eigenen Märkten auch in die Beisheim bleibt bis heute der geheim- himmelschreiende Korruption und mit Ukraine und nach Indien. Anders als der nisvolle Mann im Hintergrund, der Nursultan Nasarbajew einen berüchtigten strauchelnde niederländische Konkurrent

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Ahold – in 25 Ländern vertreten – setzt „Sie besitzen bei uns hervorragende Und dann ist da noch die Geschichte mit das Düsseldorfer Unternehmen dabei nicht Aufstiegschancen“, sagt die resolute Dame den Bulgaren. Das Konzept der Düssel- auf Zukäufe. und erzählt vom „House of Training“, wo dorfer sieht vor, dass bei einer Neueröff- Die Metro beginnt die Expansion in ein 1600 Neueingestellte pro Jahr geschult wer- nung Manager aus einem schon erschlos- fremdes Land fast immer mit einem ihrer den, sowie von der Führungskräftekonfe- senen Metro-Land die Federführung er- eigenen, weitgehend genormten Cash & renz mit 550 Teilnehmern, die alle zwei halten: Im Fall Moskau fiel die Wahl auf die Carry-Märkte. Nach deren erfolgreicher Jahre in Düsseldorf stattfindet. Bulgaren. Es schien eine logische Ent- Etablierung folgen im Idealfall Saturn oder Die Polyglotten aus aller Herren Länder scheidung, schon weil die Manager aus So- andere Tochterunternehmen. fahren dann gemeinsam mit dem Dampfer fia die Sprache beherrschten. Doch die lei- Die beiden bedächtigen Metro-Strate- den Rhein zur Loreley hinunter und üben tenden russischen Mitarbeiter hatten Pro- gen aus Düsseldorf wirken kaum wie Er- „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, was bleme, sich Vertretern eines ehemaligen oberer, die ihre Firmen-Flagge in fremde wie ein Chor der Vereinten Nationen „Sowjetsatelliten“ unterzuordnen. Beide Kontinente rammen wollen. „Wir sehen klingt. Aber auch die Chefin muss zugeben, Seiten machten Kompromisse, Russen sind uns ganz und gar nicht als eine deutsche dass mit Teamgeist und guter Ausbildung jetzt in Führungspositionen aufgestiegen. Dampfwalze“, sagt Becker, eine Art allein nicht alle Probleme gelöst werden Cash & Carry-Ableger gibt es nicht nur Couch-Kolumbus, der die Berichte seiner können. Manchmal zahlt man Lehrgeld – in Russlands reichster Stadt, die inzwischen derzeit in rund 20 Ländern tätigen Re- durch eigene Fehler oder durch Abhän- für Geschäftsleute auch Europas teuerste chercheure sorgfältig auf seinem Sofa über- gigkeiten von der großen Politik. ist: neue glitzernde Hotels, Restaurants, prüft. Spielcasinos an jeder Ecke, und die Bars „Wir glauben daran, dass man kulturel- MOSKAUER MACHTSPIELE heißen selbstironisch „Das Kapital“ oder le Eigenheiten respektieren und trotzdem Oberbürgermeister Jurij Luschkow liebt „Best of the West“. Auch in St. Petersburg Innovationen durchsetzen kann“, meint Cash & Carry. Neulich hat er sogar voller locken zwei Metro-Läden die Großkun- Kollege Pfeiffer. In Vietnam etwa arbeite Stolz höchstpersönlich seinen Freund, den die Metro mit der „Deutschen Investitions- weißrussischen Diktator Alexander Luka- und Entwicklungsgesellschaft“ zusammen schenko, durch einen der fünf blitzsaube- Das Marken-Reich und finanziere mit mehr als 400000 Euro ren Moskauer Großmärkte geführt. Die Gewinne/Verluste der Metro-Vertriebslinien neue Schlachthäuser und Musterfarmen im Deutschen zahlen pünktlich Steuern, sie 2002 in Millionen Euro Mekong-Delta. helfen indirekt mit, den Schwarzmarkt aus- Gewinne Die Metro, bekannt hier zu Lande auch zutrocknen, die Produkte erhöhen die Le- Großhandelsgesellschaft vor Steuern Metro Cash & Carry und Zinsen für ihre knallharten Verhandlungen mit Zu- bensmittelsicherheit in seiner Metropole. lieferern, im Ausland eine Art karitatives Und sie unterstützen mit großzügigen Unternehmen? Beiträgen die Erschließung der Infrastruk- 709,1 So weit wollen die Eroberer nicht ge- tur im Stadtrandgebiet – im Gegenzug Elektro-Warenhäuser hen. Natürlich müsse man zu allererst Geld macht Luschkow die Pachtgebühren für verdienen. Aber effektivere Anbaumetho- Grund und Boden erschwinglich. den und hygienischere Fleischzubereitung Aber als die Metro-Macher sich dann 280,2 nützten letztlich den Bauern wie dem Kon- ein Grundstück etwas außerhalb des Mos- zern. 90 Prozent der angebotenen Waren kauer Rings sicherten, im Bezirk eines mit sollen nach Cash & Carry-Planung jeweils ihm rivalisierenden Gouverneurs, da soll Warenhäuser aus dem Land stammen. Erreicht ein Pro- Luschkow getobt haben. Vergessen Sie das dukt Exportqualität, hat es Chancen, in besser, hieß die unmissverständliche Bot- eine Liste Metro-eigener Marken aufge- schaft an die Metro-Macher. Sie verstanden nommen und in großer Menge abgenom- – und vergaßen. men zu werden. Jetzt ist alles wieder in Ordnung zwi- 131,4 Die wichtigsten Kriterien für ein neues schen dem mächtigen Politiker und dem Selbstbedienungswarenhäuser Metro-Land sind laut Pfeiffer: Kaufkraft, Konzern. Bis Ende 2004 werden vier wei- verlässliche Steuergesetze, politische Sta- tere Cash & Carry-Läden im Raum Mos- bilität – und natürlich die Geschäftskon- kau eröffnen, alle im Luschkow-Reich. 147,0 kurrenz. Nach monatelangen, manchmal Baumärkte jahrelangen Filter-Prozessen mit immer weiter verfeinerten Marktstudien wird das Metro-Standorte –41,6 Kandidatenfeld reduziert. Die Düsseldorfer Länder mit Filialen der Metro Group Lebensmittel-Einzelhandel versuchen, so oft wie möglich vor den in- ternationalen Mitbewerbern Pionier zu sein – was schwieriger wird, je mehr Staaten als EUROPA –47,2 „Metro-Country“ auf der Weltkarte die Dänemark blau-gelbe Hausfarbe erhalten. Niederlande Russland Claudia Schlossberger ist als „Chief Großbritannien Deutsch- Polen Human Ressources Officer“ dafür zu- Belgien land Tschechien Ukraine ständig, die richtigen Mitarbeiter Luxemburg Slowakei weltweit zu finden. Die Metro setzt Frankreich Österreich Ungarn Schweiz Rumänien nach ihren Worten auf dezentrale Kroatien China Portugal Japan Führung und auf Internationalität: Italien Bulgarien „Bloß keine deutsche Arroganz.“ In Spanien Türkei Indien den Managementpositionen der Aus- Griechenland landsvertretungen seien 32 Nationalitäten Marokko vertreten, vor allem in Osteuropa und Ostasien gebe es hoch begabte und ein- Vietnam satzwillige Jungmanager.

der spiegel 2/2004 71 Wirtschaft den, drei weitere sind geplant. Bald werden Feier“, sagt Metro-Asien-Chef Heinrich rufen. „Sie sind gekommen, um uns Klein- Märkte in Kasan, Rostow am Don, in Sa- Birr, stolz wie ein Familienvater vor der händler aus dem Geschäft zu drängen“, mara und sogar in dem von deutscher Ge- Taufe seines neuen Babys. Man meint die meint etwa Ramesh Lahoti, der mit einigen schichte so furchtbar belasteten Wolgograd, Farbe noch zu riechen: Blau-gelb leuchtet Kollegen – und vermutlich mit der Unter- dem einstigen Stalingrad, dazukommen. der neue Cash & Carry-Fertigbau, als der stützung zu kurz gekommener lokaler Po- Die Metro setzt stark auf eine positive Bus mit den Gästen einbiegt. „Genau wie litiker – einen Streik organisiert hat. Die Wirtschaftsentwicklung in Russland – und in Neuss“, entfährt es einem der deutschen Gründe für die Empörung der Geschäfts- auf den guten Willen des Kreml. Vielleicht Gäste. Selbstverständlich ist das als Kom- leute in der Bangalore-Vorstadt Yeshwanth- hat Vorstandschef Körber deshalb kürzlich pliment gemeint. pur hat bei vielen einen banalen Grund: Sie so reflexhaft großes Verständnis für die Die Metro-Manager in der südindischen sind bei den Behörden nicht registriert, weil Verhaftung des Erdöl-Milliardärs Michail Vier-Millionen-Metropole haben im letzten sie die Gewerbeaufsicht bisher immer un- Chodorkowski gezeigt, während die meis- Moment die geplanten Elefanten auf der ter der Hand geschmiert haben. ten internationalen Beobachter einen Akt politischer Willkür Wladimir Putins sahen und ei- nen generellen Rückschlag für den freien Handel fürchteten. Im Nachbarstaat Ukraine hat die Metro ebenfalls den ersten Cash & Carry aufgemacht, im Beisein übrigens des inkognito mitreisenden Firmengründers Beisheim. Auch die Zukunft des Geschäfts in Kiew hängt von ei- nem autokratisch herrschenden Präsidenten ab. Leonid Kutsch- ma erhofft sich offensichtlich, wie die russischen Politiker, von den Deutschen Steuergelder, Prestige und eine bessere Ver- sorgung. Zur Feier schickte Kutschma seinen Vizepremier. Auch Patri- arch Filaret war Weihrauch schwingend und Weihwasser sprühend dabei, als der aus Kiew stammende und in Deutschland lebende Star-Boxer Witalij

Klitschko das Band durchschnitt. OBS Der Kirchenmann Filaret über- Super-Model Schiffer, Metro-Chef Körber (r.) in Rheinberg*: Zukunftstechnologie für den Einzelhandel raschte die Deutschen nicht nur mit einem höchst professionellen Public-Re- Eröffnungsparty gestrichen – aus Angst da- Ohne eine offizielle Bestätigung aber lations-Manager, sondern auch mit einer vor, dass die Tiere bei dem Rummel nervös dürfen sie nicht im Großhandelszentrum Bitte: Ob er eine Kundenkarte haben könn- werden und auf die Gäste losgehen könn- einkaufen – Cash & Carry lässt weltweit ja te, ließ er anfragen. ten, wie es neulich passiert ist, mit drei To- nur eingetragene Händler, Restaurant- Manche Oppositionelle sagen, die Metro desfällen. Aber es ist trotzdem eine ein- oder Hotelbesitzer in die Läden. Für die stabilisiere durch ihre Deals mit Kutschma drucksvolle Zermonie an diesem regenver- Ausgeschlossenen könnte es beruflich eng ein unpopuläres, zutiefst korruptes Re- hangenen 20. Oktober 2003. Halb nackte werden, vor allem, wenn einige der Regi- gime. Der in Kiew zuständige Manager Priester weihen vor einer eigens hochge- strierten den Preisvorteil der Metro-Waren Axel Hluchy hält das für Unsinn. Die Fir- zogenen, goldbemalten Tempelkulisse aus großzügig an den Endverbraucher weiter- ma schaffe Arbeitsplätze. Sie verbessere Pappmaché das ganze Firmengelände und geben. die Lebensbedingungen. Und sie wirke schützen es so vor bösen Geistern. Tänze- Schon mischen Anwälte mit, die sich das durch ihr Dringen auf transparente Steu- rinnen, Trommler, Troubadoure wirbeln große Prozess-Geschäft erhoffen: Die ergesetze auch politisch positiv. über die Bühne und zaubern einen Hauch „neue East India Company“ sei darauf aus, Cash statt Crash? „Natürlich ist das ein von Hollywood: Metro-Goldwyn Mayer. wie einst die britischen Kolonialisten die schmaler Grat“, sagt Hluchy und beharrt Aber braucht Indien wirklich das deut- Menschen zu unterjochen, heißt es in einer darauf, niemandem Schutzgelder zu be- sche Cash & Carry? Ja, sagt der aus einer großen Zeitungsanzeige am Metro-Eröff- zahlen. „Spenden für staatliche Kinder- Aristokratenfamilie Neu-Delhis stammen- nungstag. Per einstweiliger Verfügung wird gärten und Krankenhäuser, eine Sonder- de Manager Harsh Bahadur: „In unserem den Deutschen vorläufig verboten, Obst abgabe für Elektrizität über die normalen Land existiert nur ein völlig veraltetes Wa- und Gemüse zu verkaufen – das klein Ge- Stromrechnungen hinaus – das ja. Aber renverteilungssystem. So verrotten landes- druckte in einem lokalen Gesetz erfordert keine Mafia-Methoden, wir bezahlen ei- weit etwa 30 Prozent des Obstes und dafür gesonderte Anmeldung. nen eigenen Sicherheitsdienst.“ Gemüses auf den komplizierten Wegen Schikane? Oder Ausdruck eines funk- zum Verbraucher – wir vereinfachen die- tionierenden Rechtsstaats? Metro-Chef INDISCHE DICKHÄUTER sen Prozess zum Wohle aller.“ Körber, eigens aus Düsseldorf angereist, 122 Wegweiser sind auf den Straßen der Nein, sagen die 150 Demonstranten, die lächelt die eigene Verwunderung weg: Wer Stadt angebracht, ein 30 Meter hohes illu- vor den Geschäftstoren „Metro, get out“ Pionier ist, muss mit Überraschungen rech- miniertes Zeichen weist zusätzlich die nen. So schwierig hat er sich den Ge- Richtung. „Ganz Bangalore spricht von der * Im April 2003 bei der Einweihung des „Future Store“. schäftsbeginn aber wohl doch nicht vorge-

72 der spiegel 2/2004 stellt in der internationalen Software-Me- Diplomkaufmann, Geschäftsführer einer tropole, wo Pubs und schicke Restaurants großen Sektkellerei, seit 1985 in leitender wenigstens in einigen Stadtteilen einen Funktion bei der Metro, wo er sich gegen Hauch von London verbreiten. Und wo verkrustete Strukturen durchsetzen und eine neue Mittelklasse zeigt, dass sie Geld auf dem Weg zur Spitze auch manche ausgeben kann und will. Rückschläge einstecken musste. „Indien hat zweifellos eine Zukunft, und Körber ist ein begeisterter Wasserballer; es ist richtig, dass wir hier sind“, sagt Kör- er stand in dieser Sportart, die auch die ber abends an der Bar des Oberoi-Hotels. Härte unter der sichtbaren Oberfläche „Aber China ist anders, hat eine funktio- lehrt, einmal kurz vor dem Sprung in die nierende Gegenwart – und eine Vision.“ Nationalmannschaft. Vor allem aber gilt er In der Volksrepublik betreibt Metro als Marathon-Mann – im wahrsten Sinn schon 18 Cash & Carry-Großmärkte. In den des Wortes: Seine Bestzeit auf der Aus- nächsten Jahren sollen 40 neue Filialen da- dauerstrecke liegt unter vier Stunden. Ge- zukommen, Investitionsvolumen: 600 Mil- rade erst wieder ist er in Berlin gelaufen, lionen Euro. Dann wird man die Markt- im Kreise einer Metro-Mannschaft, trotz führer Wal-Mart (USA) und Carrefour eines stark angeschlagenen Knies. (Frankreich) im Reich der Mitte wohl über- „Durchsetzen kann man sich auf die holt haben. China-Fan Körber berät dar- Dauer nur durch Kompetenz“, sagt der über hinaus Shanghai bei der Stadtent- Metro-Boss, der wenig vom Lamentieren wicklung und der Vorbereitung der Expo auf Chefetagen hält. „Wenn jemand sagt, er 2010 – auf Einladung des dortigen Bürger- trage so schwer an der Verantwortung, soll meisters. Täuscht der Eindruck, dass sich er’s lassen. Es zwingt einen ja keiner dazu.“ die Metro bei ihren Auslandsaktivitäten in Körber glaubt, dass von dem Handels- autoritären, wenig demokratischen Staaten riesen Metro heute vor allem Transparenz generell leichter tut? Sind deshalb Scouts in und Flexibilität verlangt werden. „Handel Kasachstan, Iran, Weißrussland unterwegs? ist Wandel“, sagt er. „Das heißt manchmal Abschied von lieb gewordenen Gewohn- heiten nehmen. Und sich, im Falle eines Der Clan Anteilseigner der Metro Falles, auch von dauerhaft unprofitablen Firmenteilen oder einem missglückten Otto Familie Franz Schmidt- Auslandsengagement trennen.“ Beisheim Ruthenbeck Haniel & Cie Es geht dann alles gut in Bangalore – vorläufig jedenfalls. Die Metro-Karteninha- 33,3 % 33,3 % 33,3 % ber drängeln sich am ersten Handelstag. Die Demonstranten verzichten auf Gewalt, Metro Vermögens- Streu- nachdem die Polizei einige Krawallmacher verwaltung verhaftet hat. Fast ausverkauft sind lan- besitz GmbH & Co. KG, destypische Produkte wie Linsen. Auch die Düsseldorf Frischfischabteilung erweist sich als Erfolg 5,39% 40,34% 5,39% 43,49% 5,39% (obwohl anders als bei Metro-Japan keine lebenden Fische, und anders als bei Metro- China keine Frösche verkauft werden). AG Köln „Die Leute haben mit den Füßen abge- stimmt“, sagt Körber zufrieden. Auf den Vorstandschef wartet nach der Körber gibt, auch wenn er von seinen Rückkehr, trotz aller Konzernerfolge, noch Mitarbeitern viel fordert, gern den jovialen genügend Unangenehmes. Ein Immobilien- Kumpel-Typ. Doch wenn er eine Falle Deal, der drei Milliarden Euro in die Kas- spürt, spielt er die Auster – luftdicht ver- sen hätte spülen können, ist geplatzt. Der schlossen. „Wir haben in diesen Ländern Handelsriese schleppe – etwa mit der Be- noch keine Entscheidung getroffen“, sagt teiligungsgesellschaft Divaco – „anhäng- er schmallippig. „Als in Osteuropa die Ver- liche Altlasten“ mit sich herum, schreibt triebssysteme zusammenbrachen, haben das „Manager Magazin“ in seiner Dezem- wir die Chancen genutzt. Wir suchen sie in ber-Ausgabe. Von den Terrorangriffen in Vietnam wie in China wie in Indien. Was Istanbul ist auch die Metro mit ihren 23 Fi- sollte daran falsch sein?“ lialen quer über die Türkei indirekt be- Der Vorstandschef ist das Gegenpro- troffen. In New York stehen Kaminge- gramm zum Firmengründer. Eine Art Anti- spräche mit den wichtigsten Vorstandschefs Beisheim, geprägt nicht mehr von Kriegs- der Welt an. Es kann nicht immer Claudia trümmern, sondern den neuen Chancen Schiffer sein. für die Generation danach. Noch nie stand Körber so im Blitzlicht- Erwachsen geworden in den sechziger gewitter wie an jenem April-Tag 2003, als er Jahren, hat der in Braunschweig gebürtige mit dem Super-Model an seiner Seite den Körber in Berliner Kneipen gekellnert, um technologischen Supermarkt der Zukunft, sich sein Studium der Brauerei-Technolo- den „Future Store“ in Rheinberg, einweih- gie zu verdienen. Kein Rebell, trotz des te. Ein Hauch von Metro-Sex wehte damals Schnauzbarts, aber ein unabhängiger Den- durch die Kaufhausgänge, entlang der ker mit Hang zur Karriere: Abschluss als Kühltruhen bis hin zu den Kassen. ™

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Hotelierspaar Wagner Bezahlt nach Zufriedenheit

pflichtend, selbst wenn der Mindestpreis nur bei einem Cent liegt“, sagt der auf Wett- bewerbsrecht spezialisierte Kölner Anwalt Rolf Becker. „Wichtig ist auch, auf die Ver- handlungsbereitschaft hinzu- weisen.“ Letztlich geht der Anwalt von einem gewissen „Grundanstandsgefühl“ aus, das dazu anhalte, reelle Markt- preise zu zahlen. Genau darauf baut auch Ebi Schunck, Mitbegründer der Berliner Akademie Ars Dra- matica, die Drehbuchautoren ausbildet. „Auf dem Markt herrscht eine große Konkur- renz, von der wir uns abhe- ben müssen“, sagt Schunck. Teilnehmer seines mehrtägi- gen Einführungskurses zahlen deshalb nur, was ihnen die Sa- che am Ende wert war – zwi-

ANDREAS LOBE / ZEITENSPIEGEL LOBE ANDREAS schen gar nichts und 200 Euro. Schunck hat sich die Berliner ten die Preise überlasse, sähe gar kein Geld Institution „Weinerei“ zum Vorbild ge- RABATTE mehr. Doch was ursprünglich eher als Wer- nommen. Die Weinbar setzt mit Erfolg auf bewitz geplant war, entwickelte sich bei die Fairness ihrer Kunden und eröffnete Löhnen nach ihm mittlerweile zum erfolgreichen Be- 2003 die erste Dependance. Beim Raus- zahlsystem, das auch nicht missbraucht gehen wird nach eigenem Gusto gezahlt, wird. „Ich bin davon ausgegangen, dass wozu ein bauchiger Glaskelch dezent an- Lust und Laune? gut die Hälfte Normalzahler sein würden, hält – und manchmal auch die Bedienung. tatsächlich sind es aber konstant mehr als Der Laden ist täglich ab 20 Uhr voll. Werbegag oder Modell mit 90 Prozent“, sagt Wagner. Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäfts- So viel Großzügigkeit in der Geiz-ist- führer des Berliner Einzelhandel-Gesamt- Zukunft – findige Unternehmer geil-Republik? So viel Kunden-Fairness im verbandes, findet „grundsätzlich alles gut, machen aus der Geiz-ist-geil- Paradies der Schnäppchenjäger? was Alternativen zu dem einfachen und Not eine Tugend und überlassen die Schon früher gab es Kneipen, die ihre aggressiven ‚Geiz ist geil‘ anbietet. Je ori- Preisgestaltung ihren Kunden. Preise an Angebot und Nachfrage koppel- gineller, desto besser“. ten nach dem Motto: Je voller der Laden, Erste – wenn auch noch zaghafte – An- eit 20 Jahren war das deutsch-kana- umso teurer die Drinks. In Bezahlsys- sätze zum Löhnen nach Lust und Laune dische Ehepaar nicht mehr in der temen, die neuerdings auf reiner Freiwil- zeigen sich auch im Handel. In Wolfgang SBundesrepublik. Und so erschrak es ligkeit beruhen, sehen Trendforscher nun Meyer-Johannings Detmolder „Haus der bei seiner Rundreise denn auch heftig über eine neue Dimension, passendes Schlag- Musik“ gestalten Kunden den Preis selbst die depressive Grundstimmung, die es am wort inklusive: „Egonomics“ wird diese – wenn auch nach festgelegten Regeln. (Still-)Standort Deutschland zu fühlen Ich-Ökonomie genannt, in der die Kunden Wer ein Instrument „billig“ kaufen will, glaubte. Mut? Neue Ideen? Fehlanzeige. direkt auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene ordert es via Internet, verzichtet auf jegli- Bis sie in „Wagner’s Hotel Tannenhof“ Preise und Produkte verlangen – und auch chen Service und bekommt bis zu 30 Pro- im Schwarzwalddorf Sasbachwalden an- bekommen. zent Rabatt. Wer es „preiswert“ erwirbt, kamen. Während in den USA individualisierte kauft per Internet, Fax oder Telefon, erhält Dort ist die Übernachtung zu 49 Euro Preise bereits en vogue sind, findet der einige Serviceleistungen und kann bis zu 25 pro Person wirklich nur noch eine unver- Trend in Deutschland bislang erst wenige Prozent rausschlagen. Wer es „günstig“ bindliche Preisempfehlung. Man kann auch Anhänger: „Alle alternativen Aktionen, möchte, nach Detmold in das Musikhaus mehr zahlen. Oder weniger. Wer gar nicht die sich rund um den Preis drehen, halten fährt und dort vollen Service sucht, der zufrieden ist mit dem Service, muss nur wir nicht für sehr gelungen, da die Tarife kann noch bis zu 20 Prozent unter Listen- einen Cent berappen. Die Urlauber sahen in Deutschland ohnehin sehr unter Druck preis einkaufen. Überwiegend entscheiden in dem Preismodell ein derart starkes Si- geraten sind“, sagt Markus Luthe vom Ho- sich die Kunden für den Mittelweg. gnal für neue Flexibilität made in Ger- telverband Deutschland, auch wenn der Hotelier Wagner glaubt an sein Modell, many, dass sie dem irritierten Hotelierspaar Trick juristisch okay ist. sich nach der Zufriedenheit seiner Gäste Anita und Klaus-Werner Wagner bei der Nach dem Fall des Rabattgesetzes ha- bezahlen zu lassen: „Das rechnet sich hun- Abreise noch ordentlich was auf die re- ben Wettbewerbshüter kaum etwas einzu- dertprozentig, egal, in welcher Branche.“ guläre Zimmerrechnung draufpackten. Als wenden. Kritisch ist allein die so genannte Sein Dorf konnte er zwar noch nicht von Bonus gab’s 1000 Euro extra. Preisangabenverordnung, die für klare und der Idee überzeugen, dass vom Bäcker bis Dabei hatten Wagner vorher alle von wahre Preise sorgen soll. „Die Angabe zum Handwerker alle mitmachen. „Aber dem Experiment abgeraten. Wer den Gäs- eines End- oder Richtpreises ist ver- ich gebe nicht auf.“ Chris Löwer

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4,5 Ohne Job Arbeitslose in Millionen, saisonbereinigt

4,5 von den Arbeitslosen waren im November 4,44 4,4 1,03 Mio. 50 Jahre und älter 4,36 0,45 Mio. 25 Jahre und jünger 4,39 4,3 1,56 Mio. Langzeitarbeitslose Bestand an gemeldeten Stellen: Arbeitslosenquote 4,2 275160 alte Bundesländer: 8,1 % 4,1 neue Bundesländer: 17,4 % 3,95 4,09 4,0 3,97 3,9 2002 2003

ND J FMAMJ J ASOND J FMAMJ J ASON AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Arbeitsamtschef Gerster: Internet-Adresslisten von Arbeitslosen für unseriöse Unternehmen

Dabei wird es den vermeintlichen Ar- ARBEITSMARKT beitgebern so einfach wie noch nie ge- macht. Über den Such- und Angebots- informationsdienst der Arbeitsämter schal- Statisten des großen Nepps ten sie kostenlose Stellenangebote – und die Behörde versorgt sie meist mit einem In ihrer Not fallen Erwerbslose immer häufiger auf dubiose riesigen Stapel an Bewerbern. Auch unter dem seit Anfang Dezember Geschäftemacher rein. Vermittelt werden die unseriösen Angebote von Anstaltschef Florian Gerster aktivier- oft vom Arbeitsamt, das sich für die Probleme kaum interessiert. ten „virtuellen Arbeitsmarkt“ der Bundes- anstalt für Arbeit (arbeitsagentur.de) enrik Linde, 25, war erleichtert, als seine Doppelhäuser überwiesen hatte, gelangen unseriöse Unternehmen ohne der lang erwartete Brief in seinem tauchte der Geschäftsführer der Briefkas- Probleme an Adresslisten von Arbeits- HPostkasten lag. Absender war das tenfirma samt Geld ab. losen, die sie für ihre Zwecke einspannen Arbeitsamt. Der Inhalt: ein Jobangebot. Auch Linde und Kollegen gingen leer können. Endlich konnte es wieder aufwärts gehen. aus. „Die Leute vom Arbeitsamt zuckten „Der Trend wird noch verstärkt, weil Dachte er. nur mit den Schultern. Der einzige Kom- die Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose Linde hatte gerade den Beruf des Zim- mentar war ‚Pech gehabt‘“, ärgert sich Lin- ausgeweitet werden und sie verpflichtet merers gelernt. Doch sein Ausbildungs- de noch heute. sind, sich auf nahezu jede Stelle zu bewer- betrieb nahe Berlin war nicht in der Lage, Fälle wie dieser sind in Zeiten hoher Ar- ben“, sagt Berater Schäfer. „Zwar geben ihn zu übernehmen. Der ersten Euphorie beitslosenzahlen mittlerweile alltäglich. „Je die Arbeitsämter häufig vor, die angebote- folgte ernüchternde Arbeitslosigkeit. Umso länger jemand arbeitslos ist, desto niedri- nen Stellen zu prüfen. Doch weil sie damit größer die Freude über die Aussicht, nun ger ist die Hemmschwelle der Betroffenen, heillos überfordert sind, landet selbst der doch gebraucht zu werden. auch Jobs anzunehmen, die ihnen seltsam größte Schrott in den Datenbanken.“ Die Firma Erkner Bau GmbH wollte den erscheinen“, sagt Frank Schäfer, Bürger- Das musste auch Robert Baumgartner jungen Mann fest anstellen. Sie hatte den berater im Erwerbslosenzentrum Leipzig. erleben. Der Mediagestalter aus Berlin war Auftrag für die Errichtung einer Siedlung Immer häufiger nutzen dubiose Firmen schon seit Monaten auf der Suche nach ei- mit Doppelhäusern ergattert. Jetzt brauch- die angespannte Arbeitsmarktlage, um Mit- ner neuen Festanstellung, als im Oktober te sie nur noch Leute wie Linde. Arbeits- arbeiter für obskure Geschäftsmodelle zu der Anruf seiner Arbeitsvermittlerin kam. lose, die nicht viel fragen, Motivierte, die gewinnen. Mal sollen sie Strukturgeschäf- Eine Werbeagentur in Augsburg wollte den nichts über die Firma wissen und froh sind, te im Schneeballsystem aufbauen. Mal ta- Berliner im Auftrag einer Firma namens überhaupt wieder einen Job bekommen zu hitianisches Wunderwasser verkaufen. In Innoflex verpflichten. haben. besonders dreisten und häufig kriminellen Innoflex ist ein Netzwerk-Unternehmen, Was Linde nicht ahnte: Der Erkner Bau Fällen dürfen die Betroffenen sogar noch das über ein Internet-Portal angeblich GmbH ging es nie um eine dauerhafte Geld mitbringen, um überhaupt einen mehr als fünf Millionen verschiedene Kon- Beschäftigung ihrer neu gewonnenen Mit- „Job“ zu bekommen. sumartikel vertreibt. Das Portal dient pro- arbeiter. Die dienten nur als Statisten eines So muss sich Marion Drögsler, Vor- duzierenden Unternehmen als Online-Ver- dreisten Betrugs. standsmitglied im Arbeitslosenverband kaufsplattform. Baumgartner sollte das vir- Denn die Firma war weder ein in der Deutschland e. V. zunehmend um Men- tuelle Schaufenster optisch auffrischen. Das Handwerksrolle eingetragenes Bau-Unter- schen kümmern, die bei der Jobsuche Arbeitsamt zahlte dem Berliner die Fahrt- nehmen, noch beabsichtigte sie, jemals schlichtem Nepp aufgesessen sind. Drögs- kosten nach Augsburg, ohne zu ahnen, dass Löhne auszuzahlen. Im Gegenteil: Die neu ler berichtet von Sicherheitsdiensten, die auch diese Einladung reine Bauernfängerei eingestellten Bauarbeiter dienten lediglich sich „scharenweise Arbeitslose zuführen war. „Dabei ging aus dem Angebot aus- als Kulisse für den Bauherrn, dem vor- lassen“, um sie gegen „Gebühr“ auszubil- drücklich hervor, dass es ein geprüftes An- getäuscht werden sollte, dass tatsächlich den. Und sie weiß von Finanzdienstleis- gebot war“, erinnert sich Baumgartner. Häuser bis zur Schlüsselübergabe gebaut tern, die in Hotels Schulungen durchführen Was er dann erlebte, glich jedoch eher würden. Als der jedoch die erste Rate für und dafür „Eintrittsgeld“ kassieren. der Verkaufsveranstaltung einer Butter-

76 der spiegel 2/2004 den Betrug natürlich gleich durchschaut. Aber es bewarben sich eben auch schlich- tere Gemüter, denen man ohne weiteres einreden konnte, dass dieses Verfahren normal sei“, sagt Oellerich. Erschwerend kommt in solchen Situa- tionen hinzu, dass das Arbeitsamt den meisten Jobsuchenden für drei Monate die Leistungen sperrt, wenn sie ein solches Jobangebot „mit Rechtsfolgebelehrung“ eigenmächtig ablehnen. Erst als eine Be- werberin gegen Teco klagte, änderten die dubiosen Immobilienmakler ihr Konzept. Ein Gericht verurteilte das Unternehmen, die Seminargebühr zurückzuerstatten. Da- bei ließ es in der Urteilsverkündung dahin- gestellt, ob es sich sogar um „arglistige Täuschung“ handelte. „Dennoch sind insgesamt mehr als tau-

FRANK ROGNER / NETZHAUT FRANK send Leute auf diese Weise von Teco be- Arbeitsamt (in ): „Heillos überfordert“ trogen worden“, glaubt Günter Fischer, selbst Opfer der Geschäftsleute, die sich fahrt als einem Jobangebot. Das so ge- angeboten und -interessenten, die nur zu- danach einfach neue Abzockmethoden nannte Bewerbergespräch fand in einem sammengeführt werden müssten. Bevor es ausdachten. großen Seminarraum statt. Baumgartner jedoch zu einer Festanstellung kam, muss- Unter dem Namen Conmatis, personell war nicht allein eingeladen. Als den zahl- ten die Bewerber eine so genannte Kaution eng mit Teco verflochten, lockten sie er- reich bestellten Mediagestaltern ein Kof- in Höhe von 590 Euro für ein sechstündi- neut Arbeitslose an, die statt Wohnungen fer im Wert von 77 Euro verkauft werden ges Seminar bezahlen, in dem sie „zum pikanterweise Arbeit vermitteln sollten. sollte, wusste Baumgartner, wo er hinge- Immobilienmakler ausgebildet“ werden Um einen besonderen Anreiz bieten zu raten war. „Die wollten uns als Handels- sollten. können, winkte das Unternehmen mit den vertreter für diese Innoflex werben.“ Was sie dann erhielten, waren veraltete Gutscheinen der Arbeitsämter, die neuer- Er und die anderen sollten als „freie Listen von Wohnungsangeboten und -su- dings an erfolgreiche Arbeitsvermittler aus- Vertriebspartner“ Unternehmen ködern, chenden, die Teco offenbar zuvor aus der gegeben werden und bis zu 2500 Euro ein- die dann ihre Waren über die Innoflex- Zeitung ausgeschnitten hatte. „Viele haben bringen können. Plattform verkaufen. „Mediagestalter ha- Die Maklermasche war auch hier die- ben die nur deshalb gesucht, weil die zu- selbe: erst 580 Euro für ein Seminar über hauf auf der Straße sitzen und ein williges die Grundlagen der Arbeitsvermittlung, Publikum sind“, sagt Baumgartner. Die dann die Liste mit den angeblichen Jobs. Agentur indes wiegelt ab und behauptet, Neuerdings fragen dieselben Geschäfts- die Tätigkeit als Vertriebspartner sei nur leute unter dem Namen Brain Consulting „eine zusätzliche Option gewesen“, so de- beim Arbeitsamt nach Bewerbern für Jobs, ren Geschäftsführer Markus Bauer. die sie „im Auftrag von Kunden“ zu be- In dem Koffer befanden sich „Vertrags- setzen hätten. Das Arbeitsamt liefert willig und Marketingunterlagen“, Anleitungen die Bewerber. über „erste Schritte im Networking“ so- Die Vorgeschichte der Firmenbetreiber wie eine Werbe-DVD. Kommentar des interessiert die Behörde dabei kaum. Zwar Arbeitsamtes, das den ganzen Spuk auch hat das Arbeitsamt nach Beschwerden noch vermittelt hatte: „So etwas können schon mal zwei Angebote aus dem System wir nicht beeinflussen.“ genommen. Doch es sah zu, wie dieselben Tatsächlich hatte Baumgartner seiner Angebote eine Stunde später wieder ins Arbeitsvermittlerin sofort Bescheid gege- Baumgartner System eingespeist wurden. „Wir können ben – ohne dass die Anzeige aus der Da- niemanden ein für alle Mal rausnehmen“, tenbank verschwand. Immer noch darf die sagt Olaf Möller vom Landesarbeitsamt Agentur Arbeitskräfte im „festen Anstel- Berlin-Brandenburg. „Es gibt keinen In- lungsverhältnis“ suchen, obwohl ihr vor dex. Wir sind nun mal keine Vollzugs- allem an freien Handelsvertretern auf Pro- und Vollstreckungsbehörde.“ visionsbasis gelegen ist. Den Jobsuchenden hat Brain Consulting Weil die Arbeitsämter so nachlässig mit indes nichts Besseres mitzuteilen, als dass derartigen Hinweisen umgehen, sind in- ihre Bewerbung „in dieser Form“ keine zwischen auch Gerichte mit den fragwürdi- Chance bei ihrem Kunden hätte und erst gen Praktiken beschäftigt. So agiert in Ber- mal auf ein höheres Niveau getrimmt wer- lin schon seit mehreren Jahren ein Unter- den müsse. Kosten: 280 Euro. nehmen, „dessen einziger Geschäftszweck „In der Hoffnung auf einen tatsächli- die Abzocke von Arbeitslosen ist“, sagt der chen Job willigen viele ein und bezahlen“, Verbraucherschützer Joachim Oellerich. sagt Verbraucherschützer Oellerich: „Das

Die Immobilienfirma Teco suchte Men- MARK OLIVER FOTOS: Arbeitsamt ist nicht davon zu überzeugen, schen in Festanstellung, „die sich gern Fischer dass es sich um Nepp handelt. Die be- Wohnungen ansehen“ und vermitteln. Die Abgezockte Arbeitslose schönigte Statistik ist wichtiger.“ Firma habe eine Vielzahl von Wohnungs- „Williges Publikum“ Janko Tietz

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gesehen geht es um Diebstahl und Kor- ruption. 600 Millionen Dollar sollen er und PROZESSE sein Mitangeklagter, der Finanzvorstand Mark Swartz, heimlich auf die Seite ge- schafft haben. Gier vor Gericht Kozlowski und Tanzi – sie sind Symbol- figuren für die Gier und den Größenwahn Was für den Parmalat-Gründer gerade erst beginnt, erlebt in den Vorstandsetagen, für einen Kapita- lismus, der außer Kontrolle geriet. Und so der Ex-Tyco-Chef Dennis Kozlowski in New York seit geht es in New York auch um die juristische Monaten: eine juristische Aufarbeitung des eigenen Größenwahns. Aufarbeitung eines Kapitels vorwiegend amerikanisch geprägter Wirtschaftsge- n seinem ersten Verhandlungstag schamlos aus der Konzernkasse bediente schichte, das in den Staaten mit dem Un- trug Dennis Kozlowski einen dunk- wie kein anderer. Er ist der Mann, der 6000 tergang des Energieriesen Enron endete, Alen Anzug mit dezentem Muster, Dollar für einen Duschvorhang ausgab, dem Zusammenbruch der Kommunikati- ein helles Hemd und einen blauen Schlips. burgunderrot mit Blümchenmuster, 15000 onsfirma WorldCom und der Panik von Er war leicht gebräunt, als wäre er gerade Dollar für einen Schirmständer. An solche Millionen Kleinanlegern. aus dem Urlaub gekommen. Er lächelte – Einzelheiten kann sich jeder erinnern. Parmalat könne Europas Enron werden, dabei drohen ihm 30 Jahre Gefängnis. Auch deshalb steht Kozlowski nun seit sagt EU-Kommissionspräsident Romano In den Morgenzeitungen war zu lesen, Ende September in Saal 1342 des State Prodi. Von Enron existieren heute nur dass er am Wochenende davor noch aus- Supreme Court von New York vor Gericht, noch ein paar Unternehmensteile, die zum giebig die Hochzeit seiner Tochter gefeiert während in Mailand ein anderer ehemali- Ausschlachten freigegeben sind, die Aktie hatte. Rund 400000 Dollar soll die Party ger Top-Manager gerade auf offener Straße ist nur noch wenige Cent wert. gekostet haben. Am Ende der Zeremonie verhaftet wurde: Calisto Tanzi, Gründer Tyco hingegen hat nach einigen lausi- stiegen Hunderte Schmetterlinge auf. des italienischen Parmalat-Konzerns. gen Quartalen gerade wieder einen kleinen Vielleicht wäre es klüger gewesen, zu- In den Bilanzen des Lebensmittelmultis Gewinn ausgewiesen. Die Aktie stand ver- mindest auf die Schmetterlinge zu ver- fehlen mindestens acht Milliarden Euro. gangene Woche bei 27 Dollar. Es gibt kei- zichten. Auch die Wahl des Anzugs war Tanzi soll die Konten des Konzerns seit ne wirklichen Hinweise, dass Kozlowski zuvor schon Gegenstand öffentlicher De- 1988 gefälscht und bis zu 800 Millionen ab- und seine Leute die Firmenbilanzen so ma- batten. In der „New York Times“ riet einer gezweigt haben. Ein Prozess ist auch Tanzi nipuliert hätten, wie das die Enron-Chefs der bekanntesten Strafverteidiger der Stadt sicher. Und in Manhattan kann er sehen, über Jahre taten. zu einem billigen Jackett von der Stange. wie so etwas abläuft. Tatsächlich ist Kozlowski bislang der Es gehe darum, bei den Geschworenen kei- 35 Punkte umfasst die Anklageschrift ge- Einzige aus der Riege der gefallenen Vor- nen allzu eitlen Eindruck zu hinterlassen. gen den einstigen Tyco-Boss, ein Jahr lang standshelden, der sich vor einem Gericht Aber vermutlich ist es dafür zu spät. haben sich die Staatsanwälte auf den Pro- zu verantworten hat. Es ist verdammt Zehn Jahre lang stand Kozlowski an der zess vorbereitet. Es steht viel auf dem schwierig, jemanden wegen Bilanzbetrugs Spitze des Mischkonzerns Tyco. Er hat den Spiel, nicht nur für Kozlowski. Juristisch zu belangen, wie sich zeigt.

Tyco Juni 2002 Kozlowski und sein Finanzchef sollen rund 600 Millionen Dollar veruntreut oder gestoh- len haben. Mehrfach musste die Firma ihre seit 1998 falschen Bilanzen korrigieren. Um 82 Milliarden Dollar (fast drei Viertel) sank der Unternehmenswert in den sechs Monaten vor Kozlowskis Rücktritt.

Ex-Tyco-Chef Kozlowski* Schamlos aus der Konzernkasse bedient ehemaligen Hersteller von Brandschutz- geräten in dieser Zeit zu einem der größten Unternehmen in den USA gemacht, das am Ende Medizintechnik verkaufte, Kunst- stofffolien und Tiefseekabel. Aber alles, was übrig geblieben ist, sind die Geschichten über seine Yacht, die Villen und seine wilden Feste, die er sich von Tyco bezahlen ließ. Die Boulevardpresse nennt Kozlowski den „sündigen Tycoon“, weil er sich so

* Oben: am 29. September 2003 bei seinem ersten Pro- zesstag vor dem State Supreme Court in New York; rechts:

am 30. April 2001 in Exeter (New Hampshire). (R.) / AP (L.); CORBIS SABA MICHAEL APPLETON

78 der spiegel 2/2004 selbst in Anspruch nahmen. Der Personal- Parmalat Dezember 2003 chefin wird das Darlehen für ihr Haus erlassen, die Sekretärin verlässt das Un- Gründer Calisto Tanzi veruntreute mindes- ternehmen mit einer Millionen-Abfindung tens 500 Millionen Euro. und einer Wohnung in Florida. In der Bilanz des Pleite-Konzerns klafft ein Loch von 8 Milliarden Euro. Gegen die Zahlen lässt sich kaum

GUATELLI / DPA GUATELLI argumentieren. Die Verteidiger spielen Parmalat-Gründer Tanzi*: Bis zu 800 Millionen Euro abgezweigt deshalb auf Zeit und hoffen, dass sich das Verfahren langsam totläuft. Es sieht so Von den ehemaligen Enron-Größen geld für die Kinder, schließlich die Ein- aus, als ob das gar keine so schlechte Stra- muss nach heutigem Stand nur Finanzvor- richtung ihrer Apartments. Und als auch tegie wäre. stand Andrew Fastow mit einem Verfahren das nicht mehr reichte, führten Kozlowksi Auf der Saalleinwand erscheinen immer rechnen. Bei WorldCom hat es 14 Monate und sein Finanzvorstand ein spezielles neue Verträge, Faxe, Aufsichtsratsproto- gedauert, bis dem langjährigen Konzern- „Darlehensprogramm für wichtige Füh- kolle. 14 Wochen dauert der Prozess nun chef Bernie Ebbers wenigstens eine An- rungskräfte“ ein, für das es praktisch kein schon, und noch immer ist es der Anklage klageschrift zugestellt wurde, und das auch Limit mehr gab. nicht gelungen, eindeutig zu beweisen, dass nur, weil ein Staatsanwalt vorpreschte, der Die Beweislast scheint erdrückend. Ei- Kozlowski und Swartz die ihnen anver- eigentlich gar nicht zuständig war. nen ganzen Tag verbringen die Staatsan- Im Fall Kozlowski liegen die Dinge ver- wälte damit, den Kassenwart des Unter- Enron Dezember 2001 gleichsweise einfach. In den Zeitungen nehmens Überweisungen vorlesen zu las- 67 Milliarden Dollar schuldet der Konzern heißt das Verfahren nur der „Gier-Pro- sen, die Kozlowski veranlasst hat: 200000 seinen Gläubigern, die etwa 80 Prozent zess“. Dollar für Renovierungsarbeiten an sei- ihres Kapitals verloren. Um fast 170 Millionen Dollar hat Kozlowski in nem Haus in Connecticut, zwei Millionen 600 Millionen Dollar zu hohe Gewinne guten Jahren verdient, das bestreitet auch an die Columbia University, wo eine seiner wurden von 1997 bis 2001 ausgewiesen. seine Verteidigung nicht; sie sagt nur von Töchter studiert. Anfang an, dass alles rechtmäßig war. Die Am 32. Verhandlungstag tritt Mary Mur- Anwälte haben einen schweren Stand, es phy in den Zeugenstand. Murphy war erst traute Firma auch wirklich bestohlen ha- klingt ein wenig hilflos, wenn sie immer die Sekretärin von Kozlowski, dann auch ben. Immer findet sich irgendwo ein Papier, wieder an die Geschworenen appellieren, seine Geliebte. Knapp zwölf Jahre hat sie das den Schluss nahe legt, dass die Ver- unvoreingenommen zu bleiben. bei Tyco gearbeitet, ihr Gehalt betrug zum antwortlichen im Aufsichtsrat über das „Sie werden enorme Zahlen hören“, Schluss 150000 Dollar. Sie flüstert fast, als Finanzgebaren hätten Bescheid wissen sagt der Verteidiger Charles Stillman gleich sie diese Summe nennt. können. zu Beginn des Verfahrens während der „Haben Sie jemals mit Dennis Kozlow- Man sieht den Geschworenen die Er- Auswahl der Jurymitglieder. „Sie werden ski über den Kauf eines Hauses in New- müdung an, die Langeweile. Einigen fällt es einen Lebensstil vorgeführt bekommen, buryport, Massachusetts, gesprochen?“, schwer, sich wach zu halten. Alles beginnt den einige von Ihnen möglicherweise ab- fragt der Staatsanwalt. zu verschwimmen: die Zahlen, die Vor- stoßend finden.“ Stillman tritt ganz nah an würfe, die Tage im Gerichtssaal. die Geschworenenbank. „Ich würde Sie WorldCom Juli 2002 Irgendwann führt die Anklage das Vi- gern fragen, wie Sie darüber denken, wenn deo der Party vor, die Kozlowski zum 40. jemand, sagen wir, 100 Millionen Dollar im Geburtstag seiner Frau Karen auf Sardini- Jahr verdient.“ Die größte Pleite der US-Geschichte. en ausgerichtet hat. Man sieht Kellner im Man kann förmlich hören, wie einige Gläubiger müssen 64 Prozent ihrer Forde- Gladiatorenkostüm und Hostessen in Toga. rungen abschreiben. Gewinne wurden über der Jurykandidaten nach Luft schnappen. Am Ende wird eine Torte in Form einer lie- Jahre um insgesamt 11 Milliarden Dollar Sie finde eine solche Summe völlig inak- genden Nymphe hereingetragen. Für ein aufgeblasen. Konzernchef und -gründer zeptabel, sagt schließlich eine Frau in der Ebbers lieh sich mehr als 400 Millionen paar Stunden schafft es der Prozess damit ersten Reihe. „Ich weiß Ihre Ehrlichkeit Dollar für private Zwecke. sogar in die Hauptnachrichtensendungen, sehr zu schätzen“, sagt Stillman freund- dann versinkt das Verfahren wieder im lich. Dann ist die Frau entlassen. Aktensumpf. Es ist ein merkwürdiges Sittenbild, das „Ja“, antwortet die Zeugin. Kurz bevor Richter Michael Obus die sich in den nächsten Wochen vor der Jury „Hat Mister Kozlowski dabei erwähnt, Geschworenen in die Weihnachtspause entfaltet, im Mittelpunkt noch einmal über- dass Sie von Tyco ein Darlehen bekom- entlässt, legen ihnen die Staatsanwälte lebensgroß der bullige Mann mit dem Glatz- men könnten?“ – „Ja.“ einen Ordner mit Belegen des Innen- kopf, ein Aufsteiger aus dem Arme-Leute- „Wie hoch war der Kaufpreis?“ architekten vor, der Kozlowskis Apartment Amerika, der es nach Gelegenheitsjobs als „Ich glaube 299 000 Dollar. Ich habe an der Fifth Avenue einrichtete. Es ist Zeitungsjunge und Autowäscher und einer einen Antrag ausgefüllt und dann das ein ziemlich dicker Ordner. Natürlich Ausbildung zum Buchprüfer schließlich Geld bekommen. Ich bekam einen ist der 6000-Dollar-Duschvorhang dabei. zum Vorstandschef brachte – und der am Scheck.“ 125 000 Dollar kostete ein Paar antiker Ende keine Grenzen mehr kannte. „Und wie hoch waren die Zinsen für das Stühle, 103 000 Dollar der Spiegel im Bis zu 200 Firmen raffte Kozlowski pro Darlehen, das Sie erhielten?“ Eingang. Jahr zusammen, was ihn zum manischsten „Ich weiß nicht, es war nie von Zinsen Die Ankläger wollen noch einmal punk- Firmenkäufer aller Zeiten macht. So gin- die Rede.“ ten, doch niemand scheint sich mehr son- gen alle Maßstäbe verloren. Je schneller „Kann ich Sie bitten, etwas lauter zu derlich für die Belege zu interessieren. Auf Tyco wuchs, desto unbescheidener wur- sprechen.“ vier Monate war der Prozess angesetzt, es den auch die Ansprüche des Managements. „Mir wurde nie etwas davon gesagt, dass könnten auch fünf werden. Erst ließen sich die Vorstände die Miete ich Zinsen zahlen müsste.“ „Wenn wir Pech haben, sitzen wir hier bezahlen, als die Firma ihren Hauptsitz Es ist eine typische Vernehmung. Bei noch im Februar“, sagt Verteidiger Still- nach New York verlegte, dann das Schul- fast allen Zeugen kommt unweigerlich der man. Er sieht nicht so aus, als ob er dar- Moment, wo sie etwas verlegen über die über besonders unglücklich wäre. * Nach einem Verhör am 27. Dezember 2003 in Mailand. Vergünstigungen Auskunft geben, die sie Jan Fleischhauer

der spiegel 2/2004 79 Trends Medien

BERTELSMANN Risiko lohnt sich doch m gerichtlich ausgefochtenen IStreit zwischen Bertelsmann und seinen Ex-Angestellten Andreas von Blottnitz sowie Jan Henric Buettner profitiert neuer-

FOTOS: RTL FOTOS: dings auch mal der Medienkon- Zeiler „Superstar“-Kandidaten mit Moderator Carsten Spengemann zern: Nachdem Bertelsmann ge- rade von einer Jury verdonnert FERNSEHEN wurde, den beiden Schadenser- satz in Millionenhöhe zu zahlen, sehen zur Abwechslung die Gü- „Mehr Happy Ends, weniger Action“ tersloher Bares. Wenige Tage vor Weihnachten kaufte das US-Un- RTL-Chef Gerhard Zeiler, 48, über die TV- Nostalgie ist weiter ein großes Thema, des- ternehmen Citrix die von Blott- Programm-Trends 2004 wegen feiern wir 20 Jahre Privatfernsehen ja nitz geführte Software-Firma Ex- auch mit Rückblicken. Und es wird mehr Hy- pertcity für rund 225 Millionen SPIEGEL: Das Privatfernsehen feiert gerade bridformate wie die Gerichtsshows geben, Dollar. Der Clou: Knapp ein Drit- seinen 20. Geburtstag. Was aber sind die die fiktionale und reale Elemente mischen. TV-Trends für dieses Jahr? SPIEGEL: Ersparen Sie uns wenigstens wei- Zeiler: Wir spüren schon länger das Be- tere Kuppelshows wie den „Bachelor“, der dürfnis des Zuschauers zum Eskapismus. unter anderem als „menschenverachtend“ Deshalb kommen noch mehr harmonische kritisiert wurde? Geschichten mit Happy Ends, Action wird Zeiler: Das ist doch einfach pure Unterhal- weniger gefragt sein. Letztlich geht es aber tung. Und auch von Frauenfeindlichkeit für das Gesamtprogramm immer um die kann keine Rede sein. Als Nächstes ma- richtige Mischung aus Fiktion, Show und chen wir schließlich „Die Bachelorette“, die Information. sich unter 25 Kandidaten den richtigen SPIEGEL: Sitcoms gibt es schon im Dutzend, Mann aussucht. Quiz- und Castingshows wie „Deutschland SPIEGEL: Und Sie setzen offenbar den Trend sucht den Superstar“ verlieren Zuschauer. zum Boulevardprogramm mit kostengünsti-

Was bringt künftig die große Quote, wo gen Halb-Prominenten fort: Als Nächstes schi- CORELL VOLKER sind neue Ideen? cken Sie Daniel Küblböck und Susan Stahn- Blottnitz Zeiler: Es gibt im Fernsehen eigentlich nichts ke für eine Survival-Show in den Dschungel. mehr, was nicht schon mal ausprobiert wur- Zeiler: Es geht einfach um den Blick durchs tel von Expertcity gehört dem de. In Zukunft wird sicher das eine oder an- Schlüsselloch: Wie verhalten sich Promi- von Buettner gemanagten, aber dere in neuer Aufmachung zurückkommen. nente, egal ob Star oder Sternchen? Da ist ausgerechnet von Bertelsmann Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass es bald sicher neben Neugierde im Fall der Fälle finanzierten Risikofonds Bertels- wieder große Varietéshows geben wird. auch ein bisschen Schadenfreude dabei. mann Ventures. Entsprechend stehen dem Medienkonzern rund 75 Millionen Dollar des Ver- kaufserlöses zu. Vor dem Hinter- grund dieses Deals ist nun auch TV-ZEITSCHRIFTEN eine gütliche Einigung um die Hörzu-Auflage Auflösung des Risikofonds wahr- Verkaufte Hefte in Millionen „Hörzu“ verliert scheinlich: Bertelsmann will aus dem eigentlich bis 2008 laufen- enig Glück mit ihrem Flaggschiff „Hörzu“ den Fonds vorzeitig aussteigen What die Axel Springer AG. Chefredakteur und hatte Buettner und Blottnitz Thomas Garms, seit August im Amt, konnte den in einem Schiedsgerichtsverfah- 1,85 Amtsantritt Abwärtstrend bei der Mutter aller Programmzeit- ren in San Francisco Ungereimt- 1,84 des neuen schriften (Auflage: rund 1,8 Millionen) noch nicht heiten bei der Bewertung von 1,83 Chefredakteurs stoppen: Die Rückkehr zu einem bieder-nutzwer- Unternehmen vorgeworfen. Die Thomas Garms tigen Heftkonzept zahlt sich bislang nicht aus. beiden Manager weisen die Vor- 1,82 –3,9%* Zuletzt lagen die Auflagenverluste konstant bei würfe zurück und betonen mit 1,81 minus drei bis vier Prozent. Davor hatte Jörg Hinweis auf den Verkauf von Ex- 1,80 * im Vergleich Walberer versucht, den Klassiker mit einer Mi- pertcity, Bertelsmann Ventures zum Vorjahr 1,79 schung aus Programmheft und Society-Magazin gehöre zu den einträglichsten –3,8%* –3,1%* zu entstauben und auf Titelstars wie Heidi Klum Risikofonds ihrer Art. Nun soll 1,78 gesetzt – ohne Erfolg. Sein Nachfolger will das Bertelsmann Ventures in beider- Blatt nun wie eine „warme, intelligente, lebens- seitigem Einverständnis vorzeitig Heft 19/2003 34/2003 48/2003 bejahende Frau“ inszenieren. aufgelöst werden.

der spiegel 2/2004 81 Medien

QUOTEN Dinner bleibt one eit vierzig Jahren feiert Miss Sophie zu SSilvester ihren 90. Geburtstag in den Drit- ten Programmen – das Ereignis hat für die Zuschauer nichts von seinem mumifizierten Charme verloren. Im WDR übertraf die 18-mi- nütige Greisenspeisung mit 1,97 Millionen Zuschauern sogar die legendäre Ekel-Alfred- Folge „Silvesterpunsch“ (1,95), in der sich der unüberbietbare Krakeeler (Heinz Schu- bert) gnadenlos betrinkt. Gegen Freddie Frin- ton, den stolpernden Butler-Darsteller, und May Warden, die eiserne Lady, war im Nor- den selbst ein Gemütsbulle wie Jan Fedder („Großstadtrevier“) machtlos. Ob nachträg- lich koloriert, auf Platt oder Schwyzerdütsch oder in einer eigenen Version für den Kin- derkanal – der Humor, den die Deutschen für englisch halten und den die Engländer gar nicht kennen, zündet auch jetzt noch. The

same procedure – nichts liebt der Zuschauer NDR so wie das, was er schon kennt. „Dinner for One“-Stars Warden, Frinton

DOKUMENTATIONEN Goldie: Man lebt mit der latenten Angst, Goldie: Es ist nicht leicht, mit der Bun- es könnte eine Rakete einschlagen oder deswehr im Einsatz zu drehen. Jeder „Nie ohne Presseoffizier“ etwas in die Luft gehen. Aber man sieht meiner Schritte wurde von einem Presse- die Gefahr nicht, und sie ist auch schwer offizier begleitet, dadurch kam ich nicht Die britische Dokumentarfilmerin in Bildern zu fassen. so nah an die Soldaten heran, wie ich Caroline Goldie, 51, über ihre Doku- SPIEGEL: Sind Sie denn beim Drehen nie wollte. Natürlich hat die Präsenz des Reihe „Guten Morgen, Kabul“, für die in brenzlige Situationen geraten? Presseoffiziers auch die Antworten der sie sechs Monate lang deutsche Solda- Goldie: Eigentlich nicht. Das Brenzligste Soldaten beeinflusst. ten in Afghanistan begleitet hat – die war eine Straßenschlägerei zwischen SPIEGEL: Sie haben also die typischen Pro- Filme sind vom 26. bis zum 30. Januar zwei Afghanen, in die ich mit der deut- bleme eines „embedded journalist“ erlebt. auf Arte zu sehen. schen Patrouille geraten bin. Kabul ist Goldie: Ja, man kann einfach nicht frei jedoch wie eine Insel, im restlichen herumlaufen. Wenn etwa das Licht gera- SPIEGEL: Sie haben zum ersten Mal in ei- Afghanistan ist es viel gefährlicher. de schön ist und man Bilder machen nem Krisengebiet gedreht. Haben Sie die SPIEGEL: Wie offen waren die deutschen will, hat vielleicht gerade kein Presse- Situation als bedrohlich empfunden? Soldaten Ihnen gegenüber? offizier Zeit. Oder er sagt, er müsse kurz mal telefonieren, und dann bricht man den Dreh eben ab. Das war für mich manchmal ein Riesenfrust. SPIEGEL: Wie sieht die Arbeit der Solda- ten aus? Goldie: Ich war erstaunt, dass nur zehn Prozent der Soldaten draußen auf Patrouil- le gehen. Der große Rest ist damit beschäf- tigt, die Infrastruktur und Logistik auf- recht zu erhalten. Die meisten Soldaten befassen sich damit, im Lager zu bauen, zu kochen, zu reparieren. Manche setzen wirklich für die gesamte Zeit ihres Ein- satzes keinen Fuß aus dem Lager. SPIEGEL: Sind die Deutschen beliebt? Goldie: Ja. Sie gehen öfter ohne MG vor der Nase herum, als es Niederländer oder Amerikaner tun. Die Deutschen hören oft von der Bevölkerung: „Wir sind

SWR / ARTE ja alle Arier“, und die Soldaten wissen Dokumentarfilmerin Goldie mit Kameramann in Afghanistan nicht, was sie darauf antworten sollen.

82 der spiegel 2/2004 Fernsehen TV-Vorschau Schimanski (Götz Geor- Doppelter Einsatz: Kidnapping ge) ist dieses Mal nicht der Duisburger Drogen- Dienstag, 20.15 Uhr, RTL mafia oder einem Zuhäl- Nichts als Ärger für Kommissarin terring im Ruhrpott auf Sabrina Nikolaidou (Despina Paja- der Spur, sondern ent- nou) und ihre Partnerin Ellen Ludwig deckt die Welt des Juden- (Petra Kleinert). Erst vermasselt die tums. Die ist in diesem ungeschickte Praktikantin eine Fahn- Film vor allem geheimnis- dung im Hamburger Drogenmilieu, voll, mystisch und düster. dann wird das Mädchen auf dem Ein bedrohter Jude bittet nächtlichen Heimweg entführt. Zu Schimanski um Schutz,

allem Überfluss handelt es sich bei / WDR UWE STRATMANN der willigt wegen seiner der Verschwundenen auch noch um George, Otto Tausig in „Schimanski“ Geldsorgen ein. Als sein das Kind der Polizeipräsidentin. Die Schützling tot aufgefun- Dame treibt mal eben 500000 Euro Verirrungen ins allzu Sentimentale ein- den wird, gerät Schimanski unter Lösegeld auf, während ihre bluter- geschlossen. Habich gelingt eine über- Mordverdacht und wird ausgerechnet kranke Tochter verletzt und von Rat- zeugende Gefühlsmischung aus Zuwen- von seinen Ex-Kollegen Hänschen ten beknabbert dahindarbt – und dung und Strenge, und der zarten Bo- und Hunger verhaftet. Um Fehler bei zwar ausgerechnet im Heizungskeller byleva, einer 1983 in Moskau geborenen der Darstellung jüdischer Rituale und des Präsidiums, denn der Hausmeis- Schauspielerin, nimmt man die Geigen- jüdischen Alltags zu vermeiden, zo- ter macht mit den Entführern gemein- virtuosin ohne Schwierigkeiten ab. gen die Filmemacher (Buch: Mario same Sache. Die erste von vier neuen Giordano, Regie: Andreas Kleinert) Folgen der Erfolgsreihe „Doppelter Schimanski: die Assistentin eines Rabbis als Bera- Einsatz“ überrascht weniger durch Das Geheimnis des Golem terin hinzu. Auch sie konnte aber eine spannende Story (Buch: Matthias nicht verhindern, dass in der etwas Herbert, Regie: Axel de Roche) als Sonntag, 20.15 Uhr, ARD wirren Geschichte um – natürlich – durch immer neue (und immer un- Koschere Speisen, ein kabbalistisch Schweizer Konten die jüdischen Män- wahrscheinlichere) Wendungen der verschlüsseltes Notizbuch und Männer, ner meist lange Kaftane und schwarze Handlung – die darüber aber arg ins die Rosenfeldt oder Ginsburg heißen – Hüte tragen. Stocken gerät. Raus ins Leben TV-Rückblick tion des allgegenwärtigen Geschwätzes, Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD das zum Markenzeichen der Sendungen Ein Vater (Matthias Habich) setzt alle Die Harald Schmidt Show – von Reinhold Beckmann, Johannes B. Hoffnung auf die Karriere seiner Der Jahresrückblick 2003 Kerner oder Sabine Christiansen gewor- Tochter, der 17-jährigen Nachwuchs- den ist. So hatte Beckmann vor zwei 29. Dezember, Sat.1 Monaten in seiner Show einen 13-jähri- Die so genannte „ultimative Lobhude- gen Iraker verarztet, der bei einem lei“ ist seit Jahren eine Rubrik in der Bombenangriff beide Arme verloren WDR-Sendung „Zimmer frei!“; nach hatte; Schmidt befragte jetzt einen lal- dem 8. Dezember 2003 fand sie auch lenden, komplett in Bandagen gewickel- auf den Medienseiten deutscher Blätter ten Statisten („Was haben Sie dabei statt. Denn an diesem Tag kündigte empfunden?“). Schmidt geht, die Beck- Harald Schmidt eine „Kreativpause“ manns bleiben – und mit ihnen die Ge- an; die Nachrufe auf seine Show über- wissheit, dass in Zukunft auch die größ- trafen die Lobpreisungen der Sowjet- te Geschmacklosigkeit keine Parodie Presse nach dem Tode Stalins: „Gott ist mehr ist.

SWR tot“, faselte die „Frankfurter Bobyleva, Florian Fitz in „Raus ins …“ Allgemeine“. Tatsächlich stieg die Zahl der Gottesdienstbesu- geigerin Klara (Nadja Bobyleva). Der cher auf bis zu 2,5 Millionen – Geigenlehrer aus dem Osten ist ein so viele Zuschauer guckten unerbittlicher Lehrmeister, der sei- vergangene Woche Schmidts nem Kind alles abverlangt. Das kann (am Samstag vor Weihnachten schief gehen, und es geht auch schief: aufgezeichnete) Rückblick- Das Mädchen verliebt sich in einen Show auf „ein Jahr, in dem so Jungen und kündigt das harte Regi- einiges los war“ (Schmidt). ment des Vaters auf. Wie sie der Weg Obwohl: „Die Welt war immer dann doch zur Kunst zurückführt, er- schon, wie sie ist.“ In diesem zählt der Film (Buch: Rodica Döh- Luftblasen-Deutsch („Das ist nert, Regie: Vivian Naefe) meist un- Primetime-Sound“) ging es aufgeregt und eindrucksvoll, kleine weiter. Schmidt gelang zum Abschied eine perfekte Imita- Schmidt (2. v. r.), Mitarbeiter

der spiegel 2/2004 83 Medien „Wir müssen dieSPIEGEL-GESPRÄCH Schleusen öffnen“ Der WAZ-Geschäftsführer und frühere SPD-Kanzleramtsminister Bodo Hombach über das alte Geheimniskrämer-Image und die neue Transparenz des Essener Zeitungskonzerns, die Regierungspläne zu Pressefusionen sowie sein Verhältnis zu Parteipolitikern – und Journalisten Die WAZ-Mediengruppe Funke-Gruppe 50% Petra Grotkamp (16,7%*), G. u. R. Holthoff (16,7%*), Renate Schubries (16,7%*) *gerundet

Zeitungen und Auflage* Zeitschriften (Stand 2002)

25 Tageszeitungen ...... 4,0 Mio. tägl. 28 Publikumszeitschriften ...... 2,2 Mio. wöchentl./ 0,7 Mio. monatl.

4 TV-Beilagen...... 3,6 Mio. wöchentl.

30 Fachzeitschriften...... 1,1 Mio. monatl.

133 Anzeigenblätter...... 7,2 Mio. monatl.

250 Kundenzeitschriften ...... 60 Mio. jährl.

*gerundet Hörfunk Anteil verschiedene Beteiligungen, u. a.

Westfunk (Dienstleister)...... 100%

Radio Essen ...... 75%

Antenne Ruhr ...... 75%

STEFAN ENDERS STEFAN Radio Sauerland ...... 75%

SPIEGEL: Herr Hombach, nie zuvor war der Bodo Hombach SPIEGEL: Angeblich haben Sie zwei Milliar- deutsche Medienmarkt derart im Umbruch war bereits gelernter Fernmeldehand- den Euro für Zukäufe parat … wie in den vergangenen beiden Krisenjah- werker und graduierter Sozialarbeiter, be- Hombach: … was ich als wüste Spekulation ren. Und wo immer etwas zum Verkauf vor er in der SPD Karriere machte: 1985 zurückweise, die nur die Gewerkschaften stand, bot die WAZ angeblich mit – egal, verhalf er dem damaligen NRW-Minister- bei uns anstachelt. Unsere Herausgeber ob bei EM.TV oder Axel Springer AG, präsidenten Johannes Rau als Wahlkampf- sind aber nicht Herausnehmer. Sie geben Kirchs TV-Imperium oder „Süddeutscher manager mit zur absoluten Mehrheit. eine Menge Geld zurück in den Konzern. Zeitung“. Den Zuschlag bekamen immer 1998 wurde er NRW-Wirtschaftsminister Zum Beispiel investieren wir allein 200 Mil- andere. Werden Sie noch ernst genommen? und erfand für den SPD-Kanzlerkandidaten lionen Euro in die modernsten Druckerei- Hombach: Wenn wir näher hingeschaut ha- Gerhard Schröder die „Neue Mitte“. Nach en, die zurzeit gebaut werden. ben, taten wir das nur auf Wunsch des der gewonnenen Wahl übernahm Hom- SPIEGEL: Scheiterte mancher Einstieg, etwa möglichen Partners. Wir müssen uns nicht bach, 51, den Posten des Kanzleramts- bei der „Süddeutschen Zeitung“, nicht dafür entschuldigen, dass wir am Ende oft ministers. 1999 ging er als EU-Beauf- auch an der Zerstrittenheit Ihrer Gesell- abwinkten. Um überteuert einzukaufen, tragter für den Wiederaufbau auf den Bal- schafterfamilien? könnten wir auch einen Schimpansen mit kan. Anfang 2002 verließ er die Politik Hombach: Zugegeben: Am Anfang kam mir Geldkoffer durchs Land schicken. In den und heuerte beim WAZ-Konzern an, einem unsere Unternehmensstruktur ein bisschen Medienbilanzen ist gegenwärtig mehr in der größten Verlage Europas. wie das zuvor erfahrene Wechselspiel zwi- Bewegung als am Markt. Es wird noch zu schen Regierung und Opposition vor. Aber teuer ausgeschildert. das WAZ-System „einstimmiger Entschei- SPIEGEL: Und wann immer Sie am Schau- Wir haben einen gesunden Heimatmarkt dungen“ zwingt alle Beteiligten, ihre Pro- fenster auftauchten, erschraken alle, weil und ein kräftiges Standbein in Süd- jekte präzise zu begründen. Das schützt die WAZ den Ruf hat, ein Provinzverlag osteuropa. Wer ahnt schon, dass wir uns vor allzu riskanter Spontaneität … voller geheimniskrämerischer Erbsenzähler Europas größter Tierzeitschriften-Ver- SPIEGEL: … klingt aber auch wie die Kon- zu sein, die nur auf Renditen starren. lag sind? Auch unsere Frauentitel und sensfalle im Reform-Haus Deutschland. Hombach: Ein Grund mag sein, dass Spezialzeitschriften behaupten sich er- Hombach: Ich habe das WAZ-System lieben die WAZ eben könnte, wenn sie wollte. folgreich. gelernt. Besser, man muss im Vorfeld sei-

84 der spiegel 2/2004 ne Ideen erklären als später rote Zahlen. nicht auch ökonomische Interessen hat, land gibt es über 350 Zeitungstitel und Unsere Gesellschafter sind erfahrene Leu- muss andere Gründe haben: weltanschau- rund 200 Verlegerfamilien. Einigen steht te. Wir brauchen keine Beraterfirmen. lichen Eifer, Parteipolitik oder sonstige das Wasser bis zur Oberkante Unterlippe. SPIEGEL: Sie hätten sich mit der „Süddeut- Manipulationswünsche. Selbst die großen Tageszeitungen werden es schen“ gern Renommee gekauft. Am Ende SPIEGEL: Nachrichten sind doch längst zur verdammt schwer haben. Etliche werden stiegen Sie nur beim „Goldenen Blatt“ ein. Ware geworden. nicht überleben, wenn die Werbeeinnah- Hombach: Das Erste war klug beobachtet, Hombach: Eine Information allein ist heute men zurückgehen wie bisher. Wer da noch das Zweite ist eine böse Bemerkung, denn nichts mehr wert, nur ihre gute Bearbei- immer ein Flugzeug auf der Inventarliste unsere Journalisten machen sich hervor- tung. Folglich brauchen Verleger gute Jour- hat oder sich unbedingt einen Glaspalast in ragend – ob sie bei der WAZ arbeiten oder nalisten. Die Menschen werden mit bedeu- die City bauen musste, hat eben ein Pro- beim „Goldenen Blatt“. Letztlich werden tungslosen, manchmal manipulierten Infor- blem. Den meisten hilft aber nicht einmal wir an Zahlen gemessen. Ich gebe aber zu, mationen überschüttet. In diesen Dschungel mehr sparen. Die brauchen Kooperationen.

50% Brost-Gruppe Anneliese Brost (30%), Erich Schumann (20%)

Umsatz 2002: 1,9 Mrd.¤ rund 40 Prozent des Umsatzes werden im Ausland erwirtschaftet Beschäftigte: ca. 14 500

Fernsehen Anteil u. a. RTL Group ...... 7,4 %

Ausländische Beteiligungen Anteil OSTEUROPA

Verlag 168 Stunden, Bulgarien ...... 100%

Pannon-Zeitungsgruppe, Ungarn ...... 100%

Mediaprint & Kapa, Tschechien ...... 63%

Trustul de Presa National SRL, Rumänien ...... 51%

Europapress Holding, Kroatien ...... 50%

Dnevnik, Utrinski Vesnik, Vest, Mazedonien ...... 90% ÖSTERREICH

Kurier Zeitungsverlag, Wien ...... 49,4% STEFAN ENDERS STEFAN Krone Verlag, Wien ...... 50% WAZ-Druckerei (in Hagen): „Letztlich werden wir an Zahlen gemessen“

dass dabei die publizistische Positionierung eine Schneise zu schlagen ist die große SPIEGEL: Amerika hat die große Fusions- vielleicht zu kurz kam. Diese Defizite sind Überlebenschance der Printmedien. welle schon hinter sich. Die Folge dort: re- erkannt … SPIEGEL: Die Berliner Regierung debattiert daktioneller Einheitsbrei. SPIEGEL: … und sollen abgearbeitet wer- momentan, wie man die alten Gesetze zu Hombach: Genau deshalb brauchen wir den. Was bringen die neu eingerichteten Fusionen im Verlagsbereich lockern sollte. Synergien im Verlagswesen, damit nicht Qualitätsrunden Ihrer Chefredakteure? Warum waren Sie bei den Gipfelge- redaktionelle Zusammenlegungen auch bei Hombach: Die gehören schon jetzt zu un- sprächen bisher nicht dabei? uns auf die Tagesordnung kommen. War- seren Lieblingsbeschäftigungen. Ich über- Hombach: Andere haben da mehr Er- um soll ein Werbekunde nicht die Mög- setze WAZ intern gern mit „Wir Arbeiten fahrung, zum Beispiel Professor Neven lichkeit bekommen, bei ansonsten unab- Zusammen“. Zur Qualität gehören neben DuMont. Und politische Missdeutungen hängigen Zeitungen im Anzeigenverbund redaktionellen Standards heute auch Tech- möchte ich vermeiden. zu schalten? Warum keine gemeinsamen nik, Druckzeiten, moderne Werbeformen SPIEGEL: Konkreter bitte! Druckgesellschaften oder Distributionswe- und Vertrieb. Die inhaltliche Qualitätsde- Hombach: Es ging damit los, dass gleich be- ge? Wir müssen die Schleusen öffnen für batte muss von den Journalisten angeführt hauptet wurde, die Großverlage würden neue Ideen. werden, nicht von Verlagsmanagern … ein Bündnis schmieden. Das wird es nicht SPIEGEL: Die bestehenden Kartellgesetze SPIEGEL: … die aber letztlich sagen, wo’s geben. Stattdessen werden sich einige wollten mal genau das: Vielfalt erhalten … langgeht. größere und kleine zusammenfinden in der Hombach: … aber sie produzieren das Ge- Hombach: Deren Aufgabe ist es, journalis- Erkenntnis, dass ökonomische Koopera- genteil. Die deutschen Sondergesetze für tische Qualität möglich zu machen. Neulich tionen maximale redaktionelle Vielfalt er- die Presse sind weltweit einmalig. Sie wur- saß ich mit einem deutschen Chefredakteur halten. Springer zum Beispiel ist so stark den vom Gedanken getragen, die Verlage bei einer Podiumsdebatte. Irgendwann ver- und mächtig, dieser Konzern braucht kei- klein zu halten. Hier stand nicht Ludwig kündete der Mann, Gott sei Dank gebe es ne Kartellrechtsreformen mehr. Erhard Pate, sondern die marxistische noch Verleger, die mit drei Prozent Rendi- SPIEGEL: Ihr Verlag kontrolliert publizistisch Überzeugung, dass der, dem die Druck- te zufrieden seien. Da habe ich mir erlaubt, doch auch das Ruhrgebiet weitgehend. maschine gehört, auch den Leitartikel vor solchen Leuten zu warnen. Wer sein Hombach: Wir haben 16 Konkurrenten in schreibt. Damals war Fernsehen noch jung Geld in Zeitungen investiert und dabei und um unser Stammgebiet. In Deutsch- und öffentlich-rechtlich. Ans Internet dach-

der spiegel 2/2004 85 fentlicht aussähe. Das war ein wunderba- rer Leitfaden. Deshalb fuhr ich sogar zu meiner Baustelle und verlangte: „Keine Schwarzarbeiter!“ Ich habe eben keinerlei Privilegien, verbilligte Zinsen oder Ähnli- ches, angenommen. Warum? Weil ich wus- ste, dass es einem Politiker schaden würde, selbst wenn es kein Rechtsbruch wäre. SPIEGEL: Sie sind dankbar für jene Ge- schichten, die Sie damals vorführten? Hombach: Natürlich war das für mich eine schmerzhafte Zeit. Zumal die Kampagne gegen mich politisch heftig instrumentali- siert wurde. Ein Kollateralschaden. Nach positivem Ausgang für mich gucke ich aber auf andere Fälle und denke nach. Unser Rechtssystem kennt den Freispruch. Mir fehlt ein bisschen die Technik des media-

MARCO-URBAN.DE len Freispruchs. Das würde die Autorität Wirtschaftsminister Clement*: „Mit der SPD noch maximal 56 Prozent Übereinstimmung“ der Medien nur stärken. SPIEGEL: Zurzeit streiten Sie lautstark mit te keiner, das Lesen war noch verbreitete gigkeit Ihrer Journalisten vom neuen Chef dem österreichischen Verleger Hans Di- Kulturtechnik. Es gab noch den Verleger, und ehemaligen SPD-Kanzleramtsminister chand, mit dem Sie sich die Anteile an der der sich ins Tagesgeschäft einmischte. Wer Hombach? Wiener Boulevardzeitung „Krone“ teilen. nicht Mediengrößen wie Rupert Murdoch Hombach: Das war einfach unsaubere Ar- Dichand glaubt, der Krach gewinne Züge oder Silvio Berlusconi anlocken will, kann beit. Diese Falschmeldung hätte uns nach eines Shakespeare-Dramas, bei dem am die Reformideen der Regierung nur be- geltendem Recht auch eine Menge Geld Ende nur noch Tote auf der Bühne liegen. grüßen. kosten können. Ich bin durchaus stolz dar- Hombach: Es ist eher zu einer peinlichen SPIEGEL: Ist es generell erstrebenswert, auf, dass Dementi und Entschuldigung Komödie verkommen, in der alle lächerlich wenn der Staat sich in die Medien ein- schon gedruckt waren, als die Schriftsätze gemacht werden, die sich in eine Rolle mischt? der Anwälte bei uns eingingen. Aber damit drängen lassen oder mit Schlamm in der Hombach: Nein. Seit ich selbst mal kurze das klar ist: Wir hätten genauso reagiert, Hand antreten. In dieser Farce tanzen Zeit Mitglied des ZDF-Verwaltungsrats wenn der Betroffene einen anderen Namen Prozesshanseln, Problemkinder, Ex- und war, weiß ich: Politiker tun in solchen oder ein anderes Parteibuch gehabt hätte. Noch-Agenten sowie reiche Aufkäufer von Gremien, was man von ihnen erwartet. SPIEGEL: Ist die SPD noch Ihre Partei? falschem Material im Walzerschritt. Das Insofern verstehe ich die Sorgen. Beiräte, Hombach: Ich bin meinem gefassten Vorsatz Spektakel wird sicher in diesem Jahr von Stiftungslösungen oder auch die Wieder- treu geblieben, mich innenpolitisch ohne einem Schiedsgericht beendet. belebung einer Presserechtsrahmengesetz- Mandat nicht mehr öffentlich zu äußern. SPIEGEL: Können Sie auf dem Balkan, wo Debatte wären das Schlimmste. Kein Ver- Ich fand das schon früher peinlich, wenn die WAZ eine Vielzahl von Titeln verkauft, lag würde da mitmachen. Wir auch nicht. Parteimanager nach ihrem Abgang den überhaupt sicherstellen, nie an dubiose Ge- Dass Wolfgang Thierse bei den Main- Nachfolgern reinquakten. Vom Wahl- schäftspartner zu geraten? zer Medientagen diesen Stein durchs kampfmanager über Landesminister zum Hombach: Glauben Sie nicht alle Mythen Schaufenster geworfen hat, brachte Kanzleramtsminister war ich lange genug des Balkans. Aber natürlich ist Vorsicht ge- ihm allenfalls Beifall von den Reform- Täter … boten. In Kroatien zum Beispiel sind alle gegnern. Gefolgschaft hat er, soweit ich SPIEGEL: … aber auch Opfer. Letztlich stol- wesentlichen Titel Neugründungen ohne sehe, nicht. perten Sie über die Affäre um vermeint- staatliche Altlasten oder Privatisierungs- SPIEGEL: Seit Sie bei der WAZ mitregieren, liche Unregelmäßigkeiten bei Ihrem priva- hintergrund. Vermint ist das Gelände al- malen konservative Medien gern das Bild ten Hausbau. Was haben Sie eigentlich für lenfalls, weil manche Politiker solcher des linken Pressemolochs an die Wand. ein Verhältnis zu Journalisten? Transformationsgesellschaften glauben, die Hombach: Wer mich kennt, lacht darüber Hombach: Es wird Sie erstaunen: Ich bin Medien hätten ihnen gefälligst zu Diensten wie ich. Ich mache keine Politik mehr, ich völlig sicher, dass es zu kritischer, auch zu zu sein. beobachte sie. Ich habe schon vor 20 Jah- Verdachtsberichterstattung keine Alter- SPIEGEL: Dem Druck halten Sie stand? ren 100-prozentige Parteigänger für höchst native gibt, wenn man Demo- therapiebedürftig gehalten. Wenn Sie es kratie ernst nimmt. Nicht nur präzise wissen wollen: Mit der SPD habe auf dem Balkan erlebe ich, dass ich noch maximal 56 Prozent Überein- Korruption, Nepotismus und stimmung … Machtmissbrauch nur von frei- SPIEGEL: … also genau das Ergebnis, das er Presse wirksam bekämpft Wolfgang Clement bei den Vorstandswah- werden können. Dass ich im ei- len einfuhr? genen Fall am Ende alle Vor- Hombach: So können Sie das interpretieren. würfe ausräumen konnte, ver- SPIEGEL: Im Januar 2003 veröffentlichte danke ich nicht meiner großen ausgerechnet Ihre WAZ erste Gerüchte Moral, sondern ausschließlich über eine angebliche Geliebte des Kanz- den Medien. lers. War das Ausdruck neuer Unabhän- SPIEGEL: Wie bitte? Hombach: Seit ich als junger Mann in die Politik ging, * Oben: bei einer Anhörung zum Berliner Zeitungsstreit am 8. September in Berlin; rechts: Thomas Tuma und habe ich mir bei allem, was ich ENDERS STEFAN Marcel Rosenbach in Hombachs Essener Büro. tat, überlegt, wie das veröf- Hombach, SPIEGEL-Redakteure*: „Vorsicht geboten“

86 der spiegel 2/2004 Medien

Hombach: Vor kurzem wollte die Staatsspit- Zentrale, soll in Stuttgart, München und ze eines südosteuropäischen Landes, dass WERBUNG Nürnberg expandiert werden. wir den Chefredakteur eines Blattes feuern, Den Zeitungsmanagern machen vor das angeblich zu schlecht über sie schreibt. Kein Pardon für allem die bis zu acht Reklameprospekte Ich habe unsere Leute aufgefordert, in den zu schaffen, die dem Post-Wurf beiliegen Marmor ihres Foyers zu meißeln: „Wir ma- und ihnen das eigene Werbegeschäft ver- chen nicht die Personalpolitik der Regie- den Pimmelmann hageln: „Wir sind ziemlich verärgert“, sagt rung, und die macht nicht unsere“ und mei- Carl Englisch aus der Geschäftsführung des ne Reaktion den Herren auszurichten. Der In fünf Millionen deutschen Medienhauses Südhessen („Darmstädter Chefredakteur ist natürlich noch im Amt. Echo“). „Ich bin erzürnt!“, grollt Heiner Wir stärken unseren Leuten den Rücken. Briefkästen liegt die Post-Postille Urhausen vom Bundesverband deutscher Das ist unser Beitrag zur neuen Freiheit. Es „Einkauf aktuell“ – zum Ärger Anzeigenblätter. „Das ist eine Katastro- ist Verantwortung und ein wichtiger Bei- vieler Verleger, die nun gegen die phe“, schäumt der Frankfurter Verleger trag zur Demokratisierung. Konkurrenz Sturm laufen. Horst Vatter. SPIEGEL: So ehrenvoll wirkt das Medien- Bei den Anzeigenblättern machen die geschäft auf dem Balkan nicht immer. hr neuestes Millionenprodukt bewirbt Beilagen mit 520 Millionen Euro ein Drit- Hombach: Wir prüfen zurzeit in der Tat, die Deutsche Post AG ausgerechnet tel des Gesamtumsatzes aus. Allein Vat- uns von einem Titel zu trennen, bei dem Imit einem grinsenden Phallussymbol: ters Zeitungen werden im Jahr 2004 etwa wir den Eindruck nicht loswerden, dass Oben rechts auf der Titelseite von „Einkauf 2,6 Millionen Euro Umsatz entgehen. „Das man dort Meinung kaufen kann. Dafür gibt aktuell“ prangt ein feuerroter Schaft mit ei- ist ein Drittel meines Beilagengeschäfts“, es keine Entschuldigung. Leider sind die nem grinsenden Dreiecksgesicht. Doch das schimpft er, „aber das kann noch weitaus Alternativen zu uns viel zu oft entweder „Pimmelmännchen“, wie Internet-Witz- mehr werden.“ dubiose Typen oder Parteien, die sich ein bolde die Figur bereits tauften, bewirbt Die Verlage werfen dem gelben Riesen Presseorgan als Posaune halten. Ich umstrittene Ware. vor, „Einkauf aktuell“ mit Gewinnen aus wünschte mir, viel mehr westliche Verlage dem Briefgeschäft zu finanzieren, auf das würden in Südosteuropa tätig werden. die Post bis 2007 ein Monopol genießt. SPIEGEL: Wie hoch ist der Umsatzanteil Ih- „Die Post nutzt das schamlos aus“, sagt res dortigen Geschäfts? Verlagsmanager Englisch, „und bietet Prei- Hombach: Es liefert einen ordentlichen Bei- se, die niemand anderes bietet. Die drehen trag. Ich höre mitunter aus dem eigenen anderswo den Geldhahn auf und finanzie- Haus: Bei uns sparen sie, und dort geben ren ihren Marktstart.“ sie’s aus. Das ist Unsinn. Unsere Beteili- Der Chemnitzer Post-Rechtler Professor gungen verdienen das Ergebnis in Essen mit. Ludwig Gramlich kommt in einem 20-sei- SPIEGEL: Sind die WAZ-Renditen wirklich tigen Gutachten zu einem ähnlichen Fazit: noch zweistellig wie immer kolportiert? „Das ist eine Verkoppelung von Dingen, Hombach: Solche Zahlen will ich nicht kom- die nicht verkoppelbar sind und damit eine mentieren. Aber wir überlegen gerade, wie unzulässige Quersubvention.“ Deshalb ha- wir uns künftig transparenter machen kön- ben die Verlegerverbände nun das Bun- nen. Von Anfang an wollen wir uns präzi- deskartellamt eingeschaltet. Ob das Ver- se an europäischen Bilanzrichtlinien messen fahren eröffnet wird, ist noch offen. lassen. Das bedarf interner Umstellungen … Politiker haben sich zu dem Post-Ausflug SPIEGEL: … und klingt, als wollten Sie erst- ins Verlagsgeschäft bislang nur zurückhal- mals die WAZ-Bücher öffnen. tend geäußert, auch weil der Bonner Kon- Hombach: Auch wir haben erkannt: Phan- zern noch immer zu 63 Prozent dem Staat tasien und Phantastereien entstehen in gehört. Nun nimmt der Druck zu: „Das Grauzonen. Transparenz schadet nicht. Verfahren muss schnell entschieden wer- Wenn es das Unternehmen voranbringt, den“, verlangt Hessens Wirtschaftsminister bin ich auch für eine Bilanzpressekonfe- Rhiel, „bevor die ersten Wettbewerber ins renz zu haben. Gras gebissen haben.“ Die Post dürfe ihr SPIEGEL: Einst halfen Sie Schröder, Kanzler Post-Produkt „Einkauf aktuell“ Monopol nicht zu Lasten der Verlage miss- zu werden. Nun sollen Sie aus der WAZ ei- „Neue Form der Haushaltswerbung“ brauchen, was den gelben Giganten bis- nen modernen Kommunikationskonzern lang nicht anficht. machen. Was ist die schwierigere Aufgabe? Für die Post ist „Einkauf aktuell“ als „Gegen sauberes marktwirtschaftliches Hombach: In Düsseldorf, Bonn, Berlin und „neue Form der Haushaltswerbung“ ein Verhalten kann es keine Einwände geben“, Brüssel habe ich eine Menge Erfahrung mit großer Wurf. Für Zeitungsverlage ist es sagt Post-Vorstand Hans-Dieter Petram. großen Apparaten in Wirtschaft und Ver- „unlauterer Wettbewerb“. Nun macht Am Vorwurf der Quersubventionierung sei waltung gesammelt: Letztlich ähneln sich sogar Hessens CDU-Wirtschaftsminister nichts dran: „Die Kosten werden gedeckt.“ Institutionen wie die EU-Bürokratie, der Alois Rhiel Druck: Der Staat müsse der Die Verleger dürften nicht für sich bean- Kreml, der Vatikan … Post „einen Riegel vorschieben“. Dabei spruchen, „in einem Naturschutzpark zu SPIEGEL: … und die WAZ? scheint das Blättchen zunächst nicht mehr leben“. Hombach: Wir haben die flachste Hierar- zu sein als ein dürres Reklameheftchen in Doch der Verband der Anzeigenblatt- chie, die Sie sich vorstellen können. Aber Plastikfolie – inklusive zwölf Seiten Fern- Verleger kämpft weiter. „Wir werden so lan- auch bei den phantastischen Grundlagen sehprogramm mit sieben Kreuzworträtseln. ge wie möglich in jedem Aspekt angreifen. dieses Hauses ist erfolgreiche Zukunft nicht Knapp fünf Millionen Mal werfen Post- Da gibt’s kein Pardon“, sagt Verbandsmann Fortschreibung des Vergangenen. Wir wol- boten das Heftchen Samstag für Samstag Urhausen. Zurzeit lässt er sogar die che- len noch besser werden. Daran arbeiten in deutsche Briefkästen: Seit einigen Mo- mische Zusammensetzung der Einschweiß- wir – gemeinsam. naten schon in Hamburg und Hannover, folie von „Einkauf aktuell“ prüfen. „Wir SPIEGEL: Herr Hombach, wir danken Ihnen seit kurzem auch in Frankfurt und Berlin. wollen gucken, ob die wirklich so umwelt- für dieses Gespräch. Im neuen Jahr, so hört man in der Bonner freundlich ist.“ Manuel J. Hartung

der spiegel 2/2004 87 Medien

Hombach: Vor kurzem wollte die Staatsspit- Zentrale, soll in Stuttgart, München und ze eines südosteuropäischen Landes, dass WERBUNG Nürnberg expandiert werden. wir den Chefredakteur eines Blattes feuern, Den Zeitungsmanagern machen vor das angeblich zu schlecht über sie schreibt. Kein Pardon für allem die bis zu acht Reklameprospekte Ich habe unsere Leute aufgefordert, in den zu schaffen, die dem Post-Wurf beiliegen Marmor ihres Foyers zu meißeln: „Wir ma- und ihnen das eigene Werbegeschäft ver- chen nicht die Personalpolitik der Regie- den Pimmelmann hageln: „Wir sind ziemlich verärgert“, sagt rung, und die macht nicht unsere“ und mei- Carl Englisch aus der Geschäftsführung des ne Reaktion den Herren auszurichten. Der In fünf Millionen deutschen Medienhauses Südhessen („Darmstädter Chefredakteur ist natürlich noch im Amt. Echo“). „Ich bin erzürnt!“, grollt Heiner Wir stärken unseren Leuten den Rücken. Briefkästen liegt die Post-Postille Urhausen vom Bundesverband deutscher Das ist unser Beitrag zur neuen Freiheit. Es „Einkauf aktuell“ – zum Ärger Anzeigenblätter. „Das ist eine Katastro- ist Verantwortung und ein wichtiger Bei- vieler Verleger, die nun gegen die phe“, schäumt der Frankfurter Verleger trag zur Demokratisierung. Konkurrenz Sturm laufen. Horst Vatter. SPIEGEL: So ehrenvoll wirkt das Medien- Bei den Anzeigenblättern machen die geschäft auf dem Balkan nicht immer. hr neuestes Millionenprodukt bewirbt Beilagen mit 520 Millionen Euro ein Drit- Hombach: Wir prüfen zurzeit in der Tat, die Deutsche Post AG ausgerechnet tel des Gesamtumsatzes aus. Allein Vat- uns von einem Titel zu trennen, bei dem Imit einem grinsenden Phallussymbol: ters Zeitungen werden im Jahr 2004 etwa wir den Eindruck nicht loswerden, dass Oben rechts auf der Titelseite von „Einkauf 2,6 Millionen Euro Umsatz entgehen. „Das man dort Meinung kaufen kann. Dafür gibt aktuell“ prangt ein feuerroter Schaft mit ei- ist ein Drittel meines Beilagengeschäfts“, es keine Entschuldigung. Leider sind die nem grinsenden Dreiecksgesicht. Doch das schimpft er, „aber das kann noch weitaus Alternativen zu uns viel zu oft entweder „Pimmelmännchen“, wie Internet-Witz- mehr werden.“ dubiose Typen oder Parteien, die sich ein bolde die Figur bereits tauften, bewirbt Die Verlage werfen dem gelben Riesen Presseorgan als Posaune halten. Ich umstrittene Ware. vor, „Einkauf aktuell“ mit Gewinnen aus wünschte mir, viel mehr westliche Verlage dem Briefgeschäft zu finanzieren, auf das würden in Südosteuropa tätig werden. die Post bis 2007 ein Monopol genießt. SPIEGEL: Wie hoch ist der Umsatzanteil Ih- „Die Post nutzt das schamlos aus“, sagt res dortigen Geschäfts? Verlagsmanager Englisch, „und bietet Prei- Hombach: Es liefert einen ordentlichen Bei- se, die niemand anderes bietet. Die drehen trag. Ich höre mitunter aus dem eigenen anderswo den Geldhahn auf und finanzie- Haus: Bei uns sparen sie, und dort geben ren ihren Marktstart.“ sie’s aus. Das ist Unsinn. Unsere Beteili- Der Chemnitzer Post-Rechtler Professor gungen verdienen das Ergebnis in Essen mit. Ludwig Gramlich kommt in einem 20-sei- SPIEGEL: Sind die WAZ-Renditen wirklich tigen Gutachten zu einem ähnlichen Fazit: noch zweistellig wie immer kolportiert? „Das ist eine Verkoppelung von Dingen, Hombach: Solche Zahlen will ich nicht kom- die nicht verkoppelbar sind und damit eine mentieren. Aber wir überlegen gerade, wie unzulässige Quersubvention.“ Deshalb ha- wir uns künftig transparenter machen kön- ben die Verlegerverbände nun das Bun- nen. Von Anfang an wollen wir uns präzi- deskartellamt eingeschaltet. Ob das Ver- se an europäischen Bilanzrichtlinien messen fahren eröffnet wird, ist noch offen. lassen. Das bedarf interner Umstellungen … Politiker haben sich zu dem Post-Ausflug SPIEGEL: … und klingt, als wollten Sie erst- ins Verlagsgeschäft bislang nur zurückhal- mals die WAZ-Bücher öffnen. tend geäußert, auch weil der Bonner Kon- Hombach: Auch wir haben erkannt: Phan- zern noch immer zu 63 Prozent dem Staat tasien und Phantastereien entstehen in gehört. Nun nimmt der Druck zu: „Das Grauzonen. Transparenz schadet nicht. Verfahren muss schnell entschieden wer- Wenn es das Unternehmen voranbringt, den“, verlangt Hessens Wirtschaftsminister bin ich auch für eine Bilanzpressekonfe- Rhiel, „bevor die ersten Wettbewerber ins renz zu haben. Gras gebissen haben.“ Die Post dürfe ihr SPIEGEL: Einst halfen Sie Schröder, Kanzler Post-Produkt „Einkauf aktuell“ Monopol nicht zu Lasten der Verlage miss- zu werden. Nun sollen Sie aus der WAZ ei- „Neue Form der Haushaltswerbung“ brauchen, was den gelben Giganten bis- nen modernen Kommunikationskonzern lang nicht anficht. machen. Was ist die schwierigere Aufgabe? Für die Post ist „Einkauf aktuell“ als „Gegen sauberes marktwirtschaftliches Hombach: In Düsseldorf, Bonn, Berlin und „neue Form der Haushaltswerbung“ ein Verhalten kann es keine Einwände geben“, Brüssel habe ich eine Menge Erfahrung mit großer Wurf. Für Zeitungsverlage ist es sagt Post-Vorstand Hans-Dieter Petram. großen Apparaten in Wirtschaft und Ver- „unlauterer Wettbewerb“. Nun macht Am Vorwurf der Quersubventionierung sei waltung gesammelt: Letztlich ähneln sich sogar Hessens CDU-Wirtschaftsminister nichts dran: „Die Kosten werden gedeckt.“ Institutionen wie die EU-Bürokratie, der Alois Rhiel Druck: Der Staat müsse der Die Verleger dürften nicht für sich bean- Kreml, der Vatikan … Post „einen Riegel vorschieben“. Dabei spruchen, „in einem Naturschutzpark zu SPIEGEL: … und die WAZ? scheint das Blättchen zunächst nicht mehr leben“. Hombach: Wir haben die flachste Hierar- zu sein als ein dürres Reklameheftchen in Doch der Verband der Anzeigenblatt- chie, die Sie sich vorstellen können. Aber Plastikfolie – inklusive zwölf Seiten Fern- Verleger kämpft weiter. „Wir werden so lan- auch bei den phantastischen Grundlagen sehprogramm mit sieben Kreuzworträtseln. ge wie möglich in jedem Aspekt angreifen. dieses Hauses ist erfolgreiche Zukunft nicht Knapp fünf Millionen Mal werfen Post- Da gibt’s kein Pardon“, sagt Verbandsmann Fortschreibung des Vergangenen. Wir wol- boten das Heftchen Samstag für Samstag Urhausen. Zurzeit lässt er sogar die che- len noch besser werden. Daran arbeiten in deutsche Briefkästen: Seit einigen Mo- mische Zusammensetzung der Einschweiß- wir – gemeinsam. naten schon in Hamburg und Hannover, folie von „Einkauf aktuell“ prüfen. „Wir SPIEGEL: Herr Hombach, wir danken Ihnen seit kurzem auch in Frankfurt und Berlin. wollen gucken, ob die wirklich so umwelt- für dieses Gespräch. Im neuen Jahr, so hört man in der Bonner freundlich ist.“ Manuel J. Hartung

der spiegel 2/2004 87 Panorama Ausland

Kommandoaktionen „Uran“

22.8.2002 21.9.2003 Atomreaktor des Atomreaktor des Vin‡a-Forschungs- Nuklearforschungs- zentrums in Belgrad zentrums in Pitesti bei Bukarest RUMÄNIEN Belgrad Bukarest SERBIEN- MONTE- BULGARIEN NEGRO Sofia

23.12.2003 Atomreaktor in Sofia

INRNE Kernforschungsinstitut in Sofia

URAN zwei einfache Nuklearsprengsätze gereicht. Seit den Terror- anschlägen vom 11. September 2001 misst Washington der Fahndung nach dem meist schlecht bewachten Strahlengut be- 17 Kilogramm aus Sofia sondere Bedeutung bei. Das State Department ortete nach der Belgrader Operation weltweit 24 unzureichend geschütz- um dritten Mal haben jetzt internationale Spezialisten, ge- te Reaktoren, in denen hochangereichertes Uran verwendet Zschützt von schwer bewaffneten Kommandoeinheiten, in wird. „Beim derzeitigen Tempo würden wir ein Vierteljahr- einer Nacht-und-Nebel-Aktion hochangereichertes Uran si- hundert brauchen, um diesen Job zu erledigen“, warnte Har- chergestellt. Fast 17 Kilogramm dieses wichtigsten Grundstoffs vard-Experte Matthew Bunn. Womöglich sogar noch viel län- für den Bau von Atomwaffen schafften amerikanische und ger, denn Bunn hat sogar über 130 Atomanlagen in rund 40 russische Nuklearfahnder mit Hilfe bulgarischer Behörden aus Ländern identifiziert, in denen sich Terroristen bombenfähi- einem Reaktor in Sofia nach Russland. Dort soll die gefährli- ges Spaltmaterial beschaffen könnten. Wie groß die Gefahr des che Hinterlassenschaft der sowjetischen Weltmacht in unge- Nuklearterrorismus wirklich ist, belegt eine Bilanz von Dieb- fährlicheren Reaktorbrennstoff umgewandelt werden. Wie stählen und Beschlagnahmen radioaktiven Materials, die vom schon ähnliche Aktionen in Belgrad und Bukarest war auch das Zentrum für Studien gegen die Weiterverbreitung von Atom- Kommandounternehmen in Bulgarien von den beteiligten Re- waffen in Monterey ständig fortgeschrieben wird: Allein für gierungen und der Wiener Atomenergiebehörde minutiös vor- 2003 listen die Kalifornier 40 Zwischenfälle auf, bei denen bereitet worden. Während in Rumänien wie in Bulgarien Material abhanden kam oder konfisziert wurde, das zumindest Atombomben-Material für knapp eine Bombe sichergestellt zum Bau „schmutziger“, also radioaktiv verseuchter Bomben werden konnte, hätten die 48 Kilogramm aus Belgrad sogar für geeignet gewesen wäre.

WAFFENHANDEL handelten dubiose Dealer sogar in staat- lichem Auftrag, etwa bei Waffenliefe- Korrupte Dienste rungen an Warlords der ehemaligen Nordallianz in Afghanistan. Inzwischen, er russische Auslandsnachrichten- so die Sicherheitsexperten, drohe Russ- Ddienst SWR warnt vor dem „grauen land eine regelrechte „Korrumpierung Waffenmarkt“ in den Nachfolgestaaten der Geheimdienste“, weil selbst staatli- der früheren Sowjetunion. Zunehmend che Waffengeschäfte etwa mit China machten sich im weltweiten Handel mit durch fragwürdige Kommissionszahlun- Kriegsgerät ehemalige Geheimdienstler gen geschmiert würden. Bei Rüstungs- oder Ex-Mitarbeiter staatlicher Rüs- deals mit Indien, wo Russlands Händler tungsfirmen aus Russland und der zunehmend durch westliche Konkur- Ukraine bemerkbar, heißt es in einer renz aus Großbritannien, Frankreich vertraulichen SWR-Studie. Das Militär- und Israel bedrängt werden, seien sogar

gut, von Kampfpanzern bis zu MiG- / AP MARMUR MAXIM „korrupte Verbindungen der Haupt- Jagdflugzeugen und Mi-24-Kampfhub- Exportgut Kampfhubschrauber grund für die Fortsetzung des Handels“, schraubern, werde in vielen Fällen in der sich ökonomisch in vielen Fällen der Ukraine und in jüngster Zeit auch den neunziger Jahren ständig in den eigentlich kaum noch rentiere. So konn- häufig in Usbekistan beschafft. Die Ländern Irak und Libyen tätig waren, ten die Inder den Flugzeugträger Moskauer Experten monieren zudem, die von der Uno mit einem Waffen- „Admiral Gorschkow“ und russische dass russische Rüstungslobbyisten in embargo belegt wurden. Nicht selten Kampfjets extrem günstig erwerben.

der spiegel 2/2004 89 NOVOSTJA GAZETTA NOVOSTJA Herausschleifen und Erschießung eines Gefesselten vor dem Moskauer „Nord-Ost“-Theater

RUSSLAND wordenen Besucher ins Freie getragen werden, sondern dass Spezialkräfte mit weißen Armbinden auch einen Menschen in Handschellen aus dem Gebäude schleifen. Anschließend zieht Ungestrafte Hinrichtung? eine Frau eine Pistole und feuert gezielt auf die hilflose Person. Moskaus „Nowaja gaseta“, das in Sachen Tschetschenien einzi- ehr als 14 Monate nach der Geiselnahme im Moskauer ge noch regierungskritische Blatt, druckte die Sequenz auf drei MMusicaltheater „Nord-Ost“ bleiben wesentliche Details vollen Zeitungsseiten ab und verlangte Aufklärung über diesen der von Sicherheitskräften durchgeführten Befreiungsaktion un- Fall von „Selbstjustiz“ – und darüber, wer die vermutliche Hin- geklärt. Rätselhaft ist nach wie vor, warum es so viele Tote gab richtung angeordnet habe. Auch das Komitee der „Nord-Ost“- – beim Sturm des Gebäudes starben 129 Besucher und 41 tsche- Opfer forderte in einem offenen Brief an den Chef des Inlands- tschenische Geiselnehmer. Unter eigenartigen Umständen kam geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, die „volle Wahrheit Mitte Dezember vergangenen Jahres auch der tschetschenische über die Tragödie“ – eine Antwort blieb aus. Immerhin melde- Journalist Chanpasch Terkibajew um – und damit einer der te sich bei der „Nowaja gaseta“ nun ein Angehöriger der damals wichtigsten Zeugen: Ihm war kurz vor dem Sturm die Flucht aus eingesetzten Spezialeinheiten. Die im Video zu sehende Person dem besetzten Theater gelungen. Zudem tauchte nun ein Video sei ein „auf frischer Tat ertappter Marodeur“, erläuterte der auf, das zusätzliche Fragen an den russischen Geheimdienst auf- Mann, der seinen Namen nicht genannt wissen wollte. „Sie ver- wirft. Der Streifen dokumentiert die Räumung des Theaters stehen sicher – unsere Nerven waren damals angespannt, der kurz nach dem Sturm am 26. Oktober 2002, 6.53 Uhr Ortszeit. aber plünderte“, rechtfertigte der Zeuge seine Kollegin: Die Sichtbar wird, dass nicht nur die durch Kampfgas bewusstlos ge- habe ihn erschossen – „nichts Besonderes also“.

AUSTRALIEN BURUNDI Raue Töne Heimkehr der Hutu erade einen Monat als neuer Oppo- ach zehn Jahren Bürgerkrieg könn- Gsitionsführer im Amt, führt Mark Nte in Burundi endlich Frieden ein- Latham, 42, seine Labor-Partei mit mar- kehren. In der vergangenen Woche leg- kigen Sprüchen zu neuen Umfra- ten die ersten 160 Hutu-Kämpfer in

gehöhen – indem er sie zunehmend AFP (L.); (R.) GETTY IMAGES ihrem Rückzugsgebiet, dem benachbar- dem neoliberalen Kurs von Premier Polit-Gegner Latham, Howard ten Kongo, die Waffen nieder und John Howard, 64, anpasst. Latham be- kehrten heim. Tausende Rebellen sol- fürwortet Kürzungen bei der Wohlfahrt, te, beschimpfte Latham den Regierungs- len dem Beispiel folgen. Die Kombat- weniger Steuern auf hohe Einkommen chef als „Arschkriecher“, der den „in- tanten gehen damit auf ein Angebot und setzt auf Leistung: „Ich glaube an kompetentesten und gefährlichsten der Regierung in Bujumbura ein. Die harte Arbeit.“ Dafür findet der Wirt- US-Präsidenten seit Menschengeden- hatte mit der einflussreichsten Guerilla- schaftswissenschaftler, der gern seine ken“ hofiere. Noch heute ist Howard truppe des Landes, den „Forces pour volksnahe Herkunft herausstreicht, so- für Latham ein „Bonsai“ – ein kleiner la défense de la démocratie” (FDD), gar beim linken Parteiflügel Unterstüt- Bush. Solche Kraftmeierei kommt an, ein Friedensabkommen geschlossen. zung. Die Gewerkschaftsfraktion fürch- zumal Latham sich privat als Raubein Den vorwiegend aus dem Volk der tet Labors Absturz in die Bedeutungslo- profilierte und einem Taxifahrer beim Hutu rekrutierten Aufständischen sigkeit mehr als den Sozialabbau. Kritik Streit um den Fahrpreis den Arm brach. werden vier Minister- und ein Gouver- übt Latham vor allem an der Gefolgs- Howards Popularitätskurve sackte von neursposten zugesichert. Der Bürger- treue des Premiers gegenüber den USA. 65 Prozent auf 46 Prozent, Lathams krieg in Burundi – einem Land nur Als Howard 2002 nach Washington reis- Wert stieg dagegen auf 31 Prozent. unwesentlich größer als Mecklenburg-

90 der spiegel 2/2004 NOVOSTJA GAZETTA NOVOSTJA Herausschleifen und Erschießung eines Gefesselten vor dem Moskauer „Nord-Ost“-Theater

RUSSLAND wordenen Besucher ins Freie getragen werden, sondern dass Spezialkräfte mit weißen Armbinden auch einen Menschen in Handschellen aus dem Gebäude schleifen. Anschließend zieht Ungestrafte Hinrichtung? eine Frau eine Pistole und feuert gezielt auf die hilflose Person. Moskaus „Nowaja gaseta“, das in Sachen Tschetschenien einzi- ehr als 14 Monate nach der Geiselnahme im Moskauer ge noch regierungskritische Blatt, druckte die Sequenz auf drei MMusicaltheater „Nord-Ost“ bleiben wesentliche Details vollen Zeitungsseiten ab und verlangte Aufklärung über diesen der von Sicherheitskräften durchgeführten Befreiungsaktion un- Fall von „Selbstjustiz“ – und darüber, wer die vermutliche Hin- geklärt. Rätselhaft ist nach wie vor, warum es so viele Tote gab richtung angeordnet habe. Auch das Komitee der „Nord-Ost“- – beim Sturm des Gebäudes starben 129 Besucher und 41 tsche- Opfer forderte in einem offenen Brief an den Chef des Inlands- tschenische Geiselnehmer. Unter eigenartigen Umständen kam geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, die „volle Wahrheit Mitte Dezember vergangenen Jahres auch der tschetschenische über die Tragödie“ – eine Antwort blieb aus. Immerhin melde- Journalist Chanpasch Terkibajew um – und damit einer der te sich bei der „Nowaja gaseta“ nun ein Angehöriger der damals wichtigsten Zeugen: Ihm war kurz vor dem Sturm die Flucht aus eingesetzten Spezialeinheiten. Die im Video zu sehende Person dem besetzten Theater gelungen. Zudem tauchte nun ein Video sei ein „auf frischer Tat ertappter Marodeur“, erläuterte der auf, das zusätzliche Fragen an den russischen Geheimdienst auf- Mann, der seinen Namen nicht genannt wissen wollte. „Sie ver- wirft. Der Streifen dokumentiert die Räumung des Theaters stehen sicher – unsere Nerven waren damals angespannt, der kurz nach dem Sturm am 26. Oktober 2002, 6.53 Uhr Ortszeit. aber plünderte“, rechtfertigte der Zeuge seine Kollegin: Die Sichtbar wird, dass nicht nur die durch Kampfgas bewusstlos ge- habe ihn erschossen – „nichts Besonderes also“.

AUSTRALIEN BURUNDI Raue Töne Heimkehr der Hutu erade einen Monat als neuer Oppo- ach zehn Jahren Bürgerkrieg könn- Gsitionsführer im Amt, führt Mark Nte in Burundi endlich Frieden ein- Latham, 42, seine Labor-Partei mit mar- kehren. In der vergangenen Woche leg- kigen Sprüchen zu neuen Umfra- ten die ersten 160 Hutu-Kämpfer in

gehöhen – indem er sie zunehmend AFP (L.); (R.) GETTY IMAGES ihrem Rückzugsgebiet, dem benachbar- dem neoliberalen Kurs von Premier Polit-Gegner Latham, Howard ten Kongo, die Waffen nieder und John Howard, 64, anpasst. Latham be- kehrten heim. Tausende Rebellen sol- fürwortet Kürzungen bei der Wohlfahrt, te, beschimpfte Latham den Regierungs- len dem Beispiel folgen. Die Kombat- weniger Steuern auf hohe Einkommen chef als „Arschkriecher“, der den „in- tanten gehen damit auf ein Angebot und setzt auf Leistung: „Ich glaube an kompetentesten und gefährlichsten der Regierung in Bujumbura ein. Die harte Arbeit.“ Dafür findet der Wirt- US-Präsidenten seit Menschengeden- hatte mit der einflussreichsten Guerilla- schaftswissenschaftler, der gern seine ken“ hofiere. Noch heute ist Howard truppe des Landes, den „Forces pour volksnahe Herkunft herausstreicht, so- für Latham ein „Bonsai“ – ein kleiner la défense de la démocratie” (FDD), gar beim linken Parteiflügel Unterstüt- Bush. Solche Kraftmeierei kommt an, ein Friedensabkommen geschlossen. zung. Die Gewerkschaftsfraktion fürch- zumal Latham sich privat als Raubein Den vorwiegend aus dem Volk der tet Labors Absturz in die Bedeutungslo- profilierte und einem Taxifahrer beim Hutu rekrutierten Aufständischen sigkeit mehr als den Sozialabbau. Kritik Streit um den Fahrpreis den Arm brach. werden vier Minister- und ein Gouver- übt Latham vor allem an der Gefolgs- Howards Popularitätskurve sackte von neursposten zugesichert. Der Bürger- treue des Premiers gegenüber den USA. 65 Prozent auf 46 Prozent, Lathams krieg in Burundi – einem Land nur Als Howard 2002 nach Washington reis- Wert stieg dagegen auf 31 Prozent. unwesentlich größer als Mecklenburg-

90 der spiegel 2/2004 Panorama Ausland

CHINA „Wir brauchen mehr Schutz“ Hu Shuli, 50, ist seit 1998 Chefredak- formationsfreiheit die entscheidende teurin des Wirtschaftsmagazins „Cai- Hürde, nicht die fehlende Meinungs- jing“, des Meinungsführers unter den freiheit. Es ist zum Beispiel schwer, Ge- etwa 25 überregionalen Wirtschafts- richts- oder Polizeiunterlagen einzuse- titeln der Volksrepublik. hen. Es ist auch schwer, Gehör bei Ver- antwortlichen zu erhalten, da die nicht

SPIEGEL: Haben die tief greifenden Ver- daran gewöhnt sind, mit der Presse zu / REX FEATURES FRASER JAMES änderungen des Medienmarkts die Pres- reden. Es gibt leider kein Gesetz über Nationalbewusste Briten se unabhängiger gemacht? das Recht auf Informationen wie in an- Hu: Es gibt mehr Wettbewerb, und es deren Ländern. GROSSBRITANNIEN gibt mehr Freiheiten. Die Gesellschaft SPIEGEL: Sind Sie wegen kritischer Be- ist offener geworden. Das Internet richte von Firmen verklagt worden? Singen für den Pass ermöglicht den Menschen Hu: Vier- oder fünfmal. Das einen besseren Zugang zu ist ein Problem: Unter- inwanderer, die einen britischen Informationen. Eine zentra- nehmen können uns wegen EPass erhalten wollen, sollen nach le Kontrolle der Presse ist Verleumdung vor Gericht Plänen von Innenminister David Blun- nicht mehr möglich und zerren, wo immer sie wol- kett nicht nur einen Eid auf die briti- wird auch nicht mehr für len – in Tibet oder in schen Gesetze sowie auf die Queen ab- notwendig gehalten. Kalifornien. Das kann für legen, sondern auch öffentlich unter SPIEGEL: Wo liegen die Gren- uns sehr teuer werden. Der einem Union Jack die Nationalhymne zen der Berichterstattung? Mangel an Rechtsschutz singen. Gegen diese Zeremonien, für Hu: In Wirtschafts- und Fi- für die Medien ist ein enor- welche die Aspiranten umgerechnet nanzfragen gibt es mehr Frei- mes Hindernis für freie, 95 Euro zahlen sollen, regt sich Wider- raum als in der Politik, aber unabhängige Bericht- stand bei etlichen Kommunen – die das auch dort ist die Berichter- erstattung. kollektive Absingen von „God save the stattung offener als früher. SPIEGEL: Die Regierung in Queen“ organisieren müssten. Labour- SPIEGEL: Aber im Hinter- Peking bereitet ein Pres- Gemeinderäten ist das Ritual zu konser-

grund wacht der Zensor? HE ZI / IMAGINECHINA segesetz vor. Erwarten Sie vativ und nationalistisch, schottische Hu: Im Gegensatz zur Vor- Hu Shuli dadurch eine Liberalisie- Lokalpolitiker dagegen sehen nicht ein, stellung vieler Leute liegen rung? warum die Briten-Hymne und nicht die Probleme der Medien nicht Hu: Fest steht: Unser Journalismus eine schottische intoniert werden soll. hauptsächlich im Bereich der Regie- braucht mehr Schutz durch das Rechts- rungskontrolle oder der Zensur. Es geht system. Die Verfassung sichert Mei- vielmehr um mangelhafte öffentliche nungsfreiheit zu, aber wir wissen alle, Informationen. Transparenz hat in Chi- dass Gesetz und Wirklichkeit nicht KROATIEN na keine Tradition. Deshalb ist die In- übereinstimmen. Druck aus Washington ie USA drängen die neue national- Vorpommern – zählt zu den blutigsten maligen deutschen Kolonie hält, ist den- Dkonservative kroatische Regierung in Afrika und hat in den vergangenen noch fraglich. Eine andere, kleinere von Ministerpräsident Ivo Sanader zu ei- Jahren bis zu 300000 Menschenleben Hutu-Bewegung, „Forces nationales de nem Politikwechsel. Ähnlich wie die EU gekostet. libération” (FNL), verursacht immer fordert Washington Kroatiens uneinge- Für die Untaten, die seine Hutu-Truppe wieder blutige Zwischenfälle. Kürzlich schränkte Zusammenarbeit mit dem unter der Zivilbevölkerung anrichtete, feuerten die Rebellen mit Mörsergrana- Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag: bat FDD-Chef Pierre Nkurunziza nun ten in die Hauptstadt des zentralafrika- Ex-General Ante Gotovina müsse um- um Vergebung – unmittelbar bevor er nischen Zwergstaats. Die Geschosse gehend der Haager Justiz ausgeliefert sein Ministeramt in der neuen Regie- verfehlten nur knapp die Residenz von werden. Außerdem gilt die bislang kei- rung antrat. Ob der Frieden in der ehe- Präsident Domitien Ndayizeye. nesfalls zufrieden stellend verlaufende Rückkehr serbischer Flüchtlinge als UGANDA Bewährungsprobe. Besonders am Herzen AFRIKA liegen Washington jedoch die bilateralen Beziehungen. Die hatten unter der ab- RUANDA Victoria- see lehnenden Haltung der linksgerichteten Kivusee Vorgängerregierung gegenüber dem Irak- Krieg erheblich gelitten. Die Bush-Admi- nistration erhofft nun von Sanader eine BURUNDI besondere Gefälligkeit, der sich die ab- DEMOKRATISCHE Bujumbura REPUBLIK gewählte Regierung mit Rücksicht auf KONGO die EU strikt verweigert hatte: Zagreb soll TANSANIA garantieren, dass amerikanische Staats-

KAREL PRINSLOO / AP KAREL PRINSLOO 100 km Tanganjikasee bürger nicht an den Internationalen Straf- Bürgerkriegsflüchtlinge in Bujumbura gerichtshof ausgeliefert werden.

der spiegel 2/2004 91 Panorama Ausland

CHINA „Wir brauchen mehr Schutz“ Hu Shuli, 50, ist seit 1998 Chefredak- formationsfreiheit die entscheidende teurin des Wirtschaftsmagazins „Cai- Hürde, nicht die fehlende Meinungs- jing“, des Meinungsführers unter den freiheit. Es ist zum Beispiel schwer, Ge- etwa 25 überregionalen Wirtschafts- richts- oder Polizeiunterlagen einzuse- titeln der Volksrepublik. hen. Es ist auch schwer, Gehör bei Ver- antwortlichen zu erhalten, da die nicht

SPIEGEL: Haben die tief greifenden Ver- daran gewöhnt sind, mit der Presse zu / REX FEATURES FRASER JAMES änderungen des Medienmarkts die Pres- reden. Es gibt leider kein Gesetz über Nationalbewusste Briten se unabhängiger gemacht? das Recht auf Informationen wie in an- Hu: Es gibt mehr Wettbewerb, und es deren Ländern. GROSSBRITANNIEN gibt mehr Freiheiten. Die Gesellschaft SPIEGEL: Sind Sie wegen kritischer Be- ist offener geworden. Das Internet richte von Firmen verklagt worden? Singen für den Pass ermöglicht den Menschen Hu: Vier- oder fünfmal. Das einen besseren Zugang zu ist ein Problem: Unter- inwanderer, die einen britischen Informationen. Eine zentra- nehmen können uns wegen EPass erhalten wollen, sollen nach le Kontrolle der Presse ist Verleumdung vor Gericht Plänen von Innenminister David Blun- nicht mehr möglich und zerren, wo immer sie wol- kett nicht nur einen Eid auf die briti- wird auch nicht mehr für len – in Tibet oder in schen Gesetze sowie auf die Queen ab- notwendig gehalten. Kalifornien. Das kann für legen, sondern auch öffentlich unter SPIEGEL: Wo liegen die Gren- uns sehr teuer werden. Der einem Union Jack die Nationalhymne zen der Berichterstattung? Mangel an Rechtsschutz singen. Gegen diese Zeremonien, für Hu: In Wirtschafts- und Fi- für die Medien ist ein enor- welche die Aspiranten umgerechnet nanzfragen gibt es mehr Frei- mes Hindernis für freie, 95 Euro zahlen sollen, regt sich Wider- raum als in der Politik, aber unabhängige Bericht- stand bei etlichen Kommunen – die das auch dort ist die Berichter- erstattung. kollektive Absingen von „God save the stattung offener als früher. SPIEGEL: Die Regierung in Queen“ organisieren müssten. Labour- SPIEGEL: Aber im Hinter- Peking bereitet ein Pres- Gemeinderäten ist das Ritual zu konser-

grund wacht der Zensor? HE ZI / IMAGINECHINA segesetz vor. Erwarten Sie vativ und nationalistisch, schottische Hu: Im Gegensatz zur Vor- Hu Shuli dadurch eine Liberalisie- Lokalpolitiker dagegen sehen nicht ein, stellung vieler Leute liegen rung? warum die Briten-Hymne und nicht die Probleme der Medien nicht Hu: Fest steht: Unser Journalismus eine schottische intoniert werden soll. hauptsächlich im Bereich der Regie- braucht mehr Schutz durch das Rechts- rungskontrolle oder der Zensur. Es geht system. Die Verfassung sichert Mei- vielmehr um mangelhafte öffentliche nungsfreiheit zu, aber wir wissen alle, Informationen. Transparenz hat in Chi- dass Gesetz und Wirklichkeit nicht KROATIEN na keine Tradition. Deshalb ist die In- übereinstimmen. Druck aus Washington ie USA drängen die neue national- Vorpommern – zählt zu den blutigsten maligen deutschen Kolonie hält, ist den- Dkonservative kroatische Regierung in Afrika und hat in den vergangenen noch fraglich. Eine andere, kleinere von Ministerpräsident Ivo Sanader zu ei- Jahren bis zu 300000 Menschenleben Hutu-Bewegung, „Forces nationales de nem Politikwechsel. Ähnlich wie die EU gekostet. libération” (FNL), verursacht immer fordert Washington Kroatiens uneinge- Für die Untaten, die seine Hutu-Truppe wieder blutige Zwischenfälle. Kürzlich schränkte Zusammenarbeit mit dem unter der Zivilbevölkerung anrichtete, feuerten die Rebellen mit Mörsergrana- Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag: bat FDD-Chef Pierre Nkurunziza nun ten in die Hauptstadt des zentralafrika- Ex-General Ante Gotovina müsse um- um Vergebung – unmittelbar bevor er nischen Zwergstaats. Die Geschosse gehend der Haager Justiz ausgeliefert sein Ministeramt in der neuen Regie- verfehlten nur knapp die Residenz von werden. Außerdem gilt die bislang kei- rung antrat. Ob der Frieden in der ehe- Präsident Domitien Ndayizeye. nesfalls zufrieden stellend verlaufende Rückkehr serbischer Flüchtlinge als UGANDA Bewährungsprobe. Besonders am Herzen AFRIKA liegen Washington jedoch die bilateralen Beziehungen. Die hatten unter der ab- RUANDA Victoria- see lehnenden Haltung der linksgerichteten Kivusee Vorgängerregierung gegenüber dem Irak- Krieg erheblich gelitten. Die Bush-Admi- nistration erhofft nun von Sanader eine BURUNDI besondere Gefälligkeit, der sich die ab- DEMOKRATISCHE Bujumbura REPUBLIK gewählte Regierung mit Rücksicht auf KONGO die EU strikt verweigert hatte: Zagreb soll TANSANIA garantieren, dass amerikanische Staats-

KAREL PRINSLOO / AP KAREL PRINSLOO 100 km Tanganjikasee bürger nicht an den Internationalen Straf- Bürgerkriegsflüchtlinge in Bujumbura gerichtshof ausgeliefert werden.

der spiegel 2/2004 91 JOHN GRESS/REUTERS/E-LANCE MEDIA Wahlkämpfer Dean in Iowa: Den Anhängern winkt ein Abenteuer auf Zeit oder ein Job im Weißen Haus

USA „Holt euch Amerika zurück“ Zu Beginn des Wahljahres liegt Amtsinhaber George W. Bush beim Kampf um das Weiße Haus deutlich vorn. Doch ein Außenseiter aus Vermont, Ex-Gouverneur Howard Dean, hat die Demokraten wieder gestärkt und macht sich daran, seine Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.

or wenig mehr als einem Jahr fasste densfreunde. Der unkonventionelle Wahl- der demokratischen Partei, die am 19. Ja- ein weithin unbekannter Mann hoch kämpfer mit dem Talent zum Erwe- nuar im ländlichen Iowa beginnen und Voben im schönen Vermont den Ent- ckungsprediger hat für diese anschwellen- ihren Höhepunkt am 2. März erleben. schluss, der nächste Präsident der Verei- de Bewegung den Zaubersatz geprägt: Das Weiße Haus stellt sich schon vor- nigten Staaten zu werden. Er mietete ein „Holt euch Amerika zurück.“ Entreißt das sorglich auf Dean als Gegner am 2. No- Büro für sieben Mitarbeiter; auf dem Bank- Land den Republikanern, soll das wohl vember ein. konto lagen ganze 157000 Dollar. Fortan heißen, und bringt es wieder auf die rich- Nur das Establishment der Demokraten, reiste er durchs Land und verbreitete sei- tige Spur. mit Bill Clinton als Spinne im Netz, erfasst ne Botschaft: Erstens sei der Krieg im Irak Dean ist auf gutem Weg. Zu Beginn des Schauder bei der Vorstellung, dass dieser falsch und ungerecht und zweitens George Wahljahres 2004 hat er sich an die Spitze Linksabweichler aus dem Nordosten ihr W. Bush ohnehin ein Unglück für das der neun demokratischen Bewerber ge- Kandidat werden könnte. Land. setzt, die Präsident werden wollen. Der Bei fast jeder Präsidentenwahl tritt in Das Echo war ein lauter Jubelschrei un- kleine Doktor ist ein großer Geldeintreiber Amerika ein Kandidat auf, der aus dem ter den Demokraten, der seither nicht und verfügt inzwischen über 40 Millionen Nichts kommt und mit einem Paukenschlag mehr verhallt ist. Howard Dean, 55, der Dollar – weit mehr, als ursprüngliche Fa- Ruhm und Gefolgschaft auf sich zieht. „kleine Doktor“, von Beruf Internist und voriten wie etwa John Kerry aufbringen. Amerika liebt diese „Mavericks“, die ge- ehemals Gouverneur im zweitkleinsten Die Dean-Kampagne hat auch all das, wor- gen alles kämpfen, was mit Washington US-Bundesstaat, ist inzwischen die Sensa- an es etwa dem Ex-General Wesley Clark verbunden ist und am Ende manchmal so- tion der Saison. mangelt: eine Massenbasis, dazu Enthu- gar gewinnen – wie 1976 der Erdnussfarmer Der Sohn eines prominenten Wall- siasmus, Idealismus, Engagement – große Jimmy Carter oder 1992 der junge, unbe- Street-Bankers und Erzrepublikaners stieg Gemeinschaftsgefühle und eine tiefe Ver- kannte Bill Clinton. auf zum Helden der demokratischen Par- achtung des in Washington regierenden Manchmal endet ein solches Abenteuer teisoldaten und der Gewerkschafter, zum Neokonservatismus. aber auch in einer schrecklichen Schmach. Lieblingskandidaten der Nonkonformisten, Deshalb besitzt der Außenseiter die bes- So geschah es den Demokraten 1972 mit der Anti-Establishment-Wähler und Frie- ten Chancen bei den Vorwahlen innerhalb George McGovern, der mit ähnlich mora-

92 der spiegel 2/2004 Ausland

Der Milliardär George Soros, der Bush mindestens genauso dringend wie Dean aus dem Weißen Haus vertreiben möchte, war von so viel Einfallsreichtum und En- gagement derart angetan, dass er Move- On.org fünf Millionen Dollar spendiert: Das ist eine liberale Website, die Geld für Anti-Bush-Wahlspots in den wichtigsten Schlüsselstaaten sammelt. Durch das Internet werden die Dean- Anhänger zur Dean-Gemeinde. Und dank des Internets fließt das Geld reichlicher als bei jedem Konkurrenten. Knapp 300000 eingetragene Mitglieder bilden derzeit die Dean-Fankurve, Tendenz steigend. Jeder

TIM SLOAN / AFP TIM SLOAN von ihnen hat im Durchschnitt 74 Dol- Schlacht ums Weiße Haus Die Wahl des US-Präsidenten 2004 NOMINIERUNGSWAHLKAMPF In den einzelnen Bundesstaaten entscheiden vor allem eingeschriebene Parteimitglieder über den Präsidentschaftskandidaten. Bei den Republikanern hat George W. Bush keinen Konkurrenten. Unter den Demokraten gilt derzeit Howard Dean als Favorit. Wahlkämpfer Bush in Minnesota: Popularitätssturz gestoppt die wichtigsten Vorwahlen 19. Januar • Vorwahlen in Iowa, wo der Tra- lischer Unbedingtheit wie Dean heute ge- In Deans Wahlkampfzentrale in ditionsdemokrat Dick Gephardt gen den Krieg, damals in Vietnam, auftrat Burlington, der größten Stadt Ver- besonders stark ist. und sich eine bittere Niederlage gegen den monts, tummeln sich mittlerweile 27. Januar • Vorwahlen in New Hampshire, Amtsinhaber Richard Nixon zuzog. Die ganze Legionen überzeugter Kriegs- um das Howard Dean und John Zentristen um Clinton befürchten, dass gegner. Die Telefonanlage bedient Kerry streiten. sich die Geschichte diesmal wiederholt. der pensionierte Superintendent ei- Daher suchen sie händeringend nach ei- nes Schulbezirks. Bobby Clark, für 3. Februar • „Super-Tuesday“, Vorwahlen in 8 Bundesstaaten, vor allem nem gemäßigten Gegenspieler, um Dean die Finanzen zuständig, gehört zu im Westen und Süden, der politi- doch noch zu verhindern. den sieben Aufrechten des Anfangs schen Heimat von John Edwards Dabei ist es ohnehin eine Herkules-Auf- und sagt, die Dean-Kampagne funk- gabe, George W. Bush zu besiegen. Der tioniere eigentlich wie ein erfolg- 2. März • Vorwahlen in 11 Bundes- einsetzende Wirtschaftsaufschwung und reiches Startup-Unternehmen: Eine staaten, darunter Kalifornien der überraschende Fang Saddam Husseins gute Idee lockt ganze Heerscharen NOMINIERUNG in einem Erdloch haben den Popularitäts- an, der Erfolg bedingt den Erfolg. Der siegreiche Bewerber wird auf einem sturz des Präsidenten schlagartig gestoppt. Matthew Gross löste seine Woh- Parteitag offiziell gekürt. Seit auch Muammar al-Gaddafi unverhofft nung in Utah auf, fuhr im Auto nach 26. bis 29. Juli • Parteitag der Demokraten zu Kreuze kroch, bekommt Bush wieder Burlington und heuerte als Freiwilli- in Boston 63 Prozent Zustimmung. ger an; heute nennt er sich Internet- Zudem verfügt der Texaner im Weißen Direktor für Kommunikation. So ha- 30. August bis • Parteitag der Republikaner 2. September in New York Haus über das schlagkräftigste und kom- ben es viele gehalten, sie kamen auf promissloseste Wahlkampfteam, das je ein gut Glück, weil Dean ihnen aus der 2. November PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL republikanischer Präsident um sich ver- Seele sprach. Dafür spendieren sie sammelt hat. In seiner Kriegskasse sind ihm nun anderthalb Jahre ihres Le- jetzt schon 120 Millionen Dollar, die Sum- bens. Entweder erleben sie ein Abenteuer lar gespendet. Das Traumziel des Wahl- me soll bis zum Sommer auf 200 Millionen auf Zeit, oder ihnen winkt ein Job im kampfmanagers Joe Trippi ist es, bis zum anwachsen. Weißen Haus. Sommer 200 Millionen Dollar einzutreiben Doch das beste Beispiel dafür, wie Seine enthusiastische, gebefreudige Ge- – genauso viel wie George W. Bush. schnell und unvorhersehbar die Stimmung folgschaft findet der Kandidat über das In- Nur der Zulauf aus dem Establishment kippen kann, liefern die Demokraten ternet. Es ist seine Geldmaschine und zu- der Demokraten blieb Dean bislang ver- selbst. Das Phänomen Dean ist eine radi- gleich ein Dean-Kosmos mit eigenen Re- sagt – mit einer Ausnahme: Ausgerechnet kale Reaktion auf die überschwängliche geln und Riten. Inzwischen gibt es über Al Gore, der Verlierer von 2000, hat Welle des Patriotismus, dem sich nach dem 900 Dean-Websites, die seine Anhänger be- seine Sympathie für den kraftvollen Ein- 11. September auch die Mitbewerber nicht treiben. Über Meetup.com vereinbaren sie zelgänger entdeckt. Auf der Website entziehen konnten: Kerry, Joe Lieberman Treffen im ganzen Land; am 6. jedes Mo- deanforamerica.com wirbt er für weitere und Dick Gephardt stimmten den Kriegs- nats ist ein „nationaler Dean-Day“; an Sil- Spenden mit dem Satz: „Er ist der stärkste resolutionen zu. Dem Außenseiter Dean vester feierten sie überall Dean-Partys – Kandidat, den wir haben. Howard Dean ist es seit dem Nachkriegsdesaster im Irak dabei zu sein gilt inzwischen als schick. kann George W. Bush schlagen.“ ein Leichtes, ihnen Willfährigkeit gegen- Was im Schneeballverfahren begann, ist Bis er diesen Beweis antreten kann, über Bush vorzuwerfen. zur Lawine geraten. muss sich der Außenseiter jedoch erst von

der spiegel 2/2004 93 Ausland Ergiebige Fehlerquellen Amerikas elektronische Wahlmaschinen sind anfällig für Manipulationen.

alden O’Dell darf sich „Pio- trollieren, ob die Maschine wirklich re- nier“ nennen. Für diesen Eh- gistriert, was sie registrieren soll. Wrentitel der Republikaner hat Dabei sind Abweichungen keine Sel- sich der Manager aus North Canton im tenheit, wie vor anderthalb Jahren bei Bundesstaat Ohio qualifiziert, weil er Stichproben in Dallas und Georgia her- 600000 Dollar für den Wahlkampf von auskam: Tausende Stimmen hatte der

George W. Bush gesammelt hat. Dazu Wahlcomputer entweder falsch zuge- / AP MONSIVAIS MARTINEZ PABLO leistete er den schmissigen Schwur, er ordnet oder gar nicht gezählt. Der Bild- Parteifreunde Clark, Clinton werde alles dafür tun, dass Ohio 2004 schirm hätte sich durch häufigen Ge- Warten auf Hillary „an den Präsidenten fällt“. brauch selbst falsch kalibriert, lautete Doch mit diesem Satz hat O’Dell die lahme Erklärung. einem anderen Mühlstein befreien. Bislang mehr Aufsehen erregt, als ihm lieb sein Mittlerweile haben sich ganze Le- war Bill Clinton die Seele der Partei, ihr kann. Denn der Pionier ist nebenher gionen Computer-Freaks über die Soft- unbestrittener Heros. Er beherrscht sie Vorstandsvorsitzender des Diebold- und Hardware der Rechner herge- über alte Gefolgsleute aus dem Weißen Konzerns, der unter anderem elektro- macht und ergiebige Fehlerquellen ent- Haus und wacht über sein Erbe. nische Wahlmaschinen herstellt. Rund deckt. Da, anders als an Geldautoma- Clinton gibt selbst keine öffentlichen 40000 davon stehen in 37 Bundesstaa- ten, nicht die exakte Zeit der Eingabe Kommentare zum Wettrennen der Bewer- aufgezeichnet wird, können ber ab – er lässt sie abgeben. Und Gele- sinistre Geister nachträglich genheiten zu kritischen Anmerkungen fin- für das gewünschte Ergebnis den sich beim unverbesserlichen Sponti sorgen, ohne dass es bei der Dean fast täglich. Als Präsident Bush die üblich niedrigen Wahlbeteili- Gefangennahme Saddams feierte („Ame- gung auffällt. Diebold gestand rika hat an Sicherheit gewonnen“), ant- sogar ein, dass der Daten- wortete Dean umgehend, Amerika sei da- bestand vor dem Auszählen durch keineswegs sicherer geworden. Das der abgegebenen Stimmen ist zwar sachlich richtig, wie der erhöhte nicht verschlüsselt worden Terroralarm über die Feiertage illustriert, war – für Hacker ein gefun- aber politisch angreifbar. denes Fressen. Joe Lockhart, der Sprecher des Ex-Prä- Ironischerweise sollen die sidenten, fasste die geballten Bedenken ge-

DON WRIGHT / AP elektronischen Maschinen die gen den Außenseiter aus dem Nordosten Elektronisches Abstimmungsterminal Wiederkehr jener Peinlichkei- zusammen: „Es sind seine improvisierten, Anstößige Regierungsnähe ten verhindern, die 2000 in unbedachten Stellungnahmen, die ihn in Florida auftraten und Bushs Schwierigkeiten stürzen.“ ten und sollen am 2. November Stim- Wahl in Zwielicht tauchten: Veraltete Spät, aber mit dem Segen Clintons ist men erfassen und auszählen. Diebold Geräte waren damals außer Stande, deshalb der pensionierte General Clark ins steht auf Platz zwei gleich hinter dem nicht penibel gestanzte Wahlzettel zu Rennen gegangen. Anfangs musste er Marktführer Election Systems&Soft- lesen – sie blieben ungültig. mächtig rudern, doch mittlerweile lernt er ware, den Chuck Hagel als Chef vor- Für die Modernisierung gibt der US- mit der ihm eigenen Intensität Wahlkampf angebracht hat, ehe er sich zum repu- Kongress knapp vier Milliarden Dollar und Politik. Der Papierform nach ist er, blikanischen Senator von Nebraska aus. Im Jahr 2006 wird die Umstellung der Kosovo-Feldherr, ein geradezu idealer wählen ließ. auf das digitale Zeitalter abgeschlossen Gegenspieler für Präsident Bush. „Ich bin In Amerika überlässt der Staat neu- sein. Bis zum 2. November sollen be- der Einzige, der je einen Diktator nieder- erdings privaten Firmen die Entschei- reits in rund 20 Prozent aller Wahl- gezwungen hat“, rühmt sich Clark ge- dung über die Technik des Wahlver- lokale neue Bildschirme in Betrieb genüber den anderen Demokraten. Ihm fahrens. Dass dabei die Branchengrö- gehen. hängt allerdings der tückische Satz aus an- ßen um Regierungsnähe buhlen, ist Nun strampelt Hersteller Diebold onymer Quelle an, dass er ein vorzügli- schon anstößig genug. Zudem aber hat mit allerlei unzureichenden Erklärun- cher Vizepräsident wäre. O’Dell die Aufmerksamkeit unfreiwillig gen für die mangelhafte Software. Howard Dean kann vielleicht die de- auf die Manipulierbarkeit der Produk- Dabei könnte der Konzern von der mokratischen Vorwahlen gegen Clintons te gelenkt. kleinen, feinen Konkurrenz lernen. Die Wunsch und Willen gewinnen – aber auch Wahlmaschinen funktionieren im Firma Avante kombiniert digitales das Duell mit Bush? Vielleicht verschleißt er Grunde wie Geldautomaten: Der Wäh- Hightech mit altmodischem Papieraus- sich auch auf dem langen Weg dorthin – ler tippt auf dem Bildschirm den Na- zug. So kann sich jeder Wähler verge- oder wird für ein höheres Gut verschlissen. men seines Kandidaten an. Anders wissern, ob der Computer wirklich Denn Bill Clinton wird die Ansicht nachge- aber als am Geldautomaten bekommt seinen Wunsch ausgeführt hat – und sagt, dass seine Frau Hillary nicht unbe- er keinerlei Beleg für die Wahl, die er die Manipulation ist, zumindest weit- dingt bis 2008 warten sollte, um sich für ei- getroffen hat. Er kann daher nicht kon- gehend, erschwert. nen neuerlichen Einzug ins Weiße Haus zu bewerben. Und für sie wäre General Clark wirklich der ideale Vize. Gerhard Spörl

94 der spiegel 2/2004 Ausland Ergiebige Fehlerquellen Amerikas elektronische Wahlmaschinen sind anfällig für Manipulationen.

alden O’Dell darf sich „Pio- trollieren, ob die Maschine wirklich re- nier“ nennen. Für diesen Eh- gistriert, was sie registrieren soll. Wrentitel der Republikaner hat Dabei sind Abweichungen keine Sel- sich der Manager aus North Canton im tenheit, wie vor anderthalb Jahren bei Bundesstaat Ohio qualifiziert, weil er Stichproben in Dallas und Georgia her- 600000 Dollar für den Wahlkampf von auskam: Tausende Stimmen hatte der

George W. Bush gesammelt hat. Dazu Wahlcomputer entweder falsch zuge- / AP MONSIVAIS MARTINEZ PABLO leistete er den schmissigen Schwur, er ordnet oder gar nicht gezählt. Der Bild- Parteifreunde Clark, Clinton werde alles dafür tun, dass Ohio 2004 schirm hätte sich durch häufigen Ge- Warten auf Hillary „an den Präsidenten fällt“. brauch selbst falsch kalibriert, lautete Doch mit diesem Satz hat O’Dell die lahme Erklärung. einem anderen Mühlstein befreien. Bislang mehr Aufsehen erregt, als ihm lieb sein Mittlerweile haben sich ganze Le- war Bill Clinton die Seele der Partei, ihr kann. Denn der Pionier ist nebenher gionen Computer-Freaks über die Soft- unbestrittener Heros. Er beherrscht sie Vorstandsvorsitzender des Diebold- und Hardware der Rechner herge- über alte Gefolgsleute aus dem Weißen Konzerns, der unter anderem elektro- macht und ergiebige Fehlerquellen ent- Haus und wacht über sein Erbe. nische Wahlmaschinen herstellt. Rund deckt. Da, anders als an Geldautoma- Clinton gibt selbst keine öffentlichen 40000 davon stehen in 37 Bundesstaa- ten, nicht die exakte Zeit der Eingabe Kommentare zum Wettrennen der Bewer- aufgezeichnet wird, können ber ab – er lässt sie abgeben. Und Gele- sinistre Geister nachträglich genheiten zu kritischen Anmerkungen fin- für das gewünschte Ergebnis den sich beim unverbesserlichen Sponti sorgen, ohne dass es bei der Dean fast täglich. Als Präsident Bush die üblich niedrigen Wahlbeteili- Gefangennahme Saddams feierte („Ame- gung auffällt. Diebold gestand rika hat an Sicherheit gewonnen“), ant- sogar ein, dass der Daten- wortete Dean umgehend, Amerika sei da- bestand vor dem Auszählen durch keineswegs sicherer geworden. Das der abgegebenen Stimmen ist zwar sachlich richtig, wie der erhöhte nicht verschlüsselt worden Terroralarm über die Feiertage illustriert, war – für Hacker ein gefun- aber politisch angreifbar. denes Fressen. Joe Lockhart, der Sprecher des Ex-Prä- Ironischerweise sollen die sidenten, fasste die geballten Bedenken ge-

DON WRIGHT / AP elektronischen Maschinen die gen den Außenseiter aus dem Nordosten Elektronisches Abstimmungsterminal Wiederkehr jener Peinlichkei- zusammen: „Es sind seine improvisierten, Anstößige Regierungsnähe ten verhindern, die 2000 in unbedachten Stellungnahmen, die ihn in Florida auftraten und Bushs Schwierigkeiten stürzen.“ ten und sollen am 2. November Stim- Wahl in Zwielicht tauchten: Veraltete Spät, aber mit dem Segen Clintons ist men erfassen und auszählen. Diebold Geräte waren damals außer Stande, deshalb der pensionierte General Clark ins steht auf Platz zwei gleich hinter dem nicht penibel gestanzte Wahlzettel zu Rennen gegangen. Anfangs musste er Marktführer Election Systems&Soft- lesen – sie blieben ungültig. mächtig rudern, doch mittlerweile lernt er ware, den Chuck Hagel als Chef vor- Für die Modernisierung gibt der US- mit der ihm eigenen Intensität Wahlkampf angebracht hat, ehe er sich zum repu- Kongress knapp vier Milliarden Dollar und Politik. Der Papierform nach ist er, blikanischen Senator von Nebraska aus. Im Jahr 2006 wird die Umstellung der Kosovo-Feldherr, ein geradezu idealer wählen ließ. auf das digitale Zeitalter abgeschlossen Gegenspieler für Präsident Bush. „Ich bin In Amerika überlässt der Staat neu- sein. Bis zum 2. November sollen be- der Einzige, der je einen Diktator nieder- erdings privaten Firmen die Entschei- reits in rund 20 Prozent aller Wahl- gezwungen hat“, rühmt sich Clark ge- dung über die Technik des Wahlver- lokale neue Bildschirme in Betrieb genüber den anderen Demokraten. Ihm fahrens. Dass dabei die Branchengrö- gehen. hängt allerdings der tückische Satz aus an- ßen um Regierungsnähe buhlen, ist Nun strampelt Hersteller Diebold onymer Quelle an, dass er ein vorzügli- schon anstößig genug. Zudem aber hat mit allerlei unzureichenden Erklärun- cher Vizepräsident wäre. O’Dell die Aufmerksamkeit unfreiwillig gen für die mangelhafte Software. Howard Dean kann vielleicht die de- auf die Manipulierbarkeit der Produk- Dabei könnte der Konzern von der mokratischen Vorwahlen gegen Clintons te gelenkt. kleinen, feinen Konkurrenz lernen. Die Wunsch und Willen gewinnen – aber auch Wahlmaschinen funktionieren im Firma Avante kombiniert digitales das Duell mit Bush? Vielleicht verschleißt er Grunde wie Geldautomaten: Der Wäh- Hightech mit altmodischem Papieraus- sich auch auf dem langen Weg dorthin – ler tippt auf dem Bildschirm den Na- zug. So kann sich jeder Wähler verge- oder wird für ein höheres Gut verschlissen. men seines Kandidaten an. Anders wissern, ob der Computer wirklich Denn Bill Clinton wird die Ansicht nachge- aber als am Geldautomaten bekommt seinen Wunsch ausgeführt hat – und sagt, dass seine Frau Hillary nicht unbe- er keinerlei Beleg für die Wahl, die er die Manipulation ist, zumindest weit- dingt bis 2008 warten sollte, um sich für ei- getroffen hat. Er kann daher nicht kon- gehend, erschwert. nen neuerlichen Einzug ins Weiße Haus zu bewerben. Und für sie wäre General Clark wirklich der ideale Vize. Gerhard Spörl

94 der spiegel 2/2004 SPIEGEL: Doch genau dafür hat Bush den Krieg angeblich geführt. SPIEGEL-GESPRÄCH Kennedy: Wir sollten dem Irak keine De- mokratie nach westlichem Vorbild auf- zwingen. In mancher Beziehung ist die Re- „Ein entsetzlicher Fehler“ gierung Bush eben doch die ideologischste Regierung Amerikas seit vielen Jahren. Der Historiker Paul Kennedy über die Verstrickung der Weltmacht Selbst Ronald Reagan, der wie ein Ideolo- ge klang, war tatsächlich ungeheuer prag- USA im Irak, ihr Verhältnis zur islamischen Welt und den matisch, mit Außenminister George Shultz Einfluss der neokonservativen Ideologen auf George W. Bush an seiner Seite. Die Regierung Bush dage- gen wähnt sich wirklich auf einem Kreuz- Kennedy, 58, britischer Geschichtswis- zug. So beging sie die größte Sünde, die in senschaftler, ist Direktor für Internatio- der Staatskunst möglich ist: Sie hört nur, nale Sicherheitsstudien an der amerika- was sie hören will. nischen Universität Yale. Er wurde be- SPIEGEL: Und sieht, was sie sehen will, selbst kannt durch den Weltbestseller „Aufstieg wenn Massenvernichtungswaffen bislang und Fall der großen Mächte“. nicht gefunden wurden. Kennedy: Jedenfalls kann sich die US-Re- SPIEGEL: Professor Kennedy, in den USA gierung nicht auf einen Mangel an Geheim- hat ein Wahljahr begonnen. Für die Her- dienstinformationen herausreden. Sämt- ausforderer von George W. Bush und den liche verfügbaren Fakten haben Wolfowitz Präsidenten selbst wird der Irak ein heik- und Rumsfeld, Cheney und Bush ja vorge- les Wahlkampfthema werden, fast jeden legen – sie wollten sie aber nicht zur Kennt- Tag gibt es neue Anschläge. Was tobt der- nis nehmen. zeit dort – ein Krieg, ein Mittelding zwi- SPIEGEL: Es stimmt also, dass neokonser- schen Krieg und Frieden, ein Guerilla- vative Ideologen diese Regierung gekid- kampf? nappt haben, wie US-Kritiker vermuten? Kennedy: Es sieht nach einer sehr langen Kennedy: Mein Freund, der Historiker Vol- Phase asymmetrischer Kriegführung aus – ker Berghahn, hat einmal die deutsche Geis- gegen eine Vielzahl von Feinden: Mitglie- teshaltung vor 1914 als eine Art Autismus der der Baath-Partei, Saddam-Loyalisten, beschrieben, als Unfähigkeit, sich selbst

einige internationale Mudschahidin, reli- KEIFEL HOLGER aus der Distanz zu betrachten. Das sehe ich giöse Fanatiker, die die amerikanische Geschichtsforscher Kennedy zurzeit auch hier in Amerika. Präsenz im Land für inakzeptabel halten. „Die Regierung hört, was sie hören will“ Den Irak-Krieg lediglich als Krieg ums Öl Washington hat im Irak einen entsetzlichen zu beschreiben scheint mir eine zweitran- Fehler begangen. Die Berater des Präsiden- Kennedy: Ohne Zweifel, vor allem in der gige Erklärung zu sein. Ich denke noch ten haben sich militärisch wie auch poli- jüngeren Generation. Zu den verstörends- nicht einmal, dass der Krieg aus innen- tisch geirrt, und jetzt zahlen wir einen ho- ten Bildern aus dem Irak gehören für mich politischen Motiven geführt wird. Ich fürch- hen Preis dafür. die von den 80 oder 90 Jugendlichen, die te, er hat mit einer bestimmten Geistes- SPIEGEL: Hat der Kampf gegen den Terro- auf dem Dach der abgeschossenen Hub- haltung zu tun. Solange ich keine gegen- rismus die Zahl der Terroristen vermehrt? schrauber oder ausgebrannten Humvees teiligen Beweise sehe, glaube ich, dass herumspringen und jubeln. Für das Pro- diese Regierung wirklich angetrieben wur- Das Gespräch führten die Redakteure Carolin Emcke und jekt von Demokratie und Toleranz haben de von ihrer Vision für Amerikas Rolle in Gerhard Spörl. wir eine ganze Generation verloren. der Welt, von einer Art Sendung. Da sind FOUR CORNERS MEDIA / SIPA PRESS FOUR MEDIA / SIPA CORNERS Anschlag auf das Restaurant Nabil in Bagdad (am 31. Dezember): „Für Demokratie und Toleranz haben wir eine ganze Generation verloren“

der spiegel 2/2004 95 Ausland nicht Zyniker am Werk. Sie meinen, was oder zu fangen und danach vieles den Ver- sie sagen. einten Nationen, Unicef und dem World SPIEGEL: Die Mission besteht darin, Ame- Food Programme zu überlassen. Nun pas- rikas überragender Macht Geltung und siert das Gegenteil, Saddam ist gefasst, das Wirkung zu verschaffen, ein amerikani- Militär bleibt, und die zivilen Hilfsorgani- sches Imperium zu errichten. Was zeichnet sationen halten sich zurück, weil sie sich in der jetzigen Weltlage eigentlich ein Im- das Risiko nicht leisten können. perium aus? SPIEGEL: Sie blicken also pessimistisch auf Kennedy: Nach der traditionellen Defini- die Zukunft des Irak? tion übernahmen die Briten etwa die Herr- Kennedy: Ich bin pessimistisch, denn was im schaft in Bombay, installierten einen re- Irak passiert, wirkt sich auf die gesamte gierenden General, verfügten über kolo- Region aus. Wir haben ein substanzielles niale Truppen und lokale Kollaborateure und langfristiges Problem in unseren Be- und kontrollierten die Außenbeziehungen. ziehungen mit der arabischen Welt. Ich Nun, diese Idee vom Empire ist für kom- sehe auch keine politische Lösung an der pliziertere Verhältnisse zu schlicht. Denn palästinensisch-israelischen Front. Der is- wenn Sie zum Beispiel Buenos Aires um raelische Premier Scharon macht mit seiner 1900 besucht hätten, dann hätten Sie sich Härte alles noch viel schlimmer. Die Kräf- auch im britischen Imperium geglaubt: Der te von Wut und Frustration sind zu stark. Schienenverkehr gebaut von schottischen Amerika hat das nicht angestiftet. Unruhe Ingenieuren, Schiffsverbindungen nach und Zorn waren schon in der gesamten is- Liverpool und Southampton, die Investi- lamischen Welt verbreitet, von Algerien tionen kamen alle aus London, die Archi- bis Indonesien. Aber Amerika hat es be-

tektur war europäisch, die Exportproduk- GETTY IMAGES fördert und die Lage dadurch weiter ver- te Fleisch und Lebensmittel wurden nach US-Feind Bin Laden schlimmert. Was den Nahen Osten anbe- England ausgeführt. „Starke Kräfte der Wut“ langt, bin ich wirklich hoffnungslos. SPIEGEL: Also eine Art informelles SPIEGEL: Sehen Sie, ein Brite in Empire? Amerika, etwa auch die Zukunft Kennedy: Genau. Und wenn Sie Amerikas in trübem Licht? sich heutzutage jene Länder an- Kennedy: Nein, da bin ich eindeu- schauen, in denen der amerikani- tig zuversichtlich. Amerika hat un- sche Einfluss so enorm ist – Süd- geheure intellektuelle und zivile korea, die Philippinen bis nach Af- Ressourcen. Auch demografisch ghanistan, die Golfstaaten –, nun, sind die USA weitaus besser auf- das sieht aus wie ein Imperium, gestellt als die meisten europäi- handelt wie ein Imperium, läuft schen Länder, die ja in eine finstere wie ein Imperium, und es quakt Zukunft blicken. Zudem hat die wie ein Imperium – wahrschein- geografische Weite der USA eine lich ist es ein Imperium. eigentümlich psychologische Wir- SPIEGEL: Doch von jeher gab es kung: Sie schürt die Vorstellung, Zweifel daran, dass die USA auch dass sich die Menschen und das wie ein Imperium handeln kön- Land ständig erneuern und neu er- nen, weil seine Bürger nicht bereit finden können. sind, den Preis dafür zu zahlen. Die Regierenden in Washington

Kennedy: Ich denke, die Amerika- AZZAMAN / DPA mögen irren, die Generäle Fehler in ner können den Preis bezahlen US-Feind Saddam*: „Bescheidene Bedrohung“ Bagdad begehen, es wird von Zeit und sind bereit dazu, wenn sie von zu Zeit vielleicht einen Anthrax- der Sache überzeugt sind oder zumindest mit der Guerilla im Irak oder die Schwie- Anschlag oder einen terroristischen Überfall glauben, dass sie es wert ist. Der Unwille, rigkeiten, den Krieg zu legitimieren? geben – aber man muss sich schon ein sehr der zurzeit deutlich wird, ist nicht eine Fra- Kennedy: Bisher ist die militärische Bedro- drastisches Szenario ausmalen, damit ein ge der Kosten – auch wenn jüngst wieder hung bescheiden. Gewiss, mitunter Dut- so großes Land mit fast 10 Millionen Qua- 43000 Reservisten und Nationalgardisten zende Soldaten in einer Woche zu verlie- dratkilometern und 288 Millionen Men- in den Irak entsandt wurden. ren ist eine traurige und schlechte Nach- schen wirklich hart getroffen werden kann. SPIEGEL: Hat der Unwille damit zu tun, dass richt. Aber Henry Kissinger sprach hier in SPIEGEL: Das klingt, als glaubten Sie, die die amerikanischen Streitkräfte sich vor- Yale unlängst über die Bombardierung USA blieben auf unbestimmte Zeit die wiegend aus der Unterschicht rekrutieren? Kambodschas und die Tet-Offensive der Weltmacht schlechthin. Kennedy: Heutzutage ist es nicht mehr die Vietcong damals im Vietnam-Krieg. Er sag- Kennedy: Nein, ich glaube, dass die USA Elite, die dient. Nur ein einziger Senator te, dass die Entscheidung zur Ausweitung ihre Vormachtstellung schon in 50 Jahren hat einen Sohn beim Militär. Im Zweiten des Krieges in einer Zeit fiel, als 500 Ame- an China verlieren können. Es gibt glaub- Weltkrieg hingegen konnte Churchill sei- rikaner pro Woche bei Angriffen der Viet- würdige Prognosen, dass bei stetigen Wachs- nen Sohn nicht davon abhalten, auf dem cong, die über die kambodschanische tumsraten China dann die größte Wirt- Balkan zu kämpfen. Roosevelt hat ver- Grenze kamen, gestorben sind. schaftsmacht weltweit sein wird. Die USA zweifelt versucht, seinen Sohn zurückzu- Was mich im Irak momentan mehr beun- rücken an die zweite Stelle, gefolgt von In- halten, aber der fand, er habe die Pflicht, ruhigt, ist der Rückzug des Roten Kreu- dien. Aber das wäre ja keine Katastrophe in den Krieg zu ziehen. Doch wo sind denn zes, der Vereinten Nationen oder der Welt- für die Amerikaner, solange sie ihr Terri- heute die Kinder jener Administration, die bank. Die ganze Logik der Regierung Bush torium, ihre Ressourcen und ihr Pro-Kopf- diesen Feldzug vorangetrieben hat? bestand ja darin, das Monster zu verjagen Einkommen stabil halten können. SPIEGEL: Was fällt momentan schwerer ins SPIEGEL: Professor Kennedy, wir danken Gewicht – die militärische Konfrontation * Nach seiner Gefangennahme am 13. Dezember 2003. Ihnen für dieses Gespräch.

96 der spiegel 2/2004 wasser zu bauen, noch ehe sie ihre See- IRAN säcke ausgepackt hatten. Wasser ist das kostbarste Gut in Bam, weil die Leitungen Großer Satan im fast alle geborsten sind. Das apokalyptische Ausmaß der Zer- störung hat mit der miserablen Bauqualität Reich der Bösen der Lehmhäuser in Bam zu tun. 6,3 auf der Richterskala gilt normalerweise eher Der Iran und die USA versuchen als mittleres Beben. Der Zehn-Millionen- Stadt Teheran, die ebenfalls zum gro- sich in Erdbebendiplomatie: ßen Teil aus Lehmziegeln gebaut ist, wird Sie wollen die Katastrophe nutzen, seit Jahren ein Beben von bis zu 30facher um ihre eisigen Stärke vorausgesagt. Beziehungen aufzutauen. Am Tag nach der Katastrophe wurden auf dem Friedhof von Bam über 6000 der ls der Mann am Computer das insgesamt 30000 Toten beerdigt. Weil es Dateifoto Nummer 151 anklickte, so viele waren, wurde weitgehend auf die Astieß die junge Frau neben ihm üblichen Begräbniszeremonien verzichtet. einen Schrei aus: „Mein Vater, es ist mein Keine Zeit für Pietät. Vater!“ Auf dem Laptop war ein konturlo- Die Bestatter arbeiteten in vier bis fünf ses, total zerquetschtes Gesicht zu sehen. Schichten – Tag und Nacht und mit ma- Rätselhaft, wie man daraus eine Ähnlich- kabrer Geschäftsmäßigkeit. Bagger zogen keit mit einem lebenden Menschen her- lange Gräben, einen Meter breit, zwei auslesen konnte. Meter tief. Dort hinein wurden die in wei- Die Polizei hatte einen Teil der Leichen, ße Tücher gewickelten Leichen geworfen. die aus den Trümmern von Bam geborgen Anschließend schob ein Bulldozer die worden waren, mit Digitalkameras foto- Gräben zu. grafiert. Die Bilder wurden dann gespei- Aus der heiligen Stadt Ghom trafen chert und nummeriert, damit die An- Mitte vergangener Woche große Mengen gehörigen sie identifizieren konnten. Mullahs ein. Die frommen Männer sorg- Am zweiten Weihnachtstag um 5.28 Uhr ten dafür, dass die Toten wieder nach gut

hatte die Erde gebebt. Etwa sechs Stunden islamischem Ritual unter die Erde gebracht MAJID / GETTY IMAGES später sprang die Hilfsmaschinerie an. Mit- wurden. Sie hatten auch eine Botschaft Erdbebenschäden in Bam tags landeten die ersten Flugzeuge auf der für die Lebenden mitgebracht: Allah habe Keine Zeit für Pietät Piste von Bam. Dann kamen immer mehr, den Menschen dieses Opfer auferlegt – vorvergangenen Sonntag waren es stünd- um zu prüfen, ob sie seiner Gnade wür- einem Acker am Stadtrand, weil man sie lich sechs Maschinen. dig seien. einfach vergessen hatte. Unter den Rettungstrupps aus 50 Län- Weil es an Feldbetten fehlte, wurden vie- Wo Leichen sind, da sind oft auch die dern auch die Männer vom Technischen le Verletzte in dünne Decken gewickelt und Geier nicht weit. In den ersten Tagen wur- Hilfswerks (THW) aus Berlin. Sie began- erst mal irgendwo abgelegt. Nicht wenige den ganze Sattelzüge voll Plündergut ab- nen damit, Aufbereitungsanlagen für Trink- von ihnen starben im Dunkeln oder auf gefahren. Dann zog die Polizei einen eiser-

Faßhauer: Unsere Hunde riechen Ver- schüttete auch dann noch, wenn uns der Gestank den Atem raubt. Nur: Sie konn- „Sonderdeponie für Bauschutt“ ten zum Schluss kaum noch laufen, weil sie sich in den Trümmern die Läufe Jürgen Faßhauer, Staffelleiter beim einander gesetzt, ohne Verbundsteine, wund gescheuert hatten. Bundesverband Rettungshunde, suchte zum Teil ohne Mörtel. So würde kein SPIEGEL: Also Fehlschlag auf der ganzen in Bam nach Verschütteten. deutscher Schrebergärtner seine Laube Linie? bauen. Faßhauer: So pauschal kann man das SPIEGEL: Kommen Sie frustriert aus Bam SPIEGEL: Haben die fünf Suchhunde auch eigentlich nicht sagen. Wir waren tief zurück? gespürt, dass sie ihren Auftrag nicht er- bewegt von der Dankbarkeit und von Faßhauer: Wir waren nicht so erfolgreich, füllen konnten? dem Vertrauen, mit denen die Men- wie wir es uns gewünscht hätten. Faßhauer: Ja, natürlich. Um sie schen unsere Arbeit be- SPIEGEL: Sie haben keinen einzigen Men- zu motivieren, belohnen wir gleiteten. schen gerettet. die Hunde normalerweise mit SPIEGEL: Obwohl letzten En- Faßhauer: Nein, aber von den Häusern einem Quietschtierchen aus des alles umsonst war. war ja auch fast nichts übrig geblieben. Gummi, wenn sie einen le- Faßhauer: Ja, selbst wenn wir Kaum eine Ruine war höher als drei Me- benden Menschen aufspüren. den Leuten sagen mussten, ter. Es gab keine Hohlräume, in denen Das mögen sie gern. Doch da- dass wir einen Angehörigen Menschen überleben konnten. Die ganze mit war’s diesmal nichts. tot geborgen hatten, bedank- Stadt sah aus wie eine Sonderdeponie SPIEGEL: Konnten die Hunde ten sie sich artig. Sie waren für Bauschutt. denn überhaupt noch etwas von einer bizarren Höflich- SPIEGEL: Warum diese totale Zerstörung? Lebendiges wittern, wo doch keit. Aber sie nahmen uns

Faßhauer: Die Häuser waren so wack- Verwesungsgeruch über der / DER SPIEGEL ERICH WIEDEMANN ab, dass wir das Menschen- lig gebaut. Zwei Ziegelwände gegen- ganzen Stadt lag? Faßhauer mögliche versuchten.

der spiegel 2/2004 97 wasser zu bauen, noch ehe sie ihre See- IRAN säcke ausgepackt hatten. Wasser ist das kostbarste Gut in Bam, weil die Leitungen Großer Satan im fast alle geborsten sind. Das apokalyptische Ausmaß der Zer- störung hat mit der miserablen Bauqualität Reich der Bösen der Lehmhäuser in Bam zu tun. 6,3 auf der Richterskala gilt normalerweise eher Der Iran und die USA versuchen als mittleres Beben. Der Zehn-Millionen- Stadt Teheran, die ebenfalls zum gro- sich in Erdbebendiplomatie: ßen Teil aus Lehmziegeln gebaut ist, wird Sie wollen die Katastrophe nutzen, seit Jahren ein Beben von bis zu 30facher um ihre eisigen Stärke vorausgesagt. Beziehungen aufzutauen. Am Tag nach der Katastrophe wurden auf dem Friedhof von Bam über 6000 der ls der Mann am Computer das insgesamt 30000 Toten beerdigt. Weil es Dateifoto Nummer 151 anklickte, so viele waren, wurde weitgehend auf die Astieß die junge Frau neben ihm üblichen Begräbniszeremonien verzichtet. einen Schrei aus: „Mein Vater, es ist mein Keine Zeit für Pietät. Vater!“ Auf dem Laptop war ein konturlo- Die Bestatter arbeiteten in vier bis fünf ses, total zerquetschtes Gesicht zu sehen. Schichten – Tag und Nacht und mit ma- Rätselhaft, wie man daraus eine Ähnlich- kabrer Geschäftsmäßigkeit. Bagger zogen keit mit einem lebenden Menschen her- lange Gräben, einen Meter breit, zwei auslesen konnte. Meter tief. Dort hinein wurden die in wei- Die Polizei hatte einen Teil der Leichen, ße Tücher gewickelten Leichen geworfen. die aus den Trümmern von Bam geborgen Anschließend schob ein Bulldozer die worden waren, mit Digitalkameras foto- Gräben zu. grafiert. Die Bilder wurden dann gespei- Aus der heiligen Stadt Ghom trafen chert und nummeriert, damit die An- Mitte vergangener Woche große Mengen gehörigen sie identifizieren konnten. Mullahs ein. Die frommen Männer sorg- Am zweiten Weihnachtstag um 5.28 Uhr ten dafür, dass die Toten wieder nach gut

hatte die Erde gebebt. Etwa sechs Stunden islamischem Ritual unter die Erde gebracht MAJID / GETTY IMAGES später sprang die Hilfsmaschinerie an. Mit- wurden. Sie hatten auch eine Botschaft Erdbebenschäden in Bam tags landeten die ersten Flugzeuge auf der für die Lebenden mitgebracht: Allah habe Keine Zeit für Pietät Piste von Bam. Dann kamen immer mehr, den Menschen dieses Opfer auferlegt – vorvergangenen Sonntag waren es stünd- um zu prüfen, ob sie seiner Gnade wür- einem Acker am Stadtrand, weil man sie lich sechs Maschinen. dig seien. einfach vergessen hatte. Unter den Rettungstrupps aus 50 Län- Weil es an Feldbetten fehlte, wurden vie- Wo Leichen sind, da sind oft auch die dern auch die Männer vom Technischen le Verletzte in dünne Decken gewickelt und Geier nicht weit. In den ersten Tagen wur- Hilfswerks (THW) aus Berlin. Sie began- erst mal irgendwo abgelegt. Nicht wenige den ganze Sattelzüge voll Plündergut ab- nen damit, Aufbereitungsanlagen für Trink- von ihnen starben im Dunkeln oder auf gefahren. Dann zog die Polizei einen eiser-

Faßhauer: Unsere Hunde riechen Ver- schüttete auch dann noch, wenn uns der Gestank den Atem raubt. Nur: Sie konn- „Sonderdeponie für Bauschutt“ ten zum Schluss kaum noch laufen, weil sie sich in den Trümmern die Läufe Jürgen Faßhauer, Staffelleiter beim einander gesetzt, ohne Verbundsteine, wund gescheuert hatten. Bundesverband Rettungshunde, suchte zum Teil ohne Mörtel. So würde kein SPIEGEL: Also Fehlschlag auf der ganzen in Bam nach Verschütteten. deutscher Schrebergärtner seine Laube Linie? bauen. Faßhauer: So pauschal kann man das SPIEGEL: Kommen Sie frustriert aus Bam SPIEGEL: Haben die fünf Suchhunde auch eigentlich nicht sagen. Wir waren tief zurück? gespürt, dass sie ihren Auftrag nicht er- bewegt von der Dankbarkeit und von Faßhauer: Wir waren nicht so erfolgreich, füllen konnten? dem Vertrauen, mit denen die Men- wie wir es uns gewünscht hätten. Faßhauer: Ja, natürlich. Um sie schen unsere Arbeit be- SPIEGEL: Sie haben keinen einzigen Men- zu motivieren, belohnen wir gleiteten. schen gerettet. die Hunde normalerweise mit SPIEGEL: Obwohl letzten En- Faßhauer: Nein, aber von den Häusern einem Quietschtierchen aus des alles umsonst war. war ja auch fast nichts übrig geblieben. Gummi, wenn sie einen le- Faßhauer: Ja, selbst wenn wir Kaum eine Ruine war höher als drei Me- benden Menschen aufspüren. den Leuten sagen mussten, ter. Es gab keine Hohlräume, in denen Das mögen sie gern. Doch da- dass wir einen Angehörigen Menschen überleben konnten. Die ganze mit war’s diesmal nichts. tot geborgen hatten, bedank- Stadt sah aus wie eine Sonderdeponie SPIEGEL: Konnten die Hunde ten sie sich artig. Sie waren für Bauschutt. denn überhaupt noch etwas von einer bizarren Höflich- SPIEGEL: Warum diese totale Zerstörung? Lebendiges wittern, wo doch keit. Aber sie nahmen uns

Faßhauer: Die Häuser waren so wack- Verwesungsgeruch über der / DER SPIEGEL ERICH WIEDEMANN ab, dass wir das Menschen- lig gebaut. Zwei Ziegelwände gegen- ganzen Stadt lag? Faßhauer mögliche versuchten.

der spiegel 2/2004 97 Ausland nen Ring um die Stadt. Niemand kam mehr der dünnen Höhenluft der unkontrolliert rein oder raus. Und jeder Beliebtheit mit 62 Prozent musste nachweisen, dass das Gepäck, das einsam an der Spitze. Das er im Wagen hatte, sein Eigentum war. Magazin „Le Point“ hat Wo der Nachweis misslang, griff die Polizei ihn zum „Mann des Jah- hart durch. Es waren zuweilen auch Schüs- res“ erkoren, und als er in se zu hören. der TV-Sendung „100 Mi- Am Mittwoch begannen sich die auslän- nuten, um zu überzeugen“ dischen Helfer zurückzuziehen. Es war der auftrat, verfolgten über Tag, an dem die Firefighters aus Fairfax sechs Millionen Zuschau- County (Virginia) eintrafen. Feuer gab’s er seine Darbietung – eine hier nicht zu löschen. Außer dem Equip- Rekordzahl. ment, das sie zur Selbstversorgung benötig- Die Eroberung der ten, hatten sie deshalb auch nichts weiter Macht ist für Sarkozy dabei. Aber sie schüttelten viele Hände. Kampfsport auf höchstem Die US-Regierung schickte auch zwei Niveau. Getrieben von Militärmaschinen mit 60 Medizinern und kalter Ungeduld, als hätte 70 Tonnen Hilfsgütern – mit vier bis fünf er ständig eine unter- Tagen Verspätung, aber nicht zu spät. „Un- drückte Wut im Bauch, glaublich, wie herzlich und nett die Leute bemüht er sich erst gar hier sind“, sagte der praktische Arzt Tim nicht, seinen Ehrgeiz zu Crowley aus Boston. Großer Satan im verhehlen. Er will ganz Reich der Bösen – es war ein hoffnungs- nach oben – in den Elysée- voller Auftritt. Palast, auch wenn er dafür Die Ärzte bauten ein Krankenhaus auf bei den nächsten Präsi- und halfen im Übrigen dabei, die tiefge- dentschaftswahlen 2007 frorenen amerikanisch-iranischen Bezie- den jetzigen Hausherrn hungen ein wenig anzutauen. Vorbild war Jacques Chirac mit Gewalt die griechisch-türkische Erdbebendiplo- hinauswerfen müsste. matie, die 1999 nach dem großen Beben Ob er morgens, wenn er östlich von Istanbul eine Annäherung zwi- sich beim Rasieren im schen Athen und Ankara schaffte. Spiegel betrachte, manch- Um zu zeigen, wie gut er es meint, mal an das höchste Staats- lockerte Präsident George W. Bush das amt denke, wurde er im seit über 20 Jahren gültige Embargo. Der Fernsehen gefragt. Jeder Katalog der Friedensbedingungen, den andere französische Politi- Bush am Neujahrstag an Teheran übermit- ker wäre ausgewichen: Die telte, ist aber nicht so, dass man mit un- Frage stelle sich nicht,

mittelbarer und radikaler Entspannung X / STUDIO / GAMMA DUCLOS-ROSSI dafür sei es viel zu früh, er rechnen müsste: Demokratisierung, Aus- Aufsteiger Sarkozy mit Ehefrau Cécilia: Pralle Energie sei mit seinen jetzigen Auf- lieferung von Terroristen, Verzicht auf ein gaben voll ausgelastet. Sar- eigenes Atomprogramm, das dürfte für die kozy erwiderte mit brutaler Offenheit: Mullahs wohl zu viel auf einmal sein. FRANKREICH „Nicht nur beim Rasieren.“ Bushs Offerte, eine hochkarätige Delega- Also ständig. Chirac und seine Getreu- tion – darunter ein Mitglied des Bush-Clans Ungestümer en, die Devotion für die höchste Form der – nach Teheran zu schicken, lehnten sie Loyalität halten, empfanden das Bekennt- jedenfalls erst mal ab. nis als Provokation. Doch schon kurz dar- In den ersten Tagen waren in Bam Aus- Frischling auf steigerte Sarkozy die Herausforderung länder noch als Spione angegiftet worden. zur Majestätsbeleidigung. Er regte an, die Aber das Misstrauen legte sich schnell. Die Innenminister Sarkozy Amtsdauer des französischen Präsidenten Masse der Iraner war dankbar für die Hil- nach US-Vorbild auf zwei Wahlperioden fe der Fremden, vor allem weil das irani- empfiehlt sich als Retter der zu begrenzen. Denn wenn die Zeit bemes- sche Katastrophenmanagement nicht Herr Regierung – und sen sei, handele man schneller, konzen- der Lage war. Ein THW-Helfer: „Die Leu- bringt damit Präsident Chirac trierter, wirkungsvoller. te brachten uns Datteln, Orangen, Fladen- in die Bredouille. Dem gerade erst vor 20 Monaten trium- brot, frisches Wasser, obwohl wir ja mit phal wiedergewählten Chirac bedeutete Lebensmitteln gut versorgt waren. Wir hat- as Äußere trügt. Der kleine Mann der Frischling Sarkozy damit nicht nur, ten Tränen in den Augen. So viel Leid und mit den sanften Augen, dem ver- dass der Präsident sich schon jetzt auf den so viel menschliche Wärme.“ Dhaltenen Lächeln und der schö- Rückzug vorbereiten solle, sondern auch, Präsident Mohammed Chatami hat ver- nen Frau an seiner Seite ist der härteste dass Energie und Dynamik des 71-jährigen sprochen, die zerstörte Stadt innerhalb von Bursche im Pariser Kabinett, der „Granit- Staatschefs weitgehend verbraucht seien – zwei Jahren an derselben Stelle wieder auf- stein der Regierung“, wie seine Kollegen für französische Sitten eine geradezu atem- bauen zu lassen. Fraglich, ob das ein guter mit widerwilliger Bewunderung aner- beraubende Frechheit. Entschluss ist. Das Beben hat einen Groß- kennen. „Jetzt ist er zu weit gegangen, das klei- teil der Wasseradern unter der Stadt ver- Innenminister Nicolas Sarkozy, 48, ist ne Arschloch“, erregte sich Alain Juppé, schüttet und die Kanäle zerstört. Ohne derzeit der populärste Politiker Frank- Chef der rechtsbürgerlichen Präsidenten- Wasser können die Dattelpalmen nicht reichs. Während Premier Jean-Pierre Raf- partei UMP und designierter Kronprinz wachsen. Und ohne Palmen kann die Stadt farin in Umfragen dramatisch abstürzte, Chiracs, über den ungesalbten Neben- nicht leben. Erich Wiedemann hält sich Sarkozy, seine Nummer zwei, in buhler. First Lady Bernadette Chirac hält

98 der spiegel 2/2004 Ausland nen Ring um die Stadt. Niemand kam mehr der dünnen Höhenluft der unkontrolliert rein oder raus. Und jeder Beliebtheit mit 62 Prozent musste nachweisen, dass das Gepäck, das einsam an der Spitze. Das er im Wagen hatte, sein Eigentum war. Magazin „Le Point“ hat Wo der Nachweis misslang, griff die Polizei ihn zum „Mann des Jah- hart durch. Es waren zuweilen auch Schüs- res“ erkoren, und als er in se zu hören. der TV-Sendung „100 Mi- Am Mittwoch begannen sich die auslän- nuten, um zu überzeugen“ dischen Helfer zurückzuziehen. Es war der auftrat, verfolgten über Tag, an dem die Firefighters aus Fairfax sechs Millionen Zuschau- County (Virginia) eintrafen. Feuer gab’s er seine Darbietung – eine hier nicht zu löschen. Außer dem Equip- Rekordzahl. ment, das sie zur Selbstversorgung benötig- Die Eroberung der ten, hatten sie deshalb auch nichts weiter Macht ist für Sarkozy dabei. Aber sie schüttelten viele Hände. Kampfsport auf höchstem Die US-Regierung schickte auch zwei Niveau. Getrieben von Militärmaschinen mit 60 Medizinern und kalter Ungeduld, als hätte 70 Tonnen Hilfsgütern – mit vier bis fünf er ständig eine unter- Tagen Verspätung, aber nicht zu spät. „Un- drückte Wut im Bauch, glaublich, wie herzlich und nett die Leute bemüht er sich erst gar hier sind“, sagte der praktische Arzt Tim nicht, seinen Ehrgeiz zu Crowley aus Boston. Großer Satan im verhehlen. Er will ganz Reich der Bösen – es war ein hoffnungs- nach oben – in den Elysée- voller Auftritt. Palast, auch wenn er dafür Die Ärzte bauten ein Krankenhaus auf bei den nächsten Präsi- und halfen im Übrigen dabei, die tiefge- dentschaftswahlen 2007 frorenen amerikanisch-iranischen Bezie- den jetzigen Hausherrn hungen ein wenig anzutauen. Vorbild war Jacques Chirac mit Gewalt die griechisch-türkische Erdbebendiplo- hinauswerfen müsste. matie, die 1999 nach dem großen Beben Ob er morgens, wenn er östlich von Istanbul eine Annäherung zwi- sich beim Rasieren im schen Athen und Ankara schaffte. Spiegel betrachte, manch- Um zu zeigen, wie gut er es meint, mal an das höchste Staats- lockerte Präsident George W. Bush das amt denke, wurde er im seit über 20 Jahren gültige Embargo. Der Fernsehen gefragt. Jeder Katalog der Friedensbedingungen, den andere französische Politi- Bush am Neujahrstag an Teheran übermit- ker wäre ausgewichen: Die telte, ist aber nicht so, dass man mit un- Frage stelle sich nicht,

mittelbarer und radikaler Entspannung X / STUDIO / GAMMA DUCLOS-ROSSI dafür sei es viel zu früh, er rechnen müsste: Demokratisierung, Aus- Aufsteiger Sarkozy mit Ehefrau Cécilia: Pralle Energie sei mit seinen jetzigen Auf- lieferung von Terroristen, Verzicht auf ein gaben voll ausgelastet. Sar- eigenes Atomprogramm, das dürfte für die kozy erwiderte mit brutaler Offenheit: Mullahs wohl zu viel auf einmal sein. FRANKREICH „Nicht nur beim Rasieren.“ Bushs Offerte, eine hochkarätige Delega- Also ständig. Chirac und seine Getreu- tion – darunter ein Mitglied des Bush-Clans Ungestümer en, die Devotion für die höchste Form der – nach Teheran zu schicken, lehnten sie Loyalität halten, empfanden das Bekennt- jedenfalls erst mal ab. nis als Provokation. Doch schon kurz dar- In den ersten Tagen waren in Bam Aus- Frischling auf steigerte Sarkozy die Herausforderung länder noch als Spione angegiftet worden. zur Majestätsbeleidigung. Er regte an, die Aber das Misstrauen legte sich schnell. Die Innenminister Sarkozy Amtsdauer des französischen Präsidenten Masse der Iraner war dankbar für die Hil- nach US-Vorbild auf zwei Wahlperioden fe der Fremden, vor allem weil das irani- empfiehlt sich als Retter der zu begrenzen. Denn wenn die Zeit bemes- sche Katastrophenmanagement nicht Herr Regierung – und sen sei, handele man schneller, konzen- der Lage war. Ein THW-Helfer: „Die Leu- bringt damit Präsident Chirac trierter, wirkungsvoller. te brachten uns Datteln, Orangen, Fladen- in die Bredouille. Dem gerade erst vor 20 Monaten trium- brot, frisches Wasser, obwohl wir ja mit phal wiedergewählten Chirac bedeutete Lebensmitteln gut versorgt waren. Wir hat- as Äußere trügt. Der kleine Mann der Frischling Sarkozy damit nicht nur, ten Tränen in den Augen. So viel Leid und mit den sanften Augen, dem ver- dass der Präsident sich schon jetzt auf den so viel menschliche Wärme.“ Dhaltenen Lächeln und der schö- Rückzug vorbereiten solle, sondern auch, Präsident Mohammed Chatami hat ver- nen Frau an seiner Seite ist der härteste dass Energie und Dynamik des 71-jährigen sprochen, die zerstörte Stadt innerhalb von Bursche im Pariser Kabinett, der „Granit- Staatschefs weitgehend verbraucht seien – zwei Jahren an derselben Stelle wieder auf- stein der Regierung“, wie seine Kollegen für französische Sitten eine geradezu atem- bauen zu lassen. Fraglich, ob das ein guter mit widerwilliger Bewunderung aner- beraubende Frechheit. Entschluss ist. Das Beben hat einen Groß- kennen. „Jetzt ist er zu weit gegangen, das klei- teil der Wasseradern unter der Stadt ver- Innenminister Nicolas Sarkozy, 48, ist ne Arschloch“, erregte sich Alain Juppé, schüttet und die Kanäle zerstört. Ohne derzeit der populärste Politiker Frank- Chef der rechtsbürgerlichen Präsidenten- Wasser können die Dattelpalmen nicht reichs. Während Premier Jean-Pierre Raf- partei UMP und designierter Kronprinz wachsen. Und ohne Palmen kann die Stadt farin in Umfragen dramatisch abstürzte, Chiracs, über den ungesalbten Neben- nicht leben. Erich Wiedemann hält sich Sarkozy, seine Nummer zwei, in buhler. First Lady Bernadette Chirac hält

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Sarkozy schon seit langem für einen „klei- auf öffentlichem Gelände. Straffällig ge- nen Dreckskerl mit Talent“. wordene Ausländer, die Familienbindung „Klein?“, feixt der Innenminister, wenn in Frankreich haben, dürfen bleiben. Und ihm solche Beschimpfungen hinterbracht den fünf Millionen Muslimen im Land werden: „Man will mich wohl beleidigen?“ verhalf er zu einem eigenen Zentralrat Sarkozy vertraut auf seine Position der als anerkanntem Gesprächspartner der Stärke, denn in einer Regierung, die seit Regierung. Monaten aus dem Ruder läuft, gilt er als Gern verweist er darauf, dass er selbst fast einziger Stabilitätsanker. zur zweiten Einwanderergeneration gehört. Während Premier Raffarin sich aus Sein Vater Paul Sarközy de Nagy-Bocsa Angst vor Streiks und Straßenprotesten war 1951 auf der Flucht vor den Kommu- wie auf Zehenspitzen bewegt und dem nisten aus Ungarn nach Frankreich ge- Volk die unvermeidlichen Reformen in kommen. In einer als unglücklich emp- homöopathischen Dosen verabreicht, hat fundenen Kindheit sieht er selbst die Trieb- Sarkozy einen ungewohnten, eher angel- feder seines rastlosen Aufstiegs. sächsischen Stil in die französische Politik Chirac lernte der junge gaullistische eingeführt: direkt, zupackend, ergebnis- Jura-Student bereits 1975 kennen; der da- orientiert. „Man hat mir einen Job anver- malige Premier zeigte sich beeindruckt von traut, und ich erledige ihn“, beschreibt er der prallen Energie des hungrigen Nach- seine Methode. „Vielleicht mache ich Feh- wuchstalents, in dem er ein Abbild seiner ler, vielleicht erleide ich Rückschläge, aber selbst erblickte. Mit 28 eroberte Sarkozy niemand kann mir vorwerfen, ich hätte es das Rathaus des reichen Pariser Vororts nicht versucht.“ Neuilly – und schlug dabei gegen allge- Unbeweglichkeit hält er für das Grund- meine Erwartung den mächtigen Altgaul- übel der französischen Gesellschaft: „Weil listen Charles Pasqua. „An jenem Tag wur- man nicht alles in Angriff nehmen kann, de ich ein Profi“, erzählt er heute. nimmt man am Ende gar nichts in Angriff.“ Seinem politischen Ziehvater Chirac Er dagegen dreht das Rad unermüdlich wie kam der junge Mann, der es immer etwas ein Eichhörnchen („ein sympathisches zu eilig hatte, schon einmal 1995 in die Quere. Bei der Präsidentschafts- wahl stellte sich Sarkozy damals auf die Seite des Premiers Edouard Balladur, des innerpar- teilichen Konkurrenten von Chi- rac. Der behielt die Oberhand und bestrafte den „Verräter“ Sar- kozy mit jahrelanger Nichtbe- achtung. Im Augenblick kann der Präsi- dent den Aufsässigen schwerlich züchtigen. Paradoxerweise profi- tiert der schwache Raffarin von der Stärke seines Innenministers.

PATRICK KOVARIK / AFP KOVARIK PATRICK Wollte Chirac den glücklosen Sarkozy-Rivalen Raffarin, Chirac: „Dicker Panzer“ Premier ablösen, käme er an Sar- kozy kaum vorbei. Doch damit Tier“), kämpft selbst um bescheidenste Er- würde er sich wohl eine Art zweite Koha- folge und nennt die Dinge beim Namen: bitation einbrocken – ein permanentes Angetrunkene Autofahrer sind für ihn Spannungsverhältnis zwischen einem miss- „Mörder“, jugendliche Randalierer „Strol- trauischen Staatschef und einem bis zur che“ und Vergewaltiger „Barbaren“. Bockigkeit selbstbewussten Regierungschef. Erstmals seit langem ist im abgelaufe- Ein solches Rodeo möchte Chirac sich nen Jahr die Zahl der Verkehrstoten um ersparen. Deshalb soll Sarkozy im Innen- gut ein Fünftel unter 6000 gesunken. Auch ministerium eingemauert bleiben, am bes- die Straftaten – vor zwei Jahren noch mehr ten bis zu den Wahlen 2007. Bei der fälli- als vier Millionen – gingen messbar zurück. gen Regierungsumbildung, voraussichtlich Sarkozy schafft 15000 neue Polizeistellen nach den Regionalwahlen Ende März, und füllt die Gefängnisse. Zu Tausenden könnte Juppé als Superminister für Wirt- lässt er illegale Einwanderer außer Landes schaft und Finanzen ins Kabinett berufen bringen; das Flüchtlingslager Sangatte bei werden, um ein Gegengewicht zu bilden. Calais am Ärmelkanal, hoffnungslos über- Der Präsident ist überzeugt, dass der un- belegte Durchgangsstation auf dem Immi- gestüme Sarkozy – wie er selbst in jungen grantenweg nach Großbritannien, wurde Jahren oft genug – zu früh gestartet ist: ein geschlossen. Sprinter, der einen Zehnkilometerlauf an- Zugleich achtet „Speedy Sarkozy“ (so tritt. sein Spitzname in den Polizeirevieren) „Mir haben sich schon viele mit einem sorgfältig darauf, nicht die Karikatur eines Dolch im Gewand entgegengestellt“, warnt Law-and-Order-Mannes zu werden: Ju- Chirac, „aber ich habe einen dicken Pan- gendlichen genehmigt er Technopartys zer.“ Romain Leick

der spiegel 2/2004 99 Ausland

KAUKASUS Der faulende Drache In den russischen Teilrepubliken Dagestan und Inguschien haben muslimische Extremisten massiven Zulauf. Vergebens versucht der Kreml, die Lage unter Kontrolle zu halten.

m Staatsratsgebäude von Machatschka- 80 Prozent aller Mekka-Pilger Russlands la, im Angesicht einer übergroßen kommen aus seiner Republik, in Ma- ILenin-Statue, schwört ein Greis dem chatschkala steht die größte Moschee Kreml „unverbrüchliche Treue“: Magome- Nordkaukasiens. Dagestan hat zwei Islam- dali Magomedow, 73, Vorsteher der russi- universitäten, dazu Islamhochschulen mit schen Republik Dagestan. Nach dem Tod zwölf Filialen, 650 Islamschulen, in denen des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew Mullahs geschult werden, und drei musli- und dem Sturz des Georgiers Scheward- mische Parteien. Und es zieht immer wie- nadse ist Magomedow der letzte Patriarch der militante Islamistentrupps an – wie vo- sowjetischen Zuschnitts im Kaukasus. rigen Monat, als schwer bewaffnete Ein- Seit 1983 dient der gelernte Lehrer und heiten den Süden des Landes überfielen. frühere Kolchosvorsitzende scheinbar un- Auch im nahe gelegenen Inguschien er- angefochten in allerlei Spitzenfunktionen halten Muslim-Extremisten stärkeren Zu- seiner Heimat. Das „Land der Berge“ am lauf. Den beiden russischen Bundesländern, Westufer des Kaspischen Meeres ist Russ- die an das aufständische Tschetschenien

lands größte Kaukasusrepublik, mit zwei grenzen, dräut eine soziale Detonation. KASSIN PAWEL Millionen überwiegend muslimischen Ein- Kaum etwas kommt dem Kreml ungele- Dörfer im Grenzbezirk Botlich: Ganze lokale wohnern. Doch die besten Zeiten des Alt- gener als dies. Nicht nur, dass Tsche- kaders, den seine Landsleute „den Opa“ tschenien nach vier neuerlichen Kriegs- gen, ein Killer feuerte mit einer Panzer- nennen, sind offenbar vorbei. jahren weiter unbefriedet ist. Auch an an- faust auf seinen Dienstwagen. Nicht im- Magomedow beginnen die Fäden der deren Stellen der russischen Südflanke mer führten die Spuren in den islamis- Macht aus der Hand zu gleiten, immer sieht Moskau seine Interessen bedroht: tischen Untergrund, bisweilen auch zu mehr regiert der Kreml in seinen mit Öl Georgien und Aserbaidschan sind jetzt in rivalisierenden Clans. und Kaviar gesegneten Sprengel hinein. der Hand wenig berechenbarer Führer. In Nur noch mit bewaffnetem Begleitschutz Nicht, weil dessen Dörfer 86 Jahre nach Tiflis lebt der antirussische Nationalismus bewegen sich Verwaltungschefs der an der Revolution oft noch ohne Strom, Gas wieder auf, und nahe Baku wollen sich die Tschetschenien grenzenden Bezirke über oder Telefon sind und dessen Einwohner Amerikaner mit Militärbasen einnisten. die holprigen Wege ihrer Reviere. Im Süd- mitunter nur gebrochen Russisch sprechen Wie fragil die Lage in Dagestan gewor- westen Dagestans führt eine Muslim-Gue- – denn viele Schulen haben wegen Leh- den ist, weiß keiner besser als Said Ami- rilla, im Bunde mit tschetschenischen Re- rermangel längst wieder dichtgemacht. row, 49, er hat es am eigenen Leibe erfah- bellen, einen schleichenden Partisanenkrieg. Moskaus Unmut hat einen ganz speziel- ren. Der autoritär herrschende Bürger- Vor allem nachts entführen die Kämpfer, len Grund: Beim Versuch, den islamischen meister der Metropole Machatschkala, der meist im Alter zwischen 16 und 25 Jahren, Boom einzudämmen, der das politisch oh- gern den Staatsratsvorsitzenden Magome- Polizisten oder beschießen Polizei- und Ar- nehin instabile Dagestan seit Jahren heim- dow beerben würde, hat 15 Mordanschlä- meepatrouillen. Mitte Dezember rückten sucht, hat Magomedow bitterlich versagt. ge knapp überlebt, als Krüppel. 60 Bewaffnete in die beiden Bergdörfer Scharfschützen schossen auf ihn, Spreng- Schauri und Galatli im Süden Dagestans * Am 18. Dezember 2003 im dagestanischen Kaspiisk. sätze zerrissen den Asphalt vor seinen Au- ein. Die Terrortrupps erschossen zehn AFP PAWEL KASSIN PAWEL Beisetzung eines getöteten russischen Grenzsoldaten*, Betende in der Moschee von Machatschkala: Vor einer großen Explosion

100 der spiegel 2/2004 Wie weit sie gemäßigte Muftis und deren Aufseher aus den Sicherheitsdiensten be- reits in die Defensive gedrängt haben, spie- gelt „As-Salam“ wider, das Mitteilungs- blatt der staatlich reglementierten „Geisti- gen Verwaltung der Muslime Dagestans“. Das Muslim-Organ, angeboten vor Mo- scheen, polemisiert gegen den „so ge- nannten ,Staat Israel‘“ und rühmt die „af- ghanischen Partisanen“ der Taliban. Im Staatsfernsehen wirbt die Muslim-Verwal- tung für „Mode, die dem Schariat nicht widerspricht und Männer nicht verführt“ – Fundi-TV auf Kosten des russischen Steu- erzahlers, der das dagestanische Budget zu 93 Prozent alimentiert. Für die grüne Indoktrination bietet Ma- gomedows Republik einen guten Reso- nanzboden. Mehr als 1500 junge Dagesta- ner haben allein in den neunziger Jahren Religionsschulen in Ländern wie Saudi- Kaspisches RUSSLAND Arabien und Pakistan absolviert. In Ma- Meer chatschkala strömen die Gläubigen freitags zu Tausenden in die zentrale Moschee, Zusammenstöße mehrheitlich Männer unter dreißig. von Rebellen mit Tschetschenien russischen Truppen Der Iman, sorgsam beäugt von Zuträ- gern der Geheimpolizei FSB, meidet bei Magas Grosny Machatschkala der Predigt politische Themen. Umso of- Budgets von Spitzenbeamten geraubt fener bekennen junge Muslime, die flaum- Botlich bärtigen Gesichter unter gefälschten Nike- Grenzsoldaten und entführten vier Ein- Schauri/Galatli Mützen, welche Zukunft sie sich wün- wohner. 30 der Extremisten wurden nach Inguschien schen: „Wir brauchen einen islamischen Armeeangaben bei anschließenden Ge- GEORGIEN Dagestan Staat wie in Saudi-Arabien“, sagt Ahmed, fechten getötet. 21, beschäftigt bei einem privaten Wach- Trotz des massiven Einsatzes von Armee- Tiflis dienst: „Tritt die jetzige Macht nicht ab, einheiten, Panzern und Kampfhubschrau- dann gibt es hier bald den Heiligen Krieg.“ bern konnten die meisten Partisanen ent- Das Elend in Dagestan, wo der Durch- kommen. Ihr Coup habe zwei Dinge offen- 100 km ASERBAIDSCHAN schnittslohn bei 50 Euro und die Arbeits- bar gemacht, höhnte die Moskauer „Ne- losigkeit bei 70 Prozent liegt, führe unwei- sawissimaja gaseta“: dass die Rebellen bes- gerlich „zu einer großen Explosion“, wenn tens ausgebildet, die russischen Militärs aber unter dem grünen Banner des Propheten der Kreml nicht bald ein soziales Konzept nach wie vor hilflos sind. Präsident Wladimir zu vereinigen. Helfer der Sicherheitsbe- anbiete, glaubt auch Magomed Gadschi- Putin sieht die kaukasischen Separatisten für hörden sind rar in den von baumlosen Ber- jew, Chefredakteur des Oppositionsblattes einen „Zerfall unseres Staates“ kämpfen; gen umgebenen Dörfern Westdagestans, „Nur al-Islam“ (Licht des Islam). kämen sie durch, drohe Russland eine „Ju- einer Gegend, die der russische Literatur- Noch brisanter ist die Lage im benach- goslawisierung im schlimmsten Sinne“. nobelpreisträger Iwan Bunin mit einem barten Inguschien, dem russischen Bun- Bereits im August 1999 waren rund 500 „tausendäugigen Drachen“ verglich. desland mit der größten Arbeitslosigkeit Kämpfer über die Berge in drei dagestani- Während das Regime Magomedow in und der höchsten Geburtenrate. Regiert sche Grenzbezirke einmarschiert und hat- Agonie versinkt, dringt der Islamismus aus wird es von Präsident Murat Sjasikow, 46, ten einen „islamischen Staat“ proklamiert den frommen Hochburgen der Berge im- FSB-General a. D., den der Kreml im April – ganz im Geist des legendären Muslim-Re- mer mehr in die Küstenebene vor. Dass 2002 ins Amt wählen ließ. Seine 500000- bellen Imam Schamil, der im 19. Jahrhun- der Staatsratsvorsitzende vor vier Jahren Einwohner-Republik ist mit Tschetschenien dert mit seinen Guerillatruppen jahrzehn- per Federstrich jeglichen „muslimischen durch eine gemeinsame Grenze und Ge- telang der russischen Armee widerstand. Extremismus“ verbot, war blauäugig. Ge- schichte verbunden: Tschetschenen und In- Der versuchte Revolutionsexport scheiter- holfen hat es natürlich nicht. guschen bilden das Volk der Wainachen. te nach fünf Wochen. Erst hielten die Hardliner ihre jugendli- Das Verhältnis der Inguschen zur Mos- Warum die Gotteskrieger trotzdem vier chen Fußtruppen mit Untergrundblättern kauer Zentralmacht ist schwer gestört, seit Jahre danach keine Nachwuchsprobleme wie „Kalifat“ oder „Banner des Islam“ zu- Stalin sie 1944 nach Zentralasien deportie- haben, weiß Magomed Kurbanow, Staats- sammen. Inzwischen werben sie ganz offen ren ließ – ein Gewaltakt, der auch die hitz- anwalt im Bezirk Botlich: „Die Republik unter Religionsgelehrten der Dagestaner köpfigen Nachbarn traf. Zwar schlossen fault“, denn deren Führung sei „auf allen Staatsuniversität oder der Pädagogischen sich die eher bedächtigen Inguschen beim Ebenen schwer korrupt“. Bundesgelder für Hochschule in Machatschkala. Die Extre- Zerfall der UdSSR nicht den tschetscheni- den Wiederaufbau kriegszerstörter Häu- misten nennen sich neuerdings Salafiten – schen Separatisten an. Doch seit dem ers- ser seien veruntreut, ganze lokale Budgets Anhänger einer Richtung des Islam, zu der ten Einmarsch Moskauer Truppen in die von Spitzenbeamten geraubt worden, klagt auch Bin Laden und die mutmaßlichen At- abtrünnige Provinz 1994 sind die Sympa- der Jurist. tentäter von Istanbul gehören. thien der Inguschen stets auf deren Seite. Hilflos hatte der Ermittler kürzlich Hun- Sjasikow, ebenso vom KGB-Korpsgeist derten Islamisten vor der örtlichen Mo- Weitere Informationen unter geprägt wie sein Auftraggeber Putin, soll schee zugehört, die dazu aufriefen, sich www.spiegel.de/dossiers die Frontrepublik unbeschadet durch die

der spiegel 2/2004 101 Ausland kaukasischen Turbulenzen steuern. Der Präsident, der als 21-Jähriger bei den Welt- jugendfestspielen auf Kuba den damaligen MALAYSIA FDJ-Chef Egon Krenz und seine Blau- hemden kennen lernte, baut dabei auf „deutsche Ordnung, Sauberkeit und Orga- „Im Würgegriff der Regierung“ nisiertheit“. Mit Hilfe solcher Tugenden soll Inguschien genesen. Ex-Vizepremier Anwar Ibrahim über Exzesse russischer Militärs versucht Sja- sikow zu verhindern, vor allem die berüch- seine Haft, den Machtwechsel im Land und die fehlende tigten „Säuberungen“ verdächtiger Mus- Aussicht auf demokratische Erneuerung limdörfer. Doch die von ihm überall an den Straßenkreuzungen plakatierte Losung „Stabilität in Inguschien“ erwies sich spä- testens am 15. September vergangenen Jah- res als bloßes Wunschdenken. An jenem Tag erschütterte eine gewalti- ge Explosionswelle den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Magas. Islamisten hatten einen mit Sprengstoff gefüllten Lkw vor dem benachbarten Gebäude des FSB in die Luft gejagt; vier Sicherheitsleute star- ben, rund 40 Menschen wurden verletzt. Seither vergeht kaum eine Woche ohne Bombenanschläge oder Schießereien mit Untergrundkämpfern. Mal zerreißt eine Mine einen Militär- jeep, mal zerfetzt eine Bombe die Gleise der Bahnlinie nach Moskau, mal verfehlt ein Sprengsatz nur knapp den Vizestaats- anwalt der Republik. Vorvergangenen Sonntag wurde Vize-Innenminister Chaki- jew erschossen. „Inguschien“, bilanziert Andrej Piliptschuk, Oberstleutnant der rus-

sischen Militäraufklärung in einem Dos- AP sier, „erinnert mehr und mehr an Tsche- Entmachteter Vizepremier Anwar, Ehefrau Wan Azizah (1999): „Rund um die Uhr bewacht“ tschenien Anfang der neunziger Jahre.“ Die meist jungen Tatverdächtigen sind Anwar, 56, wurde 1999 wegen Korruption Anwar: Er ist angetreten mit einem from- bislang überwiegend Tschetschenen, dar- und im folgenden Jahr wegen „wider- men Bekenntnis, gegen die Korruption zu unter 16-jährige Mädchen. Doch die At- natürlichen Geschlechtsverkehrs“ zu ins- Felde zu ziehen und das Prinzip der Ge- tentäter stützen sich auf ein engmaschiges gesamt 15 Jahren Haft verurteilt. Die waltenteilung zu respektieren. Über einen Netz von Unterstützern in Inguschien, das Richtersprüche riefen weltweit Proteste Aufbruch zu wahrer Demokratie hat er al- bis in die Sicherheitsbehörden reicht: Im- hervor. Das Interview wurde schriftlich lerdings herzlich wenig gesagt. Noch immer mer wieder stoßen verblüffte Ermittler auf geführt. werden bei jeder Kleinigkeit sofort die dra- perfekt fabrizierte Pässe. Den wachsenden Islamisten-Zulauf ver- SPIEGEL: Seit über fünf Jahren sitzen Sie im steht Magomed Albogatschijew, eher mo- Gefängnis. Wie sind Ihre Haftbedin- Das Investitionsparadies Asiens derater Republik-Mufti, als „Folge des an- gungen? nennen ausländische Unternehmen bisweilen dauernden Tschetschenien-Krieges“. Die Anwar: Von Anfang an war ich in Einzel- das zweigeteilte Land im Südchinesischen Meer: zeitweilig 200000 Flüchtlinge aus der Nach- haft; Kontakt zu anderen Gefangenen gibt Die föderale Wahlmonarchie Malaysia, deren barrepublik, von denen noch fast 60000 un- es fast gar nicht. Ich vertiefe mich ins Ge- Westhälfte auf der Halbinsel südlich von Thailand ter elenden Bedingungen hausen, haben bet und in die Lektüre von Büchern. Be- liegt und deren Osthälfte gut ein Drittel der Insel die Teilrepublik ebenso zerrüttet wie die such darf ich nur von engsten Angehörigen Borneo umfasst, hat knapp 24 Millionen Einwoh- anhaltende russische Truppenpräsenz. empfangen – 45 Minuten wöchentlich. Und ner und gilt als westlich orientierter Tigerstaat. In- Für Beslan, 20, Medizinstudent der in- wahrscheinlich bin ich der einzige Ge- ternationale IT-Firmen siedelten sich in den letz- guschischen Universität, sind die russischen fängnisinsasse des Landes, dessen Zel- ten Jahren in Malaysia an, der deutsche Chemie- Truppen reine „Besatzer“. Regelmäßig lentür rund um die Uhr von einer Kamera konzern BASF ist einer der größten Investoren, trifft er sich mit Freunden in einer „Dscha- überwacht wird. Siemens baute in Kuala Lumpur eine Flughafen- maa“, einer Gruppe junger Muslime, die SPIEGEL: Die Behörden haben Ihnen die schnellbahn. Oft aber wurde übersehen, dass „streng nach den Regeln des Koran leben“. Zustimmung zu einer Rückenoperation in das von Malaien, Chinesen und Indern besiedelte Für den staatsfrommen Islam unter FSB- Deutschland seinerzeit verweigert. Wie Land unter dem bis Oktober 2003 regierenden Kontrolle hat er nur Spott übrig: Frauen in geht es Ihnen physisch? Premierminister Mahathir Mohamad,78, zum au- Hosen, kurzen Röcken oder mit wallen- Anwar: Ich kann mich nur schwer bewegen tokratisch gelenkten Regime verkam. Symptoma- dem Haar, wie sie immer noch über die und benötige täglich Medikamente. tisch war der Streit um Mahathirs designierten Uni-Flure ziehen, sind ihm ein Gräuel. SPIEGEL: Nach mehr als 22 Jahren hat Pre- Nachfolger Anwar Ibrahim. Nach einem steilen Auf- Bald, da ist er sich sicher, werde der mier Mahathir Mohamad sein Amt aufge- stieg in der Regierungspartei stellte sich Anwar Kampf gegen die Russen beginnen: „Wir le- geben. Welche politischen Veränderungen 1997 gegen seinen Ziehvater und brandmarkte ben in einer Vorkriegssituation“, versichert erwarten Sie von seinem Nachfolger Ab- die korrupten Machenschaften des „Dr. M“. Der Beslan. Uwe Klussmann dullah Badawi?

102 der spiegel 2/2004 Ausland kaukasischen Turbulenzen steuern. Der Präsident, der als 21-Jähriger bei den Welt- jugendfestspielen auf Kuba den damaligen MALAYSIA FDJ-Chef Egon Krenz und seine Blau- hemden kennen lernte, baut dabei auf „deutsche Ordnung, Sauberkeit und Orga- „Im Würgegriff der Regierung“ nisiertheit“. Mit Hilfe solcher Tugenden soll Inguschien genesen. Ex-Vizepremier Anwar Ibrahim über Exzesse russischer Militärs versucht Sja- sikow zu verhindern, vor allem die berüch- seine Haft, den Machtwechsel im Land und die fehlende tigten „Säuberungen“ verdächtiger Mus- Aussicht auf demokratische Erneuerung limdörfer. Doch die von ihm überall an den Straßenkreuzungen plakatierte Losung „Stabilität in Inguschien“ erwies sich spä- testens am 15. September vergangenen Jah- res als bloßes Wunschdenken. An jenem Tag erschütterte eine gewalti- ge Explosionswelle den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Magas. Islamisten hatten einen mit Sprengstoff gefüllten Lkw vor dem benachbarten Gebäude des FSB in die Luft gejagt; vier Sicherheitsleute star- ben, rund 40 Menschen wurden verletzt. Seither vergeht kaum eine Woche ohne Bombenanschläge oder Schießereien mit Untergrundkämpfern. Mal zerreißt eine Mine einen Militär- jeep, mal zerfetzt eine Bombe die Gleise der Bahnlinie nach Moskau, mal verfehlt ein Sprengsatz nur knapp den Vizestaats- anwalt der Republik. Vorvergangenen Sonntag wurde Vize-Innenminister Chaki- jew erschossen. „Inguschien“, bilanziert Andrej Piliptschuk, Oberstleutnant der rus-

sischen Militäraufklärung in einem Dos- AP sier, „erinnert mehr und mehr an Tsche- Entmachteter Vizepremier Anwar, Ehefrau Wan Azizah (1999): „Rund um die Uhr bewacht“ tschenien Anfang der neunziger Jahre.“ Die meist jungen Tatverdächtigen sind Anwar, 56, wurde 1999 wegen Korruption Anwar: Er ist angetreten mit einem from- bislang überwiegend Tschetschenen, dar- und im folgenden Jahr wegen „wider- men Bekenntnis, gegen die Korruption zu unter 16-jährige Mädchen. Doch die At- natürlichen Geschlechtsverkehrs“ zu ins- Felde zu ziehen und das Prinzip der Ge- tentäter stützen sich auf ein engmaschiges gesamt 15 Jahren Haft verurteilt. Die waltenteilung zu respektieren. Über einen Netz von Unterstützern in Inguschien, das Richtersprüche riefen weltweit Proteste Aufbruch zu wahrer Demokratie hat er al- bis in die Sicherheitsbehörden reicht: Im- hervor. Das Interview wurde schriftlich lerdings herzlich wenig gesagt. Noch immer mer wieder stoßen verblüffte Ermittler auf geführt. werden bei jeder Kleinigkeit sofort die dra- perfekt fabrizierte Pässe. Den wachsenden Islamisten-Zulauf ver- SPIEGEL: Seit über fünf Jahren sitzen Sie im steht Magomed Albogatschijew, eher mo- Gefängnis. Wie sind Ihre Haftbedin- Das Investitionsparadies Asiens derater Republik-Mufti, als „Folge des an- gungen? nennen ausländische Unternehmen bisweilen dauernden Tschetschenien-Krieges“. Die Anwar: Von Anfang an war ich in Einzel- das zweigeteilte Land im Südchinesischen Meer: zeitweilig 200000 Flüchtlinge aus der Nach- haft; Kontakt zu anderen Gefangenen gibt Die föderale Wahlmonarchie Malaysia, deren barrepublik, von denen noch fast 60000 un- es fast gar nicht. Ich vertiefe mich ins Ge- Westhälfte auf der Halbinsel südlich von Thailand ter elenden Bedingungen hausen, haben bet und in die Lektüre von Büchern. Be- liegt und deren Osthälfte gut ein Drittel der Insel die Teilrepublik ebenso zerrüttet wie die such darf ich nur von engsten Angehörigen Borneo umfasst, hat knapp 24 Millionen Einwoh- anhaltende russische Truppenpräsenz. empfangen – 45 Minuten wöchentlich. Und ner und gilt als westlich orientierter Tigerstaat. In- Für Beslan, 20, Medizinstudent der in- wahrscheinlich bin ich der einzige Ge- ternationale IT-Firmen siedelten sich in den letz- guschischen Universität, sind die russischen fängnisinsasse des Landes, dessen Zel- ten Jahren in Malaysia an, der deutsche Chemie- Truppen reine „Besatzer“. Regelmäßig lentür rund um die Uhr von einer Kamera konzern BASF ist einer der größten Investoren, trifft er sich mit Freunden in einer „Dscha- überwacht wird. Siemens baute in Kuala Lumpur eine Flughafen- maa“, einer Gruppe junger Muslime, die SPIEGEL: Die Behörden haben Ihnen die schnellbahn. Oft aber wurde übersehen, dass „streng nach den Regeln des Koran leben“. Zustimmung zu einer Rückenoperation in das von Malaien, Chinesen und Indern besiedelte Für den staatsfrommen Islam unter FSB- Deutschland seinerzeit verweigert. Wie Land unter dem bis Oktober 2003 regierenden Kontrolle hat er nur Spott übrig: Frauen in geht es Ihnen physisch? Premierminister Mahathir Mohamad,78, zum au- Hosen, kurzen Röcken oder mit wallen- Anwar: Ich kann mich nur schwer bewegen tokratisch gelenkten Regime verkam. Symptoma- dem Haar, wie sie immer noch über die und benötige täglich Medikamente. tisch war der Streit um Mahathirs designierten Uni-Flure ziehen, sind ihm ein Gräuel. SPIEGEL: Nach mehr als 22 Jahren hat Pre- Nachfolger Anwar Ibrahim. Nach einem steilen Auf- Bald, da ist er sich sicher, werde der mier Mahathir Mohamad sein Amt aufge- stieg in der Regierungspartei stellte sich Anwar Kampf gegen die Russen beginnen: „Wir le- geben. Welche politischen Veränderungen 1997 gegen seinen Ziehvater und brandmarkte ben in einer Vorkriegssituation“, versichert erwarten Sie von seinem Nachfolger Ab- die korrupten Machenschaften des „Dr. M“. Der Beslan. Uwe Klussmann dullah Badawi?

102 der spiegel 2/2004 konischen Regeln des Gesetzes zur Inneren SPIEGEL: Mahathir hat die Musli- Sicherheit angewandt. me in aller Welt gerügt, sie seien SPIEGEL: Wie schätzen Sie den neuen Pre- „schwach und rückständig“. Tei- mier ein? Ist er liberaler als sein Vorgänger? len Sie seine Ansicht? Anwar: Ich habe Abdullah als versöhnli- Anwar: Mahathir ist immer wieder chen Menschen kennen gelernt. Ich glau- mit Schmähreden über die Verei- be, dass er nicht dieselbe Neigung zu au- nigten Staaten, die Europäer oder tokratischer Herrschaft und bombastischen die Juden hergezogen – ein übler Projekten hat. Doch er muss sich mit der Trick, um von innenpolitischen ausufernden Korruption herumschlagen. Problemen wie der Korrup- SPIEGEL: Gibt es Anzeichen einer politi- tion abzulenken. Das Gleiche gilt schen Wende? auch für den Vorwurf allgemeiner Anwar: Die Medien sind noch immer fest im Rückständigkeit. Der trifft aller- Würgegriff der Regierung, die weiterhin dings auf jene Führer islamischer alle Stimmen der Opposition erstickt. Staaten zu, welche die Ressour- SPIEGEL: Kann die Gerichtsbarkeit jetzt cen ihrer Länder zur eigenen Be- wieder unabhängig werden? reicherung geplündert haben Anwar: Die Justiz ist weiterhin dem Diktat oder enorme Gelder für überzo- der Exekutive unterworfen. Mein Antrag auf gene Prestigeprojekte ausgaben, Freilassung gegen Kaution, normalerweise auf Kosten von Erziehung und eine Routinesache für ein nachgeordnetes Sozialwesen.

Gericht, bleibt eingefroren, weil es dafür die AP SPIEGEL: Wo sehen Sie die Ur- Zustimmung der Oberen erhalten muss. Ministerpräsident Mahathir, Nachfolger Abdullah sachen für die Ausbreitung des is- SPIEGEL: Wird Premier Abdullah die Neu- „Alle Stimmen der Opposition erstickt“ lamischen Fundamentalismus oder eröffnung Ihres Verfahrens erlauben? den Terrorismus? Anwar: Die Gerechtigkeit verlangt meine Land mit einer stabilen Wirtschaft über- Anwar: Terrorismus gedeiht unter den Ent- Freilassung. Eine rückgratlose Justiz, die nahm, als er 1981 sein Amt antrat. Unter rechteten in repressiven, tyrannischen Re- auf Anweisung der Exekutive handelte, hat seiner Führung hat Malaysia eingestande- gimen. Wir müssen uns allerdings auch vor meinen Prozess erst möglich gemacht. Ein nermaßen ein solides Wachstum verzeich- jenen Autokraten hüten, die das Schreck- Netz aus Intrigen und Täuschungen führte net – was allerdings auch generell auf die gespenst des Terrorismus nutzen, um ihre zu fabrizierten Beweismitteln und letztlich wirtschaftliche Entwicklung der asiatischen Bürger zu unterdrücken und abweichende zu meiner Verurteilung. Länder zutrifft. Wir haben heute eine bes- Meinungen zu ersticken. SPIEGEL: Wollen Sie den neuen Regierungs- sere Infrastruktur und bessere Autobahnen, SPIEGEL: Für dieses Jahr stehen Parla- chef um Begnadigung bitten? wir haben ein hoch entwickeltes Transport- mentswahlen an. Kommt dann die ent- Anwar: Es ist skandalös, wenn man sich auf system und hervorragende Universitäten. scheidende Wende? die Exekutive statt auf die Justiz stüt- Ob das eine dauerhafte Hinterlassenschaft Anwar: Diese Wahlen werden weder frei zen muss, um Gerechtigkeit einzufordern. ist, bleibt abzuwarten. Pompöse Baupro- noch fair sein. Öffentliche Versammlungen Die Frage, ob ich weiterhin eingekerkert blei- jekte oder die vielen Affären, in denen politischer Gegner des Regimes sind wei- ben werde, müssen Sie an Abdullah richten. Mahathir Unternehmen seiner Kinder und terhin verboten. Die Führer der Opposition SPIEGEL: Wie steht es um das Erbe Maha- Freunde vor der Pleite bewahrte, haben werden von allen möglichen Vorschriften thirs? Er konnte wirtschaftliche Erfolge die Steuerzahler jedenfalls erheblich be- bedrängt. Und noch immer reichern die vorweisen. lastet. Aber am schändlichsten bleibt die Regierenden die Wahllisten mit erfunde- Anwar: Oft wird nicht zur Kenntnis genom- Zerstörung von gesellschaftlichen Schlüs- nen eigenen Parteigängern an. men, dass Mahathir bereits ein friedliches selinstanzen wie Polizei und Justiz. Interview: Andreas Lorenz seit 1981 regierende Mahathir mobilisierte dar- Skyline der Hauptstadt Kuala Lumpur aufhin Medien, Justiz und Parteiapparat gegen den übereifrigen Konkurrenten und hebelte Anwar aus allen Ämtern. Den dürftigen Vorwand bot der Zwist um die Bewältigung der Asienkrise. In einem juristischen Spektakel wurde Anwar anschließend bezichtigt, sich homosexuell am Chauffeur seiner Frau vergangen zu haben. Die hörige Justiz sprach Anwar schuldig, machte ihn aber damit zur Sym- bolfigur der Mahathir-Gegner. Bei den folgenden Wahlen verlor die Regierungspartei Umno rund 20 Parlamentssitze, überwiegend zu Gunsten der isla- mischen Opposition – für Malaysia ein politischer Erdrutsch. Premier Mahathir zog daraufhin die Daumenschrauben an: Radikale Kritiker und mili- tante Muslime wurden ohne Gerichtsverfahren in- haftiert. Die Anschläge vom 11. September gaben dem Premier zudem Gelegenheit, sich auf Seiten der USA als Kämpfer gegen den Terrorismus zu profilieren. Anwar könnte ohne Begnadigung frühestens 2009 freikommen, dürfte jedoch erst 2014 wieder in ein Amt gewählt werden. PICTURE FINDERS / IFA-BILDERTEAM PICTURE

der spiegel 2/2004 103 RETO ZIMPEL RETO Nazi-Devotionalie „Carin II“*: Fragwürdiges Göring-Flair

sondern mit Ex-„Stern“-Reporter Gerd ÄGYPTEN Heidemann auch einer, der sie später um- schreiben wollte. Doch selbst der alte jour- Schwimmende nalistische Bluthund mit der Schwäche für braune Fährten hatte die „Carin II“-Spur schon vor Jahren verloren. Er wisse nicht, Laube was aus seinem Schiff geworden sei, ge- steht Heidemann, 72. Im Roten Meer ist ein zutiefst Tatsächlich ist die 1937 aus Teakholz ge- baute 27-Meter-Yacht, von Erstbesitzer deutsches Schiff wieder Göring in Erinnerung an seine verstorbe- aufgetaucht: die einstige Luxus- ne Ehefrau „Carin II“ getauft („Carin I“ yacht von Hitlers war zu klein und wetteranfällig), ein gru- Reichsmarschall Hermann Göring. selig deutsches Schiff. Gleich nach dem Stapellauf wurde das Boot zu einem be- er Badeort El Gouna am Roten liebten Ort für Geheimtreffen. Nazi-Grö- Meer wäre gern ein arabisches ßen wie Heinrich Himmler und Martin DSaint-Tropez, und der Schiffsmakler Bormann, aber auch der Führer selbst sol- Christopher Brunner-Schwer träumt da- len auf ihm die Gastfreundschaft des Feld- von, mit einem alten Kahn ein spek- marschalls genossen haben. takuläres Geschäft zu machen. Während Mit Kriegsbeginn wurde die Yacht zu der Sandfleck an Ägyptens Küste auf sei- Görings persönlicher Kommandozentrale. nen Durchbruch zum Top-Spot der Mil- Im Halbdunkel der Kajüte des meist auf lionäre noch warten muss, klaffen bei Havel, Spree oder Elbe schippernden Boo- dem deutschen Bootsverkäufer Wunsch tes reifte wohl der Entschluss zur Luft- und Wirklichkeit nicht ganz so weit aus- schlacht um England, die der Reichsmar- einander. schall an Bord per Funk und Telefon ver- Mit der „Carin II“ hat Brunner-Schwer folgte. ein geradezu unglaubliches Stück im Ka- Als Deutschland in Schutt und Asche talog, das lange als verschollen galt. Zu lag, fanden die siegreichen Briten Gefallen den Eignern der legendären Motoryacht an Görings schwimmender Laube. Kriegs- zählte mit Hermann Göring nämlich nicht held Feldmarschall Montgomery taufte das nur ein Mann, der als Hitler-Intimus, Ju- Beuteschiff in „Royal Albert“ um und den-Verfolger und Luftwaffenchef im Drit- machte es der späteren Königin Elizabeth ten Reich einschlägig Geschichte machte, zum Geschenk. Die benannte es nach ihrem Erstgeborenen „Prince Charles“. Als Flaggschiff der Royal-Navy-Rheinflottille * Oben: im Dezember 2000 im Roten Meer; unten: mit Prinz Paul von Jugoslawien, Emmy Göring, Prinzessin fuhr die Göring-Yacht etliche Jahre in Olga und dem Feldmarschall auf dem Wannsee 1939. europäischen Gewässern; mit Nachkriegs-

Bootspartie an Bord der Göring-Yacht*: Beliebter Ort für Geheimtreffen von NS-Größen

104 der spiegel 2/2004 Ausland kanzler Konrad Adenauer durfte sogar wieder ein deutscher Politiker an Bord. Zurück in deutsche Hände fiel das Boot im Juni 1960. Gerichte sprachen die Yacht der Göring-Witwe Emmy zu, die ihr Erbe jedoch schon bald versilberte. Neuer Eig- ner wurde ein Druckereibesitzer aus Bonn, der das Schiff mit einem vierten Namen versah: „Theresia“. Das fragwürdige Göring-Flair gab dem Schiff aber erst „Stern“-Reporter Heide- mann zurück. Er verwandelte den Kahn in einen schwimmenden Reliquienschrein für NS-Fetischisten, während er seiner Ham- burger Illustrierten Anfang der achtziger Jahre die angeblichen Hitler-Tagebücher unterjubelte. Der Journalist war bei einer Recherche auf das Boot gestoßen und hat- te es, zum Teil auf Pump, für 160000 Mark erstanden. Heidemann stattete das Schiff nach dem grotesken Geschmack des ba- rocken Genussmenschen aus: Bald gab es wieder Göringsches Tafelsilber, Göringsche Trinkbecher und Göringsche Aschenbe- cher, so berichteten Besucher. An Bord trafen sich Journalisten-Kolle- gen, Verlagsmanager und einstige Natio- nalsozialisten. In seinem Film über die Tagebuch-Affäre („Schtonk“) ließ Regis- seur Helmut Dietl den fiktiven Heidemann sogar die Göring-Nichte auf den Planken lieben, was die Originalfigur allerdings als „frei erfunden“ dementiert. Die Spekulation des „Carin II“-Eigners auf einen hohen Wiederverkaufswert der Yacht platzte mit dem Tagebuch-Schwindel. In einer Zwangsversteigerung erwarb der ägyptische Erdölagent Mustafa Karim 1988 in Hamburg das Schiff für 270000 Mark. Mit seiner amerikanischen Frau Sandra Simp- son schipperte er die „Carin II“ durch Nord- see, Ärmelkanal und Biskaya ins Mittelmeer. An seinem heutigen Ankerplatz vor El Gouna wirkt das Schiff kaum seetüchtig. Die Reling ist beschädigt, die Planken sind verwaschen. Im Kapitänsraum mit schwe- rem Eichentisch und grüner Ledercouch schlägt dem Besucher Muff entgegen. Der erbärmliche Zustand ist die Folge eines gleich zweifachen Schicksalsschlags für die Amerikanerin. Nachdem ihr Mann gestorben war, eröffnete die ägyptische Bürokratie einen erbitterten Krieg um die Verfügungsgewalt über das Schiff. Erst seit wenigen Wochen darf Makler Brunner- Schwer die „Carin II“ in Simpsons Auf- trag zum Verkauf anbieten – und verweist auf viel versprechende Anfragen aus den Golf-Emiraten. Angeblich haben Wüsten-Prinzen und Öl-Scheichs bei dem Bootshändler vor- fühlen lassen, was der betagte Pott kosten soll. Auch aus der Verwandtschaft des ira- kischen Ex-Diktators Saddam Hussein wurden Erkundigungen über die „Carin II“ eingezogen. „Die Geschichte der Yacht“, gibt sich der Makler zuversichtlich, „gefällt den Arabern. Und das treibt den Preis.“ Dieter Bednarz, Volkhard Windfuhr der spiegel 2/2004 105 Surfer am Belhara-Riff in der Biskaya

ERIC GAUCHE

WELLENREITEN Jagd nach Meeresmonstern Bislang galt der Pazifische Ozean als Mekka der Big-Wave-Surfer. Dank Wettersatelliten, Internet und einer spendablen Industrie werden nun auch vor den Küsten Europas immer neue Reviere entdeckt. Wer reitet als Erster eine 100-Fuß-Welle?

uch dieser Sturm ist noch zu 15 Meter, „das ist nicht schlecht“. Aber Es gibt nicht viele Surfer, die es wagen, schwach. Kurz vor Neujahr tobt er auch kein Grund, nervös zu werden. sich auf diese Art dem Ritt auf der ultima- Aweit draußen über der Biskaya und Sébastien Saint-Jean, 34, im Hauptbe- tiven Welle zu nähern. Weltweit sind es schickt mächtige Brecher an die Küsten ruf Vertreter für eine Sportartikelfirma, rund 50, und selten sind die Brecher, denen im Südwesten von Frankreich. Sébastien lebt fürs Wellenreiten. Er war mal Profi sie sich stellen, niedriger als zehn Meter. Saint-Jean steht morgens auf einer Düne und wohnte fünf Jahre auf Hawaii. Jetzt Saint-Jean und Benetrix gelten als per- vor seinem Haus in Hossegor und beob- hat er einen Surfshop und eine Surfschule fektes Team. Sie wechseln sich auf dem achtet reglos die See. Drei Surfer haben in Hossegor. Doch vor allem ist er seit ei- Surfbrett und am Steuer ihres 140 PS star- sich in die Wellen vor einem Strandab- nigen Wintern damit beschäftigt, sein Hob- ken Jetskis ab. Sie surften schon in den schnitt mit dem Namen „La Nord“ gewagt. by auf die Spitze zu treiben. Riesenwellen vor Maui und Tahiti. Und vo- Raketengleich schießen sie die bis zu vier Es ist ein innerer Zwang, vielleicht ver- riges Jahr schrieben sie Surfgeschichte. Meter hohen Wasserwände hinunter. gleichbar mit dem jener Menschen, die Denn sie fanden eine neue Antwort auf Der kleine Mann auf der Düne, selbst Mitte des vorigen Jahrhunderts meinten, die Frage, wo sich die höchsten Wellen der ein passionierter Surfer, ist nicht beein- den höchsten Berg besiegen zu müssen. Welt türmen. Lange herrschte der Glaube, druckt. Die Wellen sind hoch, aber bei wei- Gemeinsam mit seinem Kumpel Yann Be- der Pazifische Ozean sei schon seiner schie- tem nicht hoch genug. netrix, 31, hat er sich auf das so genannte ren Größe wegen der Motor für die mäch- Am Nachmittag gibt es Neuigkeiten aus Tow-in-Surfen verlegt. Bei dieser Technik tigsten Brecher auf der Erde. Die berühm- Hawaii. Irgendwo vor Oahu soll der Profi- lassen sich die Surfer von ihrem Partner testen Big-Wave-Reviere liegen daher auch surfer Garrett McNamara eine 50-Fuß- mittels Jetski in Wellen hineinziehen, die vor Nordamerika und Hawaii. Welle erwischt haben. „Oho“, brummt zu hoch sind, als dass man sie noch mit Seit dem vergangenen März ist sich die Sébastien anerkennend. 50 Fuß sind über bloßer Muskelkraft anpaddeln könnte. Szene indes nicht mehr so sicher. Unver-

106 der spiegel 2/2004 Sport

Geboten bekommt das Publikum einen Wellenbruch Ein plötzliches Gefälle in seichtem Wasser erzeugt steil aufragende Wellen existenziellen Kampf zwischen Mensch Durch den abrupten Wechsel der Tiefe springt die Welle nach vorn und Meer. Das Surfen in Riesenwellen gilt als eines der letzten großen Extreme, die Der Wellengipfel überholt das Wellental dieser Planet noch zu bieten hat. Der höchste Berg ist tausendfach erklommen, die Pole sind erobert, alle Wüsten und Ur- wälder durchschritten. Die Suche nach dem maximalen Wellenberg hat indes erst an- gefangen. 1999 begannen Surfer mit der motori- Wellen- sierten Tow-in-Technik. Seither dringt die höhe Zunft, vorzugsweise während der Win- terstürme auf der Nordhalbkugel von November bis März, in immer neue Di- mensionen. Wo die Limits liegen, vermag niemand zu sagen. Tow-in-Surfer messen Wellen in Fuß. Die magische Grenze, die schon bald erreicht werden soll, rangiert bei 100 Fuß – 30,5 Meter. aya Es ist nur eine Frage der Zeit. Denn 2 Kilometer Bisk n La Rochelle längst ist ein großer Wettstreit unter den bis zum vo lf Surfern ausgebrochen, die Marke zu Wellenreiter- o FRANK- Revier G REICH nehmen. Bucht von Vorbei die idyllischen Tage, da sich Saint-Jean-de-Luz Surfer bei der Suche nach Wellen einfach Saint-Jean-de-Luz treiben ließen. Heutige Big-Wave-Surfer Bordeaux überlassen nichts mehr dem Zufall. Sie recherchieren in Datenbanken von Wet- La Coru~na Gijón Biarritz terstationen und bei meeresgeologischen Santander Instituten, um den Spot mit den höchsten Bilbao San Sebastián 100 km Brechern zu lokalisieren. SPANIEN Mitunter erinnert das Treiben der Szene an das Rennen um die erste Landung auf mittelt tauchten damals Fotos eines kapi- Etwa 30 Minuten dauert die Autofahrt dem Mond. Kaum ein Ort ist den Jägern talen Brechers aus Europa auf. Selbst die von seinem Heimatort Hossegor nach der Meeresmonster zu abgelegen. Ein großen Magazine aus den USA waren wie Saint-Jean-de-Luz, einem Ort nahe der heißer Tipp ist etwa ein Riff namens Cor- elektrisiert und bejubelten das Ereignis spanischen Grenze. Zwei Kilometer vor tes Banks. Entdeckt hat es ein Surfer beim als Entdeckung einer „neuen Dimension“. der Küste liegt dort ein Riff mit dem Na- zufälligen Blick aus einer Linienmaschine 20 Meter hoch war diese Welle und so men Belhara. in Richtung Hawaii. Es befindet sich 160 Ki- monströs wie eine Lawine. Nur die Kulis- Es ist schwer zu lokalisieren. Es befindet lometer westlich der kalifornischen Küste se für das Naturereignis wirkte male- sich 17 Meter unter dem Meeresspiegel. im Pazifischen Ozean. Mit Militärschnell- risch: Es waren die Berge des Basken- Nur wenn ein besonders schwerer Sturm booten oder Hubschraubern lassen sich die landes. eine mindestens acht Meter hohe Dünung Surfer bei besonders hohem Seegang dort- Der Mann, der auf der Welle surfte, war aus nordwestlicher Richtung über die Bis- hin transportieren. Sébastien Saint-Jean. Der Franzose kann kaya schickt, erwacht das Riff zum Leben. Vor allem die Surfindustrie ist begeistert bis heute sein Glück kaum fassen. Denn Dann werden die heranrollenden Wogen vom Eifer der Protagonisten – und stattet auch er hat lange in allen möglichen Ecken vom unterseeischen Felsmassiv zu Bre- sie mit gut dotierten Sponsorenverträgen der Erde nach Riesenwellen geforscht. Er chern aufgeworfen. und satten Reisebudgets aus. Denn mit surfte vor Australien, Neuseeland, Afrika Entdeckt hat dieses Naturereignis der nichts lässt sich der Surfsport besser pro- und entlegenen Inseln wie dem indonesi- ehemalige Jugend-Surf-Europameister Peyo moten als mit den Wahnsinnstaten der schen Surfmekka Mentawai. Europa? Das Lizarazu. Vor zwei Jahren war der Bruder Monster-Reiter. war auch aus Sicht des Basken für Surfer des Fußballprofis Bixente Lizarazu, der Dabei hat Tow-in-Surfen mit dem her- eher nur „die zweite Liga“. für Bayern München spielt und mit Frank- kömmlichen Wellenreiten eher wenig ge- reich Weltmeister wurde, der Ers- mein. Die Bretter sind schmaler und mit te, der sich in die Wassermassen Bleigewichten beschwert, sie sollen bei am Riff wagte. Seitdem ist Peyo schneller Fahrt nicht verspringen. Damit ein nationaler Held. die Finnen im Heck der Meeresboliden Denn mittlerweile ist der Küs- nicht brechen, sind sie nicht wie gewöhn- tenabschnitt, von dem die Surfer lich aus Kunstharz oder Plastik gefertigt, bei ihren Ritten zu beobachten sondern aus Aluminium. sind, zum Wallfahrtsort gewor- Auch die Akteure bilden eine eigene den. Wie Astronauten werden die Spezies. Benetrix paddelt auf seinem Brett, Surfer verabschiedet, wenn sie wie andere Leute durch den Park joggen. mit ihren Jetski vom Hafen in Mindestens vier Kilometer legt er jeden Saint-Jean-de-Luz hinaus ans Riff Tag im Wasser zurück. Saint-Jean trainiert fahren. Hunderte Schaulustiger seine Fitness auf dem Fahrrad, mit Schwim-

ERIC CHAUCHE säumen die Klippen, um das men oder Krafttraining – und hin und wie- Surfer Saint-Jean, Benetrix: Üben in der Badewanne Spektakel zu sehen. der auch in der Badewanne. Dort kann er

der spiegel 2/2004 107 Sport

FORMEL 1 Evolution im Luftschloss Für 45 Millionen Euro hat Sauber den modernsten Windkanal der Branche gebaut. In der Aerody- namik der Autos sehen die Ingeni- eure die größten Leistungsreserven. as Herz der Anlage ist so hoch wie ein zweigeschossiges Haus: ein DVentilator mit zehn Rotorblättern aus leichtem Karbon. Sein Motor produ- ziert fünf Tonnen Schubkraft, etwa die

J. HOUYVET / HBL E-LANCE MEDIA J. Hälfte eines Boeing-Triebwerks. Und doch Show-Event Wellenreiten (vor Maui): 60000 Dollar für die höchste Welle macht er nichts anderes als Wind. Die Luft wird durch ein bis zu 9,4 Meter unter Wasser vier Minuten lang die Luft Zwar ist der Atlantik mit einer Fläche breites Rohr gejagt, auf 20 Grad herunter- anhalten. Eine Übung, mit der Big-Wave- von 84 Millionen Quadratkilometern nur gekühlt, mittels eines riesigen Flaschenhal- Surfer die Leistungsfähigkeit ihrer Lungen halb so groß wie der Pazifische Ozean. ses auf maximal 300 Stundenkilometer be- überprüfen. Dennoch sind die Küsten zum Beispiel vor schleunigt – um dann das auf 60 Prozent Denn so berauschend das Gefühl ist, Portugal oder Irland ideal für die Entste- verkleinerte Modell eines Rennautos zu eine Wasserwand im Hochhausformat mit hung von Riesenwellen. Das Meer dort ist umströmen. bis zu 70 Stundenkilometern hinabzura- besonders tief. Ungebremst rollt die Dü- Die Anlage heißt im Fachjargon Wind- sen, so beklemmend ist es, von einem Bre- nung bis vor die Küsten. Auf Riffen und kanal. Sie steht, nobel verpackt in einem cher erfasst zu werden. Sandbänken kommt es dann zur Explosion verglasten Kubus, im Züricher Umland. Sie Mancher wurde durch die Walzenbewe- der Wassermassen (siehe Grafik Seite 107). hat den Bauherrn 45 Millionen Euro gekos- gung der Welle derart in die Tiefe gerissen, Nun läuft der Wettstreit der Kontinente. tet. Und sie steht für den ganz gewöhnli- dass ihm das Trommelfell platzte. Bis zu Noch knapp drei Monate ist Zeit, ehe die chen Gigantismus der Formel 1. zwei Minuten kann es dauern, ehe die Ha- Big-Wave-Saison wieder vorbei ist. Jede Rund 8000 Stunden im Jahr verbringen varisten wieder an die Wasseroberfläche Woche gibt es neue Zwischenstände. die Aerodynamiker der großen Grand- gelangen – trotz Schwimmweste. Bei Half Moon Bay, in einem legendären Prix-Teams im Windkanal. McLaren-Mer- Dennoch scheint den Cracks der Szene Revier nahe San Francisco, sind die ersten cedes und Renault besitzen gar zwei dieser kein Risiko zu groß. Es geht um Ehre, um Giganten aufgeschlagen. Jeder wartet nun Hightech-Immobilien, bei Toyota sind 45 Ruhm und natürlich um eine Menge Geld. gespannt auf die Beweisfotos. Vor Todos Angestellte mit nichts anderem beschäf- Der Ausrüster Billabong, einer der Bran- Santos an der mexikanischen Pazifikküste tigt, als Rennwagenmodelle zu bauen, sie chenführer der Surfindustrie, hat das Big- sollen kürzlich 16-Meter-Brecher einge- in den Wind zu stellen – und von den Mess- Wave-Surfen zum globalen Event gemacht. stürzt sein. Saint-Jean war anfangs alar- instrumenten abzulesen, ob die neue Krea- „XXL Awards“, so nennt sich der Wettbe- miert, als er davon hörte. Doch dann kam werb, bei dem es darum geht, die höchste heraus: Es gibt von dem Ereignis keine Bil- Welle des Jahres zu reiten. Dem Sieger der. Entwarnung. In Führung liegt mithin winken mindestens 60000 Dollar. noch immer die 50-Fuß-Welle des Hawai- Die Regeln sind übersichtlich. Gesurft ianers McNamara. werden darf überall. Gewertet werden al- 50 Fuß? „Lächerlich“, sagt Saint-Jean. Er lerdings nur Ritte, die fotografisch doku- lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ir- mentiert sind. Um Manipulation vorzu- gendwann wird der passende Sturm auch beugen, müssen die Negative vorgelegt ihm eine neue Welle schicken. Er hält sich werden. mit seinem Kumpel Benetrix bereit. Sie Auch Saint-Jean schickte vergangenes wollen die alten Machtverhältnisse aus- Jahr Bilder ein. Er belegte auf Anhieb den hebeln. Mag Hawaii für immer das Mekka zweiten Platz. Bei der Preisverleihung im der Surfer bleiben. „Das Maß aller Din- kalifornischen Anaheim wurde er dennoch ge“, raunt Saint-Jean, „ist es nicht.“ verhöhnt. Hoch, so hieß es, seien diese Die Frage ist, ob es am Ende auch wirk- Wellen aus Europa ja schon. Andererseits lich Saint-Jean oder einer der anderen Lo- sei der Ritt auf dem Brecher kaum gefähr- kalmatadore von der Côte Basque ist, der licher als „eine Fahrt auf einer Rolltreppe“, am Belhara-Riff alle Rekorde pulverisiert. mokierten sich vor allem die für ihr breit- Das letzte Mal surfte Saint-Jean Anfang beiniges Auftreten bekannten US-Surfer. November in den Wellen vor Saint-Jean- Das kraftmeierische Gebaren war ein de-Luz. Nach einem Ritt brachen er und Ablenkungsmanöver. In Wahrheit sind die Benetrix den Versuch ab. Die Brecher Platzhirsche der Szene, ob aus Kalifornien waren einfach zu voll mit konkurrieren- oder Hawaii, ziemlich beeindruckt von den den Teams – aus Hawaii und Kalifor- 60-Prozent-Modell im Sauber-Windkanal neuen Rivalen aus Europa. nien. Gerhard Pfeil Zehn verschiedene Frontflügel im Jahr

108 der spiegel 2/2004 Sport

FORMEL 1 Evolution im Luftschloss Für 45 Millionen Euro hat Sauber den modernsten Windkanal der Branche gebaut. In der Aerody- namik der Autos sehen die Ingeni- eure die größten Leistungsreserven. as Herz der Anlage ist so hoch wie ein zweigeschossiges Haus: ein DVentilator mit zehn Rotorblättern aus leichtem Karbon. Sein Motor produ- ziert fünf Tonnen Schubkraft, etwa die

J. HOUYVET / HBL E-LANCE MEDIA J. Hälfte eines Boeing-Triebwerks. Und doch Show-Event Wellenreiten (vor Maui): 60000 Dollar für die höchste Welle macht er nichts anderes als Wind. Die Luft wird durch ein bis zu 9,4 Meter unter Wasser vier Minuten lang die Luft Zwar ist der Atlantik mit einer Fläche breites Rohr gejagt, auf 20 Grad herunter- anhalten. Eine Übung, mit der Big-Wave- von 84 Millionen Quadratkilometern nur gekühlt, mittels eines riesigen Flaschenhal- Surfer die Leistungsfähigkeit ihrer Lungen halb so groß wie der Pazifische Ozean. ses auf maximal 300 Stundenkilometer be- überprüfen. Dennoch sind die Küsten zum Beispiel vor schleunigt – um dann das auf 60 Prozent Denn so berauschend das Gefühl ist, Portugal oder Irland ideal für die Entste- verkleinerte Modell eines Rennautos zu eine Wasserwand im Hochhausformat mit hung von Riesenwellen. Das Meer dort ist umströmen. bis zu 70 Stundenkilometern hinabzura- besonders tief. Ungebremst rollt die Dü- Die Anlage heißt im Fachjargon Wind- sen, so beklemmend ist es, von einem Bre- nung bis vor die Küsten. Auf Riffen und kanal. Sie steht, nobel verpackt in einem cher erfasst zu werden. Sandbänken kommt es dann zur Explosion verglasten Kubus, im Züricher Umland. Sie Mancher wurde durch die Walzenbewe- der Wassermassen (siehe Grafik Seite 107). hat den Bauherrn 45 Millionen Euro gekos- gung der Welle derart in die Tiefe gerissen, Nun läuft der Wettstreit der Kontinente. tet. Und sie steht für den ganz gewöhnli- dass ihm das Trommelfell platzte. Bis zu Noch knapp drei Monate ist Zeit, ehe die chen Gigantismus der Formel 1. zwei Minuten kann es dauern, ehe die Ha- Big-Wave-Saison wieder vorbei ist. Jede Rund 8000 Stunden im Jahr verbringen varisten wieder an die Wasseroberfläche Woche gibt es neue Zwischenstände. die Aerodynamiker der großen Grand- gelangen – trotz Schwimmweste. Bei Half Moon Bay, in einem legendären Prix-Teams im Windkanal. McLaren-Mer- Dennoch scheint den Cracks der Szene Revier nahe San Francisco, sind die ersten cedes und Renault besitzen gar zwei dieser kein Risiko zu groß. Es geht um Ehre, um Giganten aufgeschlagen. Jeder wartet nun Hightech-Immobilien, bei Toyota sind 45 Ruhm und natürlich um eine Menge Geld. gespannt auf die Beweisfotos. Vor Todos Angestellte mit nichts anderem beschäf- Der Ausrüster Billabong, einer der Bran- Santos an der mexikanischen Pazifikküste tigt, als Rennwagenmodelle zu bauen, sie chenführer der Surfindustrie, hat das Big- sollen kürzlich 16-Meter-Brecher einge- in den Wind zu stellen – und von den Mess- Wave-Surfen zum globalen Event gemacht. stürzt sein. Saint-Jean war anfangs alar- instrumenten abzulesen, ob die neue Krea- „XXL Awards“, so nennt sich der Wettbe- miert, als er davon hörte. Doch dann kam werb, bei dem es darum geht, die höchste heraus: Es gibt von dem Ereignis keine Bil- Welle des Jahres zu reiten. Dem Sieger der. Entwarnung. In Führung liegt mithin winken mindestens 60000 Dollar. noch immer die 50-Fuß-Welle des Hawai- Die Regeln sind übersichtlich. Gesurft ianers McNamara. werden darf überall. Gewertet werden al- 50 Fuß? „Lächerlich“, sagt Saint-Jean. Er lerdings nur Ritte, die fotografisch doku- lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ir- mentiert sind. Um Manipulation vorzu- gendwann wird der passende Sturm auch beugen, müssen die Negative vorgelegt ihm eine neue Welle schicken. Er hält sich werden. mit seinem Kumpel Benetrix bereit. Sie Auch Saint-Jean schickte vergangenes wollen die alten Machtverhältnisse aus- Jahr Bilder ein. Er belegte auf Anhieb den hebeln. Mag Hawaii für immer das Mekka zweiten Platz. Bei der Preisverleihung im der Surfer bleiben. „Das Maß aller Din- kalifornischen Anaheim wurde er dennoch ge“, raunt Saint-Jean, „ist es nicht.“ verhöhnt. Hoch, so hieß es, seien diese Die Frage ist, ob es am Ende auch wirk- Wellen aus Europa ja schon. Andererseits lich Saint-Jean oder einer der anderen Lo- sei der Ritt auf dem Brecher kaum gefähr- kalmatadore von der Côte Basque ist, der licher als „eine Fahrt auf einer Rolltreppe“, am Belhara-Riff alle Rekorde pulverisiert. mokierten sich vor allem die für ihr breit- Das letzte Mal surfte Saint-Jean Anfang beiniges Auftreten bekannten US-Surfer. November in den Wellen vor Saint-Jean- Das kraftmeierische Gebaren war ein de-Luz. Nach einem Ritt brachen er und Ablenkungsmanöver. In Wahrheit sind die Benetrix den Versuch ab. Die Brecher Platzhirsche der Szene, ob aus Kalifornien waren einfach zu voll mit konkurrieren- oder Hawaii, ziemlich beeindruckt von den den Teams – aus Hawaii und Kalifor- 60-Prozent-Modell im Sauber-Windkanal neuen Rivalen aus Europa. nien. Gerhard Pfeil Zehn verschiedene Frontflügel im Jahr

108 der spiegel 2/2004 die Tragfläche eines Flugzeugs. Die Fein- arbeit am Unterboden lohnt sich. Rampf: „Hier bekomme ich den Abtrieb gratis – ohne den Luftwiderstand zu erhöhen.“ Während der vorigen Saison hat Sauber zehn verschiedene Frontflügel, neun Heck- flügel und drei Unterböden zum Einsatz gebracht. Dank dieser Evolution war der Rennwagen in seiner aerodynamischen Ef- fizienz am Jahresende „ein paar Prozent- punkte besser als zu Beginn“ (Rampf). Welchen Einfluss die Arbeit im Wind- kanal auf die Rennergebnisse haben kann,

Schnelle Röhre Der Sauber-Windkanal (schematische Darstellung) Umlenkschaufeln

Ventilator Teamchef Sauber, Techniker Rampf (im Ventilator des Windkanals): Fragiles System Kühler Beruhigungskammer tion auf der Rennpiste einen Zeitvorteil das Auto bewegt sich, sondern die verspricht. Umwelt. Um bei diesem Wettrüsten der großen Seit den Achtzigern werden For- Autowerke mithalten zu können, ging Pe- mel-1-Wagen im Windkanal ver- Messbereich ter Sauber, 60, aufs Ganze: Der Schwei- messen, damals im Maßstab 1:3; Gesamtlänge des Kanals: 141 m zer, Chef eines der wenigen werksunab- später wuchsen die Modelle auf 50 hängigen Rennställe, ließ den modernsten Prozent des Originals. Dennoch Windtunnel der Formel 1 errichten. „Ein blieben die Ergebnisse ungenau, weil das zeigt das Beispiel BMW-Williams. Seit Jah- Windkanal ist das wichtigste Werkzeug“, wahre Leben des Rennbetriebs – Kurven- ren bedient sich das Team des stärksten erklärte der Mittelständler jüngst bei der fahrten, Beschleunigungen, Bremsen – Motors im Feld, auch Reifen und Fahrer- Eröffnung, „denn die Aerodynamik ist der nicht einfließen konnte. personal zählen zur Spitzenklasse. Den wichtigste Faktor bei einem modernen For- Heute hängen die Modelle an einem be- Unterschied zum Branchenführer Ferrari mel-1-Auto.“ weglichen Galgen, der alle möglichen Fahr- machte jedoch die lausige Aerodynamik Auf die Reifen, die zuletzt oft den Un- zustände simulieren kann: das Absenken des Williams-Chassis aus. Erst nachdem terschied zwischen Siegen oder Hinter- der Vorderachse beim Anbremsen und der der englische Rennstall auf Verlangen sei- herfahren ausmachten, haben die Teams Hinterachse beim Beschleunigen, die Sei- nes Partners BMW die Windkanalarbeit wenig Einfluss: Entweder bezieht man sie tenneigung in Kurven, dazu das Einlenken neu organisiert hatte, vermochten die Fah- von Michelin oder von Bridgestone. Die der Räder. Bei Sauber bewegt sich sogar rer auch auf engen Kursen mitzuhalten, Motoren – Sauber bedient sich der Ferra- die Straße so schnell wie in Monza oder wo es nicht so sehr auf Motorleistung an- ri-Triebwerke – sind bei rund 900 PS und Hockenheim – mit bis zu 300 Stundenki- kommt. Zwischen dem Saisonstart und den 19000 Umdrehungen pro Minute nahezu lometern rotiert ein Stahlband unter dem letzten Rennen verbesserten die Williams- ausgereizt. Um ein Grand-Prix-Auto einen Modell. Ingenieure die Wirkung der aerodynami- Kilometer pro Stunde schneller zu machen, Bei Tempo 120 produzieren Front- und schen Bauteile um 15 Prozent. so eine derzeit gültige Faustformel, braucht Heckflügel sowie der Unterboden eines Solche Entwicklungsschübe kann Peter man sieben PS Leistungszuwachs – die zu Formel-1-Autos rund 300 Kilogramm Ab- Sauber nicht erwarten. Generell bewähren finden, sagt Saubers Technischer Direktor trieb. Da diese Kraft mit zunehmender Ge- sich von den am Computer entworfenen Willy Rampf, „ist wahnsinnig schwierig“. schwindigkeit im Quadrat wächst, werden Varianten nur zehn Prozent im Windka- Ermitteln die Ingenieure hingegen einen moderne Rennwagen bei Tempo 240 mit nal, der Rest wandert in den Sondermüll. Weg, den Luftwiderstandsbeiwert (cw- 1,2 Tonnen auf die Straße gepresst. Beim Und mehr als 3000 Stunden im Tunnel gibt Wert) des Fahrzeugs um ein Prozent zu Vorjahres-Sauber war der Frontflügel für 25 das Jahresbudget derzeit nicht her. senken, bringt das gleich drei Kilometer Prozent des Abtriebs verantwortlich, 35 Damit sich das auf Sicht ändert, hat Pe- pro Stunde in der Höchstgeschwindigkeit. Prozent leisten die Heckflügel, 40 Prozent ter Sauber sein Luftschloss etwas größer di- Das Problem ist nur, dass die Flügel an steuert der Unterboden bei – theoretisch. mensioniert. Auf der neun Meter langen Bug und Heck, die die hohen Kurvenge- „Die Wahrheit ist viel komplizierter“, Mess-Sektion – einmalig in der Branche – schwindigkeiten ermöglichen, die Wind- sagt Sauber-Ingenieur Rampf. Man müsse können nicht nur zwei hintereinander schlüpfrigkeit beeinträchtigen. Ein handels- unendlich viel ausprobieren, weil alles mit montierte 60-Prozent-Modelle Windschat- üblicher E-Klasse-Mercedes durchschnei- allem zusammenhänge. Eine zusätzliche ten fahren simulieren und Rennwagen im det mit 0,26 cw den Wind, ein Grand-Prix- Kante am Frontflügel kann die Wirkung Original getestet werden. Auch ausge- Auto pflügt mit 0,7 bis 0,8 cw durch die des Unterbodens verbessern, ein abgefah- wachsene Serienautos können unter realis- Atmosphäre – der Wert eines Lkw. rener Vorderreifen erzeugt Turbulenzen – tischen Bedingungen vermessen werden. Gesucht wird also der beste Kompro- und stört das fragile System. Sollte ein Autohersteller neu in die For- miss: möglichst viel Abtrieb bei möglichst Den größten Spielraum für Fortschritt mel 1 finden, so das Kalkül des Schwei- wenig Luftwiderstand. Erforscht wird die- sehen Ingenieure wie Willy Rampf im Un- zers, könne er ihm etwas anbieten, was se aerodynamische Effizienz eines Fahr- terboden. Er ist prinzipiell glatt, aber bei andere nicht haben. Sauber über seinen zeugs im Windkanal, wo die Realität prak- genauem Hinsehen wie ein feines Relief Windkanal: „Hier passt sogar ein Van hin- tisch auf den Kopf gestellt wird. Nicht modelliert, das die Luft präzise leitet wie ein.“ Alfred Weinzierl

der spiegel 2/2004 109 Prisma Wissenschaft · Technik

MEDIZIN Gentest für Prostatakrebs ei der Diagnose Prostatakrebs, der in BDeutschland häufigsten Krebsdiagnose bei Männern, stehen Ärzte und Patienten oft vor einem Dilemma: Soll die Geschwulst in einer radikalen Operation herausgenommen werden (mögliche Folge: Impotenz), oder reicht eine sanftere Therapie, vielleicht sogar einfaches Ab- warten? Prostatakrebs kann schnell und aggres-

siv metastasieren, aber auch über Jahre ruhen – / ARGUS PETER FRISCHMUTH doch leider gibt es bis heute keine zuverlässige Entfernung eines Prostatatumors Methode, um im Vorfeld herauszufinden, um welche Form von Krebs es sich jeweils handelt. Jetzt haben For- Wachstumsverhalten zu zeigen scheinen: Typ I ist vergleichs- scher der Stanford University in Kalifornien und des Karo- weise gutmütig, Typ II und III hingegen wachsen und metas- linska Instituts in Stockholm durch eine Analyse der Gen- tasieren in der Regel aggressiv. Die Forscher hoffen deshalb, aktivität von Prostatatumoren drei Untertypen des Krebses dass eine Genanalyse des Tumors in Zukunft helfen kann, sich ausmachen können, die tatsächlich jeweils auch ein typisches für die richtige Therapie zu entscheiden.

KUNST KRIMINALITÄT Archäologie des Verräterischer Vergänglichen Ohrabdruck raffiti sind Kunst, Verbre- it Fingerabdrücken und DNA- Gchen oder subkulturelle MProben hat die Polizei bei der Reviermarkierung – je nach Beweissicherung oft ein Problem: Nor- Standpunkt. Vor allem aber malerweise finden sich auch zufällige sind sie selten von Dauer: Abdrücke Unbeteiligter am Tatort, Haus- und Firmenbesitzer und clevere Verbrecher lassen auch sehen ihre Wände lieber im schon mal gewollt fremdes DNA-Mate- Einheitslook, und rivalisieren- rial liegen, um die Beamten auf eine de Sprayer kämpfen um die falsche Fährte zu locken. Doch es gibt oberste Farbschicht auf der ein weiteres einzigartiges Merkmal: Mauer. Damit übermalte das menschliche Ohr. Ein Kunstwerke nicht gänzlich der FearID genanntes Projekt Vergessenheit anheim fallen, unter Leitung des Instituts hat der Graffiti-Künstler Cas- für Kriminalwissenschaf- sidy Curtis jetzt das Web-Pro- ten im niederländischen jekt Graffiti Archaeology ins Zutphen will bis 2005 Leben gerufen: Statt einfach eine Methode entwickeln,

nur die schönsten Bilder ins Täter anhand ihrer Ohr- / MAURITIUS SCHLIEF Netz zu stellen, zeichnet der abdrücke zu identifizieren. gebürtige New Yorker den Die meisten Täter gehen immer gleich wechselvollen Werdegang vor, wenn sie feststellen wollen, ob je- ausgewählter Mauern und mand im Haus ist: Sie pressen ihr Ohr Tunnel in San Francisco an eine Tür oder ein Fenster. Die dabei nach*. Mittels einer Zeitleiste hinterlassenen Spuren haben einen we- lässt sich Farbschicht um Graffiti-Schichten auf einer Hauswand sentlichen Vorteil gegenüber Finger- Farbschicht entblättern; es abdrücken: Sie entstehen selten zufäl- öffnet sich der Blick auf längst vergan- undatierten und ohne Ortsbezeichnung lig. Wie lange das Verfahren funktio- gene Werke, die häufig nur wenige Tage eingereichten Fotos ist für Cassidy echte niert, ist jedoch fraglich: Spricht sich zu sehen waren, ehe sie wieder über- archäologische Puzzlearbeit: „Es ist, als die neue Methode herum, werden zu- malt wurden. Die Einordnung der oft buddelte man einen Haufen Tonscher- mindest die Intelligenteren unter den ben aus, die man anschließend wieder Einbrechern sich hüten, Ohrkontakt * Graffiti Archaeology: www.otherthings.com zusammensetzen muss.“ mit dem Tatort aufzunehmen.

der spiegel 2/2004 111 Prisma Wissenschaft · Technik

Viertel der getesteten Rinder Risikotiere waren, lässt sich so nicht herausfinden, wie verbreitet die Krankheit ist. Außer während des Höhepunkts der Epidemie in Großbritannien ist BSE eine sehr sel- tene Erkrankung – in Deutschland war 2001 nur jeder 23000. BSE-Test positiv, 2003 war es sogar nur jeder 44750. Test. Die USA befinden sich jetzt in einer ähnlichen Situation wie wir im November 2000 … SPIEGEL: … als im stets als „BSE- frei“ bezeichneten Deutschland der erste Fall bekannt wurde. Mettenleiter: Genau. Ich bin ge- spannt, wie die US-Behörden jetzt reagieren. Die für den Ver- braucherschutz wichtigste Maß- JENS KOEHLER BARRY SWEET / DPA BARRY nahme – Risikomaterialien wie US-Kühe, BSE-Forscher Mettenleiter Hirn und Rückenmark zu entfer- nen – wird dort ja zum Glück BSE schon praktiziert. Um die Situation verlässlich einschätzen zu können, fände ich es aber zusätzlich sinnvoll, jetzt zumindest alle „So darf es nicht laufen“ Risikotiere, also etwa solche, die nicht mehr aufstehen können, systematisch auf BSE zu testen. Anschließend könnte man dann Thomas Mettenleiter, 46, Präsident der Bundesforschungs- überlegen, ob ein flächendeckendes Screening aller geschlach- anstalt für Viruskrankheiten der Tiere auf der Ostsee-Insel teten Rinder ab einem bestimmten Alter sinnvoll wäre. Riems, über den ersten BSE-Fall in den USA SPIEGEL: Auch das kurz vor Weihnachten positiv getestete Tier war ein „gefallenes“ Rind, also ein Risikotier. SPIEGEL: Seit einer Woche haben auch die USA einen BSE-Fall Mettenleiter: Und trotzdem gelangte sein Fleisch in den Handel, – ein Einzelfall, oder hat die Seuche dort längst Fuß gefasst? bevor das Testergebnis da war. So darf es natürlich nicht laufen. Mettenleiter: Im vergangenen Jahr sind in den USA nur etwa Ein solches Vorgehen lässt den Verbraucherschutz völlig außer 20000 Rinder getestet worden – ein verschwindend kleiner Teil Acht. Bei uns wird Fleisch selbstverständlich erst dann frei- der etwa jährlich 35 Millionen Schlachtrinder. Obwohl etwa drei gegeben, wenn das Testergebnis da ist.

MIKROBIOLOGIE er hilft, die Auf- merksamkeit des Tuberkulose aus dem Labor Flugkapitäns auf ein neues, besonders orscher der University of California in Berkeley dringendes Problem Fhaben im Labor eine besonders aggressive Form zu lenken, zum Bei- von Tuberkulose-Bakterien erzeugt – aus Versehen. spiel auf einen sich Auf der Suche nach neuartigen Behandlungsmetho- schnell leerenden den inaktivierten die Wissenschaftler zwei Gene des Tank. Diese Erfah- in der Natur vorkommenden Tb-Erregers, um ihn auf rung vieler Piloten diese Weise abzuschwächen. Doch das genaue Gegen- regte die schwedi- teil war der Fall: Die Labormäuse, die mit den ver- sche Ingenieurin änderten Keimen infiziert worden waren, starben Pernilla Ulfvengren

allesamt binnen zehn Monaten, während die Kontroll- CHRIS WRIGHT / VISUM von der Königlich mäuse die normale Tb-Infektion alle überlebten. Zu- Piloten im Cockpit einer Boeing 747 Technischen Hoch- dem gibt es Hinweise darauf, schule in Stockholm dass der neue Erreger das FLUGZEUGE dazu an, nach neuen, auch bei Immunsystem der Tiere un- Stress noch durchdringenden terwandern kann. Trotzdem Alarm durch Warnlauten zu suchen. Mit Hilfe haben Experten wenig Sor- von Tests an Hubschrauberpilo- gen, dass sich dieser oder ein Gurgeln ten konnte sie zeigen: Besonders ähnlich variierter Tb-Erreger geeignet sind Warngeräusche, in der natürlichen Umwelt iloten in Stresssituationen die das Ohr aus der Natur kennt tatsächlich durchsetzen könn- Phaben oft kein Ohr mehr für und die einen direkten Bezug te. Die schreckliche weltweite zusätzliche Warnungen. Ein zum Problem haben: Nicht Pie- Ausbreitung des Bakteriums, Piep- oder Heulton, der zu der pen oder Heulen, so ihr Fazit, so ihr Argument, beruhe in einer Gefahrensituation ohne- sondern ein gurgelnd-schlürfen- schließlich gerade darauf, dass hin hektischen Geräuschkulisse des Geräusch lenkt die Aufmerk-

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR es seine Opfer nicht unbe- im Cockpit noch hinzukommt, samkeit des Piloten am zuverläs- Tuberkulöse Lunge dingt umbringe. irritiert manchmal mehr, als dass sigsten auf das Leck im Tank.

112 der spiegel 2/2004 H. WEYER Mount Erebus auf Ross-Island: Mit acht Stücken Zucker und einem Keks pro Tag durch 500 Kilometer eisige Ödnis

EXPEDITIONEN Marsch der Verdammten Der britische Antarktis-Abenteurer Ernest Shackleton wurde berühmt als Retter seiner Mannschaft. Doch nun erzählen zwei neue Bücher eine vergessene Geschichte, die am Image des Polar-Helden kratzt: Shackleton schickte eine Versorgungsexpedition, die „Ross Sea Party“, auf tödliche Mission.

m Vorgarten des geschichtsträchtigen die Nation fast ebenso verehrt wie Scott: kind in England kennt den Antarktis-Fahrer, Hauses steht eine bronzene Statue: eine „Shackleton Memorial Museum“ steht in der vor knapp 90 Jahren seiner Mannschaft IWeltkugel, auf der ein nackter Jüng- goldenen Lettern über dem Eingang, dar- den Weg durch das Packeis wies, nachdem ling zum Sprung ansetzt. Die Plastik, frei- unter hängt wie eine sakrale Reliquie ein die „Endurance“ vom Packeis zermalmt zügig modelliert von der Witwe des Süd- altes Stück Holz. „Die Mastspitze von und im Weddellmeer versunken war. pol-Fahrers Robert Falcon Scott, wird seit Shackletons Schiff, der ,Endurance‘“, er- So sehr verehren die Briten den Polar- über 80 Jahren schamhaft von einer hohen klärt Headland, „genau genommen das Helden, dass ein angebissener Keks des Hecke verdeckt. „Gegenüber betreibt die Einzige, was davon übrig geblieben ist.“ knorrigen Halb-Iren bei einer Auktion den Kirche ein Mädcheninternat“, erklärt Wer Sir Ernest Shackleton war, braucht Preis von 5063 Pfund erzielte. Und Mana- Robert Headland schmunzelnd. Headland nicht zu erklären: Jedes Schul- ger büffeln auf Führungsseminaren die Der bärtige Mann mit dem Weisheiten, die der Südpol-Pionier einst eigenartig ausschreitenden in seinen Tagebüchern hinterlassen hat. Gang ist Kurator im Scott Po- Doch in den klimatisierten, von Pan- lar Research Institute, gebaut zertüren gesicherten Archiven des Scott- zu Ehren des großen, tragisch Instituts lagert, weitgehend vergessen, am Südpol gescheiterten Bri- noch eine ganz andere Heldengeschichte – ten. „In diesen Gemäuern eine Geschichte, an die sich niemand spuken viele Geister“, raunt so recht erinnern mag. Sie erzählt das Headland, der hier das Ver- Schicksal von neun jungen Männern, die mächtnis der alten Polar-For- mehr als zwei Tonnen Proviant 4000 Kilo- scher hütet. meter durch eine Hölle aus Eis zogen; drei Dann wendet er sich dem von ihnen bezahlten dafür mit dem Leben. modernen Anbau des Insti- Vor allem aber wirft diese Geschichte tutsgebäudes zu. Er ist ei- einen Schatten auf ihren Chef: Sir Ernest nem Mann gewidmet, den Shackleton, allgemein bewundert als jener,

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN der all seine Männer lebendig nach Hau- * Shackleton 2. v. l. Shackleton-Team*: Das Ziel heißt „ehrenhaft siegen“ se brachte.

114 der spiegel 2/2004 Wissenschaft

So spektakulär schien Shackletons Rück- aus Cambridge, eine kleine Sensation in dichten Haaren fing sich Schnee, der wäh- zug aus dem Eis, dass darüber das ur- die Hände gefallen: ein knapp 15-minütiger rend der anstrengenden Märsche schmolz sprüngliche Ziel seiner Fahrt ins Südpolar- Film der Ross Sea Party, der fast ein ganzes und dann in der Nacht fror. „Schon bald meer fast in Vergessenheit geriet: Shackle- Jahrhundert unbemerkt in einem Film- waren die meisten der Huskys verendet“, er- ton hatte den sechsten Kontinent vom archiv überdauert hat. zählt Headland. „Dabei sind sie die Lebens- Weddell- zum Rossmeer durchqueren wol- Im Lichte der neuen Veröffentlichungen versicherung eines jeden Polar-Fahrers.“ len. „Imperiale Transantarktische Expedi- wird offenbar, mit welch tödlicher Hypo- Ein eigenwilliges Team hatte Shackleton tion“ nannte er sein wahnwitziges Projekt, thek die Ross Sea Party im Dezember 1914 da in aller Eile zusammengestellt: Zum An- über 3000 Kilometer Luftlinie quer durch aus dem tasmanischen Hobart aufgebro- führer hatte er Aeneas Mackintosh auser- das weiße Nichts zu stapfen. chen war. Die Londoner Expeditionszen- koren, einen wuchtigen Mann mit nur ei- Shackleton war dabei klar gewesen: Nie trale hatte zum Teil nur die Hälfte der ver- nem Auge. Ernest Joyce, ein Weggefährte könnte sein sechs Mann starkes Schlitten- sprochenen Ausrüstungsgegenstände ge- von Robert Scott, war ein weiterer Mann team ausreichend Proviant für diese ge- liefert. „Die Aufgaben, die Shackleton der mit Antarktis-Erfahrung. Dazu gesellten waltige Strecke ziehen. Deshalb hatte er Ross Sea Party gestellt hatte, waren fast sich Polar-Neulinge wie der 21 Jahre alte eine zweite Mannschaft auf die andere unmöglich zu erfüllen“, kritisiert David Dick Richards, ein australischer Techniker, Seite der Antarktis gesandt. Ihre Aufgabe: Harrowfield, einer der Autoren. und der 31-jährige Arnold Spencer-Smith. Vorratslager anzulegen, die seine, Shackle- „Außerdem war das Fell der Schlitten- Der gelehrte Geistliche aus Cambridge soll- tons, triumphale Querung erst möglich ma- hunde zu lang“, fügt Kurator Headland te die Expedition dokumentieren. chen würden. „Ross Sea Party“ hieß die trocken hinzu. Das mag belanglos klingen, „Die Antarktis war zu dieser Zeit weit- wenig beachtete Mission, benannt nach doch es erwies sich als fataler Fehler: In den gehend Terra incognita“, erklärt Headland dem Meer, durch das sie für ihre Expedi- und zeigt auf eine alte Leinenkarte aus tion segeln mussten (siehe Grafik). * Josef Hoflehner: „Frozen History – The Legacy of Scott Mackintoshs Besitz. Die Küstenlinie ist nur Gleich zwei neue Bücher erzählen nun and Shackleton“. Hoflehner, Wels; 288 Seiten; 75 Euro. als lückenhafte Linie von Hand eingetragen. Richard McElrea, David Harrowfield: „Polar Castaways“. vom Schicksal dieses Trupps*. Zudem ist Canterbury University Press, Christchurch; 320 Seiten; Kurz vor dem östlichen Ende des gewal- Kelly Tyler, einer Wissenschaftsjournalistin circa 31 Euro (erscheint voraussichtlich im April). tigen Rossmeers ist eine Insel verzeichnet: Drama im ewigen Eis 100 km Ernest Shackleton und das Schicksal der Ross Sea Party Auf zwei qualvollen Touren mit zahlreichen Einzelmärschen legen

Beardmore- die Männer eine Kette von Versor- Gletscher Shackletons ehrgeizige Expediti- 26. Januar 1916 83˚ gungsdepots an. Entlang dieser on quer durch die Antarktis schei- Letztes Versorgungsdepot wird Proviantroute sollte die Shackleton- tert schon bei der Anfahrt, als sein am Mt. Hope angelegt. Rück- Mt. Hope Expedition, vom Südpol kommend, Schiff „Endurance“ im Weddellmeer marsch am nächsten Tag. marschieren. einfriert. 82˚ Vor Kap Evans reißt sich im Mai 0˚ 1915 die „Aurora“ während eines Südgeorgien Start am 5. Dez. 1914 Sturms los. Versorgungsdepots Rettung am 7. Mai 1916 81˚ Weddell- Indischer 2. Tour: meer Ozean Oktober 1915 4. Januar 1916 bis März 1916 ARGEN- Ein Kocher fällt Rückkehr zum Lager Hut Point TINIEN aus. Drei Mann 80˚ und später zur Ausgangsbasis Kap „Endurance“ CHILE geplante Route der müssen zurück. Evans. Hierbei finden insgesamt versinkt drei Männer den Tod. 21. Nov. 1915 Transantarktis-Expedition von Ernest Shackleton 1. Tour: 90˚ 90˚ Januar bis 9. März 1916 S März 1915 ü ANTARKTIS Ross-Schelfeis Ross- Spencer-Smith stirbt d l 80˚ Schelfeis i c h Hut Point e r P Anfang Mai 1916 o MMcMurdo-cMurdo- l Ross- Ankunft in Hut Mackintosh und Pazifischer ar SSundund kr meer Point 7. Jan. 1915 Hayward sterben Ozean eis 60˚ Route des Versor- 9. Oktober 1915 auf dem Treibeis gungsschiffes Neun Mann Kap Evans gehen in Dreier- Kap Mt. Erebus „Aurora“ mit gruppen los. der Ross Evans 3794 m Rettungs- schiff 40˚ Sea Party Mt. Terror ROSS-INSEL Rossmeer ROSS-INSEL 3262 m Abfahrt am 180˚ Hobart 1000 km 15. Dez. 1914 NEUSEELAND 20 km AUSTRALIEN Route des Ver- Rossmeer sorgungsschif- Ohne von Shackletons HAUPTTEILNEHMER stirbt überlebt fes „Aurora“ Unglück zu wissen, landet Aeneas Mackintosh (Leiter) Ernest Wild Ein Rettungsschiff mit Shackle- die Ross Sea Party, eine Arnold Spencer-Smith John Cope ton an Bord fährt von Neuseeland Versorgungsexpedition, an Victor Hayward Andrew Jack aus zur Ross-Insel und nimmt am der gegenüberliegenden Richard „Dick“ Richards Irvine Gaze 10. Januar 1917 die Überlebenden Antarktisküste. Ernest Joyce der Ross Sea Party auf.

der spiegel 2/2004 115 Ross-Island. Dominiert von „Die Schlitten kamen nur zwei Vulkanen, stemmt sie wenige Kilometer am Tag sich dem Schelfeis entgegen. voran“, sagt Headland und Am Fuße des über 3700 Me- tippt mit seinen weißen ter hohen Mount Erebus Baumwollhandschuhen auf machte die Ross Sea Party eine Karte aus gewachstem mit ihrem Schiff „Aurora“ Papier. Nur wenige Zenti- fest. Dort bezogen sie Quar- meter reicht die dünne Blei- tier in Scotts alter Hütte am stiftlinie zwischen zwei Kreu- Kap Evans. zen, die Übernachtungspau- Vor ihnen dehnte sich nun sen markieren. die Endlosigkeit des Schelfs Häufig sind die Tagesmär- aus: eine ebene, weiße Öd- sche nur mit einer gestri- nis, groß wie Frankreich, aus chelten Linie eingezeich- mehreren hundert Meter net, daneben steht schlicht: dickem Eis. Zwei Tonnen „Blizzard“. Im Geheule des Proviant, so ihr Auftrag, soll- Sturms versagte das Rad am ten sie auf insgesamt fünf Schlitten, das die zurück- Depots inmitten dieser Eis- gelegte Entfernung messen wüste verteilen. Da sie das sollte. „Die Männer hatten gewaltige Gewicht samt ih- nur eine ungefähre Ahnung, rer eigenen Verpflegung nie- wo sie sich in diesen Stunden mals auf einmal hätten zie- befanden“, erklärt Head- hen können, stand ihnen ein land. kräftezehrendes Hin und Her Neben dem Kampf gegen zwischen den einzelnen De- die Elemente entwickelte sich pots bevor – alles in allem ein Kampf um die Macht: Im- fast 4000 Kilometer. mer lauter begehrte Joyce ge- Zur ersten Tour brachen gen den von Shackleton in- die Männer gleich nach ih- thronisierten Anführer auf: rer Ankunft im Januar 1915 „Mack, du verlangst deinen auf, um noch die Zeit zu Männern physisch Unmögli- nutzen, bis der Winter her- ches ab.“ Doch der Heiß- einbrach. „Die zweite, sporn Mackintosh weigerte größere Tour war dann für sich, die Last der Schlitten den Polarsommer 1915/16 ge- zu verringern.

plant“, sagt Headland und / INTERFOTO KARGER-DECKER Auch Richards, dem an- blättert durch die Listen, auf Shackletons zerstörte „Endurance“: Ende eines imperialen Traums gehenden Techniklehrer, denen Mackintosh den Pro- dämmerte nun, dass dem viant für die Depots kalkuliert hat. „Aber dert hatten. „Sie froren wie Holzbretter an von ihm so tief verehrten Shackleton bei dann sollte ja alles ganz anders kommen.“ uns fest“, erinnerte sich Joyce später. seinen Personalentscheidungen ein fataler Denn bei ihrer Rückkehr vom Schelfeis Jeweils drei Mann spannten sich das Fehler unterlaufen war. Mackintosh war erwartete die erschöpften Männer ein Zuggeschirr für einen Schlitten um, bela- zu ungestüm, zu hitzig, seine Entschei- Schock: Die „Aurora“, ihr Schiff, hatte den mit 300 Kilogramm Proviant. Jeder dungen waren zu unbedacht. sich, von Sturm und Eis gepackt, aus den Einzelne zog also 100 Kilogramm Gewicht So zerfiel langsam die Führungsstruktur Verankerungen am Strand gerissen und hinter sich her – zu viel für das launen- der Schicksalsgemeinschaft, aber auch war abgetrieben. „Die beiden Anker mit hafte Frühlingswetter: Mal verwandelten Kraft und Gesundheit schwanden dahin. den durchtrennten Stahltrossen liegen heu- laue Winde vom Meer den Untergrund in An den Beinen der Männer sprangen te noch dort“, berichtet Headland. zähen Matsch. Dann wieder überzog ein Frostbeulen auf. Das Team lief in den gro- Jeder Kontakt zur Außenwelt war da- Sturm die Landschaft mit Neuschnee, auf ben Fellschuhen auf rohem Fleisch. mit abgebrochen. Die Männer der Ross Sea dem die Kufen schabten wie auf Schmirgel- Vor allem auf dem Körper von Spencer- Party hatten weder Strom noch Funkgerät. papier. Smith, dem Priester, waren die Anzeichen Und schlimmer noch: Auch der Großteil von Proviant und Ausrüstung war im Frachtraum der „Aurora“ geblieben. So mussten sich die Gestrandeten mit dem durchschlagen, was die Scott-Expedition in den Hütten zurückgelassen hatte. Aus den Überresten kratzten sie sogar noch das Material für die Vorratsdepots zusammen. Vor allem dem erfahrenen Joyce war klar, dass ihnen nun ein Himmelfahrtskomman- do bevorstand: „Niemand würde, nicht mal eine Sekunde lang, erwägen, mit einer der- art ärmlichen Ausrüstung so eine Tour zu unternehmen“, notierte er. Voller Sorge dachte er an die Schuhe, die sie sich aus al-

ten Fellschlafsäcken geschustert, und die GRAY CHARLIE Hosen, die sie aus Scotts Zelten geschnei- Kurator Headland, Hütte am Kap Evans, Etappenplan der Ross Sea Party: „Sie sparten sich das

116 der spiegel 2/2004 Wissenschaft

unübersehbar. Seine Beine waren von den Ohnmächtig oder aus Todeswillen fiel Hüften hinab schwarz angelaufen, ebenso Mackintosh vom Schlitten, ohne dass die das Zahnfleisch – typische Symptome von anderen es in ihrem Zustand noch bemerkt Skorbut, der Vitaminmangel-Krankheit, hätten. Kilometer stapften sie zurück und die so viele Entdecker dahinraffte. Und hievten ihren Anführer wieder auf den dann versagte auch noch der Primus-Ko- Schlitten. cher des einen Teams, das deshalb um- Spencer-Smith schrie und stöhnte un- kehren musste. terdessen, selbst Opium half kaum. Aus Jetzt waren nur noch die beiden Schlit- den Eingeweiden lief ihm Blut. Kurz vor ten von Mackintosh und Joyce im Ren- seinem Tod, am 7. März 1916, schrieb der nen: sechs Männer im Wettlauf gegen Padre, wie sie ihn alle nannten, in sein in Zeit und Natur. „Sie mussten die Essens- schwarzes Leder gebundenes Tagebuch: rationen ständig weiter kürzen“, berich- „Eine bitterkalte Nacht. Der Schlafsack ist tet Headland. Dennoch legten sie am steif gefroren.“ 81. und am 82. Breitengrad wie verabredet Nur die fünf anderen erreichten Hut die Proviantdepots für die Transantarkti- Point – ihre Rettung, wie es schien. Endlich

sche Expedition an. „Sie sparten sich das DUCKWORTH konnten sie sich mit saftigem Seehund- Essen vom Mund ab für Kameraden, die Teilnehmer der Ross Sea Party* fleisch stärken. Der Tod war ihnen nun niemals kommen würden“, konstatiert der Schuhe aus Schlafsäcken, Hosen aus Zelten nicht mehr auf den Fersen. Kurator. Und doch sollten der Seele des Kir- Denn während die sechs Unverdrosse- Schließlich, am 26. Januar, erreichen chenmannes noch zwei weitere folgen. nen auf dem Ross-Schelfeis gegen den die Männer 83 Grad 37 Minuten: Dort Denn schon bald hielt es Mackintosh nicht Hungertod kämpften, war auf der ande- türmen sie mit gut sichtbaren Markierun- mehr in der primitiven Schutzhütte am Hut ren Seite des Kontinents der imperiale gen den letzten Stapel mit Lebensmitteln Point aus. Er wollte die gut 20 Kilometer Traum Shackletons längst ausgeträumt. und Brennstoff auf – das erste Proviant- übers Meereis zur komfortableren Behau- Schon am 27. Oktober 1915 musste, mehr depot, das Shackleton in Empfang neh- sung am Kap Evans marschieren. Dort gab als 3000 Kilometer entfernt, die Mann- men sollte. es besseres Essen, Wärme und möglicher- schaft der „Endurance“ ihr eingefrorenes Sie lassen damit zurück, was sie selbst weise Nachricht über das Schicksal der Schiff verlassen, ehe der mächtige Eisstrom bitter benötigt hätten. „Aber die schrift- Shackleton-Expedition. es zermalmte. lich hinterlegten Anweisungen Shackletons Doch im beginnenden antarktischen Erst 14 Monate später werden die Über- waren ihnen heilig“, erzählt Headland und Winter ist das Meereis dünn. Joyce ver- lebenden der Ross Sea Party erfahren, dass blättert dabei in einem Haufen von Zetteln suchte noch, Mackintosh davon zu über- ihr Opfermut sinnlos geworden war. Vor- mit der Handschrift vom „Boss“, wie er zeugen, dass es für eine Passage zu früh sei: erst schleppten sie sich nichts ahnend wei- von den Männern genannt wurde. „Für allen Tee Chinas würde ich heute ter den Bergen entgegen, die ihnen in der Noch lagen über 500 unheilvolle Kilo- nicht nach Kap Evans gehen.“ Richards klaren Luft zum Greifen nahe schienen. meter zurück zur rettenden Hütte am Meer gegenüber offenbarte Joyce seine Verbit- Doch der Beardmore-Gletscher, an dem vor ihnen. Zudem konnten nur noch vier terung noch deutlicher: „Erst zerren wir sie Shackleton vom Eisplateau hinabzusteigen der Männer laufen. Den restlos erschöpf- vom Tode weg, jetzt wollen sie ihn gleich geplant hatte, wollte und wollte nicht näher ten Spencer-Smith luden sie auf den Schlit- noch mal herausfordern. Mit was für Nar- kommen. „In der Ebene lässt sich die Dis- ten. Und auch Mackintosh machte schlapp ren haben wir es hier zu tun!“ tanz einfach nicht abschätzen, weil es kei- und musste delirierend auf das Kufenge- Das Abenteuer des störrischen Mackin- ne Anhaltspunkte in der Landschaft gibt“, fährt geschnallt werden. tosh stand unter einem schlechten Stern: berichtet Headland, der die Ödnis des Eis- Ein Blizzard nach dem anderen brach- Eine Stunde nachdem er gemeinsam mit ei- schelfs aus eigener Anschauung kennt. te sie in Zeitverzug, und ihr Proviant ging nem Gefährten aufgebrochen war, heulte Als wären die Männer in der Sahara, zur Neige. Die Tagesration war zusam- ein Unwetter heran. Die Böen trieben das tauchen Fata Morganen auf. Die Luft spie- mengeschmolzen auf acht Stücke Zucker brüchige Meereis aus der Bucht und nah- gelt Geländelinien jenseits des Horizonts und einen Keks. Dennoch widerstanden men die beiden Hasardeure wie auf einem wider. Die von Schneeblindheit schmer- sie der Versuchung, die Proviantlager zu Floß mit in den Hades. zenden Augen werden getäuscht von fun- plündern, die sie auf dem Hinweg ange- Erst zwei Monate später wagten sich die kelnden Nebensonnen, die sich durch legt hatten. drei Überlebenden über das Eis nach Kap Reflexionen winziger Eiskristalle in der Evans. Dort trafen sie auf die Kameraden, Atmosphäre bilden. * Ernest Wild und Ernest Joyce in der Hütte am Kap Evans. die seit über einem halben Jahr ausgeharrt CHARLIE GRAY CHARLIE H. WEYER Essen vom Mund ab für Kameraden, die niemals kommen würden“

der spiegel 2/2004 117 Wissenschaft hatten und auf das Schiff warteten, das sie zurück in die Zivilisation bringen sollte. Doch je weniger sich die Sonne über den Horizont quälte, desto klarer wurde ihnen die Vergeblichkeit ihres Wartens. Die Dun- kelheit des zweiten Polarwinters brach an, die Verdammten beerdigten ihre Hoffnung, bald gerettet zu werden. Die Aufzeichnungen in den Tagebüchern der Männer reduzierten sich nun auf knap- pe Notizen über Routinearbeiten: Robben jagen, Pinguinfett in die Lampen nachfül- len, Schnee in Blöcke schneiden. „Das kündet von einer schweren Depression“, vermutet Headland. In der Monate währenden Nacht reden die Männer kaum mehr miteinander. Auch von Shackleton fühlen sie sich in ihrer ver- fahrenen Situation verraten. „Für mich ist das Leben das größte Spiel von allen“, hat- te sich der „Boss“ einmal gebrüstet. Das eigentliche Ziel bestehe darin, „ehrenhaft und hervorragend zu siegen“. Dazu be- dürfe es neben Optimismus und Treue vor allem „Ritterlichkeit“. Solch Pathos ver- fing nicht mehr bei den Männern in ihren mit Robbenblut voll gesogenen Lumpen, deren verfilztes Haar der ätzende Ruß aus dem Fettofen tiefschwarz gefärbt hatte. Shackleton, der sich mit seiner Mann- schaft in der Zwischenzeit aus dem Eis hat- te retten können, ließ sich derweil vom Volk für seine Heldentat feiern. Doch bei den Po- litikern hatte er seinen Kredit verspielt. Nur widerwillig ließ man den Abenteu- rer mit an Bord des Schiffs, das die Leute von der Ross Sea Party bergen sollte. Die neuseeländische Regierung sandte ihm eine Depesche, die – „um keinerlei Miss- verständnisse aufkommen zu lassen“ – fest- stellte, „wer die oberste Führung und Au- torität“ über die Rettungsexpedition besit- ze: der britische Kapitän John Davis, und keinesfalls Shackleton. Headland hält das Schreiben vom 15. November 1916 in der Hand. „Confidential“ ist darauf mit blau- er Tinte gestempelt. Am Mittwoch, dem 10. Januar 1917, taucht schließlich eine Rauchfahne im McMurdo-Sund auf. Überschwänglich stür- men die Überlebenden dem Schiff über das Meereis entgegen. Joyce war es, der den „Boss“ durch das Fernglas an seinem Gang als Erster erkannte. Doch die Freu- de über die Rettung wog stärker als die deprimierende Erkenntnis von der Sinn- losigkeit des eigenen Tuns. „Joyce, alter Kumpel, ich bin mehr als erfreut, dich zu sehen“, sagte Shackleton bei ihrer ersten Umarmung, ohne sein britisches Under- statement abzulegen. Dann speisten die stinkenden Gestalten gemeinsam mit ihrem Boss in der Messe. Davis, dem Kapitän, fiel ihr „gequälter Blick“ auf und die „ruckartige, manchmal fast hysterische und kaum zu verstehende Sprache“. „Keine Frage“, bemerkte er, „die Antarktis hat ihnen eine volle Abrei- bung verpasst.“ Gerald Traufetter

118 der spiegel 2/2004 MEDIZIN Endkampf gegen den Erreger Das neue Jahr wird zum Schicksals- jahr im Kampf gegen Polio. Die Kinderlähmung wird für immer von der Erde verschwinden – oder mit geballter Macht zurückkehren. er Wunsch des neuen WHO-Gene-

raldirektors Jong-Wook Lee kam WHO Dvon Herzen. Ende Juli letzten Jah- Polio-Schluckimpfung in Afrika: „Mehr und mehr Länder werden wieder verwundbar“ res erklärte der Südkoreaner die weltwei- te Ausrottung des Polio-Virus zu einer Top- freie Gebiete auszubrechen, wird von Wo- Exporte des Erregers in poliofreie Nach- Priorität seiner Amtsperiode. Bis Ende che zu Woche größer. Etwa ein Dutzend barländer ließen die Alarmglocken zusätz- 2004 soll das ehrgeizige Ziel erreicht sein: solcher Virenexporte aus endemischen lich schrillen. Das in Kano grassierende Vi- „Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert Ländern haben die Gesundheitsbehörden rus forderte Opfer auch in Togo, Ghana, haben wir die Chance, eine so schreckliche in den vergangenen Jahren bereits regi- Burkina Faso, im Tschad und in Niger. In Krankheit wie die Kinderlähmung von un- striert – einige davon bis nach Europa. allen Fällen, so bewiesen Gen-Analysen, serem Planeten zu verbannen.“ Was es bedeutet, wenn die politische waren die Mikroben aus dem nahe gelege- Der Sieg scheint zum Greifen nahe. Nur Unterstützung für den Impffeldzug er- nen Nigeria eingeschleppt worden. noch in sechs Ländern der Erde trieb der lahmt, haben die WHO-Strategen letztes Auch das Geld könnte am Ende der Po- Erreger Ende letzten Jahres sein Unwesen, Jahr in Nigeria erlebt. Die muslimische Be- lio-Jagd noch einmal knapp werden. Für weltweit registrierten die Genfer Gesund- völkerung im Norden des Landes witterte die Finanzierung der Impfkampagnen in heitswächter bis Ende Dezember nur noch in den Impfaktionen ein vom Westen lan- diesem Jahr fehlen den WHO-Planern 210 638 Polio-Fälle (siehe Grafik) – im Jahre ciertes Sterilisierungsprogramm. Das Er- Millionen Dollar – Geld, ohne das sie den 1988, als die WHO ihren Anti-Polio-Feld- gebnis war ein bitterer Rückschlag für die dringend benötigten Impfstoff nicht kaufen zug eröffnete, litten noch 350000 Kinder in Virenbekämpfer: Nur jedes dritte nigeria- können. Die Teilnehmer des G8-Treffens in mehr als 125 Ländern an der unheilbaren nische Kind wurde seit August von der Evian hatten sich zwar bereit erklärt, das Krankheit. Ein Erfolg wäre, nach der Aus- Schluckimpfung erreicht; prompt rollte Finanzloch zu stopfen. Doch noch sind ei- rottung der Pocken in den siebziger Jahren, eine Infektionswelle über die nördlichen nige der reichen Industrienationen mit den der zweite Triumph gegen eine jahrhun- Landesteile hinweg, Nigeria schoss an die Zahlungen im Verzug. dertealte Menschheitsgeißel. Spitze der weltweiten Polio-Statistik. Nicht zuletzt die Deutschen haben den Und doch ist ein glückliches Ende alles Kampf gegen die Menschheitsgeißel bisher andere als gewiss. 2004 wird zum Schick- eher halbherzig unterstützt. Rund 80 Mil- salsjahr für die weltweite Jagd auf den Er- Die Spur der Seuche lionen Dollar sind in den letzten zehn Jah- reger. Millionen von Helfern haben in 200 Registrierte Fälle 2003 ren aus Bonn und Berlin in die Budgets der Ländern mehr als zwei Milliarden Kinder Polio-Bekämpfer geflossen – wenig, vergli- geimpft. Über drei Milliarden Dollar hat einheimische Fälle importierte Fälle chen mit den Beiträgen von Großbritanni- der größte Gesundheitsfeldzug der Ge- Nigeria 286 Ghana 8 en oder Japan. Selbst die viel kleineren schichte verschlungen. Aber noch kann es Indien 209 Burkina Faso 7 Niederlande haben für die Finanzierung sein, dass alles umsonst war: „Wenn wir Pakistan 95 Tschad 4 der Kampagne bisher mehr geleistet. den Job in diesem Jahr nicht erledigen, Mit gemischten Gefühlen rüsten sich die wird die Kinderlähmung nie ausgerottet Niger 19 Libanon 1 Polio-Jäger deshalb derzeit für den End- werden“, fürchtet Oliver Rosenbauer, Po- Afghanistan 7 Togo 1 kampf gegen den Erreger. Millionen von lio-Experte bei der WHO in Genf. Ägypten 1 Helfern werden in den kommenden Wo- Wie Militärs wollen die WHO-Planer in chen in Nigeria, Indien und Pakistan von den kommenden Monaten alle Kräfte für Haus zu Haus gehen und an alle Türen die Schlussoffensive bündeln. Nur noch in klopfen. Den gekühlten Impfstoff tragen den sechs Ländern, in denen das Virus en- die WHO-Gesandten in Rucksäcken bei demisch ist, sowie in einem Dutzend Nach- sich. Aufwendige Impfkampagnen sind barstaaten sind Massenimpfungen ange- außerdem in Afghanistan, Niger und Ägyp- setzt. Zum Vergleich: Noch 2002 schwärm- ten geplant. Ziel: Mehr als 250 Millionen ten Helfer in über 100 Ländern aus, um Kinder sollen in den verbliebenen Ende- Kindern das Impfserum einzuflößen. miegebieten die Vakzine schlucken, über Der Endspurt erweist sich als Wettren- 180 Millionen davon allein in Indien. nen mit der Zeit, denn der Immunschutz Und was, wenn auch dieser Kraftakt jenseits der Schwerpunktregionen sinkt: vergebens bleibt? „Dann werden die In- „Mehr und mehr Länder werden wieder 638 fektionszahlen weltweit explodieren“, verwundbar“, warnt Bruce Aylward, Di- Polio-Fälle weltweit prophezeit Rosenbauer. „Schon in fünf Jahren hätten wir wieder so viele Kin- rektor des Polio-Programms der WHO. Quelle: Stand: 23. DezemberDez. 2003 2003 Das Risiko, dass es dem Virus gelingt, aus WHO derlähmungsopfer wie am Anfang der seinen Schlupfwinkeln in kinderlähmungs- Kampagne.“ Günther Stockinger

der spiegel 2/2004 119 ROLF SCHULTEN / IMAGES.DE SCHULTEN ROLF Türkische Frauen in Berlin-Kreuzberg: Wie kulturgebunden ist das Erscheinungsbild einer Krankheit?

Ambulanz der Station betreut. Nicht sel- PSYCHIATRIE ten, so Eckhardt Koch, Leiter und Gründer der Modellstation, würden handfeste Fehl- diagnosen gestellt: „Viele türkische Patien- „Mein Nabel ist gefallen“ ten zum Beispiel, die bei uns wegen einer angeblichen Psychose eingewiesen werden Deutschen verdüstert die Depression das Gemüt, Türken verursacht – wegen wahnhafter Vorstellungen also, oder weil sie Stimmen hören –, haben die- sie Schmerzen; Türkinnen erleiden hysterische Anfälle, se Symptome in Wahrheit gar nicht.“ Deutsche so gut wie nicht – das Phänomen lässt Psychiater rätseln. Tatsächlich haben Missverständnisse und Fehleinschätzungen bei der psychiatrischen olange sie nur Schwindelgefühle plag- ke in Deutschland gibt. Dort stand schnell Behandlung von türkischstämmigen Pa- ten, dachte sich Leyla Yilmaz* noch fest: Yilmaz ist in der Tat schwer depressiv. tienten fatale Folgen: Snicht viel dabei. Doch dann kamen Jetzt sitzt sie gemeinsam mit acht weite- • Viele türkische Patienten suchen den die Schmerzen. Am Kopf, am Bauch, an ren – sechs türkischen und zwei deutschen psychiatrischen Facharzt gar nicht erst den Schultern, am Rücken, an den Beinen. – Patienten im Wintergarten der Station. auf: Sie nehmen deutlich seltener und Überall tat es ihr weh. Ihr ganzer Körper Während draußen vor den Glaswänden erst bei viel schlimmeren Symptomen schien aus dem Gleichgewicht geraten. Was Morgennebel durch den verwunschenen als deutsche Patienten psychologische nur, fragte sie sich verzweifelt, war mit Anstaltspark kriecht, steht drinnen „Psy- oder psychiatrische Hilfe in Anspruch. ihr los? choedukation“ auf dem Programm: Die • Migranten bekommen – vermutlich aus Auch ihr Arzt rätselte: Eine organische Patienten, die alle an einer Depression Hilflosigkeit – enorm große Mengen von Ursache der Schmerzen ließ sich nicht leiden, sollen etwas über ihre Krankheit Psychopharmaka verschrieben, oft, so finden. Vielleicht, vermutete er, war seine lernen. Eine Dolmetscherin übersetzt. Koch, von lauter verschiedenen Ärzten – Patientin seelisch krank? 20 Jahre lang hat- Leyla Yilmaz sitzt ganz aufrecht auf deutschen wie türkischen –, die von den te sie als türkische Arbeitsmigrantin in ihrem Stuhl. Ihre dunklen Augen unter den Rezepten der anderen gar nichts wissen. einer hessischen Fabrik geschuftet. Jetzt streng zurückgekämmten grauen Haaren „Viele Patienten hier kommen ohne kla- zehrte die Sorge um ihren chronisch kran- sind auf die deutsche Ärztin Sigrid Eger ge- re Diagnose, aber mit einer ganzen Plas- ken Mann und ihren rebellierenden Sohn richtet. Heute findet Yilmaz endlich den tiktüte voller Medikamente an“, erzählt Yilmaz’ letzte Kraftreserven auf. Mut, eine Frage zu stellen, die sie beschäf- Koch. „Nach eigenem Gutdünken nehmen Doch auch die Diagnose „Depression“ tigt, seit sie hier ist: „Warum fühle ich mich sie dann mal die und mal die Pille ein. So wollte nicht recht passen. Dazu, fand der anders als die deutschen Patienten?“ sind die Mittel natürlich entweder unwirk- Arzt, wirkte die Frau viel zu lebendig, viel Nicht nur für Yilmaz ist das eine Schlüs- sam oder gefährlich.“ zu warmherzig und geistig rege – jedenfalls selfrage. Fast alle türkischstämmigen Pa- Kochs Fazit ist eindeutig: „Wenn man im Vergleich zu typischen Depressiven, die tienten in Marburg haben erlebt, wie bedenkt, dass in Deutschland knapp zwei in ihrem Unglück für gewöhnlich emotio- schwer es den deutschen Ärzten fiel, ihre Millionen Türken leben, kann man nur sa- nal regelrecht zu versteinern pflegen. Krankheit richtig einzuschätzen – ganz gen, dass die psychiatrische Versorgung Yilmaz hatte Glück: Ratlos, wie er war, egal, ob es sich nun um eine Depression, dieser Gruppe ihrer gesellschaftlichen Be- überwies ihr Arzt sie an die Klinik für Psy- eine Schizophrenie oder ein anderes psy- deutung nicht entspricht.“ chiatrie und Psychotherapie in Marburg – chisches Problem handelte. Zunehmend jedoch beginnen sich Ärz- auf eine der nur zwei deutsch-türkischen „Ich habe den Eindruck, dass die Ärzte te, Psychologen, Soziologen und Pädago- Modellstationen, die es für psychisch Kran- unabsichtlich sehr oft entweder verharm- gen für das Phänomen der interkulturellen losen oder übertreiben“, sagt Suzan Psychiatrie zu interessieren. Kürzlich ver- * Namen von der Redaktion geändert. Kamçili-Kubach, die als Psychologin die sammelten sich sogar mehr als 300 Fach-

120 der spiegel 2/2004 Wissenschaft leute auf einem deutsch-türkischen Psy- lem aus dem 19. Jahrhundert. Damals fie- helfen wolle, der müsse die Funktion, die chiatriekongress in Essen. len in Westeuropa zahlreiche Frauen unter Aussage eines solchen Anfalls verstehen. Eines war dabei rasch klar: Es hapert an dramatischen Umständen um: Scheinbar Eine Patientin beispielsweise, erzählt weit mehr als nur ausreichender Sprach- aus dem Nichts heraus waren sie plötzlich Kamçili-Kubach, sei auf der Station immer kenntnis. Eine Studie der Hamburger Ärz- nicht mehr ansprechbar, sie fingen an zu eine Außenseiterin gewesen – bis sie einen te Christian Haasen und Oktay Yagdiran zucken, ihre Körper verkrampften sich zum hysterischen Anfall bekam. „Es war so dra- zeigt beispielsweise, dass selbst ein Arzt hysterischen „Arc de cercle“, wie die Ärz- matisch“, erinnert sich die Psychologin, ohne Türkischkenntnisse durchaus regel- te die für diese Patientinnen typische ex- „dass alle angelaufen kamen. Die türki- mäßig zur richtigen Diagnose kommen treme Überstreckung des Körpers nannten. schen Patienten kannten die Symptome of- kann – vorausgesetzt er weiß genug über Für Sigmund Freud war die Hysterie fenbar und haben sich sofort um die Frau den kulturellen Hintergrund seiner Patien- noch eines der wichtigsten Leiden, mit de- gekümmert. Sie haben sie aufs Bett ge- ten. Andererseits garantiert ein Dolmet- nen er sich beschäftigte. Inzwischen gilt schleppt und ihr einen Eisbeutel auf die scher noch keineswegs echtes Verständnis. Denn je mehr sich die Forscher mit dem Problem beschäftigen, desto mehr wird ih- nen bewusst, dass sie einer faszinierenden kulturwissenschaftlichen Frage auf der Spur sind: Wie kulturgebunden ist das Er- scheinungsbild einer Krankheit? Äußert sich etwa eine Schizophrenie in Anatolien anders als in Ostfriesland? Und eine De- pression in Istanbul anders als in Bottrop? Genau das war Leyla Yilmaz’ Frage ge- wesen. Sigrid Eger, die Ärztin in der Mar- burger Wintergarten-Runde, versucht, sie zu beantworten: „Türken drücken ihre Krankheit häufig durch ihren Körper aus. Sie spüren dann zum Beispiel Schmerzen.“ „Deutsche Patienten hingegen“, fährt Eger fort, „können, anders als die türki- schen, ihre Gefühle kaum mehr aus- drücken“, und dabei wandert ihr Blick von Yilmaz auf den Patienten Viktor Schwarz*. Auch er ist depressiv – aber über Schmer-

zen klagt er nicht. Ängste verfolgen ihn, CLAUDIA SCHIFFNER seine Gedanken sind wie gelähmt. Mit un- Türkin bei Bewegungstherapie in Marburg: Den Körper sprechen lassen beweglicher Miene starrt er geradeaus auf den Fußboden. Stirn gelegt – ab da gehörte sie zur Ge- Wie die Unterschiede zu meinschaft.“ Stande kommen, weiß nie- Neben der Sprache des Körpers kann mand genau. Der Hamburger aber auch die tatsächliche Sprache für Psychiater Haasen geht davon Missverständnisse sorgen – insbesondere aus, dass sich eher die Ge- dann, wenn Metaphern ins Spiel kommen. wichtung, weniger dagegen Das prominenteste Beispiel ist der so ge- die Beschwerden selbst unter- nannte Nabelfall. „Sehr oft“, erzählt Kam- scheiden: „Es wäre ein Irrtum çili-Kubach, „behaupten türkische Patien- zu glauben, dass Türken bei ten, wenn man sie nach ihren Beschwerden einer Depression tatsächlich fragt: ,Mein Nabel ist gefallen‘ und machen mehr körperliche Symptome dazu auch entsprechende Gesten. Aber das hätten. Auch deutsche De- heißt natürlich nicht, dass sie tatsächlich pressive haben oft Schmerzen. glauben, ihr Bauchnabel sei heruntergefal-

Aber sie sagen trotzdem: ,Ich CLAUDIA SCHIFFNER len. Sie meinen damit, dass sie sich aus bin depressiv.‘ Türkische Pa- Psychiater Koch: Was bedeutet der böse Blick? dem Gleichgewicht geraten fühlen.“ tienten dagegen sagen: ,Ich Auch magische Ideen – etwa vom „bö- habe Schmerzen.‘ Sie stellen einfach den sie in den westlichen Industrienationen als sen Blick“ oder Geistern, die in Menschen körperlichen Aspekt ihrer Beschwerden so gut wie ausgestorben. einfahren können – sind vor allem in der sehr in den Vordergrund.“ Umso fassungsloser sind viele deutsche Osttürkei weit verbreitet. „So etwas kann Doch warum? „Vielleicht“, spekuliert Ärzte, wenn plötzlich eine Frau im „Arc de ruck, zuck den Stempel ,Schizophrenie‘ Eger, „ist es für türkische Menschen, die cercle“ mit Blaulicht in die Ambulanz ein- bekommen“, sagt Koch. Dabei spreche ein meist sehr eng in eine Familie mit all ihren geliefert wird. Epileptischer Anfall? Hirn- Patient aus Anatolien, der sagt ,der böse Normen und Regeln eingebunden leben, tumor? Oder eine Simulantin? Blick hat überhand gewonnen‘, meist einfach leichter, ihren Körper sprechen zu Tatsächlich haben Studien offenbart, schlicht von einer gestörten Beziehung. lassen.“ dass hysterische, also psychogene Anfälle Andererseits kommen natürlich auch in Sich im Konfliktfall auf den Körper bei türkischstämmigen Migrantinnen, vor echten Wahnvorstellungen oder Halluzina- zurückzuziehen – das könnte auch ein an- allem der ersten, aber auch der zweiten tionen böser Blick und unheimliche Geister deres Krankheitsbild erklären, das deut- Generation, recht häufig vorkommen. vor. „Man muss also wirklich vorsichtig sein sche Ärzte rätseln lässt: den hysterischen Auch in Marburg kennt man das Phäno- und sich im Zweifel über die genauen Vor- Anfall, inzwischen „psychogener Anfall“ men. „Das gehört bei uns zum Alltag“, sagt stellungen, die im Herkunftsort des Patien- genannt. Bekannt ist das Phänomen vor al- die Psychologin Kamçili-Kubach. Wer hier ten üblich sind, informieren“, sagt Koch. Be-

der spiegel 2/2004 121 Wissenschaft sonders brisant wird es für die Marbur- ger Ärzte, wenn sie es mit Asylbewerbern zu tun haben. Regelmäßig werden Patien- ten in ihre Station überwiesen – Kurden etwa – , die, obwohl sie schon seit acht, zehn oder sogar zwölf Jahren in Deutsch- land leben, jetzt kurz vor der Abschiebung stehen. Verzweifelt kämpfen sie gegenüber Ämtern und Richtern um die Anerkennung ihrer Krankheit, die ihnen zumindest eine vorläufige Duldung garantiert. Die Ärzte in Marburg stehen dabei vor einem unauflöslichen Dilemma: Je besser und schneller sie ihren Patienten helfen, desto schneller werden diese abgeschoben. „Eigentlich eine unzumutbare Aufgabe!“, sagt Koch. „Wie sollen wir da eine sinnvolle Therapie durchführen?“ „Stärken“ ist für die Therapie aller Pa- tienten ein Schlüsselwort auf der Marbur- ger Station. Die Mischung aus Einzel- und Gruppengesprächen, Musik-, Beschäfti-

gungs- und Bewegungstherapie empfindet RICK FRIEDMAN Leyla Yilmaz „wie eine Schule“. Weil sie Nanopionier Whitesides: „Es wird Papier mit bewegten Bildern geben“ ihre Depression vor allem körperlich emp- findet, kann sie mit den körperbetonten Therapieformen besonders viel anfangen. NANOTECHNIK Heute ist sie in der Bewegungstherapie in eine Welt aus schwebenden Luftballons eingetaucht. Ganz zart hat sie sie immer Stempeln mit Molekülen wieder nach oben gestubst. Mit den Hän- den, den Ellenbogen, den Schultern, dem Der US-Chemiker George Whitesides über Kopf, den Knien, den Füßen – mit allem, was ihr ständig und immer wehtut. das Bauen mit Atomen, lebende Computer und die „Dabei“, sagt Yilmaz hinterher, und die Gesundheitsgefahren durch Nanopartikel Dolmetscherin übersetzt, „ist die Zartheit der Luftballons auf meinen Körper über- Die Manipulation kleinster Strukturen Oberflächen ganz gezielt bestimmte Ei- gegangen. Da waren die Schmerzen für ei- wird als Schlüsseltechnik der Zukunft ge- genschaften verleihen: Wasser abweisend nen Moment weg.“ priesen. Deutschland investiert in diesem etwa oder Wasser anziehend. Oder man Von dem therapeutischen Konzept der Jahr 293 Millionen Euro an Fördergel- kann dreidimensionale Formen und che- Modellstation profitieren aber nicht nur dern in die so genannte Nanotechnik. Ja- mische Eigenschaften so auf Oberflächen die türkischen Patienten. „Gerade bei der pan und die USA pumpen noch höhere übertragen, dass daraus Systeme von Mi- Gruppenarbeit tut es vor allem den de- Summen in diesen Forschungszweig. krotunneln für winzige Analysegeräte ent- pressiven deutschen Patienten gut, von der Aber wird er wirklich die enormen Hoff- stehen. Redefreude und der Emotionalität der tür- nungen erfüllen? George Whitesides, 64, SPIEGEL: Ist es wahr, dass Sie auch dafür kischen Patienten ein bisschen mitgerissen Chemiker der Harvard University, gilt sorgen können, dass sich die Moleküle von zu werden“, sagt Sigrid Eger. Außerdem als ein Vordenker der Nanotechnik; im ganz allein zu größeren Strukturen zu- mache das auch ihre Arbeit als Ärztin viel November hat er in Japan den mit 400000 sammensetzen? leichter und angenehmer. Dollar dotierten Kyoto-Forschungspreis Whitesides: In gewissem Sinne schon. Die Tatsächlich ist das Marburger Modell viel entgegengenommen. Komponenten – das können Moleküle oder mehr als nur eine psychiatrische Station: Es auch winzige Objekte sein – ordnen sich ist auch ein Begegnungsraum. Zum Bei- SPIEGEL: Professor Whitesides, was ist Ihre unter bestimmten Bedingungen von selbst. spiel, wenn in der Frauengruppe deutsche Strategie, winzige Dinge herzustellen? Sie bilden also hochinteressante Muster, und türkische Marburgerinnen feststellen, Whitesides: Meine Arbeitsgruppe kann die wir in manchen Fällen auf anderem wie ähnlich ihre Lebenssituation als arbei- kleine Dinge sehr präzise herstellen durch Weg kaum aufbauen könnten. Ein Beispiel tende Frau, die Mann und Kinder versor- Drucken und Gießen – das ist unser Beitrag aus der Natur ist eine Schneeflocke: Es gibt gen muss, ist. Oder wenn die Patienten zur Nanotechnik. Das Verfahren an sich keine Möglichkeit, Wassermoleküle zu plötzlich merken, dass sie alle mal dem hat eine physikalische Grenze von einem nehmen und sie in die Form einer Schnee- Arzt „untreu“ werden: Die einen gehen Zehntel Nanometer Genauigkeit … flocke zu verwandeln – die Wassermo- zum „Hodscha“, zum islamischen Heiler, SPIEGEL: … das heißt also nicht mehr als ein leküle aber tun es selbst, wenn in einer die anderen zum Heilpraktiker. Atomdurchmesser … kalten Wolke der Dampf kondensiert. Das Oder wenn Leyla Yilmaz lernt, dass nicht Whitesides: Eben. Deshalb gibt es praktisch Prinzip lautet: Nimm Komponenten und nur bei Türken, sondern auch bei Deut- kein Limit mehr, wie klein man etwas ma- lass sie sich zusammensetzen in geordneten schen die Frauen viel häufiger an einer De- chen kann. Außerdem ist die Technik ziem- Strukturen, die sie wünschen. pression erkranken als die Männer. „Wirk- lich billig. SPIEGEL: Was können Sie mit diesem Prin- lich? Wirklich?“, fragt sie immer wieder SPIEGEL: Was ist so aufregend daran, wenn zip herstellen? und lacht. „Ich dachte, deutsche Frauen man mit Molekülen stempeln kann? Whitesides: Wir und andere Gruppen den- seien nicht so unterdrückt!“ Whitesides: Sie können zum Beispiel un- ken darüber nach, kleine Partikel zu bau- Veronika Hackenbroch glaublich dünne Schichten herstellen, die en, die einerseits Transistoren tragen und

122 der spiegel 2/2004 Wissenschaft sonders brisant wird es für die Marbur- ger Ärzte, wenn sie es mit Asylbewerbern zu tun haben. Regelmäßig werden Patien- ten in ihre Station überwiesen – Kurden etwa – , die, obwohl sie schon seit acht, zehn oder sogar zwölf Jahren in Deutsch- land leben, jetzt kurz vor der Abschiebung stehen. Verzweifelt kämpfen sie gegenüber Ämtern und Richtern um die Anerkennung ihrer Krankheit, die ihnen zumindest eine vorläufige Duldung garantiert. Die Ärzte in Marburg stehen dabei vor einem unauflöslichen Dilemma: Je besser und schneller sie ihren Patienten helfen, desto schneller werden diese abgeschoben. „Eigentlich eine unzumutbare Aufgabe!“, sagt Koch. „Wie sollen wir da eine sinnvolle Therapie durchführen?“ „Stärken“ ist für die Therapie aller Pa- tienten ein Schlüsselwort auf der Marbur- ger Station. Die Mischung aus Einzel- und Gruppengesprächen, Musik-, Beschäfti-

gungs- und Bewegungstherapie empfindet RICK FRIEDMAN Leyla Yilmaz „wie eine Schule“. Weil sie Nanopionier Whitesides: „Es wird Papier mit bewegten Bildern geben“ ihre Depression vor allem körperlich emp- findet, kann sie mit den körperbetonten Therapieformen besonders viel anfangen. NANOTECHNIK Heute ist sie in der Bewegungstherapie in eine Welt aus schwebenden Luftballons eingetaucht. Ganz zart hat sie sie immer Stempeln mit Molekülen wieder nach oben gestubst. Mit den Hän- den, den Ellenbogen, den Schultern, dem Der US-Chemiker George Whitesides über Kopf, den Knien, den Füßen – mit allem, was ihr ständig und immer wehtut. das Bauen mit Atomen, lebende Computer und die „Dabei“, sagt Yilmaz hinterher, und die Gesundheitsgefahren durch Nanopartikel Dolmetscherin übersetzt, „ist die Zartheit der Luftballons auf meinen Körper über- Die Manipulation kleinster Strukturen Oberflächen ganz gezielt bestimmte Ei- gegangen. Da waren die Schmerzen für ei- wird als Schlüsseltechnik der Zukunft ge- genschaften verleihen: Wasser abweisend nen Moment weg.“ priesen. Deutschland investiert in diesem etwa oder Wasser anziehend. Oder man Von dem therapeutischen Konzept der Jahr 293 Millionen Euro an Fördergel- kann dreidimensionale Formen und che- Modellstation profitieren aber nicht nur dern in die so genannte Nanotechnik. Ja- mische Eigenschaften so auf Oberflächen die türkischen Patienten. „Gerade bei der pan und die USA pumpen noch höhere übertragen, dass daraus Systeme von Mi- Gruppenarbeit tut es vor allem den de- Summen in diesen Forschungszweig. krotunneln für winzige Analysegeräte ent- pressiven deutschen Patienten gut, von der Aber wird er wirklich die enormen Hoff- stehen. Redefreude und der Emotionalität der tür- nungen erfüllen? George Whitesides, 64, SPIEGEL: Ist es wahr, dass Sie auch dafür kischen Patienten ein bisschen mitgerissen Chemiker der Harvard University, gilt sorgen können, dass sich die Moleküle von zu werden“, sagt Sigrid Eger. Außerdem als ein Vordenker der Nanotechnik; im ganz allein zu größeren Strukturen zu- mache das auch ihre Arbeit als Ärztin viel November hat er in Japan den mit 400000 sammensetzen? leichter und angenehmer. Dollar dotierten Kyoto-Forschungspreis Whitesides: In gewissem Sinne schon. Die Tatsächlich ist das Marburger Modell viel entgegengenommen. Komponenten – das können Moleküle oder mehr als nur eine psychiatrische Station: Es auch winzige Objekte sein – ordnen sich ist auch ein Begegnungsraum. Zum Bei- SPIEGEL: Professor Whitesides, was ist Ihre unter bestimmten Bedingungen von selbst. spiel, wenn in der Frauengruppe deutsche Strategie, winzige Dinge herzustellen? Sie bilden also hochinteressante Muster, und türkische Marburgerinnen feststellen, Whitesides: Meine Arbeitsgruppe kann die wir in manchen Fällen auf anderem wie ähnlich ihre Lebenssituation als arbei- kleine Dinge sehr präzise herstellen durch Weg kaum aufbauen könnten. Ein Beispiel tende Frau, die Mann und Kinder versor- Drucken und Gießen – das ist unser Beitrag aus der Natur ist eine Schneeflocke: Es gibt gen muss, ist. Oder wenn die Patienten zur Nanotechnik. Das Verfahren an sich keine Möglichkeit, Wassermoleküle zu plötzlich merken, dass sie alle mal dem hat eine physikalische Grenze von einem nehmen und sie in die Form einer Schnee- Arzt „untreu“ werden: Die einen gehen Zehntel Nanometer Genauigkeit … flocke zu verwandeln – die Wassermo- zum „Hodscha“, zum islamischen Heiler, SPIEGEL: … das heißt also nicht mehr als ein leküle aber tun es selbst, wenn in einer die anderen zum Heilpraktiker. Atomdurchmesser … kalten Wolke der Dampf kondensiert. Das Oder wenn Leyla Yilmaz lernt, dass nicht Whitesides: Eben. Deshalb gibt es praktisch Prinzip lautet: Nimm Komponenten und nur bei Türken, sondern auch bei Deut- kein Limit mehr, wie klein man etwas ma- lass sie sich zusammensetzen in geordneten schen die Frauen viel häufiger an einer De- chen kann. Außerdem ist die Technik ziem- Strukturen, die sie wünschen. pression erkranken als die Männer. „Wirk- lich billig. SPIEGEL: Was können Sie mit diesem Prin- lich? Wirklich?“, fragt sie immer wieder SPIEGEL: Was ist so aufregend daran, wenn zip herstellen? und lacht. „Ich dachte, deutsche Frauen man mit Molekülen stempeln kann? Whitesides: Wir und andere Gruppen den- seien nicht so unterdrückt!“ Whitesides: Sie können zum Beispiel un- ken darüber nach, kleine Partikel zu bau- Veronika Hackenbroch glaublich dünne Schichten herstellen, die en, die einerseits Transistoren tragen und

122 der spiegel 2/2004 andererseits von selbst Kristalle formen. Dimensionen im So könnten dann dreidimensionale Mikro- elektroniksysteme entstehen. Nanokosmos SPIEGEL: Inwiefern wird die Nanotechnik Wenn ein Kohlenstoff-Atom so groß wie ein unseren Alltag verändern? i-Punkt wäre, hätten die folgenden Moleküle Whitesides: Letztlich beschleunigt sie vor und Mikroben die dargestellte Größe. allem einen Trend, der sich ohnehin voll- zieht: nämlich die Verschiebung von einer 0,154 Nanometer Wirtschaft, die eine physisch fassbare Ba- Kohlenstoff-Atom sis hat, hin zu einer Wirtschaft, die auf In- formation basiert. Die Speicherkapazität Nanometer in Computern wird immer billiger und auf 0,7 Traubenzucker-Molekül immer engerem Raum gepackt werden – und dazu wird die Nanotechnik in immer Nanometer stärkerem Maße beitragen. 5,5 Hämoglobin SPIEGEL: Und was haben wir Menschen da- von? Nanometer Whitesides: Ich gehe zum Beispiel davon 100 aus, dass es eine Art elektronisches Papier Influenza-Virus geben wird, das mir die komplette Zeitung mit bewegten Bildern zeigt und das zu- 200–300 Nanometer kleinste Bakterien gleich billig genug ist, um es nach Ge- z. B. Mycoplasma genitalium brauch wegzuschmeißen. Ich bin nicht ganz sicher, wie ich dieses Gerät mit Strom versorgen könnte. Aber im Prinzip spricht neue Pathogene natürlichen Ursprungs: der Müllkippe landen, gelangen sie des- nichts dagegen, es drahtlos mit Strom zu Sars zum Beispiel. Im Gegensatz dazu er- halb noch lange nicht in die Atmosphäre. versorgen: mit Mikrowellen oder Ähnli- weisen sich Organismen, die man auf selt- SPIEGEL: In der öffentlichen Wahrnehmung chem. Der Übergang zu einer Gesellschaft, same Weise manipuliert hat, in aller Regel spuken auch emsige Nanoroboter herum, in der man alles bequem herumtragen als wenig erfolgreich, wenn man sie in die die dereinst unser Tagwerk übernehmen. kann, hängt nur davon ab, wie man dieses Umwelt entlässt. Whitesides: Im Moment gibt es eine gene- Problem der Stromversorgung löst. SPIEGEL: Manche Gefahren aber erschei- relle Falschwahrnehmung. Fast alle Nano- SPIEGEL: Ihre Gruppe forscht auch an Bak- nen ganz real. Texanische Forscher haben techniken werden allmählich und stufen- terien, die auf bestimmte Kommandos rea- gezeigt, dass Nanopartikel sich im Erdreich weise entstehen: Die Mikroelektronikfir- gieren. Wollen Sie einen lebendigen Com- ausbreiten und in die Nahrungskette ge- men werden die Maße ihrer Produkte in puter bauen? langen könnten. Und Versuche an Mäusen kleinere und kleinere Dimension drücken. Whitesides: Wir sind umgeben von leben- offenbaren, dass winzige Röhrchen aus Das ist wichtig, aber eine Revolution ist es den Systemen, bei denen es einen Input Kohlenstoff die Lunge schädigen können. nicht. und einen Output gibt, und dazwischen Whitesides: Ich weiß von nichts, das mir SPIEGEL: Die viel beschworenen Nanoma- passiert irgendetwas. Unser Interesse gilt sagt, dass wir es mit einer neuen Form von schinen, die sich selbst vervielfältigen, wird den Darmbakterien E. coli, weil man sie so Giftigkeit zu tun hätten. Zugegeben: Nano- es also gar nicht geben? leicht gentechnisch verändern kann … röhrchen sind klein und starr – wie Asbest- Whitesides: Nein. Leben besteht für mich SPIEGEL: … um sie so in elektronische Bau- fasern. Und von denen wissen wir, dass sie aus folgenden Eigenschaften: Stoffwech- teile zu verwandeln? den Lungen überhaupt nicht gut tun. Aber sel, Kompartimentierung, also die Eintei- Whitesides: Nun, im Prinzip können wir bei den Nanoröhrchen sehe ich gar keine lung in innen und außen, Anpassungs- an einem Ende eines Bakteriums Senso- Anwendung, bei der man sie in die Umwelt fähigkeit und das Vermögen, sich selbst zu ren einbauen, die dann am anderen Ende freisetzen würde. Sie werden mit Polyme- vermehren. Nichts davon – mit Ausnahme ein spezielles Verhalten bewirken. Auf ei- ren oder anderen Materialien vermischt. der Kompartimentierung – kriegen wir nen bestimmten Reiz hin würde das Bak- Wenn sie in dieser Form irgendwann auf technisch hin. terium dann mit einem ganz be- SPIEGEL: Der Genetiker Craig Ven- stimmten, vorhersehbaren Verhal- ter sieht das offenbar anders. Er ten reagieren. Das ist ein Projekt, versucht gegenwärtig, aus biologi- das zehn Jahre dauern wird. schen Komponenten ein künstli- SPIEGEL: Der kanadische Nano- ches Bakterium zu basteln, das technikgegner Pat Mooney warnt, dann beginnen soll zu leben. durch solche Experimente könnte Whitesides: Ich finde, er schum- gefährliche „grüne Schmiere“ ent- melt. Wenn ich eine Sammlung stehen. von Ribosomen, Membranen und Whitesides: Oh, was soll das denn Proteinen nehme, stecke alles zu- sein? sammen und, siehe da, es arbeitet, SPIEGEL: Mooney zufolge sind das dann ziehe ich Nutzen aus mehr Mikroorganismen, die durch Na- als dreieinhalb Milliarden Jahren notechnik manipuliert wurden, Evolution, die mir die Ribosomen um Maschinen zu ersetzen – und und Membranen zur Verfügung die sich dann unkontrolliert ver- stellt. Wenn wir aber selbst versu- mehren und ausbreiten. chen, ein replizierendes System zu Whitesides: Ach je, das ganze Ge- entwerfen, dann stehen wir bei rede von Sachen, die in die Welt null. Wir wüssten nicht einmal, wo

freigesetzt werden – das Einzige, FOCUS HABBICK VISIONS / SPL AGENTUR VICTOR wir anfangen sollten. was mich wirklich besorgt, sind Vision einer Pille voller Nanoroboter: „Falsche Wahrnehmung“ Interview: Jörg Blech

der spiegel 2/2004 123 Szene Kultur

THEATER Dreigroschen-Glitzer auf Hamburgs Kiez as private St. Pauli Theater residiert auf der Ham- Dburger Reeperbahn gleich neben der legendären Davidwache und in nächster Nachbarschaft zum Straßen- strich. Künstlerisch fehlte es dem innenarchitektonischen Schmuckstück lange an Glanz. Seit ein paar Monaten hat nun der Regisseur Ulrich Waller das Ruder in der Hand. Nach einer drolligen Reeperbahn-Revue zum Einstand lässt er es nun bei der zweiten Eigenproduktion richtig krachen. Für seine Inszenierung der „Dreigroschenoper“ (Premiere: 8. Januar), des unverwüstlichen Bettler-, Huren- und Gangsterstücks von Bert Brecht, trommelte er ein strahlendes Star-Ensemble zusammen: Ulrich Tukur etwa als aalglatter Ganove Mackie Messer, Eva Mattes und Christian Redl als Elends-Unternehmerpaar Peachum und Stefanie Stappenbeck als deren durchtrie- ben-lernfähige Tochter Polly. Bereitwillig verzichteten die an Staatsbühnen und im Film- und Fernsehbetrieb Vielbeschäftigten auf rund die Hälfte ihrer üblichen Gage und auf die Probengelder – und der Lohnverzicht hat sich gelohnt: Der Klassiker des Klassenkampfs glänzt auf dem Kiez frisch poliert, frech und flott.

Stappenbeck(0.), Mattes, Redl KATHARINA JOHN KATHARINA

Kino in Kürze

gibt: drei Jurten und liches Leben in Turbulenzen gerät, als rundum die Unendlich- sie unversehens mit ihrer Tochter aus keit der Steppe; vier erster Ehe (Serpil Turhan) konfrontiert Generationen einer Fa- wird und sich ihrer Vergangenheit milie auf engstem Le- stellen muss. Regisseur Rudolf Thome bensraum; ein symbioti- entwirrt die Beziehungen mit leichter scher Alltag mit Kame- Hand und inszeniert das Treffen der len, Ziegen, Schafen, Generationen als beschwingte Sommer- die sich gemeinsam un- komödie, die Lust auf die Großfamilie ter den Sandstürmen macht – nur wenn er den Blick wie ein ducken. Und wie dann frisch Verliebter von seinem weiblichen eine störrische Kamel- Star nicht abwenden mag, hängt der mutter, die ihr Neu- Film durch. geborenes verstoßen hat, durch das alther- gebrachte Besänfti- gungsritual eines kun- digen Musikers und sein herzzerreißendes

PROKINO Geigenspiel zu Trä- Szene aus dem „Weinenden Kamel“ nen gerührt wird – das ist unwidersteh- „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ lich. Wenn es einen Oscar für Filmtie- ist fast so märchenhaft, wie ihr Titel re gäbe, so meint das Fachblatt „Va- klingt. Ein unternehmungslustiges Team riety“, wären diese Kamelmutter und von der Münchner Filmhochschule, an- ihr Kind heiße Favoriten. geführt von der Mongolin Byambasuren Davaa, 32, ist in die Wüste Gobi gezo- „Rot und Blau“ erzählt von einer er-

gen, um nomadisches Hirtenleben zu folgreichen Architektin (Hannelore FILM MOANA dokumentieren, solange es das noch Elsner), deren beschaulich-bürger- Turhan, Elsner in „Rot und Blau“

der spiegel 2/2004 125 Szene

LITERATUR Lebenstoll it dem seltsamen Appell „Aufste- Mhen, die Irren rufen, der Lockruf der Irren erschallt“ weckt der in New York lebende Schriftsteller Robert G. Mehlman täglich seine Frau. Während sie in die Tagesklinik für psychisch Kran- ke enteilt, wo sie mit mäßigem Erfolg versucht, ihre Patienten vor dem Selbst- mord zu bewahren, begibt sich Mehlman wie berauscht in das Chaos seines eige- nen Lebens: Er steht zwischen drei Frau- en – und kurz vorm Bankrott. Außer sei- ner Ehefrau, der „Märchenprinzessin“, mit der ihn fast nur noch der tägliche Streit verbindet, ist da Evelyn, die dick- Tom Cruise (M.) in „Last Samurai“ liche Kellnerin aus Puerto Rico, deren Berührungen so sind, wie er sich seine FILM Worte wünscht: „Sie waren geladen“, weil „zu viel Verlangen in ihnen war“. Und dann gibt es noch Rebecca, die Die Ästhetik alter Krieger ständig über ihre zu groß geratenen Hände und Füße redet und gern eine zweite Regisseur Edward Zwick, Zwick: Alle Samurai-Filme haben et- Mata Hari wäre. So wenig 51 („Glory“, „Ausnah- was Reaktionäres: Es geht um Helden, die Mehlman sich für eine mezustand“), über sei- stur auf verlorenem Posten kämpfen, an der Frauen entscheiden nen Film „Last Samu- Traditionen festhalten und sich jeder Ver- kann, so schwer kommen rai“, der jetzt in die änderung entgegenwerfen. Ich will das sie von ihm los. Kinos kommt – Tom dramatische Potenzial dieser Geschichte Von diesem Gefühlsdurch- Cruise spielt darin einen ausschöpfen. Zugleich handelt der Film einander berichtet, wun- US-Offizier, der Japan davon, wie wichtig es ist, im Leben Wer- derbar tragikomisch, der 1876 helfen soll, ge- te zu haben und nach Authentizität zu niederländische Autor gen den Widerstand hei- streben. Arnon Grünberg in sei- mischer Samurais eine SPIEGEL: Glauben Sie denn, dass Sie als nem Roman „Phantom- moderne Armee aufzu- Amerikaner überhaupt ein authentisches

schmerz“. Wären Mehlmans Ideen für BROS. WARNER bauen. Japan-Bild vermitteln können? einen neuen Roman so gut wie die Lü- Zwick: Natürlich hatten manche Leute gengeschichten, mit denen er seine Ro- SPIEGEL: Mr. Zwick, in Ihrem Film geht es Angst, dass wir die japanische Kultur aus- manzen und den drohenden finanziellen um den Vernichtungskrieg des bösen Neu- beuten würden für einen kommerziellen Ruin vor seiner Frau zu verbergen sucht, en gegen das gute Alte. Sind Sie im Her- Hollywood-Streifen. Aber wir waren über- wäre er längst ein gemachter Mann. zen ein Reaktionär? wältigt von der Ästhetik dieser Zeit. Wir Doch dann entdeckt Mehlman die pol- nisch-jüdische Küche, und alles beginnt sich zu verändern. Der 1971 in Amsterdam geborene Grün- berg gilt in seiner Heimat auch deshalb VERLAGE als Enfant terrible, weil er nach ersten schriftstellerischen Erfolgen anfing, unter Warnung für Leser dem Pseudonym Marek van der Jagt zu schreiben. Das führte dazu, dass er zwei- ür geplagte Bücherfreunde, mal denselben Literaturpreis erhielt. Sein Fdie auf ihre Zigarette trotz neuer Roman ist bittersüß erzählt, voller der amtlich verordneten neuen Wehmut und mit beißendem Humor. Die Warnaufdrucke immer noch Geschichte jenes Mannes, der bei dem nicht verzichten wollen, hat sich Versuch, seinen „gewaltigen Hunger“ die Verkaufsabteilung des Frankfurter Fischer-Aufkleber nach Leben zu stillen, in aberwitzigste Verlagshauses S. Fischer etwas Hüb- Situationen gerät, doch letztendlich nie sches einfallen lassen: Das Branchen- „Leser leben länger“; aus „Rauchen wirklich bei sich selbst ankommt – sie organ „Börsenblatt“ enthielt Ende des verursacht tödlichen Lungenkrebs“ ergibt ein treffendes Literaten-Psycho- Jahres eine Beilage mit abziehbaren wird flugs „Lesen macht sehr schnell gramm, das auch noch unterhaltsam ist. und selbstklebenden Zetteln, die – in abhängig“ oder auch: „Lesen gefährdet verschiedenen Größen – ersatzweise auf die Dummheit“; während „Die EG-Ge- der Zigarettenschachtel angebracht wer- sundheitsminister“ warnen: „Rauchen Arnon Grünberg: „Phantomschmerz“. Aus dem Nie- derländischen von Rainer Kersten. Diogenes Verlag, den können. Wo es eben noch „Rau- kann zu Durchblutungsstörungen füh- Zürich; 384 Seiten; 22,90 Euro. cher sterben früher“ hieß, prangt nun ren und verursacht Impotenz“, lassen

126 der spiegel 2/2004 Szene

LITERATUR Lebenstoll it dem seltsamen Appell „Aufste- Mhen, die Irren rufen, der Lockruf der Irren erschallt“ weckt der in New York lebende Schriftsteller Robert G. Mehlman täglich seine Frau. Während sie in die Tagesklinik für psychisch Kran- ke enteilt, wo sie mit mäßigem Erfolg versucht, ihre Patienten vor dem Selbst- mord zu bewahren, begibt sich Mehlman wie berauscht in das Chaos seines eige- nen Lebens: Er steht zwischen drei Frau- en – und kurz vorm Bankrott. Außer sei- ner Ehefrau, der „Märchenprinzessin“, mit der ihn fast nur noch der tägliche Streit verbindet, ist da Evelyn, die dick- Tom Cruise (M.) in „Last Samurai“ liche Kellnerin aus Puerto Rico, deren Berührungen so sind, wie er sich seine FILM Worte wünscht: „Sie waren geladen“, weil „zu viel Verlangen in ihnen war“. Und dann gibt es noch Rebecca, die Die Ästhetik alter Krieger ständig über ihre zu groß geratenen Hände und Füße redet und gern eine zweite Regisseur Edward Zwick, Zwick: Alle Samurai-Filme haben et- Mata Hari wäre. So wenig 51 („Glory“, „Ausnah- was Reaktionäres: Es geht um Helden, die Mehlman sich für eine mezustand“), über sei- stur auf verlorenem Posten kämpfen, an der Frauen entscheiden nen Film „Last Samu- Traditionen festhalten und sich jeder Ver- kann, so schwer kommen rai“, der jetzt in die änderung entgegenwerfen. Ich will das sie von ihm los. Kinos kommt – Tom dramatische Potenzial dieser Geschichte Von diesem Gefühlsdurch- Cruise spielt darin einen ausschöpfen. Zugleich handelt der Film einander berichtet, wun- US-Offizier, der Japan davon, wie wichtig es ist, im Leben Wer- derbar tragikomisch, der 1876 helfen soll, ge- te zu haben und nach Authentizität zu niederländische Autor gen den Widerstand hei- streben. Arnon Grünberg in sei- mischer Samurais eine SPIEGEL: Glauben Sie denn, dass Sie als nem Roman „Phantom- moderne Armee aufzu- Amerikaner überhaupt ein authentisches

schmerz“. Wären Mehlmans Ideen für BROS. WARNER bauen. Japan-Bild vermitteln können? einen neuen Roman so gut wie die Lü- Zwick: Natürlich hatten manche Leute gengeschichten, mit denen er seine Ro- SPIEGEL: Mr. Zwick, in Ihrem Film geht es Angst, dass wir die japanische Kultur aus- manzen und den drohenden finanziellen um den Vernichtungskrieg des bösen Neu- beuten würden für einen kommerziellen Ruin vor seiner Frau zu verbergen sucht, en gegen das gute Alte. Sind Sie im Her- Hollywood-Streifen. Aber wir waren über- wäre er längst ein gemachter Mann. zen ein Reaktionär? wältigt von der Ästhetik dieser Zeit. Wir Doch dann entdeckt Mehlman die pol- nisch-jüdische Küche, und alles beginnt sich zu verändern. Der 1971 in Amsterdam geborene Grün- berg gilt in seiner Heimat auch deshalb VERLAGE als Enfant terrible, weil er nach ersten schriftstellerischen Erfolgen anfing, unter Warnung für Leser dem Pseudonym Marek van der Jagt zu schreiben. Das führte dazu, dass er zwei- ür geplagte Bücherfreunde, mal denselben Literaturpreis erhielt. Sein Fdie auf ihre Zigarette trotz neuer Roman ist bittersüß erzählt, voller der amtlich verordneten neuen Wehmut und mit beißendem Humor. Die Warnaufdrucke immer noch Geschichte jenes Mannes, der bei dem nicht verzichten wollen, hat sich Versuch, seinen „gewaltigen Hunger“ die Verkaufsabteilung des Frankfurter Fischer-Aufkleber nach Leben zu stillen, in aberwitzigste Verlagshauses S. Fischer etwas Hüb- Situationen gerät, doch letztendlich nie sches einfallen lassen: Das Branchen- „Leser leben länger“; aus „Rauchen wirklich bei sich selbst ankommt – sie organ „Börsenblatt“ enthielt Ende des verursacht tödlichen Lungenkrebs“ ergibt ein treffendes Literaten-Psycho- Jahres eine Beilage mit abziehbaren wird flugs „Lesen macht sehr schnell gramm, das auch noch unterhaltsam ist. und selbstklebenden Zetteln, die – in abhängig“ oder auch: „Lesen gefährdet verschiedenen Größen – ersatzweise auf die Dummheit“; während „Die EG-Ge- der Zigarettenschachtel angebracht wer- sundheitsminister“ warnen: „Rauchen Arnon Grünberg: „Phantomschmerz“. Aus dem Nie- derländischen von Rainer Kersten. Diogenes Verlag, den können. Wo es eben noch „Rau- kann zu Durchblutungsstörungen füh- Zürich; 384 Seiten; 22,90 Euro. cher sterben früher“ hieß, prangt nun ren und verursacht Impotenz“, lassen

126 der spiegel 2/2004 Kultur

KUNST Wilde Glut im Großformat sländische Musiker gehören zu den besten der Welt, bereichern renommierte Or- Ichester und prägen inzwischen sogar die Popmusik. Isländische Schriftsteller wer- den weltweit gelesen. Nur bei den bildenden Künstlern stehen die Nachfahren der Wikinger nicht in vorderster Reihe. Es gibt jedoch Ausnahmen: Thorlákur Morthens, der seit Jahren in Europa und den USA ausstellt und inzwi- schen eine Sammlergemeinde hat. „Tolli“, wie er in Island genannt wird, wurde 1953 in Reykjavik geboren, hat als See- mann und Rockmusiker gear- beitet, bevor er in Reykjavik und Berlin Kunst studierte. Er

WARNER BROS. WARNER malt so, wie Isländer Musik machen: wild und kräftig. Tol- haben Historiker beschäftigt, Experten für lis Island ist eine grelle Land- Textilien, Waffen und Kampfstile, wir ha- schaft aus roter Lava, blauem ben im Detail einen Aufwand betrieben, Wasser und gelbem Sonnen- der in Japan so nicht möglich wäre. schein – eine bunte Welt, die SPIEGEL: Sie hätten wohl kaum über hun- auf den Ausbruch der Natur- dert Millionen Dollar für diesen Film aus- gewalt wartet. Jetzt gibt es ein geben können, wenn Sie nicht Mega-Star Buch von Tolli: „Kalligraphie Tom Cruise dafür gewonnen hätten. Wer der Landschaft“ (Tolli, Reykja- von Ihnen war der Chef am Set? vik; 50 Euro). Zu den ein- Zwick: Das sollten Sie ihn fragen. Ich fand drucksvollen Bildern gibt es es bemerkenswert, wie respektvoll er mir Texte in Deutsch, Englisch gegenüber war. Wir hatten Auseinander- und Französisch, verfasst von setzungen, aber nicht um persönliche Din- Ari Trausti Gudmunsson, ge, sondern um die bessere Idee. Die Ar- einem isländischen Geologen beit war sehr fruchtbar. und Meteorologen. Tolli-Bild „Zwillinge“ (2003) SPIEGEL: Glauben Sie, dass Meisterregis- seur Akira Kurosawa Ihr Schwertkämp- fer-Epos mögen würde? Zwick: Ich verehre Kurosawa sehr, seit ARCHITEKTUR Decken und Wände herausgebrochen: ich mit 17 Jahren „Die sieben Samurai“ Schon wird aus dem P2 ein geräumiges gesehen habe. Ich habe ihn vor über 20 Virtueller Plattenbau Mehrfamilienhaus mit Freiflächen zum Jahren sogar getroffen – aber da erschien Grillen – auf dem Dach. „Der P2 hat er mir so grimmig, dass ich zweifle, ob at die Platte Zukunft? Im Internet einen soliden Grundriss, der sich leicht er wenigstens seine eigenen Filme ge- Hauf jeden Fall – glaubt die Leip- verändern und erweitern lässt“, sagt mocht hat. ziger Planergruppe „urbikon“ und Dolata. „Ein VW Käfer unter den Plat- kämpft mit einem innovativen Web- tenbauten: Den sollte Projekt gegen die Abrissbirnen in den man nicht leicht- Köpfen: Beim „P2 Ripdown“ kann man fertig ver- per Mausklick eine DDR-Wohnikone schrotten.“ „Die S. Fischer Verlage“ munter die Pa- vom Typ P2 nach Belieben umbauen role unters lesende Volk bringen: „Le- und zerlegen. „Die Deutschen sind uns sen kann zu einem langen Vergnügen zu einfallslos, wenn es um Renovierung führen“ – oder kurz: „Lesen macht und Rückbau von Altbauten geht“, sagt sexy“. Das einzige Problem bei der Ripdown-Entwickler Kai Dolata. „Wir Fischer-Aktion: Die Klebezettel sind bei wollen kreative Energien wecken.“ Das Vielrauchern rasch aufgebraucht. Um scheint zu gelingen: Inzwischen Entzugserscheinungen vorzubeugen, klicken täglich bis zu tausend Nut- hat sich der Verlag entschlossen, ein zer am virtuellen Plattenbau herum. kleines Kontingent für den Nachschub Befreit von den Gesetzen der Statik bereitzuhalten (S. Fischer, Abt. Verkauf, und Wohnkonventionen entstehen Hedderichstraße so die unterschiedlichsten Rückbau- 114, 60596 Frank- Pläne: Ein User verwandelte den P2 furt a. M.). Damit in eine bizarre „Platten-Monumen- es auch im neuen tal-Skulptur“, die selbst das Völker- Jahr leselustig schlachtdenkmal in den Schatten weitergehen kann: stellen soll. Andere Modelle bewei- „Bücher machen sen Sinn fürs Praktische. Ein paar süchtig“. Geschosse abgetragen, ein paar Plattenbau-Modell P2

der spiegel 2/2004 127 Kultur

KUNST Wilde Glut im Großformat sländische Musiker gehören zu den besten der Welt, bereichern renommierte Or- Ichester und prägen inzwischen sogar die Popmusik. Isländische Schriftsteller wer- den weltweit gelesen. Nur bei den bildenden Künstlern stehen die Nachfahren der Wikinger nicht in vorderster Reihe. Es gibt jedoch Ausnahmen: Thorlákur Morthens, der seit Jahren in Europa und den USA ausstellt und inzwi- schen eine Sammlergemeinde hat. „Tolli“, wie er in Island genannt wird, wurde 1953 in Reykjavik geboren, hat als See- mann und Rockmusiker gear- beitet, bevor er in Reykjavik und Berlin Kunst studierte. Er

WARNER BROS. WARNER malt so, wie Isländer Musik machen: wild und kräftig. Tol- haben Historiker beschäftigt, Experten für lis Island ist eine grelle Land- Textilien, Waffen und Kampfstile, wir ha- schaft aus roter Lava, blauem ben im Detail einen Aufwand betrieben, Wasser und gelbem Sonnen- der in Japan so nicht möglich wäre. schein – eine bunte Welt, die SPIEGEL: Sie hätten wohl kaum über hun- auf den Ausbruch der Natur- dert Millionen Dollar für diesen Film aus- gewalt wartet. Jetzt gibt es ein geben können, wenn Sie nicht Mega-Star Buch von Tolli: „Kalligraphie Tom Cruise dafür gewonnen hätten. Wer der Landschaft“ (Tolli, Reykja- von Ihnen war der Chef am Set? vik; 50 Euro). Zu den ein- Zwick: Das sollten Sie ihn fragen. Ich fand drucksvollen Bildern gibt es es bemerkenswert, wie respektvoll er mir Texte in Deutsch, Englisch gegenüber war. Wir hatten Auseinander- und Französisch, verfasst von setzungen, aber nicht um persönliche Din- Ari Trausti Gudmunsson, ge, sondern um die bessere Idee. Die Ar- einem isländischen Geologen beit war sehr fruchtbar. und Meteorologen. Tolli-Bild „Zwillinge“ (2003) SPIEGEL: Glauben Sie, dass Meisterregis- seur Akira Kurosawa Ihr Schwertkämp- fer-Epos mögen würde? Zwick: Ich verehre Kurosawa sehr, seit ARCHITEKTUR Decken und Wände herausgebrochen: ich mit 17 Jahren „Die sieben Samurai“ Schon wird aus dem P2 ein geräumiges gesehen habe. Ich habe ihn vor über 20 Virtueller Plattenbau Mehrfamilienhaus mit Freiflächen zum Jahren sogar getroffen – aber da erschien Grillen – auf dem Dach. „Der P2 hat er mir so grimmig, dass ich zweifle, ob at die Platte Zukunft? Im Internet einen soliden Grundriss, der sich leicht er wenigstens seine eigenen Filme ge- Hauf jeden Fall – glaubt die Leip- verändern und erweitern lässt“, sagt mocht hat. ziger Planergruppe „urbikon“ und Dolata. „Ein VW Käfer unter den Plat- kämpft mit einem innovativen Web- tenbauten: Den sollte Projekt gegen die Abrissbirnen in den man nicht leicht- Köpfen: Beim „P2 Ripdown“ kann man fertig ver- per Mausklick eine DDR-Wohnikone schrotten.“ „Die S. Fischer Verlage“ munter die Pa- vom Typ P2 nach Belieben umbauen role unters lesende Volk bringen: „Le- und zerlegen. „Die Deutschen sind uns sen kann zu einem langen Vergnügen zu einfallslos, wenn es um Renovierung führen“ – oder kurz: „Lesen macht und Rückbau von Altbauten geht“, sagt sexy“. Das einzige Problem bei der Ripdown-Entwickler Kai Dolata. „Wir Fischer-Aktion: Die Klebezettel sind bei wollen kreative Energien wecken.“ Das Vielrauchern rasch aufgebraucht. Um scheint zu gelingen: Inzwischen Entzugserscheinungen vorzubeugen, klicken täglich bis zu tausend Nut- hat sich der Verlag entschlossen, ein zer am virtuellen Plattenbau herum. kleines Kontingent für den Nachschub Befreit von den Gesetzen der Statik bereitzuhalten (S. Fischer, Abt. Verkauf, und Wohnkonventionen entstehen Hedderichstraße so die unterschiedlichsten Rückbau- 114, 60596 Frank- Pläne: Ein User verwandelte den P2 furt a. M.). Damit in eine bizarre „Platten-Monumen- es auch im neuen tal-Skulptur“, die selbst das Völker- Jahr leselustig schlachtdenkmal in den Schatten weitergehen kann: stellen soll. Andere Modelle bewei- „Bücher machen sen Sinn fürs Praktische. Ein paar süchtig“. Geschosse abgetragen, ein paar Plattenbau-Modell P2

der spiegel 2/2004 127 GEDENKEN Jedem das Seine In Berlin wird nicht nur das Holocaust-Mahnmal errichtet, sondern ein Ensemble von Denkmälern. Dabei entsteht eine Hierarchie der Nazi-Opfer – die einen werden bedacht, die anderen vergessen. Wäre ein Mahnmal für alle Opfer nicht doch sinnvoller gewesen?

ür die Firma Geithner Bau hat sich ton. Durch den Winternebel schreiten Doch die fertigen Stelen mahnen an die Aufarbeitung des Holocaust ge- Männer in blauen Overalls über das um- nichts. Geschützt stehen sie unter weißen Flohnt. 2751 Betonstelen für 6 Millio- zäunte Werksgelände unweit der Auto- Zelten, die an Jahrmärkte erinnern. Die nen ermordete Juden bringt Beschäftigung bahnabfahrt Joachimsthal. Eine offene Er- Betonstelen warten wie einst die Opfer, an für 60 Mitarbeiter. innerung an den Holocaust wäre hier eine die sie später erinnern sollen – auf den Ab- Das Unternehmen aus Wilhelmshaven Provokation. Rund 60 Straftaten Rechts- transport. In Berlin werden sie demnächst produziert im Nordosten Brandenburgs radikaler registrierte die Polizeistatistik im bautechnisch und politisch korrekt aufge- Vergangenheitsbewältigung in grauem Be- Jahr 2003 allein im Landkreis Barnim. stellt.

128 der spiegel 2/2004 Kultur 10 Reichstags- Mahnen und Erinnern gebäude 11 Spree 12 Alex- Vorhandene und Branden- ander- 2 burger Tor platz geplante bzw. im Bau befindliche 1 3 9 Gedenkstätten in Berlin Gendarmen- 4 5 markt 1 Neue Wache, 12 Denkmal Frauenprotest Unter den Linden „Fabrik-Aktion“ 6 Pots- damer 2 Mahnmal für verfolgte 13 Deportationsmahnmal, 7 Platz Reichstagsabgeordnete Putlitzbrücke 8 3 Mahnmal für 14 Gedenkstätte Sinti und Roma Plötzensee 4 Mahnmal für 15 Gedenkort Bushalte- Homosexuelle stelle Kurfürstenstraße 5 Holocaust- 16 Mahnen u. Gedenken Tiergarten BERLIN Mahnmal im Bayerischen Viertel 14 6 Euthanasie-Opfer 17 Deportations- 13 Mitte „T4“ mahnmal Grunewald Charlottenburg Lichten- 15 7 Gedenkstätte 18 Gedenkstätte Haus der 20 berg Deutscher Widerstand Wannseekonferenz Wilmersdorf 17 16 21 22 Kreuzberg 8 Topographie 19 Steglitzer des Terrors Spiegelwand 19 Schöne- Zehlendorf berg Treptow 9 Denkmal 20 Jüdisches 18 Steglitz „Bücherverbrennung“ Museum 10 Denkmal für das Wirken 21 Treptower jüdischer Bürger in Berlin Ehrenmal 11 Blindenwerkstatt 22 Deutsch-Russisches Otto Weidt Museum Berlin-Karlshorst

Andererseits ist der Holocaust auch für Werden die neuen Denkmäler nicht den die Firma Geithner Bau zur Belastung ge- Blick auf die authentischen, historischen worden. Seit diskutiert wurde, ob eine Orte Berlins versperren – auf die Gedenk- Firma mit Nazi-Vergangenheit den Graffi- stätte Plötzensee etwa oder die kleine Blin- ti-Schutz für die Stelen liefern darf, ist die denwerkstatt Otto Weidt, in der eine jüdi- Produktion der Betonteile kein normaler sche Familie versteckt wurde wie Anne Auftrag mehr. Als wäre die DDR noch ein- Frank in Amsterdam? mal nach Brandenburg zurückgekehrt, gibt es ein Sprechverbot für die Mitarbeiter. Der Bauherr Keine Betriebsbesichtigung. Keine Aus- Der zweite Mann im Staat hat viel Wert dar- künfte am Telefon. „Nein, wenden Sie sich auf gelegt, dass niemand auf den Gedanken bitte an unseren Anwalt.“ kommt, in Berlin tage wieder der Reichstag. Der Jurist, ein Wessi, weiß, wie vermint Wolfgang Thierse hat für eine Beschilde- das Gelände ist. Was wäre es auch für ein rung gestritten, die deutlich zwischen dem Skandal, wenn ein blau bekleideter Mahn- Gebäude Reichstag und seinem Innenleben, mal-Produzent aussprechen würde, was dem Bundestag, unterscheidet. Er hat auch

PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL viele Brandenburger über Polen, Schwule, leidenschaftlich für den Bau des „Denkmals Mahnmal-Stelen in Berlin Linke oder Juden denken? Auch andere für die ermordeten Juden Europas“ gewor- „Spiegel der Verhandlungsmacht“ sehen den Bau des Holocaust-Mahnmals ben. Er ist Kuratoriumsvorsitzender und da- als riskantes Unternehmen. mit Bauherr des Mahnmals. Ob die Mutter aller Mahn- Inzwischen hat er den Überblick verlo- male, die Publizistin Lea ren, wo um ihn herum überall an den Ho- Rosh, ob der wortgewalti- locaust erinnert werden soll. Er sitzt in sei- ge Bundestagspräsident nem Zimmer, blickt in Richtung Tiergarten, Wolfgang Thierse oder des kreuzt die Arme und grinst verschmitzt: Kanzlers Kulturbeauftragte „Dort das Mahnmal für die Sinti und Roma? Christina Weiss – sie alle Oder dort das für die Homosexuellen?“ werden vorsichtig, zurück- Vor lauter Gedenktätigkeit wirkt Thier- haltend, unsicher, wenn sie se erschöpft. „Ich baue kein zweites Denk- darüber sprechen, wie der mal“, entfährt es ihm. „Ich bin nur Bauherr Opfer des Nazi-Terrors ge- des Denkmals für die ermordeten Juden.“ dacht werden soll. Thierse weiß nur zu gut, dass es ein Irrsinn Dabei sind die Fragen ist, die Selektion der Opfer durch die Na- ganz simpel: War es wirk- zis nun in Mahnmalen nachzustellen. Der lich sinnvoll, ein Denkmal zynische Satz aus dem Konzentrationslager ausschließlich für die er- Buchenwald „Jedem das Seine“ bekommt mordeten Juden zu bauen? so einen neuen Sinn. Ist es nicht absurd, dass nun

FABIAN MATZERATH / DDP MATZERATH FABIAN jede Opfergruppe ihr eige- * Mit Romani Rose (M.) am 19. November 2003 am Reichs- Sinti-Protestversammlung*: Vorfahrt mit Kamerateam nes Mahnmal will? Und: tag in Berlin.

der spiegel 2/2004 129 Kultur

Doch Thierse zuckt ratlos die Schultern: Kamerateam steht am Eingang des Kanzler- Verwaltung von Berlins Kultursenator Tho- „Die Trennung der Opfer im Gedenken ist amts. Wenig später setzt sich Rose an den mas Flierl (PDS). Eine Ausschreibung hat bei der Debatte um den Bau des Denkmals Verhandlungstisch. Er schaut wie vor einem es für dieses Denkmal nie gegeben. Es sieht für die ermordeten Juden problematisiert Kampf. Gegenüber sitzt Christina Weiss, aus, als habe ein Kind eine CD in eine Mo- worden. Diese Trennung ist ein Problem, Staatsministerin für Kultur und Medien, delleisenbahnplatte gedrückt. Die Scheibe weil sich andere Opfergruppen zurückge- die nicht das Zeug zum Feindbild hat. Sie ist umzingelt von Bäumen aus Schaum- setzt fühlen. Dennoch bleibt der Juden- redet leise, gestikuliert ohne jede Wucht. stoff. Sie symbolisiert eine Wasserfläche. mord durch die Nazis das Wahnsinnigste an Wer einen Gedenkort will, kommt an In der Mitte der Fläche befindet sich ein deren Schreckensherrschaft.“ ihr nicht vorbei. Schließlich repräsentiert Dreieck mit einem roten Klecks. „Das soll Draußen, einen kurzen Fußweg weit von sie den Rechtsnachfolger des „Dritten eine Rose auf einer Stele sein“, erklärt ei- seinem Büro, geht der Bau des Denkmals Reichs“, auch wenn die Frau so gar nichts ne Mitarbeiterin der Verwaltung. Später, für die ermordeten Juden voran. Wenn der von Deutschtum und Reich hat. wenn das Denkmal unweit vom Reichstag Bundestagspräsident die Baustelle besich- Rose will ein Denkmal für die ermorde- errichtet und die Scheibe eine real existie- tigt, kommt er vorbei an einer weißen Ta- ten Sinti und Roma. Er will entscheiden, rende Wasserfläche ist, soll die Stele jeden fel: „Hier entsteht das nationale Holocaust- wie es aussieht, er will entscheiden, wel- Tag einmal im Wasser versinken und unter Mahnmal für die im NS-besetzten Europa cher Spruch draufkommt. Und er hat es Geigenklängen mit einer neuen Rose wie- ermordeten Sinti und Roma.“ Der Wettbe- weit gebracht. Der Vorgänger von Christi- der zum Vorschein kommen. „Ein Ort der werb der Opfer ist längst in vollem Gange. na Weiss und der Berliner Senat haben ihm Kontemplation“, erklärt die Mitarbeiterin. sein Denkmal versprochen. Und Ignatz Bu- Ein schöner Kitsch, meinen andere. Vie- Die Zigeuner bis angeblich auch. le vermuten, der Wunsch nach der Rose Der „Nato“-Saal im Kanzleramt ist ausge- Doch Rose will nicht nur ein Denkmal. auf dem Mahnmal hänge mit dem Namen schlagen mit grünem Teppich und ausge- Er will auch ein „nationales Holocaust- des Ober-Sinto Romani Rose zusammen. EFE / DPA (L.);EFE / DPA / DER SPIEGEL (R.) SAUER SABINE Bildhauer Karavan, Modell des Sinti-und-Roma-Denkmals*: Geigenklänge für die Rose im Teich stattet mit bester Übertragungstechnik. Er Mahnmal“. Er will ein Geschichtsbild Kaum jemand traut sich, offen gegen das ist Besprechungen mit wichtigen Delega- durchsetzen, wonach Sinti und Roma mit kuriose Kunstobjekt zu sprechen – nur ein tionen vorbehalten. Was in diesem Saal zu- exakt derselben Radikalität vernichtet wur- anderer Sinti-Verband, die Sinti Allianz, gesagt wird, kann eingeklagt werden – zu- den wie die Juden. Ein Satz von Ex-Bun- bricht das Schweigen. mindest in der Öffentlichkeit. despräsident Roman Herzog müsse drauf Natascha Winter, die Allianz-Vorsitzen- Am 19. November 2003 betritt Romani auf das Denkmal, fordert Rose im Kanz- de, hält Roses Verein die Ausgrenzung an- Rose den Saal, als wäre er Verhandlungs- leramt: „Der Völkermord an den Sinti und derer Stämme vor – der Lalleri und Ma- führer einer großen Streitmacht. Er ist Vor- Roma ist aus dem gleichen Motiv des Ras- nusch etwa. Sie hat im Unterschied zu Rose sitzender des Zentralrats der Sinti und senwahns … durchgeführt worden wie der kein Problem damit, Sinti „Zigeuner“ zu Roma in Deutschland. Schon der Name an den Juden.“ nennen. Herr Rose, meint Frau Winter, signalisiert, dass hier nicht irgendein Ver- Der Entwurf für das Sinti-und-Roma- könne nicht allein entscheiden, wie der er- ein kommt. „Zentralrat“, das klingt wie Holocaust-Denkmal stammt vom israeli- mordeten Zigeuner gedacht werde. Den „Zentralrat der Juden“. Die Wirkung die- schen Bildhauer Dani Karavan und steht in Namen Zentralrat schreibt die Sinti Allianz ses Wortes ist Kalkül. Raum 4/B/15, „Kunst im Stadtraum“, in der in Anführungsstrichen – wie einst die Rose weiß, wie „Opfer-Lobbyismus“ „Bild“-Zeitung die DDR. Die Rivalität der (Thierse) funktioniert. Er ist vorgefahren * Der kreisförmige See soll einen Durchmesser von 30 Me- Opfergruppen, meint Thierse, habe es mit einem Bus voller Sinti und Roma, ein tern haben. schon immer gegeben. „Sie wird nur beim

130 der spiegel 2/2004 Streit darum, wessen wie gedacht wird, die authentischen Gedenkstätten zu erhal- Berlin. Früher waren in diesem Haus auf sichtbarer.“ ten. „Die Gefahr ist groß, dass Dachau und allen Etagen Vertriebene und ihre Funk- Ravensbrück und Sachsenhausen nicht tionäre untergebracht. Farbige Bleiglas- Der Historiker mehr gebraucht werden, weil wir ja das fenster im Treppenhaus erinnern an die Als der Bau des Denkmals für die ermor- Mahnmal haben.“ alte Heimat. Inzwischen hat der neue Geist deten Juden Europas 1999 vom Bundestag Statt eines Ensembles von Denkmälern der Republik auch im Deutschlandhaus beschlossen und verkündet wurde, da wünscht sich Benz „ein Ensemble von im- Einzug gehalten. Die Vertriebenen haben stand plötzlich die Frage im Raum: Was mer währenden Aktivitäten, unter dem sich auf Etage 4 zurückgezogen. Dort bie- wird mit den anderen Opfern der Nazis, Dach der Mahnmal-Stiftung“. Benz hat ten sie Landkarten von Ostpreußen an. In den Sinti und Roma, den Schwulen, den auch eine konkrete Idee: Es wäre doch toll, den Stockwerken darunter residiert rot- Euthanasie-Toten? schwärmt er, wenn der Bundespräsident grüner Geist: die Holocaust-Stiftung und „Ein Beirat wurde ins Leben gerufen, oder der Bundestagspräsident einmal im das „Bündnis für Demokratie und Tole- für das moralische und intellektuelle Pro- Jahr „einen Wissenschaftler einladen wür- ranz“. Im Casino, gleich neben den Kü- blem, wie man ein würdiges Andenken an de, vor dem Bundestag über eine Opfer- chengeräten, steht das Holzmodell des die anderen Opfergruppen herstellt“, sagt gruppe zu sprechen“. Das wäre „ein Event, Mahnmals. Wolfgang Benz, Sprecher des Beirats und über das die Medien berichten müssten“. Frau Quack, die mit großen Gesten Ber- Direktor des Zentrums für Antisemitis- Oder wenn die Berliner Symphoniker ein- lins rabaukigen Bausenator Peter Strieder musforschung an der Technischen Univer- mal im Jahr „ein Konzert zur Erinnerung nachspielen und mit verstellter Stimme Lea sität Berlin. Im Protokoll vom 12. Dezem- an die Retter geben würden, um die Men- Rosh imitieren kann, steht am Fenster der ber 2002 seines Beirats ist das ganze Di- schen zu ehren, die anständig geblieben Stiftungsbibliothek, in der von A wie lemma zu Papier gebracht: „Eine zentrale sind“. Auschwitz bis Z wie Zyklon B alles über Planung entlang einer als abgeschlossen Seine Idee ist zu einfach und zu preis- den Holocaust nachzulesen ist. betrachteten ,Liste‘ von Opfergruppen wird wert, um eine Chance zu haben. Schon „Alles“, sagt sie und lässt den Blick nach nicht als angemessen angesehen. Eine ge- einmal, „nach der Konfusion um den draußen schweifen, „was Sie hier sehen, wisse ,Sogwirkung‘ Berlins auf die ver- ersten Wettbewerb für das Mahnmal“, ist kontaminiert.“ Sie zeigt auf die Ruine schiedenen Denkmalinitiativen wird für machte er einen Vorschlag, der „unge- des Anhalter Bahnhofs, auf einen großen möglich gehalten.“ hört verhallte“. Man solle, regte er an, auf grauen Bunker mit der Aufschrift „Gru- Benz will nicht schuld sein am Wett- kampf der Opfer um den besten Platz in Berlin. „Es war nicht meine Vorstellung, dass ein Kranz von Denkmälern hierar- chisch gegliedert rund um das Holocaust- Mahnmal stehen soll.“ Deswegen habe er ein Konzept entworfen, das sich an der Maxime orientiert: „Es muss nicht unbe- dingt Stein und Bronze sein.“ Der Mann mit der unaufgeregten, leicht schwäbelnden Stimme konzipierte „eine Initiative für alle“, eine Art Begleitpro- gramm für den Mahnmalbau, eine Vor- tragsreihe, in der einzelne Opfergruppen und historische Orte vorgestellt werden. Seit November 2001 halten Historiker und Vertreter von Gedenkstätten entsprechen-

de Referate. Das, sagt Benz, sei „eine gute (L.); ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL / DER SPIEGEL (R.) SAUER SABINE Idee, im Idealfall laufen uns die Leute von Bunker in Berlin-Kreuzberg, Vertriebenenfunktionärin Steinbach: Zu viel vorgenommen? der Straße die Bude ein“. Bei einem Vor- trag über ein Vernichtungslager bei Minsk dem Grundstück in Berlin-Mitte eine Tafel selkabinett“. Manchmal, meint sie, „sehe erschienen gerade mal 30 Gäste. aufstellen: „Wir, das deutsche Volk, sind ich im Geist die SS-Leute hier unten in die Besser wäre es gewesen, man hätte „ein willens und entschlossen, hier ein Denkmal Kneipe gehen“. Mahnmal für alle Opfer nationalsozialisti- zu errichten. Aber wir wissen nicht, wie Mit der Initiatorin des Mahnmals, Lea scher Verfolgung gebaut“, räumt Benz ein. man das macht. Jeder, der eine Idee hat, Rosh, hat sich Quack überworfen. Quack Aber er habe mit dieser Ansicht allein möge diese dem Bundestag übermitteln.“ war dafür, dass die Firma Degussa, deren gestanden. „Die Vorstellung, dass es da ei- einstige Tochter Degesch Zyklon B für die nen Kreis von Denkmälern in abfallender Die Erinnerungsbeauftragten Gaskammern produziert hatte, am Denk- Größe geben könnte, bis hin zu den ver- Sibylle Quack ist Geschäftsführerin der mal weiterbauen darf: „Ein Reinheitsge- folgten Gartenzwergen, diese Vorstellung Stiftung „Denkmal für die ermordeten Ju- bot ist unmöglich.“ Rosh hält dagegen: ist wenig befriedigend.“ den Europas“. Bis Ende März ist die His- „Ich fand es schwer erträglich, dass das Noch schlimmer aber ist, dass das torikerin der Kopf der besten deutschen Kuratorium für Degussa und gegen die Mahnmal alle Aufmerksamkeit auf sich Erinnerungsmaschine, die es je gegeben Bitten von Gedenkstätten und Juden zieht. „Wenn ich zu den Medien gehe hat. Sie wacht darüber, dass deutsche stimmte.“ und sage, macht was über die Euthanasie- Schuld mit deutscher Gründlichkeit aufge- Gut zehn Jahre hat Rosh für das Holo- Opfer, dann passiert nichts, überhaupt arbeitet wird: nach Bundesgesetz, mit caust-Mahnmal gekämpft. Ihr Motiv nichts. Wenn aber der Architekt Peter Beirat und Kuratorium. Passend zum Be- scheint weniger die Erinnerung an das Eisenman zu einer Sitzung des Kurato- ruf trägt sie Schwarz: schwarze Jacke, Grauen der NS-Zeit als die Skepsis ge- riums anreist, dann sind gleich sechs TV- schwarze Hose, selbst ihre Brille hat einen genüber dem deutschen Volk zu sein. „Vor Teams da, die ihn filmen, weil man so feinen dunklen Trauerrand. fünf Jahren hätte sich niemand getraut in was Interessantes noch nie gesehen hat.“ Mit zehn Mitarbeitern residiert Quack Deutschland, eine Entscheidung gegen den Jetzt, mahnt Benz, komme es darauf an, im Deutschlandhaus im ehemaligen West- Willen der Juden zu fällen“, schimpft

der spiegel 2/2004 131 Kultur sie. Frau Rosh hält die Juden in Deutsch- schloss der Bundestag gegen die Stimmen mehr die Todesgefahr, aber man stand im- land noch immer für eine Gruppe, die ihre der Union den Bau des Denkmals. mer mit einem Bein im Zuchthaus.“ Fürsprache nötig hat. Es ist ihre Art, sie zu Zielsetzung und Procedere erinnern an Dworek gibt zu, „dass der gesellschaft- diskriminieren. das Holocaust-Mahnmal. Und so fällt es liche Druck wichtig ist, damit sich die Po- Auf der Baustelle gehen die Arbeiten Dworek leicht, die Frage, ob das Juden- litik der Sache annimmt“, und leugnet am Denkmal weiter, genau wie Lea Roshs Denkmal die Vorlage für das Homosexuel- nicht, dass „die Geschichte dieser Denk- Kampf im Kuratorium. Einen Raum im len-Mahnmal war, mit einem klaren Ja zu mäler auch die Verhandlungsmacht der „Ort der Information“ unterhalb des Ste- beantworten: „Ohne die Initiative und die verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft lenfeldes will sie mit ihrem Förderkreis aus- Diskussion um die ermordeten Juden Eu- widerspiegelt“. statten. „Da werden wir uns nicht reinre- ropas wäre es nicht zu dieser Beschluss- Verglichen mit anderen Opfergruppen den lassen. Da lassen wir uns nicht ver- fassung im Bundestag gekommen.“ Man seien die Homosexuellen noch relativ gut drängen. Da produzieren wir ohne Degus- habe aber auch „viel Öffentlichkeitsarbeit dran gewesen. „Wenn man bedenkt, dass sa.“ Es wird Leas koscherer Bunker. gemacht und prominente Unterstützer aus homosexuelle Lebensgemeinschaften erst den anderen Opfergruppen gesucht“. seit 2001 anerkannt werden, dann sieht Die Homosexuellen Zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs man, dass der Fortschritt in den letzten Günter Dworek, Referent für Antidiskri- für das Denkmal für die im Nationalsozia- Jahren zwar gut vorangekommen, aber minierungs- und Gesellschaftspolitik der lismus verfolgten Homosexuellen gehören natürlich eine Schnecke ist.“ Grünen-Fraktion im Bundestag, holt eine Lea Rosh und Paul Spiegel, Günter Grass Karte aus der Schublade und tippt mit dem und Walter Jens, Romani Rose und Julius Die Vertriebenen Finger auf drei verschiedene Stellen in der H. Schoeps – Namen, die auch unter den Statt einer Landkarte des Deutschen Rei- Umgebung des Brandenburger Tors. Aufrufen für Mahnmale zur Erinnerung an ches in den Grenzen von 1937 hängen an „Hierhin kommt das Denkmal für die er- die ermordeten Juden, die Sinti und die der Wand drei Drucke, die in sehr sanften mordeten Juden Europas, hierhin das für Roma stehen. Tönen die deutschen Nationalfarben zitie- ROBERT MICHAEL / DDP (L.);ROBERT (R.) / VERSION DITSCH CHRISTIAN Mahnmal-Initiatorin Rosh, Architekt Eisenman, Bauherr Thierse*: „Der Judenmord durch die Nazis bleibt das Wahnsinnigste“ die Schwulen und hierhin das für die Sin- Ob ein gemeinsames Mahnmal für Ju- ren, daneben ein Porträt des Dichters Jo- ti und Roma.“ Wenn alles gut geht, werde den, Homosexuelle, Sinti und Roma, die seph von Eichendorff und ein Bild von Don es in ein paar Jahren „ein Ensemble an Euthanasie-Opfer und vielleicht auch für Quijote. Wer mit grimmigen Symbolen Mahnmalen geben, in einem flächenmäßig die Deserteure nicht sinnvoller gewesen oder wenigstens einer revanchistischen Pa- engen Kontext, wo man die Gemeinsam- wäre? „Eine mögliche Option“, nennt role wie „Schlesien bleibt deutsch!“ ge- keiten, aber auch die spezifischen Erfah- Dworek dies. Ein Argument aber spreche rechnet hat, sieht seine Erwartungen ent- rungen der einzelnen Gruppen vorstel- für separate Mahnmale – die spezifische täuscht. Das Büro der Bundestagsabge- len kann“. historische Erfahrung, die dazu führt, dass ordneten Erika Steinbach ist politisch so Nachdem um das erste Holocaust-Mahn- jede Opfergruppe sagt: „Wir wollen ein korrekt, dass es auch Antje Vollmer in ihm mal jahrelang gestritten wurde, ging es bei Mahnmal für uns haben, eines, bei dem aushalten würde. den Homosexuellen flott voran. Das Pro- unsere besondere Geschichte herausgear- Und nichts findet die Präsidentin des jekt wurde sowohl im rot-grünen Koa- beitet werden kann.“ Bundes der Vertriebenen kränkender als litionsvertrag der Bundesregierung als auch Und schon beginnt auch Dworek mit je- den Vorwurf, sie wolle mit dem geplan- im rot-roten Abkommen der Berliner Lan- ner absurden Aufrechnerei: Natürlich habe ten „Zentrum gegen Vertreibungen“ ei- desregierung festgeschrieben. Klarer konn- die Verfolgung der Homosexuellen „eine nen Gegenpol zum Holocaust-Mahnmal te sich die politische Elite der Republik welthistorisch andere Dimension als der schaffen. „Eine Gemeinheit! Das war mal nicht artikulieren. Holocaust“. Während für die Juden mit dem irgendwo zu lesen, und seitdem schreibt Am 1. Juli 2003 stellten Abgeordnete von Ende des Krieges die Verfolgung vorbei es einer vom anderen ab!“ Sie habe noch SPD und Grünen für ihre Fraktionen den war, sei sie für die Schwulen weitergegangen. nicht gewusst, was der Bund der Ver- Antrag, „der Bundestag wolle beschließen: „Das Nazi-Strafrecht galt noch bis 1969, triebenen sei, da habe sie sich schon Die Bundesrepublik Deutschland errichtet die Strafverfolgung in der Adenauer-Zeit „mit jüdischen Schicksalen, mit Anne in Berlin ein Denkmal für die im Natio- ist in ihrer Intensität durchaus vergleichbar Frank und den Geschwistern Scholl nalsozialismus verfolgten Homosexuellen“. mit der in der NS-Diktatur. Es gab nicht beschäftigt“. Nein, das Mahnmal für Schon am 25. September wurde der Antrag die ermordeten Juden Europas habe bei zur Beratung an die zuständigen Aus- * Rechts: beim Baubeginn des Holocaust-Mahnmals am ihren Überlegungen nicht als Vorbild schüsse überwiesen. Im Dezember be- 30. Oktober 2001. gedient, denn „das Zentrum gegen Ver-

132 der spiegel 2/2004 treibungen ist kein Mahnmal, sondern hat. Sie weiß nur, dass die Mutter für sich mierte Persönlichkeiten sollen das Projekt ein Museum, ein Dokumentationszen- und ihre zwei kleinen Töchter keinen Platz nobilitieren: Joachim Gauck und Györgi trum, eine Informations- und Begeg- auf der „Wilhelm Gustloff“ bekam. Dann Konrád, Rupert Neudeck und Peter Scholl- nungsstätte“. ging es mit einem anderen Schiff von Latour und – darauf legt Erika Steinbach Aber ein bisschen Mahnmal ist es natür- Gotenhafen über die Ostsee. Die Reise „größten Wert“ – drei „jüdische Wissen- lich auch, das sie haben will, denn es soll dauerte drei Wochen, und als die „Peli- schaftler“, die Historiker Moshe Zimmer- an das Schicksal der 14 Millionen Deut- kan“ schließlich in Schleswig-Holstein mann, Julius H. Schoeps und Michael schen erinnern, die aus ihrer Heimat in anlegte, gab es an Bord kein Essen und Wolffsohn. Nur einer, der die anderen his- Ost- und Südeuropa vertrieben wurden. kein Wasser mehr und an Land keine Hil- torischen Projekte unterstützt, verweigere Und natürlich weiß auch Frau Steinbach, fe von den Einheimischen. So erging es sich einem Vertriebenenzentrum in Ber- dass erst der Bau des Mahnmals für die Tausenden Deutschen. „Wir wollen do- lin. „Der Kanzler war ja mal dafür, im Mo- Opfer der Deutschen den Blick auf die kumentieren, wie die Integration gelun- ment ist er dagegen.“ deutschen Opfer frei gemacht hat. Der gen ist und wie sich das Land durch den Doch Steinbach kann warten. Sie setzt Wunsch nach der Gedenkstätte für die Ver- Zuzug so vieler Menschen geändert hat. auf den Bundesrat, auf die Macht der Bay- triebenen ist erst der Anfang – der nach Die Integration der Vertriebenen war die ern, die das Vertriebenenzentrum unter- einem Gedenkort für die Opfer des Bom- größte Leistung Deutschlands nach 1945 stützen, auf den Wechsel in Berlin. „Not- benterrors wird folgen. überhaupt.“ falls“, sagt sie kühl, „müssen wir bis zum Irgendwie kommt auch Frau Steinbach nicht ohne die Juden aus, um ihren Wunsch nach einem Mahnmal zu bekräftigen. Um je- dem Verdacht der Aufrechnerei, des Revanchismus zuvorzukom- men, betont sie, die „erste Vertrei- bung“ sei durch Hitler bei seinem Abkommen mit Stalin initiiert wor- den, „um ethnisch reine Gebiete zu schaffen“. Und auch die Verfolgung der Juden im Dritten Reich sei zu- erst eine Art Vertreibung gewesen. „Die Stigmatisierung mit dem gelben Stern sollte deutlich machen: Ihr seid hier nicht willkommen.“ Es liege nahe zu fragen: „Was ist im 20. Jahrhundert alles geschehen?“ Auch die Antwort liege auf der Hand: „Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Vertreibun- gen.“ Und dann spricht Steinbach, einen silbernen Teddy ans blaue Jackett geheftet, von dem Völker- mord an den Armeniern, von der Vertreibung der Griechen aus Smyr- na, von den Konflikten auf dem Balkan am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Alles soll im Zentrum gegen Vertreibungen berücksichtigt KZ Sachsenhausen (1941): Werden die authentischen Gedenkstätten nicht mehr gebraucht? werden. „Wir wollen auf der einen Seite Herkunft, Schicksal und Integration Bis jetzt gibt es noch kein detailliertes Jahre 2006 warten.“ Denkmalsfragen sind der deutschen Vertriebenen zeigen und auf Konzept für das „Zentrum gegen Vertrei- eben Machtfragen. der anderen Seite das Schicksal der rund bungen“, keinen Architektenentwurf und 30 Völker in Europa, die auch vertrieben keine Location. Steinbach aber besteht auf Die Vergessenen oder deportiert worden sind.“ dem Standort Berlin: „Es muss in Berlin Ludwig Baumann sitzt im Zug von Bre- Kritiker des Projekts meinen, Erika sein. Berlin ist voll mit interessanten Lie- men nach Halle und bereitet sich auf einen Steinbach habe sich viel, womöglich zu viel genschaften und Gebäuden, die alle nutz- Vortrag vor, den er im Rahmenprogramm vorgenommen. Oder sie wolle die ande- los herumstehen.“ der „Wehrmachtsausstellung“ halten soll: ren Völker nur deswegen mit ins Haus neh- Ein ehemaliger Bunker in Kreuzberg „Desertion als Hoffnung für den Frie- men, um das deutsche Schicksal umso un- war schon im Gespräch, in dem nach dem den“. Es ist sein Thema, das Thema seines genierter in den Mittelpunkt stellen zu kön- Krieg Vertriebene untergebracht waren. Lebens. nen. „Unsinn!“, schimpft die Frankfurter Als dies bekannt wurde, sorgten sich An- Baumann, 1921 in Hamburg geboren, CDU-Abgeordnete, „wir schauen über den lieger, unter ihnen der ehemalige Regie- war im Krieg Soldat, türmte eines Tages, Tellerrand des eigenen Schicksals hinweg rende Bürgermeister Walter Momper, um wurde gefasst und zum Tode verurteilt. Er und sehen, dass es anderen Völkern ge- ihre ruhige Wohnlage. Es gibt Gegenden, saß acht Monate in der Todeszelle, bevor nauso oder noch schlimmer ergangen ist.“ da sind Vertriebene eben immer noch nicht ihm mitgeteilt wurde, dass man ihn längst Und sie nennt wieder die Armenier und gern gesehen. zu einer langen Zuchthausstrafe begnadigt die Juden. Steinbachs Mahnmal-PR unterscheidet hatte. Er musste sie nur deswegen nicht Frau Steinbach ist selber eine Vertrie- sich kaum von der anderer Förderer. Auch absitzen, weil der Krieg drei Jahre nach bene, auch wenn sie an ihren Geburtsort das „Zentrum gegen Vertreibungen“ hat seiner Verurteilung vorbei war. Aber auch in Westpreußen keine Erinnerungen mehr Unterstützer und einen Beirat. Renom- nach dem Krieg blieb er ein Krimineller,

der spiegel 2/2004 133 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- ein Vorbestrafter. Erst im Mai 2002 hob der magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bundestag alle Urteile der NS-Militärjustiz Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller gegen Deserteure und „Wehrkraftzerset- Belletristik Sachbücher zer“ auf. Es war eine späte Geste, und für die meisten kam sie zu spät. 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Michael Moore Volle Deckung, Heute hat die „Bundesvereinigung und der Orden des Phönix Mr. Bush Piper; 12,90 Euro der Opfer der NS-Militärjustiz“ weniger Carlsen; 28,50 Euro 2 (2) Michael Moore Stupid White Men als 50 Mitglieder. Wie viele es genau sind, kann auch Baumann, der Vorsitzen- 2 (2) Carlos Ruiz Zafón Der Schatten Piper; 12 Euro de, nicht sagen, denn „ständig kommen des Windes Insel; 24,90 Euro 3 (4) Boris Becker Augenblick, verweile Briefe als ,unzustellbar‘ zurück“, die doch… C. Bertelsmann; 21,90 Euro 3 (3) Henning Mankell Vor dem Frost Adressaten sind verstorben. Dennoch Zsolnay; 24,90 Euro 4 (8) Andreas Englisch kämpft Baumann weiter. Nachdem die Johannes Paul II. Ullstein; 22 Euro Deserteure endlich rehabilitiert worden 4 (6) Charlotte Link Am Ende des sind, sollen sie vor dem Tod durch Ver- 5 (3) Paul Burrell Im Dienste meiner Schweigens Blanvalet; 23,90 Euro gessen gerettet werden. Es gab 35 000 Königin Droemer; 19,90 Euro Urteile, über 20 000 Menschen wurden 5 (7) Paulo Coelho Elf Minuten 6 (10) Peter Ustinov Achtung! zum Tode verurteilt, etwa 15 000 hin- Diogenes; 19,90 Euro Vorurteile Hoffmann und Campe; 19,90 Euro gerichtet. „Aber nirgendwo gibt es eine 6 (4) Colum McCann 7 (7) Uwe Timm Am Beispiel meines Gedenkstätte.“ Nicht einmal im sächsi- Der Tänzer Bruders Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro schen Torgau, ab 1943 Sitz des Reichs- Rowohlt; 22,90 Euro kriegsgerichts, das während des Krie- 8 (5) Corinne Hofmann Zurück aus ges über 1000 Todesurteile fällte. „Eine Afrika A1; 19,80 Euro Gedenkstätte“, träumt Baumann, „das Maßlosigkeit war 9 (6) Heiner Geißler Was würde Jesus wäre schön.“ seine Devise: mitreißen- heute sagen? Rowohlt Berlin; 16,90 Euro Doch die Deserteure haben es so schwer der Roman über wie die Opfer der Euthanasie, die schon die Ballettlegende 10 (15) Dalai Lama Ratschläge des Rudolf Nurejew Geld für ein „Haus des Eigensinns“ ge- Herzens Diogenes; 12,90 Euro sammelt hatten und sich nun doch mit 7 (9) Eric-Emmanuel Schmitt 11 (11) Michael Moore Querschüsse einer Gedenkplatte in der Tiergartenstra- Monsieur Ibrahim und die Blumen Piper; 12,90 Euro ße 4, dem Sitz der ehemaligen Euthanasie- Zentrale, in Berlin begnügen müssen. des Koran Ammann; 12 Euro 12 (9) Sting Broken Music – Baumann wäre auch schon mit weniger 8 (5) John Griesemer Rausch Die Autobiographie als einem Extra-Mahnmal zufrieden. Der Marebuch; 24,90 Euro Sprecher des Holocaust-Beirats, Wolfgang S. Fischer; 19,90 Euro Benz, hat sich ebenfalls für eine Wander- 9 (10) Ken Follett Mitternachtsfalken ausstellung ausgesprochen, „die durch die Lübbe; 24 Euro Im England der sechziger Jahre sucht ein Vor- ganze Republik reisen und am Ende in Tor- 10 (8) Véronique Olmi Nummer sechs stadtbengel seinen Platz gau bleiben soll“. im Leben – und Kunstmann; 14,90 Euro Stiftungsgeschäftsführerin Quack hat ein erfindet die Moral des Pop Konzept dafür fertig gestellt. Aber das In- 11 (11) John Grisham Das Fest teresse an Deserteuren ist nicht besonders Heyne; 12 Euro 13 (14) Inge Jens/Walter Jens groß. Das Bundesverteidigungsministerium Frau Thomas Mann – Das Leben ist nicht sonderlich scharf auf eine Aus- 12 (16) Paulo Coelho Der Alchimist der Katharina Pringsheim stellung über die Opfer der Wehrmachts- Diogenes; 17,90 Euro Rowohlt; 19,90 Euro justiz. Mehrfach ließ Peter Struck die ent- 13 (12) Stephen King Wolfsmond 14 (13) Werner Tiki Küstenmacher/ sprechenden Bitten von Wolfgang Thierse Heyne; 25 Euro Lothar J. Seiwert abblitzen. Und so bleibt das Versprechen Simplify your life Campus; 19,90 Euro eine uneingelöste Idee. In der Hierarchie 14 (13) Roger Willemsen Karneval der der Nazi-Opfer belegen die Deserteure – Tiere Eichborn; 12,95 Euro 15 (19) Hillary Rodham Clinton ohne Lobby und starke Verbündete – einen Gelebte Geschichte Econ; 24 Euro der hinteren Plätze. 15 (15) Nicholas Sparks Du bist nie allein 16 (12) Erika Riemann Die Schleife an Irgendwie unglücklich sei die Sache ge- Heyne; 19 Euro Stalins Bart Hoffmann und Campe; 19,90 Euro laufen, räumt des Kanzlers Kulturfrau 16 (14) John Grisham Der Coach Weiss ein. „Wie wessen gedacht wird, ist 17 (16) Asfa-Wossen Asserate Heyne; 15 Euro keine Frage der moralischen Verpflichtung, Manieren Eichborn; 22,90 Euro sondern des Durchsetzungsvermögens.“ 17 (18) Barbara Wood Kristall der Träume 18 (–) Allan Pease/Barbara Pease Früher habe sie sich manchmal gefragt, W. Krüger; 24,90 Euro Warum Männer lügen und Frauen warum sie, im Saargebiet geboren, nicht immer Schuhe kaufen 18 (19) Joanne K. Rowling Harry Potter Französin, sondern Deutsche geworden ist. und der Stein der Weisen Ullstein; 16,95 Euro Dann hätte sie nun nicht den Ärger mit den Gedenkstätten auf dem Tisch. „Aber Carlsen; 14,50 Euro 19 (20) Dietrich Grönemeyer Mensch bleiben – High-Tech und Herz – einen Rückweg gibt es nun nicht mehr.“ 19 (20) Joanne K. Rowling Harry Potter eine liebevolle Medizin ist keine Dabei nimmt sie einen Kalender des und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro Utopie Herder; 19,90 Euro Jahres 2004 von ihrem Schreibtisch. Er trägt in goldener Aufschrift das Motto „Er- 20 (–) Joanne K. Rowling Harry Potter 20 (18) Dieter Bohlen mit Katja Keßler innerung als Auftrag“, herausgegeben hat und der Gefangene von Askaban Hinter den Kulissen ihn die Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Carlsen; 15,50 Euro Random House Entertainment; 20 Euro Diktatur. Stefan Berg, Henryk M. Broder

134 der spiegel 2/2004 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- ein Vorbestrafter. Erst im Mai 2002 hob der magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bundestag alle Urteile der NS-Militärjustiz Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller gegen Deserteure und „Wehrkraftzerset- Belletristik Sachbücher zer“ auf. Es war eine späte Geste, und für die meisten kam sie zu spät. 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Michael Moore Volle Deckung, Heute hat die „Bundesvereinigung und der Orden des Phönix Mr. Bush Piper; 12,90 Euro der Opfer der NS-Militärjustiz“ weniger Carlsen; 28,50 Euro 2 (2) Michael Moore Stupid White Men als 50 Mitglieder. Wie viele es genau sind, kann auch Baumann, der Vorsitzen- 2 (2) Carlos Ruiz Zafón Der Schatten Piper; 12 Euro de, nicht sagen, denn „ständig kommen des Windes Insel; 24,90 Euro 3 (4) Boris Becker Augenblick, verweile Briefe als ,unzustellbar‘ zurück“, die doch… C. Bertelsmann; 21,90 Euro 3 (3) Henning Mankell Vor dem Frost Adressaten sind verstorben. Dennoch Zsolnay; 24,90 Euro 4 (8) Andreas Englisch kämpft Baumann weiter. Nachdem die Johannes Paul II. Ullstein; 22 Euro Deserteure endlich rehabilitiert worden 4 (6) Charlotte Link Am Ende des sind, sollen sie vor dem Tod durch Ver- 5 (3) Paul Burrell Im Dienste meiner Schweigens Blanvalet; 23,90 Euro gessen gerettet werden. Es gab 35 000 Königin Droemer; 19,90 Euro Urteile, über 20 000 Menschen wurden 5 (7) Paulo Coelho Elf Minuten 6 (10) Peter Ustinov Achtung! zum Tode verurteilt, etwa 15 000 hin- Diogenes; 19,90 Euro Vorurteile Hoffmann und Campe; 19,90 Euro gerichtet. „Aber nirgendwo gibt es eine 6 (4) Colum McCann 7 (7) Uwe Timm Am Beispiel meines Gedenkstätte.“ Nicht einmal im sächsi- Der Tänzer Bruders Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro schen Torgau, ab 1943 Sitz des Reichs- Rowohlt; 22,90 Euro kriegsgerichts, das während des Krie- 8 (5) Corinne Hofmann Zurück aus ges über 1000 Todesurteile fällte. „Eine Afrika A1; 19,80 Euro Gedenkstätte“, träumt Baumann, „das Maßlosigkeit war 9 (6) Heiner Geißler Was würde Jesus wäre schön.“ seine Devise: mitreißen- heute sagen? Rowohlt Berlin; 16,90 Euro Doch die Deserteure haben es so schwer der Roman über wie die Opfer der Euthanasie, die schon die Ballettlegende 10 (15) Dalai Lama Ratschläge des Rudolf Nurejew Geld für ein „Haus des Eigensinns“ ge- Herzens Diogenes; 12,90 Euro sammelt hatten und sich nun doch mit 7 (9) Eric-Emmanuel Schmitt 11 (11) Michael Moore Querschüsse einer Gedenkplatte in der Tiergartenstra- Monsieur Ibrahim und die Blumen Piper; 12,90 Euro ße 4, dem Sitz der ehemaligen Euthanasie- Zentrale, in Berlin begnügen müssen. des Koran Ammann; 12 Euro 12 (9) Sting Broken Music – Baumann wäre auch schon mit weniger 8 (5) John Griesemer Rausch Die Autobiographie als einem Extra-Mahnmal zufrieden. Der Marebuch; 24,90 Euro Sprecher des Holocaust-Beirats, Wolfgang S. Fischer; 19,90 Euro Benz, hat sich ebenfalls für eine Wander- 9 (10) Ken Follett Mitternachtsfalken ausstellung ausgesprochen, „die durch die Lübbe; 24 Euro Im England der sechziger Jahre sucht ein Vor- ganze Republik reisen und am Ende in Tor- 10 (8) Véronique Olmi Nummer sechs stadtbengel seinen Platz gau bleiben soll“. im Leben – und Kunstmann; 14,90 Euro Stiftungsgeschäftsführerin Quack hat ein erfindet die Moral des Pop Konzept dafür fertig gestellt. Aber das In- 11 (11) John Grisham Das Fest teresse an Deserteuren ist nicht besonders Heyne; 12 Euro 13 (14) Inge Jens/Walter Jens groß. Das Bundesverteidigungsministerium Frau Thomas Mann – Das Leben ist nicht sonderlich scharf auf eine Aus- 12 (16) Paulo Coelho Der Alchimist der Katharina Pringsheim stellung über die Opfer der Wehrmachts- Diogenes; 17,90 Euro Rowohlt; 19,90 Euro justiz. Mehrfach ließ Peter Struck die ent- 13 (12) Stephen King Wolfsmond 14 (13) Werner Tiki Küstenmacher/ sprechenden Bitten von Wolfgang Thierse Heyne; 25 Euro Lothar J. Seiwert abblitzen. Und so bleibt das Versprechen Simplify your life Campus; 19,90 Euro eine uneingelöste Idee. In der Hierarchie 14 (13) Roger Willemsen Karneval der der Nazi-Opfer belegen die Deserteure – Tiere Eichborn; 12,95 Euro 15 (19) Hillary Rodham Clinton ohne Lobby und starke Verbündete – einen Gelebte Geschichte Econ; 24 Euro der hinteren Plätze. 15 (15) Nicholas Sparks Du bist nie allein 16 (12) Erika Riemann Die Schleife an Irgendwie unglücklich sei die Sache ge- Heyne; 19 Euro Stalins Bart Hoffmann und Campe; 19,90 Euro laufen, räumt des Kanzlers Kulturfrau 16 (14) John Grisham Der Coach Weiss ein. „Wie wessen gedacht wird, ist 17 (16) Asfa-Wossen Asserate Heyne; 15 Euro keine Frage der moralischen Verpflichtung, Manieren Eichborn; 22,90 Euro sondern des Durchsetzungsvermögens.“ 17 (18) Barbara Wood Kristall der Träume 18 (–) Allan Pease/Barbara Pease Früher habe sie sich manchmal gefragt, W. Krüger; 24,90 Euro Warum Männer lügen und Frauen warum sie, im Saargebiet geboren, nicht immer Schuhe kaufen 18 (19) Joanne K. Rowling Harry Potter Französin, sondern Deutsche geworden ist. und der Stein der Weisen Ullstein; 16,95 Euro Dann hätte sie nun nicht den Ärger mit den Gedenkstätten auf dem Tisch. „Aber Carlsen; 14,50 Euro 19 (20) Dietrich Grönemeyer Mensch bleiben – High-Tech und Herz – einen Rückweg gibt es nun nicht mehr.“ 19 (20) Joanne K. Rowling Harry Potter eine liebevolle Medizin ist keine Dabei nimmt sie einen Kalender des und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro Utopie Herder; 19,90 Euro Jahres 2004 von ihrem Schreibtisch. Er trägt in goldener Aufschrift das Motto „Er- 20 (–) Joanne K. Rowling Harry Potter 20 (18) Dieter Bohlen mit Katja Keßler innerung als Auftrag“, herausgegeben hat und der Gefangene von Askaban Hinter den Kulissen ihn die Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Carlsen; 15,50 Euro Random House Entertainment; 20 Euro Diktatur. Stefan Berg, Henryk M. Broder

134 der spiegel 2/2004 Kultur

„Ich bin auf Filmsets KINO aufgewachsen“, erzählt sie. „Dass Menschen sich Eine Liebe verkleiden, war für mich ganz normal. Ich habe mit den Entwürfen für die De- in Tokio kors gespielt – kleine Mo- delle, die aufregender sind Die Regisseurin Sofia Coppola als jedes Puppenhaus. Erst nach und nach wurde mir tritt mit ihrem suggestiven Film klar, wofür die Spielplät- „Lost in Translation“ aus dem ze, auf denen ich herum- Schatten ihres berühmten Vaters. tollte, eigentlich gebaut worden waren.“

autlos gleitet der Aufzug eines To- Sofia Coppolas kindli- 2003, FOCUS FEATURES kioter Hotels nach oben, dicht an che Unbeschwertheit im Darsteller Johansson, Murray: Der Dritte im Bund ist die Stadt Ldicht stehen die Gäste – und das Ein- Grenzbereich zwischen zige, was sich breit machen kann, ist das Schein und Wirklichkeit fand ein jähes durchsichtige Unterwäsche wirkt wie ein Gefühl der Enge. Einer von ihnen ragt her- Ende, als der Vater ihr 1990 im letzten Teil Vorhang, der den Körper vor fremden Bli- aus, er ist größer als die anderen, und eine seiner „Paten“-Saga eine Nebenrolle auf- cken schützt, statt ihn zu entblößen. Bei fällt auf, weil sie blond ist: Für einen kur- drängte – und sie für ihre Darstellung von Coppola erscheint die Kamera auch in zen Moment treffen sich die Blicke von der Kritik und vom Publikum verhöhnt intimen Momenten nie wie ein Voyeur. Bob (Bill Murray) und Charlotte (Scarlett wurde. „Diese Attacken haben mein Ge- „Viele Einstellungen sollen wie Schnapp- Johansson), den einzigen Amerikanern spür dafür geschärft, wie verletzbar Schau- schüsse wirken“, erklärt sie. „Als würde unter lauter Japanern. Für beide wird bald spieler sein können“, bekennt Coppola, man Menschen, die man gut kennt und nichts mehr so sein wie zuvor. die ins Regiefach wechselte und 1999 mit sehr mag, aus nächster Nähe beobachten.“ „Wer aus dem Westen kommt, erlebt To- der Verfilmung von Jeffrey Eugenides’ Ro- So scheint der Film eher seinen Figuren kio oft als eine überaus verwirrende und man „The Virgin Suicides“ debütierte. zu folgen, statt ihnen den Weg zu weisen; fremdartige Stadt“, erzählt die Regisseurin Zwar richtet Coppola gleich zu Beginn sich ihren Gefühlsschwankungen zu unter- Sofia Coppola, 32, über ihren neuen Film von „Lost in Translation“ den Kamerablick werfen, statt sie heraufzubeschwören. Da „Lost in Translation“. „Man kann sich dort auf den Po ihrer Heldin, doch die halb geht sogar die Schärfe des Bildes verloren, so verloren vorkommen, dass man sich zu wenn Bob und Charlotte, vom Jet- allem, was einem auch nur entfernt ver- lag geplagt, wie in Trance taumeln. traut ist, automatisch hingezogen fühlt.“ „Ich habe Tokio selbst oft in die- So handelt ihr Film von zwei Menschen, sem Zustand erlebt“, erzählt Cop- die sich zunächst aneinander klammern pola, die für das von ihr gegrün- wie Gestrandete fern der Heimat und dann dete Mode-Label „Milk Fed“ oft die Wärme, die sie einander geben, lieben in die japanische Metropole reiste lernen. und „Lost in Translation“ in ihrem Bob ist ein in die Jahre gekommener bevorzugten Hotel drehte. „Man Filmstar, der seinen verblichenen Ruhm fühlt sich wie betäubt, und zu- mit einem Werbespot für eine japanische gleich ist es sehr erhebend, wach Whiskysorte noch einmal zu Geld machen zu sein, während eine Millionen- will. Charlotte ist frisch verheiratet, fühlt metropole im Schlaf liegt. Man ist sich aber von ihrem Mann, einem viel be- dem urbanen Kreislauf nicht un- schäftigten Fotografen (Giovanni Ribisi), terworfen, kommt sich auf einmal bereits allein gelassen. So kommen sich völlig befreit vor.“ Bob und Charlotte zwischen Aufzug, Bar So lässt der Film auch die Zu- und Pool langsam näher. schauer in einen Schwebezustand „Die Hotelwelt ähnelt einem Film- geraten, nimmt sie mit in die selt- dreh“, beschreibt Coppola den Haupt- samen Zwischenreiche, durch die schauplatz ihres Films. „Man ist von sich Bob und Charlotte halb wach, zu Hause weg, bunt zusammengewürfelt halb schlafend, halb befreundet, und bereit, eine Terra incognita zu er- halb verliebt bewegen: durch das kunden.“ Mit Hotels und mit Filmdrehs Hotel, das wie eine Schleuse zwi- kennt sie sich aus: Die einzige Tochter schen Heimat und Fremde wirkt; des US-Regisseurs Francis Ford Coppola durch Tokio, diese gewaltige Stadt („Apocalypse Now“) verbrachte ihre Kind- des Lichts, in der die Grenze zwi- heit meist bei Dreharbeiten rund um den schen Sein und Schein verfließt. Globus. Einmal zeigt Coppola in einer Kaum hatte sie das Licht der Welt er- langen, suggestiven Einstellung blickt, sah sie schon in gleißende Schein- das nächtliche Tokio durch ein werfer: Ihr Vater holte sie als Baby vor die Panoramafenster, während sich Kamera und ließ sie in „Der Pate“ (1972) Bob und Charlotte in der Scheibe den neugeborenen männlichen Statthalter spiegeln. Da wird klar, dass „Lost eines Mafiabosses spielen. Doch wer sieht, in Translation“ eine Dreiecksge-

wie verlegen sie bei der Präsentation ihres RETNA / INTER-TOPICS schichte erzählt – der Dritte im Films auf die Bühne tritt, der ahnt, dass sie Regisseur Coppola, Tochter Sofia Bund ist eine Weltstadt. sich im Verborgenen wohler fühlt. „Man fühlt sich wie betäubt“ Lars-Olav Beier

der spiegel 2/2004 135 Kultur

Grayson Perry gilt als neuester Stern am britischen Künstlerhimmel – und als ein besonders schillernder: Perry, 43, nennt sich selbst einen „töpfernden Transvestiten“ und gewann als solcher im Dezember den prestigeträchtigen, mit 30000 Euro dotierten Turner-Preis. Zur Verleihung erschien er mit Ehefrau und der gemeinsamen Tochter; er trug Schleifen im toupierten Haar und ein violettes Satinkleid. Jedes Jahr wieder sorgt mindestens einer der Turner-Preis-Kandidaten für einen nationalen Aufruhr – die Künstler präsentieren zerschnittene Kälber (Damien Hirst, 1995), mit Elefantendung verzierte Gemälde (Chris Ofili, 1998), ein mit Kondomen garniertes Bett (Tra- cey Emin, 1999) oder nur einen leeren Raum (Martin Creed, 2001). Beim jüngsten Turner-Preis-Spektakel galt es bereits als Überraschung, dass der langjährige Außenseiter Perry den Sprung auf die Liste mit den vier Nominierten geschafft hatte: Der Brite stellt hauptsächlich bunt dekorierte Keramiken her – nicht gerade das bevorzugte Medium der sensationsverliebten Kunstbranche. Die Zeichnungen, Ornamente und reproduzierten Fotos auf seinen Töpfereien wirken allerdings angemessen exzentrisch – ebenso wie die Titel seiner Werke, etwa „Mondlicht-Wichser“ oder „Stadt der Penisverehrer“. Auf anderen Vasen sind Sexszenen oder Namen von Krisengebieten eingraviert; auch Kindesmissbrauch und -mord thematisiert Perry. Auf Selbstporträts zeigt sich der Künstler fast immer in Frauenkleidern – und nennt sich dann Claire. Die „New York Times“ lobte, Perrys Werke – die Victoria Miro Gallery in London zeigt vom 14. Januar an eine Auswahl – wirkten „verstörend“. FIONA CAMPBELL

EXZENTRIKER „Das Publikum will Sinnlichkeit“ Der britische Künstler und Turner-Preis-Gewinner Grayson Perry über seinen frischen Ruhm, die Magie sexueller Phantasien und seine Abneigung gegen die Konzeptkunst

SPIEGEL: Mr. Perry, die Briten bringen ihre robe zu erscheinen. Ich hatte schon vor radezu die Pflicht, mich so zu kleiden. Ich glamourösesten Künstler gern mit Ehrun- Jahren diesen Traum, eine Art sexuelle glaube an die Magie solcher Träume. Jeder gen in Verlegenheit. Der Altrocker Mick Phantasie, den Turner-Preis zu gewinnen hat sie. Weit verbreitet ist etwa die Phan- Jagger darf sich seit ein paar Wochen „Sir“ und bei der Verleihung ein Kleid zu tragen. tasie, mit dem Nachbarn oder der Nach- nennen, Sie wurden vom Kunstmarkt ge- Als ich nominiert wurde, hatte ich also ge- barin ins Bett zu steigen. Solche Vorstel- adelt – mit dem begehrten Turner-Preis. Haben Sie sich inzwischen an den Ruhm gewöhnt? Perry: Ich werde noch eine Weile brauchen. Die Über- raschungen halten ja an. Sogar meine selbst gefer- tigten Weihnachtsgeschen- ke, kleine Keramikspäße, sind plötzlich begehrt, weil sie jetzt von einem Gewin- ner des Turner-Preises stam- men. SPIEGEL: Viel Aufmerksam- keit dürfte Ihnen, unabhän- gig von Ihrem Sieg, das auf- fällige Kleid beschert ha- ben, das Sie am Abend der Preisverleihung trugen. Perry: Natürlich ist mir klar, dass ein solcher Auftritt womöglich auch einen PR- Effekt hat – die Preisverlei- hung ist schließlich eines der größten Medienspektakel hier zu Lande. Und in der Öffentlichkeit ein Kleid zu tragen, Reaktionen auszu- lösen, ist Teil meiner künst- lerischen Arbeit. Es gab BULLS PRESS BULLS noch einen anderen Grund / E-LANCE MEDIA / REUTERS PETER MACDIARMID für mich, in dieser Garde- Perry-Werke: „Ich mache auch Vasen über Motorräder“

136 der spiegel 2/2004 lungen sind wahrscheinlich noch aufre- SPIEGEL: Ihre Kunst ist auch nicht gerade fang bestehen können. Und gerade getöp- gender. jugendfrei – die Bandbreite der Motive ferte Werke erscheinen sehr warm, sehr SPIEGEL: Das hängt von den Nachbarn ab. reicht von Sadomaso-Sex bis zu Unfall- menschlich. Perry: Das stimmt. Aber es erscheint rea- opfern. Pflegen die Briten eine besondere SPIEGEL: Eben. Manche Ihrer Zeichnun- listischer, etwas mit seinen Nachbarn an- Vorliebe für Schockkunst? gen erinnern an niedliche Bilderbücher zufangen, als den Turner-Preis zu gewin- Perry: Auch keine größere als viele ande- des 19. Jahrhunderts. Als hätten Sie des- nen, und dieser Hauch von Realitätsnähe re Nationen. Es mag sein, dass die Tur- halb ein schlechtes Gewissen, schockieren ist so etwas wie die Würze einer Phantasie. ner-Preis-Schau lange als Ort galt, an dem Sie dann doch – mit einem Thema wie Pä- Als während der Preisverleihung mein unter Garantie Tabus gebrochen wurden. dophilie. Name genannt wurde, war ich also regel- Aber das hat sich abgenutzt und wirkt Perry: Ich zeige keinen Kindesmissbrauch, recht schockiert. nur noch ermüdend. Was heißt das schon, und nie würde ich dieses Problem ver- SPIEGEL: Sie haben einen der höchstdotier- Schock? Der eine regt sich über eine harmlosen. Mich irritiert das eigenartig ten und vor allem den populärsten aller vermeintliche Provokation auf, den an- obsessive und beinahe voyeuristische In- Kunstpreise gewonnen. Das ist doch eher deren langweilt sie. Ich will auf jeden teresse an diesem Verbrechen, mir geht es ein Grund zur Freude. Fall niemanden schockieren, und ich habe um die Schlagzeilen darüber. Die Leute Perry: Sicher, aber kein Mensch hatte ernst- mir nicht eigens Provokationen einfal- hier sind auf eine seltsame Art fasziniert haft damit gerechnet. Ich auch nicht. len lassen, um diesen Preis zu gewinnen. von Verbrechen – besonders, wenn Kin- Schließlich gehöre ich der Kunstwelt seit 20 Die Menschen sind anspruchsvoller, und der betroffen sind. Und sie werden mit Jahren an, und da entwickelt man ein sie verblüfft an meiner Kunst etwas ganz unzähligen Sondersendungen im Fernse- Gespür dafür, wer eine Chance hat, diesen anderes. hen und mit Sonderseiten in den Zeitungen Preis zu gewinnen, und wer nicht. Ich SPIEGEL: Nämlich? belohnt. In den Medien gehen sofort die hätte wetten können, dass die längst be- Perry: Die Leute stellen mit großer Er- Alarmlampen und die Quoten-Sirenen an, rühmten Brüder Jake und Dinos Chapman leichterung fest, dass es noch etwas an- sobald ein Kinderschänder verhaftet wur- siegen … deres als Konzeptkunst gibt, zum Beispiel de. Ich möchte, dass die Menschen über SPIEGEL: … Ihre Kollegen und Konkurren- Installationen, die zwar den Intellekt, ihre verquere Hysterie nachdenken. Dar- ten, die keinen Aufwand gescheut haben, aber nicht die Gefühle ansprechen. Das über, dass sie sich einerseits aufregen und um das Publikum mit Ekelszenarien zu er- Publikum will die Kunst verstehen. Und andererseits ihre eigenen Kinder auf an- schrecken. die Menschen wollen Schönheit und dere Art terrorisieren, sie schlagen und das Perry: Ja, aber offenbar ist der Kunstbetrieb Sinnlichkeit in der Kunst, sie möchten, Erziehung nennen. doch nicht so berechenbar, wie wir alle dass ihre Gefühle berührt werden. Meine SPIEGEL: Von der Turner-Preis-Jury wur- glaubten. Die Chapmans sind es gewohnt, Arbeiten sind der Beweis dafür, dass den Sie für Ihren Humor gelobt. Muss man wegen ihrer Provokationen als Stars gefei- Kunst sinnlich, sogar poetisch sein kann. Brite sein, um den zu verstehen? ert zu werden. Nur haben sie es mit ihren Natürlich sind mir Inhalte wichtig. Ich Perry: Hoffentlich nicht. Ich will die Men- jüngsten Werken wahrscheinlich übertrie- glaube nur eben auch, ein Kunstwerk schen erreichen, und ich halte eine Art ben. Als Künstler sollte es einem eben um sollte unabhängig von einer Botschaft, Galgenhumor – oder zumindest einen sehr Kunst, nicht um Strategien gehen. wenn es sie gibt, als ästhetischer Blick- dunklen Humor – für ein wirkungsvolles Mittel. Komödie und Tragö- die bedingen einander. Die Motive auf meinen Arbeiten sind oft alles andere als harmlos, sie handeln von Macht, Gewalt und Intimi- tät, und auf einer hübschen runden Vase wirken sie gro- tesk. Töpferwaren gelten ja als altmodische und über- flüssige Dekorationsobjekte. Das Publikum hat diese Ironie bisher immer ver- standen und gemocht, die Kunstexperten und -kritiker weniger. SPIEGEL: Wie wahr: Eine deutsche Wochenzeitung forderte vor einigen Wo- chen: „Schafft den Turner- Preis ab.“ Es sei alles so hässlich. Perry: Und das stand nicht nur in irgendeinem Revol- verblatt? Was soll’s. Man- chen Menschen macht es Spaß, sich künstlich aufzu- regen, aus Künstlern Kari- katuren oder gar Monster zu

* Tochter Florence und Ehefrau Phil- ippa Fairclough im Dezember 2003

PARNABY LINDSEY PARNABY / PA / DPA / PA PARNABY LINDSEY PARNABY bei der Turner-Preis-Verleihung in Künstler Perry (l.), Familie*: „Wir geben nicht vor, wir seien eine durchschnittliche Familie“ London.

der spiegel 2/2004 137 machen. Oft gilt auch, gerade unter der neunziger Jahre, nach schlecht informierten Kunstkritikern, die London. Faustregel: Ich verstehe es nicht, also muss Die ruhige Zeit sollte be- es Müll sein. ginnen. SPIEGEL: Hat es Sie geärgert, all die Jahre Hong Ying übte mit dem zusehen zu müssen, wie Ihre Altersgenos- neuen Mann – ebenfalls sen, etwa Damien Hirst oder Tracey Emin, Chinese – einen bürgerli- öffentlich Drogenprobleme zelebrierten chen, einen britischen Le- und mit ihrem Mix aus Skandalkunst und bensstil ein. Von ihren Ho- Skandalleben zu Popstars wurden? noraren kaufte sie ein Rei- Perry: Ich war neidisch darauf, dass eini- henhaus mit Kamin und ge von ihnen Werke verkaufen konnten, Garten im Süden Londons. die teurer sind als ein Einfamilienhaus. Sie heiratete in einer Kirche, Hätte ich unbedingt berühmt werden mit weißem Kleid, Hut und wollen, hätte ich mich kaum mit Töpferei Schleier und hängte das beschäftigt. Die Kunstwelt pflegt eine Hochzeitsbild im Esszimmer tiefe Abneigung gegenüber allem, was nur auf. Doch so behaglich sich im Entferntesten nach Handwerkskunst das Leben anließ – etwas aussieht. fehlte ihr. Sie sehnte sich SPIEGEL: Nun, nach Ihrem Sieg, können Sie nun doch nach deftigeren die Preise für Ihre Vasen heraufsetzen. Schicksalen. Perry: Meine Galeristin hält das für unrea- Manchmal fuhr sie in die listisch. Ich mag ein Turner-Preis-Sieger Londoner Innenstadt, be- sein, aber ich bin kein Maler. Bei Gemäl- suchte ihren Mann, der als den werden spontane Preissprünge schon Wissenschaftler an einem eher akzeptiert. Institut in Bloomsbury ar- SPIEGEL: Fast ebenso bekannt wie Grayson beitet. Sie ging dort spa- Perry dürfte inzwischen Claire sein, Ihr zieren, die backsteinernen weibliches Alter Ego. Wie autobiografisch Häuserreihen entlang. Und ist Ihre Kunst? Schriftstellerin Hong Ying: Zensur im Zeichen der Ahnen dann kam es ihr in den Sinn: Perry: Meine Arbeit hat autobiografische Hier war Anfang des 20. Bezüge, aber sie deckt sich nicht mit Jahrhunderts der legendäre Bloomsbury- meinem Leben. Ich mache auch Vasen AUTOREN Künstlerkreis entstanden, zu dem die über Motorräder, weil sie etwas mit mir Schwestern Vanessa Bell, eine Malerin, und zu tun haben, weil sie mich interessieren. Das Geheimnis die Autorin Virginia Woolf gehörten: ein Vieles, was Claire betrifft, hat ganz all- Haufen voller Schicksale. gemein etwas mit dem Thema Kindheit Hong Ying begann, den Biografien der zu tun. Wenn ein Jugendlicher entdeckt, der „K.“ Bloomsbury-Künstler nachzuspüren. Sie dass ein Teil seiner Persönlichkeit und erinnerte sich, dass Vanessa Bells Sohn, Sexualität nicht respektiert wird, spaltet Die Chinesin Hong Ying hat der Dichter Julian Bell (1908 bis 1937), in er sie aus Selbstschutz ab. Er erklärt sie den dreißiger Jahren im chinesischen Wu- zu einer eigenen Person, gibt ihr viel- für einen erotischen han als Gastprofessor gearbeitet hatte. Und leicht einen Namen und schließt sie wie Roman einen historischen Fall ihr fiel auch wieder ein, dass in chinesi- in einer Flasche ein. So erging es mir ausgeschmückt – das machte schen Literatenkreisen über Bell getuschelt auch. Es war nicht so, dass ich eine Seite ihn in ihrer Heimat zum Skandal. worden war. Er soll damals eine Geliebte an meiner Persönlichkeit nicht mochte – gehabt haben, die Frau eines Wuhaner Ge- eher so, dass meine Umwelt sie nie akzep- ie hatte ihre Ruhe haben wollen – sich lehrten. Dass es diese Geliebte gab, ist tiert hätte. Heute ist das nicht mehr zurückziehen, schreiben, ein norma- durch Briefe Julians an seine Mutter belegt. notwendig. Ich muss niemanden mehr ver- Sleres Leben führen. Mit dem Ärger, Er nennt sie da geheimnisvoll „K.“ stecken. Insofern existiert Claire nicht der dann kam, mit dem Verbot eines ihrer Hong Ying war fasziniert: ein Engländer wirklich. Bücher, hat sie nicht gerechnet. So drin- aus der zweiten Generation des Blooms- SPIEGEL: Ihre Frau und Ihre Tochter haben gend hätte sie mal eine Pause gebraucht. bury-Kreises und eine mysteriöse chinesi- Sie zur Preisverleihung begleitet. Über- Die ersten 30 Jahre ihres Lebens waren sche Geliebte. Das war ein Stoff, der zu rascht es die Menschen, dass Sie eine Fa- dermaßen verkorkst gewesen: Sie war im ihrem neuen, vornehmeren Leben passte, milie haben? chinesischen Chongqing an den Ufern des sich zugleich aber tragisch und frivol aus- Perry: Es mag nicht so bekannt sein, aber Yangtze unter den Ärmsten der Armen auf- schmücken ließ – wie geschaffen für sie. viele Transvestiten sind glücklich ver- gewachsen. Mit 18 erfuhr sie, dass ihr Va- Sie hielt sich nicht mit historischen For- heiratet. Das heißt nicht, dass es immer ter nicht ihr Vater war, dass sie schwanger schungen auf, nicht mit Erwägungen, wo einfach ist. Wir geben nicht vor, wir seien war von ihrem ersten Liebhaber – der hat- die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion eine durchschnittliche Familie. Meine Frau te sich gerade umgebracht. Sie trieb das zu ziehen seien. Sie ließ die Figuren auf- ist zum Glück von meiner Arbeit begeis- Kind ab, entschied sich für ein Leben auf einander los. tert, und unsere elfjährige Tochter ist auf der Straße, hing mit trostlosen Männern In dem Roman „K.“, den sie 1998 ab- eine wunderbare Weise altklug. Wenn sie rum, gab sich beinahe auf. Dann aber be- schloss, kommt Julian Bell nach Wuhan, in der Schule gefragt wird, was ihr Vater gann sie zu schreiben. Sie fiel schnell auf, nimmt eine Stelle als Gastprofessor an, als Künstler denn so mache, dann sagt weil sie die Härten ihrer Herkunft thema- zieht auf den Uni-Campus und verliebt sich sie: Ach, das meiste handelt von Kin- tisierte, schonungslos über Armut, auch schnell in Lin, die Frau des Fakultätsde- desmissbrauch. Sie ist es, die wahrschein- über Sex schrieb. kans, die sich aufreizend scheu und kokett lich Schocks auslöst – nicht ich. Bald lernte sie einen Mann kennen, den verhält. Bell weiß, dass Ehebruch verpönt Interview: Ulrike Knöfel, Martin Wolf sie liebte, und dem folgte sie nun, Anfang ist, doch er versucht es trotzdem, flirtet

138 der spiegel 2/2004 machen. Oft gilt auch, gerade unter der neunziger Jahre, nach schlecht informierten Kunstkritikern, die London. Faustregel: Ich verstehe es nicht, also muss Die ruhige Zeit sollte be- es Müll sein. ginnen. SPIEGEL: Hat es Sie geärgert, all die Jahre Hong Ying übte mit dem zusehen zu müssen, wie Ihre Altersgenos- neuen Mann – ebenfalls sen, etwa Damien Hirst oder Tracey Emin, Chinese – einen bürgerli- öffentlich Drogenprobleme zelebrierten chen, einen britischen Le- und mit ihrem Mix aus Skandalkunst und bensstil ein. Von ihren Ho- Skandalleben zu Popstars wurden? noraren kaufte sie ein Rei- Perry: Ich war neidisch darauf, dass eini- henhaus mit Kamin und ge von ihnen Werke verkaufen konnten, Garten im Süden Londons. die teurer sind als ein Einfamilienhaus. Sie heiratete in einer Kirche, Hätte ich unbedingt berühmt werden mit weißem Kleid, Hut und wollen, hätte ich mich kaum mit Töpferei Schleier und hängte das beschäftigt. Die Kunstwelt pflegt eine Hochzeitsbild im Esszimmer tiefe Abneigung gegenüber allem, was nur auf. Doch so behaglich sich im Entferntesten nach Handwerkskunst das Leben anließ – etwas aussieht. fehlte ihr. Sie sehnte sich SPIEGEL: Nun, nach Ihrem Sieg, können Sie nun doch nach deftigeren die Preise für Ihre Vasen heraufsetzen. Schicksalen. Perry: Meine Galeristin hält das für unrea- Manchmal fuhr sie in die listisch. Ich mag ein Turner-Preis-Sieger Londoner Innenstadt, be- sein, aber ich bin kein Maler. Bei Gemäl- suchte ihren Mann, der als den werden spontane Preissprünge schon Wissenschaftler an einem eher akzeptiert. Institut in Bloomsbury ar- SPIEGEL: Fast ebenso bekannt wie Grayson beitet. Sie ging dort spa- Perry dürfte inzwischen Claire sein, Ihr zieren, die backsteinernen weibliches Alter Ego. Wie autobiografisch Häuserreihen entlang. Und ist Ihre Kunst? Schriftstellerin Hong Ying: Zensur im Zeichen der Ahnen dann kam es ihr in den Sinn: Perry: Meine Arbeit hat autobiografische Hier war Anfang des 20. Bezüge, aber sie deckt sich nicht mit Jahrhunderts der legendäre Bloomsbury- meinem Leben. Ich mache auch Vasen AUTOREN Künstlerkreis entstanden, zu dem die über Motorräder, weil sie etwas mit mir Schwestern Vanessa Bell, eine Malerin, und zu tun haben, weil sie mich interessieren. Das Geheimnis die Autorin Virginia Woolf gehörten: ein Vieles, was Claire betrifft, hat ganz all- Haufen voller Schicksale. gemein etwas mit dem Thema Kindheit Hong Ying begann, den Biografien der zu tun. Wenn ein Jugendlicher entdeckt, der „K.“ Bloomsbury-Künstler nachzuspüren. Sie dass ein Teil seiner Persönlichkeit und erinnerte sich, dass Vanessa Bells Sohn, Sexualität nicht respektiert wird, spaltet Die Chinesin Hong Ying hat der Dichter Julian Bell (1908 bis 1937), in er sie aus Selbstschutz ab. Er erklärt sie den dreißiger Jahren im chinesischen Wu- zu einer eigenen Person, gibt ihr viel- für einen erotischen han als Gastprofessor gearbeitet hatte. Und leicht einen Namen und schließt sie wie Roman einen historischen Fall ihr fiel auch wieder ein, dass in chinesi- in einer Flasche ein. So erging es mir ausgeschmückt – das machte schen Literatenkreisen über Bell getuschelt auch. Es war nicht so, dass ich eine Seite ihn in ihrer Heimat zum Skandal. worden war. Er soll damals eine Geliebte an meiner Persönlichkeit nicht mochte – gehabt haben, die Frau eines Wuhaner Ge- eher so, dass meine Umwelt sie nie akzep- ie hatte ihre Ruhe haben wollen – sich lehrten. Dass es diese Geliebte gab, ist tiert hätte. Heute ist das nicht mehr zurückziehen, schreiben, ein norma- durch Briefe Julians an seine Mutter belegt. notwendig. Ich muss niemanden mehr ver- Sleres Leben führen. Mit dem Ärger, Er nennt sie da geheimnisvoll „K.“ stecken. Insofern existiert Claire nicht der dann kam, mit dem Verbot eines ihrer Hong Ying war fasziniert: ein Engländer wirklich. Bücher, hat sie nicht gerechnet. So drin- aus der zweiten Generation des Blooms- SPIEGEL: Ihre Frau und Ihre Tochter haben gend hätte sie mal eine Pause gebraucht. bury-Kreises und eine mysteriöse chinesi- Sie zur Preisverleihung begleitet. Über- Die ersten 30 Jahre ihres Lebens waren sche Geliebte. Das war ein Stoff, der zu rascht es die Menschen, dass Sie eine Fa- dermaßen verkorkst gewesen: Sie war im ihrem neuen, vornehmeren Leben passte, milie haben? chinesischen Chongqing an den Ufern des sich zugleich aber tragisch und frivol aus- Perry: Es mag nicht so bekannt sein, aber Yangtze unter den Ärmsten der Armen auf- schmücken ließ – wie geschaffen für sie. viele Transvestiten sind glücklich ver- gewachsen. Mit 18 erfuhr sie, dass ihr Va- Sie hielt sich nicht mit historischen For- heiratet. Das heißt nicht, dass es immer ter nicht ihr Vater war, dass sie schwanger schungen auf, nicht mit Erwägungen, wo einfach ist. Wir geben nicht vor, wir seien war von ihrem ersten Liebhaber – der hat- die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion eine durchschnittliche Familie. Meine Frau te sich gerade umgebracht. Sie trieb das zu ziehen seien. Sie ließ die Figuren auf- ist zum Glück von meiner Arbeit begeis- Kind ab, entschied sich für ein Leben auf einander los. tert, und unsere elfjährige Tochter ist auf der Straße, hing mit trostlosen Männern In dem Roman „K.“, den sie 1998 ab- eine wunderbare Weise altklug. Wenn sie rum, gab sich beinahe auf. Dann aber be- schloss, kommt Julian Bell nach Wuhan, in der Schule gefragt wird, was ihr Vater gann sie zu schreiben. Sie fiel schnell auf, nimmt eine Stelle als Gastprofessor an, als Künstler denn so mache, dann sagt weil sie die Härten ihrer Herkunft thema- zieht auf den Uni-Campus und verliebt sich sie: Ach, das meiste handelt von Kin- tisierte, schonungslos über Armut, auch schnell in Lin, die Frau des Fakultätsde- desmissbrauch. Sie ist es, die wahrschein- über Sex schrieb. kans, die sich aufreizend scheu und kokett lich Schocks auslöst – nicht ich. Bald lernte sie einen Mann kennen, den verhält. Bell weiß, dass Ehebruch verpönt Interview: Ulrike Knöfel, Martin Wolf sie liebte, und dem folgte sie nun, Anfang ist, doch er versucht es trotzdem, flirtet

138 der spiegel 2/2004 Kultur mit der schönen Frau. Lin – hier und da ein, und ihre Augen blicken noch fragender auch „K.“ genannt – ziert sich erst, doch als sonst. auf einmal ist sie diejenige, die die Affäre Der Prozess hat die Ur-Frage histori- will. Sie erweist sich als leidenschaftliche, scher Romane aufgeworfen, nämlich ob talentierte Geliebte, die ihre besonderen Autoren das dürfen: historische Tatsachen Künste daoistischen Lehren verdankt. einfach ausschmücken. Diese Frage muss in Lin lag mit gespreizten Beinen vor ihm, jedem einzelnen Fall neu beantwortet wer- ihre Scheide glänzte wie die Wasser des den – in diesem speziellen jedoch, meint Yangtze. Julian drang ganz mühelos und Hong Ying, sei es gar nicht so sehr um die so tief in sie ein, dass sie vor Freude auf- Vergangenheit als Vergangenheit gegan- schrie. gen. Der eigentliche Punkt sei vielmehr Hong Yings Buch erweist sich für erotisch gewesen, welche Werte der chinesischen abgestumpfte westliche Leser als routinier- Vergangenheit in die Gegenwart herüber- te, aber nicht besonders elegant geschrie- gerettet werden sollen. bene Unterhaltungslektü- Die Klägerin hat sittli- re*. Für chinesische Maß- che Vorstellungen des al- stäbe allerdings wirkt der ten China vertreten, zu Roman ungewöhnlich frei- denen auch gehört, dass zügig, wenn nicht skan- das Ansehen von Ahnen dalös – worauf Hong Ying zu schützen ist. „Wenn ei- durchaus spekuliert hat. ner unsere Ahnen oder El- Woran sie nicht dachte: tern verleumdet, dann ist dass Leser oder sogar Nach- das, als verleumde er uns kommen der historisch rea- selbst“, wird sie in einer len Figuren das Buch nicht britischen Zeitung zitiert. als Roman, sondern als bio- Damit mischt sich die grafisch fundierte Erzäh- Klägerin in eine aktuelle lung lesen würden. Und ge- Diskussion ein: In China

nau das ist passiert. THORNHILL HELENA wird zurzeit nach neuen Chen Xiaoying, die auch Julian Bell (1935) Wegen für alte Traditionen in Großbritannien lebt, gesucht – das zeigt gerade meinte in der chinesischen die Rechtsprechung über Geliebten ihre Mutter, die die „Verleumdung von Ah- 1990 verstorbene Ling nen“ bis zur dritten Gene- Shuhua, erkennen zu kön- ration, die so erst seit zehn nen. Sie ging in China vor Jahren praktiziert wird. Gericht, berief sich auf ei- Zugleich aber fordern vie- nen Paragrafen, der es le Künstler – vor allem die, Nachkommen gestattet, die lange im Westen gelebt die Verunglimpfung ihrer haben und nun zurück- Vorfahren zu verfolgen. kehren – mehr Liberalität, Ihr Vorwurf: Die „K.“ des sie wenden sich gegen Ta- Romans verhalte sich un- bus. Alles ist in Bewegung,

moralisch, der Ruf ihrer HILDEBRANDT und mittendrin schwimmt Mutter werde postum ge- Virginia Woolf (um 1925) dieses freizügige Buch, das schädigt. So schnell war Roman-Vorbilder doch so viel von Traditio- es vorbei mit Hong Yings Ein Haufen Schicksale nen handelt – es konnte ruhigem Dasein. wohl nur schief gehen. Sie flog wieder und wieder nach China, Hong Ying will nicht aufgeben. Ihr alter drei Jahre zog sich das Verfahren hin. Im Kampfesmut, der sie weg von der Straße Sommer 2003 stand fest: Hong Yings Werk hin zur Literatur gebracht hat, ist wieder sei „obszön“ und dürfe in dieser Form in erwacht. China nicht mehr erscheinen. Hong Ying Bald nach Verkündigung des Urteils musste die Anwaltskosten der Klägerin setzte sie sich hin und änderte für den chi- übernehmen und ihr 80 000 Yuan – fast nesischen Markt manche Details ihres Ro- 7800 Euro – Schmerzensgeld zahlen. mans. Sie wählte einen anderen Titel, ver- Eigentlich wollte Hong Ying, inzwischen legte den Schauplatz von Wuhan ins viele 41, an diesem Beschluss nicht mehr rühren. hundert Kilometer entfernte Qingdao und In anderen Ländern darf das Buch unver- suchte einen neuen Namen für die Ge- ändert vertrieben werden, in Deutschland liebte. erscheint es im Februar. Der Schaden ist Julian Bell allerdings bleibt Julian Bell, also begrenzt, und Hong Ying sagt, dass und damit ist die Frage nach Fakten und sie manchmal selber nicht mehr wisse, wie Fiktion immer noch nicht gelöst. Trotzdem sie über den Fall denken soll. War sie zu wurde das Buch in China jetzt verlegt – leichtfertig? „Vielleicht“, räumt sie zaghaft der Skandal hat das Interesse zusätzlich entfacht: Die Erstauflage liegt bei 100000 * Hong Ying: „K – The Art of Love“. Marion Boyars Pu- Stück. blishers, London; 252 Seiten; 9,99 Pfund. Erscheint in Deutschland im Februar unter dem Titel „Die Chinesische Ruhig, so viel steht fest, wird Hong Yings Geliebte“ im Berliner Aufbau-Verlag. Leben vorerst nicht werden. Susanne Beyer

der spiegel 2/2004 139 SERVICE

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Redaktion Politik: Deutschland, Österreich, Schweiz: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Martina Hildebrandt, Horand Knaup, REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Roland Nelles, Alexander Neubacher, Ralf Neukirch, Dr. Gerd BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, E-Mail: [email protected] Rosenkranz, Christoph Schult, Harald Schumann, Alexander Tel. (0038111) 2669987, Fax 3670356 Szandar. Reporter: Matthias Geyer; Redaktion Wirtschaft: Markus übriges Ausland: BERN Joachim Hoelzgen, Gutenbergstraße 54, 3011 Bern, Tel. Dettmer, Frank Hornig, Christian Reiermann, Wolfgang Johannes (004131) 3720252, Fax 3720253 New York Times Syndication Sales, Paris Reuter, Michael Sauga Telefon: (00331) 53057650 Fax: (00331) 47421711 Autor: Jürgen Leinemann BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Bd. Charlemagne 45, 1000 für Fotos: DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Georg Mascolo, Alexan- Brüssel, Tel. 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(005521) 2275-1204, Fax 2543-9011 Abonnement für Blinde Klaus Umbach, Claudia Voigt, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Autor: Urs Jenny ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- E-Mail: [email protected] tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Ansbert SAN FRANCISCO Marco Evers, 761 Tehama Street, Apt 7, San Fran- Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Thomas Hüetlin, Alex- cisco, Ca 94103, Tel. (001415) 8612172, Fax 358 4522 Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt ander Smoltczyk, Barbara Supp TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5-103, Tzuzuki- Frankfurt am Main SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, ku, Yokohama 224-0037, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, E-Mail: [email protected] SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff. Redaktion: Karen Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Bickerich, Joachim Mohr, Abonnementspreise WASHINGTON Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Press Building, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Kirsten Inland: zwölf Monate ¤ 145,60 Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Wiedner Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 465,40 WIEN Jürgen Kremb, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 101,92 inkl. 5331732, Fax 5331732-10 6-mal UniSPIEGEL Stegelmann Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt Europa: zwölf Monate ¤ 200,20 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 278,20 (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Ulrich Booms, CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Holger Wolters (stellv.) werden anteilig berechnet. Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia SCHLUSSREDAKTION Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, ✂ Diedrichs-Schneider, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Abonnementsbestellung Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Manfred Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny 20637 Hamburg. Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Oder per Fax: (040) 3007-3070. Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, gestaltung), Christiane Gehner, Claudia Jeczawitz, Matthias Krug, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Ich bestelle den SPIEGEL Anke Wellnitz; Josef Csallos, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, ❏ für ¤ 2,80 pro Ausgabe (Normallieferung) Peter Hendricks, Andrea Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Sabine Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Thomas Riedel, ❏ für ¤ 8,95 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Gershom Schwalfenberg, Karin Wein- Constanze Sanders, Petra Santos, Andrea Sauerbier, Maximilian Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. berg. E-Mail: [email protected] Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegen- Hefte bekomme ich zurück. Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, thaler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Pe- das monatliche Programm-Magazin. LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe; Christel Basilon, Katrin Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Volker Fensky, Petra Gro- ter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windel- Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: nau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Martina Treu- bandt mann, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst LESER-SERVICE Catherine Stockinger Sonderhefte: Rainer Sennewald NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Name, Vorname des neuen Abonnenten PRODUKTION Frank Schumann, Christiane Stauder, Petra Thor- Washington Post, New York Times, Reuters, sid mann, Michael Weiland TITELBILD Stefan Kiefer; Antje Klein, Iris Kuhlmann, Arne Vogt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Straße oder Hausnummer oder Postfach Monika Zucht Verantwortlich für Anzeigen: Jörg Keimer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 58 vom 1. 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140 der spiegel 2/2004 Chronik 27. Dezember bis 2. Januar SPIEGEL TV

SAMSTAG, 27. 12. DIENSTAG, 30. 12. MONTAG, 5. 1. 22.45 – 23.15 UHR SAT.1 SKANDALE Der Chef des italienischen ANSCHLÄGE Schwer bewaffnete Polizisten Lebensmittelkonzerns Parmalat, Calisto riegeln das Bundeswehrkrankenhaus SPIEGEL TV REPORTAGE Tanzi, wird festgenommen. Er und in Hamburg ab, nachdem Geheimdienste Millennium-Babys – Die ersten vier Jahre weitere Manager sollen einen Milliarden- vor Terroranschlägen gewarnt hatten. Genau zur Jahrtausendwende wurden sie Bilanzskandal verursacht haben. Ein Islamisten sollen auch den Flughafen geboren: Nicole, das siebte Kind einer Gericht erklärt Parmalat für insolvent. Rhein-Main ins Visier genommen haben. Großfamilie, Berkan, der Sohn türkischer WAFFEN Inspektoren der Internationalen RAUMFAHRT Erstmals haben China und Atomenergiebehörde treffen in Libyen die europäische Raumfahrtbehörde Esa ein. Staatschef Muammar al-Gaddafi hatte gemeinsam einen Satelliten ins All sich bereit erklärt, sein Programm für geschossen. Ein Rakete vom Typ „Lan- Massenvernichtungswaffen offen zu ger Marsch“ brachte den Forschungs- legen, um das Land aus der Isolation zu trabanten „Probe-1“ in die Umlaufbahn. führen. MITTWOCH, 31. 12. SONNTAG, 28. 12. NAHOST Israel will auf den 1967 besetzten SERBIEN Die ultranationalistische Ser- Golan-Höhen mindestens neun zusätz- bische Radikale Partei des in Den Haag liche Siedlungen bauen. Syrien verurteilt wegen Kriegsverbrechen angeklagten die Pläne; die US-Regierung verlangt SPIEGEL TV Vojislav µe∆elj gewinnt die Parlaments- „umfassende Aufklärung“. Nicole, Berkan (o.), Lena, Sarah, Luisa wahlen, verfehlt aber eine Regierungs- mehrheit. Da die Parteien des Reform- PARTYS Vor dem Brandenburger Tor in Einwanderer, und die Drillinge Lena, Sarah lagers tief zerstritten sind, wird die Koali- Berlin feiern fast eine Million Menschen und Luisa. Drei Familien, drei Schicksale. tionsbildung schwierig. den Jahreswechsel. DONNERSTAG, 8. 1. ENTFÜHRUNGEN Die beiden Anfang DONNERSTAG, 1. 1. 22.10 – 22.55 UHR VOX Dezember in Iran entführten deutschen Radfahrer und ihr irischer Begleiter EUROPA Irland übernimmt die EU-Rats- SPIEGEL TV EXTRA kommen frei. Es ist unklar, ob Lösegelder präsidentschaft für sechs Monate. Minis- Die Möbel kommen – Beobachtungen gezahlt wurden. terpräsident Bertie Ahern kündigt an, rund um ein Essener Einrichtungshaus den Streit um die Verfassung im Konsens Im Schnitt gibt der Deutsche 370 Euro MONTAG, 29. 12. lösen zu wollen. jährlich für neue Einrichtungsgegenstän- de aus. Etwa 10000 Möbelhäuser wett- TECHNIK In Shanghai nimmt der Transra- FREITAG, 2. 1. pid den planmäßigen Betrieb auf. Ob- eifern dabei um die Gunst des Kunden. wohl die Züge nach Angaben der Betrei- ATOMWAFFEN Nordkorea will überra- SPIEGEL TV beobachtet Verkäufer, Mon- ber „ziemlich voll“ sind, musste das schend US-amerikanische Nuklearspezia- teure und Kunden, dokumentiert die Mü- deutsche Konsortium Millionen zusetzen. listen in den Reaktorkomplex Yongbyon hen des Aufbaus und die Freude über die lassen. neuen Möbel. WÄHRUNG Der Euro steigt erstmals über die Marke von 1,25 Dollar. Die immer ARBEITSLOSIGKEIT Experten erwarten, SAMSTAG, 10. 1. stärker werdende Gemeinschaftswährung dass die Zahl der Arbeitslosen erst 2005 22.05 – 23.55 UHR VOX macht europäische Exportwaren teurer unter vier Millionen sinken könnte. und könnte so die wirtschaftliche Erho- Im Dezember waren 4,35 Millionen Men- SPIEGEL TV SPECIAL lung bremsen. schen ohne Job. Das unterirdische Reich – Die geheimen Welten der Nazis Ganze Fabrikanlagen wurden 1944 in Stol- lensysteme verlegt, um sie vor den Bom- ben der Alliierten zu schützen. Zwangs- arbeiter mussten kilometerlange Tunnel graben, um die Rüstungsproduktion zu sichern. Ein faszinierender Einblick in unterirdische Welten, die nur mit Sonder- genehmigung betreten werden dürfen.

SONNTAG, 11. 1. 23.20 – 24.00 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Mit Spürnase und Mikroskop auf Mörder- jagd – die Polizei klärt einen scheinbar Eisige Winde haben in Peking 13 Millio- unlösbaren Fall auf; Hüter der Hygiene – nen Bäume beschädigt. Die Behörden Lebensmittelkontrolleure auf Küchen- in der Hauptstadt ließen viele Pflanzen und Kühlthekenpatrouille; Das gierige in Plastikplanen hüllen, um sie vor Gehirn – wie Forscher das Geheimnis der Schneestürmen zu schützen. „Inselbegabten“ lüften wollen. CHAI HIN GOH / AFP

der spiegel 2/2004 141 Register

gestorben Alan Bates, 69. Ausgerechnet in dem Dra- ma „Blick zurück im Zorn“ gelang dem Tino Schwierzina, 76. englischen Schauspieler 1956 sein erster Eine „Operation am of- Bühnenerfolg, mit 22 Jahren – dabei hatten fenen Herzen“ nannte Bates’ Eltern seine Berufswahl immer un- der selbst Herzkranke terstützt. Bates studierte an der Royal Aca- die Aufgabe, die er, demy of Dramatic Arts gemeinsam mit Pe- Mitbegründer der Ost- ter O’Toole und Albert Finney; sie gehör- SPD, im 1990er Wende- ten zu den zornigen jungen Männern, die jahr mit der Wahl zum in den fünfziger und sechziger Jahren das ersten demokratischen britische Theater und Kino derart auf-

Oberbürgermeister Ost- / DPA TIM BRAKEMEIER mischten, dass bald Berlins auf sich nahm. auch die Studios in Die Amtszeit dauerte nur 32 Wochen, in Hollywood aufmerk- der er, sympathisch und volksnah, im Duett sam wurden. Bates mit seinem West-Part, dem damaligen spielte in „Alexis Sor- Regierenden SPD-Bürgermeister Walter bas“ (1964) und – für Momper, Akzente bei der behutsamen Wie- damalige Verhältnisse dervereinigung der Stadt setzte. Die Eu- ungewöhnlich nackt – phorie der frühen Einheitsjahre kam dem in der D.-H.-Lawrence-

Duo „Schwierzomper“ entgegen, als beide Verfilmung „Liebende / AP MICHAEL STEPHENS West-Senat und Ost-Magistrat zusammen- Frauen“ (1969); meist schweißten und die einst geteilte Stadt verkörperte er reservierte Typen, deren hauptstadtfähig machten. Der „pragmati- Abgründe sich nur erahnen ließen – eine sche Optimist“ (Momper) amtierte nach den seiner letzten Rollen war der Butler in SPD-Verlusten der ersten Gesamtberliner Robert Altmans Krimi-Komödie „Gosford Wahlen von 1991 bis 1995 noch als Vizeprä- Park“ (2001). Schauspielerei habe „nichts sident des Abgeordnetenhauses. Der SPD- zu tun mit Machtspielchen, Verunsiche- Koalition mit der PDS stimmte der Ruhe- rung oder dem Versuch, etwas zu bewei- ständler, der sich der SED stets entzogen sen“, so Bates, es gehe darum, „sich selbst hatte, nur widerwillig zu. Andererseits gab kennen zu lernen“. Alan Bates starb am es auch Geraune um ihn, weil sich alte Ka- 27. Dezember in London an Leberkrebs. der erinnerten, dass der polyglotte einstige Kombinats-Justiziar mit Westreiseerlaubnis Enric Bernat, 80. Seine Erfindung war ein 1951 Trauzeuge seines alten Freundes und galaktischer Erfolg: Nicht nur auf Erden, späteren Kanzlerspions Günter Guillaume auch im All von den Kosmonauten der war. Tino Schwierzina starb am 29. De- „Mir“ wurden „Chupa Chups“ – die ersten zember in Berlin an einem Herzinfarkt. Lollis mit Weltmarkenstatus – genüsslich gelutscht. Der Sohn einer katalanischen John Gregory Dunne, Zuckerbäckerfamilie kam Mitte der fünf- 71. Sein Wissen über ziger Jahre auf die Idee, ein Bonbon am die Maschinerie der Stiel herzustellen, zur Freude von Kindern Traumfabrik veröffent- und Eltern, die sich nicht mehr über kleb- lichte er erstmals 1969 rige Finger und Hosen streiten mussten. in „The Studio“. Mit Der geschäftliche Erfolg des spanischen dem Werk hatte er sich Familienunternehmens, das um seine Bi- unter den Bossen in lanzen stets ein Geheimnis machte, ist

WYATT COUNTS / AP WYATT Hollywood nicht nur aber auch auf die Marketingstrategien Freunde gemacht. Sei- des Firmengründers zurückzuführen. Das ne Drehbücher, die der Journalist neben blümchenförmige Logo Sachbüchern und Romanen verfasste, wur- entwarf Salvador Dalí, den dennoch mit Starbesetzung verfilmt. Chupa Chups brachte Besonders die Zusammenarbeit mit seiner die Läden dazu, Süßig- Frau, der Schriftstellerin Joan Didion, er- keiten an der Kasse in wies sich als erfolgreich. Ihre gemeinsame kindgerechter Höhe zu Arbeit am Drehbuch für den Film „Aus deponieren, und ent- nächster Nähe“ (1996 mit Michelle Pfeiffer wickelte ein damals re- und Robert Redford) lieferte Dunne die volutionäres Vertriebs-

Vorlage für sein Buch „Monster“. Darin BERNARDO RODRIGUEZ / DPA system: In den sechzi- erzählt er von dem acht Jahre anhaltenden ger Jahren wurden per Alptraum, das Skript nach den Wünschen Lieferwagen 300000 spanische Läden und vom Disney-Studio auszuarbeiten, und Kioske mit dem kugelrunden Naschwerk lässt den Leser wissen, dass sein damaliger am Stiel versorgt. Bis heute verkauften Arbeitgeber Insidern auch als „Mousch- sich weltweit 40 Milliarden Lutscher in witz“ oder „Duckau“ geläufig ist. John 50 verschiedenen Geschmacksrichtungen. Gregory Dunne starb am 30. Dezember in Enric Bernat starb am 27. Dezember in New York an einem Herzinfarkt. Barcelona.

142 der spiegel 2/2004 Personalien

Martin Schulz, 48, SPD-Spit- zenkandidat für die Europawahl, will seine berühmt gewordene Kontroverse mit Italiens Premier Silvio Berlusconi für den Wahl- kampf nutzen. Der Europapoliti- ker plant für das Frühjahr eine Reihe von Auftritten in italieni- schen Großstädten wie Florenz, Mailand, Bologna und Neapel. Berlusconi hatte Schulz bei ei-

ZIK-EXPRESS.DE nem Streit im Europaparlament Feuerstein, Blüm für die Filmrolle eines Kapo in einem Nazi-Konzentrationslager Norbert Blüm, 68, Arbeits- und Sozial- vorgeschlagen. Schulz will nun minister in der Ära Kohl, gab mal wieder im Wahlkampf die Botschaft aus- den Blüm. In der Silvesternacht bestieg der senden, dass es auch „mutige in der CDU ins Abseits geratene Renten- Linke gibt, die sich gegen Berlus- politiker die Bühne der Kölner Oper als coni stellen“. Auf Sizilien will er Verstärkung für Herbert Feuerstein, 66, mit Leoluca Orlando, dem als der in der Operette „Die Fledermaus“ den Korruptionsbekämpfer bekannt Wachmann „Frosch“ spielte. Frosch 1 und gewordenen ehemaligen Ober- Frosch 2 schmückten ihren 14 Seiten lan- bürgermeister von Palermo, ge- gen Text mit mancherlei Seitenhieben auf meinsam auftreten. Schulz re- das politische Geschäft in Deutschland gistriert seit seinem Disput mit (Blüm: „Politiker-Frühsport: Handaufhal- Berlusconi extrem viele Inter- ten. Zurücktreten. Aussitzen“). Dem Pu- viewanfragen aus Italien. Ein be- blikum hat es gefallen. Doch eine Wieder- rühmter Krippenbauer in Neapel Nordegren

holung soll es nicht geben. „Das war ein reihte diese Weihnachten gar COHEN / WIREIMAGE.COM LESTER einmaliger Ausflug“, so Blüm, der sich vor eine Schulz-Figur neben die klas- Feuerstein rühmte, schlechten Führungsstil sischen italienischen Prominen- Tiger Woods, 28, zum fünften Mal hintereinander „von meinem alten Chef gelernt“ zu ha- ten wie den Papst, Berlusconi zum Spieler des Jahres gewählter Golfchampion und ben. und den verstorbenen Fiat-Chef mit 100 Millionen Dollar im Jahr 2003 absolute Spit- Agnelli. Premier Berlusconi weiß ze unter den Großverdienern im Weltsport, war alles Tarja Halonen, 60, erste weibliche Prä- die Prominenz seines Kontra- andere als selbstsicher, als er seiner schönen Freun- sidentin Finnlands, ist zu ihrem 60. Ge- henten zu schätzen – statt einer din Elin Nordegren, 23, vor sechs Wochen in einem burtstag am Heiligen Abend von Freun- Entschuldigung für den NS-Ver- südafrikanischen Wildreservat einen Antrag machte den und Verwandten in einem Theater mit gleich sollte er Schulz „vielleicht (SPIEGEL 50/2003). Er sei „supernervös“ gewesen, einer Party und einem Konzert geehrt wor- lieber eine Rechnung schicken“. erzählte er vergangene Woche der schwedischen den. Garniert war die Veranstaltung mit Schließlich habe er, so der Italie- Tageszeitung „Svenska Dagbladet“. Und er habe auch einer Reminiszenz an jene glücklichen ner, „den EU-Parlamentarier erst keineswegs aus einer Laune heraus um ihre Hand an- Tage des früheren US-Präsidenten John F. bekannt gemacht“. gehalten. Vielmehr habe er lange und intensiv nach- Kennedy. Zu dessen 45. Geburtstag hatte gedacht, wie er die schwer wiegende Frage stellen seine angebliche Geliebte Marilyn Monroe Gabriel García Márquez, 76, solle und wann der rechte Moment sei. Kurz: Er habe in einem atemberaubend körperbetonten kolumbianischer Literatur-No- sich „geistig monatelang“ darauf vorbereitet. Und Kleid das Geburtstagsständchen gehaucht. belpreisträger („Hundert Jahre dann sei es immer noch „ein Krimi“ gewesen. „Um Bei der Halonen-Geburtstagsfeier sang Einsamkeit“), beichtete einen den Sieg in einem großen Golf- eine als Monroe verkleidete Schauspielerin künstlerisch folgenschweren Lap- turnier zu putten ist nichts im Ver- das „Happy Birthday“ und gab der Finnin sus, den er des schnöden Ehe- gleich dazu. Selbst wenn du mit einen Kuss. friedens willen beging. In einem dem richtigen Gefühl fragst ,Willst von ihm geleiteten Seminar für du mich heiraten?‘“, so schildert junge Schriftsteller auf Kuba, in der Champ seine Nöte, „könnte dem er, so ein Teilnehmer, als die Antwort Nein sein.“ Wie man „eine Art Papst“ angehimmelt weiß, vermasselte Woods seine wurde, zeigte sich der Poesie-Ti- große Chance nicht. Nordegren tan plötzlich sehr prosaisch. Sei- sagte Ja, wenngleich, wie Woods ne Frau, erzählte „Gabo“, habe einräumt, Braut und Bräutigam

„eifersüchtig alle Liebesbriefe / E-LANCE MEDIA MIKE SEGAR / REUTERS nicht entschieden hätten, wann aufbewahrt“, die er ihr als junger Woods und wo geheiratet wird. Mann aus Europa schickte. Doch habe sie ihm bei jedem Ehekrach die Episteln als „unwiderlegbaren Beweis“ begann Márquez seine Tat zu bereuen. Die entgegengeschleudert. Eines Tages, so der Liebesschwüre fehlten ihm nämlich, wenn Dichterfürst weiter, hielt er diese Art Be- „beim Verfassen meiner Memoiren die Er- weisführung nicht mehr aus. Er kaufte der innerung durcheinander geriet“ und „die

MARTTI KAINULAINEN / AP MARTTI Gattin die Briefe „zu einem exorbitanten leere Seite“ ihn wie „ein Exekutionskom- Halonen (M.) Preis“ ab und vernichtete sie. Jahre später mando“ anstarrte.

144 der spiegel 2/2004 Dieter Althaus, 45, Ministerpräsident von des Öfteren dem Opernchef schon assis- Thüringen (CDU) und derzeit amtierender tierte, das Podest und dirigierte die beiden Bundesratspräsident, hat nach eigenem verbliebenen Szenen des ersten Akts. Le- Bekunden mit dem Bundespräsidenten sei- vine hatte eine Erkältung, und, wie ein nen Skiurlaub abgeklärt. So hatte der Sprecher der Oper erklärte, des Maestros Thüringer bei einem Telefonat mit Johan- Augen tränten, so dass er Mühe hatte, die nes Rau erfahren, dass er als Bundesrats- Partitur zu lesen. Nach einer Pause kam präsident die neuen Steuergesetze am Levine zurück und dirigierte den zweiten 30. Dezember 2003 unterschreiben müsse, Akt. Die Dirigenten teilten sich am Ende wenn der Bundespräsident verhindert sei, der Vorstellung den Beifall. damit die noch am 1. Januar 2004 in Kraft treten könnten. „Aber Herr Bundespräsi- Jeb Bush, 50, Gouverneur des US-Staates dent“, habe er gesagt, so erzählte Althaus Florida, eröffnete dieser Tage das, wie er es vergangene Woche seinen Freunden auf nannte, „erste auf den Glauben gegründe- der Riesneralm in der Steiermark, „ich te Gefängnis der Nation“ in dem Örtchen wollte so gerne mit meiner Frau zum Ski- Lawtey. Bei der Feierlichkeit erklärte der laufen fahren.“ Rau habe geantwortet, er Bruder des US-Präsidenten den nahezu wolle auch zum Skifahren, und seine Fa- 800 Insassen, dass ihnen die Religion die

milie würde sich ebenfalls über einen Auf- RICHARDS / AFP J. PAUL Chance gebe, nicht erneut im Gefängnis enthalt im Schnee freuen. Althaus’ Ski- Prinz zu landen. Diese schöne Aussicht ergibt kameraden fragten teilnehmend, ob er nun den Urlaub abbrechen müsse, um zu un- als PR-Gag des geltungsbedürftigen Präsi- terschreiben. Althaus verneinte fröhlich, denten gewertet. In Wahrheit, sagt jetzt er habe dem Bundespräsidenten gesagt, Prinz’ Manager Andreas Rink, habe viel- wie günstig er seine Ski im Internet erstei- mehr „Birgit den Herrn Gaucci vor ihren gert habe und dass es „Storno kosten“ Karren gespannt“. Rink hatte seine Klien- würde, wenn er den Urlaub absagen müss- tin bereits im Sommer in Perugia angebo- te. Rau, so das thüringische Schlitzohr, sei ten. Die öffentlichen Verhandlungen und „ja auch clever und weiß, wie man sparen der mediale Beifall für Prinz’ Verzicht auf kann. So fahren wir halt dieses Jahr Ski das angeblich offerierte fürstliche Gehalt und er beim nächsten Mal“. habe die Spielerin nun „auf den Merkzet-

tel der Werbeindustrie“ gehoben, erklärt / AP BOB MACK Birgit Prinz, 26, Torjägerin der deutschen der Agent. Denn der WM-Titel allein, er- Bush, Häftlinge Weltmeister-Frauenmannschaft und „Welt- kannte die fintenreiche Angreiferin, hatte fußballerin des Jahres 2003“, sieht steigen- „den Kontostand noch nicht wirklich ver- sich nach Ansicht der Lawtey Correctional den Sponsoreneinnahmen entgegen. Wo- ändert“. Institution, der Lawtey Besserungsanstalt, chenlang galt die pfiffige Frankfurterin als durch gemeinsames Beten, religiöse Un- Kandidatin für den weltweit ersten Trans- James Levine, 60, Künstlerischer Direktor terweisung, Chorsingen und andere from- fer eines weiblichen Kickstars zu einem der New York Metropolitan Opera, musste me Handlungen. Alles natürlich auf frei- Männer-Profiteam – bis zu ihrer Absage. sich bei Berlioz’ „Benvenuto Cellini“ am williger Basis. Bush lobte die Gefängnis- Das Werben des italienischen Reinigungs- Heiligen Abend kurzfristig vertreten las- insassen, die sich auf nicht weniger als 26 unternehmers Luciano Gaucci, 64, des sen. Levine begann seine Arbeit im Or- verschiedene Bekenntnisse aufteilen, dass Clubchefs beim AC Perugia, um Deutsch- chestergraben, aber plötzlich erklomm am sie sich „einer höheren Autorität“ anver- lands Vorzeigestürmerin wurde gemeinhin Ende der ersten Szene Derrick Inouye, der traut hätten.

Peter Hetherston, 39, Manager der schottischen Fußballmannschaft Albion Rovers, musste nach chauvinistischen Ausfällen seinen Posten aufgeben. Als seine Mannschaft gegen Montrose mit 1:0 unterlag, hatte er lauthals geklagt, er habe gewusst, dass das „nicht unser Tag ist“. Der Grund: Statt eines männlichen Linienrichters im Schiedsrichtertrio assistierte bei dem Spiel eine Frau, Morag Pirie, 28, die erfolgreichste Schieds- richterin Schottlands. „Sie sollte lieber zu Hause bleiben“, hatte sich Hetherston erregt, ,,und Tee zubereiten für ihren Mann, wenn er vom Fußballplatz kommt.“ Fußball sei ein „Männersport“. Pirie blieb trotz der Anwürfe cool, He- therston sei nach ihrer Erfahrung mit seiner misogynen Haltung in der Fußballgemeinde in der Minderheit. Noch eine Liga höher pfeift Silvia Regina de Oliveira, 39. Sie durfte dieses Jahr bei der brasilianischen Fußballmeister-

schaft ein Spiel leiten. Gefestigt in ihrer Position wurde PRESS AGENCY SCOTLAND / NEWSLINE JOHNSTONE ANDY auch sie durch die verbale Entgleisung eines Machos. Beim Pirie Spitzenspiel Corinthians gegen São Paulo hatte sie dem Torschützenkönig und Nationalspieler Luís Fabiano nach grobem Foul die rote Karte gezeigt. Der be-

JOSE PATRICIO / FOLHA IMAGEM JOSE PATRICIO schimpfte daraufhin die Pfeifenfrau als „Esel“ und: „Was kann man schon von einer Frau erwarten.“ de Oliveira Die Quittung für Fabiano: Neben dem Platzverweis gab es eine Sperre für vier Spiele.

der spiegel 2/2004 145 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Saarbrücker Zeitung“: „Denn Zitate Tatsache ist: Die Neugierde auf den Nach- barn und seine Kultur lässt nach. Und sie Die „Welt“ zum SPIEGEL-Titel ist recht einseitig. Wie sonst erklärt sich, „Das Projekt Aufklärung. ‚Der bestirnte dass in Frankreich nur jeder zehnte Schüler Himmel über mir und das mit der deutschen Sprache in Berührung moralische Gesetz in mir‘, 200 Jahre kommt, in Deutschland aber jeder fünfte?“ nach Kant“ (Nr. 1/2004):

Es sei eingestanden: Ein klein wenig waren auch wir überrascht, dass bald ein höchst bedeutender Gedenktag ansteht. Den 12. Februar 2004, den 200. Todestag von Immanuel Kant, hatten wir noch nicht rich- tig auf der Rechnung. Insofern sind wir be- schämt, in der Vorweg-Huldigung, die ihm der SPIEGEL widmet, zu lesen: „Dieser Aus einer Werbung von „Media Markt“ einzigartige Denker taugt anscheinend nicht zum Superstar.“ Wohl aber taugt Kant nach SPIEGEL-Meinung zum Kron- Aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zei- zeugen gegen George W. Bush … Denn tung“: „Nach der Untersuchung sind Frem- Kant habe in seiner Schrift „Zum ewigen denfeindlichkeit, Antisemitismus und die Frieden“ von 1795 „klipp und klar“ fest- Abwertung etwa von Behinderten und Ho- gelegt: „Wer einen Staat, aus welchen mosexuellen in diesem Jahr im Vergleich Gründen auch immer, überfällt, gefährdet zu 2002 gestiegen, während sich Rassismus damit die Autonomie aller Staaten, und und Fremdenfeindlichkeit nicht verstärkt dieses Rechtsgut ist allemal höher stehend haben.“ als das mögliche Teilrecht zum Überfall.“ Unter Philosophen freilich ist es nicht „klipp und klar“, dass Kant den Irak-Krieg abgelehnt hätte. Das zeigt eine Kontrover- se im „Merkur“. Der Philosoph und Kant- Kenner Volker Gerhardt hatte dort in An- lehnung an Kants Argumentation, dass Frieden durch Demokratien gesichert wird, Gründe für die Beseitigung des Saddam- Aus der „Siegener Zeitung“ Regimes gefunden. Dem widersprach Man- fred Bierwisch … Der Streit muss hier nicht entschieden werden. Fest steht aber, dass Aus der Aachener „Super Sonntag“: „Die Kant uns einen Gedenktag beschert, der britische Regierung hat ihre Warnung vor Kontroversen ermöglichen kann. Reisen in die Türkei zurückgezogen. Nach der neuesten Einschätzung des Außenmi- Der Nachrichtendienst Deutsche Presse- nisteriums besteht derzeit keine ,unmittel- Agentur zum SPIEGEL-Buch „Irak, bare Bedrohung‘ für Terroristen.“ Geschichte eines modernen Krieges“, Deutsche Verlagsanstalt, München 2003:

Noch wird im Irak geschossen, gebombt und verteidigt, da versuchen sich die Ex- perten in zahlreichen Essays und Büchern mit der Analyse der Militäraktion. Unter dem Titel „Irak – Geschichte eines mo- dernen Krieges“ haben sich SPIEGEL- Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ Chefredakteur Stefan Aust und Cordt Schnibben dem Krieg chronologisch und von mehreren Seiten genähert. Weitge- Aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- hend erfolgreich versuchen sie, jenseits der tagszeitung“: „Japaner klatschen mit den Schlagworte und Computerbilder ein Bild Augen der Kinder die Hände, und Ameri- von den Akteuren auf den Schlachtfeldern kaner verbergen Tränen der Rührung.“ zu zeichnen: des Familienvaters, dessen Haus und Familie Opfer der Bomben werden; des Arztes, der ohne Betäubung operieren muss; des Soldaten, der aus Ver- sehen seinen Freund und Vorgesetzten er- schossen hat. „Wäre ich nicht schon Pazi- fist, so wäre ich es nach der Lektüre dieses Buches“, hat Schriftsteller Johannes Mario Simmel den überraschend unpolitischen und eher untendenziösen, wenngleich ver- Aus dem „Badischen Tagblatt“ einzelt moralisierenden Band gelobt.

146 der spiegel 02/2004