Deutscher Drucksache 19/28364

19. Wahlperiode 12.04.2021

Antrag der Abgeordneten , Lisa Badum, Dr. , , Beate Walter-Rosenheimer, Dr. , , Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Klein-Schmeink, , Charlotte Schneidewind-Hartnagel, Kordula Schulz-Asche, , Dr. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Klimaneutrale Wissenschaft und Forschung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Wissenschaft und Forschung leisten einen unschätzbaren Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise und der nachhaltigen Gestaltung unserer Gesellschaft. Es waren die mah- nenden Stimmen von Forschende, die als erste bereits vor Jahrzehnten vor den Gefah- ren der Erdüberhitzung gewarnt haben und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft das Problem auf die politische Agenda gehoben haben. Gleichzeitig öffnet die Wissen- schaft Wege, den globalen Klimakollaps zu verhindern und die Erderhitzung noch auf deutlich unter 2 Grad – möglichst 1,5 Grad – zu begrenzen. Dabei darf der Klima- Fußabdruck der Wissenschaft selbst aber nicht übersehen werden. Auf dem Campus wird gelehrt und geforscht, gebaut und gewohnt, in großen Verwaltungen ebenso wie in jungen Start-ups gearbeitet. Damit gleichen viele Hochschulen einer eigenen Stadt – und haben auch einen entsprechenden CO2-Ausstoß. Doch längst nehmen For- schende, Studierende und Mitarbeiter*innen an Hochschulen und Forschungseinrich- tungen ihre Verantwortung wahr, Klimaneutralität und Nachhaltigkeit voranzubrin- gen. Eine Stärke der Hochschulen und Forschungseinrichtungen liegt in der Vielfalt der Menschen, die hier zusammenkommen, um zu studieren, zu forschen, zu lehren und zu arbeiten. Gerade in ihren unterschiedlichen Tätigkeiten steckt das große Potential. Neue Lösungen für die grüne Transformation zum Schutz des Klimas und unserer Le- bensgrundlagen werden hier nicht nur theoretisch erdacht. Sie können auf dem Cam- pus auch ganz praktisch erprobt werden – von Anreizsystemen zum Energiesparen über nachhaltige Mobilität bis zum nachhaltigen Betrieb. Verbunden mit Lehr- und Forschungsinhalten für Klimaschutz und Nachhaltigkeit entwickeln sich Hochschulen und Forschungseinrichtungen so stets weiter und haben das Potential, weit über die Grenzen des Campus hinaus zu strahlen und zu Reallaboren für eine klimagerechte Gesellschaft zu werden. Die Bundesregierung darf dieses Potential nicht länger ignorieren, sondern muss die- ses Engagement aufgreifen und verstärken. Denn an Ideen, Mut und Motivation vor Ort mangelt es nicht. Doch den vielversprechenden Ansätzen fehlt es bislang leider an Drucksache 19/28364 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode

ausreichender Förderung durch den Bund. Wegweisende Initiativen einzelner Bundes- länder konnten damit nicht genug Strahlkraft entwickeln, um jenseits der eigenen Lan- desgrenzen Nachahmer zu finden. Förderprogramme des Bundes bleiben entweder auf kleine Einzelaspekte begrenzt oder werden – wie beispielsweise die Sustainability in Science-Initiative und die Sozialökologische Forschung im Rahmen des Forschungs- rahmenprogramms Forschung für Nachhaltige Entwicklung – im Bundesforschungs- ministerium auf Sparflamme gehalten. Erfolgreiche Beispiele und Pionier-Initiativen in Publikationen zusammenzutragen, reicht da lange nicht mehr aus. Es braucht ein umfassendes Förderprogramm des Bundes für eine klimaneutrale Wissenschaft, um vielversprechenden Ideen bundesweit zum Durchbruch zu verhelfen und in der Breite der Hochschulen und Forschungseinrichtungen die Wende zu Klimaschutz und Nach- haltigkeit voranzubringen. Mit einem Förderprogramm „Klimaneutrale Wissenschaft und Forschung“ sollen be- stehende und neue Initiativen für Klimaschutz auf dem Campus weiter vorangebracht, über mehrere Jahre gefördert und neue Spielräume für Engagement vor Ort geschaffen werden. Das Programm ist dabei flexibel auszugestalten, damit Einrichtungen entspre- chend ihres jeweiligen Fortschritts auf dem Weg zur Klimaneutralität gefördert werden können. Die Auswahl der Hochschulen findet auf Grundlage der vorzulegenden Be- werbungskonzepte statt. Um die vielfältigen Potentiale der Hochschulen dafür umfas- send zu nutzen, sollen bei der Auswahl der zu fördernden Vorhaben möglichst viele der folgenden Aspekte berücksichtigt und miteinander verzahnt werden: a) Forschung und Innovation, b) Studium und Lehre, c) Transfer und Vernetzung, d) Infrastruktur und Betrieb, e) Mobilität und Austausch, f) Personal und Governance. Neben einem Förderprogramm für Hochschulen gibt es auch darüber hinaus die Not- wendigkeit, Klimaneutralität als ein Leitbild in der Wissenschaftslandschaft zu etab- lieren. Dafür gilt es, bestehende regulatorische Hürden – beispielsweise im Baurecht oder bezüglich Dienstreisen – anzupassen. Forschungs- und Wissenschaftsorganisati- onen, die bereits eigene Konzepte für Klimaschutz und Nachhaltigkeit entwickelt ha- ben, gilt es bei der Umsetzung zu unterstützen. In Klimafragen ist die außeruniversitäre Forschung längst Weltspitze – von der For- schungsflotte im Polarmeer über satellitengestützte Datensammlung für immer präzi- sere Modellierungen bis zur Entwicklung ökologischer, technologischer und sozialer Innovationen für praktischen Klimaschutz. Damit dies noch stärker auch in der insti- tutionellen Kultur der Forschungseinrichtungen selbst ankommt, sind Nachhaltigkeits- ziele stärker im Pakt für Forschung und Innovation zu verankern. Dafür bedarf es zu- nächst der Entwicklung geeigneter Monitoring- und Messverfahren der Klimabilanz, auf deren Grundlage dann ein Anreizsystem entwickelt werden kann. Daraus lassen sich auch konkrete Handlungsmöglichkeiten für die Ressortforschung des Bundes im Sinne des Klimaschutzes ableiten.

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/28364

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. gemeinsam mit den Ländern ein mehrjähriges Förderprogramm „Klimaneutralität in Wissenschaft und Forschung“ zu erarbeiten, dass Hochschulen und Universi- tätsklinika entlang der oben skizzierten Leitlinien dabei unterstützt, bereits vor 2040 klimaneutral zu sein und als Reallabore des Wandels neue Lösungen für klima- und ressourcenschonende Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsweisen zu ent- wickeln. Das Programm ist in ein begleitendes Monitoring einzubetten, um früh- zeitig Schlussfolgerungen zur Weiterentwicklung des Programms ziehen zu kön- nen; 2. eine ergänzende Förderlinie für Klimaschutzinitiativen und Einzelpersonen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu schaffen, um bottom-up getrie- bene Veränderungsprozesse von der Basis bereits in frühen Phasen wirkungsvoll unterstützen zu können; 3. ein Programm für die nachhaltige, klima- und ressourcenschonende Modernisie- rung der Infrastrukturen des Wissens sowie der energetischen, an den Prinzipien einer Kreislaufwirtschaft ausgerichteten Sanierung von Forschungsbauten, Hoch- schulbauten sowie den Gebäuden der Studierendenwerken gemeinsam mit den Ländern zu entwickeln. Wo regulatorische Hürden die Orientierung am niedrigs- ten Preis statt Nachhaltigkeit, Klimaschutz und der Betrachtung des kompletten Lebenszyklus öffentlicher Bauten vorschreiben, ist auf eine Reform hinzuwirken. Ebenso ist die Weiterbildung von Mitarbeiter*innen in Fragen zu klimaneutra- lem, nachhaltigem Planen und Bauen zu fördern; 4. der Digitalisierung an Hochschulen über eine Digitalisierungspauschale mit ei- nem Fokus auf Nachhaltigkeit und Klimaneutralität neue Dynamik zu verleihen, die IT-Infrastruktur an Hochschulen zu stärken und die Entwicklung einer klima- neutralen Datenstrategie voranzutreiben; 5. im Rahmen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) klar nachvoll- ziehbare Kriterien für die Messung von Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen an Außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu entwickeln. In einem zweiten Schritt ist dies zum nächstmöglichen Zeitpunkt in die regelmäßige Berichterstat- tung der Forschungsorganisationen im Rahmen des Pakts für Forschung und In- novation zu integrieren und Anreize für mehr Klimaschutz zu schaffen; 6. ein Monitoring der Klimabilanz der Ressortforschung des Bundes und darauf auf- bauend die Ausarbeitung einer Strategie für Klimaneutralität in der Ressortfor- schung zu entwickeln; 7. eine Bundesberatungsstelle für Hochschulen, Wissenschafts- und Forschungsein- richtungen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen einzurichten, die Wissen und Expertise zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Wissenschaftsbereich bün- delt und im Austausch mit Akteuren vor Ort einfacher verfügbar macht; 8. die einschlägigen Bundesprogramme für Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu stär- ken, im Rahmen des Programms Forschung für Nachhaltige Entwicklung insbe- sondere die Sustainability in Science-Initiative und die Sozialökologische For- schung auszubauen und akteursoffener auszurichten sowie ein Rahmenprogramm für die Klimaforschung aufzulegen (vgl. Bundestagsdrucksache 19/5816).

Berlin, den 23. März 2021

Katrin Göring-Eckardt, Dr. und Fraktion Drucksache 19/28364 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode

Begründung

Hochschulen sind in ihrer Autonomie und Freiheit das ideale Zukunftslabore für eine klimaneutrale Gesellschaft, um neue, nachhaltige Lösungen konkret zu erproben. Dabei ist insbesondere auf eine sinnvolle Verzahnung der verschiedenen Handlungsfelder zu achten, damit sie ihre Synergien entfalten können und das große Potential insgesamt zum Tragen kommt: a. Forschung und Innovation: Wissenschaft ist die Grundlage jeder effektiven, nachhaltigen und verantwor- tungsvollen Klimapolitik. Ein Programm „Klimaneutrale Wissenschaft und Forschung“ soll darum die prob- lembezogene Grundlagenforschung wie auch die anwendungsorientierte Forschung voranbringen. Dabei ist die Verankerung des Klimaschutzes in nahezu allen Forschungsbereichen möglich: Von der „klassischen“ Klimaforschung über die Energieforschung für die Energiewende über die Reduzierung der Klimaauswir- kungen durch die Digitalisierung bis hin zu den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zur klima- neutralen Umgestaltung unserer Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensweise. Im Zentrum einer Förderung soll der interdisziplinäre Austausch und der lösungsorientierte, transformative Anspruch für eine klimagerechte Gesellschaft liegen und in möglichst vielen Forschungsbereichen stärken. b. Studium und Lehre: Die besten Ideen für den Klimaschutz entstehen, wenn kluge Köpfe ihre verschiedenen Perspektiven zusammenbringen. Insbesondere inter- und transdisziplinäre Studiengänge bieten das Potential, die Herausforderungen in all ihren notwendigen Facetten zu betrachten. Dafür ist das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ein unerlässlicher Bestandteil und das einzurichtende Programm soll die Verankerung der BNE an den Hochschulen weiter unterstützen. Bei der Auswahl der zu fördernden Pro- gramme ist neben den Inhalten der Lehre auch die Weiterentwicklung von Methoden und Lehrformaten zu berücksichtigen. Das BNE umfasst dabei beispielsweise Projektwerkstätten und Reallabore, in denen Stu- dierende, Lehrende und Expert*innen aus der Praxis zusammenarbeiten und neue Lösungen für den Klima- schutz erproben können. c. Transfer und Vernetzung: Die Hochschule liegt nicht unter einer Käseglocke, sondern ist eng mit der Stadt- gesellschaft vernetzt. Gerade in kleineren und mittelgroßen Städten sind Hochschulen oft das kreative Zent- rum für Zivilgesellschaft und Wirtschaft und der Kern regionaler Innovationsökosysteme. Im Rahmen einer Programmförderung soll diese Vernetzung bewusst genutzt und ausgebaut werden, um Modellprojekte für den Klimaschutz auch jenseits des Campus voranzubringen. Durch die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Initiativen können zudem erfahrene Bürger*innen, die sich bereits seit Jahrzehnten für Klimaschutz und Nachhaltigkeit vor Ort engagieren, ihre Erfahrung einbringen. Kleine und mittlere Unternehmen sind häufig innovative hidden champions für klimaneutrale Anwendungen und exportieren weltweit Technologien für den Klimaschutz. Ihre Zusammenarbeit mit den Hochschulen zu stärken und lebendige Innovationsökosys- teme zu stärken, ist ein weiteres Ziel des Programms. d. Infrastruktur und Betrieb: Statt modernster Hörsäle und Labore findet man hierzulande oft noch alte Bauten von vorgestern. Als Großbetrieb verbraucht eine Hochschule zudem viele Ressourcen – von der Energie für Versuchsanlagen und Rechenzentren bis zum Papier für die Verwaltung. Ein einzelnes Bundesprogramm kann sicherlich nicht alle Versäumnisse und aufgeschobenen Sanierungsbedarfe der letzten Jahre allein be- heben. Es muss darum um weitere Initiativen für die nachhaltige Digitalisierung der Hochschulen und ein dringend notwendiges Bund-Länder-Programm für klimaneutrale, energieeffiziente Infrastrukturen des Wis- sens ergänzt werden. Dennoch können mit diesem Pilotprogramm wichtige Veränderungen angeschoben werden – von Anreizsystemen für Energieeinsparungen bis zu ressourcensparenden Labor- und IT-Betrieb. e. Mobilität und Austausch: Es gehört von jeher zum Wesenskern der Wissenschaft, Grenzen zu überwinden – in den Köpfen wie auch zwischen Staaten. Internationale Mobilität und der direkte Austausch zwischen For- scher*innen ist darum unerlässlich und muss weiter gefördert werden. Dennoch stellen Dienstreisen – ins- besondere mit dem Flugzeug – einen der größten Faktoren für die direkten Treibhausgasemissionen der Wis- senschaft dar. Diese zu reduzieren, ohne zugleich den internationalen Austausch einzuschränken, ist darum eine Herausforderung, die mit der Programmförderung adressiert werden soll. Denn auch wenn zweifellos gesetzlicher Regelungsbedarf bezüglich der Dienstreisen besteht, können Hochschulen auch selbst aktiv wer- den: von digitalen Gremiensitzungen oder Konferenzbeiträgen bis zu integrierten Mobilitätslösungen wie etwa Bike-Sharing-Angeboten mit dem Umland.

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f. Personal und Governance: Eine Gesamtstrategie für den Klimaschutz braucht klare Vereinbarungen und Verantwortlichkeiten. Dabei müssen sich alle Hochschulangehörigen mit ihren Ideen, Perspektiven und Be- dürfnissen beteiligen können. Darum brauchen alle Einrichtungen, die sich am Programm „Klimaneutrale Wissenschaft und Forschung“ beteiligen wollen, ein klares Governance-Konzept zur Verankerung und Um- setzung des Klimaschutzes in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern. Dazu gehören die Benennung von Zu- ständigen auf der Leitungsebene in Rektoraten und Dekanaten ebenso wie Klimaschutzbeauftragte bei den Mitarbeiter*innen im technischen Bereich oder die Einrichtung studentischer Nachhaltigkeitsbüros. Struk- turen müssen so angelegt sein, dass aus individuellem Engagement dauerhafte und institutionalisierte An- passungen der Hochschulabläufe werden.

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