Werbeseite

Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Drogen, SPIEGEL special, SPIEGEL Online

er Polizist, der die spiegel-Redakteurin Ariane Barth 1989 durch das Ham- Dburger Stadtviertel St. Georg begleitete, war entsetzt über das Elend der jun- gen Prostituierten in diesem Drogenrevier. Man müsse, so damals der Beamte, die Rauschgiftabgabe in staatliche Hände legen – dann werde es auch ein Ende haben mit dieser stetig ausufernden Kriminalität von Dealern und Junkies. Unterdessen hat sich soviel Einsicht bundesweit verbreitet: Eine Mehrheit der Polizeichefs in den deutschen Metropolen, also wiederum Leute aus der Praxis, betrachtet die her- kömmliche Drogenpolitik als gescheitert und fordert radikale Umkehr – kontrol- lierte Versorgung der Süchtigen mit Stoff, verschärfter Kampf gegen die etablier- ten Händlerringe. Selbst das Parteibuch, so erfuhr Barth, die 1986 mit einem Be- richt über Drogen-Substitution durch Methadon die Diskussion über dieses Thema in Gang setzte und nun wieder ein Titel-Stück schrieb (Seite 40), spielt bei diesem Plädoyer für eine „Notstandslösung“ keine Rolle mehr, Sozial- und Christdemo- kraten halten den Schulterschluß. Wie erbärmlich die Lage sogar den Süchtigen erscheint, erlebten spiegel-Redak- teure letzte Woche bei ihren Recherchen zu einer rätselhaften Todesserie, die in Bre- men das Dilemma der Drogenbekämpfung wieder mal ins Licht gerückt hatte. Als die spiegel-Leute an einem Junkie-Treffpunkt nach einem der Überlebenden frag- ten, wurde zwar längere Zeit beraten, aber dann doch entschieden, den Kontakt zu diesem Leidensgenossen herzustellen – auch deshalb, so hieß es, um den Journali- sten einmal die dreckigste Seite des Milieus zu präsentieren. Wie trostlos das ist, zeigen die Fotos in dem Bericht von Bert Gamerschlag, Sebastian Knauer und Dietmar Pieper (Seite 36).

om „Urlaub total“ handelt das neue spie- Vgel special, und das Heft hält, was der Ti- tel verspricht. Natürlich ist darin von exoti- schen und interessanten oder den einfach nur schönen Reisezielen zu lesen. Es geht ins länd- liche Branson (Missouri), Sehnsucht der Coun- try-Fans, aufs glitzernde Bali, das von Las Ve- gas nicht mehr weit weg zu sein scheint, oder nach Malawi – wo sich die Frage stellt, ob Tourismus für die Armen dieser Erde wirklich nützlich sein kann. Zum Themenspektrum gehört allerdings auch die dunkle Prognose, daß die Reisewelle ebenjene Reize erschla- gen wird, durch die sie erst ausgelöst wurde – in den traumhaften Inselwelten zum Beispiel, denen in diesem special ein besonderer Teil gewidmet ist. Kritische Autoren kommen zu Wort, wie Gerhard Polt, der verrät, warum ihn rein gar nichts in die Wüste zieht. Vom Wegfahren jedenfalls können die Leute nicht genug kriegen: Auch in schwierigen Zeiten, so besagen die jüngsten Erhe- bungen, wird aufs Reisen zuletzt verzichtet. Das neue spiegel special ist vom Dienstag dieser Woche an im Handel.

piegel Online erweitert von Montag dieser Woche an sein Angebot durch Zu- Ssammenarbeit mit der weltweit operierenden Agentur Reuters. Über die spie- gel-Homepage (http://www.spiegel.de) können ausgewählte Meldungen abgerufen werden; die Online-Redaktion von Reuters bietet zwischen 12 und 19 Uhr mehr- mals eine Topstory, die laufend aktualisiert wird, sowie das Wichtigste aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an.

der spiegel 5/1997 3 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite In diesem Heft

Titel Todesserie in Bremen entlarvt die Widerstand gegen die Steuerreform Seiten 22, 24, 26 Hilflosigkeit der Drogenpolitik ...... 36 In der Union wächst der Protest gegen Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau fordert eine Wende ...... 38 Theo Waigels Steuerreform: Nach dem Ariane Barth über die Reformbewegung Aufstand junger Landesfürsten und der Polizeipräsidenten ...... 40 Sozialpolitiker leistet nun auch Nor- Die Sucht kostet jährlich 13 Milliarden Mark.. 46 bert Blüm entschiedenen Widerstand: Die Experimente in der Schweiz und Der Arbeitsminister sieht sich als „Ge- in England...... 52 lackmeierter“, weil ihm die nötigen Deutschland Milliarden für die Rentenreform feh- len. Franz Klein, Ex-Präsident des Bun- Panorama: Erfolgsprämie für AOK- Funktionäre / Neue Vorwürfe gegen Stolpe .... 16 desfinanzhofs, zweifelt schon an der Steuerreform: Waigels Konzept entzweit Umsetzung der Bonner Pläne: „Eine die Union...... 22 wirklich große Reform“, so Klein im

Minister Blüm attackiert den Kanzler...... 24 M. DARCHINGER spiegel-Gespräch, „kann nur eine spiegel-Gespräch mit dem Steuerexperten Waigel Große Koalition durchsetzen.“ Franz Klein über die Reform ...... 26 Regierung: Kohls verpatzter Auftritt in Prag .. 28 Europa: Bonn soll Bußgelder an Brüssel zahlen...... 29 Fleisch: Wie der Rinderwahnsinn in den Öko-Stall kam...... 32 Die RAF ist tot Seite 78 Politisches Buch: Jan Karskis Bericht aus dem Warschauer Ghetto ...... 56 Die Rote Armee Fraktion, mehr als ein Jahrzehnt als Staatsfeind gejagt, ist nach Luftfahrt: Rauchmelder im Frachtraum der Überzeugung der Sicherheitsbehörden keine öffentliche Gefahr mehr. Zahlreiche An- Jets sollen Leben retten ...... 59 schläge wie auf den Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen und Einheit: Widerstand in den neuen Ländern gegen Helmut Kohl ...... 62 Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder bleiben vermutlich für immer ungeklärt. spiegel-Gespräch mit Lothar de Maizière über die Fehler der Vereinigung...... 66 Bestattungen: Tödliche Gifte aus dem Krematorium ...... 71 Medien: Zeitungen fallen auf Internet-Märchen herein ...... 74 Kuba-Krise und SPIEGEL-Affäre Seite 102 Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über das Urteil im Graf-Prozeß...... 75 „Augstein ist in Kuba“, mit Barschel-Affäre: Streit um das Ende dieser Tataren-Meldung leite- der Ermittlungen...... 77 te Strauß 1962 seinen Schlag Terrorismus: Staatsschützer erklären gegen den spiegel ein – die RAF für tot ...... 78 während Augstein in Wahr- heit als Untersuchungshäft- Wirtschaft ling in Hamburg saß. Aug- Trends: López-Vertrauter unter stein selbst wußte von dieser Korruptionsverdacht ...... 81 Währung: Der Euro schwächt die Mark...... 82 Lüge nichts, obwohl er in sei- Wer leitet die Europäische Zentralbank? ...... 84 ner Zelle eine „merkwürdige Optiker: Fielmann unter Druck ...... 85 Verbandelung“ mit Kuba wit- Unternehmen: Interview mit Grundig- terte. Den Kalten Krieg der Aufsichtsratschef Christian Schwarz- Supermächte im Vorfeld der Schilling über das Verhalten von Philips ...... 88 Kuba-Krise beschrieb Aug- Flugzeugindustrie: Ende des Super-Jumbo.... 89 stein anhand des Buches Konzerne: Viel Ärger mit Siemens-Software .. 90 „Tauwetter“ von Oleg Gri- MÜLLER-MAY F. Medien: Kirch will Premiere-Chef kippen / „Der Preis ist heiß“ wird eingestellt ...... 92 newski in spiegel 4/1997. Untersuchungshäftling Augstein 1962 Unterhaltungselektronik: spiegel-Gespräch mit Sony-Präsident Nobuyuki Idei über die Zukunft der Branche ...... 96 Zeitgeschichte Krisen: Wie Rudolf Augstein als Hoffen auf digitales Video Seite 96 Untersuchungshäftling die Kuba-Krise erlebte ...... 102 Mit neuen Produkten hatten die Hersteller der Unterhaltungselektronik in den vergangenen Gesellschaft Jahren wenig Erfolg. Nun setzen Geräteher- Pornoindustrie: Sexfilm-Stars in Budapest... 112 steller und Filmproduzenten alle Hoffnungen Glücksspiel: Training für Black-Jack- auf das digitale Video-CD-System, das eines Strategen ...... 115 Tages den Videorecorder ablösen soll. Die neue Königshäuser: TV-Hofreporter Rolf digitale Technik markiert den Beginn eines tief- Seelmann-Eggebert über den Adels-Boom .... 116 greifenden Umbruchs. Fernseher, Videorecorder Ausland und Personalcomputer wachsen immer enger zusammen. Für die Branche ist es „eine Frage Panorama Ausland: Mordserie in Algerien / Saddam Husseins gelähmter Sohn ...... 119 des Überlebens“, diesen Wandel nicht nur tech- Österreich: Neue Ära mit Klima ...... 120 / SABA WAGNER T. nisch zu bewältigen, meint Sony-Präsident Der Wiener Bürgermeister und SPÖ-Vize Sony-Chef Idei Nobuyuki Idei im spiegel-Gespräch. Michael Häupl über den Kanzlerwechsel ...... 122

6 der spiegel 5/1997 Tschetschenien: Die Wahlen in der aufsässigen Kaukasus-Republik ...... 124 Serbien: Die Frau hinter Milo∆eviƒ...... 126 Pakistan: Wege aus dem Terror ...... 130 Interview mit Ex-Playboy Imran Khan über seine politischen Ambitionen ...... 132 USA: Der ferngesteuerte Clinton ...... 134 Türkei: Frau Çiller und die Unterwelt...... 138 Frankreich: Krieg der Meisterköche...... 144 Wissenschaft + Technik Prisma: Wunderpflaster mit Infrarotlaser / Einstein als Erfinder ...... 147 Medizin: Ist Asthma die Folge von zuviel Reinlichkeit? ...... 148

P. DURAND / SYGMA P. Heimarbeit: PC-Arbeitsplatz zu Hause – Wahlkämpfer Khan ökologisch kein Vorteil...... 150 Bildung: spiegel-Gespräch mit Minister Jürgen Rüttgers über die Hochschulreform ... 154 Astronomie: Lichtverschmutzung ärgert Vom Playboy zum Premier? Seiten 130, 132 Hobbyastronomen...... 156 Bücher: Ist die Wissenschaft am Ende?...... 160 Er attackiert die Kaste der etablierten Politiker in Pakistan: Imran Khan, einst Computer: Dolmetschprogramm mit Kricket-Star und Playboy, will bei den Wahlen am 3. Februar Regierungschef wer- Allgemeinwissen ...... 164 den. Im spiegel-Interview predigt der Ex-Sportler, verheiratet mit der Tochter eines Fähigkeiten und Schwächen gängiger britischen Multimillionärs, die Vorzüge des Islam: „Allah hat mir alles geschenkt.“ Übersetzungshilfen ...... 165 Tiere: Auf den Spuren des legendären Beutelwolfs ...... 168 Kultur Szene: Christoph Marthaler antwortet Porno-Metropole Budapest Seite 112 Marcel Reich-Ranicki / Helge Schneider über seinen neuen Blöd-Film...... 171 Zu den bevorzugten Produkten aus Intellektuelle: Der Trillerpfeifen-Protest Ungarn, mit denen Geld zu machen von Belgrad ...... 174 ist, gehört Leinwand-Sex: Nirgend- Abenteuer: Interview mit Michael Douglas wo anders gibt es so günstige Ar- über Männer und Löwen ...... 178 Musiktheater: Neutöner Helmut beitsbedingungen. Die Drehbücher Lachenmann blamiert sich in Hamburg...... 180 der Filme, die Budapest zur Porno- Kino: Hark Bohms bewegender Metropole Europas gemacht haben, Adoptions-Film ...... 182 passen zwar auf Postkarten. Doch Literatur: Michael Crichtons Thriller ihre Darsteller, oft zuvor Kleinver- „Airframe“...... 184 diener, schreckt das Milieu nicht. Bestseller...... 185 Sekten: Hollywood-Regisseur Oliver Stone Sie wollen nur durchhalten, kein MUSCIONICO / CONTACT T. Aids kriegen und Geld machen. Sexfilm-Darstellerinnen in Budapest über seinen Einsatz für Scientology ...... 188 Fernseh-Vorausschau ...... 202 Sport Formel 1: Millionengagen für Konstrukteure...... 190 Bob: Thüringens Finanzminister deckt Computer mit Sprachgefühl Seite 164 Stasi-Zuträger und Dopingsünder ...... 193 Nach einer Maschine, die Sprache versteht und sinnvoll übersetzen kann, suchen Rad: Sechstagerennen-Fieber im Forscher schon seit über 40 Jahren. Deutsche Experten haben jetzt ein Überset- Prenzlauer Berg ...... 194 zungsprogramm ersonnen, das erste Ansätze zu einem Verständnis der Welt zeigt. Briefe ...... 9 Impressum ...... 14, 197 Register...... 198 Personalien...... 200 Ferraris Aufholjagd Seite 190 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 206 Nicht der beste Fahrer, sondern das beste Auto gewann 1996 die Formel- 1-Weltmeisterschaft: Gegen in einem technisch überlegenen Das Attentat Williams war Ferrari-Pilot Michael auf Andy Warhol macht Schumacher ohne Chance. Ferrari Schauspielerin Lili Taylor hat reagiert: Das 97er Modell sieht zum Kino-Ereignis. Au- dem Williams täuschend ähnlich. Als ßerdem in spiegel extra, Technikchef wurde zudem Ingenieur dem Kultur-Magazin für Ross Brawn verpflichtet, mit dessen Abonnenten: Comic-Hel-

M. SANDTEN / BONGARTS Hilfe Schumacher bei Benetton den im Überflug und Ber- Schumacher, Hill (vorn) schon zweimal Weltmeister wurde. lins Zentrum im Aufbau.

der spiegel 5/1997 7 Werbeseite

Werbeseite Briefe „Was machen aber diejenigen, die ein bißchen langsam sind und verträumt, die leider keine tollen Ideen haben und daher nach heutigem Duktus zu den Losern gezählt werden müssen?“

Hansjörg Orthwein aus Stuttgart zum Titel über junge Unternehmer

stätten und Jour-fixe-Terminen die Mög- Unverschämtes Glück lichkeit, in Kontakt zu Unternehmens- (Nr. 3/1997, Titel: Erhards Enkel – gründern, Managementexperten und po- Gründungsboom durch junge Unternehmer) tentiellen Kapitalgebern zu treten. Dar- über hinaus unterstützen wir studentische Die weißen Raben dürfen nicht über die Forschungsprojekte und veranstalten seit fortbestehende deutsche Gründungsmise- 1996 Business Plan Wettbewerbe nach re hinwegtäuschen. Vor allem im produ- amerikanischem Vorbild. zierenden Bereich fehlt es an innovativen Berlin Sven Ripsas Existenzgründungen. Die Gründe für die- Existenzgründer-Institut Berlin se Misere liegen auf der Hand: Existenz- gründer sehen sich einer Front von Ver- Es muß sich wohl auch etwas an der deut- ordnungen und Gesetzen gegenüber, die schen Mentalität ändern. Gute Ideen wer- der Einrichtung DIN-konformer Beleg- den einfach nicht belohnt. Viele soge- schaftstoiletten größere Bedeutung bei- nannte Experten zählen erst hundert messen als der ohnehin dün- Gründe auf, warum etwas nen Kapitaldecke der Jungun- nicht funktionieren wird, be- ternehmen. Und nicht zuletzt vor es ihnen in den Sinn sind die Rahmenbedingungen kommt, daß es vielleicht doch für die Bereitstellung von Ri- klappen könnte. So werden sikokapital eine einzige Kata- Innovationen schlichtweg ver- strophe. schlafen, und Talente ver- Ludwigshafen Prof. U. Hannig schreckt oder ins Ausland ge- drängt, zum Schaden der Ich kann ja Ihre Kurven zum deutschen Wirtschaft. Glück auch lesen: Das heißt Cambridge Willy Ballmann also, auf vier Neugründungen kommen drei Pleiten. Über- Mit 16 Jahren stellten zwei haupt: Die sehr stabilen Er- SPIEGEL-Titel 3/1997 Klassenkameraden und ich, folgsgeschichten sind hauch- nachdem wir gemeinsam ei- dünn, oder aber sie bauen auf lange vor- nen Computer zusammenbauten, fest, daß geleisteter Arbeit und entsprechend ge- es doch möglich sein sollte, mit diesen wachsenen sozialen Netzwerken nur auf. Fähigkeiten Geld zu verdienen. Nach Ber- Hamburg Dr. Edgar Libenstein liner Vorbild eröffneten wir einen PC-Not- dienst und sattelten mit geliehenem Geld Leider ist das Universitätsumfeld nur sehr und unverschämtem Glück im April 1994 langsam in der Lage, auf die veränderten um auf Handel. Seitdem führen wir unser Bedürfnisse der Absolventen zu reagieren. Geschäft expansiv und erfolgreich. Die Seit 1994 gibt es deshalb die von Wirt- Tendenz zu jungem Unternehmertum schaftssenator Pieroth moderierte Exi- kann ich bestätigen, in meinem Bekann- stenzgründer-Werkstatt. 1995 wurde daraus tenkreis finden sich Nacktputzservice-, Co- in Zusammenarbeit mit Berliner Professo- pyshop-, Pizzadienst- und Telekommuni- ren und Unternehmern ein gemeinnützi- kationsgroßhandelsbesitzer, die sich noch ges, privatfinanziertes Institut. Das Exi- vor Vollendung des 30. Lebensjahres selb- stenzgründer-Institut Berlin e.V.bietet Ab- ständig machten. solventen der Hochschulen in den Werk- Freiburg David Harnasch

Vor 50 Jahren der spiegel vom 25. Januar 1947

Deportiertenzug mit 1543 Deutschen aus Schlesien 65 Tote bei Abtransport in ungeheizten Waggons. Kohleförderung steigt Ab 1. April völlig in deutschen Händen. Junge Deutsche wollen Arbeitsmänner bei den Briten werden Gute Bezahlung und Verpfle- gung. Reparationsforderungen an Deutschland Belgien will Kohle, Griechenland Pferde. Bing Crosby zugkräftigster Kinostar Clark Gable und Gary Cooper werden abgelöst.

Das Titelbild zeigt den aus Breslau Ende 1946 deportierten Kaufmann Georg Queck

der spiegel 5/1997 9 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Briefe Kohl, Bund und Länder fordern und för- kaniert und mißhandelt werden, ist das dern eine Gründungsoffensive. In allen Entstehen und Äußern einer Antihaltung Festreden und Informationsbroschüren nach dem Motto „Wir sind Ossis, und dar- wird aber immer verschwiegen, daß das auf sind wir stolz“ nur logisch. Und so Scheitern ihres Unternehmens für die stellt das Hissen einer DDR-Flagge wohl überwiegende Zahl der meist persönlich weniger eine Reminiszenz an Erich haftenden Gründer dem wirtschaftlichen Honecker dar, sondern verdeutlicht eher Tod gleichkommt. Für diese ,,Fälle“ gibt es den Versuch zu zeigen: „Unsere ganze dann keine Checklisten der IHK oder be- Würde könnt ihr uns nicht nehmen!“ zuschußte Wochenendseminare als Hilfe- Jena Stefan Meißner stellung für einen geordneten Neuanfang mehr. Als einzige Maßnahme nach dem Es gibt auch andere Gefühle. Der West- Zusammenbruch eines Unternehmens basketball-Verein „Alba Berlin“ spielt jetzt steht bei den öffentlichen Förderprogram- im Osten, in Prenzlauer Berg mit einer tol- men nur die Forderung nach sofortiger len Stimmung vor Tausenden von begei- Rückzahlung der Fördermittel auf dem sterten Zuschauern aus Ost und West. Plan. Man pfändet und verwertet zeitle- Berlin Reinhard Kraetzer bens jedes Privateigentum des vormals Ge- Bezirksamt Prenzlauer Berg von Berlin förderten und läßt ihm nicht mal den Strick als humanitäres Zeichen zurück. Banken stehen ihnen da in nichts nach. Wie grotesk! Raeren (Belgien) Marion Eisenbarth (Nr. 3/1997, Öffentlicher Dienst: So krank sind Deutschlands Staatsdiener) Hervorragender Ruf Ich bin Lehrerin und war im letzten Schul- (Nr. 3/1997, Fans: Sportstadien werden zu jahr nur an einem einzigen Tag krank. Hät- Kultstätten ostalgischer Gefühle) te ich ein Attest – wie nach den Plänen von Herrn Kanther vorgesehen – benötigt, Keinesfalls viele, sondern vielmehr sehr hätte dies dem Land Arztkosten verur- wenige, genauer circa drei bis fünf von sacht. Vor einigen Jahren erkrankte ich an mittlerweile 143 Fanklubs des FC Carl einer schweren Laryngitis. Da man als Leh- Zeiss Jena sind als Hooligans einzuschät- rerin die Stimme ständig stark beanspru- zen. Die namentlich aufgeführten Fanklubs chen muß, wurde ich für längere Zeit gehören definitiv nicht dazu. Es würde uns krank geschrieben. Auf eigene Verantwor- sehr interessieren, wie Sie zu der „Er- tung ging ich trotzdem in die Schule. Vie- kenntnis“ kommen, daß Hooligans „den le KollegInnen handeln ähnlich, aber dar- Verein immer wieder in Verruf“ bringen über wird seltsamerweise nichts berichtet. würden. Richtig ist, daß der FC Carl Zeiss Sindelfingen E. Ebler-Stübner Jena und seine Fans in Deutschland einen hervorragenden Ruf besitzen. Das Pro- Es ist nicht korrekt, die Berufsgruppe der vozieren mit dem Hitlergruß war ledig- „Lehrer“ über einen Kamm zu scheren. lich bei Teilen der deutschen Hooligans Ich unterrichte an einer Schule für geistig während der Länderspiele in Rotterdam behinderte Kinder: In dieser Schulart wer- und Zabrze zu beobachten. den seit Jahren kaum noch junge Kollegen Jena Matthias Stein eingestellt, das Durchschnittsalter unseres Kollegiums liegt bei 50 Jahren. Viele unse- Wenn aus purer Abneigung zahlreicher rer Kinder und Jugendlichen müssen ge- „Staatsdiener“ gegenüber ostdeutschen hoben, getragen, gewickelt werden; die Fans Unbeteiligte und friedliche Fans schi- meisten Kollegen leiden deshalb schon in A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN Berliner Eishockey-Fans: Es gibt auch andere Gefühle

12 der spiegel 5/1997 W. M. WEBER W. Schulunterricht in München Vollzeit oder Frühpensionierung? jungen Jahren an Rückenschmerzen. Er- krankungen müssen fast immer vom Kol- legium aufgefangen werden. Ältere Kolle- gen, die Teilzeit arbeiten wollten, weil sie sich nicht mehr voll belastbar fühlten, wur- den bis jetzt vor die Alternative ,,Vollzeit oder Frühpensionierung“ gestellt. So ist es nicht verwunderlich, daß kaum einer bis zum 60. Lebensjahr durchhält. Würzburg Ulla Glaab

Wie grotesk! Ein medizinischer Laie soll beurteilen, ob die Krankschreibung des Arztes zu Recht erfolgte oder nicht. Nicht minder abwegig ist die Regelung, ab dem ersten Tag eine Krankschreibung vom Arzt beibringen zu müssen. Erkältungs- oder Darm-Attacken von ein bis drei Tagen Dauer sind nun mal typisch. Statt am vier- ten Tag wieder in der Dienststelle zu sein, wird man zum Arzt gehen und sich auch für den Rest der Woche krank schreiben lassen. Es ist völlig kontraproduktiv, die Arztkosten wie die Länge der Fehlzeiten werden sich nur erhöhen. Pfinztal-Wöschbach (Bad.-Württ.) Professor Dr. Lásló Trunkó

Unermüdlicher Einsatz (Nr. 1/1997, Medizin: Vollständig gelähmt und doch be- wußt – das schwierige Leben der Locked-in-Patienten)

Auch ich bin Locked-in-Patient gewesen, leide an den Folgen eines Kleinhirn-In- farktes, kann aber mittlerweile wieder mit einer Gehhilfe im häuslichen Bereich lau- fen. Zu Beginn meiner Erkrankung wurde ich, wie in einem Horrorfilm, von den Sa- nitätern für tot erklärt und durfte dieses bei vollem Bewußtsein miterleben. Man hat bei mir sehr früh die richtige Diagno- se gestellt. Hätte man mich nicht künstlich ernährt, und hätte ich damals keinen Luft- röhrenschnitt bekommen, so wäre ich jetzt wirklich tot. Nur durch diese frühe Thera- pie und den unermüdlichen Einsatz von Personen, die mir nahestehen, konnte ich den Locked-in-Zustand verlassen. Berlin Dr. Karl-Heinz Pante

der spiegel 5/1997 Briefe Zu Unrecht zugeordnet (Nr. 50/1996, Pflegeversicherung: Blüms Reform erstickt in Chaos und Unzulänglichkeiten) Der von Ihnen geschilderte Fall der pfle- gebedürftigen Klementine Schuhmann aus Bonn, deren Krankenkasse nicht zahlt, die von der Pflegeversicherung unberücksich- tigt bleibt und deren Altenheim die Schließung aus wirtschaftlichen Gründen ankündigt, wird von Ihnen zu Unrecht dem Bonner Johanniterhaus Alten- und Pflege- heim zugeordnet. Tatsächlich wohnt in un- serem Heim keine Klementine Schuhmann. Und wir legen Wert auf die Feststellung, daß unser Haus nicht zum Ende des Jahres schließt und daß an eine Schließung des Hauses auch nicht gedacht ist. Bonn K. von Heimendahl

Johanniterhaus evang. Alten- und ARGUM Pflegeheim Beethovenallee e. v. Sonnenbadender (auf dem Brauneck): Nur feuchte Luft empfindet der Mensch als kalt

Herr von Heimendahl hat recht. Klemen- Luftfeuchtigkeit steigert die Wärme-,Wind- und distanzverletzendes Anfassen bei den tine Schuhmann lebt im Bonner „Haus geschwindigkeit die Kälteempfindung. Ab männlichen Ausgefragten; anbiedernde Be- Cäcilia“, dessen Betreiber – wie berich- 37 Grad dreht sich das Ganze um: Wü- tulichkeit und „Bussis“ bei den weiblichen tet – am 12. Juni 1996 die Schließung stenwinde werden zu Hitzemördern. Promis. ankündigte. –Red. München Thomas Jäger Münster Anja Stromann

Bei naßkaltem Wetter wickelte mich mei- Glücklicherweise stehen Herrn Mohr „Iro- Wüstenwinde werden Hitzemörder ne Großmutter etwas wärmer ein. Sie wuß- nie und Zynismus als Mittel des Geldver- (Nr. 3/1997, Meteorologie: Ein Mensch im Rechner te vor 80 Jahren schon, daß man sich nicht dienens“ zur Verfügung. Und so stürzt er liefert die „gefühlte Temperatur“) auf die Grade Celsius am Thermometer sich mit diesen Mitteln auf eine der weni- verlassen konnte. Das wissen auch die Leu- gen erholsamen Erscheinungen im Fern- Schon 1927 hatte Yaglou die Klimagrö- te im Schweizer Engadin. Dort herrscht im sehen – Roger Willemsen. Der Mann lädt ßen Lufttemperatur, -feuchtigkeit und -ge- Winter eine Luftfeuchtigkeit unter 70 Pro- ja auch dazu ein, ist er doch nicht so selbst- schwindigkeit in Normtabellen für die zent. Dann kann es ruhig 30 Grad unter verliebt wie Harald Schmidt, und erfüllt Ermittlung der sogenannten Effektivtem- Null haben, man friert nicht. Nur feuchte nicht den momentan so angesagten peratur – als Resultat akribischer Klima- Luft empfindet der man als kalt. Natürlich „Wir verarschen alles“-Zynismus, welchen vergleichsstudien – verrechnet. Zahlreiche kühlt der Wind die Haut. Das ist im Som- Korrekturformeln berücksichtigen Tex- mer angenehm. Aber bei fünf Grad plus tilarten und Wärmestrahlung. Dem Tro- kann ein Wind mit feuchter Luft ein eisi- penreisenden wird dies nichts Neues sein: ges Gefühl auf der Haut verursachen. Die 25 Grad Celsius bei 100 Prozent Luft- Wissenschaft hat eigentlich lange ge- feuchtigkeit und Windstille (= 25 Grad Ef- braucht, um den Begriff „gefühlte Tempe- fektivtemperatur), werden wärmer emp- ratur“ zu konstruieren. funden als 30 Grad bei 25 Prozent Luft- Lindenberg (Bayern) Dr. med. Arnold Burg feuchtigkeit an einem mit 0,5 Meter pro Sekunde Windgeschwindigkeit luftigen eu- ropäischen Hochsommertag (= 23 Grad Ef- Erholsame Erscheinung fektivtemperatur). Ihre Aussage – „die ge- (Nr. 3/1997, Stars: Der Abstieg fühlte Temperatur liegt meist tiefer als die des TV-Intellektuellen Roger Willemsen) gemessene“ – dürfte sich als unzulässige

Nivellierung entpuppen.Als Faustregel gilt: Kaum hat es ein Mann wie Roger Willem- PRESS ACTION sen vollbracht, durch seine unterhaltsame Talkmaster Willemsen und geistvolle Moderation die Talkshows in Erfolgreich? – Das darf nicht sein! ein glanzvolleres Licht zu rücken, reagiert mal wieder prompt die Medienwelt: Harald Schmidt seinem Yuppie-Publikum VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Steuerreform, Europa, Politisches Buch, Erfolgreich? In Deutschland? Das darf so erfolgreich verkauft. Roger Willemsen Bestattungen, Bildung: Dr. Martin Doerry; für Fleisch, nicht sein! kann vielmehr intelligente Fragen stellen Titelgeschichte (S. 38, 52), Luftfahrt, Einheit, Medien (S. 74), Barschel-Affäre, Terrorismus: Heiner Schimmöller; für Hamburg Angelina Borgaes und vor allem bei den Antworten zuhören! Trends, Währung, Optiker, Unternehmen, Flugzeugindu- Wenn er dabei oft von seinen jungen weib- strie, Konzerne, Medien (S. 92), Unterhaltungselektronik: Auch nach zweimaligem Lesen ein sprach- lichen Gästen fasziniert scheint – sei’s Armin Mahler; für Glücksspiel, Königshäuser, Szene, Intellektuelle, Abenteuer, Literatur, Bestseller, Fernseh- licher Hochgenuß von Reinhard Mohr zur drum. Vorausschau: Dr. Mathias Schreiber; für Panorama Aus- wundersamen Wandlung des einstigen TV- Bremen Yorck Voigt land, Österreich, Serbien, Pakistan, USA, Türkei, Frank- reich, Sekten: Dr. Erich Follath; für Prisma, Medizin, Heim- Intellektuellen Roger Willemsen. Genau Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu arbeit, Astronomie, Bücher, Computer, Tiere: Jürgen auf den Punkt gebracht wird prägnant for- Petermann; für Formel 1, Bob, Rad: Alfred Weinzierl; für veröffentlichen. namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, muliert, was dem Talk-Zuschauer bei Wil- Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. lemsen so auf die Nerven geht und zum Manfred Weber; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps Abschalten zwingt: gestelzte Heuchelei, Eine Teilauflage dieser spiegel-Ausgabe enthält eine (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) Beilage der Firma Hütters’s Wohnwelt, Berlin, und der TITELFOTO: Monika Zucht überflüssiges „Geduze“ (mit dem Hinweis Aegon Versicherung, Düsseldorf. Der Postauflage liegt darauf, daß man sich schon lange kenne) eine Verlegerbeilage spiegel extra bei.

14 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Panorama J. GIRIBAS / GEGENDRUCK GIRIBAS J. Deutsch-polnischer Brückenschlag durch Pioniere beider Armeen

NATO-OSTERWEITERUNG Gipfels im Juli geben. Dem Moskauer Bedürfnis nach völkerrechtlich verbriefter Sicherheit könne der Westen zudem mit Solana bleibt hart einem neuen Abrüstungsvertrag über kon- ventionelle Streitkräfte in Europa sowie ei- er Streit um die Nato-Osterweiterung Kohls gegenüber Boris Jelzin, daß die nem Abkommen über atomar bewaffnete Dkonzentriert sich auf die Gegenlei- „Nato-Militärmaschine“ nicht an Rußlands U-Boote entsprechen. Solana machte Pri- stungen, für die Moskau den Beitritt ehe- Grenzen heranrücken werde: Der Nato- makow aber auch klar, daß die neuen Nato- maliger Warschauer-Pakt-Staaten akzep- Verzicht auf die Stationierung von Atom- Staaten in die militärische Infrastruktur des tieren würde. Der russische Außenminister waffen in den Beitrittsstaaten gelte nur un- Bündnisses einbezogen werden müßten, Jewgenij Primakow verlangte vorigen Mon- ter den gegenwärtigen Bedingungen. Das etwa in das Luftverteidigungssystem. tag beim Auftakt seiner Verhandlungen mit aber lasse sich, so der Nato-Generalse- Offen blieb, ob wenigstens die Charta des Nato-Generalsekretär Javier Solana, daß kretär, schwerlich völkerrechtlich verbind- neu zu schaffenden Nato-Rußland-Rats, in die von der Nato angebotene „Sicherheits- lich fassen. Ebensowenig könne sich das dem Moskau weitgehend gleichberechtigt partnerschaft“ völkerrechtlich verbindli- Bündnis auf den von Moskau geforderten sein soll, verbindlich festgeschrieben wird. chen Charakter haben müsse. Der Vertrag Verzicht auf die Stationierung fremder Solana glaubt, daß die Russen der Erwei- solle von den Parlamenten sämtlicher Teil- Nato-Truppen für alle Zeiten einlassen. terung letztendlich zustimmen – zumal nehmerstaaten ratifiziert werden. Für diese beiden Punkte aber solle es, so den Russen bedeutet wurde, die Nato wer- Solana lehnte diese Forderungen ab. Er re- Solana, eine für einen überschaubaren de die Ausweitung für lange Zeit auf Polen, lativierte damit auch die Zusage Helmut Zeitraum verbindliche Erklärung des Nato- Ungarn und Tschechien beschränken.

ZUWENDUNGEN sungen gefragt wurden, zog die Staats- KRANKENKASSEN kanzlei den Vorgang an sich. Die Regie- Geld ohne Arbeit rungszentrale teilte den Kabinettsmitglie- Ziellos glücklich dern schriftlich mit, daß die Fragen zentral ie nordrhein-westfälische Landesre- beantwortet würden: „Eine Stellungnah- er siebenköpfige Vorstand der AOK Dgierung muß den Bürgern eine me Ihrerseits ist somit nicht mehr nötig.“ DBayern hat für sich die Auszahlung ei- großzügige Gabe an diverse Landespoliti- Im Hause des Ministerpräsidenten Johan- ner Erfolgsprämie von jeweils 50000 Mark ker verständlich machen. nes Rau wurde eine Er- erzwungen. Der Vorstandsvorsitzende Her- Die grüne Landtagsabge- klärung aufgesetzt, die bert Schmaus und seine sechs Gefolgsleu- ordnete Alexandra Lands- dann freilich als Stellung- te berufen sich auf ihre Verträge, die bei Er- berg hatte öffentlich be- nahme der Investitions- reichen der geplanten Ergebniszahlen die richtet, daß sie unlängst Bank verbreitet wurde. Überweisung der Prämie garantieren. Da- 10000 Mark von der Inve- Tenor: Sitzungen hätten bei stört es die im Schnitt mit 250 000 bis stitions-Bank NRW erhal- nicht stattgefunden, weil 300000 Mark dotierten Vorständler nicht, ten hatte – als Jahresver- der Beirat sich noch nicht daß die Selbstverwaltung der Kasse bis- gütung für ihre Mitglied- konstituiert habe. Die Be- lang gar keine Ergebnisziele definiert hat. schaft im Beirat der Bank. ratungsfunktion der Bei- Wenn es keine Planzahlen gebe, sei das Dabei hatte das Gremium ratsmitglieder gehe aber Ziel eben erreicht, argumentierten sie und im vergangenen Jahr nicht weit über die Teilnahme drohten mit Rücktritt. Ein Ergebnis liegt ein einziges Mal getagt. an Sitzungen hinaus: „Ei- freilich vor: Die AOK Bayern mußte ihren Als daraufhin ein halbes ne Aufteilung in Grund- Beitragssatz von 13,2 auf 13,7 Prozent er- Dutzend Minister, ebenfalls vergütung und Sitzungs- höhen mit der Folge, daß auch die Eigen-

Mitglieder des Bank-Beira- / MELDE PRESS S. MÜLLER-JÄNSCH geld ist daher allgemein beteiligung der Versicherten an Pillen und tes, nach ihren Überwei- Rau üblich.“ Massagen drastisch steigen wird.

16 der spiegel 5/1997 Deutschland

PLUTONIUM klärt, daß sich das Plutonium in Moskau Am Rande befindet. Weitzel hat den Strafbefehl ak- Geldstrafe für Agenten zeptiert. Nun kann sich der Mitarbeiter des Bun- ie Legende, Bundesnachrichtendienst desnachrichtendienstes gegenüber dem RoteCard D(BND), Polizeibehörden und Kanzler- Bonner Plutonium-Ausschuß nicht länger ei ihrer Ankunft in Deutschland amt hätten vom Plutoniumschmuggel auf sein Aussageverweigerungsrecht be- Bkönnten Flüchtlinge künftig nicht an Bord einer Lufthansa-Maschine von rufen. Der Ausschußvorsitzende Gerhard nur mit ruppigen Beamten und sticki- Moskau nach München am 10. August Friedrich (CSU) plädiert für die rasche gen Warteräumen konfrontiert werden, 1994 nichts wissen können, ist wider- Vernehmung dieser „zentralen Figur“. sondern kriegten gleich auch noch ein legt. CDU-Obmann Andreas Schmidt dage- Beispiel deutscher Hochtechnologie in Das Amtsgericht München erließ Mitte Ja- gen will an dem rechtlich höchst zweifel- die Hand gedrückt: die AsylCard. nuar gegen den BND-Mitarbeiter Willy haften Beschluß der Koalitionsmehrheit Darauf sollen ihre Daten nach Bonner Weitzel alias Andreas Liesmann einen festhalten, nach der zweiten Einvernahme Vorstellungen zur besseren Kontrolle Strafbefehl über 9000 Mark. Er hatte als des Geheimdienstkoordinators Bernd einheitlich gespeichert werden. Asyl- Dolmetscher und Drahtzieher gemeinsam Schmidbauer Ende dieser Woche die Be- Card – diese Wortschöpfung verdient mit bayerischen Fahndern mit den Plu- weisaufnahme zu unterbrechen und einen Beifall. Das Wort klingt hübsch harm- toniumschmugglern über den Ankauf Zwischenbericht zu erstellen. los, so als ob ein Verfolgter die Karte bei seiner zuständigen Aufnahmestelle nur noch durch einen Prüfautomaten ziehen müßte, und schon bekäme er Asyl („AsylCard – Die Freiheit nehm’ ich mir“). Anders aber als bei den Karten, die unsereins so in der Tasche hat – die BahnCard, die Goldene KundenCard von der Stammkneipe („DoornCard“) sowie die Chipkarte der Krankenkas- sen („AOCard“ ) –, hat die AsylCard keinen Service-Charakter. Sie soll den Mißbrauch von Sozialleistungen ver- hindern und trägt deshalb so viele per- sönliche Daten, daß Datenschützer die Karte ablehnen.

AP Nun gelten Datenschützer oft als Men- Geigerzähler (l.), Plutoniumkoffer schen, bei denen der erhobene Zeige- finger eine Art Berufskrankheit ist, des Bombenstoffes verhandelt (spiegel Mit ihrem Aussetzungsbeschluß, argwöhnt weshalb man sie nicht ernst zu neh- 15/1995). Im Prozeß gegen die drei Atom- die Opposition, wolle die Union vor allem men braucht.Wahrscheinlich wird man dealer hielt Weitzel die Behördenlegende die fälligen Ausschuß-Auftritte von Kanzler versuchen, sie von den vielen, bisher aufrecht, man sei von der Lagerung des Helmut Kohl und seinem Amtschef, dem unerwähnten Vorteilen der Karte zu Nuklearmaterials in Deutschland ausge- BND-Aufseher Friedrich Bohl, hinauszö- überzeugen: Die meisten Flüchtlinge gangen. Tatsächlich, führte das Amtsgericht gern. Die Sozialdemokraten prüfen, ob sie stammen ja aus den ärmeren Regionen aus, hatten die Täter im Beisein des BND- den Beschluß vor dem Bundesverfassungs- der Welt, haben nie irgendeine Karte Mannes am 25. Juli 1994 ausdrücklich er- gericht in Karlsruhe anfechten können. gehabt und besitzen nicht einmal eine Geldbörse mit den entsprechenden Fächern. ÖFFENTLICHER DIENST Monatlicher Netto-Gehaltsvorteil von 1975 Da würde das Plastikstückchen von der Beamten gegenüber Angestellten im 1980 Behörde die Integration mächtig för- Beamten-Privileg Öffentlichen Dienst in Mark und Prozent 1995 dern, wenn es künftig bei der Ausgabe Quelle: Grottian, Weidmann/ FU Berlin von Sachleistungen heißt: „Bezahlen eamte bekommen bis zu 22 Prozent Sekretär/in 46,64 (4,9%) Sie einfach mit Ihrem guten Namen.“ mehr Geld ausbezahlt als vergleichbare ledig, 78,80 (6,8%) Wären dann noch die Karten je nach Angestellte im Öffentlichen Dienst. So er- Anfangsgehalt Herkunft der Flüchtlinge unterschied- hielt nach Berechnungen der Freien Uni- 151,74 (8,7%) lich farblich gestaltet („EthnoCard“), versität Berlin ein Regierungsdirektor 1975 ließen sich obendrein unerwünschte monatlich 2649 Mark netto. 20 Jahre später Sachbearbeiter/in 76,59 (5,0%) Streitereien im Wohnheim leichter ver- waren es 4884 Mark. Bei einem vergleich- ledig, Endgehalt 146,71 (8,4%) meiden. baren angestellten Referatsleiter blieben Den ehrlichen, anerkannten Flüchtlin- nach Abzug der Beiträge für Arbeitslosen- 206,39 (7,7%) gen könnte man die Goldene AsylCard und Rentenversicherung dagegen nur 2364 in Aussicht stellen. Die berechtigt dann Mark (1975) bzw. 4003 Mark (1995) übrig. Gymnasiallehrer/in 222,73 (9,1%) dazu, eine SteuerCard zu beantragen Seither ist die Schere noch größer gewor- verheiratet, Endgehalt 411,44 (14,3%) und sich eine ordentliche Arbeit zu su- den, da bei den Angestellten die Beiträge chen. Und auch die abgelehnten Be- zur Rentenversicherung weiter gestiegen 729,93 (17,6%) werber hätten was davon. Plastik und sind. Die Zahlen widerlegen die Argumen- Magnetstreifen dienen ihnen als Fahr- Regierungsdirektor, 285,13 (12,1%) tation der Beamtenlobby, ihre Klientel ver- Referatsleiter/in Card in die Heimat, das Kärtchen dür- diene weniger und könne deshalb nicht ledig, Endgehalt 487,22 (18,3%) fen sie als Souvenir behalten. So was auch noch mit Beiträgen für die Pensionen nennt man dann Technologietransfer. belastet werden. 880,58 (22,0%)

der spiegel 5/1997 17 Panorama

BRANDSTIFTUNG Einer packt aus er Staatsanwaltschaft Frankfurt D(Oder) liegen neue Erkenntnisse vor über den Brandanschlag auf ein – noch unbewohntes – Asylbewerberheim im brandenburgischen Dolgenbrodt. Das Ende 1992 gelegte Feuer hatte weltweit für Schlagzeilen gesorgt, weil der Verdacht bestand, die Dorfbewohner hätten Geld gesammelt und den Anschlag bei Rechts- radikalen in Auftrag gegeben. Einer der Brandstifter, Silvio J. aus Königs Wuster- hausen, ist bereits verurteilt; er belastet jetzt weitere Dorfbewohner als Hinter- männer und Mittäter. S. MORGENSTERN Psychiatrische Uni-Klinik Mainz

KLINIK-SKANDAL

Doppelt finanziert DPA Asylbewerberheim-Ruine in Dolgenbrodt egen einer fragwürdigen Informa- nanzierung ist nach Auffassung von Fach- Wtions- und Abrechnungspraxis bei leuten unzulässig. Von der Barmer Ersatz- Am 13. Januar wurde ein Blumenhändler kommerziellen Arzneimitteltests in der kasse droht der Klinikleitung jetzt eine des Ortes unter dem Verdacht auf Anstif- Psychiatrischen Uni-Klinik Mainz gerät Strafanzeige wegen Betruges. Laut einem tung verhaftet. Laut Staatsanwaltschaft ha- die Krankenhausverwaltung jetzt unter internen Schreiben geht die Kasse von ei- ben mehrere Zeugen gesehen, wie Silvio Druck der großen Krankenversicherungen. nem Straftatbestand aus, wenn sich etwa am Tag nach der Tat im Haus des Floristen In etlichen Fällen hatte es der Mainzer herausstellt, daß Patienten wegen der Tests war, um seine Belohnung abzuholen. Psychiatrie-Chef Professor „länger als üblich in der Kli- Außerdem soll der Blumenhändler mehr- Otto Benkert unterlassen, nik gelegen hätten“. Für Be- mals Schweigegeld an Silvio gezahlt ha- Hausärzte über die Teilnahme trug hielte der Barmer-Exper- ben, zuletzt am Tag seiner Verhaftung. ihrer Patienten an Arzneimit- te Gerd Glaeske auch jene Fäl- Ein weiterer Beschuldigter aus dem Nach- telprüfungen zu unterrichten le, in denen Patienten während bardorf ist für diese Woche von der Staats- (SPIEGEL 4/1997). Die Kassen ihres stationären Klinikaufent- anwaltschaft vorgeladen worden. Er hatte zahlten nach Ansicht von haltes an Studien teilnahmen, Silvio nach dem Brand zur Geldübergabe Insidern unfreiwillig für die „ohne daß dies bei den Beleg- gefahren. Er soll verschwiegen haben, daß Tests mit. tagen in Abzug gebracht wor- er Silvio anschließend zu dem Rechtsradi- Die Klinik erhält für die Stu- den wäre“. kalen Marko S. brachte, wo der Erfolg der dien Millionenbeträge von der Auch der Mainzer Wissen- Tat angeblich vermeldet wurde.Auch Mar- Industrie, dennoch berechnete schaftsminister Jürgen Zöllner ko und sein Vater müssen jetzt bei der sie den Kassen für die Testpa- (SPD) und die rheinland-pfäl- Staatsanwaltschaft aussagen. Sie sollen den

tienten die kompletten Pflege- / NETZHAUT DIETRICH J. zische Landesärztekammer ha- Anschlag mitgeplant und die Molotow- sätze. Eine derartige Doppelfi- Benkert ben Prüfungen angeordnet. Cocktails gebaut haben.

BRAUNKOHLE Aus für Horno rückt näher rotz eines laufenden Anhörungsverfahrens will die branden- Tburgische Landesregierung das endgültige Aus für das Dorf Horno in der Lausitz besiegeln. Die Gemeinde, deren 360 Ein- wohner eine Umsiedlung bisher abgelehnt haben, soll dem Braunkohle-Abbau weichen. Ein Gesetzentwurf des Umweltministers, der dem Kabinett am Dienstag zur Entscheidung vorgelegt wird, schreibt die „Auflö- sung“ und „Umsiedlung“ der Gemeinde „mit dem Tag der näch- sten landesweiten Kommunalwahlen“ vor. Im Beiblatt zum Ge-

J. LIEBE J. setz heißt es unter „Punkt C. Alternativen: keine“. Bürgerprotest in Horno

18 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Panorama

STASI Immer im Dienst n der Affäre um die DDR-Verdienstme- Idaille von Manfred Stolpe sucht die Pots- damer Staatsanwaltschaft weiter nach Indizien, die den Ministerpräsidenten ent- lasten könnten – obwohl das Verfahren offiziell abgeschlossen ist. Im Potsdamer Justizministerium glaubte man letzte Woche einen Beweis gefunden zu haben, daß der Stasi-Major Klaus Roß- berg am 21. November 1978 den Orden entgegen seinen Behauptungen nicht an Stolpe verliehen haben kann: An diesem Tag hatte sich Stolpes Führungsoffizier für zwei Wochen krank schreiben lassen. Als Grund für die Dienstunfähigkeit trug der medizinische Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit in Roßbergs Versiche- rungsheft ein: „Schlüssel 562“ – Codewort für eine Darmerkrankung. Der Eintrag entkräftet die Behauptung Roßbergs je- K. ANDREWS Herstellung von Windkraftanlagen doch keineswegs: Laut Unterlagen seiner Diensteinheit arbeitete der Stasi-Major WINDENERGIE am 21. November 1978 trotz seiner Krank- heit. Er traf sich am selben Tag mit ei- nem anderen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) Subvention soll sinken der evangelischen Kirche. Einen Tag spä- ter fertigte er zudem nachweislich ein undeswirtschaftsminister Günter Rex- sich allerdings schon bei einer Kürzung um Protokoll mit Informationen an, die ihm Brodt (FDP) und Abgeordnete der nur einen Pfennig die potentiell für Wind- der IM „Sekretär“ – unter diesem Deck- CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen die energieanlagen nutzbaren Flächen in Nie- namen wurde Stolpe im Ministerium Subventionen für Strom aus Windrädern dersachsen halbieren und den Bau der für Staatssicherheit geführt – geliefert deutlich senken. Laut Gesetz müssen Windmühlen drastisch begrenzen. Im Bin- hatte. die Energieversorgungsunternehmen den nenland müßten Windräder schon bei den Windstrom für bisher circa 17 Pfennig pro heutigen Vergütungspreisen einige Jahre Kilowattstunde kaufen. Der Preis soll nun länger Strom produzieren, um sich zu auf 12 bis 14 Pfennig sinken – läge aber im- amortisieren. Im November letzten Jahres mer noch über dem Preis, zu dem die hatte der Energiekonzern PreussenElektra großen Konzerne selber produzieren. Mehrkosten von 900 Millionen Mark bis Nach einer Studie des Deutschen Wind- zum Jahr 2005 moniert, wenn es bei der energieinstituts in Wilhelmshaven würden derzeitigen Einspeisevergütung bleibe.

PDS Gysis junge Garde M. DARCHINGER ie PDS will einen parteinahen Ju- Stolpe Dgendverband aufbauen. Er solle „nicht als Parteijugend im Stile der alten Ein Verfahren gegen Stolpe könnte dage- FDJ“ arbeiten, beteuert der neue Bun- gen durch bislang als verschollen geltende desgeschäftsführer Dietmar Bartsch; die Dokumente befördert werden. Aufgefun- Junggenossen erhielten aber „logistische den wurden sie in den Unterlagen des Se- und finanzielle Unterstützung“. Nach der kretariats von Erich Mielke. Erstmals bele- Wende und dem Zusammenbruch der gen nun Anordnungen zur Verleihung von SED-gesteuerten Freien Deutschen Jugend Auszeichnungen, die für das Jahr 1978 gül- hatte die Nachfolgepartei zunächst auf die tig sind, daß Stolpe seinen damaligen Or- Gründung eines Jugendverbandes ver- den kaum anderweitig als von der Stasi zichtet. Statt dessen hatten junge PDSler haben kann. Ein „Durchführungsbeschluß“ 1990 eine „Arbeitsgemeinschaft Junger regelte exakt Vergabe und Registrierung GenossInnen“ in der Partei gebildet; die der Stolpe verliehenen Verdienstmedaille. brachte es allerdings bundesweit nur auf Dessen Version, den Orden nicht von der wenige hundert Mitglieder. Einen Bünd- Stasi, sondern vom Staat erhalten zu ha- nispartner haben die Strategen der PDS- ben, wird vollends unglaubwürdig: In ei- Jugend schon auserkoren: die frühere nem Auszeichnungsordner von 1978 fin- FDP-Jugendorganisation Jungdemokraten. den sich alle auf dieser Grundlage verge-

P / F H Eine Reihe ihrer Mitglieder sind der PDS benen Orden des Kirchenstaatssekretariats. Infostand auf dem PDS-Parteitag bereits beigetreten. Nur – keiner davon ist für Stolpe.

20 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

KOALITION Die Nerven werden dünner Theo Waigels Steuerreform entzweit die Union. Junge Landesfürsten der CDU proben den Aufstand. Arbeitsminister Norbert Blüm denkt gar an Rücktritt. Nun droht auch noch Streit mit der FDP: Prominente Christdemokraten wollen die Mineralölsteuer erhöhen.

chwärme von Staren fegten am Donnerstag voriger Woche in wilden SFormationen über das Bonner Regie- rungsviertel. Nach dem „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ zeigen die Vögel ein baldiges Unwetter an, „wenn sie früh in Haufen fliegen“. Derweil versammelten sich auf dem Pe- tersberg, im Gästehaus der Bundesregie- rung, die Mitglieder der Steuerkommission zum Gruppenbild. Man werde mit dem „Zukunftstarif ’99“ der großen Steuerre- form „ein Jahrhundertwerk“ präsentieren, schwärmte Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU). Und den 15 Politikern,Wissenschaftlern, Wirtschaftsvertretern und Steuerprakti- kern seiner Expertenklausur versprach Bonns Kassenwart auch eine persönliche Genugtuung: Jeder werde später einmal seinen Enkeln sagen können, er sei Mit- glied jener Gruppe gewesen, „aus der viel- leicht der nächste Kanzler kam“. Da richtete sich der Mann im Roll- stuhl auf, Unions-Fraktionschef Wolfgang Schäuble, und fragte spöttisch: „Wen meinst du denn damit, Theo?“ Ob nun Wolfgang oder Theo: Wieder mal wird in der Union über die Nachfolge von Helmut Kohl geredet. Das Programm auf der Bonner Bühne heißt plötzlich Ka-

bale und Hiebe oder: Feuerzauber und M. DARCHINGER Kanzler-Dämmerung – in Szene gesetzt Steuerreformer Schäuble, Waigel*: „Wen meinst du, Theo?“ von Paladinen und Nachwuchsleuten aus des Kanzlers eigener Partei. Nicht nur Blüm, auch Gesundheitsmini- Auf die scheint Schäuble vorerst nicht Eine junge CDU-Riege macht mit mas- ster Horst Seehofer (CSU) spielte mit Rück- zuzusteuern. Aber in der öffentlichen Wir- siver Kritik Front gegen den Parteipatri- trittsgedanken. Und in der FDP ist wieder kung ballte sich Schäubles Spiel mit der archen, und sie läßt sich auch nicht durch einmal vom Ausscheiden des Wirtschafts- Kanzlerkandidatur mit den Einwänden der Machtworte des Kanzlers zum Verstum- ministers Günther Rexrodt die Rede. Blüm Steuerreform-Kritiker: Halbherzige Reförm- men bringen. kann, macht er seine düsteren Drohungen chen statt großer Wurf, rügte einer nach Dazu zelebriert eine zentrale Figur des wahr, die Koalition ins Wanken bringen. dem anderen die Pläne der Steuerkom- Kabinetts den Widerstand: Arbeitsminister Eine Epoche nach Helmut Kohl? Da- mission. Niedersachsens Oppositionschef Norbert Blüm votierte im CDU-Bundes- nach trachtet seit langem eine allerdings Christian Wulff forderte gar den Rücktritt vorstand gegen das Steuerkonzept und matt agierende Opposition. Wichtiger ist von Theo Waigel; mit kritischen Wortmel- droht nun die Rentenreform zu blockieren. da schon die Rolle von Wolfgang Schäuble. dungen der Parteifreunde Ole von Beust Selbst seinen Rücktritt schließt der erbit- Der Unions-Fraktionsvorsitzende gestand (Hamburg), Roland Koch (Wiesbaden), Pe- terte Blüm nicht aus. Schließlich regt sich in einem stern-Gespräch seine „Versu- ter Müller (Saarbrücken) und Günther Oet- auch unter den CDU-Ministerpräsidenten chung“ und Bereitschaft, die Kanzler- tinger (Stuttgart) war der Aufstand der im Osten heftiger Protest gegen die Sen- Nachfolge anzutreten. „Fünferbande“ (die zeit) komplett. kung des Solidaritätszuschlages (siehe Sei- Wilde Spekulationen löste diese Ankün- Ausgerechnet die Nachwuchsgarde, die ten 24 und 62). digung aus. Ein Aufstand? Eine Vorent- der Kanzler bislang wohlwollend förderte, Was als großer Befreiungsschlag der scheidung im innerparteilichen Kronprin- bringt das Vorzeigeprojekt der Regierung christ-liberalen Regierung gedacht war, zengerangel? Oder gar das Signal für eine in Mißkredit und liefert der Opposition die was ein Aufbruch sein sollte zu mehr In- Große Koalition? Argumente frei Haus. Während viele Bür- vestitionen,Wachstum und Beschäftigung, ger ohnehin um Renten und Arbeitsplät- droht in internen Zwistigkeiten und De- * Am Donnerstag vergangener Woche vor der Bundes- ze bangen, sorgen die „Jungen Wilden“ batten an Kraft zu verlieren. pressekonferenz. (CDU-Etikett) für neue Verwirrung.

22 der spiegel 5/1997 Die Folge: Verdächtigungen, Vorwürfe Von der Bundestagspräsidentin bekam und Rechtfertigungsversuche. Kohl-Helfer der Arbeitsminister nachhaltige Unter- mühen sich, den Eindruck zu verwischen, stützung. Auf der Parteiklausur in Wind- der Aufstand der Provinzzwerge sei gegen hagen sei kürzlich klar festgelegt worden, den Kanzler gerichtet, vielmehr versuche mahnte Rita Süssmuth, daß eine höhere Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoi- Mehrwertsteuer notwendig werde, um die ber nur wieder einmal, dem ungeliebten Rentenversicherung zu entlasten. „Die

Rivalen Waigel eins auszuwischen. S. MORGENSTERN Rentenreform, die so wichtig ist wie die „Ein Schmarrn“, tönt es aus Bayern. Die Müller Steuerreform, kann nur durchgezogen wer- Herren CDU-Kritiker hätten offenbar den“, so die von Kohl nicht sonderlich ge- Angst um ihre Wahlen, höhnt Seehofer. liebte Präsidentin, „wenn wir von dieser Ihm sei immer klar gewesen, wenn die Re- Prämisse ausgehen.“ form von Steuern, Renten und Gesund- Anders als die Unionschristen billigten heitswesen angepackt werde, „verlieren ei- die Freidemokraten einstimmig das Er- nige die Nerven“. gebnis der Kommission als „Grundlage“ Tatsächlich hat die CDU fast überall in für die Beratungen im Parlament. Nur über den Ländern Stimmen eingebüßt. Den die Besteuerung der Lebensversicherung, Unmut der Basis bekommen die Bonner kündigte der Vorsitzende Wolfgang Ger- Abgeordneten allerorten zu spüren. Nach hardt an, müsse noch ernsthaft geredet Emnid-Umfragen fürchtet eine große werden. Mehrheit der Befragten um ihre Renten Für Theo Waigel und seine Mitreformer

(69 Prozent). Noch mehr mißtrauen dem KLINK / ZEITENSPIEGEL T. ist die Sache jetzt schon klar: Ein Werk Versprechen, sie müßten künftig deutlich Oettinger von geradezu historischem Ausmaß sei ih- weniger Steuern zahlen (79 Prozent). Und nen gelungen. Ihre Vorschläge bescherten die von Kohl bis zum Jahre 2000 ange- den Bürgern die „niedrigsten Steuersätze kündigte Halbierung der Arbeitslosigkeit der letzten 50 Jahre“. nehmen 90 Prozent nicht ernst. Herrliche Zeiten warten angeblich auch Die Steuerrebellen haben, wie Roland auf die deutsche Wirtschaft. Mit Steuer- Koch, hessischer Fraktionschef und einer sätzen von 35 Prozent für behaltene und der Aufständischen, gesteht, durchaus ein- 25 Prozent für ausgeschüttete Gewinne kalkuliert, daß sie mit ihrem Angriff auf sei das vielbejammerte „Hochsteuerland Waigel „auch Kohl treffen würden“, der Deutschland“ endgültig abgebrannt. Erste sich in der Steuerreform „nur träge“ be- Rechnungen der Industrie freilich nähren wegt habe. „Wir können doch nicht sa- den Verdacht, daß die Unternehmer durch gen“, so Koch, „das ist der Kohl, der denkt die Streichung von Abschreibungs- und

und der handelt für uns.“ PRESS ACTION Rückstellungsmöglichkeiten am Ende Obwohl in einzelnen Fragen uneinig, Von Beust mehr zahlen als zuvor. geht es den Kritikern darum, die Steu- Als Preis für die „umfassende Entla- ertarife radikal zu senken und eine Viel- stung fast aller Steuerzahler“ (Waigel) zahl von Vergünstigungen abzubauen. wäre das jedoch durchaus angemessen. Fal- Als die Kommissionäre sich aber beim len Steuerschlupflöcher und Begünstigun- Feilschen um Tarife verhedderten und gen für einzelne Gruppen, wird das Steu- Gewinne aus Grundstücks- und Aktien- ersystem einfacher und gerechter. Mehr verkäufen – entgegen einem Parteitags- als 70 Steuervorteile hat die Waigel-Kom- beschluß – von der Steuer verschont wer- mission in Frage gestellt. „Das hätte ich den sollten, wollten Kohls Enkel nicht län- denen nie zugetraut“, staunt der frühere ger stillhalten. „Es blieb uns nichts anderes Präsident des Bundesfinanzhofes Franz übrig“, meint Peter Müller, saarländischer Klein (siehe spiegel-Gespräch Seite 26). Fraktionsführer, als Alarm zu schlagen. Aber wirklich überschaubar für den nor- Am vorigen Donnerstag, in den Frak- malen Steuerzahler wird das Gewirr aus tionen von CDU/CSU und FDP, bekam Abgaben und Ausnahmen damit noch lan-

Kohl seine Mehrheit. Aber 13 Gegen- M. DARCHINGER ge nicht. Viele überflüssige Paragraphen stimmen trübten das harmonische Bild, Wulff fallen durch die Reform nicht weg, andere darunter die von Blüm und Heiner werden eher noch komplizierter. So wird Geißler. die Absenkung des Arbeitnehmerfreibe- Der Hauptstreitpunkt: Blüm bekam kei- trages von 2000 auf 1300 Mark manche ne Zusage, daß auch die Rentenversiche- Steuerzahler dazu anregen, ihre Wer- rung von versicherungsfremden Leistun- bungskosten nicht pauschal, sondern en gen befreit werde. Noch muß die Renten- détail geltend zu machen: Das bringt kasse zum Beispiel für Fremdrenten von Mehrarbeit für Bürger und Finanzamt. Nazi-Opfern im Ausland und die Anhe- Weit mehr als ein Schönheitsfehler der bung der DDR-Renten auf West-Niveau Reform ist die Tatsache, daß einzelne ge- zahlen – Aufgaben, die eigentlich dem sellschaftliche Gruppen geschont werden, Staat zustehen. Ohne Klärung dieser Fra- während andere bluten sollen. Die steuer- ge, so der Minister, „stimme ich einer sol- liche Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer chen Steuerreform nicht zu“. war von Anfang an ein Tabu. Spenden und Der Kanzler brauste auf: „So gehen wir Beiträge für Karnevals- und Sportvereine,

nicht miteinander um.“ Aber Blüm blieb K. B. KARWASZ für die mächtigen Wohlfahrtskonzerne und ungerührt. Er sei immer kompromißbereit Koch die politischen Parteien sollen auch künf- gewesen, hier aber nicht mehr: „Alles gerät Reformkritiker aus der Union tig von der Allgemeinheit zwangsweise auf die Rutschbahn.“ Alles auf der Rutschbahn mitbezahlt werden. Bei Druckern, Polizi-

der spiegel 5/1997 23 Deutschland „Es gibt eine Schmerzgrenze“ Interview mit Arbeitsminister Norbert Blüm über seinen Widerstand gegen die Steuerreform

SPIEGEL: Herr Blüm, Sie haben im jüngsten Klausurtagung in Wind- Vorstand Ihrer Partei und in der hagen. Fraktion die Steuerreform abge- SPIEGEL: Dennoch haben Sie of- lehnt und unter Protest das fenbar kein Vertrauen in Kanzler Koalitionsgespräch verlassen. und Parteiführung. Wollen Sie die Steuer- und die BLÜM: Doch, aber die Entschei- Rentenreform zum Scheitern dung hat ja nicht nur der Bun- bringen? deskanzler zu treffen, sondern BLÜM: Nein, Steuerreform und eine Koalition. Ich stehe nicht Rentenreform sind beide unum- gerne als Gelackmeierter da, gänglich, denn die Abgabenlast wenn ich eine Rentenreform vor- erdrückt Beitragszahler und Ar- lege und dann die Umfinanzie- beitsplätze. rung aus koalitionspolitischen Mein Einwand gegen Entschei- Gründen fehlt. dungen im Zusammenhang mit SPIEGEL: Kohls dienstältester Mi- der Steuerreform richtet sich ge- nister hat ein politisches Signal gen die Methode der Rentenbe- gesetzt: Die Rentner sind ihm steuerung und gegen die fehlende schließlich wichtiger als die Antwort auf die Frage des Umfi- Koalition. nanzierens. Die Sozialversiche- BLÜM: Ja, Koalitionen und Partei- rung wird nur überleben durch en sind nur Mittel zum Zweck. Sparen und Umfinanzieren. Das SPIEGEL: Koalitions- und Partei- eine bedingt das andere. Warum freunde feiern die Steuerreform sollte der Beitragszahler sparen, als positives Signal für den Stand- wenn er weiterhin Lasten für an- ort Deutschland. Verharrt Blüm dere tragen soll? im alten Denken? SPIEGEL: Können Sie sich daran BLÜM: Nein. Das ist eine alte erinnern, daß in der 14jährigen Klamotte: Widerspruch durch Amtszeit von Bundeskanzler dumme Etikettierungen zu elimi-

Kohl jemals ein Minister an einer M. DARCHINGER nieren. Ich habe mehr zum Um- so entscheidenden Stelle die Ge- Waigel-Gegner Blüm: „Das ist eine alte Klamotte“ bau beigetragen als alle, die mich folgschaft verweigert hat? jetzt attackieren. Die Entlastung BLÜM: Das Wort Gefolgschaft paßt rifentlastung bei der Steuerreform der öffentlichen Haushalte ist über- nicht. Ich war immer ein selbständiger kompensieren. Ich sehe nicht ein, daß proportional durch mich betrieben Mensch und bleib’ es auch. Das hin- die Rentner, die durch die Steuerre- worden. dert mich nicht, Kompromisse einzu- form nicht entlastet werden, weil sie SPIEGEL: Können Sie dem Urteil jener gehen. Aber es gibt auch für Kompro- keine Steuer bezahlen, über eine Mehr- widersprechen, die in Ihrem Verhalten misse Schmerzgrenzen. Ich lasse mich wertsteuererhöhung den neuen Ein- eine Rücktrittsdrohung sehen? nicht verbiegen. kommensteuertarif mit finanzieren. BLÜM: Rücktritt macht man, aber droht SPIEGEL: Sind diese Grenzen jetzt über- Dann muß die Rentenversicherung im ihn nicht an. Wenn ich für Überzeu- schritten? Gegenzug auch etwas von der Mehr- gungen eintrete, dann hat das nichts BLÜM: Ich hab’ in dieser Sache Erfah- wertsteuererhöhung mitbekommen, mit heroischen Drohungen zu tun. Eine rung. Versicherungsfremde Leistungen damit sie entlastet wird. Rentenreform ohne Umfinanzierung sind im Zusammenhang mit der deut- SPIEGEL: Sollen denn nun Mineralöl-, wird von mir nicht vorgelegt. schen Einheit den Beitragszahlern Tabak- oder Branntweinsteuer erhöht SPIEGEL: … und auch von Ihnen als schon einmal aufgebürdet worden, ob- werden? Arbeitsminister nicht mehr getragen? wohl sie nicht dorthin gehören. Ich war BLÜM: Ich bin jetzt nicht bereit, einzel- BLÜM: Ja, was ich nicht trage, lege ich dagegen. Weil aber Steuererhöhungen ne Verbrauchssteuern zu bevorzugen. nicht vor. damals fälschlicherweise tabuisiert Ich sage nur, die Generalrichtung SPIEGEL: Rechnen Sie heimlich damit, wurden, habe ich mich den finanziellen stimmt: Weniger Steuern auf Arbeit, daß Ihnen die SPD im Bundesrat hilft Zwängen gebeugt. mehr Steuern auf den Verbrauch. und auch unionsgeführte Länder für SPIEGEL: Wie wollen Sie die Renten- SPIEGEL: Hat der Bundeskanzler Ihnen die Mehrwertsteuererhöhung stimmen, versicherung umfinanzieren? schon Bereitschaft signalisiert, das Geld weil sie an den Einnahmen teilhaben? BLÜM: Durch indirekte Steuern. für die Rentenversicherung zu be- BLÜM: Nicht jede Politik ist Taktik. Ren- SPIEGEL: Um wieviel soll die Mehr- sorgen? tenkonsens ist mehr als Taktik, er ist wertsteuer steigen? BLÜM: Ich entnehme das nicht nur Grundlage von Vertrauen. Die Renten- BLÜM: Ich lege mich nicht auf die Mehr- den Aussagen des Bundeskanzlers, reform als Wahlkampfbalg, an dem alle wertsteuer fest, aber das ist ein Weg. sondern der großen Mehrheit des zerren: Das haben unsere Rentner Die Mehrwertsteuer soll ja auch die Ta- CDU-Bundesvorstandes auf seiner nicht verdient.

24 der spiegel 5/1997 ist die Finanzierung. 1999 muß er gleich diverse Löcher im Etat schließen: π Durch die Steuerreform entgehen ihm und seinen Kollegen in den Ländern etwa 45 Milliarden Mark; π die Senkung des Solidarzuschlages um zwei Prozentpunkte im Jahre 1998 ko- stet den Fiskus acht Milliarden jährlich; π die „Schattenwirkung“ (Waigel) der niedrigeren Steuersätze auf den Soli- Zuschlag senkt dessen Aufkommen um weitere zwei Milliarden Mark; π Ende 1998 läuft die Förderung der Inve- stitionen in den neuen Ländern aus, der- zeit rund 15 Milliarden Mark. In der Fi- nanzplanung ist für eine Fortsetzung der Ost-Förderung bislang nichts vorgese- hen. Aber, so die interne Kalkulation der Bundesregierung: acht bis zehn Mil- liarden Mark werden es sein müssen.

H. J. KNIPPERTZ H. J. Waigel fehlen per saldo also 63 bis 65 Reformkritiker Geißler: Das harmonische Bild getrübt Milliarden Mark im ersten Jahr der großen Reform. sten und Krankenschwestern geht die te, bringe der Koalitionskatalog gar nichts, Schließen ließe sich diese Lücke nur konservativ-liberale Koalition dagegen in befand Lafontaine am Freitag bei seiner durch steigende Steuereinnahmen bei an- die vollen: Nacht- und Sonntagszuschläge Generalkritik. Schon allein deshalb, weil ziehender Konjunktur sowie durch kräfti- sollen künftig nicht mehr steuerfrei sein. die Reform erst 1999, also „zu spät“, in ges Sparen. Weil das aber kaum reichen Auch aus der Rentner-Schar wollen die Kraft treten soll. „Sie glauben doch wohl dürfte, bleibt nur die Alternative höherer Reformer eine Million zusätzlicher Zahler nicht ernsthaft“, so Lafontaines Verdikt, Schulden oder höherer Steuern an anderer rekrutieren. „daß so etwas Gesetz werden kann?“ Stelle. Insbesondere die Mehrwertsteuer Prinzipiell scheint das richtig. Mehrar- Grünen-Vormann Joschka Fischer assi- ist deshalb, zumindest mit einem Prozent- beit zu ungeliebten Zeiten soll der Arbeit- stierte: „Eine gigantische Schwindelnum- punkt, eine feste Größe in Waigels Kalku- geber bezahlen und nicht die Allgemein- mer.“ Mitte dieser Woche will die Opposi- lation. Die soll ihm 16 Milliarden bringen heit. Und warum soll das Rentnerpaar tion in einer Arbeitsmarktdebatte die große – was aber nicht reicht. noch mit 60000 Mark gänzlich steuerfrei Abrechnung mit den Reformen Kohls ver- Auf einen zweiten Prozentpunkt bei der bleiben, während die Jungvermählten anstalten. Fischer weiß jetzt schon: „Der Mehrwertsteuer setzen denn auch die So- schon bei der Hälfte abkassiert werden? Junge rutscht und zeigt Risse.“ zialpolitiker der Union. Doch ihre Hoff- Wenn aber jene, die von Zinsen leben Die Koalition gibt sich indes gelassen: nung, der Finanzminister werde ihnen die oder vom An- und Verkauf von Aktien Sollte sich die SPD auf eine Totalverwei- Hälfte der Einnahmen überlassen, um die oder Häusern, weiter geschont werden: gerung einstellen, wollen die Regierenden Sozialsysteme zu entlasten, wird sich wohl Wie sollen Arbeitnehmer es als gerecht mit ihrem Reformprojekt in den Wahl- nicht erfüllen. Wenn die Rentenreformer empfinden, daß die versprochenen Steu- kampf ziehen. „Blockierer stoppen – Zu- Finanzbedarf anmelden, schimpft Waigel ersenkungen bei ihnen durch neue kunft wählen“ heißt bereits der CDU-Slo- nur: „Sollen die den doch selber decken.“ Belastungen aufgezehrt werden? „Daß gan für die hessischen Kommunalwahlen Der zweite Mehrwertsteuerpunkt hätte auf der Seite des Kapitals nicht das gleiche im März. zudem Schönheitsfehler: Die versiche- geschieht“ wie bei den Arbeitnehmern, Aber die „Schwachstelle“ (SPD-Steuer- rungsfremden Leistungen, die der Renten- beklagen nicht nur Gewerkschafter, son- experte Joachim Poß) des ehrgeizigen Vor- oder Arbeitslosenversicherung abgenom- dern auch CDU-Leute, wie etwa der habens, das weiß auch Waigel nur zu gut, men werden sollen, müßten aus der Bon- hessische Fraktionsvorsitzende Roland ner Kasse bezahlt werden. Die Einnahmen Koch. aus der Mehrwertsteuer kämen dieser aber Die Sozialdemokraten, ohne deren Zu- nur zur Hälfte zugute – den Rest würden stimmung zu allen Steuergesetzen im Bun- die Länder einstreichen. Und die, warnt desrat grundsätzlich nichts läuft, haben Waigel, hätten „klebrige Finger“. denn auch schon Stellung bezogen. Par- Der CSU-Landesgruppenchef und Wai- teichef Oskar Lafontaine stimmte die Linie gel-Freund Michael Glos kennt auch schon mit Hamburgs Bürgermeister Henning Vo- den „Ausweg“: Man könne doch die Lücke scherau ab, dem Unterhändler der SPD-re- „mit anderen indirekten Steuern“ schlie- gierten Länder: unseriöse Finanzierung ßen. Höhere Mineralöl-, Tabak- und und soziale Schieflage heißen die Haupt- Branntweinsteuern bringen sehr viel Geld. punkte der Kritik. Und vor allem, sie fließen allein in die Bun- Voscherau beklagte eine „unsägliche deskasse. Klientelpolitik zugunsten der Bezieher ho- Vorsatz oder Ratlosigkeit? Mit der Idee her Einkommen“. Die vorgesehene Be- höherer Sprit-Aufschläge greifen die Fi- steuerung von Renten, Lebensversiche- nanzexperten der Union eine Lieblingsidee rungen und Nachtzuschlägen will die SPD Wolfgang Schäubles auf, obwohl sie um verhindern und zudem den Normalver- die heftige Abneigung der FDP dagegen diener spürbar entlasten: Als Existenzmi- wissen. Der Unions-Fraktionschef zur Mi- nimum soll der Grundfreibetrag von 13000 neralölsteuer: „Darüber muß man reden.“

auf 14000 Mark erhöht werden. AP Allerdings: Am Streit um diese Steuer ist Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, SPD-Chef Lafontaine die Koalition schon im vergangenen Ok- die eigentlich im Mittelpunkt stehen müß- Soziale Schieflage, unseriöse Finanzierung tober fast zerbrochen.

der spiegel 5/1997 25 Deutschland die im Gesetz stehenden Spitzensteuer- SPIEGEL-GESPRÄCH sätze sind, desto exzessiver nutzen sie ihre Chancen. SPIEGEL: Die Forderung der Steuerrefor- mer lautete stets, alle Einkünfte gleich zu „Was hilft die Gerechtigkeit?“ behandeln. Finanzminister Waigel aber un- terscheidet nach wie vor zwischen Ar- Der Ex-Präsident des Bundesfinanzhofes Franz Klein beitslohn und gewerblichen Einkünften. Bei letzteren sinkt der Spitzensteuersatz über die Vor- und Nachteile der sogar auf 35 Prozent. Steuerreform und die Tricks der Steuerhinterzieher KLEIN: Das gibt Schwierigkeiten, das kom- pliziert das Steuerrecht. Vor allem aber: Klein, 67, ist Professor für Steuerrecht Optik willen gemacht. Sie wollte mit aller Der Anreiz, Einnahmen in den gewerbli- und war bis 1994 Präsident des Bundes- Gewalt auf 15 Prozent kommen, aber viel chen Teil zu verlagern, besteht weiter. finanzhofes in München, des höchsten kosten durfte es nicht.Woher nehmen und SPIEGEL: Geht das denn so einfach? deutschen Gerichts in Steuerfragen. Er nicht stehlen? Es wird im übrigen nicht KLEIN: Nehmen Sie an, ein Rechtsanwalt gehört seit Jahren zu den profiliertesten lange dauern, dann ist diese Stufe weg. betreibt auch noch eine Bäckerei. Er wird Kritikern des deutschen Steuerrechts und SPIEGEL: Wieso? alle Kosten – vom Auto bis zu den Schreib- war enger Mitarbeiter der Finanzminister KLEIN: Wegen der jährlichen Preiserhöhun- utensilien – in der Kanzlei verbuchen, um Franz Josef Strauß, Alex Möller und Karl gen muß das steuerfreie Existenzminimum den Gewinn niedrig zu halten. Das Ergeb- Schiller. von 13000 Mark hin und wieder angeho- nis: Wo der Spitzensteuersatz 39 Prozent ben werden. Jeder Anstieg verkürzt den beträgt, bei den Anwaltshonoraren, fällt SPIEGEL: Herr Professor Klein, Ihr halbes Berufsleben lang ha- ben Sie eine radikale Reform des Einkommensteuerrechts ge- fordert.Wurde Ihr Ruf nun end- lich erhört? KLEIN: Der Reformplan der Ko- alition kommt meinen Forde- rungen sehr nahe. Ausnahmen und Vergünstigungen werden vermindert, das macht das Recht einfacher. Der Steuertarif sinkt drastisch, das macht Steu- ervermeidung und Steuerhin- terziehung weniger lohnend. SPIEGEL: Hätte die Regierung nicht noch mutiger sein, noch mehr Schlupflöcher stopfen und den Tarif noch weiter senken müssen? KLEIN: Mehr war jetzt wohl nicht drin. Deutschland ist trotz aller Propaganda nie ein Hochsteuer- land gewesen. Die Steuerlast war nur ungerecht verteilt. Wer legale und halblegale Steuerver- meidungsmöglichkeiten hatte, zahlte wenig oder gar nichts. Wen der Steuertarif voll traf –

die Facharbeiter und die gutver- M. WEBER W. dienenden Angestellten –, den Klein beim SPIEGEL-Gespräch*: „Was jetzt versucht wird, ist beachtlich“ drückte die Bürde zu schwer. SPIEGEL: Für diese Gruppe, mit Einkom- Bereich bis 18000 Mark, in dem nur 15 Pro- kaum ein Gewinn an. Den Profit verlagert men zwischen 60000 und 90000 Mark fällt zent Steuern fällig werden. der Mann in die Bäckerei, in der ja nur 35 die Entlastung eher dürftig aus. SPIEGEL: Der wohlhabende Teil der Bürger Prozent fällig werden. Endlose Prozesse KLEIN: Diese Gruppe profitiert davon, daß profitiert am meisten von der Steuerre- vor den Finanzgerichten sind die Folge. der Eingangssteuersatz von viel zu hohen form, der Spitzensteuersatz sinkt von 53 Das ist das Gegenteil dessen, was die Re- 25,9 Prozent auf 15 Prozent fällt; die al- auf 39 Prozent. Finanzminister Theo Wai- formen wollen. lermeisten werden fühlbar entlastet. gel muß mit dem Vorwurf leben, die Rei- SPIEGEL: Bezahlt werden soll das Milliar- SPIEGEL: Der niedrige Eingangssatz begün- chen noch reicher zu machen. dengeschenk an die Bürger zu einem stigt doch nur ganz wenige, mit Löhnen KLEIN: So etwas kann nur einer sagen, der großen Teil durch das Streichen von Steu- zwischen 13000 und 18000 Mark. Danach vom Steuerrecht soviel Ahnung hat wie erbegünstigungen … greift der Fiskus schon wieder mit 22,5 Pro- die Kuh vom Sonntag. Die Reichen haben KLEIN: … dabei ist die Steuerkommission zent zu, und die Last auf jeder zusätzlich immer und in allen Ländern die Möglich- schon sehr weit gegangen, das hätte ich ihr verdienten Mark steigt rasch. keit, ihr Einkommen so zu gestalten, daß nie zugetraut. Den Abschreibungsgesell- KLEIN: Die Verknüpfung eines Stufentarifs weniger Steuern anfallen. Und je höher schaften hat sie die Luft abgedreht … mit einem gleichmäßig ansteigenden Tarif SPIEGEL: … aber die Landwirtschaft hat die ist unschön, aber kein Beinbruch. Das hat * Mit Redakteuren Hans-Joachim Schlamp und Win- Kommission weitgehend verschont, eben- die Regierung doch nur um der politischen fried Didzoleit in Kleins Münchner Wohnung. so wie die Sport- und Hobbyvereine. Jeder

26 der spiegel 5/1997 kann Spenden für die seltsamsten, für ge- KLEIN: Das spielt sicher auch eine Rolle. KLEIN: An die Besteuerung der Zinsen ist meinnützig erklärten Vereine steuerlich Aber das ist ja nicht soviel, auch wenn es die Kommission zu halbherzig herange- geltend machen. große Symbolkraft hat.Viel schlimmer ist, gangen. Die jetzige Lösung ist wahr- KLEIN: Selbst die Unterstützung des Kar- daß die Abgeordneten nach wie vor einen scheinlich verfassungswidrig, der Bundes- nevals spart inzwischen Steuern. Ich finde Teil ihrer Diäten steuerfrei einstreichen. finanzhof wird das Problem wieder dem das ganz schlimm. Sie sollten wie die Bürger Belege sammeln Verfassungsgericht vorlegen. Als das Gesetz noch nicht so großzügig und ihre „Betriebsausgaben“ nachweisen. SPIEGEL: Warum ist die Besteuerung ver- war, hatte ich darüber mit den Mainzern Dieses Privileg schafft Verdruß bei den fassungswidrig? einen fürchterlichen Streit. Sie behaupte- Wählern. KLEIN: Das Karlsruher Gericht hat ent- ten schon damals, die Kölner könnten ihre SPIEGEL: Die Landwirtschaft wurde ge- schieden, der Gesetzgeber müsse sicher- Beiträge von der Steuer abziehen. schont, die politischen Parteien, die Sport- stellen, daß die gleichmäßige Besteuerung SPIEGEL: Wie war das möglich? vereine, die Spekulanten. Erschwert diese der Zinsen tatsächlich durchgesetzt wird. KLEIN: Die Stadt Köln hatte einen Verein Rücksichtnahme nicht die Durchsetzung Nach Meinung vieler Fachleute ist das zur Erhaltung denkmalgeschützter Ge- der Steuerreformen? nicht der Fall. Nach wie vor fließt ein bäude gegründet. An ihn spendeten die KLEIN: Die Krankenschwester, die ihre Großteil der Gelder ins Ausland, auch Karnevalisten steuermindernd ihre Beiträ- Nachtzuschläge versteuern muß, der Pend- wenn das immer riskanter wird. Und nach ge. Die Stadt unterstützte die Vereine in ler, für den der Weg zur Arbeit teurer wie vor nehmen im Inland viele Bürger gleichem Umfang aus der Kasse des Käm- wird – sie alle werden natürlich fragen: den Abschlag von 30 Prozent hin, der merers, der Fiskus ging leer aus. Warum ich und andere nicht? Doch von der Bank automatisch abgeführt wird. SPIEGEL: Inzwischen ist das ja alles legal. gerade mit der Kilometerpauschale wird Sie deklarieren widerrechtlich die Zinsen Warum sind die Politiker so besorgt um viel Mißbrauch betrieben. Da fahren nicht, auf die sie eigentlich 45 oder 53 Pro- Narren, Basketballer und Schachspieler? vier Leute in einem Auto zur Arbeit, aber zent Steuer zahlen müßten. SPIEGEL: Jetzt soll der auto- matische Zinsabschlag auf 25 Prozent sinken, der Spitzen- steuersatz beträgt nur noch 39 Prozent. Hilft das? KLEIN: Der Anreiz, Steuern zu hinterziehen, ist gewiß gerin- ger.Aber es bleibt bei der Un- ehrlichkeit.Automatisch wer- den 25 Prozent abgezogen. Man tut so, als werde der Bür- ger mit höherem persönlichen Steuersatz auch die Reststeu- er zahlen, obwohl man genau weiß, er wird das nicht tun. SPIEGEL: Welchen Weg hätte die Koalition gehen sollen? KLEIN: Wie in Österreich hät- te sie den Zinsabschlag zur sogenannten Abgeltungssteu- er machen sollen. Die Steuer auf Kapitalerträge wird dort auf 25 Prozent festgesetzt, an der Quelle, bei der Bank, kas- siert, und das ist es dann. SPIEGEL: Die Regelung ist doch ungerecht, Arbeitsein- kommen in der Spitze mit 39 Prozent zu belasten, Zinsen aber nur mit 25 Prozent. berliner zeitung KLEIN: Was hilft die Gerech- tigkeit? Wenn es wie bisher KLEIN: Das sind ja alles Wähler. Franz Josef jeder von ihnen rechnet die vollen Ko- bleibt, gehen die Kapitaleigner nach Lu- Strauß zum Beispiel war ein begeisterter sten ab. xemburg, der Fiskus geht leer aus. Das Ver- Flieger, der wollte den Flugsport ge- SPIEGEL: Was ist Ihr Rat? fassungsgericht hat übrigens erlaubt, Kapi- meinnützig machen. Wir haben gesagt: KLEIN: Die Pauschale muß eigentlich ganz talerträge wegen der unvermeidlichen In- Herr Minister, das geht nicht. Strauß fügte weg. Unter dem Sozialdemokraten Karl flationsverluste schonender zu besteuern. sich. Dann kam die sozial-liberale Koalition Schiller haben wir mal ein Beispiel gege- SPIEGEL: Rückt trotz dieser Mängel die und hat das gemacht. Da hat Strauß wo- ben. Damals konnte man mit einer Be- durchgreifende Jahrhundertreform der chenlang nicht mit uns geredet. Ich halte scheinigung über die Notwendigkeit einer Einkommensteuer näher? von der Ausweitung der Gemeinnützigkeit Diät Mehrkosten für Ernährung steuerlich KLEIN: Was jetzt versucht wird, ist beacht- zum Zwecke des Steuersparens gar nichts. geltend machen. Da war ein Betrieb im lich. Doch ich habe große Zweifel, daß Aber ich will auch nicht gewählt werden. Bergischen, bei dem fing ein Arbeiter mit die Reform am Ende auch so umgesetzt SPIEGEL: Kann die Zurückhaltung nicht einer Diätbescheinigung an. Drei Jahre wird. Der Widerstand aller möglicher auch anders motiviert sein? Wenn Beiträge später hatten 70 Prozent der Belegschaft Lobbyisten beginnt ja jetzt erst. Eine wirk- an Hobbyvereine Privatsache wären, käme eine. Damit haben wir Schluß gemacht. liche große Reform kann nur eine Große schnell die Frage auf, warum Spenden und Und so läuft das, im Prinzip, heute noch. Koalition durchsetzen. Beiträge an politische Parteien oder Ge- SPIEGEL: Womit hätten Sie denn noch SPIEGEL: Herr Professor Klein, wir danken werkschaften noch privilegiert sind. Schluß gemacht? Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 5/1997 27 Deutschland Gespenst? Unsichtbar? Ein farb- und Kohl gefühlvoll über verdienstvolle Deut- REGIERUNG körperloser Geist? Das wäre „bei meinem sche redet, redet er immer über Kohl. Gewicht und meinem Hintern kaum mög- Kinkel zum Beispiel darf zum Geburts- lich“, poltert er sanft und baut sich zum tag die Gewißheit mit nach Hause neh- Beim Hintern Beweis wie ein Sumo-Ringer vor den Ka- men, „daß niemand besser weiß als ich, meras auf. Noch Fragen? Keine. was das heißt, seine Pflicht zu tun und Von wegen Kanzlerdämmerung, Nach- damit oft genug auch Privates hintanzu- des Kanzlers folger-Debatte, Junge Wilde. Wenn es um stellen“. seine Statur und die Macht im Staat und in Nichts aber fand er schöner, als am vor- Helmut Kohl im Großeinsatz: der Partei geht, läßt Kohl nicht mit sich letzten Freitag im Rittersaal des Mannhei- spaßen. Aus den Augenwinkeln hat er be- mer Schlosses den Reichs- und Bun- Erst leistete er sich einen Patzer in obachtet, wie im CDU-Vorstandszimmer destrainer Herberger ehren zu dürfen. Das Prag, dann mußte er eine die Kameras, die eben noch auf ihn ge- war ein Mann nach Kohls Geschmack: ein kleine Palastrevolte niederringen. richtet waren, plötzlich zur Seite schwenk- Mann, „der nie seine Heimat verleugnet ten und den niedersächsischen Rebellen hat“ und „sich nicht verbiegen ließ“. Einer, a kommt er, schwer und wuchtig. Christian Wulff ins Visier nahmen. Die der „einfach seine Pflicht getan“ hat – aber Ein Koloß in Taubenblau. Obwohl Quittung kam postwendend. nicht in Erfüllung „eines Tarifvertrags“, Dalle Scheinwerfer auf ihn gerich- „Mit dem, was Sie gesagt haben“, be- sondern „weil er Freude daran hat“ – ge- tet sind und alle Blitzlichter blitzen, schied der CDU-Chef den völlig zer- nauso sieht er sich selbst. Genauso will er scheint dieses gewaltige Blau das Licht zu knirschten Medienstar im Landser-Jargon, gesehen werden: „Insofern ist das auch schlucken. Wie eine Lokomotive steuert „haben Sie sich aus der Kameradschaft eine Parabel für die heutige Zeit.“ Helmut Kohl den Kleinen Sitzungssaal verabschiedet.“ Vier Tage später allerdings, bei der Un- im Konrad-Adenauer-Haus an, wo er Kohl rang die kleine Palastrevolte nie- terzeichnung der deutsch-tschechischen dem Vorstand der CDU wieder einmal der, um Nachahmer abzuschrecken. Und Aussöhnungserklärung in Prag, wirkt der Kanzler wie versteinert. Eigentlich ist dies ein großer Termin, wie geschaffen fürs Ge- schichtsbuch. Denn mit der Aussöhnungs- erklärung vollendet sich endlich das letz- te Kapitel der von Willy Brandt begonne- nen Ostpolitik. Aber an der Moldau bleibt der Pfälzer seltsam wortkarg. „Wir wollen um Vergebung bitten, und wir wollen vergeben“, liest Kohl steif vom Blatt. Auf der anschließenden Pressekon- ferenz jedoch läßt er einen Satz fallen, der alle guten Vorsätze und Absichten unter- gräbt und den Argwohn der Tschechen vor deutschen Besitzansprüchen wieder weckt. „Die Eigentumsfrage bleibt natürlich of- fen“, blafft der Kanzler einen Fragesteller an. Doch anstatt weiterzureden und zu er- klären, daß dies ja genau der Sinn der ganzen Operation sei, trotz der juristischen Differenzen zu einer vernünftigen Zusam- menarbeit zu kommen, schweigt er wie vernagelt.Was zu sagen war, hat er gesagt. Nur soviel fügt er noch verbiestert hinzu: „Ich bin der deutsche Bundeskanzler

IMO und sitze nicht das erstemal in so einer Besucher Kohl, Gastgeber Klaus in Prag*: „Ich bin der deutsche Bundeskanzler“ Stunde.“ Wieder einmal dürfen sich diejenigen beweisen wird, wer der Alleinherrscher war sodann gleich wieder obenauf. Er weiß Tschechen bestätigt fühlen, die vor allem ist. bestens, daß die Partei nichts mehr fürch- deshalb gegen eine Aussöhnungserklärung Der Türsteher ist schon zur Seite ge- tet als seinen Rückzug aus der Politik. Und waren, weil sie immer noch Angst davor sprungen, um ihm Platz zu machen.Aber da überdies weiß er, daß er gar nicht aufhören haben, sie könnten eines Tages von den bremst der Kanzler plötzlich ab. Er nimmt kann – weil er sich im Ruhestand zu Tode Nachfahren der nach 1945 vertriebenen Kurs auf das Journalistenpack, als sei er langweilen würde. und enteigneten Deutschen aus ihren Häu- von dort mit einem Ei beworfen worden. Nicht dabeizusein, wenn wichtige Leu- sern verjagt werden. Es war aber kein Ei. Es war nur die Fra- te sich versammeln, war ihm immer ein Die grüne Bundestagsvizepräsidentin ge, ob der „Herr Bundeskanzler“ inzwi- Greuel. Mögen andere über ihre vollen Antje Vollmer, seit zwei Jahren damit be- schen die Fähigkeit erlernt habe, „als Ge- Terminkalender seufzen und jammern. schäftigt, die Verhandlungen zwischen spenst“ und somit „unsichtbar“ an Sit- Kohl nicht. Prag und Bonn in Gang zu halten, ist zwar zungen teilzunehmen. Rastlos reist er durchs Land. Unablässig mit dem Papier „zufrieden“.Aber sie wun- Nein, hat er nicht. Die Meldung, er sei damit beschäftigt, bei Firmenjubiläen und dert sich sehr über den Patzer des Kanz- am Abend zuvor bei der Sitzung der Steu- Tagungen Optimismus zu verbreiten und lers. „Er hat doch jetzt erreicht, was nicht erreform-Kommission gewesen, war eine prominenten Jubilaren Girlanden zu flech- einmal Bismarck geschafft hat, nämlich Zeitungsente. Aber bei dieser Richtigstel- ten: Klaus Kinkel zum 60., Otto Graf Versöhnung mit allen Nachbarn.“ lung läßt Kohl es nicht bewenden. Er – ein Lambsdorff und Ignatz Bubis zum 70., Der Mantel der Geschichte hat ge- Sepp Herberger und – an diesem Mittwoch rauscht. Aber Helmut Kohl hat es diesmal * Vergangene Woche mit den Außenministern Josef Zie- – Ludwig Erhard zum 100. Das sind Heim- nicht bemerkt. leniec und Klaus Kinkel. spiele, zu denen er gern antritt. Denn wenn Hartmut Palmer

28 der spiegel 5/1997 Als Anfang des Jahres be- EUROPA kannt wurde, daß Brüssel nach langem Zögern von der Straf- möglichkeit des Artikels 171 Ge- Buße für die brauch machen will, brach in diversen Ressorts Hektik aus. Der Kanzler selber gab Order Lachmöwe an seine Minister, eine Liste al- ler noch nicht umgesetzten Mit drastischen Strafen will Richtlinien aufzustellen. Brüssel die Bundesregierung Die Sammlung bestätigte schlimmste Befürchtungen: zwingen, europäisches Wenn es um die Umsetzung eu- Recht pünktlich umzusetzen. ropäischen Rechts geht, lassen sich die Deutschen besonders otfalls versucht es Bundesumwelt- viel Zeit.

ministerin Angela Merkel auch mal Mit gelindem Schrecken KUNZ / BILDERBERG W. Nmit Diplomatie. Äußerst höflich zählten Rexrodts Beamte die EU-Objekt Lachmöwen: Schutz für wildlebende Vögel bat die Christdemokratin per Brief in Meldungen aus den übrigen Mi- Brüssel um Rücksichtnahme auf Bonner nisterien durch: Tatsächlich ist die Bun- das Ausnehmen von Gelegen zulassen – Interessen: Ob es nicht doch möglich desrepublik bei 127 Richtlinien im Verzug. „gemäß dem Bundesjagdgesetz“. Und das sei, daß die EU-Kommission den Plan Diese Woche nun wird die Kommission Bundesjagdgesetz hat die EU-Richtlinie aufgebe, Deutschland wegen Vertrags- erst einmal die drei ältesten davon auf- längst aufgenommen. Damit gelte, argu- verletzung beim Europäischen Gerichts- greifen: mentiert Lafontaine, das Europa-Recht hof zu verklagen. π Die Richtlinie zum Schutz des Grund- auch im Saarland. Anstelle der Adressatin, Umwelt-Kom- wassers gegen die Verschmutzung durch Das aber genügt dem peniblen EuGH missarin Ritt Bjerregaard, antwortete gefährliche Stoffe hat der Bund trotz nicht. Die Richter verlangen, daß das EU- die deutsche EU-Kommissarin Monika Anmahnung durch den EuGH im Jahre Recht direkt ins saarländische Jagdgesetz Wulf-Mathies der „sehr geehrten Frau 1991 noch immer nicht angewendet. übernommen wird. Dr. Merkel“: π Am hinhaltenden Widerstand des Saar- Der Fall Lachmöwe erklärt, warum aus- Zwar sei auch sie über die Möglichkeit landes und Niedersachsens liegt es, daß gerechnet die Deutschen bei der Umset- „zutiefst besorgt“, daß die Bundesrepu- auch die Richtlinie 75/440 für die Trink- zung Brüsseler Rechtsvorschriften einen blik zu hohen Geldstrafen verurteilt wer- wassergewinnung trotz EuGH-Urteils, der letzten Plätze einnehmen. Während den könne, weil die Umsetzung euro- ebenfalls aus dem Jahr 1991, noch nicht etwa Dänen und Niederländer nur in je- päischen Rechts in nationales versäumt in allen Bundesländern umgesetzt ist. dem hundertsten Fall den Termin ver- wurde. Nur sei daran jetzt nichts mehr zu π Oskar Lafontaine hat es zu verantwor- schlafen, setzen die Deutschen allenfalls ändern. ten, daß eine EU-Bestimmung zum neun von zehn Richtlinien fristgerecht um. Diese Woche nun wollen die Mitglieder Schutz wildlebender Vogelarten bisher Daran sei das föderale System schuld, der Brüsseler Kommission beschließen, nicht übernommen wurde. Es handelt entschuldigt sich der Bundeskanzler. Zen- wie hoch die Bonner Strafzahlungen ihrer sich um das Verbot, Eier von Ringel- und tralistische Staaten wie Frankreich hätten Meinung nach ausfallen sollen. Die defini- Türkentauben, Silber- und Lachmöwen es da viel leichter. Viele EU-Richtlinien tive Summe muß dann der Europäische zu sammeln. würden in deutsches Recht eingreifen, über Gerichtshof (EuGH) festsetzen. Nach dem saarländischen Jagdgesetz das die Länder mitbestimmen. Damit würde die Bundesrepublik als er- von 1982 kann die Oberste Jagdbehörde Helmut Kohl will deshalb die drohenden ster europäischer Staat überhaupt zum Op- drei Strafverfahren nutzen, den Landes- fer des Artikels 171 im EG-Vertrag. Danach fürsten den Ernst der Lage vor Augen zu können Länder, die nach einer Verurtei- Dosiertes Strafmaß führen. Kanzleramtsminister Friedrich lung durch den EuGH wegen Nichtan- Maximale Tagessätze der Bohl soll das in den nächsten Tagen schrift- wendung europäischen Rechts weiter EU-Sanktionen in Mark lich erledigen – einschließlich des Hinwei- untätig bleiben, mit hohen Bußen belegt ses, daß „sich die Bundesregierung be- werden. Deutschland 1 544 400 mühen wird, wegen der von den Ländern Der allgemeine Strafkatalog, den die Frankreich 1 234 350 zu verantwortenden Zwangsgelder bei Kommission bereits Anfang des Jahres be- diesen Rückgriff zu nehmen“ (so eine schloß, ist saftig: Wenn der EuGH zweimal Großbritannien 1 041 300 Kabinettsvorlage). festgestellt hat, daß ein Staat seinen Ver- Italien 1 035 450 Die Warnung könnte wirken. Immerhin pflichtungen nicht nachkommt, muß der Spanien 666 900 wird die Höhe der Strafe nach dem Brut- Sünder für jeden Tag weiteren Verzugs toinlandsprodukt ganz Deutschlands fest- zahlen, und das nicht zu knapp. Niederlande 444 600 gesetzt – und nicht nur nach dem des Saar- Federführend bei der Umsetzung eu- Belgien 362 700 landes. ropäischen Rechts ist das Bonner Wirt- Damit bekommt Kohl allerdings nicht Schweden 304 200 schaftsministerium. Entsprechend aufge- den gängigen Fall vom Tisch, daß sich die regt meldeten dessen Beamte vorletzte Österreich 298350 Länder aus politischen Gründen weigern, Woche ihrem Chef Günter Rexrodt, daß Griechenland 239 850 Europarecht zu übernehmen. die für die Bundesrepublik vorgesehenen Sollte etwa der Bundesrat verhindern, Tagessätze „von mindestens 26 000 bis Finnland 228 150 daß Gelatine und andere BSE-gefährdete höchstens 1,5 Millionen Mark“ reichten. Dänemark 228 150 Produkte aus Großbritannien wieder in Die Kommission werde beim erstenmal Portugal 228 150 Deutschland verkauft werden dürfen, dann sicher noch nicht an die obere Grenze wären hohe Bußgelder unvermeidlich. gehen, hoffen die Bonner Sünder. Aber Irland 140 400 „Föderalismus“, so ein Rexrodt-Mitar- mit etwa 500 000 Mark pro Tag rechnen Luxemburg 58 500 beiter, „ist manchmal eben ein bißchen auch sie. teurer.“ ™

der spiegel 5/1997 29 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

FLEISCH Wahnsinn aus deutschen Landen Das BSE-Opfer Cindy ist wahrscheinlich doch deutscher Abstammung. Bestätigen Genforscher dies, droht ein Zusammenbruch des deutschen Fleischexports.

indy war eine Prachtkuh. Unter ein, den anderen legte er scheibenweise 14 dem schwarzen Pelz wuchs saftiges Tage lang in Formalin. Noch war Cindy für CFleisch, die festen Schenkel gedie- ihn ein Fall wie viele andere. hen zu prallen Keulen. Nichts deutete für Das änderte sich erst am Mittwoch vor- Ökobauer Hans-Jürgen Mikus, 30, darauf vergangener Woche: Thiel beugte sich über in, daß das schöne Zotteltier den Seu- sein Mikroskop – und erschrak. Löcher chentod in sich trug. und Blasen im Nervengewebe der Gallo- Anfang Dezember lag Cindy, vierein- way-Kuh weckten einen schrecklichen Ver- halb Jahre alt, plötzlich auf der Weide im dacht. Bestätigt wurde er vergangene Wo- ostwestfälischen Brakel, starr auf der Sei- che von der Tübinger Bundesforschungs- te, den Hals grotesk nach oben überstreckt. anstalt für Viruserkrankungen der Tiere: „Sterngucker-Krankheit“, vermutete Mi- Cindy ist ein Opfer der Bovinen Spongi- kus, der Tierarzt diagnostizierte eine formen Enzephalopathie (BSE), des Rin- „Hirnrindennekrose“ und gab Vitamin B. derwahns. Cindy erholte sich. Noch drei Wochen Zwar starben zwischen 1992 und 1994 weidete sie friedlich neben den neun an- schon in Niedersachsen zwei Tiere an BSE deren Tieren in Mikus’ Galloway-Herde – (ein Galloway, eines der Rasse Welsh bis zum 27. Dezember. Da brach Cindy zu- Black), in Sachsen-Anhalt ein Hereford- Getötetes Galloway-Rind aus der BSE-Herde in sammen, verendete, von Krämpfen ge- und in Schleswig-Holstein ein Highland- schüttelt, unter Qualen im Gebüsch. Rind. Doch sie waren in England geboren Zur Rettung des zusammengebrochenen Mikus lud den Kadaver auf seinen Hän- und hatten sich dort angesteckt, wo BSE Weltbildes eilten die Staatssekretäre der ger und fuhr ihn rasch zum Staatlichen seit den achtziger Jahren über 165000 Rin- Landwirtschaftsminister aus den Bundes- Veterinäruntersuchungsamt in Detmold. der dahingerafft hat. ländern in den Krisenstab nach Bonn. Jah- Kaum zwei Stunden nach Cindys Tod Bei Cindy liegt der Fall anders. Die gel- relang hatten die Deutschen – schärfer als schnitt dort Tierpathologe Wolfgang Thiel, be Plastikmarke in ihrem rechten Ohr – die Politiker aller anderen Staaten Europas 49, den noch warmen Tierkörper auf und Kennummer 2081/05570 – weist sie als – den Briten Verharmlosung der BSE-Krise machte sich auf Spurensuche im Gehirn. Deutsche aus, geboren am 25. Juli 1992 in vorgeworfen; es waren Bund und Länder, Vermummt in einen Schutzanzug, hatte Wagun (Mecklenburg-Vorpommern). Die die im vergangenen Frühjahr das weltwei- er binnen 15 Minuten den Kopf aufgesägt, Wiesen Britanniens, Heimat der Galloways te Ausfuhrverbot für Rinder und Rinder- das Gehirn von Adern und Nervensträngen wie des Rinderwahns, hat sie nie gesehen. produkte aus Großbritannien durchdrück- abgeschnitten, die Hirnhaut abgezogen. Mit Cindy starb die Mär, Fleisch aus ten. Dann hielt er rund 600 Gramm Nervenge- deutschen Landen sei sicher. Mit großem Den starken Worten folgten Debatten webe in seiner Hand. Einen Teil fror er Aufwand hatten Schlachter und Züchter nach Briten-Art. Aus Angst vor der Lobby für Vertrauen in ihr angeblich perfektes aus Bauern, Züchtern und Verbands- Verschleppte Seuche BSE-Fälle Kontrollsystem geworben. Bauernpräsident funktionären versuchten die Bonner Constantin von Heereman schnitt auf der Agrarpolitiker nur eins: den deutschen eingeführte kranke Rinder „Grünen Woche“ in Berlin demonstrativ Fleischmarkt zu retten. eingeführte und im Land erkrankte Rinder einen gebratenen Ochsen an. Die Botschaft Die Runde entschied, nur die rund 5200 Stand: Januar 1997 lautete stets: Briten-Beef ist riskant für den aus den BSE-Ländern Großbritannien und GROSS- Verbraucher, teutonischer Braten dagegen Schweiz importierten Tiere zu töten. Ein BRITANNIEN DÄNEMARK 1 unbedenklich. Nun wurde offenbar, daß Staatssekretär war fassungslos: „Eine sol- 165 518 IRLAND der Erreger der kühemordenden Seuche che Schweinerei habe ich noch nicht er- 153 DEUTSCH- auch deutsche Viecher nicht verschont. lebt.“ Bärbel Höhn, Landwirtschaftsmini- LAND Mehr noch: Ausgerechnet die Weiden sterin in Nordrhein-Westfalen, schimpfte: 5 der Ökobauern, gemeinhin betrachtet als „Bonn verharmlost, statt zu handeln.“ Garanten für höchste Fleischqualität, er- 430000 Tonnen Rindfleisch exportieren FRANKREICH 26 wiesen sich als Einfallstore der Seuche. die Deutschen jährlich (siehe Grafik Seite SCHWEIZ Nicht nur Ökofreaks, die sich bei einem 34), kassieren dafür rund zwei Milliarden 230 Spaziergang über den Bauernhof gern Mark. Noch am vergangenen Freitag kam ITALIEN überzeugen, ob mit dem künftigen Sonn- aus Bonn der Freibrief. Die Fleischhändler PORTUGAL 2 tagsbraten alles in Ordnung ist, müssen sollen für den Handel mit Drittländern 61 sich getäuscht fühlen. Auch der Babykost- künftig folgende Klausel verwenden: „Die Hersteller Nestlé Alete kaufte bei ebenje- Bundesrepublik ist frei von BSE im Sinne nem Mecklenburger Bauern Biofleisch, in des Artikels 3.2.13.2 des Internationalen dessen Stall BSE-Cindy geboren wurde. Tiergesundheitscodes.“

32 der spiegel 5/1997 REUTERS AP Brakel, Ökobauer Mikus: Ausgerechnet die Weiden der Garanten höchster Qualität erwiesen sich als Einfallstor der Seuche

Doch die bange Frage der nächsten Wo- Krankheit (CJK), die dem Krankheitsbild als es auf einer Auktion von Aufkäufern chen wird sein, ob auch die rund 14000 in BSE verdächtig ähnelt. der niedersächsischen Firma Galloway Deutschland geborenen direkten Nach- In Großbritannien, wo nach Schätzun- Cattle ersteigert wird. Die Importeure aus kommen der Importtiere getötet werden gen rund 750000 BSE-infizierte Rinder von Löningen bei Oldenburg sind in diesen Wo- müssen. Sie werden derzeit nur „scharf be- Menschen verspeist wurden, errechnen chen viel in Schottland unterwegs: „Un- obachtet“. Sollte sich bei ihnen der BSE- Epidemiologen mittlerweile erste Hor- gefähr 80 bis 90 Stück“ habe man bei die- Verdacht verstärken, wäre klar: Auch hier- rorszenarien über das mögliche Ausmaß ser Einkaufsreise erworben, erinnert sich zulande ist der Gruselkeim heimisch. der bevorstehenden CJK-Epidemie. Im Werner Jansen, der damalige Chefver- Dabei hatte sich die Nachfrage nach günstigsten Fall, so das Fachblatt nature, markter der Firma. Rind gerade wieder leicht erholt. Dazu bei- werden 75 Briten am Hirnschwamm ster- In Deutschland vermerken die Lönin- getragen hat auch die Vertrauenswerbung ben, im ungünstigsten bis zu 80000. ger Händler in der Zuchtbescheinigung mit den langhaarigen Galloways, die sich Der Fall Cindy offenbart nicht nur: Der vom 13. Februar 1990 ihre Ohrmarken- Mitte der achtziger Jahre Grundstücksbe- BSE-Erreger hat den Sprung auf deutsche nummer „25258“ und die – in Großbri- sitzer und Züchter in Parks und auf Weiden Weiden geschafft. Er zeigt auch, warum. tannien gesetzlich vorgeschriebene – Täto- stellten. Die kleinen Herden dienten meist Als sei sie von einem böswilligen Kritiker wierung „CGB W.15“. als lebende Rasenmäher. der deutschen Agrarbehörden ersonnen, Das Interesse an Galloways ist groß, be- Bald schon wurde gezielt gezüchtet. sonders in der noch existierenden DDR. Gourmets hatten das hochwertige, fein- In der DDR galten Galloways Dort werden die robusten Rinder als idea- marmorierte Weidefleisch schätzen gelernt. le Trendtiere für die heraufziehenden Ein exklusiver Ökomarkt mit Vermarktung als Trendtiere für künftige marktwirtschaftlichen Zeiten angepriesen. ab Bauernhof entstand, bei dem sich gut marktwirtschaftliche Zeiten „Acht, vielleicht auch zehn ostdeutsche Geld verdienen läßt – alles sauber, alles Bauern“, meist LPG-Geschäftsführer, sagt bio. „Rindfleischerzeugung im Einklang mit illustriert die Lebensgeschichte des veren- Jansen, kaufen die Tiere im März „gegen der Natur“, schwärmte der deutsche Gal- deten Galloway-Rinds, wie die Gepflo- sehr gutes Westgeld“. loway-Züchterverband – und knapp ein genheiten auf dem unübersichtlichen Über eine LPG in Utzedel, einem win- Viertel der 20000 zotteligen Rinder mußte Viehmarkt dem tödlichen Keim den Weg zigen Nest nahe Demmin, kommt Came- seither jährlich zum Schlachter. ebneten. Und jeder, der bisher behauptet lia mit acht weiteren Tieren zu Werner Nun aber droht eine Absatzkrise, welche hat, in Deutschland grasendes Vieh werde Meyer-Bodemann, der im nahe gelegenen die von 1996 noch weit übertreffen könn- lückenlos kontrolliert und dokumentiert, Wagun eine Ökofarm aufbauen will. te. Denn die Rinderseuche BSE ist mit ho- steht entweder als gutgläubiger Naivling Meyer-Bodemann hatte zuvor die ört- her Wahrscheinlichkeit auf Menschen oder skrupelloser Lügner da. liche LPG geleitet, nun versucht er sein übertragbar – die Furcht wächst. „Camelia 18th of Broadlea“ wird das Glück auf dem Bio-Trip. Insgesamt 40 Seit 1992 sind 14 Briten sowie 2 Franzo- Kalb getauft, das am 31. März 1989 auf der Galloways umfaßt seine Herde, einige, so sen an einer Hirnkrankheit gestorben, die Broadlea-Farm von Mister G. R. Casson wird im Krisenstab vermutet, sollen ille- den Medizinern zuvor unbekannt war: im schottischen Nest Kirkcudbright gebo- gal über Tschechien ins Land geholt wor- eine Variante der Creutzfeldt-Jakob- ren wird. Das Rind ist knapp ein Jahr alt, den sein. Darüber hinaus stehen noch fast

der spiegel 5/1997 33 Deutschland 1000 Tiere der Rassen Deutsch Angus Aus deutschen Landen Denn Cindy trug nicht nur und tschechisches Fleckvieh auf den die Kennmarke im rechten fast 1000 Hektar Weideland. Deutsche Rind- und Kalbfleischexporte 1995 in Tonnen Ohr.Auch im linken Ohr fand Der Musterhof gerät bald in Schwie- die Kreisveterinärin Claudia rigkeiten. Meyer-Bodemann häuft im- sonstige Bindl aus Höxter bei der Ka- Länder Frankreich 84 083 mense Schulden an und sucht hektisch Italien 61314 daverbeschau ein Loch. Dort nach neuen Geschäftspartnern. Im 28 969 steckte ein silberner Draht Dänemark 24 435 Frühjahr 1994 nimmt er Kontakt zur Türkei 27 442 mit einem Metallrest – offen- Firma Nestlé Alete in München auf, Naher Osten bar Überbleibsel einer weite- die für ihre Babynahrungsprodukte 44 954 GUS-Staaten sonstige ren Plakette. hochwertiges Fleisch benötigt. 69 325 EU-Länder Die Beamtin empfand die Nestlé ist an einer Zusammenarbeit 60 169 doppelte Lochung nicht für interessiert, verlangt aber einen Nach- mitteilenswert: Jede fünfte weis, daß auf dem Betrieb keinerlei davon nach Kuh hat zwei Ohrlöcher. Die Vieh englischer Rassen steht. Am 27. Großbritannien 3478 Tiere streifen sich die Marken Juni erklärt Meyer-Bodemann der Fir- gern ab und müssen dann neu ma Nestlé die Abgabe seiner Gallo- markiert werden. „Die Kühe way-Herde an die Firma Gallus-GbR sehen immer aus wie Pun- (B. Heinzel und Co.). Die drei Betrie- ker“, sagt ein Beamter aus be Ökofarm, Angusfarm und Öko- Nordrhein-Westfalen. Erst am milch, die er, seine Frau und seine Mittwoch vergangener Wo- Tochter führen, so seine handschrift- che, nahezu einen Monat liche Erklärung, „halten, züchten und nach Cindys Tod, teilte die mästen also keine Galloways“. Beamtin den Befund auf An- Es war wohl eine Finte. Denn weder frage dem Düsseldorfer Land- unter dem Eintrag Gallus-GbR noch wirtschaftsministerium mit. unter B. Heinzel und Co. ist diese Fir- Die zwei Löcher im Ohr ma in Deutschland auffindbar. Auch ließen viel Raum für Speku- die Geschäftsführung der Biopark- lationen. Plötzlich schien Markt GmbH in Malchin, als Vertrags- nicht mehr sicher, ob Cindy partner für die Kontrolle des Nestlé- eine deutsche oder eine briti- Lieferanten zuständig, konnte bislang sche Kuh war – und wo sie keine Erklärung dafür finden. sich angesteckt hat. Nestlé-Kontrolleure, so sagt die Fir- Wer ist Cindy wirklich? ma, hätten bei Besuchen jedenfalls kei- Diese Frage ist nun plötzlich

ne britischen Rinder auf den Weiden REUTERS zur Schicksalsfrage der deut- der Meyer-Bodemanns entdeckt. Dar- Bauernpräsident Heereman*: „Im Einklang mit der Natur“ schen Landwirte geworden. aufhin habe man vom September 1994 Nach der bisherigen Beweis- bis Februar 1995 Fleisch von dem meck- Steak nach Deutschland zurück – ihr lage steht es schlecht um Borcherts Um- lenburgischen Hof bezogen. Dann aller- Fleisch wurde von den Niederländern mit deklarierungstheorie. Alle in Großbritan- dings habe man sich von Meyer-Bodemann großer Wahrscheinlichkeit exportiert. nien geborenen Rinder tragen, anders als wieder getrennt: Seine fortgeschrittene Der Irrweg der Galloways Camelia und deutsches Vieh, zusätzlich zur Kennmarke Krebskrankheit habe ihn „nicht mehr als Cindy eröffnete den nach Auswegen su- eine Tätowierung am Ohr. Die Veterinärin seriösen Partner“ erscheinen lassen. chenden Agrariern in Bonn eine Chance. fand jedoch kein Tattoo, obwohl sie gezielt Wo die Galloways während der Kon- Unter Hinweis auf mögliche Zweifel an gesucht hat. Sie habe, erinnert sich Bindl, trollen versteckt waren, weiß derzeit nie- der Identität von BSE-Cindy verlegte sich deswegen „genau das Ohr befühlt und in mand. Fest steht aber, daß Meyer-Bode- Bundeslandwirtschaftsminister Jochen den Haaren gewühlt“. mann, mittlerweile kurz vor der Pleite, erst Borchert darauf, das Problem zu exger- Das BSE-Opfer wäre demnach keines- am 27. Mai 1995 sieben seiner Galloways manisieren. Es bestehe, erklärte er fix, für wegs Cindys Mutter Camelia, die ja nach- an den Bayreuther Viehhändler Reiner die Verbraucher keinerlei Bedrohung. gewiesenermaßen eine Tätowierung besaß. Jobst verkaufte. Darunter ist – laut Papie- Ein paar Stunden später sah Borchert Überhaupt fehlt dem Rind die Gnade der ren – auch Cindy, ein Kalb von Camelia. die Gefahr, Deutschland müsse sich durch britischen Geburt. Cindy erhält die Ohrmarkennummer das Abschlachten der 14000 direkten Nach- Es gibt zwei Wege, wie Cindy sich an- „2081/05570“ – jene Nummer, die das in kommen quasi selbst zum BSE-Land er- gesteckt haben könnte. Zum einen könnte Brakel an BSE eingegangene Rind trug. klären, endgültig gebannt. Cindy, erklärte sich das Kalb bei der Geburt infiziert ha- Camelia wird zusammen mit dem Rest der Minister einer verblüfften Zuhörer- ben, etwa über die Plazenta. Die Möglich- der Herde, insgesamt 30 Kühe und 15 Käl- schaft, sei gar nicht Cindy, sondern Cindy- keit solcher „horizontaler Infektionen“ ber, erst nach dem Tod von Meyer-Bode- Mutter Camelia. Auf jeden Fall sei es so vom Muttertier auf das Kalb wird von Wis- mann im September 1995 (er raste mit sei- gut wie sicher, daß das BSE-Rind eine bri- senschaftlern lange vermutet. Ein Beweis nem Auto gegen einen Baum) verkauft. tische Kuh sei, die betrügerisch zum deut- steht aber noch aus. Der Hamburger Konkursverwalter Torben schen Rind umdeklariert worden sei. Das Tier könnte sich auch auf einer sei- Herbold reicht die Tiere an die Firma Zan- Erleichtert atmeten die Bauern auf: Die ner vielen Stationen über BSE-verseuchtes derink BV aus dem niederländischen Mei- Kuh war britisch – und damit vom Eis. Tiermehl angesteckt haben. Schon ein jel weiter. Die Galloways hätten nur zu ei- Borcherts kühne These freilich stützt Gramm infektiöses Hirn im Futter reicht nem Spottpreis verhökert werden können: sich einzig auf ein dürftiges Indiz. Wirkli- aus, um ein Kalb erkranken zu lassen. Ex- „Der Markt war ja komplett weg.“ che Beweise konnte der Minister nicht vor- perten erklären dies allerdings für sehr Die amtlichen Papiere weisen aus, daß weisen. Die Hoffnung der arg bedrängten unwahrscheinlich, da solches Tiermehl in Camelia am 31.August 1996 in Holland ge- Rindfleischhändler klammert sich allein an Deutschland nie hergestellt worden sei – es schlachtet wurde. Sie sei kerngesund ge- ein winziges Stück Metall. wurde aber von England in die Länder des wesen, behaupten die niederländischen Ve- Ostblocks exportiert, der Weg über die terinäre; Camelia kehrte womöglich als * Am 21. Januar auf der „Grünen Woche“ in Berlin. Grenze der Ex-DDR war also nicht weit.

34 der spiegel 5/1997 Beide Szenarien brächten die Deutschen se, gesteht ein Tierseuchenverantwortli- Nun sollen Gendetektive vom Bonner in arge Bedrängnis. Nach dem ersten Er- cher im Ministerium, „hatten wir eine Institut für molekulare Diagnostik das My- klärungsmodell müßten, um erregerfreies echte Lücke in der Überwachung“; sterium klären. Von Cindys Gehirn lagern Fleisch garantieren zu können, nicht nur π in England mit Unbedenklichkeitsbe- noch einige Gramm in der Tübinger Bun- alle britischen Kühe, sondern auch all ihre scheinigungen sehr locker umgegangen. desforschungsanstalt – genug Gewebe für Kinder und Kindeskinder als BSE-ver- Wenn in einem englischen Stall ein Rind einen Test, hoffen die Bonner Experten. dächtig vernichtet werden – insgesamt auffällig wurde, wurde es schnell beim Mutter Camelia kann, weil geschlachtet mehrere zehntausend Tiere. Nachbarn untergestellt, um den Stempel und vermarktet, zur Klärung nichts mehr Noch verheerender wären die Konse- zu bekommen; beitragen. Auch der Galloway-Bulle No- quenzen der Tiermehltheorie. Denn sie π erst im April 1996 nach einer Bund-Län- vum aus Mecklenburg-Vorpommern, laut würde bedeuten, daß britischer BSE-Ka- der-Besprechung von Bonn ein Schlacht- Papieren der Vater von Cindy, weilt nicht daverschrott ins Land geschmuggelt wurde. verbot für alle britischen Rinder ver- mehr unter den Lebenden. Von ihm exi- Alle Garantien zur Sicherheit deutschen fügt; und stieren immerhin noch einige Spermapro- Fleisches würden damit zu Makulatur. π einem Züchter aus Rheinland-Pfalz, dem ben, die nun zu einem Genvergleich her- Das Rätsel um Cindys Ansteckung die Tötung des Bestandes drohte, vom angezogen werden können. macht die laschen Kontrollen trotz der Be- Eine Halbschwester von Cindy, die Ca- drohung durch die Seuche deutlich. Das Gendetektive sollen das melia in den Niederlanden zur Welt brach- angeblich so sichere System versagte aber te, wurde vergangene Woche nach fieber- auch sonst. So wurde Mysterium um Cindys Herkunft hafter Suche aufgespürt und geschlachtet. π ein Hinweis des niedersächsischen Land- endgültig klären Sie wird nun im holländischen Lelystad von wirtschaftsministeriums, in den engli- Veterinären auf BSE untersucht. Das Er- schen Verladehäfen seien Kühe der Ex- Veterinär des Westerwaldkreises nahe- gebnis liegt frühestens in zwei Wochen vor. tensivrassen vor dem Transport nach gelegt, die Tiere noch schnell im be- Die Bonner Wissenschaftler wollen be- Deutschland mit verbotenem Tiermehl nachbarten Hessen, in das die Weide hin- reits Ende dieser Woche ihr Gutachten ab- gefüttert worden, ignoriert. Mecklen- einragte, regulär schlachten zu lassen. geben. Von der Genanalyse, die schon die burg-Vorpommerns Landestierarzt Deshalb warten die deutschen Züchter Rätsel um die Identität der gefundenen Klaus Wilke lapidar: Man habe „den und Minister Borchert mit Bangen auf eine Knochen der Zarenfamilie und die Her- Reisebericht der Kollegen“ zur Kenntnis verläßliche Antwort auf die Frage, wer Cin- kunft des badischen Findelkinds Kaspar genommen; dy wirklich war. Das tatsächliche Alter Hauser löste, hängt die Zukunft der deut- π eine Verfügung Bonns, daß britische ließe sich allenfalls am Gebiß abschätzen. schen Landwirte ab. Kälber nur eingeführt werden dürfen, Doch ihr Kadaver verschwand routine- Im Fall Hauser spielte eine blutbefleck- wenn sie innerhalb von sechs Monaten gemäß schon am Sektionstag in die Tier- te Unterhose die Hauptrolle, jetzt kommt geschlachtet werden, kaum kontrolliert. körperbeseitigungsanstalt. „Wir haben nix es auf ein paar Gramm eines wahnsinnig Selbst auf dem Höhepunkt der BSE-Kri- mehr von ihr“, bedauert Pathologe Thiel. gewordenen Zotteltiers an. ™ Titel Tödlich guter Stoff Staatliche Qualitätstests für Heroin, nachsichtige Staatsanwälte und hilflose Polizisten – fünf tote Junkies in Bremen heizen die Diskussion um eine Korrektur der Drogenpolitik an. In dieser Woche stehen neue Konzepte in Bonn auf der Tagesordnung. er Tote war violett verfärbt und lag scher Drogenpolitik wie in einer Nahauf- ist ein Mann. Er braucht einen Arzt. Ich inmitten von Unrat, schmutziger nahme bündelt und sichtbar macht. glaube, der atmet nicht mehr.“ DWäsche und Essensresten. Als Pfeiffers Leiche schon in Box 10 der Die Hilfe kommt zu spät. Josef Wilkin, Als ein Freund Markus Pfeiffer*, 32, am Pathologie für die gerichtsmedizinische 20, geboren im kasachischen Karaganda, Samstag in seiner Wohnung in der Bremer Untersuchung bereitliegt, stirbt der im ka- liegt tot in einem Bett im Kinderzimmer. Nietzschestraße findet, ist sein ausgemer- sachischen Aktjubinsk geborene Aussiedler An der Wand über ihm hängt ein Filmpla- gelter Oberarm noch mit einem Bade- Alexander Dobarin, 27, auf einem Spiel- kat: „Vom Winde verweht“. Sein Körper mantelgürtel abgebunden. Zwischen den platz im Bremer Stadtviertel Neue Vahr. weist keine sichtbare Einstichstelle auf, die Beinen liegt eine blutige Spritze, auf ei- Ein Passant wird auf den leblosen Körper Polizei vermutet, daß er das tödliche nem Regal ein schmutzverkrusteter Eßlöf- aufmerksam, der an dem kalten Winter- Heroin geraucht hat. fel, an dem Reste eines weißen Pulvers nachmittag vornübergebeugt auf einer Junge Aussiedler sind nicht nur in Bre- kleben – Heroin. Bank hockt. Gesicht und Arme sind blau men ein Marktsegment, das Dealer erfolg- Pfeiffer ist einer von rund 1500 Junkies, angelaufen, in seiner Jacke steckt eine reich zu erobern beginnen. Aus der Ödnis die jedes Jahr in Deutschland elend kre- Kornflasche Marke „Alter Senator“. der Vororte drängt es sie in die Innenstäd- pieren. Doch der Tod des Mannes, der nach Vor dem Toten krümmt sich ein junger te und Szeneviertel. In die Arme der Dea- einer Entzugstherapie vor drei Monaten Mann auf der Erde, bleich und röchelnd: ler ist es oft nur ein kurzer Weg, vor allem rückfällig wurde, ist mehr als nur das tri- Waldemar Schubas, 20, ebenfalls Aussied- dann, wenn die Drogenhändler Landsleu- ste Ende einer weiteren Junkie-Karriere. Er ler aus Kasachstan.Auf und unter der Bank te sind. ist der Auftakt zu einer unheimlichen To- liegen Fixerutensilien. Auch der Mann, von dem Josef Wilkin desserie am vorvergangenen Wochenen- Während Notärzte Schubas das Leben das tödliche Gift bekommen haben soll, de, die Probleme und Widersprüche deut- retten, kommt ein aufgeregter junger Mann kommt aus der ehemaligen Sowjetunion: angerannt. Mit starkem russischen Akzent Fedor Sender, 23, geboren in Südkasach- * Namen sämtlicher Junkies geändert. stößt er hervor: „Bei uns in der Wohnung stan, seit vier Jahren in der Bundesre- ACTION PRESS ACTION Fixer in Bremen: Die Angst vor einem Massensterben sorgte für Flexibilität

36 der spiegel 5/1997 publik, seit sechs Monaten im Bremer selbst ungewöhnlich starkes Gift gedrückt Methadonprogramm. hat – Analysen ergeben einen Reinheits- Die Ersatzdroge, für viele Experten eine gehalt von 60 Prozent, genau wie bei dem Art Königsweg aus der Sucht, hat ihm of- Stoff, der die Rußlanddeutschen tötete. fenbar nicht geholfen, den Teufelskreis von Der Mann gibt einen Tip, von wem die bri- Abhängigkeit und Geldbeschaffung durch sante Ware stammt – möglicherweise die Kleinhandel mit Heroin zu durchbrechen. Quelle für das tödliche Heroin. Von Sender soll auch der Stoff kommen, Die tätige Sorge der Polizei um das den sich die Freunde Dobarin und Schubas Wohlergehen der Outcasts wird von Ralf in die Venen gedrückt haben. Borttscheller, dem christdemokratischen Bei einer Durchsuchung der Sender- Innensenator in Bremens Großer Koaliti- Wohnung, in der Wilkin starb, findet die on, mit lautstarken Bekenntnissen über- Polizei in der Schrankwand eine Feinwaa- tönt: „Der Drogenkonsum in der Öffent- ge zum Abwiegen von Drogenbriefchen lichkeit muß konsequent verfolgt werden.“ und Heroin. Der Stoff, das ergibt die Ana- Borttschellers markiges Auftreten findet

lyse, hat einen Reinheitsgrad von 60 Pro- MEYER / FORUM P. den Beifall des bayerischen Ministerpräsi- zent – ein außerordentlich hoher Wert. Bei Heroinhandel in Bremen denten Edmund Stoiber, der als Redner Kleindealern, deren Ware immer wieder „Leichter Essiggeruch“ bei einem Empfang der Bremer CDU auf- gestreckt wird, ist ein Heroingehalt von 10 bis 20 Prozent normal. Die Drogentoten von Bremen wären bei Stoff von berechenbarer Qualität womög- lich noch am Leben. Das ist eines der Ar- gumente, die Befürworter einer kontrol- lierten Heroinabgabe vortragen. Die Forderung, die von der Mehrzahl der Polizeipräsidenten deutscher Drogen- metropolen erhoben wird (siehe Seite 40), steht diese Woche auch in Bonn auf der Ta- gesordnung. Der Stadtstaat Hamburg möchte die kontrollierte Heroinabgabe in einem Modellversuch mit 100 Junkies aus- probieren. Der sozialdemokratisch domi- nierte Bundesrat hat einen entsprechen- den Gesetzentwurf bereits passieren las- sen, nun liegt der Vorstoß im Gesund- heitsausschuß des Bundestages (siehe In- terview Seite 38). Bremens Polizeipräsident Rolf Lüken lehnt solche Hilfsprogramme für Schwerst- abhängige trotz der Todesserie ab: „Was sagen wir denen, die noch nicht ganz un- ten sind? Sorry, ihr werdet erst aufgefan- gen, wenn ihr ganz am Ende seid?“ Doch die rhetorische Härte wird relati- Toter Junkie Pfeiffer: Schmutziger Löffel mit Resten eines weißen Pulvers viert durch die Konfusion, mit der die Ver- antwortlichen an der Weser reagieren. Als tritt. O-Ton Stoiber: „Solche Erklärungen am vorvergangenen Samstag zwei weitere hätte es früher nur aus dem bayerischen In- tote Junkies in Bremen gefunden werden, nenministerium gegeben.“ ist dies der Auslöser hektischer Reaktio- Doch das hindert die Bremer Gesund- nen. Im vergangenen Jahr wurden in der heitssenatorin Christine Wischer (SPD) Stadt 50 Drogentote registriert, jetzt sind nicht, einen rechtlich problematischen es 5 an einem einzigen Tag. Die Angst vor Drogen-TÜV einzurichten, wie es ihn in einem Massensterben in der örtlichen Dro- Deutschland nie zuvor gegeben hat. Bis genszene sorgt für Flexibilität. Mitte dieser Woche können Junkies ihr Noch in der Nacht stellt der Bremer Heroin auf seinen Reinheitsgehalt über- Drogenfahnder Michael Haase eine fünf- prüfen lassen. köpfige Sondergruppe zusammen, um die Die Mindestmenge für den Test, den ein Todesserie zu stoppen. Mit einem drama- privates Labor im Auftrag der Behörde tischen Appell wenden sich die Ordnungs- durchführt, sind 0,1 Gramm. Der abgege- hüter über Lautsprecherwagen und Radio bene Stoff wird in jedem Fall einbehalten an die rund 3000 Junkies in ihrer Stadt. – das ist eine Bedingung der Staatsanwalt- Auf roten Flugblättern gibt die Polizei schaft, die den Drogen-TÜV unter Beru- bekannt, daß es binnen weniger Stunden fung auf einen „Notstand“ toleriert. „bis zum jetzigen Zeitpunkt 5 Drogentote Einen Schritt vor, zwei zurück – ent- gegeben“ habe. Die Ursachen seien zwar sprechend dünn ist die Resonanz. noch ungeklärt, aber: „Alle Drogenkonsu- Bis Ende vergangener Woche haben nur menten werden um besondere Vorsicht ge- sieben Heroin-User das Angebot genutzt.

beten.“ Gezeichnet: „Ihre Polizei.“ AP Die meisten Süchtigen verlassen sich lieber Soviel Fürsorge zeigt Wirkung. Bei der Flugblatt der Bremer Polizei auf ihre Erfahrungen beim Konsum als auf Polizei meldet sich ein Junkie, der gerade Die Fürsorge zeigt Wirkung einen Labortest, der wertvollen Stoff ko-

der spiegel 5/1997 37 Titel stet und womöglich, so fürchten sie, ir- gendwann Ärger mit der Polizei bringt. Günther Janz, 46, seit 20 Jahren ab- hängig, behauptet: „Die beste Qualitäts- „Den Markt kaputtmachen“ kontrolle ist meine Nase.“ Die Beschaf- fenheit von Heroin will er durch den Interview mit Hamburgs SPD-Bürgermeister Henning Voscherau „leichten Essiggeruch“ erschnüffeln. Im über seine Pläne für eine Wende in der Drogenpolitik Zweifel, sagt Janz, nehme er „nur eine Messerspitze“ als Probemenge. SPIEGEL: Herr Voscherau, was wollen kanntenkreis, dessen Kind drogenab- Sven Rheinhaus, 31, eines der fünf Opfer Sie mit dem Modellversuch zur kon- hängig war. Der Junge ist inzwischen der Todesserie, starb entgegen der ersten trollierten Abgabe von Heroin an Dro- tot. Als Bürgermeister einer Stadt mit Vermutung nicht am hochkonzentrierten genabhängige erreichen? etwa 8000 Abhängigen stoße ich un- Heroin. Der Mann, dessen Arme von Ein- VOSCHERAU: Wir haben in Deutschland ablässig auf derartige Schicksale von stichnarben gezeichnet sind, ist nach einem seit langem ein überbordendes Dro- Junkies und ihren Familien. Das läßt ei- Saufgelage unter Freunden, bei dem genproblem. Ein harter Kern von Ab- nen nicht kalt. Schnaps tassenweise durch die Kehlen floß, hängigen, die wir mit herkömmlichen SPIEGEL: Welche Chancen sehen Sie für einer Alkoholvergiftung erlegen. Mitteln nicht erreichen, verelendet in den Entwurf zur Heroinverschreibung? Bei Albert Kordes, Opfer Nummer fünf, dramatischer Weise und gefährdet Die Bundesregierung ist strikt dagegen. läßt sich zwar nicht mit Sicherheit aus- durch Beschaffungskriminalität die Si- VOSCHERAU: Wir brauchen eine grund- schließen, daß ihm besonders reiner Stoff cherheit in den Städten. Diese Junkies legende Wende in der Drogenpolitik. den letzten Kick verschaffte, wahrschein- wollen wir vom illegalen Drogenmarkt Das Berliner Verwaltungsgericht hat lich aber starb Kordes, 31, an einem Cock- abziehen und in zugelassenen ärztli- bereits im vergangenen Sommer der tail verschiedener Drogen. Ein Heroinrest, chen Ambulanzen therapieren, ihnen je Kohl-Regierung signalisiert, daß die der bei der Leiche liegt, hatte einen Rein- nach Notwendigkeit auch Drogen ver- strikte Ablehnung derartiger Modell- heitsgrad von 10 Prozent. abreichen. versuche zur kontrollierten Heroin- Die Umstände, unter denen Kordes ums SPIEGEL: Ist das nicht die Kapitulation abgabe nicht Rechtens ist. Ich bin si- Leben kam, zeigen das ganz normale Fi- vor der Rauschgiftkriminalität? cher, diese Einsicht wird sich auch im xerelend auf drastische Weise. Nach zwölf Jahren Sucht stirbt er im abgewetzten Sessel eines schäbigen Hotelzimmers, die tödliche Spritze in der rechten Hand, eine Zigarette im Mundwinkel. Seine letzte Habe sind elf Pfennig. Als der Betreiber des Hotels den Toten auffindet, liegt Steffen Riemer, 27, desori- entiert auf dem Boden. Riemer erbricht zweimal rötlich und kommt auf die Inten- sivstation. Nach einer langen Drogenkarriere seien Kordes und er erst vor zwei Wochen aus einer suchttherapeutischen Wohngruppe der Bremer Drogenhilfe entlassen worden – wieder einmal „einigermaßen clean“, wie der Überlebende Riemer erzählt. Mög- licherweise habe das Heroin deshalb so stark gewirkt. Erworben haben Kordes und Riemer das

W. SCHUERING W. Rauschgift von einem deutschen Dealer Drogenpolitiker Voscherau: „Wir sagen der Mafia den Kampf an“ im Bremer Steintorviertel – im Tausch ge- gen 15 Kapseln des bei Junkies begehrten VOSCHERAU: Im Gegenteil. Das Signal Bundestag durchsetzen: Wir dürfen auf Präparats Remedacen. Der Mann, den sie heißt: Wir sagen der Drogenmafia den einen seriösen Versuch dieser Art nicht nicht kannten, habe noch gewarnt: „Paßt Kampf an, indem wir ihnen den Ab- verzichten. auf, das Zeug ist gut.“ satzmarkt kaputtmachen. SPIEGEL: In Hamburg wird Heroinkon- Doch das sagen alle Dealer. Als Riemer SPIEGEL: Die Drogenmafia erwirtschaf- sum in Einrichtungen zum Spritzen- dem Mann erneut begegnete, zeigte der tet aber ihre Milliardengewinne nicht tausch bisher allenfalls geduldet, aber sich „völlig erschrocken“ über die Wir- allein mit verelendeten Junkies. nicht genehmigt. Warum so zaghaft? kung seiner Ware. Den Ursprung des Stoffs VOSCHERAU: Das wirklich große Ge- VOSCHERAU: Uns fehlen die rechtlichen aber wollte er nicht preisgeben, und das schäft machen die Rauschgiftkartelle Grundlagen für eine Genehmigung. kann Riemer verstehen: „Im Grunde sind mit schwer und schwerst Abhängigen. Unser Vorschlag zur Einrichtung von wir doch froh, wenn gutes Gift auf dem Die sind – ökonomisch betrachtet – die Konsumräumen, in denen Fixer ihre Markt ist.“ stabilste und sicherste Kundschaft. Da Drogen einnehmen können, bedarf ei- Guter Stoff vom Schwarzmarkt kann kann man die Dealer wirtschaftlich am ner gesetzlichen Klarstellung im Betäu- tödlich sein. Nur wenn der Staat zum Dea- härtesten treffen. bungsmittelgesetz. Man darf engagier- ler wird, lassen sich die Risiken minimieren. SPIEGEL: Was treibt Sie persönlich zu te Mitarbeiter nicht mit mehr als ei- Doch die Koalition der Neinsager in diesem Engagement? nem Bein in den Knast bringen. Da gilt Bonn kommt mehr und mehr in Bedräng- VOSCHERAU: Nachdenklich gemacht hat das gleiche Patt wie bei der Heroin- nis – durch eine Gesetzesinitiative zur kon- mich vor Jahren die Leidensgeschichte verschreibung: Der Bundesrat will, die trollierten Abgabe von Heroin aus Ham- eines Elternpaares aus meinem Be- Bundesregierung blockt ab. burg und den illusionslosen Realismus zahlreicher Polizeipräsidenten deutscher Großstädte.

38 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Titel M. BUSTAMANTE / VISUM M. BUSTAMANTE Junkies beim Heroinspritzen im U-Bahn-Tunnel: „Die Gefahr der Verelendung bis zum Verrecken in der Gosse ist vorgezeichnet“ Ein Tabu wird gebrochen Die Polizei hat das Drogendesaster täglich vor Augen. In ihren Reihen entstand eine Reformbewegung für eine „Notstandslösung“: Süchtige, denen anders nicht zu helfen ist, sollen Heroin vom Staat erhalten. Von Ariane Barth ie sind keine sozialen Tagträumer, chumer Polizeipräsident Thomas Wenner tiert wurde, mußte er sich selbst einen keine skrupellosen Abenteurer, son- (SPD), ein gelernter Jurist: „Rechtsstaatlich Maulkorb anlegen, um „jeden Loyalitäts- Sdern Polizeipräsidenten deutscher kontraproduktiv haben wir auch noch die konflikt zu vermeiden“. Großstädte, kühl kalkulierende Ord- Organisierte Kriminalität fettgemästet.“ Das Zentrum des Widerstands befindet nungsverfechter, die einen Ausweg aus der Federführend versuchen Frankfurt und sich in München: Polizeichef Roland Kol- Krise suchen. Was sie wollen, ist nach der Hamburg in einer Doppelstrategie, einen ler (CSU) hält wie die gesamte Poli- herrschenden Gesetzeslage streng ver- wissenschaftlichen Modellversuch durch- zeiführung Bayerns fest an der Doktrin boten: eine staatlich kontrollierte Abgabe zusetzen: Frankfurt durch einen Antrag seiner Partei, „daß Drogen in hohem Maße von Heroin an Süchtige. Den „nationalen beim Bundesinstitut für Arzneimittel, schädlich und deshalb zu ächten sind“. Rauschgiftbekämpfungsplan“ der Regie- Hamburg durch eine Gesetzesvorlage, wo- Aber auch im freisinnigen Bremen warnte rung Kohl halten sie für gescheitert. nach in Städten mit über 500000 Einwoh- der parteilose Polizeichef Rolf Lücken vor „Jeder, der sich mit dem Problem sach- nern eine medizinisch und sozial begleite- Experimenten: „Das falsche Signal.“ Seit lich und vernünftig beschäftigt, sagt: Es te Versorgung Süchtiger mit Heroin er- der vergangenen Woche wird an der Weser muß was passieren“, so faßt der Dort- probt werden darf. herumexperimentiert, hilflos. munder Polizeipräsident Hans Schulze In zehn der zwölf Großstädte, die in Fra- Dagegen will der Hamburger Polizei- (SPD) die Krisenstimmung seiner Kolle- ge kämen, alle im Westen gelegen, halten präsident Ernst Uhrlau (SPD), ein gelern- gen in den Städten an Rhein und Ruhr zu- die Polizeichefs den neuen Weg für gebo- ter Politologe, „Schritt für Schritt“ voran- sammen. „Was machen wir denn, was ist ten, in Köln und Essen, in Dortmund und gehen, die Entwicklung genau studieren der Erfolg – die Entwürdigung der Süchti- Düsseldorf, in Duisburg wie in Hannover, und daraus die weiteren Handlungsstrate- gen, die eigentlich tiefer nicht mehr sinken in Berlin mit Bedenken, in Stuttgart still- gien ableiten. Eine staatlich kontrollierte können, und Menschenwürde ist in unse- schweigend. Nachdem der parteilose Poli- Abgabe von Heroin, so glaubt er, könne rem Grundgesetz noch immer das Rechts- zeipräsident Volker Haas ins Stuttgarter dazu beitragen, „daß die Drogen ihrer Fas- gut, das ganz oben steht“, sagt der Bo- Innenministerium, Domäne der CDU, zi- zination beraubt wären“.

40 der spiegel 5/1997 S. MÜLLER / WESTEND Fixerstube in Frankfurt: „Die Drogen sollen ihrer Faszination beraubt werden“

Auch in der zweiten Riege der 18 Städ- Die Konkurrenz der Werte wird durch te mit 250000 bis unter 500000 Einwoh- das pragmatische Denken in Kreisen der nern befürworten zehn Polizeipräsiden- Ordnungshüter neu gewichtet. Energisch ten die neue Linie, beispielsweise in Bonn, widersetzen sie sich allen Libertins, die Bielefeld und Braunschweig. Ihre Kolle- von einer „Freigabe“ harter Drogen fa- gen in den größten Städten des Ostens se- seln, und auch auf die Schlagworte „Li- hen noch keinen Handlungsbedarf: Dort beralisierung“ oder „Legalisierung“ rea- wird der illegale Markt für harte Drogen gieren sie allergisch. Hamburg erst aufgebaut, wie vor zwei Jahrzehnten Die Bandbreite der Vorstellungen Bremen im Westen. Allerdings haben Einzelfälle reicht von der Heroin-Abgabe an einen Hannover schon zu einem Umdenken in Halle ge- klein gehaltenen Kreis der Elendigsten Berlin führt. Braunschweig Münster Diejenigen, die aus der konventionellen Bielefeld Magdeburg Denkblockade ausgebrochen sind, rühren Essen Gelsenkirchen Duisburg an ein Tabu, das in Bonn heiliggehalten und Dortmund Halle Leipzig immer wieder plakativ verteidigt wird: Der Mönchengladbach Bochum Dresden Staat darf niemals zum Dealer werden. Wuppertal Düsseldorf „Die Drogenprävention“, so heißt es in ei- Köln Bonn ner offiziellen Stellungnahme der Bundes- Frankfurt Chemnitz regierung, „wird ihre Glaubwürdigkeit ver- lieren, wenn der Staat die gleichen Drogen Heroin Wiesbaden verteilt, vor denen er die Bürgerinnen und vom Staat Bürger zu warnen und zu schützen vor- Polizeipräsidenten gibt.“ zur kontrollierten Mannheim Was haben denn all die Warnungen ge- Drogenabgabe Karlsruhe Nürnberg bracht? Der Stoff ist da, zwar nicht wie der Zucker, aber für jedermann zu haben, dafür Stuttgart sogar im Gefängnis. Es ist eine schöne, be- Augsburg stechend klare Ideologie, daß von Staats dagegen wegen nichts zur Befriedigung der Sucht München in Städten über 500 000 über 250 000 nach harten Drogen getan werden darf. Einwohner Einwohner Aber was taugt sie, wenn sie die öffentli- che Ordnung untergräbt und die Sicherheit Eine spiegel-Umfrage bei den Polizeipräsidenten ihrer Stadt, Heroin an Schwerstabhängige ab- der Bürger gefährdet, die Ressourcen der der 30 größten Städte der Bundesrepublik offen- zugeben, denen anders nicht mehr zu helfen ist. Polizei verschwendet und die Süchtigen in bart einen Meinungsumschwung in der Drogen- Dabei legen sie Wert auf strengste Kontrolle, ärzt- die Verelendung treibt? politik: 20 Polizeichefs plädieren für Versuche in liche Aufsicht und soziale Betreuung. der spiegel 5/1997 41 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel D. HOPPE / NETZHAUT FRISCHMUTH / ARGUS P. ROGNER / NETZHAUT F. ROGNER / NEZTHAUT F. / NETZHAUT DIETRICH J. D. HOPPE / NETZHAUT Schulze Uhrlau Wenner Wittmann Roters Cebin Dortmund Hamburg Bochum Düsseldorf Köln Duisburg bis hin zu einer flächendeckenden Versor- Polizeichefs, die eine kontrollierte Doch der Drogenbeauftragte der Bun- gung all jener Süchtigen, die keine Thera- Heroin-Abgabe befürworten desregierung, Eduard Lintner (CSU), hält pie annehmen und auch Methadon ver- unerschütterlich daran fest, daß es Heroin schmähen: Das könnten 70000, womög- durch eine Gesetzesänderung aus dem Ver- vom Staat nie geben darf. Alles andere lich auch 100000 Junkies sein. botskatalog herausgenommen und ver- wäre für ihn eine „perspektivlose Resi- Exakt dosiert und hygienisch einwand- schreibungsfähig wurde, erhalten in der gnation“, die „schon aus ethischen und frei gespritzt erzeugt Heroin, wie die Bundesrepublik bereits 15000 Abhängige – moralischen Gründen nicht verantwort- Mehrheit der Forscher im Gegensatz zu der erste Einbruch in die Abstinenzideo- bar“ ist. einer extrem kleinen Minderheit meint, logie. Das Produkt der Pharmaindustrie „Es hilft nicht, wenn ich mich hinter der keine irreversiblen körperlichen Schäden. besetzt im Hirn die Rezeptoren, die von Ethik verstecke“, sagt der Hanseat Uhr- Allerdings betäubt es das Belohnungssy- der Natur für die körpereigenen Glücks- lau: „Das kann mich auch zu Inaktivitäten stem im Hirn: So bleibt jenes Wohlgefühl substanzen, die Endorphine, vorgesehen bringen. Ich muß sehen, wie ich den Scha- aus, das normalerweise durch Anstrengung sind; es mindert mithin den Drogenhunger, den minimiere, für den einzelnen wie für und Leistung entsteht. Das künstliche Pa- aber es erzeugt kaum Euphorie. das ganze soziale und das öffentliche Um- radies aus der Spritze bleibt ein vitales Da der Methadon-Klientel der Kick feld.“ Unglück, weil das natürliche Zusammen- fehlt, wie ihn das den Endorphinen sehr „Wer mich bei der Ethik packen will“, spiel der Stimmungssubstanzen im Hirn viel ähnlichere Heroin durch den Körper dem begegnet der Bonner Polizeichef manipuliert wird. Aber man kann als Ab- brausen läßt, brechen viele aus in einen re- Dierk-Henning Schnitzler mit seinem Mo- hängiger alt werden, wie sich bei jenen gelwidrigen, bisweilen lebensgefährlichen ralkodex, nach dem es vordringlich ist, Ärzten erwies, die in den zwanziger Jah- Beikonsum: Sie putschen sich auf mit Ta- „Menschen in Not zu helfen, anstatt sie ren morphinsüchtig wurden und trotzdem ein normales Lebensalter erreichten. Da beim Heroin die Wirkungsschneise zwischen Euphorie und Tod durch Atem- stillstand äußerst gering ist, bringt das Teu- felszeug von der Straße die Konsumenten ständig in Lebensgefahr. Bei dem illegalen Stoff, gestreckt mit Puder, Milchpulver, Gips, schwankt der Reinheitsgrad stark, vergleichbar zwischen 80prozentigem Al- kohol und einem Bier. Besonders bei den Polytoxikomanen, die alles mögliche mißbrauchen, sind die Wechselwirkungen unberechenbar. Die einzige deutsche Ursachenanalyse, veröffentlicht vom Bonner Gesundheits- ministerium, schreibt 72 Prozent der Dro- gentoten einer „unbeabsichtigten Dosie- rung“ zu; elf Prozent verübten Selbstmord

durch den „Goldenen Schuß“; sieben Pro- E. N. FIEGEL zent starben an Krankheiten oder durch Bonner Drogenbeauftragter Lintner: „Aus ethischen Gründen nicht verantwortbar“ Unfälle; bei zehn Prozent der 427 unter- suchten Todesfälle ließ sich die Ursache bletten oder Koks, sie werden rückfällig weiter verelenden zu lassen: Ich bin mei- nicht klären. und geben sich einen Schuß. Die Mehrheit ner Kirche, ich bin der CDU als Mitglied Mithin ist die überwältigende Mehrheit der Fixer läßt sich auf Methadon gar nicht verbunden“. der Drogentoten auf die unkalkulierbaren erst ein. Wenn er das Problem „ohne Schere im Risiken des Schwarzmarktes und ihre Ver- Das alles weiß ein wohlinformierter Po- Kopf“ angeht, drängt sich ihm die Strate- zweiflung zurückzuführen. „Die Gefahr lizeipräsident wie der Essener Michael Dy- gie auf, dem Markt die Endverbraucher zu der Verelendung bis zum Verrecken in der bowski (CDU): „Um den Süchtigen wieder entziehen, „natürlich streng kontrolliert: Gosse ist vorgezeichnet. Das ist keine Li- in ruhigeres Fahrwasser zu bringen, müß- Ich bin ein absoluter und scharfer Gegner nie, die man auf Dauer halten kann“, sagt te man ihn mit den Originalstoffen ver- einer Freigabe von Rauschgiften“. der Dortmunder Polizeichef Schulze. sorgen. Natürlich nicht mit Crack, sonst Nicht weit vom Konrad-Adenauer-Haus Die Hoffnung, diesen Teufelskreis durch hätten wir überall Amokläufer. Was ver- entfernt blickt Schnitzler auf seine Stadt, Methadon-Programme durchbrechen zu träglich ist und was nicht, können wir Po- die „wenig Glitzerkram“ hat: „eine stille, können, hat sich bislang nicht erfüllt. Die lizisten nicht entscheiden, das müssen die kleine Residenz mit sehr viel Solidem“. synthetische Droge Methadon, die 1994 Mediziner tun.“ Trotzdem sind die harten Drogen präsent,

44 der spiegel 5/1997 S. MÜLLER-JÄNSCH / JOKER S. MÜLLER-JÄNSCH SEITZ / ZEITENSPIEGEL P. / NETZHAUT DIETRICH J. DPA TEUTOPRESS B. BORSTELMANN / ARGUM Schnitzler Haas Dybowski Klosa Kruse Frerichs Bonn Stuttgart Essen Hannover Bielefeld Frankfurt

wenn auch die Süchtigen, „einige hundert, se-Auto mit einem Stern durch die Ge- Unschuldsvermutung wäre ein tiefgreifen- vielleicht auch 500“, keine provokante gend.“ Daß sie ihre Karossen doch wohl il- der Einschnitt in die Rechtskultur – poli- Szene bilden. legal finanziert haben, kann ihnen Schnitz- tisch gegenwärtig ebensowenig durchsetz- Unsichtbar für die Bürger, etablierte sich ler nicht durch eine Anfrage beim Finanz- bar wie eine Lockerung des Steuerge- mitten in Bonn ein internationales Geflecht amt vorhalten: „Das Steuergeheimnis ist ja heimnisses. von Drogenhändlern, „Deutsche, Türken, noch doller abgeschottet als das Schweizer „Nur die Repression hochzufahren“ Italiener, Marokkaner, Jugoslawen“, die Bankgeheimnis.“ bringt nach Schnitzlers Erkenntnis „gar Schnitzler in der Hierarchie der illegalen Auch das Geldwäsche-Gesetz ist nach nix: Selbst wenn ich viermal so viele Poli- Handelsunternehmen recht weit oben seiner Erfahrung ein „nicht ausreichend zisten hätte, könnte ich das Problem nicht ansiedelt, Manager mit besten Beziehun- scharfes Schwert“. Kein Drogenhändler lösen. Wir würden nur die Preise hoch- gen zu den Kokain-Kartellen in Südame- muß den Beweis antreten, daß er sein Geld treiben, und die Dealer würden noch höhe- rika und dem Heroin-Trust in der Türkei: aus legalen Quellen hat, vielmehr muß die re Gewinne machen“. „An die Hintermänner kommen wir nicht Polizei nach der herrschenden Rechtslage Wenn der Stoff, „spottbillig in der Her- heran.“ herausfinden, daß ein verdächtiges Ver- stellung, billiger als Benzin, billiger noch Zwar hat die Bonner Polizei den einen mögen aus Rauschgift-Geschäften stammt als Trinkwasser“, die Grenze passiert, hat oder anderen Verteilerring aufgebrochen, – in der Praxis nur in extrem seltenen ihn der Schmuggel schon teurer gemacht. aber die Residenten wachsen nach wie die Glücksfällen möglich: „Die Beweislastum- Aber erst im Inland beginnt die astrono- Häupter der Medusa. „Ein paar hoch- kehr ist aus der Sicht der Polizei unglaub- mische Wertschöpfung. Auf jeder Ebene, karätige Dealer fahren“, wie Schnitzler lich wichtig“, sagt Schnitzler wie viele sei- vom Großhandel bis zum Straßenverkauf, weiß, „in einem großen Fünf-Liter-S-Klas- ner Kollegen. Doch eine Abkehr von der vervielfältigt sich der Preis. Am Ende ko- stet ein Gramm Heroin oder Kokain etwa soviel wie ein Kilo in größerem Gebinde. „Ein gigantischer Wirtschaftsapparat wird angekurbelt“, sagt Schnitzler: „Wir alle haben die Lehren aus der amerikani- schen Prohibition überhaupt nicht nach- vollzogen. Die Alkoholiker wurden nicht weniger und nach Ende des Verbots nicht mehr, aber die Mafia ist groß geworden. Denselben Effekt haben wir jetzt bei den Drogen.“ Wenn er bedenkt, daß sich die Schwarz- marktherren in die legale Wirtschaft ein- klinken könnten, „Leute, weitab von je- der Demokratie“, wenn er sich vorstellt, daß sie „Bauämter, Polizisten, Richter und Staatsanwälte kaufen, wäre das Ende der Zivilisation da, eine Orwellsche Katego- rie, wie sie sich Orwell noch gar nicht aus- malen konnte“. Auch sein Dortmunder Kollege Schulze ist alarmiert durch die wachsenden Ge- winne der Organisierten Kriminalität: „Die Milliarden sind ein Risikokapital ohne- gleichen für unsere Gesellschaft.“ Wenn dieser „Tabubereich“ politisch bestehen bleibt, „werden wir es eines Tages bedau- ern“. Was mit den Geldern genau geschieht, welche Summen in die Herkunftsländer abfließen oder hierbleiben, wie viele Mil- lionen in die Weiße-Kragen-Kriminalität scheinbarer Ehrenmänner investiert wer- den oder die verbrecherischen Aktivitäten

DPA der Unterwelt antreiben, kann von den Methadon-Einnahme: Ein Trunk, aber kein Kick Fahndern niemand sagen. Gelegentlich

der spiegel 5/1997 45 Titel „Prohibition ist nicht nur unnütz, sie schadet“ Bochumer Ökonomen beziffern die volkswirtschaftlichen Kosten der gescheiterten Drogenpolitik auf 13 Milliarden Mark im Jahr.

er vergebliche Kampf gegen das Die ökonomische Beurteilung der verbotene Heroin kostet die Ge- herrschenden Drogenpolitik fällt ver- Dsellschaft 13 Milliarden Mark im nichtend aus: „Prohibition ist nicht nur Jahr. Zu dieser Abschätzung kam Pro- unnütz, sie schadet sogar“, schreiben fessor Karl-Hans Hartwig, der an der Hartwig und Pies. Die beabsichtigte Ab- Ruhruniversität in Bochum einen Lehr- schreckung muß nach ihrer Analyse an stuhl für Wirtschaftspolitik hat. Die in der „Funktionslogik des Schwarzmark- der Bundesrepublik einzigartige Studie tes“ scheitern, vor allem deshalb, weil wurde vom hessischen Justizministeri- „Anbieter und Nachfrager auf das Verbot um in Auftrag gegeben – für 30000 Mark, rational reagieren“. die für das Gehalt von Hartwigs Assi- Die hohen Gewinne animieren die An- stenten Ingo Pies verwendet wurden. bieter, mehr Stoff auf den Markt zu Das Duo erstellte durch umfassende drücken, wie sich auch am Verfall der Recherchen in der deutschen Bürokratie Heroin-Preise seit den siebziger Jahren eine riesige Datensammlung. „Um jede auf das bisher niedrigste Niveau ablesen Dramatisierung zu vermeiden“, wählte läßt. Nach der Logik des Marktes muß es

Hartwig bei seiner Kostenschätzung stets / NETZHAUT DIETRICH J. heutzutage und in Zukunft immer mehr die niedrigste Zahl auf der Bandbreite Ökonomen Hartwig, Pies die Masse bringen. der möglichen Größen. „Aggressives Marketing der Szene“ Bezogen auf den Endverbraucherpreis liegt der Erzeugerpreis unter 1 Prozent, ermittelten die Ökonomen. Die Expor- Hartwigs Rechnung Millionen Mark teure bekommen weniger als 5 Prozent. Um das Heroin-Verbot durchzusetzen – ein Versuch, der Nach dem Schmuggel über die Grenzen nur punktuell gelingt, aber generell scheitert –, entstehen 480,4 beträgt der Importpreis zwischen 10 und bei der Polizei Kosten: 20 Prozent. Im Inland fallen 80 bis 90 Prozent der Wertsteigerung an. Sehr viel teurer ist die polizeiliche Verfolgung der Krimi- Bedingt durch das Verbot ist der End- nalität, die Süchtige begehen, um Geld für ihren Stoff zu 1 288,3 verbraucherpreis so hoch, daß die Kon- beschaffen: sumenten unter einem „enormen Finan- Für ihre Beute erzielen Drogenabhängige beim Hehler zierungsdruck“ stehen und etwa ein Drit- nur einen Bruchteil des Wertes. Der Sachschaden, den sie 3 223,2 tel ihres Bedarfs durch Dealen decken. durch ihre Delikte verursachen, beträgt mindestens: Mit einem „aggressiven Marketing“ er- zeugt die Szene eine Sogwirkung und Die Arbeit der Justiz zur Aburteilung der Beschaffungs- reißt Jahr für Jahr Zehntausende von kriminalität und der Verstöße gegen das Heroin-Verbot 515,7 Erstkonsumenten mit. kostet: Wie empirische Untersuchungen zeig- Die bestraften Täter verbringen pro Jahr fast 4 Millionen ten, werden Neulinge in der Regel von Tage im Gefängnis: 827,2 süchtigen Kleinhändlern aus ihrem Be- kannten- oder Verwandtenkreis verführt; Im Vergleich zur Verfolgung sind die Ausgaben für die der erste Schuß ist meistens ein Ge- Drogenberatung, die Entgiftung im Krankenhaus und die 602,4 schenk. Damit entfällt der Sinn des Ver- Therapie in Spezialeinrichtungen relativ gering: bots, daß der hohe Preis eine Einstiegs- Die Investitionen in die Prävention und in die Forschung hürde für Erstkonsumenten sein soll. Die verschwinden beinahe in der Bilanz: 25,0 Ökonomen: „Die Prohibition erreicht so- mit das genaue Gegenteil von dem, was Im Loch der Subventionen, die in den Herkunftsländern eigentlich erwünscht wäre.“ der Drogen Anbau-Alternativen fördern sollen, aber nur Als Alternative setzen die Wirt- zu einer regionalen Verlagerung führen, verflüchtigen 45,2 schaftswissenschaftler auf eine Heroin- sich: Abgabe durch Ärzte, flankiert durch ei- Da jeder Bundesbürger ökonomisch einen Produktivfak- nen höheren Druck auf den Kleinhandel tor darstellt, schlagen sich Krankheit und Tod der über- – genau wie es den polizeilichen Re- wiegend jungen Süchtigen als Wertschöpfungsverlust 6 741,1 formvorstellungen entspricht. Das dek- nieder: kungsgleiche Konzept der Ökonomen „erhöht die Risiken des Angebots und Die gesellschaftlichen Gesamtkosten ergeben eine Summe, die in mindert zugleich die Absatzchancen“. etwa vergleichbar mit dem Etat des Bundesfamilienministeriums 13 748,5 Für Erstkonsumenten ergäbe sich eine oder des Landwirtschaftsministeriums ist: größere Hürde als in der gegenwärtigen Situation mit dem immensen Eigen-

46 der spiegel 5/1997 blitzen Drogengewinne im Rotlicht-Mi- nischen Gruppierungen durch Schießerei- lieu auf, etwa auf St. Pauli. en ausgetragen. Eine Reihe von Schickeria-Lokalen im Am Ende der Gemengelage befindet interesse der Szene nach Ausweitung Ruhrgebiet sind bekannt als Geldwasch- sich Deutschlands traurigster Drogenstrich: des Kundenkreises. Ein kontrolliertes anlagen, in denen zugleich Auftragskiller Hektisch trippelnd vom Koks, apathisch Umsteuern würde „anarchische Zu- geparkt werden: „Da kann man den zwei- schwankend vom Heroin oder völlig stände in eine sozial verträgliche Ord- felhaften Reiz genießen, daß der Kellner durchgeknallt vom „Speedball“ aus bei- nung überführen“ – ein Vorteil, der ein Mörder ist“, sagt der Bochumer Poli- den Stoffen, bieten sich auf der Kurfür- sich nach Hartwig und Pies auch volks- zeichef Wenner: „Die Drogenbekämp- stenstraße, am Cottbusser Tor und am wirtschaftlich rechnet. fungspolitik ist das größte Förderpro- Bahnhof Zoo erbarmungswürdige Frauen In den Schweizer Programmen ko- gramm, das die Organisierte Kriminalität an. 1800 drogenabhängige Frauen, die ver- stet die legale Versorgung eines Süch- je erlebt hat, eigentlich die staatliche Er- schiedensten Formen der Prostitution tigen mit Heroin 43 bis 75 Mark am findung des Perpetuum mobile für die nachgehen, gelegentlich oder auch täglich, Tag. Dabei schlägt vor allem die so- Organisierte Kriminalität, da sie ihre Ge- sind den medizinischen Beratungsstellen ziale Betreuung zu Buche, mehr noch winne immer wieder im legalen oder ille- bekannt, fast alle mit Hepatitis infiziert, die wissenschaftliche Begleitung, die galen Bereich für ihre Ausweitung einset- 17 Prozent HIV-positiv. jedoch mit wachsenden Kenntnissen zen kann.“ „Unter rein humanitären Gesichts- entfallen wird. Das von der Schweiz In der Drei-Millionen-Metropole Ber- punkten, als Ultima ratio in ausweglosen aus Großbritannien importierte He- lin, dem künftigen Regierungssitz, boomt Fällen“ hält Saberschinsky eine medizini- roin ist mit 14,50 Mark pro Tagesdosis die Organisierte Kriminalität: „Sie hat sich sche Abgabe „illegaler Drogen für denk- verhältnismäßig teuer. Die deutsche geradezu metastasenhaft ausgebreitet und bar, aber nur an eine ganz kleine Gruppe“. Pharmaindustrie, die den Stoff gegenwärtig nicht herstellen darf, könnte den Preis für die tägliche Versorgung eines Süchti- gen auf unter fünf Mark drücken. Wenn die Beschaf- fungskriminalität nur um 25 Prozent, die Morbidität und Mortalität nur um 10 Prozent gesenkt werden könnten, ergäbe sich nach Berechnung der Ökono- men eine Kostenerspar- nis, von der 70000 Süchti- ge auch zum höchsten Schweizer Tagessatz ver- sorgt werden könnten. „Wer Menschenleben ret- ten, Verelendung verhin- dern, Leid mindern will“, so argumentieren Hartwig und Pies, „hat auch die wirtschaftliche Vernunft auf seiner Seite.“ Ihr Plädoyer für eine

„rationale Drogenpolitik“ PRESS ACTION erreichte die ursprüngli- Drogenfund im Hamburger Hafen: „Tropfen auf den heißen Stein“ che Auftraggeberin Chri- stine Hohmann-Dennhardt (SPD) zu einer ernsten Bedrohung für unseren Als Instrument zur Bekämpfung der Or- nicht mehr, weil sie mittlerweile Mini- Rechtsstaat ausgewachsen“, sagt der par- ganisierten Kriminalität kommt eine staat- sterin für Wissenschaft und Kunst in teilose Polizeipräsident Hagen Saber- lich kontrollierte Versorgung der Süchti- Hessen ist. Ihr Nachfolger Rupert von schinsky: „Wir spüren in Berlin vielleicht gen für ihn nicht in Frage: „Unverant- Plottnitz, der erste grüne Justizmini- etwas früher und deutlicher als anderen- wortlich.Wo geht das los, wo hört das auf? ster in einem Bundesland, ließ die Stu- orts in Deutschland, daß die Probleme Demnächst kommt jeder Alkoholiker zum die für sein Haus nicht veröffentlichen. sich gravierend verstärken und nicht mehr Vater Staat.“ „Vielleicht war ihm das Eisen zu beherrschbar zu sein drohen.“ Die Überlegungen seiner Kollegen be- heiß“, sagt Hartwig. Immerhin bekam Im Heroin-Geschäft rivalisieren tür- reiten ihm Unbehagen: „Das ist doch eine der Professor die Genehmigung, das kisch-kurdische und libanesisch-kurdische Kapitulation des Staates vor diesem Pro- Werk für wissenschaftliche Zwecke Clans miteinander. Türkisch-bulgarische blem.“ Ein polizeiliches Urgestein wie Sa- drucken zu lassen: Es existiert, gleich- Zuhälter sind ebenso in den Drogenhan- berschinsky, schon als Twen dabei, kapitu- sam unter Ausschluß der Öffentlich- del eingestiegen wie Dunkelmänner aus liert nie. Er setzt vielmehr auf „unsere In- keit, in 600 Exemplaren*. dem ehemaligen Jugoslawien. Südameri- telligence-Arbeit“. kanische Kokainimporteure konkurrieren Intelligence, ein neues Schlagwort aus * Karl-Hans Hartwig/Ingo Pies: „Rationale Dro- mit Schwarzafrikanern einer „Nigeria- den USA, bedeutet, die Informationen aus genpolitik in der Demokratie“. J. C. B. Mohr Ver- Connection“, die den Stoff in der Heimat den verschiedensten Bereichen der Polizei, lag, Tübingen; 204 Seiten; 44 Mark. umschlägt und vorzugsweise durch polni- des Zolls und der Ordnungsbehörden zu ei- sche Kuriere einschleppen läßt. Zuneh- nem gigantischen Datenfluß zu bündeln mend werden die Kämpfe zwischen eth- und daraus Einsatzstrategien abzulei-

der spiegel 5/1997 47 Titel ten. Intelligence elektrisiert auch andere hängigen zu. Es sind die Schwächsten, die Polizeipräsidenten, aber sie rechnen mit sich an den Schwächsten vergreifen, vor- der Intelligence der anderen Seite: „Das zugsweise an alten Frauen. „Die werden Abschottungssystem wie das Informati- umgeschubst, man reißt ihnen die Hand- onssystem ist von einer Qualität, daß da- tasche weg, sie kriegen einen Oberschen- hinter eine ganz phantastische Professio- kelhalsbruch und können sich entweder nalität zu vermuten ist“, sagt der Düssel- gar nicht mehr von ihrem Sturz erholen dorfer Polizeichef Rainer Wittmann (SPD). oder siechen unter schwersten körperli- Sein Bochumer Kollege Wenner stellte chen Leiden dahin. Eine Frau ist bei uns fest: „Je stärker unsere Bekämpfungs- gerade gestorben, eine weitere liegt im möglichkeiten wurden, desto professio- Koma. Das geht mir ans Herz“, sagt der neller wurde die Organisierte Kriminalität. hannoversche Polizeipräsident Hans-Die- Das schaukelt sich hoch. Sie ist uns immer ter Klosa (parteilos): „Wenn ich bedenke, einen Schritt voraus.“ Gewiß, die Fahnder daß man bei den Ursachen ansetzen könn- haben Erfolge, aber ein Realist wie der te, aber es nicht tut, bin ich zornig.“ Vor- Duisburger Polizeichef Rolf Cebin (SPD) rangig ist für ihn „das Schutzbedürfnis der muß sich eingestehen: „Unsere Arbeit ist Allgemeinheit im Rahmen einer Not- ein Tropfen auf den heißen Stein.“ standslösung“. Das Scheitern auf hohem Niveau setzt Auch das Phänomen, daß Süchtige und sich fort bis hin zum Scheitern in den Nie- Dealer an markanten Plätzen, besonders derungen der Massenkriminalität, die gern an Bahnhöfen, zueinanderstreben Süchtige begehen. Ein Junkie braucht am und ganze Viertel in einen Supermarkt ver- Tag 100 bis 150 Mark für seinen Stoff, Mil- botener Drogen verwandeln, macht der lionen muß die Szene tagaus, tagein zu- Polizei Kopfzerbrechen. sammenraffen. Höchstens jede fünfte Mark Um eine Innenstadt einigermaßen zu stammt aus legalen Quellen: Die Süchtigen entlasten, muß die Polizei Tausende von kassieren ihre Eltern, Verwandten und Platzverweisen erteilen, die nur kurzfri- Freunde ab, sie verschleudern ihr Erbe, sie stig gelten; dann setzt sie mit Aufenthalts- verboten und schließlich mit Zwangsgeld „Die Vertreibung Abhängiger nach – ein gewaltiger Aufwand mit mäßi- gem Effekt, wie sich in etlichen Städten führt zu Gewissenskonflikten zeigte: Die Szene zersplitterte sich, in an- bei unseren Polizisten“ deren Stadtteilen entstanden kleinere Brennpunkte. verbuttern die Sozialhilfe und hungern. 100000 Einsatzstunden der Polizei ver- Manche schlafen im U-Bahn-Tunnel und, pufften im vergangenen Jahr allein in Düs- wenn im Morgengrauen die Reinigungs- seldorf. „Wir bündeln unheimlich viele kolonnen kommen, in den Zügen weiter. Kräfte, die wir in anderen Kriminalitäts- Jede zehnte Mark, die für Drogen drauf- bereichen dringend brauchen“, klagt Poli- geht, bei Frauen jede zweite Mark, ist der zeichef Wittmann. bittere Lohn aus der Prostitution. Der Zwar wurde in den Metropolen als Er- Löwenanteil kommt durch eine illegale folg verzeichnet, daß die Sogwirkung auf Mischfinanzierung zusammen: Die Ab- auswärtige Junkies und Dealer nachließ. hängigen dealen, sie klauen in Läden, sie Aber das Problem war nur in kleinere fälschen und betrügen, sie knacken Autos, Städte verlagert worden. sie brechen in Wohnungen ein, sie über- Junkie-Jogging zu betreiben belastet vie- fallen Passanten auf der Straße. le Polizisten. „Die Gruppe der Schwerst- Nachdem der Gießener Kriminologie- abhängigen, teilweise psychisch labil, HIV- professor Arthur Kreuzer hundert Junkies infiziert, von einer Ecke zur anderen zu befragen ließ, rechnete er hoch, daß 45 vertreiben, ohne Lösungsmöglichkeiten, Prozent der Autoaufbrüche, 37 Prozent der weil sie weder für Methadon-Programme Wohnungseinbrüche und 20 Prozent der noch für Langzeittherapien zu gewinnen Raubüberfälle auf das Konto von Süchti- sind, führt zu großen Gewissenskonflikten gen gehen. In den Städten ergab sich die bei unseren Kollegen auf der Straße“, sagt Faustregel, daß den Drogen ein Drittel der der Kölner Polizeipräsident Roters. Eigentumskriminalität zuzurechnen ist. Obwohl Frankfurt wie keine andere Da Diebesgut beim Hehler nur 10 bis 20 Stadt die Polizeiaktionen mit vielfältigen Prozent bringt, schätzt der Bochumer Öko- Hilfsangeboten für Süchtige verbunden nomieprofessor Karl-Hans Hartwig, daß und den ersten Druckraum in Deutsch- für die Allgemeinheit jährlich ein Schaden land eingerichtet hat, hält sich ein har- zwischen drei bis sechs Milliarden Mark ter Kern im Bahnhofsviertel: mitleider- entsteht (siehe Kasten Seite 46). regend. Daß sie wie Sisyphus vor dem Berg der „Mit den Jahren ist bei uns die Einsicht Beschaffungskriminalität stehen, belastet gewachsen, daß wir die Drogenabhängi- die Ordnungshüter. Als die Frankfurter gen in erster Linie als Kranke betrachten Polizei mit enormem Aufwand die Raub- müssen“, sagt der Polizei-Vize Peter Fre- quote Süchtiger auf unter zehn Prozent richs (parteilos), der Frankfurts neue Wege drücken konnte, schnellten prompt die konzipiert hat. Zu den Skrupeln, gegen Wohnungseinbrüche in die Höhe. Kranke vorzugehen, kommt für die Polizi- In Hannover ordnet die Polizei 40 Pro- sten auf der Straße die prekäre Frage: zent der Raubüberfälle den Schwerstab- Sollen sie einem Junkie den Stoff abneh-

48 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel „Kranke aus der Szene holen“ In der Schweiz bekommen Junkies legal Heroin vom Staat. In England scheiterte ein Arzt mit demselben Konzept.

weimal am Tag verschwindet Liz Die Betreuer in der Stampfenbach- für eine halbe Stunde in einem äl- straße führen über ihre Probanden sorg- Zteren Haus mit grünen Fensterlä- fältig Buch. Nachdem Liz ihre 200 Milli- den. Morgens um acht, bevor sie zur Ar- gramm gedrückt hat, zeigt sie brav die beit geht, und noch einmal am späten leere Spritze vor. Die Versuchsteilneh- Nachmittag spritzt sie sich in der Zür- mer, so die Richtlinien, sollen zu einem cher Stampfenbachstraße 106 den Stoff, „regelmäßigen Konsummuster“ gelan- nach dem sie seit 15 Jahren süchtig ist: gen. Dadurch können sie nach den bis- Heroin. herigen Erfahrungen ihre Dosis am ehe- „Endlich kann ich ein Leben führen, sten senken. wie ich es will“, sagt Liz, 34, die ihre Die Schweiz betreibt seit Jahren eine Droge seit etwas mehr als einem Jahr immer wieder innovative Drogenpolitik. nicht mehr von Dealern auf der Straße Anfang der achtziger Jahre begannen die kaufen muß. Ihre ärztlich kontrollierte Behörden zunächst, sterile Einwegsprit- Dosis, 200 Milligramm pro Schuß, be- zen zu verteilen. Es folgten nahezu kommt die Abhängige vom Schweizer schwellenlose Methadonprogramme so-

Staat. Der bürgt für gleichbleibende Qua- wie die – anfangs heftig umstrittene – SIPA lität und verlangt für die in einer briti- Eröffnung von Fixerstübli in zahlreichen Fixerstübli in Basel schen Pharmafirma hergestellte Ware nur Städten. Drücken ohne Streß 15 Franken täglich, einen Bruchteil des Trotzdem wurde die offene Szene auf Schwarzmarktpreises. dem stillgelegten Zürcher Bahnhof Let- Daß Liz trotz ihrer Sucht ein ziemlich ten zu einem Symbol des tiefsten Dro- normales Leben führen kann, verdankt genelends. Mit dem Beginn des Heroin- sie einem drogenpolitischen Großver- Experiments 1994 und der Auflösung der such. 800 der rund 30000 eidgenössischen Letten-Szene 1995 verfolgte die eid- Junkies erhalten ihre tägliche Heroinra- genössische Obrigkeit eine konsequente tion in einer von 16 Abgabe- und Be- Doppelstrategie: Kampf gegen Dealer auf handlungsstellen, die eigens für das Ex- der einen, Hilfe für Süchtige auf der an- periment in Städten wie Zürich, Genf, deren Seite. Basel oder Winterthur eingerichtet wur- Die Schweizer Gesundheitsbehörden den. 113 weitere Fixer versorgt der Staat wollen in nächster Zukunft das Betäu- mit Morphin oder Methadon. bungsmittelgesetz so ändern, daß aus Teilnehmer des seit 1994 laufenden dem Modellprojekt eine feste Einrich- Modellprojekts sind Langzeitabhängige, tung werden kann. „Speziell dafür zuge- die schon mehrfachen erfolglosen Ent- lassene Ärzte“, erläutert Begleitforscher zug hinter sich haben. Der legale Stoff Gutzwiller die Pläne, „sollen Heroin ver- soll den Rauschgiftkranken wie ein Me- schreiben dürfen.“ dikament dazu verhelfen, ihr Leben wie- Allerdings machen inzwischen die An- der in den Griff zu bekommen. Erst wenn hänger der Prohibition mobil. Eine In- der Beschaffungsstreß wegfällt, haben sie itiative namens „Jugend ohne Drogen“ nach Ansicht der Erfinder des Modells will per Volksabstimmung ein Heroin- eine reelle Chance, ihren Körper von den verbot in der Schweizer Verfassung ver- Opiaten zu entwöhnen. ankern – der Staat wäre gezwungen, jed- Der Schweizer Versuch, der auch für wede Vergabe der Substanz einzustellen. eine pragmatische Drogenpolitik in Aber auch rechtliche Möglichkeiten Deutschland wegweisend sein könnte, bieten keine Gewähr für pragmatisches gilt in der Alpenrepublik als Erfolg. Der Handeln, wie das Beispiel Großbritan- Vorsorgemediziner Felix Gutzwiller, In- nien zeigt. Zwar ist es dort erlaubt, daß stitutsdirektor an der Universität Zürich Distriktärzte des Nationalen Gesund- und Leiter der Begleitforschung, bilan- heitswesens (NHS) Rauschmittel auf ziert: „Die Besserungen in körperlicher, Rezept verschreiben. Doch kaum ein seelischer und sozialer Hinsicht sind of- Arzt traut sich, solche unkonventionellen fensichtlich.“ Methoden anzuwenden. Für die Fixerin Liz bedeutet Heroin Der international bekannte Drogen- vom Staat: „Jetzt bin ich nicht mehr il- experte John Marks, langjähriger NHS- legal.“ Inzwischen hat sie einen festen Psychiater in den Städten Widnes und Job als Köchin in einem Obdachlosen- Warrington bei Liverpool, wurde für sei- projekt gefunden. ne liberale Linie abgestraft; als im April

52 der spiegel 5/1997 men? Wenn sie es nicht tun, verstoßen sie übergabe wird abgeschirmt durch eine aus- gegen das Gesetz und begehen Strafverei- geklügelte Observation der Polizei, so daß telung im Amt. Wenn sie es aber tun, pro- bei Razzien bloß ein paar Briefchen am 1995 sein Vertrag mit den Behörden vozieren sie mit einiger Wahrscheinlich- Boden liegen, die niemandem zuzuordnen auslief. Die Vereinbarung wurde – keit einen weiteren Fall von Beschaf- sind. nach insgesamt 15 Jahren – nicht fungskriminalität, der unterbliebe, wenn Es kostet zähe Fahndungsarbeit, einen mehr verlängert. Offizielle Begrün- sie es nicht täten. „Das ist nicht mehr zu- stadtbekannten Dealer schließlich doch zu dung: Marks habe „zu hohe Kosten“ mutbar“, sagt Kölns Polizeichef Roters. überführen. Er wird festgenommen, aber verursacht. Schlimmer noch ist die Sinnkrise, die ein Haftbefehl ist bei einer geringen Men- An rund 400 Süchtige hatte der der unermüdliche und doch vergebliche ge nicht zu bekommen. Schlauer geworden Psychiater Drogen auf Rezept gege- Einsatz der Polizei gegen die Dealer her- durch seinen erkannten Fehler, steht der ben, um die Menschen aus dem aufbeschworen hat. Raffiniert nutzt die Dealer ein paar Stunden später wieder auf Schwarzmarkt zu lösen – Heroin, der Straße. Morphin, Methadon, Kokain und „Uns bleibt nur ein hilfloses Immer wieder die gleiche Geschichte: Amphetamine. Das Marks-Konzept Zu Tausenden werden die Straßendealer stieß auch bei der örtlichen Polizei Verweisen auf die Probleme, abgefischt und im Drehtürverfahren wie- auf Zustimmung, da es die Beschaf- aber nichts bewegt sich“ der freigelassen. „Alle meine Leute aus fungskriminalität im Distrikt erheb- diesem Bereich haben ein Gefühl der Ohn- lich reduzierte. Multikulti-Gesellschaft der Kleinhändler macht und fragen sich irgendwann, ob das, Marks ist nach wie vor von seinem die Gesetzeslage aus, die im Prinzip zur was sie tun, überhaupt noch sinnvoll ist“, Ansatz überzeugt. Er habe, sagt er, Entkriminalisierung der Süchtigen gedacht sagt der Düsseldorfer Polizeichef Witt- „bewiesen, daß man die Kranken aus war. Der Besitz kleiner Mengen führt zwar mann ähnlich wie sein Bochumer Kollege der Szene holen kann“. zu einer Anzeige und einem Wust von Wenner: „Der Dauermißerfolg im Kleinen, Die Zahlen scheinen ihm recht zu Bürokratie, aber die Verfahren werden re- den uns die Politik beschert hat, ist für Po- geben. Solange die Süchtigen in Wid- gelmäßig eingestellt. lizisten frustrierend.“ nes und Warrington ihren Stoff auf Da die Straßendealer ihren Stoff in De- Längst haben die nordrhein-westfäli- Rezept bekamen, registrierten die pots zu lagern pflegen, werden sie nur mit schen Polizeichefs durchgespielt, was pas- Behörden nur einen Drogentoten pro Kleinstmengen geschnappt, wenn über- sieren müßte, wenn die Süchtigen ihren Jahr. In den ersten acht Monaten nach haupt.Vielfach setzen sie Süchtige als Ver- Stoff vom Arzt bekämen. „Knochenhart“ Marks gab es 21 Tote. mittler und Transporteure ein. Die Stoff- (Wittmann) soll gegen die Dealer vorge- P. LE SEGRETAIN / SYGMA LE SEGRETAIN P. Junkies am stillgelegten Zürcher Bahnhof Letten (1994) Kampf gegen Dealer, Hilfe für Süchtige

der spiegel 5/1997 53 Titel M. SCHWARZBACH / ARGUS M. SCHWARZBACH Polizeieinsatz gegen einen Drogendealer (in Hamburg): Festgenommen, freigelassen, schlauer geworden gangen werden durch eine Verschärfung Versorgung unter Vorgabe einer Ethik- macht Sinn, aber nur dann, wenn zugleich des Strafrechts und systematische Auswei- kommission ermöglichen soll, schmort im eine harte Gangart gegen die Straßen- sung ausländischer Drogengewinnler. Gesundheitsausschuß des Bundestags. Die dealer eingeschlagen wird. So ist nicht Wenn weniger zu verdienen ist, aber das Bundesregierung lehnt die Vorlage schroff zu erwarten, daß im Bonner Parlament Risiko steigt, dürfte so mancher aus dem ab. Um ihre Chancen zu verbessern, soll das Wunder geschieht, die Drogenpoli- Straßengeschäft aussteigen, rechnet sich auf Wunsch der SPD und einiger Parla- tik aus den Zwängen der Parteipolitik und Wenner aus: „Dann gerät die ganze Ver- mentarier von der CDU die offizielle Bi- der ideologischen Verbissenheit zu be- teilerebene unter unheimlichen Druck.“ lanz in der Schweiz abgewartet werden: freien. Über die Kulis an der Front wären auch die In einem weltweit beachteten Experiment Wann immer der Essener Polizeipräsi- Handelsherren im Hintergrund empfind- erhalten 800 Süchtige pharmazeutisch rei- dent Dybowski das Thema mit Politikern lich zu treffen. nes Heroin unter ärztlicher Aufsicht. Der der CDU, seinen Parteifreunden, disku- Aber die Verhältnisse sind zu verfahren, Medizinprofessor Felix Gutzwiller, zu- tierte, stieß er einerseits auf krasse Ableh- als daß eine rasche Änderung zu erwarten ständig für die Begleitforschung, sieht die nung, auf „mehr Ideologie als Ideen“, an- wäre. Die CSU steuert über den Bonner Mehrheit der Klienten „auf gutem Weg“ dererseits auf sachliche Zustimmung, aber Drogenbeauftragten Lintner den starren (siehe Kasten Seite 52). verbunden mit sachfremden Bedenken: Kurs, daß verbotene Rauschgifte nicht von Anstatt sich darauf zu konzentrieren, in „Das kann man doch nicht als Politik ver- Dealern im weißen Kittel weitergereicht der Koalition Mitstreiter für das Schweizer kaufen.“ Oder: „Wie sagen wir es unseren werden dürfen. „Solange dieser Mensch Modell zu finden, legte die Bonner SPD- Wählern?“ im Amt ist, wird sich nichts bewegen“, Wenn es schon so schwierig ist, einen sagt Hannovers Polizeichef Klosa: „Uns „Das Verbot ist eine Erfolgs- wissenschaftlichen Versuch durchzusetzen, bleibt nur ein Anrennen und hilfloses stehen erst recht die Chancen schlecht für Verweisen auf die Probleme.“ garantie für die eine Umstellung auf ein ganz anderes Kon- Die CSU steuert über ihren Gesund- Organisierte Kriminalität“ zept. Dazu bedürfte es, wie der strate- heitsminister Horst Seehofer auch das Ber- gische Vordenker Wenner sagt, „einer liner Bundesinstitut für Arzneimittel, das Fraktion im Dezember einen Entwurf zur großen Schwungmasse“, nicht bloß in aus dem früheren Bundesgesundheitsamt Veränderung des Betäubungsmittelgeset- Deutschland, sondern in ganz Europa, ge- hervorgegangen ist. Diese Behörde lehnte zes vor, der ihr Hohn von der Regierungs- gen den geradezu heiliggehaltenen Dro- den Antrag der Stadt Frankfurt auf Ge- seite eintrug. Nach den Vorstellungen genkrieg der USA. nehmigung eines Modellversuchs, Heroin der Sozialdemokraten soll nicht nur der Die Bundesrepublik ist mit dem starren an hundert Schwerstabhängige abzugeben, Besitz einer Wochenration für den Eigen- Rauschgiftverbot eingebunden in eine als rechtswidrig ab. verbrauch straffrei bleiben. Auch wenn Uno-Strategie, bei deren Durchsetzung die Frankfurt klagte und gewann. Das Ber- Süchtige dealen, sollen die Verfahren ein- Vereinigten Staaten federführend waren. liner Verwaltungsgericht hielt der Behörde gestellt werden können. Lintner polemi- In Anbetracht der Verhältnisse in den USA vor, daß sie aus politischer Voreingenom- sierte mit einigem Recht, das sei eine „Ein- kann sich Wenner „sehr gut vorstellen, daß menheit „die Breite ihres Ermessensspiel- ladung an den internationalen Rauschgift- es hinter den Leuten in Nadelstreifen mit raums offensichtlich verkannt“ habe. Das handel“. hohen Funktionen dubiose Einflußgrößen Amt legte Revision beim Oberverwal- Weder das Regierungslager noch die Op- gibt“ – aus der Unterwelt. Der Polizeiprä- tungsgericht ein. Der Prozeß kann sich Jah- position hat begriffen, was etliche Polizei- sident: „Der Organisierten Kriminalität re hinziehen. präsidenten längst wissen und auch Öko- muß jedes Mittel recht sein, damit alles Hamburgs Gesetzesinitiative, die einen nomieprofessor Hartwig logisch darlegte: so bleibt, wie es ist, das ist schließlich eine wissenschaftlichen Versuch der Heroin- Eine staatliche Versorgung der Süchtigen Erfolgsgarantie.“ ™

54 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Deutschland Die Details dieser lebensgefährlichen sches lag in der Luft. Dann sah er Tausen- Mission finden sich in einer von E. Thomas de Juden auf einem Platz, die meisten, wie POLITISCHES BUCH Wood und Stanislaw Jankowski geschrie- im Ghetto, in einen Schockzustand ver- benen Biographie, die nun unter dem Titel sunken. Ab und zu trat ein Wachposten Agent in „Einer gegen den Holocaust“ auf deutsch mit dem Stiefel einen der Gefangenen. erscheint** – ein Buch, das mehr ist als nur Ukrainische SS-Leute streuten Kalk in die ein Agententhriller: Karskis Bericht wirft Waggons am Lagerbahnhof, danach wur- erneut die Frage auf, warum die Alliierten den die Juden in die Güterwagen hinein- der Hölle nicht die Beendigung des Massenmords an getrieben. Der ungelöschte Kalk verätzte den Juden zum Kriegsziel gemacht haben. den Menschen Haut und Lungen.Wer den Jan Karski ließ sich 1942 Der „Besuch in der Hölle“, wie der Ka- Befehlen der Wachmänner nicht sofort ins Warschauer Ghetto tholik seinen Einsatz später nannte, kam folgte, wurde einfach erschossen. einschleusen. Danach berichtete auf Bitten der jüdischen Untergrundbe- Mitten im Lager verlor Karski die Fas- wegung im Ghetto zustande. „Sie müssen sung, er gestikulierte wild mit den Armen er den Alliierten von uns helfen“, hatte Leon Feiner, einer der und begann zu weinen. Eilig drängte ihn den Schrecken des Holocaust. Anführer, gefordert: „In London wird kei- der Ukrainer hinaus, verfolgt von den ner glauben, was wir Juden Ihnen über das mißtrauischen Blicken seiner Kollegen. as Gehen fällt dem 82jährigen nicht Leben im Ghetto berichten.“ Rund drei Wochen reiste Karski durch mehr so leicht. Aber sein Gedächt- Durch einen Geheimtunnel in der Mu- das von den Nazis besetzte Europa, bis er Dnis, täglich mit einer kräftigen Do- ranowska-Straße führte Feiner den Kurier am 25. November 1942 endlich auf einer sis Nikotin auf Trab gebracht, funktioniert ins Ghetto. „Als erstes hallten mir die Basis der Royal Air Force in England noch prächtig. Schreie der Wahnsinnigen und Verhun- eintraf. „Die Rettung der Juden muß alli- Was Jan Karski derzeit auf einer Vor- gernden entgegen“, erinnert sich Karski. Er iertes Kriegsziel werden!“ hatte ihm Leon tragsreise durch die Bundesrepublik er- selbst trug zur Tarnung einen zerschlisse- Feiner eingebleut. Der Kurier sollte die zählt, dauert exakt 21 Minuten. Den nen Mantel mit Judenstern am Revers. Westmächte dazu auffordern, die Greuel Text hat der emeritierte Professor für Ost- „Nackte Leichen lagen auf den schmalen, der Nazis publik zu machen. europa-Kunde zu Hause in Washington mit schmutzigen Gassen.“ Der Pole beobach- Doch die von der polnischen Exilregie- der Stoppuhr in der Hand geprobt. tete auch eine Bande von uniformierten rung anberaumten Unterredungen liefen Vor 55 Jahren war Karski das letztemal Deutschen, die mit Pistolen wahllos in die nicht nach Plan. „Der polnische Bericht in Deutschland. Als Kurier der polnischen Häuser feuerten. über die Greueltaten hat uns bereits er- reicht“, erklärte der britische Außenminister Anthony Eden seinem Gast, „die An- gelegenheit wird ihren kor- rekten Gang nehmen.“ Auch das Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt am 24. Juli 1943 verlief unbe- friedigend. „Als ich über die furchtbare Situation der Ju- den sprach, fragte Roosevelt nicht nach“, berichtet Karski. Den US-Präsidenten interes- sierte vielmehr die Situation des polnischen Widerstands. Die distanzierte Reaktion von Eden und Roosevelt entsprach freilich dem Pro- gramm der Anti-Hitler-Ko- AKG K. LAMBERT alitionäre. „Was glauben Sie, Warschauer Ghetto (1941)*, Ex-Agent Karski: „Schreie der Wahnsinnigen“ was uns Stalin erzählt, wenn wir dem sagen, daß wir Trup- Exilregierung durchquerte er Berlin, die Die Regie bei dem Einsatz im Lager Iz- pen zur Rettung der Juden von den Fron- Hauptstadt des Nazi-Reiches. Damals bica führte ebenfalls Feiners Untergrund- ten abziehen müssen?“ wurde Karski in haßte der ehemalige Diplomat die Deut- bewegung.Wenige Tage nach dem Ghetto- London und Washington immer wieder schen. Jetzt kommt er erneut, „mit gutem Rundgang wurde der Kurier in ein Eisen- von Politikern entgegengehalten. Willen“ und einer beispiellosen Vita im warengeschäft in einem Dorf bei Lublin Zumindest die britische Regierung war Gepäck. geführt. Dort erwartete ihn ein weiterer jedoch zu diesem Zeitpunkt schon genau- 1942 erhielt Karski den Auftrag, der ihn Agent, der eine ukrainische Uniform unter er über den Holocaust informiert. Ihr Ge- zu einem der Helden des polnischen Wi- der Ladentheke hervorholte: „Ziehen Sie heimdienst hatte bereits im Juli 1941 ent- derstands machte: Um den Westmächten die an.“ sprechende Funksprüche der deutschen aus erster Hand über den Holocaust be- In Begleitung eines bestochenen ukrai- SS- und Polizeieinheiten aus Rußland ent- richten zu können, ließ sich der Unter- nischen Wachmanns machte sich Karski schlüsselt (spiegel 47/1996). grundkämpfer ins Warschauer Ghetto und auf den Weg. Izbica diente den Nazis als Ganz ergebnislos war der Roosevelt-Ter- wenig später in das bei Lublin gelegene Durchgangsstation in das Vernichtungs- min allerdings nicht gewesen, wie Karski Durchgangslager Izbica einschleusen. lager Belzec, wo etwa 600000 Juden er- Anfang der achtziger Jahre von einem pen- mordet wurden. sionierten US-Diplomaten erfuhr. Der Prä- * Abtransport von Zwangsarbeitern. ** E. Thomas Wood, Stanislaw Jankowski: „Einer gegen Noch vor dem Zaun des Lagers hörte sident sei von dem polnischen Agenten so den Holocaust“. Aus dem Amerikanischen von Anna Karski schon Wehklagen „wie aus dem beeindruckt gewesen, daß er damals „von Kaiser. Bleicher Verlag, Gerlingen; 359 Seiten; 44 Mark. Jenseits“. Der Geruch verbrannten Flei- nichts anderem mehr“ geredet habe. ™

56 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland schaften erklärten, daß Feuerdetektoren LUFTFAHRT nicht nötig seien, da die Frachtzellen in Maschinen wie der Boeing 737 oder des Airbus-Musters 320 luftdicht schließen. Leichen und Gerate Fracht oder Gepäck tatsächlich ein- mal in Brand, so ersticke das Feuer man- gels Sauerstoffzufuhr ohnehin. Grabsteine Diese Selbstlösch-These wurde im Mai vergangenen Jahres widerlegt – und ko- Nach einem Brandunglück müssen stete 110 Menschen das Leben. die Fluggesellschaften ihre Ein Jet der US-Gesellschaft ValuJet stürzte nach einem Feuer an Bord ab, neun Kurz- und Mittelstreckenjets im Minuten nach dem Start. Der Brand hatte Frachtraum künftig mit sich vom Frachtraum her durch den Boden Rauchmeldern ausstatten. der Passagierkabine gefressen. Monate später bewiesen Ermittlungen n den hinteren Sitzreihen des USAir- der US-Sicherheitsbehörde National Trans- Fluges von Phoenix nach Pittsburgh portation Safety Board (NTSB), daß Imachte sich Brandgeruch breit. „Kein Rauchmelder das Leben von Passagieren Grund zu Sorge“, beruhigten Stewardes- und Crew hätten retten können. Denn der sen die ängstlichen Passagiere: „Das liegt Brand hatte mit großer Wahrscheinlichkeit an den Kaffeemaschinen.“ bereits geschwelt, als sich die Maschine

Noch bevor die Crew ihre Boeing 757 / ARGUS RAUPACH T. noch auf der Startbahn in Miami befand. zu einer geplanten Zwischenlandung auf- Boeing-Frachtraum Im Frachtraum der ValuJet-Maschine setzte, schlugen, wie Passagiere beobach- Selbstlösch-These widerlegt waren entgegen den Sicherheitsbestim- teten, „Funken und Flammen aus dem mungen sogenannte Sauerstoffgenerato- Kabinenboden“ im Heck. Der kleine Bislang sind Rauchmelder nur dann ren transportiert worden – bierdosengroße Brand war am Boden rasch gelöscht, nie- zwingend vorgeschrieben, wenn die Behälter, deren Inhalt unter starker Wär- mand kam zu Schaden. Frachtzellen wie bei Langstreckenflugzeu- meentwicklung Sauerstoff erzeugt. Als Dennoch hatten es die Verantwortlichen gen ein bestimmtes Raummaß überschrei- Temperaturen von mehr als 250 Grad Cel- ganz eilig. Schon einen Tag nach dem Zwi- ten. Bei Kurz- und Mittelstreckenjets ver- sius einen Schwelbrand inmitten von schenfall vom 11. Dezember vergangenen fügen selbst fabrikneue Flugzeuge derzeit Frachtstücken und Koffern entfachten, Jahres gelobten alle großen amerikani- zumeist nicht über Feuerdetektoren un- speisten die tückischen Stahldosen das schen Fluggesellschaften, künftig mehr für terhalb der Passagierkabine. „Frachtraum- Feuer mit Sauerstoff. den Schutz vor Feuer an Bord zu tun. Rauchmelder und -Feuerlöscher wurden Etwa sechs Minuten nach dem Start be- Mit ihrer schnell erklärten Bereitschaft nicht eingebaut“, hieß es etwa lapidar in ei- merkten Passagiere, wie die Flammen aus zur Selbsthilfe wollten die Airlines offen- ner Mitteilung an „alle Cockpitbesatzun- dem Boden schlugen. Der Voice-Recorder bar Sicherheitsauflagen zuvorkommen, die gen der A-320-Flotte“, als die Lufthansa im zeichnete die Entsetzensschreie „Feuer, in Washington von den Aufsichtsbehörden Herbst vergangenen Jahres die kleinen Feuer“ mehrfach auf. Die Piloten hofften vorbereitet werden. Danach sollen dem- Schwestern der A 320, Jets vom Muster noch, eine rettende Piste zu erreichen. Die nächst alle US-Passagierflugzeuge auch in 319, in Betrieb nahm. Zeit langte nicht – beim Anflug stürzte die den Frachträumen mit Rauchmeldern aus- Über Jahre erschienen der Luftfahrtin- Maschine in die Sümpfe der Everglades. gestattet werden. dustrie passive Vorkehrungen gegen Feuer Seit Jahren hatten die Sicherheitsexper- im Frachtraum kleiner Jets als ausreichen- ten der NTSB gefordert, alle Passagierjets * Im Mai 1996 in den Everglades (US-Staat Florida). der Schutz. Hersteller und Fluggesell- mit Rauchmeldern im Frachtraum auszu- statten. Doch die Aufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) kündigte erst nach der Tragödie von Florida eine entsprechende Gesetzesregelung an. Vorwürfe, zu spät gehandelt zu haben, konterte ein FAA-Ingenieur lakonisch: Flugsicherheit sei nun mal eine „Grabstein- technologie“: Der Weg zu höherer Sicher- heit führe „buchstäblich über Leichen“. Wie die US-Gesellschaften will nun auch die Lufthansa reagieren. „In den nächsten Monaten“, kündigte Lufthansa-Sprecher Christian Klick an, würden alle Jets ent- sprechende Rauchdetektoren erhalten. Das gilt vorerst allerdings nur für Airbus-Ma- schinen, da der Konzern seit Jahren diese Sicherheitstechnik anbietet. Für den meistgeflogenen Kurzstrecken- jet, die Boeing 737, ist eine Nachrüstung noch nicht in Sicht. Der amerikanische Hersteller kann bislang keinen Fracht- raumschutz für den City-Jet bereitstellen. Der Konzern, erklärte eine Sprecherin beschwichtigend, werde aber „mit den

REUTERS Fluggesellschaften an diesem Problem Kränze für ValuJet-Opfer*: Das Feuer fraß sich durch den Boden der Passagierkabine arbeiten“. ™

der spiegel 5/1997 59 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

EINHEIT Aufstand Ost In den neuen Ländern organisiert sich Widerstand gegen Bonn – an der Spitze stehen zwei CDU-Ministerpräsidenten.

ber einen Monat lang liegt der Be- schwerdebrief aus Sachsen schon Üauf dem Tisch des Bonner Regie- rungschefs. Als wollte er Helmut Kohl das Weihnachtsfest verderben, hat der sächsi- sche Ministerpräsident Kurt Biedenkopf dem „sehr geehrten Herrn Bundeskanz- ler“ die Ost-Leviten gelesen. Bundesregierung und Regierungsfrak- tionen regierten „über die Interessen der neuen Länder hinweg“. In „besonders sen- siblen Bereichen“ würden Entscheidungen getroffen, „die nicht oder nur schwer ver- mittelbar sind“. Die Folge in Ostdeutsch- land seien „Unverständnis und Ableh-

nung“ – und zwar „parteiübergreifend“. L. CHAPERON / LASA Ähnliche Post aus dem Osten erhielt das Kontrahenten Kohl, Biedenkopf, Vogel: Verbitterung über die Zahlenspielereien der Bonner Kanzleramt von einem anderen Partei- freund. Bernhard Vogel, Ministerpräsident Wie reibungslos sich der Widerstand der entstandenen Nachfolgebetriebe durch- in Thüringen, schrieb gleich mehrere Brie- Ostdeutschen organisiert, wenn es darauf setzen und deren Existenz gefährden kön- fe nach Bonn.Anfang dieses Jahres legte er ankommt, haben die neuen Länder im No- nen – für die von hoher Arbeitslosigkeit nach: „Blödsinn“ schimpfte er die geplan- vember letzten Jahres demonstriert. Im geplagten Ostländer ein Horror. te Senkung des Solidaritätszuschlags. Bundesrat lehnte eine breite Mehrheit – Denn die LPG-Nachfolger zählen zu Bis Mitte voriger Woche hatte Bieden- darunter alle Ostländer – die von den Re- den erfolgreicheren Produzenten im kopf keine Antwort vom Kanzler erhal- gierungsfraktionen vorgelegte Novelle Osten. Mit ihren großen Flächen sind sie ten. Doch das ficht ihn nicht an. „König zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz ab. effektiver und für den europäischen Markt Kurt“ und Bernhard Vogel wissen sich in Durch die Gesetzesänderung hätten besser gerüstet als die kleinen Westhöfe. ihrer Kritik am Bonner Ost-Kurs einig mit frühere LPG-Mitglieder höhere Vermö- Der brandenburgische Ministerpräsi- vielen Politikern unterschiedlicher Cou- gensansprüche gegen die nach der Wende dent Manfred Stolpe, Frontmann der SPD leur aus den neuen Ländern. im Osten, warnte davor, unter dem Deck- Überall im Osten regt sich Protest, daß mantel der Gerechtigkeit die Betriebe zu die Bundesregierung tatenlos zusieht, wie zerschlagen. Und Mecklenburg-Vorpom- aus dem Aufschwung Ost der Abschwung merns Landwirtschaftsminister Martin Ost wird. Kohl, so die Kritik, sei nur noch Brick (CDU) hatte den Bundestagsab- mit seinem Steckenpferd Europa beschäf- geordneten seines Landes barsch gedroht: tigt. Was im Innern los sei, interessiere ihn „Wenn Sie zu diesem Gesetz die Hand allenfalls am Rande. heben, brauchen Sie sich in Mecklen- Biedenkopf und der Chef der sächsi- burg-Vorpommern nicht mehr sehen zu schen Landesgruppe in der CDU/CSU- lassen.“ Bundestagsfraktion, Joachim Schmidt, Nicht zum erstenmal mußte der Ver- haben sich bereits auf die wichtigsten mittlungsausschuß ran, um ein Gesetzes- Punkte ihrer Gegenwehr gegen Kohl ver- vorhaben ostkompatibel zu machen. Erst ständigt: Hände weg von den Hilfen für die abgeschwächte Fassung ließ der Bun- den Osten, von der Wirtschaftsförderung, desrat passieren. von den Mitteln für die Forschung, von Der Widerstand gegen die da oben in den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit. Bonn läßt Länder und Kommunen im Auch eine weitere Absenkung des Solida- Osten noch stärker zusammenrücken: In ritätszuschlags gelte es zu verhindern. Potsdam verbündete sich Sozialministerin Die CDU im Osten, gab Biedenkopf sei- Regine Hildebrandt mit dem Geschäfts- nem Schmidt als Drohung an den Kanzler führer des brandenburgischen Städte- und mit, müsse bei den Wahlen 1998 im Osten Gemeindebundes, Karl-Ludwig Böttcher genausogut abschneiden wie 1994, sonst (SPD), gegen die geplante Neufassung des werde es eng für die Union und ihren Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Die No- Vormann. velle sieht scharfe Kürzungen der im Osten Kohl ist schon jetzt auf die Parteigänger unentbehrlichen ABM-Mittel vor. aus dem Osten angewiesen: Im Bundestag Die SPD-Frau Hildebrandt: „Bonn

stellt Ostdeutschland 66 von 295 Abgeord- DPA bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit, son- neten der Unionsfraktion – mehr als die Aufbau Ost bei Frankfurt (Oder)* bayerische Schwester CSU. Hände weg von der Wirtschaftsförderung * Neubau der Oderbrücke für die Autobahn nach Polen.

62 der spiegel 5/1997 teren politischen „Klopsen“ in Ost- deutschland gewarnt. Vor allem der Streit um den Solida- ritätszuschlag, den die FDP losgetreten hat, macht den Ostlern zu schaffen. Zwar wis- sen sie, daß Bonn den neuen Ländern auch ohne Soli-Beitrag helfen muß, doch sie fürchten die Folgen des Hickhacks für den deutsch-deutschen Zusammenhalt. Die Absenkung, sorgt sich Bernhard Vogel, „könnte als Signal mißverstanden werden, daß Solidarität nicht mehr oder nur noch im geringeren Maß notwendig wäre“. Politiker wie Wolfgang Thierse und Kurt Biedenkopf sind ohnehin darüber verbit- tert, wie die Bonner mit absurden Zahlen- spielereien jonglieren, um die eigene Lei- stung gegenüber den Ostdeutschen her- auszustreichen. Eine Billion Mark brutto, so Kanzler- amtsminister Friedrich Bohl, seien in- zwischen nach Osten geflossen. Eine Milchmädchenrechnung, denn in dieser Summe sind jede Menge Gelder als an- gebliche „Transferleistungen“ enthalten, die der Bund auch im Westen zahlt, weil diese Leistungen zu seinen Aufgaben

ACTION PRESS ACTION gehören – etwa der Bau von Autobahnen Parteikollegen und das Erziehungsgeld. Selbst Bafög für Studenten in den neuen Ländern fällt in dern die Arbeitslosen.“ Bürgermeister a. D. Bohls Rechnung unter die Osthilfe. Böttcher: „Wir brauchen Arbeitsförderung Den „spezifischen Leistungen für die und keine Arbeitsplatzvernichtung.“ Der neuen Bundesländer“, befand die Bun- Kommunalpolitiker prognostiziert zehn desbank schon im Oktober vergangenen Prozent mehr Sozialhilfeempfänger in Jahres, „wären auch die speziellen Be- Brandenburg, sobald die AFG-Novelle um- günstigungen für die westdeutschen Re- gesetzt ist. Damit, so sind sich Bürgermei- gionen gegenüberzustellen wie die Sub- ster von SPD bis CDU einig, entlaste sich ventionierung der Steinkohle oder die der Bund auf Kosten der Kommunen. Sonder-Bundesergänzungszuweisungen an Selbst brave CDU-Gefolgsleute mucken Bremen und an das Saarland“. auf. In einem offenen Brief beschwerten Doch unbeeindruckt legte der baden- sich vorvergangene Woche elf CDU-Land- württembergische Finanzminister Gerhard tagsabgeordnete aus Vorpommern bei Fi- Mayer-Vorfelder beim Jahreswechsel nach: nanzminister Theo Waigel. „Mit großer Angesichts einer Billion Mark Osthilfe Sorge“ verfolgten sie die Debatte über die forderte er die Politiker im Osten zu Finanzierung der Ostsee-Autobahn: „Die „Zurückhaltung“ und „mehr Realitäts- vorpommerschen CDU-Abgeordneten er- sinn“ auf. Jeder Westbürger, so rechnete warten, daß die Bundesregierung zu ihren er dem Osten vor, habe seit der Wieder- Zusagen steht.“ vereinigung rund 17 000 Mark zum Auf- Die Fernstraße ist für die Region über- bau Ost beigesteuert. lebenswichtig,Vorpommern ist der ärmste Kein Wunder, daß die ostdeutschen Bun- Teil Deutschlands. Die Arbeitslosigkeit destagsabgeordneten und Kabinettsmit- liegt teilweise über 40 Prozent. glieder den Schulterschluß suchen. Ausge- Als Feind Nummer eins erscheint den rechnet der erzkonservative sächsische Ostlern die FDP. Die Liberalen fordern Kohl-Paladin Steffen Heitmann, CDU-Ju- die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, stizminister in Dresden, ruft bereits nach verlangen immer wieder Kürzungen bei einer „ostdeutschen Allianz“. Heitmann ABM- und Sozialleistungen und stellen verbittert: „Der Westen sieht gar nicht, was sogar die ostdeutsche Bodenreform der er anrichtet.“ Nachkriegszeit in Frage. Obwohl das Bun- Und der letzte Ministerpräsident der desverfassungsgericht die im Einigungs- DDR, der Christdemokrat Lothar de Mai- vertrag vorgenommene Festschreibung der zière, fordert die Politiker der ostdeutschen Reform als verfassungskonform deklariert Länder auf, sie müßten „in Fragen, die sie hat, hoffen viele von den Russen enteig- gemeinsam interessieren, enger zusam- nete Alteigentümer noch immer, sie könn- menstehen“ (siehe Seite 66). ten ihre Immobilien in Ostdeutschland Arnold Vaatz, einst Bürgerrechtler in zurückerhalten. der DDR und heute Umweltminister im Im Osten wird die FDP inzwischen als Kabinett Biedenkopf, flüchtet sich in westdeutsche Regionalpartei verspottet. bösen Spott. Er warnt die Westdeutschen: Sogar Brandenburgs FDP-Chef Hinrich „Ihr werdet uns Ostdeutsche nicht mehr Enderlein hat seine Parteispitze vor wei- los.“ ™

der spiegel 5/1997 63 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

SPIEGEL-GESPRÄCH „Lieber Laienspieler als Amigo“ Lothar de Maizière, der letzte DDR-Ministerpräsident, über die Fehler der Vereinigung

SPIEGEL: Herr de Maizière, sind Sie ein DDR-Nostalgiker? MAIZIERE: Nein. SPIEGEL: Ihr neuestes Buch trägt im fran- zösischen Original den Titel „Requiem für die DDR“**. Das klingt nach „schade drum“. MAIZIERE: Es ist nicht schade um die DDR, eher darum, wie man mit DDR-Biogra- phien umgeht und mit den Lebensleistun- gen derer, die dort gelebt haben. Abgese- hen davon, daß auch ein schmerzlicher Ab- schied ein Abschied ist. SPIEGEL: Die literarische Aufarbeitung der Wiedervereinigung boomt. Hans-Dietrich Genscher, CDU/CSU-Fraktionschef Wolf- gang Schäuble und der Kanzler selbst, alle schreiben oder lassen schreiben.Viel Dich- tung oder viel Wahrheit? MAIZIERE: Napoleon hat gesagt: Das ob- jektive Bild der Geschichte ist die Sum-

me der Lügen, auf die man sich nach 30 PIEL / GAMMA STUDIO X P. Jahren geeinigt hat. Die meisten Autoren Verhandlungspartner de Maizière, Kohl*: „Gib dem Wessi eine Chance“ vermitteln schon den Eindruck, daß die Einheit auf einer Einbahnstraße zustande MAIZIERE: Warum sollte es? Ich baue dar- vorgesehen hatten, besser bewältigt haben kam. auf, daß die meisten wissen, daß zur Ver- als unsere Brüder in Mittel- und Osteuro- SPIEGEL: Auf der die Ostdeutschen immer einigung immer zwei gehören. pa. Daß nun einige ihre Runen ritzen, zur Seite gehupt wurden? SPIEGEL: Kohl erinnert sich in seinem Ein- weil sie meinen, es bedürfe noch einer MAIZIERE: Natürlich ist es so, daß der heitsbuch, Sie hätten bei den Gesprächen nachträglichen positiven Darstellung – da- Anteil der Ostdeutschen nicht gerecht die Position „alter kommunistischer Polit- mit kann ich sehr gelassen umgehen. gewürdigt wird. Immerhin hat das Ka- funktionäre“ eingenommen. SPIEGEL: Wenn der Kanzler den Beifall der binett, dem ich vorstehen durfte, in fünf- MAIZIERE: Ich kann mit seinem Buch nicht Menge genoß, standen Sie klein und frö- einhalb Monaten 759 Vorlagen bearbei- so gut umgehen, weil es, wenn man so will, stelnd daneben. tet, 143 Verordnungen, 96 Gesetze und drei Autoren hat – zwei Herren von der MAIZIERE: Sollte er sich einen Kopf kürzer 3 große Staatsverträge erarbeitet. Ich ken- bild-Zeitung und in Zitaten den Kanzler. machen oder ich auf Stelzen gehen? So ne keine Zeit in der Bonner Geschichte, Ich würde sagen, überlassen wir das Urteil sind wir nun mal. Sie beschreiben bloß in der in solcher Menge Gesetze mit der Literaturkritik. zwei unterschiedliche Charaktere. Dem ei- doch relativ anständigem Inhalt produziert SPIEGEL: Doch gekränkt? nen graut etwas vor solchen Momenten, wurden. MAIZIERE: Nicht ernstlich. Es ist Tatsache, der andere blüht förmlich auf. SPIEGEL: Also wurmt es Sie, wenn es immer daß wir die Veränderungen, die wir ei- SPIEGEL: Wurde Ihnen nicht auch ein an- heißt: Kohl hat die Einheit geschafft? gentlich für unsere Biographie nicht mehr derer politischer Stil aufgedrängt? MAIZIERE: Einen eigenen hatten wir nicht entwickeln können. Lothar de Maizière SPIEGEL: Was mißfiel Ihnen, als Sie sich wurde 1989 zum Polit-Star. Als einfa- nach der Vereinigung im Bundestag wie- ches Parteimitglied avancierte er zum derfanden? Vorsitzenden der DDR-CDU. Im März MAIZIERE: Na, einiges. Man muß sich ja so- 1990 führte er die Partei, mit dem De- gar im Bundestag entschuldigen, wenn mokratischen Aufbruch und der DSU man mit jemandem von der Opposition verbündet in der „Allianz für Deutsch- ein Bier trinkt. Gregor Gysi beispielswei- land“, zum Wahlsieg. Als neuer Regie- se kenne ich seit fast 20 Jahren. Da sitzt rungschef der DDR handelte er mit der man schon einmal zusammen. Für so etwas Bundesrepublik den Einigungsvertrag haben mich Mitglieder meiner Partei fast aus. Im Oktober 1990 ernannte ihn Hel- gesteinigt. mut Kohl zum Minister für besondere Aufgaben. Zwei Monate später zwan- * Nach Abschluß des Staatsvertrages zur Währungs- und gen ihn spiegel-Veröffentlichungen Sozialunion am 18. Mai 1990 in Bonn. über seine Stasi-Vergangenheit zum ** Lothar de Maizière: „Anwalt der Einheit“. Ein Ge- spräch mit Christine de Mazières. Argon Verlag, Berlin; Rücktritt. Heute arbeitet de Maizière, 220 Seiten; 38 Mark. 56, als Anwalt in Berlin. Das Gespräch führten die Redakteure Stefan Berg und

U. MAHLER / OSTKREUZ U. Christian Habbe.

66 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

SPIEGEL: Wer hat seinerzeit eigentlich den ausgelöst. Es droht eine Quasi-Enteignung Rechts einen Verwaltungsrat gehabt hat, Slogan „Allianz für Deutschland“ erfun- der Bürger in den neuen Ländern. in dem Personen aus den neuen Ländern den? SPIEGEL: Wer machte den meisten Druck wie aus den Bundesministerien saßen. Das MAIZIERE: Ich. für die Rückgabe? Problem war doch auch, daß es in der DDR SPIEGEL: Das hat der Kanzler aber anders MAIZIERE: Natürlich die FDP, die das Ei- Tausende von Lehrbüchern über die Um- in Erinnerung. gentum mehr als moralischen Wert wandlung von Marktwirtschaft in Plan- MAIZIERE: Volker Rühe wollte die Ost-CDU schlechthin denn als soziale Komponente wirtschaft gab. Leider hat es bislang keiner sogar in DUD, für Demokratische Union versteht. Insofern hat es mich verwundert, geschafft, die Transformationsphilosophie Deutschlands, umtaufen. Da dachte ich, als zwei Jahre später Vertreter derselben realsozialistischer Planwirtschaft in sozia- ich habe nicht Jahrzehnte einer Partei an- Partei davon sprachen, daß dieses Prinzip le Marktwirtschaft, mit Betonung auf gehört, die in der SED-geführten Land- ein Fehler gewesen sei. Das heißt doch „sozial“, zu beschreiben. Auch die schaft das „C“ behält, um mich jetzt in Wirtschaftswissenschaftler im Westen „Dutt“ umzubenennen. Bei einem Ge- „Die Treuhand ist so etwas nicht. spräch in meinem Büro wurde dann, an- SPIEGEL: Haben Sie, was die Treuhand an- gelehnt an den Slogan einer Versicherung, wie eine höhere geht, ein gutes Gewissen? der Begriff Allianz angenommen. Im Sin- Töchterschule gewesen“ MAIZIERE: Ein schlechtes Gewissen kann ne von solide, konservativ, Sicherheit ver- man nur haben, wenn man sagt: Ich habe heißend. Kam von mir und fand sofort Zu- wohl: Was schert mich mein Geschwätz wider besseres Wissen gehandelt. Das kann spruch. von gestern. ich allenfalls in der Eigentumsfrage gegen SPIEGEL: Hat es Sie als DDR-Ministerpräsi- SPIEGEL: Einen zweiten Geburtsfehler der mich gelten lassen. dent sehr gekränkt, von westdeutschen Po- Einheit haben Sie ebenso mitzuverant- SPIEGEL: Das Ausmaß der Anpassungs- litikern nicht für voll genommen und als worten: die Treuhand, die Millionen Ar- schwierigkeiten haben Sie unterschätzt. „Laienspieler“ verspottet zu werden? beitsplätze im Osten abgewickelt hat. MAIZIERE: Das stimmt und ist bedauerlich. MAIZIERE: Das Wort kam wohl zuerst von MAIZIERE: Wenn ich mir anschaue, wie die Es kam zu Motivationseinbrüchen, denn Herrn Streibl aus Bayern. Im nachhinein Privatisierung in den anderen mittelosteu- die Leute haben ja geglaubt, daß sie es in sage ich mir, ich lasse mich lieber „Laien- ropäischen Staaten gelaufen ist, besonders fünf Jahren schaffen würden; übrigens ha- spieler“ als „Amigo“ nennen. in Rußland, Weißrußland oder der Ukrai- ben sie nicht nur der Allianz geglaubt, son- SPIEGEL: Zum Einheitsvertrag: Das von Ih- ne, dann ist die Treuhand noch so etwas dern auch Gewerkschaften wie der IG Me- nen mit ausgehandelte Prinzip „Rückgabe wie eine höhere Töchterschule gewesen. tall, die Lohnangleichung bis 1994 ver- vor Entschädigung“ nennen Sie heute ei- SPIEGEL: Die Treuhand hat vielfach schlecht sprach. Merkwürdigerweise hat der ach so nen genetischen Fehler der Einheit. verhandelt, an desolate Bieter verkauft, sparsame Oskar Lafontaine sie nicht MAIZIERE: Ja, denn die Eigentumsfragen ha- Korruptionsverdacht genährt. zurückgepfiffen. Das war genauso verant- ben die meisten sozialen und psychologi- MAIZIERE: Ich darf daran erinnern, daß die wortungsbewußt, wie die „blühenden schen Verletzungen bei den Ostdeutschen Treuhand als Anstalt des öffentlichen Landschaften“ zu propagieren. SPIEGEL: Hätten Sie nicht mehr für den MAIZIERE: Ich glaube, daß von hier stärke- größer. Und was die Kultur angeht: Es wird Osten herausholen können? re Anstöße kommen, über Verteilungsge- den Ostdeutschen laufend erzählt, alle ihre MAIZIERE: Zum Pokern gehört nicht nur rechtigkeit nachzudenken.Wir wissen, wie Betriebe wären Schrott und marode, ihre ein Pokerface, sondern auch eine gewisse das Eis unter einem klingt, wenn es brüchig Umwelt wäre kaputt und ihre Leistung tau- Verhandlungsmasse. Die Währungsunion wird. Ost hat West eines voraus: Unter- ge gar nichts. Wenn wir dann mal sagen, etwa kam zu einem Zeitpunkt, wo mir gangserfahrung.Wir im Osten konnten uns wir seien aber behutsamer mit unserem klar war, in drei Monaten sind wir zah- die Veränderungen nicht aussuchen. Daß gemeinsamen Kulturerbe umgegangen, lungsunfähig.Was mich bis heute gewaltig der Westdeutsche genausowenig entschei- wird uns das doch wohl erlaubt sein, ohne stört: Bei der Vereinigung wird nach wie den kann, ob Veränderungen kommen, daß man daraus Trotzhaltung ableitet. vor mit zweierlei Maß gemessen. Wenn höchstens noch wie und wie schnell, ist SPIEGEL: Überreagieren die Ostbürger die Treuhand den Kalikumpeln in Bi- eine Erkenntnis, die nur langsam wächst. nicht, weil sich nach dem Einheitstaumel schofferode sagt, wir können nicht weiter Enttäuschung und Ernüchterungsschock produzieren, weil jede Tonne 60 Mark ko- „Ich bin nicht mit einstellen? stet, mag das ökonomisch richtig sein. MAIZIERE: Ich habe 1990 so etwas geahnt. Dann muß aber auch gelten: Wir können einem Volk von Ich habe gedacht, in der Euphorie der Ein- nicht weiterhin 220 Mark je Tonne Ruhr- Analphabeten gekommen“ heit merken manche gar nicht, was sich kohle zahlen. Liest der Kalikumpel jetzt, jetzt an ihren Lebenskoordinaten ändert. Kohle werde bis ins Jahr 2005 subventio- SPIEGEL: Da ist der Ostler voraus? SPIEGEL: Was folgte für Sie daraus? niert, empfindet er das als Gerechtig- MAIZIERE: Sicher. Die einzige Lernleistung, MAIZIERE: Meine Bemühung, im Eini- keitslücke. die wir dem Wessi bisher zugemutet haben, gungsvertrag bestimmte Dinge zu sichern, SPIEGEL: Was sagen Ihre Parteifreunde, war der grüne Pfeil, bei dem er an der ro- damit der Schock später nicht allzu heftig wenn Sie diese Rechnung aufmachen? ten Ampel rechts abbiegen darf, sogar soll- ausfällt. Es war beispielsweise ein hartes MAIZIERE: Sie widersprechen nicht. Aber te, wenn er es nur täte. Er tut es aber nicht. Stück Arbeit, die praktische Fortgeltung ich sehe auch keine Reaktion mit dem Ziel, Da reagieren wir dann mal ganz gelassen aller in Ostdeutschland erworbenen Be- die Lücke zu schließen. und sagen: Gib dem Wessi eine Chance. rufsabschlüsse durchzusetzen. Ich habe ge- SPIEGEL: Hat Ihr Motto „Die Teilung durch SPIEGEL: Nicht nur in der Kulturszene Ost sagt, ich komme nicht mit einem Volk von Teilen überwinden“ eine Chance? gilt das trotzige Räsonieren gegen den We- Analphabeten. MAIZIERE: Das ist eine Frage an die West- sten inzwischen als schick. Auch der Autor SPIEGEL: Neuerdings versuchen Betroffe- deutschen. In Zukunft, da keine Zuwäch- Lothar de Maizière wettert gegen Kultur- ne, unterstützt von Politikern, den Ein- se mehr zu verteilen sind, steht die Vertei- defizite des Westens, gegen Lesefaulheit, heitsvertrag an einem entscheidenden lung der Substanz an. Mit diesem neuen Geschichtslosigkeit, laxe Sprache. Punkt auszuhebeln: Sie wollen die Rück- Verständnis kann sich der normale Bun- MAIZIERE: Ich spreche nicht von Kulturlo- gabe von Grundstücken erzwingen, die vor desdeutsche bisher nicht anfreunden. sigkeit. Aber ich meine, die Vernachlässi- 1949 von den Sowjets enteignet worden SPIEGEL: Der Ostdeutsche aber schon? gung der deutschen Sprache ist im Westen sind, und damit die Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone torpedieren, deren Rechtsgültigkeit im Vertragswerk ausdrücklich anerkannt wird. MAIZIERE: Die Versuche sind massiv. Aber das wäre ein eklatanter Bruch des Eini- gungsvertrages. Politiker wie Michail Gor- batschow und Hans-Dietrich Genscher, die damals am Aushandeln des Vertrags betei- ligt waren, haben offenbar ein schlechtes Gedächtnis.Wer 1990 Vereinbarungen und gemeinsame Erklärungen unterschrieben hat, kann nicht später sagen: Ich kann mich nicht daran erinnern. SPIEGEL: Die Erben der Enteigneten erwir- ken jetzt bei der russischen Justiz Rechts- akte, mit denen die damals verurteilten Grundherren rehabilitiert werden. MAIZIERE: Das bereitet mir großes Vergnü- gen. Ich stelle mir vor, wie eine bundes- deutsche Behörde vor zehn Jahren rea- giert hätte, wenn jemand mit einem Mos- kauer Urteil gekommen wäre und gesagt hätte: Das würde ich jetzt gern in der Bun- desrepublik vollstrecken. Ich stelle nochmals klar: Die Bodenreform gehört zu den vereinigungsbedingten Ver- fassungsänderungen. Wir haben damals darauf gedrungen. Insofern zeigt die jetzi- ge Diskussion geringen Respekt vor der eigenen Verfassung, den man zumindest von einem Bundesjustizminister erwarten könnte. SPIEGEL: Quer durch die Parteien beklagen sich ostdeutsche Politiker über den Ablauf des Einigungsprozesses. Ist eine Allianz für Ostdeutschland in Sicht? MAIZIERE: Ich glaube, es ist notwendig, daß die ostdeutschen Länder, ihre Bundestags- abgeordneten und Minister in Fragen, die sie gemeinsam interessieren, enger zu- sammenstehen. SPIEGEL: Unter Einschluß der PDS? MAIZIERE: Ich glaube nicht, daß wir uns, was die ostdeutschen Probleme angeht, et- was von der PDS diktieren lassen müssen. Ich finde es ärgerlich genug, daß es der PDS als Verursacherin des Schlamassels gelungen ist, sich abzukoppeln und sich als Therapeut auszugeben. Daß die PDS bei den Wählern im Osten so großen Zulauf hat, verdankt die Partei auch dem unge- schickten Verhalten der großen Parteien, angefangen bei der Rote-Socken-Kampa- gne meiner CDU. SPIEGEL: Herr de Maizière, Ihre politische Karriere endete 1991 auch, weil Sie ver- dächtigt wurden, als IM „Czerny“ der Staatssicherheit zugearbeitet zu haben. Sie haben sich gegen den Vorwurf nie ener- gisch gewehrt. MAIZIERE: Das ist wie mit den Schustern und den eigenen Schuhen. SPIEGEL: Warum haben Sie den Mann nicht verklagt, der behauptete, als Stasi-Major Ihr Führungsoffizier gewesen zu sein? MAIZIERE: Was ich für mich als maßgeblich in der Vergangenheit ansehe, muß ich allein beurteilen. Dazu bin ich nicht auf ein Ge- richt angewiesen. SPIEGEL: Herr de Maizière, wir danken Ih- nen für dieses Gespräch.

der spiegel 5/1997 Deutschland über Feuerbestattungen“ BESTATTUNGEN stammt immerhin aus dem Jahre 1934. Das aber soll nun geändert Nägel in werden. Im kommenden Mo- nat will das Bundesumwelt- ministerium eine Novelle der Asche vorlegen, die auch noch den einschlägigen Euro-Normen Krematorien sind wahre Dreck- folgen wird. „Mit Beklem- mung“, so einer der Ge- schleudern. Nun soll setzestexter, wurde ein Jahr der Mensch umweltgerecht lang ausgetüftelt, welche entsorgt werden. Schadstoffe des „homoge- nen Inputs“ (Fachjargon) uch Deutschlands Bestattungsun- künftig herausgefiltert werden ternehmer gehen mit der Zeit. Die müssen. Aeinen verbrennen die Toten im Der Mensch als Müll? Seit „Umweltschutzsarg“, einem besseren Jahren schon steigt der Anteil

Pappkarton, andere schwören auf den so- der Feuerbestattungen. 1995 / ARGUS R. JANKE genannten Magnesit-Griff, der, beidseitig wurden von insgesamt 884588 Einäscherung im Krematorium am Holzsarg angebracht, „wie ein Turbo“ Verstorbenen 316524 Tote Die Menschen auseinanderschrauben? bei der Einäscherung wirke. Und wieder eingeäschert. andere empfehlen die Fünf-Liter-Urne aus Zu den peinlich verschwiegenen Tatsa- Strenge Mülltrennung gibt es bei Nägeln, abgelagerter Borke – mit garantiert flotter chen zählt, daß der Weg ins Jenseits im Schrauben und Drähten, etwa aus Hüft- Fäulnis. Diesseits Dreck erzeugt. Umweltpolitiker, oder Kniegelenken. Sie müssen nach der Noch macht im deutschen Bestattungs- die sonst jedem Milli- und Nanogramm in Verbrennung mit Magneten aus der Asche wesen jeder, was er will. Es fehlt an den der Abluft nachspüren, schweigen zu die- gezogen werden. entsprechenden Vorschriften für eine öko- sem Thema. Kein Greenpeace-Kämpfer „Das reicht natürlich nicht“, findet Man- logisch einwandfreie letzte Ruhe.Vor allem kettet sich an Krematorienschlote. Allen- fred Zagar von der Arbeitsgemeinschaft die Feuerbestatter sind einigermaßen rat- falls wird darüber gestritten, was das klei- kommunaler Friedhofsverwaltungen. Not- los. Das heute noch gültige „Reichsgesetz nere Übel ist: Grundwasserverschmutzung wendig seien vor allem spezielle Filter, durch „Ahnenbrühe“ oder Luftver- die allerdings in den zumeist veralteten Schädelplatten schmutzung durch Dioxine aus den Ver- Krematorien kaum noch eingebaut wer- brennungsöfen. den könnten: „Wenn man da jetzt Filter Glasauge Tatsächlich sind Krematorien wahre reinsetzt“, meint Ulrich Doose vom Deut- Dreckschleudern. Die 120 deutschen Ver- schen Städtetag, „ist das so, als ob man in Zahnfüllungen brennungsinstitute pusten etwa 140mal ein Auto von 1912 einen Katalysator ein- künstliche Luftröhre mehr Dioxine und Furane in die Luft, als bauen will.“ die „Technische Anleitung Luft“ erlaubt; Selbst neue Filteranlagen führen nicht der jährliche Quecksilber-Ausstoß nur ei- automatisch zu einer geringeren Belastung Herzschrittmacher/ nes einzigen größeren Krematoriums ist der Umwelt. Um etwa den Ausstoß des Se- Herzklappen mit 14 Kilogramm etwa so hoch wie die veso-Gifts Dioxin zu reduzieren, bedarf es Silikonkissen Quecksilber-Abgabe im Abwasser des Che- hoher Temperaturen. Der Bundesrat will miegiganten Bayer. der geplanten Verordnung nur zustimmen, Theoretisch könnten Krematorien nach wenn eine Verbrennungstemperatur von dem Bundesimmissionsschutzgesetz für 850 Grad vorgeschrieben wird. Müllverbrennungsanlagen betrieben wer- Doch das macht Rest-Europa nicht mit. den. Nur „müßten wir den Menschen dann Auch in den meisten Nachbarländern sind regelrecht auseinanderschrauben“, um die die Krematorien für solche Hitzegrade Schadstoffe getrennt zu entsorgen, erklärt nicht ausgelegt. künstliche Gelenke Jürgen Jakobs vom Bundesumweltmini- Umweltfreundlicher sollen schließlich sterium. auch die Begleitutensilien der Toten wer- Zahnfüllungen aus Amalgam, Medika- den. Wegfallen werden modische Acces- mentenreste, Prothesen, Herzschrittma- soires wie aufplattierte Palmzweige auf Schienen/Nägel/Schrauben cher – das zählt alles zum Sondermüll. In dem Sarg oder verschnörkelte Metallgrif- einem Krematorium in Zürich wurden fe. Der heißgeliebte Teddy, das Jagdgewehr während der 75 Minuten dauernden Ein- oder die Krücken dürfen ebenfalls nicht äscherung einer 85jährigen Frau 6,75 mehr beigefügt werden. Die Leichname Gramm Quecksilber freigesetzt, der Inhalt sollen möglichst im Jutehemdchen und in von drei Fieberthermometern. Eigentlich chlorfreier Baumwollhose auf Ökokissen dürfen die sieben Verbrennungsöfen des ruhen. Zürcher Krematoriums nicht mehr als ein Das Auswärtige Amt stoppte allerdings Maschine Mensch Gramm pro Stunde produzieren. den Plan des Berliner Umweltamtes, bei Die wichtigsten Die geplante Bonner Verordnung Kollegen im europäischen Umland nach- medizinischen Ersatzteile bemüht sich um einen pietätvollen Mittel- zuforschen, wie man es denn andernorts weg: Amalgamfüllungen sollen auch künf- mit den ökologisch vertretbaren Toten- tig mitverbrannt werden. Dafür müssen kleidern halte. Herzschrittmacher entfernt werden, zumal Begründung: Die deutsche Vergangen- sie in der Hitze implodieren. Silikonbusen heit erlaube es nicht, im Ausland nach wiederum schmelzen weiterhin im Ofen. Verbrennungsmethoden zu fragen. ™

der spiegel 5/1997 71 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland zona) bis Z(ahn) eine Mär. Amerikanische wortgetreu übernommen wurde. Ein ge- MEDIEN Medienforscher nennen solche Storys wisser Tony aus Hollywood überarbeitete „Netmyth“, einen Netzmythos. die Raketenmär. In seiner Fassung fanden Seit Millionen von Computernutzern sich dann der Hinweis auf Knochensplit- Heiße Story über das Internet weltweit verknüpft sind, ter und Zähne des Toten als Spuren im wabern auch Märchen durchs Medium. Fels. Netzmythen nennen Medien- Für den US-Medienforscher Phil Acre ist Die Polizeibehörden von Arizona, die forscher Märchen aus es ein noch „kaum beachtetes Phänomen, den Fall angeblich minutiös untersuch- daß jede Geschichte im Internet weltweit ten, wissen von Raser und Rakete nichts. dem Internet. Eine Hamburger und wortgetreu verbreitet werden kann“. Aber immer noch, erklärte ein Behörden- Zeitung druckte als Im Internet könne „jeder Reporter spie- mitarbeiter, werde die Polizei von Internet- Fakt, was doch nur Fabel war. len“, ohne daß „redaktionelle Instanzen Nutzern nach der Raketenposse gefragt. den Wahrheitsgehalt prüfen“. Da das Me- Auch der Darwin-Preis wird weiter ver- rei Dinge hatte der Mann: einen dium jung sei, klagt der Experte, fehle vie- liehen. Kandidat für 1996 ist ein Inder. Der Straßenkreuzer der Marke Chev- len Nutzern zudem eine Antenne dafür, habe, so märt es im Netz, voll des Drolet Impala, eine „Jato“-Feststoff- welche Informationen glaubhaft seien. Nußschnapses „Fenny“ versucht, einem rakete, wie sie Militärtransportflugzeuge Ohne eigene Recherche, das lehrt die Tiger einen Blumenkranz um den Hals zu benutzen, um von kurzen Pisten zu starten, Panne des hamburger abendblatt, ist hängen. Da „alkoholisierte Inder und und den festen Willen, einen Rekord auf- dem Netz kein Bit weit zu trauen. Nicht nüchterne Tiger“ einander nicht mögen, zustellen. nur, daß die Höllenfahrt von Arizona ein notierte ein Joe Brotherton im Internet, Irgendwo auf einer einsamen Wüsten- Netzmythos ist: Auch der „Darwin-Preis“, sei der Inder ein „heißer Anwärter“. piste im US-Staat Arizona, so berichtete für den der Todesfahrer laut Internet als Selten lassen sich Netzgerüchte wie bei das hamburger abendblatt Ende ver- Kandidat galt, wird nur in der virtuellen der Geschichte über den „absurdesten gangenen Jahres, zündete der Motornarr Realität vergeben. Selbstmord des Jahres 1994“ bis zu ihrer die Rakete, um einen Geschwindigkeitsre- Die Internet-Mär will es, daß der Dar- eigentlichen Quelle zurückverfolgen. Die kord für Serienwagen zu erzielen. Das ge- win-Preis alljährlich postum dem Un- Story, angeblich aus amtlichen Quellen lang – doch um welchen Preis. glücklichen verliehen wird, der auf die verbürgt, berichtet von einem Mann, der Bei „gut 300 Meilen (mehr als 450 dümmste Art ums Leben kam. Da der je- aus dem 10. Stock eines Gebäudes springt. km/h)“, zitierte die Zeitung Ermittler der weilige Pechvogel seine Gene nicht mehr Während der Lebensmüde auf dem Sims „US-Highway Police“, habe der Impala- vererben kann, habe er nach der Darwin- noch zögert, eskaliert in einer darunterlie- Fahrer die Bodenhaftung verloren. Sein schen Lehre vom Überleben der Tüchtig- genden Wohnung der Streit eines Ehepaa- Oldie, Baujahr 1967, „flog 2200 Meter sten einer jeden Art der Menschheit einen res. Just als der Lebensmüde springt, greift durch die Luft und schlug in einer Höhe „großen Dienst erwiesen“. die Frau zur Büchse und schießt auf ihren von 40 Metern“ gegen eine Felswand. „Preisträger“ des Jahres 1994 war laut Mann – sie trifft aber nicht ihr Gespons, Nur ein makabres Detail ersparte das Netzmythos ein durstiger Amerikaner. Um sondern spickt durch das Fenster den Fal- Hamburger Blatt seinen Lesern. Die Un- eine Cola zu ziehen, hatte der Mann so lenden mit Blei.Als der im Sprungtuch der fallermittler, so hatte es weiter in der Quel- heftig am Getränkeautomaten gerüttelt, Feuerwehr landet, ist er bereits tot. le für die Geschichte geheißen, hätten in daß der Cola-Spender umkippte und den Er habe diese Posse, erklärt Harper der verkohlten Felswand Spuren des un- Darbenden unter sich begrub. Mills, ehedem Präsident der amerikani- bekannten Automobilisten gefunden – Den Preis für das Jahr 1995 hatte sich, schen Akademie für Gerichtsmedizin, einst Haare, Knochensplitter und Zähne. so urteilte die Internet-Nutzerin Louise auf einem Bankett im Kollegenkreis zum Soviel Pietät wäre nicht nötig gewesen. Ann Noeth, der Raketenmann von Arizo- besten gegeben. Das war 1987. Die Geschichte von der Rekordfahrt in der na verdient. Um die Kandidatur zu be- Warum die Geschichte 1994 plötzlich im Wüste, mit der das hamburger abend- gründen, hatte die Dame unter dem Ab- Internet zirkulierte und dort noch heute blatt seine Leser unterhielt, ist von A(ri- sender „Woman Motorist“ exakt jene Ge- verbreitet wird, kann sich auch Mills nicht schichte ins Internet gestellt, die Monate erklären. Überrascht aber ist er nicht, die * Am 29. November 1996 im hamburger abendblatt. später vom hamburger abendblatt fast Story, sagt Mills, „ist einfach gut“. ™

Raketenauto-Meldung*: „2200 Meter durch die Luft“

74 der spiegel 5/1997 STRAFJUSTIZ „Verdunkelnde Kumpanei“ Zum Urteil über Peter Graf und Joachim Eckardt. Von Gisela Friedrichsen

in Kniefall vor einem Prominenten, der von sich glaubt, sein Name sei 80 EProzent aller Deutschen und auch im Ausland ein Begriff? Ein besonderes Entgegenkommen, nur weil die Tochter un- ser aller Steffi und weltberühmt ist? Mit- nichten. Die Strafe, die das Landgericht Mann- heim am vergangenen Freitag gegen Peter Graf aussprach – drei Jahre neun Monate wegen Steuerhinterziehung – ist im Ver- gleich mit ähnlich dimensionierten Straf- verfahren durchaus im mittleren Bereich des Strafrahmens anzusiedeln. Grafs Steuerschuld – das Gericht hielt ihn rechtlich für den Täter, obwohl er nicht der Steuerpflichtige war – beläuft sich nach den Feststellungen der Richter auf knapp 16 Millionen Mark. Gezahlt ist das Geld längst, sogar weit mehr, wenn auch vor dem Finanzgericht Karlsruhe noch über die genaue Höhe der Summe gestritten wird.

Am anfänglichen Eindruck, bei Graf und REUTERS dem mitangeklagten Steuerfachgehilfen Angeklagter Graf vor dem Urteil: Die Strafanträge waren überzogen Joachim Eckardt handele es sich um be- sonders abgebrühte Kriminelle, ist die Schmerzgrenze wohl bei fünf Jahren lag, in die Gegend, wo Schneestürme und Staatsanwaltschaft Mannheim nicht un- kündigte Revision an. Geröllschlag lebensgefährlich werden; die schuldig. Bis zuletzt sogar hielt sie verbis- Das Gericht mit dem Vorsitzenden Rich- man sich allein weiterhangeln ließ bis zur sen fest am Vorwurf eines besonders ter Joachim Plass, 50, dessen stets gelasse- Weißen Spinne, von wo aus eine Umkehr schweren Falles, an einer Mittäterschaft ne und faire Verhandlungsführung hervor- den todsicheren Absturz bedeutet hätte. (nicht Beihilfe) Eckardts, der „im Hinter- zuheben ist, hat sich in seiner Urteilsbe- Die Auftritte der Berater und Sponsoren grund“ trotz mangelnder Fachkenntnis Be- gründung ausführlich mit der Argumenta- in der Hauptverhandlung rechtfertigten ei- rater wie den Steuerexperten Professor tion der Graf- und Eckardt-Verteidigung nen solchen Vergleich. Eckardt-Verteidi- Harald Schaumburg wie willenlose Ma- auseinandergesetzt: mit dem Verhalten der ger Schneider zitierte in seinem rionetten geführt haben soll. Berater, der Sponsoren, der Finanzver- Schlußwort noch einmal den Steueranwalt Zu erklären ist diese allen Erkenntnissen waltung, die gelockt, gefördert und zuge- Hans Flick, 69, der sich 1986 Gedanken in der Beweisaufnahme entgegenstehen- sehen haben, wie zwei auf falschem Weg machen sollte über eine „optimale Be- de, rätselhaft bis absurd starre Haltung immer weiter in die Irre gingen; mit dem steuerung“ von Stefanie Graf. Sein Be- allenfalls mit dem auf der Mannheimer Umstand, daß Graf zur Tatzeit psychisch dürfnis, sich als Zeuge („Jurastudium, Prä- Anklagebehörde lastenden Versagen im und physisch zudem in schlechter Verfas- dikatsexamen“) in leuchtenden Farben zu Fall des Fabrikanten Jürgen Hippenstiel- sung war; und daß in Eckardt nicht ein präsentieren, ist in lebhafter Erinnerung. Imhausen vielleicht nach dem unbewußten trickreicher Marionettenspieler mit Tat- Allenfalls 10 bis 20 Personen in der Bun- Motto: Das soll uns nicht wieder passieren. herrschaft zu sehen ist. desrepublik seien des internationalen Steu- Hippenstiel hatte dem libyschen Diktator Die Verteidigung hatte in der 34 Tage errechts mächtig, „ein normaler Steuerbe- Muammar el-Gaddafi eine Giftgasfabrik (ohne Auslandstermine) währenden rater kann das gar nicht bearbeiten“, sag- geliefert, wofür 235 Millionen Mark auf Hauptverhandlung etwa die, wie Rechts- te er zu den Richtern. Schweizer Hippenstiel-Konten flossen.Als anwalt Bernd Schneider (für Eckardt, der Das Mandat rentierte sich offenbar man diese entdeckte, waren sie längst leer. zwei Jahre sechs Monate wegen Beihilfe nicht. Außerdem sei Graf ein schwieriger Vor Gericht gestand Hippenstiel, etwa 16 erhielt) sie nannte, „verdunkelnde Kum- Mandant gewesen, der am liebsten „mit Millionen Mark Steuern hinterzogen zu panei“ der im kommerziellen Sportbereich dem Kopf durch die Wand“ wollte : „Ins- haben. 1993 wurde ihm ein Drittel der ver- erfahrenen Sponsoren herausgearbeitet, besondere bei Emporkömmlingen ist es hängten Freiheitsstrafe von sechseinhalb deren Risiken die Angeklagten offensicht- schwierig. Denn deren Einsichtsfähigkeit, Jahren wegen „tadelloser Führung“ erlas- lich nicht erkannten.Verteidiger Franz Sal- Steuern bezahlen zu müssen, wenn man sen. 90 Millionen aber, hinter denen man ditt (für Graf) wählte dafür ein anschauli- mit eigener Kraft nach oben kam, die ist her war, blieben verschwunden. ches Bild: zwei mutige erwartungsvolle immer beschränkt.“ Die Strafanträge der Anklage – sechs Amateurwanderer, verführt zur Kletter- Schneider kritisierte diese „despektier- Jahre neun Monate für Graf und vier Jah- partie in der „Eigernordwand der Steuer- liche und illoyale Beschreibung eines ehe- re neun Monate für Eckardt – waren über- ersparnis“, denen von Bergführern wei- maligen Mandanten“. Zehn Jahre nach der zogen. Die Staatsanwaltschaft, deren tergeholfen wurde bis auf die Eisfelder, bis Begegnung mit Graf zeigte sie noch das

der spiegel 5/1997 75 Deutschland „ungewöhnliche Maß an Verachtung“, das Verteidiger Schneider warf in seinem Salditt in seiner Einschätzung, daß im Graf zu Beginn der Weltkarriere seiner Schlußwort auch die Frage auf, ob nicht Herbst 1991 bereits die Einleitung eines Tochter entgegenschlug. Auch das gehöre zwischen der Kanzlei Flick/Schaumburg Steuerstrafverfahrens gegen Graf geboten zu Grafs Biographie. und Sponsoren wie Adidas etwa Informa- gewesen wäre. Dann hätte es nicht Flicks Sozius Schaumburg („Das inter- tionen ausgetauscht und Absprachen ge- Schaumburgs „Verständigung“ gegeben nationale Steuerrecht ist wohl die schwie- troffen wurden bezüglich der Angaben ge- mit ihren Folgen, und alle Sponsoren rigste Materie in unserem Steuerrecht genüber den Finanzämtern, ohne daß mit wären kritisch unter die Lupe genommen überhaupt“), der 1992 Ordnung in das Graf oder Eckardt darüber diskutiert wur- worden. Der Seite Graf sei es schon ziem- Steuerchaos bringen sollte, klagte über de. Der Leiter der Steuerabteilung von lich leichtgemacht worden. Grafs Geheimniskrämerei, über sein ex- Adidas hatte vor Gericht angegeben, er er- Der psychiatrische Sachverständige tremes Mißtrauen, „auch mir gegenüber“. innere allenfalls eine „rein steuertheoreti- Michael Schmidt-Degenhardt hatte Graf Selbst wenn Verteidigung und Gericht sche Unterhaltung“ mit Schaumburg. für uneingeschränkt schuldfähig erklärt. nicht von einer Mitschuld Schaumburgs Das Mannheimer Gericht legte nach ei- Dennoch wirkte sich die Darstellung von sprachen, eine Mitverantwortung an dem ner Gesamtabwägung keinem der beiden Grafs Biographie und seiner Persönlich- Schlamassel, in dem Graf und Eckardt Angeklagten einen schweren Fall der Steu- keit strafmildernd aus: die in den Jahren schließlich untergingen, sahen sie wohl. erhinterziehung zur Last, trotz „erheblich 1989 bis 1994 zunehmende Überforde- Denn hatte nicht Schaumburg bei seinen krimineller Energie“ und, bei Graf, „gro- rungssituation, eine Selbstwertkrise, die Verhandlungen ziemlich leichthändig er- ben Eigennutzes in allen sieben Taten“. Affäre Thust/Meissner, die damit verbun- klärt, bei Grafs, da gebe es halt keine Un- Zugute kam ihnen, daß sie nicht vorbe- dene Pressejagd, der Konsum von Alko- terlagen, da herrsche so ein fürchterliches straft sind. Bei Graf müsse man die Le- hol und Medikamenten. „Insgesamt sind Chaos, daß Nachfragen ganz und gar bensleistung anerkennen, daß er seine nicht normale Maßstäbe bei Graf anzule- zwecklos seien, daß am besten hochge- Tochter zehn Jahre in der Tennis-Welt- gen“, so das Gericht. rechnet und geschätzt und irgendwie über spitze etabliert hat. „Steffi Graf ist eine Erheblich belastet habe Graf zudem die den Daumen gepeilt werden müßte? Vor gute Botschafterin für Deutschland“, sag- 15 Monate währende U-Haft. „Das hat ihn Gericht als Zeuge behauptete er, die Steu- te Richter Plass. Der Vater habe dazu einen als Prominenten besonders getroffen. Die erbehörden hätten überdies nie, nie von Beitrag geleistet, der von der Mehrheit der Häme ging so weit, daß die Grenzen der ihm verlangt, „alle Konten, alle Auszüge, Bevölkerung anerkannt werde. Menschenwürde erreicht wurden. Man alle Verträge, alle Bilanzen“ beizubringen. Für die Mitarbeiter der Finanzbehörden hatte zum Teil den Eindruck, er war zum An den Zeugen Schaumburg richtete gab Plass eine „gewisse Ehrenerklärung“ Abschuß freigegeben.“ der Vorsitzende die Frage: „Haben Sie mal ab. Es sei zwar nicht geschlampt worden, „Als ich das Verfahren übernahm“, nach umfassenden Informationen gefragt? auch ein zu rügendes Fehlverhalten sei merkte Richter Plass an, „hatte ich den Oder wollten Sie das gar nicht, vielleicht nicht festzustellen. Gleichwohl folgte das Horizont eines Zeitungslesers. Ich bin da- weil Sie sich mit nicht ganz legalen Dingen Gericht dem, auch wenn er Kritik äußer- von ausgegangen, daß Graf nicht unter sie- nicht befassen wollten?“ te, immer nobel agierenden Verteidiger ben Jahren davonkommen wird.“ ™ Ende 1994 gründete die Lübecker Staats- beachtet gebliebenen Kleinigkeiten: Die BARSCHEL-AFFÄRE anwaltschaft eine eigene „Ermittlungs- merkwürdigen Flecken auf einem Bade- gruppe Genf“. Die Arbeitshypothese in vorleger elektrisierten die Fahnder, und der größten politischen Kriminalaffäre der warum lag im Vorraum des Badezimmers Alles ist möglich deutschen Nachkriegsgeschichte lautete ein zerknautschtes Handtuch? fortan: Fremdverschulden, vulgo Mord. Generalstaatsanwalt Ostendorf beein- Bei der Justiz in Kiel gibt es Allen auch nur halbwegs möglichen drucken derlei Indizien nicht. „Wir gehen Krach um den Tod Uwe Barschels: Theorien gehen seitdem die Lübecker Be- das Risiko ein, daß wir einen Mörder su- amten mit deutscher Akribie nach. Dut- chen, ohne daß es ein Motiv gegeben hat“, Der Generalstaatsanwalt zende ehemaliger Stasi-Offiziere wurden erklärte er schon im Herbst 1995. will nun das Ermittlungsverfahren vernommen. Mitarbeiter von DDR-Waf- Zwischen Wille und Ostendorf, die endgültig begraben. fenfirmen kamen ins Visier, und auch Em- früher einmal in sozialdemokratischen bargo-Geschäfte der DDR wurden auf eine Arbeitsgemeinschaften nebeneinander- urz vor Feierabend, am vergange- mögliche Beteiligung Barschels durch- saßen und befreundet waren, ist der Gra- nen Mittwoch um 15.55 Uhr, mel- leuchtet. Ergebnis: Nach heutigem Stand ben immer tiefer geworden. Der Wunsch Kdete sich Heribert Ostendorf bei ei- gibt es keinen seriösen Hinweis auf eine der Lübecker, den früheren iranischen nem Untergebenen. Kühl und knapp teil- Verstrickung der Brüder aus dem Osten. Staatspräsidenten Abol Hassan Banisadr te der Schleswiger Generalstaatsanwalt In Scharen meldeten sich Tipgeber. In- nach Verwicklungen der Ajatollahs zu be- dem Chef der Lübecker Staatsanwalt- zwischen hat die Liste der möglichen Tä- fragen oder den deutschen Privatdetektiv schaft, Heinrich Wille, mit, daß dessen ter epidemische Ausmaße erreicht. Werner Mauss im kolumbianischen Ge- Behörde die Ermittlungen im Todesfall Aus Sorge, die Nadel im Heuhaufen fängnis nach seiner möglichen Verwick- Uwe Barschel abgeben müsse: „Wir über- nicht zu finden, gingen die Lübecker allem lung in den Fall Barschel, löste bei Osten- nehmen das.“ und jedem nach. Doch von mancher Theo- dorf Verärgerung aus. Anderntags unterrichtete Ostendorf ver- rie haben sich die Fahn- Genüßlich kolportieren Mit- traulich die innen- und rechtspolitischen der allerdings inzwischen arbeiter der Generalstaatsan- Sprecher des Kieler Parlaments. Die seit verabschiedet. Die These waltschaft, daß die Lübecker so- gut zwei Jahren dauernden Ermittlungen etwa, Barschel sei mit ei- gar den ehemaligen Bundesin- der Lübecker hätten, so seine Begründung, ner Sonde tödlicher Stoff nenminister Friedrich Zimmer- „keine konkreten Spuren ergeben“. Es sei zugeführt worden, ist in- mann (CSU) befragen wollten, auch nichts Aufregendes mehr zu erwar- zwischen Makulatur. „Zu weil der jüngst im Fernsehen ten, „nur Nebel“. Seine Behörde werde banal“, sagt Wille. einen Mordverdacht geäußert den Fall in etwa drei Monaten erledigen. Eins steht für die Ermitt- hatte. Das Material sei „dicht“, Den neuen Sachbearbeiter, einen Ober- lungsgruppe Genf fast un- hatte Zimmermann orakelt. staatsanwalt, hatte er gleich mitgebracht. umstößlich fest: daß es sich Zur Klimaverbesserung trug

Der Kieler Justiz-Staatssekretär Wulf um einen raffiniert getarn- PRESS ACTION auch nicht bei, daß sich al- Jöhnk, ein ehemaliger Richter: die Ent- ten Mord handelt. Die Er- Barschel (1987) lenthalben Vertreter wichtiger scheidung sei „fachlich in Ord- Behörden über die ruppige nung“. Das Ministerium mische Gangart der Wille-Truppe be- sich nicht ein. „Den politischen schwerten, etwa als die Lübecker Sturm“, versprach Jöhnk, „hal- die Berliner Gauck-Behörde ten wir aus.“ nach Barschel-Material durch- Von wegen.Was da im Saal 138 suchten. des Kieler Landtags besprochen Als Wille in einer „Report“- wurde, war bester Stoff für eine Sendung einmal mehr den Bun- Politaffäre. Ministerpräsidentin desnachrichtendienst kritisierte Heide Simonis wurde daheim in und erklärte, daß „zu gegebener Bordesholm alarmiert, und aus Zeit noch einmal“ kritisch zu Bonn eilte Kiels Justizminister prüfen sei, ob der BND die Gerd Walter (SPD) zu einer Kri- Behörden im Fall Barschel aus- sensitzung herbei. reichend unterstützt habe, wur- Vieles hat es in dem Verfahren de Ostendorf von BND-Chef um den Tod des Ex-Ministerprä- Hans-Jörg Geiger gebeten, „si- sidenten Barschel mit dem alten cherzustellen, daß derartige un- Aktenzeichen 705 Js 33247/87 substantiierte Vorwürfe nicht schon gegeben. Aber ein sozial- wiederholt werden“. Eine demokratischer Generalstaatsan- Durchschrift seiner Beschwerde walt, der einfach mal so diesen schickte er ans Kanzleramt. heiklen Fall beenden wollte, hat- Während die Lübecker schon te noch gefehlt. die Akten sortierten, um den Fall Dabei wuchern schon genug Barschel abzugeben, bremste Ju-

Mythen und Verschwörungs- K. HAMANN / DIAGONAL stizminister Walter Ende letzter theorien über das Ende des Staatsanwalt Wille: Mythen und Geraune Woche seinen Generalstaatsan- CDU-Politikers.Vor knapp neun- walt aus. einhalb Jahren, am 11. Oktober 1987, wur- mittler verweisen auf wissenschaftliche In zwei Monaten soll Ostendorf jetzt de Uwe Barschel tot in einer Badewanne Gutachten. Zwei Untersuchungen sind einen Bericht über den Fall Barschel vor- des Genfer Hotels Beau-Rivage gefunden. noch unveröffentlicht, sollen aber bald prä- legen. Danach soll entschieden werden, Die lässig ermittelnden Schweizer sentiert werden. Doch alle Expertisen sind ob und wie und mit wem es dann weiter- Behörden attestierten Selbstmord, aber all umstritten. In Lübeck wurde schon ein Run- geht. die Jahre gingen die Spekulationen und der Tisch für Wissenschaftler vorbereitet. Eine Prognose über das endgültige Ende das Geraune um einen gewaltsamen Tod Ein sorgfältig ausgetüftelter Tatortfund- der Barschel-Affäre ist riskant: Im Fall 705 des Uwe Barschel weiter. bericht liegt vor – mit neuen, früher un- Js 33247/87 scheint alles möglich. ™

der spiegel 5/1997 77 junge welt von Mitte Dezember, vorerst letztes Lebenszeichen der RAF-Anführer, heißt es: „Das RAF-Konzept ist überholt“, eine „modifizierte Neuauflage des Alten“ könne es nicht geben. So sehen es offenbar auch die Mitglieder der KGT. Zwar erklärten die Vertreter von BKA, Verfassungsschutz und Bundesan- waltschaft auf ihrer jüngsten Sitzung am 9. Januar, sie rechneten auch in Zukunft „mit objektbezogenen Anschlägen“. Andere KGT-Experten wollten solche Terrorakte zumindest „nicht ausschließen“. Aber alle waren sich einig, daß „An- schläge gegen Personen“ künftig „un- wahrscheinlich“ seien. Heimlich haben die Behörden stark gefährdeten Wirtschafts- führern Entwarnung signalisiert und auf-

SPIEGEL TV wendige Sicherheitsmaßnahmen gelockert. RAF-Aussteiger Seidler: Watschen für die Bundesanwaltschaft Die Bayern gingen beim Treffen in Meckenheim sogar noch einen entschei- denden Schritt weiter. Ein Beamter des TERRORISMUS Münchner Landeskriminalamtes erklärte lapidar: Die RAF sei „als terroristisch han- delnde funktionsfähige Gruppierung nicht „Die RAF existiert nicht mehr“ mehr existent“. Öffentlich tun sich die Staatsschützer al- Experten der Sicherheitsbehörden sind sich weitgehend einig: ler Couleur mit dem Abgesang auf die RAF noch schwer, doch die meisten denken Die Rote Armee Fraktion, seit den siebziger Jahren längst wie die Bayern: Die RAF ist tot. Staatsfeind Nr. 1, ist nicht länger eine Gefahr für die Republik. Und die Mörder haben gute Chancen, ungeschoren davonzukommen. Nur durch m großen Sitzungssaal des Bundeskri- annähernd aufgeklärt – ausgenommen der Aussteiger, so die Einschätzung von Staats- minalamtes (BKA) zu Meckenheim, ei- Bombenanschlag auf die Frankfurter U. S. schützern, bestehe die Möglichkeit, zu- Iner Stadt westlich von Bonn, versam- Air Base (2 Tote, 23 Verletzte). Ungeklärt mindest einige der Taten aufzuklären. melt sich regelmäßig die Creme deutscher sind die RAF-Morde an „Sie wissen nicht viel über uns. Sie ha- Staatsschützer. Hier tagt, gegen Lauscher π Ernst Zimmermann, Chef des Rüstungs- ben noch nie wirklich durchgeblickt, wie gut geschützt, die „Koordinierungsgruppe unternehmens MTU, am 1. Februar 1985; unsere Strukturen aussehen oder wer in Terrorismusbekämpfung“ (KGT). π Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts der RAF organisiert ist“, höhnten die Ver- Die KGT, im Mai 1991 nach dem und dessen Fahrer Eckhard Groppler am bliebenen der Roten-Armee-Fraktion im Mordanschlag auf Treuhandchef Detlev 9. Juli 1986; vergangenen Jahr. Analytiker der Verfas- Karsten Rohwedder gegründet, gilt als π Gerold von Braunmühl, Beamter im sungsschutzbehörden prüfen, ob die soge- Denkfabrik im Kampf gegen die Rote Ar- Auswärtigen Amt, am 10. Oktober 1986; nannte Kommandoebene schon vor mehr mee Fraktion (RAF), lange Jahre Staats- π Alfred Herrhausen, Deutsche-Bank-Vor- als einem Jahrzehnt falsche Fährten legte. feind Nr. 1 der Republik. Ihre diskrete Ar- standssprecher, am 30. November 1989; Das gezielte Abtauchen von erkannten beit soll helfen, der „andauernden terrori- π Treuhandchef Detlev Karsten Rohwed- Sympathisanten ins Ausland sei womög- stischen Bedrohung“ Herr zu werden. der am 1. April 1991. lich der Versuch gewesen, die Staatsschüt- Doch gebracht hat der Aufwand an In- Jetzt muß die KGT-Truppe möglicher- zer in die Irre zu führen. Prompt wurden telligenz bislang fast nichts. Zwar gehören weise Konkurs anmelden, ihr Hauptfeind sie zur Fahndung ausgeschrieben und in- der KGT hochrangige Polizisten, Geheim- scheint endgültig abhanden gekommen. ternational gesucht. dienstler und Staatsanwälte an. Aber kei- Seit fast sechs Jahren hat die RAF kei- Hunderte Fahnder in Bund und Ländern nes der tödlichen Verbrechen seit 1985, zu nen todbringenden Anschlag mehr verübt. beschäftigen sich bis heute mit der RAF. denen sich die RAF bekannte, ist auch nur In einem Brief an die Berliner Zeitung Dutzende Analytiker sezieren jede der sel-

RAF-Opfer, ungeklärte RAF-Anschläge: Heimliche Entwarnung für gefährdete Wirtschaftsführer M. WIENHÖFER DPA DPA Zimmermann 1985 Beckurts 1986 Von Braunmühl 1986

78 der spiegel 5/1997 Deutschland ten gewordenen Erklärungen. Irritation löst will, gehört Seidler schnell zu den Ver- suchten Andrea Klump, mit ihm selbst so- schon aus, daß neuerdings korrekte Groß- dächtigen. wie zwei weiteren Männern das Attentat und Kleinschreibung benutzt wird. Das sei Am 11. Juli 1991 meldet sich zudem bei ei- auf Herrhausen organisiert zu haben. „lange Zeit unüblich“ gewesen, schrieben nem Beamten des hessischen Landesamts Zu diesem Zeitpunkt war längst be- Düsseldorfer Verfassungsschützer. Eine sol- für Verfassungsschutz ein gewisser Sigfried kannt, daß Nonne depressiv war, laut che Schreibweise sei „zuletzt im August Nonne: Er habe „etwas Wichtiges mitzu- psychiatrischer Diagnose „schwerwiegend 1985 verwendet worden“. teilen“ und müsse „unbedingt“ mit ihm re- neurotisch fehlentwickelt“ und polytoxi- Formulierungen wie „staatliche Organe den. Der Verfassungsschützer kennt ihn seit koman – er soff und nahm Drogen. der BRD“ führten zu hitzigen Debatten, ob vielen Jahren; sein Informant hat den Deck- Der Fall Herrhausen hatte alle elektri- ein Ostdeutscher sich der RAF ange- namen „Polka“. Beide treffen sich tags dar- siert, bis hoch zum Generalbundesanwalt. schlossen habe. Eine Erklärung aus dem auf. Der Beamte über die Begegnung: Das Papier über den angeblichen Spitzel- vergangenen Jahr, analysierten nordrhein- mord geriet in einen Aktenordner, der so- Nonne sagte, er habe Riesenprobleme, mit westfälische Staatsschützer, „könnte von dann als „geheim“ gestempelt wurde. denen er nicht klarkomme. Er sei über ein einer kleinen Restgruppe... oder gar nur Trotz aller Merkwürdigkeiten blieb von einem einzelnen Mitglied stammen“. Nonne für die Behörde ein glaubwürdiger „Vielleicht“, spottet ein leitender Verfas- Zeuge. Gutachter attestierten ihm, er sage sungsschützer, „haben wir es nur noch mit im Fall Herrhausen wohl die Wahrheit. Ob- einem Lordsiegelbewahrer zu tun.“ schon Nonne später zunächst sein Ge- Am 16. Januar, eine Woche nach der ständnis, dann auch den Widerruf wider- Meckenheimer Sitzung, fällte der 3. Straf- rief, hielt Generalbundesanwalt Kay Nehm senat des Bundesgerichtshofes (BGH) eine an seinem Zeugen fest. Noch im November Entscheidung, die in der Bekämpfung des 1995, als im Bonner Rechtsausschuß Sinn Terrorismus ohne Beispiel ist: Die Richter und Zweck der Kronzeugenregelung dis- beschlossen, einen lange gesuchten angeb- kutiert wurde, lobte Nehm, Nonne habe lichen RAF-Anführer auf freiem Fuß zu „zur Aufklärung“ des Herrhausen-Atten- belassen – Christoph Seidler, 39. Er wird tats „wesentlich beigetragen“. beschuldigt, den Bankchef Alfred Herr- Der BGH-Senat hat diese Version jetzt hausen getötet zu haben. verworfen: „Objektive Anhaltspunkte“ für

Damit bestätigte der BGH nicht nur den M. WEBER W. Seidlers Beteiligung am Herrhausen-Mord Ermittlungsrichter, der den Haftbefehl ge- Generalbundesanwalt Nehm „fehlten“.Vor allem aber zerpflückten die gen Seidler vor zwei Monaten aufgehoben Eloge auf den Zeugen Nonne Richter den Zeugen der Anklage, Sigfried hatte. Er watschte auch die Bundesan- Nonne. Jahr in psychiatrischer Behandlung gewe- waltschaft ab, die das Ermittlungsverfahren Die Bundesanwaltschaft, kritisierten sie, sen; jetzt spüre er aber, daß sich sein Zu- im Mordfall Herrhausen führt. hätte prüfen müssen, ob ein „Spitzel- stand wieder verschlechtere. Es kam dann Gegen Seidler, der sich im November mord“, wie von Nonne behauptet, „über- heraus, daß Anfang der achtziger Jahre 1996 gestellt hatte, bestehe zur Zeit im haupt stattgefunden“ habe. Dies hätte ei- ein Spitzel in einer Gruppe aus RAF-Un- Fall Herrhausen „kein dringender Tatver- gentlich im Rahmen eines Ermittlungsver- terstützerkreisen absichtlich zu Tode ge- dacht“, befand der Senat. Das gleiche gel- fahrens geschehen müssen. bracht worden sei. te für den Vorwurf der Mitgliedschaft in ei- Die „Bewertung dieses von dem Zeugen ner „terroristischen Vereinigung“. Der Zeuge behauptete, Seidler habe je- Nonne zeitgleich“ mit den Beschuldigun- Der Arztsohn Seidler, ein engagierter nen Verräter, den Nonne erst „Peter gen zum Herrhausen-Mord „geschilderten Autonomer, war im September 1984 in die Schulz“, dann „Peter Weber“ nannte, um- Geschehens“ sei, so der BGH weiter, „für Illegalität abgetaucht. Aus Angst vor Ver- gebracht – mit einem Auto. Er sei „ge- die Überprüfung der Glaubwürdigkeit des folgung, wie er heute sagt. Spurlos ging er schockt“ gewesen und habe gewußt, „was Zeugen Nonne und der Zuverlässigkeit sei- nicht. Im September 1985 entdeckten es auch für mich“, den V-Mann des Ver- ner sonstigen Angaben unverzichtbar“. Fahnder in einer konspirativen Wohnung fassungsschutzes, „bedeuten könnte“. Der Senat argwöhnte, Nonne habe den der RAF eine Tageszeitung mit Seidlers Pflichtgemäß versuchte der hessische Vorfall möglicherweise erfunden, um Seid- Fingerabdruck. Die Tatbestände reichten, Beamte, den Spitzelmord zu verifizieren. ler „bewußt wahrheitswidrig zu belasten“. um ihn im Terroristenraster zu erfassen. Er blätterte in Zeitungsbänden des Jahres Ob Generalbundesanwalt Nehm trotz Im November 1989 stirbt Alfred Herr- 1981, fand aber nichts. der heftigen BGH-Schelte Anklage gegen hausen, Chef der Deutschen Bank und Als er Nonne sechs Tage später wieder Seidler erhebt, war Ende vergangener Wo- Freund von Bundeskanzler Helmut Kohl, traf und ihm auf den Kopf zusagte, die che ungewiß. durch einen Sprengstoffanschlag; sein Story könne nicht stimmen, zog der sofort Seidlers Verteidiger Michael Moos for- Fahrer wird schwer verletzt.Weil ein Zeu- andere Register. Nun beschuldigte er Seid- derte unterdessen die Einstellung des Ver- ge ihn auf einem Foto erkannt haben ler, zusammen mit der immer noch ge- fahrens. ™ W. SCHEIBLE / FORMAT W. PRESS ACTION Herrhausen 1989 Rohwedder 1991

der spiegel 5/1997 79 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

DAIMLER-BENZ waltungskosten um 30 Prozent senken. So legt er beispielsweise die Geschäftsbereiche Hubschrauber und Verkehrsflugzeuge zu- Schrempp will Kulturschock sammen.Wie viele Arbeitsplätze wegratio- nalisiert werden, wollte er nicht verraten. ittere Einsichten vermittelte Daimler- Internen Planungen zufolge verlieren von BBenz-Chef Jürgen Schrempp den den rund 1500 Managern mindestens 500 Führungskräften des Konzerns, die er am ihren Job. Bei den Töchtern Dasa und De- vergangenen Freitag in Ludwigsburg ver- bis, verriet Schrempp vor den Spitzenma- sammelt hatte. „Wir arbeiten umständlich, nagern, „werden die Stäbe der Zentrale zeitraubend und bürokratisch“, sagte deutlich reduziert“.Aber auch in der Daim- Schrempp und hielt es mit einer Erkenntnis ler-Zentrale in Stuttgart-Möhringen sind des einstigen Chrysler-Chefs Lee Iacocca, Stellen bedroht. „Wir brauchen einen Kul- wonach zuerst 1000 Manager eingestellt turschock“, postulierte der Konzernchef wurden, um Papiere zu erstellen, und dann in dem Führungskräfte-Meeting und warb nochmals 1000, um diese Papiere zu lesen. um Verständnis: „Wir haben vielen Mit- Diese Situation, so der Daimler-Vorsitzen- arbeitern am Band große Opfer zugemutet,

de, sei „gar nicht so weit entfernt von der K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL jetzt müssen wir auch an uns strenge Maß- Realität bei uns“. Schrempp will die Ver- Schrempp stäbe anlegen.“

KONZERNE VIDEOSPIELE Affäre um López-Mann Run auf den neuen „Super Mario“ ie Bestechungsaffäre im VW-Konzern ach dem sensationellen Start seiner neuen Spielkonsole in Japan und den USA Dweitet sich aus. Die ABB-Tochter Fle- Nrechnet der Videospielehersteller Nintendo auch in Deutschland mit einem Run auf xible Automation mußte zehn Millionen das System N 64 und die neue Version von „Super Mario“. Davon würden „dramatische Mark Schmiergeld zahlen, um den Auftrag Impulse“ für den Spielwarenmarkt ausgehen, meint Nintendo-Manager Wolf Salzer zu zum Bau einer Lackiererei bei der VW- dem am 1. März beginnenden Verkauf. Bis Mitte Januar haben die Händler bereits mehr Tochter koda zu erhalten. In den Fall soll als 300000 Konsolen geordert. Insgesamt will Nintendo in diesem Jahr gut eine halbe Mil- der engste Vertraute des ehemaligen Volks- lion Geräte absetzen; bei einem Stückpreis von knapp 500 Mark wären das rund fünf Pro- wagen-Einkaufschefs José Ignacio López zent vom Umsatz des deutschen Spielwarenhandels. Der Konzern startete eine einzig- verwickelt sein: Die VW-Revision prüft, ob artige Vorverkaufsaktion: Gegen Zahlung von 64 Mark erhalten die Käufer schon jetzt Einkaufsmanager José Manuel Gutierrez eine „Besitzurkunde“. In Amerika war die Konsole nach drei Tagen ausverkauft. bei den Verhandlungen mit ABB auf Zahlung von Bestechungsgeld bestand. Gutierrez war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Der Spanier, der einst zu- sammen mit López von General Motors zu VW gewechselt war, ist zudem von der Staatsanwaltschaft Darmstadt wegen des Verdachts der Industriespionage ange- klagt. In der Schmiergeldaffäre hatte ABB Volkswagen Dokumente zur Verfügung gestellt, die Einzelheiten enthüllen sollen. VW-Chef Ferdinand Piëch ließ durch seine Revision jedoch nur ABB auffordern, Straf- anzeige zu stellen.ABB-Manager wundern sich, daß VW als geschädigtes Unter- nehmen noch keine Anzeige erstattet hat.

ABB hatte den Fall bereits am 20. Januar AP der Staatsanwaltschaft Zürich übergeben. Protest der Kali-Arbeiter in Bischofferode Die nahm die Ermittlungen nach der ABB-Anzeige sofort auf. BERGBAU erst mal verhindert hat. Nun will die BASF eine Sondererlaubnis des Wirtschaftsmini- Aus für Kali und Salz? steriums. Vorvergangenen Freitag waren BASF-Manager deshalb im Bundeskanz- em deutschen Kali-Bergbau droht das leramt vorstellig geworden. Fachleute er- DEnde. Der Chemiekonzern BASF ist warten aber, daß trotz des PCS-Einstiegs offenbar nicht mehr bereit, seine defizitä- der deutsche Kali-Bergbau mit seinen 8000 re Tochterfirma Kali und Salz (K+S) allein Arbeitsplätzen in Gefahr ist. Die Kanadier weiterzuführen. „Die Situation von K+S können Kali so günstig fördern, daß sie im- ist völlig offen“, heißt es bei der BASF, mer billiger sind als K+S. Noch 1993 hatte „das Unternehmen befindet sich in einer BASF die Mitteldeutsche Kali AG von der nicht unkritischen Situation.“ Der Che- Treuhand mit dem Argument übernom- mieriese strebt nach wie vor den Verkauf men, damit 3500 Jobs zu sichern. Gegen von K+S an den kanadischen Kali-Welt- den Deal protestierten damals Kali-Arbei-

BONN-SEQUENZ marktführer Potash Corp. of Saskatchewan ter in Bischofferode, deren Bergwerk in ei- Piëch (PCS) an, den jedoch das Bundeskartellamt nen Gewerbepark umgewandelt wurde.

der spiegel 5/1997 81 T. RAUTERT / VISUM RAUTERT T. Devisenhändler in Frankfurt: Florierende Spekulation auf eine europäische Weichwährungsunion

WÄHRUNG Auslaufmodell D-Mark Der Dollar steigt und steigt, die Mark verliert in atemberaubendem Tempo an Wert: Viele Anleger schichten aus Angst vor dem Euro ihr Kapital um. Das führt zu Turbulenzen auf den Devisenmärkten – doch die Industrie profitiert.

ilhelm Hankel hat es kommen se- Glanz verblaßt“, schreibt die zeit. „Wann Währung auf die Sprünge halfen. Mehr- hen. Seit Jahren warnt der Frank- kommt der Fahrstuhl zum Halten?“ fragt fach äußerte der Notenbanker in den letz- Wfurter Ökonom vor der Euro- Ökonom Hankel. ten Wochen des vergangenen Jahres seinen päischen Währungsunion. Eine massive So eindeutig sehen das nicht alle Ex- Wunsch nach einem „etwas stärkeren Kapitalflucht, so Hankel, sei dann un- perten. Lange Zeit galt die Mark als über- Dollar“. ausweichlich. bewertet – mit fatalen Folgen für den deut- Ausländische Beobachter zeigten sich Jetzt scheint sie zu beginnen. Zwei Jah- schen Export. Selbst jetzt ist der Dollar, an verblüfft. „Normalerweise entspricht es re vor der geplanten Einführung des Ein- der Kaufkraft gemessen, mehr wert, als er nicht der Art deutscher Zentralbanker, daß heitsgeldes am 1. Januar 1999 hat die Mark an den Devisenmärkten kostet. sie die D-Mark herunterreden“, wunderte zum Tiefflug angesetzt. Was den Währungshütern Sorge macht, sich das wall street journal. Während der Dollar weltweit an Glanz ist die Geschwindigkeit der Entwicklung. Thomas Mayer, Chefökonom der US- gewinnt, geraten die europäischen Wäh- „So kann das nicht weitergehen“, sagt Investmentbank Goldman Sachs in Frank- rungen in zunehmend heftigere Turbulen- Ernst Welteke. Der Chef der hessischen furt, beobachtet einen grundlegenden zen. Für den Maastricht-Kritiker Hankel Landeszentralbank wartet auf eine Ge- Wandel in der Haltung der deutschen ist das ein „Menetekel“, für die deutsche genreaktion an den Finanzmärkten. Währungshüter. Die Bundesbank nehme Industrie ein Segen. Eingreifen können die Bundesbanker inzwischen Rücksicht auf die europäischen Seit Jahresbeginn verliert das deutsche nicht. Die flaue Konjunktur verbietet es Partnerländer. Geld in atemberaubendem Tempo an Wert, ihnen derzeit, die Zinsen hochzusetzen. So sei die letzte Zinssenkung für Wert- gegenüber dem Dollar beträgt der Verlust Zudem gehörte Bundesbank-Chef Hans papierpensionsgeschäfte im August 1996 in knapp vier Wochen über fünf Prozent. Tietmeyer selbst zu denen, die der US- eindeutig eine „politische Entscheidung“ Am Mittwoch vergangener Woche stieg der Greenback auf 1,64 Mark, den höch- Wie sich die europäischen Währungen gegenüber der Mark entwickelt haben... sten Stand seit 31 Monaten. 1,40 1,05 Schwächer wurde die sonst stets so har- SCHWEIZER FRANKEN 1000 ITALIENISCHE LIRE te Mark auch gegenüber dem britischen Mark Mark Pfund. Vergangene Woche wurde es zeit- 1,30 1,00 weilig mit mehr als 2,70 Mark gehandelt. In nur zwölf Monaten gewann das Pfund da- 1,20 0,95 mit 20 Prozent an Wert. Mittlerweile steht sogar die italienische Lira, traditionell eine Schwachwährung, 1,10 0,90 vergleichsweise gut da.Am Mittwoch senk- te die Zentralbank in Rom den Diskontsatz 1,00 0,85 – dennoch legte die ohnehin schon kräftig aufgewertete Lira an den Devisenmärkten am selben Tag nochmals zu. 0,90 0,80 Geht es nun, zu ihrem 50. Geburtstag, mit der D-Mark bergab? „Der einstige 1995 1996 1997 1995 1996 1997

82 der spiegel 5/1997 Wirtschaft gewesen. Kurz zuvor war in Frankreich die erste Wahl der Investoren. Euro-Skepti- Kritik an der Bundesbank aufgeflammt. kern gilt es als „sicherer Hafen“. Die Bri- Sogar Staatspräsident Jacques Chirac hat- ten müssen nicht bei der Währungsunion te niedrigere Zinsen zur Belebung der mitmachen, und sie werden es wohl auch Konjunktur und zum Abbau der Arbeits- nicht. Ihre Währung wird zunehmend zur losigkeit gefordert. Fluchtburg. Erstmals seit langer Zeit kommen die Wirtschaftliche Entwicklungen verstär- heimischen Unternehmen auf zahlreichen ken diesen Trend. Während in Deutsch- ausländischen Märkten in den Genuß von land die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt, Abwertungsvorteilen. Besonders profitie- ist sie in Großbritannien gesunken und ren werden davon der Maschinenbau, die liegt heute mit 7,6 Prozent deutlich unter Großchemie und die Automobilwirtschaft. dem europäischen Durchschnitt. Bei in- Für Daimler-Benz etwa bedeutet ein An- ternationalen Investoren, die neue Fabri- stieg des Dollarkurses um zehn Pfennig ken bauen oder Firmen kaufen, ist die In- grob gerechnet ein Ertragsplus von 800 sel seit Jahren beliebt. Deutschland wird Millionen Mark. dagegen gemieden. Bislang schätzten Bankanalysten den Anders als das Pfund konnte der

Gewinnanstieg der deutschen Unterneh- H. CLAUS / VISUM Schweizer Franken bislang nicht von der men im laufenden Jahr schon auf 20 Pro- Bundesbank-Chef Tietmeyer Euro-Angst profitieren. Die wirtschaftli- zent, jetzt dürfte es noch mehr werden. Dem Dollar auf die Sprünge geholfen chen Aussichten der Alpenrepublik sind „Wir müssen noch mal neu rechnen“, sagt eher trist, mickrige Zinsen machen den Wolfgang Sawazki von der WestLB. aller Welt haben den Gegenwert von schät- eidgenössischen Kapitalmarkt zusätzlich Mit einer baldigen Trendwende an den zungsweise einer Billion Mark in Vermö- unattraktiv. Devisenmärkten ist nicht zu rechnen. Daß gensanlagen geparkt, die auf D-Mark lau- Je näher die Europäische Währungs- der Dollar ähnlich wie vor knapp zwei Jah- ten. Aber wie lange noch? union rückt, desto stärker werden ihre Aus- ren zeitweilig bis auf 1,35 Mark absinken Nach den EU-Gipfeln von Florenz und wirkungen auf die internationale Wert- könnte, halten Ökonomen für ausge- Dublin glaubt die große Mehrheit der Ak- schätzung der Mark sein. Weitere Turbu- schlossen. teure an den globalen Finanzmärkten fest lenzen sind damit programmiert. „Er ist jetzt da, wo er hingehört“, sagt daran, daß das europäische Einheitsgeld „Noch schweigen die Lämmer“, meint Holger Schmieding, Frankfurter Chef- von 1999 an die Mark ersetzen wird – und Manfred Kunert, Generalbevollmächtigter volkswirt von Merrill Lynch. Einen Anstieg viele haben frühzeitig begonnen, nach al- der DG Bank, und prognostiziert für auf 1,70 Mark hält er für denkbar. ternativen Parkmöglichkeiten für ihr D- das laufende Jahr noch größere Wechsel- Die Fundamentaldaten sprechen für den Mark-Kapital zu suchen. kursschwankungen als bisher: „Es ist Dollar. Die US-Wirtschaft wächst seit fast „Da wird umgeschichtet“, sagt Rolf- schlichtweg undenkbar und erwiesener- sechs Jahren und ist heute in einem weit- Ernst Breuer, der designierte Vorstands- maßen unmöglich, die Märkte langfristig aus besseren Zustand als die deutsche. sprecher der Deutschen Bank. Neben dem ruhigzustellen, schon gar nicht, wenn Mit 5,3 Prozent ist die Arbeitslosenquo- Dollar ist derzeit das britische Pfund die ein Jahrhundertereignis wie die Euro- te gerade halb so hoch wie hierzulande. Zudem werfen Dollar-Anlagen deutlich 1,65 höhere Zinsen ab. ...und wie der amerikanische Hinzu kommt: Die geplante Einführung des Euro drückt nachhaltig auf den Außen- Dollar gegenüber der Mark Kurs am 24. Januar: wert der Mark. Das ehrgeizige Vorhaben zugelegt hat 1,63 Mark macht das deutsche Geld zu einem Aus- 1,60 laufmodell – eine „Währung mit Verfalls- datum“ (handelsblatt). Die aktuelle Schwäche der Mark ist eine 12. Juni: erste „Vorauswirkung“ (Hankel) der Wäh- 1,54 Mark rungsunion – die führt zu einer Umvertei- 1,55 lung des weltweiten Sparkapitals. Bislang war das deutsche Geld nach dem Dollar die international wichtigste Reser- vewährung. Notenbanken und Sparer in 24. August: 1,50 1,49 Mark Quelle: Datastream, Wochenkurse 2,70 Mark BRITISCHES PFUND 2,60 31. Juli: 1,45 1,47 Mark 2,50

2,40 1,40 2,30 19. Juli: unter 2,20 1,39 Mark

1995 1996 1997 1995 1996 1997

der spiegel 5/1997 83 Wirtschaft päische Wirtschafts- und Währungsunion vor der Türe steht.“ Derzeit glauben die Verwalter der großen Vermögen ganz offenkundig an Nie damit abgefunden eine große Währungsunion. Ihr Kalkül: Die Politiker werden alles tun, um den in Maas- tricht vereinbarten Starttermin am 1. Ja- Wer wird Chef der künftigen Europäischen Zentralbank? nuar 1999 einzuhalten. Die Entscheidung scheint gefallen, doch die Franzosen berufen Da es wohl selbst Deutschland und sich auf eine angebliche Zusage der Deutschen. Frankreich kaum schaffen werden, die Konvergenzkriterien genau zu erfüllen, at Helmut Kohl nun – oder hat Seite zu stellen, von Bundesbankpräsi- müßten diese weit ausgelegt werden. er nicht – seinem Pariser dent Hans Tietmeyer als erneuter An- Je mehr sich abzeichnet, daß selbst Mu- HFreund Jacques Chirac ver- griff auf die Unabhängigkeit der EZB sterschüler Deutschland bei einer stren- sprochen, der erste Präsident der Eu- gewertet wird. „Etwaige Versuche, eine gen Aufnahmeprüfung durchfallen würde, ropäischen Zentralbank (EZB) werde ‚pouvoir politique‘ zu schaffen“, so der desto höher wird die Wahrscheinlichkeit ein Franzose sein? Bundesbankchef vorsorglich, „welche eines großen Teilnehmerkreises. „Jeder, Wenn er hat, dann weiß es außer ihm die ‚pouvoir monétaire‘ kontrollieren der will, schlüpft in die Währungsunion“, nur Chirac. Seine Minister für Auswär- oder beeinflussen soll, würden dem prognostiziert die süddeutsche zeitung. tiges, Finanzen und Wirtschaft schwö- Vertrag nicht entsprechen.“ Die Spekulation auf eine europäische ren jedenfalls unisono, eine solche Ab- Damit allerdings ist Tietmeyer – wie- Weichwährungsunion floriert bereits kräf- sprache gebe es nicht; es könne sie auch der einmal – nicht nur den Franzosen tig. Ihre Grundlage: Wenn Länder wie Spa- gar nicht geben, weil der EZB-Präsi- allzu deutsch. Weder die Bundesbank nien und Portugal, möglicherweise sogar dent nach Artikel 109 EG-Vertrag Italien, dabeisein werden, dann ist eine An- einstimmig von den Regierungs- lage in den Währungen dieses „Club Med“ chefs jener Länder bestimmt heute hoch attraktiv. wird, die den Euro einführen. Südländische Staatsanleihen warfen bis- Tatsächlich ist es undenkbar, her stets höhere Zinsen ab als deutsche, daß etwa die Niederländer, die nach dem Umtausch in Euro müßte es aber fest damit rechnen, daß ihr überall gleiche Renditen geben. Aus den langjähriger Zentralbankchef hohen Zinsen werden dann gewaltige Kurs- Wim Duisenberg diesen Posten gewinne. erhält, einem Franzosen das Ja- Aus biederen Bonds sind dadurch heiße wort geben würden. Spekulationspapiere geworden.Wer zu Be- Aber wie kann dann Paul ginn des vergangenen Jahres für 100 000 Marchelli, immerhin Mitglied des Mark italienische Anleihen kaufte und sie Zentralbankrates der Französi- am Jahresende wieder abstieß, konnte ei- schen Nationalbank, behaupten, nen Gewinn von fast 40000 Mark einstrei- es gebe eine solche Zusage? chen – soviel verdienten nicht einmal die Duisenberg, der Mitte des Jah- Aktionäre an der von Rekord zu Rekord res bereits Präsident des Eu- eilenden Wall Street. ropäischen Währungsinstituts Massive Kapitalzuflüsse, wie sie Italien (EWS) in Frankfurt wird, dem und Spanien im vergangenen Jahr erleb- Vorläufer der Zentralbank, ten, sind die Folge dieser Spekulation. Die glaubt die Antwort zu kennen. spanische Notenbank wehrte sich bereits Mit ihrer Zustimmung zu einer mit Interventionen gegen den Geldstrom. nach deutschem Vorbild von der Während an den Finanzmärkten derzeit Politik unabhängigen EZB hät- eine regelrechte Euro-Euphorie herrscht, ten „die Franzosen schon 1991 bleibt die Mehrheit der Deutschen nach die Schlacht verloren“. Der Kan- wie vor skeptisch.

didat: „Aber sie haben sich da- PIEL / GAMMA STUDIO X P. Gäbe es in nächster Zeit eine Volksab- mit nie abgefunden.“ Künftiger EWS-Präsident Duisenberg stimmung über das Projekt, ermittelte das Für die Franzosen ist die Vor- „Die Franzosen haben verloren“ handelsblatt, dann würde das Einheits- stellung, einem Gremium von geld mit knapper Mehrheit abgelehnt. Technokraten die Geldpolitik ohne noch eine EZB sind um ihrer selbst wil- Die Mark-Schwäche trägt nicht dazu Kontrollmöglichkeit zu übertragen, im- len da, eine niedrige Inflationsrate ist bei, die Begeisterung der Deutschen für mer noch ein Greuel. „Die Techniker nur eines von mehreren Zielen der die Währungsunion zu steigern. der Europäischen Zentralbank sind Wirtschaftspolitik. „Unabhängigkeit Zunehmend hilflos wirken da die Ver- verpflichtet, auf dem monetären Feld der Zentralbank kann ja wohl nicht suche von Bonner Politikern, die Stim- die Entscheidungen des Europäischen auch noch bedeuten, daß jeder politi- mung im Lande umzudrehen. So nannte Rates auszuführen“, behauptete Chi- sche Einfluß auf die geldpolitischen Bundesaußenminister Klaus Kinkel die racs Vorgänger François Mitterrand Entscheidungen der Zentralbank ver- Mark eine „Dorf-Währung“, die Zukunft 1992 im Fernsehen, obwohl er den boten ist“, meint ein Bonner Kanzler- gehöre dem Euro. Maastrichter Vertrag schon unter- berater. Aber deshalb müsse ja nicht Die flapsige Bemerkung stieß bei Bun- schrieben hatte, in dem genau das Ge- gleich ein Franzose erster Zentral- desbank-Chef Tietmeyer hörbar auf Miß- genteil steht. bankpräsident werden. Derselbe: „Das fallen. Die Mark sei die „zweitwichtigste Kein Wunder, daß der Wunsch Chi- würde nur Mißtrauen schüren.“ Reserve- und Anlagewährung“ der Welt, racs, der EZB zumindest ein politisches Die Karten des Niederländers belehrte er den Außenminister. Als Dorf- Gremium, einen „Stabilitätsrat“, zur Duisenberg liegen nicht schlecht. Währung dürfe sie daher allenfalls der be- trachten, „dem die Welt ohnehin als ein Dorf erscheint“. ™

84 der spiegel 5/1997 OPTIKER Ende des Nulltarifs Die Gesundheitsreform macht den Optikern schwer zu schaffen, auch Branchenführer Fielmann.

it einer Kassenbrille auf der Nase kämpfte der Sachverständige der MPDS für Deutschlands Kurzsichti- ge. Was die Bundesregierung vorhabe, la- mentierte er, „beweist nur die soziale Po- larisierung“. Bei dem Hearing vor dem Gesundheits- ausschuß des Bundestags verwies der PDS- Experte auf die deprimierende Finanzlage der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und vieler Rentner. Der Zuschuß der Kran- kenkassen zum Brillengestell, forderte er, dürfe nicht gestrichen werden, es gehe „um

die Sicherung des Sozialstaats“. C. ENGEL / VISUM Vor allem ging es dem Mann, der im Preisdrücker Fielmann, Models: „Ein bißchen Spaß muß sein“ vergangenen Jahr vor den Gesundheitspo- litikern so bewegende Worte über die so- sucht. Deshalb schrieb Werner Saipt, ge- len) bietet als Einstiegsmodell die Brille zial Schwachen fand, ums Geschäft: Es war schäftsführender Gesellschafter der fami- für 20 Mark an, Fielmann geht auf 9,50 Günther Fielmann, 57, Europas größter ly optic, dem Karstadt-Chef Walter Deuss Mark herunter. Optiker. einen groben Brief. Weil er nicht mehr mit dem Nulltarif Der Ferrari-Fahrer, der für die Soziali- „Der Firma Fielmann haben wir schon werben darf, hat sich der Branchenführer sten als Sachverständiger auftrat, konnte immer einiges an Brutalität zugetraut“, be- ein juristisch trickreiches Nachfolgemodell die Politiker nicht überzeugen.Wie vorge- klagte sich Saipt, aber was jetzt auch Kar- des Nulltarifs ausgedacht, den „Komplett- sehen, strichen zu Jahresanfang die Kran- stadt mache, sei gegenüber den Mittel- preis“. Das ist „zufällig“, erläutert Fiel- kenkassen ihren Zuschuß – 20 Mark – für ständlern „ein Akt der Barbarei“. mann, „der Preis, den die Krankenkasse Brillengestelle. Es geht wieder rauh zu in der „Haßbran- zahlt“: ein billiges Gestell inklusive Ver- Mit dieser Kürzung im Beitragsentla- che“, wie Helmut Baur, Chef der Binder glasung. stungsgesetz von Gesundheitsminister Optic, seine prozeßfreudige Zunft nennt. „Der Wettbewerb wird noch härter“, Horst Seehofer sparen die Kassen jährlich Allein in den vergangenen beiden Wochen fürchtet Rudolf Lamers vom Zentralver- rund 300 Millionen Mark. Das ist ein har- wurde neun Optikern, darunter Karstadt, band der Augenoptiker. Fielmann hat an- ter Schlag für Fielmann, der in seinen gerichtlich untersagt, Brillenfassungen gra- gedroht, künftig auch in Städte mit weni- 394 Filialen etwas schärfer als andere tis abzugeben. ger als 30 000 Einwohner zu gehen.Als er- kalkuliert. In diesem Jahr wird nach Fielmanns stes hat er sich das Städtchen Cochem an Stolz verkündet der Branchenführer, Schätzung der Branchenumsatz um knapp der Mosel ausgeguckt. daß seine Brillen mit einem Durchschnitts- eine Milliarde Mark, rund 15 Prozent, sin- Dort nämlich verdient Manfred Müller, preis von knapp 200 Mark nur halb so teu- ken. Da steigt die Nervosität. Denn noch der Vorsitzende des Zentralverbands, sein er seien wie bei seinen mittelständischen stärker als der Umsatz werden wohl die Geld. 250 Meter vom Fachgeschäft des Vor- Konkurrenten. Da kommt es, bei einem Gewinne schrumpfen. sitzenden entfernt hat Fielmann einen La- Tagesabsatz von 13 000 Brillen, auf jede So verschiebt die Böblinger Binder Op- den angemietet. In dem 5600-Einwohner- Mark an. tic (44 Filialen) wegen mißlicher Ertragsla- Ort gibt es bereits drei Optiker; daß sich Den „Robin Hood der Fehlsichtigen“, ge den für dieses Jahr geplanten Gang an nun ein vierter niederläßt, weiß Müller, wie ihn die faz lobte, schmerzt vor allem, die Börse; beim Fielmann-Gewinn, sagt „ist volks- und betriebswirtschaftlich nicht daß er mit dem neuen Gesetz auf seinen der Chef, wird es „mit Sicherheit eine Sen- zu begründen“. Slogan von der „Brille zum Nulltarif“, bei ke“ geben. Die Fielmann-Aktie, die vor Der Branchenführer wolle damit der der Kunde „keinen Pfennig dazu- zehn Monaten noch 85 Mark kostete, ist „Druck auf die Berufspolitik ausüben“, zahlt“, verzichten muß: Der einprägsame auf 50 Mark abgesackt. glaubt Müller. Die Cochemer Filiale wird Spruch, dessen Verbreitung viel Geld ge- Der Preisdrücker aus Hamburg ist in der noch renoviert, Fielmann hat die Eröff- kostet hat, ist wertlos geworden. Branche nicht sonderlich beliebt, und so re- nung für März angekündigt. Müller macht „Den Nulltarif gibt’s nicht mehr“, freut gistriert schadenfroh der Zentralverband sich seit Wochen Sorge um sein Geschäft. sich Franz-Josef Krane, mit 80 Filialen die der Augenoptiker (ZVA), wie bei seinem „Ach was“, sagt Fielmann und lacht, „ich Nummer drei in der Branche. „Und ver- größten Mitglied die Gewinne schmelzen: gehe doch nicht nach Cochem.“ Er hat den schenken darf Fielmann die Gestelle auch Es „bleibt nicht mehr viel zum Verteilen an Laden nur angemietet, um seinem Vorsit- nicht“ – das wäre ein Verstoß gegen die Zu- die Aktionäre übrig“, meint ZVA-Ge- zenden einen ordentlichen Schrecken ein- gabeverordnung und das Gesetz gegen un- schäftsführer Joachim Goerdt. zujagen. lauteren Wettbewerb. Derweil hat das Gerangel um die spar- Die Gaudi kostet eine vermutlich gut Der Warenhauskonzern Karstadt hat es same Kundschaft begonnen. Die Quelle- sechsstellige Summe. Günther Fielmann: in seinen 55 Brillenläden trotzdem ver- Tochtergesellschaft Apollo-optic (217 Filia- „Ein bißchen Spaß muß sein.“ ™

der spiegel 5/1997 85 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft der juristischen Expertise, die wir in Auf- trag gegeben haben. Fest steht, daß die 250 UNTERNEHMEN Millionen Mark schon in den Bilanzen für 1984 und 1985 als Eigenkapital von Grun- dig ausgewiesen wurden, und es gab auch „Bar jeder Gepflogenheit“ entsprechende Zusagen aus Eindhoven. SPIEGEL: Vergangene Woche hat der Auf- sichtsrat beschlossen, den von Philips ent- Interview mit Grundig-Aufsichtsratschef Christian sandten Grundig-Chef Pieter van der Wal Schwarz-Schilling über die Zukunft des Unternehmens zu entlassen. Gleichzeitig will der Auf- sichtsrat alle Entscheidungen des Vorstands und das Verhalten des Mutterkonzerns Philips noch einmal überprüfen. Was kann dabei herauskommen? SCHWARZ-SCHILLING: Nach der Kehrtwende von Philips erscheinen manche Entschei- dungen natürlich in ganz anderem Licht. Wir wollen prüfen, ob die Interessen von Grundig verletzt wurden, als Philips zum Beispiel entschied, das Innovationspoten- tial aus Deutschland abzuziehen oder hier gar nicht erst entstehen zu lassen. Auch der Verkauf von Teilen der Grundig-Grup- pe und die Verlagerung von Produktions- kapazitäten muß unter diesem Gesichts- punkt überdacht werden. SPIEGEL: Haben Sie konkrete Hinweise, daß Philips versucht, einen unliebsamen Kon- kurrenten loszuwerden? SCHWARZ-SCHILLING: Ich will das absolut nicht mehr ausschließen, aber unsere Un-

IMO tersuchung hat erst begonnen. Grundig-Aufseher Schwarz-Schilling: „Alle Entscheidungen werden überprüft“ SPIEGEL: Wie lange kann Grundig allein durchhalten? SPIEGEL: Herr Schwarz-Schilling, Sie haben Die Holländer behandeln uns jetzt wie ei- SCHWARZ-SCHILLING: Der Verlust aus dem schwere Vorwürfe gegen Philips erhoben. nen Wettbewerber. Jahr 1996 muß noch von Philips übernom- Fühlen Sie sich hintergangen? SPIEGEL: Ist das nicht ihr gutes Recht? men werden. Grundig geht dann schul- SCHWARZ-SCHILLING: Ich bin in den Auf- SCHWARZ-SCHILLING: Die Mehrheit im Auf- denfrei und mit einem guten Polster in das sichtsrat von Grundig nach einem per- sichtsrat ist der Meinung, daß diese Hal- Jahr 1997. Daß wir einen neuen Partner sönlichen Gespräch mit dem damaligen tung gegen das Aktiengesetz verstößt. suchen, ist allerdings klar. Philips-Chef Jan Timmer eingetreten. Er Schließlich hat Philips 1984 in den Verträ- SPIEGEL: Sehen Sie eine Chance, daß die hatte meine Bedingungen vollständig ak- gen mit der Grundig-Stiftung die Beherr- Grundig-Witwe Chantal, die immer noch zeptiert. Jetzt macht Philips eine Kehrt- schung selbst festgelegt. Daraus ergeben 45 Millionen Mark pro Jahr kassiert, zur wende um 180 Grad. sich ja auch Verpflichtungen. Aber das las- Sanierung von Grundig beiträgt? SPIEGEL: Wie lauteten die Bedingungen? sen wir gerade juristisch überprüfen. SCHWARZ-SCHILLING: Dazu kann ich nichts SCHWARZ-SCHILLING: Herr Timmer hatte mir SPIEGEL: Ein anderer Streitpunkt sind die sagen. Das sind Verhandlungen, die zur zugesichert, daß der Produktionsstandort Aktienoptionen im Wert von 250 Millionen Zeit allein zwischen Philips und der Grun- Deutschland so weit wie möglich erhalten Mark, mit denen Philips ursprünglich dig-Stiftung geführt werden können. ™ bleibt und daß der Firmenname Grundig die Mehrheit bei Grundig weitergeführt wird. Schließlich wurde mir übernehmen wollte. Nun versichert, daß Philips das Entwicklungs- hat Philips diese Ge- und Forschungspotential in Fürth beläßt. nußscheine an Grundig SPIEGEL: Inzwischen hat bei Philips ein neu- zurückgegeben und gegen er Mann die Führung übernommen. Forderungen aus Fürth SCHWARZ-SCHILLING: Deshalb habe ich Mit- verrechnet. Was ist daran te Oktober vergangenen Jahres noch ein- illegal? mal mit dem neuen Vorstandsvorsitzenden SCHWARZ-SCHILLING: Nach Cor Boonstra gesprochen. Ich habe das dem Beherrschungsver- Signal erhalten, daß man an den verein- trag ist das nicht illegal, barten Grundsätzen festhalten will. Wenn aber es ist bar jeder Ge- man dann zwei Monate später ganz ande- pflogenheit, wie eigen- re Entscheidungen mitgeteilt bekommt, mächtig dieser Vorgang kann man sich schon hintergangen fühlen. abgewickelt wurde. Es SPIEGEL: Philips hat doch seit langem an- gab keine Verhandlungen, gekündigt, sich aus Fürth zurückzuziehen. sondern nur einen Brief- SCHWARZ-SCHILLING: Alle sind davon aus- wechsel zwischen den Fi- gegangen, daß Grundig künftig wie eine nanzbuchhaltungen bei- normale Tochtergesellschaft von Philips der Konzerne. behandelt wird.Wir haben nicht damit ge- SPIEGEL: Wollen Sie dage- rechnet, daß sich Philips nur noch als Min- gen gerichtlich vorgehen? derheitsaktionär betrachtet, der jede un- SCHWARZ-SCHILLING: Die- ternehmerische Verantwortung ablehnt. ser Punkt ist Bestandteil

88 der spiegel 5/1997 A. FROESE Airbus-Jumbo A3XX (Modell): „Auf Anhieb 60 Prozent der Entwicklungskosten abdecken“

sein Projekt auf der bestehenden B-747- Drei Interessenten gibt es schon: den ita- LUFTFAHRT Flotte aufbaut, hätte das Flugzeug bereits lienischen Flugzeugbauer Alenia, das bel- von dem Jahr 2000 an erhältlich sein kön- gische Flugzeugkonsortium Belairbus und nen, drei Jahre früher als das Airbus-Kon- eine zur niederländischen Stork-Gruppe Finanzieller kurrenzmodell. Auch der Entwicklungs- gehörende Nachfolgegesellschaft des Flug- aufwand hielt sich in Grenzen. Während zeugbauers Fokker. die Amerikaner mit Kosten von sieben Mil- Zur Zeit verhandelt Airbus mit weiteren Selbstmord? liarden Dollar kalkulierten, dürfte der Bewerbern, darunter Saab, koreanische komplett neuentwickelte A 3XX minde- Konzerne wie Hyundai, Daewoo und Sam- Bedeutet das Ende von Boeings stens zehn Milliarden verschlingen. sung und der US-Rüstungsgigant Lock- Super-Jumbo für Airbus Woodard und seine Kollegen wollten heed-Martin. „Das Interesse ist so groß“, schon im vergangenen September einen sagt Projektchef Jürgen Thomas, „daß wir eine Riesenchance – oder eine Käufer für ihren Superflieger präsentieren. auf Anhieb 60 Prozent der Entwicklungs- tödliche Gefahr? Doch daraus wurde nichts. Die großen Air- kosten abdecken könnten.“ lines stört, daß er auf der en 20. Januar wird Ron Woodard so fast 30 Jahre alten Jum- Boeing 747 vorderer Teil Airbus A3XX zwei Decks über die schnell nicht vergessen. Es war der bo-Flotte aufbaut. Auch mit Oberdeck gesamte Rumpflänge Dschwärzeste Tag seiner Karriere gerieten die Abmessun- beim US-Flugzeughersteller Boeing. gen des Flugzeugriesen In dürren Worten mußte der Manager zunächst viel zu groß für der Weltöffentlichkeit mitteilen, daß die Bodenabfertigung. Boeing vorerst kein Großraumflugzeug mit Als die erhofften Kun- mehr als 500 Sitzplätzen bauen wird. Den den ausblieben, ver- geplanten Super-Jumbo wird es demnach suchten die Boeing-Ma- nicht geben. „Für eine verlängerte Version nager, die Konkurrenz der B-747“, korrigierte Woodard frühere einzuschüchtern. Statt Aussagen des Konzerns, „gibt es bislang 1400 Großraummaschi- keinen ausreichenden Bedarf.“ nen, wie von Airbus Frachtraum Frachtraum Der Ausstieg der Amerikaner kam voll- errechnet, seien in kommen überraschend – auch für den eu- den nächsten 20 Jah- Vergleich der ropäischen Boeing-Konkurrenten Airbus, ren nur knapp 500 Ma- Rumpfquerschnitte der unter dem Arbeitstitel A 3XX ebenfalls schinen zu verkaufen. ein Riesenflugzeug entwickelt. Mit ihrem A-3XX-Plan, Boeing 747-400* Airbus A3XX-100* Seit vergangenem April tüftelt eine warnte Boeing-Manager LÄNGE 70,7 m 69,7 m 100köpfige Arbeitsgruppe in der Airbus- Woodard, riskierten die RUMPFHÖHE bis 7,80m 8,50 m Zentrale im französischen Toulouse an Europäer den „finanzi- einem Entwurf für das neue Mammutflug- ellen Selbstmord“. PASSAGIERE 420 530 zeug. Der Doppeldecker soll auf zwei Doch Airbus-Chef REICHWEITE 11 700 km 13 700 km Ebenen bis zu 800 Passagieren Platz bieten Jean Pierson und seine * jeweils in der Drei-Klassen-Version und im Jahr 2003 an Kunden wie British Kollegen lassen sich nicht Airways oder Singapore Airlines geliefert beirren. Sie müssen ihre Produktpalette Wird der neue Airbus-Jumbo ein ähnli- werden. dringend im oberen Bereich erweitern, cher Erfolg wie die früheren Modelle, Die Amerikaner konterten, indem sie wenn sie gegen den Marktführer Boeing be- könnte das einträgliche Monopol des wenig später eine verlängerte Version ihres stehen wollen. Bereits Ende vergangenen Boeing-Konzerns nach der Jahrtausend- Verkaufsschlagers B-747 ankündigten. Der Jahres beschlossen die Airbus-Manager, wende erstmals ins Wanken geraten. Fach- Boeing-Super-Jumbo sollte bis zu 650 Flug- zwei verlängerte Versionen ihres erfolgrei- leute haben errechnet, daß in den kom- gäste aufnehmen. Die dazugehörigen chen Langstreckentyps A 340 mit bis zu 400 menden 20 Jahren fast die Hälfte des welt- Triebwerke sollten Rolls-Royce oder die Sitzplätzen zu entwickeln. Bislang bieten weiten Luftfahrtgeschäfts auf Maschinen US-Antriebsbauer General Electric und die Maschinen in der Drei-Klassen-Version mit 350 Sitzen und mehr entfällt. „Die Fra- Pratt & Whitney liefern. nur Platz für maximal 300 Passagiere. ge ist nicht, ob der A 3XX kommt“, sagt Lange Zeit sah es so aus, als läge Markt- Gleichzeitig suchen die Airbus-Manager Manfred Bischoff, Chef des Airbus-Gesell- führer Boeing mit seinem Modell vorn. Da nach Partnern für das aufwendige Projekt. schafters Dasa, „sondern nur, wann.“ ™

der spiegel 5/1997 89 Wirtschaft P. GLASER P. Briefpostzentrum (bei Potsdam): „Auf bewährte manuelle Sortierung umgestellt“

Mit dem Ausfall des Telefonnetzes steht Cottbus nicht allein. Als die Telekom im KONZERNE vergangenen Jahr anfing, ihre Ortsver- mittlungsstellen auf Digitaltechnik umzu- stellen, schnitt die Technik aus dem Hau- Winziger Fehler se Siemens Haushalte und Straßenzüge gleich reihenweise vom Telefonnetz ab. Züge stehen still, Telefone streiken, Briefe bleiben liegen, Auch in Berlin sorgt der Münchner Konzern für Chaos. Dort wurde das Daten können nicht übermittelt werden: eine Pannenserie kratzt S-Bahn-Netz im vergangenen Jahr auf voll- am Image des Software-Herstellers Siemens. elektronische Technik umgestellt.Allein im Oktober brach der Schnellbahn-Verkehr it dem schwerfälligen Elektrokon- anspruchsvolle Aufgabe für Deutschlands dreimal zusammen. „Techniker der Her- zern Siemens hat dessen Chef Vorzeigebetrieb. stellerfirma Siemens“, meldete die berli- MHeinrich von Pierer noch viel vor. Doch als die Ingenieure des bayerischen ner zeitung beim dritten Versagen, hätten Das Unternehmen, das in diesem Jahr sein Konzerns das in monatelanger Arbeit aus- erneut an der Behebung des Problems ge- 150jähriges Jubiläum feiert, müsse sich, so getüftelte und 63 Millionen Mark teure arbeitet, „einem Software-Fehler“. von Pierer, schnell „zu einem modernen Computersystem in Betrieb nahmen, ging Es habe sich, behauptet dagegen Sie- Dienstleistungskonzern“ entwickeln. gar nichts mehr. Hunderte Züge standen mens, nicht um eine Software-Panne, son- Mit dem Verkauf von Hardware, das hat still, Tausende verspäteten sich. Drei Tage dern um defekte Hardware gehandelt. Ein der Siemens-Mann erkannt, ist auf dem lang herrschte Verkehrschaos. schlecht abgeschirmter Stecker, heißt es in Weltmarkt immer weniger Geld zu ver- Ein winziger Fehler, kaum zu lokalisie- Berlin, sei der Grund gewesen. Der kam al- dienen. Gerade bei elektronischen Bau- ren, so entschuldigten die Siemens-Tech- lerdings auch aus dem Hause Siemens. teilen, Chips oder Computern herrscht niker den peinlichen Vorfall. „Program- weltweit ein ruinöser Preiskrieg. Dagegen mierfehler und mangelnde Qualitäts- sind mit Dienstleistungen und Software- sicherung“, schimpften Experten wie Lösungen gute Gewinne zu machen. Informatikprofessor Klaus Brunnstein aus Der gelernte Jurist hat dem Unter- Hamburg. nehmen deshalb ein klares Ziel gesteckt: Die Fehler beschränken sich nicht nur Der Software-Anteil an der Wertschöp- auf den Bahnverkehr.Auch in Rechenzen- fung – heute schon bei 50 Prozent – soll tren, Briefsortieranlagen und Telefonnet- und muß in Zukunft noch weiter gesteigert zen sorgt Siemens für gehörigen Wirbel. werden. So legte Technik aus Bayern in Cottbus Ein kühner Plan, denn gerade mit Pro- eine ganze Ortsvermittlungsstelle der Te- grammen und Dienstleistungen tut sich lekom lahm, nachdem ein neues Pro- Siemens äußerst schwer: In der Vergan- gramm eingespielt wurde. Ganze 17 Stun- genheit sorgten Pannen immer wieder für den standen die Telefone von 60000 Men- Schlagzeilen. schen still. Erst dann konnte der Fehler Die peinliche Serie begann vor zwei Jah- behoben werden. ren in Hamburg-Altona. Dort sollte das „Wir können nur von Glück sagen, daß modernste Eisenbahnstellwerk der Welt in dieser Zeit nichts Gravierendes passiert

entstehen. Vollelektronisch, so der Plan, ist“, sagt ein Telekom-Sprecher aus Bran- OBERHEIDE / ARGUM J. könnten dort Tag für Tag 100000 Reisende denburg. Denn auch Notrufe und Polizei Siemens-Chef von Pierer in Rekordtempo abgefertigt werden – eine waren von dem Fehler betroffen. „Keine generellen Probleme“

90 der spiegel 5/1997 M. MEYBORG / SIGNUM Anzeigetafel im Bahnhof Altona Tagelanges Verkehrschaos

Bei der Post ist der Fall eindeutig: Sie er- teilte Siemens einen Großauftrag für die Errichtung von 178 Großbriefsortieranla- gen – Auftragsvolumen rund 400 Millio- nen Mark. Schneller, effizienter und mit weniger Personal, hoffte die Post, könne das Briefaufkommen bewältigt werden. Das Gegenteil war der Fall: „Die ersten von Siemens gelieferten Großbriefsortier- anlagen“, heißt es in einem Post-Papier,

„erreichten die angestrebten Leistungs- PRESS ACTION werte aufgrund von Software-Mängeln Schaltzentrum der Bahn in Hamburg-Altona: „Mangelnde Qualitätssicherung“ nicht.“ Die Konsequenz: Die Post mußte vorerst wieder auf „die bewährte manuel- sich die Situation zu ändern. Neue Kon- Da nämlich mußten die Ingenieure einge- le Sortierung der Großbriefe“ umstellen. kurrenten wie Ericsson oder Lucent Tech- stehen, daß das System nicht fertig werde. Solche Pannen bei der Einführung ver- nologies, die inzwischen selbständige Tech- Die Folge: Die Abrechnungsdaten konn- ursachten nur bei Bahn, Post und Telekom niktochter des US-Telefonriesen AT&T, ten nicht übermittelt werden, es drohte die inzwischen Schäden in Millionenhöhe.Viel drängen in einst sichere Domänen des Überschreitung des Budgets in Milliarden- schlimmer noch als die tatsächlichen Aus- deutschen Konzerns. höhe. Erst Monate später übergab Siemens fälle sind die Auswirkungen auf das Image Doch während Siemens auf dem Welt- die Software. Probleme, heißt es in den der Betroffenen: Verspätete Züge oder markt schon lange und oft erfolgreich mit Rechenzentren, gibt es heute nicht mehr. nicht funktionierende Ortsvermittlungs- solch potenten Konkurrenten um Aufträge Anlaß zur Sorge sieht man in der stellen lasten die Verbraucher nämlich der wetteifert, tut man sich auf heimischem Münchner Zentrale angesichts solcher Bahn und der Telekom an. Terrain schwer. „Das Schema“, schimpft Pannen nicht. „Ein generelles Poblem mit Trotzdem werden die Schwierigkeiten der technische Leiter eines Rechenzen- Programmen“, so die Software-Abtei- mit Software- und Technik-Lieferanten sel- trums, sei immer gleich: „Bevor Siemens lungsleiterin Monika Gonauser, gebe es ten publik: Zu sehr schon haben sich die zu Spitzenleistungen fähig ist, muß es erst nicht. Außerdem seien die Fälle nicht aus- Kunden an Fehler in den millionenteuren einmal so richtig knallen.“ schließlich auf Software-Fehler zurückzu- Anlagen gewöhnt. „Systeme und Software, Tatsächlich baute der Konzern nach dem führen. So sei, heißt es bei Siemens, in Al- die auf Anhieb funktionieren“, weiß Fiasko in Altona ein hochkompliziertes tona der Faktor „menschliches Versagen“ Brunnstein, sind eher die Ausnahme. Bei Stellwerk in Hannover, bei dem es keine hinzugekommen, in Berlin und in Cottbus IBM, Alcatel oder General Electric ist das Schwierigkeiten gab. Und auch die Ver- hätten „Hardware-Fehler wie defekte Fest- nicht anders, oft sogar noch schlimmer. mittlungstechnik wird inzwischen zum Ex- platten“ zu den Ausfällen geführt. Während der Olympischen Sommerspiele portschlager. Doch ohne Anlaufprobleme Die Berliner Informatikprofessorin De- in Atlanta brach das von IBM entwickelte geht es offenbar nicht. bora Weber-Wulff kennt solche Argumen- Kommunikationssystem häufig zusammen. So mußte Siemens-Technik bei Man- te aus zahlreichen Gutachten: „Wenn es Bei Siemens, so ein Konzernsprecher, nesmann sogar erst abgeklemmt werden, um Fehler bei Computersystemen geht, fielen die Pannen nur besonders auf, weil bevor funktionsfähige Vermittlungsstellen schieben sich Hardware- und Software- das Unternehmen in so vielen unter- für das Mobilfunknetz D2 installiert wer- Lieferanten oft jahrelang die Schuld ge- schiedlichen Branchen tätig sei. Jede Spar- den konnten. Nachdem Siemens-Techni- genseitig in die Schuhe.“ Tatsächlich sei te für sich liege in puncto Qualität über ker wochenlang nicht in der Lage waren, jedoch meist eine mangelhafte Qualitäts- dem Durchschnitt. Software-Fehler zu beheben, orderte der sicherung die wirkliche Ursache für Fehler, Ein weiteres Problem kommt hinzu. Zu- damalige Mannesmann-Mobilfunk-Chef sagt auch Kollege Brunnstein. mindest auf dem deutschen Markt muß sich Peter Mihatsch kurzerhand neue Anlagen Siemens läßt solche Vorwürfe nicht gel- der Elektronikkonzern in vielen Bereichen – diesmal bei der schwedischen Firma ten. Erst vor zwei Jahren sei eine Abteilung erst einmal auf Konkurrenz einstellen. In Ericsson. Heute arbeiten auch die Siemens- eingerichtet worden, die sich eigens um den ehemaligen Staatsbetrieben Bahn und Systeme reibungslos. Qualitätssicherung kümmere, so Gonau- Telekom, in öffentlichen Verwaltungen oder Richtig unbeliebt machte sich Siemens ser. Die inzwischen auf allen Ebenen in- in Hochschulen war das Unternehmen über auch bei vielen Apothekern und Kranken- stallierten Kontrollen seien vorbildlich und Jahrzehnte hinweg unangefochtener Hof- kassen. Im Zuge der Umstellung auf Pa- besser als der Branchendurchschnitt. lieferant, oft per Anordnung. „Beamte und tientenchipkarten sollten zum 1. Januar Siemens-Telekommunikationsmanager Siemens-Techniker“, erinnert sich ein Ex- 1996 zwei Rechenzentren mit Abrech- Klaus Bartsch sieht das eigentliche Pro- Postler, „hätte man problemlos gegenein- nungssoftware ausgestattet werden, die blem in unrealistischen Erwartungen: ander austauschen können. Kein Mensch den Krankenkassen die Überwachung des „Fehlerfreie Software“ sei eine Illusion. hätte das gemerkt.“ Arzneimittelbudgets ermöglichen sollte. Es bleibe nun mal ein minimales Rest- Erst seit der Privatisierung der Staats- Für die Siemens-Manager „kein Pro- risiko. Und das trägt oft genug der Kunde betriebe Post, Telekom und Bahn beginnt blem“, zumindest nicht bis zum Januar. als zahlendes Versuchskaninchen. ™

der spiegel 5/1997 91 Medien Wirtschaft

KONZERNE KABEL-TV Kirch attackiert Premiere-Chef Veba will Siemens-Netz er Energieriese Veba kauft in Serie er Medienunternehmer Leo Kirch, 70, sie den Wunsch teilen. Der Vorwurf von DKabelnetze auf. Derzeit verhandelt Dmacht massiv Druck gegen die Ge- Kirch, der 25 Prozent an dem Sender hält: Konzernchef Ulrich Hartmann intensiv mit schäftsführung des Pay-TV-Senders Pre- Kundrun arbeite „kollusiv“ mit dem ent- dem Elektronikkonzern Siemens, dem miere. In einem Brief an die Aufsichtsräte scheidenden Gesellschafter Bertelsmann rund 400 000 Kabelanschlüsse gehören. zusammen und vertrete einseitig dessen In- Dieser Besitz ist schätzungsweise rund 400 teressen. So stört Kirch, daß Kundrun vom Millionen Mark wert. Zuvor hatte Veba Bertelsmann-Sender RTL Fußballrechte für bereits die Hamburger Kabelfirma Urbana 60 Saisonspiele der Champions League er- (550000 Kunden) für 480 Millionen Mark warb. Die Konzerne Bertelsmann und Ca- erworben. Hartmann will über seine nal plus, die zusammen 75 Prozent sowie Kabelnetze schon bald Fernsehen, Multi- zwei von drei Aufsichtsratsstimmen besit- media sowie vor allem Telefondienste zen, sprachen sich vergangenen Freitag klar anbieten. Insgesamt peilt er eine Steige- gegen Kirchs Forderung aus und stützten rung des Marktanteils um rund 5 Punkte Kundrun. Der Manager hat Kirchs Pay-TV- auf 15 Prozent an. Unter den weiteren Firma DF 1 schwer zugesetzt und zuletzt Kaufkandidaten ist beispielsweise das vor dem Hamburger Landgericht erwirkt, Mainzer Kabelunternehmen Süweda. K. GREISER DPA daß DF 1 wegen einer strittigen Satelliten- Kundrun Kirch Lizenz vorerst außerhalb Bayerns keine neuen Kunden mehr werben darf. Um den FERNSEHEN forderte sein Anwalt Joachim Theye, 56, die Krach bei Premiere ein wenig zu entspan- sofortige Entlassung von Senderchef Bernd nen, kündigte DF-1-Chef Gottfried Zmeck Zeitschrift wirbt für Kundrun, 39. In diesem unüblichen Um- intern an, den Premiere-Aufsichtsrat zu ver- laufverfahren sollten die Aufseher bei „Ja“, lassen. Als Nachfolger ist Kirch-Manager Autowerbung „Nein“ oder „Enthaltung“ ankreuzen, ob Klaus Piette, Jurist wie Theye, im Gespräch. ur Karnevalszeit kommt es im deut- Zschen Werbefernsehen zu einer bizar- SHOW torin Ulrike von der Groeben startet der ren Premiere: Erstmals wirbt ein Spot für Zwei-Zentner-Mann, der schon mal für eine ein darauffolgendes Werbefilmchen – ganz Der Preis ist kalt Wunderdiät warb, am 1. März die neue im Stil der Sponsorhinweise für „Tatort“ Samstagabendshow „Stars gegen Stars“. und Spielfilme im Abendprogramm. Rund eit acht Jahren gehört Harry Wijnvoord Dort treten Prominente in einem Open-air- 50mal will amica („die neue Frauenzeit- Szu den beliebtesten Marketendern des Wettkampf gegeneinander an – eine mo- schrift“) in Werbeblöcken von RTL, Pro Privat-TV, nun jedoch verliert er seine derne Ausgabe von „Spiel ohne Grenzen“. Sieben und Sat 1 „knisternde Spannung Stammsendung. Mitte des Jahres in den folgenden 40 Sekunden“ wünschen will RTL Wijnvoords tägliche und somit den japanischen Autobauer Nis- Dauerwerbesendung „Der Preis ist san promoten. Das ungewöhnliche Joint- heiß“ aus dem Programm nehmen. venture ist Teil eines Deals, bei dem Nis- Um elf Uhr morgens hat der ewig- san Anzeigen und Gewinne für Preisrätsel nette Holländer in letzter Zeit an in amica finanziert, während sich der Ver- die Sat-1-Talkshowgröße Johannes lag im Gegenzug an den TV-Kosten betei- B. Kerner Marktanteile verloren. ligt. Es sei ein „Versuch, in der Werbung Auf das heitere Kommerzspiel, bei neue Wege zu gehen“, sagt Nissans Me- dem Zuschauer Produktpreise ra- diaplaner Norbert Ropertz. Die rechtliche ten müssen, reagieren insbesonde- Grenze des Rundfunkstaatsvertrags, der re jüngere Zielgruppen ziemlich das Sponsern von Werbung verbietet, gilt kühl.Wijnvoords Showmasterkün- in diesem Fall laut amica-Anzeigenmana-

ste freilich bleiben RTL erhalten. PRESS ACTION ger Martin Fischer nicht: Es handele sich Zusammen mit der Sport-Modera- Wijnvoord lediglich um einen „Spot mit Trailer“.

Verkaufte Auflagen in Tausend 4. Quartal, Montag bis Sonnabend; BILD-Zeitung jeweils Regionalausgabe ZEITUNGEN 250 Breite Verluste 350 BERLIN 400 HAMBURG MÜNCHEN 250 SACHSEN 366,4 315,5 231,6 it Ausnahme der Berliner , die sich 350 bz 300 BZ Abendzeitung auf ihr umfangreiches Kleinanzeigen- 300 200 angebot stützen kann, tun sich die regio- 250 nalen Boulevardzeitungen in Deutschland 200 196,8 250 schwer. Auf breiter Front verlieren sie an Berliner Kurier 200 Auflage. Gewinner ist in den meisten Hamburger 176,1 200 150 Fällen die bild-Zeitung, die mit ihren ins- Morgenpost 150 155,5 160,7 gesamt 34 verschiedenen Ausgaben den 150 145,3 Dresdner 121,4 Gesamtverkauf seit 1993 um über 170 000 150 tz 153,8 Morgenpost Exemplare auf derzeit täglich mehr als 4,47 100 100 100 Millionen im vergangenen Jahr steigerte. 1993 94 95 96 1993 94 95 96 1993 94 95 96 1993 94 95 96

92 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir sind keine japanische Firma“ Sony-Präsident Nobuyuki Idei über das Zusammenwachsen von Fernseher, Videorecorder und Computer, den Einstieg ins PC-Geschäft und die Probleme japanischer Konzerne in Hollywood

SPIEGEL: Herr Idei, weltweit klagen die wird. Darauf müssen wir uns rechtzeitig Hersteller von Unterhaltungselektronik Erster Nicht-Techniker einstellen, wenn wir unsere Position als über schrumpfende Margen und stagnie- ist Nobuyuki Idei an der Sony-Spitze. Nummer eins der Unterhaltungselektro- rende Umsätze. Steckt die Branche in Idei, der vor knapp zwei Jahren sein nik behalten wollen. einer tiefen Krise? Amt antrat, will das größte Unter- SPIEGEL: Sie meinen den Übergang von der IDEI: Die Zeiten für unsere Industrie sind si- nehmen der Unterhaltungselektronik analogen auf die digitale Technik? cher härter geworden. Vor allem in Euro- in einen Entertainment-Konzern ver- IDEI: Dieser Wandel ist weitaus gravieren- pa sind die Käufer sehr zurückhaltend. Das wandeln, bei dem der Kunde alles aus der, als es das Schlagwort ahnen läßt. Denn alles gilt aber nicht für Sony. Unsere Um- einer Hand bekommt: Musik, Video- mit der Digitalisierung des Fernsehens sätze steigen weltweit mit zweistelligen spiele, Filme und die nötigen Ab- wachsen Fernseher, Videorecorder und Zuwachsraten, und wir verzeichnen wach- spielgeräte. Nachdem die Branche Computer immer enger zusammen. Da- sende Marktanteile in fast allen Bereichen seit Jahren mit neuen Produkten wie durch bekommt die Unterhaltungselek- unseres Geschäfts. der Minidisc wenig Erfolg hatte, setzt tronik ganz neue Konkurrenz. Neben den SPIEGEL: Dennoch wollen Sie den Konzern Idei, 59, nun auf die digitale Video- traditionellen Wettbewerbern ist dem- grundlegend umbauen? CD. Der Multimedia-Player, der in nächst die gesamte Computerindustrie mit IDEI: Ja, allerdings spreche ich lieber von einigen Jahren den Videorecorder ab- im Rennen, und dann müssen wir direkt Erneuerung. Der Grund dafür ist klar: Die lösen soll, spielt Musik-CDs ebenso gegen Schwergewichte wie IBM oder ganze Branche steht vor einem dramati- ab wie Spielfilme in superscharfer Compaq antreten. schen Umbruchprozeß, der unser Geschäft Bildqualität. SPIEGEL: Fürchten Sie die Konkurrenz die- mit einem Schlag gewaltig umkrempeln ser Firmen? T. WAGNER / SABA / SABA WAGNER T. Idei beim SPIEGEL-Gespräch: „Die ganze Branche steht vor einem dramatischen Umbruchprozeß“

96 der spiegel 5/1997 IDEI: Ich fürchte mich nicht.Aber es ist eine SPIEGEL: Den größten Teil Ihrer Umsätze Frage des Überlebens, daß wir die Digita- machen Sie mit Elektronikgeräten.Als En- lisierung nicht nur technisch bewältigen. Es tertainment-Anbieter hat Sony keinen Na- ist auch notwendig, die nötigen Manage- men.Warum drängen Sie mit Macht in die- mentqualitäten zu bekommen sowie die ses überaus riskante Geschäft? richtigen Strategien und eine konkurrenz- IDEI: Wir wollen möglichst unabhängig sein fähige Firmenstruktur für den neuen Markt von den Plänen anderer Firmen und unse- zu entwickeln. Dieser Wandel läßt sich re eigenen Strategien entwickeln. Bei der nicht in zwei Jahren, vielleicht nicht einmal Einführung von CD und Minidisc haben in fünf Jahren bewerkstelligen. Wir müs- wir gelernt, wie wichtig es ist, genügend sen zum Beispiel die Standorte und die Ka- Software zum richtigen Zeitpunkt parat pazitäten unserer weltweit 90 Fabriken, da- zu haben. Deshalb haben wir uns ent- von 15 in Europa, völlig neu überdenken. schieden, die nötigen Programme selbst zu Für das digitale Fernsehen sind ganz ande- produzieren. Ich glaube außerdem, daß der re Komponenten wichtig als bei der analo- Weg von einem Hardware-Hersteller zu gen Technik, und immer mehr Komponen- einer Entertainment-Company weitaus ten werden auf einem Chip integriert sein. einfacher ist als umgekehrt. SPIEGEL: Rechnen Sie damit, daß Fabriken SPIEGEL: Besonders einfach scheint der Weg geschlossen werden müssen? nicht zu sein. Die Übernahme der tradi- IDEI: Da unser Geschäft wächst, und Sony tionsreichen Columbia-Studios in Hol- wächst sogar schneller als der Markt, gehe lywood brachte Sony außer viel Ärger und ich davon aus, daß wir vorerst keine Fa- und hohen Verlusten bislang wenig ein. briken schließen müssen. Wir haben zur IDEI: Das sehe ich ganz anders. Ich bin fest Zeit jedenfalls keine konkreten Pläne. Mit überzeugt, daß unser Investment in Hol- Sicherheit wird die Zahl unserer Produk- lywood absolut richtig war und den Wert tionsstätten aber auch nicht mehr wachsen, des gesamten Unternehmens enorm ge- weil die Produktivität der Anlagen durch steigert hat. Und das ist doch das Wichtig-

die neuen technischen Möglichkeiten um REUTERS ste für den Aktionär. Deshalb werden wir zehn Prozent pro Jahr steigt. Video-CD-Spieler mit Bildschirmhelm uns, entgegen allen Spekulationen, von un- SPIEGEL: Wie weit sind Sie mit Ihrem Re- „Alles aus einer Hand“ serer Tochter Sony Pictures Entertainment, generationsprogramm für Sony denn schon kurz SPE, auch nicht trennen. gekommen? SPIEGEL: Was macht Sie so zuversichtlich? IDEI: In den zwei Jahren, seit ich Präsident Sony im Aufwärtstrend Ein Großteil der in den letzten Jahren ent- bin, haben wir einen Konsens darüber er- 4593* standenen Filme wie beispielsweise „Last reicht, daß der Wandel zwingend notwen- Action Hero“ oder „Mary Reilly“ waren dig ist, wenn wir unsere Führungsposition doch absolute Flops. behalten wollen. Wir sind uns auch im ge- 3993 3991 IDEI: Und „Philadelphia“ oder „Jumanji“ samten Konzern darüber einig geworden, 3617 waren Kassenknüller. So ist das nun mal im welche Richtung wir einschlagen. Der Filmgeschäft. Wir machen 20 bis 25 Filme Umsatz in Milliarden Yen nächste Schritt ist es nun, die notwendigen 2145 pro Jahr, und da liegen Erfolg und Mißer- Veränderungen in die Praxis umzusetzen. folg sehr nah beieinander. Jetzt setzen wir SPIEGEL: Ist das nicht ein bißchen wenig? große Hoffnungen auf „Jerry Maguire“ mit IDEI: Das ist überhaupt nicht wenig. Wir *ca. 63,4 Milliarden Mark Tom Cruise, der im Dezember in die US- haben jetzt einen Konsens im Unterneh- 1989 90 91 92 93 94 95 96 Kinos gekommen ist und dort voraussicht- men. Ein Konzern mit fast 40 Milliarden lich mehr als 120 Millionen Dollar einspie- Dollar Umsatz und mehr als 150000 Mit- Gewinn/Verlust in Milliarden Yen len wird. arbeitern läßt sich nun einmal nicht von SPIEGEL: Insgesamt hatte Columbia aber 103 117 120 heute auf morgen auf einen neuen Kurs 72 54 seit der Übernahme durch Sony im Jahre 36 15 bringen. Es besteht aber auch kein Grund –293 1989 keine besonders glückliche Hand. zur Eile, denn es wird noch bestimmt zehn IDEI: Zur Zeit sind von den sechs großen Jahre dauern, bis die beiden Branchen zu Studios in Hollywood nur zwei wirklich einer verschmolzen sind.Aber wir mußten erfolgreich, nämlich Disney und Time War- Umsatzanteile 1996 in Prozent jetzt damit anfangen, um für das Multi- ner. Alle anderen, und dazu gehören wir media-Zeitalter gerüstet zu sein. Halbleiter, Computer- Versicherung auch, sind schwach. Aber glauben Sie peripherie, Mobiltele- SPIEGEL: Ihr Fernziel ist es, so haben Sie fone und anderes Film mir, die Einspielergebnisse im Kino Ihren Aktionären mitgeteilt, Sony in einen werden völlig überbewertet. Sie ma- 5 7 echten Unterhaltungskonzern umzuwan- 24 Musik chen nämlich nur ein Drittel der deln. Wie soll der aussehen? 11 Umsätze von SPE aus. IDEI: Wie das Entertainment der Zukunft SPIEGEL: Wo kommen die übrigen 16 aussehen wird, zeichnet sich erst vage ab. 20 Video zwei Drittel her? Audio 17 Aber ich denke, wir haben schon jetzt alle IDEI: Ein Drittel machen wir mit wichtigen Elemente im Konzern vereinigt: Fernsehgeräte TV-Produktionen, und das letzte Wir produzieren Musik, Filme und TV-Sen- Drittel kommt aus der Distribution dungen, wir beherrschen den Vertrieb all unserer Programme. Und in diesen dieser Programme sowohl an Rundfunk- beiden Bereichen sind die Schwankun- Mitarbeiter in Tausend und TV-Sender als auch an die Endkunden. 151 gen viel geringer. Das ist ein stabiles Ge- 130 138 Und traditionell stellen wir die nötigen Ab- 113 119 126 schäft, und da sind wir sehr erfolgreich. 96 spielgeräte her. Der Kunde bekommt somit 79 SPIEGEL: Sie vertrauen darauf, weil mit Yuki alles aus der Hand einer Entertainment- Nozoe nun erstmals ein japanischer Ma- Company. Wir müssen die einzelnen Be- nager in Hollywood die Kontrolle über- reiche nur besser koordinieren. 1989 90 91 92 93 94 95 96 nommen hat?

der spiegel 5/1997 97 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

IDEI: Yuki ist nur einer von drei Köpfen im neuen Management-Team in Hollywood. Aber er spielt eine wichtige Rolle für die Koordination zwischen den verschiedenen Geschäftsfeldern von Sony. Denn bei der Verbindung zwischen Hard- und Software waren wir in der Vergangenheit noch nicht besonders erfolgreich. SPIEGEL: Sony hat es nicht einmal geschafft, seine eigene Technik für die neue digitale Video-CD, kurz DVD genannt, in Hol- lywood durchzusetzen. Warum? IDEI: Wir haben Columbia gekauft und nicht ganz Hollywood. Damals standen zwei verschiedene Techniken zur Diskus- sion.Wir konnten unsere zwar nicht durch- setzen, aber wir haben einen guten Kom- promiß gefunden. Das Wichtigste ist doch, daß die Käufer bei der jetzt beginnenden Markteinführung von DVD nicht durch verschiedene technische Standards ver- wirrt werden. SPIEGEL: Früher tat sich Sony bei neuen Produkten stets als Vorreiter hervor. Bei

der neuen Video-CD bekommt man den CINETEXT Eindruck, als zögerten Sie. Sony-Star Schwarzenegger (in „Last Action Hero“): „Wir zählen zu den Schwachen“ IDEI: DVD ist eine gigantische Aufgabe für die ganze Industrie, te der digitale Videorecorder in zwei Jah- nicht nur für die Hardware-Her- ren auf den Markt kommen. Doch es müs- steller. Unser Jumbo für dieses sen noch eine Reihe von Problemen mit Megaprojekt steht auf der Start- den Software-Herstellern gelöst werden, bahn. Wir könnten morgen mit da geht es vor allem um Fragen des Copy- dem Verkauf der Geräte begin- rights und den Schutz vor Raubkopierern. nen, an Preßkapazität für die SPIEGEL: Zu Ihrer Strategie, Sony für das neue Scheibe mangelt es auch digitale Zeitalter vorzubereiten, gehört der nicht. Wir warten nur noch auf Einstieg in einen Markt, in dem japanische die Startfreigabe durch den To- Firmen bislang nicht besonders erfolgreich wer, und das ist in diesem Fall waren: das Geschäft mit Personalcompu- die Filmindustrie. tern. Canon zum Beispiel zieht sich gera- SPIEGEL: Der Erzkonkurrent Mat- de aus dem Markt zurück. Sony selbst hat

suhita zum Beispiel hebt schon / SABA WAGNER T. auch schon zwei erfolglose Anläufe hinter ab und will in Deutschland mit Sony-Chef Idei (M.), Spiegel-Redakteure* sich.Warum wagen Sie sich jetzt noch ein- dem Verkauf seines DVD-Players „Das Risiko wird noch größer“ mal in das riskante PC-Business? bereits im Februar beginnen. IDEI: Natürlich gibt es keine Garantie dafür, IDEI: Es ist schwer zu erkennen, was die braucht einfach seine Zeit, bis die Film- daß wir diesmal Erfolg haben. Aber wenn wirklichen Pläne von Matsuhita sind, denn produzenten genügend Titel auf das neue wir noch ein paar Jahre ungenutzt ver- sie ändern ständig ihre Ankündigungen. Format übertragen haben. Das ist eine sehr streichen lassen würden, wäre das Risiko Davon können wir unsere Strategie nicht aufwendige und sehr teure Angelegenheit. nicht kleiner, sondern noch viel größer. abhängig machen. SPIEGEL: Die Konkurrenz hat das gleiche SPIEGEL: Mit dem neuen PC namens Vaio, SPIEGEL: Wann wird Sony denn mit DVD in Problem und prescht trotzdem vor. der seit einigen Monaten in Amerika ver- Deutschland starten? IDEI: Die sind viel zu optimistisch und wis- kauft wird, folgt Sony allerdings nur der IDEI: Ich denke, noch in diesem Jahr. Die sen nicht, worauf sie sich einlassen. Man Meute aller anderen Hersteller. Hat Sony endgültige Entscheidung wird demnächst braucht einen langen Atem, um ein neues keine eigenen Ideen mehr? getroffen. Eins ist klar: DVD wird ein neu- Format im Markt zu etablieren.Wir haben IDEI: Wir haben genug Ideen. Der Vaio ist er Marathonlauf, und da kommt es nicht die Erfahrung ja gerade mit der Minidisc nur ein erster Anfang. Um erfolgreich darauf an, wer auf den ersten 100 Metern gemacht. Erst jetzt, fünf Jahre nach dem Computer verkaufen zu können, muß man vorn liegt. Ich bin sogar davon überzeugt, Start, haben wir den endgültigen Durch- in Amerika vertreten sein und dort auch daß die gesamte Industrie in den ersten bruch geschafft. In diesem Jahr werden wir produzieren.Aber uns fehlte die Zeit, ent- Jahren zusammenarbeiten muß, um DVD wahrscheinlich allein in Europa rund eine sprechende Produktionskapazitäten auf- zum Durchbruch zu verhelfen. Das kann Millionen Minidisc-Player verkaufen. zubauen. Deshalb arbeiten wir beim Vaio keine Firma im Alleingang schaffen. SPIEGEL: Vorerst ist das DVD-System kein mit Intel zusammen und machen jetzt eine SPIEGEL: Glauben Sie nicht so recht an den vollwertiger Ersatz für den Videorecorder, Art Trainingsphase durch. Erfolg der Video-CD? denn es eignet sich nur zum Abspielen. SPIEGEL: Wie sieht das Training aus? IDEI: Doch, aber für einen erfolgreichen Wann wird die bespielbare DVD kommen? IDEI: Die Produktion von Computern ist Start braucht man eine umfangreiche Soft- IDEI: Die technischen Probleme sind weit- eine einfache Sache, wie der Erfolg der tai- ware-Bibliothek. Anders etwa als bei der gehend gelöst, und wir diskutieren dem- wanischen Hersteller zeigt. Wir selbst Playstation, die wir sehr erfolgreich mit nächst über einen verbindlichen Standard. haben Notebooks für die US-Firma Dell nur einer Handvoll Spieletiteln eingeführt Wenn es nach den Technikern ginge, könn- entworfen und produziert. Dennoch müs- haben, muß man den Käufern von DVD sen wir noch einiges lernen, denn das von Anfang an eine größere Auswahl an * Klaus-Peter Kerbusk und Wieland Wagner in der Sony- Marketing in dieser Branche ist völlig an- Programmen und Filmen bieten. Und es Zentrale in Tokio. ders als in der Unterhaltungselektronik.

100 der spiegel 5/1997 SPIEGEL: Um das festzustellen, hatten Sie in den vergangenen Jahren doch genug Zeit. IDEI: Als reiner Beobachter zieht man oft falsche Schlüsse. Wenn man zum Beispiel auf einer Brücke steht und auf die Auto- bahn herabschaut, dann ist man erstaunt, wie schnell die Autos vorbeirasen. Wenn man aber selbst im Verkehr mitfährt, be- kommt man einen ganz anderen Eindruck. Diese Erfahrung machen wir gerade auch im PC-Geschäft. SPIEGEL: Und wann setzt Sony zum Über- holen an? IDEI: Ich glaube, die Computerrevolution hat gerade erst begonnen. Sony hat des- halb noch viel Zeit, um sich auf die digita- le Ära vorzubereiten und dann etwas wirk- lich Neues und Originelles zu entwickeln. Der Computer von morgen wird sich ge- waltig von dem heute bekannten Gerät un- terscheiden. SPIEGEL: Die entscheidenden Ideen für die Entwicklung des PC kamen bislang aus Amerika. Mangelt es den japanischen Technikern an der nötigen Kreativität? IDEI: Das glaube ich nicht. Die Entwick- lung ist im Moment nur deshalb so festge- fahren, weil Intel und Microsoft den Markt so stark dominieren. Sie haben die allge- meingültige Computersprache durchge- setzt. Ich habe keine Ambitionen, dagegen anzukämpfen. Doch mit der wachsenden Bedeutung des Internets werden sich die Machtverhältnisse ändern, und das ist un- sere große Chance. SPIEGEL: Aber auch das Internet wird von amerikanischen Unternehmen geprägt. IDEI: Das gilt für den PC, so wie wir ihn heute kennen. In Zukunft aber wird der Computer ein normales Haushaltsgerät sein, und damit kennen wir uns bestens aus. Wir wissen besser als die meisten Computerhersteller, welche Anforderun- gen die Kunden an ein Gerät stellen, das seinen Platz im Wohnzimmer hat. Diese Erfahrung wird uns bei der Entwicklung neuer Geräte und ausgefeilter Software für den privaten Nutzer von großem Nutzen sein. Wir sind deshalb zuversichtlich, daß wir mit der Denkfabrik von Bill Gates und anderen amerikanischen Software-Häu- sern mithalten können. SPIEGEL: Das Büro gehört den Amerika- nern, das Wohnzimmer den japanischen Firmen? IDEI: O nein, wir sind keine japanische Firma.Wir sind ein globales Unternehmen, das seinen Sitz nur aus historischen Grün- den in Japan hat. Nur 30 Prozent unserer Umsätze kommen aus Japan. SPIEGEL: Die Führung des Konzerns ist aber fest in japanischer Hand. IDEI: Nicht ganz, immerhin hat Sonys Eu- ropachef Jack Schmuckli seit vielen Jahren einen festen Platz im Managementboard. Ich halte es auch durchaus für möglich, daß eines Tages sogar ein Amerikaner oder ein Europäer die Führung von Sony über- nimmt. SPIEGEL: Herr Idei, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 5/1997 Zeitgeschichte

KRISEN „Augstein ist in Kuba“ Wie der spiegel-Herausgeber im Hamburger Untersuchungsgefängnis seinen Karibikaufenthalt erlebte

Das Buch „Tauwetter“ von Oleg Grinew- rieren und Stützmauern unserer Gesell- ski, in spiegel 4/1997 von Rudolf Augstein schaft fortrisse.“ vorgestellt, endet mit dem Hinweis auf die Im Mai 1960 überließ man es Chru- Kuba-Krise, Höhepunkt und Abgrund der schtschow, die so lange vorbereitete Kon- Annäherung zwischen Kreml und Weißem ferenz über Europäische Sicherheitsfragen Haus. Die Welt war starr vor Entsetzen, in Paris durch sein für westliche Begriffe am Rande des atomaren Krieges. Am 16. ungehobeltes Benehmen zu sprengen. Oktober 1962 erfuhr Präsident John F. Es gab skurrile Momente während die- Kennedy in Washington von den sowjeti- ses zum Maulwurfshügel geschrumpften schen Raketen auf Kuba und bildete sei- Gipfels: so Chruschtschows Versuche, mit nen Krisenstab. Am gleichen Tag bereite- Hosenträgern und einer ukrainischen Blu- te in Bonn der damalige Bundesverteidi- se ausstaffiert, das Gras vor der Botschaf- gungsminister Franz Josef Strauß seine ter-Villa zu mähen. Sein dicker Bauch war Aktion gegen den spiegel vor. Rudolf Aug- ihm im Wege, und so warf er die Sense stein erinnert sich. hin. Eine andere Begebenheit war das Tele- ls Nikita Sergejewitsch sich am 27. fonat Mammie Eisenhowers aus Wa- September 1959 von Präsident Ei- shington, in dem sie den hohen Blutdruck Asenhower nach seiner Eroberung ihres Mannes durch die Bemerkung zu sen- Amerikas verabschiedete, wünschte er sich ken suchte, Chruschtschow habe den Be- noch viele Male das schöne amerikanische such der Eisenhower-Familie in der So- Wort „o. k.“, für immer weitere positive wjetunion, der für den Juni vereinbart war, Verhandlungen. Hinter ihm stand sein nicht aus politischen Gründen abgesagt, Außenminister Andrej Gromyko, nicht als sondern nur deswegen, weil beider Sohn „Mister O. K.“, sondern als „Mister Njet“ John den Eisenhower-Enkeln verboten Sowjetischer Frachter „Metallurga Anossow“, bekannt. Später schreibt Chruschtschow habe mitzureisen. in seinen Memoiren: „Wir hatten Angst, re- Im Elysée schob Chruschtschow das De Gaulle begann, Eisenhower zu gelrechte Angst. Wir fürchteten, das ,Tau- Scheitern der Konferenz auf die Unent- verteidigen, aber nur halbherzig. Wie wetter‘ könnte eine Flut verursachen, die schlossenheit Eisenhowers. So habe der von selbst, und hier können wir auf einzudämmen wir nicht mehr in der Lage sich schon im Kriege immer benommen. Es ehemals geheime Dokumente des fran- wären, eine Flut, die uns mit sich risse, falle schwer, dem Urteil nicht zuzustim- zösischen Außenministeriums über die- überschwemmte. Das Wasser würde über men, das Feldmarschall Montgomery und ses Gespräch zurückgreifen, kam die die Ufer des sowjetischen Flußbetts treten Churchill in ihren Memoiren über Eisen- Rede auf Stalin. und eine Flutwelle erzeugen, die alle Bar- hower gefällt hätten. Chruschtschow:

SPIEGEL-Titel 41/1962, 44/1962, 45/1962: Auf merkwürdige und vertrackte Weise verbandelt

102 der spiegel 5/1997 Präsident John F. Kennedy fragte an, ob drei- oder vierhundert Millionen Opfer zu beklagen sein würden, Chruschtschow be- schwerte sich – am 24. Oktober beinahe schon auf dem Rückzug –, daß er mit ei- nem Manne verhandeln müsse, der sein Sohn sein könne. Wie kam es zur Kuba-Krise? Fidel Ca- stro, der sich niemals als Kommunist be- kannte, hatte am 1. Januar 1959 den ame- rikahörigen Diktator Batista verjagt und sich zum Herrn Kubas gemacht. Man schenkte ihm zu Beginn weder in Wa- shington noch in Moskau große Aufmerk- samkeit. Der russische Diplomat Oleg Grinewski meinte in seinem Buch „Tauwetter“ so- gar, Präsident Eisenhower hätte ihm nur seinen kleinen Finger reichen und ein Mi- nimum an Wirtschaftshilfe anbieten müs- sen, dann hätte man sich all die Schererei- en sparen können. Dies ist angesichts der exotischen und nicht gerade zur Vernunft neigenden Figur des Doktor Fidel Castro nicht sehr wahrscheinlich. Auf jeden Fall, er wurde ins sowje- tische Lager gedrängt, wo er erst Hilfe, dann Waffenhilfe und zum Schluß Raketen erhielt. Eisenhower, kein großer Präsident, aber ein guter Diplomat, und ein Militär dazu, hatte sich schon vorher Gedanken ge- macht. Was könnte passieren, wenn in Mexiko oder Kuba eine Revolution aus- brechen würde? Dann würden die Ame-

AP rikaner zwangsläufig in den Konflikt US-Zerstörer „Barry“, amerikanisches Kontrollflugzeug 1962: Gegner falsch eingeschätzt hineingezogen. Zwischen Kommunisten,

Ich denke, daß die öffentliche Meinung Am Morgen des 19. Mai reiste Chru- die Verantwortlichen auf jeden Fall verur- schtschow mit seiner Delegation ab, sehr teilen wird. Es gibt manchmal mildernde zufrieden lächelnd. Er ging die Parade- Umstände, die man der Leidenschaft oder treppe der sowjetischen Residenz hinunter, Fehltritten zuschreibt; aber es gibt kein als sich ihm Botschafter Sergej Winogra- Beispiel in der Geschichte dafür, daß die dow protokollwidrig in den Weg stellte. Schuldigen nicht eine gerechte Strafe er- „Nikita Sergejewitsch“, sagte er, „hier an halten hätten, auch wenn es manchmal der Wand hing ein Gobelin vom Be- erst nach ihrem Tode dazu kommt. Es ist ginn des 18. Jahrhunderts. Dieses Stück bekannt, daß die Bürger der Sowjetunion gehört zum nationalen Erbe Frankreichs. Stalin bewunderten und ihn ehrenvoll ein- Aber Ihre Leute haben es abnehmen balsamiert haben. Allerdings hat er sich lassen.“ solche Dinge zuschulden kommen lassen, Tatsächlich war die Wand im zweiten daß selbstverständlich über ihn gerichtet Stock der Botschaft, wo früher der Gobe- werden muß. lin mit einer Szene aus dem Leben Alex- anders des Großen gehangen hatte, leer. Darauf der große General de Gaulle: Chruschtschow polterte seine Mannschaft

an: „Sofort zurückbringen. Das ist ja KEYSTONE Jedenfalls ist es sicher, daß die Geschichte empörend. In Moskau werde ich mit euch Chruschtschow, Kennedy 1961 uns alle richten wird und daß wir uns dem abrechnen.“ Dieser Gobelin schmückt Angst vor dem „Tauwetter“ unterwerfen müssen. Was Stalin angeht, dank Sergej Winogradow heute noch die so kann man sehen, daß sie über ihn hin- Paradetreppe der russischen Botschaft in Sozialisten und Pazifisten sah man in Re- weggegangen ist und daß noch kein end- Paris. gierungskreisen keinen Unterschied. gültiges Urteil feststeht. Das gleiche trifft Recht hatte Chruschtschow mit seinem Wie aber dachte man in Moskau, wie auf seine Nachfolger zu. Verdacht, der Westen wolle eine Reihe von dachte Chruschtschow? Sehr logisch, aber Ein majestätisches Wort im Geiste Lud- Konferenzen, vielleicht sogar eine „Ewig- auch sehr unvernünftig, wenn nicht gar wigs XIV.,über den die Geschichte bis heu- keitskonferenz“ anberaumen.Auch er hat- ignorant. te noch kein endgültiges Urteil abgelie- te Zeit. Es stimmte, die Sowjetunion war rings- fert hat. Aber da kam die Kuba-Krise dazwi- um von Atomraketen bedroht. Da mußte Macmillan schrieb in sein Tagebuch: schen, mit der man weder in Washington er nach den Spielregeln der Abschreckung „So endete die Konferenz auf höchster noch in Moskau gerechnet hatte und deren gleichziehen. Den Versuch war das wert. Ebene, bevor sie überhaupt angefangen bedrohlichste Phase zwischen dem 16. und Kostspielige Versuche, wenn man die Psy- hatte.“ 28. Oktober 1962 ablief. chologie des Gegners falsch einschätzt und

der spiegel 5/1997 103 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Zeitgeschichte seine eigene Stärke überschätzt. Chru- Die Kennedy-Brüder hielten Chru- am 27. Oktober, um zehn Uhr morgens im schtschow tat beides. Er wollte endlich schtschow, Pragmatiker, die sie waren, kei- Polizeipräsidium Hamburgs einstellen sol- gleichziehen mit den USA, und das konn- neswegs für den Mann, der nur imstande le. Ich sagte ihm, grundsätzlich ja, aber vor te nur heimlich geschehen. Heimlich aber sein würde, mit seinem Schuh auf Uno- zwölf Uhr mittags könne ich nicht dort konnte auf Dauer nichts geschehen, so er- Pulte zu hämmern. In Kennedys Augen sein. staunlich die ganze Operation von den Mo- war er nie nur die Gogol-Figur, der „gro- Ich erschien wie vereinbart und bekam skowitern in Szene gesetzt wurde. Sie be Clown“, für den viele ihn hielten. Ni- vom Ermittlungsrichter beim Bundesge- schickten Frachter mit Atomraketen in kitas plastische Redeweise beherrschte der richtshof Wolfgang Buddenberg den Haft- Richtung Kuba. Da niemand ihnen eine junge Präsident nicht. Es wäre ihm kaum befehl verlesen. Er versprach mir, ein – solche Leistung zugetraut hatte, wurden eingefallen, die entstandene Situation mit natürlich sorgfältig geprüftes – Radiogerät die Raketen spät entdeckt. zwei dickschädeligen Ziegenböcken zu zur Verfügung zu stellen. Dies war vorerst Es war der 22. Oktober 1962, als Präsi- vergleichen, die sich auf einem schmalen die Hauptsache. dent Kennedy in einer bewegenden Rede Steg über einem tiefen Abgrund die Köp- Der Grund meiner Verhaftung war der die Stärke der Vereinigten Staaten vor- fe stoßen. Artikel „Bedingt abwehrbereit“, verfaßt führte. Er hatte alle Pläne verworfen, ge- Wie kam nun aber ich nach Kuba? Nun, von dem Freund und Kollegen Conrad Ah- gen die auf Kuba stationierten Sowjetra- ich war nie in Kuba. Aber laut deutschen lers. Das schien nicht zu passen, weil keten einen Überraschungsangriff zu be- Aktenprotokollen muß ich doch dort ge- Strauß, an den ich natürlich zuerst dachte, mit Conny Ahlers beinahe be- freundet war. Das Ergebnis der Recherchen hatte mich ent- täuscht, weil er die von mir vermutete einseitige Atomwaf- fenbegehrlichkeit des Vertei- digungsministers Franz Josef Strauß nicht bestätigte, und so hatte ich den Artikel nicht ver- antwortlich durchgesehen. An diesem Samstag hörte ich im Radio von der Aussage eines Moskauer Sprechers, zweifellos würden die Männer zu sterben wissen. Die Männer, das konn- ten nur Besatzungen der sich dem Blockadering nähernden Schiffe sein. Weiter hörte ich, es sei Con- rad Ahlers in Torremolinos oder Malaga festgenommen worden. Der Erste Staatsanwalt Buback damals: „Das waren nicht wir!“ Wer war es dann? Es kam noch eine Meldung, die als strategischer Rückschritt bewertet wurde. Chruschtschow habe im Gegenzug die aus- drückliche und öffentliche Ab-

SIPA ziehung der mit atomaren Chruschtschow, de Gaulle in Paris 1960: Der Gobelin aus dem 18. Jahrhundert fehlte Sprengköpfen versehenen Ra- keten aus der Türkei verlangt. fehlen; einige Zeit war er der mit der größ- wesen sein. Es findet sich immer wieder Mit den nötigsten Sachen versehen, ten Verantwortung belastete Mensch der der Satz: „Augstein ist in Kuba.“ wurde ich in mein neues Domizil gebracht, Geschichte, für kurze Zeit sogar allein Auf eine merkwürdige und vertrackte eine Zelle des Untersuchungsgefängnisses gelassen von seinem ihm sonst blind erge- Weise war die größte Menschheitskrise mit Hamburg. Der stellvertretende Direktor benen Bruder und Justizminister Robert einer relativ bescheidenen Krise in der empfing mich wie einen Freund, und das ist Kennedy. Bundesrepublik verbandelt worden. Wer ja schön. Aber er hatte zu meinem Leid- Die Seeblockade, für die er sich dann hatte da verbandelt? Das würde sich her- wesen all die schweinischen Wandschmie- entschied (geschönt „Quarantäne“ ge- ausstellen. rereien übertünchen lassen. „Wenn Sie et- nannt), erwies sich als das taugliche Mittel, Am Freitag, dem 26. Oktober, erhielt ich was wollen, wenden Sie sich an mich.“ die Krise zu beenden. Zwar gab es unvor- von meinem Bruder Josef, der in Hanno- Die Tür fiel zu. Ich wußte, um welchen hergesehene Probleme mit sechs feindli- ver als Rechtsanwalt und Notar amtierte, Artikel es ging, fand das Wort „Landes- chen U-Booten, die in der Karibik um den den Anruf, die spiegel-Redaktion sei be- verrat“ aber nur lächerlich. Wie konnte Flugzeugträger „Essex“ herumstrichen. setzt, gegen mich liege ein Haftbefehl vor. man so etwas öffentlich tun? Mit Franz Jo- Verteidigungsminister Robert McNama- Ich hatte das Büro an diesem Abend et- sef Strauß hatte ich eine erbitterte Fehde. ra, auf der Seite der beiden Brüder ste- was früher verlassen und mich nach Hau- Nur, an welchem Hebel konnte er gedrückt hend, leistete sein Äußerstes an Krisen- se begeben. Der „Herr des Verfahrens“ sei haben? Als Journalist dachte ich an die management, als am 24. Oktober die ersten der „Erste Staatsanwalt“ Siegfried Buback Kuba-Krise. Noch war sie ja nicht erledigt. Meldungen eintrafen, es hätten etliche (1977 als Generalbundesanwalt von Terro- Den Chruschtschow hielt ich damals, etwas Schiffe vor der Quarantänegrenze abge- risten ermordet), der ein anständiger Mann ungerechterweise, für verrückt. dreht, andere aber mit verlangsamter Fahrt sei. Das war er. Wie konnte man, 150 Kilometer von den Kurs gehalten. Es kamen Hoffnungsschim- Er, Josef Augstein, habe mit Buback ver- USA entfernt, heimlich atomar bestückte mer auf. abredet, daß ich mich am Samstag, also Mittelstrecken-Raketen stationieren, im

106 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Hinterhof der Vereinigten Staaten? Den- selben Gedanken hatte später auch Chruschtschow selbst, aber eben nur als „Pensionär“ in seinen Erinnerungen. Wie konnte so etwas ohne Atomkrieg gutge- hen, und welcher Atomkrieg konnte wohl gutgehen? Je länger ich wach lag, desto mehr drängte sich mir der Gedanke auf, den nach Ende der spiegel-Affäre Edward Kennedy hinsichtlich des zurückgetrete- nen Strauß gegenüber Claus Jacobi auf der Reeperbahn in lauschiger Nacht folgen- dermaßen ausgedrückt hat: „This son of a bitch, how could he think to come along with this.“ Ich hingegen dachte in meiner Zelle nicht englisch und meinte in jenen Augenblicken auch nicht Strauß, sondern den in karibischen Gewässern abenteu- ernden Chruschtschow. Und immer noch wußte ich nicht, daß ich eigentlich in Kuba hätte sein sollen. Der katholische Gefängnispfarrer er- schien und wollte mich für das Vatikani- Bundeskanzler Adenauer, Verteidigungsminister Strauß 1961: Zwei mächtige Menschen, die sche Konzil in Rom begeistern. Ich inter- essierte mich lebhaft, und er brachte mir die erbetenen Schlafpillen. Bevor ich einschlief, dachte ich an Ber- lin, wo ich mit Onkel und Tante viele ver- gnügte Stunden erlebt hatte. Nun gut, man würde wegen Berlin keinen Atomkrieg führen, wie man ohnehin keinen führen würde. Aber Berlin war verloren, wenn es irgendeine militärische Konfrontation ge- ben sollte. Mir scheint heute, ich habe das damals gedacht. Während ich schlief, ging eine Katastro- phe an der Menschheit vorbei. Gemerkt habe ich davon nichts. Was Kennedy gedacht haben muß, ist klar. Kein Präsident, ob logisch oder nicht, konnte zulassen, daß auf Kuba ein atoma- rer Stützpunkt der UdSSR errichtet wür-

de. Das hat mit Gerechtigkeit wenig zu GROSSAR tun, viel aber mit der Frage, wer der Stär- Verhaftete SPIEGEL-Redakteure Augstein, Ahlers 1962: „This son of a bitch, how could he think kere ist und wer in der besseren geogra- phischen Position. blamable Erklärung sein Amt behalten welchen Gründen auch immer, nicht bei Je mehr die Kuba-Krise sich in den näch- können. Es war die Lüge, es war die dau- Sinnen*. sten Tagen verflüchtigte, für mich blieb im- ernde Lügerei, die ihm schließlich zum Ver- Daß wirklich er es war, der die gesamte mer noch die Frage offen, war ich nun in hängnis wurde. Vernichtungsstrategie gegen den spiegel Kuba gewesen, oder wenn nein, warum In seiner Raserei hatte er in der Nacht geleitet hatte, offenbarte er in Israel 1963, nicht? von Freitag, dem 26. Oktober, zum Sams- wo er wegen früherer Waffenlieferungen als Aufklärung kam so allmählich aus dem tag, dem 27., unbedingt seinen Freund Ah- Freund galt, auf deutsch dem Journalisten Radio. So wie die Exil-Kubaner und ihre lers festnehmen lassen wollen. Er wußte, Amos Elon, der die Sprache gut verstand: mächtigen Industriefreunde es auf die Ver- wo der sich aufhielt, und mißbrauchte den Ich würde mich verpflichtet fühlen, ge- nichtung Castros und seines sozialistischen Madrider Militärattaché Achim Oster, ei- nauso zu handeln, wie ich gehandelt habe. Experiments abgesehen hatten, so gab es nen Freund von beiden, indem er ihn ver- Die Frage, die auftrat, war eine neue Um- auch in der Bundesrepublik zwei mächti- anlaßte, den kurzen Dienstweg zu benut- schreibung der Pressefreiheit im Rahmen ge Menschen, die den spiegel erledigen zen. Oster, Sohn eines von den Nazis hin- des Interesses der nationalen Sicherheit. wollten. Der eine stand zu hoch, um das in gerichteten Widerständlers, widersprach Nicht ein einziges Mal hatte ich mit der irgendeiner Form zugeben zu müssen, das nicht. Er nahm den Auftrag an. ernstzunehmenden deutschen Presse ir- war der Bundeskanzler Dr. Konrad Ade- Hier ging es darum, dem Begehren und gendwelche Probleme, nur mit dem spie- nauer selbst. Man attestierte ihm, es sei den Befehlen des Ministers Geltung zu ver- gel. Sie sind die Gestapo im Deutschland ihm nicht zuzumuten, über eine so schaffen; und sie wurden unterstrichen unserer Tage. Sie führen Tausende persön- schmähliche Affäre den Bach hinunterzu- durch den Satz: „Augstein ist in Kuba.“ licher Akten – wenn ich an die Nazi-Ver- gehen. Der andere aber, noch jung, noch Es soll auch noch von einem Unterseeboot zukunftsträchtig, kämpfte mit untauglichen die Rede gewesen sein, in dem ich meinen Mitteln um seinen Kopf. Weg nach Kuba zurückgelegt haben sollte, * Augenzeugen sagten, er sei betrunken gewesen, als er Ich glaube noch heute, so, wie die Re- aber das konnte niemand beweisen. auf einem Empfang des Bundespräsidenten mit einem Vorgehen gegen den spiegel drohte. Auch Adenauer publik damals beschaffen war, hätte Strauß Wahr bleibt, in einer Weltkrise war der hatte ihn gewarnt, ab ein Uhr morgens noch etwas zu durch eine aufrichtige, wenn auch ziemlich deutsche Bundesverteidigungsminister, aus trinken.

108 der spiegel 5/1997 Zeitgeschichte Eröffnung des John Foster Dulles, wegen lefonisch, „daß Herr Ahlers so schnell wie Berlin müsse man sogar einen Atomkrieg möglich festgesetzt wird, damit der Gene- riskieren, fast zusammengebrochen war, ralbundesanwalt durch Ahlers – Augstein spielte nun den starken Maxen. Es ging ja sei in Kuba – erführe, wo das Loch im Ver- nur um die Karibik. teidigungsministerium sei“. Kuba, das war Während Premier Macmillan in London das Stichwort, das alarmierte. und General de Gaulle in Paris durchaus in Strauß verlor sein Spiel, aber Nikita Kennedys Wunsch einstimmten, kein Blut Chruschtschow das seine nur zur Hälfte. zu vergießen, sah der Alte nichts weiter als Zwar konnte er mit den USA weder in de- die Chance, den Bolschewisten eine Nie- ren Hinterhof noch überhaupt gleichzie- derlage zu bereiten. Wir wissen das von hen. Aber eines erreichte er: Kennedy ver- Horst Osterheld, dem außenpolitischen sicherte ihm, und alle Nachfolger haben Berater des alten Indianers in Rhöndorf: sich daran gehalten, auf Kuba nicht mehr gewaltsam zu intervenieren. Das mag die Adenauer meinte, daß die Amerikaner zu Sowjetunion finanziell teuer zu stehen ge- lange geschlafen hätten und auch nicht en- kommen sein, aber es ging um ihr Prestige. ergisch genug reagierten. Eine Blockade Es ging auch um das Prestige der beiden sei zu wenig; das Wichtigste sei, die Rake- Brüder Kennedy. Sie trieben ein doppeltes, ten wegzubekommen und die Basen zu ein hartes Spiel mit verteilten Rollen. besetzen. Robert Kennedy mußte den Russen versi- Man kann nicht sagen, daß die Bundes- chern, es komme gar nicht in Frage, daß republik damals von großen Staatsmän- der Abzug der in der Türkei stationierten

C. FISCHER nern regiert worden wäre, betrachtet man Atomraketen schriftlich in einem Abkom- den spiegel erledigen wollten den Bundeskanzler Adenauer und den Ver- men festgelegt werde. teidigungsminister Strauß. Beide handelten Sein Bruder, der Präsident, hingegen ließ aus verschiedenen Motiven und auch ge- eine Note vorbereiten, die der damalige geneinander. Beide mußten an einen Uno-Generalsekretär U Thant im Notfall Atomkrieg nicht unbedingt denken, wohl als eigenen Vorschlag präsentieren sollte. aber an ein Blutvergießen, in dessen Ver- Danach sollten die Raketen nicht nur aus lauf West-Berlin russisch geworden wäre, Kuba, sondern auch aus der Türkei abge- und sei es für drei Tage. Die gewohnte zogen werden. Nato-Welt wäre in Stücke gefallen. Es kam nicht dazu. Die beiden ameri- Adenauers von Osterheld schriftlich kanischen Pokerbrüder gewannen. Präsi- festgehaltene Position ist schlichtweg ver- dent Kennedy konnte die von ihm ohnehin antwortungslos. Sarkastisch bemerkte für nutzlos erachteten Jupiter-Raketen aus denn auch John F. Kennedy gegenüber sei- der Türkei abziehen, ohne daß darüber ir- nem Bruder Robert, daß gerade die ver- gendein Abkommen vorgelegen hätte. Be- wundbarsten Nato-Mitglieder, die Türken merkenswert ist, daß er sein Prestige für und die Deutschen, sich besonders drauf- geringer erachtete als einen blutigen Krieg. gängerisch gebärdeten. Dabei hatte er in Ein Mann starb. Es war der U-2-Flieger seinem Brief, der Adenauer am 22. Okto- Major Rudolf Anderson, der am 27. Okto- ber übergeben worden war, auf die unan- ber um 10.21 Uhr über Kuba abgeschossen genehmen Rückwirkungen in Berlin und wurde. ™

AP Deutschland hingewiesen, die immerhin to come along with this“ bedacht werden müßten. Dem Alten mach- te das nichts aus. „Er sei für beides“, erfuhr gangenheit von Deutschland denke –, fast US-Botschafter Dowling, für „die Bom- jeder hat irgend etwas zu vertuschen, und bardierung“ und für „die Invasion“. das ermöglicht Erpressung. Ich war ge- Nun wußte ich aber in meiner Zelle im- zwungen, gegen sie zu handeln. mer noch nicht, warum ich Kuba über- haupt besucht hatte. Das kam erst heraus, So weit, so schlecht. als die Botschaftsangehörigen in Madrid Ganz anders die Kennedy-Administrati- sich erklären mußten. on. Sie war natürlich klug genug, ihre wich- Daß ein Machtkampf zwischen dem tigsten Verbündeten in Europa anhand Außenminister Schröder und dem Vertei- ganz eindeutiger U-2-Aufnahmen von der digungsminister Strauß, dem gerade unter Gerechtigkeit ihrer Sache zu überzeugen. Beschuß Geratenen, in Gang war, lag vor Es gab niemanden, der den Amerikanern aller Augen. Aber der Außenminister hat- zumuten mochte, daß Washington binnen te naturgemäß die besseren Karten und zwölf Minuten in Schutt und Asche hätte die besseren Zertifikate. Ich war der Bau- gelegt werden können. Über Moskau dach- er gewesen, der gebraucht wurde, um den te man so nicht. Verfasser des Artikels „Bedingt abwehr- Der schwierigste Verbündete, Frank- bereit“ dingfest machen zu können. reichs Präsident de Gaulle, kehrte wieder Die Vorbereitungen für die Aktion gegen den früheren Brigadegeneral heraus und den spiegel begannen am 16. Oktober, am war von den U-2-Aufnahmen fasziniert. Er gleichen Tag, als Kennedy von den Raketen ließ Kennedy freie Hand und rief mehrfach auf Kuba erfuhr und seinen Krisenstab bil- aus: „C’est formidable, c’est formidable!“ dete. Das Gespräch, das Franz Josef Strauß

Und wie reagierte der Verbündete Kon- um seinen Posten und um seine Kanzler- STAR / BLACK A. RICKERBY rad Adenauer in Bonn, damals 86 Jahre zukunft brachte, wurde am 27. Oktober Kennedy-Brüder 1962 alt? Er, der Panikpolitiker, der bei der um 1 Uhr nachts geführt. Oster erfuhr te- Hartes Spiel mit verteilten Rollen

der spiegel 5/1997 109 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

FOTOS: T. MUSCIONICO / CONTACT / AGENTUR FOCUS Dreharbeiten in Budapest: „Du sollst sexy sein, sexy, schau sexy“

PORNOINDUSTRIE Das Geschäft mit „Flug AZ 254“ Budapest entwickelt sich zur Sexfilm-Metropole Europas. Internationale Produzenten rühmen die freizügigen Gesetze und die günstigen Arbeitsbedingungen, Darsteller zu finden ist kein Problem im „Bangkok des Westens“. Von Thomas Hüetlin

s ist gut zwei Jahre her, da kannte wicklern, weg von den 40 Pfennig Trink- las sie immer mal wieder im Anzeigenblatt sich Henriette Adam überhaupt nicht geld, weg von den Kolleginnen, die tage- express und fand die Zeile: „Schauspiele- Emehr aus. lang böse sein können, nur weil ihr blödes rin für Pornos gesucht.“ Sie stand damals in einem Friseursalon, Foto nicht im Schaufenster hängt. Zu den Dreharbeiten des Films mit dem verdrahtete die Hausfrauen mit Locken- Das Dumme war nur: Henriette konnte Titel „Flug AZ 254“ kommt Henriette wicklern, verdiente im Monat 200 Mark sich nicht daran erinnern, jemals auch nur Adam wie zu einem Geschäftstermin. Sie und an einem guten Tag ein paar Pfennig ein bißchen Liebe für den Verehrer emp- trägt ein Handy in der einen Hand und ei- Trinkgeld; sie hatte eine blonde Mähne, funden zu haben. Sie konnte sich nicht nen kleinen Koffer in der anderen, fragt, von der Fotos im Schaufenster hingen, und daran erinnern, auch nur einmal über eine wo sie sich umziehen kann, und steht we- sie hatte einen Verehrer, der sie heiraten seiner Bemerkungen gelacht zu haben. Sie nig später als Stewardess verkleidet im wollte. konnte sich nicht erinnern, ihn auch nur Wohnzimmer einer Villa, steil über der Das Trinkgeld und die blonde Mähne einmal ein wenig hübsch gefunden zu ha- Donau gelegen, ohne Aussicht, weil die brachten keinen großen Ärger, aber den ben.Wenn die 26jährige an ihren Verehrer Panoramascheiben wegen der Nachbarn Verehrer fanden die anderen Mädchen im dachte, fielen ihr immer nur zwei Dinge mit dicken Vorhängen verdunkelt sind. Friseursalon alles andere als lustig. Denn ein: „Ein alter Sack mit viel Geld.“ Der „Flug AZ 254“ wird sechs Drehta- der Mann trug die Anzüge maßgeschnei- Also heiratete sie nicht den Verehrer, ge dauern, hat ein Budget von 30 000 dert, er fuhr einen Mercedes 500 SEL, er sondern ihre große Liebe, einen Burschen, Dollar und ein Skript, das so dick ist wie hatte eine Villa in Rózsadomb, dem besten der bei der Armee ist und 220 Mark im eine Speisekarte in einer Autobahnrast- Viertel von Budapest; und ein Ehever- Monat verdient, und weil ihr die Locken- stätte. Der Autor und Regisseur von „Flug sprechen mit ihm, so schien es, war wie wickler auf die Nerven gingen und auch AZ 254“ ist ein ehemaliger neapolitani- eine Fahrkarte in ein Eins-a-Leben: weg die Grübeleien darüber, ob sie sich einen scher Heizungsmonteur namens Max Bel- von den Hausfrauen mit ihren Locken- Milkshake bei McDonald’s leisten kann, locchio, ein Selfmade-Pornohandwerker,

112 der spiegel 5/1997 der in zehn Jahren über 100 Pornos ge- Die Action ist, daß eine Kollegin von Am „Flug AZ 254“ verdienen die Visa- dreht hat und in letzter Zeit nur noch in Henriette Adam versucht, einen fünf Jah- gistin und der Requisiteur, der vorher bei Budapest arbeitet, der Stadt, von der er re alten Billig-Whiskey in ein Glas zu den Dreharbeiten zu Madonnas „Evita“ sagt, sie sei das neue Zentrum der eu- gießen und auf englisch zwei Sätze zu sa- dabei war, pro Tag 100 Mark, die Darstel- ropäischen Pornoindustrie. „Die Mädchen gen: „Wie gefällt Ihnen die Airline, bei der ler zwischen 500 und 1200 Mark. Der Ka- sind wunderschön“, sagt Bellocchio. „Man Sie arbeiten?“ Und: „Wie gefällt Ihnen meramann, sonst beim italienischen Fern- kann Sex überall drehen, sogar auf dem Budapest?“ Das Dumme an der Sache mit sehsender RAI unter Vertrag, weshalb er Flugplatz – kein Problem.“ der Action ist, daß Sexarbeiter, wenn sie deren Kamera gleich zur Arbeit mitge- Sex gehört neben Salami, Gänseleber nicht gerade aus England oder Amerika bracht hat, bekommt 500 Mark. Der Vil- und Wein zu den wenigen ungarischen kommen, so gut wie kein Englisch spre- lenbesitzer 2000 Mark. Der Produzent Ro- Produkten, mit denen sich Geld verdienen chen, und deshalb muß Regisseur Bel- magnoli für seine Arbeit 10000 Mark. Der läßt. „Immer noch besser“, sagt Adam, locchio jetzt immer wieder aufstehen, den Autor Bellocchio rechnet mit einem Ge- „als mir von einem Mann, den ich nicht lie- Billig-Whiskey in die Flasche zurückgießen winn von insgesamt 30 000 Dollar, wenn be, Dessous kaufen und mich danach bei und sagen: „Alles wieder von vorn.“ er „Flug AZ 254“ nach Spanien, Italien, Kerzenschein umsonst bumsen zu lassen.“ Das mit dem Billig-Whiskey und dem England, Deutschland, Frankreich, Hol- Zehntausende von Mädchen, sagt der Englisch nervt die Sexarbeiter, und sie sind land, Schweden, Polen, Tschechien, in die Soziologe Heleszta Sándor, versuchen so richtig glücklich, als sie sich endlich aus- USA und nach Israel verkauft hat. „Außer- nach oben zu kommen. Pro Monat werden ziehen dürfen. Dann zeigen sie auf der dem gibt es noch eine softe Version“, sagt in Ungarn über 100 Filme gedreht, schätzen Wohnzimmergarnitur alle möglichen Stel- Romagnoli. Für Südkorea. Dort dürfen Branchenkenner. Allein in Budapest, der lungen, und Max Bellocchio verfolgt das primäre Geschlechtsteile in Aktion noch Stadt, die das Milieu gern das „Bangkok Ganze vor seinem Videomonitor zweidrei- nicht gezeigt werden. des Westens“ nennt, sind es über 50. Nach Der Produzent trägt Krawatten von Ver- dem Niedergang des katholischen Glau- „Bei Nicht-Sex drücken die sace und will lieber zweimal am Tag gut bens und der kommunistischen Ideologie italienisch essen gehen als Sex vor der gebe es jetzt eigentlich nur noch eine Männer zu Hause Kamera sehen. Aber noch mehr als Sex Moral: „Sieh zu, daß du vorwärtskommst auf die Vorlauftaste“ vor der Kamera langweilen den 35jähri- – egal, ob legal oder illegal.“ gen Leute, die glauben, ihr Beruf sei mehr Von den Jobs, die die Sexindustrie zu viertel Stunden lang so hingebungsvoll, als wert als seiner. „Meine besten Kunden“, bieten hat, gelten die in der Pornobranche sei er der Chefdirigent der New Yorker sagt er, „die schauen meine Filme im Ho- als die besten. 500 bis 800 Mark verdienen Philharmoniker. Dann sagt sein Kollege telzimmer, wenn sie allein sind und be- die Darsteller am Tag, zwei- bis dreimal so- Gianfranco Romagnoli: „Es ist bald fünf trunken.“ viel wie jemand in einem Reisebüro oder Uhr. Zeit für die nächste Szene.“ Vor fünf Jahren kam Romagnoli nach in einer Bäckerei oder in einer voll durch- Also schreit Bellocchio: „Cumshot“, was Budapest, eröffnete eine Filiale seiner Mo- rationalisierten Autofabrik, im Monat. Die in der Pornosprache soviel wie sichtbarer dell-Agentur, blieb und ging beinahe bank- Sexarbeiter drehen unter Bedingungen, Samenerguß heißt. „Den Klassiker?“ fragt rott, weil die Ungarn andere Dinge brauch- die sie für luxuriös halten: „Im Gegensatz ein Mädchen. „Ja, den Klassiker“, ant- ten als hübsche Mädchen, die Laufstege zu einer normalen Nutte“, sagt Henriette wortet Bellocchio. Wenig später hat das entlangspazierten. Die Rettung hieß Porno, Adam, „muß ich nicht mit einem, der be- Mädchen Sperma im Gesicht und braucht und so kommt es, daß Romagnoli heute zu- trunken ist, der stinkt und mir, weil er un- für den Rest des Tages Augentropfen. sammen mit seiner Lebensgefährtin, der geschickt ist, auch noch weh tut. Die Jungs, Der „Flug AZ 254“ ist für alle Beteilig- ungarischen Sexkönigin Anita Rinaldi, eine mit denen wir arbeiten, sehen gut aus, und ten ein Geschäft – für manche ein gutes, der größten Produktionsagenturen in Eu- sie sind Sexprofis.“ für andere ein weniger gutes, auf jeden ropa hat. Einen Film dreht Anita noch pro Routiniers wie Zoltán und László, die Fall gehören Pornofilme nach dem Nie- Jahr, um ihren Sexköniginnen-Status zu auch zur Besatzung von „Flug AZ 254“ dergang der ungarischen Filmwirtschaft zu konservieren. „Natürlich kann ich das gehören. Sie haben es sich inzwischen auf den wenigen Filmen, die hier überhaupt nicht leiden“, sagt Romagnoli. „Ich habe der Wohnzimmergarnitur der verdunkel- noch produziert werden. italienisches Blut.“ ten Villa bequem gemacht. „Psst“, sagt Mit dem Sex anderer Leute verdient Ro- Max Bellocchio, dann: „Action.“ * Darstellerin, Produzentin Rinaldi. magnoli rund eine halbe Million Mark im

Drehpause von „Flug AZ 254“, Probeaufnahmen*: Vorwärtskommen, egal, ob legal oder illegal

der spiegel 5/1997 113 Gesellschaft kommt die Hälfte am nächsten Drehtag nicht wieder.“ Eigentlich müßte Henriette Adam jetzt ihr Handy nehmen, ein Taxi bestellen, nach Hause gefahren werden, den Hügel hinun- ter und über die Donau und dabei an et- was Angenehmes denken. Aber sie bleibt im Kinderzimmer, weil sie Angst hat vor der Fahrt und noch mehr Angst vor der Stille, die sie zu Hause in ihrer 63-Qua- dratmeter-Wohnung erwartet. Ihr Mann, der Soldat, wird zwischen den Ikea-Möbeln sitzen, nichts sagen und in den neuen Fernseher schauen, den sie von ihrem Pornogeld angeschafft hat. Am nächsten Morgen wird er fragen, ob sie sich nicht doch einen anderen Job su- chen wolle. Ihre Antwort darauf wird er kennen, sie hat sie ihm schon ein paarmal gegeben, es ist immer dieselbe: „Dieser Job ist vielleicht nicht der schönste, aber er ist der beste, den ich je hatte.“ Für Gefühle hat Henriette Adam keine Zeit. Und von Träumen, die sie nicht mit so wenig abenteuerlichen Tugenden wie Aus- dauer, Fleiß und Disziplin erreichen kann, will sie nichts wissen. Was sie sich vom Leben erwartet, ist nicht das große Glück, eher die Grund- Ungarische Pornoproduktion*: Skript so dick wie eine Speisekarte ausstattung aus dem Bestellkatalog des Wirtschaftswunders Pornographie: ein Jahr, bei seinen alten Freunden in Italien vorher die Sexarbeiter abgerackert haben. Haus, ein Kind, ein Wochenendhaus, ir- gilt er als Held, weil sie denken, er gehe mit Und doch sagt der Vater von zwei Kindern: gendwann vielleicht einen eigenen Fri- allen Frauen, die er unter Vertrag habe, „So was hält meine Ehe in Schwung.“ seursalon. persönlich ins Bett; seine Eltern rufen ihn Im Keller neben dem Swimmingpool des Und weil sie diesen neuen osteuropäi- jeden Tag auf dem Handy an – und trotz- Villenbesitzers legen die Sexarbeiter ihre schen Kampf um ein Leben, das sie für dem, so richtig stolz macht Romagnoli sein für heute letzte Schicht ein. Romagnoli besser hält, gewinnen will, hat Henriette Wirtschaftserfolg nicht. möchte endlich essen gehen, aber die Adam für die nächsten Jahre nur eines Sex ist ihm nicht wichtig, aber ohne Schicht zieht sich hin, weil Zoltán und vor: durchhalten, kein Aids kriegen, Geld Sex verkaufen sich seine Filme nicht. László, die Profis, Konditionsschwierig- machen, auch wenn ihr Mann das nicht „Hier Schneewittchen mit den sieben keiten haben. Ihr Handwerkszeug tragen versteht. Soll er doch auch Pornoschau- Zwergen, sieben Zwerge, sieben Betten, sie am Schwimmbadrand entlang. Dazu spieler werden. „Ich suche mir sicher Schlösser, Burgen, alles wir gefunden, al- murmeln sie Beschwörungsformeln. Regis- keinen neuen Job, dann lieber einen les wir gebaut. Hier Mata Hari, alles un- seur Bellocchio starrt auf seinen Monitor. neuen Mann.“ ™ sere Kostüme“, sagt Romagnoli, der gern „Anscheinend bin ich der letzte, der hier so etwas wie der Steven Spielberg des noch Spaß hat.“ Pornofilms wäre. „Es interessiert sich nur So wie es aussieht, ist Max nicht der letzte, sondern der einzige, der Spaß hat Im Keller legen am „Flug AZ 254“. Henriette Adam steht im Kinderzimmer zwischen einer Eisen- die Sexarbeiter für heute ihre bahn, gerahmten Babyfotos und einem letzte Schicht ein „Lassie“-Buch und zieht sich eine Stepp- jacke über. Anfangs, sagt sie, sei es ihr kein Schwein dafür. Bei Nicht-Sex drük- schwergefallen, mit jemandem Sex zu ha- ken die Männer zu Hause auf die Vor- ben, den sie noch nie vorher gesehen habe, lauftaste.“ aber inzwischen sei es ihr scheißegal, wer Der Mann, der seine Villa für 2000 Mark da komme: „Nur Spaß macht es nie. Wie am Tag räumte, hat jetzt wieder auf seiner kann Sex Spaß machen, wenn der Regis- Couchgarnitur Platz genommen und starrt seur sagt ‚Beine an den Kopf‘, ‚Gesicht zu über Kamerakoffer und zusammenge- mir drehen‘, ‚Du sollst sexy sein, sexy, klappte Stative hinweg auf seinen Groß- schau sexy‘.“ Und dann sagt sie: „Ande- bildfernseher, in dem auf Pro Sieben die rerseits – haben alle Leute, die in einer Reklame für den neuen VW Passat läuft. Bank arbeiten, Spaß?“ „Nicht schlecht für einen Passat“, mur- Henriette Adam, die heute „Das ist ja melt er in eine Chips-Tüte hinein. Eigent- schön“, „Nein, wirklich?“, „Vielen Dank“ lich müßte er, der Häuser, eine Brotfabrik sagen durfte und viereinhalb Stunden Sex und eine Jeansladen-Kette besitzt, nicht haben mußte, überlegt kurz, ob sie Roma- campieren auf einer Couch, auf der sich gnoli nach der Tagesgage von 800 Mark fragen soll, aber sie läßt es bleiben, als sie * Regisseur Bellocchio, Produzent Romagnoli, Dar- den Chef sagen hört: „Keines der Mädchen Pornodarstellerin Adam stellerin. bekommt heute abend sein Geld – sonst „Der beste Job, den ich je hatte“

114 der spiegel 5/1997 „Black-Jack-Professor“ genannt wird, ver- GLÜCKSSPIEL rät ein Insiderwissen, das Harry, der früher „mit Opa 66 gespielt“ hat, schon mitbringt: „Die Zwei zählt zwei, die Drei zählt drei, Durchschnitt das As zählt elf oder eins.“ Die ganz geheimen Hintergrundinfor- mationen bewahrt der agile Heimarbeiter, im Schlitten den ein pathologisches Ohrensausen vor fünf Jahren in den Vorruhestand zwang, Ein Münchner Kartenprofi zwischen Krimis und Spionagethrillern auf. trainiert Black-Jack-Spieler und Klarsichtfolie für Klarsichtfolie blättert der passionierte Mathematiker Schautafeln verspricht „langfristig“ und Merksätze aufs grüne Tuch, die er sich Gewinne in der Spielbank. nicht selber ausgedacht, aber aus Hand- büchern, Statistiken und Glücksspiel-Rat- orst Behrend betreibt sein Geschäft gebern zusammengetragen hat. in einer Art, die eher an Stasi-Ge- „Die Frage ist nie, ob ich bei 17 noch Hschichten als an Heimarbeit erin- kaufe“, erklärt Behrend auch schlichte Re- nert. In der abgedunkelten Kammer einer geln im Dozententon, „sondern bei wel- Etagenwohnung im Münchner Stadtteil cher Hand, hart oder weich.“ Schüler Solln empfängt der Hausherr morgens um Böhm ist inzwischen derart fortgeschrit- zehn im Ausgehjackett mit roter Seiden- ten, daß er begreift: „Eine Zehn plus sieben

krawatte Besucher. HAMANN H. A. FRIEDRICHS / AGENTUR ist hart,As plus sechs ist weich, weil das As Harry Böhm kommt in Jeans und Frei- Black-Jack-Trainer Behrend statt elf Punkten auch einen Punkt zählen zeithemd. Die Kluft seines Gastgebers Reif für die Formel kann.“ Der Mann ist reif für die Formel. schüchtert ihn etwas ein. Behrend, 50, Behrend präsentiert seinen letzten weist den jungen Mann auf einen Stuhl. Er Trumpf: In vier Tabellen, nicht größer als knipst die Tischlampe an und setzt eine ein DIN-A5-Blatt, hat er die Black-Jack- getönte Pilotenbrille auf. So verschwöre- Synthese zusammengefaßt. Schwarze und risch, wie die beiden Männer sich gegen- weiße Kästchen zeigen für jede denkbare übersitzen, könnte es um Plutonium oder Kartenverteilung an, ob der Spieler noch um Waffengeschäfte gehen. Doch der Dun- eine Karte nehmen, doppeln, teilen oder kelmann, der seine Ware mit der Eleganz gar nichts machen soll – die Grafik paßt in eines Topagenten offeriert, legt Spielkarten jeden Ärmel, „muß man aber im Kopf ha- auf den Tisch, alle vier Farben, von Karo ben“, sagt Behrend: „Wenn mich nachts ei- zwo bis Kreuz As. „Wir gehen“, sagt Beh- ner weckt und ruft: ,16 gegen 10‘, frage ich rend und blickt seinem Kunden in die Au- prompt zurück: ,Steht meine 16 mit zwei gen, „von einer Durchschnittsverteilung oder drei Karten?‘“ im Schlitten aus.“ Der Meister räumt ein, daß der Glücks- Böhm studiert Philosophie und jobbt anteil trotz aller Strategie immer mit von sich so durch – kein Draufgängertyp, aber der Partie ist: „Was ich für Karten kriege, etwas Geld und ein wenig Nervenkitzel kann ich nicht vorhersagen.“ Auch eignet könnte der Vater zweier Kinder gut ge- sich Black Jack schlecht, die Bank zu brauchen. Darum ist er hergekommen. sprengen; anders als beim Roulette ist der Diplomvolkswirt Behrend bietet Black- Einsatz in Deutschland auf kleinere Be- Jack-Kurse an. So heißt die Kasinovariante träge begrenzt, an kleinen Tischen auf 500, des Kartenspiels 17 und 4. Dabei muß der an großen auf 1000 Mark pro Spiel. Und

Spieler nach und nach vom Croupier, der UND SCHEIKOWSKI JAUCH die Bilanz, so Behrend, falle erst ab „einer hier Dealer heißt, so viele Karten anfor- Spielkasino im Film* gewissen Ereignismenge, sagen wir 1000 dern, daß er möglichst nah an 21 Punkte „Auch reiche Leute verlieren nicht gern“ Spiele“, stabil zugunsten des Spielers aus. kommt. Wer sich überkauft, verliert sei- In den USA werden Kasinogäste, die mit nen Einsatz an die Bank. Der Schulungstag kostet 1500 Mark – ein so einem System gewinnen, dennoch kon- „Black Jack ist das einzige Kasino- Einsatz, den die meisten Kunden des sequent des Hauses verwiesen. In Deutsch- spiel“, bestätigt Wolfgang Müller, techni- Glücksspiel-Lehrers schon mal an einem land sind die Spielbanken großzügiger, weil scher Direktor der Spielbank Garmisch- Kasinoabend verzocken. echte Könner selten sind. Allerdings kann Partenkirchen, „in dem sich die Gewinn- Unternehmergattinnen,Ärzte,Anwälte, sich Behrend in bayerischen Kasinos schon wahrscheinlichkeit optimieren läßt.“ Da Vermögensberater – seit Behrend im Fern- nicht mehr blicken lassen. Denn er hat es setzt Kartenprofi Behrend an. Daß er sei- sehen aufgetreten ist, setzen gutbetuchte nach einigen tausend Runden zu einer ne Schüler in einem Tag fit für Las Vegas Kartenbesessene aus dem ganzen Bundes- „kleinen Residenz am Bodensee“ gebracht. trainiere, sei vielleicht „ein bißchen viel er- gebiet auf die Trümpfe des „VIP-Trainers“ Bis dahin muß Böhm noch ein paar Kar- wartet“, meint der gebürtige Hamburger. (handelsblatt). Behrend: „Auch reiche tenstapel üben. Seine Frau hat ihm zu Hau- Aber garantiert mache er aus jedem in Leute verlieren nicht gern.“ se die Kombination wie Vokabeln abge- fünf, sechs Stunden Einzelunterricht einen Weniger Bemittelte wie Harry Böhm, fragt. 300 Partien hat er sich selber gelegt Black-Jack-Strategen, „der auf Dauer ge- die es kaum abwarten können, daß sich und 20 Jetons Gewinn gemacht. gen die Spielbank gewinnt“. ihre Investition am grünen Tisch bezahlt Sein erster Angriff auf die Spielbank Das „Basisseminar“ schließt die be- macht, werden von dem frühpensionier- Garmisch-Partenkirchen bleibt allerdings achtlichen Entertainer-Qualitäten des Pri- ten Verwaltungsbeamten im Dealer-Ko- in der Vorbereitung stecken. Böhm hat ein vatlehrers und eine kuschelige Atmosphä- stüm auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Pils getrunken und „mit feuchten Händen“ re ein. Die Vorlesung hält der Heimdealer Behrend, dem es schmeichelt, wenn er 400 Mark umgetauscht. Doch außer Harry zwischen Seidenblumen, Kunstpflanzen will niemand Black-Jack spielen, der Tisch und Dutzenden von Kerzenleuchtern ab. * Sharon Stone (r.) 1995 in „Casino“. bleibt geschlossen. Nichts geht mehr. ™

der spiegel 5/1997 115 Gesellschaft gewandt. Und siehe da: Eines Tages kam ein Anruf von dem, der mich zuletzt mit KÖNIGSHÄUSER „No, strictly no. Don’t try anymore“ ab- gewimmelt hatte. Nun säuselte der Zerbe- rus plötzlich süßsauer: „I have been com- „No, strictly no, Sir!“ manded to arrange an interview.“ SPIEGEL: Sie haben sich auch nie unge- bührlich betragen. Kritiker werfen Ihnen Interview mit Rolf Seelmann-Eggebert über das vor, Sie dienerten allzu brav vor den Ma- neuerwachte Interesse an der Monarchie jestäten. SEELMANN-EGGEBERT: Denen sage ich: Un- Seelmann-Eggebert, 59, NDR-Chefkor- Was denkt sich der aufrechte Brite, wenn freundlich wird mit den Royals schon ge- respondent, ist Monarchie-Experte der sein Thronfolger sich nichts sehnlicher nug umgesprungen. Wenn wir auf der rü- ARD und hat in diversen TV-Reporta- wünscht, als der Tampon seiner Geliebten den Yellow-Press-Welle ritten, blieben uns gen alle wichtigen Königshäuser por- zu sein? alle Palasttore verschlossen. trätiert. SEELMANN-EGGEBERT: Das war verheerend, SPIEGEL: Mit dem Windsor-Ticket sind Sie und ich habe Prince Charles wirklich be- dann durch ganz Europa getigert. SPIEGEL: Die Dänen feiern ihre Königin, wundert, wie er in jenen Tagen seine Ter- SEELMANN-EGGEBERT: Ja, unser Vierteiler Osteuropa träumt von neuen Zaren. Was mine wahrgenommen hat – immer mit ze- „Royalty“ wurde zwar in der ARD anfangs ist so faszinierend an gekrönten Häup- remonieller „stiff upper lip“. schrecklich angefeindet und verlacht, aber tern? SPIEGEL: Wie sind Sie als Hofberichter in er war ein Quotenrenner, und der Sender SEELMANN-EGGEBERT: Sie sind Garanten für diese verwahrlosten Kreise vorgedrungen? schrie nach weiteren Hoheiten. Kontinuität: Es ist doch schön, mit einer Haben Sie den Hofmarschall bestochen? SPIEGEL: Wo haben Sie am liebsten anti- Königin alt zu werden. Bei uns wird ein SEELMANN-EGGEBERT: Also, früher ging es chambriert? sympathischer Präsident gewählt, und doch gesitteter zu. Sexskandale bei Hofe SEELMANN-EGGEBERT: Besonders schön war dann ist er weg, und alle klagen: Schade, waren unbekannt. Prinzessin Anne zum es in Dänemark, bei Königin Margrethe. der war doch so nett. Aber wichtiger: Die Beispiel, meine erste Interviewpartnerin, Sie ist sympathisch, weil sie sich überhaupt Monarchen sind die Märchenprinzen in hatte damals nur das harmlose Problem, nicht scheut, Gefühle zu zeigen. der Wirklichkeit, die Magier, die den daß sie an einem rabaukigen Image litt, SPIEGEL: Sie ist mit ihrem Volk ein Herz Menschen verzaubern und Geheimnisse und das wollte der Hof ändern. Sie lag ja und eine Krone. Sogar ihre Nikotin-Sucht bieten. mit Fotografen im Clinch, die sie immer wird ihr gnädig verziehen. GROENEVELD / NDR L. ERDMANSKI Interviewer Seelmann-Eggebert mit Silvia von Schweden, Juan Carlos I. und Sofia von Spanien, Prinzessin Anne: „Es ist doch schön,

SPIEGEL: Haben zum Beispiel die Roma- nur knipsen wollten, wenn sie mal wieder SEELMANN-EGGEBERT: Ja, sie ist wunderbar nows eine Chance, wieder Herrscher aller vom Pferd in den Modder geplumpst war. und redet auch nicht so staatstragend da- Reußen zu werden? SPIEGEL: Und da war die ARD als Steigbü- her. Zum Beispiel hat sie uns ganz an- SEELMANN-EGGEBERT: Absolut nicht. Ich hal- gelhalter gerade recht. schaulich erzählt, mit welcher Freude sie te nichts davon, die Monarchie als letzte SEELMANN-EGGEBERT: Wir haben jedenfalls als Kind die Zerstörung der Gestapo-Zen- Rettung in schwierigen politischen Situa- 1985 ein schönes Interview mit ihr im trale in Kopenhagen erlebt hat. Übrigens: tionen anzusehen. Die Königshäuser in Buckingham Palace geführt und uns lange Interessant in diesem Zusammenhang ist Osteuropa und auf dem Balkan sind seit über die Frage unterhalten, wie lang die doch, daß die meisten Monarchien aus dem Jahrzehnten außer Dienst. Es hat nur ein- Gebärpause sein sollte, die eine afrikani- Zweiten Weltkrieg enorm gestärkt hervor- mal geklappt, eine sozusagen schlafende sche Mutter zwischen zwei Schwanger- gegangen sind. Sie haben an Ansehen ge- Monarchie wiederzubeleben – in Spanien. schaften einhalten sollte. wonnen, weil die Herrscher zu Symbolfi- SPIEGEL: Was war das Erfolgsrezept? SPIEGEL: Was kam nach diesem gynäkolo- guren des Widerstandes gegen Hitler- SEELMANN-EGGEBERT: Der Diktator Franco gischen Gedankenaustausch? Deutschland wurden. hatte die Rückkehr der Bourbonen von SEELMANN-EGGEBERT: Ich wollte natürlich, SPIEGEL: Die Firma Windsor hat den Bonus langer Hand geplant, und der kleine Prinz wenn schon nicht die Queen, dann wenig- verspielt, nur noch zwei Drittel der Briten Juan Carlos hat seinen Job in Spanien von stens den Thronfolger vor die Kamera krie- verehren die Herrschaften. Hält der kö- der Pike auf gelernt. Die osteuropäischen gen. Da wird man, als ausländischer Re- nigliche Betrieb allzuviel Distanz zu seinen Thron-Prätendenten sprechen ja zum Teil porter, erst mal an eine niedere Charge Untertanen? nicht mal mehr ihre Muttersprache und verwiesen – den Assistant Press Secretary, SEELMANN-EGGEBERT: Scheint so. Jetzt rächt haben kein Gefühl für das Land. und der mauerte. Ich hab’ dann alle Hebel sich wohl, daß die Royals ihre beliebten SPIEGEL: Takt und Feeling gehen ja be- in Bewegung gesetzt und mich schließlich kontinentalen Vettern immer als „Fahrrad- kanntlich auch regierenden Häusern ab. an die deutsche Verwandte der Windsors Monarchien“ belächelt haben. Nun wird

116 der spiegel 5/1997 im Buckingham-Palast beratschlagt, wie weit man sich dem Volk öffnen soll. SPIEGEL: Wieviel darf man denn preisge- ben von den Mysterien der Monarchie? SEELMANN-EGGEBERT: Das ist die zentrale Fra- ge: Muß es so weit gehen, wie am japani- schen Kaiserhof, wo wirklich alles verriegelt und verschlossen ist? Wir haben damals bei seinem Staatsbesuch in Deutschland 1993 versucht, ein Interview mit Tenno Akihito zu drehen. Sogar Bundespräsident von Weizsäcker hat sich für uns eingesetzt.Aber der Oberzeremonienmeister war wie be- täubt vor Entsetzen und entschied dann für seinen Herrn und Meister: „It’s a no, Sir.“ SPIEGEL: Haben Majestät gar nichts zu mel- den? SEELMANN-EGGEBERT: Das hat mich am mei- sten irritiert. Da wundert es einen nicht, daß die Kaiserin vor ein paar Jahren mo- natelang verstummte – eine psychische Blockade. Dabei ist sie eine extrem sym- pathische, musisch wahnsinnig aufge- schlossene Frau, die beinahe ein Liebes- verhältnis zu dem berühmten Cello-En- semble der Berliner Philharmoniker hat. Beim Bonner Bankett ist sie ganz entzückt auf die Herren zugegangen. Für Hof- schranzenkreise ist diese Schwärmerei schon viel zu volksverbunden, zu nah an der misera plebs. STUHLMACHER / NDR STUHLMACHER mit einer Königin alt zu werden“

SPIEGEL: Sind Sie im Laufe Ihrer höfischen Karriere ein heimlicher Monarchist ge- worden? SEELMANN-EGGEBERT: Weder heimlich noch bekennend. Ich habe nur ein journalisti- sches Feld besetzt, das mir viel Spaß macht. Das kann man eine Schwäche nen- nen, auf jeden Fall haben wir bei den Zu- schauern einen Nerv getroffen. SPIEGEL: Trauern Sie den Hohenzollern nach? SEELMANN-EGGEBERT: Gewiß nicht, aber wenn man der Phantasie freien Lauf ließe: Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Wilhelm II. nicht abgedankt hätte? Ein österreichischer Gefreiter namens Adolf H. hätte unter dem Kaiser nie Karriere gemacht. Nun müssen wir uns damit be- gnügen, europäische Dynastien mit Bürger- Blut aufzufrischen, siehe Silvia von Schwe- den, geborene Sommerlath. Als Hofliefe- ranten sind wir immer noch salonfähig. ™

der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

IRAK Blutiger Familienstreit iktator Saddam Hussein hat Todfein- Dde im eigenen Clan: Die Attentäter, die am 12. Dezember seinen Sohn Udai, 32, niederstreckten, besaßen Zugang zum inneren Herrschaftszirkel. Einer der An- führer war Raad el-Hasaa, früher Mitglied in Saddams Palastwache, der den Tod sei- nes Onkels Omar rächen wollte. Saddam

hatte dem entfernten Verwandten wegen E. HILDEBRANT / SYGMA FOTOS: unerlaubter Kritik 1990 die Zunge aus dem Versenkung ausgemusterter Kampfflugzeuge vor Florida Mund schneiden und ihn dann ermorden lassen. Zwar verlor Neffe Hasaa bei der USA anschließenden Säuberung seinen Job, be- hielt aber beste Kontakte zur Führung. Di- Bomber als Korallenriff plomaten glauben weniger an einen poli- tisch motivierten Anschlag, sondern an ie U. S. Navy will ihren Militärmüll umweltfreund- eine Verschwörung der Familie Kamil, aus Dlicher entsorgen: Spezialkommandos versenken aus- der die auf Saddams Geheiß voriges Jahr gemusterte Kampfbomber vom Typ Grumman A-6 In- ermordeten Schwiegersöhne des Dikta- truder vor der Nordostküste Floridas ins Meer, um sie in tors stammen. Sohn künstliche Korallenriffe zu verwandeln. Mehr als drei Udai liegt derzeit Jahrzehnte lang hatte die bei den Piloten beliebte All- gelähmt und noch wettermaschine auf amerikanischen Flugzeugträgern ge- immer mit mehre- dient. Nun soll das Militärgerät, das in Vietnam wie im ren Kugeln im Kör- Golfkrieg eingesetzt war, Meeresfische beherbergen.Auf per in einem streng die bequeme Recyclingmethode waren die Grumman- abgesicherten Kran- Manager durch die Beobachtung gestoßen, daß Fische – kenhaus in Bagdad angezogen durchs funkelnde Aluminium – ins Meer ge- – selbst seine Ärzte stürzte Flugzeuge gern besiedeln. Die Aktion scheint dürfen die Klinik von Erfolg gekrönt: Königs- und Stachel-Makrelen sind nicht mehr ver- in den versenkten Bombern bereits heimisch geworden. Fische in Grumman-Wrack lassen. Inzwischen wurden mehr als 600 Geheimdienst- ALGERIEN ris kann der algerische Präsident kaum ler, Armeeoffiziere noch zählen: Um nicht neue Attentate von

M. ATTAR / SYGMA M. ATTAR und Angestellte des Regime vor dem Fundamentalisten im eigenen Land zu pro- Saddam-Sohn Udai Präsidentenpalastes vozieren, unterblieb nun jegliche Solida- verhaftet, die über Bankrott? ritätsbekundung für das Regime in der seine Aktivitäten informiert waren. „Sad- früheren französischen Kolonie. Während dam Hussein ist verwundbar wie nie zu- m sechsten Jahr des Bürgerkriegs droht Zeroual vorigen Freitag „ausländische vor“, urteilte ein Irak-Experte der CIA. Idem Regime in Algier die Isolation. Kreise“ für den Terror verantwortlich Durch seine Politik der eisernen Faust ge- machte, greift Algeriens Bevölkerung zur genüber den islamischen Fundamentalisten Selbsthilfe: In der Gebirgsregion Kabylei NORDKOREA verärgert Staatschef Liamine Zeroual die östlich der Hauptstadt setzten gutbewaff- letzten Verbündeten – Washing- Pech mit Blüten ton und Paris hatten auf die von ihm angekündigte Liberalisierung as abgeschottete Reich des „Großen gesetzt. Doch der Versuch des Ex- DFührers“ versucht offenbar seine De- Generals, den Widerstand seiner visennöte mit Mafiamethoden zu lösen. Gegner durch Gewalt zu brechen, Die mongolische Polizei nahm jetzt einen war vergeblich: Allein die Offen- nordkoreanischen Diplomaten fest, der in sive der „Bewaffneten Islami- Ulan Bator mehr als 100 000 US-Dollar schen Gruppe“ (GIA) im Fasten- Falschgeld umgetauscht hatte. Die offen- monat Ramadan kostete in den sichtlich daheim gedruckten Blüten be- letzten zwei Wochen mehr als 200 eindruckten mongolische und amerikani- Menschen das Leben – insgesamt

sche Spezialisten durch ihre hohe Qua- forderten die Kämpfe seit dem AP lität. In Kambodscha war bereits ein in- Militärputsch 1992, der den Wahl- Zerstörter Militärbus nach Anschlag in Algier ternational gesuchter Japaner verhaftet sieg der Islamisten verhinderte, worden, der als Chef eines Fälscherrings über 50000 Opfer. Damals hatten die USA nete Volkswehren mutmaßliche Islamisten gilt: Der Mann war mit einem von Pjöng- und Frankreich den kalten Staatsstreich fest, in der von GIA-Terroristen besonders jang ausgestellten Diplomatenpaß unter- als das kleinere Übel gebilligt. Ermuntert heimgesuchten Mitidscha-Ebene gab es er- wegs. Das hochverschuldete Nordkorea durch eine Studie über die Lage in Algeri- ste Fälle von Lynchjustiz. Selbst in den Mo- bemüht sich seit längerem, mit dem Ver- en, geht Washington nun auf Distanz. Das scheen von Algier wagten Freitagsprediger kauf von Gold sowie Schnaps- und Ziga- Dossier der angesehenen Denkfabrik Rand erstmals seit Jahren, die terroristischen rettenschmuggel seine verzweifelte finan- Corporation hält das Militärregime poli- Drahtzieher der „falschen Islam-Generäle“ zielle Situation aufzubessern. tisch bereits für „bankrott“. Auch auf Pa- als „Feinde Allahs“ anzuprangern.

der spiegel 5/1997 119 Ausland

ÖSTERREICH Clinton aus dem Alpenland Beginn einer neuen Ära: Nach dem Rücktritt von Kanzler Vranitzky greift sein Nachfolger Viktor Klima durch und tauscht fast alle sozialdemokratischen Regierungsmitglieder aus. Wird er – von Fall zu Fall – auch mit dem Rechtspopulisten Jörg Haider zusammenarbeiten?

as kann doch nicht Österreich sein: bleiben in der Regierung. Jede Neuerung wirkt in einer Stadt, in der so viele Be- Da räumt einer mit den Klischee- wirkt inhaltlich stimmig und buhlt um wohner ihren Griesgram im Gesicht tra- Dbildern der Politik in der Alpenre- bestimmte Wählergruppen, von der grün- gen. Die Aufmerksamkeit ist ihm gewiß, publik auf. Nicht zögerlich, umständlich, orientierten Frauenministerin bis zum be- und er nutzt sie auch. verschwatzt kommt der neue Mann da- amtenfreundlichen Innenminister. Jedes Händeschütteln ist für ihn ein po- her, sondern entschlossen, effizient und Interviews entzog sich Klima konse- litischer Akt, und der Drang zum freund- diskret. quent, und doch war er ständig präsent. schaftlichen Klaps scheint ihm angeboren. Kaum hatte der sozialdemokratische Seine junge Frau führte den Boulevard Jeder, der ihm begegnet, fühlt sich ernst Bundeskanzler Franz Vranitzky am vor- durchs biedere Eigenheim, dem Massen- genommen, zumindest ein paar Sekunden letzten Wochenende überraschend seinen blatt neue kronenzeitung blieb die po- lang. Kleine persönliche Bemerkungen ver- Rücktritt erklärt, machte sich sein desi- puläre Schlagzeile vorbehalten: „Ein Mi- mitteln die schmeichelhafte Illusion einer gnierter Nachfolger Viktor Klima an eine nister wird eingespart!“ Soweit kam es Verschworenheit. Radikaloperation. dann doch nicht. Aber sogar der konser- Wie ein alpenländisches Alter ego des Präzise wie ein Chirurg wandte sich Kli- vative Vizekanzler Wolfgang Schüssel charismatischen Dauerwahlkämpfers Bill ma seinem Patienten zu: der roten Regie- staunte über die neue Truppe: „Eine ver- Clinton arbeitete sich der Lehrersohn Vik- rungsmannschaft. Keiner aus dem sozial- nünftige Auswahl.“ tor Klima aus Schwechat bei Wien mit den demokratischen Team darf seinen bisheri- Da scheint einer zu wissen, wie man es böhmischen und ungarischen Vorfahren gen Posten behalten, nur zwei von sieben macht. Klimas einladendes Dauerlächeln in Österreich nach oben – der gelernte Be- BADZIC / GAMMA STUDIO X BADZIC Designierter Bundeskanzler Klima: „Des bring ma scho zsam“

120 der spiegel 5/1997 triebswirt stieg vom Manager im Mineralöl- Moderator Vranitzky begeisterte seine men des Zeitalters der Globalisierung konzern OMV über zwei Kabinettsposten Landsleute in den Jahren der Kontroversen der Kompaß fehlte. Sparpakete unter der bis ins Machtzentrum der Republik auf. um die verheimlichte Kriegsvergangenheit Maastricht-Flagge belasteten sozialdemo- „I hoit zu euch“, ich halte zu euch, des Oberleutnants Kurt Waldheim im Bal- kratische Wählerschichten, die Integration erklärte er einst dem Kneipenwirt der kan. Der ehemalige Uno-Generalsekretär in die Europäische Union stockte. „Tiroler Stub’n“ in seiner kleinbürger- war als Staatsoberhaupt Österreichs inter- Bei der Umsetzung der EU-Richtlinien lichen Nachbarschaft und blieb während national geächtet,Vranitzky schlüpfte glei- zählt Österreich zu den Schlußlichtern. In seines politischen Aufstiegs tatsächlich chermaßen in Kanzler- und Präsidenten- den Sitzungen der Ministerräte, in der eben Stammgast. rolle und genoß den Spitznamen „Kaiser diese Richtlinien beschlossen werden, gilt „Des bring ma scho zsam“, das schaffen wir schon, beru- higte er als Minister für die ver- staatlichte Industrie die ver- ängstigten Arbeiter und zog die Privatisierung maroder Be- triebe ohne Streiks flott durch. Seinen sozialdemokratischen Parteifreunden wiederum si- gnalisierte er mit fast jeder Körperbewegung und Wort- meldung: Ich kann es. Mühelos polemisierte Klima als Finanzminister vor SPÖ- Abgeordneten noch Anfang Ja- nuar gegen die „Machinatio- nen mit dem Dollar, der als Handelswaffe eingesetzt wird“, wechselte danach aber sofort

in ein gedrechseltes Idiom, als REUTERS R. H. SEYBOLDT / SAXON 93 er „im Sinne der Glaubwür- Vranitzky nach dem Rücktritt, Populist Haider: „Harte, aber sachliche Konfrontation“ digkeit und Offenheit der Poli- tik“ forderte, alles müsse „trocken und Vranz“. Gegenüber Israel und den jüdi- die Alpenrepublik als Mitgliedstaat mit sachlich diskutiert“ werden. Wenige Tage schen Emigranten in aller Welt fand er an- dem geringsten Eigenprofil. Für Jobs in der später setzte er kühl kalkulierend gegen gemessene Worte, denn eine Eigenschaft Brüsseler Kommission und beim EU- alle Widerstände des Koalitionspartners zeichnet ihn aus: Er ist ein Antifaschist im Parlament bewerben sich so wenige Öster- den Verkauf der Creditanstalt, die der besten Sinne. reicher, daß die ohnehin bescheidene Einflußsphäre der Konservativen zuge- Doch die Chance, die historische Zäsur Quote für dieses kleine Land nicht aus- rechnet wurde, an die SPÖ-dominierte von 1989 mit einer mutigen Ostpolitik zu gefüllt wird. Bank Austria durch. verbinden, blieb ungenutzt. Die beneide- Dabei bergen gerade die beiden anste- Solch eine verlockende Melange aus de- te „Insel der Seligen“ (Papst Paul VI.) wur- henden großen Entscheidungen der Eu- monstrativer Volksnähe und berechnender de, durch den Zusammenbruch des Kom- ropäischen Union um den Euro und die Durchsetzungsfreude, wie sie sich in Vik- munismus, zum Frontstaat an der Grenze Osterweiterung zwei gefährliche politische tor Klima findet, ist nunmehr der letzte zwischen Reich und Arm, der so lange un- Tretminen für Österreich: Schon bei den Trumpf der Sozialdemokraten, um sich die durchlässige Eiserne Vorhang verwandelte EU-Parlamentswahlen im vergangenen Regierungsmacht in der Alpenrepublik Oktober konnte Jörg Haider von den doch noch auf längere Zeit zu erhalten. Nicht einmal jeder Sehnsüchten nach einer neuerlichen alpi- Nach zehn Jahren Großer Koalition von nen Splendid isolation enorm profitieren. SPÖ und Konservativen waren zuletzt ge- dritte Österreicher ist für Weil erstmals mehr Arbeiter für seine Frei- rade noch acht Prozent der Wähler mit der die neue Euro-Währung heitlichen als für die Sozialdemokraten Regierungsarbeit zufrieden. Ohne spekta- stimmten, kommen die roten Politstrategen kuläre Einschnitte, so die Einschätzung der sich in eine Art Rio Grande Europas. Die seither nicht mehr zur Ruhe. sozialdemokratischen Parteispitze, wäre Angst vor dem Fremden grassierte, sie in- Gerade 31 Prozent befürworten gegen- der weitere Aufstieg des hemmungslosen fizierte die Innenpolitik. wärtig den Euro, im Falle eines Beitritts Rechtspopulisten Jörg Haider, dessen Frei- Obwohl in den neunziger Jahren bislang von Tschechien und Ungarn fürchten vor heitliche in Meinungsumfragen bisweilen mehr als 120000 Bundesheersoldaten al- allem Ostösterreicher um ihre Löhne und schon Kopf an Kopf mit den Regierungs- lein an der Grenze zu Ungarn im Einsatz Arbeitsplätze. Slowaken aus Bratislava fah- parteien lagen, nicht mehr zu stoppen. waren, um illegal Einreisende aufzugreifen, ren schon jetzt täglich 54 Kilometer nach Seit mehr als einem Vierteljahrhundert trommelte FPÖ-Chef Jörg Haider mit Wien. Als Halbtagsbeschäftigte arbeiten residieren im Kanzleramt am Wiener Ball- wachsendem Erfolg für sein chauvinisti- sie freiwillig acht Stunden, der halbe Lohn hausplatz schon die roten Parteiführer, sches Programm „Österreich zuerst“. verschafft zu Hause zumindest die dop- deren unterschiedliche Charaktere und 1994 bejahten zwar 66,4 Prozent aller pelte Kaufkraft. Meinungen kaum vermuten lassen, daß sie Österreicher den Beitritt zur EU, doch da- In einem so fundamental veränderten derselben Gesinnungsgemeinschaft an- nach unterlief Vranitzky der entscheiden- Umfeld greift die legendäre österreichi- gehörten. de Fehler seiner politischen Karriere: Die sche Sozialpartnerschaft nicht mehr, in der Auf den Weltbürger, Modernisierer und Aufbruchstimmung Richtung Brüssel wur- Arbeitgeber und Gewerkschafter jahr- überzeugten Schuldenmacher Bruno de nicht genutzt, der Kanzler verließ sich zehntelang den Wohlfahrtsstaat vorantrie- Kreisky folgte – nach 13 Jahren im Amt – auf seine persönliche Popularität. Die So- ben. Manager des hannoverschen Conti- 1983 der glücklose Biedermann Fred Sino- zialdemokraten bezogen bei den Parla- nental-Konzerns führten Vranitzky im watz, der seinen Posten schon nach drei mentswahlen eine schwere Schlappe. vergangenen Sommer fast wie einem Jahren an den zurückhaltenden Bankier Seither galt Vranitzky als zögerlicher unwissenden Schulbuben vor, wie wenig Franz Vranitzky abtrat. Kapitän, dem in den heraufziehenden Stür- sich Politiker kleiner Nationalstaaten noch

der spiegel 5/1997 121 Ausland „Viktor Klima darf alles“ Interview mit dem Wiener Bürgermeister und SPÖ-Vize Michael Häupl über den neuen Mann an der Spitze und den Kurs der Regierungspartei

SPIEGEL: Herr Bürgermeister, Sie gel- schiedlichen Auffassungen in Sachfra- sprächsbasis finden und Übereinstim- ten als Kritiker des bisherigen Bundes- gen die Leute aus der Partei zusam- mungen auch inhaltlich weitertreiben. kanzlers. Sind Sie über den Rücktritt menholt, um zunächst über alles zu dis- SPIEGEL: Wie wollen Sie mit Jörg Hai- von Franz Vranitzky erleichtert? kutieren. Dann erst sollten wir hinaus- der und seinen Freiheitlichen umge- HÄUPL: Unsere Differenzen sind über- gehen und versuchen, mit dem Regie- hen? Bislang lehnte es die SPÖ doch trieben worden. Es geht jetzt auch nicht rungspartner auf der Basis unserer Er- strikt ab, im Parlament die Konservati- um meine Befindlichkeit. Vranitzkys gebnisse einen Kompromiß zu finden. ven gemeinsam mit den Freiheitlichen Rückzug ist aber eine Chance, jenen SPIEGEL: Und das ist bisher nicht ge- zu überstimmen. Prozeß zur Rückholung der Wähler schehen? HÄUPL: Haider ist ja inhaltlich extrem einzuleiten, den ich für unerläßlich hal- HÄUPL: Es geht doch nicht, daß zuerst flexibel. Wenn es etwa um den Arbeit- te. Es bringt nichts, immer nur zu pre- Beamte aus den Ministerien die Ent- nehmerschutz oder um die Zurück- digen: Haider ist von der Regierungs- scheidungen vorbereiten, danach eine weisung des Neoliberalismus geht, macht fernzuhalten – unsere Aufgabe Einigung mit dem Koalitionspartner ge- kann es in Zukunft durchaus zu punk- ist es, dies auch zu tun. sucht wird und erst dann der Partei ge- tuellen Abstimmungsgemeinsamkeiten kommen. Das lasse ich mir nicht als Unkeuschheit vorwerfen. Sogar die Grünen wollen mit den Freiheitlichen für ein anderes Wahlrecht stimmen. SPIEGEL: Die Grünen sind aber in der Opposition. HÄUPL: Parlamentarische Arbeit hat sich auch nach dem Prinzip der Nützlich- keit zu richten.Welche Mehrheiten Vik- tor Klima auch immer bekommt, er hat das Recht, das durchzusetzen, wofür er inhaltlich steht: Klima darf alles. SPIEGEL: Könnte es sogar ein Koaliti- onsabkommen mit den Freiheitlichen geben? HÄUPL: Ich kann mir nicht vorstellen, mit der Freiheitlichen Partei gemein- sam eine Regierung bilden zu wollen. Man muß sich vielmehr inhaltlich mit

W. WOBRAZEK / REX W. Haider auseinandersetzen und deut- Wiens Bürgermeister Häupl: „Die Partei wieder ernster nehmen“ lich machen, welch große Widersprü- che zwischen seinen konkreten Vor- SPIEGEL: Welche Hoffnungen setzen Sie sagt wird, nur diese ausgehandelte schlägen und seinen Aussagen klaf- in Viktor Klima? Lösung sei möglich, alles andere be- fen, er sei der Robin Hood der Ent- HÄUPL: Er ist eine ganz andere Persön- deute eine Krise, eine Katastrophe oder erbten. Aber man darf ihm auch nicht lichkeit. Wir erwarten von ihm, daß er Rücktritt. weiter die Gunst zukommen lassen, einen wesentlich direkteren und emo- SPIEGEL: Wie soll sich das Verhältnis zu sich selbst als Paria der Gesellschaft tionaleren Zugang zum Wähler findet. Ihrem konservativen Koalitionspartner darzustellen. SPIEGEL: Hätten Sie gern einen populi- entwickeln? SPIEGEL: Im Parlament verfügen Ihr Ko- stischen Kanzler? HÄUPL: Der permanente Vertrauens- alitionspartner ÖVP und die Freiheitli- HÄUPL: Das kommt darauf an, was Sie bruch der ÖVP gipfelte in der Debatte chen rechnerisch über eine knappe unter Populismus verstehen. Ich bin ge- um den Kauf der Creditanstalt durch Mehrheit. Müssen Sie jetzt nicht einen gen ein prinzipienloses Handeln. Aber die Bank Austria. Das war eine Wahn- fliegenden Wechsel der ÖVP hin zu wenn Populismus heißt, ich stehe fest sinnsdiskussion, die dem Wirtschafts- Haider befürchten? zu den inhaltlichen Grundsätzen mei- standort Wien geschadet hat. Die ÖVP HÄUPL: Keineswegs. Denn wenn die ner Geistesbewegung, kann aber auch trägt doch ein hohes Maß an Mitver- ÖVP dies tut, wird sie nach den näch- den Leuten zuhören, was sie bewegt antwortung dafür, daß die Regierung in sten Wahlen nicht einmal mehr Zwei- und welche Ängste sie haben, dann fin- der Öffentlichkeit so unter ihrer Lei- ter, sondern gerade noch Dritter. So- de ich das richtig. stung bewertet wird. Wir müssen uns sehr die ÖVP noch vor wenigen Wo- SPIEGEL: Wie will sich die SPÖ denn deshalb in Zukunft Koalitions-Optio- chen damit liebäugelte, rund um den ändern? nen offenhalten und sie auch aufbauen. Creditanstalt-Verkauf Neuwahlen zu HÄUPL: Die Partei muß wieder viel ern- SPIEGEL: Mit wem? provozieren, so wird sie diese Mög- ster genommen werden. Ich bin über- HÄUPL: Zunächst müssen wir mit den lichkeit jetzt fürchten – wie der Teufel zeugt, daß Viktor Klima bei unter- Grünen und den Liberalen eine Ge- das Weihwasser.

122 der spiegel 5/1997 in die Überlegungen transnationaler Un- ternehmen einmischen können. Dabei wurde noch zu Kreiskys Zeiten in der Re- gierung heftig debattiert, ob man Multis überhaupt ins Land locken solle. Jetzt unterbrach Vranitzky eigens sei- nen Urlaub und eilte zum Klagenfurter Flughafen, um die Conti-Chefs zu überre- den, die Produktion ihres österreichischen Tochterunternehmens Semperit, das doch profitabel arbeite, nicht zu halbieren und die Maschinen nicht nach Tschechien ab- zutransportieren. Das schroffe Conti-Nein weckte nicht nur antideutsche Ressenti- ments, es raubte Vranitzky noch verblie- benen Macher-Glanz. Wie überall in Europa steigt auch zwi- schen Bodensee und Neusiedlersee die Ar- beitslosenquote, 1997 wird mit 7,5 Prozent gerechnet. Schon jeder vierte Beschäftig- te, ermittelte das Wiener Wirtschaftsfor- schungsinstitut, muß in diesem Jahr damit rechnen, den Job zu verlieren. Soviel erzwungene Mobilität überfor- dert auch wesentlich flexiblere Industrie- gesellschaften.Vom neuen Kanzler Klima, dessen Eltern ihn absichtsvoll mit dem Vor- namen des SPÖ-Mitbegründers Viktor Ad- ler schmückten, erwarten die Wähler nun- mehr die Antwort auf die Standortdebat- te: Wo liegt Österreich? Wohin strebt es? Der Vranitzky-Nachfolger möchte in dieser Woche in seiner Regierungser-

Für Klima ist Gegenspieler Haider „kein unsympathischer Mensch“ klärung mit neuen Ideen über die Moder- nisierung glänzen, insbesondere im Be- reich von Forschung und Telekommuni- kation. Dabei kritisiert er aber „Marktwirt- schaftler, die kurzfristig denken, weil sie übersehen, daß ihnen der Markt zusam- menbricht, wenn der soziale Zusammen- halt in der Gesellschaft fehlt“. Klima will darum noch heftiger als sein Vorgänger für einen Beschäftigungspakt in der Europäi- schen Union eintreten. Dem politischen Gegner Haider, von dessen weiterem Erfolg letztlich auch Kli- mas politisches Schicksal abhängt, will der neue SPÖ-Star „mit harter, aber sachli- cher Konfrontation“ begegnen. Punktuel- le Liebschaften in einzelnen Bereichen des Arbeitnehmerschutzes sind da keineswegs ausgeschlossen, auch wenn dies das Ende der rigiden sozialdemokratischen Abgren- zung gegenüber dem Rechtspopulisten mit sich bringen würde. Ein Gottseibeiuns ist Haider für Klima nicht mehr, auch „kein unsympathischer Mensch“. In Österreich wird die Politik nach zehn- einhalb Vranitzky-Jahren wieder span- nend. Und Kanzler Vranitzkys Leitsatz „Unersetzlich ist niemand“, konsequent angewandt als „Akt der Befreiung“ (die zeit), wünschte sich mancher auch beim deutschen Nachbarn. ™

der spiegel 5/1997 Ausland

TSCHETSCHENIEN Nobelpreis für Geiselnehmer Wahlen in der Kaukasus-Republik, ein halbes Jahr nach Kriegsende: Wer immer Präsident wird – seine Macht kommt aus den Gewehrläufen. Von Reinhard Krumm

ur so konnten wir den Krieg ge- winnen“, doziert Mumadi Saida- Njew: „Unsere Taktik war, immer dicht am Russen zu bleiben.“ Seit Saidajew die Waffe aus der Hand gelegt hat und die Wahlkommission leitet, hat sich die tschetschenische Welt verän- dert: Zwischen den 16 Bewerbern um das Präsidentenamt in der befreiten Kolonie – die aussichtsreichsten sind Militärs – gibt es keine klaren Fronten, gegen die Russen sind sie alle einig. 628 Tage lang focht der ehemalige

Oberstleutnant der sowjetischen Armee- REUTERS Aufklärung als nächster Kampfgenosse des Zerstörtes Zentrum von Grosny, Kundgebung: Stabschefs Aslan Maschadow gegen die russische Armee und siegte. Seit fast sechs tung. Alle weiteren Selbstanpreisungen, Monaten tragen beide Zivil und mühen etwa die überall in Dschochar-Chala pran- sich nun auch um eine zivile Gesellschaft: genden Plakate – meist in der grünen Far- Maschadow als Kandidat für das höchste be des Propheten –, mußten die Kandida- Staatsamt in der Kaukasus-Republik, Sai- ten selbst bezahlen. dajew als Cheforganisator der Präsident- Er habe „keine Ahnung“, woher das schafts- und Parlamentswahlen. Geld dafür kommt, beteuert Präsident- Die russischen Feinde sind weit weg, die schaftsanwärter Aslan Maschadow, 45, der letzten Soldaten am 5. Januar abgezogen. nach dem Burgfrieden mit Moskau zum Nun, unter dem Waffenstillstand, wacht Ministerpräsidenten aufgestiegen ist: „Täg-

FOTOS: P. KASSIN P. FOTOS: keine russische Wahlkommission, kein lich bringen meine Leute Propagandama- Kandidat Bassajew Staatsrubel rollt zur Finanzierung der terial, sogar in türkischer Sprache.“ Schon „Im Moment ohne Arbeit“ Wahl.Wenigstens Europas Sicherheitsbund ganz staatsmännisch, distanziert sich OSZE hat für Organisationskosten 600000 Maschadow: „Die Wähler sollten lieber auf Dollar in der Tschetschenen-Hauptstadt die Familie des Kandidaten achten, aus bereitgestellt, zum Ärger des Moskauer welchem Hause er kommt.“ Außenministers Jewgenij Primakow („Wir Seit der grauhaarige General mit seinem haben nicht darum gebeten“). russischen Kollegen Alexander Lebed den In 63 Wahlbezirken stehen an diesem Waffenstillstand aushandelte, gilt er den Montag 417 Wahllokale bereit, in weite- Radikalen im Lande als Verräter: Sie trom- ren 33 außerhalb Tschetscheniens dürfen meln immer noch zum Freiheitskrieg die Wahlberechtigten unter den 350 000 bis zur völligen Unabhängigkeit Tsche- Flüchtlingen abstimmen. Wer gewählt hat, tscheniens. Maschadow verteidigt sich: bekommt einen fluoreszierenden Stempel „Leute, die nie gekämpft haben, wollen auf den rechten Handrücken. Vor jeder nicht begreifen, daß wir nun über den Frie- Urne wachen zwei Aufpasser, die Mehr- den nachzudenken haben.“ fach-Stimmabgaben verhindern sollen: Mit Sein Haus steht mitten in einem unver- einer Rotlichtlampe prüfen sie, ob die sehrten Idyll, einem Kosakendorf. Dort Hand, die einen Zettel in den Schlitz denkt der Friedensstifter erst einmal „über steckt, auch ohne Stempel ist. den künftigen Status Tschetscheniens“ Wahlkampf zwischen Trümmern: Dem nach. Als eine Variante erwägt er den Aus- amtierenden Präsidenten Selimchan Jan- tritt seines Landes aus der Russischen Fö- darbijew fiel zwecks Wiederwahl der Gag deration mit anschließendem Eintritt in die ein, den russischen Namen der Hauptstadt GUS, den Erben-Verein der Sowjetunion. Grosny, zu deutsch: „Schrecklich“, zu er- Nur eines ist für ihn unverzichtbar: „Die setzen – durch den Vornamen des gefalle- internationale Staatengemeinschaft muß nen Präsidenten Dschochar Dudajew. uns als souveränen Staat anerkennen.“ Nun heißt Grosny Dschochar-Dschullah, Damit möchte Maschadow verhindern, Dschochar-Stadt. daß „die Tschetschenen alle 50 Jahre von Jeder Bewerber um die Präsidentschaft den Russen umgebracht werden“. Er meint erhielt gratis 20 Werbeminuten in Funk die Kolonialkriege im vorigen Jahrhundert, Kandidat Maschadow und Fernsehen im Wert von 3513 Dollar so- die Deportation des ganzen Volkes nach „Propaganda auf türkisch“ wie eine Reklameseite in einer Lokalzei- Kasachstan 1944, den mörderischen Feld-

124 der spiegel 5/1997 „Die internationale Staatengemeinschaft muß uns als souveränen Staat anerkennen“

zug 1994. „Wenn das klar ist“, wirbt seit ihre Schutzmacht abmarschiert ist. Die Plakat „Frieden oder Tod“, daneben ein Maschadow, „können und müssen wir so- örtliche Kriminalpolizei ist gegen Über- Foto Dudajews: Der sei – nach seinem Tod gar wirtschaftlich mit Rußland zusam- griffe und Gewaltverbrechen hilflos. noch zum Generalissimus befördert – der menarbeiten.“ Mansur Tagirow, Leiter der Ermitt- eigentliche Präsident. Erste Anfänge sind schon zu besichti- lungsbehörde des tschetschenischen In- Die Sittenlehre des Propheten Moham- gen. Die Strecke Moskau–Grosny wird seit nenministeriums, meldet „bisher nur we- med, da sind sich alle Kandidaten einig, kurzem einmal täglich von der privaten nig Erfolge“. Die im Krieg geübte Geisel- soll das Fundament der Republik abgeben. Gesellschaft Don-Avia geflogen. Auf den nahme ist nun ein Geschäft: Vorletzten Kriegs-Pressesprecher Mowladi Udugow Hauptstraßen herrscht wieder dichter Ver- Sonntag verschwanden zwei Fernsehjour- nennt seine Partei gar „Islamische Ord- kehr; statt Banken bieten Jugendliche nalisten des russischen Kanals ORT spur- nung“ und macht auch keinen Hehl aus dicke Packen russischer Rubel gegen los auf dem Weg in die Nachbarrepublik seiner Heirat mit zwei Frauen. Für einen Dollar an. Der Basar ist bestens bestückt, Inguschien. Mullah-Staat nach Art Irans sind die Vor- von der Geburtstagstorte mit russischer Das fortgesetzte Kidnapping könnte den stellungen der Kandidaten wie des Volkes Zuckeraufschrift „Ich gratuliere“ bis zum Rückzug der internationalen Wahlbeob- vom Koran freilich zu rudimentär. deutschen Spülmittel. achter bewirken – was Rußland wohl nur Über die nahe Zukunft der kleinen Kau- Ein sechs Jahre alter Mercedes 600 ist für recht wäre, denn ohne neutrale Kon- kasus-Republik möchte keiner der Präsi- 20000 Dollar zu haben, eine Kalaschnikow trolleure ist eine faire und freie Wahl dentschaftskandidaten genaue Auskunft für 600 Dollar und ein frischer russischer schwer nachzuweisen; die aber gilt als Ein- geben. Alle retten sich in die vom russi- Auslands-Paß für 500 Dollar. BMW und trittskarte Tschetscheniens in die Uno. schen Premier Tschernomyrdin akzeptier- Cadillac rasen durch graue, trümmerüber- Stolz zeigt sich der Oberstleutnant te Vereinbarung, die für das Los Tsche- säte Kraterlandschaften, ignorieren die Tagirow über die Belegung des Zentralge- tscheniens eine fünfjährige Übergangszeit rote Kelle der Verkehrspolizisten. fängnisses mit 467 Plätzen: schon 147 Ein- vorsieht. Erst dann soll der Status endgül- In den Trümmern regiert das Elend, aber gebuchtete. Es gibt ein neues Strafgesetz, tig definiert werden. auch ein Stück Normalität ist zurückge- ein Einbruch kostet bis zu sieben Jahre Dabei wird, so Allah will, der Terrorist kehrt. Hier lebt neben vielen anderen die Haft. Und außerdem fordert die Scharia Schamil Bassajew, 32, ein entscheidendes Familie Rasujew. Bei ihr schlug eine Bom- vom Täter auch noch eine Hand. Wort mitreden. Ohne den milde lächeln- be ein, fünf Menschen starben. Danach Doch islamischer wie weltlicher Geset- den Partisanenführer geht in Zukunft quartierten sich russische Soldaten ein; seit- zeskodex erweisen sich als wirkungslos nichts mehr, das jedenfalls ist einhellige her fehlen alle Elektrogeräte und das Ge- gegen unerlaubtes Waffentragen. „Das ist Meinung seiner Wahlhelfer in Gudermes, schirr. Die Rasujews haben die zerstörten eine Tradition der Tschetschenen“, erklärt der zweitgrößten Stadt der Republik. Wände wieder aufgebaut. Gas gibt es, der Chefermittler, „da sind wir machtlos.“ Während vor der Steinbude seines Stabs Strom und fließendes Wasser bleiben Lu- Vom Freiheitsplatz im Zentrum von Kinder mit viel zu kurzen Metallstäben xus. Überall Fußnoten des Todes – an Haus- Dschochar-Chala, wo Dudajew einst vor nach Minen suchen, warten die Größen ruinen die flehenden Aufschriften, die kei- seinem Palast die Parade seiner Elite-Gar- der Stadt auf ihren Messias. ne Bomben und auch keine Panzer stoppen de abnahm, ist nur ein weiter Acker voller „Die Geiselnahme von Budjonnowsk“, konnten: „Hier wohnen Menschen.“ Schutt geblieben. Einige hundert Tsche- erklärt der Bürgermeister Imram Atlan- Nachts liegt Dschochar-Chala fast voll- tschenen haben sich eingefunden, ein Ju- girijew, „hat unser Volk gerettet. Dafür ständig im Dunkeln. Einheimische trauen biläum zu feiern: Vor einem Jahr entsetz- steht Bassajew der Friedensnobelpreis zu.“ sich nur unter Bewachung auf die Straße, te der Feldkommandeur Schamil Bassajew So denkt auch Magomed, der sich „Ber- Russen bleiben lieber gleich daheim. Von die im Dorf Perwomaiskoje eingeschlosse- linski“ nennt, ein wohlhabender tsche- den ehemals 210 000 Einwohnern russi- nen Geiselnehmer. tschenischer Geschäftsmann, der anson- scher Nationalität sind wenige übrigge- Aus einem Lautsprecher krächzt die sten in Berlin lebt. Er hat einen Haufen blieben, und die fürchten um ihr Leben, Stimme eines alten Mannes, hinter ihm ein Taschenkalender und 2000 Poster mitge-

der spiegel 5/1997 125 bracht, darauf ein fröhlicher Bassajew bei der Geiselnahme. SERBIEN Für die Tschetschenen ist der bärtige Bassajew ein Volksheld, für die Russen ein von der Polizei gesuchter Bandit. Seine Zur Hölle mit Amnestierung hält der Moskauer Parla- mentschef Gennadij Selesnjow für un- denkbar. Vielleicht aber muß er sich bald der Hexe mit Bassajew an einen Tisch setzen. Im Trio der aussichtsreichsten Kandidaten hat sich Die Frau des Präsidenten droht der Geiselnehmer vor Maschadow und Prä- sident Jandarbijew an die Spitze gesetzt. mit Bürgerkrieg – läßt Milo∆eviƒ Statt grünem Kampfanzug und Kopf- die Scharfmacherin fallen? band trägt er einen funktionärsgrauen Wintermantel, ein weißer Hemdkragen berall ist sie dabei, überall mischt samt Krawatte lugen hervor. Drei Leib- sie sich ein. Zu allem hat sie eine wächter begleiten ihn in seinem Lada. ÜMeinung, auf jede Frage weiß sie Die Wahlkundgebung hält er in Gersel eine Antwort. Die First Lady sieht sich als ab, nur wenige Meter vor der Grenze zu die Vordenkerin im Serbenland. Sie Rußland. Auf dem Parkplatz einer Tank- schreibt und schreibt und schreibt, und stelle lauschen 500 Neugierige, Männer niemand kommt umhin, das, was sie und Burschen in der ersten Reihe, Frauen, schreibt, auch zu lesen. Denn nur sie ver- Mädchen und Kinder in der zweiten. rät, was im engsten Zirkel der Macht be- „Können Sie uns Arbeit besorgen?“ sprochen und entschieden wird. „Ge- fragt einer. Darauf Bassajew in einer Me- schichten aus Nacht und Tag“ betitelt die lange aus Russisch und Tschetschenisch: Dame selbst ihre Betrachtungen und Re- „Was erwarten Sie von mir, im Moment flexionen, für das Volk ist sie das „Horo- habe ich nicht mal selbst eine Anstellung.“ skop“ – oder schlicht die „Hexe“. Bassajew beschimpft seine Konkurren- Die Rede ist von Prof. Dr. Mirjana Mar- ten Maschadow und Jandarbijew, sie ko- koviƒ, 54, der Gattin des Serben-Präsi- operierten mit der alten moskautreuen No- denten Slobodan Milo∆eviƒ. Unter ihrem menklatura. „Tschetschenien ist ein unab- Mädchennamen hat sie Ende der achtzi- hängiger Staat“, donnert er, „und das wird ger Jahre Karriere gemacht, den Nieder- auch so bleiben.“ Die Versammlung dankt gang des kommunistischen Vielvölker- mit hocherhobenen geballten Fäusten. staats Jugoslawien ideologisch provoziert, Zwar müsse die Republik ökonomisch mit auf Parteitagen des damals alleinregie- Rußland zusammenarbeiten, räumt der renden Bundes der Kommunisten die General ein, „aber nur auf der Basis in- Lunte am Bruderkrieg mitgelegt. ternationaler Verträge“. Die Vorkämpferin für ein Großserbi- Den Wiederaufbau stellen sich alle Kan- sches Reich hetzte, Seite an Seite mit didaten ähnlich vor: ein Kuweit im Kau- ihrem Mann, gegen Slowenen, Kroaten, kasus, jeder Tschetschene mit einem Fuß Bosnier und Albaner, verunglimpfte deren im Ölgeschäft. „Die Rentner haben nicht politische Führer als „Separatisten“ und genügend Geld?“ fragt Bassajew rheto- „Serbenhasser“, die sich mit „feindlichen risch. „Dann kriegt der neu zu formieren- Kräften in der islamischen Welt, in

de Rentenfonds eben drei Bohrlöcher.“ Deutschland und im Vatikan“ verbündet PETERNEK / SYGMA Und die schlechtbezahlten Lehrer? Die sol- hätten. Die First Lady erhob die Verfol- Belgrader Demonstranten, Markoviƒ-Puppe len vier bekommen. gung der Serben durch den Rest der Welt Eine Terroristin, eine Hexe Jeden Tag werden in Tschetschenien zur außenpolitischen Doktrin. schätzungsweise 3000 Tonnen Öl illegal ge- Jetzt aber empfiehlt das Präsidenten- fördert. Die Produkte dieser Privatisierung paar ganz diskret den weitgehend gleich- sind an der Landstraße sichtbar. In 20-Li- geschalteten Medien, diese Mär aus den ter-Glasballons wird Benzin verkauft, um heimischen Geschichtsdarstellungen zu die Hälfte billiger als in Moskau. Einer der tilgen. In der neuen Fassung präsentieren kleinen Ölbarone heißt Ruslan, 22, und ist sich die großen Zwei nun als historische von Beruf Ölingenieur. Er kauft 45 Tonnen Friedensengel, die schon immer für De- Rohöl, die Tonne zu 35 Mark, bei einem mokratie, Völkerverständigung und Re- Privatbohrer. formfreudigkeit bekannt gewesen seien. Ruslan raffiniert selbständig in rostigen In der großen Politik dieser Tage aber Behältern das Rohöl zu 10 Tonnen Ben- agieren sie in verteilten Rollen. Während zin, 30 Tonnen Traktortreibstoff der billig- Ehemann Slobodan, ein mißtrauischer sten Sorte und 5 Tonnen Masut, Ölrück- Despot, seit Jahren die Öffentlichkeit stand. Sein Gewinn: 1000 Mark. scheut, sucht Ehefrau Mirjana stets das Auf humanitäre Hilfe wollen alle stolzen Rampenlicht. Sie deklamiert und dekre- Tschetschenen-Führer verzichten, denn die tiert, immer von oben herab, am liebsten „verdirbt nur den Charakter des Volkes“. in der Illustrierten duga. Dieser Tage wid- Tschetschenien will selbständig sein und in met sich die Vielschreiberin einem von jeder Beziehung Weltspitze. Spätestens bis den Regierungsmedien gemiedenen The-

2007 glaubt es Favorit Bassajew auch den ma: den Straßenprotesten in Belgrad, die A. ZAMUR / GAMMA STUDIO X Germanen zeigen zu können: „Dann schla- schon zehn Wochen andauern. Und sie Präsidentenpaar Milo∆eviƒ gen wir Deutschland im Fußball.“ ™ betätigt sich als Scharfmacherin. Gegenüber der Opposition Härte zeigen

126 der spiegel 5/1997 Ausland Markoviƒ verkündet, „Chaoten, Horden, sagt Serbiens First Lady, „führe ich ihren Vaterlandsverräter“ wollten Belgrad in ein aufrichtigen Weg fort.“ Tollhaus verwandeln. Provozierend malt Ihre politischen Instinkte bewies Mar- sie das Gespenst des Bürgerkriegs an die koviƒ im Kriegsjahr 1993: Als eine der er- Wand, einen „Krieg der Serben gegen die sten erkannte sie, daß sich Serbien mit sei- Serben“ – und schreckt damit alle politi- nem Eroberungsfeldzug in Kroatien und schen Lager auf. Selbst Teile der Soziali- Bosnien übernommen hatte – und blies stischen Partei des Präsidenten reagieren zum Rückzug. Sie zeigte sich damals prag- auf solche Attacken befremdet. matisch genug, von ihrem großserbischen Aber alle nehmen die First Lady ernst. Traum abzulassen, zu einer Zeit, als die Denn in duga-Kolumnen verbirgt sich ein alleinregierende Sozialistische Partei unter Orakel, das sich erst später offenbart. Führung ihres Mannes noch immer auf Wann immer die Soziologieprofessorin für Sieg setzte und auch das Belgrader Oppo- marxistische Studien einen Politiker, wenn sitionslager mehrheitlich die kroatischen auch nur beiläufig und ohne seinen Na- und bosnischen Serben unterstützte. men zu nennen, kritisierte und dessen Ab- Um die eigene Plattform zu stärken, lösung forderte, trat das Gewünschte in gründete die Soziologin die Bewegung der naher Zukunft ein. Jugoslawischen Linken, der die Rolle zu- Vorige Woche entzifferte Serbiens Op- kam, mit Friedensrhetorik und multikul- positionsführer Vuk Dra∆koviƒ die Andeu- tureller Programmatik die wüste National- tungen so: Er sei überzeugt, das Regime Propaganda des Ehemanns abzufedern: werde, allen bisherigen Teilzugeständnis- „Ich sehe nicht ein, warum in Ameri- sen zum Trotz, den Wahlsieg der Opposi- ka Nachkommen der Mexikaner, Iren tion in den großen Städten oder Chinesen zusammenle- Serbiens letztlich nicht aner- ben können, die Kroaten, Ser- kennen, sondern Härte zeigen. Jeder Politiker, ben und Albaner aber nicht“, In den kommenden Wochen, den die First erklärte die Parteigründerin schwor Dra∆koviƒ seine Pro- Lady in ihren ganz pluralistisch – damals wa- testgemeinde ein, würden pa- ren die Rollen in der Ersten Fa- ramilitärische Polizeieinheiten Kolumnen milie noch anders verteilt. den friedlichen Protest auf Bel- kritisiert, muß Die Rechnung ging auf: Bei grads Straßen blutig nieder- mit seiner den Parlamentswahlen Ende knüppeln, notfalls auch den baldigen Ab- vorigen Jahres – die Bürger ho- Ausnahmezustand verhängen. norierten offensichtlich die Zu- Den bösen Geist des Präsi- lösung rechnen stimmung des Regimes zum denten verkörpert Mirjana Friedensschluß von Dayton – Markoviƒ für die meisten Serben nicht erst gewannen Milo∆eviƒs Sozialisten zusam- seit dem jüngsten Showdown auf Belgrads men mit Markoviƒs Linksblock die abso- Straßen. Dra∆koviƒ schimpft sie in seinen lute Mehrheit. feurigen Reden eine Terroristin, Demon- Bei den Gemeinderatswahlen aber ent- stranten zeichnen sie auf Plakaten als Hexe schieden sich die Serben gegen die alten und wünschen sie in die Hölle.Als die Um- Seilschaften in Politik und Wirtschaft und triebige vor kurzem nach Neu-Delhi reiste, votierten für einen politischen Wechsel auf um ihre gesammelten Werke in einer kommunaler Ebene – wohl vor allem, um Hindi-Übersetzung vorzustellen, malten gegen den Verlust sozialer Sicherheiten Studenten auf ein Transparent: „Sei froh, und die Massenarmut zu protestieren. daß du in Indien bist, dort werden keine Milo∆eviƒs Leute fälschten die Wahlergeb- Kühe geschlachtet.“ nisse; er ging auf Tauchstation, seine Frau Wer ist diese Frau, die bevorzugt hetzt gegen die Demonstranten. Schwarz trägt und meist eine Blume aus Nun steckt der Präsident in der Zwick- Kunststoff im Haar hat? mühle: Hält er seiner Propagandistin poli- Sie stammt aus einer bedeutenden Par- tisch die Treue, stellt er sich gegen Volk,Ar- tisanenfamilie. Ihr Vater und ihr Onkel, mee und Kirche – bei Strafe des drohenden Moma und Dra≈a Markoviƒ, werden noch Untergangs? Will er, der Popensohn aus immer als antifaschistische Helden verehrt, der Provinz, sein hohes Amt bewahren, Tante Davorjanka Paunoviƒ war während müßte er die Scharfmacherin in ihre des Zweiten Weltkriegs Titos Sekretärin – Schranken weisen und ihre linke Plattform wahrscheinlich auch seine Geliebte. Und auflösen. Mirjanas Mutter Vera hatte sich ebenfalls Wenn Milo∆eviƒ auf die Opposition den kommunistischen Partisanen ange- zugeht und ihr den Sieg in Belgrad und schlossen, als ihre Tochter gerade ein Jahr anderen Kommunen läßt – ein kleines alt war. Stückchen Macht –, so könnte er in den Ob die Mutter bei Kampfhandlungen Augen vieler Serben wieder als Retter ums Leben kam oder, wie einige Historiker erscheinen, als Garant eines serbischen behaupten, in deutscher Gefangenschaft Aufbruchs in Richtung Demokratie, dem unter Folter Verrat beging und erschossen Westen genehm – womöglich seine Tak- wurde, ist nicht geklärt. Das einzige Bild, tik, sein letzter Ausweg. das Mirjana Markoviƒ von ihrer Mutter be- Aber Mirjana in der Opferrolle, die sitzt, zeigt sie in schwarzer Kleidung und Hexe verbrannt? Nicht viele Serben kön- mit einer Nelke im Haar. „Mit gleicher nen sich das vorstellen: Die Dame, die so Schläue und Tüchtigkeit“ wie die Mutter, gern zündelt, sie ist nicht fürs Feuer. ™

der spiegel 5/1997 127 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

PAKISTAN Revolution im „Land der Reinen“ Ein „Seiteneinsteiger“, der Ex-Sportler und Ex-Playboy Imran Khan, kämpft bei den Parlamentswahlen um die Macht in einem der korruptesten Staaten der Welt – er verspricht soziale Gerechtigkeit und das Ende der Vetternwirtschaft. er Wahlzug naht. Männer rennen in ihre Häuser, holen Fahnen hervor Dund schwenken sie in der Luft.Von den Balkons streuen Frauen körbeweise rote Rosenblätter. Im Schatten der alten Moscheen tanzt ein Pferd zum Wirbel von Trommeln und Schellen. Die Menschen warten nicht auf einen Politiker, so scheint es – sie warten auf den Erlöser. Wo immer Imran Khan dieser Tage in Pakistan auftaucht, wie hier in der um- mauerten Altstadt von Lahore, herrscht Volksfest-Stimmung. Die Menge drängt nach vorn, will seine Hand schütteln, jeder möchte ein Autogramm. „Begeistern sich die Leute nun für Imran, den Kricketspie- ler, oder für Imran, den Politiker?“ fragt ein junger Rechtsanwalt. „Mal sehen, wie viele schließlich für ihn stimmen werden.“ Voller Optimismus und mit der Ausdau- er eines durchtrainierten Sportsmanns durchquert Imran Khan, 44, in seinem Wa- gen, per Eisenbahn (zweiter Klasse) oder Flugzeug (Economy) das Land und ver- breitet dabei von Morgengrauen bis Mit- ternacht seine Botschaft: „Wir haben eine Revolution begonnen, helft uns dabei!“ Auf der politischen Bühne ist das Er- scheinen dieses Mannes, der bisher nur wegen seiner Leistungen auf dem Kricket- platz berühmt war und 1992 zum nationa- len Helden wurde, als er Pakistans Mann- schaft zur Weltmeisterschaft führte, an sich schon eine revolutionäre Sache. Er ist für manche der Geheimfavorit bei den Parla- mentswahlen am 3. Februar – womöglich der nächste Regierungschef eines 135-Mil- lionen-Menschen-Landes, das über mo- dernste Waffen und vielleicht auch über die Atombombe verfügt. Im Gegensatz zu den meisten anderen pakistanischen Politikern gehört Imran Khan nicht einer der 500 Feudalfamilien an, die den gesamten Reichtum des Landes in der Hand haben. Im Unterschied zu sei- nen beiden Hauptrivalen, Benazir Bhutto und Nawaz Sharif, tritt er in der Öffent- lichkeit ohne bewaffnete Bodyguards auf, hat er, anders als die etablierten Politiker, ein Ohr für die Klagen der Leute. Benazir Bhutto wie Nawaz Sharif sind mit den Privilegien und Gefahren der Politik wohlvertraut. Sie, die Tochter des ehemaligen Premierministers und 1979 von den Militärs gehenkten Zulfikar Ali Bhut- to, war selbst zweimal als Regierungs-

chefin für insgesamt fast fünf Jahre an der D. LUDWIG Macht und gleichfalls fünf Jahre in Haft. Khan (l.) im Wahlkampf: „Wir wollen Integrität und Engagement“

130 der spiegel 5/1997 Nawaz Sharif war ein reicher Industrieller, und die ihre Mitglieder oft ausgetauscht Ali Zardari, Benazirs geschäftstüchtiger den die Militärs in den achtziger Jahren haben, zieht Khans Partei junge Berufs- Ehemann und ehemaliger Investitionsmi- aufforderten, in die Politik zu gehen – er tätige an: Sozialarbeiter, Lehrer, Anwälte. nister. Das Ehepaar Bhutto-Zardari soll war fast drei Jahre lang Premier. Bhutto Imran Khan hatte damit gerechnet, nach einer Schätzung der Zürcher welt- wie Sharif wurden wegen Korruption und noch zwei Jahre Zeit zu haben, um seine woche nicht weniger als 1,2 Milliarden Mißwirtschaft aus dem Amt gejagt. neue Partei zu konsolidieren. Die Entlas- Dollar ins Ausland geschafft haben. Imran Khan ist ein weißes Blatt. Er wur- sung der Benazir-Bhutto-Regierung durch Die Wirtschaftslage Pakistans ist ver- de 1953 als Sohn einer Großgrundbesitzer- Staatspräsident Faruk Leghari im Novem- heerend. Jahrelang hat das Land über sei- Familie im Pandschab geboren (sein Vater ber 1996 und die Auflösung des Parlaments ne Verhältnisse gelebt, und so riesig ist heu- war Ingenieur) und hat die Hälfte seines haben diese Zeit dramatisch verkürzt. te die Staatsschuld, daß allein die Zinsen Lebens in England verbracht – zuerst als So ist Khan noch nicht imstande, in al- darauf fast die Hälfte der öffentlichen Aus- Student in Oxford, dann als Kricketspieler. len Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen, gaben ausmachen. Nur 100000 Pakistaner Als Liebling der Londoner High-Society da er nichts mit Berufspolitikern zu tun sind als Steuerzahler registriert; bis zum zählte der gutaussehende Sportler Prin- haben will – jeden einzelnen Neupolitiker, Oktober vergangenen Jahres wurden auch zessin Diana zu seinen Bekannten und galt zum Teil über Zeitungsanzeigen gesucht, Profite von Großgrundbesitzern nicht ver- als Playboy mit Beziehungen zu Schön- möchte Khan selbst unter die Lupe neh- anlagt. Vielen Politikern ist es gelungen, heiten aus der Welt des Adels und des men: „Wir wollen Integrität, leidenschaft- riesige Summen von Banken als Anleihen Showbiz. 1995 heiratete er dann Jemima liches Engagement, nicht nur Effizienz.“ zu pumpen, die sie nicht zurückzahlen. Goldsmith, die damals 21jährige Tochter Hat der Außenseiter eine Chance, hat Als eine Lösung für das Budget-Defizit des Multimillionärs Sir James Goldsmith. der Staat Pakistan eine Zukunft? hat der Internationale Währungsfonds ge- Zur Politik kam er über die Erfahrungen, 1947 aus der Teilung von Britisch-Indien fordert, die Militärausgaben, die mehr als die er mit seiner Krebsklinik machte, die er als neue Heimat der Moslems vom Sub- ein Viertel des Staatshaushalts ausmachen, vor zwei Jahren zur Erinnerung an seine an kontinent entstanden, wurde Pakistan zu kürzen. Doch es ist unwahrscheinlich, Krebs gestorbene Mutter in Lahore bauen („Land der Reinen“) zum Schlachtfeld der daß die Militärs, die seit Pakistans Grün- ließ. Es ist heute eines der modernsten Hos- verschiedenen islamischen Konfessionen. dung eine überragende Rolle gespielt haben pitäler Asiens, 92 Prozent der Patienten Allein 1996 forderte der Konflikt zwischen und fast die Hälfte der Zeit direkt an der werden dort unentgeltlich behandelt. Sunniten und Schiiten 170 Tote. Vorletzte Macht waren, diesen Vorschlag annehmen Um Spenden für das 15-Millionen-Mark- Woche tötete eine Bombe im Zentrum werden: Pakistan unterstützt die radikal-is- Krankenhaus zu sammeln, bereiste Imran Lahores 26 Menschen.Am Tag darauf ging lamischen Taliban in Afghanistan und rüstet REUTERS AFP / DPA Ex-Premiers Sharif, Bhutto*: Wegen Korruption und Mißwirtschaft aus dem Amt gejagt

Khan das Land – und sah sich überall das pro-schiitische iranische Kulturzen- gegen Indien – der Streit mit dem Erzfeind mit Mißmanagement, Nepotismus und Ter- trum in Lahore in Flammen auf. um Kaschmir macht die gemeinsame Gren- ror konfrontiert. Kaum hatte er sein po- Nicht nur ein Religionskonflikt zerreißt ze zu einer der „heißesten“ der Welt. litisches Interesse artikuliert, kam schon das Land. In den letzten Jahren forderte in Die Militärs, die hinter der von Präsi- die erste Warnung: Am 14. April 1996, we- Karatschi der Bürgerkrieg zwischen den dent Leghari betriebenen Entlassung der nige Minuten vor Khans geplantem Be- Mohajir (den moslemischen Einwanderern Bhutto-Regierung standen, haben Überra- such, detonierte eine Bombe im Erd- aus Indien) und der Lokalbevölkerung Tau- schungen seitens unbotmäßiger ziviler Po- geschoß des Krankenhauses und tötete sende von Menschenleben.Auch die „nor- litiker bereits vorgebeugt. Am 6. Januar acht Menschen. male“ Kriminalität ist haarsträubend. In verkündete Präsident Leghari plötzlich die Khan gründete elf Tage später seine der Provinz Pandschab werden nach einer Bildung eines sogenannten Rats für Ver- „Tehreek-e-Insaaf“, die Bewegung für Ge- Schätzung jede Stunde zwei Menschen teidigung und Nationale Sicherheit, zu rechtigkeit. Im Gegensatz zu den beiden umgebracht, alle 90 Minuten wird jemand dem auch die Chefs der drei Waffengat- Hauptparteien des Landes – Benazir Bhut- entführt. tungen gehören. tos Volkspartei und Nawaz Sharifs Mos- Politischer Mord ist an der Tagesord- Für M. B. Nagvi, einen der einflußreich- lem-Liga –, zwischen denen kein nennens- nung. Murtaza, der Bruder Benazir Bhut- sten Kommentatoren Pakistans, wird die- werter ideologischer Unterschied besteht tos, wurde am 20. September 1996 laut Po- ser Rat, vom Wahlergebnis ganz abgese- lizei „bei einem Feuergefecht“ erschossen. hen, das letzte Wort behalten: „Er ist un- * Vor einem Bild ihres Vaters. Unter Verdacht steht sein Schwager Asif überwindlich wie der Himalaja.“

der spiegel 5/1997 131 Ausland stan-Ideologie glaubten. Bei uns ist diese Ideologie aber immer noch sehr stark. Sie ist das einzige Mittel, um Pakistan mit sei- nen verschiedenen Volksstämmen und Spra- „Begnadete müssen handeln“ chen zusammenzuhalten.Warum sonst soll- te etwa Belutschistan, wenn dort Erdöl ent- Der frühere Kricket-Star Imran Khan möchte Nachfolger deckt würde, seinen neuen Reichtum mit dem Rest des Landes teilen wollen? Nur von Benazir Bhutto werden. Im Interview der Islam verbindet uns miteinander … erklärt er seinen Kampf für einen islamischen Musterstaat. SPIEGEL: … und trennt Sie, wie man an den jüngsten blutigen Feindseligkeiten zwi- schen Schiiten und Sunniten sehen kann. KHAN: Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, aus Pakistan einen islamischen Musterstaat zu machen, wie ihn die Welt noch nicht ge- sehen hat. SPIEGEL: Bedeutet das etwa, daß Pakistan sein von den Briten geerbtes Rechtssystem durch die Scharia ersetzen würde? KHAN: Für Sie im Westen bedeutet Scharia nur, Dieben die Hand abzuhacken oder Ehebrecherinnen zu steinigen. SPIEGEL: Das ist genau das, was in Afgha- nistan die Taliban derzeit tun. KHAN: Afghanistan unter den Taliban ist doch kein islamischer Musterstaat. Das Strafrecht der Scharia ist nur ein Aspekt des Islam; der Westen sieht einige Auswir- kungen davon und ist entsetzt. Heute ist es nötig, die Scharia im Licht der modernen Kenntnisse zu interpretieren und anzu- passen. Erst dann wird es uns möglich sein, islamische Institutionen zu entwickeln und die Widersprüche unserer Gesellschaft zu überwinden. Sie zerfällt in zwei Lager: auf der einen Seite Pakistaner, die im Westen

BULLS PRESS BULLS ausgebildet wurden und nichts über den Is- Khan, Ehefrau Jemima: „Sie hat tapfer ihren westlichen Lebensstil aufgegeben“ lam wissen; auf der anderen Menschen, die ausschließlich in den Medressen, den SPIEGEL: Herr Khan, Pakistan steht am Ab- steht. Wie wollen Sie da die bevorstehen- Koranschulen, aufgewachsen sind und des- grund: Korruption, Gewalt und Verelen- den Wahlen am 3. Februar gewinnen? halb wenig Ahnung von der modernen dung gefährden den Staat in seiner Exi- KHAN: Das pakistanische Volk will einen Welt haben. Zwischen diesen Extremen stenz. Selbst der Interimspremier spricht Wechsel, deshalb trete ich an.Warum sonst gilt es, eine neue Mitte zu finden. vom möglichen Zerfall des Landes. Was sollte ich die Mühsal auf mich laden? Gott SPIEGEL: Neigen Sie nicht selbst zum Ex- läßt Sie glauben, daß ausgerechnet Sie, ein hat mir alles geschenkt, ich kann ein an- tremismus? Um die Korruption zu be- ehemaliger Kricket-Champion und Play- genehmes Leben führen, ich bin ein zu- kämpfen, haben Sie die Hinrichtung der boy, Pakistan retten können? friedener Mensch. Es sind aber begnadete Schuldigen gefordert. KHAN: Ich vertraue auf Gott, das gibt mir Menschen wie ich, die handeln müssen. Im KHAN: Harte Strafen sind die einzigen Mit- Kraft und Idealismus. Beides hat mir mein Islam glauben wir, daß jene, die eine bes- tel, die wirksam abschrecken. Ich weiß, Leben lang geholfen, Dinge zu erreichen, sere Erziehung oder mehr Geld als ande- daß die Verhängung der Todesstrafe den die allgemein für unmöglich gehalten wur- re haben, auch größere Verantwortung für Westen schockiert, aber auch der Westen den. Auf diese Weise konnte ich meine die Gesellschaft tragen müssen. muß ja die Funktion seiner Gefängnisse Karriere im Kricket machen, und so konn- SPIEGEL: Welche Rolle wird der Islam in neu bewerten. Die Haftanstalten sind zu te ich auch 1992 als Kapitän die pakistani- Pakistan spielen, wenn Sie die Regierung Ausbildungszentren für Verbrecher ge- sche Mannschaft zum Gewinn des Welt- übernehmen? worden statt zu Instrumenten der Reso- pokals führen, obwohl alle Wetten gegen KHAN: Der einzige Grund, weshalb Pakistan zialisierung. uns standen und viele mich für verrückt er- 1947 nach der Unabhängigkeit des Sub- SPIEGEL: Die Korruption ist in Pakistan so klärten. kontinents ins Leben gerufen wurde, war verbreitet, daß der Scharfrichter unter Ih- SPIEGEL: Politik ist kein Kricketspiel. der Islam. Also muß der Islam weiter eine nen wohl ziemlich viel zu tun hätte. KHAN: Auf den Kampfgeist kommt es an. wichtige Rolle spielen. Pakistan ist neben Is- KHAN: Wir müssen eine Schwelle festlegen, Und zum Kampf bin ich erzogen worden, rael das einzige Land der Welt, das sich auf eine Summe benennen, ab der die Todes- immer nach dem Motto: Nimm jeden Tag eine Religion gründet, nicht auf Nationa- strafe verhängt wird. Ich habe gehört, daß den Wettstreit mit deinen Rivalen auf! lismus oder andere säkulare Ideologien. in Vietnam diese Marke bei 35000 Dollar SPIEGEL: In diesem Spiel scheinen Ihre Ri- SPIEGEL: Reicht der Glaube, um das Land liegt. Wer vom Staat höhere Beträge valen aber weitaus stärker zu sein als Sie. zusammenzuhalten? 1971 rebellierte das stiehlt, hat sein Leben verwirkt. Sowohl Benazir Bhutto als auch Nawaz ebenfalls moslemische Ost-Pakistan, das SPIEGEL: In Pakistan würde das zu einer Sharif haben jahrelange Erfahrung als Pre- heutige Bangladesch, und erkämpfte sich Menge von Hinrichtungen führen. mierminister. Beide haben alte und gut or- mit Hilfe Indiens die Unabhängigkeit. KHAN: Allerdings. Deshalb sollte das näch- ganisierte Parteien hinter sich, während KHAN: Die Teilung von 1971 war das Ergeb- ste Parlament erst einmal eine höhere Sie sich auf Ihre Bewegung für Gerechtig- nis des Verrats von Politikern, die nur nach Schwelle festlegen. Dann dürften aber kei- keit stützen müssen, die seit April 1996 be- der Macht schielten und nicht an die Paki- ne Ausnahmen mehr gemacht werden.Wir

132 der spiegel 5/1997 müssen bei unserer Säuberungsaktion an ihres Geldes geheiratet, sondern wegen ih- SPIEGEL: Also ein Referendum? der Spitze beginnen. Pakistan leidet unter rer großartigen Eigenschaften. Sie hat tap- KHAN: Genau. Wie lange noch will In- seiner feudalistischen Kultur, es wird be- fer ihren westlichen Lebensstil aufgege- dien mehr als eine halbe Million Soldaten herrscht von einer Elite, die über dem Ge- ben, um hierherzuziehen; sie hat den Islam dort stationieren? Wenn das Kaschmir- setz steht. Eine Art politische Mafia kon- studiert, um zu konvertieren. Problem gelöst ist, wird es keine Ge- trolliert die Hauptparteien. Meine Bewe- SPIEGEL: Vor Jemima gab es andere Frauen gensätze mehr zwischen Pakistan und In- gung für Gerechtigkeit ist die einzige Par- in Ihrem Leben. Eine, Sita White, eine Toch- dien geben. Beide Länder werden davon tei, die davon unbefleckt ist. Wenn wir an ter des verstorbenen Business-Tycoons profitieren. die Macht kommen, werden wir diese feu- Lord White, behauptet nun, Sie SPIEGEL: In Ihrer Rolle als Is- dalen Gepflogenheiten ausmerzen. seien der Vater ihrer vierjähri- lam-Propagandist stehen Sie SPIEGEL: Wie denn? gen Tochter. Schadet das Ihren „Ich habe dem Westen kritisch gegen- KHAN: Durch die Dezentralisierung der politischen Ambitionen nicht? vor der Armee über.Wo liegen für Sie die Vor- Macht, durch die Stärkung der lokalen Ver- KHAN: Vier Jahre hat die Da- teile der islamischen Kultur? waltung und durch die Unterstellung der me geschwiegen. Plötzlich, keine Angst, KHAN: In unseren spirituellen Polizei unter zivile, demokratische Insti- zur Zeit meiner Hochzeit mit weil ich – Werten und im Familienleben. tutionen. Jemima, kam diese Geschich- anders als In der gesamten moslemischen SPIEGEL: Und wie wollen Sie die Militärs te heraus, versickerte dann Welt ist die Familie intakt ge- kontrollieren? In den fast 50 Jahren seiner aber wieder. Und siehe da, ei- andere Politiker blieben. Sie ist das einzige, was Existenz ist Pakistan 24 Jahre lang von den nen Monat vor den Wahlen – nichts zu die pakistanische Gesellschaft Streitkräften regiert worden. taucht sie wieder auf. Offen- verlieren habe“ zusammengehalten hat. Wir KHAN: Ich habe vor der Armee keine Angst, sichtlich handelt es sich um haben keine Gesetze, keine weil ich – anders als alle anderen Politiker eine Manipulation. Ordnung, keine Institutionen, – nichts zu verlieren habe. Auch die Mi- SPIEGEL: Und wer ist der Drahtzieher? keine Sozialversicherung und eigentlich litärs haben ein Interesse daran, Pakistan KHAN: Ich würde nicht ausschließen, daß auch keine Regierung. Aber die Familie zusammenzuhalten. Sie brauchen deshalb Nawaz Sharif seine Hände im Spiel hat. Er zwingt die Menschen zu einer gewissen jemanden, der bereit ist, Reformen anzu- ist der erste, der sich Journalisten gekauft Disziplin. Wenn dieses Land noch nicht in packen und das Land zu retten. hat. Mich können meine Gegner nicht we- schierer Anarchie versank, so deshalb. SPIEGEL: Es gibt schon Kommentatoren, die gen Korruption angreifen. Ich habe weder SPIEGEL: Und welche Rolle messen Sie der behaupten, daß Sie der heimliche Kandidat das Land noch die Banken ausgeraubt. Der Frau innerhalb des von Ihnen so gepriese- der Generäle seien. einzige Angriffspunkt ist mein Lebens- nen Familienlebens zu? P. DURAND / SYGMA P. REZA / SIPA O'NEILL / SYGMA T. Khan als Sportler, im Wahlkampf, als Playboy in London (1990): „Der einzige Angriffspunkt ist mein Lebenswandel“

KHAN: Auf keinen Fall. Ich bin niemandes wandel. Also wird behauptet, Jemima sei KHAN: Die Rolle der Frau muß der des Marionette, ich werde keine Kompromisse Jüdin und in eine jüdische Verschwörung Mannes ebenbürtig sein, aber sie ist an- eingehen. Viele Politiker alten Stils haben verwickelt, obwohl jeder weiß, daß sie als ders. Ich bin fest davon überzeugt, daß die mich schon aufgesucht, um mir ihre Ver- Christin getauft wurde. Verbindung der unterschiedlichen Kräfte bindungen und auch Geld anzubieten. Ich SPIEGEL: Vor Jahren wurden Sie über von Mann und Frau die Familie ausmacht. habe sie alle heimgeschickt. Indien und den Dauerkonflikt in Kasch- Westliche Feministinnen irren sich zutiefst, SPIEGEL: Sie haben die angebliche Wahl- mir befragt: Sie sagten damals, das wenn sie Gleichberechtigung mit Gleich- kampfspende Ihres Schwiegervaters, Sir Problem solle auf dem Sportplatz und heit verwechseln. James Goldsmith, abgelehnt? Einigen Be- nicht auf dem Schlachtfeld ausgetragen SPIEGEL: Warum? richten zufolge hat er fünf Millionen Pfund werden. KHAN: Sie meinen, gleich zu sein bedeute zu Ihrer Kampagne beigesteuert. KHAN: Das war ein Witz. Die Wahrheit ist, Gleiches zu tun – boxt der Mann, so boxt KHAN: Manche sagen sogar, er habe mir 40 daß nur eine starke Regierung hier und auch die Frau. Die Feministinnen verges- Millionen gegeben. In Wirklichkeit hat er in Indien in der Lage sein wird, die sen, daß es natürliche Unterschiede gibt mir nichts angeboten, und ich habe ihn um Kaschmir-Frage zu lösen. Mit Slogans ist und damit auch natürliche Instinkte. Was nichts gebeten. Es wäre eine Schande, das Problem nicht zu lösen. Die Kaschmi- ist erniedrigender für eine Frau: ihr Haar wenn ich von ihm Geld akzeptierte. Ich ris müssen das Recht erhalten, eine Wahl keusch zu verbergen oder einen Minirock habe seine Tochter Jemima nicht wegen zu treffen. zu tragen, der ihr Fleisch entblößt? ™

der spiegel 5/1997 133 Ausland Bett und auch schon mal das Telefon geteilt hatte, wenn Clinton am Apparat war. USA Gleichwohl ist Morris nie aus der Gnade seines Herrn gefallen, dem derlei Umtrie- be selbst nicht unbekannt gewesen sein Gottes rechte Hand sollen. Noch zu Weihnachten hatte Clinton seinem exilierten Freund ein sinniges Ge- Dick Morris kann es nicht lassen: Noch immer erteilt schenk gemacht – einen Bumerang, die ar- chaische Allzweckwaffe, die stets zu ihrem Clintons über eine Sexaffäre gestürzter Herrn zurückkommt. Chefstratege dem Präsidenten gute Ratschläge. Revanchiert hat sich Morris allerdings auf seine Art: Er legte Erinnerungen an ls Bill Clinton vorigen Montag sei- Daß der ausgewiesene Sünder Clinton den Wahlkampf vor, die den Präsidenten nen Amtseid erneuerte, lag die lin- fürderhin auf so frommen Pfaden wandeln über weite Strecken in hilfloser Abhängig- Ake Hand auf der offenen Familien- will, hat vor allem einen gefreut, der als keit vom taktischen Geschick seiner grau- bibel. Aufgeschlagen war Jesaja, Kapitel „Gottes rechte Hand“ seinem Spitznamen en Eminenz zeigen*. 58, und gemeint war – als gewissermaßen im Weißen Haus Ehre gemacht hat: Dick Wie Dick und Bill das Land regierten, göttlicher Auftrag für die nächsten vier Morris, Clintons oberster Wahlkampfstra- schildert Morris als Pas de deux: „Wir wa- Jahre – Vers 12: „Dein Name soll sein: Der tege, der sich von seinen Gesprächspart- ren allein im Wohnbereich des Weißen die Lücken zumauert und die Wege aus- nern am omnipräsenten Handy mit dem Hauses, und niemand wußte, daß ich da bessert, daß man da wohnen könne.“ Hinweis zu verabschieden pflegte, er müs- war. Während der Präsident mir über die Bis in die Wortwahl hinein identisch be- se jetzt das Land regieren. Schulter schaute, arbeitete ich seine Rede folgte der neue alte US-Präsident in der Morris hatte Grund zur Freude. Die gu- zur Lage der Nation aus. Ich sagte: ,Mr. anschließenden Inaugurationsrede die ten Absichten, mit denen der Präsident sei- President, das ist genau das, was ich mir im- fromme Anregung als Regierungspro- ne zweite Amtszeit begann, hatte er selber mer erträumt habe, seit ich acht Jahre alt gramm: Wiederaufbauen wolle er, Lücken formuliert. Aus unzähligen Umfragen hat- war.‘ Er antwortete: ,Mir geht es genauso.‘“ schließen zusammen mit dem politischen te der Wahlkampfstratege das Harmonie- Doch selbst wer in Betracht zieht, daß Gegner, um so einen „neuen Gemein- bestreben der Amerikaner herausgefiltert der „Psychopath“, so eine Morris-Kolle- schaftssinn für ein neues Jahrhundert“ zu und Begriffe wie „neuer Konsens“ in Dut- gin, in erster Linie eigenen Interessen entwickeln. Geradezu harmoniewütig zenden Shopping Malls testen lassen. dient, wird dem Buch eines entnehmen: strich Clinton nach Jahren des Politikver- Zwar war der Chefberater elf Wochen Die feine Grenzlinie zwischen Wahlkampf drusses den „neuen Konsens“ zwischen vor der Wahl tief gestürzt und aus dem und Regierungsalltag ist heute fast voll- Demokraten und Republikanern, zwischen Weißen Haus verbannt worden – wegen US-Bürgern und ihren Vertretern in Wa- eines Callgirls, mit dem er für 200 Dollar * Dick Morris: „Behind the Oval Office“. Random shington heraus. die Stunde eine vornehme Hotelsuite, das House, New York; 376 Seiten; 25,95 US-Dollar. FOTOS: AP FOTOS: Clinton mit Ehefrau Hillary auf einem Ball zur zweiten Amtseinführung: Durchgängig beworbene Präsidentschaft

134 der spiegel 5/1997 ständig verwischt; Demoskopen, den Präsidenten gegen den Rat von Image-Bildner und Redenschreiber, Hillary und sogar gegen die Instink- die schon immer der Überzeugung te seines prominenten Klienten, ein waren, sie seien in Wahrheit die bes- Sozialhilfegesetz zu unterzeichnen, seren Politiker, haben die Macht das die Republikaner mit ihrer übernommen. Mehrheit verabschiedet hatten und Zwar vertrauten frühere Präsi- das den Rechtsanspruch auf staatli- denten gleichfalls Einflüsterern, die che Unterstützung schlicht aufhebt. den eigenen Einfluß im Oval Office Morris dachte nur wahltaktisch: „Ich mit den jeweils neuesten Umfrage- habe ihm offen gesagt, daß ein Veto daten zu erweitern suchten. Doch zum Sozialhilfegesetz ihn die Wahl so abhängig von Volkes Stimme wie kosten würde.“ dieser war wohl noch kein Präsident. Auf eine Leistung ist der Chefbe- Bill Clinton wird regiert. rater ganz besonders stolz: „Wir Schon in seinem ersten Wahl- schufen die erste durchgängig be- kampf – für den Posten des Justiz- worbene Präsidentschaft in der US- ministers im Bundesstaat Arkansas – Geschichte.“ Nicht erst zu Wahl- und seither immer wieder hat der kämpfen, sondern schon bald nach quirlige politische Straßenkämpfer Arbeitsbeginn ließ Morris Werbe- Morris aus New York den Provinz- spots für Clinton auf allen Fernseh- politiker aus den Südstaaten beraten kanälen schalten. Seine Kalkulation: und ihm zu nationalem Ansehen Auf diese Weise könne er die Mei- verholfen. Als sich kurz vor den nungsbildung ohne störende Medien Kongreßwahlen 1994 eine Katastro- beeinflussen. So vollzog sich Clin- phe für die Demokraten abzeichne- tons Wandlung vom eher sozialde- te, heuerte Clinton den altbewährten mokratischen Luftikus zum wert- Helfer abermals an. Gestürzter Präsidentenberater Morris konservativen, parteiunabhängigen Morris glaubt an das Diktat von Pas de deux im Weißen Haus Landesvater weitgehend unter Aus- Umfragen.Auch zuvor hatte Clinton schluß der Presse. einem Hausdemoskopen vertraut, Doch die Verdoppelung des Bud- doch der neue Chefberater versah gets für Fernsehwerbung auf über seine Zahlenkolonnen mit spezifi- 80 Millionen Dollar zwang die schen Handlungsanweisungen, für Demokraten zu umstrittenen Me- die sich Clinton offenbar dankbar thoden der Spendensammlung: Der zeigte: Der Morris-Vorgänger habe Zugang zum Präsidenten wurde ihm „nie erzählt, was ich tun soll“. meistbietend verscherbelt, und be- Diesen Fehler macht der Egoma- sonders großzügige Spender durften ne aus New York nicht: Wenn die im Weißen Haus übernachten. Im US-Bürger sich vom Programm der übrigen ließ jede Werbung Morris’ Republikaner haben einfangen las- Einkommen wachsen. Zusammen sen, dann müsse eben der Demokrat mit seinem Partner Bob Squier er- Clinton dieses Programm verwirkli- STAR-Bericht über Morris-Skandal (Ausriß) hielt Morris anfänglich eine Provi- chen, lautete die Empfehlung des Bett und Telefon mit einem Callgirl geteilt sion von 15 Prozent des Werbe- gnadenlosen Opportunisten. aufwands. Clinton erwies sich als folgsamer Kli- Nicht einmal Clintons Ferien blieben Wie weit Morris’ Einfluß auf die zweite ent.Alles wurde Umfragetests unterzogen. vom Demoskopendruck verschont. Schon Amtsperiode Bill Clintons reicht, bleibt So fand Morris etwa heraus, daß Hillary zweimal hatte die Präsidentenfamilie ihren einstweilen unklar. Schon bald nach sei- Clinton ihren Mann um so schwächer er- Urlaub auf der noblen Atlantikinsel nem Sturz hat er Clinton versprochen, scheinen ließ, je energischer sie auftrat. Martha’s Vineyard verbracht. Zu elitär, ent- über alle weiteren Kontakte Stillschwei- Das Morris-Rezept: Nie wieder durfte Hil- schied Morris und verordnete seinem Kli- gen bis zum Ende der Amtszeit im Jahr lary an offiziellen Sitzungen im Weißen enten einen rustikalen Wanderurlaub in 2001 zu wahren. Das hinderte ihn aller- Haus teilnehmen, doch gleichzeitig sollte den Rocky Mountains. Clinton fluchte und dings nicht daran, seinem Ex-Klienten zur sie vermehrt in der Öffentlichkeit für ihre stöhnte, aber schnürte schließlich gehor- Inauguration auf allen TV-Kanälen ko- eigenen Anliegen auftreten, damit die sam seinen Ranzen. stenlos Ratschläge zu erteilen. Die Chan- Wähler, so Morris, „nicht ihren morbiden Viele Morris-Ratschläge waren nur sym- ce, daß Clinton sich an sie hält, ist groß. Vorstellungen nachhängen, was Hillary bolischer Natur: Um den Kampf gegen das In einer Szene des Buches schildert Mor- wohl im geheimen tue“. Verbrechen zu unterstreichen, ließ er den ris, wie er seinem Chef Tips gibt, aus dem Sollte Clinton für die kostenlose Ver- Präsidenten eine Bürgerpatrouille mit mittelmäßigen Präsidenten Clinton einen teilung von Kondomen eintreten, um ein Handys ausrüsten. Gegen Verrohung durch herausragenden zu machen. Den allerer- weiteres Ansteigen von Teenager-Schwan- Gewalt im Fernsehen empfahl er einen Mi- sten Rang eines Washington oder Lincoln gerschaften zu verhindern? Die Umfrage krochip, der den Bildschirm bei allzu hef- könne Clinton ohne heroische Zeitläufte ergab, 60 Prozent der US-Bürger waren tigem Blutvergießen schwarz werden läßt, nicht erklimmen. Wie er denn wenigstens dafür, die Zahl stieg sogar auf 64 Prozent, wenn die Eltern es wünschen. Clinton folg- die Stufe darunter erreichen könne? Die wenn die Verteilung mit der frommen te den Anregungen seines Gurus. Antwort des Beraters: Er müsse zumindest Aufforderung gekoppelt wurde, alles zu Doch zuweilen regierte der wirklich: Als drei große Dinge vollbringen. vermeiden, was das Geschenk zur Anwen- die Regierung Ende 1995 wegen des Haus- Clinton ist Feuer und Flamme und holt dung bringen könnte. Doch der Clinton- haltsstreits wochenlang ihre Arbeit ein- sich Papier und Bleistift. Dann bittet der Guru entschied, bei so einem heiklen The- stellen mußte, ließ Morris in täglichen Präsident wie ein Schüler seinen Lehrer ma brauche der Präsident mindestens eine Umfragen feststellen, ob Clinton oder die um die Rezepte für den Eingang in die Zustimmungsrate von 70 Prozent – und so Republikaner im Streit mehr Punkte ge- Geschichte: „Okay, was sind die großen wurde es nichts mit dem Schul-Geschenk. winnen konnten.Vor allem aber drängte er Dinge?“ ™

der spiegel 5/1997 135 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

TÜRKEI Hochachtung vor einem Killer Protest in Ankara: Die angebliche Verstrickung von Regierungsmitgliedern in verbrecherische Geschäfte treibt die Bürger auf die Straße. Der islamistische Ministerpräsident Erbakan ist machtlos – im Zentrum der Kritik steht seine Koalitionspartnerin Çiller.

u den radikalen Klassenkämpfern zählt der Arbeiterführer Bayram ZMeral nicht. Die weit über eine Mil- lion Mitglieder seines Gewerkschaftsbun- des Türk I≠ rief Meral lange Zeit nur ver- halten zu Streiks und Demonstrationen auf – als letztes Mittel im Tarifkampf. Neuerdings jedoch schlägt der Funk- tionär scharfe Töne an, attackiert die Re- gierung und bringt nicht nur Arbeiter auf die Straße. Auch Studenten, Künstler und Intellektuelle folgen seinem Aufruf. Während der erste fundamentalistische Ministerpräsident der Türkei, Necmettin Erbakan, mit den Außenministern von sie- ben führenden Moslemstaaten einen isla- mischen Wirtschaftsgipfel vorbereitete, zo- gen rund 150 000 Menschen durch die Straßen Ankaras. Motto der Demonstran- ten: „Arbeiter an die Front, Verbrecher- banden in den Kerker“. Der Marsch durch die Hauptstadt war vorläufiger Höhepunkt einer landesweiten Welle der Empörung. Seit vor einigen Wochen eher zufällig eine schier unglaub- liche Verflechtung von Politik und orga- nisiertem Verbrechen ruchbar wurde, fordern immer mehr Bürger in Demon- strationen, Fackelzügen und Unterschrif- tensammlungen „temiz toplum“ – eine saubere Gesellschaft: „Es muß Licht ins Dunkel gebracht werden.“ Die engen Verbindungen der türkischen Mafia bis in die höchsten Ämter des Landes, die vergangene Woche sogar ein deutsches Gericht am Rande eines Dro- genprozesses festhielt, erschüttern eine staatliche Ordnung, deren Grundfesten oh- nehin nicht stabil sind. Wie sonst nur der schmutzige Kurdenkrieg hat die unheimli- che „Dreiecksbeziehung zwischen Mafia, Polizei und Politik“ (so die Tageszeitung milliyet) eine erbitterte Debatte über Charakter und Zukunft der Türkei aus- gelöst. Verfängt sich der Nato-Partner, dessen Verläßlichkeit schon durch den erstarkten Fundamentalismus in Zweifel gezogen wurde, auch noch in den Fangarmen des Kraken Mafia? Sinkt das Land, das Staats- präsident Süleyman Demirel fest in Euro- pa verankern will, in die Wirren eines Drit- te-Welt-Staates ab? Soviel ist sicher: Von der „Zweiten Tür- kischen Republik“, die dem 1993 verstor- benen Präsidenten Turgut Özal vor-

HÜRRIYET / AP schwebte und die eine „Zivilgesellschaft Ehepaar Özer und Tansu Çiller: Acht zu sieben für den Freispruch in einer pluralistischen Demokratie“ her-

138 der spiegel 5/1997 vorbringen sollte, ist die Türkei wieder weit entfernt. Erbakans Vorgänger im Amt des Regie- rungschefs, der Vorsitzende der Mutter- landpartei (Anap), Mesut Yilmaz, sieht so- gar die Grundfesten des Staats durch eine Kumpanei von Politikern und Gangstern bedroht. Diese „Bande“, so der Opposi- tionsführer, sei auf dem besten Weg, „den Staat zu unterwandern“. Das Massen- blatt hürriyet formulierte plakativ: „Wir stecken bis zum Hals im Dreck.“ Stärker als die ehrenwerte Gesellschaft in Italien verfolgt die türkische Mafia mit Mord, Korruption und den Erlösen aus ihren schmutzigen Geschäften, vor allem dem Drogenhandel und illegalen Bau- und Grundstücksprojekten, nicht nur krimi- nelle Ziele; sie ist auch politisch motiviert. AP Viele Anführer gehörten zu den faschisti- HÜRRIYET / AP schen „Grauen Wölfen“, die nach dem Mi- Unfallwagen von Susurluk, Opfer Çatli: Schwere Waffen im Kofferraum litärputsch 1980 in den Untergrund ab- tauchten. Auch der Kampf gegen die kur- Seine Karriere als Mann fürs Grobe hat- ren in einem Geheimdienstdossier, das an dische Guerrilla im Südosten hat die Kar- te Çatli bei den Grauen Wölfen begonnen, die Presse kam, schwere Beschuldigungen rieren vieler Krimineller gefördert, die sich deren Vizechef er wurde; 1978 befehligte er erhoben worden: Nach Erkenntnissen des in der Pose des Patriotismus tarnen. angeblich ein Massaker an sieben Studen- MIT soll eine von staatlichen Stellen ge- Die unheimliche Symbiose von Unter- ten in Ankara. deckte Geheimorganisation Killer auf welt und hoher Politik kam durch einen Weltweit berüchtigt wurde Çatli 1981 im PKK-Funktionäre ansetzen, aber auch tief Zufall ans Licht: Bei Susurluk, 300 Kilo- Zusammenhang mit dem Anschlag auf in Drogengeschäfte und Mafia-Morde meter südlich von Istanbul, war im No- Papst Johannes Paul II.; er soll dem Täter verstrickt sein. Top-Agent der Truppe sei vember ein schwarzer Mercedes 600 in Mehmet Ali Agca, der zuvor wegen Mor- Mehmet Özbay – alias Çatli. einen Lastwagen gerast, der gerade von des an dem Chefredakteur der Zeitung Der Vorsitzende der linken Arbeiter- einer Tankstelle auf die Landstraße 565 milliyet in Untersuchungshaft saß, nicht partei, Dogu Perinçek, der über gute Kon- einbiegen wollte. Lkw-Fahrer Hasan nur zur Flucht verholfen haben. Auch an takte zu Sicherheitskreisen verfügt, be- Gökçe kam mit einem Schock davon; in der Planung und Ausführung des Attentats nannte auch die angeblichen Drahtzieher: der Limousine starben zwei Männer und war Çatli wohl beteiligt. Außenministerin Tansu Çiller sowie deren eine Frau. Nur der Beifahrer und Besitzer Ein Jahr nach den Schüssen von Rom Parteifreund und politischen Zögling, In- des Wagens überlebte. wurde er zwar in Zürich gefaßt und nach nenminister Mehmet Agar, früher Polizei- Zugelassen war das Fahrzeug auf einen Italien ausgeliefert, mangels Beweisen aber chef in Istanbul. Perinçek nannte beide ebenso mächtigen wie umstrittenen Mann: freigesprochen; wegen Drogenhandels ge- öffentlich „die Paten“ – ungestraft. den Abgeordneten der Partei des Rechten riet er später in Frankreich mehrmals in Zumindest der Innenminister stand dem Weges Sedat Bucak, 36. Der Haft. Im Schweizer Gefäng- international gesuchten Çatli und seiner Parlamentarier führt einen nis Bostadel saß er wegen Entourage offensichtlich verdächtig nahe. der größten Kurden-Clans Heroingeschäften ein, brach Noch kurz vor dem Unfall logierte Agar und unterhält in seinem Hei- 1990 aus und tauchte unter – mit dem fragwürdigen Quartett angeblich in matort Siverek eine Privat- bis zum Unfall bei Susurluk. Kusadasi, drei Tage lang im selben Hotel. armee von über 10 000 Çatlis Handwerkszeug lag Daß Çatlis Waffenschein die Unterschrift Mann. Seine sogenannten im Kofferraum des Unfall- des Innenministers tragen soll, gilt als wei- Dorfschützer kämpfen als wagens: fünf Pistolen mit terer Beweis für Agars Verstrickungen. Hilfstruppen des Staates ge- Schalldämpfern, zwei Ma- Der als Saubermann angetretene Er- gen die militante Kurdische schinenpistolen, Abhörwan- bakan konnte den Innenminister, der alle Arbeiterpartei (PKK). zen, falsche Nummernschil- Vorwürfe bestreitet, nicht mehr halten – Noch mehr Aufmerksam- der und ein gefälschter Zu- und Çiller hoffte, durch das Bauernopfer keit aber weckten Bucaks fahrtsausweis zum Parla- den Skandal abschütteln zu können.Agars getötete Begleiter: Der eine, ment. schamlose Erklärung zu seinem Rücktritt

Hüseyin Kocadag, 47, hatte AP Selbst die tote Frau hatte brachte selbst Parteifreunde auf: Er müs- sich als Chef der Sonder- Attentatsopfer Yilmaz eine schillernde Biographie: se sich mehr um seine schwerkranke Toch- operationen gegen die PKK Gonca Us, 27, hatte es bei ei- ter kümmern. verdient gemacht und war zum Vizedirek- nem Schönheitswettbewerb zur „Miss Ci- Wie lange sich die politische Überle- tor der Istanbuler Sicherheitspolizei auf- nema“ gebracht, war die Geliebte eines benskünstlerin Çiller noch halten kann, ist gestiegen. Wegen angeblicher Mafia- Agenten des türkischen Geheimdienstes offen. Schon im vergangenen Frühjahr Kontakte wurde er strafversetzt – auf den MIT und stand auch dem Bürgermeister drohten drei parlamentarische Untersu- Posten des Leiters der türkischen Polizei- des für die Mafia interessanten Badeortes chungsausschüsse ihre Karriere zu been- akademie am Bosporus. Kusadasi, nahe – der Politiker wurde 1995 den. Der Vorwurf: Unter Mißbrauch ihres Abdullah Çatli, 40, der im Fond saß, war angeblich im Streit um Grundstücksspe- Amtes und ihrer Privilegien soll sie sich ein von Interpol seit Jahren gesuchter Ver- kulationen erschossen. durch die Manipulation von Verträgen per- brecher; er führte neben sechs Personal- Die Verbindung zwischen dem Parla- sönlich bereichert haben – etwa bei der ausweisen mit verschiedenen Namen auch mentarier mit Privatarmee, einem hohen Privatisierung des Autoherstellers Tofas, einen echten Diplomatenpaß bei sich, Polizeibeamten mit Mafia-Kontakten und oder des Elektrizitätsbetriebs Tedas., ausgestellt auf Mehmet Özbay, Finanz- dem notorischen Revolvermann bestätigte Die vom damaligen Oppositionspoliti- inspektor. schlimmste Befürchtungen. Kurz zuvor wa- ker Erbakan beantragten Untersuchungs-

der spiegel 5/1997 139 Ankara wurde einbestellt, ein Protestbrief an das Auswärtige Amt in Bonn angekün- digt. Tansu Çiller, die auch diese Anschul- digungen zurückweist, gelobte Aufklärung aller Vorwürfe: „Nichts wird verborgen bleiben.“ Obwohl der Name Çiller im Ausland schon zum „Schimpfwort“ geworden ist, wie der konservative britische Europa-Ab- geordnete James Moorhouse erst unlängst der Frau bescheinigte, die eine Zeitlang im Westen das moderne Gesicht der Türkei zu repräsentieren schien, kann Ministerprä- sident Erbakan nicht durchgreifen. Der fromme Refah-Vorsitzende soll sich an- geblich sogar persönlich gegenüber Çiller verpflichtet haben, keine Untersuchungen

M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUSM. GÜLBIZ / AGENTUR gegen sie zuzulassen. Demonstration für einen „sauberen Staat“ in Ankara: „Banden in den Kerker“ Ganz im Sinne Çillers, die ihre Unschuld beteuert, sprach sie ein parlamentarischer kommissionen blockierte sie mit einem sten, wie sie angekündigt haben, tatsäch- Sonderausschuß vorvergangene Woche kühnen Coup: Sie kündigte die Koalition lich Roulette und Poker verbannen, wäre von allen Vorwürfen frei – allerdings nur mit Yilmaz auf und verhalf den Islamisten die Spiel-Enklave Gold wert. Daß Çillers mit acht zu sieben Stimmen. an die Macht; bis dahin war für die laizi- Ehemann Özer, ein gescheiterter Bankier Eine von der Opposition geforderte Par- stischen Parteien eine Zusammenarbeit mit und Geschäftsmann mit fragwürdigen Me- lamentskommission zur Susurluk-Affäre Erbakan tabu gewesen, Çiller hatte eine thoden, auch im Zusammenhang mit der wurde zwar schließlich einberufen, doch Regierungsbeteiligung der fundamentali- Ermordung des türkischen Kasino-Königs Nachforschungen über vermeintliche stischen Wohlfahrtspartei stets als „Sturz in Topal namentlich vorkommt, paßt in „Staatsgeheimnisse“ und „geschäftliche die Dunkelheit“ gegeißelt. das Bild. Geheimnisse“ sind ihr nicht gestattet. Auch wenn Çiller alle Vorwürfe abstrei- Seit vergangenem Dienstag sind die an- Auf Erbakan werfen die Mafia-Ver- tet: Wie sie ihr Privatvermögen seit der geblichen Regierungskontakte ins Milieu strickungen noch keinen Schatten. Da die Amtsübernahme 1993 auf schätzungswei- sogar gerichtsnotorisch. Der Vorsitzende Wohlfahrtspartei zuvor nie an der Macht se weit über 70 Millionen Mark angeblich Richter der 17. Strafkammer des Frankfur- war, konnte sie sich auch noch nichts zu- mehr als verfünffachte, hat die clevere Ge- ter Landgerichts hatte in seiner Urteils- schulden kommen lassen. Und als Sauber- schäftsfrau noch nicht plausibel erklären verkündung gegen drei Drogenschmugg- männer gewinnen die Islamisten in Um- können. Und an wen sie in ihrer Amtszeit ler festgestellt, daß ein Teil des Heroin- fragen, zumindest bislang, mächtig an als Ministerpräsidentin etwa zehn Millio- handels von der Türkei nach Deutschland Boden. Die Zeitung turkish daily news nen Mark aus einem Geheimfonds der Re- „von der türkischen Regierung gedeckt“ sieht für die Partei der Frommen eine „gol- gierung gezahlt hat, will Çiller nicht preis- werde.Auf die Nachfrage erstaunter Zuhö- dene Chance“, ihre Regierungsmacht auf geben – „ein Staatsgeheimnis“, tönt die rer, wen er denn da in Verdacht habe, nann- Jahre zu festigen. Politikerin. Sicherheitskreise spekulieren, te der Richter den Namen Çiller. Anders als die Bürger im Mafia-Land das Geld sei bei der Polit-Mafia gelandet: Ankara reagierte auf die Vorwürfe Italien haben viele Türken den Glauben bei Çatli & Co. empört. „Wir lassen unsere Fahne und un- an die Selbstreinigungskräfte ihres Staa- Auffällig immerhin, wie Çiller den Kri- sere nationale Ehre nicht von Deutschen tes verloren; nur 20 Prozent hoffen noch minellen noch über dessen Tod hinaus in mit Füßen treten“, giftete ein hoher Re- auf eine erfolgreiche Säuberungsaktion. Schutz nimmt. Zu seinem Begräbnis – wie gierungssprecher. Der deutsche Vertreter in Beinahe drei Viertel der Bevölkerung sind bei einem verdienten Soldaten oder Poli- überzeugt, daß es eine unheilige Allianz tiker lag die Nationalflagge auf dem Sarg zwischen Polizei, Regierung und Organi- – lobte sie den mutmaßlichen Killer: „Wir sierter Kriminalität gibt. werden uns immer voller Hochachtung an Ein Staatsanwalt wie Antonio Di Pietro, jene erinnern, die im Namen des Staates der mit seiner spektakulären Anti-Kor- Kugeln abfeuern oder denen Wunden zu- ruptions-Kampagne „Mani Pulite“ (Sau- gefügt werden.“ Wer das Çatli-Kartell hin- bere Hände) in Italien zum Volkshelden gegen kritisiert, lebt gefährlich: Oppositi- wurde, hätte in der Türkei wohl kaum eine onsführer Yilmaz wurde bereits Ziel eines Chance. Anschlags – ein Attentäter schlug den Als in Ankara der Staatsanwalt Nihat Anap-Chef nieder. Artiran die Aufhebung der Immunität des Seither vergeht kaum ein Tag, an dem in Abgeordneten und Ex-Innenministers der Öffentlichkeit nicht neue Anschuldi- Agar forderte, griff das Justizministerium gungen gegen die Politikerin erhoben wer- in den Fall ein. „Das ist mit der Unabhän- den. Mal sollen Faxnummern Çillers im gigkeit der Justiz nicht vereinbar“, klagte Notizbuch eines verhafteten Drogendea- der Jurist und gab die Akte ab. lers gestanden haben; dann wieder wer- Überzeugte Demokraten wie der Ge- den ihr unzulässige Grundstücksgeschäfte werkschafter Meral wollen dennoch nicht nachgesagt. aufgeben. Ermutigt durch sieben Millio- Unglaublichster Vorwurf: Ausgerechnet nen Unterschriften „für einen sauberen in jenem Badeort Ku≠adasi, in dem Çatlis Staat“, die innerhalb weniger Tage zu- Team und der Innenminister noch kurz vor sammenkamen, will er weiterkämpfen.

dem Unfall ausspannten, soll die Politike- M. ZUCHT / DER SPIEGEL Die Sonntagsdemo von Ankara, so Meral, rin bei der Planung einer Art Freizone für Regierungschef Erbakan „war nur das erste Glied in unserer Akti- Glücksspiel mitmischen. Wenn die Islami- Vorsprung für den Saubermann onskette“. ™

140 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

FRANKREICH Krieg der Sterne Die „cuisine française“ ist gespalten – Traditionalisten und kulinarische Neuerer liefern sich einen Glaubensstreit bis aufs Buttermesser.

in Drei-Sterne-Restaurant, so doziert der permanent am Handy hängende EHüne mit der blonden Mähne und der markanten Nase, sei wie „Autorennen der Formel 1“.Wer nicht über ein Top-Team und das beste Material verfüge, könne im Grand Prix eben nicht mehr mithalten und müsse „die Lizenz zurückgeben“. 1996 flog Pierre Gagnaire, 46, einer der kreativsten, aber auch experimentier- wütigsten kulinarischen Testpiloten der Gourmet-Nation Frankreich, mit seinem kalorienschweren Boliden aus der Kurve: Das mit drei Michelin-Freß-Sternchen höchstdekorierte Restaurant des bewun- derten wie angefeindeten Kochstars in Saint-Etienne machte Bankrott. Die Pleite sorgte für Schlagzeilen, denn es war das erstemal in Frankreichs Gastro-

nomiegeschichte, daß ein Drei-Sterne-Maî- / STUDIO X N. FELLER / STILLS tre in Konkurs ging. Beispiellos auch die Küchenfürst Robuchon: Vaterlandslose Globalisierung der Eßkultur Konsequenz, die der Formel-1-Koch aus seinem Bruch zog: Freiwillig gab Gagnaire Austern – „das Unvereinbare vereinen“ Alain Ducasse, Joël Robuchon und Pro- seine Auszeichnungen an den Guide Mi- (libération), steht im Mittelpunkt eines vinz-Drei-Sterner Bernard Loiseau („Côte chelin zurück und verzichtete auch auf die kulinarischen Glaubensstreits: Seit Mona- d’Or“ in Saulieu), eine Rückkehr zur Kü- 19,5 (von 20 möglichen) Kochmützen des ten liegen sich Traditionalisten der klassi- che der Altvordern. Angesichts der vater- Speiseführers Gault Millau. schen „cuisine française“ und phantasie- landslosen „Globalisierung“ der Koch- Doch Anfang Dezember war der „Akro- volle Neuerer in den Haaren. kunst und des Einbruchs von Krustentieren bat“ (les echos) unter den Großen wieder Schon die Gallier, weiß Kulturhistoriker aus Australien, Truthahn aus den USA und auf der Piste. Ungebrochen, wenn auch Jean-Robert Pitte, konnten „einen guten Couscous aus Nordafrika sei „Frankreichs „so verarmt, daß ich bei Freunden wohnen Braten nicht von der Politik trennen“. Ihre Küche bedroht“. muß“, eröffnete der Meister jetzt in der Nachfahren erheben „les grands chefs“ in Da die Eßkultur der Grande Nation ihre Pariser Rue Balzac, dicht beim Arc de einen Rang mit Fernseh- und Filmstars; Legitimation aus „unserer Geschichte, un- Triomphe, ein neues Restaurant. dazu gehören nicht selten auch Diva-Lau- seren Regionen, unseren Produkten“ Nun verfolgt Frankreich gespannt, ob nen: Eifersucht, Groupies und Neid um lu- schöpfe, so das chauvinistische Pamphlet Gagnaires zweiter Start erneut in den Him- krative Werbeverträge sind branchenüblich. weiter, sollte die französische Küche nur mel der Michelin-Sterne führt. Denn der Der Krieg der Sterne am Gastronomie- noch mit heimischen Produkten brutzeln – Cuisinier mit dem stilisierten Tisch auf der himmel begann im letzten Mai. In einem etwa Bresse-Huhn, Paulliac-Lamm, Echiré- weißen Jacke, dessen tollkühne Kombina- Manifest forderten zwei Dutzend große Butter und provenzalischen Kräutern. tionen – Tauben mit Schokolade, Eier mit Chefs, unter ihnen die Küchenfürsten Die Modernisten, spottete das Magazin H. BAMBERGER / AGENTUR FOCUS / AGENTUR H. BAMBERGER OMEGA FOTO / GAMMA STUDIO X OMEGA FOTO Modernistische Spitzenchefs Gagnaire, Senderens: „Wie ein Defilee der alten Militärs auf dem Roten Platz“

144 der spiegel 5/1997 l’evenement du jeudi, „glänzen zwar durch Makrelen, die mit Heidelbeeren an- gesetzt sind, kriegen aber nicht mal mehr eine echte Sauce béarnaise zustande“. Die Kreativen der „Autorenküche“ schlugen nicht minder gallig zurück. Der „nationalistische Konservativismus“ der alten Garde, so polemisierten in einem Gegenmanifest prominente Drei-Sterne- Köche wie Alain Senderens („Lucas-Car- ton“ in Paris), Marc Veyrat in Annecy oder der Erfinder der Hungerdiät namens „Nouvelle cuisine“, Michel Guérard, sei „archaisch, unrealistisch und gefährlich“. Wenn die französische Küche weiterhin als „Leuchtturm der Welt-Gastronomie“ scheinen wolle, müsse sie „weltoffen und liberal“ bleiben. Der professionelle Streit um die Eßkul- tur eskalierte zu politischen Gehässigkei- ten. Die Chauvis beschimpften die Glo- balisten als Künder einer US-hörigen „McWorld-Cuisine“, die sich mit ihren Freistil-Rezepten à la Gagnaire zu Recht in den Ruin kochten. Die Spontanköche ih- rerseits rückten Herdpatrioten in die Nä- he des Rechtsradikalen Jean-Marie Le Pen, und Freßkritiker Jean-Luc Pétrinaud sah sich durch sie gar an ein „Defilee der alten Militärs auf dem Roten Platz zu Breschnew-Zeiten“ erinnert. Es kam zum Bruch. Rund 20 Spitzen- chefs, unter ihnen Senderens und Olivier Roellinger („Maison de Bricourt“ im bre- tonischen Cancale), traten aus der kulina- rischen Gralsrunde „Chambre syndicale de la haute cuisine française“ aus. Einige der Speisenkünstler wollen sich nicht ein- mal mehr in einer TV-Kulinarsendung ge- meinsam mit löffelschwingenden Kollegen aus dem Feindeslager zeigen. Große der Zunft versuchen zu schlich- ten. Altmeister Paul Bocuse, der sich gern über die „Fotokopier-Küche“ der natio- nalgesinnten Fundis lustig macht – der Weltkoch hat in Japan eine Menge Yen ver- dient –, hält das Festhalten an rein franzö- sischen Froschschenkeln für „einen Witz: Die Krebse kommen aus der Türkei, und wo gibt es noch Loire-Lachs?“ Andere mahnen, daß der Kampf an ganz anderen Fronten geführt werden müsse – gemeinsam: gegen künstliche Aromen, die nun schon in besten Küchen natürliche Ge- würze verdrängen, und für Bestimmun- gen, die eine Kennzeichnung von chemisch hochgepäppelten Forellen und künstlich gemästeten Lachsen erzwingen. Um den Sturm im Suppentopf zu been- den, bot schließlich der Küchenchef des Elysée, Joël Normand, sachkundigen Rat: Der Mann, der so verschiedene Tempe- ramente wie Präsident Charles de Gaulle, Georges Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und François Mitterrand be- köstigte und heute den Kochlöffel im Dien- ste Jacques Chiracs („der meckert nie übers Essen“) führt, plädiert für die ga- stronomische Öffnung: „Meine Chefs ha- ben sich für Europa geschlagen, wir sollten dasselbe in der Küche tun.“ ™

der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Prisma Wissenschaft

MEDIZIN Schneller Verschluß in handliches Laserschweißgerät und Eein von einem US-Mediziner ent- wickeltes Wundpflaster könnten schon bald das Leben manchen Unfallopfers oder

auch das vieler verwundeter Soldaten auf ASTROFOTO den Schlachtfeldern retten. Wie das wall Einschläge auf Jupiter (1994), unten: Jupiter-Zeichnung von Schroeter (1785/86) street journal berichtet, hat der Arzt Kenton Gregory aus Portland (Oregon) klen Punktes auf dem Jupiter dargestellt aus tierischem Gewebe ein „Elastin“ ge- hatte. Über einen Zeitraum von 18 Tagen, nanntes Material gewonnen, mit dem vom 5. bis zum 23. Dezember 1690, kar- sich sowohl verletzte Blutgefäße wie auch tierte der Astronom die Entwicklung. So Hohlorgane, etwa Dünndarm oder Blase, detailliert sind die Notizen, daß Tabe die abdichten lassen. Die Elastinpflaster wer- anfängliche Ausdehnung der Explosions- den dabei mit Hilfe eines Infrarotlasers auf wolke mit 7500 Kilometer angeben konnte. das Gewebe um die Wunde oder den chir- Die Eigenschaften des damals in die Hülle urgischen Schnitt geschweißt. „Statt müh- des großen Gasplaneten eingeschlagenen sam mit Nadel und Faden zu arbeiten und ASTRONOMIE Brockens, schließt der Forscher, müssen de- dann sechs Wochen auf die Heilung zu nen der Shoemaker-Levy-Fragmente gegli- warten, können wir mit dem Laser die Crash auf dem Jupiter chen haben. Knapp 100 Jahre später, zwi- Wunde sofort schließen“, erklärte Grego- schen Oktober 1785 und Februar 1786, be- ry. Für die weitere Entwicklung des Ver- m Juli 1994 blickten Astronomen und obachtete der damals 40jährige Astronom fahrens, das auch von medizinischem ILaien gebannt auf den Jupiter, als dort 21 und Oberamtmann Johann Hieronymus Hilfspersonal vor Ort angewandt werden Bruchstücke des Kometen Shoemaker- Schroeter von seiner Sternwarte in Lilien- kann, hat die U. S. Army einen For- Levy 9 einschlugen. Doch offenbar war es thal bei Bremen aus abermals „verschie- schungsfonds in Höhe von 4,3 Millionen nicht das erstemal, daß Menschen einen dene schwarzdunkle Flecken des Jupiters Dollar eingerichtet. derart spektakulären Crash auf dem Pla- von sehr kurzer Dauer“. Sie könnten, wie neten beobachteten. Der japanische Hob- die Astronomie-Zeitschrift sterne und byforscher Isshi Tabe hat in Paris eine weltraum schreibt, ebenfalls von den Ein- Zeichnung aus dem 17. Jahrhundert ent- schlägen eines geborstenen Himmelskör- deckt, auf der Giovanni Domenico Cassi- pers, möglicherweise des Kometen Pigot, ni (1625 bis 1712) das Erscheinen eines dun- verursacht worden sein.

NOBELPREISTRÄGER er eine Kühlvorrichtung, die ohne beweg- liche Teile auskam. Zwei Jahre später prä- Einstein als Erfinder sentierten die beiden Physiker ihre Erfin- dung auf der Leipziger Messe; Besucher lbert Einstein ist nicht nur als Visionär meinten, die neuartige Pumpe habe „ge- Ader theoretischen Physik, sondern heult wie ein Schakal“. Dennoch kaufte auch als Konstrukteur von Kühlschränken die Elektrofirma AEG das Patent und be- hervorgetreten. Das zeigen Patentschrif- scherte dem Forscher-Duo ein jährliches ten, die ein US-Historiker bei einem Zusatzeinkommen von 12000 Reichsmark. schwedischen Hersteller von Haushalts- In Serie ging der Einstein-Kühlschrank nie geräten aufgefunden hat. Mit einer Zei- – mit Hitlers Machtübernahme fiel der tungsmeldung begann die Tüftlerkarriere Nobelpreisträger in Ungnade. Kurz darauf des Nobelpreisträgers im Winter 1925: Ein- präsentierte ein amerikanischer Hersteller stein sei bewegt gewesen vom Tod einer eine andere ungiftige Lösung: Als Kühlgas ganzen Familie durch Giftgase aus einer dienten dabei jene Fluorchlorkohlenwas- undichten Kühlschrankpumpe. Gemeinsam serstoffe (FCKW), die inzwischen als Be-

M. MC DERMOTTI / BLACK STAR / BLACK M. MC DERMOTTI mit dem Physiker Leo Szilard, dem späte- drohung der vor Strahlung schützenden Gregory, Lasergerät ren Mitentwickler der Atombombe, ersann Ozonschicht entlarvt sind.

KRIMINOLOGIE mungsbeamte die Aussage eines Zeugen banden suggerierten die Forscher, sie hät- bekräftigen. Psychologe Gary Wells und ten mit ihrem Verdacht vermutlich recht – Trügerisches Gedächtnis sein Mitarbeiter forderten die Testperso- worauf 53 Prozent von ihnen sich ihrer nen auf, sich einen Eindruck von einem Identifikation „absolut sicher“ waren. Von ie Gefahr, daß sich Zeugen bei einer Mann zu machen, der auf einem Video nur den nicht beeinflußten Testpersonen wa- DGegenüberstellung mit vermeintlichen flüchtig zu sehen war. Dann mußten die ren das nur 14 Prozent. Nach einer Unter- Tätern irren und so Unschuldige belasten, Probanden aus einer Reihe von Fotos den suchung des US-Justizministeriums sind sei „weit größer als bislang angenommen“, Mann identifizieren, der angeblich wegen solche Gedächtnistäuschungen tatsächlich berichtet der new scientist. Besonders einer Schießerei mit tödlichem Ausgang ge- ein Problem: Von 28 angeblichen Straf- groß ist die Gefahr solcher Gedächtnis- sucht wurde. Obwohl keines der Fotos den tätern, die sich später aufgrund von Gen- täuschung, so ergab ein psychologischer im Video gezeigten Mann zeigte, glaubte tests als zu Unrecht verurteilt erwiesen, Versuch mit 172 Testpersonen an der jeder der 172 Teilnehmer ihn in einem der waren 24 von Zeugen „eindeutig“ identifi- University of Iowa in Ames, wenn Verneh- Fotos zu erkennen. Einer Gruppe von Pro- ziert worden.

der spiegel 5/1997 147 Wissenschaft F. ROGNER / NETZHAUT F. Kinderarzt Szczepanski, Schulung asthmakranker Kinder*, Lungenfunktionsprüfung: „Die reinlichen Lebensbedingungen der westlichen

MEDIZIN Qualvolle Enge Jedes zehnte Kind in Deutschland leidet unter Asthma. Ist die chronische Luftnot eine Wohlstandskrankheit? Neuerdings erklären Mediziner die Zunahme des Leidens mit dem Rückgang der Tuberkulose in den Industrieländern.

eißlich, dünnhäutig und spärlich Die qualvolle Enge der Bronchien kann Der krasse Unterschied zwischen den beborstet ist der tierische Haus- stundenlang dauern, schwere Erstickungs- Industrienationen, in denen Asthma epi- Wgenosse, der vor allem im Winter anfälle enden jährlich für 6000 Asthmatiker demische Ausmaße angenommen hat, und die menschliche Nähe sucht: Nur im Bett, in Deutschland tödlich. Die Zahl der Er- den armen Ländern, in denen das Leiden dort wo es warm und feucht ist, kann Der- krankten, so errechneten Epidemiologen, selten, wenn nicht gar unbekannt ist, ließ matophagoides pteronyssinus – zu deutsch: hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in jüngster Zeit Wissenschaftler nach ei- die Hausstaubmilbe – die unwirtlichen Mo- fast verdoppelt. ner „westlichen Komponente“ fahnden. nate überstehen. Den Milben allein, die auch im noch so Untersuchungen an Flüchtlingen oder Ein Gramm ihrer Leibspeise, die tägliche properen Haushalt vorkommen, kann je- Gastarbeitern, die erst in der neuen, hoch- Menge abgeschilferter Hautschuppen des doch die stetige Zunahme der Volks- zivilisierten Umgebung an Asthma er- Schläfers, genügt den bläßlichen Kreaturen, krankheit Asthma nicht angelastet werden. krankten, legten nahe, daß Umweltein- um sich in Matratzen,Wolldecken und Plu- Eine Vielzahl anderer Faktoren, so fanden flüsse und spezielle Lebensgewohnheiten meaus millionenfach zu vermehren. Mediziner, ist an der Entstehung des Atem- eine wesentliche Rolle bei der weltweiten Den Seelenfrieden robuster Naturen wegleidens beteiligt: Die chronische Luft- Zunahme von Asthma spielen. stören die mikroskopisch kleinen Bei- not, die schon jedes zehnte Kind befällt In einer neuen Studie kamen nun japa- schläfer kaum – zum Alptraum werden die und an der in Deutschland insgesamt vier nische und britische Mediziner einer Ur- unsichtbaren Achtbeiner hingegen für Millionen Menschen leiden, kann offenbar sache auf die Spur, die paradox erscheint Asthmatiker: Die Hausstaubmilbe ist erblich bedingt sein, kann durch Luftver- und gängige Vorstellungen umwirft: Nicht schuld an krampfartiger Atemnot, die le- schmutzung, passives Mitrauchen oder ein Zuviel an Giften, Gasen und Allerge- bensbedrohliche Formen annehmen kann. auch durch Haustiere ausgelöst oder ver- nen fördere die Entstehung der Krankheit, Wenn Milben und ihre Kotklümpchen, schlimmert werden; Psychosomatiker berichten Lungenspezialisten und Kin- etwa beim Bettenmachen, massenhaft auf- machen Spannungen und Krisen in der derärzte in der amerikanischen Wissen- gewirbelt werden, bleibt den Asthmatikern Familie für Asthma mitverantwortlich. schaftszeitschrift science. Asthma habe die Luft weg: Ihre überempfindlichen sich vielmehr ausgebreitet, „weil in der Atemwege reagieren allergisch und schwel- * Beim Spiel im Kriechtunnel, der die verengten Bron- modernen Lebensumwelt etwas fehlt“: an- len zu. chien darstellt. steckende Kinderkrankheiten, in deren

148 der spiegel 5/1997 che Ausschüttung von sogenannten T1-Hel- ferzellen bewirkt. Die Garde dieser Infek- tions-Abwehrhelfer bremst zugleich die Bildung ihrer Konkurrenz, der T2-Helfer- zellen, die sich bei Asthmaanfällen einmi- schen: Die T2-Truppen kurbeln, als Ant- wort auf eine Attacke von Hausstaub- milben oder Pollen, die Produktion von Immunglobulin E an, einer Klasse von Antikörpern, die bei plötzlichen Überemp- findlichkeiten („Atopie“) aktiv sind. Bei asthmatischer Luftnot tragen sie dazu bei, daß die Bronchien anschwellen und sich entzünden. Auch selten gewordene Infektionen wie Keuchhusten und Masern, so nehmen die Wissenschaftler an, schaffen bei Kin- dern ein Abwehrmilieu, das reich an T1-Zellen ist und damit vor Asthma schüt- zen kann. Dabei spielt offenbar auch die Zahl der Geschwister, die Infektionen untereinander weitergeben, eine positive Rolle. „Der Rückgang der Infektionskrank- heiten“, so das Fazit der Publikation in science, „ist gekoppelt mit der Zunahme und Verschlimmerung von Asthma und Heuschnupfen in den hochentwickelten Ländern.“

W. KUNZ / BILDERBERG W. Die gleiche Tendenz sei auch in einer Welt können für die Krankheit anfällig machen“ noch laufenden, großangelegten deutschen Allergiestudie zu erkennen, die vom Bun- Verlauf Abwehrkräfte auch gegen Asthma desforschungsministerium finanziert wird aufgebaut werden. und über die Renate Bergmann, Kin- Eine Schlüsselrolle spielt dabei die in derärztin am Berliner Virchow-Klinikum, den hochentwickelten Industriestaaten berichtet. Seit 1990 ermitteln Mediziner weitgehend verschwundene Tuberkulose. dort und an weiteren fünf Kliniken das Ri- Die ehemals grassierende „Lungen- siko von Neugeborenen, an Asthma, Heu- schwindsucht“, durch ausgehustete Tröpf- schnupfen oder Ekzemen zu erkranken. chen, Schmutz oder auch durch infizierte Im weiteren Verlauf soll erkundet werden, Kuhmilch übertragen, löst offenbar Verän- „wie die Lebensweise und die Familien- derungen im Immunsystem aus, die dann struktur die Entwicklung der erkrankten vor Asthma, aber auch vor anderen soge- Kinder beeinflussen“ (Bergmann). nannten atopischen Krankheiten wie Heu- Ausgewählt wurden insgesamt 1314 Neu-

SCIENCE PHOTO LIBRARY / AGENTUR FOCUS / AGENTUR LIBRARY SCIENCE PHOTO schnupfen und Ekzemen schützen. geborene, in deren Familien bereits Asth- Tuberkelbazillen (30 000fach vergrößert) „Die reinlichen Lebensbedingungen der ma oder Heuschnupfen vorkamen und die Schlüsselrolle bei der Asthmaabwehr westlichen Welt“, so kommentiert Oxford- im Nabelschnurblut erhöhte Werte des ver- Mediziner William O. C. M. Cookson in räterischen Immunglobulin E gezeigt hat- science, „können für Asthma anfällig ma- ten. chen, weil die Abwehrbalance verschoben Die engmaschigen Nachuntersuchun- ist“ – zugunsten von Zelltrupps, die asth- gen, Befragungen der Eltern sowie häusli- matische Reaktionen in Gang bringen kön- che Staubproben ergaben „ein buntes nen: Mit dem Rückzug der Tuberkelbazil- Bild“, so Bergmann: „In all den Jahren len hat die Wohlstandskrankheit Asthma entwickelte jede der sechs einbezogenen an Terrain gewonnen. Städte ihr besonderes Muster.“ Freiburg In der Studie wirkte sich der „Vorteil mit seinem feuchtwarmen Klima erwies von Infektionskrankheiten“ (Cookson) bei sich als Deutschlands Milbenhauptstadt, den 867 untersuchten japanischen Kindern Berlin als Raucherzentrum und Brutstätte schon dann aus, wenn sie nicht durch An- von Katzenallergien. steckung, sondern nur durch eine TB-Imp- „Ganz eindeutig“, meint Bergmann, fung mit (abgeschwächten) Tuberkelerre- spiele die erbliche Belastung der Asthma- gern in Berührung gekommen waren. tiker-Kinder eine Rolle, „und ebenso ein- Je heftiger die Zwölfjährigen auf die deutig führt eine hohe Milbenkonzentrati- mehrfachen TB-Impfungen reagiert hat- on zu höherer Empfindlichkeit für Asth- ten, desto besser war ihr Asthmaschutz: ma“. Wer eine familiäre Asthmavorge- Sie bekamen Asthma halb so oft wie die- schichte hat, wird oftmals schon durch eine jenigen Kinder, deren Immunsystem auf niedrige Dosis von Milben oder Katzen- die Vakzine nur schwach ansprach, also haaren krank.

EYE OF SCIENCE wenig Antikörper im Blut bildete. „Genetische und Umwelteinflüsse grei- Hausstaubmilbe (500fach vergrößert) Die kräftige TB-Impfreaktion hatte, wie fen eng ineinander“, sagt Bergmann – und Bläßlicher Bettgenosse die Mediziner herausfanden, eine reichli- schalten einander gelegentlich auch aus,

der spiegel 5/1997 149 Technik was epidemiologische Feststellungen er- schwert. So stillen Mütter, die aus Asthma- HEIMARBEIT familien kommen, ihre Babys besonders häufig, um deren Immunschutz zu verbes- sern. Raucher verbreiten asthmafördern- Allzeit bereit den Qualm, haben aber, wie in Berlin ge- messen, dafür weniger Milben in der Woh- Telearbeit entlaste die nung – weil sie öfter lüften. Umwelt, lautet ein gern So narrt eine Vielzahl gleichzeitiger Ein- flüsse die Mediziner und Epidemiologen, benutztes Argument. und wer, wie zu Beginn der Studie erhofft, Eine neue Studie zeigt jedoch: „Asthma schon am Wochenbett voraussa- Die Ökobilanz ist negativ. gen will, wird enttäuscht“ (Bergmann). Ebenso weit wie von verläßlichen Früh- anft wiegt die Mutter ihren Säugling prognosen sind die Ärzte noch von einer in den Schlaf, und das Muster-Baby wahren Therapie entfernt. Einen mögli- Sschließt in Sekunden brav die Äug- chen Weg schlägt der britische Mediziner lein. Entspannt lächelnd wendet die Ernäh- Cookson in science vor – als Konsequenz rerin ihre Aufmerksamkeit wieder dem der Untersuchungsergebnisse spekuliert er Computer zu, der allzeit bereit neben der über eine „Impfung gegen Asthma und an- Krippe steht, und widmet sich dem Brot- dere allergische Erkrankungen“. Dabei erwerb. müßte „das Immunsystem so manipuliert So schön kann Telearbeit sein – glaubt werden, daß es dauerhaft T1-Helferzellen man dem Werbespot der Telekom. Das ausschüttet“. Wohnbüro, per Datenleitung in Kontakt Bis ein solcher Eingriff in das subtile Zu- mit dem Firmenrechner, verheißt nicht nur sammenspiel der körpereigenen Abwehr mehr Lebensqualität, es ist zudem unge- machbar ist, müssen sich Patienten und mein ökologisch. Denn, so die einleuch- Ärzte mit den herkömmlichen Therapeu- tende Begründung, wer zu Hause bleibt, tika begnügen, unter denen das inhalier- verschwendet keine Energie für die Fahrt bare Cortison immer noch die Hauptrolle ins Büro. Telearbeit im Heimbüro: Die Annahmen über spielt. „Es gibt ein Umweltprogramm, das Rote, „Das bisherige greifbare Ergebnis jahr- Schwarze, Blaugelbe und Grüne vertreten: nur ein Bruchteil der kühnen Projektio- zehntelanger pharmakologischer For- Daten-Infobahnen“, stilisierte sich die Te- nen. So wirbt die Telekom mit bombasti- schung“, so klagen Asthmaspezialisten wie lekom in großformatigen Anzeigen hoch. schen 250 Millionen Liter Kraftstoff, die der Münchner Kinderarzt Walter Dorsch, Der Umweltaspekt fehlt in keiner der „bis zum Jahr 2000“ durch Telearbeit sei jedoch „enttäuschend“. „Wo bleiben zahllosen Konzeptpapiere zur Telearbeit. eingespart werden könnten. Die Freibur- die neuen, besseren Medikamente?“ Doch als das Freiburger Öko-Institut die ger Ökostudie rückt die Dimensionen Damit Asthmatiker schon als Kind ler- schönen Ideen in konkrete Zahlen fassen zurecht: Selbst unter der Annahme, daß nen, ihre chronische Krankheit im Alltag wollte, verpuffte der Nimbus. Für Telear- alle 3,5 Millionen Arbeitsplätze, die nach zu bewältigen, beziehen manche Ärzte die beit mag es viele Gründe geben, so das Fa- optimistischen Schätzungen in Deutsch- gesamte Familie in die Therapie ein. Die zit der Studie „Umweltschutz im Cyber- land für Telearbeit geeignet sind, tatsäch- ständigen Infekte der Kinder und ihre im- space“, die am 10. Februar veröffentlicht lich verkabelt wären, ließe sich unter prak- mer wiederkehrende Atemnot belasten wird – ein Ökosiegel verdient die Metho- tischen Verhältnissen nicht mehr als ein und fordern Eltern und Kinder gleicher- de nicht. Prozent des privaten Pkw-Verkehrs ein- maßen. Die Autoren wühlten sich durch die um- sparen. Schulungsprogramme und Kurse, in de- fänglichen Untersuchungen, von denen di- Handfeste Grundlagen für die Öko- nen der Umgang mit dem beginnenden verse Pilotprojekte im In- und Ausland be- euphorie von Politikern und Firmen konn- Asthmaanfall ebenso eingeübt wird wie gleitet werden. Auf ernste Schwierigkei- ten die Wissenschaftler kaum entdecken. selbstbewußtes Verhalten gegenüber ver- ten stießen sie schon bei der Definition So schwärmte der Bundestagsabgeordne- ständnislosen Lehrern und Mitschülern, von „Telearbeit“. Den Heimarbeitsplatz, te und ehemalige Postminister Christian hat Rüdiger Szczepanski vom Kinderho- der den Schreibtisch in der Firma ersetzt, Schwarz-Schilling, es werde „schon bald spital Osnabrück entwickelt, einem Zen- gibt es in der Praxis gar nicht. Üblicher- eine Million Telearbeitsplätze geben“. trum für interdisziplinäre Asthmaschulung. weise handelt es sich um „alternierende Doch in der trüben Wirklichkeit kam In einem Kriechtunnel, der mit Kissen ver- Telearbeit“: Die Fernwerker können von eine Expertenrunde des Zukunftministe- stopft wird, können die Kinder „körperlich Tag zu Tag entscheiden, ob sie zu Hause riums letzten Sommer nur auf knapp erfahren, was die Verschleimung und Ob- bleiben wollen oder am Firmenschreibtisch 10 000 bislang praktizierende Datenar- struktion der Bronchien bedeutet“, erläu- Platz nehmen. beiter. tert Szczepanski. Beim Computerkonzern „Ich habe noch kein Projekt In Rollenspielen proben die Kinder Not- IBM zum Beispiel, der in erlebt, bei dem sich während fall-Management („Du hast vor zwei Stun- Deutschland 350 „außerbe- der Arbeit ständig die Zahlen den inhaliert, du pfeifst, was kannst du triebliche Arbeitsplätze“ ge- so stark ändern“, konstatier- weiter machen?“), lernen Entspannungs- schaffen hat, setzen sich die te der Studienleiter Rainer techniken sowie die Funktionen der un- Teilnehmer des Projektes im Grießhammer. terschiedlichen Medikamente. Schnitt gerade mal 1,5 Tage pro Das Hohelied auf die ökolo- Damit es Eltern leichter fällt, sich in ihr Woche an den Heim-PC. Zu- gische Telekommunikation krankes Kind einzufühlen, rät Kinderarzt dem stellten die Forscher fest, wird vor allem in den USA ge- Szczepanski ihnen zuallererst: „Atmen Sie daß der Weg zur Firma im Mit- sungen. Als „Bibel der Telear- zwei Minuten lang mit zugehaltener Nase tel bescheidene 17 Kilometer beit“ gilt eine Studie aus den durch einen Strohhalm! Dann wissen Sie, beträgt. siebziger Jahren über kalifor-

was Asthmakinder oft mehrere Stunden Was unter dem Strich an SEITZ / ZEITENSPIEGEL P. nische Pilotprojekte. Doch lang empfinden.“ ™ Wegeersparnis übrigbleibt, ist Grießhammer selbst in neueren Untersu-

150 der spiegel 5/1997 Bestimmungsort transportiert und nach entsprechender Zeit wieder entsorgt wer- den. In dieser Betrachtung, rechnet die Stu- die minutiös vor, kostet ein Telearbeits- platz sogar mehr Energie, als er einspart. Die ökologische Schieflage wäre mit ein- fachen Mitteln zumindest zu mildern. So könnten die eingesetzten PC mit heraus- nehmbaren Festplatten ausgestattet sein, um die Firmendaten vor Schaden zu schüt- zen. Dann müßte zumindest nicht noch ein zweiter Rechner ins Haus, wenn etwa die Kinder am Computer spielen wollen. Doch das ist bei den untersuchten Projek- ten nicht vorgesehen. Der wahre Reiz der Telearbeit, so scheint es, liegt für Firmen nicht in plötz- lich erwachter Umweltliebe. Der Arbeiter an der elektronischen Nabelschnur ist viel- mehr die ideale Konstellation, um sich ele- gant aus den kostenträchtigen Zwängen traditioneller Beschäftigungsverhältnisse zu befreien. Nicht ohne Grund erlaubt die IBM-Be- triebsvereinbarung Telearbeit nur für Fest- angestellte. Denn gerade die Computer- und Telekommunikationsbranche bedient sich heute schon eines Heeres von freibe-

W. M. WEBER / ARGUS W. ruflichen „Beratern“. Sie arbeiten als Tech- eingesparte Wege waren zu optimistisch niker oder Programmierer zwar eine volle 40-Stunden-Woche für die Firma, stellen chungen, in denen Angestellte auf ihrem aber ihre Leistungen als fiskalisch Selb- etwa 80 Kilometer langen Weg zur Arbeit ständige – für die Abwicklung von „Pro- viele Stunden im Stau verbringen müssen, jekten“ – in Rechnung. arbeiten die Teleangestellten an nur knapp Der elektronisch voll in die Firma ein- sieben Tagen pro Monat zu Hause. Offen- gebundene, aber räumlich abwesende freie bar erscheint ihnen die Qual des Pendelns Mitarbeiter paßt perfekt in dieses Kon- geringer als die Gefahr, aus dem persönli- zept. chen Beziehungsgeflecht der Firma her- „Der traditionelle Begriff Büro wird neu auszufallen. definiert werden müssen“, faßt IBM seine Auch die schlichte Weisheit der Tele- Erfahrungen mit der Telearbeit zusammen. kom-Broschüre, Telearbeit könne „gutbe- Der Computerkonzern hat bereits 90 Pro- zahlte Arbeitsplätze dahin verlagern, wo zent seiner amerikanischen Außendienst- Menschen gern leben und daher auch gern mitarbeiter mit „mobilen Arbeitsplätzen“ arbeiten“, ist ökologisch eine Milchmäd- ausgestattet. In Deutschland arbeiten so chenrechnung. Wenn einer telearbeitend rund 2600 IBMler am Laptop. Sie haben ihr aufs Land zieht, weil es so schön ist oder Arbeitsgerät beim Termin mit Kunden stets weil dort preiswerter Wohn- und Büro- dabei und können sich schon am Früh- raum zu haben ist, gehen oft die beim täg- stückstisch auf das Gespräch vorbereiten lichen Arbeitsweg eingesparten Kilometer und ohne Umweg über das Büro zum Ge- gleich wieder drauf: für sporadische Ex- schäftstermin aufbrechen. Die Auswertung kursionen in die nun weiter entfernt lie- des Kundenbesuchs können sie am Abend gende Firma oder für zusätzliche Fahrten. jedenfalls zu Hause am Mobilcomputer er- Vorher wurden auf dem Weg ins Büro zum ledigen. Beispiel die Kinder in der Schule abgelie- Eine Arbeitszeitkontrolle per Stechuhr fert, oder auf dem Heimweg ergab sich ein ist dabei nicht mehr möglich, aber auch Zwischenstopp im Supermarkt. Nun muß überflüssig, denn IBM hat sich dem mo- für solche Erledigungen das Auto eigens dernen „Management by Objectives“ ver- aus der Garage geholt werden. schrieben: Als adäquate Arbeitsleistung Die angeblich so umweltfreundliche zählt einzig das Erreichen der Vorgaben, Telearbeit erweist sich erst recht als Fehl- etwa der Abschluß eines Vertrages, nicht griff, wenn man wie Grießhammer auch die Anzahl der altmodisch am Schreibtisch die Herstellung der telekommunikati- abgesessenen Stunden. ven Arbeitsgeräte in die Ökobilanz einbe- Die Außendienstler legen so eine um 12 zieht. bis 20 Prozent höhere Produktivität an den In der Regel verbieten Betriebe nämlich Tag, berichtet die Firma. Ob da jemand ihren Angestellten, den von der Firma be- vielleicht auch länger arbeitet als früher, schafften PC auf dem Heimschreibtisch läßt sich nicht feststellen. „Die Zeitsou- auch für private Zwecke zu nutzen. Für je- veränität der Arbeitnehmer“, stellt die den Telearbeitsplatz muß somit ein weite- IBM-Sprecherin Christiane Hinze feinsin- rer Computer gebaut, von der Fabrik zum nig fest, „gilt eben in jeder Hinsicht.“ ™

der spiegel 5/1997 151 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das ist eine Zumutung“ Bildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) über seine Pläne für eine Reform der Hochschulen und eine praxisnähere Berufsausbildung F. DARCHINGER F. Rüttgers beim SPIEGEL-Gespräch: „Die Mißstände verbessern wir nicht durch Geld, selbst wenn wir es hätten“

Rüttgers, 45, ist seit Herbst 1994 Minister schungseinrichtungen in den alten Län- Hochschulsonderprogramm III die Finan- für Bildung, Wissenschaft, Forschung und dern. Wenn ich mit nur 80 Millionen Mark zierung der Hochschulen bis zum Jahr Technologie in Bonn. Umschichtung die modernste Datenauto- 2000 gesichert. 3,6 Milliarden dafür sind bahn der Welt in Deutschland einrichte, gerade in Zeiten knapper Kassen ein Wort. SPIEGEL: Herr Rüttgers, Sie sehen Deutsch- 326 Hochschulen und Forschungseinrich- Was wir jetzt brauchen, sind strukturelle land auf dem Weg zu einer Wissensgesell- tungen mit allem Wissen dieser Welt ver- Veränderungen. schaft, in der die Ausbildung junger Men- binde, dann ist das für den Standort mehr SPIEGEL: Genau dafür aber haben Sie als schen der wichtigste nachwachsende Roh- wert als manche andere Sache, für die wir Bundesminister im Bildungsföderalismus stoff ist. Gleichzeitig schrumpft jedoch Ihr viel mehr investiert haben. so gut wie keine eigenen Zuständigkeiten. Etat für 1997 überdurchschnittlich, im Ver- SPIEGEL: Sie propagieren eine neue Bil- RÜTTGERS: Ohne dieses Programm und das gleich zum Vorjahr um 5,6 Prozent. Große dungsreform und wollen Bildung und Wis- Geld aus Bonn könnten Sie die Hoch- Worte, aber nichts dahinter? senschaft wieder auf die ersten Seiten der schulreform vergessen. Dann hätten Sie RÜTTGERS: Die Zahl stimmt nicht. Aber ich Tageszeitungen bringen. Gleichzeitig sinkt Tausende von Leuten entlassen müssen, bin es auch leid, um Ziffern zu feilschen. der Anteil Ihres Etats am Bundeshaushalt und inhaltliche Veränderungen wären erst Fakt ist: Für die Bildung gibt es im kom- von 4,7 Prozent für 1982 auf heute 3,4 Pro- gar nicht diskutiert worden. Aber das ma- menden Jahr mehr Geld als im vorigen. zent. Ist das nicht das falsche politische chen wir jetzt. SPIEGEL: Trotz Streichungen von 900 Mil- Signal? SPIEGEL: Mit einer Reform des Hochschul- lionen Mark? RÜTTGERS: Das stimmt.Alles wäre viel ein- rahmengesetzes sollen die schwerfälligen RÜTTGERS: Deshalb habe ich bewußt poli- facher, wenn ich gleichzeitig Steigerungs- deutschen Universitäten modernisiert wer- tische Prioritäten im Bildungsbereich ge- raten im Haushalt bekanntgeben könnte. den. Doch die Länder zeigen wenig Inter- setzt und an anderen Stellen gekürzt Objektiv wahr ist aber auch, daß bisher in esse an einer Zusammenarbeit mit dem wie etwa bei Baumaßnahmen von For- Deutschland noch nichts am Geld ge- Bundesbildungsminister. Ihre Düsseldor- scheitert ist. Wir geben jedes Jahr alles in fer Kollegin Anke Brunn (SPD) behauptet Das Gespräch führten die Redakteure Manfred Ertel allem 240 Milliarden Mark für das Bil- sogar, für eine Studienreform sei der Bund und Joachim Mohr. dungssystem aus. Wir haben mit dem nicht vonnöten.

154 der spiegel 5/1997 RÜTTGERS: Das ist schon eine Zumutung, Jahr später in einem gutbezahl- wenn diejenigen, die angeblich den Bund ten Job. nicht brauchen, gleichzeitig von Bonn SPIEGEL: Aber dann sind doch mehr Geld oder neue Gesetze verlan- Diplom- oder Magisterarbeiten gen. Außerdem müssen die Länder den von über hundert Seiten, wie Bürgern doch bitte mal erklären, warum sie in Deutschland üblich sind, unsere Hochschulabsolventen immer noch schlicht ein akademischer Ana- vier oder fünf Studiensemester mehr chronismus. auf dem Buckel haben als die internatio- RÜTTGERS: Die Einführung neu- nale Konkurrenz. Oder warum etwa 90 er, früherer Abschlüsse, wie der Prozent aller Jurastudenten noch zum Re- Bachelor, ist wichtig. Nicht jeder petitor gehen, um sich auf ihr Examen Student will Nobelpreisträger vorzubereiten, warum ausländische Stu- werden. Nicht jeder Uni-Absol- denten um Deutschland einen Bogen ma- vent muß Professor sein. Aber chen oder warum die Betreuung dieser natürlich wird es weiterhin Studenten hier immer noch auf Dritte- Examensarbeiten und Examina Welt-Niveau ist. geben. SPIEGEL: Ihre Antwort? SPIEGEL: Einige CDU-geführte RÜTTGERS: Inzwischen ist alles untersucht Bundesländer wie Baden-Würt- und in Gutachten festgehalten, aber die temberg und Sachsen befürwor-

politischen Entscheidungen fehlen. Die D. VOGEL / VISUM ten Studiengebühren. Bleibt der Studenten, die jetzt an den Hochschulen Überfüllte Hochschule (in Dortmund) CDU-Bundesminister bei sei- sind, müssen jetzt eine gute Ausbildung „Das forciert den Wettbewerb“ nem Nein? bekommen, nicht erst in zehn Jahren. RÜTTGERS: Studiengebühren sind SPIEGEL: Ein neues Gesetz garantiert noch mit mir nicht zu machen. Er- kein besseres, geschweige denn schnelleres stens bringen die den Hoch- oder praxisnäheres Studium. schulen nicht mehr Geld, denn RÜTTGERS: Aber es schafft die Vorausset- das würde im nächsten Haus- zungen. Unsere Eckpunkte für ein neues haltsjahr von den Finanzmini- Hochschulrahmengesetz ermöglichen stern wieder einkassiert. Zwei- mehr Wettbewerb, mehr Leistung, mehr tens treffen Gebühren nur die Differenzierung. Das geht nicht durch ein Mittelschicht, denn bedürftige feinmaschiges Netz von Vorschriften und Bafög-Empfänger wären ausge- Detailregelungen wie in dem alten Gesetz nommen, und die Reichen von 1976. Die Hochschulen vor Ort müssen stören sie sowieso nicht. sich freier bewegen können. Deswegen SPIEGEL: Es gibt einen partei- glaube ich auch, daß es die Basis für einen übergreifenden Konsens, Pro- Konsens mit den Ländern gibt. fessoren stärker nach Leistung SPIEGEL: Zunächst mal sollen die Freiheiten zu bezahlen. Warum wird das der Studenten durch Regelstudienzeiten Beamtenverhältnis für Hoch- von neun oder zehn Semestern mit mehr schullehrer nicht abgeschafft, Leistungskontrollen und Zwischenprüfun- wissenschaftliche Innovationen

gen begrenzt werden. Wer die nicht be- - PRESS VARIO lassen sich doch nicht als ho- steht, fliegt raus? Berufliche Ausbildung (im Kfz-Gewerbe) heitliche Aufgabe verordnen? RÜTTGERS: Eindeutig ja, aber das ist nur ein „Unmengen von Detailwissen“ RÜTTGERS: Das Angestelltenver- Teil der Wahrheit. Das wird übrigens die hältnis im Öffentlichen Dienst meisten Studenten gar nicht treffen, son- RÜTTGERS: Dieser Druck zielt doch vor al- ist keinen Deut besser. Deshalb brauchen dern nur die Bummler. Man muß bei einem lem auf die Universitäten. Ob Studenten wir eine allgemeine Dienstrechtsreform. Studium, das die Steuerzahler viel Geld innerhalb der Regelstudienzeit auch wirk- Es kann nicht sein, daß nach der Beru- kostet, von einem Studenten erwarten lich ihren Abschluß machen können, muß fung eines Professors niemand mehr die können, daß er nach dem zweiten Seme- ein Kriterium für die Mittelzuweisung an Qualität seiner Arbeit beurteilt. Die bisher ster mehr in der Hand hat als nur eine Im- die Hochschulen werden. Wenn wir das im Gesetz vorhandene Vermutung, daß matrikulationsbescheinigung. schaffen, werden die Hochschulen aus ei- alle guten Forscher auch gute Lehrer SPIEGEL: Was passiert mit Hochschülern, genem Interesse anfangen, sich um eine sind, muß weg. Wer mehr leistet, muß die Kinder haben, die nebenbei jobben bessere Organisation und damit um kür- mehr verdienen. müssen oder ein, zwei Auslandssemester zere Studienzeiten zu bemühen. Das for- SPIEGEL: Wie soll das denn organisiert einlegen wollen? ciert den Wettbewerb ungemein. werden? RÜTTGERS: Alle Untersuchungen zeigen, SPIEGEL: In England oder den USA spielen RÜTTGERS: Es muß Anteile am Gehalt ge- daß die weitaus meisten Studenten trotz Abschlußprüfungen nur eine untergeord- ben, die beispielsweise von der Anzahl der Job oder besonderer Familiensituation in nete Rolle, da die Studenten während der Hörer und Absolventen eines Professors der Lage sind, diese Termine zu halten. Semester akademische Teilqualifikationen, abhängig sind. Deshalb ist für sie nicht die Regelstudien- sogenannte Credits, sammeln. Ein Vorbild SPIEGEL: Und wer entscheidet über die zu zeit das Thema, sondern die Frage, ob sie für Deutschland? verteilenden Gratifikationen? ewig lange auf Sprechstunden oder auf La- RÜTTGERS: Ja, das sollten wir übernehmen. RÜTTGERS: Wir brauchen eine starke Hoch- borplätze warten müssen oder keinen Die meisten unserer Studenten wollen re- schulleitung. Wenn jemand an der Spitze Platz in den Seminaren finden. Die Miß- lativ schnell einen berufsbezogenen Ab- einer Universität sitzt, aber keine Ent- stände verbessern wir nicht durch mehr schluß machen und sich einen Job suchen. scheidung treffen kann, ohne vorher eine Geld, selbst wenn wir es hätten. Und es ist nur eines dieser Stammtisch- Vielzahl von Gremien zu konsultieren, SPIEGEL: Aber doch auch nicht durch vorurteile, daß Studienabbrecher die kann ich ihn auch nicht für die möglicher- Zwangsexmatrikulationen. Ist Druck ein großen Versager wären. Tatsächlich sind 75 weise schlechte Leistungsfähigkeit der Uni guter Studienberater? Prozent der Studienabbrecher ein halbes verantwortlich machen.

der spiegel 5/1997 155 SPIEGEL: Die Mitbestimmung von Studen- ten und Professoren an den Hochschulen erweist sich demnach als innovations- hemmend? RÜTTGERS: Im Gegenteil. Sie können kein modernes Unternehmen führen, ohne die Mitarbeiter einzubeziehen. Das gilt auch für Hochschulen. Aber nach Diskussionen müssen auch die notwendigen Entschei- dungen getroffen werden. SPIEGEL: Schlechte Kritiken bringt Ihnen neuerdings Ihre Politik zur Berufsbildung ein. Bislang lobten Sie das duale System in der Bundesrepublik als einen weltweiten Exportschlager. Jetzt wollen Sie einen Be- rufsschultag abbauen und höhlen so das System aus. RÜTTGERS: Nein, es ist immer noch ein Er- folgsmodell. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist mit rund 9 Prozent immer noch viel zu hoch. Aber sie liegt im inter- nationalen Vergleich am unteren Ende der Skala. In anderen europäischen Ländern sind es 25 Prozent, teilweise sogar noch mehr. Andererseits können wir es doch nicht hinnehmen, daß in einigen Branchen die Lehrlinge nur noch etwas mehr als ein Viertel ihrer Zeit überhaupt im Be- trieb sind. SPIEGEL: Das sind doch typische Kampf- argumente. Bislang hat genau diese Auf- teilung die Qualität des dualen Systems garantiert. RÜTTGERS: Ich kann verstehen, wenn je- mand in einem kleinen Elektrobetrieb fragt: Warum soll ich eigentlich einen jun- gen Menschen ausbilden, wenn der so gut wie nie da ist? Mein wichtigstes Ziel ist, überhaupt erst mal genug Lehrstellen zu bekommen. Und in Niedersachsen, wo

der zweite Berufsschultag weitgehend FOCUS / AGENTUR LIBRARY SCIENCE PHOTO abgeschafft ist, gibt es gegen den Trend Europa bei Nacht*: Illuminiert wie ein Musikdampfer treibt die Erdkugel durchs All eine Steigerung der Lehrstellen um drei Prozent. So gesehen müßten sich empfindliche SPIEGEL: Lehrlinge sollen nach Ihrer Mei- ASTRONOMIE Außerirdische heutzutage geradezu ge- nung auch wieder mehr Bier holen, Kaffee blendet fühlen. Illuminiert wie ein Musik- kochen oder den Hof kehren. Ist Ihnen dampfer treibt die Erdkugel mittlerweile gute Stimmung bei den Ausbildungsbe- Erbe der Natur durchs All. Gewaltige Licht-Glocken, so trieben wichtiger als die Qualität der Aus- zeigen es Satellitenaufnahmen, überwöl- bildung? ben vor allem die Metropolen und Bal- RÜTTGERS: Was ist denn daran so schlimm? verspielt lungsgebiete auf der Nordhemisphäre. Ich koche meinen Kaffee teilweise auch Am Boden bilden die Lichter der Groß- selber. Ich finde, daß man die betriebliche Die Lichter der Großstädte städte einen diffusen Schleier, der zuneh- Realität einfach mal wieder wahrnehmen trüben zunehmend den mend den Blick aufs Firmament trübt. muß. Es kann doch nicht richtig sein, in der Selbst in einer wolkenlosen Winternacht Erstausbildung drei oder dreieinhalb Jah- Blick aufs Firmament. Amateur- sind vielerorts nur noch die hellsten Ster- re lang nur Unmengen von Detailwissen astronomen wollen jetzt ne zu erkennen. anzuhäufen. den Sternenhimmel retten. „Es ist schon ein Jammer“, klagt An- SPIEGEL: Das Ergebnis ist eine stark ver- dreas Hänel, Leiter des Planetariums in kürzte Schmalspurausbildung, die auf dem ls Lord Kelvin, der britische Pio- Osnabrück, „wir sind dabei, ein wunder- hart umkämpften Arbeitsmarkt kaum eine nier der Elektrophysik, vor hun- bares Naturerbe zu verspielen.“ Immer Chance hat. Adert Jahren New York besuchte, er- häufiger erlebt er, daß „Besucher bei un- RÜTTGERS: Nein, Ziel ist, das Lernen zu ler- regte er sich heftig über die elektrischen seren Vorführungen das erste Mal in ihrem nen, sich Schlüsselqualifikationen anzu- Straßenlaternen. Ihr neumodisches Kunst- Leben die Milchstraße sehen“. eignen. Warum verlangen wir von Werk- licht, nörgelte der Erfinder der Untersee- Hänel will den schleichenden Verlust der zeugmachern weiterhin, daß sie sechs Mo- Telegrafie, strahle so hell, daß es „wohl Nacht nicht länger hinnehmen. Zusammen nate feilen lernen, nur weil das früher so noch den Marsmenschen ins Auge sticht“. mit rund 30 Amateurastronomen hat er war? Die arbeiten doch heute fast nur noch jetzt eine „Initiative gegen Lichtver- mit automatisierten Maschinen. * Satellitenaufnahme; die roten Lichtflecken, zum schmutzung“ gestartet. „Rettet den Ster- SPIEGEL: Herr Rüttgers, wir danken Ihnen Beispiel in der Nordsee und in der Sahara, zeigen nenhimmel!“ fordern sie in ihrem Aufruf. für dieses Gespräch. Gasabfackelungen über Erdölfeldern. Einer von ihnen, der Tübinger Biologe

156 der spiegel 5/1997 Wissenschaft Wolfgang Wettlaufer, hat sich sogar mit ei- wir uns zurückgezogen haben, werden wir ner Petition an den Bundestag gewandt. neuerdings verscheucht“, klagt Kräling. „Viele von uns haben allerdings schon Hauptärgernis sind sogenannte Sky-Bea- resigniert“, berichtet Jost Jahn von der mer, die sich in den letzten Jahren über das Vereinigung der Sternfreunde, dem 3000 ganze Land ausgebreitet haben. Vor allem Mitglieder zählenden Verband der deut- Diskotheken und Restaurants richten die- schen Amateurastronomen. Er selber, so se riesigen Scheinwerfer gen Himmel, um berichtet der Zahnarzt, der in einem Dorf Werbung für sich zu machen. in der Lüneburger Heide lebt, habe zwar Häufig werden die von ihnen erzeugten nächtens noch fast ungetrübte Sicht. „Aber tanzenden Lichtflecken am Firmament von sogar bei uns auf dem Lande“, so Jahn, Spaziergängern für Ufos gehalten. Mit „hat sich die Lage in den letzten Jahren Reichweiten von bis zu 30 Kilometern hel- dramatisch verschlechtert.“ len die 2500-Watt-Strahler, die an Flak- Gründe für die anschwellende Lichter- Scheinwerfer erinnern, noch die letzten flut gibt es viele. Tag für Tag verschwindet Winkel der Walachei aus. rund ein Quadratkilometer Bundesrepu- Die Himmelsleuchten sind auch Todes- blik unter Straßen und neuen Siedlungen, fallen für Vögel und Insekten. Vor allem das entspricht pro Jahr der Fläche von Zugvögel kreisen um die Lichtfackeln, ver- München – der größte Teil davon wird hin- letzen sich dabei oder sinken ermattet zu fort ordentlich in Licht gebadet. Laternen- Boden. Im hessischen Lauterbach gerieten gesäumte Ausfallstraßen, neonbestückte letzten November mehrere Kraniche in Tankstellen, angestrahlte Gewerbebauten den Bann eines Disko-Strahlers. Erst als und beleuchtete Eigenheimghettos ver- die alarmierte Polizei den Scheinwerfer wandeln die Landschaft in einen schwarz- ausschalten ließ, setzten die erschöpften weißen Flickenteppich.Aus Angst vor Ein- Tiere ihre Reise nach Süden fort. brechern rüsten zudem viele Bürger und Die Sterngucker wollen sich nun mit Na- Firmen ihre Häuser mit Flutlichtern zu turschützern verbünden, um für ein Verbot strahlenden Trutzburgen um. der Sky-Beamer zu kämpfen. Kräling for- Längst sind die Berufsastronomen in dert: „Der Nachthimmel darf nicht als weit entlegene Gegenden geflohen. Ihre Werbefläche mißbraucht werden.“ modernen Riesenteleskope errichten sie in Die Amateurastronomen haben aber Chile oder auf Hawaii. Den Hobby-Stern- auch Ideen, wie die ganz normale Straßen- guckern bleiben solche Fluchtwege ver- beleuchtung eingedämmt werden könnte. sperrt. Mit einfachen Blenden ließe sich etwa er- Um die dunklen Orte in Deutschland reichen, daß Laternen wirklich nur die aufzuspüren, hat Winfried Kräling, Mitbe- Straßen beleuchten und ihr Licht nicht in gründer der Anti-Licht-Kampagne, deshalb alle Richtungen streuen. „Die meiste Licht- am Computer Satellitenfotos ausgewertet. verschmutzung“, sagt Kräling, „entsteht Seine so erstellte „Lichtverschmutzungs- durch Gedankenlosigkeit.“ Karte“ zeigt, wo in Deutschland, auch mit Für die Sterngucker ist vor allem Gelb kleinen optischen Teleskopen, lichtschwa- die Farbe der Hoffnung. Sie setzen darauf, che Kometen oder entfernte Galaxien be- daß Städte und Gemeinden die Straßenla- obachtet werden können. Noch am gün- ternen nach und nach auf sogenannte stigsten ist die Sicht in den dünnbesiedel- Natriumdampf-Niederdrucklampen umrü- ten Gebieten Mecklen- sten. Das angenehme burgs oder des Bayeri- Licht der Natriumlampen schen Waldes. strahlt nur in einem win- Zu seiner Überra- zigen gelben Bereich des schung fand der hessische Farbenspektrums ab und Konstrukteur aber auch kann deshalb von den in seiner Nähe, am Vo- Hobby-Astronomen leich- gelsberg, nur 65 Kilo- ter herausgefiltert wer- meter von der lichtüber- den. Die sanften Leuchten säten Mainmetropole stören auch die Tierwelt Frankfurt entfernt, einen erheblich weniger. dunklen Fleck. Dort geht Ein weiterer Vorteil: er neuerdings auf Kome- Verglichen mit den bis- tenjagd – beim Aufspüren lang gebräuchlichen, von Schweifsternen kom- gleißend hellen Quecksil- men die Freizeit-Astro- berdampflampen ver- nomen oft den Profis zu- brauchen die Natrium- vor. Den spektakulären dampflampen über 40 Kometen Hale-Bopp bei- Prozent weniger Energie. spielsweise, der in den Mit den gelben Straßen- nächsten Wochen sogar laternen ließe sich mithin mit bloßem Auge zu se- eine Menge Geld sparen – hen sein soll, haben zu- rund 1,1 Milliarden Mark erst amerikanische Hob- geben allein die alten by-Astronomen gesichtet. Bundesländer jährlich

„Doch auch aus den N. ENKER aus, um den Asphalt zu letzten Nischen, in die Planetariumsleiter Hänel beleuchten. ™

der spiegel 5/1997 157 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft ten mühten sich damit, die Wissenslast BÜCHER der Menschheit Jahr für Jahr um über drei Millionen Aufsätze zu mehren, deren Bedeutung immer mehr gegen Null Zuckerwatte tendiere. Natürlich, es bleiben große Fragen offen: Wie und wo entstand das Leben? Gibt es fürs Gehirn andere Zivilisationen im All? Wie funktio- niert das menschliche Bewußtsein? Worin Ein amerikanischer Autor besteht das Wesen der Zeit? verkündet das Ende Aber Rätsel solcher Dimension werden das Erklärungsvermögen der Naturwis- der Wissenschaft: Ist wirklich senschaft immer übersteigen, behauptet alles schon erforscht? Horgan. Woher er das weiß? Er habe vier Dutzend Gelehrte, allesamt Weltkapazitä- urch den Fertigteilbau mitten in der ten, gefragt und „durchaus Übereinstim- texanischen Prärie pfeift der Wind. mung“ festgestellt. DHier wollten die Physiker einst Seine Gesprächspartner, die sich als nach der Weltformel suchen, aber sie sind Avantgarde der Forschung verstehen, hät- nie eingezogen. Der Tunnel darunter, 14 ten in Wahrheit in einer Welt, in der es Meilen lang und ausgehöhlt, um Atomteil- nichts mehr zu enträtseln gibt, neue Wege chen darin fast lichtschnell aufeinander zu aufgetan, um sich ihr Auskommen zu si- schießen, dient nur noch den darin hau- chern: Sie täten nichts, als den Mensch- senden Ratten als Rennbahn. heitsdurst nach Erkenntnis mit einer Stra- Zwei Milliarden Dollar hat die ameri- tegie zu betäuben, die Horgan „ironische kanische Regierung hier vergraben, bis der Wissenschaft“ nennt. Kongreß vor drei Jahren widersprach: Das Mit Nobelpreisträger-Autorität vorge- Projekt, ein „supraleitender Superbe- tragen und in den angesehensten Fach- schleuniger“ zum geschätzten Preis von blättern veröffentlicht, biete sich diese dem elf Milliarden Dollar, sei zu teuer und sein Laien genauso unergründlich dar wie ech- Erfolg wenig wahrscheinlich. te Forschung. Aber in Wahrheit handle es Wie verfallende Tempel aus einer fernen sich um reine Poesie. Denn die ironische Epoche künden die Forschungsruinen nun- Wissenschaft fühlt sich laut Horgan nicht

mehr von einer Zeitenwende, die ein US- M. JENKINSON verpflichtet, wahre Theorien zu liefern, Wissenschaftsautor bereits ausgemacht zu Wissenschaftskritiker Horgan sondern interessante. haben glaubt: Die Erforschung der Welt, „Erkenntnisdurst wird mit Ironie betäubt“ Zu solchem Zweck beackert sie Gebie- meint er, sei an ihr Ende gelangt. te, welche sich aller Überprüfung entzie- Nach Jahrhunderten der Durchbrüche Die These sei keineswegs neu, bemerken hen: Ironische Wissenschaft der Sonder- auf allen Gebieten zwischen Astronomie Horgans Gegner: Schon am Ausgang des klasse bietet sich dar, wenn so illustre Gei- und Zoologie, so John Horgans provokati- letzten Jahrhunderts hätten manche Phy- ster wie der Kosmologe Roger Penrose ve Behauptung, sind die meisten großen siker verkündet, in ihrem Fach sei alle Ar- über Zusammenhänge von Quantenphy- Menschheitsfragen nach Ursprung und beit getan. „Künftige Generationen werden sik und Willensfreiheit fabulieren; wenn Aufbau von Leben und Kosmos gelöst – sich darauf beschränken müssen, die Na- der Biologie-Nobelpreisträger Francis und die übrigen als unlösbar enttarnt. turkonstanten auf die siebente Nachkom- Crick die Besiedelung der Erde aus dem Den Kommenden bleibe nur noch, die mastelle genau zu bestimmen“, schrieb der All erläutert; oder wenn Bestsellerautor Details des großen Gemäldes auszumalen Amerikaner Albert Michelson im Jahr Stephen Hawking die Geschichte der Zeit und die Erkenntnisse zum Wohle der 1894. vor dem Urknall schreibt – sein Buch hielt Menschheit zu nutzen – gewiß unendlich Den Optiker Michelson habe Betriebs- sich 41 Wochen lang auf der Bestsellerliste viel Plackerei. Aber kein Stoff mehr für blindheit geschlagen, verteidigt sich des spiegel. wahrhaft große Geister. Horgan: Gerade er habe doch mit sei- Gegenüber wirklichen Literaten haben Seit einigen Monaten sorgen Horgans nen Lichtgeschwindigkeits-Messungen den diese Forschungs-Poeten einen Vorteil: Sie Thesen in Amerika für erregte Debatten, Boden bereitet für die Relativitätstheorie. nutzten den steten Hunger des Publikums zu denen beispielsweise der Physiker-Ver- Offenbar sei es Michelson bei den einsa- nach Theorien von Schwarzen Löchern, band zähneknirschende Spekulationen men Experimenten entgangen, wie gierig Urmenschen und Chaos. Denn deutlich über Einsteins Wiedergeburt beisteuerte: die Kollegen nach seinen Ergebnissen meßbar ist, wenn schon nicht der Wahr- „Wenn er heute jung wäre, würde er viel- hungerten, aus denen zehn Jahre später heitsgehalt, so doch der Erfolg solcher Wis- leicht an der Wall Street arbeiten.“ Einsteins große Revolution der Physik senschafts-Mythen: Millionen Besucher Inzwischen ist der Streit auf Europa erwuchs. strömen in disneylandähnliche „Ent- übergeschwappt. „Interessant“, urteilte Nichts dergleichen sieht Horgan am Ho- deckungsparks“ wie La Villette in Paris, das französische Fachblatt la recherche rizont: Den Bau der Atome haben die Phy- wo gigantische Astronomie-Simulatoren über das Buch, in dem Horgan seine Be- siker in den zwanziger Jahren entschlüs- ein Gefühl für raumzeitliche Dimensionen hauptungen mit einer Fülle von Beispielen selt; wie Gene aussehen und funktionieren, vermitteln sollen. zu untermauern versucht*. „Belanglos und ist im Prinzip seit den Fünfzigern bekannt; Die Begeisterten ahnen: Das Ende der aufgeblasene Argumente“, wetterte dage- auch das „Standardmodell“ der Elemen- Wissenschaft, wie Horgan es verkündet, gen das britische Magazin nature. Hor- tarteilchen und ihrer Entstehung im Ur- wird nicht heraufziehen. Denn Kleinvieh gans Werk, zugegebenermaßen glänzend knall steht in seinen Grundzügen seit mehr macht auch Mist. geschrieben, biete nichts weiter als als 30 Jahren fest. Verglichen mit der Entdeckung der Erb- „Zuckerwatte fürs Gehirn“. „Man kann die großen Entdeckungen substanz mag die Fahndung nach Impf- nur einmal machen“, resümiert der Autor. stoffen und Heilmitteln gegen Aids weni- * John Horgan: „The End of Science“. Addison-Wesley Die heutigen Forscher seien „Zuspät- ger bedeutend sein. Aber 22 Millionen In- Publishing Company, New York; 308 Seiten; 24 Dollar. gekommene“: Diese tragischen Gestal- fizierte warten darauf. ™

160 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Technik wichtig ist und wo die Sätze enden – notwendige Voraussetzung zur Inter- pretation von Sprache, da Gesproche- nes keine Satzzeichen kennt. Bei alledem stützt sich Verbmobil, an- ders als gängige Sprachcomputer, auf eine Art Allgemeinwissen, das ihm bei seinem Sprachen-Job die Orientierung erleichtert. Weil die Programmierer die Maschine mit vielfältigen Informationen über die Welt gefüttert haben, kann sie Sprache nicht nur mittels Vokabelspeicher und Grammatik- regeln übersetzen, sondern ihr auch einen Sinn geben. Herkömmliche Programme etwa könn- ten nur raten, ob in dem Satz: „Wir tref- fen uns im Schloß“ die Vokabel „Schloß“ besser mit castle (Gebäude) oder mit lock (Vorhängeschloß) zu übersetzen ist. Verb- mobil hingegen vermag die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen: Mit „wir“, so entnimmt das Programm seinem Datenspeicher, sind gewöhnlich Menschen gemeint, und die sind Lebewesen von beträchtlicher Größe. So kann beim „Schloß“ nur von einem Gebäude die Rede sein, weil es das nötige Volumen

FOTOS: F. ZANETTINI / LAIF F. FOTOS: aufweist. Übersetzungssystem „Verbmobil“: Bohrung in die Tiefen der Sprache Gerade die schier unendliche Komple- xität, mit der menschliches Wissen im Kopf was sie stolz als „größtes wissenschaftli- verschachtelt und vernetzt ist, haben die COMPUTER ches Softwareprojekt in Deutschland“ Wissenschaftler in den frühen Jahren der preisen. 65 Millionen Mark bekamen sie KI-Forschung maßlos unterschätzt. In zehn bisher aus Bonn, weitere 31 Millionen stif- Jahren, so prophezeite 1957 Allen Newell, Mit Weltwissen tete die Industrie. einer der Väter der Künstlichen Intelligenz, Ehrgeiziges Ziel der Forscher: eine Ma- werde der Computer wie ein Mensch den- schine, die gesprochenes Deutsch oder ken und sprechen können. Vier Jahrzehn- gefüttert Japanisch versteht und korrekt ins Engli- te nach dieser Prognose gibt es das gleich- sche übersetzt. Zwar ist Verbmobil davon berechtigte Gespräch zwischen Mensch Deutsche Forscher haben noch weit entfernt. Dennoch gelang es und Maschine noch immer nicht – oder seinen Entwicklern jetzt, für die nächsten allenfalls in der Phantasie von Science- einen digitalen Dolmetscher drei Jahre 50 weitere Millionen Mark im fiction-Autoren. ersonnen, der redet, hört Etat des Forschungsministers lockerzu- Zwar arbeiten viele Dolmetscher inzwi- und sogar einiges davon versteht. machen. schen softwareunterstützt. Etliche Ärzte Das Erfolgsrezept der Väter des Verb- und Rechtsanwälte diktieren schon am eit dreieinhalb Jahren schon versucht mobils lautet: Bescheidenheit. Statt ihren Computer. Programme wie der Web Trans- Wolfgang Wahlster seinem Compu- Computer mit den mehreren Hunderttau- lator der amerikanischen Firma Globalink Ster das Wort „noch“ beizubringen. send Vokabeln der deutschen Sprache zu übersetzen online, wenngleich eher rade- „Wir müssen noch einen Termin verein- füttern, begnügten sie sich mit ganzen brechend, die Seiten des World-Wide-Web baren“, spricht der Direktor des Deutschen 2500. Statt sich gleichzeitig an Zeitungs- in die Sprache des Benutzers.Viele der auf Forschungszentrums für Künstliche Intel- kommentaren, Küchenrezepten und wis- dem Markt befindlichen Programme sind ligenz (KI) in Saarbrücken über ein Mi- senschaftlichen Artikeln zu versuchen, be- inzwischen mit mächtigen Grammatikhil- krofon in seinen Rechner. „We have to ar- schränkten sie sich auf den kleinen Be- fen, sogenannten Parsern, und aufrüstba- range an appointment“, tönt die Sun- reich der Terminabsprache. Sparcstation wenige Sekunden später in Nur dank dieser Enthaltsamkeit gelang bestem Oxford-Englisch zurück. ihnen, woran andere KI-Forscher seit Jah- Wahlster nickt und spricht den Satz er- ren scheitern. Ihr Computer neut, diesmal mit zarter Betonung auf dem π versteht Spontansprache – die vielen „noch“. „We have to arrange another ap- Schmatzer, Ähms und Hms bringen das pointment“, erwidert die Computerstim- Programm ebensowenig aus dem Kon- me. So einfach sich das anhören mag, für zept wie verschluckte Silben; die er- Wahlster ist es ein Triumph: Erstmals ver- reichte Fehlerrate von 13 Prozent gilt bei mag eine Maschine auch der Betonung ei- dieser Art von Input als extrem niedrig; nes gesprochenen Satzes einen Sinn zu π macht sich nichts daraus, ob ein Hesse entnehmen. oder ein Sachse zu ihm spricht – das „Verbmobil“ heißt der digitale Dolmet- Programm ist „sprecherunabhängig“; scher aus Saarbrücken, und er gehört zum π verfügt über ein grammatisches Analy- Fortgeschrittensten, was die Sprachtech- seprogramm, das es ihm erlaubt, auch nologie weltweit zu bieten hat. Seit 1993 unvollständige Sätze richtig zu deuten; tüfteln Wahlster und rund 100 seiner Kol- π kann anhand von Satzmelodie und Be- KI-Forscher Wahlster legen aus der gesamten Republik an dem, tonung erkennen, was wichtig oder un- „Im emotionalen Bereich sind wir hilflos“

164 der spiegel 5/1997 ren Wörterbüchern ausgestattet, um sie ge- gen die Tücken der Sprache zu wappnen. Dennoch spucken sie oft nur verstümmel- ten Textmüll aus – wirre Fehlleistungen, die Wahlster auf den Mangel an Weltwis- „Der Wodka ist verrottet“ sen zurückführt (siehe Kasten). „Diese Systeme gehen in die Breite, Fähigkeiten und Schwächen gängiger Übersetzungsprogramme während wir eine sprachliche Tiefbohrung vornehmen“, sagt der Wissenschaftler. Nur estern, alle meine Mühen schie- haltungswert: Unübertroffen die digi- dank seiner programmierten Welthaltig- nen so weit fort, jetzt es blickt tale Fehlleistung eines Computers, der keit übersetzt Verbmobil „vor dem Hotel“ Gals ob sie sind hier bleiben den Satz „Das Fleisch ist willig, aber richtig mit „in front of the hotel“, „vor Ohio, ich glaube an gestern.“ der Geist ist schwach“ vom Englischen der Tagung“ aber mit „before the con- Dieses Werk trägt gemeinhin den Ti- ins Russische und zurück übersetzte. ference“ und entlarvt, daß die Eingabe tel „Yesterday“, wurde auf Englisch Ergebnis: „Das Fleisch ist gut, aber der „31. Februar“ ein Irrtum sein muß. von den Beatles gesungen und von Wodka ist verrottet.“ Auch in der Sprachanalyse sind die For- Langenscheidts „T1“ übersetzt, einem Amüsant ist auch die Leistung des scher weit vorangekommen: Das akusti- von rund zehn zur Zeit auf dem deut- „T1“, der Artikel eins der UN-Men- sche Sprachsignal wird digitalisiert, in we- schen Markt erhältlichen Überset- schenrechtsdeklaration („All human nige Millisekunden lange Stücke zerhackt zungssystemen für den eigenen PC. Mit beings are born free“) in „Alle Men- und mit gespeicherten Mustern verglichen. Namen wie „Personal Translator plus“ schen sind umsonst geboren“ umwan- Mit jedem neuen Sprecher lernt das Sy- oder „Power Translator Professional“ delt. Auch Shakespeare ist vor den stem eine neue Aussprache kennen und richten sich solche Programme an den digitalen Übersetzern nicht sicher: Die übt sich gleichsam selber im Verstehen. fremdsprachenunkundigen Laien eben- Zeile „Fair is foul, and foul is fair“ In der jetzt startenden zweiten Projekt- so wie an den professionellen Dolmet- (Macbeth, „Schön ist häßlich, häßlich phase wollen die Saarbrücker Forscher den scher. schön“) zerschreddert die amerikani- Wortschatz des Programms auf 10000 Wör- Gemeinsam haben die digitalen sche Wortmaschine „Telegraph“ in ter ausbauen. Neue Arbeitsfelder, zum Bei- Übersetzer den beherzten Umgang mit „Ausstellung ist verpestet, und Foul ist spiel die Buchung einer Reise, sollen sich schön.“ Verbmobil erschließen. Sicherlich ist es unfair, die maschi- Für die Industrie macht sich der digita- nellen Übersetzer ausgerechnet mit le Gesprächspartner schon jetzt bezahlt. Wort- und Satzgebilden von Shake- Die an dem Projekt beteiligten Firmen ha- speare zu füttern.Auf alltäglichere Tex- ben die vorangeschrittene Spracherken- te angesetzt, erweisen sich die Pro- nung des Systems genutzt. So gehorcht im gramme durchaus als brauchbare Über- Daimler der gehobenen Klasse das Funk- setzungshilfen. telefon gut artikulierten Anweisungen; Die meisten der heute käuflichen Sy- auch das Autoradio soll bald auf ein for- steme analysieren den Text nicht mehr sches Kommando („lauter“) reagieren. Wort für Wort, sondern satzweise. Mit Philips hat für Mediziner ein Gerät ent- Zusatzwörterbüchern können die Be- wickelt, das einen präzise diktierten Be- nutzer die digitalen Übersetzer ihren fund in Schriftdeutsch verwandelt. Eine Bedürfnissen entsprechend erweitern. Version für Juristen soll demnächst auf den Zudem sollen die Programme durch Markt kommen. fleißiges Korrigieren der maschinellen Das Sprachprogramm Verbmobil will Übersetzung ihr Wissen langsam selbst Wahlster bis zur Jahrtausendwende einem erweitern. breiten Publikum zugänglich machen. So sind im deutschen Grundgesetz – Dann werde es möglich sein, das Pro- vom 498 Mark teuren „Personal Trans- gramm auf einem anwählbaren Sprachser- lator plus“ aus dem Englischen rück-

ver abzurufen, um damit am Telefon mit SCHUMANN / DER SPIEGEL F. übersetzt – durchaus sinnrichtig „alle Japanern oder Engländern Termine zu ver- Übersetzungsprogramme Personen vor dem Gesetz gleich“ und einbaren. „Bitte bitte helfen mir“ haben „Männer und Frauen gleiche Den größten Markt für die digitale Rechte“. Übersetzungshilfe sieht der Forscher je- Sprache und eine häufig stoische Ig- Doch schon bei simplen Bibelzita- doch bei „Tante Klara“, die „nach Mallor- noranz gegenüber grammatischen Re- ten versagt auch dieser digitale Dol- ca fährt, kein Spanisch kann und sich im geln. Um es mit dem „Telegraph“ der metscher: „Wenn irgend jemand Sie Hotel beschweren will“. Ähnliches amerikanischen Firma Globalink und auf die richtige Wange knallt, lassen schwebt auch Wahlsters Mitarbeiter Rein- seinem von ihm selber übersetzten Sie ihn auch Ihre linke Wange drauf- hard Karger vor: Wird es möglich sein, mit- Werbetext zu sagen: „Fremde Sprache- klatschen.“ tels Verbmobil beim Autounfall in Grie- Übersetzung-Software kann Ihnen hel- Bisweilen scheint bei den Program- chenland mit einem wütenden Hellenen fen Ihre persönlichen Horizonte aus- men sogar eine Spur von Einsicht in zu verhandeln? dehnen.“ ihre eigene Begrenztheit durchzu- Wahlster winkt ab. „Es ist für die ab- Auch die Hersteller der linguisti- schimmern – etwa wenn sich „T1“ an sehbare Zukunft Scharlatanerie zu be- schen Helfer räumen ein, noch „weit der Übersetzung des Beatles-Songs haupten, Computer könnten bei jedem davon entfernt zu sein, den Menschen „Help“ versucht: „Hilfe ich, wenn Sie Thema übersetzen“, so der Forscher. zu ersetzen“. Ihre Produkte seien eher können, ich fühle unten und ich schät- Vor allem wortstarke Wutausbrüche als „Werkzeuge beim Übersetzen“ zu ze Sie sein um, helfen mir zurückzu- oder auch Liebesgeflüster, oft mehr als verstehen. bekommen meine Füße auf dem Bo- doppeldeutig formuliert, stoßen beim Größer noch als der Nutzwert ist für den, Willen nicht Sie bitte bitte helfen Computer auf totales Unverständnis. „Im den Benutzer nicht selten der Unter- mir.“ emotionalen Bereich“, so Wahlster, „sind wir noch völlig hilflos.“ ™

der spiegel 5/1997 165 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft sightings auf den Tisch, Meldungen ver- Beuteltier aller Zeiten gilt damit als aus- TIERE störter Bauern oder aufgeschreckter Weid- gerottet. männer, die das Beuteltier, auch Tasma- Doch weil die Bergwelt der Insel weit nischer Tiger genannt, gesehen haben wol- und unerforscht, die Hoffnung der Men- Pfoten im Lehm len. schen endlos und ihr schlechtes Gewissen Und jedes gesichtete sandfarbene Haar- drückend ist, reiht sich seither ein „tiger Biologen rätseln: Immer wieder büschel, jeder unidentifizierte, in den tas- tale“, ein Märchen vom Überleben des ge- werden Spuren des manischen Lehm gedrückte Pfotenabdruck streiften Unikums an das andere. Beutelwolfs gesichtet – obwohl der nährt erneut die Vermutung, daß es Thyla- Schon 1945 glaubt eine Expedition unter cinus cynocephalus, den „Beutelhund mit der Leitung des Biologen David Fleay Fuß- gefürchtete Viehräuber Wolfskopf“, noch gibt. Tasmanien, 65000 abdrücke des Beutelwolfs im Westen der längst als ausgestorben gilt. Quadratkilometer große Insel südlich des Insel aufzuspüren. Am 9. Oktober 1957 australischen Festlands, hat wird ein auf charakteristi- as Tier, das Wildhüter Charlie damit seine eigene Version sche Weise getötetes Schaf Beaseley am 25. Januar 1995 an der des Monsters von Loch gefunden – Kehle aufge- DOst-Küste Tasmaniens sah, war Ness. schlitzt, der Brustkorb „dreckig braun mit schwarzen Streifen am Die bekannte Geschichte AUSTRALIEN geöffnet. Von 1968 bis 1972 Brustkorb“ und hatte „das Gesicht eines des räuberischen Beutlers versuchen Zoologen das Staffordshire Bullterriers, nur länger“. überspannt rund 350 Jahre. Sydney Tier mit automatischen Ka- 1000 km Auf einem Felsvorsprung, knapp 350 Als erster Europäer fand Canberra meras zu fotografieren – Meter von Beaseley entfernt, war die der holländische Steuer- ohne Erfolg. „hundsgroße“ Kreatur in der frühen mann Jacobszoon, der TASMANIEN Anfang der achtziger Dämmerung aufgetaucht. Zwei Minuten 1642 im Auftrag des Ent- Jahre macht sich die tas- dauerte die Erscheinung, dann „räkelte“ deckungsfahrers Abel Tasman die Insel er- manische Nationalparkverwaltung auf die sich das Geschöpf, drehte um und ver- forschte, Fußabdrücke des Beutelwolfes. Suche nach dem gestreiften Räuber. schwand, den „schweren, känguruhartigen 1803 wurde das Eiland, bis dahin von tas- 100000 Dollar Belohnung werden für den Schwanz“ hinter sich hertragend, in dich- manischen Ureinwohnern bewohnt, von Beweis seiner Existenz ausgesetzt. Neben tem Gebüsch. Briten besiedelt. Das gestreifte merkwür- zahllosen Abenteurern aus aller Welt rei- „Viele werden mich jetzt für verrückt dige Tier, für den Menschen ungefährlich, hen sich der amerikanische Medientycoon halten, aber ich habe ihn wirklich gese- erschien den Siedlern bald als grausam- Ted Turner, Cartoonzeichner Walt Disney hen“, teilte Beaseley später der staunen- ster Viehräuber aller Zeiten. und Everest-Bezwinger Sir Edmund Hil- den Weltöffentlichkeit mit.Was den erfah- Im Brockhaus von 1898 ist von einem lary in die Schar der Beutelwolfjäger ein. renen Waldläufer aus der Fassung brachte: „den Schafsherden höchst schädlichen, Einen wirklichen Nachweis der Existenz Er glaubte, einem Beutelwolf begegnet zu großen räuberischen Tier“ die Rede. Der – Fotos oder Filmaufnahmen guter Qua- sein – einem Tier, das seit 60 Jahren als aus- alte Brehm befindet, der Tiger ähnele „ei- lität – konnte jedoch bisher keiner der Beu- gestorben gilt. Am 7. September 1936, so nem Metzgerhund“, sei „geistlos“ und ver- telwolfjäger liefern. „Die Chance, den Tiger die gängige Expertenmeinung, verendete ströme „öde Leere“. So werden Prämien zu finden, ist allmählich gleich Null“, sagt das letzte Exemplar, eine bedauernswerte auf den Kopf des Tieres ausgesetzt, allein der deutsche Beutelwolfexperte Heinz F. Kreatur namens Benjamin, im Zoo von zwischen April 1888 und Juni 1909 fallen Moeller: Zu viel Zeit sei mittlerweile ver- Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens. 2184 Exemplare den Farmern zum Opfer. gangen, ohne daß ein Tier gesehen wurde. Wildhüter Beaseley steht mit seiner Be- Als die Tierart 1936 schließlich unter Selbst im zerklüfteten, dichtbewaldeten obachtung nicht allein. Acht- bis zwölfmal Schutz gestellt wird, ist schon seit drei Südwesten Tasmaniens, dem Ort höchster pro Jahr flattern den Experten der tasma- Jahren kein freilebendes Exemplar mehr „tiger tale“-Dichte, gibt Moeller dem Beu- nischen Naturschutzbehörde sogenannte gesehen worden. Nur zwei Monate telwolf keine Chance mehr. Weil das Tier später stirbt Beutelwolf Benjamin im offenes Gelände zur Jagd bevorzugte, ist * Historische Aufnahme. Zoo von Hobart. Das größte räuberische sein Überleben im Regenwald mehr als fraglich. Der Erfindungskraft indes sind solcher- lei wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ab- träglich. Von „ganzen Rudeln mit Jungtie- ren“ hat Moeller schon gehört, und von „Beutelwölfen so groß wie Ponys“, obwohl das Tier maximal 60 Zentimeter Rücken- höhe hatte. Sogar auf dem australischen Festland, auf dem der Beutelwolf schon vor über 2000 Jahren ausgestorben ist, wollen eini- ge der Jäger fündig geworden sein. Mitte der achtziger Jahre tauchten Farbfotos aus Westaustralien auf, die das gestreifte Hin- terteil des Tieres aus einem Erdloch ra- gend zeigten. Zunächst als wissenschaftli- che Sensation gefeiert, wurden die Bilder bald anhand des Schattenwurfs als Fäl- schungen entlarvt. Ganz ausschließen wollen aber selbst Experten nicht, daß vielleicht doch der eine oder andere Tasmanische Tiger alle Widrigkeiten überstanden hat. „Ein Pro-

OKAPIA mille Chance gibt es immer“, sagt Beutel- Beutelwolf im Zoo*: „Die Chance, den Tiger zu finden, ist allmählich gleich Null“ wolfexperte Moeller. Die Legende lebt. ™

168 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

SCHRIFTSTELLER Hermlin: Hilfe vom MfS m 19. August 1961 besuchte ein AStoßtrupp von DDR-Schriftstellern die Kampfgruppen am eben erst errichte- ten „antifaschistischen Schutzwall“ in Ber- lin. Im „Einsatztagebuch“ der II. motori- sierten Batterie der 3. Hundertschaft der Bezirksreserven Berlin, begonnen am 13. August, dem Tag des Mauerbaus, wurde der „große Besuch“ protokolliert. Darun- ter waren Bruno Apitz, Stephan Herm- lin und Bodo Uhse, verantwortlich für die Führung des Tagebuchs war „Gen. Schalck“. 25 Jahre später bekam der Genosse Alex- ander Schalck-Golodkowski wieder die Gelegenheit, einen DDR-Dichter zu be- treuen. Hermlins Sohn hatte mit dem Wa- gen seines Vaters, einem Mazda 626, ei- nen Unfall, bei dem das Auto schwer be- schädigt wurde, worauf Hermlin, „der sich keinen Rat wußte für die Reparatur des Fahrzeugs, weil dieser Wagentyp hier nicht instand gesetzt werden kann“, Hilfe von der SED erbat. Die für Kultur zuständige Abteilungsleiterin Ursula Ragwitz nahm sich der Sache an und er- reichte, nachdem sie den

„zuständigen Genossen M. WEBER W. des MfS“ konsultiert hat- Rechtschreib-Rebell Denk te, daß „der Wagen in Westberlin repariert“ wur- RECHTSCHREIBREFORM de. Die Reparaturkosten von 7004,47 DM aus ei- gener Tasche zu beglei- „Kosmetik nützt da nichts mehr“ chen bereitete dem „Ge- nossen Hermlin offen- Friedrich Denk, 53, Deutschlehrer im bay- SPIEGEL: Was muß nachgebessert werden? sichtlich große Schwie- rischen Weilheim und Wortführer gegen die DENK: Eine Menge. Österreicher und

DPA rigkeiten, denn seine Ho- beschlossene Rechtschreibreform, äußert Schweizer wollen zum Beispiel Fremdwör- Hermlin norareinkünfte scheinen sich im Interview über Unstimmigkeiten ter so lassen wie im Ursprungsland üblich. in dieser Höhe nicht vor- im Regelwerk und die zwischenstaatliche Was würden auch unsere europäischen handen zu sein“, schrieb Ursula Ragwitz Kommission, die sie beheben soll. Nachbarn sagen, wenn wir „Lay-out“ oder am 28. April 1986 an den „Genossen Gün- „Spagetti“ schrieben und uns dafür auf ter Mittag“ und schlug vor „zu prüfen, SPIEGEL: In einem „Frankfurter Appell“ „Commonsense“ berufen, wie es die Re- welcher Weg gefunden werden kann“, haben Sie jüngst nochmals 50 Mitstreiter form vorsieht? um Hermlin aus der Not zu helfen, was mobilisiert. Weshalb der neue Protest? SPIEGEL: Unwesentliche Grenzfälle, meint „aus politischen Gründen … günstig und DENK: Weil jetzt das ganze Desaster der Re- Neuschrieb-Erzvater Klaus Heller. zweckmäßig“ sei. form sichtbar wird.Vergleichen Sie die neu- DENK: Ist es denn gleichgültig, daß „schwer Mittag wandte sich an den Genossen en Wörterbücher: überall Unstimmigkeiten, behindert“ auseinander und „schwerstbe- Schalck, inzwischen für Devisenbeschaf- überall Inkonsequenz. Jeder Vernünftige hindert“ zusammengeschrieben werden fung zuständig, und der löste das Problem. müßte sich davon fernhalten – oder fern soll? Die Beispiele sind zahllos – von „Es wird vorgeschlagen“, schrieb Schalck halten, wie es in der anderen Hälfte der der chaotischen Silbentrennung ganz zu am 6. Mai 1986 in einem Brief an das Bücher heißt. Schon vier Professoren, die schweigen. Kosmetik nützt da nichts mehr. Mitglied des Politbüros und Sekretär des wohl der Runde von zwölf Experten ange- SPIEGEL: Viele haben aber schon ein neues ZK der SED, Günter Mittag, „die Bezah- hören werden, allesamt Befürworter des Wörterbuch … lung der Valuta-Rechnung in Höhe von mißglückten Regelwerks, haben Präzisie- DENK: Alles Alte darin ist immerhin leidlich 7004,47 DM durch uns vorzunehmen.“ rungen und Änderungen verlangt. brauchbar. Verständlich aber, daß Leser, Hermlin wurde der gleiche Betrag, freilich SPIEGEL: Das Mannheimer „Institut für Verleger, Schüler und Lehrer verwirrt und in DDR-Mark, in Rechnung gestellt – der Deutsche Sprache“ hingegen entwarnt: verärgert sind, wenn jetzt schon die Re- Dichter wurde nur mit einem Bruchteil Das Gremium solle die Einführungsphase form der Reform ansteht. der tatsächlichen Reparaturkosten be- begleiten und allenfalls „Vorschläge zur SPIEGEL: An Ihrer Maximalforderung eines lastet. Bei alldem verfolgte das MfS offen- Weiterentwicklung“ machen. Reform-Stopps wollen Sie also festhalten – bar auch eigene Interessen. „Der Vorgang DENK: Eine Ausflucht, um dem bevorste- oder, laut manchen Büchern, fest halten? wurde ausgewertet und die notwendi- henden Fiasko zu entgehen. Die Kommis- DENK: Jetzt erst recht. Die Kultusminister gen Schlußfolgerungen gezogen“, schrieb sion wird eine Menge Arbeit bekommen – täten gut daran, auf ihrer nächsten Sitzung Schalck an Mittag. „Mit kommunistischem wieviel, darüber sind ihre künftigen Mit- im Februar wenigstens den Zeitplan aus- Gruß“. glieder zudem schon jetzt uneins. zusetzen.

der spiegel 5/1997 171 Szene

Am Rande LITERATUR Hälfte des Fußes“, oder eines ihrer „Kuh- euter“ ist nur noch ein „Brustersatz“, sie Orgien des Ekels bricht Blut, hat Flöhe und „Pfläumchen- durchfall“. Die gekochten Kartoffeln, über Ausgefallene ch möchte unbedingt, daß Sie nichts denen Freundin Kathrin mit nacktem Hin- ISchlechtes von mir denken“, schreibt tern wegen ihres Harnleidens hockt, ißt Ausreise Emily Hazelwood an einen frischge- Emily mit Appetit. Und bei all dem wird backenen Witwer. Sie lebt allein im klei- ihr „kein bißchen schlecht“, auch nicht er Wald stirbt, der Euro kommt – nen Haus an der baltischen Küste, raucht beim Betrachten der Fotos von Gefolter- Dund die Kelly Family will gehen? Zigarillos und liebt Blumen, das Meer und ten oder „Abgesoffenen“. Lakonisch Plant Papa Dan (Krückstock, Bart und ihren Hund. Sie ist „eine kleine Meisterin meint sie: „Es geht von allen ein Reiz seit Jahren im gleichen Leichenhemd im Kreuzstich“ – und doch aus.“ Die schärfste Attacke daheim) mit seiner singenden Altklei- beileibe kein harmloses Frau- auf Magen und Nerven des dersammlung den Abzug aus Deutsch- chen. Vielmehr ist Emily ein Lesers – zugleich Titel des Bu- land? Er wolle, erfuhr bild, nun end- widerlich indiskretes Biest, ches – ist eine Folterszene, die lich sein Hausboot im Kölner Hafen das der Gier nach Sensatio- minutiös die Freßtour einer mit dem irischen 30-Zimmer-Familien- nen und der Passion fürs Brie- ausgehungerten Ratte durch schloß tauschen, obwohl dort dem Ver- feschreiben frönt.Wie all dies den Körper eines Häftlings nehmen nach ein beheizbarer Pool zu vereinen ist, zeigt Stefanie schildert. Noch seinen „letz- lauert. Menzinger, Jahrgang 1965, in ten Schrei hat die Ratte ge- Okay, klar, war wirklich hart, wie wir ihrem ersten Roman, für den fressen“, die anderen Gefan- die Sippe in Haft nehmen wollten im sie an diesem Montag den genen müssen zusehen, sonst vergangenen Jahr. Dieses ganze Ge- Förderpreis des Bremer Lite- werden ihnen „die Lider döns mit Anzeigen und Staatsanwalt – raturpreises erhält. Ihre Hel- weggeschnitten“. In Stefanie nur weil die Qualverwandten mal in din suhlt sich genausogern in Menzingers virtuosem Roman den Rhein pullerten; nur weil sie zwar ihrer Badewanne wie in Alp- sitzt jedes Wort, und jede Geld für Aidskranke gesammelt, aber träumen anderer, die sich ihr spielerische Assoziation hat auf eigenen Konten zwischengelagert brieflich anvertrauen und de- Esprit. Der jungen Autorin ge- haben; nur weil Jimmy einen Ordner nen sie trickreich auch die letzten unap- lang die ebenso anrührende wie absto- zusammenschlug und Bruder Angelo petitlichen Details ihrer schicksalhaften ßende Phantasmagorie einer Einsamen, (dicke Lippen, Stimmbruch) keinen Beschädigungen entlockt. Emily genießt eine exzentrische Story vom Leben, von Bock auf Schule hatte. das Grauen aus zweiter Hand. In aus- Liebe und Leid. Ein Kelly muß frei sein. Diese Bot- ufernden Ekelorgien wird das Elend ihrer schaft hatten wir längst ebenso begrif- Brieffreunde seziert und eigenes hinzu- Stefanie Menzinger: „Wanderungen im Inneren des fen wie das oberste Kelly-Credo: Du gedichtet. Plötzlich fehlt ihr „links die Häftlings“.Ammann Verlag, Zürich; 192 Seiten; 34 Mark. kannst Pickel haben und trotzdem Er- folg. Du kannst schlecht riechen, dick sein und kaum einen graden Satz sa- KOMIKER und privat immer ich selbst. Ich verstehe gen oder singen und nebenbei Plat- mich ja nicht als Schaupieler oder Inter- tenfirma und Fans ausnehmen. So wur- „Ich bin Philosoph“ pret, sondern als Autor und Philosoph. de Papa Dan zum Star für Scharen von SPIEGEL: Ist jemand schon Philosoph, wenn alleinerziehenden Vätern, Altenpfle- Interview mit Helge Schneider, 41, über er einen Film dreht, dessen Höhepunkt ein gerinnen und Scheidungskids. Er hat seinen neuen Film „Praxis Dr. Hasenbein“, versehentlicher Hamstermord ist? Modegeschichte geschrieben mit sei- der am Donnerstag dieser Woche anläuft SCHNEIDER: Der ganze Film ist ein einziger ner Flohmarktfamily und das Thema Höhepunkt. Jeder, der den Film sieht, denkt: Kinderarbeit in Deutschland dem Tabu SPIEGEL: Herr Schneider, durch Ihren letz- „Das ist alles puppig. Kann ich auch.“ In entrissen. ten Film wurde das Lied „Katzeklo“ zum Wirklichkeit steckt harte Arbeit dahinter. Irland ist aber dennoch besser. Das Schlager – und alle suchten verzweifelt Und es kann nur einer: nämlich ich. schmeckt nach saftigen Wiesen und nach dem Sinn Ihrer Worte. In Ihrem neu- dicken Butterstullen, nach Schnaps und en Film singen Sie nur noch „Fitze, Fitze, Schweiß, nach Kleinvieh und Großfa- Fatze“. Damit dürfte sich jede Sinnsuche milie, Natur- und Steuerparadies. erübrigen. Doch was so tröstlich durch die Me- SCHNEIDER:„Fitze, Fitze, Fatze“ ist meine dien watschelte, war eine Ente. Nach 36 endgültige Weisheit. Stunden bangen Wartens gab der Kel- SPIEGEL: Jetzt drehen Sie durch. ly-Konzern überraschend Entwarnung. SCHNEIDER: Keineswegs. Das sind lustige War alles nur ein Witz mit Bart. Die Laute. Da kann jeder mitsingen.Auch klei- Ausreise hat der Alte ja schon öfter an- ne Kinder und Hunde. Und meine Weisheit gedroht. Seine Pressesprecherin wun- ist, genau diesen Ton zu treffen … derte sich nur, „daß wenig Fans nach- SPIEGEL: … oder total danebenzuhauen. gefragt hatten, sondern vor allem Jour- SCHNEIDER: Das ist Kunst. Alle haben über nalisten“. Jugendämter mußten keine mich eine Meinung. Entweder finden sie Kelly-Hotlines einrichten. Es gab weder mich toll oder blöd. Mittelmäßigkeit ist Protestmärsche rhythmisch klappern- langweilig. Deswegen muß ich an der obe- der Zahnspangen-Kolonnen vorm Haus ren Grenze des Erträglichen kratzen. des Kölner Regierungspräsidenten SPIEGEL: Als Kunstfigur hält man das durch. noch Selbstmorddrohungen der Fans Aber doch kaum als Privatperson. Und das von Maites mächtigen Hüften. Nichts Fatale ist: Es scheint da bei Ihnen gar kei- passierte. Gar nichts. Die Blagen blei- nen Unterschied zu geben. ben. Die Plagen auch. SCHNEIDER: Es gibt auch keine Kunstfigur Helge Schneider. Ich bleibe auf der Bühne Schneider

172 der spiegel 5/1997 SENATOR FILM SENATOR Kultur

MARTHALER: Ein Märchen. Nehmen wir mal die Bühnenbilder. In Wirklichkeit ist es ein Kompliment, wenn Reich-Ranicki behaup- tet, die Ausstattungen seien zu teuer. Sie sehen häufig nur kostspielig aus. Ein Bei- spiel aus der Praxis: In meiner Frankfurter Inszenierung der Verdi-Oper „Luisa Mil- ler“ verwendete Anna Viebrock für den Chor ausschließlich Kostüme aus dem Fun- dus oder vom Trödel. SPIEGEL: Reich-Ranicki wittert nicht nur fi- nanzielle Haltlosigkeit. Er verflucht auch die verwilderten Sitten auf den modernen Bühnen – Orgien von Kot und Urin. MARTHALER: Auch so eine pauschale Verun- glimpfung. Es gibt junge, hochbegabte Re-

A. POHLMANN gisseure, die den Klassikern neues Leben Cambreling, Marthaler einhauchen. SPIEGEL: Dürfen also Schauspieler ungezü- POLEMIK gelt „die Entleerung von Blase und Darm vorführen“ oder etwa, wie in Elfriede Jeli- neks Skandalstück „Raststätte“, auf der „Man zweifelt an seinem Verstand“ Bühne kopulieren? MARTHALER: Ich finde es psychologisch in- Interview mit dem auch in Frankfurt erfolg- MARTHALER: Alle Beispiele sind falsch oder teressant, daß sich Reich-Ranicki so stark reichen Schweizer Regisseur Christoph nur halbwahr. Man zweifelt an seinem Ver- für diesen Themenkreis interessiert. Mir Marthaler, 45, über Marcel Reich-Ranickis stand. Es stimmt etwa überhaupt nicht, daß wäre lieber, er hätte bemerkt, daß sich der Polemik gegen Verschwendung und Sitten- die Intendanten nach mehr Geld schreien. marode Opernbetrieb mancherorts schon verfall im deutschen Theater Alle, die ich kenne, bemühen sich ernsthaft, längst erneuert hat, zum Beispiel durch mit immer neuen, quälenden Sparvorgaben Verzicht auf reinen Stimmenkult und Ram- SPIEGEL: Starkritiker Marcel Reich-Ranicki klarzukommen.Was mich zusätzlich rasend pentheater. Es ist aber grundfalsch zu be- ist gerade, am Beispiel der Frankfurter Büh- macht, ist, daß Reich-Ranicki die wahren haupten, die Stammzuschauer würden da- nen, hart mit dem deutschen Subven- Schuldigen an der Frankfurter Misere nicht durch vergrault. Das Theater soll doch nicht tionstheater ins Gericht gegangen. Fühlen einmal erwähnt – die Politiker. mit seinem Publikum alt werden. Beide Sie sich angesprochen? SPIEGEL: Was haben die mit dem Schla- müssen sich ständig erneuern. MARTHALER: Überhaupt nicht. Als ich den massel zu tun? SPIEGEL: Und da ist jedes Mittel recht? Text im letzten spiegel las, war ich empört MARTHALER: Sie haben Opernchef Sylvain MARTHALER: Mir ist immer noch ein Gret- und fand ihn sehr gefährlich, geradezu re- Cambreling ständig neue Sparknüppel zwi- chen lieber, das auf der Bühne masturbiert, aktionär und inkompetent. Herr Reich- schen die Beine geworfen und verhindert, als ein Reich-Ranicki mit seiner infamen Ranicki ist doch ein gebildeter Mensch, aber daß er neue Verträge abschließen konnte. Haßtirade. Ich möchte zu gerne wissen, mit seinem Theaterverständnis ist er offen- Der einzige Grund, warum ich auch Opern was hinter dieser Attacke steckt. Mir bar in einem fernen Jahrzehnt stehenge- inszeniere, ist Cambreling und seine abso- kommt das vor wie ein konservativer Kul- blieben. Da sollte er weiter schlummern. lute Leidenschaft für Qualität. turputsch. Auf jeden Fall tut er nichts für SPIEGEL: Was sagen Sie zu seinen Argu- SPIEGEL: Der Vorwurf aber lautet: Ver- die Rettung der Kunst, aber alles für ihre menten? schwendung von Steuergeld. Verödung. Er ist ein Totengräber.

Kino in Kürze

„Die Mutter des Killers“. Deutsche Fil- „I Shot Andy Warhol“. In einem Obdach- memacher beschweren sich gern, daß losenasyl in San Francisco starb 1989 eine Deutschland schwer zu filmen sei: flau das Pennerin namens Valerie Solanas. Daß sie Licht, betonbrav die Städte. Das alte Ham- gut zwei Jahrzehnte zuvor zu zweifelhaf- burger Arbeiterviertel Wilhelmsburg aber tem Ruhm gekommen war, weil sie auf den strahlt in dieser 400 000 Mark billigen, Pop-art-Maler Andy Warhol geschossen schwarzweiß gedrehten Thriller-Farce (Re- hatte; daß sie außerdem ein Traktat zum gie: Volker Einrauch) eine kalte Tristesse Geschlechterkampf verfaßte, das radikale aus, die jedem US-Independent-Film Ehre Frauenrechtlerinnen inzwischen kultisch machen würde. Dazu paßt, daß die Hand- verehren – wen scherte das groß unter Pen- lung, die von allerhand Verlierern bevöl- nern? Die Biographie dieser Vergessenen kert wird, rund um ein Bestattungsinstitut hat die britische Filmemacherin Mary Har- kreist. Da darf eine Leiche nicht fehlen. ron mit der Genauigkeit einer Archäologin

Nur: Wen wird es erwischen? COLUMBIA TRI-STAR ans Licht gebracht. Ausgrabungsstätte ist „Amy und die Wildgänse“. Wie anhäng- Szene aus „Amy und die Wildgänse“ New York: die Warholsche „Factory“, lich Gänseküken auch einen Menschen als dazu die billigen Hotels, in denen sich die Mutterfigur akzeptieren, ist bekannt – al- nen Leichtbau-Flugzeugnarren als Vater Boheme der sechziger Jahre tummelte. lerdings muß die Pflegeperson den Klei- hat, der ihr ein Gefährt nach Maß baut, Hier entdeckt Harron jenen Scherbenhau- nen auch das Fliegen beibringen und ih- und noch besser, daß im Kino auch un- fen, den die chaotische, einsame Valerie nen, wenn der Herbst kommt, im Zugvo- wahrscheinliche Abenteuer gelingen. Die (großartig: Lili Taylor) ihr Leben nannte – gelschwarm südwärts voranfliegen. Nur Kinder-und-Tier-Film-Profis Carroll Ballard und Harron setzt die Scherben in feinster gut, daß die 13jährige Gänsemutter Amy (Regie) und Caleb Deschanel (Kamera) ha- Detailarbeit zusammen, ohne Risse zuzu- (Anna Paquin) im kanadischen Ontario ei- ben das alles ganz fabelhaft hingekriegt. klittern und fehlende Splitter zu ersetzen.

der spiegel 5/1997 173 M. WEISS / OSTKREUZ Studentische Putzaktion am Belgrader Uni-Rektorat: Jeden Tag eine freche Tat

INTELLEKTUELLE Trillerpfeifen im Dunklen Belgrads Intellektuelle und die Protest-Happenings der Studenten: „Sie wissen alles über Turnschuhmarken, aber nichts über den Krieg.“ Von Alexander Smoltczyk

ie verstehen nicht. Sie sind einfach don“. Draußen ist Revolte. Und das „Keine Leader“, sagt er weiter, „keine zu alt. Die wissen nicht mal, was … „PlatΩ“ ist der Logenplatz dazu. Abhängigkeit von der Opposition. Keine Dwas …“ – Nikola Man‡iƒ, ein Jung- Hier sitzt und denkt das Nachkriegs- Lust auf große Ideen. Wir erleben die er- hegelianer von 22 Jahren, sucht nach dem Serbien: „Es kommt alles von der Techno- ste Techno-Rebellion der Geschichte!“ Inbegriff von hoffnungslosem Altertum. Es kultur. Die Raver haben den Ton angege- Und das ausgerechnet in „Zombie- ist auch schwer, sich einen Reim auf Ge- ben: Trillerpfeifen, Trommeln und Fun für Town“ Belgrad, wie das Lokalradio „B 92“ schichte zu machen, wenn durch den Ta- alle Beteiligten. Keine Gewalt, keine Poli- die Stadt nannte, damals zu Zeiten des bakrauch im „PlatΩ“-Studentenklub nur tik. Die Gier nach ganz normalem Leben!“ Krieges, als ein Punkdichter wie Kiza Ra- zu sehen ist, wie draußen jemand im Tau- – das ist Vladimir Arsenijeviƒ, der am Ne- dovi´c tagelang den Serbiens-Herrscher- cheranzug über den Uni-Platz stakst, die bentisch monologisiert, Autor von „Cloa- Boulevard auf und ab irrte, unansprech- Hand zum Dreifaltigkeitszeichen gestreckt, ca Maxima“, einem Sittenbild jener No-Fu- bar und pausenlos sich in die rechte Hand und das Mädchen in Kaninchenfell eine ture-Belgradians, die mit 16 Punkrocker spuckend. rote Fahne mit Ferrari-Wappen schwenkt waren, dann jobbend in London Seife ver- Damals ist lange her. Jedenfalls für die – „… was Internet ist!“, beendet der pro- packten und während des Krieges täglich 20jährigen, die seit zehn Wochen Belgrad visorische Studentenführer Nikola seinen die Schlafplätze tauschten, um den mit- die Apathie austrommeln. Sie wissen ge- Satz und ist es zufrieden. ternächtlichen Aushebungen zu entgehen*. nau, was Internet ist, aber wollen vom Draußen trötet es und trillert. Veterinä- Krieg nichts mehr wissen. Sie sind naiv re ziehen eine dampfende Kuh zur De- * Vladimir Arsenijeviƒ: „Cloaca Maxima. Eine Seifen- und dürfen es sein. Sie waren zu jung für monstration „Haustiere gegen den Kor- oper“. Rowohlt Berlin; 128 Seiten; 29,80 Mark. Schuld und sind alt genug, die Folgen des

174 der spiegel 5/1997 Kultur Krieges tragen zu dürfen: Armut, Schimpf ten, vor der Demonstration die Hymne und Schande. „Heiliger Sava“ abspielen, aber nach den „Wir 30jährigen sind eine verlorene Ge- Happenings ins „Industria“ gehen, die neration. Als wir 1991/92 auf der Straße Techno-Disco im Keller des „PlatΩ“. standen und angegiftet wurden, hat kei- Auch die westeuropäischen Intellektu- ner hingeschaut“, sagt Srdan Dragojevic´, ellen halten sich abseits, als fürchteten sie dessen Bosnien-Film „Pretty Village, Pret- im neuen Gesicht Serbiens den Januskopf. ty Flame“ für den Oscar nominiert ist. Mancher Weltsicht kam es ganz gelegen, „Dann durften wir uns verstecken und be- daß in den Versammlungen neben allerlei kamen vom Westen noch die Sanktionen Ikonen der Pop- und Werbewelt auch ein übergestülpt. Die Jungen, die jetzt auf die wahrhaftiges Heiligenbild mitgeschleppt

Straße gehen, haben keine Lust, für Euro- wurde. M. WEISS / OSTKREUZ FOTOS: pa den Nigger zu spielen, bloß weil sie „Die Empfindlichkeiten sind noch zu Philosoph Markoviƒ aus Belgrad kommen. Ich übrigens auch groß, auf allen Seiten“, sagt Borka „Gefährlicher Karneval“ nicht.“ Deswegen hat er sich Pavo‡eviƒ, die den Kontakt eine Pfeife umgehängt. nach Paris, London, Berlin hält Das Trillerpfeifen ist zum „Nur die – mit bislang magerem Erfolg. Hintergrundgeräusch in Bel- Studenten Daniel Cohn-Bendit, André grads Straßen geworden. Es können ein Glucksmann und Bernard- trötet nachts um drei, und es Henri Lévy wollten kommen, klingelt noch in den Ohren junges, ziviles, erhielten aber kein Visum. Jack beim Aufstehen. Es gellt, als europäisches Lang kam, wurde aber von den sollten Dämonen ausgetrieben Serbien Türstehern der Philosophi- werden. Es gibt Popen mit Pfei- schen Fakultät hinausgewiesen, fen und einen Literaturprofes- verkörpern“ weil er ohne Anmeldung, dafür sor, der allabendlich mit Topf- mit einem Gefolge von Foto- deckeln auf dem Balkon steht, um die grafen erschienen war. Und Peter Handke Staatsnachrichten zu übertönen. scheint sich für ein urbanes Serbien nicht Vom Lärm nur durch eine leicht beben- interessieren zu können. de Scheibe getrennt ist das Café des „Ho- Als das Belgrader Theater 1992 ethnisch tel Moskva“, wo die Altstalinisten sich gesäubert wurde, kündigte die Serbin nachmittags zum Tanztee treffen. Völlig Pavo‡eviƒ ihren Posten als Dramaturgin fehl am Platze ist hier Ivan ∏olovic´, der und gründete die Avantgarde-Bühne Erforscher politischer Mythen und Mit- „Zentrum für kulturelle Dekontaminie- glied im „Belgrader Kreis“ der Kriegsgeg- rung“ am Slavia-Platz. Das Pfeifen ist hier ner: „Die Trillerpfeife“, sagt er, „ist zum nur von fern zu hören. Dafür riecht es et- Signum der Proteste geworden. Und das ist was streng. Das kommt vom Konsulat gut so. Es hat etwas vom Trommeln, das ei- nebenan. Die von Harndrang geplagten nen Regenguß herbeizaubern soll.“ Der Menschenschlangen stehen dort mit glei- Autor Arsenijeviƒ Stehgeiger des „Hotel Moskva“ spielt mit cher Ausdauer die Winternächte durch wie „Die Rebellion der Techno-Generation“ großem Ernst „Misty“, niemand scheint die Demonstranten von der Kolaˇceva- hinzuhören. Straße. „Es gibt eine symbolische Rollenvertei- „Eigentlich“, sagt Borka Pavo‡eviƒ, lung in der Revolte“, fährt ∏oloviƒ fort, „glaube ich, daß die Zeit der Egotrips von „die Studenten haben verstanden, daß sie Intellektuellen vorbei ist. Die Begriffe, die sich von der alten Opposition um Vuk wir gelernt haben über Klassen und Na- Dra∆kovic´ absetzen müssen. Nur sie kön- tionen, passen nicht mehr. Wir sollten alle nen ein junges, ziviles, europäisches Ser- mal den Mund halten und zuhören.“ bien verkörpern. Und weil sie mit dieser Die Studierstube von Mihailo Markoviƒ Aufgabe völlig alleine stehen, sind sie ver- ist mit den Klassikern des menschlichen sucht, sich an eine Autorität wie die Kirche Marxismus ausgepolstert: Lukács, Ador- anzulehnen. Das darf man nicht mit Na- no, Habermas, daneben acht Bände „Se- tionalismus verwechseln.Aber es ist schon lected Works“ aus eigener Produktion. Der alles sehr verwirrend.“ 73jährige ehemalige Dissident und Mit- Dramaturgin Pavo‡eviƒ Nur das Pfeifen ist die Konstante. glied der „Praxis“-Philosophengruppe „Wir sollten alle zuhören“ Der Krieg hatte Belgrads Intellektuelle weiß um die Begriffe, trennt Schein und in alle Winde und Lager verstreut. Viele Sein mit scharfem Verstand. Es ist voll- gingen ins Exil, die meisten entdeckten ihr kommen still. Herz für die serbische Scholle, und einige „Die Wahlfälschung war natürlich eine überwinterten in Zirkeln. Der Protest hat Dummheit“, sagt Markovic´ und gießt Tee sie wieder zusammengeführt: Alle stehen ein. „Aber ein Philosoph muß sich von den im Abseits. Alle sind gleichermaßen ver- Erscheinungen lösen, so karnevalesk sie wirrt und überrascht. auch sein mögen. Und auf lange Sicht Verwirrt, daß Mädchen auf Plateausoh- führen uns die Proteste in einen Kapitalis- len und im Trümmerfrauenlook einen Ty- mus des 19. Jahrhunderts und zum Verlust rannosaurus Rex wie Slobodan Milo∆eviƒ der nationalen Unabhängigkeit.“ unter Druck setzen. Daß Kriegskinder die Sein Dritter Weg führte Mihailo Marko- Techniken von Eskalation und Deeskalati- vic´ 1990 an die Seite von Slobodan on beherrschen, als hätten sie bei Gandhi Miloˇseviƒ, für den er das Parteiprogramm studiert. Aber dann eine „Miss Protest“ eines serbischen Sozialismus schrieb. Nur Theaterleiter Ristiƒ wählen. Daß sie sich Homepages einrich- wenig später rechtfertigte der Gefährte von „Verschwörung gegen Jugoslawien“

der spiegel 5/1997 175 Kultur Marcuse und Bloch den barbarischsten gekickt, alles begleitet von schrillem, süch- men Shakespeares spielen und saß nachts Konflikt in Europa seit dem Zweiten Welt- tig machendem Gepfeife. Die Straße ist vorm Kabel-TV, um geheimen Machtzen- krieg. Theater. tren und transkontinentalen Verschwörun- Das sei kein Verrat eines Intellektuellen Der Mann, dessen Ort jetzt hier wäre, gen nachzuspüren. Heute spielt Ristiƒ an der eigenen Freiheit zur Kritik gewesen. sitzt zum gleichen Zeitpunkt zwischen den selbst. Er ist Mephisto, seine Bühne sind Zur Revision bestehe kein Anlaß. Noch Melasse-Tanks einer aufgegebenen Zucker- die Hinterzimmer der Macht. immer sieht Markovic´ in der Bombardie- fabrik im Industrieödland Belgrads. Aber Ristiƒ ist in die Politik gegangen. „Man rung der Märkte von Sarajevo „das Werk Ljubi∆a Ristiƒ, der Freund Heiner Müllers, kann jetzt nicht abseits stehen“, sagt er, arabischer Terroristen, vermutlich im Auf- der Studentenführer von 1968, der inter- und es hallt in dem fünf Stockwerke hohen trag der CIA“.Die einzige Verantwortung national gefeierte Theaterleiter, ist zum Nichts über ihm, in das er eine Oper bau- Serbiens für den Krieg liege darin, „daß Lieblingsfeind der Leute im „PlatΩ“-Klub en wird, ein neues Theater, eine Ballett- wir, im Gegensatz zu Rußland, unsere Mit- geworden. Nicht verachtet wie die Wen- bühne und die größte Diskothek des Bal- bürger in anderen Republiken nicht im dedichter, sondern gehaßt. kan. Seine Gegner sagen, die Ausmaße des Stich gelassen haben“. Als Krieg war, leitete Ristiƒ das letzte Projekts hätten damit zu tun, daß Ristiƒ als Mit dem serbischen Präsidenten hat Vielvölker-Theater in Serbien und wurde Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses Markovi´c gebrochen, auch wegen dessen von den Nationalisten aller Lager ange- im Parlament Einfluß auf die Privatisie- „Verrat“ an den bosnischen Serben. Der feindet. Er ließ Deserteure die Königsdra- rung der Staatsbetriebe hat. Kontakt mit der Frankfurter Schule ist ab- gerissen: „Es ist wohl beiderseitige Ent- täuschung. Die Frankfurter haben Slogans der offiziellen Propaganda übernommen. Ich vermag nicht zu begreifen, wie lin- ke Intellektuelle die Rolle der USA und Deutschlands beim Aufbau einer neuen Weltordnung nicht sehen können.“ So lebt der bekannteste Philosoph Ser- biens konsequent und isoliert und widmet seine Tage dem Schreiben eines neuen Bu- ches: „Über das Problem der Freiheit“. Mihailo Markovi´c mag seine Gradlinig- keit angerechnet werden, wenn auch die Klassenanalyse an empfindlichen Stellen durch Verschwörungstheorie abgestützt werden muß. Anders jene Dichter, die zu Kriegszeiten am Mythos eines krie- gerischen, völkischen Serbiens mitge- schrieben haben und jetzt auch gern so naiv sein möchten wie die Studenten: mittrillern und alle Schuld auf Miloˇseviƒ laden. Auch sie sind nachmittags in der Kneza- Mihaila-Fußgängerzone zu sehen, wo Frau- en in abgewetzten Daunenjacken sich mühen, die ersten Dividenden des Protests zu realisieren, indem sie die Oppositions- zeitung „Demokratia“ verkaufen, Sticker oder Trillerpfeifen. Auf einer Kundgebung erschien kürzlich selbst ein Nationalmy- thologe wie Dobrica ±osiƒ, ehemaliger Staatspräsident Restjugoslawiens, und wunderte sich, als die Leute ihn nicht hören wollten. „Die Belgrader Intelligenzija hat sich im Krieg unmöglich gemacht“, sagt Veran Matiƒ. Sein Radio „B 92“ balanciert, stän- dig von großserbischen „Turbofolk“-Sen- dern bedrängt, auf einer schmalen Fre- quenz und überträgt live die Klänge der Revolte. „Ohne die Dichter hätte Miloˇseviƒ nicht soviel erreicht. Ich fürchte bloß, daß sie jetzt von allem enttäuscht sind, nur nicht von sich selbst.“ An diesem Sonntagabend beginnt in der Kolaˇceva-Straße das längste Happening der Studenten: „Kordon gegen den Kor- don“. Mehr als hundert Stunden lang wird die Staatsmacht in ihrer uniformierten Starrheit vorgeführt. Schauspieler er- klären den Polizeikordon zum Publikum und spielen „Macbeth“, Maler porträtie- ren die Beamten. Es wird gekocht, getanzt,

der spiegel 5/1997 Jedenfalls ist Ljubi∆a Ristiƒ zum Gene- schung von Dunkelmännern, Partei-Esta- Fakultät Belgrads im Grundriß eines ralsekretär der „Jugoslawischen Linken“ blishment und Tschetniks, die vom Zerfall „NJE“ bauen –„Nein“. Die Fakultät ist gewählt worden, jenem undurchsichtigen Jugoslawiens profitieren wollen. Gespon- eine von 17, die den Betrieb eingestellt ha- Parteienbündnis der Präsidentengattin sert wird die kleinbürgerliche Rebellion ben, aus Protest gegen den Rektor. Im vier- Mirjana (siehe Seite 126), das für Belgrad von ausländischen Kräften, die an der ten Stock des E-Traktes haben Physikstu- den Ausnahmezustand gefordert hat. Neuaufteilung Südosteuropas arbeiten, denten das Computer-Labor übernommen „Hübsche Mädchen, Verkehrsstaus, von Weltbank, Kinkel, USA. Erst haben und aktualisieren die Homepage „Protest witzige Parolen: Ihr seht nur den Karne- sie den Krieg inszeniert, jetzt die Prote- 96/97“ fürs Internet, damit sich über ihr val. Ich bekomme die nächtlichen Droh- ste.“ Draußen bellt ein Hund. Ein Wärter „Nein“ auch informieren kann, wer nicht anrufe. Die Sache ist ernst, gefährlich sitzt im Fabrikbüro und schaut fern. Die im Flugzeug sitzt*. ernst“, sagt Ristiƒ, um dann die Frage al- Schauspieler sind im Stadtzentrum, mit Die Homepage ist von internationalem ler Kommissarsfragen zu stellen: „Cui Trillerpfeifen im Mund. Standard. Im Menü „Streetwear“ sind die bono? Wer hat ein Interesse, die Krise zu Damit Stalin beim etwaigen Überflie- Transparente und Slogans vom Tage anzu- schüren?“ gen erkennen konnte, was man in Jugosla- sehen. Es gibt Fotos anzuklicken und Zeu- Der angebliche Gegensatz von Dogma- wien von ihm hielt, ließ Tito die technische genaussagen zu Polizeiübergriffen. In der tikern und Demokraten sei nur Kulisse. Mailbox ist zu lesen, wie die Mönche der „Dahinter steckt eine sehr mächtige Mi- * http.://www.mi.sanu.ac.yu/~prot/index.html. Ra∆ka-Prizren-Eparchie ihre Fürbitte per Internet gesandt haben. Aus London schickt Kronprinz Aleksandar schon die zweite E-Mail, in der er seine Solidarität im „Kampf gegen Autokratie“ betont. Die Studenten haben Pferdeschwänze wie überall auf der Welt und klicken sich in Rasanz durch die Menüebenen und Web- sites auf ihren Bildschirmen. „Sie wissen alles über Turnschuh-Mar- ken, aber nichts über den Krieg. Obwohl es natürlich ermutigend ist, daß unsere Jugend trotz der Propaganda die globa- len Codes beherrscht“, sagt die Bürger- rechtlerin Sonja Biserko von „Helsinki Watch“. Sie versteht, daß Leute auf die Straße gehen, um der Welt und sich selbst ihr besseres Gesicht zu „Die Proteste zeigen. Unheimlich ist sind eine ihr nur jener still- kollektive schweigende Konsens, wonach „alle Seiten ir- Therapie, gendwie schuldig“ sei- um die en: „Die Proteste sind Selbstachtung eine kollektive The- wieder- rapie, um die Selbst- achtung wiederzufin- zufinden“ den. Vielleicht kommt mir deswegen das fortwährende Krachma- chen wie ein großes Schweigen vor. Aber wir können die schweren Zeiten vor uns nicht angehen, ohne nach den Verant- wortlichen zu fragen. Wir brauchen kei- nen Sündenbock, sondern einen runden Tisch. Für alle.“ Die Studenten mit den Pferdeschwän- zen und dem Apachen-Poster überm Com- puter sehen aus, wie Studenten überall aussehen. Sie sagen, sie wollen Gerechtig- keit für Serbien und meinen damit nor- males Leben. Ihre Proteste haben erreicht, daß man bei „Belgrad“ nicht mehr nur an Bösewichter mit Messer zwischen den Zähnen denken muß. Die Geburt der serbischen Nation aus dem Krach der Trillerpfeifen? Besser als Kanonendonner. Aber es scheint nicht zu genügen, nicht überall. Im Computer-La- bor der technischen Fakultät werden die E- Mails aus aller Welt gesammelt, die Stu- denten kommunizieren mit Kommilitonen in Australien, mit Stanford, dem Fermi-La- boratorium und den Philippinen. Nur in einer Gegend bleibt es still. In Bosnien. ™

der spiegel 5/1997 Kultur

SPIEGEL: Normalerweise sind Tiere in Hol- lywood-Produktionen eher kuschelig. DOUGLAS: Darum staubte das Drehbuch im Paramount-Archiv vor sich hin. Nach Dis- neys „König der Löwen“ glaubte niemand in der Branche, daß die Zuschauer so eine blutige Wahrheit sehen wollten. SPIEGEL: Wenn Menschen Tiergeschichten erzählen, wollen sie meistens etwas über sich selbst sagen. DOUGLAS: Stimmt. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich finde, es sollen sich andere die Arbeit machen, meine Filme zu deuten. Für mich repräsentieren die Löwen eine freie, wilde Welt, in der es keine von Menschen geschaffene Ordnung gibt. SPIEGEL: Weniger romantisch wird es ver- mutlich, wenn die Löwen sich nicht an die vom Filmproduzenten geschaffene Ord- nung halten. Haben Sie das erlebt? DOUGLAS: Allerdings. Wir hatten fünf Lö-

CONSTANTIN FILM CONSTANTIN wen nach Südafrika mitgebracht. Die muß- Douglas als Großwildjäger Remington (l.): Nächtelange Brüllwettbewerbe ten erst nächtelang Brüllwettbewerbe mit den wilden Löwen austragen, bis wir mit den Proben anfangen konnten. Das war ABENTEUER vielleicht auch ein Grund, warum sich niemand an den Stoff gewagt hatte: Tiere hat man nie so unter Kontrolle wie Com- „Fast food für die Löwen“ puter und Spezialeffekte … SPIEGEL: … von denen Hollywood zur Zeit besessen scheint.Wirken Sie mit Ihrer sim- Interview mit dem Schauspieler und Produzenten plen Abenteuergeschichte nicht kurios, wo Michael Douglas über Männer, Menschenfresser und Maschinen der Rest der Industrie Filme wie „Mission: Impossible“ oder „Independence Day“ SPIEGEL: Mr. Douglas, Ihr neuer Film „Der DOUGLAS: So ein Quatsch, ich war nie lust- macht? Geist und die Dunkelheit“ erzählt vom krank. Bloß weil drei meiner Filme um Sex DOUGLAS: Science-fiction und Fantasy ha- abenteuerlichen Kampf harter Kerle gegen kreisen, hat man mich gleich als Junkie ab- ben mich nie besonders interessiert. Ich menschenfressende Löwen. Wir dachten, gestempelt. Im übrigen sind auch Löwen glaube, daß diese Computeranimationen diese Sorte Männerfilm sei ausgestorben. sexy. Sie sind genauso gefährlich und un- ein phänomenales Spielzeug sind, und da- DOUGLAS: Jedenfalls steht sie auf der Liste der berechenbar wie Frauen. von lassen die Leute sich erst einmal fas- bedrohten Arten. Ich kenne solche Filme SPIEGEL: Damit spielen Sie auf die mor- zinieren. Ich habe in „Disclosure“ in einer nur aus den fünfziger Jahren, etwa „Schnee dende Schriftstellerin in Ihrem Film „Ba- Szene mitgespielt, in der Virtual-Reality- am Kilimandscharo“ oder „König Salo- sic Instinct“ an. Hatte der Film deshalb Technik eingesetzt wurde. Das war furcht- mons Diamanten“. Solche Stoffe haben den diesen animalischen Titel? bar, ich mußte die ganze Zeit so tun, als sei Charakter von Legenden, die von Genera- DOUGLAS: Das könnte man vermuten. da etwas. Dabei war da nur eine leere tion zu Generation weitergegeben werden. SPIEGEL: Die beiden Löwen jedenfalls tö- Wand. Die Maschine kontrolliert alles. Die Löwengeschichte gefiel mir, weil sie auf ten, wie im Film gesagt wird, nicht aus SPIEGEL: Der Regisseur Sydney Pollack be- einer wahren Begebenheit basiert. Hunger, sondern aus Vergnügen. Das kennt hauptet, daß Hollywood seine Hauptrollen SPIEGEL: Ende des vorigen Jahrhunderts man sonst nur von Menschen. Ist man in mit Maschinen statt mit Menschen besetzt, sollen zwei Löwen etwa 130 Männer auf- Hollywood die vielen Massenmörder leid weil es selbst unmenschlich geworden ist. gefressen haben, die für die britische Re- und schickt jetzt die Tiere an die Front? DOUGLAS: Das sehe ich auch so. In den Film- gierung eine Eisenbahnlinie von Momba- DOUGLAS: Ganz so zynisch sehe ich das zeitschriften werden nicht mehr die besten sa zum Victoriasee bauten. nicht. Ich fand spannend, daß damals nie- Regisseure aufgelistet, sondern die mäch- DOUGLAS: Ich konnte die Geschichte zuerst mand für die Mordlust der Löwen eine Er- tigsten Menschen Hollywoods. Das Wort gar nicht glauben. Der Drehbuchautor Wil- klärung hatte.Waren sie von Natur aus bö- „Business“ hat einen ganz anderen Klang liam Goldman schickte mir das Buch des se? Oder gar der Teufel selbst? Verteidig- als noch Ende der achtziger Jahre. überlebenden Ingenieurs John Henry Pat- ten sie ihren Kontinent gegen die weißen SPIEGEL: Und wie klingt es für Sie? terson, um mich zu überzeugen. Eindringlinge? DOUGLAS: Ich behaupte, daß ich mich als SPIEGEL: Patterson ist die Hauptfigur. Die SPIEGEL: Und was glauben Sie? Produzent zuallererst für Filme interessie- haben Sie Val Kilmer überlassen, Sie selbst DOUGLAS: Meine Theorie ist: Die indischen re und nicht fürs Geld. Ich treffe meine spielen einen Jäger … Arbeiter ließen beim Bau der Eisenbahn- Entscheidungen aus dem Bauch heraus. DOUGLAS: … eigentlich wollte ich gar nicht strecke ihre Sterbenden und Toten zurück. SPIEGEL: Für einen altmodischen Löwen- mitspielen. Ich wollte den Film nur produ- Die waren für die Löwen leichte Beute.Als film zum Beispiel. Um da Geldgeber zu zieren.Aber dann habe ich damals keine in- nächstes fielen sie über Schlafende her, finden, mußten Sie wahrscheinlich so ma- teressantere Rolle gefunden. Mein Part als auch das war problemlos, also verloren sie chohaft auftreten wie der Großwildjäger Großwildjäger Charles Remington hat mir ihre Scheu und schlugen auch tagsüber zu. Remington. vor allem Spaß gemacht, weil er mir genug Das war quasi Fast food für die Löwen. Die DOUGLAS: Ich finde das ziemlich lustig, was Zeit ließ, etwas von Afrika zu sehen. britische Eisenbahngesellschaft ignorierte Sie jetzt sagen. Wissen Sie, was man mich SPIEGEL: Sexszenen, die Spaß machen, gibt das Problem lange, denn an schwarzen und in Spanien gefragt hat? Herr Douglas, war- es in diesem Film ja nicht. Haben Sie Ihre indischen Arbeitern bestand kein Mangel. um spielen Sie eigentlich ständig diese Sexsucht geheilt? So wurden die Löwen zu Killern dressiert. Schwächlinge? ™

178 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Lachenmann-Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in Hamburg: Es bibbert, wimmert, winselt, zischt

MUSIKTHEATER Qualm vom Quälgeist Jahrelang plagte sich der Neutöner Helmut Lachenmann damit, jetzt hat Hamburgs Oper sein erstes Bühnenwerk uraufgeführt – ein Fiasko mit Backpfeifen, RAF-Parolen und unverständlichem Sprachgewusel. Von Klaus Umbach

eue Musik kann bekanntlich ner- kommt, wie sich hören läßt, nicht viel bei gepfiffen und auf die Pauke gehauen. Es ven. Die zeitgenössischen Kompo- raus. Sie sollen auch „Gaumenschnalzen“ scheppert an allen Ecken und Enden. Über Nnisten haben dem Publikum schon und „Zwerchfellzuckung“ vorführen; ein zwei Stunden bleibt diese Nervensäge in manches zugemutet. Mittlerweile sind die paar dürfen „mit der flachen Hand über Betrieb – Quälgeist Lachenmann. Auditorien abgebrüht. Sie lassen fast alles Kleidungsstoff streichen“ oder sich selbst Dabei meint es der Komponist ehrlich. über sich ergehen. „auf die Backe klatschen“.An der Damm- Er ist kein Aufschneider, kein Falschmün- Aber das hier ist nun wirklich die Höhe, torstraße ist ein Kindergarten eröffnet. zer, kein Modelackel der Avantgarde- das ist, unter dem Mäntelchen schöpferi- Spieler hantieren mit Plastiktöpfen und Szene. Aber ein Irrläufer – verrannt in die schen Fortschritts, grober Unfug: Musik- Bleibarren. Bläser müssen „Luft einzie- Idee, Musik sei erst dann Musik, wenn sie theater als Martyrium, die Gattung durch- hen“ statt ausposaunen oder „tonlos, mit nicht mehr klingt. geknallt, das Parkett verarscht. Es reicht. gewölbter Mundhöhle“ Dienst tun, Schlag- Der deutsche Avantgardist Helmut La- zeuger eine „Stricknadel locker am Becken chenmann, 61, hat sein erstes Bühnenwerk rattern lassen“ oder „scharf mit dem Papp- geschrieben, die Hamburgische Staatsoper rohr am Tamtam reiben“. Kaum ein Phil- hat es in Auftrag gegeben und „Das Mäd- harmoniker, der sein Instrument mal so chen mit den Schwefelhölzern“ am ver- gebrauchen darf, wie er es gelernt hat, wie gangenen Sonntag zur Uraufführung es Usus und sinnvoll ist. angesetzt. Das Stück ist ein Tort; eine Das Orchester ist im Haus verstreut. Ein Un-Oper. Teil sitzt, wie gewöhnlich, im Graben, der Tonkrümel und Tonklumpen; schräge, mit glitzrigem Netzwerk abgedeckt ist. schrille, stachelige Geräuschfetzen; es Eine Gruppe hat auf der steilen Bühnen- kracht und knarrt und knattert; es bibbert, schräge Platz gefunden; ein paar Bläser wimmert, jault, faucht, schabt, rauscht, und die Harfe hocken daselbst in Löchern; keucht, winselt, zischt – eine elende, elend nur ihr Oberkörper wird sichtbar, der Rest langwierige Etüde für das flotte Mund- steckt in Gullys. Alle diese Spieler, auch werk drangsalierter Choristen und für der Dirigent Lothar Zagrosek, tragen stein- die Engelsgeduld malträtierter Instrumen- graue Anzüge und, abendfüllend, einen talisten. Hut. Beuys kann nichts dafür.

Die Sänger müssen beim Lallen „die Der restliche Klangkörper ist auf zwölf K. RUGE Zähne locker an die Lippen“ pressen oder Logen verteilt. Auch oben, links wie rechts, Opernmacher Lachenmann, Freyer „den Mund locker geschlossen“ halten; da wird – ohne Kopfbedeckung – gefiedelt, Kirchlein im Haar

180 der spiegel 5/1997 Kultur langen Tag vergebens, ein paar Schwefel- miksynchron gedoubelt wird. Vielleicht hölzer zu verkaufen. Aus Angst zu erfrie- weiß Freyer, wozu das gut ist. ren, brennt es schließlich ein Bündel ab, um In jedem Fall bringt er Leben auf die sich ein bißchen aufzuwärmen. Zu spät: Bühne. Dafür sorgen ein paar bewährte Das arme Ding erfriert, und die liebe Oma Kräfte aus dem sogenannten Freyer-En- holt es in den Himmel. Soweit wäre die semble. Die stecken zwar, ähnlich wie das Geschichte verständlich. Dutzend Musiker, unter der Gürtellinie Aber Lachenmann hat es gern komple- vergleichsweise unbeweglich in den runden xer. Und deshalb greift er zwischendurch Ausschnitten des Bühnenbodens, aber auf Naturbetrachtungen des abendländi- obenrum sind sie mit allerlei Fisimatenten schen Bildungsmultis Leonardo da Vinci voll beschäftigt. zurück. Alsbald tun sich in Hamburg des- Sie halten die Hände mal längs, mal sen „glühende Höhlen von Mongibello“ quer vors Gesicht. Sie strecken wie Ver- auf, und die „brausenden Wogen zwischen kehrspolizisten den Arm aus, lassen ihren Scylla und Charybdis“ schlagen erbar- Rumpf kreisen, tauchen ab in der Versen- mungslos über der Dammtorstraße zu- kung und leider auch wieder auf. sammen. Im Gegensatz zu den Philharmonikern Nun fehlt, es geht schließlich um die wechseln sie die Kopfbedeckung, und da Musikkultur der Gegenwart, nur noch der gibt es nun wirklich was zu gucken. Einer zündende Funke für das Zeitkritische. Da stülpt sich einen Blumentopf, eine Bi- wird Lachenmann, der schwäbische Pfar- schofsmütze oder einen goldenen Zylin- rerssohn, bei der schwäbischen der über; ein anderer trägt ein Pfarrerstochter Gudrun Enss- Fachwerkhaus auf dem Kopf, lin fündig, die ja auch mit dem ein dritter balanciert ein gar Feuer gespielt hat. niedliches Dorfkirchlein auf

M. RITTERSHAUS Und so kommt denn auch – dem Haar. Briefzitate der RAF-Terroristin Putzig auch das: Plötzlich Der Premierendirigent Zagrosek hat La- – „der kriminelle, der wahn- geht auf der Bühne noch so ein chenmann zur „Speerspitze der Neuen sinnige, der selbstmörder“ zu Kanaldeckel auf, heraus fährt Musik“ ernannt. Der Komponisten-Kolle- Wort, von „verrecken“ ist die ein einäugiges Unikum, und ge Hans Zender zählt Lachenmanns Le- Rede und vom „system“ – aha, das stellt ein Papierschiffchen benswerk „zu den wichtigsten des Jahr- der „ausdruck der rebellion“ auf den Boden. hunderts“. Der Musikologe Josef Häusler bricht sich Bahn, der Aufstand Ei der Daus: Von einem besingt die „streng auskomponierte Ver- „des zertrümmerten subjekts (fast) unsichtbaren Faden ge-

weigerung“ dieses Tonsetzers. gegen seine zertrümmerung“. DPA zogen, geht der Kahn auf gro- Nach Jahrzehnten verkrampfter Image- Ein Trost: Zu verstehen ist Opernthema Ensslin ße Fahrt und schippert büh- pflege in Darmstadt und Donaueschingen von alldem nichts. Solisten und nenabwärts.Auf einmal macht und auf den anderen Laufstegen der Mo- Choristen zerschreddern Andersens Mär, es „zisch!“, ein blutroter Blitz funkt da- derne ist so ein Gerede nicht weiter ernst Leonardos Poesie und die Agitprop bis zur zwischen, das Ding verpufft in einer zu nehmen. Solche kollegialen Nettigkei- Unkenntlichkeit. Die Vokale girren, Kon- Qualmwolke. Oper ist einfach was Wun- ten werden zu kulturellen Glaubenssätzen sonanten werden verstammelt,Worte ver- derbares. aufgeblasen und hochgespielt, weil die stümmelt. Die olle Oper hatte noch ein Li- Für diesen ganzen Stuß hat die Ham- Szene sich selber feiern muß. Die Spießer bretto; das Musiktheater der Spätauf- burgische Staatsoper nun fast zehn Jahre feiern immer noch lieber „Tosca“ und klärung begnügt sich mit einem Silbenrät- vor Lachenmann gedienert und mit La- „Aida“. sel für Zitterlippen und Zappelzungen. chenmann gerungen und zehn Wochen Lachenmanns Werkkatalog enthält Aber nun ist da noch Achim Freyer, den vorgearbeitet. Für die Premiere sind über Stücke, die heißen „Introversion I“, viele für einen erfindungsreichen Kunst- 200 Pressekarten reserviert worden; die „temA“ oder „Mouvement – vor der Er- kopf halten. Freyer, der edle Geschmäck- Kamerateams des Fernsehens traten sich starrung“. Sie klingen auch so. Besser ge- ler und abgehobene Gestalter, zeichnet in auf die Füße; Komponisten, Intendanten sagt: Sie klingen nicht, sie geräuscheln. Hamburg für „Szenische Konzeption, Re- und Festivaldirektoren sind haufenweise Nirgends der Ansatz zu einem wirkli- gie und Bühne“ verantwortlich. Er konnte zusammengelaufen. chen Thema, eine Art Akkord, ein Cre- das Werk kaum retten, aber er hätte das In den Feuilletons werden vor allem die scendo, Spannung, Entwicklung oder, um Fiasko lindern können. Statt dessen gibt er unbelehrbaren Adornophilen wieder mal Himmels willen, ein Gran Gefühl. Nur dem Stück den Rest. Kobolz schießen mit wichtigtuerischem Pling und Plong, nur perforierte Tonfol- Diesmal ist ihm nur ein einziges Büh- Geschwätz. Nun, endlich, hat auch die gen, zu Klangskeletten ausgemergelte nenbild eingefallen, und das ist keins: Claque der vermeintlichen Modernisten Partituren; Komponieren als Lochsticke- transparent abgedeckter Orchestergraben, ihren Gipfeltreff, nun hat auch die Schicke- rei, Konstrukte. durchlöcherte Bühnenschräge, ein langer ria der Neutöner ihr „Rossini“. Lachenmann glaubt, bei ihm werde das durchsichtiger Paravent, hinter dem Musi- Nach der A- und B-Premiere sind in der gemeine Ohr „geschärft, entstaubt, entta- ker sitzen. Hamburgischen Staatsoper fürs erste fünf buisiert“; „Hören“ sei „wehrlos ohne Den- Im Verlauf des Abends wird die lange Vorstellungen der Novität angesetzt und ken“, der Gegenstand von Musik „die sich Stoffbahn immer mal wieder bunt illumi- deren Eintrittspreise von 25 bis 40 Mark so- selbst wahrnehmende Wahrnehmung“, niert. Auch gehen darüber ein paar mil- zialverträglich kalkuliert. Musik überhaupt und an sich eine „exi- chige Himmelskörper auf, und zuweilen Im Schankwesen heißen solche rabat- stentielle Erfahrung“. Ehrlich: Es-Dur, funkelt ein Sternenhimmel. tierten Gelegenheiten happy hours, im Ein- Kontrapunkt und Dreiklang sind mir lieber. An diese Wand drückt sich während der zelhandel Schlußverkauf. Aber an der Um was geht es eigentlich? Den Titel gesamten Spielzeit das stumme Mädchen Hamburger Dammtorstraße stehen wahr- seines musiktheatralischen Erstlings hat mit den Schwefelhölzern: ein weiß ge- lich keine glücklichen Stunden auf dem Lachenmann dem bittersüßen Märchen schminktes und graumäusig gekleidetes Programm, und da wird Oper schon auch des Dänen Hans Christian Andersen ent- Wesen, das auf der anderen Seite der spa- nicht wohlfeil angeboten. Dieses Stück ist lehnt. Da versucht ein Mädchen den lieben nischen Wand von einem ebensolchen mi- Ramsch. ™

der spiegel 5/1997 181 Kultur

KINO Psycho in Bullerbü Hark Bohms neuer Thriller „Für immer und immer“ ist der gelungene Fall eines deutschen Kino-Schockers, dessen Stoff aus der sozialen Wirklichkeit stammt: Adoption. Über die Schlacht ums Kind und eine Mutter, die zur Mörderin wird. Von Matthias Matussek

s könnte alles wie immer sein in ei- nem Hark-Bohm-Film: Kinder, die Edie kunterbunte Welt gegen die rei- chenstarre verteidigen, eine behutsame Fa- bel voller Einsichten und guter Absichten zwischen Elbchaussee-Villa und Abenteu- erspielplatz, und über allem kreischen die Möwen Fernweh im Hamburger Hafen. Doch diesmal ist alles anders, böse, ver- giftet und so nervenzerrend wie das Ki- no nun mal ist, wenn hinter der Kamera nicht das gütige Herz eines Sozialhelfers, sondern das kältere eines Thrillerautors schlägt. Rasch erzählt der Vorspann die Vorgeschichte, erzählt von einer glückli- chen Niederkunft im schöneren Wohnen an der Elbe, und schon sehen wir die hüb- sche junge Mutter im Gegenlicht vor der Wiege stehen, ein Kissen in der Hand, das Balg zu ersticken: Psycho in Bullerbü. Acht Jahre ist es her, seit Hark Bohm mit „Yasemin“, einer wunderbaren deutsch- türkischen Pubertätsromanze, den Bun- desfilmpreis in Gold erhielt, acht Jahre, in denen er ein „Aufbaustudium Film“ an der Hamburger Universität etablierte, müde von „Erfolgen, die keiner sehen will“, ent- schlossen, dem Nachwuchs die Autoren- filmer-Flausen auszutreiben, er, der den Filmverlag der Autoren einst mitgründete. Sein Institut, für das er Hollywood-Asse wie den Kameramann Michael Ballhaus als Professoren gewinnen konnte, ist mitt- lerweile eine eingeführte Adresse in den Rekrutierungsbüros großer Produktions- firmen – wer die harte Aufnahmeprüfung schafft, macht später als Kameramann oder Regisseur, als Produzent oder Drehbuch- autor seinen Weg, auch in Deutschland,

das als stärkster außeramerikanischer / DER SPIEGEL HENDRICKS P. Markt von Hollywood umworben wird. Regisseur Bohm, Adoptivtochter Lili: „Papa darf auch mitkommen“ Man kann als Filmprofessor über das Hollywood-Handwerk dozieren, aber mu- und Appelle. Doch als sich ein ähnlicher Puppe hinter dem Maschenzaun des Schul- tiger ist es allemal, das mit einem Film zu Fall in der Nachbarschaft ereignete, rück- hofes, und natürlich ist die Kleine be- tun. Das Thema hat Bohm nicht in einer te ihm das Thema buchstäblich näher, stechlich. Schön, da sind Mama und Papa Fantasy-Garage zusammengebastelt, son- rückte ihm auf die Haut – er hat selber und die Geschwister, bunt, wärmend und dern der „sozialen Wirklichkeit“ entlehnt, vier Adoptiv- und zwei Pflegekinder. so selbstverständlich wie die Sonne. Aber aktuell und dabei so alt wie die Bibel: Sein Thriller „Für immer und immer“ ein großes Haus mit eigenem Swimming- Adoption. Wem gehört das Kind im Streit zeigt die aparte, schwarzhaarige Melanie, pool, und dazu noch alle Puppen der Welt zwischen Gebärerin und Pflegemutter? die ihre Tochter Maria – vor Jahren auf – wer kann da widerstehen? In Amerika erlebte Bohm das Stechen Druck ihrer Mutter zur Pflege freigegeben Ihre Pflegeeltern wollen kämpfen, doch um „Baby Richard“, ein Kind, das die leib- – zurückfordert. Sie tut es, um ihre Ehe zu sie müssen erkennen: Ein Prozeß würde sie liche Mutter vier Jahre nach der Geburt retten, die verödet ist seit dem Tod ihres nicht nur finanziell ruinieren, sondern das von den Pflegeeltern zurückforderte. Da- zweiten Kindes. Wir wissen, daß Melanie Kind seelisch beschädigen – der nämlich mals brachten die News-Shows die ge- eine Psychotikerin ist: Die Bombe tickt. kann Jahre dauern. Die nächtliche Aus- richtlich angeordnete Übergabe, das Klam- Melanie lockt, sie wirbt um Maria, sie sprache am Küchentisch, in der sie sich zur mern des Jungen, die Schreie und Tränen winkt mit einer heißerwünschten Barbie- Aufgabe durchringen, kann so wohl nur

182 der spiegel 5/1997 Hark Bohm inszenieren: sattes Milieukino, Feministinnen reagieren, die seinen Film „Für immer und immer“ bietet, was sel- große Gefühle ohne jeden Kitsch. als misogynes Machwerk lesen werden. ten geworden ist im deutschen Bezie- Zunächst soll Maria zur Probe wohnen Denn die Feministinnen, so Bohm, ent- hungsklamotten-Kino: ein wichtiges so- bei Melanie. Diese, das macht der Film decken seit neuestem „mit unverhüllter ziales Thema, genau ausrecherchiert. Prä- deutlich, ist selber eine Getriebene, eine Blut-und-Boden-Rhetorik“ die Mutter- sentiert wird es nicht als Thesenstück, son- Verzweifelte, ein Opfer ihrer Mutter, die schaft neu – als Kampfposition gegen staat- dern es wird als Thriller direkt unter die sie skrupellos dominiert und nicht loslas- lich verordnete Zwangsadoptionen in so- Haut gejagt. Ein Spagat zwischen Engage- sen kann. Und hier, in der riesigen, ein- zial schwachen Milieus. ment und glatter Professionalität, der zeigt, samen Villa an der Elbe, kippt das So- „Die Feministinnen“, schäumt Bohm, daß nicht nur die Welt sich gedreht hat, zialdrama um und rast als Schocker auf „behaupten, daß die Rückführung von sondern daß sich einige der älter gewor- ein mörderisches, virtuoses Finale hin. Hier Pflegekindern zu ihren leiblichen Müttern denen Jungfilmer mitgedreht haben. ist nun Grusel-Kino pur, kein Erklären eine Stabilisierung dieser Mütter bedeu- „Damals, zu Zeiten des Autorenkinos“, mehr, sondern böser Märchen-Urstoff: die ten würde – das Kind als Krücke für sagt Bohm, „mußten wir uns unsere Filme Hexe und das Kind. Rette sich, wer kann. Taumelnde. Das nenne ich Mißbrauch.“ selber schreiben, weil alles andere Kla- Jeanette Arndt ist als Melanie eine hy- In seinem Film sagt er es härter. Dort ist motte oder Kostümschinken war. Heute sterisch flatternde Schönheit, und Johanna die Mutter, die das Kind aus seiner Pfle- sind wir weiter.“ Heute arbeitet Bohm ter Steege gibt die Pflegemutter als warmes gefamilie herausbricht, eine egoistische mit dem amerikanischen Drehbuchautor Prachtstück. Vor allem aber ist da, zwi- Killerin. Jon Boorstin zusammen, Wim Wenders schen den beiden, Lili Bohm als Maria, ein Bohm deutet durchs Fenster, hinüber hat gerade in Los Angeles abgedreht, und nicht zu bändigendes Temperamentsbün- zum Nachbargrundstück, in dem ein Werner Herzog („Mich interessiert nicht del, das beängstigend mutig und verführ- prächtiges Baumhaus verwaist im Garten das Publikum, sondern die Ewigkeit“) bar allen auf der Nase herumtanzt, eine steht. Denen dort drüben ist es passiert, möchte sich ein Drehbuch von John Mi- umwerfend charmante Nervensäge. der Kapitänsfamilie, die ihr Pflegekind lius („Conan der Barbar“) schreiben und Erst nach Interviews mit Dutzenden an- nach Jahren wieder hergeben mußte. „Es von Francis Ford Coppola produzieren derer Kinderdarsteller hatte sich der Re- war ein Schock. Für uns alle.“ lassen. gisseur für seine Tochter entschieden. Ein Da ist aber noch eine andere Tabuver- Von all den Provokationen seines Films Besetzungscoup, zu dem er sich durchrin- letzung. Bohm zeigt eine Mutter als Mör- poltert die ihm liebste gerade die Treppe gen mußte, gerade weil er so nahelag – bis- derin ihres Neugeborenen, eine hysterisch hoch: Mit gerötetem Gesicht stürzt Lili her spielten alle Bohm-Kinder in seinen überforderte junge Frau, die ihr Kind er- durch die Türe, klettert auf dem Papa her- Filmen: „Bei Lili kenne ich einfach die stickt. Für seinen Thriller „funktioniert“ um, plappert von der Schule, vom Leben wahren Momente, ich weiß, wann sie sich diese Ausgangslage – man zittert um die als solchem und von einem Boot, das sie verstellt und wann nicht.“ Daß hier einer auch gegen die eigene Angst gefilmt hat, erschließt sich jedem, der das alte Klinkerhaus im Hamburger Vorort betritt, wo die Familie Bohm den Alltag stemmt: bunt und laut, mit langen Mittagstafeln und noch längeren Ge- sprächen, mit Lili, David und Lea, oft auch mit Dschingis und Uwe, die mittlerweile ei- gene Familien haben, ein geordnetes Cha- os zwischen Klettergerüsten und Stun- denplänen um Adoptiv-Mutter Natalia als ruhendem Zentrum – ein Höllensturz, soll- te je einer aus diesem Organismus heraus- gebrochen werden. Bohm selber spielt mit in seinem Film, und er wäre dumm, wenn er es nicht täte. Er hat ein unverwechselbares, zer- knautschtes Kinogesicht. Ein Gesicht wie ein trauriger Aktenvorgang, in dem sämt- liche Lebensniederlagen Falte um Falte

abgeheftet wurden, und wahrscheinlich ist FILM PANDORA es diese Kummermiene, die an dem Miß- Lili Bohm, Jeanette Arndt in „Für immer und immer“: Psychoschlacht ums Kind verständnis schuld ist, daß Hark Bohm ein guter Mensch sei. Sicher ist er das auch, als kleine Maria, sobald Melanie auch nur in bauen wird. Lili ist voller Geschichten, Papa privat, aber als Regisseur von „Für ihre Nähe kommt. und nur die wenigsten haben strengge- immer und immer“ zeigt er weniger No- Doch was hat dieser Extremfall mit dem nommen mit der langweiligen Wirklich- blesse als kalte Wut. wirklichen Leben zu tun? „Mehr, als ge- keit zu tun. In der Mansarde, mit Blick auf eine kah- meinhin vermutet wird“, sagt der Regis- Wie sie sich denn entscheiden würde, le Buche, an die Lili ihr windschiefes Vo- seur. Die häufigen Fälle von „sudden wenn ihre leibliche Mutter, eine Brasilia- gelhäuschen genagelt hat, spricht der Re- death“, von Erstickungstoden Neugebore- nerin, plötzlich vor der Tür stehen würde. gisseur über die Provokationen seines ner durch Bauchlage, seien nur zum Teil „Na, ich würde nach Brasilien gehen“, ruft Thrillers, und die Falten sind in seine Stirn tatsächlich tragische Unglücksfälle. Die of- Lili abenteuerbegeistert. „Aber natürlich gekniffelt wie Ausrufezeichen. „Die Zu- fiziellen Statistiken verschweigen, daß es nicht ohne Mama, die müßte auf alle Fäl- schauer mögen den Film, doch die links- sich bei einem beträchtlichen Prozentsatz le dabeisein.“ Und was ist mit Papa? „Nun liberale Kritik schießt sich bereits ein.“ um Mord durch Mütter in postnataler Ra- gut“, sagt sie gnädig. „Den nehm’ ich auch Tatsächlich wird ja nicht nur die Bohm- serei handelt – das ließ sich Bohm nicht nur mit.“ Fangemeinde verstört sein, die den enga- von Ärzten bestätigen, das war auch Fazit Da lächelt Hark Bohm, so stolz und gierten, sozialkritischen Autorenfilm er- eines großen Artikels, der unlängst in der breit, daß alle Falten in der Waagerechten wartet. Empört werden vor allem jene los angeles times veröffentlicht wurde. liegen. ™

der spiegel 5/1997 183 Kultur

LITERATUR Herzklopfen für große Jungs Michael Crichtons jüngster Thriller „Airframe“. Von Friedrich-Karl Praetorius Praetorius, 45, wurde als Theaterschau- wir so viele davon konsumiert haben, se- Das Mimenspiel seiner Akteure be- spieler und TV-Held unter anderem in der hen wir die Schauspieler bereits vor uns – schreibt Crichton übrigens so genau, daß Serie „Abenteuer Airport“ bekannt. Er und jene Palette von 36 Grimassen, die sie Schauspieler vom Blatt spielen könnten, lebt in der Nähe von Frankfurt. Als Autor uns zu bieten haben: Mundwinkel hoch, wie überhaupt der Roman bereits das fer- veröffentlichte er zuletzt den Erzählungs- Mundwinkel runter, Sorgenfalte hier, er- tige Drehbuch ist, und, keine Frage: Die band „Sein oder Nichtsein – Lebensbericht stauntes Augenbrauenhochziehen dort. Story ist schnittechnisch einwandfrei. einer Leiche“ (1995). In der Rolle des Fluglotsen Ronny Moos- Michael Crichton hat indes keine Kraft, bacher habe ich in der Fernsehserie sich den Figuren zu nähern. Was sollen iemand, der je einen Hamburger „Abenteuer Airport“ selbst mit Grimasse sie auch hergeben, wo sie doch lediglich aß, versteht, warum sich dieses Er- 22 (cool, spannungsgeladen bis blöd) eini- die Filmfolie von Wirklichkeit repräsen- Nzeugnis weltweiter Beliebtheit er- ge hundert Flugzeuge sicher zur Landung tieren? Crichtons Menschen bestehen aus freut – dennoch hat ihn keiner, den ich gebracht. Dagegen verzerrt sich das natür- Merkmalen, die sie zu braven Funk- kenne, je auf halber Strecke ausgekotzt. liche Antlitz des Autors und Fluginsassen tionsträgern der immer voraussehbaren Warum nicht? Die Hamburger sind so kon- „Handlung“ machen, jenes zipiert, daß sie einfach rutschen, kaum daß Allheilmittels, das unter sie im Mund sind, und noch bevor die Lip- der Bezeichnung „Plot“ pen ein „Bäh“ formen können, hat man sie auch zum Zauberwort der schon geschluckt. So ähnlich ging es mir deutschen Drehbuchpro- mit Michael Crichtons jüngstem Buch duzenten mutiert ist. „Airframe“*. Das Sympathische an Nichts gegen einen Crichtonburger, dieser Art US-Literatur ist, denn auf dieses Konzept muß man erst daß sie keine Literatur sein einmal kommen – die Eliminierung von will und sich entsprechend Geschmack und ästhetischer Distanz. frei von falschem Ehrgeiz Die sogenannte Handlung schlägt un- einer Sache nähern kann – mittelbar zu. „5 Uhr 18“ heißt das erste mit aller detailversessenen Kapitel, das zweite „5 Uhr 43“ und das Sezierwut, die man auch letzte „Sonntag, 17 Uhr 45“. Es geht um diesem Buch zugestehen Zeit, und deshalb haben alle Figuren ein muß. Eigentlich ist Michael Zeitproblem, nämlich immer zuwenig – Crichton ein begnadeter wie der Leser, dem man sie nicht stehlen Jugendbuchautor. Bei den will. großen Jungs von der faz Die amerikanische Angst davor zu lang- jedenfalls – und sicher weilen, auf dem Markt nicht anzukommen, überall dort, wo die Welt ist für die dramatische Literatur durchaus aus Fakten, Fakten, Fakten eine Bereicherung. Die hierzulande herab- besteht – ist man begeistert. lassend als „Gebrauchsstücke“ bezeichne- Kein Wunder, daß der ten Dramen von David Mamet zum Bei- Autor sich regelmäßig mit spiel haben für rare Höhepunkte in den dem Crichton-Verfilmer deutschen Theatern gesorgt. Und gewiß und -Spielkameraden Ste- kann jeder unserer ausufernden Gegen- ven Spielberg („Jurassic wartsautoren von den Amerikanern ler- Park“) trifft, um gemein- nen, wie man etwas auf den Punkt bringt. sam Streiche auszuhecken. Es gibt allerdings Punkte, die einen Streiche, die das Einbre- bei noch so großer Verdichtung ein- chen jugendlicher Naivität

fach nicht interessieren. Und dazu gehört EXLEY / GAMMA STUDIO X und Skepsis in die böse Er- der entscheidende, nämlich die Vorstel- Autor Crichton: Immer noch mit Spielzeug beschäftigt wachsenenwelt zum Inhalt lung, die Michael Crichton von der „Wirk- haben. lichkeit“ hat. Praetorius zu einer Angstfratze, sobald sich „Airframe“ ist ein Buch für 15jährige, In diesem Fall: Ein Flugzeug ist beinahe das Fluggerät in die Luft erhebt. die sich für das Funktionieren von Flug- abgestürzt, eine Untersuchung wird in So kann die Auflösung bei Crichton zeugen interessieren. Erwachsene, also alle Gang gesetzt, deren Leitung die Heldin mein Gefühl der Ohnmacht, das mich so- in diesem Buch handelnden Personen, sind Casey Singleton übernimmt. Die Frau wird wohl im Flugzeug als auch bei der Lek- hier nur Teil eines Systems. Zu diesem Sy- behindert, setzt sich am Ende aber durch. türe von „Airframe“ überkommt, nur stem gehört, daß die handelnde Heldin Ca- Eine Geschichte, wie sie uns so oder ähn- noch steigern. Am Ende kommt heraus: sey andeutungsweise ein Privatleben hat, lich, mehr oder weniger spannend, jeder Es war nur eine fehlerhafte „Slats-dis- also alleinerziehende Mutter ist, die sich – amerikanische Film präsentiert. Und weil agree“-Warnung, auf die der Sohn des Pi- der Tochter zuliebe – um ein entspanntes loten – der Filius saß gerade spaßeshalber Verhältnis zum Ex-Mann bemüht. * Michael Crichton: „Airframe“. Aus dem Amerikani- auf dem Pilotensitz – so falsch reagierte, Alle übrigen Personen verfügen nur schen von Klaus Berr. Blessing Verlag, München; 444 daß es zur Katastrophe mit immerhin vier über Eigenschaften, die dem Vokabular Seiten; 45 Mark. Toten kam. von Jugendlichen entlehnt sind. Sie sind

184 der spiegel 5/1997 „frech“, „gemein“, sie „schaffen die Sto- gut leiden kann, redet er dagegen gern: ry“ oder sagen: „Was soll die Scheiße?“ „Emotional sind sie 13jährige, ein Alter, in Sie „räuspern sich“, „zucken die Achseln“ dem Jungs gerade aufhören, sich mit Spiel- oder „brummeln“. An dieser Wirklichkeit zeug zu beschäftigen, weil sie die Mädchen ist, im mechanischen Sinne, nichts falsch. entdeckt haben. Bloß, daß die hier sich im- Im Guten wie im Bösen ist sie stimmig, mer noch mit Spielzeug beschäftigen. Ihre die kleine Schieflage, der Silberblick; die sozialen Fähigkeiten sind unterentwickelt, Hubble-Unschärfe, die aus Marionetten sie ziehen sich schlecht an, aber sie sind Menschen macht und aus Büchern Litera- außergewöhnlich intelligent und sehr gut tur, kommt nicht vor. ausgebildet, und auf ihre Art sind sie eben Auch Crichton selbst hofft offenbar, in sehr arrogant. Außenseiter dürfen auf kei- seinen Geschichten nicht vorzukommen, nen Fall mitspielen.“ was er sicherlich als ein Zeichen von Be- Liest sich ganz so, als sei Michael scheidenheit gewertet wissen möchte. Crichton hier ein Selbstbildnis unter- Über Ingenieure („Knirpse“), die er nicht laufen. ™

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt Bestseller vom Fachmagazin BUCHREPORT Belletristik Sachbücher 1 (1) Grisham Der Regenmacher 1 (1) Ehrhardt Gute Mädchen kommen Hoffmann und Campe; 48 Mark in den Himmel, böse überall hin W. Krüger; 32 Mark 2 (2) Follett Die Brücken der Freiheit Lübbe; 46 Mark 2 (2) Kohl Ich wollte Deutschlands Einheit Propyläen; 48 Mark 3 (3) McCourt Die Asche meiner Mutter Luchterhand; 48 Mark 3 (5) Goeudevert Wie ein Vogel im Aquarium Rowohlt Berlin; 38 Mark 4 (5) Noll Kalt ist der Abendhauch Diogenes; 36 Mark 4 (3) Goldhagen Hitlers willige Vollstrecker Siedler; 59,80 Mark 5 (6) Marías Mein Herz so weiß Klett-Cotta; 36 Mark 5 (4) Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 6 (4) Gaarder Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort 6 (7) Goleman Emotionale Intelligenz Hanser; 29,80 Mark Hanser; 49,80 Mark

7 (7) Forsyth Das Schwarze Manifest 7 (6) Schmidt Weggefährten C. Bertelsmann; 46,80 Mark Siedler; 58,80 Mark

8 (8) Gaarder Sofies Welt 8 (8) Krämer/Trenkler Lexikon der Hanser; 39,80 Mark populären Irrtümer Eichborn; 44 Mark 9 (9) Evans Der Pferdeflüsterer C. Bertelsmann; 44,80 Mark 9 (9) Ogger König Kunde – angeschmiert und abserviert 10 (12) George Im Angesicht des Feindes Droemer; 39,80 Mark Blanvalet; 46,80 Mark 10 (10) Schwarzer Marion Dönhoff 11 (10) Cross Die Päpstin Kiepenheuer & Witsch; 39,80 Mark Rütten & Loening; 49,90 Mark 11 (13) Knopp Hitlers Helfer 12 (11) King Desperation C. Bertelsmann; 46,80 Mark Heyne; 48 Mark 12 (15) Hauser/Kienzle Schwarz-Rot-Geld 13 (14) Tamaro Geh, wohin Hoffmann und Campe; 39,80 Mark dein Herz dich trägt Diogenes; 32 Mark 13 (–) Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 19,80 Mark 14 (–) García Márquez Nachricht von einer Entführung 14 (11) Scholl-Latour Das Schlachtfeld Kiepenheuer & Witsch, 45 Mark der Zukunft Siedler; 54 Mark 15 (15) Zimmer Bradley Die Herrin von Avalon 15 (12) de Bruyn Vierzig Jahre W. Krüger; 49,80 Mark S. Fischer; 39,80 Mark

der spiegel 5/1997 185 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur dert, weil er Scientologe ist. Und ein Kin- derschänder könnte sicher leicht in die CDU SEKTEN eintreten, aber kein Scientologe – der darf mancherorts weder als Polizist noch als Leh- rer arbeiten. Einige Banken lassen Sciento- „Schritte Richtung Auschwitz“ logen nicht einmal Konten eröffnen. SPIEGEL: Juden in aller Welt – auch promi- Interview mit dem Hollywood-Regisseur nente aus Deutschland – haben gegen Ihren Brief protestiert. Er beleidige die Opfer des Oliver Stone über seine Schützenhilfe für Scientology Holocaust und verharmlose den National- und die Angriffe auf Deutschland sozialismus. Macht Sie das nachdenklich? STONE: Diese Aufregung verstehe ich über- SPIEGEL: Mr. Stone, warum beschuldigen Sie wohl beispielsweise die Junge Union zum haupt nicht, die Leute haben offenbar nicht Deutschland, Scientologen würden dort Boykott aufgerufen hatte. Fürchten Sie genau gelesen. Selbstverständlich wäre je- heute so schikaniert wie einst die Juden? trotzdem Attacken gegen andere Künstler? der Vergleich mit dem Holocaust im Mo- STONE: Ich bin kein Scientologe, sondern STONE: Natürlich, das war einer der Gründe ment absurd. Die Judenvernichtung erwäh- seit vier Jahren Buddhist.Aber ich kann se- für den Brief an Kohl. Unterdrückung fängt nen wir in der Anzeige deshalb auch über- hen, daß auch Scientology ein Glaubenssy- immer leise an, erst trifft es die einen, spä- haupt nicht. Es geht uns um die dreißiger stem ist, nennen Sie es Religion, wenn Sie ter vielleicht andere. So war es auch im Jahre, den Beginn der Verfolgung, nicht um wollen. Und dessen Anhänger haben ein Dritten Reich. Zunächst wurden Juden ver- Auschwitz, nicht um die Gaskammern – al- Recht darauf, ihren Glauben frei zu prakti- leumdet, dann sonderten die Nazis sie ab lenfalls um die ersten Schritte auf dem Weg zieren. Dieses Recht auf Glaubensfreiheit und nahmen ihnen Stück für Stück jede Richtung Auschwitz, den Beginn der Ab- für alle ist mir sehr wichtig, und in Deutsch- Möglichkeit zu leben. Ähnlich passiert es sonderung einer Gruppe von Menschen, die land wird es derzeit mit Füßen getreten. jetzt wieder… durch ihr Glaubenssystem definiert ist. Scientologen werden verfolgt und einge- SPIEGEL: Eine Unterstellung. SPIEGEL: Sollten denn Scientologen bei- schüchtert, ohne gesetzliche Grundlage. So STONE: Deutsche Behörden haben einen spielsweise als Lehrer die Gelegenheit be- arbeiten totalitäre Staaten. Auftritt des Musikers Chick Corea verhin- kommen, Schüler zu indoktrinieren? SPIEGEL: Haben Scientologen Sie gebeten, STONE: Nein, ich glaube, jeder Lehrer muß sich für sie einzusetzen? Kindern beibringen, was im Lehrplan steht STONE: Nein, geschrieben hat diesen Brief und sonst gar nichts – gleichgültig, woran er der Hollywood-Rechtsanwalt Bertram persönlich glaubt. Es gibt Vorschriften, die Fields, der kein Scientologe ist, auch wenn für alle gelten sollten. er für Scientologen wie den Schauspieler SPIEGEL: Kanzler Kohl sagte, wer den Brief Tom Cruise arbeitet. Fields’ Kanzlei vertritt unterschrieben habe, könne nur wenig von mich ebenso, und ich schätze ihn sehr, denn Deutschland wissen. Haben Sie sich noch er ist ein unabhängiger Kopf. Er hat meine aus anderen Quellen informiert, oder hat Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was Scien- nur Bertram Fields Ihnen die angebliche tologen in Deutschland angetan wird. Un- Verfolgung geschildert? terzeichnet habe ich – wie andere auch – STONE: Die international herald tri- schon vor Monaten. Seither hat Fields ver- bune hat unsere Vorwürfe geprüft und alle sucht, den Brief als Protestnote in einigen für in Ordnung befunden. Das reicht mir. größeren deutschen Zeitungen zu plazie- Niemand in der CDU bestreitet, soweit ich ren, was aber von allen abgelehnt wurde. weiß, die Existenz jener Sonderregeln, die Das zeigt doch, wie sehr Scientology in der Scientologen an ihren Arbeitsstellen belä- Bundesrepublik unterdrückt wird. stigen und einschüchtern und sie von öf- SPIEGEL: Hat Ihre Hilfe für Scientology viel- fentlichen Ämtern ausschließen. leicht auch damit zu tun, daß die Sekte viel SPIEGEL: Aber es geht doch nicht in erster Li- Einfluß in Ihrer Branche hat? So gibt es auch nie um Religionsfreiheit: Die Sekte ist vor in Los Angeles ein eigenes „Celebrity Cen- allem ein Konzern, der beträchtliche Sum- ter“, das sich eifrig um Stars bemüht. men kassiert, indem er Mitglieder ausbeu- STONE: Nein, ich wüßte auch nicht, daß tet. Es geht darum, daß dieses Unterneh-

Scientology hier viel Macht hat. Einige Pro- FOCUSR. BROWN / ONYX AGENTUR men derzeit in Deutschland um die Aner- minente gehören dazu, aber gemerkt habe kennung als Kirche kämpft, was beträchtli- ich davon nie etwas. Das ist deren privater Oliver Stone che Steuervorteile brächte. Glaube, und entsprechend gehen die Kolle- hat mit anderen Hollywood-Stars wie STONE: Ich weiß: Viele deutsche Politiker gen damit um. So habe ich zum Beispiel bei Dustin Hoffman und Goldie Hawn ei- halten Scientology im Unterschied zum Va- den Dreharbeiten für „Geboren am 4. Juli“ nen offenen Brief an Bundeskanzler tikan für eine kriminelle Vereinigung, der es mit Tom Cruise zusammengearbeitet. Aber Kohl unterschrieben. Der Vorwurf des vor allem um Profit geht, gleich mit wel- weder Tom noch etwa John Travolta haben Textes, der am 9. Januar als Anzeige in chen Methoden. Vielleicht stimmt das, ich mit mir je über ihren Glauben diskutiert. der international herald tribune kann es nicht beurteilen. Aber wenn das so SPIEGEL: Haben Sie selbst direkte Bezie- erschien: In Deutschland würden heu- wäre, müßten Scientologen ja Verbrechen hungen zu der Sekte? te Scientologen genauso schikaniert begehen. Also sollten Staatsanwälte ermit- STONE: Ich habe einmal kurz mit Scientolo- wie Mitte der dreißiger Jahre Juden. teln und Scientology ganz regulär den Pro- gy geflirtet, als ich 1969 aus dem Vietnam- Der Regisseur Constantin Costa-Ga- zeß machen – vor normalen Gerichten, wo krieg zurückkam. Damals habe ich einen vras, der auch unterzeichnet hat, di- normale Beweise und normale Gesetze Kursus besucht, aber nach etwa vier Mona- stanziert sich inzwischen von dem zählen und sich die Angeklagten mit ihren ten war die Sache für mich erledigt. Das in- Brief. Doch Stone („Platoon“, „JFK“, Anwälten verteidigen können wie jeder teressierte mich nicht genug, um länger zu „Natural Born Killers“), 50, Sohn ei- Bürger. Keine Sondervorschriften, sondern bleiben. nes jüdischen Börsenmaklers, steht zu faire Verfahren nach geltendem Recht – so SPIEGEL: Der Cruise-Film „Mission: Impos- seinem Einsatz für die Sekte. sollten solche Entscheidungen in einem sible“ war in Deutschland ein Erfolg, ob- Rechtsstaat gefällt werden. ™

188 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Sport

FORMEL 1 Der Klub der klugen Köpfe Sie sind die heimlichen Stars im Grand-Prix-Zirkus, ihre Einfälle lassen sie sich mit Millionen- Gagen honorieren: Nie zuvor wurden die Konstrukteure der Rennwagen so umworben. Auch bei Ferrari hat Michael Schumacher einen Personalwechsel in der Designabteilung durchgesetzt.

ie Entstehung eines chen zu müssen. Umgekehrt Rennwagens, so hat zog Ferrari die Lehren aus DFerrari-Konstrukteur der anhaltenden Erfolglosig- John Barnard einmal formu- keit – sowohl Brawn als auch liert, sei mit der Entstehung Newey erhielten lukrative der Sixtinischen Kapelle zu Offerten aus Maranello. vergleichen. Deren Decken- Die richtige Designidee gemälde werde Michelan- kann einem Rennstall über gelo zugeschrieben, wenn- Jahre hinaus eine Vormacht- gleich der sie nicht allein ge- stellung einbringen, ein Miß- malt habe. „Michelangelos griff kann aber auch eine Verdienst ist der Entwurf ganze Saison lang zum Hin- und die Fähigkeit, Künstler terherfahren verurteilen. um sich zu sammeln, die alle Vermochten sich früher noch Details in seinem Sinne zu interessierte Rennmechani- gestalten vermochten.“ ker zum Konstrukteur hoch- Vergangene Woche, bei zuarbeiten, so grübeln heute den ersten Probefahrten des über Strömungslehre und neuen Ferrari, geriet der Rennauto-Designer Newey*: „Drauflosspinnen und wieder einfangen“ Kinetikformeln fast aus- aparte Vergleich des diplo- nahmslos hochqualifizierte mierten Ingenieurs ins Schleudern. Ob es stand, tauschten die Ingenieure ihre Ar- Ingenieure, die ihr Hand- und Denkwerk nun an dem tempophilen Michelangelo beitsplätze wie nie zuvor. bei Raumfahrtkonzernen oder an Elite- höchstselbst lag oder an seinen Subalter- Verwundert registrierten die Piloten, Hochschulen gelernt haben. nen – Michael Schumacher war mit daß mancher Rennstallbesitzer mehr Au- Paul Bowen etwa, Chefdesigner des Barnards rotem Kunstwerk erkennbar un- genmerk auf die klugen Köpfe legt als auf Arrows-Rennstalls, hat früher einmal die zufrieden: „Da haben wir noch viel Arbeit die Männer am Volant. Längst wird im Po- Belastungsfähigkeit britischer Militärjets vor uns.“ ker um die besten Designer mit Fir- erforscht; andere zeichneten Rotorblätter Schon nach wenigen Kilometern im an- menanteilen gelockt oder mit Gerichts- für Hubschrauber. Brawn begann seine dalusischen Jerez de la Frontera hatte der verfahren gedroht. Sie kassieren Millio- Karriere am Atomforschungszentrum in Maestro bei seinem Dienstwagen ein hart- nengagen, die früher den Spitzenfahrern Harwell. Newey hingegen heuerte unmit- näckiges Untersteuern ausgemacht – dabei vorbehalten waren – und mancher genießt telbar nach dem Studium der Aeronautik schiebt das Auto bei eingeschlagener Len- den Ruf eines Heilsbringers. bei March an, einem drittklassigen For- kung zum Kurvenaußenrand; ein Fahrver- Die Couturiers für Karbon und Leicht- mel-1-Team. Ein Angebot des Pkw-Her- halten, das einem VW Golf aus Sicher- metall sind vor allem dann begehrt, wenn stellers British Leyland, das Heck eines heitsgründen serienmäßig anerzogen wird, ein Fahrer begabter ist als alle anderen, Austin Allegro zu entwerfen, lehnte er ab: das aber Schumacher auf der Jagd nach dieser aber nicht im schnellsten Auto sitzt. „Das war mir zu langweilig.“ der Weltmeisterschaft so gut gebrauchen So konnte im vorigen Jahr der eher durch- Neben einer grundsätzlichen Affinität kann wie einen Bremsfallschirm. schnittlich talentierte Engländer Damon zum Motorsport, die keiner der Auto-Ar- Die ernüchternde Jungfernfahrt wird Hill in einem Williams-Rennwagen dem chitekten leugnet, fallen ihnen eine Men- Barnard, 50, wohl den Job kosten. Schon amtierenden Weltmeister und Ferrari-Pi- ge Gründe ein, den Grand-Prix-Job einem bei der Präsentation des neuen Modells loten Schumacher davoneilen. hatte Ferrari-Präsident Luca di Monteze- Schumachers Gegner, analysierte auto, molo maliziös angekündigt, über die Ver- motor und sport, sitze „nicht im Cock- längerung des im Sommer auslaufenden pit, sondern am Zeichentisch“. Sein Name: Arbeitsvertrages werde man nach den Adrian Newey, 37. Gemeinsam mit Patrick Tests in Spanien befinden. Head, dem Technischen Direktor von Wil- Zudem ist der neue Chef-Konstrukteur liams, hatte der schlaksige Aerodynamik- schon gefunden: Schumacher hatte die Ver- Spezialist ein Auto entworfen, das den Fer- pflichtung des bisherigen Benetton-Inge- raris, und Benettons um Sekun- nieurs Ross Brawn dringend empfohlen. den voraus war. Brawn, 42, war für jenes Gefährt verant- Exemplarisch hat das Williams-Team vor- wortlich, mit dem der Kerpener zweimal gemacht, wie man Weltmeister wird, ohne Weltmeister geworden ist. den Honorarforderungen des Fahrgenies Der Machtwechsel im Technischen Büro Schumacher (25 Millionen Dollar) entspre- von Ferrari ist typisch für den Grand-Prix-

Zirkus anno 1997. Während das Fahrerka- * Mit Miniaturmodellen seiner bisherigen Arbeitgeber RONDEAU / ALLSPORT P. russell vor der neuen Saison beinahe still- Williams und March. Ferrari-Ingenieure Brawn, Barnard: „Was wir

190 der spiegel 5/1997 Präsentation des 97er Ferrari auf dem Werksgelände in Fiorano*: „Da haben wir noch viel Arbeit vor uns“

gewöhnlichen Arbeitsleben vorzuziehen. sprung haben.“ Nach fast drei Dienstjahr- im Sold von McLaren, hatte er den für die Während es im Industriedesign oft Jahre zehnten sieht sich Kollege Barnard gefan- Raumfahrt entwickelten Werkstoff Kohle- dauert, ehe eine Idee auf den Markt gen: „Die Formel 1 ist eine Droge.“ faser für die Formel 1 entdeckt. Die Renn- kommt, lebt die Formel 1 im Rhythmus der Und jetzt, in den ersten Wochen eines wagen wurden leichter und dennoch si- 14 Tage zwischen den Rennen. Während neuen Jahres, ist die Anspannung am größ- cherer, sie verloren ihren bitteren Ruf als bei Opel oder VW ein Vorschlag schon mal ten. Was im Sommer konzipiert und ab rollende Särge aus Aluminium.Acht Jahre an 85 Pfennigen Mehrkosten scheitern Herbst gebaut wurde, muß beim Roll-out später führte er für Ferrari ein halbauto- kann, spielt Geld in den großen Teams eine sein Potential beweisen. Mögen noch so matisches Getriebe ein; Kupplungspedal nachrangige Rolle. Bei Jahresbudgets von viele Computerprogramme durchgespielt, und Schaltknauf sind seitdem out, die sie- 50 Millionen Dollar und mehr tüfteln die mag noch so viele Stunden im Windkanal ben Gänge der modernen Renngetriebe Konstrukteure in High-Tech-Kathedralen, gemessen worden sein – die Wahrheit liegt betätigen die Piloten mit dem Mittelfinger deren Ausstattung sogar Naturwissen- auf der Piste. über Wippen am Lenkrad. schaftler wie Stephen Hawking erstaunen „Jeder Rennwagen ist ein Kompromiß“, Barnards Erfindergeist verhalf dem – so geschehen bei einem Besuch des Kos- weiß Brawn. Um das Optimum herauszu- McLaren-Team zu fünf WM-Titeln. Den moserklärers in der Williams-Werkstatt. holen, müßten für die 17 Grand-Prix-Kur- Guru der Konstrukteure hat zuletzt jedoch „Wenn wir heute mit einer Runde Vor- se 17 verschiedene Autos gebaut werden. die Inspiration verlassen. Der Mann, der sprung gewinnen“, beschreibt der neue Be- Ob die Strecke glatt oder wellig ist, ob „immer fundamentale Schritte nach vorn“ netton-Technikchef Pat Symonds die Un- enge Kurven oder lange Geraden über- sucht, fühlt sich vom Regelwerk eingeengt, ersättlichkeit seines Berufsstandes, „wollen wiegen, ob die australische Sonne sticht das „Geniestreiche“ praktisch ausschließe: wir beim nächsten Mal zwei Runden Vor- oder Eifeler Landregen niederfällt – alles „Die magischen Pforten, hinter denen sich beeinflußt die Performance. neue, unentdeckte Räume auftun, werden Sogar während eines Rennens wechseln immer kleiner und seltener.“ die Bedingungen stetig, weil die Boliden Zwar haben neue Sicherheitsvorschrif- pro 100 Kilometer etwa 50 Kilogramm ten und das Verbot elektronischer Fahrhil- Treibstoff verbrennen. Wer je einen Kom- fen in den letzten Jahren tatsächlich den bi mit schweren Weinkisten an Bord in gestalterischen Spielraum verkleinert, doch eine enge Autobahnabfahrt gezwängt hat, Insidern gilt Neweys Williams-Modell als vermag zu ahnen, wie das Fahrverhalten Beweis dafür, daß auch im Zeitalter tech- variiert, ob ein nur 520 Kilogramm schwe- nischer Beschränkung der große Wurf noch rer Wagen mit 100 oder mit 10 Liter Ben- möglich ist. zin durch eine Schikane driftet. Newey, der seine Einfälle am liebsten Jahrelang galt der Brite Barnard als der noch mit der Hand skizziert, schwört auf große Visionär der Branche. 1981, damals simple Lösungen. Dem geschulten Auge präsentieren sich seine Kreationen unver- * Am 7. Januar mit Ferrari-Präsident Luca de Monteze- wechselbar wie der Strich eines Karikatu- molo, Rennleiter Jean Todt und den Fahrern Michael risten oder die Schnitte eines Modeschöp- hier machen, ist eigentlich Flugzeugbau“ Schumacher und Eddie Irvine. fers: Hohe Nase, taillierter Rumpf und

der spiegel 5/1997 191 Sport tiefes Cockpit sind typische Newey-Eigen- Hamidy einen profunden Aerodynamik- werk, lehnte ab. Er sieht sich als notwen- heiten. Spezialisten, der praktischerweise die diges Korrektiv: Die Williams-Qualität be- Der Fahrer, da denkt der Mann aus der Windkanal-Daten des Weltmeister-Fahr- stehe darin, daß „Newey drauflosspinnen Shakespeare-Stadt Stratford-upon-Avon zeugs mitbrachte. Allein als Zielvorgabe, darf und ich ihn wieder einfange“. ganz extremistisch, ist ihm nur ein not- sagt Stewart-Technikchef Alan Jenkins, Newey kündigte seinen mit einer Milli- wendiges Übel – zuletzt wunderte sich Wil- „sind die genauen Werte enorm hilfreich“. on Pfund jährlich dotierten und bis 1999 liams-Neuling Heinz-Harald Frentzen über Dabei wird neuerdings sogar auf die laufenden Vertrag,Williams drohte erst mit die unangenehm flache Sitzposition. Oberflächenstruktur der Karosseriefarbe dem Gericht, dann bot er eine Firmenbe- Daß Designer Barnard unter dem Druck geachtet. Ein rauher Lack kann zu Ver- teiligung an. Es half nicht: Bis April, so die der ungeduldigen Ferrari-Gemeinde sein wirbelungen führen, die sich günstig auf gütliche Einigung, darf der Abtrünnige für Credo („Wenn ich die Autos der anderen die Bodenhaftung des Gefährts auswirken. niemanden arbeiten; dann, so ist durchge- kopiere, kann ich höchstens gleich gut sickert, will Newey das seit 49 Rennen sieg- sein“) mißachtete und „eine Williams-Ko- Schon bei Tempo 170 lose McLaren-Team auf Kurs bringen. pie“ (motorsport aktuell) ablieferte, „Eine neue Herausforderung“ war auch wird von Kollegen als Kapitulation gewer- können Rennwagen theoretisch Brawns Motiv, Ferraris Angebot (1,5 Mil- tet. Dabei ist das Abkupfern eine der be- an der Decke fahren lionen Mark) anzunehmen. Der unauffäl- liebtesten Übungen im Renn-Geschäft. lige Brillenträger aus Manchester, der die Sobald ein Team mit einer Neuigkeit „Was wir hier machen“, sagt Routinier Gemütsruhe eines katholischen Landpfar- auftaucht, baut die Konkurrenz das Teil Barnard, „ist eigentlich Flugzeugbau.“ rers ausstrahlt, soll den auf 200 Kräfte auf- nach. „Nicht um es zu kopieren“, sagt Das aerodynamische Zusammenspiel geblähten Ingenieursstab der italienischen Aerodynamik-Experte Rory Byrne, der von Front- und Heckflügeln sowie Unter- Traditionsmarke neu organisieren. Brawn von Benetton zu Ferrari folgen boden ist längst so effizient, daß der Fahrt- Anders als der eigenbrötlerische Bar- wird, „sondern um es zu verstehen.“ Und wind die Autos mit einer Kraft von rund nard, der im fernen England residiert und weil es Formel-1-Fotografen gibt, die im zwei Tonnen auf den Asphalt preßt. Das mit dem Fußvolk in Maranello via ISDN- Auftrag eines Rennstalls die Wettbewer- Flugzeug-Prinzip wird quasi auf den Kopf Leitung kommuniziert, setzt Teamarbeiter ber ausspionieren, gehen in den Boxen gestellt: Ab einer Geschwindigkeit von Brawn auf „Transparenz und Offenheit“. immer dann die Rollgitter besonders 170 km/h könnten die Rennwagen theore- Vor nicht allzu langer Zeit hatte sich Brawn schnell herunter, wenn der Vorsprung tisch an der Decke fahren. über südeuropäische Techniker noch ab- durch Technik wenigstens für ein paar Wo- Mit der zunehmenden Beachtung ist in schätzig geäußert: „Schinken kaufe ich in chen erhalten werden soll. letzter Zeit auch das Ego der stillen Brü- Parma, aber Rennwagen lasse ich in Eng- Noch wirkungsvoller ist es freilich, das ter gewachsen. So forderte Newey bei sei- land bauen.“ Doch die Vorbehalte hat er Know-how direkt einzukaufen. So ver- nem Vorgesetzten Patrick Head mehr Ei- nonchalant zurückgestellt: „Ohne Ferrari pflichtete der Stewart-Rennstall mit dem genverantwortung ein. Doch Head, selbst ist eine Motorsport-Karriere eben nicht ehemaligen Williams-Angestellten Egbahl eine Koryphäe im Konstrukteurshand- komplett.“ ™ BOB Beweisstücke im Müllcontainer Ein Minister aus Thüringen wollte sich im Glanze von Medaillen sonnen. Jetzt rächt sich, daß er Stasi-Zuträger und Dopingsünder gedeckt hat.

ndreas Trautvetter, 41, ist ein Mann, dessen Tatendrang keine Grenzen Aerlaubt. „Ich habe großes Ver- ständnis für den Rechtsstaat“, lautet eine pragmatische Maxime des Finanzministers von Thüringen, „aber manchmal wünsche ich ihn mir weit weg.“ Mit dieser Geisteshaltung ließ sich Traut-

vetter, der Hoffnungen auf die Nachfolge 4 E. THONFELD / CAMERA von Ministerpräsident Bernhard Vogel Bob-Bundestrainer Bethge: Von seiner Vergangenheit als Dopingfachmann eingeholt? hegt, auch zum Präsidenten des Thüringer Schlitten- und Bobsportverbandes wählen. – wer die Anabolika („Medikament Turin- früher Rodel-Technikchef im ASK Oberhof Thüringen gilt als erfolgreichste Winter- abol“) nimmt, wie die Hormone wirken, und heute Vizepräsident des Deutschen sportregion der Welt – was lag da näher, als wo er die Tabletten aufbewahrt: „In der Bob- und Schlittensportverbandes, als GMS den Glanz der Siege und Medaillen auch Schublade in einem Kästchen.“ „Heinz Martin“ laut Stasi-Akten geholfen, auf die eigene Person umzuleiten. Lange hatte die Funktionärshaltung des Sportler von Westkontakten abzuhalten. Nun aber bringt Trautvetters Forschheit Augenverschließens Leuten wie Enders Der Rodel-Olympiasieger Klaus Bonsack, im Nebenamt eine ganze Sportart in Ver- Ruhe beschert. Mit der aufgetauchten später Bundestrainer in Österreich und Do- ruf. Der ehemalige Reserve-Oberleutnant „Emil Müller“-Akte gerät der deutsche pingbeauftragter des internationalen Ver- der Nationalen Volksarmee deckt wissent- Bobsport nun jedoch erneut in die Bre- bandes, war als IMB „Julius“ registriert. lich seit Monaten einen Trainer, der sich douille: Denn jetzt scheint auch Raimund Und der ehemalige DDR-Bobverbandsarzt zur DDR-Zeit als eifriger Stasi-Zuträ- Bethge, der amtierende deutsche Bundes- Wolfgang Schneider, der als „Fritz Krüger“ ger und hochkarätiger Dopingfachmann trainer, von seiner Dopingvergangenheit geführt wurde, war angehalten, notfalls Reputation erworben hatte. eingeholt zu werden. Enders berichtete, Medikamente einzusetzen, um Sportler an Auch andere einschlägig belastete Trai- der Republikflucht zu hindern. ner hatten unter Trautvetters Führung bis- Nun rächt sich, daß Thüringen auf die al- lang nichts zu befürchten. Er setzt auf „die ten Sportkader setzte. Trautvetters voll- Leistung“ altgedienter Sportprofis. Statt mundige Erklärung im Deutschlandfunk, solche Experten zu beschäftigen, argu- daß „die Dopingpraktiken“ ausgemerzt mentiert der Christdemokrat, könne er seien, wird sich wohl kaum halten lassen. doch „keinen Langzeitarbeitslosen einstel- Zufällig entdeckte ein Hausmeister Ende len, der vielleicht früher gern gerodelt ist“. letzten Jahres in einem schwelenden Müll- Um seine umstrittenen Medaillengaran- container beim Oberhofer Sportzentrum ten zu behalten, hat sich Trautvetter eine ein kleines Medikamentenlager. Am 26. sehr verengte Sichtweise zurechtgelegt. November wurden 107 verschiedene Arz- Für die Überprüfung der Vergangenheit, neimittel dem Thüringer Ministerium für sagt er verquer, „will ich nicht den Lücken- Justiz übergeben – darunter laut Überga- büßer machen“ – und seitdem er präsidie- beprotokoll die hormonellen Tiermastmit- re, sei ohnehin alles gut und sauber. tel Clostebol sowie Clenbuterol, mit dem

Mit dieser Einstellung nahm sich Traut- / OSTWESTBILD SOMMARIVA F. sich einst auch Katrin Krabbe dopte. Im vetter die Stasi-Akte von Erich Enders vor. Thüringischer Finanzminister Trautvetter Müll fand sich zudem das Trainingsbuch Was der ehemalige Auswahltrainer der „Ich will nicht den Lückenbüßer machen“ eines Enders-Schützlings. Die Staatsan- DDR vom Armeesportklub Oberhof, der waltschaft Meiningen untersucht den Fall heute für den Thüringer Bobnachwuchs daß Bethge ebenso zu den Anwendern (Aktenzeichen: 7AR 1194-96). zuständig ist, als IM berichtet hatte, habe „derartiger Mittel“ zähle wie DDR-Ver- So kommen Oberhof und Umgebung er „gelesen“. Verwerfliches habe er nicht bandstrainer Horst Hörnlein, der heute die nicht zur Ruhe. Mehrere Verfahren gegen entdecken können. britischen Bobfahrer coacht, und dessen Dopingsünder sind bei Thüringer und Ber- Mit dieser verharmlosenden Einschät- Musterschüler Mark Tout im vergangenen liner Staatsanwaltschaften anhängig. Ein zung wird der Minister allein bleiben. Die Jahr mit Anabolikaspuren im Körper er- besonders tragischer Fall ereignete sich vor über 700 Seiten der IM-Akte „Emil Mül- wischt wurde. neun Jahren. Damals starb der Junioren- ler“ beschreiben, wie Enders aktiv daran Wegen der bisher sehr nachlässig durch- Vizeweltmeister Jens Ränger, 22, auf der beteiligt war, politisch unliebsam gewor- geführten Überprüfung der Thüringer Fahrt nach Winterberg an Herzversagen. dene Sportler aus dem Leistungssport zu Sportwelt werden sieben Jahre nach dem Nun wird wegen fahrlässiger Tötung ge- eliminieren. Detailliert berichtet Enders Mauerfall immer neue Stasi-Mitarbeiter gen verantwortliche Ärzte, Trainer und zudem über die Dopingpraxis in der DDR enttarnt. So hat Karl-Heinz Anschütz, Funktionäre ermittelt. ™

der spiegel 5/1997 193 THONFELD / CAMERA 4 THONFELD / CAMERA Sechstagerennen im Berliner Velodrom: West-High-Tech, vom Osten mit Leben erfüllt

einer deutschen Bahn wird für den ehe- etwa 15 Sekunden –, labt sich der Sports- RAD maligen DDR-Champion zum ostalgischen freund an einem der 70 Buffets. Bulette Heimspiel. „Er ist ein Glücksfall für uns“, mit Schampus oder Garnele mit Bier, das jubelt Cheforganisator Heinz Seesing und darf man hier.Alle gucken, ob einer guckt: Krücke selig blickt auf die prächtig gefüllten Ränge. aufgebrezelte Bräute, die Schminke zenti- Sie lieben ihn alle, denn er hat es ge- meterdick, das Antlitz stolz erhoben. Mit- Das Sechstagerennen ist packt. Als Kapitän der Telekom-Mann- telalte Mannsbilder, denen das Bierglas an an seinen Geburtsort nach Berlin schaft verhalf er dem gesamtdeutschen die Hand gewachsen scheint. Wendege- Radsport bei der Tour de France und an- winner im fliederfarbenen Anzug, jener zurückgekehrt. Im Prenzlauer deren Klassikern wieder zu Weltruhm. Den Farbe, die im Osten Dynamik und Erfolg Berg grassiert das Radlerfieber. Westen einholen, überholen – Olaf Ludwig symbolisieren soll. hat es vorgemacht. Kaum ist das erste Bier gezapft, ver- unkt neun Uhr abends schießt Otto Ziege, selbst in den fünfziger Jah- schieben Kellner ihre unter dem Tresen Gunther Emmerlich, der graubärtige ren eine Sechstage-Legende, weiß, wem gebunkerten Freikarten – Bückware der POst-Showstar Marke guter Onkel, die Renaissance des Hallenspektakels zu Nach-Wende. Zu DDR-Zeiten war der den Rennzirkus mit einer Platzpatrone an. verdanken ist: „Der Osten“, sagt der sport- Ober mächtiger, denn bei den Radren- Noch verbreitet die futuristische Halle im liche Leiter der Six-Days, „hat den Rad- nen auf der Berliner Winterbahn herrsch- Prenzlauer Berg das Odeur von Metall und sport wieder großgemacht.“ Und dann te Alkoholverbot, jedenfalls offiziell. Beton, aber im Nu fängt sie an zu schwit- zählt er die Pedaleure auf, die zwischen Doch wer das Codewort kannte, bekam zen. Fast zärtlich legen sich Bierdunst und Rostock und Zwickau das Radrennfahren Hochprozentiges in seine Club Cola ge- Zigarrenqualm über die 10000 Zuschauer, erlernt haben: Jan Ullrich, Uwe Ampler, mixt. und sofort haben die Ost-Berliner Urein- Jens Heppner. Heute kostet die Molle vierfünfzig, der wohner im Vorzeigemodell modernster Während die Meute Kilometer frißt – Korn zwei Mark, die Preise werden tole- West-Technik ihr Revier markiert. eine Runde mißt 250 Meter und dauert riert – schließlich werden die Getränke mit Die freundlichen Eröffnungsworte des hochkarätiger Sportbeilage ser- Berliner Bürgermeisters Eberhard Diep- viert. Auf dem Holzoval aus si- gen werden begeistert niedergepfiffen. Der birischer Fichte strampeln sie- Christdemokrat ist nicht von hier, und das ben Olympiasieger, insgesamt soll er auch merken. stehen 36 Weltmeistertitel in Mitten in ein Plattenbauviertel haben den Bilanzen der Radler. die Architekten und Bauherren das Velo- Am Eingang verscherbelt ein drom gepflanzt, in dem noch bis Dienstag Trödler Radfahrerträume aus al- erstmals nach sieben Jahren Pause das Ber- ten Zeiten: DDR-Urkunden liner Sechstagerennen ausgetragen wird. vom Preisrennen der Tageblät- Auf den Trümmern der alten Werner-See- ter junge welt oder morgen. lenbinder-Halle – einer architektonischen Pretiosen, wie sie der Mann da Errungenschaft des Sozialismus – ist das verkauft, liegen bei Olaf Lud- ganz neue Deutschland geboren: West- wig zu Hause in der Vitrine. High-Tech, vom Osten mit Leben erfüllt. 1980 gewann er den Preis des Denn an die Spitze des 18 Paare starken neuen deutschland über 1001 Korsos hat sich subito der Liebling vom Runden. Prenzlauer Berg gesetzt: Olaf Ludwig, 36, aus Gera. Kaum fällt sein Name, braust ZB / DPA * Die Schauspieler Hans Söhnker und Applaus. Sein letztes Sechstagerennen auf Prominenz bei den Six-Days (1955)*: Immer dabei Elma Karlowa im Berliner Sportpalast.

194 der spiegel 5/1997 Sport Kaum ein Berliner Blatt hat so sehr zur Eröffnung getrommelt wie die PDS-nahe Zeitung. „Ob Sachsenring, ob Winter- bahn – die Mutti guckt sich Radsport an“, dichtete eine Leserin aus Hoyers- werda. Ein Sprint, und Lokalmatador Ludwig liegt schon wieder vorn. Die erste Jagd hat er locker gewonnen. Nacht für Nacht strampelt er von neun Uhr abends bis drei Uhr morgens, 1200 Kilometer kommen in sechs Tagen schnell zusammen. Das ist so- viel wie von Berlin nach Rom. Aber kein Brandenburger Tor, keine Wälder, Seen und Berge, kein Petersdom auf der Strecke, nur Steilkurve mit 44 Grad, kurze Gerade, Steilkurve – wer mit weniger als 24 Stundenkilometern in die Kurve geht, stürzt ab. Berlin ist der Geburtsort der deutschen Sechstagerennen; das erste wurde 1909 an- geschossen. Die Radsportfreunde lebten schon zu Kaisers Zeiten vor allem im pro- letarischen Osten Berlins. Als der Berufs- radler Richard Huschke 1924 seinen ewig- währenden Weltrekord über 4544,2 Kilo- meter aufstellte, avancierte das Rad gar zur Waffe im Klassenkampf. Massenhaft sattelten Fußgänger auf den Drahtesel um, das Proletariat wurde mobil und in Arbeitersportvereinen mobilisiert. Scharenweise radelten die Genossen an ei- nem Tag von Berlin zur Ostsee und zurück. Wer Mut beweisen wollte, schlug im Vor- beifahren den Schupos mit der flachen Hand auf den Helm und trat kräftig in die Pedale. Den Nazis war die mit guter Laune ge- paarte Radleranarchie suspekt, sie verbo- ten das Sechstagerennen schon 1934 wegen Unsportlichkeit. Goebbels brauchte den Sportpalast für seine Zwecke. „Wollt ihr den totalen Krieg?“ schrie er im Februar 1943 ausgewählten Volksgenossen ent- gegen. Nach dem Krieg zählten die Bahnren- nen zu den gesellschaftlichen Top-Ereig- nissen. Die Granden des deutschen Show- gewerbes, von Hans Söhnker bis Curd Jürgens, posierten mit den Athleten. Und immer dabei: Reinhold Habisch, der geh- behinderte Radsportfan, den sie alle nur Krücke nannten und der auf seinen Fingern jene vier schneidigen Pfiffe pro- duzierte, die den Sportpalast-Walzer zum Gassenhauer machten. Bei der Premiere im Prenzlauer Berg aber sind die Besucher der Zukunft zuge- wandt, wenn auch nach Herkunft und Klasse getrennt: die Ostler auf den Rängen, die West-VIPs auf den Logenplätzen unten im Parkett. Für den deutsch-deutschen Radausflug ins Velodrom sind sie gleichermaßen be- reit. „So weit in Ost-Berlin war ich noch nie“, gibt ein Zehlendorfer zu und nestelt an seiner italienischen Krawatte. Und was der Gast aus dem West-Berliner Nobelbe- zirk dann sagt, klingt für manche Ost-Ber- liner wie ein Drohung: „Nächstes Jahr komme ich bestimmt wieder.“ ™

der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0 · Fax (040) 3007-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion), -2898 (Vertrieb), -2829 (Anzeigen), -2966 (Leserdienst) · http://www.spiegel.de E-Mail: [email protected] · CompuServe: Go SPIEGEL · T-Online: *SPIEGEL#

HERAUSGEBER Rudolf Augstein BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, CHEFREDAKTEUR Stefan Aust Tel. (0038111) 669987, Fax 660160 BRÜSSEL Dirk Koch; Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Char- STELLV. CHEFREDAKTEURE Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild lemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 DEUTSCHE POLITIK Dr. Martin Doerry, Dr. Gerhard Spörl; Karen JERUSALEM Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, Andresen, Bernd Kühnl, Michael Schmidt-Klingenberg, Hans-Ulrich Jerusalem 94103, Tel. (009722) 6245755, Fax 6240570 Stoldt JOHANNESBURG Almut Hielscher, Birgit Schwarz, Royal St. Mary’s, DEUTSCHLAND Heiner Schimmöller, Ulrich Schwarz; Gunther 4th Floor, 85 Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 3331864, Latsch; Bert Gamerschlag, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Fax 3364057 Susanne Koelbl, Georg Mascolo, Joachim Mohr, Dietmar Pieper, KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Sylvia Schreiber, Dieter G. Uentzelmann, Hans-Jörg Vehlewald, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Peter Wensierski LONDON Bernd Dörler, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, WIRTSCHAFT Armin Mahler, Gabor Steingart; Dr. Hermann Bott, Tel. (0044171) 3798550, Fax 3798599 Frank Dohmen, Dietmar Hawranek, Peter Heinlein, Hans-Jürgen MOSKAU Reinhard Krumm, Jörg R. Mettke, Krutizkij Wal 3, Korp. Jakobs, Klaus-Peter Kerbusk, Detlef Pypke, Ulrich Schäfer, 2, kw. 36, 109044 Moskau, Tel. (007095) 2740009/52, Fax 2740003 Michaela Schießl, Thomas Tuma NEU-DELHI Dr. Tiziano Terzani, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi AUSLAND Dr. Erich Follath, Dr. Romain Leick, Fritjof Meyer; 110003, Tel. (009111) 4697273, Fax 4602775 Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, NEW YORK Dr. Jürgen Neffe, 516 Fifth Avenue, Penthouse, Hans Hoyng, Wulf Küster, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Dr. Stefan Simons, Helene Zuber PARIS Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Johann Grolle, Jürgen Petermann; Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 Marco Evers, Dr. Stefan Klein, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer PEKING Jürgen Kremb, Qijiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) Paul, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Olaf Stampf, Christian 65 32 35 41, Fax 65 32 54 53 Wüst PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (00422) 24220138, Fax 24220138 KULTUR UND GESELLSCHAFT Hans-Dieter Degler, Wolfgang RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, Höbel, Dr. Mathias Schreiber; Anke Dürr, Nikolaus von Festenberg, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 Angela Gatterburg, Doja Hacker, Dr.Volker Hage, Dr. Jürgen Hoh- ROM Valeska von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 6797522, Fax 6797768 meyer, Petra Kleinau, Dr. Joachim Kronsbein, Klaus Madzia, STOCKHOLM Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11223 Stockholm, Dr. Annette Meyhöfer, Reinhard Mohr, Bettina Musall, Anuschka Tel. (00468) 6508241, Fax 6529997 Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Klaus Umbach, TOKIO Dr. Wieland Wagner, Daimachi 4-44-8, Hachioji-shi, Tokio Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff 193, Tel. (0081426) 66-4994, Fax 66-8909 SPORT Alfred Weinzierl; Klaus Brinkbäumer, Matthias Geyer, Udo WARSCHAU Dr. Martin Pollack, Krzywickiego 4/1, 02-078 Ludwig, Helmut Schümann Warschau, Tel. (004822) 251045, Fax 258474 SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips, WASHINGTON Mathias Müller von Blumencron, Clemens Höges, Mareike Spiess-Hohnholz Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washing- AUTOREN/KOLUMNISTEN/REPORTER Ariane Barth, Peter Bölke, ton, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, Klaus Franke, Gisela WIEN Dr. Hans-Peter Martin, Herrengasse 8 Top 100, 1010 Wien, Friedrichsen, Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Tel. (00431) 5323232, Fax 5323232-10 Thomas Hüetlin, Urs Jenny, Christiane Kohl, Jürgen Leinemann, Hans Leyendecker, Matthias Matussek, Gerhard Mauz,Walter Mayr, SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Hans-Joachim Noack, Dr. Fritz Rumler, Marie-Luise Scherer, Cordt Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Schnibben, Hans Joachim Schöps, Bruno Schrep, Hajo Schumacher, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Barbara Supp, Carlos Widmann, Erich Wiedemann Dr. Karen Ortiz, Gero Richter-Rethwisch, Ingrid Seelig, Hans- CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Kirsten Wiedner, Holger Wolters BILDREDAKTION Michael Rabanus; Werner Bartels, Manuela DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner; Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Cramer, Josef Csallos, Christiane Gehner, Rüdiger Heinrich, Peter Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Hendricks, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Monika Rick, Heidi Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Russbült, Karin Weinberg Dr. André Geicke, Silke Geister, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, GRAFIK Rainer Sennewald; Martin Brinker, Renata Biendarra, Lud- Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Christa von Holtzapfel, Joachim ger Bollen, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur Immisch, Hauke Janssen, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela LAYOUT Uwe C. Beyer, Volker Fensky, Detlev Scheerbarth, Man- Köllisch, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Hannes Lamp, Marie-Odile fred Schniedenharn; Christel Basilon-Pooch, Sabine Bodenhagen, Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Katrin Bollmann, Regine Braun,Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Ludwig-Sidow, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, PRODUKTION Chris Riewerts; Wolfgang Küster, Frank Schumann Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Oliver Peschke, Monika Zucht Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Andrea REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Schumann-Eckert, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staud- BERLIN Jan Fleischhauer, Michael Sontheimer; Wolfgang Bayer, hammer,Anja Stehmann, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr.Wilhelm Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Uwe Klußmann, Claus Christian Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Malzahn, Harald Schumann, Friedrichstr. 79, 10117 Berlin, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt BONN Dr. Olaf Ihlau; Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Ursula Kos- ser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Alexander Szan- INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Karl-H. Schaper (Leserdienst), dar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) Peter Zobel 26703-0, Fax 215110 SPIEGEL ONLINE Ulrich Booms; Lorenz Lorenz-Meyer, Kai Brauer DRESDEN Stefan Berg, Christian Habbe, Andreas Wassermann, NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times/ Washington Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 5670271, Post, New York Times, Reuters, sid, Time Fax 5670275 Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt DÜSSELDORF Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Karl-Heinz Büsche- auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mail- mann, Richard Rickelmann, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, boxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. Nachdruckge- Tel. (0211) 8 66 79-01, Fax 8 66 79-11 nehmigungen Deutschland, Österreich, Schweiz: Tel. (040) 3007- ERFURT Felix Kurz, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, Tel. (0361) 2972, Fax 30072971; übriges Ausland: New York Times Syndication 3 74 70-0, Fax 3 74 70-20 Sales, Paris: Tel. (00331) 47421711, Fax 47428044 FRANKFURT A.M. Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß- SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG bongardt, Rüdiger Jungbluth, Christoph Pauly, Wilfried Voigt, Abonnenten-Service: Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 9712680, Tel. 0130-863006, Fax (040) 3007-2898, Fax 97126820 E-Mail: 100432.2737 @ compuserve.com HANNOVER Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, CH-6002 Tel. (0511) 326939, Fax 328592 Luzern, Tel.: (041) 3173399, Fax: (041) 3173389 KARLSRUHE Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- Verantwortlich für Vertrieb: Mathias Bonn ruhe, Tel. (0721) 22514, Fax 27612 Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM 130,00, MÜNCHEN Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM 182,00. Europa: zwölf Monate DM 369,20; außerhalb Europas: zwölf Mo- Reimann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 418004-0, nate DM 520,00; Schweiz: zwölf Monate sfr 260,00. Fax 41800425 SCHWERIN Ralf Klassen, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 51 vom 1. Januar 1997 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg BANGKOK Andreas Lorenz, 49 Soi Inthamara 13, Suthisarn Road, Bangkok 10400, Tel. (00662) 2711712, Fax 6169669 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck BASEL Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten Fax 2830475 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel

DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631.

der spiegel 5/1997 197 Register

Gestorben Hand, Zigarre in der andern, rief ihr von der Reling nach: „Bis bald, in New York!“ Hans Egon Holthusen, 83. „So liberal wie Sie sah ihn nie wieder, er versank, vor 85 möglich und so konservativ wie notwen- Jahren, mit der „Titanic“. Die Reise, die ins dig“ lautete seine Devise. Der Literatur- Wasser fiel, wurde für Edith Haisman zum kritiker und Essayist, der zu Beginn seiner Lebensalptraum – und zum späten Le- Laufbahn auch Gedichte und einen Roman bensglanz. Als Älteste der (noch) sieben („Das Schiff“, 1956) publiziert hatte, ent- wickelte sich zu einem beharrlichen Quer- kopf, der die linken Intellektuellen der Bundesrepublik immer wieder genüßlich vor den Kopf stieß – gerade in den Jahren nach 1968, als er (bis 1981) an einer ameri- kanischen Universität deutsche Literatur lehrte. „Der unbehauste Mensch“ heißt der Titel seiner bekanntesten Essaysammlung, die 1951 erschienen war und sein größ- ter Erfolg bleiben

sollte. Der Pastoren- DPA sohn, der einst aus Trotz gegen den Va- „Titanic“-Überlebenden erfuhr sie Ehrun- ter einer „unifor- gen bei den „Titanic“-Societies in aller mierten NS-Forma- Welt, krönte ihre „Conventions“ und lan- tion“ beigetreten dete sogar in Thomas Gottschalks „Late war, hatte den gei- Night Show“. Die Tochter eines britischen stigen Fahrplan für Hoteliers aus Südafrika, der in der Neuen

DPA die Nachkriegszeit Welt sein Glück machen wollte, kehrte von Goethe ent- nach dem Desaster in ihre Heimat zurück, lehnt: „Jedes ausgesprochene Wort erregt bekam zehn Kinder, und im Alter zog es den Gegensinn.“ Der Konservative be- sie nach England.Am Montag vergangener harrte auf der „sinnstiftenden Magie des Woche starb Edith Haisman in South- dichterischen Wortes“ auch in Zeiten, wo ampton, dem Start-Hafen der „Titanic“. derlei sonderbar zu klingen schien. Doch hat er sich für Brecht, Grass und Hochhuth Clyde Tombaugh, 90. Ohne jede astrono- ebenso eingesetzt wie für T. S. Eliot, Benn mische Ausbildung entdeckte der Farmers- und Rilke. Hans Egon Holthusen starb ver- sohn aus Kansas am 18. Februar 1930 den gangenen Dienstag in München. sonnenfernsten Planeten Pluto. Schon als Junge hatte er auf dem elterlichen Bauern- Rolf Sammet, 76. Mehr als vier Jahr- hof durch ein selbstgebautes Spiegel- zehnte lang diente der Chemiker seinem teleskop nächtens die Sterne beobachtet. Konzern, als Vorstandsvorsitzender führte Mit 22 Jahren bewarb sich der Hobby- er die Hoechst AG astronom beim Observatorium in Flagstaff in knapp 16 Jahren (Arizona). Die Profis suchten damals gera- in die Spitzengrup- de nach jenem geheimnisumwitterten „Pla- pe der weltweiten neten X“, der laut ihren Berechnungen am Multis. 1985 wech- Rande des Sonnensystems existierte. Kur- selte er in den Auf- zerhand heuerten sie den jungen Amateur sichtsrat, und dort als billige Arbeitskraft für ihre Planeten- prägte er die Kultur Fahndung an. In einer Fleißarbeit, die und das Image des „mich fast umbrachte“, mußte er auf Unternehmens wei- belichteten Foto- ter: Schwere Stör- platten insgesamt fälle wurden von 15 Millionen Licht-

DPA Hoechst stets ver- flecken überprüfen tuscht und vernied- – doch am Ende licht. Gesellschaftliche Veränderungen wa- hatte er einen Pla- ren dem Sohn eines Hofrats ein Greuel. neten aufgespürt. Oft klagte er über eine verdorbene Jugend, Die Suche nach un- die der Technik mißtraue und Eliten bekannten Him- mißachte. Erst als sich der Aufsichtsrats- melskörpern blieb vorsitzende 1993 aus dem Kontrollgremi- fortan Tombaughs

um zurückzog, war der Weg frei für Ver- Spezialität; im Lau- AP änderungen: Seither erlebt Hoechst eine fe seines Lebens wahre Kulturrevolution. Rolf Sammet starb hat er Tausende von Galaxien, Sternen und am 19. Januar an Krebs. Asteroiden vermessen und katalogisiert. „Nur wenige Menschen haben so viel vom Edith Haisman, 100. Ragtime spielte die Universum gesehen wie ich“, sagte er kurz Bordkapelle, als sie ins Rettungsboot stieg, vor seinem Tod. Clyde Tombaugh starb am und ihr Vater, Brandy-Glas in der einen 17. Januar in seinem Haus in New Mexico.

198 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Personalien

tionsführer Zoran Djindjiƒ, erin- nerte die Ostdeutsche daran, daß auch das Ende der DDR-Diktatur mit einer Wahlfälschung begonnen habe. Schließlich forderte Birthler zum Durchhalten auf: „Demon- strationen kann man blockieren, die Menschenrechte nicht.“ Mit großem Beifall, Umarmungen und Blumen dankte die Belgrader Pro- testbewegung für den Beistand aus Deutschland.

Hannelore Kohl, 63, Ehefrau des Bundeskanzlers, genießt Privilegi- en wie ein echter Mandatsträger. Vor Soldaten der Bundeswehr hatte die Kanzlergattin eine Be- grüßungsrede gehalten. Die An- sprache fand anschließend als Presseerklärung über das Presse- und Informationsamt der Bundes- regierung Verbreitung. Auf Nach- frage der SPD-Abgeordneten Mar- liese Dobberthien, „auf Grundlage welcher Regelung“ dies geschehen sei und ob künftig „Ansprachen

ACTION PRESS ACTION von Familienangehörigen von Re- Mutter Madonna gierungsmitgliedern über offiziel- le Presseorgane in Umlauf“ ge- Madonna, 38, amerikanischer Pop- und behütet. Wenn also Madonna in der Öf- bracht werden, erwiderte Regierungsspre- Filmstar („Evita“), ließ dieser Tage un- fentlichkeit ihr kostbares Baby knuddelt, cher Peter Hausmann: „Frau Kohl“ habe gläubig guckende Fans erschrocken die so der national enquirer, „sollte man den Termin „in Erfüllung von Verpflich- Luft anhalten. Auf dem Weg zur Gardero- nicht allzuviel Tränen der Rührung ver- tungen auch im Namen ihres Mannes“ be warf Madonna ihr Baby einem Body- gießen“. wahrgenommen. Sie handle „im dienstli- guard zu – quer durch den Raum. Die chen Interesse“ und leiste „einen wesent- „Leute“, so das US-Klatschblatt national Marianne Birthler, 49, grüne Ex-Ministe- lichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben enquirer, „fürchteten, die junge Mutter rin in Brandenburg, erntete Jubel in Bel- des Bundeskanzlers“. Es bestehe „selbst- habe den Verstand verloren“. Doch das grad. Zusammen mit ihren Bündnis-90- verständlich die Absicht, in ähnlichen Baby war eine Puppe. Den Star ängstigt Freunden Wolfgang Ullmann, Gerd Poppe Fällen auch in Zukunft so zu verfahren“. der Gedanke, beim Zusammentreffen mit und Werner Schulz war die Bürgerrechtle- Die Antwort fand die SPD-Politikerin „rot- begeisterten Fans könnte Tochter Lourdes, rin vergangenen Donnerstag in die ser- zig“. Sie verlangt „Aufklärung“ darüber, drei Monate, körperlichen Schaden neh- bische Hauptstadt gereist, um Solidarität mit „welchem Mandat“ Ehefrauen und men. Deshalb beschaffte sie sich eine Pup- mit den Dauerdemonstranten gegen das Ehemänner von Regierungsmitgliedern pe, die sie in Tüchern gehüllt bei öffentli- Milo∆eviƒ-Regime zu zeigen. Unerwartet „förmliche Vertretungsbefugnis“ erhalten chen Auftritten zeigt, während eine Baby- baten die Organisatoren Birthler um eine hätten, und aus welchem Etat die Veröf- sitterin die kleine Lourdes im geheimen kleine Ansprache. Übersetzt von Opposi- fentlichungen bezahlt würden.

Prinzessin Stephanie von Monaco, 31, Nesthäkchen der monegassischen Für- stenfamilie, hat sich ihre rebellische Nei- gung zur Trashkultur bewahrt. Die Für- stentochter, die ihren Vater vor Jahren mit öffentlichen Gesangsauftritten in super- kurzen Minis verärgerte, ihren Bodyguard gegen den Willen des Herrschers heirate- te, schließlich sich von dem Ehemann trennte, nachdem der nackt mit einer bel- gischen Stripperin erwischt und fotogra- fiert worden war, zeigte sich bei den Jubelfeiern zum 700. Geburtstag der Für- stenfamilie mit einem neuen Tattoo. Dis- kret am rechten Handgelenk trägt sie nach Biker-Art ein blautätowiertes Armband mit einer Blume. Früher demonstrierte sie ihre Distanz zur höfischen Etikette noch

FOTOS: R. MEIGNEUX / IMAPRESS FOTOS: diskreter – mit einem Tattoo am linken Prinzessin Stephanie Fußknöchel. Stephanie-Tattoo

200 der spiegel 5/1997 John Major, 53, britischer erklärte, die Zusammen- Premierminister, entzwei- stellung des Pressedien- te die Spitzengarnitur der stes sei eine „interne An- Konservativen über eine gelegenheit“ und ginge Schlüsselfrage: Wann soll die Journalisten nichts an. der Regierungschef in der Er setzte noch eins drauf: anstehenden Wahlschlacht Seit vergangenem Don- von einer Seifenkiste her- nerstag wird die interna- ab Reden an das Volk hal- tionale Presseschau über ten – schon jetzt oder erst die EU-Politik nicht mehr wenn der Wahlkampf an die Brüsseler Korre- nach der Auflösung des spondenten verteilt. Parlaments offiziell eröff- net ist? Major hat zu der Bob Dole, 73, unter- soapbox seit dem Wahl- legener amerikanischer kampf 1992, als er die Präsidentschaftskandidat schlichte Kiste erstmals 1996, demonstriert ge- bestieg, eine an Aberglau- schäftstüchtig, daß es für ben grenzende Beziehung. ihn ein Leben nach der Seit nunmehr fünf Jahren Politik gibt. Vergangenen

lagert Majors Talisman im DPA Sonntag war der Repu- Dunkeln des Kellers von Major blikaner in einem Fern- Downing Street 10. Zu kei- sehspot für das Kredit- nem noch so wichtigen Anlaß durfte das kartenunternehmen Visa International zu Ding hervorgeholt werden. Das Ansinnen besichtigen. Gedreht wurde der Werbefilm gar, die Kiste für wohltätige Zwecke zu in der Stadt Pittsburg (Texas), die seltsa- versteigern, wies Major ebenso entrüstet merweise, so will es der Spot, Doles Hei- zurück wie die Bitte des sunday tele- matstadt Russell (Kansas) darstellen soll. graph, das praktische Podest fotografie- Dole, der bereits kurz nach der verlorenen ren zu dürfen. Jetzt elektrisierte er seine Berater mit der Ankündigung, er werde wieder die Seifenkiste besteigen und „von Angesicht zu Angesicht zu so vielen Men- schen wie möglich sprechen“. Auf die Idee mit der Kiste war Major gekommen, als er sich im letzten Wahlkampf in einer grölen- den Menge kein Gehör hatte verschaffen können (spiegel 15/1992).

Martin Bangemann, 62, EU-Kommissar, zeigte Souveränität im Umgang mit Kritik

an seiner Person. Auf den spiegel-Artikel AP „Martin Bangemanns Irrungen und Wir- Dole im Visa-Werbespot rungen“ (4/1997) über seine unpreußischen Tugenden angesprochen, erklärte der Wahl für die Fluggesellschaft Air France ins schwergewichtige Liberale locker: „Lieber Werbegeschäft einstieg, hatte als bekann- ein genialer Faulpelz als ein fleißiger Idi- ter Witzbold auch diesmal einen Scherz ot.“ Ernster nahm offensichtlich Kommis- parat. Er mache bei dem Spot mit, „weil er sionssprecher Klaus van der Pas die Kritik meine Heimatstadt zeigt und es eine net- an der häufigen Abwesenheit und den te Unterbrechung meiner Arbeit an meiner honorierten Auftritten des Spitzenfunk- Rede zu meinem Amtsantritt ist“. Die tionärs. Aus der täglichen Presseschau der Rede, die sogenannte Inaugural address, Kommission wurde der anstößige spiegel- hielt Sieger Clinton vergangene Woche. Artikel entfernt. Eine Methode, die den Dole erhält für seine TV-Bemühungen Korrespondenten der financial times rund 500000 Dollar. an „sowjetische Pressepolitik“ erinnerte. Doch Kommissionssprecher van der Pas Carl-Dieter Spranger, 57, Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, über- raschte seinen Gastgeber mit einem Geld- geschenk. Nach einer Besichtigungstour in der thailändischen Provinz Buri-Ram be- dankte sich der CSU-Politiker bei Vize- Gouverneur Somchai Polwieng vergange- ne Woche mit einer silbernen Münze, einer Sonderprägung, aus der ehemaligen DDR. „Da ist das Brandenburger Tor drauf. Das ist jetzt frei“, erklärte Spranger. Die Kehr- seite der Medaille erläuterte er nicht. Sie

J. H. DARCHINGER J. zeigt das Staatssymbol der DDR: Hammer Bangemann und Zirkel.

der spiegel 5/1997 201 Fernsehen

Montag, 27. Januar 20.15 – 22.00 UHR RTL 14.00 – 15.00 UHR PRO SIEBEN Columbo: Wenn der Schein trügt Hokuspokus fidibus: Der große Magier Arabella Kiesbauer Santini (Jack Cassidy) erschießt seinen Er- „Sex statt Gerede“. Talk sächsisch. presser (Robert Loggia) und bietet all sein illusionistisches Können auf, um sich ein 14.00 – 15.00 UHR RTL perfektes Alibi zu verschaffen. Doch, Ver- zeihung Sir, da gibt es einen Knittertrench Bärbel Schäfer (Peter Falk), der da noch eine Frage hat. „Ich gerate immer an Idioten“. Ob sich Hokuspokus Knastibus.

wirklich nur Gegensätze anziehen? KINORARCHIV ENGELMEIER 20.45 – 22.05 UHR ARTE Szene aus „Tatis Schützenfest“ 20.00 – 22.00 UHR SAT 1 Tatis Schützenfest Kinoklamotte mit einem staksigen, ewig Der Bergdoktor Jacques Tatis Geschichte vom Postboten bedeutungsschwer blickenden Helden, der Eine gnädige Lawine befördert Dr. Tho- François (Tati), der seine Zustellmethoden an Charles de Gaulle erinnert. mas Burgner (Gerhart Lippert) aus der Se- nach amerikanischem Wochenschau-Vor- rie: gut gedoktert, Berg. Doch, wehe: Sein bild modernisieren will. Sie entstand 1947 22.45 – 0.45 UHR MDR Nachfolger Dr. Justus Hallstein (Harald als Farbfilm, kam aber in der gleichzeitig Krassnitzer) übernimmt Burgners Praxis. gedrehten Schwarzweißversion in die Ki- Nackt unter Wölfen Die nächsten 13 Folgen sollen härter wer- nos, weil sich das bunte Material als tech- Während der letzten Wochen vor der Be- den. So wird in einer Episode die Freundin nisch unzulänglich erwies. Erst 1987 ge- freiung durch die Amerikaner versteckten des neuen Weißkittels vergewaltigt. Wenn lang die Rekonstruktion der farbigen Ori- KZ-Häftlinge ein jüdisches Kind vor dem der Berg kreißt, gebiert er eine Maus, ginalfassung, die heute zum erstenmal im Zugriff der SS. Der Defa-Film (1962/63, wenn Bergdoktoren das tun, kommt meist Fernsehen zu sehen ist. Ob bunt oder nicht Regie: Frank Beyer) beruht auf einem hi- ein Graus heraus. bunt, „Jour de fête“ bleibt eine herrliche storischen Ereignis.

Dienstag, 28. Januar 12.00 – 13.00 UHR SAT 1 Vera am Mittag „25 Dinge, die Frauen nicht verstehen“. Zum Beispiel, warum es Männern immer nur um das eine geht.

14.00 – 15.00 UHR RTL Bärbel Schäfer „Andere haben mehr als ich“. Das große Messen.

20.00 – 22.00 UHR SAT 1 Agentenfieber oder Wie betrügt man seine Frau … indem der Mann behauptet, die hohen

Hotelrechnungen hätten nichts mit einer KÖVESDI Geliebten, sondern mit einer Tätigkeit als „Abwärts“-Darsteller Soutendijk, Kieling, George, Jaenicke Geheimagent zu tun. In dieser TV-Komö- die (Buch: Karl Heinz Willschrei, Hart- traktive Blonde (Renée Soutendijk). Kei- 21.40 – 0.50 UHR ARTE mann Schmige, Regie: Bernhard Stephan) ne Kritik, die dem Film Spannung abge- ist Jürgen Heinrich („Wolffs Revier“) in sprochen hätte. Themenabend: Männerlieben einer komischen Rolle zu sehen. Den Auftakt zum Arte-Abend über Ho- 20.15 – 22.35 UHR KABEL 1 mosexualität und Literatur bildet ein Film, 20.15 – 22.00 UHR RTL 2 der den Spuren schwuler Schriftsteller in Unternehmen Capricorn Europa folgt. Danach (22.45 Uhr) wird ein Abwärts Der Flug zum Mars als Fernsehfälschung englischer TV-Film (1992, Regie: Nigel Fahrstühle sind nur selten Gehäuse der der Nasa, übertragen aus einem Militär- Finch) gesendet, Titel: „Die verlorene Freude, besonders wenn sie steckenblei- hangar. Die Vorlage für dieses „Spannungs- Sprache der Kräne“. Er schildert die Nor- ben. In Carl Schenkels Thriller (BRD 1984) bonbon“ (az) stammt nicht von dem fran- malität einer homosexuellen Beziehung, sind aufs klaustrophobischste verbunden: zösischen Simulations-Philosophen Jean weit entfernt von den schockierenden Ro- ein flotter Lebemann (Götz George), ein Baudrillard, sondern von Peter Hyams, der manen eines Jean Genet. Zum Abschluß ungetreuer Buchhalter (Wolfgang Kieling), den Film (USA 1978; mit O. J. Simpson) mit (0.15 Uhr) beschreibt Norbert Beilharz die ein Aussteiger mit Walkman auf den Action-Dramatik und Anleihen bei Hitch- Männerliebe des Dichters August von Pla- Ohren (Hannes Jaenicke) und eine at- cock inszenierte. ten (1796 bis 1835).

202 der spiegel 5/1997 27. Januar bis 2. Februar 1997

Mittwoch, 29. Januar strapaziöse Tour vor sich. Auf Pisten ent- gen Krebs und andere Krankheiten wir- lang des Abgrunds kann man, wie in einem ken können. 17.55 – 18.45 UHR ZDF Zeitraffer, fast alle Klimazonen der Erde durchfahren: von schneebedeckten Gip- 22.10 – 24.00 UHR RTL Aber ehrlich! feln, tundraähnlichem Hochgebirge gelangt 14 Folgen von Felix Huby über Familie man auf schlammigen Pisten durch den ge- Fußball: Europa gegen Afrika Berg, die in Opas Häuschen am Stadtrand heimnisvollen Wolkenwald hinunter ins In der portugiesischen Hauptstadt Lissa- von München lebt. Mit Bademeister, Ehe- tropische Paradies am Río Madre de Dios bon treffen zwei Auswahlteams aufeinan- frau, Girlie-Tochter. Das ZDF versucht mit und Río Manu. Der Manu-Nationalpark ist der: Berti Vogts und Rinus Michels nomi- der neuen Serie, junge Zuschauer von den ein riesiges Naturschutzgebiet, etwa halb nierten als deutsche Spieler unter ande- ARD-Soaps abzuziehen. so groß wie die Schweiz. Dort leben Indi- ren Christian Ziege, Jürgen Klinsmann so- aner, die auch heute noch auf die Heilkraft wie Andreas Möller und Matthias Sammer 20.15 – 21.00 UHR SÜDWEST III von Pflanzen vertrauen. Petra Spamer- für die Mannschaft Europas. In der Afrika- Riether, die das Manu-Gebiet seit elf Jah- Auswahl stehen neun Spieler des Olym- Der Manu-Nationalpark in Peru ren kennt, begleitete zwei peruanische Bio- piasiegers Nigeria, außerdem der Ghana- Wenn man in den peruanischen Manu-Ur- loginnen auf der Suche nach Heilpflanzen er Abedi Pele (1860 München) sowie der wald fährt, hat man eine halsbrecherisch – Gewächsen, die vielleicht eines Tages ge- Ägypter Yasser Radwan (Hansa Rostock).

Donnerstag, 30. Januar mittelt zwischen den Anwältinnen (Andrea eine Operation gerettet, aber seine Erin- Nahles, Christine Arlt-Palmer) der einan- nerung ist ausgelöscht. Der Film von 1978, 20.15 – 21.00 UHR ARD der widersprechenden Seiten. Die Redak- aus der Hochzeit der deutschen Terrori- tion wählt wieder die Themen aus und stenhysterie, von Peter Schneider (Buch) Die Goldene 1 nicht mehr der Zuschauer via TED: So will und Reinhard Hauff (Regie) beantwortet Was Unterhaltung betrifft, so verdient das man schneller und aktueller reagieren. wichtige Fragen über den Hergang des Ge- Erste derzeit eine blecherne Sechs. Kein schehens nicht: War der Polizist schieß- Format hat sonderlichen Erfolg, TV-Kupp- 0.10 – 2.15 UHR VOX wütig, oder schoß er aus Angst? Hat das lerin Susanne Fröhlich („Allein oder Fröh- Opfer zuerst mit dem Messer zugestoßen? lich“) sowie die Promi-Devotionale Alida Messer im Kopf War der Genetiker schon immer Sympa- Gundlach („exclusiv“) sollen vom Schirm Ein Biogenetiker (Bruno Ganz), der seine thisant der Terroristen, oder hat er sich verschwinden. Ingo Dubinski, 33, der 1989 getrennt lebende Frau in einem Jugend- erst nach der Operation zu einem solchen bei der legendären DDR-Jugendsendung zentrum besuchen will, wird während ei- entwickelt, seit er sich entschlossen hat, „Elf 99“ sein TV-Debüt gab, löst heute Max ner Polizeirazzia angeschossen. Die Kugel kein Objekt der Politik mehr zu sein? Die Schautzer als Lostrommler ab. dringt ins Gehirn, der Mann wird durch neue zürcher zeitung urteilte: „Was Unbehagen stiftet, ist der Umstand, daß 20.15 – 21.15 UHR ZDF zwar ein Klima der Verdächtigungen und der mannigfachen Unklarheiten beschrie- Die volkstümliche Hitparade ben wird, daß aber die Ursachen, die zu Carrolin Rreiber mit den Jungen Oberkrr- diesem Klima geführt haben, verschwiegen rainerrrn – den Rrock und Rrollerrn der werden. Der Terrorismus steht in einem Volksmusi. Je rreiber, desto rroller. leeren Raum, und nur die zweifellos auch zum Teil unerfreulichen Wirkungen, die er 21.45 – 22.30 UHR ARD ausgelöst hat im Land herum, werden kri- tisch durchleuchtet, nicht seine Aktionen Pro + Contra selber. Es fällt also auf ein Ausweichen, Von jetzt an in Frauenhand. Die neue Mo- das auf eine unredliche Art beschwichti- deratorin Christina Brecht-Benze, 41, ver- Angela Winkler, Heinz Hoenig, Ganz gend wirkt.“

Freitag, 31. Januar 20.45 – 22.10 UHR ARTE Henry-Moore-Plastik verkaufen. Plötzlich ist das teure Stück verschwunden. Mi- 16.30 – 17.00 UHR ARD Operation Medusa chael Lindsay-Hogg drehte die langatmige Deutsch-schweizerischer Sektenkrimi Komödie (Großbritannien/USA 1990). Alfredissimo! (Buch: Fred Breinersdorfer, Regie: Torsten Sabine Kaack („Diese Drombuschs“) Näter). Eine Frau (Franziska Petri) ver- kocht bei dem Showlöffel Alfred Biolek sucht, den Selbstmord eines Freundes auf- Grünkohl, nächste Woche sind die Wil- zuklären, und gerät in das Labyrinth einer decker Herzbuben dran: Vielleicht berei- Psychosekte. ten sie – im Geiste Carolins – einen leckeren Rrreiber-Kuchen? 22.45 – 0.25 UHR ZDF

19.25 – 20.15 UHR ZDF Verliebt, verwöhnt und Forsthaus Falkenau abgebrannt Oma Herta (Bruni Löbel) erklärt Förster In einem Londoner Luxushotel vertreiben Martin (Christian Wolff), sie wolle ins An- sich die Amerikaner Jake (John Malko- tiquitätengeschäft einsteigen. Eigentlich vich) und Tina (Andie MacDowell) die Zeit

konsequent: Die Serie wirkt schon immer mit erotischen Spielchen. Als ihnen das DOMINO wie ganz antik vom Ödelmarkt. Geld ausgeht, wollen sie Tinas wertvolle Malkovich, MacDowell in „Verliebt...“

der spiegel 5/1997 203 Fernsehen

Samstag, 1. Februar SPIEGEL TV VON 20.00 UHR AN SAT 1/ARD DONNERSTAG Karneval 22.00 – 22.45 UHR VOX Wo Prinzen prunken und Promis prunzen SPIEGEL TV EXTRA – in den Tief- und Miefebenen der Unter- Mit schnellen Füßen gegen haltung, die sich Karneval nennen, wettei- den „Tiger“ fern dieses Jahr die TV-Sender mit Über- Der Weltmeister im Kickboxen, Bruce tragungen wie nie zuvor, denn bei diesen Özbek, sucht eine neue Herausforde- Sendungen funkt die Quotenmarie. „Helau rung: Er möchte gegen „Tiger“ Darius

aus Düsseldorf!“ ruft Sat 1 und überträgt KINDERMANN Michalczewski antreten. die Prunk-Sitzung der „KG Weißfräcke“. Sperling-Darsteller Pfaff mit Meret Becker Die ARD konkurriert (20.15 Uhr) mit „Die FREITAG Schnieke Prunz Sitzung“: Da treten Rüdi- ser Reihe wirft einen unaufgeregten Blick 22.10 – 22.40 UHR VOX ger Hoffmann („Ich weiß ja nicht, ob Sie auf den Alltag von Menschen, denen ge- schon wußten“), Dirk Bach, Gaby Köster stohlene Klunker so wichtig sind wie das SPIEGEL TV INTERVIEW und BAP auf. Morgen sind im ZDF die Futter für die Katze. Doch in der Ruhe Wolfram Siebeck Narren los. liegt nicht immer nur Kraft, manchmal Der „Vorkoster der Nation“ räsoniert fehlt es an Spannung. über die Ursachen der Misere in deut- 20.15 – 21.45 UHR ZDF schen Kochtöpfen. 22.00 – 0.25 UHR PRO SIEBEN Sperling und der gefallene Engel 22.45 – 23.40 UHR VOX Berlin als Dorf: Der schwere Hauptkom- Cliffhanger – Nur die missar Sperling (Dieter Pfaff) kennt seine Starken überleben SPIEGEL TV THEMA Kunden: Junkies, Huren, Kleinkriminelle. Lust am Genuß Die sind nicht schuldig oder unschuldig, Cliffhanger – wie man aus Serien weiß – Deutsche Küchenkultur zwischen Haus- nur Täter oder Opfer. Und Ewald Ries (Syl- sind oft allzu durchsichtige Schaumschlä- mannskost und Haute Cuisine. Ster- vester Groth) ist ein Opfer, auch wenn alle gereien. Da hängt die Handlung durch, die neköche, Feinschmecker, Konsumenten Indizien dafür sprechen, daß er für den Lust vergeht, in der nächsten Folge um die und Kritiker diskutieren über Delika- Raubüberfall auf dem Jahrmarkt verant- Klippe zu schauen. Dieser Action-Film von tessen und Geschmacklosigkeiten. wortlich ist. Ruhig, fast beiläufig erzählen Renny Harlin (USA 1993) mit Sylvester Kai Wessel (Regie) und Rolf Basedow Stallone als Bergretter, eine Art Luis Tren- SAMSTAG (Buch) von diesem liederlichen Landleben ker mit Muckis, ist ein schwindelerregend 21.55 – 23.30 UHR VOX im Osten von Berlin. Der zweite Film die- spannender Thriller. SPIEGEL TV SPECIAL Der Ferrari-Mythos – Rot für die Welt Sonntag, 2. Februar 22.55 – 0.25 UHR ZDF Auf den Spuren einer Autolegende: im Werk in Maranello, bei Grand-Prix- 20.15 – 22.10 UHR RTL Drei Farben: Weiß Rennen und bei stolzen Ferrari-Fah- Krzysztof Kieslowskis zweiter Trikoloren- rern. Gespräch dazu mit Niki Lauda Felix – Ein Freund fürs Leben Film (1993). Es geht um Weiß, die Farbe der und Michael Schumacher. Was „Kommissar Rex“ für Sat 1 ist, soll Gleichheit. Und das bedeutet, wie oft bei Felix für RTL werden: Der Thoma-Sender diesem polnischen Rätselmeister, die Ab- SONNTAG stellt einen zwei Zentner schweren Bern- wesenheit der Gleichheit. Nach seiner 22.10 – 22.50 UHR RTL hardiner in Seriendienst. Herrenlos vor ein Scheidung – kurz irrt Juliette Binoche, die Auto gelaufen, nimmt ein Anwalt (Alex- Julie aus „Blau“, durch den Gerichtssaal – SPIEGEL TV MAGAZIN ander Pelz) den verletzten Riesenköter mit will sich der polnische Friseur Karol (Zbig- Aktuelles politisches Magazin nach Hause. 13 Folgen lang wird er nach niew Zamachowski) an seiner französi- diesem Piloten vom 14. Februar an frei- schen Frau (Julie Delpy) rächen, doch der 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 tags durchs RTL-Programm trotten. gelingt es, den Mann von der Polizei als vermeintlichen Brandstifter suchen zu las- SPIEGEL TV REPORTAGE sen. So täuscht Karol seinen Tod vor und Von Prinzessinnen, Paparazzi entschwindet ohne Geld und Kreditkarte, und Millionären aber mit großem Koffer nach Polen. Die Ein Porträt über das Fürstentum Mo- süddeutsche zeitung lobte: „In ,Weiß‘ naco. läßt der Regisseur die Kamera von Edward Klosinski schnörkellos und immer in Be- wegung die Menschen beobachten, deren Emotionen die Geschichte vorantreiben. Nichts ist in den Bildern, denen die Töne Blau und Rot fehlen, von jenem störend expliziten Willen zur Kunst zu sehen, der in ,Blau‘ in jedem Bild spürbar war. Die spielerische Leichtigkeit, mit der Kies- lowski hier Gefühle auf der Leinwand und im Zuschauerraum evoziert, weist den Re- gisseur des ,Dekalog‘ einmal mehr als mei-

sterlichen Manipulateur aus: Unterhaltung GAMMA / STUDIO X Bernhardiner Felix konzentriert statt zerstreut.“ Monacos Herrscherfamilie

204 der spiegel 5/1997 Werbeseite

Werbeseite Hohlspiegel Rückspiegel Die frankfurter allgemeine über den Rodler Georg Hackl: „Beim Versuch, das Zitate Defizit in punkto Athletik abzubauen, brach er sich beim Krafttraining eine Rip- Die süddeutsche zeitung zur Sonder- pe. Für ihn kein Beinbruch, obwohl er mit ausgabe der spiegel 1947 – 1997: zwei neuralgischen Punkten die Übungs- einheiten weiter einschränken mußte.“ Nun der Sonder-spiegel. 362 Seiten. An- ständig gemacht, gepflegte Photographie, wie jetzt auch im Montags-spiegel. Ein Versuch, das 50jährige Sein so weit eben möglich zu phänomenalisieren, nachdenk- lich zu erscheinen in eigener Sache. Natür- lich bietet sich Wiederhervorrufung an, Be- Aus einem ICE-Fahrplanbegleiter schwörung jener Stücke und Namen, wel- che den spiegel wichtig machten oder ihm wichtig sind. (Glanztaten der Enthüllung, Aus der zeit: „Der spiegel feierte seinen wird eingeräumt, verbrauchen sich rasch.) fünfzigsten Geburtstag, was nur selten vor- kommt.“

Aus dem bergsträßer anzeiger: „Der recht naheliegenden Gefahr klassizistisch- akademischer Formglätte oder selbst zweckhafter Detailtüftelei begegnen die vier Streicher mit ausgesprochen duftig- warmherziger Tongebung und erfrischend sinnlich-präsenter Musizierhaltung … Jen- seits eilfertig-präsentiöser Ausdrucks- subjektivsmen setzten die vier jungen Streicher zu Recht auf formklare Ge- schlossenheit, zügige Verläufe, geschmei- dig-schlanken Ensembleklang und kom- Womit sich schmücken? Unübertroffen munikatives wie kantables Innenleben.“ Hans Magnus Enzensbergers Essay über die „Oberfläche“ der spiegel-Sprache. 1957. Nun auch im Sonderheft. Klaus Böl- ling hingegen, neu, erklärt das Verhältnis der sechs Kanzler zur Bonner Montags- lektüre schlechthin. Ebenfalls neu ist ein spiegel-Gespräch mit dem Soziologen Lord Dahrendorf. Natürlich über Deutsch- land, den Lauf der Zeit und den spiegel mitten darinnen. Interessanterweise rech- net der Lord das Hamburger Blatt einer niemals herrschenden und trotzdem ein- flußreichen „protestantischen Mafia“ zu (wie etwa „die Weizsäckers“ oder Marion Gräfin Dönhoff) … Ein frühes Glanzlicht, Augsteins unsterblicher Neu- gier entsprungen, war das spiegel- Gespräch mit dem Philosophen Martin Heidegger, aufgezeichnet 1966, veröffent- Aus dem Zürcher tages-anzeiger licht, auf Wunsch posthum, 1976. Nun hervorgeholt.

Das österreichische Nachrichten- magazin profil über das Österreichbild Aus dem gießener anzeiger des spiegel:

Die Berichterstattung des spiegel über Aus den Mitteilungen der Oberfinanz- Österreich war gerade in den letzten zehn direktion München über Ausbildungs- Jahren vor allem eines: angemessen. Sieg- seminare zum Steuer-Vollstrecker: „Was- fried Kogelfranz’ Mammutgeschichten serburg zeigt daher die typische über die „Skandalrepublik“ waren die um- Inn-Salzach-Architektur: Arkadengänge, fassendsten Darstellungen der Verhältnis- italienisch angehauchte Innenhöfe, se in den achtziger Jahren, schmerzhaft Grabendächer und Lauben. Sehenswert eben wegen ihrer Vollständigkeit. Die spie- sind die Folterwerkzeuge im Stadtmu- gel-Serie von 1988 über den Anschluß seum. Fast könnte man als Vollstrecker Österreichs („Dieses Volk bekam, was es neidisch werden ...“ verdient“) kam präzis zur rechten Zeit.

206 der spiegel 5/1997