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eiGeNTum, DemOKrATie, TrANsFOrmATiON 3 LATeiNAmeriKA, JuGOsLAWieN, DDr, CHiNA, usA 11 miT BeLeGsCHAFTseiGeNTum Aus Der Krise? 3 mONDrAGÓN uND Neuer sOZiALismus GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2011 Vier-iN-eiNem-DeBATTe sTrATeGieN FÜr Die LiNKe DeN BeTrieB ÜBerNeHmeN HeiNZ BierBAum | emiLY KAWANO im sTAAT ODer GeGeN DeN sTAAT? immANueL Ness | VOLKer BrAuN | JessiCA NemBHArD | Tim HuNT EMBURG ´ X DAriO AZZeLLiNi | ALeX DemirOViC | JOHN HOLLOWAY | COrNeLiA

isBN 978-3-89965-858-3 10 eurO LU mÖHriNG | VisHWAs sATGAr | WOLFrAm ADOLpHi | u.A.

Heft_1103_Titel.indd 1 01.09.11 14:00 tazinfo | Abo | Anzeigen | Genossenschaft | Stiftung | tazshop | tazcafe | e-Kiosk

IMPRESSUM POLITIK ZUKUNFT NETZ DEBATTE LEBEN SPORT WAHRHEIT BERLIN Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis ISSN 1869-0424, ISBN 978-3-89965-858-3 Erscheint viermal im Jahr mit einem Jahresumfang von mindestens 640 Druckseiten

Herausgeber: Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung V.i.S.d.P.: Christina Kaindl, [email protected], Tel: +49 (0)30 44310 404 Redaktion: Mario Candeias, Alex Demirovic´, Karin Gabbert, Corinna Genschel, Cornelia Hildebrandt, Bernd Hüttner, Christina Kaindl, Rainer Rilling und Catharina Schmalstieg Für die Mitarbeit an dieser Ausgabe bedanken wir uns darüber hinaus bei Lutz Brangsch, Michael Brie, Erhard Crome, Malte Daniljuk, Stefan Thimmel,Vanessa Lux, Katharina Zeiher und Fanny Zeise.

Kontakt zur Redaktion: [email protected] Redaktionsbüro: Harry Adler, [email protected] Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Telefon: +49 (0)30 44310-157 Fax: +49 (0)30 44310-184 www.zeitschrift-luxemburg.de Join us on Facebook.

Alle Rechte vorbehalten

Einzelheft: 10 Euro zzgl. Versand Jahresabonnement: 30 Euro einschl. Versand Abonnement ermäßigt (SchülerInnen, Studierende, Erwerbslose, Prekäre): 20 Euro einschl. Versand Förderabonnement: 60 Euro einschl. Versand, jede Spende ist willkommen. Auslandsabonnement: 40 Euro einschl. Versand Einzel- und Abonnementsbestellungen gehen direkt an den Verlag. Der Verlag bittet um die Erteilung einer Bankeinzugsermächtigung. Abbestellungen mit einer Frist von drei Monaten zum Ablauf des Abojahres

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Editorial ...... 4

Konzepte

Heinz Bierbaum Renaissance der Belegschaftsbetriebe? Zur Diskussion in den Gewerkschaften ...... 6 Jessica Gordon Nembhard und Emily Kawano Genossenschaften und die Bewegung für eine solidarische Ökonomie...... 14 Alex Demirovic´ »Wir können das besser«. Belegschaftseigentum, Demokratie und Transformation ...... 22 Immanuel Ness Kooperativen und Genossenschaften in den USA: Gestern und Heute ...... 32 Tim Hunt Arbeiter der Welt, kooperiert! Die Rolle von Belegschaftseigentum und Kooperativen für Transformation ...... 42

Volker Braun Die hellen Haufen. Auszüge ...... 48

Rückblicke

Boris Kanzleiter Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien – eine ambivalente Erfahrung...... 60 Jörg Roesler Umkämpftes Eigentum in der DDR ...... 66 Petra Brangsch Glasnost, Perestroika und das Eigentum ...... 70 Henning Süssner Rubin Lohnempfängerfonds. Gescheiterte Demokratiereform in Schweden ...... 74

LUX_1103_03.indb 1 01.09.11 16:45 © M. Benedetto, http://matiasbenedetto.com.ar, Cooperativa Esperanza, Argentinien

LUX_1103_03.indb 2 01.09.11 16:45 Praxis

Dario Azzellini Arbeiterkontrolle in Venezuela...... 80 Henrique T. Novaes und Renato Dagnino Arbeiterorganisation in wieder angeeigneten Fabriken ...... 88 Wolfram Adolphi China: Die widerspruchsvolle Eigentumsfrage ...... 94 Carl Davidson Mondragón und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ...... 100 Matteo Gaddi Italien: Kooperativen ohne Industriepolitik ...... 110 Vishwas Satgar Landwirtschaftliche Kooperativen in Südafrika ...... 114

Class & Care

Cornelia Möhring und Katharina Schwabedissen Debatte: Die Vier-in-einem-Perspektive in der Praxis ...... 126 Natalia Iguiñiz Boggio La Otra – Die Andere ...... 130

Linke Strategien

Rainer Rilling Wenn die Hütte brennt… ...... 134 Christoph Spehr Wann kann man sagen, dass Die Linke existiert und mit normalen Mitteln nicht mehr zerstört werden kann? ...... 140 Hilary Wainwright und John Holloway Kapitalismus aufbrechen oder den Staat zurückfordern? Ein Briefwechsel ...... 146

Verfasserinnen und Verfasser ...... 154

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Die globale Krise und Krisenpolitik können als Geschichte der Enteignung erzählt werden: Konjunkturprogramme und »Rettungsschirme« haben Mittel für Unter- nehmen und Banken mobilisiert, die durch Lohnverzicht und Kürzungen der öf- fentlichen Leistungen eingespielt werden müssen. Rating-Agenturen, »Gläubiger- staaten« und die EU als verallgemeinerte Finanzaufsicht verringern den Spielraum für demokratische Entscheidungen. Die Proteste gegen die Politik der Kürzungen in Spanien, Nordafrika, Griechenland, Israel besetzen die Plätze und Straßen und erobern damit das Öffentliche symbolisch zurück. In der argentinischen Krise wurde der Protest auf der Straße mit einer anderen Art des Arbeitens und Wirtschaftens verbunden: »Besetzen, Widerstand leisten, Pro- duzieren« (vgl. die Beiträge auf www.zeitschrift-luxemburg.de). Aus der Niederlage im Neoliberalismus ist eine Bewegung an der Basis entstanden, die Betriebe besetzt oder weiterführt, die geschlossen oder verlagert werden sollen: um Abfindungen zu verhandeln, Arbeitsplätze zu erhalten – oder als Einstieg in gesellschaftliche Trans- formation. In Deutschland forderte die IG Metall Gegenleistungen für Zugeständ- nisse und staatliche Krisenhilfen: Erweiterte Mitbestimmung, Belegschaftseigentum und Wirtschaftsdemokratie wurden gegen den Shareholder Value gestellt. Auch in den USA ist auf den Ruinen fordistischer Produktionsstätten eine vielfältige Bewe- gung von Kooperativen und Genossenschaften in Belegschaftseigentum entstanden. »Ohne Boss« zu arbeiten, war eine neue Erfahrung, für viele befreiend. Marx sah in der selbständigen Organisation der Produktion durch die Produzenten, in Ge- nossenschaften einen ersten Schritt zum Kommunismus. Doch gleichzeitig wer- den die Arbeitenden in Widersprüche verwickelt, sie müssen lernen, wie Kapita-

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LUX_1103_03.indb 4 01.09.11 16:45 listen zu denken und zu handeln: Marktlogik und Konkurrenz treten nicht zurück, weil ein Unternehmen von der Belegschaft geleitet wird (vgl. den Beitrag von Vish- was Satgar). Gewerkschaften stehen Belegschaftseigentum und selbstverwalteten Betrieben oft kritisch gegenüber: Selbstausbeutung und Druck auf die Löhne bei vergleichbaren Betrieben sind zu befürchten. Auch »Belegschaftseigentum« kann bedeuten, Schulden zu erben, die andere gemacht haben. In Brasilien haben sich Gewerkschaften an die Spitze der Bewegung für solidarische Ökonomie gesetzt. Die größte Metallgewerkschaft in den USA und Kanada, United Steel Workers, hat ein Abkommen mit Mondragón geschlossen, der Kooperative aus dem Baskenland, die inzwischen ein transnationales Netzwerk von Produktionsstätten, Universität und ist. Gemeinsam werden Belegschaftsbetriebe gegründet. Die Geschichte der Aufhebung von privatem Eigentum ist keine Erfolgsge- schichte der Demokratisierung (im Heft: Jugoslawien, DDR, Sowjetunion, China). Zentralisierung und Planung wurden vielfach als Entfremdung erlebt, übergingen unzulässig die Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten an tatsächlicher Selbst- bestimmung. In Deutschland sind Betriebsbesetzungen und Arbeiterselbstverwal- tungen nach dem Abebben der Projekte- und Kollektivbewegung der 1970er Jahre selten geworden. Viele Versprechen auf »Selbstverwirklichung« und kooperative Formen sind von neoliberalen Diskursen gekapert, das Potenzial einer gesellschaft- lichen Transformation abgeschnitten worden. Internationale Erfahrungen sollen Horizonte öffnen: Fragen der alltäglichen Produktion des Lebens rücken wieder ins Zentrum, machen sie zum Gegenstand demokratischer Fragen: Was wird produziert? Wie wollen wir arbeiten? Wie wer- den Interessen zwischen Arbeitsplatzerhalt und Klimaschutz vermittelt? Wie über- schreiten die geteilten Interessen der Wenigen den Horizont des eigenen Betriebs, sodass die Demokratisierung ausgreifen kann in die Region, den Staat, die globalen Produktionsverhältnisse? Transnationale Netzwerke von Kooperativen und Genos- senschaften könnten ökonomische Alternativen sein, Perspektiven auf eine soli- darische Ökonomie. Dann könnten die vielen kleinen Erfahrungen vielleicht doch in eine »kommunistische« Bewegung fließen, die der Enteignung der Vielen die Enteignung der Wenigen entgegenstellt.

3. bis 5. November | Internationale Konferenz Belegschaftseigentum, Kooperativen und Genossenschaften: Einstieg in Transformation? Mit Marina Sitrin, Alex DemiroviĆ, Jessica Gordon Nembhard, Heinz Bierbaum, Manny Ness, Carl Davidson, Bernd Röttger, Birgit Daiber, Boris Kanzleiter u.v.m. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Anmeldung und Information: www.rosalux.de; [email protected]

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LUX_1103_03.indb 5 01.09.11 16:45 Renaissance der Belegschaftsbetriebe?

Zur Diskussion in den Gewerkschaften

Heinz Bierbaum Eine neue Studie zur Übernahme von Betrie- ben durch Belegschaften kommt zum Ergeb- nis, dass das Thema der Belegschaftsbetriebe in der gewerkschaftlichen wie politischen Diskussion wieder eine Relevanz hat, nach- dem es viele Jahre eher ein Randthema war (vgl. Klemisch u.a. 2010). Die Partei Die Linke nennt die Unternehmen in Belegschaftsei- gentum ein wichtiges Element im Rahmen des Entwurfs des Grundsatzprogramms, vor allem im Zusammenhang mit Wirtschaftsde- mokratie. Die IG Metall hat in den Restruk- turierungskonzepten etwa bei Opel oder bei Schaeffler eine Beteiligung der Belegschaft am Kapital gefordert: Wenn die Arbeitnehmer in der Krise Opfer bringen, sollten sie auch eine Gegenleistung erhalten und Einfluss auf die Unternehmenspolitik haben – begründet der IGM-Vorsitzende Berthold Huber (vgl. FAZ.net 2009; Huber 2010, 49). Auch die IG Metall-Bezirksleitung in Niedersachsen vertritt ein Konzept der Wirtschaftsdemokratie, in dem der Einfluss der Belegschaften auf die

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LUX_1103_03.indb 6 01.09.11 16:45 Unternehmenspolitik einen hohen Stellenwert Belegschaftsinitiativen in den 1980erN Renaissance der hat (vgl. Meine/Stoffregen 2011). Aus der Sicht von Belegschaften und Gewerk- Die Finanz- und Wirtschaftskrise der schaften steht die Beschäftigungssicherung Jahre 2008 und 2009 hat die Diskussionen im Zentrum: Das Thema Belegschaftsbetriebe Belegschaftsbetriebe? um Wirtschaftsdemokratie, die Demokratisie- kam daher 2008ff in Zusammenhang mit rung der Unternehmensentscheidungen und drohenden Arbeitsplatzverlusten wieder auf. damit um die Mitwirkung der Belegschaften Genau dieser Zusammenhang hatte in den Zur Diskussion in den Gewerkschaften befördert. Grundsätzliche Fragen nach der 1980er Jahren dazu geführt, dass sich Gewerk- Wirtschaft, ihren Gesetzen, Regelungen und schaften dieses Themas angenommen hatten. Verantwortlichkeiten sind wieder dringlich Anders als in der Bewegung der Alternativ- geworden. Und: Die Kultur des privaten wirtschaft waren es nicht in erster Linie die Unternehmens und die Unternehmertätigkeit Versuche eines emanzipatorischen Arbeitens sind in die Diskussion geraten. Unternehme- und Lebens, sondern die Arbeitsplatzverlus- rische Tätigkeit wird zunehmend kritischer te, die Anstoß für eine Diskussion und für gesehen, und es stellt sich die Frage nach den praktische Versuche der Betriebsübernahmen Interessen und der Legitimationsgrundlage waren. Erinnert sei etwa an den spektakulären, von Unternehmenspolitik. ebenfalls gescheiterten Fall des Schmiedeun- Tatsächliche Übernahmen durch die ternehmens Mönninghoff in Hattingen, das Belegschaft sind eher selten. Die letzte bun- durch einen Belegschaftsverein mit Hilfe desweit bekannt gewordene Übernahme war der öffentlichen Hand fortgeführt werden der Fall des Fahrradherstellers Bike Systems sollte. Das im Vergleich zu anderen Betriebs- in Nordhausen, wo die Beschäftigten nach der übernahmeversuchen recht große, rund 800 Insolvenz im Jahr 2007 den Betrieb in eigener Arbeitsplätze umfassende Unternehmen Regie fortzuführen versuchten. Obwohl ihnen wurde durch die Belegschaft besetzt, um die viel Solidarität erwiesen worden ist, scheiterte drohende Schließung (Folge von Management- der Versuch. Produktion und Verkauf der fehlern und Finanzproblemen) zu verhindern. Fahrräder konnten nicht im notwendigen Gleichzeitig wurde ein Fortführungskonzept Umfang realisiert werden. Das Unternehmen erarbeitet, das eine Übernahme durch die wurde demontiert, die Anlagen nach Ungarn Belegschaft vorsah. Basis des entwickelten verkauft, und die Mitarbeiter wechselten in Hattinger Modells war ein gemeinnütziger eine Transfergesellschaft. Einige der ehe- Belegschaftsverein »Bildung für Arbeitnehmer maligen Mitarbeiter gründeten die »Strike in Hattingen«, in dessen Auftrag die Fortfüh- Bike GmbH«, die zum Mai 2008 mit fünf rungsgesellschaft »Hattinger Schmiede« ge- Mitarbeitern die Produktion aufnahm. Trotz gründet wurde, an deren Seite zusätzlich eine des Scheiterns wurden wichtige Erfahrungen Bildungseinrichtung mit Ausbildung gestellt gemacht: dass es möglich ist, selbst aktiv zu wurde. Es verstand sich als regionalpolitisches werden und ohne Hierarchie arbeiten zu Beschäftigungsmodell. Bemerkenswert war vor können (Klemisch u.a. 2010, 42–47). allem, dass es zu einem breiten regionalen Ak-

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LUX_1103_03.indb 7 01.09.11 16:45 tionsbündnis kam, mit der örtlichen IG Metall als Alternative entwickelt und 1985 bei dem als Motor. Die Übernahme scheiterte letztlich damaligen Werk von Grundig in Nürnberg an der mangelnden Unterstützung durch die zum ersten Mal abgeschlossen. Kernstück Banken und damit an der Finanzierung (vgl. dieses Beschäftigungsplans waren Qualifizie- dazu König u.a. 1985). rungsmaßnahmen und die Suche nach neuen Ein anderes, durchaus erfolgreiches Produkten. Ausgehend vom Wissen der Beleg- Beispiel war die »AN Maschinenbau- und schaft sollte eine Erweiterung des vorhandenen Umweltanlagen GmbH« in Bremen. Sie ging Produktprogramms vorgenommen und damit aus der Übernahme der ehemaligen Zweignie- neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen derlassung des Maschinenbauunternehmens werden. Diese über die herkömmliche Mit- Voith hervor, das seinen Standort Bremen bestimmung hinausgehende Beteiligung der aufgeben wollte. Um die Schließung zu Belegschaft sollte Einfluss nehmen auf eine verhindern, wurde unter wesentlicher Initiative Veränderung der Produktpolitik und damit auf des damaligen Betriebsratsvorsitzenden ein ein Kernstück der Unternehmenspolitik. Der Selbstverwaltungskonzept entwickelt, das »Beschäftigungsplan« stand auch Pate für die einerseits weitreichende Mitwirkungsrechte der Konzeption der »Beschäftigungsgesellschaft«, Belegschaft vorsah, andererseits sich stark auf die 1987 im Zusammenhang mit der Stahlkri- ökologische Produkte konzentrierte. Grundlage se entwickelt worden war. Kernelemente sind war auch hier ein von 50 Mitarbeitern getrage- auch hier Qualifizierungsmaßnahmen und die ner Belegschaftsverein. Die Übernahme wurde Organisation neuer Produktions- und Beschäf- durch den Bremer Senat ideell und materiell tigungsmöglichkeiten. unterstützt. Allerdings führte die erfolgreiche Beschäftigungsgesellschaften wurden wirtschaftliche Entwicklung mit einer zuneh- in Zusammenhang mit der industriellen menden Konzentration auf Windkraft und der Restrukturierung der ehemaligen DDR wieder Kooperation mit anderen Unternehmen dazu, relevant. Der massive Arbeitsplatzabbau sollte dass die Selbstverwaltung mit den Jahren im- durch solche Gesellschaften aufgefangen mer mehr zurückging und das Unternehmen werden. In der Praxis überwog allerdings die schließlich in der Siemens Power Generation zeitweilige soziale Abmilderung des Arbeits- aufging. platzverlustes und weniger die Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Position der Gewerkschaften Beschäftigungsgesellschaften sind bis heute Die Gewerkschaften haben sich im Zusam- ein wichtiges Element im Zusammenhang menhang mit der Entwicklung von Beschäf- mit betrieblichen Umstrukturierungen. tigungskonzepten mit Belegschaftsbetrieben Die IG Metall hat in ihrer Stellungnahme befasst. Anders als beim Sozialplan, der bei zu Betriebsübernahmen durch die Belegschaf- Betriebsänderungen mit Arbeitsplatzabbau den ten diese zwar vorsichtig, doch prinzipiell Kern der diesbezüglichen Betriebsvereinbarun- unterstützt und dabei Mindestbedingungen gen bildet, wurde der »Beschäftigungsplan« formuliert: Tarifvertragliche Ansprüche und

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LUX_1103_03.indb 8 01.09.11 16:45 © M. Benedetto, http://matias- benedetto.com.ar, Cooperativa Esperanza, Argentinien

Rechte sollten nicht unterlaufen werden, die und dezentralen Beschäftigungsinitiativen Belegschaft den Betrieb nicht kaufen, die und damit die Verbesserung der Arbeits- und Mitbestimmungsrechte ausgedehnt und die Lebensbedingungen gewürdigt. In der Stel- Übernahme auf dauerhafte Sicherung der lungnahme der IG Metall von 1988 heißt es: Arbeitsplätze ausgerichtet werden (vgl. Der »Während die betrieblichen Initiativen eine Gewerkschafter – Dokumentation 5/85). Um unmittelbare Reaktion auf die arbeitsplatzver- dies zu erreichen, wurden politische und nichtende kapitalistische Unternehmenspolitik finanzielle Unterstützungsmaßnahmen durch darstellen und den betrieblichen Abwehrkampf die damalige Bundesanstalt für Arbeit und mit aktiver Beschäftigungssicherung verbinden, durch die Länder gefordert. Gewerkschaftliche sind die örtlichen Beschäftigungsinitiativen in Forderungen zu einer arbeitsorientierten Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Strukturpolitik hatten weiter Vorrang. Im Bedürfnis nach Beschäftigung und sinnvoller Vordergrund stand die Einordnung solcher Arbeit zu sehen […] Es geht nicht nur um betrieblichen Initiativen in die regionale Beschäftigung als quantitatives Problem, Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik. Neben der sondern auch um Beschäftigung in qualitativer möglichen Arbeitsplatzsicherung wurde der Hinsicht, wie sich dies in der Forderung nach qualitative Aspekt von Betriebsübernahmen gesellschaftlich sinnvollen Arbeitsplätzen, nach

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LUX_1103_03.indb 9 01.09.11 16:45 qualitativ hochwertigen und abwechslungsrei- ausgerichtet ist. Betrachtet man die aktuelle chen Tätigkeiten, nach demokratischen Arbeits- Gesetzeslage zur Mitarbeiterbeteiligung, das und Entscheidungsstrukturen ausdrückt.« Mitarbeiterbeteiligungsgesetz, so steht die Ver- Damit kämen Bezüge zu den Zielsetzungen mögensbildung im Vordergrund. Gleichzeitig eines anderen, selbstbestimmten Arbeitens wird auf den Beitrag der Mitarbeiterbeteili- und Lebens in die gewerkschaftliche Diskussi- gung zur Stärkung der Eigenkapitalbasis von on, wie sie vor allem für die Selbstverwaltungs- Unternehmen verwiesen, und die positiven wirtschaftsbewegung charakteristisch sind. Wirkungen im Hinblick auf Motivation und Zugleich wurden die betrieblichen Initiativen Bindung der Belegschaft an das Unterneh- als praktischer Versuch der Demokratisierung men werden hervorgehoben. Traditionelle der Wirtschaft gewertet. Mitarbeiterbeteiligung in Form von Erfolgs- beteiligungen oder Beteiligungen am Kapital, Aktuelle Diskussion z.B. in Form von Belegschaftsaktien, spielen Heute kann an diese Diskussion der 1980er in der gewerkschaftlichen Diskussion keine Jahre angeknüpft werden. Freilich haben sich zentrale Rolle – trotz der Initiativen des DGB- die Rahmenbedingungen verändert. Heute Bundesvorstands, dieses Thema stärker in den stehen stärker die Aspekte der Legitimation der Gewerkschaften zu verankern. Unternehmensentscheidungen und der Kritik Oft wird Mitarbeiterbeteiligung kritisch an der Unternehmenspolitik und weniger regi- gesehen, weil negative Einflüsse auf die onalpolitische Überlegungen im Zentrum, die tarifliche Lohnpolitik und die gewerkschaftli- Anlass für Überlegungen zu anderen Eigen- che Betriebspolitik befürchtet werden. So wird tumsformen und einer veränderten Rolle der von gewerkschaftlicher Seite eine Mitarbeiter- Belegschaft sind. In der Kritik steht besonders beteiligung abgelehnt, die etwa in Form von die Unternehmenspolitik des »Shareholder Va- an den wirtschaftlichen Erfolg gekoppelten lue«. Dabei wird das Unternehmen wesentlich Bonuszahlungen in Konkurrenz zur tarifver- als Finanzinvestition mit Mindestrendite für traglichen Einkommenspolitik tritt. Als weitere die Kapitaleigner begriffen. Mit der Krise und Gefahr wird gesehen, dass mit der Mitarbeiter- der Kritik an der Dominanz der Finanzmärkte beteiligung das betriebswirtschaftliche, an der gerät diese Unternehmenspolitik in die Kritik, Kapitalrendite ausgerichtete Denken übernom- und es tritt stärker ins Bewusstsein, dass Un- men wird. Als besonders abschreckend gelten ternehmen Wertschöpfungsprozesse darstellen, dabei die von amerikanischen Gewerkschaften in denen die Arbeit und die Beschäftigten eine gehaltenen Pensionsfonds, die bei ihren zentrale Stellung haben. Beteiligungen auf strikte Rentabilität im Sinne Konzeptionell ist zu unterscheiden des Shareholder-Value-Konzeptes dringen. zwischen einer Mitarbeiterbeteiligung, die Eine Mitarbeiterbeteiligung, die auf eine primär unter dem Gesichtspunkt der Ver- Demokratisierung der Wirtschaft abzielt, setzt mögensbildung gesehen wird, und einer, die weniger auf individuelle Vermögensbildung auf Beeinflussung der Unternehmenspolitik als auf eine Mitbestimmung an der Unterneh-

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LUX_1103_03.indb 10 01.09.11 16:45 menspolitik. Sie greift auf die gewerkschaft- der Gefahr vorgebeugt werden, dass einzelne lichen Forderungen nach Erweiterung der Mitarbeiter zu Kapitalisten werden. Es bedarf Mitbestimmung zurück. Diese Forderungen dazu Regelungen, wie die Willensbildung und konzentrieren sich auf eine stärkere Beeinflus- damit der Einfluss auf die Unternehmenspoli- sung der Investitionsentscheidungen und auf tik erfolgt, welche Rechte sich für die Mitarbei- die Standortpolitik. Würden die Belegschaften ter ergeben, aber auch wie die Anteile gehalten, zu (Mit-)Eigentümern, hätten sie deutlich mehr verzinst und übertragen werden können. Schon Möglichkeiten, die Unternehmenspolitik zu in den Belegschaftsbetrieben der 1980er Jahre bestimmen. Skeptisch wird gesehen, dass zum wurden Anteile nicht individuell, sondern Risiko des Arbeitsplatzverlustes nun das Risiko in Form von Mitarbeitergesellschaften bzw. des Vermögensverlustes hinzukomme. Wenn -vereinen gehalten. Es läge nahe, dazu die Einkommen und Vermögensanteile entkop- Rechtsform der Genossenschaft zu wählen: pelt werden, also die Anteile nicht zu Lasten »Produktivgenossenschaften«, die allerdings des Einkommens gehen, kann dieses Risiko in der Bundesrepublik Deutschland – mit gemindert werden. Auch wird darauf hingewie- Ausnahme der Landwirtschaft im Osten – im sen, dass durch die Beteiligung der Mitarbeiter Gegensatz zu anderen europäischen Ländern allein sich noch nicht die Unternehmenspolitik wie Italien wenig Tradition haben und eher ändere und vor allem auch nicht die Konkur- skeptisch betrachtet werden. In der Praxis hat renz untereinander aufgehoben werde. sich denn auch die Genossenschaft als wenig praktikabel erwiesen. Mitarbeiter als (Mit-)Eigentümer? Bei Sanierung und Restrukturierung von Belegschaftsbetriebe und Unternehmen leistet die Belegschaft oft Sanie- Wirtschaftsdemokratie rungsbeiträge. Diese könnten in Anteile der Die Ursachen der Krise sind ebenso wenig be- Belegschaften am Unternehmen umgewandelt seitigt wie die Defizite der wirtschaftlichen und werden – wie es im Fall von Opel versucht wur- gesellschaftlichen Entwicklung, wie sie in der de. Auch unabhängig von Restrukturierungen Krise manifest geworden sind. Daher bleibt die könnten gesetzliche Regelungen vorgenommen Demokratisierung der Wirtschaft aktuell. Die werden, wonach ein Teil der Gewinne in Beleg- Wirtschaft muss insgesamt an gesellschaftlichen schaftseigentum umgewandelt wird. Dies sollte Zielsetzungen, an sozialen und ökologischen dann m.E. in einer Größenordnung erfolgen, Erfordernissen ausgerichtet werden. Deshalb die mindestens eine Sperrminorität ermöglicht. ist das Konzept der Wirtschaftsdemokratie Eine solche Beteiligung darf nicht individuell, umfassend angelegt und setzt auf verschiede- sondern muss kollektiv gestaltet werden – etwa nen Ebenen an: auf der Betriebs- und Unterneh- in der Form von Mitarbeitervereinigungen oder mensebene, auf der Ebene der Industrie- und -gesellschaften, die diese Anteile halten. Denn Strukturpolitik (hier steht Regionalpolitik im nur so kann das gemeinsame Interesse gewahrt, Zentrum) sowie auf der gesamtwirtschaftlichen solidarisches Wirtschaften ermöglicht und Ebene als Forderung nach einer demokratischen

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LUX_1103_03.indb 11 01.09.11 16:45 gesamtwirtschaftlichen Steuerung. Der stärkere bedarf es aber auch insgesamt der Schaffung Einfluss der Beschäftigten auf Betrieb und förderlicher wirtschaftlicher und gesellschaft- Unternehmen ist ein zentrales Element. Das licher Rahmenbedingungen. Denn damit eine kann sich nicht auf Mitbestimmung beschrän- andere, an den Interessen der Beschäftigten ken – auch nicht in der erweiterten Form, wie wie der Gesellschaft ausgerichtete Unterneh- die Gewerkschaften fordern. Notwendig ist menspolitik gelingen kann, muss der Druck der eine Veränderung der Eigentumsstrukturen: kapitalistischen Konkurrenz gemindert werden. neben öffentlichen Unternehmensformen und Dies erfordert letztlich eine gesellschaftliche Stiftungen auch Belegschaftseigentum. Zwar Steuerung der Ökonomie, konkret von Initi- sind Belegschaftsbetriebe ­– besser: Betriebe ativen in der Branchen- und Strukturpolitik in Belegschafts(mit)eigentum – quantitativ und eine gesamtwirtschaftliche Strategie des unbedeutend, doch die Debatte um sie und ihre sozialökologischen Umbaus der Wirtschaft. Zielsetzung ist relevant. Und notwendig sind Initiativen der »Demo- Belegschaftsbetriebe stehen im Zu- kratisierung der Arbeitswelt«, wie sie in den sammenhang der »Demokratisierung der Sozialwissenschaften und den Gewerkschaften, Arbeitswelt«, als ganz praktische Versuche der insbesondere der IG Metall, diskutiert werden Demokratisierung der Wirtschaft. Sie ermögli- (1988). Die Arbeitswelt zu demokratisieren, chen eine Zielsetzung, die nicht an der Rendite bedeutet Verhältnisse zu schaffen, in denen des Kapitals, sondern an den Interessen der Arbeit humaner, also selbstbestimmter, gestaltet Belegschaft und an gesellschaftlichen Bedürf- werden kann, und den Druck des kapitalisti- nissen orientiert ist. Unternehmenspolitik schen Verwertungsprozesses zu mindern. kann somit ausgerichtet werden am Ausbau Literatur der internen Potenziale, der Kreativität der FAZ.NET, 2009: »Arbeitnehmer sind die besseren Aktionäre«. Beschäftigten, an der Verantwortung gegenüber Gespräch mit Berthold Huber, 23. August 2009, www.faz. net/artikel/C31151/im-gespraech-berthold-huber-arbeit- Belegschaft, Region und Umwelt. Sie bieten nehmer-sind-die-besseren-aktionaere-30007172.html die Möglichkeit, Hierarchien abzubauen und Huber, Berthold (Hg.), 2010: Kurswechsel für Deutschland, Frankfurt/M selbstbestimmter zu arbeiten. Sie können IG Metall, 1988: Dezentrale Beschäftigungsinitiativen als Ele- Laboratorien für eine sozial verantwortliche und mente gewerkschaftlicher Politik, Frankfurt/M Klemisch, Herbert, Kerstin Sack und Christoph Ehrsam, beteiligungsorientierte Unternehmenspolitik 2010: Betriebsübernahme durch Belegschaften. Eine sein. Dafür ist eine öffentliche Förderung von aktuelle Bestandsaufnahme. Studie im Auftrag der Hans Böckler Stiftung Belegschaftsbetrieben notwendig. Dies gilt König, Otto, Adi Ostertag und Hartmut Schulz (Hg.), 1985: im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung, »Unser Beispiel könnte ja Schule machen!«, Köln Meine, Hartmut, und Uwe Stoffregen, 2011: »Wirtschaftsde- woran in der Vergangenheit derartige Initia- mokratie als gewerkschaftliche Alternative zum Finanz- tiven häufig gescheitert sind – z.B. durch die marktkapitalismus«, in: Hartmut Meine u.a. (Hg.), Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen!, Hamburg Schaffung entsprechender finanzieller Insti- Urban, Hans-Jürgen, 2011: »Wirtschaftsdemokratie des tutionen. Dies gilt zum anderen in rechtlicher 21. Jahrhunderts«, in: Hartmut Meine u.a. (Hg.), Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen!, Hamburg und politischer Hinsicht, beispielsweise durch © M. Benedetto, http://matiasbenedetto.com.ar, eine entsprechende Gesetzgebung. Gleichzeitig Cooperativa Esperanza, Argentinien

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LUX_1103_03.indb 12 01.09.11 16:45 LUX_1103_03.indb 13 01.09.11 16:45 Genossenschaften und die Bewegung für eine solidarische Ökonomie

Jessica Gordon Nembhard Genossenschaften und Kooperativen sind ein Teil der Arbeiterbewegung und der Bewegung Emily Kawano zur Demokratisierung der Wirtschaft – das wird in den USA oft übersehen. Immer wie- der gab es erfolgreiche Versuche, Betriebe in Regie der Belegschaften zu führen und Koope- rativen zu gründen, wenn auch meist nur in kleinem Maßstab. Sie wurden häufig sabotiert von ultrakonservativen und antigewerk- schaftlichen Kräften oder durch rassistische Gewalt beendet. Konnten die Kooperativen sich etablieren, waren sie transformatorisch wirksam: Sie veränderten die Branche, die Arbeitsvorschriften, führten Kranken- und Vorsorgeleistungen ein; sie minderten rassis- tische und sexistische Diskriminierung; sie warben für fairen Handel und praktizierten ihn. Genossenschaften haben die Gemein- den um sie herum verändert, indem sie die Wirtschaftsaktivitäten erhöhten, Arbeitsplätze und wirtschaftliche Sicherheit schafften und die Beziehungen im Gemeinwesen und das Gemeindeleben verbesserten.

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LUX_1103_03.indb 14 01.09.11 16:45 D as PoTENZial wiederentdecken* Während der Zeit ihres größten Erfolges, um Genossenschaften Interessante Beispiele aus dem 20. und 21. 1992 herum, hatte FQB 150 Mitglieder und Jahrhundert sind die Kooperativen Freedom war der größte Arbeitgeber der Stadt. Neben Quilting Bee, Rainbow Grocery , der Näherei betrieb die Kooperative eine Kin- und die Bewegung Equal Exchange und Cooperative Home Care dertagesstätte und führte nach Schulschluss Associates. und im Sommer Lese- u.a. Kurse durch. In einer Zeit, in der das politische Klima für eine solidarische Nähen für Befreiung die ökonomischen Möglichkeiten für Afro- Freedom Quilting Bee wurde 1966 gegründet, amerikaner im Süden der USA empfindlich um Bauernfamilien eine von der Land- einschränkte, konnten Frauen durch die Ökonomie wirtschaft in Naturalpacht (sharecropping) Kooperative das Einkommen ihrer Famili- unabhängige Einkommensmöglichkeit zu en verbessern. Sie hatten eine alternative schaffen. Es war eine Strategie afroamerikani- Einkommensquelle geschaffen und konnten scher Frauen, Armut zu bekämpfen und auf sparen, Höfe und Ackerland kaufen und Ge- Grundlage der neu gewonnenen finanziellen meinwesenprogramme durchführen. Als eine Unabhängigkeit die Bürgerrechtsbewegung Kooperative von Eigentümerinnen wurden zu unterstützen. Frauen aus Alberta und Bees auch Bedarfe der Familien und des Gemein- Gend im Bundesstaat Alabama schlossen sich wesens gesehen und in Angriff genommen – zusammen, um gemeinsam Quilts (gesteppte alles in der Regie von Frauen. Decken) zu nähen und zu verkaufen. FQB ist Gründungsmitglied der Federation of Gesunde Nahrungsmittel Southern und ein Beispiel dafür, und Selbstverwaltung wie Frauen die Kontrolle über ihre eigenen Ar- Die Rainbow Grocery Cooperative öffnete ihr beitsbedingungen und ihren Betrieb erlangen. erstes Nahrungsmittelgeschäft im Sommer Zugleich ist sie Beispiel für solidarische Arbeit 1975 als Teil von People’s Food System in San im Gemeinwesen. 1968 kaufte die Kooperati- Francisco. Rainbow wuchs schnell, überlebte ve mehr als neun Hektar Ackerland und baute viele der Nachbarschaftsläden und nahm 1993 auf einem Teil der Fläche eine Nähfabrik. Acht die Rechtsform einer Genossenschaft an. Mit Parzellen verkauften die Frauen an Pächter- etwa 200 Arbeiter-Eigentümern ist Rainbow familien, die aus ihren Häusern vertrieben Grocery der zweitgrößte Genossenschafts- worden waren – einige nachdem sie sich betrieb in den USA. In den Anfangsjahren ins Wählerverzeichnis eingetragen oder an waren die Arbeiter-Eigentümer maßgeblich an einer Kundgebung von Martin Luther King jr. der Entwicklung von Zertifizierungsstandards teilgenommen hatten. für ökologische Lebensmittel beteiligt und ent- Die Quilt-Näherinnen verbesserten über wickelten den Vertrieb unabgepackter Lebens- die Jahre ihre wirtschaftlichen Strategien und mittel und Kräuter. RGC wurde als ökologisch erweiterten ihre Produktpalette um Platzdeck- nachhaltig wirtschaftendes Unternehmen aus- chen, Schürzen, Topflappen und Servietten. gezeichnet, das nicht nur ­Wiederverwertung

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LUX_1103_03.indb 15 01.09.11 16:45 und Recycling betreibt, sondern auch auf Umsätze im Wert von 170 Millionen US-Dollar kurze Wege setzt, lokale Erzeugnisse kauft erzielt. Doch die Fair‑Trade‑Händler sind und für alternative Verkehrsmittel wirbt. äußerst verschieden. So bietet etwa der Konzern Als Kooperative der Belegschaft setzt Rain- Wal-Mart eine Sparte mit Fair‑Trade‑Produkten bow auf faire Arbeitsbedingungen, Kranken- an und unterstützt damit Kaffeeproduzenten und Versorgungsleistungen und faire Löhne, im Regenwald. Doch die eigenen Arbeiterinnen von denen sich leben lässt. Die Genossenschaft und Arbeiter in den USA bekommen weiterhin schafft »nicht-hierarchische Arbeitsplätze« auf Niedrigstlöhne und können ihren Lebensunter- der Grundlage von »Respekt, Gegenseitigkeit halt nur durch Wohlfahrtsprogramme sichern. und Kooperation« (Selbstdarstellung im Am anderen Ende des Spektrums steht Equal Internet). Viele der Selbstverwaltungspraktiken, Exchange, ein Genossenschaftsbetrieb im darunter Ausbildungs- und Trainingsangebote, Eigentum der Belegschaft. die RGC entwickelt hat, sind Vorbild für die 80 Arbeiter-Eigentümer zeugen vom er- Kooperativenbewegung in den USA geworden folgreichen Wirtschaften und dem Wachstum und von anderen Kooperativen übernommen der Kooperative, aber Equal Exchange setzt wurden. Die meisten der täglichen Entschei- auch Maßstäbe in den Bemühungen, Fair dungsprozesse werden auf Abteilungsebene Trade zu einem Teil einer gesellschaftlichen getroffen. Die selbstverwalteten Arbeitsgrup- Transformationsbewegung werden zu lassen. pen der 14 Abteilungen wählen die Mitglieder Dass der Betrieb von den Arbeitern getragen der verschiedenen Komitees. Der Vorstand wird, soll dazu beitragen, Ausbeutung in allen ist mit den übergreifenden finanziellen und Teilen der Produktions- und Absatzkette zu rechtlichen Belangen und der längerfristigen beenden. »Ist Fair Trade ein tragfähiges Mo- Planung und Entwicklung befasst. dell für eine solidarische Wirtschaftsweise?«, fragte Rodney North von Equal Exchange auf Fair handeln und fair arbeiten dem Left Forum 2011 in New York. Seine Ant- Equal Exchange verbindet fairen Handel mit wort lautete: Manchmal. Das ist der Fall, wenn Demokratie am Arbeitsplatz, sie unterstützt fairer Handel bedeutet, Gewinne und Verluste auf der ganzen Welt Kooperativen, die Kaffee, zu teilen, als auch frei von Ausbeutung und Tee und Schokolade produzieren, und macht Teil der Veränderung von Machtstrukturen ist. sie in den USA bekannt. Die Kooperative Bei einem Treffen mit der dominikanischen in Boston schafft Kontakte zwischen ihren Regierung hat Equal Exchange die Behand- Arbeiter-Eigentümern und ihren Kunden und lung der Landwirtschaftsgenossenschaften Produktionsgenossenschaften im globalen angesprochen, und in den USA hat sie die Süden. Ziel ist es, dauerhaft Handelsbezie- Entwicklung des fairen Binnenhandels maß- hungen zu etablieren, die ökonomisch gerecht geblich vorangetrieben. und umweltfreundlich sind. Wenn allerdings eine Abteilung eines Die Verkaufszahlen im Fair-Trade-Bereich Unternehmens fair produzierte und gehandel- stiegen 2010 um 24 Prozent und es wurden te Waren einkauft, während der Rest des Un-

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LUX_1103_03.indb 16 01.09.11 16:45 ternehmens Gewerkschaften unterminiert, hat die Fähigkeiten, sich selbst zu behaupten und »Fair Trade« nichts mit solidarischem Wirt- zu vertreten, entwickelt werden können. schaften zu tun. Wenn die Käufer aus Gewis- Mehr als 1600 Latinas und Afro-Ame- sensgründen einen geringfügig höheren Preis rikanerinnen arbeiten als Pflegehelferinnen zahlen, aber alle anderen Machtverhältnisse in drei Unternehmen der CHCA. 700 der unverändert bleiben, ist das keine solidarische Beschäftigten sind Eigentümerinnen und Ökonomie. Equal Exchange eröffnet ein ganz CHCA damit die größte Kooperative im Besitz neues Feld und bringt im Handel in jeder von Arbeitenden in den USA. Seit 1987 haben Hinsicht gleichberechtigte Partner zusammen. die Arbeiterinnen-Eigentümerinnen durch- Indem Fair Trade mit Belegschaftseigentum schnittlich 250 US-Dollar oder zwischen 25 verbunden wird, ist Equal Exchange Teil der und 50 Prozent ihrer ursprünglichen Einlagen Bewegung für die Transformation zu einem als Dividenden ausgezahlt bekommen. Die solidarischen Wirtschaftsmodell. Kooperative strebt eine Verbesserung der Löhne und Versorgungsleistungen ihrer Kooperativen gründen – Mitglieder ebenso an wie bezahlten Urlaub Armut und Rassismus bekämpfen sowie Krankenversicherung und schafft eine Im New Yorker Stadtteil Bronx hat die Arbeitskultur, die von Vertrauen und Zusam- ­Pflegegenossenschaft Cooperative omeH Care menarbeit geprägt ist. Die Weiterbildung der Associates die ökonomische Handlungsfähig- Mitglieder, die Schaffung von Aufstiegsmög- keit von Women of Color erhöht, die bisher nur lichkeiten und Selbstverwaltungspraktiken in Niedriglohnjobs gearbeitet haben und von werden durch CHCA befördert. Aus der denen drei Viertel auf staatliche Unterstützung Kooperative ging ein Institut für Pflegeassis- angewiesen waren. Die Pflegebranche ist für tenz hervor, das Mitglieder und andere in der ihre Unzulänglichkeiten bekannt: Niedriglöh- Branche Tätige fortbildet. 2000 wurde als ne, hohe Fluktuation, mangelnde Aufstiegs- dritter Ableger Independence Care Systems möglichkeiten und Verstärkung von Armut gegründet, eine Einrichtung, die sich auf (Gordon Nembhard i.E.). CHCA ist im Besitz Pflegeleistungen für Behinderte spezialisiert. von Arbeiterinnen und setzt neue Standards Auch die Vermögensbildung der Mitglieder in der Pflege: höhere Löhne, Krankenversiche- wird unterstützt. Neben den Löhnen werden rung und andere Vorsorgeleistungen, Ausbil- Dividenden gezahlt, Lebensversicherungen dung und Demokratie am Arbeitsplatz. Die abgeschlossen und die Möglichkeit angeboten, Entwicklung von Führungsfähigkeiten von einer Rentenversicherung beizutreten. CHCA Frauen wird durch die Organisationsstruktur unterstützt die Mitglieder in Finanzfragen wie gefördert. Peggy Powell, Mitbegründerin von der Einrichtung von Spar- oder Girokonten, CHCA, betont, wie wichtig es ist, dass die und eine Beratung in Steuerfragen kann Kontrolle des Vorstandes durch die schwarzen ebenfalls in Anspruch genommen werden. Frauen und Latinas selbst übernommen wird; Die Versorgungsleistungen sind in der die Mitbestimmung ist entscheidend, damit Pflegebranche einmalig. Die Kooperative hat

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LUX_1103_03.indb 17 01.09.11 16:45 eine große Zahl sinnvoller Arbeitsplätze in In Bezug auf die Nachfrage kann man der Kommune geschaffen und eine typische sagen, dass die meisten Menschen nicht Niedriglohnbranche verändert. einmal wissen, was eine Genossenschaft ist. Genossenschaftsbetriebe in den USA haben Genossenschaften als Teil ihre Besonderheit nicht offensiv zu Markte einer Bewegung der Transformation getragen. Kooperative Wirtschaftsformen gibt es schon Die Sichtbarkeit von Genossenschaften lange, sie sind hunderte von Jahren älter als wird langsam durch eine Reihe von Faktoren kapitalistische Unternehmensformen. Im verbessert: durch die steigende Zahl von Altertum haben Babylonier, afrikanische Betrieben in Belegschaftseigentum, wach- Gesellschaften und die Ureinwohner Nord- sendes Interesse an Genossenschaften als amerikas gemeinschaftlich Ackerbau betrie- Strategie der Arbeitsplatzbeschaffung und des ben und die Chinesen entwickelten die ersten ökonomischen Wachstums – insbesondere Spar- und Kreditvereinigungen. In der Neuzeit in wirtschaftsschwachen Regionen –, durch sind Kooperativen wesentlicher Teil unserer mehr Genossenschaftsnetzwerke und eine Wirtschaft, der Internationale Genossen- zunehmende Kooperation mit Bewegungen schaftsbund geht davon aus, dass es weltweit für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit 47 000 Kooperativen gibt, die zusammen über wie etwa Gewerkschaften und der Bewegung 100 Millionen Mitglieder haben. Mehr als 20 für eine solidarische Ökonomie. dieser Kooperativen haben einen jährlichen Umsatz von über einer Milliarde US-Dollar. Treten Kooperativen Doch trotz ihres langen Bestehens werden sie aus dem Schatten heraus? von kapitalistischen Unternehmensformen In den USA wächst die Zahl der Kooperativen, in den Schatten gestellt und sind in den USA von 1980 bis 2004 verdoppelte sich ihre nahezu unsichtbar. Zahl von 150 auf 300 (GEO Newsletter Nr. Durch die Unsichtbarkeit finden die 69). Angesichts der mangelhaften Datenlage Arbeiter-Kooperativen zu wenig Untestüt- basieren aktuelle Belege auf Einzelberichten. zung. Wirtschaftsstudiengänge lehren Jackall und Levin (1984) sehen Bedingungen nicht, wie man Kooperativen aufbaut und für das Wachstum von Kooperativen jeder Art erfolgreich betreibt; Banken sind zögerlich in in: Arbeitslosigkeit und schlechten wirt- der Kreditvergabe. Es gibt keine staatlichen schaftlichen Bedingungen, Phasen rapiden Weiterbildungsprogramme, und Regionalent- technologischen Wandels, die mit Desintegra- wicklungsfirmen bieten Kooperativen keine tionsprozessen einhergehen, und drittens in Starthilfen. Die Regierung nimmt keine Daten Phasen politischer Umwälzungen, in denen über Kooperativen in ihre Statistiken auf und die gegenwärtigen Wirtschaftsstrukturen und hält nur äußerst geringe Unterstützung bereit, -praktiken in Frage gestellt werden. Diese sei es in Form von finanziellen Ressourcen Bedingungen bestimmen die gegenwärtige oder politischen Maßnahmen. wirtschaftliche Situation. Als Teil einer Strate-

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LUX_1103_03.indb 18 01.09.11 16:45 gie gegen Arbeitslosigkeit und Armut erfahren die Beteiligung der USW sicher, dass sich im Kooperativen einen Legitimationszuwachs. Genossenschaftsmodell kein Zweiklassen- Ein Beispiel für eine neue Wirtschaftsent- Modell der Beschäftigten (Eigentümer und wicklungsstrategie ist die Evergreen Cooperative Angestellte) entwickelt und die Kooperativen in Cleveland, die innenstädtische Armutsvier- nicht durch Selbstausbeutung die Löhne in tel mithilfe von Genossenschaftsbetrieben anderen Unternehmen drücken. wieder aufbauen will (vgl. Alperovitz/Howard/ Netzwerke und Dachverbände wie die U.S. Williamson in: Luxemburg 4/2010, 34-39). Federation of Worker Cooperatives und eine Evergreen arbeitet mit »Bottom-Up« und Vielzahl regionaler Netzwerke wie das Network »Top-Down« Prozessen, in denen die Koope- of Bay Area Cooperatives befördern das Wachs- rativen in Zusammenarbeit mit den Gründern, tum der Genossenschaften. Sie spielen eine lokalen Eckpfeiler-Unternehmen (ein Kran- wichtige Rolle in der Aus- und Weiterbildung kenhaus und eine Universität, die potenzielle und Kooperation von Genossenschaften. Abnehmer sind) und einer Organisation für Es bleibt die Frage, in welchem Ausmaß die Entwicklung von Kooperativen (Ohio Kooperativen Teil einer Bewegung für eine Employee Ownership Center) entwickelt wer- Transformation sind oder ob sie nur eine den. Indem der Aufbau mit lokal verankerten Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen Unternehmen und Einrichtungen organisiert sind, die den Interessen ihrer Mitglieder nützt. wurde, konnten mehrere Millionen Dollar Genossenschaftsnetzwerke wie die US Gründungskapital akquiriert werden. Federation of Worker Cooperatives, North Die Zusammenarbeit der Stahlarbei- American und die tergewerkschaft USW mit der MondragÓn- US Federation of Community Development Kooperative eröffnet ein neues Feld (vgl. Credit Unions haben sich der Bewegung für Davidson in diesem Heft, 100ff). Eine große eine solidarische Ökonomie angeschlossen. und geschichtsträchtige Gewerkschaft wie Die Bewegung tritt global für eine die USW lässt das Bündnis von Kooperativen Transformation der Wirtschaftsweise ein, die und Gewerkschaften wiederaufleben. Das Mensch und Planet an erste Stelle setzt. Soli- ist ein Signal an die Arbeiterbewegung und darische Ökonomie basiert auf den Prinzipien die Öffentlichkeit, dass Kooperativen Teil der Solidarität, partizipatorische Demokratie, Lösung sind und nicht bloß eine randständige Gleichheit auf allen Ebenen, Nachhaltigkeit Alternative. Eine Reihe von »Worker Buy- und Pluralismus (der Gestaltungsweisen Outs« stehen an, in denen die Belegschaften – es gibt kein alleingültiges Modell). Eine strauchelnde Unternehmen aufkaufen werden. solidarische Wirtschaft schließt an konkrete Durch die Zusammenarbeit der USW mit alternative Praxen wie Kooperativen, Genos- Mondragón kann aus Fehlschlägen der Ver- senschaftsbanken, Landwirtschaftsgemein- gangenheit gelernt werden und an die Erfolge schaftshöfe, Gemeinschaftliche Land- und der Mondragón-Kooperative der letzten 50 Vermögensverwaltungen (Community Land Jahre angeknüpft werden. Gleichzeitig stellt Trusts), fairer Handel und Komplementär-

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LUX_1103_03.indb 19 01.09.11 16:45 währungen an, aber auch an Aspekte, die als Gerechtigkeit ist ein weit gefasstes Konzept. Teil der Mainstream-Wirtschaft gelten, wie Für Gerechtigkeit für Arbeiter-Eigentümer der öffentliche Sektor und Sozialmaßnahmen. einzutreten, heißt noch lange nicht, sie auch Die Arbeit an einer solidarischen Wirtschaft für die angestellten Nicht-Eigentümer zu for- erstreckt sich von der Organisierung an der dern. Wie weit die Gerechtigkeit hinsichtlich Basis über die Wirtschaftsentwicklung des Geschlecht, Herkunft und Hautfarbe, sexuelle Gemeinwesens bis hin zu Recherchearbeiten Orientierung und Identität reicht, ist Teil der und politischer Interessenvertretung. Statuten und Umgangsweisen jeder einzelnen Die solidarische Ökonomie verbindet Genossenschaft. Doch der Genossenschafts- Praxis mit Theorie: Sie geht von ganz anderen gedanke gibt Grund zur Annahme, dass Annahmen aus als die kapitalistische neoklas- aufgeklärte Haltungen eher befördert werden sische Theorie. Die Neoklassik geht vom homo (vgl. den Beitrag von Ness, 32ff). Dasselbe gilt economicus aus, einem rational, berechnend, für das Prinzip der Nachhaltigkeit (auch wenn eigennützig handelnden Kerl, der unter ge- sie nicht in den sieben Prinzipien der Genos- ringsten Anstrengungen oder Kosten nach dem senschaften genannt ist, vgl. 125, Fn 11). größten Nutzen für sich selbst strebt. Seine Die Beispiele zeigen verschiedene Berechnungen werden von seinem Standpunkt Wege, wie die Beschäftigten Solidarität und aus als Individuum gemacht und nicht unter wirtschaftliche Kooperation gegen Diskri- Berücksichtigung einer größeren Gemein- minierung und Marginalisierung nutzen schaft, der Umwelt, der Nation oder der Welt. können, ihre Kräfte bündeln und ihre eigenen, Es gibt viele Belege, dass Menschen auf gegenseitigen Nutzen gerichteten und oftmals als homo solidaricus – solidarische oft demokratischen Unternehmen schaffen Menschen – handeln. Altruismus, Gegensei- können. Arbeiter-Kooperativen wollen alter- tigkeit, Solidarität, Kooperation, Beherztheit, native, demokratische Eigentumsstrukturen Liebe, soziale Werte und Ansehen – diese schaffen – während Monopolmacht, Ungleich- Motive können genauso stark, wenn nicht heit, Hierarchien, begrenzte Ressourcen und stärker sein als materieller, individueller Marktversagen weiter wirken. Viele der Grün- Gewinn. Wir sollten unser Stichwort nicht dungsverläufe gleichen sich: Aufgrund eines bei Darwins Vorstellung vom Überleben des Bedarfs oder Problems kommen Menschen Stärkeren suchen, sondern bei Modellen wie zusammen, fangen klein an und verteilen interdependente Beziehungen von Symbiose Risiken breit, nutzen vorhandene Kontakte; und Kooperation. Selbsthilfe in der Gruppe befördert die Motiva- Kooperativen passen gut zu diesem tion und eine andauernde Auseinandersetzung Bild des homo solidaricus. Zusammen mit mit Aus- und Weiterbildung. Auf Grundlage partizipatorischer Demokratie, dem Kern- einer ersten wirtschaftlichen Stärkung gelingt prinzip der solidarischen Wirtschaft, wird die es vielen Kooperativen, größere Kämpfe um Passung noch genauer. Andere Prinzipien der die Verbesserung von Arbeitsbedingungen solidarischen Wirtschaft sind komplizierter. und -vorschriften, Krankenversicherung

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LUX_1103_03.indb 20 01.09.11 16:45 und Versorgungsleistungen, wirtschaftliche Die globale Bewegung für eine solidarische Stabilität und Vermögensbildung, demokra- Ökonomie verleiht allen ihren Wirtschafts- tische Mitbestimmung und Entwicklung des bereichen größere Sichtbarkeit, eine Stimme Gemeinwesens zu bestehen – insbesondere und Macht – als politisch Handelnde, als dann, wenn sie Teil eines größeren Netzwerks Konsumenten, Arbeiter-Produzenten und und einer breiten Bewegung für eine solidari- Mitglieder des Gemeinwesens. sche Wirtschaftsweise sind. 4 | Systemwandel: Genossenschaften sind häu- Genossenschaften können aus ihrem En- fig zu Kompromissen gezwungen, um gegen gagement in einer breiten, auf Transformation kapitalistische Unternehmen bestehen zu gerichteten Bewegung für eine solidarische können, die auf Niedriglöhnen, union-busting, Ökonomie Nutzen ziehen: schlechten Arbeitsbedingungen etc. basieren. 1 | Macht durch Größe: Solidarische Wirtschaft Eine Verbindung von Genossenschaften mit als breit angelegte Bewegung kann helfen, einer breiten Bewegung für die Transforma- mehr Menschen für Genossenschaften zu tion zu einer solidarischen Wirtschaftsweise interessieren. So hat etwa das Netzwerk für ei- würde beiden nützen. Zusammen sind wir ne solidarische Ökonomie in den USA (SEN) stärker als versprengt in einzelnen Wirt- dabei geholfen, neue Kooperativen zu grün- schaftssektoren. Für eine gesellschaftliche den, darunter die Jersey Shore Neighborhood Transformation müssen Kooperativen aus Cooperative, die Well Spring Initiative und das dem Schatten heraus und in den Mainstream Southern Grassroots Economy Project, und es eintreten können. hat die Gründung einer Einwanderergenos- senschaft unterstützt. Aus dem Amerikanischen von 2 | Wirtschaftliche Integration: Die solidari- Catharina Schmalstieg sche Wirtschaft versucht, Zuliefererketten zu stärken und ökonomische Integration * Passagen des Artikels, insbesondere über die Kooperativen FQB und CHCA, sind auf Grundlage von Jessica Gordon zwischen Kooperativen und anderen Berei- Nembhard (i.E.) entstanden. chen wie Finanzen, Konsumption, Austausch, Literatur: alternativen Währungen, öffentlicher Sektor Cooperative Home Care Associates, o.D.: http://paraprofes- und den Commons zu entwickeln. Das Netz- sional.org/Sections/chca.htm, 10.8.2011 Equal Exchange, o.D.: www.equalexchange., 10.8.2011 werk hat begonnen, eine Karte solidarischen Freedom Quilting Bee, 2002: History, Activities, Plans, o.O. Wirtschaftens in den USA anzulegen, um die Glasser, Ruth, und Jeremy Brecher, 2002: We are the Roots: The Organizational Culture of a Home Care Cooperative, wirtschaftliche Integration zu verbessern, und Davis es beteiligt sich an RIPESS, einem weltweiten Gordon Nembhard, Jessica, i.E.: Collective Courage: A history of African American Cooperative Economic Thought and Netzwerk der Netzwerke sozialen und solidari- Practice, State College, PA schen Wirtschaftens. Internationaler Genossenschaftsbund, o.D.: www.ica.coop, 10.8.2011 3 | Bereichsübergreifende Unterstützung: Jackall, Robert, und Henry M. Levin (Hg.), 1984: Worker Kooperativen können eine zentrale Kom- Cooperatives in America, Berkeley Rainbow Grocery Cooperative (o.D.): www.rainbow.coop, ponente einer neuen Wirtschaftsweise sein. 10.8.2011

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LUX_1103_03.indb 21 01.09.11 16:45 »Wir können das besser«

Belegschaftseigentum, Demokratie,

Transformation Alex Demirovic´

Drei Vorgänge haben die Aufmerksamkeit auf Alternativen zu den vorherrschenden, kapitalistischen Formen der gesellschaftlichen Produktion und Dienstleistung ge- lenkt: die flexible Verlagerung der Produktionsmittel, um im globalen Wettbewerb der Standorte die Ausbeutungsrate zu vergrößern, geringste Gewinndifferenziale auszuschöpfen und Gewinne zu erhöhen; die Reaktionen in Lateinamerika auf die neoliberale Krise seit den 1990er Jahren und die sozialistischen Projekte; und schließlich die Erfahrung mit der Wirtschafts- und Finanzkrise. All das legt nahe, die private Verfügung über die Produktionsmittel und die gesellschaftlichen Infra­ strukturen einmal mehr in Frage zu stellen. Es geht um die Transformation der »privaten Produktionsmittel« in gesellschaftliche, in öffentliche, so dass alle am gesellschaftlichen Leben, an der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit und an der Aneignung der Natur gleichermaßen Teil haben und mit entscheiden können – denn sie sind von diesen Entscheidungen auch betroffen. Oftmals wurden die Hoffnungen auf den Staat gesetzt. Mit seinen Machtressourcen besitzt er die Kom- petenz, das gesellschaftliche Gesamtinteresse zu verfolgen. Doch in der Bewälti- gung der Krise hat sich das als eine Täuschung erwiesen. Belegschafts­eigentum, also die Kontrolle der Produktionsmittel durch die Lohnabhängigen eines ­Unter- nehmens, ist ein Versuch, die Produktionsmittel zum Wohl der Beschäftigten ­ein- zusetzen, Arbeitsplätze und Einkommen zu garantieren und die Arbeit selbst zu

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LUX_1103_03.indb 22 01.09.11 16:45 organisieren. – Es kann eine Übung in direkter Kontrolle der Produktionsmittel »Wir und direkter Demokratie sein. Unter kapitalistischen Bedingungen gibt es dominante Eigentumsformen. Sie bestimmen nicht nur den gesamten wirtschaftlichen Prozess, sondern auch die Glie- können das derung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die sozialen Praktiken und die Art und Weise der Ausübung politischer Macht. Dieses kapitalistische Eigentum ist das for- melle, rechtliche Eigentum an den Produktionsmitteln, häufig verbunden mit dem besser« Besitzrecht, also der Verfügungsgewalt über den Einsatz dieser Produktionsmittel. Diese Eigentumsform ist in sich nach verschiedenen Rechtsformen differenziert. Ne- ben diesen privatrechtlichen Eigentumsformen gibt es weitere Formen wie staatli- Belegschaftseigentum, Demokratie, ches, kommunales oder genossenschaftliches Eigentum. Das Verhältnis von Kapitaleigentum und Besitz variiert in der Geschichte des Transformation Kapitalismus. Mit dem Eigentumstitel kann sich direkt das Kommando über die Arbeit verbinden wie in der klassischen liberalen Periode; unter monopolkapitalis- tischen Bedingungen treten beide Kapitalfunktionen auseinander. Die Entschei- dungskompetenzen über den Einsatz der Produktionsmittel werden auf Manager übertragen. Ein Merkmal des Neoliberalismus ist, dass die Kapitaleigentümer, ins- besondere die institutionellen Anleger, darum bemüht sind, das Management ver- stärkt unter Kontrolle zu bringen, um auf Unternehmensstrategien und Gewinnzie- le Einfluss zu nehmen. Die Besitzfunktion, also die realen Verfügungsrechte über die Produktionsmittel, sind folgenreich: Die Verfügenden können über den Einsatz der Arbeit der von ihnen Abhängigen gebieten und sich deren Mehrarbeit aneignen. Sie verstehen den Produktionsapparat nicht als Gemeineigentum, als Kollektivgut oder als öffentliche Institution, das dazu da ist, dass alle ihr Leben erhalten können. Sie sehen ihn als ihr Privateigentum, über das sie zu Recht das individuelle Macht- und Verfügungsmonopol hätten und der ihnen nicht nur die Subsistenz, sondern auch eine individuelle Gewinnvermehrung zu sichern hätte. Zufälligerweise kann sie auch einen Nutzen für die Allgemeinheit ausüben. So sitzen sie dem Missver- ständnis auf, dass alle das Unternehmen betreffenden Entscheidungen ihre Privat- angelegenheit seien: Wird überhaupt etwas hergestellt oder als Dienst für andere angeboten? Welche Produkte werden produziert, wie die entsprechenden Arbeits- prozesse organisiert? Wenn das Unternehmen keinen Gewinn mehr abwirft oder der Gewinn im Verhältnis zu vergleichbaren Unternehmen nicht ausreichend hoch ist und das investierte Kapital bei einer anderen Anlage höhere Zinsen erwarten kann, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Unternehmen eingestellt wird. Den Konsumenten mag dies auf den ersten Blick relativ gleichgültig sein, viel- leicht wird auf dem Weltmarkt ein vergleichbares Produkt angeboten. Versprochen wird, dass es das Neuere und Modernere und Bessere gebe. Doch für die Konsu-

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LUX_1103_03.indb 23 01.09.11 16:45 menten wird aus der Wahlfreiheit ein regelrechter Zwang zum ständigen Fort- schritt: neue Auto- oder Computermodelle, Stereoanlagen, Mobiltelefone, Möbel oder Design. Gleichzeitig ist die Qualität vieler Produkte bedroht, bekannte und be- liebte Produkte verschwinden vom Markt, andere werden gar nicht erst entwickelt und angeboten, weil die Nachfrager nicht zahlungskräftig genug sind. Die Konsu- mentInnen werden von der Dynamik des Immer-Neuen angetrieben und haben auf die Art der Produkte und ihre Gestaltung keinen Einfluss. Die Diskussion über »falsche Bedürfnisse« gilt als beendet, der Vorwurf, sie sei zwangsläufig mit Erzie- hungsdiktatur verbunden, konnte sich fest etablieren. Eine demokratische Diskus- sion über Bedarf, Art der Bedürfnisbefriedigung, über Konsumgewohnheiten oder Produktgestaltung ist in weite Ferne gerückt. Die private Verfügung über die Produktionsmittel hat eine weit über die Kon- sumsphäre hinaus reichende Bedeutung. Denn Unternehmer und Manager können den Lohnarbeitenden gegenüber den Zugang zu den Produktionsmitteln kontrollie- ren, damit also zu den Mitteln ihrer Selbsterhaltung. Das ist auf wenigstens dreierlei Weise möglich: 1 | Die Investitionsvermeidung oder -zurückhaltung. Individuen werden nicht ge- zwungen, eine unternehmerische Funktion wahrzunehmen und kollektiv zur Verfü- gung stehende Ressourcen zu mobilisieren und in eine bestimmte Produktion oder Dienstleistung zu investieren. Sie tun dies als Teil eines herrschenden Kollektivs, das sich am Gewinn und an der Erhaltung seiner Macht orientiert, und entscheiden also über Investitionen und damit über die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Einsatz der menschlichen Arbeitskraft zum Zweck ihrer Ausbeutung. Die einzelnen Indivi- duen können die Besitzfunktion aufgeben und sich auf eine Eigentümer- und Rent- nerfunktion zurückziehen. 2 | Eine zweite Form der Kontrolle ist die der unmittelbaren Zusammenführung der doppelt freien Arbeitskräfte mit den Produktionsmitteln. Im Grenzfall können Un- ternehmen Lohnarbeitende aussperren. Mit betrieblichen Vorschriften, dem Werk- schutz, Video- oder Computerüberwachung, den Hierarchien, den Vorarbeitern und Meistern oder mit straffen Zeitregimen werden komplexe Dispositive der Kontrolle und Überwachung der Lohnabhängigen in den Betrieben geschaffen. Das Macht- mittel der Kontrolle setzt sich vor allem in den Regelmäßigkeiten der formellen und informellen Berufsqualifikation und den Zwängen des Arbeitsmarktes durch. Denn die Art des benötigten Arbeitsvermögens und damit die Prozesse seiner Formierung ebenso wie die Widerständigkeit, Kampferfahrung oder Organisationsfähigkeit der Lohnabhängigen entscheiden darüber, wie innerhalb des Betriebes die Arbeitskraft durch das Kapital angeeignet wird. Um den Grad der Aneignung von Mehrarbeit zu steigern, werden von den Kapitaleignern in der Konkurrenz der Einzelkapitale

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LUX_1103_03.indb 24 01.09.11 16:45 © M. Benedetto, http://matias- benedetto.com.ar, Cooperativa Esperanza, Argentinien

LUX_1103_03.indb 25 01.09.11 16:45 immer neue, effizientere Maschinensysteme entwickelt und die Produktion, die -Ar beitsteilung und damit auch die Form des Arbeitsvermögens ständig verändert. Der Vorgang der zunehmenden Akkumulation bedroht auch die Subsistenz der Arbeiter und ihrer Familien und unterwirft sie der Disziplin des Arbeitsmarkts. 3 | Schließlich können die Kapitaleigner auch entscheiden, Betriebe zu schließen oder eine bereits existierende Produktion zu verlagern. Sowohl hinsichtlich des Konsums als auch der Produktion gab es und gibt es aktuell im Rahmen der Genossenschaftsbewegung, der Alternativbewegung oder der Solida- rischen Ökonomie zahlreiche Bemühungen, sich vom Diktat der Kapitaleigentümer zu befreien. So bilden Konsumenten Genossenschaften und Kooperativen, um mit dem Mittel der Marktmacht ihren Bedarf an bestimmten Produkten zur Geltung zu bringen und zu befriedigen. Sie können auf diese Weise auf die Preisgestaltung, die Qualität von Produkten und Dienstleistungen, die Mengen und die Distribution Ein- fluss nehmen. Auch von der Seite der Lohnabhängigen gibt es zahlreiche Versuche, sich dem Schicksal der Lohnarbeit durch andere Arbeits- und Betriebsformen zu ent- ziehen: Formen von Genossenschaften, Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe, Mitarbeitergesellschaften oder Belegschaftseigentum. Zur Bildung von Belegschafts- eigentum kann es aus den verschiedenen Gründen und in verschiedenen Formen kommen: Unternehmen gehen aufgrund von Missmanagement von Unternehmern und Managern insolvent, obwohl es für die Produkte weiterhin einen Markt gibt; Un- ternehmer geben einen Betrieb auf, weil sie ihn im Verhältnis zu anderen Anlagemög- lichkeiten für zu wenig gewinnbringend halten; oder der Unternehmer zieht sich aus Altersgründen zurück und die Familie will die Firma nicht weiter betreiben. Gewerk- schaften, die Betriebsräte oder Belegschaftsmitglieder können aktiv werden, um die Produktion oder Dienstleistung aufrecht zu erhalten: Belegschaften besetzen Betriebe und setzen die Produktion fort; sie übernehmen eine Firma in Eigenregie, indem sie sie für einen geringen Betrag kaufen; sie arrangieren sich mit den Vorbesitzern, inves- tieren ihre Sozialmittel und übernehmen bestimmte Aufträge. Traditionell bestand in der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften Skep- sis gegenüber der unternehmerischen Aktivität von Belegschaften. Die Lohnabhän- gigen müssen dann Verantwortung für die Betriebe übernehmen und die Gefahr ist groß, dass sie einen unternehmerischen Standpunkt übernehmen. Sie produ- zieren weiterhin für einen kapitalistisch strukturierten Markt und im Rahmen­ der allgemeinen Konkurrenz von Privateigentümern, das kann Genossenschaf- ten oder Betriebe, deren Eigentümer die Belegschaften selbst sind, schnell prä- gen. Weil sie keine hohen Renditen erwirtschaften müssen, können sie am Markt preisgünstiger sein. In Fällen wie genossenschaftlich geführten Krankenhäusern oder Pflegeheimen kann das erwünscht sein, weil die Versorgung mit entspre-

26 luxemburg | 3/2011 KONZEPTE KONZEPTE

LUX_1103_03.indb 26 01.09.11 16:45 chenden Dienstleistungen marktförmig nicht angemessen erbracht werden kann. In anderen Fällen kann es den Wettbewerb verschärfen. Auch können die Beleg- schaften, die Eigentümer sind, dazu übergehen, sich selbst stärker auszubeuten und damit in Konkurrenz zu Lohnabhängigen in kapitalistischen Betrieben zu treten, in denen der Kampf gerade um eine Begrenzung der Arbeitszeit geführt wird. Auch in Betrieben der Alternativ- und solidarischen Ökonomie lässt sich unter fortbestehenden kapitalistischen Verhältnissen der Zwang zu bestimmten Unternehmensentscheidungen nicht völlig vermeiden. Können Entscheidungs- modalitäten – unter kapitalistischen Verhältnissen Vorrecht der Kapitaleigner und des Managements – erfolgreich demokratisiert und Kompetenzen verallgemeinert werden? Eine Grundfrage ist die Bestimmung des Ziels der Belegschaft: Will sie den Betrieb langfristig selbst verwalten oder soll er im Fall höherer Gewinne wie- der an Kapitaleigentümer verkauft werden? Können die einzelnen Belegschafts- eigentümer frei über ihre Anteile verfügen und sie verkaufen oder bleiben diese im Eigentum des Belegschaftskollektivs? Mit Gründung oder Übernahme eines Betriebs können innerhalb des Kollektiveigentümers Konflikte entstehen, ob und in welchem Umfang ein Kredit aufgenommen werden soll und ob die Verschul- dung verantwortet werden kann. Die Belegschaften stehen vor der Frage, wie sie mit den Gewinnen umgehen: Sollen sie investieren, betriebliche Rücklagen für »Durst­strecken« oder für die soziale Absicherung bilden oder mit höheren Löhnen ihren eigenen individuellen Lebensstandard erhöhen? Sind alle betrieblichen Pro- zesse für alle Beteiligten transparent und können tatsächlich alle über die Einnah- men und Ausgaben ihrer Firma mitentscheiden? Aufgrund der betrieblichen Ar- beitsteilung und des Zuschnitts der Kompetenzen können neue Machtstrukturen und Verfügungsmechanismen entstehen (bei Arbeitsorganisation, Finanzplanung, Personalentwicklung). Kapitaleigentum schafft extrafunktionale Macht in einem Betrieb und bei der Lenkung des Produktionsapparats; in kooperativen Unter- nehmen können andere Formen der Macht entstehen: durch Wissen oder durch die moralunternehmerische Nutzung ethnischer oder geschlechtlicher Merkma- le. Es können Hierarchien entstehen, wenn die Gründungsmitglieder die Regeln festlegen,­ wie mit neuen Beschäftigten umzugehen sei: Erhalten sie Anteile am Betrieb und entsprechende Mitspracherechte oder treten sie in ein abhängiges Lohnarbeitsverhältnis ein? Muss es und darf es eine gewerkschaftliche Organisa- tion und einen Betriebsrat geben? Demokratische Entscheidungsregeln, sei es des Konsenses, sei es der Mehrheit, bringen nicht notwendigerweise eine Lösung für diese Fragen: Im Fall des Konsenses kann schon eine Person jede Entscheidung blockieren, im Fall der Mehrheit können substanzielle Minderheiten überstimmt werden (vgl. Albert 2006).

luxemburg | 3/2011 27 KONZEPTE

LUX_1103_03.indb 27 01.09.11 16:45 Die Herausforderungen für Betriebe mit Belegschaftseigentum sind immens, ins- besondere wenn alle Prozesse demokratisch organisiert sein sollen. Im Folgenden will ich vier Arten einer Demokratisierung der Betriebe unterscheiden: 1 | Die erste ist bestimmt durch die Initiative und Aktivität der Belegschaft selbst, deren Mitglieder sich bereit finden, ihre Position als Subalterne zu überwinden und aktiv werden, einen Betrieb zu übernehmen und die Produktion und Verwaltung in die eigene Hand zu nehmen. Dies geschieht fast nie aus einer Situation der Stärke heraus, vielmehr werden Unternehmen oder Unternehmensbereiche von den Kapi­ taleigentümern und ihren Managern aufgegeben. Die Lohnabhängigen überneh- men die Betriebe also unter wirtschaftlich ungünstigen Umständen. Doch können sie­ erfahren, dass sie die Fähigkeiten zur Organisation der Produktion, die techni- schen und die Kenntnisse des Bedarfs besitzen; sie erfahren die Produktivität der Kooperation und der gemeinsamen Absprachen ebenso wie die Solidarität anderer Belegschaften, Nachbarschaften oder Konsumenten. Viele Belegschaften sind in sol- chen Situationen einfallsreich und – wenn eine entsprechende Zusammensetzung des betrieblichen Gesamtarbeiters vorhanden ist – entwickeln neue Produkte und erschließen neue Märkte. Sie stellen fest, dass sie die Unternehmer und Manager nicht benötigen. Ein Beispiel war das Konversionsprojekt von Lucas Aerospace (vgl. Löw-Beer 1981; Cooley 1982). Der Übergang in Belegschaftseigentum kann durch Initiative von Gewerk- schaftsvertretern entstehen, die von der Belegschaft ein Mandat erhalten, die Lei- tung des neuen Unternehmens zu übernehmen; wenn die Belegschaft sich nicht zutraut, die Geschäfte selbst zu führen, werden auch Manager eingestellt. Eine Betriebsübernahme durch die Belegschaft muss nicht mit eigenem Engagement verbunden sein. Die Belegschaftsmitglieder können durch voran gegangene Pro- zesse der Veräußerung und Zerschlagung von Unternehmen, durch ständige Ver- änderungen der Arbeitsorganisation so demoralisiert und misstrauisch gegenein- ander sein, dass sie nach dem ersten mutigen Schritt aus der Hoheit des Kapitals die Energie für weitere Anstrengungen und Formen der aktiven Beteiligung nicht aufbringen. Die Übergabe der unternehmerischen Funktionen an professionelle Manager kann in diesem Sinn entlastend wirken, doch auch zu passivierenden Effekten führen. Die Beteiligung an den Entscheidungen im Unternehmen wird konflikthaft sein. Aber der gesamte Prozess ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Lohnabhängigen Erfahrungen damit sammeln, den Produktionsapparat in eigener Verantwortung zu organisieren. Vieles, wenn nicht alles, können sie besser als die Manager – zumal wenn diese den Betrieb, seine Beschäftigten, die Produkte oder den Markt gar nicht gut kennen oder, aufgrund ihrer Ausbildung und der eige- nen Karriereplanung, das Gespräch mit den Lohnabhängigen und den Austausch

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LUX_1103_03.indb 28 01.09.11 16:45 mit ihnen nicht suchen. Aber die Erfahrungen der Lohnabhängigen in solchen Be- trieben bedürfen selbst der historischen Vermittlung und der wissenschaftlichen Begleitung und Beratung. Daran fehlt es. Allenfalls in Ansätzen ist die Geschichte der Genossenschafts- und Alternativbewegung mit ihren Problemen, sind die Er- fahrungen in den Betrieben bekannt. Die wissenschaftliche und historische For- schung zu diesen Fragen ist gering. (Vgl. Notz 2011; Parlamentarische Linke 2011) 2 | Genossenschaften, Kooperativen, Mitarbeitergesellschaften können sich dem Marktdruck und der Konkurrenz nicht entziehen. Sie müssen Produkte anbieten, die zu bestimmten Preisen nachgefragt werden; sie sind genötigt, Kredite aufzu- nehmen, die sie durch Gewinne wieder abzahlen können; die Einnahmen müssen so groß sein, dass der Betrieb und seine Beschäftigten reproduziert werden können. Damit aber schleicht sich bald wieder eine kapitalistische Rationalität in die Abläufe eines Betriebes ein. Einzelne Betriebe können sie kaum außer Kraft setzen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet muss deswegen der Demokratisierungsprozess der Wirtschaft über den Betrieb selbst hinaus gehen und sich im Umfeld zur Geltung bringen, um die Gesetze der Konkurrenz und des Gewinns zurückzudrängen. Es ist richtig, dass die Idee der Regional-, Branchen- oder Strukturräte wieder in die Diskussion gebracht wurde. Mit ihrer Hilfe kann die Konkurrenz gemildert oder vermieden werden, weil die Räte über die Arbeitsteilung in einer Region, also die Zahl und Art der Betriebe in einer Branche oder mehrerer Branchen und über In- vestitionen entscheiden. Auch die Demokratisierung des Kredits ist notwendig, so dass demokratiepolitisch, sozial und ökologisch verantwortliche und innovative Un- ternehmen nicht durch die Maßnahmen von Banken behindert werden können, die sie bei der Refinanzierung durch die Beschränkung von Krediten benachteiligen. Entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen sind erforderlich. 3 | Die dritte Form der Demokratie ist die der gesellschaftlichen Entscheidung über die Investitionsfunktion. Es wird kollektiv entschieden, ob gesellschaftliche Arbeit für die Herstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung überhaupt gebunden und eingesetzt wird. Wenn eine entsprechende Entscheidung positiv fällt, muss über den Ort und den Umfang der Produktion entschieden werden. Davon hängen wie- derum die Infrastrukturen wie Transport oder Energie ab; außerdem sind damit Ent- scheidungen über die Arbeitsorganisation und die Arbeitsqualifikationen verbunden, ebenso über die Zahl und Art der zur Verfügung stehenden Wohnflächen, die Ver- kehrsinfrastruktur, die entsprechende Lebensmittelversorgung, die Kinderbetreuung oder die schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten. Solche Entschei- dungen können teilweise auf regionaler Ebene getroffen werden, doch reichen sie über die Region und den Nationalstaat hinaus. Hier bedarf es eines demokratischen Prozesses des Aufbaus völlig neuer demokratischer Institutionen.

luxemburg | 3/2011 29 KONZEPTE

LUX_1103_03.indb 29 01.09.11 16:45 4 | Eine vierte Form der Demokratie betrifft den Gesichtspunkt, den Marx mit dem Begriff der »Betriebsweise« bezeichnet. Damit meint er den Zusammenhang von Arbeits- und Verwertungsprozess. Der Arbeitsprozess als ein Prozess der Aneig- nung und Umarbeitung der Natur findet immer unter spezifischen Bedingungen statt: in der Form eines Bauernhofes oder einer Werkstatt. Unter kapitalistischen Bedingungen wird der Arbeitsprozess unmittelbar als Verwertungsprozess organi- siert und ermöglicht die gewaltfreie Aneignung der Mehrarbeit durch die Kapitalei- gentümer. Arbeits- und Verwertungsprozess werden von der bürgerlichen Klasse an bestimmten Orten zusammengeführt, die klassischen Formen dafür sind die Manufaktur und die Fabrik. In der Geschichte des Sozialismus wurde angenom- men, dass immer mehr Lohnarbeitende dieser fabrikförmigen Betriebsweise un- terworfen sein würden, sie also zunehmend in den Fabriken konzentriert würden. Damit wäre die Grundlage für eine sozialistische Organisation und Mobilisierung der Lohnarbeitenden gegeben und die Voraussetzung für eine effiziente sozialisti- sche Ökonomie geschaffen. Die neoliberale Reorganisation der Betriebsweise hat vielfach auch die Fabrik in Frage gestellt: Neben neo-tayloristische Formen der Pro- duktion treten das virtuelle Unternehmen, die gestreute Fabrik oder das dezentrier- te Dienstleistungsunternehmen. Sie operieren mit einer großen Zahl von Herstel- lern und unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen. Auch die Betriebsweise selbst, also die Art und Weise, wie überhaupt produziert wird, wie Güter verteilt oder Dienstleistungen erbracht werden, muss Gegenstand der kollektiven, demo- kratischen Entscheidung sein. Ist eine Fabrik mit Tausenden von Arbeitenden nach ökonomischen, ökologischen, demokratischen Gesichtspunkten sinnvoll? Ist es ef- fizient, große Verkaufshallen an den Stadträndern mit großen Parkplätzen zu ins- tallieren, wohin sich alle mit dem eigenen Auto hinbewegen müssen? Oder bedarf es nicht – rhetorisch gefragt – dazu der Alternativen – und wie sehen diese aus? Das ist keine Entscheidung, die Marx zufolge nach technischen Gesichtspunkten erfolgen kann, sondern die abhängig ist von gesellschaftlichen Verhältnissen. Belegschaftseigentum gibt es, es ist keine Utopie. Es ist eine reale Tendenz, die Investitionen, die Organisation der Produktion, die Bedarfsermittlung und die Ver- teilung von unten, von den Lohnabhängigen oder den Konsumierenden her zu orga- nisieren und die gesellschaftliche Arbeit und die Formen, in denen sie erbracht wird, zu vergesellschaften. In solchen Unternehmen ist es den Belegschaften möglich, für sich Kompetenzen in Anspruch zu nehmen, die ihnen aufgrund von kapitalistischer Eigentümermacht ansonsten vorenthalten werden. Sie können die praktische Erfah- rung machen, dass sie eigentlich das meiste oder alles besser machen können als die Eigentümer oder Manager. Deren Kompetenz – die ihnen nicht rundweg abgespro- chen werden muss – hängt nicht notwendig mit ihrer Kapitaleigentümerfunktion zu-

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LUX_1103_03.indb 30 01.09.11 16:45 sammen. Insofern handelt es sich bei Belegschaftseigentum um wichtige praktische Erfahrungen. Gleichzeitig werden Genossenschaften, Kooperativen oder Mitarbei- tergesellschaften gezielt behindert durch Gesetze, Banken oder Konkurrenten. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen behindern die Entfaltung solcher Projekte. Die Kapitalseite wartet nicht ab und schaut nicht tatenlos zu, bis sich ein Sektor der vergesellschafteten Ökonomie herausbildet (vgl. Demirović 2011). Es muss die für den Kapitalismus so charakteristische Trennung und Besonderung der Ökonomie von der Gesellschaft durchbrochen werden, wenn solche Projekte erfolgreich wei- ter entwickelt werden sollen. Entsprechend müssen sie durch eine Reihe von Pro- zessen in der Zivilgesellschaft und in der politischen Gesellschaft unterstützt wer- den. Dies beginnt beim Einkaufs- und Konsumverhalten, bei Entscheidungen über die vermeintlich individuelle alltägliche Lebensweise. Es bedarf einer umfassenden öffentlichen Berichterstattung und Diskussion über solche Alternativen und ihre Möglichkeiten, um ein entsprechendes Wissen über gesellschaftliche Alternativen zu vermitteln. Um ein solches Wissen zu entwickeln, bedürfte es der Einrichtung neuer Studiengänge oder Lehrinhalte an den Hochschulen, in denen das Wissen der partizipativen und solidarischen Ökonomie vermittelt und eine entsprechende For- schung betrieben wird – nicht zuletzt, um genossenschaftliche, kooperative Betriebe unterstützen und beraten zu können. Schließlich bedarf es auf politischer Ebene einer Vielzahl von Maßnahmen, die solche Unternehmen unterstützen. Dies beginnt bei der politischen Ermutigung in der Form von Politikerbesuchen solcher Betriebe, durch entsprechende öffentliche Äußerungen in Parlamenten, Fernsehsendungen oder programmatische Erklärungen. Die öffentliche Auftragsvergabe kann gezielt an Bedingungen gebunden werden, die die Existenzbedingungen solcher Betriebe be- rücksichtigen. Der Staat kann solche Betriebe subventionieren und durch gesetzliche Regelungen schützen, sie mit Krediten ausstatten und Impulse für Forschungen und Beratungen für solche Betriebsformen geben. Dies hängt von Kräfteverhältnissen ab – und die Hindernisse dürfen nicht gering geschätzt werden. Aber es verhält sich auch umgekehrt: Eine an sozialistischer Transformation orientierte Politik kann, in- dem sie für solidarische und demokratische Formen der Ökonomie eintritt, auch zur Veränderung der Kräfteverhältnisse beitragen.

Literatur Albert, Michael, 2006: Parecon, Frankfurt/M Cooley, Mike, 1982: Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod, Reinbek bei Hamburg Demirović, Alex, 2011: Wirtschaftsdemokratie nach ihrem Scheitern, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, ­Landesbüro Niedersachsen: Zukunft der Demokratie. Demokratie der Zukunft, Hannover Löw-Beer, Peter, 1981: Industrie und Glück. Der Alternativplan von Lucas Aerospace, Berlin Notz, Gisela, 2011: Theorien alternativen Wirtschaftens: Fenster in eine andere Welt, Stuttgart Parlamentarische Linke, 2011: Genossenschaften – eine andere Form des Wirtschaftens. Ein Reader der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin, Juni 2011

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LUX_1103_03.indb 31 01.09.11 16:45 Kooperativen und Genossenschaften in den USA: Gestern und Heute

Immanuel Ness Die Genossenschaftsbewegung1 entstand zur Zeit der Industriellen Revolution in England als Reaktion auf Versuche des Kapitals, die Arbeiter zu schwächen. Die gesellschaftliche Forderung nach genossenschaftlicher Or- ganisierung wurde v.a. durch zwei Faktoren gestärkt: die Erfindung des Spinnrads und der Dampfmaschine – neue Technologien, die zu einer enormen Steigerung der Textilproduktion führten. Die Löhne sanken und die Arbeitszeit wurde verlängert. Mit dem Beginn der Mas- senproduktion sank der Bedarf an Fachkräften, und die Zuwanderung in die Städte – und die Armut – nahm zu. Die Konzentration von Arbeitern in den Fabriken führte zur Bildung von Gewerkschaften. Sie zielten auf Arbeitszeit- verkürzung, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Ein Teil der Arbeiter lehnten sie als bürokratisch ab; sie wollten demokratische Beteiligung an grundlegenden Entscheidungs- prozessen. Zu diesem Zweck organisierten sie sich innerhalb ihrer ländlichen und städtischen Gemeinden: für demokratische Kontrolle, Mit-

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LUX_1103_03.indb 32 01.09.11 16:45 bestimmung und Eigentum an ihren Betrieben sche Unterdrückung durch die Schaffung von Kooperativen und und ein größeres Maß an Sicherheit für ihren sozialistischer Selbstverwaltung und Arbeiter- Lebensunterhalt. demokratie. Nach Ende des Amerikanischen Die Ursprünge der modernen Genossen- Bürgerkrieges, in den 1870er Jahren, kämpf- Genossenschaften in den schaftsbewegung gehen zurück auf die »Rochda- ten Kleinbauern gegen die reichen Räuberba- ler Prinzipien« aus dem Jahr 1844, verfasst von rone, die den Warenhandel dominierten. Sie der Rochdale Equitable Pioneers Society (»Gesell- widersetzen sich dem Crop Lien-System, durch USA: Gestern und Heute schaft der redlichen Pioniere von Rochdale«). Die das Kleinbauern, die keine erschwinglichen Organisationsprinzipien gründen auf der Idee Kredite für Saatgut und andere Betriebsmittel von Arbeiterselbstverwaltung und demokrati- bekommen konnten, in Schuldknechtschaft scher Verwaltung und dienen noch heute als gedrängt wurden. Das erinnert an heutige moralische und organisatorische Richtschnur Formen des neoliberalen Kapitalismus mit für die Gründung von Kooperativen. seinen monetären und Finanzinstrumenten, Die Pioniere von Rochdale wollten Genos- die die Arbeiterklasse durch Enteignung senschaften bilden, die »so bald wie möglich und Schuldknechtschaft unterdrücken. Im […] Produktionskräfte und Absatz verwalten, 19. Jahrhundert waren Farmer im Süden und Bildungsarbeit und Regierungsverantwortung Südwesten der USA gezwungen, kommende übernehmen, oder mit anderen Worten, Ernten gegen Kredite für die Saatzeit zu eine auf solidarischer Selbsthilfe beruhende, verpfänden. Sie konnten ihre Waren dadurch gemeindewirtschaftliche Organisation mit nicht anderweitig beziehen oder die Ernte begrenzter Anteilsverzinsung errichten bzw. an- am gewinnbringendsten absetzen. Von dem dere Gesellschaften bei der Errichtung solcher ausbeuterischen System enttäuscht, schlossen Organisationen unterstützen«. Genossenschaf- sich die Farmer zu Produktionsgemeinschaf- ten für Verbraucher, Hausbewohner, Erzeuger ten zusammen. So entstanden zum Beispiel und Arbeiter wuchsen zu einer Bewegung. die National Grange in den 1870er Jahren und die Farmers Alliance in dem darauf folgenden Genossenschaften in den USA Jahrzehnt. Ziel waren höhere Rohstoffpreise Die Ursprünge der Genossenschaftsbewe- durch gemeinsames Handeln von unten. gung in den USA liegen in Kämpfen der In den 1880er Jahren entstand die Arbei- Arbeiterklasse gegen die brutalen Formen des terorganisation Knights of Labor, in der sich Kapitalismus in den Agrarregionen. Seit dem Arbeiter zusammenschlossen, um Widerstand späten 19. Jahrhundert hat sich die Bewegung zu leisten gegen die Bemühungen des Kapitals, auf Teile des städtischen Produktionssektors Löhne zu drücken, eine Reservearmee von ausgeweitet. 150 Jahre lang kämpfte die Arbeitern zu schaffen und die Fähigkeiten und Arbeiterklasse für die Schaffung von Genos- Kenntnisse der Arbeiter zu entwerten. Die senschaften als Antwort auf die räuberische Knights of Labor entwickelte sich zur größten Enteignung durch die Privatwirtschaft und als Arbeiterorganisation: Sie mobilisierte Fabrik- Mittel zum Widerstand gegen die kapitalisti- arbeiter und setzte ihre Mittel zur Schaffung

luxemburg | 3/2011 33 KONZEPTE

LUX_1103_03.indb 33 01.09.11 16:45 von etwa 200 Industriegenossenschaften ein. gewerkschaftliche Organisierung. Mit Beginn Am Ende des 19. Jahrhunderts, als das Han- der Massenproduktion suchten »Radikale« dels- und Finanzkapital begann, die US-Politik neue Wege der Arbeiterorganisierung, mit zu bestimmen, scheiterten die Bemühungen Hilfe rätekommunistischer oder anarchosyn- der Knights, gemeinsam mit den Farmern dikalistischer Industriegewerkschaften wie der einen landesweiten Genossenschaftsverband Industrial Workers of the World (IWW). Die IWW zu gründen. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1887 und ihre Anhänger setzten auf eine staaten- gingen sie ein Bündnis mit der Farmers Alliance freie Gesellschaft; das kapitalistische System ein. Politische Parteien wurden gegründet, die sollte durch eine sozialistische Gesellschaft im Sinne der neuen Genossenschaftsbewegung ersetzt werden, beruhend auf internationaler agieren und deren Interessen vertreten sollten: Solidarität. Auch Genossenschaften galten in den 1880er Jahren etwa die Greenback Labor ihnen als Alternative zum Lohnsystem. Die Party und die Populist Party. Die Bewegung Arbeiter erwarteten durchaus, dass demokra- wurde weitgehend durch das »Great Uprising« tische Gewerkschaften der Massenproduktion zerschlagen: den Kampf zwischen Arbeit und ein Ende bereiten und eine egalitäre, sozialisti- Kapital, der sich Ende des 19. Jahrhunderts sche Gesellschaft bringen würden. zuspitzte. Er führte zum Zerfall der Knights und In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. untermauerte die Herrschaft der Konzerne in Jahrhunderts konsolidierte sich die kapitalisti- den USA. Doch die Arbeiter- und Bauernbe- sche Klasse, indem sie die Selbstorganisation wegung zeigte, dass organisierte Bewegungen der Arbeiter und die Bildung von Gewerkschaf- der Arbeiterklasse ein geeignetes Mittel waren, ten verhinderte. Auch die Experimente mit die hegemonialen Machtansprüche eines vom praktischen Utopien wurden als Gefahr für ihre Kapital beherrschten Staates in Frage zu stellen. Machtstellung bekämpft, die Bewegungen zur Die zweigleisige Strategie der Organisierung Stärkung der Arbeiterklasse brutal zerschlagen. von Arbeitern am Ort kapitalistischer Produk- Trotzdem existierten im Jahr 1920 laut dem Bu- tion und durch Bildung von Genossenschaften reau of Labor Statistics 2600 genossenschaftlich und Kooperativen ist noch immer charakteris- organisierte Geschäfte und Einkäuferverbände, tisch für den Arbeitskampf in den USA: für ein meist in kleinen Städten, zur Versorgung der Mehr an Kontrolle und Sicherheit bei der Arbeit dortigen Farmergemeinschaften. Nach Ende und sozialer Reproduktion. des Ersten Weltkriegs, zwischen 1920 und 1922, Durch den Niedergang der Knights of Labor ging die Mehrzahl der Genossenschaftsketten, und die Zerschlagung der Genossenschaftsbe- Großhändler und Vereinigungen bankrott und wegung durch Regierung und Kapital ver- bis Mitte der 1920er Jahre stellte ein Großteil schlechterten sich die Aussichten auf eine de- den Betrieb ein. mokratische Willensbildung in den Betrieben Durch die Arbeiterbewegung und die der USA. Utopische Gesellschaften gründeten Fabrikbesetzungen zwischen 1936 und 1939 weiter kleinere Kooperativen, doch der Großteil dachten viele an eine breitere sozialistische der Beschäftigten arbeitete machtlos und ohne Kontrolle der Produktion als Alternative zur

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LUX_1103_03.indb 34 01.09.11 16:45 flikr/jankie, , Entladen und Verarbeitung von Baumwolle auf einer landwirt- schaftlichen Genossenschaft in Indien.

Herrschaft der Privatwirtschaft. Bis 1939 hatten tiven Wegen, die Gesellschaft zu organisieren: sich der Staat und die Herrschaft des Kapitals Gemeinschaftlich und genossenschaftlich jedoch gefestigt und waren weitgehend unange- organisierte Arbeit, ­Gleichberechtigung als fochten. Zwar hatten die Gewerkschaften in den Grundlage für Demokratie und gemeinsame USA in der Zeit von 1935 bis 1955 einen enor- Verfügung über die Ressourcen wurde als Teil men Zuwachs zu verzeichnen. Der New Deal von Selbstermächtigung gesehen. Die Bewegun- wies ihnen jedoch eine untergeordnete Position gen wurden durch die neoliberale, marktorien- gegenüber den Arbeitgebern zu; diese behielten tierte Reagan-Regierung abgelöst. In den 1980er die endgültigen Machtbefugnisse im Betrieb – Jahren wurden viele Genossenschaften und wie das Recht, Betriebe zur Steigerung der Kooperativen aufgegeben oder gingen Bankrott. Rentabilität zu schließen oder zu verlagern. Es gibt einen direkten Zusammenhang In den 1960er Jahren, zur Zeit der sozialen zwischen der Bedeutung von Kooperativen Unruhen, waren Genossenschaften und Koope- und Genossenschaften und den Zyklen von rativen Teil der breiteren Bewegung für soziale Rezession, Depression und den Phasen des Gerechtigkeit und gegen den amerikanischen wirtschaftlichen Aufschwungs. Individualismus und Materialismus. Sie waren Genossenschaften und Kooperativen sind Teil der anti-institutionellen Suche nach alterna- ebenso anfällig für den Konjunkturverlauf wie

luxemburg | 3/2011 35 KONZEPTE

LUX_1103_03.indb 35 01.09.11 16:45 private Unternehmen. Dennoch wurden sie in und rief die Regierungen auf, mit Genossen- Zeiten des »Aufschwungs« von Medien und schaften und Kooperativen zusammen zu Staat diskreditiert, Individualismus und privat- arbeiten, um Armut zu mindern und pro­ wirtschaftliches Eigentum wurden gefördert. duktivere Gesellschaften zu schaffen. Bedeutet das, dass die Arbeiter in den USA Genossenschaften in den USA zu Beginn bereit sind, den Kapitalismus zu überwinden? des 21. Jahrhunderts Wahrscheinlich nicht. Aber sie sind bereit, Heute gibt es in den USA mehr als 29 000 die tyrannischsten Elemente dieses Systems Genossenschaften und Kooperativen, die etwa zu verändern und ihre Rechte mit Hilfe von 120 Millionen Mitglieder zählen und mehr genossenschaftlichem Eigentum zu verteidigen. als 850 000 Menschen beschäftigen. Laut Genossenschaften sind eine Alternative Angaben des National Center for Employee Ow- vor allem für Beschäftigte im Niedriglohnsek- nership sind in den USA etwa 13,6 Millionen tor, die keinerlei formale Vertretung haben Beschäftigte Miteigentümer von Betrieben und in Arbeitsverhältnissen ohne soziale durch ihre Teilnahme an Mitarbeiterbeteili- Absicherung und ohne Aussicht auf Aufstiegs- gungsprogrammen ( möglichkeiten gefangen sind. Für die prekär Programs, ESOP). Das gesamte in diesen Beschäftigten in den USA und Lateinamerika Programmen angelegte Belegschaftsvermögen sind Kooperativen und Selbstverwaltung über- übersteigt 900 Milliarden US-Dollar. Die lebenswichtig geworden. Die Belegschaften Steelworkers Union (USW), Nordamerikas bereiten sich auf ihre Rolle als zukünftige größte Industriegewerkschaft, unterzeichnete Manager, Stakeholder und Eigentümer vor kürzlich ein Abkommen mit Mondragón, und verbessern die Lebensbedingungen der einer 100 000 Mitglieder starken Genossen- Menschen in den Kommunen. schaft in Spanien (vgl. den Beitrag von Da- vidson im Heft): Belegschaften sollen lernen, Fallstudie: Genossenschaften und wie sie Anteile an scheiternden Unternehmen ­Kooperativen in Wisconsin erlangen oder diese in Zusammenarbeit mit Die ländliche Wirtschaft im US-Bundesstaat der USW übernehmen können. Die Rolle der Wisconsin profitiert schon lange vom Genos- Gewerkschaft wird hier deutlich ausgeweitet. senschaftswesen. Zu Beginn des 19. Jahrhun- Seit der globalen Krise werden Genos- derts wurde die erste städtische gemeinnützige senschaften wieder beliebter. Unternehmen, Versicherungsgesellschaft gegründet. Später Banken und das Finanzsystem haben an nahm sich die Grange-Bewegung der wirt- Vertrauen eingebüßt. Die Beschäftigten haben schaftlichen Not der Farmer an und trat für stärkeres Interesse an alternativen, auf demo- genossenschaftliche Organisation von Geschäf- kratischer Beteiligung, Selbstverwaltung und ten, Getreidespeichern und Getreidemühlen Eigentum beruhenden Unternehmensformen. ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 46 Im Juni 2011 erklärte die UN das Jahr 2012 Prozent der Molkereien und 37 Prozent aller zum Internationalen Jahr der Kooperativen Käsereien in Wisconsin Eigentum der Farmer.

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LUX_1103_03.indb 36 01.09.11 16:45 Das erste Genossenschaftsgesetz von Wis- consin wurde 1887 erlassen und 1911 überar- beitet. Seitdem haben 16 Bundesstaaten das Wisconsin-Modell übernommen. Das Gesetz wurde 1921, 1955 und 1989 überarbeitet. Es erlaubt die Schaffung von Genossenschaften und Kooperativen zu jedem rechtmäßigen Zweck außer der Eröffnung einer Bank oder einer Versicherung. Die Genossenschaften in Wisconsin sind unterteilt in Vertriebs-, Produktions-, Bezugs- und Absatzgenossenschaften. Vertriebsgenossenschaften müssen als Betriebe Eigentum von Mitgliedern sein, die ähnliche Produkte herstellen, und ihren Mitgliedern zugute kommen. Sie bilden flikr/jankie, , Entladen ein Netzwerk verschiedener Kooperativen und Verarbeitung von Baumwolle mit einem gemeinsamen Produktangebot. auf einer landwirt- Vertriebsgenossenschaften sind in der Lage, schaftlichen Genossenschaft bessere Preise auszuhandeln und verschaf- in Indien. fen ihren Mitgliedern Zugang zu größeren Märkten. Sie können Mehrwert schaffen, Selbstverwaltung. Die Arbeiter haben direkten indem sie Produkte veredeln und damit Preis Nutzen vom Unternehmen. Der Gewinn wird und Nachfrage anheben. Viele Agrargenos- unter den Arbeitern (relativ gleich) verteilt, auf senschaften fallen in diese Kategorie. Zum Grundlage von Faktoren wie Posten, geleis- Beispiel vertreibt die Winsconsin Cranberry tete Arbeitsstunden und Dienstalter. Solche Cooperative Moosbeeren, die auf dem Land der Kooperativen bestehen in vielen Branchen. Genossenschaftsmitglieder angebaut werden. Union Cab ist ein von der Belegschaft geführtes Die CROPP Cooperative ist Eigentum von fast Taxiunternehmen im Herzen von Madison. Es 750 Biobauern aus allen Bundesstaaten, die wurde 1979 von einer Gruppe von Taxifahrern, ihre Produkte wie Milch, Eier, Käse, Soja, Disponenten und Mechanikern nach einem Säfte, Obst und Gemüse unter dem Marken- erfolglosen Arbeitskampf gegen Checker Cab namen Organic Valley Family of Farms sowie gegründet. Nachdem die Beschäftigten zum Fleischprodukte wie Rind, Schwein und zweiten Mal versucht hatten, vertraglich zuge- Geflügel unter dem Markennamen Organic sicherte Rechte gegen den Besitzer geltend zu Prairie Family of Farms vermarktet. machen, schloss dieser das Unternehmen. Die Produktionsgenossenschaften sind Organizer entschieden sich für das Genos- Unternehmen in Belegschaftseigentum mit senschaftsmodell. Union Cab zählt heute über

luxemburg | 3/2011 37 KONZEPTE

LUX_1103_03.indb 37 01.09.11 16:45 200 Mitglieder und besitzt New Yorks größten fünf einzelnen Haushalten, deren Häuser auf Fuhrpark. genossenschaftlichem Land errichtet wurden. Die Arbeitsbedingungen für Fahrer bei Die Landmark Services Cooperative versorgt Union Cab zählen branchenweit zu den Bes- ihre Mitglieder auf dem Land und in der ten. Seit Mitte der 1980er Jahre können sich Stadt mit Benzin, Dünge- und Futtermittel, Mitglieder über Union Cab krankenversichern Getreide sowie Marketing- und Agronomie- lassen, seit Mitte der 1990er Jahre übernimmt dienstleistungen. Zudem betreibt die Genos- die Genossenschaft einen Anteil des Versiche- senschaft Automobil-Einzelhandelsgeschäfte rungsbeitrags. Union Cab wird demokratisch und Lebensmittelläden. Die Viroqua Food geführt und hält sich an das Prinzip »ein Cooperative beliefert ihre Mitglieder mit Bio- Mitglied – eine Stimme«. Der Vorstand Lebensmitteln. Das ländliche Energieversor- besteht aus einer gewählten Gruppe von gungsunternehmen Adams-Columbia Electric Fahrern, Mechanikern und Disponenten, die Cooperative liefert Strom für seine Eigentümer. gemeinsam das Verwaltungsgremium bilden. Die Independent Pharmacy Cooperative verhan- Weitere Beispiele für Arbeitergenossenschaf- delt mit Großhändlern, um bessere Preise ten sind Isthmus Manufacturing, ein Hersteller und Dienstleistungen für ihre Mitglieder, die von Automationstechnik in Belegschaftseigen- Inhaber solcher Apotheken, zu erzielen. Die tum, sowie Cooperative Care, ein Anbieter für UW bietet auf ihre Mitglieder häusliche Dienstleistungen, Krankenpflege speziell zugeschnittene Finanzprodukte ­und und Pflegehilfe für ältere Menschen und -dienstleistungen an. Menschen mit Behinderungen. Genossenschaften und Kooperativen Bezugs- und Absatzgenossenschaften in Wisconsin konnten von technologischen sind die dritte Kategorie. Sie versorgen ihre Neuerungen profitieren. Landwirtschaft- Mitglieder mit Produkten und Dienstleis- liche Genossenschaften sind strategische tungen für den Fachbedarf und bedienen so Bündnisse eingegangen, sie sind mit genos- spezielle Bedürfnisse. Durch Sammelbestel- senschaftlichen und privaten Unternehmen lungen können bessere Preise, eine bessere fusioniert oder haben sie übernommen. Neue Verfügbarkeit oder Lieferung der Produkte landwirtschaftliche Genossenschaften sind bzw. Bereitstellung der Dienstleistungen für entstanden, um Produkte »mit Mehrwert« zu Farmer, Betriebe und Verbraucher gewähr- vermarkten, etwa im Bereich von Biotreibstoff leistet werden als normalerweise möglich. oder biologisch-dynamisch erzeugter Milch. Die in Mt. Horeb ansässige Homestead Eine der älteren Genossenschaften in Cooperative versorgt 25 Haushalte von »aktiven Madison ist Nature’s Bakery. Sie wurde 1970 Senioren«. Die Ridge Side Co-op in Madison von einer kleinen Gruppe von Frauen ge- stellt in einem immer teurer werdenden gründet, die in einem großen, vom Edgewood Wohnviertel erschwinglichen Wohnraum für College gespendeten Ofen zu backen begannen. neun Familien bereit. Die Adams-Friendship Das Geschäft der Genossenschaft floriert Cooperative Homes ist eine Gemeinschaft von seitdem durch die stetige Verbesserung ihrer

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LUX_1103_03.indb 38 01.09.11 16:45 Mitgliederverwaltung und Arbeitsorganisa- Bereitstellung von Produkten und Dienstleis- tion. Dadurch können die Mitglieder in die tungen für die Mitglieder zu erhöhen. Genos- Bäckerei investieren. senschaften und Kooperativen unterscheiden Die Community Pharmacy entstand 1972 sich zudem dadurch von Unternehmen, dass als eine von der University of Wisconsin in sie, über Wirtschaftlichkeit hinaus, auf der Madison und der Studierendenvertretung von Grundlage von Prinzipien handeln, die gesell- Wisconsin geförderte Apotheke. Studierende schaftliche Bedürfnisse sowie die Bedürfnisse und Gemeindemitglieder konnten dort er- von Mitgliedern, Belegschaften und Gemein- schwingliche Medikamente und Pflegeartikel den widerspiegeln. bekommen. Daraus entstand ein Geschäft, das von Arbeitern und Apothekern gemeinsam ge- Neue genossenschaftliche führt wurde. Nach 20 erfolgreichen Jahren im ­Entwicklungen und Initiativen Zentrum von Madison wurde das Geschäft als Mit dem Begriff worker ownership, Beleg- Produktionsgenossenschaft zur Förderung der schaftseigentum, kann eine Reihe verschie- Gesundheit neu eingetragen. Die Community dener Unternehmensstrukturen beschrieben Pharmacy hat die Definition von »Gesundheit« werden. Das Kooperativenmodell unterschei- erweitert: sie enthält das Recht auf Nahrung, det sich von anderen Unternehmensformen, Wohnung, auf gute Arbeitsbedingungen, auf weil die Vorstellung, das Kapital könnte saubere Umwelt und darauf, sich frei und die Kontrolle zurückerhalten, abgelehnt ohne Angst vor Gewalt oder Unterdrückung wird. Deshalb ist das Modell für Wall Street- bewegen zu können. Investoren nicht interessant. Seit langem In Wisconsin haben die etwa 850 Genos- gilt, dass Genossenschaften nur selten in senschaften und Kooperativen ca. 425 000 kapitalintensiven Branchen vorkommen, da Mitglieder, die knapp 4,5 Milliarden US-Dollar die Beschäftigten im Allgemeinen nicht über Jahresumsatz zur Wirtschaft beisteuern. Kapital verfügen, das sie investieren können. Zudem unterhält die University of Wisconsin Sie sind daher eher in arbeitsintensiven einen der größten Fachbereiche, der sich der Dienstleistungsbranchen, für die keine teuren Förderung und Erforschung von Kooperativen Werkzeuge nötig sind, zu finden. und Genossenschaften in den USA widmet. Betrachtet man die aktuellen Branchen, in Während in privaten Unternehmen der denen Kooperativen stark vertreten sind, sind Gewinn an die Investoren entsprechend den einige tatsächlich in arbeitsintensiven Dienst- einzelnen Investitionen verteilt wird, geht es leistungsbereichen tätig, wie beispielsweise bei Genossenschaften darum, erwirtschafteten in der Landwirtschaft oder im Einzelhandel. Gewinn an die Mitglieder zurückzugeben, je Doch die Genossenschaften verbindet heute nach Inanspruchnahme oder nach individuel- vor allem der Einsatz für eine nachhaltige lem Umsatz. Da die Mitglieder die Genossen­ Produktionsweise. Sie zeigen das Misstrauen schaft in Anspruch nehmen, besteht wenig gegenüber privatwirtschaftlichen Produkti- Anreiz, Gewinne für Investoren auf Kosten der onsweisen mit ihrem Einsatz von schädlichen

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LUX_1103_03.indb 39 01.09.11 16:45 Pestiziden und anderen gefährlichen Chemika- Genossenschaftsbewegung auf und suchte lien, mit denen die Produktion gesteigert und viele Partner für gemeinsame Initiativen der die Kosten gesenkt werden sollen. Arbeiterselbstverwaltung. TWW will damit zei- Misstrauen gegen gentechnisch veränderte gen, dass sich der Erfolg von Argentinien und Nahrungsmittel und den Einsatz von Chemika- Nicaragua – wo sie ebenfalls vertreten ist –, in lien stärkt den Trend zu Bioproduktion in den New Yorks Stadtteilen der Armen, Arbeiter Genossenschaften. Zudem gibt es im Bereich und ethnisch Unterdrückten wiederholen lässt. der Produktion alternativer Energien wie Bio- TWW arbeitet mit Genossenschaften und kraftstoffen, Windkraft und Solarenergie immer Kooperativen, um diese zu unterstützen: etwa mehr genossenschaftliche Unternehmen. mit dem Brooklyn’s Center for Family Life, das Das in Massachusetts ansässige PV erfolgreiche Kooperativen von marginalisier- Squared ist ein Unternehmen in Belegschafts­ ten und migrantischen Arbeitern organisiert. eigentum, das Komplettlösungen für erneu- TWW arbeitet auch mit den Bronx Green erbare Energiesystemanlagen für Haushalte, Workers Cooperatives und Mitgliedern des Unternehmen, Gemeinden und Institutionen verwandten Green Workers Roundtable, mit anbietet. Das Unternehmen hat sich der der Art for Change-Gründerin und Harlem- Förderung einer nachhaltigen Gesellschaft ver- Community-Organizerin Eliana Godoy, der schrieben. Ziel ist es, natürliche Systeme nicht Anlaufstelle in Sachen Einwanderung bei The zu schädigen, sondern sie zu erhalten und Door, und dem Lower East Side Community wiederherzustellen. Eine Reihe von Kooperati- Board #3 zusammen. Die TWW bringt ihre ven übernehmen Kurier- und Transportdienste, Erfahrungen aus Argentinien und Nicaragua die ohne die Verbrennung fossiler Brennstoffe ein: bei Community-Organisationen vor Ort, auskommen. Die in Northampton, Massa- Akademikern, Studierenden und ehrenamt­ chusetts, ansässige Pedal People Cooperative lichen Fachleuten, die die Genossenschafts­ transportiert alles bis zu einem Gewicht von 150 bewegung in der reichsten Stadt der USA kg mit dem Fahrrad. mit der größten Einkommensungleichheit ausweiten wollen. TWW will so im Raum New Die Umsetzung des argentinischen York eine alternative Wirtschaftsstruktur und ­Genossenschaftsmodells in den USA tragfähige Partnerschaften schaffen. Arbeitergenossenschaften in den USA TWW unterstützt die Erweiterung einer profitieren heute von länderübergreifender erfolgreichen Kooperative, die Reinigungs- Zusammenarbeit. Eines der ehrgeizigsten dienstleistungen anbietet. Si se Puede und Kooperationsprojekte trägt den Namen The BeyondCare sind zwei Kooperativen für Kinder- Working World (TWW). Die Genossenschaft tagesbetreuung und Hausdienstleistungen in wurde in Buenos Aires gegründet und machte Sunset Park in Brooklyn; sie werden vom Center im April 2011 ihr drittes Büro, gleichzeitig for Family Life unterstützt. Und TWW plant das erste in den USA, in New York City auf. zwei neue Projekte: Fujian Chinese tea house Sie nahm sofort Verbindungen zur lokalen and sweet shop, ein Betrieb geführt von jungen

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LUX_1103_03.indb 40 01.09.11 16:45 Frauen, die Opfer von Menschenhandel waren Die Arbeiterklasse verliert nicht nur ihre Ar- und sich nur schwer von jahrelanger Schuld- beit, sondern auch ihr Zuhause, das Recht auf knechtschaft und schrecklichen Arbeitsbedin- Gesundheitsversorgung, Bildung sowie das gungen erholen. Recht auf ein gesichertes Auskommen. Diese Die offizielle Arbeitslosenrate in New Verhältnisse schaffen den Raum, in dem York liegt bei 10 Prozent (inoffiziell eher 20 Volks­versammlungen, Genossenschaften und Prozent). Immer mehr Arbeiter müssen länger Kooperativen entstehen, die auf die Unterstüt- für weniger Lohn und unter schlechteren Be- zung von Kommunen ausgerichtet sind. dingungen arbeiten. Daher konzentriert sich TWW auf Arbeiter, die dem ökonomischen Aus dem Amerikanischen von Stefan Schade Druck überproportional ausgesetzt sind: Frau- Literatur en, Afroamerikaner, Latinos und Migranten. Bell, D., 2006: Unions and Cooperatives: Can They Get TWW bietet Dienstleistungen für Along?, in: Dollars and Sense 267 Braverman, H., 1974: Labor and Monopoly Capital: The Belegschaftsbetriebe und Kooperativen ­Degradation of Work in the Twentieth Century, New York an, um deren wirtschaftliche Leistung und Chambers, C.A., 1962: The Cooperative League of the of America, 1916–1961: A Study of Social Theory Zukunftsfähigkeit zu verbessern. »Erfolg« and Social Action, in: Agricultural History 36:2, 59–81 wird daran gemessen, welchen Umsatz die Curl, J., 2009: For All the People, Uncovering the Hidden ­History of Cooperation, Cooperative Movements, and unterstützten Investitionen erwirtschaften. ­Communalism in America, Oakland, CA Die von TWW finanzierten Initiativen in Harvey, D., 2011: Marx’ »Kapital« lesen, Hamburg Hollender, J., 2011: A World of Cooperation and Shared Argentinien und Nicaragua haben 95 Prozent Partnership, in: The Huffington Post Online, www. ihrer Projekte erfolgreich abgeschlossen. New huffingtonpost.com/jeffrey-hollender/a-world-of- cooperation_b_871143.html (13.07.2011) York ist ein hartes Pflaster. Mehr als die Hälfte Hoover, M., und B. Woo, 2011: To Jumpstart US Job Market, der Unternehmen scheitern, es gab keine Turn Workers into Owners, in: The Christian Science Monitor, www.csmonitor.com/Commentary/Opini- genossenschaftliche Tradition. »Wir erwarten on/2010/0111/To-jumpstart-US-job-market-turn-wor- bei unseren Investitionen keine Erfolgsquote kers-into-owners (14.07.2011) Leikin, S., 1999: The Citizen Producer: The Rise and Fall of von 95 Prozent«, so Earle, Sprecher von TWW. Working Class Cooperatives in the United States, in: »Aber wir werden zeigen, dass stärker auf E. Furlough und C. Strikwerda (Hg.): Consumers Against Capitalism: Consumer Cooperation in Europe and North Gleichheit beruhende Produktionsformen America, 1840–1990. Lanham, MD Pittman, L., o.J.: Cooperatives in Wisconsin: The Power of Marktvorteile haben können.« ­Cooperative Action, Madison Die amerikanischen Arbeiter arbeiten für Ransom, R.L., und R. Sutch, 1972: Debt Peonage in the ­Cotton South After the Civil War, in: The Journal of immer niedrigere Löhne in autoritären Un- ­Economic History 32:3, 641–669 ternehmen. Ihre Gemeinden werden von Un- Wright, G., und H. Kunreuther, 1975: Cotton, Corn and Risk in the Nineteenth Century, in: The Journal of Economic ternehmen beherrscht, die eine »Aneignung History 35:3, 526–51 durch Enteignung« (David Harvey) betreiben. Harvey sieht den modernen Kapitalismus und 1 Mit der englischen Bezeichnung cooperative kann sowohl die Genossenschaft als auch die Kooperative seinen folgsamen und unterstützenden Staat gemeint sein. In diesem Text wird oft die Bezeichnung auf vorkapitalistische Formen der Enteignung ­Genossenschaft verwendet. Sie kann dann, entsprechend der englischen Bezeichnung, die Kooperative ­einschließen, von essenziellen Ressourcen zurückgreifen. auch wenn diese nicht immer (mit)genannt wird.

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LUX_1103_03.indb 41 01.09.11 16:45 Arbeiter der Welt, kooperiert!

Die Rolle von Belegschaftseigentum und Kooperativen

für Transformation

Tim Hunt Die Labour-Partei und die Konservativen haben eine Förderung von Belegschaftseigen- tum für öffentliche Dienstleistungen in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Dadurch ist das Interesse an dieser – einst beliebten – Organisationsform neu entzündet. Sind Kooperativen ein Mikrokosmos der demokratischen Gesellschaft, die wir anstreben? Oder verhindern sie politischen Wandel eher, weil Menschen sich von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften abwenden und eigenständige, miteinander konkurrieren- de und selbstausbeuterische wirtschaftliche Einheiten gründen? Kooperativen haben deut- liche Vorteile gegenüber autoritären Systemen betrieblicher Organisation – aber haben sie auch das Potenzial, die Welt zu ändern?

Demokratie Derzeit existieren ungefähr 400 unabhängige Kooperativen1 und Belegschaftsbetriebe in Großbritannien, die in zahlreichen Branchen mit insgesamt etwa 2 000 Arbeitenden

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LUX_1103_03.indb 42 01.09.11 16:45 operieren; sie haben jeweils unterschiedliche Labour und die Konservativen favorisieren in Arbeiter der Welt, Strukturen und Organisationsweisen. ihren Wahlprogrammen Belegschaftsbetriebe, Es gibt andere Formen von Genossen- die nicht demokratisch organisiert sind. Sie schaften: Einkaufs-, Spar- oder Wohnungsbau- beruhen auf dem »John-Lewis-Modell«: Die kooperiert! genossenschaften. Doch viele sehen gerade Beschäftigten haben keinen direkten Einfluss in den Produktionsgenossenschaften das auf alltägliche Entscheidungsprozesse, die Potenzial, die Welt zu verändern: Netzwerke den Chefs und dem mittleren Management Die Rolle von Belegschaftseigentum und Kooperativen von Produktionsgenossenschaften könnten überlassen bleiben. Stattdessen können »fast vollständig die kapitalistische durch eine Beschäftigte über einen »Mitbestimmungs- für Transformation demokratische Ökonomie ersetzen« (Betsy rat« (partnership board) das Management zur Bowman/Bob Stone, Grassroots Economic Verantwortung ziehen, Unternehmenspolitik Organizing 2004). beeinflussen und wichtige Steuerungsent- Die Orientierung auf Demokratie ist scheidungen treffen. Das Unternehmen ausgreifend und stellt einen wesentlichen gehört den Beschäftigten über ein Treuhand- Teil des Kooperativen-Gedankens dar. Viele verhältnis; sie erhalten einen Teil der Gewin- Kritiker der Globalisierung, uneins in anderen ne. Befürworter dieses Modells argumentieren, Fragen, befürworten Formen betrieblicher dass die Unternehmen im harten Marktge- Demokratie als Teil jeder ernsthaften Alter- schehen beweglicher sind und eine gewisse native zum Kapitalismus; und die innere Mitbestimmung garantiert bleibt. Demokratie der Kooperativen unterscheidet sie von anderen Organisationsformen. Diese Druck von auSSen Demokratie kommt den Bedürfnissen der Eine starke demokratische Struktur kann arbeitenden Mitglieder entgegen, die an den Unternehmen helfen, mit dem äußeren Druck Entscheidungen beteiligt sind und daher im globalen Kapitalismus umzugehen. Die ihren Alltag ein stückweit kontrollieren. Ganz Beschäftigten entscheiden gemeinsam, wie anders in Unternehmensformen, in denen der sie mit einer Krise umgehen: etwa indem Chef als Vertreter des Kapitals das Sagen hat sie Lohnkürzungen in allen Gehaltsgruppen und der Profit an erster Stelle steht – während vornehmen, um Entlassungen zu verhindern, die Bedürfnisse der Beschäftigten nur am oder indem Beschäftigte von einer Kooperati- Rande vorkommen. ve in eine andere übernommen werden, wie »Persönliche Entwicklung und das im Mondragón-Modell3. Vorankommen als Gruppe sind für uns Der äußere Druck kann andererseits zentral. Durch die demokratischen Formen zum Rückbau der demokratischen Strukturen können wir ausprobieren, wie wir miteinander führen. Durch die Zwänge des Marktes wird arbeiten können und Gesundheit und Wohlbe- die finanzielle Seite des Unternehmens zum finden, nicht den Profit in den Vordergrund Hauptziel, demokratische Arbeitsmethoden rücken können.« (Dan Hassan, von Radical treten in den Hintergrund. So »verfiel« die Routes2, einem Kooperativen-Netzwerk) 1844 gegründete Kooperative Rochdale4 in

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LUX_1103_03.indb 43 01.09.11 16:45 dem Moment, als sie 1859 neue Investoren Potenzial für dauerhafte als Mitglieder aufnahm, um neue Anlagen zu Transformation finanzieren. Die Investoren überstimmten die Haben Kooperativen nun das Potenzial, einen Arbeiterinnen und Arbeiter und die Genossen- sozialen Wandel herbeizuführen? Sicher schaft wurde innerhalb von drei Jahren in eine können sie allein den Kapitalismus nicht konventionelle Firma umgewandelt. beenden. Aber sie zeigen, dass Menschen un- Die moderne Genossenschaft Ethical abhängig und autonom ihren Alltag meistern Consumer Magazine5 könnte in dieselbe können. So lange Menschen diese Erfahrung Falle gehen. Nach über zwanzig Jahren als nicht machen und kein starkes unabhängi- Produktionsgenossenschaft änderte sie im ges ökonomisches System existiert, könnte letzten Jahr die Struktur hin zu einer Kon- jeder politische Umbruch in bürokratischem sumgenossenschaft; externes Kapital wurde Sozialismus enden, befürchten viele. Die aufgenommen und ein Vorstand gebildet. Rob gelebte Demokratie der Kooperativen kann die Harrison, Gründer der Kooperative, sieht das Transformation auf eine breite demokratische nicht zwangsläufig als Verlust an Demokratie: Kultur hin ermöglichen (John Luhman). »Es geht um mehr Demokratie und nicht um weniger. Wir fördern eine größere Beteiligung Gewerkschaften von Interessengruppen [wie Lesern oder In den 1970er Jahren haben Gewerkschaf- Nichtregierungsorganisationen], während wir ten Modelle von Genossenschaften und die innere Demokratie über die Verfasstheit ­Belegschaftsbetrieben genutzt, um Unterneh- des Vorstandes und der Betriebsleitung ga- men vor dem Konkurs zu retten. Dass dieses rantieren. Im Vorstand sind die Beschäftigten Experiment gescheitert ist, war nicht dem immer in der Mehrheit und die ausschließlich Modell anzulasten. Genossenschaftsbewegung aus Beschäftigten bestehende Betriebsleitung und Gewerkschaften sind in der Labour Party wickelt das alltägliche Geschäft der Genossen- vertreten und beide waren maßgeblich daran schaft ab.« beteiligt, Labour ins Parlament zu bringen. So kann neues Kapital angezogen werden, »Gewerkschaften, Labour und Genossenschaf- was im angespannten wirtschaftlichen Klima ten entstanden vor dem Hintergrund der wichtig ist. Die Unterversorgung mit Kapital Verhältnisse der industriellen Revolution. Sie stellt häufig ein Problem für Kooperativen dar, waren Reaktionen auf Ausbeutung, mangelnde das unterschiedlich gelöst wird. Mondragón im ­Demokratie und schlechte Arbeitsbedingungen. Baskenland (Spanien) finanziert sich über ihre Wir arbeiten im Wesentlichen – auf unter- eigene Bank Caja Laboral. In Kanada wird Kapi- schiedliche Weise – für die gleiche Sache.« tal über die Quebec Federation of Labour Solida- (David Coulter, ­stellvertretender Vorstands- rity Funds6 bereitgestellt; in Norditalien hilft die vorsitzender von Co-operatives UK7) Ob ein Regierung mit Darlehen, während in Brasilien Bündnis mit der Labour Partei allerdings noch und Argentinien über Bürgerbeteiligungshaus- einen sozialen Wandel ermöglichen wird, ist halte Kooperativen unterstützt werden. fraglich.

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LUX_1103_03.indb 44 01.09.11 16:45 flickr/Helgi Halldórsson/ Freddi, Protest vor Regierung und Zentralbank, Island 2010

Robin Murray, Co-ops UK, sieht Gewerkschaf- Kneipen und lokalen Geschäften böten eine ten und Genossenschaften zusammen in Chance für Zusammenarbeit zwischen Genos- einer Schlüsselrolle bei der Ausgestaltung der senschaften und Gewerkschaften. Allerdings von den Parteien vorgeschlagenen genos- müsste man darauf achten, »dass derartige senschaftlichen Initiativen. Zwar befürchten Gemeinschaftsprojekte stark genug sind und Gewerkschaften, dass die Übernahme gegen einen Politikwechsel geschützt werden klassischer staatlicher Dienstleistungen durch können«. Genossenschaften eine »Privatisierung durch die Hintertür« darstellt. Doch Murray stellt Soziale Bewegungen »public-social-partnership« den »private-pub- Persönliches Engagement und individuelle lic-partnerships« gegenüber – und sieht sie als Bindungen sind auch die Ursache für Über- einen Schritt nach vorn, weil Gesellschaften schneidungen und Zusammenarbeit zwischen mit vielen Anteilshaltern eine verstärkte Kooperativen und sozialen Bewegungen. Beteiligung der Gewerkschaften ermöglichten. Der Aktivistin und Genossenschaftlerin Katy Die von New Labour angedachte »Ver- Brown zufolge gibt es zwar keine formalen Genossenschaftlichung« von am Markt Verbindungen, aber einen Wissenstransfer »versagenden« Wasserstraßen, Fußballclubs, auf individueller Ebene: »Das trifft besonders

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LUX_1103_03.indb 45 01.09.11 16:46 für Entscheidungsfindung und -techniken für Signierstunden und reparieren Sachen zu, da Kooperativen ein guter Ort sind, um am Gebäude. Wir kaufen Bücher von ihnen nicht-hierarchische Entscheidungsfindung zu für unsere Bibliothek. Sie sind Teil unseres lernen. Das ist für beide Seiten von Vorteil.« Kollektivs.« Dan Hasan von Ethical Producer hält In der Regel verhindert die Verankerung die Erfahrung kooperativer Organisierung vor Ort eine Kapitalflucht. Einige Kooperati- für zentral: »Jeder hat die Möglichkeit, jede ven – wie der erfolgreiche Lebensmittelladen wichtige Tätigkeit zu lernen und auszuüben, Unicorn in Manchester – lassen einen Teil so dass die Leute sich breite Fähigkeiten ihrer Profite in einen Sozialfonds fließen, der aneignen. Im weiteren Sinne fördert das die Kampagnen und Gruppen vor Ort zugute Eigenverantwortung und ein ganzheitliches kommt. Verständnis von Organisationen. Kooperativen sind eines der am weitesten entwickelten Ausbeutung Werkzeuge, die wir für eine Überführung von Nicht alle Kooperativen dienen der Allgemein- Sachen in gemeinsames Eigentum haben.« heit. Betsy Bowman zeigt, dass in einigen Die Trennung von Kooperativen und Kooperativen mehr als 40 Prozent der Arbeit sozialen Bewegungen oder Community von Nichtmitgliedern gemacht wird. In diesen Organisationen habe einen guten Grund: »Ge- Fällen kann von einer kollektiven Ausbeutung nossenschaften sind am Ende doch Unterneh- von Lohnarbeit gesprochen werden. Eine men, sie unterliegen anderen Anforderungen Produktionsgenossenschaft in Manchester und sind nicht nur für die Versorgung einer stellt Zeitarbeiter für ihre Kommissionierung größeren Community da. Sie existieren, um und das Packen an. Diese Beschäftigten ver- Arbeitsplätze zu schaffen und die Bedürfnisse dienen weniger als die Mitglieder und werden der Mitglieder zu befriedigen.« (David Coulter, in Verträge gezwungen, die auf zehn Monate Cooperatives UK) begrenzt sind. Dadurch haben sie keinen Anspruch auf Arbeitgeberleistungen, die Der Nutzen für die Allgemeinheit allen unter britischen Gesetzen arbeitenden Dennoch nutzen Kooperativen den Gemein- Zeitarbeitern zustehen. den, in denen sie verwurzelt sind. Beschäftigte Auch die Mitglieder arbeiten meist mehr leben vor Ort, wodurch Interessen der Koope- und länger für weniger Geld, weil sie sich als rativen und der Gemeinden zusammenlaufen. weniger entfremdet von ihrer Arbeit emp- Katy Brown, die im sozialen Zentrum finden. Es wird kritisiert, dass Kooperativen Next to Nowhere in Liverpool arbeitet, ist wenig mehr tun, als Waren für den freien dankbar für die Unterstützung des koopera- Markt zu produzieren, so dass ihr Verhältnis tiven Buchladens News from Nowhere bei der zum Kapital sich nur wenig von dem anderer Gründung des Zentrums: »Sie sind unsere Unternehmen unterscheidet – was zu Selbst- Vermieter, räumen uns aber günstige Kondi- ausbeutung führe und dem Kapitalismus tionen ein. Im Gegenzug stellen wir Räume nützt.

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LUX_1103_03.indb 46 01.09.11 16:46 Tim Huet (Co-operative Manifesto) sieht kompetent in allen Bereichen des Unterneh- viel Anlass für Kritik an und Protest gegen mens und haben immer mehr als eine Rolle das Wirtschaftssystem. Für dauerhafte und in der Genossenschaft. Sie erweitern dadurch starke Gegenbewegung sind vielfältige ihre Qualifikation und erhalten Einblick in Initiativen notwendig. Betriebliche Modelle den Gesamtzusammenhang. Dies nutzt der ökonomischer Demokratie sind Teil dieser Kooperative, wenn Kreativität und Problemlö- Vielfalt – neben Gewerkschaften, Einpunktbe- sungen gefragt sind. wegungen etc. Wir brauchen eine Polykultur Kooperativen ermutigen zu eigenständi- des Dissenses und nicht eine Monokultur nur gem Alltagshandeln – eine Revolutionierung reagierender und oppositioneller Politik. unseres Alltags. Solange wir sie reflektieren und entwickeln, anpassen und Widersprüche Ein GroSShandelserfolg bearbeiten, können sie helfen, eine starke, Die größte Kooperative in Großbritannien ist selbstbewusste und lokal verwurzelte Be- Suma. Der Großhändler für Vollwertkost setzt wegung aufzubauen, die über Ressourcen jährlich über 24 Millionen Pfund um, womit und Fähigkeiten verfügt, der Hegemonie des er auf Platz 51 der größten Genossenschaften Kapitals den Kampf anzusagen. und auf Platz 1 der unabhängigen Großhänd- ler für Vollwertkost in Großbritannien steht. Aus dem Englischen von Jana Seppelt. Suma begann 1975 und sollte einige Mit freundlicher Genehmigung von genossenschaftliche Bioläden in Nordengland redpepper.org.uk versorgen. Heute beliefert Suma 2500 Märkte. Noch gibt es keine innere Hierarchie, was die Mitglieder als wesentlich für ihren Erfolg 1 Im Englischen sind Kooperativen und Genossenschaften »cooperatives«, d. Üb. begreifen. 2 www.radicalroots.org.uk/ Die Struktur ist einfach: Alle Mitglieder 3 Mondragón ist die größte baskische Genossenschaft: www.mondragon-corporation.com/. und Beschäftigten bekommen denselben 4 Die Rochdale Society of Equitable Pioneers (engl. für die Stundenlohn, unabhängig von ihrer Arbeit Gesellschaft der redlichen Pioniere von Rochdale) war eine Konsum- und Spargenossenschaft, die im Dezember oder ihrer Verantwortung. Sie haben eine 1844 von 28 Webern aus Rochdale gegründet wurde. Sie gewählte Betriebsleitung, um Entscheidungen formulierte die ersten Prinzipien für Kooperativen und ging auf den britischen Frühsozialisten zurück. und Geschäftspläne umzusetzen; die Ent- 5 www.ethicalconsumer.org/PrintMagazine.asp scheidungen werden auf einem regelmäßigen 6 Freiwilliger Pensionsfonds mit über 550 000 Aktionären und einem Vermögen von ca. 4,6 Milliarden Kanadischen übergreifenden Treffen im Konsensverfahren Dollars. Der Fonds hat Anlagen in rund 1900 kleinen und getroffen. Praktisch heißt das, dass die alltäg- mittleren Unternehmen und half bei der Schaffung von rund 100 000 Arbeitsplätzen. Der Fonds zielt auf Profite, liche Arbeit von eigenständigen Teams aus aber er fördert auch Rechte, Weiterbildung und Entwicklung Beschäftigten ausgeführt wird, die alle den der Beschäftigten. (http://www.caledonia.org.uk/papers/ quebec-solidarity-fund.pdf) gleichen Lohn bekommen, das gleiche Stimm- 7 Co-operatives UK ist der landesweite Verband, der recht und den gleichen Anteil am Erfolg der sich für genossenschaftliche Modelle stark macht und die Entwicklung und Vereinigung kooperativer Unternehmen Unternehmung haben. Die Mitglieder sind fördert (http://www.uk.coop/).

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LUX_1103_03.indb 47 01.09.11 16:46 die hellen Was wir nicht haufen zustande gebracht haben, volker braun

müssen wir überliefern.

Ernst Bloch

LUX_1103_03.indb 48 01.09.11 16:46 Wenn man nun das Feld der Fakten verläßt, steht der unermeßliche Bereich der Erfindung offen. Orte falsch geschrieben, die Personen aus die hellen Rüben geschnitzt, die Handlung aus den Fingern gesogen. Mannsfeld und Weibsleben. Das tut der Sache keinen Abbruch. Man wird nur tiefer in die Geschichte dringen und sie einmal schärfer machen. Beim Hungerstreik war haufen Berndt ums Leben gekommen, und der Zug voll Trauer und Wut war gleich mit hundert Empörten aufgebrochen. Die Öffentlichkeit war alarmiert, und der Hungermarsch in Berlin auf Hunderttausend angeschwollen. Und tat- sächlich die Bitteröder hatten die Steine geschmissen, und Polizisten waren zu Schaden gekommen. Die Rädelsführer (der brave Rüttemann) wurden verhaftet, die Abfindungen gemindert, die Grube geräumt. Es wurden Tat- sachen geschaffen. Zu Pfingsten war es in Eisleben zu blutigen Zusammen- stößen gekommen, zwei Tote (Unbeteiligte), vierzig Verletzte. Zum erstenmal (seit den Bauernkriegen) strengte hier ein Landgericht einen Zivilprozeß an »auf Wiedergutmachung« der materiellen Verluste der Polizei. In Sachsen- Anhalt, in Thüringen Scharmützel, worauf die Entlassenen wieder Brigaden bildeten, die zusammenblieben. Sie lungerten vor ihren alten Werken, hingehalten und aufgereizt von lauthalsen Versprechungen und stillschwei- genden Stillegungen & »Verkäufen« ihres Eigentums. Die Geschichte, ginge sie ordentlich fort, erzählte Beschäftigungsmaßnahmen. Fortbildungen; Unnütze, damit ihr / unnütz bleibt, werden wir euch / umschulen. Zu Kleinpfingsten, die Woche drauf, wird im Mansfeld noch einmal ein Umzug gemacht. Da strömt üblicherweise das ganze Grundvolk zusam- men. Nach den Vorkommnissen war es aber viel Volk mehr, und nicht der Pfingsttanz wurde beerdigt, sondern die zweiU mgekommenen. Weil es sich um zwei Bergleute handelte, kam Pfarrer Kirchner nicht umhin, auch die

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wildesten endlich: arbeiten. en die die en t ll wo aufen H en s die n o V

Totenrede auf ihre Schächte zu halten. Das veranlaßte ein Dutzend Teilneh- mer, ebenfalls Meldung von ihren Betrieben zu machen, darauf achtend, daß man von Toten nichts Schlechtes sagt. Einer aus Rodleben: das Hydrierwerk habe nach der Privatisierung (SALM-Gruppe aus Indonesien) die Forschung verloren und 900 von tausend Arbeitsplätzen. Eine aus der Filmfabrik Wolfen: von 1 500 in der Forschung blieben 92 (»nicht wettbe- werbsfähig«). In Schwedt werde alles zerschlagen; in Premnitz würden sogar die 700 Werkswohnungen mitverkauft. Ein Ingenieur aus Gröbzig trat vor: die Spinndüsenfabrik wurde nach Stuttgart verkauft an der Belegschaft vorbei, die sie teuer zurückkaufen müsse. Beim Dampfkesselbau in Hohen- thurm könne man nur von gezielter Vernichtung sprechen (das kannte man von Hettstedt auch), und im Getriebewerk Wernigerode, im Traktorenwerk Schönebeck, im Werkzeugmaschinenbau Aschersleben derselbe Befund. – Somit war das traditionelle schaurige Ritual auf andere Weise durchgeführt, und der Pfingsttanz als Totentanz exekutiert. Die Hinterbliebnen wunderbar abgefunden, aber aus dem Eigentum waren Schulden geworden. Ein Gewaltverbrechen. – Aber auch die von Oschersleben hätten reden können, die von Stassfurt, Bernburg und Köthen, Dessau, Bitterfeld und Schkeuditz, Merseburg, Nachterstedt, Ammendorf, Halle, Weißenfels, Apolda, Erfurt und Sömmerda, Sondershausen, Nordhausen und Halberstadt. Und aus entfernteren Landstrichen rief das her, aus Chemnitz und Zwickau, Freiberg, Heidenau und Pirna, aus Schwarze Pumpe, Senftenberg und Lauchhammer natürlich, Cottbus, Guben, Anklam, Rostock und Wismar. Oder sie redeten dort, wie Trauerredner, in ihrer Gewerkschaft; aber kein Ruhe in Frieden. Denn von all den halbierten, gevierteilten Belegschaften fanden sich immer zwanzig, dreißig in den Kantinen zusammen, um zu beratschlagen und sich

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wildesten endlich: arbeiten. en die die en t ll wo aufen H en s die n o V

aufzuregen, und an den arbeitsfreien Tagen, derer genug waren, rotteten sich ihrer zweihundert dreihundert vor dem Tor mit Gerassel, um die ihnen gemäße Schlacht zu liefern. Von diesen Haufen wollten die wildesten näm- lich endlich: arbeiten. Wenn man schon auf der Straße lag, wollte man sich dort zeigen, und in Witzleben legten sie sich Mann an Mann, Stücker fünfzig auf die neue Plaza. Nun hat sich die Geschichte munitioniert. Das ist genug Material, einen Kampf zu fintieren. Und Reserven liegen in Mitteldeutschland gebunkert seit der Märzaktion 1921. Insonders das Mansfeld bewahrte das Anden- ken, wo Max Hoelz die Arbeiter bewaffnet hatte und die gesamte Region bestreikt worden war; Viertausend eingebuchtet, viere zum Tode verurteilt. Und schon vor vierhundertsiebzig Jahren die Bauernhaufen hatten auf die mansfelder Knappen gesetzt. – Mintzer kam oft drauf zu sprechen. Dabei wurde die wirkliche Schlacht längst geschlagen. Die erwähnten Scharmützel waren in der Regel Übergriffe der Einsatzkräfte; die Arbeits- kräfte ihrerseits warteten auf den Arbeitseinsatz. Nur war eben das große Arbeitsgebiet seit längerer oder kürzerer Zeit in Devastation begriffen. Aus diesem Bruchland blühende Landschaften zu machen, oblag der Regierung, wofür sie beträchtliche Summen aus dem Staatshaushalt liquidierte. Die Summen zunächst auf ihre Konten zu leiten, lag den Konzernen ob; siehe die Treuhandmanöver. Das war (sagte Mintzer) eine Kriegserklärung. Sie hatten, mit den Schließungen, den Kampf ja eröffnet und sich auf diese Weise in Stellung gebracht. Wer die Handelsbilanzen prüft, hat die ganze Schlacht- ordnung vor Augen. Nur manchmal war ihnen was in die Parade gefahren, wie am 17. Juni in Leipzig, als die Arbeiter die Verlade- und Transport-GmbH besetzten (weil sie sich verladen fühlten), oder im Juli in Suhl, wo erbitterte

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Es war auch ein

en. en. k Gedan r de h tsc u r d Er

Erdrutsch der Gedanken. h ein h c au r a w Es

Sechstausend vor die Treuhandzentrale zogen (: die Jagdwaffenmacher). Im Ganzen aber wartete diese andere Seite ahnungslos (stellungslos) im Gelän- de. Man war irgendwie hineingezogen, und hatte den Streit nicht angefan- gen. Das Kämpfen war ihnen von Partei&Regierung abgewöhnt worden. Mintzer, der sich hier einmischt, war Parteihochschüler gewesen und in die Realität relegiert worden. Dort vegetierten wie je die Wissenschaften und Künste. Ein Abweichler von Graden, der sich daselbst bestätigt gefunden hatte. Seine Kritischen Papiere hatten von Ichstedt bis Allstedt kursiert. Es saßen in diesen Tagen vielerorts die Vordenker zusammen, die nie zum Zuge kamen, weil sie nachdachten, die pluralen Marxisten und Theoretiker der Praxis, die mit Hammer und Sichel philosophierten. In Berlin im Tor- pedokäfer trafen sich Heise, Geist, Mintzer und Finger. Daß die eine Seite so zielstrebig, stabsmäßig operiere, sagte Mintzer: weil es sich dabei um eine Eigentumsfrage handle, die (wie Fontane gesagt habe) den prakti- schen Leuten immer die Hauptsache war. – Das war Fingers Thema, aber bei den Koryphäen waren die Anteilscheine gegessen. Sie waren von den Utopien geheilt. Ihre Denkgebirge standen zur Disposition. Es war auch ein Erdrutsch der Gedanken. Man versuchte sie aufzusammeln. Man griff nach ein paar Begriffen, und hatte die Konfusion. Wem, zum Teufel, gehört das Staatseigentum? fragte Heise, seine Pfeife stopfend. Was geschah hier mit welchem Recht? Wurde ein Staat enteignet? Wer ist der Staat? – Heise ist hier ins Leben gerufen; in Wahrheit war er vor der Zeit gestorben, weil der Krankenwagen nicht nach Hessenwinkel kam. – Eine Maschine, sagte Geist, oder der Apparat. Der ideelle Gesamtkapitalist/sozialist. (Der Geist bekam Stütze, denn er hatte keine Arbeit. Die Universität Leipzig war entostet worden.) – De jure kann nur natürlichen oder juristischen Personen etwas

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Es war auch ein

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Erdrutsch der Gedanken. h ein h c au r a w Es

gehören. (Finger war zu stolz, die Alimente zu nehmen, auch ihn hatte schon die vorige Herrschaft evaluiert.) – Der Staat, das sind wir, sagten die Könige. Das Haushaltsrecht wird noch immer als Königsrecht erachtet. Sei- ner Fiktion, des Staats. – Bei uns, sagte Finger, gab es kein Staatseigentum. Das sah die Verfassung nicht vor. Es gab kein staatliches Vermögen, das nicht Volkseigentum war. – Da war er wieder bei dem Begriff, den er nicht loswurde bei den Leuten. – Aber sei, murrte Heise, das schöne Wort nicht nur die verbrämte Bezeichnung für Staatseigentum gewesen? – Nein, rief Finger. Denn der Staat durfte entscheidende Dinge nicht. Es war ihm nicht erlaubt, dieses Eigentum zu verkaufen. Er durfte es nicht belasten, verpfän- den, veräußern. Es war nicht seins. Es war das Eigentum aller. – Des Volks, lachte Geist. – Wer ist das Volk? fragte Mintzer. Sie sahn sich ratlos an. Dann sahen sie in den Kneipenraum. Sie hatten einen Staat verschwinden gemacht. Das Volk durfte leben. »Alles für das Wohl des Volkes« war auch eine Milchmädchenlosung. – Daß man das Seine nicht hat, sagte Finger, ändert nichts dran, wem es de jure gehört. – Auch das Volk war eine Fiktion, sagte Heise; die Pfeife zog. Die letzte Volkskammer (: Finger) hat aus dem unvollkommenen unverhandelbaren Staatseigentum vollkommnes gemacht. Ihr erster und letzter Akt war die Volksenteignung. – Es in die Hand zu nehmen, sagte Mintzer, wäre die Revolution. Sie krümmten sich wie im Block. In den Mienen malte sich hinter dem Tabaksdampf Beschämung. Nicht, daß sie ihn auslachten, diese zum Denken und zu nichts sonst Entschlossenen; sie schwiegen ihn an. Daß man nicht darüber verfügt hatte, war all die Jahre sein Refrain gewesen, in Hinterzimmern und Seminaren, hinter aufgehaltener Hand. Volkseigentum plus Demokratie: das war die verbotene Losung. Sie hing wieder schief. –

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Sie wollten gemeinsame

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Forderungen formulieren. e m a s ein m e g en t ll wo Sie

Aber womöglich mußte sich die Geschichte entmutigen, ruinieren, damit sie andere Kräfte sammelt. Bei der Friedhofs-Kundgebung oder Begräbnis-Demo war Henning nicht zugegen gewesen. Er lag mit einem Schädeltrauma zuhause. Martin kümmerte sich um den Vater, weil die Mutter verreist war, und war ohnehin wegen ­Randalierens zur Bewährung verurteilt. – Vielleicht hatte Hanna in Göttingen was gefunden. – Martin wäre viel lieber heute als morgen fort, aber wurde nun aufgehalten. Wer weiß, wofür es am Ende schlecht war. Henning sah auf den Jungen, als wäre er eben erst sein Vater geworden und suchte das Ebenbild; und schickte es an seinerstatt zum Treffen der Brigadiere. Das hatten Mintzer und seine Emissäre anberaumt, ohne einen Raum zu wissen. Er sollte groß und verborgen sein, eher ein Versteck, aus dem man an die Öffentlichkeit treten wollte. Kestner vom Röhrig-Schacht schlug eine Schlotte vor, die er auf seinen Expeditionen bei Wetterrode entdeckt hatte und aus der er, weil er vor Aufregung den Rückweg zu markieren vergessen gehabt hatte, erst nach Stunden wieder herausgelangt war. Er hatte damals die unbefugte Befahrung geheimgehalten und, wie bei manchen feinen Sachen der Fall ist, warten zu müssen geglaubt, bis die offizielle Entdeckung erfolgt. Nur den Freund Henning hatte er eingeweiht. Das Wissen zurückzu- halten, hatte aufs Herz gedrückt; er hätte sich gerne mitgeteilt, teilte er mit, aber Disziplinarmaßnahmen befürchtet. Reden wäre Silber gewesen. – Zu dem Zwecke kamen nun, an einem bewachsenen Steinkegel, die Wortführer zusammen, an die dreißig Abgesandte vom Sangerhäuser Haufen, vom Leuna-Hallehaufen und vom großen Sächsischen Haufen; und Martin vom Dreckschweinhaufen dazu. Sie wollten gemeinsame Forderungen formu- lieren. Ohne daß einer Parität geachtet worden wäre, waren fast die Hälfte

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Sie wollten gemeinsame

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Forderungen formulieren. e m a s ein m e g en t ll wo Sie

Weiber. Textilindustrie, Chemie (»gibt Brot Wohlstand Schönheit«). Kestner führte sie unter die Erde. Im Schachteingang wurden Helme ausgeteilt, und die Bergleute machten mit Vorsichtsregeln bekannt. Zwei schwächere, nur tagtaugliche Leute wurden aussortiert, die den Eingang sichern durf- ten. Die Frauen kamen alle mit. Eine fragte Martin nach Henning. Es ging kilometerweit in dunkle Tiefen. Die Füße schurrten, Wetter fauchten durch die Gänge. Ein stetiges Gefälle in versinterten Stollen, und einmal wieder hundert Höhenmeter hinauf. Dann wateten sie eine gute Strecke im Wasser, in ihren unguten Schuhen, und man verfluchte den Einfall, im Underground zu tagen. Endlich lag eine schwere Holzleiter im Weg, über die man klim- men mußte, um in einer niedern Röhre zu verschwinden, aus der man, eben noch ganz den Mut verlierend, in die Höhle stieg. Sie war ein ungeheures leuchtendes Gewölbe. Man hob den Kopf auf, kam aus der Hüfte. Bänsch mutmaßte die speläologischen Daten. Da die Lage der Gottes-Segen-Höhle entspräche, befände man sich etwa minus 200m NN und 140m unter der Vorflut des Grenzbachs. Die Hauptachse bemesse sich auf achtzig, die Höhe der Kuppel – er zeigte das herrliche Gemälde – auf zirka zehn Meter. Stratigraphisch ergehe man sich im Basal- und Sangerhäuser Anhydrit, die alten Schicht- und Kluftflächen seien mit Marienglas verheilt. –D ieses wundersame Glas war es, das die Versammlung bestaunte, dieser veräderte und verästelte Glanz, der im Licht der Taschenlampen aufschien. Als sich die Augen an die blau und rötliche Festbeleuchtung gewöhnten, nahmen sie erst den Sitzungssaal wahr, den die Natur in aller Stille vorbereitet hatte. Sie fanden alle Platz in den Klüften und Logen aus Alabasterstein. Der Grund der Zusammenkunft war vergessen. Man war in einer Märchenhöhle und hatte drei Wünsche frei. Früher wären die aus dem Mund geschossen:

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Es gehe um das Wenigste, Wichtigste:

ieden. Fr , tt i r h Fortsc , t eihei Fr

…Freiheit, Fortschritt, Frieden. … e: gst i t h c Wi e, gst Weni s da m u ehe g Es

Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Diese Wünsche hatte eine gute Fee erfüllt. Hingegen das Recht auf Arbeit war fauler Zauber gewesen, der von der Erde ausging, der ewig schaffenden Natur. Man hatte einer naturwüchsigen Ordnung angehangen. Hier war ihre Zentrale, wo Sub- rosion wirkte, der Tropfstein arbeitete und unendliche Kubikfuß Wasser si- ckerten. Hausmeister Kestner gab dem ungeduldigen Mintzer das Wort, der kein Auge für die mineralische Mitwelt hatte. Mintzer, wie gesagt, hatte sich an den versteinerten Verhältnissen gestoßen, der Felsenstruktur des Staats. Man hielt sich seiner Meinung nach in derselben Formation auf. Man mußte die Felsen sprengen. Schurlamm war anderer Ansicht. Man müsse Griffe finden, Vorsprünge, um Halterungen zu legen und Tritt zu fassen. Nämlich Wege suchen in dem zugegebnermaßen steilen Hang. Man habe es mit einer sozialen Verwerfung zu tun, aber es sei eine arme, harsche Struktur verworfen worden. – Griffe, was denn für Griffe, fragten die lächelnden Sachsen, Begriffe müßten genannt werden. Man muß die Sache auf den Begriff bringen. Punkt für Punkt. – Bänsch, der eine alte Markscheide-Tafel aus dem Schlottenschlamm förderte, bat um Koordinaten, von dem Zielge- biet, das man erreichen wolle. Er nahm einen spitzen Stift aus der Jacke. Die Frau, die Martin nach dem Vater gefragt hatte, sah immer wieder zu ihm her mit einem so klaren Blick, daß er errötete; er hob aber selber den Blick nach ihr hin. Ja, was war das Ziel? – Sie sahn an der Wand ihre Schatten tölpeln, als wär man von einer Masse umgeben. Schachtmeister Schneider riet: keine großen Worte zu machen. Es gehe um das Wenigste, Wichtigste: da habe der große Summs keinen Platz. – Was er damit meine? – Freiheit, Fortschritt, Frieden. – Soweit war man einig, aber das wenige Wichtige machte Schwie-

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Es gehe um das Wenigste, Wichtigste:

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…Freiheit, Fortschritt, Frieden. … e: gst i t h c Wi e, gst Weni s da m u ehe g Es

rigkeiten. Wie sollte die Erklärung heißen? Bänsch schlug vor, sie Statut zu nennen; unter dessen Regie werde auch sonst jede Auffahrung und Durchör- terung von Liegendschichten betrieben. Die aus dem Leunawerk verstanden den Mann nicht; Liegendschichten, waren die Desinteressierten gemeint? und Erörterung müsse es heißen. Rüttemann, aus der Haft in Erfurt entlas- sen, plädierte für Artikel, die Mansfelder Artikel. Das klang einigen wie: Pro- dukte, Waren, und es sollte ja was Greifbares sein, Hergestelltes, was man in der Hand haben will. Mintzer hatte natürlich die 12 Artikel bei sich, die die schwäbischen Bauern in Memmingen abgefaßt hatten. Wo vom Großzehnt, von den Diensten, vom Frevel die Rede sei, lese er mühelos Profit, Leiharbeit, Steuerhinterziehung. Er las einmal den 1. Artikel vor. »Jede Gemeinde soll das Recht haben, ihren Pfarrer zu wählen und ihn zu entsetzen, wenn er sich ungebührlich verhält.« Übersetze das, sagte er zu Martin, dessen glänzende Augen er sah. – Übersetze, Henning, lachte Schneider. – Der Betrieb... soll das Recht haben, seinen... Besitzer zu wählen, fantasierte der Junge. – Den Betreiber! rief Schneider. – Der Besitzer sind wir, sagte Rüttemann noch fantastischer. – Nichts gehört niemand. Allen alles, sagte Inge. – 10., zitierte Mintzer, haben etliche sich Wiesen und Äcker, die einer Gemeinde zugehö- ren, angeeignet unbilligerweise. »Die werden wir wieder zu unsern gemeinen Händen nehmen.« – Martin blickte, hinter seinen Händen, zu der Frau, die keinem gehörte und allen. So einfach war das gesagt, und so einfach mußte es sein. Aber bei der Verhandlung war die alte Bescheidenheit im Weg. Es dachte jeder für sich. Und weil, wie sie aufsprangen und gestikulierten, sich ihre Schatten riesenhaft reckten, duckten sich die Vorlautesten wieder. Die Brigadiere konnten sich, auch nach sechs Stunden, nicht einigen. 1. Erhalt der Arbeitsplätze. Es macht keinen Sinn, sagte Mintzer, für der-

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Nicht den Gewinn maximieren,

n den Sinn. den n r nde so

sondern den Sinn. en, r ie m axi m inn w Ge den t h c i N

gleichen Formeln zu kämpfen, und Sanieren statt Planieren ist auch ein scheinheiliges Votum. Man müsse, wenn schon alles infrage steht bzw. zusammenfällt, grundsätzlich herangehen und nicht aus dem Hinterwald ru- fen. Eine solche Gelegenheit, einzuhalten, aufzuhören mit dem Unfug, böte sich sonst nachm Kriege; gehe es ohne Gewalt, dann menschbefohlen. Er wäre bereit, die Artikel zu schreiben und beim nächsten Treffen vorzulegen. Fürs erste mußte eine Losung aushelfen. Schurlamm summierte: Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird; die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun. So ich das sage, sagte Schurlamm, werde ich aufrührisch sein, wohl hin. Rüttemann faßte zusammen: Die Gerechtig- keit ist das Brot des Volkes. Euch soll Gerechtigkeit werden. – Das wurde tags drauf in roter Farbe gedruckt und an den Rathäusern angeplackt. Je- nem Rot, das nun mal die Haupt- und Grundfarbe aller Geschichte ist. – Als er aus dem Stollensystem herausgetappt war, fühlte Martin, wie ihm jemand übern Kopf strich, er wandte sich nicht um, er lief verwirrt, ein Häufchen Glück, davon.

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Nicht den Gewinn maximieren,

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sondern den Sinn. en, r ie m axi m inn w Ge den t h c i N

DIE MANSFELDER ARTIKEL von den gleichen Rechten aller

01 | Die Arbeit ist gerecht zu verteilen, unter allen, die Anspruch haben. 02 | D ie Belegschaft bestimmt, was und wofür produziert wird, nämlich was sinnvoll ist. 03 | Nicht den Gewinn maximieren, sondern den Sinn. 04 | Schädliche Arbeit und schädliche Produkte sind untersagt. 05 | Die Leiharbeit ist abgeschafft. 06 | Realeinkommen, für reale Personen. Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes. 07 | Herrliche Lehrstellen. Lehrjahre sind Herrenjahre. 08 | Grundeigentum bleibt Volkseigentum. Das eigene Leben muß angeeignet werden. 09 | Arbeitszeitverkürzung statt Kurzarbeit. 10 | Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Grundentscheidungen. 11 | Es bleibt beim Du zwischen Belegschaft und Management. 12 | Der Tod ist umsonst, d.h. der hinterbliebene Staat zahlt.

Mintzer fügte an: Die Zukunft ist ein unbesetztes Gebiet. Sie ist offenzuhalten für Anmut und Mühe. Falls eine Forderung dem entgegensteht oder dem Grundgesetz widerspricht, wird auf [sie] es verzichtet.

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages.

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LUX_1103_03.indb 59 01.09.11 16:46 Arbeiter- selbstverwaltung in Jugoslawien eine ambivalente Erfahrung

Boris Kanzleiter »Produzentendemokratie« und »Arbeiter­ selbstverwaltung« – diese Begriffe aus der Diskussion über eine alternative Wirtschafts­ ordnung sind untrennbar mit dem »jugosla­ wischen Experiment« verbunden. Seit der Ab­ kehr der Kommunistischen Partei von Moskau 1948 stand Jugoslawiens »Dritter Weg« für den erfolgreichen Bruch eines sozialistischen Landes mit dem »Stalinismus«. Die Prokla­ mation der »Arbeiterselbstverwaltung« bildete weltweit einen wichtigen Referenzpunkt für die Ideen einer demokratischen Linken jenseits der konservativen Sozialdemokratie im Westen und des bürokratisierten »Staats­ sozialismus« im Osten. In Jugoslawien selbst war das Selbstverwaltungssystem jedoch stets umkämpft. Beim Bruch mit Moskau verfügten die jugoslawischen Kommunistinnen und Kom­ munisten zunächst über keine Alternative zum Sowjetsystem, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu kopieren versucht hatten. Es gab allerdings die Erfahrung der lokalen »Volks­

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LUX_1103_03.indb 60 01.09.11 16:46 räte«, welche im Krieg zur Unterstützung Unterstützung zählen konnte. Auf dem VIII. Arbeiter- der Partisanenbewegungen als revolutionäre Parteikongress im Dezember 1964 setzten Verwaltungsorgane entstanden waren. Sie die »Liberalen« ein groß angelegtes Reform­ sollten in den Konzeptionen der jugoslawi­ programm durch, das auf die Einführung von selbstverwaltung schen Parteitheoretiker zum Ausgangspunkt Marktmechanismen setzte, um eine Effekti­ eines sozialistischen Modells werden, das vierung und Intensivierung der Produktion zu in Anlehnung an Marx’ Überlegungen zur erzielen. »Selbstverwaltung« interpretierten in Jugoslawien Pariser Kommune sowohl im politischen die »Liberalen« als Ausbau der Entschei­ System als auch in der Wirtschaft Formen der dungsbefugnisse der Unternehmen. Unter eine ambivalente Erfahrung direkten Demokratie verwirklichte. dem Stichwort der »Entstaatlichung« wurden In einer ersten Phase der »Arbeiter­ zentralstaatliche Planungsmechanismen auf selbstverwaltung« ab Beginn der 1950er wenige Kernbereiche reduziert. In der neuen Jahre wurden in großen Schlüsselbetrieben »sozialistischen Marktwirtschaft« sollten die »Arbeiterräte« gebildet. Deren Kompetenzen unter Arbeiterselbstverwaltung stehenden waren aber noch beschränkt und zentralen Betriebe in verstärkte Marktbeziehungen Planungsmechanismen unterstellt. Mit dem zueinander treten. Durch fiskalische Maß­ Elan der Aufbauzeit wurden große Erfolge bei nahmen sollte außerdem die Integration der der Modernisierung, Industrialisierung und jugoslawischen Ökonomie in den Weltmarkt Urbanisierung erreicht. Trotz verheerender intensiviert werden. »Föderalisierung« und Kriegszerstörungen konnte die Infrastruktur »Dezentralisierung« sollten gleichzeitig die schnell wieder das Vorkriegsniveau erreichen. Kompetenzen der Republiken und Gemein­ Bildungs- und Gesundheitssysteme expandier­ den stärken. Auch die Partei sollte föderalisiert ten genauso wie der Wohnungsbau und der werden. Aufbau industrieller Kerne. Die Gesellschaft Der Leitgedanke, den Betrieb in seiner stand allerdings unter relativ autoritärer Selbständigkeit zu stärken und zum Dreh- Parteikontrolle. Dieses extensive und zentral und Angelpunkt einer Wirtschaftsreform zu gelenkte Wachstumsmodell hatte sich am machen, wurde am Beginn der 1960er Jahre Ende der 1950er Jahre erschöpft und konnte auch in anderen sozialistischen Ländern keine Antworten auf eine notwendige Diversi­ diskutiert. Ausgehend von Überlegungen des fizierung der Produktion geben. sowjetischen Ökonomen Jevsej Liberman Innerhalb und außerhalb des Bundes wurde diese Vorstellung etwa durch das 1963 der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) von Walter Ulbricht in der DDR initiierte entbrannten heftige Auseinandersetzungen »Neue Ökonomische System«, das wirtschaft­ um das wirtschaftliche Modell. Seit Beginn liche Reformprogramm von Ota Šik im Prager der 1960er Jahre profilierte sich zunehmend Frühling oder den »Neuen Ökonomischen ein »liberaler Flügel« in der Partei, der von Mechanismus« in Ungarn aufgenommen. einer Reihe jüngerer Politikerinnen und In Jugoslawien opponierte zunächst ein Politiker getragen wurde und auch auf Titos »konservativer« Flügel der Partei unter dem

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LUX_1103_03.indb 61 01.09.11 16:46 langjährigen Innenminister und Geheim­ und kleinbürgerlichem Neoliberalismus«. Das dienstchef Aleksandar Ranković gegen die »einseitige Insistieren auf ein Marktchaos Reformanstrengungen der »Liberalen«. Die bei offenem Einsatz für das Prinzip des »Konservativen« lehnten vor allem die Stär­ Überlebens der Stärkeren und des Ruins der kung der Republiken ab und wollten an einem Schwächeren« führe zum »Vordringen klein­ zentralistischen Modell festhalten. Ranković, bürgerlicher Auffassungen, Bedürfnisse und der seine Bastion in Serbien hielt, wurde im Bestrebungen in allen Bereichen und in allen Juli 1966 gestürzt. In der Folgezeit kam es zu Gesellschaftsschichten«. (Redaktion Praxis sozialen und politischen Krisenerscheinungen. 1971, 442ff) Die Verfasser waren Teil einer Die wirtschaftspolitischen Hauptziele der linken Oppositionsströmung um die »Praxis- Reform, eine Beschleunigung des Wachstums Gruppe« und die jugoslawische »Neue Linke«, und die Rationalisierung der Produktion, die sich ebenfalls seit Beginn der 1960er wurden nicht erreicht. Stattdessen wuchsen Jahre zunehmend offen artikulierte. Sie stellte soziale und regionale Ungleichheiten. Lohndif­ sich gegen die Marktreform der »Liberalen«, ferenzen nahmen genauso zu wie die Ar­ in der sie die Gefahr einer »Restauration beitslosigkeit. Die Kürzungen beim zwischen des Kapitalismus« sah, aber auch gegen die reichen und armen Regionen umverteilten zentralistischen »Konservativen«. nationalen Einkommen verstärkten die ohne­ Den Höhepunkt der Mobilisierungen hin ausgeprägten interregionalen Disparitäten. der »Neuen Linken« bildeten die Proteste im Im Gewand eskalierender Verteilungskonflikte Juni 1968, als ausgehend von einer Univer­ zwischen den zunehmend um Ressourcen sitätsbesetzung in Belgrad in allen Teilen konkurrierenden Republikführungen brachen Jugoslawiens Studierende demonstrierten. Die die überwunden geglaubten Differenzen in der »Praxis-Gruppe« und die studentische »Neue »nationalen Frage« wieder auf. Höhepunkt die­ Linke« setzten auf eine tiefgehende gesell­ ser Auseinandersetzungen war der »Kroatische schaftliche Demokratisierung. Unter dem Frühling«, in dem die kroatische »liberale« Stichwort der »integralen Selbstverwaltung« Parteiführung 1970/71 eine nationalistische wurde die Aufhebung der Parteikontrolle Massenmobilisierung in Gang setzte, um und die Entwicklung einer direkten Produ­ unter anderem die Devisen aus dem Touris­ zentendemokratie gefordert. Im Gegensatz musgeschäft für sich zu beanspruchen. zu den »Liberalen« zielten die Neuen Linken In einem »Manifest der 3000 Wörter« dabei nicht auf eine »sozialistische Markt­ warnten linke Studentenaktivisten bereits wirtschaft« und mehr »Effektivität«, sondern 1969 vor regressiven Tendenzen in Folge des in Anlehnung an den »jungen Marx« und Reformprogramms. Unter anderem beklag­ zeitgenössische Autoren wie Herbert Mar­ ten sie wachsende »nationale Intoleranz«, cuse auf eine Veränderung der Arbeitsweise »Republiks-Egoismus« und »regionalen und die »Überwindung der Entfremdung«. Partikularismus«. Diese seien das Resultat des Svetozar Stojanović, Mitarbeiter der Zeitschrift »gemeinsamen Wirkens von Bürokratismus Praxis, schrieb 1967: »Die sozialistische

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LUX_1103_03.indb 62 01.09.11 16:46 UE, United Electronical Workers of America, Betriebsbesetzung 2008

Selbstverwaltung muss als ein integriertes Linken« wurde in der ersten Hälfte der 1970er gesellschaftliches System konzipiert sein«, Jahre durch eine Repressionswelle beendet das »alle Teile der Gesellschaft« umfasse und (vgl. dazu Kanzleiter 2011). In der Folgezeit die Gesellschaft »als Ganzes« (Hervorhebung wurde das System der Arbeiterselbstverwal­ im Original) verwalte. Stojanović forderte tung in der Verfassung von 1974 als ein Hyb­ die »Konstituierung vertikaler Assoziationen rid konsolidiert, der in sich widersprüchlich von Selbstverwaltungsgruppen, das Hervor­ blieb. Wie der Soziologe Laslo Sekelj bemerkte, wachsen der Vertretungsorgane von unten, ­die zeigte sich in Jugoslawien eine »paradoxe Unterstellung aller staatlichen Organe und Inkorporation« des leninistischen Konzeptes des ganzen gesellschaftlichen Lebens unter der »Avantgarde und hierarchisch organisier­ Kontrolle der Vertretungsorgane, eine grund­ ten Partei« in ein theoretisches »System der legende Demokratisierung und Anpassung ›direkten Demokratie‹ und des ›antielitisti­ der politischen Organisationen (vor allem der schen Egalitarismus‹«, das auf der Grundlage kommunistischen) an ein solches System« rätekommunistischer Überlegungen ausgear­ (Stojanović 1967, 5f). beitet worden war (Sekelj 1993, 88). Die Macht Die offene Auseinandersetzung zwischen wurde nur nominell auf die Belegschaften »Liberalen«, »Konservativen« und »Neuen übertragen, von einer Produzentendemokratie

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LUX_1103_03.indb 63 01.09.11 16:46 konnte keine Rede sein. Wie Arbeitssoziolo­ Belegschaftseigentum beruht. Um die ambiva­ gen feststellten, kontrollierten die an die Partei lenten historischen Erfahrungen des »jugos­ gebundenen politischen und wirtschaftlichen lawischen Experiments« für aktuelle Debatten Eliten die Entscheidungsprozesse.1 Die Belgra­ nutzbar zu machen, bedarf es einer kritischen der Soziologin Nada Novaković (2007, 153ff) und differenzierten Auseinandersetzung. resümiert, die jugoslawische Arbeiterklasse Leider steckt die empirische Forschung dazu sei aufgrund ihrer sozialen und politischen aber noch in den Kinderschuhen.4 »Atomisierung« immer eine »Klasse an sich« geblieben und niemals zur »Klasse für sich« Literatur Arzenšek, Vladimir, 1985: Struktura i pokret, Belgrad geworden. Deshalb habe sie kein »Klassenbe­ Kanzleiter, Boris, 2011: Die »Rote Universität«. Studenten- wusstsein über ihre gemeinsamen Interessen« bewegung und Linksopposition in Belgrad 1964 – 1975, Hamburg 2 entwickeln können. Mihailović, Srećko (Hg.) 2010: Kako građani Srbije vide Trotz dieser ernüchternd ausfallenden ­tranziciju. Iztraživanje javnog menja tranzicije, Belgrad Musić, Goran, 2011: Yugoslavia: Worker Self-Management Bilanz des »jugoslawischen Experiments« as state paradigm, in: Immanuel Ness, Dario Azzellini waren aus heutiger Sicht die Erfahrungen im (Hg.), Ours to Master and to Own. Workers’ Control from the to the Present, sozialistischen Jugoslawien keine durchweg Novaković, Nada G., 2007: Propadanje radničke klase, negativen. Unter dem Motto der »Arbeiter­ Belgrad Redaktion Praxis (Hg.), 1971: 3000 reči, in: dies., jun-lipanj selbstverwaltung« wurde zwar keine Produ­ 1968, Dokumenti, Zagreb, 442–47 zentendemokratie entwickelt, aber immerhin Sekelj, Laslo, 1993: Yugoslavia: The Process of Desintegration, New York eine relativ offene Gesellschaft. So konnten im Stojanović, Svetozar, 1967: Društveno samoupravljanje i sozialistischen Jugoslawien wichtige soziale socijalistička zajednica, in: Praxis 3, 5–6 Rechte durchgesetzt werden. Das Land und 1 Der Soziologe Vladimir Arzenšek (1985) fasst die die Gesellschaft schafften den Sprung von Ergebnisse einer Langzeituntersuchung über die Me­ einem peripheren Agrarland zu einer relativ chanismen der Arbeiterselbstverwaltung so zusammen: »Staats- und politische [BdKJ, Anmerk. B.K.] Bürokratie modernen Industrienation. Diese Erfolge besetzten die dominanten Positionen, während die wurden in den Kriegen der 1990er Jahre partizipatorischen Strukturen (Selbstverwaltungsorgane und Delegiertensystem) untergeordnet blieben. Am weitgehend zerstört. Es ist daher kein Wunder, machtlosesten waren Arbeiter und Bauern« (34). dass nach aktuellen Umfragen 81 Prozent der 2 Mit den Begriffen von der »Klasse an sich« und »Klasse für sich« rekurriert Novaković auf Marx, der Bevölkerung der Meinung sind, dass sie im in seiner Schrift »Elend der Philosophie« (1847) die 3 soziale Herausbildung einer Klasse von der Entstehung Sozialismus besser gelebt haben als heute. In eines Klassenbewusstseins trennt. Eine durch ihre Arbeitskämpfen gegen die Privatisierung be­ Stellung in den Produktionsverhältnissen »an sich« gegebene Klasse könne nur zur politisch »für sich« ziehen sich Arbeiterinnen und Arbeiter heute handelnden Klasse werden, wenn sie gemeinsam positiv auf die Selbstverwaltung. In der Indus­ lerne, kämpfe und Erfahrungen sammle. 3 Dieses Umfrageergebnis bezieht sich auf Serbien, triestadt Zrenjanin in der Vojvodina (Serbien) dürfte aber in den meisten anderen ehemaligen beispielsweise haben Belegschaften mehrerer Republiken ähnlich ausfallen (vgl. Mihailović 2010). 4 Junge, linksorientierte WissenschaftlerInnen leisten erste Betriebe die Organisation »Ravnopravnost« Ansätze für eine historische Analyse. Siehe dazu Musić 2011. (Gleichheit) gegründet, die sich für ein Modell UE, United Electronical Workers of America, der Arbeiterselbstverwaltung einsetzt, das auf Betriebsbesetzung 2008

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LUX_1103_03.indb 64 01.09.11 16:46 LUX_1103_03.indb 65 01.09.11 16:46 Umkämpftes Eigentum in der DDR

Jörg Roesler In der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) wurde bereits im zweiten Halbjahr 1945 die Transformation des Eigentums eingeleitet. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) konnte sich dabei prinzipiell auf den Konsens der Alliierten stützen. Im September 1945 begann die Bodenreform: Betriebe mit mehr als 100 Hektar Fläche wurden ohne Entschädigung enteignet. Die Bodenreform betraf ein Drittel der land- und forstwirtschaftlich genutzten Fläche, der private Großgrundbesitz hörte auf zu existieren. Die Reform wurde von der SMAD und KPD-Führung gegen Bedenken innerhalb der Partei und der SPD betrieben, die sie für überstürzt hielten (vor der Ernte) und kritisierten, sie führe zu unökonomisch kleinen (5-Hektar-) Parzellen, ohne ein genos- senschaftliches Konzept. Die Transformation industriellen Ei- gentums begann im Oktober 1945 mit der Beschlagnahme von Konzernbetrieben und Nazi-Unternehmen. Mit Ausnahme einer

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LUX_1103_03.indb 66 01.09.11 16:46 Reihe von Großbetrieben, die im Rahmen von »kalter Enteignungen« nach der Feststellung Umkämpftes Eigentum Reparationsleistungen zeitweilig sowjetisches von Steuervergehen, die drastisch geahndet Eigentum wurden, überließ der SMAD den wurden. Ab Mitte 1953 ließ die SED von Besitz den Ländern der SBZ. Am 30. Juni diesem Kurs ab. Seit 1956 bzw. 1959 wurden in der DDR 1946 stimmten im größten Industrieland die verbliebenen privaten Unternehmen der SBZ 82,4 Prozent der zur Stimmabgabe mittels Steuervergünstigungen und Besitz- aufgerufenen Sachsen für die »Übergabe von standsgarantien dahin gebracht, staatliche Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in Beteiligungen (BSB) aufzunehmen. In den das Eigentum des Volkes«. Der sächsischen als Kommanditgesellschaften organisierten Mehrheitsentscheidung folgten entsprechende gemischtwirtschaftlichen Unternehmen Verordnungen in den vier anderen Ländern behielt der Privatindustrielle die Initiative. der SBZ. Auf Drängen von SMAD und 1959 entfiel bereits die Hälfte der »nichtsozi- SED – gegen CDU und LDPD – wurden die alistischen« Industriebetriebe auf BSB, 1971 Enteignungskriterien weit ausgelegt: sämtliche arbeiteten 12 Prozent der Industriebeschäf- Konzernbetriebe mitsamt Tochtergesellschaf- tigten in BSB, nur noch 2,3 Prozent in reinen ten, Zweigniederlassungen und allen Beteili- Privatunternehmen. Während der Zeit der gungen, ganze Zweige (Bergbau), auch ohne Wirtschaftsreform (Ulbrichts »NÖS«, 1964- Rücksicht auf die politische Vergangenheit 1971) wurden BSB und Privatbetriebe (PB) der privaten Eigentümer, wurden verstaatlicht. den VEB, mit denen sie in »Erzeugnisgrup- Nach Abschluss dieses Enteignungsprozesses pen« gemeinsam produzierten, gleichgestellt. entfiel im April 1948 je 39 Prozent der indus- Honecker verstaatlichte 1972 die verbleiben- triellen Bruttoproduktion auf Volkseigentum den BSB und PB gegen Entschädigung, was und Privatbetriebe, 22 Prozent auf Firmen mittelfristig die Reduzierung der Vielfalt des sowjetischen Eigentums. Letztere wurden bis Konsumgüterangebots nach sich zog. Ende 1953 schrittweise in VEB umgewandelt. 1952 beschloss die SED die Bildung von Für die Schaffung von Volkseigentum landwirtschaftlichen Produktionsgenossen- hatte es nach 1945 auch Initiativen von unten schaften (LPG). Genossenschaftsgründungen gegeben. In eindeutigen Fällen jagten Beleg- wurden vom Staat z.B. durch Entschuldung schaften die Nazi-Unternehmer bzw. deren der Bauern beim Eintritt in die LPG, günstige Betriebsleiter davon. Erst ab 1950 wurde die Kredite und Zuschüsse für die Vergütung der gemeinsame Leitung der Unternehmen durch Mitglieder wirtschaftsschwacher LPG materiell Betriebsrat, Betriebsgewerkschaftsleitung und begünstigt. Daneben spielten stets, besonders Werkleiter von der »Einzelleitung« durch den beim Abschluss der »Vergenossenschaftli- »staatlichen Leiter« abgelöst. chung« auf dem Lande im Frühjahr 1960, Zwischen 1950 und 1955 sank der Anteil Appelle ans »Bewusstsein« und Nötigung der überwiegend Konsumgüter produzieren­ eine wesentliche Rolle. Erleichtert wurde den den Privatbetriebe an der Industrie von Bauern der Eintritt dadurch, dass sie – anders 22,1 % auf 15,4 %, überwiegend im Ergebnis als im Falle der sowjetischen Kolchosen – ihr

luxemburg | 3/2011 67 RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 67 01.09.11 16:46 Eigentum an Grund und Boden behielten, und Auf neue Eigentumsstrukturen hatten sich sie konnten zwischen LPGs unterschiedlicher Regierung und Runder Tisch im März noch kollektiver Bewirtschaftung (Typ I – III) wählen. nicht geeinigt, vor allem sollte die Bevölke- In der NÖS konnten die LPG-Mitglieder rung bzw. die betreffenden Belegschaften sich auf der Grundlage »sozialistischer direkt Anteil am gesellschaftlichen Eigentum Marktbeziehungen« konsolidieren. Die ge- haben. Das griff die vielfachen wirtschafts- wählten Vorstände und Vertretungsorgane auf demokratischen Aktivitäten in den VEB auf, Republikebene – Bauernkongresse – mussten deren Leiter sich häufig der Vertrauensabstim- sich in den 1970er Jahren wiederholt gegen mung der Belegschaften stellen mussten. Einmischung aus dem Politbüro wehren, Unter den vielen im Frühjahr 1990 was viel Kraft und Geld kostete. In den 80er diskutierten Vorschlägen zur Eigentumsum- Jahren wurde dem Hineinregieren des Staates wandlung war das »Sömmerdaer Modell«. in die Unternehmen engere Grenzen gesetzt Betriebsleitung, Betriebsräten und Belegschaft – anders als in der Industrie nach der umfas- des Thüringer Büromaschinenwerkes Söm- senden Kombinatsbildung 1980/81, wo der merda (BWS) haben es als Muster entwickelt: Wirtschaftssekretär des ZK zweimal jährlich Es sah die Umwandlung des BWS in eine die Entscheidungen vorgab. Genossenschaften AG vor, deren Aktien zu 75 Prozent an die entstanden ab 1953 auch im Handwerk. Doch Belegschaft übergehen und zu 25 Prozent noch in den 80er Jahren lag der Anteil des an Investoren verkauft werden sollten. Eine privaten Handwerks an den Handwerksleis- Klausel garantierte, dass eine Mehrheit der tungen bei etwa 60 Prozent. Arbeitnehmervertreter auch gesichert blieb, Im Herbst 1989 gerieten die Eigentums- falls Belegschaftsmitglieder ihre Aktien weiter verhältnisse in der DDR in die Diskussion. verkaufen würden. Die Regierung Modrow und der Runde Tisch Die Regierung de Maizière verbot Vertrau- befürworteten im Februar 1990 Eigentums- ensabstimmungen und versprach eine rasche pluralismus: Gemeineigentum der volksei- Privatisierung. Die Treuhandanstalt (THA), genen Betriebe, Kombinate und Wirtschafts- unter Modrow zum »Schutz des Volkseigen- verbände, genossenschaftliches und privates tums« geschaffen, wurde in eine reine Privati- Eigentum. Letzteres sollte durch die Rücknah- sierungsbehörde verwandelt, die unter Aufsicht me des 1972er-Zwangsaufkaufs, durch »volle des Bundesfinanzministeriums gestellt wurde. Gewerbefreiheit« sowie durch Gründung von Dessen Chef, Theo Waigel, lehnte jegliche Unternehmen mit Beteiligung ausländischer »gemeinwirtschaftliche Beteiligungen« der Be- Investoren entstehen. Unter den Fittichen legschaften ab und erteilte Vorstellungen von einer Treuhandanstalt sollten die in AGs und einer »gemischten Wirtschaft« in Ostdeutsch- GmbHs umzuwandelnden VEB als wirt- land generell eine Absage. Der neoliberale Kurs, schaftsdemokratisch geführte Unternehmen auf den die Bundesrepublik unter der Regie- ihren Platz in einer »sozial und ökologisch rung Kohl 1982 eingeschwenkt war und der orientierten Marktwirtschaft« finden. dort in den 80er Jahren zur Privatisierung der

68 luxemburg | 3/2011 RÜCKBLICKE RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 68 01.09.11 16:46 © G. McKnenzie, flickr/pinktree, Ehemalige Spillers Millennium Mills, London

Bundesanteile an Staatsbetrieben (z.B. Salzgit- Branchen-AGs der THA) wurde durch die ter AG, Lufthansa) geführt hatte, war auch in THA-Leitung unter Missachtung der gesetzli- den neuen Bundesländern Programm. chen Bestimmungen verhindert. Diese Form Die THA (1990-1994) setzte auf rasche der Privatisierung trug trotz teilweise heftiger Privatisierung der VEB, selbst unter Verzicht Belegschaftsproteste zur Zerschlagung der auf marktwirtschaftlich übliche Privatisie- gewachsenen Arbeitsteilung in der Region rungsformen zur Ermittlung des optimalen und zur Deindustrialisierung wesentlich bei. Angebots wie z.B. durch öffentliche Ausschrei- In der Landwirtschaft blieben 1990 die bungen. Die Privatisierung von Filetstücken Ergebnisse der Bodenreform von 1945 durch der Kombinate an ausgewählte bundesdeut- sowjetischen Einspruch geschützt. Grund und sche Konzerne gleicher Branche öffnete »Kon- Boden der Genossenschaften waren Privat- kurrenzdemontagen« und der Umwandlung eigentum geblieben, sie gerieten nicht in der Ostbetriebe in »verlängerte Werkbänke« die Mühlen der THA. Die Genossenschaftler Tür und Tor. Eine im Treuhandgesetz vom konnten in eigener Regie die LPG in Agrar- Mai 1990 vorgesehenes Mitspracherecht von genossenschaften nach bundesdeutschem Belegschaftsvertretern bei der Privatisierung Recht umwandeln und häufig erfolgreich »ihrer« Unternehmen (über so genannte bewirtschaften.

luxemburg | 3/2011 69 RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 69 01.09.11 16:46 Glasnost, Perestroika und das Eigentum

Petra Brangsch In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden Eigentumsverhältnisse in der Sowjetunion heftig diskutiert und umgearbeitet: Wie konnte das Eigentum an Produktionsmitteln im Sozialismus wieder zu »Eigentum des Volkes« (obščenarodnaja sobstvennost’) werden? Es ging um Fragen von Moral, Politik und Ethik, die rechtliche Stellung wirtschaftender Subjekte, wie auch um wirtschaftswissenschaftliche Debatten. Die begriffliche Verschiebung – nicht vom sozialistischen bzw. gesellschaftlichen Eigentum, sondern vom Eigentum des Volkes zu sprechen – markierte einen Umschwung. Es sollte sich ein im Wortsinn ökonomisches, von Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein geprägtes Verhältnis zum Eigentum des Volkes entwickeln. Die Menschen sollten sich als Choz- jajn, als »fürsorglicher Wirtschaftler« (wörtlich: Hausherr) verhalten (können). Die Überlegungen zur Veränderung der Eigentumsverhältnisse warfen die Frage nach Stellung und Rechten der Unternehmen, der Unternehmensleitungen und der Beschäftigten

70 luxemburg | 3/2011 RÜCKBLICKE RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 70 01.09.11 16:46 auf. Gorbačëv wollte den »Weg zur Erweiterung Glasnost, Perestroika der Rechte der Betriebe, ihrer Selbständigkeit« beschreiten (Gotbatschow 1986, 16). Dies schloss aus damaliger Sicht die Vervollkomm- und das Eigentum nung des Planungssystems notwendig ein. Der Umbau sollte alle Ebenen erfassen: Hervorgehoben wurde die Einheit der Verände- rung der Leitung »oben« mit der Entwicklung kollektiver Formen der Organisation (im Sinne von Selbstverwaltung) und der Stimulierung (Bezahlung) der Arbeit »unten«. Mit den Wirtschaftsreformen der folgenden Jahre sollten die Beschäftigten in ihren Kollektiven selbst- ständig entscheiden können, gleichzeitig sollten sich Wirtschaft und Gesellschaft weiter als »harmonisches Ganzes«, unter Bewahrung und Ausbau sozialer Errungenschaften, entwickeln. © G. McKnenzie, Eine Reihe von neuen Gesetzen festigte flickr/pinktree, die rechtliche Stellung der Betriebe und der Ehemalige Spillers Millennium Mills, Belegschaften (1987). Hinzu kamen Gesetze, London die Genossenschaften neuen Typs (Mai 1988) und individuelle unternehmerische Tätigkeiten gestärkt werden: Sie sollten die Möglichkeit (1987) sowie die Verpachtung von Land und haben, sich das betriebliche und gesellschaftli- Unternehmen ermöglichten (November 1989). che Eigentum anzueignen – über die beschleu- Es wurde zugelassen, dass ausländisches nigte sozialökonomische Entwicklung und eine Kapital durch die Schaffung gemeinsamer Verbesserung der Lebensbedingungen. Unternehmen einbezogen werden konnte. Das Gesetz zu Arbeitskollektiven wurde In der 1987 beginnenden Umsetzung bereits 1983 erlassen, konnte aber erst unter verbanden sich die Beschleunigung der sozial- diesen Bedingungen tatsächlich wirksam ökonomischen Entwicklung (Uskorenie) und der werden. Die Arbeitskollektive »erhielten das Umbau der politischen und gesellschaftlichen Recht, unmittelbar an der Leitung der Produk- Beziehungen (Perestrojka). Ökonomische, tion teilzunehmen: Sie konnten den Rat des politische, soziale, kulturelle Probleme und Betriebes wählen, aber auch die Führungskräfte Widersprüche sollten gleichzeitig von verschie- (Direktoren), die Leiter der Betriebsteile und denen Seiten angegangen werden. Zentral war die Brigadiere (Belousov 2006, 140).1 Der Rat die »Entstaatlichung« (razgosudarstvlenie) des des Betriebes sollte die zentrale Schaltstelle zur Eigentums. Die Selbstständigkeit der Unterneh- Realisierung der unmittelbaren Teilnahme der men und die Stellung der Beschäftigten sollten Beschäftigten an der Leitung sein. Er wurde auf

luxemburg | 3/2011 71 RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 71 01.09.11 16:46 einer Vollversammlung oder Delegiertenkonfe- das Sprechen von »überflüssigen Leuten« renz des jeweiligen Unternehmens gewählt und (lišnye ljudi), die das Arbeitskollektiv für die war in alle wesentlichen Entscheidungsprozes- Erfüllung der Leistungen nicht braucht. Die se einzubeziehen. Er spielte eine entscheidende soziale Funktion der Unternehmen als Form Rolle bei der Wahl bzw. Auswahl der Führungs- der Realisierung sozialistischer Eigentumsver- kräfte und Spezialisten. hältnisse schwindet. Soziale Sicherheit verliert Am häufigsten übernommen wurde das gegenüber ökonomischer Effizienz an Gewicht. »Brigadevertragssystem«, die Einrichtung von Im Oktober 1988 wurde in einem Beschluss Genossenschaften und von privaten Kleinst- des Ministerrates die Möglichkeit geschaffen, Unternehmungen. Das spiegelte sich in vielen Aktien für Unternehmen an die Beschäftigten Artikeln in Tageszeitungen und wissenschaft- und an andere Betriebe auszugeben. Damit lichen Publikationen wider (vgl. Chozrasčët i wurde eine Entwicklung eingeleitet, die in rynok 1990, 127ff). Damit veränderte sich die der Privatisierung der sowjetischen bzw. der Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen. In Wirtschaft der entstehenden selbstständigen der Form des Brigadevertragssystems wurden Staaten Anfang der 90er Jahre auslief. Mit den zwischen dem Betrieb und einzelnen Arbeits- Gesetzen über das Eigentum (1990) und über kollektiven Verträge über die zu erbringenden die »unternehmerische Tätigkeit« (1991) wurde Leistungen und die Vergütung abgeschlossen. die Wende vollendet. Allerdings hatten diese Die Organisation der Arbeit und z.T. auch Gesetze in der Union kaum noch praktische die Verteilung der Zahlung war weitgehend Bedeutung, da der politische Zerfall der UdSSR dem Kollektiv überlassen. Darauf baute (ab rapide voranschritt. Die Folgen sind bekannt. 1988, endgültig kodifiziert im November 1989) Der Sozialismus sollte mit den Reformen der »Pachtvertrag« (arendny podrjad) auf. Die von 1985–1989 eine neue Grundlage erhalten. Arbeitskollektive wurden zu Unternehmen Das scheiterte, weil eine Entwicklung in Rich- innerhalb der Betriebe. In einem Reader der tung auf »Schocktherapie« und einen rohen, Pravda im Jahr 1988 wird diese Form als Ende mitunter kriminellen Kapitalismus »von oben« der Gleichmacherei, als Ende aller Probleme eingeleitet wurde. Trotz der politischen Refor- mit Löhnen, Normen und Plänen beschrieben. men (glasnost’ und perestroika) waren die Mas- Die Arbeitskollektive brauchten nun nur einen sen von diesen Entscheidungen ausgeschlossen. langfristigen Vertrag, ein Verrechnungskonto und ein Scheckbuch.2 In der Landwirtschaft Literatur Belousov, R., 2006: Ekonomičeskaja istorija Rossii: XX. vek. hatte das Pachtsystem zunächst auf regionaler Kniga 5, Mockva Ebene Erfolge. Volkswirtschaftlich betrachtet Gorbatschow, Michael, 1986: Ausgewählte Reden und ­Schriften, Berlin leitete es eine Welle der Desintegration ein. Es war ein Faktor, der die Schocktherapie der 1 Dt. in: Über die grundlegende Umgestaltung der Leitung der 1990er Jahre vorbereitete und in der ersten Volkswirtschaft in der UdSSR. Gesetze und Beschlüsse, Berlin 1987. Zeit legitimierte. Mit der Verbreitung des Brigadiere waren LeiterInnen von Teams, Arbeitsgruppen auf der untersten Ebene der Arbeitsorganisation. Brigadevertragssystems und der Pacht beginnt 2 Arenda – Archimedov ryčag, Moskva 1988, 4f

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LUX_1103_03.indb 72 01.09.11 16:46 © G. McKnenzie, flickr/pinktree, Ehemalige Spillers Millennium Mills, London

LUX_1103_03.indb 73 01.09.11 16:46 Lohnempfängerfonds

die gescheiterte Demokratiereform

Henning Süssner Rubin Wirtschaftsdemokratie war lange ein integ- raler Teil des Programms der schwedischen (wie der internationalen) Arbeiterbewegung. Als Schweden im Jahr 1920 die erste sozi- aldemokratische Regierung bekam, war die Ernennung zweier Kommissionen eine der ersten Maßnahmen der Regierung Hjalmar Branting: Die eine sollte Probleme der »industriellen Demokratie« untersuchen, die andere Vorschläge zur Sozialisierung von öffentlichem und privatem Eigentum liefern. Während die Arbeit der Sozialisierungs- kommission mehr oder weniger im Sande verlief, mündete die Arbeit der Demokratie- kommission in eine der großen politischen Streitfragen der 1920er Jahre, nämlich der sozialdemokratischen Forderung nach Betriebsausschüssen (driftsnämnder). Nachdem das allgemeine und freie Wahl- recht erkämpft war, sollte auch an den Arbeits- plätzen Demokratie geschaffen werden (SOU 1923, 29–30). Laut Vorschlag der Kommission sollte die Demokratie am Arbeitsplatz durch

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LUX_1103_03.indb 74 01.09.11 16:46 Mitbestimmungsausschüsse in Betrieben mit den Einfluss von Belegschaften auf die Lohnempfängerfonds mehr als 25 Beschäftigten verwirklicht werden. Produktion zu »sichern«. Vergleichbar mit den deutschen Betriebsräten, Der »dritte Weg« Schwedens begnügte sich sollten diese aber von den Mitgliedern der in den Jahrzehnten zwischen 1932 und 1976 die gescheiterte Demokratiereform Gewerkschaften im Betrieb ernannt und damit, über soziale Reformen und steuerliche gewählt werden. Umverteilung den Lebensstandard der Bevöl- Der konkrete Vorschlag war bescheiden. kerungsmehrheit zu erhöhen. Ein wichtiges Er lief darauf hinaus, ein gewisses Maß der Element dieses »schwedischen Modells« war Mitbestimmung möglich zu machen. Dies dabei der »historische Kompromiss« des Jahres war eine Verwässerung des ursprünglichen 1938, der den Unternehmern die »Organisation Auftrags, nämlich Wege zu finden zu einer und Führung der Arbeit« im Austausch gegen »Neugestaltung des Verhältnisses […] zwi- zentrale Lohnverhandlungen mit den Gewerk- schen den Besitzern der Produktionsmittel, schaften und Arbeitsfrieden garantierte. den technischen Leitern der Produktion und Die starke Stellung der großen schwedi- den in unterschiedlichen Stellungen an der schen Kapitaleigentümer wurde nie heraus­- Produktion Beteiligten, wobei den letztge- gefordert. In den 1960er Jahren wuchs die Un- nannten ein sicherer Einfluss über Verwaltung zufriedenheit, vor allem über die zu langsam und allgemeine Entwicklung der betroffenen steigenden Reallöhne der Industrie­arbeiter. Betriebe« gesichert werden sollte (22). Im Die gesellschaftliche Debatte radikalisierte sich. Schlusswort gab die Kommission offen zu, dass In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts kam es man »aufgrund der herrschenden politischen zu einer Woge von wilden Streiks. Verhältnisse« nicht der Auffassung war, mehr Unter dem Einfluss der neuen Linken als »gewisse vorbereitende Maßnahmen« wurden gleichzeitig Rufe nach sozialen Re- vorschlagen zu können (212). formen lauter. Die Gewerkschaftsspitzen und Die Betriebsausschüsse, die daraufhin in der Verlängerung die regierende sozialde- von den Sozialdemokraten im Reichstag mokratische Partei (SAP) waren gezwungen, vorgeschlagen wurden, waren letztlich Organe Fragen wie Mitbestimmung und Wirtschafts- ohne Einfluss auf die Machtverhältnisse demokratie wieder aufzugreifen (Stråth 1998; in den Betrieben. Der Vorschlag, von den Göran 2005). Gewerkschaften ungeliebt, wurde von der Die arbeitsrechtliche Offensive der SAP bürgerlichen Mehrheit im schwedischen mündete in ein Gesetzespaket, das zum ersten Reichstag vehement abgelehnt. Von kommu- Mal die individuellen Rechte der Arbeiter am nistischer Seite lehnte man die »industrielle Arbeitsplatz regelte und die Stellung der Ge- Demokratie« der Sozialdemokraten ohnehin werkschaften auf Betriebsebene stärkte. Aus als reformistischen Klassenverrat ab. den Reihen der Gewerkschaften kam darüber Lange sollte dies der letzte Versuch der hinaus die Forderung, die Eigentumskon- schwedischen Sozialdemokratie sein, auf zentration in der Industrie zu brechen. Im Grundlage von Gesetzen und Verordnungen Jahr 1971 erhielten die Ökonomen Rudolf

luxemburg | 3/2011 75 RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 75 01.09.11 16:46 Meidner, Anna Hedborg und Gunnar Fond dass Mitbestimmung und Kontrolle nicht vom Kongress des Verbandes der Industrie- ausreichen. Eigentum spielt eine entscheiden- gewerkschaften, LO, den Auftrag, Methoden de Rolle. Ich bin fest davon überzeugt, dass zu erarbeiten, die den Belegschaften einen Funktionssozialismus allein nicht ausreicht, höheren Anteil an den Kapitalgewinnen eine durchgreifende Gesellschaftsveränderung sichern sollten. 1975 lag dieser Vorschlag zu erreichen.« vor, der eine »gerechtere Vermögensvertei- lung« und »mehr wirtschaftliche Macht für Die Revolution bleibt aus Lohnempfänger« bringen sollte (Meidner u.a. Das bürgerliche Leitorgan Dagens Nyheter 1975, 84). Meidner und Kollegen schlugen vor, (28.8.1975) fragte daraufhin, ob Rudolf Meid- »Lohnempfängerfonds« (löntagarfonder) ein- ner wohl »Schwedens gefährlichster Mann« zurichten. Bis zu 20 Prozent der Gewinne von sei. Große Schlagzeilen warnten vor einer Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten »Revolution in Schweden«. sollten an von den Gewerkschaften kontrol- Doch zu dieser Revolution kam es nicht. lierte Fonds abgeführt werden. Diese sollten Im Herbst 1976 verlor die SAP zum ersten Mal das Kapital in Aktien investieren und es für seit 1932 die Regierungsmacht. Eine der großen die Verbesserung von Arbeitsverhältnissen in Fragen des Wahlkampfes waren die Lohnemp- den Betrieben aktiv nutzen. fängerfonds. Ausschlaggebend für den Wahlver- Ein individualisiertes System der Gewinn- lust war nicht zuletzt die schlechte Konjunktur- beteiligung würde nichts an den wirtschaftli- lage Schwedens im Zuge der Ölkrise. Aus den chen Machtverhältnissen ändern. Doch »die Reihen des rechten Flügels der Partei wuchs Lohnempfängerfonds werden auf lange Sicht die Kritik an der wirtschaftsdemokratischen mehr als die Hälfte der Aktien der größeren Offensive. Sie beschuldigte die Gewerkschaften schwedischen Unternehmen besitzen«,1 so einer Klientelpolitik, die die Interessen anderer die Annahme, denn nur »über die Umver- Bevölkerungsgruppen ignoriere. teilung des Eigentums an den Produktions- Um einen Kompromiss zwischen der mitteln« könne wirtschaftliche Demokratie damals noch sozialliberalen Volkspartei und erlangt werden (107). SAP im Reichstag möglich zu machen, wurde Dass Gewinne nicht an die Belegschaften eine gemeinsame Kommission von SAP und verteilt oder in Unternehmensfonds überführt, LO gebildet. Deren Vorschlag hatte 1978 sondern an zentrale Fondsverwaltungen jedoch nicht den erwünschten Effekt, die gehen sollten, sollte auch verhindern, dass Fronten zwischen Gewerkschaftsverbund LO die Belegschaften von weniger profitablen und Arbeitgeberverband SAF verhärteten sich. Betrieben benachteiligt werden. Gegen den Willen des Vorsitzenden der SAP, Rudolf Meidner beschrieb das Ziel seines Olof Palme, wurden die Lohnempfängerfonds Vorschlags: »Wir wollen die Kapitaleigner im Jahr 1979 erneut zum Wahlthema. ihrer Macht berauben, die sie eben kraft ihres Nach der erneuten Wahlniederlage 1979 Eigentums ausüben. Alle Erfahrungen zeigen, versuchte die Parteiführung die Frage von

76 luxemburg | 3/2011 RÜCKBLICKE RÜCKBLICKE

LUX_1103_03.indb 76 01.09.11 16:46 © Angela Radulescu, Frauen Kooperative TRAMA

der politischen Tagesordnung zu nehmen. Der Vorschlag wurde gegen die Stimmen der Im Zeichen der wirtschaftlichen Krise bürgerlichen Opposition verabschiedet. Die des Landes lancierte man ein sozialdemo- kommunistischen Abgeordneten machten die kratisches »Krisenprogramm«, das einen Lohnempfängerfonds durch ihre Enthaltung Schlusspunkt hinter die bisherige Expansion möglich. des öffentlichen Sektors setzten sollte. Für 1984 begann die Überführung von Lohnempfängerfonds gab es keinen Platz im Mitteln an fünf Lohnempfängerfonds. Die Programmvorschlag der »Krisengruppe« um Finanzierung erfolgte durch eine Erhöhung den Finanzpolitiker Kjell-Olof Feldt (Åsard der Lohnnebenkosten und durch eine neue 1985). Steuerabgabe auf Unternehmensgewinne. Der Parteitag 1981 forderte, auch auf Das Fondskapital wurde in Aktienkapital um- Druck des gewerkschaftlichen Flügels, erneut gewandelt. Die Fondsverwaltungen wurden Lohnempfängerfonds. Nach dem Wahlsieg im paritätisch von der Regierung eingesetzt. gleichen Jahr, der der SAP 45,9 Prozent der Bis 1992 akkumulierten die Lohnempfän- Stimmen brachte, sorgte die Gruppe um Feldt gerfonds insgesamt ca. 17 Milliarden Kronen jedoch dafür, dass 1983 nur ein verwässerter und gehörten damit bald zu den größten Fondsvorschlag in den Reichstag gelangte. Aktienbesitzern Schwedens. Entgegen dem

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LUX_1103_03.indb 77 01.09.11 16:46 ursprünglichen Vorschlag erlangten die wurden die gewerkschaftlichen Rentenfonds in Lohnempfängerfonds jedoch nie direkten Ländern wie Kanada angeführt, die ähnlich wie Einfluss auf die Industrieunternehmen. Das die historischen Lohnempfängerfonds zu den Ziel, die Eigentumsverhältnisse in der Indus- Großeigentümern der Börse gehörten, jedoch trie mittelfristig zu Gunsten der Arbeiter zu kaum Einfluss auf dem Kapitalmarkt hätten. verändern und auf diesem Weg das Arbeitsle- Die Linke solle sich eher an konkreten Model- ben zu demokratisieren, wurde verfehlt. Und len von sozialer Ökonomie und kooperativen der Wahlsieg der bürgerlichen Parteien im Betrieben orientieren. Die Diskussion zur »neu- Jahr 1991 brachte das Ende für die zuletzt von en Offensive in Macht- und Eigentumsfragen« allen Seiten ungeliebten Fonds. 1992 wurde wurde wieder einmal von einem Wahlkampf- das gesammelte Kapital in die staatlichen ergebnis entschieden. In der Wahl 2002 erlitt Rentenfonds überführt. Vänsterpartiet eine empfindliche Niederlage. Sie konnte eine Zusammenarbeit mit der sozial- Die Linke und die Lohnempfängerfonds demokratischen Minderheitenregierung Göran Sjöberg (2005, 204) bezeichnet den Streit um Perssons einleiten. Eine der realpolitischen die Lohnempfängerfonds als einen »hege- Konsequenzen daraus war die rasche Verdrän- monialen Wendepunkt« in Schweden: »Der gung der Macht- und Eigentumsfrage von der bürgerliche Block gewann den Kampf« und politischen Tagesordnung der Partei. hat »seitdem die Arbeiterbewegung Schritt für Nach weiteren Wahlniederlagen sieht es Schritt in die Defensive gezwängt«. nicht so aus, als ob die Frage der Wirtschafts- Sjöberg und andere versuchten zu Beginn demokratie in der überschaubaren Zukunft des letzten Jahrzehnts, das ursprüngliche Mo- wieder ein Thema für die schwedische Links- dell der Lohnempfängerfonds zu rehabilitie- partei oder die schwedischen Gewerkschaften ren. Da die dominierende SAP sich ausdrück- werden könnte. lich nicht mehr mit Wirtschaftsdemokratie Literatur beschäftigt, füllte die schwedische Linkspartei Åsard, Erik, 1985: Kampen om löntagarfonderna. Fondutrednin- (Vänsterpartiet) das Vakuum und formulierte gen från samtal till sammanbrott, Stockholm Hägg, Göran, 2005: Välfärdsåren. Sveriges historia 1945–1986, in den Jahren 1999–2002 eine Strategie zu Stockholm »Macht- und Eigentumsfragen«. Man sprach Meidner, Rudolf, Anna Hedborg u. Gunnar Fond 1975: Löntagarfonder, Stockholm u.a. von einem notwendigen »zweiten Demo- SOU, 1923: Den industriella demokratiens problem 1–2, Stock- holm kratiekampf« – nach der politischen sollte die Stråth, Bo, 1998: Mellan två fonder. LO och den svenska model- wirtschaftliche Demokratie erkämpft werden. len, Stockholm Auf das Modell der Meidnerschen Lohnemp- fängerfonds wurde sich dabei positiv bezogen. 1 Laut den Berechnungen von Meidner und Co. hätten die Fonds bei Unternehmensgewinnen zwischen 10 Die innerparteiliche Kritik ließ jedoch und 20 Prozent nach 20 bis 35 Jahren so die Aktien- nicht lange auf sich warten, das Modell der mehrheit in den größten Unternehmen erreicht. gewerkschaftskontrollierten kollektiven Kapi- © Angela Radulescu, talbildung sei »tot«. Als ein modernes Beispiel Frauen Kooperative TRAMA

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LUX_1103_03.indb 78 01.09.11 16:46 LUX_1103_03.indb 79 01.09.11 16:46 Arbeiterkontrolle in Venezuela

Dario Azzellini Als Hugo Chávez 1999 sein Amt als Staats- präsident Venezuelas antrat, steckte das Land in einer tiefen Krise. Kapitalflucht und eine fortwährende Deindustrialisierung seit An- fang der 1980er Jahre führten dazu, tausende Fabriken mussten schließen. Entsprechend erwartete, wer für Chávez gestimmt hatte, vor allem Wege aus der ökonomischen Misere. Mit diesem Mandat leitete die neue Regierung eine Reihe von ökonomischen und gesell- schaftlichen Reformen ein, die durch soziale Bewegungen »von unten« unterstützt wurden. 2005 beschloss die Regierung eine sozialistische Leitlinie, die eine Enteignung von Schlüsselindustrien und von unproduk- tiven Fabriken einleitete. Gleichzeitig sollten Unternehmen in kollektivem oder staatlichem Besitz gestärkt und ihre Zahl vergrößert werden. Die Regierung will eine demokratisch regulierte Wirtschaftsordnung jenseits der kapitalistischen Logik schaffen, die auf einer popularen, sozialen und kommunalen Öko- nomie beruht. Dieser Ansatz leitet sich aus

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LUX_1103_03.indb 80 01.09.11 16:46 der Theorie einer Entwicklung ab, die eine Die Mitverwaltung wird bisher blockiert in Arbeiterkontrolle nachhaltige, auf eigenen Ressourcen aufbau- Staatsunternehmen mit »strategischer Be- ende Wirtschaftsentwicklung, eine kollektive deutung« wie der nationalen Ölfirma PdVSA Verwaltung der Produktionsmittel und eine sowie in Privatunternehmen. Die Befürworter in Venezuela aktivere Rolle des Staates propagiert (Lebowitz sehen in der strategischen Bedeutung eher ein 2006, 99). Argument für die Mitverwaltung: Immerhin Bis 2004 hatte der Staat vorrangig die wurde PdVSA während des Unternehmer- Gründung kleiner Kooperativen gefördert; die streiks von den Managern verlassen und die Maßnahmen wurden nur wenig koordiniert. Belegschaft sorgte dafür, dass der Betrieb Dann wurde der Aufbau einer alternativen wieder aufgenommen wurde. Wirtschaftsordnung mit der Gründung des Das Regierungsprogramm »Fábrica Ministeriums für populare Ökonomie, kurz Adentro« versprach ab 2005 Privatunter- Minep,1 auf eine systematische Grundlage nehmen den Zugang zu günstigen Krediten gestellt (Díaz 2006, 163f). Das Minep konzen- und staatlichen Förderungen, wenn sie trierte sich auf die Entwicklung einer in den sich mit ihren Beschäftigten auf eine Form lokalen Gemeinschaften verwurzelten Ökono- der Mitverwaltung einigen, die diese an der mie. Die Idee einer kommunalen Produktion Verwaltung, Leitung und den Gewinnen des mit kommunalen Verbrauchszyklen stützt Unternehmens beteiligt. Mehr als 1000 kleine sich auf Istvan Mészáros und sein Konzept und mittelständische Unternehmen haben eines Übergangs zum Sozialismus (Mészáros seither an dem Programm teilgenommen. 1995, 759ff). Seitdem hat die Regierung Fast immer wählten sie jedoch ein Modell der verschiedene Formen kollektiver, misch- und Minderheitsbeteiligung am Besitz und damit selbstverwalteter Unternehmensmodelle den Gewinnen der Firma. Echte Partizipation eingeführt, gefördert und weiterentwickelt. an Management-Entscheidungen konnte sich dagegen nicht durchsetzen. Mitverwaltung, Selbstverwaltung und Arbeiterkontrolle Die staatliche Aluminiumhütte Alcasa Cogestión (Mitverwaltung) bedeutet verein- Als Testfeld für die Mitverwaltung wählte facht, dass die Arbeiter am Management ihres die Regierung Venezuelas zweitgrößte Betriebes teilhaben. Das wurde erstmals von ­Aluminiumhütte Alcasa in Ciudad Guayana der Belegschaft der staatseigenen Stromver- im Bundesstaat Bolívar. Das Unternehmen sorger CADELA und CADAFE während des ist Teil des staatlichen Basisindustrie-­ Unternehmerstreiks 2002/03 erprobt. In den Konglomerats CVG (Corporación Venezolana Folgejahren wurde die Mitverwaltung vor allem de Guayana), das dem Ministerium für in Unternehmen gefördert, die ganz oder teil- ­Basisindustrien und Minen (Mibam) unter- weise dem Staat gehörten. Da keine gesetzliche steht. Mitte Februar 2005 wurde der Ex-Gue- Grundlage für die Mitverwaltung existiert, rillero und marxistische Soziologe Carlos Lanz haben sich verschiedene Modelle entwickelt. von Chávez als Direktor für Alcasa vorge-

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LUX_1103_03.indb 81 01.09.11 16:46 schlagen und von der Teilhaberversammlung Lanz als Direktor in der Fabrik zur Wahl und gewählt. bekam 1800 von 1920 Stimmen. Rund zwei Wochen nach seinem Amts- Ende 2006 unterzeichnete Alcasa mit antritt ersetzte er sämtliche Abteilungsleiter Gewerkschaftsvertretern des Werks eine Ver- durch je drei Arbeiter, die von einer Abtei- einbarung, wonach das Unternehmen eine Rä- lungsversammlung gewählt wurden. Sie testruktur erhalten sollte (Prensa Alcasa 2007). sollten gemeinsam die Leitung übernehmen Eine neue Genossenschafts-Abteilung förderte und dafür den gleichen Lohn wie alle anderen und begleitete einen Organisierungsprozess Arbeiter bekommen. Als höchstes Entschei- innerhalb des Betriebes: Zwölf große Koope- dungsgremium wurde eine Betriebsversamm- rativen wurden gegründet. Deren Angehörige lung ins Leben gerufen, gefolgt von den erhielten Zugang zu den gleichen Leistungen Runden Tischen der Abteilungssprecher 2 und wie die Festangestellten – Kantine, Trans- den Abteilungsleitungen. Sämtliche Delegier- port und Freizeitangebote eingeschlossen. te wurden in Versammlungen gewählt und Alle Alcasa-Abteilungen verpflichteten sich, konnten abgewählt werden. So wurde an der Kooperativen den Vorzug gegenüber Privatun- Basis kollektiv über Arbeitsorganisation und ternehmen zu geben, womit diese nicht mehr Investitionen entschieden, auch wenn Ma- gezwungen waren, auf dem offenen Markt nagement und Verwaltung im Wesentlichen um die Verträge zu konkurrieren. Sowohl unverändert blieben. die Beschäftigten der Kooperativen als auch Die Arbeiter organisierten Bildungspro- Vertragsarbeiter von Subunternehmen sollten gramme und politische Schulungen, für die in Festanstellung übernommen werden. Doch sie das Ausbildungszentrum Negro Primero all dies war im Wesentlichen auf den Einsatz einrichteten. Alcasa wandelte sich in ein EPS der Abteilung für Genossenschaften zurück- um und gründete Genossenschaften, die das zuführen. Die Verwaltung sozio-politisch zu produzierte Aluminium weiterverarbeiteten. schulen, wurde dagegen vernachlässigt – mit Die Reformen sollten das Werk nicht nur drastischen Konsequenzen. demokratisieren, sondern auch wieder profi- tabel machen. 17 Jahre lang hatte Alcasa stets Niederlage der Mitverwaltung Verluste geschrieben, nachdem es aus der Im Mai 2007 verließ Lanz Alcasa. Der Aufbau Vorbereitung auf eine Privatisierung ineffizi- der Mitverwaltung brach daraufhin zusam- ent und hoch verschuldet hervorgegangen war. men, da sein Nachfolger kein Interesse daran Mithilfe der demokratisierten Leitungs- hatte und keine verbindlichen Statuten fixiert struktur konnte Alcasa die Produktion um elf worden waren: Ursprünglich sollte der Prozess Prozent steigern (Bruce 2005). In den Jahren dadurch so offen wie möglich gehalten werden, 2005 und 2006 zahlte das Unternehmen jetzt führte es dazu, dass die kollektiven Ent- alle über Jahre bei ehemaligen und aktuellen scheidungen nicht als verbindlich angesehen Arbeitern aufgelaufenen Lohn- und Renten- wurden. Die Partizipation ging rapide zurück, forderungen aus. Im Juli 2006 stellte sich die Räte traten erst gar nicht zusammen. Die

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LUX_1103_03.indb 82 01.09.11 16:46 Produktivität von Alcasa fiel drastisch und das Der Kampf ging weiter. Einige Aktive führten Werk schrieb erneut hohe Verluste. das Bildungszentrum weiter, richteten ein Eine zentrale Ursache lag in den Interes- »Kollektiv für Arbeiterkontrolle« ein und sen, die auf dem Spiel standen. Alcasa gehört machten es zu einer wichtigen Kraft. Sie betei- zu den wichtigsten Basisindustrien der Region. ligten sich an regionalen Basisorganisationen, Der Mutterbetrieb CVG ist durchzogen von kli- unterstützten die Arbeiter des Stahlwerkes entelistischen Netzwerken aus internationalem Sidor in ihrem Kampf für eine Verstaatlichung und nationalem Kapital, lokaler und regionaler des Betriebes und boten Beratung zu Arbeiter- politischer Macht. Weder Politiker noch das räten und Mitverwaltung an. Management und die Betriebsgewerkschaft Dass die Basisindustrien in Venezuela wollten die Beteiligung der Arbeiter an der modernisiert werden mussten, lag auf der Mitverwaltung fördern, und die fehlenden Hand. Sie zu einem effizienten und transpa- Statuten machten es ihnen leicht. renten Netzwerk von arbeiterkontrollierten Die in der Mitverwaltung engagierten Betrieben zu machen, galt dafür als beste Arbeiter kritisierten, dass weder im Manage- Option. Im Mai 2009 nahm Staatspräsident ment noch in der Verwaltung das Personal Chávez an einem Wochenendseminar mit ausgetauscht wurde. Nach Lanz’ Präsident- mehr als 300 Arbeitern aus den Eisen-, Stahl- schaft kehrten viele zu den korrupten Praktiken und Aluminiumhütten des CVG-Konzerns zurück. Die Stammbelegschaft stieg von 2700 teil. Auch Arbeiter von Alcasa waren dort auf 3300, doch nur 60 der neu Eingestellten vertreten. Sie diskutierten mögliche Lösungen stammten wie vorgesehen aus Kooperativen. für die jeweiligen Probleme der Teilbetriebe Die Mehrheit von ihnen waren Verwandte, und stellten neun strategische Richtlinien für Freunde oder Geschäftspartner derjenigen, die die Restrukturierung und Umwandlung der den alten Netzwerken angehörten. Kostbare CVG auf. Die Kontrolle der Arbeiter über die Aluminiumreste aus der Produktion wurden Produktion stand oben auf der Liste. wieder tonnenweise unter der Hand verkauft, Damit war der sozialistische Plan und das Unternehmen brachte wie früher »Guayana 2019« geboren, den Chávez im Aluminium unter dem Weltmarktpreis auf den August 2009 genehmigte. Die Entscheidung Markt, um schnelle Einnahmen zu machen. über die Gründung von Arbeiterräten war den Trotzdem war das Experiment »Mitverwaltung« Belegschaften überlassen, denn die Erfahrung nicht vergeblich: »Die Arbeitstische haben hatte ihnen gezeigt, dass Räte, die nicht auf nicht funktioniert und das Dickicht der Büro- ausdrücklichen Wunsch der Arbeiter gebildet kratie hat die Mitverwaltung gelähmt. [Doch] werden, keine Aussicht auf Erfolg haben die Arbeiter haben gelernt, dass sie selbst den (Trabajadores de CVG/Alcasa 2009). gesamten Produktionsprozess verwalten und Bei der Entwicklung des neuen Konzeptes kontrollieren können. Eine wichtige Lehre! für die staatlichen Schwerindustrien wurden Und uns ist immer gesagt worden, dazu seien die alte Verwaltung, die Betriebsgewerkschaf- wir nicht in der Lage.« (León 2009) ten, der Regionalgouverneur und der Minister

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LUX_1103_03.indb 83 01.09.11 16:46 für Basisindustrien und Minen (beide PSUV- Andrés Sosa Pietri. Das Werk schloss im Zuge Mitglieder) übergangen, da sie den geplanten des Unternehmerstreiks und sollte nach Maßnahmen gegenüber wenig Engagement starken Lohnsenkungen und der Streichung gezeigt hatten. Nach Monaten des Stillstands von Abfindungen für die Entlassenen wieder wurden im Mai 2010 schließlich die Direkto- eröffnet werden. Die Beschäftigten akzep- ren für jede der 17 CVG-Fabriken nominiert. tierten das nicht: 63 von ihnen besetzten das Diese stammten alle aus den Belegschaften Betriebsgelände, um die Auszahlung von und waren zuvor von den Arbeitern gewählt Löhnen und Abfindungen zu fordern. Das worden, die an den Workshops teilgenommen Arbeitsministerium ordnete schließlich an, hatten. Als Direktor von Alcasa wurde der dass der Fabrikbesitzer den Forderungen der Umwelttechniker und Arbeiteraktivist Elio Arbeiter nachzukommen habe. Als dieser sich Sayago eingesetzt. Damit ging der Kampf um weigerte, wurde die Fabrik enteignet (Azzelli- die Arbeiterkontrolle in eine neue Runde. ni 2007, 51ff; Cormenzana 2009, 27ff). In der Fabrik kam es zum Konflikt mit Was zunächst wie die Lösung der Pro- der Gewerkschaft, die versuchte, die Arbeiter- bleme schien, verlagerte den Klassenkampf kontrolle mittels Streik zu sabotieren. Einige in eine Auseinandersetzung mit und in den Probleme konnte eine rasch einberufene staatlichen Institutionen. Während die Arbei- Vollversammlung lösen. Doch insgesamt blieb ter, ermutigt von Chávez’ Unterstützung, für offen, ob die Neustrukturierung und Demokra- Arbeiterkontrolle eintraten und nach mögli- tisierung der Basisindustrien gelingen könnte. chen Modellen suchten, wirkte die Bürokratie Die Mehrheit der Belegschaft gilt als sichere der Ministerien gegen sie. Weder das Minep Unterstützer. Das zeigte sich zuletzt, als am noch das Ministerium für Leichtindustrie und 9. November 2010 rund ein Dutzend Gewerk- Handel mochte Invevals Transformation in schaftsfunktionäre vor dem ersten Schichtbe- ein arbeitergeführtes Unternehmen begleiten. ginn in die Fabrik eindrangen, die Tore mit Eine besonders problematische Entscheidung Ketten verschlossen und die Werksführung an war, dass nur Inveval enteignet wurde, nicht sich reißen wollten. Doch etwa 600 Arbeiter, aber die an einem anderen Ort gelegene die zum Schichtbeginn erschienen waren, Gießerei Acerven, die ebenfalls zu dem Unter- begleiteten Sayago in die Fabrik und demon­ nehmen gehört und der Ventilfabrik wichtige strierten damit, wem ihre Unterstützung Vorprodukte liefert. gehörte (Marea Socialista 2010). Die Belegschaft von Inveval lehnte den Plan des Minep zur Mitverwaltung ab. Dieser Die »rückeroberte« Fabrik Inveval sah vor, dass die Direktoren direkt vom Staat Im April 2005 wurde die CNV (jetzt Inveval) ernannt werden – die Beschäftigten forder- im Bundesstaat Miranda per Dekret enteignet. ten dagegen eine Mehrheit der Arbeiter im CNV produziert Ventile für die Erdölindustrie Management und einen Arbeiter als Präsi- und gehörte dem ehemaligen PdVSA-Direktor, denten. Nach harten Verhandlungen einigten Oppositionsführer und Putschbeteiligten sich Ministerium und Beschäftigte im August

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LUX_1103_03.indb 84 01.09.11 16:46 2005 auf einen Kompromiss zur Mitverwal- kapitalistischer Logik leiten zu lassen. Sie tung (Prensa INCES 2005). Die Fabrik wurde mussten feststellen, dass ihnen das nicht ge- als Aktiengesellschaft neu gegründet, die lungen war. Die Trennung der Arbeit von den zu 51 Prozent in Staatseigentum und zu 49 Entscheidungsebenen förderte Apathie in der Prozent ins Eigentum einer Genossenschaft Belegschaft und isolierte die Mitglieder in der der Beschäftigten überging. Die Leitung lag Leitung von den Vorgängen in der Produktion. in den Händen der Arbeiterversammlung, die Die Arbeiter fühlten sich gedrängt, kapitalisti- drei der fünf Direktoriumsmitglieder wählte, sche Denkweisen zu übernehmen, vor allem, darunter auch den Fabrikdirektor. da sie nicht nur Teilhaber am Unternehmen, Sämtliche die Fabrik betreffenden sondern auch an dessen Schulden waren. Sie Entscheidungen wurden in der wöchentlich kritisierten diesen Kreislauf, der sie dazu stattfindenden Genossenschaftsversammlung drängte, nur noch für die Arbeit und für den gefällt. Doch da der Staat Mehrheitseigner des Schuldenabbau zu leben. »Die Kooperative Unternehmens war, mussten die wichtigen fördert den Kapitalismus, denn sie wurde Entscheidungen auch vom Ministerium als Teil von diesem kapitalistischen System abgesegnet werden. Zu Beginn beschloss die geschaffen, und genau das wollen wir nicht Versammlung eine Lohnerhöhung und den [...]. Wir haben doch nicht einen Kapitalisten Sieben-Stunden-Tag. Ab vier Uhr nachmittags rausgeschmissen, um 60 neue hereinzuho- wurden verschiedene Schulungen angeboten, len!« (Gonzales 2008) an denen 37 der 63 Arbeiter teilnahmen: von Im Januar 2007 beschlossen die Beschäf- Alphabetisierungskursen über die Möglichkeit, tigten mit sofortiger Wirkung die Wahl eines Schulabschlüsse nachzuholen, bis zu Semi- Fabrikrates mit 32 Sprechern. Sie beendeten naren auf Universitätsniveau. Es gab sozio- die genossenschaftlichen Aktivitäten und politische, technische, administrative und suchten nach einem neuen Organisations- praktische Weiterbildungen. Das Ziel war, die modell für ihr Unternehmen. Seitdem ist soziale Spaltung im Arbeitsleben zu überwin- die Vollversammlung das höchste Gremium den. Ab 2006 hatten bei Inveval nur noch der des Werks. Sie tritt in der Regel einmal im Präsident, das Direktorium, die Koordinatoren Monat zusammen und zusätzlich, wenn der Produktionseinheiten sowie die Werksver- wichtige Entscheidungen anstehen. Ihr folgt waltung fest definierte Aufgaben. Alle anderen in der ­Hierarchie der Fabrikrat. Dessen erhielten ihre Aufgaben je nach den individu- Mitglieder werden für ein Jahr gewählt und ellen Kenntnissen und Fähigkeiten. können jederzeit von der Vollversammlung abgewählt werden. Der Rat trifft sich wö- Von der Kooperative zur chentlich und diskutiert die Punkte, für die sozialistischen Fabrik vor der ­Umstellung das fünfköpfige Direk- Fast zwei Jahre lang versuchten die Arbeiter torium ­zuständig war. Aus dem Rat heraus von Inveval, die Fabrik vereinbarungsgemäß entstanden Kommissionen mit konkreten selbst zu verwalten und sich dabei nicht von Aufgaben wie sozio-politische Angelegenhei-

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LUX_1103_03.indb 85 01.09.11 16:46 ten, ­Rechnungslegung, Disziplin, technische sind auch dadurch verursacht, dass auch die Aspekte und Dienstleistungen. Sie alle stellen staatlichen Institutionen von Widersprüchen ihre Arbeit im Rat zur Entscheidung. und Klassenkampf durchdrungen sind. Die Das Unternehmen befindet sich nun Enteignungen zeigen, dass ein politischer komplett in öffentlichem Eigentum und hat Wille zu Strukturveränderungen vorhanden die ehemaligen Kooperativenmitglieder direkt ist. Doch über die Verstaatlichung hinaus als Angestellte unter Vertrag. Damit hat die bieten die Institutionen wenig Raum für Belegschaft das System der Mitverwaltung Initiativen der Arbeiter und tendieren dazu, erfolgreich in ein Modell direkter Arbeiterkon- die Kontrolle über Verwaltung und Produktion trolle überführt. Sie hat Möglichkeiten erprobt, in den Betrieben bei sich zu halten. ihre Zulieferbetriebe entweder zu kaufen Inzwischen befürworten die meisten oder deren Verstaatlichung zu forcieren und politisch aktiven Arbeiter die Variante, gleichzeitig den Warenaustausch möglichst Fabriken in Staatsbesitz zu überführen und ohne den Einsatz von Geld zu organisieren. dann der Belegschaft und den Kommunen Die Schwierigkeiten mit dem Ministerium, gemeinsam die gesamte Verantwortung für das wiederholt versprochene Zuschüsse den Betrieb zu übertragen. Für dieses Modell erst verspätet auszahlte, blieben bestehen. tritt auch das Forum der Sozialistischen PdVSA, der staatliche Ölkonzern, versuchte Arbeiterräte – CST (2009) ein. Deren Debat- sogar, seine Verträge mit Inveval zu kündigen ten über Arbeiterkontrolle, Selbstverwaltung (Cormenzana 2009, 203f). Nachdem die Insti- und Mitverwaltung berufen sich auf Marx, tutionen auf die wiederholten Aufforderungen, Gramsci, Trotzky, Pannekoek und die Tradi- die Gießerei Alcarven zu enteignen, nicht tionslinie des Rätekommunismus (Giordani eingingen, entschied Venezuelas Nationalver- 2009, Lanz 2007). Ein Thesenpapier, das sammlung am 4. Mai 2010, Alcarven sei ein während eines landesweiten Workshops der Unternehmen des öffentlichen Interesses – CST entstand, kritisiert die Mitverwaltung als eine Voraussetzung für eine spätere Verstaatli- ungeeignet zum Aufbau eines sozialistischen chung der Gießerei (Aporrea.org 2010). Systems. Das Papier kam zu dem Schluss, das Recht auf Mitbestimmung aus dem Eigentum Von der Mitverwaltung zu Räten an den Produktionsmitteln, also dem Kapital Bereits im Jahr 2006 hatten politisch en- abzuleiten, sei ein Irrtum. »Mit Hilfe der gagierte Arbeiter aus ihren Erfahrungen Besitzanteile werden die Arbeiter objektiv mit Beteiligungsmodellen, die ihnen ein in neue Kapitalisten verwandelt« (MinTrab Miteigentum an den Produktionsmitteln 2008, 13f). Stattdessen schlug der CST ein einräumten, ein negatives Fazit gezogen. Die rätebasiertes Modell vor, das mannigfaltige Institutionen wiederum strebten nach den und gemischte Formen der Verwaltung wie negativen Erfahrungen mit der Mitverwaltung Arbeiterräte, Kommunen, Produktionskerne eher nach effizienterer staatlicher Verwaltung und – für große Unternehmen – die Einbin- als nach Arbeiterkontrolle. Die Widerstände dung des Staates miteinander vereint.

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LUX_1103_03.indb 86 01.09.11 16:46 sozialistische Wirtschaftsordnung? Literatur Aporrea.org, 2010: Declaran de utilidad pública e interés Als größte Schwierigkeiten in diesem Prozess social los bienes de ACERVEN, www.aporrea.org/ entpuppten sich die Transformation und endogeno/n156623.html Azzellini, Dario, 2007: »Von den Mühen der Ebene: die Demokratisierung der Wirtschaft. In den ­Solidarische Ökonomie, kollektive Eigentumsformen, allermeisten Betrieben ist die Verwaltung Enteignungen und Arbeitermit- und -selbstverwal- tung«, in: Andrej Holm (Hg.), Revolution als Prozess: weder von der Belegschaft noch von den ­Selbstorganisierung und Partizipation in Venezuela, Gemeinden kontrolliert. Innerhalb eines ­Hamburg, 38–57 Bruce, Ian, 2005: »Venezuela promueve la cogestión«, Systems, das nach kapitalistischer Logik in: BBC, 19.8.2005, http://news.bbc.co.uk/hi/spanish/ funktioniert, sind dem Aufbau kollektiver business/newsid_4167000/4167054.stm Cormenzana, Pablo, 2009: La batalla de Inveval. La lucha por Produktionsaufsicht und Entscheidungswege el control obrero en Venezuela, Fundación Federico Engels, hohe Hürden in den Weg gestellt. Vor allem Madrid CST (Consejos Socialistas de Trabajadoras y Trabajadores die Verteilung von Arbeit und Gewinnen sind de Venezuela), 2009: I Encuentro Nacional de Consejos von Konflikten begleitet. Doch überall, wo die Socialistas de Trabajadoras y Trabajadores de Venezuela, 27.6., Caracas Arbeiter die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz Díaz Rangel, Eleazar, 2006: Todo Chávez. De Sabaneta als erobert haben, lässt sich beobachten, dass sie socialismo del siglo XXI, Caracas Giordani C., Jorge A., 2009: Gramsci, Italia y Venezuela, solidarische Verbindungen mit den umlie- Valencia Lanz Rodríguez, Carlos, 2007: Consejo de Fábrica y genden Gemeinden geknüpft, hierarchische ­Construcción Socialista. Antecedentes teóricos e históricos Entscheidungsstrukturen abgebaut und sich de un debate inconcluso, Ciudad Guayana: Mibam/CVG Alcasa gegenüber den Arbeiterräten für rechen- Lebowitz, Michael, 2006: Build it now: for the 21st schaftspflichtig erklärt haben. In den meisten century, New York León, Osvaldo (Arbeiter bei Alcasa), 2009: Interviewt durch Fällen führten sie einen gleichen Lohn für alle Dario Azzellini ein und schafften zusätzliche Arbeitsplätze. Marea Socialista, 2010: »En CVG ALCASA, Trabajadores der- rotan golpe de Estado orquestado por la FBT (Movimien- Arbeiterräte scheinen bisher das beste to 21), www.aporrea.org/endogeno/n169305.html, 10.11. Modell zu sein; ihre Zahl wächst stetig. Noch Mészáros, Istvan, 1995: Beyond capital: Towards a theory of transition, London ist nicht absehbar, ob diese Entwicklung MinTrab (Ministerio del Poder Popular para el Trabajo y weitergeht oder ob sich eher staatliche Verwal- Seguridad Social) (Hg.), 2008: La gestión socialista de la economía y las empresas. Propuesta de trabajadores(as) tungsstrukturen durchsetzen werden. Da die al pueblo y gobierno de la República Bolivariana de Räte nicht von oben organisiert sind, könnte ­Venezuela Valencia, 18./19.4.2008, Caracas Prensa Alcasa, 2005: »Designada nueva Junta Directiva de sich ihr organisches Wachstum fortsetzen. Alcasa que tendrá por objetivo impulsar proceso cogesti- Auseinandersetzungen mit der Bürokratie onario«, www.aporrea.org/endogeno/n69123.html, 24.11. Ders., 2007: »Alcasa propone activar el poder scheinen dabei unvermeidlich, wobei die constituyente para construir Consejos de Fábrica«, Arbeiter den Umstand ausnutzen können, www.aporrea.org/endogeno/n90891.html, 20.2.2007 Trabajadores de CVG/Alcasa, 2009: »Control Obrero. Pub- normativ im Recht zu sein. licación de trabajadores de CVG/Alcasa«, www.aporrea. org/endogeno/a86731.html, 16.9.

Aus dem Englischen von Neelke Wagner 1 2008 in »Ministerium für kommunale Ökonomie« (Ministerio para la Economía Comunal, Minec), 2009 umbenannt in »Ministerium für Kommunen«. 2 Je zehn Arbeiter wählten einen Sprecher.

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LUX_1103_03.indb 87 01.09.11 16:46 ARbeitsorganisation in wieder angeeigneten Fabriken

Henrique T. Novaes und Die neoliberale Restrukturierung Lateinameri- kas seit den 1990er Jahren ging zu Lasten der Renato Dagnino Industrie, sie führte zu hohen Insolvenzraten, steigender Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und einem Anstieg der informellen Arbeit. Die Arbeiterklasse wehrte sich in vielfäl- tigen Formen gegen die Arbeitslosigkeit: in Argentinien bspw. mit Organisierungsprozes- sen von Gruppen wie der Arbeitslosenbewe- gung (Piqueteros), Stadtteilparlamenten, der Bewegung der geschädigten Kleinsparer, der Tauschringe (Trueques), Genossenschaften, Arbeiterkollektive und zurückeroberten Fabri- ken bzw. wieder angeeigneten Unternehmen. Sie wurden von Beschäftigten als Ausweg gesucht, die von traditionellen Gewerkschaf- ten keine Lösungen mehr erwarteten (Murúa/ Abelli 2004). In Brasilien dagegen ist die unterstützende Rolle der Gewerkschaften entscheidend, z.B. durch die Gründung der Agentur für solidarische Entwicklung (Agência de Desenvolvimento Solidário), die staatliche Subventionen organisiert, rechtliche,

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LUX_1103_03.indb 88 01.09.11 16:46 organisatorische und technische Beratung, 2 | Orgware: Eine veränderte Arbeitsteilung ARbeitsorganisation günstige Kredite und einen Schutz gegen resultiert daraus, dass die Arbeiter sich das das Unterlaufen von Arbeitsstandards bietet Wissen über den Produktionsprozess angeeig- (Faria/Novaes 2011) – nicht so in Argentinien net haben oder neues Wissen durch externe in wieder angeeigneten (vgl. Vieta/Ruggeri im Heft). Akteure und Quellen in den Produktionspro- Die wieder angeeigneten Unternehmen in zess eingebunden wurde; Argentinien decken mehr Bereiche ab als die 3 | Hardware: Maschinen wurden angeschafft, Fabriken in Brasilien: Ambulante Kliniken, Krankenhäu- übernommen und in Wert gesetzt, alternative ser, Supermärkte, Schulen, insgesamt gibt es Technologien wurden eingesetzt und solche, etwa 180 Unternehmen mit 12 000 Arbeitern. die in Kooperationen mit dem Wissenschafts- Allerdings beschäftigen viele der zurücker- betrieb durch die Arbeiter entwickelt wurden. oberten Unternehmen nur noch ein Fünftel der Arbeiter, die zu Spitzenzeiten beschäftigt Verteilung der Gewinne waren. Die Hälfte der 87 von Fajn u.a. (2003) In wieder angeeigneten Fabriken in Argen- untersuchten Unternehmen verfügen über tinien und Uruguay werden die Gewinne weniger als 30 Mitarbeiter und nur 25 Prozent gleich verteilt – ein wichtiger Bruch mit den über mehr als 70. In Uruguay liegt die Zahl kapitalistischen Lohnverhältnissen. 70 Prozent der zurückeroberten Fabriken bei rund 20. In der Fabriken entschieden sich für eine gleiche Brasilien schätzen wir ihre Anzahl auf rund Verteilung der Überschüsse (Faijn 2003). Oh- 200. Wie in Argentinien und Uruguay sind ne »gleiche Verteilung der Überschüsse« gibt auch in Brasilien die meisten zurückeroberten es keine wirkliche Selbstverwaltung, formulie- Unternehmen in der metallverarbeitenden-, der ren Vertreter der brasilianischen Fabrikbeset- Textil- und Schuhindustrie angesiedelt. zerbewegung. Anders als in Brasilien geht die Welche Veränderungen wurden nach der gleiche Verteilung der Gewinne in Argentinien Rückgewinnung durch die Belegschaften in auf die identitätsstiftende Rolle der kollektiven diesen Unternehmen angestoßen? Ausgehend Aktionen während der Besetzungen zurück, von der Analyse von acht Fallbeispielen kom- etwa im Fall der Fabrik Los Constituyente. men wir zu folgenden Ergebnissen: Unabhän- Dagegen wurde in der uruguayischen Fabrik gig von der Eingebundenheit in Marktbezie- Coopdi die gleiche Verteilung aufgegeben und hungen und der Tendenz zur Reproduktion zur alten Besoldungsstruktur zurückgekehrt. herkömmlicher Arbeitsbeziehungen haben Ist das egalitäre Lohnsystem auf Dauer zu die wieder angeeigneten Unternehmen in drei halten oder war es Ergebnis des Kampfes in Bereichen einen Wandel angestoßen: der Krise? 1 | Software: Wandel der Betriebskultur, z.B. bei Neben veränderten Entlohnungsverhältnis- der Aufteilung der Gewinne zu mehr oder weni- sen werden in den zurückeroberten Unterneh- ger gleichen Anteilen, teilweise Anpassung der men in Argentinien und Uruguay Überschüsse Fabrik an die Interessen der Arbeiter, Aneig- auch für eine substanzielle Verbesserung der nung von Wissen über die Produktionsabläufe; Kantinen und Ruhezonen, für Bildungsangebo-

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LUX_1103_03.indb 89 01.09.11 16:46 te, Kulturveranstaltungen und die Einrichtung Veränderung der Organisation der Produktion von Kindertagesstätten genutzt. In Los Consti- und der Arbeit (Oda 2001). tuyentes wurden mit den Überschüssen Leute Drei Hypothesen, weshalb die Arbeiter der angestellt, die sich im Umfeld des Fabrikge- übernommenen Fabriken wenig unterneh- ländes als Müllsammler und Bettler betätigt men, um die gegebene Arbeitsorganisation zu und das Mitleid der Arbeiter erweckt hatten. In verändern: Zunächst verlieren Arbeiter den allen untersuchten Fabriken geht es um eine Glauben an die Selbstverwaltung, wenn sie Verbesserung der Arbeits- und der Lebensquali- ihre eigene Rolle als »figurativ« wahrnehmen, tät; dafür wird zusätzliche Arbeitskraft jenseits also ohne wirkliche Fähigkeit, Veränderun- der reinen Produktion bereitgestellt. gen durchzusetzen. Bedeutsamer ist jedoch unseres Erachtens die Naturalisierung des Lohnerhöhungen oder Verbesserung des Arbeitsprozesses selbst; Vorstellungen über ei- Arbeitsumfeldes ne mögliche Veränderung bestehen nicht. Die Nach unseren Erfahrungen in den Fabrikver- meisten Arbeiter bezeichneten uns gegenüber sammlungen, vor allem in den brasilianischen die gegebene Organisation der Arbeit als die Unternehmen Cones und Textilcooper, sind »einzig mögliche«. Trotz des Zusammenbruchs die gewählten Leiter und Vorstände oft die des Unternehmens wurde nicht einmal die treibende Kraft in Diskussionen über die Rolle der Spezialisten in Frage gestellt. Die Verwendung der Überschüsse und über damit verbundene Passivierung der Arbeiter soziale ­Investitionen zur Verbesserung führt dazu, dass sich die Versammlungen auf des Arbeitsumfeldes. Eine Mehrheit der ritualisierte bürokratische Akte reduzieren, Arbeiter drängte meist auf ­Lohnerhöhungen. die nur nachvollziehen, was in der gewählten ­Partizipationsmöglichkeiten bei der Leitung vorbesprochen wurde – wie bei einer ­­Selbstverwaltung scheinen tatsächlich durch der ältesten Kooperativen Brasiliens, Cooper- die ungleiche Verteilung von ökonomischem minas (Faria/Novaes 2011). und technischem Wissen beschränkt zu Die Versammlungen und neuen Entschei- sein. In einigen Fällen, etwa der Fabrik dungsmechanismen scheinen Zeit und Übung Wallig, haben Arbeiter ihre Möglichkeiten zur zu brauchen, um die Gewohnheiten der hier- Veränderung des Arbeitsplatzes nicht wahrge- archischen Arbeitsorganisation zu überwinden. nommen (Holzmann 2001). Die Verwaltung Dort wo, wie im Falle der Kooperative Harmonia, der ­Genossenschaft Uniforja im Bundesstaat des größten Zuckeranbau- und -verarbei- Sao Paulo stellte Sozialarbeiter ein, um das tungsbetriebes Lateinamerikas, eine wirkliche Arbeitsumfeld zu verbessern. Fragen nach Partizipation der Arbeiter stattfindet, der Betrieb Arbeitssicherheit, Arbeitsrhythmus und -dauer in ein Netz von kommunalen und betrieblichen oder der ­Aus- und Weiterbildung wurden Strukturen eingebettet ist, und diese ebenso dabei ausgeblendet. Und die Sozialarbeiter wie Gewerkschaften in Entscheidungsprozesse ­behinderten trotz ihrer weitgehenden Be- eingebunden sind, können produktive Routi- fugnisse das Aufkommen von Themen wie nen ohne starre Bürokratisierung ausgebildet

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LUX_1103_03.indb 90 01.09.11 16:46 werden. So konnten zur weiteren Stabilisierung der Produktion auch die Suche nach angepass- ten alternativen Technologien und Projekte zur Konversion und Diversifizierung der Produktion vorangetrieben werden (ebd.).

Verselbständigung der gewählten Vorstände Die Verselbständigung der gewählten Vorstände und Vorsitzenden hängt nicht vom wirtschaft- lichen Erfolg der übernommenen Fabrik ab. Sowohl bei Textilcooper (hochgradig instabil, mit sehr warhscheinlicher Insolvenz) als auch bei Cones (steigende Auftragslage) treten Prozesse der Bürokratisierung auf. Dies deckt sich mit Ergebnissen von Vieitez und Dal Ri (2001), de- nen zufolge sich auch in Genossenschaften mit der Zeit politisch-administrative Eliten bilden und die Kommunikation sich hierarchisiert, die Arbeiter passiv werden. In einigen Fällen wird www.rebearte.info dem durch regelmäßige Rotation der Aufgaben vorgebeugt, indem auf diese Art das Wissen Unterschiede werden auch bei der über alle Produktionsschritte und Erfahrungen subjektiven Beurteilung der Veränderung in der Produktionsplanung und -organisation der Arbeit deutlich: Die meisten schildern, verallgemeinert werden. dass kreative und improvisierte Tätigkeiten Während die Fabrik Los Constituyentes zugenommen haben und bewerten die Arbeit ohne spezialisierte Ingenieure auskommt, als ruhiger. Andere sehen ihre Arbeit seit der spielen im Mitbestimmungsmodell der Übernahme der Fabrik als eintöniger, repetitiv uruguayischen Reifen- und Schuhfabrik Funsa und inhaltsleer an. Ingenieure und externe beauftragte Spezi- Verwunderlich war für uns, dass die alisten die Hauptrolle bei der Organisation Arbeiter kritisierten, wenn Regeln und des Produktions- und Arbeitsprozesses. In Normen nach der Besetzung bzw. Übernahme Los Constituyentes betonen die Arbeiter ihre der Fabrik fehlten. Viele bemängelten, dass Fortschritte in der Selbstverwaltung, die auf man im Unternehmen »alles machen kann, der Kenntnis des Produktionsprozesses be- wie und wann es einem beliebt«. Wenn durch ruhen – sie benötigten keine Ingenieure und die kollektiven Entscheidungsinstanzen Vorarbeiter mehr und lehnen deren Funktion keine neuen Normen geschaffen wurden, als Aufpasser ab (Novaes 2004c). fühlten sich Genossenschaftsmitglieder in

luxemburg | 3/2011 91 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 91 01.09.11 16:46 der Gründungsphase in einem »gesetzlosen« verschärfen Kredite den Druck auf höheren Ort (vgl. Holzmann 2001). Werden Standards Mehrwert, um Zinsen zu bedienen. Um sich betrieblicher Disziplin jedoch offen diskutiert dem konventionellen technologischen Fort- und gemeinsam beschlossen, werden sie von schritt zu verweigern, wäre eine andere Stärke den Arbeitern nicht als äußerlich empfunden, und Organisierung der Arbeiterklasse nötig. sondern als solidarische Umgangs- und Kooperationsformen. Ausbeutung und Selbstausbeutung Fabrikbesetzung und -übernahme sind eine Kritik an der eingesetzten defensive Strategie der Arbeiterklasse, um konventionellen Technologie Krisen zu überstehen. Diese in eine offensive Trotz einiger Fortschritte bei der Aneignung Strategie zu verwandeln, ist angesichts der ge- von Wissen zur Wartung, Reparatur und gebenen Klassen- und Kräftekonstellation nicht kleineren Änderungen der Funktionsweise, gelungen. Dies führt zu widersprüchlichen gibt es kaum Kritik an der eingesetzten Entwicklungen in den Fabriken: Der Druck des konventionellen Technologie. Die Übernahme Marktes auf die vereinzelten ­Betriebe führt da- der Technologie (v.a. ein starker Taylorismus) zu, dass Diskussionen entpolitisiert werden, die reproduziert die Trennung von planenden betriebswirtschaftliche Logik dominiert, Arbeit Spezialisten und Ingenieuren sowie ausfüh- intensiviert, Arbeitszeiten verlängert, Löhne renden Arbeitern. Für die Arbeiter ist es gesenkt oder unregelmäßig ausgezahlt werden. verlockend, Maschinen und Ausrüstung über Abgesehen von den vielen Fällen, in denen Kredite oder wie im Falle Textilcooper günstig alte Führungsstrukturen weiterbestehen statt über die Stiftung Banco de Brasil zu finanzie- Selbstverwaltung zu schaffen, beuten in vielen ren. Das wirft Fragen auf: a) Ist die neueste angeeigneten Fabriken die Arbeiter – neben Technologie wirklich die Beste? b) Lohnt es der Selbstausbeutung – andere, neu angestellte sich nicht, die existierende weiter zu nutzen? Arbeiter aus (vgl. Hunt in diesem Heft). c) Ermöglicht die vorhandene bzw. neue Bei Cones stieg die Anzahl der technische Ausstattung nur die Fortführung ­Angestellten in nur zwei Jahren von acht auf konventioneller Unternehmensorganisation über 100. Faria (2005) untersuchte einen oder fördert sie die Möglichkeiten der Selbst- selbstverwalteten Betrieb in Río Grande do verwaltung? Einer der Berater einer zurück- Sul mit nur 150 Mitgliedern und über 800 eroberten Fabrik in Brasilien drängte auf ­Angestellten.1 In der argentinischen Fabrik Los technologischen Fortschritt und Investition, Constituyentens gibt es nur wenige Angestellte. obwohl er die bestehende technische Ausstat- Die Dominanz kapitalistischer Verhältnisse tung in der Fabrik als »bisher nicht überholt« und Marktbeziehungen über die selbstverwal- einschätzte. Die selbstverwalteten Unterneh- tete Produktion wird voraussichtlich zu einer men müssen sich als Inseln im kapitalisti- Degenerierung von Kooperativen führen. schen Ozean behaupten, was eine permanente Die Einbindung in transnationale Produk- technologische Anpassung erfordert. Zugleich tionsketten (statt in regionale Netze solidari-

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LUX_1103_03.indb 92 01.09.11 16:46 scher Ökonomie) ist ein grundsätzliches Prob- muss mit gesellschaftlichen Kämpfen zur lem. In Argentinien waren im Jahr 2003 etwa Transformation der Gesellschaft verbunden 70 Prozent der wieder angeeigneten Fabriken werden. als Subunternehmen großer privater Firmen tätig (Fajn u.a. 2003). Für diese gibt es wenig Gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Handlungsspielraum gegen die Zumutungen Beitrages »As Fábricas Recuperadas brasileiras: os der Preisdiktate durch Kunden und Lieferan- constrangimentos do controle operário«, erschienen ten. Immerhin sind sich deren Arbeiter einig, in: Revista Cayapa, 12, 249–71. Aus dem Spani- dass der Einsatz ihrer Arbeitskraft innerhalb schen von Jan Ullrich dieser transnationalen Produktionsketten kein gutes Geschäft darstellt und dabei der größte Literatur Fajn, Gabriel, u.a., 2003: Fábricas y empresas recuperadas – Teil der generierten Überschüsse nicht in protesta social, autogestión y rupturas en la subjetividad, Ediciones del Instituto Movilizador de Fondos Cooperati- ihrem Unternehmen verbleibt. vos, Buenos Aires Faria, Maurício Sardá de, 2005: Autogestão, Cooperativa, Economia Solidária: avatares do trabalho e do capital, Widersprüchliches Potenzial Florianópolis Angesichts der Schwierigkeiten überrascht die Ders. und Henrique Tahan Novaes, 2011: Brazilian Reco- vered Factories: The Constraints of Workers’ Control, Überlebensfähigkeit der wieder angeeigneten in: Immanuel Ness und Dario Azzellini (Hg.), Ours to Fabriken. Sie zeigen, dass Technologien und master and to own. Workers’ control from the Commune to the Present, Chicago Arbeitsorganisation angeeignet und durch Holzmann, Lorena, 2001: Operários sem patrão. Gestão coope- Selbstverwaltung anderen Zwecken zuge- rativa e dilemas da democracia, São Carlos Murúa, Eduardo, und José Abelli, 2004: Charla en el 2. Con- führt werden können. Sie sind Beispiele der greso Nacional de Sociología, Universidad de Buenos Aires Selbstermächtigung der Arbeiter, der solidari- Novaes, Henrique T., 2005a: Notas sobre Fábricas Recuperadas na Argentina e Uruguai, Informe de investigación, CAPES; schen Kooperation und Selbstorganisation, der www.ecosol.org.br praktischen Infragestellung der Funktion des Ders., 2005b: »Quando os patrões destroem máquinas: o debate em torno das forças produtivas em fábricas recu- Kapitalisten. Weder sollte unterschätzt werden, peradas argentinas e uruguaias«, in: Revista de Ciências wie stark der Druck zur ungewollten Repro- Sociais da Unisinos 166, São Leopoldo Ders., 2005c: Para além da apropriação dos meios de duktion kapitalistischer Verhältnisse in einem produção? O processo de Adequação Sócio-Técnica em Fábricas Recuperadas, Instituto de Geociências, feindlichen Umfeld ist, noch das Potenzial Unicamp, Campinas. http:// libdigi.unicamp.br/ transformatorischer Schritte und Erfahrung document/?code=vtls000375370 Ders. und Renato Daganino, 2004: »O Fetiche da innerhalb des Bestehenden übersehen werden. ­Tecnologia«, in: Revista Organizações & Democracia, Veränderungen lassen sich vor allem ­Marília, 5.Jg., H. 2, 189–210 Oda, Nilson, 2001: Gestão e Trabalho em cooperativas de pro- im Bereich der Arbeitsbeziehungen und der dução: dilemas e alternativas à participação, São Paulo Unternehmensverwaltung feststellen. Der Vietzez, Cândido, und Neusa Dal Ri, 2001: Trabalho associado, Rio de Janeiro Kern der Unternehmen wurde bislang nicht verändert: die Produktion von Waren für den 1 Als Argument der Kooperativen dient die Verhinde- Markt und die Vorherrschaft der Spezialisten. rung der Aufnahme von »negativen Meinungsmachern« Um den Druck zu mindern, sind kooperative und dass sie zu den Gründungsmitgliedern gehören. Zu »Kooperativen der Bosse« und der Kontrolle der Gründer- Netzwerke notwendig und diese Bewegung generation über die Unternehmen siehe Novaes (2005c).

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LUX_1103_03.indb 93 01.09.11 16:46 China: Die widerspruchsvolle Eigentumsfrage

Wolfram Adolphi Jede Debatte darum, ob der chinesische Weg ein spezieller, sogar sozialistischer sei oder doch »nur« ein gewöhnlicher kapitalistischer, kommt notwendig auf die Eigentumsfrage. Die Antwort bleibt widerspruchsvoll. Perry Anderson macht im heutigen China ein »Kommando« des Staates aus »über das, was dieser als ­strategische Höhen der Wirtschaft betrachtet: Energie, Metallurgie, Rüstung und Tele­kommunikation« sowie eine ebenfalls staatliche »Kontrolle über die Wechselkurse, die Kapitalverkehrsbilanz und das Banken- system« (2010, 90). Aber ein Urteil über die Gesamtentwicklung des chinesischen ­Transformationsprozesses der Nach-Mao- Zeit – also seit 1976/78 –, »kann nicht anders als fehlbar sein« (96; vgl. auch Adolphi 2010a, 165). 2006 hat die Gongchandang, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), deren Name auch mit Partei des Gemeineigentums übersetzt werden kann, über den Aufbau einer »harmonischen sozialistischen Gesell- schaft« beschlossen (xiehe shehuizhuyi). Ob

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LUX_1103_03.indb 94 01.09.11 16:46 und mit welchem Inhalt der zur Lebensreali- Grundlage eines 1998 erlassenen Gesetzes China: tät werden wird, ist offen. verkauft werden, und zwar durch die lokalen Seit den 1980er Jahren hatte das Kon- Behörden. Infolgedessen hätten sich »in man- zept der städtisch-ländlichen Unternehmen chen Regionen« längst »mafiöse Strukturen« Die widerspruchsvolle (Township Village Enterprises – TVE), die entwickelt, in denen »korrupte Beamte und »mehr oder weniger in Kollektivbesitz kriminelle Banden eng zusammenarbeiten« befindlich« waren (Taube 2009, 109), für die (250). Konrad Seitz hat das als ›Kaderkapi- Eigentumsfrage wirtschaftliche Entwicklung und die soziale talismus‹ bezeichnet: Zentrale Akteure des Stabilität auf dem Lande große Bedeutung. Wirtschaftswachstums seien »nicht die von Heute sind diese TVE größtenteils in Pri- Elitebeamten angeleiteten und unterstützten vatbesitz übergegangen – und zwar nicht Privatunternehmer […], sondern die lokalen einem »von oben nach unten durchgestellten Führungskader der Partei- und Verwaltungsbü- Entwicklungsplan« folgend, sondern durch rokratie selbst« (2000, 327); der ›Kaderunter- einen »Von-unten-nach-oben-Prozess […], in nehmer‹ riskiere kein persönliches Kapital und dem die Rolle des Staates darauf reduziert profitiere »vom Wachstum, nicht vom Gewinn, blieb, bereits bestehenden institutionellen der ihm nicht gehört« (329); als Kehrseite des Arrangements im Nachhinein seinen Segen Wachstums gebäre der ›Kaderkapitalismus‹ zu geben« (ebd., 125). neben der tiefer werdenden Arm-Reich-Kluft Die Verhältnisse in China ändern sich auch das »schwerwiegende Problem« einer schnell, und scheinbar sichere Urteile geraten »endemischen Korruption« (331; vgl. auch leicht ins Wanken. Stimmt es noch, dass »der Adolphi 2010b, 1241). staatliche Sektor […] die Kommandohöhen Die Zentralregierung beobachte die der Wirtschaft [beherrscht]« und die »Realisie- Landverkäufe der Lokalregierungen »mit rung des Eigentums an Produktionsmitteln« wachsendem Unbehagen«: Wenn »Agrar- sich über ein »von der Regierung dominiertes land an Investoren verkauft wird, die es mit System der Marktwirtschaft (einschließlich Häusern und Fabriken bebauen«, werde des Arbeitsmarktes und des gesamten Finanz- China »irgendwann nicht mehr genügend marktes« vollzieht (Peters 2009, 557)? Oder Getreide produzieren können, um 1,3 Milliar- entwickelt die »Privatisierung von unten« den Menschen zu ernähren«. Die Versorgung (Heberer 2010, 40) ihre eigene Dynamik, ihre der Gesamtbevölkerung kümmert jedoch eigenen Gesetze? die Lokalregierungen nicht, und wenn die Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan Zentralregierung Bestimmungen erlasse, geben Meinungen chinesischer Gesprächs- »die den Verkauf der Nutzungsrechte von partnerinnen und -partner zur Eigentumsfrage Ackerland verbieten«, dann wird aus diesem wieder und machen auf einen grundlegenden »schnell Brachland gemacht. Die lokalen Widerspruch aufmerksam: Grund und Boden Behörden lassen sich vom Zentrum nicht gehören dem Staat, sind kein Privateigentum, mehr viel vorschreiben« (Häring-Kuan/Kuan aber die Nutzungsrechte dürfen auf der 2011, 251). Einige lokale Regierungen ziehen

luxemburg | 3/2011 95 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 95 01.09.11 16:46 50 Prozent ihrer Einkünfte aus den Verkäufen »die sozio-ökonomische Lage der normalen von Landnutzungsrechten; im Jahre 2009 Bürger und des ›subalternen Südens‹« (560). hätten 70 Städte durch solche Verkäufe ihre Die Entstehung eines der »am meisten Einkünfte im Vergleich zum Vorjahr um 100 wettbewerbsfähigen freien Agrarmärkte der Prozent steigern können (ebd., 249). Welt« (Rozelle/jikun Huang 2010, 80) hier Das chinesische Konjunkturpaket als und die Aushöhlung der ländlichen Verwal- Antwort auf die Krise 2008/2009 hat mit tungen (Smith 2010, 601) sowie Schwächung umgerechnet 586 Milliarden US-Dollar alle der Regierungskontrolle da (Wong 2009, 931) ähnlichen Programme in der Welt in den sind zwei Seiten der selben Medaille. Schatten gestellt. Aber: Die Bodenspekulation Und die staatseigenen Betriebe (State ist damit weiter befördert worden. Für Owned Enterprises – SOE), die oft in direkten regionale und lokale Regierungen und auch Zusammenhang mit den »Kommandohö- für staatseigene Unternehmen« ist das Paket hen« der Wirtschaft gestellt werden? Als »eine Gelegenheit« gewesen, »ihre Lieb- die ­Zentralregierung daran ging, sie mittels lingsprojekte zu finanzieren, z.B. Flughäfen ­Kürzungen ihrer Rentenfonds und Stellenstrei- oder ­High-Tech-Industrien« (Sum 2010, 558). chung in die schwarzen Zahlen zu bringen, Doch die zentralstaatlichen Mittel zur Ge- »engagierten sich Renten­empfänger, denen samtfinanzierung reichen nicht aus und die ihre Rente verweigert wurde, ­gemeinsam mit regionalen und lokalen Regierungen verfügen einer wachsenden Zahl von entlassenen Arbei- nicht über ausreichend Eigenmittel – wegen terinnen und Arbeitern in verschiedenen For- 1 | der Verpflichtung, 60 Prozent ihrer Ein- men von Protesten und Demonstrationen« (Oi nahmen an die Zentrale abzuführen, 2010, 6). Heute kontrolliert die ­Kommission 2 | der auf die Wirtschaftskrise zurückzufüh- zur ­Überwachung und Verwaltung der Staats- renden Steuerverluste und betriebe (SASAC) nur noch 150 SOE; eine 3 | des ihnen auferlegten Verbots der di- wachsende Zahl unter diesen ist »international rekten Kreditaufnahme. Deshalb hat sich wettbewerbsfähig«. Im Jahre 2003 fanden sich der Verkauf der Landnutzungsrechte als in der Liste der 500 erfolgreichsten Unterneh- günstige Einnahmequelle angeboten (ebd.). men, die die Zeitschrift »Fortune« jährlich Von 2008 auf 2009 sind die Einnahmen erstellt, fünf chinesische SOE, 2006 waren es der regionalen und lokalen Regierungen bereits dreizehn (19). aus derartigen Landnutzungsrechtsverkäu- Angesichts der »Lösung« der Eigentums- fen über 60 Prozent auf umgerechnet 233 frage durch rasch voran schreitende Privati- Milliarden US-Dollar gestiegen (559). Von sierung und der Verschärfung der sozialen den durch das Konjunkturpaket befeuerten Gegensätze rückt die Frage in den Mittel- »Überinvestitionen in Infrastrukturprojekte punkt, zu welchen Regulierungsmaßnahmen und Wohnungsbau« ging eine die Gesamt­ die Gongchandang in der Lage sein wird. Jetzt wirtschaft destabilisierende Wirkung aus. Es gibt »ausgesprochen ungleiche Effekte« für www.rebearte.info

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LUX_1103_03.indb 96 01.09.11 16:46 LUX_1103_03.indb 97 01.09.11 16:47 www.rebearte.info

muss sich zeigen, ob China »die Heilung der tremen eines fehlgeleiteten Sozialismus und mit der Reform geschaffenen Probleme und eines ­Kumpanei-Kapitalismus« und daher Ungleichheiten« gelingt (20). »unter dem Schlechtesten beider Systeme« zu Die Diskussion darüber bewegt sich nach leiden habe (zit. n. ebd., 5). wie vor zwischen den Polen Kapitalismus Die chinesische Führung ist sich der und Sozialismus. Im Sommer 2007, vor Kompliziertheit der Lage bewusst. Heike Hol- dem 17. Parteitag der Gongchandang, wand- big zeigt, dass in offiziellen Interpretationen ten sich 17 Parteiveteranen und marxistische der Welt-Finanz- und Wirtschaftskrise diese ­Wissenschaftler an den Staatspräsidenten nicht als »Folge eines US-amerikanischen Hu Jintao und warnten, dass »unsere ­Verschuldungsexzesses« gedeutet wird, ­sozialistische Sache […] ihre Richtung ver- ­sondern als »gewissermaßen ›natürlicher‹ loren hat«, das Land sich an einem »gefähr- Reflex globaler onjunkturzyklen«.K Als lichen Punkt« seiner Entwicklung befinde eigentliche Ursache der Krise in China werde (zit. n. Oi 2010, 6). Der Universitätsprofessor das »›alte‹, rein auf quantitatives Wachstum Wang Hui, ein der »Neuen Linken« zuge- ausgerichtete Entwicklungsmodell« ausge- rechneter Kritiker, formuliert, dass China macht. Daher setze man sich nun das Ziel, ­»gefangen« sei »zwischen den beiden Ex­ »das Image Chinas als ›Werkbank der Welt‹

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LUX_1103_03.indb 98 01.09.11 16:47 aufzugeben und an dessen Stelle ein neues tigen Land zeigen, dass Alternativen zum Entwicklungsmodell zu setzen«: eines, das gegenwärtig dominierenden kapitalistischen auf »eine nachhaltige, sozial und ökologisch Entwicklungspfad notwendig globale sein verträgliche Entwicklung und eine Balance müssen? zwischen Außen- und Binnenwirtschaft« ge- richtet sei und in dem die »sozialen Disparitä-

ten«, wie sie im alten Modell angelegt waren, Literatur »nicht länger in Kauf genommen werden« Adolphi, Wolfram, 2010a: Chinas Planwirtschaft als ­Aufhebung der sowjetischen, in: Das Argument 286, dürften (2011, 123). 159–69 Mit welchen Schritten auch immer Ders., 2010b: Kommandohöhen IV, in: HKWM Bd. 7/II, Hamburg, 1235–43 die Gongchandang in den kommenden Anderson, Perry, 2010: Two Revolutions, in: New Left Review Jahren den sozialen Disparitäten den Kampf 61, 59–96 Häring–Kuan, Petra, und Yu-Chien Kuan, 2011: Pulverfass ­ansagen wird: An den Realitäten des welt- China. Der Gigant auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, weiten Wettbewerbs in der kapitalistischen Frankfurt/M Heberer, Thomas, 2010: Die Modernisierung Chinas. ­Globa­lisierung kommt sie nicht vorbei. Analyse eines komplexen Prozesses, in: ders. und Jörg China unterliegt dem »Gemeingüterproblem Rudolph: China – Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei alternative Sichten, Wiesbaden, 13–140 oder ­›Gefangenendilemma‹« (Li 2006), das Holbig, Heike, 2011: Die Finanzkrise in China: Auswirkun- aus dem System einer »Weltwirtschaft mit gen auf die Legitimität der Parteiherrschaft, in: Holger Albrecht u.a. (Hg.), Autoritäre Regime. Herrschaftsmecha- multiplen politischen Strukturen« entsteht: nismen, Legitimationsstrategien, Persistenz und Wandel, Jeder Staat, der überdurchschnittliche soziale Schwalbach/Ts., 114–32 Li, Minqi, 2006: Der Aufstieg Chinas und das Zeitalter des oder ökologische Leistungen zu erbringen Übergangs, in: Das Argument 268, 48. Jg., 105–11 Oi, Jean C., 2010: Political Crosscurrents in China’s versuche, »manövriert sich auf dem Feld ­Corporate Restructuring, in: ders. u.a. (Hg.): der weltweiten ­Kapitalakkumulation in eine Growing Pains. Tensions and Opportunity in China’s ­Transformation, 5–26 nachteilige Position gegenüber anderen Peters, Helmut, 2009: Die Volksrepublik China: Aus dem Staaten«. Die Länder des ›Zentrums‹ können Mittelalter zum Sozialismus. Auf der Suche nach der Furt, Essen das ausgleichen, indem sie einen Teil der Rozelle, Scott, und Jikun Huang, 2010: The Marketization Kosten dieser Leistungen »durch ungleiche of Rural China: Gain or Pain für China’s Two Hundres Million Farm Families?, in: Jean C. Oi u.a. (Hg.): Austauschverhältnisse auf die peripheren Growing Pains, Stanford, 57–85 und semiperipheren Staaten abwälzen«. Für Seitz, Konrad, 2000: China. Eine Weltmacht kehrt zurück, Berlin China jedoch, das nach wie vor ein Land der Smith, Graeme, 2010: The Hollow State: Rural Governance Peripherie sei, existiere diese Option nicht in China, in: The China Quarterly 203, 601–18 Sum, Ngai-Ling, 2010: Die (Semi-)Peripherie ins Zentrum (110). rücken. Eine Kulturelle Politische Ökonomie der ›BRIC‹ Damit ist die Frage erneut aufgeworfen, und der Fall China, in: PROKLA 161, 543–66 Taube, Markus, 2009: Principles of property rights ob Sozialismus in einem Land möglich ist. evolution in China’s rural industriy, in: Thomas Heberer Für die Sowjetunion und die anderen Länder und ­Gunter Schubert (Hg.): Regime Legitimacy in ­Contemporary China. Institutional change and stability, des europäischen Staatssozialismus ist sie London/New York, 109–28 negativ beantwortet. Wird die Entwicklung im Wong, Christine, 2009: Rebuilding Government for the 21st Century: Can China Incrementally Reform the Public bevölkerungsreichsten und wirtschaftsmäch- Sector?, in: The China Quarterly 200, 929–52

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LUX_1103_03.indb 99 01.09.11 16:47 Mondragón und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts

Caarl D vidson Im spanischen Baskenland ist in den vergan- genen 50 Jahren ein Projekt herangewachsen, das für die sozialistische Theorie sowie als Alternative für die Arbeiterklasse von Bedeu- tung ist – und nun auf Spanien, Europa und den Rest der Welt ausgreift. Es ist ein radikaler und praktischer experimenteller Versuch, über die eigenen Arbeitsbedingungen und die lokalen Gemein- den selbst zu bestimmen; es wächst stetig, konkurriert erfolgreich mit dem Kapitalismus der alten Ordnung und legt die Grundlagen für etwas Neues – die Mondragón Corporaci- ón Cooperativa (MCC). Allerdings ist strittig, worin dieses Neue besteht: ein wichtiger Anstoß in einer jahrhundertealten Genossenschaftstradition? Element eines neuen Sozialismus? Eine ­raffinierte Verfeinerung des Kapitalismus und reformistischer Irrweg, der scheitern muss? Ein »dritter Weg« voll utopischer ­Versprechungen, der sich überall reproduzie- ren lässt?

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LUX_1103_03.indb 100 01.09.11 16:47 Ein Priester mit einer Philosophie dessen Namen ULGOR sich aus den Initialen Mondragón und Die Geschichte Mondragóns beginnt im Jahr seiner fünf Studenten zusammensetzt. Der 1941 mit der Ankunft Pater Arizmendis im Betrieb nahm 20 weitere Arbeiter auf und spanischen Baskenland, nach der Niederlage stellte kleine, praktische Kerosinöfen zum der Sozialismus des der Republik im Spanischen Bürgerkrieg. Kochen und Heizen her. Aufgrund der großen Das Baskenland war ein Zentrum des Wider- Nachfrage nach dem Ein-Brenner-Ofen stands gegen Franco gewesen und durch den wuchs die Genossenschaft. Heute trägt sie 21. Jahrhunderts Konflikt verwüstet worden. Arizmendi hatte den Namen FAGOR und ihre gegenwärtig auf republikanischer Seite gekämpft, war in 8 000 Mitglieder produzieren in verschiede- Gefangenschaft geraten und nur knapp der nen Abteilungen eine große Bandbreite an Hinrichtung entkommen. Haushaltsgeräten. Als junger Priester wurde ihm die Region Schon das kleine Startup-Unternehmen Arrasate (die baskische Bezeichnung) bzw. realisierte eine Grundlage für den Erfolg von Mondragón (die spanische Bezeichnung) MCC: die Verbindung von Schule, Kreditge- zugewiesen. Das Gebirgstal erhielt vom nossenschaft und Fabrik, alle im Eigentum Franco-Regime kaum Unterstützung und und unter Kontrolle der Arbeiter und der war mit permanenter Repression gegen die Gemeinde. Der Aufbau eines einzelnen Ge- Basken konfrontiert. nossenschaftsbetriebs hätte nicht funktioniert; Bei der Neuorganisation seiner Gemeinde für eine Gründung sind verlässliche Kredit- musste Arizmendi einen Weg finden, wie die quellen und ein Zufluss von Qualifikation und Basken sich selbst helfen konnten. Er begann Innovation entscheidend. mit der Gründung einer kleinen Berufs- In der Regel ist eine MCC-Genossen- fachschule, die finanziert wurde, indem die schaft vollständig im Besitz ihrer Arbeiter: Sie Anwohner mit bescheidenen Beiträgen eine sind gleichmäßig stimmberechtigt und der kleine Kreditgenossenschaft bildeten. Außer- Lohn entspricht ihrem Anteil am jährlichen dem gründete er Sport- und auf Familien Profit; am Ende des Jahres wird der Lohn gerichtete Vereine, die trotz der unter den nach oben oder unten angepasst. Nach dem Faschisten beschränkten Versammlungsfrei- spanischen Genossenschaftsrecht muss ein heit zusammenkommen konnten. Arizmendi Teil des Profits für Schulen, Parks und andere war auch Intellektueller, er hatte die katho- öffentliche Projekte der Gemeinde abgeführt lische Soziallehre studiert, Marx’ politische werden. Was übrig bleibt, wird für Reparatu- Ökonomie sowie die Genossenschaftstheorie ren und Erhaltung von Fabrik und Geräten, von Robert Owen, dem britischen utopischen für Gesundheitsvorsorge und Renten sowie Sozialisten. als Notreserve und für die Löhne der Arbeiter Mit diesen Ideen im Gepäck baute er mit zurückgelegt. Hilfe von Spenden und Krediten der Kreditge- Die Arbeiter-Eigentümer bei MCC sind nossenschaft mit einem Team junger Arbeiter also keine Lohnarbeiter, sondern assoziierte einen kleinen Genossenschaftsbetrieb auf, Produzenten. Die Jahresversammlung der

luxemburg | 3/2011 101 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 101 01.09.11 16:47 Arbeiter entscheidet über (unterschiedliche) der Genossenschaften, wenn nicht insgesamt Einkommenshöhen und wählt einen Verwal- in der lokalen Gemeinde. tungsrat, der ein Management und einen lei- Kapital als Mittel ergibt sich aus dem Vorange- tenden Manager anstellt. Manager können von gangenen: Kapital wird als Instrument definiert, ihrem Posten entlassen werden; nicht so die das von der Arbeiterschaft benutzt, eingesetzt Arbeiter-Eigentümer: Neu Angestellte können und kontrolliert werden soll statt umgekehrt. lediglich während der ungefähr sechsmonati- Selbstverwaltung betont, dass die Arbeiter-Eigen- gen Probephase entlassen werden. Nach Ende tümer nicht nur über ihren Arbeitsbereich und der Probephase erhalten sie die Möglichkeit, ihre Arbeitsorganisation entscheiden können Mitglied der Genossenschaft zu werden. sollen, sondern auch die in den Verwaltungsrat Wenn sie die Mittel für ihre Einlage – heute Gewählten oder ins Management Aufgenomme- etwa 3 000 Euro – nicht aufbringen können, nen so weitergebildet werden sollen, dass sie die erhalten sie einen entsprechenden Kredit von Genossenschaften strategisch lenken können. der Genossenschaftsbank, den sie im Laufe Einkommenssolidarität: Die Arbeiter-Eigen- mehrerer Jahre abbezahlen können. MCC- tümer legen den Abstand zwischen den Genossenschaften haben üblicherweise relativ niedrigsten Einkommen und der Bezahlung flache Hierarchien und weniger Vorarbeiter der Manager sowie der diversen Qualifi- als vergleichbare nicht-genossenschaftliche kations- und Altersstufen dazwischen fest. Unternehmen. Ursprünglich war das Verhältnis 3 zu 1, wurde später aber angepasst, weil es zu schwierig Die zehn Prinzipien wurde, gute Manager zu halten. Heute liegt Die von Arizmendi aufgestellten zehn das Verhältnis im Durchschnitt bei 4,5 zu 1 im Prinzipien beschreiben die Struktur von MCC Gegensatz zum Durchschnitt von 350 zu 1 bei und kommen in allen Genossenschaften zur US-Unternehmen. Der größte Abstand liegt Anwendung: bei 9 zu 1, und dies lediglich bei Caja Laboral, Freier Zugang: Jeder und jede darf den Genos- der arbeitereigenen Bank bei MCC. senschaften beitreten, Basken und Nicht- Zusammenarbeit zwischen den Genossenschaften Basken, Religiöse und Atheisten, Mitglieder soll ermöglichen, gemeinsame branchenspezi- aller politischen Parteien oder Parteilose. fische Strategien zu entwickeln. Auch können Demokratische Organisation Im Zentrum steht Mitglieder zwischen den Genossenschaften das Prinzip »ein Arbeiter, eine Stimme«, im wechseln, wenn ein Unternehmen zwischen- weiteren Sinne geht es um partizipatorische zeitlich zu wenige Aufträge hat. Demokratie am Arbeitsplatz und in der Soziale Transformation: Die Genossenschaften Zusammenarbeit mit dem Management. sollen sich nicht nur mit sich selbst beschäfti- Souveränität der Arbeit beschreibt das grund- gen, isoliert von der umliegenden Gemeinde. legende Verhältnis zwischen Kapital und Sie sollen die Genossenschaftswerte dazu ein- Arbeit und bestimmt, dass die Arbeit über das bringen, die Gesellschaft insgesamt verändern Kapital herrschen soll, zumindest innerhalb zu helfen.

102 luxemburg | 3/2011 PRAXIS PRAXIS

LUX_1103_03.indb 102 01.09.11 16:47 Allgemeine Solidarität: Die Genossenschaften Heute umfasst MCC 122 Industrieunter- sollen nicht nur untereinander, sondern auch nehmen, sechs Finanzorganisationen, 14 mit der gesamten Arbeiterbewegung – in Vertriebe (einschließlich der Eroski-Kette mit Spanien und auf der ganzen Welt – Solidarität über 200 Verbrauchermärkten, Supermärkten üben. MCC unterhält mehrere Projekte, die und Nachbarschaftsläden), außerdem sieben in abgelegenen Gebieten der Dritten Welt Forschungszentren, eine Universität und 14 Unterstützungsarbeit leisten. Versicherungsunternehmen und internatio- Bildung: So wie der ersten Genossenschaft nale Handelsdienstleister. Der Gesamtumsatz eine Schule und die Bildung eines Kaders mit belief sich 2009 auf 13,9 Milliarden Euro und genossenschaftlichem Bewusstsein voraus- eine Belegschaft von fast 100 000 Arbeitern. ging, betrachtet MCC weiterhin Bildung als In den 50 Jahren seit Bestehen von MCC einen ihrer zentralen Werte – Vergesellschaf- sind lediglich 6 der 120 Genossenschaften tung von Wissen wird als Schlüssel zur Demo- gescheitert. In der letzten Krise hat MCC kratisierung von Macht gesehen – sowohl in den Sturm recht unbeschadet überstanden. der Ökonomie als auch in der Gesellschaft. Keine Genossenschaft musste aufgegeben Arizmendi sah es als einen Fehler in werden, die Einkommensminderung hielt Owens Genossenschaftstheorie, dass Anteile sich in Grenzen und lediglich Arbeitern in an jede beliebige Person verkauft werden der Probezeit wurde gekündigt. Mittlerweile könnten. Dadurch konnten externe Finan- zieht die Produktion wieder an. MCC bleibt ziers Anteile der erfolgreicheren Unter- eine bestimmende Kraft in der baskischen nehmen aufkaufen, während die anderen Wirtschaft, dem Zugpferd der spanischen ­zugrunde gingen. Bei MCC besteht diese Volkswirtschaft insgesamt, und drängt nun in Möglichkeit nicht: Ein Arbeiter, der aus der die globale Hightech-Produktion. Genossenschaft austritt, kann sich »aus- zahlen« lassen, seinen Anteil darf er aber Genossenschaften und Gewerkschaften lediglich neu eintretenden Arbeitern oder Die Basken sind bekannt als Hochgebirgs- der Genossenschaft selbst verkaufen, die ihn Schäfer, aber es gibt auch eine lange indus- einbehält, bis es wieder Neuzugänge gibt. Auf trielle Tradition in den Tälern und Küsten- diese Weise ist das Kapital von MCC in der städten, insbesondere in der Eisen- und Hand ihrer Arbeiter geblieben – ein Grund für Metallverarbeitung. Die Arbeiter in diesen den Erfolg. Gebieten wie dem Arrasate-Mondragón-Tal ha- Die Arbeiter behalten durch diese Prinzi- ben früh begonnen, Gewerkschaften zu bilden, pien die Kontrolle über ihren Mehrwert, was und besitzen eine Tradition der branchenüber- ihnen einen bescheidenen, aber überdurch- greifenden Solidarität. schnittlichen Lebensstandard ermöglicht, Sharryn Kasmir (1996) hat bei einem während sie gleichzeitig ihre Ressourcen für Aufenthalt im Baskenland Einstellungen ein maßvolles und geplantes Wachstum der von Arbeitern innerhalb und außerhalb der Genossenschaft einsetzen. Genossenschaften zu MCC erforscht.

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LUX_1103_03.indb 103 01.09.11 16:47 Kasmir zeigt, dass die traditionellen Ausdrucks- Klasse: ein Blick zurück, ein Blick weisen der gegenseitigen Verbundenheit in nach vorne einigen Gebieten, in denen die Mondragón-Ge- Es bestehen wesentliche Unterschiede zwi- nossenschaften dominieren, zurückgegangen schen den Arbeitern in MCC-Genossenschaf- sind. Andere Arbeiter betrachten die Arbeiter- ten und Arbeitern in anderen Unternehmen. Eigentümer von MCC als »zu schwer arbei- Die Arbeiter bei MCC sind keine Lohnarbeiter, tend« und zu wenig beteiligt an den politischen sondern assoziierte Kleinproduzenten. Die Diskussionen in den Kneipen. Dazu kommt, meisten Unternehmen bei MCC haben dass die Arbeiter von MCC nur symbolische weniger als 500 Arbeiter, viele Betriebe sind Präsenz zeigen oder gar nicht erst erscheinen, deutlich kleiner. Die Manager und die Arbei- wenn Streiks ausgerufen und andere Arbeiter ter-Repräsentanten in den Verwaltungsräten zur Solidarität aufgefordert werden. besitzen denselben Anteil und nur eine Stim- »Ekzinka, der baskische Begriff für ›in me bei der Abstimmung. Wenn Arbeiter in Aktion treten‹, ist ein elementarer kultureller normalen Unternehmen in Solidaritäts-Streik Wert. Baskische Städte sind Zentren der treten, richteten sie sich ggen die Interessen politischen Aktivität. In Mondragón finden externer Bosse bzw. üben Druck auf sie aus; politische Diskussionen in Kneipen statt, wenn Arbeiter bei MCC ihre Arbeit niederle- Demonstrationen sind häufig und die Wände gen, schädigen sie ihre eigenen materiellen sind mit Postern, Wandgemälden und Graffiti Interessen. Sie können sich aus Solidarität übersäht, was die Städte zu dynamischen dazu entscheiden, so wie ein Ladenbesitzer für Schauplätzen der politischen Debatte macht. den Tag eines politischen Streiks schließen Statt die Arbeiter zu Ekzinka anzutreiben, kann, aber die Interessenstruktur unterschei- scheint das Genossenschaftswesen jedoch det sich deutlich von der der Lohnarbeiter. eher Apathie hervorzurufen.« (195) Ebenso geht die Zeit, die sie länger im Betrieb Kasmir nennt das Beispiel einer kleinen bleiben oder nach der Arbeit in der Schule Gruppe junger maoistischer Arbeiter im oder bei Fortbildungskursen verbringen, von ULGOR-Betrieb, die in den 1970er Jahren ihrem Aufenthalt in Kneipen ab (in denen sich versuchten, Streiks zu organisieren, aber viel alltägliche Solidarität abspielt), trägt aber keine große Unterstützung erhielten. Sie direkt zum Wachstum der Genossenschaft bei wurden von den anderen Arbeiter-Eigentü- und ist in der Weise zu ihrem eigenen Vorteil, mern aus der Genossenschaft ausgeschlossen, während erzwungene Überstunden in einem allerdings durfte ein Großteil von ihnen nach gewöhnlichen Betrieb hauptsächlich dem einigen Jahren zurückkehren. Dies war der externen Eigentümer nutzen. einzige Streik in der 50-jährigen Geschichte Daraus ergibt sich die Frage, ob die von MCC, auch wenn es andere Konflikte über Klassenposition der Arbeiter-Eigentümer von Regionalismus und überbetriebliche Zusam- MCC einen Rückfall in eine kleinbürgerliche menarbeit gab, die zur Abspaltung einiger Vergangenheit oder einen Schritt in Richtung weniger Genossenschaften führten. einer sozialistischen Produktionsweise der

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LUX_1103_03.indb 104 01.09.11 16:47 Arbeiterkontrolle darstellt. In Anbetracht der seinen Bereichsstrukturen Industrie, Finan- erfolgreichen Ausweitung von MCC legt das zen, Handel und Wissen. Die zentralisierte Gesamtbild die zweite Antwort nahe. und vereinheitlichte Struktur ermöglichte dem Management, gemeinsame Strategien zu Repräsentative und partizipatorische entwickeln und zu verfolgen, um besser auf Demokratie dem Markt konkurrieren zu können. Kann die interne Praxis der MCC-Unter- Der höherere Grad an Zentralisierung nehmen noch als Beispiel für direkte und führte auch zu größerem Marktdruck auf die partizipatorische Demokratie am Arbeitsplatz einzelnen Genossenschaften, was die Inten- dienen? George Cheney (1999) hat untersucht, sität der Arbeit und die Innovationsgeschwin- wie die Prinzipien von MCC in der Praxis digkeit erhöhte. umgesetzt werden. Partizipation und Debatte bei der Basis Das höchste Entscheidungsgremium je- der MCC-Genossenschaften sind noch der Genossenschaft und von MCC insgesamt beträchtlich, wenn auch nicht in der Form ist die Vollversammlung oder der Kongress. oder in dem Maße, wie es die Verwaltungsräte Die durchschnittliche Beteiligung liegt bei und das Management gerne sehen würden. etwa 70 Prozent, es besteht Anwesenheits- Eine fortdauernde Debatte wird über die pflicht (Abwesenheit zieht beim ersten Mal Einkommensschere zwischen Managern und eine Warnung nach sich, beim zweiten Mal Produzenten geführt. Im Allgemeinen liegen muss eine Gebühr bezahlt werden). die Einkommen bei Mondragón, verglichen Die Abteilungen wählen einen Sozialrat, mit den Löhnen entsprechender Tätigkeiten der die Interessen der Arbeiter vertritt und in der lokalen Industrie, bei 30 Prozent oder die beidseitige Kommunikation zwischen weniger auf Management-Ebene und auf Management und Arbeitern unterstützt. gleichem Niveau im mittleren Management Einkommenssolidarität und die Verteilung der und bei Ingenieuren und Hochqualifizierten. Profite an alle Arbeiter-Mitglieder sind weitere Infolgedessen verdienen die Arbeiter-Eigentü- wichtige Elemente der Unternehmenspolitik. mer auf den niedrigeren Einkommensstufen Fred Freundlich sieht darin einen wesentli- durchschnittlich 13 Prozent mehr als Arbeiter chen Grund für die starke Verbundenheit mit in vergleichbaren Unternehmen. dem Unternehmen, die sich auch in Marktvor- teilen niederschlage.1 Aussichten für Genossenschaften Die Zentralisierung von Mondragón in den USA hat zugenommen: In den 1990er Jahren Könnte ein Experiment wie Mondragón in den entwickelte sie sich von einem Verbund von USA auf fruchtbaren Boden treffen? Nadeau lose durch die Genossenschaften zweiten und David (1996) geben einen Überblick über Grades – die Bank, die Sozialversicherungen, 50 Genossenschaftsprojekte in zwölf verschie- die Universität und die Forschungsinstitute – denen Bereichen der US-amerikanischen verknüpften Genossenschaften zu MCC mit Gesellschaft, einschließlich Landwirtschaft,

luxemburg | 3/2011 105 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 105 01.09.11 16:47 Wohnen, Einkaufsgenossenschaften, Kre- Center for Community Self-Help zeigt sich ditgenossenschaften, soziale Einrichtungen allerdings ein Kernproblem. Sie schulten von und Energieversorgung sowie arbeitereigene Betriebsschließungen betroffene Arbeiter um Industriegenossenschaften. und wollten ihnen beim Aufbau von Genos- Keine dieser 50 Genossenschaften, ob senschaften helfen. Doch der »Motor, aus dem erfolgreich oder nicht, ist dem Mondragón- Mondragón seine Energie bezog«, fehlte in Modell der Kombination von Ausbildung, North Carolina, dadurch war die Entwicklung Kreditgenossenschaft und Fabrik gefolgt, von Arbeitergenossenschaften behindert: »Sie obwohl bisweilen alle drei Komponenten in hatten keinen Zugang zu Kapital. Also folgerten räumlicher Nähe existieren. Eakes und Wright, dass ihr nächster Schritt in Die Cooperative Home Care Associates in der Gründung eines Caja für North Carolina der Bronx in New York umfasst mittlerweile bestehen musste« (Nadeau/Thomson 1996). 1600 Arbeiter-Eigentümer und hat das Leben Sie begannen mit einem Kuchenbasar der hauptsächlich schwarzen und Latino-Ar- und gründeten innerhalb von drei Jahren die beiterinnen entscheidend verbessert. Dem Vor- Self-Help Credit Union mit mehreren Millio- standsmitglied Kim Alleyne zufolge unterschei- nen Dollar an Einlagen von lokalen Kirchen det sich CHCA von anderen Unternehmen in und staatlichen Zuschüssen. Nach weiteren der New Yorker Pflegeindustrie durch Verwand- sieben Jahren waren darüber Unternehmen lung von Teilzeit- in Vollzeitstellen. 80 Prozent mit ungefähr 4 000 Arbeitsplätzen und 2 000 der Gewinne gehen in die Löhne und Sozialleis- Kindergartenplätzen entstanden. In Cleveland tungen. Es werden Schulungen angeboten und in Ohio gab es eine ähnliche Entwicklung. Die es besteht die Möglichkeit, Anteile zu erwerben Cleveland Foundation und andere gemeinnüt- und als Arbeiter-Eigentümer Dividenden von zige Einrichtungen hatten jahrelang wieder- den jährlichen Profiten zu erhalten. holt Umschulungsprogramme für Langzeit- Ein weiteres interessantes Beispiel findet arbeitslose in armen Wohnvierteln finanziert, sich in Kaliforniens Bay Area. Dort haben für die es dennoch keine Arbeit gab. Schließ- Cheeseboard Pizza und fünf andere Bäcker lich reiste eine Kerngruppe von Geldgebern ein Genossenschaftsnetzwerk von Arizmendi- und Verbündeten nach Mondragón und ließ Bäckereien gebildet. Etwa 200 Arbeiter-Eigen- sich davon bei ihrer Rückkehr zur Gründung tümer produzieren Backwaren und betreiben der Evergreen Cooperatives anregen (vgl. Restaurants, die wiederholt Preise für beste Luxemburg 4/2010, 34ff), denen die örtlichen Küche und beste Restaurants in der Gegend Hochschulen als Ausbildungsstätten und die gewinnen. Obwohl klein im Vergleich zu MCC, Stiftungen als Quelle für Startkapital dienten. schließt das Netzwerk eine Genossenschaft zweiten Grades ein, die den anderen Genossen- Das Abkommen mit den Stahlarbeitern schaften bei Finanzdiensten hilft. All diese Bemühungen erhielten eine nati- An dem von Martin Eakes und Bonnie onale Bedeutung mit der Entscheidung der Wright in North Carolina gegründeten Projekt United Steel Workers, einer der größten In-

106 luxemburg | 3/2011 PRAXIS PRAXIS

LUX_1103_03.indb 106 01.09.11 16:47 dustriegewerkschaften der USA, eine formelle förderte die St. Maryʼs University in Nova Partnerschaft mit MCC einzugehen und zu Scotia ein internationales Symposium über versuchen, in niedergegangenen Regionen die Beziehung zwischen Genossenschaften des Rust Belt arbeitereigene Unternehmen zu und Gewerkschaftsorganisationen (vgl. www. gründen. Mmccu.coop/coopworkers). 2007 brachte die Die USW ist mit 850 000 Mitgliedern Eastern Conference on in Kanada und den USA die größte Indust- Genossenschaftler und Gewerkschafter in den riegewerkschaft in Nordamerika. Die USW USA zusammen. hat unter der Führung von Leo Gerard eine Kurz darauf folgte eine ähnliche Partner- »blau-grüne« Allianz mit Umweltschützern schaftserklärung zwischen MCC und der Stadt geschmiedet, um sicherzustellen, dass Richmond in der Bay Area. Die Bürgermeiste- grüne Jobs auch gute Jobs sind. Gerard sieht rin von Richmond, Gayle McLaughlin (Grüne in Windturbinen, Solarzellen und anderen Partei), hatte Mondragón persönlich besucht Elementen einer grünen Ökonomie das und förderte das Bündnis zwischen der USW Potenzial, den Produktionssektor in Nordame- und MCC. rika wiederzubeleben. Aber er sieht auch, dass Die ökonomischen Bedingungen in den Arbeiter und ihre Gemeinden mehr brauchen USA bleiben schwierig. Bankkredite sind als nur neue Produkte, die sie herstellen schwer zu bekommen und die Arbeitslosigkeit können. So hebt er den Unterschied zwischen liegt bei fast 10 Prozent. Blockiert durch Belegschaftsaktienprogrammen (ESOPs) und wieder erstarkte neoliberale Kürzungspolitik Gewerkschaftsgenossenschaften hervor: »Wir streicht der Staat auf allen Ebenen Gelder haben viel Erfahrung mit ESOPs, und wir für Stadtentwicklung und Förderung kleiner haben festgestellt, dass es den Leuten von Betriebe zugunsten von Steuererleichterungen der Wall Street nicht schwer fällt, die Arbeiter für die Superreichen. zurückzudrängen und wieder die Kontrolle zu (2002) stellt sein übernehmen. In dem Genossenschaftsmodell Projekt einer »Wirtschaftsdemokratie« von Mondragón mit dem Prinzip ›ein Arbeiter, dagegen. Zentral ist dabei, dass die Arbeiter eine Stimme‹ sehen wir eine Möglichkeit, die Manager ihrer Unternehmen wählen und die Arbeiter wieder zu ermächtigen und entweder der Staat das Unternehmen kollektiv die Wirtschaft der Main Street statt der Wall verpachtet oder es Genossenschaftseigentum Street rechenschaftspflichtig zu machen. Zu wird. Der geschaffene Reichtum wird unter oft mussten wir beobachten, wie die Wall den Mitgliedern geteilt. Finanzieller Erfolg ist Street unsere Unternehmen durch Abzug möglich, wenn die Genossenschaften Kon- ihres Geldes und Kapitals ausgehöhlt hat und sumentenbedürfnisse erkennen, vernünftige unsere Gemeinden durch Arbeitsplatzabbau Produkte für diese Bedürfnisse entwickeln und Betriebsschließungen unterhöhlt hat. und sie zu angemessenen Preisen anbieten. Wir brauchen ein Geschäftsmodell, das in Schweickart projiziert das Mondragón- Arbeiter und Gemeinden investiert.« 2006 Modell auf den Maßstab einer Volkswirtschaft,

luxemburg | 3/2011 107 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 107 01.09.11 16:47 es nimmt die Form eines von Arbeitern hat es harte Auseinandersetzungen zwischen kontrollierten Marktsozialismus an. Im Kern sozialistischen und einigen militanteren beruht sein Argument auf der Trennung nationalistischen Gruppen gegeben, doch der Märkte in drei Bereiche: Kapitalmarkt, heute geht der Trend zu größerer Einheit und Arbeitsmarkt und Waren- und Dienstleis- Beendigung aller Gewalt. tungsmarkt. Er schlägt vor, Kapitalmärkte Nicht alle Genossenschaften sind links – insgesamt abzuschaffen oder wenigstens weder in Spanien noch in den USA oder stark zu beschränken, indem der Staat in anderswo. Und jene mit einem progressiven Krisenzeiten Banken und Konzerne aufkauft Hintergrund sind nicht die einzigen Beispiele oder übernimmt und in öffentliche Fonds für gewonnene Stellungen im »Stellungskrieg«. verwandelt. Der Arbeitsmarkt soll durch Weitere Rückhalte müssen geschaffen und starke Reduzierung der Lohnarbeit umgebil- verbreitet werden – progressive Gewerkschaften det bzw. beschränkt werden und der Großteil und Betriebsräte, Gemeindeschulen, zivilge- der Arbeiter in Eigentümer oder Pächter ihrer sellschaftliche Organisationen und Koalitionen Unternehmen werden und sie demokratisch sowie in der Arbeiterklasse verwurzelte progres- selbst verwalten. Waren- und Dienstleistungs- sive politische Organisationen und Parteien. All märkte würden dagegen intakt bleiben, wenn dies sind organisatorische Mittel für eine ganze auch gemäß ökologischer Nachhaltigkeit und Bandbreite an Taktiken, die in verschiedenen anderer Kriterien des Gemeinwohls reguliert. Phasen und an diversen Fronten im Klas- senkampf und in popularen demokratischen Mondragón als Brücke zum Sozialismus Kampagnen benötigt werden. Die Leistung von Was die Arbeiter-Eigentümer bei MCC aufge- Mondragón besteht darin, dass es zeigt, was die baut haben, interpretiert Schweickart als Brücke »Herrschaft der Arbeiterklasse« im Sozialismus zu einer kleinen sicheren Insel – ein kleiner für ein neues Jahrhundert bedeuten kann. Sieg im »Stellungskrieg« in Gramscis Sinne. MCC selbst ist offiziell nicht mit einer Aus dem Englischen von Daniel Fastner bestimmten baskischen oder spanischen Literatur politischen Partei verbunden. »Parteilos« Cheney, George, 1999: Values at Work: Employee Participation bedeutet aber nicht »parteifeindlich«. MCC Meets Market Pressure at Mondragon, New York MacLeod, Greg, 1997: From Mondragon to America: Experi- arbeitet mit einer Reihe sozialistischer und ments in Community Economic Development, Sydney baskischer Parteien und Funktionäre zusam- Kasmir, Sharryn, 1996: The Myth of Mondragon: Cooperatives, Politics and Working-Class Life in a Basque Town, New men, um die Wirtschaft und Infrastruktur der York Bildungsplanung im Baskenland aufzubauen. Nadeau, E.G., und David J. Thompson, 1996: Cooperation Works! How People Are Using Cooperative Action to Die Arbeiter in den MCC-Genossenschaften Rebuild Communities and Revitalize the Economy, Petersham, Mass. gehören einem weiten Spektrum sozialis- Schweickart, David, 2002: After Capitalism, Lanham tischer, kommunistischer und baskischer nationalistischer Gruppierungen an, von der 1 Vgl. www.clcr.org/publications/other/ Linken bis in die Mitte. In der Vergangenheit Intro_To_Mondragon.doc, 4.8.2011

108 luxemburg | 3/2011 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 108 01.09.11 16:47 flickr/ Just Coffee Cooperative, RedCafes, Mexico

LUX_1103_03.indb 109 01.09.11 16:47 Italien: Kooperativen ohne Industriepolitik

Matteo Gaddi Nach der Abschaffung des Instituts für Industrielle Beziehungen (IRI) und den Privatisierungen der 1990er Jahre – zum großen Teil durch Mitte-Links-Regierungen organisiert – gibt es in Italien keine Instru- mente der öffentlichen Hand mehr, mit denen in die Wirtschaft eingegriffen werden könnte. Ensprechend gibt es auch keine Instrumente, mit denen die Beschäftigten ihr Unternehmen übernehmen könnten, wenn der Besitzer es loswerden möchte – sei es aufgrund von Krise, finanziellen Überlegungen, Haushaltsproble- men, Unternehmensstrategien o.ä. Einige Vereinbarungen mit Gewerkschaf­ ten aus der letzten Zeit vor allem im Bereich von Haushaltsgeräten, bei den Firmen Indesit und Electrolux, beinhalteten finanzielle Anrei- ze, die eine Selbstverwaltung von entlassenen Arbeitern fördern sollten: bislang ohne jede Er- gebnisse, da sie sich vor allem als ein Manöver erwiesen, mit dem Unternehmen Beschäftigte aus der Firma herausdrängen wollten, wenn sie Personal abbauen wollten.

110 luxemburg | 3/2011 PRAXIS PRAXIS

LUX_1103_03.indb 110 01.09.11 16:47 In den meisten Fällen haben sich die Anstren- um alle Beschäftigten kümmern, ggf. Sozialver- Italien: gungen der Arbeiter in von der Schließung sicherungsrücklagen ersetzen und Verfahren bedrohten Unternehmen darauf konzentriert, für die Verwaltung des Mehrwerts schaffen. einen neuen Unternehmer zu finden, der die Syntess, eine Textilfirma in Bollate Kooperativen ohne Firma übernehmen würde. (Provinz Mailand), ist aus den Trümmern von So auch im Fall von INNSE1, wo der Timavo&Tiene entstanden, die Rohtextilien Kampf der Beschäftigten nur zu einem posi- verarbeitet hat. Die Fabrik bestand aus einem Industriepolitik tiven Ausgang gebracht wurde, weil ein Un- Chemielabor, dem Färbe- und dem Endver- ternehmer die zeitweilig von der Belegschaft arbeitungsbereich und produzierte Baum- verwaltete Firma übernommen hatte. In der woll- und Baumwollmischmaterialien für Linken wird der Kampf der Beschäftigten von Unterwäsche, Bettwäsche etc. Seit Anfang der INNSE immer als erfolgreicher Widerstand 1980er Jahre war Timavo&Tiene wiederholt gesehen, und er hat sicherlich verhindert, von den Krisen des Textilbereichs gebeutelt, dass INNSE Mailand die Produktion einstellte. im November 2004 wurde sie geschlossen. Im Doch auch dieses Unternehmen wäre ohne März 2005 entstand mit Hilfe eines Minder- das Eingreifen des neuen Unternehmers nicht heitenpartners die Tintoria di Bollate. Dieser zu retten gewesen. Das Beispiel INNSE zeigt hoffte, dass das Gebiet von der Klassifizierung den Mangel an öffentlichen oder gesellschaft- »industriell« zu »tertiär« wechseln könnte und lichen Mitteln: Weder können öffentliche so höhere Profite möglich wären. Der Stadtrat Unternehmen zur Re-Industrialisierung von Bollate entschied einstimmig für eine geschaffen, noch Unternehmen in die Hand dauerhafte Zuordnung als industrielle Nut- von Beschäftigten gegeben werden. zung. Zwar schrieb die Tintoria nach wenigen Die Belegschaft kann ein Unternehmen Monaten schwarze Zahlen, doch der Partner übenehmen, 1 | wenn Institutionen vor Ort zog sich zurück und stellt die Produktion ein. aktiv werden und die Überführung des Eigen- Die Beschäftigten übernahmen die Firma tums in Belegschaftshand unterstützen, oder und bildeten im März 2006 Syntess Srl – mit 2 | wenn eine Kooperative gebildet wird und politischer und wirtschaftlicher Unterstützung sie das Unternehmen übernimmt. der Provinz, der Gemeinde und der Gewerk- Beides kann scheitern: So muss der schaften. Der Grundbesitzer stellte Verträge frühere Besitzer der Übertragung des Unter- mit günstigen Pachtbedingungen für das nehmens zustimmen; die Produktionszwecke Gelände und die Maschinen aus. Besonders der müssen den ursprünglich nach den Gebietsver- damalige Provinzrat für Arbeit, Bruno Casati ordnungen genehmigten produktiven Zwecken von der Rifondazione Comunista, beförderte entsprechen; die Kreditversorgung muss den Prozess. Juristisch war Syntess keine Ko- gesichert sein; die örtlichen Behörden müssen operative, sondern eine Kapitalgesellschaft aus die unternehmensnahen Dienstleistungen Einzeleignern mit gleichen Anteilen von 1 500 (Stromversorgung u.ä.) garantieren; die ge- Euro; hinzu kamen 200 000 Euro von der Pro- werkschaftlichen Vereinbarungen müssen sich vinz als Förderung der Selbstverwaltung: 2 200

luxemburg | 3/2011 111 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 111 01.09.11 16:47 Euro pro Kopf reichten aus, um die Firma zu ist ein Verband von verschiedenen übernehmen. Syntess hatte Probleme, die Kooperativen und Genossenschaften: produ- Firma mit Kapital auszustatten, das Fabrikland zierende, konsumierende, Wohnungsgenos- anzukaufen und das Vertrauen der Kunden senschaften und solche, die sich um soziale zurückzugewinnen. Der Textilsektor war insge- Aspekte gründen. Es verfügt über Finanzen, samt in Schwierigkeiten und Finanzierungen die von Coopfond verwaltet werden; Coopfond für notwendige Ausrüstung und Maschinen zu arbeitet non-profit und dient ausschließlich bekommen, war kaum möglich. Das produkti- dem Ziel, Kooperativen in Gründung zu ve Potenzial konnte nicht ausgeschöpft werden, unterstützen. Ein Gesetz aus dem Jahr 1992 die Einnahmen reichten nicht, um Auslagen erlaubt »Fonds zur gegenseitigen Hilfe« 1 | für Produktion, Pacht und Strom zu decken. Unterstützung bei der Gründung von Ko- Ein Projekt, mit dem eigene Stromproduktion operativen; 2 | Anteile von Genossenschaften durch Fernwärme möglich werden sollte, oder von Belegschaftsbetrieben zu halten; konnte nicht realisiert werden und die Arbeiter 3 | spezielle Programme zur Bildung von waren nicht in der Lage, die Firma mit ihren ei- Genossenschaften zu finanzieren. genen Mitteln zu rekapitalisieren. Es mangelte In diesem Fall konnten die Arbeiter auf an Aufträgen, Syntess wurde boykottiert, und Legacoop zurückgreifen und Mittel von Coop- die Mittel für Abfindungen schmolzen dahin. fond für die Übernahme des Unternehmens Für die verbleibenden Mitarbeiter wurden neue als Kooperative und die technische Unterstüt- Anstellungen gesucht. zung für den Übergang erhalten. Anders war der Fall einer Krawattenfabrik Das Mittel der Kooperative hat Grenzen: in der Provinz Reggio Emilia. Das Unterneh- Es ist nur anwendbar bei kleinen Unterneh- men war bankrott und vom Besitzer aufgege- men, die ein kleines Marktsegment bedienen ben. Die Arbeiter bildeten eine Kooperative und eine überschaubare Belegschaft mit und übernahmen die Produktion. Auch in einem guten Zusammenhalt haben. Sie kann diesem Fall war der Einsatz eines Vertreters auch so eingesetzt werden, dass sie keinen der Rifondazione Comunista wichtig: Gianni gesellschaftlichen Wert hat: Die Interessen, Tasselli, in der Partei zuständig für Koopera- Steuern zu sparen und die Arbeiter noch mehr tiven. Die Arbeiter konnten aus ihren Erspar- auszubeuten, können im Vordergrund stehen. nissen und dem Abfindungsfonds Anteile von Das lässt sich nicht verallgemeinern – doch es etwa 10 000 Euro aufbringen und mit Hilfe werden Kontrollmechanismen benötigt, um von Legacoop eine Kooperative gründen. zu verhindern, dass Kooperativen für Kapital- Anders als Syntess – das Teil einer Pro- interessen missbraucht werden. duktionskette war –, stellt die Krawattenfabrik ihr Produkt in Gänze her und bringt es direkt Übersetzung Eric Canepa und Christina Kaindl auf den Markt (nicht an Endverbraucher, aber an den Einzelhandel). Ausbleibende Bestellun- 1 Metallverarbeitendes Unternehmen, gen waren insofern kein Problem. vgl. www.labournet.de/internationales/it/innseindex.html

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LUX_1103_03.indb 112 01.09.11 16:47

flickr/Just Coffee Cooperative, RedCafes, Mexico

LUX_1103_03.indb 113 01.09.11 16:47 Gegen den globalisier- ten agro­industriellen Komplex Agrargenossenschaften und alternative

Solidarwirtschaft in Südafrika

Vishwas Satgar Von der Apartheid zum Afro-Neoliberalismus Der Afrikaaner-Nationalismus errichtete den Apartheidstaat zur Ausgrenzung und Ausbeu- tung der Mehrheit, um einer Minderheit alle Ressourcen, Aufstiegs- und Entwicklungsmög- lichkeiten zu sichern. Der Landraub als eine von vielen Methoden der Zwangsproletarisie- rung hatte längst begonnen, als die National Party 1948 zum Hauptakteur des Afrikaner- dom und der Entwicklung des Apartheids- staats aufstieg. In den 1870er Jahren wurde der Enteignungsprozess in die Wege geleitet, und im 20. Jahrhundert reduzierten die Bodengesetze von 1913 und 1936 den Anteil der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit am gesamten Landbesitz auf 13 Prozent. Dieser Vorgang hatte eine zweifache Konsequenz: Er zerstörte eine erfolgreiche afrikanische Landwirtschaftstradition und zwang gleichzei- tig die afrikanische Mehrheit in einen Prozess der Proletarisierung. Lohnarbeit in den Bergwerken, auf der Farm oder in der Fabrik

114 luxemburg | 3/2011 PRAXIS PRAXIS

LUX_1103_03.indb 114 01.09.11 16:47 wurde zur notwendigen Subsistenzbedingung, größer wurde. Die letzteren erhielt keine um in den sogenannten Reservaten und infrastrukturellen, finanziellen, technischen späteren Homelands unter der Herrschaft oder sonstigen notwendigen Hilfen; sie der National Party zu überleben. Umgekehrt verkam zu einer ertragsarmen, unproduktiven wurde eine Subsistenzlandwirtschaft in den Teilzeitaktivität. Gleichzeitig hatten schwarze, Homelands als notwendig betrachtet, um die insbesondere afrikanische Verbraucher die Kosten der Arbeit niedrig zu halten.1 Last hoher Lebensmittelpreise bei relativ In den 1960er und 1970er Jahren niedrigen Einkommen zu tragen. förderte die National Party einen gewaltigen Ein Eckpfeiler dieses rassistischen Modernisierungsschub im agroindustriellen Nationsbildungsprojekts und des zunehmend Komplex (Feinstein 2005, 193–200). Sie monopolistischen agroindustriellen Komple- gewährte Schutz durch Importsubstitu- xes war die weiße Genossenschaftsbewegung. tionsmaßnahmen, billige Kredite, Dürre- Sie wurde politisch, gesetzlich und finanziell und Hochwasserhilfen, Treibstoffrabatte, durch die Bodenkreditbank, durch steuerliche Düngemittelsubventionen oder reduzierte Vergünstigungen und durch Ausbildungs- Bahnfrachttarife und stärkte das System der programme gefördert (Roberts 2009, 1ff). landwirtschaftlichen Marktverbände, die Die Zahlen sprechen für sich. Zu Beginn weiße Betriebe subventionierten, das Ange- der 1990er Jahre hatten die 250 weißen bot kontrollierten und die Preise, sogar für Genossenschaften rund 142 000 Mitglieder, Grundnahrungsmittel, künstlich hochhielten. Vermögenswerte in Höhe von insgesamt 12,7 Die landwirtschaftlichen Produktionsprozesse Milliarden Rand, einen Umsatz in Höhe von und die Transport- und Vertriebswege wurden 22,5 Milliarden und einen jährlichen Bruttoge- mechanisiert. In den 1970er Jahren erhöhten winn von mehr als 500 Millionen Rand zu ver- sich die Kapitalinvestitionen, während die zeichnen (Amin/Bernstein 1995). Sie tätigten Arbeitsintensität zurückging. sämtliche Exporte von Obst und Südfrüchten, Die Gesamtfaktorproduktivität nahm vor erzeugten die gesamte Wollproduktion und allem bei Exportprodukten wie Wein, Obst verkauften 90 Prozent der Trockenfrüchte. und Gemüse zu. Pestizide gegen Unkraut Hinsichtlich der Betriebsmittel lieferten oder und Schädlingsbefall, chemische Düngemit- finanzierten sie 90 Prozent der Düngemittel, tel, Hochertrags-Saatguttechnologien und 85 Prozent der Treibstoffe, 65 Prozent der verbesserte Bewässerungsmethoden wurden Chemikalien und einen Großteil der Maschi- eingesetzt und vermehrte staatliche For- nen und Geräte, die von weißen Farmern schungsanstrengungen betrieben. Südafrika eingesetzt wurden; sie gewährten außerdem erlebte seine »grüne Revolution« während der 25 Prozent der von ihnen beanspruchten Apartheid. All das hatte zur Folge, dass die Kredite (ebd., 5). Im Zentrum dieses weißen Schere zwischen dem von Weißen kontrol- agroindustriellen Komplexes standen elf lierten agroindustriellen Komplex und der Sommergetreide-Genossenschaften. Die schwarzen Subsistenzlandwirtschaft immer beiden größten hatten einen Jahresumsatz

luxemburg | 3/2011 115 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 115 01.09.11 16:47 von 2,374 bzw. 2,22 Milliarden Rand, was den verliert und den Weg zur Entrassisierung Vergleich mit Südafrikas größten Nahrungsgü- des agroindustriellen Komplexes freimachen terkonzernen wie Imperial Cold Storage oder wird, aber dem war nicht so. Die Regierung Rainbow Chickens (2,4 bzw. 1,5 Milliarden im entschied sich schon frühzeitig für eine Jahr 1993) nicht zu scheuen braucht. marktorientierte Landwirtschaftspolitik, die Diese Landwirtschaftskonzerne waren ei- sich unter dem Einfluss der Weltbank auf gentlich keine Genossenschaften, auch wenn Exportüberschüsse orientierte. Diese wurden sie sich so nannten. Sie standen nur Weißen vor allem durch den weißen agroindustriellen offen und widersprachen damit den geltenden Komplex sichergestellt.3 Die neoliberale Grundsätzen und Werten des Genossen- Wirtschaftspolitik reorganisierte dessen schaftswesens.2 Sie hatten außerdem während Akkumulationsdynamik durch Liberalisierung, der letzten Jahrzehnte Managementmethoden Deregulierung und Wettbewerb.4 Die von übernommen und wie kapitalistische Unter- den Erzeugern kontrollierten Marktverbände nehmen agiert, während die Kontrolle durch wurden aufgelöst und Einfuhrbeschränkun- die Mitglieder zurückging. Verstärkt wurde gen abgebaut. diese Entwicklung nach der Apartheid durch Bei den weißen Genossenschaften ver- den Übergang von einem internationalisierten schärfte die neoliberale Landwirtschaftspolitik zu einem globalisierten agroindustriellen des ANC die Abkehr vom Genossenschaftsmo- Komplex. Dieser Übergang wurde vorangetrie- dell. Dabei setzten sich zwei Tendenzen durch. ben durch die Neoliberalisierung von Südaf- Die erste kommt darin zum Ausdruck, rikas politischer Ökonomie. Obwohl deren dass die wichtigsten Teile des globalisierten Ursprünge in der Zeit der Apartheid liegen, agroindustriellen Komplexes von einer zu- hat die Regierung des African National Con- nehmend geringeren Zahl »weißer Genossen- gress (ANC) diesen Prozess vertieft und dem schaften« kontrolliert werden. Im Jahre 2005 Neoliberalismus ein afrikanisches Gesicht gab es nur noch 78 (statt wie in den frühen verliehen. Dieser »Afro-Neoliberalismus« kam 1990er Jahre 250) Genossenschaften für 1994 in Südafrikas erstem demokratischen Obst- und Gemüseproduzenten, Viehzucht, Haushalt und später in der schändlichen wirt- Getreide und Ölsaaten, Fleisch-, Holz-, Tabak- schaftspolitischen Strategie für »Wachstum, und Weinproduzenten, die einen Umsatz von Beschäftigung und Umverteilung« von 1996 6,7 Milliarden Rand erzielten, ein Betriebsver- zum Ausdruck (Satgar 2008). mögen im Wert von 5,4 Milliarden verzeich- Die von der ANC-Regierung betriebene neten und 203 207 Mitglieder hatten.5 Die afro-neoliberale Wende hat die ganze südaf- strukturelle Macht dieser »Genossenschaften« rikanische Wirtschaft mitsamt dem weißen (die vielleicht zutreffender als Monopolunter- agroindustriellen Komplex reorganisiert und nehmen zu bezeichnen wären) wurde durch globalisiert. Man hätte erwarten können, dass die Neoliberalisierung verstärkt. Nach dem die weiße Landwirtschaft durch das Klima des Wert der genossenschaftlichen Produktion globalen Wettbewerbs ihre Monopolstellung steht die Landwirtschaft in Südafrika nach wie

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LUX_1103_03.indb 116 01.09.11 16:47 vor an der Spitze, und sie wird bei genauerer indem sie sich mit den Supermarktketten Betrachtung von weißen Monopolunterneh- Massmart und ShopRite liiert und dadurch men beherrscht, die nur formalrechtlich als ihre Aktivitäten auf dem südafrikanischen Genossenschaften bezeichnet werden. Kontinent weiter globalisiert. Die zweite Haupttendenz im Zuge der Dieses Beispiel ist für Südafrikas glo- Neoliberalisierung ist die Umwandlung vieler balisierten agroindustriellen Komplex nicht dieser »Genossenschaften« in Privatunter­ ungewöhnlich. Der Export von Qualitätswein, nehmen oder Aktiengesellschaften.6 Ein Obst und Gemüse bis nach Europa ist heute aktuelles und bezeichnendes Beispiel dafür ein fester Bestandteil des Welthandels, der ist das einer der ältesten südafrikanischen durch den Afro-Neoliberalismus für Südafri- Landwirtschaftskooperativen, der National kas Wettbewerbsfähigkeit und Exportorientie- Cooperative Dairies (NCD). rung noch wichtiger geworden ist. Diese Molkereigenossenschaft, entstan- den zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Folgen für Südafrikas globalisierten Initiative zum Betrieb einer Butterfabrik, ist agroindustriellen Komplex heute Südafrikas größter oder zweitgrößter Durch den Verlust der Ernährungssouveräni- Milchlieferant. Das Wachstum verdankt sich tät hatte die Globalisierung der südafrikani- ihrer Globalisierungsstrategie, die dazu führte, schen Nahrungsgüterindustrie verheerende dass sie im Jahre 2003 ihren Genossenschafts­ Folgen. Südafrika ist vom Nettoexporteur zu charakter aufgab und zu einem privatwirt- einem Nettoimporteur von Nahrungsmitteln schaftlich geführten Unternehmen wurde. geworden. Die gesamte Produktions- und Begleitet wurde diese Umwandlung von Joint Handelsinfrastruktur seiner Nahrungsgüter- Ventures mit dem Milchriesen Danone (an industrie trug durch Kohlenstoffemissionen dem die NCD einen Anteil von 45 Prozent zur globalen Erwärmung bei. Der Anteil der erwarb) und der neuseeländischen Landwirt- Landwirtschaft an den südafrikanischen Treib- schaftskooperative Fonterra, vor allem zur Ver- hausgasemissionen, die ohnehin die höchsten marktung von milchbasierten Zusatzstoffen in Afrika sind und weltweit an vierzehnter und zur Belieferung von Schnellrestaurants Stelle stehen, beläuft sich auf neun Prozent. in der gesamten südafrikanischen Region. Die andere Seite neben der fossilbasierten, Heute wird die NCD an der Johannesburg gentechnisch-orientierten globalisierten Pro- Stock Exchange (JSE), Afrikas globalisiertester duktion ist der Anstieg der Lebensmittelpreise. Börse, als Aktiengesellschaft geführt. Mit dem Südafrika importiert jährlich 1,4 Millionen Versuch, ihr Kapital auf 500 Millionen Rand Tonnen Weizen. Diese Einfuhren wirkten sich zu erhöhen, ist sie auf dem Weg zur Globali- preistreibend auf die Wertschöpfungskette sierung ihrer Eigentümer- und Anteilsstruktur. von Korn zu Brot aus. Da der Weizenpreis Sie will sich damit im globalisierten agroin- auf den globalisierten Märkten aufgrund von dustriellen Komplex positionieren und ihren angebotsorientierten Faktoren gestiegen ist, Marktanteil auf dem Fast-Food-Markt steigern, führte dies zu höheren Verbraucherpreisen.

luxemburg | 3/2011 117 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 117 01.09.11 16:47 Wie Cock (2009) zeigt, hatte die politische Solidarwirtschaftliche Ernährungs- Ökonomie dieser Wertschöpfungskette kooperativen außerdem eine verstärkte Eigentums- und Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und Machtkonzentration in der einheimischen zunehmenden Ernährungsunsicherheit entwi- Weizenproduktion und in der Mehl- und ckeln sich in armen Gemeinden zunehmend Backwarenindustrie zur Folge. Nahrungsproduktionsinitiativen.7 Es entstan- Die Geschäfte mit dem Brot stellten den Gemüsegärten, Lebensmittelprojekte oder eine große Belastung für Arbeiterfamilien -vereine und viele weitere Projekte. Darüber dar. Eine in Pimville (Soweto) anhand von 40 hinaus hat sich der Staat bemüht, unter den Arbeiterhaushalten durchgeführte Erhebung neu aufkommenden schwarzen Farmern das ergab, dass dort 60 Prozent des Monats- Genossenschaftswesen zu fördern. einkommens für Lebensmittel und davon Die allgemeinen Erfahrungen mit einer allein 31 Prozent für Brot ausgegeben wird staatlich betriebenen Genossenschaftsentwick- (Joynt 2010, 34). Darüber hinaus ergab eine lung waren allerdings negativ. Eine von oben qualitative Studie im gleichen Arbeiterbezirk, betriebene Politik hat sowohl die Entstehung dass der allgemeine Anstieg der Lebensmit- einer Genossenschaftsbewegung als auch telpreise vielfach Hunger verursachte (ebd.). das Aufkommen lokaler Basisinitiativen Das ist unmittelbar mit der neuen Praxis des verhindert. Südafrika hat seit 1996 zwei »Shoplifting« verbunden, bei der Menschen in Phasen einer von oben betriebenen Politik Supermärkte eindringen und dort Lebensmit- der Genossenschaftsentwicklung erlebt, die tel konsumieren. Über diese Mundraubprak- beide dramatisch gescheitert sind. In der tiken berichteten ­führende südafrikanischen zweiten Phase, in den Jahren 2000 bis 2003, Zeitungen; sie haben auch die Aktionen des verpflichtete das Handels- und Industriemi- Unemployed Peoples Movement (UPM), der nisterium den südafrikanischen Genossen- Arbeitslosenbewegung, beeinflusst. UPM- schaftsverband NCASA (National Cooperative Führer wurden verhaftet; aber es kamen die Association of South Africa) in einem Partner- verzweifelten Kämpfe der Menschen zur schaftsabkommen zum Aufbau von Genossen- Befriedigung gundlegender Bedürfnisse ans schaftsentwicklungszentren. Nach fünf Jahren Licht. war kein einziges entstanden, die NCASA Der globale agroindustrielle Komplex wurde für insolvent erklärt und Millionen von verursacht Ernährungsungleichheit, die eine Rand waren ohne Nachweis verschwunden. Herausforderung für die Politik der Ernäh- Im Nachhinein wird bei genauerer Unter- rungssouveränität darstellt: Auf Verbraucher- suchung klar, dass die Finanzbürokratie der seite stellen Mangelernährung wie Überge- NCASA eine Funktion zuweisen wollte, die wichtigkeit zentrale Probleme dar, die in allen sie objektiv nicht erfüllen konnte (Satgar/ Bevölkerungsteilen, aber in der schlimmsten Williams i.Vorb.). Das entlastet sie allerdings Form bei südafrikanischen Kindern auftreten nicht von den organisatorischen Schwächen, (Chopra/Whitten/Drimmie 2009). die zu ihrem Scheitern mit beitrugen. Inzwi-

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LUX_1103_03.indb 118 01.09.11 16:47 schen hat eine dritte Phase des Aufbaus einer Genossenschaftsbewegung begonnen, die immer noch vom Staat gesteuert wird. Bei den Einzelgenossenschaften, ein- schließlich der landwirtschaftlichen, hat der Staat nicht genügend getan, um genossen- schaftliche Werte und Prinzipien zu vermit- teln. Er hat statt dessen Genossenschaften im Zuge der Schwarzen Wirtschaftsförderung fi- nanziert, was zu Profitstreben, Patronage und Korruption führte. Organisatorisch mangelt es diesen Genossenschaften an grundlegenden Fachkenntnissen, technisch fehlt es an prak- tikablen Kooperationsstrategien. Viele dieser Mängel wurden anhand der ersten amtlichen Grundlagenstudie über die südafrikanischen Genossenschaften von der Regierung selbst

konstatiert. Die im Jahre 2009 durchgeführte Untersuchung ergab, dass nur 2644 der flickr/Just Coffee Cooperative, 22 030 amtlich registrierten aktiven Genossen- RedCafes, Mexico schaften noch tätig waren. Landesweit hatten also 12 Prozent überlebt (DTI 2009, 37). Produktions-, Konsumtions- und Lebensform, Eine sich herausbildende Alternative zum die die Realisierung menschlicher Bedürf- staatlich organisierten Genossenschaftswesen nisse und ökologischer Gerechtigkeit fördert ist eine solidarwirtschaftliche Bewegung von (COPAC 2010, 18). unten. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass die Gegenwärtig entwickelt sich diese kapitalistische Krise eine Systemkrise ist, die Praxis der Umgestaltung als eine politische sich in einer allgemeinen Zivilisationskrise Bewegung, die sich in Forschungsprogram- ausdrückt. Diese Krise hat sowohl wirtschaft- men zur genossenschaftlichen Entwicklung liche als auch ökologische, politische und niederzuschlagen beginnt. Dazu gehören die soziale Dimensionen. Nach der Formulierung in diesem Beitrag dargestellten Fallstudien zu des Cooperative and Policy Alternative Center Nahrungsmittelkooperativen. Diese Genossen- (COPAC) ist eine solche Solidarwirtschaft schaften betreiben eine Solidarwirtschaft, die »eine kollektive humanistische Antwort auf internes Eigentum und Mitgliederkontrolle die Krise, mit der wir konfrontiert sind. [...] Sie betont. Nach der COPAC-Klassifikation lässt ist ein gezielter, durch gemeinsamen Kampf sich die »Kadishi « und bewusste Wahl organisierter Prozess als eine Arbeiterproduktionsgenossenschaft und zur Herstellung einer neuen demokratischen die »Mathomo Mayo Organic Agricultural

luxemburg | 3/2011 119 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 119 01.09.11 16:47 Cooperative« als eine arbeitereigene Genossen- Mitglieder kommen aus den drei umliegenden schaft bezeichnen.8 Dörfern. Die Genossenschaft ist sehr aktiv und In einer Arbeiterproduktionsgenossen- eine zentrale Institution im Dorf. Der Schwer- schaft kontrollieren die Arbeitereigentümer punkt ihrer Tätigkeit ist zwar die Landwirt- alle Entscheidungsprozesse und ihre eigenen schaft, in der sie große Erfolge verzeichnet, sie Produktionsmittel, sofern sie (wie beispiels- hat aber ihre Aktivitäten auch auf verschiedene weise die Felder) für die Arbeit der Genos- Bedürfnisse des Dorfes erweitert. So betreibt senschaft notwendig sind. Auch das weitere sie ein Lebensmittelgeschäft, eine Tankstelle, Eigentum der Genossenschaft befindet sich eine Reifenreparatur und einen Geflügelladen. in Gemeinbesitz. Diese Genossenschaften Ursprünglich half die Genossenschaft können Arbeiter einstellen, sofern diese örtlichen Kleinbauern (160 Farmern, die nicht mehr als ein Viertel der Arbeitereigner jeweils eine Farm in der Größe von 1 Hektar ausmachen und nachgeordnete Tätigkeiten besaßen) bei der Beschaffung von Materialien ausüben.9 Demgegenüber kontrollieren in wie Saatgut oder Dünger. Die Farmer bauten einer arbeitereigenen Genossenschaft die vor allem Bohnen, Mais und Sorghum für Arbeitereigentümer alle betrieblichen, stra- den Eigenbedarf an und erkannten, dass tegischen und programmatischen Entschei- sie Frachtkosten sparen und Preisnachlässe dungen, und das Genossenschaftseigentum erzielen konnten, wenn sie Betriebsstoffe en befindet sich entweder in individuellem und gros einkauften. Später konnte die Genossen- gemeinschaftlichem Besitz oder ausschließ- schaft mit staatlichen Hilfen wichtige landwirt- lich in Gemeinbesitz.10 Auch die solidarwirt- schaftliche Geräte kaufen. Im Jahre 2008 hatte schaftlichen Werte und Prinzipien sind in den sie ihre landwirtschaftlichen Aktivitäten auf internen Betriebsordnungen dieser Genos- das Pflügen, Bearbeiten und Bepflanzen von senschaften in ihrer Form und in ihrem Grad Feldern zu subventionierten Preisen, auf Bo- unterschiedlich festgelegt.11 In der Solidar- denaufbereitung und Schädlingsbekämpfung, wirtschaft werden die Genossenschaften nicht auf den Ankauf von Ernteprodukten und ihren vom Staat kontrolliert. Sie schalten den Staat Verkauf auf lokalen Märkten, auf die Herstel- ein, wenn es aus ihrer Sicht notwendig ist, lung von Maismehl und auf dessen Lagerung sind aber nicht in einer staatlich orientierten in einem schädlingsfreien Silo erweitert. Entwicklungslogik gefangen. Die Kadishi-Kooperative ist eine mitglieder- betriebene Arbeiterproduktionsgenossenschaft. Die »Kadishi Agricultural Cooperative« Die Arbeitereigentümer treten der Genossen- Diese Kooperative ist zwanzig Jahre alt und im schaft bei und werden durch Entrichtung eines Norden des ländlichen Südafrika in der Provinz Jahresbeitrags zu Mitgliedern. Das Betriebs- Mpumalanga angesiedelt.12 Eingebettet in de- vermögen der Genossenschaft befindet sich in ren schöne Hügellandschaft hat sie ihren Sitz Gemeinschaftsbesitz und ist nicht aufteilbar. im Zentrum von Matabidi, einem Dorf etwa 40 Die Arbeitereigentümer besitzen ihr eigenes Kilometer nördlich der Stadt Graskop. Ihre 65 Stück Land, nutzen aber Gerätschaften und

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LUX_1103_03.indb 120 01.09.11 16:47 flickr/Just Coffee Cooperative, RedCafes, Mexico

LUX_1103_03.indb 121 01.09.11 16:48 andere Produktionsmittel, die Gemeinbesitz so dass sie ihren Mais direkt an die Genos- der Genossenschaft sind. Sie haben das Recht senschaft verkaufen. Diese hat damit direkt auf einen Anteil an Gewinn und Verlust, auf zu ihrem Lebensunterhalt beigetragen und in Information und auf Teilnahme an den Ent- den Haushalten für eine gewisse finanzielle scheidungsprozessen nach dem Prinzip, dass Stabilität gesorgt. Dass sie Bargeld für Mais jedes Mitglied eine Stimme hat. Die Mitglieder- bezahlen kann, noch bevor sie ihn verkauft, ist versammlungen finden mindestens dreimal im ein weiterer Indikator für ihren Erfolg. Jahr entsprechend dem Erntezyklus statt. Die Weil immer mehr Bauern ihre Ernte an Maispreise werden von der ­Genossenschaften die Genossenschaft verkaufen, konnte diese nach den wirtschaftlichen Rahmenbedingun- ihre Tätigkeit erweitern und ihre Überschüsse gen festgesetzt. Zusätzlich werden auf viertel- steigern. Indem sie Maismehl einlagert, jährlichen ­Arbeitereigentümer-Versammlungen verarbeitet und zu günstigen Preisen an die alle für die Genossenschaft relevanten Fragen örtliche Gemeinschaft verkauft, hat sie in besprochen. vielen Dörfern unmittelbar für Ernährungs- Die dörfliche Gemeinschaft wurde von sicherheit gesorgt. Sie ist auf dem Wege zur der Genossenschaft auf vielfältige Weise Entwicklung von Marketingstrategien und beeinflusst. Ende der 1990er Jahre hatten einer Kadishi-Marke, die ihre Präsenz auf den viele Bauern in der Umgebung aufgehört, ihr lokalen Märkten weiter vergrößern und zu Land zu bebauen. Mit der Wiederbelebung Ernährungssicherheit beitragen soll. der Genossenschaftstätigkeit während der letzten zehn Jahre ist die Zahl der aktiven Die »Mathomo Mayo Organic Farmer sprunghaft gestiegen. Im Jahre Agricultural Cooperative« 2007 hatten alle 160 Farmer in der Region Die »Biologische Agrargenossenschaft ihre Felder bestellt. Eine der Methoden, mit Mathomo Mayo« wurde vor fünf Jahren in der denen die ­Genossenschaft den Bauern half, Ivory Park Township gegründet. Sie gehört ihre Felder neu zu bewirtschaften, ist die zu einer zweiten Welle von Genossenschaf- ­Subventionierung der Bepflanzung. orma-N ten, die in einer Township Community im lerweise liegen die Kosten für die Bestellung Herzen Südafrikas aufgeblüht sind. Ivory Park von einem Hektar Land (Pflügen, Bearbeiten, liegt etwa dreißig Kilometer nordöstlich von Säen) bei 800 bis 1 000 Rand. Die Genossen- Johannesburg und hat nach der Volkszählung schaft beschaffte staatliche Gelder und konnte von 2001 rund 110 000 Einwohner,13 die in durch ihre eigenen Rücklagen für 300 Rand 36 464 Haushalten leben, eine bedeutende pro Hektar Feldbestellungsdienstleistungen Zahl davon in Hütten und Notunterkünften. (einschließlich der Aussaat) anbieten. Viele Mindestens 12 603 Haushalte verfügen über Bauern haben dadurch wieder begonnen, keinerlei Einkünfte, und die Arbeitslosenrate ihren Hof zu bewirtschaften. liegt bei 40 Prozent. In vieler Hinsicht ist Darüber hinaus zahlt die Kadishi-Koope- Ivory Park typisch für die südafrikanischen rative den Bauern Bargeld für Maislieferungen, Townships. Hunger ist ein ernstes Problem.

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LUX_1103_03.indb 122 01.09.11 16:48 Darin kommt auch die Krise sozialer Repro- dort Wasser zu beziehen. Der EcoCity-Fonds duktion zum Ausdruck, die heute viele Armen- gewährte ihnen den Zugang zu dem angren- und Arbeiter-Commu­nities im heutigen zenden Landstück und zum Wasser. Die Südafrika betrifft. Frauen ließen daraufhin ihre Genossenschaft Seit 1999 wurde aber durch die amtlich registrieren und fingen an, mithilfe Initiative von Umweltaktivisten, die am von Geräten und Materialien, die sie unter EcoCity-Programm beteiligt sind, ein Versuch sich aufteilten, das Feld zu bebauen. unternommen, sich der sozialen Krise durch Die Kooperative verlangt eine einmalige den Aufbau eines Ökodorfs und durch eine Beitrittsgebühr; das Betriebsvermögen ist Ge- lokale Genossenschaftsbewegung anzunehmen, meinbesitz und nicht aufteilbar. Gleichzeitig die Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaft haben die Arbeitereigner das Recht auf einen entspricht. Das Ökodorf war Anstoß für genos- Anteil an Gewinn und Verlust, auf Informa- senschaftliche Aktivitäten auf den Gebieten von tion und auf Teilnahme an einer egalitären biologischer Landwirtschaft, Textilproduktion, Entscheidungsfindung nach dem Prinzip Abfallbeseitigung, Papierrecycling, Fahrrad- einer Stimme pro Kopf. Durch ihre geringe Instandsetzung, Jugendarbeit und Hausbau Größe arbeitet die Kooperative horizontal und wie auch in der Verwaltung des Ökodorfs. Viele findet sich gemeinschaftlich zusammen, um dieser Kooperativen sind stark subsistenz­ vor allem betriebliche Entscheidungen zu orientiert, manche haben auch kommerzielle treffen. Vom solidarwirtschaftlichen Stand- Strategien entwickelt, die für Einkünfte sorgen. punkt ist Mathomo Mayo eine arbeitereigene Die Geschichte ist nicht frei von Misser- Genossenschaft. folgen. Die im Jahre 2000 gegründeten zwölf Die Mathomo-Mayo-Kooperative ist Landbaukooperativen scheiterten allesamt am heute ein äußerst erfolgreicher städtischer fehlenden Zugang zu Wasservorräten und Ka- Erzeuger biologischer Agrarprodukte.15 Die pitalinvestitionen. Diese Erfahrung hat jedoch Kooperative hat zahlreiche Preise gewon- dem Aufbau der lokalen Genossenschaftsbe- nen. Durch Spenden von verschiedenen wegung nicht geschadet, sondern als Ansporn Institutionen konnte sie ihre Gartenanlage zu weiteren Experimenten gedient. einzäunen, einen Regenwassertank kaufen So entstand fünf Jahre später die biologi- und das Bohrloch für ihren eigenen Brunnen sche Landbaukooperative Mathomo Mayo als vertiefen. Indem sie ihre Produkte direkt im Teil einer zweiten Welle von mit dem Ökodorf Garten verkauft, verfügt sie über einen festen verbundenen Genossenschaftsbewegungen.14 Nachbarschaftsmarkt mit durchschnittlich 26 Fünf arbeitslose Frauen traten an den EcoCity- Kundinnen pro Tag. Da sie Nahrungsmittel Fonds mit dem Wunsch heran, ein großes billig verkauft, hilft sie den Hunger in den Stück Land für einen ökologischen Gartenbau Haushalten und in der Township-Community zur Ernährung ihrer Familien zu nutzen. Sie zu bekämpfen. Darüber hinaus versorgt sie wollten – wissend um frühere Probleme – die ihre Arbeitereigentümer und deren Familien Nachbarschaft des Ökodorfs nutzen, um von gratis mit Lebensmitteln.

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LUX_1103_03.indb 123 01.09.11 16:48 Probleme und Aufgaben solidarwirt- der Ernährungssouveränität für die gesamte schaftlicher Ernährungsalternativen Gemeinschaft sein, die den Hunger beseitigt Um sich gegen den herrschenden agrarindust- und für Umweltgerechtigkeit sorgt. riellen Komplex durchsetzen zu können, müs- Und schließlich muss die Entwicklung sen solidarwirtschaftliche Ernährungsalterna- einer solidarwirtschaftlichen Bewegung tiven verschiedene Probleme bewältigen. Das und erfolgreicher Ernährungssouveränitäts- erste – das im südafrikanischen Kontext große Alternativen imstande sein, dem Staat und Ausmaße hat – ist der Aufbau einer solidar- dem von ihm unterstützten agroindustriellen wirtschaftlichen Bewegung von unten. Gegen- Komplex eine wirksame gegenhegemoniale wärtig sind viele Inititativen lokal ausgerichtet Herausforderung entgegenzusetzen. Dazu und isoliert. Es muss eine wirkliche Bewegung braucht man ein politisches Projekt, das für entstehen, damit sich diese Unternehmungen die Sozialisierung und ökonomische Umge- verbinden und ihre Erfahrungen austauschen staltung des bestehenden agroindustriellen können. Dieser Prozess muss durch einen Komplexes sorgt. Ein solches Projekt kann nur Aktivismus der Umgestaltung angeleitet durch Graswurzelkämpfe von unten entstehen. werden, der unterschiedliche städtische und ländliche Arbeiter-Agrarkooperativen verbindet und Vernetzungsmöglichkeiten schafft. Literatur Amin, N., und H. Bernstein, 1995: The role of agricultural Das lässt die zweite wichtige Aufgabe her- cooperatives in agriculture and rural development. LAPC vortreten. Die Rolle des Wissens ist in diesem Policy Paper 32 Chopra, M., C. Whitten und S. Drimmie, 2009: Combating Kampf entscheidend. Jedes solidarwirtschaftli- malnutrition in South Africa. Global Alliance for Impro- ved Nutrition (Gain), Working Paper Series, No. 1 che Unternehmen in der alternativen Ernäh- Cock, J., 2009: Breadwinners and losers: Power relations rungsökonomie muss dazu beitragen, dieses in the wheat to bread commodity chain. South African Sociological Association conference, University of the Wissen zu verbreiten. Gegenwärtig entwickelt Witwatersrand, July sich die Mathomo-Mayo-Kooperative in der Cooperative and Policy Alternative Centre (COPAC), 2008: The Passion of the people: Successful cooperative experi- Ivory Park Township zu einem wichtigen ences in Africa. Research Report, Johannesburg Förderer alternativer Ernährungsökonomie. Dass., 2010: Building a solidarity economy movement: A guide for grassroots activism. Activist Training Guide. Sie bildet andere Mitglieder der Gemeinschaft Johannesburg aus, die eigene biologische Landbaukoope- Department of Trade and Industry (DTI), 2009: Baseline study of cooperatives in South Africa. Research Report. rativen einrichten wollen. Darüber hinaus http://www.dti.gov.za/ hat die Ausbildungs- und Kommunikati- Feinstein, H. C., 2005: The economic history of South Africa: Conquest, discrimination and development, New York onskooperative des Ökodorfs ein Komitee Greenberg, S., 2010: Status report on land and agricultural zur Ernährungssouveränität gebildet, um policy in South Africa. Institute for Poverty, Land and Agrarian Studies (PLAAS). Research Report 40. Cape alle biologischen Landbaukooperativen in Town: Institute for Poverty, Land and Agrarian Studies, der Ivory Park Township an einen Tisch zu School of Government, University of the Western Cape. International Cooperative Alliance (ICA), 1996: Cooperati- bringen. Sie hat sich auch mit auswärtigen ve principles for the 21st century. ICA Com­munications Projekten in Verbindung gesetzt. Der nächste Department, Genf Jara, M. (i. Vorb.): Agrarian Reform in South Africa: A critical Schritt soll die Entwicklung einer Strategie review of post-apartheid agricultural policy. Mini-thesis

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LUX_1103_03.indb 124 01.09.11 16:48 submitted to fulfill requirements for M. Phil degree, In- der externe Beschäftigtenanteil darf nicht mehr als ein stitute for Poverty, Land and Agrarian Studies (PLAAS), Viertel der Anzahl der Arbeitereigentümer ausmachen), University of the Western Cape (3) worker managed cooperatives (arbeiterverwaltete Joynt, K., 2010: We really have to cut down on eating-poverty Genossenschaften: das Genossenschaftskapital gehört dem and food prices, in: Labour Bulletin 34 (June/July), 2 Staat) und (4) worker supported cooperatives (arbeiterbasierte Kalima, E., 2005: Whose responsibility is food security? Percep- Genossenschaften, bestehend aus Arbeitereigentümern, tions from Cato Manor, Diplomarbeit, Pietermaritzburg, ehrenamtlichen und geldgebenden Mitgliedern, wobei University of Kwa Zulu Natal diese zwei letzteren Kategorien von Mitgliedern entfallen, Lipton, M., 2007: Liberals, marxists, and nationalists: Compe- sobald die Genossenschaft auf eigenen Füßen steht und als ting interpretations of South African history. New York vollständig arbeitereigene Kooperative funktionieren kann). Roberts, S., 2009: Food production in South Africa: Corpo- 9 Der 25-Prozent-Anteil ergibt sich aus dem südafri- rate conduct and economic policy. Competition Commis- kanischen Genossenschaftsgesetz von 2005 und aus den sion of South Africa and University of the Witwatersrand, Bestimmungen für Arbeiterkooperativen. Diese Bestim- Initiative for Policy Dialogue, Taskforce Meeting on mungen werden den unterschiedlichen Abwandlungen des Africa, 9.–10. Juli Arbeitergenossenschafts-Modells nicht gerecht. Satgar, V., 2008: Neoliberalised South Africa: Labour and the 10 In der baskischen Mondragón Corporation existiert roots of passive revolution, in: Labour, Capital and Society das Arbeitereigentum auf zwei Ebenen: individuell durch 41, H. 2 die Kapitalanteile auf den einzelnen Mitgliederkonten und Satgar, V., und M. Williams (i. Vorb.): Cooperatives and gemeinschaftlich durch den genossenschaftlichen Besitz nation building in post-apartheid South Africa: Contra- am gesamten Betriebsvermögen. Gemeineigentum am dictions and challenges, in: T. Webster (Hg.), The hidden gesamten Besitz existiert dann, wenn es keine individuellen alternative, Manchester Mitgliederkonten gibt. Die Arbeitereigentümer entrichten Wills, J., F. Chinemana und M. Rudolph, 2009: Growing or dann in der Regel nur eine Beitrittsgebühr. connecting? An urban food garden in Johannes­burg, in: 11 In Südafrika werden die von der internationalen Genos- Health Promotion International 25, 33–1 senschaftsbewegung entwickelten solidarwirtschaftlichen Werte und Prinzipien vom COPAC neu formuliert. Wichtig sind nach dessen Verständnis die folgenden Werte: Fürsorge, Teilen, Eigenständigkeit, Ehrlichkeit, Demokratie, Gleichheit, Bildung, 1 Diese Diskriminierung ausschließenden Grundsätze ökologisches Bewusstsein, soziale Gerechtigkeit und Offenheit. und Werte der internationalen Genossenschaftsbewegung Darüber hinaus arbeitet das COPAC nach den folgenden hatten sich in den 150 Jahren nach dem Rochedale-Expe- Prinzipien der Solidarwirtschaft: Solidarität, Gemeineigentum, riment entwickelt. Siehe auch ICA 1996, 1; International Selbstverwaltung, Kontrolle des Kapitals, Ökozentrik, Gemein- Labor Organization Recom­mendation 193 (angenommen nützigkeit und partizipatorische Demokratie. 2002); United Nations, Guidelines on Cooperatives (2001). 12 Das COPAC hat die Entwicklung neuer, hauptsächlich 2 Diese Entwicklung der ANC-Landwirtschaftspolitik schwarzer Agrargenossenschaften im ländlichen Post- wird von Jara (i. Vorb.) anhand der Wende dokumentiert, Apartheid-Südafrika verfolgt und aufgezeichnet. Die die sich Anfang der 1990er Jahre in ihrem Think Kadishi-Fallstudie beruht auf der im Jahre 2008 Tank, dem »Land and Agricultural Policy Center« durchgeführten COPAC-Studie über erfolgreiche vollzog. Die Studie zeigt, wie dieses Institut zu Kooperativen. Im Jahre 2010 hat das COPAC eine einem Sprachrohr der Weltbank wurde und ein von Studie über ländliche Genossenschaften in der Ostkap- ihr finanziertes Forschungsprogramm betrieb. Provinz abgeschlossen, bei denen es sich vielfach um 3 Die Umstrukturierung und Globalisierung des Arbeiterproduktionsgenossenschaften handelt. südafrikanischen agroindustriellen Komplexes wird durch 13 Alle quantitativen Daten zu Ivory Park in diesem eine Fülle von Literatur dokumentiert. Wir beziehen uns Abschnitt beruhen auf der amtlichen Zählung von 2001, auf Roberts (2009), Jara (i. Vorb.) und Greenberg (2010). sind also überholt. So dürften etwa die Arbeitslosenzahlen 4 Registrar of Cooperatives and Statistics of angesichts der verstärkten Arbeitsplatzvernichtung in Cooperatives in South Africa, 2002–2005, Bd. XVI. der südafrikanischen Wirtschaft weiter gestiegen sein. 5 Gespräch mit Rector Rapoo (Registrar of 14 Im Rahmen dieser zweiten Welle genossenschaftlicher Cooperatives) und Jeff Ndumo (Chief Director Entwicklung sind eine Hühnerzucht-, eine Altenverpfle- Cooperatives Unit) im Ministerium für Handel gungs-, eine Back- und eine Nähereikooperative sowie eine und Industrie, Pretoria, 21. Oktober 2010. weitere biologische Landbaukooperative entstanden. 6 Südafrika hatte vor der Rezession eine Arbeitslosenrate 15 Alle empirischen Daten zur Mathomo-Mayo-Kooperative von 40 Prozent. Während der weltweiten Rezession stammen aus einer kürzlich erstellten COPAC-Erhebung, die gingen 1 Million Arbeitsplätze verloren. im Jahre 2011 veröffentlicht wird und erstmals in Südafrika 7 Das COPAC unterscheidet vier Typen von ein Verzeichnis solidarwirtschaftlicher Projekte erstellt. Auf Arbeitergenossenschaften: (1) worker owned cooperatives dem Gebiet städtischer Ernährungskooperativen und ‑pro- (arbeitereigene Genossenschaften), (2) worker producer jekte entwickelt sich eine reiche Literatur; siehe zum Beispiel cooperatives (Arbeiterproduktionsgenossenschaften: Kalima (2005) oder Wills/Chinemana Rudolph (2009).

luxemburg | 3/2011 125 PRAXIS

LUX_1103_03.indb 125 01.09.11 16:48 Die Vier-in-einem- Perspektive in der Praxis Einstieg in eine Debatte

Im Heft 2/2011 stellte Frigga Haug den Ansatz Cornelia Möhring der Vier-in-einem-Perspektive (4in1) vor (122ff). Sie orientiert auf eine Veränderung der gesell- Katharina Schwabedissen schaftlichen Zeitregime: Radikale Verkürzung der Lohnarbeitszeit soll die Beteiligung aller an den Erfordernissen der Reproduktion wie an politisch- gesellschaftlicher Tätigkeit, Erholung und Bildung ermöglichen. Die vorliegenden Beiträge sind ein Einstieg in eine Debatte um praktische Umset- zung und Relevanz des Konzeptes für alltägliche Politik. Dieser Austausch soll u.a. auf unserer Website fortgeführt werden (www.zeitschrift- luxemburg.de).

Von der Arbeit und ihrer Verteilung aus be‑ gründet sich Herrschaft. Von hier lassen sich gegenwärtige Krisen, lässt sich unsere ­Politik begreifen. Stets geht es um die Verfügung über Arbeitskraft, die eigene oder fremde, so dass alle Politik und Ökonomie hier ihren Anfang nimmt – ­und ihr Ziel findet, indem sie letztlich um die Zeit streitet. (Aus dem alternativen feministischen Präam‑ bel‑Entwurf zum Parteiprogramm Die Linke)

126 luxemburg | 3/2011 Class & Care Class & Care

LUX_1103_03.indb 126 01.09.11 16:48 Cornelia Möhring änderung der Gesellschaft zielende (Frauen-) 4in1 kann ein Transformationsprojekt sein, mit Politik darf sich nicht in der Diskussion um dem konkrete politische Schritte, auch Real‑ »falsche Alternativen« erschöpfen: Wollen politik genannt, in ein Fernziel – eine Utopie – wir ein Erziehungsgeld für Mütter erstreiten eingebettet sind. In der Praxis kann sie als oder bessere Kindergärten? Sollten wir den Forderungs-Kompass genutzt werden. Für mich Kampf der Gewerkschaften um Löhne und als frauenpolitische Sprecherin der Linksfrak‑ Tarifabkommen stärken oder sollten alle Bür‑ tion ist sie zugleich ein Lernprojekt, mit dem gerinnen und Bürger ein Grundeinkommen ich revolutionäre Realpolitik angehen kann, ein erhalten? Sind Minijobs und Betreuungsgeld Bezugspunkt, um nicht im parlamentarischen besser als nichts oder sollen alle erwerbsfähi‑ Drucksachen-Dschungel unterzugehen. gen Menschen Vollarbeitszeit-Arbeitsplätze in Frauen- oder feministische Politik einer Anspruch nehmen können? Damit landen wir linken Partei braucht fundierte theoretische in Sackgassen und verkämpfen uns im Behar‑ Kämpfe: damit »Gleichstellung« sich nicht in ren auf den jeweils »richtigen« Forderungen. der jetzigen Systemstruktur erschöpft oder sich Immer wieder haben wir erfahren, wie sich auf Beschreibungen von Benachteiligungen Forderungen, gegen uns richten können, wenn von Frauen beschränkt und nur unverbundene sie nicht auf grundsätzliche Veränderungen zie‑ Einzelforderungen für deren Aufhebung stellt. len. So wurde aus kollektiver Selbstbestimmung Eine solche Politik wird reformistisch, sozialde‑ »Eigenverantwortung«, aus Freiheit »volles mokratisch und teilweise sogar reaktionär. Risiko«, aus Gleichstellung im Erwerbsleben In meiner Praxis und der Entwicklung die »Vereinbarkeit von Familie und Beruf«. von Frauenpolitik hilft mir der 4in1-Ansatz, Und die Befreiung aus dem Familien-Ernährer- das Hemmnis einer Entweder-Oder‑Logik Modell mündete für viele Frauen in Minijobs zu überwinden. Denn ein starres und wenig und in der Alleinerziehenden‑Armutsfalle. dialektisches Verständnis von linker Politik, Mit der utopischen Dimension der ein ebensolches Umgehen mit Theorie und 4in1‑Perspektive öffnet sich der Blick auf ihren »Klassikern«, ist aus meiner Sicht eine alle Felder der gesellschaftlichen Arbeit der größten Blockaden in der Entwicklung und Entwicklung; »Frauenpolitik« ist damit einer linken Erzählung und einer erkennba‑ nicht mehr Randthema, das irgendwie auch ren Strategie ihrer Umsetzung in Der Linken. berücksichtigt werden muss. Zugleich werden Das wäre aber bitter nötig, um den aktuellen wichtige Politikfelder aus ihrer reduzierten Herausforderungen angemessen zu begegnen. reformistischen (Klientel-)Ecke geholt und zu Die Beschäftigung mit der 4in1-Perspektive (Menschheits-)Themen, mit denen wir mit könnte hier unterstützen. Nur leider stößt sie linker Politik an die Grenzen des Systems und in Der Linken immer noch auf Tabus. ein Stück darüber hinaus gehen, in Richtung 4in1 weitet den Blick, zielt Befreiung aus allen einer veränderten, gerechteren Gesellschaft. Herrschaftsverhältnissen an und setzt auf Aktuelles Beispiel hierfür ist der Kampf um selbstverändernde Praxen. Und eine auf Ver‑ Arbeitszeitverkürzung und für das Recht auf

luxemburg | 3/2011 127 Class & Care

LUX_1103_03.indb 127 01.09.11 16:48 Arbeit. Die Entwicklung der Produktivkräfte gesellschaftlichen Produktionsbereich zuweist, könnte längst in einen Zeitwohlstand für alle in dem es darum geht, Leben zu erzeugen, zu münden. Doch in Neoliberalismus und Krise erhalten und zu pflegen – und der gleichzeitig führte dies zum Abbau von Arbeitsplätzen und an den Rand gedrängt ist. ihrer Verlagerung ins Ausland, zur Aufspal‑ Die vorgeschlagene Umwälzung der tung von Betrieben und der damit einherge‑ Zeitökonomie verknüpft die gesellschaftliche henden Ausgliederung von Tätigkeiten, damit Ebene mit der individuellen; wir können sie für billige Löhne mit dafür »günstigeren« direkt an den Alltagserfahrungen und dem Werkverträgen erbracht werden. Wenn sich der Alltagsbewusstsein der Menschen anknüpfen. gewerkschaftliche Kampf auf den Erhalt von Wir behalten immer eine gesellschaftliche Arbeitsplätzen für die verbleibende Stammbe‑ Veränderung im Fokus, indem wir uns fragen: legschaft beschränkt (was aus »Klientel-Sicht« Wie sieht die Gesellschaft aus, in der wir leben ­nachvollziehbar ist) und nicht um gute Arbeit wollen? Mit wem wollen wir sie erkämpfen? und ein gutes Leben für Alle geführt wird, Wer ­übernimmt jetzt und künftig für was die verfehlt er das Ziel emanzipatorischer Politik. Verantwortung? Wie viel öffentliche Verant‑ Eine linke sozialistische Partei (und Fraktion) wortung brauchen wir? Und wem muss dafür darf an solchen Punkten nicht stehen bleiben! was gehören? Wer bestimmt über die Zeit? Die Wir brauchen den langen Atem der Utopie, Antworten fügen sich zu einer neuen linken sonst verlieren wir in Einzelforderungen die Erzählung eines solidarischen Gemeinwesens Kraft, um nicht nur Arbeitszeitverkürzung, zusammen – in ihr scheint ein neuer, demo‑ sondern die Umverteilung der gesamten kratischer Sozialismus auf, wo tatsächlich die Lebenszeit und aller Tätigkeiten zu erkämpfen. freie Entfaltung eines und einer Jeden die 4in1 setzt praktisch an: Bei der Fremdver‑ Voraussetzung der freien Entfaltung aller ist. fügung über Zeit als Grundlage von Herrschaft und Ausbeutung. Sie verknüpft die Felder der Katharina Schwabedissen Politik und der gesellschaftlichen Tätigkeiten. 4in1 verknüpft, was in meinem Leben stets Die Entwicklung der ­Produktivkräfte generiert in Konkurrenz zueinander zu stehen scheint: einen immensen Wohlstand an Zeit, die nicht Meine beiden Söhne sind heute acht und drei‑ an alle verteilt wird, sondern sich in dem zehn Jahre alt. Zwei Drittel des Monats bin ich Widerspruch verdichtet, dass die einen immer alleinerziehend, ein Drittel »kinderlos«. Seit mehr rennen, rackern, rasen, um die Arbeit sieben Jahren mache ich Parteipolitik, ich bin überhaupt zu schaffen und im »Spiel« zu Landessprecherin der Partei Die Linke ind bleiben, während die anderen aussortiert in NRW – bis vor 12 Monaten war diese Arbeit der Armutsfalle stecken. unbezahlt. Für den Familienunterhalt ging ich Frauen sind, wie wir seit langem wissen, einer Erwerbsarbeit nach – in Teilzeit, damit aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung noch Zeit für Kinder und Politik blieb. Ich besonders »betroffen« – eine Arbeitsteilung, schloss zeitgleich mein Studium in Philoso‑ die ihnen die Verantwortlichkeit für den phie und Geschichte ab. Die vier Bereiche

128 luxemburg | 3/2011 Class & Care Class & Care

LUX_1103_03.indb 128 01.09.11 16:48 sind präsent: Reproduktion (meine Kinder in den herrschenden Strukturen nie. Die vier und ich), Erwerbsarbeit (Teilzeit), Muße Lebensbereiche zu leben bedeutet Arbeit bis und Weiterentwicklung (Studium) und die zum Umfallen – oder Rückzug. Der Kampf politische Teilhabe (Politik in und um Die um die Zeit ist also zentral. Linke). Von »Vereinbarkeit« kann allerdings Vollbeschäftigung, wenn die Erwerbs‑ kann keine Rede sein. arbeitszeit bei 20 Wochenstunden liegt, ist Wie sieht in den herrschenden Verhält‑ möglich, aber kein Zweck an sich. Erwerbs‑ nissen ein Alltag in allen vier Bereichen aus? arbeit soll notwendige Arbeit sein und die Teilzeitarbeit bedeutet in der Regel kontinu‑ Mittel zum Leben produzieren. Alles, was ierliche Mehrarbeit ohne Lohnausgleich. Bei Leben zerstört, wird über Bord geworfen: einer (Teilzeit-)Stelle in der Politik gibt es Waffen, Atomstrom, 20-Liter-Autos stehen auf keine Überstunden. Sie heißen dort »ehren‑ dem Prüfstand. Zeit würde frei für Kinder, amtliches Engagement«. Arbeit – ob bezahlte die Sorge um Alte und Kranke, für Freund‑ oder unbezahlte – in der Politik heißt häufig schaften und vieles mehr. Endlich hätten wir »Präsenzpflicht« unabhängig von den Lebens‑ Zeit, für die persönliche Weiterentwicklung in umständen. Das Private ist weiterhin nicht Kunst, Musik, Literatur und der Natur – und politisch oder mit den Worten eines Genossen: um uns alle in die Politik einzumischen. Wir »Wenn man Kinder hat und eine Magister‑ überließen sie nicht mehr Einzelnen, die 80 arbeit schreibt, muss man eben nicht in den Stunden und mehr in der Woche in Parlamen‑ Landesvorstand gehen.« Maßstab (politischer) ten arbeiten und arbeiten lassen. 4in1 fordert Arbeit ist aus der Sicht von (vielen) Männern eine andere Politik, in der »die Köchin einen nach wie vor die Teilung von Familie und Staat leiten« können soll. Nicht nur der Staat Arbeit: Zuhause ist doch alles erledigt, wenn würde ein anderer sein, sondern auch die man von der Erwerbsarbeit kommt. Es ist Zeit, Köchin. 4in1 ist also zunächst eine Perspektive. um zu lesen oder stundenlang auf Sitzungen Sie bietet aber auch einen Kompass, der mit zu sitzen, die zu Zeiten stattfinden, in denen konkreter Politik gefüllt werden muss. Auf Mütter (und immer mehr Väter) ihre Kinder dem Weg in eine andere Gesellschaft kann ins Bett bringen. Kinderbetreuung gilt als 4in1 als politisches Projekt stehen, das auf die Luxus und wird dem Rhythmus von Sitzun‑ radikale Umverteilung von Zeit und damit gen angepasst und nicht den Bedürfnissen auch von Geld und Macht setzt. Am Anfang von Eltern und Kindern – auch in der Partei steht die Forderung nach einer neuen Vertei‑ Die Linke. Das Ergebnis solcher Strukturen ist lung von Zeit. Hinter dieser Forderung stehen vor allem bei Frauen ein schlechtes Gewissen. reale Kämpfe, die uns keiner abnehmen wird. Ist man bei den Kindern, dann kann man sich Sie fordert nicht nur abstrakt »mehr Zeit«, nicht an der Diskussion beteiligen. Beteiligt sondern das Ende der Profitlogik im Kapitalis‑ man sich an der Diskussion, ist man nicht mus – damit neue Eigentumsverhältnisse und bei den Kindern. Verlässt man die Arbeit eine neue Bewertung des Arbeitsbegriffs. Es pünktlich, bleibt Arbeit liegen. Die Zeit reicht ist an der Zeit!

luxemburg | 3/2011 129 Class & Care

LUX_1103_03.indb 129 01.09.11 16:48 LUX_1103_03.indb 130 01.09.11 16:48 Natalia Iguiñiz Boggio La Otra – Die Andere

Iguiñiz zeigt die »Andere« – das »Mädchen«, die Frau, die kommt, um das Leben der Frauen mit ihren Kindern, ihrer Arbeit, erträglich und möglich zu machen. Hausarbeiterinnen in Peru sind meist arm, Migrantinnen, viele arbeiten in der Familien der Mittelschicht. Die »Hilfe« teilt die Intimität der Familie, lebt mit ihr meist ohne eigenen Rückzugsraum und ohne dass sie Teil der emotionalen Einheit der Familie wird. Sie wird beim Spitznamen gerufen, nicht bei ihrem Namen; sie ist folgsam und sagt nichts zu all dem, was sie hört. Sie ist immer zugegen und gleichzeitig unsichtbar, wie ein Hintergrund, eine Projektionsfläche für die Familie.

LUX_1103_03.indb 131 01.09.11 16:48 LUX_1103_03.indb 132 01.09.11 16:48 LUX_1103_03.indb 133 01.09.11 16:49 Wenn die Hütte brennt...

Rainer Rilling Es gibt ein legitimes Primat der taktischen Po­ litik, wenn die Hütte brennt. Allerdings findet das politische Tagesgeschäft in aller Regel in brennenden Hütten statt. Umso wichtiger ist es, zuweilen beim Austreten der Brandherde darüber nachzudenken, wo der nächste Brand entstehen wird. Wer weiß, warum Hütten brennen, kann sich leichter darauf vorbereiten. Er kann Prioritäten setzen und versuchen, entsprechend praktisch zu handeln. Er ist also zukunftsfähiger – auch für den Krieg gegen die Paläste –, als wenn er mit Sinn, aber ohne Verstand von Brandherd zu Brandherd hetzt. Kurz: taktische Politik ohne strategische Qualifizierung tritt immer neu auf der Stelle. Und wenn es dennoch immer mehr Brandherde gibt, ein Flächenbrand droht? Wenn es ums Überleben geht, geht es um den Kern der Sache: um Macht. Macht ist nicht alles, aber das Wesentliche von Politik. Für die Linke geht es um Empowerment, Selbst­ ermächtigung. Macht kann bestehen in der Durchsetzung eines Willens, in der Kontrolle

134 luxemburg | 3/2011 Linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 134 01.09.11 16:49 über Situationen, Akteure und Kontexte, in der finanzmarktgetriebene und weithin neoliberal Wenn die Hütte Öffnung oder Schließung von Optionen und geprägte Entwicklungsmuster zu verlassen, Handlungskorridoren. Die politische Rolle, ist unwahrscheinlich, aber noch nicht ent­ Funktion, Möglichkeiten und Position einer schieden. Umstritten ist die Frage nach der brennt... Partei werden in letzter Instanz durch sie ver­ relativen Stabilität dieses Pfades. In einer mittelt. Wenn sie dahingeht, dann ist auch die politischen Form, in der der Pfad realisiert Partei weg. Deshalb denkt in einer Situation werden soll, kommt Die Linke als Mitspiele­ der Machtkrisen niemand mehr an übermor­ rin nicht vor. Das ist der Green New Deal im gen. Alle Kraft muss man da auf die bewährten Machtfeld der politischen Kommunikation: Feuerpatschen konzentrieren! In der Politik »Die letzte große ideologische Schlacht dieser heißt das »Kerngeschäft«. Doch was tun, wenn Republik ist geschlagen«, titelt die FAZ am plötzlich eine neue strategische Situation 1.7.2011, ein »Ende des 30jährigen Kriegs« sei entsteht? Was hilft die Feuerpatsche, wenn der gekommen. Und Spiegel-Online schreibt am Meeresspiegel nicht aufhört zu steigen? 7.6.: »Es regiert: der Konsens. ›Willkommen im Ein-Parteien-Staat.‹« Die ideologisch- Eine neue strategische Situation? politische Schlacht im Kapitalismus um seine Ungeachtet des bundesdeutschen Auf­ zukunftsfähige Form sei geschlagen. Somit ist schwungs ist die augenblickliche Situation auch die Schlacht gegen den Kapitalismus und von einer starken und weiter zunehmenden um ihn – also seine Überwindung – von ges­ Unsicherheit über den Zustand des europä­ tern. Nach dem Konzept einer neuen schwarz- ischen und amerikanischen Finanzmarkt­ grünen Hegemonie werden durch die Revo­ kapitalismus geprägt. Eine Stimmung des lutionierung der stofflich-energetischen Basis panischen Kontrollverlustes hat sich tief in des Kapitalismus gleichsam als angenehme, alle Wirtschaftsakteure eingegraben. Das automatische, normale Nebeneffekte zugleich flexibel-entsetzte Überbordwerfen der neolibe­ seine sozialökonomische Form oder sein ralen Gewissheitsrhetoriken und Politikpraxen politikökonomischer Charakter umgewälzt. seit 2008 hat nur kurzfristig die Machtgewiss­ Wird der Kapitalismus grün, sind nach der heiten der alten Eliten stabilisiert. Eine neue neuen großen Erzählung auch als erfreuliche Explosion des privaten Reichtums, Staatsdiszi­ Folgen und Nebenwirkungen seine sozialen plinierung und grassierende Verunsicherung Widersprüche und Konflikte, die Ausbeutung der Kultur der Macht gehen zusammen. und seine Ratio der Kapitalakkumulation ir­ Die Situation ist auch gezeichnet von gendwie verschwunden. Es ist frappierend, wie einem strategischen Aufbau des schwarz- rasch die Begriffe »Finanzmarktkapitalismus« grünen Post-Fukushima-Atomkonsenses und oder »Neoliberalismus« aus dem Sprachschatz einer neuen Dynamik des Übergangs in einen der Grünhegemonialisten verschwinden. Was postnuklearen und postfossilen, grünkapitalis­ bleibt, ist der grüne Wohlfühlkapitalismus. Da tischen Akkumulationspfad (»Energiewende«). ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis das Wort Ob er das Potenzial entwickeln kann, das »Kapitalismus« auch dahin ist. Und der politi­

luxemburg | 3/2011 135 linke strategien

LUX_1103_03.indb 135 01.09.11 16:49 sche Nebeneffekt ist ebenso vielversprechend: Ausgangspunkt der Arbeit der Ethikkom­ Eine linke Formation ist in einer grünen mission war der fehlende Konsens über die Wohlfühlwelt überflüssiger denn je. Die paar Risikoqualität der Nuklearenergie. Das sozialen Krisenherde soll die SPD austreten – Kunststück des Brückenschlags (»Brücke der das wird sie ja wohl noch schaffen. Vieles Verständigung«) zwischen den »unvereinba­ spricht dafür, dass in der Auseinandersetzung ren« Positionen leistete eine Verschiebung um die strategischen Konsequenzen aus der ins Pragmatische: Da risikoärmere und zudem tiefen Krise des Neoliberalismus hierzulande bereits verbreitete, populäre und mächtige, also jene in die Vorhand kommen, die auf eine praktikablere Alternativen vorliegen, ist der grüne Variante des Kapitalismus setzen. Das Umbau zu einer risikoärmeren Welt machbar ist ein strategisches Ereignis, das langfristig (»strategisches Projekt«). Alternativen müssen wirksam sein kann. wünschbar, durchführbar und erreichbar sein. Es muss ein hoher Handlungsdruck vorliegen, Transformation der sich in ein hohes Mobilisierungspotenzial Es gibt eine neue Debatte um die »Transfor­ umsetzen kann. Die Veränderungen müssen in mation« des Gegenwartskapitalismus. Im kleine Projekte und Zwischenschritte zerlegbar Juni 2011 legte der Wissenschaftliche Beirat für sein, die man als sich verstärkende Prozesse Globale Umweltveränderungen (WBGU) der denken können muss, die immer schwerer Bundesregierung ein 420 Seiten starkes Gut­ rückgängig gemacht werden können und achten vor: »Welt im Wandel – Gesellschaftsver- insofern so etwas wie einen Kipppunkt kennen. trag für eine Große Transformation«. In seiner Die langfristige Stabilisierung des Konsen­ weitreichenden strategischen Veränderungs­ ses soll durch Mobilisierung der Konsumen­ perspektive geht es um eine Transformation ten- und Bürgerbeteiligung geschehen, von des vor über 200 Jahren entstandenen Typus Produzenten- oder Wirtschaftsdemokratie des Industriekapitalismus. Sie will den Kapita­ dagegen ist nirgends die Rede. Ein Transitions- lismus verändern – halb: sein Industrialismus Management soll gesonderte Institutionen und und dessen energetische Basis sollen im Kern Verfahren aufbauen (Governance, Monitoring, stehen, nicht seine politische Ökonomie. Die Prüfkriterien, Diskurspolitik), die Prozess- und Linke ist Expertin, was die andere Hälfte Zielkonflikte bearbeiten. Der Bericht betont angeht. Sie spricht vom ganzen Kapitalismus. materiell-stoffliche bzw. energetische und Ein zweites Schlüsseldokument ist der institutionelle (demokratische) Momente der Bericht »Deutschlands Energiewende – Ein Transformation und – in erster Linie – Transi­ Gemeinschaftswerk für die Zukunft« der »Ethik- tion, klammert aber weiterreichende Aspekte Kommission Sichere Energieversorgung« vom (Gleichheit, Verteilung, Daseinsvorsorge, 30. Mai 2011. Will man etwas wissen darüber, Stärkung des Öffentlichen) weitgehend aus. Die wie die politische Technik und Methodik soziale Grundfrage, von wem zukünftig die er­ hegemonialer reformkapitalistischer Transfor­ neuerbare Energie zu welchen Zwecken genutzt mationspolitik aussieht, wird man hier fündig. werden sollte, wird nur deklaratorisch erwähnt,

136 luxemburg | 3/2011 Linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 136 01.09.11 16:49 aber nicht bearbeitet. Er geht von einem Kapitalismus, dessen innerste Natur der Prozess »nachhaltigen«, bestandsfähigen (und ökolo­ der Akkumulation von Kapital, Extension und gisch nicht kontraproduktiven) Akkumulations-, Expansion, Wachstum und Grenzüberschrei­ Wachstums- und Exportmodell des deutschen tungen ohne Maß und innere Selbstbegrenzung Kapitalismus aus. Mit der angestrebten Wende ist. Wachstum ist hier begleitet von Überschuss­ in der stofflichen Akkumulationsdynamik des kapazitäten, Rohstoffverschwendung, raschem Kapitalismus würden das stoffliche Risikopro­ Verschleiß fixen Kapitals, extremen regionalen blem und das ökonomische Überakkumulati­ Ungleichgewichten und wachsenden negativen, onsproblem gelöst – er verspricht also Krisenlö­ sozialen und ökologischen Externalitäten. Von sung und kapitalistische Kontinuität, ohne dass Beginn an kommen beide Transformationen die Eigentumsfrage zum Thema wird. nicht zusammen. Ohne die Linke wird ein grüner Kapitalis­ Trennung mus einem Nachhaltigkeitstypus folgen, der In der Kultur dieser reformkapitalistischen Ungleichheitsverhältnisse beibehält oder sogar Großprojekte der Transformation gibt es ausweitet, lange Depressionen produziert und somit Stichworte zur Strategie und Taktik, zur finanzmarktgetrieben gegenüber den Zuständen Methodologie der Transformationspolitik: Kon­ des Stoffwechsels mit der Natur gleichgültiger sensbildung durch Pragmatismus, Sicherung ist als jemals in der Kapitalismusgeschichte. von Krisenfestigkeit, Kontinuität und Erreichen Etabliert sich eine grüne Hegemonie, dann ver­ eines Kipppunktes (Bruch und Übergang zur ändert sich die soziale Frage mit. Sie begegnet relativen Irreversibilität einer Veränderung), uns dann in dreierlei Gestalt: erstens die unmit­ Transitionsmanagement (Regulierung, Monito­ telbar in den materiellen Widersprüchen von ring, Machtverschiebung), konkrete Utopie. Es Kapital und Arbeit verankerte klassische soziale gibt zudem eine dramatische, weitgespannte, Frage; zweitens die in Form der Schuldenbrem­ ja epochale Zielsetzung, die sich mit vielen se und Skelettierungen der Haushalte und des linksreformistischen Ambitionen problemlos Steuerstaates krass schrumpfende materielle messen kann. Es gibt zugleich eine fundamenta­ Basis des Öffentlichen und der Sozial­transfers, le Schwäche, welche die Linke teilt – das Fehlen die in allen entwickelten Industriestaaten ein der strategischen und politischen Antwort auf Reproduktionszentrum der sozialen, politischen, die Frage, wie wir eine zukunftsfähige Entwick­ kulturellen und wissenschaftlichen Linken ist. lung ohne Wachstum erreichen. Genau hier Und drittens geht es um die soziale Gestalt der trennen sich aber endgültig die Wege zwischen Umwälzung des Stoffwechsels mit der Natur. einem grünen Sozialismus, der Abschied vom immerwährenden Wachstum nehmen Grüner Sozialismus kann und muss, weil ohne die Unterordnung Strategische Politik muss sich auf diesen lang­ der gesellschaftlichen Entwicklung unter die fristigen Veränderungsprozess und seine Kräf­ Reproduktion der Natur keine solidarische tekonstellationen einstellen. Sicher: die Linke Nachhaltigkeit möglich ist, und einem grünen ist keine Spezialistin für die kleine grüne Frage,

luxemburg | 3/2011 137 linke strategien

LUX_1103_03.indb 137 01.09.11 16:49 das sind die Grünen. Aber ihnen das überlassen Entnennung offensiv entgegenzutreten und und sich recht arbeitsteilig gleichsam auf die durch die Formulierung des Gegensatzes subalterne Rolle der Sozialabbauabfederer in die spezifische – eben kapitalistische – syste­ einer grün-kapitalistischen Hegemoniekonstel­ mische Qualität der schwarz-grünen Gesell­ lation einlassen, wie das jüngst die Redaktion schaftszukunft sichtbar zu machen. des »Prager Frühling« vorgeschlagen hat? Ist Theoriepolitisch heißt die Rede vom das nicht eine recht pessimistische Orientie­ grünen Sozialismus eindeutig, mit einer rung? »Pessimism is easy, optimism makes work.« linken Tradition der Naturvergessenheit, der (Erik Olin Wright) Es geht um die große grüne Gebrauchswertignoranz und des Fossilismus Frage, um den grünen Sozialismus. zu brechen und die sich zuspitzende, radikale Wer die Debatten in der bundesdeutschen Krise eines maßlosen Stoffwechsels mit der Linken verfolgte, wird sich daran erinnern, wie Natur anzuerkennen, die der Kapitalismus in schwer es war, sich mit den Begriffen »demo­ die Welt setzte. kratischer Sozialismus« oder »pluraler« bzw. Politisch offensiv endlich ist die Rede vom »pluralistischer Sozialismus« anzufreunden. grünen Sozialismus, weil damit der Ausschluss Sie waren liberalismus- und sozialdemo­ aus dem politischen Spielfeld erschwert wird. kratisch durchdrungene Abgrenzungs- und Sie zielt deutlich auf etwas anderes als die Legitimationsbegriffe, die nie mit Enthusias­ Rede vom »sozialökologischen Umbau«, die mus und fast immer aus bitteren Erfahrungen mittlerweile jede politische Richtung pflegt. eine dann eben richtige Differenz gegenüber Statt also die Sache Grün den Spezialisten monolithischen oder totalen, politizistischen für eine halbierte grüne Frage zu überlassen, Sozialismusvorstellungen aufmachten. Warum muss die Linke einen dreifachen Kampf sprechen wir nicht vom grünen Sozialismus führen. Es geht erstens um einen gerechten – ein Begriff, der diskurspolitisch effektvoll, Übergang, die just transition in einen öko­ theoretisch voraussetzungsvoll und politisch kapitalistischen Entwicklungspfad, der die offensiv ist (oder sein kann)? Als in den 90er dauerhafte Auseinandersetzung mit der noch Jahren der reale, neoliberale Kapitalismus lange dominierenden nuklearfossilen For­ mitsamt dem Begriff »Kapitalismus« trium­ mation einschließt; es geht zweitens um den phierte, hat er den Alternativ- und Zukunftsbe­ Kampf um seine ökologische, demokratische, griff »Sozialismus« gleichsam in die Welt des soziale und solidarische Ausgestaltung, und es Unaussprechlichen gedrängt. Er überwinterte geht drittens zugleich um seine sozialistische in ein paar Parteiprogrammen, Biografien und Transformation in einen grünen und demo- Allensbach-Umfragen. Heute zeigt die Rede kratischen Sozialismus. Vor allem in einigen vom Sozialismus, dass wir im Kapitalismus Bundesländern wie Thüringen, Brandenburg leben – auch wenn er (wie auch immer) grünt. oder Baden-Württemberg und anderen ist »die Heute vom grünen Sozialismus zu reden, Verbindung von sozialer Frage und sozialöko­ heißt diskurspolitisch der neuen hegemonialen logischem Umbau« zunehmend Programm Entsorgung des Kapitalismusbegriffs durch und Politik der Linkspartei.

138 luxemburg | 3/2011 blockaden

LUX_1103_03.indb 138 01.09.11 16:49 flickr/ nothing, Island 2010

LUX_1103_03.indb 139 01.09.11 16:49 Wann kann man sagen,…

dass Die Linke existiert und mit normalen Mitteln

nicht mehr zerstört werden kann?

Christoph Spehr Im 14. Heft der Gefängnishefte schreibt Grams- ci unter dem Titel Machiavelli. Wann kann man sagen, dass sich eine Partei herausgebildet hat und mit normalen Mitteln nicht mehr vernichtet werden kann? (Gef. 7, 1695ff). Es geht ihm um die Phase, wenn die Existenz einer Partei noch nicht »zwingend« geworden ist, sondern »zum großen Teil von der Existenz von Personen mit außerordentlicher Willenskraft und außeror- dentlichem Willen abhängt«, die Phase, wenn noch nicht gesichert ist, dass die Partei auf Dau- er besteht und dass sie ihre Kernanliegen, ihre Antwort auf die großen Probleme, irgendwann dem »Staat« einschreiben wird, so oder so. Gramsci nennt drei Gruppen, die eine Partei braucht, damit ihre Existenz halbwegs gesichert ist: Auf der einen Seite steht die zahlenmäßig größte Gruppe der Mitglieder und Anhänger der Partei – jene, die sich auf sie beziehen und die sie unmittelbar erreicht, die aber keine besondere Verantwortung in der und für die Partei übernehmen. Die Basis im klassischen Sinn, innerhalb und außerhalb

140 luxemburg | 3/2011 Linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 140 01.09.11 16:49 der Partei. Über diese Schicht ist Partei mit der Diese Gruppe, so Gramsci, ist die entschei- Wann Gesellschaft und ihren Klassen und Schichten dende. Wenn sie existiert, existiert die Partei verbunden, wird durch sie von der sozialen dauerhaft. Diese »Zwischenschicht« ist notfalls Wirklichkeit erreicht und hat an ihr teil. in der Lage, neues Führungspersonal hervor- kann man sagen,… Auf der anderen Seite sieht Gramsci die zubringen, so wie sie in der Lage ist, Anhänger zahlenmäßig geringe Gruppe der nationalen zu werben und Mitglieder zu gewinnen, aber Führungsfiguren der Partei. Es sind die big sie selbst kann nur schwer von den anderen dass Die Linke existiert und mit normalen Mitteln guns der Partei, ihre »Heerführer«, die »auf beiden Gruppen produziert werden, wenn sie nationalem Gebiet zentralisierend« wirken ausfällt. Auf diese Schicht richten sich daher nicht mehr zerstört werden kann? und »ein Ganzes von Kräften wirksam und auch alle Versuche, die Partei mit unnorma- mächtig werden« lassen, das ohne dieses len, außerordentlichen Mitteln zu zerstören: Zusammenwirken wenig ausrichten könnte. Verhaftung, Berufsverbote, Terror. Wenn In seinem Referat benennt Gramsci konkret, diese Zwischenschicht existiert und lebendig dass diese Schicht »gewöhnlich aus Parlamen- zusammenarbeitet, kann die Partei dagegen tariern und oft eng an die herrschende Klasse mit »normalen Mitteln« nicht zerstört werden. gebundenen Intellektuellen besteht«. Es sind Sie wird Krisen, Wahlniederlagen, strategische die Schlachtschiffe der Partei, die sie in die Sackgassen, regionale Spaltungen, inhaltliche nationale Auseinandersetzung schickt, da wo Spannungen und ökonomischen Druck aushal- Sichtbarkeit und Öffentlichkeit hergestellt wird. ten und überwinden können, denn sie besitzt Und dann gibt es ein »mittleres« Element, ein »Ferment«, aus dem heraus sie bilden eine »Zwischenschicht«, die »in der aktuel- kann, was sie braucht. Diese »zweite Gruppe« len Situation eine noch größere Bedeutung entsteht, weil sich »die eiserne Überzeugung hat, als sie in normalen Zeiten hätte«. Es ist gebildet [hat], dass eine bestimmte Lösung der diejenige Personengruppe, welche die Schicht lebenswichtigen Probleme nötig ist«. Weil sich der Anhänger und Mitglieder mit der Schicht ihre Mitglieder darüber im Klaren sind, dass sie der big guns »verbindet«, die beiden anderen die Partei brauchen, um ihre in tiefem Sinn po- Elemente »nicht nur in physische, sondern litischen, gesellschaftlichen Ziele zu erreichen. moralische und intellektuelle Berührung bringt«. Es sei »häufig die einzige aktive und Die LINKE: big guns, Mitglieder, politisch lebendige Schicht dieser Partei«. Sie ­Ehrenamtliche spürt die Probleme der Partei, ebenso ihre Aus der Erfahrung von Die Linke ist Gramscis Chancen, sie gestaltet ihren Alltag und stellt Schichtenmodell unmittelbar einleuchtend in der Praxis fest, was von der derzeitigen Ori- und anschaulich. Auch in Der Linken besteht entierung funktioniert und was nicht. Es ist die Gruppe der big guns ausschließlich aus »diese Zwischenschicht, die die Verbindung Parlamentariern. Es sind die Mitglieder des ge- zwischen der obersten Führungsgruppe und schäftsführenden Parteivorstands, der Bundes- den Massen der Partei und der von der Partei tagsfraktion und der Vorstände der Landtags- beeinflussten Bevölkerung aufrecht erhält«. fraktionen, in weiterem Sinne überhaupt ihre

luxemburg | 3/2011 141 linke strategien

LUX_1103_03.indb 141 01.09.11 16:49 Parlamentarier ab der Landesebene aufwärts. Budget, Öffentlichkeit – nicht für die Arbeit der Es sind die einzigen »Berufsrevolutionäre«, die Partei nach außen zu verwenden, sondern sie sich die Partei leistet, gerade weil sie sich diese statt dessen nach innen zu richten, damit sich Gruppe nicht selbst aus ihrem Etat leisten der Wille der Partei so und genau so bildet, wie muss. Auch in Der Linken steht diese Gruppe es ihren eigenen Vorstellungen und inner- für die Aufgaben des Parteiaufbaus und des parteilichen machtpolitischen Zielsetzungen »lebendigen« Parteiprozesses meist nur sehr entspricht. Es ist eine Frage der Erziehung eingeschränkt zur Verfügung, einfach weil durch die »Zwischenschicht«, durch die diese Gruppe mit anderen Dingen beschäftigt Gruppe der überdurchschnittlich Aktiven und ist. Den Alltag der Partei können sie nicht der ehrenamtlichen Funktionäre der Partei, ob tragen, die Verbindung zur breiten Schicht die big guns sich daran gewöhnen, dass sie das der Mitglieder und der Anhänger nicht selbst nicht dürfen und dass sich der Versuch nicht aufrechterhalten. Sie sind das Aushängeschild auszahlt für sie. Die Basis, die breite Schicht der Partei, sie haben Zugang zu den Ressour- der Mitglieder und Anhänger, kann diesen cen Personal, Budget und Öffentlichkeit. Versuch nicht zurückweisen. Sie ist zu wenig in Auf die personelle Zusammensetzung das Innere der Partei involviert und engagiert, dieser Gruppe richten sich letztlich alle um sich vor den Manipulationen zu schützen, Machtkämpfe in der Partei. Denn während die sich mit großen Ressourcen bewegen lassen. das Papier der Parteitagsbeschlüsse geduldig Daher hängt diese Zivilisierung und Erziehung ist, setzt diese Gruppe durch ihr konkretes von der Zwischenschicht ab, die sich jenseits Handeln und ihre unvergleichlichen Ressour- aller inhaltlichen Differenzen und Debatten cen unmittelbar Politik. Was die Mitglieder einig sein muss, dass der »lebendige Prozess« dieser Gruppe in der Öffentlichkeit tun, der Partei eigenständig bleiben muss und nicht bestimmt, wie die Partei wahrgenommen einseitig von den Bedürfnissen und Interessen wird, welche Kraft sie im Verhältnis zu den der big guns getaktet werden darf. Wenn das anderen politischen Kräften ausstrahlt, ob sie passiert, stirbt dieser lebendige Prozess ab. glaubwürdig wirkt und politische Intelligenz Dann werden keine Orientierungen mehr ausstrahlt. Sie machen nicht die Gestalt der entwickelt, sondern nur noch Waffen in der in- Partei – das machen diejenigen, die mobilisie- nerparteilichen Auseinandersetzung. Die Partei ren, demonstrieren, intervenieren, integrieren, ist kein Instrument der gegenseitigen Aufklä- also die gemeinsame Aktivität der Mitglieder, rung, Ermächtigung und Selbstveränderung Anhänger und Aktiven. Aber sie machen mehr, sondern nur noch ein Wahlverein. Wenn das Bild der Partei, und niemand kann es an der »lebendige Prozess« abstirbt, stirbt mit ihnen vorbei korrigieren, niemand erfolgreich ihm auch die »Zwischenschicht« ab, von deren versichern, »so sind wir gar nicht«. Existenz die langfristige Existenz der Partei Es ist eine Frage der politischen Kultur, abhängt. Einfach, weil sie keine Lust mehr hat, diese Gruppe der big guns (allesamt Parlamen- weil der persönliche Aufwand, sich genau hier tarier), ihre speziellen Ressourcen – Personal, zu engagieren, nicht mehr zu rechtfertigen ist.

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LUX_1103_03.indb 142 01.09.11 16:49 Oben: »You’ve fucked us«, Studierenden­proteste, West­minster 2010 Unten: Brian Haw kampiert seit den Anti-Kriegs-Protesten 2001 vor dem Parlaments­gebäude in London. Beide Bilder: Flickr/bobalicious-london,

LUX_1103_03.indb 143 01.09.11 16:49 Wo stehen wir? Die Erschöpfung schaftlichen Mainstream liegt). Dass die Partei der »Zwischenschicht« kein Werbefeldzug für ein Produkt ist, das man Die Linke befindet sich grundsätzlich in einer gegebenenfalls dem Markt anpasst, sondern Phase, wo ihre langfristige Existenz noch selbst eine »große Produktion«, wie Brecht sagt, nicht gesichert ist, wo sie noch mit »norma- der man kein industrielles Korsett aufzwingen len« Mitteln zerstört werden, an »normalen« kann. Diese fünf Punkte sind das Minimum an Problemen scheitern kann. Die aktuelle Situ- struktureller Zivilisierung der »Oberschicht« ation ist von der Gefahr bestimmt, dass die und an innerparteilicher Solidarität, das von Machtkämpfe zwischen den big guns auf eine einer selbstbewussten »Zwischenschicht« ein- Weise ausgetragen werden, die die »Zwischen- gefordert und durchgesetzt werden muss, um schicht« zerstört. Man merkt das daran, dass den Bestand der Partei zu sichern. Und schön ALLE Mitglieder dieser Zwischenschicht – die wäre es, wenn ihre Leitungsstrukturen sie dabei Aktiven und Ehrenamtlichen, die mehr Ver- unterstützen würden. antwortung übernehmen als durchschnittliche Stattdessen dominiert teilweise die Mitgliedschaft – sich derzeit regelmäßig die Haltung, ein fundamentaler innerpartei- Frage stellen: Wie lange gibt es uns noch, und licher Sieg, eine Korrektur der Positionen, wie lange bin ich noch dabei? der personellen Besetzungen oder gar eine Es wäre verkürzt, das als Schuldzuweisung »Bereinigung« durch Austritte würde zur Sta- »nach oben« zu lesen. Es ist genauso die bilisierung der Partei beitragen, weil sich dann »Schuld« der Zwischenschicht der Aktiven die »richtige« Strategie durchsetzt. Dabei und Ehrenamtlichen, die diese Machtkämpfe gibt es gute Gründe dafür, warum sich keine reproduziert, teilweise sogar fordert, anstatt sie der von verschiedenen Gruppen als »richtig« zu begrenzen und in die Schranken zu weisen. angesehenen Strategien mit »normalen«, also Entscheidend für das Schicksal der Partei ist, diskursiven Mitteln durchsetzt. dass die Zwischenschicht bei all ihren inhaltli- Beide bislang gebräuchlichen Haupt-Stra- chen und strategischen Differenzen untereinan- tegien sind erschöpft und überholungsbedürf- der, die sie hat, ein gemeinsames strukturelles tig. Das gilt für die West-Strategie, schnelles Interesse verteidigt: Dass Machtkämpfe nicht Parteiwachstum zu erreichen, indem man auf ihrem Rücken ausgetragen werden. Dass sich alleine auf die Ausbeutung der Schwäche Beschlüsse der Partei autonom und bindend der SPD konzentriert (und sich der sozialde- sind. Dass Parlamentarier an ihrem politischen mokratischen Anhängerschaft als Instrument Output gemessen und nicht dafür belohnt wer- anbietet, die SPD zu bestrafen und dadurch den, dass sie mit ihren spezifischen Ressourcen auf deren Kurs Einfluss zu nehmen). Es gilt die innerparteiliche Willensbildung manipulie- genauso für die Ost-Strategie, gesellschaftli- ren. Dass Positionen und Arbeit der Partei nicht che Anerkennung zu erreichen, gerade indem vollständig davon abhängig gemacht werden, man die inhaltliche Nähe zu den etablierten was in »den Medien« gut kommt (und es Parteien betont (und sich dadurch großen kommt immer das gut, was näher am gesell- Teilen der Wählerschaft als Instrument anbie-

144 luxemburg | 3/2011 Linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 144 01.09.11 16:49 tet, das Stigma des unterlegenen deutschen die Bundesebene sich um die Beendigung Teilstaats und der eigenen »falschen« Ver- des Zustands kümmert, dass in unzähligen gangenheit abzuarbeiten). Es wird Zeit, beide Bereichen fünf Jahre nach der Fusion keine Strategien als gefährlich zu erkennen, weil sie geklärten oder konsistenten Verfahren, Regeln letztlich auf »fremden Interessen« basieren, und Alltagsprozesse existieren. Dazu gehört, die auf Dauer nicht ausreichen, das Überleben dass der konstitutive Kompromiss bezüglich der Partei zu sichern. der Trennung von Amt und Mandat – »keine vollständige, aber eine substanzielle Tren- Für ein Programm zur Stärkung nung« – umgesetzt wird: Eine Parteiführung, der Zwischenschicht die nur aus Abgeordneten besteht, kann die Was die Partei mindestens so dringend Eigenständigkeit der Partei nicht gewährleis- braucht wie ein Grundsatzprogramm, ist ein ten. Und dazu gehört, dass die Ressourcen der Programm zur gezielten Stärkung der Zwi- Partei und der Fraktionen stärker daraufhin schenschicht. Dazu gehören zwei Dinge. Zum umorganisiert werden, die Zwischenschicht einen muss man die »mittlere« Gruppe darü- der Partei zu stärken und zu entlasten. Eine ber diskutieren lassen, wie es weitergeht und nahezu komplett ehrenamtliche Partei, die wie die Probleme gelöst werden können. Aktu- kaum Einfluss darauf hat, wie der parlamenta- ell gibt es in der Partei gar keine Vorstellung rische Arm seine ungleich größeren Ressour- davon, was eine Strategiedebatte überhaupt cen einsetzt, ist kein zukunftsfähiges Modell. ist – das wurde auch bei der Strategiekonfe- Es gilt in der aktuellen Situation der renz der Landesverbände in Potsdam deutlich. Partei als »unpolitisch«, so etwas zu fordern. Eine breit geführte Strategiedebatte würde Aber es ist das Politischste, was eine Partei die Partei stärken, denn ihre strategischen tun kann, die Regeln und Strukturen ihrer Ko- Probleme sind auch Probleme der gesamten operation zu klären. Die Apparat-bezogenen Linken in einer sich verändernden politischen Entscheidungen, die von den einen als »das Gesamtsituation. Dafür braucht die Zwischen- macht man so wie jede ordentliche Partei« schicht organisatorische Unterstützung und verteidigt und von den anderen als »büro- die nötigen Ressourcen. Strategiedebatten kratisches« Thema geringgeschätzt werden, sind eine eigenständige Anstrengung, die in den Raum der politischen Bewertung, organisiert werden muss. Zum anderen muss demokratischen Infragestellung und bewuss- man die »mittlere« Gruppe entlasten. Dazu ten Entscheidung zurückzuholen, ist eine gehört eine Entspannungspolitik zwischen entscheidende Aufgabe in der derzeitigen Pha- den machtpolitischen Großlagern in der Par- se. Weil, wie Gramsci zu Recht ausführt: Wer tei, denn die machtpolitischen Konflikte auf seine Zwischenschicht endgültig verschlissen der Bundesebene schlagen sich in unzähligen hat, kann den Laden dicht machen. Fernbeben und einer kaum zu beherrschen- den Kultur des Misstrauens und der Gra- Literatur Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Hg. v. WF. Haug, Klaus benkriege vor Ort nieder. Dazu gehört, dass Bochmann und Peter Jehle, Hamburg 1996

luxemburg | 3/2011 145 linke strategien

LUX_1103_03.indb 145 01.09.11 16:49 Kapitalismus aufbrechen oder den Staat zurückfordern?

John Holloway John Holloway Kapitalismus ist eine Katastrophe für die UND Hilary Wainwright Menschheit. Das ist so einfach, so offen- sichtlich, dass es kaum wert scheint, es zu debattieren über Strategien wiederholen – und doch ist es wichtig, es für Transformation immer wieder zu sagen: Kapitalismus ist eine Katastrophe für die Menschheit. Die Art und Weise, wie unsere sozialen Beziehungen organisiert und wie mensch- liche Tätigkeiten miteinander verbunden sind, produziert eine Dynamik, die niemand kontrolliert, die Ungerechtigkeit, Gewalt und Erniedrigung hervorbringt und nun droht, menschliches Leben gänzlich zu zerstören. In deinem Buch zitierst du Walden Bello, der sagt: »Neoliberalismus ist wie der Lokfüh- rer, der in einem alten Westernfilm erschossen wird und mit der Hand am Beschleunigungs- hebel stirbt. Er ist tot, aber beschleunigt unaufhaltsam weiter bis zur totalen Katastro- phe für die Passagiere.« Aber es ist nicht nur der Neoliberalismus: Der Kapitalismus ist das Problem, ein System, in dem die sozialen

146 luxemburg | 3/2011 linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 146 01.09.11 16:49 Beziehungen auf Geld gründen und treibende Im Rave verbirgt sich ein Schrei nach Verwei- Kapitalismus Kraft die Jagd nach mehr Geld und Profit ist. gerung: ein Einschlagen von Fenstern, ein Wie können wir den Zug anhalten und Laufen in die Gegenrichtung, die Herstellung aussteigen? Wie können wir die Dynamik der von sozialen Beziehungen auf einer anderen aufbrechen oder kapitalistischen Entwicklung durchbrechen, Basis als Geld. Ich nenne das einen »Bruch« die uns dem Abgrund entgegen treibt? Das ist in den kapitalistischen sozialen Beziehungen: das Problem. Das ist die Frage aller Antikapi- ein bewusstes oder nicht so bewusstes Nicht- den Staat talisten, Kommunisten, Sozialisten, Anarchis- Einpassen, ein Verneinen-und-Schaffen, eine ten, aller Menschen, wie auch immer wir uns Verweigerung, mit dem kapitalistischen Strom nennen wollen. zu schwimmen, und ein Versuch, das Leben auf zurückfordern? Dein Buch handelt von Demokratie. Um einer anderen Basis hier und jetzt aufzubauen. die Hand des Fahrers zu lösen, müssen wir Im Rave gibt es einen Widerspruch zwi- den Kapitalismus – die derzeitige Organisa- schen Reinpassen und Nicht-Reinpassen: eine tion menschlicher Tätigkeit – herausfordern; Spannung zwischen »Lasst uns die Jugendli- aber in deiner Auseinandersetzung mit chen von den Straßen holen und dafür sorgen, Demokratie wird Kapitalismus so gut wie dass sie eine gute Nacht haben«, und »Lasst nicht erwähnt. uns gegen eine Welt auflehnen, in der das Ich sehe deine Protagonisten-Passagiere Realitätsprinzip identisch mit Geld ist«. Wie in einem anderen Licht. Meiner Ansicht nach verhalten wir uns zu dieser Spannung? Auf organisieren sie sich nicht nur, um die ­Qualität wessen Seite sind wir? ihres Sitzplatzes im Zug zu verbessern. Sie In deinen vielen Beispielen wird deutlich, schlagen gegen die Fenster und schreien, um dass der Staat in allen Fällen ein Prozess ist auszusteigen oder rennen vielleicht alle in die (manchmal mehr, manchmal weniger reak- Gegenrichtung in der Hoffnung, dass sie den tionsfähig), der diese Situationen aufnimmt Zug dazu bringen können, umzukehren. und in das herrschende System einfügt. Es Du sprichst beispielsweise vom Exodus geht nicht nur darum, Zugeständnisse zu Kollektiv in Luton, das begann, kostenlose machen, sondern die Leute in einen Prozess Raves in der Marsh‑Farm‑Siedlung zu organi- des Entscheidung-Treffens zu bringen. Die, sieren und mit der Zeit in einen mühsamen die zuvor ausgeschlossen waren, werden Bewerbungs- und Administrationsprozess miteinbezogen. Der Staat wird demokratisiert; hineingezogen wurde. Schließlich hatte es eine der Staat wird von den Menschen zurück- New-Deal-Subvention in Höhe von 50 Millio- gefordert. Die, die zuvor Objekte der Politik nen Pfund für Gemeinden zu verwalten, was waren, werden zu Subjekten. der Entwicklung der Siedlung dienen sollte. Dennoch sind die Subjekte, die aus dem Dies führte, wie du sagst, zu wirklichen Prozess, den du beschreibst, hervorgehen, Verbesserungen. Aber steckt in den Raves sehr begrenzt in ihrer Subjektivität. Sie nicht etwas mehr als lediglich der Versuch, das werden bestenfalls Subjekte der Politik, aber Leben im Kapitalismus zu verbessern? nicht Subjekte gesellschaftlicher Entschei-

luxemburg | 3/2011 147 linke strategien

LUX_1103_03.indb 147 01.09.11 16:49 dung. Die Politiken, die sie beeinflussen ein besseres »Reinpassen« in die Strukturen dürfen, verorten sich im unhinterfragten und des Kapitalismus sind, sondern ihr Potenzial unhinterfragbaren Kontext des Kapitalismus, für einen Ausbruch des Nicht-Reinpassens. im privaten Besitz und Profit und allem, was In eine Gesellschaft des Todes zu passen, damit einhergeht. bedeutet selbst zu sterben. Lasst uns »nicht Du magst dies als einen ersten Schritt zu reinpassen« und in unserem Nicht-Reinpassen einer vollständig emanzipierten Subjektivität wachsen und zusammenkommen. Das ist deuten, zu einem wirklichen Gestalten der sicherlich der einzige Weg, auf dem wir die Gesellschaft von unten. Das könnte sein, Frage danach stellen können, wie wir diese Welt wenn solche Versuche der Demokratisierung aufbrechen und eine andere schaffen können. als Teil einer Bewegung im-gegen-und-über- Wut jetzt, Wut gegen die Herrschaft des den-Kapitalismus-hinaus interpretiert würden, Geldes! in der die Frage nach dem Bruch zentral ist. Aber ich finde in deiner Darstellung keinen Hilary Wainwright Hinweis, dass es so sein könnte. Inspiriert von deinem Buch »Kapitalismus Am Ende des Buches habe ich das Gefühl, aufbrechen« kann ich sagen: Wir teilen den überlistet worden zu sein: Sicher, die Dinge gleichen Ausgangspunkt, unterscheiden uns können verbessert werden, aber in deinem aber in den Herausforderungen, die sich von Buch scheint niemand zu denken, dass eine der Praxis aus stellen. Ich teile den Sinn für andere Welt möglich ist, eine Welt ohne die Gefahren, mit denen wir konfrontiert sind, staatliche Subventionen und Bürokraten, ohne und sehe wie du Brüche, die weiter aufbre- Geld und Profit, ohne Kapital. chen. Ich stimme ebenfalls zu, dass wir Wege Mein Argument ist genau das Gegenteil. finden müssen, unsere gemeinsamen Kräfte Ich denke, dass es eine tiefe und wachsende zu bündeln, wenn wir die Brüche öffnen und Wut gegen die Herrschaft des Geldes gibt. Die erweitern wollen. Diese Kräfte setzen weder Wut drückt sich nicht nur auf den Straßen aus, ein Zentrum noch eine totalisierende Vision sondern artikuliert sich in den unzähligen voraus, sondern berücksichtigen die Multipli- Weisen, auf die Menschen sich weigern, jeden zität der verschiedenen Kämpfe und Versuche Aspekt ihres Lebens vom Geld bestimmen zu der Veränderung. Auf Grundlage unserer lassen, und versuchen, andere Wege, andere Übereinstimmung widerspreche ich: Weisen des Zusammenseins und des Denkens Durch das Buch zieht sich die Frage: Gibt zu finden. es einen Weg, den globalen Kapitalismus und Diese Revolten, dieses Veweigern-und- die unzähligen Revolten gegen die täglichen Schaffen, sind Brüche in der Logik des kapi- Erniedrigungen zu verstehen; einen Weg, talistischen Gefüges, Risse in der Herrschaft wie wir dieses Dilemma begrifflich fassen des Geldes, Ausbrüche gegen eine Welt der können, der uns hilft, uns anzunähern oder Zerstörung. Das ist die aufregende Seite der zusammenzufinden, um eine andere Welt zu Raves: Nicht dass sie der Anfangspunkt für schaffen?

148 luxemburg | 3/2011 linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 148 01.09.11 16:49 Um diese Frage zu beantworten, müssen wir staatlichen Institutionen ausmachen, die wir zu Marx’ zentraler These zurückgehen, dass erweitern können und müssen, wenn wir Arbeit im Kapitalismus eine doppelte Natur den Kapitalismus aufbrechen wollen – dem hat. Auf der einen Seite ist Arbeit abstrakte scheinst du nicht zuzustimmen. Arbeit, die im Prozess der Warenherstellung Meine Argumentation ist wie folgt: Du für den Markt enthalten ist; objektiviert als hast Recht mit deiner Analyse vom dominan- Wert und ausgedrückt im Warentausch gegen ten Charakter der staatlichen Institutionen Geld, aus dem das Kapital seinen Profit zieht. und ihrer Beziehung zur Gesellschaft: Sie Auf der anderen Seite steht die Dimension der trennen und fragmentieren Wirtschaft von Po- Arbeit, die du »Tätigsein« nennst, die Arbeit, litik, die Versorgung der Gemeinschaft von der die in der Produktion von Gebrauchswert Gemeinschaft, Bürger untereinander und von enthalten ist – konkret und besonders, gesell- ihrem sozialen Kontext. Deine Beschreibung schaftlich und individuell. Im Kapitalismus erfasst aber nur eine, wenn auch die domi- stehen, wie du betonst, die beiden Formen der nante Dimension der Staatsbürgerschaft. Wir Arbeit in ständiger Spannung miteinander: können der vereinzelten und abstrakten Natur Kreative, sinnvolle Tätigkeit wird disziplinier- der Staatsbürgerschaft, welche parlamenta- ter Arbeit zur Profitmaximierung untergeord- rische Institutionen stärkt, das Potenzial von net. Potenziell selbstbestimmte Arbeit steht BürgerInnen als gesellschaftlichen Subjekten entfremdeter entgegen. gegenüberstellen. Diese latente Spannung als Revolte zu Dies zeigte sich historisch an den Kämp- deuten, die die gesamte Gesellschaft durch- fen von besitzlosen männlichen Arbeitern zieht, sei der Antrieb, der den gegenwärtigen und Frauen für das allgemeine Wahlrecht. Ein antikapitalistischen Kämpfen gemeinsam ist. aktuelles Beispiel wären Bewegungen, die Die »Zukunft der Welt« hänge davon ab, »den überall auf der Welt für das Versprechen auf einheitlichen Charakter der Arbeit aufzuspal- politische Gleichheit kämpfen, das eingelöst ten«. Ich stimme damit überein; die Brüche, werden soll, indem enge staatliche Institutio- die wir 1968 mit dem Paternalismus und der nen aufgebrochen werden und die öffentliche Kommerzialisierung der Nachkriegsordnung Macht direkten Formen der Partizipation gemacht haben, werden bestätigt und weiter unterworfen wird; in den politischen Entschei- getrieben. dungen früher die geheime Domäne der Deals Aber ein anderes Thema der 68er war zwischen politischer Elite und Privatwirtschaft. die Revolte gegen die eindimensionale, (Das war der Anstoß für viele Experimente in gewählte Staatsbürgerschaft, die auch in den der partizipativen Demokratie, besonders in heutigen Kämpfen aufgegriffen wird. Deine Lateinamerika.) Weiterentwicklung von Marx’ Analyse der Wir könnten hier von einer Subjektbür- doppelten Natur der Arbeit hat mich inspiriert, gerschaft oder vergesellschafteten Staats- die doppelte Natur der Staatsbürgerschaft bürgerschaft versus einer atomistischen zu analysieren. So lassen sich Brüche in den Staatsbürgerschaft sprechen. Ein Beispiel für

luxemburg | 3/2011 149 linke strategien

LUX_1103_03.indb 149 01.09.11 16:49 diese vergesellschaftete Staatsbürgerschaft Es ist wichtig, zwischen zwei Ebenen ge- wären die Bewegungen, einige Teile der sellschaftlicher Existenz zu unterscheiden: Gewerkschaften eingeschlossen, die sich auf nachhaltige soziale Strukturen auf der einen der ganzen Welt gegen Privatisierung wenden, Seite und soziale Interaktion und Beziehun- oft mit alternativen Vorschlägen, wie Dienst- gen zwischen Individuen auf der anderen. leistungen organisiert werden können, die die Während die traditionelle Linke dazu Vielfalt sozialer Bedürfnisse berücksichtigen. neigte, immer nur in Strukturen zu denken Hier organisieren sich BürgerInnen als und die menschlichen Wesen als Träger oder Subjekte. Sie öffnen den Bruch zwischen der Produkte der sozialen Strukturen zu behan- staatlichen Verwaltung von öffentlichen Gel- deln und so unsere Handlungsmöglichkeiten dern und dem Drang des Kapitals nach neuen als wissende Subjekte vernachlässigte, die Märkten und Profitquellen. In vielen solcher die Strukturen verändern können, verfällst Bewegungen verbindet sich die Durchsetzung du in das andere Extrem und unterstellst nur von Subjektbürgerschaft oder vergesellschaf- Beziehungen, ohne zu berücksichtigen, auf teter Staatsbürgerschaft mit der Revolte gegen welche Weise die Strukturen den Individuen abstrakte Arbeit. sowohl präexistent sind als auch für ihre Die Art und Weise, wie diese Kämpfe Reproduktion von ihnen/uns abhängen. organisiert sind, führt mich zu einem zweiten Du hast ein Gespür dafür, wie wir unsere Einspruch. Dies betrifft deine Absage an Institu- eigene Geschichte machen – da wir es sind, die tionen – deinen offensichtlichen Unwillen, die diese Gesellschaft schaffen, insistierst du darauf, Möglichkeit und Wirklichkeit von Institutionen dass »wir damit aufhören und anders handeln unterschiedlicher Art in Betracht zu ziehen. können«. Aber du berücksichtigst nicht, dass Ich würde gern – wie du – an das Fließen, wir Geschichte nicht »unter selbstgewählten den Tanz, an die Bewegung der Bewegungen Umständen machen«, wie der alte Mann sagte. glauben, weiß aber, dass das Fließen eine stete Quelle braucht und Bedingungen gegeben John Holloway sein müssen, um es auf Dauer zu stellen. Das Deinen Ausführungen zur doppelten Natur der Fließen der Bürgerbewegungen gegen die Pri- Staatsbürgerschaft stimme ich zu und wider- vatisierung öffentlicher Güter beispielsweise spreche dir zugleich. Der Staat im Allgemeinen brauchte den Rückhalt der Gewerkschaft, die ist eine Form von Organisation, die sich über zwei Jahrzehnte früher während der Kämpfe Jahrhunderte entwickelt hat, um auszuschlie- gegen die Diktatur gegründet worden war, wie ßen, zu teilen und zu fragmentieren und die so- ein Aktivist in der Bewegung für staatliche zialen Unzufriedenheiten so zu reformulieren, Wasserversorgung aus Uruguay meinte. Ähn- dass sie mit der kapitalistischen Reproduktion lich ist es mit dem Fließen der Beziehungen vereinbar werden. In diesem allgemeinen Rah- in der Open-Software-Bewegung, das von den men gibt es sicherlich viele, die in die entgegen Rahmenbedingungen abhängt, die die GNU gesetzte Richtung laufen und diese tradierten General Public License1 schuf. Strukturen zu durchbrechen streben, indem

150 luxemburg | 3/2011 linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 150 01.09.11 16:49 sie neue Formen der Organisation und des Lage lässt nicht zu, euch das zu geben, was Handelns schaffen. Viele von uns, die Lehrer wir versprochen haben«. Und dann versuchen in staatlichen Organisationen sind, versuchen wir, uns selbst zu verteidigen, aber natürlich es zum Beispiel so: Wir kämpfen im-gegen- bedeutet Verteidigung, sich innerhalb der und-über-den-Staat-hinaus und versuchen eine staatlichen Logik zu verorten. Der Staat ist die Welt jenseits von Kapitalismus zu öffnen. Für Bewegung von Expansion-und-Kontraktion: mich ist das Teil der Bewegung gegen abstrakte, Den Staat gegen die Kürzungen zu verteidigen, entfremdete Arbeit. Mit deinen Worten: Das ist hat überhaupt keinen Sinn. Kämpfen um zu die Bewegung der »sozialisierten« gegen die handeln (oder für Menschlichkeit oder für »atomisierte« Staatsbürgerschaft. Mein einziges Kommunismus), wo auch immer wir sind, Problem mit dieser Formulierung ist, dass im-gegen-und-über-den-Staat-hinaus, ist der das Wort »Staatsbürgerschaft« den Kampf an antikapitalistische Kampf des täglichen Lebens. den Staat bindet; genau die Form der sozialen Hierbei unterscheide ich zwischen Beziehung, die wir versuchen zu durchbre- einem situativen Kontakt mit dem Staat, bei chen – wir müssen über den Staat hinausgehen dem wir versuchen, über den Staat hinaus und deshalb auch über die Staatsbürgerschaft. zu gehen, weil wir uns schon drinnen Der stetige Kampf im-gegen-und-über- befinden – als Angestellte oder Empfänger den-Staat-hinaus ist zentral in unserem Leben von Stipendien oder Sozialleistungen – und (selbst wenn wir nicht beim Staat angestellt einem ­angestrebten Kontakt mit dem Staat, sind, kommen wir ständig mit ihm in Kon- bei dem wir versuchen, hineinzukommen takt). In diesem Sinne betrachte ich den Staat (als ­gewählte ­RepräsentantInnen) und ihn in wie ein gewaltiges Saugen: Er saugt uns ein unsere ­Richtung zu lenken. und zwingt uns zur Konformität mit einer Im ersten Fall ist der Kampf im-gegen- Gesellschaft, die vom Geld bestimmt ist. Oder und-über-den-Staat-hinaus unausweichlich. vielleicht kann man ihn auch als ein giganti- Im zweiten Fall ist die saugende Kraft sches Fischernetz sehen, das unsere Unzufrie- des Staates so stark, dass wir nicht weit denheiten einfängt und der Logik des Kapitals kommen werden, ohne unsere antikapita- unterordnet. Diese Unterordnung vollzieht listische Perspektive aufzugeben. Als eine sich über: die verwendete Sprache, das Aus- ­»Hit-and-Run«‑Aktion mag dies sinnvoll sein – füllen von Formularen, die unzähligen Arten, als ein Versuch, schnell etwas zu erreichen wie der Staat uns Geld anbietet, wenn wir das, und rasch wieder auszusteigen –, nicht aber was wir wollen, nur auf eine ­bestimmte Weise als ein längerfristiges Unternehmen, bei dem ausdrücken, und die Kürzungen der Ausgaben. schon bald die antikapitalistische Perspektive Die Kürzungen sind nicht gegen den Staat zugunsten der Karriere zurückstehen müsste. gerichtet, sondern notwendig für sein Funk- Zur Frage der Institutionen: Du sagst, tionieren: Er fängt uns ein, indem er uns dass du zwar auch die Bewegung, das Fließen, Ressourcen verspricht, um dann zu sagen: den Tanz magst, wir jedoch ein institutionelles »Entschuldigung, aber die wirtschaftliche Rückgrat brauchen. Vielleicht sind wir jetzt

luxemburg | 3/2011 151 linke strategien

LUX_1103_03.indb 151 01.09.11 16:49 noch Gehbehinderte und brauchen institutio- Zielen wir nicht mit den Formen der Orga- nelle Krücken. Aber richtig Laufen zu lernen nisation und – ich betone – den selbstbe- bedeutet, unsere Krücken wegzuwerfen. Unser stimmten Organisationen, die wir schaffen, Bewegen ist ein anti-institutionelles Bewegen. um Entfremdung in all ihren Ausprägungen Möglicherweise müssen wir auf dem Weg entgegenzutreten, darauf, eine andere Form Institutionen (oder Gewohnheiten) schaffen, der Staatsbürgerschaft zu schaffen? – Eine aber wenn wir diese Institutionen nicht Staatsbürgerschaft, die, wenn wir Menschen untergraben, sobald wir sie schaffen, verkeh- wählen (und wir werden Formen sowohl der ren sie sich leicht in ihr Gegenteil. Das Fließen Repräsentation als auch der Delegation brau- der Rebellion ist ein Bewegen, das niemand chen), die Macht, die wir ihnen geborgt haben, kontrolliert: Wenn wir versuchen, es zu lenken, nicht gegen uns wenden und Politik nicht als werden wir wahrscheinlich feststellen müssen, eine entfremdete Form präsentieren. dass die Bewegung selbst diese Regeln bricht. Autonome Organisationen – vom Staat und vom Kapital – sind eine Bedingung der Hilary Wainwright Möglichkeit, um den Staat zu kontrollieren Wir stimmen überein, dass es beim Kampf und über ihn hinauszugehen. Marx hat das in im-gegen-und-über-den-Staat-hinaus darum seiner Analyse des Kampfes für den Acht- geht, eine Welt jenseits von Kapitalismus stundentag im Großbritannien des späten 19. zu öffnen. Unsere Differenzen betreffen die Jahrhunderts veranschaulicht. Er zeigte, wie Frage, inwieweit dem einsaugenden oder die organisatorische Fähigkeit der Arbeiter – entfremdenden Charakter staatlicher Insti- getrieben von ihrem gemeinsamen Interesse, tutionen entgangen werden kann und diese ihrem Zusammenhalt, ihrer Anzahl, der vorsichtig im Kampf für eine Welt jenseits von Abhängigkeit der herrschenden Klasse von Kapitalismus genutzt werden können. ihren Stimmen und ihrer Arbeit – sie befähig- Bei der Staatsbürgerschaft geht es um te, eine autonome Quelle politischer Macht Rechte in einer geteilten Gemeinschaft – an- am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft zu fangs war es eine Stadt, dann ein National-Staat, entwickeln. Diese Macht wurde genutzt, um und jetzt sind es möglicherweise internationale Arbeitgeber und politische Parteien zu spalten Institutionen. Falls es eine Möglichkeit für eine und die Gesetzgebung dazu zu bringen, die Welt ohne Staaten gibt und der Staat »abstirbt« – Stunden entfremdeter Arbeit zu reduzieren. wäre das das Ende von Politik und das Ende kol- Das war ein legislativer Gewinn: ein lektiver Entscheidungsfindung über Ressourcen, Gewinn im-gegen-und-potenziell-über-den- Prioritäten, Regeln, Gesetze, Standards und so Staat-hinaus, nicht nur was die Verbesserung weiter, die unausweichlich Machtbeziehungen der Lebensbedingungen der Arbeiter angeht, implizieren? Es wäre das Ende des Staates als sondern, viel wichtiger: um ihre autonome eine abgetrennte, herrschende Macht, aber es politische Macht zu verbessern und ihnen gäbe immer noch Politik und damit auch eine mehr Zeit zum Kommunizieren, Debattieren, Art von Staatsbürgerschaft. Lesen, Denken und Organisieren zu geben.

152 luxemburg | 3/2011 linke strategien linke strategien

LUX_1103_03.indb 152 01.09.11 16:49 Das bringt mich zu den Kämpfen in der soziale Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz und Marsh Farm Siedlung: von den Ravern, die in den Gemeinden kämpfen, entscheidend sich mit der Polizei auseinandersetzten, den für ihre bescheidene transformative Macht ist, Brauereien und dem Gemeinderat, die sich ebenso wie bei dem historischen Beispiel der um eine Alternative zu den kommerziellen Arbeiter, die für den Achtstundentag kämpften. Wucherpreisen im Lutoner Stadtzentum Die traditionelle sozialdemokratische bemühten, über die Besetzung eines leeren Herangehensweise an Sozialismus – erst Hospizes als autonomes Wohngebiet, bis Staatsmacht gewinnen und dann das Kapital hin zur »Aneignung der Rhetorik« des »New kontrollieren – versagt immer, weil sozialde- Deal for Communites«-Programms der New mokratische Regierungen, wenn es um die Labour Party. Seitens der Anwohner sollte die Produktion von Reichtum geht, immer aufs Kontrolle über die öffentlichen Gelder sicher- Kapital angewiesen sind. Sie erkennen nie gestellt werden, die für die »Erneuerung« des ihre Verbündeten an: die arbeitenden Men- Gebiets zur Verfügung gestellt wurden. In die- schen als wissende, selbstbestimmte Subjekte, sem letzten Kampf wollten sie mit dem Staat die als Produzenten tätig sind und über die nach ihren eigenen Bedingungen verhandeln. Fähigkeit verfügen, eine andere Wirtschafts- Nach 18 Jahren, in denen die Aktivisten weise zu organisieren. der Marsh Farm Siedlung im-gegen-und- Diese Sichtweise ist in den Institutionen über-den-Staat-hinaus waren, sehen sie sich sozialdemokratischer Parteien und Gewerk- nicht »eingesaugt«, wie du andeutest. Im schaften, so wie sie derzeit organisiert sind, Gegenteil, sie sehen, dass sie »die öffentlichen verankert und reduziert die Arbeiter auf ihre Ressourcen von diesen Top-Down-Banditen Rolle als einfache Wähler, Unterstützer, Lohn- zurückfordern, und sie einsetzen, um die bezieher. Die Idee, die Macht zu teilen oder kapitalistischen Strukturen, welche unsere sich mit den Menschen oder Organisationen Gemeinde dominieren, durch effektivere und außerhalb der Parlamente zu verbinden, wird sozial nützlichere zu ersetzen«. Eine Schlüs- von vornherein verworfen. Politiker sehen sich selbedingung war das stetige Entwickeln einer als die Ingenieure der Veränderung und alle an- autonomen Organisation: sich wachsam allem deren sind von diesem Prozess ausgeschlossen. Druck widersetzen und den »Unterdrücker Wir können nicht stehen bleiben und die imitieren«, um es mit den Worten von Paulo Institutionen aufgeben. Wir müssen diese Ins- Freire zu sagen. Wie du insistieren sie auf titutionen dort besetzen, wo wir sie – während »learning by doing«. Du solltest sie treffen. wir uns organisieren – transformieren können. Du würdest sehen, dass die Verbindung zwischen dem Gewinn der Macht über die Aus dem Englischen von Jasmin Ihrac Subventionen – das ist das minimale demokra- tische Element innerhalb des Staates und jeder autonomen Organisation – und den Werten 1 Von der Free Software Foundation (FSF) veröffentlichte Freie-Software-Lizenz mit Copyleft für die Lizenzierung von und Perspektiven von Menschen, die gegen freier Software.

luxemburg | 3/2011 153 linke strategien

LUX_1103_03.indb 153 01.09.11 16:49 verfasserinnen und Verfasser

Wolfram Adolphi Politikwissenschaftler und Journalist, wiss. and Socialism, nationales Vorstandsmitglied von Solidarity Mitarbeiter bei Roland Claus, MdB (Die Linke), Redakteur Das Economy Network, Mitglied der Steelworker Associates. Argument. V: Mao. Eine Chronik (2009), Chinatraum (2007) V: CyberRadicalism: A New Left for a Global Age (mit Jerry Harris, 2011) Dario Azzellini Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter der Abteilung für Politik- und Entwicklungsforschung am Alex Demirovic´ Politologe und Soziologe, Redakteur Institut für Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz, von Luxemburg und Prokla sowie Vorstandsmitglied der Schwerpunkt: Prozesse sozialer Transformation, Bewegun- RLS. Schwerpunkte: Politische Theorie und Politisches gen, demokratische Planung, partizipative Demokratie und System der Bundesrepublik Deutschland. V: Demokratie Arbeitermit- und Arbeiterselbstverwaltung. V: Partizipation, in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven Arbeiterkontrolle und die Commune (2010) (2007)

Heinz Bierbaum Politiker und Soziologe, stellv. Vorsit- Daniel Fastner Übersetzer, MA Philosophie, Mitglied der zender der Partei Die Linke und stellv. Landesvorsitzender Gruppe [pæris] im Saarland, Professor für Betriebswirtschaft an der HTW Saarbrücken, Leiter des INFO-Instituts Matteo Gaddi Politiker und Soziologe, Verantwortlicher für das Ressort Norditalien der PRC, Mitglied des Vorstandes Natalia Iguiñiz Boggio Fotografin. ruppenausstellun-G der Associazione Culturale Punto Rosso und der Redaktion gen: Beyond RE Production. Mothering. Dimensionen der der Zeitschrift Progetto Lavoro – Per una sinistra del XXI secolo. sozialen Reproduktion im Neoliberalismus, Kunstraum Schwerpunkte: Arbeit, Inland, Infrastruktur. V: Lotte operaie Bethanien, Berlin (2011), Changing The Focus: The Art of nella crisi. Materiali di analisi e di inchiesta sociale [Arbei- Latin American Photography (1990–2005) – Molaa Museum terkämpfe in der Krise. Materialien zur Analyse und zur of Latin American Art, Long Beach, CA (2010), Einzelausstel- sozialen Untersuchung] (2010) lung: Pequeñas historias de maternidad 2 – Vertice Galeria de Arte, Lima (2008) www.nataliaiguiniz.nom.pe Jessica Gordon Nembhard Ökonomin, wiss. Mitarbeite- rin an der University of Maryland. Schwerpunkte: Stadt- Petra Brangsch wiss. Mitarbeiterin bei Katrin Kunert, entwicklung, Community-basierte Ökonomie, kooperative MdB (Die Linke). V: Haushalt, Haushaltspolitik und Demo- Wirtschaft. V: Cooperative Ownership and the Struggle for kratie (2005) African American Economic Empowerment: Alternative Strategies on the Economic Front (2011) Volker Braun Autor. Auszeichnungen: u.a. Erwin-Stritt- matter-Preis (1998), Büchner-Preis (2000). V: Die hellen John Holloway Politologe, Professor für Politikwissen- Haufen (im Erscheinen), Der Kassensturz (mit Manfred schaft an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla Jendryschik, 2010) (Mexiko). V: Kapitalismus aufbrechen (2010), Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin (2007) Eric Canepa Mitorganisator des North-Atlantic Left Dia- logue, Redakteur des englischen Internetseiten von Lavoro Tim Hunt Redakteur der Zeitschrift Red Pepper und des Ethi- Società-CGIL, Co-Herausgeber der englischen Ausgabe von cal Consumer Magazine, Gründungsmitglied von Manchester transform!, war Koordinator des Left Forum (New York) Mule, einem Internetforum, das Ausgegrenzten eine Stimme Renato Dagnino Professor für Politikwissenschaften und verleiht Technologie an der Unicamp, Campinas, (Brasilien) Christina Kaindl Dipl.-Psych., leitende Redakteurin von Carl Davidson Publizist und Aktivist, Landes-Ko-Vorsitzen­ Luxemburg. Doktorandin am FB Politikwissenschaften der der der Committees of Correspondence for Democracy FU Berlin. V: Das »Subjekt« zwischen Krise und Emanzipa-

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LUX_1103_03.indb 154 01.09.11 16:49 tion (Mithg., Verf., 2010), Subjekte im Neoliberalismus (Hg., Stefan Schade Dolmetscher und Übersetzer. Verf., 2007); Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus Themen: soziale Bewegungen, Friedensbewegung, (Hg., Verf., 2005) Naher Osten, Menschenrechte, Arbeiterbewegung, Umwelt- und Naturschutz, Biodiversität, Klima- Boris Kanzleiter Leiter des RLS Regionalbüros für Südost- wandel, Recht auf Stadt, Landkonflikte, Energie, Europa in Belgrad. V: Die »Rote Universität«. Studentenbe- Mobilität, natürliche Ressourcen wegung und Linksopposition in Belgrad 1964–1975 (2011) Catharina Schmalstieg Psychologin und Promo- Emily Kawano Leiterin des Center for Popular Economics vendin im FB Soziologie an der FSU Jena, Redakteu- in Springfield, Massachusetts, ehem. Leiterin des US Solida- rin von Luxemburg rity Economy Network und der United for a Fair Economy. Schwerpunkt: Solidarische Ökonomien Katharina Schwabedissen Politikerin, Lan- dessprecherin Der Linken Nordrhein-Westfalen, Thomas Laugstien Freier Lektor und Übersetzer (VdÜ), Themen: Frauen- und Innenpolitik 1981–1998 Redaktionssekretär und Redakteur von Das Argument Jana Seppelt Organizerin ver.di Hessen (Projekt KiTas der EKHN, Projekt Handel und Logistik in Bad Cornelia Möhring Politikerin, frauenpolitische Sprecherin Hersfeld), aktiv in den Krisenprotesten der Linksfraktion im Bundestag. Christoph Spehr Politiker und Autor, Sprecher des Immanuel Ness Professor für Politikwissenschaft an der Landesverbandes Bremen Der Linken. V: Gleicher City University New York, Herausgeber der Encyclopedia of als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperati- American Social Movements, der International Encyclopedia on (2003) of Revolution and Protest: 1500 to the Present und der Zeit- schrift WorkingUSA: The Journal of Labor and Society. V: Ours Henning Süssner Rubin Historiker und Rektor der to master and to own. Workers’ Control from the Commune schwedischen Linkspartei-nahen Volkshochschule to the Present (2011, mit Dario Azzellini) Kvarnby in Malmö

Henrique T. Novaes Promovend Politikwissenschaften und Jan Ullrich Übersetzer, Dipl. Politikwissenschaft- Technologie an der Unicamp Campinas (Brasilien) ler, Redaktionsmitglied von amerika21.de

Rainer Rilling stellv. Direktor des Instituts für Gesell- Neelke Wagner Politikwissenschaftlerin, freie Jour- schaftsanalyse und Referent Kapitalismusanalyse und inter- nalistin und Übersetzerin. Schwerpunkte: Erneuer- nationale Beziehungen der RLS. V: Risse im Empire (2008) bare Energien, Feminismus

Jörg Roesler Wirtschaftshistoriker, Dozent für Volkswirt- Hilary Wainwright Forschungsdirektorin am schaft an der Universität der Künste in Berlin, Mitglied der Ge- International Labour Studies Centre der Universität lehrtengesellschaft Leibniz-Sozietät. V: Wie es zur Wirtschafts-, Manchester und am Centre for Global Governance Währungs- und Sozialunion kam (rls-standpunkte 16/2010) der London School of Economics; Herausgeberin der Zeitschrift Red Pepper. V: Labour, A Tale of Two Vishwas Satgar Dozent im Bereich Internationale Bezie- Parties (1986), Reclaim the State (2003) hungen der Universität Witwatersrand, Vorstandsmitglied und Mitbegründer von Committee for the Promotion and Advancement of Cooperatives – COPAC

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LUX_1103_03.indb 155 01.09.11 16:49 LUX_1103_03.indb 156

216 Seiten; dem Meh Urban (Hrsg.) Schumann/Hans-Jürgen Hartmut Meine/Michael ISBN 978-3-89965-471-4 gefragt! Wirtschaftssteuerung sind Neue Formennachhaltiger ISBN 978-3-89965-452-3 VSA: Verlag, St.GeorgsKirchhof6,D-20099 Hamburg,Fax040/28095277-50,[email protected] 192 Seiten; Wohlstand undArmut Metropole zwischen Armes Klaus Wicher(Hrsg.) Gerd Pohl/ D Neu

V as VS V VS okrat Armes Gerd Metropo r Wirts de Meh Ha Hartmu Ka P ns-Jürgen Reiches ohl / mokratie le z t Kla Meine / Mich w pital v ie r Wirt ischen W Reiches us Wi Urban(Hrsg.) chafts- wagen! che 14.80 16.80 ohlst r (H ael S schafts- rsg.) and Hamburg chumann /

wagen! Hamburg u ersteh n d Armut Eine linkeDenkwerkstatt: ken fördern: und Verständigung derzivilgesellschaftlichenundpolitischenLin- blizistisch einmischen.Auchdadurch,dasswirdieZusammenarbeit senschaftliche StudienorganisiertdieWISSENschaftlicheVerei- bei V en, dieWirt 144 Seiten; Finanzmärkte Europa imSchlepptauder Joachim Bischoffu.a. Frank Deppe/ »Kapital«-Interpretation. nationale Autorenzur Neue Themenundinter- ISBN 978-3-89965-403-5 ISBN 978-3-89965-482-0 320 Seiten; Marx-Lektüre Nach der»neuen« Kapi Michael Heinrich(Hrsg.) Werner Bonefeld/

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Deppe / Jo VS tal N Ka We ach der» rner Bonef in &Kritik achim pital anzmärkte neuen Bischoff m eld/Michael « Marx-Lek schaf Schl u.a. 29.80 10.80 &Kri Hein türe SA: rich (Hrsg.) epptau t demokratisieren: tik Marx-Rezeption. Ein Glücksfallfürdie ISBN 978-3-89965-415-8 ISBN 978-3-89965-493-6 Mar David Harvey 416 Seiten; von ChristianFrings Aus demAmerikanischen schrittene undEinsteiger Ein BegleiterfürFortge- und Kon Gine Elsner 144 Seiten;Hardcover; und dieErlangerSchule mut Valentin (1919-2008) Der ArbeitsmedizinerHel-

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Sozial verwilderter Kapitalismus verwilderter David Harvey: www.Sozialismus.de h V er l

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