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CHARLES MARTIG

DAVID FINCHER: DIE HÖLLE AUF ERDEN ODER DAV I D FINCHERS NEGATIVE THEOLOGIE DER OFFENBARUNG

Auf dem reichhaltigen Terrain der Independent-Szene in den USA gibt es seit den 1980er Jahren eine Reihe von Talenten, die sich im Umfeld des Sundance Festivals trafen und hier ihre ersten Meriten holten. Talente wie Steven Soder- bergh, oder Bryan Singer sind hier entdeckt worden, die in den 1990er Jahren weltweit Furore machten. Den weniger ideologisch und au- tortheoretisch ausgerichteten Jungfilmern blieb der Weg über die Industrie der Werbespots und Videoclips. Zu dieser zweiten Gruppe seiner Generation ge- hört David Fincher, der 1962 in , Colorado, geboren wurde und nörd- lich von San Francisco aufwuchs. Nur einige Häuser entfernt lebte . Lucas war seit dem Erfolg von (American Graffiti, USA 1973, R: George Lucas) das erste große Vorbild. Von 1981 bis 1983 arbeitete Fincher bei Lucas’ Firma Industrial Light and Magic. Hier lern- te er die Spezialeffektherstellung in allen Facetten kennen. Er wirkte unter an- derem bei der Produktion von Blockbustern wie INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (Indiana Jones und der Tempel des Todes, USA 1983, R: ) mit. In den 1980er Jahren gründete er mit Propa- ganda Films seine erste Firma. Das dahinter stehende Produzenten- und Regis- seurekollektiv war ausgesprochen erfolgreich. Die Videoclips für die Rolling Stones, und prägten den Stil von MTV. Die Wer- befilme für Nike, Coca-Cola, Heineken und Levi’s brachten finanzielle Mittel ein für die geplante Spielfilmproduktion. 1992 trat David Fincher erstmals als Regisseur eines Spielfilms international auf. Er konnte die von und aufgebaute -Saga weiterführen und war mit der dys- topischen Science-Fiction von (Alien 3, USA 1991, R: David Fin- cher) auf Anhieb ein international bekannter Regisseur. Doch diese Arbeit blieb wohl seine unpersönlichste, weil er sich noch stark den Genre- Konventionen unterordnete. Seine visionäre Kraft und ästhetische Virtuosität entwickelte sich vor allem im religiös überhöhten Serienkiller-Drama SE7EN (Sieben, USA 1995, R: David Fincher) und mit der Achterbahnfahrt durch den Kopf eines Psychopathen in (Fight Club, USA 1999, R: David Fincher). Seither gilt Fincher als einer der führenden amerikanischen Film- schaffenden, die im Mainstream erfolgreich gegen den Strom schwimmen. Ohne Berührungsängste zum kommerziellen Kino setzt er seitdem seine Visi- on des Kinos durch. 202 CHARLES MARTIG

Gibt es so etwas wie eine religiöse Botschaft bei David Fincher? Auf den ersten Blick sind es Höllenfahrten, auf denen sich die Hauptfiguren seiner Filme befinden. In ihrer Verstricktheit und Unerlöstheit stehen sie am Ab- grund einer Gesellschaft, die sich selbst zu einem System der Dekadenz, des Sicherheitswahns und des Konsumismus entwickelt hat. Im innersten Kern ist David Fincher ein Moralist. Er treibt das Spiel von Terror und Moral bis ans bittere Ende. Dabei verfolgt er eine Doppelstrategie. In einem virtuosen Spiel, bestehend aus Tricks und Täuschungen, lockt er den Zuschauer auf dünnes Eis, das jeden Moment einbrechen kann. Auf die dünne Schicht der Zivilisation ist in diesem filmischen Universum kein Verlass mehr. In atemberaubenden Wendungen führt er durch seine philosophisch- moralischen Gleichnisse: Sei es der Monsterfilm (ALIEN 3), Serienmörderge- schichten (SE7EN), die tollkühne Gesellschaftskritik (FIGHT CLUB, THE GAME; The Game, USA 1997, R: David Fincher) oder der Thriller (; Panic Room, USA 2001, R: David Fincher), immer sind sie mit einer gewaltigen Bildwirkung aufgeladen und stets geht es um mehr als den bloßen Unterhaltungswert. Welche Bedeutung hat diese seltsame Welt der Fincherismen, dieses Spiel des Terrors und der Täuschungen für eine Theologie, die sich aus der christli- chen Perspektive mit der Heilsgeschichte beschäftigt? In vier Schritten soll ei- ne Antwort versucht werden: Ausgehend von der Figurenzeichnung in den fünf bisherigen Kinospielfilmen untersuche ich das Menschenbild, gehe weiter zu den Merkmalen der Gesellschaft anhand von Bildräumen, analysiere exem- plarisch die religiösen Codes im Film, um darauf aufbauend eine „Theologie des Unenthüllten“ bei David Fincher darzustellen.

Figuren am existentiellen Nullpunkt

Das Alleinsein und die Konfrontation mit der Kontingenz ist eine Grundprä- gung der Hauptfiguren. Unbarmherzig konfrontiert Fincher seine „Helden“ mit dem Faktum, dass sie Teil eines Systems oder Spiels sind, das sie nicht durchschauen und das außerhalb ihrer Kontrolle abläuft. In diesem Spiel sind die Menschen selbst der Einsatz und stehen im Verlauf der Handlung immer als Verlierer da. Die Unverfügbarkeit des eigenen Lebensentwurfs stürzt die Hauptfiguren in einen Zustand der Einsamkeit und der existentiellen Unbe- haustheit. „Schlag mich!“, ruft Tyler Durden seinem Gegenüber in FIGHT CLUB zu, einem schwachen, verstörten Angestellten, dem Ich-Erzähler, der schizophren wird und als sein kraftvolles Alter Ego Durden eine Terrororganisation auf- baut. Der „Held“ lernt den Weg des Geschlagen-Werdens. Unter Schmerzen