DER BÜRGER IM STAAT

56.Jahrgang Heft 2 2006

Die arabische Welt und der Westen Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT

Redaktion: Siegfried Frech Redaktionsassistenz: Barbara Bollinger Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Fax (0711) 164099-77 [email protected] 56. Jahrgang Heft 2 2006 [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Die arabische Welt und der Westen

Prinz El Hassan bin Talal Manar Omar Brücken und Wege zu Dialog und Zur deutschsprachigen Literatur Verständigung 84 arabischstämmiger Schriftsteller 122

Hans Küng Viola Shafik Der Westen und der Islam 86 Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen 131 Stefan Schreiner Zwischen den Welten – Buchbesprechungen 136 Zur Geschichte der Juden in der arabischen-islamischen Welt 94

Karl-Josef Kuschel Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 3,35–51; 19,1–36) 102

Renate Kreile Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien 110

Nasser El Ansary Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut Einzelbestellungen und Abonnements bei der du Monde Arabe 116 Landeszentrale (bitte schriftlich) Impressum: Seite 93 Sebastian Körber Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Vorreiter im Kulturdialog – das mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Institut für Auslandsbeziehungen 120 Kunden-Nr. an. Die arabische Welt und der Westen

BRÜCKEN UND WEGE ZU EINEM DIALOG ERFORDERN GEGENSEITIGEN RESPEKT UND SETZEN EINBLICKE IN DIE KULTUR DER ARABISCHEN WELT VORAUS. picture alliance / dpa

81 Die arabische Welt und der Westen

Über die Vielfalt der Kulturen wird seit geraumer Gerade dieses Ansinnen ist das verbindende Mo- Zeit ernsthaft nachgedacht und diskutiert. Eu- ment der Beiträge in diesem Heft der Zeitschrift ropa besinnt sich auf sein abendländisch- „Der Bürger im Staat“. Die beiden einleitenden christliches Erbe und die arabische Welt streitet Beiträge stellen eine politisch interessante Hy- mit sich und mit anderen über ein angemessenes pothese zur Diskussion: Wenn der Westen nicht Verständnis islamisch geprägter Werte. So for- hilflos zusehen will, wie in den arabischen Staa- dert der Westen von der arabisch-islamischen ten unter dem Druck der Globalisierungsprozes- Welt den Anschluss an die Moderne, die Etablie- se islamistische Fundamentalisten an Macht und rung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Einfluss gewinnen, muss er in einen aktiven Dia- und die Achtung der Menschenrechte. Der Islam log mit der arabischen Welt treten. Dies heißt hingegen nimmt eine Verteidigungshaltung ein, freilich auch, dass islamische Länder, die für eine muss stets sein Verhältnis zum Westen sowie demokratische Reform ihrer Staatensysteme die das Verständnis seiner Religion und kulturellen Hilfe des Westens benötigen, zu Zugeständnis- Identität definieren. Unter dem Eindruck ak- sen bereit sind, abwehrende und fordernde Posi- tueller Ereignisse wächst die Neigung, Konflikt- tionen zurückstellen und den Dialog ernsthaft konstellationen als Bedrohungsszenario zu be- aufzunehmen bereit sind (vgl. die Beiträge von werten. Der Begriff „Kulturkampf“ findet immer Prinz El Hassan bin Talal und Hans Küng). häufiger Verwendung. Bei genauerem Hinsehen Gegenwärtig steht die internationale Staaten- zeigt sich jedoch, dass in dieser Debatte ein Un- gemeinschaft vor der entscheidenden Frage, wie gleichgewicht der Kräfte zutage tritt. Die Dis- sich die Beziehungen zwischen den drei großen kussion über die Unterschiedlichkeit der Kultu- Religionen Judentum, Christentum und Islam ren ist nicht frei von dem Anspruch, die Defini- in Zukunft gestalten werden. Die Optionen sind tionsmacht über Werte, Weltbilder und die nur allzu deutlich geworden: Entweder Rivali- „richtigen“ Lebensweisen zu besitzen. Und hin- tät und Zusammenprall oder friedfertiger Dia- gewiesen sei auch auf die Tatsache, dass es log zwischen den Religionen und Kulturen. Alle den Islam als monolithischen Block in der poli- drei Religionen bewegen sich in einem steten tischen Wirklichkeit gar nicht gibt. Immerhin Spannungsfeld zwischen Bewahrung und In- meint man damit mehr als 1,2 Milliarden Men- fragestellung und haben in der Vergangenheit schen, von denen eben nicht die Mehrheit im stets Antworten auf neue historische Herausfor- Mittleren und Nahen Osten, sondern in Süd- und derungen gefunden. Extrempositionen können Südostasien lebt. dann vermieden und überbrückt werden, wenn Brücken und Wege zu einem Dialog der Kulturen eine Besinnung auf die wahre Substanz, auf den sind also gefragter denn je. Angesichts zahlrei- Kern der jeweiligen Religion erfolgt (vgl. den Bei- cher und in naher Zukunft nicht zu lösender Kon- trag von Hans Küng). flikte in der arabischen Region mutet dieser Ge- Die alleinige Konzentration auf die Gegenwart danke zunächst vielleicht naiv an. Gleichwohl verstellt den Blick auf die Vergangenheit, in der kann Dialogen die Möglichkeit der Konfliktregu- die friedliche Koexistenz von Religionen und Kul- lierung zugesprochen werden, wenn drei Grund- turen zu kreativen Symbiosen und gegenseitiger sätze Beachtung finden: (1.) Jeder ernst gemein- Bereicherung führte. Gerade die Geschichte der te Dialog erkennt das Gegenüber als gleichwerti- jüdisch-arabischen Beziehungen zeigt, dass die gen Partner an. (2.) Tritt man in einen Dialog mit Mehrheit der Juden in der islamischen Welt über anderen Kulturen ein, öffnet sich der eigene Ho- viele Jahrhunderte hinweg an der kulturellen, rizont, das Wissen um die andere Kultur verän- wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entfal- dert sich und führt zu einem perspektivenreiche- tung dieser Region ihren Anteil hatte. Juden und ren Blick auf die „eigene“ und auf die „fremde“ Muslime lebten im Laufe ihrer gemeinsamen Kultur. (3.) Erst diese gegenseitige und von Res- Geschichte weithin in Frieden miteinander und pekt getragene Kenntnis ermöglicht die Besin- schufen kulturelle und wissenschaftliche Quel- nung auf einen beiderseitig zu akzeptierenden len, aus denen das christliche Europa schöpfen Wertekanon. Die Überführung dieses Gedanken- konnte (vgl. den Beitrag von Stefan Schreiner). gangs in die politische Realität steht noch aus, Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens bleibt aber angesichts der politischen Situation und seine muslimische Nachgeschichte zeigen in der arabisch-islamischen Welt ein dringendes sich exemplarisch an der „Weihnachtsgeschich- Ansinnen. te“ im Koran. Im Koran finden sich zwei Suren, die

82 Die arabische Welt und der Westen

Parallelen zu den Ereignissen und Figuren im lich und inhaltlich äußerst vielseitig ist, müssen Neuen Testament aufweisen. In dieser Betrach- die Autorinnen und Autoren gegen die ihnen tungsweise kann die „Weihnachtsgeschichte“ als noch heute zugedachte Rolle des fabulierenden Grundlage für einen Dialog zwischen Christen Geschichtenerzählers aus dem „märchenhaften und Muslimen gelesen werden. Ein Dialog, der Orient“, der das Exotische, Sinnliche und Fantas- das Gemeinsame im Lichte des Trennenden und tische thematisiert, ankämpfen. Das themati- das Trennende im Lichte des Gemeinsamen kom- sche Interesse arabischstämmiger Autoren gilt munizierbar macht und Respekt vor dem jeweili- vielmehr der konfliktbehafteten Realität, der Zer- gen Glauben fordert (vgl. den Beitrag von Karl- störung traditioneller Lebensformen bzw. kultu- Josef-Kuschel). reller Praktiken durch den sozialen Wandel und Für die islamisch-arabische Welt geht es zukünf- der alltäglichen Gewalt, die mit den militärischen tig auch darum, wie sie ihre kulturelle und reli- Auseinandersetzungen in der Region einher geht. giöse Substanz mit den politischen Herausfor- Im Gegensatz zu den Projektionen und Sehn- derungen des 21. Jahrhunderts verbinden kann. süchten des westlichen Publikums entpuppt sich Hinsichtlich der politischen Dimension ist die die scheinbare Idylle des Orients als bedrohlicher Frage entscheidend, wie Islam und moderne De- Ort (vgl. den Beitrag von Manar Omar). mokratie zueinander finden. Stellvertretend für Das (Wunsch-)Bild vom Orient wird in starkem die vielen Hemmnisse, die es in arabischen Ge- Maße von der Medienrezeption geprägt. Enga- sellschaften noch zu beseitigen gilt, wird dies gierte Filmschaffende aus arabischen Ländern an der politischen, sozialen und ökonomischen müssen sich nicht nur mit der Konkurrenz von Diskriminierung der Frauen aufgezeigt. Arabi- „Hollywood“, sondern auch mit der lokalen, sche Frauen haben in orientalischen Gesell- kommerziellen Filmindustrie messen. Außerdem schaften schon früh versucht, ihre Interessen bringen es Mechanismen der Filmförderung mit und Rechte als eigenständige Akteurinnen sich, dass arabische Filme nur dann den Weg zum wahrzunehmen und zu verteidigen (vgl. den Bei- europäischen Publikum finden, wenn sie in den trag von Renate Kreile). Der gegenwärtig pro- Genuss von Fördergeldern kommen. Wenn in die- pagierte Islamismus scheint allerdings den po- sen Filmen zuweilen der exotische Blick bedient litischen und sozialen Spielraum der Frauen wird, kommt er der „Leseweise“ des westlichen in arabisch-islamischen Gesellschaften einzu- Publikums entgegen, weil er „ihr“ Bild der arabi- schränken. Je nach politischer und/oder religiö- schen Region bestätigt. Europa fördert zwar den ser Ausrichtung der Frauenbewegungen führt arabischen Film, läuft jedoch Gefahr, das Bild dies zu unterschiedlichen Strategien, Allianzen vom so genannten „fremden Orient“ zu reprodu- und Kontroversen. zieren (vgl. den Beitrag von Viola Shafik). Kultureller Austausch und interkulturelle Be- Die Beiträge dieser Ausgabe der Zeitschrift „Der gegnungen brauchen Orte, Foren und Anlässe. Bürger im Staat“ gehen auf die Vorlesungsreihe Am Beispiel zweier wegweisender Einrichtungen, „Die Westen und die arabische Welt. Brücken und dem Institut du Monde Arabe (Paris) und dem In- Wege zu Dialog und Verständigung“ zurück, die stitut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart), wer- federführend vom Verein arabischer Studenten den Möglichkeiten und Formen der Begegnung, und Akademiker an der Eberhard Karls Univer- des Kulturaustausches und der Pflege der kultu- sität in Tübingen veranstaltet wurde. Allen Auto- rellen Partnerschaft zwischen dem Westen und rinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen de- der arabischen Welt aufgezeigt. Erklärte Absicht taillierte Informationen vermitteln, für Einblicke beider Institute ist es, durch die wechselseitige in die arabische Welt sorgen und für einen Dialog Vermittlung von Kultur fassbare „Außenpolitik“ der Kulturen werben, sei an dieser Stelle gedankt. zu betreiben, eine Brücke zu anderen Ländern zu Besonderer Dank gebührt Herrn Adwan Taleb schlagen und den interkulturellen Dialog zu för- vom Verein arabischer Studenten und Akademi- dern (vgl. die Beiträge von Nasser El Ansary und ker für seine Bemühungen und Übersetzungsar- Sebastian Körber). beiten, die maßgeblich zum Zustandekommen Kulturschaffende verstehen sich als Botschafter der Veröffentlichung beigetragen haben. Dank ihres Landes, wollen Einsichten in und Verständ- gebührt weiterhin Robin Bär für die Bildauswahl nis für andere Lebenswelten vermitteln. Obwohl und nicht zuletzt dem Schwabenverlag für die die deutschsprachige Literatur arabischstämmi- stets gute und effiziente Zusammenarbeit. ger Schriftstellerinnen und Schriftsteller sprach- Siegfried Frech

83 GELEITWORT Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung

PRINZ EL HASSAN BIN TALAL

kulturellen Fragen an die erste Stelle setzt, ha- besagte Kultur ist ein westlicher, säkularer Ma- be ich im Juni dieses Jahres das „Parlament terialismus, der vielen Völkern fremd ist. Hu- Anlässlich der Vorlesungsreihe „Der der Kulturen“ in Istanbul mitbegründet. Meine manitäre Ziele können jedoch nur dann er- Westen und die arabische Welt: Brücken Hoffnung ist es, dass diese Initiative den Impuls reicht werden, wenn wir uns auf die Werte von und Wege zu Dialog und Verständigung“ gibt für weitere Projekte wie zum Beispiel die Menschen einlassen. Diese sind keine unverän- formulierte Prinz El Hassan bin Talal von „School of Mediterranean Humanities“.1 derlichen Abstrakta, sondern stützen sich in ih- Jordanien ein Gruß- und Geleitwort. Das Das mächtige und komplexe Phänomen der rer Identität auf ein Gefühl von kultureller und Grußwort wurde von Dr. Ibrahim Ashary Globalisierung hat die Möglichkeiten des Dia- traditioneller Sicherheit, auf ihre „soft secu- (Verein Arabischer Studenten und Aka- logs, der Verständigung und Koexistenz gewal- rity“ – und diese schließt ihre religiöse Kul- demiker Tübingen) auf Englisch vorge- tig erweitert, wobei ein bisher ungeahntes Maß tur mit ein. Die Wirtschaft ist dabei durchaus tragen. an Verbundenheit erreicht wurde. Globalisie- von Bedeutung, doch sie hängt von politi- Die Übersetzung aus dem Englischen be- rung ist ein Faktum. Ein Faktum, dem wir uns schen Schwankungen ab, und Politik wiederum sorgten Jessica Kneissler und Ute Bech- voll und ganz stellen müssen. Das soll jedoch ist häufig von Eigennutz gesteuert. Ich setze dolf (Deutsch-Amerikanisches Institut nicht heißen, dass wir uns mit der Idee einer mich daher schon seit längerem für eine Rich- Tübingen). langweiligen homogenen Welt abfinden soll- tungsänderung ein: weg von der „Ökonopoli- ten, die von einer einzigen kulturellen Perspek- tik“ oder „Petropolitik“ hin zu einer „Anthropo- tive geprägt ist, im Gegenteil. Die gemäßigten litik“ – einer Politik, die das Wohlergehen des Stimmen jeder Kultur und Gesellschaft zu- einzelnen Menschen zum Ziel hat. Der israeli- Mit Bedauern und gleichzeitig mit Freude grü- sammenzubringen, war in den letzten Jahren sche Regierungsberater Yehezkel Dror schreibt ße ich Sie heute anlässlich der Vorlesungsrei- eine größere Herausforderung, nicht nur die in ähnlicher Weise von einer notwendigen Be- he „Der Westen und die arabische Welt: Brü- Stimmen gegen den Extremismus, der alle Zivi- wegung von der „Staatskunst“ hin zur „Men- cken und Wege zu Dialog und Verständigung“ lisation bedroht, sondern auch die Stimmen für schenkunst“, von „raison d'état“ zu „raison d'- - mit Bedauern, da mein Terminplan es mir eine lebenswerte Zukunft. humanité“. nicht erlaubt, heute in Tübingen anwesend zu Globalisierung suggeriert, dass eine Kultur un- Ich glaube an eine Globalisierung von Werten - sein, und dennoch mit Freude darüber, dass die weigerlich alle anderen dominieren wird, und nicht nur an eine Globalisierung von Politik und einleitenden Worte in meinem Namen gespro- chen werden. Der Dialog und der Versuch, den „Anderen“ im Kontext einer westlich-arabischen Welt zu verstehen, sind keine neuen Unterfangen. Die Interaktion zwischen den beiden Regionen war über einen Zeitraum von mehr als tau- send Jahren immer ein steter Fluss, ein Aus- tausch von Waren, Ideen und Menschen, die zu einem gemeinsamen mediterranen Erbe beigetragen haben. Seit dem 11. September hat der Dialog allerdings eine neue Dimension angenommen. Die Themen Zivilisation, Kultur und Globalisierung sind zu Schlüsselfaktoren geworden bei der Auseinandersetzung mit Menschen, die aus so genannten „fremden“ Ländern stammen. Professor Mircea Malitza von der Black Sea University sprach kürzlich von „einer Welt und 10.000 Kulturen“. Das ist auch mein Verständ- nis von Kultur: ein weltweites Teilen von Wer- ten. In diesem Zusammenhang sehe ich Kultur auch als einen Mechanismus, der Konflikte ver- meiden hilft. Ich möchte also gern dazu anre- gen, dass wir uns mit vereinten Kräften um ei- ne gemeinsame Geisteshaltung bemühen - ich sage dies vor dem Hintergrund meiner bisheri- KONFESSIONEN gen Arbeit am Dialog zwischen Kulturen und ÜBERSCHREITENDES Zivilisationen. Ich glaube an eine Interaktion FESTHALTEN AN zwischen meiner Kultur und Ihrer Kultur, denn GEMEINSAMEN wenn Sie zurückblicken auf die Keilschriften HUMANITÄREN WERTEN und auf Mesopotamien, werden Sie auf das IST EINE NOTWENDIGE Buch des tugendhaften Märtyrers („Book of the VORAUSSETZUNG FÜR Virtuous Sufferer“) und das Buch Hiob stoßen EINE FUNKTIONIERENDE und Sie werden erkennen, dass es vieles gibt, BÜRGERGESELLSCHAFT. das uns verbindet. Ich möchte allerdings vor- MIT EINEM GEMEIN- schlagen, dass wir heute nicht über Meta- SAMEN GEBET physik sprechen, sondern darüber, wie wir eine GEDENKEN CHRISTEN gemeinsame Denkweise fördern können, mit UND MUSLIME DER der wir Armut, Rassismus, Terrorismus, Un- OPFER, DIE BEI DEN gleichheit, Hass und Intoleranz bekämpfen TERRORANSCHLÄGEN können – als einen unumgänglichen morali- AM 11.9.2001 UMS schen Imperativ für jeden von uns. In dem Be- LEBEN GEKOMMEN SIND. streben, ein Forum zu schaffen, das solche picture alliance / dpa

84 Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung

Wirtschaft. Wenn der 11. September eine neue Im Kaukasus beispielsweise unterstützte das ne respektieren; und ich möchte gerne, dass Sie, Weltordnung verursacht hat, glaube ich, dass christliche Russland das muslimische Abcha- wenn schon nicht mich, dann wenigstens das, es eine Ordnung ist, die einer bestimmten Rich- sien gegen das christliche Georgien, während wofür ich stehe, respektieren. Das Papier der tung und bestimmten Zielen unterworfen ist, so der islamische Iran das christliche Armenien Unabhängigen Kommission für Internationale wie es jede menschliche Weltordnung sein gegen das muslimische Aserbaidschan aus- Menschenrechte, in dem auf die Notwendigkeit muss. Nur wenn wir global denken und regio- spielte. Im Libanon kannten sich die Muslime, einer neuen internationalen Menschenrechts- nal handeln, können wir das Universale aufwer- Christen und Drusen gut; sie bekämpften sich ordnung hingewiesen wird, umreißt Empfeh- ten und gleichzeitig unsere Unterschiede res- dennoch gegenseitig und auch untereinander, lungen für den Fortschritt in Bereichen wie Be- pektieren. Als ich im letzten Jahr in Paris von der innerhalb einzelner Sekten. Auf dem Balkan völkerung, Umwelt, Armut, Terrorismus, Bür- Sorbonne eine Ehrendoktorwürde erhielt, kam auf jeden Konflikt zwischen Muslimen und gerrechtsbewegungen, Frauen, Jugend, Tech- sprach ich über die Bedeutung einer „conscien- Christen ein weiterer zwischen den Glaubens- nologie, Medien, bedrohte Minderheiten, be- ce universelle et valeurs partagés“ - eines glo- genossen selbst: Die Moldawier bekämpften waffnete Gewalt und anderes mehr. Als Grund- balen Bewusstseins und gemeinsamer Werte. die Russen, die Ungarn die Rumänen, die Ma- prinzip haben wir im Schlussparagraphen fest- Übertragen wir diese Denkweise auf die inter- zedonier die Griechen und die Serben bekämpf- gelegt, dass „die Anerkennung des grundsätz- nationalen Beziehungen, beispielsweise auf ten die Kroaten. lichen Werts des Einzelnen und der moralischen den Nahen Osten oder andere konfliktreiche Gegenseitige Vertrautheit reicht also nicht aus. Werte, die von allen Gesellschaften geteilt wer- Regionen, brauchen wir einen Verhaltenskodex Menschen können sich kennen und hassen. den, die entscheidende Kraft hinter der An- für staatliche wie auch für nicht-staatliche Ak- Unsere Anstrengungen, Bildung und Wissen zu strengung aller zum Wohle aller sein muss.“ teure. Wir sollten uns alle auf eine internatio- verbessern, müssen weitergehen, in der Hoff- Vor vielen Jahren hielten wir in Windsor über- nal anerkannte Richtlinie von Normen und nung, dass dies zur Verbesserung der Lage bei- konfessionelle Gespräche zwischen Juden, Maßstäben einigen. trägt, aber auch in dem Bewusstsein, dass Mei- Christen und Muslimen ab. Über einen Zeit- Ein Dialog der Zivilisationen sollte nicht auto- nungsverschiedenheiten ebenfalls auftreten raum von 25 Jahren haben wir wiederholt un- matisch mit einem „clash of civilisations“, ei- müssen und auftreten werden. Daher ist ein sere gemeinsamen Erfahrungen und Arbeits- nem Zusammenprall der Kulturen in Verbin- dauerhafter Frieden nicht machbar ohne er- kräfte zusammengebracht, um eine einzige dung gebracht werden. Samuel Huntington lernten Umgang mit zwangsläufig auftreten- Seite mit Prinzipien für einen abrahamischen sieht Kulturen letztendlich vor allem durch Re- den Meinungsverschiedenheiten und Konflik- Dialog zu verfassen. Wir erkannten, dass sehr ligion definiert. Sprechen wir dann also von ei- ten, die in einem zivilisierten Rahmen bereinigt wohl ähnliche Werte in den unterschiedlichen nem Dialog der Religionen? Dialog zwischen werden müssen. Aus diesem Grund glaube ich religiösen Traditionen existieren. Zusammen- den verschiedenen Glaubensgemeinschaften fest daran, dass das „Forum 2000“ in Prag, die arbeit ist der einfachste Weg, um die Metaphy- ist meiner Meinung nach tatsächlich von gro- Helsinki-Konferenz und auch die ständige sik zur Seite zu stellen und eine gemeinsame ßer Bedeutung. Aber dieser stellt nur einen Teil Kommunikation der Bürger untereinander, so- Basis zu schaffen. Politisch und ökonomisch des ausgedehnten Dialogs zwischen und inner- zusagen kleine Bürger-Konferenzen, unter- gesehen bedeutet dies, dass die Beteiligung halb von Kulturen dar. stützt und ausgebaut werden sollte. Einen der jedes Einzelnen an der Bürgergesellschaft ei- Aus meiner Sicht beginnt jeder Dialog mit der ermutigendsten Momente in diesem Jahr er- ne notwendige Voraussetzung ist für gesell- Überwindung von drei Ängsten: die Angst vor lebte ich, als ich auf einen Austausch zwischen schaftliche Identität und für einen starken ge- dem „Anderen“, die Angst vor den eigenen Leu- zwei Männern hingewiesen wurde, in dem es meinschaftlichen Widerstand gegen Gewalt. ten in der Heimat - jeder von uns ist darauf be- um Schafzucht ging - und zwar zwischen ei- Sura 11 (Sura Hud), Vers 118, besagt: „Und hät- dacht, wie unsere Äußerungen zuhause aufge- nem Navajo-Indianer aus Albuquerque in New te dein Herr es gewollt, so hätte Er die Men- fasst werden -, und die Angst vor Frieden - wie Mexico und einem jordanischen Beduinen aus schen alle zu einer einzigen Gemeinde ge- eine Art Agoraphobie (d.h. eine Angst vor offe- der Gegend um Azraq. Das ist echtes „citizen's macht; doch sie wollten nicht davon ablassen, nen Plätzen). Aus diesem Grund habe ich ge- conferencing“, das ist wahrer Dialog. uneins zu sein“. nauso wie Sadruddin Aga Khan [Anm. des Ein zivilisierter Rahmen für Uneinigkeiten kann Die Themen, die Sie in dieser Reihe diskutieren Übers. UN-Hochkommissar für Flüchtlinge nicht durch den Geist von Toleranz allein be- werden, sind immens wichtig für das Streben 1965-77] und viele andere bedeutende Philan- gründet werden, denn, wie mein Freund Ken- nach einer friedlichen und harmonischen Welt, thropen einen Beitrag zur Publikation „Winning neth Cragg [Anm. des Übers. Religionswissen- und es gibt keine bessere Gruppe in der Gesell- the Human Race“2 von 1988 geleistet, in der wir schaftler und ehemaliger anglikanischer Bi- schaft als gerade unsere Jugend, um diese Din- zur Gründung einer „Neuen Internationalen schof] erklärt hat: Toleranz ist trügerisch. Tole- ge zu erforschen: Ich wünsche gerade Ihnen ei- Humanitären Ordnung“3 aufriefen. Dieser Vor- ranz kann Intoleranz nicht tolerieren. Ich möch- ne sehr erfolgreiche und fruchtbare Ausein- schlag wurde der UN-Generalversammlung te nicht von Ihnen toleriert werden, und ich andersetzung und freue mich darauf, bald von seit 1987 jedes Jahr aufs Neue vorgelegt und möchte Sie nicht tolerieren. Ich würde Sie ger- Ihren Diskussionen und Befunden zu hören. wurde jedes Mal einstimmig befürwortet. „To know is to love“ - kennen heißt lieben: Wenn wir einfach mehr übereinander heraus- finden und uns kennen lernen, gewinnen wir Empathie und verlieren das Potential für ge- UNSER AUTOR ANMERKUNGEN waltsame Konflikte. Aber die Fakten zeigen, 1 Dies ist eines der drei Projekte, die das „Parlament der dass dieses Prinzip nur teilweise gilt. Wir dür- Prinz El Hassan Kulturen“ zur Förderung in Betracht zieht. Die Idee einer fen nicht vergessen, dass viele der furchtbar- bin Talal ist ein „School of Mediterranean Humanities“ könnte als Mög- lichkeit betrachtet werden, die intellektuelle und kulturel- sten Konflikte in Gemeinschaften ausgetragen herausragender le Lücke zwischen Westeuropa und dem Mittelmeerraum wurden, die viele Jahre oder Generationen lang Förderer der Bezie- sowie dem Mittleren Osten und Osteuropa mithilfe eines neuen Curriculums zu „Terra Media Studies“ zu schlie- zusammen gelebt hatten, und dass es Konfron- hungen zwischen ßen. Dieses Curriculum soll auf einer sorgfältigen Aus- tationen nicht nur zwischen, sondern auch der arabischen wahl von Texten beruhen, die die gemeinsamen Wurzeln innerhalb von Religionen und ethnischen und westlichen der mediterranen Zivilisation beleuchten. 2 Bericht der Unabhängigen Kommission für Humanitä- Gruppen gibt. Nachdem die „Konferenz gegen Welt. Die Katho- re Angelegenheiten: Winning the Human Race. London Rassismus“ in Durban4 gescheitert war, wurde lisch-Theologische 1988. ich vom Generalsekretär der UN mit einer Fakultät der Eber- 3 Resolution for a New International Humanitarian Or- der. Eingebracht von Jordanien und unterstützt von Al- Gruppe von bedeutenden Experten nach Genf hard Karls Univer- gerien. 42. Sitzung der Generalversammlung der Verein- eingeladen. Eine unserer Empfehlungen war sität Tübingen ten Nationen (UNGA), 9. Dezember 1987. die eines „Racial Equality Index“, ein Index zur verlieh Prinz El Hassan bin Talal 2001 die 4 Bericht der Gruppe der unabhängigen Experten für die UN-Kommission für Menschenrechte über die Umsetzung Gleichstellung der Rassen, der eine wesentliche Ehrendoktorwürde und würdigte so seine der Erklärung von Durban und das Aktionsprogramm. Grundlage für den Kampf gegen Diskriminie- Verdienste, die er sich im interreligiösen Dia- Verabschiedet während des ersten Treffens vom 16. bis 18. September 2003 in Genf. Für weitere Informationen: rung liefern soll - aber ich fürchte, es ist noch log zwischen Judentum, Christentum und http://www.unhchr.ch nicht genug daran gearbeitet worden. Islam erworben hat.

85 DIALOG STATT KONFRONTATION Der Westen und der Islam

HANS KÜNG

Kein Friede unter den Nationen So prognostizierte er den Zusammenprall zwi- ohne Frieden unter den Religionen. schen „dem Westen“ und „dem Islam“ als be- Kein Friede unter den Religionen sonders gefährlich. Damit leistete er ideologi- ohne Dialog zwischen den Religionen. sche Schützenhilfe, um nach dem Ende des Kal- ten Krieges das Feindbild Kommunismus durch das Feindbild Islam zu ersetzen, weiterhin eine amerikanische Hochrüstung zu rechtfertigen und, gewollt oder ungewollt, eine günstige Es sind nun fast 25 Jahre her, dass Hans Atmosphäre für weitere Kriege zu schaffen. Küng das von ihm und Walter Jens neu Schon ein Jahr vor Huntingtons Artikel – 1992 begründete Studium Generale an der unmittelbar nach dem unrühmlichen Ende des Universität Tübingen mit einer Vorle- ersten Irakkrieges unter Präsident Bush senior sung über „Ökumenische Theologie. und ein Jahrzehnt vor dem zweiten – hatte in Perspektiven für einen Konsens der Zu- den USA eine kleine Gruppe „neokonservativer“ kunft“ eröffnete. In dieser Vorlesung Ideologen und Machtpolitiker begonnen, ei- plädierte er für eine „Ökumene der nen möglichen Präventivkrieg – um Ölreserven, Weltreligionen“, auch mit dem Islam, amerikanische Hegemonie und Israels „Sicher- ohne Leugnung der Differenzen, jedoch heit“ – ideologisch vorzubereiten. Nach dem im Bewusstsein der großen Gemeinsam- Amtsantritt von Präsident Bush junior 1999 keiten. Nach dem 11. September 2001 wurde der Krieg exakt geplant und der uner- und dem zweiten Irakkrieg steht die hörte Massenmord vom 11. September 2001 als internationale Staatengemeinschaft vor Anlass genutzt, um einen Angriff zuerst gegen der Schlüsselfrage, wie sich die Bezie- Afghanistan zu führen und ihn auch dem – an hungen zwischen den drei Religionen den Anschlägen unbeteiligten – Irak anzudro- Judentum, Christentum und Islam in Zu- hen. Nach vergeblicher Bemühung um eine Zu- kunft gestalten werden. Die Optionen stimmung des Weltsicherheitsrates und nach sind nur allzu deutlich geworden: Ent- einer geradezu Orwellschen Lügenkampagne weder Rivalität der Religionen und Zu- bezüglich Kriegsgründen und -zielen begann sammenprall der Kulturen oder Dialog die Bush-Administration, von Großbritanniens der Kulturen und Frieden zwischen den Premierminister Tony Blair unterstützt, am 18. Religionen. Alle drei Religionen be- März 2003 gegen Völkerrecht und Weltöffent- wegen sich in einem steten Spannungs- lichkeit den Krieg gegen den Irak mit massiver feld zwischen Bewahrung und Infrage- militärischer Gewalt und gewann ihn schon stellung und haben in der Vergangen- bald scheinbar. heit stets Antworten auf neue welthis- torische Herausforderungen gefunden. Die beiden Extrempositionen „Bewah- DIE OPTIONEN SIND DEUTLICH rung“ und „Infragestellung“ können nur GEWORDEN dann überbrückt werden, wenn eine Be- sinnung auf die wahre Substanz, auf Aber statt den Terror zu besiegen, wurde ihm in den Kern der jeweiligen Religionen er- Afghanistan, im Nahen Osten und in der gan- folgt. Mehr noch: In Bezug auf den Islam zen Welt erst recht zur Ausbreitung verholfen. geht es darum, diese Substanz mit den Weitere Tragödien folgten: auf Bali, in Casa- politischen und religiösen Herausforde- blanca, Riad, Istanbul und Madrid. Hier kam es rungen des 21. Jahrhunderts zu verbin- am 11. März 2004 zum ersten Mal auf europä- den. Hinsichtlich der politischen Dimen- ischem Boden zu einem Massaker diesen Aus- ren, Krieg der Nationen – oder Dialog der Kul- sion ist die Frage entscheidend, wie Is- maßes, welches durch die Parlamentswahlen turen und Frieden zwischen den Religionen als lam und moderne Demokratie zueinan- zwei Tage darauf zur Abwahl der am Irakkrieg Voraussetzung für Frieden zwischen den Na- der finden. beteiligten spanischen Regierung führte, aber tionen! Sollten wir angesichts der tödlichen auch für die am Krieg nicht beteiligten Länder Bedrohung der gesamten Menschheit nicht Europas ein Fanal für eine dramatisch ver- anstatt neue Dämme des Hasses, der Rache und schärfte Weltlage aufrichtete. Denn der Krieg Feindschaft aufzurichten, lieber die Mauern gegen zwei islamische Länder, aber auch die des Vorurteils Stein um Stein abtragen und da- HUNTINGTONS GEGENPROGRAMM seit Jahrzehnten vom Westen praktizierten mit Brücken des Dialogs bauen, Brücken gera- „Double Standards“ hinsichtlich der men- de auch zum Islam? Weder eine Verwischung Ein Gegenprogramm entwarf zehn Jahre spä- schenverachtenden Besatzungspolitik Israels der Gegensätze, noch eine synkretistische Ver- ter der US-Politologe Samuel Huntington – zu- unter Missachtung sämtlicher UN-Resolutio- mischung erscheinen sinnvoll. Vielmehr ist nur erst vorsichtig in Frageform, später aber pro- nen haben die ganze islamische Welt in unsäg- eine redliche Annäherung und Verständigung grammatisch als neues Paradigma der Au- liche Wut, Verbitterung und Verhärtung ge- angezeigt, die in beidseitigem Selbstbewusst- ßenpolitik: „A Clash of Civilizations – ein Zu- stürzt. Der „Clash of Civilizations“ erscheint sein, in Sachlichkeit und Fairness und im Wis- sammenprall der Zivilisationen“ (1993). Also jetzt als „Self-fulfilling prophecy“. sen um das Trennende wie das Verbindende ein Kampf der Kulturen als unabwendbares Wir befinden uns zweifellos in einer heiklen gründet. Weltszenario? Der Pentagon-Berater Hunting- Schlüsselphase für die Neugestaltung der ton hatte sich offenbar mit der inneren Dyna- internationalen Beziehungen, des Verhältnis- mik und Vielgestaltigkeit der einzelnen Kultu- ses Westen-Islam und auch der Beziehungen STATT „CLASH“ DIALOG MIT ren wenig beschäftigt, und komplexe histori- zwischen den drei abrahamischen Religionen DEM ISLAM sche Zusammenhänge, fließende Übergänge, Judentum, Christentum und Islam. Die Optio- gegenseitige Befruchtung und friedliches Zu- nen sind deutlich geworden: Entweder Riva- Nur wenn es gelingt, die gewalttätigen Extre- sammenleben waren ihm weithin unbekannt. lität der Religionen, Zusammenprall der Kultu- misten zu isolieren und die gemäßigten Musli-

86 Der Westen und der Islam

WORIN LIEGT DIE KRAFT DES ISLAM? DER ISLAM SCHEINT verständlich ablehnen, als eine Säule der BIS HEUTE WENIGER VOM RELIGIÖSEN SUBSTANZ- UND etablierten Ordnung. PROFILVERLUST BETROFFEN ZU SEIN ALS JUDENTUM UND  „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen auch CHRISTENTUM. JEDER MUSLIM KANN AUSDRÜCKEN, WAS völlig säkularisierte Juden: Sie halten nichts BOTSCHAFT UND WESEN DES ISLAM SIND. vom Gott Abrahams und der Väter, sie glau- picture alliance / dpa ben nicht an dessen Verheißungen, ignorie- ren synagogale Gebete und Riten und lä- cheln über die Ultraorthodoxen. Für ihr reli- giös entleertes Judentum haben sie vielfach eine moderne Ersatzreligion gefunden: den Staat Israel und die Berufung auf den Ho- den und Freiheit können auf Dauer nur auf der locaust, was auch säkularisierten Juden Basis von Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Men- immerhin eine jüdische Identität und Soli- schenrechten und ethischen Standards er- darität verschafft, nicht selten aber auch reicht werden.1 Zum Dialog sind nicht die Zivi- den menschenverachtenden Staatsterror lisationen oder Kulturen als solche aufgefor- gegen Nichtjuden zu rechtfertigen scheint. dert, die ja keine Subjekte und keine geschlos-  „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen aber senen Einheiten sind, sondern die einzelnen auch säkularisierte Muslime: An einen Gott Menschen und ganz bestimmte Gruppen, die glauben sie nicht, den Koran lesen sie nicht, aus unterschiedlichen kulturellen Prägungen Muhammad ist für sie kein Prophet und die kommen, vor allem aber die politisch, wirt- Scharia lehnen sie rundweg ab; die fünf schaftlich und kulturell verantwortlichen Eli- Pfeiler des Islam spielen für sie keine Rolle. ten. Bestenfalls ist der Islam, freilich religiös ent- leert, zu gebrauchen als Instrument für ei- nen politischen Islamismus und arabischen WORIN LIEGT EIGENTLICH DIE KRAFT Nationalismus. DES ISLAM? Es ist verständlich, dass als Gegenreaktion auf Im Blick auf den Islam sollten sich Christen wie dieses „Nichts bewahren!“ der umgekehrte Ruf Nichtchristen die Frage stellen: Warum beken- laut wird: „Alles bewahren!“. Alles soll so blei- nen sich 1,2 Milliarden Menschen mit steigen- ben, wie es ist und angeblich immer war: der Tendenz in den mittleren Regionen unserer  „Kein Stein des großartigen katholischen Erde von der Atlantikküste Afrikas bis zu den Dogmengebäudes darf herausgebrochen indonesischen Inseln, von den Steppen Zen- werden, das Ganze würde wanken“, posau- tralasiens bis nach Mosambik zu dieser einen nen römische Integralisten. Religion? Ja, die große Frage ist: Worin eigent-  „Kein Wort der Halacha darf vernachlässigt lich liegt die Kraft des Islam, worin liegt seine werden; hinter jedem Wort steht der Wille Faszination?2 Ein zentraler Gesichtspunkt soll des Herrn (Adonaj)“, protestieren ultraor- herausgehoben werden: Der Islam scheint bis thodoxe Juden. anhin weniger vom religiösen Substanz- und  „Kein Vers des Koran darf ignoriert werden, Profilverlust betroffen zu sein als Judentum jeder ist in gleicher Weise unmittelbar Got- und Christentum. Jedenfalls kann jeder Muslim tes Wort“, insistieren viele islamistische auch heute noch ohne hoch komplizierte dog- Muslime. matische Formeln ausdrücken, was Botschaft, Hier überall sind Konflikte vorprogrammiert, Wesen und konstitutive Elemente des Islam nicht nur zwischen den drei, sondern vor allem sind. in den drei Religionen, wo immer diese Positio- nen kämpferisch oder aggressiv vertreten wer- den. Oft schaukeln sich die extremen Positio- ZWISCHEN BEWAHRUNG UND nen gegenseitig hoch. me zu stärken, wenn es gelingt, Brücken des INFRAGESTELLUNG Vertrauens zu bauen und die Beziehungen zwi- schen der westlichen und der islamischen Welt Die Frage nach dem, was Substanz, Fundament, EXTREMPOSITIONEN BILDEN NICHT wieder zu stabilisieren, nur wenn sich Israelis, Zentrum einer Religion ist, stellt sich allerdings DIE MEHRHEIT Araber und „Westler“, Juden, Christen und heute für alle drei prophetischen Religionen in Muslime nicht mehr als Gegner, sondern als recht grundsätzlicher Weise, und darauf möch- Doch die Wirklichkeit sieht nicht ganz so düs- Partner verstehen und behandeln, können die te ich im Folgenden genauer eingehen. ter aus. Denn die Extrempositionen bilden in unüberwindbar scheinenden politischen, wirt- den meisten Ländern, wenn sie nicht gerade schaftlichen, sozialen und kulturellen Proble- Was soll in unserer je eigenen Religion unbe- durch politische, wirtschaftliche, soziale Fakto- me der Gegenwart gelöst werden und kann so dingt bewahrt werden? Da gibt es in allen drei ren aufgeladen werden, nicht die Mehrheit. ein Beitrag zu einer friedlicheren Weltordnung prophetischen Religionen extreme Positionen: Noch immer gibt es – je nach Land und Zeit ver- geleistet werden. Manche sagen: „Nichts soll bewahrt werden!“, schieden groß – eine erhebliche Zahl von Ju- Deshalb fordern heute viele: Kein Rückfall in die anderen hingegen: „Alles soll bewahrt wer- den, Christen und Muslimen, die – wiewohl in das von den europäischen Nationen in der Mo- den!“: ihrer Religion oft gleichgültig, träge oder igno- derne praktizierte, aber nach dem Zweiten  „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen gänz- rant – doch keinesfalls alles in ihrem jüdischen, Weltkrieg erfreulicherweise überwundene Pa- lich säkularisierte Christen: Sie glauben oft christlichen oder muslimischen Glauben und radigma der politisch-militärischen Konfron- weder an Gott noch an einen Sohn Gottes, Leben aufgeben möchten. Die andererseits tation, Aggression und Revanche! Vielmehr sie ignorieren die Kirche und verzichten auf aber auch nicht bereit sind, alles zu bewahren: eine entschiedene Realisierung des in der UN- Predigt und Sakramente. Bestenfalls schät- Als Katholiken sämtliche Dogmen und Moral- Charta festgehaltenen und im Rahmen der Eu- zen sie das kulturelle Erbe des Christen- lehren Roms zu schlucken oder als Protestan- ropäischen Union am weitesten fortgeschritte- tums: die Kathedralen oder Johann Sebas- ten jeden Satz der Bibel wortwörtlich zu neh- nen neuen, „nach-modernen“ Paradigmas der tian Bach, die Ästhetik orthodoxer Liturgie men, oder als Juden sich in allem an die Hala- politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Ver- oder auch paradoxerweise den Papst, dessen cha zu halten, oder als Muslime sämtliche Ge- ständigung, Kooperation und Integration. Frie- Sexualmoral und Autoritarismus sie selbst- bote der Scharia streng einzuhalten.

87 HANS KÜNG

DIE GLAUBENSSUBSTANZ MUSS so ist doch die zentrale Botschaft des Koran  (3.) das klassisch-islamische Weltreligions- ERHALTEN WERDEN völlig eindeutig: „Es gibt keinen Gott außer Paradigma der Abbasiden mit Zentrum in Gott, und Muhammad ist sein Prophet“. Bagdad (750-1258; die Herrschaft der Ab- Wie auch immer: Blickt man nicht auf ir- Von daher sind auch die unterscheidenden basiden erlosch nach dem Mongolensturm); gendwelche spätere geschichtliche Ausgestal- Strukturelemente und bleibenden Leitideen des  (4.) das Paradigma der Ulama und Sufis nach tungen und Ausprägungen, sondern besinnt islamischen Glaubens und Lebens für alle Mus- dem Mongolensturm im Zeitalter der Regio- sich auf die Ur-Kunden, ursprünglichen Zeug- lime sehr deutlich: Das Glaubensbekenntnis ist nalisierung und später der drei islamischen nisse, auf die „Heiligen Schriften“ der jeweili- die zentrale Botschaft des Islam, der Eckstein, Großreiche (der türkischen Osmanen, persi- gen Religion – Hebräische Bibel, Neues Testa- auf dem er ruht, sein erster „Pfeiler“. Dazu kom- schen Safawiden und der indischen Groß- ment und Koran –, so kann kein Zweifel sein, men noch vier weitere: das tägliche Pflicht- mogule); dass das „Bleibende“ (was bleiben muss) in der gebet, die alljährliche Sozialabgabe, die alljähr-  (5.) das islamische Modernisierungs-Para- betreffenden Religion nicht einfach identisch liche Zeit des Fastens und, womöglich, einmal digma, eingeleitet vor allem in Indien, in ist mit dem „Bestehenden“ (was zur Zeit be- im Leben die große Wallfahrt nach Mekka. Dies Ägypten und im Osmanischen Reich; steht) und dass das, was den „Kern“, die „Sub- sind die konstitutiven Elemente des Islam.  (6.) das ökumenische Paradigma der Nach- stanz“, das „Wesen“ dieser Religion ausmacht, Zentrum, Grundlage, Glaubenssubstanz des Moderne: die große Frage für die Zukunft. von den „Heiligen Schriften“ der betreffenden Islam war freilich wie die des Christentums Religion her bestimmt werden kann. Es geht al- oder Judentums nie abstrakt-isoliert gegeben, so hier um eine ganz praktische Frage: Was soll sondern ist in den wechselnden Erfordernissen DIE GLEICHZEITIGKEIT DER PARADIGMEN in unseren Religionen, in der je eigenen Reli- der Zeit immer wieder neu interpretiert und gion das bleibend Gültige und ständig Ver- praktisch realisiert worden – in der heutigen So erscheint also jede Religion nicht als eine pflichtende sein? Erhalten bleiben muss nicht Umbruchzeit mehr denn je. statische Größe, wo angeblich alles schon im- alles, wohl aber die Glaubenssubstanz, das Zen- mer so war, wie es heute ist, sondern vielmehr trum und Fundament der jeweiligen Religion, als lebendig sich entwickelnde Wirklichkeit, die ihrer Heiligen Schrift, ihres Glaubens. Die Glau- EPOCHALE KONSTELLATIONEN UND verschiedene epochale Gesamtkonstellationen benssubstanz der jeweiligen Religion lässt sich PARADIGMENWECHSEL durchgemacht hat. Dabei gilt eine erste ent- in aller Kürze wie folgt darstellen. scheidende Einsicht: Auch die früheren Para- Der Islam hat wie auch Judentum und Chris- digmen des Islam können sich (außer das aller- Was also muss im Christentum bewahrt wer- tentum immer wieder neue epochale Konstel- erste) bis in die Gegenwart durchhalten! An- den, wenn es nicht die „Seele“ verlieren soll? lationen durchgemacht – in Antwort auf im- ders in den „exakten“ Naturwissenschaften: da  Was immer eine historische, literarische mer wieder neue welthistorische Herausfor- kann das alte Paradigma (etwa das des Ptole- oder soziologische Bibelkritik kritisieren, derungen eine ganze Reihe grundlegender re- mäus) mit Hilfe der Mathematik und des Expe- interpretieren und reduzieren mag: Von den ligiöser Veränderungen, die man mit Recht als riments empirisch verifiziert oder falsifiziert maßgeblichen und geschichtsmächtig ge- revolutionäre Paradigmenwechsel versteht. werden; da kann die Entscheidung zugunsten wordenen christlichen Glaubensurkunden des neuen Paradigmas (des Kopernikus) auf her, vom Neuen Testament (gesehen im Was das Christentum (vgl. S. 90) betrifft, so sind längere Sicht durch Evidenz „erzwungen“ wer- Kontext der Hebräischen Bibel) her ist der sich viele Christen nicht bewusst, den. Im Bereich der Religion (wie der Kunst) je- zentrale Glaubensinhalt Jesus Christus: Er  dass das Christentum in einem judenchrist- doch ist dies anders: In Fragen des Glaubens, als der Messias und Sohn des einen Gottes lichen Paradigma entstanden ist; der Sitten und Riten kann nichts mathema- Abrahams, er, wirksam auch heute durch  dass dieses freilich schon früh von einem tisch-experimentell entschieden werden. Zwi- denselben Gottesgeist. Kein christlicher griechisch-hellenistischen und später sla- schen West- und Ostrom, oder zwischen Rom Glaube, keine christliche Religion ohne das wischen Paradigma (der östlichen Orthodo- und Luther ebenso wenig wie zwischen Sunni- Bekenntnis: „Jesus ist der Messias, Herr, xie) überlagert wurde; ten und Schiiten, Fundamentalisten und Mo- Sohn Gottes!“ Der Name Jesus Christus be-  dass aber im Westen in den Jahrhunderten dernisten. Und so verschwinden denn in den zeichnet die (keineswegs statisch zu verste- nach der Konstantinischen Wende ein latei- Religionen alte Paradigmen keineswegs not- hende) „Mitte des Neuen Testaments“. nisches, typisch römisch-katholisches Para- wendigerweise. Vielmehr können sie neben digma von den Päpsten durchgesetzt wur- neuen Paradigmen durch Jahrhunderte hin- Was muss im Judentum bewahrt bleiben, wenn de, das, übersteigert, im 11. Jahrhundert zur durch fortbestehen: das neue (das reformato- es nicht sein „Wesen“ verlieren soll? Spaltung von West- und Ostkirche führte; rische oder das moderne) neben dem alten  Was immer eine historische, literarische  dass im 16. Jahrhundert dieses mittelalter- (dem altkirchlichen oder dem mittelalter- oder soziologische Kritik kritisieren, inter- liche römisch-katholische Paradigma in ei- lichen). pretieren und reduzieren mag: Von den ner revolutionären Umwälzung in weiten maßgeblichen und geschichtsmächtig ge- Teilen Europas, dann Amerikas abgelöst wordenen Glaubensurkunden, von der He- wurde durch die reformatorisch-protestan- PERSISTENZ UND KONKURRENZ bräischen Bibel her sind der zentrale Glau- tische Konstellation; DER PARADIGMEN bensinhalt der eine Gott und das eine Volk  dass aber auch dieses reformatorisch-pro- Israel. Kein israelitischer Glaube, keine He- testantische Paradigma wie das römisch- Zur Beurteilung der Lage der Religionen ist die- bräische Bibel, keine jüdische Religion ohne katholische herausgefordert wurde durch se Persistenz und Konkurrenz unterschied- das Bekenntnis: „Jahwe (Adonaj) ist der Gott das aufgeklärte Paradigma der Moderne licher Paradigmen von größter Bedeutung. Dies Israels und Israel sein Volk!“ in Philosophie, Naturwissenschaft, Staats- führt zu der zweiten wichtigen Einsicht: Bis und Gesellschaftsauffassung; heute leben Menschen derselben Religion in Und was soll schließlich im Islam bewahrt blei-  dass wir nach den beiden Weltkriegen und verschiedenen Paradigmen! Sie sind von fort- ben, wenn er noch „Islam“ im wörtlichen Sinn den Totalitarismen im Übergang begriffen bestehenden Grundbedingungen geprägt und der „Hingabe“, der „Unterwerfung unter Gott“ sind in eine noch nicht eindeutig beschreib- bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen bleiben soll? bare nach-moderne Konstellation. unterworfen. So gibt es zum Beispiel im Chris-  Wie langwierig auch der Prozess des Sam- tentum noch heute römische Katholiken, die melns, Ordnens und Edierens der verschie- In der Geschichte des Islam lassen sich folgen- geistig im 13. Jahrhundert (gleichzeitig mit denen Suren des Koran war, so ist doch für de Makroparadigmen (vgl. S. 91) heraus arbei- Thomas von Aquin, den mittelalterlichen Päp- alle gläubigen Muslime klar, der Koran ist ten: sten und der absolutistischen Kirchenordnung) Gottes Wort und Buch. Und wenn Muslime  (1.) das ur-islamische Gemeinde-Paradigma leben. Es gibt manche Vertreter östlicher Or- auch durchaus einen Unterschied sehen von Mekka und Medina zur Zeit des Prophe- thodoxie, die geistig im 4./5. Jahrhundert ge- zwischen den Suren von Mekka und denen ten Muhammads und der ersten vier Kalifen; blieben sind (gleichzeitig mit den großen Kon- von Medina und den Offenbarungshinter-  (2.) das arabische Reichs-Paradigma der zilien und griechischen Kirchenvätern). Und für grund für die Auslegung in Betracht ziehen, Umayyaden in Damaskus (661-750); manche evangelikale Protestanten ist nach wie

88 Der Westen und der Islam

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89 HANS KÜNG

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90 Der Westen und der Islam

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91 HANS KÜNG

VERFASSUNGSREFERENDUM IM IRAK (15.10.2005): DIE ENTSCHEIDENDE FRAGE WIRD SEIN, OB ES FRÜHER ODER SPÄTER IN ISLAMI- SCHEN LÄNDERN DEN NOTWENDIGEN FREIRAUM GIBT, UM DIE SUBSTANZ DES ISLAM MIT DER MODERNEN DEMOKRATIE ZU VERBINDEN UND EIN DEMOKRATISCHES SYSTEM MIT GEWALTEN- TEILUNG ZU ETABLIEREN. picture alliance / dpa

vor die vorkopernikanische Konstellation des Viele Juden, Christen und Muslime, die das mo- PARADIGMENANALYSE ZEIGT DIE 16. Jahrhunderts (mit den Reformatoren vor derne Paradigma bejahen, verstehen sich WAHRE SUBSTANZ Kopernikus, vor Darwin) maßgebend. untereinander besser als mit den eigenen Glau- In ähnlicher Weise träumen manche Araber bensgenossen, die in anderen Paradigmen le- Wer Versöhnung und Frieden will, wird um ei- noch dem großen arabischen Reich der Umay- ben. Umgekehrt können dem Mittelalter ver- ne kritisch-selbstkritische Paradigmenanalyse yaden nach und wünschen sich die Vereinigung haftete Römisch-Katholische sich zum Beispiel nicht herumkommen. Nur so lassen sich Fragen der arabischen Völker zu einer einzigen arabi- in Fragen der Sexualmoral mit den „Mittelalter- beantworten wie diese: Wo sind in der Ge- schen Nation („Panarabismus“). Andere aber lichen“ im Islam und im Judentum verbünden. schichte des Islam (und natürlich auch der an- sehen nicht im Arabertum, sondern im Islam deren Religionen) die Konstanten und wo die der Abbasiden das Völkerverbindende und ge- Variablen, wo Kontinuität und wo Diskontinu- ben einem „Panislamismus“ den Vorzug. ität, wo Übereinstimmung und wo Widersprü- Gerade dieses Andauern, diese Persistenz und che? Dies ist eine vierte Einsicht: Zu bewahren Konkurrenz früherer religiöser Paradigmen im UNSER AUTOR ist vor allem das Wesen, das Fundament, der Heute dürfte eine der Hauptursachen der Kon- Kern, die Substanz einer Religion und von da- flikte innerhalb der Religionen und zwischen Prof. Dr. Hans her die vom Ursprung her gegebenen Konstan- den Religionen sein, Hauptursache der ver- Küng, geb. 1928; ten. Nicht unbedingt zu bewahren ist alles das, schiedenen Richtungen und Parteiungen, der Studium der Phi- was vom Ursprung her nicht wesentlich ist, was Spannungen, Streitigkeiten und Kriege. losophie und The- Schale und nicht Kern, was Ausbau und nicht ologie u. a. in Rom Fundament ist. Aufgegeben (oder auch umge- und Paris; 1960- kehrt entwickelt) werden können, wenn es sich MITTELALTER UND MODERNE 63 Ordentlicher als notwendig erweist, alle die verschiedenar- Professor der Fun- tigen Variablen. So verhilft denn eine Paradig- Als dritte wichtige Einsicht stellt sich sowohl damentaltheolo- menanalyse angesichts all des religiösen Wirr- für das Judentum wie das Christentum wie den gie an der Katho- warrs gerade im Zeitalter der Globalisierung zu Islam die zentrale Frage: Wie verhält sich diese lisch-Theologi- einer globalen Orientierung. Religion zu ihrem eigenen Mittelalter (zumin- schen Fakultät der dest in Christentum und Islam als die „große Universität Tübingen; 1962-1965 Offizieller Zeit“ angesehen) und wie zur Moderne, wo man Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils, DIE SCHICKSALSFRAGE FÜR DEN ISLAM sich in allen drei Religionen in die Defensive ge- ernannt von Papst Johannes XXIII.; wegen drängt sieht. Das Christentum hat nach der Re- seiner Infragestellung der Unfehlbarkeit des Im letzten Abschnitt soll zu dem weit verbrei- formation einen weiteren Paradigmenwechsel, Papstes wurde ihm 1979 vom Vatikan die teten Feindbild des Islam ein Hoffnungsbild den der Aufklärung, durchmachen müssen. Das kirchliche Lehrbefugnis entzogen; 1963– skizziert werden, das freilich nicht mit einem Judentum aber machte zuerst die Aufklärung 1980 Ordentlicher Professor der Dogmatik Idealbild verwechselt werden soll. Sozusagen durch und erlebte im Anschluss daran zumin- und ökumenischen Theologie und Direktor gegen das wohlbekannte „Worst Case-Scena- dest im Reformjudentum eine religiöse Refor- des Instituts für ökumenische Forschung der rio“ des Samuel Huntington ein „Best Case- mation. Der Islam aber machte keine religiöse Universität Tübingen; seit 1995 ist Hans Scenario“, das als anspornende Vision für die Reformation durch und hat von daher auch mit Küng Präsident der Stiftung Weltethos; Zukunft realistisch hoffen lässt. der Moderne bis auf den heutigen Tag ganz be- 1996 Professor Emeritus der ökumenischen Die entscheidende Frage bleibt: Wird es früher sondere Probleme. Theologie. oder später in einigen islamischen Schlüssel-

92 Der Westen und der Islam ländern den notwendigen Freiraum geben, die Was erstens die politische Dimension betrifft,  dass sie vielmehr den geschichtlichen Cha- Substanz des Islam mit den Herausforderun- so hoffen viele Muslime von Marokko bis Iran, rakter der göttlichen Offenbarung (Gottes gen des 21. Jahrhunderts zu verbinden? Ent- von Afghanistan bis Indonesien mehr oder we- Wort im Prophetenwort, Gottes Wort be- scheidend ist dies nicht nur für eine zukunfts- niger offen, dass zeugt durch Menschenwort) ernst nehmen orientierte Interpretation und Diskussion des  Islam und moderne Demokratie sich finden: dürfen. Also in der Praxis keine buch- Islam, sondern auch für eine ehrliche Anwen- Sie haben die Hoffnung, dass der Islam, der stabenfixierte Auslegung und traditionsfi- dung und konsequente Umsetzung der Ergeb- theoretisch (schon im sunnitischen Kalifat xierte Argumentationsmuster, sondern eine nisse, was für Wissenschaft und Gesellschaft wie im schiitischen Imamat) auf die musli- Auslegung nach Geist und Sinn des gesam- überhaupt von allergrößter Bedeutung ist. mische Brüderlichkeit verpflichtet ist, in der ten prophetischen Buches. Kein legalistisch Welche Tendenzen werden sich – in Rechtswis- politischen Praxis nicht weiterhin autoritär überwuchertes, sondern ein nach den Maß- senschaft und Rechtsprechung, Umma und bleibt. Also keine Art theokratischer Klerikal- stäben des Ur-Islam geläutertes und für un- Staat, Wissenschaft und Gesellschaft – staat, wo selbst ernannte Stellvertreter Got- sere Zeit neu interpretiertes religiöses Erbe. schließlich politisch durchsetzen? Welches tes auf Erden sich anmaßen, als Herrscher, Islam als Fundament, nicht fundamentalis- werden die für die heutige Zeit relevanten Er- Gesetzgeber und Richter zugleich aufzutre- tisch, sondern zeitgemäß verstanden. ben einer 1400-jährigen Religion und Kultur ten, angeblich allein Gott und nicht auch sein: (1.) die orthodoxen Traditionalisten, (2.) dem Volke verantwortlich; und auch keine die ideologischen Säkularisten oder (3.) die re- „Heilige Schrift“, welche die nationale Ver- DREIFACHE HOFFNUNG ligiös wie politisch Innovativen? Die – mit kla- fassung ersetzt oder völlig determiniert (bis rem Blick für die inzwischen vollzogenen Para- hin zum allgemeinen Schweinefleisch- und Ich bin nicht „blauäugig“. Ich bin Realist und digmenwechsel – gegenüber allem Beharren Alkoholverbot und zur Erlaubnis der Polyga- mache mir keine Illusionen. Doch meine ganze auf der Tradition eine Öffnung des seit Jahr- mie); Dialogarbeit zu Judentum, Christentum und Is- hunderten geschlossenen Tors der eigenstän-  ein demokratisches System mit Gewalten- lam ist und bleibt trotz aller Enttäuschungen digen Interpretation praktizieren, die eine teilung errichtet wird: Eine von der Geist- und Rückschläge getragen von einer dreifa- „Übersetzung“ der ursprünglichen islamischen lichkeit unabhängige Regierung sowie un- chen unerschütterlichen Hoffnung: Botschaft ins Heute vornehmen, um so eine abhängige Parteien, Glaubens- und Gewis-  dass jede der drei prophetischen Religionen demokratische Gesellschaft und kreative Kul- sensfreiheit, Widerstandsrecht und legale aufgrund ihres spirituellen und ethischen tur mit innovativer Wissenschaft und leis- Opposition. Für die Frauen das Recht der Ei- Reichtums ein wirkmächtiges Zukunftspo- tungsfähiger Wirtschaft zu ermöglichen? genverantwortung und der Teilnahme an al- tential besitzt; Insofern schauen heute Muslime in aller Welt len Bereichen des öffentlichen Lebens, an al-  dass alle drei in Verständigung und Zu- auf die Türkei, früher Vorreiterin eines radika- len Stufen der Bildung und allen politischen sammenarbeit zu größerer Gemeinsamkeit len Säkularismus: Ob dieses Laboratorium für Entscheidungen, also gleiche Menschen- gelangen können und islamische Demokratie unter Ministerpräsident rechte wie für die Männer. Ein Staat, in wel-  dass alle drei Weltreligionen gemeinsam ei- Erdogan erfolgreich sein wird. Wo keine aktive chem Nichtmuslime nicht nur die (im frühen nen unverzichtbaren Beitrag zu einer fried- Islamisierungspolitik betrieben wird und Reli- Mittelalter gewiss vorbildhafte) Position ei- licheren und gerechteren Welt leisten wer- gion durchaus Privatsache bleibt, wo aber doch ner geduldeten Minderheit, sondern volle den. eine persönliche muslimische Glaubenshal- Bürgerrechte besitzen. tung und Glaubenspraxis sich indirekt auch in der Öffentlichkeit auswirken darf. Wie immer man zur schwierigen Frage der Aufnahme der DIE RELIGIÖSE DIMENSION DER ANMERKUNGEN Türkei in die Europäische Union steht, man soll- SCHICKSALSFRAGE 1 Zur spezifisch politischen Problematik habe ich 2003 te dieses historische Experiment mit größtem zusammen mit Dieter Senghaas und mehreren kompeten- ten Politikwissenschaftlern und Ethikern Stellung bezo- Wohlwollen unterstützen. Was zweitens die religiöse Dimension betrifft, gen. Vgl.: Küng, Hans/Senghaas, Dieter (Hrsg.): Friedens- Denn gerade so könnte der Islam seinen Beitrag so hoffen viele entsprechend gebildete Musli- politik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehun- gen. München 2003. In meiner Einleitung habe ich früh- zur Weltgesellschaft leisten, in der trotz aller me, aufgeschlossene Ulama ebenso wie inter- zeitig eine genaue historische Analyse „Wie es zum kulturellen Unterschiede Menschenrechte und essierte „Laien“, Irakkrieg kam“ gegeben, die sich in der Folge vielfach be- Menschenpflichten als gemeinsame Basis ge-  dass ihr Streben nach einer heutigen Er- stätigt hat. 2 Darauf habe ich unlängst in einer Veröffentlichung sehen würden. kenntnissen und Erfordernissen entspre- eine umfassende Antwort gegeben; vgl. Küng, Hans: Der chenden und so verantwortlichen Inter- Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München 2005. pretation des Koran endlich mehrheitsfähig DER POLITISCHE ASPEKT DER wird; SCHICKSALSFRAGE  dass die Muslime des 21. Jahrhunderts nicht LITERATUR an der Ungeschaffenheit und deshalb Voll- Küng, H.: Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit. Die Frage nach dem Freiraum halte ich gerade kommenheit, Unfehlbarkeit und Unverän- München 1991 Küng, H.: Das Christentum. Wesen und Geschichte. Mün- angesichts der zahlreichen Widerstände und derlichkeit der 78.000 Worte des Koran (und chen 1994 Zwänge für die Schicksalsfrage für den Islam; mittelbar auch der Sunna des Propheten Küng, H.: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. sie ist zugleich politischer wie theologischer und der Scharia überhaupt) festhalten müs- München 2004 Natur: sen;

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93 VON FRIEDLICHEM NEBENEINANDER ZU ERBITTERTEM GEGENEINANDER Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

STEFAN SCHREINER

heit, von der sie erzählt. Was einmal gewesen mal, als „goldenes Zeitalter“, als Zeit kultureller Der oftmals vorschnelle Blick auf die ist oder gar „wie es eigentlich gewesen ist“, wie Symbiose erscheinen – und verklären – lassen, Gegenwart verstellt die Rückbesinnung Leopold von Ranke (1795-1886) einst wollte, einer Symbiose, die für das Verhältnis von Ju- auf die Vergangenheit. Von Anbeginn an wissen wir nicht und werden es auch nie wis- den und Muslimen ein im Wesentlichen gutes, ist die Geschichte der arabisch-islami- sen können. Historiker sind Fachleute fürs Vor- um nicht zu sagen: harmonisches Miteinander schen Welt auch ein Teil der jüdischen Ge- hersagen der Vergangenheit für die Gegen- annimmt, während für das Verhältnis zu den schichte gewesen – so wie umgekehrt wart. Sie sagen uns nicht nur, was und wie viel Christen ein von permanenter Feindschaft ge- die jüdische Geschichte immer auch in an Vergangenheit im Gedächtnis zu behalten tragenes Gegeneinander unterstellt wird. die arabisch-islamische Welt hineinge- nötig ist, um Orientierung für die Gegenwart zu spielt hat. Gerade die Geschichte der haben. Sie sagen uns auch, wie die Vergangen- jüdisch-arabischen Beziehungen zeigt, heit zu erinnern ist; dient sie doch der Erklä- VORSCHUB DURCH CHRISTLICHE dass die wechselseitige Bezogenheit bei- rung, gar der Legitimation der Gegenwart. VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN der Geschichten und Kulturen eine krea- Kaum eine Geschichte illustriert dies anschau- tive Symbiose zeitigte. Das friedliche licher als die Geschichte der Juden in der ara- Vorschub geleistet hatte dieser Betrachtungs- Miteinander und die gegenseitige Berei- bisch-islamischen Welt und die Darstellung weise übrigens die christliche Geschichts- cherung trugen dazu bei, dass die Mehr- dieser Geschichte innerhalb der letzten ein- schreibung im Mittelalter mit ihrer Verschwö- heit der Juden in der islamischen Welt hundertfünfzig Jahre. Das gilt im Blick auf de- rungstheorie, die nicht nur von einem jü- über viele Jahrhunderte hinweg an ren Gesamtgeschichte nicht anders als im Blick dischen Anteil an den arabisch-islamischen der kulturellen, wissenschaftlichen und auf einzelne ihrer Abschnitte. Eroberungen, insbesondere Spaniens sprach, wirtschaftlichen Entfaltung dieser Re- sondern das Vordringen des Islams in ehemals gion ihren Anteil hatte, bevor sich die christliche Länder insgesamt als Verschwörung Zentren jüdischer Kultur und Wissen- AUF DER SUCHE NACH DEM von Juden und Muslimen zum Sturz des Chris- schaft allmählich ins christliche Europa „GOLDENEN ZEITALTER“ tentums interpretierte. Eine späte Bestätigung verlagerten. Zu Ende gegangen sind die dieser christlichen Verschwörungstheorie lie- anderthalb Jahrtausende jüdischer Dia- Das klassische Beispiel dafür liefert die Ge- fert nicht zuletzt das Ausweisungsedikt von sporageschichte in der arabisch-islami- schichte der Juden im islamischen Spanien des 1492, das die Vertreibung der Juden aus Spa- schen Welt erst im 20. Jahrhundert, be- Mittelalters, die bis heute nur allzu oft und ger- nien mit der Vertreibung der Muslime (Mauren) ginnend mit den politischen Verände- ne als convivencia, als Musterfall gelungenen verbunden hat: Wenn die einen das Land zu rungen im Nahen Osten, der Gründung Zusammenlebens von Muslimen, Juden und verlassen haben, müssen ihnen die anderen des Staates Israel 1948 und der damit ein- Christen beschrieben wird und das Bild des folgen.3 Allan Harris und Helen Elmquist Cutler hergehenden Einwanderung Zehntau- judío feliz, des „glücklichen Juden“ hervorge- hat dies übrigens zu der These geführt, dass die sender Juden aus den arabisch-islami- bracht hat. Übersehen wird dabei zumeist, dass christliche Judenfeindschaft eigentlich Anti- schen Ländern. Stefan Schreiner ver- es sich bei dieser Sicht der Dinge wesentlich um Islamismus gewesen ist, jedenfalls sei sie letzt- mittelt anhand ausgewählter Fragestel- eine Projektion des 19. Jahrhunderts handelt, lich aus der christlichen Islamophobie erwach- lungen und zeitgenössischer Quellen die ihren Ursprung zum einen in der Historio- sen, der zufolge die Juden als Verbündete der einen Einblick in diese beinahe vergesse- graphie der frühen Wissenschaft des Juden- Muslime gleichsam stellvertretend für sie zu ne kulturelle Symbiose. Angesichts ge- tums und zum anderen in der Geschichtsschau büßen hatten.4 Wie eine bittere Ironie der Ge- genwärtiger Konflikte in der arabischen jüdischer politischer Romantik hat.1 schichte nimmt es sich da aus, wenn heute in Welt wird der Blick für die Tatsache ver- Politische Romantiker wie Benjamin Disraeli der arabisch-islamischen Welt von einer christ- stellt, dass Juden und Muslime im Laufe (1804–1881) träumten von einer (neuen) Alli- lich-jüdischen (zionistischen) Verschwörung ihrer gemeinsamen Geschichte weithin anz von Juden und Muslimen, wie sie seiner gesprochen wird, die die arabisch-islamische miteinander in Frieden gelebt haben, Meinung nach vorbildhaft im islamischen Spa- Welt in ihrer Existenz bedroht. kulturelle und wissenschaftliche Quellen nien existiert hatte. Im mittelalterlichen Spa- schufen, aus denen das christliche Euro- nien sah er jene Zivilisation, in „der die Kinder pa später schöpfen konnte. Ismaels den Kindern Israels dieselben Rechte DIE INFRAGESTELLUNG DES und Privilegien gewähren wie sich selbst (…) ROMANTISCHEN BILDES und es schwer ist, die Anhänger des Mose von den Anhängern Muhammads zu unterschei- Ohne auf die Geschichtsschreibung hier weiter VORBEMERKUNG den. Beide bauten gleichermaßen ihre Paläste einzugehen, ist gleichwohl bemerkenswert: und legten Gärten und Brunnen an, hatten die Während im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Ein Thema wie dieses auf wenigen Seiten zu be- höchsten Ämter im Staat inne und wetteifer- auf dem Hintergrund der langen Tradition handeln, verlangt nachgerade die Kühnheit der ten miteinander in ‘extensive and enlightened christlicher Judenfeindschaft und im Kontext Ignoranz. Im Folgenden kann es daher auch commerce’ und waren Rivalen nur im Ringen wachsenden, zunehmend rassisch begründe- nicht einmal um einen Überblick über die Ge- um die besten Universitäten.“2 ten Antisemitismus in Europa das Bild der con- samtgeschichte gehen, sondern allein um ei- Dass ein solches Geschichtsbild entstehen vivencia, des erwähnten einträchtigen Mitein- nen Hinweis auf Themen und Fragestellungen, konnte, ist weniger Resultat historischer For- anders der verschiedenen Völker, Kulturen und die im Kontext der jüdisch-arabischen Gesamt- schung als vielmehr der Erfahrung wachsen- Religionen in der islamischen Welt vorab des geschichte zu bedenken wichtig sind. den Antisemitismus im christlichen Europa in Mittelalters entworfen wurde, setzte sich mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die zunehmendem arabisch-israelischen Konflikt Mischung aus Verbitterung und Enttäuschung in der jüdischen und vor allem israelischen His- WAS IST GESCHICHTE? über den Gegensatz zwischen aufgeklärten toriographie mehr und mehr die Infragestel- WAS GESCHICHTSSCHREIBUNG? Ideen einerseits und verwehrten Bürgerrech- lung dieser convivencia durch, bis sie am Ende, ten für Juden in vielen europäischen Ländern wie Mark R. Cohen gezeigt hat, nicht nur ganz Geschichte ist eine Funktion der Gegenwart. andererseits hatte jüdische Historiker wie bei- bestritten worden ist, sondern ihrem Gegenteil Geschichtsschreibung sagt mehr über die je- spielsweise Heinrich Graetz (1817-1891) daher Platz machen musste, und die Geschichte der weilige Gegenwart aus als über die Vergangen- die islamische Welt im Mittelalter, Spanien zu- Juden in der arabisch-islamischen Welt, von

94 IN DER SYNAGOGE: AUSZUG AUS EINER AUF DAS JAHR 1350 DATIERTEN HAGGADAH (HEBRÄISCH: „ERZÄHLTES“) AUS NORD- SPANIEN. DIE HAGGADAH UMFASST IN FORM VON GLEICHNISHAFTEN ERZÄHLUNGEN GESONDERTE WERKE (MIDRASCH) UND TEILE AUS DEM TALMUD. IN ZAHLREICHEN ANTHO- LOGIEN FAND SIE SEIT DEM 13. JAHRHUNDERT WEITE VERBREITUNG. SO ERZÄHLT Z.B. DIE „HAGGADAH AUS SARAJEWO“, DIE ALS EINES DER SCHÖNSTEN KUNSTWERKE DER JUDEN AUS DEM 14. JAHR- HUNDERT GILT, U. A. VON DER SKLAVEREI IN ÄGYPTEN UND DEM AUSZUG IN DIE FREIHEIT. picture alliance / dpa

Ausnahmen abgesehen, nur noch als historia allen wohl bekannt sind. Dann wird er sehen, Edition nach einer jemenitischen Handschrift lacrimosa, als durchgängige Leidens- und Ver- dass unsere Situation (hier in Andalusien), so- Ibn Paqudas Text in der vom Übersetzer zen- folgungsgeschichte gesehen und so dargestellt fern Alltagsleben und Lebensunterhalt betrof- sierten Form. wird.5 Die dem gegenüber „ausgewogenste Be- fen sind, ebenso sind wie ihre oder in Zeiten von urteilung der Stellung der Juden unter islami- Krieg und Not sogar noch besser. Dann wird er scher Herrschaft“, und daher auch hier nach- sehen, wie sowohl ihre Führungsschicht als WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN drücklich empfohlen, ist nach Mark R. Cohen auch die einfachen Leute sich vielmehr abmü- ISLAM UND JUDENTUM noch immer Bernard Lewis’ Buch „Die Juden in hen müssen als die mittleren und unteren der islamischen Welt.“6 Schichten bei uns, wie es uns unser Herr in der Von ihrem Anfang an ist die Geschichte der ara- Unterschiedliche Wahrnehmung und Darstel- Schrift angekündigt hat (…)“ (Kap. II). bisch-islamischen Welt Teil auch jüdischer Ge- lung der Geschichte ist indessen nicht erst ein Die Feststellung, dass es den Juden unter mus- schichte gewesen, wie umgekehrt die jüdische Problem von heute. In seinem um 1080 auf Ara- limischer Herrschaft besser ergeht als der Geschichte immer auch in die Geschichte der bisch verfassten „Buch der Hinführung zu die Mehrheit der anderen, in diesem Falle der Mus- arabischen/arabisch-islamischen Welt hinein- Herzenspflichten“ schrieb der andalusische lime, erschien bereits Ibn Paqudas Übersetzer gespielt hat. Entsprechend vielfältig sind denn neuplatonische jüdische Philosoph Bah.ya ben Jehuda ibn Tibbon aus Granada, der das Buch auch Judentum und Islam wechselseitig auf- Josef ibn Paquda: „Wenn heutzutage jemand 1160 ins Hebräische übersetzt hat, so unan- einander bezogen. Wie eng beide Geschichten ähnliche Wunder (wie sie in der Bibel erzählt nehmbar, dass er diese Passage kurzerhand nachgerade ineinander verwoben sind, zeigt werden) sucht, soll er nur ganz nüchtern unse- nicht übersetzte. Zu sehr hatten sich zwischen sich nicht zuletzt darin, dass die Juden in den re Geschichte unter den Völkern studieren, vom 1080 und 1160 offenbar die Lebensverhältnisse arabisch-islamischen Ländern an deren Auf- Anbeginn der Diaspora an, und die Art und der Juden geändert, als dass man noch davon stieg ebenso wie an deren Niedergang seit dem Weise, in der unsere Angelegenheiten geregelt reden könnte, es geht ihnen besser als den an- ausgehenden Mittelalter Anteil hatten. worden sind, trotz der verborgenen wie offe- deren. Und so haben bis heute alle Ausgaben 1377 schrieb der aus Tunesien stammende nen Unterschiede zwischen uns und ihnen, die des Buches mit Ausnahme der hier zitierten Geschichtsphilosoph und Soziologe ‘Abd ar-

95 STEFAN SCHREINER

Rah.m¯an Ibn Khald¯un: „Das Reich der Araber ist der Aufmerksamkeit entgangen sind. Doch wer Ohne das Für und Wider dieser Periodisierung vollständig dahin, und die Macht liegt jetzt in interessierte sich bis um die Mitte des 19. Jahr- der Geschichte der jüdisch-arabischen Bezie- den Händen von Nichtarabern, solchen wie den hunderts schon für die Juden im Jemen, im Irak, hungen und der Charakterisierung ihrer Perio- Türken im Osten (…) und den Franken (Euro- in Libyen oder in Marokko? den hier zu diskutieren, recht hat Goitein nicht päern) im Norden.“ nur mit seinem Hinweis auf die wechselseitige Und dies sollte Folgen nicht nur für die islami- Bezogenheit beider Geschichten aufeinander sche Welt, die Araber zumal, sondern ebenso CHRONOLOGIE DER GEMEINSAMKEITEN und das gemeinsame Schicksal, sondern eben- auch für die in ihrer Mitte lebenden Juden ha- so auch und gerade mit dem Hinweis auf das, ben und bis ins 20. Jahrhundert so bleiben. Wie Dabei haben mit Ausnahme des Nordens der was er creative symbiosis genannt hat, jenes es seit dem hohen Mittelalter bis zum Ersten arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien und Jor- Miteinander, das dazu beigetragen hat, dass Weltkrieg keinen einzigen arabischen Staat danien) in allen arabisch-islamischen Ländern viele Jahrhunderte hindurch die Mehrheit der mehr gab, und selbst die Existenz von so etwas zu allen Zeiten immer auch Juden gelebt. Zu- Juden nicht nur in der arabisch-islamischen wie einer arabischen Nation in der Welt kaum, gegeben, ihr Anteil an der jüdischen Weltbevöl- Welt gelebt, sondern an ihrer kulturellen, wis- wenn überhaupt noch wahrgenommen wor- kerung insgesamt hat seit dem Beginn der senschaftlichen und wirtschaftlichen Entfal- den ist, so verschwanden auch die Juden der Neuzeit, verglichen mit dem wachsenden An- tung tätigen Anteil gehabt hat und sich über arabisch-islamischen Länder allmählich aus teil, den die Juden in den so genannten christ- Jahrhunderte gerade dort, in den großen Städ- der jüdischen Geschichte und wurden selbst lichen Ländern zunächst Europas und dann ten des Irak und Tunesiens, Marokkos und Spa- von der Mehrheit der Juden, die seit Beginn der Amerikas daran hatten, kontinuierlich abge- niens ebenso wie des Iran und Usbekistans die Neuzeit in den so genannten christlichen Län- nommen und betrug am Beginn des 20. Jahr- Zentren jüdischer Kultur und Wissenschaft be- dern Europas lebte, mit der Zeit vergessen. hundert kaum mehr als zehn bis zwölf Prozent. funden haben, bevor sie sich seit dem ausge- Als 1867 im damals ostpreußischen Lyck (heu- Zu Ende gegangen, jedenfalls weithin zu Ende henden Mittelalter allmählich ins christliche te: E«k/Polen) der erste, und 1874 in Mainz der gegangen sind die anderthalb Jahrtausende jü- Europa zu verlagern begannen. zweite Band des Reiseberichtes des aus Litau- discher Diasporageschichte in der arabisch-is- en gebürtigen Jakob Saphir (1822-1885) über lamischen Welt dennoch erst im 20. Jahrhun- seine Reise zu den Juden des Nahen Ostens und dert, beginnend mit den politischen Verände- ANFÄNGE JÜDISCH-ARABISCHER des Jemen erschienen war,7 löste er damit un- rungen im Nahen Osten vor und nach dem Er- GESCHICHTE ter den Juden Europas ebensolches Erstaunen sten Weltkrieg, der zionistischen Bewegung aus, wie es wenige Jahre zuvor bereits Israel ben und der Gründung des Staates Israel 1948 und Wann die Geschichte der Juden auf der Arabi- Josef Benjamin (1818–1864) aus Moldawien der damit einhergehenden Einwanderung schen Halbinsel begonnen hat, wissen wir mit seinem Buch über seine Reise zu den Juden Zehntausender Juden aus den arabisch-islami- nicht. Legenden der jemenitischen Juden füh- in den Ländern Asiens und Afrikas getan hatte.8 schen Ländern. Und es war diese Geschichte, ren ihre Anfänge auf die Zeit der Zerstörung Das Erstaunen, das die Nachrichten über die Ju- die Einwanderung der Juden aus den arabisch- des ersten Tempels unter dem babylonischen den in der arabisch-islamischen Welt hervor- islamischen Ländern in den eben gegründeten König Nebukadnezar (587/6 v. u. Z.) und die be- rief, dokumentiert zugleich, wie weit die Juden Staat Israel, die den Blick auch wieder neu auf ginnende Diaspora, die Zerstreuung der Juden, in jenen Ländern, ihre Geschichte und ihre die Juden der arabisch-islamischen Welt, auf zurück. Doch sind alle Nachrichten, die wir über Gegenwart aus dem Blickfeld verschwunden ihre Geschichte und auf ihre Kultur lenkte. diese frühen Jahrhunderte haben, mit einer ge- waren, wenn man von den vergleichsweise we- Shmuel Dov Goitein, der sich wie kaum ein an- wissen Vorsicht zu genießen.11 nigen absieht, die in Jerusalem, S. efat (Safed) derer mit der Geschichte und Kultur der Juden Doch nicht nur über die vorislamische Zeit, und einigen anderen Städten des heiligen Lan- in der arabisch-islamischen Welt insbesondere auch über die Zeit des Propheten Muhammad des lebten und durch die Jerusalempilger und des Mittelalters befasst hat,9 hat für die ge- und die ersten Jahrzehnte des Islams, die für die ihre Berichte im Gedächtnis geblieben sind. meinsame Geschichte von Juden und Arabern weitere Gestaltung jüdisch-arabischer Bezie- Nicht dass es in der arabisch-islamischen Welt vor Jahren schon das folgende chronologische hungen von größter Bedeutung waren, haben sonst nur noch wenige Juden gab, die deshalb Schema entworfen:10 wir kaum Quellen zur Verfügung. Die arabisch- islamische Historiographie beginnt erst im zweiten Jahrhundert des Islam, und die weni- gen jüdischen Quellen aus jener Zeit sind in ih- a. Common Origins rer Datierung umstritten. Dass indessen neben Myths: Semitic Race. Israel an Arab Tribe. dem christlichen gerade das jüdische Erbe der Facts: Common social patterns (“Primitive Democracy”) and arabischen Halbinsel an der Entstehung und I. Prehistory religious traditions (“Cousins”). Entfaltung des Islam als Religion in biblischer 1500 B.C.E. – 500 C.E. b. Recorded Contacts as from 853 B.C.E. Tradition deutlichen Anteil hatte, bestätigt die 1. Biblical period. arabisch-islamische Literatur in vielfältiger 2. Maccabean, Herodian, and Roman periods. Weise; und die vergleichende Religionsfor- 3. Talmudic times. schung hat mehr als einmal gezeigt, dass sich a. The origin and early development of Islam in its Jewish Islam und Judentum in ihren grundlegenden II. Creative Symbiosis environment: “Islam an Arab recast of Israel’s religion”. religiösen Ideen und philosophisch-theologi- 500 – 1300 b. The influence of Islam on Jewish thought and that of Arab schen Anschauungen ebenso wie in ihren Vor- language and literature on Hebrew. stellungen von der Gestaltung ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft auf der Grundlage ei- III. Fading out a. of Arabs from World History; nes theonomen Rechts, hier der Halakha, dort 1300 – 1900 b. of Oriental Jews from Jewish History. der Shari‘a, weitaus ähnlicher sind als Juden- c. The common heritage of suffering. tum und Christentum es je waren, obwohl sie doch von ihrer Geschichte her weit enger mit- a. The coincidence of Arab and Jewish revivals in the einander verwandt sind. nineteenth and twentieth centuries: Was die Entstehung und Ausbreitung des frü- Similarities and differences. hen Islam im Allgemeinen und das (politische) b. Israel in Palestine: Wirken Muhammads und seiner Nachfolger im IV. The New Confrontation 1. A Western intrusion into the East. Besonderen für die Juden der damaligen Zeit 1900 – … 2. An Eastern intrusion into a Western society. bedeutet hat, dokumentiert eine Rückschau a) Immigrants from Arab countries. aus etwa einem Jahrhundert Abstand, die in b) Arab citizens of Israel. einem anonymen hebräischen Text mit dem c. The Future: ‘ Titel Nistarot de-Rabbi Simˇ on bar Joh. ai („Die The parallel tasks of two peoples. Geheimnisse des Rabbi Schim‘on bar Jochai“)

96 Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

überliefert ist. In Gestalt einer Vision blickt der Spanien und Marokko im Westen bis Zentral- wesens und macht sie zu Bürgern zweiter Klas- Text auf die Zeit des Propheten und der ihm fol- asien im Osten (und darüber hinaus) unter dem se. In der Praxis bedeutete die d_imma denn genden Kalifen bis zur Mitte der Umayyaden- Banner des Propheten, sondern hatten zu- auch oft nichts anderes als bloße Duldung, zeit zurück und deutet ihr Wirken – und damit gleich zur Folge, dass damit auch die überwie- was gegenüber der Lage der Juden in der christ- das erste Jahrhundert islamischer Geschichte – gende Mehrheit der Juden nun nicht mehr auf lichen Welt allerdings schon außerordent- als einen nachgerade messianischen Akt, der verschiedene miteinander konkurrierende Rei- lich viel war. Nicht zu übersehen ist indessen, der Befreiung der Juden vom Joch des byzanti- che verteilt war, sondern unter einer – der ara- dass die Bestimmungen der d_imma im Laufe nischen Christentums dient. Noch Jahrhunder- bisch-islamischen Herrschaft lebte. Für die Ju- der Geschichte, je nach Ort, Zeit und Regie- te später erschienen den Juden der Siegeszug den (und analog für die Christen) bedeutete rung, höchst unterschiedlich ausgelegt und des Islams und seine Ausbreitung in die einst dies, dass ihnen nach geltendem islamischem angewandt worden sind. Das Spektrum reicht christlichen Länder Nordafrikas und des byzan- Recht gegen Zahlung einer im Koran (Sure von Akzeptanz bzw. allgemeiner Duldung der tinischen Reiches als eine Art Gottesurteil über 9,29) vorgeschriebenen Steuer (gizya ˘ ) die d_im- d_imm¯ıs bis hin zu ihrer Ausgrenzung, Dis- das Christentum. Und wie einst christliche ma, eine Art Schutzverhältnis gewährt wurde, kriminierung, ja, Verfolgung und Zwangsbe- antijüdische Polemik in der Zerstörung des das den d_imm¯ıs, den „Schutzbürgern des Islam“ kehrung. (zweiten) Tempels in Jerusalem durch die Rö- persönliche Sicherheit und das Recht des Be- Anschaulich illustrieren lässt sich die Ambi- mer im Jahre 70 als Zeichen der göttlichen Ver- kenntnisses und der Religionsausübung, ein- valenz der d_imma allein schon am Beispiel werfung der Juden erkannte, so sieht die jüdi- schließlich der Organisation des Gemeindele- der Lebenserfahrungen Mose ben Maimons sche antichristliche Polemik in der Zerstörung bens und seiner Strukturen nach eigenem (Ab¯u ‘Imr¯an M¯us¯a ibn Maim¯un ‘Abdallah/Mai- der Grabeskirche in Jerusalem 1009 durch die Recht garantierte. monides) (1138–1204), des Arztes und Philoso- Muslime unter dem Fatimidenkalifen al-Hakim Wie die Juden aufgrund des aus dem 3. Jahr- phen aus Córdoba, der vor etwas mehr als 800 ein Gottesurteil über das Christentum. hundert stammenden Prinzips d¯ın¯a de-mal- Jahren im ägyptischen Fustat starb. Wie Ibn Ab¯ı Wenn wir auch weder wissen, wann, noch von kh¯ut¯a d¯ın¯a („das Gesetz der Regierung ist Ge- Us. aibi‘a in seinem „Handbuch der Ärzte“ be- wem die eben erwähnten „Geheimnisse des setz“) diese d_imma anerkannten, akzeptierte richtet, gehörte Mose ben Maimon einerseits Rabbi Schim‘on bar Jochai“ geschrieben wor- die islamische Seite ihren Status als d_imm¯ıs. In zu den acht jüdischen Ärzten am Hofe Sultan den sind, ist ihre Geschichtsschau dennoch be- einem Hadith heißt es: „Ihre Gesetze sind un- Salah. ad-D¯ıns (Saladins), von dem er zudem ein merkenswert. Widerspricht sie doch dem Bild, sere Gesetze, ihre Pflichten sind unsere Pflich- ordentliches Jahresgehalt bezog. Dies veran- das uns sonst über die Anfänge der Geschich- ten. Was sie von den Muslimen unterscheidet, lasste ihn, in einem Brief an seinen Hebräisch- te jüdisch-arabischer Beziehungen aus Koran ist ihre Religion. Das was sie mit den Muslimen übersetzer Samuel ben Jehuda ibn Tibbon im und Sira, der „Geschichte des Propheten“, so- verbindet, sind ihre Gesetze, insbesondere be- provenzalischen Lunel den Reichtum der ara- wie der (frühen) arabischen Geschichtslitera- züglich Ehe und Familie, Erbschaftsregeln etc.“ bischen Sprache und die Überlegenheit der tur bekannt ist. Darin ist von Auseinanderset- Die für das Leben von Juden (und Christen) im arabisch-islamischen Kultur und Wissenschaft zung, von religiöser Polemik bis hin zur Anwen- islamischen Staat – und damit das Zusammen- zu preisen, an der die Juden tätigen Anteil ha- dung von physischer Gewalt gegen die Juden leben von Muslimen und Juden (und Christen) ben. Andererseits klagte er im Rückblick auf die Rede, die bekanntlich in der Vertreibung bis heute gleichsam grundlegenden Bestim- seine Erfahrungen im almohadischen Marokko und Vernichtung der drei großen jüdischen mungen enthalten zum einen die so genannte in seinem „Brief an die Juden Jemens“ (Iggeret Stämme Medinas (Ban¯u Nad¯ır, der Ban¯u Qu- „Gemeindeordnung von Medina“, und zum an- Teman) von 1172: „Ihr wisst, meine Brüder, dass raiz. a¯ und der Ban¯u Qainuq¯a‘) kulminierte.12 deren diesur¯ ˇ ut. al-‘umar¯ıya, die „Bedingungen Gott uns um unserer Sünden willen mitten un- Als Grund dafür wird in der Literatur denn auch ‘Umars“, der so genannte ‘Umar-Vertrag. Mit ter dieses Volk zerstreut hat, das Volk des Is- immer wieder ein Zerwürfnis zwischen Mu- der „Gemeindeordnung von Medina“13 – Mu- mael, das uns unnachsichtig verfolgt und auf hammad und den Juden Medinas konstatiert, hammad Hamidullah nannte sie die „erste ge- Wege sinnt, uns zu schaden und uns zu ent- in dessen Folge die qibla, die Gebetsrichtung schriebene Verfassung der Welt“14 – hatte Mu- würdigen (…) Kein Volk hat jemals Israel mehr von Jerusalem nach Mekka geändert worden hammad nach der Vertreibung der drei großen Leid zugefügt. Keines hat es ihm gleichgetan, sei. Folgt man indessen dem Koran (Sure 2,142– jüdischen Stämme aus Medina die vertragliche uns zu erniedrigen und zu demütigen. Keines 152) und den Angaben, die sich dazu im frühen Grundlage für eine neue Gemeinschaft (umma) hat es vermocht, uns so zu unterjochen, wie sie Hadith, der normsetzenden außerkoranischen geschaffen, die aus den verbliebenen jüdischen es getan haben.“ Eine Erfahrung übrigens, die Überlieferung des Propheten finden, war es ge- Unterstämmen, den zuvor verfeindeten medi- zu dem jüdischen Sprichwort geführt hat: nau umgekehrt: Die Änderung der Gebets- nensischen Clans und den eingewanderten An- „Besser unter Edom (= Christen) als unter Is- richtung 18 Monate nach der Hi˘gra, der Flucht hängern Muhammads bestand und Stammes- mael (= Muslime)“. Muhammads und seiner Anhänger von Mekka loyalitäten als gegenüber der Zugehörigkeit zu In völliger Umkehrung dieses Sprichwortes nach Medina im Sommer 622, war es, die am dieser neuen Gemeinschaft zweitrangig erach- konnte Isaak Zarfati, der im 15. Jahrhundert als Beginn des Zerwürfnisses mit den Juden stand. tete. Rabbiner im türkischen Edirne amtierte, 1454 Wie dem auch sei: Das koranische Fazit der in einem offenen Brief an die Juden im christ- Frühzeit dieser Geschichte lautet: „Du wirst lichen Europa u. a. schreiben: „Ich, Isaak Zarfa- ganz gewiss finden, dass diejenigen Menschen, VON RECHTLICHER GLEICHSTELLUNG ti, der ich aus Frankreich stamme, in Deutsch- die den Gläubigen, d. i. den Muslimen am KONNTE KEINE REDE SEIN land geboren bin und dort zu Füßen von Leh- meisten feind sind, die Juden und diejenigen rern gesessen habe, rufe euch zu: dass die Tür- sind, die Gott etwas beigesellen. Und du wirst Dass von rechtlicher Gleichstellung von Mus- kei ein Land ist, in dem nichts fehlt. (…) Ist es ganz gewiss finden, dass diejenigen, die den limen, Juden und Christen innerhalb dieser doch besser unter Muslimen, als unter Christen Gläubigen in Freundschaft am nächsten ste- neuen Gemeinschaft gleichwohl keine Rede zu wohnen! Hier dürft ihr euch in die feinsten hen, die sind, die sagen: Wir sind Christen“ sein kann, belegt das zweite Dokument, die Stoffe kleiden. Hier kann jeder unter seinem (Sura 5,82). Umso erstaunlicher ist es da, dass in 33 Versionen überlieferten „Bedingun- Feigenbaum und unter seinem Weinstock in trotz dieses koranischen Diktums die nachfol- gen ‘Umars“.15 Ursprünglich nur für Christen Ruhe leben. Unter der Christenheit dagegen gende Geschichte zwischen Juden und Arabern bestimmt, sind die Bestimmungen des so dürft ihr es nicht einmal wagen, eure Kinder in (Muslimen) weithin anders verlaufen ist. genannten ‘Umar-Vertrags alsbald auf alle Rot oder Blau zu kleiden, ohne sie auszusetzen, d_imm¯ıs ausgedehnt worden. Die Reihe dieser zerbläut oder rot geschunden zu werden.“ Und Bestimmungen, zu denen u. a. die Kennzeich- er schließt seinen Brief mit den Worten: „Und DIE DHIMMA – JUDEN ALS nungspflicht (giy¯ ˙ ar) der d_imm¯ıs durch be- nun Israel, warum schläfst du? Auf und verlas- SCHUTZBÜRGER DES ISLAMS sondere Kleidung (zun¯ar – Gürtel, qalans¯uwa – se dieses verfluchte Land!“ spezielle Kopfbedeckung) etc. gehörte, schließt Angesichts solcher einander widersprechender Die rasante Ausbreitung des Islams bzw. die sie aus dem islamischen Gemeinwesen zwar Erfahrungen und Aussagen – und deren Reihe arabischen Eroberungen in den Jahrzehnten nicht aus, dokumentiert aber ihre rechtli- ließe sich mühelos um ein Vielfaches verlän- nach dem Tod des Propheten vereinten in kur- che – und damit zugleich gesellschaftliche – gern –, ist es denn auch einfach, die Geschich- zer Zeit nicht nur eine Vielzahl von Ländern von Inferiorität innerhalb des islamischen Gemein- te der Juden (und der dhimm¯ıs überhaupt) un-

97 STEFAN SCHREINER ter islamischer Herrschaft als durchgängige wickelte sich jetzt ein Judentum, dass nicht nur Leidens- und Verfolgungsgeschichte zu schrei- an Kultur und Wissenschaft, sondern vor allem ben, wie dies beispielsweise Frau Bat Ye’or in an der Politik und Wirtschaft seinen Anteil mehreren Büchern getan hat.16 Ebenso einfach hatte:20 Inbegriff dieser Teilhabe sind die jüdi- wäre es allerdings auch, das genaue Gegen- schen Kaufleute,21 vor allem die Fernhändler, teil zu tun und eine durchgängige Erfolgsge- die unter dem Namen rad¯aniyy¯un Geschichte schichte vorzulegen. gemacht und u. a. von Ibn Khurd¯ad_b¯ıh in sei- nem „Buch der Straßen und Länder“ beschrie- ben worden sind, die fernerhin wesentlich die SCHUTZ VOR DER NÖTIGUNG ZUR Vermittlung im internationalen Handel über- KONVERSION nahmen, der die Zentren der arabisch-islami- schen Welt alsbald mit vielen Ländern in Euro- Ohne weiter positive und negative Beispiele pa und Asien, aber auch Afrika verbinden soll- der Auslegung und Anwendung der d_imma te. Zu ihren gleichsam letzten Nachkommen gegeneinander aufzurechnen und auszuspie- gehören die fast schon legendären irakisch- len, kann und muss man freilich festhalten, indischen Kaufmannsdynastien der Sassoon, dass die d_imma Juden (und Christen) rechtlich H.ardoon und Kadoori, die nach 1850 u. a. die verbrieft hat, Juden (und Christen) bleiben zu jüdische Gemeinde in Shanghai ins Leben ge- dürfen und sie damit – im Grundsatz – vor der rufen haben. Nötigung zur Konversion zum Islam geschützt In diesem Zusammenhang zu erwähnen sind hat (vgl. Koran Sure 2,256). Damit war die auch die zahlreichen Politikerkarrieren, die Ju- (rechtliche) Lage der Juden unter islamischer den in der arabisch-islamischen Welt möglich (zunächst arabischer und später türkischer) waren. In vielen arabisch-islamischen Ländern Herrschaft, von den Umayyaden über die Abba- finden wir Juden bis in höchste Regierungs- siden bis zu den Osmanen, oft ungleich besser ämter aufsteigen, ganz zu schweigen von den als in den Ländern des byzantinischen oder la- zahlreichen jüdischen Leibärzten an bald allen teinischen Christentums, jedenfalls bis an den Herrscherhöfen und Juden als Dolmetschern Beginn der Neuzeit, wie nicht zuletzt Mark R. und/oder Vermittlern in diplomatischen Dien- Cohen in seinem oben erwähnten Buch deut- sten. Am Anfang einer langen Reihe solcher lich gemacht hat.17 Vermittler und Dolmetscher steht Isaak, der im Nicht verhindert hat die d_imma jedoch, dass es Auftrage Karls des Großen die beiden Lothrin- immer wieder zu Konflikten zwischen Musli- gischen Gesandten Lantfried und Sigismund men und Juden (ebenso wie zwischen Musli- nach Bagdad an den Hof Harun ar-Raschids men und Christen) im Alltag kam. Dabei war der begleitet hat.22 Die Karrieren einzelner Juden Konflikt zwischen Muslimen und Juden freilich und ihr Aufstieg bei Hofe sorgten zugleich da- von anderer „Qualität“ als der Konflikt zwischen für, dass die Juden auch als gesellschaftliche Christen und Juden. Denn wenn Juden Feind- Gruppe wahrgenommen wurden, denen eine seligkeit seitens der Muslime erlebten, handel- eigene Repräsentanz auch gegenüber der je- te es sich nicht, wie Mark R. Cohen mit Recht weiligen Regierung zuerkannt wurde. Die Ge- betont hat, um einen „essentiellen“ oder gar schichte der Ämter des Resh Galuta („Ober- „ideologischen Konflikt“, da das Judentum dem haupt der Diaspora“) im Irak, des Nagid („Fürst“) Islam gegenüber niemals eine dem Christen- in Spanien oder des Ra’¯ıs al-Yah¯ud („Ober- tum vergleichbare Herausforderung darstellte. haupt der Juden“) im fatimidischen und ayyu- Vielmehr handelte es sich hier um „das übliche bidischen Ägypten belegen dies anschaulich. Verhalten der Herrschenden gegenüber Unter- Der wirtschaftliche Aufschwung bildet darüber gebenen, der Mehrheit gegenüber der Minder- hinaus den Hintergrund für das Aufblühen der heit“. Und selbst in Zeiten der Auseinanderset- Stätten und Zentren jüdischer Gelehrsamkeit, zung war der rechtlich geschützte Status von der Akademien in Sura, Bagdad, Qairuan, Fes, Juden (und Christen) als d_imm¯ıs grundsätzlich Córdoba, San‘a. nie in Frage gestellt, solange sie nur „die Ober- herrschaft des islamischen Staates und die Vor- rangstellung der Muslime“ akzeptierten.18 ARABISIERUNG DER JUDEN

Hand in Hand mit der Eingliederung der Juden WIRTSCHAFTLICHER UND in die arabisch-islamische Gesellschaft ging ih- GESELLSCHAFTLICHER AUFSTIEG re zunehmende Arabisierung. Während die Is- lamisierung der von den Muslimen eroberten Zur gegenüber dem christlichen Europa ver- Länder stets ein längerfristiger Prozess war, gleichsweise besseren rechtlichen Situation vollzog sich ihre Arabisierung oft erstaunlich hinzu kam alsbald eine Verbesserung der sozi- schnell. Für Spanien beispielsweise hat Richard Arabisch lernen und arabische Literatur lesen, alen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Ju- W. Bulliet nachgewiesen, dass der Anteil der aber nicht mehr in der Lage sind, auch nur ei- den in der islamischen Welt. Unter der Herr- Muslime an der Gesamtbevölkerung in al-An- nen Brief in einem halbwegs lesbaren Latein zu schaft des Islams, der sehr schnell, wie Fernand dalus um die Mitte des 8. Jahrhunderts gerade schreiben.23 Und gleiches gilt mutatis mutan- Braudel gezeigt hat,19 eine ausgesprochene einmal 10 Prozent; hundert Jahre später 20 dis für die Juden. Stadtreligion geworden ist, erlebte die jüdische Prozent; Mitte des 10. Jahrhunderts 50 Pro- Welche Sprache auch immer Juden in den Län- Bevölkerung, die zuvor mehrheitlich Landbe- zent; am Anfang des 11. Jahrhunderts 80 Pro- dern gesprochen haben, die zum nachmaligen völkerung und in der Landwirtschaft tätig war, zent und erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts arabisch-islamischen Kulturkreis gehörten, seit dem 8. Jahrhundert eine soziale Transfor- 90 Prozent erreicht hat. Was hingegen die Ara- sehr bald haben sie das Arabische übernommen mation, die sie in der Folge, vor allem ab dem bisierung betrifft, also die Übernahme der ara- und es in Gestalt des Judaeo-Arabischen zu ih- 9./10. Jahrhundert teilhaben ließ an dem, was bischen Sprache und Kultur, so klagte schon rer Sprache gemacht.24 Während das Lateini- Shmuel Dov Goitein die „Entstehung einer mer- 853 der Bischof Álvaro von Córdoba, dass sich sche, die Sprache des christlichen Europa, nie- kantilen Zivilisation“ genannt hat. In den auf- die jungen Leute mit Begeisterung der arabi- mals eine jüdische Sprache bzw. Sprache der blühenden Städten der islamischen Welt ent- schen Kultur und Wissenschaft zuwenden, Juden wurde, ist es das Arabische sehr schnell

98 Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

DIE SCHRIFTEN DES MAIMONIDES (1135–1204): „ISLAMISIERUNG“ UND JÜDISCHE MAIMONIDES WAR EIN JÜDISCHER PHILOSOPH, ARZT IDENTITÄT UND RECHTSGELEHRTER. MAIMONIDES VERFASSTE BEDEUTENDE INTERPRETATIONEN DER THORA UND Wenn von Arabisierung und damit Inkultura- DER HALACHA (RELIGIONSGESETZE) UND GILT ALS DIE tion der Juden in die arabisch-islamische Kul- WICHTIGSTE RABBINISCHE AUTORITÄT SEINER ZEIT. tur gesprochen wird, muss auch von ihrer Isla- picture alliance / dpa misierung die Rede sein. Denn mit der Über- nahme der Sprache des Islam einher ging auch die Übernahme von islamischen Vorstellungen und Ideen, die der eigenen Tradition freilich an- gepasst wurden. Ablesbar ist dies zunächst an der Sprache, am Judaeo-Arabischen, das nicht nur eine bemerkenswert lange Reihe von he- bräischen Worten, Formen und syntaktischen Strukturen ins Arabische eingebracht,25 son- Dass Sa‘¯adja ben Josef al-Fajjumi (892-942), dern – umgekehrt – zahlreiche arabisch-isla- Oberhaupt der Akademie im irakischen Sura, mische Begriffe übernommen hat. Um nur ei- am Anfang des 10. Jahrhunderts die hebräische nige Beispiele zu nennen, die seit dem 9./ Bibel ins Arabische übersetzte, war keineswegs 10. Jahrhundert in der judaeo-arabischen Lite- seiner persönlichen Neigung geschuldet, son- ratur belegt sind: q¯ad.¯ı für dayyan „Richter“; dern entsprach einem Bedürfnis, das die Heili- im¯am für kohen „Priester“, manchmal auch für ge Schrift in der Umgangssprache brauchte. h. azan „Vorbeter“; s.al¯at für tefillat ha-‘amida Unter jemenitischen Juden wird diese Überset- „Hauptgebet“; s¯ura für paraˇsa „Perikope“; aya¯ zung (at-t¯a˘g, „die Krone“, genannt) übrigens für pasuq „Schriftvers“ (und umgekehrt al- bis heute während des Gottesdienstes nach fas¯uq/pl. al-faw¯as¯ıq); h.a˘g˘g für ‘aliyya la-regel dem hebräischen Text gelesen. Von einer wech- „Wallfahrt nach Jerusalem“; qibla für mizrah. zur selseitigen Beziehung zwischen jüdischer Bi- Bezeichnung der Gebetsrichtung (nach Jerusa- bel- und islamischer Koranwissenschaft zeugt lem); mad_hab „Rechtsschule“ zur Bezeichnung deren Auslegungsgeschichte ebenso wie vor der Karäer; nuz¯ul / tanz¯ıl für mattan tora „Ga- allem die Vokalisierung des kanonischen Textes, be der Tora / Offenbarung“; ar-ras¯ul „der Ge- die gewiss nicht zufällig annähernd zeit- und sandte [Gottes“] für Mose; sar¯ˇ ı ‘a für halakha ortsgleich entstanden ist. „Religionsgesetz“ bzw. für mis.wa „Gebot“ (pl. Dass gleichfalls an der Wende vom 10. zum 11. sar¯ˇ a’i‘ für mis.wot); al-qur’an¯ für ha-miqra Jahrhundert der aus Córdoba stammende, dann „Heilige. Schrift” etc. in Damaskus lebende Josef ben Isaak ibn Abitur, Als der schon genannte Sa‘adja al-Fajj¯um¯ı in wie der Historiker Abraham ibn Da’ud (um 1110- seiner arabischen Bibelübersetzung den vier- 1180) berichtet, den Talmud ins Arabisch zu buchstabigen Gottesnamen YHWH der hebräi- übersetzen begonnen hat, und wenig später schen Bibel mit dem arabischen All¯ah wieder- Isaak ben Jehuda ibn Gayyat (1038–1089) im gab, hatte er damit zugleich eine folgenschwe- andalusischen Lucena (die Araber nannten die re theologische Entscheidung getroffen, wie Stadt nicht ohne Grund Alisana al-Yah¯ud, „das unschwer erkennbar ist. Wie stark die islami- jüdische Lucena“) Talmudkommentare auf Ara- sche Theologie, angefangen von der rationalis- bisch schrieb, weil seine Schüler sie sonst nicht tischen Schule des Kal¯am, auf die jeweils zeit- (mehr) verstanden, zeigt, wie weit die Arabisie- genössische jüdische Theologie eingewirkt hat, rung in vergleichsweise kurzer Zeit gegangen belegt die spätere theologiegeschichtliche Ent- ist. Spätestens seit dem beginnenden 11. Jahr- wicklung nicht minder eindrücklich als die Ent- hundert ist denn auch Arabisch unter den Ju- wicklung der Halacha (Religionsgesetz) und den der arabisch-islamischen Welt die lingua ihre Kodifizierung, deren Abhängigkeit von der franca gewesen. Dass seither alle wichtigen jü- Entwicklung der Shari‘a allerdings erst ansatz- dischen theologisch-philosophischen und na- weise erforscht ist.26 turwissenschaftlichen Werke in eben dieser Sprache verfasst worden sind, kann nicht mehr überraschen, auch nicht, dass Mose ben Mai- MOTIVE, DIE ZUR KONVERSION FÜHRTEN mon seine berühmten 13 „Grundlehren“, in de- nen er zentrale philosophisch-theologische Nicht vergessen werden darf dabei, dass die Aussagen der jüdischen Tradition zusammen- Botschaft des arabischen Propheten auch auf fasste und damit zugleich auch wesentliche De- zahlreiche Juden anziehend gewirkt und von markationslinien zu Islam und Christentum der Frühzeit des Islam bis in die Gegenwart im- markiert, gleichfalls auf Arabisch schrieb. mer wieder Konversionen zum Islam angeregt geworden und zudem in alle Bereiche jüdi- Den Grad der Arabisierung dokumentiert hat. Entsprechend lang ist die Reihe der be- schen Lebens vorgedrungen, selbst in das Ge- schließlich auch die Entstehung der hebräisch- kannten und weniger bekannten Konvertiten, betbuch und den synagogalen Gottesdienst. aramäischen Philologie, die von Anfang an die in der Geschichte des Islam und der jüdisch- Für manche hebräische Philologen des Mit- ganz unter dem Eindruck des Arabischen und arabischen Beziehungen eine besondere Rolle telalters waren Hebräisch, Aramäisch und Ara- der arabischen Philologie gestanden hat. Sie ist gespielt haben. Sie waren es auch, die dafür ge- bisch auch keine verschiedenen Sprachen, durch das Arabische und vor allem die arabische sorgt haben, dass in die islamische Überliefe- sondern galten ihnen als drei Dialekte einer Philologie nicht nur geprägt, sondern so sehr rung vieles Eingang gefunden hat, was aus jü- Sprache bzw. Ausdruck von Triglossia, Drei- davon abhängig, dass nicht nur alle grammati- dischen Quellen stammt und unter der Bezeich- sprachigkeit in einer Sprache. So genannte schen Termini aus dem Arabischen ins Hebräi- nung isr¯a’ıliyy¯at¯ weitergegeben worden ist.27 Dreisprachengedichte (die erste Zeile auf He- sche übernommen bzw. wörtlich übersetzt Die Motive bzw. Gründe, die zur Konversion bräisch, die zweite auf Aramäisch, die dritte auf worden sind, sondern in der Grammatik Para- führten, werden dabei ebenso vielfältig gewe- Arabisch etc.) gehören denn auch zum feinsten, digmen verwendet wurden, die für das Hebräi- sen sein, wie sich Juden (und/oder Christen) was die jemenitische und andalusische jüdi- sche ungeeignet sind. Die Reihe solcher Bei- zum Religionswechsel veranlasst sahen. Das sche Poesie zu bieten hat. spiele ließe sich mühelos verlängern. war früher nicht anders, als es heute ist. Um

99 STEFAN SCHREINER hier nur zwei besonders interessante Selbst- F¯ad. il und erklärte: “Wenn jemand unter Zwang Waren es anfänglich durchweg syrische Chris- zeugnisse zu nennen:28 das ist zum einen das zum Islam übergetreten ist, ist sein Übertritt ten – wie H. unain ibn Is.h.aq¯ (809-874)33 und sei- Selbstzeugnis des Samau’al ibn Yah. y¯a al- rechtlich ungültig”. ne Übersetzerschule in H. ıra,¯ später in Raqqa, Maghrib¯ı (12. Jahrhundert) und zum anderen u. a. –, die das klassische griechische Erbe an die das Selbstzeugnis des Sa‘d ibn Mans.ur¯ Ibn Araber vermittelten, übernahmen ab dem 10. Kamm¯una (2. Hälfte 13. Jahrhundert): MEHRHEIT HIELT AN IHRER RELIGION FEST Jahrhundert vornehmlich Juden ihre Aufgabe Der erste, ein aus einer marokkanisch-jüdi- und leisteten hier als Dolmetscher und Über- schen Familie stammende, später in Syrien, Trotz aller Konversionen zum Islam, die Mehr- setzer ebensolche Vermittlungsdienste, wie sie dann im Irak und in Iran ansässige Arzt, Mathe- heit der Juden war und blieb jedoch davon es später dann auch an das christliche Europa matiker und Philosoph Samau’al al-Maghrib¯ı überzeugt, dass ihre Religion die richtige, weil getan haben:34 Moritz Steinschneider hat die berichtet in seiner Autobiographie29 sehr frei- wahre Religion ist, wie die reiche und gleicher- Übersetzungs- und Vermittlungsleistung der mütig, dass und wie ihn das Studium der isla- maßen vielgestaltige polemisch-apologetische Juden in seinem mehr als 1000 Seiten umfas- mischen Geschichte, des Koran und der islami- Literatur belegt, deren opus classicum Jehuda senden opus magnum vor mehr als 100 Jahren schen Theologie und Philosophie und die da- (Ab¯u l-H. asan) ben Samuel ha-Lewis (1075- bereits dokumentiert und gebührend gewür- raus gewonnenen Einsichten von der Richtig- 1141) arabisch, in Form eines Religionsdialoges digt. Beispielhaft genannt sei dafür hier nur die keit des Islam überzeugt und zum Übertritt zum geschriebenes „Buch des Beweises und der Ver- „Übersetzerschule von Toledo“ (12./13. Jahr- Islam bewogen haben. Ganz anders hingegen teidigung einer verkannten Religion“ (hebrä- hundert).35 der Arzt und Philosoph Ibn Kamm¯una aus isch als Sefer ha-Kuzar¯ı bekannt) ist. Bagdad, der zwar ebenfalls zum Islam übertrat, Wie dieser theologisch-philosophischen Lite- dafür aber ganz andere Gründe nannte. Er ratur zu entnehmen ist, bezog die jüdische POESIE ALS INBEGRIFF DER schreibt: „Bis heute sehen wir niemanden zum Identität wesentliche Elemente ihrer Ausprä- KULTURSYMBIOSE Islam übertreten, außer dass (1) Furcht auf ihm gung aus der Begegnung mit dem Anspruch lastet, (2) er nach Macht strebt, (3) er unter der des Islam, die letztgültige Offenbarung Gottes Inbegriff der jüdisch-arabische Kultursymbio- Steuerlast leidet, (4) er der Erniedrigung entrin- in der Geschichte der Menschheit zu sein. Die- se jedoch ist ohne Zweifel die unter arabischem nen will, (5) er in Gefangenschaft geraten ist sem Anspruch begegnete man durchaus nicht Einfluss entstandene judaeo-arabische Poesie, (und freikommen will) oder (6) er sich in eine nur mit Ablehnung und Zurückweisung. Denn zunächst in Spanien und Nordafrika, dann in Muslimin verliebt hat oder sonst irgend einen der Ablehnung und Zurückweisung dieses An- Ägypten und später im Irak und im Jemen.36 Grund hat. Wir sehen jedoch keinen, der in sei- spruches stand des Öfteren auch der Versuch Und diese Poesie sollte weit über das Ende der ner Religion und der Religion des Islam versiert einer Anerkennung und positiven Würdigung jüdisch-arabischen Kultursymbiose hinaus der ist, noch dazu, wenn er reich und anerkannt des Islam gegenüber. So finden sich immer wie- Inbegriff von Poesie bleiben, wie nicht zuletzt und ein religiöser Mensch ist, den Islam anneh- der Versuche, die Legitimität des arabischen all jene Gedichte belegen, die, im christlichen men, ohne dass einer der genannten oder ähn- Propheten auch aus jüdischen Quellen nachzu- Europa des hohen Mittelalters entstanden, liche Gründe vorliegen.“30 Während Samau’al weisen und zu verteidigen bis dahin, dem Islam zwar hebräisch abgefasst sind, jedoch von nos- von Überzeugung spricht, sind es nach Ibn eine positive Rolle in der Geschichte Gottes mit talgischer Sehnsucht nach der Welt ihrer ju- Kamm¯una äußerliche Gründe, die für (s)eine den Menschen einzuräumen, wie dies u. a. der daeo-arabischen Vorbilder geprägt sind, wie Konversion maßgebend waren. eben schon genannte Jehuda ha-Lewi, Mose Angel Sáenz-Badillos in einem Aufsatz gezeigt Handelt es sich hier auch um individuelle Zeug- ben Maimon oder Nethan’el al-Fajjumi und an- hat.37 nisse, so dürfen wir doch annehmen, dass es dere getan haben, die im Islam (neben dem Dass die jüdischen Gelehrten von ihren arabi- auch andernorts oft keine anderen Gründe wa- Christentum) eine Art praeparatio messianica, schen Kollegen tatsächlich wahrgenommen ren, die Juden (und Christen) zum Religions- einen Beitrag zur Ausbreitung des Wissens um worden und der Nachwelt in Erinnerung ge- wechsel veranlasst haben. Dass tatsächlich den Einen Gott, den Gott der Bibel, in der Welt blieben sind, belegt ein Blick in die einschlägi- nicht zuletzt wirtschaftliche Argumente und gesehen haben. gen arabischen Gelehrtenlexika wie Ibn al- ’ ’ ‘ sozialer Status dabei eine Rolle spielten, Kon- Qift¯ıs Tarih˘ al-h.ukam¯a oder Ibn Ab¯ı Us.aibi as version nachgerade als Steuersparmodell dien- biographisches „Handbuch der Ärzte“ (‘Uy¯un ’ ’ te – zum Islam übergetretene d_imm¯ıs brauch- BLÜTEZEIT DER JÜDISCH-ARABISCHEN al-anb¯a f¯ı tabaq¯at al-at.ibb¯a ) und andere, die ten keine gizya˘ mehr zu zahlen –, erfahren wir KULTURSYMBIOSE nicht nur muslimischen, sondern auch jüdi- zumindest indirekt aus dem Emirat Córdoba, in schen Gelehrten Artikel gewidmet haben. Frei- dem bereits gegen Ende des 8. Jahrhunderts Ihren eigentlichen Höhepunkt indessen er- lich blieb diese wechselseitige Wahrnehmung Übertritte zum Islam förmlich verboten wur- reichte die jüdisch-arabische Kultursymbiose im Wesentlichen begrenzt auf den Bereich der den, weil sie ein solches Ausmaß angenommen ohne Zweifel in der (judaeo-arabischen) Phi- Naturwissenschaften, der Philosophie und der hatten, dass es dem Fiskus an Steuereinnah- losophie, der Medizin und den Naturwissen- Medizin sowie weltlichen Literatur und Poesie. men fehlte. schaften einerseits und der (judaeo-arabi- Dennoch sind gerade diese am Ausgang Islamisierung hatte indessen nicht immer mit schen) Poesie und Literatur des Mittelalters an- des Mittelalters entstandenen Gelehrtenlexika Freiwilligkeit zu tun. Es gab auch Zeiten, in de- dererseits. Davon zu sprechen, wäre freilich ein wichtig. Haben sie doch zu einer Zeit zumindest nen es – unter Missachtung geltenden Rechts eigenes Thema.31 Nur Anmerkungen dazu seien die Erinnerung an jüdische Gelehrte und ihre – zu Zwangskonversionen kam, wie dies bei- daher hier angebracht. spielsweise unter der Herrschaft der Almo- Wie die entsprechenden arabischen Wissen- haden in Marokko und Spanien (1130–1223) schaften, entstanden auch jüdische Philoso- UNSER AUTOR der Fall war, die sich nicht um das überlie- phie, Medizin und Naturwissenschaften aus ferte Recht scherten. Diese Zwangskonversio- der Begegnung mit dem klassischen griechi- Prof. Dr. Stefan Schreiner lehrt Religions- nen sind nach den anerkannten islamischen schen Erbe unter dem Einfluss des Islam.32 wissenschaft und Judaistik und ist Direktor Rechtsschulen allerdings nicht gültig gewesen. Dabei unterschieden sich islamische und jüdi- des Institutum Judaicum der Eberhard Als Mose ben Maimon, der unter dem Druck der sche Philosophie und Philosophen, Mediziner Karls Universität Tübingen. Er ist Autor zahl- Almohaden in seiner Heimat mit seiner Familie und Naturwissenschaftler, sofern sie philoso- reicher Arbeiten zur Geschichte und Kultur- zum Schein zum Islam übergetreten war, phisch, medizinisch oder naturwissenschaft- geschichte der Juden vor allem in Mittel- später in Fustat (Alt-Kairo), wie Ibn al-Qift¯ı in lich arbeiteten und argumentierten, in ihren und Osteuropa. Außerdem war er Kurator ei- seinem Gelehrtenlexikon berichtet, von dem Ansichten durchaus nicht wesentlich vonein- niger Ausstellungen über Wissenschaft und ebenfalls aus al-Andalus stammenden Juristen ander, wie den entsprechenden Kapiteln der Kultur jüdischer Künstler und Forscher. Ab¯u l-‘Arab ibn M¯a’iˇsa beschuldigt wurde, vom Wissenschaftsgeschichte zu entnehmen ist. Stefan Schreiner ist Chefherausgeber der Islam abgefallen (und zum Judentum zurück- Das gilt für den arabisch-jüdischen Kal¯am und vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift gekehrt) zu sein und deshalb die auf Apostasie den Aristotelismus nicht anders als für den ara- „Judaica – Beiträge zum Verstehen des Ju- stehende Todesstrafe verdiene, verhinderte bisch-jüdischen Neuplatonismus und den ihn dentums“ und Mitherausgeber der Studia dies der Richter ‘Abd ar-Rah.¯ım ibn ‘Al¯ı al- inspirierenden Sufismus. Judaica Cracoviensia.

100 Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt

Werke bewahrt, in der sie andernorts, unter den Palästinensern zumal, zunehmend mehr den 17 Vgl. dazu auch sein in der FAZ vom 25.10.2003 veröf- fentlichtes Fazit: Zustände wie im alten Andalusien (http: Juden im christlichen Europa, in Vergessenheit Blick dafür zu versperren, dass Juden und Mus- //www.qantara.de/webcom/schow_article.php/_c-469/_ zu geraten begannen. Denn in dem Maße, in lime, Juden und Araber im Laufe ihrer gemein- nr-98/i.html). dem sich die Juden im christlichen Europa an- samen Geschichte, wenn auch zumeist eher 18 M R. Cohen: Under Crescent and Cross., S. 161. 19 F. Braudel: A History of Civilizations. Transl. R. Mayne. schickten, die Vorrangstellung innerhalb der neben- als miteinander, so doch weithin in Frie- New York, 2. Auflage 1995, S. 50ff. u. S. 62-80. jüdischen Gemeinschaft einzunehmen, und die den gelebt haben und vielleicht deshalb jene 20 W. Fischel: Jews in the economic and political life of Zentren jüdischer Kultur und Bildung sich aus jüdisch-arabische Kultur und Wissenschaft mediaeval Islam. London 1937 (repr. with a new introduc- tion on the court Jew in the Islamic world: New York der arabisch-islamischen Welt in eben dieses schaffen konnten, deren Leistungen bis heute 1969). christliche Europa verlagerten, in dem Maße nicht nur beeindrucken, sondern zu den Quel- 21 S. D. Gotein: Letters of medieval Jewish traders. Trans- fiel die jüdisch-arabische Kultur, Wissenschaft len gehören, aus denen das christliche Europa lated form the Arabic with introductions and notes. Prin- und Geschichte dem Vergessen ebenso anheim später geschöpft hat. Daran, dass die jüdische ceton, N. J. 1973. 22 U. a. an ihn erinnerte die Ausstellung „Ex Oriente. Is- wie diejenigen, die ihre Schöpfer und Träger Geschichte in der arabisch-islamischen Welt sak und der weiße Elefant: Bagdad – Jerusalem – Aachen“ waren, und was nicht ins Hebräisch übersetzt nicht nur Nachtseiten, sondern ebenso auch in Aachen (30.6.–28.9.2003); s. dazu auch den dreibän- worden war, war alsbald aus dem kollektiven und gerade Glanzzeiten kennt, verdient denn digen Ausstellungskatalog. 23 Vgl. J. Vernet: Die spanisch-arabische Kultur in Orient Gedächtnis verschwunden, bevor es mit Be- auch heute mehr denn je erinnert zu werden. und Okzident. Zürich/München 1984, S. 290–291. ginn der Haskala, der jüdischen Aufklärung im 24 J. Blau: The Emergence and Linguistic Background of 19. Jahrhundert mühsam wieder entdeckt wur- Judaeo-Arabic. Jerusalem, 3. Auflage 1999. 25 Beispiele in: J. Blau: The Emergence and Linguistic de. Viele arabisch geschriebene Werke jedoch Background of Judaeo-Arabic., S. 133–166. sind verloren gegangen, und von nicht weni- 26 Siehe dazu u. a. H. Lazarus-Yafeh: Some differences gen haben wir nur fragmentarische Kunde. between Judaism and Islam as two religions of law. In: ANMERKUNGEN Religion 14 (1984), S. 175–191. Nur die Juden in den arabischen Ländern, die 27 B. Lewis: Die Juden in der islamischen Welt., S. 67-100. 1 jemenitischen Juden zumal, haben das judaeo- S. Schreiner: Auf der Suche nach einem „Goldenen 28 Weitere Beispiele dazu bietet die Homepage von „Jews arabische Erbe in Handschriften und seit dem Zeitalter“. Juden, Christen und Muslime im mittelalter- for Allah“ (http://www.jews-for-allah.org). lichen Spanien. In: Concilium – Internationale Zeitschrift 29 Arab. Text in: Islam Samau al al-Maghribi. Ed. M. ausgehenden 19. Jahrhundert auch in Drucken für Theologie, 39 (2003), S. 419–432. Perlmann. In: Proc. of the Amercian Academy of Jewish 38 2 bewahrt. Allerdings sorgte auch hier der all- Zit. nach B. Lewis: Islam in History – Ideas, Men, and Research 32 (1964), S. 94–120 (arab. Zählung); engl. gemeine Niedergang der arabischen Kultur und Events in the Middle East. Chicago/La Salle, 2. Auflage Übersetzung: M. Perlmann: The Conversion to Ilsma of 1993, S. 147–148. Samau’al ibn Yaya al-Maghribi. In: Proc. Of the American Wissenschaft seit dem ausgehenden Mittelal- 3 Eine vollständige deutsche Übersetzung des „General- Academy of Jewish Research 32 (1964), S. 75–87. ter dafür, dass das Interesse der Juden in der edikts über die Ausweisung der Juden aus Spanien, ge- 30 Arab. Text in: Said b. Man¯ur Ibn Kamm¯una’s Examina- arabisch-islamischen Welt an ihrem eigenen geben zu Granada am 31. März 1492“ findet sich in: Ju- tion of the Inquiries into Three Faiths. A Thirteenth-Cen- daica 48 (1992), S. 3–6. tury Essay in Comparative Religion, ed. M. Perlmann, Ber- wissenschaftlichen und literarischen Erbe ver- 4 A. Harris/H. Elmquist Cutler: The Jews as Ally of the keley/Los Angeles 1967 (= Univ. of California Publ., Near kümmerte.39 Muslims. Medieval Roots of Anti-Semitism. Oxford 1986. Eastern Studies no. 6), S. 102; engl. Übersetzung: M. Perl- 5 Siehe dazu M. R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond. mann: Ibn Kamm¯una’s Examination of the Three Faiths. Die Juden im Mittelalter. München 2005, bes. S. 17–32 A thirteenth-century essay in the comparative study of re- (= Under Crescent and Cross. The Jews in the Middle ligion. Berkeley/Los Angeles/London 1971, S. 149. SCHATTENSEITEN UND GLANZZEITEN Ages. Princeton N. J. 1994, gekürzt). 31 Übersicht: H. Lazarus-Yafeh: Judeo-Arabic culture. In: 6 B. Lewis: The Jews of Islam. Princeton 1984; deutsch: Encyclopaedia Judaica Year Book 1977-1978, S. 101–109. Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittel- 32 F. Rosenthal: Das Fortleben der Antike im Islam. Zü- Die Wiederentdeckung des judaeo-arabischen alter bis ins 20. Jahrhundert. dt. L. Julius. München 1987 rich 1965; Erwin I. J. Rosenthal: Griechisches Erbe in der Erbes seit dem 19. Jahrhundert stand indessen (Neuausgabe 2004). jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters. Stuttgart unter keinem günstigen Stern. Während die Ju- 7 J. Saphir: Even Sappir. 2 Bände. Lyck/Mainz 1866– 1960 (= Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1957). 1874 (reprint: Jerusalem 1967). 33 D. Gutas: Greek Thought – Arabic Culture. The Grae- den in der arabisch-islamischen Welt gegen- 8 Israel b. Josef Benjamin: Acht Jahre in Afrika und co-Arabic translation movement in Baghdad and early über den Juden Europas längst ins Hinter- Asien. Hannover 1858. Abbasid society. London 1998. treffen geraten und weithin dem Vergessen 9 Davon zeugt nicht zuletzt auch sein Magnum opus: A 34 M. Steinschneider: Die hebräischen Übersetzungen des Mediterranean Societey. 6 Bände. Berkeley/Los Angeles/ Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Berlin 1893 anheim gefallen waren – neben den eingangs London 1967–1993 (2. Auflage 1999). (repr. Graz 1956). genannten Reisenden waren es vor allem phil- 10 S. D. Goitein: Jews and Arabs – their contacts through 35 J. Vernet: Die spanisch-arabische Kultur in Orient und anthropischen Organisationen wie die Alliance the ages. New York 1955 (3. Auflage 1974), S. 11–12. Okzident. Zürich/München 1984, S. 80–86, S. 89–116, 11 S. 125–128, S. 167–169 sowie S. 188–193. u. ö. 40 G. D. Newby: A History of the Jews of Arabia. From an- Israelite Universelle, die die Juden in der isla- cient times to their eclipse under Islam. Columbia. SC 36 M. Steinschneider: Die arabische Literatur der Juden: mischen Welt gleichsam wiederentdeckten, 1998 (= Studies in comparative religion). ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Araber. Frankfurt auf ihr Schicksal aufmerksam machten und vor 12 N. A. Stillmann: The Jews of Arab Lands. A History and am Main 1902 (repr. Hildesheim 1986); G. Bossong (ed.): Source Book. Phildadelphia 1979, S. 3–21; S. 199–123; Das Wunder von al-Andalus. München 2005. allem durch Bildungsarbeit und karitative An- S. 129–151. 37 Hebräische Dichtung im christlichen Spanien. Dichter strengungen zu verbessern suchten –, begeg- 13 Texte u. a. in N. A. Stillmann: The Jews of Arab Lands. und ihre Absichten. In: Judaica 57 (2001), S. 2-19, S. 82-93. neten sich Juden und Araber seit dem ausge- A History and Source Book. Philadelphia 1979, S. 115– 38 R. Ahroni: Yemenite Jewry: Origins, Culture, and Lite- rature. Bloomington 1986. henden 19. Jahrhundert unter anderem Vorzei- 188 und S. 157–158. 14 M. Hamidullah: The First Written Constitution in the 39 A. Chouraqui: Les Juifs d’ Afrique du Nord: marche chen, nämlich unter dem Vorzeichen des bei- World. Lahore, 2. Auflage 1968. vers l’Occident. Paris 1952; ders.: Histoire des Juifs en derseitigen Versuchs, ihre nationalen Ideen 15 M. R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond, S. 68–87; Afrique du Nord. 2 Bände. Monaco 1998; R. Spector Si- mon/M. M. Laskier/S. Reguer (eds.): The Jews of the und daraus erwachsenden Ansprüche, von de- Under Crescent and cross, S. 52–74; S. 232–237 und ders.: What was the Pact of `Umar? A Literary-Historical Middle East and North Africa in modern times. New York nen sie unter dem Eindruck und Einfluss des im Study. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 23 2003. Europa des 19. Jahrhunderts aufgekommenen (1999), S. 100-157. 40 A. Chouraqui (ed.): Cent ans d'histoire: l'alliance isra- 16 élite universelle et la renaissance juive contemporaine Nationalismus erfasst waren, immer stärker B. Ye’or: The Dhimmi: Jews and Christians under Is- lam. With a preface by Jacques Ellul. Rutherford 1985; (1860–1960). Paris 1965; M. M. Laskier: The Alliance Is- gegeneinander durchzusetzen und zu verwirk- dies.: Juifs et chrétiens sous l’Islam: les dhimmis face au raélite Universelle and the Jewish communities of Moroc- lichen, wie die Geschichte des bis heute unge- défi intégriste. Parids 1994; dies.: Der Niedergang des co 1862–1962. Albany 1983 (= Publications of the Dia- orientalischen Christentums unter dem Islam 7.–20. Jahr- spora Research Institute; Bd. 45); A. Rodrigue: French lösten so genannten Nahostkonflikts belegt. hundert. Gräfelfing 2002; dies.: Islam und Dhimmitude: Jews, Turkish Jews: the Alliance Israélite Universelle and Und es scheint, als würde der nach wie vor un- where civilizations collide. Madison. NJ 2002. So neuer- the politics of Jewish schooling in Turkey, 1860–1925. dings auch: Moshe Gil: Jews in Islamic. Countries in the Bloomington 1990. gelöste Konflikt zwischen Israel und seinen Middle Ages. Leiden-Boston 2004 (= Etudes sur le Ju- arabischen Nachbarn, zwischen Israelis und daisme Médiéval. Band 28).

101 MÖGLICHKEITEN EINES DIALOGS ZWISCHEN CHRISTEN UND MUSLIMEN Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

KARL-JOSEF KUSCHEL

Daraus folgt: Gerade Muslime werden von ih- Flucht nach Ägypten und der Kindermord in rer Heiligen Schrift aufgefordert, theologisch Bethlehem, dann der Tod des Herodes sowie die Die neutestamentliche Geburtsgeschich- über das „Geheimnis“ der Geburt Jesu nachzu- Rückkehr aus Ägypten und Wohnsitz in Naza- te hat nicht nur jüdische Wurzeln, son- denken, ähnlich wie Christen, wenn sie mit den reth. Nach Lukas kommt es acht Tage nach der dern auch eine muslimische Nachge- entsprechenden Texten des Neuen Testamen- Geburt zur gesetzlich vorgeschriebenen Be- schichte. So finden sich im Koran zwei tes konfrontiert werden. Ein bemerkenswertes schneidung des Kindes, gut vier Wochen später Suren, die in ausführlichen Beschreibun- Faktum: Christen sind nicht nur auf Mithilfe zur Reinigung Marias im Jerusalemer Tempel gen Parallelen zu den Ereignissen und Fi- von Juden angewiesen, wenn es um das Ver- mit dem Auftritt eines alten Mannes namens guren im Neuen Testament aufweisen. ständnis ihrer eigenen heiligen Texte geht, son- Simeon und einer Prophetin namens Hanna, Karl-Josef Kuschel arbeitet eng an diesen dern auch herausgefordert, das zu hören, wie bevor die Familie nach Nazareth zurückkehrt. Quellen und zeigt so Übereinstimmun- Muslime - die sich nicht weniger als Christen gen, aber auch trennende Unterschiede und Juden auf den Gott Abrahams berufen - zwischen christlichem und islamischem diese Überlieferungen deuten. Gerade die Ge- KONSTRUIERTE „EVANGELIENHARMONIE“ Glauben. Gerade die Geschichten um die schichten um Jesu Geburt können und könn- UNTERSCHLÄGT DIE DIFFERENZEN Geburt Jesu könnten schon durch ihre ten schon durch ihre Existenz im Koran einen Existenz im Koran eine Kommunikation trialogische Kommunikation zwischen Juden, Diese künstlich konstruierte „Evangelienhar- zwischen Juden, Christen und Muslimen Christen und Muslimen eröffnen. Einige Ansät- monie“ unterschlägt freilich die Differenzen eröffnen. Die „Weihnachtsgeschichte“ ze dazu zu zeigen am Beispiel der Geburtsge- zwischen beiden neutestamentlichen Überlie- im Koran kann in dieser Betrachtungs- schichte im Koran (zahlreiche andere Jesus- ferungen, ja die Widersprüche untereinander, weise als Basis für einen Dialog von Texte oder christologisch relevante Aussagen vor allem aber auch das jeweilige theologische Christen und Muslimen gelesen werden. des Koran bleiben hier außen vor), ist Sinn und Profil. Denn bei genauer Lektüre ist ja unüber- Sie kann – so die These von Karl-Josef Zweck der folgenden Ausführungen. sehbar, dass beide Berichte in vielen Details er- Kuschel – das Gemeinsame im Lichte des heblich voneinander abweichen. Unterschiede Trennenden und das Trennende im Lich- gibt es bei der Geographie und Chronologie te des Gemeinsamen kommunizierbar DIE GEBURTSTEXTE IM NEUEN TESTAMENT (auf die ich nicht im Einzelnen hinweisen wer- machen. Ein solcher Dialog erfordert de). Unterschiede auch im kompositorischen gegenseitigen Respekt vor den jeweili- Vieles ist an Überlieferungen noch im Fluss, an Aufbau – mit Konsequenzen für das jeweilige gen Glaubensentscheidungen. Traditionen noch nicht fest, an Berichten noch theologische Profil. nicht zementiert, wenn es im Neuen Testament  Matthäus setzt einen StammbaumJesu ganz um die Geburt des Nazareners geht. Die Evan- an den Anfang seiner Geburtsgeschichte gelisten Markus und Johannes kennen keine (1,1–17), Lukas dagegen an das Ende, kurz vor Geburtsgeschichten, auch der Apostel Paulus dem öffentlichen Auftreten Jesu, als er schon JÜDISCHE VORGESCHICHTE UND nicht. In der gesamten neutestamentlichen 30 Jahre alt ist (3,23–38). Während Matthäus MUSLIMISCHE NACHGESCHICHTE Briefliteratur dazu kein Wort. Nur die Evange- als Judenchrist aus messialogischen Grün- lien des Matthäus und des Lukas kennen Ge- den das Interesse hat, Jesus mit den Haupt- Erst nach Bewusstwerden der antisemitischen burts-Überlieferungen, präsentieren sie aber in trägern der göttlichen Verheißung, Abraham Holocaust-Ereignisse, die ohne einen jahrhun- einer Weise, welche den Bewegungscharakter und David, und mit der davidischen Nach- dertelangen christlichen Antijudaismus un- der Überlieferungen noch erkennen lassen. kommenschaft zu verbinden, ist der Stamm- denkbar gewesen wären, haben Christen neu Schon die Tatsache, dass es zwei unterschied- baum von Lukas, dem Heidenchristen, er- das theologische Gespräch mit dem lebendigen liche Geburtsgeschichten gibt, unterstreicht kennbar universalistischer. Von Abraham ist Judentum gesucht und gelernt, zumindest die- das. bei ihm nicht die Rede, wohl aber führt er die jenige jüdische Welt wieder neu in den Blick Religiöse Unterweisung freilich hat in der Ver- Abstammung Jesu auf Adam, je letztlich auf und ernst zu nehmen, der die neutestament- gangenheit aus praktischen Zwecken sehr oft Gott zurück (Lk 3,23–38). Ist Jesus bei Matt- lichen Texte überhaupt ihre Entstehung ver- diese sehr unterschiedlichen Geschichten har- häus als Davids- und Abrahamssohn qualifi- danken. Gelernt, gerade auch in der Geburtsge- monisiert und synthetisiert, d.h. die verschie- ziert, so bei Lukas als Nachkomme Adams, der schichte Jesu auf Signale zu achten, die ohne denen Berichte in eine harmonische Abfolge wie Adam (ohne irdischen Vater) aus Gottes Kenntnisse der Geschichte Israels gar nicht zu gebracht, bei der der eine Text den anderen aufs Initiative heraus ein neues Menschenge- verstehen sind. Der damals selbstverständlich Beste ergänzte. Was bei Matthäus fehlte, er- schlecht begründen soll. gegebene und bleibend prägende jüdische setzte Lukas, wo Lukas etwas nicht tradierte,  Die Täufergeschichten um Johannes, Sohn Wurzelgrund des Christus-Ereignisses rückte sprang Matthäus ein. So ergab sich ein angeb- von Zacharias und Elisabeth, baut Lukas groß ins Zentrum der Aufmerksamkeit. lich gesichertes, gefestigtes Ganzes: Von Lukas aus. Er setzt die Ankündigung der Geburt des Es ist an der Zeit, sich einen zweiten Komplex nahm man die Vorgeschichte der Geburt Jesu: Johannes vor die von Jesus, verknüpft beide bewusst zu machen, der auch bei der jüdisch- Ereignisse um Johannes den Täufer und dessen Geschichten durch die Figuren Maria und Eli- christlichen Re-Lektüre der neutestamentli- Eltern Elisabeth und Zacharias (des Zacharias sabeth und gibt dem Vater von Johannes, Za- chen Geburtsgeschichte bisher außerhalb des Bestrafung durch Stummheit wegen Unglau- charias, durch einen theologisch und sprach- Blickfeldes lag: die Nachgeschichte biblischer ben). Dann die Erscheinung des Erzengels Ga- lich präzise komponierte Hymnus (1,67–79) Ereignisse und Figuren im Koran. Gerade die briel in Nazareth vor Maria mit der Ankündi- starkes Profil, bevor er nach der Geburt Jesu Geschichten um Jesu Geburt haben nicht nur gung der Geburt. Anschließend Marias Besuch auf den Täufer noch einmal zurückkommt, eine jüdische Vor-Geschichte, sondern auch ei- im Hause Elisabeths. Dann die Geburt des Jo- um über sein öffentliches Auftreten zu be- ne muslimische Nach-Geschichte. Im Koran hannes und die Lösung von Zacharias' Strafe. richten (3,1–22). Matthäus dagegen kennt finden sich in zwei Suren relativ ausführliche Dann die Volkszählung unter Augustus, da- keine Geburtsgeschichten um Johannes. Für Beschreibungen (mit Vorereignissen, Empfäng- durch Wanderung Marias und Josephs von Na- ihn ist der Täufer erst kurz vor dem öffent- nis, Nachereignissen), die starke Parallelen zu zareth nach Bethlehem. Jesu Geburt, die En- lichen Auftreten Jesu interessant, in einer den neutestamentlichen Überlieferungen ent- gelserscheinung vor den Hirten, die Huldigung kurzen Szene (3,1–17), die den Täufer noch halten, immer aber aus der dem Koran spezifi- der Hirten. Von Matthäus werden jetzt einge- mehr als Lukas als reine Kontrastfigur zu Je- schen theologischen Axiomatik gedeutet sind. schoben die Huldigung der Sterndeuter, die sus macht (ohne wie Lukas am Schicksal des

102 Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

Täufers weiter interessiert zu sein: Lk 3,19f.), Unmögliches zu erwarten, bleibt bei ihm ganz völker. Mit dem Neugeborenen ist der Messi- zum bloßen Vor-Läufer also, der anschlie- in der intimen Szene zwischen Engel und Ma- as Israels endlich erschienen: an dieser Über- ßend von dem überboten wird, der „mit dem ria. Während also Matthäus ganz aus der Per- zeugung lassen beide Texte keinen Zweifel. Heiligen Geist und mit Feuer taufen“ wird spektive des Mannes und der Öffentlichkeit er- Ja, sie tun durch ein fein gesponnenes Netz (Mt 3,11; Lk 3,16). zählt, erzählt Lukas ganz aus der Perspektive von textlichen Deutungssignalen viel, um  Bedeutende Unterschiede auch hinsicht- der Frau und der Intimität. Unterschiedlicher dies unabweisbar zu machen. Deshalb spie- lich der Geburtsgeschichte selbst. Nach Prä- könnten die Perspektiven kaum sein. Ähnlich len Prophetenworte in beiden Texten eine sentierung seines Stammbaums kommt bei der Geschichte der Geburt selber. große Rolle: ob Jesaja im Blick auf die junge Matthäus ohne weitere Überleitung und Frau, die ein Kind empfangen wird; ob der Zwischenschritte gleich zur Sache. Schon Prophet Micha im Blick auf Bethlehem, der sein Vorgeburts-Bericht ist in seiner lapida- ÜBEREINSTIMMENDE THEOLOGISCHE Prophet Hosea im Blick auf Ägypten, der Pro- ren Kürze kaum noch zu unterbieten: GRUNDBOTSCHAFTEN phet Jeremia im Blick auf den Kindermord. Gerade Matthäus ist in höchstem Maße dar- Und doch - trotz aller unterschiedlichen, zum an interessiert, das Erscheinen Jesu einzu- „Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, Teil widersprüchlichen Informationen in Ein- betten in die Geschichte des Volkes Israel und seine Mutter, war mit Joseph verlobt; noch be- zelfragen: beide neutestamentlichen Geburts- dessen messianische Erwartungen. Von da- vor sie zusammengekommen waren, zeigte Geschichten stimmen in der theologischen her zu Beginn seines Evangeliums der sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Grundbotschaft durchaus überein: Stammbaum: Jesus Christus programma- Wirken des Heiligen Geistes. Joseph, ihr Mann,  Mit der Geburt Jesu ist von Gott her eine neue tisch herausgestellt als „Sohn Davids, Sohn der gerecht war und sie nicht bloßstellen woll- Initiative erfolgt. Gott handelt wieder neu - Abrahams“. Zwar deutet auch Matthäus mit te, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu tren- rettend, erlösend. Der Himmel ist gewisser- der Sterndeuter-Huldigung die Bedeutung nen. Während er noch darüber nachdachte, er- maßen durchlässiger geworden, durchlässi- Jesu für die Heidenvölker wenigstens an, sein schien ihm ein Engel des Herrn im Traum und ger jedenfalls als früher, ja durchlässig wie Schwerpunkt aber bleibt das Volk Israel, wie sagte: Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, früher zu Zeiten Abrahams, bei dem ebenfalls seine Engel-Szene mit Joseph deutlich ma- Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn Engel ein- und ausgingen und eine alte Frau chen soll: das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen wieder fruchtbar wird. Elisabeth ist erkenn- Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst bar als Sarah-Figur konzipiert, Zacharias als du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Abraham-Figuration (Gen 18,11; 15,8). Es „Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du Volk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ge- herrscht Frühzeit-Stimmung in dieser Spät- den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk schieht, damit sich erfüllte, was der Herr durch zeit. Deshalb können in beiden Geschichten von seinen Sünden erlösen.“ (1,21) den Propheten gesagt hat: ‚Seht, die Jungfrau Engel wieder wie selbstverständlich als Bo- wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie ten Gottes ein- und ausgehen. Sie sind Figu- gebären, und man wird ihm den Namen Imma- ren der Deutung und der Führung des Ge- Ähnlich Lukas, der im Blick auf seine Adressa- nuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit schehens. Deshalb können kosmische Zei- ten (Heidenchristen) stärker noch Jesu Bedeu- uns.' Als Joseph erwachte, tat er, was der Engel chen am Himmel Menschen den Weg zu dem tung nicht nur für Israel, sondern auch für die des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm sei- neuen Ereignis weisen. Deshalb kann der na- Völkerwelt betont. Durch kunstvoll komponier- ne Frau zu sich. Er erkannte sie aber nicht, bis türliche Ablauf im Fall einer Geburt theozen- te Hymnen, die entweder Maria („Magnificat“), sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Na- trisch unterbrochen werden. Beide Evange- Zacharias („Benedictus“) oder Simeon („Nunc men Jesus.“ (1,18–25) listen legen Wert darauf: Gottes Geist zeugt demittis“) in den Mund gelegt werden, wird die dieses Kind, nicht ein Mensch. Göttliche Kraft Doppelperspektive Stück für Stück vorbereitet. ist hier am Werk, nicht männliche Potenz. Im Lobgesang der Maria hieß es noch, Gott ha- Lukas dagegen baut die Szene narrativ aus und Symbolkräftiger kann man den Zäsurcharak- be sich seines „Knechtes Israel“ angenommen gibt seinen Lesern mehr Informationen. Bei ihm ter dieses Ereignisses kaum herausstellen. und an sein „Erbarmen“ gedacht, das er den bleibt der Engel nicht anonym, sondern trägt Nicht menschliche Geschichte und mensch- „Vätern verheißen“ habe: „Abraham und seinen einen Namen: Gabriel. Bei ihm erscheint der liche Physis zählen in diesem Moment, son- Nachkommen auf ewig“ (1,54f.). Auch bei Za- Engel nicht Joseph (wie bei Matthäus durchge- dern Gottes Geist, Gottes Handlung, Gottes charias, immerhin Priester im Tempel zu Jeru- hend), sondern Maria. Bei ihm bleibt der Ort der Zeichen - entsprechend dem Satz des Engels salem, dieselbe innerjüdische Perspektive: Gott Begegnung Engel-Maria nicht unbekannt, son- an Maria aus dem Lukas-Evangelium: habe Israel „errettet“ vor seinen „Feinden“ und dern wird konkret: eine Stadt in Galiläa namens habe das “Erbarmen mit den Vätern“ jetzt „voll- Nazareth. Bei ihm bleibt die narrative „Kamera- endet“. Er habe an „seinen heiligen Bund“ ge- führung“ bei Maria, der Frau: Von ihrer Aus- „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und dacht, an den Eid, den er dem Vater Abraham zeichnung wird berichtet, ihr wird die Größe ih- die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. „geschworen“ habe. Er, Jesus, werde „sein Volk res künftigen Sohnes geschildert, ihre Reaktion Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn mit der Erfahrung des Heils beschenken in der bleibt im Blick („Wie soll das geschehen, da ich Gottes genannt werden. Auch Elisabeth, deine Vergebung der Sünden“ (1,71–73; 77). Bei Si- keinen Mann erkenne?“). Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn meon dann vollends: Woran Matthäus offensichtlich das größte empfangen; obschon sie als unfruchtbar galt, Interesse hat, darüber bei Lukas kein Wort. ist sie jetzt schon im sechsten Monat. Denn für Matthäus lässt seinen Engel Joseph gegenüber Gott ist nichts unmöglich.“ (1,35–37) „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du ge- sofort auf die soziale Problematik kommen, im sagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Au- Wissen darum, dass eine Frau, die noch nicht gen haben das Heil gesehen, das du vor allen verheiratet ist und ein Kind erwartet, sozial Dies ist in der Tat die theozentrische Pointe bei- Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden skandalträchtig ist. Joseph muss - gewisser- der Geburtsgeschichten. Durch Jesu Geburt erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Is- maßen auf göttlichen Eingriff hin - ruhig ge- wird Unfruchtbares wieder fruchtbar, Abge- rael.“ (2,29–32) stellt werden: „Fürchte dich nicht, Maria als storbenes wieder kraftvoll, Totgeglaubtes wie- deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das der lebendig. sie erwartet, ist vom Heiligen Geist“. Matthäus Neben die theozentrische Perspektive („Denn weiß also, dass die Verwendung des Motivs für Gott ist nichts unmöglich“, Lk 1,37) tritt bei Geistzeugung und Jungfrauengeburt sozial DIE INITIATIVE GOTTES GILT SEINEM VOLK beiden Evangelisten die „christozentrische“: Es prekär ist, deshalb muss er das Hindernis theo- ist Jesus, der das geistgewirkte Zeichen Gottes zentrisch beseitigen. Diesen göttlichen Eingriff  Die mit Jesu Geburt sichtbar gewordene In- ist, „der Messias, der Herr“ (Lk 1,11), „Sohn Got- um sozialpsychologischer Krisenprophylaxe itiative Gottes gilt vor allem seinem Volk: Is- tes“, „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32; 1,35), mit willen findet Lukas offensichtlich nicht nötig. rael. Und über Israel hinaus (aber immer mit dem ein neues Zeitalter beginnt. Das „Unmög- Er kennt von alldem nichts. Das Gefühl, etwas Israel und durch Israel) der Welt der Heiden- liche“, das Gott neu zu tun imstande ist, ge-

103 KARL-JOSEF KUSCHEL schieht also nach den neutestamentlichen Be- und wirtschaftlich hochprofitable Establish- Mensch. Und: Ermahnung zu einem Gott ent- richten an Jesus, durch Jesus und mit Jesus. ment rekrutierte. Dagegen stellt Mohammed sprechenden sozialen Verhalten, zu einem Seine Person, seine Botschaft, sein Geschick die immer wieder erneut eingeschärfte Erinne- Ethos, konkretisiert in regelmäßigem Gebet, re- steht jetzt und künftig im Zentrum, wenn sie rung an die Macht des einen und einzigen Got- gelmäßigem Fasten und verbindlicher Rück- von Gottes Handeln an seinem Volk und an den tes, des Schöpfers der Welt und jedes einzelnen sicht auf die Armen und Schwachen. Von daher Völkern berichten wollen. Menschen: So wie Gott die Welt und den Men- ist es kein Zufall, dass Sure 19 auf eine ganze schen geschaffen hat, kann er die Welt und den Reihe von großen prophetischen Figuren der Menschen zerstören und wieder zu neuem Le- Vergangenheit verweist, die denn auch nach EINE SYSTEMATISCHE „CHRISTOLOGIE“ ben erwecken. Es gibt eine Auferstehung der der Geburtsgeschichte Jesu angeführt werden: LIEGT NICHT VOR Toten, es gibt ein Gericht über des Menschen auf Adam, Noah, Abraham, Ismael und Mose. Taten und Untaten, die genau aufgezeichnet Programmatisch aber beginnt Sure 19, die so- Und doch ist das Nachdenken über das Ge- sind durch eine Lebens-Schrift bei Gott. Und es gar im „Titel“ den Namen „Maria“ trägt, mit der heimnis des Nazareners in den Geburtsge- gibt für die Glaubenden und sozial Sensiblen Geburt Jesu, der (parallel zum Evangelisten Lu- schichten noch so im Fluss wie die Überliefe- nach dem Gericht das Paradies, für die Unglau- kas) die Geschichte von der Geburt des Johan- rung selbst. Schaut man sich nur die christolo- benden, Rücksichtslosen, Diesseitsverliebten nes vorgeschaltet ist: gischen „Titel“ an, so erkennt man, dass je nach die Hölle. Dass Mohammed mit einer solchen jüdischer oder juden- bzw. heidenchristlicher Botschaft, die nicht nur soziale Besitzstände, Perspektive die Akzente anders gesetzt sein sondern die ganze Existenz des Menschen „Gedacht sei (in dieser Verkündigung) der können. Mehrere Titel stehen nebeneinander, schöpfungs- und gerichtstheologisch in Frage Barmherzigkeit, die dein Herr seinem Diener schließen sich nicht aus. Eine abgeschlossene, stellte, auf Misstrauen, Verspottung, Ableh- Zacharias bezeigt hat! (Damals) als er im Stil- gar systematisierte „Christologie“ liegt nicht nung, ja Anfeindung durch das Establishment len seinen Herrn anrief! Er sagte: ‚Herr! Das Ge- vor. Matthäus kann Jesus „Kind vom Heiligen von Mekka stieß, kann man ohne weitere Erläu- bein ist mir schwach geworden, und der Kopf Geist“, „König der Juden“, „Messias“ nennen. terungen nachvollziehen. altersgrau. Und ich hatte, wenn ich zu dir, Herr, Bei Lukas stehen nebeneinander: „Sohn des betete (noch) nie Misserfolg (w. ich war beim Höchsten“, „Davidssohn“, „Gottessohn“, „Herr“ Gebet zu dir, Herr, nicht unglücklich). Ich oder „Messias“. Ja, gerade die jüdischen Gestal- ERINNERUNGSBOTSCHAFT, WARN- UND fürchte nun, dass die weiteren Verwandten ten in der Geburtsgeschichte des Lukas benut- GERICHTSREDE und Angehörigen (als einzige) mich überle- zen eine auffällige Titulatur. Der Vertreter der ben werden (w. Ich fürchte die Maula–s nach Jerusalemer Priesterklasse, Zacharias, erblickt In diesem Kontext muss auch Sure 19 verstan- mir). Meine Frau war (ja) unfruchtbar. Darum in dem Kind einen „Prophet des Höchsten“, der den werden. Auch sie ist hineingesprochen in schenk mir von dir einen Nächstverwandten die „barmherzige Liebe unseres Gottes“ verkör- die konkrete Kampfsituation des Propheten in (Walı–), der mich beerben, und der (auch etwas) pere, denn er werde „dem Herrn vorangehen Mekka und lässt erkennen, wie sehr die kleine von der Sippe Jakobs erben wird! Und mach und ihm den Weg bereiten“ sowie „sein Volk mit muslimische Urgemeinde (70-80 Personen ihn, Herr, (dir) wohlgefällig!“ (Gott sagte:)‚ Za- der Erfahrung des Heils beschenken in der Ver- umfassend) im Konflikt lebt mit einer sie ab- charias! Wir verkünden dir einen Jungen mit gebung der Sünden“ (1,76f.). Und ein Mann wie lehnenden, verspottenden, marginalisierenden Namen Johannes, wie wir vor ihm noch keinen Simeon erblickt in dem Neugeborenen nicht und befeindenden Mehrheitsgesellschaft in genannt haben.' Zacharias (w. Er) sagte: ‚Herr! nur „den Messias des Herrn“ (2,26), sondern Mekka. So endet denn Sure 19 ebenfalls mit der Wie soll ich (noch) einen Jungen bekommen, auch ein „Zeichen“ (2,34). Ein Zeichen Gottes in für die Verkündigung von Mekka charakte- wo meine Frau unfruchtbar war und ich (mei- Israel, dem widersprochen werde! Diese Signa- ristischen Erinnerungsbotschaft in Form einer nerseits) steinalt geworden bin (w. und ich vom le wollen wir im Kopf behalten, wenn wir nun Warn-, Droh- und Gerichtsrede: hohen Alter Auszehrung (?) erreicht habe)? Er die Geburtsgeschichten im Koran uns anschau- (d.h. Gott) sagte: ‚So (ist es, wie dir verkündet en: Prophet des Höchsten, der die „barmherzi- wurde). Dein Herr sagt: (oder: So hat dein Herr ge Liebe unseres Gottes“ verkörpert, und „Zei- „Der Mensch sagt (in seinem Unverstand): (es an)gesagt.) Es fällt mir leicht (dies zu be- chen“ Gottes, dem widersprochen werden ‚Werde ich (etwa), wenn ich (erst einmal) ge- werkstelligen), wo ich dich doch vorher ge- wird! storben bin, lebendig (aus der Erde wieder) schaffen habe, während du (bis dahin) nichts hervorgebracht werden?' Bedenkt er denn warst.' Zacharias (w. Er) sagte: ‚Herr! Mach mir nicht, dass wir ihn vorher geschaffen haben, ein Zeichen (zum Beweis dessen, was du mir DIE GEBURTSGESCHICHTEN IM KORAN während er (bis dahin) nichts war? Bei deinem verkündet hast)!' Gott (w. Er) sagte: ‚Dein Zei- Herrn! Wir werden sie (d.h. die Menschen) und chen sei, dass du drei Tage ohne Unterbre- Wie im Neuen Testament gibt es auch im Koran die Satane (dereinst) (...) versammeln. Hierauf chung (?) (w. gleichmäßig) nicht mit den Leu- zwei Texte zur Geburt Jesus, und zwar in Sure 3 werden wir sie rings um die Hölle auf den Knien ten sprichst!' Da kam er aus dem Tempel zu sei- und Sure 19. Sure 19 ist nach der relativen liegend (zum Gericht) vorführen (...). Was nem Volk heraus und gab ihm (durch Zeichen) Chronologie von Nöldeke/Schwally (1861) der meinst du wohl von dem, der an unsere Zei- zu verstehen (w. gab ihnen ein): ‚Preiset (Gott) jüngere Text: in der zweiten Periode von Mekka chen nicht glaubte und sagte: ‚Ich werde be- morgens und abends!' geoffenbart (615-620). Sure 3 kommt später in stimmt (viel) Vermögen und Kinder bekom- ‚Johannes! Halte die Schrift fest (in deinem Be- Medina hinzu. Unsere Aufmerksamkeit gilt men'. Hat er etwa in das Verborgene Einblick sitz)!' Und wir gaben ihm (d.h. dem Johannes) deshalb zunächst dem früheren Text. gewonnen? Oder hat er beim Barmherzigen (schon) als (kleinem) Knaben Urteilsfähigkeit, ein (bindendes) Versprechen erhalten? Nein! Zuneigung (oder: Erbarmen) von uns und Lau- Wir werden (zu seinen Lasten) aufschreiben, terkeit. Er war gottesfürchtig und pietätvoll DAS NARRATIVE UND THEOLOGISCHE was er sagt, und ihm die Strafe noch verlän- gegen seine Eltern, nicht gewalttätig und PROFIL VON SURE 19 gern (oder: erhöhen?). Und wir werden von widerspenstig. Heil sei über ihm am Tag, da er ihm erben, was er sagt (das er bekommen wer- geboren wurde, am Tag, da er stirbt, und am Wenn Sure 19 in den Blick kommt, muss zu- de). Und er wird einzeln zu uns (zum Gericht) Tag, da er (wieder) zum Leben auferweckt gleich im Blick bleiben, dass ihr 57 Suren der kommen.“ (19,66-68; 77–80) wird!“ (Sure 19,1–15) Botschaft von Mekka bereits vorausgehen. Grundthemen der prophetischen Botschaft sind damit längst eingeführt und breit entfal- Ein Instrument, diese Erinnerungs-, Warn- und DIE GEBURT DES JOHANNES tet: die Attacke des Propheten auf die soziale Gerichtsrede zu konkretisieren, ist die aktua- Rücksichtslosigkeit und Diesseitsorientiertheit lisierende Bewusstmachung früher erfolgter Wie das Evangelium des Lukas schaltet der der polytheistisch orientierten Mehrheitsge- Botschaften, früher bereits von Gott gesandter Koran also vor die eigentliche Geburtsge- sellschaft Mekkas; darunter der Stamm der Propheten. Sie alle haben dieselbe Botschaft schichte Jesu die des Johannes, und wie der Quraisch, dem auch Mohammed angehörte verkündet: Glaube an den einen und einzigen Evangelist ist auch der Koran am überra- und aus dem sich das politisch einflussreichste Gott, den Schöpfer und Richter von Welt und schenden Eingreifen Gottes schon im Fall des

104 Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

Johannes interessiert. Doch ein genauer Ver-  Unterstrichen wird diese narrativ inszenierte selbe Gott auch ein anderes Zeichen geben: ei- gleich von Sure 19,1-15 mit Lukas 1,5-25 er- Welt-Zurücknahme dadurch, dass Zacharias nen Menschen kurze Zeit verstummen lassen. gibt ein sehr unterschiedliches theologisches für den Koran nicht als konkrete Person aus  Während der Evangelist Lukas (in Überein- Profil: dem Judentum interessant ist, sondern als Ty- stimmung mit Matthäus) Johannes als  Lukas hatte die Johannes-Geschichte an- pus, und zwar als Typus eines Gott vertrauen- Kontrastfigur für Jesus funktionalisiert, als schaulich lokalisiert und präzise verge- den Beters, dessen Gebetswunsch von Gott er- Vor-Läufer, der anschließend umso wir- schichtlicht: Vater Zacharias ist ein Priester hört wird: konkret die Geburt eines Sohnes kungsvoller durch Jesus überboten werden im Jerusalemer Tempel, gehört zur Priester- trotz hohen Alters des Mannes, trotz Un- soll, so gebraucht der Koran Johannes offen- klasse Abija; die Mutter von Johannes heißt fruchtbarkeit der Frau. Auffällig ist: Während sichtlich als Parallelfigur, an der Gott schon Elisabeth und stammt aus dem Geschlecht bei Lukas Zacharias diesen seinen Wunsch vollbracht hat, was er dann im Falle Jesu Aarons; der erscheinende Engel heißt Ga- schon lange vorgetragen hatte (so dass er an wiederholt. Auffällig ist: Während Lukas Jo- briel; die Erscheinung vor Zacharias findet dessen Erfüllung angesichts des fortgeschrit- hannes zwar durch einen Engel Gottes ange- konkret an einem Ort statt, in Jerusalem, prä- tenen Alters kaum noch glauben kann), kündigt sein lässt, aber die Empfängnis nicht zise im Tempel. Der Koran dagegen entloka- scheint im Koran die Bitte des Zacharias zum durch den Heiligen Geist, sondern durch den lisiert, entgeschichtlicht. Als handelnde Per- ersten Mal geäußert - ganz im Bewusstsein, offensichtlich auf wundersame Weise wie- sonen braucht er nur noch Zacharias und Jo- dass Zacharias, wenn er zu Gott betete, noch der fruchtbar gewordenen Zacharias vor- hannes. Elisabeth taucht namentlich schon „nie Misserfolg“ gehabt hat. Bei Lukas bleibt nehmen lässt (1,23f.), lässt der Koran keinen nicht mehr auf, nur in der Spiegelung ihres denn auch Zacharias psychologisch konse- Zweifel, dass schon Johannes Gottesge- Mannes („meine Frau unfruchtbar“). Und quent bei seiner Skepsis, selbst als der Engel schöpf ist wie anschließend Jesus. Auffällig statt des Engels Gabriel redet Gott selbst zu erscheint - und wird für diesen Akt des Un- ferner die parallelen Aussagen über Johan- Zacharias. Ein Ort ihrer Begegnung ist nicht glaubens mit Stummheit bestraft, was ganze nes und Jesus, wie wir sehen werden: Lauter- erwähnt. Die ganze Szene scheint wie fein neun Monate bis zur Geburt Johannes' andau- keit bei beiden, Pietät gegen Eltern bzw. Mut- stilisiert, wie zurückgenommen, wie ausge- ern wird. Im Koran sind daraus drei Tage ter, nicht gewalttätig, im Besitz der Schrift, dünnt, wie entweltlicht. Stummheit geworden, und dieses „Zeichen“ ganz offensichtlich die Tora, die nach dem ist nicht Ausdruck der Bestrafung durch Gott, Koran die „Entscheidung Gottes“ beinhaltet sondern des Vertrauens in Gottes Macht. So (5,43). Johannes soll offensichtlich die Anlie- wie der Schöpfergott einem alten, unfrucht- gen dieses Buches erfüllen. Und da ihm „Ur- DER UNTERSCHIED ZWISCHEN CHRISTENTUM UND baren Elternpaar neues Leben schenken kann teilsfähigkeit“ (schon als kleinem Kind) attes- ISLAM IST: „FÜR CHRISTEN IST GOTTES WORT IN JESUS („Es fällt mir leicht, dies zu bewerkstelligen, wo tiert wird, kann es sich dabei nur um das Wis- MENSCH GEWORDEN. IM ISLAM IST GOTTES WORT IM ich dich doch vorher geschaffen habe, wäh- sen religiöser Dinge handeln: Zeichen des KORAN BUCH GEWORDEN“ (KARL-JOSEF KUSCHEL). rend du (bis dahin) nichts warst.“), so kann der- Prophetenamtes! Von Jesus wird es gleich picture alliance / dpa

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anschließend ebenfalls heißen, Gott habe keine Hure.' Da wies sie auf ihn (d.h. den Jesus- dungen, rhetorischen Stilmitteln, situativem ihm „die Schrift gegeben“ und ihn „zu einem knaben). Sie sagten: ‚Wie sollen wir mit einem Gebrauch und theologischer Programmatik. Propheten gemacht“! Ja, auch die abschlie- sprechen, der als kleiner Junge (noch) in der Unterzieht man sich dieser Mühe aber, erkennt ßende Segensformel wird dann im Jesus-Teil Wiege liegt?' Er sagte: ‚Ich bin der Diener Got- man, dass der Koran eine sowohl literarisch als wortwörtlich wiederholt werden: „Heil sei tes. Er hat mir die Schrift gegeben und mich zu auch eine theologisch eigenständige Exegese über ihn am Tage, da er geboren wurde, am einem Propheten gemacht. Und er hat ge- der Geburtsgeschichte Jesu betreibt. Sie exakt Tag, da er stirbt und am Tag, da er (wieder) macht, dass mir, wo immer ich bin, (die Gabe zu profilieren, in Übereinstimmungen und Dif- zum Leben auferweckt wird!“ des) Segen(s) verliehen ist, und mir das Gebet ferenzen im Lichte der jeweiligen theologi- In summa: Während das Neue Testament Jo- (zu verrichten) und die Almosensteuer (zu ge- schen Axiomatik, ist Voraussetzung jedes hannes als Kontrastfigur (zum Zwecke spä- ben) anbefohlen, solange ich lebe, und (das ich) ernsthaften Dialogs. Ich fasse das Wesentliche terer Überbietung) zu Jesus braucht, ist die gegen meine Mutter pietätvoll (sein soll). Und knapp zusammen: Johannes-Geschichte im Koran eine weitere er hat mich nicht gewalttätig und unselig ge-  Schon formalästhetisch ähnelt der Geburts- Exempelgeschichte für die Macht des Schöp- macht. Heil sei über mir am Tag, da ich gebo- text im Koran (wie schon im Fall des Johan- fergottes, der, wenn er will, aus Unfrucht- ren wurde, am Tag, da ich sterbe, und am Tag, nes) mehr einer feinen Skizze als einer ausge- barem und Abgestorbenem neues Leben er- da ich (wieder) zum Leben auferweckt werde!' arbeiteten Szene. Andeutungen, Abbreviatu- wecken kann. Solcher Art (w. Dies) ist Jesus, der Sohn der Ma- ren, knappste Angaben genügen ihm. Plötz- ria ...“ (Sure 19,16–34) lich ist Maria eingeschaltet, ohne weitere Überleitung, Vorbereitung, Umstände - mit DIE GEBURT JESU der für den Koran charakteristischen Leser- Parallelen zu christlichen Überlieferungen sind oder Höreradresse: „Und gedenke“. Der Text Und doch sind mit der Person Jesus selber noch mit Händen zu greifen: will also - gemäß der im Koran generell ge- einmal andere Akzente verbunden, wie die nun  Parallelen zur Geburtsgeschichte des Lukas nutzten Verfahrensweise - nicht nur Vergan- folgende Geburtsgeschichte zeigt: mit Gottesbotschaft an Maria (Lukas: durch genes zitieren, sondern aktualisieren. Er will den Engel Gabriel; Koran: durch Gottes Geist), erinnern, bewusst machen und damit zu Kon- Zweifelsmotiv (bei Matthäus: Joseph; bei sequenzen für heute aufrufen. Deshalb be- „Und gedenke in der Schrift der Maria! (Da- Lukas: Maria) und Prädikation des angekün- schränkt sich der Koran in dieser Szene auf mals) als sie sich vor ihren Angehörigen an ei- digten Kindes („lauterer Junge“, „Zeichen für knappst mögliche Angaben. Nicht auf Details nen östlichen Ort zurückzog! Da nahm sie sich die Menschen“ von Gottes Barmherzigkeit), kommt es an, sondern auf das Wesentliche einen Vorhang (oder: eine Scheidewand) (um schließlich die gottgewirkte Zeugung des der Sache. sich) vor ihnen (zu verbergen). Und wir sand- Kindes, wobei Sure 19 auffälligerweise den vi-  Maria hat sich an einen „östlichen Ort“ zu- ten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr dar sionären Charakter der Gottesbegegnung bei rückgezogen, der nicht näher benannt wird, als ein wohlgestalteter (w. ebenmäßiger) Maria betont: Der Geist Gottes „stellt sich ihr auch nicht näher benannt werden muss. Mensch. Sie sagte: ‚Ich suche beim Erbarmer dar ‚als' ein wohlgestalteter Mensch“. Denn es geht um die Bewegung „Rückzug“ als Zuflucht vor dir. (Weiche von mir) wenn du got-  Parallelen aber auch zu außerkanonischen solche, die Struktur der Reduktion. Diese ist tesfürchtig bist!' Er sagte: ‚(Du brauchst keine christlichen Überlieferungen, auf welche die zum einen sozial motiviert als Rückzug Ma- Angst vor mir zu haben.) Ich bin doch der Ge- religionsvergleichende Forschung schon vor rias vor ihren „Angehörigen“, deren negative sandte deines Herrn. (Ich bin von ihm zu dir vielen Jahrzehnten aufmerksam gemacht Reaktion im zweiten Teil dieses Textes damit geschickt) um dir einen lauteren Jungen zu hat (nachzulesen im Koran-Kommentar von schon angedeutet ist. Sie ist zum zweiten schenken.' Sie sagte: ‚Wie sollte ich einen Khoury oder bei Bauschke). Zum Rückzug an theologisch-symbolisch motiviert, verstärkt Jungen bekommen, wo mich kein Mann (w. einen „fernen Ort“ gibt es eine gewisse Paral- im nächsten Vers durch den erwähnten „Vor- Mensch) berührt hat und ich keine Hure bin? lele im vorkoranischen apokryphen Evange- hang“. Auch er nimmt die Rückzugs-Bewe- (oder: ... berührt hat? Ich bin (doch) keine Hu- lium des Jakobus'. Zum „Quell- und Palm- gung auf. Vorhang bedeutet ein Sich-Verber- re!)' Er sagte: ‚So (ist es, wie dir verkündet wur- wunder“ (Tränkung und Speisung durch gen, Sich-Abschließen vor der gewohnten de). Dein Herr sagt: (oder: So hat dein Herr Quelle und Baum, Rede des Neugeborenen) Umwelt. Der Selbstzurücknahme im Raum [es an]gesagt.) Es fällt mir leicht (dies zu be- gibt es Parallelen im Pseudo-Matthäus- entspricht die Selbstzurücknahme des Kör- werkstelligen). Und (wir schenken ihn dir) da- Evangelium, das dieses Ereignis im Zu- pers. Erzählerisch entspricht beiden die be- mit wir ihn zu einem Zeichen für die Menschen sammenhang mit der Ägypten-Flucht schil- wusste Entwirklichung der hier beschriebe- machen, und weil wir (den Menschen) Barm- dert, aber aus nachkanonischer Zeit stammt. nen Welt, die durch Verknappung der Reali- herzigkeit erweisen wollen (w. aus Barmher- tätsdetails wie durchsichtig erscheint. zigkeit von uns). Er ist eine beschlossene Sa-  Szenisch-gestisch wird damit Gottesbegeg- che.' Da war sie nun schwanger mit ihm (d.h. EIGENSTÄNDIGE EXEGESE DER nung vorbereitet, die hier in Gestalt des En- dem Jesusknaben). Und sie zog sich mit ihm an GEBURTSGESCHICHTE IM KORAN gels erfolgt. Nachdem die Welt selber trans- einen fernen Ort zurück. Und die Wehen ver- parent geworden ist wie ein dünner Vorhang, anlassten sie, zum Stamm der Palme zu gehen. Christliche Koran-Interpreten haben sich in der kann sie nun für Gott durchlässig sein, ist Sie sagte: ‚Wäre ich doch vorher gestorben und Vergangenheit gerne auf den Aufweis solcher Gottesbegegnung vorbereitet. „Die sich wie- ganz in Vergessenheit geraten!' Da rief er (d.h. Parallelisierungen beschränkt und waren dann derholende Erwähnung des Rückzugs betont der Jesusknabe) ihr von unten her zu: ‚Sei nicht mit Korantexten rasch fertig - nach der Devise: die schlechthinnige Empfänglichkeit Marias. traurig! Dein Herr hat unter dir (d.h. zu deinen Alles, was der Koran theologisch zu bieten hat, Nur so, fern von allen Menschen, mithin von Füßen?) ein Rinnsal (voll Wasser) gemacht. steht entweder in der Hebräischen Bibel, im allen menschlichen Möglichkeiten - etwa ei- Und schüttle den Stamm der Palme (indem du Neuen Testament oder in sonstigen jüdischen ner zeugenden Mitwirkung –, kann sie dem ihn) an dich (ziehst)! Dann lässt sie saftige, fri- oder christlichen Quellen, ein Konglomerat aus Engel begegnen, die Verheißung hören, Jesus sche Datteln auf dich herunterfallen. Und iß Verstandenem und Unverstandenem, eine Mi- jungfräulich empfangen und dann zur Welt und trink und sei frohen Mutes (w. kühlen Au- schung aus Gewusstem und Nichtgewusstem. bringen“ (Bauschke 2000, S. 16). Auch der ges)! Und wenn du (irgend)einen von den Men- Originell ist der Koran schon von daher nicht, Dialog Engel - Maria wird auf das Wesentli- schen siehst, dann sag: Ich habe dem Barmher- theologisch ernst zu nehmen schon gar nicht. che reduziert: Angst auf Seiten Marias – Be- zigen ein Fasten gelobt. Darum werde ich heut Eine solche Haltung schreibt nicht nur eine ruhigung der Angst durch den Gottesbo- mit keinem menschlichen Wesen sprechen.' jahrhundertelange fatale Geschichte christ- ten – Ankündigung der Geburt – Zweifel bei Dann kam sie mit ihm zu ihren Leuten, indem licher Superiorität über den Islam fort, sondern Maria, wobei der Hinweis auf „keine Hure“ sie ihn (auf dem Arm) trug. Sie sagten: ‚Maria! ist auch wissenschaftlich-hermeneutisch un- wiederum ein Verweis nach vorn ist - auf die Da hast du etwas Unerhörtes begangen. seriös. Sie blendet jegliches Selbstverständnis Situation, die Maria dann mit ihrer sozialen Schwester Aarons! Dein Vater war doch kein des Koran aus und spart sich jede Mühe um Umwelt bestehen muss. Die erste Hälfte die- schlechter Kerl (w. Mann) und deine Mutter Auslegung eines Textes nach den ihm imma- ses Textes also lebt ganz von zwei Rückzugs- nenten Kriterien: literarischen Formentschei- bewegungen Marias, zwei Selbstzurücknah-

106 Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

men, die so die Empfangende für Gottes Geist Tages)! Wie gut werden sie am Tag (des Ge- (3,38-41), die von Sure 19 kaum abweicht. werden kann. Der zurückgenommene Raum richts), da sie zu uns kommen werden, hören Dann folgt ein eindrückliches Marienlob (3,42- als objektives Korrelat der Offenheit der Welt und sehen! Aber die Frevler befinden sich heu- 44). Danach kommt es zu Aussagen über Jesus für die Begegnung mit dem Göttlichen. te offensichtlich im Irrtum.“ (19,34–38) Geburt, die in Sure 19 so keine Parallele haben:  Der Vorgang der Selbstzurücknahme des Raums wird auch im folgenden Vers noch einmal wiederholt. Wieder heißt es, Maria  Die theologisch relevanten Fremd- und „(Damals) als die Engel sagten: ‚Maria! Gott habe sich zurückgezogen, diesmal an einen Selbstbestimmungen Jesu in Sure 19 werden verkündet dir ein Wort von sich, dessen Name „fernen Ort“. Zu denken ist an eine Wüsten- zunächst denen des Johannes parallel ge- Jesus Christus, der Sohn der Maria, ist! Er wird szenerie, was die Erwähnung des zweiten führt. Wie Johannes ist Jesus Gottes Ge- im Diesseits und im Jenseits angesehen sein, Raumdetails plausibler macht: „Stamm der schöpf (ohne Beteiligung eines irdischen Va- einer von denen, die (Gott) nahe stehen. Und Palme“. Die Wüste ist der nackte Raum ters). Wie Johannes ist Jesus gekennzeichnet er wird (schon als Kind) in der Wiege zu den schlechthin, Symbol der Leere, der Ort ohne durch Lauterkeit, Pietät, Gewaltlosigkeit. Wie Leuten sprechen, und (auch später) als Er- Eigenpotenz, der so seinerseits zum objekti- Johannes hat er von Gott „die Schrift“ über- wachsener, und (wird) einer von den Recht- ven Korrelat für die Fülle Gottes, Gottes Prä- antwortet bekommen. Aber im Unterschied schaffenen (sein).' Sie sagte: ‚Herr! Wie sollte senz, Gottes Zur-Welt-Kommen ist. Dabei ist zu Johannes kann Jesus direkt sagen, er sei ich ein Kind bekommen, wo mich (noch) kein der Koran an den Geburtsvorgängen und ein „Diener Gottes“, er sei ein „Prophet“ Got- Mann (w. Mensch) berührt hat?' Er (d.h. der En- -umständen so wenig interessiert wie der tes, ihm sei „die Gabe des Segens“ verliehen, gel der Verkündigung, oder Gott?) sagte: ‚Das Evangelist Matthäus. Er lenkt den Blick sofort ja er sei ein „Zeichen Gottes“ für die Men- ist Gottes Art (zu handeln). Er schafft, was er auf das neugeborene Kind und seine wun- schen, ein Zeichen von „Gottes Barmherzig- will, Wenn er eine Sache beschlossen hat, sagt dersame Fähigkeit, zu sprechen, seine Mut- keit“! Wir erinnern uns an dieser Stelle an das, er zu ihr nur: sei!, dann ist sie. Und er wird ihn ter zu trösten und ihr in ihrer Todesangst was wir aus dem Lukas-Evangelium vernah- die Schrift, die Weisheit, die Thora und das („Wäre ich doch vorher gestorben und ganz men an Titeln, die Juden wie Zacharias und Evangelium lehren.' Und als Gesandter (Got- in Vergessenheit geraten“) zu helfen. Simeon gebrauchten: „Prophet des Höchs- tes) an die Kinder Israels (wies Jesus sich aus  Damit ist deutlich, wie kunstvoll der Koran in ten“ und damit Repräsentant der barmher- mit den Worten:) ‚Ich bin mit einem Zeichen diesem Text mit Kontrasten arbeitet. Einer- zigen Liebe unseres Gottes oder „Zeichen“ von eurem Herrn zu euch gekommen (das dar- seits die Entweltlichung der Welt, anderer- Gottes, dem widersprochen werden wird. in besteht?), dass ich euch aus Lehm etwas seits der Realismus der Welt: das ganz und gar schaffe, was so aussieht, wie Vögel. Dann wer- realistisch geschilderte Erstaunen der Um- de ich hinein blasen, und es werden mit Got- welt Marias über das Kind einer unverheira- DAS NARRATIVE UND THEOLOGISCHE tes Erlaubnis (wirkliche) Vögel sein.“ (3,45–49) teten Frau, der Verdacht der Hurerei. Dem PROFIL VON SURE 3 Wunsch Marias, völlig vergessen zu werden, entspricht das fürsorgliche Wunder Gottes. Was kommt in Sure 3 hinzu, geoffenbart in Me- Anders als in der aus Mekka stammenden Fas- Marias Todessehnsucht steht das lebendige dina, in der der Koran noch einmal auf die Ge- sung hat Maria in diesem Bericht keine Vision, Quellwasser gegenüber. Die Bitterkeit ihrer schichten um Zacharias, Johannes, Maria und sondern eine Audition. Ihr erscheint nicht der Schmerzen bei der Geburt kontrastiert mit der Jesus zurückkommt? Die Sure trägt den Titel Geist Gottes, zu ihr redet eine Mehrzahl wohl wundersamen Labung durch süße Datteln. „Die Sippe Imrans“, ein Name, der auf Amram unsichtbar bleibender Engel. Die Übereinstim- Dem Schweigegelübde der Erwachsenen ent- hinweist, der in Numeri 26,59 als der Vater von mungen zwischen beiden Koran-Versionen spricht das zweimalige Reden des Neugebo- Moses, Aaron und Mirjam bezeichnet wird. Er sind in der Sache aber unübersehbar: Jesus ist renen. Der Text arbeitet also mit einem litera- gilt als Vorfahre, ja Urahne Jesu. Die 3. Sure ver- kraft des schöpferischen Wortes Gottes und risch bewusst gesetzten Kontrast zwischen weist überdies auf die Ereignisse in der mittels des göttlichen Geistes erschaffen wor- Realismus und Stilisierung, zwischen Alltags- Schlacht bei Badr (März 624) im zweiten Jahr den. Doch zwei theologisch wichtige Akzente niedrigkeit und prophetischer Hoheit, zwi- nach der Hidschra, der Übersiedlung Moham- werden hier deutlicher gesetzt: schen konkreten Details der menschlichen meds und seiner Anhänger von Mekka nach  Die Schöpfermacht Gottes wird noch deut- Geschichte und Entwirklichung zum Zwecke Medina, als die Muslime überraschend eine licher hervorgehoben. Was in Sure 19 nur re- der Transparenz für das Göttliche. überlegene Armee aus Mekka schlagen – ein lativ schwach ausgedrückt wird mit: „Es fällt  Die Erinnerung an die Geburtsgeschichte von Ereignis von größter politischer und religiöser mir leicht (dies zu bewerkstelligen)“, wird in Johannes und Jesus steht im Kontext der Tragweite – auch für die Beziehungen zu Juden Sure 3 stark profiliert: „Das ist Gottes Art (zu Auseinandersetzung Mohammeds mit dem und Christen in der Region. Das nochmalige handeln). Er schafft, was er will. Wenn er ei- „Unglauben“ in Mekka. Die Erinnerung ist Aufgreifen der Geschichte Jesu (nicht nur der ne Sache beschlossen hat, so sagt er zu ihr kein Selbstzweck, sondern ein Kampfmittel: Geburt, sondern auch der Botschaft, der Praxis nur: ‚Sei!', dann ist sie“. „Und gedenke in der Schrift der Maria!“ - so und des Geschicks) wird man deshalb auch  Jesus wird als „Wort“ (kalimah) Gottes bzw. hatte der Jesus-Text begonnen. Mit einer auf den politischen Zusammenhang beziehen „Wort von Gott“ bezeichnet. In muslimischer Spiegelung des aktuellen Kampfes Glaube - müssen. In Medina ist in dieser Zeit eine Ge- Exegese versteht man darunter, dass sich in Unglaube endet er denn auch. Seine Fortset- sandtschaft von Christen aus Nadjran (Nordje- Jesus Gottes allmächtiger Schöpferwille ma- zung lautet: men) aufgetaucht. Unter dem Eindruck des sich nifestiere. Allein durch das Wort und den Be- ausbreitenden Islam sehen diese sich in ihrer fehl Gottes tritt er ins Dasein (und nicht Freiheit bedroht und schicken eine Delegation mittels männlicher Potenz). Andere verste- „Solcher Art (w. dies) ist Jesus, der Sohn der Ma- zu Mohammed. Zwar kommen sie seiner For- hen Jesu Wort-Sein ebenso wie sein Geist- ria - um die Wahrheit zu sagen, über die sie (d.h. derung, sich dem Islam zu unterwerfen, nicht Sein auch in dem Sinne, dass er als Person die die Ungläubigen [unter den Christen?]) (immer nach, aber nach langen Verhandlungen und frohe Botschaft von Gottes Barmherzigkeit noch) im Zweifel sind. Es steht Gott nicht an, christologischen Kontroversen wird ein Kom- verkörpert. Der Koran illustriert diesen sich in sich irgendein Kind zuzulegen. Gepriesen sei promiss gefunden: Mohammed sichert ihnen Jesus manifestierenden göttlichen Schöp- er! (Darüber ist er erhaben). Wenn er eine Sa- Schutzgarantien zu. Sure 3 spiegelt denn auch ferwillen dadurch, dass er das Vögel-Wunder che beschlossen hat, sagt er zu ihr nur: ‚Sei!', eindringlich die Auseinandersetzung des Koran einführt. Parallelen dazu gibt es im außerka- und dann ist sie. Und (Jesus sagte:) ‚Gott ist mit den „Leuten der Schrift“ wider. nonischen Kindheitsevangelium des Tho- mein Herr und euer Herr. Dienet ihm! Das ist ein Wir bleiben hier auf die Auslegung der Geburts- mas. Doch abgesehen von der Anzahl der Vö- gerader Weg.' Aber dann wurden die Gruppen Geschichte konzentriert und haben zu konsta- gel besteht dort der Unterschied zur Darstel- untereinander uneins. Wehe denen, die un- tieren: Was Maria angeht, so hat deren Ge- lung des Wunders im Koran darin, dass Jesus gläubig sind: Sie werden einen gewaltigen Tag schichte jetzt in Sure 3 sichtlich einen Zuwachs an einem Sabbat durch Klatschen in die Hän- erleben (w. Wehe denen, die ungläubig sind, erfahren. Wir hören mehr von der Vorgeschich- de und Zuruf das Wunder selber vollbringt, im Hinblick auf das Erlebnis eines gewaltigen te Marias (3,35-37). Gleich anschließend wird wohingegen Jesus im Koran – ob als Knabe die Johannes-Szene noch einmal berichtet oder Erwachsener, ob an einem Sabbat oder

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nicht - durch seinen Atem und aufgrund der Gottes unterscheidet ihn sogar eine Be- reth) noch an der konkreten Zeit (keine Er- göttlichen Erlaubnis das Wunder tut. Die sonderheit: Er ist geschaffen von Gottes wähnung damaliger politischer Herrscher Theozentrik des Koran' wirkt sich auch hier Geist, um dann zu Lebzeiten aus der Kraft die- oder Verhältnisse), noch erwähnt er Joseph, noch einmal konsequent aus. ses Geistes als Gottes Gesandter zu wirken. den biblischen irdischen Vater Jesu. Alles ist Von allen im Koran erwähnten Personen ist auf Gottes Handeln an Einzelpersonen wie dies das Besondere an Jesus. Nur Adam über- Zacharias, Maria und Jesus konzentriert. Wo DIE GEBURTSGESCHICHTEN IM trifft ihn noch im Blick auf den Ursprung, ist das „Volk“ erwähnt wird, wie in Sure 19, dann VERGLEICH er doch für den Koran sogar ohne Mithilfe ei- nicht im Sinne einer „heilgeschichtlichen“ ner irdischen Mutter ins Leben getreten. Aber Einbettung, sondern unter dem Gesichts- Im Vergleich der neutestamentlichen und der Gottesgeschöpflichkeit und Jungfrauenge- punkt psychologischer Reaktion auf das an- Überlieferungen im Koran ergeben sich bemer- burt unterscheiden Jesus im Koran von allen geblich „unerhörte“ Verhalten einer jungen kenswerte Übereinstimmungen, aber auch anderen Propheten, einschließlich dem Pro- Frau. Oder wie in Sure 3 als „Ort“ der Ausein- entscheidende Differenzen. Zunächst zu den pheten Mohammed, dessen irdische Vater- andersetzung Glaube - Unglaube. Übereinstimmungen: schaft der Koran an keiner Stelle in Frage  Für die neutestamentlichen Quellen ist Jesu  Wie das Neue Testament so verbindet auch stellt. Geburt die endgültige Erfüllung einer uralten der Koran mit der Geburt Jesu eine wunder-  Die Geburtstexte im Neuen Testament und Erwartungsgeschichte seines Volkes, der same Tat Gottes zugunsten der Menschen. Koran stimmen in der Grundüberzeugung endzeitliche Höhepunkt in Gottes Selbstzu- Bemerkenswert ist: Beschränkt sich im Neu- überein: Jesus ist der Gesegnete Gottes und wendung an sein Volk Israel. Im Koran ist en Testament die Ausgestaltung des Wun- das Kontrastbild zu allen „unglückseligen Gottes Tat an Jesus eine unter vielen Taten derhaften vor allem auf die Engelserschei- Gewaltherrschern“, ja, er ist ein Mann des Gottes in der Geschichte. Gewiss: Auch im nungen vor Zacharias, Maria und den Hirten Friedens, und zwar seine ganze menschliche Koran hat Gott an Jesus in besonderer, aus- sowie auf die Führung der Sterndeuter durch Existenz hindurch: von der Geburt bis zum zeichnender Weise gehandelt. Aber der Sohn eine kosmische Erscheinung, kennt der Ko- Tod, ja bis zum neuen Leben bei Gott. Die For- Marias ist trotz allem ein Zeichen Gottes, her- ran über all das hinaus wundersame Reden mulierungen von Sure 19,32-33 („Und er hat ausgehoben zwar, aber eines unter vielen. des Neugeborenen. Der Koran hat offen- mich nicht gewalttätig und unselig gemacht. Seine Geistzeugung macht ihn gerade nicht sichtlich nicht die geringsten Schwierigkei- Heil sei über mir am Tag, da ich geboren wur- zu einem göttlichen oder halbgöttlichen We- ten, dem gerade geborenen Jesuskind Trost- de, am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich sen. Deshalb reagiert der Koran hier und an worte an seine Mutter und prophetische (wieder) zum Leben auferweckt werde“) we- anderen Stellen in Sachen Christusglauben Selbstaussagen in den Mund zu legen. Wa- cken für Christen Erinnerungen an den Lob- bestimmter Christen polemisch-zurückwei- rum nicht? Weil er wie im Fall des Johannes gesang Marias („Magnificat“) und das En- send: „Es steht Gott nicht an, sich ein Kind zu auch die Geburtsgeschichte Jesu dazu be- gelslob vor den Hirten (Lk 1,46-55; 2,14). nehmen“. Dies ist gegen spätere vulgär- nutzt, den ihm wichtigsten theologischen Schon dort war Jesus das Kontrastbild zu den christliche Vorstellungen einer übernatür- Grundgedanken kraftvoll zu illustrieren: „Mächtigen“ und „Reichen“. Schon dort ver- lichen Gottessohnschaft gesagt, die im zeit- Gott hat Macht über das unmöglich Schei- körperte er den „Frieden“ Gottes, der auch genössischen Christentum des Propheten nende; Gott ist frei in seinem Handeln und nach Aussagen des Koran auf Jesus ruht. verbreitet gewesen sein mögen. Geistzeu- durchbricht alle irdischen Begrenzungen Ein Vergleich der Texte zeigt also, wie eigen- gung und Jungfrauengeburt unterstreichen und menschlichen Plausibilitäten. Alte, un- ständig Mohammed gerade biblische Überlie- also nicht die Einzigartigkeit Jesu, sondern fruchtbare Frauen werden wieder fruchtbar; ferungen von seiner theologischen Axiomatik die Einzigartigkeit Gottes. junge Frauen werden ohne Zutun eines Man- her zu deuten verstand. Er nimmt sie auf, spitzt  Auch als Gottesgeschöpf bleibt Jesus nur ein nes schwanger; im toten, leeren Raum einer sie zu, interpretiert sie stringent und ordnet sie Mensch, wie Adam, Noah, Abraham, Mose Wüste schafft Gott neues Leben; ein neuge- ein unter sein großes theologisches Pro- Menschen waren. Als Gottesgeschöpf bleibt borenes Kind spricht kraftvoll und selbst- grammwort: Theozentrik. Gott im Zentrum von Jesus ein „Zeichen“, eines in der großen Rei- bewusst wie ein erwachsener Mensch. Die Welt und Geschichte; von seinem Willen her ist he der „Zeichen“ der Barmherzigkeit Gottes, Pointe ist überall dieselbe: Skepsis, Zweifel, alles durchdrungen, von ihm her muss die gan- in einer Reihe, die nach muslimischem Unglaube von Menschen werden von Gott ze Wirklichkeit neu interpretiert werden. Selbstverständnis erst abgeschlossen ist her durchbrochen. Gerade die Geburt Jesu durch den letzten Propheten, der denn auch unterstreicht noch einmal, dass Gott die nach dem Koran das „Siegel der Propheten“ Macht hat, aus Unfruchtbarem Fruchtba- DIE ENTSCHEIDENDE DIFFERENZ IM genannt wird. Für die christliche Urkunde ist res, aus Abgestorbenem Lebendiges, aus GLAUBEN VON CHRISTEN UND MUSLIMEN Jesus aus Nazareth gegenüber Israel und der Nichts neues Sein zu schaffen. Theozentrik Heidenwelt die endgültige, definitive Offen- also verbindet beide Geburtsgeschichten. Im Dieses Spezifikum der prophetischen Botschaft barung Gottes, auf den ein Prophet wie Jo- Neuen Testament ist sie mit dem Satz um- lässt sich gerade am entscheidenden Unter- hannes der Täufer nur hinweist. Für Muslime schrieben: „Denn für Gott ist nichts unmög- schied zwischen der neutestamentlichen und ist die definitive Offenbarung Gottes im Ko- lich“ (Lk 1,37), im Koran mit dem Satz: „Wenn der koranischen Geburtsgeschichte erhärten. ran gegeben, auf den alle Propheten, ein- er eine Sache beschlossen hat, sagt er zu ihr Auch er muss nun in aller Klarheit herausgear- schließlich Johannes und Jesus hinweisen. nur: sei! dann ist sie“. (Sure 3,47) beitet werden: Christologie und Koranologie entsprechen  In den neutestamentlichen und koranischen  In den neutestamentlichen Überlieferungen sich. Der Fundamentalunterschied zwischen Geburtsüberlieferungen ist Jesus nicht Pro- ist die Geburt Jesu eingebettet in die Ge- Christentum und Islam ist und bleibt: Für dukt der irdischen Geschichte, nicht Men- schichte Gottes mit seinem auserwählten Christen ist Gottes Wort in Jesus Mensch ge- schengeschöpf, er ist Geistgeschöpf, Gottes- Volke. Jesu Auftreten ist ein geistgewirkter worden. Im Islam ist Gottes Wort im Koran geschöpf: „Geist von Gott“, wie er auch in Su- Neuanfang, ja ein messianischer Aufbruch Buch geworden. re 4,171 genannt wird. Es ist Gott selbst, der für Israel und ein Zeichen für die Bekehrung  Je genauer man an und mit den Quellen ar- ihn vom Nichts ins Sein ruft. Dass Jesus ins der Heidenvölker. Die neutestamentlichen beitet, so sehr sieht man tief greifende Über- Leben tritt, verdankt er ausschließlich Gottes Texte vergeschichtlichen also den Neuan- einstimmungen zwischen christlichem und Ratschluss, Gottes Tat. Von daher erklären fang Gottes in Jesus. Deshalb ist die Geburt islamischem Glauben, aber auch bleibende sich auch andere „Titulaturen“ für Jesus im in Bethlehem wichtig, werden die politischen trennende Unterschiede, Wahrheitsansprü- Koran: „Zeichen“ Gottes für die Menschen, Herrscher der Zeit erwähnt, werden konkre- che, die in letzter Konsequenz zu einer Glau- Zeichen von „Gottes Barmherzigkeit“, „Die- te Details der Geburtsgeschichte geschicht- bensentscheidung herausfordern. Beides ner Gottes“, „Prophet Gottes“, „Wort Gottes“. lich ausgemalt (Huldigung der Sterndeuter muss in einem Dialog zur Sprache kommen, Alle diese „Titel“ drücken denselben Grund- und Hirten). Der Koran dagegen „entge- der seinen Namen verdient. Die „Weih- gedanken aus: Jesus ist ein von seiner Emp- schichtlicht“. Weder ist er interessiert am nachtsgeschichte“ im Koran wäre als Urmo- fängnis an von Gott Ausgezeichneter. konkreten Geburts- oder Wohnort Jesu (kei- dell eines solchen Dialogs von Christen und Gegenüber anderen Dienern und Propheten ne Erwähnung von Bethlehem oder Naza- Muslimen zu lesen. Sie fordert beide heraus,

108 Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 19,1–38; 3,35–49)

über das Geheimnis des Handelns Gottes in an der Wurzel vernichte!' Abdallah, der got- drückt Entschiedenheit und Toleranz zugleich der Geschichte Jesu vertieft nachzudenken tesfürchtigere der beiden, wandte ein: ‚Tu es aus. Er verkörpert die Art von Christ-Sein, die und so das Gemeinsame und das Trennende nicht! Auch wenn sie sich uns widersetzt ha- weiß, dass man Menschen anderer religiöser kommunikabel zu machen. Sie wäre nicht das ben, bleiben sie doch unsere Stammesgenos- Überzeugungen nicht mit der Elle eigener Or- Ende des Dialogs, sondern die Basis des sen.' Amr aber beharrte darauf und sprach: ‚Ich thodoxie messen oder gar pressen kann. Wenn Dialogs. Sie kann lehren, das Gemeinsame im werde ihm von ihrer Behauptung berichten, etwa Muslime ein Grundbekenntnis zu Jesus Lichte des Trennenden, das Trennende im Jesus, der Sohn Mariens, sei nur ein Mensch abgeben wie dies, er sei „der Diener Gottes, sein Lichte des Gemeinsamen zu lesen. Sie könn- gewesen.' Prophet, sein Geist und sein Wort, das Er der te trialogische Kommunikation stiften – die Am nächsten Morgen ging Amr zum Negus Jungfrau Maria eingegeben“ habe, dann ge- umso tiefer gehen kann, als sich Juden, Chris- und sagte: ‚O König, sie behaupten Ungeheu- nügt das diesen Christen. Genügt, um sie als ten und Muslime stets bewusst sind, dass sie erliches von Jesus. Lass sie holen und frage sie Gäste in seinem Lande zu beherbergen. Mehr Gottes Geheimnis nicht schon „haben“ oder danach!' Der Negus folgte seinen Worten. verlangt er von ihnen nicht. Er presst sie nicht, „verwalten“ oder „besitzen“, sondern dass sie Noch nie war uns dergleichen geschehen. Die urteilt sie nicht ab, verlangt nicht das Äußerste. im Glauben und Denken es je tiefer erkennen Auswanderer versammelten sich wieder und Christen mögen weiter gehen in Sachen Chris- wollen. Kommunikation – im gegenseitigen berieten, was sie über Jesus antworten sollten, tologie, mehr von Jesus als dem Christus Got- Respekt vor Letztentscheidungen und Letzt- wenn man sie danach fragte. Dann beschlos- tes sagen, andere Formeln benutzen. Für Mus- überzeugungen. sen sie: ‚Wir werden sagen, was Gott sagte und lime ist es bereits viel, wenn sie sagen können: was uns unser Prophet geoffenbart hat, mag In diesem besonderen Menschen hat Gott auf kommen, was will'. eine besondere Weise gehandelt. Er ist deshalb SYMBOLGESCHICHTE ZU BEGEGNUNG Als sie zum Negus kamen und er sie nach ihrer zum Zeichen Gottes für die Menschen gewor- UND DIALOG Meinung zu Jesus fragte, antwortete ihm Dja- den, zum Zeichen von Gottes „Barmherzigkeit“. far: ‚Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns Zum Schluss will ich dies an einer Symbolge- geoffenbart hat, nämlich dass er der Diener LITERATUR schichte erläutern, die uns aus der ersten Bio- Gottes, sein Prophet, sein Geist und sein Wort graphie des Propheten Mohammed entgegen- ist, das Er der Jungfrau Maria angegeben hat- I. QUELLEN tritt. Eine berühmte Szene, in ihrer Historizität te.' 1. Benutzte Ausgaben: ungesichert und doch von tiefer symbolischer Der Negus nahm einen Stock vom Boden auf Der Koran. Übersetzung R. Paret. Bd. I (Text), Bd. II (Kom- Bedeutung: die Begegnung eines christlichen und sprach: ‚Wahrlich, Jesus ist nicht um die mentar und Konkordanz). Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz Herrschers, des Negus von Äthiopien, mit Mus- Länge dieses Stockes mehr als das, was du 1971, 2. Aufl. 1977 Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissen- limen aus der Urgemeinde von Mekka. Nicht sagst.' Ein Raunen ging durch die ihn umge- schaftlicher Kommentar von A.Th. Khoury/M.S. Abdullah. um ihrer angeblichen Geschichtlichkeit, son- benden Feldherrn, doch er fuhr fort: ‚Wenn ihr Bd. I-XII. Gütersloh 1990-2001 dern um ihrer theologisch-symbolischen Weis- auch raunt' - und an die Muslime gewandt -, Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Freiburg/Br. 1985 heit willen (was den Umgang Christen - Musli- ‚geht, ihr seid sicher in meinem Land. Wer euch Schneemelcher, W.: Neutestamentliche Apokryphen in me betrifft) sei sie hier am Ende unserer Über- beschimpft, wird Strafe zahlen; wer euch be- deutscher Übersetzung Bd. I (Evangelien). 5. Aufl., Tübin- legungen in Erinnerung gerufen und für die schimpft, wird Strafe zahlen; wer euch be- gen 1987. Praxis des Dialogs fruchtbar gemacht. Die Sze- schimpft, wird Strafe zahlen! Nicht für einen 2. Zur Prophetenbiographie: ne findet sich bei Ibn Ishaq, von dem eine erste Berg aus Gold würde ich einem von euch Un- Ibn Isha–q: Das Leben des Propheten. Aus dem Arabischen Biographie des Propheten geschrieben wurde recht tun. Gebt den beiden ihre Geschenke zu- übertragen und bearbeitet von G. Rotter. Kandern 1999 (um 750), die wir aber nur in einer hundert Jah- rück. Ich brauche sie nicht. Gott hat kein Be- Paret, R.: Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten. Stuttgart 1957, re später durch Ibn Hisham herausgegebenen stechungsgeld angenommen, als Er mir meine 7. Aufl. 1991 Fassung haben. Herrschaft zurückgab; warum sollte ich nun Der frühe Biograph berichtet von der erzwun- gegen Ihn Bestechungsgeld annehmen! Er ist II. SEKUNDÄRLITERATUR: genen Expedition von Angehörigen der musli- damals nicht den Leuten gegen mich gefolgt, 1. Zu Bibel und Koran: mischen Urgemeinde an den Hof des Negus weshalb sollte ich nun ihnen gegen Ihn fol- Gnilka, J.: Bibel und Koran. Was sie verbindet, was sie von Äthiopien, als die Bedrückung durch das gen.'“ trennt. Freiburg/Br. 2004 Establishment von Mekka unerträglich zu wer- Hagemann, L.: Propheten - Zeugen des Glaubens. Kora- nische und biblische Deutungen. Würzburg, Altenberge, den begann. Als die Mekkaner freilich ihrerseits 2. Aufl. 1993 eine Delegation zum Negus schicken, um ihn Die Szene ist sichtlich stilisiert und von den Kuschel, K.-J.: Das Weihnachten der Dichter. Große Texte aufzufordern, die „Flüchtlinge“ zurückzuschi- Interessen der Muslime her konzipiert. Aber es von Thomas Mann bis Rainer Kunze. Düsseldorf 2004 (Kap. I: Die Heiligen Nächte der Weltreligionen; Kap. II: cken, lässt sich der Negus auf einen Disput mit steckt in ihr vieles an „Weisheit“ im Umgang Die Erzählungen von Jesu Geburt). ihnen ein. Er möchte wissen, welcher Vergehen von Christen mit Muslimen. Die Figur des Ne- Nöldeke, T,/Schwally, F.: Geschichte des Qorans. Teil 1: die Auswanderer beschuldigt werden. Er lässt gus nimmt in dieser Geschichte ja ganz gezielt Über den Ursprung des Qorans. Leipzig 21909. Neudruck: Bischöfe holen, die die Heiligen Schriften vor eine Mittelstellung ein: zwischen verbissener Hildesheim 1970 Speyer, H.: Die biblischen Erzählungen im Qoran. Hildes- ihm ausbreiten. Dann befragt er die Muslime christlicher Orthodoxie (die raunenden Feld- heim 1931, 2. Aufl. 1961 nach ihrer neuen Religion. Als diese sich auf herrn) und dem Unglauben (die Abordnung aus Thyen, J. D.: Bibel und Koran. Eine Synopse gemeinsamer nichts als die Offenbarung ihres Propheten be- Mekka). Die Haltung des Negus „in der Mitte“ Überlieferungen. Weimar, Wien, 3. Aufl. 2000 rufen, fragt der Negus sie nach einer Kostpro- 2. Zum Jesus-Bild im Koran: be daraus. Darauf rezitiert einer der Muslime Räisänen, H.: Das koranische Jesusbild. Ein Beitrag zur einen Abschnitt aus der Sure „Maria“ (Sure 19). Theologie des Koran. Helsinki 1972 Die Reaktion? „Der Negus weinte, bis sein Bart UNSER AUTOR Schedl, C.: Mohammed und Jesus. Die christologisch re- levanten Texte des Koran. Freiburg/Br. 1978 feucht war. Und auch seine Bischöfe weinten, Riße, G.: „Gott ist Christus, der Sohn der Maria“. Eine Stu- bis Tränen ihre Heiligen Schriften benetzten.“ Prof. Dr. Dr. h.c. die zum Christusbild im Koran. Bonn 1989 Dann wendet sich der Negus an die Abgesand- Karl-Josef Kuschel Pulsfort, E./Hagemann, E.: Maria, die Mutter Jesu, in Bi- ten aus Mekka: lehrt Theologie der bel und Koran. Würzburg, Altenberge 1992 Bauschke, M.: Jesus - Stein des Anstoßes. Die Christolo- Kultur und des gie des Korans und die deutschsprachige Theologie. Wei- interreligiösen mar, Wien 2000 „‚Diese Offenbarung und die Offenbarung Je- Dialogs an der Ka- Bauschke, M.: Jesus im Koran. Weimar, Wien 2001 su kommen aus derselben Nische. Geh! Bei tholisch-Theologi- 3. Zum Dialog Christentum - Islam: Gott, ich werde sie euch nicht ausliefern und schen Fakultät der Kuschel, K.-J.: Streit um Abraham. Was Juden, Christen sie nicht hintergehen!' Als die beiden den Ne- Universität Tübin- und Muslime trennt - und was sie eint. Düsseldorf 2001 gus verließen, sagte Amr zu Abdallah: ‚Morgen gen und ist Vize- Küng, H.: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München 2004 werde ich ihm etwas erzählen, womit ich sie präsident der Stif- tung Weltethos.

109 IM SPANNUNGSFELD VON GLOBALISIERUNG UND ISLAMISTISCHEN BEWEGUNGEN Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien

RENATE KREILE

fungspolitik als „zivilisatorische Mission“ zu le- en mehr Rechte gewährten. Der dritte Teil mei- Die politische, soziale und ökonomische gitimieren, die angeblich „die orientalische ner Ausführungen untersucht die unterschied- Diskriminierung von Frauen ist eines Frau“ aus ihrem düsteren Gefängnis von Unter- lichen politischen Orientierungen, Schwer- der zentralen Entwicklungshemmnisse drückung und Rückständigkeit befreien sollte. punkte und Strategien der arabischen Frauen- in der arabischen Welt. Der Beitrag von In dreister Doppelzüngigkeit forderte damals bewegungen seit dem letzten Viertel des 20. Renate Kreile zeigt am Beispiel arabi- beispielsweise der britische Generalkonsul in Jahrhunderts. Dabei werden insbesondere die scher Frauenbewegungen, dass Frauen Ägypten, Lord Cromer, der sich in seiner engli- Antworten der Frauenbewegungen auf die He- in orientalischen Gesellschaften ihre schen Heimat als entschiedener Gegner der rausforderungen durch Globalisierung und is- Interessen und Rechte als eigenständige Frauenrechtsbewegung hervortat, die – wie er lamistische Bewegungen beleuchtet. Schluss- Akteurinnen wahrnehmen, verteidigen sagte – „islamische Degradierung der Frauen zu endlich frage ich nach Perspektiven und Aus- und zu erweitern versuchen. Ausgehend beenden“ und den Schleier abzuschaffen, da er strahlungspotential der arabischen Frauenbe- von der sich formierenden arabischen dem „Fortschritt“ und der „Zivilisierung der wegungen innerhalb ihrer Gesellschaften. Frauenbewegung im 19. Jahrhundert muslimischen Gesellschaften“ entgegenstün- spannt sich der Bogen der Erörterung de (vgl. Kreile 1997, S. 232f). über die Ära des so genannten „Staatsfe- In jüngster Zeit erleben wir eine beklemmende DIE ANFÄNGE – BEWUSSTSEIN DURCH minismus“ bis zu den unterschiedlichen Wiederkehr einschlägiger kolonialer Legitima- BILDUNG politischen Orientierungen und Strate- tionsmuster. In der normativen Zielsetzung, gien, die sich im letzten Viertel des 20. Menschen- und Frauenrechte weltweit durch- Wenig bekannt ist es hierzulande, dass Frauen- Jahrhunderts entwickelten. Ein besonde- zusetzen, finden militärische Interventionen bewegungen in der arabischen Welt auf eine res Augenmerk wird dabei auf die Her- im Interesse der hegemonialen Weltordnungs- weit zurückreichende eigene Tradition zurück- ausforderungen der Globalisierung und politik der US-Administration ihre ideologische blicken können. Bereits seit Mitte des 19. Jahr- islamistischen Bewegungen gerichtet, Rechtfertigungsformel. Auf den Spuren Lord hunderts begannen Frauen dort ihre spe- die je nach politischer und/oder religiö- Cromers und der britischen Kolonialpolitik zifische Situation als Frauen öffentlich zur ser Ausrichtung der Frauenbewegungen stilisieren sich heute die Neokonservativen in Sprache zu bringen, die bestehenden patriar- zu unterschiedlichen Strategien, Gegen- Washington, die für die US-Gesellschaft eine chalischen Strukturen infrage zu stellen, vor- reaktionen, Allianzen und Kontroversen durchaus konservative Frauenpolitik verfech- gegebene Grenzen zu überschreiten und kol- führen. Erörtert wird auch die Frage ten, ironischerweise zu Vorkämpfern für Frau- lektiv im öffentlichen Raum politische Forde- nach den Perspektiven und dem Verän- enrechte in der islamischen Welt. Mit ihrem rungen zu erheben. Unter den wachsenden kul- derungspotential innerhalb arabischer paternalistischen Anspruch, die arabischen turellen Einflüssen des Westens und vor dem Gesellschaften. Frauen von außen und womöglich militärisch Hintergrund sozioökonomischer Transforma- flankiert zu befreien, knüpfen sie an verbreite- tionsprozesse und staatlicher Modernisie- te essentialistische Diskurse und Projektionen rungspolitik erhielten sozial privilegierte Frau- in der westlichen Öffentlichkeit an, in der die en verstärkt Zugang zu einer vielseitigen Bil- Frauen in den arabischen Gesellschaften als dung. In den Harems der kosmopolitisch orien- DISKRIMINIERUNG VON FRAUEN ALS bedauernswerte unterdrückte Opfer, als passiv tierten oberen Schichten wurde es modern, ENTWICKLUNGSHEMMNIS und unmündig konstruiert werden. Gouvernanten aus Europa zu beschäftigen. So lernte etwa die Ururenkelin des ägyptischen Die eklatante Benachteiligung von Frauen in Herrschers Muhammad Ali, Emine Fuat Tugay, ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher ARABISCHE FRAUEN ALS EIGENSTÄNDIGE zusammen mit ihren Brüdern bei ihrer deut- und rechtlicher Hinsicht ist ein zentrales Ent- AKTEURINNEN schen Gouvernante Deutsch und allgemeinbil- wicklungshemmnis arabischer Gesellschaften. dende Fächer, eine Schottin und eine Französin Zu diesem aufrüttelnden Befund kommt ein Ausgeblendet und unsichtbar gemacht wurden kamen zum Englisch- und Französischunter- Bericht der Entwicklungsorganisation der Ver- und werden in derartigen Diskursen die Frauen richt. Ein türkischer Lehrer unterrichtete sie in einten Nationen, der im Juli 2002 veröffentlicht des Orients selbst als eigenständige Akteurin- Türkisch, Persisch und Arabisch sowie in Kalli- wurde. Arabische Wissenschaftler und Wis- nen, die sich im Kontext wechselvoller gesell- graphie und islamischer Geschichte. Außerdem senschaftlerinnen aus verschiedenen Ländern schaftlicher Rahmenbedingungen vielstimmig erteilten europäische Lehrerinnen Gymnastik- liefern darin eine ungeschminkte Analyse der zu Wort melden. Sie sollen im Folgenden sicht- und Klavierstunden. Entwicklungslage der arabischen Welt vom barer gemacht werden. Maghreb bis zu den Golfstaaten (vgl. AHDR Am Beispiel der arabischen Frauenbewegun- 2002). Mit seinen Ausführungen zur Stellung gen möchte ich zeigen, wie die Frauen in den DER EINFLUSS CHRISTLICHER der Frauen fokussierte der Entwicklungsbericht orientalischen Gesellschaften selbst ihre Ge- MISSIONSSCHULEN ein in der arabischen Welt politisch höchst schichte mitgestalten, wie sie mit gemeinsa- sensibles und brisantes Thema. Historisch wie men, unterschiedlichen oder auch konfligie- Von erheblicher Bedeutung für die Ausbreitung aktuell ist die Frauenfrage nicht nur ein leiden- renden Strategien ihre Interessen wahrneh- der Frauenbildung außerhalb der häuslichen schaftlich umkämpftes und symbolträchtig men und ihre Rechte und Handlungsspielräu- Sphäre und weit in die Mittelschichten hinein aufgeladenes Terrain innergesellschaftlicher me zu verteidigen oder zu erweitern suchen. war der Einfluss christlicher Missionsschulen. politischer Auseinandersetzungen, sondern im- Zunächst gebe ich einen Überblick über die for- Noch bevor die Großmächte durch die Koloni- mer wieder auch Anschlussstelle für externe mative Periode der arabischen Frauenbewe- alherrschaft direkten politischen Einfluss in der Einflussbestrebungen. gungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- Region ausübten, waren protestantische und derts, die bemerkenswerte Parallelen zu den katholische Missionsgesellschaften aus Europa Anfängen der europäischen Frauenbewegun- und Amerika im Vorderen Orient aktiv gewor- DIE WIEDERKEHR KOLONIALER MUSTER gen aufweist. Daran anschließend gehe ich den. Die Schulen, die sie in den großen Städten knapp auf die Ära des so genannten „Staatsfe- und auf dem Land errichteten, waren nicht nur Bereits vor über hundert Jahren diente die minismus“ ein, eine Zeit, in der Modernisie- für die Angehörigen der christlichen Gemein- Frauenfrage für die Kolonialmächte als wichti- rungseliten in verschiedenen Staaten des schaften gedacht, sondern es wurden aus- ges ideologisches Instrument, ihre Unterwer- Orients im Zuge des Nation-building den Frau- drücklich auch Angehörige anderer Glaubens-

110 Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien gemeinschaften ermutigt, sie zu besuchen. tet sie es als selbstverständlich, dass der Geist, DAS PRIVATE WIRD POLITISCH Während in einigen dieser Schulen ein aktiver der aus Koran und Sunna spricht, immer auch Missionierungseifer waltete, verfolgten viele mit den Postulaten der Vernunft und des ge- Die Horizonterweiterung durch Bildung und die ein liberaleres Konzept bei der Erziehung von sunden Menschenverstandes in Einklang steht. damit verbundenen Chancen, interkulturelle Kindern anderer Religion und beschränkten Sie argumentiert, dass die Frau dem Mann in Vergleiche anzustellen, eröffneten die Mög- sich ideologisch allgemein auf die Verbreitung religiöser, moralischer und intellektueller Hin- lichkeit, eigene schmerzliche private Erfahrun- „christlicher Werte“. Für wohlhabende muslimi- sicht gleichgestellt sei. Die Ungleichbehand- gen und Konflikte nicht als quasi „naturgege- sche Familien im Libanon, in Palästina, in Ägyp- lung von Frauen und Männern im Koran im ben“ und unveränderlich oder als individuelles ten wurde es allmählich üblicher, ihre Töchter Hinblick auf Erbrecht, Zeugenschaft, Polyga- Schicksal zu begreifen, sondern als strukturel- in die Missionsschulen zu schicken, um ihnen mie und Scheidung solle keineswegs die Über- le Unterdrückungsverhältnisse und Benachtei- eine umfassendere Ausbildung zu ermög- legenheit der Männer anerkennen. Vielmehr ligungen als Frau. Führende Frauenrechtlerin- lichen. handle es sich dabei um Zugeständnisse des nen der arabischen Welt des ausgehenden 19. Propheten an die noch aus der vorislamischen Jahrhunderts schildern in ihren Memoiren ei- Zeit, der jâhiliyya, stammende Hartherzigkeit gene schmerzhafte Erlebnisse aus dem famili- HORIZONTERWEITERUNG STELLT und Brutalität der Männer. Prinzipiell würden ären Patriarchat. Ein weiteres Mal mag Huda RESTRIKTIONEN INFRAGE im Koran Mann und Frau gleich viel gelten (vgl. Shaarawi als Beispiel dienen. Als Kind litt sie un- Paret 1981, S. 30f.). Das Beispiel Nazira Zain ad- ter der Bevorzugung ihres Bruders und mit drei- Die erweiterten Bildungsangebote und die gei- Dins zeigt, dass Frauen in intellektuellen Zirkeln zehn wurde sie gezwungen, ihren um dreißig stige Horizonterweiterung ermöglichten es im Rahmen ihrer eigenen kulturellen und reli- Jahre älteren Vormund zu heiraten. Die ägypti- den privilegierten Frauen, die davon Gebrauch giösen Traditionen ihre Handlungsspielräume sche Dichterin Malak Hifni Nasif erlebte leidvoll machen konnten, die Restriktionen, denen sie zu erweitern suchten. In ihrer Suche nach neu- die Konflikthaftigkeit einer polygamen Ehe. als Frauen ausgesetzt waren, infrage zu stellen. en Selbstbildern waren sie augenscheinlich Mit der „veröffentlichten“ Benennung der Lei- Oftmals schmerzlich erlebte Widersprüche durchaus nicht auf den Westen fixiert (vgl. Gra- den am Patriarchat wurde das Private politisch, zwischen neuen Bildungsidealen und -wün- ham-Brown 1988, S. 233). wurden die vom religiösen und staatlichen Es- schen und altem Rollenverständnis beförder- ten die Herausbildung eines feministischen Be- wusstseins, wie es die Erfahrungen von Huda Shaarawi, einer der Begründerinnen der ägyp- tischen Frauenbewegung anschaulich deutlich machen. Als Angehörige der Oberschicht wur- de Huda Shaarawi zuhause unterrichtet, mit neun Jahren kannte sie den Koran auswendig. Ihr Wunsch, Unterricht in arabischer Gramma- tik zu nehmen, stieß auf entschiedene Ableh- nung. Das geschriebene klassische Arabisch wurde als die Sprache der öffentlichen Angele- genheiten und somit als Domäne der Männer betrachtet und dementsprechend als unpas- send für Frauen. In ihren Memoiren kommen- tiert Huda Shaarawi die Bedeutung dieser Ein- schränkung für ihre persönliche Entwicklung: „Ich wurde deprimiert und begann meine Stu- dien zu vernachlässigen und hasste es, ein Mädchen zu sein, weil es mich von der Bildung fernhielt, nach der ich verlangte. Später wurde die Tatsache, eine Frau zu sein, zu einer Barrie- re zwischen mir und der Freiheit, nach der ich mich sehnte“ (Shaarawi 1986, S. 40). Durch die neuen Bildungsmöglichkeiten wur- den Frauen auch in die Lage versetzt, vertiefte Kenntnisse ihrer Religion zu erlangen. Damit vermochten sie die Legitimierung der Be- schränkungen, denen sie ausgesetzt waren, als angeblich „islamisch“ zu kritisieren. Die neuen Ideen, die im Einklang mit dem islamisch-mo- dernistischen Diskurs Muhammad Abduhs und anderer Reformer standen, wurden in neu ent- standenen Frauenzeitschriften öffentlich ge- macht (vgl. Kreile 1997, S. 236ff.). 1928 veröffentlichte eine knapp 20-jährige Li- banesin, Nazira Zain ad-Din, eine Aufsehen er- regende Schrift „Entschleiern und Verschleiern: IN KUWAIT UND SAUDI- Über die Befreiung der Frau und die Erneue- ARABIEN WIRD FRAUEN rung der islamischen Welt“. Nazira Zain ad-Din IMMER NOCH DAS WAHL- war die erste arabische Frau, die eine längere RECHT VORENTHALTEN. theoretische Abhandlung veröffentlichte. Sie DIE POLITISCHE, SOZIALE hatte eine Missionsschule und das Kolleg der UND ÖKONOMISCHE Amerikanischen Universität von Beirut be- DISKRIMINIERUNG VON sucht. In Koran-Exegese und religiösem Recht FRAUEN IST EINES DER war sie von ihrem Vater, der erster Präsident des ZENTRALEN ENTWICK- Appellationsgerichts der République Libanaise LUNGSHEMMNISSE IN war, unterrichtet worden. Auf dem Boden des DER ARABISCHEN WELT. islamisch-modernistischen Diskurses betrach- picture alliance / dpa

111 RENATE KREILE tablishment legitimierten patriarchalischen Akteurinnen in Erscheinung und nahmen an Im Interesse von Nation-building und Moder- Strukturen infrage gestellt. Radikal und selbst- Massenprotesten teil, an der Organisierung nisierung sollten die Geschlechterverhältnisse bewusst heißt es in einem 1909 veröffentlich- von Boykottaktionen und Streiks. Wie in ande- transformiert und die familiären und religiösen ten Gedicht von Aischa at-Taimuriya: „Ich ha- ren antikolonialen Befreiungskämpfen wurden Patriarchen geschwächt werden. Die Loyalitä- be die Tradition und meine absurde Lage her- die militanten politischen Aktivitäten der Frau- ten der Menschen sollten umgelenkt werden ausgefordert und bin hinausgegangen über en etwa in Ägypten von den Männern ange- auf den Staat. Indem der modernisierende Staat das, was Zeit und Ort gestatten“ (zit. nach Ba- sichts der Ausnahmesituation durchaus aner- die Frauen der Kontrolle durch die Gemein- dran/Cooke 1992, S. 20). kannt. Für ihre Hingabe an die „nationale Sa- schaften teilweise entzog, versuchte er seine che“ wurden sie lauthals gepriesen. Als die Hegemonie über die Gesellschaft durchzuset- (partielle) Unabhängigkeit erkämpft war und zen. VOM BEWUSSTSEIN ZUR BEWEGUNG sie politisch nicht mehr gebraucht wurden, än- In verschiedenen Ländern der Region kam es derte sich das Bild. Das ägyptische Wahlgesetz nun zu einer massenhaften Einbeziehung von Ein wichtiger Schritt hin zur Organisierung ei- von 1923 garantierte nur den Männern das Frauen in den Arbeitsmarkt. Die Frauen er- nes kollektiven frauenrechtlichen Bewusst- Wahlrecht. hielten mehr soziale und politische Rechte. In seins waren Freitagsvorlesungen von Frauen Die ägyptischen Frauenrechtlerinnen fanden Ägypten unter Nasser erhielten sie zum Bei- für Frauen, die 1908 an der neu gegründeten sich mit dem Ausschluss aus der formalen po- spiel das Recht, außerhalb des Hauses zu ar- Ägyptischen Universität abgehalten wurden. In litischen Sphäre keineswegs ab. Bei der Rück- beiten und an Wahlen teilzunehmen. In dieser den Vorlesungen wurden die Lebensbedingun- kehr von einer internationalen Frauenkonfe- Phase des ägyptischen „Staatsfeminismus“ er- gen der ägyptischen Frauen thematisiert und renz legten Huda Shaarawi und eine Mitstrei- hielten Frauen auch per Gesetz Anspruch auf es wurden Vergleiche mit der Situation der terin 1932 auf dem Kairoer Bahnhof öffentlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit; an Arbeits- Frauen in Europa angestellt. Diese Vorlesungen ihren Gesichtsschleier ab. Mit dieser dramati- plätzen mit vielen weiblichen Beschäftigten sind deshalb besonders bemerkenswert, weil schen Geste bekundeten sie ihre Entschlossen- wurden Betreuungszentren für Kinder einge- sie die erste gemeinsame Aktivität von Frauen heit, die Beschränkung der Frauen auf den richtet. Frauen konnten wie Männer eine kos- der Mittel- und Oberschicht darstellten und häuslichen Bereich zu beenden. Kurz zuvor war tenlose Universitätsausbildung erhalten mit außerhalb des Harems stattfanden. Wider- unter Führung Huda Shaarawis die Ägyptische einer staatlichen Ausbildungsgarantie nach stand blieb nicht aus. Eine 1909 eröffnete Frau- Feministische Union1 gegründet worden. Sie dem Abschluss. en-Sektion an der Universität wurde wegen öf- forderte politische Rechte für Frauen, Verände- Derartige geschlechtsegalitäre Reformen er- fentlicher Opposition 1912 wieder geschlos- rungen im Personenstandsrecht zugunsten der öffneten vielen Frauen neue Rollen und Ent- sen. Das eingesparte Geld wurde an drei Män- Frauen (insbesondere bezüglich Scheidung und faltungsmöglichkeiten und machten sie öko- ner vergeben, die mit Regierungsstipendien in Polygamie), gleiche Bildungschancen für Frau- nomisch unabhängiger von ihren Familien. Europa studieren sollten. Erst 1929 wurden en, bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, Ar- Jedoch ließen auch die progressiven Moderni- Frauen wieder an der Universität zugelassen. beitsschutzregelungen für Arbeiterinnen so- sierungseliten die familienrechtliche Unter- Der Phase der kollektiven frauenrechtlichen wie Kinderbetreuung und Gesundheitsversor- ordnung der Frauen unangetastet und verzich- Bewusstseinsbildung folgte die Herausbildung gung. Die letztgenannten Forderungen machen teten darauf, diese letzte Bastion der familiä- eines „sozialen Feminismus“ (Badran 1993, S. deutlich, dass die ägyptische Frauenbewegung, ren und religiösen Patriarchen zu attackieren. 133). Frauen aus der Ober- und Mittelschicht die wesentlich eine Bewegung von Frauen der Dass die Frauenpolitik in der Ära des Staatsfe- gründeten Wohltätigkeitsvereinigungen, die städtischen Ober- und Mittelschicht war, zu- minismus wesentlich ein Instrument darstellte, sich um notleidende arme Frauen und Kinder nehmend versuchte, auch die Interessen der die Kontrolle des Staates über die Gesellschaft kümmerten und deren Lage durch eine medizi- Frauen der Arbeiterklasse und der unteren auszuweiten, zeigt sich nicht zuletzt daran, nische und bildungsmäßige Grundversorgung Schichten zu vertreten und ihre Basis zu ver- dass autonome politische Initiativen von Frau- zu verbessern suchten. Die Überschreitung der breitern. Allerdings gelang es ihr kaum, über die en unterbunden wurden. So verbot Nasser in herkömmlichen Klassen- und Geschlechter- städtische Elite hinaus Mitglieder zu gewinnen, Ägypten, unmittelbar nachdem den Frauen grenzen durch das Engagement für Frauen der wenngleich sie erfolgreich soziale Programme 1956 das Wahlrecht gewährt worden war, alle unteren Schichten und das Betreten des öffent- wie Kliniken und Schulen für Frauen der unte- feministischen und sonstigen autonomen Or- lichen Raums wurde als Akt der Philanthropie ren Schichten auch in den Provinzen initiierte. ganisationen. und als religiöse Pflicht legitimiert. Mit den Bereits 1935 kam es zu einer ideologischen Wohltätigkeitsorganisationen knüpften die Ausdifferenzierung der ägyptischen Frauenbe- Frauen der oberen Schichten an die traditionel- wegung, wie sie bis heute in der gesamten ara- HERAUSFORDERUNGEN: GLOBALISIERUNG le Mutterrolle an, weiteten diese aber auf die bischen Welt fortdauert. Zainab al-Ghazali, ei- UND ISLAMISTISCHE BEWEGUNGEN Gesellschaft aus. Die Frauen machten die Tür ne der führenden Persönlichkeiten der ägypti- auf zum öffentlichen Raum, der bislang die Do- schen Muslim-Bruderschaft und bis heute Vor- Die krisenhaften Transformationsprozesse in mäne der Männer gewesen war, aber sie betra- bild für viele islamistische Frauen, verließ 1935 der arabischen Welt seit Ende der 1970er-Jah- ten ihn in ihrer traditionellen Rolle als „Mütter“. die eher säkular orientierte Ägyptische Femi- re stellten die Frauenbewegungen vor neue Ähnliche Emanzipationskonzepte der „sozialen nistische Union, weil diese ihrer Meinung nach Herausforderungen, brachten Ausdifferenzie- Mütterlichkeit“ wurden auch anderswo, etwa westliche Werte auf die ägyptischen Frauen rungen und neue Allianzen mit sich. Globalisie- in den Anfängen der bürgerlichen Frauenbe- übertragen wolle. Dem setzte sie die Forderung rungsprozesse und das verbreitete Streben wegung in Deutschland, vertreten. Sie lassen nach einer „kulturell authentischen“ Befreiung nach politisch-kultureller Selbstbehauptung sich als Kompromiss zwischen traditionellen der Frauen auf dem Boden des Islam entgegen prägen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch Geschlechterkonzepten und neuen Emanzipa- und gründete zu diesem Zweck die „Vereini- die Agenda der Frauenbewegungen. Im Folgen- tionsbestrebungen lesen. Den formativen An- gung Muslimischer Frauen“. Ausgehend von ei- den skizziere ich zunächst die Bedeutung der fangsphasen, die sich mit den Stichworten „Be- nem Konzept wesensmäßiger Verschiedenheit Frauenfrage im Konzept der islamistischen Be- wusstsein durch Bildung“, „das Private wird und Komplementarität von Frauen und Män- wegungen; anschließend gehe ich auf die politisch“ und „soziale Mütterlichkeit“ be- nern, betonte sie insbesondere die familiären mehrstimmigen Antworten der Frauenbewe- schreiben lassen, folgte der Auftritt der Frauen Verpflichtungen der Frauen als Ehefrauen und gungen auf die neuen Herausforderungen ein. auf der politischen Bühne. Mütter (vgl. Badran 1991, S. 210).

FRAUENFRAGE UND ISLAMISTISCHE DER AUFTRITT AUF DER POLITISCHEN DIE ÄRA DES STAATSFEMINISMUS BEWEGUNGEN BÜHNE Viele der Forderungen der frühen Frauenbewe- Mit dem Aufstieg des politischen Islam im letz- Im Rahmen der antikolonialen Bewegung tra- gungen wurden unter der Herrschaft reform- ten Viertel des 20. Jahrhunderts rückte einmal ten Frauen aus den mittleren und oberen orientierter politischer Eliten seit der zweiten mehr die Geschlechterfrage ins Zentrum ge- Schichten erstmalig unmittelbar als politische Hälfte des 20. Jahrhunderts „von oben“ erfüllt. sellschaftlicher und politischer Auseinander-

112 ISLAMISTISCHE BEWE- GUNGEN VERSPRECHEN DIE AUFRECHTERHALTUNG DER PATRIARCHALISCHEN AUTORITÄT VON VÄTERN, EHEMÄNNERN UND BRÜDERN, INDEM DIE KONTROLLE ÜBER DIE FRAUEN DURCH ALLE MÄNNER DER „ÜBER- FAMILIE“ DER GLÄUBIGEN GARANTIERT WIRD. picture alliance / dpa

setzungen. Kontroversen über Stellung und menden politischen Faktor darstellen. Mit ihren ma, der „Über-Familie“ der Gläubigen, garan- angemessenes Verhalten der Frauen prägen Wohlfahrtsorganisationen füllen sie das sozi- tiert wird. seitdem gesellschaftliche Diskurse, definieren alpolitische Vakuum, das die Staaten unter dem Die Politisierung der Geschlechterordnung im politische Zugehörigkeiten und markieren ide- Druck neoliberaler Globalisierung und Struk- islamistischen Diskurs vermag zudem den ein- ologische Grenzlinien nach innen wie nach au- turanpassung hinterlassen haben (vgl. Pawel- zelnen Frauen und Männern das Gefühl ver- ßen. Körper und Sexualität der Frauen, symbo- ka 2002, S. 443). mitteln, durch eine „moralische“ Lebensfüh- lisch manifestiert in der Schleier- bzw. Kopf- Ungeachtet politischer Ausdifferenzierungen rung einen Beitrag zur angestrebten „wahrhaft tuchfrage, sind zu Metaphern geworden; über und Anpassungsprozesse blieb die Frauenfrage islamischen Ordnung“ zu leisten und damit den sie werden Themen wie Globalisierung und ein Schlüsselthema in den Diskursen des poli- alltäglichen Erfahrungen der Ohmacht eigene Selbstbehauptung, Authentizität und Verwest- tischen Islam in allen seinen Facetten und Aus- Einflussmöglichkeiten entgegenzusetzen. lichung, Religion und Moderne, Gemeinschaft prägungen. Die krisenhafte soziale Entwick- Angesichts des dramatischen Vertrauensver- und Individuum artikuliert und umkämpft. lung wird wesentlich als „moralische Krise“ ge- lustes der herrschenden Eliten kann es wenig Nicht selten liegen den politisch-kulturellen deutet, die mit der Wiederherstellung der verwundern, dass die geschlechterpolitische Auseinandersetzungen soziale Konflikte zu- „gottgewollten Ordnung“ behoben werden soll. Re-Orientierung in die staatlichen Versuche grunde. In den Zeiten der Globalisierung wie zu Für die Wiederherstellung dieser ersehnten des Krisenmanagements ebenfalls weithin Ein- Zeiten des Kolonialismus scheint die Ausein- „gottgewollten Ordnung“ gewinnt die Ord- gang gefunden hat. Hier versucht der Staat, andersetzung über die Frauenfrage, die in kul- nung der Geschlechter zentrale Bedeutung. sich kostengünstig bei Konservativen, Traditio- turellen und moralischen Termini geführt wird, Diese ist in den Augen der Islamisten offenkun- nalisten und Islamisten zu legitimieren sowie eine „große kulturelle Trennlinie zwischen den dig aus den Fugen geraten, gleichsam als Sym- bei zahllosen Männern, die sich durch sozialen Nutznießern und Verlierern der sich wandeln- bol und Indikator einer als chaotisch erlebten Statusverlust im Zuge der Krisenentwicklung in den sozioökonomischen Ordnung“ (Kandiyoti Gesellschafts- und Weltordnung. Mit der Re- ihrem Selbstwertgefühl bedroht sehen. 1991, S. 8) zu markieren, und dies auf nationa- Formulierung und Politisierung des traditio- ler wie auf globaler Ebene. nellen patriarchalischen Geschlechterdiskur- Die materiellen und politischen Glücksverspre- ses sollen der vermeintliche moralische Verfall GEGENREAKTIONEN DER chen der Globalisierungsdynamik erfüllen sich und die heillosen gesellschaftlichen Zustände FRAUENBEWEGUNGEN heute – ähnlich wie in der Kolonialzeit – zu- bekämpft werden. meist nur für die Eliten der Region. Für große Wie reagieren nun die Frauenbewegungen in Teile der Bevölkerung, die zu den sozialen Ver- der arabischen Welt auf die alten Einschrän- lierern gehören, wird der Islam zum Symbol von KONTROLLE DURCH DIE „ÜBER-FAMILIE“ kungen und die neuen Herausforderungen? Im Zusammengehörigkeit und Selbstbehauptung. DER GLÄUBIGEN Zuge der Globalisierungsdynamik haben die Dieses Symbol wird der als übermächtig emp- arabischen Frauenbewegungen auf nationaler fundenen westlichen Durchdringung entge- Die Abkehr zahlreicher Frauen von ihrer tradi- wie auf transnationaler Ebene enorm an Mobi- gengesetzt (vgl. Müller 2002). Unter der Parole tionellen Rolle und ihre außerhäusliche Prä- lisierungsfähigkeit gewonnen. Tausende von „Der Islam ist die Lösung“ versprachen die isla- senz ist aus der Perspektive von Traditionalis- Frauen mit Bildung und Erfahrungen in der Ar- mistischen Bewegungen einen Ausweg aus der ten und Islamisten nicht nur Ausdruck der Ab- beitswelt engagieren sich heute in Frauen- bedrängenden Gesellschaftskrise mit Sympto- wendung von der göttlichen Ordnung, sondern Nicht-Regierungs-Organisationen als Antwort men wie Arbeitslosigkeit, Verelendung, ka- wesentlich auch für die Erosion der traditionel- auf fortdauernde und sich verschärfende Pro- tastrophaler Wohnungsnot. Zwar konnten die len Familienstrukturen verantwortlich. Hier bleme für Frauen in den verschiedensten Berei- Islamisten ihre Vision eines „gerechten” islami- bieten die islamistischen Organisationen sich chen, so etwa in wohlfahrtspolitischen Projek- schen Staates nirgendwo verwirklichen. Wäh- nun als „Supra- und Super-Familien“ an. Sie ten, für Menschenrechte und Frauenrechte, in rend ein kleinerer Teil sich durch die Hinwen- stellen nicht nur soziale Dienstleistungen zur frauenzentrierten Forschungs- und Bildungs- dung zu terroristischen Strategien zunehmend Verfügung in einer Situation, in der der Staat projekten. Auch das traditionelle Tabu-Thema von breiten Bevölkerungsschichten entfrem- sozialpolitisch abwesend ist. Sie versprechen „Gewalt gegen Frauen“ im privaten Bereich dete und isolierte, kam es in verschiedenen auch, die durch den soziokulturellen Wandel wird zunehmend öffentlich diskutiert.2 Staaten der Region zu einer politischen Mäßi- gefährdete patriarchalische Autorität von Vä- Zwischen den einzelnen nationalen Frauenbe- gung der meisten islamistischen Bewegungen tern, Ehemännern, Brüdern auf einer neuen wegungen finden verstärkt regionale Vernet- und zu ihrer Einbindung in das politische Sys- Ebene wiederherzustellen, indem die Kontrolle zungs- und Austauschprozesse statt, nicht zu- tem, wo sie aber weiterhin einen ernstzuneh- über die Frauen nun durch alle Männer der um- letzt mithilfe der neuen Informations- und

113 RENATE KREILE

Kommunikationstechnologien. Die arabischen überflüssig angesichts der Lehren des Islam. schaft der Väter, Ehemänner und jeweiligen re- Frauenbewegungen sind heute eingebunden in So erklärte eine islamistische Aktivistin: „Wer ligiösen Gemeinschaften entlassen und direkt die globalen Diskurse über Frauen- und Men- braucht alle diese Verträge, wo wir doch den und ohne patriarchalische Vermittlung zu Ver- schenrechte, Demokratisierung und Zivilge- Koran haben?“ (zit. nach Karam 1997, S. 27). tragspartnerinnen des Staates und zu Staats- sellschaft und auf den Weltfrauenkonferenzen Während zahlreiche religiös orientierte Frau- bürgerinnen aus eigenem Recht machen. Aller- (etwa Peking und Huairou) zahlreich und orga- enrechtlerinnen also auf unterschiedliche dings könnte eine derartige Entwicklung die nisiert vertreten. Weise darum ringen, ihre Rechte durch eine Macht und den Zusammenhalt der Gemein- In ihren eigenen Gesellschaften sehen sich die „frauenfreundlichere“ Re-Interpretation der schaften empfindlich schwächen. Frauenbewegungen der Region gleichwohl mit religiösen Quellen auszuweiten, fordern die sä- An diesem Punkt treten nun neben die erwähn- einer extrem widersprüchlichen und ungünsti- kular orientierten Frauenrechtlerinnen unter ten Allianzen der islamisch und der säkular gen Situation konfrontiert: Sie sind einge- Berufung auf Demokratie und Menschenrech- orientierten Frauenbewegungen, die weltan- zwängt zwischen den identitätspolitisch legiti- te gleiche Rechte als Individuen ein. Zum stra- schauliche Differenzen teilweise überbrücken, mierten restriktiven Loyalitätsansprüchen reli- tegischen Dreh- und Angelpunkt wird dabei gegensätzliche Interessenlagen und Loyalitäts- giöser, ethnischer und familialer Gemeinschaf- das Familienrecht. konflikte. Auf der einen Seite stehen diejenigen ten einerseits und dem repressiven Staat Teile der Frauenbewegungen, die sich nach- andererseits, der die Zivilgesellschaft ein- drücklich für die Ausweitung der Rechte der schließlich unabhängiger Frauenorganisatio- DAS FAMILIENRECHT ALS DREH- Frauen als Individuen engagieren, damit aber nen einer weitreichenden Kontrolle unterwor- UND ANGELPUNKT vielfach den Kontrollanspruch der patriarcha- fen hat. So verbietet beispielsweise das ägypti- lisch strukturierten Gemeinschaften infrage sche Vereinsgesetz von 1999 den Nicht-Regie- Während die Demokratisierungsrhetorik auch stellen. Auf der anderen Seite artikulieren sich rungs-Organisationen gewerkschaftliche und im Vorderen Orient um sich greift, bleiben die Frauenrechtlerinnen, die bestrebt sind, ihre Ge- politische Aktivitäten. Da alle Aktivitäten, die Frauen in den meisten Ländern der Region hin- staltungsmöglichkeiten im Rahmen verwandt- aus Regierungssicht „die nationale Einheit, die sichtlich ihrer demokratischen Rechte nämlich schaftlicher und religiöser Gemeinschaften allgemeine Ordnung und die guten Sitten be- doppelt blockiert. Sie sind nicht nur – wie auch auszuweiten, auf deren Rückhalt und Fürsorge drohen“, verboten sind, ist es undenkbar, dass die meisten Männer – den allgemeinen staat- sie nicht verzichten können und wollen und de- sich eine Frauengruppe etwa der Probleme von lichen Beschränkungen hinsichtlich bürger- ren Kontrollansprüchen und Anpassungsfor- unehelichen Müttern oder lesbischen Frauen licher Freiheitsrechte und politischer Partizipa- derungen sie sich somit kaum entziehen kön- annimmt (vgl. Lübben/Fawzi 1999, S. 29ff.). An- tion unterworfen. Gleichzeitig ist ihnen das nen (vgl. Joseph 2000b, S. 18ff.). Die weltan- gesichts der vielfältigen Zwänge und Restrik- fundamentale Recht versagt, in so wichtigen schaulichen und politischen Differenzen zwi- tionen verfolgen die Frauenrechtlerinnen der Fragen wie Eheschließung, Scheidung, Arbeit, schen den verschiedenen Frauengruppen füh- Region uneinheitliche Strategien, die ideolo- Mobilität, Sorgerecht für die Kinder eigenstän- ren nicht selten zu erbitterten Konflikten, in de- gisch verschiedenartig legitimiert und sozial dige Entscheidungen zu treffen, da sie im reli- nen nicht zuletzt die Argumentationsfigur des unterschiedlich verankert sind. giös verankerten Familienrecht den männlichen „kulturellen Verrats“ breite Verwendung findet. Verwandten untergeordnet sind. Der Wider- Im Hinblick auf die ägyptische Situation notiert spruch zwischen der an Individuen gerichteten Al-Ali: „Meine eigenen Forschungsergebnisse ISLAMISTISCHE UND MUSLIMISCHE Gleichheitszusage in den meisten Verfassungen zeigen eine weit verbreitete Praxis innerhalb der FRAUENBEWEGUNGEN der Region und der fortdauernden Unterwer- heutigen Frauenbewegung, dass eine bestimm- fung unter das durch die verschiedenen religi- te Gruppe (...) durch die Beschuldigung delegi- Zahlreiche islamische Frauenrechtlerinnen ösen Gemeinschaften kodifizierte Familien- timiert wird, dass sie ‚dem Westen’ nach dem machen sich daran, auf der Basis einer Re- recht macht die Frauen zu Staatsbürgerinnen Mund rede“ (Al-Ali 1997, S. 186). Interpretation der islamischen Tradition im zweiter Klasse (vgl. Joseph 2000a). Sinne einer „feministischen Theologie“ den tra- Eine Gleichstellung im Familienrecht wäre – ditionellen religiös legitimierten sozialen und aus der Perspektive säkular orientierter Frauen- DIE SITUATION DER FRAUENBEWEGUNG rechtlichen Handlungsrahmen auszuweiten rechtlerinnen – zumindest eine der zentralen IM IRAK und die Definitionsmacht der männlichen Pa- Voraussetzungen für mehr Gestaltungsspiel- triarchen in Frage zu stellen. Gleichzeitig öff- räume für Frauen wie auch für Demokratisie- Besonders verzweifelt und widersprüchlich nen manche von ihnen damit die Tür zu Allian- rungsprozesse. Die familienrechtliche Gleich- stellt sich die Situation für die Frauenbewe- zen mit säkular orientierten Frauenrechtlerin- stellung würde die Frauen aus der Vormund- gung im heutigen Irak dar. Vor dem Hinter- nen in den eigenen Gesellschaften wie auch zur grund fortdauernder gewaltsamer Ausein- globalen Frauenbewegung. andersetzungen am Rande des Bürgerkriegs Allerdings vertreten die Frauenrechtlerinnen, und einer katastrophalen Sicherheits- und Ver- die sich unter Berufung auf den Islam legiti- UNSERE AUTORIN sorgungslage in weiten Teilen des Landes set- mieren, durchaus nicht einheitliche Konzepte. zen Frauenrechtlerinnen aus unterschied- Azza Karam unterscheidet in ihrer einschlägi- Prof. Dr. Renate lichen ideologischen und politischen Lagern gen Studie zu Ägypten terminologisch zwi- Kreile lehrte am auf höchst kontroverse Strategien zur Durch- schen „islamistischen Feministinnen“ und Institut für Politik- setzung ihrer Interessen. „muslimischen Feministinnen“. Während mus- wissenschaft der Zwar betrauern nur wenige irakische Frauen- limische Feministinnen nachzuweisen ver- Eberhard Karls rechtlerinnen das Ende des extrem repressiven suchten, dass das Prinzip der Gleichheit von Universität in Tü- Baath-Regimes. Gleichwohl ist es unbestritten, Mann und Frau im Einklang mit dem Islam ste- bingen und hat dass der Bildungs- und Beschäftigungsgrad he, beharrten islamistische Feministinnen auf seit 2003 einen von Frauen unter der Herrschaft Saddam Hus- der gottgegebenen wesensmäßigen Verschie- Lehrstuhl für Poli- seins weit höher lag als in den meisten anderen denheit und Komplementarität der Geschlech- tikwissenschaft arabischen Staaten und dass Frauen von weit- ter. Diese seien zwar gleichwertig, hätten aber und politische Bil- reichenden sozial-, arbeits- und familienpoliti- verschiedene Rollen auszufüllen. Muslimische dung an der Päda- schen Rechten profitierten. Feministinnen unterstützen internationale gogischen Hochschule Ludwigsburg. 1996 Im „neuen Irak“ drohen den irakischen Frauen Frauenrechts-Konventionen wie CEDAW (Kon- habilitierte sie sich in Politikwissenschaft mit unter dem massiven Druck des dominanten vention zur Beseitigung jeglicher Diskriminie- einer Habilitationsschrift über „Politische schiitischen Machtblocks der Verlust ihrer bis- rung von Frauen). Viele islamistische Femi- Herrschaft, Geschlechterpolitik und Frauen- herigen Rechte und die Unterwerfung unter die nistinnen (etwa einige Mitglieder der Muslim- macht im Vorderen Orient“. Ihre Forschungs- familienrechtlichen Regelungen der Scharia im Bruderschaft) hingegen betrachten die ge- und Publikationsschwerpunkte sind Trans- Sinne des Deutungsmonopols von konserva- nannte UN-Konvention als Ausdruck einer formationsprozesse im Vorderen Orient, po- tiv-religiösen Patriarchen und islamistischen kulturellen Dominanz des Westens und als litischer Islam sowie Genderforschung. Hardlinern. Mitgetragen und befördert wird

114 Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien dieser frauenpolitische Rollback von konserva- PERSPEKTIVEN DER ARABISCHEN die einschlägigen Diskussionen den Frauen in tiven schiitischen Frauen, die ihre Rechte als FRAUENBEWEGUNGEN Oberägypten wenig Hilfe in ihren alltäglichen Frauen im Rahmen der Scharia ausreichend ge- Kämpfen böten. „Ich bin hierher gekommen, währleistet glauben. Sie sehen die Moscheen Im Hinblick auf die Perspektiven der geschlech- um praktische Lösungen zu finden“, sagte sie. und religiösen Gemeinschaften als die einzigen terpolitischen Dynamik im Vorderen Orient „Ich möchte beispielsweise sicherstellen, dass sozialen Institutionen, die während und seit zeichnen sich widersprüchliche, in sich gegen- in meinem Dorf eine schwangere Frau nicht dem Krieg eine gewisse Versorgung, Ordnung läufige und sozial unterschiedlich akzentuierte schwere Wasserkrüge auf dem Kopf tragen und Sinnstiftung geboten haben. Ihre vorran- Tendenzen ab. Solange sich soziale Polarisie- muss“ (zit. nach Masonis El-Gawhary 2000, gige Sorge gilt der Wiederherstellung des fami- rungen und existenzielle Gefährdungen weiter S. 40). liären und sozialen Zusammenhalts und Frie- vertiefen, dürfte auch die Nachfrage in den är- dens und des durch Diktatur, Krieg und Besat- meren sozialen Schichten nach Schutz, Absi- zung gedemütigten Selbstwertgefühls der cherung und sozialmoralischer Orientierung Männer, die dazu befähigt werden sollen, ihre durch die familiären und religiösen Gemein- traditionellen Rollen als Versorger und respek- schaften ungebrochen bleiben. Sie bieten man- tierte Familienoberhäupter wieder zu überneh- gels Alternativen und angesichts eines repres- LITERATUR men. Dieses Projekt, das nicht zuletzt die extre- siven, sozialpolitisch abwesenden Staates für Al-Ali, Nadje Sadig: Feminism and Contemporary Deba- me Kriminalität und Gewalt in der Gesellschaft viele Frauen und Männer existenziell notwen- tes in Egypt. In: Chatty, Dawn/Rabo, Annika (ed.): Orga- beenden soll, lässt sich ihrer Auffassung nach dige Zufluchtsbastionen, deren Zusammenhalt nizing Women. Formal and Informal Women’s Groups in the Middle East. Oxford, New York 1997, S. 173–194. realistisch nur im Rahmen und Geltungsbe- durch die traditionellen patriarchalischen Ver- Arab Human Development Report (AHDR) 2002 (im Auf- reich des religiösen Rechts verwirklichen (vgl. hältnisse aufrechterhalten und den Autono- trag des United Nations Development Programme) Goetz 2005). mieansprüchen der Individuen übergeordnet Badran, Margot: Competing Agenda: Feminists, Islam and the State in 19th and 20th Century Egypt. In: Kandiyoti, Die säkular orientierten Frauenrechtlerinnen, wird. Deniz (ed.): Women, Islam and the State. London and Ba- für die eine Gleichstellung auch im Familien- Parallel dazu bringt der soziale Wandel eine singstoke 1991, S. 201–236. recht unverzichtbar ist, stehen weithin mit dem Ausdifferenzierung der Mittelschichten und ei- Badran, Margot: From Consciousness to Activism: Femi- nist Politics in Early Twentieth Century Egypt. In: Spag- Rücken zur Wand. Angesichts alltäglicher ne Pluralisierung von Lebensformen mit sich nolo, John P. (ed.): Problems of the Modern Middle East Morddrohungen seitens islamistischer Terror- und schafft in den privilegierten Teilen das in Historical Perspective. Oxford 1992, S. 27-48. gruppen ist ihre persönliche Bewegungsfrei- Potential für Individualisierungsschübe und Badran, Margot: Independent Women. More Than a Cen- tury of Feminism in Egypt. In: Tucker, Judith (ed.): Arab heit wie auch ihre politische Partizipations- Selbstverwirklichungsambitionen. Damit wer- Women. Old Boundaries, New Frontiers. Washington D. C. und Mobilisierungsfähigkeit extrem einge- den auch für eine Minderheit von Frauen auto- 1993, S. 129–148. schränkt. Zudem können sie im Hinblick auf ih- nomere Gestaltungsspielräume und alternati- Badran, Margot/Cooke, Miriam (Hrsg.): Lesebuch der „Neuen Frau“. Araberinnen über sich selbst. Reinbek bei re soziale Ausstrahlungskraft kaum mit den Ka- ve Rollenkonzepte eröffnet. Wer materiell ab- Hamburg 1992 pazitäten der Frauen aus den konservativen re- gesichert ist, kann am ehesten auf den Rück- Chatty, Dawn/Rabo, Annika (ed.): Organizing Women. ligiösen Organisationen konkurrieren, die sozi- halt der familiären oder religiösen Gemein- Formal and Informal Women’s Groups in the Middle East. Oxford, New York 1997 ale Dienstleistungen gewährleisten und ein schaft verzichten, die Sicherheit gewährt, aber Goetz, Anne Marie: Against Daunting Odds: Women religiös fundiertes Gemeinschaftsgefühl zu Anpassung fordert. Fight for Gender Equality Rights in Iraq’s New Constitu- vermitteln vermögen. Die bekannte säkular Die Forderung vieler Frauenrechtlerinnen nach tion. In: IDS news (Institute of Development Studies, Uni- versity of Sussex) vom 5. 08. 2005 (http://www.ids. orientierte Frauenrechtlerin Yanar Moham- gleichen Rechten, auch im „privaten“ Bereich ac.uk/ids/newsAnneMarieIraq.html) med, die fortlaufend Todesdrohungen erhält, und im Personenstandsrecht, mag diesen Pro- Graham-Brown, Sarah: Images of Women. A Portrayal of Women in Photography of the Middle East 1860-1950. kommentiert die für säkular orientierte Frau- zess widerspiegeln. In Marokko, wo mittlerwei- London 1988 enrechtlerinnen wie für eine durchsetzungsfä- le ein Drittel der Erwerbstätigen Frauen sind, Joseph, Suad (ed.): Gender and Citizenship in the Midd- hige Frauenbewegung fatale politische Dyna- hatten die Frauenrechtlerinnen Grund zum Ju- le East. New York 2000 (Joseph 2000a) mik: „Ich fürchte mich nicht vor Männern, die bel. Am 10. Oktober 2003 verkündete der ma- Dies.: Gendering Citizenship in the Middle East. In: Jo- seph, Suad (ed.): Gender and Citizenship in the Middle nicht an Frauenrechte glauben. Aber ich bin rokkanische Monarch Mohammed VI., der East. New York 2000, S. 3-30. (Joseph 2000b) entsetzt über Frauen, die aus freien Stücken gleichzeitig Regierungschef, Oberbefehlshaber Kandiyoti, Deniz (ed.): Women, Islam and the State. Lon- und unter dem Vorzeichen von Demokratie ge- der Armee, Führer der Gläubigen, oberster don and Basingstoke 1991 (Introduction, S. 1-21) Karam, Azza M.: Women, Islamisms, and State: Dynamics gen Frauenrechte arbeiten“ (zit. nach Goetz Rechtsgelehrter und laut Verfassung heilig und of Power and Contemporary Feminisms in Egypt. In: Af- 2005). unantastbar ist, eine radikale Reform des Fami- khami, Mahnaz/ Friedl, Erika (ed.): Muslim Women and Die unterschiedlichen Strategien der verschie- lienrechts. Darin wurde u. a. festgelegt, dass the Politics of Participation. Implementing the Beijing Platform. New York 1997, S. 18-28. denen Strömungen der Frauenbewegung in Ehemann und Ehefrau gleichberechtigt und Kreile, Renate: Politische Herrschaft, Geschlechterpolitik den arabischen Gesellschaften spiegeln nicht gemeinsam für Familie und Haushalt verant- und Frauenmacht im Vorderen Orient. Pfaffenweiler 1997 zuletzt heterogene soziale Zugehörigkeiten wortlich sind. Die bisherige Pflicht der Frau, Lübben, Ivesa/Fawzi, Issam: Rückfall in die Unterta- nengesellschaft: Das neue ägyptische Vereinsgesetz. In: und Interessenlagen wider. Funktionaler Aus- dem Mann zu gehorchen, wurde abgeschafft. INAMO, Nr. 19/1999, S. 29–33. gangspunkt ist dabei die Frage: Wer vermag in Männer und Frauen können gleichberechtigt, Masonis El-Gawhary, Krista: Egyptian Advocacy NGOs. der globalisierten und fragmentierten Risiko- eine Ehe schließen; die Frau braucht keinen Catalysts for Social and political Change? In: Middle East Report, No. 214/2000, S. 38-41. gesellschaft oder unter den Bedingungen von Vormund mehr. Die Polygamie wird stark ein- Müller, Jochen: Im Schatten der Vergangenheit. In: Kul- Staatszerfall und Bürgerkrieg existenziellen geschränkt, den Frauen wird die Scheidung er- turAustausch, Heft 1/2002, S. 24-29. Schutz und Rückhalt zu bieten? Auch in den leichtert (vgl. Sabra 2004, S. 68). Paret, Rudi: Schriften zum Islam. Volksroman – Frauen- westlichen Gesellschaften sehen sich im Zuge Perspektivisch dürfte die soziale Ausstrah- frage – Bilderverbot. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981 Sabra, Martina: Frauenrechte von Königs Gnaden. In: sozialstaatlicher Abbaumaßnahmen zuneh- lungskraft und die politische Mobilisierungsfä- E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit), Heft 2/2004, mend mehr Frauen vor diese Frage gestellt. higkeit der arabischen Frauenbewegungen S. 68-71. Interessanterweise konstatiert der eingangs nicht zuletzt davon abhängen, wie weit es den Shaarawi, Huda: Harem Years. The Memoirs of an Egyp- tian Feminist (Translated and Introduced by Margot Ba- erwähnte UN-Report zur Entwicklung in der Frauenrechtlerinnen gelingt, die soziale Frage dran). London 1986 arabischen Welt bei aller Kritik an den entwick- zum Thema zu machen und die Forderungen lungspolitischen Defiziten in der Region, dass nach individuellen Freiheitsrechten und nach dort krasseste Armut weniger verbreitet ist als sozialen Rechten zu verknüpfen. Ein Beispiel in allen anderen Entwicklungsregionen (vgl. aus Ägypten mag dies abschließend verdeut- ANMERKUNGEN AHDR 2002, S. III). Dies mag nicht zuletzt in der lichen: Bei einer Konferenz über die rechtliche 1 Ich folge hier der Terminologie von Badran (1992, fortdauernden besonderen Bedeutung ver- Stellung von Frauen, die 1994 in Minya statt- S. 208): Die Begründerinnen der Union verwendeten den wandtschaftlicher und gemeinschaftlicher fand, wurde über die UN-Konvention zur Besei- französischen Begriff „feministe“. Strukturen in den orientalischen Gesellschaf- tigung aller Formen der Diskriminierung gegen 2 Zu den Aktivitäten formeller und informeller Frauen- gruppen im Vorderen Orient, ihren Möglichkeiten und ten begründet liegen, die weithin die einzigen Frauen diskutiert. Während der Debatte erhob Problemen vgl. den informativen, von Chatty/Rabo 1997 sozialen Netze darstellen (vgl. Joseph 2000b, S. sich eine junge Frau mit ihrem Baby auf der herausgegebenen Sammelband. 18ff). Hüfte und bemerkte, dass die Konvention und

115 KULTURELLE PARTNERSCHAFT ZWISCHEN ARABIEN UND DEM WESTEN Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut du Monde Arabe

NASSER EL ANSARY

flektiert, sowie im freien Blick auf Notre Dame Um diese Zielsetzungen zu erreichen, werden Kultureller Austausch und interkulturel- zwischen den Fassaden beider Gebäudeteile dem Institut du Monde Arabe von verschiede- le Begegnungen brauchen Orte, Foren zum Tragen. nen Seiten Finanzmittel zur Verfügung gestellt: und Anlässe. Nasser El Ansary, ehemali- vom französischen Außenministerium und von ger Generaldirektor des Institut du Mon- arabischen Ländern. Des Weiteren wird das de Arabe (Institut der Arabischen Welt), PARITÄTISCHE BESETZUNG DER GREMIEN Budget durch Einnahmen aus den Veranstal- beschreibt in seinem Beitrag Möglich- tungen des Instituts aufgestockt. keiten der interkulturellen Begegnung, Die Gremien des Institut du Monde Arabe sind des Kulturaustausches und der Pflege von Vertretern Frankreichs und der arabischen der kulturellen Partnerschaft zwischen Länder paritätisch besetzt. Das Institut wird DAS „MUSEUM DER ARABISCHEN MUSEEN“ dem Westen und der arabischen Welt von einem Verwaltungsrat (Le Conseil d’Admi- am Beispiel des in Paris ansässigen Insti- nistration) geführt, der aus zwölf Mitgliedern Seit seiner Entstehung baut das Institut eine ei- tuts. Dieses weltweit einzigartige Insti- besteht; sechs seiner Mitglieder repräsentieren gene Kunstsammlung auf, die das Verständnis tut, außerhalb der arabischen Welt gele- die arabischen Länder, die andere Hälfte sind für die arabische und islamische Kunst wecken gen, dient nicht nur als Kulturbrücke Franzosen. Der Präsident des Instituts sowie die und fördern soll. Um diese Kunstsammlung zu zwischen Frankreich und der arabischen französischen Vertreter werden auf französi- vervollständigen, hat das Institut Museen der Welt – es will auch eine kulturelle Brücke schen Vorschlag, der Generaldirektor hingegen arabischen Gründungsländer aufgefordert, sich nach Europa schlagen und den interkul- auf Vorschlag der arabischen Länder – reprä- an der so genannten Aktion „Das Museum der turellen Dialog fördern. sentiert im Rat der arabischen Botschafter in arabischen Museen“ zu beteiligen und reprä- Paris – eingesetzt.3 Die weiteren arabischen sentative Exponate als Leihgaben zur Verfügung Vertreter sind vom Rat der arabischen Bot- zu stellen. Um den Umfang der Dauerausstel- schafter für eine Dauer von drei Jahren zu be- lung zu erweitern, werden themenorientierte nennen, ein Drittel der Vertreter wird jedes Jahr Ausstellungen mit privaten und öffentlichen INTERNATIONALE neu besetzt. Ein Vertreter jedes Gründungslan- Institutionen organisiert. Einige Sammlungen GRÜNDUNGSANSTRENGUNGEN des, Mitglieder des Verwaltungsrates und wei- des Museums wurden und werden in Koope- tere sechs Persönlichkeiten des öffentlichen ration mit anderen Museen und Institutionen Das Institut du Monde Arabe (IMA) entstand Lebens – von französischer Seite ernannt – bil- auch in arabischen Ländern ausgestellt. 1980 als kulturelle Einrichtung dank eines den den so genannten „Obersten Rat“ (Haut- internationalen Abkommens zwischen Frank- Conceil) des Institut du Monde Arabe. reich und den arabischen Ländern1 und ist seit Auf der Arbeits- und Verwaltungsebene sind ca. DIE BIBLIOTHEK DES INSTITUTS Dezember 1987 für die Öffentlichkeit zugäng- 160 Personen aus zwölf verschiedenen Natio- lich.2 Durch seine Aktivitäten und das vielfälti- nen tätig – unter ihnen 75 Experten für die Kul- Die auf drei Etagen verteilte Bibliothek besteht ge Programmangebot leistet es eine wichtige tur und Geschichte der arabischen Länder so- aus drei Lesesälen, einem Zeitschriftenlesesaal Aufgabe: die arabische und islamische Kultur in wie 83 Verwaltungsangestellte. In diesem Zu- und bietet den Besuchern über 150 Arbeitsplät- der westlichen Welt bekannt und verständlich sammenhang ist auch der 1995 gegründete ze an.4 Die gut sortierte Bibliothek, die im Durch- zu machen. „Verein der Freunde des Institut du Monde Ara- schnitt täglich etwa 600 Besucher verzeichnet, be“ zu nennen, der das Institut in seinen Ziel- hat einen Bestand von über 70.000 Werken in setzungen und seiner Arbeit unterstützt. Der arabischer Sprache (ca. 35.000 Bücher) sowie in ARCHITEKTUR ZWISCHEN TRADITION Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, neue mehreren europäischen Sprachen – hauptsäch- UND MODERNE Mitglieder zu gewinnen, den Kontakt der Mit- lich Französisch – und umfasst die Sachgebiete glieder untereinander zu pflegen und regelmä- Religion, Philosophie, Linguistik, Literatur, Kul- Das im Zentrum von Paris errichtete und von ßig über die verschiedenen Aktivitäten des In- tur und Sozialwissenschaften. Im Angebot fin- namhaften Architekten (Jean Nouvel, Pierre stituts zu informieren. den sich zudem über 1.405 Zeitschriften und Soria, Gilbert Lézènes) konzipierte Gebäude 40 Tages- und Wochenzeitungen. Die 1994 er- kommt in seinem formvollendeten Baustil ei- öffnete Mediothek für Kinder und Jugendliche nem Museum gleich und versteht sich als Fo- ZIELE UND AUFGABEN DES INSTITUTS verfügt über 3.000 Kinder- und Jugendbücher – rum für den Dialog zwischen arabischer und ein Drittel davon auf Arabisch. westlicher Kultur. Stilelemente der arabisch-is- Das Institut du Monde Arabe wurde gegründet, Im Rhythmus von zwei Jahren wird eine ara- lamischen Kultur wurden in ein modernes Ar- um die interkulturelle Verständigung zwischen bisch-europäische Buchausstellung mit zahl- chitekturdesign integriert. Besonders zu er- Frankreich und der arabischen Welt zu fördern reichen Schriftstellerinnen, Schriftstellern und wähnen sind die subtilen Details – so die ver- und somit die Kenntnis über die arabische Kul- etwa 250 arabischen, französischen und euro- feinerten und vollendeten muscharabieh (mo- tur in Europa zu vertiefen. Das Institut setzt päischen Verlagen im Foyer des Instituts orga- zarabische Fenster), um die 240 an der Zahl, sich für folgende Ziele und Aufgaben ein: nisiert, um neue Publikationen, die sich mit deren Öffnungen sich wie bei einer Kamera an  das Verständnis für die arabische Kultur, Zi- arabischen Ländern, deren Kultur und Zivilisa- die Stärke des Sonnenlichtes anpassen. Der Bü- vilisation und Sprache zu entwickeln und die tion befassen, vorzustellen. Außerdem publi- cherturm am Ende der Bibliothek erinnert an Kenntnisse über die arabische Welt in Frank- ziert die Bibliothek regelmäßig Bibliographien das berühmte Minarett in Samarra (Irak), der reich zu vertiefen; und Dokumentationen zu einschlägigen The- Patio und die Säulenhalle an die Mezquita in  den kulturellen Austausch, die Kommunika- men und pflegt zudem Partnerschaften zu Córdoba. tion und Kooperation zwischen Frankreich französischen und arabischen Bibliotheken. Moderne Architektur ist überall im Gebäude in und den arabischen Ländern zu unterstüt- verschiedenen Formen und Spielarten zu fin- zen, besonders auf den Gebieten Wissen- den. Die erklärte Absicht des Dialogs – auch schaft und Technik; TON- UND BILDARCHIVE zwischen dem historischen und dem modernen  einen Beitrag für die Förderung und Ent- Paris – kommt in der nördlichen Fassade mit wicklung der Beziehungen zwischen der Die Abteilung „Bild und Ton“(„L’Espace Image et Blick auf die Île Saint-Louis und die Seine, in der arabischen Welt und Frankreich sowie Euro- Son) verfügt über verschiedene Archive, wel- südlichen Fassade, die das moderne Paris re- pa zu leisten. che die arabische Kultur in all ihren Aspekten

116 Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut du Monde Arabe

DAS IM ZENTRUM VON PARIS GELEGENE GEBÄUDE DES INSTITUT DU MONDE ARABE ZEIGT DIE GELUNGENE VERBINDUNG VON STILELEMENTEN DER ARABISCH-ISLAMISCHEN KULTUR MIT DER KONZEPTION EINER MODERNEN ARCHITEKTUR. picture alliance / dpa

darstellt: Architektur, Kunst, Handwerk, das fänger und Fortgeschrittene auf verschiedenen AUSSTELLUNGEN ALS BESTANDTEIL DES Meer, die Umwelt, Agrarwirtschaft, Industrie, Niveaustufen an. Etwa 800 Erwachsene und im KULTURPROGRAMMS Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Archäo- Schnitt 100 Kinder und Jugendliche nahmen in logie. Die Abteilung stellt u. a. folgendes Mate- den vergangenen Jahren an diesen Kursen teil. Die Ausstellungen sind ein wichtiger Bestand- rial zur Verfügung, das die Besucher in eigens In den Sprachkursen erhalten die Teilnehmen- teil des vielfältigen Kulturprogramms des Insti- dafür eingerichteten Vorführkabinen besichti- den selbstverständlich auch landeskundliche tuts. Intention dieser Ausstellungen ist es, die gen können: Informationen. Kunst eines arabischen Landes oder einen aus-  etwa 70.000 Photographien und mehr als Weiterhin organisiert das „Zentrum für arabi- gewählten Aspekt der arabischen Zivilisation 750 Filme; sche Sprache und Zivilisation“ Fortbildungs- darzustellen, indem nicht nur auf die Exponate  Musiksammlungen in audiovisuellen Archi- kurse und Workshops für Arabischlehrer, die in aufmerksam gemacht wird, die sich in den Mu- ven, die 2.550 Titel und zwei Musikkataloge Frankreich leben und arbeiten, sowie Studien- seen des jeweils ausgewählten Landes befin- umfassen. Die Sammlung „TARAB“ enthält aufenthalte in arabischen Ländern, mit denen den, sondern auch auf Kunstwerke, die in fran- 2.300 in Indizes und nach Titeln aufgeliste- das Institut enge partnerschaftliche Beziehun- zösischen, europäischen, amerikanischen Mu- te Platten und CDs. Die Sammlung „QAYNA“ gen pflegt – vor allem in Marokko, Ägypten und seen sowie in Privatsammlungen zu finden bietet über 1.160 archivierte Musikstücke im Jemen. Erwähnenswert ist auch, dass Kurs- sind. an, die nach musikalischen Genres klassifi- und Unterrichtsmaterialien erarbeitet und Jahrelange Erfahrungen, ausgewiesene fachli- ziert sind; Interessierten zur Verfügung gestellt werden. che Kenntnisse, die Themenauswahl, ein an-  es besteht weiterhin die Möglichkeit, Fern- In Zusammenarbeit mit dem „Centre national spruchsvolles Begleitprogramm und letztlich sehprogramme von 24 arabischen Kanälen d’enseignement à distance“ (CNED)5 hat das die Exponate selbst machen aus den Ausstel- zu verfolgen, die von den Satelliten Arabsat „Zentrum für arabische Sprache und Zivilisa- lungen kulturelle Ereignisse, die internationale und Eutelsat ausgestrahlt werden. tion“ ein Buch für das Fernstudium der arabi- Beachtung und Anerkennung finden. So haben schen Sprache entwickelt und veröffentlicht. französische, europäische und amerikanische Das Zentrum gibt zudem eine pädagogische Städte einzelne dieser Ausstellungen in ihr Kul- SPRACHKURSE UND LANDESKUNDE Zeitschrift – „Al-Moukhtarat“ – heraus, die Le- turprogramm übernommen und präsentiert. serinnen und Leser mit Informationen über die Die Ausstellung „Soudan, Royaumes sur le Nil“ Das „Zentrum für arabische Sprache und Zivi- arabische Welt und geeigneten Unterrichtsma- wurde in Toulouse, Amsterdam, Mannheim, lisation“ bietet Arabisch-Sprachkurse für An- terialien versorgt. München, Turin, New York und São Paulo ge-

117 NASSER EL ANSARY

VOM INSTITUT DU MONDE ARABE ORGANISIERTE AUSSTELLUNGEN Material und einfach aufzubauen, so dass sie ohne weiteres von Ort zu Ort transportiert wer- 1989 Ägypten – Meisterwerke aus allen Zeiten den können.6 1993-1994 Syrien – Geschichte und Zivilisation 1995 Delacroix – Reise nach Marokko MUSIKALISCHE VERANSTALTUNGEN 1996 Sudan – Königreich am Nil 1997 Die Medizin zur Zeit der Kalifen Mit Musikabenden und einem jährlich statt- findenden Musikfestival stellt sich das Institut 1997 Jordanien – auf den Spuren der Archäologen die Aufgabe, das musikalische Erbe Arabiens 1998 Jemen – im Land der Königin von Saba in seiner ganzen Vielfalt darzustellen: Dazu 1998 Schätze der Fatimiden in Kairo gehört avantgardistische, mystische, ländlich- 1998 Libanon – das andere Ufer folkloristische oder urbane Musik. So hat das Institut in den vergangenen Jahren dazu 1999 Bahrain, la civilisation des deux mers beigetragen, kulturell interessierten Menschen 1999-2000 Matisse in Marokko die Volksmusik verschiedener arabischer Län- 2000 Die Magie der Orte in Marokko der näher zu bringen: die Volks- und Pop- musik aus Ägypten und Algerien oder Lieder 2000 Retrospektive Jacques Majorelle aus der libyschen Wüste, die fröhliche Musik 2000 Koptische Kunst in Ägypten – 2000 Jahre Christentum aus dem Sudan und die mystischen Lieder 2000-2001 Andalusien von Damaskus bis Córdoba (Les Andalousies, de Damas a Córdoba) aus Damaskus – auch arabische Musikinstru- 2001-2002 Saladin und der Orient – die Kunst der Ayyubiden mente, vor allem die Blasinstrumente Ney, Gasba, Ghaita und Satara, werden dadurch 2002-2003 Arabische Pferde und Ritter in den Künsten des Orients und Okzidents vertrauter. 2003 Arabische Ikonen – christliche Kunst in der Levante (Icônes arabes, art chrétien du Levant) 2003 Algerien – Kunst und Geschichte ARABISCHES KINO UND FILMSCHAFFEN 2003 Das Algerien der Maler – von Delacroix bis Renoir Die 1988 gegründete Filmabteilung hat folgen- 2004-2005 Pharao de Zielsetzungen: 2005-2006 Das goldene Zeitalter der arabischen Wissenschaften  das arabische Kino in Frankreich durch Re- geplant Venedig und der Orient (Oktober 2006 – Februar 2007); Die Phönizier und das trospektiven und Hommagen auf arabische Mittelmeer (2007–2008); Petra und die Nabatäer (2008–2009). Regisseure oder Schauspieler bekannt zu machen;  den arabisch-europäischen Dialog zu för- EINIGE DER MEIST GEFRAGTEN WANDERAUSSTELLUNGEN DES INSTITUT dern, indem Filme arabischer und/oder eu- DU MONDE ARABE ropäischer Persönlichkeiten aus dem Film- milieu ausgestrahlt werden; 1991 Einführung in die Geschichte der arabischen Länder  die Bindungen der in Frankreich leben- 1993 Der arabische Orient – vom Niltal bis Mesopotamien den Araber zu ihrer ursprünglichen Kultur zu erhalten, indem Filme präsentiert 1995 Frauen in der arabischen Welt werden, welche die Lebenswelt der Mi- Die arabische Halbinsel und der Golf granten in Frankreich und Europa themati- 1996 Die arabischen Wissenschaften (Les sciences arabes) sieren; 1997 Der Islam  ein breiteres Publikum für den arabischen Das Mittelmeer – Wege einer Zivilisation Film zu interessieren und zu gewinnen, in- Vielfalt der arabischen Musik (La musique arabe dans tous ses éclats) dem mit anderen Filmfestivals in Frankreich, Arabische Kalligraphie Europa, in den arabischen Ländern, Amerika 1998 Al Andalus und selbst in Japan Kooperationen einge- gangen werden. 1999 Algerien – Geschichte und Kultur Zwei Projekte sind in diesem Zusammenhang 2000 Arabische Literatur zu erwähnen: Das Cine-IMA und die „Bien- Der wundervolle Orient (L’Orient merveilleux) nale des arabischen Kinos“ (Biennale des 2001 Traditionelle Künste cinémas arabes à Paris). Unter dem Motto Bilder und Landschaften der arabischen Welt Cine-IMA werden arabische Filme, in verschie- dene Programm- und Themenschwerpunkte 2002 Arabische Migranten in Frankreich eingebettet, im Institut vorgestellt und auch 2003 Palästina – Geschichte eines Volkes am Wochenende vorgeführt. Außerdem fin- 2004 Der Irak – von Babylon nach Bagdad den Filmpremieren (Avant-première) statt. Die Ägypten – Land der Zivilisationen „Biennale des arabischen Kinos“ (www.bien- nalecinemarabe.org) ist ein wichtiger Anlass, um neue arabische Filmproduktionen in der zeigt. Die Ausstellung „Yémen, au pays de la rei- Wände präsent. So in über 30 Ausstellungen in westlichen Welt vorzustellen und bekannt zu ne de Saba“ war in Berlin, Rom und Wien zu Gemeinden, Kulturzentren und in Bibliotheken machen. Auf der alle zwei Jahre stattfin- Gast. Die Ausstellung „Bahrein, la civilisation verschiedener französischer Städte. Die Wan- denden Biennale werden dem interessierten des deux mers“ konnte in London und Kopen- derausstellungen sind bereits seit 1983 – also Publikum in vier Sektionen (Spiel- und Kurzfil- hagen gezeigt werden. vier Jahre vor der offiziellen Eröffnung des In- me, Dokumentarfilme usw.) über 200 Filme stituts im Jahre 1987 – ein wesentlicher Be- vorgestellt. Die Biennale stellt ein arabisches standteil des Veranstaltungsprogramms. Diese Gastland und dessen filmisches Schaffen in VIEL GEFRAGTE WANDERAUSSTELLUNGEN Ausstellungen beschäftigen sich mit den ver- den Mittelpunkt, bietet stets auch eine schiedensten Themen aus dem historischen, Hommage für interessierte Cineasten und Das Institut du Monde Arabe ist auch mit Wan- politischen, kulturellen oder sozialen Bereich. kann mit international besetzten Kolloquien derausstellungen außerhalb der eigenen vier Sie können gemietet werden, sind aus leichtem aufwarten.

118 PÄDAGOGISCHE AKTIVITÄTEN

In Gruppen oder auch als Einzelpersonen besu- chen jährlich bis zu 50.000 Kinder und Jugend- liche das Institut du Monde Arabe und nutzen die vielfältigen pädagogischen Angebote (ac- tions éducatives):  in Ateliers und Werkstätten wird ein be- stimmtes Thema, das in Bezug zu einer ak- tuell stattfindenden Ausstellung steht, pä- dagogisch aufgearbeitet. Im Rahmen einer Besichtigung begleitet ein Künstler die Schülergruppe von Exponat zu Exponat, er- klärt die jeweiligen Kunstwerke und disku- tiert mit den Kindern und Jugendlichen de- ren Eindrücke. Nach der Führung versam- melt sich die Schülergruppe in einem Atelier bzw. einer Werkstatt und der Künstler führt sie – nachdem er seine eigenen Werke vor- gestellt hat – in seine Arbeitsmethode bzw. Technik ein, damit die Schülerinnen und Schüler eigene Werke kreieren können;  in musikalischen Ateliers werden Schülerin- nen und Schüler in die traditionelle arabi- sche Musik eingeführt;  der Besuch ausgewählter Stationen in Bi- bliothek und Museum ermöglicht eine ge- zielte und interessante „Entdeckungsreise“ AUSSTELLUNGEN SIND EIN WICHTIGER BESTANDTEIL DES KULTURPROGRAMMS: SEIF EL ISLAM (R.), SOHN DES LIBYSCHEN in ein bestimmtes arabisches Land; REVOLUTIONSFÜHRERS GADDAFI, BETRACHTET SEIN GEMÄLDE „DIE WÜSTE IST NICHT STUMM“ IN BEGLEITUNG EINES  die für Kinder und Jugendliche eingerichte- MITARBEITERS DES ARABISCHEN INSTITUTS. picture alliance / dpa te Mediothek bietet Möglichkeiten zur in- haltlichen Vertiefung oder auch zur Lektüre bilingualer Bücher.  Im „Literatur-Café“ (Café littéraire) wird je- operation und Zusammenarbeit angefragt den Mittwoch über aktuelle Themen bzw. wurde – besonders nach den tragischen Ereig- neu erschienene Bücher diskutiert. Bei nissen vom 11. September 2001. Deutschland LITERATURABENDE, KOLLOQUIEN Buchvorstellungen ist stets die betreffende ging einen Schritt weiter und plädierte für die UND PERIODIKA Autorin bzw. der betreffende Autor anwe- Einrichtung eines ähnlichen Instituts, das von send. den Erfahrungen des Institut du Monde Arabe Mit regelmäßig stattfindenden Kolloquien,  Beim so genannten „Donnerstag-Treffen“ profitieren könnte. Diskussionsrunden und Literaturabenden be- (Les Jeudis de l’IMA) steht ein Ehrengast im müht sich das Institut, interessierten Teilneh- Mittelpunkt, der über ein aktuelles Thema BEMERKUNG: merinnen und Teilnehmern die arabische Kul- referiert und im Anschluss mit dem anwe- tur näher zu bringen und aktuelle Themen und senden Publikum diskutiert. Diese Veran- Der Vortrag von Dr. Nasser El Ansary fand am 9.11.2004 in französischer Sprache statt. Das für den Vortrag einge- Publikationen auf die Agenda zu setzen: staltungen können im Übrigen auch im reichte Manuskript wurde von Soumaya Louhichi (Verein  Jeden Dienstag steht in „La Chaire de l’IMA“ Internet verfolgt werden. Arabischer Studenten und Akademiker Tübingen) über- setzt. Die Endredaktion, Überarbeitung und Erweiterung eine bekannte Persönlichkeit aus dem arabi- In Zusammenarbeit mit Universitäten und For- anhand der von Dr. Nasser El Ansary zur Verfügung ge- schen bzw. europäischen Raum im Mittel- schungseinrichtungen und mit Unterstützung stellten arabischen Vorlagen sowie anhand der Tonband- punkt einer Abendveranstaltung und disku- europäischer und arabischer Persönlichkeiten aufnahme des Vortrages übernahm Adwan Taleb. tiert mit dem Publikum – je nach Themen- werden regelmäßig Kolloquien organisiert. ANMERKUNGEN stellung – über Geschichte, Gesellschaft und Die Kulturzeitschrift „Qantara“ (arabisch: Brü- 1 Ägypten, Algerien, Bahrain, Dschibuti, Irak, Jordanien, Kultur der arabischen Länder. Diese Vorträ- cke), die vom Institut herausgegeben wird, er- Komoren, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Maureta- ge und Diskussionen werden in der Regel zu scheint alle drei Monate. In „Qantara“ werden nien, Oman, Palästina, Katar, Saudi-Arabien, Somalia, Su- einem späteren Zeitpunkt publiziert. vornehmlich aktuelle und kulturelle Themen dan, Syrien, Tunesien, Vereinigte Arabische Emirate und Jemen. aus dem arabischen und aus dem Mittelmeer- 2 Das Abkommen wurde am 14. Oktober 1980 von der raum behandelt. Erklärte Zielsetzung der Zeit- französischen Regierung genehmigt. Das Institut wurde schrift ist es, eine Brücke zwischen den arabi- als gemeinnützige Institution nach geltendem französi- schem Recht in Paris gegründet. UNSER AUTOR schen Ländern und ihren Nachbarländern zu 3 Präsident des Instituts ist zurzeit der französische Po- bauen und den interkulturellen Dialog zu eta- litiker Yves Guéna, Generaldirektor ist seit Anfang 2005 Dr. Nasser El Ansary studierte Jura in Kairo, blieren. Im Anhang jeder Ausgabe finden sich der algerische Diplomat und Literaturwissenschaftler Mokhtar Taleb-Bendiab. den USA und promovierte an der Juristi- Hinweise auf neue Veröffentlichungen sowie 4 Die Bibliothek ist mit zehn Recherchecomputern aus- schen Fakultät in Aix-en-Provence; 1987– ein Dossier zu einem aktuellen oder histori- gestattet, von denen zwei für CD-ROMs und für das schen Thema, kulturelle Informationen und Internet, die anderen acht für bibliographische Recher- 1991 Vize-Staatssekretär der Republik chen zur Verfügung stehen. Ägypten; 1991–1997 Generaldirektor der Rubriken über Kunst, Musik und Photographie. 5 Für Berufstätige oder für Personen, die aus gesund- Allgemeinen Organisation des Nationalen heitlichen Gründen in ihrer Bewegungsfreiheit einge- schränkt sind, aber auch für Studierende, die ihr Fachstu- Kulturzentrums und Leiter der Staatsoper in dium vertiefen wollen, gibt es in Frankreich verschiedene Kairo; 1998–1999 Generaldirektor des Na- SCHLUSSBEMERKUNG Angebote zum Fernstudium. Das Centre National d’En- tionalarchivs in Ägypten; Professuren an der seignement à Distance (CNED) ist dem Erziehungsminis- terium unterstellt und bietet zahlreiche Diplomstudien- Helwan-Universität in Kairo und der Univer- Zum Schluss sei noch erwähnt, dass das Insti- gänge sowie Vorbereitungskurse zur Aufnahme in den sität Kairo; 1999–2005 Generaldirektor des tut du Monde Arabe wegen seiner anspruchs- Staatsdienst und verschiedene Institute an. Institut du Monde Arabe in Paris; zahlreiche vollen Aktivitäten und seinem vielfältigen Pro- 6 Das Programmheft über die Wanderausstellungen kann auf der Homepage des Instituts abgerufen werden. Publikationen über Rechtsgeschichte sowie gramm seitens mehrerer europäischer Länder Die Ausstellungen können auch auf der Homepage Beratertätigkeiten bei den Vereinten Natio- (z.B. Belgien, Niederland, England, Italien und (http://www.imarabe.org) besichtigt werden. nen und der Arabischen Liga. Deutschland) nach Möglichkeiten für eine Ko-

119 STÄRKUNG DER ZIVILGESELLSCHAFT DURCH KULTURDIALOG Vorreiter im Kulturdialog – das Institut 56. für Auslandsbeziehungen A P[_

SEBASTIAN KÖRBER

ben, der Kampf spiele sich am Boden ab, aber die gleichrangig neben Wirtschafts- und Sicher- Einleitend stellt Sebastian Körber am Gegner wissen, dass er in Wahrheit über Satel- heitsfragen. In einem Klima von Offenheit und Beispiel der Vereinigten Staaten dar, liten-TV ausgetragen wird.“ Aber auch ara- Kritikfähigkeit bringt das ifa Multiplikatoren in dass eine gut gemeinte Kulturarbeit die bischsprachige Medien wie das „Hi-Magazine“ Workshops, Konferenzen und anlässlich von Folgen einer verfehlten Außenpolitik oder „Al Hurra TV“ und „Radio Sawa“, mit denen Ausstellungen zusammen, um den Informa- nicht wettmachen kann. Diesem einsei- die US-Regierung junge Araber amerika- tionsaustausch zu vertiefen und gegenseitige tigen Verständnis Auswärtiger Kultur- freundlicher stimmen wollte, schafften nur be- Feindbilder abzubauen. politik setzen europäische Staaten eher scheidene Erfolge. Auch eine noch so gute Kul- Als Seismographen und Antreiber für gesell- eine „Kultur des Zuhörens“ entgegen. turarbeit kann die Folgen einer verfehlten schaftliche Veränderungen stehen Künstler, F Das in Stuttgart ansässige Institut für Außenpolitik nicht ausbügeln. Oder wie es der Wissenschaftler und Journalisten im Mittel- Auslandesbeziehungen (ifa) hat diese amerikanische Publizist Ramesh Ponnuro tref- punkt der ifa-Programme. So fördern persönli- „Kultur des Zuhörens“ in seinen vielfäl- fend ausdrückt: „Auswärtige Kulturpolitik kann che Begegnungen in Künstler-Workshops und tigen Beziehungen mit der arabisch-isla- kein Blei in Gold verwandeln.“ gezielte Austauschprogramme wie das Rave- mischen Welt zum Leitbild und Grund- Stipendium für junge Kuratoren und Restaura- prinzip seiner Arbeit erklärt. In Form von toren in einem ständig erweiterten Netzwerk Ausstellungen, in Workshops mit Wis- EUROPÄER PRAKTIZIEREN EINE den internationalen und interkulturellen Wer- senschaftlern, Medienexperten oder im „KULTUR DES ZUHÖRENS“ tediskurs. Seit Jahren veranstaltet das ifa Kon- Bereich der Multiplikatorenfortbildung ferenzen mit Journalisten aus Deutschland und Spätestens seit dem 11. September ist klar ge- islamisch geprägten Ländern über ein breites und nicht zuletzt in den Publikationen In d des Instituts wird stets auf eine sich worden, dass der Dialog der Kulturen keine aka- Spektrum von Presse- und Medienfragen. Die Eva demische Beschäftigung für Schöngeister ist, Internetangebote der ifa-Bibliothek, die The- Mich gegenseitig respektierende Form des Di- Fran alogs geachtet. Nur ein solches Dialog- sondern ein zentraler Aspekt internationaler menhefte der Zeitschrift „Kulturaustausch“ Pete A.L. verständnis kann die Rolle der Zivilge- Beziehungen. Aber die Vorstellungen darüber, und das Internet-Portal „qantara.de“, an dem Yves sellschaft in den internationalen Aus- wie der Dialog zu führen ist, klaffen sehr weit sich das ifa beteiligt, untermauern den euro- Naik tauschbeziehungen stärken. auseinander päisch-islamischen Dialog mit relevanten In- Dem eher einseitigen Verständnis Auswärtiger formationen und Debatten ebenso wie das vom Kulturpolitik Washingtons setzen die Europäer ifa herausgebrachte Online-Magazin „Aktuelle ansatzweise eine „Kultur des Zuhörens“ entge- Kunst aus der islamischen Welt“ auf den Inter- gen. Seien es das Pariser Institut du Monde Ara- netseiten von universes-in-universe.de be oder die Frankfurter Buchmesse mit der ara- Seine Rolle als Impulsgeber für den europäisch- GUT GEMEINTE KULTURARBEIT – bischen Welt als Ehrengast: Einrichtungen und islamischen Kulturdialog hat das ifa insbeson- VERFEHLTE AUSSENPOLITIK Veranstaltungen dieser Art sind ein Beleg für die dere mit dem 2004 erschienen Report „Der Erkenntnis, dass Vorurteile auf beiden Seiten Westen und die islamische Welt“ unterstrichen, „Warum hassen sie uns?“, fragten amerikani- abzubauen sind. Gerade die weltgrößte Bü- einer Bestandsaufnahme der gegenseitigen sche Zeitungen nach den Anschlägen auf das cherschau in Frankfurt mit ihrer Schwerpunkt- Beziehungen aus muslimischer Sicht. Der Re- World Trade Center. Noch bevor die US-Regie- setzung auf die arabische Welt 2004 hat dazu port ist Teil des ifa-Forums „Dialog und Verstän- rung je ernsthaft nach Antworten auf diese Fra- beigetragen, dass der Buchmarkt ein größeres digung“, zu dem auch ein Austauschprogramm ge gesucht hatte, zog sie in den Krieg. Mit der Interesse an arabischen Autoren entwickelte. für junge Berufsanfänger (Cross-Culture-Prak- Folge, dass das Misstrauen gegenüber den Die politische Bedeutung des Ereignisses hat tika) und ein Projekt über politische Gewalt im Amerikanern und der westlichen Welt in den für zahlreiche Sonderbeilagen in den Tagesme- Westen und in der islamischen Welt gehören. arabischen Staaten seither noch gestiegen ist. dien und eine dementsprechend große Breiten- In diesem Report formulierte eine unabhängi- Nur 5 Prozent der Jordanier und 6 Prozent der wirkung gesorgt. Hunderte von Lesungen, Aus- ge Autorengruppe muslimischer Intellektueller Ägypter, so ermittelten die Umfragen des re- stellungen und Konzerte gaben arabischen ihre Sicht der Kernprobleme zwischen west- nommierten Pew Research Centers in Was- Künstlern eine Bühne. Auch wenn außerhalb licher und islamischer Welt. Welche Chancen hington, hatten 2004 noch eine positive Mei- der organisierten Podiumsdiskussionen mögli- haben Dialog und Verständigung im Schatten nung von den Vereinigten Staaten. Dagegen cherweise zu wenig Dialog zwischen den Kul- des Terrors? Die Autoren gehen auf die histori- fand jeder fünfte Jordanier und zwei Drittel der turschaffenden in Gang kam und den arabi- schen Wurzeln der Konfrontation zwischen Pakistanis Osama Bin Laden sympathisch. „Wie schen Staaten vornehmlich an politischer dem Westen und der islamischen Welt ein, be- konnte es einem Mann in einer Höhle gelingen, Selbstdarstellung gelegen war, brachte die nennen die Stereotypen und Vorurteile, die ei- die weltweit führende Informationsmacht Messe einen spürbaren Schub für den Dialog nem konstruktiven Dialog im Wege stehen und kommunikativ auszumanövrieren?“, fragte sich mit der islamischen Welt. liefern schließlich Empfehlungen und Ansatz- daraufhin nicht nur der ehemalige US-Bot- punkte für eine gemeinsame Gestaltung der schafter Richard Holbrooke angesichts des dra- Zukunft. matischen Vertrauensverlusts der USA. Sämtli- VORREITERROLLE IM EUROPÄISCH- che Bemühungen Washingtons, des Anti-Ame- ISLAMISCHEN KULTURDIALOG rikanismus in der muslimischen Welt Herr zu KEINE RITUALISIERUNG DES werden, scheiterten kläglich. Auch die von Einer der Beteiligten und Vorreiter im europä- INTERKULTURELLEN DIALOGS Außenminister Colin Powell als PR-Chefin ein- isch-islamischen Kulturdialog ist das Institut gesetzte Werbefachfrau Charlotte Beers, vor- für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart. Als Oft bleiben politisch motivierte Dialog-Veran- her erfolgreich für Uncle Ben’s Rice tätig, gab Partner des Auswärtigen Amts will es den Res- staltungen bei rituellen Bezeugungen des gu- ihren Job nach 17 Monaten völlig entnervt auf. pekt gegenüber anderen Kulturen fördern und ten Willens, bei Propaganda für die eigene Po- Schließlich versuchten es die Amerikaner mit die Rolle der Zivilgesellschaften in den interna- sition und beim oberflächlichen Austausch von bewährten Mitteln aus dem Kalten Krieg. „Wir tionalen Beziehungen stärken. Gerade im Ver- Höflichkeiten stehen. Will man Alibi-Veranstal- führen keinen Krieg gegen den Terror, sondern hältnis zu islamisch geprägten Ländern hat der tungen künftig vermeiden, muss man Mittel wir befinden uns in einem Kampf der Ideen“, Kulturdialog in den vergangenen Jahren an po- und Wege finden, um der Ritualisierung des hieß es in der New York Times. Und: „Wir glau- litischer Bedeutung gewonnen und steht interkulturellen Dialogs zu entgehen. Dazu ge-

120 Vorreiter im Kulturdialog – das Institut für Auslandsbeziehungen

56. Jahrgang | 6 Euro Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen jektive Berichterstattung anzuregen. So richtet zu verzeichnen sind, als den meisten westlichen das ifa seit beinahe zehn Jahren – zunächst in Besuchern bekannt sind. Allein im Zeitraum AKBJKH7KIJ7KI9> Partnerschaft mit dem Bundespresseamt und 2004 bis 2006 haben die ifa-Galerien Stuttgart P[_jiY^h_\j\”h_dj[hdWj_edWb[F[hif[aj_l[d 7ki]WX['%(&&, seit der Überführung der Auslandsabteilung ins und Berlin acht neue Ausstellungen aus „Isla- Außenministerium in Partnerschaft mit dem mischen Welten“ realisiert. Die Schwerpunkte Auswärtigen Amt – so genannte „deutsch-ara- liegen auf zeitgenössischer Architektur, Foto- bische Mediendialoge“ aus. Der erste Medien- grafie und Design ebenso wie auf Medien und dialog fand 1997 in Heidelberg statt. Pressever- Gattungen, die den Alltag unmittelbar prägen treter und Medienexperten aus elf arabischen und abbilden und somit einen direkten Einblick Ländern sowie Deutschland und der Schweiz in das moderne Leben in Kairo, Beirut, in Tehe- diskutierten die Rolle der Medien in den ran oder Karatschi bieten. deutsch-arabischen Beziehungen und suchten nach Möglichkeiten, wechselseitigen Stereoty- pen und Bedrohungsvorstellungen entgegen- ZEITSCHRIFT „KULTURAUSTAUSCH“ zuwirken. Schon während der Tagung selbst ALS FORUM Fernbeziehungen stellte es sich als überaus hilfreich heraus, dass die Betroffenen selbst am Tisch saßen und Jahrzehntelang ist die „Zweibahnstraße“ im Ko mmen wir zusammen? sofort auf Kritik reagieren konnten. So wurde Kulturaustausch beschworen worden. Das In- von den anwesenden arabischen Journalisten stitut für Auslandsbeziehungen setzt sie um. selbst die „Verschwörungstheorie“, wonach ei- Dazu gehört auch die Zeitschrift „Kulturaus- ne bewusst simplifizierende und mit Vorurtei- tausch“, die Autoren aus islamisch geprägten len beladene Berichterstattung im Westen auf Ländern immer wieder ein Forum bietet. Sie re- gesteuerte Weise das „Feindbild Islam“ schüre, det also nicht nur über den Dialog der Kulturen, als unzureichend enttarnt und stattdessen das sondern praktiziert ihn. Die Gelegenheit, einen Informationsdefizit auf beiden Seiten in den solchen produktiven Austausch in den unter- Mittelpunkt gerückt. Seit diesem erfolgreichen schiedlichsten Feldern von Kultur und Gesell- In dieser Ausgabe

Eva Illouz: :[hM[bjcWhajZ[hB_[X[ Auftakt finden die Mediendialoge regelmäßig schaft in Gang zu setzen, ist günstig. Denn ne- Michael Hvoreckyy: ´ C[_d[[hij[<[hdX[p_[^kd] statt und werden abwechselnd in arabischen ben aller Angst und Bedrohungsszenarien an- Francis Fukuyama: ?ijZ_[M[bjh[]_[hXWh5 Peter Eigen:Ab[_d[I_[][”X[hZ_[Aehhkfj_ed Ländern oder in Deutschland ausgetragen. gesichts des „islamischen Terrors“ ist in den A.L. Kennedy: :[hX[ij[FbWjp_dBedZed Yves Eigenrauch:

121 ZWISCHEN EXOTIK UND DEUTSCH-ARABISCHEM ALLTAG Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

MANAR OMAR

„Der Orient ist eben trotz der erleichterten sche Flüchtlinge.2 Trotz vieler kultureller Gemein- beim Entwurf eines literarischen Programms der Verbindungen noch viel zu sehr das alte samkeiten sind sie gleichzeitig sehr verschieden, ge- „Gastarbeiterliteratur“, die auch „Literatur der Be- Fabelland, und über ihn darf man ungestraft nauso wie die rund 280 Millionen Araber, die in den troffenheit“genannt wurde. Aber das erste Werk ei- erzählen, was man will.“ 22 arabischen Ländern und in Israel leben und die nes arabischen Einwanderers in der Bundesrepublik (Salme Bint Said, Prinzessin von Oman und Sansi- Arabisch als ihre Amts- oder Muttersprache ver- stammt nicht von ihnen. 1969 erschien in Deutsch- bar; bekannt auch als Emily Ruete) wenden. Zur Bevölkerung in der arabischen Region land ein Text unter dem Titel Vom Affen, der ein Vi- gehören neben der arabischen Mehrheit beispiels- sum suchte und andere Gastarbeitergeschichten,4 weise auch Kurden, Berber, Assyrer und Nubier. Die verfasst von dem Marokkaner Mustapha El-Hajaj, Selbstidentifikation bzw. das Zugehörigkeitsver- sein erstes und zugleich einziges Werk. Der Text Die deutschsprachige Literatur arabi- ständnis einerseits aber auch die Wahrnehmung der blieb ohne bedeutenden Einfluss auf die literarische scher bzw. arabischstämmiger Schrift- Mehrheitsgesellschaft andererseits in Bezug auf Szene. Sechs Jahre vor El-Hajajs Werk erschienen im steller ist sprachlich, inhaltlich und von das Arabisch-Sein unterscheiden sich bei den Ange- Band Auftakt 635 auf der anderen Seite der deut- der Gattung her äußerst vielseitig. Ob- hörigen dieser Gruppen. Während ein großer Teil schen Grenze die ersten Gedichte des Lyrikers syri- wohl die Schriftsteller der ersten Gene- arabisch sozialisiert ist, heben andere ihre Zuge- scher Herkunft Adel Karasholi: Ich habe das Pochen ration – die Pioniere der so genannten hörigkeit zu einer ethnischen Minderheit hervor. gehört6, Wo ist Dada7 und Begegnung.8 „Gastarbeiterliteratur“ – in ihren Werken Darüber hinaus konnte die arabische Kultur über die entschieden für Menschen aus der arabi- Jahrhunderte hinweg eine religiöse Vielfalt bewah- schen Welt eintraten, war und ist ihr lite- ren. Neben der muslimischen Mehrheit existieren im 1886 – MEMOIREN EINER rarisches Schaffen von den Erwartungen arabischen Raum seit Jahrhunderten andere reli- ARABISCHEN MIGRANTIN des deutschen Publikums und von des- giöse Gemeinschaften, wie Christen, Juden und Je- sen Ressentiments geprägt. Bis heute siden. Lange aber bevor die Grenze Deutschland teilte, er- müssen arabischstämmige Schriftsteller schienen 1886 in deutscher Sprache die Memoiren mit der ihnen zugedachten Rolle des fa- der Prinzessin Salme von Oman und Sansibar (1844- bulierenden Geschichtenerzählers aus LITERARISCHE VIELSEITIGKEIT 1924), die 1866, nach ihrer Heirat mit dem deut- dem „märchenhaften Orient“, der das schen Kaufmann Heinrich Ruete und ihrer Auswan- Exotische, Sinnliche und Fantastische in Die Literatur der in und außerhalb Deutschland le- derung nach Deutschland, den Namen Emily Ruete den Mittelpunkt seiner Erzählungen benden arabischen bzw. arabischstämmigen annahm.9 stellt, ankämpfen. Wenn auch gelegent- Schriftsteller ist sprachlich, qualitativ, inhaltlich Sie war wohl die erste Immigrantin arabischer Her- lich mit gängigen Klischees gespielt und von der Gattung her vielseitig. Sprachlich kann kunft, die sich in ihrem Schreiben auf Deutsch aus- wird, so gilt das thematische Hauptinter- man sie in verschiedene Kategorien einteilen: Er- drückte. In ihren Memoiren verglich sie das Leben esse der konfliktbehafteten Realität der stens gibt es eine Gruppe von Autoren, die in und die Menschen in Deutschland mit denen in ih- arabischen Welt, der Zerstörung traditio- Deutschland leben und auf Arabisch schreiben. Da- rer Heimat. Obwohl sie mit der gleichen Detailliert- neller Lebens- und Kulturformen durch zu lassen sich Schriftsteller wie Abdalhakim Kassem heit Negatives und Positives im Land ihrer Kindheit den sozialen Wandel, der durch Bürger- (1934-1990), Amal Al-Joubury und Khaled Al-Maa- und in Deutschland schilderte, blieb ihre Zuneigung kriege und Besatzung hervorgerufenen ly rechnen. Andere Schriftsteller wie Mustapha El- für Sansibar und Oman die größere. In den 1880er- Gewalt. Die scheinbare Idylle des Orients Hajaj, Jusuf Naoum, Rafik Schami, Huda Al-Hilali, und 1890er-Jahren geriet sie ins Netz der britischen, entpuppt sich als bedrohlicher Ort und Kaouther Tabai, Wadi Soudah, Ghazi Abdelqader, dann der deutschen Kolonialpolitik. Bismarck sah in entlarvt die Projektionen der westlichen Hussein Al-Mozany oder Halima Alaiyan schreiben ihr, der deutschen Staatsbürgerin, einen guten Vor- Sehnsüchte. Die zweite Generation ara- auf Deutsch, das sie meistens erst in ihrer Wahlhei- wand zur militärischen Unterstützung der Kolonial- bischstämmiger Schriftsteller setzt sich mat Deutschland erwarben und bilden damit eine ansprüche der Deutsch-Ostafrikanischen Gesell- in ihren Werken offensiv mit den Kli- zweite Gruppe. Hinzu kommt eine dritte Gruppe von schaft auf dem Festland gegen ihren Bruder, Sultan schees und Stereotypen, dem vorurteils- arabischen Schriftstellern, die in ihrer Heimat leben, Barghash.10 behafteten Bild der arabischen Frau und aber eine enge Bindung zu Deutschland haben und dem palästinensisch-israelischen Kon- literarische Texte auf Deutsch veröffentlichten, wie flikt auseinander. Die Vielfalt des litera- Fawzi Boubia und Sumaya Farhat-Naser. Eine vier- VERMITTLER VON EXOTIK rischen Schaffens und die Bereicherung te Gruppe bilden Schriftsteller, für die Deutsch so- UND STEREOTYPEN? des kulturellen Lebens hierzulande le- wohl Mutter- als auch Literatursprache ist, wie gen es nahe, so Manar Omar, von einer Sherko Fatah, Raid Sabbah, Anis Hamadeh, Jamal Nicht selten klagen Schriftsteller arabischer Her- germanophonen Literatur arabischstäm- Tuschick3 oder Abdellatif Youssafi. Nur wenige ara- kunft über ihre Rezeption als Vermittler von Exotik miger Schriftsteller zu sprechen. bischstämmige Schriftsteller, sind, wie Adel Kara- und als „Blut- und Rohstofflieferanten“11 der deut- sholi, sowohl auf Arabisch als auch Deutsch litera- schen Sprache und Literatur. Suleman Taufiq spricht risch tätig und erfolgreich. einen bedeutenden Aspekt an, der massiven Druck auf das literarische Schaffen der Schriftsteller aus- übt, nämlich die Erwartungshaltung der kulturellen KULTURELLE VIELFALT DER PIONIERE DER SO GENANNTEN Institution, über die der Kontakt zum deutschen Pu- ARABISCHEN WELT „GASTARBEITERLITERATUR“ blikum möglich ist:

Migranten in Deutschland sowie ihre Nachkommen, Rafik Schami, Suleman Taufiq und Jusuf Naoum „Unsere Literatur (wurde) häufig folklorisiert, in- die arabischen Ursprungs sind oder arabische Wur- zählen zu den Pionieren, die in den siebziger und dem man uns zu interessanten, exotischen Objek- zeln haben, bilden eine nicht geringe Minderheit,1 frühen achtziger Jahren in der Bundesrepublik ten des Literaturbetriebs machte. Verlage, Kritiker sind jedoch weniger präsent als die größeren russ- Deutschland eine bedeutende Rolle bei der Durch- und Kulturfunktionäre sollten jedoch mit unseren landdeutschen, türkisch-, italienisch- oder pol- setzung der damals so genannten „Gastarbeiterlite- Texten normal umgehen, damit sie soweit wie mög- nischstämmigen Minderheiten. Im Gegensatz zu ratur“ spielten. Sie waren an der Herausgabe von lich aus ihrer isolierten Situation herausfinden und anderen Minoritäten ist die Mehrheit der eingewan- Zeitschriften beteiligt, in denen Migranten ihre er- ihren natürlichen Platz in der bundesdeutschen derten Araber nicht als Gastarbeiter nach Deutsch- sten literarischen Versuche in Deutschland publizie- Kulturlandschaft einnehmen.“12 land gekommen, sondern als Studenten oder politi- ren konnten und leisteten einen wichtigen Beitrag

122 Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

Es hat zehn Jahre gedauert, bis die deutsche Öffent- und das Ineinandergreifen der Geschichten wurden der Zerstörung dieser alten Kultur zugeschrieben. In lichkeit die ausländische Literatur überhaupt be- sowohl im mündlichen Vortrag wie in Buchform der Binnenerzählung ist Beirut während der vierzi- merkt hat, denn schon in den siebziger Jahren ha- wiederbelebt. Das wiederholte Aufgreifen von Er- ger, fünfziger und sechziger Jahre Haupthand- ben viele Ausländer geschrieben. Eine eigene dich- zählstrukturen und -techniken der Erzählungen aus lungsort. Im Text wird die Gründung von paramili- terische Stimme hat man ihnen aber nicht zuge- Tausendundeiner Nacht kann als Bedienung exoti- tärischen Gruppen unter der Führung von Libanons traut. Im Bild der Deutschen ist die ausländische scher Erwartungen bezüglich der ästhetischen Form Ex-Präsidenten Camille Chamouns aus der Perspek- Kultur auf Folklore und Exotica reduziert: „Bauch- betrachtet werden. In Anlehnung an die orientali- tive verschiedener Figuren dargestellt. Sie alle sind tanz und Kebab, das sollte man ihnen lassen.“13 sche Erzähltradition werden von Schami, Naoum sich – trotz ihrer verschiedenen Positionen – einig, Daraus lässt sich schließen, dass die in deutscher und Alafenisch bis heute in den Lesungen die Ge- dass der damalige, der USA treu ergebene Präsident Sprache geschriebene Literatur „unangepasster“ schichten nicht vorgelesen, sondern frei erzählt. Sie für den kurzen Bürgerkrieg von 1958 verantwortlich Schriftsteller Gefahr läuft, keinen Zugang zu einem richten sich gleichermaßen an Erwachsene, Ju- ist:22 breiteren deutschen Leserpublikum zu finden und gendliche und Kinder. Sehr oft basiert der Erfolg ei- somit ausgegrenzt zu werden. Kommt es dennoch nes Textes auf dem vorausgegangenen Erfolg des „’Wie Sie alle wissen, tobte ein blutiger Bürgerkrieg dazu, dass ein Werk seinen Weg in den deutschen Schriftstellers als mündlicher Märchenerzähler in in unserem Land. Ich will jetzt nicht alle Ursachen Kulturbetrieb und zur deutschen Leserschaft findet, Veranstaltungen, die meistens gut besucht sind und aufzählen, denn es gab viele. Ein wichtiger Grund so werden besonders die fremden Kulturrealien im bei denen anschließend auch die Bücher des Mär- für den Kriegsausbruch war jedoch die Politik des Text hervorgehoben, er wird auf seine Fremdheit re- chenerzählers verkauft werden. Präsidenten Chamoun.’ Ahmed nickte heftig: ‚Das duziert und als „Exotikum“14 aufgenommen. sehe ich genau so. (...) Wir wollten eine große ara- bische Ländergemeinschaft, doch Chamoun hatte ENTSCHIEDENES EINTRETEN schon seit langer Zeit mit den Amerikanern sympa- RESSENTIMENTS GEGEN DIE FÜR MIGRANTEN thisiert, die uns mit ihrer fremden Kultur über- ARABISCHE WELT schwemmten.’ ‚Sünde!’ ruft der Scheich mit einem Die meisten frühen Märchen und Erzählungen in die Luft gerecktem Finger. (...) ‚Ich erinnere mich Ein anderes Problem, das den arabischstämmigen Schamis und Naoums sind trotz der inhaltlich noch gut an den ersten Landgang der Soldaten der Schriftstellern im Wege steht, sind die negativen unterschiedlichen sozial-politischen Position da- 6. Flotte. (...) (sie) pfiffen unseren Frauen nach und stereotypen Vorstellungen von ihrer Herkunftsre- durch gekennzeichnet, dass sie sich in ihren Texten versuchten, in jeder Bar Alkohol zu bestellen.’ (...) ‚Es gion, die dann zu Ressentiments gegen die gegen- auf die Seite der Minderheiten in Deutschland war schrecklich’, murmelte Halun. ‚(...) Bruder wärtige arabische Welt und Kultur führen: schlugen, damals die (Gast-)Arbeiter und Migran- kämpfte gegen Bruder. (...)’ Frère Jacque räuspert ten, zu denen sie auch zählten. Dies zeigt sich dar- sich: ‚Auch wenn dies alles so stimmt, so war doch „Eine weitere negative Überraschung war für mich in, dass die Hauptgestalten ihrer Märchen oft diese der Bürgerkrieg von 1958 ein Kinderspiel gegen das die Aggression der offiziellen Medien gegen die Gruppe verkörperten. Ihre Formen änderten sich im Kämpfen und Morden, das 1975 seinen Anfang Araber. Weder Afrikaner noch Inder oder Indianer Laufe der achtziger Jahre. Statt kurzer Märchen nahm und bis heute nicht endgültig beendet ist’.“ werden bis heute so oft beleidigt wie die Araber. Das schreiben sie seither meist längere Prosatexte. 1987 (ebenda, S. 92f.) hat komplizierte, politische und historische Grün- erschien Schamis erster Roman Eine Hand voller de und ist absolut verwerflich. Der Hass gegen die Sterne,16 in dem Damaskus Schauplatz der Hand- Mit dem Namen Abu al Abed verweist Naoum auf Araber ist ein Zwillingsbruder des Antisemitismus, lung ist. Darüber hinaus ist seit Ende der achtziger die gleichnamige populäre und fiktive Gestalt, die doch leider ist dieser Zusammenhang vielen klugen Jahre eine Verschiebung des thematischen Interes- Handlungsträger zahlreicher libanesischer Anekdo- und bornierten Intellektuellen nicht klar.“15 ses zu erkennen. Statt der Gastarbeiter und Einwan- ten und Witze ist. Naoums Abu al Abed ist ein liba- derer in Deutschland stehen nun Menschen aus der nesischer Geschichtenerzähler, oder – um mit Na- Sowohl diese Ressentiments als auch die exotischen arabischen Welt im Mittelpunkt. Für Schami hat sich oum zu sprechen – Kaffeehauserzähler, dessen Be- Erwartungen stellen zwei Seiten einer Medaille dar: das Hauptthema, die Minderheiten, nicht geändert, ruf nach dem Bürgerkrieg gefährdet ist, aus dem Weil manche Rezipienten eine vorgefasste Meinung sondern in sein Herkunftsland verlagert. In den libanesischen Kulturleben zu verschwinden. Inner- von Arabern haben, verdrängen sie sie, indem sie Werken der späten achtziger und der neunziger Jah- halb dieser Rahmenerzählung entsteht die Binnen- sich ein fantastisches, märchenhaftes Bild von die- re wird durchgehend die christliche Minderheit Sy- erzählung, wenn sich die Nachbarn des Protagonis- ser Welt vergegenwärtigen. Die Dominanz des mär- riens ins Zentrum der Handlung gerückt, etwa in Er- ten in seinem Haus auf Grund seiner Einladung zu chenhaften Erzählens (mündlich und schriftlich) bei zähler der Nacht,17 Die Sehnsucht der Schwalbe18 einem Kaffeeabend versammeln, an dem er ihnen der Rezeption arabischstämmiger Schriftsteller in oder Der ehrliche Lügner.19 Ein näherer Blick zeigt, zur Unterhaltung Geschichten erzählt. Auslöser der Deutschland bestätigt die behauptete Erwartungs- dass sich Naoum dagegen von seinem Hauptthema, Einladung und zugleich Binnenerzählung ist die haltung des deutschen Empfängers und sein Bild, den Minderheiten, eher distanziert hat. So rückte er Wiederbelebung von Abu al Abeds Erzähltradition welches er von diesem Teil der Welt gern haben in seinem Roman Nura20 den libanesischen Bürger- durch seinen jüngeren Freund Jusuf (den gleichen möchte. Sowohl exotische als auch stereotype Dar- krieg und die gegenwärtige Situation der Frau im Li- Vornamen hat Naoum) in Deutschland. Während stellungen und Wahrnehmungsweisen reduzieren banon anhand der Freundschaft zweier Libanesin- den USA die Zerstörung der libanesischen Kultur zu- die Komplexität der arabischen Region und die Viel- nen, einer Muslimin und einer Christin, in den Blick. geschrieben wird, wird Deutschland als ein Land falt ihrer Menschen auf jeweils einen stereotyp-ne- Sowohl beim Perspektivwechsel mit Blick auf Gen- dargestellt, das fremde Kulturen respektiert. Neben gativen bzw. einen exotisch-positiven Faktor. derfragen und Bürgerkrieg als auch mit dem Behar- der Rahmenerzähltechnik macht Naoum Gebrauch ren auf die Minderheitenproblematik knüpfen Na- von der mis-en-abyme Technik, bei der eine Ge- oum und Schami in ihren Werken an Themenberei- schichte in die andere verschachtelt wird und meh- EXOTISIERENDE ERZÄHLTECHNIKEN UND che an, die sich seit den neunziger Jahren großer rere Gestalten die Rolle des Geschichtenerzählers ALLTAGSDARSTELLUNG Aufmerksamkeit erfreuen. übernehmen:

In den siebziger Jahren griffen in Deutschland Scha- „’Also, die Geschichte hat mir ja sehr gut gefallen’, mi und Naoum – ähnlich wie viele andere, vor allem BÜRGERKRIEGE ZERSTÖREN DIE KULTUR lacht Usta, ‚aber den Schluss, den hast Du eindeu- türkische Schriftsteller – die bereits damals in der tig erfunden. Da bist und bleibst du doch der Kaf- arabischen Welt veraltete Tradition des mündlichen So spielt sich zum Beispiel die Handlung in Naoums feehausgeschichtenerzähler. Zufällig kenne ich ei- Märchenerzählens auf. Ein Teil ihres späteren gro- Erzählung Nacht der Phantasie21 in Beirut während nige der Jungen von damals (...). Bis heute raucht ßen Erfolges beruht darauf, dass sie als Vertreter ei- und nach dem Bürgerkrieg ab, auf den in der Rah- keiner von ihnen Wasserpfeife, sondern Marlboro, nes Orients von Tausendundeiner Nacht, also des menerzählung flüchtig eingegangen wird. Naoums und wo hätte Edma ihre Bankkunden empfangen Fantastischen, Außergewöhnlichen und unend- Werk zeigt, wie der Krieg nicht nur die materiellen sollen, wenn die Burschen sieben Tage in ihrer lichen Erzählens wahrgenommen wurden. Densel- Gegenstände zerstört, sondern auch die libanesi- Wohnung saßen?’ ‚Usta, Usta!’ Abu al Abed schüt- ben Spuren folgend, traten seit Ende der achtziger sche Kultur, für die die Tradition des Geschichtener- telt enttäuscht den Kopf. ‚Du bist durch die vielen Jahre weitere Schriftsteller arabischer Herkunft zählens stellvertretend steht und von Abu al Abed Fernsehsendungen deiner Phantasie beraubt wor- wie Salim Alafenisch hervor. Erzählstrukturen und getragen wird. US-Amerikanern und amerikani- den.’“ (ebenda, S. 83.) -techniken wie die Rahmen- und Binnenerzählung schen Medien werden im Werk eine große Rolle bei

123 MANAR OMAR

In allen Kapiteln von Naoums Text sind die Erzählsi- DAS EXOTISCHE UND SINNLICHE (ORIENT-)BILD VON tuationen so aufgebaut, dass die zuhörenden Figu- DER NAHÖSTLICHEN KULTUR PRÄGT BIS HEUTE DIE ren ständig kommentieren, korrigieren und nicht VORSTELLUNG VIELER EUROPÄER UND SPIEGELT SICH selten den Haupterzähler Abu al Abed unterbrechen, GELEGENTLICH AUCH IN FOTOGRAFIEN WIDER. um selbst zur vorgetragenen Geschichte eine damit picture alliance / dpa verbundene Anekdote oder weitere Geschichte hin- zuzufügen. Die Kürze oder Länge dieser Unterbre- chungen, die den Erzählgang sprengen, wird von Abu al Abed gesteuert, indem er sie entweder zulässt oder ablehnt. Das Erzählen hat im Text eine gesell- schaftliche Funktion: Nachrichten und historische wie in Syrien zur gleichen Zeit – viele Putsche auf- Ereignisse werden gemeinsam dokumentiert und einander folgen. Zu Damaskus äußerte sich Schami beurteilt. in einem Interview:

„In meinem Labyrinth werde ich oft von einer Fata DAS SPIEL MIT GÄNGIGEN KLISCHEES Morgana heimgesucht. Sie ist in jedem Regentrop- fen, in jedem nach Kardamom duftenden Kaffee, in In der Rahmenerzählung, deren Handlung in die jedem Windhauch und blauen Himmel, in jedem Te- achtziger Jahre fällt, spielt Naoum mit den gängi- lefongespräch mit Damaskus, und sie meldet sich gen Klischees und Vorstellungen von der arabischen sofort, wenn ich mit ihr nicht mehr rechne. Die Fa- Frau. Fatima und Kadiya sind beide zugleich Ehe- ta Morgana meines Labyrinths heißt: Ausgang. Und frauen von Abu al Abed. Während die Rahmener- sie rückt manchmal so nahe, dass ich Damaskus zählung eine ziemlich statische Handlung bietet, fast sehe.”23 sind die Handlungsabläufe und Figuren in der Binnenerzählung, deren Ereignisse sich Ende der Morgana alias Damaskus scheint zu Beginn der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre abspielen, Handlung ein idyllischer Ort zu sein, eine Utopie in dynamisch. Weibliche Figuren werden hier differen- dem verschiedene Kulturen, wie die arabische und zierter dargestellt, so kommen beispielsweise gebil- die indische, und unterschiedliche Religionen har- dete erfolgreiche Frauen mit starken Persönlichkei- monisch aufeinander treffen. Morgana entpuppt ten wie Edma vor. Sie wird als Witwe, fürsorgliche sich aber im Verlauf der Ereignisse als gefährlicher Mutter von zwei Söhnen und zugleich erfolgreiche Ort, der „durch die Präsenz der Diktatur in den über- Geschäftsfrau geschildert. Im Laufe der Handlung all auftauchenden Spitzeln, den willkürlichen Ver- wird sie von den libanesischen Frauen zwar bewun- hören und Folterungen“24 gekennzeichnet ist. dert, aber aus Neid marginalisiert und zur Außen- seiterin gemacht. Von den Männern aus den ver- „Unser heutiger Präsident Hadahek ist liberal. Viele schiedensten Bereichen und Schichten wird Edma von euch wissen nicht, wie grausam der Diktator dagegen bewundert und geachtet. In der Binnen- Hadahek war, der in den fünfziger Jahren herrsch- handlung kommt die Frau außerdem als Großmut- te. Er war bis zu seiner Absetzung ein kaltblütiger ter, Heiratsvermittlerin (Halun), Lehrerin (Mademoi- Mörder. Angst herrschte im Land.” (ebenda, S. 241) selle Marie Antoinette) und Schriftstellerin (Habiba) vor, aber auch als ohnmächtige Geliebte (Leila). Die Diktatoren des Romans tragen alle denselben Trotzdem ist es wichtig zu bemerken, dass die in der Nachnamen, Hadahek, und einen eindeutig musli- Rahmenerzählung geschilderten Frauenfiguren mischen Vornamen: „Da alle Herrscher mit Nachna- derselben Generation angehören wie Edma und die men Hadahek hießen, unterschied man sie zunächst anderen Frauenfiguren der Binnenerzählung. Dies nach den Vornamen, doch bald gab es Hunderte von zeigt, dass die Frauendarstellung in der Rahmener- Alis, Abdullahs und Mustafas“ (ebenda, S. 154). Da- Bis zum Ende des Romans bleibt die arabische Stadt zählung dazu gedacht ist, den Leser in die Binnen- mit soll wohl gesagt werden, dass kein Unterschied Morgana ein bedrohlicher und blutiger Ort, aus dem handlung hinein zu locken, indem ihm am Anfang zwischen den arabischen Herrschern besteht: Sie schließlich die indischen Zirkusmitglieder fliehen. vorübergehend seine Erwartungshaltung bestätigt sind alle despotisch und grausam und gehören der Exotisierend verwendet Schami pauschalisierend wird. In Jusuf Naoums Werk wird deutlich auf die religiösen Mehrheit an. Hadahek ist eine Umschrei- Bezeichnungen wie „Arabien“ oder „Orient“, wäh- kulturelle und religiöse Vielfalt im Libanon hinge- bung des arabischen Ausdruckes im syrischen Dia- rend er ansonsten differenziert und die Namen an- wiesen, aber ohne dabei Stereotypen von libanesi- lekt hadÁ hik. Sadik, die Hauptfigur des Romans, er- derer Länder nennt: „Von Indien nach Pakistan und schen Muslimen oder Christen zu reproduzieren. klärt das Wort und die damit gemeinte Aussage: von dort nach Afghanistan, in den Iran und dann über die Türkei nach Arabien zog der Circus, bis er „Seit einer Ewigkeit heißen alle Präsidenten der Re- Anfang Mai in Morgana ankam.“ (ebenda, S. 17) DIE IDYLLE ENTPUPPT SICH ALS publik Hadahek. Die Führer der Opposition ebenso BEDROHLICHER ORT Hadahek, und die Rebellion in den Bergen hießen auch Hadahek. Wer siegte, der regierte und hieß KOMPLEXE UND MEISTERHAFT Rafik Schamis Roman Der ehrliche Lügner erschien immer Hadahek. Hadahek bedeutet auf Arabisch VERZWEIGTE HANDLUNGSSTRÄNGE 1992 und wurde mit dem Hermann-Hesse-Preis [sic]: Das ist so.“ (ebenda, S. 154) ausgezeichnet. Der Haupthandlungsort ist die Stadt Der Protagonist Sadik tritt zunächst als Greis in der Morgana, wo sich die Ereignisse sowohl der Rah- Bereits im Titel Der ehrliche Lügner und dann durch- Rahmenerzählung auf, und in der Binnenerzählung men- als auch der Binnenerzählung abspielen. Ob- gehend im Text wird die Thematik von Wahrheit und kommt er als junger Mann im Alter zwischen sieb- gleich Morgana kein Name einer realen Stadt ist, le- Lüge angesprochenen. Oft wird die Glaubhaftigkeit zehn und einundzwanzig Jahren vor. Die erzählte gen einige deutliche Anspielungen nahe, dass es erzählter Ereignisse in Frage gestellt. Betont wird, Zeit in der Rahmengeschichte dauert ungefähr drei sich um Damaskus handelt. Der Handlungsort wird dass Wahrheit und Lüge aus unterschiedlichen Tage. Sadik, der drei Tage auf das Ergebnis seiner Au- als Stadt im „Herzen Arabiens, (...) ein Treffpunkt, an Gründen ineinander verflochten sind. Mit der deut- genoperation wartet, blickt auf Grund einer Neuig- dem sich die Wege der reisenden Propheten, Erobe- schen Erklärung der arabischen Bedeutung von Ha- keit – das Eintreffen eines indischen Zirkus, in dem rer, Händler und Bettler kreuzten“ (ebenda, S. 30) be- dahek soll dem deutschsprachigen Leser wohl im- eventuell seine alte, lange nicht gesehene indische zeichnet. Darüber hinaus ist die Währung in Morga- plizit deutlich gemacht werden, dass die im Werk Geliebte Mala anwesend ist – auf die zeitlich etwa na die Lira (ebenda, S. 21, 26 und 232.). Weiterhin vermittelten Geschichten zwar Fiktion sind, jedoch vierzig Jahre zurückliegenden Ereignisse zurück. findet die Handlung während der fünfziger und mit Wahrheitsanspruch in Bezug auf die politische Damit wird der Leser in die Binnenerzählung einge- sechziger Jahre in einem Land statt, wo – ähnlich Situation in Morgana beziehungsweise Syrien. führt.

124 Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

Tausendundeiner Nacht entstanden ist, prägt be- kanntlich bis heute das Denken und die Vorstellung vieler Europäer. In diesem Zusammenhang sind die in Schamis Werk vermittelten exotisierenden Bilder der Inder nicht unproblematisch. Die zweite Grup- pe, die der christlichen Araber, steht im Mittelpunkt der Handlung und schließt verschiedene Figuren ein, wie Sadik, Tante Rosa, Onkel Dschamil oder On- kel Daniel, die als witzig, klug, begabt, aufgeschlos- sen und westlich orientiert dargestellt werden. Die Verwandtschaftsattribute vor den meisten Namen arabisch-christlicher Figuren verweisen nicht nur auf ihre Verwandtschaft zu Sadik, sondern sugge- rieren außerdem auch eine Verwandtschaft zum deutschen bzw. deutschsprachigen Leser.

IST DIE REPRODUKTION VON KLISCHEES POLEMISCH?

In Schamis impliziter, imaginärer Identifikation christlicher Araberfiguren mit Europäern steckt ei- ne Distanzierung gegenüber der arabischen Iden- tität und gegenüber den arabisch-muslimischen Fi- guren, hinter der sich der Wunsch „weiß“ zu sein, im Sinne von Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken,25 vermuten lässt. Stuart Hall beschreibt, ähnlich wie Fanon, solche Positionen von Migranten, die nicht nur im Sinne der Orientalismuskritik von Edward Said als Andere konstruiert wurden, sondern durch die Ausübung von kultureller Macht und einem Normalisierungs- regime dazu gebracht wurden, dass Migranten sich selbst„ als ‚Andere’ wahrnahmen und erfuhren. (…) Es ist eine Sache, ein Subjekt oder eine Gruppe in ei- nem herrschenden Diskurs als das Andere zu posi- tionieren. Es ist jedoch etwas ganz anderes, sie die- sem ‚Wissen’ nicht nur durch das Aufzwingen eines Willens und einer Herrschaft, sondern auch durch die Macht des inneren Zwangs und durch subjekti- ve Anpassung an die Norm zu unterwerfen.“26 Arabische Christen werden in Schamis Roman – ähnlich wie die flüchtig charakterisierten jüdischen Araber – von den muslimischen Arabern, die für den Geheimdienst arbeiten, massiv unterdrückt. Die Schamis Roman zeichnet sich durch eine komplexe dem Fall der Inder – an den arabischen Geschich- Unterdrückung von syrischen Christen wird anhand und meisterhafte Verzweigung der Handlungs- tenerzähler thematisiert. Von ihm wird erwartet, von Misshandlungsszenen beschrieben: stränge aus, so dass es schwierig ist, sich an einem dass er diese Welt wach ruft. Dass die Position des einzigen Handlungsstrang, einer Haupterzählung Geschichtenerzählers zu den Erwartungen unter- „Meine Großmutter schrie entsetzt auf: ‚Hilfe! Hei- oder einen roten Faden zu halten. Es sind eher in- schiedlich sein kann, zeigt sich in der oben ange- lige Maria!’ ‚Wo ist Dein Mann?’ fragte der Offizier einander greifende Geschichten und Anekdoten, führten Antwort Sadiks, der sich – anders als einige ungerührt. ‚Er ist nach Amerika ausgewandert’, die, obgleich sie ineinander übergehen, jeweils eine Geschichtenerzähler – für ein Geschichtenerzählen stammelte sie. ‚Du lügst!’ schrie ein Soldat und trat abgeschlossene Handlung für sich bilden. Die meis- entscheidet, das sich auf die damalige Realität be- drohend mit seinem Gewehr einige Schritte auf ten Geschichten und Anekdoten werden von Sadik zieht. meine Großmutter zu, als wollte er sie aufspießen. erzählt, der im Laufe der Handlung zu einem Ge- ‚Gib zu, du Christenhure, du hast ihn versteckt!’“ schichtenerzähler wird, der vom Alltag in Morgana (ebenda, S. 118) berichtet. DAS EXOTISCHE UND SINNLICHE ORIENTBILD Nur selten kommen muslimische Araber zu Wort, „’Sicher kann ich das (eine Geschichte erzählen).’ und wenn, dann kurz. Über sie wird meistens aus der ‚Aus Tausendundeiner Nacht?’ fragte Shanti neu- Im Roman kommen Figuren aus verschiedenen Län- Perspektive einer arabisch-christlichen Figur be- gierig. ‚Nein, Madam’, antwortete ich (Sadik), ‚aber dern, Kulturen, Ethnien und Religionen vor. Sie bil- richtet. Arabisch-muslimische Figuren werden von tausendundeinem Nachbar, wahrhafte Ge- den drei Gruppen: die indischen Zirkusmitglieder, überwiegend entweder vom Protagonisten oder schichten von ehrlichen Leuten, zu hundert Pro- die christlichen und die muslimischen Syrer bzw. von anderen christlichen Figuren beschrieben und zent gelogen.’ ‚Warum nicht von Sheherazade?’, Araber. Auf die erste Gruppe werden die exotischen beurteilt. An verschiedenen Textstellen von Schamis fragte der Direktor. ‚Weil es viele Hakawatis, Ge- Vorstellungen projiziert. Ungewöhnliche Zauber- Roman werden Arabergestalten mit muslimischen schichtenerzähler, in den Kaffeehäusern gibt, die spiele und Bauchtanzperformances einer indischen Namen Unehrlichkeit im Handel, Unzuverlässigkeit, die Geschichten der zauberhaften Meisterin wür- Zirkus-Elefantenkuh zu arabischer Musik werden Neureichtum und Polygamie, zugeschrieben devoll jahraus, jahrein wiederholen. Ich dachte geschildert, ein Inder, Nirmal, erlebt eine Verwand- aber, dass du mehr an Neuem interessiert bist’.“ lung in ein Krokodil, und in Mala, der Geliebten des „Scheich Mohammed Abdulhakim (wurde) am hell- (ebenda, S. 87) Protagonisten, verkörpert sich die exotische Schön- lichten Tag in seinem Palast ermordet. (...) Eine heit. Das exotische und sinnliche (Orient-)Bild von andere Vermutung gab eine seiner (Hervorhebung Hier wird der Einfluss von Tausendundeiner Nacht der nahöstlichen und indischen Kultur, das im acht- M. O.) Frauen als Mörderin an.“ (ebenda, S. 137) auf die Erwartungen nicht-arabischer Zuhörer – in zehnten Jahrhundert durch die Übersetzung von

125 MANAR OMAR

Einige stereotype Bilder von muslimischen Arabern Sie alle sind in der arabischen Region aufgewachsen SOZIALER WANDEL ZERSTÖRT werden flüchtig revidiert, wie beispielsweise die An- und erst später nach Deutschland ausgewandert. TRADITIONELLE LEBENSFORMEN ekdote um Onkel Daniel und den neureichen Saudi, Vor allem Salim Alafenisch schließt sich an die Er- den Ersterer am Anfang fälschlicherweise für dumm zählweise Schamis an. Sein Werk zeichnet sich je- Im Kapitel „Die Sieben-Brunnen“-Stadt wird der so- hält, weil er Uhren nicht pro Stück, sondern pro Ki- doch durch einen klaren Erzählstil aus. So ist bei- ziale Wandel der einheimischen palästinensischen lo kauft, oder wie in der Geschichte des blinden, je- spielsweise sein 1990 erschienener Roman Das Ka- Beduinen im gleichnamigen Gebiet Sieben-Brun- doch sehr gebildeten und aufgeschlossen Buch- mel mit dem Nasenring28 überschaubarer als Scha- nen problematisiert. Der Übergang vom Nomaden- händlers: mis Der ehrliche Lügner. Obwohl die bei Alafenisch tum zur Sesshaftigkeit beginnt bereits unter osma- erzählten Geschichten ebenfalls ineinander ver- nischer Herrschaft als Folge des ständigen Be- „Dieser blinde Buchhändler war ein streng gläubi- schlungen sind, können sie jeweils als selbständige schlagnahmens von Tieren und der Notwendigkeit, ger Muslim. Ich hatte ihm von Anfang an gesagt, Einheiten betrachtet werden. Anders als bei Schami Ackerbau zu betreiben. Viele beduinische Schäfer dass ich Christ war. Ihm war das gleichgültig, nicht bilden sie aber miteinander einen einheitlichen Zu- wurden so zu sesshaften Bauern. Mit der Urbanisie- aber seiner Frau. Wenn sie ihm sein Mittagessen sammenhang, der schließlich eine einzige Ge- rung des Gebietes durch die Errichtung der Sieben- brachte, nörgelte sie an mir herum und sagte ihm schichte ergibt. Fabelhafte Züge und fantastische Brunnen-Stadt erreichte dieser Wandel seinen Hö- halblaut, er solle mich die Teller nicht anfassen las- Elemente kommen an verschiedenen Stellen im hepunkt. Die Veränderung der Wohngewohnheiten sen, da ich bestimmt unreine Hände hätte.” (eben- Werk vor. So kommen in den Kapiteln „Der gelehrte vom Leben in Zelten zum Leben in Häusern übt ei- da, S. 28) Esel“ und „Das Kamel mit dem Nasenring“ sprechen- nen immensen Einfluss auf die sozialen Strukturen de Tiere vor. Dabei werden an verschiedenen Stellen in der Gesellschaft aus. Das Ende von Alafenischs Dem Leser wird in dieser Episode der christliche Parallelen zwischen der Situation der Tiere und Be- Werk ist ein Happy End, wie in den meisten klassi- Glaubenshintergrund des Protagonisten zu Beginn duinen gezogen, obgleich kein direkter Dialog zwi- schen arabischen und deutschen Volksmärchen, bei mit einer Negativbegegnung mit der anderen Glau- schen ihnen stattfindet. So wird beispielsweise die denen die Hauptfigur nach einer Reihe von Hinder- bensauffassung, dem Islam, dargeboten. Den mus- Strafe der Lehrer für die Kamele und den „gelehrten“ nissen ihre(n) Geliebte(n) heiratet. Anders aber als limischen Arabern werden an verschiedenen Text- Esel, die sich nicht an die von Israel vorgegebenen Volksmärchen handelt der Text nicht von einem stellen mangelnde Hygiene zugeschrieben: Grenzen einhalten, mit der Strafe israelischer Sol- Prinzen oder einer Prinzessin, sondern von zwei ein- daten an Hirten, die die Grenzen überschreiten, pa- fachen Beduinen. „Wir marschierten zu dritt zu Murad, dem Schnei- rallel gesetzt: „Der Esel soll sich bei den Kamelen ein- Im Gegensatz zu Naoum und Schami wird in Salim der mit dem widerlichen Mundgeruch.“ (ebenda, reihen! Alle, die durchgefallen sind, müssen zwi- Alafenischs Werk die Religionszugehörigkeit nicht S. 81) schen den weißen Steinen und dem Berghügel hin explizit thematisiert. Auf der Oberflächenebene von und her rennen!“ (ebenda, S.97). „Oftmals zwangen Das Kamel mit dem Nasenring sind die Hinweise auf Diese Darstellung wirkt polemisch, und die Repro- sie die Hirten so lange hin und her zu rennen, bis die- die Diversität religiöser Zugehörigkeiten unter be- duktion von gängigen Stereotypen und Klischees im se vor Erschöpfung umfielen.“ (ebenda, S.120f.) duinischen Arabern nicht erkennbar. Es bedarf der Werk ist spätestens dann problematisch, wenn man Episoden über lernfähige und weniger lernfähige Kenntnis der arabischen Geschichte, um die im Text folgende Äußerung Schamis liest, bei der er die Ge- Tiere lesen sich als satirische Gleichnisse auf die pa- enthaltenen Kodierungen zu diesem Thema entzif- fahr und die Bedeutung solcher Stigmatisierungen lästinensischen Beduinen. Für ältere Tiere ist es fern zu können. Die bedeutendste Stelle bezüglich selbst anspricht: schwierig bis unmöglich, sich an die neue politische dieses Aspektes ist die Episode um die Liebe des um- Situation zu gewöhnen und sich anzupassen. Damit ayyadischen Khalifs Mu’awiyya zur beduinischen „Wenn ich vom Araber im Zusammenhang der sind die Beduinen gemeint, die mit der Grenze nicht Ziegenhirtin Maisun al-Badawiah und seine Ehe mit Feindseligkeit spreche, dann meine ich genau das zurechtkommen, vor allem die Alten: ihr. Die fingierte Episode basiert auf realen, histori- Klischee, das in den Köpfen fest verankert ist. Es ist schen Ereignissen.29 In Alafenischs Werk wird ledig- die sorgfältig erzeugte Karikatur eines hässlichen „Der Soldat versetzte dem Alten einen Tritt. ‚Für den lich die Eheschließung narrativ rekonstruiert, ohne Menschen, der über Macht (Erdöl, Geld und Waf- zerknitterten Ausweis!’ Ein zweiter Tritt folgte. ‚Für darauf einzugehen, dass es sich dabei nicht nur um fen) verfügt, sehr sinnlich lebt (Fressorgien und Ha- die Grenzverletzung!’ Ein dritter Schlag traf den Al- eine kulturelle Hybridbildung zwischen arabischen rem), gewalttätig ist (krummes Messer und Säbel; ten an der Schulter. ‚Damit du den Vorfall nicht ver- Beduinen und Städtern sowie zwischen Herrscher Alternativen: Handgranaten und Raketen) usw. gisst!’ kommentierte der Soldat. ‚Jetzt bist du an der und Volk, sondern auch um eine religiöse Hybridbil- Dass man darin den puren, aber straffreien Antise- Reihe!’ murmelte der Esel.” (ebenda, S. 111) dung zwischen christlichen und muslimischen Ara- mitismus wieder findet, macht jede Begründung bern handelt, die in Kontrast zum Verhältnis osma- dieser Darstellungen, sei es in Bild, Film oder Witz, Durch die literarische Verarbeitung von Alltags- nischer, britischer und israelischer Kolonisatoren zu unglaubwürdig.“27 ereignissen gelingt es Alafenisch, die schwierige La- den arabischen Beduinen steht. ge der palästinensischen Beduinen zum Ausdruck Schamis Der ehrliche Lügner ist in 46 Kapitel unter- zu bringen. Die im Roman erzählten Geschichten teilt. Jedes Kapitel besitzt zwei Titel(-vorschläge), handeln vom Schicksal eines Beduinenstammes der OFFENSIVE AUSEINANDERSETZUNG die durch die Konjunktion „oder“ miteinander ver- Naqab-Wüste und illustrieren eindrucksvoll ihren MIT KLISCHEES bunden oder voneinander getrennt sind, wie z.B. Die Lebenswandel über mehrere Generationen unter Falle oder Die Gefahr einer Dauerliebe und Die Scheu osmanischer Herrschaft, britischer Besatzung und Anders als in den behandelten Texten thematisiert oder Wie eine Vogelscheuche zum Räuber wurde. im Staat Israel. Die schwierige und kritische Situa- Wadi Soudahs Sheherezade im NATO-Land30 die Re- Der lange Titel fasst immer die Aussage der Haupt- tion der nach 1948 vertriebenen palästinensischen ligionspluralität unter Arabern nicht.31 Schon der Ti- geschichte im jeweiligen Kapitel zusammen. Die Beduinen schildert das Werk mit viel Humor und tel weist auf Soudahs besonderen Stil hin. Der erste eben skizzierte Erzählstruktur erinnert stark an an- Ironie. Es beginnt mit einer unbetitelten Rahmener- Teil entspricht den exotischen Erwartungen von ei- dere zeitgenössische Texte wie Umberto Ecos Der zählung, die in die vier darauf folgenden Kapitel der nem „märchenhaften Orient“ und der letzte desillu- Name der Rose, aber auch an Cervantes’ Don Quijo- Binnenerzählung führt. Die Handlung der Rahmen- sioniert den Leser und bringt ihn in die Gegenwart te, ein Text der sich seinerseits auf arabische Er- erzählung spielt Ende der fünfziger, Anfang der zurück. Der Titel deutet auch auf das Machtverhält- zähltraditionen stützt. sechziger Jahre in einer kalten Winternacht in der nis zwischen dem „Westen“ und der arabischen Welt Naqab-Wüste. In dieser Nacht erzählt Hussein, der hin. Erzähler des Stammes, seinen Leuten zur Unterhal- Ähnlich wie Naoums Abu al Abed und Abu al Sus ist FABELN OFFENBAREN DIE SITUATION tung und zum Zeitvertreib die Geschichte ihrer Vor- die Hauptfigur in Soudahs Märchensatire Shehere- DER BEDUINEN fahren. Er leitet damit die Binnenerzählung ein und zade im NATO-Land ein Geschichtenerzähler mit fungiert als allwissende und nahezu alleinige Er- arabischem Hintergrund. Mit dieser Figurenkon- Seit dem Ende der achtziger Jahre trat eine Reihe zählinstanz. Dennoch treten manchmal marginale stellation rückt der Erzählakt selbst – auch andere weiterer Namen von deutschschreibenden Schrift- Figuren auf, die das Erzählen von Episoden über- damit verbundene Elemente wie Empfänger, Erzähl- stellern arabischer Abstammung ans Licht, wie Gha- nehmen. Die von den Erzählern in einer Nacht er- situation, Ort – ins Zentrum. Anders als bei Naoum zi Abdelqader, Huda al-Hilali, Hussain Al-Mozany, zählten Geschichten decken eine Zeitspanne ab, die aber ist der Handlungsort Deutschland. Der Ich-Er- Abdellatif Belfellah, Nura Abadi, Halima Alaiyan, Ka- gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt und bis in zähler ist ein arabischstämmiger Schriftsteller und outher Tabaei, Wadi Soudah und Salim Alafenisch. die Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreicht. Geschichtenerzähler, der durch seine kritische Be-

126 Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller obachtung des Alltags und der Menschen in seiner Der fingierte Orient ist ein Heterotop, der einen Il- EINDEUTIGE ABLEHNUNG VON neuen Wahlheimat gekennzeichnet ist. Ständig lusionsraum im Sinne Foucaults schafft, „der den STEREOTYPEN wird der Mangel an politischem Engagement und gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das die politische Interesselosigkeit zugunsten einer menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusori- Eine unmittelbare Ablehnung von Stereotypen und „Spaß- und Lustkultur“ in einem materialistischen scher denunziert“.32 In der Raumgestaltung artiku- Klischees liefern einige Gedichte von Adel Karasho- Zeitalter kritisiert. Gleich am Anfang des Textes iro- liert sich eine bestimmte Blickweise des Publikums li, dessen literarische Anfänge in der ehemaligen nisiert der Ich-Erzähler das deutsche Interesse an im „NATO-Land“ auf die arabische Region, die sie zur DDR unabhängig von den Anfängen der um die glei- der arabischen Welt und ihrer Kultur, das durch den Projektionsfläche ihrer Sehnsüchte macht. che Zeit in die Bundesrepublik eingewanderten Sy- Golfkrieg 1991 hervorgerufen wurde: rer und Libanesen verliefen. In seinem Gedicht Der alte Turban33 von 1978 kritisiert auch er die oben „Das Interesse am Abendland, an arabischen Mär- „NATO-LAND“ ALS ZUFLUCHTSORT von Soudah, Taufiq und Naoum verworfenen exoti- chen, orientalischem Essen, Bauchtanz usw. ist schen Erwartungen der deutschen Rezipienten und wieder erwacht. In klaren Worten: Der Araber ist Die von dort stammenden Araber der Binnenhand- die stereotypen Vorstellungen von den Arabern, die wieder Star in Europa. Wir Araber in der Fremde be- lung blicken in ähnlicher Weise auf das „NATO- diese auf Nomadentum und Neureichtum – auf- danken uns für den Golfkrieg, der all dies ins Rol- Land“ als Zufluchtsort. In der Binnenerzählung grund der Öleinnahmen – reduzieren. len gebracht hat!” (ebenda, S. 40) taucht die zentrale Figur auf, Sheherazade. In der Satire wird von Sheherazade erzählt; sie aber mel- „Setzt ab von meinem Haupt Die Erzählinstanz spricht dann die Schwierigkeit an, det sich nicht zu Wort. Somit reproduziert Soudah Den alten Turban als eingewanderter Geschichtenerzähler den Men- zunächst die Vorstellung von der arabischen Frau, Zersprengt die Fesseln in euren Geschichten schen in seiner neuen Heimat die Realität im Her- die ebenfalls als Metapher für die gesamte Region Aus den Illustrierten und Kinderbüchern kunftsgebiet, d.h. in der arabischen Region, näher zu gesehen werden kann, als unmündig und ohnmäch- Ich bin Hadji Chalif Omar nicht bringen. Während er vom Nahen Osten und dem tig. Soudahs Sheherazade ist ein neunjähriges Mäd- Nicht der wandernde Beduine auf dem Kamel Golfkrieg im Irak erzählen möchte, fordert ihn sein chen aus dem Irak, dem Schauplatz des zweiten Und der Ölscheich nicht mit falschen Zähnen.“ Publikum auf, vom märchenhaften Orient zu spre- Golfkrieges 1991. Als Asylbewerberin lebt sie in (ebenda, S. 23) chen: Deutschland unter der Drohung, abgeschoben zu werden. Dort wird sie wegen ihrer Herkunft und In weiteren Strophen des Gedichtes werden auch „Dazu kamen die Frager, die mich über diese Mär- Hautfarbe von Rechtsradikalen angegriffen und er- Haremsbilder hinterfragt. In der oben zitierten Stel- chenländer löcherten. Nicht was im Golfkrieg als leidet eine Brandverletzung. Die brutale Gewalt der le des Gedichts geht das lyrische Ich auf die Quellen modernes Märchen lief, sondern was vor 1001 Jah- Rechtsradikalen und die Ungerechtigkeit der Justiz, dieser tief verankerten Vorstellungen ein. Mit dem ren passierte, interessierte. Sollte meine Zunge aus verkörpert in einem Richter, der als Anhänger einer Verweis auf die Illustrierten wird die Rolle der Me- Versehen mal in die Gegenwart rutschen und über konservativen Partei charakterisiert wird, stehen für dien bei der Konstruierung von Klischees betont. Die demokratische Märchen im Orient erzählen, so eine ungerechte westliche Politik gegenüber einer Erwähnung von Kinderbüchern, denen auch Mär- schrieen sie laut: „Märchen, Märchen, Märchen!’“ ohnmächtig gewordenen arabischen Welt. chen zuzuordnen sind, unterstreicht die These, dass (ebenda, S. 41) Trotz ihrer gerichtlichen Anklage gegen die An- die weite Rezeption von deutschsprachigen Mär- greifer verliert Sheherazade das Verfahren. Dieser chen arabischstämmiger Schriftsteller zum Teil im Laufe der Binnenerzählung vermittelte Hand- möglich wurde, weil sie an eine lange deutsche Tra- lungsablauf bricht endgültig mit den Rezipienten- dition anknüpfen, vom „Orient“ mittels Märchen zu PROJEKTIONSFLÄCHE DEUTSCHER erwartungen von einem „märchenhaften Orient“. berichten. Das Gedicht wehrt sich außerdem gegen SEHNSÜCHTE Ferner zerstört der Geschichtenerzähler damit das Karl Mays exotische Geschichten über Araber und zu Beginn des Textes skizzierte Bild von einem die arabische Welt, indem sich das lyrische Ich von Selbst das geweckte Interesse richtet sich also ge- westeuropäischen Land, das sich an die „demokra- Mays bekannter Figur Hadji Chalif Omar distanziert. zielt nicht auf eine Region der Gegenwart, sondern tischen Spielregeln“ (ebenda, S. 40) hält, sich durch auf einen Orient, der Klischees und Fantasien be- seine Toleranz auszeichnet (ebenda, S. 40) und dient. Der Schauplatz Deutschland, eine für den Le- als sicherer (Zufluchts-) Ort angesehen wird. Es DIE MACHT DER KOMMERZIALISIERUNG ser gänzlich unexotische Landschaft, wird mit Ver- gibt, so zeigt sich, weder den Orient noch den West- satzstücken wie Bauchtanz, Kulinarischem und Bil- en, beide sind über Jahrhunderte erzeugte Simula- Im selben Lyrikband erklärt Karasholi in dem Ge- dern von Kamelen gefüllt. Auch werden arabische tionen: dicht „So wollen sie uns“, dass die Reproduktion von Teppiche ausgelegt, um so einen arabischen Boden, Klischees mit Marktfragen und wirtschaftlichen eine arabische Geografie scheinbar in den europäi- „Sicher wird jemand von euch sagen: Wie kann man Interessen verbunden ist: schen Kulturraum zu holen: von Tausendundeine Nacht erzählen mit Begriffen wie Demokratie, Fernsehen, Presse, Stempel usw. „Kamel hinter Kamel „Als Botschafter des Orients des Bauchtanzes Das existiert nicht im orientalischen Märchen, wo Und barfuß der Mann mit dem Turban müssen wir den Leuten tausend und ein Märchen Demokratie ein Fremdwort ist. Aber mein lieber Le- Sand grenzt den Himmel ab erzählen oder zumindest die Zeit der Märchen ser, ich erzähle nur fiktive Märchen.” (ebenda, S. 46) Sand die Zukunft wachrufen. Damit die märchenhafte orienta- Sand und Kamele... lische Atmosphäre die Leute verzaubert, bedeckt Das ironisierte Happy End besteht darin, dass So stehen wir in den Schaufenstern man den Boden eines Raumes mit (ausgeliehe- Sheherazade schließlich Asyl und eine finanzielle Derer, nen) kostbaren arabischen Teppichen (bitte ver- Kompensation von einem mitleidigen Minister er- Die davon leben.“ (ebenda, S. 20) stehen Sie das nicht als Werbung!). Solche orien- hält. talischen Teppiche sind auch für uns märchen- Soudahs Satire ist durch die Überlagerungen Der Zusammenhang zwischen der Etablierung von haft. Wir kennen sie nicht aus ‚Tausend und eine und Interferenzen der Wahrnehmungsdarstellun- Stereotypen und deren Kommerzialisierung wird Nacht’ sondern aus ‚Tausend und ein Ölland’. gen gekennzeichnet: Im Text handelt es sich einer- mit der Metapher („So stehen wir in den Schaufen- Man erzählt sich, dass man dort die kostbaren seits um die westliche Wahrnehmung vom exoti- stern“) bildhaft dargestellt. Das Gedicht betont die Teppiche für die Garagen benutzt. Sogar das Kamel schen Orient und das Bild der orientalischen Frau existenzielle Notwendigkeit für bestimmte Institu- ist auf solchen in Europa immer dabei. Na- als Opfer ihrer rückständigen arabischen Gesell- tionen oder Individuen, Araber als primitiv („bar- türlich nicht persönlich, sondern billiger: Es hängt schaft. Auf der anderen Seite wird nur flüchtig ein fuß“) und statisch („Sand grenzt den Himmel ab / als Bild in allen Größen an der Wand. Ich bekam Bild von einem undemokratischen Irak – nicht Sand die Zukunft“) darzustellen, da sie „davon le- Märchenfieber, nicht von den Bildern, die blonde vom so genannten „Orient“ – entworfen, aus dem ben“. Zwei Jahrzehnte später äußert sich Karasholi Frauen auf einem Kamel reitend zeigen, sondern Sheherazade flieht. Soudahs Sheherazade ist kein zu dieser Problematik mit mehr Gelassenheit: von der märchenhaften Begeisterung der Abend- Opfer der gesellschaftlichen, sondern der uner- länder über die orientalischen Märchen.” (ebenda, träglichen politischen Zustände im Irak. Darüber „Heute denke ich nicht mehr daran, ob diese Me- S. 40f.) hinaus ist Sheherazade auch Opfer des Rassismus tapher exotisch, arabisch oder deutsch, ob sie der im Westen.

127 MANAR OMAR

deutschen Literatur oder der arabischen zuzuord- nur ein einziges Werk veröffentlicht, das zudem oh- „Ich bin überzeugt, man wird mich als geborene nen ist. Ich versuche, meine Erfahrungen aufs Pa- ne nennenswerte Resonanz blieb. Das erste nach Orientalin für parteiisch halten und es wird mir pier zu bringen, mögen andere dann beurteilen, wo 1945 auf Deutsch verfasste literarische Werk aus doch nicht gelingen, die schiefen und falschen An- diese Metaphern arabisch oder deutsch struktu- der Feder einer arabischstämmigen Autorin ist ver- sichten, welche in Europa und besonders in riert sind.”34 mutlich Huda Al-Hilalis Erzählband Von Bagdad Deutschland über die Stellung einer arabischen nach Basra.35 Es ist zugleich das bislang letzte Werk Frau gegenüber ihrem Manne im Schwunge sind, der im Irak geborenen und in Deutschland aufge- gründlich auszurotten. (...) Da geht ein Tourist auf wachsenen Schriftstellerin. Von den Werken der einige Wochen nach Konstantinopel, nach Syrien, DAS SELBSTBILD DER ARABISCHEN FRAU Autorinnen arabischer Herkunft wurden die Texte Ägypten, Tunis oder Marokko und schreibt ein dick- der Prinzessin Salme von Oman und der in Palästi- leibiges Buch über Leben, Sitten und Gebräuche im Im Gegensatz zu zahlreichen Schriftstellerinnen in na lebenden Autorin Sumaya Farhat-Naser in Orient. (...) er spannt einfach seine Phantasie an und den arabischen Ländern und anders als heute in Deutschland am stärksten rezipiert. ergänzt nach Herzenslust. Wenn sein Buch nur Frankreich oder Großbritannien gibt es in Deutsch- Salme Bint Said behandelt in ihren Memoiren u. a. amüsant und interessant geschrieben ist, so wird es land nur wenige arabischstämmige Schriftstellerin- die Stellung der arabischen Frau und ihre Wahrneh- sicher mehr gelesen, als wahrheitsliebendere, die nen. Die meisten dieser Autorinnen – gemeint sind mung in Europa und kritisiert den exotistischen weniger Pikantes bieten, und beherrscht dann das damit Autorinnen wie Huda Al-Hilali, Halima Alai- Blick, mit dem die Europäer arabische Frauen be- Urteil der großen Menge.”36 yan und Kaouther Tabai – haben bis heute jeweils trachten: Im Gegensatz zu den genannten Werken männ- licher Autoren – mit Ausnahme von Naoums Nura – ist die Hauptfigur in Al-Hilalis Text eine Frau, die mit mehreren Erwartungen vieler deutscher Leser bricht. Die Protagonistin wird als starke und zu- gleich witzige Persönlichkeit skizziert. Um den Mann, den sie später heiratet, wirbt sie selbst.

„Als sie ihn das erste Mal in der Gasse sah, da wuss- te sie es. Noch nie hatte sie einen Menschen so er- blickt, der so groß war und sooo schüchtern. Und als er anfing zu stolpern, wenn sie ihn beim Vorbei- gehen anschaute, da wusste sie, dass er sie auch mochte. Aber sie wollte, dass er auch zu ihr auf- schaute. Einfach so. (...) aber ich werde ihn heute nicht einfach so an mir vorbeigehen lassen. Und schon ließ sie die Tasche mit den freigekauften Eiern fallen. ‚Oh’, sagte er, beugte sich zu Boden und fing an, die noch heilen Eier aufzusammeln. Er schaute ein wenig hilflos zu ihr hoch, wusste nicht so recht, wohin mit den Eierschalen. Sie stand auf- recht und stolz da und schaute zu ihm herunter, als hätte sie gewonnen. Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, dachte sie.” (ebenda, S. 15f.)

Al-Hilalis Werk weist zwar sprachliche und stilisti- sche Schwächen auf, ist jedoch von besonderer Be- deutung, da es zum ersten Mal eine Frauenstimme aus der Gegenwart präsentiert. Auch die Hauptfi- gur der palästinensisch-deutschen Autorin Halima Alaiyan in Vertreibung aus dem Paradies. Meine lange Flucht aus Palästina37 ist eine Frau, die sowohl unter der Besatzung ihrer Heimat und der daraus re- sultierenden Vertreibung als auch unter den patri- archalischen Gesellschaftsstrukturen leidet. In die- sem autobiografischen Text wird der Leser mit einer sich innerhalb der Handlung emanzipierenden ara- bischen Frauenfigur konfrontiert – ein Bild, das sich nicht mit dem stereotypen Bild von der arabischen Frau vereinbaren lässt.

DIE LITERATUR ARABISCHSTÄMMIGER SCHRIFTSTELLERIN- NEN UND SCHRIFTSTELLER TRÄGT IHREN TEIL DAZU BEI, DASS DIE ARABISCHE WELT KEIN „BUCH MIT SIEBEN SIEGELN“ BLEIBT. picture alliance / dpa

128 Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller

JENSEITS DER EXOTIK GEWALT ALS SPIEGELBILD gestellt, der dem Text ein Talmud- und ein Hadith- DER BESATZUNG Zitat voranstellt und für eine friedliche Lösung plä- Neben die erste Einwanderergeneration ist seit An- diert. fang der neunziger Jahre der wachsende Beitrag des Zu den Werken der zweiten Generation zählen auch Nachwuchses eingewanderter Araber zum kulturel- Raid Sabbahs Der Tod ist ein Geschenk40 und Der len Leben getreten. Zu dieser Generation zählen Wind trägt meinen Schmerz davon.41 Bei Der Tod ist DAS INDIVIDUUM IST KONFLIKTEN auch Künstler wie Susan Hefuna oder Cholud Kas- ein Geschenk handelt es sich um eine fiktive Biogra- HILFLOS AUSGELIEFERT sem und Sänger wie Laith Al-Deen, der mit seinem fie, die auf einer wirklichen Begegnung des Autors Stück Bilder von Dir berühmt wurde, sowie Samy mit einer dem Protagonisten ähnlichen Person ba- Auf eine andere Weise greift Anis Hamadeh den Delux oder auch die No Angels Sängerin Nadja. Die siert. Die Ereignisse werden von der Hauptfigur in palästinensisch-israelischen Konflikt in Ausgangs- drei genannten Sänger haben jeweils eine deutsche Form einer Ich-Erzählung geschildert. Der 29-jähri- sperre für Gefühle auf: Mutter. Laith Al-Deens Vater stammt aus dem Irak, ge Palästinenser Said lebt mit seiner Familie unter und die Väter der anderen beiden stammen aus dem dem alltäglichen, massiven Druck der israelischen „alarm ist ausgerufen worden – die checkpoints ih- Sudan. In der deutschen Literatur erscheinen seit Besatzung. Im Alter von neun Jahren erlebt er, wie res herzens – sind sämtlich geschlossen – an den Anfang der neunziger Jahre dann auch Werke von die Besatzungsmacht den gesamten Landbesitz der toren sicherheitsposten – nicht unfreundlich – arabischstämmigen Schriftstellern, die, wie Abdel- Familie enteignet, um dort eine Siedlung zu errich- doch streng – wer keine gültigen papiere hat – latif Youssafi, als Kinder nach Deutschland kamen ten. Darauf folgt die Flucht der Familie nach Dsche- kommt hier nicht weiter – es hatte tage gegeben – und dort aufgewachsen sind, die, wie Raid Sabbah, nin; sie werden Flüchtlinge im eigenen Land. Der Va- da war ich mehrere kilometer tief – in ihrem gebiet in Deutschland als Kind arabischer Migranten gebo- ter, der Onkel und auch Said selbst müssen Festnah- – fand dort spuren meines traums – und suchte das ren wurden, oder die, wie Anis Hamdeh und Sherko men und Folterungen über sich ergehen lassen. ohr – heute seit sonnenaufgang – sind alle wege ab- Fatah, einen deutschen Elternteil haben. Diese jun- Saids Mutter wird während der ersten Intifada geriegelt – keine eindringlinge können – durch die ge Schriftstellergeneration, die seit den sechziger durch die israelische Armee getötet. Said verbringt mauer – worte, gesten prallen ab – an berührung Jahren geboren wurde und in Deutschland auf- später vier Jahre in israelischen Gefängnissen, weil nicht zu denken – ausgangssperre für gefühle.“42 wuchs, identifiziert sich als deutsch, als gleichwer- er Steine auf die Besatzer geworfen hat: tiger Teil der Gesellschaft und ist sich zugleich ihrer Hamadeh funktionalisiert die deutsche Medien- ethnischen, religiösen oder sprachlichen Besonder- „Sie zogen mir die Sandalen aus, winkelten meine sprache und die bei Berichten über den palästinen- heit bewusst. Beine an, so dass meine Füße in die Höhe ragten sisch-israelischen Konflikt verwendeten Begriffe, Sherko Fatahs Debüt Im Grenzland,38 2001 aus- und zogen sie zwischen dem Brett und dem Seil wie „Ausgangssperre“, „Checkpoints“ und „Sicher- gezeichnet mit dem Aspekte-Literatur-Preis, setzt durch. Dann begannen sie das Brett in der Weise zu heitsposten“. Der Text handelt sowohl von einer Lie- sich mit der komplizierten Lage im Norden des drehen, dass das Seil eine Schlaufe um meine Fuß- besbeziehung als auch von den politischen Ereignis- Iraks auseinander, der mehrheitlich von Kurden be- knöchel bildete und sich durch das Drehen immer sen im Nahen Osten. Kennzeichnend für seine „pro- siedelt ist. Die Handlung spielt in den neunziger enger zog. Er sagte mir: ‚Du zählst mit!’ Er fing an, saische Lyrik“ sind die Kleinschreibung sowie der in- Jahren während des Embargos gegen den Irak. mit dem Stock auf meine nackten Fußsohlen ein- tensive Gebrauch von Bindestrichen. Hamadeh Fatahs Romanfiguren präsentieren unterschied- zuschlagen. Ich zählte laut mit. (...) ‚Siebenundfünf- versteht diese Bindestriche als „Bambusstücke“, die liche Positionen in diesem Krisengebiet. Sie schla- zig ...’. Dann verlor ich wieder das Bewusstsein.“ sich durch ihre hohe Flexibilität auszeichnen. Fatah, gen divergierende Wege ein, um überleben zu (ebenda, S. 145) Sabbah und Hamadeh gelingt es, den deutschen Le- können. Die Hauptfigur, ein Schmuggler, überquert ser dafür zu sensibilisieren, dass der Nahe Osten regelmäßig ein Minenfeld zwischen dem Irak, der Diese und andere im Werk geschilderten Foltersze- weder der idyllische Orient von Tausendundeiner Türkei und dem Iran, um die durch das Embargo nen werden von einem Zitat aus einem realen Ge- Nacht noch der Ort des religiösen Fanatismus allein nicht mehr zugänglichen Waren zu besorgen. ständnis eines israelischen Reservisten unterbro- ist, sondern eine Region, die von Konflikten hoch- Die Lebenssituation des Schmugglers steht als chen, der palästinensische Häftlinge gefoltert hat komplexer Natur geprägt ist, denen der einzelne Metapher für die Lage der Kurden, die sich im über- (ebenda, S. 139f.). Die an mehreren Stellen verwen- Mensch meist hilflos ausgeliefert ist. tragenen Sinn in einem Minenfeld zwischen meh- dete Montagetechnik wird vom Autor durch Kursiv- reren Ländern befinden. Der Sohn des Schmugglers schrift hervorgehoben. schließt sich einer Gruppe muslimischer Extremis- Nach seiner Entlassung sucht Said Arbeit. In der is- BEREICHERUNG DER DEUTSCHEN ten an. Schließlich wird er vom Regime umge- raelischen Stadt Haifa findet er wegen seiner Vor- LITERATUR bracht. Beno, ein weiterer irakischer Kurde, passt strafe nur kleine Jobs ohne Arbeitserlaubnis, wie sich hingegen der Obrigkeit an und wird zum Infor- Tellerwäscher und Schreinergehilfe. Er wird von ei- Außer seinem „fremden“ Namen und Aussehen, ist manten des Geheimdienstes. Das Geschehen im ner Militärpatrouille angehalten und brutal zu- an Jamal Tuschicks „öffentlicher Biografie“ und lite- Roman wird hauptsächlich von Männern domi- sammengeschlagen, bis er das Bewusstsein verliert. rarischem Schaffen seit Anfang der neunziger Jah- niert, die Frauenfiguren spielen dagegen eine mar- Bei einem weiteren Vorfall schießen israelische re kein gemischter kultureller Hintergrund erkenn- ginale Rolle und werden nicht ausführlich be- Wachposten auf ein Taxi, in dem Said sitzt. Sie tref- bar. Er ist dennoch der Herausgeber des Bandes schrieben. In Fatahs späterer Erzählung Donnie39 fen ihn in die Beine. Nach seiner Genesung schließt MorgenLand, der, als er 2000 erschien, viel Lob von ist die Handlung zwar in Österreich angesiedelt, der Protagonist die Möglichkeit nicht mehr aus, ei- der Kritik erhielt. Der Band enthält Texte deutscher jedoch werden Bezüge zum algerischen Befrei- nes Tages einen Selbstmordanschlag zu verüben, Schriftsteller, deren Eltern nicht-deutscher Her- ungskrieg hergestellt. Der Autor nimmt eine post- um sich an seinen Peinigern zu rächen. Obwohl Said kunft sind. Obgleich Tuschick sich im Nachwort des koloniale Perspektive ein, die in der deutschen Lite- kein religiöser Fanatiker ist, wird er also im Verlauf Buches nicht zu seinem eigenen Hintergrund äu- ratur selten ist. seines Lebens unter der Besatzung immer weiter ra- ßert, spricht er allgemein die Bedeutung der Her- dikalisiert. Sein Vorhaben gelingt ihm jedoch nicht, kunftsländer der Eltern für die Schriftsteller der „‚Ich weiß das. Er war Holzfäller davor, da er bei einer israelischen Militäroffensive im zweiten Generation an: „Manche Autoren der zwei- irgendwo weit weg.’ Flüchtlingslager von Dschenin erschossen wird. Der ten Generation beschreiben Irritationen aus Frem- ‚Ja, und davor noch war er im Krieg.’ Text verweist auf die gängigen Klischees über Paläs- dungserlebnissen in den Ursprungsgesellschaf- Sie blickte zum Fenster. ‚Im Krieg? Nein, Gotthard tinenser als fanatische, blutrünstige Terroristen. ten.“43 war fast noch ein Kind, als der Krieg aus war.’ Anhand der Biografie Saids wird gezeigt, dass pa- Tuschick erkennt, dass „die deutsche Literatur an Sie schien verwirrt von dem, was ich sagte. lästinensische Gewalt keineswegs auf die Herkunft den ethnischen Rändern der Gesellschaft intensiv ‚Es war ein späterer Krieg. In Algerien und oder Religion zurückzuführen ist. Der Handlungs- befruchtet wird“ (ebenda, S. 284). Denn die „Nach- danach in...’ ablauf lässt die Schlussfolgerung zu, dass Gewalt- geborenen nutzen ihre Chance zur doppelten kultu- ‚Wie?’ bereitschaft und Selbstmordattentate das Spiegel- rellen Auswahl offensiv. Der Konkurrenz haben sie ‚In Algerien.’ Ich sprach das Wort deutlich aus. bild der Besatzungspolitik sind, die Palästinenser nicht nur eine Sprache voraus (...) dem aleman lässt ‚Ich kann Sie gut verstehen’, sagte sie schroff. wie Said den Sinn für den Wert ihres eigenen Lebens sich viel erzählen“ (ebenda, S. 285). Mit Recht meint ‚In Algerien. – Davon wusste ich gar nichts.’“ raubt. Die Besatzung und ihr Umgang mit den Pa- Tuschick aber, dass die Hervorhebung der nicht- (ebenda, S. 31) lästinensern bereiten den Boden für Terrorismus. deutschen Abstammung eines deutschen Schrift- Saids Perspektive wird von Sabbah mit Distanz dar- stellers sehr problematisch für ihn werden kann:

129 MANAR OMAR

„Die Kenntnis von der nicht-deutschen Abstam- 3 In ihrem bisher noch nicht veröffentlichten Vortrag (gehal- 26 Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora. In: Ders.: Ras- ten bei der German Studies Association, Washington, 4.-7. Okt- sismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994, S. 26-43; hier S. mung eines Autors öffnet unter Umständen keine ober 2001) „How ethnic is it? Reflections on works by Arab-Ger- 30. Verständnistür. Eben so gut kann sie artistisches man writers of the second generation“ bespricht Nina Bermann 27 Rafik Schami: Damals dort und heute hier. Über Fremdsein. Tuschicks literarisches Schaffen und verweist auf seinen halb-ly- Freiburg 1998, S. 67. Agens sein“ (ebenda, S. 285). bischen Hintergrund. 28 Salim Alafenisch: Das Kamel mit dem Nasenring. Zürich 1990. 4 Mustapha El Hajaj: Vom Affen, der ein Visum suchte und an- 29 Der Khalif Mu’awiyya Ibn Abi Sufian (608-680), der Gründer dere Gastarbeitergeschichten. Wuppertal 1969. des umayyadischen Khalifats, heiratete die Jakobinerin Maisun 5 Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (Hrsg.): Auftakt 63. bint Bahdal al-Kalbiya (gest. 700), die dem angesehenen christ- PLÄDOYER FÜR DEN BEGRIFF Gedichte mit Publikum. Berlin 1963. lichen Bani Kalb-Stamm entstammte und garantierte sich damit „GERMANOPHONE“ LITERATUR 6 Adel Karasholi: Ich habe das Problem gehört. In: Zentralrat der die Verstärkung seines Khalifats (661-680). Nach seinem Tod Freien Deutschen Jugend (Hrsg.): Auftakt 63. Gedichte mit Pu- herrschte Yazid (680-683), sein Sohn von Maisun. Maisun bint blikum. Berlin 1963, S. 16. Bahdal al-Kalbiya zählt außerdem zu den klassischen arabischen In den behandelten Texten von Schriftstellern der 7 ebenda, S. 18-19. Dichterinnen. ersten Generation verweisen die Ortsangaben auf in 8 ebenda, S. 20-21. 30 Wadi Soudah: Sheherezade im NATO-Land. In: Absturz aus 9 Emily Ruete: Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19. dem Paradies. Geschichten eines Eingewanderten. Frankfurt am der Realität bestehende Orte. Ebenso ist die Zeitkon- Jahrhundert. Leicht bearbeiteter Neudruck der Ausgabe: Memoi- Main 1998, S. 40-47. zeption auf die reale Welt übertragbar. Selbst bei ren einer arabischen Prinzessin (Berlin 1886). Hrsg. und mit ei- 31 In Soudahs 1991 erschienener Erzählung „Beschneidung“ ist nem Nachwort versehen von Annegret Nippa. Bodenheim 1998. allerdings der „Ich“-Erzähler ein palästinensischer Christ, der das Schami weist das Werk mehrfach implizit auf reale 10 Zu bemerken ist hier, dass sich bei meinen bisherigen Unter- harmonische Zusammenleben zwischen den muslimischen und Orte und explizit auf reale Zeiten hin. Figuren wie suchungen zur deutschsprachigen Literatur von Autoren arabi- den christlichen Palästinensern, die gegenseitige Beeinflussung scher Herkunft keine einzige Bezugnahme auf Leben und Werk und den positiven Austausch zwischen ihnen humorvoll be- der Kaffeehauserzähler stehen im Mittelpunkt der der arabischen Prinzessin in diesem Kontext finden lässt. schreibt. Diese Erzählung ist Teil der Erzählsammlung: Kafka und Werke Naoums, Schamis und Alafenischs. Anhand 11 Vgl. Jürgen Wertheimer: Das Eigene und das Fremde als Ka- andere palästinensische Geschichten. Frankfurt am Main 1991. ineinander greifender, zyklischer Geschichten fun- tegorien der Wahrnehmung und des Verhaltens. In: Palette. Bam- 32 Michel Foucault: Andere Räume. In: Gente Barck u.a. (Hrsg.): berger Zeitschrift für neueste Literatur, Heft 12/1990, S. 114. Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen gieren auch weitere Figuren als Erzähler innerhalb 12 Suleman Taufiq: Erwartungen an die deutschen Kulturver- Ästhetik. Leipzig 1990 (1967), S. 34-49; hier S. 45. dieser Werke. Diese Vervielfachung der Erzähler mittler. In: Irmgard Ackermann/Harald Weinrich (Hrsg.): Eine 33 Adel Karasholi: Der alte Turban. In: Umarmung der Meridia- nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der „Aus- ne. München 1999, S. 23f. innerhalb derselben Geschichte hebt die Rolle der länderliteratur“. München 1986, S. 75. 34 Ders.: Daheim in der Fremde. In: Lerke von Saalfeld (Hrsg.): Ich Oralität als signifikanten Bestandteil der arabischen 13 Jusuf Naoum: Aus dem Ghetto heraus. In: Irmgard Acker- habe eine fremde Sprache gewählt. Ausländische Schriftsteller Kultur hervor. Die Werke verbindet außerdem die mann/Harald Weinrich (Hrsg.): Eine nicht nur deutsche Literatur. schreiben deutsch. Gerlingen 1998, S. 116. Zur Standortbestimmung der „Ausländerliteratur“. München 35 Huda Al-Hilali: Von Bagdad nach Basra. Geschichten aus dem Einbindung fantastischer Elemente und Motive. Die 1986, S. 79. Irak. Heidelberg 1992. Frau als integrierter und gleichberechtigter Be- 14 Franko Biondi/Rafi Schami: Über den literarischen Umgang 36 Emily Ruete: Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19. mit der Gastarbeiteridentität. In: PoLiKunst-Jahrbuch 1983, S. 16. Jahrhundert. Leicht bearbeiteter Neudruck der Ausgabe „Me- standteil der Gesellschaft kommt in den Werken 15 Rafik Schami: Damals dort und heute hier. Über Fremdsein. moiren einer arabischen Prinzessin“. Berlin (1886). Herausgege- männlicher Autoren selten vor. So tauchen in die- Freiburg 1998, S. 63. ben und mit einem Nachwort versehen von Annegret Nippa. Bo- 16 Rafik Schami: Eine Hand voll Sterne. Weinheim 1987. denheim 1998. sen Werken kaum erfolgreiche Frauen auf. Nur bei 17 Rafik Schami: Erzähler der Nacht. Weinheim 1989. 37 Halima Alaiyan: Vertreibung aus dem Paradies. Meine lange Naoum finden sich selbständige Frauenfiguren, die 18 Rafik Schami: Die Sehnsucht der Schwalbe. München 2000. Flucht nach Palästina. München 2003. in ihrer Gesellschaft Achtung und Anerkennung er- 19 Rafik Schami: Der ehrliche Lügner. Roman von tausendund- 38 Sherko Fatah: Im Grenzland. Salzburg 2000. einer Lüge. Weinheim und Basel 1996 (1992). 39 Sherko Fatah: Donnie. Salzburg 2002. langen. Bei Schami und Alafenisch spielt die arabi- 20 Jusuf Naoum: Nura. Eine Libanesin in Deutschland. Wupper- 40 Raid Sabbah: Der Tod ist ein Geschenk. Die Geschichte eines sche Frau entweder eine marginale Rolle oder sie tal 1996. Selbstmordattentäters. München 2002. 21 Jusuf Naoum: Nacht der Phantasie. Der Kaffeehauserzähler 41 Raid Sabbah: Der Wind trägt meinen Schmerz davon. Aus dem wird als wehrlos und unterdrückt dargestellt. Abu al Abed lädt ein. Frankfurt am Main 1994. Leben einer palästinensischen Mutter. München 2004. Die zweite Generation, die literarisch tätig ist, hat 22 Im Folgenden wird bei den Auszügen aus den Romanen und 42 Anis Hamadeh: Ausgangssperre für Gefühle, 17. Mai 2004. mit der ersten Generation gemeinsam, dass sie sich Erzählungen jeweils auf die entsprechenden Seiten der Buch- Unter: http://www.anis-online.de/pagesI_text2/0636_aus- handelsausgaben und der bereits zitierten Werke der einzelnen gangssperre.de oft auf die arabische Region bezieht. Sie distanziert Autoren verwiesen. 43 Jamal Tuschik: Träger von Zukunftsinformationen. In: Ders. sich aber von einer unmittelbaren Auseinanderset- 23 Zitiert nach Ralf-Andreas Gmelin: Der Reisesegen. Predigt in (Hrsg.): MorgenLand. Neueste deutsche Literatur. Frankfurt am der Ringkirche vom 23. Juni 2002. Unter: http://www.ringkir- Main 2000, S. 290. zung mit der Exotik-Thematik. Die Autoren be- che.de/predigt/2202-13.htm (Abgefragt am 15. August 2005). 44 Vgl. Hierzu: Katherine Arens: For want of a word… The Case dienen sich in ihren Werken ausschließlich ihrer 24 Gisela Henckmann: Rafik Schami. In: Heinz Ludwig Arnold for Germanophone. In: UP, 2/1999, S. 130-142; sowie Nina Ber- Muttersprache Deutsch, im Gegensatz zur ersten (Hrsg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsli- man: German and Middle Eastern Literary Traditions in a Novel teratur, Heft 6/1999, S. 5. by Salim Alafensch. Thoughts on an Germanophone Beduin Au- Generation und anders als bei der „Kanaken-“ oder 25 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt am thor form Negev. In: German Quarterly, 3/1998, S. 271-283. „Beur-Sprache“ von Deutschen türkischer und Main 1985. Franzosen arabischer Abstammung der zweiten Einwanderergeneration. Das liegt vermutlich daran, dass die in Deutschland geborenen Schriftsteller die arabische Sprache im Alltag wenig gebrauchen und daher kaum beherrschen. Ferner stammt ein Teil der ersten Generation aus einer Minderheit in der ara- UNSERE AUTORIN bischen Region, die eine eigene Sprache hat. Ein weiterer Aspekt, der vielleicht eine Rolle spielt, Dr. Manar Omar könnte ein stärkeres Bewusstsein für die mögliche ist als Germanis- exotische Wirkung sein, die die Verwendung von tikdozentin an der arabischen Sprachelementen in einem deutschen Deutschabteilung Text erzeugen kann. Im Gegensatz zur ersten Gene- der Universität ration, deren Leben lange durch die arabische Spra- Helwan in Kairo che und Kultur geprägt war, betrachtet die zweite und als freiberufli- Generation diese aus einer distanzierteren Perspek- che Übersetzerin tive. Der Literatur der ersten sowie der zweiten Ge- und Dolmetsche- neration sollte man deshalb nicht eine einzige Iden- rin tätig. Sie ab- tität mit Begriffen wie „Migranten- oder Migra- solvierte ihr Abitur tionsliteratur“ zuschreiben. Stattdessen sollte der an der Deutschen sprachliche Aspekt bei der Bezeichnung hervorge- Schule der Borromäerinnen in Kairo und hoben werden, indem von einer „germanophonen“ studierte anschließend Germanistik an der oder „deutschsprachigen“ Literatur gesprochen Kairoer Universität. In ihrer 2006 abge- wird, entsprechend der frankophonen und anglo- schlossenen Dissertation beschäftigte sie phonen Literatur.44 sich mit ausgewählten Werken Deutsch schreibender Autoren arabischer Herkunft. Sie hat mehrere Lesereiseprojekte mit ANMERKUNGEN deutschsprachigen Autoren koordiniert. Ne- 1 Es handelt sich um etwa 280.000 Migranten aus verschiede- ben zahlreichen Vorträgen und Publikatio- nen arabischen Ländern und dazu eine unbekannte Zahl von Pa- nen hat sie eine Bibliografie deutscher Über- lästinensern. Vgl. Eckehart-Schmidt-Fink: Araber in Deutsch- setzungen arabischsprachiger Werke von land. In: Ausländer in Deutschland, Heft 2/2001, S. 3-5; hier S. 3. 2 Ebd., S. 4. 1990 bis 2004 herausgegeben.

130 DAS BILD VOM ORIENT IST EINE FRAGE DER MEDIENREZEPTION Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen

VIOLA SHAFIK

schen Films, allen voran Férid Boughédir in seinem gene Filmindustrie hervorzubringen. Es war das ein- Nationales Filmschaffen hängt in arabi- Dokumentarfilm Camera Arabe im Jahre 1987, ver- zige arabische Land, das über einen vergleichsweise schen Ländern von historischen und breiteten und der seit der Gründung der Vereinigung großen Binnenmarkt verfügte und trotz seiner Kolo- mehr noch von aktuellen (innen)politi- des Neuen Films in Kairo 1969 die Selbstdarstellung nialisierung durch die Briten ausreichende künstle- schen Gegebenheiten ab und befindet künstlerisch und intellektuell ambitionierter arabi- rische, intellektuelle und vor allen Dingen wirt- sich in einer Konkurrenzsituation mit scher Filmemacher charakterisiert. Er stellt den „en- schaftliche Ressourcen besaß, die es ihm ermöglich- dem „ersten“ Kino, dem weltweit domi- gagierten“ arabischen Film in Opposition nicht nur ten, Anfang der 1930er-Jahre mit dem Einsetzen der nierenden Hollywood. Hinzu kommt, zum „ersten“ Kino, d.h. zum weltweit dominierenden Tonzeit, eine eigenständige Filmindustrie aufzubau- dass der Autorenfilm mit der lokalen, Hollywood, sondern auch und vor allem zur lokalen, en, deren populäre Produkte auch über die Landes- kommerziellen Filmindustrie konkurrie- kommerziell orientierten Filmtradition. grenzen hinweg Verbreitung fanden. ren muss und von Fördergeldern abhän- gig ist. Vorgaben und Interessen west- licher Förderinstitutionen bestimmen das arabische Filmschaffen in hohem Ma- ße. Die Mechanismen der Filmförderung bringen es mit sich, dass arabische Filme meistens nur dann den Weg zum europä- ischen Publikum finden, wenn sie in den Genuss von Fördergeldern kommen. Die- se Filme und die von ihnen transportier- ten Themenkreise prägen das westliche Bild vom „Orient“. Zuweilen wird der exotische Blick bedient, der letztlich zu einer Festschreibung von Stereotypen führt. Mehr noch: Durch die selektive Le- seweise der Filme möchte das westliche Publikum „sein“ Bild der Region bestä- tigt sehen. Produktion und Vertrieb ara- bischer Filme in Europa sind nicht nur ei- ne Frage des guten Willens (und der Fi- nanzierung). Europa fördert zwar die Darstellung der arabischen Welt im Film, läuft jedoch Gefahr, das Bild vom so ge- nannten „fremden Orient“ zu reprodu- zieren anstatt die südlichen Mittelmeer- anrainer und deren Ausdrucksmöglich- keiten zu erleben.

KINOWERBUNG IN KAIRO: DIE „BELAGERUNG“ DES AUTORENFILMS DER ENGAGIERTE ARABI- SCHE FILM BEFINDET SICH Der marokkanische Regisseur Mohamed `Aslan ließ NICHT NUR IN EINER KON- auf einer Pressekonferenz während des Kairoer Film- KURRENZSITUATION MIT festivals im Winter 2004 verlauten, dass sich der en- DEM WELTWEIT DOMINIE- gagierte arabische Film im Belagerungszustand be- RENDEN HOLLYWOOD, fände. Damit meinte er nicht nur die Belagerung des SONDERN AUCH MIT DER so genannten Autorenfilms durch den kommerziel- LOKALEN, VOR ALLEM len Film amerikanischer, indischer und ägyptischer KOMMERZIELL ORIENTIER- Provenienz, der die Leinwände und die Herzen der TEN FILMTRADITION. Zuschauer in der Region beherrscht. Er meinte damit picture alliance / dpa auch die Vorgaben und Interessen westlicher För- derinstitutionen, von denen er selbst bei der Produk- tion seines sozialkritischen Filmes Die Engel fliegen nicht über Casablanca / al-mala’ika la tuhalliq fauq ZUR GESCHICHTE DES ARABISCHEN FILMS In den anderen arabischen Ländern hingegen kam es al-Dar al-Bayda’ (2004) unabhängig bleiben konn- erst nach der jeweiligen Unabhängigkeit im Laufe te. Der Regisseur, der in Italien als Produzent arbei- Um diese Ausrichtung besser verstehen zu können, der 1950er- und 1960er-Jahre zu unterschiedlich tet, war aufgrund seiner privaten Rücklagen in der wird man ein wenig in die Geschichte des arabischen intensiven Versuchen, ein nationales Filmschaffen Lage, seinen Film völlig aus eigenen Mitteln zu finan- Films zurückgreifen müssen. Grob gefasst teilt sich aufzubauen, das aber – sieht man vom Libanon und zieren. dessen Geschichte in die zwei Phasen der Vor- und bis zu gewissem Grade von Marokko ab – erst durch Mohamed `Aslans Eindruck, sich im Belagerungszu- Nachkolonialzeit. Dementsprechend besitzt er auch staatliche Intervention ermöglicht wurde. Daher stand zu befinden, ist symptomatisch für das Selbst- zwei unterschiedliche Erscheinungsformen: popu- entwickelte sich im Mashreq (Naher Osten) wie auch verständnis des künstlerisch ambitionierten arabi- lärer kommerzieller Film einerseits und engagierter im Maghreb bzw. Nordafrika zuerst ein antikolonial schen Filmschaffens. Es entspringt einem Diskurs, Autoren- bzw. Kunstfilm andererseits. Nur Ägypten geprägtes Filmschaffen, das schließlich in einen re- den die Vertreter des so genannten Neuen Arabi- vermochte bereits während der Kolonialzeit eine ei- gionalen Kunst- und Autorenfilm mündete, den

131 VIOLA SHAFIK manche gerne als Neuen Arabischen Film bezeich- wegen den ständigen Ausgangs- und Wegsperren, FÖRDERUNGEN DER ERSTEN STUNDE nen. (Diese Definition ist allerdings etwas irrefüh- die ja auch heute jedes normale Leben behindern. rend, da sie eine historische Zuordnung erschwert Darüber hinaus fehlt es an einer entsprechenden In- Die Förderungen der ersten Stunde, die die anfäng- und gleichzeitig zu wenig die lokalen wie individuel- frastruktur und an Ausbildungsmöglichkeiten für lichen Produktionen des „schwarzen Kontinents“ len Unterschiede zwischen den verschiedenen Län- werdende Filmemacher. Diese haben in der Vergan- und schließlich auch den nordafrikanischen Film dern und den Filmemachern berücksichtigt!). Es wa- genheit ihr Handwerk entweder in Israel oder im maßgeblich und auf teils recht ambivalente Weise ren vornehmlich staatliche Initiativen, die diese Ausland gelernt. mitzuverantworten hatten, kamen aus Frankreich. Werke unterstützten und über etwa zwei Jahrzehn- Filmemacher aus dem historischen Palästina, sprich Dort entstand 1961 das Consortium Audiovisuel te am Leben erhielten. dem heutigen Israel, mögen sich auf israelische International, das bis 1975 416 Filme unterschied- Techniker und Infrastrukturen stützen oder auch licher Längen (auch Wochenschauen) herstellte. nicht, je nach ihrer entsprechenden politischen Aus- 1970 gründete man außerdem die Agence de la co- DIE KRISE DES ARABISCHEN KINOS richtung und ihrem Aufenthaltsort. Palästinensische opération culturelle (ACCT), die ab 1993 in die Agen- Techniker können sie meist nicht einsetzen. Nur in ce de la Francophonie umgetauft wurde. Seit Ende der 1980er-Jahre allerdings hat sich die seinen revolutionären Tagen verließ sich der palästi- Ab 1963 kurbelte zudem das französische Ministe- Krise des arabischen Kinos verschärft, wenn auch nensische Film eher auf Eigeninitiativen in der ara- rium für technische Kooperation durch sein Bureau aus recht unterschiedlichen Gründen. Auf der einen bischen Diaspora, wie die verschiedenen palästinen- de cinéma die afrikanische Produktion an. Vor der Seite hat der Erste Golfkrieg 1990 die Vertriebsbasis sischen Organisationen im Libanon vor der israeli- Unabhängigkeit dieser Länder hatte man keinem des ägyptischen Kommerzfilms empfindlich gestört. schen Invasion 1982. Heute stammen die meisten einzigen Afrikaner die Möglichkeit gegeben, in sei- Darüber hinaus sorgte ein Boom in der lokalen Fern- Filmemacherinnen und Filmemacher aus dem histo- nem Land einen Film zu drehen, (das so genannte La- sehproduktion für strukturelle Engpässe, die Anfang rischen Palästina oder den besetzen Gebieten. Ihre val-Dekret von 1934 hatte sich dezidiert dagegen 1990 für einen zeitweiligen Rückgang der Produk- Zahl hat sich zwar erheblich verstärkt wegen der Ein- ausgesprochen!). Da die Franzosen nach der Entlas- tionszahlen von ca. 60 auf 15 Filme pro Jahr verant- führung neuerer Technologien (Video und DVD), sung in die Unabhängigkeit nun zum Teil keinen Zu- wortlich waren. Auf der anderen Seite mussten Staa- aber sie sind und bleiben im Großen und Ganzen von gang mehr zu ihren früheren Kolonien bekamen, ließ ten wie Syrien, Tunesien und Algerien ihre Produk- der finanziellen und technischen Unterstützung aus man – so Lieve Spaas (2000) – nun die Arbeit des Bil- tion entweder völlig privatisieren (Algerien) bzw. Europa abhängig oder werden in einigen wenigen dersammelns von Einheimischen erledigen. Das Mi- stark einschränken, während der Bürgerkrieg in Al- Fällen, wie bei Göttliche Interventionen/yad ilahiyya nisterium für Kooperation ist interessanterweise bis gerien (1990er-Jahre) sowie im Libanon (1980er- (2003) und Durst/`attash (2004), Nutznießer israeli- heute noch eine der wichtigsten Anlaufstellen ge- Jahre) zeitweise für eine vollständige bzw. teilweise scher Hilfe. blieben, auch wenn es die Arbeit 1979 kurzfristig ein- Einstellung der Produktion sorgte. Nur Marokko war stellte, zum einen weil die französische Regierung bislang in der Lage, durch eine wohl organisierte mit politischen Filmen wie Finyé von Souleyman Cis- staatliche (aus Steuereinnahmen vom Vertrieb aus- BEGRENZTER ZUGANG ZUR sé nicht die afrikanischen Regierungen verärgern ländischer Filme finanzierte) Förderung das eigene EUROPÄISCHEN ÖFFENTLICHKEIT wollte, zum anderen weil die strukturellen und kul- Filmschaffen zu einer kleinen Filmindustrie auszu- turellen Nachteile der Förderung sichtbar wurden: bauen, die den eigenen Markt nicht nur mit Kunst- Das bislang immer noch extrem kanalisierte Interes- anstatt die afrikanischen Filmemacher mit ihren sondern auch Kommerzfilmen versorgt und mittler- se in Europa an der Palästinafrage verstärkte sich Werken zu Hause zu integrieren, wurden sie an weile vom ägyptischen Film recht unabhängig ist. In erst mit dem Osloer Abkommen (1990). Dies betrifft Frankreich assimiliert. den meisten anderen Ländern mussten sich Filme- auch die finanzielle Unterstützung. Werke, die im macher und Produzenten nach anderen Finanzie- Jahrzehnt zuvor entstanden, gingen auf individuel- rungsmöglichkeiten umsehen, um ihr „nicht-kom- le Anstrengungen zurück, sei es durch engagierte BESITZ DER FILMRECHTE BESTIMMT merzielles“ Kino zu realisieren. westliche Filmemacher oder im Exil lebende Araber DEN VERTRIEB und Palästinenser, wie der israelische Palästinenser Michel Khleifi, der 1990 mit seinen Filmen noch ex- Zu diesen Nachteilen zählte u. a. auch, dass das Mi- DER PALÄSTINENSISCHE FILM tremen Anfeindungen ausgesetzt war.1 Aufführun- nisterium die Filmrechte aufkaufte, der Vertrieb sich gen von Filmen, die die Palästinafrage aus der Per- somit auf Frankreich und größtenteils auf den nicht- Dies gilt auch für den palästinensischen Film, der spektive der Palästinenser behandelten, waren daher kommerziellen Bereich konzentrierte. Zwar kam es hier exemplarisch abgehandelt werden soll. Westli- lange Zeit eine Sache von wenigen, eher linksorien- mit der Zeit zur paradoxen Situation, dass sich die che Unterstützung hat erst im letzten Jahrzehnt da- tierten Veranstaltungen in der Bundesrepublik afrikanischen Filme, die unter dem Deckmantel der zu beigetragen, dass die kostspielige Produktion von Deutschland und in der ehemaligen Deutschen De- Frankophonie entstanden, immer mehr von der Spielfilmen palästinensischer Filmemacher etwas mokratischen Republik. Auch heute bleibt der Ver- französischen Sprache abwandten und zu ihren vor- angekurbelt wurde, was sich allerdings kaum auf die trieb meist auf das Fernsehen und den nicht-kom- kolonialen Sprachen zurückkehrten, was jedoch Infrastruktur vor Ort ausgewirkt hat. Bis auf die Be- merziellen Bereich beschränkt. Es handelt sich da- nicht hieß, dass sich das afrikanische Publikum aus- satzung unterscheidet sich die Situation des paläs- rum um einen sehr begrenzten Zugang zur europä- gesprochen für die vom Ausland finanzierten Filme tinensischen Filmschaffens insofern nur graduell ischen Öffentlichkeit, da auch Arte in Deutschland interessierte. Im Gegenteil, in einem der jüngsten vom gesamtarabischen Filmschaffen. Wenn er sich gemäß einer Redaktionsauskunft 2003-2004 wäh- epd-Berichte (2005) wurde sogar von einem erheb- auch nie auf reguläre staatliche Beihilfen stützen rend der Prime Time am Samstagabend eine Quote lichen Rückgang an traditionellen Lichtspielhäusern konnte, so entsprang er doch anfänglich dem Scho- von nur etwa durchschnittlich einer halben Million in einigen westafrikanischen Ländern (z.B. Burkina ße quasi-staatlicher Stellen, u. a. der PLO, die jedoch Zuschauer aufwies. Nach ihrer Ausstrahlung sind Faso) berichtet, während Nigerias „Nollywood“ mo- nach dem Auszug aus Beirut nach Tunis (1982) ihre solche Filme für den weiteren kommerziellen Ver- mentan durch die Einführung der DVD-Technik Produktion stark einschränken musste. trieb außerdem „verbrannt“. boomt und Hunderte von billigen, kommerziellen Vi- Der wesentliche Unterschied zu anderen arabischen Wie sich am Beispiel Palästinas zeigt, entsteht der deofilmen ausstößt (von denen hierzulande auch Ländern liegt darin, dass Produktion und Vertrieb arabische Film, der heute nach Europa gelangt, un- nichts zu sehen ist). noch viel weniger in Palästina selbst verankert sind. ter außergewöhnlichen Umständen und ist kaum Arabische bzw. nordafrikanische Produzenten be- Im Gegensatz zu anderen arabischen Filmproduktio- an den arabischen Markt gebunden, d.h. für ge- gannen sich seit Ende der 1970er-Jahre um franzö- nen hat der palästinensische Film kaum eigene Ver- wöhnlich nicht das Produkt einer lokalen Filmin- sische Förderungen zu bemühen. Dabei kristallisier- triebsmöglichkeiten. Eine Ausnahme sind einige al- dustrie. Das europäische Förderinteresse ist aller- ten sich neben den bereits erwähnten offiziellen ternative Versuche, wie seit Mitte der 1990er-Jahre dings nicht ganz neu, es speiste sich zunächst aus französischen Stellen, wie das CNC (Centre Nationa- Rashid Masharawis Cinema Production Center in Wiedergutmachungsbestrebungen in der postkolo- le de Cinématographie), die Agence de la Francopho- Ramallah, das mobile Aufführungen und ein alljähr- nialen Ära und wandelte sich schließlich aus dem nie sowie die französischen Ministerien für techni- liches Kinderfilmfestival durchführt und 2004 ein heute notwendigen Interesse der EU für seine un- sche Kooperation, das Außen- sowie das Kultusmi- erstes Kinofilmfestival organisierte. Diese Versuche mittelbaren Nachbarn. Der erste Nutznießer dieser nisterium als weitere relevante Anlaufstellen bei eu- stehen und fallen aber mit dem guten Willen der Is- Interessen war der schwarzafrikanische Film, zu ropäischen Fernsehanstalten heraus. Dazu zählten raelis. Seit der ersten Intifada (1989) wurden in den dem in dieser Hinsicht bislang detaillierte For- besondere Sendeplätze, wie „Das Kleine Fernseh- besetzten Gebieten nämlich alle Kinos geschlossen schungsergebnisse vorliegen. spiel“ (ZDF) oder bestimmte Redaktionen bei Canal

132 Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen

Horizon, La Sept und Channel Four (heute vor allem Abtreten der Filmrechte sowie in der Möglichkeit, die Türen/al-abwab al-mughlaqa (1999) zu nennen, der das deutsch-französische Arte). Sie wurden außer- Geräte und Räume der Kooperation für die Postpro- von der Fanatisierung eines jungen Muslims in dem noch in den 1990er-Jahren von der holländi- duktion in Frankreich zu nutzen. In Tunesien, Alge- Ägypten erzählt, der mit dem Mord an seiner Mutter schen Hubert Bals-Stiftung (gebunden an die Urauf- rien und Marokko gibt es bis heute noch keine Film- endet. führung am Festival in Rotterdam) und schließlich schule, an der Filmtechnik gelehrt wird. Bei Berufen Des Weiteren wären erwähnenswert eine Reihe tu- 2004 vom World Cinema Fund (Berliner Filmfest- mit großen Anforderungen an das Know-how, wie nesischer Spielfilme, vor allem Die Stille der Paläste/ spiele) ergänzt. Kamera, Ton, Maske und Szenenbild, müssen viele samt al-qusur (1994) sowie Zeit der Frauen, Zeit der Produktionen darum auf europäische Kräfte zurück- Männer/musim al-rijal (2000) von Moufida Tlatli, die greifen. beide von der Unterdrückung der Frau handeln. FÖRDERGELDER UND DER WEG Auch in Férid Boughédirs Halfaouine/`asfur al-sath ZUM PUBLIKUM (1989) und Sommer in La Goulette/Halq al-Wad WIRTSCHAFTLICHE ABHÄNGIGKEIT (1995) geht es vornehmlich um Geschlechterrollen. Den Weg zum europäischen Publikum schaffen bis BEEINFLUSST INHALTE Vor allem Halfaouine, der als erster tunesischer Film heute vor allem jene Filme, die in den Genuss der För- einen europaweiten Kinostart bekam, bedient sich dergelder dieser Einrichtungen kamen und kommen, Es ist schwierig zu erwägen, inwieweit die wirt- zahlreicher exotischer Elemente, wie die pittoresken weniger aber Filme, die durch eigene Anstrengungen schaftliche Abhängigkeit auch zur Beeinflussung Bilder des türkischen Bades, die sicherlich nicht finanziert wurden. Genuin einheimische Produktio- der Inhalte geführt hat. Mit anderen Worten, ob Fil- nur zufällig an das Bildrepertoire des europäischen nen, wie beispielsweise ägyptische und mittlerweile me letztlich für den europäischen Geschmack her- Orientalismus erinnern. Youssef Chahines Filme hin- auch marokkanische Kommerzfilme bzw. populäre gestellt werden und weniger für den lokalen Ver- gegen, die auf den ersten Blick eine Ausnahme zu Filme hingegen haben kaum eine Chance, in Europa brauch. Immerhin beklagte sich der west-afrikani- bilden scheinen, bieten ein populäres Potpourri zu zirkulieren. Im Gegenzug finden arabisch-euro- schen Filmemacher Souleyman Cissé Anfang der aus Antikolonialismus, Modernismus und kultureller päische Koproduktionen wiederum, die zwar tech- 1990er-Jahre, dass die von Frankreich geförderten Apologetik, die sich über den rassistischen und im- nisch und künstlerisch mittlerweile internationalen afrikanischen Filme eigentlich nicht für das ge- perialistischen Westen einerseits mokiert und ande- Standards entsprechen, kaum einen Weg zum brei- wöhnliche Publikum, sondern für den Soziologie- rerseits den islamischen Fundamentalismus anpran- ten arabischen Publikum, das sich nach wie vor lie- unterricht gemacht würden, d.h. in einem „kulturel- gert, wie in Das Schicksal/al-masir(1997) und jüngst ber am populären nationalen (meist ägyptischen) len Ghetto“ verblieben (vgl. Diawara 1992). Es ist in Alexandria-NewYork (2004). Film ergötzt. außerdem bekannt, dass das Ministerium für Koope- Die ersten arabischen Filmemacher, die von besag- ration anfänglich naive afrikanische Filme den poli- ten französischen Institutionen Förderungen erhiel- tisch kritischen Filmen vorgezogen hat. Dies beweg- DIE FESTSCHREIBUNG VON STEREOTYPEN ten, dürften dem Publikum hierzulande mittlerweile te u. a. den Senegalesen Ousmene Sembene dazu, hinreichend bekannt sein: der Ägypter Youssef Cha- überhaupt keine Förderungen mehr anzunehmen. Die diskursive Festschreibung der Region auf die hine war der erste, einige libanesische und vor allem Dies will nicht heißen, dass Förderer und Fernsehan- oben erwähnten Themen ist eine komplexe Ange- tunesische, aber auch algerische und marokkanische stalten gleichermaßen an einer Gleichschaltung und legenheit, deren kulturhistorische und politische Filmemacher folgten. Nur im Ausnahmefall stärkte Gettoisierung der Produktionen aus Übersee arbei- Quellen von Edward Said beschrieben und als Orien- die Koproduktion die Filmemacher im eigenen Land. ten. Der Berliner World Cinema Fund erlaubt aus- talismus bezeichnet wurden und dessen Antriebs- Nur Chahine konnte sich zu Hause ein wahres film- drücklich, dass die Gelder ausschließlich vor Ort aus- quelle man in dem rassistischen Vorgang des „Othe- wirtschaftliches Imperium aufbauen, das u. a. auch gegeben werden dürfen. Auch einzelne Redaktionen, ring“ bzw. der Produktion des Anderen oder Fremden Lichtspielhäuser umfasst. Wirklichen Erfolg an der wie die von Joachim von Mengershausen beim WDR, zusammenfassen kann. Im Bereich der visuellen Kinokasse hat er in Ägypten aber nicht, auch über die der eine Reihe von schwarzafrikanischen und arabi- Darstellung hat dies zu Stereotypisierungen geführt, Qualität seiner letzten Erzeugnisse lässt sich strei- schen Filmen, darunter auch koproduzierte, für deren Entwicklung Stuart Hall uns den Blick ge- ten. Im Falle Tunesiens hingegen, das eine lange Tra- waren darum bemüht, keinerlei Auflagen, vor allem schärft hat. Durch das Stereotyp wird das Andere, dition der cinéphilie besitzt, d.h. wo so genannte Art- thematischer Art zu machen. Dasselbe gilt auch für Fremde überhaupt erst als solches konstituiert und house-Filme durchaus Zuschauer anzuziehen ver- das Stuttgarter EZEF (Evangelisches Zentrum für festgeschrieben, indem man es auf einige wenige Ei- mögen, ergab sich eine regelrechte Abhängigkeit des entwicklungsbezogene Filmarbeit). Trotzdem er- genschaften reduziert, die dann in essentialistischer lokalen Filmschaffens vom Ausland. So entstanden scheint die Frage legitim, inwiefern Drehbücher und Manier zu dessen unveränderlicher natürlicher We- während der 1990er-Jahre mehr als die Hälfte der Themen von ihren Autoren nicht doch von vornher- sensart erklärt werden. Dies geschieht jedoch nicht Produktionen mit ausländischen Zuschüssen. Auch ein mit einem Blick auf die Förderung und den euro- nur durch den negativen Vorgang der Dämonisie- der algerische Film, der wegen den politischen Zu- päischen Zuschauer (und Redakteur) geschrieben, rung, sondern auch durch die auf den ersten Blick ständen im Lande Anfang der 1990er-Jahre völlig entwickelt und von den Förderstellen dementspre- positiv erscheinenden Strategien der Verklärung, zum Erliegen kam, wurde seitdem fast ausschließlich chend ausgewählt werden. Exotisierung und Fetischisierung. Letzteres lässt durch europäische Gelder finanziert. Nur seit der sich, wie man am Beispiel von Halfaouine sieht, auch Jahrtausendwende zeichnet sich dort langsam eine durchaus in arabisch-europäischen Koproduktionen Wende ab; u. a. mit al-Manara (2004) von Belkacem THEMEN BESTIMMEN DIE finden. Hajaj, der vom algerischen Fernsehen und von priva- WESTLICHE SICHT Abgesehen von orientalistischer Exotisierung gehört ten Sponsoren finanziert wurde. die Gleichsetzung von Arabern und Islam zu den am In der Tat wird man zumindest an einer Reihe der ge- weitesten verbreiteten Stereotypisierungen. Diese förderten und später in Europa erfolgreichen nord- Gleichsetzung sitzt einem entscheidenden Irrtum FÜHREN KOPRODUKTIONEN ZU afrikanischen sowie anderen arabischen Werken ei- auf, missachtet sie doch die Tatsache, dass die VERBESSERUNGEN? ne thematische Orientierung feststellen können, die arabische Welt mehrere Millionen Christen, Hun- sich mit vier hauptsächlichen Themenkreisen bzw. derttausende von Juden, mehrere nicht-arabische Koproduktion führte (abgesehen von Ägypten, das ja Diskursen deckt, die das Bild der Region aus west- Sprachgruppen, wie Kurden, Nubier und Amaziah schon gefestigte filmindustrielle Strukturen besaß,) licher Sicht bestimmt: (1.) Benachteiligung der Frau- (Berber) umfasst, und die Mehrzahl aller Muslime in nicht zwangsläufig zur Verbesserung einheimischer en, (2.) fanatischer Islam, (3.) die Palästinafrage und Asien und nicht in der arabischen Welt leben. Wie Ed- Infrastrukturen, da europäische Produzenten sowie bis zu einem gewissen Grad (4.) soziale und politi- ward Said zu Recht beklagte, bildet aber gerade der Förderungen (vor allem in Frankreich) es meist zur sche Ungerechtigkeit. Dies lässt sich an den Themen Islam das Haupt-Objektiv, durch das nicht nur die Bedingung machen, dass ein Großteil des Geldes im der wichtigsten geförderten Werke aus den 1990er- Orientalisten, sondern vor allem auch Journalisten Lande verbleibt und der arabische Produzent des- Jahren ablesen. Dazu zählen u. a. Youry Nasrallahs und Politiker die Region betrachten. Er gilt als die wegen nicht nur die Postproduktion im Geldgeber- Dokumentarfilm Apropos Jungen, Mädchen und der Mutter aller Erklärungen für so ziemlich alle Phäno- land durchführen muss, sondern auch verschiedene Schleier/sibyan wa banat (1995) zu Geschlechterrol- mene, soziale wie politische, und zwar ohne Berück- Funktionen (Kamera, Ton etc.) mit europäischen len und Verschleierung in Ägypten sowie Das Tor zur sichtigung von kulturellen und politischen Wechsel- Technikern besetzen muss. Dies gilt z.B. für das CNC. Sonne/bab al-shams (2004), der Romanverfilmung wirkungen. So wird gemäß Said Aggression darge- Beim französischen Ministerium für Kooperation des palästinensischen Autors Elias Khoury. Dann wä- stellt, als ob sie dem Islam entspränge, weil der Islam bestand die finanzielle Hilfe für gewöhnlich aus dem re außerdem Atef Hatatas Spielfilm Verschlossene eben so ist. Konkrete Umstände vor Ort werden ver-

133 VIOLA SHAFIK

wischt. In anderen Worten: Berichterstattung über DER IRANISCHE FILM „AT FIVE IN THE AFTERNOON“ den Islam ist eine einseitige Tätigkeit, die verbirgt, BELEUCHTET DAS LEBEN DER EMANZIPIERTEN UND was der Westen „tut“ und stattdessen hervorhebt, EHRGEIZIGEN JUNGEN FRAU NOQREH, DIE NACH DEM wie Muslime und Araber auf Grund ihrer sehr fehler- ENDE DES TALIBAN-REGIMES VON EINEM NEUEN, haften Natur „sind’’. FREIEN AFGHANISTAN TRÄUMT, WIE BENAZIR BHUTTO IN PAKISTAN STAATSPRÄSIDENTIN WERDEN UND DIE SITUATION DER FRAUEN IN AFGHANISTAN VERBESSERN STEREOTYPEN SPEISEN SICH AUS WILL. GLEICHWOHL SCHAFFT AUCH DIESER FILM MIT KOLONIALISTISCHEN PERSPEKTIVEN EXOTISCHEN ELEMENTEN. picture alliance / dpa

Dasselbe gilt für den Themenkomplex der weiblichen Gleichstellung. Auch dieses Thema ist mit orientalis- tischen Diskursen verbunden und speist sich aus der frühen kolonialistischen Kritik an der so genannten muslimischen Gesellschaft. So schreibt Leila Ahmed in ihrem Buch über Geschlecht und Islam, dass die genheit und Gegenwart in einen Topf werfen, wird Unterdrückung, die man in der Abschirmung und auch an den folgenden Kommentaren zum tunesi- Verschleierung muslimischer Frauen sah, sich zum schen Film Die Stille der Paläste deutlich. Im Guardi- „Herzstück der westlichen Erzählung“ vom Islam im an Film Review heißt es dazu: “Though clearly a po- 19. Jahrhundert entwickelte, die man dergestalt in litical statement, Tlatli's subtle film never loses its ca- eine Art „kolonialer Feminismus“ modellierte (vgl. pacity to tell its quietly moving story in a way which Ahmed 1992). Die Kritik an der islamischen Gesell- illustrates, with seemingly great accuracy, the world schaft entsprang aber nicht selten einer imperialis- that even now traps so many Arab women.” Die un- tisch motivierten Doppelmoral. So äußerte Lord Cro- veränderliche Ausbeutung der Frauen also, unge- mer, der langjährige britische Statthalter Ägyptens, achtet der Tatsache, dass der Film von den Bewoh- beispielsweise scharfe Kritik an der Frauenfeindlich- nern eines reichen Palastes kurz vor der Unabhän- keit des Islam, gründete aber gleichzeitig zuhause ei- gigkeit Tunesiens Anfang der 1950er-Jahres handelt nen Verein zur Bekämpfung britischer Suffragetten. und die sexuelle und emotionale Ausbeutung der Insbesondere der Schleier hinter dem die Frauen „le- weiblichen Bediensteten durch ihre konservativen, bendig begraben“ schienen, wurde als sichtbares Frankreich treu ergebenen, reichen Bewohner zeigt, Zeichen von Rückständigkeit und unzivilisiertem d.h. in einem sehr speziellen Moment tunesischer Verhalten angeprangert (und deswegen auch von Geschichte stattfindet, steht hier der essentialisti- einheimischen Modernisten bekämpft). Missionare sche Ansatz im Mittelpunkt der Rezeption. und Anthropologen beschrieben die muslimische So zieht die Kritik als erstes die Vergangenheit zur Ehe als auf Trieben und nicht auf Liebe basierend, Betrachtung der Gegenwart heran. Dabei wird, wie wodurch Frauen eher die Position einer „Gefangenen die Kritik zeigt, der Kolonialismus übersehen, der in und Sklavin denn als Gefährtin und Helferin“ ein- dem Film als ein durchaus wesentliches Moment der nähmen. weiblichen Unterdrückung verstanden wird. Unter- Wie sehr diese Diskurse auch noch in heutige Be- schätzt wird auch der Faktor Filmkonvention, und so trachtungen hineinspielen, wie stark „orientalisti- wird das Werk als „realistisch“ akkurat gelesen, ob- sche“ Vorstellungen vorherrschen, und wie sehr ihre wohl es zahlreiche publikumswirksame Anleihen Vertreter unbedacht die soziale Tradition und die beim Frauenfilm, dem Melodram und Musikfilm Lehren des Islam auf der einen Seite sowie Vergan- macht und deren Elemente klug mit einer antikolo- nialen und feministischen Orientierung mischt. Fouladkar. Der Film entstand als unabhängiges Vi- Doch dies hindert auch die kanadische Studenten- deoprojekt und erzählt den Leidensweg einer kinder- zeitung der Simon Fraser University nicht, den Film losen jungen Ehefrau aus den unteren Schichten (bei vor allem als Islamkritik und nicht als allegorische, dem Islamisierung eigentlich eine völlig untergeord- postkoloniale Erzählung mit starken Anleihen beim nete Rolle spielt). Aufgrund seines Themas fand der populären Film zu betrachten: „The palace itself, Film auf europäischen Festivals eine gute Resonanz. UNSER AUTOR which can also be seen as the oppressive traditions Er erhielt den englischen und französischen Titel of Islam, is a prison for these women.“ Islam ist in When Mariam Unveiled bzw. Quand Mariam s’est Dr. Viola Shafik, diesem Film allerdings kein Thema, keine einzige Frau dévoilée (Als sich Mariam entschleierte). 1961 in Deutsch- trägt einen Schleier und es wird nie gebetet! Diese In der Tat zeigt die nähere Untersuchung des Ver- land geboren, ist selektive und ideologisch gefärbte Leseweise ist kein triebs arabischer Filme in Europa und insbesondere freischaffende Fil- Novum, sie deckt sich mit den Ergebnissen verschie- in Deutschland die ganze Problematik der selektiven memacherin und dener Rezeptionstheorien, die dem Zuschauer eine Rezeption. Der Versuch, arabische Filme in Deutsch- Filmwissenschaft- aktive Rolle bei der Produktion des Inhalts vor dem land zu vertreiben, war meist eine Angelegenheit al- lerin. Sie studierte Hintergrund seiner sozialen Position. (Alter, Ge- ternativer Einrichtungen. Cineterz beispielsweise Kunst in Stuttgart, schlecht, Klasse, Ethnie, Religion etc.) zuschreibt. hat während der 1970er- und 1980er-Jahre ver- Germanistik, Film- sucht, so genannte Dritte-Welt-Filme anzubieten, u. wissenschaft und a. auch Taufiq Salih’s Die Betrogenen/al-makhdu`un Islamwissenschaft SELEKTIVE REZEPTION VERHINDERT (1973) zur Palästinafrage. Die Arbeit dieser Einrich- in Hamburg und DIFFERENZIERTES BILD tung bewegte sich in einem klar abgesteckten, poli- unterrichtete bis 2005 Cinema Studies an tisch alternativen Rahmen und ihre Arbeit war eher der AUC, der American University in Kairo. Dieser Umstand erschwert die Verbreitung eines dif- auf den nicht-kommerziellen Bereich hin orientiert. Zwischen 1987 und 2004 arbeitete sie als ferenzierten Bildes der Region und die Akzeptanz Erst in letzter Zeit haben eine Reihe kommerzieller Filmkuratorin für verschiedene internationa- von Filmen, die keine der genannten Reizthemen Anbieter ein gutes halbes Dutzend nahöstlicher Fil- le Festivals, deutsche Kinematheken und das vorstellen, und macht mit Sicherheit auch manche me in ihr Repertoire aufgenommen und zwar solche, Goethe-Institut in Alexandria. Sie veröffent- Bemühung engagierter Förderer und Redakteure zu- die in irgendeiner Weise für Furore gesorgt haben lichte Bücher, zahlreiche Artikel und Studien nichte. Dass arabische Filmemacher sich der vorein- oder deren Namen bekannt sind, d.h. vor allem Gött- über den arabischen Film. Außerdem führte genommenen Rezeption durchaus bewusst sind, liche Interventionen von Elia Souleiman, vertrieben sie Regie bei einer Reihe von Kurz- und Do- zeigt das Beispiel des libanesischen Films Als Mari- von Alamode, und einige wenige Werke von Youssef kumentarfilmen. am erzählte/lamma hikyat Mariam (2002) von Assad Chahine und Yousry Nasrallah (Koll Film). Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen

Erfahrung gemacht, dass Leute ihr Bild von der Re- gion bestätigt haben möchten, aber an keinen ge- wöhnlichen Geschichten interessiert sind, die die Fil- memacherinnen und Filmemacher aus der arabi- schen Welt selbst gerne erzählen würden, weil sie für sie wichtig sind: „Die Leute sagen mir, dann können sie gleich einen spanischen Film angucken. Sicher, das fände ich toll, wenn die Leute eine syrische Dreiecks-Geschichte genauso selbstverständlich anschauen würden, wie eine französische Dreiecks- Geschichte.“ (Briefwechsel mit der Verfasserin, Nov. 2004). Bei dem palästinensischen Spielfilm Ranas Hoch- zeit/al-Quds fi yaumin akhar (2003) von Hani Abu Asaad vertraten deutsche Zuschauer nach dessen Aufführung die Meinung, der Film sei unrealistisch, weil alle arabische Frauen verschleiert und unter- drückt seien und dieser Film eine unverschleierte, selbstbestimmte Heldin zeige. Darüber hinaus be- richtet Irit Neidhardt, dass Zuschauer auch eher Do- kumentarfilme vom Nahostkonflikt erwarten, in denen Bilder zu sehen sind, die ihnen aus den Nach- richten vertraut sind, d.h. Schießereien, Steine wer- fende Jugendliche, weinende Mütter. Andere Frage- stellungen hingegen, wie das Problem der Langewei- le unter israelischen Palästinensern, das Tawfik Abu Wael beispielsweise in seinem Waiting for Saladin eindrücklich darstellt, sprechen sie weniger an. An meinen letzten Ausführungen zeigt sich – wie ich hoffe – deutlich, dass Produktion und Vertrieb ara- bischer Filme in Europa nicht nur eine Sache von gu- tem Willen und Finanzierung sind, sondern eine Fra- ge der Medienrezeption, der kulturellen Orientie- rung und der Politik im Allgemeinen. Die Problema- tik lässt sich etwas zugespitzt ausdrücken: Europa fördert zwar die Darstellung der arabischen Welt, läuft jedoch dabei Gefahr, das eigene Bild vom so ge- nannten fremden Orient zu reproduzieren, statt die wirklichen, nicht nur fremden, sondern teils auch stark verwandten südlichen Mittelmeeranrainer zu erleben und ihnen eigene Entwicklungs- und Aus- drucksmöglichkeiten zu verschaffen.

IRANISCHE FILME ÜBERFLÜGELN hardts MEC-Film (Middle Eastern Cinemas). Immer- ARABISCHE hin ist Neidhardt bemüht, einen anderen als den in den Mainstream-Medien üblichen Blickwinkel auf Auf europaweiter Ebene werden die arabischen Fil- den Nahostkonflikt und die regionalen Verhältnisse LITERATUR me allerdings weit von den iranischen überflügelt. zu werfen. Sie vertreibt einige Kurzfilme der palästi- Ahmed, Leila: Women and Gender in Islam. Yale Univer- Gemäß Claude Eric Poiraux, Leiter der Initiative Eu- nensischen Filmemacher Sobhi Zubaidi and Tawfik sity Press, New Haven 2004 ropa Cinéma, wurden 2004 auf dem europäischen Abu Wael, die sich nicht nur in Deutschland, sondern Boughédir, Férid: Film im Maghreb. Ein Versuchslabor des „neuen arabischen Films“. In: Filmmuseum Frankfurt Markt 72 Prozent amerikanische, ca. 25 Prozent eu- auch in anderen europäischen Ländern auf Festivals (Hrsg.): Panorama des arabischen Films 1954-2004. ropäische und mit 2,5 Prozent Filme aus anderen einen Namen gemacht haben. Darüber hinaus ent- Frankfurt am Main 2004, S. 42-46. Ländern vertrieben. Bei den erfolgreichsten 20 Titeln hält ihre Liste auch alternative israelische Werke. Ih- Diawara, Manthia: African Cinema. Politics and Culture. Indiana University Press, Bloomington 1992 nicht-westlicher Provenienz befanden sich an erster re Hauptabnehmer sind nicht-kommerzielle Einrich- Engelhardt, Marc: In der Midlife-Crisis. Nachrichten aus Stelle elf iranische Titel, die meisten gedreht von der tungen und Festivals, welche im Begriff sind Arthou- Ouagadougou – Das afrikanische Kino heute. In: epd- Makhmalbaf-Familie, (die in ihren letzten Filmen se-Kinos zu ersetzen und daher auch Leihgebühren Film, Heft 5/2005, S. 14-15. Hall, Stuart: Representation. Cultural Representations über Afghanistan Kandahar und Five in the After- bezahlen müssen. Sich nicht nur als alternativer, and Signifying Practices. Sage Publications, London 1997 noon ja bereits sehr stark exotisierende Elemente sondern auch als „kommerziellen“ Verleiher einen Poiraux, Claude Eric: Cairo International Film Festival. aufweisen), gefolgt von Elia Souleiman mit Göttliche Namen zu machen, ist für MEC-Film sehr schwierig. Round Table on Film Distribution between Europe and Interventionen (Palästinafrage), Chahines Das Trotzdem hat sich der Verleih seit 2003 das Ziel ge- the Arab World. (Unveröffentlichter Bericht, 2.12.2004) Said, Edward: Covering Islam. Vintage Book, New York Schicksal/al-masir (interreligiöse Toleranz), sowie setzt, jährlich entweder einen israelischen oder ara- 1997 den tunesischen Filmen Ein Sommer in La Goulette bischen Spielfilm ins Kino zu bringen. Spaas, Lieve: The Francophone Film. A Struggle for Iden- und Zeit der Frauen, Zeit der Männer (Frauenfrage). tity. Manchester University Press, Manchester 2000

PUBLIKUMSERWARTUNGEN ALS FILME MIT EINEM ANDEREN HAUPTHINDERNIS BLICKWINKEL Zu den Haupthindernissen für MEC-Film zählt nicht ANMERKUNGEN Abgesehen vom iranischen Film hat momentan auch nur der harte Konkurrenzkampf, sich in Deutschland 1 Als Khleifis poetischer Film Das Lied der Steine 1990 der palästinensische Film den leichtesten Stand – vor unter den 200 Werken, die in der ersten Hälfte des bei der Eröffnung der Unabhängigen Augsburger Film- allem jener, der direkt vom Nahost-Konflikt handelt. Jahres 2004 in die Kinos drängten, zu behaupten, tage gezeigt wurde, empörte sich der amerikanische Alt- meister des direct cinema, Richard Leacock, lautstark über Ein Verleih, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, u. sondern vor allem die festgefahrenen Erwartungen den Film und bezeichnete ihn als „Propaganda“. a. auch Filme aus Palästina zu vertreiben, ist Irit Neid- des Publikums zu beseitigen. Neidhardt hat hier die

135 Buchbesprechungen

Das politische Porträt troverse über die Südweststaatsfrage, bevor er Das letzte Kapitel des Buches über die Nach- eines Landkreises die ebenfalls unter schmerzhaften Geburtswe- kriegsentwicklung ist mit Abstand zugleich das hen erfolgte Gründung des heutigen Landkrei- längste. Ausgehend von der Neugründung der KARL HEINZ NESER: ses beschreibt. Er wurde im Zuge der Kreisre- politischen Parteien nach 1945 beschreibt Ne- form von 1973 aus den seit 1939 bestehenden ser sodann die Weiterentwicklung des Partei- Politisches Leben im Neckar-Odenwald- Altkreisen Buchen und Mosbach gebildet. enspektrums bis in die Gegenwart. Umfassend Kreis – gestern und heute. Die Folgekapitel rücken die politische Geschich- werden als wichtiger kommunalpolitischer te in den Mittelpunkt. Den Auftakt bildet ein his- Faktor auch die Freien Wähler einbezogen. Der verlag regionalkultur, torischer Längsschnitt über die Entwicklung der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Or- Heidelberg, Ubstadt-Weiher, Basel 2005 regionalen Presselandschaft. Die Anfänge des ganisations- und Mitgliederentwicklung der 128 Seiten. 11,90 Euro Zeitungswesens im Vormärz, die Zeit der Revo- Parteien sowie der Würdigung der politischen Es ist kein Zufall, wenn in einer Zeit wachsender lution und der Restauration, die Gründung wei- Akteure. Ein weiteres Teilkapitel hat die Wahlen internationaler Verflechtungen die Region seit terer Lokalzeitungen im Kaiserreich und der auf den Ebenen der Gemeinden, des Landkrei- längerem eine Renaissance erfährt. Das Bedürf- Weimarer Republik kommen ebenso in den Blick ses, des Landtags, des Bundestags und zum Eu- nis nach regionaler Beheimatung und lokaler wie die Veränderungen vor und nach 1945. An ropäischen Parlament zum Gegenstand. Die Identität nimmt zu, ein Trend, der sich auch in das Thema Presse schließt sich eine Dokumen- Darstellung konzentriert sich auf die systema- den Auflageziffern der Verlage widerspiegelt. tation der regionalen Abläufe der Revolution tische Dokumentation von Stimmenanteilen, Doch profitieren von diesem Identifikationsbe- von 1848/49 an. Untersucht wird etwa die Be- Mandatsverteilungen unter den Fraktionen so- dürfnis auch die Landkreise oder bildet sich re- deutung der Agrarunruhen im badischen Fran- wie die namentliche Auflistung von Mandats- gionales Bewusstsein doch eher über die Ge- kenland, die jedoch weniger politischer als viel- trägern. Der Leser erhält jedoch auch Infor- meinde, die Stadt oder die historisch gewachse- mehr sozialer Natur waren. Politischer ging es mationen über die Gründe von Wählerwande- ne Region? Vor allem auch deshalb, weil der dagegen in den bürgerlich geprägten Amts- rungen, den Wandel der Wählermotive und die Landkreis von den Bürgern eher als Verwal- städten zu, wo das revolutionäre Gedankengut abnehmende Bedeutung traditioneller Hoch- tungseinheit wahrgenommen wird und der ter- reichlich Nährboden fand. Der Zulauf in den burgen. Abgerundet wird das Buch schließlich ritoriale Zuschnitt der heutigen Kreise erst vor Volksvereinen, einer Vorform der politischen durch eine Reihe politischer Porträts, in denen gut 30 Jahren erfolgte, wobei ja primär Ge- Parteien, war außerordentlich groß. Im Gebiet sowohl bedeutende Nachkriegspersönlichkei- sichtspunkte der Effizienz den Ausschlag gaben. des heutigen Landkreises gab es immerhin in 47 ten als auch die einzelnen Landräte des Kreises Wie es dennoch überzeugend gelingen kann, von 118 Ortschaften solche „Bürgerinitiativen“. vorgestellt werden. identitätsstiftende Potenziale in der Raum- Sehr gut besucht waren auch die Volksver- Dem Buch ist insgesamt eine breite Leserschaft schaft Landkreis aufzuspüren und herauszuar- sammlungen, im Mai 1849 zählte man in Bu- in der Region zu wünschen. Vor allem im Be- beiten wurde nun für den Neckar-Odenwald- chen 10.000 Menschen. Nach dem Scheitern reich der Landeskunde und der politischen Bil- Kreis exemplarisch dokumentiert. Verfasser des der Revolution wurden über 70 Revolutionäre dungsarbeit stellt es eine bedeutende Pionier- im verlag regionalkultur erschienenen Buches aus der Region abgeurteilt, darunter auch leistung dar, von der zu wünschen ist, dass sie ist Karl Heinz Neser, der als langjähriger Kom- Friedrich Heuß, der Uronkel des ersten Bundes- auch auf andere Landkreise ansteckend wirkt. munal- und Kreispolitiker in der Region fest präsidenten. Ihm, der als „Neckar-Napoleon“ Gerd F. Hepp verwurzelt ist. Die ausgesprochen lesefreund- sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben lich gestaltete Publikation hat die historisch- hat, ist ein umfangreiches Porträt gewidmet. politische Entwicklung im Gebiet des heutigen Ein längerer Abschnitt befasst sich mit der po- Hommage auf Kurt Gerhard Fischer Neckar-Odenwald-Kreises in den letzten 150 litischen Entwicklung im Kaiserreich, wobei der Jahren zum Gegenstand. Sie ist die Summe Kulturkampf, der in der überwiegend katho- DIETRICH ZITZLAFF (UNTER MITARBEIT zahlreicher Einzelveröffentlichungen, die der lisch geprägten Region mit besonderer Heftig- VON JÜRGEN WALTHER): Autor seit längerem zu verschiedenen histori- keit geführt wurde, im Vordergrund steht. Ne- schen und politischen Fragestellungen im wei- ser schildert die politische Mobilisierung des „Es wäre ein Schaden für uns, wenn wir ten Feld der Landeskunde vorgelegt hat. Die Katholizismus, der sich in Vereinen und ihn vergäßen“ – Kurt Gerhard Fischer Darstellung beruht auf gründlichen Archivstu- schließlich im Zentrum parteipolitisch organi- (5. Januar 1928 bis 1. Dezember 2001). dien, bietet eine Fülle an Bildmaterial, Grafiken, sierte und bei den Reichtagswahlen mit mehr Materialien und Dokumentationen der Dokumenten sowie kartographischen und ta- als der Hälfte der Wählerstimmen zur politisch Studiengesellschaft für Sozialwissenschaften bellarischen Übersichten. Sie enthält in den bestimmenden Kraft wurde. Bedeutendster und Politische Bildung. Heft 1. Hamburg meisten Kapiteln auch biografische Porträts Repräsentant des Zentrums im ersten Reichs- 2004, 96 Seiten. bedeutender regionaler Persönlichkeiten, was tag war der Mainzer Bischof von Ketteler, der (Bezug: Studiengesellschaft für Sozialwissen- dem Buch auch eine menschliche Komponen- 1871 den im heutigen Kreisgebiet liegenden schaften und Politische Bildung, Jörn-Uhl- te beimischt. Erwähnt sei auch, dass ein sorg- Wahlkreis 14 eroberte. Seine Persönlichkeit Weg 15, 22587 Hamburg) fältig aufbereiteter Orts- und Personenindex wird in einem ausführlichen Porträt gewürdigt. dem eiligen Leser rasche Orientierung bietet. Nach einer knapp gehaltenen Erörterung des „Stoffbewältigung, Gewinnung und Verarbei- Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert, wobei regionalen Geschehens während der Revolu- tung von Einsichten sind beherrscht von der das Gebiet des heutigen Landkreises das raum- tion von 1918/19 und der Weimarer Republik ständigen Unruhe, dass Freiheit und da- schaftliche Suchraster bildet, das der Bearbei- folgt eine relativ breite Darstellung der Ereig- mit menschlich-menschenwürdiges Dasein im tung durchgängig zugrunde liegt. Einleitend nisse im Dritten Reich. Organisationsgrad, Mit- 20. Jahrhundert auf eine eigenartige, einmalige kommen zunächst die Veränderungen in den gliederzahlen und Wahlerfolge der NSDAP ha- Weise bedroht sind.“ – aus eben diesem Satz Blick, die die territoriale Zugehörigkeit der Re- ben sich im Kreisgebiet insgesamt nur sehr zö- liest Walter Gagel in seiner „Geschichte der gion über die Jahrhunderte bestimmt haben. gerlich nach oben entwickelt. Dies gilt vor al- politischen Bildung in der Bundesrepublik Der Bogen spannt sich von den Feudalstruktu- lem für die katholisch geprägten Ortschaften Deutschland 1945 -1989“ (Opladen 1994) Kurt ren des Alten Reichs über die 1806 einsetzen- des Bezirkes Buchen, während in den protes- Gerhard Fischers Grunderfahrung heraus. Fi- de badische Ära bis hin zur territorialen Neu- tantisch geprägten Bezirken Adelsheim und scher erlebte zwei totalitäre Systeme: in seiner ordnung im Südwesten nach 1945, bevor die Mosbach die Nationalsozialisten früher und Jugend den Nationalsozialismus und als junger Kreisreform von 1973 den Schlusspunkt setz- stärker Fuß fassen konnten. Nach der Machter- Student in Leipzig den Kommunismus in der so- te. Allerdings geht es dabei nicht nur um neue greifung regte sich im Kreisgebiet insgesamt wjetischen Besatzungszone. Diese Erfahrung Grenzziehungen, sondern auch um genuin Po- jedoch in allen Lagern nur noch verhaltener formte die Einsicht, dass politische Bildung auf litisches: Neser berichtet über „Badisch Sibi- Widerstand gegen die Gleichschaltung. Eine die Übernahme eines demokratischen Werte- rien“ im Großherzogtum wie auch über die so- Ausnahme bildeten manche Gemeinderäte und systems abzuzielen habe. Die prägende Wirkung ziale Notstandssituation der Region nach dem insbesondere viele katholische Geistliche, die Fischers auf die noch junge Disziplin der Politik- Zweiten Weltkrieg. Viel Raum widmet der Au- trotz intensiver Überwachung den Mut zur öf- didaktik setzte mit dem von ihm und zwei wei- tor auch der leidenschaftlich geführten Kon- fentlichen Kritik aufbrachten. teren Autoren verfassten Buch „Der politische

136 BUCHBESPRECHUNGEN

Unterricht“ (1. Auflage 1960) ein. Dieser ersten wegbereitenden und großen Didaktikern der mit Querverweisen und vor allem mit überaus wissenschaftlichen Konzeption einer Didaktik politischen Bildung. Anstatt sich also „didak- lesenswerten Kommentaren versehen. Ab- des Politikunterrichts, die entscheidend zur so tischen Aufgeregtheiten“ hinzugeben und gerundet wird die Dokumentation, die einem genannten „didaktischen Wende“ und zur Kon- scheinbare Neuanfänge zu propagieren, „kleinen Meisterwerk“ (Siegfried George) stituierung einer eigenständigen Fachdidaktik spricht Gotthard Breit unlängst in einer Re- gleichkommt und eine unverzichtbare Orien- beitrug, folgte der inzwischen als Klassiker gel- zension der oben genannten Schrift die Emp- tierungshilfe darstellt, durch Nachrufe, ein tende Sammelband „Zum aktuellen Stand der fehlung aus: „Seine [Kurt Gerhard Fischers] umfangreiches Personen- und akribisch erar- Theorie und Didaktik der Politischen Bildung“ Schriften zu lesen ist heute für Didaktikerin- beitetes Sachregister. Dietrich Zitzlaff erbringt (1. Auflage 1975). So hat insbesondere das von nen und Didaktiker ebenso von Nutzen wie für mit dieser Zusammenschau einmal mehr den Fischer formulierte „Konzept der Einsichten“ Politiklehrer und -lehrerinnen.“ Nachweis, dass sich Kurt Gerhard Fischer bei- noch bis heute Relevanz. Spricht doch aus die- Das immense Schaffen und vor allem die Viel- leibe in keine Schublade stecken ließ. Fischer, sem Konzept das gesunde Misstrauen gegen falt der „im besten Wortsinne schillernden der sich selbst als „Sch…liberaler“ bezeichnete, jede Form der technokratischen Vermittlung Persönlichkeit“ (Wolfgang Sander) Fischers ging keinem sachlich ausgetragenen Streit von (und in standardisierten Evaluationen ab- belegt eindrucksvoll die von Sachverstand ge- aus dem Weg und – obwohl von der Tageszei- rufbarem bzw. abprüfbarem) Wissen. tragene und mit der bekannten Sorgfalt er- tung mit den großen Buchstaben in die „linke Kurt Gerhard Fischer verstarb 2001 in Italien, stellte Bibliographie von Dietrich Zitzlaff (un- Ecke“ gestellt – bezog auch gegen „das linke wo er seit seinem Ruhestand lebte und die ter Mitarbeit von Jürgen Walther). Diejenigen, Milieu in der politischen Bildung“ (Wolfgang dortige Lebensart genoss. Dass sich italieni- die Dietrich Zitzlaff kennen und schätzen, wis- Sander) eindeutig Position. Die Vielseitigkeit sches Dolce Vita, das seit den Zeiten der so ge- sen um seine großen Verdienste und vor allem von Fischers Wirken zeigt sich nicht zuletzt in nannten „Toskana-Fraktion“ leider etwas in um seine pflichtbewussten Recherchearbeiten der Umschreibung von Dietrich Zitzlaff, der Verruf geriet, und „preußischer Arbeitsstil“ im Feld politikwissenschaftlicher und fachdi- ihn als „Historiker der Pädagogik, Erwach- (Wolfgang Sander) nicht widersprechen müs- daktischer Literatur. Dietrich Zitzlaff hat Fi- senenbildner, Berufs- und Hochschullehrer, sen, belegt das umfangreiche literarische und schers Aufsätze, Schriften und Publikationen, Literat, Experte der Politischen Bildung“ cha- wissenschaftliche Werk von Kurt Gerhard Fi- beginnend mit dem Jahr 1952 bis ins Jahr rakterisiert. scher. Fischer gehört zweifelsohne zu den 1999 reichend, liebevoll zusammengestellt, Siegfried Frech

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