DER BÜRGER IM STAAT
56.Jahrgang Heft 2 2006
Die arabische Welt und der Westen Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT
Redaktion: Siegfried Frech Redaktionsassistenz: Barbara Bollinger Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Fax (0711) 164099-77 [email protected] 56. Jahrgang Heft 2 2006 [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Die arabische Welt und der Westen
Prinz El Hassan bin Talal Manar Omar Brücken und Wege zu Dialog und Zur deutschsprachigen Literatur Verständigung 84 arabischstämmiger Schriftsteller 122
Hans Küng Viola Shafik Der Westen und der Islam 86 Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen 131 Stefan Schreiner Zwischen den Welten – Buchbesprechungen 136 Zur Geschichte der Juden in der arabischen-islamischen Welt 94
Karl-Josef Kuschel Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 3,35–51; 19,1–36) 102
Renate Kreile Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien 110
Nasser El Ansary Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut Einzelbestellungen und Abonnements bei der du Monde Arabe 116 Landeszentrale (bitte schriftlich) Impressum: Seite 93 Sebastian Körber Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Vorreiter im Kulturdialog – das mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Institut für Auslandsbeziehungen 120 Kunden-Nr. an. Die arabische Welt und der Westen
BRÜCKEN UND WEGE ZU EINEM DIALOG ERFORDERN GEGENSEITIGEN RESPEKT UND SETZEN EINBLICKE IN DIE KULTUR DER ARABISCHEN WELT VORAUS. picture alliance / dpa
81 Die arabische Welt und der Westen
Über die Vielfalt der Kulturen wird seit geraumer Gerade dieses Ansinnen ist das verbindende Mo- Zeit ernsthaft nachgedacht und diskutiert. Eu- ment der Beiträge in diesem Heft der Zeitschrift ropa besinnt sich auf sein abendländisch- „Der Bürger im Staat“. Die beiden einleitenden christliches Erbe und die arabische Welt streitet Beiträge stellen eine politisch interessante Hy- mit sich und mit anderen über ein angemessenes pothese zur Diskussion: Wenn der Westen nicht Verständnis islamisch geprägter Werte. So for- hilflos zusehen will, wie in den arabischen Staa- dert der Westen von der arabisch-islamischen ten unter dem Druck der Globalisierungsprozes- Welt den Anschluss an die Moderne, die Etablie- se islamistische Fundamentalisten an Macht und rung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Einfluss gewinnen, muss er in einen aktiven Dia- und die Achtung der Menschenrechte. Der Islam log mit der arabischen Welt treten. Dies heißt hingegen nimmt eine Verteidigungshaltung ein, freilich auch, dass islamische Länder, die für eine muss stets sein Verhältnis zum Westen sowie demokratische Reform ihrer Staatensysteme die das Verständnis seiner Religion und kulturellen Hilfe des Westens benötigen, zu Zugeständnis- Identität definieren. Unter dem Eindruck ak- sen bereit sind, abwehrende und fordernde Posi- tueller Ereignisse wächst die Neigung, Konflikt- tionen zurückstellen und den Dialog ernsthaft konstellationen als Bedrohungsszenario zu be- aufzunehmen bereit sind (vgl. die Beiträge von werten. Der Begriff „Kulturkampf“ findet immer Prinz El Hassan bin Talal und Hans Küng). häufiger Verwendung. Bei genauerem Hinsehen Gegenwärtig steht die internationale Staaten- zeigt sich jedoch, dass in dieser Debatte ein Un- gemeinschaft vor der entscheidenden Frage, wie gleichgewicht der Kräfte zutage tritt. Die Dis- sich die Beziehungen zwischen den drei großen kussion über die Unterschiedlichkeit der Kultu- Religionen Judentum, Christentum und Islam ren ist nicht frei von dem Anspruch, die Defini- in Zukunft gestalten werden. Die Optionen sind tionsmacht über Werte, Weltbilder und die nur allzu deutlich geworden: Entweder Rivali- „richtigen“ Lebensweisen zu besitzen. Und hin- tät und Zusammenprall oder friedfertiger Dia- gewiesen sei auch auf die Tatsache, dass es log zwischen den Religionen und Kulturen. Alle den Islam als monolithischen Block in der poli- drei Religionen bewegen sich in einem steten tischen Wirklichkeit gar nicht gibt. Immerhin Spannungsfeld zwischen Bewahrung und In- meint man damit mehr als 1,2 Milliarden Men- fragestellung und haben in der Vergangenheit schen, von denen eben nicht die Mehrheit im stets Antworten auf neue historische Herausfor- Mittleren und Nahen Osten, sondern in Süd- und derungen gefunden. Extrempositionen können Südostasien lebt. dann vermieden und überbrückt werden, wenn Brücken und Wege zu einem Dialog der Kulturen eine Besinnung auf die wahre Substanz, auf den sind also gefragter denn je. Angesichts zahlrei- Kern der jeweiligen Religion erfolgt (vgl. den Bei- cher und in naher Zukunft nicht zu lösender Kon- trag von Hans Küng). flikte in der arabischen Region mutet dieser Ge- Die alleinige Konzentration auf die Gegenwart danke zunächst vielleicht naiv an. Gleichwohl verstellt den Blick auf die Vergangenheit, in der kann Dialogen die Möglichkeit der Konfliktregu- die friedliche Koexistenz von Religionen und Kul- lierung zugesprochen werden, wenn drei Grund- turen zu kreativen Symbiosen und gegenseitiger sätze Beachtung finden: (1.) Jeder ernst gemein- Bereicherung führte. Gerade die Geschichte der te Dialog erkennt das Gegenüber als gleichwerti- jüdisch-arabischen Beziehungen zeigt, dass die gen Partner an. (2.) Tritt man in einen Dialog mit Mehrheit der Juden in der islamischen Welt über anderen Kulturen ein, öffnet sich der eigene Ho- viele Jahrhunderte hinweg an der kulturellen, rizont, das Wissen um die andere Kultur verän- wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entfal- dert sich und führt zu einem perspektivenreiche- tung dieser Region ihren Anteil hatte. Juden und ren Blick auf die „eigene“ und auf die „fremde“ Muslime lebten im Laufe ihrer gemeinsamen Kultur. (3.) Erst diese gegenseitige und von Res- Geschichte weithin in Frieden miteinander und pekt getragene Kenntnis ermöglicht die Besin- schufen kulturelle und wissenschaftliche Quel- nung auf einen beiderseitig zu akzeptierenden len, aus denen das christliche Europa schöpfen Wertekanon. Die Überführung dieses Gedanken- konnte (vgl. den Beitrag von Stefan Schreiner). gangs in die politische Realität steht noch aus, Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens bleibt aber angesichts der politischen Situation und seine muslimische Nachgeschichte zeigen in der arabisch-islamischen Welt ein dringendes sich exemplarisch an der „Weihnachtsgeschich- Ansinnen. te“ im Koran. Im Koran finden sich zwei Suren, die
82 Die arabische Welt und der Westen
Parallelen zu den Ereignissen und Figuren im lich und inhaltlich äußerst vielseitig ist, müssen Neuen Testament aufweisen. In dieser Betrach- die Autorinnen und Autoren gegen die ihnen tungsweise kann die „Weihnachtsgeschichte“ als noch heute zugedachte Rolle des fabulierenden Grundlage für einen Dialog zwischen Christen Geschichtenerzählers aus dem „märchenhaften und Muslimen gelesen werden. Ein Dialog, der Orient“, der das Exotische, Sinnliche und Fantas- das Gemeinsame im Lichte des Trennenden und tische thematisiert, ankämpfen. Das themati- das Trennende im Lichte des Gemeinsamen kom- sche Interesse arabischstämmiger Autoren gilt munizierbar macht und Respekt vor dem jeweili- vielmehr der konfliktbehafteten Realität, der Zer- gen Glauben fordert (vgl. den Beitrag von Karl- störung traditioneller Lebensformen bzw. kultu- Josef-Kuschel). reller Praktiken durch den sozialen Wandel und Für die islamisch-arabische Welt geht es zukünf- der alltäglichen Gewalt, die mit den militärischen tig auch darum, wie sie ihre kulturelle und reli- Auseinandersetzungen in der Region einher geht. giöse Substanz mit den politischen Herausfor- Im Gegensatz zu den Projektionen und Sehn- derungen des 21. Jahrhunderts verbinden kann. süchten des westlichen Publikums entpuppt sich Hinsichtlich der politischen Dimension ist die die scheinbare Idylle des Orients als bedrohlicher Frage entscheidend, wie Islam und moderne De- Ort (vgl. den Beitrag von Manar Omar). mokratie zueinander finden. Stellvertretend für Das (Wunsch-)Bild vom Orient wird in starkem die vielen Hemmnisse, die es in arabischen Ge- Maße von der Medienrezeption geprägt. Enga- sellschaften noch zu beseitigen gilt, wird dies gierte Filmschaffende aus arabischen Ländern an der politischen, sozialen und ökonomischen müssen sich nicht nur mit der Konkurrenz von Diskriminierung der Frauen aufgezeigt. Arabi- „Hollywood“, sondern auch mit der lokalen, sche Frauen haben in orientalischen Gesell- kommerziellen Filmindustrie messen. Außerdem schaften schon früh versucht, ihre Interessen bringen es Mechanismen der Filmförderung mit und Rechte als eigenständige Akteurinnen sich, dass arabische Filme nur dann den Weg zum wahrzunehmen und zu verteidigen (vgl. den Bei- europäischen Publikum finden, wenn sie in den trag von Renate Kreile). Der gegenwärtig pro- Genuss von Fördergeldern kommen. Wenn in die- pagierte Islamismus scheint allerdings den po- sen Filmen zuweilen der exotische Blick bedient litischen und sozialen Spielraum der Frauen wird, kommt er der „Leseweise“ des westlichen in arabisch-islamischen Gesellschaften einzu- Publikums entgegen, weil er „ihr“ Bild der arabi- schränken. Je nach politischer und/oder religiö- schen Region bestätigt. Europa fördert zwar den ser Ausrichtung der Frauenbewegungen führt arabischen Film, läuft jedoch Gefahr, das Bild dies zu unterschiedlichen Strategien, Allianzen vom so genannten „fremden Orient“ zu reprodu- und Kontroversen. zieren (vgl. den Beitrag von Viola Shafik). Kultureller Austausch und interkulturelle Be- Die Beiträge dieser Ausgabe der Zeitschrift „Der gegnungen brauchen Orte, Foren und Anlässe. Bürger im Staat“ gehen auf die Vorlesungsreihe Am Beispiel zweier wegweisender Einrichtungen, „Die Westen und die arabische Welt. Brücken und dem Institut du Monde Arabe (Paris) und dem In- Wege zu Dialog und Verständigung“ zurück, die stitut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart), wer- federführend vom Verein arabischer Studenten den Möglichkeiten und Formen der Begegnung, und Akademiker an der Eberhard Karls Univer- des Kulturaustausches und der Pflege der kultu- sität in Tübingen veranstaltet wurde. Allen Auto- rellen Partnerschaft zwischen dem Westen und rinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen de- der arabischen Welt aufgezeigt. Erklärte Absicht taillierte Informationen vermitteln, für Einblicke beider Institute ist es, durch die wechselseitige in die arabische Welt sorgen und für einen Dialog Vermittlung von Kultur fassbare „Außenpolitik“ der Kulturen werben, sei an dieser Stelle gedankt. zu betreiben, eine Brücke zu anderen Ländern zu Besonderer Dank gebührt Herrn Adwan Taleb schlagen und den interkulturellen Dialog zu för- vom Verein arabischer Studenten und Akademi- dern (vgl. die Beiträge von Nasser El Ansary und ker für seine Bemühungen und Übersetzungsar- Sebastian Körber). beiten, die maßgeblich zum Zustandekommen Kulturschaffende verstehen sich als Botschafter der Veröffentlichung beigetragen haben. Dank ihres Landes, wollen Einsichten in und Verständ- gebührt weiterhin Robin Bär für die Bildauswahl nis für andere Lebenswelten vermitteln. Obwohl und nicht zuletzt dem Schwabenverlag für die die deutschsprachige Literatur arabischstämmi- stets gute und effiziente Zusammenarbeit. ger Schriftstellerinnen und Schriftsteller sprach- Siegfried Frech
83 GELEITWORT Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung
PRINZ EL HASSAN BIN TALAL
kulturellen Fragen an die erste Stelle setzt, ha- besagte Kultur ist ein westlicher, säkularer Ma- be ich im Juni dieses Jahres das „Parlament terialismus, der vielen Völkern fremd ist. Hu- Anlässlich der Vorlesungsreihe „Der der Kulturen“ in Istanbul mitbegründet. Meine manitäre Ziele können jedoch nur dann er- Westen und die arabische Welt: Brücken Hoffnung ist es, dass diese Initiative den Impuls reicht werden, wenn wir uns auf die Werte von und Wege zu Dialog und Verständigung“ gibt für weitere Projekte wie zum Beispiel die Menschen einlassen. Diese sind keine unverän- formulierte Prinz El Hassan bin Talal von „School of Mediterranean Humanities“.1 derlichen Abstrakta, sondern stützen sich in ih- Jordanien ein Gruß- und Geleitwort. Das Das mächtige und komplexe Phänomen der rer Identität auf ein Gefühl von kultureller und Grußwort wurde von Dr. Ibrahim Ashary Globalisierung hat die Möglichkeiten des Dia- traditioneller Sicherheit, auf ihre „soft secu- (Verein Arabischer Studenten und Aka- logs, der Verständigung und Koexistenz gewal- rity“ – und diese schließt ihre religiöse Kul- demiker Tübingen) auf Englisch vorge- tig erweitert, wobei ein bisher ungeahntes Maß tur mit ein. Die Wirtschaft ist dabei durchaus tragen. an Verbundenheit erreicht wurde. Globalisie- von Bedeutung, doch sie hängt von politi- Die Übersetzung aus dem Englischen be- rung ist ein Faktum. Ein Faktum, dem wir uns schen Schwankungen ab, und Politik wiederum sorgten Jessica Kneissler und Ute Bech- voll und ganz stellen müssen. Das soll jedoch ist häufig von Eigennutz gesteuert. Ich setze dolf (Deutsch-Amerikanisches Institut nicht heißen, dass wir uns mit der Idee einer mich daher schon seit längerem für eine Rich- Tübingen). langweiligen homogenen Welt abfinden soll- tungsänderung ein: weg von der „Ökonopoli- ten, die von einer einzigen kulturellen Perspek- tik“ oder „Petropolitik“ hin zu einer „Anthropo- tive geprägt ist, im Gegenteil. Die gemäßigten litik“ – einer Politik, die das Wohlergehen des Stimmen jeder Kultur und Gesellschaft zu- einzelnen Menschen zum Ziel hat. Der israeli- Mit Bedauern und gleichzeitig mit Freude grü- sammenzubringen, war in den letzten Jahren sche Regierungsberater Yehezkel Dror schreibt ße ich Sie heute anlässlich der Vorlesungsrei- eine größere Herausforderung, nicht nur die in ähnlicher Weise von einer notwendigen Be- he „Der Westen und die arabische Welt: Brü- Stimmen gegen den Extremismus, der alle Zivi- wegung von der „Staatskunst“ hin zur „Men- cken und Wege zu Dialog und Verständigung“ lisation bedroht, sondern auch die Stimmen für schenkunst“, von „raison d'état“ zu „raison d'- - mit Bedauern, da mein Terminplan es mir eine lebenswerte Zukunft. humanité“. nicht erlaubt, heute in Tübingen anwesend zu Globalisierung suggeriert, dass eine Kultur un- Ich glaube an eine Globalisierung von Werten - sein, und dennoch mit Freude darüber, dass die weigerlich alle anderen dominieren wird, und nicht nur an eine Globalisierung von Politik und einleitenden Worte in meinem Namen gespro- chen werden. Der Dialog und der Versuch, den „Anderen“ im Kontext einer westlich-arabischen Welt zu verstehen, sind keine neuen Unterfangen. Die Interaktion zwischen den beiden Regionen war über einen Zeitraum von mehr als tau- send Jahren immer ein steter Fluss, ein Aus- tausch von Waren, Ideen und Menschen, die zu einem gemeinsamen mediterranen Erbe beigetragen haben. Seit dem 11. September hat der Dialog allerdings eine neue Dimension angenommen. Die Themen Zivilisation, Kultur und Globalisierung sind zu Schlüsselfaktoren geworden bei der Auseinandersetzung mit Menschen, die aus so genannten „fremden“ Ländern stammen. Professor Mircea Malitza von der Black Sea University sprach kürzlich von „einer Welt und 10.000 Kulturen“. Das ist auch mein Verständ- nis von Kultur: ein weltweites Teilen von Wer- ten. In diesem Zusammenhang sehe ich Kultur auch als einen Mechanismus, der Konflikte ver- meiden hilft. Ich möchte also gern dazu anre- gen, dass wir uns mit vereinten Kräften um ei- ne gemeinsame Geisteshaltung bemühen - ich sage dies vor dem Hintergrund meiner bisheri- KONFESSIONEN gen Arbeit am Dialog zwischen Kulturen und ÜBERSCHREITENDES Zivilisationen. Ich glaube an eine Interaktion FESTHALTEN AN zwischen meiner Kultur und Ihrer Kultur, denn GEMEINSAMEN wenn Sie zurückblicken auf die Keilschriften HUMANITÄREN WERTEN und auf Mesopotamien, werden Sie auf das IST EINE NOTWENDIGE Buch des tugendhaften Märtyrers („Book of the VORAUSSETZUNG FÜR Virtuous Sufferer“) und das Buch Hiob stoßen EINE FUNKTIONIERENDE und Sie werden erkennen, dass es vieles gibt, BÜRGERGESELLSCHAFT. das uns verbindet. Ich möchte allerdings vor- MIT EINEM GEMEIN- schlagen, dass wir heute nicht über Meta- SAMEN GEBET physik sprechen, sondern darüber, wie wir eine GEDENKEN CHRISTEN gemeinsame Denkweise fördern können, mit UND MUSLIME DER der wir Armut, Rassismus, Terrorismus, Un- OPFER, DIE BEI DEN gleichheit, Hass und Intoleranz bekämpfen TERRORANSCHLÄGEN können – als einen unumgänglichen morali- AM 11.9.2001 UMS schen Imperativ für jeden von uns. In dem Be- LEBEN GEKOMMEN SIND. streben, ein Forum zu schaffen, das solche picture alliance / dpa
84 Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung
Wirtschaft. Wenn der 11. September eine neue Im Kaukasus beispielsweise unterstützte das ne respektieren; und ich möchte gerne, dass Sie, Weltordnung verursacht hat, glaube ich, dass christliche Russland das muslimische Abcha- wenn schon nicht mich, dann wenigstens das, es eine Ordnung ist, die einer bestimmten Rich- sien gegen das christliche Georgien, während wofür ich stehe, respektieren. Das Papier der tung und bestimmten Zielen unterworfen ist, so der islamische Iran das christliche Armenien Unabhängigen Kommission für Internationale wie es jede menschliche Weltordnung sein gegen das muslimische Aserbaidschan aus- Menschenrechte, in dem auf die Notwendigkeit muss. Nur wenn wir global denken und regio- spielte. Im Libanon kannten sich die Muslime, einer neuen internationalen Menschenrechts- nal handeln, können wir das Universale aufwer- Christen und Drusen gut; sie bekämpften sich ordnung hingewiesen wird, umreißt Empfeh- ten und gleichzeitig unsere Unterschiede res- dennoch gegenseitig und auch untereinander, lungen für den Fortschritt in Bereichen wie Be- pektieren. Als ich im letzten Jahr in Paris von der innerhalb einzelner Sekten. Auf dem Balkan völkerung, Umwelt, Armut, Terrorismus, Bür- Sorbonne eine Ehrendoktorwürde erhielt, kam auf jeden Konflikt zwischen Muslimen und gerrechtsbewegungen, Frauen, Jugend, Tech- sprach ich über die Bedeutung einer „conscien- Christen ein weiterer zwischen den Glaubens- nologie, Medien, bedrohte Minderheiten, be- ce universelle et valeurs partagés“ - eines glo- genossen selbst: Die Moldawier bekämpften waffnete Gewalt und anderes mehr. Als Grund- balen Bewusstseins und gemeinsamer Werte. die Russen, die Ungarn die Rumänen, die Ma- prinzip haben wir im Schlussparagraphen fest- Übertragen wir diese Denkweise auf die inter- zedonier die Griechen und die Serben bekämpf- gelegt, dass „die Anerkennung des grundsätz- nationalen Beziehungen, beispielsweise auf ten die Kroaten. lichen Werts des Einzelnen und der moralischen den Nahen Osten oder andere konfliktreiche Gegenseitige Vertrautheit reicht also nicht aus. Werte, die von allen Gesellschaften geteilt wer- Regionen, brauchen wir einen Verhaltenskodex Menschen können sich kennen und hassen. den, die entscheidende Kraft hinter der An- für staatliche wie auch für nicht-staatliche Ak- Unsere Anstrengungen, Bildung und Wissen zu strengung aller zum Wohle aller sein muss.“ teure. Wir sollten uns alle auf eine internatio- verbessern, müssen weitergehen, in der Hoff- Vor vielen Jahren hielten wir in Windsor über- nal anerkannte Richtlinie von Normen und nung, dass dies zur Verbesserung der Lage bei- konfessionelle Gespräche zwischen Juden, Maßstäben einigen. trägt, aber auch in dem Bewusstsein, dass Mei- Christen und Muslimen ab. Über einen Zeit- Ein Dialog der Zivilisationen sollte nicht auto- nungsverschiedenheiten ebenfalls auftreten raum von 25 Jahren haben wir wiederholt un- matisch mit einem „clash of civilisations“, ei- müssen und auftreten werden. Daher ist ein sere gemeinsamen Erfahrungen und Arbeits- nem Zusammenprall der Kulturen in Verbin- dauerhafter Frieden nicht machbar ohne er- kräfte zusammengebracht, um eine einzige dung gebracht werden. Samuel Huntington lernten Umgang mit zwangsläufig auftreten- Seite mit Prinzipien für einen abrahamischen sieht Kulturen letztendlich vor allem durch Re- den Meinungsverschiedenheiten und Konflik- Dialog zu verfassen. Wir erkannten, dass sehr ligion definiert. Sprechen wir dann also von ei- ten, die in einem zivilisierten Rahmen bereinigt wohl ähnliche Werte in den unterschiedlichen nem Dialog der Religionen? Dialog zwischen werden müssen. Aus diesem Grund glaube ich religiösen Traditionen existieren. Zusammen- den verschiedenen Glaubensgemeinschaften fest daran, dass das „Forum 2000“ in Prag, die arbeit ist der einfachste Weg, um die Metaphy- ist meiner Meinung nach tatsächlich von gro- Helsinki-Konferenz und auch die ständige sik zur Seite zu stellen und eine gemeinsame ßer Bedeutung. Aber dieser stellt nur einen Teil Kommunikation der Bürger untereinander, so- Basis zu schaffen. Politisch und ökonomisch des ausgedehnten Dialogs zwischen und inner- zusagen kleine Bürger-Konferenzen, unter- gesehen bedeutet dies, dass die Beteiligung halb von Kulturen dar. stützt und ausgebaut werden sollte. Einen der jedes Einzelnen an der Bürgergesellschaft ei- Aus meiner Sicht beginnt jeder Dialog mit der ermutigendsten Momente in diesem Jahr er- ne notwendige Voraussetzung ist für gesell- Überwindung von drei Ängsten: die Angst vor lebte ich, als ich auf einen Austausch zwischen schaftliche Identität und für einen starken ge- dem „Anderen“, die Angst vor den eigenen Leu- zwei Männern hingewiesen wurde, in dem es meinschaftlichen Widerstand gegen Gewalt. ten in der Heimat - jeder von uns ist darauf be- um Schafzucht ging - und zwar zwischen ei- Sura 11 (Sura Hud), Vers 118, besagt: „Und hät- dacht, wie unsere Äußerungen zuhause aufge- nem Navajo-Indianer aus Albuquerque in New te dein Herr es gewollt, so hätte Er die Men- fasst werden -, und die Angst vor Frieden - wie Mexico und einem jordanischen Beduinen aus schen alle zu einer einzigen Gemeinde ge- eine Art Agoraphobie (d.h. eine Angst vor offe- der Gegend um Azraq. Das ist echtes „citizen's macht; doch sie wollten nicht davon ablassen, nen Plätzen). Aus diesem Grund habe ich ge- conferencing“, das ist wahrer Dialog. uneins zu sein“. nauso wie Sadruddin Aga Khan [Anm. des Ein zivilisierter Rahmen für Uneinigkeiten kann Die Themen, die Sie in dieser Reihe diskutieren Übers. UN-Hochkommissar für Flüchtlinge nicht durch den Geist von Toleranz allein be- werden, sind immens wichtig für das Streben 1965-77] und viele andere bedeutende Philan- gründet werden, denn, wie mein Freund Ken- nach einer friedlichen und harmonischen Welt, thropen einen Beitrag zur Publikation „Winning neth Cragg [Anm. des Übers. Religionswissen- und es gibt keine bessere Gruppe in der Gesell- the Human Race“2 von 1988 geleistet, in der wir schaftler und ehemaliger anglikanischer Bi- schaft als gerade unsere Jugend, um diese Din- zur Gründung einer „Neuen Internationalen schof] erklärt hat: Toleranz ist trügerisch. Tole- ge zu erforschen: Ich wünsche gerade Ihnen ei- Humanitären Ordnung“3 aufriefen. Dieser Vor- ranz kann Intoleranz nicht tolerieren. Ich möch- ne sehr erfolgreiche und fruchtbare Ausein- schlag wurde der UN-Generalversammlung te nicht von Ihnen toleriert werden, und ich andersetzung und freue mich darauf, bald von seit 1987 jedes Jahr aufs Neue vorgelegt und möchte Sie nicht tolerieren. Ich würde Sie ger- Ihren Diskussionen und Befunden zu hören. wurde jedes Mal einstimmig befürwortet. „To know is to love“ - kennen heißt lieben: Wenn wir einfach mehr übereinander heraus- finden und uns kennen lernen, gewinnen wir Empathie und verlieren das Potential für ge- UNSER AUTOR ANMERKUNGEN waltsame Konflikte. Aber die Fakten zeigen, 1 Dies ist eines der drei Projekte, die das „Parlament der dass dieses Prinzip nur teilweise gilt. Wir dür- Prinz El Hassan Kulturen“ zur Förderung in Betracht zieht. Die Idee einer fen nicht vergessen, dass viele der furchtbar- bin Talal ist ein „School of Mediterranean Humanities“ könnte als Mög- lichkeit betrachtet werden, die intellektuelle und kulturel- sten Konflikte in Gemeinschaften ausgetragen herausragender le Lücke zwischen Westeuropa und dem Mittelmeerraum wurden, die viele Jahre oder Generationen lang Förderer der Bezie- sowie dem Mittleren Osten und Osteuropa mithilfe eines neuen Curriculums zu „Terra Media Studies“ zu schlie- zusammen gelebt hatten, und dass es Konfron- hungen zwischen ßen. Dieses Curriculum soll auf einer sorgfältigen Aus- tationen nicht nur zwischen, sondern auch der arabischen wahl von Texten beruhen, die die gemeinsamen Wurzeln innerhalb von Religionen und ethnischen und westlichen der mediterranen Zivilisation beleuchten. 2 Bericht der Unabhängigen Kommission für Humanitä- Gruppen gibt. Nachdem die „Konferenz gegen Welt. Die Katho- re Angelegenheiten: Winning the Human Race. London Rassismus“ in Durban4 gescheitert war, wurde lisch-Theologische 1988. ich vom Generalsekretär der UN mit einer Fakultät der Eber- 3 Resolution for a New International Humanitarian Or- der. Eingebracht von Jordanien und unterstützt von Al- Gruppe von bedeutenden Experten nach Genf hard Karls Univer- gerien. 42. Sitzung der Generalversammlung der Verein- eingeladen. Eine unserer Empfehlungen war sität Tübingen ten Nationen (UNGA), 9. Dezember 1987. die eines „Racial Equality Index“, ein Index zur verlieh Prinz El Hassan bin Talal 2001 die 4 Bericht der Gruppe der unabhängigen Experten für die UN-Kommission für Menschenrechte über die Umsetzung Gleichstellung der Rassen, der eine wesentliche Ehrendoktorwürde und würdigte so seine der Erklärung von Durban und das Aktionsprogramm. Grundlage für den Kampf gegen Diskriminie- Verdienste, die er sich im interreligiösen Dia- Verabschiedet während des ersten Treffens vom 16. bis 18. September 2003 in Genf. Für weitere Informationen: rung liefern soll - aber ich fürchte, es ist noch log zwischen Judentum, Christentum und http://www.unhchr.ch nicht genug daran gearbeitet worden. Islam erworben hat.
85 DIALOG STATT KONFRONTATION Der Westen und der Islam
HANS KÜNG
Kein Friede unter den Nationen So prognostizierte er den Zusammenprall zwi- ohne Frieden unter den Religionen. schen „dem Westen“ und „dem Islam“ als be- Kein Friede unter den Religionen sonders gefährlich. Damit leistete er ideologi- ohne Dialog zwischen den Religionen. sche Schützenhilfe, um nach dem Ende des Kal- ten Krieges das Feindbild Kommunismus durch das Feindbild Islam zu ersetzen, weiterhin eine amerikanische Hochrüstung zu rechtfertigen und, gewollt oder ungewollt, eine günstige Es sind nun fast 25 Jahre her, dass Hans Atmosphäre für weitere Kriege zu schaffen. Küng das von ihm und Walter Jens neu Schon ein Jahr vor Huntingtons Artikel – 1992 begründete Studium Generale an der unmittelbar nach dem unrühmlichen Ende des Universität Tübingen mit einer Vorle- ersten Irakkrieges unter Präsident Bush senior sung über „Ökumenische Theologie. und ein Jahrzehnt vor dem zweiten – hatte in Perspektiven für einen Konsens der Zu- den USA eine kleine Gruppe „neokonservativer“ kunft“ eröffnete. In dieser Vorlesung Ideologen und Machtpolitiker begonnen, ei- plädierte er für eine „Ökumene der nen möglichen Präventivkrieg – um Ölreserven, Weltreligionen“, auch mit dem Islam, amerikanische Hegemonie und Israels „Sicher- ohne Leugnung der Differenzen, jedoch heit“ – ideologisch vorzubereiten. Nach dem im Bewusstsein der großen Gemeinsam- Amtsantritt von Präsident Bush junior 1999 keiten. Nach dem 11. September 2001 wurde der Krieg exakt geplant und der uner- und dem zweiten Irakkrieg steht die hörte Massenmord vom 11. September 2001 als internationale Staatengemeinschaft vor Anlass genutzt, um einen Angriff zuerst gegen der Schlüsselfrage, wie sich die Bezie- Afghanistan zu führen und ihn auch dem – an hungen zwischen den drei Religionen den Anschlägen unbeteiligten – Irak anzudro- Judentum, Christentum und Islam in Zu- hen. Nach vergeblicher Bemühung um eine Zu- kunft gestalten werden. Die Optionen stimmung des Weltsicherheitsrates und nach sind nur allzu deutlich geworden: Ent- einer geradezu Orwellschen Lügenkampagne weder Rivalität der Religionen und Zu- bezüglich Kriegsgründen und -zielen begann sammenprall der Kulturen oder Dialog die Bush-Administration, von Großbritanniens der Kulturen und Frieden zwischen den Premierminister Tony Blair unterstützt, am 18. Religionen. Alle drei Religionen be- März 2003 gegen Völkerrecht und Weltöffent- wegen sich in einem steten Spannungs- lichkeit den Krieg gegen den Irak mit massiver feld zwischen Bewahrung und Infrage- militärischer Gewalt und gewann ihn schon stellung und haben in der Vergangen- bald scheinbar. heit stets Antworten auf neue welthis- torische Herausforderungen gefunden. Die beiden Extrempositionen „Bewah- DIE OPTIONEN SIND DEUTLICH rung“ und „Infragestellung“ können nur GEWORDEN dann überbrückt werden, wenn eine Be- sinnung auf die wahre Substanz, auf Aber statt den Terror zu besiegen, wurde ihm in den Kern der jeweiligen Religionen er- Afghanistan, im Nahen Osten und in der gan- folgt. Mehr noch: In Bezug auf den Islam zen Welt erst recht zur Ausbreitung verholfen. geht es darum, diese Substanz mit den Weitere Tragödien folgten: auf Bali, in Casa- politischen und religiösen Herausforde- blanca, Riad, Istanbul und Madrid. Hier kam es rungen des 21. Jahrhunderts zu verbin- am 11. März 2004 zum ersten Mal auf europä- den. Hinsichtlich der politischen Dimen- ischem Boden zu einem Massaker diesen Aus- ren, Krieg der Nationen – oder Dialog der Kul- sion ist die Frage entscheidend, wie Is- maßes, welches durch die Parlamentswahlen turen und Frieden zwischen den Religionen als lam und moderne Demokratie zueinan- zwei Tage darauf zur Abwahl der am Irakkrieg Voraussetzung für Frieden zwischen den Na- der finden. beteiligten spanischen Regierung führte, aber tionen! Sollten wir angesichts der tödlichen auch für die am Krieg nicht beteiligten Länder Bedrohung der gesamten Menschheit nicht Europas ein Fanal für eine dramatisch ver- anstatt neue Dämme des Hasses, der Rache und schärfte Weltlage aufrichtete. Denn der Krieg Feindschaft aufzurichten, lieber die Mauern gegen zwei islamische Länder, aber auch die des Vorurteils Stein um Stein abtragen und da- HUNTINGTONS GEGENPROGRAMM seit Jahrzehnten vom Westen praktizierten mit Brücken des Dialogs bauen, Brücken gera- „Double Standards“ hinsichtlich der men- de auch zum Islam? Weder eine Verwischung Ein Gegenprogramm entwarf zehn Jahre spä- schenverachtenden Besatzungspolitik Israels der Gegensätze, noch eine synkretistische Ver- ter der US-Politologe Samuel Huntington – zu- unter Missachtung sämtlicher UN-Resolutio- mischung erscheinen sinnvoll. Vielmehr ist nur erst vorsichtig in Frageform, später aber pro- nen haben die ganze islamische Welt in unsäg- eine redliche Annäherung und Verständigung grammatisch als neues Paradigma der Au- liche Wut, Verbitterung und Verhärtung ge- angezeigt, die in beidseitigem Selbstbewusst- ßenpolitik: „A Clash of Civilizations – ein Zu- stürzt. Der „Clash of Civilizations“ erscheint sein, in Sachlichkeit und Fairness und im Wis- sammenprall der Zivilisationen“ (1993). Also jetzt als „Self-fulfilling prophecy“. sen um das Trennende wie das Verbindende ein Kampf der Kulturen als unabwendbares Wir befinden uns zweifellos in einer heiklen gründet. Weltszenario? Der Pentagon-Berater Hunting- Schlüsselphase für die Neugestaltung der ton hatte sich offenbar mit der inneren Dyna- internationalen Beziehungen, des Verhältnis- mik und Vielgestaltigkeit der einzelnen Kultu- ses Westen-Islam und auch der Beziehungen STATT „CLASH“ DIALOG MIT ren wenig beschäftigt, und komplexe histori- zwischen den drei abrahamischen Religionen DEM ISLAM sche Zusammenhänge, fließende Übergänge, Judentum, Christentum und Islam. Die Optio- gegenseitige Befruchtung und friedliches Zu- nen sind deutlich geworden: Entweder Riva- Nur wenn es gelingt, die gewalttätigen Extre- sammenleben waren ihm weithin unbekannt. lität der Religionen, Zusammenprall der Kultu- misten zu isolieren und die gemäßigten Musli-
86 Der Westen und der Islam
WORIN LIEGT DIE KRAFT DES ISLAM? DER ISLAM SCHEINT verständlich ablehnen, als eine Säule der BIS HEUTE WENIGER VOM RELIGIÖSEN SUBSTANZ- UND etablierten Ordnung. PROFILVERLUST BETROFFEN ZU SEIN ALS JUDENTUM UND „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen auch CHRISTENTUM. JEDER MUSLIM KANN AUSDRÜCKEN, WAS völlig säkularisierte Juden: Sie halten nichts BOTSCHAFT UND WESEN DES ISLAM SIND. vom Gott Abrahams und der Väter, sie glau- picture alliance / dpa ben nicht an dessen Verheißungen, ignorie- ren synagogale Gebete und Riten und lä- cheln über die Ultraorthodoxen. Für ihr reli- giös entleertes Judentum haben sie vielfach eine moderne Ersatzreligion gefunden: den Staat Israel und die Berufung auf den Ho- den und Freiheit können auf Dauer nur auf der locaust, was auch säkularisierten Juden Basis von Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Men- immerhin eine jüdische Identität und Soli- schenrechten und ethischen Standards er- darität verschafft, nicht selten aber auch reicht werden.1 Zum Dialog sind nicht die Zivi- den menschenverachtenden Staatsterror lisationen oder Kulturen als solche aufgefor- gegen Nichtjuden zu rechtfertigen scheint. dert, die ja keine Subjekte und keine geschlos- „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen aber senen Einheiten sind, sondern die einzelnen auch säkularisierte Muslime: An einen Gott Menschen und ganz bestimmte Gruppen, die glauben sie nicht, den Koran lesen sie nicht, aus unterschiedlichen kulturellen Prägungen Muhammad ist für sie kein Prophet und die kommen, vor allem aber die politisch, wirt- Scharia lehnen sie rundweg ab; die fünf schaftlich und kulturell verantwortlichen Eli- Pfeiler des Islam spielen für sie keine Rolle. ten. Bestenfalls ist der Islam, freilich religiös ent- leert, zu gebrauchen als Instrument für ei- nen politischen Islamismus und arabischen WORIN LIEGT EIGENTLICH DIE KRAFT Nationalismus. DES ISLAM? Es ist verständlich, dass als Gegenreaktion auf Im Blick auf den Islam sollten sich Christen wie dieses „Nichts bewahren!“ der umgekehrte Ruf Nichtchristen die Frage stellen: Warum beken- laut wird: „Alles bewahren!“. Alles soll so blei- nen sich 1,2 Milliarden Menschen mit steigen- ben, wie es ist und angeblich immer war: der Tendenz in den mittleren Regionen unserer „Kein Stein des großartigen katholischen Erde von der Atlantikküste Afrikas bis zu den Dogmengebäudes darf herausgebrochen indonesischen Inseln, von den Steppen Zen- werden, das Ganze würde wanken“, posau- tralasiens bis nach Mosambik zu dieser einen nen römische Integralisten. Religion? Ja, die große Frage ist: Worin eigent- „Kein Wort der Halacha darf vernachlässigt lich liegt die Kraft des Islam, worin liegt seine werden; hinter jedem Wort steht der Wille Faszination?2 Ein zentraler Gesichtspunkt soll des Herrn (Adonaj)“, protestieren ultraor- herausgehoben werden: Der Islam scheint bis thodoxe Juden. anhin weniger vom religiösen Substanz- und „Kein Vers des Koran darf ignoriert werden, Profilverlust betroffen zu sein als Judentum jeder ist in gleicher Weise unmittelbar Got- und Christentum. Jedenfalls kann jeder Muslim tes Wort“, insistieren viele islamistische auch heute noch ohne hoch komplizierte dog- Muslime. matische Formeln ausdrücken, was Botschaft, Hier überall sind Konflikte vorprogrammiert, Wesen und konstitutive Elemente des Islam nicht nur zwischen den drei, sondern vor allem sind. in den drei Religionen, wo immer diese Positio- nen kämpferisch oder aggressiv vertreten wer- den. Oft schaukeln sich die extremen Positio- ZWISCHEN BEWAHRUNG UND nen gegenseitig hoch. me zu stärken, wenn es gelingt, Brücken des INFRAGESTELLUNG Vertrauens zu bauen und die Beziehungen zwi- schen der westlichen und der islamischen Welt Die Frage nach dem, was Substanz, Fundament, EXTREMPOSITIONEN BILDEN NICHT wieder zu stabilisieren, nur wenn sich Israelis, Zentrum einer Religion ist, stellt sich allerdings DIE MEHRHEIT Araber und „Westler“, Juden, Christen und heute für alle drei prophetischen Religionen in Muslime nicht mehr als Gegner, sondern als recht grundsätzlicher Weise, und darauf möch- Doch die Wirklichkeit sieht nicht ganz so düs- Partner verstehen und behandeln, können die te ich im Folgenden genauer eingehen. ter aus. Denn die Extrempositionen bilden in unüberwindbar scheinenden politischen, wirt- den meisten Ländern, wenn sie nicht gerade schaftlichen, sozialen und kulturellen Proble- Was soll in unserer je eigenen Religion unbe- durch politische, wirtschaftliche, soziale Fakto- me der Gegenwart gelöst werden und kann so dingt bewahrt werden? Da gibt es in allen drei ren aufgeladen werden, nicht die Mehrheit. ein Beitrag zu einer friedlicheren Weltordnung prophetischen Religionen extreme Positionen: Noch immer gibt es – je nach Land und Zeit ver- geleistet werden. Manche sagen: „Nichts soll bewahrt werden!“, schieden groß – eine erhebliche Zahl von Ju- Deshalb fordern heute viele: Kein Rückfall in die anderen hingegen: „Alles soll bewahrt wer- den, Christen und Muslimen, die – wiewohl in das von den europäischen Nationen in der Mo- den!“: ihrer Religion oft gleichgültig, träge oder igno- derne praktizierte, aber nach dem Zweiten „Nichts“ soll bewahrt werden, sagen gänz- rant – doch keinesfalls alles in ihrem jüdischen, Weltkrieg erfreulicherweise überwundene Pa- lich säkularisierte Christen: Sie glauben oft christlichen oder muslimischen Glauben und radigma der politisch-militärischen Konfron- weder an Gott noch an einen Sohn Gottes, Leben aufgeben möchten. Die andererseits tation, Aggression und Revanche! Vielmehr sie ignorieren die Kirche und verzichten auf aber auch nicht bereit sind, alles zu bewahren: eine entschiedene Realisierung des in der UN- Predigt und Sakramente. Bestenfalls schät- Als Katholiken sämtliche Dogmen und Moral- Charta festgehaltenen und im Rahmen der Eu- zen sie das kulturelle Erbe des Christen- lehren Roms zu schlucken oder als Protestan- ropäischen Union am weitesten fortgeschritte- tums: die Kathedralen oder Johann Sebas- ten jeden Satz der Bibel wortwörtlich zu neh- nen neuen, „nach-modernen“ Paradigmas der tian Bach, die Ästhetik orthodoxer Liturgie men, oder als Juden sich in allem an die Hala- politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Ver- oder auch paradoxerweise den Papst, dessen cha zu halten, oder als Muslime sämtliche Ge- ständigung, Kooperation und Integration. Frie- Sexualmoral und Autoritarismus sie selbst- bote der Scharia streng einzuhalten.
87 HANS KÜNG
DIE GLAUBENSSUBSTANZ MUSS so ist doch die zentrale Botschaft des Koran (3.) das klassisch-islamische Weltreligions- ERHALTEN WERDEN völlig eindeutig: „Es gibt keinen Gott außer Paradigma der Abbasiden mit Zentrum in Gott, und Muhammad ist sein Prophet“. Bagdad (750-1258; die Herrschaft der Ab- Wie auch immer: Blickt man nicht auf ir- Von daher sind auch die unterscheidenden basiden erlosch nach dem Mongolensturm); gendwelche spätere geschichtliche Ausgestal- Strukturelemente und bleibenden Leitideen des (4.) das Paradigma der Ulama und Sufis nach tungen und Ausprägungen, sondern besinnt islamischen Glaubens und Lebens für alle Mus- dem Mongolensturm im Zeitalter der Regio- sich auf die Ur-Kunden, ursprünglichen Zeug- lime sehr deutlich: Das Glaubensbekenntnis ist nalisierung und später der drei islamischen nisse, auf die „Heiligen Schriften“ der jeweili- die zentrale Botschaft des Islam, der Eckstein, Großreiche (der türkischen Osmanen, persi- gen Religion – Hebräische Bibel, Neues Testa- auf dem er ruht, sein erster „Pfeiler“. Dazu kom- schen Safawiden und der indischen Groß- ment und Koran –, so kann kein Zweifel sein, men noch vier weitere: das tägliche Pflicht- mogule); dass das „Bleibende“ (was bleiben muss) in der gebet, die alljährliche Sozialabgabe, die alljähr- (5.) das islamische Modernisierungs-Para- betreffenden Religion nicht einfach identisch liche Zeit des Fastens und, womöglich, einmal digma, eingeleitet vor allem in Indien, in ist mit dem „Bestehenden“ (was zur Zeit be- im Leben die große Wallfahrt nach Mekka. Dies Ägypten und im Osmanischen Reich; steht) und dass das, was den „Kern“, die „Sub- sind die konstitutiven Elemente des Islam. (6.) das ökumenische Paradigma der Nach- stanz“, das „Wesen“ dieser Religion ausmacht, Zentrum, Grundlage, Glaubenssubstanz des Moderne: die große Frage für die Zukunft. von den „Heiligen Schriften“ der betreffenden Islam war freilich wie die des Christentums Religion her bestimmt werden kann. Es geht al- oder Judentums nie abstrakt-isoliert gegeben, so hier um eine ganz praktische Frage: Was soll sondern ist in den wechselnden Erfordernissen DIE GLEICHZEITIGKEIT DER PARADIGMEN in unseren Religionen, in der je eigenen Reli- der Zeit immer wieder neu interpretiert und gion das bleibend Gültige und ständig Ver- praktisch realisiert worden – in der heutigen So erscheint also jede Religion nicht als eine pflichtende sein? Erhalten bleiben muss nicht Umbruchzeit mehr denn je. statische Größe, wo angeblich alles schon im- alles, wohl aber die Glaubenssubstanz, das Zen- mer so war, wie es heute ist, sondern vielmehr trum und Fundament der jeweiligen Religion, als lebendig sich entwickelnde Wirklichkeit, die ihrer Heiligen Schrift, ihres Glaubens. Die Glau- EPOCHALE KONSTELLATIONEN UND verschiedene epochale Gesamtkonstellationen benssubstanz der jeweiligen Religion lässt sich PARADIGMENWECHSEL durchgemacht hat. Dabei gilt eine erste ent- in aller Kürze wie folgt darstellen. scheidende Einsicht: Auch die früheren Para- Der Islam hat wie auch Judentum und Chris- digmen des Islam können sich (außer das aller- Was also muss im Christentum bewahrt wer- tentum immer wieder neue epochale Konstel- erste) bis in die Gegenwart durchhalten! An- den, wenn es nicht die „Seele“ verlieren soll? lationen durchgemacht – in Antwort auf im- ders in den „exakten“ Naturwissenschaften: da Was immer eine historische, literarische mer wieder neue welthistorische Herausfor- kann das alte Paradigma (etwa das des Ptole- oder soziologische Bibelkritik kritisieren, derungen eine ganze Reihe grundlegender re- mäus) mit Hilfe der Mathematik und des Expe- interpretieren und reduzieren mag: Von den ligiöser Veränderungen, die man mit Recht als riments empirisch verifiziert oder falsifiziert maßgeblichen und geschichtsmächtig ge- revolutionäre Paradigmenwechsel versteht. werden; da kann die Entscheidung zugunsten wordenen christlichen Glaubensurkunden des neuen Paradigmas (des Kopernikus) auf her, vom Neuen Testament (gesehen im Was das Christentum (vgl. S. 90) betrifft, so sind längere Sicht durch Evidenz „erzwungen“ wer- Kontext der Hebräischen Bibel) her ist der sich viele Christen nicht bewusst, den. Im Bereich der Religion (wie der Kunst) je- zentrale Glaubensinhalt Jesus Christus: Er dass das Christentum in einem judenchrist- doch ist dies anders: In Fragen des Glaubens, als der Messias und Sohn des einen Gottes lichen Paradigma entstanden ist; der Sitten und Riten kann nichts mathema- Abrahams, er, wirksam auch heute durch dass dieses freilich schon früh von einem tisch-experimentell entschieden werden. Zwi- denselben Gottesgeist. Kein christlicher griechisch-hellenistischen und später sla- schen West- und Ostrom, oder zwischen Rom Glaube, keine christliche Religion ohne das wischen Paradigma (der östlichen Orthodo- und Luther ebenso wenig wie zwischen Sunni- Bekenntnis: „Jesus ist der Messias, Herr, xie) überlagert wurde; ten und Schiiten, Fundamentalisten und Mo- Sohn Gottes!“ Der Name Jesus Christus be- dass aber im Westen in den Jahrhunderten dernisten. Und so verschwinden denn in den zeichnet die (keineswegs statisch zu verste- nach der Konstantinischen Wende ein latei- Religionen alte Paradigmen keineswegs not- hende) „Mitte des Neuen Testaments“. nisches, typisch römisch-katholisches Para- wendigerweise. Vielmehr können sie neben digma von den Päpsten durchgesetzt wur- neuen Paradigmen durch Jahrhunderte hin- Was muss im Judentum bewahrt bleiben, wenn de, das, übersteigert, im 11. Jahrhundert zur durch fortbestehen: das neue (das reformato- es nicht sein „Wesen“ verlieren soll? Spaltung von West- und Ostkirche führte; rische oder das moderne) neben dem alten Was immer eine historische, literarische dass im 16. Jahrhundert dieses mittelalter- (dem altkirchlichen oder dem mittelalter- oder soziologische Kritik kritisieren, inter- liche römisch-katholische Paradigma in ei- lichen). pretieren und reduzieren mag: Von den ner revolutionären Umwälzung in weiten maßgeblichen und geschichtsmächtig ge- Teilen Europas, dann Amerikas abgelöst wordenen Glaubensurkunden, von der He- wurde durch die reformatorisch-protestan- PERSISTENZ UND KONKURRENZ bräischen Bibel her sind der zentrale Glau- tische Konstellation; DER PARADIGMEN bensinhalt der eine Gott und das eine Volk dass aber auch dieses reformatorisch-pro- Israel. Kein israelitischer Glaube, keine He- testantische Paradigma wie das römisch- Zur Beurteilung der Lage der Religionen ist die- bräische Bibel, keine jüdische Religion ohne katholische herausgefordert wurde durch se Persistenz und Konkurrenz unterschied- das Bekenntnis: „Jahwe (Adonaj) ist der Gott das aufgeklärte Paradigma der Moderne licher Paradigmen von größter Bedeutung. Dies Israels und Israel sein Volk!“ in Philosophie, Naturwissenschaft, Staats- führt zu der zweiten wichtigen Einsicht: Bis und Gesellschaftsauffassung; heute leben Menschen derselben Religion in Und was soll schließlich im Islam bewahrt blei- dass wir nach den beiden Weltkriegen und verschiedenen Paradigmen! Sie sind von fort- ben, wenn er noch „Islam“ im wörtlichen Sinn den Totalitarismen im Übergang begriffen bestehenden Grundbedingungen geprägt und der „Hingabe“, der „Unterwerfung unter Gott“ sind in eine noch nicht eindeutig beschreib- bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen bleiben soll? bare nach-moderne Konstellation. unterworfen. So gibt es zum Beispiel im Chris- Wie langwierig auch der Prozess des Sam- tentum noch heute römische Katholiken, die melns, Ordnens und Edierens der verschie- In der Geschichte des Islam lassen sich folgen- geistig im 13. Jahrhundert (gleichzeitig mit denen Suren des Koran war, so ist doch für de Makroparadigmen (vgl. S. 91) heraus arbei- Thomas von Aquin, den mittelalterlichen Päp- alle gläubigen Muslime klar, der Koran ist ten: sten und der absolutistischen Kirchenordnung) Gottes Wort und Buch. Und wenn Muslime (1.) das ur-islamische Gemeinde-Paradigma leben. Es gibt manche Vertreter östlicher Or- auch durchaus einen Unterschied sehen von Mekka und Medina zur Zeit des Prophe- thodoxie, die geistig im 4./5. Jahrhundert ge- zwischen den Suren von Mekka und denen ten Muhammads und der ersten vier Kalifen; blieben sind (gleichzeitig mit den großen Kon- von Medina und den Offenbarungshinter- (2.) das arabische Reichs-Paradigma der zilien und griechischen Kirchenvätern). Und für grund für die Auslegung in Betracht ziehen, Umayyaden in Damaskus (661-750); manche evangelikale Protestanten ist nach wie
88 Der Westen und der Islam
0ARADIGMENWECHSEL IN DER 'ESCHICHTE DES *UDENTUMS 6ERSUCH EINER 0ERIODISIERUNG UND 3TRUKTURIERUNG
V#HR 3PÊTE "RONZEZEIT w0ATRIARCHENi
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