Nr. 45 / 3.11.2018 Deutschland €5,10

Neue Enthüllungen 6,60 Spanien € 6,50 185,- Kc Tschechien in Printed Slowenien € 6,30 Slowenien Spanien/Kanaren Ft 2350,- Ungarn € 6,70 DER VERRAT Geheimsache LUXUS-LIGA BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– Griechenland € 7,– ZL 32,– € Slowakei (ISSN00387452) Polen NOK 82,– Norwegen Dänemark dkr 53,– € 6,50 Frankreich Italien € 6,50 (cont) € 6,50 € 5,80 Portugal Österreich DIE RACHE DER RIVALEN Angela Merkels Rückzug – und was wirklich dahintersteckt

Das deutsche Nachrichten-Magazin Einfachere

Hausmitteilung Abläufe? Betr.: Brinkbäumer, Titel Dank digitaler Vernetzung Am Montag hat sich Klaus Brinkbäumer von der Redaktion verabschiedet. Er scheidet als Chefredakteur aus, bleibt mit Kunden, Behörden dem Haus aber bis Ende März als Autor erhalten. Die Nach- folger Steffen Klusmann, Ullrich Fichtner und Barbara Hans werden im kommenden Jahr einen gemeinsamen Betrieb und meinem Steuerberater. aus den Redaktionen von SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE führen, bis dahin verantworten Brinkbäumers bisherige Stellvertreter Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit und Alfred Weinzierl die Geschäfte beim Magazin. Klaus Brinkbäumer habe, so schrieb ein SPIEGEL-Kollege auf Twitter, in seinen knapp vier Jahren als Chefredakteur den SPIEGEL zu einem

JOHANNES ARLT / JOHANNES ARLT besseren Ort gemacht, und das stimmt. Als ehemaliger Leis- Brinkbäumer tungssportler hat er Fairness und Zusammenspiel vorgelebt und eingefordert, er hat die Stimmung im Haus wesentlich verbessert, große Geschichten wie die Schulz-Story befördert, das Bezahlangebot SPIEGEL PLUS auf SPIEGEL ONLINE eingeführt, im März dieses Jahres eine Lay- out-Reform vorgenommen und die Fusion der beiden großen Redaktionen vorbereitet. Etliche Titelbilder gewannen Preise, unter anderem die Trump-Serie des New Yorker Künstlers Edel Rodriguez. 1993 fing Brinkbäumer als Redakteur beim SPIEGEL an, deckte den Steuerfall um den Tennisstar Steffi Graf mit auf, begab sich nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf die Spuren der Attentäter und half mit, den Kollegen Andreas Lorenz auf den Philippinen aus der Geiselhaft zu befreien. Für die Reportage »Afrikanische Odyssee« bekam er den renommierten Egon-Erwin-Kisch- Preis, als Korrespondent in New York begleitete er den Wahlkampf Barack Obamas und die ersten Jahre von dessen Präsidentschaft, bis ihn 2011 die damaligen Chef - redakteure Mathias Müller von Blumencron und Georg Mascolo als Textchef und dann als Stellvertreter in die Chefredaktion beriefen. Wir danken Klaus Brinkbäumer für 25 gute gemeinsame Jahre.

Es ist das größte Datenleck in der Geschichte des Sports: 3,4 Tera- byte Material, über 70 Millionen Dokumente, zur Verfügung ge- stellt von der Enthüllungsplatt- form Football Leaks. In einer mehrwöchigen Serie geben der SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE Einblicke in Geheimabsprachen und Geheimpapiere, die zeigen, warum Bayern München monate- lang hinter verschlossenen Türen

eine private Eliteliga plante und PETRI / DER SPIEGEL HELGE JAN so die Verbände und die restlichen Projektteam des SPIEGEL Klubs hinterging. Die Dokumente offenbaren ebenfalls, dass Gianni Infantino, der Chef der Fußballweltverbands Fifa, Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge- angetreten als Retter des Fußballs, nur ein weiterer Despot zu sein scheint, der sich schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen diesen Sport untertan machen will. Der mächtigste Sportfunktionär der Welt paktierte Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die mit arabischen Scheichs, die Hunderte Millionen in Großklubs wie Manchester City Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich und Paris Saint-Germain investieren. Wie schon vor zwei Jahren hat der SPIEGEL im Internet oder bei Ihrem Steuerberater. seinen Datensatz mit 14 Partnern des internationalen Recherchenetzwerks European Investigative Collaborations geteilt. 80 Rechercheure werteten die Daten acht Monate lang gemeinsam aus. Mit dabei war der Norddeutsche Rundfunk, der am Sonntag Digital-schafft-Perspektive.de um 21.45 Uhr in der ARD seine Dokumentation »Football Leaks – von Gier, Lügen und geheimen Deals« zeigen wird. Für SPIEGEL-Investigativreporter Rafael Busch- mann, der den Kontakt zu den Machern der Enthüllungsplattform Football Leaks hielt, gehen die Geschichten weit über den Fußball hinaus: »Der Sport ist mittlerweile zu einem Spielball von Mächtigen und Reichen geworden, die glauben, dass Regeln und Gesetze für sie nicht gelten.« Seiten 88, 98, 106

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 3 Inhalt

72.Jahrgang | Heft 45 | 3.November 2018

Titel Mobilfunk Wie viele Funk löcher darf das neue Football Leaks Dokumente Digitalnetz haben? ...... 30 enthüllen die geheimen Pläne einer exklusiven Kriminalität Die armenische Liga der europäischen Mafia hat in Deutschland Topklubs ...... 88 ein Netzwerk aufgebaut – zu ihren Kontakten zählen Fifa Statt den Fußball-Welt- auch Profiboxer ...... 32 verband zu reformieren, ist Präsident Infantino ganz auf Strafvollzug Die Eltern seine Wiederwahl fixiert . . . 98 des nach einem Brand in seiner Gefängniszelle Financial Fair Play Wie verstorbenen Syrers fordern Paris Saint-Germain Gerechtigkeit ...... 38 und Manchester City die Spiel regeln brachen – Krisen US-Psychologin Meg SIMONE M. NEUMANN und die Uefa zuschaute . . . 106 Jay erklärt, warum sich erfolgreiche, starke Menschen Schicksalstage einer Kanzlerin oft unsicher fühlen ...... 40 Deutschland Merkels Rückzug vom CDU-Vorsitz ist nicht so Leitartikel Angela Merkel Gesellschaft hätte die Kanzlerschaft gleich freiwillig, wie es scheint: Eine Gruppe von mit abgeben sollen ...... 6 Kritikern um Bundestagspräsident Schäuble hat Früher war alles schlechter: Ex-Fraktionschef Merz seit Monaten zur Kartoffelkonsum / Was soll die Meinung Der gesunde Kandidatur gedrängt. Nun folgt ein beispielloser Kreditkarte in der Kirche? . . . 42 Menschenverstand / So Seite 14 gesehen: Die Bindungsstörung Wahlkampf um den Chefposten der Partei. Eine Meldung und ihre des Christian Lindner ...... 8 Geschichte Wie ein indonesischer Fluglotse Widerstand der Juso-Frauen 148 Menschen rettete ...... 43 gegen Abtreibungsinformations - verbot / Diesel und Benziner Karrieren Die Schauspielerin gleich klimaschädlich / Frei- Kate del Castillo über burger Polizeipräsident rät zu ihre Begegnung mit dem gesundem Risikobewusstsein 10 mexikanischen Drogenboss El Chapo ...... 44 Parteien Wie die Merkel-Gegner das Comeback von Friedrich Beziehungen Was macht einen Merz organisiert haben . . . . . 14 Menschenaffen glücklich? . . . 50

Karrieren Merz’ Agieren in der Wirtschaft ...... 21 Wirtschaft

SPD Generalsekretär Lars VW soll eine Milliarde Dollar Klingbeil schwankt zwischen zahlen / Loyalität und Aufruhr ...... 24 verliert Bolsonaro-Berater / DOUG MILLS / NYT / REDUX / LAIF / NYT / REDUX DOUG MILLS Mickrige Steuerpläne ...... 54 Rechtspopulisten Die unred- liche Kampagne gegen Ist Trump zu stoppen? Mode H&M will wieder zum den UN-Migrationspakt . . . . 26 Trendsetter werden ...... 56 Die Demokraten hoffen bei den Halbzeitwahlen Mauerfall Eine Autorin aus dem am Dienstag auf eine »blaue Welle«, auf eine Mehr- Digitalisierung Internet- Westen und ein Autor aus dem heit im Abgeordnetenhaus. Wenn ihnen das kritiker Jaron Lanier im Osten erklären in zwei Essays, SPIEGEL-Gespräch über was man vom jeweils anderen gelingt, können sie Donald Trump künftig einhegen. die gefährliche Macht der Landesteil lernen kann ...... 28 Ansonsten ist er kaum mehr aufzuhalten. Seite 72 sozialen Medien ...... 60

4 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Neubau Der Immobilienboom Digitalisierung Sind Block- sorgt für mehr Pfusch ...... 64 chains die am stärksten überschätzte Technik Business Outsider Alexander aller Zeiten? ...... 118 Schimmelbusch über Staatswirtschaft ...... 66 Biologie Summ herum – ein neuer Blick auf die Sprache CARLOS VILLALON / DER SPIEGEL VILLALON CARLOS der Bienen ...... 122 Ausland Die Rolle ihres Lebens Neue linke Bewegung in Kultur Frankreich / Sri Lanka wird Die mexikanische Schauspielerin Kate del Castillo zum Spielball im Machtkampf traf vor drei Jahren den Chef des erfolgreichsten Julia Roberts in der Serie zwischen China und Indien 70 »Homecoming« / Ryan Gosling Drogenkartells der Welt in seinem Versteck. spielt den Astronauten USA Können die Demokraten Er wurde daraufhin verhaftet, seitdem ist Castillo Neil Armstrong / Kolumne: Trump ausbremsen? ...... 72 die Frau, die El Chapo auslieferte. Seite 44 Zur Zeit ...... 124

Mittelamerika Der Treck der Pop SPIEGEL-Gespräch Verzweifelten nach Norden 76 mit dem Musiker Herbert Grönemeyer über Rechts- Essay Die Verlobte des »Manipulationsmaschine« populismus, Angela Merkel ermordeten saudi-arabischen und seine Verantwortung Regimekritikers Jamal Jaron Lanier, profilierter Internetkritiker, als Künstler ...... 126 Khashoggi über die Pflicht analysiert im SPIEGEL-Gespräch die digitalen des Westens, die Täter Gefahren für die US-Zwischenwahlen. Und Literatur Die amerikanische zu belangen ...... 79 Schriftstellerin Leslie gibt untaugliche Erziehungstipps zum Umgang Jamison schreibt über ihre Brasilien Wie der gewählte mit Kindern und sozialen Medien. Seite 60 Alkoholsucht ...... 130 rechtsextreme Präsident sein Land umkrempeln will . . . . . 80 Utopien 20 Jahre Kultur im Kanzleramt – warum die Jemen Kinder verhungern im Politik die Künste nach wie Bürgerkriegsland ...... 82 vor braucht ...... 134

Filmkritik Die Dokumentation Sport »#Female Pleasure« ...... 139

Die Rekordsieger der Formel 1 / Magische Momente: Ringer Frank Stäbler über seinen historischen WM-Erfolg . . . . . 87

Wissenschaft

4000 Jahre alte Zinngrube in Sachsen entdeckt / Über die PHILIPP SCHMIDT / DER SPIEGEL PHILIPP SCHMIDT Tücken von E-Auto-Steckdosen im Eigenheim / Kann die Generation Smartphone noch Mehr Pfusch am Bau Fahrräder flicken? ...... 112 Bestseller ...... 138 Der Häuserboom hat eine Kehrseite: Auf Baustellen Impressum ...... 140 Psychologie »Papa hat dich wird schlampig gearbeitet, Termindruck und Leserservice ...... 140 nicht mehr lieb« – wie Fachkräftemangel lassen die Zahl der Schadensfälle Nachrufe ...... 141 eine Trennung der Eltern Personalien ...... 142 das Leben ihrer Kinder deutlich steigen. Wer sich auf einen Rechtsstreit Briefe ...... 144 zerstören kann ...... 114 einlässt, dem droht ein Nervenkrieg. Seite 64 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 146

Titelbild-Illustration: Benedikt Rugar für den SPIEGEL; Fotos: ODD ANDERSEN /AFP PHOTO; Arne Weychardt / WirtschaftsWoche [M] 5 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Halbherzig Leitartikel Es reicht nicht, dass Angela Merkel auf den Parteivorsitz verzichtet.

röße zeigt sich oft im Abschied. Gerade die würden. Danach ist ihr für eine Weile die Kontrolle ent - Demokratie ist auf die Möglichkeit des friedlichen glitten, und sie hat es versäumt, ihre Politik zu erklären, wie G Wechsels angewiesen, auf die Chance, dass nach fast immer. Sie wollte einlullen, nicht zur Debatte auf - ein paar Jahren etwas Neues beginnen kann. Es fordern. Das ist ihre große Sünde an der politischen Kultur. sieht so aus, als habe Angela Merkel diese Maxime endlich Merkel ist am Ende dieses Jahres eine schwache beherzigt. Sie gibt den Parteivorsitz der CDU auf, spät, Bundeskanzlerin, national wie international. Und warum nach 18 Jahren. Gut so, aber warum diese Halbherzigkeit? sollte das besser werden? Sie hat selbst angekündigt, dass Wa rum beharrt sie auf drei weiteren Jahren Kanzlerschaft? sie 2021 nicht wieder antreten wird, Zukunft verbindet sich Vor allem beim wichtigsten Amt der Bundesrepublik zählt, daher nicht mit ihr. Alle richten sich schon auf die Zeit dass der Abschied gelingt. Merkel ist er nicht gelungen. nach Merkel aus, und Zeiten des Übergangs sind fast nie Sie hat es versäumt, wahre gute Zeiten, weil die Macht- Größe zu zeigen. kämpfe alles dominieren. Als sie 2017 noch einmal Ohne den Parteivorsitz wird antrat, wirkte sie schon müde, sie als Bundeskanzlerin noch lustlos, aber ihre Anhänger schwächer sein. Sie muss sich hofften, sie könne ein Gegen - mit dem oder der Neuen gewicht zu Donald Trump sein, arrangieren, und das wird auf als Anführerin der liberalen jeden Fall kompliziert, wird Demokraten in aller Welt. Sie Kraft und Konzentration hofften, dass sie mit dem fran- ab saugen. Dem Kandidaten zösischen Präsidenten Emma- Friedrich Merz hat sie einst nuel Macron Europa aus der den Fraktionsvorsitz der Union Krise führen könne. Beides hat weggenommen. Seine politi- sie nicht geschafft. Sie spielt in sche Karriere hat er zwei Jahre der Weltpolitik keine wichtige später beendet. Nun treibt ihn Rolle mehr, in Europa ist sie nicht zuletzt ein Rachebedürf- Teil des größten Problems, der nis zurück. Er ist konservati- Spaltungen zwischen Nord und ver und wirtschaftsliberaler Süd, Ost und West. als die Kanzlerin. Ein Traum- Das liegt auch daran, dass paar können sie nicht sein.

sie im eigenen Land viel Auto- DOMINIK BUTZMANN / LAIF Das gilt auch für den rität eingebüßt hat. Ihre dritte Kandidaten Jens Spahn, der Große Koalition sollte Stabi - sich bislang als Anti-Merke- lität garantieren, die aufgebrachte Republik mit solider lianer profiliert hat, als Gegner ihrer Flüchtlingspolitik. Politik beruhigen. Doch 2018 wurde eines der peinlichsten Mit der Kandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer hätte politischen Jahre in der Bundesrepublik. Das ging nicht es Merkel leichter als mit den anderen, weil die politi schen von Merkel aus, sondern in erster Linie von Innenminister Vorstellungen ähnlich sind. Aber das ist nicht mehr der Horst Seehofer. Er hat sie mit Irrlichterei und Anmaßung Maßstab. gedemütigt. Zwar sah er dabei noch schlechter aus als sie, Es geht um das Land, nicht um sie. Ihre nicht ganz aber ihr ist es nicht gelungen, ihn in den Griff zu bekom- freiwillige Abdankung als Parteivorsitzende ist in Wahrheit men und die Regierung zu stabilisieren. Die Wahlergebnis- ein egozentrischer Akt. Mit dem Verzicht auf die eine se der Union in Bayern und Hessen, zweistellige Abstürze, Macht will sich Merkel die andere Macht erhalten, die grö- gehen auch auf Merkels Konto. ßere, die Kanzlerschaft. Aber es gibt keinen Grund mehr, Sie konnte nicht anknüpfen an die Verdienste, die dass sie bleiben muss. Deutschland kommt jetzt ohne sie sie ohne Frage hat. Ihre Regierungen haben Deutschland aus, bei allen Verdiensten. Neuwahlen ohne Merkel wären gut durch die Finanzkrise geführt, haben den Haushalt eine Chance für einen echten Neuanfang. saniert, standen einem dauerhaften Aufschwung jedenfalls Altgediente Kanzler gehen oft davon aus, dass die ande- nicht im Weg und haben den Sozialstaat hier und dort sinn- ren noch nicht so weit sind, dass sie es noch nicht können, voll ausgebaut, zum Beispiel durch den Mindestlohn. aber das ist die Hybris verköniglichter Demokraten. Auch Ihre große Tat bleibt die humanitäre Politik gegenüber Merkel wurde die Kanzlerschaft nicht zugetraut, dann hat Flüchtlingen im Spätsommer 2015. Ihr großes Versäumnis sie über viele Jahre das Gegenteil bewiesen. Daran sollte bleibt, dass sie diese Politik nicht vorbereitet hat, obwohl sie sich erinnern und sich einen würdigen Abgang verschaf- sie weit vorher wusste, dass viele Flüchtlinge kommen fen. Der ist nicht halb, sondern ganz. Dirk Kurbjuweit

6 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Warum hatte man früher eigentlich Sparstrümpfe zum Sparen?

Wir können nicht alles erklären, aber wie man ab 25,– Euro im Monat zeitgemäß Geld ansparen kann, schon

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Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand bindungsgestört Christian Lindner hat sein Die Trainerwechsel der SPD Problem nicht erkannt.

Die SPD ist der Hamburger befördert worden. Etwa zeitgleich wur- G Wenn man sich in der Männerwelt Sport-Verein der deut- de Andrea Nahles Vorsitzende der auskennt, weiß man genau, was schen Politik. In beiden SPD. Auch mit ihr verband sich die Christian Lindner vorhat. Männer Fällen handelt es sich um Hoffnung auf Erneuerung. Seit sie im wie Lindner erstellen sich gern Pro - Traditionsvereine mit vie- Amt ist, befindet sich die Partei jedoch file auf Datingportalen wie Tinder. len Mitgliedern, die auf eine im freien Fall. In Bayern halbierte sie Dort präsentieren sie nur die schöns- stolze Vergangenheit zurück- ihr Ergebnis auf 9,7 Prozent, in Hessen ten Fotos, oft in Schwarz-Weiß. blicken können: auf zahlreiche Meister- rutschte sie unter die 20-Prozent- Der Blick niedlich-verträumt bis zu - und Kanzlerschaften. Doch von der Marke. Die größte Aufmerksamkeit für packend-intensiv. Dazu schreiben alten Größe ist wenig geblieben. Der ihre Partei erzielte Nahles bislang sie: Ich brauche endlich was Festes, Niedergang zeigt sich allein am Namen dadurch, dass sie erst die Absetzung die Frau fürs Leben. Ich habe schon der Gegner. Während sich der HSV nun von Verfassungsschutzchef Maaßen so lange gesucht. Sie wollen das mit Mannschaften wie dem SV Sand- versprach, dann dessen Aufstieg zum volle Programm: Strandspaziergän- hausen messen muss, kämpft die SPD Staatssekretär samt ordentlicher ge, kuscheln, heiraten. Man nennt zum Teil mit der FDP um Platz fünf im Gehaltserhöhung zustimmte und sich es die Werbephase. deutschen Parteiensystem. später für den Humbug, den sie mit - Was sie ebenfalls eint, ist der Ver- fabriziert hatte, entschuldigen musste. schleiß an Führungspersonal. In den Die versprochene Erneuerung der SPD vergangenen 18 Jahren beschäftigte beschränkt sich bislang auf die – durch- der HSV insgesamt 24 Trainer. Die aus sinnvolle – Idee, auf Wahlpartys SPD kommt im selben Zeitraum auf im Willy-Brandt-Haus zu verzichten. immerhin zehn Parteivorsitzende. Unter Trainer Titz habe der HSV Zum Vergleich: Die CDU hingegen »leider nicht die angestrebte Entwick- wurde all die Zeit von einer Person lung genommen«, begründete der HSV geführt. Konstanz ist für SPD und HSV dessen Rausschmiss nach nur sieben allenfalls eine Stadt am Bodensee. Monaten. Über die Vorsitzende Nahles Aber kein Ziel für die eigene Arbeit. lässt sich bestenfalls dasselbe sagen. Dann trifft man sich ein paarmal Der hektische Wechsel ist ein Mit dem neuen Trainer gewann der mit ihm. Ein nettes Essen beim Italie- Wesensmerkmal von Organisationen HSV nun zwei Spiele in Folge. Wieder ner. Oder ein Glas Weißwein auf im Abstiegskampf. Angst vor dem blüht die Hoffnung, endlich den Richti- dem Balkon der Parlamentarischen Abstieg erzeugt Stress und Panik, sie gen gefunden zu haben. Vielleicht Gesellschaft. Sondierungen, könnte führt zu überstürztem Handeln, was sollte auch die SPD noch einmal wech- man sagen. Die Gespräche werden wiederum den Abstieg beschleunigt. seln. Ein allerletztes Mal natürlich. konkreter. Man denkt, es könnte Die vorerst letzte Trainerentlassung etwas daraus werden. Und dann haut des HSV traf Christian Titz. Er war im An dieser Stelle schreiben Jan Fleisch hauer und er ab! Weil es »doch nicht so ganz Frühjahr als Zeichen des Aufbruchs Markus Feldenkirchen im Wechsel. passt«. Bindungsstörungen entstehen oft durch frühe Traumata. Als die FDP Kittihawk aus dem Bundestag flog, war Chris - tian Lindner nur knapp zarte drei Jahre lang im Parlament gewesen. Nun spricht er wieder von Neu- wahlen, zum gefühlt 87. Mal – seit- dem er vor einem Jahr bei den Jamai- kaverhandlungen plötzlich davon- rannte. Lindner will jetzt endlich was Ernstes, beweisen, dass er es doch kann. »Wir würden Neuwahlen als Chance und nicht als Bedrohung begreifen«, sagte er zuletzt. So gese- hen hat der FDP-Chef sein Problem noch nicht ganz erkannt. Die wahre Bedrohung geht für Bindungs - gestörte nicht von der Neuwahl aus, sondern gerade vom nicht Neuen, von der Verantwortung. Nicola Abé

8 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Urbane Eleganz. kreiert von wempe.

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In der CDU geht kaum jemand davon aus, dass Merkel nach dem Parteitag lange Kanzlerin bleiben wird. ‣S.14

Abtreibungsgegner im September in CHRISTIAN DITSCH / EPD IMAGO DITSCH CHRISTIAN

Paragraf 219a Juso-Frauen organisieren Widerstand Abstimmung zum Abtreibungsinformationsverbot soll zur freien Gewissensentscheidung erklärt werden.

Im Koalitionsstreit um den Paragrafen 219a des Strafgesetz- von einem überkommenen Paragrafen bevormunden zu lassen«, buchs, der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, sagt Katharina Andres, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende. machen führende Juso-Frauen Druck. In einem Brief fordern sie Der Aufstand der jungen Frauen stellt die SPD vor ein Dilem- die Abgeordneten der SPD-Fraktion auf, sich für die Freigabe ma: Würde die Fraktionsspitze die Abstimmung zur Gewissens- der bald anstehenden Abstimmung im Bundestag einzusetzen, entscheidung erklären, käme das einem Koalitionsbruch gleich. um auf die Weise eine Mehrheit für die Streichung des umstritte- Mit den Stimmen der FDP, der Linken und der Grünen hätten nen Paragrafen zu organisieren. Die Regelung sei »in Wahrheit die Genossen eine Mehrheit für die Abschaffung des Paragrafen. ein Informationsverbot und muss ersatzlos gestrichen werden«, Radikale Abtreibungsgegner nutzen den Paragrafen, um Ärzte heißt es in dem Schreiben. »Wir wollen nicht länger warten.« anzuzeigen, die Abtreibungen vornehmen. Erst Mitte Oktober Weil die Union an dem Paragrafen festhalte, seien viele Ärzte ver- wurde ein Urteil gegen die Ärztin Kristina Hänel in zweiter unsichert. Sie riskierten Strafen, wenn sie öffentlich über Abtrei- Instanz bestätigt. Hänel hatte auf ihrer Website darüber infor- bungsangebote informierten. »Wir haben keine Lust, uns weiter miert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführe. CTE, HÖH

Adenauer-Stiftung rads Erben‹ noch andere Vereinigungen gelassen. Die KAS habe keine juristische vertreten die Altstipendiaten«, sagte Lam- Handhabe gegen »Konrads Erben«, der Lammert gegen mert auf einer Stiftungstagung im Oktober. Verein habe sich soeben mit gut 1000 Mit- »Konrads Erben« Einzig legitimer Vertreter sei der Verein gliedern eta bliert. »Herr Lammert hat »Alt stipendiaten der Konrad-Adenauer- weder Konrad Adenauer noch die Zeichen Der Vorsitzende der CDU-nahen Kon- Stiftung« der 13500 KAS-Ehemaligen. der Zeit verstanden«, so Samland. Sein Ver - rad-Adenauer-Stiftung (KAS), Norbert Während dieser Alumniverein sich poli- ein will über seine Mitglieder sogar einen Lammert, hält nichts von den politischen tisch weitgehend neutral verhält, sind regierungskritischen Antrag zum bevorste- Zirkeln ehemaliger Altstipendiaten, die »Konrads Erben« bekannt für scharfe Kri- henden CDU-Bundesparteitag einbringen. sich mit kritischen Äußerungen zum politi- tik an Merkels Flüchtlingspolitik. Bernd Die Gruppe unterstützt die Merkel- schen Kurs von CDU-Chefin Angela Mer- Samland, Markenberater aus Köln und ein Rivalen Jens Spahn und Friedrich Merz als kel profilieren. »Weder die Gruppe ›Kon- Sprecher der Initiative, sieht die Kritik Kandidaten für den Parteivorsitz. AMA

10 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Kriminalität here Anzahl angezeigter sexueller CDU-Abgeordneter Übergriffe. »Exit Polls« ausgeplaudert »Macht euch nicht SPIEGEL: Gibt es dafür Gründe? Rotzinger: Ja, unter anderem das vor Peter Beyer, Regierungskoordinator wehrlos« zwei Jahren verschärfte Sexualstrafrecht für die transatlantische Zusammenar- und eine gewachsene Sensibilität. Mehr beit, droht juristisches Ungemach Der Polizeipräsident Taten fallen unter das Gesetz, mehr Men- wegen seiner Posts in sozialen Medien. von Freiburg im schen erstatten Anzeige. Am Nachmittag der Hessenwahl ver- Breisgau, Bernhard SPIEGEL: Wer sind die Täter? breitete Beyer, der auch CDU-Bundes- Rotzinger, 62, über Rotzinger: Der Anteil nichtdeutscher Tat- tagsabgeordneter ist, auf seinem Face- die Sicherheitslage in verdächtiger an diesen Delikten ist höher book-Account die sogenannten Exit der Stadt nach einer als ihr Anteil an der deutschen Bevölke- Polls, also erste Hochrechnungen auf mutmaßlichen Grup- rung, ähnlich wie auch bei Gewalttaten. der Basis von Befragungen der Wähler

JOHAPRESS / ACTION PRESS JOHAPRESS / ACTION penvergewaltigung SPIEGEL: Was kann man dagegen tun? direkt am Wahllokal. Das Wahlrecht Rotzinger: Ganz einfach, wir müssen die verbietet eine Bekanntgabe solcher SPIEGEL: Die mutmaßliche Gruppen- Taten konsequent ahnden. Wer sich nach Zahlen vor Schließung der Wahllokale; vergewaltigung einer 18-Jährigen durch deutschem Recht nicht an die Regeln hält, dem Juristen Beyer droht für die mehrere geflüchtete Syrer und einen muss angemessen sanktioniert werden. Ordnungswidrigkeit eine Geldbuße deutschen Staatsbürger hat bundesweit Auch die Integration der ausländischen von bis zu 50000 Euro. Der hessische für Aufsehen gesorgt. Wie sicher ist Mitbürger muss vorangetrieben werden. Landeswahlleiter bestätigte, dass Ihre Stadt? Dann steigen die Chancen, dass sie sich der Fall angezeigt worden sei und der- Rotzinger: Die Sicherheitslage in Frei- am Ende an die Regeln halten. Es kommt zeit geprüft werde. AMA burg ist stabil. Aber wir müssen akzeptie- auf Erziehung, Bildung, Integration und ren, dass das Sicherheitsgefühl auch von Wertschätzung an. Emotionen bestimmt wird. Es gibt bei SPIEGEL: Welchen Ratschlag geben Sie dieser Thematik das Gefühl, und es gibt jenen Bürgern Freiburgs, deren Sicher- Abrüstung die Faktenlage. heitsgefühl geschwunden ist? Hoffen auf Trump SPIEGEL: Wie ist denn die Faktenlage in Rotzinger: Sie sollten mit einem gesun- Freiburg? den Risikobewusstsein durch die Stadt Die Bundesregierung hofft noch, Rotzinger: Wir haben nach dem Mord an gehen. Wir müssen uns klarmachen, dass US-Präsident Donald Trump seine Maria L. durch den Flüchtling Hussein K. dass in einer offenen Gesellschaft nicht Haltung zum INF-Vertrag korrigiert. im Jahr 2016 die Polizeipräsenz in Frei- jedes Delikt zu verhindern ist; wir kön- Außenminister Heiko Maas (SPD) burg erhöht, zahlreiche zusätzliche Kon- nen den Bürgern keine Vollkaskoversi- schickt kommende Woche Staatssekre- trollen im öffentlichen Raum durchge- cherung bieten. Kriminalität entsteht im tär Andreas Michaelis nach Washing- führt und sogenannte Angsträume, dunk- Beziehungsdreieck Täter – Opfer – Tat- ton, um auf die US-Regierung Einfluss le Ecken und Gassen, besser beleuchtet. gelegenheit, die Entwicklung ist dyna- zu nehmen. Die USA und die Sowje t - Die Straßenkriminalität geht signifikant misch. Einen Ratschlag habe ich aber: union hat ten sich in dem Abkommen zurück, es gibt weniger Gewalt- und Macht euch nicht wehrlos mit Alkohol 1987 ver pflich tet, alle land ge stütz ten Raubdelikte. Seit 2016 gibt es eine hö- oder Drogen. BHR, SEN nuklea ren Mittel stre cken waf fen zu ver- nich ten und auf diese zu ver zich ten. Trump wirft Moskau vor, mit dem Marschflugkörper SSC-8 das Abkom- Leibwächter Staatsschutzkomponenten enthalte, für men zu verletzen, und erklärte kürz- die das BKA ohnehin zuständig sei. Eine lich, die USA würden sich daher aus BKA bleibt für Schutz von endgültige Entscheidung war aber noch dem INF-Vertrag »zurückziehen«. Seit- Politikern verantwortlich nicht gefallen und wurde von Seehofer dem senden jedoch Sicherheitsberater bei dem Besuch spontan auf Nachfrage John Bolton, ein Hardliner, und Vertei- Mit einem Federstrich hat Bundes - getroffen: Der Personenschutz soll nach digungsminister James Mattis wider- innenminister Horst Seehofer (CSU) seinen Vorstellungen künftig ausschließ- sprüchliche Signale aus. Mit amerikani- mehrjährige Planungen zur Neuordnung lich vom BKA übernommen werden. AUL scher Zustimmung appellierte Nato- des Personenschutzes für Politiker und Generalsekretär Jens Stoltenberg am gefährdete Menschen über den Haufen Mittwoch beim Nato-Russland-Rat an geworfen. Die Verantwortlichkeit für die Moskau, den Vorwurf auszuräumen – sogenannte Sicherungsgruppe verbleibe ein wohl überflüssiger Appell, hätte im Bundeskriminalamt (BKA), erklärte Trump sich bereits festgelegt. Dieser der Minister unlängst bei einem Besuch trifft Russlands Präsident Wladimir dort. Sein Vorgänger hatte sich dafür ein- Putin am 11. November in Paris bei den gesetzt, diese Verantwortlichkeit der Bun- Feiern zum Ende des Ersten Weltkriegs. despolizei zu übertragen, die etwa die Will Trump das Abkommen wirklich Hälfte der staatlichen Leibwächter stellt beenden, müsste er laut INF-Vertrag und auch für den Schutz deutscher Ein- eine »Stellungnahme« übergeben, in richtungen im Ausland zuständig ist. der er begründet, warum andernfalls Das BKA hatte indes in einem Schrei- »höchste Interessen« der USA gefähr- ben an das Ministerium argumentiert, det seien. Er könnte allerdings das dass der Personenschutz sich nicht auf Abkommen auch einseitig suspendie-

die physische Präsenz des Schutzperso- / DAVIDS DARMER SVEN ren, statt es zu beenden. Damit würde nals reduziere, sondern eine Reihe von Seehofer mit Leibwächter er sich alle Optionen offenhalten. KLW

11 12 Justiz Mütterrente Seniorinnen Zu wenig fürarme NS-Helfer bleibtstraffrei Palijs Einreise inDeutschland hatten der ihn eröffnet und2016 eingestellt. Nach Palijs Abwesenheit ein Verfahren gegen Die Staatsanwaltschaft Würzburg hatte in Er war 1949 indieUSA ausgewandert. am Holocaust beteiligt gewesen zusein. Weißen Hauses. Palij steht im Verdacht, begleitet von einerMedienoffensive des in dieBundesrepublik abschieben ließ, Präsident DonaldTrump ihnEndeAugust Mann wurde weltweit bekannt,alsUS- aus derheutigen Ukraine stammende Jakiw Palij, 95,wird straffrei bleiben.Der existiert bereits fürdiebetrieblicheund dürfen. Einvergleichbarer Freibetrag niorinnen denRentenzuschlag behalten Grundsicherung, damitbetroffene Se - lichen Freibetrag von 208Euro inder Als Konsequenz fordert sieeinenmonat- sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. Grundsicherung verrechnen müssen«, der Mütterrente vollständig mitder nen diegeplanten Verbesserungen bei unerträglich, dassbedürftige Rentnerin- teiligung ärmerer Seniorinnen.»Esist der Sozialverband VdK vor einerBenach- tenpakets derGroßen Koalition warnt Der ehemalige SS-Oberwachmann Kurz vor derVerabschiedung desRen- die staatlicheGrundsicherung. hen runddrei Prozent allerAltersrentner nen Menschen pro fitieren. Derzeit bezie- der Bundesregierung etwa zehn Millio- Von derRegelung sollen nachAngaben weise 15Euro (Ost)imMonat erhöhen. gung umrund16 Euro (West) beziehungs- jedes Kindihre gesetzliche Altersversor- bei derRente gutschreiben. Damitwürde halbes Jahr anKinderer ziehungszeiten ren wurde, von Januar aneinweiteres Vätern, deren Nachwuchs vor 1992 gebo- den. DieKoalition will Müttern oder Woche imParlament verabschiedet wer- Bundestag. Stellungnahme desVerbands fürden tenversicherung gilt«,heißt esinder für Ansprücheausdergesetzlichen Ren- fertigt, dassdiese Regelung nichtauch private Vorsorge. Essei »nichtgerecht - schaft nunab:»DiePrüfung allerim korrigieren. DaslehntdieStaatsanwalt- andere gefordert, diese Entscheidung zu Zentralrat derJuden inDeutschland und Das Rentenpaket soll indernächsten Palij imAugustinNewYork COS

AP VICTORIA BONN-MEUSER / DPA tert werden. konnte lediglichinAnsätzen erschüt- sion und Brücken patrouilliert. Diese Ver - hauptet, erhabenurnachts aufStraßen der SSbeimHolocaust half. Palij be - Volksdeutschen bestehenden Gruppe,die einer überwiegend ausUkrainern und Der Bauernsohn kamzuden»Trawniki«, den damals19-jährigen Palij rekrutiert. Verfahrenseinstellung abzuweichen.« Anlass gegeben, von derbereits erfolgten tatsächlicher nochinrechtlicher Hinsicht gewordenen Erkenntnisse hatweder in Deutschland mitgeteilten oderbekannt Beschuldigten oderdessen Einreise nach Zusammenhang mitderPerson des Umwelt dem Klimanicht Dieselautos nutzen Diesels außerAcht gelassen. die gesundheitsschädlichen Effekte des falsche Technologie gesetzt undauch ger Perspektive habeEuropa aufdie re Gewicht derDieselflotte. Aus heuti- hohen Realverbräuchen auchdashöhe- nennen dieWissenschaftler nebenden nen desTransportsektors.« AlsGründe zierung von klimaschädlichen Emissio- effektiv gewesen zusein beiderRedu- sche Dieselauto-Boom scheint nicht 2015 verglichen. Fazit: »Dereuropäi- Pkw zwischen denJahren 1995 und haben dafürdieRealverbräuche von te for Advanced Sustainability Studies um Tim Butlervom Potsdamer Institu- schädliches Kohlendioxid. Forscher zieren pro Kilometer gleichvielklima- Ergebnis: Diesel undBenziner produ- Studie kommt jetztzueinemanderen rung undAutokonzerne bisheute. Eine diese Botschaft verbreiten Bundesregie- Die deutschen Besatzer hatten 1943 120 140 160 180 200 220 pro Kilometer in Europa, inGramm CO2-Äquivalente Reale Emissionenneuzugelassener Pkw Dieselautos sindgutfürdasKlima– 002015 2000 Benzin-Hybrid Benziner Dieselfahrzeuge KLW E SIGL Nr.45/ 3.11.2018 SPIEGEL DER Quelle: »AtmosphericEnvironment« (2018) GT TISSOT chrono xl. MIT 45 MM GEHÄUSE.

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TISSOTWATCHES.COM TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION Kanzlerin Merkel Deutschland Das Rückspiel Parteien Lange haben Friedrich Merz und Wolfgang Schäuble unter Angela Merkel und ihrer Politik gelitten. Nun wollen sie die Kanzlerin entmachten und die CDU neu positionieren. Auch Merkel hat den Plot für ihren Rückzug lange geplant. Aber noch kämpft sie um Amt und Erbe.

ls Friedrich Merz am vergange- geschickt nutzte, um an die Spitze der Par- weil sie deren Kurs im Kern immer mitge- nen Sonntag ins Bett geht, ist er tei zu gelangen. tragen hat. A sicher, dass seine alte Rivalin am Für ihre Konkurrenten aus dem Westen Merkel spürt nun, dass sie keinen Ein- nächsten Morgen den Rückzug galt Merkel als historischer Unfall. Sie fluss mehr auf die Entwicklung ihrer Partei vom Parteivorsitz erklären wird. Er hat konnten es nicht fassen, dass eine Frau, hat oder darauf, was von ihrem Vermächt- die Ergebnisse der Landtagswahl in Hes- die Politik nicht in der Jungen Union, son- nis übrig bleiben wird. Sie ahnt auch, dass sen vor dem Fernseher verfolgt. Die CDU dern in der FDJ gelernt hatte, plötzlich es mit ihrer Kanzlerschaft schneller zu ist um elf Prozentpunkte eingebrochen. den Kurs ihrer CDU bestimmte. Und dass Ende gehen könnte, als ihr lieb ist. Merkel, Merz ist lange genug im politischen Ge- diese Frau die Partei so modernisierte, dass die Gerhard Schröders Entscheidung, den schäft gewesen, um zu wissen, dass Merkel diese kaum noch etwas mit jener CDU zu SPD-Vorsitz an Franz Müntefering abzu- so nicht weitermachen kann. Seit Tagen tun hatte, in der die Männer groß gewor- geben, einst als »Autoritätsverlust auf gan- haben seine alten Weggefährten in der den waren. »Merkel hat leider kein Gespür zer Linie« und als »Anfang vom Ende« sei- CDU ihn ermutigt und gedrängt. Jetzt ist für die Partei«, klagt ein Mitglied des An- ner Kanzlerschaft bezeichnet hatte, weiß die Lage da, der Moment, auf den sie alle denpakts. In diesem einst so mächtigen genau, dass ihre Prophezeiungen von da- 18 Jahre lang gewartet haben: das Ende Bündnis hatten sich Merz und andere Her- mals nun für sie selbst gelten könnten. von Merkel als CDU-Vorsitzender. ren zusammengeschlossen, die gern Kohls Auch deshalb hatte sie bis zuletzt auf ein So kommt es dann auch. Nachfolger geworden wären. »Wir dage- stärkeres Abschneiden in Hessen gehofft. Angela Merkels Ankündigung, auf dem gen sind mit der Jungen Union als einer An der Version, dass ihr Rückzug von Parteitag im Dezember nicht mehr als Vor- Art Muttermilch groß geworden. Wir wis- langer Hand geplant war und ganz und gar sitzende zu kandidieren, hat eine Dyna- sen, was CDU ist und was nicht.« freiwillig erfolgte, gibt es erhebliche Zwei- mik freigesetzt, die die Architektur der Es sind eben nicht nur persönliche Ver- fel. Ein Kreis von Konservativen rund um Berliner Republik in Sekundenschnelle letzungen, die Merz und seine Unterstüt- Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verschiebt. In der CDU ist der schon län- war zumindest gewillt, sie zum Rückzug ger schwelende Kampf um ihre Nachfolge zu drängen, sollte sie selbst keine Konse- offen entbrannt. 18 Jahre lang war die in- Mit ihrer engsten Ver- quenzen ziehen. Seinem Freund Friedrich nerparteiliche Demokratie stillgelegt, nun trauten sprach Merkel im Merz hatte Schäuble zudem geraten, sich werben gleich mehrere Kandidaten für spätestens bis zum Nachmittag der Hessen- sich und den künftigen Kurs der CDU, und Sommer über den Rück- wahl darüber klar zu werden, ob er für den niemand in der Parteispitze kann steuern, zug vom CDU-Vorsitz. Parteivorsitz kandidieren wolle. was nun passieren wird. Die Merkel-Gegner hatten sich bereits In der CDU geht kaum jemand davon länger auf das Endspiel um die Macht vor- aus, dass Merkel nach dem Parteitag lange zer antreiben, auch wenn es die gibt, reich- bereitet. Schon im März hatte ein Ereignis Bundeskanzlerin bleiben wird – egal wer lich sogar. Sie hadern auch mit der inhalt- viele von ihnen zusammengebracht: die das Rennen um ihre Nachfolge gewinnt. lichen Neuausrichtung ihrer Partei, dem Trauerfeier für Kardinal Karl Lehmann in Es geht aber nicht mehr nur darum, wer Linksrutsch, dem Abrücken von traditio- Mainz. die stärkste deutsche Partei in die Ära nach nellen Überzeugungen wie dem Bekennt- Am Rande tauschten sich vor allem die Merkel führen wird. Es geht auch um Rache nis zur Wehrpflicht oder zur Atomenergie. Mitglieder des alten Andenpakts aus, be- und Genugtuung und um die Frage, ob sich »Wenn die Union, insbesondere die CDU, stärkten einander in ihrem Frust über Mer- die Zeit zurückdrehen lässt. Merkel hat so gut wie alles aufgibt, was sie über Jahr- kel. Eine Jamaikakoalition war gescheitert, nicht nur ihr Parteiamt aufgegeben. Ihr zehnte für richtig gehalten hat, dürfen wir die Große Koalition nur mit größter Mühe politisches Vermächtnis steht auf dem Spiel. uns über die Abwanderung unserer geschlossen worden, aber Merkel machte Was nun beginnt, ist der Schlussakt ei- Stammwähler nicht wundern«, schrieb partout keine Anzeichen, ihre Ämter zu ner wundersamen Geschichte, der deutsch- Merz schon vor zehn Jahren. räumen. Ein starker, überraschender Ge- deutschen Version von »David gegen Go- Er will nun antreten, um all die Fehlent- genkandidat für sie auf dem Bundespar- liath«. Männer wie Friedrich Merz waren wicklungen zu korrigieren, die aus seiner teitag, wäre das nicht ein geschickter einst angetreten, um die Nachfolge von Sicht mit Merkels Parteivorsitz begannen. Schachzug? Bei der Suche nach Namen Helmut Kohl zu übernehmen, zum Bei- Der 62-Jährige bedient so die Sehnsucht landeten die Kritiker schnell bei Friedrich spiel Roland Koch oder Christian Wulff. vieler Mitglieder nach der guten alten Merz, den sie fortan zur Kandidatur dräng- Es galt als ausgemacht, dass einer von ih- CDU: konservativ, wirtschaftsfreundlich, ten. Für ihn sprach vor allem eines: der nen die CDU und später auch Deutschland im Zweifel männlich. Der 24 Jahre jüngere Rückhalt von CDU-Übervater Schäuble. führen solle. Die Zukunft war beschlossen, Gesundheitsminister Jens Spahn hat eine Er gibt Merz nicht nur Ratschläge, er bevor sie begann. Aber den katholischen ähnliche Vorstellung von seiner Partei. Mit öffnet ihm auch Türen. Mitte Oktober reist Herren aus der Bonner Republik kamen CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp- Merz nach Brüssel für Gespräche mit wich- der Fall der Mauer und Angela Merkel in Karrenbauer steht ihnen eine Frau gegen- tigen Politikern und Beamten, und Schäub-

STEFAN BONESS / IPON STEFAN die Quere, die die Spendenaffäre der CDU über, die als Merkels Favoritin gilt, auch le sorgt dafür, dass er auch Joseph Daul

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 15 begegnet, dem französischen Chef der Eu- ropäischen Volkspartei. Doch Daul warnt wenig später die CDU-Chefin Merkel, dass sich etwas gegen sie zusammenbraue, dass Schäuble hinter den Kulissen gegen sie und für Merz arbeite. Die Kanzlerin gibt sich unbeeindruckt: »Der Schäuble hat doch jede Woche einen anderen Kandidaten.« Aber spätestens in diesem Moment muss Merkel klar gewe- sen sein, dass ihre Gegner es dieses Mal ernst meinen. Überhaupt ist Merz in dieser wichtigen Phase oft in Brüssel. Am 10. Oktober reist er etwa zum Herbstempfang des Deutschen Aktieninstituts. Am Morgen darauf trifft er einen alten Weggefährten, dessen Urteil ihm wichtig ist: EU-Kommissar Günther Oettinger, ebenfalls Mitglied im Andenpakt. Auch Oettinger ermuntert Merz, über eine Kandidatur nachzudenken, falls Merkel sich zurückziehe. Er hält ihn für den geeig- neten Nachfolger, weil Merz selbst Europa- abgeordneter war und in EU-Fragen ähn- lich tickt wie er selbst. Merz sagt, er wolle erst die Ergebnisse der Landtagswahlen in Bayern und in Hessen abwarten. Oettinger ist nicht der Einzige, der Merz ermuntert. Viele politische Freunde treiben ihn an, etwa der frühere hessische Minis- terpräsident Roland Koch, auch Mitglied des Andenpakts. Sie haben den Eindruck, dass Merz zwar will, aber das Risiko scheut. »Am liebsten wäre es ihm, das Präsidium

würde einen einstimmigen Beschluss fas- / DPA JUTRCZENKA BERND VON sen, in dem er zur Kandidatur aufgefordert Merkel-Kritiker Schäuble: »Nichtstun kann Folgen haben« wird«, spottet ein Weggefährte. Auch Christian von Stetten, der Vorsit- zende des Parlamentskreises Mittelstand, übernehmen. Dazu gehört neben Stetten gelernt haben, wussten sofort, wie diese will Merz als Kandidaten. Die beiden sit- auch CDU-Vize Thomas Strobl. Der Re- Geschichtslektion gemeint war: als Auffor- zen im Präsidium des CDU-Wirtschafts- gisseur im Hintergrund ist Schäuble. Er ist derung zum Rücktritt. rats, wo Merz ausgiebig über die Politik überzeugt: Mit Merkel wird die CDU auf Als die ersten Prognosen aus Hessen der Großen Koalition schimpft. »Wenn Sie keinen grünen Zweig mehr kommen. Der eintreffen, zeichnet sich zwar ab, dass die etwas ändern wollen, müssen Sie selber Schrumpfungsprozess wird sich weiter CDU weiter in einem Zweierbündnis mit ran«, sagt Stetten. fortsetzen. den Grünen regieren kann. Aber das Er- Merz’ Vertraute fühlen derweil beim Sicherheitshalber platziert Schäuble am gebnis von 27 Prozent für die eigene Partei nordrhein-westfälischen Ministerpräsiden- Tag der Hessenwahl einen Artikel in der ist ernüchternd. Am Abend fliegt Schäub- ten Armin Laschet vor. Der war lange ein »Welt am Sonntag« mit einer versteckten les Schwiegersohn Thomas Strobl, der zu- Anhänger Merkels. Aber auch er hat das und für ihn nicht untypischen Warnung an gleich Merkels Stellvertreter an der Par- Gefühl, dass die Zeit der Kanzlerin abge- Merkel. Eigentlich ist es ein Text über Max teispitze ist, nach Berlin. Offiziell ist es ein laufen ist. Die Leute wollten Merkels Poli- von Baden, der vor 100 Jahren die Abdan- normaler Wahlabend mit warmem Buffet, tik, aber sie wollen sie ohne Merkel, sagt kung von Kaiser Wilhelm II. verkündete. faktisch soll Strobl im Kanzleramt für die er im kleinen Kreis. Dieser Augenblick sei ein »Lehrstück Verschwörer Merkels Stimmung sondie- Doch die Merkel-Kritiker sind zugleich über den richtigen Moment in der Politik«, ren. Wie reagiert sie auf die absehbaren unsicher. Man könne ihre Ablösung nur schreibt Schäuble dort über Angela Mer- Verluste? Gibt es eine Chance, sie vorzei- erzwingen, heißt es, wenn Volker Bouffier kel, pardon, Max von Baden: »Sein tig zur Aufgabe ihrer Macht zu bewegen? sich in Hessen nicht in eine Zweierkoali- Zögern erhöhte den Druck, der zu den re- Bis zum späten Abend sitzt Strobl im tion retten könne. Man geht davon aus, volutionären Ereignissen des 9. November Kanzleramt, doch seine Mission ist verge- dass die CDU in Hessen mit einem Schluss- führte.« Max von Badens Kanzlerschaft bens: Merkel lässt keine Anzeichen für ei- spurt 29 Prozent holen könnte. Das aber sei eine Lektion über den richtigen nen Rückzug erkennen. Kurz nach den ers- wäre zu wenig, um Merkel zum Rückzug Moment in der Politik, »den wir meist nur ten Hochrechnungen stimmt sich Kramp- vom Vorsitz zu drängen. Bei einem Ergeb- rückblickend zu erkennen glauben. Und Karrenbauer mit ihr ab. Die Generalsekre- nis von unter 28 Prozent jedoch wäre die auch darüber, dass Nichtstun Folgen haben tärin muss vor die Presse treten und weiß, Zeit reif für einen Wechsel. kann«. dass dann Fragen nach Merkels Zukunft Vor allem führende CDU-Politiker aus Merkels Vertraute, die die versteckten kommen werden. Baden-Württemberg hoffen darauf. Sie Andeutungen ihres stillen Konkurrenten »Was soll ich den Journalisten sagen?«, wollen im Falle des Falles die Initiative Schäuble mit den Jahren zu dechiffrieren fragt sie. »Hat sich deine Haltung geän-

16 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Deutschland dert?« Merkel antwortet: »Was ich in Augs- einen Besuch in Merkels Datsche nach Bundesvorstandsklausur eine Woche spä- burg gesagt habe, gilt noch.« Sie meint ihren Hohenwalde. Hier in der Uckermark, eine ter kann sie nicht warten. Die CDU-Chefin Auftritt bei der »Augsburger Allgemeinen«, Autostunde von Berlin entfernt, verbringt muss reagieren, wenn sie nicht zur Getrie- wo sie bekräftigte, dass ihre alte Meinung die Kanzlerin dieses Jahr einen Großteil benen ihrer Gegner werden will. immer noch »absolut gültig« sei: Parteivor- ihres Sommerurlaubs – und nicht wie Am Montagmorgen, Minuten vor der sitz und Kanzlerschaft gehörten zusammen. sonst in Südtirol. Präsidiumssitzung um neun Uhr, tritt Mer- »Die Bundesvorsitzende hat ganz klar »Wo ist Merkel?«, rätseln die Medien. kel in Kramp-Karrenbauers Büro. Sie habe erklärt, dass sie auf dem Parteitag noch Hinter ihr liegt der verheerende Asylstreit sich entschieden, nicht wieder als Partei- mal antreten wird«, verkündet Kramp- zwischen CDU und CSU, der beinahe zum vorsitzende anzutreten, sagt sie. Kanzlerin Karrenbauer also, als sie an diesem Wahl- Bruch der Union und zum Ende von Mer- wolle sie aber bleiben. Für einen Moment abend im Foyer des Konrad-Adenauer- kels Kanzlerschaft geführt hätte. ist die Generalsekretärin sprachlos. Hauses vor die Kameras tritt. In Hohenwalde besprechen Merkel und Kaum hat Merkel auch den verblüfften Keine 24 Stunden später wird ihre Par- Schavan Szenarien, wie es weitergehen Funktionären in Präsidium und Vorstand ih- teivorsitzende an derselben Stelle genau könnte. Beide sind überzeugt, dass bei den ren Rückzug verkündet, lässt Friedrich Merz das Gegenteil verkünden. Merkel macht Landtagswahlen in Bayern und Hessen über einen Mittelsmann der »Bild«-Zeitung in ihrer Pressekonferenz auch keinen Hehl herbe Verluste drohen und der Druck auf ausrichten, dass er zur Kandidatur bereit sei. daraus, dass sie eine Kehrtwende einlegt: Merkel weiter steigen könnte. Die Frauen Kramp-Karrenbauer ist unter Zug- Ja, mit dieser Entscheidung »weiche ich überlegen, unter welchen Umständen und zwang. Eigentlich will sie sich Zeit lassen, in einem ganz erheblichen Maße von mei- mit welcher Begründung Merkel den CDU- um ihre eigene Kandidatur zu verkünden. ner tiefen Überzeugung ab«, erklärt die Vorsitz aufgeben könne. Und wie sie zu- Es kommt ihr pietätlos vor, so schnell nach Kanzlerin am Montag nach der Wahl. Den- gleich die Kanzlerschaft behalten könnte. Merkels Erklärung vorzurücken. Aber sie noch halte sie dieses »Wagnis« für vertret- Am Ende steht ein Plan für den befürchte- fürchtet, dass eine Dynamik pro Merz ein- bar. Sie wirkt souverän und lässig an die- ten Notfall. Insgeheim setzt Merkel jedoch setzen könnte, die schwer zu stoppen sein sem Nachmittag, als wäre sie völlig im Rei- darauf, ihn nicht umsetzen zu müssen. würde. Und so hält sie eine längere An- nen mit sich und ihrem Schicksal. Dass sie bis zuletzt gehofft hat, am Par- sprache über das maue Ergebnis der Hes- »Seit wann ich mir das überlegt habe?«, teivorsitz festhalten zu können, zeigt ihr senwahl, ergänzt um die Probleme, denen fragt Merkel. »Das war vor der Sommer- Auftritt bei der »Augsburger Allgemei- sich die CDU in Zukunft stellen müsse. pause.« nen«. Doch in den folgenden Tagen und Am Ende der Satz: »Deshalb werde ich »Überlegt« hatte die CDU-Vorsitzende Wochen sieht Merkel immer mehr Indi- mich für das Amt der Bundesvorsitzenden tatsächlich schon länger. Seit ihren Som- zien dafür, dass ihr alter Rivale Merz mit bewerben.« Der Saal applaudiert. merferien trägt sie sich mit dem Gedanken, einer Kandidatur nicht nur liebäugelt, son- Minuten später zieht Jens Spahn nach, das »Wagnis« der Trennung ihrer Funktio- dern sie konkret vorbereitet. So kommt spontan, ohne Konzept. Der Saal schweigt. nen einzugehen, sollten die Umstände sie der Plan aus der Uckermark ins Spiel. »Das war nicht koordiniert«, sagt einer dazu zwingen. Die endgültige Entscheidung dürfte am vom konservativen Flügel der Union. »Da Es gibt wenige Menschen, die Merkel Abend der Hessenwahl gefallen sein. Im ist es am Montag für ein paar Stunden ent- in ihre Überlegungen zu solchen existen- Kanzleramt laufen da schon die ersten kri- glitten.« Spahn habe »die Nerven verlo- ziellen Fragen einbindet. Eine dieser tischen Wortmeldungen aus den Ländern ren«. »Nach jeder Diktatur folgt erst mal Vertrauten ist Annette Schavan, die eins- ein. Das Gerücht, wonach Merz kandidie- eine Phase der Anarchie«, sagt der Mann. tige Bildungsministerin. Am letzten Juli- ren wolle, erhärtet sich. Merkel wird klar, »Das war am Montag so.« wochenende, mitten in der parlamentari- dass die Diskussion um ihre Person am Unterdessen erreichen Merz am Mon- schen Sommerpause, reist Schavan für kommenden Tag losbrechen wird. Bis zur tag unzählige SMS, E-Mails und Anrufe. Überwältigt von der Welle der Unterstüt- zung, erklärt er einen Tag später, definitiv Wahlergebnisse der Christdemokraten anzutreten. Veränderung gegenüber dem vorherigen Ergebnis Merz und sein enger Freund Schäuble haben lange auf die Gelegenheit gewartet, SAARLAND sich an Merkel zu rächen und deren Kurs März 2017 zu korrigieren. Wenige andere CDU-Poli- NRW tiker fühlen sich von ihr so gedemütigt wie SCHLESWIG- Mai 2017 die beiden, aus deren Sicht Merkel ihnen +5,5 HOLSTEIN NIEDER- verwehrt hat, was ihnen politisch zuge- Mai 2017 SACHSEN standen hätte. Nun stellen sie sich Merkels +6,7 40,7 Okt. 2017 letztem Ziel in den Weg: ihren Abgang HESSEN +1,2 BUNDESTAG selbst bestimmen zu können. Okt. 2018 33,0 Sept. 2017 33,6 Die Männer verbindet eine lange Freund- 32,0 schaft. Als Schäuble vor einem Jahr seinen 26,8 27,0 75. Geburtstag beging, war Merz nicht nur zum offiziellen Festakt geladen, sondern auch zur privaten Feier mit Familie und Freunden. Merkel war dort nicht erwünscht. So gehörte Merz auch zu den Ersten, denen Schäuble eröffnete, dass er nach der Bun- destagswahl nicht mehr Minister sein wolle. Ergebnisse in Prozent; Veränderungen in Prozentpunkten –2,4 Merz hat Schäuble viel zu verdanken. –7,4 Der damalige Fraktionschef machte den –11,3 jungen Wirtschaftsexperten 1996 zum Ob- mann der Unionsfraktion im Finanzaus-

17 Deutschland schuss. Und er setzte ihn als seinen Nach- folger in der Fraktion durch, als er Anfang 2000 wegen seiner Verstrickung in die CDU-Spendenaffäre zurücktreten musste. Schäuble förderte auch Merkel. Alle waren überrascht, als er sie 1998 zu seiner Generalsekretärin machte, und alle gingen davon aus, dass sie sich aus Dank als loyal erweisen würde. Doch Merkel ergriff die erste Chance, sich von ihrem Gönner ab- zusetzen. Mitte Dezember 1999, als die Partei- spendenaffäre ihren Höhepunkt erreichte, veröffentlichte Merkel ihren berühmten Brief in der »FAZ«, in dem sie die Partei aufforderte, sich von Kohl zu emanzipie- ren. Schäuble erfuhr von dem Brief aus der Zeitung. Es war die erste Verletzung, die Merkel ihm zufügte. Er zahlte es ihr auf seine Weise heim. Als es zwei Jahre später um die Frage ging, wer die Union als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2002 führen sollte, stellte sich Schäuble auf die Seite derer, die CSU- Chef Edmund Stoiber den Vorzug gaben. Auch Merz war für Stoiber, und er hatte einflussreiche Verbündete, die Andenpakt- Mitglieder Koch, Wulff und Oettinger. Was Merz nicht wusste: Merkel hatte sich von Stoiber zusichern lassen, dass er sie nach der Wahl als Fraktionsvorsitzende unterstützen würde. Merz war außer sich, als der Deal am Abend von Stoibers Wahl- niederlage bekannt wurde. Nur mit Mühe konnte Schäuble ihn davon überzeugen, in der Politik zu bleiben. Fortan musste Merz der verhassten Rivalin als Fraktions- vize für Haushalt und Finanzen dienen. Über diese Niederlage ist Merz nie wirk- / DPA GABBERT KLAUS-DIETMAR lich hinweggekommen. In einem Inter- Kandidatin Kramp-Karrenbauer: »Hat sich deine Haltung geändert?« view kurz nach der Bundestagswahl von 2002 beschwerte er sich, dass Merkel Ab- sprachen über den Fraktionsvorsitz nicht einen letzten Versuch, das Blatt zu seinen ren Straßenseite ins Koma zu versetzen, eingehalten habe. Aber, schob er schlecht Gunsten zu wenden. Es sei nicht sinnvoll, dürfte sich erledigt haben«, lästerte Merz gelaunt nach, das habe ihn nicht über- »sich wichtige Entscheidungen von kleinen nach der vergangenen Bundestagswahl. rascht, weil er sie »in solchen Situationen Partnern diktieren zu lassen«, sagte er. Alle Auch Schäuble ließ immer wieder mittlerweile« kenne. wussten, wie schwer es ihm fiel, für sich durchblicken, was er von Merkel und ihrer Seine Abneigung gegen Merkel konnte selbst Werbung zu machen. Aber Schäuble Politik hielt. Je schwächer die Kanzlerin Merz zunehmend schlechter verbergen. wollte das Amt unbedingt haben. wurde, desto deutlicher wurde seine Kritik, Dass »die Dame aus Ostdeutschland«, Doch Merkel blieb bei ihrer Linie und etwa an ihrer Flüchtlingspolitik, die er mit wie er sie nannte, an allen verdienten Par- setzte zusammen mit den Liberalen IWF- einer »Lawine« verglich. teifreunden vorbei- und dann auch noch Chef Horst Köhler als Staatsoberhaupt Nach der jüngsten Bundestagswahl ver- ins Kanzleramt eingezogen war, empfand durch. Kurz zuvor hatte Schäuble beschrie- zichtete Schäuble auf ein Ministeramt, wur- er als andauernde Schmach. 2009 kan- ben, wie es sich anfühlt, von Merkel ab- de Bundestagspräsident und stand nicht didierte Merz nicht mehr für den Bun- hängig zu sein. »Es ist schon verletzend«, mehr in der Kabinettsdisziplin. Die neue destag. sagte er, »aber nicht sehr.« Freiheit nutzte er. Vor den Landtagswahlen Schäubles Verhältnis zu Merkel ver- Fortan war Schäuble dazu verdammt, in Bayern und Hessen spekulierte er öffent- schlechterte sich ebenfalls rapide. Im Früh- als Minister unter einer Frau zu dienen, lich über Merkels Ende. »Sie ist nicht mehr jahr 2004 erreichte es seinen Tiefpunkt. Es die seinen Lebenstraum zerstört hatte. Er so unbestritten, wie sie in über drei oder ging um die Wahl des Bundespräsidenten. tat dies erst als Innenminister, dann als zweieinhalb Legislaturperioden gewesen Merkel hatte zunächst Schäuble unter- Chef des Finanzressorts – und ließ dabei ist«, sagte er. Er erwarte, dass die Wahlen stützt. Doch dann witterte sie die Chance, stets durchblicken, dass er sich für den bes- Folgen für die Bundespolitik und damit für einen gemeinsamen Kandidaten mit der seren Kanzler hielt. das Ansehen der Kanzlerin hätten. FDP durchzusetzen, als Vorboten eines Wie tief die Verwundungen sitzen, blitz- Zu diesem Zeitpunkt wusste Schäuble, Koalitionswechsels im Bund. In der ent- te bei Merz und Schäuble in den vergan- dass sein Freund Merz bereit war, für den scheidenden Sitzung des CDU-Präsidiums genen Jahren immer wieder auf. »Die Stra- Vorsitz der CDU zu kandidieren. Er hatte Anfang März 2004 unternahm Schäuble tegie, möglichst alle Wähler auf der ande- ihn in diesem Vorhaben bestärkt und auch

18 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 kurs richtig finden. Davon gibt es immer noch viele in der Partei. Merz weiß das. Bei seiner Vorstellung sprach er vom Um- weltschutz, von den Frauen und den jun- gen Leuten, die in der CDU eine Chance haben müssten. Ob man ihm diese Hal- tung abnimmt, wird entscheidend für seine Wahlchancen sein. Verhindern könnte sein Comeback wohl nur Annegret Kramp-Karrenbauer. Aber der Machtwechsel kommt reichlich früh für die Saarländerin, die erst seit Ende Februar CDU-Generalsekretärin ist. Eigentlich wollte sich »AKK« bis 2020 in der Partei bekannt machen, Netzwerke knüpfen und den Schritt an die Spitze vorbereiten. Jetzt muss es ein Sprung

HENNING SCHACHT werden. Kandidat Merz: »Klarheit über den Markenkern« Doch Kramp-Karrenbauer geht nicht als Außenseiterin ins Rennen. Nach 37 Jahren in der CDU erzielte sie regelmäßig Spit- zenergebnisse bei Gremienwahlen. Sie kann Erfahrung in allen erdenklichen Ministerien vorweisen, von Bildung über Arbeit bis zum Innenressort. Gern erinnern ihre Unterstützer dieser Tage daran, dass der Landtagswahlsieg von Kramp-Karren- bauer im Saarland 2017 den »Schulz-Zug« zum Entgleisen brachte. Dass sie ihr sicheres Ministerpräsiden- tenamt aufgab, um sich in den Dienst der Partei zu stellen, rechnete die Basis Kramp- Karrenbauer ebenfalls hoch an. Jens Spahn, der dritte prominente Kandidat, bliebe im Fall einer Niederlage Gesund- heitsminister, Merz könnte in die Finanz- wirtschaft zurückkehren. Für Kramp-Kar- renbauer entscheidet die Kandidatur über FELIX ZAHN / PHOTOTHEK.NET ihre politische Karriere. Scheitert sie, wird Kandidat Spahn: »Weißer Elefant im Raum« sie auch als Generalsekretärin aufhören. Auch diese Verbindlichkeit könnten viele Parteifreunde honorieren. in der Wahl des Zeitpunkts. Je rascher sein gelernt. Seine proeuropäische Haltung im- Kramp-Karrenbauers größte Schwäche Schützling nach der Hessenwahl antreten munisiert ihn zugleich gegen den Vorwurf, ist wohl die Nähe zu Merkel. Merz’ Unter- würde, desto schlechter für Merkel. er sei ein engstirniger Nationalist. stützer haben bereits die Parole ausge - Als Merz am Mittwoch im Haus der »Die Basis ist besoffen von Merz«, sagt geben, es gelte jetzt, »Merkel zwei« zu Bundespressekonferenz vor die Journalis- ein Bezirksvorsitzender aus Nordrhein- verhindern. In den vergangenen Monaten ten tritt, um sich in einem Blitzauftritt vor- Westfalen. Er gelte geradezu als Messias. versuchte sie, sich vorsichtig von der Kanz- zustellen, wirkt es wie ein Rendezvous mit »Aber das kann sich auch wieder ändern.« lerin abzusetzen. In Mails an die Partei - der Vergangenheit. Seine Haare sind etwas Kann einer, der fast zehn Jahre der basis sprach sie die Krisen in Merkels Re- schütterer geworden, das Gesicht hagerer. Politik fern war, einfach eine Volkspartei gierung offen als Problem an. Dennoch er- Sonst ist alles wie früher. übernehmen? Der Blick von außen könne innern ihre oft spröden öffentlichen Auf- Merz spricht davon, dass die CDU hilfreich sein, sagt Merz. Er ist Mitglied tritte und ihre ruhige, abwägende Art viele »Klarheit über den Markenkern« brauche. einer internationalen Rechtsanwaltskanz- unangenehm an die Kanzlerin. Sie dürfe nicht hinnehmen, dass sich am lei, er sitzt in mehreren Aufsichtsräten, Ihre Unterstützer hoffen, dass sich die rechten und linken Rand Parteien etablier- auch bei dem milliardenschweren US-Ver- Debatte um den Parteivorsitz bald immer ten, die die Gesellschaft spalteten. Er redet mögensverwalter Blackrock (siehe Seite weiter von der Person Merkel entfernt. Je druckreif wie früher und mit großer Über- 21). Neulich stand er auf dem Sommerfest weniger es um »Merkel muss weg!« geht, zeugungskraft. der »Bild«-Zeitung mit dem früheren Wirt- sagen sie, werde die Frage auftauchen, was Merz ist die Projektionsfläche für alle schaftsminister Philipp Rösler beisammen. die CDU zukünftig sein will: eine konser- diejenigen, die die Ära Merkel gern hinter Die beiden unterhielten sich laut einem vative, islamkritische, wirtschaftsliberale sich lassen möchten. Er soll die Wähler Ohrenzeugen darüber, wer von beiden das Kraft, wie Spahn und Merz sie verkörpern, von der AfD zurückholen, die sich eigent- größere Flugzeug hat. Merz lebte ziemlich oder doch lieber die humanitär gesinnte lich die alte CDU zurückwünschen. Das lange in einer Parallelwelt, weit weg von Volkspartei der Mitte, die eher zusammen- könnte sogar gelingen. Wenn Merz von den Nöten vieler Bürger. führt als polarisiert? »nationaler Identität« und »traditionellen Unklar ist zudem, ob er auch die anspre- Kramp-Karrenbauer will sich im Wahl- Werten« spricht, dann klingt das nicht an- chen kann, die Merkels Modernisierungs- kampf als Vermittlerin zwischen den Par-

19 Deutschland teiflügeln präsentieren. Zudem kann sie Debatte müsse endlich mit einem Ergebnis Kramp-Karrenbauer müsste die CDU darauf verweisen, dass sie in den vergan- beendet werden. »Welches hätte er denn deutlich von der Regierung abgrenzen, da- genen Jahren für die Partei gekämpft und gern?«, fragen seine Gegner genüsslich. mit der Unmut über die Große Koalition wichtige Wahlsiege errungen hat, während Spahn sei ein reiner Machttaktiker, der sei- sie nicht selbst erfasst. andere nur von draußen zuschauten. ne Positionen stets in Abgrenzung zu Falls Merz oder Spahn siegen, wäre Wer Kramp-Karrenbauer für die Nette seinen Gegnern entwickle, nicht aus Über- Merkel als Kanzlerin wohl bald Geschich- unter den Bewerbern hält, täuscht sich zeugung. Da müsse man doch nur sein te. Es ist schwer vorstellbar, dass sie sich aber. Ihre Unterstützer wissen, wie man neues Bewerbungsvideo ansehen – 69 Se- von einem Vorsitzenden Spahn am eige- einen Wahlkampf führt und dass sich der kunden Spahn, wie er in Aufzüge steigt nen Kabinettstisch die Linie der Partei Hinweis an Journalisten lohnt, dass Fried- und Straßen überquert. erklären lassen würde. Den beiden fehlt rich Merz nicht nur einen Flugschein, son- Vom Ausgang dieses Dreikampfs hängt das Mindestmaß an Vertrauen, das für eine dern sogar ein eigenes Flugzeug besitzt. nicht nur viel für Angela Merkel ab. Er solche Koalition notwendig wäre. Will er als Parteichef etwa im Privatjet könnte auch über das Schicksal der Gro- Noch schneller käme das Ende wohl, zu den Landtagswahlkämpfen im Osten ßen Koalition entscheiden und rasch Neu- wenn Merz Parteichef würde. Der ver- fliegen, fragt einer aus dem AKK-Lager wahlen herbeiführen. abscheut nicht nur Merkel, sondern auch unschuldig. Direkt aus dem Cockpit auf Wenn es für Merkel überhaupt eine ihr Umfeld mit einer sogar in der Politik die Marktplätze von Zwickau oder Gera Chance gibt, noch für längere Zeit Kanz- seltenen Inbrunst. Er werde mit Merkel eilen, sich vor Menschen stellen, deren lerin zu bleiben, dann nur mit einer Par- »auskommen und klarkommen«, erklärte Arbeitsplatz durch eines jener Finanz - teichefin Kramp-Karrenbauer. Die Frauen Merz am Mittwoch, um dann zu ergänzen: institute gestrichen wurde, mit denen vertrauen und schätzen sich. Aber selbst »Und zwar so, wie wir beide es dann ge- Blackrock Geschäfte macht? Ach ja, heißt diese Konstellation wäre problematisch. meinsam beurteilen.« es, und wussten Sie eigentlich, dass Merz Wie diese Beurteilung aussehen würde, einst die Abschaffung des Kündigungs- lässt sich leicht ausmalen, zumal Merz schutzes und die 42-Stunden-Woche ge- Zufriedenheit mit der Kanzlerin kurz darauf noch einen treffenden Satz fordert hat? »Sind Sie mit der politischen Arbeit von über sein Verhältnis zur Kanzlerin sagte: Ein Vorteil für Kramp-Karrenbauer ist, Angela Merkel zufrieden/sehr zufrieden?« Wenn zwei »in ihren Überzeugungen oder dass Armin Laschet auf eine Kandidatur ihrer Art nicht zusammenpassen, dann verzichtet. Mit ihm hätte sie um die Stim- muss man auseinandergehen«. Der Satz men der Liberalen in der Partei konkur- 69 sollte seinen Abschied aus der Politik vor riert, die den Modernisierungskurs fort- Juli 2017 knapp zehn Jahren erklären. Aber er be- führen wollen. Bundestagswahl schreibt wohl auch die nähere Zukunft. Erstmals erlebt die CDU ein Kandida- Merkel sieht es genauso. Sie werde bei tenrennen ohne klaren Favoriten, und so- einem Sieg von Merz nicht lange Kanzle- gar die alten Methoden der Strippenzie- rin bleiben, sagen Vertraute. herei dürften dieses Mal versagen. Bis auf Was aber dann? Die Auswechslung ei- die Frauenunion wird wohl keine CDU- 56 Anteil der Befragten, die nes Kanzlers ist nicht trivial. Dass die SPD Jan. 2017 Vereinigung eine Empfehlung ausgeben, mit »Ja« geantwortet haben Merz zum Kanzler wählt, darf als ausge- und der stärkste Landesverband Nord- 44 schlossen gelten. Er selbst geht davon aus, Okt. 2018 rhein-Westfalen ist gelähmt. Denn mit dass die Sozialdemokraten weiter nach Spahn und Merz gehen zwei Kandidaten Zufriedenheit links rücken werden und nur einen Anlass aus NRW ins Rennen, die auch noch beide mit den Regierungsparteien suchen, um die Zusammenarbeit mit der als Wirtschaftsliberale mit Hang zum »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit von …?« Union zu beenden. starken Staat gelten, beide als Merkel- Wer Merz in diesen Tagen erlebt, wer Q Rivalen und gesellschaftspolitisch konser- sehr zufrieden/zufrieden Zeuge seiner Energie und Euphorie über Q weniger/gar nicht zufrieden vativ. Auch der offen homosexuelle Spahn den geglückten Start wird, der zweifelt hat jüngst ganz traditionell geheiratet. keine Sekunde, dass Merz Größeres im 28 CDU 70 Wenn am 7. Dezember in ge- Sinn hat. Er ist nicht angetreten, um als wählt wird, wird es eine Stichwahl geben, Parteichef hinter Kanzler und Fraktions- sollte keiner der Kandidaten im ersten 17 CSU 77 chef die dritte Geige in der Partei zu Wahlgang mehr als 50 Prozent erhalten. spielen. Begeistert verweist er auf die ers- Gut möglich, dass es dann zum Duell zwi- 27 SPD 69 ten Umfragen, die ihn klar vor seinen schen Merz und Kramp-Karrenbauer Konkurrenten um den Parteivorsitz kommt. Für Spahn ist die Kandidatur von sehen. Darüber hinaus seien seine Beliebt- Merz ein großes Ärgernis. Das Comeback heitswerte nicht nur unter Unionsanhän- habe ihn überrascht, gestand Spahn Ver- Schuldfrage gern hoch, sondern in der ganzen Be- trauten. Aktuell geben die Parteifreunde »Welcher der genannten Politiker ist völkerung. ihm die geringsten Chancen. Auch Merz hauptsächlich verantwortlich für den Merz will nicht nur Parteichef werden. betrachtet ihn nicht als gefährlichen Wi- aktuellen Zustand der Bundesregierung?« Er will die ganze Macht. dersacher. Dass Spahn in einer Art Bewer- ANGELA Melanie Amann, Markus Feldenkirchen, bungsschreiben in der »FAZ« ausgerech- MERKEL HORST Ralf Neukirch SEEHOFER net das Thema Flüchtlinge als wichtigsten ANDREA Punkt hervorhob, werten viele als ver- NAHLES zweifelten Versuch der Profilschärfung. Video-Analyse 2 Wer wird Merkels Die Migrationspolitik sei »der weiße 56 31 Nachfolger? Elefant im Raum«, schrieb Spahn, die Par- spiegel.de/sp452018merkel tei dürfe dies nicht länger totschweigen. Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend oder in der App DER SPIEGEL Einige Zeilen später hieß es dann, diese im Oktober 2018; Angaben in Prozent

20 SVEN DARMER / DAVIDS DARMER SVEN CDU-Mitglied Merz 2014: Immer auf dem Sprung

klug, um den Koch zu machen«, sagt einer, der ihn gut kennt. Roland Koch, einst hes- Grenzgänger sischer Ministerpräsident, glaubte, auch ei- nen Konzern lenken zu können, und schei- Friedrich Merz hat in der Finanzindustrie Millionen terte als Chef des Baukonzerns Bilfinger. Karrieren Merz dagegen kennt seine Grenzen. verdient. Das könnte nun zum Problem für ihn werden. Wettbewerber bescheinigen ihm, er sei als Rechtsanwalt bei der US-Kanzlei Mayer Brown fachlich versiert aufgetreten. Dort or knapp drei Jahren beschloss fläche für die Sehnsüchte deutscher Mana - war Merz Anfang 2005, kurz nachdem er Blackrock-Chef Larry Fink, dass et- ger und Mittelständler. Wer könnte besser sein Amt als Fraktionsvize aufgegeben hat- V was geschehen müsse, um sein den Graben zwischen den deutschen Ka- te, als Partner eingetreten, um sein Netz- Unternehmen, den größten Vermögens- pitalismusskeptikern und dem Inbegriff werk zu nutzen und die Kanzlei am Stand- verwalter der Welt, noch größer zu ma- angelsächsischer Finanzkultur überwinden ort Düsseldorf in eine höhere Liga zu füh- chen. Ausgerechnet im reichen Deutsch- als der Vorsitzende der Atlantik-Brücke? ren. Diese Hoffnung habe sich nicht erfüllt, land kam seine Geldmaschine, die in allen Doch jetzt ist Merz den Amerikanern sagt ein Mayer-Brown-Partner heute. Winkeln der Erde so verlässlich Vermögen wieder abhandengekommen. Der Mann Sieht man sich den Wirtschaftsmann aufsaugt und mehr als sechs Billionen Dol- aus dem Sauerland hat den Mann aus Man- Merz genauer an, ergibt sich das Bild von lar verwaltet, nicht recht auf Touren. Man hattan sitzen lassen, um CDU-Parteichef einem, der als Aufsichtsrat mit Blick für müsse Blackrock den Deutschen bekannter und vielleicht sogar Bundeskanzler zu wer- große Zusammenhänge geschätzt wird, machen, den Zugang zu Politik und Unter- den. Der Bruch ist symptomatisch dafür, aber manche Hoffnung enttäuscht hat; ei- nehmen verbessern – kurz: einen Türöff- wie Merz in seinen Jahren abseits der nem, der darauf bedacht war, sich in der ner und Deutschlandversteher engagieren. Politik agiert hat. Eher sprunghaft. Wirtschaft nicht die Finger zu verbrennen. »Bringt mir keinen Investmentbanker«, Merz bekleidet derzeit fünf Aufsichts- Den ersten Coup landete Merz nach ei- soll Fink gesagt haben, wohl wissend, dass ratsposten, hat in vielen Beiräten gesessen nem Muster, das sich wiederholt: Als An- denen hierzulande viel Misstrauen entgegen- und für eine renommierte internationale walt knüpfte er Kontakte zum britischen schlägt. Fink wollte einen Repräsentanten, Anwaltskanzlei gearbeitet, bei großen und Hedgefonds TCI, der – wie später Fink – der in deutschen Konzernen ebenso hohes kleinen Deals mitgewirkt und Millionen einen Deutschlandkenner suchte. TCI Ansehen genießt wie in der Politik, einen, Euro verdient. Und doch hat er sich auf die wollte die Führung der Deutschen Börse der das Image von Blackrock aufpolieren sogenannte freie Wirtschaft nie mit Haut stürzen und entsandte Merz in den Auf- und das freundliche Gesicht des Wall- und Haar eingelassen. Sein Risiko hat er sichtsrat. Für ihn der perfekte Ort, die Kon- Street-Riesen in Deutschland sein könnte. stets abgesichert. Er hat Mandate und Äm- takte in die Wirtschaft weiter auszubauen. Finks deutsche Kollegen brachten ihm ter geschickt genutzt, um sein Netzwerk zu Interessant ist, wie Merz dann agierte. Friedrich Merz – politisches Schwer - pflegen, immer hart an der Grenze zwi- Dass er über TCI in den Börsenauf- gewicht im Dauer-Sabbatical, Projektions- schen Politik und Wirtschaft. »Merz ist zu sichtsrat kam, hinderte ihn nicht daran,

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 21 Deutschland sich später gegen den in Deutschland ver- Blackrock ist an allen Dax-Konzernen hassten Finanzinvestor zu stellen. Von TCI beteiligt, oft mit drei, fünf oder mehr Pro- habe sich Merz rasch emanzipiert, sagt ein zent. Zwar sieht sich der Vermögensver- ehemaliger Ratskollege. Alle Bestrebun- walter als passiver Aktionär, aber wenn es gen der Briten, die Börse zu zwingen, Ein- darauf ankommt, nehmen die Amerikaner zelteile gewinnbringend zu verkaufen, hinter den Kulissen Einfluss. habe er blockiert und dabei die Beziehun- Kritik wurde zuletzt an Blackrock laut, gen zu seinem Parteifreund Koch genutzt, weil der Konzern an dubiosen Aktiendeals damals noch Ministerpräsident von Hes- beteiligt gewesen sein soll, die letztlich das sen. Das Land erteilt die Börsenlizenz – Ziel haben, Steuern zu vermeiden oder und kann sie auch wieder entziehen. / REUTERS JACKSON LUCAS sich niemals gezahlte Steuern erstatten zu Merz’ politischer Instinkt funktionierte * lassen. Bis zu 55 Milliarden Euro an Steuer - auch 2015, als Aufsichtsratschef Joachim Arbeitgeber von Friedrich Merz schaden sollen dem Fiskus europaweit Faber und der damalige Börsenchef Cars- • aktiv *Auswahl durch solche sogenannten Cum-Ex- und ten Kengeter die Deutsche mit der Londo- 2003 bis 2009 Beirat der Commerzbank Cum-Cum-Deals entstanden sein. Black- ner Börse fusionieren und den Sitz nach rock erklärt, solche Geschäfte weder auf- London verlegen wollten. Als der Deal • seit 2005 Partner bei der Rechtsanwalts- gesetzt zu haben noch daran beteiligt ge- kanzlei Mayer Brown (seit 2014 Senior Counsel) 2017 platzte, die Börse in einem Skandal wesen zu sein. Merz sagt, er finde solche um Insiderhandel versank, hatte Merz den 2005 bis 2015 Aufsichtsratsmitglied bei der Deals unmoralisch. Bei HSBC Trinkaus & Aufsichtsrat längst verlassen. Deutschen Börse Burkhardt, wo Merz ebenfalls im Aufsichts- Doch Merz machte Fehler, und so litt 2005 bis 2009 Aufsichtsratsmitglied des rat sitzt, heißt es, man habe sich nicht be- im Laufe der Jahre sein Ruf als politisch Recycling- und Entsorgungsunternehmens wusst an derartigen Geschäften beteiligt. verdrahteter Netzwerker. Ziemlich erfolg- Interseroh Für den Fall, dass sich die CDU-Mitglie- los agierte er bei der Düsseldorfer Landes- der nicht für ihn erwärmen können, will • seit 2006 Verwaltungsratsmitglied der bank WestLB. Die sollte nach der Finanz- Schweizer Stadler Rail AG Merz da weitermachen, wo er aufgehört krise – auf Geheiß der EU-Kommission – hat. Er werde dann mit Blackrock über privatisiert werden, und Merz bekam das 2006 bis 2010 Aufsichtsratsmitglied des eine Rückkehr reden, heißt es in seinem Mandat, die Bank als Ganzes zu verkau- Immobilienkonzerns IVG Umfeld. Auch Fink kabelte am Mittwoch fen. Doch er schaffte kaum ernst zu neh- von 2007 bis 2014 Aufsichtsratsmitglied der eilig aus New York, nach einer Wahlpleite mende Kandidaten heran und streute über Versicherungsgesellschaft Axa Konzern AG weiter mit Merz zusammenarbeiten zu einen eigenen PR-Berater, als Gesamtbank wollen – in welcher Funktion ließ er offen. • seit 2009 Aufsichtsratsvorsitzender der sei die WestLB quasi unverkäuflich. Es soll Arnsberger Hygienepapier-Firma WEPA Realistischer freilich ist, dass man sich auch Streit um Honorare gegeben haben, dann gesichtswahrend trennt. Merz hat seine Auftraggeber erfreute das keines- • seit 2010 Verwaltungsratsvorsitzender und mit seiner Rolle rückwärts in die Bundes- wegs. Sie unterstellten ihm zudem Interes- Aufsichtsratsmitglied der Privatbank politik die Blackrock-Zentrale übertölpelt; senkonflikte. So bot die Düsseldorfer Bank HSBC Trinkaus & Burkhardt AG vielleicht hat man ihn dort in den vergan- HSBC Trinkaus & Burkhardt für Teile der 2010 bis 2014 Aufsichtsratsmitglied bei genen Jahren auch falsch eingeschätzt und WestLB – dort sitzt Merz im Aufsichtsrat. Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA übersehen, wofür Merz wirklich brennt. Am Ende zerschlugen die WestLB-Eigen- • seit 2016 Aufsichtsratsvorsitzender bei Das weiß Fink spätestens jetzt. tümer die Bank in Eigenregie. Friedrich Blackrock in Deutschland Am elegantesten wäre daher für alle Merz ist bei ihnen nicht in guter Erinne- Beteiligten, Merz stiege tatsächlich zum rung geblieben, auch weil sich manch einer • seit 2017 Aufsichtsratsvorsitzender des Spitzenmann der CDU und sogar Regie- an dem – durchaus branchenüblichen – Ta- Flughafens Köln/Bonn rungschef auf. Dann hätte sich Blackrocks gessatz von 5000 Euro stieß, den Merz Personalentscheidung ganz unerwartet und seine Truppe in Rechnung stellten. Laschet hat Friedrich Merz eingebunden, aus gezahlt und Larry Fink einen Draht ins Lukrativ waren seine Jahre in der Wirt- weil die NRW-Unternehmerschaft der Kanzleramt. Die Aussicht darauf jedenfalls schaft allemal. Als Aufsichtsrat der Deut- CDU bei der Wahl 2012 die Gefolgschaft erklärt, warum Blackrock Merz nicht schen Börse bezog er ein Festgehalt von versagt hat«, sagt der Grünen-Abgeordne- längst von seinen Aufgaben entbunden gut 100 000 Euro, die Position bei Black- te Johannes Remmel. »Jetzt will er an die hat, wie es letztlich korrekt wäre. rock soll ihm einen eher niedrigen sechs- Unternehmer das Signal senden: Ihr seid Stattdessen will Merz, parallel zum stelligen Betrag einbringen. Als Mayer- bei der CDU bestens aufgehoben.« CDU-internen Wahlkampf mitsamt Tingel- Brown-Partner dürfte die Vergütung noch Im Wirtschaftsflügel der CDU dürfte tour durch die Provinz, weiter Termine höher gewesen sein, ehe er sich dort 2014 Merz leichtes Spiel haben. An der Basis für Blackrock wahrnehmen und noch An- auf eine Rolle als Berater zurückzog. und bei den Wählern dagegen könnten sei- fang Dezember eine Aufsichtsratssitzung Doch bei aller Umtriebigkeit in der ne Jahre in der freien Wirtschaft, vor allem leiten – also just dann, wenn in Hamburg Wirtschaft hat Merz nie seine politischen aber das Engagement bei Blackrock, zum der Parteitag ansteht, der zur Krönung sei- Interessen aus den Augen verloren. Vor al- Problem werden. »Wenn jemand, der eine ner Karriere führen soll. In dieser Gemen- lem mit Armin Laschet pflegt Merz enge führende Position bei dem weltweit größ- gelage den Überblick zu behalten könnte Bande. Nordrhein-Westfalens Ministerprä- ten Finanzkonzern einnimmt, einen Par- selbst den Multitasker Merz überfordern. sident schob ihn an die Aufsichtsratsspitze teivorsitz oder gar die Kanzlerschaft an- Tim Bartz, Lukas Eberle, Martin Hesse beim Flughafen Köln-Bonn und schuf An- strebt, dann ist das ungefähr so, als würde fang 2018 extra für ihn den Posten eines der Chef der Deutschen Bank so etwas Video »Beauftragten für die Folgen des Brexit tun«, sagt Gerhard Schick, Finanzexperte Merz’ Karriere im und die transatlantischen Beziehungen«. der Grünen im Bundestag. »Merz ist der Zeitraffer Die Opposition in NRW wirft Merz vor, Kandidat der Finanzindustrie, die CDU spiegel.de/sp452018merz in der Rolle wenig bewegt zu haben. »Ich muss sich gut überlegen, ob sie dieses oder in der App DER SPIEGEL glaube, es ging nicht um den Brexit. Herr Si gnal an die Wähler senden möchte.«

22 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018

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verimi.com Mein digitales Ich ren, man weiß nicht, wie weit es noch abwärtsgehen kann. Zwei Gewissheiten finden nach den Wahlen in Bayern und Hessen immer mehr An- hänger in der SPD. Erstens: Wir müssen raus aus dieser Großen Koalition. Zweitens: Mit den beiden an der Spitze, Nahles und Finanzminister Olaf Scholz, kann kein Neuanfang gelin gen. Klingbeil weiß das, er bekommt mit, was geredet wird. Die Fra- ge ist, wie er sich entscheidet: Kämpft er an Nahles’ Seite und geht womöglich mit unter? Oder setzt er sich ab? Noch mal ins Einstein, zum Rührei, zur guten Laune, die noch einen anderen Grund hat als den Besuch im Wahlkreis. Klingbeil hat am Tag zuvor auch noch einen Gastbeitrag veröffentlicht, auf t-online.de, Überschrift: »Eine neue SPD wird gebraucht«. Klingbeil sagt: »Ich habe wahnsinnig viele Reaktionen bekommen. Und ganz überwiegend positiv.« Die SPD, fordert er in sei- nem Beitrag, müsse sich »ra- dikal verändern«. Mit einer »Politik der kleinen Schritte«, EMMANUELE CONTINI / IMAGO EMMANUELE CONTINI wie man sie in der Koalition Sozialdemokraten Nahles, Klingbeil: »Natürlich kriege ich ordentlich Feuer« betreibe, erreiche man die aus- einanderdriftenden Pole der Gesellschaft nicht mehr. Es ist eine kritische Bestandsaufnahme, kein An- griff auf Nahles und Scholz. Jedenfalls kein Nett bis zum Ende frontaler. Trotzdem kann der Text seiner Chefin SPD nicht gefallen haben. Klingbeil bringt ein Generalsekretär Lars Klingbeil verkörpert das Dilemma Grundeinkommen ins Spiel, obwohl er der Partei. Soll er sich von der Koalition weiß, dass Nahles hier skeptisch ist. Er und Andrea Nahles absetzen – oder mit untergehen? lobt, dass die Grünen »beim Klimawandel eine Vision über den Tag hinaus« hätten – nachdem Nahles kürzlich davor gewarnt ls sich Lars Klingbeil am Mittwoch- Jahr wurde er zum Generalsekretär ge- hat, die Grünen zu imitieren. Und er preist A morgen im Berliner Café Einstein wählt, bei der Bundestagswahl hatte er als Vorbild »für die zukünftige Ausrich- eine Portion Rührei bestellt, hat er seinen Wahlkreis mit einem für sozialdemo- tung der SPD« die Regierungschefs von ziemlich gute Laune. Für einen SPD- kratische Verhältnisse fast schon märchen- Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, Malu Generalsekretär ist das dieser Tage eine haften Ergebnis von gut 41 Prozent gewon- Dreyer und Stephan Weil. Je häufiger man beachtliche Leistung, doch Klingbeil hat nen, nun sollte er sich um die »Erneuerung« den Text liest, desto mehr Distanz zu Nah- den Vortag in seinem Wahlkreis in der der SPD kümmern. Der Parteichef hieß les und Scholz erkennt man darin. Lüneburger Heide verbracht. Erst um Martin Schulz, der Zustand der Partei war Deren Lage ist fatal. Nach gerade mal Mitternacht ist er wieder nach Berlin ge- desolat, aber eigentlich konnte es nur noch einem halben Jahr wird über die beiden kommen. aufwärtsgehen. Dachte man. in der Partei so schlecht geredet wie über Was ist das Schöne am Wahlkreis? Elf Monate später ist Klingbeil zum Ge- Sigmar Gabriel nach sieben Jahren. Öf- »Dass mich da noch Leute mögen.« sicht der SPD-Misere geworden, weil er fentlich ist das erst in Ansätzen sichtbar, Klingbeil grinst. Nur ein Scherz. Oder? an Wahlabenden als erster Genosse vor doch intern hört man immer häufiger, mit »Na ja«, sagt Klingbeil. »Natürlich krie- die Kameras treten und erklären muss, wa- Nahles und Scholz gehe es nicht. »Pippi ge ich da auch ordentlich Feuer für das, rum die Partei in Bayern nur knapp 10 Pro- Langstrumpf und der Mann von der Ham- was wir hier in Berlin machen.« Kurze Pau- zent oder in Hessen gerade mal 20 Prozent burg-Mannheimer«, solche Spottnamen se. »Aber das muss man halt aushalten.« geholt hat. Davon abgesehen, war von ihm kursieren über die beiden. Lars Klingbeil, 40, steht wie kein ande- als Generalsekretär bislang nicht sehr viel Was ihnen vorgeworfen wird: dass sie rer für den Zustand der SPD, für ihre Zer- zu sehen. Die Parteichefin heißt Andrea die Gefühlslage der Partei nicht wahrnäh- rissenheit, ihr Dilemma. Vor knapp einem Nahles, von Erneuerung ist nichts zu spü- men, dass sie mit Spiegelstrichen kämen,

24 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Deutschland wo es ums Überleben gehe. Dass sie das doch ein Grund dafür, warum die SPD heu- ergriff dann ein Abgeordneter nach dem Versprechen nicht einlösten, zu regieren te so schlecht dasteht.« anderen das Wort und meldete Zweifel an. und zugleich die Partei zu erneuern. Klingbeil ist in seiner Karriere nicht als Klingbeil, damals Chef der Gruppe, ließ Auch über Klingbeil wird schon geläs- wandelndes Brecheisen aufgefallen. Er ge- die Debatte laufen und reihte sich bei den tert. Er habe kein eigenes Thema, keine hört zum konservativen Seeheimer Kreis, Skeptikern ein: Viele Kommunalpolitiker Strategie, trete kaum in Erscheinung, sei kann aber auch gut mit vielen Parteilinken, hätten sich an ihn gewandt, es fehle das im Vergleich zu früheren Generalsekretä- weshalb ihn manche etwas beliebig finden. Vertrauen in Gabriel. ren ein Leichtgewicht. Es wird nicht mehr Seine Altersgenossen in der SPD nahmen Sollte Gabriel damals noch Ambitionen lange dauern, dann ist auch er beschädigt. ihn lange als den netten Lars wahr, von auf die Kandidatur gehabt haben, wäre Die Zeit drängt also, aber in der SPD dem man nichts zu befürchten hatte. Nur dies wohl das Ende gewesen. Der Weg war wird erst mal weitergeredet, zum Beispiel frei für Martin Schulz – der dann später in einem »Debattencamp«, bei dem am Klingbeil zum Generalsekretär machte. nächsten Wochenende zwei Tage lang Er habe zuletzt überlegt Die nächsten Wochen werden entschei- über die Zukunft der Partei diskutiert wer- und mit sich gerungen, dend sein. Sollte die CDU Friedrich Merz den soll. Währenddessen erteilt ausgerech- zum Chef wählen, hätte sich die Große net die CDU der SPD eine Lehrstunde in sagen Leute, die viel mit Koa lition wahrscheinlich ohnehin erledigt. innerparteilicher Demokratie. Die Genos- ihm reden. Für den Moment wäre dann ein sozial- sen kungeln die Besetzung ihres Chefpos- demokratisches Problem gelöst, zumal wo- tens ja lieber im Hinterzimmer aus, statt möglich endlich wieder mehr Platz in der mehrere ernst zu nehmende Kandidaten dass der Lars dann plötzlich Generalsekre- politischen Mitte wäre. Aber dann? Sollte gegeneinander antreten zu lassen. tär war und sie nicht. Er hatte sich, den ge- etwa Olaf Scholz im Fall einer Neuwahl Was also macht Klingbeil? Bleibt er wonnenen Wahlkreis im Rücken, zum Kanzlerkandidat werden wollen, dürfte loyal, oder setzt er sich ab? Leute, die viel richtigen Zeitpunkt ins Spiel gebracht. sich breiter Widerstand formieren. mit ihm reden, sagen, er habe in den ver- Was Klingbeil hat: ein Gespür für das Wer ihn anführen würde? Womöglich gangenen Wochen mit sich gerungen. richtige Timing. Vor gut zwei Jahren kam Juso-Chef Kevin Kühnert. Spätestens Habe überlegt. Und dann entschieden, erst es zu einer denkwürdigen Sitzung der nie- dann müsste sich Klingbeil entscheiden. mal so weiterzumachen wie bisher. dersächsischen SPD-Bundestagsabgeord- »Lars ist einer derjenigen an der Spitze, »Wir müssen jetzt alle gemeinsam so neten. Damals gingen weite Teile der Par- die den Ernst der Lage erkannt haben«, schnell wie möglich unsere offenen inhalt- tei noch davon aus, dass Sigmar Gabriel sagt Kühnert. »Wir haben ein sehr gutes lichen und strukturellen Fragen klären«, die Kanzlerkandidatur 2017 übernehmen Verhältnis.« Christoph Hickmann sagt er dazu. »Der ganze Personalstreit ist würde. In der Sitzung der Landesgruppe Deutschland

rechte Allianz formiert. In Deutschland Erfolgreich ist die Kampagne gegen das treibt vor allem die AfD die Kampagne UN-Abkommen vor allem deshalb, weil Kampagne voran. Falschmeldungen und Halbwahrheiten Auf einer eigens eingerichteten Website kursieren, eine breite öffentliche Debatte zählt eine Uhr den Countdown bis zur hat es nicht gegeben. Was also steht wirk- der Angst Unterzeichnung. Parteichef Jörg Meuthen lich in dem Abkommen? behauptet auf Facebook, Merkel wolle »al- Zunächst einmal, dass es sich um einen Rechtspopulisten Die AfD und ihre len Migranten weltweit den Zugang nach »rechtlich nicht bindenden Kooperations- Unterstützer attackieren ein Deutschland ermöglichen«. Und die Me- rahmen« der Internationalen Gemein- dien würden es verschweigen. Der Abge- schaft handle. Der Pakt bekräftigt das UN-Abkommen zum Migranten- ordnete Markus Frohnmaier warnt vor »souveräne Recht der Staaten, ihre natio- schutz. Die Propagandaaktion einem »rechtlichen Korsett« für Merkels nale Migrationspolitik selbst zu bestim- beruht auf Halbwahrheiten. »Chaos«. men«. Migranten werden rechtlich auch Die Skepsis reicht inzwischen bis in kon- nicht mit Flüchtlingen gleichgestellt, das servative Unionskreise hinein. »Ich fürch- geht bereits aus der Präambel hervor. lice Weidel blickt direkt in die Ka- te, dass in die nationale Souveränität Der Pakt formuliert 23 Ziele. Die mera. Sie lächelt kurz. Dann ent- Deutschlands in Migrationsfragen einge- Staaten wollen Fluchtursachen bekämpfen A wirft sie ein Horrorszenario: Sie griffen wird«, sagt der Vorsitzende der und verbesserte legale Wege für Arbeits - warnt vor einem geplanten »Umsiedlungs- Werteunion, Alexander Mitsch. Es sei migranten schaffen. Das Abkommen be- programm, das in Europa keinen Stein besorgniserregend, wenn es heiße, Wirt- kennt sich zur Realität globaler Migration, mehr auf dem anderen lässt«. Bald werde schaftsmigranten könnten dieselben Rech- es will sie fördern, so wie es die Bundes- der »millionenfachen Einwanderung von te eingeräumt werden wie Kriegsflüchtlin- regierung mit dem Fachkräftezuwande- Afrika nach Europa Tür und Tor« geöffnet. gen, der Unterschied zwischen legaler und rungsgesetz plant. Auch der geregelte Den Migranten würden dabei gleiche illegaler Migration werde verwischt. Im Wechsel von der illegalen in die legale Rechte eingeräumt wie der »Ursprungs - November wird der Migrationspakt The- Migration soll erleichtert werden, in bevölkerung«. Sie zeichnet ein Bild, nach ma im Bundestag sein. Mitsch will eine Deutschland wird das unter der Über- dem Afrikaner die deutschen Sozialsys - Abstimmung darüber durchsetzen. schrift »Spurwechsel« debattiert. teme überschwemmen würden, auf den 190 von 193 UN-Staaten wollen das Ab- Zugleich wollen die Vereinten Nationen Steuerzahler kämen unkalkulierbare Risi- kommen Anfang Dezember in Marokko gegen Menschenhändler und Schlepper ken zu. Das alles stünde kurz bevor. unterzeichnen. Allerdings erklärte der vorgehen. Die Verfahren an der Grenze Auslöser für Weidels Videotirade ist ein österreichische Bundeskanzler Sebastian sollen besser organisiert und international UN-Migrationsabkommen, das fast alle Kurz am Mittwoch seinen Rückzug – nach koordiniert werden. Und anders als Geg- Staaten der Welt unterzeichnen wollen. Es den USA, Australien und Ungarn. Es dürfe ner suggerieren, erlaubt es der Pakt auch geht um die Kontrolle von Wanderungs- durch den Pakt kein »Menschenrecht auf weiterhin, Migranten zu internieren – aller- bewegungen und den Schutz der Migran- Migration« entstehen, heißt es aus der dings als letztes Mittel. Die Staaten sollen ten vor Gewalt und Diskriminierung. österreichischen Regierung. Und möglicher- sich bemühen, alternative Maßnahmen Der »Global Compact for Migration« weise werden noch weitere Staaten aus- zu finden. ist von eher symbolischem Wert. Trotz- steigen: In Tschechien, Polen und Däne- Von einem »Menschenrecht auf Migra- dem hat sich gegen das Abkommen eine mark mehrt sich Widerstand. tion« kann daher keine Rede sein. Wohl aber von Menschenrechten für Migranten, eigentlich eine Selbstverständlichkeit für Staaten, die sich westlichen Werten und der Aufklärung verbunden fühlen. Der Pakt verspricht Einwanderern Zu- gang zu Gesundheitsleistungen. Allerdings müssen sie dabei nicht Staatsangehörigen oder der »Ursprungsbevölkerung« gleich- gestellt werden, wie es bei Weidel heißt. Generell sollen Migranten nicht diskri - miniert, sondern in die Bevölkerung integriert und so gefördert werden, dass sie der Wirtschaft der Aufnahmeländer nutzen. Grundsätzlich bewertet das UN-Ab- kommen Migration als etwas Gutes, als Quelle des Wohlstands und der Innova- tion, und gerade das dürfte die Gegner des Abkommens besonders stören. Man dürfe, so behauptet Weidel in ihrer Videobot- schaft, Migration nur noch »durchweg posi tiv« wahrnehmen: »Politische Korrekt- heit ersetzt Meinungsfreiheit.« Das steht nicht im Abkommen – wohl aber, dass der öffentliche Diskurs zum Thema Migration auf Fakten und Daten SANTI PALACIOS / PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO / DPA ALLIANCE / AP PHOTO / PICTURE PALACIOS SANTI basieren solle. Nicola Abé Migranten an der spanischen Grenze zu Marokko: Quelle des Wohlstands?

26 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 www.volkswagen.de Deutschland steigt um.

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¹Ab dem 18.10.2018 und bis auf Weiteres erhalten Sie beim Erwerb (Kauf, Leasing, Finanzierung) eines neuen Dieselfahrzeugs oder Jahreswagens der Marke Volkswagen Pkw und nachgewiesener Verwertung Ihres Diesel-Pkw-Altfahrzeugs (Abgasnorm Euro 1 bis 4) eine modellabhängige Umweltprämie von bis zu 5.000 € (am Beispiel Golf). Das Angebot gilt für private und gewerbliche Einzelkunden. Das zu verschrottende Altfahrzeug muss zum Zeit- punkt der Neufahrzeugbestellung oder der Zulassung des Jahreswagens mindestens 6 Monate auf Sie zugelassen sein und bis spätestens drei Kalender- monate nach Zulassung des erworbenen Fahrzeugs durch einen zertifizierten Verwerter verschrottet werden. ²Im Aktionszeitraum vom 01.04.2018 bis 30.06.2022 erhalten Sie beim Erwerb (Kauf, Leasing, Finanzierung) eines neuen Volkswagen Pkw oder Jahreswagens eine modellabhängige Prämie von bis zu 10.000 € (am Beispiel Touareg), wenn der von Ihnen im Zeitraum 01.04.2018 bis 31.12.2018 in Deutschland gekaufte Volkswagen Pkw Diesel Euro 6 von einem offiziellen Einfahrverbot zum Zwecke der Luftreinhaltung mindestens an einem Tag betroffen ist und die Neubestellung innerhalb des Monats des Einfahrverbots bzw. des darauf direkt folgenden Monats erfolgt. Der Zeitraum zwischen Zulassung des aktuellen Fahrzeugs und dem relevanten Einfahrverbot darf maximal 36 Monate betragen. Das Angebot gilt für Privatkunden und gewerbliche Einzelkunden. ³Ab dem 18.10.2018 und bis auf Weiteres erhalten Sie beim Erwerb (Kauf, Leasing, Finanzierung) eines Neufahrzeugs oder Jahreswagens der Marke Volkswagen Pkw mit mindestens Abgasnorm Euro 6 eine modellabhängige Wechselprämie in Höhe von bis zu 7.000 € (am Beispiel Passat) bei gleichzeitiger Inzahlungnahme eines Altfahrzeugs (be- liebiger Hersteller) mit der Abgasnorm Euro 4 oder Euro 5 mit Dieselmotorisierung. Das Angebot gilt für private und gewerbliche Einzelkunden, die in den von der Bundesregierung klassifizierten, besonders belasteten Schwerpunktgebieten sowie deren angrenzenden Landkreisen ihren Wohnsitz haben und ein am Stichtag 02.10.2018 auf sie zugelassenes Fahrzeug in Zahlung geben. Die Inzahlungnahme des Altfahrzeugs durch einen teilnehmenden Volkswagen Partner muss bis spätestens drei Kalendermonate nach Zulassung des erworbenen Fahrzeugs erfolgen. Nähere Informationen erhalten Sie unter www.volkswagen.de oder bei Ihrem teilnehmenden Volkswagen Partner. Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Stand 10/18. Deutschland

Der Mauerfall jährt sich am Freitag zum 29. Mal. Kein rundes Jubiläum, aber es fällt in eine besondere Zeit. Im Osten zeigt sich schon seit Längerem ein Befremden am Westen und ein Umbruch in der Parteienlandschaft, nun zeigt sich der Umbruch auch in Wahlen im Westen. Kanzlerin Angela Merkel, erste Ostdeutsche im Amt, wackelt. Gibt es noch Einigendes im Land?

Es war gut, dass die DDR verschwunden war. Es war nicht Aus Glück gut, zu übersehen, dass viele der vormals Unfreien gelernt hatten, wie innere Freiheit zu erreichen ist. Es war nicht gut, zu missachten, dass Menschen, die den Unterschied zwischen vorher und nachher kennen, mehr wissen als diejenigen, die verpflichtet nur das Leben kennen, das so ist, wie es immer war. Es war zwar richtig, zu benennen, dass der Drill auf den Sozialismus überwiegend menschenfeindliche Züge gehabt hat, aber West Was man sich so vom Osten es war falsch, dabei nicht zu erkennen, dass er gleichwohl den Blick auf soziale Fragen, auf Fragen der Gerechtigkeit und den Ostdeutschen abgucken kann. geschärft hat. Und es war nicht gut, zu verleugnen, was Von Susanne Beyer Brüche im Leben bedeuten können. Mal drücken sie nieder, man verzagt, wird bitter gegenüber denjenigen, die die Herausforderungen zu bewältigen wissen. Mal bewältigt man sie und wächst über sich hinaus. inmal im Jahr bepackten wir unseren Peugeot mit In den Neunzigerjahren pendelte ich zwischen Hamburg Dosenananas, Kaffee und – ja, Bananen, und dann und . Hamburg blieb immer gleich, Dresden war E fuhren meine Eltern, meine Schwester und ich von immer neu. Und die Gespräche mit Leuten, deren Leben sich West nach Ost. In Helmstedt, an der Grenze, emp - geändert hatte, waren aufregend. Politische Kriterien hatten fingen uns Volkspolizisten in Grau, sie schoben Spiegel unter diese Leute immer, und auch wenn es nicht die eigenen wa - die Wagen, stocherten im Tank herum. Wir waren erleichtert, ren – was soll’s? Lieber streiten als schweigen. wenn wir es auf die andere Seite geschafft hatten. Die alte BRD war ein Land – schon vergessen? –, das an Wir trafen unsere Verwandten bei einer Cousine mei- Depressionen litt: Angst vor dem Atomkrieg, vor ner Mutter im Thüringer Wald. Ich freute mich auf die Reaktorunglücken, Arbeitslosigkeit, Waldsterben. Klöße meiner Tante, die mir besser schmeckten als Junge Leute sehnten sich nach der Lebensart das Fertigzeug, das es im Westen selbst in Restau- Italiens, Frankreichs, der USA. Und wie hässlich rants gab. Ich freute mich auf den Wald, der aus- die Städte im Westen des Westens waren, nicht sah wie in Grimms Märchen, verschlungen und mal Stühle standen vor den Cafés. mit dickem Moos und ohne die Teerstraßen, die Die DDR und die alte BRD wetteiferten, ich aus Wäldern des Westens kannte. Ich freute welches Land das bessere sei. Besser als beide mich auf die Gespräche. Weil sonst nicht viel los Länder ist die neue Bundesrepublik. Für war, waren die Gespräche in den Küchen und beide Teile war die Einheit eine Befreiung. Wohnzimmern lebendig. Politik stand im Zentrum Wie gut für jene Ostdeutsche, die das zu schätzen und lieferte Stoff. Ich freute mich auf die drei Söhne wissen, wie schade für jene Westdeutsche, die das meiner Tante, die von ihren Eltern zu Musikern erzogen immer noch nicht merken. wurden, damit sie sich in der DDR auch außerhalb des Hau- Am Freitag feiern die Deutschen den 29. Jahrestag des ses frei würden ausdrücken können, denn die Sprache der Mauerfalls. Die Mauer hat 28 Jahre lang gestanden, nun Musik war für die Spitzel der Stasi kaum zu fassen. ist sie länger weg, als es sie gegeben hat. Doch durch Über Tauschgeschäfte waren drei Flügel ins Haus gekom- den Rechtsruck vor allem in Sachsen, durch scheußliche men, an einem warmen Tag improvisierte einer der Söhne am Kommentare von dort Richtung Westen und zurück Flügel im Wohnzimmer, die Fenster standen offen, er spielte haben sich Ost und West wieder entfremdet. erst die Hymne der DDR, dann die der Bundesrepublik, dann Aus solchem Unglück ergibt sich die Pflicht, es besser verschränkte er die Melodien. Ich lief um ihn herum, er möge zu machen. Aber auch Glück verpflichtet, nämlich dazu, das doch bitte lassen, was denn die Leute im Dorf denken es sich bewusst zu machen. 2013, als sich die innere Teilung würden. Ich war in diesem Moment nicht so frei wie er. zwischen Ost und West wieder abzeichnete (2014 gründete Äußerlich frei zu sein bedeutet nicht automatisch, innerlich sich die Pegida-Bewegung), beschloss meine ost-west- frei zu sein. Natürlich sollte die äußere Freiheit das Ziel sein, deutsche Familie, sich von nun an alle zwei Jahre zu treffen, die Normalität. Was für eine Erleichterung, als 1989 die Mau- um das Glück der Geschichte, die Einheit, zu feiern. er fiel – endlich Normalität. Meine mütterliche Familie war Mein Cousin von damals am Klavier ist ein enger Freund 1945 aus Schlesien geflohen, nur durch Zufälle waren die geworden. Wir treffen uns in Restaurants, Fertigkost einen in Thüringen gelandet, die anderen im Westen. Nie ist uns bisher nicht untergekommen, draußen stehen Stühle. hatte einer von uns die Teilung akzeptiert. Wir gehen in Konzerte, vor zwei Wochen in die Elb - Weil wir Westdeutschen die äußere Freiheit mitbrachten, philharmonie, denn endlich tut sich auch in Hamburg et- beanspruchten wir, die Sieger der Einheit zu sein. Die beiden was, selbst eine westdeutsche Metropole kann sich zum Staaten verschränkten sich nicht, jedenfalls nicht der Westen Besseren verändern. mit dem Osten, denn nur die Bundesrepublik blieb, ihre Hym- Ich weiß nicht, warum immer er es ist, der es zuerst merkt, ne blieb, man konnte in Quakenbrück oder Pforzheim leben, jedenfalls sagt er jedes Mal: »Gut haben wir’s.« Und ich sag ohne dass sich etwas änderte – war das gut? dann: »Stimmt.« I

28 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 war kein Kompliment, wenn es aus ostdeutschem Munde kam. Manchmal klang es, als wollte man mir Verrat vorwer- Die Kunst der fen. Aber sollte ich nun ewig als Ostdeutscher gelten wollen? Zum Glück kam ich aus Berlin, Berlin war Ost und West und beides durcheinander. Wo kommsten her? Berlin. Es war gut so, wie alles verlief, für mich. Selbstanpreisung Es war nur anstrengend, dabei keinen angestrengten Ein- druck zu machen. Es war klar, dass wir aus dem Osten alle Ost Was man sich so vom Westen irgendwie verseucht waren durch die 40 Jahre Zone. Im Umkehrschluss hätten alle, die 40 Jahre in der Freiheit gelebt und seinen Bewohnern abgucken kann. hatten, lebensfrohe Freiheitsliebhaber sein müssen. Das war Von Stefan Berg aber nicht so. Ich lernte: Freiheit ist doch mehr eine innere Haltung als ein Resultat der Rechtsordnung. Den Mühen der Unebenheiten folgten die Freuden der Radtouren. Ich erschloss mir den Westen auf langen Fahrten om ersten Tag an bot mir die deutsche Einheit die an den Flüssen entlang: Main, Rhein, Altmühl, Mosel, Saar. Chance hinzuzulernen. Von Westdeutschen. Das Es gab den Westen gar nicht, es gab die Westen. Will sagen: V begann mit einem Mann, der an unserer Wohnungs- Die Vielfalt hat mich begeistert – der Kultur, der Traditionen, tür klopfte: Gegeltes Haar, knallgelbes Sakko, Dialekt der Dialekte. Ein Bild habe ich vor Augen. Ich war zu Besuch schwäbisch, das wusste ich aber damals noch nicht. Klar im Kloster Weltenburg, Biergarten inklusive. Eine seltsame könne er reinkommen. Schon saß er in unserem neuen Ikea- Einheit von Seligkeit und Bierseligkeit, Katholizismus und Sessel. Dann ganz freundlich: Also, wir müssten ausziehen. Alkohol. Früh am Morgen kamen die Kellnerinnen in ihren Nach der Sanierung könnten wir (»könne mir«) uns die Trachten auf Mopeds angeknattert. Nebel über der Wohnung nicht mehr leisten (»leischte«). Er wippte Donau. Lange Schleifen flatterten im Fahrtwind. im Ikea-Sessel. Dann: Auf Wiedersehen, ganz Wie ein motorisierter Trupp Engel. freundlich, als wäre er ein Märchenprinz. Solch Um dieses bruchlose Verhältnis zur eigenen eine schlechte Nachricht so freundlich überbrin- Geschichte beneide ich manche Westdeutsche. gen, das hätte ich nicht fertiggebracht. Das muss- Die DDR hatte unsere Wurzeln gekappt. Reli - te ich lernen. Es gab auch genug Möglichkeiten. gion? Opium für das Volk. Bürgertum? Bour- Denn nun klingelte es ständig an unserer Tür: geoisie – in den Mülleimer der Geschichte. Und Vertreter. Vertreter kannten wir nicht. Natürlich nun Bayern: Hier hörte ich ein Wort, das ich wurde in der DDR auch vertreten. Man vertrat eine Ewigkeit nicht gehört hatte: »artig«. Und sich die Beine, oder jemand vertrat den Vorsitzen- »Zugehfrau«. Das klingt besser als »Putze«, wie den. Aber keine Firma, auch nicht »die Firma«. der Berliner sagt. Ich würde gern »Zugehfrau« ins Natürlich wurde die Sprache auch in der DDR häufig Berlinische implantieren. Aber das wird scheitern. dazu eingesetzt, Dinge nicht beim Namen zu nennen, son- Im Rheinland erlebte ich eine überraschende Heiterkeit, dern die Wahrheit zu verschleiern. Aber das klappte selten. bis in den Tod. Ich musste zu einer Beerdigung, eine Messe. Das Schlechte kam im Osten miserabel schlecht geschminkt Viele Menschen trugen Trachten. Schwarz dominierte nicht. daher. Das gefiel mir, bis der Schützenverein mit Trommelwirbel Im vormaligen Drüben, also im Westen, musste das kunst- aufmarschierte. Das fand ich etwas übertrieben. Aber immer volle Verstellen Teil der Ausbildung gewesen sein: Vieles wur- noch besser als die wortlosen anonymen Beerdigungen, die de mit vielen Worten übertrieben angepriesen. Man pries sich im Osten schon vielerorts üblich sind. Ohne Trost. Loch in vor allem selbst. Die Kunst der Selbstanpreisung war genau das die Erde und fertig. Die Beerdigung im Rheinland ging in ein Gegenteil von dem, was man mir beigebracht hatte: mich in fröhliches Begängnis über. Geschunkelt wurde nicht. Bescheidenheit zu üben. Anderes wurde plötzlich verschwie- Nur einmal habe ich eine Tour abgebrochen. An der Saar. gen: Gehälter zum Beispiel, in der DDR kein Geheimnis. Erst mal die Postkartenaussicht an der Saarschleife bestaunen. Anstatt mir in kurzen Worten zu erklären, worin meine Dann aber in ein Industriegebiet, düstere Farben, Schmutz Aufgaben bestünden, zog sich mein erstes Einstellungsge- in der Luft. Irgendein gesichtsloser Ort, aus dem Musik spräch ewig lang hin. Ich war in der Rolle des staunenden drang. Aha – da stand auch schon ein Schild: Kirmes. Ehrlich, Zuhörers, die anderen redeten, bestaunten sich gegenseitig, sehr fröhlich sahen die Leute nicht aus. Die Attraktion war dann wurde gegessen. Quälend lang schon die Entscheidung, eine Hüpfburg. Warum sahen die mich so seltsam an? Als ich in welches Lokal man gehen wolle. Ich war mit allem einver- nach dem Weg fragte, eine mürrische Antwort, fast schon standen und bestellte, was mein Nachbar am Tisch bestellte. brandenburgisch. Irgendwann war ich auch mit dem Gehalt, das man mir bot, Später sagte mir einer: das Saarland, das ist doch der Osten einverstanden. Damals rechnete ich noch um in DDR-Mark. vom Westen. Verstehe. Das erklärt einiges, auch in der Poli- Kurs 1 zu 10. Das hörte sich verdammt gut an. tik. Aber davon soll jetzt nicht die Rede sein. Denn am 9. No- HANS-GÜNTHER OED / ACTION PRESS HANS-GÜNTHER OED / ACTION Schon wenige Jahre nach der Wiedervereinigung gab es vember wollen wir uns richtig freuen. Also los.

FOTOS: Menschen, die mich für einen Westdeutschen hielten. Das Man lernt eben einfach nicht aus. I

29 Deutschland

»Nachbesserungen« forderten, sein Partei- entsprechende Modellrechnungen präsen- Gestörte vorsitzender, Heimatminister Horst See- tiert. Demnach könnten Verschärfungen, hofer, verlangte einen »gleichwertigen Aus- wie sie die Politik wünscht, den Erfolg der bau ländlicher und urbaner Regionen«. Auktion insgesamt gefährden. Die durch Frequenzen Was einleuchtend klingt, ist nach Ansicht die weiteren Auflagen entstehenden Kos- vieler Experten aber größtenteils verfehlt, ten würden sogar »den wirtschaftlichen technisch wie wirtschaftlich. Denn die Fre- Wert der Frequenzen übertreffen«, heißt Mobilfunk Bei der Vergabe quenzen, die im Frühjahr versteigert werden, es in einem internen Papier. Das wiederum der neuen Handynetze wieder- können zwar viele Daten transportieren, eig- könnte Klagen der Konzerne nach sich zie- nen sich aber kaum für eine flächendecken- hen – und das Verfahren weiter verzögern. holt die Regierung Fehler der de Versorgung. Die neu zu errichtenden Einmal ist die Auktion bereits verschoben Vergangenheit. Fällt Deutschland Funkmasten nämlich können damit jeweils worden. im digitalen Wettbewerb zurück? nur einen kleinen Radius abdecken. Entsprechend genervt ist man im Bon- Das heißt: Betreiber wie Deutsche Te- ner Hauptsitz der Bundesnetzagentur – lekom, Vodafone oder Telefónica müssten zumal es die Politik versäumt hat, der Be- orige Woche war er in Albanien, das Land mit einem dichten Wald an Funk- hörde rechtzeitig mehr Spielräume und V und wer wollte, konnte ganz nah da- masten überziehen, um die politisch ge- Rechte zuzugestehen, um zum Beispiel bei sein: Andreas Scheuer (CSU), wünschte Flächendeckung zu erreichen. Anbieter in wirtschaftlich weniger lukrati- Bundesminister für die digitale Infrastruk- Jeder einzelne 5G-Mast dürfte mit deutlich ven Gebieten zum Aufbau gemeinsamer tur, lässt sein Wirken, seine Auftritte und mehr als 100000 Euro zu Buche schlagen. Netze zu bewegen. So ließen sich mögli- Reisen akribisch digital dokumentieren. Das wären für die ganze Republik zwei- cherweise Milliardenbeträge einsparen. Scheuer vor dem Nationalmuseum, Scheu- stellige Milliardenbeträge – pro Anbieter. Bis Ende des Monats soll die Behörde er mit Minister, Scheuer beim Spaziergang Die Politik könnte das wissen, denn die nun aus dem verunglückten Verfahren das mit der deutschen Botschafterin – die Be- Netzagentur hat intern schon vor Wochen Beste machen und ihre finalen Vergabe- legbilder landeten alsbald auf Flickr, Insta - vorschläge präsentieren. In einigen Punk- gram und Facebook. Womöglich sogar ten wird sie dem Druck nachgeben – so schneller als bei Reisen durch seinen Wahl- Handynetze in Europa sollen die Betreiber nun auch verpflichtet kreis in Passau. werden, an Landstraßen leistungsstarke Qualität der Download- Denn auch für Albanien gilt, was ihm Netze aufzubauen, heißt es aus der Regu- 4G-Abdeckung* Geschwindigkeit* seine Amtskollegen bei fast jeder Auslands- lierungsbehörde. reise unter die Nase reiben: Die ausländi- In der bisherigen Planung hatte sie da- schen Netze sind moderner und deutlich Niederlande rauf verzichtet, weil »die hiermit verbun- 95% 8,2 Mbps schneller als die in Deutschland – wo die denen Ausbaukosten außer Verhältnis« Kunden für schlechteren Service oft deut- stünden – so steht es noch im letzten Ent- lich mehr bezahlen. Wenn sie denn über- wurf der Auktionsregeln. Allein für die haupt eine Verbindung bekommen: Seit Schweiz Versorgung der Landstraßen mit der der- dieser Woche können die Bürger des größ- 94% 10,5 Mbps zeit schnellsten, vierten Mobilfunkgenera- ten Industriestandorts Europas dem Staat tion müssten die Betreiber zwischen 895 per App immerhin Funklöcher melden. Millionen und drei Milliarden Euro zusätz- Scheuer erklärt den Zustand gern für Belgien lich kalkulieren, haben Gutachter für die »nicht akzeptabel«. Dabei ist er es gerade 94% 6,8 Mbps Netzagentur ausgerechnet. selbst, der die Fehler der Vergangenheit zu An anderer Stelle will man den Konzer- wiederholen droht. Unter Scheuers Auf- nen deshalb entgegenkommen: Sie wer- sicht organisiert die Bundesnetzagentur im Dänemark den die vom Bund erhofften Milliarden kommenden Frühjahr eine Auktion von 90% 8,3 Mbps wohl nicht auf einen Schlag berappen müs- Frequenzen für den nächsten Mobilfunk- sen, sondern können sie über viele Jahre standard namens 5G. Seitdem die Exper- abstottern – damit sie die Mittel für den ten ihre ersten Ideen für die Auflagen um Polen politisch gewünschten schnellen Netzaus- die Vergabe verkündet haben, ist der Streit 86% 6,9 Mbps bau zur Verfügung haben. unter den möglichen Anbietern entbrannt. Das ist gut gemeint; doch der große Bei 5G geht es nicht nur um ultraschnel- Wurf wird damit kaum gelingen, es droht le Downloads von Filmen für Privatkun- Österreich weitere Flickschusterei. Für die im Koali- 8,2 Mbps den – die Technik soll die Basis für neue 84% tionsvertrag formulierten Ziele, Deutsch- Anwendungen wie autonomes Fahren und land müsse in Sachen 5G »Weltspitze« den Datenaustausch in der Telemedizin werden, hätte es mehr politischen Mut ge- oder der IT-gestützten Landwirtschaft lie- braucht. Doch entsprechende Vorschläge Frankreich fern. Es geht also um eine wesentliche Vo- 84% 6,4 Mbps drangen in Berlin nicht durch. raussetzung für den Erfolg des Wirtschafts- Im weltweiten Wettbewerb um das standorts Deutschland in den nächsten Mobilnetz der Zukunft geben andere den Jahrzehnten. Eigentlich brauchte es dafür Ton an. Vorige Woche rief US-Präsident eine Art Masterplan, der auch andere Albanien Donald Trump eine 5G-Taskforce ins Le- 80% 9,4 Mbps Technologien wie Glasfaser einbezieht. ben, die Amerika zum Vorreiter beim ul- Doch der ist nicht in Sicht. traschnellen Mobilfunk machen soll. Oder, Stattdessen dominiert ein Sperrfeuer wie es auch bei diesem Thema im Trump- aus Konzerninteressen und populistischen Deutschland Jargon heißt: »America First«. 75% 4,9 Mbps Forderungen aus der Politik. Minister Marcel Rosenbach, Gerald Traufetter Scheuer selbst gehörte zu den Ersten, die Quelle: P3 group; *jeweils bester Anbieter

30 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Sie sind klein, grün und könnten die Zukunft des Biokraftstoffs sein.

Algen sind eine erneuerbare Energiequelle. ExxonMobil erforscht ihr Potenzial als Kraftstoff mit geringeren COƥ-Emissionen. Und da Algen in Salzwasser ebenso gedeihen wie auf Böden, die für Nutzpflanzen ungeeignet sind, könnte ein erfolgreicher Biokraftstoff auf Algenbasis der Welt mehr Energie liefern, ohne die globale Nahrungsmittel- und Wasserversorgung zu gefährden. Mehr dazu auf EnergyFactor.de Deutschland »Diebe im Gesetz«

Kriminalität Armenische Mafiagruppen gelten als besonders brutal. Es ist ihnen gelungen, in Deutschland ein breites Netzwerk aufzubauen. Ihre Kontakte reichen in die Welt des Profiboxens und mutmaßlich in diplomatische Kreise.

in Mann schlendert über den Hof Armenische Gruppen, die Behörden der geln Zigaretten und schleusen gegen Geld einer Spielothek in Erfurt. Er zö- Organisierten Kriminalität zuordnen, sei- Migranten. Um sich legal in Deutschland E gert, bevor er sie betritt. Wenige en normalerweise höchst unauffällig und aufhalten zu können, gehen viele Gangster Minuten später rennen zwei ande- eher klein, sagt ein erfahrener Ermittler. Scheinehen mit deutschen Frauen ein. re Männer aus der Spielhalle, offensicht- Zugleich seien sie berüchtigt für ihre Bru- Illegal erworbenes Bargeld investierten lich in Panik. Einer stolpert über die Stühle talität. Sie hätten eine »kurze Zünd- die Kriminellen gern in Immobilien, um im Hof. schnur«, das Abtrennen von Gliedmaßen es in den legalen Kreislauf zu bringen, Aus Pistolen blitzt Mündungsfeuer, so als Bestrafung gehöre »zum guten Ton«. glaubt die Polizei. Clanmitglieder nutzten ist es auf dem Video einer Überwachungs- In einer gemeinsamen Recherche ist ein auch große Bargeldsummen aus dem Aus- kamera zu sehen. Team von MDR und SPIEGEL den Spuren land, um in Westeuropa Immobilien zu Rund 20-mal wird auf die Männer ge- der Erfurter Schießerei nachgegangen und kaufen. schossen, dennoch können beide fliehen, auf ein armenisches Netzwerk gestoßen, Dass das Geld aus illegalen Quellen einer wird schwer verletzt, in dieser Nacht dessen Kontakte in die Welt des Profibo- stammt, konnten die Ermittler allerdings im Juli 2014. xens reichen – und mutmaßlich auch in di- nicht belegen. Trotz etlicher Indizien Drei Jahre später verurteilt ein Gericht plomatische Kreise. mussten sie Verfahren einstellen, weil die in Erfurt einen Schützen zu einer mehr- Das Rechercheteam konnte den vertrau- Beweise nicht ausreichten. Die Abschot- jährigen Haftstrafe, vier weitere Männer, lichen Abschlussbericht eines groß ange- tung in den Gruppen sei extrem hoch, sagt die das Gericht zur Gruppe der Schützen legten Projekts des Bundeskriminalamts einer. zählt, erhalten Bewährungsstrafen. Ande- (BKA) auswerten. Gemeinsam mit Kolle- Wie zäh die Nachforschungen sind, er- re, die zugegen waren, sind im Verfahren gen aus sechs Landeskriminalämtern ha- fuhren die Thüringer Beamten, als sie he- Zeugen. So auch der Mann, der über den ben die BKA-Beamten im Projekt Fatil rauszufinden versuchten, wer der Mann Hof schlenderte und den die Ermittler für (»Fight against thieves in law« – Kampf ge- vor der Spielothek war. einen Boxer aus Berlin halten. gen Diebe im Gesetz) drei Jahre lang gegen Sie verdächtigten zunächst Karo Murat, Im Dunkeln bleibt, auch nach der Ver- eine armenisch dominierte Mafiagruppe einen Profiboxer, heute 35 Jahre alt, arme- handlung, die Frage nach den Hintergrün- ermittelt. Es war eines der bislang größten nischer Abstammung, Weltmeister der In- den. Die Schüsse scheinen der Höhepunkt Verfahren dieser Art in Deutschland. Aus- ternational Boxing Organization im Halb- einer schon länger währenden Auseinan- löser war die Schießerei in Erfurt. schwergewicht, 36 Kämpfe, drei Nieder- dersetzung zweier Clans der armenischen Deutschlandweit leiteten die Behörden lagen, ein Unentschieden, für viele Exil- Mafia gewesen zu sein. im Rahmen des Projekts 14 Verfahren ein. armenier ein Held. Denkt man an Mafiastrukturen in Die Ermittler durchleuchteten die Finan- Die Polizisten hatten sein Handy am Deutschland, dann fallen einem Italiener zen von 42 Personen, unter anderem we- Tatort geortet, sein Wagen, ein schwarzer ein, vielleicht auch Chinesen, deutsche gen des Verdachts der Geldwäsche. Sie Mercedes, wurde an dem Abend in Erfurt Rocker, arabische Clans oder russische überwachten Telefone und E-Mail-Postfä- gesehen, die Person im Überwachungs- Gangs. Aber nicht unbedingt Mafiosi aus cher. Sie verwanzten Autos, Wohn- und video sah Murat sehr ähnlich. Doch er be- einem kleinen Binnenland im Kaukasus, Geschäftsräume. Verdächtige Personen stritt, dort gewesen zu sein. Er habe zu die- mit knapp drei Millionen Einwohnern und wurden observiert, verdeckte Informanten ser Zeit in Berlin trainiert, seine Freundin einer weltweit versprengten Diaspora. eingesetzt. Auch der Bundesnachrichten- könne das bestätigen. Die Schießerei war vermutlich einer je- dienst und die europäische Polizeibehörde Sein Bruder Koko sagte schließlich aus, ner seltenen Momente, in denen sich die- Europol waren eingebunden. er sei es gewesen, der mit dem Wagen des se normalerweise konspirativ agierende Die Ausbeute ist ernüchternd. Bruders in Erfurt war, er sei erst zu einem Gruppe der Öffentlichkeit offenbarte. Restaurant gefahren, dann zur Spielothek, Der Streit zwischen den armenischen Eine armenische Mafia existiere »tat- rein zufällig, die Männer, die geschossen Clans setzt sich fort. Zunächst in Thüringen, sächlich« in Deutschland, schreiben die Er- hätten, habe er nicht gekannt. Autos brennen, dann eine Gaststätte. Im mittler. Zusammen mit anderen Gruppen Die Polizei ermittelte gegen Koko Mu- Oktober 2017 überfallen mindestens 15 aus dem russisch-eurasischen Bereich ver- rat, wegen Verabredung zu einem Verbre- Männer tagsüber in der Erfurter Innenstadt füge sie über »erhebliche finanzielle Res- chen. Sie durchsuchte seine Wohnung, am ein Restaurant, das einem Armenier gehört. sourcen« und könne »eine Gefährdung für Ende wurden die Ermittlungen eingestellt. Im Mai dieses Jahres prügeln in Göttingen den Rechtsstaat« sein. Den Kurs dieser Der BKA-Bericht spart nicht mit Selbst- mehrere Armenier aufeinander ein. Gruppen bestimmten sogenannte Diebe kritik. Die Ziele der Ermittlungskom- Zwei Wochen später überprüft die Poli- im Gesetz, Kriminelle, die sich einer eige- mission – gerichtsfeste Beweise gegen zei im thüringischen Landkreis Eichsfeld nen Rechtskultur unterordneten. die Täter, das Durchleuchten ihrer Finan- armenische Autohändler, die ebenfalls an- Die armenischen Mafiosi manipulieren zen, die Schwächung der Mafiastruktu- einandergeraten sind. Thüringens Innen- Spielautomaten und ziehen in Banden los, ren – »konnten aus unterschiedlichen minister Georg Maier (SPD) zeigt sich um zu stehlen. Sie rauben Menschen aus Gründen nicht erreicht werden«. Klarer »alarmiert«. oder erpressen sie mit Gewalt. Sie schmug- kann man staatliche Machtlosigkeit ge-

32 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 MDR SASCHA FROMM / THUERINGER ALLG. / WAZ FOTOPOOL / WAZ / THUERINGER ALLG. FROMM SASCHA Überwachungsbild vor Erfurter Spielothek 2014, Polizeieinsatz nach Schießerei »Gefährdung für den Rechtsstaat«

33 Deutschland gen das organisierte Verbrechen nach der Schießerei nach Bel- kaum beschreiben. gien bestellt wurde, vermutlich Die Polizisten berichten auch, von »höherrangigen Gruppen- woran die Ermittlungen schei- mitgliedern«, wie es im BKA- terten: Bis zu 97 Prozent der kri- Bericht heißt, wahrscheinlich minellen Kommunikation liefen wegen der Presseberichte über demnach über verschlüsselte die Schießerei. Er möge gesund Kanäle, zum Beispiel Messen- wiederkommen, sollen Freunde gerdienste, die das BKA nur dem Mann vor seiner Abreise mit einer sogenannten Quellen- noch zugerufen haben. Wie die Telekommunikationsüberwa- Unterredung verlief, ist den chung knacken kann. Um die Fahndern nicht bekannt. Smartphones der Armenier Auf dem Foto sind zwei wei- überwachen zu können, fehlte tere Männer mit freiem Oberkör- den Beamten die geeignete Soft- per zu sehen: Karo Murat, der ware. Was die Kriminellen ei- Boxer, und einer seiner Brüder. nander mitteilten, blieb der Poli- Ist ihr Kontakt zu einem mut- zei meist verborgen. maßlichen Clanmitglied Zufall? Dagegen spricht eine weitere Die Beamten kritisierten, vie- Begebenheit: Im April 2017 be- le Staatsanwälte zögerten, Er- sucht Karo Murat in Erfurt ei- mittlungen nach Paragraf 129 nen Boxkampf zwischen Robin anzugehen, der die Bildung Krasniqi und Arthur Abraham, einer kriminellen Vereinigung der ebenfalls Armenier ist. Am ahndet. Manchmal fehlten den Rande der Veranstaltung gehen Ermittlern Kräfte, um Verdäch- unvermittelt mehrere Männer tige zu observieren. Die Kolle- auf Murat los, fast alle waren an gen waren für andere Bereiche der Schießerei 2014 beteiligt. abgestellt, vor allem für die Be- Der Hintergrund der Auseinan- obachtung mutmaßlicher Isla- dersetzung ist unklar. Karo Mu- misten. rat liefert der Polizei keine Er- Weil sich Organisierte Krimi- klärung. nalität meist im Dunkeln ab- spiele, berühre sie im Gegen- Arthur Abraham, der unge- satz zum islamistischen Terro- schlagene Weltmeister des In- rismus nicht das Sicherheits- ternationalen Boxverbands im gefühl der Bevölkerung, sagt Mittelgewicht, taucht in diesen Sebastian Fiedler, der kommis- Tagen ebenfalls in einem poli- sarische Vorsitzende des Bun- zeibekannten Umfeld auf. Ei- des Deutscher Kriminalbeam- nen Tag nach seinem Sieg ge-

ter (BDK). »Das führt dazu, / IMAGO MAUSOLF gen Krasniqi besucht er in Er- dass wir viel zu wenig Personal- Boxweltmeister Karo Murat im März in Hamburg furt ein Restaurant, das ein ressourcen in diesem Bereich Handy am Tatort geortet Mann führt, der in die Schieße- haben.« Kein Bundesland kön- rei der Clans vor der Spielothek ne alle Gruppierungen Organi- verwickelt war und vor Gericht sierter Kriminalität gleichermaßen be- Spitze sie selbst standen, als »Diebe im stand. Dessen Bruder soll in Neapel arbeiten. Einheiten aus den ehemaligen Gesetz«. Falschgeld besorgt und dafür Kontakt zu Sowjetrepubliken würden weitgehend un- 600 bis 900 solcher Führungspersonen einem Mann der italienischen Mafia ge- gestört in Deutschland agieren und Ver- gibt es nach Expertenschätzungen welt- habt haben. mögen anhäufen. weit. Sie sollen ihrer leiblichen Familie den Abraham, das zeigen Fotos, begrüßt ei- Die Geschichte sowjetisch geprägter Rücken kehren, weil die kriminelle Verei- nen der beiden Brüder vor dem Restaurant Mafiagruppen reicht lange zurück. Man- nigung die neue Familie ist. Sie sollen nur herzlich. Die Handys dieser beiden Män- che Experten sehen ihre Wurzeln in der so viel Alkohol trinken, dass sie noch bei ner sind zudem auf Alexander Abraham Gefängnisstruktur des russischen Imperi- klarem Verstand sind. Sie sollen vom Staat angemeldet, den Bruder des berühmten ums im 18. Jahrhundert, andere in Lenins keine Waffe annehmen und nicht in der Boxers. Und zwar auf die Adresse, an der »Neuer Ökonomischer Politik« der frühen Armee dienen. auch die Abraham-Boxsport GmbH ihren Zwanzigerjahre, aus der eine starke Schat- Zu den Ritualen der »Diebe im Gesetz« Sitz hat, eine von zahlreichen Firmen, die tenwirtschaft entstanden sei. gehört auch, sich einzutätowieren, wel- Arthur Abraham mit seinen Brüdern be- Nach dem Ende der Sowjetunion seien chen Rang man in der Gemeinschaft ein- treibt. Die meisten dieser Firmen sind Ver- viele Kriminelle aus den Gefangenenla- nimmt, etwa mit einer Schulterklappe, die mögensverwaltungen, Holdings oder Im- gern, wo sie sich kennengelernt und ver- an militärische Abzeichen erinnert. mobilienunternehmen. netzt hätten, freigekommen, sagt Federico Ein solches Tattoo trägt ein Mann, der Die Familien der beiden Boxer, Arthur Varese, Kriminologe an der britischen Uni- bei der Schießerei in Erfurt am Tatort ge- Abraham und Karo Murat, seien gut in die versität Oxford. Die Gangster orientierten wesen sein soll. Die Ermittler fanden bei Szene integriert, sagt ein mit den Ermitt- sich an Ritualen der russisch-orthodoxen Hausdurchsuchungen ein Foto, das ihn mit lungen befasster Kriminalist. Sie genössen Kirche. So schufen sie eine Art Geheim- nacktem Oberkörper und Tattoo zeigt. Sie höchstes Ansehen, weil sie viel Geld hät- bund mit eigenem Regelwerk, an dessen ermittelten außerdem, dass dieser Mann ten und man mit ihnen gute Geschäfte be-

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Deutschland treiben könne. Belege für Straftaten hat lungen gegen ihn sei ihm nichts bekannt. programm in Dresden, Leipzig und zuletzt die Polizei bislang nicht. Den Vorwurf, er sei »ein Dieb im Gesetz«, in Berlin. Von 1999 bis 2008 arbeitete er Arthur Abraham ließ einen umfang - bezeichnet er als »Unsinn«. Er sei diesem nach eigenen Angaben als Assistent an der reichen Fragenkatalog von MDR und Begriff erstmals in der Anfrage begegnet. armenischen Botschaft, zuletzt als Verwal- SPIEGEL unbeantwortet. Karo Murat be- Der Tochter des früheren Ministers habe tungsleiter, bevor er für einige Jahre nach antwortet Fragen, ob er in geschäftlichem er 2016 ein Auto verkauft, darüber hinaus Armenien zurückkehrte. Kontakt zu bestimmten Personen stehe, die habe er keine geschäftlichen Beziehungen Nachdem 2014 der Botschafter nach ei- mit der armenischen Mafia in Verbindung zu ihr. Er sei in Armenien Eigentümer einer ner Krankheit gestorben war, berief Präsi- gebracht werden, allesamt mit »Nein«. Er Wohnung und eines Grundstücks. Seine dent Sersch Sargsjan überraschend Ashot verneint wiederholt, bei der Schießerei in Einkommens- und Vermögenserklärung Smbatyan zum Nachfolger. Dieser übt sein der Erfurter Spielothek dabei gewesen zu sei im Internet abrufbar. Amt bis heute unbeschadet aus, obwohl sein. Sein Bruder Koko Murat sagt am Te- Smbatyan kennt Deutschland schon lan- die »Samtene Revolution« in Armenien lefon, er und sein Bruder Karo hätten keine ge. Nach seinem Mathematikstudium in versucht, die alten Eliten zu entmachten. Kontakte zur Mafia. Er bestätigt aber seine Armenien studierte er in einem Austausch- Sargsjan trat im April zurück. Aussage, während der Schießerei in der Spielhalle gewesen zu sein. ANZEIGE

Klassische Mafiagruppen sind nicht nur kriminell, sie suchen auch Kontakt zur Po- li tik. Das gelte teilweise auch für russisch- eurasische Gruppen, sagt der Kriminologe Federico Varese. »Es gibt eine Verzahnung zwischen Kriminalität und Politik.« In Deutschland reicht diese möglicher- weise bis in diplomatische Kreise. Der der- zeitige Botschafter der Republik Arme- nien, Ashot Smbatyan, stand bereits vor zehn Jahren in Verdacht, in internationale Schleuseraktivitäten verwickelt gewesen zu sein. So steht es in einem vertraulichen Gut- achten, das 2008 der Bundesnachrichten- dienst angefertigt hat. Smbatyan, damals noch in untergeordneter Position an der Botschaft in Berlin beschäftigt, wird in dem Dokument sogar als »Dieb im Ge- setz« bezeichnet. Zum damaligen Zeit- punkt soll er in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, ein hochpreisiges Anwesen be- sessen haben, was den Verdacht illegaler Aktivitäten unterstreiche, wie es in der Einschätzung heißt. Das Bundeskriminalamt hat keine Hin- weise darauf, dass der Botschafter noch immer ein »Dieb im Gesetz« ist. Er werde bei Interpol auch nicht als solcher gelistet, heißt es in einem Dokument der Ermitt- lungskommission Fatil. Allerdings zog der Diplomat immer wie- der das Interesse von Behörden auf sich, weil er offenbar häufiger Bargeld bei einer deutschen Bank einzahlte. 2005 ermittelte die Berliner Staatsanwaltschaft erstmals wegen des Verdachts der Geldwäsche ge- gen Smbatyan. Damals soll der damalige Botschaftsangehörige laut der BKA-Doku- mente den Behörden mitgeteilt haben, die zahlreichen Auslandsüberweisungen und Gutschriften gehörten zur »gängigen Pra- xis« der armenischen Botschaft. Die Er- mittlungen wurden eingestellt. Wie auch ein späteres Verfahren, bei dem die Tochter eines früheren armenischen Ministers und reichen Geschäftsmanns eine Rolle spielte. Der Botschafter weist über seinen Rechtsanwalt alle Vorwürfe »aus der Ge- rüchteküche« zurück. Über frühere Ermitt-

36 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Botschafter Smbatyan hat in den letz- Die Ministerien reagierten verhalten, Armenien ebenso wie das Verständnis für ten Jahren viel unternommen, um das das Bundeskriminalamt empfahl Distanz: Armenien in Deutschland fördern«, lautet Image seines Landes in Deutschland auf- Aufgrund der möglichen »Verquickungen« der Vereinszweck. Unter den 34 Grün- zupolieren – und auch sein eigenes. Er von staatlichen Strukturen mit den »Die- dungsmitgliedern sind Bundestagsabge- sprach bei Innenministern mehrerer Bun- ben im Gesetz« komme eine »vertiefte Zu- ordnete sowie deren Mitarbeiter, ein lei- desländer vor, Ende vergangenen Jahres sammenarbeit mit Armenien nicht in Be- tender Mitarbeiter des Berliner Senats, ein auch im Bundesinnenministerium. Er be- tracht«, heißt es in einem vertraulichen Mitarbeiter im Auswärtigen Amt – und fürchte, die Berichterstattung über die ar- Schreiben aus dem März. Botschafter Smbatyan und seine Frau. menische Mafia wirke sich negativ auf die Einer größeren Offenheit begegnete der angestrebten Visaerleichterungen mit Ar- Botschafter im Bundestag. Hier wurde vor Zum ersten Gruppenfoto gesellte sich au- menien aus. Er versprach, den deutschen drei Jahren einer von Smbatyans wich- ßerdem ein prominenter Sportler: Karo Behörden im Kampf gegen die Mafia zu tigsten Lobbyvereinen gegründet: das Murat, der Boxer mit möglichen Verbin- helfen, etwa durch schnelle Identitätsfest- Deutsch-Armenische Forum. Der Verein dungen zu armenischen Clans. stellungen. wolle »das Verständnis für Deutschland in Murat antwortet auf Anfrage, als Arme- nier kenne er natürlich den Botschafter. Sein Kontakt zu ihm beschränke sich aber darauf, »dass ich Einladungen zu gesell- schaftlichen Höhepunkten bekomme und aus solchen Anlässen unter anderem auch mit dem Botschafter spreche«. Albert Weiler, Bundestagsabgeordneter der CDU aus Thüringen, hat das Deutsch- Armenische Forum ins Leben gerufen. Er ist erstaunt, als er von den Vorwürfen ge- gen den Botschafter hört. »Ich kann es mir nicht vorstellen, dass er da irgendetwas Unrechtes macht, aber das würde mein Menschenbild schon etwas zurückwerfen.« Die Frage, ob Boxer Murat reguläres Ver- einsmitglied sei, will Weiler aus Daten- schutzgründen nicht beantworten. »Wenn er Mitglied wäre, bei einer Schießerei da- bei gewesen wäre, und der Verdacht gegen ihn würde sich bestätigen, dann wäre er die längste Zeit Mitglied gewesen.« Im BKA ist das Projekt Fatil zunächst beendet. »Kriminelle Autoritäten und Die- be im Gesetz scheinen über ganz Europa hinweg zu residieren und vernetzt zu sein«, heißt es im Abschlussdokument der Kommission. Offene Spuren müssten ab- gearbeitet und gemeinsame Maßnahmen auf europäischer Ebene forciert werden. Einen Zeitplan gibt es nicht. Über Ashot Smbatyan kursieren in die- sen Tagen Gerüchte. Seine Tage als Bot- schafter in Berlin seien gezählt, sagen die einen, er gehöre zum Umfeld des zurück- getretenen Autokraten Sargsjan. Andere glauben, Smbatyan werde den Regime- wechsel überstehen. Sie scheinen recht zu behalten. Am Mitt- woch teilte die armenische Regierung mit, „WIR WOLLEN DER ZUKUNFT EINE HEIMAT GEBEN UND Ashot Smbatyan sei zusätzlich zum Bot- DIE LEBENSQUALITÄT DER MENSCHEN VER BESSERN. schafter des Fürstentums Liechtenstein be- DAFÜR STEHEN WIR BEI E.ON. VON DER METROPOLE stellt worden. RUHR AUS BEREITEN WIR DEN WEG FÜR NACHHALTIGES Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, UND KOMFORTABLES WOHNEN, KLIMAFREUNDLICHE Axel Hemmerling, Ludwig Kendzia, MOBILITÄT UND UMWELTVERTRÄGLICHE PRODUKTION.“ Martin Knobbe DR. JOHANNES TEYSSEN, Mail: [email protected], VORSTANDSVORSITZENDER DER E.ON SE [email protected] WIR SIND DIE #ZukunftsMetropoleRuhr

‣ Sendehinweis Mittwoch, 7. Novem- ber, 20.45 Uhr, MDR, »Paten in Deutschland: Die armenische Mafia und die Diebe im Gesetz«

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Der Fall bewegt die Politik in Nordrhein- Westfalen. SPD, Grüne und Linke kritisie- Wegen 285 Euro ren Justizminister Peter Biesenbach und Innenminister Herbert Reul (beide CDU) heftig. Die Staatsanwaltschaft Kleve ermit- Strafvollzug Der Syrer Amad A. starb nach einem Brand in seiner Zelle: telt wegen des Verdachts der Freiheits - Er saß unschuldig in Haft und hätte gegen eine kleine Summe beraubung gegen sechs Mitarbeiter der längst freikommen können. Seine Eltern fordern nun Gerechtigkeit. Polizei und einen Mediziner. Beinahe wöchentlich kommen neue Details ans Licht, die offenbaren, wie sehr Polizei und Justizvollzugsanstalt versagten. Interne Vermerke aus dem Polizei- und Jus- tizapparat belegen, dass das Drama um die Inhaftierung von Amad A. noch schlimmer war als bekannt. Sie zeigen, dass er trotz der Verwechslung schon Wochen vor dem Brand hätte frei sein können. Angefangen hatte alles am 6. Juli an einem Badesee im niederrheinischen Gel- dern. Amad A. soll dort vier Frauen be- lästigt haben. Er habe ihnen auf die Brüste geschaut und obszöne Gesten gemacht, berichteten die vier Frauen der Polizei. Als die Beamten an den See kamen, glaubten sie, laut internen Vermerken, Amad A. sehe einem per Öffentlichkeits- fahndung gesuchten Vergewaltiger ähnlich. Deswegen nahmen sie ihn mit auf die Wa- che, um seine Identität festzustellen. Dort gaben sie seine Daten in den Polizeicom- puter ein und verwechselten ihn dann mit dem malischen Staatsbürger Amedy G., der einen falschen Namen benutzte, der so ähnlich klang, wie der von Amad A. Doch sah Amad A. ganz anders aus als der Malier: A. war hellhäutig, Amedy G. ist schwarz. G. hatte eine Strafe wegen Diebstahls nicht ganz abgesessen und eine Geldstrafe nicht bezahlt. NRW-Innenminister Herbert Reul hat bislang nicht öffentlich gemacht, dass A. wegen seiner angeblichen Ähnlichkeit mit einem Vergewaltiger mit auf die Wache genommen wurde. Den Fraktionen im Landtag hatte das Ministerium mit- geteilt, es hätten in dem Zusammenhang »polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen statt- gefunden«. Noch während Amad A. inhaftiert war,

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL MARCUS stellte sich heraus, dass das angebliche Ver- Eheleute Malak, Fadila A., Söhne: »Hab ein schönes Leben in Europa« gewaltigungsopfer seine Geschichte erfun- den hatte. Aufgegriffen wurde er also wegen seiner Ähnlichkeit mit einem Phan- ls Amad A. sich von seiner Mutter Amad A. sollte kein schönes Leben in tombild, das auf einer Lügengeschichte verabschiedete, war er besorgt. Ob Europa haben. Er schaffte es nach Deutsch- basierte. Und ins Gefängnis kam er für A er sie und seine beiden jüngeren land, doch dort plagten ihn Depressionen. die Straftaten eines Mannes, dem er nicht Brüder allein in der Türkei zurücklassen Er trank, bisweilen exzessiv, und er kiffte. im Entferntesten ähnelte. könne, habe er sie gefragt. Und das, nach- Das Geld reichte nie. Er verletzte sich Doch selbst wenn man ihn für G. aus dem der Vater schon nach Deutschland ge- selbst, Freunden sagte er, er wolle sich um- Mali hielt, hätte er schnell freikommen flüchtet war? bringen. können. Die Staatsanwaltschaft Hamburg Sie habe ihm zugeredet, erinnert sich Amad A. starb Ende September nach suchte G. mit zwei Haftbefehlen: Er hatte Fadila A. »Geh du nur, und hab ein schö- einem Brand in seiner Zelle im Gefängnis von einer neunmonatigen Gefängnisstrafe nes Leben in Europa«, ermutigte sie ihren von Kleve, Nordrhein-Westfalen. Er hatte noch sieben Wochen abzusitzen. Und weil Sohn im Winter 2016. Sie werde nachkom- dort zu Unrecht eingesessen, die Polizei er eine Geldstrafe nicht gezahlt hatte, soll- men, habe sie ihm gesagt, sie würden sich hatte ihn Anfang Juli mit einem straffäl - te er 57 Tage Ersatzfreiheitsstrafe leisten. wiedersehen. ligen Asylbewerber aus Mali verwechselt Auf dem Haftbefehl wegen der 57 Tage Es kam anders. (SPIEGEL 42/2018). ist vermerkt, dass er gegen Zahlung von

38 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 285 Euro sofort außer Vollzug gesetzt wer- Deutschland einreisen. »Als ich Amad sag- de. Das heißt: Hätte Amad A. 285 Euro te, er solle gehen, da dachte ich, er geht in SPIEGEL TV WISSEN bezahlt, wäre er viel früher aus dem Ge- ein sicheres und freies Land«, schluchzt SONNTAG, 4. 11., 22.00–22.45 UHR | SKY UND fängnis entlassen worden, noch im August. sie, »ich dachte nicht, dass Deutschland BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN Es wäre nie zu dem tödlichen Brand im ihn umbringt.« Check-in Düsseldorf Airport September gekommen. Die schmale Frau trägt ein Kopftuch, ihr Hat jemand Amad A. erklärt, dass er gegenüber sitzt ihr Mann Malak A. Sie sind In der dreiteiligen Reportagereihe gegen diese Summe freikommen konnte? Kurden aus der syrischen Stadt Aleppo, wo nimmt SPIEGEL TV WISSEN die Bei der Aufnahme im Gefängnis offenbar er als Automechaniker arbeitete. Unter Zuschauer mit hinter die Check-in- nicht. Der Haftbefehl aus Hamburg er- dem Assad-Regime hätten sie es als Kurden reichte die Justizvollzugsanstalt offenbar nicht leicht gehabt, erzählen sie. Malak A., erst Tage nach seiner Einlieferung, es gibt der Vater, sei mehrmals verhaftet worden. keinen Hinweis darauf, dass man A. da- Amad habe fast drei Jahre in einem Ge- nach informierte. fängnis des Regimes verbracht. Warum? Was bei der Polizei geschah, ist unklar. Malak zuckt mit den Schultern und Reuls Innenministerium teilt mit, das sei schweigt. »Wir sind Kurden«, sagt er dann. »Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlun- Amad sei 2013 freigekommen, da tobte

gen«. Laut einem internen Polizeivermerk in Syrien schon der Bürgerkrieg. Die Fa- WIESE ANDREAS soll Amad A. erklärt haben, er »könne das milie habe sich zur Flucht in die Türkei Flughafen Düsseldorf Geld nicht beibringen«. Was bedeutet das? entschlossen. Von dort kam zuerst der Va- Haben die Polizisten ihm erklärt, dass er ter nach Europa, aber er schaffte es nicht, Schalter, aufs Vorfeld und zu den gegen 285 Euro freikommen würde und seine Familie nachzuholen. Technik hallen sowie in die Cockpits nicht gleichzeitig schon die Gebühren und Seine Frau hing mit den drei Söhnen in und Kabinen der Linien- und Verfahrenskosten von mehr als 1438 Euro der Türkei fest. 2016 folgte Amad A. sei- Charterjets auf dem drittgrößten zahlen müsse? nem Vater. Dass es ihm in Deutschland Flughafen Deutschlands. Gewiss, auch 285 Euro sind eine Menge nicht gut ging, merkte die Mutter, wenn Geld für einen Flüchtling, der keine Arbeit sie mit ihm telefonierte. »Er war früher so hat. Er hätte nun versuchen können, ein fröhlicher Junge«, sagt sie, »er liebte SPIEGEL GESCHICHTE jemanden zu kontaktieren, der ihm hilft. Musik.« In der Bäckerei, in der er in der MONTAG, 5. 11., 20.15–21.00 UHR | SKY Aber er rief weder seine Anwälte noch Türkei gejobbt habe, habe er immer mit Der Prager Frühling und seine Familie an. allen gescherzt. die Deutschen – Vielleicht gibt es dafür eine Erklärung. Der Vater mag nicht daran glauben, Vom Traum zum Trauma Aber es gibt in diesem Fall neben den be- dass Amad das Feuer selbst gelegt hat. reits bekannten Fehlern zu viele Ungereimt- »Mein Sohn hat drei Jahre in einem syri- Die Bilder vom Einmarsch der Trup- heiten. Dazu gehört, warum nichts geschah, schen Gefängnis ausgehalten«, sagt Malak pen des Warschauer Pakts in die nachdem Amad A. einer Psychologin in der A. »Warum sollte er sich wegen der paar Tschechoslowakei gingen vor 50 Jah- Justizvollzugsanstalt Kleve gesagt hatte, Monate umbringen?« Er glaubt: »Mein ren um die Welt. Die Idee eines dass er gar nicht jener Amedy G. sei, der Sohn ist ermordet worden.« »Sozialismus mit menschlichem Ant- hier eigentlich in Haft sitzen solle. Dazu ge- Die mit dem Fall betrauten Ermittler litz« wurde damals mit Gewalt be- hört die Frage, ob es wirklich einen Notruf gehen davon aus, dass Amad das töd - graben. Die mutigen Reformen des aus der Zelle von A. gab und wie das Ge- liche Feuer selbst gelegt hat – vielleicht neuen Parteichefs in Prag, Alexander fängnispersonal darauf reagierte. um sich umzubringen. Oder um auf Fadila A., Amads Mutter, hat noch mehr seine verzweifelte Situation aufmerksam Fragen. Sie sitzt in einem Café im Stadt- zu machen. zentrum von Duisburg und wischt sich die Die Familie hat den Anwalt Necdal Disli Tränen aus dem Gesicht. Gemeinsam mit angeheuert, der mehr über den Tod von ihren beiden jüngsten Söhnen durfte Fa- Amad A. herausfinden soll. »Ich nehme dila A. zur Beerdigung von Amad nach an, dass dieser Fall Jahre dauert«, sagt Dis- li. Er nimmt kein Honorar von der Familie,

er hat ein Spendenkonto für sie eingerich- AFP tet. Disli will für die Familie A. auch Geld Soldaten, Demonstranten 1968 in Prag erstreiten. »Ich habe dem Justizminister bereits mitgeteilt, dass wir eine Opferent- Dubcˇek, hatten vor allem jungen schädigung erwarten«, sagt der Jurist, Menschen Hoffnung auf eine Zu- »und wenn es so weit ist, werden wir einen kunft ohne Zensur, Gängelung und Zivilprozess anstrengen.« Repression gegeben – in beiden Selbst wenn Disli Erfolg hat, werden die deutschen Staaten. Eltern erst in Jahren Geld bekommen. Die Mutter und die beiden Söhne haben einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Fadila SPIEGEL TV A. schluchzt wieder. »Einmal hat Amad MONTAG, 5. 11., 23.25–0.00 UHR | RTL gesagt: ›Mama, ich vermisse dich, ich kom- me zurück zu dir‹«, sagt sie. »Ich habe ihm Der Boom der Pseudomedizin – geantwortet: Nein, ich komme zu dir.« Wie sich Homöopathie-Gläubige und Sie hat Wort gehalten. Amad hat es ihre Kritiker bekämpfen; Trotz Asylbewerber Amad A. nicht mehr erlebt. Fidelius Schmid Gauland und Höcke – Die umstrittene Notruf abgesetzt? Vereinigung »Juden in der AfD«.

39 Deutschland

SPIEGEL: Welche Folgen hat das für die Kinder? »Weitermachen!« Jay: Viele tun alles, um sich so zu verhal- ten, als wäre ihr Leben tatsächlich normal. Krisen Sie erziehen sich gewissermaßen selbst zur Die US-Psychologin Meg Jay erklärt, warum erfolgreiche und Resilienz. Ironischerweise verstärkt das starke Menschen sich oft unsicher fühlen und Hilfe brauchen. bei ihren Mitmenschen den Eindruck, die- se Jungen und Mädchen hätten keine be- sonderen Probleme – auch weil sie oft ay, 49, lehrt als Professorin für Klini- braucht worden. Sie fühlte sich wie zer- kreative Strategien entwickeln. J sche Psychologie an der University of brochen. Aber sie liebte den Sport, und es SPIEGEL: Wie sehen solche Strategien aus? Virginia in den USA und arbeitet als war ihr unangenehm, den Trainer, eine Au- Jay: Viele dieser Kinder schaffen sich nach Therapeutin. Ihr jüngstes Buch handelt toritätsperson, in ein schlechtes Licht zu außen hin eine falsche Identität. Wenn sie von der prägenden Kraft schwieriger Kind- rücken. Ein solcher Prozess läuft oft unbe- mit Nachbarskindern spielen, geben sie heitserfahrungen*. Jay erklärt darin, wie wusst ab, aber im Ergebnis bagatellisierte sich, als hätten sie zu Hause allenfalls gän- frühe Rückschläge zu jener überraschen- das Mädchen den Missbrauch vor sich gige Probleme. In Wahrheit fürchten sie, den Stärke beitragen können, die Ärzte, selbst, setzte sich weiterhin dem Lehrer dass der Vater gleich betrunken auf sie war- Psychologen und Pädagogen mit dem sper- aus und blieb mit ihren verstörenden und tet. Misshandelte Kinder wählen ihre Klei- rigen Wort »Resilienz« umschrei- der so aus, dass niemand ihre blauen ben. Gemeint ist die Fähigkeit, nach Flecken sieht. Andere behaupten, ausgeprägtem Alltagsstress und ele- sie hätten keinen Hunger, wenn sie mentaren Krisen möglichst rasch in wieder einmal ohne Proviant daste- einen seelischen Normalzustand zu- hen, weil die Eltern überfordert sind. rückzukehren. Beschrieben wurde All diese Kinder wollen den Schein das Phänomen bereits in den Sieb- der Normalität wahren – und schir- zigerjahren: Die amerikanische Ent- men sich mit ihren Geschichten auch wicklungspsychologin Emmy Wer- selbst vor der deprimierenden Wirk- ner hatte in einer Langzeitstudie das lichkeit ab. Häufig wirken sie zudem Leben von gut 200 Jungen und unglaublich aktiv. Aber ihr Interesse Mädchen in Hawaii verfolgt, die mit an allem Neuen entspringt weniger Armut, zerrütteten Familien und an- der typischen kindlichen Neugierde. deren Risikofaktoren aufgewachsen Es ist eher eine Flucht. waren. Ein Drittel von ihnen entwi- SPIEGEL: Inwiefern? ckelte sich trotzdem zu leistungsfä- Jay: Jedes Hobby erlaubt es ihnen, higen, zuversichtlichen und fürsorg- der bedrückenden Atmosphäre im lichen Erwachsenen. Seither versu- Elternhaus zu entkommen. Im chen Wissenschaftler, das Geheimnis Mannschaftssport oder bei den frei- resilienter Menschen zu entschlüs- willigen Angeboten nachmittags in seln – jener vermeintlichen Stehauf- der Schule strengen sich solche Kin- männchen, die allen Widerständen der oft besonders an, um bloß wei- des Lebens zu trotzen scheinen. terhin daran teilnehmen zu dürfen. Häufig sind sie gern gesehen, weil SPIEGEL: Frau Jay, anders als die sie sich in allen sozialen Belangen meisten Ihrer Kollegen blicken Sie großartig verhalten; sie haben es auch auf die Schattenseiten von Re- in ihren herausfordernden Familien silienz. Was genau verstehen Sie da- gelernt. Eine meiner Klientinnen runter? wuchs mit einer aggressiven Schwes- Jay: Häufig ist Resilienz die Antwort ter auf, die ständig drohte, sie zu ver- auf überdurchschnittlich bedrücken- Therapeutin Jay letzen. Um sich schützen zu können, de oder traumatische Kindheitser- »Der Kampf gegen den Stress der Kindheit ist auch Stress« gewöhnte sich diese Klientin einen lebnisse. Das erlebe ich bei meinen leichten Schlaf an. Auch tagsüber Klienten immer wieder. Sie sind, war sie auf der Hut. wie ich es nenne, supernormal: Sie funk- verletzten Gefühlen allein. Ähnlich erging SPIEGEL: Das Kind lebte also in einem Zu- tionieren in der Schule oder im Beruf oft es einem jungen Mann, der als Kind erleb- stand permanenter Wachsamkeit? viel besser als andere – und auf jeden Fall te, dass sein Vater eines Abends die Koffer Jay: Und so schrecklich das klingt: Es besser, als man es angesichts ihres frühen packte und für immer verschwand. Als ein- brachte dem Mädchen Vorteile. Das Zu- Leids erwartet hätte. Aber für diese schein- ziges Lebenszeichen kamen von ihm fort- sammenleben mit der Schwester hatte es bar problemlose Normalität müssen sie an vereinzelte Briefe mit unverständlichen dafür sensibilisiert, auf Warnsignale zu Kämpfe ausfechten, die tiefe Wunden hin- Botschaften. Aber alle anderen, auch die achten. In der Schule wirkte dieses Verhal- terlassen. Mutter, benahmen sich, als wäre nichts ten, als wäre das Kind besonders aufmerk- SPIEGEL: Von welchen Kämpfen sprechen Einschneidendes geschehen. In Familien sam. Das Mädchen kam bei den Lehrern Sie? mit alkoholkranken Eltern findet man ver- und Mitschülern auch deshalb gut an, weil Jay: Eine meiner Patientinnen ist als jun- gleichbare Muster. Die Erwachsenen ver- es daran gewohnt war, drohende Konflikte ges Mädchen von ihrem Reitlehrer miss- halten sich, als gäbe es nichts zu erklären, zu erkennen und zu umgehen. Die meisten wenn der Alltag derart aus den Fugen ge- dieser Kinder sind sehr selbstbeherrscht, * Meg Jay: »Die Macht der Kindheit«. Hoffmann und rät, dass Kinder sich vollkommen verunsi- es ist ihre Geheimwaffe. Campe; 464 Seiten; 24 Euro. Erscheint am 5. November. chert oder bedroht fühlen. SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

40 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Jay: Viele Studien zeigen, dass selbstbe- Jay: Und es kommt noch etwas hinzu. Es Menschen straucheln, niemand ist unver- herrschte Menschen erfolgreicher in der lässt sich am Fall einer Klientin schildern, wundbar. Selbst wenn man phasenweise Schule und im Beruf sind. Sie lernen dis- die mit einem entwicklungsverzögerten drogenabhängig oder depressiv ist, kann ziplinierter und lassen sich seltener von Bruder aufwuchs. Die Eltern waren so man so stabil sein, dass man in einen see- Zielen abbringen. Aber dieser Vorteil be- gefangen von den Bedürfnissen des Soh- lisch ausgeglichenen Zustand zurückfindet. ruht häufig auf einer schmerzlichen Erfah- nes, dass die Tochter in dieser Familie die Aber man schafft es in der Regel nicht al- rung. Viktor Frankl … Rolle übernahm, keinen Kummer zu be- lein. Man braucht die Wertschätzung an- SPIEGEL: … ein Psychiater und Überleben- reiten. Sie entwickelte sich zu einer vor- derer, die gemeinsame Freude, um den ver- der des Holocaust … bildlichen Schülerin und Studentin. Als letzenden Erinnerungen ein anderes Jay: … hat in einem Buch über die Zeit im sie den Bruder schließlich weit überflü - Selbstbild entgegensetzen zu können: Konzentrationslager geschrieben, dass er gelte, war es genau dieser Erfolg, den die Dass man einen Partner verdient, der ei- es als wichtigste Regel empfunden habe, Eltern kaum aushielten. Die Tochter war nen liebt, wie man ist. Dass man eine Fa- bloß nicht aufzufallen. Ähnlich ergeht es der Beweis für alles, was der Sohn nicht milie verdient, wenn man eine haben diesen Kindern. Sie passen sich maximal erreicht hatte. Sie bekam nie die Aner- möchte. Dass man einen herausragenden an und setzen alles daran, um nicht zu pro- kennung und Zuneigung zu spüren, die Job verdient. Dass man wertvoll ist. vozieren. Aber es schützt sie nur kurzfris- sie verdient gehabt hätte. Und die Tragik SPIEGEL: Brauchen Menschen schwierige tig. Denn der Kampf gegen den Stress der setzt sich fort: Aus solchen Erlebnissen Lebenserfahrungen, um Resilienz zu ent- Kindheit ist auch Stress, und dessen Folgen heraus versagen sich supernormale Men- wickeln? äußern sich oft erst im Erwachsenenalter. schen Erfahrungen, die ihr verletztes In- Jay: In gewissem Umfang schon. Viele El- SPIEGEL: Von welchen Folgen sprechen neres heilen könnten. tern meinen, dass ihr Kind glücklich wird, Sie? SPIEGEL: Welches Verhalten beobachten wenn sie ihm das Leben möglichst erleich- Jay: Viele meiner äußerlich so stark und Sie da? tern. Auf lange Sicht funktioniert das eher erfolgreich wirkenden Klienten fühlen sich Jay: Sie verzichten auf Kinder, weil sie mei- nicht. Ein gewisses Maß an Stress und in ihrem Innern zutiefst verletzlich und nen, mit einer derart verkorksten Familie Belastung ist notwendig, um zu lernen, machtlos. Es sind einsame Menschen. Sie im Hintergrund kein guter Vater oder kei- wie man mit Niederlagen, Krisen und see- fürchten, andere könnten sie wegen ihrer ne gute Mutter werden zu können. Sie wei- lischem Schmerz umgeht. Natürlich kann Lebensgeschichte verachten. Also lassen chen einer Partnerschaft aus. Oder sie ver- man Familien kein Trauma verschreiben. sie das Wesentliche weg, so wie sie es be- meiden grundsätzlich näheren Kontakt zu SPIEGEL: Was schlagen Sie dann vor? reits als Kind eingeübt haben. Aber weil anderen Menschen, weil sie fürchten, ihr Jay: Jetzt im Herbst bieten sich die herab- sie sich niemandem öffnen, fühlen sie sich Geheimnis könne entdeckt werden. Dass fallenden Blätter an. Man kann den Kin- wie in einem Als-ob-Leben. viele andere Männer und Frauen genauso dern übertragen, sie zusammenzurechen, SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. mit sich ringen wie sie selbst, stellen sie statt es selbst zu tun. Oder man sorgt dafür, Jay: Sie leben in einer andauernden Dis- sich nicht vor. Bis zu 75 Prozent der Men- dass sie ein Instrument oder eine Sportart sonanz: zwischen ihrer Herkunft und ih- schen sind mit mindestens einer Kindheits- erlernen. Dabei müssen sie sich anstren- rem jetzigen Status, zwischen der Person, erfahrung aufgewachsen, die sie stark be- gen. Und ganz gleich, wie sehr sie sich be- die sie bei der Arbeit sind, und der, die sie lastet. Es wäre hilfreicher, sie würden sich mühen – sie müssen wieder und wieder zu Hause sind, zwischen dem, wie sie sich mehr darüber austauschen. von vorn beginnen. In solchen Momenten nach außen hin geben, und dem, was sie SPIEGEL: Warum sind Sie so sicher, dass lässt sich spielerisch lernen, was Resilienz innerlich fühlen. Das führt dazu, dass sie es hilft, darüber zu reden? Andere Psycho- auch bedeutet: dass man Misserfolge hin- ihr Leben trotz allen Erfolgs nicht als stim- logen halten es für sinnvoll, manche Erin- nehmen muss und nur weiterkommt, mig und wahr empfinden. nerungen zu verdrängen. wenn man weitermacht. SPIEGEL: Das klingt nach einem schwer Jay: Es geht nicht allein ums Reden. Zur Interview: Katja Thimm aufzulösenden Dilemma. Resilienz gehören andere Menschen. Alle BEGLEITEN SIE UNS

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Als wäre der Menschenaffe Robby eine Art Nelson Mandela im Gefängnis. ‣S.50

Früher war alles schlechter QUELLE: BMEL 1948/1949 wurden in Deutschland* Nº 149: Kartoffelkonsum pro Kopf 219 Kilogramm Kartoffeln konsumiert.

1964/1965 118 1984/1985 2000/ 2001 73 70 2016/2017 58

*bis 1984/1985 Westdeutschland

»Erneut sehr schwierig« sei die Kartoffelanbausaison in diesem wurden nicht gemahlen, hatten weder Hagelschlag zu fürchten trockenen Sommer, mit einem Rückgang um »rund 25 Prozent« noch Saatkrähen. Ohne die Kartoffel wäre der Bevölkerungs- sei zu rechnen. Eine solche Meldung aus dem Landwirtschafts - zuwachs im 19. Jahrhundert, wäre die industrielle Revolution nicht ministerium hätte früher zu Notstandsplänen, ja Auswanderungs- möglich gewesen. Weswegen wiederholte Missernten zur Hun- wellen geführt. Die Knolle war Leben, Tod und Waffe (»Die gersnot führten. Durch die Krautfäule ab 1845 starben etwa eine deutsche Kartoffel muß England besiegen«, so ein Plakat des Million Menschen in Irland an den Folgen des Hungers, sie trieb Kriegspresseamts von 1918). Was den Franzosen Futter für die ganze Landstriche Westfalens auf die Schiffe nach Amerika. Schweine, wurde im 18. Jahrhundert in Preußen zur Staatsange- Deutschland hat sich seither von der Kartoffel aufs Erfreulichs- legenheit. Der »Kartoffelkönig« Friedrich II. erklärte den Anbau te emanzipiert, sie wird, als Chip oder Fritte genossen, weniger zur patriotischen Pflicht. Bismarcks Sozialgesetze ruhten letzt- als tägliche Sättigung verstanden. In den Dreißigerjahren konsu- lich auf dem Nährwert der Speisekartoffel, dem »Manna des mierte ein Normdeutscher ein gutes Pfund – täglich. Heute ist es kleinen Mannes«, wie es ein amtlicher Bericht formulierte. Früh- gerade mal ein Kilogramm in der Woche. kartoffeln konnten schon vor dem Getreide geerntet werden, sie [email protected]

Kollekte dann nicht, weil sie geiziger geworden Was soll die Kreditkarte in sind. Sondern weil sie weniger haben. Aber denken Sie an die Witwe in der Bi- der Kirche, Herr Germer? bel, die nur zwei Scherflein gab: Weil sie arm ist, sagt Jesus, hat sie in Wahrheit Martin Germer, 62, ist Pastor an der mehr gegeben als die Reichen. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. SPIEGEL: Wer mit Karte bezahlt, tut das ja sehr geschäftsmäßig. Geht es bei der SPIEGEL: Die Evangelische Kirche Berlin- Kollekte nicht auch um das Gefühl des Brandenburg-schlesische Oberlausitz hat Teilens? Die Symbolik?

einen »digitalen Klingelbeutel« erfunden: / EPD BLUME JUERGEN Germer: Ich verstehe, was Sie meinen. Man zahlt mit Karte. Damit niemand Digitaler Klingelbeutel Aber manche Gemeinden haben sich mehr Knöpfe spendet? sogar Lösungen ausgedacht, wie die Kol- Germer: Nein, den Beutel gibt es ja immer SPIEGEL: Gottesdienstbesucher? lekte steuerlich abgesetzt werden kann: noch. Es geht darum: Nicht mehr jede Germer: Nein, Kirchenbesucher. Zum mit Kollektebons beispielsweise. Bankfiliale nimmt heute Münzgeld, oder Gottesdienst kommen etwa 50000 im SPIEGEL: Wirklich? Läuft das noch unter es kostet Gebühren. Außerdem wird ja Jahr. Mildtätigkeit, wenn man sich gleich überall mit Karte gezahlt. Wir denken, SPIEGEL: Spenden die Menschen weniger wieder überlegt, was man vom Finanzamt dass wir ein gutes Erprobungsfeld sind: als früher? Sind sie geiziger geworden? zurückkriegt? eine Gemeinde in der Großstadt, viele Germer: Meinem Eindruck nach geben sie Germer: Wenn man den Betrag wieder Touristen, jährlich 1,3 Millionen Besucher. nicht weniger. Und wenn das so wäre, spendet – dann schon. BSU

42 Pilot. Das Verladen des Gepäcks ist abgeschlossen, das Ein- Eine Meldung und ihre Geschichte steigen der Passagiere ging zügig. Mafella bittet den Flug - lotsen, drei Minuten früher als geplant, die Parkposition ver- lassen zu dürfen. Agung sieht keinen Grund, warum die »Moment noch ...« Maschine warten sollte, um 17.52 Uhr setzt sich das Flugzeug in Bewegung und rollt langsam zur Startbahn. Agung erteilt die Freigabe: »Batik 6231, runway 33, clear for takeoff.« Seine Wie ein Fluglotse in Stimme ist ruhig, noch liegt die Erde still da. Indonesien 148 Menschen rettete Das Flugzeug beschleunigt, Mafella, der Pilot, spürt ein ungewöhnliches Schlingern der Maschine, erst zur einen Seite, dann zur anderen. In dem Moment, als die Batik 6231 echs Stunden bevor Anthonius Gunawan Agung, abhebt, reißt das asphaltierte Rollfeld unter dem Fahrwerk S 21 Jahre alt, entscheiden muss, ob er sein eigenes der Maschine auf, als wäre es Papier. Leben rettet oder das von 148 Fremden, steigt er Die Schockwellen des Bebens haben die Küste erreicht, die ei ne schmale Treppe empor, die ihn zu seinem Arbeitsplatz Schläge erschüttern den Tower des Flughafens, breite Risse führt, im Tower des Flughafens von Palu auf Sulawesi, öffnen sich im Beton, schwächen die Mauern. Agungs einzi- Indonesien. Es ist 12 Uhr mittags am 28. September, heiß ger Kollege rennt zur Tür, fordert ihn auf, mit ihm zu kommen. und drückend wie an vielen Tagen in dieser Jahreszeit, und »Moment noch, Moment«, sagt Agung, es sind die letzten niemand ahnt, dass dieser Tag mit einer nationalen Tragödie Worte, die sein fliehender Kollege von ihm hört. enden wird, mit einem Erdbeben der Stärke 7,4 und mehr Zu Agungs Aufgaben gehört es, das Flugzeug an seine Kol- als 2000 Toten. legen im Zielort Makassar zu übergeben. Es wäre verständlich Agung trägt das weiße gewesen, wäre Agung sei- Hemd der Fluglotsen, trägt nem Kollegen in dieser es voller Stolz, er ist der Sekunde gefolgt. Niemand jüngste Sohn seiner Eltern. hätte ihm einen Vorwurf ma- Das letzte Mal hat er mit sei- chen können, ganz gleich, nem Vater und seiner Mutter was mit der Maschine ge- am vergangenen Sonntag schehen wäre. Er bleibt. gesprochen, über Whats- 25 Sekunden lang bebt die App, ein Videochat. Gese- Erde. Bevor der Tower zur hen, umarmt hat er sie vor Ruine wird, springt Agung knapp einem Jahr, als er sei- aus dem Fenster im dritten nen Abschluss als Fluglotse Stock. mit ihnen feierte. Seine El- In den kommenden Ta- tern wohnen in Papua, West- gen wird Anthonius Guna- neuguinea, rund 2000 Kilo- wan Agung zur nationalen meter entfernt, zu weit, zu Berühmtheit, sein Arbeit - teuer ist die Reise, um die geber, die Firma Air Nav, be- Eltern häufiger zu treffen. fördert ihn. Der Flughafen von Palu, Ricosetta Mafella, der Pi-

im Norden Sulawesis, ist INDONESIA / TWITTER AIRNAV lot von Batik 6231, zieht kein Drehkreuz des inter- Trauerzeremonie für Agung am 29. September durch die Fernseh studios, nationalen Luftverkehrs. um Agungs Mut zu feiern. 20 Flüge starten hier an ei- Der Pilot tritt auf in Uni- nem durchschnittlichen Tag, form, wirkt mal erleichtert, die Lotsen arbeiten in drei mal bedrückt und redet Schichten, von morgens um über diesen jungen Mann, sechs Uhr bis um Mitter- der sein Sohn hätte sein kön- nacht. Agungs Schicht wird nen und dem er sein Leben um 18 Uhr enden. verdanke. Von seinem Platz aus Agung brach sich bei dem blickt er auf das Vorfeld, die Aufprall auf dem Beton Start- und Landebahn, da- Arm und Bein, erlitt schwe- hinter, in der Ferne, bewal- re innere Verletzungen und dete Hügel. verlor das Bewusstsein. Wenige Minuten bevor Die Mitarbeiter des Flug- die Erde zu beben beginnt, hafens schafften ihn in das bereitet sich Flug ID 6231 nächstgelegene Kranken- der Batik Air auf den Start haus. Kurz vor dem Weiter- vor. An Bord sind 7 Besat- transport in eine besser aus- zungsmitglieder und 141 Pas- gestattete Klinik starb An- sagiere. Das Ziel: Makassar, thonius Gunawan Agung an eine Stadt im Süden von seinen Verletzungen, zehn Sulawesi. Kapitän dieses Minuten vor der Landung Fluges ist Ricosetta Mafella, des Rettungshubschraubers. 44 Jahre alt, ein erfahrener Von der Website Heute.at Uwe Buse

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 43 Gesellschaft Amiga

Karrieren Die mexikanische Schauspielerin Kate del Castillo traf sich mit dem Drogenboss El Chapo in seinem Versteck. Nach ihrem Besuch wurde er verhaftet, an die USA ausgeliefert und muss sich nun vor Gericht verantworten. Die Geschichte einer Begegnung. Von Felix Hutt

n einem Freitagmorgen im Okto- mo von New York genannt wird. In seiner per Kopfschuss hingerichtet. Er war gera- ber, wenige Wochen bevor in Zelle brennt immer Licht, er wird per Vi- de joggen. A New York der Prozess gegen Joa- deo überwacht. El Chapo hat keinen Kon- Del Castillo beginnt während einer Mit- quín Guzmán Loera, besser be- takt zu anderen Häftlingen, keinen Aus- tagspause in ihrem Camper ihre Geschich- kannt als El Chapo, der Kurze, beginnt, gang, eine Stunde am Tag darf er in einen te zu erzählen. Seit der Begegnung mit El jagt eine Frau einen Gangster über den kleinen Käfig, in dem ein Trimmrad steht. Chapo lassen sich ihre Leben nicht mehr Hof eines schäbigen 24-Stunden-Hotels Besuchen dürfen ihn seine Anwälte und voneinander trennen. Gibt man Kate del in der kleinen kolumbianischen Stadt Gi- seine sieben Jahre alten Zwillingstöchter, Castillo in eine Suchmaschine ein, sieht rardot. Der Gangster ist ein Sicario, ein Auf- nicht seine Frau. Die Haft bedingungen man Bilder von El Chapo. tragskiller. Die Frau sieht aus wie Lara sind so streng, dass sich Amnesty Inter - Sie hat ihre Stiefel ausgezogen, ihre Fuß- Croft, sie ist die Chefin eines Drogenkar- national in einem Brief an eine US-Staats- nägel sind lilafarben lackiert. Del Castillo tells. Sie rennt unter einem Mangobaum anwältin darüber beklagt hat, dass die wird in ein paar Tagen 46 Jahre alt, in ih- durch, dem Mann hinterher, der ihren internationalen humanitären Standards rem Leben heiratete sie zwei Männer, bei- Freund erschossen hat, beide Hände am verletzt würden. de Ehen wurden geschieden. Sie hat keine Griff der Pistole, schießt, trifft ihn Kinder, ihre beste Freundin nicht, er springt auf ein Moped heißt Lola, eine Chihuahua- und rast davon. Sie hält die Waffe Hündin, die in Los Angeles auf noch einen Moment lang mit ge- sie wartet, wo del Castillo lebt, streckten Armen vor ihrem Kör- wenn sie nicht dreht. per, die Stirn zusammengeknif- Kate Del Castillo ist zehn Jah- fen, dann steckt sie die Pistole re alt, als sie ihren Vater, Eric del hinter ihrem Rücken in die Hose. Castillo, einen bekannten Schau- »Schnitt«, ruft der Regisseur. spieler in Mexiko, zu einer Thea- Kate del Castillo spielt an die- tervorstellung begleitet. Das sem schwülen Morgen in Girar- Stück heißt »Salomé«, del Cas- dot, drei Autostunden westlich tillo schaut durch den Vorhang, von Bogotá, die Drogenkönigin ist fasziniert von der Reaktion Teresa Mendoza. Eine Assisten- der Zuschauer, dem Applaus. In tin wischt ihr den Schweiß aus der Wohnung der Familie in dem Gesicht. Auf dem Bürger- Polanco, einem Mittelklassevier- steig gegenüber frittiert ein alter Darsteller Penn, del Castillo (r.), Drogenboss El Chapo 2015 tel von Mexico City, gehen Mann Schweinekrusten. Hinter »Mit dir werde ich einen Tequila trinken« Künstler ein und aus. Mit 15 Jah- einem Absperrband stehen ihre ren moderiert sie eine Musik- Fans, die mitbekommen haben, sendung, mit 19 Jahren dreht sie dass del Castillo hier die zweite Staffel der El Chapo ist für die USA mehr als ein »Muchachitas«, ihre erste Telenovela. Ihre Tele novela »La Reina del Sur« dreht. Ihr Gefangener. Er ist ein Symbol für die Aus- Eltern haben Verständnis dafür, dass Kate Bodyguard achtet darauf, dass sich ihr nie- wüchse der Drogenkriminalität und soll sich nicht für die Schule interessiert, son- mand nähert, den sie nicht kennt. für immer weggesperrt bleiben. dern für die Bühne. Del Castillo ist eine erfolgreiche mexi- Am 5. November 2018 beginnt die Ver- Ihre Assistentin reicht ihr einen Teller, kanische Schauspielerin, eine Jennifer handlung vor dem US-Bundesgericht der mit Alufolie bedeckt ist. Del Castillo Aniston der spanischsprachigen Welt, be- in Brooklyn, El Chapo wird während setzt sich an den Tisch und zieht die Alu- kannt von Patagonien bis Madrid für ihre des Prozesses an einem geheimen Ort un- folie weg. Drei Scheiben Avocado, ein Rollen in Telenovelas. Seit ihrem Treffen tergebracht. Bislang musste immer die paar Salatblätter, Quinoa. Sie isst wenig, mit El Chapo, am 2. Oktober 2015, ist sie Brook lyn Bridge gesperrt werden, wenn zerdrückt mit ihrer Gabel die Avocado- für die Öffentlichkeit vor allem die Frau, die er zu seinen Anhörungen gefahren wurde. scheiben zu Brei. den einflussreichsten Drogenboss der Welt Die Jurymitglieder werden von U. S. Mar - Del Castillo hat sich in ihrer Geschichte aus geliefert hat. Der Fehler seines Lebens. shals beschützt, ihre Namen nicht ver - die Rolle des Opfers zugedacht. Ihre Hei- Nach ihrer Begegnung ist nichts mehr, wie öffentlicht. Die Zeugenliste soll unter Ver- mat sei für sie zu gefährlich seit der Sache es vorher war, nicht für sie, nicht für ihn. schluss gehalten werden, damit das Si- mit El Chapo. Die Geschichte hört sich an El Chapo sitzt in einer Einzelzelle in naloa-Kartell nicht erfährt, wer gegen wie ausgedacht. Die Schöne und der Kur- 10 South, einem Trakt im Hochsicherheits- seinen Boss aussagt. Der mexikanische ze, die Drogenkönigin Teresa Mendoza gefängnis Metropolitan Correctional Cen- Richter, der El Chapos Auslieferung be- aus dem Fernsehen und der Drogenkönig ter in Manhattan, der auch das Guantána- schlossen hatte, wurde im Oktober 2016 El Chapo vom Fahndungsplakat. Aber sie

44 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Telenovela-Star delCastilloinGirardot, Kolumbien: »Lassen SieunsmitLiebedealen, Siewissen,wiedasgeht.«»Lassen Sie willvon seinemRuhmprofitieren, ohnezu hinterfragen, wiederzustandegekommen ist 45

CARLOS VILLALON / DER SPIEGEL Gesellschaft deckt sich mit dem, was andere Beteiligte gierungen, die vor mir die Wahrheiten ver- Prozent mehr als im Vorjahr. »Narco« ist erzählen und Ermittler herausgefunden ha- stecken, auch wenn sie schmerzhaft sind, zu einer Marke geworden, El Chapo zu ei- ben. Netflix hat eine Dokumentation über die die Heilung von Krebs, Aids etc. ver- nem Antihelden wie Pablo Escobar. Die ihr Treffen mit El Chapo gedreht, das Ma- hindern, ihrer Gewinne und ihres Reich- einen halten ihn für Robin Hood, die an- gazin »New Yorker« eine Reportage ver- tums wegen.« deren für den Teufel. öffentlicht, das FBI hat del Castillo verhört, »HR. CHAPO« adressiert sie ihre Worte Del Castillo liest ihren Tweet, immer sie wurde kritisiert und beschimpft, aber an den Kartellchef in Großbuchstaben: wieder, er gefällt ihr, sie lässt ihn im Netz. niemand hat ihr vorgeworfen, dass sie die »Wäre es nicht cool, wenn Sie begännen, mit Ein paar Wochen später besucht sie Ereignisse falsch rekonstruiert habe. dem Guten zu dealen? Mit Medizin gegen einen Empfang im Haus des Regisseurs Ihre Geschichte beginnt am Abend des Krankheiten, Essen für Straßenkinder, Alko- Oliver Stone. Der Produzent Fernando 9. Januar 2012. Del Castillo kommt von hol für die Alten, die in Heimen ihre letzten Sulichin spricht sie an. Er sei ein Fan ihrer einer Kreuzfahrt mit ihren Eltern zurück Jahre verbringen. Wenn Sie korrupte Politi- Arbeit, sagt er. Mit Stone teilt er eine Vor- nach Los Angeles. Sie ist 2001 in die USA ker exportierten statt Frauen und Kinder als liebe für kontroverse Charaktere, sie ha- gezogen, versucht es als Schauspielerin in Sklaven? … Auf geht’s, mein Herr, Sie wären ben Filme über Fidel Castro und Hugo Hollywood, die Regisseure bieten ihr oft der Held aller Helden. Lassen Sie uns mit Chávez gemacht. Sulichin ist ein Mitglied nur die Rollen an, die gern an Latinas ver- Liebe dealen, Sie wissen, wie das geht.« des Hollywood-Establishments, zu dem geben werden: Hausmädchen, Köchinnen, Aus dem Telenovela-Sternchen wird der del Castillo so gern gehören will. Sie gehen Liebhaberinnen. In ihrem Haus liegen Zet- Fall Kate del Castillo. In der Talkshow in Beverly Hills essen. »Ich habe deinen Tweet gelesen«, habe Sulichin gesagt, »falls du irgendwann Kontakt zu diesem Typen haben solltest, lass es mich bitte wissen.« »Ja, sicher«, sagt del Castillo. Zweieinhalb Jahre lang hört sie weder von Sulichin noch von El Chapo. Im Sep- tember 2014 dreht sie in Miami, als sie eine E-Mail von einer Kanzlei aus Mexico City erhält. Man wolle mit ihr einen gro- ßen Hollywoodfilm machen, ob man sich treffen könne, schreiben zwei Anwälte. »Kommt vorbei, ich habe sonntags frei«, antwortet del Castillo. Nein, sie seien die Anwälte von Herrn Joaquín Guzmán Loera, könnten nicht in die USA reisen. Sie laden del Castillo nach Mexiko ein. Am 29. September 2014 fliegt Kate del Castillo in einem Privatjet nach Toluca in der Nähe von Mexico City. Vor dem Abflug fotografiert sie das Luftfahrzeugkennzei- chen auf dem Heck und schickt das Bild ei- ner Freundin. Für den Fall, dass sie ver-

KARSTEN MORAN / NYT / REDUX / LAIF MORAN / NYT / REDUX KARSTEN schwinde. Die Anwälte erklären ihr in ei- Hochsicherheitsgefängnis in Manhattan: Das Guantánamo von New York nem Restaurant, dass El Chapo sie verehre. Er habe ihr nach ihrem Tweet Blumen schi- cken wollen, aber ihre Adresse nicht gefun- tel herum, auf denen sie Gedanken und »Tercer Grado« kritisiert Carlos Marín, ein den. Ihr Mandant wolle, dass sein Leben Beobachtungen notiert hat. Zu Politik, Ge- angesehener Journalist, den Tweet von del verfilmt werde, habe einige Angebote, aber sellschaft, Liebe, ihrer Wut. Sie schenkt Castillo: »Diese Schauspielerin hat wirklich El Chapo wolle ihr die Rechte an seiner Ge- sich ein Glas Rotwein ein, öffnet auf ihrem dummes Zeug von sich gegeben!« Was hat- schichte überlassen. El Chapo sitzt zu der Laptop den Webservice Twextra, mit dem te sich del Castillo dabei gedacht? Wie Zeit im Hochsicherheitsgefängnis Altiplano, man lange Tweets schreibt. Sie will das, konnte sie mit El Chapo sympathisieren? 25 Kilometer entfernt. Del Castillo fühlt sich was sich auf ihren Zetteln angesammelt Mit dem meistgesuchten Verbrecher, dem geschmeichelt, es ist der exklusive Zugang hat, in einem Manifest bündeln. Ihren Text Drogencapo? Reporter und Kamerateams zu einer Geschichte, die alle haben wollen. stellt sie um 23.39 Uhr auf Twitter. verfolgen ihre Familie in Mexico City. Ihr Nach ihrer Rückkehr informiert sie Su- »Heute möchte ich ausdrücken, was ich Vater schreibt ihr eine E-Mail und kritisiert lichin. Er stellt ihr seinen Freund José denke, und wenn das auch einigen anderen ihren Text. Ihre Freunde bitten sie, den Ibáñez vor, der ist wie Sulichin Produzent gefällt, wunderbar«, heißt es in den ersten Tweet zu löschen. und Argentinier. Die drei sprechen Spa- Zeilen. Dann erklärt sie, warum sie nicht In der Anklageschrift wird El Chapo nisch miteinander, verstehen sich gut. End- an die Ehe, aber die Liebe, nicht an Be- vorgeworfen, 25 Jahre lang tonnenweise lich arbeitet del Castillo an etwas, das Be- strafung und Sünde, sondern an das Gute, Drogen in die USA geschmuggelt und deutung hat. Sie träumt jetzt davon, wie nicht an den Papst, den Vatikan, die Poli- mehr als 14 Milliarden Dollar mit seinen es wäre, El Chapo zu interviewen. tik, die Institutionen und auch nicht an Geschäften verdient zu haben. Er soll den Um mit ihm zu kommunizieren, fliegt sie Monogamie glaubt. Es ist ein etwas wirres Tod Tausender in Auftrag gegeben, sein wieder zu seinen Anwälten nach Mexiko. Pamphlet, das vielleicht einige ihrer kon- Sinaloa-Kartell zu einem kriminellen Netz- Sie gibt ihnen eine Karte für ihn mit, auf servativen Fans aufregen wird, mehr nicht, werk aufgebaut und einen Drogenkrieg der sie sich für sein Vertrauen bedankt. El wenn der letzte Absatz nicht wäre. In dem entfacht haben, der auch ohne ihn weiter- Chapo schickt ihr aus dem Gefängnis einen schreibt del Castillo: »Heute glaube ich geht. Im ersten Halbjahr 2018 wurden in handgeschriebenen Brief. »Amiga«, schreibt mehr an El Chapo Guzmán als an die Re- Mexiko 15973 Menschen ermordet, 16 er, »ich kann Dir nicht zurück zahlen, was

46 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Du für mich getan hast.« Er bedankt sich für ihren Tweet und will, dass bei der Um- setzung des Films alles so entschieden wird, wie sie es für richtig hält. Am 9. Januar 2015 überschreibt El Chapo Kate del Castillo die Rechte an seiner Lebensgeschichte. Del Castillo erhält einen zweiten Brief von El Chapo. Er schreibt, er habe Truthahn und Cola zu Weihnachten bekommen und sich nochmals »La Reina del Sur« angese- hen. Er kenne jede der 63 Episoden der ersten Staffel. Sie spiele fantastisch. Del Castillo besucht am 11. Juli 2015 mit einem Bekannten, dem ehemaligen Welt- meister Oscar De La Hoya, einen Boxkampf in Los Angeles. Als sie danach in einer Bar steht, erfährt sie, dass El Chapo ein paar Stunden zuvor ausgebrochen ist. Del Castil- lo sieht in den Fernsehnachrichten, wie El Chapo in seiner Zelle in die Dusche tritt, nach unten verschwindet. Er soll durch einen 1,5 Kilometer langen Tunnel entkommen sein. El Chapo war bereits 2001 in einem Wäschewagen aus einem anderen Hochsi- cherheitsgefängnis geflohen. Eine Blamage für die mexikanische Regierung. »Ich feie- re!«, schreibt ihr einer seiner Anwälte. »Und ich noch mehr!«, antwortet sie ihm. Kate del Castillo will von seinem Ruhm profitieren, ohne zu hinterfragen, wie der zustande gekommen ist. Freunde, die sie lange kennen, sagen, dass sie wenig über die Konsequenzen ihres Handelns nachden- ke. Sie mache einfach das, wonach ihr ge- rade ist. Sie spreche, wie es ihr in den Sinn komme, und sehe nicht ein, später etwas zurückzunehmen. Ein Kameramann am Set sagt, del Castillo sei eine kontroverse Figur. Fragt man del Castillo in ihrem Camper, wie sie ihre Beziehung zu El Chapo einschätzt,

ob es okay sei, sich mit einem Massenmör- AFP der Nachrichten zu schreiben, sich zu freuen, Kartellchef El Chapo nach seiner Festnahme 2016: Fluchtversuch durch den Abwasserkanal wenn er aus dem Gefängnis ausbricht, fühlt sie sich angegriffen. Sie habe die Nachrich- ten freundschaftlich gemeint, sie sei nicht nen Augen.« Del Castillo erwidert, dass zählt von Marlon Brando, Al Pacino und »blöd«, wisse, was er getan habe. Sie habe seine Worte sie sehr bewegen, bisher habe Robert De Niro. Del Castillo findet ihn keine Drogen von ihm kaufen, sondern nur noch niemand auf sie aufgepasst. charmant. Er macht ihr Komplimente. Sie einen Film über ihn machen wollen. El Chapo ist nie zur Schule gegangen, teilen ein Geheimnis. Eine Mariachi-Band Sulichin stellt ihr bei einem Essen den seine Nachrichten sind kurz und einfach. spielt fröhliche Lieder. In wenigen Stunden Schauspieler Sean Penn vor. Mit einem Er weiß auch nicht, wer Sean Penn ist. werden sie zu dem Mann aufbrechen, nach zweifachen Oscargewinner würde es einfa- Sean spricht er aus, wie man es schreibt, dem die ganze Welt sucht. cher sein, Geldgeber für ihren Film zu fin- S-e-a-n. Penn sei der Ex-Mann von Ma- Am 2. Oktober 2015, einem Freitag, rei- den. Del Castillo fühlt sich angekommen donna, erklären ihm seine Anwälte. Wenn sen Kate del Castillo, Sean Penn und die in Hollywood. del Castillo den Schauspieler und die zwei zwei Produzenten von einem kleineren Sie trifft sich wieder mit El Chapos An- Produzenten mitbringen wolle, sei das in Flughafen bei Los Angeles ab. El Chapo wälten. Sie geben ihr ein BlackBerry mit Ordnung, schreibt El Chapo. Seine Anwäl- versteckt sich in seiner Heimat, irgendwo einer Pin. Del Castillo hat jetzt einen di- te raten ihm ab, sie vertrauen keinen Grin- in den Bergen des mexikanischen Bundes- rekten Zugang zu dem Mann, nach dem gos. Aber El Chapo vertraue seiner neuen staats Sinaloa, der Sierra. mexikanische und amerikanische Ermitt- Freundin, sagt er. »Ich trinke eigentlich Nach ihrer Ankunft am Flughafen in ler fahnden. Für Hinweise zu seiner Ergrei- nicht, aber mit dir werde ich Tequila trin- Guadalajara fahren sie in ein Hotel, in dem fung sind fünf Millionen Dollar ausge- ken«, schreibt er ihr. Sie vereinbaren, dass die Anwälte und einer von El Chapos Söh- schrieben. Sie fragt El Chapo, ob sie sich sie sich eine Woche später sehen werden. nen auf sie warten. Sie müssen ihr Gepäck treffen könnten. »Amiga«, antwortet er, Einen Tag vor der Abreise lädt del Cas- und ihre Mobiltelefone zurücklassen. Die »ich möchte dich so gern kennenlernen tillo Penn in ihre Villa in Brentwood ein, Männer bringen sie zu einem kleinen Flug- und dass wir sehr gute Freunde werden. einen feinen Stadtteil von Los Angeles. Ihr platz, wo sie in zwei Propellermaschinen Du bist die Beste der Welt. Ich werde auf gehört eine Tequileria, sie veranstaltet ein steigen. Die Piloten fliegen sie zwei Stun- dich besser aufpassen, als auf meine eige- Tasting. Penn unterhält ihre Gäste. Er er- den Richtung Norden. Anschließend fährt

47 Gesellschaft

finden. Sie wissen von del Castillos Reise- gruppe, haben bei ihrer Ankunft am Flug- hafen Guadalajara Fotos von ihnen ge- macht. Sie sollen abgehört worden sein, ihr Besuch hilft den Ermittlern, El Chapo zu lokalisieren. El Chapo entkommt, ein letztes Mal, zieht weiter in ein Fluchthaus in Los Mochis, im Norden Sinaloas. Am 8. Januar 2016 stürmen mexikani- sche Marineinfanteristen das Haus. El Cha- po flüchtet durch einen versteckten Zu- gang zum Abwasserkanal, rennt im Unter- hemd auf die Straße, versucht, in einem Auto zu fliehen, und wird festgenommen. Die mexikanische Generalstaatsanwältin erklärt nach seiner Verhaftung, dass dies auch dem Besuch zweier Hollywoodstars beim Kartellchef zu verdanken sei. Mexiko liefert El Chapo einen Tag vor Donald Trumps Vereidigung an die USA

CARLOS VILLALON / DER SPIEGEL VILLALON CARLOS aus. Es ist der Versuch, den neuen US- Schauspielerin del Castillo bei Dreharbeiten in Kolumbien: »Wie war El Chapo?« Präsidenten zu besänftigen, der droht, eine Mauer zu Mexiko zu errichten und Wirt- schaftsabkommen aufzukündigen. man sie sieben Stunden durch waldiges, lesen dürfe. Er bittet den Kartellchef um In jenen Wochen nach der Verhaftung bergiges Gelände. Del Castillo öffnet die ein Foto, als Beleg. versteckt sich del Castillo in ihrem Haus in Tequilaflasche, die sie El Chapo mitbrin- Del Castillo und Penn nehmen El Cha- Los Angeles. Ihre Chats mit El Chapo wer- gen wollte, und trinkt mit Penn. El Chapos po in ihre Mitte. Sie sehen aus wie zwei den an die Presse durchgestochen. Die bei- Aufpasser sind Sicarios. Sie ist die einzige Fans, die ihren Lieblingssänger backstage den sollen ein Paar gewesen sein, heißt es Frau auf diesem Trip. zu einem Selfie überredet haben. jetzt, del Castillo ein Kind von ihm erwartet Es ist bereits dunkel, als sie gegen Danach bringt El Chapo del Castillo zu haben. Ihr wird von den mexikanischen Be- 21 Uhr auf einem Parkplatz vor Häusern ihrem Zimmer und bedankt sich für den hörden Rechtsbehinderung und Geldwä- halten, die wie kleine Bungalows aussehen. besten Tag seines Lebens. sche vorgeworfen. Das FBI durchsucht ihr Del Castillo steigt aus, und da steht El Cha- Del Castillo und Penn fliegen am folgen- Haus, beschlagnahmt ihren Laptop und ihr po, kleiner als erwartet, rasiert, in schwar- den Tag allein von Guadalajara nach Los Smartphone. Sie muss ihr privates und ihr zen Jeans. »Amiga, willkommen, du hast Angeles. Sie haben wenig geschlafen, Penn Geschäftskonto offenlegen. Ein Haftbefehl sicher Hunger«, sagt er. Er ist sehr um sie nimmt sie in den Arm. Del Castillo nennt wird ausgestellt. Bei Einreise in Mexiko besorgt, fragt ständig, ob sie noch etwas ihn von nun an »Amor«, besucht ihn in droht ihr Gefängnis. Del Castillo war seit brauche, ob sie friere, rückt ihr den Stuhl seinem Haus in Malibu, lernt seine Kinder dreieinhalb Jahren nicht mehr in ihrer Hei- zurecht, schenkt ihr nach. kennen, hilft ihm bei der Übersetzung, mat. Sie dreht vor allem in Kolumbien. Nach einigen Tagen in Girardot zieht die Filmcrew weiter nach Bogotá. Del Cas- Del Castillo vermarktet die Geschichte ihres Treffens tillo wohnt in einem Apartment im siebten Stock mit Blick auf El Retiro, ein Stadt- mit El Chapo wie einen Film. viertel mit teuren Geschäften und Restau- rants. Ein gelber Teddybär liegt auf ihrem Bett. Auf dem Küchentisch stapeln sich Sie sitzen an einem Tisch im Freien, es- Penn hat mehr Fragen, del Castillo schickt Drehbücher für »La Reina del Sur«. Del sen Tacos mit Schweinefleisch und trinken sie mit dem BlackBerry an El Chapo. Ihr Castillo kommt von einer Thaimassage. Tequila. Sie sprechen über ihre Familien, Filmprojekt muss warten. Penn wird spä- Sie hat einen freien Tag, ist ungeschminkt, um sie herum stehen Männer mit Sturm- ter sagen, er habe del Castillo von Anfang trinkt Corona-Bier und isst Müsli. gewehren. Nach einer Weile bittet Penn an klargemacht, dass er El Chapo für sei- Sie vermarktet die Geschichte ihres Tref- del Castillo, sie solle El Chapo sagen, dass nen Artikel treffen wollte. An einem Film fens mit El Chapo wie einen Film, erzählt er hier sei, um ihn für das »Rolling Stone«- sei er nie interessiert gewesen. Del Castillo in Talkshows, dass sie und El Chapo kei- Magazin zu interviewen. sagt, Sean Penn habe sie benutzt, um zu nen Sex hatten, dafür habe sie mit Sean El Chapo schaut del Castillo fragend El Chapo zu gelangen. Penn keine Beziehung, sondern einfach an. Es sollte doch um seinen Film gehen. Vier Tage nach ihrem Treffen im Natur- nur Sex gehabt. »Wie war El Chapo?«, Del Castillo ist wütend, dass Penn sie schutzgebiet Nuestra Señora Mundo, in wollen alle von ihr wissen. Sie spricht über überrumpelt, aber vor El Chapo versucht der Nähe der Stadt Cosalá in Sinaloa, er- ihn wie über einen Gentleman. Als habe sie ruhig zu bleiben. El Chapo fragt einen hält del Castillo eine Textnachricht von El sie einen Pakt mit dem Kartell geschlossen: seiner Söhne, ob er das Magazin kenne. Chapo. Das Militär beschieße die Gegend Ihr tut mir nichts, und ich rede dafür nicht Der bejaht. »Okay, vamos«, sagt El Cha- aus Helikoptern. Sie wollten ihn verhaften, schlecht über euren Boss. po. Del Castillo übersetzt. Penn und El aber sie würden nicht nur auf seine Männer, Del Castillo sagt, sie habe wegen der Chapo sprechen über Venezuela, die me- sondern willkürlich auf die Bauern schie- Begegnung mit El Chapo ihre Freiheit ver- xikanische Regierung, sein Leben auf der ßen. Mexikanische und amerikanische Si- loren. Was sie nicht sagt: Sie hat die Rolle Flucht. Penn verspricht El Chapo, dass er cherheitsbehörden versuchen seit seinem ihres Lebens gefunden. seinen Artikel vor der Veröffentlichung Ausbruch vor drei Monaten, El Chapo zu

48 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 doch MAN KANN ES NICHT ALLEN RECHT MACHEN.

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NEFZ. Wegen der realistischeren Prüfbedingungen sind die nach dem WLTP gemessenen Kraftstoffverbrauchs- und CO2-Emissions- werte in vielen Fällen höher als die nach dem NEFZ gemessenen. Aktuell sind noch die NEFZ-Werte verpflichtend zu kommunizieren. Soweit es sich um Neuwagen handelt, die nach WLTP typgenehmigt sind, werden die NEFZ-Werte von den WLTP-Werten abgeleitet.

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n der Vorstellungspause schnappt fuhr auf dem Roller durch die Manege – der Manege«, die große ARD-Show aus sich Zirkusdirektor Klaus Köhler so erzählt Köhler die Affenbiografie im dem Circus Krone. eine Kiste Bananen und geht zu sei- Schnelldurchlauf, so hat er sie über die Jah- Heute stehen die Demonstranten bei I Köhler vor dem Zirkuseingang und brül- nem Schimpansen ins Außengehege. re immer wieder Dutzenden Reportern in »Robby! Na komm, mein Junge. Komm die Blöcke diktiert. len: Tierquäler! Und Köhler würde ihnen her«, ruft Köhler, und bald sitzen sie ne- Robby tritt heute nicht mehr auf. Er ist »am liebsten in die Fresse hauen. Tierquä- beneinander, Bananen essend, der Men- ein Zirkusaffe im Ruhestand. Er lebt in ei- ler – so dürfen die mich doch nicht nennen!« schenaffe und der Mensch. Zwei Primaten nem alten, umgebauten Zirkuswagen, dazu Er versteht das nicht, die Petitionen, die im Nieselregen von Hannover. gibt es ein Außengehege. Zusammen rund Aufrufe all dieser Vereine. Peta, Vier Pfo- Vor dem Gehege steht ein fröstelndes 50 Quadratmeter Wohnfläche. Für einen ten, Animal Public. Gibt’s da draußen Grüppchen Zirkusbesucher und staunt. Schimpansen ist das zu klein, sagen Exper- nicht genug Tiere, die ein wirklich beschis- Die Kinder juchzen und winken dem Af- ten. Angemessen wären 200 Quadratmeter senes Leben führen und um die sich mal fen zu, die Erwachsenen machen Fotos mit und ein Leben unter Artgenossen. Köhler jemand kümmern sollte? Vor ein paar Ta- dem Handy, und Köhler, der Zirkusdirek- sagt: »Robby ist ein Opa, altersmäßig. 200 gen entriss Köhler einem Demonstranten tor, nutzt den Augenblick zu einer Art Be- Quadratmeter? Die läuft er nie ab. Ich ken- ein Plakat, das jetzt zerknüllt auf dem weisführung. »Sehen Sie, wie wohl sich ne ihn doch.« Dann geht Köhler rüber in Tisch liegt. »Robby einschläfern. Er quält der Robby fühlt? Wie gut es ihm bei uns den Zirkuswagen. Es gibt hier eine Küche, sich doch nur noch.« Dazu ein Foto von geht?«, fragt Köhler. Und die Menschen einen kleinen Holzofen, an den Wänden Köhler und der Schriftzug »Die PARTEI«. schauen dem Affen nun direkt in die Au- hängen gerahmte Familienfotos, mit denen Der Affe ist natürlich längst ein Symbol, gen, so als könnten sie in seine unergründ- man in der Zeit zurückfliegen kann. Seit ein öffentlichkeitswirksamer Superlativ für liche Affenseele blicken. 350 Jahren leben sie im Wanderzirkus, zie- Tierschützer: der letzte Menschenaffe in Aber was sieht man da? Geht es dem hen als Artisten, Clowns, Dompteure, Mu- einem deutschen Zirkus! Wenn man den Affen gut? Geht es ihm schlecht? Leidet siker durch das Land. In der Ecke lehnt, nicht befreien muss, wen dann? Die Peta- er? Muss er gerettet werden? wie eine Erinnerung an die großen Zeiten, Kampagne heißt »Rettet Robby!« So, als Seit sieben Jahren wird um Robby, von der Gehstock von Köhlers verstorbener wäre er vom Tode bedroht oder eine Art dem es heißt, er sei der letzte Menschenaffe Mutter, einer Seiltänzerin. Nelson Mandela im Gefängnis. in einem deutschen Zirkus, gestritten. Er Auch Köhler stand schon als Kind in der Köhler lebt mit Tieren zusammen, seit wird vermessen, untersucht und begutach- Manege. Ein kleiner Artist, der in den er denken kann. Mit 14 Jahren hatte er tet. Er beschäftigt Veterinäre, Primatolo- Fünfzigerjahren durch Hamburger Hafen- schon zwei Bären, die er später auf Pfer- gen, Behörden, Richter. Petitionen wurden kneipen tingelte, Flickflacks und Saltos den durch die Manege reiten ließ. Köhler verfasst, Jane Goodall, die bekannteste holte sich auch Löwen und Tiger, er wurde Schimpansenforscherin der Welt, schaltete ein Dompteur, ein Löwenbändiger. sich ein, und überall, wo der »Berühmte »Tierquäler – so Heute hat Köhler keine »Katzen« mehr. Circus Belly« heute seine Zelte aufschlägt, dürfen die mich doch Vor einem Jahr gab er seine vier Löwen stehen bald demonstrierende Tierschützer und drei Tiger an einen Zoo. Köhler konn- und fordern »Freiheit für Robby«. Weshalb nicht nennen!« te sich das Futter nicht mehr leisten. Er Klaus Köhler sie nur »die Idioten« nennt. hat auch das große Zirkuszelt verkauft, Am 8. November wird das Oberverwal- weil selbst das kleine nur selten voll ist. tungsgericht Lüneburg über den Affen ent- zeigte und als Lohn von den johlenden »2011 standen wir noch gut da. Sorgen- scheiden. Muss Köhler ihn zur Resozialisie- Seemännern ein paar Pfennige bekam frei«, sagt er. Seitdem sieht Köhler, wie rung an eine »Auffangstation« für Schim- oder Schokolade. Vorausgesetzt, das raue seine alte Zirkuswelt langsam zerfällt. pansen geben? Oder darf der Affe im Zirkus Publikum war nicht besoffen. Fehlt jetzt nur noch, dass sie ihm den Affen bleiben? Wobei für Köhler die Sache klar Später hing Köhler dann an einem wegnehmen. ist: »Ich gebe Robby nie weg. Schreiben Sie Drahtseil in der Luft und drehte Pirouetten Wann genau der Affenstreit begann, das ruhig auf. Mein Junge bleibt hier!« unter dem Zirkusdach, er hielt sich nur lässt sich heute kaum noch mit Sicherheit Klaus Köhler ist 70 Jahre alt, ein kleiner, mit den Zähnen fest, und manchmal biss sagen. Fest steht nur, dass die Tierrechts- runder Mann in einer abgewetzten Zirkus- er so stark zu, dass er das metallene Mund- organisation Peta sich im Herbst 2011 an direktorenjacke, in den Haaren glänzt Po- stück nicht mehr spürte. »Ich war ’ne At- das zuständige Veterinäramt in Celle made. Sein Affe ist auch schon ein alter traktion«, sagt Köhler. wandte mit der Forderung, den Schimpan- Mann, 47 Jahre, behauptet Köhler. Gebo- Damals rannten ihnen die Leute die sen zu »resozialisieren«. Am besten bei ren in einem Zoo und von Menschenhand Bude ein. Bestaunten die glitzernden Kos- AAP – einer Schimpansen-Auffangstation aufgezogen. Später kaufte Köhler ihn ei- tüme, die Feuerschlucker, die Kamele. Zir- in den Niederlanden. Das Veterinäramt nem kleinen Zirkus ab, da war Robby drei kus – das war eine verheißungsvolle, exo- holte sich daraufhin Rat ein beim Deut- Jahre alt. Er ist mit Köhlers Kindern auf- tische Welt. Und wenn es Weihnachten schen Primatenzentrum in Göttingen. gewachsen, saß mit Pampers am Esstisch, wurde, dann saßen die Deutschen vor dem Schließlich ging es um eine große Frage: trug später einen schwarzen Anzug und Fernseher und schauten gebannt »Stars in Lässt sich so ein Schimpanse, alt und seit

50 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Ewigkeiten von Menschen geprägt, über- haupt resozialisieren? Kann aus einem Zir- kusaffen wieder ein echter Affe werden? Der Experte aus Göttingen kommt zu der Einschätzung, dass »der Versuch einer Resozialisierung unweigerlich mit großem Stress für das Tier verbunden sei, kaum er- folgversprechend und daher unbedingt ab- zulehnen«, so steht es in einem Vermerk der Behörde. Dabei hätte man es belassen können, aber das Veterinäramt in Celle ist eine gründliche deutsche Behörde und kon- taktiert eine weitere Expertin: die deutsche Leiterin der »Vier Pfoten Orang-Utan-Aka- demie« in Borneo. Sie lobt den »sehr guten körperlichen Zustand«, diagnostiziert bei dem Affen aber eine »Entwicklungsstörung« und »massive Verhaltensdefizite«, ohne dass man ein »akutes massives Leiden« fest- stellen könne. Sie empfiehlt für Robby die Unterbringung in einer Auffangstation. Eine Einschätzung, die der dritte Exper- te, ein Zoodirektor aus Osnabrück, nicht teilen mag. Er beurteilt Robby als »psy- chisch unauffällig« und empfiehlt, den Schimpansen in seiner »gewohnten sozia- len Umgebung zu belassen«. Klaus Köhler, der Zirkusdirektor, hat längst den Überblick zwischen all den Papieren verloren. Aber es geht mit den Jahren immer weiter. Dem Affen werden Speichelproben entnommen, um die Corti - solwerte zu messen, die Auskunft darüber geben könnten, ob Robby unter Stress lei- det. Sein Testosteronspiegel wird ermittelt, eine Tierärztin aus den USA hält es für wahrscheinlich, dass Robby an »modera- ter Myokardfibrose« leidet, einer Herz- krankheit, weshalb eine Narkose oder ein längerer Transport des Affen unbedingt vermieden werden sollte. Auch die Frage, ob Robby kastriert ist oder vielleicht an einem »Hodenhochstand« leidet, wird lan- ge diskutiert. Ergebnis: kastriert. Und der Gerichtsgutachter schreibt: »Der Umstand, dass Robby Erektionen zeigt, ist ein ein- deutiges Indiz für eine Erregung.« Im Zirkuswagen fragt Köhler: »Warum interessieren die sich plötzlich für Robbys Eier?«, und winkt ab. Was wollen ihm die Experten denn eigentlich erzählen? Dass sie seinen Affen besser kennen als er? »Ich bin ja auch Primatologe. Schon mein gan- zes Leben lang«, sagt Köhler. Im Herbst 2015 verschickte das Veteri- näramt Celle schließlich einen Bescheid und ordnete an, dass Robby zur Resoziali- sierung an eine Auffangstation abzugeben sei. Köhler klagte gegen den Bescheid, im Frühjahr 2017 bestätigte das Verwaltungs- gericht Lüneburg die Entscheidung der Be- hörde: Der Affe muss weg. Köhler legte Berufung ein. Der nächste Gerichtstermin ist am 8. November.

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL DJURIC MILOS Kersten Riedesel ist Köhlers Anwalt und Zirkusdirektor Köhler mit Schimpanse Robby: »Mein Junge bleibt hier!« hofft, dass das Gericht einen neuen Gut- achter bestellt. »Der alte war ein Experte

51 Gesellschaft

ger Zirkus mehr, sondern Varieté«, sagt er. Köhler fährt jetzt lieber öfter »rüber in die DDR. Nach Magdeburg und so. Das sind die Leute noch offen. Nicht so gehirnge- waschen«. David van Gennep würde sich wün- schen, dass Köhler auch mal rüber in die Niederlande fährt, zu ihm nach Almere, »damit er sich ein Bild machen kann von unserer Arbeit«. Eingeladen hat er ihn je- denfalls. Aber Köhler kam bislang nicht. Denn: »Dort in Holland richten sie Robby doch nur zugrunde.« Van Gennep ist der Leiter von AAP, der »Auffangstation für Primaten und andere exotische Säugetiere«, in die Robby wohl gebracht werden würde, falls Köhler vor Gericht verliert. Zurzeit betreuen sie hier 44 Schimpansen, die meisten sind frühere Laboraffen oder kommen irgendwie aus der Unterhaltungsbranche. Zirkus, Fernse- hen, Shows. Es gibt große, artgerechte Ge- hege, Betreuung nach wissenschaftlichen Standards und viel Erfahrung mit Schim- pansen. Klaus Köhler hat jahrelang daran gearbeitet, den Affen Robby zu einem Men- schen zu formen. David van Gennep müss- te den umgekehrten Weg gehen. »Käme Robby in einen Zoo, würde ich sagen: keine Chance. Das überlebt er nicht. Aber wir sind kein Zoo.« Die Kunst bestehe darin, für die Tiere neue Partner zu finden. Keine Menschen mehr, sondern Affen. Manchmal dauere eine Resozialisierung Wochen, sagt van Gennep. Manchmal aber auch Jahre. Sie ist mit Anstrengung für das Tier verbunden. Durchaus auch mit Leid. Depressionen können auftreten. Einsamkeitsgefühle. Und ist der Affe am Ende wirklich glücklicher? »Ich bin der Überzeugung: ja. Die Lebens- qualität ist höher. Aber das ist natürlich fast eine philosophische Frage«, sagt van Gennep. Was bedeutet Glück für ein Tier?

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL DJURIC MILOS Ein Leben ohne Not und in guter Pflege Wanderzirkus Belly in Hannover: Was bedeutet Glück für ein Tier? wie bei Herrn Köhler? Oder ein Leben, das seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht? für Krallenaffen, nicht für Menschenaffen«, 1990 aufgetrieben. Außerdem könnten Klaus Köhler tritt aus dem Zirkuswagen sagt Riedesel, der eigentlich Fachanwalt Schimpansen durchaus 60 Jahre alt wer- in einen kalten deutschen Herbstabend und für Arbeitsrecht ist, aber sich mit den Jah- den. Bei guter Pflege. geht noch mal rüber zu Robby in den Käfig. ren eine kleine Affenexpertise erarbeitet So geht es hin und her. Seit sieben Jah- Essenszeit. Der alte Affe und der alte Zir- hat. Ein ganzer Bürotisch ist belegt mit ren. Manchmal hat man das Gefühl, der kusdirektor sitzen nebeneinander im Stroh Robby-Akten. »Der Affe ist 47 Jahre alt. Einzige, der noch nicht verrückt geworden wie zwei Gestrandete aus vergangenen Zei- Nur sechs Prozent aller männlichen Schim- ist in dieser Geschichte, ist der Affe selbst. ten. Die Letzten ihrer Art. Robby kratzt pansen werden überhaupt so alt«, sagt Rie- Klaus Köhler schaut aus dem Fenster in mit langen knorrigen Fingern sanft im Ge- desel und tippt zum Beweis auf eine Statis- den trüben Herbstabend. Draußen leuch- sicht von Köhler herum. Der Zirkusdirektor tik, die er aus dem Aktenberg zieht. »Sehr tet das Zirkuszelt. Köhler sagt: »Alle Zir- beißt in einen Apfel, hält ihn dem Schim- wahrscheinlich wird er also gar keine Re- kusse haben heute Probleme. Das liegt am pansen hin und sagt: »Du bist ein Affe, ich sozialisierung mehr erleben. Und selbst Zeitgeist.« Auch vor Circus Krone in Ham- bin ein Affe, mein Junge. So ist das.« wenn: Will der Affe das überhaupt?« burg stehen Demonstranten und protestie- Beim Veterinäramt in Celle verdrehen ren. Für die Freilassung von Nashorn-Bul- Video sie nur genervt die Augen und sagen: alles le Tsavo, 42 Jahre alt, natürlich das »letzte Zu Besuch bei Robby Unsinn. Robby sei erst 43 Jahre alt. Man Nashorn in Zirkushaltung«. Beim Circus habe sein Alter und seine Herkunft lange Roncalli treten seit diesem Jahr gar keine spiegel.de/sp452018zirkus recherchiert und eine eidesstattliche Ver- Tiere mehr auf. Köhler könnte sich das oder in der App DER SPIEGEL sicherung von Köhlers Eltern aus dem Jahr nicht vorstellen. »Das ist dann kein richti-

52 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Es muss einfach gut werden. Denn Du bist erst zufrieden, wenn wirklich jedes Detail stimmt. Schließlich muss es nicht nur Dir genügen, sondern auch Deinem Anspruch. Dafür achtest Du auf jedes Detail und feilst solange an Deiner Arbeit, bis Du zufrieden bist. BAUHAUS ist dabei – mit erstklassigem Service, bester Fachhandelsqualität und größter Sortimentsvielfalt.

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»Man gewöhnt sich an den Schrecken, das ist das Gefährliche.« ‣S.60 DIRK JESKE

Autoindustrie VW soll eine Milliarde Dollar zahlen Der Chiphersteller Broadcom wirft dem Autokonzern Patentverletzungen vor – und droht mit Lieferstopp.

Der US-Halbleiterproduzent Broadcom setzt den Volks- Toyota und Panasonic vor. Die betroffenen Unternehmen wagen-Konzern unter Druck: Der Zulieferer fordert von dem stehen unter hohem Druck, sich mit dem Zulieferer zu eini- Autohersteller eine Milliarde Dollar – und droht, andernfalls gen, bevor Gerichte entscheiden. Diese könnten den Einsatz die Produktion mehrerer Varianten der VW-Modelle Golf, der entsprechenden Halbleiter vorläufig untersagen und Passat, Touran, Tiguan sowie diverser Modelle von Porsche damit die Produktion zum Erliegen bringen. Die Autoindus- und Audi gerichtlich stoppen zu lassen. Broadcom hat in trie beklagt schon länger, Patentverwerter würden die Rechts- München und Mannheim Patentklage eingereicht. Es geht lage ausnutzen, um überhöhte Lizenzgebühren einzufordern. um die Nutzung von 18 Patenten in Navigations- und Enter- Ein VW-Sprecher bestätigt, dass Broadcom Klagen im tainmentsystemen, die der VW-Konzern in mehreren Auto- Zusammenhang mit patentrechtlichen Fragen eingereicht hat, modellen einsetzt. In den USA geht Broadcom auch gegen will sich aber nicht zum laufenden Verfahren äußern. SH, HAW

Steuerreform nächsten Jahr an um rund 2,5 Milliarden liarden Euro mit zusätzlichen Steuerein- Scholz geizt Euro entlastet. Verteilt ist die Summe nahmen, die ihm die gute Konjunktur bis allerdings auf vier Jahre. Scholz sieht sein 2022 in die Kasse spült. Der Rest entfällt Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hat Vorhaben als Antwort auf die Steuersen- auf die Länder. Insgesamt darf Scholz laut intern den finanziellen Rahmen abge- kungspläne in den USA, Frankreich und Steuerschätzung in den kommenden vier steckt, in dem er deutsche Unternehmen Großbritannien – die allesamt ein jährli- Jahren Mehreinnahmen von rund zwei steuerlich entlasten will. Künftig sollen ches Entlastungsvolumen im zweistelligen Milliarden Euro beim Bund erwarten. Die kleine und mittlere Firmen, die Forschung Milliardenbereich vorsehen. Finanzieren verbleibenden 700 Millionen Euro will betreiben, weniger Steuern zahlen will Scholz den Bundesanteil an den er zu gleichen Teilen für Bundeswehr und müssen. Nach den Plänen werden sie vom Erleichterungen in Höhe von rund 1,3 Mil- Entwicklungshilfe ausgeben. REI

54 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Medien Greser & Lenz Bertelsmann verliert Bolsonaro-Berater

Mit dem Wahlsieg des umstrittenen brasilianischen Präsidentschaftskandida- ten Jair Bolsonaro verliert der Medien- konzern Bertelsmann einen Geschäfts- partner. Paulo Guedes, wichtigster Bera- ter Bolsonaros in Wirtschaftsfragen und ab Januar wohl Superminister für Finanzen, Planung und Handel, saß bisher im Management zweier von Ber- telsmann gegründeter Investmentfonds. Guedes werde seine Aufgaben dort beenden, heißt es bei Bertelsmann, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Die beiden Fonds, an denen der Gütersloher Medienkonzern mit je 30 und 40 Pro- zent beteiligt ist, investieren in private Hochschulen in Brasilien und in digitale Bildungs-Start-ups. Guedes ist derzeit Chef der Vermögensverwaltung Bozano Investimentos, die die Fonds zusammen mit Bertelsmann gegründet hat und managt. Seine Anteile an der Firma wird er verkaufen. In dieser Woche war Dieselskandal zeitig werde die »freiwillige Service - der 69-Jäh rige auf einer Konferenz aktion« fortgesetzt: Gut 9000 Fahrzeuge von Bertelsmann-Managern in Rio de Opel klagt gegen Rückruf haben noch nicht das versprochene Soft- Janeiro zu Gast. IH Der Autohersteller Opel wehrt sich ge - ware-Update bekommen. Die Verkehrs - gen den Pflichtrückruf von 96000 Diesel- behörden hatten Opel vorgeworfen, in autos der Modelle Insignia, Cascada und Dieselmodellen der Baujahre 2013 bis Zafira. Das Unternehmen strengte beim 2016 seien unzulässige Abschalteinrichtun- Schleswig-Holsteinischen Verwaltungs - gen verbaut. Einen Teil dieser Manipula- gericht ein Eilverfahren an. Damit will tionen hatte ein Team des SPIEGEL, des Opel verhindern, dass der Mitte Oktober ARD-Magazins »Monitor« und der Deut- vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ange- schen Umwelthilfe entdeckt (SPIEGEL ordnete Rückruf sofort vollzogen werden 20/2016). Der Hersteller bestreitet die Vor- muss. Auf Nachfrage bestätigt der Auto- würfe. Ein Urteil soll bis spätestens

M. SAYAO / REX SHUTTERSTOCK M. SAYAO hersteller, er habe Rechtsmittel gegen die Anfang Dezember ergehen, teilte das Guedes Entscheidung des KBA eingelegt. Gleich- Gericht in Schleswig mit. GT, SH

Kommentar Spielball für Wahlgeschenke Warum die Politik die Finger von einer Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro lassen sollte

Die SPD hat in der Großen Koalition einiges erreicht, auch wenn wirkungslos. Es stimmt aber auch, dass ein zu hoher Mindestlohn es ihr der Wähler nicht gerade dankt. Zu ihren Erfolgen gehört der Arbeitsplätze vernichtet. Es gibt keine Gottesformel für gerechten gesetzliche Mindestlohn, den es seit 2015 gibt. Der Schritt war Lohn. Deshalb muss über den Mindestlohn diskutiert werden. überfällig, um Menschen im Niedriglohnsektor vor Lohndumping Aber er darf kein Preis sein, den Politiker bestimmen. Er würde zu schützen. Bei 8,50 Euro gestartet, wird er, wie gesetzlich vorge- zum Spielball für Wahlgeschenke – und was das bedeutet, kann sehen, ab Januar angehoben, zunächst auf 9,19 Euro und ein Jahr man an der Rentenpolitik sehen. Die SPD war schon mal klüger. später auf 9,35 Euro. Angesichts miserabler Wahlergebnisse zeigen Es war ihre Vorsitzende Andrea Nahles, die als Ar beitsministerin die Sozialdemokraten jedoch, was sie am besten beherrschen: die dafür gesorgt hat, dass eine Kommission aus Gewerkschaften eigenen Erfolge kleinreden. Pünktlich zur Erhöhung klagen Genos- und Arbeitgebern über die Höhe des Mindestlohns entscheidet. sen wie Finanzminister Olaf Scholz, 9,35 Euro seien zu wenig, und Das war damals richtig und wird es auch sein, wenn die Konstruk - fordern 12 Euro. Unausgesprochen schwingt mit, dafür müsse der tion 2020 überprüft wird. Die Politik sollte tun, was ihre Aufgabe Gesetzgeber sorgen. Richtig ist: Etwas mehr als 1500 Euro brutto ist. Etwa dafür sorgen, dass Menschen, die wenig verdienen, mehr im Monat für eine 40-Stunden-Woche sind nicht viel. Der Mindest- vom Lohn bleibt. Oder dafür, dass mehr Arbeitnehmer in lohn ist eine absolute Lohnuntergrenze. Ist er zu niedrig, bleibt er den Genuss anständiger Tariflöhne kommen. Markus Dettmer

55 CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL ASLUND CHRISTIAN CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL ASLUND CHRISTIAN

H & M-Umkleideraum in Stockholm, Konzernchef Persson, Nachhaltigkeitsmanagerin Gedda Der Sohn muss liefern

56 Wirtschaft Im Schleudergang Mode Die schwedische Textilkette Hennes&Mauritz hat früher den Takt der Branche bestimmt. Heute laufen ihr die Kunden weg. Andere Marken sind schneller, angesagter, moderner. Der Konzern muss sich von Grund auf erneuern. Doch ist der Wille dazu wirklich vorhanden?

ie Mittzwanzigerin schaut mit tische Fragen, und die wenigen, die es gibt, Krise ist eng mit ihm verknüpft. Ihm wird ernstem Blick unter ihrem schie- werden weggelächelt. Warum der Anteil angelastet, dass H&M viele Trends ver- D fen Pony hervor: »Natürlich will an recyceltem Material auf 0,5 Prozent ge- passt hat, nicht nur modisch, sondern vor ich die Welt verändern«, sagt sie, sunken ist – obwohl die Gruppe stets ihr allem, was das Einkaufsverhalten der Kun- »deshalb arbeite ich für H& M, deshalb Ziel betont: bis 2030 nur noch Material den betrifft. Längst gibt es nicht nur Karl bin ich heute hier.« aus nachhaltigen Quellen zu verwenden? Lagerfeld bei H&M. Sondern auch Jette Die schwedische Modekette hat ein paar Warum man keine Angabe macht, wie Joop bei Aldi-Süd. Journalisten und jede Menge Modeblog- groß der Polyesteranteil in der Kleidung ger und Influencer aus dem In- und Aus- ist – obwohl kein anderes Material schwie- Das Unternehmen, einst der Angreifer in land nach Hamburg in ihre Deutschland- riger zu recyceln ist? einer Branche behäbiger Stangenwaren- zentrale eingeladen. Es geht um viele gute »Oh, eine wundervolle Frage, danke verwalter, muss heute um jeden Kunden Dinge. Um den neuen Nachhaltigkeits- schön«, sagt Nachhaltigkeitschefin Anna kämpfen. Der Offlinekonkurrent Primark report. Um das Projekt »Take care«, das Gedda und strahlt, als hätte man ihr gera- ist billiger und genauso trendbewusst. On- die Kunden dazu bringen soll, ihre Klei- de zu ihrem stilvollen Outfit gratuliert und linekonkurrenten wie Zalando und Ama- dung wertzuschätzen und nicht nur als als stünde H&M bis auf ein paar Öko-De- zon hat H&M unterschätzt. Der eigene Wegwerfprodukt zu sehen. Würde jemand tailfragen glänzend da. Schön wär’s. Auftritt im Netz frustriert die Kunden mit zufällig in diese Veranstaltung geraten und Hennes&Mauritz, der große schwedi- hohen Liefergebühren und Behäbigkeit. In nur den Mitarbeitern zuhören, könnte er sche Modekonzern, durchlebt die größte 24 von 71 Ländern, in denen H&M aktiv meinen, bei einer NGO gelandet zu sein – Krise, seit Gründervater Erling Persson im ist, haben die Schweden nicht einmal und nicht bei einem Fast-Fashion-Kon- Jahr 1947 im schwedischen Städtchen Väs- einen Onlineshop. zern, der jährlich Abermillionen Billig- terås den ersten »Hennes«-Laden eröffnete. Das Absurde ist, dass H & M exakt T-Shirts auf den Markt wirft. Anfang des Jahres brach der Umsatz von der Welle weggespült wird, die es Es gibt grüne, rote, gelbe Smoothies zu dramatisch ein. Und während beim spa- selbst ins Rollen gebracht hat. Früher trinken, das Publikum sitzt auf grünen, ro- nischen Erzrivalen Inditex (Zara) die Ge- orientierten sich die Kollektionen an den ten, gelben Poufs. Die Kulisse ist einem winne steigen, sind sie bei H&M schon Jahreszeiten. Dann begannen H & M und Loft im »Skandi-Stil« nachempfunden: länger rückläufig. Die Aktie fiel monate- andere Fast-Fashion-Konzerne, neue Klei- helles Holz, Topfpflanzen, kuschelige Kis- lang tiefer und tiefer. Erst das dritte Quar- der immer schneller in ihre Läden zu sen. Die Journalisten machen Notizen, die tal brachte den ersten Lichtblick seit Lan- pumpen, teilweise im Wochentakt. Doch Influencer machen Selfies. gem. Nun kommt alles auf das Weihnachts- die Konkurrenz drückte ebenfalls aufs Die Textilindustrie gehört zu den dre- geschäft an. Tempo, und nun hinkt H & M nur noch ckigsten Branchen der Welt. In kaum »Wir waren nicht zufrieden mit 2016, hinterher. einem Wirtschaftszweig liegen Schein und und mit 2017 sind wir überhaupt nicht zu- Perssons Vater Stefan, dem zusammen Sein so weit auseinander. Hochglanz- frieden«, sagt Karl-Johan Persson, 43, En- mit der Familie 46 Prozent des Aktien - magazine, gestylte Models, immer neue kel des Firmengründers und Geschäftsfüh- kapitals und knapp 74 Prozent der Stimm- Trends hier. Dort verseuchte Flüsse, ge- rer in dritter Generation. Persson führt seit rechte gehören, führt den Aufsichtsrat und knechtete Näherinnen und Klamotten, die neun Jahren die Geschäfte, die aktuelle hält die Hand über seinen Sprössling. immer schneller auf dem Müll landen. Noch. Doch auf Dauer wird das die Inves- Auch an diesem Abend im April ist die toren nicht beruhigen. Der Sohn muss lie- Kluft spürbar. Würden die Kunden ab mor- Aktienkurs +600 fern. Bald. 2019, sagen manche, sei sein gen dem »Take Care«-Modell folgen und Veränderung gegenüber Schicksalsjahr. erst einmal das auftragen, upcyceln oder Oktober 2008, Das Gute: Persson hat Ideen, viele sogar. tauschen, was ihr Kleiderschrank hergibt, in Prozent Die Frage ist vielmehr, ob er die Kernmar- wäre H&M übermorgen pleite. So gerät +400 ke H&M nicht an zu vielen Stellen verän- der Abend zur Farce: Meinen die das zum Vergleich: dern will, ob er nicht zu viel auf einmal ernst? Fällt denen der Widerspruch nicht Quelle: Inditex will. Denn Persson will eigentlich alles auf auf? Thomson Reuters u.a. Zara, Pull & Bear, einmal. Datastream Massimo Dutti Der Nachhaltigkeitsbericht wurde am Er will, weil das Stammgeschäft mit der Vormittag vorab per E-Mail an die Gäste +200 Marke H&M lahmt, neue Marken schaf- verschickt. Mit Sperrfrist. Doch die hätte fen. Er will ganz neue, moderne, digitale man sich sparen können. Von den Anwe- Läden bauen und so das Image der Haupt- senden scheinen nur die wenigsten das Do- H&M Group marke aufpolieren. Er will das Unterneh- kument im Anhang überhaupt geöffnet, men zum Vorreiter nachhaltiger Mode ma- geschweige denn die 100 klein bedruckten chen. Und er will den Konzern mithilfe Seiten gelesen zu haben. Es gibt kaum kri- 2010 2012 2014 2016 2018 von künstlicher Intelligenz und Big Data

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 57 Wirtschaft zu einem digitalen Trendsetter machen. gleich zum Verkauf in den Filialen an, um Persson senior gegenüber Investoren beim Ist so ein Kraftakt zu schaffen? Und: Ist es Vandalismus an Bushaltestellen und Lit- Capital Markets Day, der ersten Veranstal- dafür nicht schon zu spät? faßsäulen vorzubeugen. tung dieser Art Anfang 2018. Bilanzpres- Wer Karl-Johan, wie ihn bei H&M alle Diese Tage sind vorbei. Statt mit Clau- sekonferenzen werden nun nicht mehr nur nennen, in der Zentrale in Stockholm auf dia Schiffer kooperieren die Schweden auf Schwedisch, sondern auch auf Englisch dem Weg zum Fahrstuhl begegnet, muss jetzt mit YouTube-Sternchen wie Dagi abgehalten. Eine Selbstverständlichkeit in zweimal hinschauen, um zu erkennen, Bee. Wenn H&M heute eine neue Kam- der Branche. Bei H&M eine Sensation. dass da gerade der Chef eines 25-Milliar- pagne startet, hat das in der Regel wenig Es ist immer das gleiche Bild: Was auf den-Euro-Unternehmens steht. Ein biss- Aufregerpotenzial. Und mitunter geht es Außenstehende wie Trippelschritte wirkt, chen liegt das an der hauseigenen Klei- – ungewollt – in die falsche Richtung. Zu- ist für viele langjährige H&M-Mitarbeiter dungspolicy. Bei H&M tragen auch alle letzt sorgte das Foto eines schwarzen Jun- ein Weitsprung. Immerhin ermöglicht die Manager Anzüge von der H&M-Stange. gen in einem Hoodie mit der Aufschrift neue Offenheit tatsächlich neue Einblicke, Je nach Position solche aus der höherprei- »Coolest Monkey in the Jungle« für einen sogar bis ins »Allerheiligste« des Konzerns, sigen cos-Linie. internationalen Shit storm. Das Bild wurde den sogenannten White Room in Stock- Persson scheint zudem die Unscheinbar- im Onlineshop der Marke veröffentlicht. holm, das Designzentrum. Früher wurden keit zu seinem Stil erkoren zu haben. In In Südafrika stürmten wütende Demons- hier nur Journalisten, die für einschlägige seinem schmalen Anzug, dem weißen tranten H&M-Filialen, die dem Konzern Modehefte schrieben, vorgelassen. Hemd mit offenem Kragen und den Die Räume im zweiten Stock sind weißen Sneakern sieht er eher aus eine Mischung aus Bibliothek, Mo- wie ein Controller. demuseum und Nähatelier. In der Dass alle die Klamotten tragen, »Inspirations-Bibliothek« füllen di- die sie verkaufen, passte lange gut cke Bildbände die Regale bis zur zu H&M. Die Identifikation mit Decke. Es gibt Bücher über Jazz, dem Unternehmen ist hoch. Für Tulpen und Dinosaurier. Irgendwo H&M zu arbeiten galt nicht nur in müssen ja auch die Kindermode - Schweden lange Zeit als »cool«. Es designer Ideen für die nächste Kol- war zudem ein krisensicherer lektion finden. Arbeitsplatz. In der »Farb-Bibliothek« wird jede Farbe, die jemals bei H&M Doch dieses Image ist angekratzt. verwendet wurde, in Form einer Potenzielle Bewerber fragen inzwi- Stoffprobe hinterlegt. In jeder Sai- schen kritisch nach, wie es um den son kommen gut 300 neue dazu. Laden steht. Das erschwert die Su- Ein Raum ist mit Vintage-Klamot- che nach Leuten mit neuen Ideen, ten gefüllt, es riecht nach Flohmarkt: die gerade jetzt wichtig wären. »Die Hier hängen unter anderem ein US- Schweden tun sich schwer mit Ver- Fliegeranzug aus dem Zweiten Welt- änderungen«, sagt ein Branchen - krieg und ein paillettenbesetztes insider, der H&M lange kennt. Vie- Abendkleid. Mode, für die Ewigkeit le Jahrzehnte habe man eine nach- gemacht. haltige Personalplanung betrieben, Ann-Sofie Johansson, 55, ist altgediente Führungskräfte im Chefdesignerin. Sie fing vor 31 Jah- Headquarter nicht einfach so ge- ren als H&M-Verkäuferin an, heute schasst. »Das ist ja grundsätzlich leitet sie ein Team von rund 300 sympathisch. Auf der anderen Seite Designern. »Die Welt und die Mode muss man manchmal aber auch har- haben sich enorm gewandelt«, sagt

te Entscheidungen treffen und neue DIRK BRUNIECKI Johansson, »und natürlich auch Leute installieren, wenn sich wirk- Designchefin Johansson die H&M-Kunden.« In erster Linie lich etwas grundlegend verändern »Die Welt und die Mode haben sich enorm gewandelt« sind die Kunden erwachsen ge- soll.« Alles andere sei kein gutes worden. Weshalb heute die Hen- Si gnal. »Weder nach innen – noch nes&Mauritz-Gruppe insgesamt nach außen.« Sonst frage sich jeder, ob die Rassismus vorwarfen. Auch wenn sich das neun Marken umfasst, darunter auch: Hausspitze den Wandel wirklich wolle. Unternehmen bald mit einer Entschuldi- H&M Home, cos, & other Stories. H&M hat das Schicksal vieler extrem gung an die aufgebrachte Netzgemeinde Mit dem fallenden Aktienkurs erhöht erfolgreicher Unternehmen ereilt. Sie ha- wandte: Der Imageschaden war immens. sich das Tempo, in dem neue Marken da- ben sich so daran gewöhnt, zu den Gewin- »Markenkatastrophe«, titelte die schwedi- zukommen. Seit Sommer 2017 brachten nern zu gehören, dass sie erst mühsam ler- sche Tageszeitung »Svenska Dagbladet«. die Schweden gleich drei neue Konzepte nen müssen, mit Niederlagen umzugehen. Die daraufhin installierte Diversity-Be- an den Start: Mit dem Premium-Label Ar- Es gab Zeiten, da trafen die Kampagnen auftragte Annie Wu sagt im Interview mit ket versucht man sich an einem zeitlos der Marke so sehr den Nerv der Leute, dem SPIEGEL (44/2018): »Wir müssen die hochpreisigen Sortiment, inklusive Café. dass manche die Plakate von den Wänden Achtsamkeit jedes einzelnen Mitarbeiters Die Millennialmarke Nyden kooperiert mit rissen, etwa die Fotos mit der texanischen für das Thema Vielfalt erhöhen.« Fußballspieler Jérôme Boateng, mit einer Stripperin Anna Nicole Smith in schwar- Die offensichtlichen Fehlentscheidun- britischen Popsängerin und einem japani- zen Strapsen. Oder mit »Baywatch«-Star gen und die schlechten Geschäftszahlen schen Tattookünstler. Afound ist eine Art Pamela Anderson im Badeanzug. Bei der erhöhen jetzt den Druck, die eingefahrene Konzern-Outlet für reduzierte Mode und ersten Zusammenarbeit mit dem damali- Strategie zu verändern. Man gibt sich be- Secondhandkleidung, über die auch Fremd- gen Victoria’s-Secret-Model Heidi Klum scheiden. Geläutert. »Wir haben verstan- marken verkauft werden. Die neuen Mar- bot H&M die Poster sicherheitshalber den, dass wir offener sein müssen«, sagte ken sollen die alten Kunden, aber auch die

58 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 eigenen Leute im Konzern halten, sagt Jo- hansson. Vor allem Kreative, die sich wei- terentwickeln wollen. »Wenn wir eine Marktlücke sehen, überlassen wir die doch nicht unseren Wettbewerbern.« Davon wer - de am Ende auch die Stammmarke profitie- ren: durch neues Know-how, frische Ideen. Zurzeit machen die neuen Marken sie- ben Prozent des Gesamtumsatzes der Gruppe aus. Bis 2020 soll sich ihr Anteil auf 25 Prozent erhöhen. Es sind nur Bei- boote. »H&M muss unsere Hauptmarke bleiben«, sagt Johansson. Das ist die größte Herausforderung, der sich H&M gegenübersieht. Die Hauptmar- ke in eine neue Zeit überführen, in der plötzlich andere den Ton angeben. Ama- zon zum Beispiel, der Onlineriese, der den Anspruch der Konsumenten an Aus-

wahl und Verfügbarkeit radikal verändert / DER SPIEGEL ASLUND CHRISTIAN hat. Amazon-Chef Jeff Bezos verschaffte »Labratory«-Leiterin Tillberg Pantzar: Was kauft wer? Wann? den Kunden gottgleichen Status. Das ist der Konkurrenz bislang nicht gelungen. Auch die stationären Geschäfte müssen sende Accessoires. An den Wänden in der wir daraus ziehen«, sagt Arti Zeighami, dieser neuen Erwartungshaltung gerecht Umkleidekabine hängen Schwarz-Weiß-Fo- »diese Entscheidungen müssen Menschen werden. Bei begrenzter Fläche und starren tografien, wechselnde Leihgaben aus einem treffen.« Am Ende sei es die Zusammen- Öffnungszeiten. Doch wie soll der Laden der Museum, die man auch kaufen kann. »Wir arbeit von Mensch und Maschine, die den Zukunft, der da mithalten kann, aussehen? haben das Sortiment radikal beschnitten Mehrwert bringe. Bei H&M denkt Anna Tillberg Pantzar und bieten sogar fremde Marken an«, sagt Zeighami, 47, ist bei H&M für Daten- über diese Frage nach. Die 46-Jährige lei- Tillberg Pantzar und deutet auf ein Regal analyse und künstliche Intelligenz zustän- tet »The Labratory«, ein Team von 14 Leu- mit Kosmetikprodukten von L’Oréal und dig. Seine Techabteilung umfasste bis vor ten, das »den perfekten Nachbarschafts- Nivea gleich neben der Kasse. »Die Kun- Kurzem nur eine Handvoll Nerds. Heute Shop« entworfen hat. »Wir versuchen, den dinnen kaufen diese Cremes sowieso – wie- tüfteln mehr als 200 Mitarbeiter etwa an ganzen Laden komplett aus Kundenper- so sollen sie das nicht gleich bei uns tun?« sprachgesteuerten Spiegeln und Tools wie spektive zu denken«, sagt Tillberg Pantzar, Nichts hier ist zufällig. Der Vorzeige- »Perfect Fit«, mit deren Hilfe sich der Kun- Also wie bei Amazon. laden ist mit Hunderten Sensoren ausge- de zu Hause vermessen lassen kann. Der stattet. Ein Trackingsystem an jedem Klei- digitale Doppelgänger kann dann online Das Ergebnis dieser Überlegungen ist dungsstück ermöglicht nachzuverfolgen, Kleidungsstücke anprobieren. ein neuer H&M-Store in Karlaplan – im wer welches Teil wann und wo in die Hand Kritiker sagen, H&M habe zwar die Stockholmer In-Viertel Östermalm gele- genommen, bezahlt oder wieder zurück- Manpower, aber es fehle der Wille, das gen, wo viele junge Familien leben. Der gelegt hat. So wird automatisch der Be- komplette Geschäft digital zu denken. Laden befindet sich in einer Passage, nahe stand aufgefüllt. Die Filialleiterin schreibt Zeighami sieht das anders. »Manche Ent- einer zentralen U-Bahn-Station. Tausende einen monatlichen Newsletter für die wicklungen brauchen einfach Zeit.« Mit Pendler kommen jeden Tag vorbei. Stammkunden aus der Nachbarschaft. dem Karlaplan-Shop habe man ein Vor- Die »Labratory«-Leute haben sämtliche »Der Computer liefert die Daten, aber bild, an dem man sich orientieren könne. Daten, die sie über die Anwohner und de- die Analyse und welche Konsequenzen Das Problem: Heute sieht nahezu jede ren Einkaufsverhalten finden konnten, zu- der mehr als 4300 H&M-Filialen weltweit sammengetragen. Was kauft wer? Wann? gleich aus – ob in Rio, Hongkong oder Os- Online oder offline? Was wird zurück - Marken der H&M Group nabrück. Das neue Store-Konzept jedoch geschickt? Wie sehen die Wohnungen aus, und Anzahl der ist auf den jeweiligen Standort und seine in denen diese Menschen leben? Filialen weltweit 4353 Kunden zugeschnitten – damit allerdings »Die erste Erkenntnis war, dass unsere Stand: 31. August nicht, wie frühere Ladeneinrichtungen, be- Kundinnen viel trendbewusster sind, als 255 liebig kopierbar. Um das Beispiel so per- wir angenommen haben«, sagt die Mana- fekt umzusetzen wie im Karlaplan-Ge- gerin und deutet auf weiße, hohe Pumps, schäft, müsste man überall Massen von »und dass sie unseren Service eigentlich 119 Daten analysieren und die Läden und das zu ganz anderen Zeiten brauchen, als wir Sortiment jeweils einzeln zusammenstel- dachten.« Zum Beispiel morgens um acht 63 len. Die Investitionen wären immens. Uhr, auf dem Weg ins Büro, wenn die letz- 34 Nicht, dass die Eigentümerfamilie das te Strumpfhose gerade eine Laufmasche Geld dazu nicht hätte. Das Privatvermö- bekommen habe. 12 gen von Aufsichtsratschef Stefan Persson Der Laden erinnert nur noch beim Blick wird auf rund 14 Milliarden Euro ge- auf die Etiketten an einen H&M. Der Bo- 3 schätzt. Fragt sich nur: Glaubt die Familie den ist aus weißen Dielen, auf einem Tisch selbst daran, dass es das wert sei? steht eine Vase mit Schnittblumen. In den 1 außerdem Simone Salden wird z. T. in H&M- Regalen liegen wenige, farblich aufeinan- außerdem in mehr als 3000 Filialen Mail: [email protected] der abgestimmte Kleidungsstücke und pas- Geschäften weltweit angeboten 1 integriert

59 Wirtschaft »Dieser Mist verdirbt uns alle!«

SPIEGEL-Gespräch Der Internetkritiker Jaron Lanier spricht vor den US-Zwischenwahlen über die digitale Bedrohung für die amerikanische Demokratie.

In das Café Leila in Berkeley – einer seiner Lieblingsplätze – tritt eine raumgreifende Gestalt, Jaron Lanier, 58, einer der bekann- testen Analytiker und Kritiker der Digital- wirtschaft und der Internetkultur. Seine fast hüftlangen Rastalocken hängen von seinem Haupt wie die Fangarme vom Kopf des Tin- tenfischs. Er ist zu spät gekommen, entschul- digt sich und bestellt einen Bagel mit Frisch- käse und Ananas sowie zwei Tassen Kaffee.

SPIEGEL: Herr Lanier, dürfen wir Sie Oc - topus nennen? Das ist immerhin Ihr of- fizieller Jobtitel bei Ihrem Arbeitgeber Microsoft. Lanier: Ha! Wissen Sie auch, wofür er steht? SPIEGEL: Wir haben es auswendig gelernt: Office of the Chief Technology Officer Prime Unifying Scientist. Auf Deutsch un- gefähr: Büro des Cheftechnologen und Universalgelehrten. Lanier: Klingt gut, nicht wahr? Es war so: Das »Octo« gab es schon, so hieß die Ab- teilung tatsächlich, als ich dort ankam. Ich sagte, hey, lass uns einen Octopus draus machen! Und habe mir was für die drei fehlenden Buchstaben ausgedacht, um ein schönes Akronym hinzukriegen. Ich liebe Tintenfische. Sie sind die zweitintelligen- teste Lebensform auf Erden. SPIEGEL: Am nächsten Dienstag sind Zwi- schenwahlen in den USA, haben Sie Angst? Lanier: Wovor genau? SPIEGEL: Dass sich bewahrheitet, was Sie kürzlich geschrieben haben, dass heute »Facebook und Google über Meinungs - freiheit und Wahlmanipulationen in den großen Demokratien bestimmen«. Lanier: Ich bin jedenfalls sehr besorgt. Ich war kürzlich in Brasilien, kurz bevor sie diesen Verrückten gewählt haben. Und ich habe selbst gesehen, wie vor allem die So- cial-Media-Plattform WhatsApp, die Face- book gehört, zur politischen Waffe umge- baut worden ist, zur Lügenschleuder, um einen weiteren paranoiden, dauergereiz- ten, launischen, durchgedrehten … SPIEGEL: Sie sagen das so dezent. Lanier: … autoritären Idioten ins höchste Amt eines großen Landes wählen zu hel- fen. Die Charaktereigenschaften dieser KEVIN HAGEN / NYT / REDUX / LAIFKEVIN HAGEN / NYT / REDUX Internetpionier Lanier mit Tochter Lillibell Das Gespräch führten die SPIEGEL-Mitarbeiterin Helene Laube und der Redakteur Guido Mingels. »Es ist grotesk, die Kids im Silicon Valley kriegen alle keine Handys«

60 neuen Klasse rechter Führerfiguren sind sich über einen einzigen, bestimmten Fern- vativen stärker von diesen Phänomenen exakt dieselben, die Leute auszeichnen, sehsender zu informieren, das war schon als die Progressiven? die viel Zeit in sozialen Medien verbrin- vor Facebook und Twitter so. Heute wirkt Lanier: Hören Sie, dieser Mist verdirbt gen. Sie sind rechthaberisch, herablassend, allerdings alles zusammen, verstärkt sich uns alle. Auch euch Journalisten. Ich habe unsicher, streitsüchtig, egomanisch. Oh, an wechselseitig und führt zu dieser stupiden, Kollegen von Ihnen auf Twitter beobach- wen denke ich da wohl gerade, wenn ich einseitigen, angsterfüllten Weltsicht auf al- tet, die ich früher respektierte, die haben diese Attribute nenne? len Kanälen. Sie verändert im Übrigen nicht auf der Plattform rasch angefangen, ge- SPIEGEL: Trump. nur das Publikum, sondern auch die Wort- genseitig aufeinander einzudreschen, auf Lanier: Den Präsidenten der Vereinigten führer der Debatte – auch Trump selbst. ihren Standpunkten zu beharren, sich in Staaten. SPIEGEL: Ach. Eitelkeiten zu ergehen. Aber – um zu Ihrer SPIEGEL: Bei den Zwischenwahlen geht Lanier: Twitter hat diesen Mann zu einem Frage zurückzukommen – historisch be- es nicht direkt um Donald Trump, aber flatterhaften, larmoyanten, kleinen Balg trachtet sieht es schon danach aus, als hät- um die Mehrheitsverhältnisse im Kon- gemacht, furchtbar. Als ich ihn kennen- ten vor allem faschistische Kräfte jeweils gress, es steht viel auf dem Spiel. Face- lernte, war er nicht so. Kapital schlagen können aus neuen Me- book hat einen sogenannten War Room SPIEGEL: Sie kennen Donald Trump per- dien. Die Nazis nutzten den noch jungen ein gerichtet, eine zentrale Kommando - sönlich? Hörfunk und den Tonfilm, um die Bevöl- stelle, um Wahlmanipulationen und Fake Lanier: Vor vielen Jahren sind wir uns in kerung quasi zu hypnotisieren. Da gibt es News während der Wahlen entgegenzu- New York öfter begegnet. Ich war Teil eines gewisse Parallelen zur Gegenwart. Eben- wirken. Was halten Sie von diesen Be - Teams, das bei einem Architekturwett - falls nicht neu ist die Attraktivität des mühungen? bewerb mitmachte, er war einer der Geg- populistischen Archetyps, dieser scheinbe- Lanier: Ach, ich bin gespalten. Einerseits ner. Manche seiner schlechten Eigenschaf- drohte, wütende Mann, der denkt, die gan- ist klar, dass damit das Problem nicht ge- ten hatte er schon damals, dieses Gauner- ze Welt liegt falsch, und er allein muss es löst wird. Das reicht bei Weitem nicht. An- hafte, das Selbstverliebte, aber das ist wieder richten. dererseits glaube ich, dass es immer von nichts Ungewöhnliches für einen reichen SPIEGEL: Männer scheinen allerdings stär- Vorteil ist, wenn Verbesserungen in klei- New Yorker Geschäftsmann. Neu ist die ker verführbar als Frauen. nen Schritten geschehen, nicht als Um- Dauerbeleidigtheit, dieses Um-sich-Schla- Lanier: Möglich. Etliche Studien legen sturz. Wir sollten also anerkennen, dass gen, diese unglaubliche Unsouveränität. nahe, dass junge Männer durch soziale Me- Facebook die Sache anpackt, dass das Um- Man sieht das auch bei anderen prominen- dien aggressiver, junge Frauen aber eher denken begonnen hat. Ich habe viele depressiver werden. Mädchen verbringen Freunde bei Facebook, das sind keine am meisten Zeit auf den sozialen Netzwer- schlechten Menschen, die meinen das »Facebook kann das ken, die Zahl der Teenagerselbstmorde in ernst. Gewisse Erfolge wurden ja auch be- den USA steigt, vor allem bei Mädchen. reits erzielt, manche Verschwörungstheo- Problem nicht Dagegen sind es fast ausschließlich junge retiker wurden von der Plattform ver- lösen, Facebook ist Männer, die sich aufwieglerischen, natio- bannt, die Zahl von Fake Accounts, von nalistischen, internetbasierten Quatsch- betrügerischen Nutzern, die unter falscher das Problem.« strömungen wie der Alt-Right-Bewegung Identität aufwiegelnde, polarisierende In- oder den Proud Boys anschließen. halte publizieren, wurde reduziert. SPIEGEL: Das Silicon Valley setzt große SPIEGEL: Und andererseits? ten Twitter-Schreihälsen wie etwa Elon Hoffnung in die künstliche Intelligenz als Lanier: Andererseits ist die Grundstruktur Musk. Und mein Punkt ist: Das ist dieselbe Teil der Lösung. Algorithmen sollen Fake von Facebook genau darauf angelegt, sol- Charakterdeformierung, die wir bei einer News und Manipulationsversuche erken- che Inhalte zu fördern, ihre Nutzer zu sol- sehr großen Zahl der Nutzer von sozialen nen und die Plattformen säubern. Kann chen Informationen zu führen und sie Medien sehen. Also: Ich sage nicht, dass das funktionieren? möglichst lange dort zu halten. Das ist ihr Facebook und andere Plattformen den Lanier: Es fällt mir schwer, daran zu glau- Geschäftsmodell. Sie verkaufen die Auf- Ausgang von Wahlen entscheiden. Wahr ben. Ich störe mich generell an der Mys- merksamkeit und die Daten ihrer Nutzer ist aber, dass sie den Ton des Diskurses tifizierung bestimmter technologischer an Werbetreibende und andere Propagan- und damit den Charakter der ganzen Zi- Konzepte, die plötzlich die Lösung für disten. Facebook ist eine Manipulations- vilgesellschaft beschädigen. Was keines- alles sein sollen. »Künstliche Intelligenz« maschine. Und Twitter, WhatsApp, Insta - wegs weniger schlimm ist. ist so ein magisch überhöhtes Ding, gram, YouTube funktionieren nach dem- SPIEGEL: Was Sie beschreiben, wird seit »Blockchain« ein anderes (siehe Seite selben Prinzip. Trump oft unter dem Begriff »Stammes- 118). Es mag schon sein, dass maschinel- SPIEGEL: Das war der Tenor Ihres Buches denken« zusammengefasst, dem Rückzug les Lernen, also künstliche Intelligenz, »Zehn Gründe, warum du deine Social- in die digitale Filterblase, in die moralisch eine Rolle spielen wird beim Versuch, un- Media-Accounts sofort löschen musst«, homogene Gruppe, die sich dann gegen- erwünschte Inhalte von den Plattformen das in Deutschland in diesem Sommer über dem Feind abgrenzt. zu entfernen, denn was diese Programme zum Bestseller wurde. Lanier: Oh my gosh, ich habe bis vor Kur- besser können als Menschen, ist der Um- Lanier: Wobei man immer anführen muss, zem selbst dauernd von »Stammesden- gang mit großen Datenmengen. Sie sind dass die digitale Kommunikation keines- ken« gesprochen, bis ich einmal einen lei- aber immer nur so gut wie die Daten, mit wegs allein schuld ist an dem ganzen Schla- denschaftlichen Brief eines Vertreters ei- denen wir sie füttern. massel. Das wäre zu einfach. Die ameri- nes indigenen Stammes erhielt, der sich SPIEGEL: Wir würden Sie gern auf einen kanische Demokratie wird auch durch bitter darüber beklagte. Wir tun den An- Widerspruch hinweisen. mehrere alte und ganz analoge Probleme gehörigen von Vertretern indigener Grup- Lanier: Oh, bitte sehr. verzerrt, wie dem Wahlmännersystem pen unrecht mit diesem polemischen Be- SPIEGEL: Einerseits begrüßen Sie die Be- oder der Unterdrückung bestimmter Wäh- griff. Das sind wunderbare Leute. »Gang- mühungen von Facebook, Google oder lergruppen. Ein weiterer Faktor ist die Mentalität« ist besser. Twitter, Fake News und Desinformation überproportionale Beteiligung alter Wäh- SPIEGEL: Hate Speech, Fake News, Filter- abzuwehren, ihre Plattformen zu zivili- lerschichten. Alte Wähler neigen dazu, blasen – warum profitieren die Konser- sieren. Sie schreiben aber auch: »Wenn

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 61 Wirtschaft

Kids im Silicon Valley kriegen alle keine Handys und dürfen sich vor keinen Bild- schirm setzen. Da sind all diese Techväter und Techmütter, und sie sagen ihren Kin- dern: »Vorsicht, fass das nicht an, das hat meine Firma gebaut!« Ich glaube, das macht etwas mit diesen Eltern. Das schüt- telt sie ordentlich durch. SPIEGEL: Erziehen Sie Ihre Tochter auch technikfrei? Lanier: Nein. Sie hat ein Mobiltelefon und einen Computer. Wir wollen, dass sie lernt, mit diesen gigantischen Haufen aus Bull- shit umzugehen. SPIEGEL: Darf sie Facebook benutzen? WhatsApp, Twitter? Lanier: Da habe ich eine besondere Erzie- hungsstrategie. Ich habe sie ein paarmal in die Zentralen solcher Firmen mitgenom-

STEPHEN LAM / DER SPIEGEL STEPHEN men, wenn ich dort Termine hatte, damit Mitarbeiter in Facebook-Zentrale: »Diese Konzerne sind wie Ölstaaten« sie sieht, wo diese Plattformen gemacht werden, und die Leute kennenlernt, die sie erfunden haben. Also eben Jack Dorsey Facebook gewisse Formen der Meinungs- Trumps Propaganda wurde? Das muss sich oder auch Evan Spiegel von Snapchat. Und äußerung unterbindet, dann wird die Platt- doch schrecklich anfühlen. dann hat sie später ganz von allein gesagt: form autoritärer. So wie ein Staat autoritär Lanier: Er ist jemand, der ehrlich daran in- »Daddy, ich glaube, ich will meine Geheim- ist, der verlangt, dass seine Bürger sich teressiert ist, Lösungen zu finden, aber jedes nisse nicht mit diesen Männern teilen.« stets höflich verhalten.« Was denn nun? Mal, wenn er es versucht, geht es schief. Ich SPIEGEL: Ihre Eltern waren europäische Lanier: Ich bekenne mich schuldig! Ich wi- mag Jack. Verstehen Sie mich nicht falsch, Juden, Ihre österreichische Mutter über- derspreche mir selbst. Passiert mir dau- ich halte Twitter für ein fürchterliches Ding, lebte ein Konzentrationslager. Wie prägt ernd, Verzeihung. Ich glaube letztlich, Face- und es gibt wohl niemanden, der gemeinere Ihre Familiengeschichte Ihren Blick auf ak- book kann das Problem nicht lösen, Face- Sachen über Twitter gesagt hat als ich. Aber tuelle Ereignisse in den USA, die Paket- book ist das Problem. Und wenn wir zu persönlich habe ich große Sympathien für bomben, der neue Antisemitismus? Mark Zuckerberg gehen und sagen: »Face - die Leute dahinter. Twitter ist in einer tragi- Lanier: Ja. Schwieriges Thema. Wissen Sie, book, los, mach wieder gut, was du ange- schen Situation. Jack Dorsey hat nicht nur meine Mutter hat mir immer wieder erzählt, richtet hast, blockiere diese bösen Leute das Problem, dass er die Welt kaputtmacht dass ihre Eltern damals zu lange in Wien mit ihren bösen Äußerungen!«, dann ver- mit seiner Plattform – er macht noch nicht geblieben sind. Dass meine Großeltern im- größern wir zugleich den Einfluss von einmal Profit dabei! Facebook macht im- mer dachten: So schlimm wird es nicht wer- Facebook als globaler Polizei. Und das ist merhin Geld mit seiner Zerstörungsarbeit. den. Es wird uns nichts passieren. Sie haben nicht gut. Facebook oder Google verfügen SPIEGEL: Sie gehören gewissermaßen zur zu lange gewartet mit der Flucht und wur- schon jetzt über eine aberwitzige Macht- Gründergene ration des Internets, das nun den von den Nazis verschleppt. Und jetzt konzentration. Wir sollten sie nicht noch als Brandbeschleuniger diverser globaler bin ich hier in Berkeley und habe eine zwölf- größer machen. Diese Konzerne sind wie gesellschaftlicher Probleme gilt. Haben Sie jährige Tochter und denke immer wieder: Ölstaaten, abhängig von einer einzigen ein schlechtes Gewissen? So schlimm wird es nicht werden. Und tat- ungesunden Ressource, von ihren Werbe- Lanier: Ich spüre jedenfalls ein Gefühl der sächlich bin ich weiterhin überzeugt, dass einnahmen, damit von der Aufmerksam- Verantwortung. Als meine Tochter gebo- die USA groß und reif genug sind, um nicht keit ihrer Nutzer, damit von Klicks und ren wurde … in eine Diktatur abzu gleiten, es wird nicht Verweildauer. Sie brauchen ein anderes SPIEGEL: Wie alt ist sie heute? zum Schlimmsten kommen. Aber dann Businessmodell. Ich weiß, dass das sehr Lanier: Zwölf. Als sie geboren wurde, weiß ich natürlich auch, dass sie das damals schwierig ist. dachte ich, dass wir dabei sind, eine bes- in der Weimarer Republik genauso dachten. SPIEGEL: Mit vielen Silicon-Valley-Grö- sere Welt für ihre Generation zu erschaf- SPIEGEL: An welchem Punkt würden Sie ßen, die nun zu globalen Buhmännern fen. Immerhin merkte ich früh, dass vieles sagen, das war es, ich nehme meine Fami- wurden, verbinden Sie alte Freundschaf- in die falsche Richtung läuft. Mittlerweile lie und verlasse das Land? ten. Wie geht es Mark Zuckerberg? haben etliche mächtige Leute im Silicon Lanier: Ich weiß es nicht. Es sind schon Lanier: Das weiß ich nicht, mit Mark hatte Valley erkannt, dass es so nicht weiterge- jetzt einige Dinge passiert, wo ich früher ich nie viel zu tun. hen kann. Und wissen Sie, was ich für den vielleicht gesagt hätte: Jetzt ist genug, wir SPIEGEL: Peter Thiel? Der Paypal-Mit- Grund dieses Mentalitätswandels halte? hauen ab. Hätte mich jemand vor ein paar gründer und Großinvestor, der sich für SPIEGEL: Trump? Jahren gefragt, ob ich die USA verlassen Trump engagiert und angeblich ein Anwe- Lanier: Auch. Aber mindestens so wichtig würde, wenn der Staat anfängt, Kinder sen in Neuseeland gekauft hat für den Fall ist, dass die Entscheider im Valley, die blut- von ihren Eltern zu trennen an der Grenze, der Apokalypse? jung begonnen haben, diese Firmen zu for- sie in Camps zu stecken, um künftige Lanier: Peter ist ein Freund, wir sehen uns men, mittlerweile Kinder haben. Immi granten einzuschüchtern – dann hät- immer noch ab und zu. Ich will nicht sagen, SPIEGEL: Wie meinen Sie das? te ich wohl Ja gesagt. Man gewöhnt sich dass ich ihn umfassend verstehe, aber ich Lanier: All die Eltern, die bei Google und an den Schrecken, das ist das Gefährliche. halte die Kommunikationskanäle offen. Facebook arbeiten, erlauben ihren Kin- SPIEGEL: Herr Lanier, wir danken Ihnen SPIEGEL: Und Twitter-Chef Jack Dorsey, dern nicht, die Produkte zu benutzen, die für dieses Gespräch. dessen Plattform zum Megafon für sie selbst entwickeln. Es ist grotesk. Die

62 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Der neue Opel COMBO LIFE.

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* Beispiel-Angebot für den Opel Combo Life Selection, 1.2 Direct Injection Turbo, 81 kW (110 PS)2, Start/Stop, Euro 6d-TEMP, manuelles 6-Gang-Getriebe, einmalige Leasingsonderzahlung 999,00 €, voraussichtlicher Gesamtbetrag 9.591,00 €, Laufzeit 48 Monate, mtl. Leasingrate 179,00 €, Gesamtkreditbetrag/-fahrzeugpreis (UPE) 20.995,00 €, effektiver Jahreszins 3,90 %, Sollzinssatz p. a., gebunden für die gesamte Laufzeit, 3,90 %, Laufleistung 10.000 km/Jahr. Ein Angebot (Bonität vorausgesetzt) der Opel Leasing GmbH, Mainzer Straße 190, 65428 Rüsselsheim, für die das Autohaus als ungebundener Vermittler tätig ist. Bei dem Angebot handelt es sich um ein repräsentatives Beispiel nach § 6a Preisangabenverordnung. Alle Preisangaben inklusive Umsatzsteuer. Gegebenenfalls anfallende Überführungskosten sind separat an den Händler zu zahlen. Der Gesamtbetrag setzt sich zusammen aus Leasingsonderzahlung und Summe der monatlichen Leasingraten. Sollzins p. a., gebunden für die gesamte Laufzeit. Mehr- und Minderkilometer (Freigrenze 2.500 km) sowie eventuell vorhandene Schäden werden nach Vertragsende gesondert abgerechnet. Als Privatkunde steht Ihnen nach Vertragsabschluss ein gesetzliches Widerrufsrecht zu. Angebot freibleibend und nur gültig bei Vertragseingang beim Leasinggeber bis 30. 11. 2018. Das Angebot gilt für den Ersatz eines Fremdfabrikates. 1Optional bzw. in höheren Ausstattungslinien verfügbar. Nahezu alle ab jetzt bestellbaren Opel Modelle erfüllen jetzt schon die strenge Abgasnorm Euro 6d-TEMP. 2Kraftstoffverbrauch Opel Combo Life Selection, 1.2 Direct Injection Turbo, 81 kW (110 PS), Start/Stop, Euro 6d-TEMP, manuelles 6-Gang-Getriebe innerorts 6,9–6,3 l/100 km,

außerorts 5,2–5,0 l/100 km, kombiniert 5,8–5,5 l/100 km; CO2-Emission kombiniert 133–125 g/km; Effizienzklassse B–A (gemäß VO (EG) Nr. 715/2007, VO (EU) Nr. 2017/1153 und VO (EU) Nr. 2017/1151) Wirtschaft

eines Vereins von Fachleuten, die bundes- weit Bürger in Immobilienfragen beraten. Husch, husch, Pfusch Seit ungefähr fünf Jahren, sagt Penningh, beobachte er, wie die Bauqualität abneh- Neubau me. Besonders betroffen seien Metropolen Der Immobilienboom hat eine Schattenseite: Die Bauqualität wie Berlin, wo der Ansturm auf Objekte sinkt, der Streit um Mängel zieht sich hin. Eine Familie außergewöhnlich groß sei. Für die Nach- aus Tornesch übernachtet deshalb seit einem Jahr im Wohnwagen. lässigkeiten macht er mehrere Faktoren verantwortlich. ‣ Die mangelnde Qualifikation: ie Vogts haben sich im Für rund die Hälfte der Hand- D Neubaugebiet von Tor- werksberufe ist 2004 der Meis- nesch bei Hamburg ei- terzwang entfallen. Heute darf nen Bungalow errichten lassen, jeder Fliesen verlegen, Wände einen Klinkerbau mit Walm- verputzen, Estrich gießen. dach. Eine hübsche Fassade. Hauptsache, er trägt einen Dahinter beginnt der Albtraum. Helm auf der Baustelle. Jeden Abend verlässt die ‣ Die wachsenden Anforderun- Familie das Haus und zieht in gen: Der Gesetzgeber macht im- ihren Wohnwagen um, er steht mer detailliertere Vorgaben für statt an der Ostsee nun direkt Energieeffizienz, Schall- oder vor der Tür. Dort übernachten Brandschutz. Bauen wird kom- sie, Christian und Janina Vogt plizierter, damit steigt die Feh- mit den Söhnen Basti, 5, und leranfälligkeit. Tobi, 10. »Im Haus verbringen ‣ Der Fachkräftemangel: Auf wir so wenig Zeit wie möglich«, Baustellen fehlen erfahrene sagt die Mutter. Leute, Bauleiter müssen oft Im Februar 2017, ein Jahr Dutzende Vorhaben gleichzei- nach dem Einzug, bemerkten tig verfolgen. Es sollen, so er- die Vogts Flecken an einer Die- zählt man sich, bereits Poliere lenwand. Erst dachten sie, die von Headhuntern abgeworben Kinder hätten mit Wasser ge- worden sein. Auch Material ist spritzt. Bald aber entdeckten knapp, Gerüste sind nicht sofort sie weitere Stellen. Sockelflie- verfügbar, selbst auf Beton sen lösten sich vom Putz, Tür- muss man warten. zargen quollen auf, unter dem ‣ Der Termindruck: Weil so Fußboden spross der Schwarz- viele Aufträge zu erledigen sind, schimmel. verzögert sich die Fertigstel- Mittlerweile ist klar: Von un- lung. Maurertrupps springen ten dringt Feuchtigkeit ein, das von Baustelle zu Baustelle, um Haus ist undicht. Regnet es ei- wenigstens den Anschein zu er- nige Tage lang, werfen die Vogts wecken, es gehe ohne Pause vo- die Pumpen an, Schläuche ran. »Damit sinkt zwangsläufig schlängeln sich durch die Zim- / DER SPIEGEL PHILIPP SCHMIDT der Qualitätsanspruch«, sagt mer. Dann muss Basti, weil er Hauseigentümerfamilie Vogt Verbandschef Penningh. gehbehindert ist und einen Rol- Zwischen Caravan und Chaos Einen Beleg bietet der neue lator braucht, getragen werden. Bauschadensbericht, den der Die Söhne betrachten das Leben zwi- mobilienprojekte sind hochkomplex. Der Bauherren-Schutzbund gemeinsam mit schen Caravan und Chaos als Abenteuer, aktuelle Bauboom jedoch erzeugt offen- dem Institut für Bauforschung in der kom- noch jedenfalls. Die Eltern sind es schon sichtlich ein Klima, das Schlamperei be- menden Woche vorlegt. In der Studie wer- lange leid. Janina Vogt sagt: »Wir dürfen günstigt. den Haftpflichtfälle der AIA, der Archi- jetzt nicht durchdrehen.« Thomas Penningh, von Hause aus Di- tekt-Ingenieur-Assekuranz, untersucht. Im vorigen Jahr wurden in Deutschland plom-Ingenieur und Architekt, ist Präsi- Die Zahl der Bauschäden des Versiche- rund 285000 Wohnungen fertiggestellt, dent des Verbandes privater Bauherren, rers hat sich zwischen 2009 und 2016 na- fast 85000 mehr als 2012. Kommunen füh- hezu verdoppelt. Und die einzelnen Fälle ren lange Wartelisten mit Interessenten für Bauschadenkosten sind teurer geworden, von im Schnitt rund Grundstücke in Neubaugebieten. Kaum 49000 Euro (2006 bis 2008) auf rund etwas scheint so begehrt wie ein Eigen- Durchschnitt pro Fall* in Deutschland 84000 Euro (2015 bis 2017). Immer häu- heim. Handwerker, Architekten oder In- figer sind Bauten feucht oder undicht. Be- genieure können sich vor Aufträgen kaum 2015 bis 2017 83796€ sonders betroffen sind Dach, Decken und retten. Doch die Hochkonjunktur hat eine Fußböden sowie Wände. Entdeckt werden Schattenseite. Vielfach sinkt die Qualität, 2012 bis 2014 72866€ die Schäden am häufigsten in dem Jahr an deutschen Baustellen wird gehudelt 63361€ nach der Fertigstellung des Baus. und gepfuscht. 2009 bis 2011 Die Verfasser der Studie kommen zu ei- Wer schon mal gebaut hat, der weiß: Es 49271€ nem Urteil, das Bauinteressierten einen geht immer etwas schief. Die defekte 2006 bis 2008 Schreck einjagen kann. Das Geschehen Steckdose, der Kratzer im Parkett – Im- *Prognosen ab 2009; Quelle: BSB, IFB in Deutschland sei »durch mangelhafte

64 Bauplanung, -leitung und -ausführung von digen. Einigt man sich nicht, können die den, wenn er mit dem Bauträger im Clinch einem nicht unbeträchtlichen Fehlerkos- Geschädigten klagen. Weitere Jahre zie- liegt. tenanteil gekennzeichnet«, lautet ihr Fazit. hen ins Land. Heute sind viele Wohnungen in Mehr- Steuere die Branche nicht um, würden die Dass die Prüfung so lange dauert, liegt familienhäusern oft schon vor Baubeginn Schadenszahlen und die damit verbunde- auch daran, dass es zu wenige Gerichts- verkauft, so ist die Marktlage. Viele Eigen- nen Kosten »auch in Zukunft weiter stei- sachverständige gibt. Die Aufgabe wird tümer überwachen zwar penibel, wie der gen«, warnen sie. mit 85 Euro pro Stunde nicht üppig hono- Bau ihrer eigenen zwei oder drei Zimmer Die Vogts aus Tornesch können auf riert, alle fünf Jahre müssen die Gutachter fortschreitet. Oft aber vernachlässigen sie 65 Schriftseiten nachlesen, wie es um ihren ihren Wissensstand überprüfen lassen, das Gemeinschaftseigentum, dazu gehö- Bungalow bestellt ist. In einem ren Dach, Außenwände, Keller- Gutachten, das das Landgericht gänge oder Tiefgaragendecken. Itzehoe eingeholt hat, stellt der Die Crux ist, dass sich die Sachverständige mehrfach fest, Eigentümergemeinschaft meist dass ausgeführte Arbeiten nicht erst an dem Tag kennenlernt, den anerkannten Regeln der an dem diese Gebäudeteile ab- Technik entsprächen oder ih- genommen werden. Der Ver- nen sogar »fundamental wider- band privater Bauherren will sprechen«, insbesondere was deshalb ein Internetportal ein- die Abdichtung des Bauwerks richten, auf dem sich Käufer angehe. Es sei nicht fachgerecht frühzeitig organisieren können. oder »in erheblichem Umfang Es lässt sich vieles falsch ma- unzureichend« gearbeitet wor- chen bei der oft teuersten Ent- den, manches sei unerledigt ge- scheidung des Lebens, dem Er- blieben. werb eines Neubaus oder einer Der Gutachter, der über die Wohnung: Hier treffen Laien Frage der Verantwortlichkeit auf Profis. Vielen Käufern ist keine Schlussfolgerungen zieht, nicht klar, worauf sie sich ein- summiert die Kosten, die nötig lassen. Verbraucherschützer ra- sind, um die Mängel zu beseiti- ten, jede Aussage des Bauträgers gen, auf mehr als 100000 Euro. zu hinterfragen und gegebenen- Sein Resümee: »Dem Sinne falls einen privaten Gutachter nach handelt es sich hierbei um zu beauftragen, der den Bau be- eine Totalsanierung.« gleitet und die Qualität vor Ort Das Haus hat das Bauunter- kontrolliert. Es schadet auch nehmen Dirk Kage GmbH er- nichts, sich Referenzkunden richtet, ein Bauträger aus Ho- nennen zu lassen und diese henlockstedt, seit 23 Jahren nach ihren Erfahrungen zu fra- im Geschäft und bislang in sol- gen. So lässt sich das Risiko ver- chem Zusammenhang nicht auf- ringern, dass böse Überraschun- gefallen. Nach eigenen Anga- gen auftauchen und ein jahre- ben stellt Kage im Jahr rund langer Rechtsstreit folgt. 120 Häuser fertig. Auf die Bitte Ob Familie Vogt eine Eini- um Stellungnahme im Torne- gung erzielen wird, lässt sich scher Fall hat das Unternehmen / DER SPIEGEL PHILIPP SCHMIDT nicht absehen. »Wir drehen uns nicht reagiert. Trocknungsanlage im Bungalow im Kreis«, sagt Janina Vogt. Sie Das Gutachten über den Bun- »Im Haus verbringen wir so wenig Zeit wie möglich« zermürbt die Ungewissheit, wie galow ist Teil eines sogenannten es weitergeht mit ihrem Haus selbstständigen Beweisverfahrens, früher nicht jeder besteht den Test. »Wir haben und wie lange sie noch im Wohnwagen le- Beweissicherungsverfahren genannt. Ei- in einigen Bezirken Nachwuchssorgen«, ben müssen. »Wir kommen als Familie ein- gentlich ist es käuferfreundlich gedacht, sagt Münkel. fach nicht zur Ruhe.« denn es verhindert, dass Ansprüche ver- Auch an den Gerichten ist das Personal Enttäuscht ist sie auch vom Rechtsstaat. jähren. Üblicherweise liegt die Gewähr- knapp. Zwar müssen Landgerichte seit Vogt arbeitet in einem Steuerberatungs - leistungsfrist bei fünf Jahren. Die Parteien Jahresbeginn eigene Fachkammern für Bau- büro. Sie weiß: Wer seine Steuererklärung sollten dabei selbst einen Ausgleich in fragen einrichten. Diese Spezialisierung nicht abgibt, dem droht das Finanzamt Streitigkeiten finden, in denen Eile gebo- ändert freilich nichts am Fehlen von Rich- schnell mit einem Zwangsgeld. In ihrem ten ist. Doch dieses Ziel wird in der Praxis terstellen – und manchmal auch nichts an Fall aber, wo eine Familie in Not ist und verfehlt. der mangelnden Sachkenntnis. Anders als Eile geboten, habe der Staat auf einmal Beweisverfahren ziehen sich in die Län- Gerichtssachverständige oder Fachanwälte alle Zeit der Welt, so ihr Eindruck: »Das ge, zuweilen über Jahre hinweg, bei den sind Richter zur Fortbildung nicht ver- kann einfach nicht richtig sein.« Vogts läuft es seit Herbst 2017. Ein Orts- pflichtet. Alexander Jung termin allein genügt oft nicht, der Gutach- Wer sich als Bauherr also entschließt, ter muss Fachkollegen hinzuziehen. Ist das einen juristischen Streit zu beginnen, dem Gutachten endlich verfasst, formulieren droht ein langer Nervenkrieg. Zudem Video Familie Vogt in die Kontrahenten oft noch eine Vielzahl muss er die Kosten des Beweisverfahrens ihrer Bauruine von Nachfragen. »Das ufert manchmal vorstrecken, im Schnitt rund 9300 Euro. spiegel.de/sp452018baupfusch aus«, sagt Ernst-August Münkel, Vorsit- Nicht weniger aufreibend kann es für den oder in der App DER SPIEGEL zender des Verbands der Bausachverstän- Erwerber einer Eigentumswohnung wer-

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 65 Wirtschaft

Der DDR-Vergleich erfreut sich gerade überhaupt einer Hochkonjunktur, vor allem am eher renitenten Ende des BRD zero politischen Spektrums. Alexander Gauland zum Beispiel hielt es in seiner Rede zum Auftakt des Bundesparteitags der AfD in diesem Sommer für angemessen, Angela Merkel mit Erich Business Outsider Honecker zu vergleichen. Alexander Schimmelbusch Christian Lindner hingegen variiert auch mal, wohl um wundert sich, dass der deutsche Staat seinem Image als glänzender Rhetoriker Rechnung zu tragen, angeblich nicht wirtschaften kann – der chine- wenn er die Energiepolitik der Großen Koalition etwa mit den »Bemühungen des Planungsbüros der KPdSU« ver- sische, norwegische, katarische aber schon. gleicht. Beim Mieterschutz schimpft er dann aber wieder über »planwirtschaftliches Denken«, um seine müde Pointe von der »DDR light« vorzubereiten. ie Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Ist für Deutschland mit seinem verbliebenen Tafelsilber- Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.« fundus nicht eher der Begriff BRD light angemessen? Nach D Dieser Aphorismus wird oft Albert Einstein unter- dem Privatisierungsfieber der vergangenen Jahrzehnte, in geschoben, entstammt aber dem Manifest von dem der Bund und die Länder große Teile ihrer Immobilien Narcotics Anonymous. Welcher Zustand jedoch liegt vor, verhökert haben, ist die BRD schließlich nicht mehr in der wenn man unbeugsam immer wieder behauptet, was vom Lage, gewisse zivilisatorische Standards zu garantieren – Lauf der Geschichte widerlegt worden ist? Konfusion? etwa jenen, dass eine Krankenschwester oder Kindergärtne- Wunschdenken? Ignoranz? Fanatismus? rin in einem Ballungsraum ohne übertriebenen Stress eine Ein gutes Beispiel ist das liberale Mantra »Der Staat kann für sie bezahlbare Wohnung finden kann. nicht wirtschaften«, mit dem hierzulande offenbar immer Die DDR ist im Jahr 2018 zudem keine relevante Refe- nur der deutsche Staat gemeint ist. renzgröße – ein Staat, der vor fast 30 Jahren untergegangen Denn das Emirat Katar kann wirtschaften, weshalb die ist und in dem man 15 Jahre lang auf ein Auto aus Plaste war- deutsche Regierung es »sehr willkommen« heißt, wenn es ten musste. Die Referenzgröße ist eine neokonfuzianische sich an deutschen Unternehmen beteiligt, an Volkswagen zum Power-Planwirtschaft, die sogar Mathias Döpfner, Chef Beispiel, an Siemens und der Deutschen Bank. Die Re - des nicht zum Sozialismus tendierenden Axel-Springer- publik Singapur, deren riesiger Staatsfonds seit diesem Verlags, als das »im Moment erfolgreichste Land und Jahr der zweitgrößte Aktionär der Bayer AG ist, kann System« bezeichnet: China. wirtschaften. Auch das Königreich Norwegen kann Der chinesische Staat ist aktuell mit wirtschaften, dessen noch größerer Staatsfonds rund der Realisierung der »Neuen Seidenstra- vier Prozent der Anteile am gesamten Dax hält und ße« befasst, die mit der Opiumromantik im vergangenen Jahr mehr als hundert Milliarden der Karawanenrouten der alten Seiden - Euro Gewinn gemacht hat. Fremde Staaten aller Cou- straße nichts zu tun hat. Es handelt sich leur können demnach wirtschaften, von der Wüsten- vielmehr um den hegemonialen Traum ei- diktatur bis hin zur Wikinger-Ökokratie. nes interkontinentalen Handelsnetzwerks Nur die BRD kann nicht wirtschaften, so geht zwischen der Volksrepublik und mehr als 80 Län- das Narrativ, an dem seit der Wende nicht dern in Asien, Afrika, Europa und Südamerika. Ein nur FDP und Union, sondern auch SPD Hauptstrang der Kontinentalbrücke ist die Zugverbin- und Grüne mitgeschrieben haben. dung von Chongqing nach Duisburg, sodass der Duis- Abzulehnen ist also, wenn sich der burger Hafen gleichsam als der europäische Kopfbahn- deutsche Staat neu an deutschen hof einer Infrastrukturinitiative zu verstehen ist, die mehr Unternehmen beteiligen will. Ab- als 60 Prozent der Weltbevölkerung verbinden wird. zustoßen sind also bestehende Betei- Und was ist die Reaktion der deutschen Politik? Die ligungen des Staates – über Privatisierungen, schwarz-gelbe NRW-Landesregierung kündigt an, einen bei denen wiederum fremde Staaten als Käufer infrage kom- Verkauf ihrer Beteiligung am Duisburger Hafen zu prüfen, men. Denn der deutsche Staat ist ja »kein guter Unterneh- wohl mal wieder nach der in diesem Kontext ja vollends sinn- mer«, so geht die Talkshowformel, und wenn die Bundes- freien Devise »Privat vor Staat«. regierung etwa einen Staatsfonds gründen würde, um die Das klingt wie Slapstick, ist aber bitterer Ernst, denn diese Bürger an der heimischen Industrie zu beteiligen oder an Haltung ist in Deutschland immer noch weitverbreitet. In den Renditen der Globalisierung, dann würde sofort der real der Union nach Merkel ist sie sogar im Aufwind, wie man existierende Sozialismus wiederkehren. an der Bewerbung des Lobbyisten Friedrich Merz um den Kaum hat der deutsche Staat sich an einem deutschen Un- Vorsitz der CDU ablesen kann, die Christian Lindner freudig ternehmen beteiligt, und sei es, wie im Falle des Stromnetz- mit den Worten »Wir sind befreundet« kommentierte. Das betreibers 50Hertz, um den Einstieg des chinesischen Staates wirtschaftsliberale Lager scheint demnach entschlossen, zu verhindern, ist in der »FAZ« schon von einem »miesen auf die chinesische Herausforderung mit einem weiteren Staatstrick« die Rede, von einem »groben Eingriff in den frei- Abbau unseres Staates zu reagieren, gleichsam in Richtung en Kapitalverkehr«. BRD zero. Solche »Verstaatlichungen und Eingriffe in den Markt«, Bei allem Schrecken könnte dem auch Positives abzuge- redet sich dann ein Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion in winnen sein, wenn man einen letzten Rest strategischen Den- Rage, »müssen in Zukunft die absolute Ausnahme sein«. kens in der SPD vermutet: Hier eine Alternative anzubieten, Schon 2008, als zur Debatte stand, eine deutsche Netz AG darin läge die große (und wohl auch die letzte) Chance der zu gründen, hatte die FDP auch im Bereich der kritischen deutschen Sozialdemokratie. Energieinfrastruktur für »mehr Markt« agitiert, um dann den Popanz der Wiederkehr einer maroden »Staatswirtschaft Schimmelbusch, 43, war Investmentbanker und ist Schriftsteller. à la DDR« an die Wand zu malen. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Hochdeutschland«.

66 Illustration: Studio Pong für den SPIEGEL DER SPIEGEL im Gespräch über Feminismus: #frauenland laif/Gerster Jennifer Fey Jennifer Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Peter Altmaier Teresa Bücker Bascha Mika

Vor 100 Jahren wurde in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt – eine entscheidende Voraussetzung für die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Vor einem Jahr hat das Hashtag #MeToo weltweit eine enorme gesellschaftliche Debatte entfacht, die noch lange andauern wird. Zeit für eine Bilanz: Ist Deutschland so modern, wie wir gern glauben möchten? Was hat sich verändert im Verhältnis zwischen den Geschlechtern? Sind die Unterschiede zwischen dem »alten« und dem »neuen« Feminismus gravierend oder marginal? Was muss sich tun, damit eine echte Gleichstellung zwischen Mann und Frau Wirklichkeit wird? Und was können Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und jeder Einzelne dazu beitragen? Darüber diskutieren Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister, Teresa Bücker, Chefredakteurin Edition F, und Bascha Mika, Chefredakteurin »Frankfurter Rundschau«. Moderation: Susanne Beyer, stellvertretende Chefredakteurin DER SPIEGEL

Dienstag, 6. November, 20.30 Uhr, Spiegelsaal Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.spiegel-live.de Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, Abonnenten 12 Euro Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten. Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr und melden Sie sich für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. Aktiv sein, Prämie wählen! JETZT LESER WERBEN – SIE MÜSSEN SELBST NICHT ABONNENT SEIN.

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Erfolgreich ist als Flüchtling nur, wer Geld hat und vernetzt ist. ‣S.76 ANASTASIA TAYLOR-LIND / EYEWITNESS TAYLOR-LIND ANASTASIA Es muss wirklich Liebe sein, wenn man sich in einem tristen Raum ohne Tageslicht das Jawort gibt – mitten im vergessenen Krieg in der Ostukraine. Das Brautpaar Alina und Igor Leschina hat für einen glücklichen Mo- ment verdrängt, dass in der Frontstadt Awdijiwka Granaten einschlagen und Minen liegen. Nach der Trauung ermahnte der Standesbeamte das Paar, nicht wie so viele vor den Kämpfen zu fliehen, sondern zu bleiben.

Analyse Zwei Premiers, keine Führung Sri Lanka wird zum Spielball im Machtkampf zwischen China und Indien.

Die Machtübernahme lief zur besten Sendezeit. Im Staatsfernse- mehr mit dem Nachbarn Indien verbünden? Sri Lanka liegt nur hen verkündete Sri Lankas Präsident Maithripala Sirisena vergan- rund 30 Kilo meter von der indischen Küste entfernt; entlang seiner gene Woche die Absetzung des Premiers. Dessen Nachfolger, Südflanke wird ein Großteil der Öllieferungen nach China trans - Mahinda Rajapaksa, hat das Land von 2005 bis 2015 geführt. Er portiert. Vor gut einem Jahr überschrieb Sri Lanka einen wichtigen gilt als Verbündeter Pekings und ist beliebt, weil er Wirtschafts- Hafen an die Volksrepublik. Im Gegenzug sollte Indien die Kon - wachstum brachte. Rajapaksa ist aber auch gefürchtet. Unter sei- trolle über einen Flughafen und ein Frachtterminal erhalten. Der ner Präsidentschaft verschwanden Kritiker; Korruption und Vet- bisherige Premier war für den Deal, der Präsident strikt dagegen. ternwirtschaft waren weitverbreitet. Seine Ernennung stürzt das Beide haben sich darüber zerstritten. Ob in Nepal, in Bhutan, auf Land in eine tiefe politische Krise. Zumal der bisherige Premier den Malediven oder in Sri Lanka – Indien und China ringen um Ranil Wickremesinghe sich seiner Ablösung widersetzt, weil sie, Einfluss. Dafür umwerben sie Politiker. Kleinere Länder wie Sri wie nicht nur er sagt, der Verfassung widerspreche. Sri Lanka hat Lanka können davon wirtschaftlich enorm profitieren oder daran somit derzeit zwei Premiers und ist doch ohne Führung. politisch zerbrechen. China scheint jetzt auf der Insel der vorläufige Hinter dem Machtkampf steht neben vielen innenpolitischen Sieger zu sein. Internationale Diplomaten reagierten zögernd auf Konflikten die grundsätzliche Frage nach dem außenpolitischen Rajapaksas Ernennung, mit einer Ausnahme: Der chinesische Bot- Kurs des Landes: Soll es sich weiter China annähern oder sich schafter gratulierte ihm gleich am nächsten Tag. Laura Höflinger

70 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Polen Frankreich Rassisten vor Alles neu

dem Kulturpalast Parteien waren gestern, so scheint es. Wer heute politisch etwas erreichen Zum Nationalfeiertag will, der schließt sich einer Bewegung überlässt die rechtskonser- an. Oder gründet gleich selbst eine. vative Regierung wohl ein Emmanuel Macron hat es mit »En weiteres Mal die War- marche« vorgemacht, ein Landsmann schauer Straßen ultrarech- aus derselben Alterskohorte macht es ten Demonstranten: Am ihm nun nach: Der Publizist Raphaël 11. November vor genau Glucksmann will mit einer »kollek- 100 Jahren wurde Polen tiven Struktur« die zerrüttete Linke nach etlichen Teilungen einen und ihren Ideen und Werten da - und Besetzungen wieder mit zu neuer Strahlkraft verhelfen. unabhängig. Seit einigen »Place publique« soll seine Bewegung

Jahren bereits organisiert / IMAGO NEWSPIX heißen, sie versteht sich als bürgernah, ein extrem nationalisti- Demonstranten am Nationalfeiertag 2017 in Warschau sches Bündnis an diesem Tag einen »Marsch der Unabhängigkeit« die Regierung, dann auch Präsident durch die Hauptstadt. Andrzej Duda die Teilnahme ab. Viele 2017 dominierten Transparente Polen fürchten nun, dass wieder Bilder mit rassistischen Parolen und vermumm- eines krakeelenden Mobs vor dem te Demonstranten das Straßenbild: Warschauer Kulturpalast um die Welt »Ein weißes Europa« oder »Polen den gehen werden, während die offiziellen Polen«, hieß es da. Um die Radikalen Reden und Gedenkkonzerte weitgehend nicht auch in diesem Jahr den Ton ange- unter Ausschluss der Öffentlichkeit ben zu lassen, hatte die PiS-Regierung stattfinden. Deshalb rufen auch Linke versucht, sich in die Vorbereitungen sowie Vertreter von Lesben und Schwu- der Demonstration einzuschalten. Dies- len zu Märschen in der Hauptstadt auf. mal sollten Regierungsmitglieder, aber »Wir sind dagegen, dass rassistische auch Oppositionspolitiker mitmar - und sexistische Hetzer den öffentlichen schieren. Doch der Opposition gefiel die Raum übernehmen und die Regierung Idee nicht. Weil aber PiS-Politiker nicht nationalistische Gruppen fördert«, allein Schulter an Schulter mit den heißt es in ihrem Appell, am 11. Novem- Ultras auftreten wollten, sagten zuerst ber auf die Straße zu gehen. JPU

Chappatte CONSTANT FORMÉ-BÈCHERAT CONSTANT Glucksmann

ökologisch und proeuropäisch. Glucks- mann, 39, war lange vor allem als Sohn des Philosophen André Glucksmann bekannt. Seit einigen Jahren aber tritt er mit eigenen pointierten Analysen über Frankreichs Gegenwart aus dessen Schatten. Gerade erst hat er ein neues Buch veröffentlicht, »Les enfants du vide«, Kinder der Leere, ist ein Plä - doyer für mehr Gemeinsinn, für mehr kollektives Handeln. Den »egogetriebe- nen Individualismus« hält Glucksmann für eine ideologische Sackgasse – was als Grundsatzkritik an der Präsident- schaft Emmanuel Macrons verstanden werden darf. Er wünsche ihm viel Erfolg, sagte Glucksmann damals im Mai 2017, einen Tag nach der Wahl Macrons, aber er bleibe skeptisch: Nur ein kleiner Teil der Franzosen identi - fiziere sich mit dem, was Macron an- strebe. Sieht aus, als ob er jetzt, da ihm die Umfragen recht geben, versucht, einen größeren Teil seiner Landsleute selbst anzusprechen. HEY

71 Ausland Warten auf die Welle

USA Am kommenden Dienstag wählt das Land einen neuen Kongress. Für die Demokraten geht es um die alles entscheidende Frage: Schaffen sie es, Donald Trump zu besiegen?

s sind noch acht Tage bis zu den Kandidat in welchem Wahlkreis die besten ten hoffen, es könnte die mächtigste Waffe Wahlen, als Micah Cohen auf sei- Aussichten auf einen Sieg hat. gegen Trump werden. Lauren Underwood E nen Bürostuhl in New York sinkt, Alle 435 Sitze im Repräsentantenhaus will für die Demokraten ins Abgeordne- um die Zukunft vorherzusagen. Er müssen neu besetzt werden sowie 35 tenhaus einziehen, in einem Wahlkreis, sieht müde aus. Cohen ist einer der Chefs von 100 Senatorenposten und 36 Gouver- der eigentlich den Republikanern gehört. von FiveThirtyEight, einer der beliebtes- neure in den Bundesstaaten. Es geht vor Micah Cohen, der Statistiker, hat mit ten Politikseiten in den USA. Statistiken, allem aber um einen Mann, dessen Name seinem Team die Wahlkreise über eine Rohdaten und Umfragen aus dem ganzen auf keinem Stimmzettel steht, Donald USA-Landkarte gelegt. Das Ergebnis äh- Land laufen bei ihm auf, seit Monaten be- Trump. Letztlich geht es um die Seele von nelt einem Raster bunter Bienenwaben, obachtet sein Team das Rennen um die Amerika. von dunkelblau über hellblau, grau, hell- Kongresswahlen am Dienstag. In Cohens rosa bis leuchtend rot. Dunkelblau bedeu- Brillengläsern spiegeln sich Zahlen, die Wahlkämpfe sind nie sauber, aber was tet, dass die Demokraten mit hoher Wahr- über den Bildschirm laufen. Er sagt: »Uns Amerika in den vergangenen Wochen er- scheinlichkeit gewinnen; grellrot steht für geht es darum, ein möglichst präzises Bild lebt hat, war ein gefährliches Theater. Der einen Sieg der Republikaner. Cohens Pro- davon zu zeichnen, was im Land passiert.« Präsident stellte die Demokraten als linken gnosen zufolge werden die Demokraten Im Moment sieht dieses Bild laut den Mob dar, der die USA in ein zweites Ve- 19 bis 59 Mandate im Abgeordnetenhaus Prognosen von FiveThirtyEight so aus: nezuela verwandeln wolle; er zündelte ge- hinzugewinnen, der Durchschnitt seines Die Demokraten haben eine gute, das gen die Presse; er warnte vor Terroristen, Modell zeigt einen Gewinn von 38 Sitzen heißt 85-prozentige Chance, das Abgeord- die sich unter eine »Karawane« von Flücht- für die Opposition. netenhaus zu gewinnen; die Republikaner lingen gemischt hätten, die sich gerade von Lauren Underwood tritt in einer rosa dagegen haben eine 85-prozentige Chance, Mittelamerika aus auf den Weg in Rich- Wabe an, oben in der Mitte der Karte. den Senat zu halten. Wenn es stimmt, was tung USA gemacht haben (siehe Seite 76). Rosa bedeutet: Es wird knapp, mit leich- die Statistiken sagen, geht ein Teil der Seine Worte zeigten Wirkung. Einer tem Vorteil für die Republikaner. Doch Macht an die Opposition über. Donald von Trumps Anhängern in Florida ver- allein die Tatsache, dass es für ihren Kon- Trumps Leben wäre sehr viel komplizier- schickte 15 Paketbomben an Kritiker des trahenten so knapp wird, ist eine kleine ter. Wenn es denn so kommt. Präsidenten, darunter Hillary Clinton, Ba- Sensation. Im 14. Distrikt von Illinois woh- Cohen ist ein großer, gemächlicher Typ, rack Obama und CNN. In Pittsburgh ermor- nen Trump-Wähler, die untere weiße Mit- kariertes Button-down-Hemd, oberster dete ein Attentäter vorigen Samstag elf telschicht, zwischen Bauernhöfen, Vor - Knopf offen, er sieht nicht nur aus wie ein jüdische Gemeindemitglieder, weil er Ju- orten, Landstraßen und riesigen Garagen. Nerd. Acht Jahre lang arbeitete er als Re- den und Flüchtlinge hasst. Auch wenn der Underwood kämpft wie viele Demokra- porter für die »New York Times«, bevor er Präsident keine direkte Verantwortung da- ten um die Wähler, die von der Politik der zu FiveThirtyEight wechselte, das von dem für trägt, gedeihen solche Taten sicher Republikaner enttäuscht und von den Wor- Statistiker Nate Silver gegründet wurde. Es nicht in einem Vakuum. ten Trumps angewidert sind. Sie redet in gibt wenige im Land, die sich ähnlich be- Sollten die Republikaner ihre Mehrheit Universitäten, Altenheimen, auf Markt- sessen durch Zahlenkolonnen fressen. Bei im Abgeordnetenhaus und im Senat hal- plätzen und erzählt von hohen Arzneimit- der Präsidentschaftswahl 2016 gab Five- ten, wird Amerika einen noch zügellose- telpreisen, dem Mangel an Krankenversi- ThirtyEight Donald Trump eine Chance ren Präsidenten erleben. Die Chancen der cherungen und dem desolaten Zustand des von 29 Prozent, gegen Hillary Clinton zu Demokraten im Senat sind gering, aber Gesundheitssystems. Sie trifft dabei viele gewinnen. Wer wissen will, welcher Kan- sollten sie eine Mehrheit der Abgeordne- Leute, die Trump nicht leiden können, didat gerade vorn liegt, klickt auf ihre Seite. tenmandate erringen, könnten sie Trump Männer wie Tom Kartheiser, immer schon Cohens Schreibtisch steht in der vierten unter Druck setzen, besonders in der Wähler der Republikaner. Kartheiser ist Etage eines Bürogebäudes auf der Upper Russlandaffäre. Sie könnten ein Amtsent- an diesem Vormittag angereist, um Under- West Side, gleich beim Central Park, aber hebungsverfahren einleiten, auch wenn ih- wood Fragen zu stellen: Was ist ihre Vision er könnte auch auf dem Grund des Atlan- nen für seine Absetzung die notwendige von Amerika? Wie will sie dieses gespal- tiks stehen. Die Wände um ihn herum be- Zweidrittelmehrheit im Senat fehlt. tene Land wieder zusammenführen? stehen aus abwaschbaren Plastiktafeln, auf Wenn am Dienstag eine blaue Welle »Indem ich zuhöre und mit allen Men- denen er mit Filzstift Formeln und Grafi- über Amerika hereinbrechen sollte, ein schen spreche«, sagt Underwood. ken skizziert hat. Es sieht aus, als wäre er Sieg der Demokraten im Abgeordneten- Hinterher erzählt Kartheiser, ihm ma- von den Kongresswahlen eingekeilt. haus, dann könnte sie in Woodstock star- che Sorgen, was aus seiner Partei wurde. Drei Vorhersagemodelle haben seine ten, im Bundesstaat Illinois. Dort hat sich Er stimmte für Reagan, Bush senior, Bush Leute entworfen, für den Senat, das Ab- eine Gruppe von Bürgern versammelt, die junior, Mitt Romney. Es gehe aber nicht geordnetenhaus und die Gouverneurs- heiße Schokolade trinken, Amerikaflaggen mehr, nicht mit diesem Präsidenten. Unter rennen. In jedes Modell fließen Umfragen, schwenken und einer 32 Jahre alten Kran- Trump, sagt er, hätten die Republikaner historische Daten, das Spendenaufkom- kenschwester zuhören, die über Gesund- sich selbst verraten. Kartheiser kann mit men, Einschätzungen von Demoskopen heitspolitik spricht – es gibt kein Thema, der Wut nichts anfangen, die aus Washing- und vieles mehr. Cohen sieht, welcher das mehr Menschen betrifft, die Demokra- ton kommt. Er will nun an die Türen seiner

72 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Anhänger derDemokraten inMissouri,Wahlkämpferin inIllinois: Underwood Es wird knapp 73

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Nachbarn klopfen und ihnen von der jun- ländliche Missouri wendet sich seit Jahr- Das dritte Problem für demokratische gen Krankenschwester erzählen. zehnten immer mehr den Republikanern Senatoren: Von den 35 Senatorenposten, Die Zustimmung für Underwood ist ein zu. Sie ist nicht die einzige Demokratin die am Dienstag neu besetzt werden, müs- Indiz dafür, dass die Demokraten selbst im im Senat, die damit ringt, dass ihr Bundes- sen sie 26 verteidigen, wesentlich mehr als Herzen von »Trump Country« Mandate staat Schritt für Schritt konservativer wird. die Republikaner – ein Teil davon liegt in holen können. Der Kandidat der Republi- Ihrer Kollegin Heidi Heitkamp in North Regionen, die für die Demokraten fast un- kaner dagegen, Randy Hultgren, ist in sei- Dakota ergeht es schlechter, sie liegt deut- erreichbar geworden sind. nem Wahlkreis ein Phantom. Es gibt kaum lich hinter ihrem republikanischen Heraus- Will die Opposition überhaupt noch Veranstaltungen mit ihm, und während forderer zurück; bei ihrem Parteifreund in eine Chance haben, den Senat zurückzu- Underwood mit Bürgern redet, zeigt sich Florida sieht es ebenfalls knapp aus. Wenn gewinnen, muss McCaskill ihren Posten Hultgren bei einem Trump-Auftritt, sechs es schlecht läuft, verlieren sie auch Sena- unbedingt verteidigen, mit ihren Kollegen Fahrtstunden vom Wahlkreis entfernt. toren in Montana, West Virginia, New Jer- in North Dakota, Indiana, Florida und Die Statistik von FiveThirtyEight sagt, sey und Minnesota. anderswo. McCaskill achtet seit Längerem dass sich Underwood bis auf zwei Prozent- darauf, nicht allzu schlecht über den Prä- punkte an Hultgren herangekämpft hat. sidenten zu reden. Sie sammelte bis jetzt 3,3 Millionen Dollar Micah Cohen sagt, die Wahrscheinlich- Spenden, viereinhalbmal so viel wie ihr Parlament der Vereinigten Staaten keit, dass die Demokraten eine Mehrheit Konkurrent. Sie hat eine Chance. aktuelle Sitzverteilung und Prognosen für die im Senat erringen, liege bei 15 Prozent. Im Es gibt hundert Gründe, weshalb Kan- Kongresswahlen Gegensatz zur Landkarte mit den Abge- didatinnen wie sie in tiefroten, also repu- ordneten-Wahlkreisen ist die Senatskarte blikanischen Wahlkreisen so erfolgreich Repräsentantenhaus von FiveThirtyEight an vielen Stellen rosa sind. Viele konservative Frauen, die für Alle 435 Sitze werden neu vergeben. bis tiefrot. Überraschend wäre, wenn die Trump stimmten, kehren dem Präsidenten Demokraten Sitze gewinnen würden. Mehrheit ab den Rücken, wegen seiner Frauenfeindlich- 218 Sitzen keit. Die Demokraten konnten erstmals Stacey Abrams hat sich für ein rosafar- seit zehn Jahren mehr Geld als die Kon- benes Kleid entschieden, das sich von dem kurrenz sammeln, haben professionellere schneeweißen Jeep abhebt, in dem sie Bewerber, mehr Migranten, mehr Frauen. durch die Straßen von Atlanta rollt, im US-Bundesstaat Georgia. Sie ragt wie ein Claire McCaskill könnte die perfekte Popstar aus dem offenen Verdeck. Regen- Senatorin für Missouri sein, pragmatisch, 7 vakant bogenfahnen flattern an ihr vorbei, die locker, zupackend, eher der ländliche Typ. 193 Demokraten 235 Republikaner Stadt feiert die »Pride Parade«. Es läuft Aber dann fällt eine gewisse Ähnlichkeit gut für Abrams. Am Straßenrand rufen zwischen ihr und Hillary Clinton auf: das Wer wird wahrscheinlich die Mehrheit der Zuschauer ihren Vornamen wie einen Kostüm, die Perlenkette, die blonden, Abgeordneten im Repräsentantenhaus stellen? Schlachtruf. kinnlangen Haare, die sie hinters linke Ohr Abrams ist einer der ungewöhnlichsten geklemmt hat. Das ist das erste Problem: politischen Stars, die das Land in diesem Trump gewann Missouri vor zwei Jahren Wahlkampf hervorgebracht hat. 44 Jahre mit einem Vorsprung von 18,5 Prozent- 85% alt, Single, kinderlos, Jura-Abschluss aus punkten vor Clinton. 15% Yale, schwarz. Dazu ist sie Autorin von Es ist Donnerstag vergangener Woche, acht Liebesromanen, darunter Titel wie als McCaskill in einem Vorort von Kansas »Versteckte Sünden«, und Mitgründerin City aus ihrem Wahlkampfbus klettert und Demokraten Republikaner von Start-ups, unter anderem einer Firma gute Laune verbreitet. Der Kampf um den Senat für Babynahrung. Sie hat noch immer Senatsposten in Missouri ist zu einem der 35 von 100 Sitzen werden neu vergeben. Schulden aus ihrer Studienzeit, einer ihrer engsten Rennen im Land geworden. Einige Brüder saß wegen Drogen im Gefängnis. Demokratische Mehrheit ab 51 Sitzen Demoskopen sahen zeitweilig sogar ihren Republikanische Mehrheit ab 50 Sitzen Mit diesem Lebenslauf kandidiert sie Herausforderer vorn, Josh Hawley, einen (mit Stimme von Vizepräsident Mike Pence) für den Posten der Gouverneurin in einem 38 Jahre alten Juristen. der konservativsten Bundesstaaten der Zweimal machten sie die Bürger hier USA. Inzwischen liegt sie mit ihrem Kon- zur Senatorin, 2006 und 2012, weil sie als trahenten fast gleichauf; die ersten Demo- moderate Politikerin auftrat, die in Wa- skopen sagen bereits ihren Sieg voraus. Sie shington mit Republikanern kooperierte. wäre die erste schwarze Gouverneurin in Zwölf Jahre lang machte sie einen Spagat, 47 Demokraten 51 Republikaner der Geschichte. Seit 2003 stimmte Georgia aber der funktioniert nicht mehr so recht. bei den Gouverneurswahlen zuverlässig Erst enttäuschte sie Parteifreunde, indem 2 Unabhängige zur Wahl stehende Sitze für die Republikaner. Abrams glaubt, das sie für eine Ölpipeline und gegen den Han- liege daran, dass viele Bürger, vor allem del mit CO -Zertifikaten stimmte. Dann Wer wird wahrscheinlich die Mehrheit der Afroamerikaner, selten wählen gehen. ² enttäuschte sie Konservative, indem sie Senatoren stellen? »Wir sind kein roter Staat«, sagt sie. »Wir Neil Gorsuch als Richter beim Obersten sind ein Nichtwähler-Staat.« Gerichtshof ablehnte, Trumps ersten Kan- Das Besondere an ihrem Wahlkampf ist, didaten, und auch gegen Brett Kavanaugh 85% dass sie nicht versucht, weiße Trump- votierte, Trumps zweiten Kandidaten, dem 15% Wähler zurückzugewinnen. Stattdessen Belästigung vorgeworfen wird. wirbt sie gezielt um die Stimmen von McCaskill verprellte beide Seiten, wäh- Leuten, denen Politik bisher gleichgültig rend ihre Heimat immer weiter nach rechts Demokraten Republikaner war. Vor vier Jahren gründete sie eine Non- driftete – ihr zweites großes Problem. Das Quelle: FiveThirtyEight (Stand 1. November, 17:00 Uhr) Profit-Organisation, die seitdem mehr als

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Trump glaubt, er brauche den Zorn sei- ner Anhänger, um die Wahlen zu gewin- nen. Aber gleichzeitig verprellt er damit moderate Konservative. Es gibt Abgeord- nete der Republikaner, vor allem in Wahl- kreisen mit Immigranten der zweiten oder dritten Generation, die sich offen gegen Trumps Rhetorik wenden. Ihnen schadet die Hetze des Präsidenten. Und trotzdem wird er in den Tagen nach diesem Auftritt ankündigen, bis zu 15000 Soldaten an die Grenze zu Mexiko zu schicken, um Flücht- linge aufzuhalten. Er wird die US-Staats- bürgerschaft bei Geburt infrage stellen, wird an den Fundamenten des Landes rütteln, nur um zu gewinnen. Sollte er verlieren, hat er die Schuldi- gen schon ausfindig gemacht. Paul Ryan zum Beispiel, den Mehrheitsführer der Republikaner im Abgeordnetenhaus. Oder auch den Versender der Rohrbom- ben – so ein toller Wahlkampf, so schöne

DINA LITOVSK / DER SPIEGEL DINA LITOVSK Umfragen für seine Partei, schrieb Trump Statistiker Cohen: 38 Mandate für die Opposition auf Twitter, »und dann passiert dieses Bomben-Ding«. In Arizona wird sein größtes Problem deutlich: Ihm fehlt der 200000 neue Wähler registriert hat, ein Afroamerikaner leben. Bürgerrechtsorga- Gegner. Eine Hillary. Natürlich sucht er Rekord in Georgia. nisationen klagen dagegen, aber Richter sich trotzdem Feinde, die Medien, die Micah Cohen sagt, Abrams habe gar kei- werden erst nach der Wahl entscheiden. Mehrheitsführer der Demokraten und ne andere Option, um am Dienstag eine Alles hängt daran, ob es Abrams gelingt, viele mehr. Aber seine Attacken zünden Chance zu haben. Georgia sei ein politisch den schwarzen Teil von Georgia zu über- nicht so recht. äußerst unelastischer Bundesstaat. Anders zeugen, zur Wahl zu gehen. Eine ihrer Un- Und so feuert er in diesen letzten Tagen als ein Staat wie New Hampshire, der mal terstützerinnen bringt es auf diesen Punkt: vor den Wahlen alles ab, was ihm an Hass mit großem Abstand für die Demokraten »Schwarze werden Stacey wählen. Weiße und Zorn einfällt, um seine Basis aufzu- stimmt, mal für die Republikaner, wählt wählen Kemp.« peitschen. Es ist ein ekelhaftes Spektakel. Georgia schon länger konstant rechts. Was Trump über Einwanderer sagt, ist von Ihre Kandidatur ist der Versuch, eine Donald Trump sucht sich seine Ziele sehr dem Gedankengut rechtsradikaler Dema- Logik auszuhebeln, die jahrzehntelang genau aus. Zum Beispiel steuert er im gogen kaum mehr zu unterscheiden, und galt. Ein Experiment in politischer Umfär- Wahlkampf ausschließlich Regionen an, in wenn er über Journalisten hetzt, könnte bung, von rot nach blau. Abrams will so denen er sich seiner Unterstützer sicher man denken, er würde Tote für einen Sieg viele Bürger in die Wahllokale treiben wie sein kann. Er braucht einige Tausend Zu- in Kauf nehmen. nie zuvor, aber sie stößt an Grenzen. schauer. Er muss die Hallen komplett fül- Er ist nach wie vor unbeliebt. 53 Pro- Seit Jahren schwelt in Georgia und vie- len, weil er weiß, dass leere Reihen im zent lehnen ihn ab, während 42 Prozent len anderen US-Bundesstaaten ein Streit Fernsehen mies aussehen. mit seiner Arbeit zufrieden sind. Micah um die Registrierung von Wählern. In An diesem Abend hat er sich auf einem Cohen sagt, das sollte den Demokraten Georgia ist es ausgerechnet das dortige Flugplatzhangar in Mesa angekündigt, öst- Schwung geben. Trump sei bei vielen Kabinettsmitglied Brian Kemp, Abrams’ lich von Phoenix im Bundesstaat Arizona. Amerikanern derart unbeliebt, dass er die Gegner im Wettkampf um den Gouver- Seine Fans warten stundenlang in der tro- Opposition stark mobilisiere. neursposten, der für ein umstrittenes Ge- ckenen Hitze, was gut ist für fahrende Händ- In landesweiten Umfragen liegen die setz verantwortlich ist: das »Exact-Match- ler wie Coach, einen 46-jährigen Mann aus Demokraten derzeit mit 8,5 Prozentpunk- Law«, das die Aufnahme von Bürgern ins Georgia, der Flaggen verkauft, auf denen ten vorn. Vieles deutet auf eine blaue Wel- Wahlregister äußerst strikt regelt. Findet Trump mit einem Panzer abgebildet ist. le im Abgeordnetenhaus hin. Das Problem sich ein noch so kleiner Fehler im Regis- Oder Aufkleber, auf denen »CNN – Com- mit solchen Zahlen ist, dass sie unpräziser trierungsformular, kann die Registrierung munist News Network« steht. Oder T-Shirts, werden, je genauer man hinschaut. Cohen ungültig werden. Im Moment hält die auf denen Trump zwei Pistolen in der Hand sagt, zwei, drei Prozent weniger, und es Wahlbehörde 53000 Formulare zurück, hält unter der Überschrift »Der Abschieber«. könnte eng werden. Liegt alles im Bereich die meisten davon von Afroamerikanern. Es ist schwer zu sagen, was die Men- der üblichen statistischen Fehler. Es bleibe Es ist eine heikle Frage, die auch an an- schen verbindet, die auf den Präsidenten spannend. deren Stellen im Land auftaucht: Wird es warten. Kleinunternehmer sind angereist, Milena Hassenkamp, Max Holscher, schwarzen Wählern schwerer gemacht, Rentner, Arbeitslose, man sieht auch Fa- Christoph Scheuermann ihre Stimme abzugeben? Ist das Wahlrecht milien mit Kindern. Anna ist gekommen, rassistisch? In Georgia muss man sagen: 38 Jahre alt, die zusammen mit ihrem Ehe- Animation ja. Unter der Aufsicht von Brian Kemp mann einen Malerbetrieb führt und über So funktionieren sind zwischen 2012 und 2016 gut 1,5 Mil- einen »tiefen Staat« redet, eine große Ver- die Midterms lionen Wähler von den Listen gestrichen schwörung gegen Trump. Ihre Freundin spiegel.de/sp452018midterms worden, gleichzeitig schloss der Staat Shannon, 25, sagt: »Die Gewalt kommt oder in der App DER SPIEGEL Wahllokale in Gebieten, in denen viele vor allem von links.«

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 75 Ausland Dollar oder Leben

Mittelamerika Tausende Menschen marschieren derzeit Richtung USA. Am Anfang standen WhatsApp und ein Mann, der jetzt viel Angst hat. Von Juan Moreno

s ist Nacht, kurz vor vier. Voll- träumen viele Menschen in Süd- und bei der Einwanderungsbehörde registrie- mond. Die Luft ist warm, man Mittelamerika von Nordamerika. Es ist ren, Asyl beantragen und in einigen Mo- E kann sich einreden, dass sie nach derselbe, stets wiederkehrende Traum: naten, wenn sich der Wirbel gelegt hat, Pazifik riecht, es ist nicht weit bis von einem Job, der es ermöglicht, am den zu erwartenden Abschiebebescheid ans Meer. Und die wunderschönen Berge Monatsende per Western Union Dollar akzeptieren. von Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat an die Familie zu schicken. Dazu von Am lautesten schreit jedoch US-Präsi- Mexikos, wirken im Mondschein wie auf- einem Haus mit Garten und einem Pick- dent Donald Trump: Er schwadroniert rechte Schatten. Joan marschiert seit einer up später mal. Und schließlich, irgend- vom »nationalen Notstand«; es seien halben Stunde auf der Bundesstraße 200. wann im Alter, das warme Gefühl, dass »wirklich böse Menschen« im Treck, Sie zieht sich von der Grenze Guatemalas die Kinder es besser haben. Wahrlich kein außerdem verdächtige Araber, an die nach Norden, immer am Pazifik entlang. verrückter Traum. aber nicht mal der aufgeregte Reporter Vor und hinter Joan laufen sehr viele Menschen, eine große, ruhige Masse. Mexikaner, Guatemalteken, vor allem Honduraner. Väter, die schweigend Kinderwagen schieben, Mütter mit Babys, Kinder, die sich stumm durch die Nacht schleppen und deren Anblick einem das Herz zerreißt. In der Mehrheit sind es aber Männer. Junge Männer wie Joan Sánchez. »Die Karawane«, flüstert Joan in die Stille hinein, »sie ist wie mein altes Leben in Honduras. Manch- mal willst du nur, dass es endlich aufhört.« Im Grunde ist Joan ein fröhli- cher Kerl. Schmale Schultern, wa- che Augen, er mag Cowboyhüte, ist 26 Jahre alt und hat zuletzt als Goldgräber gearbeitet. In einer Mine, in der schon die Spanier er- folglos waren. »Kein Wunder, dass ich nichts gefunden habe«, sagt er. Joan ist einer dieser Typen, wie man sie leider viel zu oft in seiner

Heimat trifft. Ungebildet, aber / AFP GUILLERMO ARIAS mit großem Herzen und kein biss- Migrantentreck im Süden Mexikos: Das Handy ist Vergangenheit und Zukunft chen dumm. Zehn Jahre in einer vernünftigen Schule, und Joan hät- te eine tolle Zukunft vor sich haben kön- Es ist schwer zu sagen, wie groß die Ka- des rechten Fernsehsenders Fox News nen. Eine Zukunft ohne diesen 4000 Kilo - rawane wirklich ist. Ganz gleich, welchen glaubt, der die Karawane begleitet. Laut meter langen Gewaltmarsch Richtung Offiziellen man fragt, jeder hat andere Zah- Trump wird die »Invasion« übrigens von US-Grenze. len parat. Einige sprechen von 3500 Flücht- den Demokraten finanziert. Und vom Es waren aber keine zehn Jahre, die er lingen, andere von 7000, von 10000. Milliardär George Soros, der den Demo- zur Schule ging. Es waren nur sechs. Als Auf jeden Fall sind es zu viele. Darin kraten nahesteht. Es sind Anschuldigun- Joan zwölf Jahre alt war, hatte er das, was scheinen sich alle einig zu sein. Die kon- gen ohne Beweise, wie man es vom ame- man in Honduras oft eine abgeschlossene servative Regierung in Honduras behaup- rikanischen Präsidenten so kennt. Schullaufbahn nennt, hinter sich. Auch tet, dass die Opposition die Leute aufge- Trump hat Anfang der Woche 5200 US- deshalb ist er hier, Teil der berühmten hetzt habe, um dem Ansehen des Landes Soldaten an die südliche Grenze beordert – Karawane aus Tausenden Menschen, die zu schaden. Außerdem würden die Men- ungefähr so viele Soldaten, wie die USA vor drei Wochen in Honduras starteten schen für die Flucht bezahlt. Von der lin- im Irak stationiert haben. Mehr als doppelt und ins gelobte Land wandern wollen, in ken Regierung in Venezuela. Bewiesen ist so viele wie in Syrien. Am Mittwoch sprach die USA. davon nichts. er dann sogar von bis zu 15000 Soldaten. »Wir wollen alle das Gleiche bei den Mexikos Regierung ist auch nicht glück- Sie sollen die Menschen stoppen, Humvees Gringos«, sagt Joan. Seit Jahrzehnten lich. Sie verlangt, dass sich die Flüchtlinge gegen Kinderwagen also.

76 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Natürlich ergibt das Vorgehen aus Auch die Flüchtlinge in der Karawane tra- an der Grenze positioniert sein. Sie zu um- Trumps Sicht Sinn. Kommende Woche gen zur Ordnung bei. Sie haben Vertreter gehen kostet mehr. sind die Midterm-Wahlen, der Präsident ernannt, die mit den mexikanischen Behör- Joan beschließt, auf einen Lkw zu war- selbst sprach von der »Karawanen-Wahl«, den sprechen. Die Vertreter geben dann al- ten. 50 Kilometer ist er schon mal an als stimmte man darüber ab, ob man die les per Megafon an die Menge weiter. Zum einem Tag gelaufen, aber 100 schafft man Leute nun reinlässt oder wegschickt. Der Beispiel, dass Müll in Mülltonnen gehört. nicht. Er setzt sich an den Straßenrand. Er Treck ist das größte Wahlgeschenk für Es gibt zwei Arten von Menschen, die ist müde. »Ich schlafe so unglaublich Trump. Nichts bedient die Urangst vieler hier unterwegs sind. Die Ahnungslosen, schlecht«, sagt er. seiner Wähler besser als reale, wenn auch die es nie in die USA schaffen werden, weil Nicht nur die Tage sind die Hölle. Mor- 3000 Kilometer entfernte Latinos, die sie kein Geld und kein Handy haben. Und gens gegen drei stehen die meisten in der kommen wollen. Es war zu erwarten, dass Leute wie Joan, die vorbereitet sind, die Karawane auf, um wenigstens anfangs der Trump die Gelegenheit nutzen würde. genau wissen, was sie erwartet, die einen Hitze zu entgehen. Sie laufen bis in den Joan schaut auf sein Handy. Gestern Fluchtplan haben. Sie sind in den richtigen Nachmittag und verbringen dann die Abend bekam er eine WhatsApp-Nach- WhatsApp-Gruppen, kennen die richtigen Nacht auf einem staubigen Bürgersteig in richt. Seitdem weiß er, dass es heute ins Facebook-Accounts, surfen auf den richti- einem mexikanischen Kaff, das genauso Städtchen Arriaga geht. Gut hundert Ki- gen Seiten. Erfolgreich ist nur, wer Geld trostlos ist wie das honduranische Kaff, lometer nördlich von seinem aktuellen hat und vernetzt ist. Es gibt immer jeman- aus dem man kommt. Morgens geht der Standort. Bis dahin ist nur Weite, kein den, der jemanden kennt, dem die Flucht erste Griff in die Hosentasche: Ist das Dorf, einzig die Gewissheit, dass es irgend- gelungen oder misslungen ist. Oder jeman- Handy noch da? Einen Tag ohne Brot wür- wann unerträglich heiß und schwül wer- den, der gerade mittendrin ist und die den die meisten eher auf sich nehmen als den wird. Er hat keinen Schimmer, wie er Nachkommenden warnen kann. einen Tag ohne Handy. Im Handy sind die Kontakte in der Heimat und die WhatsApp-Gruppen, die einem bei der Flucht helfen. Das Handy ist Vergangenheit, Gegenwart und Zu- kunft. Die USA erreicht eben nur, wer Geld und ein Handy hat. Denn die Grenze zwischen Me- xiko und den Vereinigten Staaten mögen zwar die Amerikaner bewa- chen. Die Gegend aber gehört den Drogenkartellen Mexikos. Sie be- stimmen, wer rüberdarf und was das kostet. Es auf eigene Faust zu versuchen bedeutet den fast siche- ren Tod. Man kann sich auch in dem riesigen Wüstengebiet zwi- schen Mexiko und den USA kaum so gut verstecken, dass man den Killern der Kartelle entgeht. Nicht nur in der Karawane, auch an der Grenze hat alles seine Ord- nung. Und das schon sehr lange, weil die Menschen des Südens schon lange Richtung Norden flie- hen. Amerikanische Präsidenten wechseln, die Regeln bleiben. Wer

SCOTT DALTON / DER SPIEGEL DALTON SCOTT ohne Papiere einzureisen versucht, Flüchtlinge auf einem Lastwagen: Wahlgeschenk für Donald Trump der zahlt. Mit Dollar oder seinem Leben. Das gilt auch für jeden in der Karawane. die Strecke bis zum Nachmittag schaffen Alle Informationen werden über das Guatemalas Grenzzaun hatte nachge- soll. »Hoffe, ich kann auf irgendeinen Las- Netz verbreitet. Zum Beispiel, wo man ge- geben, als man lang genug daran rüttelte. ter springen. Ich frage mal.« Joan tippt et- rade welche Grenze überqueren sollte, Der Zaun der Gringos aber wird halten. was in sein Handy. »Ja, Lkw und Pick-ups welche Hilfsorganisationen helfen, welche Kaum jemand glaubt, dass Trump Mitleid nehmen Leute mit.« Pfarreien Zuflucht gewähren, wo korrupte haben wird. Irgendwann wird sich die Ka- Die Karawane ist gut organisiert. Mexi- Polizisten abkassieren und ob ein Men- rawane wohl in Mexiko auflösen. Aus der kanische Hilfsorganisationen, die Kirche schenschmuggler sein Versprechen wirk- Welle werden Tropfen werden. Einige wer- und auch die Regierung helfen mit Lebens- lich gehalten hat. Falls ja, kann man erfah- den ihr Glück in Mexiko versuchen. Die mitteln, medizinischer Versorgung, manch- ren, was der Schlepper verlangt. anderen sickern nach und nach in die USA, mal mit Unterkünften. Wohlhabende Bis vor Kurzem waren 5000 Dollar ein so wie das immer war. Mexikaner spenden Kleidung. Die Stim- übliches Honorar für die Makler des Joan hat einen Lastwagen gefunden, mung erinnert in einigen Orten an den Elends, manchmal sind dafür sogar drei der ihn mitnimmt. Besser gesagt, er ist deutschen Sommer 2015, als kaum genug Versuche drin, die Grenze zu überqueren. losgesprintet, als er sah, dass auf der Syrer am Münchner Hauptbahnhof an- Aber es wird gerade teurer. 8000 oder Ladefläche noch Platz war. Er steht kamen, um die örtliche Hilfsbereitschaft sogar 10000 Dollar werden verlangt. gequetscht neben ein paar Dutzend ande- zu stillen. Schließlich sollen bald Tausende Soldaten ren Männern. Wenn sie sich nicht gegen-

77 seitig stützen, fliegen sie in der nächsten Gruppe über die Flucht in die USA. Er en- Kurve raus. gagiert sich seit Jahren in der Migrations- »Weißt du, was mich nervt?«, fragt Joan, politik. Die jungen Männer in der Gruppe als ein blauer Streifenwagen der mexika- bombardierten ihn mit Fragen. nischen Polizei den Laster überholt. »Dass Ob 300 Lempira genug seien, um los- sie uns Kriminelle nennen.« zumarschieren? Das sind elf Euro. Joan hat recht. Man kann den Men- Fuentes schrieb: »Nein.« schen, die aus Honduras fliehen, vieles Ob man nicht Asyl beantragen könne? vorwerfen: dass sie nicht willkommen sind. Fuentes schrieb: »Ja, wenn man poli- Dass sie nicht legal einreisen. Dass sie Stur- tisch verfolgt wird.« köpfe sind und weiterlaufen, obwohl Einer antwortete: »Mein Bruder und Trump sie täglich warnt. Eines jedoch sind mein Vater sind von Maras ermordet wor- sie sehr wahrscheinlich nicht: kriminell. den. Mich suchen sie auch. Ich bekomme Denn dann hätten sie auch in Honduras also Asyl.« bleiben können. Junge Männer wie Joan, Fuentes schrieb, dass nur der Asyl be- ohne ausreichende Schulbildung und Per- komme, der sich politisch engagiert habe

spektiven, stehen dort seit Jahren vor der GETTY IMAGES und verfolgt werde. »Dass man begründete immer gleichen Entscheidung: sich einer Aktivist Fuentes Angst um sein Leben hat, ist kein Grund.« Gang anzuschließen, einer Mara, wie sie Für viele ein Held Der junge Mann verstand das nicht. dort heißen, oder abzuhauen. Fuentes war nicht der Organisator, nie- Schmuggler, Erpresser, Auftragsmörder, mand war das. Er war aber der Mann, der Räuber haben in Honduras gut zu tun. Die geworden. Die Regierung wirft ihm vor, den jungen Männern die Flausen austrieb. müssen nicht weggehen. San Pedro Sula, der Organisator der Karawane zu sein. Der ihnen sagte, dass sie nur dann eine der Ort, an dem die Karawane startete, galt Der Mann, der alles ausgelöst hat: die Mas- Chance hätten, wenn sie in einer Gruppe jahrelang als gefährlichste Stadt des Plane- senflucht seiner Landsleute; die Drohung losgingen. Allein laufe man Gefahr, ausge- ten. Gewalt ist vermutlich der einzige Be- Trumps, jegliche Hilfsgelder für Mittelame- raubt, als Frau, vergewaltigt zu werden. Je reich, in dem Honduras führend ist. Die rika zu streichen, wenn die Karawane größer die Gruppe, desto sicherer. meisten, die fliehen, haben sich aber gegen nicht aufgehalten wird; die US-Soldaten Irgendwann schlug einer den 13. Okto- Gangs wie die MS-13, die Mara 18, die Chi- an der Grenze. ber vor. Fuentes sagte, er sei es nicht ge- rizos entschieden. Etwa 600000 illegale »Ich war es nicht«, sagte Fuentes. »Die wesen. Aber am 13. stand er am Busbahn- Waffen sollen in Honduras im Umlauf sein. wollen nur davon ablenken, dass die Zu- hof von San Pedro Sula. Er wollte die »Als Krimineller brauche ich die Kara- stände in diesem Land die Menschen ver- Gruppe Richtung Norden begleiten, sagte wane nicht. Dann könnte ich mir das alles treiben. Ein Drittel der Bevölkerung lebt er. Er konnte nicht glauben, wie viele Men- sparen«, sagt Joan. in extremer Armut.« schen er dort sah. Gute tausend Kilometer von Joan ent- Fuentes kennt viele Statistiken über Die Nachricht hatte sich im Netz viral fernt, in einem unscheinbaren Gebäude in Honduras, keine sieht gut aus: miserables verbreitet. Ein regierungsfreundlicher Tegucigalpa, der Hauptstadt von Hon - Bildungssystem, korrupte Politik, Vettern- Fernsehsender erfuhr davon und widmete duras, saß vor wenigen Tagen ein grau - wirtschaft, grassierende Gewalt. der geplanten Flucht eine Sondersendung. melierter Mann mit Krankenkassenbrille. Es dauerte etwas, bis Fuentes zum Vor allem, um sich darüber lustig zu ma- Er fragte sich gerade auch, ob er sich nicht Punkt kam. Zum Anfang der Karawane. chen. Ein Moderator behauptete, die Men- vieles hätte sparen können. Bartolo Fuen- Anders als von vielen angenommen, schen würden für die Flucht bezahlt wer- tes, bis vor Kurzem mäßig bekannter begann die Karawane nicht vor drei Wo- den. Und außerdem: zu Fuß in die USA? Menschen rechts aktivist und Ex-Abgeord- chen mit einem Facebook-Aufruf. Sie Welcher Idiot macht so etwas? neter einer linken Partei, ist jetzt so etwas begann schon vor gut zwei Monaten: Bar- Sehr viele, wie sich herausstellen sollte. wie Honduras’ Staatsfeind Nummer eins tolo Fuentes chattete in einer WhatsApp- »Die Leute sahen in der Karawane einen Weg, mit wenig Geld in die USA zu kom- men, ohne wie sonst um ihr Leben fürch- ten zu müssen.« Mexiko-Stadt Golf von Mexiko Vergangene Woche hatte Bartolo Fuen- tes sich beim Menschenrechtsbeauftragten voraussichtliche seines Landes gemeldet, um Schutz für weitere Route sich und seine Familie anzufordern. Er fürchtet die Rache der Rechten in Hondu- MEXIKO ras, der Regierung. »Die werden etwas fin- BELIZE den, um mich anzuklagen. Menschenhan- Arriaga Route der 27. Okt. del, Aufruhr, irgendwas.« Migranten- Juchitán karawane Start: Schon in der Vergangenheit wurde er 31. Okt. San Pedro Sula 150 km häufiger von Polizisten schikaniert. Aber GUATEMALA 13. Okt. da kannte ihn noch niemand. Er war ein Zacapa Mapastepec 17. Okt. Querulant, der nervte. Jetzt kennt ihn halb USA 25. Okt. HONDURAS Honduras. Für viele ist er ein Held. Tapachula Am Dienstag wurde seine Angst vor einer Festnahme schließlich zu groß. Auch der 21. Okt. Guatemala-Stadt Tegucigalpa MEXIKO 17. Okt. Mann, dessen WhatsApp-Nachrichten am Pazifik EL SALVADOR Anfang des großen Trecks standen, verließ seine Heimat. Er flüchtete nach El Salvador.

78 Ausland

Hatice Cengiz half uns, die komplexen Verhältnisse im Nahen Osten zu verstehen, doch es ging ihm in erster Linie um das Leben und die Rechte der Menschen dort. Durch seinen Tod sind die Prinzipien, für die er sein Leben lang leidenschaftlich gekämpft hat, in den Vordergrund gerückt. Demokratie, Geprägt von Furcht Freiheit und Menschenrechte. Die fundamentale Überzeu- gung, dass jeder Mensch seine politische Führung an der Urne wählen sollte. Die internationale Empörung über seine und Feigheit Ermordung ist groß, und die Täter sollten wissen, dass sie seine Vision für sein Land niemals auslöschen können. Sie haben diese Vision nur gestärkt. Essay Nach der Ermordung Jamal Khashoggis Es ist nun an der internationalen Gemeinschaft, die Täter hat die internationale Gemeinschaft die zur Verantwortung zu ziehen. Vor allem die USA sollten vorangehen. Sie gründen auf den Prinzipien von Freiheit Pflicht, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. und Gerechtigkeit, der erste Verfassungszusatz enthält die Ideale, die Jamal verkörperte. Angesichts dieser Tragö- die hat die Regierung Donald Trumps eine Position einge- Der saudi-arabische Journalist Jamal Khashoggi wurde nommen, die jeglicher moralischer Grundlage entbehrt. am 2. Oktober im Istanbuler Konsulat seines Heimat - Manche tun dies aus Zynismus, geblendet von Eigeninteres- landes brutal ermordet. Seine türkische Verlobte Hatice sen; andere sind geprägt von Furcht und Feigheit. Furcht, Cengiz, die der Regierung Recep Tayyip Erdoğans bilaterale Deals zu behindern. nahesteht, kämpft für die Aufklärung des Verbrechens. Manche in Washington spielen auf Zeit und hoffen, dass die Angelegenheit in Vergessenheit gerät. Aber wir werden n diesem Freitag war es exakt einen Monat her, dass nicht aufhören, die Trump-Regierung aufzufordern, für Ge - mein Verlobter, der gefeierte Journalist Jamal Kha - rechtigkeit für Jamal zu kämpfen. A shoggi, das saudi-arabische Konsulat in Istanbul Ich lade die internationale Gemeinschaft ein, ernsthafte betrat und nie wieder herauskam. Dieser 2. Novem- und praktische Schritte zu unternehmen, um die Wahrheit ber war auch der »Internationale Tag zur Beendigung der zu enthüllen und jene, die involviert waren, strafrechtlich zu Straflosigkeit für Verbrechen gegen Journalisten«. Ein tragi- verfolgen. Und sich dafür einzusetzen, Jamals sterbliche scher, schmerzhafter Zufall. Bis vor einem Monat schickte Überreste an seine Angehörigen zu übergeben. Ich bin nicht mir Jamal Texte, an denen er naiv. Ich weiß, dass Regierun- arbeitete. Ich las sie mit Be - gen nicht nach Gefühlen han- geisterung und rief ihn an, um deln, sondern nach Interes- meine Gedanken mit ihm zu sen. Trotzdem müssen sich teilen. Er hörte aufmerksam alle eine grundlegende Frage zu, und wir diskutierten. Nun stellen. aber schreibe ich über ihn und Wenn die Demokratien darüber, wie es sich anfühlt, dieser Welt keine ernst dass er nicht mehr da ist. zu nehmenden Maßnahmen Es ist für mich schwer zu ergreifen, um die Verant- verstehen, ob ein Monat wortlichen vor Gericht zu oder ein Leben vergangen ist, bringen – was bleibt ihnen seit ich Jamal verloren habe. dann an moralischer

Als ich auf ihn wartete, in der / AP A NEWS Au torität? Wessen Freiheit Hoffnung, dass er aus dem Khashoggi, Cengiz am 2. Oktober in Istanbul und Menschenrechte Konsulat herauskommen wür- können sie noch glaubhaft de, fühlte sich jede Stunde, verteidigen? jeder Tag wie ein Jahr an. Eine Zeit voller Angst. Wie lange Die Menschheit wird nun auf eine Probe gestellt. Das ver- ich auch wartete, der fröhliche Jamal kam nicht zurück. langt Führung. Die größte Verantwortung liegt bei den Was kam, war die Nachricht seines Todes. Während ich die- Regierungschefs. Mein Präsident und alle Beteiligten in der se Zeilen schreibe, hat die Staatsanwaltschaft in Istanbul ein Politik und Justiz der Türkei gehen so gut wie möglich mit offizielles Statement veröffentlicht. Sie haben Jamal erwürgt dieser Angelegenheit um. Ich lade die Staatschefs Europas und zerstückelt. Wie barbarisch und skrupellos. Was hatte und der USA ein, diesen Test zu bestehen. Ich fordere, er verbrochen? Warum haben sie ihn so brutal er mordet? dass jene, die dieses Attentat begangen haben, vor Gericht Es gibt keine Erklärung für diesen Hass. gebracht werden. Jenen, die den Mord befohlen haben – Es ist wichtig, sich an Jamal zu erinnern. An einen Mann auch wenn sie das höchste politische Amt innehaben –, soll- voller Güte, Geduld, Großzügigkeit, Mitgefühl und Liebe. te ebenfalls der Prozess gemacht werden. Ich fordere Alles, was er wollte, war ein neuer Anfang, um in der Ferne Gerechtigkeit für meinen geliebten Jamal. Wir alle müssen das Heimweh nach seinem Vaterland zu lindern. Er wollte eine unmissverständliche Botschaft senden: Nie wieder dür- sein einsames Leben mit ein wenig Glück leben. Auf dieser fen autoritäre Regime Journalisten töten. Reise wäre ich ihm Gefährtin und Freundin gewesen. Ich Jamal hatte gerade ein Haus gekauft. Er wünschte sich, hoffe, dass er wusste, wie kostbar es auch für mich war, ein eine Familie zu gründen. Er war mit Begeisterung dabei, neues Leben mit ihm zu beginnen. die Einrichtung auszuwählen. Doch nun stehe ich allein an Jamals brutale Ermordung hat die Welt erschüttert. Auch der Tür. Ich bin ein Teil der Geschichte, die Jamal nicht weil wir eine Stimme von globaler Bedeutung verloren vollendet hat. Jetzt müssen alle gemeinsam helfen, sie zu haben. Anstand und Güte standen für ihn über allem. Er beenden, bis sein Traum wahr geworden ist. I

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 79 Ausland PILAR OLIVARES / REUTERS PILAR OLIVARES Wahlsieger Bolsonaro: »Die Winde der Welt stehen günstig für ihn«

Trump an, der ihm noch in der Wahlnacht Rückkehr der Rechten zum Sieg gratulierte. Unter Bolsonaro soll Brasilien das erste große Schwellenland in einer rechten Achse werden, die sich von Brasilien Der gewählte Präsident Jair Bolsonaro will nicht den USA über die populistische Regierung in Italien bis nach Israel zieht. nur sein eigenes Land umkrempeln: Er ist Trump-Fan Fast dreißig Jahre nach dem Ende der und träumt von einer internationalen Achse der Populisten. Pinochet-Diktatur in Chile ist die Rechte in Lateinamerika wieder salonfähig gewor- den. Bolsonaro werde in »ein permissives or dem Rathaus im südbrasiliani- ren ein Zentrum des »Integralismus«, der internationales Ambiente« stoßen, meint V schen Blumenau sitzt ein entfernter brasilianischen Spielart des Faschismus. Matias Spektor, Dozent für internationale Verwandter des deutschen Ex-Paps- Von einer angeblichen roten Gefahr redet Beziehungen in São Paulo: »Die Winde, tes Benedikt XVI. und versteht die Welt der neue Präsident besonders gern: »Wir die auf der Welt wehen, stehen günstig nicht mehr: Warum bloß habe der desig- werden Brasilien und das Außenministerium für ihn.« nierte Präsident von Brasilien internatio- von den ideologisierten internationalen Argentinien, Chile, Kolumbien, Para- nal ein so miserables Image? »Es liegt an Beziehungen befreien, denen sie in den ver- guay und Peru werden bereits von Kon- unserem Außenministerium«, sagt dann gangenen Jahren unterworfen waren«, sagt servativen regiert. Nur Mexiko hat gegen Jürgen Ratzinger, dessen Vorfahren Ende Bolsonaro. Er will die Jagd auf Linke offen- den Trend gewählt: Dort tritt am 1. De- des 19. Jahrhunderts nach Brasilien ausge- bar zur Regierungspolitik machen. Im Wahl- zember ein Linkspopulist das Präsidenten- wandert sind: »Das ist durchsetzt von kampf sprach er von »Säuberung«. amt an. Kommunisten. Sie verbreiten ein Zerrbild Fast der ganze Kontinent rückt derzeit Bolsonaro glaubt, dass Brasiliens Au- von unserem Land.« scharf nach rechts. Und vor dem neuen ßenpolitik noch von linken Diplomaten In Blumenau holte der Rechtsextreme Kurs in Brasilien müssen sich nicht nur aus der Amtszeit von Ex-Präsident Luiz Jair Bolsonaro im zweiten Durchgang Brasilianer fürchten. Wenn es nach Bolso- Inácio Lula da Silva dominiert wird, der der Präsidentschaftswahl am vergangenen naro geht, soll auch der Rest der Welt die von 2003 bis 2010 regierte. Lula sah Wochenende mehr als 80 Prozent der Folgen zu spüren bekommen. »Bolsonaro sein Land als Vorreiter einer multipolaren Stimmen, denn unter den Deutschstämmi- wird wahrscheinlich die größte außen- Welt. gen im Süden Brasiliens ist er außerordent- politische Wende in der jüngeren Geschich- Brasilien bildet mit Russland, Indien, lich beliebt. Das liegt vor allem daran, dass te Brasiliens einleiten«, schreibt das US- China und Südafrika die Staatengruppe der ehemalige Hauptmann der Fallschirm- Magazin »Foreign Affairs«. Brics, die sich vor allem für die Belange jäger ein glühender Antikommunist ist. Der gewählte Staatschef strebt eine der Schwellenländer einsetzt. Lula baute Blumenau war schon in den Dreißigerjah- enge Allianz mit US-Präsident Donald das Engagement in Afrika aus und betrieb

80 die Integration Südamerikas, das damals te schon vor Monaten erwogen, dort ein- sonaro-Vertrauter: Die Ministerien werden mehrheitlich links regiert wurde. Mit dem zugreifen. Ohne die Unterstützung wich- sehr wohl zusammengelegt – was Bolsona- Ende seiner Regierungszeit verkümmerte tiger Alliierter in Lateinamerika wird Wa- ro einen Tag später wieder einkassierte. jedoch auch Brasiliens internationaler Ehr- shington sich jedoch kaum auf ein solches In einer Rede nannte Bolsonaro sich ei- geiz. Den möchte Bolsonaro wiederbele- Abenteuer einlassen. nen »Sklaven der Verfassung«, aber schon ben; er will Brasilien auf einen stramm Eine militärische Intervention sei nichts in der nächsten kündigte er an, linke Oppo- rechten Kurs bringen – und orientiert sich als »Spekulation«, erklärte General Au- sitionelle in den Knast schicken zu wollen. dabei an seinem Idol in Washington. gusto Heleno, der als neuer Verteidigungs- Mal will er im großen Stil privatisieren, Wie Trump will er etwa die brasiliani- minister vorgesehen ist. dann wieder nicht. Wellen schlug auch, dass sche Botschaft in Israel nach Jerusalem Heleno, 71, ein untersetzter Mann mit er jenen Richter zum Justizminister ernen- verlegen. Brasiliens bislang wichtigsten dichtem, grauem Haar, ist einer der engs- nen will, der Lula hinter Gitter gebracht hat. Handelspartner China, ein Lieblingsziel ten Berater Bolsonaros. Ab Januar wird Unklar ist noch, wie sich der Kongress der Trump-Attacken, hatte Bolsonaro er wohl mit einer Reihe anderer Militärs verhalten wird. Brasiliens politisches System schon im Wahlkampf verprellt: Er fuhr am Kabinettstisch Platz nehmen. ist so angelegt, dass sich die Regierung vor nach Taiwan, das die Mächtigen in Peking Als Heleno am Abend nach der Wahl jeder Abstimmung ihre Mehrheit neu be- als abtrünnige Provinz sehen, und klagte, aus Bolsonaros Haus am Strand von Rio schaffen muss, es gibt keinen Fraktions- dass die Chinesen Brasilien »aufkaufen« de Janeiro trat, feierten draußen auf der zwang. Und im neuen Kongress sitzen genau würden. Wie Trump hetzt auch Bolsonaro Straße noch Tausende Menschen den wie im alten über dreißig Parteien. Dieses gegen die Vereinten Nationen, die seiner Sieg der Rechten. Ein paar Reporter woll- System ist die Hauptursache der Korruption. Ansicht nach von Kommunisten durch- ten ihn mit Fragen aufhalten, doch da Die PSL, Bolsonaros Partei, stellt setzt sind. brüllten die mitgelaufenen Bolsonaro- nach der Arbeiterpartei die zweitgrößte Vertreter der deutschen Fraktion im Parlament. Wirtschaft, die in Brasilien Dazu kommt als Unter- mit rund 1200 Unternehmen stützung eine parteiüber- engagiert sind, sehen das greifende Allianz, die die Land trotzdem auf einem Interessen der Agrarindus- guten Weg. »Mein erster Ein- trie, der evangelikalen Kir- druck ist, dass die Regierung chen sowie der Waffenlobby um die Notwendigkeit von vertritt. Reformen, Wachstum und ei- Gemeinsam können sie ner stabilen wirtschaftlichen zwar eine knappe Mehrheit Entwicklung für Brasilien aller Stimmen erreichen. weiß«, sagt VW-Vorstand Um aber große Projekte Andreas Renschler, Leiter durchzusetzen, wie eine Re- des Lateinamerika-Ausschus- form des Rentensystems, ses der deutschen Wirtschaft. brauchte Bolsonaro eine »Donald Trump hat auch Zweidrittelmehrheit. Dann vor seiner Wahl vieles von wäre er auf die Hilfe von sich gegeben und nicht alles Parteien angewiesen, die im- umgesetzt«, meint Wolfram mer schon vor allem den

Anders, Präsident der NACHO DOCE / REUTERS eigenen Vorteil im Blick hat- Deutsch-Brasilianischen Au- Anti-Bolsonaro-Demonstrantin in São Paulo: Ab in den Knast ten. Den Parteien – oder ein- ßenhandelskammer. Er hatte zelnen Vertretern – wird Bolsonaro schon im Wahl- wohl auch Bolsonaro häufig kampf via Twitter »Glück« gewünscht. Anhänger Schimpfparolen. »Dreckspres- etwas zukommen lassen müssen, etwa gut »Wir wollen hier keine Lage wie in Vene- se«, »Lügner«. dotierte Posten. zuela«, twitterte Anders. »Das ist die Art von Demonstration, an Genau dieses Geschacher wolle er un- »Venezuela« ist in Brasilien ein Reiz- die ihr euch gewöhnen müsst«, drohte der terbinden, sagt er zwar: »Unsere Ministe- wort. Bolsonaro hat die Furcht vor einer General den Journalisten. »Klar ist das un- rien werden nicht mit Leuten besetzt, die linken Diktatur wie im Nachbarland im angenehm. Genauso wie die Sachen, die wegen Korruption verurteilt wurden, wie Wahlkampf erfolgreich geschürt. Dabei ihr über Bolsonaro schreibt.« Er sprach unter den vergangenen Regierungen.« haben der Linke Lula und seine Partei im- von einer Schmutzkampagne, die Presse Aber der Abgeordnete Onyx Lorenzoni, mer die demokratischen Spielregeln ak- versuche, dem neuen Regierungschef den der als Minister die Regierungsmehrheiten zeptiert – im Gegensatz zu Bolsonaro, der »Stempel des Faschisten« aufzudrücken. im Kongress beschaffen soll, hatte schon die einstige Militärdiktatur Brasiliens Was Bolsonaro wirklich vorhat, ist mal rund 25000 Euro illegale Wahlkampf- verklärt und gern über die Demokratie läs- noch schwer zu beurteilen. Denn ähnlich hilfe von dem Fleischkonzern JBS ange- tert. Unter Lula achteten Brasiliens Diplo- wie bei Trump widersprechen sich seine nommen, der in einen Korruptionsskandal maten das Prinzip der Nichteinmischung Leute laufend. Vor der Stichwahl hatte verwickelt ist. in die Belange anderer Staaten, laut Ver- Bolsonaro öffentlich erwogen, das Um- Womöglich wiederholt sich die Ge- fassung eine Maxime der brasilianischen welt- mit dem Landwirtschaftsministeri- schichte: Auch Lulas Arbeiterpartei war Außenpolitik. um zu verschmelzen. Die Fusion würde einst mit dem Versprechen angetreten, die Jetzt berichtete Brasiliens größte Zei- es Unternehmen etwa erleichtern, den Korruption aus der Politik zu verbannen. tung »Folha de S. Paulo«, dass hohe Be- Regenwald abzuholzen. Dann versank sie im brasilianischen amte der konservativen Regierung in Ko- Am Wahlabend wiegelte Heleno jedoch Sumpf. lumbien Bolsonaro bereits die Unterstüt- ab. »Wir werden den Wald schützen«, sagte Marian Blasberg, Jens Glüsing, zung für eine militärische Intervention in er, »wir werden ihn nachhaltig nutzen.« Simon Hage, Claus Hecking Venezuela zugesichert hätten. Trump hat- Aber zwei Tage danach verkündete ein Bol-

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 81 Ausland

ie Soldaten an ihren Maschinen- Hilfsexperte in seinem Leben je gesehen Dabei ist es nicht so, dass Nahrungs- gewehren können uns nicht se- hat«, warnte vor Tagen der oberste Uno- mittel oder Medikamente nicht erhältlich D hen hinter den verspiegelten Koordinator für humanitäre Hilfe, Mark wären. Was vielen Jemeniten zum Ver- Scheiben des vorbeirasenden Ge- Lowcock, den Sicherheitsrat. Nahrungsmit- hängnis wird, ist der Untergang ihrer ländewagens. Eine lange Reihe von Pick- tel, die Dieselversorgung der Generatoren Kaufkraft – auf beiden Seiten. Der Nord- ups säumt die Uferstraße, breitbeinig ste- in den Krankenhäusern, Autos, die Wasser- westen unter den Huthis ist ohnehin weit- hen die Uniformierten an den aufmontier- versorgung und -reinigung, die Müllentsor- gehend isoliert. Aber selbst in Städten wie ten MGs. Sie sind geschickt worden, um gung: Alles muss bezahlt werden mit Geld, der Hafenstadt Mukalla im Süden, wo im Zweifelsfall auf die Demonstranten zu das immer weniger wert ist. Und ob Gold, keine Bomben fallen, wo die Allianz der schießen, mit denen wir gern reden wür- Land, Autos oder Möbel – was die Men- ultrareichen Golfstaaten doch für Stabili- den. Doch so viel Transparenz ist nicht schen besaßen, haben sie längst verkauft. tät sorgen sollte, droht nun der Absturz. vorgesehen auf unserer Reise. Der Gouver- Der Krieg im Jemen: Das sind Bilder Im einzigen staatlichen Geburtskran- neur der größten Provinz Hadramaut hat von Bombenkratern, von verletzten Säug- kenhaus im Umkreis von mehreren Hun- Journalisten eingeladen, um zu dert Kilometern, liegt Furcht in zeigen, wie sicher und ruhig seine der Stimme von Dr. Abha Bawai- Hauptstadt Mukalla ist. Dass der da, der ärztlichen Direktorin: »Wir Hafen in Betrieb ist, der Ölexport können bald nicht mehr. Wir ha- läuft und es einen Jemen gibt jen- ben jetzt schon 40 Geburten am seits von Granaten und Schüssen. Der stille Tag, die Frauen warten vor dem Jedenfalls bis zum dritten Tag Eingang, flehen uns an.« Früher unseres Aufenthalts. hätten Schwangere auf Privatkli- Es ist Anfang September, seit niken ausweichen können, aber dem Morgen sind Hunderte De- Tod die seien unbezahlbar geworden. monstranten auf den Beinen, har- »Selbst die Apotheken verkaufen ren seit Stunden in der Hitze aus, uns Medikamente nur noch für verbrennen Reifen, blockieren Jemen Das Bürgerkriegsland erlebt Dollar oder saudi-arabische Rial.« Straßen. »Tränengas?« Ein bitteres einen massiven Absturz seiner Währung. In der Notaufnahme liegt ein Auflachen des offiziellen Beglei- blutender Mann mit seinem Sohn. ters im Auto, der offen lässt, auf Nahrungsmittel, Medikamente Kein Fall für eine Geburtsklinik, er welcher Seite er steht: »Haben wir und sauberes Wasser werden unbezahlbar, war auf der Demonstration und nicht. Nur Schlagstöcke, und sonst hat sich vor den prügelnden Solda- wird geschossen.« Hunger und Seuchen sind die Folgen. ten mit einer Platzwunde über der Nicht nur in Mukalla, auch in Stirn hierher gerettet. Anwar Ali, der südlichen Metropole Aden 40, arbeitet in der letzten Thun- und in der Hauptstadt Sanaa ge- fischdosenfabrik von Mukalla: »Ein hen Menschen auf die Straße, um Sack Reis kostet doppelt so viel gegen ihre Lebensumstände zu wie vor einem Monat, aber mein protestieren. Sie demonstrieren Gehalt steigt nicht. Es reicht ein- auf beiden Seiten der Front gegen fach nicht mehr. Die Behörden ha- einen Gegner, der ähnlich tödlich ben uns gesagt, dass sie nichts ge- zuschlägt wie alle Waffengewalt: gen die Inflation tun können. Also den Absturz ihrer Währung. sind wir auf die Straße gegangen. Der jemenitische Rial ist im frei- Wir haben Angst zu verhungern.« en Fall, hat seit Beginn des Krie- Was in Mukalla Zukunft ist, hat ges fast drei Viertel seines Wertes die Provinzen der Huthis längst gegenüber dem Dollar verloren – erreicht. Zwischen apathischen und lässt damit von den kargen Kindern mit schlaffer Haut und Löhnen immer weniger übrig, aufgeblähtem Bauch versucht Dr.

um wenigstens Brot, Reis, Gemü- TIMES / LAIF / THE NEW YORK TYLER HICKS Mekkia Mahdi zu retten, wen sie se kaufen zu können. Denn mehr oft nicht mehr retten kann, darun- als 90 Prozent aller Lebensmittel ter Einjährige, die so viel wiegen müssen gegen Devisen importiert wie ein Neugeborenes. »Seit Be- werden. ginn dieser Woche sind vier Klein- Die Reaktionen der Mächtigen auf bei- lingen in Krankenhäusern am Rande des kinder gestorben, jeden Tag eines.« Die den Seiten ähneln einander: Die Huthi-Re- Kollaps, von Leichen und Ruinen. Doch Ärztin im Krankenhaus von Aslam im bellen in Sanaa lassen Dutzende Protes- hinter dem Grauen der Kämpfe liegt eine Nordwesten des Landes wundert sich über tierer verhaften, die Truppen der Exilre- meist übersehene, ebenso tödliche Gefahr. die Aufmerksamkeit der Welt über die Er- gierung von Abd Rabbuh Mansur Hadi Seitdem die Koalition unter Führung mordung des saudi-arabischen Dissiden- reagieren mit Prügeln, eröffnen das Feuer. Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabi- ten Jamal Khashoggi, »während Millionen Die Huthis schließen Wechselstuben; Hadi schen Emirate die schiitennahen Huthi-Re- jemenitischer Kinder leiden. Um die schert feuert im Oktober seinen Premier und bellen vor allem mit Luftbombardements sich niemand«. lässt die Zinsen erhöhen. Saudi-Arabien zurückzudrängen versucht, sind mehr als In ihr Krankenhaus schaffen es ohnehin verkündet, 200 Millionen Dollar zu über- 15000 Menschen gewaltsam umgekom- nur jene, die sich die astronomisch teuer weisen, aber nichts davon kann die nahen- men. Aber weit mehr, Schätzungen zufolge gewordene Fahrt aus ihren Dörfern noch de Katastrophe aufhalten. wohl Zehntausende, sind infolge von Hun- leisten können. 8 Millionen Menschen sind »Der Jemen steht unmittelbar vor einer ger, Cholera und der katastrophalen Ge- dringend auf Nahrungshilfe angewiesen, Hungersnot von Ausmaßen, wie sie kein sundheitsversorgung gestorben. bald dürften es 14 Millionen sein, die Hälf-

82 TYLER HICKS / THE NEW YORK TIMES / LAIF / THE NEW YORK TYLER HICKS Zerstörte Innenstadt Sanaas: »Millionen Kinder leiden« te der Bevölkerung. Von zwei Millionen schwindenden Devisenreserven zusam- Der abgesetzte Zentralbankchef Bin Hu- unterernährten Kindern sind 400000 in men. Kurz: Die Bank versuchte, den Staat mam warnte damals vor dem Untergang kritischem Zustand. In wenigen Monaten, zu bewahren. Sogar Soldaten auf bei den des Staates und ging zurück in die Klein- so prognostizieren die Uno-Experten, wer- Seiten der Front bekamen weiterhin ihren stadt Schihr, eine Autostunde östlich von den 100000 dazukommen. Sold, sofern sie schon 2014 bei der Armee Mukalla. Hier sitzt er nun auf einem roten Der Jemen war immer arm. Doch dass gewesen waren. Ebenso erhielten Lehrer, Sofa im Haus seiner Familie, das nicht ärm- die Währung zunehmend rasant an Wert Polizisten, Verwaltungsbeamte, Ärzte und lich ist, aber auch nicht pompös. Seine Stim- verliert, dass selbst Devisen von Hilfsor- Krankenschwestern im ganzen Land ihre me klingt eher gedämpft. Eigentlich möchte ganisationen kaum ins Land kommen, Gehälter. Alle paar Wochen hob ein Fracht- er nicht reden. Aber sein ehemaliger Stabs- während die Dollarerlöse aus dem staat- flugzeug der Armee oder einer der betag- mitarbeiter Mansour Rageh, heute Chef- lich kontrollierten Ölexport auf Konten in ten Jets der staatlichen Yemenia-Linie mit ökonom des Sanaa Center for Strategic Stu- Saudi-Arabien geparkt werden, ist keine ausgebauten Sitzreihen vom Flughafen Sa- dies, ist mitgekommen. Und so willigt er Katastrophe, die vom Himmel gefallen ist. naa nach Aden im Süden ab, beladen mit ein in sein erstes Interview seit zwei Jahren. Beide Seiten, die Huthis wie Hadis Exil- Bargeld, mitten im Krieg. Seit 1990 war der Analyst im Direkto- regierung und ihre Schutzherren vom Golf, Es war verrückt, einerseits. Anderer- rium der Zentralbank, 2010 wurde er ihr setzen die Not gezielt als Waffe ein. Der seits war Jemens Zentralbank die wichtigs- Chef. Als die Koalition der Golfstaaten Währungsabsturz aber geht auf eine Ent- te Macht, die eine Rückkehr zum Funk- 2015 begann, Sanaa und Aden zu bombar- scheidung des mit Saudi-Arabien verbün- tionieren des Staates, des Räderwerks sei- dieren, blieb er in Sanaa. »Als dann eines deten Präsidenten Hadi zurück, die er vor ner Institutionen, später möglich machen dieser Huthi-Revolutionskomitees in mei- gut zwei Jahren traf und die erst jetzt ihre würde. Die verhindern könnte, dass die nem Büro aufmarschierte und erklärte, volle Wucht entfaltet: die Lahmlegung der Armee in Milizen zerfällt, die sich nach ei- hier fortan alles zu kontrollieren, habe ich Zentralbank. Die kümmerte sich stets um nem Ende der Hauptkampfhandlungen höflich genickt«, erinnert sich Bin Humam. mehr als Währungsstabilität und Geld- aufs Rauben, Erpressen, Plündern verle- Er habe ihnen erklärt, sie könnten selbst- marktpolitik. Sie war die Lohnbuchhal- gen, wie es sonst oft geschieht. verständlich die Zentralbank übernehmen, tung des Staates. Von ihr bekamen die 1,2 Dass die Zentralbank dies tat, lag im nur nicht mit ihm. Von da an habe man Millionen Beamten, Polizisten, Soldaten Wesentlichen an einem Mann: Zentral- ihn gewähren lassen. des Landes ihr Gehalt, versorgten damit bank-Chef Mohammed Bin Humam. Bin Humam fuhr nach Riad, nach Wa- mehr als sechs Millionen Menschen. Als Präsident Hadi ihn 2016 absetzen shington, verhandelte mit IWF und Welt- Selbst als der Bürgerkrieg begann, fuhr ließ, die Bank unter seine Kontrolle brach- bank. Alle versprachen ihm, die Unabhän- die Bank damit fort, zahlte internationale te und nach Aden verlegte, leitete er ein, gigkeit der Zentralbank weiterhin zu schüt- Verbindlichkeiten zurück und hielt die was den Jemen nun plagt. zen. Nur hielten sie sich nicht daran. Sau-

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 83 Ausland TYLER HICKS / THE NEW YORK TIMES / LAIF / THE NEW YORK TYLER HICKS Unterernährtes Mädchen im Nordwesten des Landes: »Um die schert sich niemand« di-Arabien wollte keine Stabilität, sondern zu drucken, insgesamt Hunderte Milliar- Mittlerweile bezeichnet selbst der Uno- siegen. Als seine auf Wochen angelegte Of- den Rial. »Wir taumeln in eine Katastro- Unterhändler für den Jemen, Martin Grif- fensive nach mehr als einem Jahr noch im- phe, die Inflation kann noch viel schlim- fiths, den Fall der Wirtschaft ins Bodenlose mer stockte, setzte Riad auf das Prinzip mer werden«, sagt Bin Humam. Von zwei als größte Gefahr für das Land: »Das hat Aushungern: Von Juni 2016 an ließ Präsi- Milliarden US-Dollar, die Saudi-Arabien die absolute Priorität! Weltbank, IWF, Uno, dent Hadi Exporterlöse aus eroberten Öl- Anfang 2018 versprach, sind bislang nur die Golfstaaten müssen in den nächsten feldern nicht mehr an die Zentralbank, etwa 20 Millionen ausgezahlt worden, der Wochen einen Masterplan entwickeln!« sondern auf ein Konto einer saudi-ara- Rest liegt weiter auf saudischen Konten. US-Außenminister Mike Pompeo for- bischen Bank überweisen. Im Juli gab er Mukalla, die Stadt zwischen den Wüs- derte am Dienstag Friedenverhandlungen Order, die Zentralbank von allen Devisen- tenbergen und dem Indischen Ozean, binnen 30 Tagen, um den Konflikt endlich konten im Ausland abzuschneiden. Am 18. müsste eigentlich boomen. Sie liegt fernab zu beenden. Nach dem brutalen Mord an September schließlich ließ er Bin Humam der Front, Mukallas Hafen ist der letzte Regimekritiker Khashoggi erhöhen die absetzen und die Bank ins umkämpfte im Land, der funktionieren könnte. Doch USA nun den Druck auf Saudi-Arabien. Aden verlegen, angeblich, »um ihre Unab- der Hafen hat nicht einmal einen Kran Der Mann, der die Katastrophe verhin- hängigkeit zu bewahren«. zum Entladen von Containern. dern wollte, die jeder kommen sehen Tage später erklärte er: »Es könnte sein, Nichts bekomme er von seiner Regie- konnte, sitzt in seinem Wohnzimmer in dass wir die Gehälter von Staatsbediens- rung, sagt Gouverneur Faraj al-Bahseni, Schihr. Man spürt die Bitterkeit in seiner teten fortan nicht mehr bezahlen können.« ein Ex-Militär mit dem Ruf der Unbestech- Stimme, als der Ex-Zentralbankchef Bin Der Hunger als Waffe. Im Gebiet der Hu- lichkeit. Sämtliche Gehälter der Lehrer, Humam von dort einen Appell an die Welt this haben die Beamten seither in zwei Ärzte, Angestellten bezahle er aus dem ei- richtet: »Wenn die internationale Gemein- Jahren nur knapp vier Monatsgehälter be- genen Budget. Das speise sich aus kargen schaft will, kann sie den Absturz stoppen. kommen. Zolleinnahmen und einem Fünftel der Öl- Wenn sie wieder eine wirklich unabhängi- Die Verlegung der Zentralbank kam erlöse in der Provinz Hadramaut. ge Zentralbank einrichtet, sicherstellt, dass ihrer Zerschlagung gleich. Die neue Bank die Öleinnahmen auch dorthin gehen, die in Aden hatte ein Jahr lang noch nicht ein- Beamten bezahlt werden und sie den Rial mal einen Swiftcode und somit keinen »Wenn die internationale stabilisiert mit eher vier als zwei Milliar- Zugang zum weltweiten Transferver kehr. den Dollar, kann sie das Land retten.« Die Öleinnahmen liefen weiterhin auf Gemeinschaft will, kann Pause. das Konto in Saudi-Arabien. Bin Humams sie den Absturz stoppen. »Aber will sie das wirklich?« Nachfolger hatte nur ein Rezept gegen Christoph Reuter den Wertverfall des Geldes: mehr davon Aber will sie das?«

84 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 KONFERENZEN 19.–20. NOVEMBER 2018 HAMBURG FUTURA

AUFWACHEN, EUROPA! Gelingt die digitale Aufholjagd?

Auf breiter Ebene durchlaufen Wirtschaft und Gesellschaft rasante Umbrüche und tiefgreifenden Wandel. Neben der technologischen Umsetzung gilt es, sich auf die beschleunigte Dynamik der anstehenden Veränderungen einzustellen.

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Verstehen zahlt sich aus. Sport

»Wir wurden gestoppt, weil wir unabhängig ermittelt haben – auch gegen Herrn Infantino.« ‣S.98

Formel-1-Fahrer mit den meisten Siegen Michael Sebastian Ayrton Nigel Jim Schumacher Vettel Senna Mansell Clark 91 52 41 31 25

WM-Titel 71 51 32 27 25

Lewis Alain Fernando Jackie Niki Hamilton Prost Alonso Stewart Lauda

Der Brite Lewis Hamilton, 33, sicherte sich voriges Wochenende Verlauf seiner Karriere 91 Rennen und holte siebenmal den vorzeitig den Weltmeistertitel in der Formel 1. Im Ranking der WM-Sieg. Experten gehen nicht davon aus, dass Mercedes-Pilot erfolgreichsten Rennfahrer liegt der nunmehr fünfmalige Cham- Hamilton diese Marken knacken kann, angesichts des techni- pion jedoch noch immer weit hinter dem Mann auf der Pole - schen Fortschritts anderer Rennställe und der Konkurrenz durch position zurück: Michael Schumacher. Der Kerpener gewann im junge Formel-1-Talente wie den Niederländer Max Verstappen.

Magische Momente weniger Sekunden erzielte ich zehn Punk- te, drehte die Partie. Unglaublich. »Alle gegen mich« SPIEGEL: Im Finale ging es gegen den Ungarn Balint Korpasi, Sie kämpften Ringer Frank Stäbler, 29, über seinen historischen Weltmeistertitel also nicht nur gegen einen Lokalmatador, sondern auch gegen den Großteil der SPIEGEL: Vor einer im Rückstand. Haben Sie an sich ge - 8000 Zuschauer in der Halle. Wie haben Woche wurden Sie in zweifelt? Sie sich darauf eingestellt? Budapest Weltmeister, Stäbler: Einmal. Im Viertelfinale kämpfte Stäbler: Die Vorbereitung begann Wochen als erster Ringer über- ich gegen den Kasachen Demeu Schadra- im Voraus. Neutral betrachtet, ist die Kons - haupt haben Sie damit jew, knapp zwei Minuten vor Schluss tellation ja das Schlimmste, was mir hätte den Titel in drei ver- führte er mit 6:0, im Ringen ist das in der passieren können. Ich habe mir aber klar- schiedenen Gewichtsklassen kurzen Zeit fast unmöglich aufzuholen. gemacht, dass es für mich als Sportler doch gewonnen. Was können Sie besser als Ich schaute auf die Anzeigetafel und dach- eigentlich das Allergrößte ist: alle gegen Ihre Gegner? te mir: Das geht nicht mehr. mich. Auf dieses Ziel habe ich hingearbei- Stäbler: Was Technik, Kraft und Kondi - SPIEGEL: Und dann? tet. Vor dem Finale sagte mein Trainer zu tion angeht, haben mir die Konkurrenten Stäbler: Im selben Moment ist mir auf - mir: Jetzt lebst du deinen Traum. in der Weltspitze extrem viel voraus. gefallen, dass ich zweifle. Da sagte ich mir: SPIEGEL: Knapp eine Minute vor Schluss Dafür bin ich mental stärker als jeder Jetzt ist das passiert, was du nie wolltest. stand es 1:1 – da Ihr Gegner den letzten andere. Ein unerschütterlicher Glaube in Du musst den Glauben an dich selbst Punkt erzielt hatte, hätte er gewonnen. die eigene Stärke kann viel bewirken. bewahren. Es hat funktioniert, innerhalb Stäbler: Ich mobilisierte meine letzten KADIR CALISKA / PICTURE-ALLIANCE KADIR CALISKA SPIEGEL: Ringen ist ein Kopfsport? Kräfte, setzte alles auf eine Karte und griff Stäbler: Mein Trainer sagt immer: Es an. Ich drängte ihn von der Kampf fläche, reicht, wenn ich bei einem Turnier nur zu wahrscheinlich waren es nur ein paar Mil- 80 Prozent in Form bin, sofern mein limeter. Das 2:1. Kopf zu 100 Prozent funktioniert. Durch SPIEGEL: Dann war es vorbei. die Arbeit mit Mentaltrainern habe ich Stäbler: Die letzten zehn Sekunden haben gelernt, immer positiv gestimmt zu sein. sich angefühlt wie zehn Minuten. Und Früher hat mich der Erfolgsdruck kaputt dann kam alles raus: die Erleichterung, die gemacht, heute weiß ich: Je mehr Druck Freude, der Stolz, die Liebe. Mein Herz ich habe, desto besser bin ich. war offen, weil ich gespürt habe, was mein SPIEGEL: Bei der WM bestritten Sie fünf KISBENEDEK / AFP ATTILA Sieg bei meiner Familie und meinen Freun- Kämpfe, in jedem lagen Sie zeitweise Stäbler im WM-Finale von Budapest den ausgelöst hat. Unbeschreiblich. TNE

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 87 Karl-Heinz Rummenigge

Michael Gerlinger

Hans-Joachim Watzke

Christian Seifert

John

88 TITEL

Gianni Infantino

Michel Platini

María Claudia Rojas

Khaldoon Al-Mubarak

Rinaldo Arnold Nasser Al-Khelaifi

Football Leaks Monatelang arbeitete ein Geheimbund um den FC Bayern München an einer privaten Eliteliga. Für diese Pläne hintergingen die Spitzenvereine die Verbände und restlichen Klubs.

ie Mail, die für die größte Revo- Gerlingers Mail ist brisant, man könnte Fifa dümpelt nach einer Welle von Raz- lution in der Geschichte des eu- auch sagen: purer Sprengstoff. Es geht um zien und Verhaftungen führungslos umher. D ropäischen Fußballs sorgen könn- nichts weniger als die Zukunft des euro- Auch die europäische Vereinigung Uefa te, fängt mit einem völlig harm- päischen Fußballs. Gerlinger beauf- muss zusehen, wie ihr Präsident losen Satz an: »Hi Romano, ich habe einen tragt die Anwälte, zu prüfen, ob der Michel Platini wegen einer Mil- weiteren interessanten Fall, für den wir FC Bayern München aus der Bun- lionenzahlung des früheren Fifa- Dich gerne mandatieren würden.« Micha- desliga aussteigen könnte und ob Chefs Joseph Blatter aus dem el Gerlinger sendete sie am 3. Februar er seine Spieler in Zukunft noch Amt geweht wird. Gleichzeitig 2016 ab, Empfänger war die internationale für die Nationalmannschaft ab- steht die nächste Vergabe der Anwaltskanzlei Cleary Gottlieb. stellen müsste. Rechte an der Champions und Gerlinger, 45, ist Chefjustiziar des FC Die Bundesliga ohne Bayern Mün- Europa League bevor. Die Einnahmen Bayern München und so etwas wie das chen? Die Nationalmannschaft ohne Mats für die beiden Wettbewerbe haben sich heimliche Gehirn des Rekordmeisters. Er Hummels, Joshua Kimmich oder Manuel zwischen 2007 und 2017 nahezu ver - tritt nur selten öffentlich auf, aber ohne Neuer? Ist so etwas vorstellbar? dreifacht und betragen mittlerweile über ihn trifft Vorstandschef Karl-Heinz Rum- Im Jahr 2016 scheint alles vorstellbar 2,2 Milliarden Euro. menigge seit über einem Jahrzehnt keine zu sein, es ist eine Art Zäsur im interna- Der Kampf, der nach Gerlingers Mail

DPA PICTURE ALLIANCE (6), IMAGO SPORT, IMAGO STOCK (2), DDP IMAGES; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR BENEDIKT (2), DDP IMAGES; ILLUSTRATION: STOCK IMAGO SPORT, ALLIANCE (6), IMAGO PICTURE DPA wichtige Entscheidung mehr. tionalen Spitzenfußball. Der Weltverband um all das viele Europapokal-Geld und um

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 89 die Macht im Spitzenfußball entbrennt, ist DIE VERLOCKUNG lige AC Mailand-Mäzen Silvio Berlusconi geeignet, um als Vorlage für eine Fußball- oder später Real Madrids Präsident Flo- Neuauflage von »House of Cards« zu die- Charlie Stillitano hat schon etliche verrück- rentino Pérez waren von der Gründung nen. All die Volten, die Härten, die Hin- te Dinge gemacht. Als in den Neunziger- einer Eliteliga fest überzeugt. terzimmergespräche lassen sich mithilfe ei- jahren die US-Profifußballliga gegründet Aber keines der Projekte konnte mit Stil- nes Datensatzes rekonstruieren, den die wurde, heuerte er als erster Generaldirek- litano mithalten: In seiner Präsentation Enthüllungsplattform Football Leaks dem tor der New York/New Jersey Metro Stars rechnet er vor, dass jeder der Topklubs Jah- SPIEGEL und seinen Partnern des interna- an. Später bewies er dann sein feines Ge- reseinnahmen von »500 Millionen Euro tionalen Recherchenetzwerks European In- spür für große Geschäfte – und konzentriert plus« erreichen könne. Zum Vergleich: vestigative Colla borations (EIC) zur Ver- sich seitdem auf internationale Fußballspie- Real Madrid, der Champions-League-Sie - fügung gestellt hat. le. 2014 organisierte Stillitano ein Match ger von 2016, erhielt von der Uefa rund Wer die Dokumente liest, bekommt ein zwischen Manchester United und Real Ma- 80 Millionen Euro. Verständnis dafür, wer die tatsächlichen drid im Michigan Stadium, zu dem 109318 In einer Super League, in der nur die Entscheider im Fußballbusiness sind. Und Fans kamen. Bis heute ist das Rekord für Topmannschaften jede Woche gegeneinan- wie rücksichts- und schamlos sie ihre Macht ein Fußballspiel in den Vereinigten Staaten. der antreten, so stellt Stillitano in Aussicht, aufbauen, um ihrer Gier nach noch mehr Stillitano, ein wuchtiger Mann mit Glat- könnten sich die Gesamteinnahmen der Geld zu folgen. Es wird deutlich, warum ze, Hornbrille und Dreitagebart, sitzt heute Klubs verdreifachen. Bereits für den Zeit- der nationale und mittlerweile auch der in- oft in den VIP-Bereichen der mächtigsten raum zwischen 2018 und 2021 könnten ternationale Wettbewerb in Vorhersehbar- Klubs Europas. José Mourinho, Startrainer sie laut Stillitano bei sieben Milliarden keit erstarrt sind, warum es von der Cham- von Manchester United, nennt Stillitano Euro liegen. pions League über die Bundesliga bis zur fast ehrfürchtig »Mr. Zero Mistakes«. Monate später, im August 2016, wird italienischen Serie A nur noch Abomeister Am 17. Dezember 2015, das zeigen die Karl-Heinz Rummenigge bei einem Tref- gibt, die für gähnende Langeweile sorgen. Football-Leaks-Dokumente, schrieb Stilli- fen der European Club Association (ECA) Auch deshalb steht der Fußball 2016 vor tano eine Mail an zwei Führungskräfte von eine heikle Aussage treffen. Er ist zu die- der Herausforderung, sich völlig neu auf- Real Madrid, an den Generaldirektor José sem Zeitpunkt seit acht Jahren Vorsitzen- stellen zu müssen. Nicht um für den Fan Ángel Sánchez und an die Marketing - der der ECA, des weltweit größten Vereins- wieder vielfältiger, aufregender zu wer- chefin, angehängt sei der aktuelle Entwurf bündnisses, das die Interessen von mehr den – sondern um weiterhin die Margen für eine Super League: »Kann ich heute als 220 Klubs vertreten soll. Rummenigge und die Reichweiten zu erzielen, die er sich Eure Laptops benutzen, um die Präsenta- erklärt laut einem Sitzungsprotokoll, das im vergangenen Jahrzehnt aufgebaut hat. tion zu zeigen? Danke, Charlie«. »die großen Klubs große Angebote zur Ent- Für dieses Ziel sind einige Klubs offen- Stillitanos Entwurf, gekennzeichnet mit stehung einer Super League erhalten ha- bar sogar bereit, die oft beschworene Soli- dem Vermerk »Strictly Private and Confi- ben und die Uefa dann vor einigen Wochen darität zwischen den Vereins- und Liga- dential«, offeriert den Real-Entscheidern ein Meeting mit den Vertretern einiger der bündnissen, die seit Jahrzehnten den euro - Folgendes: großen Klubs einberufen hat, um mit ei- päischen Spitzenfußball organisieren, zu ‣ Die 17 Mannschaften mit der stärksten nem Angebot die Einigkeit im europäi- verraten. Sieben der weltbesten Klubs TV-Präsenz aus England, Spanien, Ita- schen Klubfußball zu er halten«. schließen sich heimlich zusammen. Ihr lien, Deutschland und Frankreich wür- Rummenigges Botschaft ist klar: Die Credo scheint zu sein: Der Tod jeder Show den permanent in einer europäischen großen Klubs müssen mehr Geld und ist die Langeweile. Und gegen die Lange- Liga gegeneinander antreten. Macht von der Uefa erhalten, sonst wür- weile hilft nur eine noch größere, noch ‣ Aus der Bundesliga wären Bayern den sie eine eigene Liga gründen. Für die grellere Show, die größte Fußballshow auf München, Borussia Dortmund und mittelgroßen und kleineren Vereine, deren Erden: die Super League, eine Eliteliga, Schalke 04 dabei. Interessen die ECA eigentlich auch wahren ein Allstarwettbewerb, der ‣ Als 18. Teilnehmer käme muss, wäre ein solches Szenario ein De- exklusiv den ersten Adres- ein Team aus Portugal, saster. Bislang verteilt die Uefa die TV-Ein- sen des europäischen Klub- Das SPIEGEL-Team Russland, den Nieder- nahmen nach einem kollektiven Schlüssel fußballs vorbehalten ist. Je- Rafael Buschmann, Jürgen landen oder der Türkei an die Mannschaften der Europa und des Spiel ein Spitzenspiel. Dahlkamp, Martin Hesse, hinzu. Champions League; die Topklubs treten Das ist der Plan des Ge- Andreas Meyhoff, Nicola Naber, ‣ Die Liga würde 34 Wo- einen Solidarbeitrag an die kleineren Ver- heimbunds. Gunther Latsch, Jörg Schmitt, chen laufen, gespielt wür- eine ab. Wenn die großen Klubs die Uefa- Heute, im November Alfred Weinzierl, Robin Wille, de dienstags, mittwochs Wettbewerbe verlassen würden, verlören 2018, scheint die Idee der Christoph Winterbach, und samstags. Am Ende die anderen Vereine Gelder in Millionen- Super League neuen Auf- Michael Wulzinger der Saison gäbe es eine höhe. Für manche der Klubs, die teils hor- trieb zu erhalten: Wie aus K.-o.-Runde. rende Kader- und Infrastrukturkosten an- dem Entwurf einer vertrau- European Investigative Die Diskussion um die gehäuft haben, könnte ein solcher Bruch Collaborations (EIC) lichen Absichtserklärung Einführung einer Super existenzbedrohend sein. hervorgeht, den Real Ma- »Expresso« (Portugal), »L’Espres- League gibt es schon seit Die großen Vereine sind im Jahr 2016 drid vor wenigen Tagen so« (Italien), »Le Soir« (Belgien), mehr als 30 Jahren. Immer in einer hervorragenden Position, um nahe - von einer Beraterfirma Mediapart (Frankreich), »Nacio- wieder gab es Bestrebun- zu alle ihre Forderungen durchzusetzen. erhalten hat, sollen 16 nal« (Kroatien), NDR (Deutsch- gen, den europäischen Fuß- Aber wie konnte es so weit kommen? Topklubs ein Papier zur land), »NRC Handelsblad« (Nie- ball komplett zu reformie- Die Football-Leaks-Dokumente zeigen Gründung einer solchen derlande), PLTV (Frankreich), ren und eine Liga für die recht eindrucksvoll, dass Rummenigges Liga unterschreiben. Dem- »Politiken« (Dänemark), Reuters Besten der Besten zu schaf- Verhandlungstaktik geprägt ist von einem nach soll sie von der Saison (UK), »Standaard« (Belgien), fen. Es wurden Geheim- Werkzeug: der kalkulierten Desinforma- 2021 an starten. Einer der Tamedia (Schweiz), The Black projekte mit abstrusen Na- tion. Er sagt den jeweiligen Runden, vor in diesem Papier genann- Sea/RCIJ (Rumänien), VG (Nor- men wie »Gandalf« ent- denen er spricht, immer nur exakt so viel ten 16: der FC Bayern wegen) worfen, die Sonnenkönige wie nötig, um eine Eskalation gerade noch München. des Fußballs wie der dama- zu verhindern. Insbesondere die ECA und

90 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Manuel Neuer

auch die Ligaverbände werden von den Re- sie die etablierten Wettbewerbe aushebeln ‣ Müssten die Vereine nach einem sol- formplänen der Großklubs kalt erwischt. könnten. Die Wettbewerbe, von denen sie chen Ausstieg weiterhin ihre Spieler für bisher sehr gut gelebt haben. die Nationalmannschaften abstellen? DER GEHEIMBUND Im Auftrag des Geheimbunds verschickt ‣ Könnten die Verbände oder Ligen Spie- Bayern Münchens Chefjustiziar Michael ler für eine Teilnahme an der Super Am 30. Januar 2016 mailt Real Madrids Ge- Gerlinger im Februar 2016 seine erste Mail League bestrafen? neraldirektor José Ángel Sánchez eine von an die Großkanzlei Cleary Gottlieb. Nur ‣ Könnten die Spieler ihre Verträge auf- Stillitanos Super-League-Präsentationen an 18 Minuten später erhält Gerlinger bereits kündigen, wenn ein Verein in eine pri- den Vizepräsidenten der Königlichen. Sán- eine Antwort. Einer der Anwälte bietet vate Super League wechseln würde? chez schreibt dazu lediglich einen Satz: ihm ein Telefonat an. Wenige Stunden spä- Nur sechs Tage nach Gerlingers Mail »Das Dokument muss analysiert werden.« ter mailt Gerlinger erneut an die Juristen. findet in Paris ein Meeting des Klubbünd- Real Madrid wählt nun einen Weg, der Diesmal ist es ein klarer Arbeitsauftrag: nisses ECA statt. Mehr als 140 hochrangige im Ego-Geschäft Fußball mehr als unge- »Wie Du … sehen kannst, haben wir grund- Vereinsvertreter des europäischen Spitzen- wöhnlich ist: Die Spanier organisieren ge- sätzlich drei Ausstiegsoptionen«: Die euro - fußballs versammeln sich, sie werden über meinsam mit sechs weiteren Topklubs eine päischen Wettbewerbe zu verlassen oder die Fifa, Uefa und eine mögliche Cham- Art Taskforce, die sich mit der Gründung aber komplett aus den nationalen Ligen pions-League-Reform debattieren. Der einer Super League beschäftigen wird. In und ihren Verbänden auszusteigen – Letz- Vorsitzende, Karl-Heinz Rummenigge, er- den folgenden Monaten werden Real, der teres unterteilt Gerlinger noch in zwei Sze- klärt laut Sitzungsprotokoll, dass die ECA FC Bayern München, Juventus Turin, der narien für zwei Zeitpunkte. und die Uefa eine »Evolution der Wett- FC Barcelona, Manchester United, der FC Der Rest der Mail besteht aus Fragen, bewerbe« anstrebten. Dazu gebe es einen Arsenal aus London sowie der AC Milan die die rechtliche Situation eines solchen »Austausch von Ideen auf unterschiedli- hinter dem Rücken der Uefa und der rest- Ausstiegs erörtern sollen. Fragen, die an chen Ebenen«, ein paar »informelle Grup- lichen Vereine auch an der Option arbei- allen Grundwerten der europäischen Fuß- pen« würden daran ebenfalls arbeiten. ten, die nationalen Ligen und die Fußball- ballgemeinschaft rütteln: Rummenigge ist offenbar ein wahrer verbände komplett zu verlassen. ‣ Könnten die Super-League-Klubs für Künstler im Verniedlichen bedeutender Sieben Konkurrenten also, die nun in mögliche Einnahmeverluste der Uefa Fakten. Dass er auch noch einen hohen

DPA PICTURE ALLIANCE; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR BENEDIKT ALLIANCE; ILLUSTRATION: PICTURE DPA einer kartellähnlichen Struktur prüfen, wie haftbar gemacht werden? Grad an moralischer Flexibilität mitbringt,

91 bände, Ligen und konkurrierenden Ver- eine zu schützen. Allerdings sehen die Juristen auch einige Probleme, sollten die Vereine aus ihren Nationalverbänden aussteigen: Zum einen müssten die Klubs wohl trotzdem weiterhin Nationalspieler abstellen, weil Welt- und Europameister- schaften es den Spielern ermöglichen, »ihren Marktwerkt (und Gehalt)« zu erhöhen. Wer den Spielern diese Optio- nen verweigere, könnte schnell verklagt werden. Zum anderen würde bei einem Ausstieg aus den Ligen speziell auf Bayern Mün- chen ein großes Problem zukommen: Spielerverträge in Deutschland haben eine Sonderklausel, die die Spieler aus- schließlich an die Bundesliga bindet. Soll- te der FC Bayern München die Liga also wirklich verlassen, so die Juristen, könn- ten die Spieler ihre Verträge womöglich einseitig aufkündigen und ablösefrei wech- seln. Ein Horrorszenario, weil den Münch- nern so Hunderte Millionen Euro verloren gehen könnten. Die Bayern lassen sich aber auch davon nicht merklich abschrecken. Sie werden in den folgenden Monaten gemeinsam mit den anderen Verschwörern, teuren Anwälten und schillernden Investoren an einer möglichen Lösung der Probleme ar- beiten. DER WHISTLEBLOWER

»Was fällt dir auf, wenn du die Dokumente dieses Kartells liest?«, fragt John. Es ist August, er sitzt mit schwarzen Shorts auf einem Plastikstuhl in einem winzigen Apartment irgendwo in Osteuropa. Die Decke des Zimmers hat einen großen, zeigt sein Seitenhieb gegen den Weltver- Rechenschaft gezogen werden könnten, feuchten Fleck, eines der Fenster lässt sich band: »Die Fifa braucht eine transparente, weil das grundsätzlich gegen das EU-Wett- nicht mehr schließen. John starrt auf sei- demokratische und effiziente Struktur mit bewerbsrecht verstoßen würde. Die An- nen Laptop, er lässt Unmengen an Doku- einer neuen Vision … Die Fifa als Dach- wälte verweisen zwar auf ein sogenanntes menten über den Bildschirm fliegen und organisation muss die Grundtugenden des Memorandum of Understanding (MoU), sagt: »Die Klubs diskutieren hier die gan- Fußballs wie Fair Play und Seriosität be- das die Interessengemeinschaft der Klubs, ze Zeit über die Super League und wie sie wahren.« die ECA, und die Uefa 2015 miteinander den ganzen Scheiß noch besser vermark- Transparenz. Demokratie. Fairness. Se- geschlossen haben. Diese Zielverein- ten und noch mehr Geld verdienen kön- riosität. barung sei aber nicht bindend. Denn, und nen. Nur über eines reden sie nie: über Parallel zu Rummenigges blumiger Rhe- das ist der Trick, das MoU, in dem die die Fans. Über die Leute, die diesen Sport torik prüft die internationale Großkanzlei Klubs sich zur Uefa und zum gemein- groß gemacht haben. Was macht eine im Auftrag von Bayern-Justiziar Gerlinger samen Wettbewerb bekennen, sei eben solche Liga, in der die Spiele weltweit die Möglichkeiten, alles abzuschaffen, was nicht von den Vereinen unterzeichnet wor- ausgetragen werden, denn mit dem Zu- die ECA gerade reformieren will. den, sondern nur von der Dachvereini- schauer?« Die Anwälte brauchen rund einen Mo- gung ECA. John hat den Fußball als Kind lieben nat für eine erste Analyse. Am 1. März Wem kann man in der Fußballbranche gelernt; dass dieser Sport zu einem Ge- 2016 erhält Bayern München ein vertrau- eigentlich noch trauen? schäfts- und Unterhaltungsbetrieb gewor- liches Memorandum, das ein Lehrstück da- Dass Gerlinger dieses MoU mit der den ist, geht ihm nahe. John sagt, es ekele für ist, wie Topjuristen im modernen Fuß- Uefa federführend ausgehandelt hatte und ihn an, was das Geld mit und aus dem Fuß- ball jede einzelne rechtliche Lücke ent - dafür von der ECA einen Bonus von ball gemacht hat –die Korruption, die larven. 25000 Euro erhielt, steigert die Doppel- Steuerhinterziehung, die vielen schmutzi- Auf 23 Seiten sezieren sie die rechtli- züngigkeit ins Bizarre. gen Deals der Berater, Spieler und Funk- chen Hürden für die Gründung einer Su- Das Gutachten der internationalen tionäre. per League. Sie erklären, dass die Top- Großkanzlei liefert den Topklubs zahl - Vor rund drei Jahren hatte John genug. klubs wohl weder von der Uefa noch von reiche Argumente, um sich und ihre Spie- Der junge Mann, der in Wahrheit anders

der Fifa für ihren Ausstieg ernsthaft zur ler vor möglichen Klagen durch die Ver- heißt, gründete die Enthüllungsplattform RUGAR BENEDIKT ALLIANCE (2); ILLUSTRATION: PICTURE DPA

92 Football Leaks. Was als Homepage begann, WIE DIE TOPKLUBS ABKASSIEREN sen bleiben sie völlig im Unklaren, und auf der John vertrauliche Dokumente wie am Ende greifen wieder nur ein paar we- PROGNOSE Spielerverträge, Transferabkommen oder Jährliche Ausschüttung der Uefa nige den Hauptanteil ab.« Sponsorendeals öffentlich machte, ist mitt- an die teilnehmenden Klubs, in Mio. € 2040 John, der Aktivist, öffnet E-Mails von lerweile zu einer der größten Bedrohun- Michael Gerlinger, zeigt ECA-Protokolle Champions League gen der dunklen Seite des Fußballs ge- (seit 2013/14 inklusive Ausschüttung für den Supercup) von Karl-Heinz Rummenigge, scrollt durch worden. John entschied sich im Februar Firmenverträge der Uefa. Woher hat er all 2016, dem SPIEGEL einen Großteil seiner Europa League das vertrauliche, geheime Zeug? (bis 2008/09 Uefa-Cup) Dokumente zu überlassen. Gemeinsam In jüngster Zeit gab es immer wieder mit dem Recherchenetzwerk EIC hat das 593 Berichte, wonach Vereine und Anwalts- Nachrichten-Magazin seitdem riesige Da- 510 kanzleien gehackt worden sein könnten, tenmengen ausgewertet und zu Hunderten dass möglicherweise jemand von Football Geschichten verarbeitet. 38 Leaks mit sogenannten Phishing-Mails In- Cristiano Ronaldo und mehrere Dut- 2006/ 2018/ formationen abgesaugt habe. In Portugal, zend weitere Topspieler mussten nach den 2007 2019 Johns Heimatland, überschlagen sich die Enthüllungen millionenschwere Straf- und Verteilerschlüssel Zeitungen und Fernsehsender seit Mona- Nachzahlungen an die Staatskassen leisten. ten, weil geleakte Daten dem populärsten Alle drei Jahre wird der Verteilerschlüssel für die Aus- Die jahrelangen Steuerbetrügereien der schüttung an die teilnehmenden Klubs neu festgelegt. Klub Benfica Lissabon zahlreiche Ermitt- Profikicker brachten sie fast ins Gefängnis. 2016 fiel die Entscheidung für die Saisons 2018/19 lungen wegen mutmaßlicher Korruption, Mittlerweile laufen europaweit etliche wei- bis 2020/21. Spielmanipulation und Bestechung einge- tere Ermittlungen gegen Spieler, Agenten, brockt haben. Manche Medien behaupten, Das bringt mehr Geld für die Topklubs... Steuerberater, Anwälte und Funktionäre; auch dahinter stecke Football Leaks. John es geht dabei auch um Korruption, Steuer- TV- und sagt, er habe keine Lust, sich zu »allem betrug, Bestechung und sogar den Vorwurf Werbegelder Unsinn, der in irgendwelchen Zeitungen der Vergewaltigung. stehe, zu äußern«. Er betont zudem immer John reicht das noch nicht. wieder, dass weder er noch irgendeiner sei- Anfang dieses Jahres übergab der ner Mitstreiter ein Hacker sei. »Wir haben Whistleblower dem SPIEGEL weitere sehr gute Quellen und ein starkes Netz- Datenpakete. Mehr als 70 Millionen Do- werk, das uns mit vielen Informationen kumente und mehr als 3,4 Terabyte um- ECA, Kommission für Champions-League- und beliefert.« fasst der Football-Leaks-Dokumenten- Klubwettbewerbe und Europa-League-Teilnehmer Das kann man glauben oder es lassen. Exekutivkomitee der Uefa schatz nun. Es ist das größte je dagewese- Was jedenfalls feststeht: Bislang hat sich ne Datenleck. Darin enthalten sind auch ...und eine Aufwertung der Champions League keines von Johns Dokumenten als ge- die Papiere über die geheimen Pläne zur Veränderung der Ausschüttung 2018/19 gegenüber fälscht herausgestellt. Die Geschichten, die Super League. der Vorsaison aus seinen Daten entstehen, haben eine Gemeinsam mit seinen EIC-Partnern hohe gesellschaftliche Relevanz und de- wertete der SPIEGEL die Daten acht +44,5% +19,2% cken sogar kriminelle Machenschaften auf. Monate lang aus. 80 Journalisten aus 15 Der Whistleblower hat zudem nie ver- Medienhäusern arbeiteten daran, all die Champions-League- Europa-League- sucht, die Stoßrichtung oder den Tenor ei- Gesetzesbrüche und geheimen Deals of- Teilnehmer Teilnehmer nes Artikels zu bestimmen. »Wir schonen fenzulegen. Diese erstrecken sich über die niemanden, wir arbeiten nicht im Auftrag gesamte Fußballbranche: vom Präsiden- Der Fußball steht mittlerweile vor einer eines Geheimdienstes, Verbandes oder ten des Weltverbandes Fifa (siehe Seite entscheidenden Frage: Wem gehört der Spielerberaters, wir werden von nieman- 98) über Scheich-Klubs wie Paris Saint- Sport? Den Fans, die ihn groß gemacht ha- dem bezahlt«, sagt John. Wer außer ihm Germain oder Manchester City (siehe Sei- ben? Den Klubs, die ihn am Laufen hal- noch an dem Projekt arbeitet, das will te 106) bis hin zu kleineren Vereinen, die ten? Oder den Verbänden, die ihn kontrol- John nicht verraten. sich ausländische Jugendspieler wie Mas- lieren sollen? Er weiß, dass es in mehreren Ländern senware einverleiben, mit ihnen Profit ma- »Ganz ehrlich: Es ist mir egal, ob es eine Ermittlungsverfahren gegen Football Leaks chen oder sie fallen lassen, und Berater, Super League gibt oder nicht. Was mich gibt, dass Fußballklubs und Spielerberater für die es offenbar überhaupt keine Gren- stört, ist die Art von Geheimdeals, die die Privatdetektive auf ihn angesetzt haben. zen mehr gibt. Doping, Wettbetrug, Ras- Superklubs abziehen. Alles passiert im »Das Leben eines Whistleblowers ist pro- sismus – auch diese Themen lassen sich Verborgenen, es gibt kaum Kontrolle, kei- blematisch. Aber ähnlich wie Edward im Football-Leaks-Datensatz finden. Der ne Transparenz – das ist doch der Nähr- Snowden, Chelsea Manning oder Julian SPIEGEL und das EIC werden diese Ge- boden für kriminelle Machenschaften!«, Assange glauben wir sehr an das, was schichten in den kommenden Wochen ver- sagt John. wir tun, und denken, dass diese Form der öffentlichen. Er öffnet auf seinem Laptop eine als Aufklärung für die Gesellschaft wichtig »Das muss alles ans Tageslicht. Die Leu- »streng vertraulich« markierte Präsenta- ist«, sagt John. te, die den Fußball so lieben und ständig tion, offenbar hat der Geheimbund sie Er öffnet eine weitere Datei. Es er- dafür bezahlen, haben ein Recht darauf unter seinen Mitgliedern verschickt. Da- scheint eine Präsentation mit dem Titel: zu verstehen, wie diese Branche wirklich raus geht hervor, dass der Fußball 2016 »Ein Super-League-Szenario für den funktioniert. Der Fußball ist mittlerweile mehr als 16,7 Mil liarden Dollar aus dem Topfußball in Europa«. John sagt: »Guckt völlig außer Kontrolle geraten. Die Super- weltweiten Fernsehmarkt einnahm – mehr euch das mal genauer an. Die Verbände League-Pläne machen doch deutlich, als doppelt so viel wie die Sportart Num- haben 2016 im Zuge der Super-League- wer in dem Sport noch das Sagen hat: Rei- mer zwei, das American Football. Verhandlungen jede Kontrolle über che Investoren und einige wenige Top- John sagt: »Die Fans und die Verbände die Spitzenklubs verloren. Die Öffent- klubs tyrannisieren alle anderen«, sagt müssen nachvollziehen können, was mit lichkeit hat davon kaum etwas mitbe- John. all dem Geld tatsächlich passiert. Stattdes- kommen, aber diese Machtverschiebung

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 93 wird verheerende Folgen für den Fußball Bei diesem Treffen sind die Klubs deut- neren Klubs diskutieren über die Pläne für haben.« lich vorsichtiger als ihre Kollegen in Eng- die Reform der europäischen Wettbewerbe. land. Die Bosse des Geheimbunds verab- Raúl Sanllehí erklärt laut Sitzungsprotokoll, DIE OPERATION reden sich in einem Kongresshotel in Zü- dass die Uefa über die Einführung einer zu- rich, die Buchung der Konferenzräume sätzlichen Liga oberhalb der Champions Charlie Stillitano lässt nicht locker. Im Jahr läuft vertraulich auf den Namen eines un- League nachdenke: »… das wäre ein Um- 2016, einige Wochen nach seinem Termin scheinbaren Reisebüros. Die Präsentation satztreiber«. Rummenigge sagt, die »großen mit Real Madrid, besucht er auch die fünf »Ein Super-League-Szenario für den Top- Klubs hätten einige Ideen für das Format«. Topklubs der Premier League: Manchester fußball in Europa«, die auch den Whistle- Kein Wort über einen möglichen Aus- United, FC Arsenal, FC Chelsea, FC Liver- blower John so bewegte, wird nun den stieg aus den nationalen Ligen, kein Hin- pool und Manchester City. Das Treffen fin- Klubpräsidenten vorgestellt. Aus ihr erge- weis darauf, dass einige Topklubs bereits det in einem Luxushotel in London statt. ben sich heikle Fragen: Sollen die Klubs konkrete Konzepte für eine private Liga Kurz nach dem Meeting erscheinen Papa- die nationalen Ligen komplett verlassen ausgearbeitet haben, und dann auch noch razzi-Fotos, die zeigen, wie die Topfunk- oder nur die Uefa? Und wie weit müsste die Andeutung, dass es die Uefa sei, die tionäre aus dem Hotel gehen. Das Boule- ihnen der Verband entgegenkommen, um die Pläne eines Elitewettbewerbs voran- vardblatt »The Sun« titelt: »Streng gehei- dies zu verhindern? treibe. mer Super-League-Gipfel enthüllt«. Bis Die Bosse diskutieren, ob eine Super Die ECA-Sitzungen scheinen lediglich auf die Information, dass die Klubchefs League »geöffnet, halb geöffnet oder ge- die Funktion von Beruhigungspillen zu ha- sich dort getroffen und mit Stillitano über schlossen« sein sollte. Also ob sich Mann- ben, um die kleinen und mittleren Klubs einen – wie auch immer gearteten – Wett- schaften für diese Liga qualifizieren könn- unter Kontrolle zu behalten. bewerb unterhalten haben, dringt aber ten oder ob dort lediglich ein festes Teil- Sechs Tage nach dem Treffen mit den nichts nach außen. nehmerfeld ohne Auf- und Abstiege gegen- Klubs verschickt Gerlinger erneut eine Trotzdem geraten die englischen Spit- einander antreten würde. Den Klubchefs Mail. Empfänger: Vertreter des Geheim- zenklubs in Panik, die Presseabteilungen wird vorgerechnet, wie viel Geld ihnen bunds. Erster Punkt des Schreibens: verabreden Statements, um die Sache wie- durch die Organisationsausgaben der Uefa »Gründung einer Firma in der Schweiz«. der halbwegs in den Griff zu bekommen. und durch die Solidaritätsabgaben an die Gerlinger erklärt, dass es eine Telefon- Ein Berater der arabischen Geldgeber, die kleineren Klubs verloren gehen. Es sollen konferenz mit der internationalen Groß- hinter Manchester City stehen, schaltet Hunderte Millionen Euro sein. kanzlei gegeben habe. Man überlege nun, sich ebenfalls ein. Wie die Football-Leaks- Am Ende des Vortrags bleiben zwei Op- eine eigene Firma zu gründen, um die wirt- Dokumente zeigen, schreibt er eine Mail tionen: »Revolution« oder »Evolution«. schaftlichen Rechte einer Super League zu an Citys Geschäftsführer Ferran Soriano: Für eine Revolution müssten nun »Para- verwalten. Diese Firma würde den »Wir müssen in Zukunft sehr vorsichtig meter und Zeitpläne für Austritte aus den »Druck« auf den Verband erhöhen. »Die sein und um jeden Preis vermeiden, dass Ligen und Verbänden« erarbeitet werden. Uefa fürchtet sehr, dass wir uns selbst ver- der Eindruck entsteht, wir wären ein Kar- Ein Kommunikationsplan, eine Vermark- markten könnten«, schreibt Gerlinger. Al- tell.« Soriano antwortet, dass die Klubs tungsstrategie und eine eigenständige Fir- lerdings ist die Gründung eines solchen sich in Zukunft in privateren Räumen tref- ma werden benötigt. Parallel dazu soll Unternehmens in der Schweiz, wo auch fen müssten. auch weiter die Möglichkeit der »Evolu - die Fifa, die Uefa und die ECA sitzen, pro- Stillitanos Vorführungen gehen weiter. tion«, also ein Verbleib in der Uefa und blematisch. Denn für ein »kommerzielles Anfang März reist er nach München und den Ligen, analysiert werden. Über diese Unternehmen« benötige man dort ein stellt sein Konzept Gerlinger vor. Stillitano, Pläne werden Gerlinger, Barcelonas Di- Bankkonto. Nach einer neuen Gesetzge- der den Geheimbund nur »Big Seven« rektor Raúl Sanllehí und Stefano Bertola bung, so Gerlinger, sei die Gründung eines nennt, erklärt mit seiner Präsentation, wie von Juventus Turin in den folgenden Firmenkontos aber offenbar nur möglich, der Ausstieg aus den nationalen und inter- Wochen mit der Uefa verhandeln. wenn gleichzeitig auch »reale Büroräume nationalen Ligen sowie Verbänden gelin- Doch bevor es Anfang Mai zu einem und in der Schweiz lebende Mitarbeiter, gen könnte. Gerlinger wird Stillitano spä- Meeting mit hochrangigen Vertretern des die zeichnungsberechtigt sind«, für die ter bitten, ihm dieses Konzept zu mailen. europäischen Verbands kommt, müssen Firma ausgewiesen werden könnten. Das Am 31. März soll es nämlich ein Meeting noch einige Hürden genommen werden. verursache aber zusätzliche Kosten, wes- der »Big Seven«-Klubbosse geben, bei Zunächst geht es für Gerlinger und seine halb der Geheimbund die Großkanzlei dem Gerlinger auch Stillitanos Ideen vor- Mitverschwörer nach Amsterdam zum tur- nun damit beauftragt, nach anderen Län-

stellen möchte. nusmäßigen ECA-Treffen. Einige der klei- dern zu suchen. BENEDIKT RUGAR ILLUSTRATION:

94 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Den Klubbossen scheint allmählich klar und Agnelli fordern, ist faktisch eine riesi- Am 25. August 2016 präsentiert Rum- zu werden, dass der Komplettausstieg aus ge Macht- und Einnahmeverschiebung zu- menigge bei der ECA-Sitzung in Monaco den Ligen und Verbänden deutlich mehr gunsten der Topklubs. Drastischer formu- die neuen Pläne: Man habe sich auf eine Zeit und Planung bedarf. liert: Es ist ein Verrat an den mehr als 200 Champions League mit 32 Vereinen ge - Der Geheimbund intensiviert nun seine kleineren und mittleren Klubs, die Karl- einigt. Rummenigge gesteht ein, dass die Gespräche mit der Uefa. Da die Erwar- Heinz Rummenigge als Chef der Klubver- »Kommunikation unter den Klubs nicht tungshaltung der Big Seven nach all den einigung ECA auch vertritt. ideal war«. Aus Rummenigges Sicht sei Verlockungen und schönen Präsentationen Entsprechend schockiert fällt auch die daran die Uefa schuld, denn diese habe riesig ist, die Uefa aber nahezu ahnungslos, Antwort der Uefa aus. Das Treffen sei »strikte Vertraulichkeit gefordert«. Der passiert, was passieren muss: Es knallt. doch »die erste persönliche Begegnung« Verband habe die Topklubs zudem gebe- Anfang Mai fliegen einige Mitglieder der Verantwortlichen zu diesem Thema ten, so Rummenigge, die aktuelle Rechte- der Big Seven nach Budapest, zu einem gewesen, zudem habe es vor dem Ge- vergabe gemeinsam zu meistern. Von 2017 Treffen mit hochrangigen Vertretern der spräch »kein klar definiertes Ziel gege- an habe die Uefa aber versprochen, an ei- Uefa. Vier Tage später verschickt das ben«. Entscheidungen könne man unter ner ernsthaften Reform des europäischen Sekretariat des Vorstands von Bayern solchen Umständen überhaupt nicht tref- Fußballs mitzuarbeiten, die dann mit der München eine Mail, die von Rummenigge fen, außerdem: »Könnten Sie uns freund- neuen Rechteperiode, von 2021 an, umge- und seinem Juventus-Kompagnon Andrea licherweise mitteilen, wen Ihre Gruppe ei- setzt werden soll. Agnelli unterschrieben ist. Die beiden gentlich vertritt?« Die Uefa führt anschlie- Wer Rummenigges Auftritte vor den Machtmenschen resümieren die Budapest- ßend aus, wie demokratische Prozesse im ECA-Klubs auswertet, weiß schnell: Das Gespräche: »Keine unserer Erwartungen europäischen Fußball eigentlich abliefen kann nur ein Teil der Wahrheit sein. wurde erfüllt.« Die Uefa, so die beiden und dass es unterschiedliche Abstimmungs- Denn zum einen stärkt die Lösung mit Funktionäre, sei offenbar nicht zu fach - gremien gebe, in denen solche Entschei- der Uefa vor allem die Großklubs. Sie gerechten Lösungen fähig. Sie führen an, dungen getroffen würden. werden durch die neuen Regelungen so dass »die Topklubs unbestritten die Trei- Die Mail ist das letzte ernsthafte Auf- viel Geld wie noch nie erhalten. Allein der ber des Systems« seien und sich nun »glo- bäumen der Uefa gegen die Übermacht »Traditionsparagraf«, der den Klubs mehr balen Bedrohungen« ausgesetzt sähen, der Topklubs. Einnahmen ermöglicht, die in den ver - weshalb eine Entwicklung der europäi- In den kommenden Wochen werden die gangenen zehn Jahren Erfolge in der schen Wettbewerbe »keine Option, son- Pläne des Geheimbunds für einen Ausstieg Champions und Europa League aufweisen dern eine Notwendigkeit« sei. aus den Uefa-Wettbewerben immer kon- konnten, wird dem FC Bayern von der Die beiden Klubvertreter schreiben, sie kreter. Die Juristen der Vereine prüfen, ob Champions-League-Saison 2018/19 an würden einem Verbleib in der Champions sie ihre Firma in Brüssel oder London mehr als 30 Millionen Euro einbringen. League zustimmen, dafür sollten folgende gründen können. Sie legen sich auf ein Garantiert und noch bevor die Münchner Bedingungen erfüllt werden: Format für die Super League fest. Sie er- das erste Saisonspiel bestritten haben. ‣ Die Königsklasse wird in Zukunft nur arbeiten auch Berechnungsschlüssel für Zudem wird mit der Reform die Siegprä- noch mit 24 Teams bestritten. die Verteilung der Einnahmen. mie in der Königsklasse erhöht, auch das ‣ Klubs, die in der Vergangenheit große Die Drohkulisse, die die Topklubs auf- nutzt nur den Großklubs. Prozentual wer- Erfolge hatten, sollen in Zukunft mit zu- bauen, ist schon sehr nah dran an einer Er- den die Gelder für die Europa League und sätzlichen Startplätzen belohnt werden. pressung. Und die Methode zeigt Wirkung. der Solidaritätsbonus gesenkt. Die Kluft ‣ Europäische Spiele müssen auch am Die Uefa sucht zunehmend die Nähe zu zwischen den großen und den restlichen Wochenende stattfinden können, zu- den führenden Köpfen des Geheimbunds. Klubs wird so weiter wachsen. Die Auswir- dem müssen mehr Spiele so angesetzt Es finden informelle Gespräche statt, ein kungen wird jede nationale Liga in Zukunft werden, dass weltweit mehr TV-Statio- »Handshake«-Treffen wird zwischen den noch stärker zu spüren bekommen. Ein nen sie übertragen können. Uefa-Vertretern und wichtigen Teilen der echter Wettbewerb ist nahezu unmöglich, ‣ Die Klubs müssen den Wettbewerb ge- Big Seven arrangiert, Gerlinger und seine wenn die Schere zwischen den Wettbewer- meinsam mit der Uefa ausrichten und Mitstreiter reisen in die Hauptzentrale des bern dermaßen weit auseinandergeht. kontrollieren dürfen. europäischen Dachverbandes nach Nyon. Aber vielleicht ist das in Zukunft auch Gegen diese Forderungen wirken De- Die Uefa übermittelt Angebote, in denen gar nicht mehr relevant. monstrationen gegen Montagsspiele oder sie sich erheblich auf die Topklubs zu- Denn die Topklubs haben noch etwas Retortenklubs wie RB Leipzig wie Kinder- bewegt. Die Reform nimmt nun richtig anderes erstritten. Sie stellen zukünftig gartendebatten. Das, was Rummenigge Fahrt auf. vier Direktoren in einer gemeinsamen Fir-

95 ma mit der Uefa. Heißt: Die drei Verhand- haben. Sie haben ihre Reform mithilfe von einer Super League müsse »keiner Angst lungsführer des Geheimbunds, Gerlinger, Uefa-Apparatschiks durchgesetzt.« haben«. Sagt Gerlinger. Sanllehí und Bertola, rücken in dieses Offenbar sieht man das in Spanien et- Gremium auf. Sie können sich in den ELF GRÜNDER was anders. kommenden drei Jahren alle Bilanzen, In der Nacht auf den 22. Oktober erhält Sponsoren- und TV-Rechteverträge an - Michael Gerlinger, der Chefjustiziar des Real Madrid eine Mail. Betreff: »Entwurf sehen, ihnen werden alle administrativen, FC Bayern, sitzt Anfang Oktober in sei- einer Einigung der 16«. Sie ist an Florenti- organisatorischen und operativen Kosten nem Büro an der Säbener Straße, sein no Pérez gerichtet, den Präsidenten des der Uefa-Wettbewerbe fein säuberlich Schreibtisch ist voller Papiere, hinter ihm Klubs. Das Schreiben kommt von der Fir- aufgeschlüsselt offenbart. Mit diesen stehen zahlreiche Ordner. Gerlinger sagt, ma Key Capital Partners, die ebenfalls in höchst vertraulichen Marktinterna wer- ihm sei es bei den ganzen Verhandlungen Madrid sitzt. Sie berät Konzerne, die das den sie nun alles erfahren, was man für hauptsächlich um eines gegangen: die ganz große Ding planen. die Organisation eines eigenen Wett- Selbstverwaltung der Klubs. Das sei eine Der Mail ist ein Dokument angehängt. bewerbs braucht. Das ist unbezahlbares wichtige Errungenschaft, jetzt würde man Es ist der Entwurf einer 13-seitigen »bin- Herrschaftswissen. »überragend« mit der Uefa in der gemein- denden Absichtserklärung« elf europäi- »Es ist ein großer Fehler der Uefa, und samen Firma zusammenarbeiten. scher Topvereine für eine Super League. wir lehnen diese Entscheidung ab«, Und was ist mit den Planspielen zum Wenn alles so kommen sollte, wie es in schrieb Lars-Christer Olsson einen Tag Bundesligaausstieg? Das sei geprüft wor- dem »Binding Term-Sheet« steht, wird es nach dem ECA-Treffen. Der Schwede ist den, weil man sich auf alle Eventualitäten die Champions League von 2021 an nicht Vorsitzender der European Professional habe einstellen müssen. Aber eigentlich mehr geben. Stattdessen würden sich die Football Leagues (EPFL), eines Verbandes, habe das niemand ernsthaft umsetzen wol- elf wichtigsten Vereine des Kontinents von der die Interessen von 35 nationalen Ligen len, und die Gedankenspiele seien auch der Uefa lossagen und eine neue Elite - schützen soll, auch die der Bundesliga. schnell »völlig vom Tisch gewesen«. Sagt klasse gründen, die sich »European Super Insbesondere die gemeinsame Firma der Gerlinger. Der Anwalt führt weiter aus, League« nennt. Die elf »Gründer« könn- Uefa und der ECA sei, so Olsson, »ein ers- die Super League, das »seien ganz andere ten nicht absteigen, sie wären 20 Jahre ter Schritt in Richtung einer privat orga- Möglichkeiten«. Da würden dann »Mar- lang dabei. Weitere fünf Klubs würden als nisierten Super League«. Auch Christian ken« gegeneinander spielen, die Kommer- »Anfängliche Gäste« mit aufgenommen, Seifert, der Chef der Bundesliga, ist von zialisierung des Fußballs würde neue Ebe- sodass die neue Königsklasse aus 16 Mann- den Reformvorhaben überrascht. Er sehe nen erreichen. Klar, der FC Bayern müsse schaften bestünde. diese Pläne zum ersten Mal, schreibt bei so was immer dabei sein, man wolle Das Projekt, so steht es in dem Papier, Seifert. doch zu den besten fünf Teams der Welt unterliege höchster Geheimhaltung. Als Wenige Tage später wird der General- gehören. Karl-Heinz Rummenigge habe Datum für die Unterschrift der 16 Klubver- sekretär der EPFL ein zehnseitiges Memo aber bei dem Gedanken an einen solchen treter unter die »bindende Absichtserklä- verschicken, das einen »rechtlichen und privat organisierten Wettbewerb »sichtlich rung« ist November 2018 vorgesehen, nur politischen Überblick über die aktuelle Si- Bauchschmerzen gehabt«. Rummenigge der konkrete Tag ist noch offengehalten. tuation« liefern soll. Die Reform der euro- sei dann auch derjenige gewesen, der ge- Die elf Klubs, die demnach zu den un- päischen Ligen bewertet die EPFL dort sagt habe, dass man sich mit der Uefa absteigbaren »Gründern« der European noch drastischer, als es ihr Vorsitzender einigen solle. Sagt Gerlinger. Super League gehören sollen, sind laut des Olsson zuvor tat: »Diese Veränderungen Ist die Super League damit beerdigt? Vertragsentwurfs Real Madrid, FC Barce- sind entstanden durch den Druck und die Sie sei zumindest »so weit weg wie noch lona, Manchester United, Juventus Turin, Einschüchterung der Topklubs, die von ei- nie«. Man würde aktuell mit der Uefa über FC Chelsea, FC Arsenal, Paris Saint-Ger-

nem Machtvakuum bei der Uefa profitiert Formate ab dem Jahr 2024 sprechen. Vor main, Manchester City, FC Liverpool, AC RUGAR BENEDIKT ALLIANCE; ILLUSTRATION: PICTURE DPA

96 Flexibel bleiben: Lesen Sie den Mailand. Und: Bayern München. Alle sie- ben Klubs des Geheimbunds sind also ver- treten. Die fünf »Anfänglichen Gäste« wä- SPIEGEL, solange Sie möchten! ren demnach Atlético Madrid, Borussia Dortmund, Olympique Marseille, Inter Mailand und AS Rom. Die elf Gründerklubs, so steht es jeden- falls in dem Papier, würden eine Firma in Spanien eintragen lassen, die die European Super League unter ihrer vollständigen Kontrolle vermarkten, organisieren und durchführen soll. Der Wettbewerb könnte zwei Phasen haben: eine Gruppenrunde und eine K.-o.-Runde. Womöglich würde eine zweite Liga unter der European Super League dazukommen. Aus dieser Gruppe könnten die besten Teams am Ende der Saison in Relegations- partien um den Aufstieg spielen – allerdings nur gegen Klubs, die »Anfängliche Gäste« sind. Die Pläne lehnen sich ausdrücklich an die Euroleague Basketball an, die nicht völ- lig undurchlässig ist, um das Europäische Keine Wettbewerbsrecht nicht zu verletzen. In dem Papier sind auch mögliche Ge- Mindest- schäftsanteile der einzelnen Klubs an der gemeinsamen European-Super-League- laufzeit Firma angegeben: Demnach wären Real Madrid zu 18,77 Prozent, der FC Barcelo- na zu 17,61 Prozent und Manchester Uni- ted zu 12,58 Prozent beteiligt. Bayern München wäre mit 8,29 Prozent der viert - größte Aktionär. Das Wort Uefa taucht in dem Vertrags- entwurf mit keinem Wort auf. Auf Anfrage wollten weder Real Madrid, die Firma Key Capital Partners noch Bo- russia Dortmunds Geschäftsführer Hans- Joachim Watzke das konkrete Papier kom- mentieren. Dass es aber aktuell Gespräche über die Super League gebe, »das ist klar, und ich glaube auch, dass ein paar der gro- ßen Klubs Europas da deutlich dran stri- cken«, sagt Watzke. Allerdings seien diese Pläne wohl noch »nicht sehr konkret«. Dies hänge auch mit einer entscheidenden Der SPIEGEL jede Woche frei Haus: Frage zusammen: Soll die Super League zusätzlich zur oder anstelle der Bundesliga œıōğZĴťĴłœĿğĚğšƊğĴŭłŸōĚĒćš ŋĴŭĚğŋ>0eZÅekZ^V0(> stattfinden? »Das ist die Brandmauer«, ȃȲĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴōƊğŅıćōĚğŅ žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ sagt Watzke, »solange ich hier Verantwor- łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ SPIEGEL-Veranstaltungen tung trage, wird der BVB die Bundesliga ſſſLJťŝĴğĬğŅǗŅĴžğLJĚğ nicht verlassen.« Darüber hinaus müsse sich die Borussia aber »alle Optionen auf- halten«. Denn wenn es einmal zu einer Super League kommen sollte, »dann wür- de das nicht ohne den BVB gehen«. Michael Gerlinger und Karl-Heinz Rum- Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen! menigge ließen eine schriftliche Anfrage zu den neuen Super-League-Plänen und zu Ich lese den SPIEGEL für nur € 4,80 pro Ausgabe statt € 5,10 im Einzelkauf den Absprachen des Geheimbunds vom und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte. Mediendirektor des FC Bayern München beantworten: »Weder die Existenz noch der Inhalt« des Entwurfs der Absichts- erklärung sei dem Rekordmeister bekannt, Einfach jetzt anfordern: man nehme zudem »zu vertraulichen Ge- sprächen grundsätzlich keine Stellung«. abo.spiegel.de/fl exibel

040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP18-215) Schwarz,Rosenzweig Hamburg & DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 97 Zahle und herrsche

Fifa Als Gianni Infantino den Präsidentenposten übernahm, versprach er, den Weltverband aus seiner größten Krise zu retten. Tausende interne Papiere sprechen dafür: Er ist nur der nächste Despot, der sich den Fußball untertan macht.

rig. Wer etwas Gutes über Gianni Zur Zürich-Version des Gianni Infantino kumente aus der Fifa: Mails, Messenger- Infantino hören will, nur Gutes gehören auch der S-Klasse-Mercedes 500, Nachrichten, Sitzungsprotokolle, Berichte, B oder überhaupt noch etwas Gu- der Audi Q7, der Hyundai-Geländewagen die der SPIEGEL zusammen mit dem Jour- tes, der sollte ins Wallis fahren. für ihn. Das Klagen der Reisestelle, dass nalistennetzwerk EIC, dem Schweizer »Ta- In die Schweizer Berge, nach Brig, der der Präsident, der in Interviews so beschei- ges-Anzeiger«, dem Norddeutschen Rund- Kleinstadt, in der er groß geworden ist, be- den tut mit seinem Satz »Normalerweise funk und der Agentur Reuters ausgewertet vor er ein ganz Großer wurde. Der mäch- fliege ich Linie«, oft von jetzt auf gleich hat. Sie entlarven einen Reformer, der tigste Mann im Weltfußball. einen Privatjet verlangt. Fünf Charterflüge sich schon kurz nach der Wahl als Reak- Es geht von Zürich die Serpentinen allein im Dezember 2017, für 47000 tionär herausstellte. Einen Erneuerer, des- zum Furkapass hoch, wo hinter Euro von Zürich nach Kuwait, für sen einzige echte Neuerung lautet: Ersetze der Passhöhe das erste Schild Brig 58000 Euro von Genf über Riad den Namen Blatter durch den Namen ankündigt, in mehr als 50 Kilo - nach Dubai. Aus Infantinos Sicht Infantino. metern, weil bis dort nicht mehr immer berechtigt, keine Frage. Die Papiere zeigen, dass Infantino Ein- viel kommt, wofür man ein Neben dieser Zürich-Version fluss auf den neuen Ethikkodex der Fifa Schild aufstellen müsste. In Brig des Gianni Infantino – der vom nahm, mit eigener Hand Korrekturen vor- an der Bäckerei Imboden vorbei, Hausdespoten, die er selbst als belang- schlug und ihn damit in mehreren Punkten wo der Chef Philibert Imboden nach losen »Bürotratsch« abtut – gibt es aber entschärfte. Sie enthüllen, wie er die Fäden Infantinos Wahl zum Fifa-Präsidenten noch die Welt-Version. Die schlimmste für ein monströses 25-Milliarden-Dollar- das »Gianni«-Brot erfunden hat, mit Oli- von allen. Die Version von einem Allein- Geschäft zog, obwohl der Fifa-Präsident ven und Tomaten im Roggenteig. Dann herrscher, der die Fifa im Moment ihrer laut Satzung mit dem operativen Geschäft zum Geschina-Sportplatz, wo vergange- größten Krise an sich gerissen hat mit dem nichts mehr zu tun haben soll. Und wie er nes Jahr 4500 Besucher bis an die Kreide- Versprechen, alles anders, alles besser zu diesen Deal brachial durchboxen wollte, linien standen, weil zu Ehren des Fifa- machen. Keine Hinterzimmerdeals mehr allen offenen Fragen zum Trotz. Chefs eine Weltauswahl mit Maradona wie in der Ära des ewigen Präsidenten Am gefährlichsten könnten für ihn Do- auflief. Maradona! In Brig! Für ihren Sepp Blatter. Keine Kungeleien bei der kumente werden, die in seine Zeit als Ge- Gianni! Vergabe von Fußballweltmeisterschaften. neralsekretär der Europäischen Fußball- Und endlich zu Rinaldo Arnold, dem Kein Einseifen korrupter Verbandschefs Union (Uefa) zurückreichen. Sie decken anderen Präsidenten aus Brig, dem vom mit Fifa-Geld, damit sie den Präsidenten auf, wie Infantino 2014 Geheimdeals mit FC Brig-Glis, sechste Liga – für den Klub beim nächsten Mal wiederwählen. Manchester City und Paris Saint-Germain hat Infantino mal gekickt. Ziemlich Das war die Hoffnung, die Infantino ins machte. Er hebelte damit die Regeln schlecht übrigens, keine Technik, keine Amt hineingetragen hat, doch längst er- des sogenannten Financial Fair Play aus. Ausdauer, und das als »Zehner«, als Spiel- scheint der Welt-Infantino als Präsident, Diese Uefa-Regeln sollten eigentlich ver- macher. »Gianni wurde oft ein- und aus- der die Fifa nicht ändern, sondern seinem hindern, dass die beiden Scheichklubs mit gewechselt.« Aber das ist nun wirklich das Ego unterwerfen will. Als Machtmensch ihren geschenkten Milliarden die Stars einzig Schlechte, was man aus Arnold über reinster Sorte. wegkaufen, während hart wirtschaftende seinen Freund, den Gianni, herausquet- Wenn Infantino entscheiden müsse, was Traditionsteams nicht mehr mitbieten schen kann. ihm nutzt, seiner Macht, und was der Fifa, können. Vielleicht kommt Infantino deshalb so ihrem Ruf, dann wähle er die Macht und Bei seinen Auftritten hatte Infantino im- oft nach Brig zurück. Hier geht er zu sei- nehme den Schaden für die Fifa in Kauf. mer darauf gepocht, die Regeln einzuhal- nen Jungs vom FC in die Kabine, feuert Das sagt einer, der ihn lange genug kennt, ten. Es war wie eine Monstranz, die er vor sie an, dass sie das Spiel noch packen, er um ihn stark genug zu fürchten – »schrei- sich hertrug: der heilige Gianni gegen das fragt, ob mal einer ein Bier für ihn hat ben Sie also nicht meinen Namen«. Infan- Finanzdoping der bösen Bonzen. Nun und eine Bratwurst. Und auf der Straße tino sehe nur Schwarz oder Weiß: »Ent- entpuppt sich die ganze Scheinheiligkeit spricht er mit jedem, der mit ihm sprechen weder man ist sein Freund oder sein (siehe Seite 106). will. Erzählt Arnold. Feind.« Und wer ihm nicht bedingungslos Nach außen erweckte Infantino stets »Er ist ganz anders hier als in Zürich«, folge, der müsse weg. Einer, der den Säu- den Eindruck, nur das Beste für den Fuß- glaubt Arnold. Zürich, das Fifa-Hauptquar- berungen zum Opfer fiel, der Deutsche ball zu wollen, nie das Beste für sich. Die tier, dort, wo sie hinter Infantinos Rücken Hans-Joachim Eckert, früher Chefrichter Papiere, ergänzt um Gespräche mit einem murren, er grüße nicht, gucke durch Leute der Fifa-Ethikkommission, sagt: »Trans- Dutzend Experten und Fifa-Insidern, las- hindurch, als wären sie Luft. Zürich, wo parenz unter Infantino? Die können Sie sen dagegen eine andere Denkweise er- sie ihm nachsagen, dass er Mitarbeiterver- vergessen. Infantino will wiedergewählt kennen. Eine, die typisch für Alleinherr- sammlungen schwänze und auch sonst werden.« scher ist: dass das Beste für sich auch durchblicken lasse, dass er Untergebene Es ist die Welt-Version, die nun auch in immer das Beste für alle sein soll. wohl nur für ein nötiges Übel halte. Oder den Papieren von Football Leaks zum Vor- Wer also etwas Gutes über Gianni In-

ausschließlich für ein Übel. schein kommt. Es geht um Tausende Do- fantino hören will, der sollte in Brig blei- RUGAR BENEDIKT ILLUSTRATION: ALLIANCE; PICTURE DPA

98 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Gianni Infantino

99 ben und an dieser Stelle aufhören zu lesen. »Forward«, »Vorwärts«, nannte Infanti- Siem, in seinem Geheimbericht Ende Fe- Auch Rinaldo Arnold, der Freund. Er no das Programm, das Dollar regnen las- bruar: »Statt auf Basis von Aus gaben und taucht übrigens ebenfalls in den Doku- sen sollte, insgesamt 1,4 Milliarden. Es ist Projekten zu zahlen, wird im Voraus ge- menten auf. Aber dazu später. sein »Prestigeprojekt«, der »Spiegel, in zahlt.« Erst hinterher schauten Wirtschafts- dem viele, viele Mitgliedsverbände die prüfer nach, ob alles sauber gelaufen oder Führung des Präsidenten betrachten«. So Geld verschwunden sei. »Das Schadens - VORWÄRTS IN DIE steht es in einem Geheimbericht zur Lage risiko ist besorgniserregend«, warnte Siem VERGANGENHEIT der Fifa, den Kjetil Siem im Februar 2018 und sprach von »Reputa tionsrisiken für das für Infantino schrieb. Siem, ein Norweger, Programm und die Fifa«. Es war schon ein merkwürdiger Retter, der ist der Chefstratege im Fifa-Hauptquartier. Diese Sätze ihres eigenen Vordenkers da am 26. Februar 2016 im Zürcher Hal- Und wie läuft es bei »Forward«? Offiziell will die Fifa auf SPIEGEL-Anfrage nun so lenstadion zum Fifa-Präsidenten gewählt bestens, alles »im Zeitplan und unter Kon- nicht stehen lassen. Schon wahr, früher, wurde. Eine Zweitlösung, die als Erlöser trolle«, wie es im Fifa-Finanzbericht 2017 unter Blatter, sei »ohne Kontrollen und auftrat. hieß. Doch tatsächlich kam »Forward« lan- aus politischen Gründen ausgezahlt« wor- Blatter, der Vorgänger, das Gesicht der ge nicht in die Gänge. So nachzulesen in ei- den. In der Ära Infantino nicht. Da seien alten, korrupten Fifa, war spätestens seit ner Brandmail, die Infantino im Juli 2017 alle Gelder »in Übereinstimmung mit den Sommer 2015 erledigt. Und mit ihm stand nach einer Runde mit seinen engsten Ver- Regeln« geflossen. Vor allem: Noch nie der ganze Verband davor, von den Ermitt- trauten schrieb: »Jeder stimmt zu, dass die habe die Fifa so gründlich wie heute nach- lern erledigt zu werden. Sie hatten das Fifa- Zahlungen aus dem Forward-Fonds eine gehakt, was mit dem Geld passiert sei. Das Hauptquartier durchsucht, hatten sechs absolute Priorität sind … und dass sie bis werde künftig sogar noch strenger geprüft, Fußballfunktionäre im Luxushotel Baur jetzt eine absolute Pleite waren.« kündigte Infantino kürzlich an. Gleichzei- au Lac festnehmen lassen. Bilder gingen Die Mail ging an Fatma Samoura, die tig versprach er den Verbänden aber auch um die Welt, wie einer hinter einem hoch- Fifa-Generalsekretärin, und Infantino setz- schon wieder mehr »Forward«-Millionen. gehaltenen Bettlaken abgeführt wurde. te sie unter Druck: Entweder sie finde eine Geld ist gut, mehr Geld bei Infantino Die Fifa selbst spricht heute vom »wahr- »praktikable und pragmatische Lösung«, immer besser. scheinlich größten Korruptionsskandal wie das versprochene Geld schleunigst bei Der Fall »Forward« lässt ein Muster er- aller Zeiten im internationalen Sport«. In den Verbänden lande. Oder er selbst wer- kennen, wie Infantino die Fifa führt, ein den USA drohte ihr die Einstufung als de »andere Maßnahmen« ergreifen. Eine Muster, das in den Football-Leaks-Doku- Mafiaorganisation. Drohung? Natürlich müsse aber alles, was menten immer wieder auftaucht. Um ge- Was sie zum Überleben brauchte, war man mache, sauber sein. wählt zu werden, musste er eine neue Fifa ein Neuanfang. Oder etwas, das wenigs- Genau da lag das Problem: Die Fifa-Ver- versprechen, einen moralischen Ruck, der tens so aussah. waltung hatte sich erlaubt zu prüfen, ob mit ihm durch den Weltverband gehen Der richtige Mann dafür sollte der Fran- die Gelder tatsächlich dort ankamen, wo würde. Seit er aber gewählt ist, kümmert zose Michel Platini sein, Chef des Europa- sie hingehörten. Und nicht in die Taschen er sich um seine Wiederwahl im Juni 2019. verbands Uefa. Aber als herauskam, dass korrupter Funktionäre, wie so oft. Das Dabei ist Geld nützlich, um Wähler bei der Platini Millionen vom alten Blatter zuge- dauerte. Hinzu kam: 35 Länder standen Stange zu halten, die neue Ethikoffensive schustert bekommen hatte, fiel auch er – im Dezember 2017 auf einer Geheimliste dagegen eher lästig. Ein Störfaktor. Und und das Licht auf den, der bisher fest hin- der Fifa – sie hatten sich nicht an die Re- Störfaktoren sind in der Welt des Gianni ter Platini und immer in seinem Schatten geln gehalten und durften deshalb nur ge- Infantino zu eliminieren. Unauffällig, aber gestanden hatte: Gianni Infantino. Er war kürzte oder gar keine »Forward«-Gelder unnachgiebig. als Generalsekretär der Uefa ein erfolgrei- mehr abrufen. Einen Monat später war die »Infantino will, dass der Verband zur cher Technokrat der Macht gewesen, so Liste auf 38 Länder gewachsen. Der Druck Ruhe kommt und damit seine Chancen für glatt wie seine Glatze. auf Infantino damit aber auch. die Wiederwahl steigen. Dem ordnet er Genauso glatt poliert war sein Wahl- Die Nationalverbände seien »immer alles unter«, sagt Eckert, der geschasste kampf. In einem Manifest versprach Infan- frustrierter und beklagen sich zunehmend Chefrichter der Ethikkommission. Er hat tino alles, mehr Moral und mehr Geld, als über … endlose Fragen … und lange Ver- das alles aus der Nähe miterlebt – als Opfer. wäre das in der Vergangenheit der Fifa kein zögerungen«, warnte die zuständige Fifa- Widerspruch gewesen. Er legte ein pathe- Abteilung in einer Mail. Wo, bitte, blieb ALLES UNTER KONTROLLE tisches Gelöbnis ab, »es ist nun der Zeit- der Zaster? punkt gekommen für einen Kurswechsel, Samoura, die Generalsekretärin, spurte: Der Tag von Zürich, der mit der Wahl von und ich glaube, als Mann von Integrität … »Notiert. Man wird sich an die Beschleu- Infantino endete, hatte morgens die größte bin ich die richtige Person dafür … ich wer- nigung der Auszahlungen machen«, gelob- Reform in der Geschichte der Fifa gesehen. de … mit gutem Beispiel … vorangehen«. te sie Infantino nach seinem Machtwort. Diese Reform brockte dem neuen Präsi- Aber er war klug genug, den Funktio- Seitdem spricht vieles dafür, dass die Fifa denten ein Problem ein: Die Kontrolleure, nären aus mehr als 200 Verbänden auch das Geld schneller ausgibt, sich dafür aber die in der Fifa endlich den Dreck auf- und die Droge zu geben, an die sie gewöhnt Skrupel spart. Einem internen Fifa-Memo die Dreckigen abräumen sollten, durften waren, für ihr Wohlbefinden und ihr Wohl- zufolge gingen 8,5 Millionen Dollar regel- nicht mehr aus der Fußballfamilie kom- wollen: Geld, viel Geld. Die Fifa werde in widrig, nämlich als Zahlungen im Voraus, men, damit sie komplett unabhängig wa- den nächsten vier Jahren die Hälfte ihrer an Verbände. ren. Auch von Infantino. Einnahmen an sie ausschütten. 5 Millionen Ein Ex-Fifa-Mann, der die finanziellen An der Spitze der Aufklärer stand die Dollar an jedes Land, 40 Millionen an je- Abläufe kennt, sagt: »Wie die ›Forward‹- Ethikkommission mit ihren zwei Kam- den der sechs Kontinentalverbände. »Das Millionen verteilt werden, ist derzeit der mern: der Untersuchungskammer, geführt Geld der Fifa ist euer Geld, nicht das Geld größte Schwachpunkt der Fifa. Und ihr von Cornel Borbély, einem Schweizer Er- des Fifa-Präsidenten«, rief er den Wahl- größtes Risiko. Niemand kann wissen, ob mittler. Und eben der Spruchkammer unter männern zu. Viele davon aus Ländern, in nicht große Summen in kriminelle Aktivi- Richter Eckert. Mag die Bilanz der beiden, denen Fußballfunktionäre »euer« Geld er- täten abgezweigt werden.« Ähnlich sah das wie die Fifa heute stänkert, anfangs nicht fahrungsgemäß zu wörtlich nehmen. der Chefstratege Infantinos, der Norweger sehr be eindruckend gewesen sein – zum

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Ende der Blatter-Ära hatten sie sich einen Rojas gilt seitdem als Beispiel für Infan- gesperrt ist, wegen persönlicher Bereiche- Ruf als scharfe Hunde gemacht. Sie hatten tinos Machtpolitik, Leute in wichtige Äm- rung. Rojas hatte sich, noch als Richterin Größen des Weltfußballs wie Franz Becken- ter hineinzudrücken, die dankbar sind, ab- in Kolumbien, selbst mal für befangen er- bauer, Platini, sogar Blatter abgestraft. hängig und deshalb nicht gefährlich. Auch klärt, weil sie mit Bedoya eine »freund- Infantino war aber nicht mal hundert zur wundersamen Frau Rojas liefern die schaftliche Beziehung« verbinde. Später Tage im Amt, da besorgte ihm die Fifa- Football-Leaks-Papiere neue Hinweise. bestritt sie das wieder. Vollversammlung einen Beschluss, der aus Am 6. April 2017, nur fünf Wochen vor Das alles hielt den Südamerikaver - unantastbaren Wächtern Schießbuden- dem Fifa-Kongress in Bahrain, tauchte der bandschef Alejandro Domínguez nicht ziele machte: Der Fifa-Rat, ein 37-köpfiges Name in einer Mail auf. Sie stammte von davon ab, Rojas vorzuschlagen. Der Kon- Gremium, dessen Vorgänger WM-Turnie- Ramón Jesurun, dem Chef des kolumbia- tinentalfürst gilt als wichtigster Helfer von re vergeben – und verschoben – hatte, nischen Fußballverbands; er schrieb an Infantino im Weltfußball. Und so eine bekam für ein Jahr das Recht, jeden der den Dachverband der Südamerikaner, die Funktionärin von Domínguez’ Gnaden Kontrolleure abzusetzen. Conmebol. Die wollte gerade Kandidaten kam Infantino offenbar gerade recht. Im Mai 2017 war dann die Zeit von Bor- für Fifa-Wahlen aufstellen. Warum Frau Nur fünf Wochen nach der »Superami- bély und Eckert abgelaufen. Sie saßen im Rojas? Sie sei eine »Deluxe-Kandidatin«, ga«-Mail aus Kolumbien war Borbély Ge- Jet zum nächsten Fifa-Kongress in Bahrain, schrieb Jesurun, »fußballverrückt« und – schichte und Rojas die frisch gewählte als nach der Landung eine SMS auf ihren ja wirklich, das nennt er als Qualifika - Chefermittlerin. Das sei doch mal toll, ei- Handys aufploppte. Darin stand, dass sie tionsmerkmal – eine »Superamiga«, eine nen Kandidaten zu haben, der nicht aus nicht wieder zur Wahl aufgestellt würden. Superfreundin, von ihm. Europa komme, noch dazu eine Frau, be- Borbély hatte da gerade ein Verfahren direkt Der kolumbianische Verband gilt im ei- grüßte Infantino die Neue. gegen Infantino eingeleitet, es ging um mög- genen Land als notorisch schmierig. Auch Im Fifa-Rat, in dem auch der deutsche licherweise unsaubere Praktiken, die Infan- gegen Jesurun, den Präsidenten, wird er- Fußballchef Reinhard Grindel sitzt, gab tino bestritt. »Wir wurden gestoppt, weil wir mittelt, wegen eines Ticketskandals. Was es kaum Widerstand. In der Fifa-Vollver- unabhängig ermittelt haben – auch gegen wäre da besser als eine Frau seines Ver- sammlung, die Rojas wählte, gar keinen. Herrn Infantino selbst«, sagt Eckert heute. trauens als Fifa-Chefermittlerin? Jesurun Dass für Rojas die Meldefristen pulveri- Auf Borbély, den Chefermittler, folgte antwortet nicht auf eine Anfrage, dafür siert wurden? Egal. Und dass Rojas in die Kolumbianerin María Claudia Rojas, die Fifa. Sie sagt, dass Jesurun die Richte- einer Pflichtauskunft die Freundschaft eine Verwaltungsrichterin, aber keine Er- rin nur wegen ihrer Fähigkeiten und ihres zum lebenslang gesperrten Bedoya ver- mittlerin. Mit das Erste, was von ihr kam, Ansehens vorgeschlagen habe – in seiner schwiegen hatte? In der neuen Fifa des war ein Freispruch für Infantino, noch be- Mail war davon noch keine Rede. Gianni Infantino nur eine Petitesse. Für vor sie die Ermittlungsakte ihres Vorgän- Wie sich später herausstellte, war Rojas den Boss galt mal wieder: wo ein Ziel, da gers Borbély ganz gelesen hatte. Nein, ge- aber nicht nur eine »Superamiga« von Je- ein Weg. gen den Präsidenten laufe nichts, ließ sie surun, sondern auch von dessen Vorgänger »Wie er die Unabhängigkeit der Ethik-

IMAGO STOCK; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR BENEDIKT ILLUSTRATION: STOCK; IMAGO die Presse wissen. Luis Bedoya, der seit 2016 lebenslang kommission durchbrochen hat, ist drama-

101 tisch. Das hätte eigentlich zu einer Unter- Fifa sagt, man habe keine Beweise, dass nun nach zehn Jahren, danach werden suchung gegen ihn führen müssen«, sagt Domínguez mit dem damaligen Staatschef Hinweise nicht mehr untersucht. ein hochrangiger Fifa-Insider. Aber wer in der Sache zu tun hatte; Domínguez ließ Als das bekannt wurde, war die Empö- sollte diese Untersuchung einleiten? Ro- eine Anfrage unbeantwortet. rung groß. Die Fifa beschwichtigte umge- jas? Auch das zeigen die Papiere: Seit Inzwischen wäre es wohl an der Zeit, hend, angeblich nur ein Missverständnis. Rojas im Amt ist, spielt sie in der Fifa die gegen Rojas selbst zu ermitteln. Bei der Wirklich? Wie sich nun herausstellt, hatte Rolle, die für Infantino die bequemste ist – WM in Russland wohnte sie wochenlang Infantino seine Finger im Spiel, machte kaum eine. im selben Fünfsterne-Grandhotel, in dem mit eigener Hand Korrekturvorschläge für »Seit Rojas im Amt ist«, so der Insider, sich die Mitglieder des Fifa-Rats ver- den Ethikkodex. Einiges davon findet sich habe »die Qualität der Untersuchungen wöhnen ließen. Funktionäre, die Rojas in der aktuellen Fassung wieder. deutlich nachgelassen«. In den Football- eigentlich kontrollieren soll. Was sie dort Offiziell behauptete die Fifa, nur die Leaks-Papieren finden sich einige Verfah- dienstlich zu tun hatte, ist Fifa-Kritikern Ethikkommission und Funktionäre aus ren, bei denen Rojas nur noch mit ein oder schleierhaft. »Ich wüsste nicht, was die den Kontinentalverbänden hätten Ände- zwei Zeilen aus der Ferne absegnet, was Rechtfertigung für mich gewesen wäre, die rungen vorgeschlagen, der Fifa-Präsident ihr Fifa-Leute aus dem Sekretariat der ganze WM im Fifa-Hotel zu verbringen«, habe damit nichts zu tun. Eine Mail vom Ethikkommission in Zürich empfehlen. ätzt Ex-Richter Eckert. 21. Dezember 2017 belegt etwas anderes. »Muchas gracias. Cordial saludo.« Eigener Mehrfach soll Rojas wie ein Groupie im Geschrieben hat sie der Grieche Vassilios Beitrag: nicht erkennbar. Kolumbientrikot durch die Lobby gelaufen Skouris, der den Deutschen Eckert an der Die Chefermittlerin der Fifa spricht kein sein. Auch Sohn und Tochter residierten Spitze der Ethik-Spruchkammer abgelöst Englisch und nur etwas Französisch, nicht je eine Woche im Lotte, einem der teuers- hatte. »Lieber Gianni, wie versprochen genug für juristische Feinheiten. In Zürich, ten Hotels der Stadt, zur teuersten Zeit schicke ich dir den Entwurf des Kodex, so bestätigt der Verband, arbeitet sie auch des Jahres, während der WM. Wer zahlte wie er von Rojas und mir ausgearbeitet nur »einige Tage« im Monat. Die luxem- für die Kinder? Sie selbst, sagt Rojas, alles wurde …« Am 17. Januar wolle man mit burgische Politikerin Anne Brasseur stellte aus der eigenen Tasche. Die Fifa sagt dazu der Novelle fertig sein. »Falls du Anmer- deshalb in einem Bericht für den Europa- nichts. kungen hast, bitte ich dich, sie ein paar rat fest, dass Rojas stark davon abhänge, Die muss auch schon wolkig erklären, Tage vor diesem Termin zu schicken, da- welche Häppchen man ihr aus der Schwei- was sich ihr Präsident in Moskau geleistet mit ich sie im endgültigen Text einbauen zer Zentrale überhaupt zuwerfe. hat: Zum WM-Finale hatte Infantino alle kann.« Dort laufen die Fäden bei einem Italie- Verbandschefs eingeladen, Businessclass- Infantino hatte eine Menge Anmerkun- ner zusammen, Mario Gallavotti, der nicht Flug, Fünfsternehotel, alles auf Fifa-Kos- gen. Das sei ja »wahrlich exzellent«, was nur das Sekretariat der beiden Ethikkam- ten. Fast 200 kamen. Für Infantino gut an- Skouris und Rojas sich da überlegt hätten, mern leitet, sondern gleich noch das Büro gelegtes Geld. Es sind jene Präsidenten, »trotzdem, als guter alter Jurist kann ich der Audit-and-Compliance-Kommission. die ihn im Juni 2019 wiederwählen sollen. kein Reglement lesen, ohne Kommentare »Gallavotti ist ein Mann Infantinos«, meint Eigentlich ein klarer Filzfall, aus Sicht der oder Vorschläge zu machen. Ich hoffe, sie ein zweiter Fifa-Insider, »die Ethikkom- Fifa dagegen »vollkommen angemessen« können euch nützlich sein, um den Text mission ist tot.« und »regelgerecht«. Schließlich besagen zu finalisieren«, man könne demnächst Zumindest einmal allerdings sagte Rojas die Regeln, dass Infantino eine angemes- noch darüber reden. durchaus ihre Meinung. Am 17. Februar sene Zahl von Gästen einladen darf. Einer der Punkte, die Infantino monier- 2018 ging ein Hinweis bei der Fifa ein. Ein Was aber angemessen ist, richtet sich te: dass nach seinem Geschmack zu viele Journalist beschuldigte Conmebol-Präsi- bei Infantino offenbar nach seinem eige- Voruntersuchungen gegen Funktionäre dent Domínguez, den Staatschef von Pa- nen Ermessen. Und warum sollte er sich eingeleitet wurden. »Das ist in der Vergan- raguay unter Druck gesetzt zu haben. Der fürchten vor einer Chefermittlerin, die genheit missbraucht worden, speziell in habe dafür sorgen sollen, dass das höchste selbst wochenlang in Russland das süße den Medien.« Infantino war selbst mit ei- Gericht des Landes eine Klage gegen Con- Leben der Funktionäre auskostete? ner Voruntersuchung in die Presse geraten, mebol abweist. Der Tippgeber forderte nachdem er mit dem Jet eines Oligarchen eine Ermittlung gegen Domínguez, aus- DAS ENTSCHÄRFTE PAPIER zum Papst geflogen war. »Es sollte klar gerechnet jenen Mann, der Rojas ins Fifa- sein, dass auch eine Voruntersuchung nur Amt geschleust hatte. Eine Ermittlerin, die nicht ermitteln kann, auf Weisung der vorsitzenden Person der Fünf Tage später eine Mail von Rojas: ermitteln will – aber das reichte Infantino Ermittlungskammer … durchgeführt wer- Sie sehe vorerst keine Notwendigkeit für wohl noch nicht: Erst wurde das Personal den kann.« eine Voruntersuchung, aber man solle entschärft, dann das Papier, der Ethik- Diese Vorsitzende ist aber keine andere dazu noch mal reden. Nein, kein Memo kodex der Fifa. Das Wort »Korruption« als Rojas, die geschmeidige Kolumbiane- schreiben. Erst mal nur reden. Dann bricht taucht in der englischen Version neuer- rin. Tatsächlich steht der Passus heute so der Mailverkehr im Datenmaterial ab. Die dings nicht mehr auf, Bestechung verjährt im Ethikkodex, wie ihn sich Infantino ge-

102 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 wünscht hat: keine Vorermittlung, ohne Personalie: Frau, farbig, aus Afrika, eine ne Generalsekretärin längst feuern lassen dass Rojas Ja sagt. unangreifbare Wahl. Nur nicht unangreif- müssen. Aber Infantino hält an Samoura Und noch ein Punkt: Bisher konnte die bar für Infantino. Sie kam von der Uno, fest. Und reißt das Alltagsgeschäft an sich. Fifa jederzeit Ermittlungen an sich ziehen, von Fußball hatte sie kaum eine Ahnung, Die wichtigen Entscheidungen, die Millio- wenn Nationalverbände bei Verstößen im Fifa-Hauptquartier keine Verbündeten. nendeals. Er macht, sie lässt ihn machen. nichts taten. Dazu Infantinos Kommentar: Sie wollte den Job, und so, wie es aussieht, So wie er das offenbar gewollt hat – egal »Dieser Artikel sollte diskutiert werden … wollte Infantino sie für den Job, um ihn was die Reformer vor zweieinhalb Jahren Die Fifa ist nicht die Weltpolizei mit einer dann selbst zu machen. beschlossen haben. Verpflichtung, alles zu untersuchen und Bei Pressekonferenzen redet Infantino, Dass er und kein anderer die Fifa führt, zu bestrafen, was irgendwo auf der Welt Samoura sitzt neben ihm, sagt kaum etwas. dafür steht heute das Projekt mit dem passiert.« Heute steht im Fifa-Code eine Entweder weil sie nicht weiß, was sie sagen Codenamen »Trophy«. Der Plan, der Fifa Dreimonatsfrist, erst dann darf die Fifa soll, oder weil sie inzwischen weiß, dass bis 2033 die unvorstellbare Summe von übernehmen – wenn sie denn will. es besser ist, nichts zu sagen. Der Präsident 25 Milliarden Dollar in die Kasse zu spü- Die Fifa spielt Infantinos Rolle herunter: gilt als leicht reizbar, erst recht, wenn es len. Es ist ein Deal, den Infantino in der Es sei »völlig unplausibel«, dass sich Chef- so aussieht, als hätte ein anderer im Haus Fifa mit Macht vorantreibt. Und der alle richter Skouris, zwölf Jahre lang Präsident das Sagen. glücklich machen dürfte, die in seiner des Europäischen Gerichtshofs, zu einer Wahlrede mehr auf das Wort Geld als auf Entscheidung gegen seinen Willen pressen EINE TOTALE FEHLBESETZUNG das Wort Moral geachtet haben. Der lasse. Dagegen sieht sein abservierter Vor- Präsident braucht glückliche Verbands- gänger Eckert endlich bestätigt, was er Kjetil Siem, der Norweger, hat im Februar chefs. Bald sind Neuwahlen. Es ist noch schon lange vermutet hatte. »Ich habe im- in seinem geheimen Lagebericht für den immer das Alte wie unter Blatter: zahle mer gesagt, der neue Ethikcode ist Infan - Präsidenten gnadenlos mit Samoura abge- und herrsche. tinos Werk – das ist der Beweis«, erregt rechnet. Für den Fifa-Strategiechef ist sie Im Dezember 2017 flog Infantino nach sich Eckert, als der SPIEGEL ihm Infanti- eine totale Fehlbesetzung. »Das Vertrauen Abu Dhabi. Da spielte Real Madrid, der nos Korrekturkatalog vorlegt. Egal wie in die Generalsekretärin … ist dramatisch Europa-Champion, gegen die Sieger ande- man über Blatter denke, der alte Präsident gesunken.« Selbst »unter den weiblichen rer Kontinente. Klub-WM nannte sich das, sei nie so weit gegangen, Einfluss auf die Angestellten, die ihr Kommen gefeiert es war einer dieser Plastikwettbewerbe, Ethikregeln zu nehmen oder der Ethik- haben, ist nicht mehr viel Glaube an sie die im Grunde keiner braucht. Wer will kommission in ihre Arbeit reinzureden. übrig … Der Mangel an Verständnis, an schon die Real-Superstars gegen Al Jazira Was Infantino getan habe, sei »ein klarer Wissen über die Fußballindustrie und der aus Abu Dhabi sehen? Die drei Herren, Verstoß gegen den Kodex und die Statuten zum Teil chaotische, emotionale, sprung- die Infantino auf seine Gästeliste gesetzt der Fifa«. hafte und kleinliche Führungsstil hat Leute hatte, vermutlich auch nicht. Sie kamen So wie Infantino die Ethikkommission demotiviert.« Nicht mal mehr »ihre eige- von Centricus, einer Anlagefirma aus dem wieder kleinbekommen hat, so hat er es nen Leute im Sekretariat können ihren Steuerparadies Jersey. Spezialisten darin, auch mit dem zweiten Brocken geschafft, Frust noch für sich behalten«. selbst Plastik in Platin zu verwandeln. An- den ihm die Reformer am Morgen der So geht das bei Siem weiter: Dass die leger haben ihr 93 Milliarden Dollar Wahl vor die Füße geworfen hatten. Der Fifa noch vorankomme, sei so eher »trotz anvertraut, die Hälfte stammt aus Saudi- Präsident sollte künftig nur noch über die statt wegen« Samoura. Dabei verdiene der Arabien. großen Linien nachdenken, Pokale über- Präsident doch »eine innovative, moderne, Kurz nach dem Treffen mit den Centri- reichen, von der Tribüne winken, kluge kenntnisreiche, erfahrene und professio- cus-Managern bescherte ihr Gastgeber Reden halten, der Fifa das saubere Gesicht nelle Generalsekretärin …«, all das, was Infantino dem Weltfußball plötzlich eines geben, das sie braucht. Ein Präsident zum Samoura offenbar nicht sei. Und deshalb jener Angebote, die man auf den ersten Knutschen. »haben wir jetzt eine Situation, in der meh- Blick einfach nicht ablehnen kann: 25 Mil- Aus dem Tagesgeschäft sollte er sich rere Vizepräsidenten, Ratsmitglieder, Kon- liarden Dollar für die Verbandskassen. aber heraushalten; die wahre Macht würde tinentalverbände und Mitgliedsverbände So erstaunlich die Offerte war, so un- künftig beim Generalsekretär liegen. Und unglücklich sind und sich über die Führung durchsichtig blieb sie. Woher das Geld die Frau, die es wurde, Fatma Samoura, der Fifa-Verwaltung beklagen. Die Pfeile kommen sollte, wollte Infantino nicht ver- wagte tatsächlich, in einem Interview zu bewegen sich Richtung Präsident. Warum raten. Keine Namen, nur dass es »private behaupten: »Ich bin die Nummer eins der lässt er zu, dass das so weitergeht?« Investoren« seien, »einige der solidesten Fifa und sicher einflussreicher als er.« Ja, warum? der Welt«, »kein Staatsfonds«. Auch sonst Das zeigte schon, wie wenig sie wusste. Wenn das alles so stimmt (und es sich blieb vieles nebulös. »Er hat nur die Hälfte Über Fußball, die Fifa. Und Infantino. nicht nur um »persönliche«, »unfaire An- der Geschichte erzählt«, sagt ein Insider. So wie die neue Chefermittlerin Rojas sichten« von Siem handelt, wie die Fifa Die Football-Leaks-Daten bringen nun

DPA PICTURE ALLIANCE PICTURE DPA ist auch Samoura eine typische Infantino- jetzt behauptet), dann hätte Infantino sei- mehr Licht in den Megadeal. Am 19. De-

103 zerstreuen: Die Fifa behalte die Kontrolle DIE ORGANISATION DER FIFA über beide Turniere, sie werde in der Dach- firma immer das Sagen haben. Doch auch beim Treffen in Kigali Ende Afrika Asien Oktober sperrte sich der Rat. Er beschloss 54 46 nur eine Taskforce, einen Arbeitskreis, der Nord-, bis März an den Plänen herumdoktern soll. Mittelamerika Infantino musste zugeben, dass die Fifa und Karibik KONGRESS »die Dinge besser« hätte anpacken können. 35 Und auch Berater von J.P. Morgan hat sie Europa Vollversammlung aller 11 nun eingeschaltet, für eine Marktstudie. Ozeanien Es sah auf den ersten Blick nach einer 55 211 Mitgliedsverbände Schlappe für Infantino aus, seiner größten Mitgliedsverbände mit jeweils einer Stimme 10 Südamerika im Amt; einmal lief es nicht so, wie er es ausgeheckt hatte. wählt Aber vielleicht sah es auch nur so aus. RAT Infantino wäre nicht Infantino, wenn er nicht vorangehen würde, selbst wenn er schon zu weit gegangen ist. Ob er in Kigali Zeit verloren oder nur Zeit gewonnen hat, Präsident UEFA Europa AFC Asien um »Trophy« durchzusetzen, wird sich noch zeigen. Kopf der Taskforce wird jedenfalls mal wieder nicht Generalsekre- CAF Afrika CONCACAF Nord-, Mittelamerika, Karibik CONMEBOL Südamerika OFC Ozeanien tärin Samoura. Sondern Infantino. leitet kontrolliert berichtet kontrolliert HEIMATBASIS

VERWALTUNG GENERALSEKRETÄR AUDIT- UND COMPLIANCE-KOMMISSION Wer will, kann noch lange weitergründeln, in Infantinos Entscheidungen, in seinem Charakter. Etwa nach der Kälte der Macht: zember 2017, kurz nach der Visite in Abu Einlagern? Was das bedeutete, blieb »Einige Angestellte«, erzählt ein Fifa-Mit- Dhabi, schickte Centricus das erste Kon- schwammig. Würde die Fifa mit dem Ge- arbeiter, »erhielten eine Mail, wonach wir zept. Die Anlageprofis wollten eine Klub- schäft ihr gesamtes Bildarchiv verhökern? den Präsidenten siezen sollten. Manche WM vermarkten – ein Turnier, wie sie es Die »Hand Gottes«, Maradonas Tor gegen hatten ihn zuvor über Jahre geduzt.« Oder gerade gesehen hatten, nun aber aufge- England 1986? Dazu auch gleich noch alle nach selbstherrlichen Anwandlungen: »In- motzt, mit bis zu 24 Teams und den größ- Digitalrechte? Offen. fantino will Jasager, das ist genau die Sorte ten Vereinsnamen der Welt. Das Verspre- Und wo sollte die Dachfirma überhaupt Leute, die ihn heute umgeben«, so ein Fifa- chen: neue Milliardeneinnahmen für den sitzen? »Eine steuertransparente Schwei- Insider. Oder nach einem taktischen Ver- Fußball. Daran ist erst mal nichts falsch. zer Gesellschaft für diesen Zweck wäre … hältnis zur Wahrheit: »Er ist extrem über- Aber so, wie die Sache lief, fühlt sich doch kein geeignetes Investment-Vehikel«, hieß zeugend im persönlichen Gespräch. Sie einiges daran falsch an. es noch im März im Entwurf eines Memos glauben ihm alles. Bis Sie schwarz auf weiß Das begann schon damit, dass Centri- für den Weltverband. Es gebe da »passen- das Gegenteil erfahren.« cus, die Firma, die sich in Geheimgesprä- de Länder … ohne oder mit nur geringer Aber vielleicht hat man den wahren In- chen angedient hatte, für Infantino gesetzt Gewinnsteuer«. Allerdings könne das »Re- fantino bis jetzt, bis zu diesem Punkt der war. Eine Ausschreibung hielt der Präsi- putationsrisiken für die Fifa auslösen«. Geschichte, auch nur zu lange in der gro- dent anscheinend für überflüssig. Nach Der übliche Weg wäre wohl gewesen, ßen Welt gesucht. In Zürich, in Deutsch- ein paar Wochen wollte Centricus dann dass die Fifa eine Beraterfirma einschaltet. land, in Russland, in Kolumbien. Vielleicht sogar für zwei Turnierserien Geldgeber Die hätte bewertet, was der Verband für hat man sich zu sehr an der Weltverbands- beschaffen. Nicht nur für die Klub-WM, die neuen Turniere und das Digitalpaket version des Gianni Infantino abgearbeitet. auch für einen »Nationencup«. Alle zwei einnehmen könnte. Und natürlich, welche Zeit zum Atemholen, Zeit für Brig. Die Jahre sollten die besten Nationalmann- Risiken im Deal lauern. Eine gründliche Luft zum Atemholen ist in Brig übrigens schaften in einer Liga um den Titel spielen. Studie, so was dauert aber. Infantino spar- ganz hervorragend. Nun saß auch der japanische Technik - te sich das erst mal. Alles hoppla-hopp. So Rinaldo Arnold, der Präsident des FC konzern Softbank bei einem Geheimtref- wurden in vier Monaten aus vagen Vor- Brig-Glis, sitzt im Klubhaus, draußen Steh- fen am Pariser Flughafen Le Bourget mit schlägen halbgare Pläne. Trotzdem legte tische von Coca-Cola, drinnen billige am Tisch. Infantino sie im März dem Fifa-Rat vor. Stahlrohrstühle, das Flachdach liegt auf Über beide Serien sollte ein großes Tempo, Tempo, man habe nur 60 Tage rohen Holzbalken, an die altgediente Dach gezogen werden, eine gemeinsame Zeit, das Angebot anzunehmen, behaup- Kicker ihre ausgelatschten Fußballschuhe Firma von Fifa und Investoren. In einem tete Infantino. genagelt haben. Konzept heißt es dann aber unvermittelt, Da machte selbst der Fifa-Rat nicht Hier spielt keiner für Geld, nur aus Lie- dass noch mehr unter dieses Dach gepackt mehr mit, und Infantino verschob die Sa- be zum Spiel, und hier, sagt Arnold, fühle werden sollte: die Videospielrechte der che lieber auf die Zeit nach der WM in sich der Gianni doch immer noch am Fifa, Fifa TV, das ganze Bildarchiv mit Russland. Dass die 60-Tage-Frist damit wohlsten. »Der Gianni will den Fußball »Turnieren, speziellen Momenten, Inter- platzte – plötzlich kein Problem mehr. Der voranbringen, es geht ihm nicht um sich, views, Hintergrundgeschichten«. Das alles Investor habe mehr Zeit eingeräumt, hieß er fällt keine Entscheidungen, um seine wolle man in die Dachfirma »einlagern« es im Mai. Infantino nutzte die Zeit, um persönliche Situation zu verbessern, son- und von ihr managen lassen. in einem Brief Sorgen der Funktionäre zu dern um den Fußball besser zu machen.«

104 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 IN DER SPIEGEL-APP

Also alles nur ein großes Missverständ- ruptionsermittlungen in Sachen Fifa, und nis? Ist Infantino ein Präsident, der für den Infantino, neu im Amt, wollte mit ihm ins Fußball tut, was er kann? Vielleicht nicht Gespräch kommen. Übermittelt hatte den das Beste, aber das Bestmögliche in einer Wunsch für die Fifa: Oberstaatsanwalt Ar- Welt, in der Fußball längst zum Spielball nold. Er saß dann sogar mit am Tisch, auf- von Politikern, Milliardären, Konzernbos- seiten Infantinos. sen geworden ist? Dann wäre Infantino in Kurz danach eine Razzia bei der Uefa: Wahrheit ein Fußballromantiker, der er- Schweizer Ermittler stiegen einem omi- kannt hat, dass im brutalen Gezerre um nösen Fernsehdeal aus der Zeit hinterher, den größten Sport auf Erden allein ein als Infantino noch für den Europaverband Pragmatiker und Machtinstinktler den arbeitete. Sein Name stand unter einem Fußball verteidigen kann. Vertrag, auch wenn er offenbar nichts mit Hat man den wahren Infantino nur zu den Verhandlungen zu tun gehabt hatte. wenig in Brig gesucht? Wieder ein Feuerwehreinsatz für Arnold. Doch selbst das kleine Brig ist kein Ein paar Tage nach der Razzia reichte Winkel mehr im Reich des Gianni Infanti- er seinem Freund Gianni eine Pressemit- no, in dem er dem Spiel die Unschuld be- teilung der Bundesanwaltschaft weiter. An- wahrt hätte. Denn es gibt da eine Mail, dré Marty, ihr Sprecher, hatte sie ihm ge- am 25. Mai 2016 hat sie Rinaldo Arnold geben. Arnold in einer Mail an Kumpel an seinen großen Freund geschrieben: Gianni: »Somit ist klar, dass ein Verfahren »Ich möchte mich einmal noch bedanken gegen Unbekannt und keinesfalls gegen für die Einladung nach Mexico. Es war Dich ergangen ist.« Gleichzeitig bot interessant und spannend. Auch herz- Arnold Hilfe an: »André hat mir auch ge- lichen Dank für die Billette für den Cham- sagt, dass in den nächsten Tagen eine Sit- pion Leaguefinal. Mein jüngerer Sohn zung zwischen der Bundesanwaltschaft geht mit meiner Frau, da ich an einem und der Fifa stattfinden wird … Ist dies zu- Anlass des FC (Brig-Glis –Red.) teilneh- treffend? Wenn ja, sollte … das weitere men muss.« Vorgehen direkt dort besprochen werden. Arnold ließ sich demzufolge zum Fifa- Auch ob wir/Du Strafklage gegen Unbe- Weltkongress nach Mexiko und zum kannt wegen übler Nachrede einreichen Champions-League-Finale in Mailand ein- sollten.« laden, beides im Mai 2016. Es gibt auch Fünf Stunden später wieder eine Mail: MORITZ RICHTER Hinweise auf einen Trip zur Klub-WM »Hallo Gianni, wenn Du willst, kann ich in Japan 2015. Außerdem sah er im Som- mal versuchen zu erreichen, ob die Bun- mer bei der Fußballweltmeisterschaft das desanwaltschaft eine Medienmitteilung Spiel Spanien gegen Russland. Stolz stellte machen würde, die sagt, dass gegen Dich er ein Foto auf seine Facebook-Seite, kein Verfahren am Laufen ist.« Und zwei das ihn mit Spaniens König Felipe VI. Tage danach: »Wichtig ist nun die Sitzung Der letzte Gegner zeigt. Ein Foto aus jenem VIP-Bereich, in in zwei Wochen. Wenn Du willst, kann ich dem Sitze nicht verkauft, nur vergeben Dich wiederum begleiten.« Die Balkanroute ist nahezu dicht – drei werden. Das klingt, als wäre ein Schweizer Jahre nachdem im Sommer 2015 Wer also finanzierte Arnolds Vergnü- Staatsanwalt nur zu gern im Amt zu Diens- Hunderttausende Flüchtlinge in die EU gungsreisen durch die Fußballwelt, wie ten. Arnold spricht dagegen von einem kamen. Für viele Politiker ist das ein viel waren sie wert? Arnold sagt dazu »rein privaten Kontakt zu Herrn Infanti- nichts, die Fifa lässt das meiste offen: no«, mit seiner Arbeit als Ermittler habe Erfolg. Aber um welchen Preis? In »Herr Arnold ist ein persönlicher Bekann- das alles nichts zu tun gehabt. Auch der Bosnien-Herzegowina an der kroatischen ter von Herrn Infantino und war als sein Generalstaatsanwalt für das Wallis findet Grenze warten noch immer Flüchtlinge Gast eingeladen.« Wie oft, zu welchen nichts dabei. Und was die mutmaßlichen und Migranten und hoffen darauf, in Spielen, zu welchen Kosten? Schweigen. Geschenke angeht, Tickets, Reisen, zu de- die EU zu gelangen. Doch sie bekommen Das alles wäre schon schwer zu erklären, nen Arnold nichts sagt – da scheinen die keine Hilfe, sondern müssen erleben, wenn Arnold nur ein guter Kumpel wäre, Schweizer Verhältnisse ebenso speziell. In wie sich die EU gegen Migration abzu- dem Infantino auf Fifa-Kosten etwas zu- Deutschland wäre das ein Fall für Ermitt- schotten versucht – zur Not mit Gewalt. schustern würde. Aber Arnold ist leitender lungen. Verdacht der Vorteilsnahme. In Oberstaatsanwalt, Chef der Ermittlungs- der Schweiz, so die vorgesetzte Behörde, Sehen Sie die Visual Story im digitalen behörde im Oberwallis. Ein Beamter, der gebe es keine gesetzlichen Regeln, was ein aufpassen muss, was er annehmen darf. Staatsanwalt annehmen dürfe. SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. Und erst recht, dass nicht der Eindruck Auch das »Ciao Capo«, »Hallo, Boss«, entsteht, er würde sich als Staatsanwalt mit dem Arnold sein Idol Infantino in für solche Geschenke auch noch erkennt- einer Mail anspricht, fällt vermutlich bei lich zeigen. einem Schweizer Oberstaatsanwalt unter Folklore. Capo, so werden Mafiaanführer FEUERWEHREINSATZ genannt. Dass die Fifa unter Infantino noch immer eine Mafia sei, eine »Ma- Im Frühjahr 2016 verrutschte diese Grenze Fifa«, dafür finden sich inzwischen wieder offenbar. Am 22. März traf sich Infantino viele, die das bezeugen. Aber erst hinter in einem Hotel in Bern mit dem Bundes- dem Ortsausgangsschild von Brig. anwalt Michael Lauber. Der leitete die Kor- JETZT DIGITAL LESEN

105 Pakt mit den Scheichs

Financial Fair Play Wie Gianni Infantino als Uefa-Generalsekretär verhinderte, dass Manchester City und Paris Saint-Germain aus der Champions League verbannt wurden

s war zehn Minuten vor Mitter- war, die Klubwettbewerbe vor den Geld- geht hervor, wie skrupellos sich der nacht, als Gianni Infantino am strömen zu schützen, mit denen Oligar- Schweizer auf die Seite zweier neureicher E 2. Mai 2014 eine Mail an den chen aus Russland, Milliardäre aus den Klubs schlug, die die Regeln des Financial Boss von Manchester City schick- USA und Scheichs aus der arabischen Fair Play nicht nur missachteten. Sie ver- te. »Entschuldigung für meine Post Welt sich in Vereine eingekauft hatten achteten sie. am späten Freitagabend«, begann Infan- und nun den Fußballmarkt fluteten. Während der laufenden FFP-Verfahren tino sein Schreiben an Khaldoon Al- Traditionsklubs, die sich nicht kaufen traf sich Infantino mehrmals zu Geheim- Mubarak, den Vorstandsvorsitzenden des lassen wollten, hatten gegen die Neu - gesprächen mit den Klubbossen aus Paris Klubs. reichen und ihr Finanzdoping kaum noch und Manchester. Er fütterte sie mit ver- Es ging um den drohenden Aus- eine Chance. traulichen Details. Er schlug Kompromisse schluss von Manchester City aus der Die FFP-Regeln legten fest, dass vor, zu denen er nicht befugt war. Kurzum: Champions League. Der Klub hat- das Defizit eines Klubs in den Er verriet seine eigene Organisation. te gegen das sogenannte Finan- Spielzeiten von 2011 bis 2013 nur So wie sich die Dokumente lesen, hin- cial Fair Play verstoßen – die Bud- noch bei insgesamt 45 Millionen tertrieb Infantino mit seiner Einmischung getregeln der Uefa für alle Verei- Euro liegen durfte, in den drei da- ganz gezielt die Arbeit des Gremiums, ne, die sich für die europäischen rauffolgenden Saisons nur noch bei das die Financial-Fair-Play-Regeln über- Wettbewerbe qualifiziert hatten. akkumulierten 30 Millionen. Zudem wachen und das Strafmaß für potenzielle Doch Infantino beruhigte Mubarak, mussten Vereine fortan nachweisen, dass Regelbrecher vorschlagen sollte. Es trägt einen der einflussreichsten Geschäftsmän- Sponsoringverträge, die sie mit Firmen einen etwas sperrigen englischen Namen: ner Abu Dhabis und engen Vertrauten der unter Kontrolle ihrer neuen Besitzer ab- Club Financial Control Body. Herrscherfamilie. Der Generalsekretär der geschlossen haben, marktübliche Kondi- Dieses Gremium hat zwei Organe. Eines Uefa skizzierte Seiner Exzellenz Vorschlä- tionen aufweisen. ist die Untersuchungskammer. Sie kann ge, wie Manchester City möglichst schadlos Gegen neun Klubs hatte die Uefa mo- ein Verfahren gegen einen Klub einleiten aus der Bredouille kommen könnte: durch natelange Untersuchungen geführt, weil und bei groben Verstößen ein Strafmaß einen Vergleich mit dem Verband, ein so- sie im Verdacht standen, die neuen Haus- vorschlagen. Das andere Organ ist die genanntes Settlement. haltsregeln massiv verletzt zu haben oder rechtsprechende Kammer. Sie fällt das Ur- »Du wirst sehen, dass ich manchmal weiter zu verletzen. Darunter waren Man- teil. Die Untersuchungskammer kann ein einen Ausdruck gewählt habe, der etwas chester City und Paris Saint-Germain, Settlement mit einem Klub beschließen. ›strenger‹ aussieht«, schrieb Infantino in zwei Topadressen des europäischen Fuß- Entscheidend ist ihre Unabhängigkeit: We- devotem Ton, an der einen oder anderen balls. Manchester City war 2008 in den der die Geschäftsführung noch das Präsi- Passage könne man durchaus noch feilen. Besitz der Herrscherfamilie von Abu Dha- dium der Uefa dürfen zu irgendeinem Zeit- Sein Appell deshalb: »Bitte lies das Doku- bi übergegangen, bei Paris Saint-Germain punkt Einfluss auf die Wächter des Finan- ment in genau diesem Geist.« Selbstver- war 2011 das Emirat Katar eingestiegen. cial Fair Play ausüben. ständlich, schrieb Infantino weiter, sei die- Präsident Platini und sein Generalsekre- Genau diese rote Linie hat Infantino im ses Schreiben »nur zwischen uns«, streng tär Infantino hatten in Interviews mit mar- Frühjahr 2014 überschritten. Laut den in- geheim also. »Ich möchte Dir für Dein Ver- kigen Worten zu verstehen gegeben, dass ternen Dokumenten diente er als williger trauen danken, und Du weißt: Du kannst Klubs, die gegen die FFP-Bestimmungen Vollstrecker zweier Klubs, die die Prüfer auch mir vertrauen.« Seine Mitternachts- verstießen, hart sanktioniert würden. Die der Uefa kaltstellen wollten. gedanken schloss Infantino mit der auf- empfindlichste Strafe: ein Ausschluss aus Die Untersuchungskammer des Club munternden Zeile: »Lass uns positiv sein!« der Champions League. Umso ernüchter- Financial Control Body bestand in der Sai- Die Tage im Mai 2014 waren für den ter war die Fußballwelt, als sich die Uefa son 2013/14 aus acht Mitgliedern. Ihr Chef europäischen Vereinsfußball eine Zäsur, im Mai 2014 mit Manchester City und Pa- war der frühere belgische Ministerpräsi- und Gianni Infantino, der heutige Präsi- ris Saint-Germain auf Settlements einigte. dent Jean-Luc Dehaene, der jedoch An- dent des Weltfußballverbandes Fifa, spiel- Die Verhandlungen liefen damals streng fang 2014 schwer erkrankte. Seinen Posten te dabei eine entscheidende Rolle. Eine vertraulich. Dank der Enthüllungsplatt- übernahm der Schotte Brian Quinn, ein schmierige. form Football Leaks lässt sich nun genau Wirtschaftsexperte, der im Direktorium In der Saison 2013/14 hatten alle für rekonstruieren, welch enormen Druck die der Bank von England gearbeitet hatte Champions Leage und Europa League Machthaber aus Abu Dhabi und Katar auf und nach der Jahrtausendwende Vor- qualifizierten Klubs vor der Uefa erstmals die Uefa ausgeübt haben. Manchester und standsvorsitzender des Traditionsklubs ihre Bücher offenlegen müssen. Grundlage Paris begegneten fast jedem Schritt des Celtic Glasgow geworden war. war das Financial Fair Play (FFP), ein Re- Verbandes mit Drohungen. Paris Saint-Germain musste im Juli 2013 gelwerk, das der Franzose Michel Platini Der entscheidende Verbündete der bei- der Untersuchungskammer erstmals seine zum Prestigeprojekt seiner Uefa-Präsident- den Scheichklubs war der Mann, der als Bilanzen offenlegen. Ein Jahr zuvor hatte schaft gemacht hatte. Uefa-Generalsekretär zur Neutralität ver- der staatliche Konzern Qatar Tourism Für die Einführung des FFP gab es viele pflichtet gewesen wäre: Gianni Infantino. Authority (QTA) mit dem Verein ein gute Gründe. Einer der schlagkräftigsten Aus den Unterlagen von Football Leaks »Agreement for the Promotion of the

106 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Khaldoon Al-Mubarak

Image of Qatar« abgeschlossen, das fünf war ein anderer, auch das ist in dem Agree- Zlatan Ibrahimović, weitere spektakuläre Jahre lief und PSG durchschnittlich 215 Mil- ment nachzulesen: Mit dem Geld der Transfers wie die von Ezequiel Lavezzi lionen Euro pro Jahr einbringen sollte. Qatar Tourism Authority sollten Spieler und Edinson Cavani folgten. Eine irrsinnige Summe, weit entfernt gekauft werden. Paris Saint-Germain soll- Die Uefa-Ermittler sahen in dem Mil - von der Marktlage und bar jeder wirt- te so helfen, Katar »zu einem der wichtigs- liardendeal mit der Qatar Tourism Autho- schaftlichen Vernunft für das Unter - ten Player in der Sportwelt« zu machen. rity offenbar von Anfang an einen klaren nehmen in Katar. Zum Vergleich: Die PSG erklärt dazu auf Anfrage, dass es sich Regelbruch des Financial Fair Play. Sie wa- Deutsche Telekom zahlte dem FC Bayern nicht um einen Sponsorenvertrag handle, ren skeptisch gegenüber Vereinen, deren damals als Hauptsponsor jährlich 29 Mil- sondern um »Nation branding« – Marke- Sponsoringeinnahmen fast ausschließlich lionen Euro. Offenbar sollte der Werbe- ting für ein ganzes Land. »Nation branding aus Staatsfirmen flossen, die von den Klub - vertrag nur als Fassade dienen, damit die hat, verglichen mit traditionellen Spon - eigentümern kontrolliert wurden. Katarer möglichst viel Geld in den Verein sorings, eine andere Größenordnung«, Die FFP-Untersuchungskammer ent- pumpen konnten. schreibt die Klubführung. sandte Experten der Wirtschaftsprüfungs- Die Vereinbarung mit dem katarischen Nach der Übernahme von PSG hatten firma Deloitte in die Geschäftsstelle von Tourismusverband umfasste nur fünf Sei- die Katarer exakt diese Ziele in einem ver- Paris Saint-Germain, die drei Tage lang ten. Demnach sollte Paris Saint-Germain traulichen »Strategieplan 2012– 2017« de- noch einmal sehr genau die Bilanzen Werbung für das Emirat machen und finiert. Es ging darum, den Verein »zu ei- durchforsteten. Die Auditoren bescheinig- »jährlich auf Bitte von Katar an seinen PR- nem der fünf besten europäischen Fußball- ten PSG-Generaldirektor Jean-Claude Aktivitäten teilnehmen«. Ansonsten wur- klubs« zu machen und mit der Strahlkraft Blanc, dass sie den Partner QTA als »ver- de keine Gegenleistung für QTA verein- der Stars, die PSG verpflichten sollte, das wandte Partei« betrachteten. bart: kein Schriftzug auf den Vereins- Image des Emirats als Ausrichter der Fuß- Noch so ein Begriff, der den Fußball - trikots, keine Werbung im Stadion, kein ball-WM 2022 weltweit aufzupolieren. So bossen in Paris schwer auf die Nerven ging: Hinweis auf der Homepage des Klubs. Der geschah es: Der Klub verpflichtete mit »verwandte Partei«. Er bedeutet, dass die

GETTY IMAGES; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR BENEDIKT GETTY IMAGES; ILLUSTRATION: wahre Zweck der exzessiven Zahlungen dem Geld aus Katar umgehend Superstar Vertragspartner personell und organisato-

107 zu hintergehen. Statt die Forderung zu- rückzuweisen, ließen sich Platini und In- fantino auf die Hinterzimmerdiplomatie mit den Katarern und deren französischen Statthaltern bei PSG ein. Vor der Veröffentlichung haben die Re- cherchepartner des EIC-Netzwerks den europäischen Fußballverband und PSG mit diesem Vorwurf konfrontiert. Sowohl der Verband als auch der Klub antwor - teten mit einem Auszug aus dem Uefa- Reglement, in dem es heißt, dass die Ad- ministration die Arbeit der Klubkon- trolleure mit Personal und Infrastruktur unterstützen dürfe. Diese Regeln besagen auch, dass die Kammern »unabhängig« sind. Ein Anwalt, der für die Uefa arbeitete, versorgte PSG rasch mit vertraulichen In- formationen aus der Untersuchungskam- mer. Dieser Jurist traf sich am 21. März 2014 mit Repräsentanten von Paris Saint- Germain. Die Haltung der PSG-Seite war knallhart: keine Schuldanerkenntnis beim Financial Fair Play. Den Klubeigentümern risch zu eng miteinander verwoben und Urteile des Berichts war es besonders wichtig, ohne Imagescha- die vermeintlichen Sponsoringzahlungen ab – und hielten das den davonzukommen. Aus den Dokumen- in Wahrheit versteckte Finanzspritzen für brisante Dokument in ten geht hervor, dass der Uefa-Anwalt die Klubs sind. Nyon zurück. klein beigab und den Verein um Vorschlä- Zu diesem Schluss kamen auch fünf un- Warum, ist unklar. Sicher ist nur, dass ge bat, wie das Problem aus der Welt zu abhängige Gutachter, die den QTA-Vertrag die Bosse von Paris Saint-Germain zu schaffen sei. im Auftrag der Untersuchungskammer diesem Zeitpunkt schon seit Wochen ge- In den Wochen danach kam es zu meh- analysierten. Die Urteile waren vernich- heime Gespräche mit Uefa-Generalsekre- reren geheimen Aussprachen zwischen tend für Paris Saint-Germain. So bemaß tär Gianni Infantino führten. Infantino und PSG-Generaldirektor Blanc. die Agentur Octagon, einer der wichtigs- Bereits im Februar 2014 hatte PSG-Ge- Anfang April trafen sie sich in London, wo ten Sportvermarkter weltweit, den »fairen neraldirektor Blanc mit Beratern beschlos- der Uefa-Mann offenbar feste Zusagen für Marktwert« des Vertrags auf gerade ein- sen, dass der katarische Klubchef Nasser ein Settlement machte. Seine wichtigste mal 2,78 Millionen Euro – ein Achtzigstel Al-Khelaifi so schnell wie möglich ins Bedingung: PSG müsse den Wert des QTA- der Summe, die Katar an PSG zahlte. »Auf Hauptquartier der Uefa reisen und sich Vertrags auf 100 Millionen Euro jährlich der Grundlage herkömmlicher Klugheit dort mit Infantino und Verbandspräsident reduzieren – was immer noch mehr als oder Praxis«, schrieben die Marketing - Platini treffen solle. Blanc hatte schon 30-mal so viel war wie der »faire Wert«, experten, würde »kein anderer rationaler lange vor Beginn der Finanzuntersuchun- den die Gutachter von Octagon ermittelt Sponsor so viel Geld für diese Art von gen dafür plädiert, massiven juristischen hatten. Gegenleistung entrichten«. Und weiter: Druck auf die Uefa auszuüben. Bei einem Geheimtreffen im Rahmen »QTA zahlt einen Preis, der hochinflatio- Am 27. Februar kam es zu einem gehei- des französischen Ligapokalfinals zwi- när in diesem Sport ist.« men Meeting in Nyon, an dem neben schen Paris Saint-Germain und Olympique Am 21. Februar 2014 informierten die Blanc, Khelaifi und Infantino auch Platini Lyon am 19. April einigte man sich aufs Uefa-Ermittler den Klub, dass die Unter- teilnahm – den die PSG-Bosse in ihrer Kleingedruckte. Demnach sollte der Klub suchungskammer die Bilanzen von Paris internen Kommunikation immer nur den die Differenz von 115 Millionen Euro mit Saint-Germain wegen Verstoßes gegen die »Top Guy« nannten. Aus den Football- neuen Sponsoren, wiederum überwiegend Regeln des Financial Fair Play weiter prüfe. Leaks-Unterlagen lässt sich erahnen, wie aus Katar, ausgleichen dürfen. Darüber Anfang März bestellte Uefa-Ermittler drohend der katarische Klubboss auftrat. wollte man sich verständigen, ohne es im Quinn die Vereinsbosse zu einer Anhö- Demnach soll er Platini zu Beginn des Ge- Settlement festzuhalten. rung in die Verbandszentrale nach Nyon sprächs gewarnt haben, dass dieser wohl Im Gegenzug forderte Infantino wohl, am Genfer See ein. kaum ein Interesse daran haben könne, dass der Wortlaut eines Settlements streng Im April erklärte ein vorläufiger Ab- Katar durch den Klub zu attackieren. genug formuliert werden müsse, damit die schlussbericht, dass der »maximale faire Die Stimmung blieb gereizt. Infantino Uefa mit dem Deal nicht ihr Gesicht ver- Wert« des QTA-Vertrags bei drei Millionen empfahl seinen beiden Gästen, mit den liere. Es war ein Verhandlungssieg für Euro liege. Das schuldhafte Defizit für die Finanzermittlern der Untersuchungskam- PSG – und ein Beleg dafür, wie Infantino zwei Spielzeiten von 2011 bis 2013 wurde mer auf eine gütliche Einigung hinzuarbei- im Frühjahr 2014 die Kontrolleure des demnach auf »mindestens 215 Millionen ten. Das lehnten Khelaifi und Blanc ent- Financial Fair Play hintergangen hat. Euro« berechnet. Die Kammer erwog, den schieden ab. Ein Settlement, so ihre For- Es blieb nicht bei der Kollaboration Fall an die rechtsprechende Kammer des derung, könne mit ihnen »nur auf höchster mit dem französischen Spitzenklub. Auch Club Financial Control Body weiterzuleiten. Ebene« verhandelt werden – also mit mit den Eigentümern von Manchester Doch das ist niemals geschehen. Statt- Infantino und dem »Top Guy« Platini. City verhandelte Infantino hinter dem dessen schwächten hochrangige Mitarbei- Ein anmaßender Vorstoß – bedeutete Rücken der unabhängigen Finanzprüfer.

ter der Uefa-Administration die härtesten er doch, die FFP-Untersuchungskammer Am Ende kam es zum Zerwürfnis mit BENEDIKT RUGAR ILLUSTRATION:

108 Brian Quinn, dem Vorsitzenden der Un- EIN GLAUBE tersuchungskammer. In Manchester wussten sie seit Mai 2013, dass die neuen Financial-Fair-Play-Regeln sie schwer in Bedrängnis bringen würden. Schon zwischen 2009 und 2011 hatte EROBERT DIE der Verein 451 Millionen Euro Miese ge- macht. »Wir verstoßen so oder so gegen die Regeln«, schrieb Finanzdirektor An- drew Widdowson, »wir verlassen uns nur auf mildernde Umstände, um durchzu- kommen.« Im Januar 2014 hatten die Uefa-Kon- trolleure die Wirtschaftsprüfer von Price- WELT waterhouseCoopers (PwC) nach Manches- ter geschickt. Das Ergebnis war ein Desaster. 84 Prozent der »sonstigen kommerziellen Einnahmen« stammten von Sponsoren aus Abu Dhabi. Dem Bericht zufolge ver- schwieg der Klub der Uefa außerdem bei einem Jahresabschluss Kosten in Höhe von knapp 35 Millionen Euro. Auf Druck reagierte Manchester City reflexhaft: mit Gegendruck. Die Klub- anwälte behaupteten: »Der PwC-Report weist gravierende Fehler auf, enthält zahl- reiche irrige Interpretationen der Regeln, falsche Annahmen, Rechtsfehler und irr- tümliche Schlussfolgerungen.« Sie forder- ten die Wirtschaftsprüfer schließlich auf, weite Teile ihres Reports zu ändern oder zu streichen. PwC weigerte sich, was Man- chesters Anwälte noch mehr erzürnte. Mitte März verhandelte Ferran Soriano, der Geschäftsführer von Manchester City, mit Infantino. Er drohte der Uefa, vor Ge- richten der Europäischen Union gegen die Financial-Fair-Play-Regeln vorzugehen. In einem internen Memorandum hielten die Klubjuristen fest: Käme es mit der Unter- suchungskammer nicht zu einer »vernünf- tigen gütlichen Einigung«, habe ManCity »keine andere Wahl, als die Uefa an allen rechtlichen Fronten zu bekämpfen«. Der Klub erwarte »eine Warnung, aber keine weiteren Maßnahmen«. Dabei sah die Faktenlage für Manches- 256 Seiten mit s/w-Abb. · Gebunden mit SU ter City ziemlich düster aus. Die Vermark- C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich tungsexperten von Octagon, die im Auf- trag der FFP-Kontrolleure schon Paris Saint-Germain ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hatten, hielten auch bei den Engländern drei von vier Sponsorenver- SPIEGEL-Autoren, Kirchenhistoriker und Theologen erzählen trägen mit Firmen aus Abu Dhabi für »sig- die mehr als 2000-jährige Geschichte einer weltverändernden Religion: nifikant überbewertet«. Demnach lagen diese Vereinbarungen, die dem Verein Sie zeichnen den Aufstieg des Christentums von der mehr als 50 Millionen Euro einbrachten, jüdischen Sekte zur Weltreligion nach, beleuchten Irrungen, Seitenwege bis zu 80 Prozent über Marktwert. Nach einer weiteren Visite in Manchester stell- und Reformen und zeigen, warum das Christentum bis heute ten die PwC-Prüfer fest: Zwei Sponsoren ein Hauptfaktor abendländischer Identität ist. seien mit Manchester City »verwandte Parteien«. Wie bei Paris Saint-Germain. Doch zu diesem Zeitpunkt war Infanti- no schon dabei, die Untersuchungskam- mer auszumanövrieren. Mit Geschäftsfüh- rer Soriano vereinbarte er Anfang April ein Treffen zweier Anwälte, einer vertrat

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 109 www.dva.de Manchester City, der andere die Uefa. Sie gefunden sein, schrieb Umberto Lago, dennoch kollabieren, könnten alle ihre verständigten sich darauf, dass der Klub würde der Fall an die rechtsprechende Gläubiger die Uefa verklagen.« einen Vorschlag für eine gütliche Lösung Kammer des Club Financial Control Body Am 11. Mai 2014 gewann Manchester machen sollte. Das war so, als ob ein Bank- übergeben. Dann drohe der Ausschluss City am letzten Spieltag den Titel in der räuber dem Staatsanwalt ein angemesse- aus der Champions League. Premier League, es war die zweite Meis- nes Strafmaß unterbreiten würde. Das war der Grund, warum Gianni In- terschaft in drei Jahren. Tags darauf Ein Jurist empfahl den Bossen von Man- fantino Manchester-Boss Khaldoon Al- schrieb Infantino dem Klubchef Mubarak: chester City eine Strategie: Es solle ein Mubarak kurz vor Mitternacht seine de- »Leider wurde ich informiert, dass die Deal erreicht werden, mit dem der Klub vote »Lass uns positiv sein!«-Mail schickte. Ermittlungskammer die Positionen für zu leben könne, ohne Fehlverhalten zugeben In Manchester hatte der Wind sich nämlich weit entfernt hält, um einem Settlement zu müssen. »Wir müssen so viel Druck wie rapide gegen den Strippenzieher vom zuzustimmen.« Er bedaure das sehr, fuhr möglich ausüben, der Uefa dabei aber im- Genfer See gedreht. Infantino fort, und schloss mit einer Pointe mer einen Ausweg bieten.« Am 9. Mai traten die Bosse von Man- von machiavellistischer Güte: »Aber die Am 15. April informierte Soriano den chester City zu einem Termin vor der Untersuchungskammer ist ein unabhängi- Vereinsboss Mubarak, dass es ein erneutes Untersuchungskammer in Nyon an. Tags ges Organ, und ich muss ihre Entscheidung Meeting der Schweizer Anwälte geben respektieren.« werde: »Ich hatte ein gutes Telefonat mit Dann erreichte den Klub eine vertrau - Gianni Infantino, bei dem wir uns geeinigt liche Botschaft von Uefa-Präsident Platini. haben, wie wir die Anwälte anleiten wol- Er hatte beim Finale der Europa League len: ein Settlement auszuhandeln, das in Turin mit Patrick Vieira gesprochen, mehr als eine Warnung ist und als effektiv einem Mitglied der französischen Welt- wie überzeugend angesehen werden kann, meisterelf von 1998, der für Manchester das Geschäft von Manchester City aber City arbeitete. »Bitte sagt euren Besitzern nicht dramatisch beeinträchtigt.« in Abu Dhabi, dass sie mir vertrauen müs- Am Ende des Monats war der Verein sen«, ließ Platini demnach ausrichten: offensichtlich noch nicht zufrieden mit »Wir verstehen und mögen, was sie mit den Verhandlungsfortschritten. Der Klub - dem Verein tun.« Und tatsächlich: Gianni anwalt Simon Cliff schrieb in einer Mail, Infantino machte Manchester City ein neu- dass sich Vereinschef Mubarak gegenüber es Angebot für ein Settlement. »Ich fühle Infantino gegen eine mögliche Geldstrafe mich wie Bill Murray in ›Und täglich grüßt gewehrt habe. »Khaldoon sagte, dass er das Murmeltier‹«, lästerte ein hochrangi- lieber 30 Millionen für die besten 50 An- ger Mitarbeiter des Klubs. wälte der Welt ausgibt, um die Uefa für Am 16. Mai unterzeichnete City-Ge- die nächsten zehn Jahre zu verklagen.« schäftsführer Soriano die Einigung. Das Der Fußballverband habe nun die eine Strafmaß war so glimpflich wie das für Möglichkeit, »die Zerstörung seines Regel- Paris Saint-Germain: 20 Millionen Euro. werks und seiner Organisation zu ver- In einer Mail an die Führungskräfte des hindern«. Klubs schrieb Soriano, dass der Vergleich Dann kam der 2. Mai 2014. »uns nicht wesentlich beeinträchtigt«. Sowohl Paris Saint-Germain als auch In den Jahren nach den Settlements ha- Manchester City erhielten Post von der ben PSG und Manchester City zusammen Untersuchungskammer des Club Financial mehr als eine Milliarde Euro für neue Spie- Control Body. Unterzeichner dieser Schrei- zuvor hatten sich Vereinsboss Mubarak ler ausgegeben. ben war jedoch nicht Brian Quinn, der und Geschäftsführer Soriano zu einem ge- Das EIC-Recherchenetzwerk hat Man- Vorsitzende der FFP-Kontrolleure. Der heimen Meeting mit Infantino in London chester City um eine Stellungnahme zu Schotte war am selben Tag im Uefa-Haupt- getroffen, um Details einer Einigung vor- den Geschehnissen gebeten. Der Klub quartier in Nyon von seinem Posten als zubereiten. Doch die Zusammenkunft in erklärte, dass er die Fragen nicht kom - Chefermittler zurückgetreten – weil er die der Uefa-Zentrale blieb erfolglos. mentieren werde, und sprach von einem Settlements angesichts des Ausmaßes der Das Treffen in Nyon sei »eine Schande« »organisierten und eindeutigen Versuch, Regelverstöße für zu mild hielt. Für Quinn gewesen, und der Deal, den sie mit Infan- den Ruf des Vereins zu schädigen«. sprang der Italiener Umberto Lago ein – tino ausgehandelt hätten, sei von der Un- Wie zynisch und verächtlich sie bei und die Kammer segnete den Deal letzt- tersuchungskammer ignoriert worden, pol- Manchester City auf die Regelhüter des endlich ab. terte Simon Cliff, der Chefjurist des Klubs. Financial Fair Play schauten, die sie mit Paris Saint-Germain war am Ziel, der Er verschickte ein streng vertrauliches Me- Infantinos Hilfe aus dem Weg geräumt katarische Vereinsboss Nasser Al-Khelaifi morandum. Es trug die Überschrift »Mög- hatten, lässt sich in einer Mail nachlesen, unterschrieb ein Settlement-Agreement. liche juristische Schritte«. die Klubjurist Cliff verfasste. Der Klub hatte in den zwei zurückliegen- Cliff erwog eine Klageflut. Er meinte, Am Tag bevor Soriano für Manchester den Spielzeiten zwar ein Defizit von dass »die Uefa nur auf Aggression rea- City das Settlement unterzeichnete, starb 218 Millionen Euro aufgetürmt. Dennoch giert«, wollte Platini und Infantino wegen Jean-Luc Dehaene, der bis Anfang des Jah- fiel das Strafmaß grotesk mild aus: 20 Mil- Amtsmissbrauchs und Interessenkonflik- res 2014 die Untersuchungskammer des lionen Euro. Kleingeld für die Scheichs. ten vor Schweizer Gerichte zerren, die Club Financial Control Body angeführt Komplizierter gestaltete sich die Eini- Wirtschaftsprüfer von PwC regelrecht zer- hatte. gung mit Manchester City, auch für Gianni schmettern. Es sei möglich, schrieb er, dass »1 down, 6 to go«, antwortete Cliff einer Infantino. Das Defizit lag laut Uefa bei eine Klage »die ganze Firma innerhalb von Mitarbeiterin von Manchester City, die mindestens 188 Millionen Euro, und noch Wochen zerstört. Wenn sie unter Druck ihn über den Tod Dehaenes informierte: gab es keine Aussicht auf ein Settlement. sind, könnten sie womöglich die Uefa auf »Einer weg, fehlen noch sechs.«

Sollte bis Mitte Mai keine gütliche Lösung Schadensersatz verklagen und, falls sie BENEDIKT RUGAR ILLUSTRATION:

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Sich als Vogel von Fischen zu ernähren ist keine trophische Seltenheit im Tierreich – und doch eine Kunst. Für die Jagd im fremden Medium haben einige Arten im Laufe der Evolution körperliche Merkmale entwickelt, die manchem Spezialwerkzeug industrieller Fertigung in nichts nachstehen. So verfügt der Amerikanische Scherenschnabel über eine deutlich längere untere Schnabelhälfte. Diese lässt er in Tiefflügen durch die obere Wasserschicht pflügen und erbeutet dabei kleine Fische.

Einwurf Gut im Wischen

Macht die Digitalisierung den Menschen zum technischen Trottel?

Der Londoner Medizinprofessor Roger Kneebone schlug kürzlich auf dem digitalen Postweg flugs die Rechnung hinterherschicken. Alarm: Seine Studenten hätten kein handwerkliches Geschick Im Maschinenraum der Big-Data-Welt werden noch reichlich mehr; sie könnten kunstreich Bildschirmgeräte bedienen, aber kei- Menschen gebraucht, die wissen, wie man eine Schraube mit dem ne Wunde mehr zunähen. Geht mit anderen Opfern der allgegen- vorgeschriebenen Drehmoment anzieht. Auf der politischen Füh- wärtigen Digitalisierung am Ende auch das Verständnis für die rungsebene hingegen ist handfeste Urteilskraft in Fragen der nützliche Technik des Alltags verloren? Technik längst einem Glauben an die Allmacht der Algorithmen Wer solche Befürchtungen für abwegig hält, könnte mal eine gewichen. Dort agieren Verkehrsminister, die sich allen Ernstes repräsentative Anzahl ohrverstöpselter Teenager vor die Aufgabe weismachen lassen, dass Autos mit unzureichender Abgasreinigung stellen, einen Fahrradreifen zu flicken oder die Dichtung eines nur ein Software-Update brauchten, um sauber zu werden. Wasserhahns zu erneuern. Das praktische Können gilt einer Gene- Nachhilfemöglichkeiten zum besseren Verständnis der Hard- ration wenig, die sich mit einem Wisch übers Smartphone ihre ware bietet dann wieder die Medienwelt des Internets. Wikipedia Erlebniswelt erschließt. Das Handwerk, in der altgriechischen erklärt praktisch alles, auch den Aufbau eines SCR-Katalysators. Bezeichnung »techne« noch mit Kunst gleichgesetzt, hat Nach- Die Videoplattform YouTube wird bei entsprechender Programm- wuchsprobleme. Auf jeden jungen Klempner kommen mittlerwei- auswahl zur Schaubühne der praktischen Künste. Hobbydidakten le ein Dutzend smarte Business-Consultants, die ihren Laptop verschiedenster Fakultäten reparieren dort vor laufender Kamera aufklappen, lange Vorträge über den Fachkräftemangel halten und Fahrräder oder Wasserhähne. Geht doch! Christian Wüst

112 Mobilität wird ein Auto nach dem anderen geladen. In letzter Konsequenz muss aber meist »Das gibt Ärger bei den Eigentümern« der Stromkreislauf angepasst werden. SPIEGEL: Wie teuer wird es, die Häuser Martin Kaßler, 49, tung, Ladeverhalten, Kabelstruktur und entsprechend elektrisch aufzurüsten? Geschäftsführer des Parkdauer. Jeder Nutzer sollte aber per- Kaßler: Das hängt von Anforderungen Dachverbands Deutscher spektivisch sein E-Mobil laden können, und Gebäudezustand ab. Sind es zehn Immobilienverwalter, wann er es wünscht. Wohneinheiten, rechnen wir mit bis zu über die schleppende SPIEGEL: Autohersteller bieten Lade - 20000 Euro – nur für die grundlegende Installation von Lade- stationen an, die das E-Mobil mit Strom- Erneuerung der Hausleitungen. Diese stellen für Elektroautos leistungen von bis zu 22 Kilowatt be - Summe wollen und können viele Eigen- in Wohnhäusern tanken sollen. Lässt sich das in einem tümergemeinschaften nicht aufbringen. Mehrparteienhaus überhaupt machen? SPIEGEL: Hört sich nach Zündstoff für SPIEGEL: Die heimische Steckdose soll die Kaßler: Machbar ist vieles, nur, ist wirk- Eigentümerversammlungen an… Tankstelle der Zukunft werden. Im Einzel- lich alles sinnvoll? Mit 22 Kilowatt dauert Kaßler: … ja, da neben der Finanzierung haus mit Garage oder Carport dürfte das das Laden zwei bis drei Stunden. Doch da auch die Rechtsgrundlage nicht eindeutig klappen. Wie sieht es in großen Eigentü- die Autos in der Garage meist ohnehin ist. Verweigert die Eigentümergemein- mergemeinschaften aus? über Nacht geladen werden, reicht in vielen schaft aus Sorge vor den Kosten oder aus Kaßler: Hier läuft die E-Mobilität bislang Fällen auch eine geringere Leistung aus. Desinteresse die Zustimmung, gibt das ins Leere. Die Rechtslage ist unklar. Häu- SPIEGEL: An der Standardsteckdose kann vermutlich Ärger. fig scheitert es an der erforderlichen ein Auto mit rund 3 Kilowatt gespeist SPIEGEL: Kann die Verkabelung denn Beschlussmehrheit. Die neue EU-Gebäude - werden. In Tiefgaragen größerer Gebäude nicht als dringend nötige Modernisierung effizienzrichtlinie sieht bei Neubauten sind zuweilen Plätze für 50 Autos und beschlossen werden? und umfassender Renovierung künftig mehr. Könnten die alle gleichzeitig an den Kaßler: Die Gerichte sind sich uneins, Leerrohre für die Verkabelung vor. Doch Stecker? ob der Einbau von Ladeinfrastruktur als der Ausbau wird nicht vorankommen, Kaßler: Wenn das hausinterne Stromnetz Modernisierung oder als bauliche wenn finanzielle Anreize fehlen. darauf ausgerichtet ist, theoretisch ja – Veränderung zu verstehen ist. Wir setzen SPIEGEL: Was sind die technischen was in diesem Umfang allerdings selten uns für ein 100-Millionen-Euro-Förder- Hürden? zutreffen dürfte. Ein Lastmanagementsys- programm für private Ladeinfrastruktur Kaßler: In vielen Fällen muss das Strom- tem kann den sogenannten Gleichzeitig- ein. Letztlich will der E-Mobil-Nutzer netz verstärkt werden. Entscheidend sind keitsfaktor absenken und damit auch die sein Auto zu Hause aufladen – wie sein Art und Anzahl der Fahrzeuge, Ladeleis- erforderliche Anschlussleistung. Dann Handy. CW

Archäologie Sächsische Schürfkunst G Dass Zinn bereits zu Beginn der mit- 3 teleuropäischen Bronzezeit, also vor dem Jahr 2000 vor Christus, gewonnen wurde, gilt als gesichert – sonst hätte es diese Epoche gar nicht gegeben: Klas- sische Bronze wird aus Zinn und Kupfer hergestellt. Nur fehlte bisher ein direk- ter Beleg für Zinnabbau durch archäolo- gische Befunde. Um diesen erstmals in Europa erbringen zu können, legen nun 1 Wissenschaftler des sächsischen Landes- amts für Archäologie Analysen vor. In der Nähe von Schellerhau südlich von Dresden stießen sie bei Ausgrabungen 2 auf »einen ganzen Arbeitshorizont«, sagt die leitende Archäologin Christiane Hemker. Auf diesem sollen Menschen mit einer dem Goldwaschen ähnlichen Technik zinnhaltige Sande gewonnen haben. Altersbestimmungen belegen, dass der sächsische Zinnrausch spätes- tens vor 4000Jahren einsetzte. Die For- scher haben eine Rekonstruktion der Arbeitsstätte erstellt. Sie zeigt eine Lich- tung mit Bergleuten, die sich durch 1 2 3 den metallschweren Grund hacken. Wie Zinnhaltiges Erdreich wird Anlagen zum Auswaschen Das zinnhaltige Erz wird bis im Tagebau abgetragen des Zinnerzes mit Wasser zur weiteren Verarbeitung entbehrungsreich die Arbeit war, lasse in Schutzhütten gelagert sich schlecht beurteilen, sagt Hemker,

»sicher aber war sie sehr lukrativ«. CW DRESDEN DENKMALPFLEGE, ARCHÄOLOGISCHE ABTEILUNG FÜR ARCHÄOLOGIE, ANDESAMT

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 113 Wissenschaft Leere Zimmer Psychologie Tausende Trennungskinder geraten zwischen die Fronten eines grausamen Kriegs – sie lieben beide, Mama und Papa, doch oft überträgt ein Elternteil die eigene Wut und Enttäuschung auf die Kleinen. Unter der Entfremdung leiden sie ein Leben lang.

s gibt Momente auf dem Weg zum Erwachsensein, die sind für Eltern E kein Vergnügen: Pubertät und Lie- beskummer, Elternsprechtag und Geschwisterzoff. Marie Körner würde viel dafür geben, wenn sie all das mit ihrem Sohn erlebt hätte. Auch Urlaube, Familien- feste und Abschlussfeiern gab es für sie nicht. »Ich habe so viel verpasst«, sagt sie. Marie Körner heißt eigentlich anders, und auch der richtige Name ihres Sohnes soll nicht in der Zeitung stehen; hier wird er Moritz genannt. Körner sitzt auf einem hellen Sofa in ihrer Wohnung am Stadt- rand von Hamburg. An den Wänden hän- gen Fotos: sie und Moritz, das Kind etwa zwei Jahre alt, ein fröhlicher kleiner Junge. Mutter und Sohn strahlen. Es sind Bilder von einem Leben, wie es hätte bleiben sollen. Aber Moritz ist nicht mehr da. Er ist heute 17, schon fertig mit der Schule. Vor acht Jahren zog er zu seinem Vater, der sich von Marie Körner getrennt hatte, als Moritz noch ein Baby war. Geplant war ein Umzug auf Zeit, für ein paar Wochen, weil der Mutter alles zu viel wurde: Mo- ritz’ Wutanfälle, die Trennung vom Vater seiner Halbschwester Lisa. Bei jedem Treffen, anfangs alle zwei Wochen, wirkte er abweisender. »Er schau- te ständig auf die Uhr und fragte, wann er endlich nach Hause könne«, erinnert sich Körner, »ich durfte ihn auch nicht mehr in den Arm nehmen.« Wenn Moritz von ihr sprach, sagte er nicht »Mama«, so wie frü- her. Sie war jetzt nur noch »die«. Körner glaubt, dass ihr Ex-Partner den Kontakt nicht unterstützen wollte. »Ich weiß nicht, was ihm sein Vater über mich erzählt hat«, sagt sie, »aber Gutes war es wohl nicht.« Oft sagte er Besuchstermine kurzfristig ab, weil Moritz krank sei oder sie nicht sehen wolle. Bald sperrte sich der Junge gegen jeden Kontakt. Von da an, erzählt sie, »habe ich mich jeden Tag gefragt, was mein Sohn wohl gerade macht, ob es ihm gut geht.« Ein Kind gibt die geliebte Mutter auf, einfach so, als hätte es sie nie gegeben – wie ist das möglich? Und, Albtraum aller Eltern, kann das jedem passieren? Ja, sagen Psychologen, die mit Tren-

nungszwist und Kinderleid zu tun haben. / DER SPIEGEL HELENA LEA MANHARTSBERGER

114 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3.11. 2018 Für manche von ihnen ist dieser Prozess Und sie berichten von lebenslangen Fol- Rund 80 000 Ehen mit gemeinsamen gar eine – durch das Verhalten eines El- gen nicht nur für die verlassene Mutter, minderjährigen Kindern werden jedes ternteils ausgelöste – Störung, die in psy- den verlassenen Vater. Es leiden vor allem Jahr in Deutschland geschieden, dazu chologische oder medizinische Diagnose- die Kinder. Erst als Erwachsene verstehen kommen jene Eltern, die auseinander- verzeichnisse aufgenommen gehört. Sie sie, dass sie, unbewusste Komplizen eines gehen, ohne verheiratet gewesen zu sein. sprechen von »Parental Alienation« (PA) rachsüchtigen oder einfach nur hilflosen Bis zu 50 000 dieser Paare sind dann so oder »Eltern-Kind-Entfremdung«, einer Elternteils, sich selbst etwas gestohlen ha- zerstritten, dass Familienrichter festlegen allmählichen Entwicklung, die sie in Sta- ben, was ihnen ihr Leben lang fehlen wird: müssen, wer die Kinder wann, wo und dien einteilen: von leichten Loyalitätskon- einen geliebten, liebenden Papa. Oder, das wie lange sehen darf, ob über Nacht oder flikten bis zur völligen Verteufelung von kommt seltener vor: eine geliebte, lieben- nicht, ob mit oder ohne neutrale Aufsichts- Vater oder Mutter. de Mama. person. »Hochstrittig« nennen Juristen solche Konstellationen, die das Verhältnis zwi- schen Kind und einem Elternteil völlig ver- giften können. Oft wird vor Gericht um einzelne Ferientage gezankt oder um Ein- schulungsfeiern und Kindergeburtstage. Das Kind wird zur Trophäe in einem Zwist, den die Eltern direkt miteinander austra- gen müssten.

So wie die Schedlers aus Köln. Jörg Schedler möchte teilhaben am Leben sei- ner Söhne Leon und Bastian*, sieben und neun Jahre alt. Er will mit ihnen klettern und Schlittschuh laufen, im Wald Hütten bauen, wandern, Mountainbike fahren und abends schön Pizza essen. Im Oktober hat er all das gemacht, zusammen mit sei- ner Lebensgefährtin und deren Tochter Lilly*. Es waren erfüllte Ferientage bei strahlendem Herbstwetter. Doch oft sieht er die Jungs an und spürt den Schatten, der über ihrem Glück liegt.

HELENA LEA MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL HELENA LEA MANHARTSBERGER Dass sie nicht so ausgelassen sind, wie sie sein könnten. Und dass er der Grund dafür ist, kann Schedler nur schwer ertragen. »Für die Kinder wäre es das Einfachste, wenn ich aufhören würde, um sie zu kämp- fen«, sagt er: »Weil ich das nicht tue, muss ich ständig mit ansehen, wie sie in Kon- flikte geraten.« Yasar Kadkhodaey, Rechtspsychologe im Raum Norddeutschland, kennt viele solcher Fälle: »Wenn Eltern sich trennen, bedeutet das fürs Kind oft ein moralisches Dilemma«, sagt er. Regelmäßig muss Kadkhodaey für Gerichtsgutachten heraus- Kinderzimmer, finden, ob ein Kind den Vater oder die Vater Schedler, Garderobe Mutter von sich aus abzulehnen beginnt – »Wenn ihre Mutter nicht oder weil der andere Elternteil, mit oder dabei ist, fallen die Jungs mir ohne Vorsatz, den ehemaligen Partner in sofort um den Hals« ein schlechtes Licht rückt. »Viele Kinder schlagen sich auf eine Sei- te, um die belastende Situation für sich zu vereinfachen«, sagt Kadkhodaey. Meist bleibe Tochter oder Sohn gar nichts ande- res übrig, als Partei zu ergreifen für den Elternteil, bei dem das Kind die meiste Zeit lebt, weil es von diesem, so der Psy- chologe, »in jeder Hinsicht abhängig« sei. Der Düsseldorfer Psychotherapeut Wal- ter Andritzky, Sachverständiger für Fami- lienrecht, formuliert es drastischer: »Wer dem Ex-Partner das Kind zuerst entzieht,

HELENA LEA MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL HELENA LEA MANHARTSBERGER * Namen der Kinder geändert.

115 hat gewonnen«, sagt er. In 80 Prozent der hole und ihre Mutter nicht da- Fälle seien das die Mütter. bei ist, fallen sie mir sofort um Vater Schedler und seine Ex-Frau hatten den Hals«, sagt Schedler. sich nach der Trennung darauf geeinigt, Schedler ist in einem Väter- dass beide weiterhin im Kölner Süden forum im Internet auf den PA- wohnen. Die Kinder sollten in der gewohn- Begriff gestoßen, kurz nach ten Umgebung bleiben, nah bei ihren Bastians Abschiedsfeier im Freunden und Sportvereinen, nah beim Kindergarten. Der Kleine Vater. »Als ich auf einer Dienstreise war«, stand auf der Bühne, auf den erinnert sich Schedler, »teilte meine Frau Holzbänken davor saßen an- mir mit, dass sie mit den Kindern umzie- dere Kinder, unter ihnen sein hen werde – ans andere Ende der Stadt.« Bruder Leon. Auch Schedlers Seither haben die Kinder häufiger ge- Freundin und ihre Tochter Lil- sagt, dass sie nicht mehr so oft zum Vater ly waren da. möchten. Schedler glaubt, dass sich das ei- Lilly, erinnert sich Schedler, gentlich die Mutter wünscht. Er unterstellt setzte sich neben Leon auf die ihr nicht, die Kinder bewusst zu beeinflus- Bank – Leon, ihren Patchwork- sen: »Sie hinterfragt aber auch nicht, wa- Bruder, der in den Ferien mit rum die Kinder sich so verhalten.« Für sie, ihr herumalbert, der die ge- glaubt er, sehe es wohl so aus, als handele meinsame Zeit an den Wo- sie im Interesse von Leon und Bastian. chenenden genießt. »Er hat »Aber solange meine Ex-Frau nicht auf- sich erschrocken nach seiner hört, den Kontakt zu mir zu meiden und Mutter umgeschaut und sich ihre negativen Gefühle auf die Kinder zu so weit wie möglich von Lilly übertragen«, glaubt er, »dreht sich diese weggesetzt«, sagt Schedler. Spirale weiter.« »Da habe ich zum ersten Mal Es sind Kleinigkeiten, an denen Sched- begriffen, wie die Kinder sich ler die Zerrissenheit der Jungs erkennt: fühlen müssen.« Wenn sie beispielsweise mit zu kleinen Ein Montag im Mai, Sched- Sandalen zum Papa-Wochenende kom- ler war mit seiner Familie auf men. Dann sagt Schedler, er müsse mal dem Campingplatz, ein langes der Mutter Bescheid sagen, damit sie beim Wochenende Tretbootfahren, nächsten Mal passende Schuhe trügen – Grillen und Federball, die und erntet verschreckte Blicke. Nein, nein, Jungs, sagt er, wollten am liebs- sagen sie dann, die Sandalen seien okay. ten länger bleiben. »Ich habe

»Sie laufen lieber in zu kleinen Schuhen sie dann zur Schule gebracht, GESCHE JÄGER herum, als Kritik an ihrer Mutter zuzulas- und am Eingang haben sie sich sen«, sagt Schedler. umgedreht und gesagt, Papa, »Die reflexartige Unterstützung des ent- wir wollen nicht mehr so viele Feiertage und halten dann ihre eigenen Gefühle für fremdenden Elternteils« hat Experte mit dir verbringen.« Nach solchen Szenen, deckungsgleich mit denen der Kinder.« Kadkhodaey in einem Fachaufsatz unter erzählt er, »fahre ich um die Ecke und Für die Studie »Kindeswohl und Um- den PA-Symptomen aufgelistet: Mama möchte am liebsten losheulen.« gangsrecht« sind Rücker und seine Kollegen macht keine Fehler. Auch die »fehlende Schedler verzichtet auf zwei Tage Um- im Auftrag des Bundesfamilienministe- Ambivalenz« zählt dazu –dass Kinder bei gang pro Monat: Er will den Kindern zei- riums quer durchs Land gereist, sie besuch- Mama alles als toll und bei Papa alles als gen, dass er ihre Wünsche ernst nimmt, ten Hunderte Mütter, Väter und Kinder blöd beschreiben, ohne Ausnahme. den Konflikt mit der Mutter entschärfen. aus Familien, die vier bis fünf Jahre zuvor Die Kinder, schreibt deren Verfahrens- Doch die nächsten Ferien wird er notfalls auseinandergebrochen waren, befragten beistand in einer Stellungnahme, seien wieder vor Gericht einklagen. Eltern und Kinder und erhoben mit auf- »zurzeit nicht in der Lage, etwas Positives »Wo wären wir heute, wenn ich das wendigen Methoden den Entwicklungs- über den Kindsvater und dessen Umfeld nicht tun würde?«, fragt er. »Ich hätte die stand der Mädchen und Jungen. zu benennen«. Sie idealisierten die Mutter Kinder wohl schon verloren.« Wenn im Frühjahr 2019 die Ergebnisse und seien »in einen starken Loyalitätskon- vorliegen, werden Familiengerichte ihre flikt geraten«. Dennoch sei es förderlich, Fälle wie dieser zeigen, wie schwer es Entscheidungen besser auf Wissenschaft dass die Jungs »sowohl den Alltag mit dem für die Gerichte sein kann herauszufinden, gründen können. Bisher nämlich, sagt For- Kindsvater als auch der Kindsmutter er- was dem Wohl des Kindes dient. Sie sollen scher Rücker, gebe es »keine empirischen leben können«. die Wünsche der Kinder berücksichtigen, Studien zur Frage, welche Art des Um- Wenn er Leon und Bastian an seinen doch wie sind die zustande gekommen? gangs in welchen Fällen die beste für die Umgangswochenenden abholt, erzählt Meint ein Kind wirklich, was es über den Kinder ist«. Und trotzdem müssten Rich- Schedler, »dann gehen sie an mir vorbei Vater sagt, oder sagt es das, was die Mutter ter täglich genau das entscheiden. ins Auto, als wäre ich ein Fremder«. Dass hören möchte? Rücker und Kadkhodaey plädieren vor sich die Eltern bei diesen Übergaben über- »Diese Frage stellt sich häufig«, sagt Ste- allem für mehr Einheitlichkeit. Ob Fälle haupt begrüßen, hat das Gericht empfeh- fan Rücker, Psychologe an der Universität wie die von Körner und Schedler PA ge- len müssen, bis dahin war seine Ex-Frau Bremen. Oft merkten die Mütter oder Vä- nannt werden oder nicht, ist für sie zweit- gar nicht aus dem Haus gekommen. ter gar nicht, wie sie ihre Kinder gegen rangig. Aber Gutachter, Anwälte und Rich- Beim Vater angekommen, lassen die den oder die Ex in Stellung brächten: »Sie ter, fordern sie, sollten wissen, wie es sich Jungs dann endlich eine herzliche Begrü- lieben ja den ehemaligen Partner nicht genau abspielt, das Entfremden und Be- ßung zu. »Wenn ich sie von der Schule ab- mehr oder sind sogar sehr wütend auf ihn – einflussen, und sie sollten die Methoden

116 vor möglichen Konflikten zwischen den Eltern geschützt werden. In Deutschland, kritisiert der Würzburger Mediziner Wilfrid von Boch-Galhau, heiße es bei Jugendämtern und Familiengerichten noch viel zu häufig: »Wenn ein Kind nicht will, kann man nichts machen.« Von Boch- Galhau ist einer der wenigen deutschen For- scher, die zahlreiche wissenschaftliche Ar- beiten zum Thema veröffentlicht haben. 20 Jahre lang hat er verzweifelte Eltern und Großeltern beraten, die den Kontakt zu Kindern oder Enkeln verloren hatten. »Das geht bis zu Selbstmordgedanken«, sagt er.

Ebenso schwer haben die Kinder an der Entfremdung von einem einst geliebten El- ternteil zu tragen. »Wenn eine so wichtige Bindung gänzlich aufgelöst wird«, sagt Psy-

GESCHE JÄGER chologe Kadkhodaey, »birgt das viel Schä- digungspotenzial.« Man könne, meint sein Kollege Andritzky, »praktisch zusehen, wie dadurch psychische Krankheiten entstehen«. Wilfrid von Boch-Galhau hat für ein Buch zum Thema erwachsene PA-Opfer interviewt. Viele fühlen sich im Rückblick Moritz’ Halbschwester alleingelassen von Behörden und Gerich- Lisa, Fotoerinnerung, ten. »Alle haben gesagt, dass es für sie bes- Mutter Körner ser gewesen wäre, wenn man sie möglichst »Sie hat ihren Bruder früh vom entfremdenden Elternteil ge- immer vermisst« trennt hätte – auch gegen ihren Willen.« Marie Körner hat viele Jahre um ihren Sohn gekämpft. Mehrmals zog sie um, im- mer näher an das Haus seines Vaters. Heu- te gibt es in ihrer Wohnung ein Zimmer

GESCHE JÄGER für Moritz, liebevoll eingerichtet für einen Jugendlichen. An das Kind, das er einst war, erinnert nur sein alter Lieblingsteddy. kennen, mit denen sich diese Mechanis- »Es gibt in Deutschland bei diesem The- Genutzt hat er das Zimmer nie. men identifizieren lassen. ma zu wenig Problembewusstsein«, kriti- All die Jahre blieb die Trauer um den Rechtspsychologe Kadkhodaey muss siert Therapeut Andritzky, »dabei ist die Jungen bei ihr wie ein treuer Feind; sie auch in Strafprozessen beurteilen, ob die Entfremdung von einem Elternteil eine schlief schlecht, war gereizt. Einmal noch Angaben von Kindern glaubhaft sind und Form der Kindesmisshandlung.« machte sie einen Vorstoß, um diesem Kum- auf tatsächlichen Erlebnissen beruhen; er Andere Länder haben darauf bereits mer ein Ende zu bereiten – wenigstens für weiß, dass gerade junge Zeugen sich gut reagiert. In Großbritannien hat die Kin- ihre Tochter, die auch litt: Mithilfe eines Psy- manipulieren lassen. Mit diesen Techniken derschutzorganisation Cafcass unlängst ei- chologen schrieb sie einen Brief an Moritz’ aus der forensischen Psychologie, sagt er, nen Leitfaden vorgelegt, anhand dessen Vater, in dem sie eigene Fehler einräumte. lasse sich im Zuge der Diagnostik des kind- PA festgestellt und das Kind, wenn sonst Im Frühling 2018 treffen sich Moritz lichen Willens ab etwa vier Jahren auch nichts hilft, aus dem Haushalt des entfrem- und seine Halbschwester Lisa, 10, zum ers- herausfinden, ob sie von Mutter oder Va- denden Elternteils herausgenommen wer- ten Mal wieder. »Lisa war außer sich vor ter gleichsam ferngesteuert würden. den kann. In London gibt es eine »Family Freude«, sagt Marie. »Sie hat ihren Bruder »Wenn ein Kind seinen Papa nicht mehr Separation Clinic«, in der unter Aufsicht immer vermisst.« sehen möchte, versuche ich herauszufin- die Annäherung zwischen Kindern und An einem Sonntag im Juni schließlich den, ob das Gründe hat«, erklärt Kadkho- entfremdeter Mama oder entfremdetem geschieht das, worauf Körner längst nicht daey. Er lässt dann Vater und Kind in seine Papa erfolgt. mehr gehofft hatte. Als sie Lisa zu einem Praxis kommen und schaut, was passiert. Auf internationalen Fachkonferenzen, Treffen mit ihrem Bruder bringt, bittet der »Vor allem jüngere Kinder schaffen es wie vor Kurzem in Stockholm und Lon- Vater sie ins Haus. Seither hat sie Moritz meist nicht, eine Fassade aufrechtzuerhal- don, tauschen sich Psychologen über neue ein paarmal wiedergesehen. ten«, sagt er, »und wenn die Mutter erst Erkenntnisse aus, in einer an der Vander- »Mama« hat er sie nicht wieder genannt. mal außer Sichtweite ist, beobachte ich oft bilt University im US-Bundesstaat Tennes- Julia Koch, Sarah Wiedenhöft einen sehr liebevollen Umgang.« see beheimateten Datenbank können Durch ein solches Vorgehen lasse sich Fachartikel über PA abgerufen werden. auch fundierter klären, ob die Ablehnung In Österreich sind Eltern minderjähriger Video Vater ohne Kinder eines Elternteils erhebliche und nachvoll- Kinder seit 2013 per Gesetz verpflichtet, ziehbare Gründe hat, etwa wenn das Kind sich im Falle einer Scheidung von Fachleu- spiegel.de/sp452018kinder in dessen Haushalt Gewalt oder Miss- ten beraten zu lassen – damit sollen die oder in der App DER SPIEGEL brauch ausgesetzt war. betroffenen Kinder von Anfang an besser

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3.11. 2018 117 Wissenschaft Nächstes (großes?) Ding

Digitalisierung Blockchains werden als Gegenentwurf zum Internet der bösen Monopolisten gefeiert, als technische Revolution des Welthandels. Angeblich machen die »smarten Verträge« bald Banker, Notare und Bürokraten überflüssig. Kritiker halten das für Schaumschlägerei.

m kommenden Jahr werden mehr Heute ist freilich auch klar, welcher Re- irgendwem zu vertrauen. Das ist die Ver- Bundesminister zurücktreten, als chenaufwand mit den Bitcoins einhergeht. heißung. Jedermann kann ohne Weiteres I unsere Fußballnationalmannschaft Alles in allem verbraucht der Zauber, vor- mit Fremden vom anderen Ende der Welt Tore schießt. Wollen wir wetten? Bit- sichtig geschätzt, bald so viel Strom wie auf das Mühldorfer Kälbergeschäft wetten. te sehr: Die neue Onlineplattform Augur ganz Österreich – und großteils für bloße ist für alles offen. Hier darf man auch auf Spekulationsgeschäfte. Als Zahlungsmittel Vertrauen wird ersetzt durch Mathema- das Pfingstwetter am Nordpol setzen oder spielen die Bitcoins kaum mehr eine Rolle. tik und Verschlüsselung; so dachte sich das auf den Umsatz des Kälbermarkts von Mit dem Strom, den eine einzige Überwei- jedenfalls der Urheber der Blockchain, Mühldorf am Inn. sung erfordert, könnte man einen Tag lang eine noch immer unbekannte Wesenheit Die Kunden dieses wunderlichen Wett- 60 vierköpfige Familien versorgen. mit dem Decknamen Satoshi Nakamoto. büros bleiben anonym, was die Moral Aber die eigentliche Innovation, so Aber nun ist die famose Idee des Phan- nicht unbedingt hebt. Eine kleine Summe heißt es jetzt oft, sei ja ohnehin die Block- toms schon zehn Jahre in der Welt, und ist schon für den Fall hinterlegt, dass chain gewesen. Die Technik eigne sich noch immer gibt es – außer den unseligen Donald Trump noch in diesem Jahr einem nicht nur für zweifelhaftes Kryptogeld. In Bitcoins – keine durchschlagende Anwen- Attentat erliegt. einer fälschungssicheren Datenbank lasse dung dafür. Ist die Blockchain also nur eine Niemand stellt hier Fragen, es gibt keine sich auch ein Wählerregister für korrupte Lösung auf der Suche nach einem Pro- Buchmacher und keine Aufsicht, nur ein Weltgegenden niederlegen. Oder ein Her- blem? Etliche Kritiker behaupten das in- paar Computer. Die übersetzen jede Wette kunftsnachweis für Diamanten über alle zwischen, am lautesten der New Yorker in einen speziellen Programmcode, der Stationen hinweg – bis zurück zur mora- Wirtschaftsprofessor Nouriel Roubini. In sich dann von selbst abspult – unabänder- lisch akzeptablen Quelle. einem Gutachten für den US-Senat nannte lich und mit maschineller Gleichgültigkeit. Die Blockchain funktioniert, auch ohne er kürzlich die Blockchain »die am stärks- Ist der Ausgang der Wette festgestellt, wird dass eine zentrale Instanz dafür bürgt. Sie ten überschätzte Technik aller Zeiten«. der Einsatz jeweils vollautomatisch an die befreit den Bürger von dem Zwang, einer Roubini ist ein gefürchteter Donnerer, Gewinner überwiesen. Regierung, einem Zertifikat, überhaupt aber er hat auch schon beizeiten die große Menschliches Zutun ist dabei in der Re- Weltfinanzkrise 2008 kommen sehen. Im gel nicht mehr nötig, Fachleute sprechen Hype um die Blockchain erkennt er nun von »smarten Verträgen«. Teilnehmer, Re- Blockchain ähnlich verdächtige Akteure: »Bauernfän- geln und Einsätze sind im Code festge- am Beispiel »smarter Verträge« ger, Scharlatane und Schwindler«. schrieben und mathematisch versiegelt. Unter Anlegern findet gerade so gut wie Nachträgliches Fummeln ist ausgeschlos- Eine Firma richtet alles mit Blockchain Zulauf. In diesem Jahr einen »smarten Vertrag«, sen; wer verloren hat, muss zahlen. zum Beispiel für ihre wurden allein bis Anfang August schon Dafür sorgt die sogenannte Blockchain, Logistikabteilung, fast 18 Milliarden Dollar in diverse Ge- eine Datenbank besonderen Typs. Was als Blockchain ein. schäftsideen investiert. Das schätzt der dort einmal eingetragen ist, gilt als prak- Branchendienst Coinschedule. tisch unzerstörbar. Das Angebot reicht von einer Plattform Blockchain? für Onlinewahlen aller Art bis hin zu Flug- Das Wort steht irgendwie für Zukunfts- schreibern für Drohnen, die ihre Daten in technik schlechthin. Im Koalitionsvertrag einer Blockchain sichern – falls ein Unglück der Bundesregierung wird »Blockchain« geschieht, bekommt die Versicherung Zu- gleich siebenmal erwähnt. Jüngst erschien griff. Aber auch das Start-up Pigzbe, das das Zauberwort im Wahlkampf für den sich virtuelle Kryptosparschweine für Kin- Bezirkstag der Oberpfalz. Der FDP-Kan- der ausgedacht hat, konnte schon mehr als didat warb auf Plakaten mit dem Slogan Kunden können jetzt eigene Daten wie Lieferzeiten sieben Millionen Dollar einsammeln. »Blockchain und Blasmusik«. oder Herkunftsnachweise eintragen. Diese werden Startkapital besorgen sich die Gründer als Datenblock der Kette hinzugefügt. In der Kette Heilsgewisse Visionäre verheißen sogar sind alle Transaktionen transparent. in der Regel über ein Vehikel namens ICO ein neues, besseres Internet: Eines Tages (»Initial Coin Offering«). Das ist, standes- werde es, dank der Blockchain, wieder den gemäß für Kryptofreunde, eine Art Börsen - Nutzern gehören und nicht den Daten- gang ohne Börse, also unreguliert. Die Fir- monopolen von Google oder Facebook. ma richtet einfach öffentlich einen »smar- Je wolkiger der Begriff, so scheint es, ten Vertrag« ein, die Anleger zahlen ihr desto größer der Glaube an seine utopi- Die verschlüsselte, Geld darauf ein; so werden sie automatisch aufeinander aufbauende sche Kraft. Genügt es nicht zu wissen, dass und dezentrale Datenbank zu Anteilseignern. auf der Blockchain der zeitweilig sagen- ist kaum zu manipulieren. Oft genug ist der Geschäftszweck je- hafte Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin doch nur: Betrug. Das gilt für rund 80 Pro- beruhte? Dass etliche Glückspilze dabei zent der ausgelobten Projekte, wie die Be- reich wurden? ratungsfirma Satis Group ermittelte. So

118 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 löste sich im Frühjahr die vietnamesische simple Programme, die nach dem Prinzip Kunden, Händler und Werkstätten, Firma Modern Tech in Luft auf; sie hatte Wenn-dann ablaufen (»Wenn ich mein heißt das, sind allesamt über die Block- unter anderem eine Onlineplattform für Auto auf dem Parkplatz abstelle, dann bu- chain von TrustedCars zusammenge- Prominente und ihre Fans versprochen. che die fällige Gebühr ab«). Aber Visio- schlossen. Geld fließt automatisch gegen Die Investoren verloren rund 660 Millio- näre sehen schon eine neue Art des Wirt- Leistung. Nur im Ausnahmefall muss ein nen Dollar. schaftens in der Welt heraufdämmern. Mensch eingreifen. Auf dem turbulenten Markt sind aber Man könne ja vielerlei automatische Ver- Dem Kunden bleibt als Gegenüber im- auch seriöse Schwergewichte zugange, träge zusammenschalten, sodass sie wie mer noch die Betreiberfirma; gibt es Ärger, allen voran der Computerkonzern IBM. ein Räderwerk ineinandergreifen. Ganze kann er sich an sie halten. Nach der reinen Dort basteln schon mehr als 1500 Mit- Unternehmen ließen sich daraus womög- Lehre von der Blockchain ist aber eine ver- arbeiter an einer Blockchain namens lich aufbauen. antwortliche Instanz gar nicht mehr vorge- Hyperledger für Unternehmenskunden. Eine erste Ahnung gibt die Frankfurter sehen: Weil die Mathematik die Un antast - Der Handelsriese Walmart will damit sei- Firma TrustedCars. Sie will ab Anfang barkeit »smarter Verträge« garantiere, ne Lieferkette für grünes Blattgemüse ab- 2019 Gebrauchtwagen zur Miete vermit- könne theoretisch jeder mit jedem Ge- sichern: Alle Lieferanten dokumentieren teln, die sonst unnütz beim Händler he- schäfte machen. den Transportverlauf der Ware in einer ge- rumstünden. Der Kunde sucht sich online meinsamen Blockchain. Taucht irgendwo ein Modell aus, holt es ab und fährt damit, In der Praxis ist das riskant. Denn ein mikrobenverseuchter Salat auf, ist binnen solange er will. Er kann auch jederzeit auf »smarter Vertrag« ist nur ein Stück Soft- Sekunden die Quelle ausfindig gemacht. ein anderes Auto wechseln. Alle Kosten ware – und für einen Laien kaum zu be- Kein Zulieferer kann im Nachhinein Da- sind in der Wochenmiete inbegriffen. urteilen. Will der Programmierer ihn viel- ten frisieren. Denn die Blockchain ist eine Der Händler verdient auf diese Weise an leicht austricksen? Räumt der Vertrag, ein- Art gemeinsames Geschäftsbuch. Alle Vor- seinen Gebrauchtwagen, schon bevor sie mal in Gang gesetzt, vollautomatisch seine gänge werden darin der Reihe nach nie- Käufer finden. Und der Kunde hat jederzeit Ersparnisse ab? dergelegt; vor allem aber wird jeder neue Zugriff auf einen umfangreichen Fuhrpark. Es genügt, dass die Software versteckte Eintrag mit dem vorherigen mathematisch Wer für ein paar Monate miete, komme Fehler enthält. So ging es, als Kryptofans zusammengeschmiedet. Es entsteht eine deutlich billiger weg als beim regulären den Investmentfonds The DAO (»Decen- unauflösliche Kette. Macht sich ein Gau- Autoverleih, versichert Gründer Simon tralized Autonomous Organization«) grün- ner irgendwo an einem Glied zu schaffen, Toprak: »Wir müssen keine teure Infra- deten – ein Meisterwerk der Automatisie- wackelt die ganze Blockchain. struktur aufbauen mit eigenen Autos und rung. Der Fonds ließ sich über »smarte Auch ein »smarter Vertrag«, in solch Stationen«, sagt er. »Es ist alles schon da. Verträge« fernsteuern wie ein Roboter; eine Kette eingeklinkt, ist fortan gegen Ma- Und das Geschäft wickeln wir kostengüns- die Anleger mussten nur einzahlen. Bald nipulationen gefeit. Zwar sind das nur eher tig über ›smarte Verträge‹ ab.« waren umgerechnet rund 250 Millionen

Illustration: halbautomaten für den SPIEGEL 119 Nächste Woche Wissenschaft im SPIEGEL: Dollar beisammen. Der Code jedoch ent- ßerdem Nachfahren mit neuen Eigenschaf- hielt, von keinem Experten bemerkt, ein ten – die mit etwas Glück wiederum von winziges Schlupfloch. Ein Hacker fand es. anderen Spielern als Elterntiere für deren Als der Schaden zutage trat, war schon »Zucht« begehrt werden. etwa ein Viertel der Gelder abgeflossen. Die kanadische Firma Axiom Zen hat Und selbst wenn eine Blockchain makel - das Spiel im November vergangenen Jah- los und fummelfest konstruiert ist, kann res auf den Markt gebracht. Sie will das immer noch eine Menge Unsinn hinein- Publikum damit auch auf laienfreundliche geraten. Darauf weist der kalifornische Weise mit der neuen Technik vertraut Anlageberater Kai Stinchcombe hin: »Je- machen. Der ganze Katzenhandel wird mand kann eine Mango mit Pestiziden ein- über »smarte Verträge« gesteuert; er läuft sprühen und dann als ›bio‹ in die Block- auf der Blockchain einer szenebekannten chain eintragen«, schreibt er. Auch ein an- Plattform namens Ethereum. geblich fälschungssicheres Wählerregister Dort wurden die Cryptokitties rasch zur nutze nicht viel, wenn korrupte Macht - populärsten Anwendung. Bereits im De- haber sich ihre Stimmen einfach kauften zember zahlte ein Käufer umgerechnet oder das Wahlvolk einschüchterten. Besser 117712 Dollar für eines der Sammeltiere. seien immer noch gute Gesetze, unabhän- Aber schon der bescheidene Andrang gige Kontrolleure, unerschrockene Medien. einiger Tausend Katzenfreunde zwang Auch der Berliner Netztheoretiker Mi- die Technik nieder. Im Netzwerk von chael Seemann hält die Blockchain für heil- Ethereum staute sich der Datenverkehr, los überschätzt, er sieht darin eine Ausge- zeitweise warteten, zum Ärger der Spieler, burt rechtslibertärer Ideologen. »Dahinter 30000 Transaktionen auf Abwicklung. steckt das düstere Menschenbild des Heute ist bei den Cryptokitties nur noch Homo oeconomicus«, sagt er, »der immer wenig los, Umsatz und Interesse sind nach- nur rücksichtslos auf seinen Vorteil aus ist. haltig eingebrochen. In seiner Welt kann keiner dem anderen Auch anderswo spricht sich allmählich über den Weg trauen.« herum, dass Tempo und Effizienz nicht zu den Stärken der Blockchain gehören. »Die Mit den Institutionen, die stellvertretend Erwartungen waren zu hoch«, sagt Chris- für die Spielregeln bürgen, wollen die li- toph Meinel, Direktor des Potsdamer bertären Kryptiker ebenfalls aufräumen: Hasso-Plattner-Instituts. »Und nun ist die mit Banken, Notaren, dem Staat. Sie seien Bilanz eher ernüchternd.« Das Gesundheitsmagazin übermächtig und gefräßig geworden. Die Meinel glaubt, dass sich die Technik Blockchain der reinen Lehre ist deshalb »eher bei unspektakulären Aufgaben nütz- im SPIEGEL radikal dezentral. Sie haust nicht abge- lich macht«. Er denkt an die Verwaltung schieden in einer Bank oder dem Rechen- von Lieferketten in der Logistik oder von zentrum eines Konzerns, sondern in un- Patientendaten in der Medizin. »Aber zähligen Kopien offen im Netz. Jeder Mit- auch da dürfte kaum die Blockchain der spieler hat Zugang zu einer Kopie dieses reinen Lehre zum Einsatz kommen«, sagt Geschäftsbuchs, alle gemeinsam schreiben Meinel. Das heißt: Die Datenbank wird es fort, niemand kann es besitzen. doch wieder auf herkömmliche Weise zen- Themen der Ausgabe: Aber das Dezentrale hat einen hohen tral verwaltet. Zugang erlangt außerdem Preis. Eine aufwendig verschlüsselte Block- nur ein ausgesuchter Kreis. chain, die immerzu abertausendfach ko- Damit entfällt der größte Teil des Rechen - STÄRKE piert und übers Netz ausgespielt werden aufwands, das System wird schneller. Auch muss, ist unheilbar schwerfällig. »Alles, die Blockchain, die IBM anbietet, ist solch Unterstützen Sie Ihr was man mit einer Blockchain machen ein pragmatisch entkerntes Gebilde – mit kann, geht auch mit einer ganz gewöhn - der ursprünglichen Vision der Kryptiker Immunsystem gegen lichen Datenbank«, sagt Seemann. »Und hat das nicht mehr viel gemein. Grippe & Co. zwar einfacher, billiger und schneller.« Dennoch ist die Magie des Wortes un- Einziger Nachteil: Man müsse eben der gebrochen. Der deutsche Branchenver- Institution vertrauen, die diese Datenbank band Bitkom unternahm dazu kürzlich SCHUTZ betreibt. Aber dies scheint für die meisten eine repräsentative Umfrage. 53 Prozent Zeitgenossen weit weniger schlimm zu der befragten Unternehmen mit mindes- Gute Ergänzung: sein, als die Kryptiker behaupten. tens 20 Mitarbeitern sagten, die Block- Wie rasch hingegen das System der Pa- chain sei »sehr wichtig« für die Wettbe- In welchen Fällen ranoia an seine Grenzen kommt, zeigte werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Homöopathie sinnvoll ist ein harmloses Onlinespiel mit Sammelbil- Aber wollen sie die Technik auch selbst dern, genannt Cryptokitties. einsetzen? Das dann doch nicht: Nur 6 Pro- Die Spieler handeln da mit kulleräugi- zent planen oder erwägen solch ein Aben- SPORT gen Kätzchen in vielerlei Gestalt. Jedes teuer für die Zukunft. In der Gegenwart Exemplar ist mit seinem Code in der ist die Blockchain offenbar noch gar nicht Darauf sollten Sie im Blockchain vermerkt; es kann weder ge- angekommen – derzeit, so heißt es, werde klont noch gestohlen oder gelöscht werden. sie in »praktisch keinem« Unternehmen Fitness-Studio achten Die Spieler kaufen und verkaufen ihre genutzt. Manfred Dworschak Katzen; durch »Paaren« erzeugen sie au-

120 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Schutzmantel für die Zähne die für Schutzmantel S gleicht, ist zwar die härteste Substanz im im Substanz härteste die zwar ist gleicht, einem Gitter aus Mineralien das schmelz, Zahn- machen. Kariesbefall gegen fähiger widerstands- Zähne soll Wirkstoff Der cken. Zahnpasta, Mundwasser und Co. zurückbli- in Wirkstoff als auch Fluorid kann Karriere lange ebenso fast eine Auf bringen. näher dem Nachwuchs richtige das Zähneputzen sollen Kinderbuchklassiker gleichnamigen Hydroxylapatit vor –demHauptbestandteil desZahnschmelzes. zu schützen. DieKarex-Zahnpasta Dochesgeht auch anders: beugtmit demMineral Die meisten Zahnpfl GUT GESCHÜTZT GUT mit Hydroxylapatit Effektiver Kariesschutz ZAHNPFLEGE zu Hause. Die beiden Trolle deutschen in Kinderzimmern ausBaktus dem und Karius sind Jahren 60 als mehr eit

wurde. nachempfunden Natur undder ist enthalten derinKarex Wirkstoff, aus Hydroxylapatit. Einaus Hydroxylapatit. Rund 97 Prozent des Prozent 97 Rund Dentins bestehen bestehen Dentins 70 Prozent des Prozent 70 und Zahnschmelzes egeprodukte setzen auf denWirkstoff Fluorid, umvor Karies Quelle: Karex ansiedeln, deren Stoffwechselprodukte die können der sich Zahnoberfl an Bakterien herauslöst. Zahnschmelz-Gitter dem aus Mineralien und angreift Zähne die welche Säure, entsteht Dabei Teil Mund. im einem rung zu sich, zersetzen Bakterien diese zu Nimmtundurchdringlich. der Mensch Nah- Körper,menschlichen nicht aber trotzdem Schnitt an 11,2 Zähnen eine Karieserfah- im Mundgesundheitsstudie Deutscher ne zwischen 35 und 44 Jahren laut Fünfter Bohrer greifen. So haben jüngere Erwachse- häufi noch immer müssen Zahnärzte stärken Zahnschmelz risiko führen. erhöhten einem zu menten, kann Karies- Medika- von Vielzahl eine durch ausgelöst wichtige Rolle. Aber auch Mundtrockenheit, eine Ernährung die spielt Bakterien den entsprechen- Neben von Karies. Entstehung Karies. Folge: Die angreifen. weiter Zähne Dabei fördern verschiedene Faktoren die Einfl Schädliche üsse g zum äche äche – ohne Fluorid. – ohne Kariesschutz wirksamen modernen, einen haben, sich festzusetzen. Damit bietet Karex Chancen weniger deutlich Zahnbelag und Bakterien sodass antimikrobiell, Xylit und Schutzschicht. Zusätzlich wirkt sie mit Zink Stellen im Zahnschmelz und bildet eine angegriffener Regeneration die Karex stützt unter- angewendet, Täglich ist. nachgebildet Zahnschmelzes natürlichen des standteil Hauptbe- dem das Mineral, das nutzt Karex von Zahnpasta Die basiert. Hydroxylapatit Wirkstoff zahnverwandten effektiven, dem Stel- dieser An auf die an, Kariesprophylaxe eine le setzt Zähne. 17,7 durchschnittlich es sind 75-Jährigen bis 65- den Bei rung. wie ein moderner Kariesschutz ohne Fluorid wirkt. Fluorid ohne Kariesschutz moderner ein wie vorbeugen“„Karies erfahren, im Film und scannen Code QR ANZEIGE

Fotos: picture alliance/dpa Themendienst Wissenschaft

Sammelbienen mit Erkennungschip Teil einer größeren sozialen Choreografie

Menzel gemessen, ein renommierter, in- zwischen emeritierter Bienenexperte von der FU Berlin. Sein Team verfolgt die Tiere per Radar, viel genauer, als Frisch das je konnte. Menzel beobachtete, dass der Tanz nur eine recht grobe Ortsangabe bietet, daher fliegen Sammelbienen den letzten Teil der Strecke suchend im kreisenden Zickzackflug. Aber selbst wenn erfahrene Sammlerinnen heimlich von den For- schern an einer anderen Stelle ausgesetzt werden, finden sie zur Futterquelle. Sie orientieren sich dabei an Landschafts- elementen, die im Tanz gar nicht mitgeteilt werden. Zudem nehmen sie trickreiche Abkürzungen. Menzels Vermutung: Sie haben eine Art mentale Karte in ihrem winzigen Hirn. Summen im Zickzack Nein, eine Karte wäre viel zu aufwendig, wendet die Forschungsgruppe um Rüdiger Biologie Seit Ewigkeiten im Lehrplan: der Schwänzeltanz Wehner in Zürich ein, Mitautor eines der wichtigsten Zoologielehrbücher. Bienen be- der Bienen. Doch nun wird klar, dass die Sprache der trieben ihre Navigation nicht in einer zen- Pollensammler anders funktioniert als gedacht. Bloß wie? tralen Schaltstelle, sondern eher dezentral vernetzt, glaubt der Neurobiologe. Mal stehen die Infos aus dem Schwänzeltanz bschon fern des Gemetzels an der eine Sternstunde der Wissenschaft. 1973 im Vordergrund, mal der Geruchssinn, mal Front, drohte das Kriegsjahr 1941 bekam Karl von Frisch den Nobelpreis. eine Art fotografisches Gedächtnis. O für Karl von Frisch zur Katastrophe Das war auch deshalb möglich, weil er Noch werden derlei Diskussionen vor zu werden: Ein Bienensterben grassierte nach dem Krieg als Beispiel des »guten allem in Fachzeitschriften verhandelt, in Deutschland. Die Seuche vernichtete Deutschen« auftrat, der völlig unberührt aber allmählich dringen sie auch in Schu- mehr als 800000 Völker. Was tun ohne die durch die Nazizeit gelangt war, wie die len und populäre Sachbücher vor. »Das Bestäuber? Es würde Missernten geben, Wissenschaftshistorikerin Tania Munz in Genie der Honigbienen« heißt der opu- das war klar. Zu allem Überfluss versuchte ihrer gerade auf Deutsch erschienenen Bio- lente Fotoband eines Teams um den Würz- das Reichssippenamt, Frisch als »Viertel- grafie »Der Tanz der Bienen« schreibt*. burger Bienenforscher Jürgen Tautz, der juden« von seinem Professorenposten in Es geht ihr dabei nicht um Schuldzuwei- für seine lebendige Wissensvermittlung München zu verjagen. sungen, sondern um abgestufte Grautöne 2012 den Communicator-Preis der Deut- Verzweifelt suchte Frisch, damals Mitte der Lichtgestalt, zu der Frisch unterdessen schen Forschungsgemeinschaft verliehen fünfzig, einen Ausweg. Bislang hatte er avanciert war – einem unangreifbaren Mis- bekam**. eher als Grundlagenforscher gearbeitet. ter Bien, den zu kritisieren einem Sakrileg Tautz beschreibt den Bienentanz als Nun schwenkte er in die Praxis um: Wie gleichkäme. Teil einer größeren sozialen Choreografie. lässt sich die »Arbeitsintensität« der Tiere Die Neubewertung des Wissenschaftlers Eben weil die Bienensprache so ungenau steigern? Er schrieb dem Unirektor, dass Frisch passt gut zur aktuellen Bienentanz- sei, lotsten erfahrene Sammlerinnen Neu- er sich nicht bewusst sei, »in Wort oder forschung, die in den vergangenen Jahren linge teils durch Hin- und Herfliegen auf Tat jemals etwas unternommen zu haben, große Fortschritte gemacht hat; gleich meh- Luftkorridoren zum Ziel, markierten es was den Interessen des nationalsozialis - rere Biologen werfen einen frischen Blick mit Duft aus einer Drüse und umkreisten tischen Staates zuwiderlaufen würde«. Und auf die Bienen. Vieles, was in Lehrbüchern es mit auffälligen »Brauseflügen«. bat, »Volk und Staat« zu dienen, indem er steht, stellt sich inzwischen anders dar: Was würde Karl von Frisch von einer weiterforsche, darunter: »Heil Hitler«. lebenspraller, plausibler, differenzierter. solchen Neubewertung halten? Wahr- Er durfte weiter Wissenschaft betreiben, Es heißt, dass die Bienensprache ganz scheinlich würde sie ihn unwiderstehlich ließ aber auch einen dubiosen Film dre- präzise den Ort einer Blütentracht angebe. verführen: zum Weiterforschen. Er war hen, dessen Darstellung der Drohnen als Aber wie soll das funktionieren? Wenn bekannt dafür, seine eigenen Theorien faule Schmarotzer sich im politischen Kon- eine Sammelbiene zum Stock zurückkehrt, immer wieder nachzujustieren. Als befän- text durchaus auch als Hasspropaganda tanzt sie oft mit »schwänzelndem« Hinter- de er sich selbst auf zickzackförmigem eignete. teil. Jeder Ausschlag stehe dabei für eine Suchflug, sah er seine Beobachtungen oft Am 15. Juni 1945, wenige Wochen nach Distanz von rund 30 Metern, hat Randolf weniger als Lösung denn als Rätsel. Kurz der Kapitulation, stieß er auf das Geheim- nach seinem Durchbruch schrieb er 1946 nis der »Bienensprache«. Die Insekten, so * Tania Munz: »Der Tanz der Bienen: Karl von Frisch einem Freund: »Wenn du jetzt glaubst, Frischs Erkenntnis, teilten sich mit einer und die Entdeckung der Bienensprache«. Czernin; dass ich spinne, so hast du doch nicht recht, Symbolsprache den Ort einer Futterquelle 360 Seiten; 27 Euro. aber ich könnte es verstehen.« ** Éric Tourneret, Sylla de Saint Pierre, Jürgen Tautz: mit, indem sie ihre Körperausrichtung auf »Das Genie der Honigbienen«. Ulmer; 264 Seiten; Hilmar Schmundt den Stand der Sonne beziehen. Es wurde 49,95 Euro.

122 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Lese-Stipendien für Studenten

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»Das war das letzte Mal, dass wir Kulturfuzzis aus uns selbst so ’ne große Sache gemacht haben.« ‣S.134

Serien Unter Topfpflanzen

Diesmal will Heidi Bergman alles richtig machen. Sie soll ein Hilfsprogramm für traumatisierte Soldaten mitaufbauen, obwohl sie keine ausgebildete Therapeutin ist. Doch sie kann zuhören, organisieren, anpacken. Vor allem ist sie bereit, alles zu geben. Vier Jahre später arbeitet sie als Kell- nerin in einem Restaurant. Ein Gast hat eine Frage: ob sie nicht mal für das Homecoming-Zentrum gearbeitet habe? Bergman schaut ihn an, als wäre etwas sehr schiefgelaufen in ihrem Leben. Was das war, ist die große Frage in der Serie »Homecoming«, seit dem 2. November in der Originalfas- sung verfügbar auf Amazon Prime. Ein Psychothriller in zehn Folgen. Julia Roberts spielt die Hauptfigur; die einst größte Schauspielerin der Welt in ihrer ersten Fernsehrolle. Regie führt Sam Esmail, seit seiner Hackerserie »Mr. Robot« sehr gefragt; Vorlage war ein Podcast, eine mehrteilige Hörspielcollage aus Telefonaten, Gesprächen und Aufzeich- nungen von Therapiesitzungen. In »Homecoming« wird fast durchweg geredet, aber Esmail findet dafür Bilder, wie sie selbst in der derzeitigen goldenen Ära der Fernsehserie selten sind. Irgendwo lauert ein großer politischer Skandal – etwas stimmt nicht mit dem Hilfsprogramm, mit den Soldaten, mit Heidi Bergman. Doch in »Homecoming«, und das ist das Wunderbare an dieser Serie, liegt jeder Verschwörung banaler Büroalltag zugrunde. Zwischen Topfpflanzen und Aquarien spielt Roberts eine Frau frei von Glamour und mit fragwürdiger Perücke, eher von Verzweiflung als von Ehr- geiz getrieben. Sie steckt in einem System der persönlichen Selbstaufgabe und der Entmenschlichung, in dem jeder für den Job zu funktionieren hat, egal wie sinnlos oder frag- würdig dieser ist. Die Serie handelt von Dienern eines gigan-

AMAZON PRIME AMAZON tischen Apparats, die allesamt hoffen, dass er ohne sie nicht »Homecoming«-Star Roberts laufen würde. Und sich allesamt irren. RED

Sexualität ein sexuelles Überangebot aus legalisier- te Biss in den sauren grünen Apfel lässt Zu viel Saft ter Prostitution, Internetpornografie, Adam das Wasser im Munde zusammen- Datingapps und zunehmend salonfähigem laufen, sondern die Vorfreude auf den Fast unmöglich, in diesen #MeToo-Zei- Sexspielzeug. Die »neue sexuelle Revolu- süßen Saft der fünfzig bis achtzig pflück- ten ein langweiliges, schlechtes Buch tion« komme »leiser, verborgener und reifen exotischen Früchte des Klubs.« Das über Sex zu schreiben – aber: Es geht. subtiler daher« als jene der Sechzigerjah- soll vermutlich flapsig klingen, es ist ordi- Den Beweis angetreten hat Dr. med. Hei- re. Umso plumper wird sie von ihr när und menschenverachtend. Über ein ke Melzer, die ihren Doktortitel sicher- beschrieben. Melzer textet mal technizis- Bordell, das 2014 in Saarbrücken eröffne- heitshalber auf den Titel ihres Buches tisch, mal im werblichen Marketington, te, schreibt sie: »Seitdem flutscht der schreibt und auch in die Adresse ihrer immer wieder aber auch mit dicker Hose Grenzverkehr wie geschmiert.« Über eine Homepage: www.dr-med-heike-melzer.de. wie ein Zuhälter. Über den Stuttgarter Prostitutionswebsite heißt es, »Stoßzei- Melzer arbeitet als Sexualtherapeutin FKK-Klub »Paradise« weiß sie zu berich- ten« seien Montage. Dem »Focus« war und als Businesscoach in München, was ten, dass er im einstigen Gebäude einer das Buch dennoch ein Interview wert, der uns – hätten wir denselben Humor wie Firma für Blasformtechnik eröffnet hat – »Süddeutschen Zeitung« ebenso, der sie – zu schlüpfrigen Scherzen animieren und fügt an, man sei dem Thema dort »Welt am Sonntag«, der »Brigitte«, »Zeit würde. »Scharfstellung« heißt ihr Buch, also treu geblieben: Blasen, weiblichen Online«, den Fernsehmagazinen »ttt« und erschienen bei Tropen, das voller Ach- Formen und einer gewissen Technik. Der »Westart«. Man kann in diesen Zeiten was-Weisheiten steckt, gern kulturpessi- Name »Paradise« sei Programm, sogar ein schlechtes Buch über Sex schreiben – mistisch serviert. Melzer diagnostiziert Äpfel lägen aus. »Nicht jedoch der beherz- ein erfolgloses offenbar nicht. TOB

124 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Kino sorgfältiger Planung gehandelt werden Nils Minkmar Zur Zeit Mondlandung ohne Pathos sollte und große individuelle Leistungen oft kollektiven Anstrengungen zu verdan- Aus dem Sattel Selten wirkte ein Nationalheld auf der ken sind. Ja, Getöse gibt es auch, aber Leinwand so wenig heroisch. Im Welt- nur dann, wenn eine der Raketen des Es war das letzte Stück einer raumepos »Aufbruch zum Mond« (Start: »Apollo«-Programms abhebt und langen Reise, und weil es spät 8. November) erleben die Zuschauer sich die Astronauten wie in einer war, nahm ich ein Taxi. Den den Astronauten Neil Armstrong, Blechbüchse fühlen, die von einer Fahrer kannte ich nicht, wir gespielt von Ryan Gosling, als einen in Riesenhand geschüttelt wird. Cha- waren beide nicht be sonders sich gekehrten, etwas maulfaulen, beharr- zelle macht aus der Raumfahrt eine gesprächig an diesem Diens- lichen Arbeiter. Er betritt am Ende den physische Erfahrung, wie man sie aus tagabend. Es ging zügig über die Mond, als wäre dies wirklich nur der dem Kino noch nicht kannte. Die Rake- mir so vertraute Autobahn, bis es nicht letzte von vielen Tausend kleinen Schrit- ten mögen in der Sonne Floridas noch so mehr weiterging. In Sekunden. Es geht ten. Das neue Werk des Regisseurs hell geglänzt haben, entscheidend war sehr schnell, eine Rettungsgasse zu Damien Chazelle, der im vorigen Jahr letztlich, dass die Nieten hielten. Und bilden, wenn drei gewaltige Einsatzfahr- mit seinem Musical »La La Land« sechs dass die Astronauten eben keine wilden zeuge der Feuerwehr sich mit einigem Oscars gewann, ist ein Anti-Trump-Film: Draufgänger waren, sondern ganz norma- Tempo nähern. So eine Rettungsgasse leise, nachdenklich, konzentriert, von le Männer, die Angst davor hatten, bei befördert den Wagen viel näher an die der Überzeugung geprägt, dass erst nach ihrer Mission draufzugehen. LOB Fahrbahnbegrenzung. Die bestand an dieser Stelle aus dem Plastikprovisorium einer ewigen Baustelle, einer halbhohen Planke, die aussah wie von Playmobil. Ausstellungen Ausstellung in der Berlinischen Galerie Ein Unfall zieht schnell weitere nach Aufbruch im November will diese in Vergessenheit geratene sich, es war gefährlich. Man verfällt in Gruppe von kommender Woche an ins magisches Denken: Der Zug, mit dem Sie bildeten einen lockeren Zusammen- Bewusstsein des Publikums zurückholen ich angekommen bin, hatte eine Verspä- schluss, waren aber durch ein starkes (bis 11. März 2019). Gezeigt werden tung von zwölf Minuten. Wäre er pünkt- Gemeinschaftsgefühl verbunden und for- mehr als hundert Werke, auch Filme und lich gewesen, wären wir mitten in den derten nicht weniger als eine echte Architekturmodelle. In der Vereinigung Unfall hineingerast. Andererseits wäre Zukunft. Die Mitglieder der 1918 gegrün- trafen Utopisten aus allen kulturellen es klüger gewesen, die S-Bahn zu neh- deten Novembergruppe, darunter der Bereichen zusammen. 1924 wurde der men. Dann wüsste ich von alldem nichts. Maler George Grosz, wollten einen Architekt Ludwig Mies van der Rohe Michel de Montaigne kam so zu Krieg, wie er hinter ihnen lag, nie wieder ihr Vorsitzender. Um 1930 begann die einem seiner wichtigsten Essays: Im erleben. Sie glaubten an die Kraft der Gruppe auseinanderzufallen. 1935 wurde Jahre 1573 oder 1574 war er auf Demokratie – und einer radikalen Kreati- die Novembergruppe aus dem Ver - dem Heimweg, als einer seiner Leute, vität. Sie schrieben Manifeste, feierten einsregister gestrichen. Aber da war die ein großer Kerl, sein großes Pferd in Kostümpartys, schufen Avantgarde. Eine Zukunft ohnehin schon vorbei. UK Höchstgeschwindigkeit ausritt. Er über- sah seinen Chef einfach, der aus der anderen Richtung kam, einen – wie Montaigne über sich selbst schreibt – kleinen Mann auf kleinem Pferd. Mon taigne flog aus dem Sattel und war bewusstlos. Man hielt ihn für tot. Das Erste, was er wahrnahm, waren die Klage rufe seiner Frau, die aus dem Haus trat und ihm den Hang hinab ent- gegenstürzte. Er sagte, nur halb bei Bewusstsein, man möge seiner Frau doch bitte ein Pferd geben, der Weg sei schwierig. So nahe sei er dem Tode nie wieder gekommen, schrieb er und fand NACHLASS KARL VÖLKER, FOTO: KLAUS E. GÖLTZ KLAUS FOTO: NACHLASS KARL VÖLKER, den Gedanken ganz tröstlich. Auch Sophokles behandelt in »König Ödi- pus« die Folgen eines Verkehrsunfalls: Ödipus gerät über eine Frage der Vor- fahrt in einen Streit und tötet zwei Männer. Dass einer davon sein Vater ist, macht aus dem Unfall ein Drama, das uns bis heute beschäftigt. Der Verkehrsunfall ist eine philosophi- sche Disziplin: Er verwandelt unsere schönen Pläne in einen krachenden Witz und überfordert uns mit Fragen, deren Antworten wir mühsam erfinden müssen. VG BILD-KUNST, BONN 2018, BPK / NATIONALGALERIE, SMB / JÖRG P. ANDERS P. SMB / JÖRG BPK / NATIONALGALERIE, BONN 2018, BILD-KUNST, VG CHRISTOPH MÖLLER, DIESSEN/AMMERSEE; CHRISTOPH K.-A. BECKER REPRO:

Werke der Novembergruppe-Künstler An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Karl Völker, um 1924, Otto Möller, 1920, Grosz, 1926 Elke Schmitter im Wechsel.

125 Kultur »Aufgescheucht und nervös, sind wir Deutschen leichtes Futter«

SPIEGEL-Gespräch Müsste der Bundespräsident singen können, Herbert Grönemeyer wäre der ideale Kandidat. Ein paar Fragen zur Lage der Nation – und zu seinem neuen Album »Tumult«.

SPIEGEL: Herr Grönemeyer, 1993 haben mit ihren Provokationen. Für mich ist die SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. Sie ein Album namens »Chaos« veröf- schwedische Nationalmannschaft das bes- Grönemeyer: Wir haben das Zerbrech- fentlicht, nächste Woche erscheint Ihr te Vorbild, als deren Spieler Jimmy Dur- liche, diese Unruhe negiert. Das alles ist neues Album, »Tumult«. Beide drehen maz wegen seiner türkischen Abstam- schon 1990 entstanden. Aber wir haben sich um die Stimmung im Lande. Was ist mung und wegen seines Fouls, das zu einem nie richtig darüber gesprochen, dass sich heute anders? Freistoßtor führte, Hassmails bekam: Die zwei in meinen Augen komplett unter- Grönemeyer: Nach der Wiedervereini- Jungs haben sich ganz souverän hinter ihn schiedliche Kulturen seit 28 Jahren versu- gung ging es unter anderem um die Brand- gestellt und gesagt: »Fuck racism«. Mein chen zu vereinigen. Nicht Ost- und West- sätze von Neonazis in -Lichten- Versuch mit »Tumult« ist, so eine Stim- deutsche, sondern eher wie Walonen und hagen. Vom Tenor her ist es dasselbe mung zu erzeugen. Wir können zusam- Flamen, so unterschiedlich sind diese Kul- wie heute, aber damals hat sich das nicht menhalten. Glaubt nicht, dass ihr uns ner- turen. Es wäre ehrlich gewesen, mal zu fra- so in die Gesellschaft gefräst, das waren vös machen könnt. gen: Wie seht ihr die Dinge, was habt ihr klare, gemeine, rechtsradikale Attacken, SPIEGEL: »Ganz ruhig«, rufen Sie einmal für Erfahrungen? Einfach mal zuhören. da konnte man mit einem Song wie »Die auf dem Album. Liegt darin nicht die Ge- Das haben wir aber nie gemacht. Wir ha- Härte« reagieren … fahr, dass man sich zu sehr beruhigt? ben die Menschen überrannt und aufge- SPIEGEL: … in dem es über Neonazis heißt: Grönemeyer: Nee, nee, nee! Das eben kauft. Niemand hat sich Gedanken ge- »Hart im Kopf, weich in der Birne«. nicht! Im Gegenteil. Ich bin jetzt 62, ich macht, wie es ihnen geht in dieser neuen Grönemeyer: Genau. Aber der im Nach- glaube, jetzt ist es das erste Mal in meinem Struktur, in diesem kapitalistischen Sys- hinein elementarere Song auf dem »Cha- Leben, dass ich die Kraft, die Öffentlich- tem. Alles, was sie gemacht haben, galt als os«-Album ist »Grönland«, der beschreibt keit und die Lautstärke für so eine Art Fehler. Sie waren generell eher unsicher ganz präzise, wo wir heute sind: »Brand- Widerstand aufbringen muss. Ich versuche in ihrer Identität, aber dennoch hatten sie spuren ziehen durch die Gemeinden«. nur klarzumachen, dass es ein langer Pro- was Eigenes geschaffen. Dieser Herausfor- SPIEGEL: Ein parolenhaftes Lied wie »Die zess sein wird, der lange viel Wucht und derung müssen wir uns jetzt stellen. Härte« findet sich nicht auf »Tumult«, die Aufbruch erfordert. Nicht: Das regelt sich SPIEGEL: Sind Sie da zuversichtlich? Auf Stimmung ist eher nachdenklich als agita- schon. Eben nicht! Sind wir so reif, können Ihrem Album klingt es eher ambivalent. torisch. Warum? wir eine Gesellschaft über einen längeren Grönemeyer: Ich glaube fest daran, dass Grönemeyer: Mir ging es mit dem neuen Zeitraum stabil halten, auch wenn die es geht. Für mich selbst glaube ich: Wir Album darum herauszufinden, inwieweit Politiker gerade wackeln und herumeiern? schaffen das, aber es dauert mindestens wir alle für dieses rechte Gedankengut an- Wir können nicht immer alles den Politi- zehn Jahre. fällig sind. Wie leicht wir infizierbar sind, kern aufhalsen. Wenn das so ist, wenn der SPIEGEL: Sie haben gerade »Wir schaffen wenn wir frustriert oder genervt sind – oder Kapitän betrunken an Deck steht, dann das« gesagt. vielleicht sogar schon infiziert sind. Und ob können wir ja nicht sagen, wir lassen das Grönemeyer: Das war natürlich von An- wir dessen gewahr sind. »Bist Du da« zum Schiff jetzt untergehen. Kapitän, das sind gela Merkel damals der falsche Satz. Sie Beispiel ist ein klares Widerstandslied, ein nicht die, das sind wir. hätte eher sagen sollen: Wir sollten versu- Aufruf, sich zu bekennen. Dahinter stand SPIEGEL: Sie meinen: den Tumult als chen, es gemeinsam zu schaffen, weil wir die Frage: Sind wir in der Lage, aufgeklärt Chance begreifen? Den Deutschen sind hier eine Notsituation haben. Das war eine und erwachsen Widerstand zu leisten? Wir die stabilen Verhältnisse doch so wichtig. riesige vergebene Chance, dem Land ein wollen nicht, dass Menschen gejagt werden. Grönemeyer: Ja, aber wir müssen lernen, Stück Identität zu geben. Es gibt bis heute Wir wollen nicht, dass Menschen ausge- dass wir diese Stabilität eben nicht haben. wahnsinnig viele, die sich um Geflüchtete grenzt werden, das muss man klar und mas- Wir haben Unruhe, ein gewisses Chaos. kümmern. Das hat man nicht honoriert. siv sagen. Aber können wir das auch mit Jetzt kommt es darauf an, sich geistig und Stattdessen hat man das ganze Thema den einer gewissen Ruhe? Können wir als Ge- kulturell mit dieser Unsicherheit auseinan- Rechten überlassen. sellschaft zusammenhalten, auch in einer derzusetzen. Das ist neu, und das liegt uns SPIEGEL: Müsste zum produktiven Tumult Phase wie jetzt, wenn die Politik schwächelt? nicht, dem Land der Ingenieure. Aber die- auch gehören, die vermeintliche Stabilität Wenn wir aufgescheucht werden und nervös, se Unsicherheit ist nicht erst heute einge- der Großen Koalition aufzugeben? dann sind wir Deutschen leichtes Futter. Und treten, die haben wir im Grunde genom- Grönemeyer: Ich hätte vor Neuwahlen kei- das wollen die Rechtspopulisten erreichen men seit der Wiedervereinigung, nur ha- ne Angst. Das hat auch die Wahl in Bayern ben wir uns nie darüber unterhalten. Wir gezeigt: Es ist nun nicht so, dass die AfD Das Gespräch führte der Redakteur Andreas Borcholte haben auch das Problem der nicht vollzo- da tierisch abgeräumt hätte. Deren Futter in Berlin. genen Wiedervereinigung. ist auch weg. Das liefern vielleicht noch

126 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 LISA WASSMANN / DER SPIEGEL WASSMANN LISA Musiker Grönemeyer: »Kapitän, das sind wir«

127 Kultur

Rechtsausleger in der CSU. Ansonsten ist bin kein Angestellter des Publikums. Ich spielt, da kommen wir her. Für uns war da nichts zu holen. Wovon wollen die die freue mich, wenn viele meine Musik hören Rockmusik immer ein Statement gegen Menschen überzeugen? Letztlich haben und in meine Konzerte kommen, aber das das Establishment, gegen Altnazis, gegen die nichts zu erzählen. Sie können nur heißt nicht, dass ich denen ständig koche, rechte Presse, das war unser Antrieb. Aber Hass predigen und Wut kanalisieren. was gerade am liebsten gegessen wird. genauso gibt es auch heute viele Bands SPIEGEL: Zumindest im Osten der Repu- Mein Ansatz war und ist immer, mich im mit dem gleichen Antrieb, siehe Kettcar, blik funktioniert das ganz gut. Haben die Rahmen meiner Mittel und Möglichkeiten Casper, Marteria, Feine Sahne Fischfilet. Politiker der Volksparteien das Volk nicht stets wieder neu zu erfinden. Ob das mit Ich kann mir gut vorstellen, dass jetzt so ernst genug genommen? »Sprünge« war, dem Album, das nach ein Moment der Dynamisierung da ist, in Grönemeyer: Sie haben sich um das Volk »Bochum« erschienen ist, oder 1998 mit dem wir alle merken, wie wichtig es ist, gar nicht gekümmert, sondern waren ein- »Bleibt alles anders«, das waren immer gemeinsam die Stimme zu heben. fach zu begeistert von sich selbst. Und das Spaltungen. Man verliert Fans oder ge- SPIEGEL: Andererseits sind die jüngeren kriegen sie nun auch zu hören. Verstanden winnt neue hinzu. Aber darüber denke ich Popstars des Landes nicht nur musikalisch haben das als Erste die Grünen: Aha, die nicht nach. Das kann nicht mein Begriff ziemlich weit weg vom politisch korrekten Menschen wollen, dass wir uns um ein - von Kunst sein. Deutschrock Ihrer Generation. Schaudert zelne wichtige Themen kümmern und SPIEGEL: Was ist denn Ihr Begriff von es Sie eigentlich, wenn Sie deutschen Stra- die dann auch angehen. Das signalisiert Kunst? ßenrap hören? sofort: Wir interessieren uns. Die Men- Grönemeyer: Ich bin ein melodischer Grönemeyer: Dafür ist die Musik da! Im schen sind gewillt, Dinge zu verstehen und Mensch. Ich schreibe melodische Rock- Grunde soll die spalten. Das Schlimmste ist, wenn die alten Hippies erzählen, bei uns war alles noch viel verrückter. Musik, ob das jetzt Rock oder Rap ist, dient dazu, dich von deinen Eltern abzugrenzen. Dazu braucht man viel Druck. SPIEGEL: Das heißt, Sie können auch den Rappern Kollegah und Farid Bang et- was abgewinnen – und deren berüchtigter Zeile »Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen«? Grönemeyer: Das geht gar nicht! Ich frage mich immer: Wie hip soll das sein? Fai - rerweise muss ich aber sagen, dass sie sich dafür entschuldigt haben. Der Faschis- mus hatte auch immer etwas Popartiges. Ist das nun ein neuer, aggressiver Jugend- kult? Wenn ja, kann man nur mit aller Macht versuchen, die Grenzen des Sag- und Machbaren, auf die wir uns jahr- zehntelang geeinigt haben, aufrechtzuer- halten. Darüber verhandeln wir gerade.

LISA WASSMANN / DER SPIEGEL WASSMANN LISA Es ist ein Geistesgefecht um Sprache und Deutschrocker Grönemeyer: »Aus einer anderen Zeit« um Haltung. SPIEGEL: »Wir stehen auf dem Prüfstand, und es gilt, viel zu verteidigen«, haben auch mitzutragen, wenn man sie ihnen ver- oder Popsongs, versuche aber trotzdem, Sie in Ihrer Rede auf der #unteilbar-Demo nünftig erklärt. mit allem, was dazugehört, wie ich singe in Berlin gesagt. Sie wirkten dabei sehr SPIEGEL: Wäre dafür nicht auch die Bun- und produziere, dem Ganzen etwas ergriffen. deskanzlerin zuständig gewesen, »Mutti«? Nervöses zu geben. Daran kann man sich Grönemeyer: Nein, ich war nicht ergriffen, Grönemeyer: Klar, ein differenziertes Ein- reiben, das kann man auch furchtbar ich war einfach ziemlich nervös. Aber fühlungsvermögen und Artikulation wären finden. Hauptsächlich interessiert mich: natürlich geht mir das nah. Ich mache mir nötig gewesen. Menschen wollen nicht zen- Komme ich weiter? Das ist meine Sehn- große Sorgen. Ich hänge an diesem Land, tral verwaltet werden. Gerade die im Os- sucht. Schaffe ich es, jetzt, mit 62, viel- ich bin gern hier, liebe die Menschen und ten, die sich davon befreit haben, die sogar leicht auch mit 65 oder mit 78 Jahren finde es beeindruckend, was wir alle ge- noch eine sanfte Revolution hingelegt ha- noch, irgendetwas auf den Punkt zu brin- meinsam hingekriegt haben. Das ist wie ben, die kommen ins nächste System und gen? Wenn die Leute sagen, das gefällt eine Beziehung: Da will man auch nicht, kriegen eins vor die Nase: Wir erklären mir nicht, oder mir passt deine politische dass die kaputtgeht. Dafür muss man sich euch jetzt mal, wie das geht. Und dann Haltung nicht, ist das Pech: Hör dir halt aber eben auch manchmal etwas sagen, kommt Merkel mit »Wir schaffen das« und was anderes an! wenn man sich auf den Keks geht. diktiert von oben. Das wollen die Leute SPIEGEL: Auffällig, dass es in diesem Jahr SPIEGEL: Herr Grönemeyer, wir danken nicht mehr: Kümmere dich, mach Dinge vor allem etablierte, ältere Künstler waren, Ihnen für dieses Gespräch. auch gern falsch – aber bezieh uns mit ein. wie Westernhagen, Campino oder Sie, die SPIEGEL: Mit »Tumult« positionieren Sie sich gegen rechts positioniert haben. sich sehr klar: »Keinen Millimeter nach Grönemeyer: Ich komme aus einer ande- Video So klingt der rechts« heißt es an einer Stelle. Das bedeutet, ren Zeit, wir mussten uns trainieren, wir neue Grönemeyer Sie wollen gar nicht alle Bürger erreichen? hatten die K-Gruppen, die Friedensbewe- spiegel.de/sp452018groenemeyer Grönemeyer: Nein. Als Künstler muss ich gung in den politischen Siebzigern und oder in der App DER SPIEGEL die Dinge zuspitzen und polarisieren. Ich Achtzigern, wir haben in Wackersdorf ge-

128 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Begegnen Sie Menschen und ihrer Kultur

Kataloge: 00 800/24 01 24 01 www.studiosus.com Intensiverleben Kultur Schreibrausch

Literatur Die alkoholkranke US-Autorin Leslie Jamison ringt mit dem Mythos des trinkenden Genies.

hisky and Ink« stand über einer hat der deutsche Dichter und ehemalige W achtseitigen Geschichte, die das Hanser-Verleger Michael Krüger mal ge- US-Magazin »Life« 1967 dem sagt, »ein Alkoholnebel liegt über der schriftstellernden Trunkenbold John Weltliteratur.« Da sind die Bücher der Berryman widmete, Whisky und Tinte, Süchtigen Hans Fallada und Joseph Roth. und mit diesen beiden Wörtern begann sie Oder, neuer, der Roman »Schluckspecht«, auch: »Whisky und Tinte – das sind die die Trinkerbeichte des Bachmann-Preis- Flüssigkeiten, die John Berryman braucht, trägers Peter Wawerzinek. er braucht sie zum Überleben und um das Auch in den Büchern von Thomas beschreiben zu können, was ihn von an- Glavinic wird mehr getrunken als in man- deren Männern, ja sogar von anderen cher Absturzkneipe auf der Reeperbahn, Dichtern unterscheidet.« Es klang, als flös- mehr Besoffski-Sprüche finden sich auf se Tinte statt Blut durch Berrymans Adern den Seiten seiner Geschichten sowieso. und Whisky statt Tinte auf sein Papier. Wenn Glavinic einen Roman entwirft, so Eine toxische Geschichte. hat er es mal in einem Interview gesagt, Die amerikanische Autorin Leslie Jami- »dann können zwei, drei, vier Gläser son, 35, hat nun eine Heilsgeschichte ge- durchaus helfen. Die führen zwar nicht zur schrieben, »Die Klarheit«, in der sie mit Erleuchtung, aber sie öffnen Schleusen«. toxischen Geschichten wie dieser ringt: Womit das Zitat wohlgemerkt noch nicht mit dem Mythos des trinkenden Schrift- zu Ende ist: »Alles, was nach dem fünften stellers, des dysfunktionalen, düsteren Ge- Glas kommt, ist witzlos«, sagte Glavinic. nies, einem Mythos, der den Alkohol poe- »Ich käme nie auf die Idee, betrunken zu tisch veredelt und so im schlimmsten Fall schreiben.« abhängig macht, der aber in jedem Fall Die junge Autorin Jamison wurde zur der Gesundung einer alkoholkranken Gewohnheitstrinkerin, als sie in Iowa City Schriftstellerin im Wege steht*. So alko- studierte, Kreatives Schreiben. Es ist eine holkrank wie Leslie Jamison. Stadt voller sogenannter Schriftstellerknei- Schriftsteller trinken, weil andere pen, denn es ist eine Stadt voller Schrift- Schriftsteller vor ihnen tranken, weil das steller, sie trinken überall und haben hier Trinken zur Schriftstellerperformance schon immer überall getrunken. Raymond dazugehört: Ernest Hemingway und Carver, John Cheever, John Berryman, Tennessee Williams, F. Scott Fitzgerald Richard Yates, Denis Johnson. und William Faulkner, Truman Capote Jamison und ihre Kommilitonen verehren Schriftsteller waren tiefsinnig, trinkende und Charles Bukowski. Bei manchen von Denis Johnsons Erzählband »Jesus’ Sohn«; Schriftstellerinnen schlechte Mütter. Das ihnen vermag man kaum zu sagen, wofür das halbe Buch spielt in den Kneipen von scheint sich gerade zu ändern. Der Face- sie berühmter sind – für ihre Bücher oder Iowa City. »In gewisser Weise tranken wir book-Literatin Stefanie Sargnagel fliegen dafür, sich so formvollendet abgeschossen mit denjenigen, die hier nach uns trinken vielleicht auch deshalb so viele Leserin- zu haben. würden, genauso wie mit denjenigen, die nenherzen zu, weil sie sich so räudig in- Die amerikanische Literaturgeschichte schon vor uns hier getrunken hatten.« szeniert wie früher nur Literaturmachos, ist besonders hochprozentig, was daran Bekannt wurde Jamison mit dem Essay- als eine Beislhockerin und Dosenbiertrin- liegen könnte, dass der Alkohol in den band »Die Empathie-Tests«, einem »New kerin, die sich volllaufen lässt – und unge- USA so besonders verpönt ist. »Bekennt- York Times«-Bestseller, erschienen 2014 niert davon berichtet. nisse eines unbekehrten Rauschgiftsüchti- auf Englisch und im Jahr darauf auf Die US-Autorin Jamison lebt in einer gen«, schrieb William S. Burroughs in den Deutsch. Jamison stritt für eine neue Kul- privilegierten Welt, in der Neurosen stolz Untertitel seines Romans »Junkie«. »They tur der Empfindsamkeit, schrieb unter als Kennzeichen psychischer Komplexität tried to make me go to rehab«, sang die anderem über die kulturelle Tradition, die zur Schau getragen werden. »Ich wollte Britin Amy Winehouse. »I said no, no, Frauen die Rolle der Leidenden zuweist, durch das Leiden komplizierter werden no«. Sich dem Entzug zu verweigern er- der Schmerzensmadonnen. Kritiker ver- und mehr Tiefe bekommen«, schreibt sie scheint als Akt der Emanzipation. Sucht glichen Jamison mit Susan Sontag. und schildert ihre Alkoholsucht als Teil als soziale Rebellion. Bis vor einigen Jahren war der Mythos ihrer Originalitätssucht. Sie will besonders Aber natürlich sind schriftstellernde des trinkenden Genies ein Männlichkeits- sein, besonders begabt oder wenigstens Trunkenbolde kein rein angelsächsisches mythos, Schriftstellerinnen tranken natür- besonders gestört: eine Narzisstin, die Phänomen. »Wer schreibt, trinkt auch«, lich auch: Marguerite Duras, Françoise süchtig danach ist, gesehen und verstan- Sagan, Ingeborg Bachmann, Dorothy den und geliebt zu werden, süchtig nach * Leslie Jamison: »Die Klarheit. Alkohol, Rausch und Parker. Aber bei ihnen galt es eher nicht der Empathie ihrer Mitmenschen. die Geschichten der Genesung«. Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Hanser Berlin; 638 Seiten; als glamourös, sondern als selbstmitleidig, »Nüchtern. Über das Trinken und das 28 Euro. Erscheint am 5. November. melodramatisch, hysterisch. Trinkende Glück« heißt das kluge Buch des deut-

130 Schriftstellerin Jamison »Ich wollte durch das Leiden komplizierter werden und mehr Tiefe bekommen«

thie-Essays errichtet sie kein abstraktes Gedankengebäude, sondern mischt recher- chierte Genauigkeiten und Gefühl, sie geht nicht nur Ideen auf den Grund, sondern sich selbst: ihrer Essstörung, ihrer Abtrei- bung, ihrer scheiternden Liebe zu einem Mann namens Dave. Sie erzählt ihre eigene Geschichte, in beeindruckender Offenheit, aber sie lässt sich gleichzeitig auch viele Geschichten anderer erzählen, wie in einem Meeting der Anonymen Alkoholiker. »Die Klarheit« ist ein selbstreflexives Plädoyer gegen übermäßige Selbstreflexion. Über alldem steht natürlich stets die Angst, ohne Alkohol nicht mehr schreiben zu können, sich zwischen Nüchternheit und Genie entscheiden zu müssen, und so sucht Jamison obsessiv nach alko hol - kranken Schriftstellern, die auch abstinent noch gute Schriftsteller waren. Es ist, man muss das so sagen, eine ernüchternde Suche. Wer die Muse auf dem Trockenen sitzen lässt, so der Mythos, den küsst sie nicht. Mit dem Alkohol fließen die Worte, man schaut ihnen nicht mehr ganz so kritisch hinterher. Immerhin findet Jamison irgendwann die Texte des späten Raymond Carver, der auch nüchtern noch frech und viril und breitbrüstig geschrieben habe, dessen Nüchternheit nicht asketisch gewesen sei: »Nüchternheit heißt bei ihm, auf den un- ermesslich weiten Pazifik hinauszustarren

ERIK MADIGAN HECK / TRUNK ARCHIVE / TRUNK ERIK MADIGAN HECK und dazu in Butter geschwenktes Popcorn zu essen.« Nur in einer Fußnote weist Jamison darauf hin, dass Nüchternheit schen Publizisten Daniel Schreiber, in dem Den Absprung schafft sie mithilfe der bei dem alkoholabstinenten Carver auch dieser sich an seiner Alkoholsucht ab - Anonymen Alkoholiker, bei deren Treffen hieß, zu kiffen und zu koksen, und das arbeitet. »Menschen mögen Bücher über ihr zunächst ihre Erzählkunst im Weg zu nicht zu knapp. das Trinken«, hat Schreiber einmal fest - stehen scheint. Selbstentblößung droht zur Können Geschichten über eine Gene- gestellt, und die meisten würden auch Selbstdarstellung zu werden. Jamison sung genauso spannend sein wie Geschich- die Vorstellung mögen, dass Schriftsteller muss lernen, dass eine Geschichte nicht ten über einen Absturz? Alkoholiker sind: »Die ganze Idee des deshalb erzählenswert ist, weil sie originell Jamison versucht es. Sie folgt nicht dem Schreibens wirkt so ein bisschen gefähr- ist, sondern weil sie anschlussfähig ist. Es bewährten Dreiklang der Trinkergeschich- licher, romantischer.« geht um eine Geschichte, an die die ande- te: Rausch, Kater, Entzug. Sie glorifiziert Jamison kritisiert diese Illusion trun - ren in der Runde andocken können. Kli- ihre Vergangenheit nicht, verzichtet weit- kener Kreativität, mehr noch aber kri- schees stören nicht, sie helfen. gehend auf krasse Anekdoten, und wenn tisiert sie die Illusion der Einzigartigkeit, Jamison schildert, wie sie dank der sie doch mal eine andeutet, dann tut sie der sich immer mehr Menschen hingeben. Selbsthilfegruppen selbst empathisch wird, das in einem so sachlichen Stil, dass man »Die Gesellschaft der Singularitäten« hat wie sie sich in andere einfühlt – und darü- sich fragt, was man nehmen muss, um so der Soziologe Andreas Reckwitz das ber ein wenig Distanz zu sich selbst ge- nüchtern über solche Alkoholeskapaden vor Kurzem genannt: eine Gesellschaft winnt. Der Schmerz der anderen, so die zu schreiben. Aber vielleicht muss man der Distinktion, in der die Biografien Logik, lindert den eigenen, weil der sich nur irgendwann mal sehr viel genommen längst so kuratiert sind wie die Wohn - nun nicht mehr so besonders anfühlt, so haben. zimmer, weil die Menschen ihr Leben einzigartig und groß, sondern durchschnitt- Jamison gelingt das Kunststück, über nicht leben, sondern aufführen, Schau- lich. »Vielleicht ging es, wenn man mit den Mythos des trinkenden Genies zu spieler ihrer selbst. »Im Laufe meines dem Trinken aufhörte, weniger um Intro- schreiben, ohne diesen Mythos fortzu- nüchternen Lebens habe ich das unerreich- spektion als um Aufmerksamkeit für alles schreiben. »Die Klarheit« ist vielleicht das bare Ideal, etwas zu sagen, das noch nie andere.« erste Trinkerbuch, das keinen Durst macht. gesagt worden ist, aufgegeben«, schreibt »Die Klarheit« fußt auf Jamisons Dok- Tobias Becker Leslie Jamison. torarbeit, aber ähnlich wie in ihren Empa-

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 131 Verlagssonderveröffentlichung DER SPIEGEL Konferenzen

ZUKUNFT Afrikaner leben auf der Flucht – die große Mehrheit kommt in afrikani- schen Nachbarländern unter. Afrika leidet auch besonders unter dem Klimawandel, obwohl die Menschen am wenigsten dazu beigetragen haben. Es gibt also viele Gründe, unserem Nachbarkontinent die Hand zu reichen. Europa ist aufgerufen eine faire Partnerschaft anzu- bieten: Afrikas Jugend muss eine Zukunft in Afrika haben.“ Dr. Gerd Müller ist seit Dezember 2013 Bundesminister für wirtschaft- AFRIKA liche Zusammenarbeit und Entwicklung. Zuvor war er als Parlamentari- scher Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirt- Wie eine wirtschaftliche Zusammenarbeit schaft und Verbraucherschutz unter anderem für Internationale Be- mit Afrika endlich funktionieren kann. ziehungen, Entwicklungsprojekte, Welternährung und Export zuständig. Es ist wichtig, den Frauen zuzuhören „Frau Biloa, wie muss Fünf Forderungen eine vor allem Frauen fördernde Zusammenarbeit zwischen den Staa- ten Europas und denen Afrikas aussehen?“ „Der Focus auf Frauen ist nicht nur prinzipiell sinnvoll, sondern auch rein pragmatisch: Es springt ir brauchen mehr private Investitionen „Afrika und Eu- ins Auge, dass es um Afrikas Bevölkerung schlechter bestellt wäre, ropa: das muss vor allem eine neue Partnerschaft auf Au- wenn die Frauen ca. 70 Prozent der informellen wirtschaftlichen Tätig- genhöhe sein. In Afrika, das hundertmal so groß ist wie keiten nicht übernehmen würden. Frauen wünschen sich mehr Durch- Deutschland, wird sich die Bevölkerung bis 2050 verdop- schlagskraft, mehr Selbstständigkeit, mehr Respekt.“ Wpeln. Über eine Milliarde Menschen sind dann jünger als 25 Jahre. All „Sie fordern, dass eine Zusammenarbeit mit Frauen in Afrika we- diese Menschen haben einen Anspruch auf ein Leben in Würde. Auf der durch die üblichen bürokratischen Kanäle, noch durch NGOs er- Ernährung, Energie und Arbeitsplätze. Das sind gewaltige Herausfor- folgen soll. Warum?“ „Ganz einfach: Weil der direkte Weg mit erprob- derungen. Wir können sie meistern. Dazu brauchen wir vor allem mehr ten Partnerinnen zu direktem Wachstum verhilft. Nehmen wir ein private Investitionen. Voraussetzung ist, dass die Rahmenbedingungen kleines Landwirtschaftsunternehmen: Durch modernes Know-how er- verbessert werden: gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, hält es die Chance, sich auf direktem Weg sofort regionalen oder Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. auch europäischen Absatzmärkten zu öffnen. Bei Frauen steigert das Die afrikanischen Staaten müssen dafür selbst mehr leisten. Wir un- den Selbstwert und auch den Ehrgeiz.“ terstützen sie mit unserem ‚Marshallplan mit Afrika‘. Dabei setzen wir „Afrika ist groß. Wie muss eine Form der politischen Zusammen- auf Reformpartnerschaften statt auf das Gießkannenprinzip: Wer re- arbeit ausgerichtet sein, damit sie die Bedürfnisse der Frauen in un- formiert, dem bieten wir eine vertiefte Partnerschaft an. Wenn aber terschiedlichen afrikanischen Ländern bedient?“ „Es gibt ausge- keinerlei Reformwille vorhanden ist, dann werden wir die Entwick- zeichnete Frauenorganisationen, die an bestehende Bedürfnisse an- lungszusammenarbeit auch herunterfahren. knüpfen können. Projekte, die künstlich erfunden werden, klingen zwar Menschen, die von Hunger und Not bedroht sind, werden wir aber oft gut, enden aber meistens wie Waisenkinder in der Wüste. Deshalb weiterhin unterstützen. Wir halten an unseren humanitären Werten ist es wichtig, den Frauen zuzuhören. Sie wissen genau, was sie be- fest und helfen Hunger, Armut und Not zu überwinden. 23 Millionen nötigen und was ihnen fehlt.“ „Welche Art der Starthilfen benötigen sie? Wie unterscheiden NGOs und andere Non-Profi t-Organisationen unterstützt. Nun ist es sich die Starthilfen für den Aufbau eines Unternehmens von denen Zeit, diesen Ansatz zu überdenken und den Fokus auf die kommerziel- der Männer?“ „Die Situation der Frauen in Afrika ähnelt der vieler an- len Unternehmen zu richten, Talente direkt zu unterstützen und ihre derer Bürger in Entwicklungsländern: Lückenhafte Infrastrukturen, Ideen zu fördern.“ schlechtes Gesundheitswesen, wenig Ausbildung, bürokratische Hin- „Wie kann man diese jungen Talente konkret unterstützen?“ dernisse. Man kann entweder warten, bis alle Probleme gelöst wer- „Jungen Afrikanern sollte ermöglicht werden, ihren Träumen zu folgen, den. Oder – wie viele Frauen – selber konkrete Ziele formulieren und zu forschen, zu entwickeln und zu wachsen – wirtschaftlich, psycho- die Herausforderungen dorthin bewältigen. Das ist ein sicherer Weg logisch und kulturell. Eine Entwicklungshilfe, die im Gegenzug immer zu innovativen, Out-of-the-box-Lösungen.“ nur ihre eigenen Werte einfordert, erstickt letztlich die Eigeninitiative, Marie-Roger Biloa, ist Germanistin und Absolventin der Diplomati- die sie sich eigentlich wünscht, weil sie Träumen unmöglich macht.“ schen Akademie in Wien. Sie lebt in Yaoundé und Paris und ist Heraus- James Shikwati ist Direktor des Inter Region Economic Network geberin der Zeitschriften Africa International, ICI les Gens du Cameroun (IREN) in Kenia. Er ist ein Kritiker der Entwicklungshilfe, weil sie Län- und ICI les Gens du Gabon. Sie leitet den „Club Millenium“ in Paris, ei- der in Abhängigkeit von den Geberstaaten hält, wie er meint. nen Think Tank für die Förderung Afrikas, und den „Millenium Ladies Erfolgreich ist nur eine Beziehung auf Augenhöhe „Bisher ist Club“, der das Ziel hat, das Engagement der Frauen in der Politik zu ver- die Zusammenarbeit geprägt von Paternalismus, einer Helfermentali- stärken. tät und Konditionalitäten. Erfolgreich ist nur eine Beziehung auf Au- Aus funktionieren- genhöhe. Sie muss Nach- den Lösungen lernen haltigkeits- und Menschen- „Eine effektive und huma- rechtskriterien, die für bei- ne Migrationspolitik ist im de Seiten gleichermaßen Interesse europäischer und gelten, in den Vorder- afrikanischer Staaten mög- grund rücken. Dabei lich. Wir müssen aus funk- darf Afrika nicht länger tionierenden Lösungen ler- nur Rohstoffl ieferant für nen.“ die Industrieländer sein. Gerald Knaus ist Vorsit- Das Primat der Men- zender der Europäischen schenrechte vor Handel Stabilitätsinitiative (ESI). und Investitionen, um das Er studierte in Oxford, derzeit im Rahmen der Brüssel und Bologna und Bestrebungen für einen unterrichtete Wirtschafts- völkerrechtlichen Vertrag lehre an der Staatlichen zu Wirtschaft und Men- Universität von Tscherno- schenrechten gerungen witz in der Ukraine. wird, muss auch in der Zu- Wir müssen eine sammenarbeit mit Afrika neue Botschaft kommu- Gerald Knaus und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im Gespräch mit SPIEGEL-Redakteuren gelten. Dem widerspre- nizieren „Herr Shikwati, chen die Economic Part- wie muss moderne Entwicklungspolitik gemacht sein, damit sie jungen nership Agreements (Freihandelsabkommen) der EU, weil sie afrikani- Afrikanern freien Unternehmergeist und zugleich Unabhängigkeit er- sche Märkte benachteiligen. Europäische Agrarsubventionen und die möglicht?“ „Europäische Entwicklungspolitik hat enorme Einfl ussmög- Förderung großer agrarindustrieller Projekte tragen nur vermeintlich lichkeiten, sie könnte unter folgenden Bedingungen für junge afrikani- zur Bekämpfung des Hungers bei, vor allem führen sie zur Zerstörung sche Unternehmer bereichernd sein: a) Die immer wieder kommunizierte einer funktionierenden afrikanischen Landwirtschaft. Für eine erfolg- Botschaft, Afrika sei ein Kontinent, dem dringend geholfen werden reiche Zusammenarbeit mit Afrika sollte die Afrikanische Charta der müsse, sollte umformuliert werden zu einer Botschaft: Afrika ist ein Menschenrechte und der Völker aus dem Jahr 1981 mit ihren men- Kontinent, der hungrig nach unternehmerischen Ideen und Strategien schenrechtlichen Institutionen einen Bezugspunkt darstellen.“ ist. Im Bereich der Alternativen Energien zum Beispiel hat der afrikani- Dr. Brigitte Hamm ist Politikwissenschaftlerin und Adjunct Senior Fel- sche Markt enormes Wachstumspotenzial. b) Die Visapolitik Europas low am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duis- müsste reformiert werden, sodass es jungen Unternehmern aus Afrika burg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen ermöglicht wird, ihre europäischen Partner und Konkurrenten zu tref- Menschenrechte, insbesondere Wirtschaft und Menschenrechte, Ar- fen, sich mit ihnen auszutauschen oder auch den direkten Wettbe- beits- und Sozialstandards sowie Corporate Governance. werb mit ihnen zu suchen. c) Es braucht die Entwicklung pro-aktiver Finanzierungsmöglichkeiten und anderer liberaler Eintrittsmöglichkei- ten für afrikanische Unternehmer in den EU-Markt, wie es andersher- WIR BEDANKEN UNS bei unseren Partnern für die um für europäische Unternehmer in die afrikanischen Märkte möglich Zusammenarbeit bei der SPIEGEL-Konferenz ZUKUNFT ist.“ AFRIKA am 24.10.2018 in Berlin. „Was kann Afrika selbst dazu beitragen?“ „Lange Zeit wurde eine Entwicklungspolitik in dem Glauben gemacht, die zentrale Herausfor- derung Afrikas bestünde darin, Demokratisierungsprozesse anzu-

FOTOS: DER SPIEGEL, SHUTTERSTOCK SPIEGEL, DER FOTOS: schieben und die Korruption zu bekämpfen – so wurden vor allem Kultur Eine große Sache GERT SCHÜTZ / AKG-IMAGES GERT Autor Grass, Kanzler Brandt 1971: Vor Melancholie und Verzagtheit warnen

134 Utopien Warum die Politik die Literatur braucht. Eine Rede zum Jubiläum der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur. Von Volker Weidermann

aum waren die Einladungen für Platz genommen hatte, per Akklamation Aufbruchslust, Erneuerungsfuror und Zu- diesen Abend in die Welt ver- ins Amt wählen lassen. Der König von hörerfreude getrieben – keine revolutio- schickt, klingelte mein Telefon. Bayern hatte in derselben Nacht still und näre Versammlung in den Münchner Bier- K kellern jener Tage verpassen würde. Dass Jürgen Flimm war dran. Er lese so- heimlich seine Residenz und die Stadt eben, rief er aufgeräumt in den Apparat, verlassen. Die Macht lag auf der Straße. er mitgerissen werden könnte von – Poli- dass ich auf dieser Festlichkeit ein paar Wor- Der Schriftsteller, Journalist, Politiker Kurt tik! »Die Kunst ist die Versprecherin der te sagen solle. Das sei ja sehr schön. Aber – Eisner hat sie aufgehoben. übernächsten Zukunft«, schrieb er. Und ob ich denn auch die Sache mit der Wiese Er wollte einen radikalen Neuanfang. am hellsten und freiesten leuchtet ihr Ver- wisse? Die müsse ich unbedingt erwähnen. Der Krieg war verloren. Der Frieden muss- sprechen, wenn der Künstler selbst, beim Ich, so: »Wiese …?« – »Jaaaaa, das weiß te gewonnen werden. »Wir grüßen, die un- Schreiben, Komponieren, Malen, gar nämlich keiner!«, so der freundliche Herr sere Feinde waren«, rief er bei der Re- nichts davon ahnt. Flimm und fing auch schon an: »Das war volutionsfeier im Münchner Nationalthea- Es geht um die Welt, die noch nicht ist. vor mehr als 20 Jahren. Wir saßen auf der ter den Menschen zu. Der Dichter und Es geht darum, nicht zu klagen, sich in sich Wiese vom Manfred Bissinger – der Gerd Schwärmer und unabhängige Sozialdemo- selbst zurückzuziehen, überall Untergang Schröder war da, Oskar Negt, Marius krat Eisner wollte eine helle, andere Welt. zu sehen, gereizt zu sein, hämisch, die Müller-Westernhagen, Uwe-Karsten Heye, Die völlige Zerstörung des für die Ewigkeit Welt anzuklagen, weil sie nicht in deinem Günter Grass und ich. Und da haben wir gebauten Alten barg für ihn die Chance Sinne eingerichtet ist, sondern immer nur ihm das eingequasselt.« – »Was jetzt – ein- eines totalen Neuanfangs. Wenn wir jetzt im Sinne der anderen, der Falschen. gequasselt?« – »Na dem Schröder. Die Sa- schon die Demokratie einführen, warum Es geht auch heute darum, die richtigen che mit dem Ministerium. Grass war in nicht gleich in ihrer radikalsten Form? Bücher zu lesen und zu schreiben. Sich Hochform gewesen.« Und schließlich habe »Wir wollen die ständige Mitarbeit aller nicht in diese verlockende Dunkelheit Schröder Ja gesagt. Und als er dann aber Schaffenden in Stadt und Land«, rief er hinabziehen zu lassen. An die guten Tra- sogleich und auf der Wiese Flimm selbst seinen Bayern zu. Er wünschte sich per- ditionen zu erinnern. Die Hoffnungen und zum Schattenminister ernennen wollte, Aufbrüche. Viel zu viel wird auch in die- habe der entsetzt abgewinkt. »Ich bin doch sem Jahr an das vor hundert Jahren er- nicht verrückt«, so Flimm heute über Flimm Es geht darum, an schienene Unheilsbuch »Der Untergang damals. Sie haben dann überlegt, wer ver- die guten Traditionen des Abendlandes« von Oswald Spengler rückt genug sein könnte – und riefen erinnert, der so lange und intensiv und mit Michael Naumann in New York an. Und zu erinnern. Die Hoff- ausschließlich auf das Negative gerichte- Flimm sagt jetzt am Telefon über die Wiese nungen und Aufbrüche. tem Blick den Niedergang der westlichen damals und die Folgen: »Das war das letzte Kultur beschrieb, dass ihm und seinen Le- Mal, dass wir Kulturfuzzis aus uns selbst so sern am Ende »ein neuer Cäsar« als Erlö- ’ne große Sache gemacht haben.« manente Partizipation. Das Gespräch aller sung erscheinen musste. Wie wenig dage- Das letzte Mal … mit allen. Kommunikatives Handeln. Die gen reden wir von dem Gegenbuch, das Ich möchte heute über die vorletzten beste Lösung entsteht, so war er sicher, auch vor hundert Jahren erschienen ist, Male sprechen. Ich möchte über Verrückte wenn wir miteinander reden. Ernst Blochs »Geist der Utopie«. Dieses reden. Über Kulturfuzzis. Und über große Eisner musste das alles nicht neu erfin- famose Ermutigungsbuch, das aus der Sachen. Ich möchte über Literatur reden den. Er hat sein Regierungsprogramm in Dunkelheit der Zeit einfach einen Aufruf und darüber, warum die Politik sie braucht. der Literatur gefunden, in den Konzert - an sich und seine Leser formte: »Ich bin Warum wir Erzählungen brauchen. Voraus- sälen gehört. Bei Goethe, Hölderlin, Shake- schuldig, nicht die anderen und wenn sie leuchtendes. Möglichkeitsräume. Alterna- speare, Schiller und Walt Whitman gelesen, dunkel sind, so habe ich ihnen nicht genug tiven. Die Erweiterung der Welt. Mit ande- bei Beethoven gehört. Freiheit, Menschen- geleuchtet.« ren Worten: Ich möchte über Bayern reden. freundlichkeit, Einigkeit, Helligkeit. Bruno Oh, er wäre auch ein gutes Kabinetts- »Wir Bayern sind der Samen einer neuen Walter hatte die Leonoren-Ouvertüre diri- mitglied in Eisners Traumregierung gewe- Welt«, hatte der bayerische Minister- giert, in jenem November in München. sen. Aber das Unheil von damals hätte präsident gesagt. Und seinem Volk zuge- Und Ministerpräsident Eisner interpre- wohl auch er nicht verhindern können. rufen: »Alle, die reinen Herzens, klaren tierte sogleich: »Das Kunstwerk, das wir Den Hohn und Spott und Hass, den Eisner Geistes und festen Willens sind, sind be- eben gehört, schafft in prophetischer erntete. Und schließlich dieses Wahlergeb- rufen, am neuen Werke mitzuarbeiten. Voraus sicht die Wirklichkeit, die wir eben nis, das vielleicht selbst einen amtierenden Vergessen wir, was war, und vertrauen erlebt.« Beethoven, ein bayrischer Räte - bayerischen Ministerpräsidenten von heu- wir dem, was wird. Eine neue Zeitrech- revolutionär. Ob er das geahnt hat? te zum Rücktritt bewegt hätte: 2,5 Prozent nung beginnt.« Aber manchmal hat das Leben einfach der Stimmen waren auf den selbst ernann- Das ist 100 Jahre her. Kurt Eisner hatte etwas mit dir vor. Manchmal verselbststän- ten Volkstribunen Kurt Eisner und seine sich in der Nacht vom 7. auf den 8. No- digt sich ein Text, ein Gedicht oder der Partei entfallen. Willkommen in der Wirk- vember 1918 auf den freien Stuhl des Dichter selbst. Der weltenferne Sternen- lichkeit! Das war wirklich ein Desaster der Ministerpräsidenten von Bayern gesetzt dichter Rainer Maria Rilke hätte vielleicht dichterischen Politik. und sich von dem mitgelaufenen Teil des auch noch wenige Wochen zuvor nicht da- Aber als er dann kurz darauf erschossen Volkes, das auf den Abgeordnetenstühlen mit gerechnet, dass er – von Enthusiasmus, wurde und ihn München im Tode plötzlich

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 135 Kultur zu lieben schien und die ganze Stadt ihn te gegeben. Die Geste selbst war Willy sönlich in aller Welt Sympathien ein. Ihre zu Grabe trug, da schrieb Heinrich Mann Brandts ureigene. Aber Grass weiß auch, mutige Entscheidung hat dem Ansehen über das untergegangene Regime der Dich- dass man ein Symbol mit Leben, mit einer der Deutschen mindestens so genützt wie ter: »Die hundert Tage der Regierung Eis- Erzählung, füllen muss – und so schreibt nach der Nazizeit das weltweit bewunder- ner haben mehr Ideen, mehr Freuden der er kurz nach dem Besuch wieder an seinen te Wirtschaftswunder.« Vernunft, mehr Belebung der Geister ge- Kanzler, dass für den Fall, dass dieser »mit Wenn man heute mit Schriftstellern und bracht als die fünfzig Jahre vorher.« einfachen Worten über den Sinn seines Künstlern aus der Welt über die deutsche Sie kamen zu früh, sie waren die Ersten, Knie falls zu sprechen bereit wäre« –, er hier Regierungschefin spricht, hat man fast den sie hatten keine Blaupause für ihre Expe- schon mal »in Stichworten einen Entwurf« Eindruck, aus deren Sicht wird heute ganz rimente außerhalb der Kunst, sie machten mitschicke: die Erzählung von Schuld und Deutschland von einer Erbin des guten Eis- tausend Fehler – auch die Utopisten unter Reue eines Landes. Brandt nahm dankbar ner regiert, von den Freuden der Vernunft. dem herrlichen Ernst Toller, die bald auf an – und musste das dichterisch Vorformu- Sie äußern Respekt, Bewunderung, Hoff- die Eisner-Regierung folgten. Ja. Aber sie lierte nur noch aussprechen. nung und so etwas wie Neid. haben die Geister belebt. Sie hatten Mut Von der Sprengkraft des Dichterischen Der amerikanische Autor Dave Eggers, zu neuen Ideen. Sie kannten die »Freuden erzählt auch eine ganz andere Geschichte, der der Welt den mitreißenden Flücht- der Vernunft«. Sie leuchten uns, wie alle von hier im Osten, diesseits der Mauer. lingsroman »Weit gegangen« geschrieben große Kunst, bis heute voran. Die Ministerin für Volksbildung der DDR hat und den beunruhigenden Zukunfts- war – mit blauem Haar und dunkler Ent- roman der total vernetzten Welt »The nd wir haben viele Jahre später schlossenheit – die zwei Stockwerke in der Circle« und der – wenn er in diesem Jahr in diesem Land die Kraft der ein- Chausseestraße 131 emporgestiegen. Zu nicht ausgefallen wäre – gewiss ein Kan- greifenden, der vorausdichten- dem gefährlichsten Dichter des Landes: didat für den Literaturnobelpreis gewesen U wäre, sagte mir vor wenigen Tagen: »An- den Literatur erlebt. Man muss »Ach Wolf«, sagte sie, »wenn du weiter sich den Briefwechsel einmal anschauen, den falschen Weg gehst, werden wir Fein- gela Merkel zählt zu den wenigen Poli - den der ehemalige Emigrant Willy Brandt de. Aber wenn du den richtigen Weg gehst, tikern mit echtem Mut und echten Über- und der Schriftsteller Günter Grass mit - mit uns, dann kannst du unser größter zeugungen. Ob du mit ihrer Politik ein- einander führten. Wie der Autor seinen Dichter werden.« verstanden bist oder nicht – ihre Positionen Kanzler an die Hand – man kann auch Wolf Biermann ist den Weg mit ihr, mit basieren auf echtem Glauben, Barmher- sagen: in Geiselhaft – nimmt, vor Melan- Margot Honecker, nicht mitgegangen. Er zigkeit und einer ordentlichen Portion cholie und Verzagtheit warnt, hier die ging seinen eigenen Weg. Ein Jahr später Furchtlosigkeit. In anderen Ländern wird Rede zur Lage der Nation vorformuliert, wurden ihm alle Auftritte verboten. Man Regierungspolitik ausschließlich nach poli- dort die Kabinettsliste der ersten sozial - wollte ihn isolieren und zum Schweigen tischer Berechnung, Feigheit und Frem- liberalen Regierung entwirft, unliebsame bringen. Doch da er nicht in der Welt sin- denfeindlichkeit ausgerichtet. Das ist der Minister streicht. Wie er dann entsetzt fest- gen konnte, kam die Welt zu ihm. In seine dreiköpfige Höllenhund, der die Welt- stellen muss, dass ihm ein Kulturstaatsamt, bald schon legendäre Konzertwohnung in politik beherrscht.« wie er es sich damals für sich selbst der Chausseestraße. Und als er – zwölf Und als ich vor einigen Wochen einen wünschte, vom frischen Kanzler Willy ein- Jahre nach Margot Honeckers mahnen- der erfolgreichsten europäischen Autoren fach verweigert wird – der seinem Dichter dem Besuch – für ein Konzert in den Wes- unserer Tage, den Schweden Jonas Jonas- stattdessen anbot, ihn im Namen der Bun- ten durfte, ließen sie ihn nicht wieder zu- son, in Nairobi traf – am Schauplatz seines desregierung in »deutsche Siedlungsgebie- rück. Die Ausbürgerung des Dichters Wolf neuen Romans »Der Hundertjährige, der te in Lateinamerika« und zu kulturell Biermann und die ungeheure Solidarisie- zurückkam, um die Welt zu retten«, in interessierten Auswanderern in Australien rungswelle mit ihm in der Zeit danach wa- dem eine von egomanischen Dunkelmän- zu schicken. »Das wiederum«, schrieb ein ren der wohl entscheidende Riss im mora- nern beherrschte Welt von der deutschen konsternierter Grass zurück, habe für ihn lischen Fundament der DDR – Haarriss in Bundeskanzlerin Angela Merkel mit »das Beklemmende eines Albtraums«. Er der Mauer, die 13 Jahre später stürzte. Optimismus, Mut und Durchsetzungsstär- hatte wohl bemerkt, dass sich der frisch Dieser Wolf Biermann hat vor wenigen ke gerettet wird – und ihm sagte, dass ich gewählte Kanzler etwas Luft verschaffen Monaten in der »New York Times« über dieser Romanfigur schon bald persönlich wollte, von diesem Dichter, der ihn geka- das heutige Deutschland geschrieben, über im Rahmen einer Feierstunde begegnen pert hatte. die Gereiztheit, den Hass, die Verzagtheit werde – da lachte er, schnappte sich einen Aber er ließ sich nicht abschütteln, und heute. »Die Gefahren im Streit der Welt Stift und ein Buch und schrieb hinein: auch das lesen wir in den Briefen der bei- waren immer groß«, hat er geschrieben. »Dear Chancellor Merkel: You are the den, wie Günter Grass seinen Kanzler zu »Aber die größte Gefahr ist unsere Mut - world’s hope for a decent future. Please der vielleicht wichtigsten symbolischen losigkeit.« Wir brauchen Mut, auch zum do as I suggest in my book: stay steady! Geste anstiftete, die ein deutscher Regie- Fehlermachen. Und der Dichter lobt eu- Best regards, Jonas Jonasson.« Ich soll rungschef in der Nachkriegszeit unternom- phorisch den größten Fehler, den seine Ihnen das mitbringen, liebe Frau Merkel, men hat. Die das neue, helle Deutschland gute Freundin, die Bundeskanzlerin An- frisch aus Nairobi, als Geschenk und als für alle Welt sichtbar machte: dem Kniefall gela Merkel, vor drei Jahren gemacht hat, Ermutigung. von Warschau. »Es wäre«, schreibt Grass als sie den Flüchtenden die Einreise nach Wir wissen alle: Aus der Nähe sieht das seinem Kanzler vor dessen Besuch in der Deutschland ermöglichte: »Dieser wun- alles gerade etwas anders aus. Und hört polnischen Hauptstadt, »ein nicht wieder- derbare Fehler brachte Angela Merkel per- sich etwas anders an. Es gibt viel Zer - gutzumachender Fehler, wenn die Unter- rissenheit in diesem Land und Häme, Res- zeichnung des Vertrages in üblicher Glätte sentiment, Angst, Aggression, Hass, Sehn- und innerhalb des gewohnten Protokolls sucht zurück in dunkle Regionen der vonstattenginge.« Eine Erzählung der Vergangenheit und einen allgemeinen Un- Als der Kanzler dann vor dem Mahnmal Zukunft, die über willen, anderen zuzuhören. des Getto-Aufstands niedersinkt, ist Grass, Ich glaube, uns fehlt heute das erzähle- der mitgereist ist, erschüttert wie alle. Er die jeweils nächste rische, zukunftsweisende, mitreißende, hatte nur die Anregung für eine große Ges- Wahl hinausweist. einigende, das literarische Moment in der

136 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Politik. Eine Erzählung der Zukunft, die über den jeweils nächsten Tag, die nächste Wahl hinausweist. Die reine Abstraktion und Reaktion genügen nicht, den Flieh- kräften auf Dauer Paroli zu bieten. Das ist nicht Traumtänzerei, sondern politische Notwendigkeit. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein Mann, der in seinem vorherigen Beruf Schriftsteller war, gerade mit seiner Partei von Erfolg zu Erfolg eilt. In seinem neuen Buch schreibt Robert Habeck: »Es ist nicht schwer, zynisch, populistisch und verbittert zu sein, nicht schwer zu sagen, was nicht geht, nicht schwer, andere schlechtzu- machen. Trauen wir uns dagegen, offen zu bleiben, angreifbar zu sein, verletzlich zu sein und optimistisch. Das ist die wahre Herausforderung: Zuversicht.« Natürlich ist die Logik der Fantasie und der Kunst nicht identisch mit der Logik ULLSTEIN BILD ULLSTEIN der Politik, die brutale Niederwerfung der Ministerpräsident Eisner 1918 Münchner Räterepublik durch die Iden - Samen einer neuen Welt titären von damals hat uns auch das schmerzhaft vor Augen geführt. Aber ohne diese Fantasie und deren Hörbarkeit wird es der sogenannten Realität, die ja immer in Bewegung ist, an einer humanen Richtung fehlen. Monika Grütters hat in ihrer Trauerrede auf den Dichter der freundlichen Kanzler- übernahme, auf Günter Grass, ihren Lieb- lingsdichter Jean Paul zitierend gesagt: »Eine Demokratie ohne ein paar Hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.« Wir brauchen sie, die Widerspruchs- künstler, wir brauchen eine Literatur, die sich einmischen will und die Kraft dazu hat und den Willen, von den anderen Mög- lichkeiten, den anderen Welten zu erzäh- len. Vorausschauen, statt ständig die er- müdenden Kämpfe von gestern zu kämp- fen. »Seit einem Jahr beschäftigen wir uns in viel zu hohem Maße damit, ob wir be- leidigt sein sollen oder nicht«, hat Angela Merkel gesagt. Also: nach vorn den Blick! Mitreißen und erzählen. Der amerikanische Autor Richard Powers hat in seinem neuen Ro- man »Die Wurzeln des Lebens« über die Überzeugungskraft der Literatur geschrie- ben: »Wir können noch so gute Argumen- te haben, damit ändern wir die Einstellung der anderen nicht. Das Einzige, was so et- was kann, ist eine gute Geschichte.« 20 Jahre ist es her, dass »wir Kultur - fuzzis eine große Sache« gemacht haben? Das ist wirklich lange her. Höchste Zeit für neue große Sachen. Eine Wiese – wird sich finden.

SPIEGEL-Autor Weidermann hat diese Rede am vergangenen Montag in Berlin zum 20-jährigen Bestehen des Amtes der ROGER MELIS / ROBERT-HAVEMANN-GESELLSCHAFT ROGER Beauftragten der Bundesregierung für Kul- Sänger Biermann (mit Gitarre), Freunde in seiner Ost-Berliner Wohnung 1965 tur und Medien gehalten. Die Welt kam zu ihm

137 Die spektakulärsten Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Kriminalfälle nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbuch

1 (–) Sebastian Fitzek 1 (1) Stephen Hawking Kurze Antworten aus Der Insasse Droemer; 22,99 Euro auf große Fragen wildesten Jahren 2 (1) Dörte Hansen Klett-Cotta; 20 Euro Mittagsstunde Penguin; 22 Euro Gut ein halbes Jahr nach 3 (2) Inger-Maria Mahlke seinem Tod erscheint Archipel Rowohlt; 20 Euro das letzte Buch des Physikers: Er erläutert 4 (3) Charlotte Link Chancen und Gefahren des menschlichen Die Suche Blanvalet; 24 Euro Fortschritts 5 (4) Michael Hjorth/Hans Rosenfeldt 2 (2) Eckart von Hirschhausen/Tobias Esch Die Opfer, die man bringt Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro Wunderlich; 22,95 Euro 3 (3) Yuval Noah Harari 21 Lektionen 6 (–) Volker Kutscher für das 21. Jahrhundert Marlow C.H. Beck; 24,95 Euro Piper; 24 Euro 4 (6) Thilo Sarrazin In seinem siebten Roman Feindliche Übernahme FBV; 24,99 Euro um den Berliner Kom - missar Gereon Rath er- 5 (5) Bas Kast Der Ernährungskompass zählt Kutscher von Morphiumexzessen, C. Bertelsmann; 20 Euro Unterweltkriegen und Intrigen der Nazis 6 (7) Dirk Müller Machtbeben Heyne; 22 Euro 7 (5) Carmen Korn 7 (8) Udo Lindenberg/Thomas Hüetlin Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Udo Kiepenheuer&Witsch; 24 Euro 8 (6) Elizabeth George 8 (4) Bob Woodward Wer Strafe verdient Goldmann; 26 Euro Furcht Rowohlt; 22,95 Euro 9 (8) Jonas Jonasson Der Hundertjährige, 9 (–) Florian Illies der zurückkam, um die Welt zu retten 1913 – Was ich unbedingt noch C. Bertelsmann; 20 Euro erzählen wollte S. Fischer; 20 Euro

10 (–) Fred Vargas Der Zorn 288 Seiten mit zahlreichen Abb. · Gebunden mit SU 10 (11) Tina Turner der Einsiedlerin Limes; 23 Euro My Love Story Penguin; 28 Euro C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich 11 (7) Juli Zeh 11 (9) Kollegah Neujahr Luchterhand; 20 Euro Das ist Alpha! Riva; 22 Euro

12 (9) Rita Falk 12 (–) Jordan B. Peterson In Berlin tobt in den Jahren von Eberhofer, Zefix! dtv; 8 Euro 12 Rules for Life Goldmann; 20 Euro

1918 bis 1933 nicht nur das 13 (12) Leo Maxim/Jochen Gutsch 13 (10) Robert Habeck verruchteste Nachtleben der Welt, Es ist nur eine Phase, Hase Wer wir sein könnten Ullstein; 12 Euro hier haben auch Mord, Raub und Kiepenheuer&Witsch; 14 Euro 14 (11) Martin Suter 14 (15) Christopher Schacht Betrug Hochkonjunktur. Allmen und die Erotik Diogenes; 20 Euro Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro Nathalie Boegel erzählt von 15 (10) Karen Duve Fräulein Nettes 15 (–) Andreas Englisch kurzer Sommer Galiani; 25 Euro gewissenlosen Mördern, cleveren Mein Rom C. Bertelsmann; 22 Euro Betrügern und Kriminellen, die 16 (13) Christian Berkel 16 (–) Kari Hotakainen Der Apfelbaum Ullstein; 22 Euro zu Lieblingen der Berliner werden. Der unbekannte Kimi Räikkönen Und sie zeigt, wie ein 17 (–) Peter Prange Eine Familie Lübbe; 24 Euro in Deutschland Fischer Scherz; 22 Euro kuchensüchtiger Kommissar 17 (13) Peter Wohlleben Das geheime Leben 18 (–) Andreas Eschbach der Bäume Ludwig; 19,99 Euro die Polizeiarbeit revolutioniert. NSA – Nationales Sicherheits-Amt 18 (14) Elli H. Radinger Lübbe; 22,90 Euro Die Weisheit alter Hunde Ludwig; 22 Euro 19 (16) Frank Schätzing Die Tyrannei des Schmetterlings 19 (12) Rainer M. Schießler Kiepenheuer&Witsch; 26 Euro Jessas, Maria und Josef Kösel; 20 Euro

20 (18) Robert Seethaler 20 (18) Richard David Precht Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro www.dva.de 138 Kultur

eine große Plastik aus nachgiebigem Kunststoff zu betrachten, die einer Vulva nachgeformt ist. Mit einer entsprechend aus- Staatsfeindin Lust ladenden Schere führt die somalisch-britische Psychothera- peutin Leyla Hussein die Varianten der weiblichen Genital- Filmkritik Die Dokumentation »#Female verstümmelung daran vor; sie stochert in der Vagina herum, sie schneidet die äußeren Schamlippen ab, sie näht sie zu- Pleasure« zeigt fünf Frauen, die für das sammen, sodass nur eine winzige Öffnung bleibt. Es ist so Recht auf Selbstbestimmung viel riskieren. merkwürdig wie berührend anzusehen, was diese Prozedur an einem nicht einmal entfernt naturalistischen Modell bei den Zuschauern auslöst; sie halten sich die Hand vor die Au- igentlich ganz lustig, so ein leuchtendes Kajak mit Sitz- gen, sie stöhnen und ächzen vor Mitgefühl, sie halten kaum E insel in Vulvaform. Wer jedenfalls in das freundliche ihre Tränen zurück. Das hat man ihren Schwestern und Ku- Gesicht der Künstlerin Rokudenashiko guckt, während sinen getan, ihren künftigen Frauen auch, und sie haben es sie darin durch Tokio schippert, kommt nicht auf obszöne, nicht gewusst? erst recht nicht böse Gedanken. Es gehört zu den Besonderheiten dieses aufwühlenden Sollte man meinen, stimmt aber nicht. Die harmlose Ak - Films, dass er an keiner Stelle einen essenziellen Gegensatz tion, die Daten ihres primären Geschlechtsteils in einen 3-D- zwischen Männern und Frauen zeigt. Die Linien von Gewalt Drucker zu speisen, um daraus ein Schiffchen aus Plastik zu und Unterdrückung verlaufen nicht entlang der Geschlech- machen – und sie außerdem online tergrenzen, auf beiden Seiten gibt es zu stellen –, hat die Japanerin vor Kollaborateure, auf beiden Seiten ein Gericht gebracht. auch kreativen Widerstand. Vithika Eine keusche Gesellschaft? Nicht Yadav leitet die Internetplattform na- unbedingt. Während des jährlichen mens Love Matters in Indien, auf der Penisfestes, bei dem wahrhaft mons- Männer wie Frauen Fragen zur Lust tröse Objekte in unverkennbarer und Unlust beantworten. Die brutale Form durch die Straßen getragen Gewalt gegen Frauen in Indien, die und gefeiert werden, lutschen Er- Gruppenvergewaltigungen und die wachsene wie Kinder penisgeform- »Ehrenmorde« seien, so Yadav, ex- tes Speiseeis. Die sexuelle Potenz treme, aber geradlinige Folgen der des Mannes ist ganz offiziell anbe- Verachtung der Frau und der Angst tungswürdig; Pornografie ein ver- vor einer Sexualität, die nicht auf breitetes und lohnendes Business. Unterwerfung beruht. »Wir sind ja In dem staunenswerten Doku- eigentlich das Land des Kamasutra«, mentarfilm »#Female Pleasure« der stellt sie mit amüsiertem Entsetzen Schweizerin Barbara Miller, der in fest. Denn von dieser lebensbejahen- dieser Woche in die Kinos kommt, den Freiheit ist außer der denkmal- spielt Rokudenashiko entschieden geschützten Erinnerung nichts ge- die heiterste Rolle. Mit einer Schleife blieben.

im Bubikopf verbreitet sie Schul- X-VERLEIH Miller gibt ihren Protagonistinnen mädchencharme, eine offenbar Zeit, ihre Geschichte in ihrer Eigen- schwere Bedrohung des Status quo: FOTOS: art zu erzählen. Gemeinsam ist Nicht weniger als zehn bewaffnete Filmszenen aus »#Female Pleasure« ihnen, dass sie zunächst auf sich al- Polizisten stürmten ihre Wohnung, Viele Spielarten der Misogynie lein gestellt waren. Für die Schrift- um sie in Handschellen abzuführen, stellerin Deborah Feldman (»Unor- weg von ihrem Schreibtisch, wo sie Mangas zeichnet, in de- thodox«) war der Blick auf die Skyline von Manhattan aus nen Vaginen ein munteres zweidimensionales Leben führen. ihrem chassidischen Getto heraus ein Blick auf eine andere, Die weibliche Lust und ihre Organe – was ist daran so staats- ferne Welt. Die Rechte, die der Staat seinen Bürgern garan- bedrohend und ungeheuerlich? tiert, das Recht auf Bildung, auf eine freie Wahl des Partners, Barbara Millers Antwort auf diese Frage besteht aus fünf auf Selbstbestimmung und »das Streben nach Glück«, sie Varianten: fünf Lebensgeschichten von Frauen aus vier Kon- halfen ihr nicht. Die Eigengesetzlichkeit der religiösen Ge- tinenten, die zeigen, als wie verdammenswert das Weibliche meinschaft galt, wie bei der früheren Nonne Doris Wagner, schlechthin auch in Gesellschaften gilt, die wir als modern der jeweiligen Gesellschaft als höherer Wert. verstehen. Wie brutal die Methoden sind, mit denen Mäd- Millers Film porträtiert viele Spielarten der Misogynie, chen und Frauen zugerichtet werden, inner- von der religiös statuierten »Unreinheit« der Frau über ihr lich wie äußerlich, damit sie sich minderwer- freiwildhaftes, ungeschütztes Dasein bis hin zur organisierten tig fühlen. Und womit sie zu rechnen haben, Gewalt. Die Dämonisierung des weiblichen Körpers, das wenn sie die gottgegebene Ordnung stören: zeigt ihr Film in erschütternder Deutlichkeit, ist tief verankert im römischen Orden, in der chassidischen in den Weltreligionen. Dass das Patriarchat auch säkular Enklave in New York, im buddhistischen To- funktioniert – geschenkt. Die beiden Systeme nähren sich kio, im hinduistischen Indien, in islamischen gegenseitig prächtig. Video Ausschnitte Gemeinschaften Afrikas und deren Ablegern Zugleich zeigt Miller so anrührend wie ermutigend, was aus »#Female in Europa. Wenig davon ist unbekannt, vie- sich ändern lässt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir Pleasure« les taucht wöchentlich in den Nachrichten wissen, was der Fall ist, im weit entfernten Tokio wie in der auf. Und doch entfaltet es im Zusammen- katholischen Kirche und in der Moschee um die Ecke. »#Fe- spiegel.de/ sp452018kino spiel eine niederschmetternde Kraft. male Pleasure« ist ein Film, den man für den allgemeinen oder in der App Man sieht sie in den Gesichtern der jungen Schulunterricht dringend empfehlen möchte. Auch unsere DER SPIEGEL Männer, die sich in London versammeln, um Kinder sollten ihn sehen. Elke Schmitter

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 139 Service Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail [email protected] www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966 Mail: [email protected] Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir Impressum SPIEGEL PLUS Alexander Neubacher LONDON Jörg Schindler, auch gern per Mail entgegen: [email protected] DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, 26 Hanbury Street, London E1 6QR, HERAUSGEBER Rudolf Augstein Kathrin Breer (stellv.). 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Redaktion Politik und Wirtschaft: Reimer Nagel, Sandra Pietsch, Fred Tel. +1 212 2217583, Fax 3026258 Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Markus Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Sandra wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine Dettmer, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Waege PARIS Julia Amalia Heyer, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können. Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, 137 Rue Vieille du Temple, 75003 Paris, Der dazugehörende Fingerprint lautet: Produktion: Petra Thormann, Reinhard Tel. +33 1 58625120, Fax 42960822 Christoph Schult, Anne Seith, Gerald Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno, 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC Traufetter. Autoren, Reporter: Markus Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, Feldenkirchen, Konstantin von Hammer- Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg, Peking 100101, Tel. +86 10 65323541, stein, Christoph Hickmann, Christian Redaktioneller Leserservice Martina Treumann, Rebecca von Hoff, Fax 65325453 Reiermann, Marcel Rosenbach Katrin Zabel Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966 DEUTSCHLAND Leitung: Cordula Meyer, RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Mail: [email protected] BILDREDAKTION Leitung: Michaela Caixa Postal 56071, AC Urca, Dr. Markus Verbeet. 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Redaktion: Tobias DÜSSELDORF Frank Dohmen, Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papadopoulos, Becker, Lars-Olav Beier, Ulrike Knöfel, Lukas Eberle, Fidelius Schmid , Jägerhof- Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, ¡ Katharina Stegelmann, Claudia Voigt, straße 19–20, 40479 Düsseldorf, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Martin Wolf, Takis Würger. Autoren, Repor- Tel. 0211 86679-01, Fax 86679-11 Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek, ter: Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Abonnementsbestellung Gorris, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegen- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an: Tim Bartz, Felix Bohr, An der Welle 5, Elke Schmitter, Volker Weidermann thaler, Meike Stapf, Rainer Staudhammer, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg – 60322 Frankfurt am Main, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, GESELLSCHAFT Leitung: Matthias Geyer, Tel. 069 9712680, Fax 97126820 Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, Andrea oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo Özlem Gezer (stellv.). Redaktion: Hauke KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße Tholl, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Goos, Maik Großekathöfer, Barbara Har- Ich bestelle den SPIEGEL 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, Wetter, Holger Wilkop, Karl-Henning ❏ dinghaus, Felix Hutt, Timofey Neshitov, Fax 9204449 Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller für € 4,80 pro gedruckte Ausgabe Dialika Neufeld, Claas Relotius, Jonathan ❏ für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper Stock. Autoren, Reporter: Uwe Buse, Ullrich MÜNCHEN Anna Clauß, Dinah Deckstein, NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, Fichtner, Jochen-Martin Gutsch (frei), Marc Jan Friedmann, Martin Hesse, Thomas dpa, Los Angeles Times / Washington Post, beträgt € 0,60) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Hujer, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp Schulz, Rosental 10, 80331 München, New York Times, Reuters, sid Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Tel. 089 4545950, Fax 45459525 SPORT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje GMBH & CO. KG nur in Deutschland. Windmann, Christoph Winterbach REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Verantwortlich für Anzeigen: Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: INVESTIGATIVREPORTER Rafael Busch - André Pätzold mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, BANGALORE Laura Höflinger, 811, Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ 10th A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, Bangalore – 560 038 Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 72 spiegel.de). Dokumentation: Nicola Naber, vom 1. Januar 2018 Name, Vorname des neuen Abonnenten Koordination SPIEGEL ONLINE: Jörg BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Mediaunterlagen und Tarife: Diehl, Koordination SPIEGEL TV: Thomas 02138 Cambridge, Massachusetts, www.spiegel.media Heise Tel. +1 857 9197115 BRÜSSEL Peter Müller, Verantwortlich für Vertrieb: Straße, Hausnummer oder Postfach TEAM LEBEN Anke Dürr, Detlef Hacke, Christoph Hauschild Maren Keller rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436 SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne Verantwortlich für Herstellung: Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr (stellv.). ISTANBUL Maximilian Popp, Silke Kassuba PLZ, Ort Redaktion: Markus Deggerich, Uwe Tel. +90 5413971567 Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, KAPSTADT Bartholomäus Grill, Druck: Dr. Johannes Saltzwedel, Sandra Schulz. P. O. 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140 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel Ana González danken, dass auch Chilenen, Nachrufe de Recabarren, 93 die der grausamen Vergan- Ihr Ehemann, zwei ihrer genheit gegenüber lange Söhne, ihre schwangere gleichgültig waren, aufge - Schwiegertochter – alle rüttelt wurden, sagen Weg- verschwanden ohne eine gefährten. Ana González Spur, ohne eine Nachricht de Recabarren starb, ohne im April 1976. Sie zählen je wieder von ihren Ange - zu den schätzungsweise hörigen gehört zu haben, 3000 Menschen in Chile, am 26. Oktober in Santiago die während der 17 Jahre de Chile. KS andauernden Diktatur unter Augusto Pinochet aus Melvin Ragin, 67 dem Weg geräumt wurden. Er trug seinen Sound Ana González kämpfte bereits im Namen. »Wah über vier Jahrzehnte lang Wah Watson« wurde der unermüdlich für Aufklä- Gitarrist genannt wegen rung. Sie ist eine der Grün- des Effektgeräts Wah-Wah- derinnen der Menschen- Pedal, das er so virtuos

JOACHIM SCHULZ / IMAGO rechtsorganisation Agrupa- benutzte. Jimi Hendrix hatte es berühmt gemacht, Ingo Insterburg, 84 und als man bei Motown Berühmt machte ihn eine Parodie auf das Ideal freier Liebe: in Detroit, dem wichtigsten »Ich liebte ein Mädchen in Wedding«, sang Ingo Insterburg, Soullabel der Sechziger, »die wollte immer nur Petting. Ich liebte ein Mädchen in den Anschluss an die Klän- Tiergarten, da musste ich immer bis vier warten. Ich liebte ge der Gegenkultur finden ein Mädchen aus Mainz, die war gar keins.« Er kam 1934 wollte, kam Melvin Ragin, als Ingo Wetzker zur Welt, benannte sich als Komiker nach ein 17-Jähriger aus Rich- seinem Geburtsort, dem ostpreußischen Insterburg. In mond in Virginia, gerade West-Berlin lebte er zeitweise in einer Wohn gemeinschaft richtig. »Papa Was A Rollin’ mit dem Schauspieler Klaus Kinski. An dessen Seite ver- Stone« von den Tempta - suchte er sich 1959 im seriösen Fach, trat als »Guitar-Ingo« tions war eine seiner wich- mit Brecht-Balladen auf. 1967 gründete Insterburg mit tigsten Aufnahmen, eine

dem Komiker Karl Dall, dem Schauspieler Jürgen Barz / NOOR LAIF JON LOWENSTEIN der besten Soulsingles der und dem Autor Peter Ehlebracht die Blödelband Insterburg Musik geschichte. Ragin & Co. Sie sagten Knittelverse auf und sangen Nonsens- ción de Familiares de Dete- prägte den Funk und die Lieder, spielten dazu auf selbst gebastelten Instrumenten: nidos Desaparecidos. Diese schwarze Musik der Sieb - Stuhlbeinklarinette, Melkeimergitarre, Tannenbaumgeige. »Vereinigung der Angehöri- ziger insgesamt und spielte Dadaistisch nannten das die einen, dilettantisch die ande- gen von verschwundenen für zahlreiche Künstler die ren. Recht hatten vermutlich beide. Die Band, die bis 1979 Inhaf tierten« setzte sich für Gitarre, für die Jackson 5 bestand, galt Kritikern als außerparlamentarische Opposi - die Aufarbeitung der Men- und auf Marvin Gayes tion des Showgeschäfts. Bühnenanarchisten, die den Weg schenrechtsverletzungen »Let’s Get It On«, Gloria bereiteten für Comedians wie Mike Krüger oder Otto während der Diktatur ein. Gaynor begleitete er bei Waalkes. Noch im April war Insterburg auf Tour, sang wie González ging in den Hun- »I Will Survive« – und es immer auch seinen bekanntesten Song. »Doch dann wurde gerstreik, protestierte vor gelang ihm, bis in die Nul- es mir auf der Welt zu klein, drum zog ich in den Himmel Botschaftsgebäuden, reiste lerjahre relevant zu bleiben; rein. Ich liebte ein Mädchen auf dem Mars, ja das war’s.« nach New York zu den er spielte auch mit Janet Ingo Insterburg starb am 27. Oktober in Berlin. TOB Vereinten Nationen – und Jackson und Angie Stone. ließ sich von Pinochets Melvin Ragin starb am Schergen nicht einschüch- 24. Oktober im kaliforni- Ruth Gates, 56 tern. Die Methoden des schen Santa Monica. RAP Falls es nicht gelingt, die Erhöhung der Erdtemperatur auf Regimes waren weitverbrei- 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustrieller Zeiten tet: Verschleppung, Folter, zu beschränken, ist der Untergang der tropischen Korallen- Ermordung von Oppositio- riffe besiegelt. Das hat gerade der Weltklimarat bekräftigt. nellen oder denen, die dazu Kaum jemanden wird das weniger überrascht, zugleich er klärt wurden, gehörten aber mehr betroffen gemacht haben als Ruth Gates. Die auch in Argentinien, Uru- Biologin von der University of Hawaii kämpfte für den guay oder Brasilien zum Schutz der Korallenriffe, deren Existenz weltweit von blutigen Alltag. González steigenden Ozeantemperaturen und der Versauerung der hatte ihren Mann bei einer Meere bedroht ist. Noch bis zuletzt versuchte Gates, Versammlung der Kommu- »Super-Korallen« zu züchten, die den Fährnissen der Klima- nistischen Jugend kennen - veränderung besser trotzen sollen. Durch die Netflix- gelernt. Sie heirateten 1944 Dokumentation »Chasing Coral« wurde sie einem Millio- und engagierten sich weiter nenpublikum bekannt. Ruth Gates starb am 25. Oktober in der Partei. Ihrer sanften PHB an einem Hirntumor. Beharrlichkeit sei es zu ver- / GETTY IMAGES CLUB CULTURE

DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 141 Personalien

Bekenntnis zum Kostüm

G Älterwerden hat auch Vorteile. Zum Bei- spiel, dass man Vorlieben, die einem früher peinlich waren, offen ansprechen kann. So ergeht es der britischen Schauspielerin Keira Knightley, 33, mit ihrem Faible für Kostümfilme. Sie spielte in einer Reihe his- torischer Dramen die Hauptrolle – aber ihr sei erst vor Kurzem klar geworden, warum sie so großes Vergnügen daran fand: »Das ist die Art Filme, die ich immer schon gern geschaut habe«, sagte sie der Zeitschrift »Variety«, »aber ich dachte lange, ich müsse mich davon lösen.« Historienfilme seien eben das Genre, mit dem sie ihren Bedarf an Eskapismus decke. Andere Leute würden dafür Science-Fiction oder Fantasy konsu- mieren. Dass es in ihrer Filmografie ver- gleichsweise wenige Produktionen gibt, die in moderneren Zeiten spielen, hat aber noch einen anderen Grund: Knightley findet die Darstellung von Frauen in solchen Filmen oft geschmacklos; historische Stoffe böten interessantere Charaktere. Mit dem Erfolg von Netflix oder Amazon habe sich das nun geändert, mehr starke weibliche Figuren seien aufgetaucht: »Plötzlich bekomme ich Drehbücher geschickt mit Frauenfiguren der Gegenwart, die nicht auf den ersten fünf Seiten vergewaltigt werden und die auch mehr sein dürfen als liebende Freundinnen KS oder Ehefrauen.« / EYEVINE LAIF EVENING STANDARD LONDON

Regie unter Arrest reißende Weise die Leningra- Zürcher Regieteam filmte die der Rockmusikszene der frü- Proben, schickte die auf G Der in Moskau wegen hen Achtzigerjahre porträtiert. einem USB-Stick gespeicher- angeblicher Veruntreuung Während der Filmarbeit an ten Videos zum Anwalt des von staatlichen Fördergeldern »Leto« war Serebrennikow im Regisseurs, der sie weitergab angeklagte russische Regis- Sommer 2017 festgenommen und die Korrekturanweisun- seur Kirill Serebrennikow, und unter Hausarrest gestellt gen seines Mandanten offen- 49, muss laut richterlicher worden. Bereits diesen Sonn- bar auf dem gleichen Weg Verfügung mindestens bis tag hat im Opernhaus Zürich zurücksandte. Kirill Serebren- April 2019 im Hausarrest blei- eine Neu inszenierung der nikow sei »die Symbolfigur ben – im Westen aber ist Mozart-Oper »Cosí fan tutte« für die Modernisierung der der Künstler erstaunlich prä- Pre miere, die Serebrennikow Künste in Russland«, heißt es sent. Am Donnerstag läuft als Regisseur und Bühnenbild- auf der Website des Schweizer in den deutschen Kinos Sere- ner verantwortet. Das von Opernhauses, »dafür strafen brennikows Film »Leto« Serebren nikows Assistenten ihn die konservativen Kräfte

ITAR-TASS / IMAGO ITAR-TASS (»Sommer«) an, der auf mit- Evgeny Kulagin angeführte des Putin-Regimes ab.« HÖB

142 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 len Ruhestand« hatte Fischer Richterlicher 160 Freunde und Kollegen Nachtrag in Brenners Park-Hotel nach Baden-Baden geladen. Von G Eines Morgens habe er seiner offiziellen Verabschie- spontan beschlossen, »heute dung im April 2017 zeigte ist dein letzter Tag«, erklärte er sich dabei nur mäßig der frühere Vorsitzende beeindruckt: Früher, alberte Richter am Bundesgerichts- Fischer, habe man als schei- hof, Thomas Fischer, 65, dender Vorsitzender Richter kürzlich zu seinem vorzeiti- des BGH das Bundesver- gen Ausscheiden aus dem dienstkreuz erhalten, »für Dienst im vergangenen Jahr. die Verdienste, die man sich Zur nachträglichen Feier sei- dadurch erworben hat, nes »Eintritts in den justiziel- 35 Jahre lang seine Pflicht zu

tun«. Heute gebe es »einen / BUNDESWEHR KRAATZ TORSTEN Regenschirm mit schwarz- rot-goldenem Flatterband«. Der Augenzeuge Es habe ihn »beeindruckt«, als die BGH-Präsidentin ihm damals diesen Schirm über- »Simulierter Angriff« reicht und ihm »für den Rest des Lebens alles Gute« Mohamad A., 30, ist Hauptgefreiter der Bundeswehr gewünscht habe. Regen- und versorgt seine Kameraden im Militärcamp schirm samt Geschenkband Rødsmoen jeden Tag mit Munition. 50000 Nato- hingen seither bei ihm im Soldaten trainieren in Norwegen beim größten Büro, »und das Flatterband erinnert mich immer daran, Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges. welchem Land ich dienen G TIM WEGNER / DER SPIEGEL TIM WEGNER durfte«. HIP »Der erste Marsch beginnt um sieben Uhr morgens. Drei Kilometer bergauf, voll bepackt mit Proviant, die Waffe im Arm und mit gepolsterter Feldjacke, ziehen wir bei null Grad durch den dichten Wald Norwegens. Das Wetter ist launisch Midterm-Wahlen. Bilder von hier oben, aus einem hübschen Sonnenaufgang wird schnell Pfannkuchen Umweltverschmutzung, bewölkter Himmel, es gibt Nebel, Regen, und die Straßen gegen Trump berstenden Eisbergen und vereisen. Wir müssen das Gelände kennenlernen, auch wenn weinenden Menschen wech- der Schnee hier 20 Zentimeter tief ist. Erst am Abend geht G Für die US-amerikanische seln sich ab mit Aufnahmen es nach den Schießübungen zurück ins Camp. Fünf Stunden Sängerin Barbra Streisand, von Trump; immer wieder Schlaf, mehr hat die Nacht für uns nicht übrig. 76, geht Donald Trumps Ver- wird sein Mund beim Spre- Ich bin beim Großmanöver ›Trident Juncture‹ der Nato antwortung weit über das chen ganz nah gezeigt. einer der Materialbeschaffer der Bundeswehr. In der Nähe tagespolitische Geschehen Die Botschaft: Trump igno- der kleinen Stadt Rena, etwa zwei Stunden nördlich von hinaus. Auch ihre Schlaf- riere die Realität, er lüge, Oslo, haben wir unser Lager auf einem Truppenübungsplatz losigkeit und ihre Gewichts- seine Worte seien gefährlich. der norwegischen Armee aufgeschlagen. 4000 Soldaten aus zunahme hängen für sie Streisand hofft sehr auf neun Ländern sind hier in Zelten untergebracht, auf engem mit dem US-Präsidenten einen Sieg der Demokraten Raum. Feldbett folgt auf Feldbett, jeder hat einen kleinen zusammen: Nachts liegt die bei den Wahlen kommende Stuhl, mehr nicht. Die Stimmung ist aber super, man lernt ausgewiesene Trump-Geg- Woche, damit sie wieder bes- sich besser kennen, schätzt das Vertrauen der Kameraden. nerin wach, weil sie sich ser schlafen kann. KS Ich diene jetzt seit einem Jahr, und die Übung ist eine beson- über ihn aufregt, tagsüber dere Sache. Im Vordergrund steht die Arbeit, für Urlaub ist isst sie zur Beruhigung keine Zeit, auch wenn die Landschaft hier wunderschön ist. Pfannkuchen, die sehr kalo- Ich nehme jeden Tag weite Wege auf mich, hinab in die rienhaltig sind. Ihr Leiden Täler, durch die verschneiten Wälder, um meinen Nato-Kame- inspirierte Streisand aber raden neue Ausrüstung zu bringen. Munition, Kleidung, auch zu ihrem jetzt erschie- Ersatzreifen oder Werkzeug. Das ist ein 24-Stunden-Job. nenen neuen Album »Walls«. Wenn meine Kameraden um elf Uhr das Nachtschießen been- Ganz untypisch ist sie darauf den, rücke ich aus, um Patronen und Verpflegung wieder ein- dezidiert politisch, die zusammeln. Wir simulieren in Norwegen den Bündnisfall, Sängerin verarbeitet in den also einen Angriff auf ein Nato-Mitglied. Der Austausch mit Liedern ihre Sorgen um den Soldaten der anderen Länder ist toll. Besonders mit den das gespaltene Land und Niederländern habe ich viel zu tun. Wir sprechen Englisch, ihre Abscheu gegen Trump. viele fragen aber immer nach den deutschen Wörtern. Wir So ist das Video zu dem essen fast ausschließlich Fisch, alles Gerichte, die ich eigent- Song »Don’t Lie to Me« zu lich nicht mag. Aber die Norweger kochen für uns – und sie einer Art Anti-Trump-Wahl- sind sehr gastfreundlich. Dann schmeckt das Essen doch.«

spot geworden, kurz vor den / LAIF / NYT / REDUX PFLUGER RYAN Aufgezeichnet von Alexander Triesch

143 »Europas Problem scheinen die Europäer zu sein. Es stellt sich die Frage: Sind wir eigentlich noch zu retten?« Ekkehard Sander, Denkendorf (Baden-Württemberg)

Finanzieller Schlendrian Bailout-Klausel erst durch eine Europäi- beitnehmerinnen« (wobei das »-innen« re- Nr.44/2018 Die Erpressung – Italien greift sche Finanzstabilisierungsfazilität ausge- gelmäßig vernuschelt wird) oder »Gerech- an. Europa droht die nächste Schuldenkrise hebelt und dann durch den dauerhaften tigkeit«. Nach den Wahlen werden unter Rettungsschirm ESM endgültig zur Maku- dem Schlagwort »pragmatisch« aber ganz Zur Kreditvergabe gehören ja mal mindes- latur werden. Da galten eben »außerge- diensteifrig einzig Lobbyistenwünsche er- tens zwei Partner – der eine, der Geld gibt, wöhnliche Umstände«. Dadurch kann ein füllt und der entfesselte Finanzkapitalis- und der andere, der sich Geld leiht. Verhalten befördert werden, das man in mus subventioniert. Ich suche in der tradi- Niemand ist gezwungen, Italien weitere der Ökonomie als Moral Hazard bezeich- tionsreichen SPD nach wie vor Ehrlichkeit, Kredite zu geben, wenn das Geld anschlie- net. Salopp formuliert: »Ich gebe zu viel Haltung und Charakter, aber leider verge- ßend verplempert wird und die Staats- aus, na und? Die anderen werden schon bens. Selbst der dümmste Gewohnheits- verschuldung weiter steigt. Das abschre- einspringen!« Der Stabilitäts- und Wachs- wähler bemerkt doch irgendwann die feh- ckende Beispiel Griechenlands, wo keiner tumspakt mit Regeln und Sanktionen ist lende sozialdemokratische Substanz. rechtzeitig die Reißleine zog, haben wir nur ein zahnloser Tiger. Insofern ist das Wolfgang Schmidt, Lage (NRW) alle noch im Gedächtnis. Erhielten die Italiener keine Kredite mehr, müssten sie Eine treffende Analyse zur SPD. Sie hätte zwangsläufig sparsamer wirtschaften. Aber immer noch den größten »Markt« – die die Kreditgeber haben die Erfahrung ganz normalen Menschen. Wenn man es gemacht, dass zum Schluss irgendein allerdings zulasten dieser gleichzeitig auch Dummer haftet, und deswegen wird der Wirtschaftskriminellen, Steuerhinterzie- finanzielle Schlendrian wahrscheinlich wei- hern und wie aktuell Betrügern aus der tergehen, auch weil kein Banker oder Zen- Autoindustrie und so weiter recht machen tralbankchef persönlich für Fehlentschei- will, kann man nur untergehen.

dungen zur Verantwortung gezogen wird. / AFP MONTEFORTE FILIPPO Alfred Pell, Fürstenzell (Bayern) Werner Mühlmann, Schönau am Königssee (Bayern) Italienischer Ministerpräsident Giuseppe Conte, Vizepremiers Luigi Ich habe einmal in meinem Leben SPD ge- Das haben wir davon, solange wir keine eu- Di Maio, Matteo Salvini wählt. Damals Gerhard Schröder, um Kohl ropäische Zentralregierung haben. Ein von abzuwählen. Was habe ich bekommen? dieser Regierung eingesetzter Sparkommis- jetzige Verhalten der italienischen Regie- Hartz IV: ein Verbrechen an den Men- sar hätte den betreffenden Staaten längst ein rung nicht nur vorhersehbar gewesen, son- schen, ein Programm für eine neue Armut! Haushaltssicherungs-, ein Sparkonzept ver- dern logisch. Das Nachsehen haben die Rentenabsenkung: Meine Rente wird we- passt. Die Regierung dazu einen wirtschaft- Regierungen, die ihren Bürgern harte Ein- niger. Arbeitsmarkt: die Etablierung von lichen Fortschritts- und Entwicklungsplan. schnitte zumuten. Sie werden anschlie- Leiharbeit. Dumpinglöhne, die bis heute Auch wir in Deutschland hätten sicher einige ßend von ihren Wählern abgewatscht. nachwirken. Eine Partei, die den eigenen unaufschiebbare Anweisungen erhalten. Dr. rer. oec. Astrid-Marina Lohrmann, Wuppertal Bürgern dieses antut, eine sozialdemokra- Aber machen wir mal weiter so, und schau- tische noch dazu, ist für mich und offen- en wir, wie lange es noch gut gehen wird. So wird das nie was sichtlich viele andere auch unwählbar. So- Stefan Uttke, Neuss lange die SPD das nicht begreift und end- Nr.43/2018 Warum die SPD die Große Koalition verlassen sollte lich korrigiert, wird das nie wieder was. Die Bürger Europas müssen einmal mehr Ralf Brechtel, Pommelsbrunn (Bayern) ausbaden, was politische Fantasien wider Ich bin seit 40 Jahren SPD-Parteimitglied allen ökonomischen Sachverstand anrich- und seit 45 Jahren SPIEGEL-Leser. Es er- Hambi und Bambi ten. In Demokratien lässt sich Volkes Stim- staunt trotz allem die Tatsache, dass ein SPIEGEL- Nr.43/2018 Der Aufstieg der Grünen me und Wille auf Dauer auch nicht durch Redakteur in der Lage ist, auf gefährdet ihre Identität / SPIEGEL-Gespräch Verträge zurückbinden. Immerhin: Wenn einer DIN-A4-Seite die gesamten Proble- mit Robert Habeck über politische Kom- jeder nur noch an sich denkt, ist am Ende me der Partei und ihrer Führung aufzuzei- munikation doch wieder an alle gedacht. gen und den möglicherweise bestehenden Wolfgang Kessler, Beckenried (Schweiz) Lösungsansatz gleich mitzuliefern. Ich hof- Besser kann man den Spagat der Grünen fe, die Parteigremien lesen aufmerksam nicht auf einen Nenner bringen! Einerseits Es sind nicht die bösen Spekulanten, die mit, denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Protestpartei, wo es Wählerstimmen gibt – uns den schönen Euro kaputt machen Heiko Klute, Herne (NRW) ohne groß nach den Arbeitsplätzen zu wollen. Diese Währung ist rein politisch fragen –, andererseits Wohlfühlpartei für gewollt, ökonomisch eine Missgeburt. Den Wie die meisten anderen ehemaligen SPD- die Eliten. Gerechtigkeits- und Verteilungs- Verantwortlichen war dies sehr wohl be- Wähler kann ich genau sagen, warum ich fragen für die Millionen Menschen, die wusst; dementsprechend haben sie das Re- diese Partei seit vielen Jahren nicht mehr monatlich unter 1000 Euro haben, spielen gelwerk juristisch so schwammig gestaltet, ankreuze: Besonders vor den Wahlen ist bei den grünen Hambi- und Bambi-An- dass es im Bedarfsfall auslegungsfähig war. jedes zweite Wort der SPD-Funktionäre hängern keine Rolle mehr. Nur so konnte die viel beschworene No- und -Kandidaten »Arbeitnehmer und Ar- Prof. Dr. Hans A. Bloss, Ettlingen (Bad.-Württ.)

144 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Briefe

Unbefriedigend war das Gespräch mit tig widerlegt. 9 Prozent der Cannabis-Nut- gerne mal kiffen möchte, dann habe ich Robert Habeck, bei dem die Interviewer zer entwickeln einen problematischen kaum eine Möglichkeit, mir etwas zu kau- die Themen Ökologie und Klima als Angst- Konsum; bei der legalen Substanz Alkohol fen, denn ich bin in der Szene nicht zu macher abtaten und im Übrigen links sind es etwa 15 Prozent und bei Tabak 32 Hause. Dann frage ich meine 21 Jahre alte liegen ließen; auch der seitenlange Bericht Prozent. Die Frage ist daher, wie wir als Tochter. Die raucht zwar selbst nicht, über die Grünen spricht alles Mögliche an, Gesellschaft die 9 Prozent schützen und kennt aber jemanden, der jemanden kennt. brisante politische Inhalte der Öko-Partei, ihnen helfen wollen. Bei Tabak und Alko- Und genau damit sollte Schluss sein. Kei- also Klimaschutz und Naturschutz, kom- hol haben wir uns für eine Abgabe nur an ner will Kinder und Jugendliche an die men hingegen nur am Rande vor. Erwachsene und Aufklärung über die Ri- Droge führen. Aber pauschal allen das zu Sonja Schuhmacher, BUND, Weiden (Bayern) siken entschieden. Der Tabakkonsum ge- verbieten ist für mich keine Lösung, son- rade bei Jugendlichen ist dadurch enorm dern Bevormundung. In den Niederlanden Eigentlich sage ich es nur ungern, aber im zurückgegangen. Der Schutz der Jugend- ist es seit fast 50 Jahren geduldet, und das Interview mit Herrn Habeck sind die Ant- lichen und der öffentlichen Gesundheit Land gibt es immer noch. worten besser als die Fragen. sind auch die Hauptargumente für die Can- Ulrich Ortmann, Hamburg Wilfried Merg, Leverkusen nabis-Legalisierung in Kanada. Jede Dro- ge birgt Gesundheitsrisiken, aber diese stei- Mit welchem Recht darf ein Staat seinen Gerne mal kiffen gen noch, wenn sie illegal ist. Ihr Bericht Bürgern vorschreiben, welche Substanzen hat leider nicht dazu beigetragen, eine sie zu sich nehmen dürfen? Hier kann Nr.43/2018 Cannabis, die unterschätzte Gefahr sachliche Diskussion in Deutschland vo- doch nur der Grundsatz gelten, dass die ranzutreiben. Freiheit des einen nur eingeschränkt wer- Nach der Argumentation dieses Artikels Barbara Gödde, Politikberaterin, Weltkommission für den darf, wenn sie gegen Rechte des ande- müsste man fast alles verbieten, ob Alko- Drogenpolitik, Genf (Schweiz) ren verstößt. Wem aber schade ich, wenn hol, Nahrungsmittel oder Computerspiele. ich eine Droge einnehme? Warum darf der Till Langhorst, Marktheidenfeld (Bayern) Sechs wesentliche Zahlen fehlen im Arti- Staat sagen, es sei besser, etwa 100000 kel: 21000 Tote jährlich durch Alkohol, Strafverfahren jährlich wegen solcher »Ver- Dieser Text war genau in dem Stil, wie ich 120000 Tote durch Nikotin. Steuereinnah- gehen« zu führen (von denen dann die mir einen SPIEGEL-Artikel vorstelle: aus- men Alkohol 3,1 Milliarden Euro, Steuer- meisten wegen Geringfügigkeit eingestellt gewogene Informationen, die es dem Le- einnahmen Tabak 14,4 Milliarden Euro. werden), als seinen Bürgern den Gebrauch ser ermöglichen, sich selbst eine Meinung Null Tote durch Cannabis, Steuereinnah- einer Droge zu erlauben? zu bilden. Der SPIEGEL muss nämlich men Cannabis 0,00 Euro. Da kann man Johannes Lechner, Syke (Nieders.) nicht gleich eine mitliefern. Hier in den schon ins Grübeln kommen. USA gibt es ja auch eine intensive Debatte Fritz Brehm, Frankfurt am Main Eher Folkrock zur Freigabe von Cannabis. Allerdings Nr.43/2018 Ostdeutschland auf den habe ich bislang noch keine so umfassende Der Staat hat keine Kontrolle über den Punk gebracht: die linke Band Feine Sahne Betrachtung dazu lesen können. Verkauf von Cannabis an Jugendliche. Wir Fischfilet Sven Dethlefs, Wayne (USA) fordern keine Freigabe, sondern dass der Staat diese Kontrolle endlich übernimmt. Ihr Autor Arno Frank Der Konsum bei Jugendlichen ist dort ge- Cornelia Kost, stellv. Vorsitzende der Landesstelle für schreibt: »Feine Sahne sunken, wo Cannabis legal, aber kontrol- Suchtfragen, Hamburg Fischfilet mögen Ton liert verkauft wird. In Deutschland dage- Steine Scherben ähn- gen steigt die Zahl jugendlicher Konsumen- Wieso hinterfragt keiner die Auswüchse licher sein als den Sex ten seit Jahren stetig. Muss man verstehen, der heutigen Leistungsgesellschaft, die ei- Pistols«. Hier liegt lei- warum man sich hierzulande so vehement nen manchmal rechts ranfahren lässt, um der ein Missverständnis gegen eine zeitgemäße Cannabis-Politik sich zu betäuben? vor, das nicht zum ers-

sträubt und die Länder kritisiert, die es an- Andreas Kuhnle, Köln ENGLEBERT RUUD ten Mal auftritt. Feine ders und offensichtlich besser machen? Bassist Sahne Fischfilet spie- Matthias Becher, Bayreuth Als Mitarbeiter in einer Suchtberatungs- Sichtermann len Punk-Rock, ähnlich stelle kann man mir sicherlich eine gewisse wie die Sex Pistols es Im Artikel wird wiederholt behauptet, Voreingenommenheit vorwerfen, jedoch taten. Das haben Ton Steine Scherben nie dass der Konsum unter Jugendlichen und stellt sich für mich unweigerlich die Frage, getan. Die Scherben mögen aufgrund ihrer damit auch die Zahl der Suchtprobleme wie, bei allen bereits bestehenden Proble- bescheidenen Produktionsmittel in ihrer steigen würden, wenn Cannabis entkrimi- men mit illegalen sowie legalen Drogen, Anfangszeit 1970 bis 1972 »punkig« geklun- nalisiert wird oder legal erhältlich ist. Die tatsächlich darüber nachgedacht werden gen haben (Garagenrock), genremäßig sind Erfahrungen in Portugal, den Niederlan- kann, Cannabis zu legalisieren! Die Prä- sie aber wohl eher dem Folkrock zuzu- den, Uruguay und einigen US-Bundesstaa- vention in sämtlichen Bereichen funktio- ordnen. Würde Herr Frank sich Scherben- ten haben dieses Argument jedoch eindeu- niert schon jetzt unzureichend, und wenn Platten anhören, würde er eine ganze nun noch eine nicht abzuschätzende An- Palette von musikalischen Stilübungen ent- zahl an Neukonsumenten hinzukommt, decken, von Hardrock bis Psychedelic, über sind die Folgen nicht abzusehen. Wem Balladen bis hin zu Reggae-Parodien. nützt dies am Ende tatsächlich? Denjeni- Kai Sichtermann, Gründungsmitglied von Ton Steine gen, die dadurch verdienen. Scherben, Boren (Schl.-Holst.) Alexander Pahlke, Pforzheim

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe Sie schreiben hier, eine Legalisierung wür- ([email protected]) gekürzt de Jugendliche noch mehr dazu verleiten, sowie digital zu veröffent lichen und unter die Droge auszuprobieren. Das ist interes- www.spiegel.de zu archivieren.

BENJAMIN GÜDEL / DER SPIEGEL BENJAMIN sant zu lesen, denn wenn ich, 54 Jahre alt,

145 Hohlspiegel Rückspiegel Nur Aushang in einem Hotel in München: Zitate »In der Nacht von 27.10. auf 28.10. wird von Sommer- auf Winterzeit umgestellt. Mittelstand Die »Zeit« zieht zum Umgang von Um 2 Uhr nachts wird die Uhr Politikern mit Luxus ein Beispiel aus um 1 Stunde zurückgestellt, auf 3 Uhr.« versteht einem SPIEGEL-Porträt über FDP-Chef Christian Lindner (»Ein Mittelstand Männertraum«, Nr. 32/2018) heran: Außerdem prahlen auch (vermeintlich) be- wirklich. scheidene Menschen ganz schön oft: Von Nordbayern.de mit ihrer eigenen Bescheidenheit. Selbst FDP-Chef Christian Lindner hat das neulich versucht. Begleitet von einem Aus der »Vegan World«: »Was ist Die Volksbanken Raiffeisenbanken SPIEGEL-Reporter betonte er, sein 911er eigentlich, wenn man selbst lebt, das fördern als mittelständische Porsche basiere ja auf dem VW-Käfer, Umfeld aber nicht? Eine unserer Unternehmen den Mittelstand stamme also praktisch direkt ab von einem Autor*innen fragte sich, wie sie ihre in der Region. Auto für jedermann. Offenbar glaubt Lind- Liebsten am besten überzeugen kann.« ner, dass Bescheidenheit selbst da funktio- niert, wo sie gänzlich abwesend ist. Weil vr.de/mittelstand der Deutsche es eben genügsam mag.

Der SPIEGEL berichtete …

Schild am Strand von Hurghada … in »Der gefühlte Jude« (Nr. 43/2018) (Ägypten) über den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, der aus einer evangelischen Familie Aus der »Neuen Ruhr Zeitung«: stammt und nie konvertierte, aber wahr- »Die Einsatzkräfte stellten fest, dass heitswidrig behauptet hatte, das Feuer auf dem Balkon der seine Mutter und Großeltern seien Dach geschosswohnung ausgebrochen Holocaust-Überlebende. war. Dort standen der Holzboden und eine Marquise in Flammen.« Seibert ist Ende vergangener Woche von seinem Amt zurückgetreten. In einer Er- klärung seines Anwalts heißt es, Seibert habe in seinen öffentlichen Stellungnah- men »überzogen«, wodurch sich andere Menschen »persönlich beleidigt« gefühlt hätten. »Dafür möchte sich Herr Seibert entschuldigen.«

Ehrungen

Für den Beitrag »33 Millimeter Mensch« (Nr. 35/2017) hat die »Stiftung für das be- hinderte Kind« SPIEGEL-Redakteurin Hessisches Landtagswahlergebnis Jeder Mensch hat etwas, Sandra Schulz mit ihrem Medienpreis aus- auf Nn-online.de gezeichnet. das ihn antreibt. Die Datenjournalisten von SPIEGEL ONLINE wurden mehrfach prämiert: »Die Die »Mittelbayerische Zeitung« Wir machen den Weg frei. Pendlerrepublik« des Teams Christina über eine Fußballmannschaft: Elmer, Marcel Pauly, Patrick Stolz, Achim »Allerdings holten sich auch die Gäste Tack erhielt den ersten Preis in der Kate- vier Siege und ein Remis gorie »Nachrichtliche Infografiken« bei aus den letzten vier Begegnungen.« den dpa-infografik-awards. Die dpa zeich- nete auch die Datenaufbereitung zur Zu- sammensetzung des neuen Bundestags von Marcel Pauly und Caroline Wiemann aus. Das Projekt »Brauchen Sie bald länger zum Zug?« von Philipp Seibt errang beim Wettbewerb »CityVis 2018« den ersten Platz in der Kategorie Journalismus: Es zeigt, wie die Verlegung des Fernbahnhofs Aus einem Werbeprospekt des Altona für Hunderttausende weitere Wege Discounters Norma bedeutet.

146 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018 Mit SPIEGEL+ nutzen Sie die ganze digitale Welt des SPIEGEL.

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