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KAMPFSPIELE Männlich, aber korrekt Im WM-Gastgeberland Frankreich hat sich Rugby als beliebteste Sportart nach Fußball etabliert. Das knüppelharte Spiel gilt als Schule für das Leben. Besonders intensiv zelebriert wird Rugby im traditionell eigensinnigen Südwesten.

Rugbyspieler beim Gedränge: Eingerissene Hodensäcke, lädierte Augäpfel, herausgeschlagene Zähne, zertrümmerte Unterkiefer

er Mann mit dem kantigen Schädel im eigenen Land zu den Favoriten zählt. Laporte hat ein Buch über seinen ge- und der Nickelbrille ist eine Art Die „XV de “, wie Frankreichs Rug- sellschaftlichen Aufstieg geschrieben. Es DFranz Beckenbauer Frankreichs, by-Auswahl sich mit elitärem Stolz nennt, verkauft sich gut in Frankreich, und es trägt eine Marke, ein Botschafter der Waren- ist auf dem besten Weg, eine nationale In- einen programmatischen Titel: „Le rugby welt. Er wirbt für Mobilfunkanbieter, stitution zu werden, und Laporte ist ihr m’a fait homme“ – Rugby hat mich zum Schinken, Champagner, die Post, eine Bä- Anführer. Ein moderner Napoleon. Mann gemacht. ckereikette, einen Sportartikelkonzern und Seine Beliebtheit verdankt Laporte sei- Für einen Deutschen mag das lächerlich Rasierapparate, und wenn im Fernsehen ner Biografie. Es ist die Geschichte eines klingen. Für einen Franzosen nicht. Denn abends die Hauptnachrichten laufen, ist Mannes, der aus einfachen Verhältnissen anders als in Deutschland, wo hauptsäch- fast so häufig im Bild wie im ländlichen Südwesten stammt, der Va- lich in Universitätsstädten wie Heidelberg, sein Freund, der Staatspräsident Nicolas ter Elektriker, die Mutter Hausfrau, und Frankfurt, Hannover oder Berlin ein paar Sarkozy. der es bis in höchste Regierungskreise ge- versprengte Liebhaber dem Spiel huldigen, Laporte, 43, ist Cheftrainer der franzö- schafft hat – unmittelbar nach dem WM- hat sich Rugby in Frankreich als populärs- sischen Rugby-Nationalmannschaft. In acht Finale wird Laporte sein Amt als französi- te Sportart hinter dem Fußball etabliert. Jahren hat er ein Team geformt, das bei der scher Staatssekretär für Jugend und Sport Bei der Weltmeisterschaft werden mehr am Freitag beginnenden Weltmeisterschaft antreten. als zwei Millionen Menschen in die größ-

144 der spiegel 36/2007 Zum identitätsstiftenden Sport wurde schlimmen Autounfall überlebt; Pierre Rugby jedoch für den französischen Süd- Mignoni hält seine Hände vor die Kamera, westen, speziell für das Baskenland, eine ein Finger seiner Linken, der offensichtlich eigensinnige Region, wo die Menschen da- gebrochen war, ist am mittleren Gelenk nach trachteten, sich von der Hauptstadt schief zusammengewachsen; Lionel Nallet abzugrenzen. In hatte sich der Fuß- zeigt seinen Kopf. An seiner Ohrmuschel ball als beliebtester Ballsport durchgesetzt wuchert das Gewebe. – nach Überzeugung vieler Rugby-Ver- Bernard Marie, ein braungebrannter, fechter ein Vergnügen für Memmen und breitschultriger Mann von 89 Jahren, hat Komödianten. alle Sorten von Verletzungen gesehen, die Denn anders als beim Fußball gibt es Rugbyspieler haben können: eingerissene beim Rugby so gut wie keine erschummel- Hodensäcke, lädierte Augäpfel, herausge- ten Siege. Spieler, die durch Betrug oder schlagene Zähne, zertrümmerte Unterkie- Provokation einen Vorteil für ihre Mann- fer. Der Vater der französischen Innenmi- schaft herausschinden wollen, werden nicht nisterin Michèle Alliot-Marie, der selbst nur vom Publikum, sondern auch von den zehn Jahre lang Abgeordneter in der Pari- eigenen Teamkameraden geächtet. ser Nationalversammlung war, hat als Beim Rugby zählt nicht nur das Resultat, Schiedsrichter mehr als tausend Rugby- sondern auch die Haltung. Es geht um die Spiele geleitet. Beantwortung einer uralten Frage: Wer ist Für ihn ist Rugby ein „Sport für Schur- der Stärkere? Es geht um den kollektiven ken, gespielt von Gentlemen“. Amüsiert Kampf nach klar formulierten Regeln, die erinnert er sich, dass ein gebrochenes Na- zu respektieren sind. Und es geht darum, senbein in der Regel kein Grund zum Auf- dem Gegner nach dem Kräftemessen in hören war: „Man hat den Knochen mit die Augen zu schauen und ihm die Hand Daumen und Zeigefinger provisorisch ge- zu reichen. richtet, das Krankenhaus konnte warten.“ Dahinter steckt ein Selbstverständnis, Zuweilen kommt es, ohne dass der wie es den Menschen im Südwesten Frank- Schiedsrichter es sieht, zu wüsten Szenen reichs seit Jahrhunderten entspricht. Man wie Tritten in den Unterleib und Würge- verteidigt sein Dorf, seine Stadt, man de- griffen an die Kehle. Wohl am berüchtigts- monstriert seinen „esprit de clocher“, die ten ist im Schutz des Getümmels „la four- Verbundenheit zum eigenen Kirchturm, chette“, die Gabel, wobei ein Übeltäter mit man setzt sich für seine Nebenleute bis zur gespreizten Fingern in die Augen des Geg- Selbstaufgabe ein. „Man kann verlieren“, ners fährt. sagt Philippe Guillard, der auf höchstem Ungesühnt bleiben derartige Regelver- Niveau Rugby gespielt und ein hochgelob- letzungen jedoch nicht. Nach unfairen At- tes Buch über dieses Milieu geschrieben hat, „aber wenn man verliert, dann erho- benen Hauptes.“ Guillard, ein Mann mit dunklem Teint und Dreitagebart, sitzt in einem urigen Fischrestaurant am Atlantik, draußen tost das Meer. Er zählt Tugenden auf, die das Kampfspiel seiner Meinung nach erfordert: „Bescheidenheit, Mut, Gemeinsinn“. Dann fügt er hinzu: „Und Leidensfähigkeit“. Im Rugby müssen die Akteure Schmer- zen ertragen und überwinden wie in kaum einer anderen Mannschaftssportart. Es liegt in der Logik des Spiels. Der Ball- ANDREW PARSONS / PA PHOTOS / PA ANDREW PARSONS führende ist in der Opferrolle. Er rennt, X / STUDIO / GAMMA OTHONIEL PATRICK bis er von seinen Verfolgern zu Boden ge- Trainer Laporte, Profi Frédéric Michalak streckt wird oder an einem Wall aus Kör- Moderner Napoleon ten Stadien des Landes strömen. 4000 pern abprallt, der sich ihm entgegenwirft. Journalisten sind akkreditiert, rund drei Dann passt er das Ei zurück zu seinen tacken gegen einen Mannschaftskamera- Milliarden Menschen werden weltweit die Kompagnons – und schafft so, begraben den greifen Rugbyspieler zu kollektiver TV-Übertragungen verfolgen. Die Deut- unter einem Berg von Leibern, den nötigen Selbstjustiz. Sie passen den nächstbesten schen werden von dem Spektakel so viel Raum für seine Mannschaft, die den An- Moment ab und sorgen mit chirurgischer mitbekommen wie von einer regionalen griff verlagern und weiter nach vorn in Präzision für Gerechtigkeit. Man ist wie- Meisterschaft der Sumo-Ringer in Japan. Richtung Mallinie rücken kann. der quitt. Beim Rugby bleibt der Rhein ein Kultur- Wie gezeichnet die Körper von den stän- Doch mit dem Schlusspfiff endet die Ge- graben. digen Belastungen sind, belegen die Nah- walt. Die Spieler treffen sich nach dem Wie beinahe überall, wo Rugby sich aufnahmen, die einige Spieler der franzö- Match, um gemeinsam zu essen und zu durchgesetzt hat – in Südafrika, Austra- sischen Nationalmannschaft kurz vor der trinken, Profis gern auch im Smoking. Und lien, Neuseeland, Ozeanien, Argentinien WM für die Zeitschrift „Rugby Mag“ von die Zuschauer feiern die berühmte „troi- –, waren es Briten, die vor der Wende sich machen ließen. sième mi-temps“, die dritte Halbzeit. Sie zum 20. Jahrhundert das Spiel nach Frank- So präsentiert Sylvain Marconnet sei- trinken und singen, bis sie ermatten. reich brachten. In die Hafenstädte am nen linken Unterschenkel, der übersät ist Wie berauschend diese Atmosphäre ist, Ärmelkanal. von Operationsnarben, als hätte er einen hat zuletzt auch ein deutscher Spieler er-

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ten Mannschaften Frankreichs aufzubauen. Der Club wurde ein großstädtisches Ge- genmodell zu den Rugby-Bastionen im Baskenland. Guazzini hält seinen Verein auch mit Marketing-Gags im Gespräch, die man im bürgerlich-konservativen Milieu des Süd- westens bislang nicht kannte. So lassen sich die Spieler von Stade Français, unver- hüllt und bisweilen nur mit Rugby-Ei vor dem Gemächt, für einen Kalender ablich- ten, der sich im ganzen Land blendend verkauft – und in Frankreichs Schwulen- Szene längst Kultobjekt ist. Ganz ohne Nebenwirkungen bleibt die Kommerzialisierung des Rugby indes nicht. Zum einen fördert das explosionsartig ge- stiegene Interesse der Medien einen Star- kult, wie er sich für den kollektiven Kampfsport bislang verbat. Jüngstes Bei- spiel: der Hype um Nationalspieler Sé- bastien Chabal. Der langmähnige Hüne ist bei Trainer Laporte nur Ergänzungsspieler. Seiner In- szenierung als „Caveman“ tut die Neben- rolle jedoch keinen Abbruch. Chabal be- dient perfekt das Klischee des rabiaten Höhlenmenschen – er sieht aus, als könn- te er an einem schlechten Tag eine ganze Kleinstadt auslöschen. Zum anderen verändert sich die Atmo- sphäre in den Stadien. Es sind nicht mehr nur Kenner, die singend die Spiele verfol- gen. Auf den Tribünen sitzt jetzt auch ein Event-Publikum, das völlig losgelöst ist von der Rugby-Tradition. Beim Vorbereitungs- spiel in Marseille gegen Weltmeister Eng-

TALKING SPORT / PHOTOSHOT SPORT TALKING land war der Stimmungsumschwung neu- WM-Vorbereitungsspiel Frankreich gegen England: „Das Krankenhaus kann warten“ lich zu spüren. Als der englische Kapitän Phil Vickery, anscheinend schwer verletzt, fahren: Robert Mohr, der Kapitän des wenn der örtliche Fußballclub kürzlich erst vom Platz getragen wurde, pfiff ihn das Zweitligisten Stade Rochelais. Der 29-jähri- im letzten Moment in der Qualifikation für Publikum erst aus, dann stimmten die Zu- ge Rugby-Profi aus Hannover kämpfte mit die Champions League scheiterte. schauer die „Marseillaise“ an. seiner Mannschaft Ende Mai gegen das Einmal in der Woche moderiert Verdier Wenig Sinn für Fairness zeigten Frank- Team aus Dax um den Aufstieg in die ers- eine Radiosendung, die landesweit ausge- reichs Anhänger auch vor einem Länder- te Liga, es war ein Entscheidungsspiel auf strahlt wird und die nur ein Thema hat: spiel im Pariser . Sie buh- neutralem Terrain in Bordeaux. Rugby. Sie heißt „Viril, mais correct“, an- ten die neuseeländischen Profis beim Haka La Rochelle verlor 16:22, doch die Nie- gelehnt an einen Klassiker aus dem Zita- aus, dem traditionellen Kriegstanz der derlage gehört für Mohr schon jetzt zu den tenschatz des Rugby, den der ehema- Maori, mit dem sich die Spieler Mut ma- eindrücklichsten Momenten seiner Karrie- lige französische Nationalspieler Walter chen. „Mir wird schlecht bei dem Gedan- re. Denn 23000 Menschen im Stadion beju- Spanghero einst auf die Frage nach seiner ken“, schimpft der frühere Profi Guillard, belten die Verlierer genauso inbrünstig wie Spielweise prägte: männlich, aber korrekt. „auf so viel Ignoranz müsste Stadionverbot die Sieger, die Spieler aus Dax spendeten Verdier sitzt in seinem schlichten Büro stehen.“ ihren geschlagenen Rivalen anerkennenden am Stadtrand, wo er die Zeitung „Midi Bedenken, dass das Spiel an Noblesse Applaus. „Es war phänomenal“, sagt Mohr, Olympique“ aufgebaut hat. Für Kenner ist einbüßen könnte, halten Rugby-Kenner „wie in einer besseren Welt.“ sie die „Bibel des Rugby“. Das Blatt, das indes für unbegründet. Für den früheren Offensichtlich hat die unmittelbare zweimal in der Woche erscheint, hat eine Schiedsrichter Marie wird der Südwesten Wucht des Spiels eine kathartische Wir- Auflage von 80000 Exemplaren, und mitt- auch in Zukunft die Keimzelle seiner kung, auf Akteure wie auf Zuschauer. An- lerweile gilt es sogar in Paris als chic, die Sportart bleiben – erdige Dörfer und Städt- ders als beim Fußball bleibt niemals das zitronengelbe Zeitung in der Metro zu chen wie Bayonne, wo die Fans aus voller Gefühl zurück, benachteiligt oder betro- lesen. Auch Sarkozy schaut regelmäßig Kehle schmettern: „Allez, allez, les bleus et gen worden zu sein. „Die Gewalt findet hinein. blancs de l’Aviron Bayonnais“ – vorwärts, auf dem Spielfeld statt“, sagt Jacques Ver- Dass Rugby in der französischen Haupt- vorwärts, ihr Blau-Weißen von Aviron dier, „wenn das Match vorbei ist, sind alle stadt angekommen ist, hängt auch mit dem Bayonnais. Rechnungen beglichen.“ Unternehmer Max Guazzini zusammen. Doch original baskisch ist auch dieses Der Publizist und Literat aus Toulouse 1993 ist der Patriarch bei dem Club Stade Liedgut nicht mehr. Gesungen wird zu ei- ist so etwas wie der Chef-Ideologe des Français eingestiegen. Er engagierte den ner Melodie von Udo Jürgens – kompo- Rugby in Frankreich. In seiner Heimatstadt damals noch unbekannten Bernard La- niert für seinen Schlager „Griechischer ist Rugby die wichtigste Sportart – auch porte als Trainer und begann eine der bes- Wein“. Michael Wulzinger

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