In memoriam Ein Nachruf von Fredmund Malik

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In memoriam Stafford Beer

Begründer der Managementkybernetik; Pionier des Managements komplexer Systeme und ihrer wirksamen Organisation

There are many possible manifestations, there is one cybernetic solution. Stafford Beer, 1972

Am 23. August 2002 hat die Welt einen ihrer grossen Eine sich immer stärker vernetzende Welt braucht wirk- Universaldenker verloren. Der Begründer der Manage- same Institutionen. Funktionierende Organisationen mentkybernetik ist nach schwerer Krankheit in Toronto und ihr nachhaltiges Management sind die Grundein- verstorben. Prof. Stafford Beer hinterlässt mit seiner Ar- heiten der Architektur einer friedlichen und freiheit- beit und in seinen 10 Büchern und über 200 Artikeln lichen Gesellschaft. Das Werk von Stafford Beer ist ein ein reichhaltiges Werk, für das er Ehrendoktorate der Fundus von Alternativen zu den obsoleten Organisatio- Universitäten Glamorgan (Wales), Montreal, St. Gallen nen von heute. Es enthält gänzlich andere, innovative und Valladolid erhielt, sowie Auszeichnungen höchsten und kreative Lösungen, auf die weder Unternehmen Ranges, darunter die Goldmedaille der noch Non Profit Organisationen, weder der Staat noch World Organization of and und den die Gesellschaft verzichten können. McCulloch Award der American Society for Cybernetics. Seine Heimatstadt London ehrte ihn 1970 – Stafford Beer wurde Freeman of the City of London. Einzigartige Verbindung von Praxis und Wissenschaft Stafford Beer hat für das zentrale Problem der heutigen Welt und ihrer Organisationen – deren immense Kom- Stafford Beer wurde am 23. September 1926 in London plexität und ihr optimales Management – mit seinem geboren. Nach Studien in Philosophie, Psychologie und herausragenden Werk die entscheidenden Modelle, Me- Mathematik und Militärdienst im Zweiten Weltkrieg, thoden, Tools und Lösungen bereitgestellt. Nie zuvor unter anderem als Kompaniekommandant in einem war der Bedarf danach so gross und so augenfällig; nie Ghurka-Regiment in Britisch Indien, war seine erste zuvor war so klar, dass die herrschenden Management- Position in der Industrie die des Production Controllers vorstellungen und die darauf gestützten Organisationen bei United Steel, dem damals führenden Stahlunterneh- grundlegende Reformen erfordern. Die Bedeutung der men Englands, wo er für erste Anwendungen von Managementkybernetik von Stafford Beer dafür kann Operations Research für die Steuerung von Stahlwerken gar nicht überschätzt werden. verantwortlich war. Unter seiner Leitung wurde die da-

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mals grösste OR-Abteilung in der Industrie mit über Eine neue Weltsicht 70 Spezialisten aus zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen und eine neue Wissenschaft aufgebaut. Aus den Diskussionen dieser Wissenschafter formte sich Dadurch entstand einerseits seine praktische Erfahrung eine neue Weltsicht und eine neue Wissenschaft, in de- im Umgang mit hochkomplexen Problemen und an- ren Zentrum die Regulierungsvorgänge in komplexen dererseits seine wissenschaftlich-interdisziplinäre Denk- Systemen standen. Den Ursprung der Faszination bil- weise. Beides war prägend für sein Lebenswerk, das das dete die Einsicht, dass die komplexen Prozesse von Ergebnis einer höchst seltenen Verbindung ist von hohen Anpassung und Stabilisierung, Steuerung und Regulie- und höchsten Positionen in der englischen Wirtschaft rung, Gestaltung, Organisation und Evolution einen und wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit, gemeinsamen Kern haben, nämlich „Communication unter anderem an den Universitäten Manchester und and Control in the Animal and the Machine“, wie Toronto sowie an der Wharton School der University of Norbert Wiener es im Untertitel seines Buches „Cyber- Pennsylvania. An der Universität St. Gallen war er An- netics“ formulierte. fang der Neunziger Jahre Gastprofessor. Als Berater war er auf Regierungsebene in 22 Ländern und für zahlrei- Dies wiederum hatte seine Basis in der Entdeckung von che internationale Organisationen tätig. Information oder besser Ordnung als dritter Grund- grösse der Natur neben Materie und Energie, zu der im Bereich der Gesellschaftswissenschaften Friedrich von Begegnung mit der Kybernetik Hayek massgeblich beigetragen hat. Das Wichtigste war die Erkenntnis, dass komplexe Systeme und ihre Bereits in den Fünfzigerjahren wurde er mit der bahn- Regulierung eigene Gesetzmässigkeiten haben, und dass brechenden Arbeit des Mathematikers Norbert Wiener diese für die unbelebte wie für die belebte Natur glei- vertraut, mit der dieser 1948 den Grundstein für eine chermassen gelten, wie es Wiener bildhaft mit seinem neue Wissenschaft, die Kybernetik, geschaffen hatte. Untertitel zum Ausdruck bringt. Die Kybernetik musste Aufgrund seiner praktischen Erfahrung sah Stafford von Anfang an interdisziplinär sein, weil keine der Ein- Beer sofort das Potential dieser Wissenschaft für die zelwissenschaften die zu studierenden Phänomene allein Lösung von komplexen Problemen in Industrie, Wirt- beschreiben und erklären konnte, und sie war von An- schaft und Gesellschaft. fang an transdisziplinär, weil sie ein in praktisch jeder Einzelwissenschaft vorkommendes Phänomen von Der Kontakt mit Norbert Wiener führte Stafford Beer diesen abstrahierte und zu einem neuen Forschungs- zur Begegnung mit dem damals ebenfalls am MIT täti- gegenstand machte. gen führenden Gehirnforscher, Warren McCulloch, der an einer empirischen Erkenntnistheorie arbeitete, für die er neurophysiologische, logisch-mathematische und ky- Kybernetik, Grundlagenwissenschaft bernetische Erkenntnisse zusammenführte. Dieser wurde für Management sein Mentor; es entstand eine lebenslange Freundschaft zwischen ihnen. In seinem ersten Buch „Cybernetics and Management“, 1959, stellte Stafford Beer diese Besonderheiten der Durch die Verbindung mit Warren McCulloch kam Kybernetik in verständlicher Sprache dar, die Einheit Stafford Beer mit den Wissenschaftlern zusammen, die ihrer Problemstellung und die Integration der Vielfalt sich in den Fünfzigerjahren in unterschiedlichen Zusam- von einzelwissenschaftlichen Beiträgen zu ihrer Lösung. mensetzungen regelmässig zu den legendären Josiah Macy Gleichzeitig zeigte er überzeugend die Bedeutung der Foundation-Meetings trafen. In deren Kreisen konnte neuen Wissenschaft für das Management aller Arten er sich mit den grossen Pionieren der ersten Generation von Organisationen einschliesslich jener Ausformung von Kybernetikern austauschen, neben den schon er- von Management, die „Regierung“, „Government“ und wähnten Norbert Wiener und Warren McCulloch vor „Governance“ genannt wird. Nicht zufällig stammt das allem mit , dem Gründer des be- Wort „Kybernetik“ aus dem Griechischen, wo „kyber- rühmten Biological Computer Laboratory’s, Walter netes“ der Steuermann ist, woraus sich „gubernator“ Pitts, John von Neumann und W. Ross Ashby. ableitet. Stafford Beer zeigt in diesem Buch, warum scheinbar weit von Management entfernte, hochab- strakte Erkenntnisse aus der formalen Logik, wie etwa

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die Arbeiten von Bertrand Russel und Kurt Gödel, aus St. Galler Systemorientierten Managementlehre und der Automatentheorie, wie jene von Alan Turing und des St. Galler Management Modells, die unter der John von Neumann, aus der Biophysik, aus der Lern- geistigen Leitung von Prof. Hans Ulrich und seines theorie und vielen anderen nicht nur nützlich, sondern damals engen Mitarbeiters, Prof. Dr. Walter Krieg. unerlässlich sind, wenn komplexe Systeme richtig ge- Ende der Sechzigerjahre und Anfang der Siebzigerjahre staltet, reguliert und gesteuert werden sollen. an der damaligen Hochschule St. Gallen entwickelt wurden und ihren Ruf als Ort innovativer Ausbildung Stafford Beer leistete für Management damit bereits vor für zukünftige Führungskräfte innert kürzester Zeit über 40 Jahren etwas, was seither immer wieder verlo- weit über die Grenzen der Schweiz hinaus begründete. ren zu gehen droht, nämlich die wissenschaftliche Fun- dierung der möglicherweise wichtigsten gesellschaftli- chen Funktion, eben Management. Er schreibt: „ ... if Das Viable Model und cybernetics is the science of control, management is the pro- optimale Kommunikation fession of control – in a certain type of system.“ Das An- liegen von Stafford Beer trifft sich hier mit dem von Die Krönung seines wissenschaftlichen Werkes ist das so- Peter Drucker, der auf seine ganz andere Weise dieselbe genannte Modell lebensfähiger Systeme (Viable System Auffassung vertritt. Es ist die Einsicht, dass Management Model), das er in seinen Büchern „The Brain of the Firm“, selbst zwar nicht eine Wissenschaft ist, sondern eine an- 1972, und „The Heart of Enterprise“, 1979, vorlegte. wendungsorientierte Disziplin, dass es dafür aber eine Sie enthalten nicht weniger als die Gesetzmässigkeiten Grundlagenwissenschaft gibt. Dies steht diametral in der Lebensfähigkeit von Systemen, seien es biologische, Gegensatz zur weit verbreiteten Beliebigkeit und Will- wirtschaftliche oder gesellschaftliche Systeme. Stafford kür, die den Grossteil der Managementliteratur bis heute Beer macht diese Gesetze anwendungsfähig für die prägt, in den letzten zehn Jahren mehr als je zuvor. Praxis des Organisierens und des Managements.

In seinem jüngsten Buch „Beyond Dispute“, 1994, legte Modelle der Ganzheitlichkeit oder er schliesslich noch ein weiteres Ergebnis von grundle- Was ist ein System? gender Bedeutung vor, eine radikal innovative Lösung für eines der brennendsten Probleme aller Organisatio- Sein zweites Buch „Decision and Control – The Meaning nen: die optimale Nutzung von Wissen, das über die of Operational Research and “, Organisation verteilt ist. Das sogenannte Team Synte- 1966, für das er den Lanchester Preis der Amerikani- grity-Verfahren ist eine Methode der mathematisch schen Operations Research Society bekam, enthält als nachweislich optimalen Kommunikation, durch die vielleicht wichtigsten Beitrag etwas, was manche Kriti- Tempo und Effektivität kleiner Teams einerseits mit der ker bis heute nicht richtig verstanden haben. Es ist eine Integrationskraft grosser Gremien und Gruppierungen neue und strenge Theorie des Modellierens der Ganz- andererseits zusammengebracht wird. heit komplexer Systeme. Dies ist die Grundlage dafür, methodisch einwandfrei über die Ganzheitlichkeit von Systemen zu sprechen, ohne in die unüberwindbaren Reproduktion des Scheiterns oder Schwierigkeiten eines von Zeit zu Zeit immer wieder in innovative Lösungen für die Probleme Mode kommenden vulgären Holismus zu geraten, der einer systemischen Welt über die methaphorische Verwendung organismischer Platitüden nie hinauskam. Die Mängel der heutigen Institutionen und die Brü- chigkeit der dominierenden Managementvorstellungen Stafford Beer weist damit den wissenschaftlich-methodi- sind unübersehbar. Nach kurzen Perioden scheinbarer schen Weg, einerseits den sterilen mechanistischen Re- Stabilität steht man immer wieder vor krisenartigen Er- duktionismus einer zu engen Wissenschaftsauffassung scheinungen. Statt „Anything goes“ heisst es dann zu vermeiden ohne andererseits in die Wortwolken des „Nothing works“. Überraschend ist die Vielfalt der Er- metaphysischen Holismus zu geraten. Er zeigt, wie man scheinungsformen des Scheiterns. Man denke an den das Systemische an den Systemen zu verstehen hat. Kollaps von Ländern, wie in Asien und Lateinamerika, die noch bis vor kurzem als beispielhaft angesehen wur- Die beiden genannten Arbeiten gehörten auch zu den den; die Fragilität der Finanzmärkte, die man als entscheidenden Grundlagen für die Entwicklung der bestens unter Kontrolle wähnte; Terrorakte, Unter-

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nehmenszusammenbrüche, trotz bester Expertise fallie- Stafford Beer hat uns für die Neugestaltung der gesell- rende Strategien, und Misslingen anscheinend bestens schaftlichen Organisationen, ihre Funktionssicherheit durchdachter Akquisitionen und Fusionen. Scheiternde und Lebensfähigkeit ein Erbe von innovativen Lösun- Privatisierungen, desolate Verkehrssysteme, misslingende gen für die Probleme der Komplexität hinterlassen, das Ausländerintegration und überforderte Gesundheits- sich in die Reihe der grossen paradigmatischen Durch- und Bildungssysteme sind weitere Beispiele. brüche in der Wissenschaft reiht. Seine Arbeit wird durch das Cwarel Isaf Institute weitergeführt, benannt Gibt es ein gemeinsames Grundmuster des Scheiterns, wie nach dem Ort in Wales, an den sich Stafford Beer für es der deutsche Biokybernetiker Frederic Vester formu- seine wissenschaftliche Arbeit, aber auch für sein künst- liert, oder eine Logik des Misslingens, wie der Psychologe lerisches Schaffen als Poet und Maler zurückzog. Er war und Systemforscher Dietrich Dörner sagt? Das Gemein- ein strenger Denker, vorbildlich in seiner Argumenta- same liegt in der Unfähigkeit, mit der Komplexität von tion und bis zum Schluss unermüdlich mit den Fragen Systemen umzugehen, sie so zu organisieren, dass sie der wirksamen Organisation komplexer Systeme be- sich selbst organisieren, und so zu regulieren, dass sie fasst, die er als zentral für das Überleben der Mensch- sich selbst regulieren. Es ist das Unverständnis für die heit und ihr Wohlergehen ansah. Wer ihn persönlich Kybernetik komplexer Systeme. kannte, weiss, dass er sich in selbstloser und leiden- schaftlicher Weise in den Dienst der Verbesserung der Das ist umso erstaunlicher, als die Fortschritte der Ky- condition humaine stellte. bernetik aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken sind. Ohne sie gäbe es weder Computer noch Automatisie- rung, weder moderne Chirurgie noch Satelliten, weder den internationalen Flugverkehr noch die Digitalisie- rung. Dass der Begriff auch missbraucht werden kann, wie bei „Cyber-Space“ und „Cyber-Love“, ändert nichts an der Bedeutung der Kybernetik. Diese ist bisher aller- dings vorwiegend in der Technik und den Naturwissen- schaften erkannt und genutzt worden. Ihre Bedeutung für die Organisationen der Gesellschaft ist eher noch grösser und für die Menschen noch wichtiger.

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