Niedersächsisches Jahrbuch
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NIEDERSÄCHSISCHES JAHRBUCH FÜR LANDESGESCHICHTE Neue Folge der »Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen« Herausgegeben von der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen Band 79 2007 VERLAG HAHNSCHE BUCHHANDLUNG· HANNOVER GB (Jl( A Sachsen, Franken und die Nachfolgeregelung Ludwigs des Deutschen: unus cum eis populus efficerentur? . I II .Von SÖREN KASCHKE Hans-Werner Goetz zum 16.Juli 2007 Als imJahre 887 Arnolfvon Kärnten seinen Onkel Karl Ill. stürzte, war noch kei- neswegs abzusehen, dass fortan das von Chlodwig I.im 5.Jahrhundert begründe- te fränkische Großreich nie wieder unter einem Herrscher vereint sein würde.' Zwar hatten sich neben den Sachsen und anderen so genannten ,deutschen Stäm- men' auch die Ostfranken der Rebellion Arnolfs angeschlossen, nicht aber die westfränkischen Großen, und Arnolf unterließ in der Folgezeit jeden Versuch, die seit 843 einander zunehmend entfremdeten nordalpinen Reichshälften unter sei- ner Herrschaft zu vereinigen. Ab dem 10.Jahrhundert manifestierte sich die Di- stanz zwischen West und Ost zudem auf der Ebene des Reichsvolks, denn wäh- rend im Westen der Bezug auf die ,fränkische' Identität - bis heute - erhalten blieb, verschmolzen im Osten Franken und Sachsen unter der Herrschaft der in Sachsen beheimateten Ottonen zwar nicht protokollarisch, aber doch in der Vorstellung mancher zeitgenössischer Historiographen zu einem neuen, säch- sisch dominierten "supragentilen Reichsvolk=.s dem populus Franeorum atque Sa- 1 Zu den Vorgängen von 887 siehe Hagen KELLER,Zum Sturz Karls Ill. Über die Rolle Uutwards von Vercelli und Liutberts von Mainz, Arnu!fs von Kärnten und der ostfränki- schen Großen bei der Absetzurig des Kaisers, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mit- telalters 22,1966, S. 333-384; Rudolf SCHIEFFER,Karl Ill. und Arno!f, in: Kar! R. SCHNITH/ Roland PAULER(Hrsg.), Festschrift Eduard Hlawitschka, Kallmünz 1993, S. 133-149; zur wei- teren Perspektive jetzt Rudolf SCHIEFFER,Kaiser Arnolf und die deutsche Geschichte, in: Franz Fucas /Peter SCHMID(Hrsg.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, München 2002, S. 1-16; Hans-Werner GOETZ,Europa im frühen Mittelalter, 500-1050, Stuttgart 2003, S. 73-82. 2 Helmut BEUMANN,Die Hagiographie "bewältigt" Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell' alto medioevo: espansione e resistenze, Spoleto 1982, S. 129-163, hier S. 135; siehe auch DERS., Sachsen und Franken im werdenden Regnum Teutonicum, in: Angli e Sassoni al di qua e al di la del mare, Spoleto 1986, S. 885-912. 148 Sören Kaschke xonum,3 während zugleich die Saxonia faktisch zum Herrschaftszentrum des Reichs avancierte.' Seit einigen Jahren wird in der Forschung erwogen, den Beginn dieser Ver- schmelzung sowie damit einhergehend die Begründung eines regnum Franeorum et Saxonum als politischer Verband mit eigener Identität bis weit in das 9.Jahrhun- dert hinein zurückzudatieren, wobei dem kurzlebigen Teilreich Ludwigs desJün- geren (876-882) eine gewichtige Rolle zugewiesen wird.s Dieser Ansatz ist nicht ohne vereinzelten Widerspruch geblieben 6 und bedarf in einigen Punkten auch in seiner jüngsten Gestalt der kritischen Überprüfung. Hierzu werden im Folgen- den zunächst die für eine besondere Verbindung auf gentiler Ebene angeführten Quellenzeugnisse vorgestellt, anschließend die für das Problem zentrale, in man- chen Punkten aber bis heute umstrittene Nachfolgeregelung Ludwigs des Deut- schen in den Blick genommen." Im Abgleich von Gruppenwahrnehmung und 3 Widukind von Corvey, Rerum gestarum Saxonicarum libri tres, ed. Paul HIRSCH! Hans-Eberhard LOHMANN,MGH SRG (60), Hannover 1935, hier 1,16, S. 26; siehe zur Quelle: Ernst KARPF,Herrscherlegitimation und Reichsbegriff in der ottonischen Geschichtsschrei- bung des IO.Jahrhunderts, Stuttgart 1985, S. 144-175; zum Begriff: Barbara PÄTZOLD,"Fran- cia et Saxonia" - Vorstufe einer sächsischen Reichsauffassung, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 3, 1979, S. 19-49. .. 4 Zur Entwicklung sieheJoachim EHLERS,Die Entstehung des deutschen Reiches, Mün- chen 1994, bes. S. 17-20 und 97-104; Bernd SCHNEIDMÜllER,Reich - Volk - Nation: Die Ent- stehung des Deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter, in: Almut BUES! Rex REXHEUSER(Hrsg.), Mittelalterliche nationes - neuzeitliche Nationen, Wiesbaden 1995, S. 73-101, bes. S. 87-94; Matthias BECHER,Rex, Dux und Gens: Untersuchungen zur Entste- hung des sächsischen Herzogtums im 9. und 1O.Jahrhundert, Husum 1996, S. 225-234; Gerd ALTHOfF,Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000, S. 16-28; GOETZ,Euro- pa, wie Anm. 1, S. 289-297. 5 Vgl. Josef SEMMLER,Francia Saxoniaque oder die ostfränkische Reichsteilung von 865!876 und die Folgen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46, 1990, S. 338-374; BECHER,Rex, wie Anm. 4, bes. S. 41-50 und 124-158; DERs., Volksbildung und Herzogtum in Sachsen während des 9. und 1O.Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 108, 2000, S. 67-84, bes. S. 74f. Ähnlich Kar! F. WERNER,Art. "Volk, Nation, Nationalismus, Masse" [Ill-V), in: Geschichtliche Grundbegrif- fe 7, 1992, S. 171-281, hier S. 201, mit Anm. 81; EHLERS,Entstehung, wie Anm. 4, S. 38; SCHNEIDMOLLER,Reich, wie Anm. 4, S. 89-92. 6 Vgl. Wolfgang EGGERT,"Franken und Sachsen" bei Notker, Widukind und anderen. Zu einem Aufsatz vonJosef Semmler, in: Anton SCHARER!Georg SCHEIBELREITER(Hrsg.), Histo- riographie im frühen Mittelalter, Wien 1994, S. 514-530. 7 Die Arbeit Semmlers behandelt trotz ihres Titels die Nachfolgeregelung selbst recht kursorisch auf den Seiten 339-340. Michael BORGOLTE(Karl Ill. und Neudingen. Zum Pro- blem der Nachfolgeregelung Ludwigs des Deutschen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125, 1977, S. 21-55) konzentriert sich weitgehend auf den alemannischen Be- reich. Siehe ferner BECHER,Rex, wie Anm. 4, S. 131-136; Brigitte KASTEN,Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolin- Die Nachfolgeregelung Ludwigs des Deutschen 149 Herrschaftspraxis wird sich zu erweisen haben, ob es im fränkisch-sächsischen Raum tatsächlich bereits in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zur Ausbil- dung eines festen, in sich geschlossenen Herrschaftsverbands kam. 1. Franci und Saxones: Ein Volk? So einfach sich die Ausgangsfrage auf Deutsch stellt, so schwierig ist sie ange- sichts der lateinischen Begrifflichkeit der Quellen zu beantworten. Zur Bezeich- nung größerer Gruppen, die in der Forschung heute meist nicht mehr als ,Stamm' sondern als ,Volk' bezeichnet werden," finden sich in den Quellen vor allem die drei Ausdrücke gens, natio und populus, die in ihrer Bedeutung weder von den ver- schiedenen Autoren in einheitlicher Weise gebraucht, noch bei einem einzigen Autor immer klar von einander abzugrenzen sind.? Selbst Isidor von Sevilla, sonst in derartigen Problemfällen oft eine verlässliche Autorität, bietet keine klare Defi- nition und Abgrenzung der verschiedenen Ausdrücke. Stattdessen verwendet er in einer viel zitierten Passage gens und natio praktisch synonym, wenn er ausführt: Gens est multitudo ab unoprincipio orta, sive ab alia natione secundum propriam collec- tionem distineta, ut Graeciae, Asiae. Hinc et gentilitas dicitur. Gens autem appellata prop- ter generationes familia rum, id est a gignendo, sicut natio a nascendo.10 gerzeit, Hannover 1997, S. 524-534; Wilfried HARTMANN,Ludwig der Deutsche, Darmstadt 2002, S. 70-76; Eric]. GOLDBERG,Struggle for Empire. Kingship and conflict under Louis the German, 817-876, Ithaca 2006, S. 274-279,313-318 und 335-337. 8 Siehe zur Problematik der modernen Begriffe Waiter POHL,Gentilismus, in: Reallexi- kon derGermanischen Altertumskunde+ 11,1998, S. 91-101, bes. S. 92-95; Hans K. SCHULZE, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 3, Stuttgart 1998, S. 99f.; Bernd SCHNEIDMÜLLER,Völker - Stämme _;;Herzogtümer? Von der Vielfalt der Ethnogenesen im ostfränkischen Reich, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 108,2000, S. 31-47, bes. S. 37-41; Hans-Werner GOETZ, Gentes. Zur zeitgenössischen Termi- nologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9.Jahrhundert, in: ebd., S. 85- 116, bes. S. 87-90; DERs., Gentes in der Wahrnehmung frühmittelalterlicher Autoren und mo- derner Ethnogeneseforschung: Zur Problernatik einer gentilen Zuordnung von Personenna- men, in: Dieter Osusxrcu/Wolfgang HAUBRlcHs/Jörg JARNUT(Hrsg.), Person und Name, Berlin 2002, S. 204-220. 9 Vg!. Benedykt ZIENTARA,Populus - Gens - Natio. Einige Probleme aus dem Bereich der ethnischen Terminologie des frühen Mittelalters, in: Otto DANN(Hrsg.), Nationalismus in vorindustrieller Zeit, München 1986, S. 11-20; GOETZ,Terminologie, wie Anm. 8, S. 92- 104. Siehe allgemeinJohannes FRIED, Gensund regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskate- gorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theorie- bindung des Historikers, in:Jürgen MIETHKE/Klaus SCHREINER(Hrsg.), Sozialer Wandel im Mittelalter, Sigmaringen 1994, S. 73-104, bes. S. 76-92; PatrickJ. GEARY,Europäische Völker im Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt 2002, bes. S. 174-190. 10 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, ed. Wallace M. LINDSAY, 150 Sören Kaschke Bereits vor dem Turmbau zu Babel nahm Isidor die Existenz unterschiedlicher nationes an. Nur kurz sei in der Folgezeit jeder Sprache eine einzige gens zugeord- net gewesen,