Newsletter des rls-Büros in 7. September 2011 ANGELIKA TIMM „Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit“ Unter diesem Slogan demonstrierten am Abend des 3. September 2011, unmittelbar nach Ende des Schabbat, landesweit etwa 450.000 - über 300.000 in Tel Aviv, 50.000 in , 45.000 in Haifa sowie 50.000 in Afula, Rosch Pina und Kirjat Schmona in Nordisrael bzw. in Mizpe Ramon und Arad im Süden des Landes. Was Anfang Juni 2011 mit der Empörung der „Cottage Cheese“-Konsumenten über drastische Preiserhöhungen begann, weitete sich innerhalb weniger Wochen zu einem „sozialen Tsunami“ aus – in Qualität und Ausdehnung neu und einzigartig für die israelische Geschichte. Die Protestbewegung der Straße gab wichtige Impulse für die Entwicklung der Zivilgesellschaft bzw. der Demokratie. „Der Protest war erfolgreich. Jetzt geht es an die Arbeit!“, titelte die hebräischsprachige Wirtschaftszeitung „TheMarker“ am 4. September.

Die J14-Kampagne - Bestandsaufnahme Die soziale Rebellion nahm am 14. Juli 2011 (J14!) am Habima-Platz in Tel Aviv ihren Anfang. Initiatorin Daphni Leef, eine 25-jährige Absolventin der Tel Aviver Universität, hatte wohl kaum mit einem derartigen Widerhall gerechnet, als sie über Facebook zum Protest gegen die ungerechtfertigten Mietsteigerungen in Tel Aviv aufrief und ihr Zelt am Rothschild-Boulevard aufschlug. Ihrer individuellen Empörung schlossen sich bald Hunderte gleich gesinnter Jugendlicher an. Über Nacht wurde der Rothschild-Boulevard, eine der reichsten und ob ihrer vielen Bauhäuser zugleich bekanntesten Straßen der Metropole, zum Zentrum und Symbol der Protestbewegung. Der Tel Aviver Rothschild-Boulevard im Sommer 2011. Foto: Oren Ziv / Activestills. Die Organisatoren betonten von Anbeginn, dass ihre Kampagne apolitisch und überparteilich sei. Das weitere Geschehen sei stichpunktartig Jedem müsse das Recht auf Meinungsäußerung dokumentiert: 16. Juli: Protestzelte in Tel Aviv, gestattet werden, solange er andere ausreden lasse Beerscheva und Kirjat Schmona; die Nationale und niemanden verunglimpfe. Auf dem Boulevard Studentenunion schließt sich dem Protest an; ihr spielte es in der Tat kaum eine Rolle, ob jemand aus Vorsitzender Itzik Schmuli wird neben Daphni dem „linken“ oder aus dem „nationalen“ Spektrum Leef zum zweiten „Gesicht“ der Rebellion; 23. Juli: kam, ob sie oder er säkular oder religiös war. Neben erste große Protestdemonstration mit mehr als Friedensaktivisten bauten auch einige Siedler und zehntausend Teilnehmern in Tel Aviv; 24. Juli: Ultraorthodoxe ihre Protestzelte auf. Sie schlossen 1000 Protestierende vor der Knesset; 28. Juli: sich dem Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ an. „Kinderwagen-Demos“ in mehreren Städten; 30. Juli: 150.000 Bürgerinnen und Bürger Mehr als sieben Wochen gehörten junge Leute in demonstrieren in Tel Aviv und zehn weiteren Partylaune, „bewaffnet“ mit Gitarre, Pinsel und Städten; 6. August: 300.000 Demonstranten Malstift, eifrig diskutierend oder gespannt Vorträgen bei landesweiten Kundgebungen; 13. August: lauschend, zum Stadtbild Tel Avivs. Alles ein großes Großdemonstrationen in Haifa, Beerscheva, Afula Happening? Wohl nicht – zumindest nicht primär! und anderen Städten der Peripherie. Aus dem spontanen Sommerfestival erwuchs sehr schnell eine ernsthafte Bewegung, die das ganze Mitte August, nach dem Terrorangriff auf israelische Land erfasste. Anfang August existierten mehr als Zivilisten in der Nähe von Eilat bzw. der israelischen 90 Zeltstädte mit über 3.000 provisorischen Leinen- Bombardierung des Gazastreifens, schien das oder Plastikbehausungen. Kaum ein größerer Ort Ende der sozialen Proteste gekommen. Es folgte blieb „zeltfrei“. jedoch am 20. August ein „Marsch der Stille“,

1 gewidmet dem Gedenken an die israelischen riefen zivilgesellschaftliche Organisationen, so und palästinensischen Opfer, verbunden mit die Physicians for Human Rights oder die Israeli dem Anspruch auf soziale Sicherheit neben der Association of Nonprofit & Voluntary Organizations, militärischen. Bereits eine Woche später kehrte dazu auf, sich am Aufbegehren zu beteiligen. der Protest auf die Straßen zurück – 20.000 Aktivitäten der „Nationalen Linken“ wurden Menschen verlangten am 27. August erneut ebenso vermerkt wie die sich verstärkende zedek chevrati (soziale Gerechtigkeit); sie übten Präsenz von Mitgliedern linker Parteien und Kritik an der Politik, die ihre Nöte und Probleme Massenorganisationen (Chadasch, Merez, Noar ignoriere. Gemeinsam forderten sie die Freilassung Oved u. a.). Zu den zunächst vorwiegend des seit fünf Jahren in Gaza gefangen gehaltenen aschkenasischen Jugendlichen gesellten sich israelischen Soldaten Gilad Schalit. bald Misrachim (orientalische Juden) und – in geringerer Zahl - äthiopische Jugendliche und Den Höhepunkt der Proteste bildeten zweifelsohne arabische Bürger. Inwieweit sich russischsprachige die Massendemonstrationen am 3. September. Israelis beteiligten, war optisch und verbal nicht Der weite Kikar Ha-Medina (Platz des Staates) immer auszumachen. Maya Zinstein verwies am in Tel Aviv, ein gewaltiges Rondell, ob seiner 17. August in Ha’aretz1 darauf, dass die junge Luxuswohnungen und Designer-Läden wie kein Generation bereits in aufgewachsen sei und anderer Platz das Symbol der Reichen, konnte die sich auf Hebräisch und nicht mehr auf Russisch vielen Demonstranten kaum fassen. Die den Platz artikuliere. umrundende Straße trägt den Namen „Fünfter Iyar“, das hebräische Datum des israelischen Zur Protestveranstaltung am 6. August in Jerusalem Unabhängigkeitstages. Ihr Staat habe am 3. kamen erstmals auch viele religiöse Israelis. Mit September zum zweiten Mal – so israelische dem Protest – so Rabbiner Juval Cherlov – tue sich Publizisten – seine „Unabhängigkeit“ gefeiert. eine Chance auf, „die auch uns zu einer gerechteren Gesellschaft führt“ (Ha’aretz, 9. August 2011, S. 7). Religiöse Führer, wie der Oberrabbiner von Ramat Gan, Jaakov Ariel, oder die nationalreligiöse Jugendorganisation Bnei Akiva schlossen sich der Protestbewegung an. Sie forderten ein Absenken der Lebenshaltungskosten um 20%. Anfang August errichteten selbst Flüchtlinge aus Eritrea, Sudan, Elfenbeinküste und Kongo, zumeist unter menschenunwürdigen Bedingungen und nahezu rechtlos in Süd-Tel Aviv lebend, ihre Wohnzelte im Levinsky-Park. Die Reaktionen arabischer Bürger waren und sind ambivalent. Einerseits leben sie seit Jahrzehnten unter erschwerten Wohnbedingungen; Demonstration der 300.000 in Tel Aviv am 6. August. Foto: Dor Nevo Landenteignungen sowie geringe Zuwendungen des Staates an arabische Orte für Bildung, Kultur, Fordert wirklich „das ganze Volk“ soziale Gesundheit und Wohlfahrt charakterisieren die Gerechtigkeit? Situation der palästinensisch-arabischen Minderheit Der Slogan „Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit“ (20% der Gesamtbevölkerung). Zudem schien ist aus den Straßenbildern nicht mehr wegzudenken. ihnen die Protestbewegung – zumindest in den Protestaktivisten, Kommentatoren und Politiker Anfängen – eine Angelegenheit der aschkenasisch- sind sich darin einig, dass es eine derart breite jüdischen Mittelschicht, insbesondere der demokratische Bewegung in der Geschichte des studentischen Jugend, und weitgehend ohne Bezug Landes noch nicht gegeben habe. Eines Tages zur palästinensischen nationalen Agenda. würden Kinder in ihren Schulbüchern über den Zunehmend freilich betrachteten junge Aufbruch lesen und ihre Eltern oder Großeltern Palästinenserinnen und Palästinenser die Proteste fragen, wo sie am 3. September 2011 gewesen als eine Möglichkeit, eigene soziale Probleme und seien. Immer wieder wurden Vergleiche mit dem Forderungen zu Gehör zu bringen. Es entstanden „arabischen Frühling“ gezogen. „Tahrir-Platz, Ecke „arabische“ Zeltstädte in Haifa und Nazareth, aber Rothschild-Boulevard“ nannten die Führer der auch in kleineren Orten wie Baka Al-Gharbija und Revolte in Tel Aviv ihr zentrales Versammlungszelt. im staatlicherseits nicht anerkannten Beduinendorf Wer sind die Teilnehmer der Proteste, die „neuen El-Arakib. Am Zelt „1948“ auf dem Rothschild- Israelis“? Waren zunächst vor allem Studenten Boulevard in Tel Aviv war auf Arabisch und Hebräisch aktiv, so weitete sich das politische und soziale zu lesen: „Wenn Rothschild nicht zu Muhammad Spektrum zunehmend aus. Anfang August kommt, dann kommt Muhammad zum Rothschild!“

1 Israelische Tageszeitungen werden wie folgt zitiert: HA – (hebräischsprachige) Ha’aretz; Ha’aretz – englische Ausgabe der Zeitung; JP – Jerusalem Post; IHT steht für International Herald Tribune.

2 Neben hebräischsprachigen Plakaten tauchten israelische Journalist am Tage nach der Rallye des Losungen in Arabisch und Englisch, vereinzelt auch 6. August seinen Deutungsversuch in Ha’aretz. in Russisch und Amharisch auf. Am 3. September Bis in die jüngste Gegenwart hätten die jungen freilich – so Gideon Levy in Ha’aretz – fehlten die Israelis aus Sicht der politisch herrschenden Klasse Ärmsten der Armen, die Ultraorthodoxen, die Araber, und im öffentlichen Disput „als verlorene, ziellose die wirklich Obdachlosen und die Arbeitsmigranten. Generation, blind, selbstzufrieden, gelangweilt“ In Haifa dagegen stand an diesem Abend die gegolten, „aufgewachsen mit idiotischen Game Diskriminierung arabischer Bürger im Mittelpunkt Shows des kommerziellen TV“, „einem Schulsystem der Demonstration. Ein Vertreter des arabischen ausliefert, das sich außerstande zeigt, mit der Viertels Wadi Nisnas rief den Versammelten zu: schrecklichen Ignoranz der Jugend fertig zu werden“, „Heute ändern wir die Spielregeln. Nicht länger „in Colleges und Universitäten studierend, die sich Koexistenz auf der Grundlage von Hummus und in reine Graduierungsläden verwandelt haben“, von Ful [typische orientalische Gerichte - AT]. Was hier Medien beeinflusst, „die Gehirnwäsche betreiben, passiert, ist wahre Koexistenz. Juden und Araber niedere Instinkte wecken und Furcht verbreiten“. marschieren Seite an Seite und fordern soziale In der öffentlichen Wahrnehmung handelte es sich Gerechtigkeit“ (HA, 4. September 2011, S. 2). zudem um eine Generation, die aufgewachsen sei im Zeichen des „Materialismus, verpflichtet Sozialer Protest, Demokratiebewegung den Designer Labels, den Modetrends und den oder „Wunder einer Rebellion“? technischen Spielereien, geeint nur in der Kirche des Eskapismus, […] in ihren Reihen nicht wenige Die politischen Kommentare hinsichtlich Charakter Alkoholabhängige und Drogensüchtige, teilweise und Ausmaß des sozialen Aufruhrs widerspiegeln gewaltbereit und rassistisch bzw. nationalistisch ein breites Deutungsfeld: Handelt es sich primär eingestellt“ (Ha’aretz, 7. August 2011, S. 5). um eine apolitische, parteienübergreifende „soziale Aus dieser Generation nun sei über Nacht, das obige Revolution“ des aschkenasischen Mittelstands, gesellschaftliche Zerrbild ad absurdum führend, gerichtet vor allem gegen die enorm gestiegenen die Protestbewegung erwachsen. Überraschend Lebenshaltungskosten, die Teuerungen auf dem für alle errichtete die „verlorene Generation“ ihre Immobilienmarkt und die Verarmungstrends in Zelte überall im Lande, folgte sie massenhaft den Mittelschichten? Oder bildet sich im Gewand den Facebook-Aufforderungen, erörterte sie – des Sozialen eine neue Demokratiebewegung wissend und couragiert – ihre Forderungen an heraus, die nicht nur die Verteilung des nationalen die Gesellschaft, fand sie sich zu professionell Reichtums neu richten, sondern die Gesellschaft organisierten Massenveranstaltungen zusammen, in ihren Grundlagen verändern und neue artikulierte sie in zündenden Reden ihr Programm. Prioritäten setzen will („Ein neues gerechtes Israel“ Und sie wies nach, dass sie, so Gideon Levy, „vom skandierten die Demonstranten Anfang August Wesen der Demokratie mehr versteht, als die in der Tel Aviver Kaplanstrasse gegenüber dem Mehrheit unserer gewählten Offiziellen“ bzw. „dass Verteidigungsministerium)? ihre Argumente überzeugender sind denn die der Greifen die nahöstlichen Rebellionen, in ziviler, meisten Politiker“. Die sozialen Rebellen „haben die kulturvoller bzw. jugendgemäßer Gestalt, nunmehr nationale Agenda bereits verändert; sie haben eine auf Israel über? Eines der größten Plakate auf der neue politische Sprache gefunden, eindrucksvoller Demonstrationsmeile des 6. August enthielt – in als die der Politiker. Ist das alles kein Wunder?“ Hebräisch und Arabisch – zumindest die Botschaft Wunder jedoch fallen – zumindest aus „Ägypten ist hier“. Und der Rothschild-Boulevard materialistischer Sicht – auch in Israel nicht einfach wird nicht selten mit dem Tahrir-Platz in Kairo vom Himmel. Sie entspringen inneren Gesetzen, verglichen. Oder durchlebt Israel möglicherweise bedürfen des Reifens und künden sich häufig durch seine erste große „Facebook-Revolution“? Die Vorzeichen an, wobei das schwer erkennbar Reale modernen Medien spielten bei der Mobilisierung nicht selten im Gewand des Irrationalen daher der Jugendlichen und für das Zustandekommen kommt. der Massenevents immerhin eine zentrale Rolle. Oder ist, mit Blick auf die Zusammensetzung der Zeltbewohner bzw. auf die Ausdrucksformen ihrer Zuspitzung sozialer Disparitäten infolge Empörung, eher von „einer Suche nach neuer neoliberaler Wirtschaftspolitik Identität“, von einer „Explosion der Jugendkultur“, Ein zentraler Erklärungsansatz liegt in der sozio- von einem „städtischen Karneval“ oder auch nur ökonomischen Situation Israels und in der von einem „Medien-Spektakel im Sommerloch“ zu neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner sprechen? Die sorgfältige Analyse des Geschehens Regierung(en). Die Lava der sozialen Eruption hatte wird von allem etwas finden bzw. auf weitere nicht sich in einem längeren Prozess erhitzt und nach genannte Ursachen und Impulse stoßen. einem Ventil gesucht. Sie fand es in der Jugend, die Manche Beobachter, so auch der stets ernsthaft- sich in ihren Aktionen durch eine deutliche Mehrheit kritische Gideon Levy, näherten sich dem der Bevölkerung unterstützt sieht. Geschehen nicht nur realitätsverpflichtet analytisch, Der J14-Bewegung voran gingen wochen- und sondern auch von einer gefühlsbetonten Seite. monatelange Arbeitskämpfe bzw. Streiks der Ärzte „Das Wunder der Rebellion“ titelte der bekannte und Sozialarbeiter, der Pädagogen in Schulen

3 und Kindergärten. Es gab Demonstrationen von 56,9% (als arm wird in Israel eine Familie definiert, Rentnern und Behinderten. Die Verschlechterung deren Monatseinkommen weniger als 2000 NIS der Lebensbedingungen traf nahezu alle Israelis. – 400 Euro – beträgt). Opfer der permanenten Während sich der Durchschnittslohn in den Preissteigerungen (Wasser, Brot, Milchprodukte, vergangenen fünf Jahren lediglich um 2,6% Obst und Gemüse, Mieten, öffentlicher Transport, erhöhte, verteuerten sich die Grundnahrungsmittel Benzin) sind vor allem gering Verdienende und um 26%; die Preise für Obst und Gemüse stiegen Sozialhilfeempfänger. Israel gehört hinsichtlich sogar um 35,8%. Auch die drastische Erhöhung der der Lohn-Preis-Relationen heute zu den teuersten Mieten, gestiegene Preise im Nahverkehr und für Ländern weltweit. Benzin sowie der Wegfall vieler Dienstleistungen Betroffen von den negativen Auswirkungen der beeinflussen den Lebensstandard der meisten staatlichen Steuerpolitik ist nicht zuletzt der Bürger. Insbesondere junge Menschen stehen vor Mittelstand, der 1988 noch 33%, 2009 jedoch stark eingeengten Zukunftschancen und geringen nur noch 26,6% aller Haushalte umfasste. Sein Möglichkeiten sozialer Selbstverwirklichung. Anteil am gesellschaftlichen Gesamteinkommen „Israel ist das klassische Beispiel eines Landes, verringerte sich in diesem Zeitraum von 27,9% dessen makroökonomische Indikatoren gut auf 20,5%. „Die Mittelklasse ist das Rückgrat sind, dessen meiste Haushalte jedoch nicht zur jeder entwickelten Gesellschaft“, schrieb Carlo Jahresendfeier eingeladen werden“, schrieb Shlomo Strenger am 9. August in Ha’aretz. „Das sind die Swirski, der akademische Direktor des Adva Center Menschen, die die Wirtschaft vorwärts bringen und in Tel Aviv (Jewish Journal, 29. Juli 2011). 38,8% in Bewegung halten. In Israel zahlen sie extrem der israelischen Lohn- bzw. Gehaltsempfänger hohe Steuern. Und sie bekommen so gut wie nichts können nicht von ihrem Einkommen leben (zum zurück. [… ] Es ist Zeit, darauf zu bestehen, dass Vergleich: in Deutschland lt. OECD - 16,2%). Die diejenigen, die hart arbeiten, ein angemessenes Zunahme der israelischen Wirtschaftskraft erfolgte Leben führen können, nicht als Zugeständnis, somit einseitig auf Kosten des Arm-Reich-Gefälles, sondern als grundlegendes Menschenrecht.“ das in Israel deutlich negativer als in anderen OECD- 2003 hatte Benjamin Netanjahu, damals Staaten ausfällt. Bezüglich der Kaufkraft und des Finanzminister in der Scharon-Regierung, ein Lebensstandards nimmt Israel z. B. Platz 86 unter Steuerkürzungsprogramm initiiert, das bis 2010 140 Industrie- und Entwicklungsländern ein. Auch lief und vor allem Personen mit hohem Einkommen die Beschäftigungsrate (71%) liegt fünf Prozent begünstigte. Auch das für 2011 bis 2016 unter dem OECD-Durchschnitt; sie ist besonders verabschiedete Folgeprogramm wird Großverdiener gering in der arabischen und ultraorthodox- bevorzugen. Erhöhte indirekte Steuern belasten jüdischen Bevölkerung. dagegen das Budget des Kleinverdieners. Sie führen Die Veränderung der Eigentumsverhältnisse, dazu, dass nicht nur viele Angehörige der unteren bedingt durch die neoliberale Privatisierungs-, sozialen Schichten, sondern auch des Mittelstands Steuer- und Zollpolitik des Staates, hat Israel gegen Ende des Monats über keinen Schekel mehr zu einer sozial tief zerklüfteten Gesellschaft verfügen und auf Pump leben müssen. werden lassen. Die Konzentration des materiellen Reichtums in den Händen weniger Finanztycoons Gesellschaftliche Zustimmung zu den nimmt kontinuierlich zu. Sie macht den in der Grundforderungen der sozialen Proteste Marktwirtschaft üblichen Konkurrenzkampf überflüssig. Seit 2009 erhöhte sich die Zahl der Am 1. August 2011 verabschiedeten Vertreter von Millionäre in Israel um 20,6%; sie beträgt heute 40 Zeltstädten des Landes und der Nationalen mehr als 10.000. Zwölf Milliardärsfamilien, unter Studentenunion ihre „Guidelines for a New Social ihnen die des kürzlich verstorbenen Sammy Ofer and Economic Agenda“. Das Dokument enthält acht (u. a. Israel Chemicals Ltd.), Benny Steinmetz Grundforderungen an die Regierung: Verringerung (Besitzer von Gold-, Nickel-, Kobalt- und anderen indirekter Steuern (insbesondere Mehrwertsteuer); Minen in Afrika) und Shari Arison (Bank Hapoalim), höhere Investierung von Steuereinnahmen in bzw. 16 große Gesellschaften kontrollieren die Sozialprogramme; Auflösung einer Kommission, Hälfte aller Finanzgeschäfte des Landes und die Baumaßnahmen beschleunigen sollte, bisher weitgehend auch den zivilen Verbrauchermarkt (JP, jedoch nur die Baugesellschaften reicher werden 11. August 2011, S. 15). ließ; Erhöhung des Budgets des Ministeriums für Bauwesen und Wohnungsbau sowie Programme Nach der zehn Einkommenskategorien für Hypotheken und Miethilfen; kostenlose umfassenden Stratifikationstabelle verfügen die Betreuung (bzw. Bildung) von Kindern ab zwei oberen Gruppen (20% der Haushalte) über dem dritten Lebensmonat; Verbesserung der 40,6% des gesellschaftlichen Gesamteinkommens, medizinischen Versorgung und Aufbau einer während auf die beiden unteren Kategorien – entsprechenden Infrastruktur in allen Teilen Israels; ebenfalls 20% der Haushalte - lediglich 6,3% Stopp der Privatisierung von Wohlfahrts- und entfallen. Der Armutsbericht 2010 verweist darauf, Gesundheitseinrichtungen; stufenweise Streichung dass ein Fünftel der israelischen Familien (20,5%) privater Baumaßnahmen im öffentlichen Sektor unter der Armutsgrenze lebt; die entsprechenden (JP, 3. August 2011, S. 1). Parameter liegen in der arabischen Bevölkerung bei 53,3% und in ultraorthodox-jüdischen Familien bei Die für die Regierung anfallenden Kosten aus dem 4 Forderungskatalog gab Ha’aretz am 2. August mit Minister die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit 36,65 Milliarden NIS an; Ehud Barak, mögliche durch nationale Demagogie, insbesondere die Auswirkungen auf das Verteidigungsbudget im Beschwörung von Sicherheitserfordernissen, Auge, bezifferte sie vier Wochen später für einen abzuschwächen. Israel befinde sich nach wie Zeitraum von fünf Jahren mit mindestens 40-50 vor in einer feindlichen Umwelt (Iran, arabische Milliarden NIS, idealerweise jedoch mit 80-100 Staaten) und werde als jüdischer Staat permanent Milliarden NIS (TheMarker, 1. September 2011, S. in Frage gestellt. Im September stehe zudem mit 6). Ausrufung des Palästinenserstaates ein „politischer Tsunami“ bevor. Darüber hinaus mangle es Israel Angesichts der zunehmenden Pauperisierung bzw. an materiellen Ressourcen, um eine stärker sozial der sich in den Massenprotesten manifestierenden orientierte Gesellschaftspolitik zu betreiben. Das Unzufriedenheit breiter Gesellschaftsschichten, Budget sei fest verplant. Keinesfalls könnten vom Obdachlosen bis zum Hightech-Angestellten, die Ausgaben für die nationale Sicherheit bzw. ist es nicht verwunderlich, dass die große Mehrheit das Militär gekürzt werden. Zudem habe die der israelischen Bürger die Demonstranten und internationale Wirtschafts- und Finanzkrise ihre Forderungen an die Regierung unterstützt. Rückwirkungen auf Israel. Und ohnehin hätten Repräsentativen Meinungsumfragen zufolge die Protestierenden nicht genügend Fachwissen, sympathisierten am 26. Juli 87% der Bevölkerung um fundierte Vorschläge zu unterbreiten (HA, 30. mit der Protestbewegung. Auf die Frage, ob durch August 2011, S. 5). diese eine Änderung der Politik und eine maßgebliche Verbesserung der Wohnraumsituation zu erwarten Parallele Umfragen dagegen widerspiegeln die vox sei, antworteten 55,2% der Befragten mit Ja und populi: Die Wertschätzung des Ministerpräsidenten 43,6% mit Nein. 46,1% hielten die „Verringerung und seiner Politik sank innerhalb von zwei sozio-ökonomischer Klüfte in der Gesellschaft“ Monaten von 51% auf 32%; die israelische Presse für die wichtigste Aufgabe der Regierung (www. schrieb über die „größte innenpolitische Krise seit peaceindex.org, 14. August 2011). Netanjahu sein Amt übernommen“ habe (Ha’aretz, Week’s End, 29. Juli 2011, S. 1). Als ausgesprochen Am Vorabend der Demonstration vom 3. September kontraproduktiv erwies sich das Knessetgesetz waren 90% der Israelis der Meinung, der landesweite über Wohnungsbauplanung, das Ende Juli Protest werde die nationale Prioritätenliste diskutiert und in der ersten Augustwoche vom verändern. Auf die Frage, wie gesellschaftliche Parlament angenommen wurde. Nitzan Horowitz, Gerechtigkeit zu erreichen sei, antworteten 26,1% Abgeordneter der linkszionistischen Merez-Partei der Befragten, „die Einkommensbesteuerung“, bezeichnete die National Housing Committees Bill 24,1% „die Preise für Grundnahrungsmittel“ und als „Schlag ins Gesicht der Demonstranten“ (JP, 26. 21,2% „die Mietpreise“ müssten sinken (TheMarker, Juli 2011, S. 2). 2. September 2011, S. 16). Etwas längeren Atem dagegen könnte die Die offizielle Gewerkschaft (Histadrut) stieß von Netanjahu eingesetzte Kommission unter relativ spät zur Protestbewegung. Am 4. August Führung des Wirtschaftswissenschaftlers Manuel organisierte sie eine Demonstration, an der sich Trachtenberg haben. Das am 7. August berufene etwa 10.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 22-köpfige Expertenteam wurde beauftragt, beteiligten. Auch Vertreter der Kibbuz- und Moschav- innerhalb eines Monats Vorschläge zur Behebung Bewegung boten praktische Ideen zur Beendigung der aktuellen Krise zu unterbreiten und damit der Wohnungskrise an. Zu ihren Vorschlägen gehört den Protestierenden „den Wind aus den Segeln“ der Bau von Wohnsiedlungen in der Nähe großer zu nehmen. Zugleich machte Netanjahu klar, Städte, die für zehn Jahre an Studenten zu geringen dass das Gremium keinerlei Vollmacht habe, Mietpreisen vergeben werden sollten. Darüber das Staatsbudget für 2011 und 2012 zu ändern. hinaus forderten sie den Schutz der israelischen Trachtenberg, aus der Arbeitspartei kommend, Landwirte und einheimischer Agrarprodukte. ist sich der Zweischneidigkeit seiner Aufgabe bewusst: „Es ist System in Israel“, erklärte Kabinett Netanjahu unter Druck er, „eine Kommission zu berufen und dann die Die israelische Regierung versuchte zunächst, Sache niederzuschlagen“ (Ha’aretz, 9. August, den sozialen Protest zu delegitimieren - als S. 1). Schließlich bedürften alle Vorschläge der Verschwörung der radikalen Linken, die Regierung Kommission einer Bestätigung durch die Regierung, zu stürzen, später durch Verunglimpfung der bevor sie – nach Diskussion und Abstimmung im Protestierer als „Sushi-Esser“ und „Nargilah- Parlament - in ein Gesetz münden könnten. Mit Raucher“ (Außenminister Lieberman). Schließlich mehr als Minimalkorrekturen sei daher kaum zu musste Netanjahu jedoch formal auf die Forderungen rechnen. der Aktivisten eingehen, indem er versprach, die Die Führer der sozialen Rebellion haben zunächst „nationalen Prioritäten zu ändern, um die auf dem die Zusammenarbeit mit der Trachtenberg- Volk lastenden Bürden zu erleichtern“ (Ha’aretz, 9. Kommission abgelehnt. An wirtschaftlicher bzw. August, S. 1). sozialer Expertise fehlt es ihnen dennoch nicht. Als sich herausstellte, dass die Protestbewegung Von Anfang an drängten sich auf dem Rothschild- keine kurzlebige Erscheinung bleiben würde, suchten Boulevard allabendlich Hunderte junger Menschen,

5 um Vorträgen von namhaften Soziologen und später rief der Jurist Ofer Eban den „Zeltleuten“ Wirtschaftswissenschaftlern, Vertretern alternativer zu: „Gründet Parteien!“ Auch der Schriftsteller Gewerkschaften u. a. engagierten Fachleuten Amos Oz, der die anhaltenden sozialen Proteste als zu lauschen und mit ihnen zu diskutieren. Mitte „die freudigste Überraschung“ seines politischen August wurde ein alternatives Expertengremium, Lebens bezeichnete, hält es für erforderlich, „die bestehend aus neun Subkommissionen mit Diskussionen in Aktionen umzumünzen“. Nur so über 60 Akademikern, Wirtschaftsexperten, könnten sie bei den kommenden Knessetwahlen Soziologen, Sozialarbeitern und Aktivisten der Gewicht erhalten und direkten Einfluss auf die Protestbewegung, gegründet. Ihm gehören u. a. Politik nehmen (Ha’aretz, 26. August 2011, S. 3). der Soziologieprofessor Yossi Yonah (Ben-Gurion University), Adina Bar-Schalom (Leiterin des Offene Fragen und Ausblicke Haredi College in Jerusalem), die palästinensische Professorin Nadia Ismail (Abteilungsleiterin im Der „schönste Sommer Israels“ neigt sich seinem Abraham Fund), der Juraprofessor Mordechai Ende zu. Er wird in der Tat als einzigartiger Kremnitzer (stellvertretender Direktor des Israel sozialpolitischer Aufstand in die – an Ereignissen Democracy Institute) und Professor Avia Spivak nicht arme – Geschichte des Landes eingehen. Von (bis 2006 stellvertretender Direktor der Bank of der Zeltstadt auf dem Rothschild-Boulevard und von Israel) an. den vitalen Demonstrationen bzw. phantasiereichen und charmanten Happenings zwischen Kirjat Schmona und Eilat werden die Beteiligten noch Stimmen der Opposition ihren Kindern erzählen – möglicherweise in gleich Die parlamentarische Opposition aktivierte mythisch verklärten Bildern wie die Blumenkinder und politisierte sich hinsichtlich des Protestes über ihre Antikriegs-Proteste 1969 in den USA zunehmend. Scha’ul Mofaz (Kadima) forderte oder die Achtundsechziger über ihre rebellischen am 6. August in einer Sondersitzung seiner Tage und Taten in Westeuropa. Wie Woodstock Partei die Demonstranten und Protestierenden zum Mythos der Hippies geworden ist, kann der der Zeltstädte z. B. auf, sich auf die Ablösung Rothschild-Boulevard zur Legende kommender Benjamin Netanjahus zu konzentrieren: Generationen Israels werden. „Netanjahu reagiert aus Angst und Besorgnis. Er Noch sind zahlreiche Fragen offen. Welche hat die Verbindung zur Realität verloren. […] Wir Ergebnisse wird der soziale Aufstand letztlich müssen ihn entmachten“ (JP, 7. August 2011, S. zeitigen? Hat die Präsidentin des Obersten 3). Die Arbeitspartei (Avoda) nutzt in Vorbereitung Gerichtshofes, Dorit Beinisch, recht mit der der für den 12. September angekündigten Einschätzung, dass sich nunmehr „die Tagesordnung innerparteilichen Wahlen die „Zeltrebellion“, um ihre der israelischen Gesellschaft im Prozess der sozialdemokratischen Wurzeln wiederzuentdecken. Veränderung“ befinde (Ha’aretz, 1. September Die Knessetabgeordnete Schelli Jachimowitsch 2011, S. 3)? Wird den Forderungen nach einer sozial betonte beispielsweise, dass sie sich stets für gerechten Gesellschaft bzw. nach grundlegenden einen Wohlfahrtsstaat und gegen Privatisierung Veränderungen in der Prioritätensetzung der ausgesprochen habe. „Wir sind die Alternative, Wirtschafts- und Sozialpolitik seitens der weil unsere Agenda sozialdemokratisch ist.“ Sie Regierung entsprochen werden – und wenn ja, in versprach, ihre Partei in die Mitte der israelischen welchem Ausmaß und in welcher Richtung? Werden Politik zurückzubringen (JP, 12. August 2011, S. 13). sich soziale Interessenlagen der Unter- und Ihre fünf männlichen Rivalen für den Parteivorsitz Mittelschichten dauerhaft gegenüber der Realität zeigten sich wiederholt in den Zeltstädten und bzw. der demagogischen Stimmungsmache sicherten den Aktivisten ihre Unterstützung zu. in der nationalen Sicherheitsfrage behaupten Vertreter der linken Merez-Partei plädierten können? Was von der sozialen Bewegung, von den u. a. für die Erhöhung der Kapitalsteuer. Noch gewaltigen Demonstrationen und von den jungen weiter ging die Kommunistische Partei Israels. Protagonisten der Zeltstädte wird die historischen Unter der Überschrift „Vom sozialen Protest zur Narrative prägen? Die Suche nach Antworten sei gesellschaftlichen Revolution“ schrieb Tamar nachfolgend auf vier Fragenkomplexe fokussiert. Gozansky am 31. August in „Zo Haderech“, einzelne soziale Korrekturen, so wichtig sie auch seien, „Wer soll das bezahlen?“ würden die Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums bei wenigen Familien nicht bremsen, Wie und aus welchen staatlichen Töpfen sollten bzw. nicht die Tätigkeit von Zeitarbeitsfirmen aufhalten, könnten die erforderlichen Mittel für einen „sozio- nicht die Okkupation beenden und nicht den ökonomischen Wandel“ aufgebracht werden? Die nächsten Krieg verhindern. Regierung und die ihr Rechenschaft pflichtige Trachtenberg-Kommission gehen davon aus, dass Das Wirtschaftsblatt TheMarker beschäftigte sich im jede Erhöhung von Ausgaben für Soziales und August wiederholt mit der Frage, ob die Sozialkritik Bildung nur aus dem laufenden Staatshaushalt, – wie anfangs erklärt - apolitisch bzw. überparteilich damit also nur auf Sparflamme, erfolgen könne bleiben könne. Am 15. August schrieb Professor und auf Kosten anderer Haushaltsposten gehen Jossi Schein: „Die Protestierenden müssen sich würde. Die jungen Protestler dagegen meinen, als politische Kraft organisieren“; zwei Wochen das Land verfüge über ausreichend Ressourcen

6 für den demokratischen Umbau; die Gelder Marktwirtschaft“ zurückführen? müssten nur fair und in sozial wirksamer Weise Die Protestbewegung war und ist keine soziale eingesetzt werden. Wirtschaftswissenschaftler Revolution. Sie hat sich nicht die gewaltsame und Journalisten haben dafür viele konkrete – revolutionäre - Veränderung der Eigentums-, Vorschläge unterbreitet, darunter auch über Distributions- und Herrschaftsverhältnisse zum den Staatshaushalt hinausgehende Ideen. Ziel gestellt. Im Kern zielt sie auf Reformen in Einsparungen, Umschichtungen und neue Gesetze der Distributionssphäre und auf neue Prioritäten sollten nach ihren Recherchen folgende Bereiche in der staatlichen Wirtschafts-, Sozial- und betreffen: Bildungspolitik ab. In den Protestfraktionen Militär- und Rüstungsausgaben (2011 - 54 Mrd. existieren unterschiedliche Positionen hinsichtlich NIS, d. h. mehr als 20% des Staatshaushalts; der Weite und des Zeitpunkts von Veränderungen. internationale Spitze hinsichtlich des Anteils am Sie reichen von Forderungen nach sofortiger Brutto-Inland-Produkt); Verbesserung der sozialen Situation bis hin zu Erwartungen in längerfristig zu realisierende Siedlungstätigkeit und militärische Kontrolle der Wandlungen in Gesellschaft und Politik. palästinensischen Territorien (jährlich 46 Mrd. NIS „Sicherheitsausgaben“ für die annähernd Die „Philosophie“ der Protestbewegung, der 300.000 Siedler in der Westbank); Schlüssel zu deren Erfolg und die Erfahrungswerte für andere Massenbewegungen basieren – inhaltlich Staatsgelder für die ultraorthodoxen Gemeinden, wie strukturell – auf drei Orientierungen: (u. a. Alimentierung der nicht arbeitenden männlichen Gläubigen bzw. von Bildungsstätten Erreichen maximaler Breite durch Konzentration religiöser verheirateter Männer – Kolelim); auf Fragen, die weite Teile der Bevölkerung interessieren, d. h. auf soziale Ungleichheit bzw. Veränderungen im Steuersystem (Verringerung Gerechtigkeit; der Mehrwert-, Benzin- u. a. indirekter Steuerlasten; Einführung einer Erbschaftssteuer; bewusstes Ausklammern aller gesellschaftlichen höhere Besteuerung von Kartellen und Problemfälle mit hohem Streit- und Kapitalflüssen, insbesondere der 10 bis 20 Spaltungspotential aus der Konsenssuche, Familien, „Tycoons“, die die israelische Wirtschaft aus der offiziellen Protestagenda und aus den und Gesellschaft kontrollieren); zentralen Forderungskatalogen; Wiedereinführung der staatlichen Preiskontrolle, Aufbau eines möglichst großen öffentlichen insbesondere bei Lebensmitteln u. a. Waren des Druckpotenzials auf den Staat in einer Frage, täglichen Bedarfs; nicht in der Vielzahl anderer ungelöster Gesellschaftsprobleme. Veränderungen in der Zollgesetzgebung (beispielweise Abbau von unproduktiven Die zentrale Losung „Soziale Gerechtigkeit für alle!“ „Schutzzöllen“); Öffnung gegenüber dem beinhaltet ein ebenso breit gelagertes Protest- internationalen Wettbewerb; und Forderungspotential wie ähnliche pauschale Slogans – z. B. Frieden, Gleichheit, Koexistenz Begegnung der Korruption, der illegalen Aneig- oder Solidarität. Große Teile der Bevölkerung, nung nationaler Reichtümer, der Schwarzarbeit siehe die Peace Now-Bewegung nach 1978, können und der weit verbreiteten Steuerhinterziehung; sich mit ihnen identifizieren bzw. solidarisieren, Verringerung unproduktiver bzw. ineffektiver zumal wenn sie unmittelbare Interessenlagen Ausgaben des (nichtmilitärischen) Staats- oder allgemein menschliche Sehnsüchte berühren. apparats. Die Differenzierungen setzen erst auf den untergeordneten Ebenen, bei der Konkretisierung Realistische Erwartungen richten sich einzig auf und bei Entscheidungen über Umsetzungswege einen bedingten Wandel in der Wirtschafts- und und –methoden ein. Steuergesetzgebung. An die „Heiligen Kühe“ – Militärausgaben und Siedlungspolitik – wagt sich Der Einheitsaktionismus nimmt in Kauf, dass bisher kein amtierender Politiker heran. Auch Interaktionen und Abhängigkeiten der sozialen das Abschmelzen der Staatsausgaben für die Probleme von anderen Gegebenheiten der Ultraorthodoxen dürfte nicht zur Disposition stehen, Wirtschaft und Politik weitgehend ausgeblendet da es die Stabilität der gegenwärtigen Regierung in bleiben oder nur marginal berücksichtigt werden. Frage stellen würde (Austritt der Schas-Partei aus Ideell reflektiert, jedoch nicht generell in Frage der Koalition). gestellt, werden von den Aktivisten des Rothschild- Boulevard zum Beispiel: Soziale Revolution oder Reformbewegung? die Eigentumsverhältnisse, d. h. die höchst Warum klammert die Protestbewegung wesentliche ungerechte Verteilung von Reichtum und Armut Probleme der israelischen Wirtschaft, Gesellschaft als Wurzel vieler sozialer Übel; und Politik aus? Lässt sich die in weiten Teilen die politischen Herrschaftsverhältnisse bzw. die parasitäre „freie Marktwirtschaft“ zu der in den Verantwortung der Politik für die Forcierung ersten Jahrzehnten des Staates durch David des neoliberalen Modells der Privatisierung, Ben Gurion kreierten und praktizierten „sozialen Wirtschaftskonzentration, Profitmaximierung 7 und unsozialen Verteilungspraxis; das politische Griechenland, Italien und andere EU-Staaten System wird bestenfalls verbal bzw. argumentativ werden als warnende Schreckbilder vorgeführt. in Verantwortung genommen; daraus werden Dennoch dürften die sozio-ökonomische jedoch keine politischen Schlussfolgerungen Bestandsaufnahme bzw. das Reagieren des Staates, abgeleitet (Rücktritt des Ministerpräsidenten, so die Experten, nicht in bloßen kosmetischen der Regierung oder einzelner Minister u. a.); Korrekturen stecken bleiben. Sie müssten zu einer das Okkupationsregime und die den nationalen allseitig reformierten „freien Marktwirtschaft“ Interessen zuwider laufende Siedlungspolitik führen, die die Implantation sozialer Elemente (aus taktischen Erwägungen aus den aushalte, im Land mehr Gerechtigkeit schaffe und Protestzielen ausgeklammert, da nicht primärer seinen Bürgern Würde und neue Lebensqualität gebe. Gegenstand des Aufbegehrens; von zahlreichen Das jedoch seien Forderungen an die Wirtschafts- Zeltbewohnern und Demonstranten dennoch und Gesellschaftspolitik der Legislative wie der wiederholt und vielfältig thematisiert); Exekutive, wobei der Knesset in gegenwärtiger Zusammensetzung bzw. der Regierung Netanjahu, die Einengung der Demokratie, die jedoch auch Oppositionsparteien wie Kadima, wenig nationalistische Manipulierung der Bevölkerung, Änderungswille und soziale Kompetenz zugetraut insbesondere der Jugend, oder der Bellizismus in werden. Der Bürger werde auf die Trachtenberg- Segmenten der Gesellschaft (z. B. Schüren von Kommission bzw. auf die nächste Knessetwahl Angstkomplexen oder einseitige Betonung der in zwei Jahren vertröstet. Die Forderungen der Zentralität des militärischen Faktors); Straße würden in nur begrenztem Maße, so die die ethnischen, sozialen und politischen pessimistisch-realistische Erwartung, in produktive Zerklüftungen der Gesellschaft (damit auch das Impulse für Wirtschaft und Gesellschaft münden. Unrecht an der arabischen Bevölkerungsgruppe, Einiges werde möglicherweise verbessert, nichts die Diskriminierung der äthiopischen Zuwanderer jedoch grundsätzlich verändert werden. bzw. ihrer Kinder oder die erniedrigende Behandlung der ausländischen Arbeitnehmer); Zukunftsszenarien als soziale Realitätsebenen zwar erkannt (und benannt), in öffentlichen Verlautbarungen jedoch Ein dritter Komplex von Fragen richtet sich merklich unterbelichtet. auf das weitere Schicksal bzw. die Zukunft der Protestbewegung sowie auf den Umgang der Auf den Plakaten und in den Meetings wie auch Staatsmacht mit den Forderungen des Volkes nach in den Slogans der Demonstrierenden wurden sozialer Gerechtigkeit. und werden relativ häufig Theodor Herzl und David Ben Gurion als „Kronzeugen der Anklage“ Die Massendemonstrationen und der außerordent- gegen die Verantwortlichen für die neoliberale lich große Rückhalt der Protestbewegung in der Wirtschaftspolitik und –entwicklung beschworen. Bevölkerung haben alle negativen Voraussagen über Die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit den „Aufstand der Jungen“ ad absurdum geführt. enthalten zudem nicht selten den nostalgischen Der Protest hat sich weder als „Eintagsfliege“ Wunsch, zur „sozialen Marktwirtschaft“ Ben Gurions erwiesen, noch ist er mit Ende der Sommerferien zurückzukehren oder sich ihr zumindest wieder implodiert. Die Auflösung der Zeltstädte – Symbole anzunähern. der Rebellion, mehr jedoch Universitäten der politischen Bildung und der Selbstfindung – wird Kritische Wirtschaftswissenschaftler betonen nicht das Ende des einzigartigen Experiments einerseits, dass die in Israel praktizierte bedeuten. Innerhalb der Massenbewegung haben „freie Marktwirtschaft“ sich weitgehend sich bleibende Strukturen herausgebildet, sind destruktiv entwickelt habe und nicht mehr den akzeptierte Protestführer gewachsen und haben sich wesensbestimmenden Elementen des Modells gesellschaftliche Unterstützer- und Beraterkomitees entspräche. Statt von „freier Marktwirtschaft“ solle formiert. Sie bieten hinreichend Gewähr dafür, dass eher von einer „Herrschaft der Oligarchie“ oder der Protest nunmehr in veränderten Bahnen und einer „Wirtschaftsdiktatur der Tycoons“ gesprochen mit neuen Wirkungsformen weitergeführt wird. werden (vgl. u. a. HA, Ha’schavua, 19. August 2011, S. 4). Auch die Frage, wer im Verhältnis von Die zentrale Frage lautet, wie ohne Oligarchie und Staatsmacht das Sagen habe, sei Großdemonstrationen weiterhin Druck auf die inzwischen müßig, da es sich um zwei Seiten einer Regierung ausgeübt und erhöht werden und Medaille handle. Alle Forderungen nach Fairness wie Einfluss auf Inhalt und Konsequenz der in der Marktwirtschaft oder nach Rückkehr zum auszuhandelnden Kompromissformeln, sprich: stärker sozial betonten Modell der 1960er und Reformen, genommen werden kann. Zumindest, 1970er Jahre dagegen seien rückwärtsgewandte so optimistisch einer der Studentenführer, „weiß Utopien, die nicht mehr den Realitäten des die israelische Regierung heute, dass das Volk und weltweiten Wirtschaftens und des internationalen die Studenten die Finger an ihrem Puls haben und Zahlungsverkehrs entsprächen. Ein Zurück zur ihr nicht gestatten werden, zu tun, was immer sie „sozialen Marktwirtschaft“ würde Israel – so die will“ (Ha’aretz, 5. August 2011, S. 1). Argumentation – im internationalen Wettbewerb weit zurückwerfen und erneut die Wirtschafts- und Unter den protestbewegten Jugendlichen verlaufen Finanzkrise der Jahre 1984/85 heraufbeschwören. andererseits Differenzierungsprozesse, die sich 8 insbesondere auf die Weite der Forderungen Das ursprüngliche Szenarium der wichtigsten und den Charakter der Kompromisse richten. Minister, den Protest zu ignorieren, ihn herunter Ein reformerischer Flügel (möglicherweise zu spielen, ihn auszusitzen oder ihn mit Verweis repräsentiert durch den Vorsitzenden der auf das Primat der nationalen Sicherheit oder Nationalen Studentenunion, Itzik Schmuli) strebt auf die Weltwirtschaftskrise abzublocken, ist Maßnahmen zur Verbesserung der existierenden gescheitert – auch wenn bis heute bei den Gesellschaftsordnung an, will jedoch „den Regierenden wenig Enthusiasmus zu erkennen Kapitalismus bewahren, die Hegemonie schützen ist, sich der sozialen Problemlage des Landes zu und die männliche Dominanz und Sprache stellen. konservieren“ (Ha’aretz, 5. September 2011, Die derzeitige Strategie des Kabinetts besteht S. 5). Verständlich, dass Schmuli von Politikern darin, Entscheidungen möglichst hinaus zu zögern, und Medien als „der Seriöseste unter den d. h. auf den Zeitfaktor und auf Abnutzungseffekte Protestführern“ apostrophiert wird. Ihm wird ein zu setzen. Parallel dazu verlaufen Überlegungen, „Deal“ mit Trachtenberg zugetraut. den Protest mit Hilfe von „Reformen geringer Daphni Leef hingegen, die Initiatorin der Proteste oder mittlerer Reichweite“ schrumpfen zu lassen und zweite zentrale Führungsperson, wird als bzw. auszutrocknen. Dem diente insbesondere Fürsprecherin einer „direkten Demokratie“ die Berufung der Trachtenberg-Kommission. gehandelt. Sie wolle „das System verändern und „Reparaturen“ am neoliberalen Wirtschaftsmodell, die alte Ordnung durch eine weniger hierarchische, jedoch Vermeidung aller größeren Veränderungen beherrschen das Denken. Im Sinne dieser stärker egalitäre und fähigere neue Ordnung“ Option dämpfte der Premier in einem Video ersetzt sehen (Ha’aretz, 5. September 2011, S. vom 4. September, adressiert an die Konferenz 5). Das Aufspüren – mitunter auch das Schüren „Israel 2021“, allzu große Erwartungen in - von Widersprüchen zwischen den Protestführern eine aktivere Sozialpolitik. Wirtschaftsdisziplin, ist inzwischen zum Gesellschaftsspiel der Medien mehr Wettbewerb im Privatsektor, Entflech- geworden, obwohl sich die kollektive Führung des tung der Wirtschaftskonglomerate (des Aufruhrs durchaus als belastbar erwiesen hat. Pyramidensystems) - ja. Dennoch könne Über das Schicksal der Bewegung und ihrer Leiter Israel sich nicht den Wirkungen der globalen werden unterschiedliche Optionen kolportiert: Wirtschaftskrise entziehen und wolle nicht enden wie die südlichen Staaten der EU. Es sei somit Der Protest könne überall im Lande zu dauerhaften „unmöglich, alle Probleme zu lösen und allen „Communities“ führen, die ihm seine Vitalität Forderungen entgegen zu kommen“ (Ha’aretz, bewahren, die Verantwortung für ihr jeweiliges 5. September 2011, S. 10). Umfeld übernehmen und Volksversammlungen in ihren Wohngebieten initiieren sollten. Sollten sich die sozialen Probleme zuspitzen und sich der Druck der Straße wesentlich Mit dem Argument, dass alle grundsätzlichen erhöhen, so wären ernsthaftere Maßnahmen des Entscheidungen in der Knesset getroffen Systemerhalts, d. h. tiefer greifende Reformen würden, überlegen einige Akteure offensichtlich in Wirtschaft und Gesellschaft, erforderlich. Eine die Gründung einer eigenen sozialen Gerechtig- derartige Option ist z. Z. zwar denkbar, nicht keitspartei. Die wichtigsten Führer haben sich jedoch wahrscheinlich. bisher von diesem Projekt distanziert. Es würde nicht nur eine strapazierfähige Struktur und ein Mit relativer Sicherheit kann dagegen erwartet politisches Programm benötigen. Man müsse werden, dass im Umfeld der UN-Vollversammlung sich auch entscheiden, welcher Platz in der und der Entscheidung über die Palästinenserfrage Parteienlandschaft besetzt werden solle. Die Regierung, Parlament und Rechtsparteien der bisher apolitische Positionierung und die Breite Welle des sozialen Protests durch Beschwörung des Protestes wären nicht unbedingt förderlich der angeblich akut gefährdeten nationalen für eine Partei. Zudem schreckt das Beispiel der Sicherheit begegnen werden. Das probate Seniorenpartei ab, die für eine Legislaturperiode Mittel, alte und neue Existenzängste zu schüren in der Knesset saß, bald jedoch auseinander fiel und zur Verteidigung der nationalen Sicherheit und von einem russischen Oligarchen aufgekauft aufzurufen, hat in Israel bisher nie versagt; wurde. es erreicht i. d. R. weite Kreise der jüdischen Bevölkerung. Unabhängig von realen Gefahren, Nicht auszuschließen ist, dass einige der die Israel aus dem mittel- und nahöstlichen Umfeld Protestaktivisten nach Abklingen der Revolte drohen könnten, beunruhigen Politiker ihre in etablierten Parteien aufgehen werden. Die Mitbürger mit der Behauptung, die Palästinenser Führer des „Aufstands“ berichten in Interviews bereiteten für den Herbst „ein bisher noch nicht zumindest davon, dass seit Beginn der zweiten da gewesenes Blutbad unter den Siedlern“ vor Protestphase zunehmend Vertreter der Parteien (Außenminister Lieberman, vgl. HA, 8. August (Avoda, Merez, Chadasch, aber auch Kadima, 2011, S. 3). Der Verteidigungsminister trat Azma’ut und Schas) in den Zeltstädten seinem Kabinettskollegen zur Seite, indem auftauchten und mit den Jugendlichen ins er anordnete, die Siedlungen militärisch zu Gespräch zu kommen suchten. schützen und die Siedler auf den Verteidigungsfall Hinsichtlich des weiteren Reagierens der Regierung vorzubereiten bzw. sie militärisch zu trainieren, existiert ein breites Spektrum von Wertungen und um den „Herbst-Tsunami“ zu überleben. möglichen Szenarien: 9 Was bleibt? Fazit und Zusammenfassung Berichterstattung der Medien. Jeder Israeli hat miterlebt, wie „der Kaiser plötzlich ohne Kleider“ Noch stehen die Antworten von Regierung und dastand. Parlament auf die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, auch die Empfehlungen der Der „israelische Sommer“ widerspiegelt einen qualitativen Sprung im sozialen Verhalten Trachtenberg-Kommission, aus. Über mögliche und im öffentlichen Engagement von Teilen Reaktionen des politischen Establishments der Jugend. Viele der Hochschulabsolventen existieren Mutmaßungen und Erwartungen, jedoch oder in Ausbildung befindlichen Jugendlichen, noch wenig Gewissheit. Eine zusammenfassende insbesondere aus der Mittelschicht, durchliefen Antwort auf die Frage nach den realen Ergebnissen einen befreienden Prozess der Erkenntnis, der des achtwöchigen Protestes kann erst im Abstand Bewusstwerdung und des Erfahrungsgewinns, von sechs bis zwölf Monaten gegeben werden. alles durchaus in jugendgemäßen Formen. Die Wird das Gebäude des Wirtschaftens oder der Zeltstädte wurden zu großen „Universitäten Wirtschaftspolitik entkernt und umfassend der Straße“. Für einen historischen Augenblick erlebten die jungen Frauen und Männer bzw. rekonstruiert oder wird nur die Fassade neu ihre Sympathisanten, dass die Spielregeln in gestrichen werden? der Gesellschaft veränderbar sind und dass die Trotz alledem hat die „größte Volksbewegung in der Prioritäten in der Regierungspolitik sich nicht im israelischen Geschichte“ das Land, seine Bewohner Selbstlauf, sondern nur unter Druck ändern. „Yes, und das Agieren der Politiker tief beeinflusst. Bereits we can“, „das Volk kann die Agenda verändern“ oder „die Demokratie ist jetzt auf der Straße“ heute, noch ganz im Ungewissen, kann konstatiert wurden zu verbreiteten Slogans. werden, dass einige Resultate der Jugend-Rebellion unumkehrbar und geschichtsprägend sein werden: Der Regierungspolitik des Aussitzens und Blockierens wurden breite Solidarität und Die Fragen nach den sozio-ökonomischen öffentlicher Aktionismus entgegen gesetzt. Fehlentwicklungen und nach den sozialen Vielen Institutionen, die bisher als repräsentativ Disparitäten in der Gesellschaft bzw. die und vertrauenswürdig galten, wird heute mit Forderung nach Gerechtigkeit und damit das Misstrauen begegnet. Nicht wenige Jugendliche Konzept sozialer Sicherheit wurden, ebenbürtig begannen, die Erziehungsmaxime in Schule und dem unentwegten Beschwören nationaler Armee („Frage nie danach, was das Land für Sicherheit, erstmals in gegebener Breite und dich tut; frage stets, was du für das Land tun Eindeutigkeit zur Kernfrage der Gesellschaft kannst!“) vom Kopf auf die Beine zu stellen und erklärt, ihren Charakter, ihre innere Einheit, ihr eine ausgewogene Zweipoligkeit zu geben. ihre Stabilität und ihre Entwicklungsfähigkeit bestimmend. Sie werden Dauerthemen des Sollte sich auf dem Weg der Reform wenig verän- öffentlichen Diskurses bleiben. Keine Partei wird dern, kann ein Teil der Jugendlichen desillusioniert künftig zu Parlamentswahlen antreten können, wieder in Apathie, Politikverdrossenheit ohne potenziellen Wählern Auskunft über die oder Medienhörigkeit zurückfallen. Für viele soziale Sicherheit Israels zu geben. Protestbewegte jedoch werden die beiden Sommermonate 2011 die „Universität für das Erstmals in dieser Breite und nicht mehr Leben“ bleiben, ein einzigartiger gesellschaftlicher zurücknehmbar wurden der breiten Erfahrungsgewinn. Aus ihnen kann – zumindest Öffentlichkeit die Gründe für die ökonomischen teilweise – die Generation hervor gehen, die Fehlentwicklungen und sozialen Verwerfungen den „Marsch durch die Institutionen“ antreten benannt. Das betrifft die sich schnell weitende und die Zukunft des Landes mitgestalten dürfte Kluft zwischen Arm und Reich, die Misere (den Verschleiß an persönlicher Erfahrung und auf dem Wohnungsmarkt, die permanenten subjektivem Impetus immer mitgedacht, vgl. die Preissteigerungen und die Mängel in Bildung, Achtundsechziger in Europa). Gesundheitswesen und sozialer Wohlfahrt. An den Pranger gestellt wurden nicht nur Raffgier Zum Erfolg der großen Demonstrationen trug und Eigennutz der „Tycoons“ oder das System der bei, dass die Protestziele und –forderungen parasitären Kartelle, Wirtschaftspyramiden u. a. einen Nerv der gesamten Gesellschaft trafen. ökonomischer Konzentrationen, sondern auch Auch wenn einige Bevölkerungskomponenten, die kardinalen Unterlassungen bzw. Fehlsichten nationalistisch gesinnte „Russen“ zum Beispiel, in der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik. viele Nationalreligiöse und Ultraorthodoxe, Äthiopier und andere, nicht zur Aktivität In den Verlautbarungen der Protestführer motiviert werden konnten, waren sich die finden sich zwar keine direkten Angriffe auf jugendlichen Protestler doch zu jedem Zeitpunkt die Regierung; dennoch war und ist die Volks- der Unterstützung durch die Mehrheit der empörung eine einzigartige Infragestellung Bevölkerung sicher. deren neoliberaler Wirtschaftspolitik. Das Bild der angeblich effektiven „freien Marktwirtschaft“ Die friedfertige Jugendrebellion war zugleich wurde umfassend demontiert; die negativen ein massenhaftes Ausprobieren der modernen Wirkungen der Privatisierung, des fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere der Wettbewerbs und anderer Auswüchse des neuen elektronischen Medien. Über räumliche, neoliberalen Modells wurden allseitig und soziale, religiöse, ethnische und altersmäßige medienwirksam beleuchtet; nicht zuletzt Grenzen hinweg bewährten sich die sozialen wurde das korruptive Zusammenspiel von Netzwerke bzw. standen die Protestierenden Privatwirtschaft und politischem Establishment permanent miteinander in Verbindung. Mit durchschaubar gemacht, zumindest in der einem Mausklick konnten über Facebook oder

10 Twitter wichtige Informationen blitzschnell über Daphni Leef, über die ein langer Beitrag detailliert das ganze Land verbreitet und Menschenmassen Auskunft gibt. Im Heft werden fünf weitere bewegt werden. Der Schneeballeffekt spielte politisch engagierte Frauen vorgestellt, die lt. dabei eine wichtige Rolle. Die konservativen Titelgebung der Zeitschrift dazu beigetragen Medien – TV, Radio oder Presse – trugen, nicht hätten, die „Welt zu verändern“, an vorderer immer fair und in guter Absicht, dazu bei, den Stelle mit Bild und würdigendem Artikel Rosa Protest im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Luxemburg. Viele der mit Semantik und Duktus der modernen Die Demonstrationen vom 6. August und 3. hebräischen Sprache beschäftigten Spezialisten, September bildeten zweifelsohne den Zenit des Wissenschaftler, Schriftsteller oder Journalisten, demokratischen Protests. Nunmehr werden die meinen, in den verbalen oder schriftlichen Höhen der Zukunftserwartung und die Hoffnungen Ausdrucksformen der jugendlichen Protestler auf Veränderung den „Mühen der Ebenen“ weichen. so etwas wie eine „neue Sprache“ als Zeichen Die Suche nach tragfähigen Kompromissen wird den veränderten Bewusstseins vermerkt zu haben Protestführern und ihren Beratern ein hohes Maß – unterschiedlich zumindest zum erstarrten Vokabular bzw. zur Stilistik der politischen Eliten. an Standfestigkeit, politische Klugheit und einen Die Sprache sei aufrichtiger, ehrlicher, direkter, langen Atem abverlangen. Auch die Evaluierung schmiegsamer, verständlicher geworden – des Geschehens der letzten acht Wochen auf vielleicht auch gewaltfrei femininer – meint den israelischen Straßen und Plätzen erfordert die Ha’aretz-Journalistin Merav Michaeli. Als vor allem Realitätssinn. Selbst der optimistische Kronzeuginnen benennt sie Protestführerinnen, Beobachter sollte sich für den Herbst auf mögliche wie Daphni Leef, Stav Schaffir, Schiri Rückschläge und negative Meldungen einstellen. Tannenbaum, Rachel Josef, Meital Mamo, aber Die den Staat tragenden bzw. die aktuelle Politik auch eine Reihe von Männern aus dem Berater- prägenden rechten Narrative des Landes vertragen und Unterstützerteam von Daphni Leef. „Diese kein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Volk Sprache versteht die Öffentlichkeit sehr gut“, und keine „neuen Israelis“ jenseits nationalistischer meint Michaeli (HA, 5. September 2011, S. B1). Möglicherweise ist Sprache in diesem Falle Stereotype – so wie die Protestführer sich und ihre Ausdruck innerer Befreiung, selbst bestimmter Anhänger in öffentlichen Reden darstellen. Das Aktivierung, gefühlsbetonter Kreativität, sym- demokratische Israel hat in den letzten Wochen pathischer Spontaneität und vor allem von ein neues Gesicht bekommen und der Zug namens freiwilligem Einsatz im Kollektiv Gleichgesinnter „sozialer Protest“ hat den Bahnhof verlassen. Er für eine große humanistische Idee. dürfte schwer zu stoppen sein, solange die Weichen Die zentrale Rolle von jungen Frauen in nicht auf produktives Konfliktmanagement gestellt der Protestbewegung hat die Medien derart sind. beeindruckt, dass der konservative Verlag Maariv Anfang August sein Frauenmagazin AT als Sonderheft zum Thema „Frauen und Revolutionen“ gestaltete (AT, Nr. 731, 5. August 2011). Als Cover Girl, mit Hochglanzfoto, posiert

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