Harald Stadler Und Philipp Lehar Archäologische Aspekte Zur Erforschung Einer Zwangsdeportation Im 20

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Harald Stadler Und Philipp Lehar Archäologische Aspekte Zur Erforschung Einer Zwangsdeportation Im 20 Historische Sonderband 2020 Archäologie Harald Stadler und Philipp Lehar Archäologische Aspekte zur Erforschung einer Zwangsdeportation im 20. Jahrhundert am Fall der sogenannten Kosakentragödie in Lienz, Osttirol Abstract In 1945, when World War II ended, East Tyrol and Carinthia faced ten thousands of retreating Axis Forces and refugees. Among them were Russians, Ukrainians, Cossacks, Slovenians and Croatians. They all hoped that the Southern Austria would be a safe haven for them. They hoped that the British Forces would treat them as Prisoners of War and as Displaced Persons and not hand them over to Yugoslavia and the Soviet Union. Among these people were Surrendered Enemy Forces, refugees, liberated Prisoners of War and forced labourers. From May to July 1945, the British handed over Cossacks, Caucasians, Yugoslavs, Croatians, Slo- venians and others to the Soviet Union and to Socialist Yugoslavia. Lo- cals and different authors interpreted the forced repatriations from the British Sector in Austria as an “allied war crime” and as a “crime against humanity”. This interpretation helped some to deal with their own in- volvement in Nazi crimes and dictatorship. From an anthropological, historical and archaeological perspective, the project deals with the events in East Tyrol in 1945 and the remembrance culture linked to the “Lienz Cossacks”. What archaeological evidence remains from 25 000 humans? How can the results of archaeological investigations be used in educational projects and also be linked to the results of the research of other discipline like history, English and Slavic literature? The present paper discusses the central role of archaeology in the projects, presents archaeological finds and discusses challenges. The text also includes an introduction to the archaeology of World War II in Austria and the work of the Austrian War Graves Commission “Austrian Black Cross”. Zusammenfassung Zitation:/cite as: H. Stadler/P. Lehar, Archäologische As- Bei Kriegsende 1945 entwickelten sich die Regionen Kärnten und Ost- pekte zur Erforschung einer Zwangs- tirol zum Rückzugsort für die sich nach Norden fluchtartig zurückzie- deportation im 20. Jahrhundert am Fall henden deutschen Truppenverbände und ihre Verbündeten aus Italien der sogenannen Kosakentragödie in Lienz, Osttirol. In: F. Jürgens/U. Müller und dem Balkan. Den Truppenverbänden schlossen sich auch zahlrei- (Hrsg.), Archäologie der Moderne. che zivile Flüchtlinge an. Unter deutschem Oberbefehl befanden sich Standpunkte und Perspektiven. Son- kollaborierende jugoslawische Verbände ebenso wie Russen, Ukrainer derband Historische Archäologie 2020 (Onlineversion), 195–217 und Kaukasier. Während sie alle hofften, in der zukünftigen britischen ‹doi 10.18440/ha.2020.114› Besatzungszone das Kriegsende in westalliierter Gefangenschaft und Sicherheit beenden zu können, warteten zehntausende Kriegsgefan- gene, Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge auf den Einmarsch al- liierter Truppen und die damit verbundene Befreiung. In den Wochen nach dem Kriegsende war die Heimkehr für viele ein zentrales Thema. Doch viele Menschen aus Südost- bzw. Osteuropa und der Sowjetuni- on wollten nicht in ihre ursprünglichen Heimatländer zurückkehren. Nicht nur Kollaborateure wie die kaukasischen und kosakischen Ver- bände wurden aus Osttirol und Kärnten gewaltsam in die Sowjetunion zwangsrepatriiert. Die Zwangsrepatriierungen in die Sowjetunion und nach Jugoslawien prägen als „Gräueltaten“ und „Siegerwillkür“ die loka- le Erinnerungskultur und dienten lange Zeit der Abwehr eigener Schuld und der Verdrängung der eigenen Verstrickungen in NS-Terror und Krieg. Beispielhaft soll im Rahmen des Projekts „Kosaken in Osttirol“ das Kriegsende im Lienzer Talboden multiperspektivisch wissenschaftlich aufgearbeitet werden und so der Raum für eine differenzierte gesell- schaftliche Auseinandersetzung geschaffen werden. Es soll beispielhaft dargestellt werden, wie Gewalt, Verdrängung und Verstrickung in einer Region wirken. Zentral ist auch die Frage, was bleibt, wenn sich rund 25 000 Menschen für kurze Zeit als Flüchtlinge in der Region aufhalten? Daher geht der Aufsatz auf den zentralen Beitrag der Archäologie im Projekt ein. Neben Funden und Funderwartungsgebieten kommen auch Herausforderungen und Probleme zur Sprache. Einleitung Kosaken sind eng verbunden mit der Geschichte Russlands, der Ukrai- ne und Polens unter anderem als Eroberer Sibiriens, durch Aufstände und als loyale Kavallerie des Zaren (Longworth 1973; Kappeler 2013). Im Westen hinterließen sie bleibenden Eindruck mit ihren Reiterkunstgrup- pen und Chören. Besonders bekannt ist der von Serge Jaroff 1921 in der Emigration gegründete Donkosakenchor (Kappeler 2013, 78). Vor allem auf verschiedene Gruppen der deutschen Jugendbewegung übten Ko- saken und ihre Chöre eine große Faszination aus. Ihre Konzerte waren während der Zeit, als die freien Jugendbünde in der NS-Zeit verboten waren, Treffpunkte, und ihre Art zu singen inspirierten das Liedschaffen und Singen in den Gruppen und Bünden (DPB JS Schwarzer Adler 1999, 70–73; 76 ff.; Werheid u. a. 2019, 80 ff.). In der russischen und ukraini- schen Literatur und Historiographie waren die Kosaken ebenso wie in den Gruppen der Jugendbewegung Projektionsfläche für sich wider- sprechende Inhalte und Sehnsüchte (Kappeler 2013, 7–10). Mit Lienz und Osttirol verbinden die meisten eine beeindruckende Bergwelt, den Nationalpark Hohe Tauern und den Skiweltcup, und Kunstinteressierten fällt vielleicht noch Albin Egger-Lienz, ein Maler und bekannter Sohn der Dolomitenstadt, ein. Der Aufenthalt von Kosa- ken in diesem Talkessel im Südosten Österreichs ist erklärungsbedürftig und hat vielleicht auch den einen oder anderen James-Bond-Fan schon irritiert. Die Stadt mit etwas weniger als 12 000 Einwohnern ist einer der wenigen österreichischen Orte, die in den bekannten Agentenfil- men vorkommen. Im 1995 erschienenen James Bond-Film „Goldeneye“ gibt sich James Bonds einstiger Weggefährte und nun Gegner Alec Trevelyan (bisher Agent 006) als Sohn von „Lienzer Kosaken“ zu erken- nen und schildert die Ereignisse von 19451. Seine Eltern entkamen der 1 Leider hat sich in die deutschsprachige Zwangsrepatriierung in die Sowjetunion, Stalins Verfolgungsmaßnah- Synchronisation des Filmes ein Fehler eingeschlichen, und aus „Lienz“ wur- men und den Hinrichtungen. Durchaus anschlussfähig an Diskurse im de „Linz“, die Landeshauptstadt von revisionistischen und rechtsextremen Milieu spricht Alec Trevelyan im Oberösterreich. Film vom „britischen Verrat“ und von Hinrichtungen in der Sowjetunion. 196 Historische Archäologie 2020 | Archäologie der Moderne Die Ereignisse rund um die etwa 25 000 Kosaken und Kaukasier im Lienzer Talboden sind leider auch für Rechtsextreme ein Bezugs- punkt (Scheidl 1968, 50–60; Lutton 1980), ähnlich wie die „Rheinwie- senlager“ und andere alliierte Kriegsgefangenenlager (Manthe 2015). Wie der Waldfriedhof in Halbe (Rautenberg/Rautenberg 2006; Schul- ze 2015) kann das Thema nicht Revisionisten und anderen Rechtsextre- men überlassen werden. Vielmehr ist eine Einbettung in die Ereignisse des Frühjahrs und Sommers 1945 nötig. Dieser Beitrag stellt das inter- disziplinäre Forschungsprojekt „Kosaken in Osttirol“ vor. Dabei wird ein Einblick in den Forschungsstand, erinnerungskulturelle Praktiken, Ver- mittlungsprojekte, Funde und Funderwartung gegeben. Lienz soll als ein Ort des transnationalen und interdisziplinären wissenschaftlichen Aus- tausches sowie als Lern- und Begegnungsort für Menschen verschiede- ner Herkunft, Religion, unterschiedlichen Geschlechts und Alters erleb- bar werden (Abb. 1). Zeitgeschichte und Erinnerungskultur sollen durch das Projekt interdisziplinär begleitet und reflektiert werden. Abb. 1. Kosaken aus Lublin/Polen bei der Gedenkfeier am Kosakenfriedhof in Lienz, Mai 2017 (Foto: Verein zum Gedenken an die Lienzer Kosakentra- gödie vom 1.6.1945/Projekt „Kosaken in Osttirol“, Universität Innsbruck). Archäologie des Zweiten Weltkriegs in Österreich Wichtige Akteure der Archäologie des Zweiten Weltkriegs in Öster- reich sind der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge (VDK) und das Österreichische Schwarze Kreuz. Diese Kriegsgräberdienste su- chen Kriegstote, führen Umbettungen durch, klären Schicksale, pflegen Friedhöfe und tragen zu einer lebendigen Erinnerungskultur bei. Um die Kriegstoten Großbritanniens, der Dominions und der bri- tischen Kolonien kümmert sich die 1917 gegründete Commonwealth War Graves Commission. In den USA entstand 1923 die American Battle Monuments Commission. Diese beiden staatlichen Einrichtungen leg- ten neue Friedhöfe an und pflegen Kriegsgräber bis in die Gegenwart. Bis heute investieren die Vereinigten Staaten und mehrere Länder des Commonwealth Ressourcen in den Erhalt dieser Grabstätten und in die Klärung von Schicksalen. Waren es also auf der Seite der Siegerstaa- ten staatliche Behörden, die nach dem Ersten Weltkrieg die Aufgaben der Kriegsgräberfürsorge übernahmen, so waren es in Österreich und Deutschland aufgrund fehlender staatlichen Möglichkeiten nach der Kriegsniederlage Vereine. Harald Stadler & Philipp Lehar | Archäologische Aspekte zur Erforschung einer Zwangsdeportation im 20. Jahrhundert 197 In Österreich hatte bis 1918 die „Kriegsgräberabteilung im k. u. k. Kriegsministerium“ viele Aufgaben als zentrale Behörde erledigt. Nach Kriegsende war offiziell niemand mehr zuständig. Private Initiativen schufen Abhilfe. 1919 gründeten Dr. Hans Bablik, Bruno Dittrich und Dr. Erwin Waihs das „Österreichische Schwarze Kreuz“. Im Laufe der folgen-
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