Von Helden, Bösewichten und Herrschern: Der sowjetische Märchenfilm zwischen Folkloretradition und Entstehungswirklichkeit Mit einer umfangreichen Materialdokumentation sämtlicher in der Sowjetunion von 1938-1989 entstandenen Märchenlangspielfilme

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.

vorgelegt von Sebastian Hoferer aus Straubenhardt

SS 2015 Erstgutachterin: Prof. Prof. h.c. Dr. Dr. h.c. Elisabeth Cheauré Zweitgutachter: JunProf. Dr. Stephan Packard

Vorsitzender des Promotionsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander

Datum der Disputation: 07. 03. 2016 INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG...... 1

A. THEORETISCHE UND PRAKTISCHE VORARBEITEN...... 4 I. Allgemeines zum Märchen...... 4 I.1. Das Volksmärchen: Erkenntnisse der Märchenforschung...... 5 I.2. Das Kunstmärchen: Versuch einer Definition...... 17 I.3. Das Märchen und sein Bezug zur Wirklichkeit...... 24 II. Märchen und Märchenfilm...... 25 II.1. Der Märchenfilm und seine Besonderheiten...... 25 II.2. Pro und Contra des Märchenfilms...... 30 II.3. Forschungsstand zum Thema Märchenfilm, Märchen und Film...... 33 III. Zielsetzung, Untersuchungsgegenstand und Arbeitsvorgehen...... 45 III.1. Fragestellung...... 45 III.2. Zur Erstellung und Zusammensetzung des Filmkorpus...... 47 III.2. Arbeitsschritte bei der Korpusauswertung...... 50

B. DER SOWJETISCHE MÄRCHENFILM UND SEIN BEZUG ZUR FOLKLORE: VERSUCH EINER GENRETYPOLOGIE...... 52 I. Methodische Überlegungen...... 52 I.1. Zum Genrebegriff...... 52 I.2. Syntaktik vs. Semantik in Märchen und Märchenfilm...... 53 II. Die Spielarten des sowjetischen Märchenfilms in ihrem Verhältnis zur Folklore...... 56 II.1. ,Erzähltypenadaptionen’...... 57 II.2. ,Neue Erzähltypenvarianten’...... 61 II.3. ,Erzähltypenmutationen’...... 64 II.4. ,Neue Erzähltypen’...... 69 II.5. ,Folkloremutationen’...... 70 II.6. ,Sagenhafte Märchenfilme’...... 73 II.7. Grenzfälle, fließende Übergänge und Probleme bei der Klassifizierung...... 74 II.8. Sonderfälle...... 79 II.8.1. Das Phänomen Crossover-Märchen...... 79 II.8.2. Die Sonderstellung von Hans-Christian-Andersen-Adaptionen...... 82 C. DER SOWJETISCHE MÄRCHENFILM UND SEIN BEZUG ZUR WIRKLICHKEIT: EXEMPLARISCHE FALLSTUDIEN...... 84 I. Zum Verhältnis von Märchen und Sozialistischem Realismus...... 85 I.1. Märchen in der Zeit des Sozialistischen Realismus...... 85 I.2. Märchen und Sozialistischer Realismus – ein ungleiches Begriffspaar?...... 87 I.3. Märchenheld und positiver Held des Sozialistischen Realismus – Brüder im Geiste?...... 91 II. Methodische Überlegungen...... 92 II.1. Die Figuren des Märchens und ihr semantisches Potential...... 92 II.2. Zur Transmedialität und zur Medienspezifik des Films...... 97 II.3. Allgemeines zu den exemplarischen Fallstudien...... 102 III. S a m p l e 1 : Kaščej Bessmertnyj – Die verschiedenen Gesichter eines Bösewichts...... 104 III.1. Zum Hintergrund...... 104 III.1.1. Kaščej Bessmertnyj und sein Tod im Ei im russischen Volksmärchen …...... 104 III.1.2. Kaščej Bessmertnyj im sowjetischen Märchenfilm...... 107 III.2. Kaščej Bessmertnyj (Der unsterbliche Kaschtschai, 1944)...... 108 III.2.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung …...... 108 III.2.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik...... 110 III.2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung...... 124 III.3. Kontextualisierung und Bezug zum Gesamtkorpus: Der Märchenfilm der Stalinzeit...... 126 III.4. Ogon’, voda i... mednye truby (Feuer, Wasser und Posaunen, 1968)...... 130 III.4.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung …...... 130 III.4.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik...... 132 III.4.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung...... 147 IV. S a m p l e 2 : Fürsten, Könige und Zaren – Bilder von Herrschern und Herrschaft...... 151 IV.1. Zum Hintergrund...... 151 IV.1.1. Der Herrscher im Märchen...... 151 IV.1.2. Herrscher und Herrschaftskritik...... 153 IV.2. Iľja Muromec (Ilja Muromez/Der Kampf um das Goldene Tor, 1956)...... 154 IV.2.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung …...... 154 IV.2.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik...... 156 IV.2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung...... 175 IV.3. Kain XVIII ([Kain XVIII.], 1963)...... 178 IV.3.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung …...... 178 IV.3.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik...... 181 IV.3.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung...... 199 IV.4. Ivan da Mar’ja (Iwan und Marja, 1974)...... 202 IV.4.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung …...... 202 IV.4.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik...... 204 IV.4.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung...... 219 IV.5. Kontextualisierung und Bezug zum Gesamtkorpus: Der Märchenfilm im Poststalinismus...... 222 V. Perestrojka im Märchenfilm?...... 230 V.1. Kontextualisierung und Überblick: Der Märchenfilm in der Perestrojka...... 231 V.2. Černucha im Märchenfilm...... 233 V.3. Die Schatten der Vergangenheit und die Ungewissheit der Zukunft im Märchenfilm...... 235 V.3.1. Ubiť drakona (Tod dem Drachen/Den Drachen töten, 1988): Die Kehrseite der Freiheit...... 236 V.3.2. Ne pokidaj... ([Geh nicht...], 1989): Der Wert der Wahrheit...... 238

RESÜMEE...... 245 LITERATURVERZEICHNIS...... 251 ANHANG: Kommentierte Filmographie...... 261 EINLEITUNG Der US-amerikanische Osteuropahistoriker Richard Stites, der sich 1992 in einer Monographie mit russischer Populärkultur beschäftigt, merkt darin leicht süffisant, aber durchaus treffend an: „A Western Historian of Russia […] will likely know more about Grigory Orlov than about the actress Lyubov Orlova; more about Count Panin than about the gypsy singer Varya Panina; more about Emelyan Pugachev than about the popstar Alla Pugacheva. For most Soviet people, the reverse would be true.“1 Eine analoge Situation stellt sich dar, wenn es um Kenntnisse russischer Folklore in der westlichen Slavistik geht: Belesene und gebildete Philologen wissen zwar über literarische Helden wie Anna Karenina, Evgenij Bazarov oder auch Ivan Denisovič genau Bescheid, können jedoch oft mit Namen wie Emelja-Durak, Baba-Jaga oder Kaščej Bessmertnyj nichts anfangen, die jedem russischsprachig sozialisierten Menschen von Kindesbeinen an aus zahlreichen Märchen vertraut sind. Ein noch schieferes Bild bietet sich aber im Bereich des Märchenfilms: Wer sich mit sowjetischer Filmgeschichte beschäftigt, kennt sicher die Werke Sergej Ėjzenštejns oder Andrej Tarkovskijs – Märchenfilme dagegen befinden sich höchstwahrscheinlich außerhalb seines Blickfeldes. In Filmgeschichten werden sie in Randnotizen oder aber gar nicht erwähnt, entweder, weil sie dem Forscher tatsächlich unbekannt sind oder aber, weil er sie voreilig für einer ernsthaften Auseinandersetzung nicht wert hält. Ihre wissenschaftliche Aufarbeitung kann daher allenfalls als lückenhaft bezeichnet werden – das gilt selbst für die russischsprachige Forschung, auch und insbesondere in postsowjetischer Zeit. Dabei waren Märchenfilme von den späten 30er Jahren an bis hin zum Ende der Sowjetunion fast durchgängig ein integraler Bestandteil der Gesamtfilmproduktion und als solcher ungemein populär – diese Popularität ist seit mehreren Generationen ungebrochen: Viele der Streifen genießen in den sowjetischen Nachfolgestaaten nach wie vor regelrechten Kultstatus. Im deutschsprachigen Raum hat sich unterdes ein Teil der Filme einen festen Platz im Kinderfernsehprogramm erobert, während ein anderer Teil nie gezeigt wurde und daher auch nicht rezipiert werden konnte – um so mehr ein Grund, dieses vernachlässigte Gebiet genauer in Augenschein zu nehmen und in seinen verschiedenen Dimensionen näher zu beleuchten. Der Gegenstand als solcher ist für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen relevant, für die Literaturwissenschaften und die Volkskunde ebenso wie für die Film- und

1 Stites 1992, S. 7.

1 Medienkulturwissenschaft, im Spannungsfeld derer sich die vorliegende Dissertation bewegen wird: Es handelt sich also um eine stark interdisziplinär ausgerichtete Arbeit. Ihr erklärtes Ziel ist es, den sowjetischen Märchenfilm als Breitenphänomen zu betrachten, also ein Filmgenre in einem bestimmten Kulturraum (Russland und die sowjetischen Teilrepubliken) als Ganzes zu untersuchen, um auf diese Weise genauer zu eruieren, was es in seiner Spezifik und seinem Wesen ausmacht und damit insbesondere einen Beitrag zur Erforschung der sowjetischen Kulturgeschichte zu leisten. Vor der eigentlichen Untersuchung sind jedoch zunächst theoretische Vorüberlegungen allgemeinerer Natur vonnöten – so geht das erste Kapitel (A) von der Volks- und Literaturform Märchen aus, um anschließend anhand dessen das Filmgenre Märchenfilm als solches näher zu charakterisieren und den bisherigen Forschungsstand dazu zusammenfassend darzustellen. Erst mit diesem Fundament ist es möglich, einen näheren Blick auf den konkreten Untersuchungsgegenstand zu werfen. Darauf aufbauend soll dann die genaue Fragestellung formuliert und das Vorgehen bei der Zusammenstellung und Auswertung des umfangreichen Korpus aus 163 Filmen eingehender erläutert werden. An dieser Stelle kann entsprechend nur ein kurzer Vorgriff erfolgen: Es sind vor allem zwei Aspekte, die im Mittelpunkt des Forschungsinteresses der vorliegenden Arbeit stehen werden. Zum einen soll es um die Korrelationen gehen, die zwischen sowjetischen Märchenfilmen und dem primären Quellenmaterial bestehen, aus dem sie schöpfen – also darum, wie sie mit Mustern der Folklore umgehen und in welcher Form sie sie transformieren oder sich auf sie beziehen; zum anderen soll näher untersucht werden, wie sich die Wechselbeziehungen zwischen sowjetischen Märchenfilmen und ihrer Entstehungswirklichkeit gestalten – insbesondere, ob und inwieweit die Streifen als Spiegel ihrer zeitgeschichtlicher Realitäten betrachtet werden können. Zuerst wird eine synchrone Analyse des sowjetischen Märchenfilms in seinen Bezügen zur Folklore durchgeführt: Kapitel B sieht als seine Aufgabe die Erarbeitung eines genretypologischen Modells, das im Idealfall auch auf literarische und filmische Autorenmärchen anderer Kulturräume angewendet werden kann. Kapitel C dagegen, der eigentliche Hauptteil, hat einen medien- und kulturraumspezifischen Schwerpunkt: Entsprechend wurde hier ein diachroner Zugang gewählt, und die Märchenfilme werden, zunächst anhand von Fallstudien, dann im Kontext des Gesamtkorpus einerseits in ihrer Spezifik als Filme, andererseits als Teil eines größeren gesellschaftlichen Diskurses betrachtet.

2 Dass die Beeinflussung des Märchenfilms durch seine Entstehungswirklichkeit nicht isoliert von Einflüssen durch Folkloretraditionen existiert, sondern diese sich gegenseitig durchdringen, versteht sich jedoch fast von selbst, so dass hier immer wieder Bezüge hergestellt werden. Als zweiter wichtiger Bezugspunkt dient der Sozialistische Realismus, denn dieser stellte in der Sowjetunion offiziell bis zu ihrem Ende die verbindliche Richtlinie für sämtliche Künste dar – welche Position Märchenfilme zu verschiedenen Zeiten ihm gegenüber einnehmen kann entsprechend auch in gewisser Weise Aufschluss darüber geben, in welchem Verhältnis diese zur sowjetischen Kulturpolitik stehen. Nach den abschließenden zusammenfassenden Betrachtungen und dem Ausblick findet sich im Anhang eine umfangreiche kommentierte Filmographie, die nicht nur eine Materialdokumentation darstellt, sondern gewissermaßen auch als ein weiterer Hauptteil gesehen werden kann: Sie versteht sich als Nachschlagewerk, das den Zugriff auf den größten Teil der in der Sowjetunion entstandenen Märchenlangspielfilme bis zum Jahre 1989 ermöglicht. Kurz sei der Leser zur Orientierung noch auf folgende technische Details hingewiesen: Die Umschrift russischer Eigennamen und Wörter erfolgt grundsätzlich nach den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration. Werktitel erscheinen im Text kursiv, in der Regel mit Angabe des deutschen Titels sowie dem Erscheinungsjahr in Klammern – sollte es keinen offiziellen deutschen Titel geben, wird in eckigen Klammern eine annähernd wörtliche Übersetzung angegeben. Wird ein Titel auf engerem Raum häufiger gebraucht, so finden sich die ausführlichen Angaben nur bei der ersten Erwähnung. Satzabschnitte, ganze Sätze und längere Textstellen in russischer Sprache werden jeweils mit dem kyrillischen Alphabet wiedergegeben. Übersetzungen sind mit Kursiv und eckigen Klammern markiert, sie stammen allesamt von mir.

3 A. THEORETISCHE UND PRAKTISCHE VORARBEITEN Bevor eine Untersuchung des sowjetischen Märchenfilms erfolgen kann, muss zunächst klargestellt werden, wie der Begriff Märchenfilm im gegebenen Rahmen verstanden wird. Dies ist insofern unabdingbar, als dass, wie in einem solchen Fall zu erwarten, eine eindeutige und bindende Definition von der Wissenschaft bisher noch nicht festgelegt wurde. Allgemeiner Konsens scheint lediglich darin zu bestehen, dass es sich um ein Hybrid- oder Mischgenre handelt, das mit Elementen verschiedener Genres arbeiten kann und sich insbesondere im Spannungsfeld zwischen dem Fantasyfilm und dem Kinder- und Jugendfilm, und dabei wiederum vor allem dem phantastischen Kinder- und Jugendfilm, befindet. Das Hauptkriterium für die Klassifizierung eines Filmes als Märchenfilm ist jedenfalls immer die (unterschiedlich definierte) Verwandtschaft mit der Literatur- und Folkloregattung2 Märchen. Folgerichtig soll zunächst dargestellt werden, welche Merkmale die wortsprachliche Form Märchen beinhaltet, um sich davon ausgehend dem Versuch einer Definition des ,Märchenfilms’ anzunähern.

I. Allgemeines zum Märchen Wenn man vom ungenauen und rein metaphorischen Gebrauch absieht, in dem die Worte ,Märchen’ und ,märchenhaft’ oft recht willkürlich gebraucht werden, so enthält der Begriff Märchen nach populärem Verständnis zwei Subkategorien: Das ,Volksmärchen’ und das ,Kunstmärchen’. Das Volksmärchen wurde im Volk und vom Volk mündlich tradiert3, das Kunstmärchen hingegen von einem bestimmten Autor erdacht und in einer festen Form schriftlich fixiert: Kunst ist hier nicht im Sinne von ,künstlerisch’, sondern im Sinne von ,künstlich’ gemeint, weist also auf das ,Gemachtsein’ (im Gegensatz zum angeblichen ,Gewachsensein’ des Volksmärchens) hin. Der im Russischen gebräuchliche Begriff literaturnaja skazka (,literarisches Märchen’) dagegen verweist auf die Zugehörigkeit zur Literatur in Opposition zur Folklore, der die narodnaja skazka (,Volksmärchen’) angehört.

2 Wenn man Gattung als Überkategorie von Genre begreift, kann das Märchen grundsätzlich sowohl als Gattung (z.B. mit den Genres Zaubermärchen, Tiermärchen usw., oder aber Volksmärchen und Kunstmärchen, und den verwandten Gattungen Sage, Legende usw.) als auch als Genre (z.B. der Gattung Volksprosaerzählung, mit den verwandten Genres Sage, Legende usw.) gesehen werden. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit muss eine Feinabstimmung dieser Begrifflichkeiten jedoch nicht unbedingt vorgenommen werden, sie können weitgehend synonym gebraucht werden – da aber Märchenfilme untersucht werden und in Bezug auf das Medium Film der Begriff Genre gebräuchlicher ist, wird diesem in der Regel der Vorzug gegeben. 3 Über seine Genese existieren, da die Quellenlage auf Grund der Mündlichkeit keine eindeutigen Hinweise hergibt, verschiedene Theorien, die einander oftmals widersprechen, siehe hierzu Lüthi 2004, S. 63-82, und Propp 2005, S. 111-184, wo von den Autoren jeweils ein Abriss über die Forschungsgeschichte gegeben wird, bei letzterem mit besonderem Schwerpunkt auf Russland und der Sowjetunion bis ca. 1970.

4 Dabei kann eine wechselseitige Beeinflussung vorliegen: Nicht nur arbeitet das Kunstmärchen mit Elementen des Volksmärchens, Kunstmärchen sind auch immer wieder auf Umwegen ,ins Volk’ geraten und (teilweise wieder) zu Volksmärchen umfunktioniert worden – durchaus mit Anpassungen auf der Ebene von Stilistik, narrativer Struktur usw.4 Von der Problematik dieser beiden Kategorien soll vorerst noch nicht die Rede sein – festzuhalten ist zunächst, dass das Volksmärchen in der Regel als die ursprünglichere Form gilt.

I.1. Das Volksmärchen: Erkenntnisse der Märchenforschung Beim Volksmärchen handelt es sich um einen bestimmten Typ der Folkloreerzählung, der Volksprosa, die sich wiederum von anderen Bereichen der Folklore, wie dem Lied oder dem Brauch, abhebt: Es handelt sich um Erzählungen, denen keine schriftlichen Quellen zugrundeliegen, sondern die lange Zeit ,im Volk’ mündlich weitergegeben wurden. Sie kennen ein bestimmtes Arsenal von Figuren und Requisiten (so z.B. König und Prinzessin, Stiefmutter, Bauernbursche, Hexe)5, darüber hinaus ist das Auftreten von Elementen des Übernatürlichen – in Form von Zauberei, jenseitigen Wesen etc. – charakteristisch (wenn auch keineswegs zwingende Voraussetzung). Dies aber trifft genauso auf andere Volksprosagenres zu, insbesondere auf die Sage, die Legende und den Mythos; von diesen unterscheidet das Märchen sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Es ist eine tendenzlose, unterhaltende Erzählung, die keinerlei Glaubwürdigkeit beansprucht, ein Produkt der Phantasie, das sich nie selbst als Tatsachenbericht präsentierte und nie von seinen Zuhörern geglaubt wurde.6 Die anderen Volksprosagenres dagegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie – zumindest in ihrer ursprünglichen Form und zumindest teilweise – geglaubt werden oder wurden bzw. diesen Anspruch vertraten: Die Legende steht der Kirchenlehre nahe, sie berichtet von Heiligen und von wunderbaren Begegnungen mit dem Göttlichen, hat also

4 Vgl. z.B. Lüthi 1974, S. 47-48, 95, 100-102; Propp 2005, S. 11-12, 22. 5 Siehe hierzu Lüthi 2004, S. 27-29. 6 Vgl. dazu insbesondere Pomeranceva 1963, S. 4-8 („Характерный признак сказки — в ее вымысле, в том, что она подается сказочником и воспринимается его слушателями прежде всего как поэтический вымысел, как игра фантазия“ [„Das charakteristische Merkmal des Märchens liegt in seiner Erdachtheit, darin, dass es sowohl vom Märchenerzähler in seiner Wiedergabe als auch von seinen Zuhörern in ihrer Wahrnehmung in erster Linie als poetische Dichtung, als Spiel der Phantasie begriffen wird.”]) und Propp 2005, S. 24-26 („Вся область народной прозы может быть разделена на два больших раздела: рассказы, в которые не верят, — сюда относятся все виды сказки — и рассказы, в действительность которых верят или верили. Это все другие жанры народной прозы.“ [„Die gesamte Volksprosa kann in zwei Groß- gruppen eingeteilt werden: Erzählungen, die nicht geglaubt werden – hierzu gehören alle Arten von Märchen – und Erzählungen, an deren Wahrhaftigkeit geglaubt wird oder wurde. Das sind alle anderen Genres der Volksprosa.“] sowie Anikin 1977, S. 8-10; Röhrich 1979, S. 1, 9; Ovčinnikova 2003, S. 35-37; Lüthi 2004, S. 3-4, wo jeweils auf die in der Forschung gebräuchlichen Definitionen in diesem Sinne referiert wird.

5 dogmatischen Charakter und beansprucht dadurch Glaubwürdigkeit.7 Bei der Sage hingegen, Max Lüthi zufolge genetisch vermutlich „Dichtung und Wissenschaft in einem, oder vielmehr ein komplexes, vordichterisch-vorwissenschaftliches Gebilde“8, wird zumindest immer ein wahrer Kern angenommen, eine gewisse Wahrscheinlichkeit, auch wenn diese sich mit Unglauben paaren kann – „und wo die Menschen schließlich die Sage nicht mehr glauben, nehmen sie doch noch immer Stellung zu deren Wirklichkeit und einstigen Glaubwürdigkeit.“9 Glaubwürdigkeit beansprucht auch der Mythos, ein Genre, das heute schwer zu fassen ist und das manche Forscher als den direkten Vorläufer des Märchens ansehen. Die Auffassung, dass Märchen umgewandelte Mythen sind, vertraten erstmals die Brüder Grimm.10 Die alte Streitfrage, ob dies zutrifft oder nicht, kann hier nicht beantwortet werden – sie ist für die vorliegende Untersuchung auch nicht unbedingt relevant. Festzuhalten ist, dass das Märchen, wo immer seine Wurzeln liegen mögen, in seiner Form als M ä r c h e n nicht geglaubt wird, was es auch vom Mythos abgrenzt.11 Daneben existieren noch eine Reihe weiterer Genres der Volksprosa, wie die Klatschgeschichte oder die Anekdote12, die sich jedoch in der Regel so sehr vom Märchen und den ihm verwandten Genres unterscheiden, dass von vornherein keinerlei Verwechslungsgefahr besteht. In seiner minimalistischen Definition handelt es sich beim Volksmärchen also um eine mündlich tradierte Erzählung13, die keinen Glaubwürdigkeitsanspruch hat. Das Merkmal der

7 Vgl. Lüthi 2004, S. 9-10; Lüthi 1974, S. 78; Anikin 1977, S. 199-200; Propp 2005, S. 35-38. 8 Lüthi 1974, S. 90, vgl. auch S. 97; siehe auch Anikin 1977, S. 198-199; Pomeranceva 1963, S. 4, und Propp 2005, S. 32-35, 39-40, 41-43. Vgl. auch die in der Enzyklopädie des Märchens (EM) zusammengefassten Erkenntnisse (Röhrich/Uther/Brednich: EM 11, s.v. „Sage“, S. 1017-1049). Die russischen Bezeichnungen byľ, byvaľščina, bylička, predanie, skazanie, skaz sind Begriffe, die teils ganz verschieden gebraucht werden, jedoch alle als Spielarten der Sage gelten können (vgl. Propp 2005, S. 43: „[Н]емецкое слово Sage применимо ко всем установленным здесь жанрам“ [„Das deutsche Wort Sage ist auf alle hier konstatierten Genres anwendbar“]). Propp bezeichnet mit den ersten dreien ,mythische Sagen’, in denen das Übernatürliche eine prominente Rolle spielt, unter den nächsten beiden versteht er ,historische Sagen’, die an historische Orte und Persönlichkeiten gebunden sind, während der Begriff skaz am ehesten dem der ,modernen Sage’ entspricht (mit dem er jedoch nicht komplett deckungsgleich ist). 9 Röhrich 1979, S. 10. Vgl. auch Lüthi 2004, S. 8: „Eine Sage bleibt eine Sage, auch wenn sie nicht mehr geglaubt wird.“ Die Sage als Folkloregenre ist jedoch, im Gegensatz zum Märchen, heutzutage auch keineswegs ausgestorben (vgl. Lüthi 1974, S. 90: „Die Sage als primitives Gebilde kann noch heute jeden Tag im Volk entstehen.“). Man spricht auch von Modernen Sagen bzw. Urban Legends, die mittlerweile auch über das Internet verbreitet werden, vgl. hierzu den Abschnitt „Rezente Erscheinungsformen“ von Brednich im EM-Artikel „Sage“ (EM 11, s.v. „Sage“, S. 1041-1046). 10 Vgl. den Abschnitt „Mythos und Märchen“ unter dem Stichwort „Mythos“ in der EM (Burkhart: EM 9, s.v. „Mythos“, S. 1097-1099); daneben auch Lüthi 2004, S. 63-65; Propp 2005, S. 115-116. 11 Vgl. hierzu Propp 2005, S. 26-32. 12 Vgl. Lüthi 1974, S. 77. 13 Vor allem sowjetische Wissenschaftler haben die mündliche Tradierung des Märchens und die damit einhergehenden Veränderungen im Sinne dessen, was das ,Volk’ als wichtig erachtet, betont, da es dadurch

6 Unglaubwürdigkeit als einziger Parameter ist jedoch nach Meinung zahlreicher Wissenschaftler14 unscharf und nicht ausreichend, wenn man sich mit dem Wesen des Volksmärchens auseinandersetzen will – damit werden keine Aussagen getroffen, was es in seiner Form ausmacht, was seine besonderen Charakteristika sind etc. Hinzu kommt, dass die Volksprosa als mündliche Erzählform heute zumindest weitgehend ausgestorben ist und die Texte vorrangig in schriftlicher Form vorliegen, in der sie irgendwann einmal festgehalten wurden. Ein unkundiger Leser jedoch, insbesondere ein ,moderner Leser’, hat keinen wirklichen Anhaltspunkt, ob der Text, der vor ihm liegt, einmal geglaubt wurde oder nicht: „Glauben und Nichtglauben kann Entstehen und Leben einer Gattung bestimmen, ihre Wesensmerkmale aber müssen von der Erzählung selbst abgelesen werden.“15 Folgerichtig hat die Märchenforschung besondere Methoden entwickelt, sich dem Volksmärchen auf andere Weise anzunähern. Vertreter verschiedener Richtungen haben hierfür Verdienstvolles geleistet.

Zunächst wären hier die Namen Antti Aarne und Stith Thompson zu nennen. Aarne gilt als Mitbegründer der Finnischen Schule der Erzählforschung, deren Zugang zum Märchen auf der geographisch-historischen Methode beruht, die darin besteht, sämtliche Varianten von konkreten Märchensujets, den sogenannten Erzähltypen, zu sammeln und miteinander zu vergleichen, um daraus dann mögliche Rückschlüsse über dessen Entstehung zu ziehen.16 Auf diesem Wege hat er ein Verzeichnis der Märchentypen (1910) geschaffen, das dann wiederum von Thompson zweimal (1928, 1961) erweitert und unter dem Titel The Types of the Folktale veröffentlicht wurde – hierfür hat sich die Kurzbezeichnung Aarne-Thompson-Index (AaTh) durchgesetzt.17 Es handelt sich dabei um einen Katalog, der sämtliche bekannten narrativen Muster beschreibt, die in Märchentexten weltweit auftauchen, sie thematisch gruppiert18 und durchnummeriert, um schließlich nach jeder Nummer jeweils zahlreiche Verweise auf

zum ,Kollektivgut’ wird, vgl. Anikin 1977, S. 16-27, auch Pomeranceva 1963, S. 8-12. 14 So z.B. Anikin 1977, S. 10-11; Lüthi 2004, S. 10; Röhrich 1979, S. 5, 10-11. Es ist auch in Zweifel gezogen worden, ob die Erzählform Märchen schon von Beginn an keinerlei Glaubwürdigkeitsanspruch hatten, so von Anikin (1977, S. 10), Röhrich (1979, S. 199). Für Propp dagegen (2005, S. 24-25), der Anikins Ansicht heftig kritisiert, ergibt sich die Unglaubwürdigkeit aus der Poetik heraus und ist herausragendes Märchenmerkmal. 15 Lüthi 2004, S. 10. 16 Vgl. Lüthi 1974, S. 112. 17 Genauere bibliographische Angaben zum AaTh im Literaturverzeichnis. 18 Im Einzelnen sind die Hauptgruppen Animal Tales (Tiermärchen), Ordinary Folk-Tales (eigentliche Märchen), Jokes and Anekdotes (Schwänke), Formula Tales und Unclassified Tales. Diese Gruppen sind wiederum unterteilt in Untergruppen, so im Falle der eigentlichen Märchen bzw. Ordinary Folk-Tales: Tales Of Magic (Zaubermärchen), Religious Tales (Legendenartige Märchen), Novelle/Romantic Tales (Novellenartige Märchen), Tales of the Stupid Ogre (Märchen vom dummen Teufel/Riesen). Manche der Untergruppen werden dann noch weiter unterteilt.

7 entsprechende Typen in internationalen Märchensammlungen zu geben. Mittlerweile gilt der AaTh als nahezu unverzichtbares Hilfsmittel für jeden Forscher, der sich mit Märchen beschäftigen will – „das Werk […] darf als der Linné der Märchenforschung bezeichnet werden“19. Der Anspruch auf absolute Vollständigkeit, was die Erzähltypen betrifft, kann allein auf Grund der praktisch unüberschaubaren Menge von Märchen weltweit verständlicherweise nicht erhoben werden. Nichtsdestotrotz ist die Zuordnung eines Textes zu einem Erzähltyp für die Zugehörigkeit zur Gattung Märchen sowie für dessen nähere Klassifizierung von großer Bedeutung, da dadurch erkennbar ist, dass er in einer spezifischen Tradition steht. Weiterhin wurden durch den AaTh Forschungsansätze zweierlei Ausrichtung inspiriert: Einerseits gibt es Studien, bei denen Forscher einen bestimmten Märchentyp ausgewählt haben, zu dem sie dann sämtliche internationale Varianten aufzutreiben suchen, um sie dann miteinander zu vergleichen20, andererseits wurden nationale Märchenverzeichnisse geschaffen, in denen der nationale Märchenschatz, meist, aber nicht immer nach dem Modell des AaTh, gruppiert und entsprechend beschrieben wurde21. Für das ostslavische Märchen etwa wurde ein solches Verzeichnis 1929 von Nikolaj Andreev erstellt (Aarne-Andreev, abgekürzt AA), seit 1979 existiert eine darauf basierende ergänzte und erweiterte Version, der Sravniteľnyj ukazateľ sjužetov (abgekürzt SUS)22. Eine umfangreiche Revision erfuhr der AaTh 2004 durch Hansjörg Uther und Mitarbeiter: Insbesondere wurden die Erzähltypenbeschreibungen neu verfasst, Benennungen teilweise geändert, in Einzelfällen auch die Nummerierungen, gelegentlich wurden Erzähltypen mit Subtypen zusammengefasst und seltenere Typen exkludiert, neue Erzähltypen hinzugefügt – die Grundstruktur wurde jedoch ohne große Veränderungen beibehalten. Für diese Redaktion hat sich der Kurztitel ATU23 eingebürgert.

Die Methode des AaTh und der vergleichenden Erzählforschung, sich auf der stofflichen Ebene dem Märchen anzunähern, ist durchaus auch kritisiert worden.24 So erkennt der russische Folklorist Vladimir Propp zwar den praktischen Nutzen einer solchen

19 Lüthi 2004, S. 16. Dagegen Propp (1928, S. 20): „Наша наука находится еще в до-линнеевском периоде“ [„Unsere Wissenschaft befindet sich noch in der vorlinnéschen Periode“]. 20 Vgl. hierzu Lüthi 1974, S. 113, wo einige Beispiele genannt werden. 21 Vgl. Lüthi 2004, S. 20-23. 22 Zu beiden genauere bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis. 23 Auch hierzu genauere Angaben im Literaturverzeichnis. 24 Im Vorwort zum ATU (Bd. 1, S. 7-15) geht Uther auf einige der Hauptkritikpunkte ein und weist daraufhin, dass in der neuen Redaktion versucht wurde, Verbesserungen in dieser Hinsicht einzuarbeiten.

8 Herangehensweise für die Märchenforschung an25, ist jedoch der Meinung, dass das Wesen des Märchens durchaus nicht in seinem Inhalt, seinem Stoff, sondern vielmehr in seiner Form, in seiner Struktur zu suchen ist.26 Er nennt seine Herangehensweise, nach dem biologischen Terminus, morphologisch27, und seine richtungsweisende Monographie von 1928 trägt entsprechend den Titel Morfologija skazki (Morphologie des Märchens). Er hat ein Modell erarbeitet, das sich auf die sogenannten Zaubermärchen beschränkt, deutet jedoch an, dass er das Grundprinzip des methodischen Zugangs auch für die Erforschung des Märchens als Ganzes geeignet hält.28 Propps wichtigste These ist, dass sich sämtliche Märchentypen auf ein und dieselbe Grundstruktur, also dasselbe narrative Schema zurückführen lassen – der Inhalt kann zwar variieren, doch die Form bleibt dieselbe. Zur Untermalung bringt er folgendes Beispiel: Der Märchenheld erhält etwas, das ihm hilft, an einen anderen Ort zu kommen. Ob dies ein Adler ist, den ihm der Zar gibt, ein Pferd, das er von einem alten Mann bekommt, ein Boot, das ein Zauberer ihm übereignet, oder ob die Zarentochter ihm einen Ring schenkt, mit dem er magische Helfer herbeirufen kann, ist im Prinzip unerheblich – die Handlung an sich ist dieselbe. Also: Wer in einem solchen Fall als Helfer auftritt, womit er hilft, wie und warum, kann von Märchen zu Märchen variieren, doch die Struktur bleibt davon unberührt, die Strukturbausteine bleiben konstant und unveränderlich und stellen damit die Grundpfeiler des Märchens dar.29 Jedoch ist vom morphologischen Standpunkt aus für die Festlegung eines solchen

25 Die von Aarne vorgenommene Klassifizierung erscheint ihm jedoch zu willkürlich, da einerseits die Erzähltypen oftmals mehr als einer Obergruppe zugeordnet werden können, andererseits auch die Erzähltypen selbst oft nicht scharf voneinander abgrenzbar sind, vgl. Propp 1928, S. 16-20, sowie Propp 2005, S. 50-52, 109-110, 186, 213. Systemlosigkeit wirft den Erzähltypenverzeichnissen auch Pomeranceva (1963, S. 21-24) vor, die sich aber letztlich doch weitestgehend daran orientiert; auch Anikin (1977, S. 151) übt Kritik – er versucht im Folgenden, einzelne Märchensujets und -motive historisch-poetologisch zu deuten, macht jedoch keine das Märchen als Ganzes betreffenden Gegenvorschläge und bleibt ebenfalls bei der entsprechenden Einteilung. 26 Vgl. Propp 1928, S. 13-15, 18-21. 27 Vgl. ebd., S. 5. 28 Vgl. ebd., S. 5-6: „[Р]ассмотрение форм сказки возможно с такой же точностью, как возможна морфология органических образований. Если этого нельзя утверждать о сказке в целом, во всем ее объеме, то во всяком случае это можно утверждать о так. наз. «волшебных» сказках.“ [„Die Betrachtung der Formen des Märchens ist mit ebensolcher Exaktheit möglich wie eine Morphologie organischer Gebilde möglich ist. Wenn dies nicht für das Märchen als Ganzes behauptet werden kann, in all seiner Breite, so gilt dies zumindest für die sogenannten ,Zaubermärchen’.“] In seiner letzten, 1984 erstmals posthum veröffentlichten Monographie (Propp 2005) fasst Propp die Erkenntnisse aus seinen früheren Arbeiten nochmals zusammen und äußert sich zu seiner morphologischen Methode folgendermaßen (S. 101): „Если бы с этой точки зрения были изучены и другие виды сказки, мы имели бы возможность дать и точное определение, и научно оправданную классификацию сказок.“ [„Wenn von diesem Standpunkt aus auch alle anderen Märchengattungen untersucht würden, dann hätten wir die Möglichkeit, sowohl eine genaue Definition als auch eine wissenschaftlich erprüfte Klassifizierung des Märchens zu geben.“] 29 Vgl. Propp 1928, S. 28-31, 74; Propp 2005, S. 185-189.

9 Strukturbausteins nicht ausschließlich die Handlung als solche relevant, sondern auch, welche Rolle sie im Rahmen der Gesamterzählung spielt: So sind etwa die Heirat des Helden mit der Prinzessin und die Heirat des Vaters mit der Stiefmutter keineswegs als Äquivalente zu sehen, da sie ganz unterschiedliche Folgen haben. Die Strukturbausteine können daher entsprechend ihrer Funktion festgelegt werden, weshalb der Autor folgerichtig auch die Bezeichnung Funktion (funkcija) für einen Strukturbaustein wählt. Jedes Märchen ist als eine bestimmte Anordnung dieser Funktionen angelegt, auch wenn nicht in jedem Märchen jede einzelne Funktion realisiert werden muss – jedoch schließt keine Funktion eine andere aus, alle sind prinzipiell realisierbar.30 Dabei geht Propp von einem Maximum von 31 möglichen Funktionen aus, die er ausführlich beschreibt und wofür er beispielhafte Materialbelege als mögliche Spielarten anführt.31 Einige Funktionen bedingen einander und treten deshalb in der Regel paarweise auf, so z.B. das dem Helden auferlegte Verbot (zapret) und dessen Übertretung (narušenie), der Kampf (bor’ba) und der Sieg (pobeda), die Schädigung (vrediteľstvo) oder Mangelsituation (nedostača) und deren Auflösung; andere Funktionen bilden Ketten.32 Schädigung bzw. Mangelsituation stellen die einzige immer und zwangsweise realisierte und damit wichtigste Funktion dar. Eine Schädigung liegt etwa dann vor, wenn eine Prinzessin oder Zarentochter geraubt wird, eine Mangelsituation hingegen, wenn dem Helden eine Frau fehlt und er sich auf die Suche macht – beides sind Funktionsäquivalente: Dadurch wird die Handlung des Märchens in Gang gebracht, der Held verlässt sein Zuhause, und im weiteren Handlungsverlauf wird auf die Beseitigung der Schädigung bzw. die Behebung des Mangels hingearbeitet.33 Es gibt einsträngige Märchen, die die Handlung danach zu Ende führen, aber auch mehrsträngige Märchen, bei denen danach eine erneute Schädigung auftritt, die beseitigt werden muss, z.B. durch einen ,falschen Helden’, der den Erfolg des Helden als seinen eigenen ausgibt – hierdurch beginnt die Funktionsabfolge wieder von vorne, wird jedoch auf eine andere Weise zu Ende geführt. Propp spricht hier von Funktionsreihen bzw. Zügen (rjady funkcij, chody).34 Die im Märchen auftretenden Personen sind zwar als solche austauschbar, doch können sie anhand ihrer Rolle, die sie im Kontext der Funktionen spielen, kategorisiert

30 Vgl. Propp 1928, S. 30-33; Propp 2005, S. 189. 31 Vgl. Propp 1928, S. 35-72; Propp 2005, S. 188-189. 32 Vgl. Propp 1928, S. 73. 33 Vgl. Propp 1928, S. 40-46; Propp 2005, S. 192-194. 34 Vgl. Propp 1928, S. 66-68; Propp 2005, S. 210.

10 werden – eine Funktion ist ja immer an eine handelnde Person geknüpft, die sie ausführt. Teilweise können solche Rollen mehrfach besetzt sein, teilweise kann eine handelnde Person mehrere Rollen innehaben. Dementsprechend entwickelte Propp neben dem eigentlichen Funktionen- auch noch ein damit verbundenes Modell, das maximal sieben mit den Funktionen verknüpfte funktionelle Handlungskreise kennt, die von den entsprechenden Aktanten ausgeführt werden: Dem Helden (geroj), der gesuchten Person (iskomyj personaž), dem Schädiger (vrediteľ), dem Sender (otpraviteľ), dem Schenker (dariteľ), dem Helfer (pomoščnik), dem falschem Helden (ložnyj geroj).35 Diese Aktanten können in unterschiedlichen Varianten auftreten – so unterscheidet Propp etwa den aktiven und den passiven Helden (geroj-iskateľ und postradavšij geroj oder geroj-žertva)36, Schenker können positive, aber auch negative Figuren sein, denen dann z.B. magische Hilfsmittel geraubt werden37, und anstatt Personen können auch Gegenstände eine Funktion erfüllen38. Propps Studie ist zu einem internationalen Standardwerk für verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen geworden, und sein Modell hat sich nicht nur für die Märchenanalyse als besonders wertvoll erwiesen, sondern darüber hinaus Forderungen und Versuche nach sich gezogen, auch andere Textsorten, von Hochliteratur über den Comic bis hin zum Spielfilm, auf ihre Struktur hin zu untersuchen.39

Max Lüthi erkennt den Beitrag Propps zur Märchenforschung in seiner Bedeutung grundsätzlich durchaus an, bringt als Hauptkritikpunkt gegen dessen Ausführungen jedoch vor, dass die Definition des Märchens als einer Erzählung, die von der Beseitigung einer Schädigung oder der Behebung eines Mangels berichtet, zu weit sei, da damit auch zahlreiche andere Erzählungen und sogar außerliterarische Vorgänge erfasst werden könnten.40 Wie Propp ist er jedoch der Meinung, dass „[d]as Geheimnis des Märchens nicht in den Motiven [ruht], die es verwendet, sondern in der Art, wie es sie verwendet.“41 Der Schweizer Philologe, dessen Arbeiten die literaturwissenschaftlich und volkskundlich geprägte Märchenforschung maßgeblich beeinflusst haben42, hat eine Annäherung an das Wesen des 35 Vgl. Propp 1928, S. 88-92. 36 Vgl. Propp 1928, S. 46; Propp 2005, S. 195. 37 Vgl. Propp 1928, S. 56; Propp 2005, S.195-197. 38 Vgl. Propp 1928, S. 91-92; Propp 2005, S. 208. 39 Vgl. Lüthi 1974, S. 121-122, zur Bedeutung von Propps Erkenntnissen siehe auch Bausinger: EM 9, s.v. „Märchen“, S. 258-259. 40 Vgl. Lüthi 1974, S. 118-119. 41 Ebd., S. 6 . 42 Die Arbeiten des Autors sind insbesondere im deutschsprachigen Raum auf eine enorme Resonanz gestoßen; vor allem seine Monographien Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen (Lüthi 1974, Erstveröffentlichung 1947) und Märchen (Lüthi 2004, Erstveröffentlichung 1962) gelten als Standardwerke

11 Märchens über dessen Stil, dessen literarische Gestalt versucht. Er hat verschiedene Merkmale herausgearbeitet, die für den Stil des Märchens charakteristisch sind und zu dessen Erfassung beitragen.43 Als erstes Merkmal nennt er die Eindimensionalität: Im Märchen treten übernatürliche und ,unrealistische’, ,unwirkliche’ Erscheinungen zuhauf auf. Das Übernatürliche wird jedoch mit einer regelrechten Selbstverständlichkeit zur Kenntnis genommen, ohne jegliches Hinterfragen. Gefühle wie Furcht, Grauen usw. können zwar auftauchen, aber sie beziehen sich nicht auf das Übernatürliche per se: Der Held im Drachentötermärchen z.B. fürchtet den Drachen, auch wenn dies seine erste Begegnung mit dem Übernatürlichen ist, nicht deshalb, weil er ein Drache, also ein unglaubliches und nie gesehenes numinoses Jenseitswesen ist, sondern deshalb, weil er ein starker Gegner ist, der ihn töten könnte. Jenseitige und Diesseitige interagieren also ohne gegenseitige Scheu, sie bewegen sich in ein und derselben Dimension, auf einer Ebene.44 Die weiteren von Lüthi vorgeschlagenen Kategorien hängen eng miteinander zusammen und überschneiden sich teilweise – es sind im Einzelnen:  Flächenhaftigkeit: Handlungen wirken mechanistisch und nicht tiefer begründet, und wir erfahren von der Innenwelt der handelnden Personen nichts Explizites, auf jede Form von Psychologisierung wird verzichtet – Gefühle und Befindlichkeiten werden nicht konkretisiert, über sie geben lediglich Handlungen und äußere Eigenschaften Aufschluss. Körperliche Ereignisse, wie etwa Verletzungen, ebenso wie zeitliche Prozesse, insbesondere der des Alterns, gehen an den Protagonisten des Märchens spurlos vorüber – dadurch bleiben sie bloße Figuren und agieren losgelöst von Um-, Vor-, Nachwelt und auch von der Zeit an sich45;  abstrakter Stil, d.h. eine Vorliebe für bloße Benennung statt beschreibender Schilderung oder Individualisierung, auch in Hinblick auf Raum, Zeit und Milieu. Dadurch, dass das Märchen nur das benennt, was für die Handlung wichtig ist, ergibt sich für diese eine klare Linearität. Sie ist einsträngig und besteht aus aneinander gereihten Episoden ohne wirklichen Bezug zueinander, deren Einzelelemente aber

und liegen in 11. bzw. 10. Auflage vor: Erstere wurde, von einem seit 1974 abgedruckten Anhangkapitel zu Propp abgesehen, stets weitgehend unverändert neu aufgelegt, Zweitere dagegen von Auflage zu Auflage aktualisiert. Auch international wurden Lüthis Arbeiten zur Kenntnis genommen, vgl. z.B. Goscilo 2005/b, S. 6-7, sowie die Bibliographie bei Vax 1974, S. 42. 43 Propp (2005, S. 215-219) betrachtet den Stil des Märchens ebenfalls als wichtig für dessen Erforschung und stellt eigene Überlegungen dazu an, mit den Arbeiten Lüthis scheint er nicht vertraut gewesen zu sein. 44 Vgl. Lüthi 1974, S. 8-12; Lüthi 2004, S. 7. 45 Vgl. Lüthi 1974, S. 13-24.

12 jeweils genau aufeinanderpassen. Für die Abstraktheit des Stils sind weiterhin kennzeichnend Wiederholungen und feste Formeln (Anfangs- und Schlussformeln, Rundzahlen, insbesondere Dreizahl) sowie krasse und einander kontrastierende Extreme, deren vollste Form das Märchenwunder darstellt46;  Isolation und damit gleichzeitige Allverbundenheit aller Elemente: Insbesondere die Figuren sind allein und mit nichts und niemandem in engem dauerhaftem Kontakt verbunden, gerade dadurch aber in der Lage, mit allem und jedem, ob Helden oder Unhelden, Jenseitige oder Diesseitige, Helfer oder Schädiger, Kontakt aufzunehmen, wann es nötig ist, um anschließend wieder in die Isolation zu treten – manche verschwinden quasi im Nichts, während für andere in den darauffolgenden Ereignissen wieder exakt dieselben Voraussetzungen gelten, als sei nichts geschehen, wobei dies nur für den Helden von besonderer Relevanz ist47;  Sublimation und Welthaltigkeit – hiermit ist gemeint, dass im Märchen sämtliche Motive ,entleert’ sind: Welchen Ursprungs sie auch sein mögen (Mythos, Ritus, profaner Alltag...), im Märchen haben sie rein formelhafte, ornamentale Funktion; jedoch ist „[d]ie Entleerung […] zugleich Sublimierung. Alle Elemente […] fügen sich zu einem mühelosen Zusammenspiel, in dem alle wichtigen Motive menschlicher Existenz erklingen.“48 Für das Märchen ergibt sich hierdurch eine besondere Themenvielfalt, in ihm ist alles möglich, und so kann es bezeichnet werden als „welthaltige Dichtung im eigentlichen Sinne des Wortes.Es ist nicht nur i m s t a n d e [Hervorhebung Lüthi], jedes beliebige Element sublimierend in sich aufzunehmen, sondern es spiegelt wirklich alle wesentlichen Elemente des menschlichen Seins.“49 Lüthi geht also davon aus, dass sich das Märchen nicht durch seine Motivik definiert, sondern durch die Gestaltung dieser Motive, durch seinen Stil. Bestimmte Motive tauchen im Märchen zwar immer wieder auf – machen das Märchen aber nicht zum Märchen: Vielmehr können an ihre Stelle prinzipiell auch beliebige andere Motive treten.50 Jedoch, so räumt der Autor später

46 Vgl. ebd., S. 25-34, 48-51, 84. Zur Bedeutung von der Unbestimmtheit von Raum und Zeit sowie des formelhaft-abstrakten, handlungsgerichteten Stils für das Wesen des Märchens äußert sich auch Propp mehrfach (Propp 2005, S. 189-191, 195, 200, 202). 47 Lüthi 1974, S. 37-62. 48 Ebd., S. 69. 49 Ebd., S. 72. Anikin macht, die stilistischen Besonderheiten des Märchens betreffend, teilweise durchaus ähnliche Beobachtungen wie Lüthi, vgl. Anikin 1977, S. 146,161, 164 zur Flächenhaftigkeit und zum abstrakt-formelhaften Stil, S. 160-161 zur Isolation und Allverbundenheit, 165-166 zur Sublimation und Welthaltigkeit (S. 165: „Эпический стиль обязывает сказочника полно и цельно отобразить действительность.“ [„Der epische Stil verpflichtet den Märchenerzähler, umfassend und ganzheitlich die Wirklichkeit abzubilden.“]). 50 Vgl. Lüthi 1974, S. 69-71, auch S. 6.

13 ein, wäre die Gattung Märchen als Ganzes ohne das Element des Übernatürlichen und Magischen und die davon bestimmten Motive nicht vorstellbar.51

Als wichtigstes der von Lüthi herausgearbeiteten Klassifikationsmerkmale hat sich das erste erwiesen, die Eindimensionalität – darin ist ausgedrückt, dass das Märchen in einer Welt spielt, in der, in den Worten von Lutz Röhrich, „Reales und Transzendentes nebeneinander wohnen; Welt und Überwelt sind gleich berechtigt, und es gibt deshalb auch keine numinose Scheu vor einer jenseitigen Welt“52. Durch die Stellung des Unwirklichen im Märchen ergibt sich jedenfalls die Möglichkeit der textimmanenten Unterscheidung von den wesensverwandten Gattungen der Sage und der Legende, in denen sonst dieselben Figuren und dieselben Motive auftreten können. In der Sage jedoch wird die Begegnung etwa mit dem Übernatürlichen (oder auch nur dem „Überwirklichen“, dem Alltagsfernen) als eine Begegnung mit dem „ganz Anderen“ gesehen, als etwas Unerklärliches, das Angst, Ehrfurcht oder Faszination hervorruft, in jedem Fall höchst ungewöhnlich und keinesfalls selbstverständlich ist.53 In der Legende dagegen ist die ebenfalls als ungewöhnlich empfundene Begegnung mit dem Übernatürlichen immer eine Begegnung mit dem Göttlichen, sie wird mit Gottes Wirken erklärt und erhält so einen Sinn, und dementsprechend hat sie religiöses Staunen zur Folge.54 Was dagegen den Mythos betrifft, der ebenfalls die Selbstverständlichkeit des Übernatürlichen und Unwirklichen kennt, so erscheint mir hier zur Abgrenzung ein Punkt besonders wichtig: Die feste Systematik, die den Mythos mit seinem erklärenden Universalcharakter durchdringt und mit der er sein Weltbild zeichnet55, ist dem Märchen fremd – es „verzichtet konsequent auf jede Systematik“56, alles bleibt unbestimmt, alles ist möglich. Weitere unterscheidende Faktoren (z.B. das den Mythos kennzeichnende Auftreten von Göttern und Halbgöttern)57 müssen an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. Es sollte betont werden, dass das Auftreten von übernatürlichen Elementen nur einen

51 Vgl. ebd., S. 73, 116. 52 Röhrich 1979, S. 23. 53 Vgl. Lüthi 1974, S. 8-12, 78; Lüthi 2004, S. 6-9; Röhrich 1979, S. 23-24 – im entsprechenden Kapitel (S. 9- 27) setzt sich Röhrich ausführlich mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Märchen und Sage auseinander. 54 Vgl. Lüthi 1974, S. 78, 79; Lüthi 2004, S. 9-10; Röhrich 1979, S. 37. 55 Laut dem entsprechenden EM-Artikel wird er definiert als „bildhafte, vorwiss. Sinnerklärung der Wirklichkeit“ (Burkhart: EM 9, s.v. „Mythos“, S. 1093). Auch der Begriff der Mythologie als Überbegriff für eine Vielheit von zusammenhängenden Mythen deutet auf den grundsätzlich systematischen Charakter. 56 Lüthi 1974, S. 85. 57 Vgl. hierzu etwa ebd., S. 104-105; Lüthi 2004, S. 11-12, wo auch verschiedene wissenschaftliche Ansichten mit Literaturhinweisen zusammengefasst sind.

14 (wenn auch großen) Teil der als Volksmärchen klassifizierten Texte kennzeichnet, die besagten Zaubermärchen (AaTh/ATU 300-749), weiterhin die legendenhaften Märchen (AaTh/ATU 750-849), in der der Legende entlehnte christliche Motive und Figuren auftauchen58, und die meisten der Märchen vom dummen Teufel oder Riesen (AaTh/ATU 1000-1199). Weiterhin gibt es die Tiermärchen (AaTh/ATU 1-299)59 – sowohl in der Form als auch im Inhalt sind sie von großer, bisher nicht eingehender untersuchter Vielfalt60; für sie ist das Auftreten von sprechenden und denkenden Tieren, gelegentlich auch Pflanzen und Gegenständen, charakteristisch: Das ist nicht direkt übernatürlich, aber durchaus unwirklich oder ,unrealistisch’. Die im AaTh/ATU unter den Nummern 1200-1999 als Jokes and Anecdotes (in Aarnes Fassung stand die Bezeichnung „Schwänke“) zusammengefassten Erzählungen enthalten zahlreiche sogenannte Schwankmärchen, in denen das ,Märchenwunder’ oftmals spielerisch gehandhabt und ironisch gebrochen wird, indem an seine Stelle Tricks und Betrügereien des Helden treten61 – dadurch zeigt sich jedoch, dass die Möglichkeit eines tatsächlichen Wunders für die handelnden Personen im Bereich des ohne weiteres Vorstellbaren liegt. Zu den novellenartigen Märchen (AaTh/ATU 850-999), die vorwiegend ganz ohne übernatürliche Elemente auskommen, merkt Röhrich an, dass sie in der Grimm’schen Sammlung deshalb nicht besonders auffallen, weil auch die Zaubermärchen das Übernatürliche nicht als etwas Außergewöhnliches kennzeichnen62 – das ist richtig, doch ist dabei zu berücksichtigen, dass auch die Novellenmärchen sich wesentlich von dem unterscheiden, was wir eine realistische Erzählung im weitesten Sinne nennen würden: Die darin geschilderten Ereignisse, ob nun romantischer oder schwankhafter Natur, sind zwar nicht gänzlich jenseits des Vorstellbaren, aber genauso unrealistisch, und in diesem Sinne genauso ,unwirklich’ und alltagsfern wie die der Zaubermärchen.63 Sie sind aber

58 Siehe hierzu Röhrich 1979, S. 40-43 sowie Ecker: EM 8, s.v. „Legendenmärchen“, S. 868-871. 59 Propp (1928, S. 18; 2005, S. 109) empfindet es wohl zurecht als befremdlich, dass der AaTh diese nicht den eigentlichen Märchen zurechnet. 60 Siehe hierzu Propp 2005, S. 336-341, 349-352. 61 Vgl. Lüthi 2004, S. 13; Röhrich 1979, S. 56-59, sowie Uther: EM 12, s.v. „Schwankmärchen“, S. 335-338. Von sowjetisch geprägten Folkloristen werden die Schwankmärchen oftmals zusammen mit den Novellenmärchen (die auch humoristisch gefärbt sein können) unter dem Begriff bytovye skazki (,Alltagsmärchen’) subsumiert, so auch von Anikin (1977, S. 167-191) und Propp (2005, S. 43-45, 271-278). Pomeranceva teilt die bytovye skazki wiederum in avantjurnye skazki (,Abenteuermärchen’, siehe Pomeranceva 1963 S. 87-93) und satiričeskie skazki (,satirische Märchen’, siehe dort S. 94-103). Vgl. dazu auch Shojaei Kawan: EM 10, s.v. „Novellenmärchen“, S. 128. 62 Vgl. Röhrich 1979, S. 2. 63 Lüthi (2004, S. 18) spricht von „wirklichkeitsferner Stilisierung“; siehe auch Propp 2005, S. 23, 271-278, vor allem S. 275: „Бытовая сказка — это необыкновенные, неслыханные истории, истории о совершенно невозможном.“ [„Das Alltagsmärchen – das sind ungewöhnliche, unerhörte Geschichten, Geschichten über das gänzlich Unmögliche“]. Da Propp die entsprechende Gruppe weiter fasst, behandelt er hier nicht nur die

15 nichtsdestoweniger von einer textimmanenten Selbstverständlichkeit des Außergewöhnlichen geprägt – würden übernatürliche Elemente in eine solche Erzählung eingefügt, würden sie sicher nicht störend wirken. Von sowjetischen Forschern wurde immer wieder versucht, dieses Außergewöhnliche und Unwirkliche des Märchens mit einer zugrunde liegenden Idee des Wunschdenkens und damit verknüpfter klassenkämpferischer Sozialkritik in Verbindung zu bringen und sich hierüber dem Wesen des Märchens anzunähern.64 Dabei handelt es sich jedoch oftmals weniger um feststellende Beobachtung als vielmehr um ideologiegeprägte Interpretation. Diese spezielle Form der Märchendeutung hatte auch Auswirkungen auf die Entstehung sowjetischer Kunstmärchen.65 Von entsprechenden Fällen im Bereich des Films wird im Laufe der Arbeit noch die Rede sein.

In seinem Wesen und seinen Eigenheiten hat man das Volksmärchen also durch verschiedene methodische Zugänge – auf stofflich-struktureller, formal-struktureller und stilistischer Ebene – einzugrenzen versucht. Betrachtet man Volksprosaerzählungen verschiedener Ausprägung, so fällt jedoch auf, dass die Idealform Märchen, die sich nach diesen Kriterien schematisch eingrenzen lässt, nicht immer gegeben ist: Lüthi räumt ein, dass ein Volksmärchen auch vom Märchenstil abweichen könne, da man es eben nicht mit einem Schema, sondern mit lebendiger Dichtung zu tun habe, und es außerdem immer Mischformen zwischen Märchen und anderen Gattungen der Volksprosa geben kann.66 Röhrich weist mit besonderem Nachdruck darauf hin, dass Gattungsgrenzen nicht nur generell sehr unscharf sind, sondern sogar Varianten ein und desselben Textes als zu verschiedenen Gattungen zugehörig definiert werden können.67 In der Enzyklopädie des Märchens hat das Stichwort „Gattungsprobleme“

AaTh-Nummern 850-999. In den ,romantischen’ Märchen, die in ihrer Struktur den Zaubermärchen entsprechen, sieht er eine Übergangsform, vgl. S. 281-284. Röhrich selbst (1979, S. 3) weist darauf hin, dass auch vorgeblich realistische Züge des Märchens oft wirklichkeitsfern sind. Vgl. auch Shojaei Kawan: EM 10, s.v. „Novellenmärchen“, S. 126-128. Die Umbenennung des ATU der „Novelle (romantic) tales“ des AaTh in „Realistic tales (novelle)“ scheint mir deshalb etwas ungünstig – mag auch die Bezeichnung „romantic“ nicht wirklich passend sein, so ist es „realistic“ ebensowenig. Die Bezeichnung „novelle“ hat zwar Behelfscharakter, ist aber zumindest am unverfänglichsten. 64 Vgl. z.B. Anikin 1977 passim, insbesondere S. 28-39 (S. 35: „Сказочная фантастика, выраженная в специфических формах, с особой остротой выражает устремления народа, его мечты, желания, надежды. В сказках встретишь и дерзкую мечту об иной, светлой и справедливой жизни, […] и желание, хотя бы в фантазии, с нескрываемым наслаждением наказать барина, попа, купца.“ [„Die märchenhafte Phantastik, die in spezifischen Formen ausgedrückt wird, zeigt mit besonderer Schärfe die Bestrebungen des Volkes, seine Träume, Wünsche, Hoffnungen. In den Märchen begegnet man auch kühnen Träumen über ein anderes, helles und gerechtes Leben, […] und dem Wunsch, wenn auch nur in der Phantasie, mit unverhohlener Genugtuung den Grundherrn, den Popen oder den Kaufmann zu bestrafen.“] 65 Vgl. Ovčinnikova 2003, S. 11, 15-16. 66 Vgl. Lüthi 1974, S. 94-95, 98-99. 67 Vgl. Röhrich 1979, z.B. S. 13, 61-62, 168-181, 241-242.

16 einen eigenen Eintrag68. Die von Aarne und Thompson, Propp und Lüthi entwickelten Zugänge bieten jedoch für die Definition eines Textes als Märchen zumindest gute Orientierungspunkte. Sie schließen einander nicht aus, sondern können als einander ergänzend betrachtet werden.

I.2. Das Kunstmärchen: Versuch einer Definition Die Schwierigkeiten, die die Eingrenzung des Phänomens Märchen als Volksprosagenre mit sich bringt, werden, wenn man mit dem Begriff auch das Kunstmärchen beschreiben will, vervielfacht – von der Grenzziehung zwischen diesen beiden Spielarten, auf deren komplizierte Wechselbeziehung eingangs hingewiesen wurde69, ganz abgesehen. Die stilistischen Kategorien, die Lüthi für das Volkmärchen festgestellt hat, sind ja, wie eben erwähnt, selbst für dieses nicht immer bindend – Lüthi spricht jedoch von einer „Grundform, nach der die Märchenerzählung hinstrebt“70. Auf das Kunstmärchen muss das nicht zutreffen. Ja, viele Kunstmärchen hätten, da sie mit dieser „Grundform“ des Volksmärchens teilweise sehr frei umgehen, teilweise ganz auf deren Stilelemente verzichten, eigentlich keine Berechtigung, sich Märchen zu nennen. Die Eingrenzung des Kunstmärchens sorgt in der Forschung immer wieder für Schwierigkeiten: Фольклористы и литературоведы отмечают, что до сих пор нет однозначного определения и единого мнения даже по поводу того, что считать литературной сказкой: произведение, которое автор сам так называет; произведение, которое удовлетворяет идейно-эстетическим принципам фольклорной сказки; прозаическое или стихотворное произведение, активно использующее элементы фольклорной поэтики (не обязательно сказочной, это может быть и легенда, и былина, и т. д.); любое произведение, в котором счастливый конец и нереальный (с элементами фантастики) сюжет или упоминаются сказочные герои; авторское произведение, для которого возможно точное указание на фольклорно-сказочный источник, или что-то иное.71 [Folkloristen und Literaturwissenschaftler stellen fest, dass bis heute keine eindeutige Definition und einhellige Meinung selbst darüber besteht, was als Kunstmärchen zu gelten hat: Ein Werk, das der Autor selbst so bezeichnet; ein Werk, das den ideell-ästhetischen Prinzipien des Folkloremärchens entspricht; ein Prosa- oder Lyrikwerk, das aktiv Elemente der Folklorepoetik nutzt (nicht unbedingt des Märchens, dies kann sich auch auf eine Legende, eine Byline usw. beziehen); jedes Werk, das ein glückliches Ende und ein irreales (Elemente der Phantastik enthaltendes) Sujet aufweist oder worin Märchenhelden vorkommen; ein Autorenwerk, für das eine konkrete folklore-märchenhafte Quelle belegt werden kann, oder noch etwas anderes.]

68 Honko: EM 5, S. 744-769; vgl. auch im Artikel „Märchen“ (Bausinger: EM 9, S. 252, 258). 69 Irgendwo zwischen Volks- und Kunstmärchen sollte sich das sogenannte Buchmärchen befinden, vertreten duch die von stilistisch bearbeiteten Texte der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, vgl. Lüthi 1974, S. 100; Tismar 1983, S. 59. Vgl. auch Grätz: EM 8, s.v. „Kunstmärchen“, S. 612-616 sowie Honko: EM 5, s. v. „Gattungsprobleme“, S. 761. 70 Lüthi 1974, S. 94. 71 Ovčinnikova 2003, S. 38, vgl. auch dort S. 30 sowie Tismar 1983, S. 4, und Grätz: EM 8, s.v. „Kunstmärchen“, S. 614-615.

17 Die Ansicht, dass ein Kunstmärchen nur dann diese Bezeichnung verdiene, wenn ein Volksmärchen zugrunde liegt, erscheint viel zu eng. Wenn das Kunstmärchen ausschließlich ob seiner Nähe zum Volksmärchen beurteilt würde, so würde ihm als Literaturgattung, im Hinblick darauf, dass das mündlich tradierte Volksmärchen als Folkloregattung quasi ausgestorben ist, keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten zugestanden. Hermann Bausinger weist daraufhin, dass das Kunstmärchen durch freies Fabulieren die Grenzen des Volksmärchens häufig überschreitet.72 Valerij Fomin zählt hierfür folgende Möglichkeiten auf: Die Protagonisten des Kunstmärchens müssen nicht formelhaft stilisiert dargestellt sein, sondern können in ihren Handlungen auch psychologisiert werden; ebenso frei kann das Milieu gekennzeichnet und ausgeschmückt werden; die Struktur kann erheblich komplizierter sein und dabei Elemente aus allen möglichen Gattungen aufgreifen; ebensowenig ist der Umfang begrenzt: Das Kunstmärchen kann ganze Märchenromane hervorbringen; schließlich ist der märchenhafte Optimismus und das märchentypische Happy End keinesfalls obligatorisch.73 Auch Lüthi ist der Meinung, dass die Orientierung am Muster des Volksmärchens nur eine Möglichkeit sei – sein Verfasser könne genausogut seiner schöpferischen Phantasie freien Lauf lassen, wenn nur das Übernatürliche im Text seinen Platz finde.74 Wäre demnach jeder literarische Text, der mit Motiven des Übernatürlichen arbeitet, ein Märchen? Diese Definition erscheint wiederum viel zu weit, da damit verschiedenartigste Texte charakterisiert werden können, selbst solche ohne jeglichen Folklorebezug. Andererseits wäre damit das Kunstmärchen immer und automatisch ein Zaubermärchen. Und sollten die für das Volksmärchen erarbeiteten Charakteristika für das Kunstmärchen so weitgehend außer Kraft treten, womit wäre dann der gemeinsame Überbegriff noch gerechtfertigt – Märchen? Eine Grundschwierigkeit der Eingrenzung des Kunstmärchens ist m.E. mit dem Parameter der Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit verbunden, der trotz aller damit verbundenen Problematik als das Volksmärchen bestimmend gesehen wird.75 Beim Kunstmärchen, das sich immer als eine von einem Autor erdachte Geschichte präsentiert, kann dieser als Unterscheidungskriterium jedoch von vornherein nicht angelegt werden, da Erdachtheit und Unglaubwürdigkeit sämtlichen fiktionalen literarischen Texten eigen ist.76

72 Bausinger: EM 10, s.v. „Phantasie, Phantastik“, S. 979. 73 Vgl. Fomin 2001, S. 154-156. 74 Vgl. Lüthi 2004, S. 5. 75 Vgl. dazu im EM-Artikel „Phantasie, Phantastik“ (Bausinger: EM 10) die Abschnitte „P. und Pk. in der Volkserzählung“ (S. 974-977) und besonders „Märchenphantasie“ (S. 977-979). 76 Vgl. Vax 1974, S. 14: „[D]er moderne Leser [fragt] nicht, ob eine Erzählung auf Wahrheit beruht. Er weiß, daß es sich um eine erfundene Geschichte handelt, weil ihr Autor sie Erzählung genannt hat.“

18 Mag in der Volksprosa, trotz aller Mischformen, eine Unterscheidung zwischen Märchen, Sage, Legende usw. angebracht sein77, so erscheint dies beim Kunstmärchen als geradezu widersinnig: Solche Bezeichnungen wie Kunstsage, Kunstlegende, Kunstmythos o.ä. analog zum Kunstmärchen und als Gegenbegriffe zu den entsprechenden Folkloregenres haben Oxymoroncharakter, denn diese Genres sind, wie oben ausgeführt, in ihrem Wesen per definitionem als Artefakte einer Glaubenswirklichkeit bestimmt – als Phantasieprodukte eines konkreten Autors würden sie ebendiesen Charakter verlieren und können dann allenfalls als von Sagen, Legenden oder Mythen inspiriert bezeichnet werden. Ein Kunstmärchen wiederum kann grundsätzlich aus allen Formen der Folklore seine Inspiration beziehen.78 Ein klarer Bezug zur Folklore wiederum, der sich nicht auf einzelne Elemente beschränkt, sondern den Text als Ganzes durchdringt, erscheint mir die Grundvoraussetzung für jedes Kunstmärchen. Jedoch ist er lediglich notwendig, aber noch nicht hinreichend für die Einordnung eines literarischen Textes als Märchen: Angesichts der quasi unbegrenzten Vielfalt von (hoch-)literarischen Formen, die Folkloreelemente verwenden können, erscheint es unabdingbar, das Märchen als Literaturgenre weiter einzugrenzen, wenn man es näher untersuchen will. Ich gehe hierbei mit Fomin konform, der einen Unterschied sieht zwischen Märchenhaftigkeit (skazočnost’) und Märchen (skazka)79: Märchenhaft können einzelne Elemente sein, diese müssen einen Text jedoch noch nicht zum Märchen machen.80 Alle stilistischen (Lüthi), strukturellen (Propp), strukturell-inhaltlichen (AaTh) Merkmale des Märchens sind märchenhaft – sie sind Indizien für die Märchenhaftigkeit eines Textes, aber keine absoluten Kriterien, die er erfüllen muss, um als Märchen zu gelten. Es können demnach einerseits sehr unmärchenhafte Märchen existieren, andererseits sehr märchenhafte Texte, die eigentlich keine Märchen sind.81 Märchenhaftigkeit ist folglich nicht notwendige Bedingung, wohl aber sehr typisch für Märchen: Sie legt sozusagen deren ,klassische’ Eigenschaften fest, und die Merkmale haben insbesondere in ihrer Gesamtheit durchaus einen

77 Wobei selbst dies unter Erzählforschern nicht unumstritten ist, vgl. dazu Honko: EM 5, s.v. „Gattungsprobleme“, S. 745-746. 78 Ovčinnikova (2003, S. 12) spricht in diesem Zusammenhang von der „mnogožanrovosť“ (,Genrevielfalt’) des Kunstmärchens. 79 Vgl. Fomin 2001, S. 53, 148, 201-202. Siehe auch Ovčinnikova (2003, S. 30), die anmerkt, dass in der russischsprachigen Forschung oft zwischen Märchen und märchenhaften Einzelelementen nicht differenziert wird. 80 Ähnlich sieht dies Ovčinnikova (2003, S. 62), für die nicht einzelne Entlehnungen, sondern eine sich als Ganzes darstellende harmonische Einheit (garmoničeskoe edinstvo) für ein Kunstmärchen entscheidend sind. 81 Interessante Beispiele für letzteres werden z.B. von Kölbl in ihrer Dissertation (Kölbl 2006) vorgestellt, worin sie populäre Liebesfilme auf märchenhafte Charakteristika hin untersucht. Auch zahlreiche Werke der sowjetischen Filmgeschichte weisen märchenhafte Züge auf, vgl. Fomin 2001, S. 201-209.

19 besonderen Wert. Lüthis Kategorie der Eindimensionalität nimmt jedoch, wie auch Christoph Schmitt richtig bemerkt, eine Sonderstellung unter den Stilmerkmalen ein, da sie kein reines Stilkriterium ist und nicht der Oberflächen-, sondern der Tiefenstruktur des Märchens angehört. Laut Schmitt handelt es sich bei dieser Kategorie um eine „Umschreibung des Märchenwunders, das den Dreh- und Angelpunkt der Gattung bildet“82. Ich würde Lüthis Eindimensionalität jedoch weiter fassen, da das Märchen, wenn damit nicht nur das Zaubermärchen gemeint ist83, durchaus ohne das klassische Märchenwunder auskommen kann – das ,Unrealistische’ (wie im Novellenmärchen) kann dem Übernatürlichen äquivalent sein. Das ,Unrealistische’, ob es nun explizit übernatürlichen Charakter hat oder nicht, ist im Märchen ohne Weiteres denkbar und möglich und ruft als solches kein Staunen und keine Scheu hervor, und dadurch wird eine besondere Art von „Wirklichkeitsferne“84 erzeugt. Eben dadurch unterscheidet sich die Märchenwelt von der ,realen’ bzw. im weitesten Sinne ,realistischen’ Welt – gerade dem Begriff Märchenwelt85 kommt hier Schlüsselfunktion zu: Das Märchen schafft sich seine eigene Welt, die der Alltagswelt zwar ähneln kann, aber nach inhärenten eigenen ,Gesetzen’ funktioniert, die letztlich nur besagen, dass alles im Bereich des Möglichen liegt und dies nicht verwundert – was den Gesetzmäßigkeiten der ,realen’ Welt nicht entspricht. Das Übernatürliche, Zauber und Wunder wären darin dementsprechend jederzeit wie selbstverständlich möglich, müssen jedoch nicht in jedem Märchen zum Einsatz kommen.86 In der Märchenwelt würde ich das eigentliche Merkmal sehen, das definitorischen Charakter für das Märchen hat – entsprechend ist ein Märchen ein Text, der nicht nur einen Bezug zur Folklore aufweist, sondern darüber hinaus im besonderen chronotopischen ,Universum’ Märchenwelt87 angesiedelt ist. Eine solche Eingrenzung wurde auf ähnliche Art schon öfters in der Literatur formuliert. So geht etwa der Schriftsteller und Philologe J. R. R. Tolkien in seinem bekannten

82 Schmitt 1993, S. 109. Auch die Begriffe Oberflächen- und Tiefenstruktur werden hier von Schmitt benutzt. 83 Gerade das sowjetische Kunstmärchen orientiert sich nicht immer nur an dieser Spielart, vgl. etwa Ovčinnikova 2003, S. 15. 84 Lüthi 1974, S. 25. 85 Wie genau ich diesen Begriff verstanden haben will, soll weiter unten noch geklärt werden. 86 Aufschlussreich hierzu sind auch die Überlegungen Lichačevs (1968, S. 81-82), der Raum und Zeit des Märchens mit der Welt des Traumes in Verbindung bringt: Wunder und Zauberei sind ihm zufolge eigentlich nur Zusatz, die die Leichtigkeit, mit der in der Märchenwelt alles vonstatten geht, gewissermaßen erklären. 87 Die Märchenwelt ist häufiger mit dem Stichwort „Alltagsabstand“ umschrieben worden, den Schmitt (1993, S. 112) in Hinblick auf das Filmgenre des „modernen Märchens“ verneint. Ich würde solche Filme trotz der Bezeichnung jedoch nicht dem Märchenfilm zurechnen, was ich weiter unten näher ausführe.

20 Essay On Fairy-Stories88 auf das Wesen des Märchens ein, das er mit dem Begriff fairy-story89 umschreibt. Auch er bezeichnet dieses als in einer eigenen Welt verankert, die er „Faërie“ nennt.90 In dieser kann Zauber eine wesentliche Rolle spielen, wobei dieser als solcher weder erklärt noch satirisch dargestellt wird91 – er ist aber nicht obligatorisch92. Das Vorhandensein einer solchen eigenen Welt ist für Tolkien jedoch Grundvoraussetzung für das Märchen – dementsprechend fallen solche Werke, die ungewöhnliche oder übernatürliche Erscheinungen als Teil von unserer, der realen Welt darstellen, aus dem Raster.93 Weiters können Geschichten, in der die Märchenwelt nur im Traum erscheint, d.h., die Ereignisse als durch einen Traum entstandene Illusion erklärt werden, nicht als Märchen bezeichnet werden.94 Hier kann ich Tolkiens Gedankengang, dass die Märchenwelt sich im Rahmen der Erzählung als wahr darstellen muss, zwar nachvollziehen, empfinde diese Ausklammerung aber als zu einschränkend und würde ihm hierin nicht mehr folgen: Es wäre vielmehr die immanente Qualität der Traumerzählung zu bewerten und danach zu fragen, ob diese ohne die Erklärung als Traum als Märchen bestehen würde. Die weitere Einschränkung, dass reine Tiergeschichten ohne menschliche Akteure keine Märchen sein können95, erscheint im Hinblick auf die in Literatur wie Populärkultur beliebten anthropomorphisierten Tiere sinnvoll, in Bezug auf das Tiermärchen und dessen Bedeutung in der Folklore jedoch problematisch. Dem entscheidenden Punkt, dass Märchen in einer eigenen Welt spielen, ihre Schöpfer durch Phantasie „a Secondary World inside“96 schaffen, ist auf jeden Fall zuzustimmen.

Göte Klingberg charakterisiert diese Märchenwelt folgendermaßen: „Auch wenn es scheint, daß das Märchengeschehen in einer alltäglichen Welt abläuft, so handelt es sich doch um eine Welt, in der alles geschehen kann.“97 Für die Abgrenzung von anderen literarischen Formen ist

88 Tolkien 1988 (Erstveröffentlichung 1947). Dieser ist zwar sehr literarisch gehalten und nicht im strengen Sinne wissenschaftlich, enthält aber doch wissenschaftlich zu verwertende Erkenntnisse. 89 Anstelle des sonst gebräuchlichen fairy-tale. 90 Tolkien 1988, S. 13. 91 Vgl. ebd., S. 15 – hiermit ist das „selbstverständliche Märchenwunder“ umschrieben. 92 Vgl. ebd., S. 17: „The magic of Faërie is not an end in itself, its virtue is in its operations: among these are the satisfaction of certain primordial human desires. […] A story may thus deal with the satisfaction of these desires, with or without the operation of either machine or magic, and in proportion as it succeeds it will approach the quality and have the flavour of fairy-story.“ 93 Vgl. ebd., S. 16-17. 94 Vgl. ebd., S. 17-18. Laut Caillois (1974, S. 54) sind solche Erzählungen auch vom Phantastischen abzugrenzen. 95 Vgl. Tolkien 1988, S. 19-20. 96 Ebd., S. 46. 97 Klingberg 1974, S. 227.

21 also ein guter Orientierungspunkt gegeben: Wenn in der fiktiven Wirklichkeit eines Textes eine übernatürliche oder unrealistische Erscheinung als eine Störung wahrgenommen wird, als etwas, auf das mit Staunen, Furcht, Ungläubigkeit usw. reagiert wird, so spielt dieser Text in der realen Welt und ist kein Märchen. In diesem Sinne haben auch Louis Vax und Roger Caillois in ihren bekannten Aufsätzen das Phantastische vom Märchen abgegrenzt. Vax meint: „[Das] Wunderbare [des Märchens, S. H.], das selbstverständlich wirkt, ist nicht der unerklärliche Einbruch des Übernatürlichen in die Natur [...] Die phantastische Kunst aber läßt imaginäre Schrecken in einer realen Welt entstehen.“98 Caillois formuliert ähnlich: „Das Märchen spielt sich in einer Welt ab, in der Zauber etwas Alltägliches ist und Magie die Regel“, das Phantastische dagegen ist gekennzeichnet durch „das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.“99 Das Genre des Phantastischen ist dementsprechend, wenn auch von einem direkten Äquivalent zum entsprechenden Folkloregenre keine Rede sein kann, wesensverwandt mit der Sage.100 Klingberg kennt, zumindest in der Kinder- und Jugendliteratur, auch die „surreal- komischen Erzählung“101, in der das – in der realistisch dargestellten Welt auftretende – Übernatürliche humoristischen Charakter hat; ohne weiteres lassen sich deren Kriterien auch auf die ,Erwachsenenliteratur’ anwenden, und auch hierin ist ein Gegenstück zum Märchen zu sehen: Caillois grenzt solche literarischen Formen, in der das Übernatürliche Überraschung und Befremdung, aber kein Grauen auslöst und für den Rezipienten belustigend wirkt, vom Phantastischen wie auch vom Märchen ab.102 In Hinblick auf die Eingrenzung des Märchens würde ich die Kategorie des Übernatürlichen um die des Unrealistischen erweitern (Caillois spricht ja bezeichnenderweise auch vom „Unmöglichen“) – primär erscheint es als wichtig, dass diese Erscheinungen, obwohl sie ,unrealistisch’ sind, nicht als ungewöhnlich dargestellt werden, was der Vorstellung von einer eigenen Welt, in der eigene Gesetzmäßigkeiten herrschen, entspricht. Hiermit ist das Märchen als Phänomen zunächst einmal hinreichend abgegrenzt.103 98 Vax 1974, S. 12, siehe auch S. 17. 99 Caillois 1974, S. 46, siehe auch S. 50-52. 100 Vgl. Schmitt 1993, S. 25-27. 101 Klingberg 1974, S. 222-225. 102 Vgl. Caillois 1974, S. 52-53. 103 Ein kurzes Wort zum Genre ,Fantasy’ der Tolkienschen Prägung (Lord of the Rings und Konsorten): Auch hier existiert eine eigene Welt, meist mit Folklorebezügen, in der das Übernatürliche ohne weiteres möglich und nicht ungewöhnlich ist. In der Regel werden solche Texte dennoch nicht als Märchen klassifiziert, wobei als Unterscheidungskriterium vor allem die Systematik herangezogen wird, mit der Fantasyliteratur ihre Welten präsentiert: Welten bekommen feste Namen, fiktive geographische Karten und Historiographien werden erdacht usw. (vgl. Abschnitt „Fantasy“ in Bausinger: EM 10, s.v. „Phantasie, Phantastik“, S. 980-982,

22 Den Handlungsraum des Märchens als ,Welt’ zu bezeichnen scheint naheliegend und zweckmäßig104, auch wenn dieser Begriff, ähnlich wie die Begriffe ,Dimension’105 und ,Realität’, auch missverständlich sein kann. So spricht etwa Klingberg davon, dass in der phantastischen Kinder- und Jugenderzählung Welten aufeinandertreffen, bzw. Angehörige oder Elemente verschiedener Welten interagieren.106 Was er damit meint, sind phantastisch- unrealistische Elemente, die in einer ansonsten als alltäglich und realistisch geschilderten Umgebung auftauchen. Die Protagonisten aus der realistisch dargestellten Welt wundern sich über diese übernatürlich-unrealistischen Erscheinungen – ihre Existenz wird als die Regeln des Vorstellbaren verletzend dargestellt, was für Klingberg Grund genug ist, sie als einer fremden Welt zugehörig zu beschreiben. Eine Zugehörigkeit zu einer fremden Welt wird für sie in vielen der Beispiele, die Klingberg verwendet, jedoch nie explizit ausgedrückt.107 Vielmehr bewegen sie sich in einer ansonsten realistisch gezeichneten Welt und werden gerade als Teil von dieser dargestellt, wenn ihre Existenz auch vor deren übrigen Angehörigen zunächst verborgen ist und sie für sie daher zunächst nicht vorstellbar erscheint.108 Der Ausdruck ,Welt’ für die Beschreibung dieses Phänomens ist insofern ungünstig, als dass Klingberg auch solche Beispiele kennt, in denen eine Welt als etwas Ganzes dargestellt wird, als eine Parallelwelt sozusagen, die als von der realen Welt grundsätzlich losgelöst verstanden wird, gewissermaßen in einer anderen Wirklichkeit angesiedelt, aber im Rahmen der Erzählung mit dieser aufeinandertrifft – so etwa in den Narnia-Romanen von C. S. Lewis oder in Alan Garners Elidor109: Narnia und Elidor sind keine unentdeckten Flecken der realen Welt, sondern existieren außerhalb von dieser, sie haben ihre eigene Realität mit eigenen Gesetzen. Anders als etwa in Tolkiens Lord of the Rings jedoch kommt es zu einem Zusammentreffen mit der ,realen’ Welt. In solchen Fällen wirkt es sehr viel schlüssiger, von zwei verschiedenen Welten zu sprechen.

sowie Klingberg 1974, S. 227-228). Hierin erscheinen sie dem Mythos verwandt (Klingberg nennt sie entsprechend „mythische Erzählungen“). Bei Filmen kann dies zu Eingrenzungsproblemen führen (siehe Schmitt 1993, S. 28-30; Liptay 2004, S. 51-54). Da aber die sowjetische Filmgeschichte keine Werke dieser Ausprägung kennt (im heutigen Russland ist Fantasy generell eine recht neue Erscheinung, vgl. dazu Ovčinnikova 2003, S. 78-84) muss die Problematik hier nicht en detail erörtert werden. 104 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Titel der Arbeiten von Aėlita Romanenko: V mire kinoskazki [In der Welt des Märchenfilms] (1983) und Mir skazočnyj i mir reaľnyj [Die Märchenwelt und die reale Welt] (1987), sowie von Fabienne Liptay: WunderWelten (2004). 105 Wie in Lüthis Formulierung der „Eindimensionalität“. 106 Vgl. Klingberg 1974, S. 222 sowie passim. 107 Er nennt hier z.B. Edith Nesbits Die Kinder von Arden, Mary Nortons Die Borgmännchen, James Krüss’ Timm Thaler u.a. 108 Klingberg (1974, S. 234) formuliert den Gedanken so: „[E]ine fremde Welt [wird] mit einer alltäglichen auf solche Weise vereinigt, daß die Schilderung als einheitlich erscheint.“ 109 Siehe ebd., S. 233.

23 Die so dargestellte ,Parallelwelt’ kann, wenn sie hermetisch betrachtet wird, durchaus auch die klassischen Kennzeichen der Märchenwelt tragen, deren Muster folgen, durchdrungen sein von dem Märchen verhafteten Personal, Requisiten, Zauber usw. – die Durchbrechung der Hermetik im Aufeinandertreffen der Welten bzw. Vertretern der Welten lässt so ein Hybrid- oder Crossover-Genre entstehen. Für Texte einer solchen Ausprägung schlage ich als Terminus technicus den Begriff ,Crossover-Märchen’ vor.110

I.3. Das Märchen und sein Bezug zur Wirklichkeit Ein wichtiger Aspekt, der bisher nicht besonders hervorgehoben wurde, da er nicht das Märchen als Form per se kennzeichnet, ist das Verhältnis zwischen Märchen und Wirklichkeit – nicht der dichterischen, sondern der tatsächlichen Wirklichkeit. Die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Volksmärchen und Wirklichkeit untersucht Röhrich in seiner wegweisenden Monographie111. Dabei sind verschiedene, sich gegenseitig durchdringende Ebenen zu unterscheiden, die sich weiterhin mit der erzähltechnisch-dichterischen Phantasie vermischen, so dass eine genaue Trennung oft nicht ohne weiteres möglich ist: Die Glaubenswirklichkeit, die auch Magisch-Übernatürliches, heute als irreal Empfundenes nicht ausschließt112, gehört dazu ebenso wie die historische Lebenswirklichkeit113, wobei beides sich auf Grund längerer Tradierung in verschiedenen Schichten manifestiert. Schließlich und letztendlich besteht aber auch ein Bezug zur zeitgenössischen Lebenswirklichkeit: Das Märchen als Form ist zwar an sich zeitlos und ortsungebunden, doch die konkrete Märchenerzählung ist naturgemäß oft nicht frei von Bezügen zu der Zeit und dem durch lokale kulturell-gesellschaftliche Faktoren bedingten Kontext, in denen sie erzählt und aufgezeichnet wird.114 In gleichem, wenn nicht noch stärkerem Ausmaße sind die von Röhrich für das Volksmärchen festgestellten Bezüge zum Kontext seiner Entstehungszeit auch für das Kunstmärchen anzunehmen. Hier ist mit größerer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass

110 Natürlich muss nicht jede ,Parallelwelt’ eine Märchenwelt darstellen – ob es sich dabei um eine solche handelt, muss im Einzelfall festgestellt werden. 111 Röhrich 1979 (Erstveröffentlichung 1956). Auf die verschiedenartigen Bezüge zwischen dem (russischen) Märchen und der Wirklichkeit geht auch Pomeranceva ein (1963 passim, siehe insbesondere S. 10, 29-30, 58). 112 Vgl. speziell dazu in Röhrich 1979 vor allem S. 63-102, 168-181. 113 Vgl. speziell dazu vor allem ebd. S. 102-122. 114 Vgl. hierzu insbesondere ebd. S. 183-191 zu nationalen Besonderheiten, S. 191-199 zum Vorkommen von Elementen der technisierten Welt bei neueren Aufzeichnungen, S. 200-207 zu lokalen Zügen, S. 207-222 zur Rolle des sozialen Milieus der Erzähler.

24 diese oftmals durchaus intendiert sind und damit auch ein bestimmtes Ziel verfolgt werden kann – so ist ja z.B. bekannt, dass die Märchen von Michail Saltykov-Ščedrin den Charakter politischer Satire hatten.115 Vieles spricht dafür, das Kunstmärchen bei seiner Besprechung auch als Produkt seiner Zeitumstände zu behandeln: Es liegt auf der Hand und sollte stets im Hinterkopf behalten werden, dass – mehr oder weniger starke, intendierte oder nicht intendierte – Wirklichkeitsbezüge, die kultureller, nationaler, gesellschaftlicher oder auch politischer Natur sein können, auch den Märchenfilm kennzeichnen, der im Folgenden als Form genauer charakterisiert werden soll.

II. Märchen und Märchenfilm Die Auseinandersetzung mit den wortsprachlichen Formen Volks- und Kunstmärchen war deshalb notwendig, da sie es sind, an deren Traditionen der Märchenfilm anknüpft oder mit denen er bricht – auf ihrer Grundlage entsteht überhaupt die Form Märchenfilm. Sie muss sich jedoch schon zwangsweise, bedingt durch das andere Medium, von ihnen unterscheiden und eigene Möglichkeiten entwickeln, eigene Wege gehen.116

II.1. Der Märchenfilm und seine Besonderheiten Die Abgrenzung des Märchenfilms von benachbarten Filmgenres kann auf derselben Grundlage getroffen werden, in der sich auch das literarische Märchen von anderen literarischen Formen abgrenzt: Erstens durch einen klar herstellbaren Bezug zur Folklore, zweitens durch das Vorhandensein einer ,Märchenwelt’, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und in der wie selbstverständlich alles möglich ist.117 Nicht dem Märchen zuzurechnen sind entsprechend z.B. die Gogoľ-Verfilmungen Vij ([Der Vij], 1967) und Večer nakanune Ivana Kupala (Der Abend vor dem Fest Iwan Kupala, 1968) – beide fußen zwar ebenso wie ihre Vorlagen in der Folklore, und Vij übernimmt sogar einen verbreiteten Erzähltyp118 (mit transformiertem, tragischen Ende), doch beziehen sie ihre Grunddynamik aus der Furcht vor dem Numinosen und spielen sich in einer Atmosphäre des Grauens ab – von einer Märchenwelt mit dem selbstverständlich Wunderbaren kann hier also

115 Vgl. Pomeranceva 1963, S. 86. 116 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es ja schon zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen durch die Opposition Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu Verschiebungen kommt, vgl. Ovčinnikova 2003, S. 51-53; Fomin 2001, S. 160. 117 Auf die Problematik zur Abgrenzung vom Fantasyfilm sei hier nur nochmal auf die Anmerkung in Fn. 103 verwiesen. 118 AaTh 307 The Princess in the Shroud = ATU 307 The Princess in the Coffin = AA/SUS 307 Devuška, vstajuščaja iz groba.

25 keine Rede sein, eine Zuordnung ist nur zum Phantastischen möglich. Andere Filme kennen zwar das selbstverständlich Wunderbare und schaffen sich somit eine eigene Welt, doch deren Elemente haben keinen besonderen Bezug zur Folklore und entstammen vielmehr der Autorenphantasie oder haben rein literarische Prototypen – hierzu gehören etwa Zolotoj ključik (Das goldene Schlüsselchen, 1939) und Priklučenija Buratino ([Buratinos Abenteuer], 1975), die zwei Verfilmungen von Aleksej Tolstojs Pinocchio- Variation Zolotoj ključik, ili Priključenija Buratino, oder auch Doktor Ajbolit (1938) und Ajbolit-66 (1966) nach Kornej Čukovskijs an Doctor Dolittle angelehnter Erzählung. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Spielarten des Phantastischen.119 Außen vor wären darüber hinaus viele der sogenannten ,modernen Märchen’ oder ,Gegenwartsmärchen’ – Kinderfilme, die in einem realistisch dargestellten zeitgenössischen Milieu spielen und deren ,Märchenhaftigkeit’ sich darin begründet, dass sie das Alltägliche mit unrealistisch-wunderbaren Geschehnissen kombinieren.120 Darin fehlt einerseits oft der Bezug zur Folklore völlig, andererseits ist auch hier das Kriterium einer eigenen Welt nicht erfüllt. Daher erscheint es m.E. wenig begründet, solche Filme als Märchen zu klassifizieren – die Beschreibung märchenhaft trifft es dagegen oftmals sehr viel eher. Auch Klingbergs Begriff des Surreal-Komischen ist geeignet, um solche Filme wie Skazka o poterjannom vremeni (Das Märchen von der verlorenen Zeit, 1964) oder Priključenija želtogo čemodančika (Die Abenteuer des gelben Köfferchens, 1970) zu beschreiben, denn hier sorgen für komische Momente phantastische Wesen und Gegenstände, die aber aus keinem märchenhaften Jenseits stammen, sondern eine versteckte Existenz im ,realen’ Diesseits führen.121 Anders verhält es sich mit dem oft derselben Gruppe zugeordneten Crossover-

119 Wohl auf Materialunkenntnis zurückzuführen ist Schmitts (1993, S. 30-31) Aussage, der „osteuropäische Film“ kenne keine Verfilmungen „phantastischer“ Kinderbuch„klassiker“. Sowjetische Gegenbeispiele gibt es genug: Von den oben genannten Streifen abgesehen, deren direkte Vorlagen von sowjetischen Autoren stammen, wurden später durchaus auch zahlreiche ausländische Autoren verfilmt – hier reichen als Beispiele die TV-Produktionen Prodanny Smech ([Das verkaufte Lachen], 1981) nach James Krüss’ Timm Thaler; Mėri Poppins, do svidanija ([Auf Wiedersehen, Mary Poppins], 1983) nach Pamela L. Travers; Pėppi Dlinnyčulok ([Pippi Langstrumpf], 1984) nach Astrid Lindgren und Piter Pėn ([Peter Pan], 1987) nach James L. Barrie. 120 Wolf (1969, S. 126-129, 184-186) widmet diesem Filmgenre im Rahmen seiner Behandlung des tschechoslowakischen und des DDR-Kinderfilms (in der Sowjetunion sind ähnliche Filme entstanden) längere Abschnitte; im Grunde sind auch die von ihm als „abenteuerlich-phantastisch“ bezeichneten Filme (S. 134-137, 196-197) in diese Kategorie einzuordnen. 121 Für Schmitt (1993, S. 30-40) und Liptay (2004, S. 48-50) ist die Selbstverständlichkeit des Märchenwunders in diesem Zusammenhang ausschlaggebender als das grundsätzliche Vorhandensein einer sich als Ganzes präsentierenden Märchenwelt. Ich stimme ihnen hierin nicht zu, insbesondere auch, da das Kriterium des selbstverständlichen Märchenwunders ohnehin auf das ,moderne Märchen’ oft nur mit Einschränkungen angewandt werden kann (kindliche Helden nehmen die unrealistisch-surrealen Geschehnisse wie selbstverständlich wahr, nicht aber die Erwachsenen; ,wunderbare Vorgänge’ werden rationalisiert o. ä.).

26 Märchen, das ja auch kein reines Märchen ist, aber seine Dynamik aus dem direkten Gegenüber von zwei als Ganzes existierenden Welten entwickelt und daher eine besondere Stellung einnimmt: Angehörige der Märchenwelt tauchen in der realen Welt, Angehörige der realen Welt in der Märchenwelt auf oder beides. Berücksichtigt man die oben vorgenommenen Eingrenzungen der Form Märchen, ergeben sich für einen ,Märchenfilm’ auf stofflicher Ebene grundsätzlich folgende Möglichkeiten: 1. Dem Film liegt ein Volksmärchen (oder eine andere Volksprosaerzählung) in einer oder mehreren Varianten zugrunde; 2. Dem Film liegt ein Kunstmärchen zugrunde; 3. Dem Film liegt keine konkrete Vorlage zugrunde, doch er arbeitet in der Hauptsache mit Figuren und Motivik, Stoff-, Struktur- oder Stilelementen, die für das Märchen kennzeichnend sind, qualifiziert sich damit also sozusagen als Filmmärchen.122 Das Crossover-Märchen wäre in diesem Fall als eine Möglichkeit zu sehen, die sich grundsätzlich allen drei Spielarten des Märchenfilms bietet, wobei es gleichzeitig durch seine erzähltechnische Spezifik einen Sonderstatus beanspruchen kann. Das Crossover-Verfahren kann in Spielart 2 schon in der Vorlage angelegt sein, ansonsten kommt, wie für Spielart 1, insbesondere in Frage, dass der realistisch dargestellten Welt zugehörige Figuren nicht nur in der Märchenwelt, sondern in einem ganz bestimmten Märchen landen – und/oder umgekehrt die Figuren aus einem ganz bestimmten Märchen in der ,realistischen’ Welt auftauchen. Festzuhalten ist dabei, dass ein Märchenfilm immer automatisch ein Kunstmärchen darstellt: Auch wenn ein Volksmärchen (oder ein anderer Folklorestoff) verfilmt wird, so ist es ein vom Drehbuchautor adaptiertes, vom Regisseur filmisch bearbeitetes und in diesem Sinne ,literarisiertes’ Märchen – ein analoger Vorgang findet statt, wenn ein Autor sich daran macht, ein Volksmärchen auf schriftliche Art künstlerisch zu verwerten, also eine Volksmärchenparaphrase anzufertigen. Eine Unterscheidung nach Verfilmungen von Volksmärchen und anderen Folklorestoffen einerseits und Verfilmungen von Kunstmärchen andererseits macht dennoch zumindest prinzipiell Sinn – die Adaption eines populären Volksmärchenstoffes, dem kein fester Autor zugeordnet wird und der in verschiedenen Fassungen kursiert, und die eines

122 Zumindest theoretisch muss hier noch eine weitere Möglichkeit eingeräumt werden: Eine Vorlage, die eigentlich kein Märchen ist, wird dazu in der filmischen Adaption durch inhaltliche Modifizierung. Auch der umgekehrte Fall, dass eine Märchenvorlage durch Modifizierung in der Filmversion ihren Märchencharakter verliert, wäre grundsätzlich denkbar.

27 bekannten Autorenmärchens müssen sich fast zwangsweise unterscheiden im Umgang mit der Vorlage, der Rezeption, den Bewertungskriterien: Bei einem Volksmärchen ist das Kriterium der Werktreue ein sehr relatives, und dem Filmemacher steht hier ein viel größerer Spielraum zur Verfügung, zu interpretieren, zu bearbeiten oder zu verändern, ohne in den Verdacht der ,Verfälschung’ eines ,Originals’ zu geraten. An der Grundhandlung ist jedoch immer noch der bekannte Stoff zu erkennen – wie dies ja auch bei entsprechenden literarischen Volksmärchenparaphrasen der Fall ist. Liegt jedoch einem Film ein Kunstmärchen zugrunde, das als Schöpfung eines bestimmten Autors bekannt ist und als solches in einer festen Textfassung rezipiert wird, so kann dieser Film als Literaturverfilmung gesehen werden, zu dessen Bewertungskriterien entsprechend auch die Nähe oder Ferne zur Originalvorlage gehören kann – wobei die Verfilmung eines Kunstmärchens nicht nur aus der Vorlage, sondern auch etwa aus dem Fundus der Folklore schöpfen kann. Das originäre Filmmmärchen schließlich kann einzelne Elemente und Motive verwenden, die einer bestimmten oder mehreren Vorlagen entstammen, Volks- wie Kunstmärchen, aber auch nahezu vollkommene Neuschöpfung sein. Naturgemäß sind diese Spielarten des Märchenfilms jedoch nicht immer scharf zu trennen: Kunstmärchen, die die Vorlage für Märchenfilme bieten, können, wie schon erwähnt, manchmal ihrerseits Paraphrasen, also direkte Verarbeitungen von Volksmärchen sein – in diesem Sinne hätte man dann mit einer ,doppelten Adaption’ zu tun. Diese kann auch anderen Charakter haben: Ein Kunstmärchen wird adaptiert, z.B. für die Bühne123, und diese Adaption wird wiederum für den Film adaptiert. Nicht ausgeschlossen ist in einem solchen Fall auch die ,dreifache Adaption’, wenn etwa das doppelt adaptierte Kunstmärchen ein Volksmärchen paraphrasiert. Daneben können auch mehrere ,komplette’ Sujets miteinander kombiniert werden, und generell ist es nicht immer möglich, völlig einwandfrei festzustellen, was die Originalquelle oder originale Inspiration war bzw. ob es eine solche gab.124

Während sich also schon stofflich für den Märchenfilm von einer textgetreuen Wiedergabe bis hin zu einem sich montagehaft verschiedenster Versatzstücke bedienendem Originalwerk eine große Bandbreite ergibt, sind ihm auf der ästhetischen Ebene erst recht fast keine Grenzen auferlegt. Dabei ist zu beobachten, dass oft auf vielfältige Weise versucht wird, an Traditionen

123 Ovčinnikova (2003, S. 17) nennt dieses Phänomen „,dvaždy’ literaturanaja skazka“ [„zweifach literarisches Märchen“]. 124 Vgl. hierzu Schmitt 1993, S. 242-251; Liptay 2004, S. 130-132; Zipes 2011, S. 8.

28 des wortsprachlichen Märchens anzuknüpfen und eine ,märchenhafte Atmosphäre’ zu erzeugen125: Durch den Einsatz eines Erzählers, der aus dem Off kommentieren, in einer Rahmenhandlung auftreten oder selbst Teil der Handlung sein kann, um sowohl die mündliche Erzählsituation als auch das Formelhafte und Unwirkliche des Märchens zu betonen, wobei für letzteres auch filmischen Ausdrucksmittel, wie Panorama-Aufnahmen von prunkvollen Schlössern oder ,ursprünglichen’ Naturkulissen, dienen können126; durch stark stilisierte Kulissen und Requisiten, um sich dem abstrakten Märchenstil anzunähern – auch das ein Zeichen von Wirklichkeitsferne127; durch eine Art Potpourri der Stilepochen bei der Ausstattung, um die Ahistorizität und Zeitlosigkeit des Märchens nachzuempfinden128 usw. Dies sind jedoch nur Möglichkeiten, die sich dem Märchenfilm bieten – daneben kommen auch Historisierung und Lokalisierung und damit ,unmärchenhafte’ Konkretisierung eines Märchenstoffes in Frage129, oder der Einsatz von ,anachronistischen’, da ,modernen’ Elementen, wodurch ein meist komischer Verfremdungseffekt erzielt wird130, und wie im literarischen Kunstmärchen können den im Volksmärchen schablonenhaft gezeichneten Protagonisten Charakter und Persönlichkeit verliehen werden, Handlungsverläufe erweitert und Nebenfiguren eingefügt werden usw.131 Im Gegensatz zum literarischen Kunstmärchen kann der Märchenfilm nicht nur an wortsprachliche Traditionen anknüpfen, sondern ebenso seine Inspiration beziehen aus Illustration, Bildender Kunst, Theater, Musik, anderen Filmen und vielem mehr.132 Die Visualität des Filmmediums bringt es mit sich, dass sich eine rein grundsätzlich im Vergleich zum wortsprachlichen Märchen stärker konkretisierte Darstellungsart in zumindest einer Hinsicht nicht vermeiden lässt: Die Figuren und Schauplätze des Märchens werden mittels konkreter optischer Bilder dargestellt. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass der Märchenfilm als Form häufig kritisiert wurde.

125 Liptay (2004) widmet dem Thema „Märchenhaftes im Film: Zur Transformation stilistischer Merkmale“ ein ausführliches Kapitel (S. 63-127), Schmitt (1993) behandelt entsprechende Fragestellungen passim. Auf die Werke dieser beiden Autoren, die vieles mit Beispielen untermauern, wird in den folgenden beiden Absätzen hauptsächlich referiert. 126 Vgl. Liptay 2004, S. 63-74; Schmitt 1993, S. 261-264, 266-275, 299-304; daneben Jörg 1994, S. 132-133. 127 Vgl. Liptay 2004, S. 81-87; Schmitt 1993, S. 258. 128 Vgl. Liptay 2004, S. 92-94. 129 Vgl. Liptay 2004, S. 94-98; Schmitt 1993, S. 258-260. 130 Vgl. Liptay 2004, S. 104-106, 108-110; Schmitt 1993, S. 252-253. 131 Vgl. Schmitt 1993, S. 279-283, 287-299. 132 Vgl. hierzu das interessante und aufschlussreiche Kapitel bei Liptay 2004, S. 129-144; daneben Schmitt 1993, S. 167-168; Zipes 2011, S. 8; siehe auch Jörg 1994, S. 109 .

29 II.2. Pro und Contra des Märchenfilms Thompson schreibt: „The cinema […] is perhaps the most succesful of all mediums for the presentation of the . Creatures of the folk imagination can be constructed with ease and given lifelike qualities.“133 Der Enthusiasmus, den der Doyen der US-Folkloristik für den Märchenfilm zutage legt, wird bei weitem nicht von allen geteilt – gegen die visualisierte Wiedergabe von Märchen im Allgemeinen und gegen Märchenfilme im Besonderen ist viel gesagt worden. „Drama is naturally hostile to Fantasy“134 meint Tolkien, der sich im Folgenden dann abfällig über die technisch-mechanischen Möglichkeiten des Theaters äußert, Märchenwunder und ähnliches darzustellen, was für ihn in der Regel einem Abgleiten ins unbeabsichtigt Komische gleichkommt. Interessanterweise äußert er sich nicht über den Film mit seinen das Theater übersteigenden Möglichkeiten. Propp vertrat den Standpunkt, dass lediglich die musikalische Theaterform, Oper oder Ballett, in der Lage sei, Märchen überzeugend zu adaptieren, da die Musik dem irreal-zauberhaften Märchencharakter entspreche. Ähnliche Möglichkeiten räumt er dem Puppentheater und dem Trickfilm ein, ist jedoch der Ansicht, dass sowohl im rein dramatischen Theater als auch im Realfilm Märchen schlichtweg unmöglich seien.135 Vielzitiert sind die Äußerungen des Märchenforschers Walter Scherf, der ebenfalls die ,phantasiefreundliche’ Form des Puppentrickfilms lobte, während ihm zufolge „alle Versuche, durch Schauspieler Märchen in filmische Wirklichkeit zu versetzen, hoffnungslos im billigsten Kitsch stecken“136, und „[s]elbst die höchste filmische Perfektion ändert an diesem Unvermögen nichts.“137 Steffen Wolf referiert auf diese und ähnliche Meinungen, wenn er konstatiert: Der sogenannte realistische Märchenfilm läßt der Phantasie des Kindes keinen Spielraum mehr; er hemmt die Phantasie des Kindes, weil er notwendigerweise gezwungen ist, das relativ undeutliche, im Halbdunkel und in phantastisch-wunderbaren Bereichen angesiedelte und von mannigfachen subjektiven Erlebnissen und Eindrücken geprägte Bild, das zunächst nur in der Phantasie des Kindes besteht und fortlebt, zu konkretisieren, zu verallgemeinern und zeitbedingten Klischees zu unterwerfen.138 Einseitig sind solche Meinungen nicht nur wegen der Reduzierung des Märchenfilms auf sein Zielpublikum. Der sich darin wiederholende Vorwurf der ,Phantasiefeindlichkeit’ des

133 Thompson 1951, S. 461. 134 Tolkien 1988, S. 47. 135 Propp 2005, S. 13-14. 136 Scherf 1961, S. 25-26. 137 Ebd., S. 27. 138 Wolf 1969, S. 73-74. Seine verallgemeinernde Aussage (wie auch die Scherfs) bezieht sich in erster Linie auf die größtenteils als misslungen betrachtete bundesdeutsche Märchenfilmproduktion der 50er Jahre. Zu Kritik und Problemen des Märchenfilms vgl. sonst auch Fomin 2001, S. 160-163.

30 Märchenfilms gegenüber dem wortsprachlichen Märchen wird von Schmitt vollkommen zu Recht für haltlos erklärt: Ihm zufolge liegt der entscheidende Denkfehler der Gegner des Märchenfilms in einer „vorschnellen Gleichsetzung des Vorstellungs v e r m ö g e ns als der besonderen Weise der Bilderzeugung mit der Phantasie t ä t i g k e i t , die immer eine Phantasie l e i s t u n g zur Folge hat [Hervorhebungen Schmitt]“139. Dadurch würden die Möglichkeiten, die filmisch-konkrete Bilder in diesem Zusammenhang bieten, verkannt: Der Autor stützt sich auf theoretische und praktische Erkenntnisse aus der Pädagogik und der Psychologie, wenn er konstatiert, dass solche Bilder eine fruchtbare Grundlage für die Phantasietätigkeit darstellen können – ohne sie hätte man ja oft keine Anknüpfungspunkte, man müsste sich seine eigenen Bilder erst schaffen, was gerade Kindern oft nicht ohne weiteres möglich ist. Filmische Bilder können jedoch anregen, sie in der Phantasie weiterzuentwickeln.140 Auch Fabienne Liptay sieht den Film in seinen Eigenheiten als phantasiefördernd, wenn sie dessen grundsätzlich elliptische Erzählweise betont, die von häufigen Orts- und Zeitwechseln geprägt ist und damit voraussetzt, dass der Zuschauer, um der Handlung folgen zu können, „filmische Leerstellen“ mittels subjektiver Phantasie selbst füllt. Weiterhin lösen die filmischen Bilder ja auch durch verschiedene Erfahrungen bedingte individuelle Prozesse auf der assoziativen Ebene aus: Dem äußeren Bild steht ein inneres Bild gegenüber, wobei die beidenen Ebenen nicht zu trennen sind und sich gegenseitig bedingen.141 Auf Grund der verschiedenen Textsysteme können, so Schmitts Forderung, die dem wortsprachlichen Märchen eigenen Merkmale nicht undifferenziert vom Märchenfilm eingefordert werden, wobei sich solche Merkmale ohnehin oftmals nicht unmittelbar auf das „Sinnmodell“ des Märchens auswirken: „Stellt man sich einmal vor, die Satz- und Wortkompetenz des Märchenerzählers von früher hätte nicht in wortsprachlichen, sondern in filmischen Ausdrucksmitteln bestanden, so hätte er seine spezifischen Erzählbedürfnisse eben mit filmischen Mitteln befriedigt.“142 Schmitt warnt jedoch auch vor einer gleichermaßen einseitig angelegten Sichtweise, die etwa einer Märchenverfilmung einen künstlerischen Eigenwert nur dann zugesteht, wenn sie die Vorlage „innovativ“ handhabt, d.h. sie durch

139 Schmitt 1993, S. 69. 140 Vgl. ebd., S. 70-75. 141 Vgl. Liptay 2004, S. 36-39. Die elliptische Erzählweise des Films und ihre Nähe zum mündlichen Erzählen (und damit zum Märchen) betont auch David Mamet (1991, S. 2): „If you listen to the way people tell stories, you will hear that they tell them cinematically. They jump from one thing to the next, and the story is moved along by the juxtaposition of images – which is to say, by the c u t [Hervorhebung Mamet]“. 142 Schmitt 1993, S. 82, ganz ähnlich formuliert auch S. 8, S. 119.

31 Veränderungen dem Filmmedium anpasst.143 Beide Sichtweisen lehnt er als zu einengend ab – er sieht den Märchenfilm als in der lebendigen Tradition der das Märchen kennzeichnenden Variantenbildung verankert.144 Holger Jörg stellt außerdem eine weitere Parallele fest, wenn er sagt, dass jeder (!) Film sich in seiner „narrative[n] Struktur […] eindeutig an den Stilprinzipien der Mündlichkeit orientiert“, da er gezwungen ist zur „Kürzung, Raffung, Komprimierung des Stoffes, zur Schematisierung, Kontrastierung und Anschaulichkeit“145, was ihn in die Nähe der Volksprosa rückt. Im selben Geiste kann der Regisseur, Bühnen- und Drehbuchautor David Mamet in seiner praktischen Handreichung zur Filmregie, ohne sich näher mit der Märchenthematik auseinanderzusetzen, feststellen: „The fairy tale is a great teaching tool for directors. Fairy tales are told in the simplest of images and without elaboration, without an attempt to characterize. The characterization is left up to the audience.“146 In diesem Zusammenhang ist weiterhin auch auf die Spezifik der Filmproduktion hinzuweisen, die aus jedem Film eine Art Kollektivkunstwerk macht, an dessen Entstehen, auch wenn dem Regisseur eine gewisse Sonderstellung zugestanden werden muss, viele verschiedene Kräfte beteiligt sind – und auch der Folklore wird ja gemeinhin ein solcher Kollektivcharakter zugeschrieben.147 Liptay plädiert für einen kombinatorischen Ansatz bei der Untersuchung von Märchenfilmen, der einerseits den Film als Film im Kontext der Filmgeschichte beurteilt, andererseits aber den Bezug zu den Spezifika und Traditionen des Genres Märchen als Literatur- und Folkloreform mit berücksichtigt.148 Sie spricht sich gegen die Auffassung aus, den Märchenfilm nur als ergänzende Bebilderung des wortsprachlichen Märchens zu sehen149 und betont die besonderen Möglichkeiten, die das Medium Film gerade, wenn man in seinen Werken nicht Abbilder, sondern Interpretationen sieht, für das Märchen bietet – dabei geht sie davon aus, dass jede Märchenverfilmung stets als Individualisierung des Allgemeinen zu betrachten ist, in der sich künstlerisch-ästhetische und biographische, ideologische, kulturelle und gesellschaftspolitische, nationale und epochale Hintergründe spiegeln. Gerade hierin besteht der Reiz (nicht das Manko) immer neuer Bearbeitungen und Vergegenwärtigungen des Märchens. Märchen verändern sich in jeder zeitgebundenen Wahrnehmung, auch wenn

143 Vgl. ebd., S. 83-85. 144 Vgl. ebd., S. 250-251; siehe auch Liptay 2004, S. 56. 145 Jörg 1994, S. 297. 146 Mamet 1991, S. 81. 147 Vgl. Jörg 1994, S. 25, 56; auch Schmitt 1993, S. 170. 148 Vgl. Liptay 2004, S. 21. 149 Vgl. ebd., S. 27-28, 56.

32 ihre Themen überzeitlich sind. Und es ist gerade ein Besonderes des Films, dass er diese Veränderungen für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert s i c h t b a r [Hervorhebung Liptay] macht.150 Ganz ähnlich sieht Nina Sputnickaja das Wesen des Märchenfilms: Фольклорная сказка в кино и моделирует мир, и им питается, не создает новую реальность, а совмещает в себе прошлое (былые интерпретации), настоящее (акт рассказывания), и выступает хранителем основы будущих вариантов (ремейки). Киносказка — это пример творческой реакции на классический фольклор, один из вариантов взаимоотношений волшебной сказки с реальностью.151 [Das Folkloremärchen im Kino modelliert die Welt und nährt sich gleichzeitig von ihr, es schafft keine neue Realität, sondern vereint in sich Vergangenheit (frühere Interpretationen) und Gegenwart (der Akt des Erzählens), außerdem bietet es eine Grundlage für spätere Varianten (Remakes). Das Kinomärchen ist ein Beispiel schöpferischer Reaktion auf klassische Folklore, eine der Varianten der Wechselbeziehung zwischen Zaubermärchen und Realität.] Im Grunde genommen ist damit auch die Motivation, die zur Anfertigung der vorliegenden Arbeit geführt hat, umschrieben. Bevor aber deren konkreter Untersuchungsgegenstand, der sowjetische Märchenfilm, als Phänomen näher untersucht wird, ist zunächst noch ein ausführlicherer Überblick über die bisherige Forschung zum Thema Märchenfilm sowie Märchen und Film angebracht – hierbei soll auch aufgezeigt werden, inwieweit die jeweiligen Arbeiten mit dem hier geplanten Forschungsvorhaben in Verbindung stehen und wo spezifische Lücken bestehen, derer sich dieses anzunehmen gedenkt.

II.3. Forschungsstand zum Thema Märchenfilm, Märchen und Film Die Auseinandersetzung mit dem Thema Märchenfilm sowie allgemeiner Märchen und Film ist in der Wissenschaft schon häufiger erfolgt, nicht nur im Rahmen ganz verschiedener Fachbereiche, sondern auch mit ganz verschiedenen Zielsetzungen und auch sehr unterschiedlichen konkreten Untersuchungsgegenständen. Jörg untersucht in seiner Dissertation152 deutsche Stummfilmklassiker danach, inwieweit sie von Folklore, insbesondere vom Märchen und von der Sage, beeinflusst wurden. Er unterscheidet hierbei zwischen „Märchenfilmen“ und „Sagenfilmen“ nach einer bestimmten Vorlage und analog zwischen „Filmmärchen“ und „Filmsagen“ ohne konkrete Vorlage.153 Den größten Teil der Arbeit nehmen die detaillierten Filmbeschreibungen ein, wobei direkte Folkloreentlehnungen anhand des AaTh und des Motif-Index von Stith

150 Ebd., S. 45. 151 Sputnickaja 2010, S. 26. 152 Jörg 1994. 153 Vgl. ebd., S. 23 (Fn. 51), 104, 117. Insbesondere den Terminus „Filmsage“ halte ich aus den oben angeführten Gründen für ungünstig. „Sagenfilm“ ist eher vertretbar, da hier auf den Aspekt der Adaption verwiesen und nicht der Film selbst als Sage eingestuft wird. Jörg ist sich der Problematik bei seiner Begriffswahl wohl bewusst und schlägt (erstmals S. 23, Fn. 51) als Überbegriff für die beiden Spielarten die Bezeichnung „Phantastischer Film mit Sagencharakter“ vor, die eher angebracht scheint.

33 Thompson, Folkloreeinflüsse auf die narrative Struktur auf Grundlage der von Axel Olrik beschriebenen „epischen Gesetze der Volksdichtung“ belegt werden. Was Jörgs Monographie mit der vorliegenden Arbeit gemeinsam hat, ist ein interdisziplinärer, methodenpluralistischer Zugang, der ein breites Verständnis davon, was ein Märchenfilm ist, beinhaltet und den Einfluss des Märchens auf den Film nicht nur auf die Betrachtung von Adaptionen beschränkt. Beim konkreten Untersuchungsmaterial gibt es dagegen keinerlei Überschneidungen. Eine andere, noch weiter gehende Eingrenzung nimmt Andrea Kölbl154 vor: Sie vergleicht Volksmärchen und populäre Spielfilme, und zwar solche, die einen gesellschaftlichen Aufstieg im Rahmen einer Liebesgeschichte thematisieren.155 In akribischer Kleinarbeit geht sie der Frage nach, inwieweit filmische (!) narrative Muster mit denen des wortsprachlich-mündlichen Märchens kongruieren, und zwar anhand der von Lüthi und von Bengt Holbek für das Märchen entwickelten Kategorien. In ihrem Forschungsmaterial von dem traditioneller Untersuchungen zum Thema Märchen und Film, und damit auch von dem der vorliegenden Arbeit, relativ weit entfernt156, bietet Kölbl durchaus aufschlussreiche theoretische Überlegungen zur Wechselbeziehung der beiden Textsorten, zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden, und dies weitgehend losgelöst von den Fällen, in denen eine direkte Abhängigkeit etwa auf stofflicher Ebene vorliegt. Kristian Moen wiederum macht in seiner interessanten Studie157 deutlich, wie der Film der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gerade die Form Märchen vereinnahmte, um die sich verändernde Realität der Moderne und die damit verbundenen Empfindungen darzustellen: Zaubereien dienen darin etwa nicht nur als Vorwand, die technischen Möglichkeiten des Films zu demonstrieren, sondern stehen für unterschiedliche Phänomene wie Wandel und Fortschritt, Sensationslust und Konsumkultur, und werden ganz verschieden bewertet. Der Autor zeichnet eine historische Entwicklung nach und beginnt mit der französischen Theater-Féerie, ehe er sich verschiedenen Phasen der Stummfilm- und frühen Tonfilmgeschichte bis hin zu Disneys Snow-White and the Seven Dwarves (1937) widmet158; 154 Kölbl 2006. 155 Sie benutzt die Begriffe „Märchenfilme“, „Filmmärchen“, „Aufstiegsmärchen“, „Reichtumsmärchen“ und Filme mit einzelnen märchenhaften Motiven für verschiedene Kategorien von Filmen (S. 21), wobei die Benennung eher willkürlich erfolgt. Den provisorischen Charakter gesteht sie selbst ein, indem sie die jeweiligen Begriffe in Anführungsstriche setzt (vgl. dort S. 21, Fn. 26). 156 Nur einige wenige der Filme ihres Samples sind ,klassische’ Märchenadaptionen, darunter aber immerhin einer der drei, die Detailanalysen unterzogen werden (Ever After. A Story (Auf immer und ewig), 1998). Generell besteht ihr Korpus fast ausschließlich aus US-Produktionen. 157 Moen 2013. 158 In einem ausblickhaften Nachwort geht er auch kurz auf neuere, um die Jahrtausendwende entstandene Filme ein.

34 dabei kommt er jeweils von Märchenfilmen auf Filme, die sich märchenhafter Elemente bedienen, zu sprechen. Sein Fokus liegt auf der westlichen Kultur, auf Frankreich und dann Hollywood; die Märchenfilme der Sowjetunion, die die Potentiale des Märchens ganz anders nutzen und deren Geschichte ohnehin erst nach 1937 beginnt, berührt er nicht. Anderen Arbeiten zum Thema Märchen und Film liegt ein per se eingegrenzter Untersuchungsgegenstand zu Grunde, was definitorische Überlegungen und theoretische Gedanken zur Genreproblematik Märchenfilm weitgehend hinfällig macht: So beschäftigen sich Cornelia Anett Endler159 und Ron Schlesinger160 beide mit dem Märchenfilm des Dritten Reiches – Endler mit den für den Schulunterricht angefertigten Puppentrickmärchen der Gebrüder Diehl, Schlesinger mit dem Schauspielermärchenfilm. Von einer anderen Seite grenzt Renate Erhart161 ihr Material ein: Sie untersucht nicht Märchenfilme einer bestimmten Zeit oder eines bestimmten Kulturraumes, sondern Filmvarianten eines bestimmten Märchentypus, dem von der Schönen und dem Biest (AaTh 425C Beauty and the Beast) – darunter auch eine sowjetische und eine postsowjetisch-russische Variante. Liptay162 beginnt ihre filmwissenschaftliche Dissertation mit einem langen und anschaulichen theoretischen Teil zur Form Märchenfilm, auf den schon referiert wurde und in dem sie zahlreiche Filme anspricht, ohne jedoch genauer darauf einzugehen. Den praktischen Teil ihrer Arbeit machen dann wiederum qualitative Einzelfilmanalysen aus (u.a. auch von einem sowjetischen Film), anhand derer sie verschiedene Aspekte untersucht, deren Systematik sich nicht so recht erschließt, so z.B. den Umgang mit Themen wie Geschlechterrollen, Erotik und Tod. Die Analysen sind sehr filmwissenschaftlich geprägt: Auf die (möglichen) Vorlagen und Einflüsse wird teilweise en passant eingegangen, die Filme jedoch vorrangig nach formal-ästhetischen Gesichtspunkten als eigenständige Kunstwerke untersucht. Eine in Methodik und Theorie ebenso wie im Material sehr aufwendige und anspruchsvolle Arbeit zum Märchen im Medium Fernsehen hat Schmitt vorgelegt: Er beschäftigt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit allen im westdeutschen Fernsehen in den 80er Jahren gezeigten Märchenadaptionen, mit einer Statistik, die weiterhin alle Ausstrahlungen seit 1954 umfasst. Dabei untersucht er das Korpus empirisch nach

159 Endler 2006. 160 Schlesinger 2009. Daneben hat Schlesinger auf seinem Internet-Blog Märchen im Film (Schlesinger, maerchen-im-film.de, letzter Zugriff 29.08.2015) eine Reihe von recht interessanten Aufsätzen zu verschiedenen mit dem Märchenfilm (auch internationale Produktionen berücksichtigend) verknüpften Themen publiziert, die teils essayistischer, teils populärwissenschaftlicher Natur sind. 161 Erhart 2007. 162 Liptay 2004.

35 verschiedenen Leitfragen, u.a. danach, welche Erzähltypen nach dem AaTh in den Produktionen auftauchen, wie der Film mit der Formelhaftigkeit des Märchens umgeht und welche Märchen hauptsächlich als Stofflieferanten dienen. Daneben beschäftigt er sich mit verschiedenen Themenfeldern und deren Rolle im Märchenfilm, so z.B. Komik, Grausamkeit, soziale Unterschiede. Er beschränkt sich dabei auf „Adaptionen klassischer Märchen“, also solche, die einem konkreten Erzähltyp nach dem AaTh zugeordnet werden können. Märchenfilme, deren Bezüge zur Folklore sich nicht über den AaTh nachweisen lassen können, fallen dementsprechend aus dem Raster. Eine Ausnahme wird gemacht für die Verfilmungen von Stoffen der Kunstmärchendichter Hans Christian Andersen und Wilhelm Hauff – deren Einbeziehung wird mit ihrer Popularität begründet163, was m.E. argumentativ wenig überzeugt. Insofern, als dass Schmitt den Märchenfilm als Breitenphänomen untersucht, und in Hinblick auf die Fragestellung und die methodische Herangehensweise konnten seiner Arbeit äußerst wichtige Anregungen entnommen werden. Es soll sich hier jedoch der Herausforderung gestellt werden, auch Märchenfilme zu berücksichtigen, die nicht die Kriterien der Adaption von klassischen Märchen erfüllen: Für Schmitt hätte dies ins Uferlose geführt, da er sämtliche Formen von Märchenadaptionen, die im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, berücksichtigt, darunter auch Zeichentrick, Fernsehpuppenspiele, Märchenlesungen, Serien usw.164 – die vorliegende Arbeit beschränkt dagegen ihren Untersuchungsgegenstand auf Realfilme im Langspielfilmformat, was eine Erweiterung nach einer anderen Seite ermöglicht. Schließlich wird hier, im Gegensatz zu Schmitts Arbeit, eine Einschränkung im Hinblick auf das Produktionsland vorgenommen: Schmitt untersucht sämtliche Produktionen, die im westdeutschen Fernsehen gezeigt wurden, unabhängig davon, wo sie hergestellt wurden165, in dieser Studie geht es speziell um in der Sowjetunion produzierte Filme. Diese spielen in Schmitts Korpus sogut wie keine Rolle.166 Eine Schmitts Materialumfang übersteigende Monographie hat Jack Zipes vorgelegt167, wobei er darin auch seine in einer früheren Veröffentlichung168 angestellten Überlegungen zum Märchenfilm, die sich dort allerdings im Wesentlichen auf US-amerikanische Produktionen beschränken, mit einfließen lässt. Im Vorwort zu dem monumentalen Werk

163 Vgl. Schmitt 1993, S. 181. 164 Vgl. dazu ebd., S. 62-63, 164-165. 165 Vgl. ebd., S. 164. 166 Er verzeichnet in seinem 175 Produktionen umfassenden Korpus lediglich 4 sowjetische Filme, davon ein Trickfilm, was, wie der Autor vermutet (S. 200), damit zusammenhängt, dass selbst populäre Produktionen dem westdeutschen Fernsehpublikum oft erst nach 1990 in Synchronisation zugänglich gemacht wurden. 167 Zipes 2011. 168 Zipes 1997.

36 erwähnt der Autor, dass er ursprünglich geplant habe, in seinem auf vier Jahre ausgelegten Projekt alle weltweit jemals produzierten relevanten Märchenfilme zu behandeln, sich aber auf Grund der unüberschaubaren Fülle des Materials gezwungen sah, sich auf europäische und nordamerikanische Produktionen zu beschränken. Dass auch mit dieser Einschränkung das Material kaum umfassend bewältigbar ist, liegt auf der Hand – zudem Zipes sich trotz seiner Eingrenzung „wherever possible“169 auch auf bedeutende Werke aus anderen Kulturräumen, von Mexiko bis Singapur, bezieht, er sämtliche Filmformen vom Cartoon bis zum Spielfilm berücksichtigt und sein Verständnis von Märchen so weitgehend ist, dass es z.B. auch „classical fairy-tale novels“ wie The Adventures of Alice in Wonderland oder Peter Pan and Wendy beinhaltet. So hat seine im Anhang präsentierte 37 Seiten umfassende Filmographie zwar eine beeindruckende Dimension, doch weist sie insbesondere im Bereich des sowjetischen Märchenfilms beträchtliche Lücken auf170. Der Haupttext der Arbeit ist in 3 Abschnitte eingeteilt, bestehend aus mehreren Unterkapiteln, die aber eine Vielzahl von Themenfeldern abdecken, wobei ein roter Faden nicht immer eindeutig zu erkennen ist171 – das Werk ist mehr wie eine Aufsatzsammlung zu lesen, deren Erkenntnisse eher impressionistischer denn repräsentativer Natur sind. Ein Kapitel widmet Zipes explizit dem Märchenfilm der Länder des ehemaligen Ostblocks, wobei er einzelne dieser Werke auch, mal mehr, mal weniger ausführlich, in den anderen Kapiteln anspricht.172 Insgesamt schreibt der Autor subjektiv-anschaulich und mit spürbarer Begeisterung für seinen Gegenstand, wenn er seine Meinung auch oft argumentativ wenig fundiert und seine Vorliebe für „innovative“ Konzepte bei Märchenumsetzungen etwas einseitig wirkt. Vom konkreten Untersuchungsgegenstand her überschneiden sich die bisher genannten Publikationen also kaum mit dem Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Auch liegt eine ausgeprägt kulturraumbezogene Perspektive, die diese einzunehmen gedenkt, bei ihnen nicht vor. Einigen der angestellten theoretischen und ästhetischen Überlegungen konnten Anregungen entnommen werden, und sofern die Arbeiten sowjetische Filme mitbesprechen, können sie, wenn diese untersucht werden, ergänzend herangezogen werden. 169 Zipes 2011, S. XII. 170 Unter „Russian Fairy-Tale Films“ (Filme anderer Sowjetrepubliken werden gar nicht berücksichtigt) sind 27 Titel genannt, sowjetische Filme tauchen auch vereinzelt in anderen Kategorien auf. 171 So beschäftigt sich der erste Abschnitt mit der Frühgeschichte des Märchenfilms, u. a. mit der Rolle von Georges Méliès, aber auch mit Walt Disney und Märchen im Zeichentrick. Der rote Faden des zweiten Abschnitts leuchtet am ehesten ein: Es werden filmische Varianten von populären Erzählstoffen (von Schneewittchen bis Hans Christian Andersen) besprochen. Der dritte Abschnitt dagegen enthält Kapitel zu sehr Verschiedenartigem – zu Verfilmungen von „Fairy-Tale Novels“, zu ost- und ostmitteleuropäischen Märchenfilmen und zur Rolle des Kindes als moralische Instanz in Märchenfilmen der letzten 20 Jahre. 172 Ärgerlich ist im Übrigen der sehr schlampige Umgang des Autors (oder der Redaktion) mit slavischen Namen und Titeln – so wird z.B. aus Nasten’ka durchgängig Nastenaka (!), S. 328-329.

37 Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass diesen Besprechungen in der Regel lediglich die synchronisierten Fassungen der Filme zugrundeliegen, die manchmal vom Original abweichen können.173

Neben diesen Monographien werden sowjetische Märchenfilme teils auch von Publikationen enzyklopädischen Charakters erfasst. An deutschssprachigen Standard-Nachschlagewerken ist zunächst das Lexikon des Internationalen Films (LdiF)174 zu erwähnen, das alle im deutschsprachigen Raum erschienenen Filme enthält. Außerdem von Bedeutung ist der annotierte Katalog zur größten Filmsammlung mit Russlandbezug im deutschsprachigen Raum an der Universität Innsbruck: Diese wurde seit den 80er Jahren zusammengetragen und wird seither ständig erweitert – der Katalog wurde erstmals 1998 unter der Herausgeberschaft von Christine Engel in Druckform publiziert175, seit 2006 wird das Projekt unter der Verantwortlichkeit von Eva Binder online fortgeführt und kontinuierlich aktualisiert176. Sowohl das LdiF als auch der Katalog der Uni Innsbruck enthalten zahlreiche sowjetische Märchenfilme, der Katalog der Uni Innsbruck übernimmt dabei teilweise Besprechungen des LdiF. Die Besprechungen fallen aber schon wegen des vorgegebenen Rahmens äußerst knapp aus, so dass sie für eine weitergehende Beschäftigung kaum geeignet sind. Ähnlich verhält es sich beim Neuen Lexikon des Fantasy-Films177 – zumindest stellenweise gibt dieses allerdings recht gute Überblicke über das deutsche Presse-Echo. Generell ausführlich und informativ sind dagegen die Besprechungen des Reclam-Filmführers zu Fantasy- und Märchenfilm178, doch dieser enthält nur drei sowjetische Märchenfilme.

173 So erwähnen etwa sowohl Liptay (2005, S. 64, 222) als auch Erhart (2007, S. 124-126) bei dem Film Alen’kij cvetoček (Die feurerrote Blume, 1977) die Erzählerstimme aus dem Off, die in das Geschehen einführt und die Handlung kommentiert – diese jedoch wurde beim Synchronisieren hinzugefügt, die entsprechenden Szenen kommen in der Originalfassung gänzlich ohne gesprochene Worte aus. 174 Neben den Publikationen in Bücherform sind die Filmbesprechungen (freilich ohne die Begleittexte) auch online verfügbar – für die vorliegende Arbeit wurde auf die Variante auf den Seiten des Zweitausendeins- Verlags (Filmlexikon, www.zweitausendeins.de/filmlexikon, letzter Zugriff 29.08.2015) zurückgegriffen. Dies hatte vor allem den pragmatischen Grund der leichteren Zugreifbarkeit und ist insofern gerechtfertigt, als dass das LdiF für die Arbeit lediglich eine Nebenquelle darstellte: Hier wurden in erster Linie die deutschen Verleihtitel (bzw. die Tatsache, ob der Film in den deutschsprachigen Verleih kam) recherchiert. Die Online-Quelle wurde jedoch stichprobenhaft mit der Druckversion abgeglichen und festgestellt, dass sie übereinstimmen. 175 Engel 1998. 176 russischerfilm.net, www.russischerfilm.net, letzter Zugriff 29.08.2015. 177 Hahn/Giesen 2001. 178 Friedrich 2003. Eine genaue Abgrenzung der beiden Filmgenres voneinander wird damit umgangen, eine Problematik, die Friedrich im Vorwort anspricht. Dies hat zur Folge, das sehr unterschiedliche Filme Eingang fanden, von Conan, the Barbarian (Conan, der Barbar) bis hin zu Harry Potter.

38 Einen deskriptiven Überblick über den sowjetischen Märchenfilm bietet Terry Staples in seinem Artikel in der Greenwood Encyclopedia of Folktales and Fairy Tales.179 Der Autor scheint sein Material jedoch nur äußerst oberflächlich rezipiert zu haben – jedenfalls finden sich hier teils irreführende, teils auch grob fehlerhafte Angaben.180 Hinzu kommt, dass aus der Zeit ab den 60er Jahren und dem eigentlichen Märchenfilm-Boom in der Sowjetunion nur mehr sehr wenige und recht willkürlich ausgewählte Beispielfilme besprochen werden. Als in dieser Hinsicht wesentlich hilfreicher gestaltet sich nach wie vor die von Eberhard Berger und Joachim Giera herausgegebene Kompilation 77 Märchenfilme181, die einen repräsentativen populärwissenschaftlichen Überblick über das Märchenfilmschaffen in den ehemaligen Ostblockländern DDR, Sowjetunion, Tschechoslowakei und Rumänien gibt, wobei jedem Teilabschnitt eine filmhistorische Einführung von einem Experten aus dem jeweiligen Kulturraum vorangestellt ist und und anschließend ausgewählte Filme ausführlich dargestellt und kommentiert werden182 – die Filme werden jedoch nicht systematisch zueinander in Bezug gesetzt und keine vergleichenden Betrachtungen angestellt.

Wie sieht es in der russischsprachigen Forschung aus? Ist dort der sowjetische Märchenfilm als Phänomen besser erarbeitet? Hierzu muss zunächst angemerkt werden, dass der traditionellen Sichtweise aus dem ehemaligen Ostblock stammender Wissenschaftler ein Verständnis des Begriffes Märchenfilm (fiľm-skazka, kinoskazka) zugrundeliegt, das sich von dem in der vorliegenden Studie unterscheidet: Der Märchenfilm gilt als besondere Form des Kinder- und Jugendfilms, und unter Märchenfilmen werden alle Kinder- und Jugendfilme subsumiert, die mit Elementen des Irrealen (oder „Phantastischen“) arbeiten.183 Dabei wird dann unterschieden zwischen „klassischen Märchen“, d. h. Bearbeitungen von Folklorestoffen (aber auch z.B. der Kunstmärchen von Puškin, Aksakov u.a.), und

179 Staples 2008. 180 Auffällig ist dies insbesondere in einem Absatz auf S. 903-904: Darin wird aus der moldawischen Märchenvorlage von Andrieš (1954) eine ukrainische, ein weißrussischer Film (Nesterka, 1955) erhält den Titel und den Regisseur eines georgischen (Volšebnaja svireľ (Die Zauberflöte), 1954), schließlich wird ein aserbaidschanischer Märchenfilm (Tajna kreposti (Das Geheimnis der Festung), 1959) gar mit dem Titel eines in dieser Republik entstandenen Kriegsfilms (Na daľnich beregach (Damals in Triest), 1958) versehen! 181 Berger/Giera 1990. 182 Während der Großteil der Filmbesprechungen informativ und gut lesbar ist, sind in Einzelfällen leider auch hier irreführende Ungenauigkeiten oder Fehler festzustellen – das auffälligste Negativbeispiel sei hier genannt: Im Artikel zu Učenik lekarja (Der Lehrling des Medicus, 1984; S. 252-255) wird nicht nur der Name einer Hauptfigur konsequent falsch wiedergegeben (Kostja (!) statt Kosta), es wird auch behauptet, der Regisseur habe ein bulgarisches Märchen in eine russische Zarenresidenz verlegt – eine mehr als zweifelhafte Behauptung, denn das Land wird nicht genannt, die Namen der Hauptfiguren sind eindeutig südslavisch, die Kostüme diffus mitteleuropäisch, die Architektur südosteuropäisch (Drehort war Rumänien). 183 Vgl. zu zu diesem Verständnis Paramonova 1979, S. 118-119.

39 „modernen Märchen“ (sovremennye skazki), wobei sich „modern“ nicht nur auf die Gegenwartsthematik beziehen kann, sondern auch auf Verfilmungen zeitgenössischer Autoren unabhängig davon, ob diese ihre Handlung in der Gegenwart oder einer ,märchenhaften’ Vergangenheit ansiedeln, und filmische Originalwerke entsprechender Prägung.184 Für solche Filme wird die Bezeichnung Märchen aber nicht systematisch und durchgängig gebraucht – sie werden mal als Märchen bezeichnet, mal nicht. Bezugspunkt ist meist lediglich das Element des Irrealen, wodurch eine Unterscheidung vom ,realistischen’ Kinderfilm herbeigeführt wird185. Von dieser Prämisse ausgehend werden die Filme dann in erster Linie vom filmpädagogischen und filmsoziologischen Standpunkt her beleuchtet, der durch filmästhetische Überlegungen zu Sinn und Zweck des Märchens ergänzt wird. In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte Märchenfilmdiskussion zu sehen, die ab Anfang der 60er Jahre in den sozialistischen Ländern geführt wurde.186 Eine Vertreterin dieser Richtung ist die renommierte Filmwissenschaftlerin Kira Paramonova187, die zahlreiche Publikationen über den Kinder- und Jugendfilm vorlegte188. Diese Arbeiten geben einen Überblick über die historische Entwicklung des sowjetischen Kinderfilms, verbunden mit (ideologisierten und ideologieübergreifenden) Betrachtungen darüber, welche Aufgaben sich ihm zu verschiedenen Zeiten stellten und wie er sie bewältigte, was über das Aufzählen der Vorzüge und Nachteile einzelner Filme geschieht, sowie Zukunftsprognosen. Der Märchenfilm wird im Zeichen der Genre- und Themenvielfalt immer implizit mitbehandelt, allerdings nur in ausgewählten Beispielen189, und im Großen und Ganzen wird ihm vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet.190 Etwas informativer zu dieser Thematik, aber sehr allgemein gehalten ist Paramonovas Einführung im

184 So rechnet Paramonova (1979, S. 123-126) etwa auch Zoluška (Aschenbrödel, 1947) nach dem Drehbuch von Evgenij Švarc dem modernen Märchen zu 185 Nicht dem Märchenfilm zugerechnet werden dagegen die Streifen, die im Bereich der Science Fiction bzw. Naučnaja Fantastika angesiedelt sind und von denen auch einige für ein jugendliches Publikum gedreht wurden (z.B. Moskva – Kassiopeja (Start zur Kassiopeia), 1973). 186 Vgl. dazu die Aufsätze von Kira Paramonova und Regisseur Aleksandr Rou in der in der DDR herausgegebenen Zeitschrift Film, Kinder-Fernsehen, Filmerziehung (Paramonowa 1966, S. 75-92; Rou 1966, S. 93-101); siehe auch Paramonova 1979, S. 131-133. 187 Sie hatte u.a. eine führende Position in der Kinderfilmkomission der UdSSR, war viele Jahre Präsidentin des Centre International du Film pour l’Enfance et la Jeunesse (CIFEJ) und lehrte an der Moskauer Staatlichen Filmhochschule VGIK. 188 Neben dem erwähnten Aufsatz z.B. Paramonova 1975; Paramonowa 1985; Paramonova 2005. 189 Insbesondere die Filme von Aleksandr Rou sind für sie Musterbeispiele des Märchenfilms, auch Aleksandr Ptuškos Streifen werden hervorgehoben. Dagegen finden beispielsweise die Filme der äußerst profilierte Regisseurin Nadežda Koševerova kaum Erwähnung. 190 Bezeichnenderweise erwähnt Paramonova in ihrer letzten Monographie von 2005, einem (teilweise auch kritischen) Rückblick auf die 70er Jahre, ihrer Meinung nach die Hochzeit des Kinderfilms, verbunden mit persönlichen Lebenserinnerungen, überhaupt keine Märchenfilme (Rou und Ptuško, so sei angemerkt, waren beide Anfang dieses Jahrzehnts schon verstorben).

40 Märchenfilmführer von Berger/Giera191; daneben veröffentlichte sie eine Monographie über das Schaffen des Märchenfilmregisseurs Aleksandr Rou192, die diesen mit sehr lobenden Worten bedenkt und seine Filme als Musterbeispiele für eine gelungene Synthese zwischen Folklore und Film herausstellt – durch die Betonung von Rous Einfühlungsvermögen in den kindlichen Zuschauer in Kombination mit der postulierten Funktion des Märchens als subtiles didaktisches Mittel liegt auch hier der Schwerpunkt auf dem pädagogischen Aspekt. Das vorletzte Kapitel ordnet Rous Werk in den Gesamtzusammenhang des sowjetischen Märchenfilmschaffens ein und hat damit wiederum Überblickscharakter. Eine sehr interessante Abhandlung über den sowjetischen Märchenfilm stammt von Aėlita Romanenko.193 Sie betont den Spielcharakter der Form Märchen, um davon ausgehend dann eine ganze Reihe von Real- und Trickfilmen zu besprechen, die sie in Bearbeitungen von Volksmärchen und Folklore, Kunstmärchenverfilmungen und modernen Spielarten des Märchenfilms einteilt – womit sie nicht die „modernen Märchen“ in der sonst üblichen Definition meint, sondern vielmehr Filme mit klassischen Märchen- und Folklorebezügen, die in spielerischer Form zeitgenössische Elemente einarbeiten, auf der stilistischen Ebene (die Handlung tritt in den Hintergrund, es wird mit Mitteln des Theaters oder des Zirkus, moderner Musik und moderner Sprache etc. eine Art Nummernrevue geschaffen) wie auch auf der Stoffebene (in Form des Crossover-Märchens). Die Autorin behandelt die Bezüge zur Folklore, ihre Umsetzungen auf der Leinwand und deren Abweichungen, Erweiterungen und Interpretationen und stellt dabei durchaus scharfsinnige Beobachtungen an, wenn auch nicht allen ihren Beurteilungen ohne weiteres zugestimmt werden kann. Allerdings ist ihre Perspektive insofern eingeschränkt, als dass auch sie in erster Linie vom pädagogisch- psychologischen Standpunkt ausgeht, auf dessen Hintergrund sie Fragen der Ästhetik behandelt.194 Es liegt eine begrenzte Auswahl an Filmen zugrunde, und die Besprechungen sind sehr knapp gehalten – was auch mit dem geringen Textumfang der Arbeit zusammenhängt: Es handelt sich um einen Band der populärwissenschaftlichen Broschüren- Serie Iskusstvo. In einer späteren Veröffentlichung195 beschäftigt sich Romanenko dann mit der speziellen Form des mehrteiligen Fernseh-Kinderfilms, der seit den 70er Jahren in der Sowjetunion populär war; dem Märchenfilm ist ein Kapitel gewidmet, dann werden

191 Paramonowa 1990. 192 Paramonova 1979. 193 Romanenko 1983. 194 Dabei wird der pädagogische Wert gerade des Volksmärchens in seinem ,Wesen’ überbetont; Parallelen zwischen dem Märchen und der ,Innenwelt des Kindes’ werden gezogen, wobei Romanenko hier zur Simplifizierung neigt. 195 Romanenko 1987.

41 Kinderfilme anderer Genres abgehandelt, z.B. der Science Fiction-Film oder der Abenteuerfilm. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf pädagogischen und psychologischen Aspekten. Erst in postsowjetischer Zeit (2001) wurde die Monographie von Valerij Fomin veröffentlicht196, deren erste Fassung bereits 1984 fertiggestellt wurde, aber u.a. wegen ihres kritischen Charakters nie zur Veröffentlichung kam. Die Fassung von 2001 wurde laut Angaben des Autors nur stellenweise aktualisiert und erweitert.197 Es handelt sich um eine Auseinandersetzung mit den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Folklore und Kino. Dabei wird betont, dass im Film ein Rückgriff auf Traditionen der Folklore nicht nur im Hinblick auf Folkloretexte, sondern auch auf Alltagskultur und jede Form von ,Volkskunst’ möglich ist und wie fließend die Übergänge von Folklore zu Individualkunst sein können, ohne Disharmonie zu erzeugen.198 Dabei geht der Autor sehr weit in seinem Verständnis davon, was alles als filmische Transformation von Folkorematerial und -traditionen, als Folklorisierung anzusehen ist, und legt die seinen entsprechenden Einordnungen zugrundeliegenden Überlegungen nicht immer für den Leser nachvollziehbar dar. Primär lassen sich filmische Folkloretransformationen, so Fomin, in den von ihm postulierten Filmgenres Epos, Märchen und Parabel (pritča) feststellen. Neben Filmen werden in den entsprechenden Kapiteln auch zahlreiche meist aus Zensurgründen letzlich nicht verwirklichte Filmprojekte besprochen. Im Bereich Märchenfilm interessiert den Autor der ,klassische’ Kanon der für Kinder produzierten Märchenfilme nur peripher – auch das Folkloremärchen sei ja nicht primär für Kinder gedacht gewesen, und auf ein kindliches Zielpublikum zugeschnittene Märchenfilme könnten daher die Möglichkeiten, die sich dem Genre Märchenfilm bieten, nicht voll ausnutzen.199 Wenn dies auch grundsätzlich nachvollziehbar erscheint, liegt die Problematik einer solchen Argumentation darin, dass damit eine von anderer Seite normativ-einseitige Perspektive eingenommen wird, die Kinderfilmen nur auf Grund dessen, dass sie sich an Kinder richten, die Möglichkeit zu besonderem künstlerischem Eigenwert abspricht. Der Schwerpunkt in Fomins weiteren Ausführungen zum Märchenfilm liegt jedenfalls auf Filmen für Erwachsene. Er stellt hierzu eine Reihe interessanter Beobachtungen an, wenn m.E. auch nicht alle Filme, die er bespricht, ohne weiteres dem Märchenfilm zugeordnet werden können.

196 Fomin 2001. 197 Vgl. ebd., S. 7-8. 198 Vgl. ebd., S. 17, ausführlicher S. 43-57. 199 Vgl. ebd., S. 164-166.

42 Von großem Wert ist das von Evgenij Charitonov und Andrej Ščerbak-Žukov veröffentlichte Buch Na ėkrane – Čudo200, das sich als Populärenzyklopädie versteht und Kurzinformationen und filmographische Angaben zu zahlreichen 1909-2002 in Russland, der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten produzierten Filmen enthält, die dem Genre der Phantastik oder dem des Märchens zugeordnet werden können, eingeteilt in Kino- und TV- Spielfilme und Trickfilme. Eine Differenzierung der Genres in der Filmographie findet nicht statt, weshalb hier sehr verschiedenartige Filme auftauchen201, von den Märchen Aleksandr Rous über Vladimir Čebotarevs/Gennadi Kazanskijs Čelovek-amfibija (Der Amphibienmensch, 1962) bis hin zu Andrej Tarkovskijs Soljaris (Solaris, 1972). Grundsätzlich weist auch diese Arbeit, ähnlich wie die deutschsprachigen Nachschlagewerke, verschiedene Lücken auf und zeichnet sich durch eine sehr knappe Darstellungsform aus. Der Filmographie vorangestellt sind eine Reihe von kurzen Aufsätzen zu filmwissenschaftlichen Teilbereichen, z.B. zum Schaffen von einzelnen Regisseuren oder den Adaptionen vielverfilmter Autoren, sowie Interviews mit Filmschaffenden. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem phantastischen Film, auf den Märchenfilm im engeren Sinne bezieht sich lediglich ein Abschnitt über Kinobearbeitungen der Werke von Evgenij Švarc.202 Mit in etwa demselben Großzeitraum (1911-2002) beschäftigt sich Nataľja Miloserdova in einem längeren Aufsatz203 – ihr Ziel ist es, die Entwicklung des spezifisch für ein kindliches Publikum gedachten Films in der Sowjetunion und Russland und dessen gesellschaftspolitische Hintergründe systematisch und umfassend nachzuzeichnen. Sie behandelt verschiedene Genres, Strömungen und Tendenzen sowie bevorzugte Themen und zieht dafür exemplarische Vertreter heran, die sie mal mehr, mal weniger ausführlich bespricht – auch verschiedene Märchenfilme werden besprochen. Spezifisch dem Märchenfilm ist dagegen nur ein Abschnitt gewidmet, in dem sie wiederum auf Rou und Ptuško eingeht und diese kurzerhand zu den einzigen ,echten’ Märchenfilmern erklärt.204 Die neueste russischsprachige Publikation zum Thema Märchenfilm ist die Dissertation von Nina Sputnickaja.205 Die Zielsetzung der Arbeit besteht darin, dem sich in der Krise befindlichen heutigen russischen Kinofilm Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich durch die Anknüpfung an Traditionen des ,klassischen’ sowjetischen Märchenfilms für Kinder

200 Charitonov/Ščerbak-Žukov 2003. 201 Wie auch im Reclam-Filmführer Fantasy- und Märchenfilm wird auch hier im Vorwort auf die damit zusammenhängende Problematik kurz eingegangen. 202 Charitonov/Ščerbak-Žukov 2003, S. 50-53. 203 Miloserdova 2006. 204 Ebd., S. 46-47. 205 Sputnickaja 2010; nicht in gedruckter Form veröffentlicht, aber als PDF bestellbar.

43 bieten. Sputnickaja stellt theoretische Überlegungen an zu den Wechselbeziehungen zwischen Folklore und Film, insbesondere Märchen und Film, mit einem Schwerpunkt auf psychologischen und sozialpsychologischen Faktoren. Es folgt eine informative überblickshafte Darstellung über die Geschichte des sowjetischen Kinderfilms unter besonderer Berücksichtigung des Märchenfilms. Ein weiterer Abschnitt ist der kindlichen Psyche gewidmet. Im anschließenden praktisch-filmwissenschaftlichen Teil wird zunächst Aleksandr Rous Vasilisa Prekrasnaja einer Analyse unterzogen und mit dem Drehbuch eines nicht realisierten Märchenfilmes für Erwachsene von Aleksandr Medvedkin verglichen, ehe Rou dann in einer filmbiographischen Skizze vorgestellt wird, die ausführlich sein Schaffen und seine Rolle als Märchenfilmer untersucht. Darauf folgt eine Besprechung der Möglichkeiten schauspielerischer Interpretationen von Märchenfiguren. Der abschließende Teil der Arbeit beschäftigt sich mit Rezeptions- und Distributionsaspekten, populärkulturellen Phänomenen wie der ,alternativen Interpretation’ und ,Internet-Folklore’ u.a. im Zusammenhang mit der nichtrussischen Filmreihe Lord of the Rings (z.B. Fan Fiction oder im Internet verbreitete Parodien) und der neueren Entwicklung des russischen Films. Da auf Grund der Schwerpunktsetzung viele verschiedenartige Aspekte behandelt werden und die konkrete (durchaus beachtenswerte) Analyse des Märchenfilms sich nur auf die Streifen eines Regisseurs bezieht, kann auch diese Arbeit nicht als umfassende Abhandlung zum sowjetischen Märchenfilm als Phänomen angesehen werden.206

Im Artikel zum Stichwort „Film“ in der Enzyklopädie des Märchens ist zu lesen: „Eine Darstellung des Märchenfilms der UdSSR wäre wünschenswert, doch fehlen die Vorarbeiten.“207 Seit der Artikel 1984 im 4. Band dieses Standardwerks der Märchen- und Erzählforschung erschienen ist, hat sich diese Situation im deutschsprachigen Raum nicht wesentlich geändert – und dies ungeachtet der Tatsache, dass mittlerweile zahlreiche sowjetische Märchenfilme im deutschen (Kinder-)Fernsehen einen festen Platz erobert haben und regelmäßig gezeigt werden (ein anderer, großer Teil der Filme dagegen ist nie im 206 Als ihr größter Schwachpunkt muss hier die äußerst schlampige Zitierweise angeführt werden – in der Literaturliste herrscht über weite Strecken alphabetisches Chaos, und ein nicht unbedeutender Teil der zitierten Werke fehlt darin und findet sich nur in den Fußnoten. 207 Höfig: EM 4, S. 1126. Der Artikel beruft sich ausschließlich auf Sekundärquellen und weist deshalb einige Schwächen auf. Ins Auge fällt insbesondere, dass im Abschnitt über die Tschechoslowakei (S. 1124-1126) die Rede davon ist, dass in deren Kinderfilmproduktion das Märchen nur eine untergeordnete Rolle spiele; dabei wird auf Wolf 1969 referiert – als Wolfs Buch erschien traf dies auch noch zu, doch als der EM Artikel 1984 publiziert wurde, war die Situation schon längst eine grundlegend andere, ein regelrechter Märchenfilm- Boom hatte in der Tschechoslowakei spätestens seit Václav Vorlíčeks Tři oříšky pro Popelku (Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, 1970) eingesetzt. Vgl. auch Schmitt 1993, S. 15, wo die mangelnde Aktualität des Artikels ebenfalls kritisiert wird.

44 deutschsprachigen Raum zu sehen gewesen und wurde daher auch nicht rezipiert). Im russischsprachigen Raum sieht es, auch wenn Teilgebiete erforscht sind, mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des sowjetischen Märchenfilms als Breitenphänomen nicht viel besser aus – ungeachtet der langen Tradition und großen Wertschätzung, die dem Genre dort zukommt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Lücke – im Rahmen der hier gegebenen Möglichkeiten – zu füllen.

III. Zielsetzung, Untersuchungsgegenstand und Arbeitsvorgehen Auf den folgenden Seiten soll, vor der eigentlichen Untersuchung, zunächst die Fragestellung präzisiert werden. Anschließend wird erläutert, wie das Filmkorpus erstellt wurde, und dieses in seiner Zusammensetzung näher beschrieben – das geschieht zum einen, um dem Leser eine genauere Vorstellung darüber zu geben, was untersucht wird, zum anderen mit der Absicht, das wissenschaftliche Vorgehen transparent zu machen. Daraufhin wird geschildert, wie die erste Auswertung erfolgte und in welchem Bezug sie zu den in den folgenden Kapiteln präsentierten Ergebnissen steht, für die sie als Arbeitsgrundlage diente.

III.1. Fragestellung Forschungsmaterial der vorliegenden Studie ist der sowjetische Märchenfilm. Wie eingangs bereits erwähnt soll er als Breitenphänomen betrachtet werden, also ein Filmgenre in einem bestimmten Kulturraum (Russland und die sowjetischen Teilrepubliken) soll als Ganzes untersucht werden, um auf diese Weisen genauer festzustellen, was es in seiner Spezifik und seinem Wesen ausmacht. Ausgehend von den obigen Überlegungen erscheinen hier verschiedene Aspekte von Interesse. Zunächst stellt sich die Frage, was eigentlich den Märchencharakter der Filme ausmacht. Welche Vorlagen wurden verwendet, wie wurden diese transformiert und interpretiert, was wurde darin verändert? Wenn dem Film ein Folklorestoff zugrundeliegt, so sollte sich dieser auf einen Erzähltyp zurückführen lassen, und entsprechende Textfassungen können zum Vergleich herangezogen werden. Liegt ein Kunstmärchen zugrunde, so kann dieses mit der Filmversion verglichen werden, unter Berücksichtigung von dessen jeweiligen Folklorebezügen. Bei einem originären Filmmärchen ist die Fragestellung nochmal zu erweitern: Welche Elemente aus der Folklore wurden verwendet, und wie wurden diese verwendet? Zusammengefasst lässt sich also danach fragen, wie sich der Märchenfilm zu seinem Folkloreäquivalent verhält – lassen sich diesbezüglich bestimmte Muster feststellen?

45 Kann man den Märchenfilm in Gruppen einteilen, die jeweils einen spezifischen Umgang mit der Folklore aufweisen? In Kapitel B soll der Versuch unternommen werden, eine solche Genretypologie zu erstellen. Dabei erfolgt eine Konzentration in erster Linie auf die allgemeine Form des Märchenfilms, es wurde ein synchroner Zugang gewählt, der den spezifischen Kontext, in dem die Filme entstanden, weitestgehend ausgeblendet – dies liegt darin begründet, dass ein Modell erarbeitet werden soll, das im besten Fall auch auf literarische und filmische Autorenmärchen anderer Kulturräume angewendet werden kann. Da die Arbeit sich aber nicht als rein typologische, sondern vor allem auch als kulturraumspezifische Genreanalyse sieht, muss der Dimension des Wirklichkeitsbezuges im Folgenden besonderes Gewicht zukommen: Wie wirkten sich die jeweils aktuellen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Umstände auf den sowjetischen Märchenfilm aus? Dies ist gerade im Kontext der Sowjetunion als autoritäres Staatengebilde sozialistischer Prägung von Relevanz. Inwieweit der sowjetische Märchenfilm ideologisiert, politisiert und als Propaganda-Instrument genutzt wurde, erscheint ebenso erforschenswert wie die gegenteilige Fragestellung, inwieweit er als Mittel gesehen wurde, systemkritische Botschaften zu vermitteln, wie dies ja für das literarische Kunstmärchen typisch war.208 Kapitel C geht hier diachron vor: Anhand von exemplarischen Einzelfilmanalysen wird die Frage untersucht, wie sich der gesellschaftlich-kulturhistorische Diskurs in der Sowjetunion auf den Märchenfilm auswirkte, und anschließend wird versucht, anhand des Gesamtkorpus aufzuzeigen, was für Strömungen, Tendenzen und Entwicklungen es im Laufe der Jahre gab und wie diese sich in den Kontext der sowjetischen Film- und Kulturgeschichte und der sie bestimmenden gesellschaftspolitischen Perioden (Stalinismus, Tauwetter und Stagnation, Perestrojka) einordnen lassen. Als wichtiger Referenzpunkt dient hier der Sozialistische Realismus, die verbindliche Doktrin sämtlicher Künste in der Sowjetunion – indem der sowjetische Märchenfilm zu ihm in Beziehung gesetzt wird, wird auch seine Positionierung innerhalb des kulturpolitischen Systems klarer. Auf diese Weise ergeben sich für die vorliegende Arbeit also zwei verschiedene Untersuchungsebenen, anhand derer das Material näher betrachtet werden soll. Dabei ist freilich davon auszugehen, dass diese nicht isoliert voneinander existieren, sondern sich gegenseitig durchdringen und eine wechselseitige Beeinflussung vorliegt.

208 Vgl. hierzu Lipovetsky 2005.

46 III.2. Zur Erstellung und Zusammensetzung des Filmkorpus Jede Genreuntersuchung muss zunächst mit der Zusammenstellung eines Korpus beginnen, denn, so hält Schmitt richtig fest: „Der genrespezifische Zugriff erfordert das Vergleichen einer Unzahl von Filmen, um über die Erkenntnis von Einzelfilmen hinausgehende Befunde zu erhalten.“209 Um Aussagen grundlegenderer Natur über ein Genre zu treffen, sollten also sehr viele, im Idealfall aber alle seine Vertreter gesichtet und ausgewertet werden, was in den meisten Fällen schon rein forschungsökonomisch nahezu unmöglich ist. Im Fall der sowjetischen Ausprägung des internationalen Genres Märchenfilm erscheint solch ein ambitioniert anmutendes Vorhaben jedoch nicht ganz so unverwirklichbar. Zeitlich, räumlich und kulturgeschichtlich ist das Phänomen fest umrissen: Die Filme entstanden unter einem bestimmten politischen System und in einem näher eingegrenzten Kulturraum, deren Geschichte mittlerweile per se abgeschlossen ist – die Sowjetunion existiert nicht mehr, folglich können auch keine sowjetischen Märchenfilme mehr entstehen. Um ein möglichst vollständiges Korpus zu erhalten, wurde zunächst die russische Online-Datenbank kino-teatr.ru210 nach Märchenfilmen durchsucht. Es handelt sich dabei um die sicherlich umfangreichste (Online- oder anderweitige) Ressource in Bezug auf den sowjetischen Film. Genauere Informationen zur Urheberschaft, darüber, wie das Projekt entstanden ist und wie es unterhalten wird, werden nicht herausgegeben – sie konnten von mir weder auf der Seite selbst noch über Kontaktaufnahme mit den Verantwortlichen über die dort angegebenen Emailadressen eruiert werden. Klar ist nur, dass kino-teatr.ru nach dem Prinzip einer offenen Datenbank funktioniert, zu der jeder beitragen kann211, weshalb auch Fehler nicht ausgeschlossen werden können – für eine Orientierung ist die Seite jedoch äußerst hilfreich, und allein wegen der Datenmenge erschien sie als sinnvollstes Hilfsmittel. So wurden von mir zunächst die Kurzbeschreibungen zu allen dort verzeichneten sowjetischen Filmen gelesen, um aus dieser Menge wiederum diejenigen Filme, die als Märchenfilme und somit als relevant erachtet wurden, auszusortieren. Die Informationen dazu wurden dann mit Charitonov/Ščerbak-Žukov 2003, Miloserdova 2006, russischerfilm.net sowie der Internet Movie Database verglichen, um eine relative Sicherheit über die Richtigkeit der Angaben zu haben. Da hier weitestgehende Übereinstimmung festgestellt werden konnte,212 wurden im

209 Schmitt 1993, S. 159. 210 www.kino-teatr.ru (letzter Zugriff 29.08.2015). 211 Die US-basierte, internationale Datenbank The Internet Movie Database (www.imdb.com, letzter Zugriff 29.08.2015) funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip. Sie weist jedoch, wie ich feststellen konnte, beträchtliche Lücken auf, was den sowjetischen Film betrifft, und konnte deshalb für die vorliegende Arbeit nicht als zentrale Quelle dienen, sondern wurde lediglich zum Abgleich herangezogen. 212 Die anderen Quellen erwiesen sich allerdings, wie zu erwarten, als sehr viel unvollständiger. In

47 Anschluss daran die Filme im Internet und in Bibliotheken ausfindig gemacht, und auf diese Art und Weise wurde das Korpus zusammengestellt. Dabei wurde festgestellt, dass die wenigen Märchenstummfilme, die in der frühen Sowjetunion gedreht wurden, als nicht erhalten gelten – die eigentliche Geschichte des Märchenfilms beginnt erst 1938 mit einem Werk von Aleksandr Rou, Po ščuč’emu velen’ju (Der Zauberfisch). Der letztendliche Untersuchungszeitraum beträgt also 51 Jahre, von 1938-1989213. Thematisch erfolgte die Auswahl der Streifen, wie bereits angedeutet, über die Zuordnung zum Genre Märchenfilm214, in der oben gegebenen Definition. Ein Anspruch auf absolute Vollständigkeit soll jedoch nicht erhoben werden. Von vornherein wurden einige Eingrenzungen vorgenommen: Ausgeklammert wurden Trickfilme, Kurzspielfilme sowie Opern- und – mit einer Ausnahme215 – Ballettfilme mit Märchensujet. Dies geschah aus verschiedenen Gründen: Zunächst würde ansonsten der Rahmen dieser Untersuchung mit Sicherheit gesprengt, deren Materialumfang ohnehin recht ausufernd ist. Weiters unterscheiden sich diese Produktionen in ihrer Machart und ihren Möglichkeiten deutlich von herkömmlichen Langspielfilmen, was eigens erörtert werden müsste. Schließlich und letztendlich aber weist kino-teatr.ru in diesen Bereichen, anders als im Bereich Langspielfilm, sehr große Lücken auf. Einen Sonderfall, über dessen teilweise Exklusion erst später, während der ersten Sichtung, entschieden wurde, stellen die sogenannten fiľmy-spektakli (,Filmstücke’) dar: Es handelt sich dabei in der Regel um Theaterstücke, die fürs Fernsehen auf Film aufgenommen wurden – eine Art Übergangsform. Manche dieser Produktionen stellen tatsächlich nichts weiter dar als abgefilmtes Theater, Co-Produktionen mit Schauspielhäusern: Es ist kein Drehbuchautor angegeben, und man kann sich denken, dass ein Regisseur für das jeweilige Schauspielhaus ein Theaterstück inszeniert hat, und bei einer der Aufführungen war zusätzlich ein Kamerateam anwesend – teilweise wird sogar das anwesende Publikum mitgefilmt. Bei

Zweifelsfällen wurde kino-teatr.ru zunächst vertraut und in letzter Instanz der betreffende Film zur Sichtung herangezogen. 213 Obwohl die UdSSSR de iure erst am 26. Dezember 1991 offiziell aufgelöst wurde, gilt dieses Jahr, da es durch das Auseinanderfallen des Ostblocks geprägt war, de facto als Beginn des Zusammenbruchs des Staatengebildes Sowjetunion. 214 Weitere Genre-Faktoren dagegen haben weniger Bedeutung, so z.B. die Zuordnung zum Kinder- und Jugendfilm: Zwar wurden Märchenfilme überwiegend für die Zielgruppe Kinder und Jugendliche produziert, doch gibt es auch Märchenfilme, die sich an ein breiteres Publikum oder sogar explizit an Erwachsene wenden; dass nicht jeder Kinder- und Jugendfilm ein Märchenfilm ist, versteht sich von selbst. Ähnlich ist der Faktor Verfilmung zu sehen, der streng genommen nur für das verfilmte Kunstmärchen greift. 215 Der Ballettfilm Chrustaľnyj bašmačok ([Der Kristallpantoffel], 1960) wurde deshalb mit ins Korpus aufgenommen, da der Regisseur Aleksandr Rou sich fast ausnahmslos auf dem Gebiet des Märchenspielfilms profiliert hat und der Film sich in diesem Kontext in sein Gesamt-Œuvre einfügt.

48 Werken, die auf diese oder ähnliche Art gewissermaßen ,dokumentarisch’ der Produktionsaspekt hervorheben, um bewusst zu machen, dass eine Theateraufführung gezeigt wird, dominiert das Medium Theater über das Medium Film – sie wurden deshalb nicht ins Korpus aufgenommen. Andere fiľmy-spektakli dagegen sind nicht Aufführungen eines bestimmten Schauspielhauses, sondern scheinen speziell fürs Fernsehen produziert zu sein und wirken deutlich ,filmischer’: Gefilmt wird zwar in der Regel auf einer (Studio-)Bühne und die Ausstattung ist stilisiert und deutlich theaterhaft, aber diese Theaterhaftigkeit scheint als Teil einer fiktiven Wirklichkeit zu fungieren (wenn auch einer stilisiert präsentierten bzw. ,erzählten’), und es werden darüber hinaus ganz gezielt filmische Verfahren eingesetzt, wie z.B. Stop Motion-Tricks, Überblenden, rasche Schnitte zwischen verschiedenen Schauplätzen u.a. Die Streifen dieser Gruppe unterscheiden sich weiterhin von denjenigen der ersten Gruppe dadurch, dass bei den Produktionsdaten meist auch ein Drehbuchautor angegeben ist. Solche Filme wurden ins Korpus aufgenommen. Beim Zusammensuchen und Sichten des Materials ergaben sich Schwierigkeiten, die zur Folge hatten, dass einige Filme nicht ins Korpus aufgenommen werden konnten, die nicht zu den exkludierten Gruppen gehören und eigentlich ihre Berechtigung darin hätten: Manche waren schlichtweg nirgends zur Sichtung aufzutreiben; andere dagegen konnten zwar ausfindig gemacht werden, aber nur in Versionen in Sprachen der sowjetischen Teilrepubliken, derer ich nicht mächtig bin216 – in beiden Fällen konnten die Filme dann jeweils nicht berücksichtigt werden.217 Obwohl ich mich ansonsten um Vollständigkeit bemüht habe, können auch weitere Lücken nicht gänzlich ausgeschlossen werden: Zum einen kann auch kino-teatr.ru keine absolute Vollständigkeit garantieren; außerdem war ich bei der Zusammenstellung auf die dort vorhandenen Kurzbeschreibungen angewiesen, die oft sehr knapp sind und nicht immer eindeutige Auskunft über den Inhalt der Filme geben, und schließlich und letztendlich lässt sich auch nach der Sichtung eines Films das Moment der subjektiven Herangehensweise bei seiner Einordnung als Märchen auf Grund der oben vorgenommenen Eingrenzungen, die ja

216 Die Hoffnung, dass die Bildsprache und die ungefähre Kenntnis des Sujets ausreichen würden, um die Filme auszuwerten, erwies sich als trügerisch. 217 Der Vollständigkeit halber seien die Filme, die dies betrifft, an dieser Stelle kurz zumindest namentlich aufgeführt – glaubt man den Beschreibungen auf kino-teatr.ru (Stand 29.08.2015), so handelt es sich dabei um Märchen: Die Streifen Za gorami, za lesami ([Hinter den Bergen, hinter den Wäldern], 1973) und Zamurovannye v stekle ([Die im Glas Eingemauerten], 1978) konnten nicht ausfindig gemacht werden. Sprachprobleme standen einer Rezeption der folgenden Produktionen im Weg: Chrabryj Nazar ([Der tapfere Nazar], 1940) sowie Anait ([Anait], 1947), beide armenisch; Volšebnaja svireľ ([Die Zauberflöte], Titel auch: Ciskara, 1955), georgisch; Zdes’ tebja ne vstretit raj ([Hier wirst du kein Paradies finden], 1982), aserbaidschanisch.

49 bewusst breit gehalten sind, nicht gänzlich vermeiden – wie umgekehrt auch beim Ausschluss von Filmen auf Grund inhaltlicher Kriterien: Ob ausreichend Folklorebezüge vorliegen und ob es dann wiederum gerechtfertigt ist, von einer Märchenwelt als Handlungsort auszugehen, konnte in weniger eindeutigen Fällen nur intuitiv entschieden werden. Aus pragmatischen Gründen erscheint ein solches Vorgehen gerechtfertigt; die Arbeit versteht sich in diesem Zusammenhang in erster Linie als ein offenes Diskussionsangebot und möchte Anknüpfungspunkte für spätere, auch anders gewichtete Forschungsvorhaben zum selben Themenfeld bieten. Letztendlich konnte ein Korpus aus 163 Filmen zusammengestellt werden, die entweder für die Kinoleinwand oder das Fernsehen produziert wurden. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Zahl in jedem Fall den größten Teil der Langspielfilme ausmacht, die in der Sowjetunion im Genre Märchenfilm je gedreht wurden, und sie dürfte durchaus ausreichend sein, um den aus der Korpusauswertung gewonnenen Erkenntnissen Aussagekraft zu verleihen.

III.3. Arbeitsschritte bei der Korpusauswertung Beim konkreten Arbeitsvorgehen wurden zunächst alle Filme des Korpus weitestgehend chronologisch gesichtet. Der erste Schritt der Analyse bestand, wie auch bei Schmitt218, in einem Dokumentieren des Materials, d.h., einer skizzenhaften Transkription des Gesehenen. Jeder Streifen wurde also mindestens zwei Sichtungsgängen unterzogen – einmal am Stück des Gesamteindrucks wegen, einmal abschnittsweise, um ihn zu transkribieren. Die einzelnen Produktionen wurden nach Möglichkeit auf eine oder mehrere Textquellen zurückgeführt (entweder ein Kunstmärchen oder, im Zweifelsfall mit Hilfe der Erzähltypenkataloge, ein Volksmärchen), die gelesen und mit der filmischen Variante im Hinblick auf Unterschiede, Transformationen und Interpretationen verglichen wurden: Etwaige Auffälligkeiten wurden schriftlich festgehalten. Stets genauer zu notieren war auch, welche ,märchentypischen’ Folkloreelemente ein Film enthält und wie er diese einsetzt – dies auch und insbesondere, wenn der Streifen sich auf keine konkrete Quelle zurückführen lassen konnte. Vermerkt wurden weiterhin auch Besonderheiten in der Filmgestaltung und -dramaturgie. Der Arbeitsschritt der Sichtung und Transkription des Gesamtkorpus, das Eintauchen ins Material, nahm relativ viel Zeit in Anspruch. Er gliederte sich in zwei Etappen: Auf die 218 Sein Arbeitsvorgehen, das er ausführlich beschreibt (Schmitt 1993, S. 186-189), diente dabei als grobe Orientierung.

50 Sichtung der ersten 39 Filme folgte eine erste Zwischenauswertung – dadurch wurde klarer, auf welche Punkte besonders geachtet werden muss, und eine genauere methodische Vorgehensweise konnte erarbeitet werden: Die genretypologischen Kriterien und Kategorien, die sich aus der Sichtung der ersten Filme in Ansätzen herauskristallisiert hatten, konnten nun theoretisch stärker ausgebaut und bei der weiteren Auswertung dann systematisch angewendet werden. So wurde das Phänomen Märchenfilm anhand seines Bezugs zur Folklore in verschiedene Spielarten gruppiert, deren Beschaffenheit in Kapitel B näher erläutert wird. Nach Abschluss der Sichtung konnte schließlich, auf Grundlage der Kenntnis des gesamten Materials, eine Auswahl von Einzelfilmen begründet werden, die auf die eine oder andere Weise repräsentativ bzw. typisch für den sowjetischen Märchenfilm in seinen Wirklichkeitsbezügen schienen – zwei verschiedene thematische Samples wurden erstellt sowie weitere Filme eines bestimmten Zeitausschnitts ausgewählt, die jeweils nochmal intensiver gesichtet wurden und in Kapitel C für detaillierte qualitative Analysen als exemplarische Fallstudien dienen, um sie im Anschluss daran ins Gesamtkorpus einzuordnen. Das unterschiedliche Erkenntnisinteresse, das die beiden Kapitel kennzeichnet, wird darin jeweils zu Beginn unter genauerer Erläuterung des methodischen Vorgehens präzisiert. Als dritter großer Teil, der sich aus der Korpusauswertung ergab, ist schließlich die kommentierte Filmographie im Anhang zu sehen. Diese kann nicht nur ergänzend zum Haupttext, sondern im Grunde auch unabhängig davon gelesen werden: Sie versteht sich als Handreichung für Forscher und all diejenigen, die sich mit dem sowjetischen Märchenfilm beschäftigen wollen. Einerseits kann sie als Nachschlagewerk und Materialsammlung gesehen werden, die den Zugriff auf wenn auch nicht alle, so doch auf den größten Teil der sowjetischen Märchen-Langspielfilme ermöglicht, die je gedreht wurden; andererseits handelt es sich um einen praktischen Versuch einer klassifizierenden und systematisierenden Erfassung des sowjetischen Märchenfilms in seiner Breite: Jeder Film ist mit kurzen Synopsen, Vermerken und Kurzkommentaren versehen, und somit wird es Forschern und Forscherinnen sowie sonstigen Interessierten ermöglicht, einzelne Filme herauszugreifen und sie unter Zuhilfenahme der dort vorgenommenen Zuordnungen219 genauer zu betrachten.

219 Diese Zuordnungen wurden freilich stets im Bewusstsein getroffen, dass es auch andere Interpretations- und Klassifizierungsmöglichkeiten gibt.

51 B. DER SOWJETISCHE MÄRCHENFILM UND SEIN BEZUG ZUR FOLKLORE: VERSUCH EINER GENRETYPOLOGIE Die Wurzeln des Märchenfilms liegen, wie die des literarischen Kunstmärchens, in der Form des Volksmärchens, die für beides gewissermaßen als prototypisch anzusehen ist. Wie aber verhält sich das Filmgenre zu seinem Prototyp – oder anders gefragt: Was macht eigentlich konkret den Märchencharakter der Filme aus? Um diese Frage zu beantworten, erscheint es sinnvoll, zunächst einzugrenzen, was eigentlich ein (Film-)Genre überhaupt ausmacht, da sich erst daraus Kriterien ergeben, die es ermöglichen, die Spezifik eines bestimmten Genres, wie das des Märchenfilms, festzustellen – und somit auch dessen Bezüge zu seinem Folkloreäquivalent genauer zu bestimmen.

I. Methodische Überlegungen I.1. Zum Genrebegriff Der US-amerikanische220 Filmwissenschaftler Rick Altman hat einen äußerst brauchbaren Ansatz entwickelt221, um sich dem Genrebegriff anzunähern. Für ihn kann sich Genre zunächst sowohl auf die semantische als auch auf die syntaktische Ebene beziehen: Eine semantisch geprägte Genrebetrachtung geht von Familienähnlichkeiten auf der linguistischen Ebene aus, also sozusagen von Einzelbausteinen, die immer wieder auftauchen – für den Western wären hier z.B. der US-amerikanische Westen als Ort des Geschehens, bestimmte Charaktere wie Cowboys und Indianer, die sogenannte amerikanische Einstellungsgröße als technisches Detail usw. zu nennen. Wenn Genre semantisch untersucht wird, werden umfangreiche, inklusive Filmkorpora gebildet. Eine syntaktische Genrebetrachtung geht dagegen davon aus, wie die Einzelbausteine, unabhängig von deren Beschaffenheit, auf einer textuellen Ebene angeordnet sind: Im Fall Western wäre das z.B. die symbolische Opposition von zwei Welten, wie

220 In der sowjetischen und russischsprachigen Filmwissenschaft konnte in diesem Bereich nichts für die vorliegende Arbeit Nutzbares eruiert werden: Wohl gibt es zu einzelnen Filmgenres interessante Arbeiten, aber in sämtlichen Studien, die sich mit übergreifender Genretheorie beschäftigen, werden Filmgenres primär von Literaturgenres (oder -gattungen) abgeleitet und versucht, literarische Konventionen, Stile und Modi auf filmische zu übertragen bzw. einen Bezug herzustellen (vgl. etwa die einführenden Kapitel in Vlasov 1976, S. 32-38, und Frejlich 1992, S. 34-46) – so erklären sich eher abstrakte und in der westlichen Filmwissenschaft ungebräuchliche Genrebezeichnungen wie kinoroman (,Kinoroman’), kinopovesť (,Kinoerzählung’, ,Kinopovest’), kinoėpopeja (,Kinoepopöe’) oder kinopoėma (,Kinopoem’). Populäre Filmgenres, die sich nicht rein formal beschreiben lassen, sondern sich mit über den Inhalt definieren, werden aus solchen Überlegungen ausgeklammert. Ein solcher Zugang eignet sich nicht für den Interessensschwerpunkt, der diese Arbeit bestimmt: Das Korpus der Märchenfilme wurde nach inhaltlichen Kriterien zusammengestellt; es enthält Filme, die sich in technischer Machart und filmformaler Ästhetik sehr unterscheiden und ohne diesen inhaltlichen Zusammenhang kaum als einem Genre zugehörig betrachtet werden könnten. 221 Altman 2013 (Erstveröffentlichung 1984).

52 Zivilisation und Wildnis, Gemeinschaft und Individuum, Gesetz und Gesetzlosigkeit. Dies führt zur Bildung von beschränkten, exklusiven Filmkorpora (besonders ,klassische’ Vertreter eines Genres werden ausgewählt).222 Altman plädiert für einen Zugang, der beides gleichermaßen berücksichtigt, da die Beschränkung auf die Semantik im Hinblick auf die Ebene der impliziten Bedeutungsstrukturen des Genres wenig aussagekräftig ist, während eine Beschränkung auf die Syntax oft nur auf ein kleines Korpus von Texten anwendbar ist und dabei historische Dimensionen vernachlässigt werden. Grundsätzlich kann es durch eine solche Beschränkung auch insofern zu Diskrepanzen bei Korpuszusammenstellungen kommen, da manche Filme semantische, aber keine syntaktischen Charakteristika eines Genres aufweisen und umgekehrt.223 Es sind aber beide Ebenen gleichermaßen wichtig, sie stehen komplementär zueinander: For every film that participates actively in the elaboration of a genre’s syntax there are numerous others content to deploy in no particular relationship the elements traditionally associated with the genre. We need to recognize that not all genre films relate to their genre in the same way or to the same extent.224 Im Rahmen meiner Untersuchung wäre also einerseits das semantische Feld abzustecken, aus dem der Märchenfilm schöpft, und andererseits auf die Parameter zu achten, die die syntaktische Ebene des Märchenfilms ausmachen – ein solcher deskriptiv-analytischer Ansatz würde es ermöglichen, bestimmte Regeln festzustellen, nach denen das Genre Märchenfilm funktioniert.

I.2. Syntaktik vs. Semantik in Märchen und Märchenfilm Wie also wird der Märchenfilm in der Sowjetunion als Genre konstituiert? Wie schon erwähnt, ist es in der Märchenforschung üblich, mit sogenannten Erzähltypenkatalogen zu arbeiten, von denen der Wichtigste der von Aarne und Thompson (AaTh) bzw. Aarne, Thompson und Uther (ATU) ist, an dem sich dann auch die meisten nationalen oder regionalen Typenkataloge orientieren, so auch die beiden Typenverzeichnisse für das ostslavische Märchen (AA bzw. SUS). Sämtliche bekannte Volksmärchen sind jeweils verschiedenen Typen zugeordnet, die in diesen Katalogen systematisch aufgelistet und durchnummeriert werden.

222 Zu diesem und dem vorherigen Absatz vgl. ebd., S. 31-32. 223 Ebd., S. 32-34. 224 Ebd., S. 34. Seinen theoretischen Ansatz hat Altman später anhand eines konkreten Filmgenres, des amerikanischen Film-Musicals, auch praktisch angewendet und seine Brauchbarkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt (Altman 1987).

53 Unter Erzähltypen werden die verschiedenen Handlungsschemata oder Grundhandlungsmuster verstanden, die im Volksmärchen verbreitet sind – dabei wird klar die syntaktische Ebene berührt, denn es geht nicht nur um semantische Elemente, sondern um deren Bezug zueinander. Die semantischen Einzelbausteine dagegen, derer sich die Typen bedienen, sind Motive, wobei sich im Volksmärchen ein und derselbe Erzähltyp grundsätzlich aus verschiedenen Motiven zusammensetzen kann. Ein Erzähltyp stellt also eine möglichst verallgemeinernde Beschreibung eines Erzählmusters dar, die auf verschiedene ähnliche Geschichten passt. Das Motiv dagegen ist eine kleinere Einheit, die alleine in der Regel noch keine Geschichte erzählt, sondern erst in einen strukturellen Erzählzusammenhang eingefügt werden muss, wobei die Einfügung oder aber das Austauschen eines Einzelmotivs innerhalb eines Typs diesen nicht grundsätzlich verändert, sondern variiert225 – der AaTh listet schon in der zweiten Revision durch Thompson auf, welche Motive charakteristisch für welchen Typ sind, ohne damit andere Variantenbildungen auszuschließen. In seinem Motif Index of Folk- Literature (Mot.)226 hat Thompson dagegen rund 40 000 Motive zusammengetragen, die in Folkloreerzählungen auf der ganzen Welt vorkommen (nicht nur in Märchen, sondern auch in allen anderen Gattungen und Genres der Folklore).227 Im Rückbezug auf das Genre Märchen kann entsprechend gesagt werden, dass die Motive auf der semantischen, die Typen auf der syntaktischen Ebene angeordnet sind. Die Folkloristik hat also bereits einen recht guten Analyseapparat erarbeitet, mit dem meiner Meinung nach auch an das Filmgenre Märchenfilm herangegangen werden kann – da dieses sich inhaltlich mit durch seinen Bezug zur Folklore definiert und darauf aufbaut. Es wäre also ersteinmal danach zu fragen, welche Rolle Erzähltypen im sowjetischen Märchenfilm spielen und wie mit ihnen umgegangen wird. Was aber ist mit solchen Filmen, die sich in ihrer Erzählstruktur nicht an einem bekannten Erzähltypenmuster orientieren? Schmitt z.B., der in seiner Arbeit sehr stark auf Erzähltypen rekurriert, hat solche Filme aus seiner Untersuchung weitgehend ausgeklammert – für ihn ist die Zuordnung zu Erzähltypen konstitutiv für die engere Definition des

225 Vgl. Schmitt 1993, S. 91-92, 95-96. 226 Erstveröffentlichung 1932-1936. Ausführliche bibliographische Angabe im Literaturverzeichnis. 227 Daneben hat Thompson eine extensive Studie vorgelegt, die u. a. auf die internationale Verbreitung und Variation von Erzähltypen und Motiven und auch exemplarisch auf die genauere Abgrenzung der Begriffe voneinander und ihre Wechselbeziehungen eingeht (Thompson 1951, Erstveröffentlichung 1946). Von den Indices grenzt sie sich insbesondere durch ihren Monographiecharakter ab – sie ist mit Fließtext lesbar und anschaulich geschrieben. Obschon sie mittlerweile nicht mehr auf dem aktuellen Stand ist, ist sie allein schon wegen ihrer Ausführlichkeit (die spätere Arbeiten nicht mehr aufweisen müssen) eine wertvolle Quelle.

54 Märchenfilms.228 Da das mir aber als eine zu starke Konzentration auf die syntaktische Ebene erscheint, würde ich gerne einen Schritt weitergehen und auch solche Filme im Hinblick auf ihren Bezug zur Folklore hin analysieren, die diesem Kriterium nicht entsprechen. Die Erzähltypenverzeichnisse fallen hier als Hilfsmittel aus – Dreh- und Angelpunkt ist jedoch auch hier, meiner Meinung nach, der syntaktische Umgang mit der semantischen Ebene der Motive. Hier wird die nächste Ebene relevant, die der text- und typübergreifenden Struktur, oder vielmehr Morphologie, wie sie Propp festgestellt hat. Propps Strukturbeschreibung würde ich grundsätzlich ebenso auf der syntaktischen Ebene verorten wie die Erzähltypen: Propp selbst hat zwar die Methodik der Typenverzeichnisse abgelehnt, da diese seiner Meinung nach zu stark auf den Inhalt rekurrieren und die Form nicht genügend berücksichtigen – in seinem praktischen Nutzen hat er Aarnes Typenverzeichnis aber dennoch anerkannt229, und im Prinzip kann seine Methode auch als eine noch stärker verallgemeinernde Weiterentwicklung des Ansatzes betrachtet werden: In den Typenverzeichnissen werden Erzählmuster so beschrieben, dass darunter eine größere Gruppe ähnlicher Märchen subsumiert werden kann. Propp dagegen beschreibt die Morphologie des Märchens so allgemein, dass darunter a l l e in der Folklore auftauchenden Märchen subsumiert werden können, zumindest, sofern es sich um Zaubermärchen handelt. Da diese im Märchenfilm die überwiegende Mehrheit darstellen, scheint Propps Analysemethode hier sinnvoll anwendbar. Als einer der Hauptkritikpunkte an Propps Schematik wurde häufig vorgebracht, dass sie zu breit angelegt sei und sich deshalb nicht nur auf die Form Märchen beschränken lasse, sondern auf alle möglichen Erzählformen zutreffe. Die Kritik scheint nicht gänzlich unberechtigt – insbesondere wenn man das Schema verabsolutiert sieht: Das Vorhandensein der Grundfunktion von Schädigung/Mangelsituation etwa wirkt alleine wenig aussagekräftig im Hinblick auf die Konstatierung eines expliziten Volksmärchenbezugs. Auch hier muss, so sei noch einmal betont, auf das Wechselspiel zwischen Semantik und Syntax geachtet werden: Das Vorhandensein von Motiven alleine lässt noch nicht auf eine Volksmärchennähe schließen, sie müssen auch zueinander in einem Bezug stehen, der nicht nur ansatzweise der Morphologie des Märchens entspricht; umgekehrt ist jedoch auch eine märchenhafte Morphologie nach Propp noch kein Indikator für Volksmärchennähe, wenn dem Film auf der semantischen, also der Motivebene der Folklorebezug fehlt230. Den semantischen Bausteinen,

228 Vgl. Schmitt 1993, S. 90-96. 229 Siehe dazu oben, S. 8-9. 230 Abgesehen davon ist davon auszugehen, dass es auch Filme anderer Genres gibt, die überhaupt keine

55 den Motiven, wären entsprechend Propps Funktionen zuzuordnen, die wiederum als syntaktische Bausteine zu sehen sind, und umgekehrt. Den Erzähltypenkatalogen wie auch dem Proppschen Analyseapparat kommt also bei der Festlegung des Folklorebezugs eines Märchenfilms die entscheidende Rolle zu. Mit ihrer Hilfe wurde versucht, eine Genretypologie des sowjetischen Märchenfilms zu erstellen, die im Folgenden näher dargestellt wird. Dabei ist noch festzuhalten, dass hier vorrangig eine Inhaltsanalyse betrieben werden soll, weshalb der Inhalt, also die Filmerzählung, Vorrang hat vor der Form, womit hier in erster Linie das Medium Film und dessen Ästhetik gemeint ist, die sogenannte Filmsprache. Es wird davon ausgegangen, dass auch ein inhaltlicher Vergleich mit der wortsprachlichen Form Märchen aussagekräftig sein dürfte: Hier gehe ich mich Schmitt konform, der der Meinung ist, die von vornherein ausführliche Berücksichtigung sämtlicher filmsprachlicher Mittel könne bei einer Genreanalyse leicht ausarten, was in keinem Verhältnis zu den zu erwartenden Resultaten stünde231 – deshalb sei zunächst die „Filmerzählung, quasi unabhängig vom kinematographischen Code“ zu betrachten, da sie die „mit Abstand ergiebigste Ebene des Films“ darstelle.232 Was Fragen der Filmästhetik angeht, so werden diese hier zwar nicht gänzlich ausgeklammert, aber nicht systematisch untersucht. In Kapitel C, in dessen Mittelpunkt ja Einzelfilmanalysen stehen werden, nimmt die Analyse filmischer Verfahren eine sehr viel prominentere Rolle ein, weshalb an dieser Stelle darauf verwiesen werden kann.

II. Die Spielarten des sowjetischen Märchenfilms in ihrem Verhältnis zur Folklore Durch die Auswertung des Korpus konnten sechs Grundmuster festgestellt werden, die Aufschluss darüber geben, wie sich der sowjetische Märchenfilm zum Volksmärchen und zur Folkloretradition verhält. Entsprechend wurden die Filme in sechs Gruppen unterteilt: ,Erzähltypenadaptionen’; ,neue Erzähltypenvarianten’; ,Erzähltypenmutationen’; ,neue Erzähltypen’; ,Folkloremutationen’; ,sagenhafte Märchenfilme’. Was sich hinter diesen zunächst vielleicht abstrakt scheinenden Benennungen vorläufigen Charakters233 verbirgt und was die einzelnen Gruppen jeweils auszeichnet, soll nun in Einzelabschnitten genauer

Folkloremotive verwenden, aber im Proppschen Sinne „märchenhaft“ in ihrer syntaktischen Struktur sind. 231 Schmitt 1993, S. 174-176. 232 Ebd., S. 175. 233 Der Vorläufigkeit wird durch die einfachen Anführungsstriche ,’ Rechnung getragen – es handelt sich um Behelfsausdrücke, die das Wesen des Bezeichneten nicht voll befriedigend wiedergeben können und daher mehr als heuristische Modelle denn als neue Termini Technici zu verstehen sind.

56 beschrieben, Filmbeispiele herangezogen und Beobachtungen dazu erläutert werden. Wie sich dabei zeigen wird, sind die Grenzen zwischen den Gruppen teils fließend, weshalb sie auch als Orientierungshilfe dienen sollen und nicht etwa als absolute Kriterien gelten können. So ist entsprechend auch ein Abschnitt den Grenzfällen gewidmet, die aus verschiedenen Gründen nicht eindeutig einer der Spielarten zuzuordnen sind. Zu guter Letzt werden noch exkurshaft Fälle besprochen, die sich – unabhängig von ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu einer der sechs Spielarten – durch bestimmte Spezifika von den anderen Filmen unterscheiden, Crossover-Märchen und Hans-Christian-Andersen-Adaptionen.

II.1. ,Erzähltypenadaptionen’ Der Begriff ,Erzähltypenadaption’ bezeichnet Stoffparaphrasen im engeren Sinne – d.h., es ist sowohl auf der syntaktisch-strukturellen als auch auf der semantisch-motivischen Ebene ein einem Erzähltyp zugeordneter bestimmter Volksmärchenstoff als Vorlage ohne weiteres identifizierbar. Eindeutige Zuordnung schließt allerdings nicht aus, dass der Typ verkürzt, erweitert, ausgeschmückt oder variiert werden kann, solange das Grundmuster trotz etwaiger Detailveränderungen beibehalten und klar erkennbar ist. Es finden sich darunter international populäre Erzähltypen (z.B. Zoluška (Aschenbrödel), 1947234; Novye pochoždenija kota v sapogach (Die Abenteuer des gestiefelten Katers), 1958235; Mama (Vom Wolf und den pfiffigen Geißlein), 1976236; Oslinaja škura (Die Prinzessin mit der Eselshaut), 1982237; Skazki starogo volšebnika ([Die Märchen des alten Zauberers]), 1984238), ostslavische Varianten von international populären Erzähltypen (z.B. Konek-Gorbunok (Das Zauberpferdchen), 1941239; Skazka o care Saltane (Das Märchen vom Zaren Saltan), 1966240; Alen’kij cvetoček (Die feuerrote Blume), 1977241; Osennie kolokola (Von der schönen Zarentochter und den sieben Recken), 1978242), primär im ostslavischen Raum verbreitete Ausformungen (z.B. Po ščuč’emu velen’ju (Der Zauberfisch), 1938243; Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Wassilissa), 1939244; Iľja Muromec (Ilja Muromez/Der

234 AaTh/ATU 510A Cinderella. 235 AaTh/ATU 545B Puss in Boots. 236 AaTh/ATU 123 The Wolf and the Kids. 237 AaTh 510B The Dress of Gold, of Silver, and of Stars (Cap o’ Rushes) = ATU 510B Peau d'Âne. 238 AaTh/ATU 410 . 239 AaTh 531 Ferdinand the True and Ferdinand the False = ATU 531 The Clever Horse = SUS 531 Konek- gorbunok. 240 AaTh 707 The Three Golden Sons = ATU 707 The Three Golden Children = AA/SUS 707 Čudesnye deti. 241 AaTh/ATU 425C Beauty and the Beast = AA/SUS 425C Alen’kij cvetoček. 242 AaTh/ATU 709 Snow-White = AA/SUS 709 Volšebnoe zerkaľce (Mertvaja carevna). 243 AaTh/ATU 675 The Lazy Boy = AA/SUS 675 Po ščuč’emu velen’ju. 244 AaTh 402 The Mouse (Cat, Frog etc.) as Bride = ATU 402 The Animal Bride = AA/SUS 402 Carevna-

57 Kampf um das Goldene Tor), 1956245; Morozko (Abenteuer im Zauberwald), 1964246), einige im orientalischen Raum und/oder aus 1001 Nacht bekannte Typen (z.B. Volšebnaja lampa Aladdina (Aladins Wunderlampe), 1966247; Legenda o ljubvi (Legende von der Liebe), 1984248; Novye skazki Šacherezady (Die neuen Märchen von Scheherazade), 1986249), Varianten aus den nichtrussischen Sowjetrepubliken (z.B. Semurg (Der Wundervogel Semurg), 1972250; Mal, da udal ([Klein, aber keck]), 1974251; Skazanie o chrabrom vitjaze Fėt-Frumose ([Die Sage vom tapferen Recken Fėt-Frumos]), 1977252; Raduga semi nadežd (Der Prinz und der Töpfer/Der Regenbogen der sieben Hoffnungen), 1981, und Tri opleuchi ([Die drei Ohrfeigen]), 1982253). Als Vorlagen dienen Volksmärchen, Bylinen (die in der Regel auch als Märchenstoffe existieren und vom SUS miterfasst werden)254 und literarische Volksmärchenparaphrasen (die Filme sind entsprechend doppelte Adaptionen; hierunter fallen einige frühe Märchen von Andersen ebenso wie die Puškinschen Versmärchen). Eine kleinere Abweichung stellt Sampo (Das gestohlene Glück, 1957) dar, wegen des Umfangs des zugrundeliegenden finnisch- karelischen Kalevala-Epos, doch da in der filmischen Transformation, wie schon im Titel angedeutet wird, das Hauptaugenmerk auf dem Handlungsstrang um die Zaubermühle Sampo und dem Kampf um diese liegt, scheint es naheliegend, den Film als Variante des entsprechenden Erzähltyps255 zu werten. Reine Nacherzählung ohne besondere Eingriffe in die Vorlage oder Erweiterungen dieser findet sich im sowjetischen Märchenfilm fast nie. Am gängigsten ist das Verfahren der Variation über das Einflechten von vorlagenfremden Folkloremotiven, also Motiverweiterung und -verschiebung: In Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Wassilissa, 1939) wird z.B. Kaščej Bessmertnyj durch einen dreiköpfigen Drachen ersetzt, gegen den der Held mit einem Zauberschwert kämpft, dessen Aufbewahrungsort ihn von einem geheimnisvollen Schmied

ljaguška. 245 AA *650 I/SUS 650C* Iľja Muromec. 246 AaTh 480 The Spinning Women by the Spring: The Kind and the Unkind Girls = ATU 480 The Kind and the Unkind Girls = AA 480*B/SUS 480 Mačecha i padčerica. 247 AaTh/ATU 561 Aladdin. 248 AaTh/ATU 666* Hero and Leander. 249 AaTh 560 The Magic Ring. 250 Usbekische Variante von AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer. 251 Turkmenische Variante von AaTh 700 Tom Thumb = ATU 700 . 252 Moldawisch-rumänische Variante von AaTh/ATU 300A The Fight on the Bridge. 253 Usbekische bzw. georgische Variante von AaTh/ATU 888A* The Basketmaker. 254 Byline und Märchen unterscheiden sich in ihren wortsprachlichen Inkarnationen auf der inhaltlichen Ebene nicht wesentlich – deutliche Unterschiede gibt es dagegen auf der Ebene von Form und Stil, doch diese haben keine direkten filmischen Entsprechungen und werden daher in den filmischen Adaptionen minimiert. Vgl. auch Paramonowa 1966, S. 78. 255 AaTh/ATU 565 The Magic Mill = AA/SUS 565 Čudesnaja meľnica.

58 verraten wird und das von einer riesigen Spinne bewacht wird256 – all das wiederum ist reiner Zusatz; ähnlich tauchen als Zusatz in Kaščej Bessmertnyj (Der unsterbliche Kaschtschai, 1944) u.a. ein hilfreicher Zwerg, eine Tarnkappe und ein fliegender Teppich auf257; in Novye pochoždenija kota v sapogach (Die Abenteuer des gestiefelten Katers, 1958) verfügt der Titelheld über Sieben-Meilen-Stiefel und es wird für die Heilung einer kranken Prinzessin deren Hand und das halbe Königreich angeboten258; in Morozko (Abenteuer im Zauberwald, 1964) fällt die Heldin durch die verbotene Berührung eines Stabes in einen Zauberschlaf259, in Oslinaja škura (Die Prinzessin mit der Eselshaut, 1982) beschenken bzw. verfluchen eine gute und eine böse Fee die Heldin bei ihrer Geburt und eine böse Stiefmutter tritt auf260 usw. Die von Schmitt261 konstatierte Tendenz zur lebendigen Variantenbildung der Märchenerzähltradition im Medium Film, die damit der weitestgehend erstarrten neuen literarischen Verarbeitung von Märchen entgegensteht, die sich meist auf bloße Nacherzählung beschränkt262 oder aber Mutationen hervorbringt263, kann also auch für den sowjetischen Märchenfilm bestätigt werden. Ein weiteres vom sowjetischen Märchenfilm verwendetes Verfahren ist das der novellistischen – also nicht im strengen Sinne märchenhaften – Ausfabulierung. So verknüpft z.B. Drehbuchautor Sergej Michalkov in Novye pochoždenija kota v sapogach den Erzähltyp vom gestiefelten Kater mit dem Sujet eines von ihm selbst stammenden phantastischen Kindertheaterstücks, Smech i slezy ([Lachen und Tränen]): Darin gerät ein Junge aus der sowjetischen Gegenwart im Traum in ein Schachkönigreich, wo er einen hypochondrischen Prinzen heilt und die damit verknüpften Intrigen einer Hofdame und eines Ministers aufdeckt, die die Herrschaft an sich reißen wollen. Der Film erklärt seine Haupthandlung auch als Traumerlebnis, doch dieses ist mit der Rahmenhandlung nicht direkt verknüpft264: Die

256 Mot. B11.2.3.2. Three-headed dragon; Mot. D1081. Magic sword, Mot. F343.3. Fairy smith gives knight a magic sword; Mot. B873.3. Giant spider. 257 Mot. F451.5.1. Helpful dwarfs; Mot. 1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe; Mot. D1520.19. Magic transportation by carpet. 258 Mot. D.1521.1. Seven-league boots; Mot. H346. Princess given to man who can heal her; Mot. Q112. Half of kingdom as reward. 259 Mot. D1960. Magic sleep; Mot. 1962.6. Magic sleep from breaking tabu. 260 Mot. F312. Fairy presides at child’s birth, Mot. F361.1.1. Fairy takes revenge for not being invited to feast und Mot. F316. Fairy lays curse on child; Mot. S31. Cruel Stepmother. 261 Schmitt 1993, S. 251. 262 Ausnahmen sind eher in der Vor- und Frühzeit der Aufzeichnung von Volksmärchen zu beobachten, z.B. bei Puškin, Eršov, Hauff, Andersen; vgl. die entsprechenden Adaptionen im Korpus. Ansonsten ist eine solche Tendenz noch bei Dramatisierungen von Volksmärchenstoffen fürs Theater zu beobachten, bei denen meist, um eine bestimmte Länge zu erreichen, ebenso Bedarf an Stofferweiterung besteht wie bei Filmen – ein Punkt, den Schmitt in seinen Überlegungen nicht beachtet. Auch hier kann ein entsprechender Exkurs über das sicher erforschenswerte Phänomen nicht geleistet werden. 263 Solche Fälle werden hier in den Abschnitten II.3. und II.5. besprochen. 264 Im Traum tritt zwar ein Alter Ego der Träumenden aus der Rahmenhandlung auf, doch dieses agiert in der

59 Heilung der Prinzessin, die an die Stelle des Prinzen tritt und der die Krankheit ebenfalls nur eingeredet wurde, und die Entlarvung der Bösewichte, die aus dem Stück übernommen sind, übernehmen der Müllerbursche und sein beschuhter tierischer Helfer, während ihre sonstige Abenteuer aber zu großen Teilen denen des bekannten Märchen in leichter Modifikation entsprechen. In Einzelfällen kann die Ausfabulierung so weitreichend sein, dass der eigentliche Erzähltyp, der zugrundeliegt, auf Episodenstatus reduziert wird: Das Kernstück der Sadko- Byline265 stellt den Aufenthalt des seefahrenden Helden im Unter-Wasser-Reich dar, doch in der Filmversion Sadko (Lockendes Glück/Sadkos Abenteuer, 1952) hat er, als er in den letzten Minuten des Films dorthin kommt, bereits eine ganze Reihe von sindbadhaften Abenteuern in unterschiedlichen Ländern hinter sich.266 In der großangelegten sowjetisch-indischen Co- Produktion Priključenija Ali-Baby i soroka razbojnikov (Ali Baba und die 40 Räuber, 1980) hat der Zuschauer den Protagonisten bereits durch zahlreiche Abenteuer nach Indien und wieder zurück begleitet und ihn dabei seinen verschollenen Vater wiederfinden sowie eine Prinzessin retten und zur Frau gewinnen lassen, ehe er letztlich die Räuberhöhle findet, die sich mit dem bekannten Zauberwort „Sesam“ öffnen lässt – erst hier wird der entsprechende Erzähltyp267 erkennbar. Eher seltener findet bei Erzähltypenadaptionen Typenkontamination, also die Kombination von mehreren ganzen Erzähltypen (über bloße Motiventnahme hinausgehend) statt, wenn dies nicht bereits in der Volksmärchenquelle vorgegeben ist: Po ščuč’emu velen’ju (Der Zauberfisch, 1938) ersetzt den zweiten Teil des zugrundeliegenden Typs268 komplett durch eine Verknüpfung zweier weiterer, in der Folkloretradition üblicherweise nicht zusammen auftretender Typen, dem von der weinenden Prinzessin und dem von König Drosselbart269. Morozko (Abenteuer im Zauberwald, 1964) geht mit dem gleichnamigen Volksmärchen und dem entsprechenden Typ vom guten und dem schlechten Mädchen270 frei um, indem sich, nachdem die Stieftochter fortgetrieben wurde, ein männlicher Held auf eine Suchwanderung nach ihr begibt, worin sich ohne größere Schwierigkeiten eine Variante des Traumwelt als Figur ohne Bewusstsein der Welt außerhalb des Traums. 265 AaTh/ATU 677* Below the Sea = AA *677 I/SUS 677* Sadko. 266 Als Inspiration diente hierfür das Libretto der Oper Sadko von Nikolaj Rimskij-Korsakov, doch dort ist von den Ländern und ihren Eigentümlichkeiten nur die Rede, Sadkos Besuch dort wird nicht dargestellt. 267 ATU 954 The Forty Thieves (Ali Baba) = AA/SUS 676 Dva brata i sorok razbojnikov (Ali Baba). 268 AaTh/ATU 675 The Lazy Boy = AA/SUS 675 Po ščuč’emu velen’ju. 269 AaTh/ATU 559 Dungbeetle = AA/SUS 559 Nesmejana-carevna und AaTh/ATU 900 = AA/SUS 900 Gordaja nevesta. Die Kontamination ist schon in der Vorlage angelegt, einer dramatisierten Volksmärchenparaphrase – wobei der Film allerdings durch zusätzliche Motive noch stärker variiert. 270 AaTh 480 The Spinning Women by the Spring: The Kind and the Unkind Girls = ATU 480 The Kind and the Unkind Girls = AA 480*B/SUS 480 Mačecha i padčerica.

60 Typs von der verschwundenen Frau oder Braut271 erkennen lässt: Dieser tritt in der Folkloretradition ganz allgemein häufig in Kombination mit anderen Typen auf272 – die Kombination mit dem Typ vom guten und dem schlechten Mädchen ist zwar ein Novum des Films, kann jedoch ohne weiteres als Variantenbildung in Folkloretradition gesehen werden. Neben diesen beiden Typen ist in Morozko noch ein dritter Handlungsstrang von Bedeutung, der allerdings in der Volksmärchentradition keine Parallelen zu haben scheint273 und nicht in Typenverzeichnissen auftaucht – es handelt sich also gewissermaßen um die Ausbildung eines neuen Typs durch den Film: Solche Fälle werden weiter unten in II.4. genauer beschrieben. Eine Ausnahme ist in dem armenischen Film Kaplja meda ([Der Tropfen Honig], 1983) zu sehen, der in exzentrischer, minimalistischer Darstellungsform insgesamt neun Märchen des Schriftstellers Hovhannes T’owmanyan anthologisch aneinanderreiht, ohne sie dabei inhaltlich miteinander zu verknüpfen – bis auf eine handelt es sich bei allen Vorlagen um Volksmärchenparaphrasen meist schwankhafter Natur. Obwohl in all den als ,Erzähltypenadaptionen’ gewerteten Filmen das narrative Grundschema, die syntaktische Struktur als solche beibehalten wurde, fanden dabei teilweise durch Uminterpretation oder Erweiterung einzelner semantischer Elemente erhebliche Akzentverschiebungen statt. Diese lassen sich meist durch bestimmte didaktische Intentionen der Filmautoren erklären, die häufig den kulturgeschichtlichen und -politischen Umständen geschuldet sind – besonders eindrückliche Beispiele hierfür sind die Filme Kaščej Bessmertnyj (Der unsterbliche Kaschtschai, 1944) und Iľja Muromec (Ilja Muromez/Der Kampf um das Goldene Tor, 1956), die in Kapitel C näher besprochen werden.

II.2. ,Neue Erzähltypenvarianten’ Einige der untersuchten Streifen unterscheiden sich von den oben genannten insofern, als dass etwaige Vorlagen aus der Folklore nicht exakt zu identifizieren sind. Insbesondere fehlen darin zentrale semantische Elemente konkreter Natur mit Wiedererkennungswert, die eine solche Zuordnung ermöglichen würden – wie etwa Namen und Hintergrund der Protagonisten und sonstigen Figuren oder auch bestimmte variantentypische Motive. Die Bezeichnung ,neue

271 AaTh/ATU 400 The Man on a Quest for his Lost Wife = AA 401A/SUS 4001 Muž iščet isčesnuvšuju ili pochiščennuju ženu. 272 Vgl. z.B. auch Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Wassilissa), wo diese Kombination der ostslavischen Volksmärchentradition entspricht. 273 Auch wenn bei Paramonova (1979, S. 80) und Sputnickaja (2010, S. 115) von einem angeblichen Volksmärchen namens Ivan s medvež’ej golovoj [Ivan mit dem Bärenkopf] die Rede ist – darüber konnte von mir jedoch trotz intensiver Recherchen nichts in Erfahrung gebracht werden, und ich halte es für eine gerüchtartige Behauptung ohne Tatsachengrundlage.

61 Erzähltypenvariante’274 weist darauf hin, dass in den entsprechenden Filmen auf der Ebene der syntaktischen Grundstruktur ein bestimmter in den einschlägigen Verzeichnissen erfasster Typ recht klar zu erkennen ist, während auf der semantischen Ebene allenfalls einzelne Motive erhalten sind – jedenfalls aber nicht genug, um ein bestimmtes Volksmärchen als Quelle eruieren zu können. Wie in der Volksmärchen-Erzähltradition werden hier also einzelne Motive ausgetauscht, also variiert, das strukturelle Grundschema bleibt aber dasselbe. Als ein solcher Fall wäre z.B. Mar’ja-iskusnica (Die verzauberte Marie, 1958) zu sehen. Darin hat technisch gesehen ein Soldat die Hauptrolle, rein funktionell gesehen ist er aber eigentlich nur eine Helferfigur, während die Heldenfunktion dem Jungen Ivanuška zukommt. Als Vorgeschichte der Handlung geht der Raub von Ivanuškas Mutter Mar’ja durch den Wassergeist Vodokrut voraus, worauf der Junge sich aufmacht, sie zu befreien – was zunächst an den Drachentötermärchen-Komplex275 denken lässt. Durch die folgenden Ereignisse, in denen er in das Unter-Wasser-Reich Vodokruts kommt, rückt der Film jedoch eher in die Nähe des Typs von der magischen Flucht276, dessen zentrale Handlungslinie im SUS für das ostslavische Märchen folgendermaßen beschrieben wird: Юноша, обещанный черту (водяному царю, чародею), в назначенный срок является к нему, выполняет с помощью девушки (дочери водяного царя) трудные задания, бежит с нею; они превращаются в разных животных и предметы. [Ein Jüngling, der dem Teufel (dem Wasserzaren, einem Hexenmeister) versprochen wurde, erscheint zum vereinbarten Zeitpunkt bei diesem, erfüllt mit der Hilfe eines Mädchens (der Tochter des Wasserzaren) schwierige Aufgaben, flieht mit ihr; sie verwandeln sich in verschiedene Tiere und Gegenstände.] Der Grund, warum Ivanuška bei dem Wasserzaren auftaucht, ist zwar ein anderer, aber auch ihn erwartet eine schwierige Aufgabe: Er soll seine Mutter aus einer Gruppe Doppelgängerinnen herausfinden – dieses Motiv277 listet der AaTh als charakteristisch für den Typ auf. Auch Ivanuška kommt hier Hilfe von einem Mädchen zu – der Enkelin des Wasserzaren. Und diese entscheidet sich, typentsprechend, letztendlich dazu, ihren Großvater zu verlassen und gemeinsam mit Ivanuška (und den Soldaten und Mar’ja) zu fliehen – eine Verwandlungsflucht278 fehlt, doch die Verfolger werden mit magischen Mitteln (durch eine Gusli, die sie zum Tanzen zwingt279) aufgehalten. Der Film kommt also, sowohl auf der syntaktisch-strukturellen Ebene als auch in verschiedenen (weniger konkreten) Details auf der 274 Die Betonung liegt dabei auf ,neu’ – im Gegensatz zu den ,Erzähltypenadaptionen’, die streng genommen auch als Varianten von Erzähltypen klassifiziert werden müssten, da sie diese ja immer auf die eine oder andere Art und Weise modifizieren. Dabei bezieht sich diese Modifikationen allerdings immer auf bereits bekannte Varianten in Form von bestimmten Volksmärchentexten. 275 AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff.. 276 AaTh/ATU 313 The Magic Flight = AA/SUS 313 Čudesnoe Begstvo. 277 Mot. H161.0.1 Recognition of person among identical companions. 278 Mot. D671. Transformation flight. Fugitives transform themselves in order to escape detection by pursuer. 279 Vgl. Mot. D1415.2. Magic musical instrument causes person to dance.

62 Motivebene, dem Erzähltyp ziemlich nahe. Für die mündliche Erzähltradition sind solche Variantenbildungen sehr typisch, in der literarischen Tradition scheint die Ausformung von solchen neuen Erzähltypenvarianten eher unüblich zu sein: Selten finden sie sich im Korpus bereits auf der Ebene der Vorlage – Puškins Ruslan i Ljudmila (zwei gleichnamige Verfilmungen, 1938 und 1972) liegt z.B. klar der Typ vom Drachentöter280 zugrunde, auch wenn die Handlung an den pseudohistorischen Hof des Kiever Fürsten Vladimir verlagert und der Drache durch einen zauberischen Zwerg ausgetauscht wurde; Wilhelm Hauffs Die Geschichte von dem kleinen Muck (Priključenija malen’kogo Muka [Die Abenteuer des kleinen Muk], 1983) stellt eine nur wenig ausfabulierte Bearbeitung des Fortunatus-Stoffes281 dar. In der Regel jedoch basieren solche Streifen nicht auf literarischen Quellen, sondern sind reine Filmmärchen – zu nennen wären an dieser Stelle u.a. Ogon’, voda i... mednye truby (Feuer, Wasser und Posaunen, 1968)282; Varvara-krasa, dlinnaja kosa (Die schöne Warwara, 1969)283; Samyj siľnyj ([Der Allerstärkste], 1973)284; Carevič Proša (Zarewitsch Proscha, 1974)285; Andrej i zloj čarodej ([Andrej und der böse Zauberer], 1981)286; Serebrjanaja prjaža Karoliny (Karolinas Silberfaden, 1984)287. Einen Extremfall stellt der Film Belaja roza bessmertija (Weiße Rose der Unsterblichkeit, 1984) dar: Darin lassen sich, ohne dass direkter Einfluss einer Volksmärchenquelle zu erkennen ist, mindestens acht verschiedene Erzähltypenmuster ausmachen, die über bloße Motivübernahme hinausgehen und zu einem organischen Ganzen verknüpft werden. Mehrere Erzähltypen, insbesondere aus dem Bereich des Schwank- und Lügenmärchens, verbindet auf spielerische Art und Weise auch Sergej Ovčarovs Nebyvaľščina (Verkehrte Welt, 1983), ein eigenwillig gestalteter Autorenfilm für Erwachsene.288

280 AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff.. 281 AaTh/ATU 566 The Three Magic Objects and the Wonderful Fruits (Fortunatus) = AA/SUS 566 Roga.

282 Siehe AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. 283 Siehe AaTh/ATU 313 The Magic Flight = AA/SUS 313 Čudesnoe Begstvo. 284 Siehe AaTh/ATU 650A Strong John = SUS 650A Ivan Medvež’e Uško + AaTh/ATU 513A Six Go through the Whole World = SUS 513A Šesť čudesnych tovariščej. 285 Siehe AaTh 725 The Dream = ATU 725 Prophecy of Future Sovereignity = AA/SUS 725 Nerasskazannyj son. 286 Siehe AaTh/ATU 554 The Grateful Animals = AA/SUS 554 Blagodarnye životnye. 287 Siehe AaTh/ATU 900 King Thrushbeard = AA/SUS 900 Gordaja nevesta. 288 Für die Aufzählung der einzelnen Typen zu diesen beiden Filmen sei hier aus Platzgründen auf die Filmographie verwiesen.

63 II.3. ,Erzähltypenmutationen’ Eine dritte Gruppe Filme nutzt Folkloreelemente auf eine Art und Weise, die auch im literarischen Kunstmärchen verbreitet ist – in Form von ,Erzähltypenmutationen’. Dieser Ausdruck steht dafür, dass die jeweiligen Filme durch ihre Kombination bestimmter semantisch-motivischer Elemente bestimmten Typen, für die die entsprechenden Motive charakteristisch sind, oder eventuell sogar konkreten Volksmärchentexten zugewiesen werden können, diese aber zusammen mit der bzw. über die syntaktische Struktur so stark transformiert und überformt sind, dass letztere nicht mehr ohne weiteres zu erkennen ist. Das syntaktische Grundschema und die Semantik der Typen werden also lediglich als Inspiration benutzt. Charakteristischerweise handelt es sich bei entsprechenden Filmen sehr oft um Adaptionen von literarischen Kunstmärchen, weniger häufig dagegen um originäre Filmmärchen. Zu den verfilmten Autoren, deren Märchen und märchenhafte Erzählungen Erzähltypen mutieren, gehören die ,Klassiker’ Nikolaj Gogoľ, Aleksandr Ostrovskij, Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff, Carlo Gozzi, aber auch sowjetische Schriftsteller wie Leonid Solov’ev, Tamara Gabbe, Samuil Maršak und insbesondere Evgenij Švarc, daneben sind auch bei zwei tschechischer Autoren des 20. Jahrhunderts, Karel Čapek und Josef Lada, überformte Erzähltypenmuster auszumachen. Die Parallelen zu Typen sind bei den Filmen in der Regel schon in der literarischen Vorlage vorgegeben, aber da das automatisch auch immer die Klassifizierung der Filme als Märchenfilme betrifft, scheint es doch sinnvoll, kurz darauf einzugehen. ,Erzähltypenmutation’ kennt verschiedene Ausformungen, die fließende Übergänge haben und sich natürlich auch überschneiden können. Sehr gängig ist etwa der Bezug über strukturell-syntaktische Grundparallelen, also ein dem Erzähltyp verwandtes Schema, unter teils veränderter Semantik – dies ist ein in der Literatur sehr verbreitetes Verfahren: Schmitt erkennt etwa in Andersens Schneekönigin und Gerdas Suche nach Kai einen Bezug zum Erzähltyp vom Mädchen auf der Suche nach seinen Brüdern und zum Erzähltypenzyklus um den verlorenen Liebsten289, worin „die Erlösungsleistung des weiblichen Geschlechts aus unterträglichen Leidensqualen besteht“, während Die kleine Seejungfrau ihm zufolge „eine ins Tragische gewendete Form“290 des Erzähltyps von der vergessenen Braut291 darstellt.

289 AaTh/ATU 451 The Maiden Who Seeks her Brothers bzw. AaTh/ATU 425 ff. The Search for the Lost Husband. 290 Beide Zitate Schmitt 1993, S. 230. 291 AaTh 313C The Forgotten Fiancée.

64 Hierin kann ich ihm folgen, und diese Parallelen sind auch in den sowjetischen filmischen Adaptionen dieser Andersen-Märchen erhalten (Snežnaja koroleva (Die Schneekönigin), 1966, nach Evgenij Švarc’ Bühnenstück über den Umweg der doppelten Adaption; Rusaločka (Die traurige Nixe), 1976; Tajna Snežnoj Korolevy. Skazka pro skazku ([Das Geheimnis der Schneekönigin. Märchen über ein Märchen], 1986). Mit ganz ähnlichen Verfahren arbeiten im Übrigen auch die Gogoľschen Erzählungen aus dem Zyklus Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf dem Weiler bei Dikanka), die ihre Wurzeln in der Folklore haben – größtenteils haben sie zwar eher sagenhaften Charakter, doch sie tragen durchaus auch märchenhafte Züge. Majskaja noč’, wovon im Korpus zwei Verfilmungen enthalten sind (Majskaja noč’ ([Mainacht]), 1940, und Majskaja noč’, ili utoplennica (Mainacht), 1952), ist kein Märchen im eigentlichen Sinne – die darin verwobene Erzählung von der Ertrunkenen, die zum Wasserfräulein wird, erinnert jedoch stark an einen Märchentyp: Insbesondere der Konflikt zwischen Stiefmutter und Stieftochter und die Erniedrigung letzterer als Dienstmagd sind nicht sagen-, sondern märchenhafte Elemente, und hier liegt m.E. eine enge strukturelle Verwandtschaft mit dem Aschenputtel-Zyklus292 vor, wenn auch mit tragischer Wendung. Die Erzählung Noč’ pered roždestvom ist in ihrer Struktur noch stärker märchenhaft: Der Episode im Haus der Hexe Solocha, die ihre Verehrer voreinander in Säcken versteckt, liegt ein gängiger Schwanktyp zugrunde, worin die Liebhaber vor dem Ehemann versteckt werden293, während der Handlungsstrang um den Teufel als unfreiwilliger Helfer des Schmieds Vakula, wenn auch entfernt, an den Typ vom schlauen Schmied und dem überlisteten Teufel erinnert294. Die Filmversion (Večera na chutore bliz Dikan’ki: Noč’ pered roždestvom (Die Nacht vor Weihnachten), 1961) macht aus der Erzählung, die ihren Phantastik-Charakter in ihrer literarischen Form insbesondere auch durch den Erzählerkommentar erhält, im Übrigen eindeutig ein Märchen, da sie mit einer kindlich-naiven Bildsprache arbeitet, die das Übernatürliche selbstverständlich erscheinen lässt. Eine weitere Möglichkeit der ,Erzähltypenmutation’ ist zu sehen in der Übernahme von für einen Erzähltyp typischen zentralen Motiven und semantischen Grundkonstellationen, die dann jedoch entweder nur bruchstückhaft zu erkennen sind oder in ein neues strukturell- syntaktisches Gewand eingekleidet und frei verwendet werden. Dies ist etwa der Fall in

292 AaTh 510 Cinderella and Cap o’ Rushes = ATU 510 Cinderella and Peau d'Âne. 293 AaTh/ATU 1730 The Entrapped Suitors = AA/SUS 1730 Pop, ďjakon i ďjačok u krasavicy. 294 AaTh 330 The Smith Outwits The Devil = ATU 330 The Smith and the Devil = AA/SUS 330A Soldat (kuznec) i čert (smerť).

65 Gorod masterov (Die Stadt der Meister, 1965), beruhend auf Tamara Gabbes Stück Gorod masterov, ili Skazka o dvuch gorbunach ([Die Stadt der Meister, oder Das Märchen von den zwei Buckligen]). Die Hauptfiguren sind zwei Bucklige, die einander antagonistisch gegenübergestellt sind: Der positive Held Karakoľ, ein Straßenkehrer, und sein Gegenspieler, der böse Herzog de Malikorn. Karakoľ wird im Handlungsverlauf auf magische Weise von seinem Buckel befreit. Dieses Motiv kennt die Folklore insbesondere aus dem Typ von den Geschenken des kleinen Volkes295, der in der ostslavischen Volksmärchentradition zwar nicht verbreitet, aber international bekannt ist: Darin geht es um einen Buckligen, der numinose Wesen bei ihrem Treiben belauscht, durch seine Freundlichkeit ihr Wohlwollen erregt und dafür von seinem Buckel befreit und reich belohnt wird. Als ein zweiter Buckliger, ein negativer, habgieriger falscher Held, dasselbe in einer missglückten Nachahmung versucht, wird er bestraft. Als Parallelen zwischen Erzähltyp und Stück bzw. Film sind die Opposition eines guten und eines bösen Buckligen sowie die magische Entfernung des Buckels des Guten und die Bestrafung des Bösen zu vermerken – womit sich der Bezug zum Erzähltyp auch bereits erschöpft. Ähnlich verhält es sich für eine ganze Reihe von Kunstmärchen und deren Filmversionen: Nach Hauff entstanden z.B. Kalif-aist ([Kalif Storch], 1968), worin lose auf den Typ vom tiersprachenkundigen Menschen296 referiert wird, und Karlik Nos ([Zwerg Nase], 1971), worin die Episode im Haus der Hexe an den Zyklus von den Kindern und dem Unhold297 erinnert; zweimal verfilmt wurde Ostrovskijs Sneguročka (Sneguročka [Das Schneemädchen], 1968, und Vesennjaja skazka [Ein Frühlingsmärchen], 1971), das mit dem Erzähltyp vom Schneemädchen298 lediglich den Grundzug gemein hat, dass aus Schnee ein junges Mädchen wird, das letzlich schmelzen muss; verhältnismäßig eng ist der Bezug zwischen dem Erzähltyp vom gefangenen Unglück299 und Maršaks Gorja bojaťsja – sčasťja ne vidať sowie der gleichnamigen Verfilmung ([Nur wer das Unglück meistert, findet das Glück], 1973), worin das personifizierte Unglück ebenfalls festgesetzt wird; in Andersens Die Galoschen des Glücks und der Verfilmung Osennij podarok fej (Das Herbstgeschenk der Fee, 1984) werden wiederum aus dem Hemd des Glücklichen300 die Galoschen des Glücks, die für reichlich Aufregung sorgen.

295 AaTh/ATU 503 The Gifts of the Little People (keine Entsprechung in AA bzw. SUS). 296 AaTh 670 The Animal Languages = ATU 670 The Man Who Understands Animal Languages. 297 AaTh/ATU 327 The Children and the Ogre ff.. 298 AaTh/ATU 703* The Artificial Child = AA *703/SUS 703* Sneguročka. 299 AaTh/ATU 735A Bad Luck Imprisoned = AA *735 I/SUS 735A Gore (Nužda). 300 AaTh/ATU 844 The Luck-bringing Shirt.

66 Ohne Vorlage dagegen kommt Nečistaja sila ([Die bösen Mächte], 1989) aus, worin in düsteren Farben eine Geschichte von Gier und Habsucht gezeichnet wird – zentrales Element darin sind dabei die in erster Linie aus dem Tischleindeckdichmärchen301 bekannten Zaubergegenstände. Eine regelrechte Demontage von Märchenmotiven findet in einem weiteren Filmmärchen statt, Na pomošč’, bratcy! ([Zu Hilfe, Brüder!], 1988): Hier sind auf syntaktischer und semantischer Ebene Anklänge zum Märchen vom Zauberpferdchen302 erkennen, doch nicht nur wird dieser magische Helfer eliminiert, die gesamte Märchenlogik wird in Frage gestellt – warum die beiden Antihelden eigentlich vom Zaren ins fernste Königreich ausgeschickt werden, ist ihnen selbst nicht klar, eine Prinzessin finden sie dort eher zufällig303, und der sehnliche Wunsch nach einem Bad in kaltem und heißen Wasser und in heißer Milch, um ein echter Bogatyr zu werden304, erweist sich als verhängnisvoll. Dies deutet bereits in die Richtung eines weiteren Verfahrens der ,Erzähltypenmutation’ – das der Verfremdung. Hier wird der Mutationsaspekt besonders deutlich. Dies ist etwa am Beispiel von Evgenij Švarc’ Obyknovennoe čudo zu erkennen, das in dieser Hinsicht einen Extremfall darstellt. Es finden sich im Korpus zwei gleichnamige Verfilmungen, 1964 ([Ein gewöhnliches Wunder]) und 1978 (Ein gewöhnliches Wunder), die sich in ihrer Machart und ihren dramaturgischen Besonderheiten durchaus unterscheiden, aber in ihrer Handhabung des Erzähltyps ihrer Vorlage folgen – der betreffende Typ ist der vom Tierbräutigam305, der allerdings in ironisierend-parodistischer Art und Weise geradezu absurde Formen annimmt: Während darin ein in eine tierähnliche Gestalt verwunschener Mensch von seiner Braut erlöst und in einen Menschen zurückverwandelt werden muss, steht bei Švarc ein Bär im Mittelpunkt, der in einen Menschen verwandelt wurde, und es wird nicht auf seine Erlösung hingearbeitet, sondern darauf, dass die Rückverwandlung n i c h t stattfindet. Da dies aber durch den Kuss der Heldin ausgelöst würde, kommt es zur paradoxen Situation, dass die beiden Liebenden versuchen, voneinander fortzueilen anstatt einander zu finden, was das Motiv der Suchwanderung306, das für den Typ charakteristisch ist, quasi auf den Kopf stellt. Am Ende treffen sie aber doch aufeinander, und es kommt zum Kuss – während aber der Kuss

301 AaTh 563 The Table, the Ass, and the Stick = ATU 563 The Table, the Donkey, and the Stick = AA/SUS 563 Čudesnjye dary. 302 AA/SUS 531 Konek-Gorbunok. 303 Vgl. Mot. H1381.3.1.1. Quest for bride for king. 304 Vgl. Mot. D1865.2. Beautification by boiling and resuscitation; D1866.1. Beautification by bathing. 305 AaTh/ATU 425A The Animal as Bridegroom = AA/SUS 425A Amur i Psicheja sowie in noch stärkerem Maße der verwandte AaTh/ATU 425C Beauty and the Beast = AA/SUS 425C Alen’kij cvetoček, vgl. auch weitere verwandte Typen aus dem Zyklus. 306 Mot. H1385.4. Quest for vanished husband.

67 in Typenvarianten in der Regel das Märchenwunder der Verwandlung zur Folge hat307, besteht hier das Märchenwunder im Gegenteil darin, dass der Kuss eben keine Verwandlung zur Folge hat: Verkehrte Welt, mundus inverso im Märchen. Verfremdung ist ein Weg der Mutation, der auch z.B. in den Filmen Raz, dva – gore ne beda! ([Eins, zwei – da ist doch nichts dabei!], 1988) und Ubiť drakona (Tod dem Drachen/Den Drachen töten, 1988, wiederum nach Švarc) vorliegt – beide transformieren auf jeweils eigene Art und Weise den Drachentöter-Typ308: Im ersten Fall wird in Steampunk- Manier der Drache durch einen riesenhaften ferngesteuerten Roboter ersetzt, im zweiten Fall ist der Drache ein sehr menschlicher Diktator, was viele allegorische Deutungen zulässt. Mit dem Mutationsverfahren der Verfremdung verwandt sind auch die Filme, in denen eine Erzähltypenverwandtschaft ,nur dem Namen nach’ besteht, wie dies etwa in Pro Krasnuju Šapočku ([Vom Rotkäppchen], 1977) der Fall ist: Der Film nimmt zwar direkt auf das Rotkäppchen-Märchen309 Bezug, doch versteht er sich als eine Art Fortsetzung – die Familie des Wolfs will sich für dessen Tod an Rotkäppchen rächen und lockt dieses mit der falschen Nachricht, die Großmutter sei wieder erkrankt, erneut in den Wald. Es beginnt eine Verfolgungsjagd, in der die zwei Wölfe in verschiedenen Verkleidungen Rotkäppchen durch eine Reihe von episodenhaften Abenteuern begleiten und das Mädchen zu fangen versuchen, wobei aber das vorgesehene Opfer durch sein aufgewecktes Wesen die Verfolger nach und nach immer mehr für sich einnimmt. Hier kommt im Übrigen ein interessanter filmischer – und wortsprachlich nicht ohne weiteres verwirklichbarer – Kniff zum Einsatz: Die Wölfe werden von menschlichen Darstellern ohne besondere zoomorphe Andeutungen in Maske oder Kostüm verkörpert, und sie treten auch sonst so vermenschlicht auf, dass das Wölfische regelrecht metaphorischen Charakter annimmt. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so extrem, geht der Film Pro kota... ([Vom Kater...], 1985) mit dem Märchen vom gestiefelten Kater310 um: Grundsätzlich folgt er dem Erzähltyp recht eng, aber in der Auflösung verfremdet er ihn – der charmante Titelheld ist soweit vermenschlicht, dass die Prinzessin sich in ihn verlieben und ihn am Ende seinem faulen und unsympathischen Besitzer vorziehen kann.

307 Mot. D735.1. Beauty and the beast. Disenchantment of animal by being kissed by woman (man).

308 AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff.. 309 AaTh 333 The Glutton (Red Riding Hood) = ATU 333 = AA/SUS 333A Krasnaja šapočka. 310 AaTh 545B Puss in Boots = AA/SUS 545B Kot v sapogach.

68 II.4. ,Neue Erzähltypen’ Die übrigen Filme aus dem Korpus haben keine irgendwie gearteten Äquivalente in der Volksmärchen-Erzähltradition: Sie sind wohl semantisch der Folklore verhaftet, indem sie Motive und Motivketten daraus verwenden, die sie meist frei zusammenstellen und um die herum die Handlung aufgebaut wird, doch sie stimmen mit keinem der bekannten, in den einschlägigen Verzeichnissen erfassten Erzähltypen überein. Dabei lässt sich eine (wenn auch nicht allzugroße) Gruppe von Filmen eingrenzen, die dadurch heraussticht, dass sie einerseits reichlich aus dem semantischen Motivvorrat der Folklore schöpft, andererseits ihre Einzelelemente im Rahmen einer Makro-Erzählstruktur anordnen, die der syntaktischen Struktur, der Morphologie des Volksmärchens, wie sie Propp beschrieben hat, entsprechen. Daher erscheint es naheliegend, diese Fälle als ,neue Erzähltypen’ zu bezeichnen. Um zu zeigen, wie die Ausbildung eines solchen ,neuen Erzähltyps’ funktioniert, kann als Beispiel der Film Volšebnoe zerno (Das Zauberkorn, 1941) herangezogen werden. Zum einen tauchen darin zahlreiche Motive aus der Folklore auf: Zu nennen wären das titelgebende Zauberkorn311; eine Zauberpfeife312; ein Zauberspiegel, der Fragen beantwortet313; der personifizierte Wind als Helfer314; die Stärke des Bösewichts im Zauberkorn als eine Variante des Motivs von der Seele außerhalb des Körpers315. Zum anderen liegt auch klar eine märchenhafte Struktur vor, mit zwei ineinander verwobenen Haupt-Funktionsreihen, die ich hier nur sehr verkürzt skizzieren will – MS steht hier jeweils für Propps Morfologija skazki, die Siglen entsprechen denen der Funktionsbeschreibungen der Ausgabe von 1928: Die erste Funktionsreihe geht von einer Mangelsituation aus (MS VIIIa/a5) – die Kinder Andrejka und Marijka leiden an Armut, an materiellem Mangel. Der mysteriöse Meister Alleskönner (master na vse ruki) taucht als erste Schenkerfigur auf, er testet die Kinder (MS XII/Д2), schenkt ihnen ein Zauberkorn und eine Zauberpfeife (MS XIV/Z1) und schickt sie los (MS IX/B), um nach dem Doktor Allwissend (doktor vseved) zu suchen, der ihnen mit dem Zauberkorn helfen kann – es folgt der Auszug der beiden (MS XI/↑), ein räumlicher Wechsel zwischen zwei Reichen (MS XV/R), dann das Zusammentreffen mit Ded Vseved als erneuter Schenkerfigur und dessen Prüfung (MS XII/Д2), deren Bestehen belohnt wird (MS XIV/Z9). Die zweite Funktionsreihe beginnt damit, dass der böse Zauberer Kara-Mor von dem

311 Mot. D965.8. Magic corn bzw. Mot. D973. Magic grains. 312 Mot. D1224. Magic pipe (musical)). 313 Mot. D11311.2. Mirror answers questions. 314 Vgl. Mot. F432. Wind-spirit; Mot. H1232. Direction on quest given by sun, moon, wind and stars. 315 Mot. E710. External soul.

69 Zauberkorn erfährt (MS IV/в, V/w) und es zerstören lässt – eine Schädigung also (MS VIII/A). Als der Junge Andrejka von der Schädigung erfährt, zieht er los (MS XI/↑), um sie zu beseitigen, er bewegt sich dabei wiederum zwischen zwei Reichen (MS XV/R), trifft auf Schenker- und Helferfiguren, es kommt zum offenen Kampf mit Kara-Mor (MS XVI/Б), dieser wird besiegt (MS XVIII/П), es folgt die Rückkehr (MS XX/↓). Ebenso anhand von Propps Morphologie nachvollziehen lassen sich so unterschiedliche Filme wie z.B. Legenda o ledjanom serdce ([Die Legende vom eisigen Herzen], 1957), Tufli s zolotymi prjažkami ([Die Pantoffeln mit den goldenen Schnallen], 1976), Podarok černogo kolduna (Das Geschenk des schwarzen Zauberers, 1978), Sozvezdie ljubvi ([Das Sternbild der Liebe], 1985) oder Krasnye bašmački ([Die roten Schuhe], 1986). Es bleibt festzuhalten, dass ,neue Erzähltypen’ in einer reineren Form, wie auch die ,neuen Erzähltypenvarianten’, eher bei originären Filmmärchen anzutreffen sind. Grenzfälle dagegen finden sich bei Adaptionen von literarischen Vorlagen, wie etwa bei den Oscar- Wilde-Adaptionen Zvezdnyj maľčik ([Der Sternenjunge], 1957) und Skazka o zvezdnom maľčike ([Das Märchen vom Sternenjungen], 1983), die beide die Sujets aus The Star-Child und The Birthday of the Infanta verknüpfen316, sowie bei Verfilmung des Maurice-Materlinck- Stücks L'Oiseau Bleu, Sinjaja ptica (Der blaue Vogel, 1976), der berühmt-berüchtigten einzigen je gedrehten Co-Produktion zwischen den USA und der Sowjetunion. In diesen Filmen findet, wie schon in den Vorlagen, auf der semantischen Ebene eine Überformung und Modifizierung von Folkloremotiven statt, und der Stil ist hochliterarisiert, die zugrundeliegende syntaktische Struktur ist dagegen (volks-)märchenhaft, von der Schädigung (Wilde) bzw. Mangelsituation (Maeterlinck) und dem Auszug, den Helfern und verschiedenen Prüfungen bis hin zur Beseitigung des Übels.

II.5. ,Folkloremutationen’ Für die nun folgende Gruppe von Filmen wurde der Ausdruck ,Folkloremutationen’ gewählt: Darunter werden diejenigen Filme verstanden, die zwar ihren semantisch-motivischen Bestand aus Folklore und Volksmärchen beziehen, aber diesen in ein syntaktisches Strukturgewand einkleiden, das weder bekannten Erzähltypen noch der allgemeineren märchenhaften Grundstruktur nach dem Propp’schen Modell entspricht, wenn dieses nicht

316 Was die reine Tatsache dieser Verknüpfung betrifft, so hat der erste Film den zweiten sicher beeinflusst; in der Art dieser Verknüpfung und dem Umgang mit den Vorlagen unterscheiden die beiden Streifen sich jedoch deutlich voneinander. Das Sujet von The Birthday of the Infanta ist im Übrigen für sich eher eine Folkloremutation (siehe unten), die Filme fügen es jeweils umgedeutet als episodischen Erzählstrang in The Star-Child ein.

70 überstrapaziert wird – sie greifen also am wenigsten auf traditionelle Erzählmuster des Volksmärchens zurück. Gelegentlich übernehmen die Filme recht viele semantische Elemente aus der Folklore, häufig treten aber nur einzelne oder wenige Motive auf, die teilweise auch noch modifiziert werden. Insgesamt gesehen ist die Gruppe der filmischen ,Folkloremutationen’ sehr heterogen317: Gemeinsam ist ihnen in jedem Falle, dass sie ihre Handlung in einer Märchenwelt spielen lassen. Ansonsten stehen sie in der Regel eher in literarischer Kunstmärchen- denn in Folkloretradition. So sind etwa die beiden Lesja-Ukrajinka-Adaptionen des Stücks Lisova pisnja zu werten (Lesnaja pesnja [Das Waldlied], 1961, und Lesnaja pesnja. Mavka (Das Lied von der Waldfee), 1981): Im Zentrum steht das Motiv der Liebesverbindung zwischen einem Menschen und einem übernatürlichen Wesen318 bzw. genauer mit einem Naturgeist319, davon ausgehend wird jedoch die Geschichte einer unmöglichen Liebe geformt, die vom feindlichen Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Zivilisation und Ursprünglichkeit, Verstand und Gefühl geprägt ist und tragisch endet, was allesamt charakteristisch für das romantische Kunstmärchen ist.320 Ansonsten treten zwar auch noch andere aus der Folklore bekannten Figuren auf, die allerdings besondere psychologisierende Charakteristika aufweisen. Gänzlich überformt scheinen in dieser Hinsicht die beiden Verfilmungen von Aleksandr Grins ,Féerie’ Alye parusa (Alye parusa (Das purpurrote Segel), 1961, und Assoľ, 1982) – wie die Vorlage kommen die Filme ohne tatsächliche Magie oder übernatürliche Momente aus, jedoch lassen sich Motiventlehnungen aus der Folklore feststellen in der als Sonderling verspotteten Assoľ sowie in deren Erkennen von Grej als Prinz aus ihren Träumen321. Grejs zufälliges Auffinden von der schlafenden Assoľ im Wald weist ebenfalls eine Folkloreparallele auf.322 Die zugrundeliegende Idee ist nicht nur, dass der vorgeblich Schwache am Ende triumphiert, was dem Wesen des Volksmärchens entspricht, sondern auch, dass Wunder tatsächlich geschehen und Träume wahr werden können, wenn man nur daran glaubt – ein Gedanke, der schon als solcher romantisch-literarischer Natur erscheint und nicht volksmärchentypisch. Andersens Märchen vom hässlichen Entlein wurde in der Sowjetunion in einer

317 Ähnlich verhält es sich mit den vielfältig gearteten Novellenmärchen der Typenkataloge. 318 Mot. T91.3. Love of mortal and supernatural person, Mot. T111. Marriage of mortal and supernatural being. 319 Mot. F441.2.3.1. Man marries tree maiden. 320 Lesja Ukrajinka wird zu den Vertretern der sogenannten Neoromantik gerechnet. 321 Mot. L102. Unpromising heroine, Mot. L162. Lowly heroine marries prince (king); vgl. auch AaTh 510 ff. (sog. Cinderella Cycle). Daneben Mot. T11.3. Love through dream. 322 Mot. N711. King (prince) accidentally finds maiden in woods (tree) and marries her.

71 interessanten Kombination aus populärwissenschaftlicher Tier- und Naturdokumentation und Erzählung adaptiert, Udiviteľnaja istorija, pochožaja na skazku (Eine wunderbare Geschichte, 1966), worin ein Schwanenküken bei einer Hühnerfamilie aufwächst und dann im Naturschutzreservat Askanija-Nova mit allen möglichen exotischen Tieren zusammentrifft. Trotz aller sonstigen Unterschiede steht im Film wie bei Andersen das Motiv vom Helden von unscheinbarer Gestalt323 im Mittelpunkt, und die Auflösung kann bei beiden als eine Parodie des Motivs von der märchenhaften Verwandlung von einer hässlichen in eine schöne Gestalt324 gelesen werden, indem dieses durch einen natürlichen Vorgang im Tierreich ersetzt ist. Ansonsten ist der Film, wie auch Andersens eigenwilliges Märchen, ohne Parallelen in der Folklore. Ein wiederum andersartiger Umgang mit Folkloremotiven ist bei Filmen zu beobachten, denen von zeitgenössischen Sowjetautoren verfasste Vorlagen zugrundeliegen. Der Film Korolevstvo krivych zerkal (Im Königreich der Zauberspiegel, 1963) ist zwar weniger ideologieverhaftet als die Vorlage von Vitalij Gubarev, die Funktion des zentralen Folkloremotivs vom Zauberspiegel325 bleibt jedoch dieselbe: Die Zauberspiegel gaukeln eine falsche Wirklichkeit vor, die die negativen Tatsachen verzerrt in einem positiven Licht darstellt. Eine solche Funktionalisierung des Motivs kennt das Volksmärchen nicht, und auch ansonsten ist das Crossover-Märchen, das eine didaktisch ausgerichtete Erziehungs- bzw. Reformierungsgeschichte erzählt, strukturell nicht dem Volksmärchen verhaftet. Der Film fügt das in der Vorlage nicht vorkommende märchenhafte Motiv von der Tierverwandlung als Bestrafung326 ein, wobei dessen Ausdeutung – die Bösewichte nehmen die Gestalt an, die ihrem wahren Charakter entspricht – ebenfalls novellistischer Natur ist. In Tri tolstjaka (Tibul besiegt die Dickwänste, 1966) wird lediglich das Folkloremotiv der menschenähnlichen Puppe327 verwendet, wobei an die Stelle der Puppe in Film wie Vorlage als deren Doppelgängerin ein tatsächlicher Mensch, ein Mädchen, tritt. Ansonsten weist der Handlungsverlauf, der eine klassenkämpferische Revolution zum Thema hat, keinerlei Parallelen zur Folklore auf, abgesehen von der märchenhaften Stilisiertheit von Raum und Zeit – das sogenannte Revolutionsmärchen, als dessen zentraler Vertreter die Vorlage von Jurij Oleša gilt, ist eine literarische Erscheinung, die in der Sowjetunion der 20er Jahre entstand und in verschiedener Ausformung auch im Märchenfilm (mit und ohne

323 Mot. L112. Hero (heroine) of unpromising appearance 324 Mot. D52.2. Ugly man becomes handsome. 325 Mot. D1163. Magic mirror. 326 Mot. Q551.3.2. Punishment: transformation into animal. 327 Mot. D1620.0.1. Automatic doll.

72 Vorlage) ihren Niederschlag fand. Schließlich ist noch die Richung der ,Folkloremutation’ im sowjetischen Märchenfilm zu erwähnen, die Motive (oft sind es Figuren) aus der Folklore in den Rahmen von Nummernrevues stellt – musikalische und sketchhafte Showeinlagen sind die eigentliche Attraktion solcher Filme und werden nur von einem sehr dünnen Handlungsgerüst zusammengehalten. Beispiele hierzu wären V trinadcatom času noči ([Um 13 Uhr nachts], 1968), Lada iz strany Berendeev ([Lada aus dem Land der Berendeer], 1971) oder Skazka kak skazka ([Einfach ein Märchen], 1978).

II.6. ,Sagenhafte Märchenfilme’ Eine letzte, verhältnismäßig kleine Gruppe an Filmen kann am ehesten als ,sagenhafte Märchenfilme’ bezeichnet werden, gewissermaßen eine Hybridform: De facto handelt es sich um Streifen, die auf Sagen oder sagenähnlichen Stoffen basieren, aber diese in einer Art Märchenwelt mit dem selbstverständlichen Wunderbaren ansiedeln. Die zugrundeliegenden Sagen sind solche, deren Haupthandlungslinie nicht das Übernatürliche, sondern das ,Überwirkliche’ herausstellen – im Sinne von außergewöhnlichen Ereignissen in der Regel tragischer Natur, die einen historischen Kern haben bzw. zumindest mit historischen oder für historisch gesehenen Figuren assoziiert sind.328 Im Gegensatz aber zu anderen Filmen, die auf solchen Folklorestoffen mit Sagencharakter beruhen329, reichern die als ,sagenhafte Märchenfilme’ betrachteten Streifen ihre Geschichten mit übernatürlichen Elementen an, die die Beteiligten in märchenhafter Weise nicht verwundern – sie können rein dekorative wie auch handlungsrelevante Funktion tragen, doch ihre Handlungsrelevanz liegt nicht in ihrer Übernatürlichkeit als solcher begründet, und insbesondere das Tragische der Ereignisse ist davon nicht (unmittelbar) berührt. In den drei Filmen der tadschikischen Rustam-Trilogie, in der Regisseur Boris Kimjagarov die Erzählungen um den gleichnamigen Helden aus dem persischen Nationalepos Šāhnāme adaptiert, nimmt das Märchenhaft-Magische graduell immer stärker ab: Im ersten Film, Skazanie o Rustame (Die Rustam-Legende, 1972), versucht der böse Div Tulad Rustam mit allerlei schwarzer Magie zu überwinden, doch sämtliche Versuche scheitern; der zweite Film, Rustam i Suchrab (Die Schlacht im Tal der weißen Tulpen, 1973), zeigt Tulad als

328 Vgl. Röhrich/Uther/Brednich: EM 11, s.v. „Sage“, S. 1019. 329 Der sowjetische Film kennt hierfür zahlreiche Beispiele, insbesondere aus den zentralasiatischen Sowjetrepubliken, so etwa Ker-ogly (1960), Skazanie o ljubvi ([Die Historie von der Liebe], Titel auch: Lejli i Medžnun, 1961) oder Kyz-Žibek (1969-72), die sicherlich als Material für eine eigene Untersuchung dienen könnten.

73 größtenteils passiven Beobachter, der mit Genugtuung zur Kenntnis nimmt, dass Rustam auch ohne sein magisches Eingreifen einem tragischen Schicksalsschlag nicht entgeht; in Skazanie o Sijavuše (Die Tragödie von Siawusch, 1976) schließlich fehlt die Figur Tulads ganz und mit ihr das Element des Übernatürlichen. Interessant ist, dass auch der Grundton von Film zu Film düsterer und damit ,sagenhafter’ wird – während Skazanie o Rustame noch vergleichsweise verspielt-abenteuerlich daherkommt, sind Rustam i Suchrab und insbesondere Skazanie o Sijavuše Tragödien von geradezu klassischem Ausmaß, die eine Antikriegsbotschaft in den Mittelpunkt stellen. Die türkisch-sowjetische Co-Produktion Ljubov’ moja, pečaľ moja (Meine Liebe, meine Trauer, 1978) liegt ein Bühnenstück des türkischen Autors Nâzım Hikmet zugrunde, das wiederum die Sage von Ferhad und Şirin verarbeitet: Hier ist aber nicht der Perserkönig Chosrau der leidende Dritte in der tragischen Dreieckgeschichte, sondern Şirins Schwester, eine Königin, die vorher, um das Leben ihrer Schwester zu retten, ihre Schönheit hergegeben hatte – dieses märchenhafte Motiv330 verstärkt ein psychologisches, indem die Verpflichtung Şirins ihrer Schwester gegenüber, die sich für sie aufgeopfert hat, und damit der Zwiespalt nur noch deutlicher gemacht wird. Eine gewisse Sonderstellung nimmt Legenda o Suramskoj kreposti (Die Legende der Festung Suram, 1984) ein: Der Film beruht auf der literarischen Bearbeitung einer georgischen ätiologischen Sage von Daniėl Čonkadze, die ihrerseits dem zentrale Motiv des Bauopfers331 seinen mystischen Charakter nimmt, da die entsprechende Prophezeiung falsch ist und einem perfiden Racheplan entspringt – im Film dagegen ist die Prophezeiung, wie in der Sage, genuin und das Opfer erfüllt seinen Zweck: Die Festung wird durch das Opfer uneinnehmbar. Die sehr abstrakte, von Detailreichtum in der Bildsprache geprägte experimentell-avantgardistische Form des von Sergej Paradžanov inszenierten Films nimmt dem Sujet viel von seiner sagenhaften Tragik und rückt ihn deutlich in die Richtung von Parabel und Märchen.

II.7. Grenzfälle, fließende Übergänge und Probleme bei der Klassifizierung Wie unterschiedlich mit den verarbeiteten Erzähltypen bzw. -mustern umgegangen wird und insbesondere wie fließend teilweise die Übergänge zwischen den einzelnen konstatierten Gruppen seien können, soll hier anhand eines skizzenhaften Vergleichs verschiedener Filme nochmal dargestellt werden, die auf die eine oder andere Art und Weise an dieselben 330 Mot. D1871. Girl magically made hideous. 331 Mot. S261. Foundation sacrifice.

74 Erzähltypen angelehnt sind. Folgt Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Vasilisa, 1939) dem bekannten Volksmärchen von der Froschprinzessin332 in seiner syntaktischen Struktur recht genau, lässt den Helden einen Frosch finden, der sich dann in ein schönes Mädchen verwandelt, und knüpft daran, wie es im ostslavischen Volksmärchen üblich ist, den Typ von der verschwundenen Frau oder Braut333 an, so setzt das Crossover-Märchen Veseloe volšebstvo (Die schöne Wassilissa/Die Hexe Akulina, 1969) mit dem Moment der Suchwanderung ein: Der Märchenheld hat ,damals’, anders als im der sowjetischen Schülerin Katja bekannten Volksmärchen, Vasilisa nicht gefunden und gerettet, und so sucht ihre Großmutter, die Baba-Jaga334, die mittlerweile in der ,realen’ Welt unter den Menschen als Bibliotheksputzfrau lebt, sie bis auf den heutigen Tag. Katja hilft ihr bei der Suche, und als sie nach zahlreichen Abenteuern Vasilisa finden, so müssen sie feststellen, dass sie nach wie vor in einen Frosch verwandelt ist und erst noch erlöst werden muss.335 In Lilovyj šar (Die lila Kugel, 1987) hat die Froschprinzessin gewissermaßen nur einen Gastauftritt: Das Science Fiction-Crossover-Märchen betreibt ,Folkloremutation’, es lässt die Schülerin Alisa Selezneva, die im Jahre 2087 in einer von Raumschiffen und Weltraumexpeditionen geprägten Welt lebt, mit einer Zeitmaschine in eine märchenhafte Vergangenheit reisen. An Bord ihres Raumschiffs lässt sie einen Frosch zurück, von dem sie behauptet, es handle sich um eine verzauberte Prinzessin – sehr zum Unwillen des wissenschaftsgläubigen Kapitän Zelenyj, der dies alles als Unfug abtut. Als Alisa jedoch am Ende in die Zukunft zurückkehrt, hat Zelenyj seine Einstellung gewandelt und konnte mit seiner Liebe die Prinzessin von ihrer Froschgestalt erlösen. Die Froschprinzessin hat hier quasi reinen Motivcharakter336 und kann als ein zusätzliches semantisches Element gesehen werden – dieses stellt Ausgangs- und Endpunkt der Handlung dar, doch von einer ,Erzähltypenmutation’ zu sprechen, fällt hier schwer, da die Gesamthandlung in ihrer Syntax nicht betroffen ist. Einen sehr ausfabulierenden, verfremdend-mutierenden Umgang mit dem schwankhaften Typ vom Dieb als Esel337 weisen die demselben Sujet folgenden Filme 332 AaTh 402 The Mouse (Cat, Frog etc.) as Bride = ATU 402 The Animal Bride = AA/SUS 402 Carevna- ljaguška. 333 AaTh/ATU 400 The Man on a Quest for his Lost Wife = AA 401A/SUS 4001 Muž iščet isčesnuvšuju ili pochiščennuju ženu. 334 Eine Verwandtschaft der Baba-Jaga mit der übernatürlichen Frau des Helden kennt das Volksmärchen durchaus, siehe Novikov 1974, S. 145, 180. 335 Die Figur des Kaščej Bessmertnyj erscheint als der Entführer Vasilisas – was einer im Volksmärchen

gängigen Kombination der Typen AA/SUS 402 und SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce entspricht. 336 Mot. D195. Transformation: man to frog. 337 AaTh 1529 Thief Claims to have been Transformed into a Horse = ATU 1529 Thief as Donkey = AA/SUS 1529 Podmen(a) lošadi.

75 Pochoždenija Nasreddina (Nasreddins Abenteuer, 1946) und Gljadi veselej ([Lass den Kopf nicht hängen], 1982) auf338: Im Erzähltyp wird von einem Gauner ein Lasttier gestohlen und an dessen Stelle tritt ein Komplize, der dem leichtgläubigen Besitzer versichert, er sei zur Strafe für seine Sünden in das Tier verwandelt worden und nun erlöst. Roman und Filme dagegen setzen als zentrales, handlungsbestimmendes Motiv einen großangelegten ,gerechten’ Betrug, indem einem gierigen Ausbeuter ein tatsächlicher Esel als verwandelter Prinz angedreht wird, wobei dabei Tricks eingesetzt werden, um ihm eine Verwandlung des Tiers in einen Menschen vorzugaukeln, in der dann ein Eingeweihter den angeblichen Prinzen verkörpert. Den Typ als solchen syntaktisch und semantisch unverfremdet übernimmt dagegen der Film Kak Ivanuška-Duračok za čudom chodil (Wie der dumme Iwanuschka das Wunder suchte, 1977) – darin hat er jedoch nur Episodencharakter und fügt sich in einen anderen Handlungszusammenhang ein: Der Betrogene ist der Held des Films, der Sonderling Ivanuška, dessen ebenso naiv-vertrauensselige wie über die Maßen gutmütige Art bei dem Gauner, der den vorgeblich Entzauberten spielt, ein schlechtes Gewissen für seine Tat hervorruft, so dass er ihm das Pferd wieder zutreibt – worauf Ivanuška denkt, er sei erneut verwandelt worden, wie dies auch der Geprellte im Erzähltyp meint. Anders als dieser meint er jedoch nicht, dies geschähe ihm recht, sondern will ihm helfen, wieder ein Mensch zu werden – der dümmliche Protagonist im Schwankmärchen ist (wie auch die Figur in den Nasreddin-Filmen) Spottobjekt, die Gestalt des Ivanuška zielt dagegen auf die Sympathie des Rezipienten ab. Eingebettet ist die ganze Episode in eine Haupthandlung, die lose, insbesondere auf semantischer Ebene, an die ostslavische Ausformung des Erzähltyps vom Teufel mit den drei goldenen Haaren, Marko Bogatyj339, angelehnt ist – dem in der Volksmärchentradition die Verknüpfung mit dem schwankhaften Typ vom Dieb als Esel, wie zu erwarten, fremd ist. Eine Einordnung des Gesamtfilms in nur eine der Gruppen scheint nicht angebracht. Sicherlich einer der variantenreichsten Typen der Volksmärchentradition ist der vom guten und dem schlechten Mädchen340 – dies ergibt sich auf Grund der verschiedenen Arten von Vertreibungen und Aussendungen, die das gute Mädchen auf sich zu nehmen hat, wie auch der Prüfungen, die es zu erfüllen hat, und schließlich der Vielfalt an übernatürlichen

338 Der zweite Film ist eine Verfilmung von Leonid Solov’evs Roman Očarovannyj princ (Der verzauberte Prinz), der erste wiederum diente evtl. als Vorlage für dieses Buch – vgl. die Anmerkungen in der Filmographie. 339 AA/SUS 461 Marko Bogatyj. 340 AaTh 480 The Spinning Women by the Spring: The Kind and the Unkind Girls = ATU 480 The Kind and the Unkind Girls ff..

76 Prüfinstanzen im internationalen Raum: Während in den Grimmschen Märchen die auftritt, sind es im slowakischen Märchen in der Sammlung von Božena Němcová die zwölf Monate (vgl. den Film Dvednadcať mesjacev [Die zwölf Monate], 1972, dem dieses über den Weg der doppelten Adaption341 zugrundeliegt), und im ostslavischen Volksmärchen342 übernimmt diese Rolle der Frost, Morozko (vgl. den Film Morozko (Abenteuer im Zauberwald), 1964), oder aber die Baba-Jaga. Damit eher entfernt verwandt, wenn auch vom AaTh und den an ihn angelehnten Verzeichnissen als Subtyp gekennzeichnet343, ist der Typ vom entführten kleinen Bruder344, dessen Schwestern ihn nacheinander von einer Hexe zu befreien suchen. In den ostslavischen Varianten345 ist es fast immer nur eine Schwester, und die Hexe und Entführerin ist immer die Baba-Jaga. Dass nicht die Schwester den Bruder, sondern die Mutter ihr Kind von der Baba-Jaga zurückgewinnen sucht, ist im Volksmärchen eher ungewöhnlich.346 Im Korpus jedoch sind gleich zwei Filme vorhanden, die dieser Ausformung in Grundzügen folgen und einander in Einzelzügen sehr ähneln: Zolotye roga (Der Hirsch mit dem goldenen Geweih, 1972) und Dva klena ([Die zwei Ahornbäume], 1974), letzteres nach einer Bühnenvorlage von Švarc. Zolotye roga thematisiert im ersten Teil, wie zunächst zwei Zwillingsschwestern in die Hände der Baba-Jaga geraten, worauf sie sie in Rehkitze verwandelt, und anschließend der Bruder, der trotz des Verbotes der Mutter alleine losgezogen ist, um die Schwestern zu befreien – er wird in ein Zicklein verwandelt. Parallel befindet sich bereits die Mutter auf der Suchwanderung, wie sie typisch ist für die Erzähltypen vom Mädchen auf der Suche nach seinen Brüdern und den Erzähltypenzyklus um den verlorenen Mann347. Als helfende Tiere treten ein Bär, den die Baba-Jaga gefangenhält, ein Hund und ein Kater auf.348 In Dva klena dagegen wurden die beiden älteren Brüder in Ahornbäume verwandelt, und der jüngste Bruder ist ohne Erlaubnis der Mutter losgezogen – auch er fällt beinahe in die Klauen der Baba-Jaga, was gerade noch rechtzeitig von der Mutter verhindert werden kann. Diese wiederum wird von der Baba-Jaga vor schier unlösbare Aufgaben gestellt, ehe sie ihr ihre älteren Söhne wiedergibt, was letztlich Kern des Typs vom guten und vom schlechten Mädchen darstellt. Als Helfer bei diesen Aufgaben fungieren 341 Samuil Maršaks gleichnamiges Bühnenmärchen, das hier verfilmt wurde, ist eine dramatische Adaption dieses Märchens; es variiert und fabuliert aus, ist aber im Stoffkern vorlagengetreu. 342 Siehe AA 480*B/SUS 480 Mačecha i padčerica. 343 Im Vorwort zum ATU (Bd. 1, S. 11-12) geht Uther auf die Problematik der Subtypen bzw. deren fehlende Systematik ein. 344 AaTh/ATU 480A* Three Sisters Set out to Save their Little Brother. 345 Siehe AA 480*E/SUS 480A* Sestra (tri sestry) otpravljaetsja spasať svoego brata. 346 Siehe z.B. in der Afanas’evschen Sammlung das fragmentarische Märchen Nr. 558. 347 AaTh/ATU 451 The Maiden Who Seeks her Brothers bzw. AaTh/ATU 425 ff. The Search for the Lost Husband. 348 Allesamt werden sie durch tatsächliche Tiere verkörpert.

77 ebenfalls ein Bär, ein Hund und ein Kater349, allesamt unfreiwillig zum Haushalt der Baba- Jaga gehörend. Dieser Zug weist Motivparallelen zu dem Typ vom entführten Bruder auf, stellt jedoch schon eine recht spezifische Ausformung dar. Die Filme können somit einerseits grundsätzlich als ,neue Varianten’ eines vorhandenen Erzähltyps betrachtet werden, durch die Elemente, die diesem Erzähltyp in der Form fremd sind, sie jedoch beide gemeinsam haben (wie Dreizahl der Kinder, Verwandlung der Entführten, ungehorsames ältestes bzw. jüngstes Kind, die drei spezifischen Tierhelfer), aber auch als Varianten eines ,neuen Erzähl(sub)typs’ gelten. Eine einwandfreie Klassifizierung erweist sich also, wie zu erwarten war, als nicht immer möglich. Nichtsdestotrotz erscheint die hier vorgenommene systematische Gruppierung ein nützliches Instrument, um die Wechselbeziehung zwischen Film und Folklore näher zu bestimmen. Die sechs Spielarten der Typologie seien hier also nochmal zusammenfassend dargestellt:  Unter der Bezeichnung , E r z ä h l t y p e n a d a p t i o n e n ’ wurden Filme subsumiert, deren Folklorequelle eindeutig identifizierbar ist und die den entsprechenden Erzähltyp in seiner syntaktischen Struktur und mit den charakteristischen semantischen Elementen übernehmen.  Als , n e u e E r z ä h l t y p e n v a r i a n t e n ’ wurden Filme betrachtet, die die syntaktische Struktur eines Typs erkennen lassen, aber auf der semantischen Ebene frei damit umgehen – eine etwaige Folklore-Quelle ist entsprechend auf Grund der veränderten Semantik nicht eruierbar350, wohl aber die syntaktische Orientierung an einem bestimmten Typ.  Von , E r z ä h l t y p e n m u t a t i o n e n ’ kann gesprochen werden, wenn die Filme zwar die wesentlichen semantischen Elemente eines Typs oder evtl. sogar einer bestimmten Folklorequelle enthalten, aber dabei die syntaktische Struktur sehr frei handhaben oder eine komplett eigene Struktur aufweisen.  Mit dem Begriff , n e u e E r z ä h l t y p e n ’ können diejenigen Filme bezeichnet werden, die zwar weder eine konkrete Folklorequelle noch eine Orientierung an einem bestimmten Erzähltyp erkennen lassen, aber deren Folklorebezug über semantische Anleihen hinausgeht, da ihre syntaktische Makrostruktur der Propp’schen Morphologie des Märchens entspricht.

349 Hier sind die Tiere durch Schauspieler in stilisiert-angedeuteten Kostümen dargestellt. 350 Gelegentlich liegt jedoch ein literarisches Märchen zugrunde, das seinerseits eine ,neue Erzähltypenvariante’ darstellt.

78  , F o l k l o r e m u t a t i o n e n ’ schöpfen frei aus der Semantik von Märchen und Folklore, ohne sich dabei an einer bestimmten Quelle zu orientieren, weisen aber eine syntaktische Struktur auf, die nicht märchenhaft ist – ihnen liegt entsprechend weder eine konkrete Folklorequelle zugrunde, noch verweisen sie auf einen bestimmten Erzähltyp, noch orientieren sie sich in ihrem narrativen Aufbau an der Propp’schen Morphologie des Märchens.  , S a g e n h a f t e M ä r c h e n f i l m e ’ schließlich verweisen zwar auf eine Folklorequelle, aber diese ist eben kein Märchen, sondern eine Sage oder ein sagenähnlicher Stoff ohne märchenhafte syntaktische Struktur351 – als Märchenfilme können sie deshalb bezeichnet werden, da sie in einer Märchenwelt spielen, in der das Übernatürlich-Wunderbare alltäglich ist und nicht etwa verwundert oder fasziniert wie in der ,Welt’ einer ,reinen’ Sage. In der kommentierten Filmographie wurde versucht, die einzelnen Filme so darzustellen, dass ihre jeweilige Zuordnung zu einer oder im Zweifelsfall eben auch zwei der Gruppen so nachvollziehbar wie möglich erscheint. Es steht dem Leser frei, dieser auf Grundlage der Filmbesprechung oder der eigenen Rezeption des Films zuzustimmen oder eine abweichende Zuordnung zu begründen.

II.8. Sonderfälle II.8.1. Das Phänomen Crossover-Märchen Das Crossover-Märchen als Sonderform bzw. als spezifisches inhaltlich-narratives Verfahren des Märchens wurde schon weiter oben eingeführt – seine Spezifik besteht darin, dass die klassische Märchenwelt mit ihrer Selbstverständlichkeit des Wunderbaren sozusagen parallel zur realistisch dargestellten Alltagswelt existiert und mit ihr aufeinandertrifft, es damit gleichzeitig zu einer Überschneidung des phantastischen (und/oder, je nach Definition, surreal-komischen) und des Märchengenres kommt. Beispiele wurden bereits verschiedentlich en passant erwähnt, an dieser Stelle soll nochmal gesondert auf die Spezifik und die vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser Hybridform eingegangen werden. Grundsätzlich gibt es davon zwei Spielarten – solche, in denen Märchenfiguren in der Alltagswelt auftauchen, und solche, in der Figuren aus der Alltagswelt in der Märchenwelt landen. Beides führt jedoch häufig zum selben Resultat – Chaos in der jeweiligen Welt, deren

351 Ob die jeweilige syntaktische Struktur eine ,sagenhafte’ ist, kann hier nicht geklärt werden, da dafür das analytische Instrumentarium fehlt: Bisher gibt es weder ein Typenverzeichnis der Sage im Sinne des AaTh noch eine Morphologie der Sage im Propp’schen Sinne, die als Standard gelten können.

79 Regeln damit aus den Angeln gehoben werden, aber unter Umständen auch Verwirrung vonseiten der jeweils jenseitigen Figuren, die sich in der für sie neuen Welt erst zurechtfinden müssen. Zwischen den Welten gibt es häufig eine Art Portal als sichtbare Grenze – die Schülerin Olja steigt durch einen Spiegel ins Korolevstvo krivych zerkal (Im Königreich der Zauberspiegel, 1963); Mitja in Skazka o Mite i Maše, o Veselom Trubočiste i o Mastere Zolotye Ruki ([Das Märchen von Mitja und Maša, vom fröhlichen Schornsteinfeger und dem Meister Goldenes Händchen], 1969) findet den Eingang ins Reich Kaščej Bessmertnyjs am Ende des Zauns des Leningrader Botanischen Gartens; in Akmaľ, drakon i princessa ([Akmaľ, der Drache und die Prinzessin], 1981) und Tam, na nevedomych dorožkach... (Abenteuer mit der Tarnkappe, 1982) markiert geheimnisvoll wabernder Rauch die Grenze zum Märchenreich. Die Grenze zwischen Märchen- und Alltagswelt muss aber nicht unbedingt räumlich sein – so entstammen die Märchenfiguren aus Veseloe volšebstvo (Die schöne Wassilissa/Die Hexe Akulina, 1969) etwa einer diffusen Vergangenheit, und in Lilovyj šar (Die lila Kugel, 1987) macht die Heldin Alisa eine Zeitreise in die ,Epoche der Legenden’, in der Märchen Wirklichkeit waren. Es gibt also zwei – einander nicht ausschließende – Varianten, wie die Märchenwelt gedacht wird: Die des ,Irgendwo’ (irgendwo, räumlich getrennt von der realen Welt, existiert die Welt des Märchens) und die des ,Irgendwann’ (irgendwann, zeitlich vor der realen Welt, gab es die Welt des Märchens). Der Märchenwelt kann aber im Grunde auch eine Existenzform zugeschrieben werden, die sie gewissermaßen unabhängig oder losgelöst von Raum und Zeit bestehen lässt, was manche Filmen zumindest zu implizieren scheinen. Auf die eine oder andere Weise wird die Trennung der Welten im Crossover-Märchen jedenfalls überwunden. Die Helden des sowjetischen filmischen Crossover-Märchens sind häufig Kinder aus der Alltagswelt, die in der Regel den Vorteil haben, dass sie sich auch in der Märchenwelt auskennen: Maša aus Novogodnie priključenija Maši i Viti ([Die Neujahrsabenteuer von Maša und Vitja], 1975) fürchtet Kaščej nicht, da sie dessen Schwachpunkte aus der Lektüre zahlreicher Märchen kennt; Akmaľ in Akmaľ, drakon i princessa hat bereits in seinem Märchenbuch gelesen, dass die Prinzessin im Märchenreich von einem Drachen bedroht wird; und auch Alisa in Lilovyj šar ist – im Gegensatz zu den Erwachsenen – mit Märchen vertraut und wird deshalb ausgewählt, in die Märchenvergangenheit zurückzureisen352. Umgekehrt

352 In diesem Science Fiction-Crossover ist die Alltagswelt freilich die der Zukunft.

80 verschafft ihnen aber auch die Tatsache, dass sie der modernen, technisierten Realität entstammen, einen Vorteil – Vitja in Novogodnie priključenija Maši i Viti kann die Märchenbösewichte, die ihn und seine Freundin Maša bedrohen, mehrfach mit technischem Know-How überlisten; Mitja aus Tam, na nevedomych dorožkach... kommt auf seinem Fahrrad im Märchenreich an, mit dem er Wege viel schneller zurücklegen kann, und die Nadel mit Kaščej Bessmertnyjs Tod daran, die in einen Heuhaufen (!) gefallen ist, kann er mit Hilfe eines improvisierten Magneten ausfindig machen. Die Welten können antagonistisch angelegt und unterschiedlich bewertet sein – sowohl in Korolevstvo krivych zerkal als auch in Poka b’jut časy (Der diebische König, 1976) ist das feudalistische Märchenreich von Tyrannei und Unterdrückung geprägt, und die ,aufgeklärten’ sowjetischen Heldinnen sehen sich genötigt, dagegen anzukämpfen. Nasreddin in 12 mogil Chodži Nasreddina ([Die 12 Gräber des Chodža Nasreddin], 1966) dagegen stellt fest, dass der Kampf zwischen Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit weder an Ort noch an Zeit gebunden ist. In Poljana skazok ([Die Lichtung der Märchen], 1988) schließlich kommt die sensible Schöne aus dem Märchen mit dem seelenlosen bürokratischen System der Gegenwart nicht zurecht und verfällt wieder in ihren Dornröschenschlaf.353 Das Crossover-Märchen kann als Sonderform, aber nicht als grundsätzlich eigener Typ gewertet werden, da die entsprechenden Filme einerseits strukturell-syntaktisch sehr heterogen aufgebaut sind, andererseits aber in dieser Hinsicht immer zumindest einer der sechs Gruppen der hier verwendeten Typologie zugeordnet werden können: Der sowjetische Crossover-Märchenfilm kennt, von der ,Erzähltypenadaption’ und dem ,sagenhaften Märchenfilm’ abgesehen, alle Spielarten – sogar die der ,neuen Erzähltypenvariante’, deren wohl originellste Ausformung Akmaľ, drakon i princessa und dessen Fortsetzung Novye priključenija Akmalja ([Akmaľs neue Abenteuer], 1983) darstellen: Der erste Film lässt ohne Schwierigkeiten das Sujet des Drachentötermärchens354 erkennen, von dem alle charakteristischen semantischen Elemente enthalten sind – die vom Drachen bedrohte Prinzessin, das halbe Königreich als Preis, der Drachenkampf.355 Der Held ist allerdings der aufgeweckte Junge Akmaľ aus Sowjet-Usbekistan, der von zu Hause ausgebüchst ist, um im Märchenreich für Ordnung zu sorgen. Originell ist insbesondere die Verknüpfung mit dem

353 Der Film behandelt, wie auch Ona s metloj, on v černoj šljape ([Sie hat einen Besen, er einen schwarzen Hut...], 1987), eine Liebesbeziehung ,zwischen den Welten’ – da sonst kindliche Helden dominieren, ist dieses Motiv jedoch nicht häufiger. Es steht auch in der berühmten tschechoslowakischen TV-Serie Arabela (Die Märchenbraut, 1979) im Mittelpunkt. 354 AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff. 355 Mot. B11.10. Sacrifice of human being to dragon; Q112. Half of kingdom as reward; B11.11. Fight with dragon.

81 zweiten Teil des bekannten Märchensujets, in der der Held vorübergehend verschwindet und ein falscher Held auf den Plan tritt, der behauptet, den Drachen getötet zu haben356: In dem Fall erklärt sich das Verschwinden des Helden dadurch, dass Akmaľ in die Alltagswelt zurückgekehrt ist – im zweiten Film kommt er nach zwei Jahren wieder ins Märchenreich, um festzustellen, dass der gierige Chan sich dort mit seiner Tat rühmt.

II.8.2. Die Sonderstellung von Hans-Christian-Andersen-Adaptionen Wie bereits angeklungen ist, kann man bei den Verfilmungen von Autorenmärchen eine relative Werktreue feststellen, die den Verfilmungen von Volksmärchenstoffen nicht zueigen ist – hier wird sehr viel häufiger variiert und modifiziert. Eine große Ausnahme stellen jedoch die Verfilmungen von Hans-Christian-Andersen-Stoffen dar – der dänische Schriftsteller nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein: Sowohl seine (nicht allzu zahlreichen) Volksmärchenparaphrasen als auch seine Erzähltypen- und Folkoremutationen werden sehr frei behandelt und interpretiert. Es scheint aber bestimmte ,Regeln’ zu geben: Erweiterungen sind in den meisten Fällen entweder novellistischer (und fast nie folkloristisch-märchenhafter!) Natur, oder aber es werden intertextuelle Querverweise auf andere Märchen ausschließlich aus Andersens eigenem Repertoire eingefügt: In Snežnaja koroleva (Die Schneekönigin, 1966) hat z.B. in der Eingangsszene der Schornsteinfeger aus Die Hirtin und der Schornsteinfeger einen stummen Kurzauftritt, an späterer Stelle haben ein Hausgeist und ein personifiziertes Tintenfass einen Dialog, was auf Feder und Tintenfass und auf Der Kobold und die Madam sowie Der Kobold bei dem Höker verweist; in Staraja, staraja skazka (Ein uraltes Märchen, 1968), basierend auf Das Feuerzeug, tritt der Prinz aus Der Schweinehirt mit seiner Nachtigall und Rose auf und ihm kommt eine wichtige Nebenrolle zu; in Solovej (Die Nachtigall, 1979) werden Handlungsstränge aus Die Nachtigall und Des Kaisers neue Kleider miteinander verbunden. In Princessa na gorošine (Die Prinzessin auf der Erbse/Prinzessin gesucht, 1976) und Bluždajuščie ogon’ki ([Die Irrlichter], 1979) werden gar vier bzw. fünf Andersen-Märchen zu einer jeweils verschieden zusammenhängenden Erzählung verknüpft. Andersen und seine Märchen werden also gewissermaßen wie ein in sich geschlossenes Universum behandelt, so dass man zurecht von einer ,Gattung Andersen’ sprechen kann. Andererseits besteht bei Andersen-Stoffen scheinbar Bedarf an literarischer und filmischer Neuinterpretation. Der Bühnenschriftsteller Evgenij Švarc adaptierte sie, ergänzt

356 Vgl. Mot. K1932. Impostor claims reward (prize) earned by hero.

82 um seine eigenen Ideen, wie sonst Volksmärchenstoffe, worauf diese Adaptionen dann wiederum verfilmt wurden (Snežnaja koroleva (Die Schneekönigin), 1966, und Ten’ ([Der Schatten]), 1971). Andersens Märchen von der Schneekönigin, das selbst mit Erzähltypen nur lose über Strukturparallelen verwandt ist und sie mutiert, wurde filmisch einmal verfremdet und unter neuen Voraussetzungen erzählt (Tajna Snežnoj Korolevy. Skazka pro skazku ([Das Geheimnis der Schneekönigin. Märchen über ein Märchen], 1986) und einmal gar nur in seiner syntaktischen Grundstruktur als Inspiration gewählt und wie ein Erzähltyp mutiert (Skazka stranstvij (Das Märchen einer Wanderung, 1983) – eine doppelte Mutation, wenn man so will. Einen annähernd mit Andersen vergleichbaren Status hat sonst allenfalls Charles Perrault – jeweils auf andere Perrault-Märchen verweisen Andeutungen in Zoluška (Aschenbrödel, 1947) und Einzelmotive der Handlung, die mit dem Hauptsujet kombiniert werden, in Oslinaja škura (Die Prinzessin mit der Eselshaut, 1982); in der Dornröschen- Adaption Skazki starogo volšebnika ([Die Märchen des alten Zauberers], 1984) treten sämtliche Märchenfiguren aus dem ,Perrault’schen Universum’ als Nebenfiguren auf. Da Perraults begrenztes Märchenrepertoire jedoch ausschließlich aus literarisierten Volksmärchenstoffen besteht, die später auch in Folklore- und Buchmärchenvarianten populär wurden, sind die Übergänge hier fließend.

Soweit also der Versuch, den sowjetischen Märchenfilm als Breitenphänomen in seinen vielfältigen Bezügen zur Folklore zu beschreiben, eine Art Typologie zu erstellen. Durch den wohl am Besten formalanalytisch zu nennenden Zugang wird gewährleistet, dass diese Typologie auch exemplarisch gelesen und auf andere nationale Märchenfilmkorpora, im besten Fall aber auch auf literarische Märchentraditionen bezogen werden kann. Das erarbeitete Modell für diese zu überprüfen und anderweitig nutzbar zu machen stellt für nachfolgende Forschungsprojekte sicher eine lohnende Aufgabe dar.

83 C. DER SOWJETISCHE MÄRCHENFILM UND SEIN BEZUG ZUR WIRKLICHKEIT: EXEMPLARISCHE FALLSTUDIEN Im vorigen Teil der Arbeit diente der sowjetische Märchenfilm als Anschauungsmaterial, um das künstlerische Genre Märchen anhand seines Bezugs zur Folklore zu fassen – er wurde dabei synchron betrachtet, und die phänomenologischen Überlegungen waren inhaltsanalytisch-allgemeiner Natur und so letztlich im Grunde unabhängig sowohl vom Medium als auch vom kulturellen und gesellschaftlichen Kontext. Der sowjetische Märchenfilm ist aber ja keineswegs nur durch seinen Folklorebezug bestimmt, sondern neben seiner medialen Beschaffenheit insbesondere auch durch seine jeweilige konkrete Entstehungswirklichkeit beeinflusst, und es ist davon auszugehen, dass es hier Entwicklungen gab, die nur ein diachroner Zugang offenlegen kann. Dieses Kapitel will nun einen Übergang vom Allgemeinen zum Konkreten, vom rein Genreanalytischen zum Kulturhistorischen herstellen: Im Fokus steht, was den sowjetischen Märchenfilm über die unterschiedlich ausgeprägte Märchen- und Folklorehaftigkeit hinausgehend kennzeichnet. Das soll nicht heißen, dass diese dabei gänzlich aus dem Blickfeld rückt – sie wird, auch unter Bezugnahme auf die Ergebnisse des vorherigen Kapitels, immer wieder mitthematisiert, doch ist sie nicht mehr der alleinige Interessenschwerpunkt. Der zentrale Fokus soll nun vielmehr darauf liegen, was den sowjetischen Märchenfilm als Produkt seiner Entstehungswirklichkeit ausmacht – es wird also der Versuch unternommen, gesellschaftliche, politische und ideologische Implikationen herauszuarbeiten und hierbei Entwicklungslinien aufzuzeigen. Dies kann auf Grund der Komplexität des Themas schon aus arbeitsökonomischen Gründen nur anhand von vertieften qualitativen Analysen ausgewählter Einzelfilme geleistet werden, die als Fallstudien dienen sollen – freilich müssen sie, um exemplarische Aussagekraft zu erhalten, auch an das Gesamtkorpus vergleichend rückgekoppelt werden, um Tendenzen aufzuzeigen. Als breiterer Referenzrahmen zur Auswertung der Filme wurde die ,Methode’ der Künste des Sozialismus gewählt – der Sozialistische Realismus. Dieser galt bis zum Ende der Sowjetunion offiziell als Richtlinie für sämtliche Künste, auch wenn er als Doktrin nicht durchgehend gleich dominant war. Er war auch immer wieder Kritik innerhalb des Systems ausgesetzt, aber mit seinen formalen Konventionen wurde in der Regel auch in späteren Perioden der Sowjetgeschichte nicht gebrochen, sondern sie wurden eher modifiziert und aus dem System heraus hinterfragt.357 357 Der Einfluss seiner Formeln und Muster ist Katerina Clark zufolge sogar in Samizdat- und Tamizdatwerken zu spüren, vgl. Clark 1985, S. 13, 236; Clark 2001, S. 174.

84 Bei jedem der untersuchten Filme muss aufs Neue ein durch die jeweils aktuellen Gesellschaftsumstände bedingter Kontext rekonstruiert werden – der Sozialistische Realismus358 sowie die damit eng verknüpfte sowjetische Kulturpolitik können nur eine Art Leitfaden darstellen, nicht den einzigen Referenzpunkt. Gerade das Spannungsfeld jedoch, das zwischen ihm und dem Genre Märchen besteht, kann wichtige Einblicke in Subtexte gewähren. Ehe nun also die Auswahl der Film-Samples näher begründet und die Filme dann ausführlich untersucht werden sollen, soll zunächst auf dieses Spannungsfeld näher eingegangen werden, beginnend mit der Vorgeschichte und den kulturgeschichtlichen Hintergründen.

I. Zum Verhältnis von Märchen und Sozialistischem Realismus I.1. Märchen in der Zeit des Sozialistischen Realismus In den frühen Jahren der Sowjetunion, insbesondere aber ab Mitte der 20er Jahre war das Märchen, als Folklore- wie auch als Literaturgenre, Gegenstand von heftigsten Kontroversen – es stand im Ruf, Überbleibsel der überkommenen bourgeoisen Gesellschaft zu sein und Werte zu vermitteln, die nicht im Einklang mit denen des Kommunismus standen. Sowohl die Vertreter der Proletkuľt-Bewegung als auch die später in deren Geiste entstandene Schriftstellervereinigung RAPP traten für die Vernichtung von sämtlichen Folkloreformen ein, und auch Lenins Witwe Nadežda Krupskaja, die als Autorität in literarischen wie auch pädagogischen Fragen galt, offenbarte sich in ihren Schriften als militante Märchengegnerin – auf ihre Initiative hin wurden Märchen zwischenzeitlich aus den Bibliotheken verbannt. 1928 manifestierten sich die herrschenden Anti-Meinungen in einer Aufsatzsammlung, die unter dem proklamatorischen Titel My protiv skazki [Wir sind gegen das Märchen] herausgegeben wurde.359 Das ,uralte’ Märchen mit seinem irrealen Wunderbaren schien als Anachronismus einfach nicht mehr in die aufgeklärt-progressive, zukunftsgerichtete Gegenwart des Sozialismus zu passen. Nicht zuletzt deshalb fand es zunächst auch keinen Platz unter den sich formierenden Genres des neuen Mediums Film.360

358 Wenn hier und im Folgenden von ,dem’ Sozialistischem Realismus die Rede ist, so ist damit quasi eine Idealform davon gemeint – wohlwissend, dass auch der Sozialistische Realismus kein statisch-homogenes Gebilde darstellte, sondern einer Dynamik unterworfen war. 359 Vgl. zu diesem Absatz Oinas 1975, S. 157-158, sowie Balina 2005, S. 105-107; auch Fomin 2001, S. 165. 360 Die wenigen Märchenfilme der frühen sowjetischen Filmgeschichte (insbesondere drei Streifen von Jurij Željabužskij: Devočka so spičkami [Das Mädchen mit den Schwefelhölzern], Novoe plaťe korolja [Des Kaisers neue Kleider], beide 1919, und Morozko [Der Frost], 1924) gelten als nicht erhalten, in der Literatur werden sie und ihre negative Rezeption allenfalls in Randbemerkungen erwähnt, so etwa von Paramonova (Paramonowa 1985, S. 26; 1990, S. 139) sowie von Miloserdova (2006, S. 10) und Prokhorov (2008, S. 135).

85 Als aber auf dem Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller im August 1934 der Sozialistische Realismus diskutiert und schließlich als verbindliche künstlerische Doktrin festgelegt wurde, wurden zwar sämtliche avantgardistische Strömungen diskreditiert, dafür jedoch ausgerechnet das Märchen positiv hervorgehoben – kein Geringerer als Maksim Gor’kij, von offizieller Seite als Patriarch der Sowjetliteratur und höchste Autorität in diesem Gebiet bestätigt, betonte in seiner Eröffnungsrede über die sowjetische Literatur, dass Folklore als schöpferischer Ausdruck der Bedürfnisse und Wünsche des arbeitenden Volkes zu sehen sei: Не сомневаюсь в том, что древние сказки, мифы, легенды известны вам, но очень хотелось бы, чтобы основной их смысл был понят более глубоко. Смысл этот сводится к стремлению древних рабочих людей облегчить свой труд, усилить его продуктивность, вооружиться против четвероногих и двуногих врагов, а также силою слова, приемов «заговоров», «заклинаний» повлиять на стихийные, враждебные людьям явления природы.361 [Ich zweifle nicht daran, dass die uralten Märchen, Mythen und Legenden Ihnen bekannt sind, doch mir ist sehr an einem tieferen Verständnis ihres hauptsächlichen Sinngehalts gelegen. Dieser Sinngehalt geht zurück auf die Bemühungen der arbeitenden Menschen der alten Zeit, sich ihre Arbeit zu erleichtern, deren Produktivität zu erhöhen, sich gegen vier- und zweibeinige Feinde zu wappnen und schließlich auch mit der Kraft des Wortes, durch „Besprechen“ und „Beschwörungen“, die elementaren, den Menschen feindlichen Naturerscheinungen zu beinflussen.] Etwas später erklärt er: „Подлинную историю трудового народа нельзя знать, не зная устного народного творчества“362 [„Man kann unmöglich die wahre Geschichte des arbeitenden Volkes kennen, wenn man nicht die mündliche Volkskunst kennt“], um dann den Einfluss der Volksprosa auf bedeutende literarische Werke zu besprechen. Durch diese und ähnliche Äußerungen gab er den in Verruf geratenen Folkloregenres eine neue, positive Bewertung und legte damit den Grundstein für ihre Rehabilitierung.363 Dieser Faden wurde dann von Samuil Maršak aufgenommen, der auf dem Kongress unmittelbar nach Gor’kij mit einem Vortrag zur sowjetischen Kinderliteratur auftrat und sich darin für eine Reaktivierung des Märchens als produktives literarisches Genre einsetzte. Die Kritik, der es vorher ausgesetzt war, führte er darauf zurück, dass es in der vorrevolutionären Massenliteratur zu viele Märchen minderer Qualität gab, die weder dem Geist des Volksmärchens noch dem der großen Kunstmärchenautoren entsprachen und eigentlich nicht den Namen Märchen verdient hätten. Er ging auch mit dem westlichen zeitgenössischen Kunstmärchen ins Gericht. Das Genre selbst aber machte er auf Grund seiner didaktischen Eignung im Sinne des Sozialismus stark – es müsse nur richtig genutzt werden und Werke

361 Gor’kij 1990, S. 6. 362 Ebd., S. 10. 363 Vgl. Oinas 1975, S. 158; Balina 2005, S. 107.

86 hervorbringen, die mit den neuen Gegebenheiten im Einklang stünden.364 Das Märchen durfte also von da an also wieder und weiter existieren – etwas überspitzt, aber im Kern zutreffend formuliert Helena Goscilo: „[The] Soviets appropriated the fairy-tale paradigm wholesale for propagandistic purposes as unproblematically as they requisitioned palaces, museums, and private estates.“365 Widersprüchlichkeiten wurden in Kauf genommen – denn eigentlich, so möchte man meinen, steht das Märchen ja schon in seinen poetischen Grundmerkmalen denen des Sozialistischen Realismus geradezu konträr entgegen. Vordergründig scheinen die beiden Phänomene einander sogar geradezu auszuschließen: Während der Sozialistische Realismus wirklichkeitsnah und am sozialistischen Alltag der Gegenwart orientiert sein soll, definiert sich das Märchen in seinem Wesen ja gerade durch Wirklichkeits- und Alltagsferne in einer diffusen Vergangenheit und das Vorhandensein des Irreal-Magischen – was im Übrigen zu den Punkten gehörte, deretwegen es in den 20er Jahren kritisiert wurde. Gerade das Element des Irreal-Unwirklichen bzw. Realitätsfernen wiederum sollte später dann von Kritikern dem Sozialistischen Realismus unterstellt und vorgeworfen werden. Die Unterschiede im Gegenstandsbereich sind jedoch ohnehin als äußerlich anzusehen. Im folgenden Abschnitt soll nun kurz skizziert werden, wo und inwieweit es Überschneidungen zwischen den beiden Phänomenen gibt.

I.2. Märchen und Sozialistischer Realismus – ein ungleiches Begriffspaar? Gor’kijs vielzitierte Rede war nicht nur relevant als Plädoyer für die Existenzberechtigung des Märchens und für eine verstärkte Hinwendung zu ihm und anderen Formen der Volksprosa366 – von fast noch gewichtigerer Bedeutung war, dass der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der UdSSR darin die Schriftsteller und Künstler aufrief, sich auch in ihrem Schaffen an den Mustern der Folklore zu orientieren. Zunächst ging er auf die in seinen

364 Maršak 1990, S. 25-28. In seinen Abschlussworten, S. 28, rät der Schrifsteller dann ganz allgemein den Kinderschriftstellern, auf den Fundus nicht nur der nationalen, sondern der internationalen Folklore zurückzugreifen, was er im Übrigen auch in seinen eigenen Werken beherzigte – Maršak gehörte neben Evgenij Švarc sicherlich zu den talentiertesten Märchenautoren der Sowjetunion und ist auf Grund seines kreativen Umgangs mit Folklore zu Recht nach wie vor populär. Im Korpus finden sich Verfilmungen von drei seiner Bühnenmärchen: Dvenadcať mesjacev ([Die zwölf Monate], 1972), Gorja bojaťsja – ščasťja ne vidať ([Glück hat nur, wer das Unglück nicht fürchtet], 1973) und Umnye vešči ([Die klugen Dinge], 1973). 365 Goscilo 2005/a, S. XII. 366 Diese stellt ein Thema für sich dar, da sie auch recht zwielichtige Formen annahm: Zu den Bemühungen in der Stalinzeit, Folklore zu beeinflussen und politisch-didaktisch zu instrumentalisieren, siehe den äußerst informativen Artikel von Oinas (1975). Die Resultate dieser Bemühungen grenzen teils ans Absurde, wenn etwa in epischen Liedern Iľja Muromec und andere Bylinenrecken der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg zu Hilfe kommen, siehe dort S. 171-172. Vgl. dazu auch Clark 1985, S. 147-151.

87 Augen künstlerische Vollkommenheit der Helden der Folklore ein, darunter auch die Märchenfiguren Vasilisa Premudraja und Ivan-Durak367, um dann in einer Art Arbeitsanweisung, wie die neue Literatur auszusehen habe, auf seine Interpretation des Wesens der Folklore zu verweisen – das, was er vorher (im obigen Zitat) als wesensbestimmend für die Folklore erklärt hatte, forderte er nun auch von der Literatur, wobei darin eine Art Verschmelzung stattfinden sollte zwischen Thema und Inhalt einerseits und Funktion und Wesen andererseits: Oсновным героем наших книг мы должны избрать труд, т. е. человека, организуемого процессами труда, который у нас вооружен всей мощью современной техники, человека, в свою очередь делающего труд более легким, продуктивным, возводя его на степень искусства.368 [Als Haupthelden unserer Bücher müssen wir die Arbeit wählen, d.h. den durch die Prozesse der Arbeit organisierten Menschen, welcher bei uns mit aller Macht der modernen Technik ausgestattet ist, den Menschen, der seinerseits die Arbeit leichter und produktiver macht, indem er sie in den Rang der Kunst erhebt.] Etwas vereinfachend könnte man sagen, Gor’kij fordert hier von den Schriftstellern des Sozialistischen Realismus neue Märchen – Märchen mit ideologischem Anspruch, mit der Alltagswelt als Märchenwelt, der zu verrichtenden Arbeit als märchenhafte Aufgabe und der Technik in der Rolle des selbstverständlichen Wunderbaren.369 Maršak bezeichnet in seiner Rede die sowjetische (Erwachsenen-)Literatur als „в тенденции демократическая, простая по языку и стилю, воодушевленная большими идеями, […] вполне доступна школьнику”370 [„in der Tendenz demokratisch, in Sprache und Stil einfach, beseelt von großen Ideen, einem Schüler vollauf verständlich“] – lässt man die ,großen Ideen’ beiseite, kann so auch ohne weiteres das Märchen umschrieben werden. Ganz ähnlich erklärt die US-amerikanische Slavistin Katerina Clark das angestrebte Ideal des Sozialistischen Realismus – „to create a great, universal and s i m p l e form [Hervorhebung Clark]“371. Als sie 1981 den sowjetischen Roman untersucht, erscheint es ihr deshalb bezeichnenderweise zielführend, dies mit den von der Folkloristik erarbeiteten

367 Siehe Gor’kij 1990, S.8 („[Н]аиболее глубокие и яркие, художественно совершенные типы героев созданы фольклором, устным творчеством трудового народа.” [„Die tiefgründigsten und einprägsamsten, künstlerisch vollkommensten Heldentypen wurden von der Folklore geschaffen, der mündlichen Kunst des arbeitenden Volkes.“]). 368 Ebd., S. 13. 369 An anderer Stelle (ebd., S. 10) erklärt er den Mythos zur Idealform der Literatur, da er für ihn das Reale des Realismus und das Revolutionäre der Romantik vereint – diese Umschreibung trifft allerdings genauso, wenn nicht in noch stärkerem Maße auf das Märchen zu, dessen Erwähnung Gor’kij hier wohl bewusst vermeidet, da mit ihm das semantische Moment des Irrealen und ,Unrealistischen’ assoziiert ist. 370 Maršak 1990, S. 23. Im Anschluss geht er dann darauf ein, warum seiner Ansicht nach nichtsdestoweniger gute Kinderliteratur nötig ist – um dann im Zirkelschluss wiederum die sowjetische Kinderliteratur zu loben, die auch von Erwachsenen gelesen werden könne. 371 Clark 1985, S. 36.

88 Methoden der Formalanalyse zu tun372, und sie kommt u.a. zu einem auf eine Vielzahl von Texten anwendbaren Strukturschema bzw. „Master Plot“, der der von Propp beschriebenen Morphologie des Märchens nicht unähnlich ist373: Der narrative Aufbau der Texte ist in beiden Fällen formelhaft – auch das Erzählmuster des sozialistische Realismus ist linear und zielgerichtet, es entwickelt sich aus einem Grundkonflikt heraus und gestaltet sich als eine Abfolge von damit in Verbindung stehenden Etappen, ähnlich den Funktionen des Märchens. Weiters gibt es darin, wie im Märchen, eine Vorliebe für Hyperbolisierung374, und das gute Ende ist geradezu unausweichlich – so will es die programmatische Forderung nach „Optimismus“375 und das Modell der „historischen Notwendigkeit“, nach dem eine gloriose Zukunft schon vorprogrammiert ist. Daraus ergibt sich auch, dass der Sozialistische Realismus in seinem Wesen nicht eigentlich an Raum und Zeit gebunden ist – im Gegensatz zum Märchen wird zwar stets auf konkrete raumzeitliche Komponenten verwiesen, doch diese sind im Grunde belanglos und austauschbar: „If its plot were stripped of all references to a particular time or place [...] it [the socialist realist novel] could be distilled to a highly generalized essence.“376 Clark zufolge erzählt im Sozialistischen Realismus der Roman, wie im Übrigen auch der Film377, nicht nur in symbolischer Form die „historisch notwendige“ Abfolge der Stadien des Marxismus-Leninismus nach, sondern stellt auch einen rituellen Initiations- und Reifungsprozess dar (der den Helden zu einem vollwertigen Mitglied der kollektiven Gemeinschaft macht)378 – das wiederum ist ganz im Sinne derjenigen Ausrichtung in der Märchenforschung, die das Märchen als transformierte Initiationsgeschichte deutet379. Die zentrale Figur des Sozialistischen Realismus schließlich, der positive Held, ist kein individualisierter Charakter, sondern ein idealisierter ,Typ’380, ganz wie die schablonenhaften

372 Vgl. ebd., S. XII. 373 Vgl. ebd., S. 4-6, 255-260. Clark sieht das Feststellen und Beschreiben des Master Plots eher als Nebenprodukt ihrer Untersuchung an, da er nur eine Makrostruktur darstellt und damit allein der Komplexität ihres Themas nicht beizukommen ist; vgl. dort S. 11. Siehe auch Clark 2001, S. 177-178. 374 Vgl. Clark 1985, 71-72, 147. Zu hyperbolistischen Extremen im Märchen siehe Lüthi 1974, S. 34-36. 375 Vgl. Clark 2001, S. 175. Zum Optimismus des Märchens siehe den entsprechenden Eintrag in der EM (Wienker-Piepho: EM 10, s.v. „Optimismus“, S. 306-309). 376 Clark 2001, S. 177. 377 Clark weist in späteren Publikationen ausdrücklich daraufhin, dass die von ihr anhand des Romans erarbeiteten Kriterien auch auf den Film anwendbar sind, vgl. z.B. Clark 2001, S. 176. Ein herausragendes Beispiel des sozialistisch-realistischen Master Plot im Film ist der immens populäre Streifen Čapaev (Tschapaew, 1934) von Sergej und Georgij Vasiľev, vgl. Prochorov 2007, S. 53-55. 378 Vgl. Clark 1985, S. 9-10, 162-163, 167-176 sowie passim. 379 Hierzu gehört auch Propp in seinen späteren Arbeiten; siehe dazu Becker: EM 7, s.v. „Initiation“, S. 184- 185. 380 Vgl. Clark 1985, S. 46-47; Clark 2001, S. 176.

89 Protagonisten des Märchens, die von Lüthis Kategorie der Flächenhaftigkeit erfasst werden381. Die hier vorgenommene Umschreibung des Märchenhaften im Sozialistischen Realismus verallgemeinert natürlich stark und geht nicht in die Tiefe. Mark Lipovetsky hat aber sicher nicht unrecht, wenn er in diesem Zusammenhang Clarks Arbeit als „one of the most convincing arguments for the profound assimilation of the fairy-tale mentality by Soviet ideological discourse“382 sieht. Für ihn ist das Märchen sogar „the core of the Soviet collective unconsciousness“383 – soweit würde ich ihm nicht unbedingt folgen. Festzuhalten ist jedoch, dass der Sozialistische Realismus nicht im luftleeren Raum und ausschließlich durch Aufoktroyierung von oben entstanden ist – er war von zahlreichen verschiedenen literarischen und außerliterarischen Erscheinungen beeinflusst384, so auch und nicht zuletzt von Folklore und Märchen, zu dem er, von eher gelegentlichen semantischen Entlehnungen abgesehen385, insbesondere eine strukturell-syntaktische Nähe aufweist386. Die Möglichkeit eines kontrastiven Vergleichs der beiden Phänomene ergibt sich wiederum daraus, dass allen formalen Gemeinsamkeiten zum Trotz auch ein entscheidender poetologischer Unterschied besteht, der über die offensichtlichen äußerlichen Unterschiede hinausgeht und in der jeweiligen Intentionsausrichtung der Texte begründet liegt: Das Volksprosagenre Märchen ist in der Regel tendenzlos, der Sozialistische Realismus dagegen grundsätzlich belehrend. Hieraus ergab sich im Kontext der totalitaristisch geprägten Sowjetunion zwangsläufig ein Spannungsfeld – die Frage, wie und in welcher Form denn der vom Märchen beeinflusste Sozialistische Realismus umgekehrt das Märchen wieder beeinflusste und wie ein solcher Einfluss konkret aussah, kann, je nach gewähltem Untersuchungsmaterial, ganz verschiedene Antworten hervorbringen.387 In den folgenden Kapiteln soll ihr anhand der Ausformung des Märchenfilms nachgegangen werden. Es kann schon vorab gesagt werden, dass dieser die Tendenzlosigkeit

381 Vgl. Lüthi 1974, S. 16: „[D]as Märchen zeigt uns flächenhafte Figuren, nicht Menschen mit lebendiger Innenwelt.“ 382 Lipovetsky 2005, S. 233. 383 Ebd. 384 Vgl. Clark 1985, S. 6-9. 385 Vgl. ebd., S. 147-152. 386 Wenn Clark (ebd., S. 151) von der Umfunktionalisierung von Folkloreelementen in den Romanen der 30er Jahre schreibt und dabei erklärt: „The natural generic antecedents of thirties literature […] are found not in folktales but in the written tradition of religious literature“, so tut dies dem Vorhandensein von grundsätzlichen strukturell-syntaktischen, also f o r m a l e n Gemeinsamkeiten – und Einflüssen – keinen Abbruch, mit denen ja Clark ganz zu Anfang ihre Methodologie begründet. 387 Zum Volksmärchen, das in der Sowjetunion insbesondere zur Zeit des Stalinismus von oben so beeinflusst werden sollte, dass es nicht mehr tendenzlos war, sei hier nochmal auf Oinas 1975 verwiesen; zum literarischen Märchen wiederum auf die von Balina/Goscilo/Lipovetsky (2005) herausgegebene Märchenanthologie und die ausführlichen interpretativen Kommentare der drei Editoren.

90 seines Folklorependants durchbricht und sich dadurch dem Sozialistischen Realismus und der dahinterstehenden Denkweise annähert oder aber sie ablehnt, sich jedenfalls in Beziehung dazu setzt – zu unterschiedlichen Zeiten in ganz unterschiedlicher Weise. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei den Figuren zu, da sie als zentrale Werte- und Ideenträger fungieren und sich in ihnen immer Aussageintentionen eines Textes manifestieren – erst über die Figuren wird eine Struktur mit Bedeutung aufgeladen. In den nun folgenden Abschnitten soll diese Behauptung anhand eines Vergleichs der Figuren im Volksmärchen und im Sozialistischen Realismus belegt und veranschaulicht werden.

I.3. Märchenheld und positiver Held des Sozialistischen Realismus – Brüder im Geiste? Im Volksmärchen wie auch im Sozialistischen Realismus sind die Figuren, wie bereits angedeutet, schablonenhaft gestaltet. Die Protagonisten beider Phänomene haben zwei qualitative Eigenschaften gemeinsam, die wie binäre Oppositionen erscheinen, aber komplementär zueinander stehen – sie sind gleichzeitig gewöhnlich und außergewöhnlich: Einerseits handelt es sich um Auserwählte, deren Weg vorgezeichnet ist und die dazu bestimmt sind, Großes zu vollbringen388 – andererseits ist diese Auserwähltheit keinesfalls etwas Elitäres, sondern es wird im Gegenteil symbolisiert, dass sie unabhängig von Stand und Status ist: Märchenheld wie auch positiver Held des Sozialistischen Realismus sind in der Regel bescheidene Allerwelts- und Jedermann-Figuren mit Identifikationspotential, ihre Biographien gewissermaßen als modellhaft zu sehen.389 Anhand der Figuren lässt sich jedoch auch die unterschiedliche Ausrichtung des Volksmärchens und des Sozialistischen Realismus erkennen: Der typische Held des Märchens lässt sich von den Ereignissen treiben und bleibt oftmals selbst hochgradig passiv – er muss nur reagieren, ob auf ihm von allen möglichen Seiten angebotene Hilfe oder auf Bedrohungen, und kommt doch unweigerlich zum erwünschten Ziel390 – „[д]ействие сказки идет как бы навстречу желаниям героя.“391 [„Die Handlung des Märchens kommt gleichsam den Wünschen des Helden entgegen.“] Das glückliche Ende besteht für ihn in der Regel in einem

388 Vgl. zur Auserwähltheit des Märchenhelden Horn 1983, S. 16-17, 43; zur Auserwähltheit – oder Außergewöhnlichkeit – des sozrealistischen Helden Clark 1985, S. 33-34, auch Clark 2001, S. 180. 389 Vgl. zum Märchenhelden Horn 1983, S. 43; zum sozrealistischen Helden Clark 1985, S. 9-10, 46-47, auch Clark 2001, S. 176. 390 Vgl. Lüthi 1974, S. 53-55; Horn 1983, S. 9-10, sowie dies.: EM 6, s.v. „Held, Heldin“, S. 730-731; auch Propp 1928, S. 58-59. Bachtina (1976) versucht in ihrem kurzen Aufsatz, zu einem differenzierteren Bild zu kommen, indem sie auch die Reaktionsfähigkeit des Märchenhelden als eine Art von Aktivität wertet und ihm trotz seines äußeren Nicht-Handelns eine innere Bereitschaft zur Aktivität zuschreibt. 391 Lichačev 1968, S. 80.

91 äußeren Wandel, dem etwa die Erhöhung in Königswürden und/oder eine Heirat entsprechen392, doch ein innerer Wandel oder eine innere Entwicklung findet bei ihm nicht statt. Bewusstes Handeln oder gar reflektiertes Denken sind ihm überhaupt fremd – er handelt stets instinktiv und ohne vorausschauende Hintergedanken393, während „Planmäßigkeit, Zielstrebigkeit und Bewusstheit […] Eigenschaften [sind], die eher den Alltagsmenschen charakterisieren und manchmal gerade bei den Gegenspielern des Helden anzutreffen sind.“394 Während dem Märchenhelden weltanschauliche Ideen per se fremd sind, so verhält es sich mit dem positiven Helden des Sozialistischen Realismus umgekehrt – von vornherein hat er mindestens eine Voraussetzung zu erfüllen, um überhaupt als positiver Held und damit als Auserwählter gelten zu können: Er muss die richtige – sprich sozialistische – Einstellung besitzen. Am Anfang der Geschichte ist bei ihm diese jedoch eher als Potential vorhanden, das noch nicht vollständig realisiert ist: Wie der Märchenheld ist er zunächst eher instinktiv veranlagt, doch im Gegensatz zu diesem ist er meist äußerst aktiv in seinem Handeln und Streben, und er erfährt neben der äußeren genauso eine – wenn auch schematische – innere Entwicklung, die für die Geschichte in ihrer didaktischen Ausrichtung quasi unverzichtbar ist. Sein innerer Weg führt ihn, entsprechend dem dialektischen Modell des Marxismus- Leninismus, vom Stadium der ,Spontaneität’ (stichijnosť) ins Stadium des politisch- weltanschaulichen ,Bewusstseins’ (soznateľnosť)395, und damit wird gezeigt, dass „the country is progressing in a series of ever greater passages or revolutionary leaps to that end moment when it will attain a state of fully achieved communism.“396 Die Gegenspieler des Helden haben unterdes die falsche Weltanschauung oder sind zumindest darin fehlgeleitet, was paradoxerweise dazu führt, dass sie zwar auch schablonenhaft erscheinen, aber dass ihre psychologischen Hintergründe klarer dargestellt sind.397

II. Methodische Überlegungen II.1. Die Figuren des Märchens und ihr semantisches Potential Über die Figuren offenbaren sich also einige gewichtige Unterschiede zwischen Volksmärchen und Sozialistischem Realismus, die trotz struktureller Gemeinsamkeiten über

392 Dies kann man freilich auch sinnbildlich deuten, vgl. Horn 1983, S. 28. 393 Vgl. dazu auch Lichačev 1968, S. 80. 394 Horn 1983, S. 21, vgl. dort auch weiter bis S. 22. Die „gewisse“ Bewusstheit, die Horn dem Märchenhelden dann doch vorsichtig zuschreiben will, wird von der Autorin selbst relativiert, siehe auf S. 122-123 Anm. 138. 395 Vgl. hierzu Clark 1985, S. 16-17, 162; Clark 2001, S. 178-179. 396 Clark 2001, S. 179. 397 Vgl. Clark 1985, S. 186-187.

92 unterschiedliche Intentionen Aufschluss geben. Gerade hierin liegt aber auch ein Annäherungspotential: In schematischen narrativen Zusammenhängen sind nicht nur äußere Eigenschaften der Figuren relativ variabel, auch ihre innere Einstellung oder ihre moralischen Qualitäten als solche haben auf den Ablauf der Geschichte keinen wirklichen Einfluss. Wer die Figuren sind, was ihr Hintergrund ist etc. ist für die syntaktische Handlungsstruktur und die darin liegende Dynamik unerheblich, und die Frage danach, warum sie handeln, wie sie handeln, muss nicht unbedingt beantwortet werden, jedenfalls nicht explizit. So sieht dies auch die russische Folkloristin Elena Novik – sie beruft sich auf Propps Erkenntnis, dass die strukturellen Funktionen des Märchens unabhängig von den Figuren sind, die sie ausführen, und zieht daraus den folgerichtigen Umkehrschluss: Независимость функций от персонажа-выполнителя имеет [...] и обратную сторону — относительную независимость персонажа от выполняемых им функций, отсутствие прямых корреляционных связей между поступком персонажа и его семантической характеристикой. Поэтому представляется целесообразным разграничить такие уровни, как уровень действующих лиц, или деятелей (герой, вредитель, даритель, помощник и т.д.), и собственно персонажей, т. е. действующих лиц в их семантическом определении.398 [Die Unabhängigkeit der Funktionen von den sie ausführenden Figuren hat auch eine Kehrseite – die relative Unabhängigkeit der Figur von der Funktion, die sie ausführt, das Fehlen direkter korrelativer Zusammenhänge zwischen dem Handeln einer Figur und ihrer semantischen Charakteristik. Deswegen ist es zweckdienlich, die Ebenen abzugrenzen – die Ebene der handelnden Personen oder Aktanten (Held, Schädiger, Schenker, Helfer usw.) und die Ebene der Figuren als solche, d.h. der handelnden Personen in ihrer semantischen Beschaffenheit.] Dies ist auch mit der von Altman vorgeschlagenen Syntaktik-Semantik-Opposition vereinbar – die Figuren sind semantische Elemente in einem engeren Sinne, da sie über ihren etwaigen Motivcharakter hinausgehend individuell mit Bedeutung besetzt werden können: Entsprechend ist es etwa ohne weiteres möglich, bei der (literarischen, aber eben auch filmischen) Adaption etwa eines Märchens auch ohne strukturelle Eingriffe399 die Figuren mit zusätzlichen Eigenschaften zu belegen. Über die Motivation des Helden des Drachentötermärchens etwa, mit der er gegen den numinosen Bösewicht in den Kampf zieht, macht das Volksmärchen in der Regel keine expliziten Aussagen; in der Adaption dagegen könnten ihm ganz verschiedene Beweggründe zugeschrieben werden: Er kann z.B. aus reiner Abenteuerlust handeln, in der Hoffnung auf Belohnung aus egoistischem Eigennutz, aus Liebe zur Prinzessin, die geopfert werden soll, oder aber auch aus sozialkämpferischem Bewusstsein, weil er das vom Drachen unterdrückte Volk von der Bedrohung befreien will – in diesem Falle wäre er nahe am positiven Helden im Sinne des Sozialistischen Realismus. In der Konkretisierung bzw. Erweiterung semantischer Eigenschaften des Drachen wiederum

398 Novik 2001 (Erstveröffentlichung 1975), S.124. 399 Solche können natürlich grundsätzlich trotzdem vorgenommen werden.

93 könnten ganz bestimmte Feindbilder forciert werden. Ein und dieselbe Geschichte kann dadurch verschiedene Aussagen erzielen. Inneren, im Grunde aber auch äußeren Qualitäten kommt dabei Bedeutung zu – letzteren deshalb, weil daran wiederum bestimmte Vorstellungen und Konnotationen geknüpft sein können. Während also z.B. einerseits das Setting und dessen jeweilige chronotopische Bedingungen sich beim Märchen und dem Sozialistischen Realismus rein genrebedingt unterscheiden (sowjetische Alltagsrealität der Gegenwart vs. diffuses ,Irgendwo’ und ,Irgendwann’ der Märchenwelt) und deshalb schwer vergleichbar sind, andererseits die syntaktische Struktur in keiner unmittelbaren Beziehung zu impliziten Bedeutungen und Aussagen stehen muss, so sind die Figuren immer Bedeutungsträger und können über ihre Eigenschaften Aufschluss über die möglichen Aussageintentionen eines Textes geben – diese können beim Sozialistischen Realismus als transmediales Phänomen und transgenerische Doktrin einerseits und dem sowjetischen Märchenfilm andererseits übereinstimmen oder nicht. Eine Analyse, die sich dem Narrativ von den Figuren aus annähert, verspricht also auch für den Kontext der vorliegenden Arbeit ergiebig zu sein. Novik, eine Vertreterin der Moskauer-Tartuer Schule, die sich insbesondere mit Märchen beschäftigte, bietet dafür ein sehr brauchbares schematisches Modell an, welches auf folgenden Grundannahmen basiert: Für den Fortgang und die Dynamik der Geschichte ist das Handeln der Figuren entscheidend, ihre inhärenten Eigenschaften unterdes geben Aufschluss über ihren Zustand. Handeln und Zustand stehen jedoch in einem Wechselverhältnis: Die Eigenschaften der Figuren bestimmen sowohl eigenes als auch fremdes Handeln mit, und über sie kann in der Regel auch die Motivation für dieses erschlossen werden.400 Die Eigenschaften sind aber nicht alle statisch und unveränderlich, sondern können sich im Zusammenhang mit durch Handeln hervorgerufenen Ereignissen wandeln und den Figuren eine neue Position zuweisen, ihr persönlicher Zustand wie auch ihre Rolle gegenüber den anderen Figuren kann sich ändern – und dies wiederum kann neues Handeln hervorrufen.401 Für Novik beginnt die Charakteristik der Figuren im Märchen bereits beim Namen, der oftmals einige semantische Hintergrundinformationen gibt (z.B. Ivan-Durak, ,Ivan der Dummling’).402 Sie nennt im Folgenden dann vier verschiedene spezifische semantische Sphären, mit denen der Zustand der Figuren und damit deren Rolle näher definiert werden kann und die jeweils als Zeichensysteme zu verstehen sind. Ihrerseits lassen diese Gruppen

400 Vgl. Novik 2001, S. 124-126, 155-157. 401 Vgl. dazu auch die Überlegungen zu Noviks Modell in Carey 1983, S. 137-138. 402 Vgl. Novik 2001, S. 128-130.

94 sich häufig über ein Spektrum zwischen zwei binären Oppositionen erschließen. Im Einzelnen gehören dazu:  Der individuelle Status. Diese Kategorie teilt sich wiederum in äußere und innere Eigenschaften, die teilweise miteinander in Verbindung stehen können. Gerade im Märchen sind etwa die Oppositionen natürlich/übernatürlich (innere Eigenschaften) und anthropomorph/non-anthropomorph (äußere Eigenschaften) von Bedeutung – und non-anthropomorphe Figuren wie Tiere oder Gegenstände sind immer auf die eine oder andere Weise übernatürlich, da sie sonst nicht zu selbstständigen Handlungen fähig wären: Ein nicht handelnder Gegenstand aber ist eben ein Gegenstand und keine Figur. Neben den Oppositionen, die Geschlecht (männlich/weiblich) und Alter (jung/alt) der Figuren betreffen, werden diese auch durch eine Reihe weiterer Qualitäten bestimmt, z.B. lebendig/tot, stark/schwach, klug/dumm, gut/böse usw. All diese Eigenschaften können konstant sein, sich aber im Handlungsverlauf auch ändern – im Märchen erlaubt etwa Zauber einen Wechsel der äußeren Gestalt, und sogar der Tod kann nur eine vorübergehende Eigenschaft sein.403  Der familiäre Status. Dieser ist stets eng verknüpft mit den Eigenschaften von Geschlecht (z.B. Ehefrau/Ehemann, Mutter/Vater) und Alter (Elterngeneration/ Kindergeneration). Die Zuordnung der familiären Eigenschaften einer Figur erfordert stets eine Bezugsfigur (der Held ist z.B. Sohn seiner Eltern, Ehemann der Heldin, Schwiegersohn von deren Eltern etc.), und es gibt feine Unterschiede zwischen Blutsverwandtschaft, angeheirateter Verwandtschaft, Stiefverwandtschaft oder Nennverwandtschaft. Der (auch potentielle) familäre Status birgt ein äußerst reichhaltiges Konfliktpotential in sich, und gerade im Märchen sind Konflikte oft familiärer Natur – die älteren Brüder rivalisieren mit dem Jüngeren; die Stiefmutter verfolgt die Stieftochter; der Drache entführt eine Jungfrau, um sie zu seiner Ehefrau zu machen; die falsche Heldin gibt sich als Braut aus usw.404  Der gesellschaftliche oder soziale (soslovnyj) Status. Hierzu gehört etwa die Opposition Zar/Bauer, die vor allem relevant für den Helden ist, der oft vom einfachen Burschen zum gekrönten Herrscher wird. Im Gegensatz zum individuellen oder familiären Status ergeben sich im Märchen jedoch Konfliktsituationen aus dem gesellschaftlichen Status eher selten, er dient mehr als Hintergrundinformation zu den

403 Vgl. ebd., S. 131-138. 404 Vgl. ebd., S. 138-142.

95 Figuren. Über ihn werden Machtverhältnisse ausgedrückt (hoch/niedrig). Daneben verweist er auf lokale Zugehörigkeiten (der Hirte gehört zum Feld, der Jäger zum Wald etc.) oder Fähigkeiten (z.B. der Schmied, der Wunderwaffen schmieden kann).405  Schließlich die Lokalisierung der Figuren: Hier ist für diese zunächst entscheidend, ob sie sich in ihrer eigenen Umgebung befinden (im eigenen Haus, im eigenen Reich) oder aber an einem fremden Ort (auf dem Weg, in einer fremden Behausung oder im fremden Reich). Wichtig ist hier weiterhin der Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Orten – geschlossene Orte wie Häuser oder auch Zarenreiche haben Grenzen, die oftmals bewacht werden, und Besitzer, während offene Orte wie das freie Feld nicht abgegrenzt sind, niemandem gehören und durch diese ,Neutralität’ Raum für Dynamik in der Handlung geben: Einerseits markieren sie grenzenlose Bewegungsfreiheit für die Figuren, andererseits aber auch Ungeschütztheit. In der fremden Umgebung können Figuren bedroht, in der eigenen geschützt sein (solange nicht eine für sie ,fremde’ Figur eindringt), aber in ihrer Bewegungsfreiheit sind sie in beiden Fällen meist eingeschränkt.406 Die semantische Beschaffenheit und damit auch das narrative Potential der Figur setzt sich aus diesen vier Sphären zusammen – je nach Geschichte ist eine bestimmte Eigenschaft oder auch mehrere Eigenschaften der Figur von spezifischer Bedeutung für die Handlung, woraus sich eine ziemliche Variationsbreite ergibt, wenn auch das russische Volksmärchen in der Regel eine relativ begrenzte Anzahl an Mustern nutzt.407 Ein großer Vorteil von Noviks Modell besteht meiner Ansicht nach darin, dass es, obwohl am spezifischen Material des russischen Volksmärchens erarbeitet, grundsätzlich auf verschiedene Untersuchungsgegenstände bezogen werden kann. Es verspricht, auch im Rahmen dieser Arbeit von großem Nutzen zu sein, wobei hier – durch die stofflich-inhaltliche Nähe des Märchenfilms zum Volksmärchen – nur leichte Modifikationen im Detail notwendig scheinen.408 So kann etwa der Eigenschaftskatalog zur Feinabstimmung der semantischen Charakteristik der Figuren im einzelnen kontextuell erweitert werden, insbesondere um individuelle Eigenschaften – vor allem relevant erscheinen hier die Oppositionspaare aktiv/passiv sowie spontan/bewusst. Jeder neue Abschnitt der Geschichte, der durch einen

405 Vgl. ebd., S. 142-146. 406 Vgl. ebd., S. 146-150. 407 Vgl. ebd., S. 151-157. 408 Die Grundanregung, Noviks Modell praktisch nutzbar zu machen, wurde der Dissertation von Carey entnommen, vgl. Carey 1983, S. 135-145. Die Autorin hat jedoch ansonsten einen völlig anderen Forschungsschwerpunkt und modifiziert Noviks Grundschema für ihre eigenen Zwecke (sie setzt sich exemplarisch mit der Rolle der Heldin im russischen Volksmärchen aus Gender-Perspektive auseinander).

96 Wandel durch Handeln intiiert wird, wäre also einerseits danach zu überprüfen, welche Eigenschaft der Figuren für dieses Handeln entscheidend war bzw. es herbeigeführt hat, andererseits, welche Veränderungen es für den Status der Figuren auch im Hinblick auf ihre Beziehungen untereinander mit sich bringt – in anderen Worten, wie sich ihre Rolle entwickelt und was daraus für Schlüsse gezogen werden können. Ansonsten muss hier noch ein weiterer Aspekt im Hinterkopf behalten werden: Figuren sind in ihrer Darstellung an das Medium409 gebunden, dem der jeweilige Text angehört – im Falle dieser Arbeit das des Films. Die damit in Verbindung stehenden medialen Besonderheiten, die einen bedeutenden Teil zur Rezeption beitragen und deshalb bei Filmbesprechungen stets mit berücksichtigt werden müssen, sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

II.2. Zur Transmedialität und zur Medienspezifik des Films Dass das wortbasierte Märchen, ob in mündlicher oder schriftlicher Ausformung, als Volksprosa- oder als Literaturgenre, und der audiovisuelle Märchenfilm grundsätzlich dazu fähig sind, dieselben Geschichten zu erzählen, dürfte ebenso sehr außer Frage stehen wie die Tatsache, dass sich durch die jeweilige Medienspezifik die Mittel unterscheiden, mit Hilfe derer sie ihre Geschichten erzählen.410 Die Frage der Äquivalenz filmischer und wortsprachlicher erzählerischer Mittel ist oft müßig, nicht nur, weil sie häufig im Zusammenhang mit Überlegungen zur Adäquanz filmischer Adaptionen gestellt wird und die Antworten deshalb, wie differenziert sie auch ausfallen, fast immer durch persönliche Präferenzen mitbestimmt sind. Im Rahmen dieser Arbeit erübrigt sie sich – es soll nicht darum gehen, wie und ob die Filme beim Medienwechsel im einzelnen die textlinguistischen Besonderheiten des wortsprachlichen Märchengenres transformieren oder adaptieren411: Der Fokus ist trans-, nicht intermedial, die Vergleichsebene ist die inhaltliche412, während darüber hinaus aber die Filme als Filme betrachtet werden, d.h. in ihrer Eigenständigkeit als solche. Gerade deshalb ist es wichtig, zu

409 Medium verstehe ich mit Wolf (2002/a, S. 169) als „konventionell im Sinn eines frame of reference [Hervorherbung Wolf] als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv“. 410 In den vorigen Kapiteln der Arbeit wurde dies deshalb auch stillschweigend vorausgesetzt – dass zwischen den Ebenen der Geschichte und deren Vermittlung unterschieden werden sollte, ist aber durchaus nicht unumstritten, siehe den Verweis bei Wolf (ebd., S. 179). 411 Da nicht jeder der besprochenen Filme konkrete Vorlagen aufweist, müsste dies ohnehin sehr allgemein erfolgen. In Ansätzen finden sich solche allgemeinen Überlegungen zum Medienwechsel Wortmärchen – Märchenfilm, unter Bezugnahme auf einschlägige Forschung, bereits oben in Kapitel A, Abschnitt II.1. 412 Hierin enthalten ist auch der inhaltlich-formale Aspekt, d.h. die den strukturellen narrativen Aufbau, nicht aber die mediale Präsentationsform betreffende Ebene.

97 erörtern, was einen solchen transmedialen Zugang ermöglicht, um anschließend einen Überblick zu geben, was die Spezifika und Möglichkeiten des filmischen Mediums im Vergleich zum rein wortsprachlichen Text ausmacht, also welche Faktoren bei der filmischen Wiedergabe einer Geschichte eine Rolle spielen können, insbesondere in Bezug auf die Figuren, und deshalb bei einer Filmanalyse beachtet werden müssen. Dabei soll es nicht um umfassende Theorie gehen, sondern um praktisch verwertbares Grundwissen im Sinne einer heuristischen Stütze. Zunächst kurz zum Verständnis der in der Forschung uneinheitlich gebrauchten Begriffe Inter- und Transmedialität, das dieser Arbeit zugrundeliegt: Wenn ein Text, der einem bestimmten Medium angehört, in irgendeiner Form, z.B. durch Imitation oder (versuchte) Analogie, auf ein Phänomen verweist, das als solches an ein anderes Medium geknüpft ist, oder aber mehrere Medien in ihrer Spezifik zusammenwirken, so liegt für mich Intermedialität vor. Transmedial dagegen sind für mich Phänomene, die nicht an ein bestimmtes Medium gebunden sind, also sozusagen einen gemeinsamen Fundus darstellen, auf den Texte verschiedenster Medien zurückgreifen können, um seine Elemente jeweils auf ihre medienspezifische Art umzusetzen. Ich lehne mich dabei an die theoretischen Überlegungen von Werner Wolf an, allerdings mit einer Modifikation: Ich stimme zwar grundsätzlich mit Wolfs Definition von Transmedialität überein, doch für ihn handelt es sich um eine Unterkategorie von „werkübergreifender Intermedialität“, die darin der „intermedialen Transposition“, der Transformation von medienspezifischen Elementen in ein anderes Medium, gegenübersteht.413 Ich dagegen sehe Transmedialität als der Intermedialität als Ganzes gegenübergestellt, da für sie nicht der Bezug der Medien als solche zueinander relevant ist, sondern eine – eben transmediale, also medienübergreifende – gemeinsame Bezugsquelle, ein Potential. Eine intermediale Untersuchung hätte demzufolge mediale Unterschiede zum Schwerpunkt, während bei einem transmedialen Ansatz die medialen Gemeinsamkeiten als Ausgangspunkt der Überlegungen dienen. Hier wird nun wiederum der Aspekt des Narrativen relevant, das nach Wolf ein „kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema im Sinne der frame theory [Hervorhebung Wolf]“414 darstellt. Alle narrativen Texte haben, unabhängig von ihrer Medienzugehörigkeit, gemeinsam, dass sie Geschichten erzählen.415 Geschichte meint hier, im

413 Siehe Wolf 2002/a, S. 170-171, auch 178. 414 Wolf 2002/b, S. 29. 415 Vgl. ebd., S. 38-39. Als prototypischen narrativen Text sieht der Autor bezeichnenderweise das Märchen an

98 breitestmöglichen Sinne, eine Folge von Geschehnissen, an denen Subjekte (Figuren) beteiligt sind und die miteinander in einem wie auch immer gearteten Sinnzusammenhang stehen.416 Die Geschichte – der ,Inhalt’ – z.B. eines Romans, eines Theaterstücks oder eines Spielfilms kann in einer Nacherzählung in der Regel auf dieselbe Weise wiedergegeben werden, ohne dass auf das Medium, in dem sie rezipiert wurde, überhaupt nur Bezug genommen werden muss – eben weil sie auf ein allgemeines kognitives Muster referiert und mit der Lebensrealität auf die eine oder andere Art und Weise verbunden ist.417 An und für sich transmedial wären demzufolge also Geschehnisse, Ideen, Vorstellungen, Stoffe, Motive und schließlich eben Figuren – also die Elemente, aus denen sich Geschichten zusammensetzen.418 Sobald jedoch Geschichten in einem Medium ,erzählt’ werden, nehmen sie eine medienspezifische Form an.419 Während wortsprachliche narrative Texte nur benennen können, zeigt der Film, was er erzählt, und zwar in bewegten und tönenden Bildern. Diese einfache Tatsache ist das eigentlich wesentliche Charakteristikum filmischer Narration – Käte Hamburger hat sie einst zugespitzt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Das bewegte Bild hat eine Erzählfunktion; es ersetzt das Wort der epischen Erzählfunktion.“420 Jens Eder sieht die Spezifik filmischer Narration ausdifferenzierter: „Audiovisuelle Medien verbinden diegetische und mimetische Erzählformen, telling und showing, Sagen und Zeigen [Hervorhebungen Eder]. Durch Schrift, Dialoge und Voice-over können sie sprachlich erzählen, durch Bilder, Geräusche und Musik können sie Ereignisse anschaulich vorführen.“421 Auch er räumt jedoch ein, dass insbesondere im Spielfilm422 im Vergleich zu

(S. 36), das ihm dann später (S. 45-51) zur Veranschaulichung seines Ansatzes dient. 416 Diese einfache Unterscheidung von Geschehen und Geschichte, bei der Geschichte die kausalen Zusammenhänge der jeweiligen Geschehnisse offenbart (in etwa der Struktur entsprechend, aber nicht so verallgemeinernd wie etwa in Propps Modell), ist für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ausreichend, ohne das hier mit so problematischen, da unterschiedlich verstandenen Termini wie Fabula/Sjužet oder Discourse/Histoire operiert werden muss. 417 Vgl. auch Wolf 2002/b, S. 37-38. 418 In etwa entspricht dies dem, was Wolf „inhaltliche Narreme“ nennt. Narreme sind für ihn transmedial gültige prototypische Bausteine des Narrativen, und er kennt neben inhaltlichen auch „qualitative“ und „syntaktische“ Narreme (vgl. ebd., S. 43-51). Eine ausführliche Darstellung dieser Konzeption, der ich in vielem, aber nicht in allem zustimme, würde hier zu weit führen und ist für das Verständnis der folgenden Kapitel auch nicht notwendig. 419 Vgl. ebd., S. 38-41. 420 Hamburger 1994, S. 179. Hamburgers Arbeit über die Logik der Dichtung, zu der sie beachtenswerterweise auch den Film rechnet, ist erstmals 1957 erschienen, hat aber in vielen Punkten nach wie vor nicht an Aktualität verloren. 421 Eder 2009, S. 14. Eder meint hier mit audiovisuellen Medien Filme in einem weiteren Sinne, also alle Produkte, die mittels einer Form von Filmkamera eingefangen und auf einer Form von Bildschirm (von Leinwand bis Handydisplay) rezipiert werden. Das ebenfalls audiovisuelle Theatermedium ist hier nicht mitgemeint. 422 Dieser Hauptgattung des Mediums Film gehören ja auch die im Korpus vertretenen Repräsentanten des

99 den Elementen des Sagens dem „audiovisuelle[n] Zeigen“423, also dem Erzählen in bewegten und tönenden Bildern, meist die entscheidende Rolle zukommt. Dem Inhalt des erzählenden Bildes, dem, was gezeigt werden kann, sind von der technischen Seite her kaum Grenzen gesetzt – die Möglichkeiten des Films übersteigen die etwa des Theatermediums bei weitem, da er nicht wie dieses bei der erzählerischen Vermittlung seiner fiktiven Wirklichkeit an den begrenzten Bühnenraum gebunden ist, sondern dafür im Grunde alle visuell und auditiv wahrnehmbaren Erscheinungen der tatsächlichen Wirklichkeit nutzen und auf seine Weise gestalten kann. Relativ frei ist der Film nicht nur in dem, was er zeigt, sondern auch darin, wie er es zeigt – in welchem Bildausschnitt, in welcher Perspektive, in welcher Ordnung die Bilder per Schnitt aneinandergereiht werden usw., wobei Zeitebenen und Handlungsorte des Erzählten sich im Grunde von Bild zu Bild unterscheiden können. Hamburger sieht darin eine grundsätzliche Nähe des Films zum epischen Erzählen424, Eder dagegen weist darauf hin, dass Filme in ihrer Mehrkanaligkeit die Sinne viel direkter involvieren und dadurch ein grundsätzlich anderes Erleben als bei rein wortsprachlich vermittelten Erzählungen bedingt wird.425 Durch seine Erzählweise verweist der Film jedenfalls am stärksten auf seine mediale Materialität, denn diese Art des Bildersehens entspricht nicht unserer sinnlichen Wahrnehmung im Alltag.426 Indem der (Spiel-)Film zum größten Teil zeigend erzählt, wird die Analyse und Interpretation seiner Geschichte sowohl erleichtert als auch erschwert: Während der Wortform Märchen, worauf auch Novik immer wieder hinweist, bei der Gestaltung der Figuren eine Grauzone offensteht, da darin, als Folge ihrer grundsätzlichen Verzichtbarkeit für die Struktur, bestimmte Eigenschaften nicht spezifiziert werden müssen427 und damit dem Zuhörer ermöglicht wird, sich etwas hinzuzudenken oder nicht, so muss der Märchenfilm zumindest sämtliche äußere Eigenschaften konkretisieren. Gleichzeitig wird jedoch eine andere Grauzone betreten, die grundsätzlich der Erzählform des ,bloß Gezeigten’ implizit ist, da dieses den Interpretationsspielraum gerade vergrößert – um nochmal mit Hamburger zu sprechen:

Genres Märchenfilm an – für andere (z.B. dokumentarische) Filmformen mögen hier Einschränkungen gelten. 423 Eder 2009, S. 14. 424 Vgl. Hamburger 1994, S. 179. 425 Vgl. Eder 2009, S. 14-15, 21. 426 Die Zweidimensionalität des Filmbildes ist ein weiterer solcher Materialitätsverweis, den Hamburger (1994, S. 177) wie Eder (2009, S. 18) anbringen, der jedoch mit dem Phänomen des dreidimensionalen Films in Frage gestellt wird und als Kategorie modifiziert werden müsste. 427 Vgl. etwa dort (Novik 2001), S. 131-132.

100 Die filmische Erzählung weist […] bloß auf, so sehr auch der Filmregisseur dem Bilde deutende Funktion einlegen mag. Denn weil eine solche Deutung nicht begrifflich verfestigt, sondern – wie die Dinge der Naturwirklichkeit – der Wahrnehmung überantwortet ist, ist das Erlebnis der Filmbildes ebenso wie das der Naturwirklichkeit jedem einzelnen Zuschauer als sein individuelles Erlebnis überlassen.428 Verschiedene mögliche Lesarten werden also, wenn man so will, vom Medium Film geradezu herausgefordert, und es ist am Rezipienten, sich eine anzueignen. Dies ist gerade für die Figurengestaltung in besonderem Maße relevant – Dialoge geben nur bedingt Einblicke in die Gedankenwelt von Filmfiguren, und wenn sie schweigen, bleibt in der Regel nur ihre Mimik und Gestik (bzw. die der sie darstellenden Schauspieler), die vielleicht suggeriert und andeutet, aber ebenfalls niemals ganz eindeutigen Aufschluss über innere Vorgänge gibt.429 In einem ähnlichen Sinne fasst auch Eder die Charakteristika der Rezeption filmischer Geschichten zusammen: Die audiovisuelle Darstellung verleiht der dargestellten Welt große Konkretheit und Detailliertheit, erschwert jedoch die Fokussierung narrativer Informationen und die Vermittlung abstrakter Bedeutungen. Die Zuschauer können die dargestellten Ereignisse aus frei wechselnden Perspektiven verfolgen und die optische und akustische Perspektive der Figuren und Akteure auf das Geschehen scheinbar direkt übernehmen; sie müssen deren abstraktes Denken, ihr Fühlen, Wünschen und Bewerten allerdings vorwiegend aus äußeren Hinweisen erschließen.430 Interessanterweise nähert sich der Spielfilm hier unter allen epischen Gattungen oder Genres am stärksten dem Volksmärchen an, denn wenn etwa der Roman dazu neigt, in Worten mehr oder weniger ausführlich die Innenwelt seiner Figuren, ihre Gedanken und Gefühle zu schildern431, so ist es, wie schon mehrfach angedeutet, ein Wesensmerkmal des Volksmärchens, dass es dies gerade nicht tut und seine Figuren primär über ihr Handeln definiert sind. Es gibt aber, wie oben gezeigt, Möglichkeiten, vom Handeln ausgehend ihr Wesen über ihre semantische Charakteristik genauer zu eruieren, die auch transmedial anwendbar sind. Im Märchenfilm eröffnet die medienspezifische Seite der Figurendarstellung eine zusätzliche implizite Dimension – manche Aussagen werden durch sie überhaupt erst platziert, andere können verstärkt oder abgeschwächt, unterstrichen oder konterkariert werden. Hierfür eignen sich in erster Linie Elemente der Mise-en-scène, wie Physiognomie, 428 Hamburger 1994, S. 184. 429 Vgl. Eder 2009, S. 23; Hamburger 1994, S. 183; Wolf 2002/b, S. 95. Die grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten des Films, Gedanken darzustellen, etwa durch Voice-Over, werden meist nur punktuell und auf bestimmte Figuren beschränkt eingesetzt. Dass Filme ihr theoretisch vorhandenes Potential in dieser Hinsicht exzessiv ausnutzen, ist sicher möglich – der Regelfall ist es aber nicht, und im untersuchten Korpus kommt es nicht vor. 430 Eder 2009, S. 28. Vgl. auch dort, S. 18-19, 23. 431 Vgl. Hamburger 1994, S. 183.

101 Kostümierung, Intonation, mimisches und körperliches Spiel etc., aber auch z.B. externe Faktoren wie etwa das ,Image’ des besetzten Schauspielers432. Die Erforschung des sowjetischen Märchenfilms unter besonderer Berücksichtigung seiner Figuren, deren Rolle für die Geschichte, semantische Charakteristik und filmische Gestaltung in einem gegenseitigen Wechselverhältnis stehen, erscheint also in mehrfacher Hinsicht als eine lohnende Aufgabe. Folgerichtig soll nun mit dieser theoretischen Grundlage versucht werden, sich dem konkreten Material anzunähern.

II.3. Allgemeines zu den exemplarischen Fallstudien Bei der Auswahl von Einzelwerken aus einem großen Korpus von Genrefilmen, das auch eine große Zeitspanne umfasst, ist Verschiedenes zu beachten. Zunächst liegt es nahe, Filme zu wählen, die nicht nur künstlerisch verschiedener Ausrichtung sind, sondern auch jeweils aus verschiedenen Zeitabschnitten stammen, entsprechend unterschiedliche gesellschaftliche, historische und filmhistorische Hintergründe aufweisen und somit Aufschluss über Entwicklungen geben können. Andererseits jedoch sollten sie auf thematischer und stofflicher, auf semantischer wie syntaktischer Ebene miteinander so verknüpft sein, dass sie sich in dieser Hinsicht vergleichen und aufeinander beziehen lassen. Schließlich und letztendlich sollten sie aber auch in irgendeiner Weise repräsentativ für das Gesamtkorpus sein. Von diesen Überlegungen ausgehend wurde im Falle der vorliegenden Arbeit dem Faktor der Repräsentativität zunächst ganz allgemein dadurch Rechnung getragen, dass einerseits die verschiedenen Zeitabschnitte angemessen berücksichtigt wurden, andererseits Streifen verschiedener profilierter Märchenfilmregisseure ausgewählt wurden – also solcher, die mehr als nur einen Märchenfilm gemacht haben: Hier kann mit größerer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Filme keine Zufallsprodukte sind, sondern einer künstlerischen Entwicklung folgen. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Regisseure wieder auf andere Regisseure Einfluss hatten, die sich an ihren Stilen, an der Machart ihrer Filme orientierten. Es wurden zunächst zwei kleine Samples nach verschiedenen Schwerpunkten ausgewählt und zusammengestellt, wobei Auswahl und spezifisches Erkenntnisinteresse sowie Hintergrundinformationen und Kontextualisierung in den jeweiligen Abschnitten erörtert werden. Die Einzelfilme der beiden Samples werden jeweils zunächst mit einer

432 Speziell zum Zusammenhang von Rollenbesetzung durch Weltstars und Rezeption vgl. auch Kölbl 2006, S. 225-226. Kölbls gesamte theoretische Reflektion zu Erzählen im Film und Erzählen im Märchen (S. 209- 228) ist recht erhellend und kann ergänzend zu den hier vorgenommenen, eher skizzenhaften Überlegungen gelesen werden.

102 kurzen genrespezifischen, entstehungs- und evtl. auch rezeptionsgeschichtlichen Einordnung vorgestellt, ehe die eigentlichen systematischen Analysen433 erfolgen. Sie orientieren sich am Ansatz des Close Reading und versuchen, ein möglichst vollständiges Bild der Filme zu vermitteln – naturgemäß werden dabei jedoch einzelne Momente recht ausführlich geschildert, andere nur gestreift434: Entscheidend ist dabei die jeweilige Bedeutung für die Gesamtargumentation. Formal werden die Filme dabei in Kapitel geteilt; diese werden nummeriert und mit Überschriften versehen, außerdem wird zur genaueren Orientierung des Lesers die jeweilige Filmzeit festgehalten435. Die einzelnen Kapitel sind jeweils durch bestimmte Geschehnisse bestimmt, die anschließend der Ebene der Geschichte zugeordnet und unter Berücksichtigung der filmischen Gestaltung in Bezug auf die narrative Semantik der Figuren genauer analysiert werden. Schließlich wird auf dieser Grundlage dann zusammenfassend versucht, die Filme im Kontext ihrer zeitgeschichtlichen Implikationen und in Bezug auf das Gesamtkorpus auszuwerten und dabei auch Zusammenhänge mit Entwicklungen aufzuzeigen, die die sowjetischen Filmgeschichte allgemein bestimmten. Der Stalinismus ist dafür bekannt, dass er höchst politisierte und stark didaktisierte Filme hervorbrachte; in der Tauwetter-Periode (ottepeľ) wurden dagegen immer mehr Streifen gedreht, die sich der Welt des Privaten und Individuellen zuwandten und die offizielle Ideologie marginalisierten oder gar unterschwellig Kritik übten; das Leinwandgeschehen in der langen Zeit der sogenannten Stagnation (zastoj) ist, neben einer gelegentlichen Rückbesinnung auf konservative Werte, von einer weiteren Entpolitisierung, vor allem aber durch eine Ironisierung der Realität geprägt. Keine der genannten Phasen war freilich durchweg homogen, und sie waren nicht durch feste Einschnitte voneinander getrennt, sondern überschnitten sich zeitweise – dennoch kann man von bestimmten Tendenzen sprechen. Inwieweit lassen sich diese Tendenzen auch im Märchenfilm feststellen? Auf dem Hintergrund dieser Fragestellung sind die in den beiden kleinen Samples untersuchten Filme, die in höherem oder geringerem Maße ,typisch’ sind, als Mosaikbausteine zu verstehen. Die Zeit der Perestrojka, die auf die Stagnation folgte, nimmt kulturhistorisch eine gewisse Sonderstellung ein: Sie war als letzter Abschnitt der Geschichte der Sowjetunion

433 Da ich als Literatur- und Kulturwissenschaftler ohne filmwissenschaftlichen Hintergrund mit der handwerklichen Seite der Analyse filmischer Mittel bisher eher wenig vertraut war, wurden hierfür, um mit dem entsprechenden Begriffsinstrumentarium gezielter umgehen zu können, als technische Hilfsmittel insbesondere die Einführungen von Kühnel (2004/a; 2004/b) sowie Kamp/Rüsel (1998) konsultiert. 434 Für kurze, überblickshafte Synopsen sei hier nochmals auf die Filmographie im Anhang verwiesen. 435 Die Zeiten können bei verschiedenen Mitschnitt-Versionen eines Films wahrscheinlich minimal voneinander abweichen, zur Orientierung dürften die hier angegebenen jedoch durchaus genügen.

103 geprägt von Erosions- und Auflösungserscheinungen, die auch künstlerischen Ausdruck fanden – im Film wurden mit teils radikalen Verfahren gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche offen aufgegriffen, kommentiert und reflektiert. Im Vergleich zu den vorherigen Phasen kann man hier tatsächlich von einem deutlichen Einschnitt sprechen. Inwieweit sich dieser auch im Märchenfilm manifestierte, ist Thema eines eigenen Kapitels, das sich von den vorherigen dadurch unterscheidet, dass es mit der kulturhistorischen Kontextualisierung beginnt und dann in Bezug darauf verschiedene Märchenfilme in Kurzbesprechungen abhandelt.

III. S a m p l e 1: Kaščej Bessmertnyj – Die verschiedenen Gesichter eines Bösewichts Wie die Helden, so sind auch deren Antagonisten im Volksmärchen „[o]ft ohne Tiefe und flächenhaft gezeichnet [...] Ihre Erscheinung interessiert weniger. Dies schließt jedoch nicht aus, daß einzelne Völker ihre typischen Bösewichter zeichnen“436. Im ostslavischen Raum gehört zu diesen Bösewichte(r)n die bekannte Figur des Kaščej Bessmertnyj. Dieser tritt eigentlich nur in einem einzigen bestimmten Erzähltyp auf, von dem allerdings recht viele Varianten existieren. Es handelt sich um eine spezifisch ostslavische Ausprägung des

Erzähltyps, SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce (Kaščejs Tod im Ei), die überdies allein schon durch die zentrale Figur des Kaščej sehr viel stärker konkretisiert wird. Bevor nun also auf dessen filmische Inkarnationen eingegangen wird, soll er zunächst in seiner Bedeutung in der Märchentradition kurz vorgestellt werden.

III.1. Zum Hintergrund III.1.1. Kaščej Bessmertnyj und sein Tod im Ei im russischen Volksmärchen Kaščej Bessmertnyj (,Kaščej der Unsterbliche’) ist, wie angedeutet, eine im ostslavischen Raum äußerst populäre Figur. Jedem Kenner der dortigen Märchenlandschaft ist ohne großes Nachdenken das mit ihm verknüpfte Sujet von seinem Tod im Ei präsent, dessen Grundhandlung sich mit wenigen Worten nacherzählen lässt: Kaščej entführt eine Frau. Der Märchenheld kommt in Kaščejs Reich und erfährt, dass dieser seinen Tod außerhalb seines Körpers aufbewahrt: In der Regel befindet er sich im Innern eines Eis, das wiederum an einem bestimmten Aufbewahrungsort in einer Reihe von Gegenständen und Tieren versteckt ist. Der Held findet den Tod und zerstört ihn – Kaščej stirbt und die Heldin ist frei. Der zugrundeliegende Erzähltyp ist international weit verbreitet.437 Das zentrale Motiv 436 Horn: EM 5, s.v. „Gegenspieler“, S. 869. 437 AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg; siehe dazu auch Thompson 1951, S. 35 sowie Tuczay:

104 von dem außerhalb des Körpers aufbewahrten Tod (auch andere Lebenskraft, wie Seele, Herz u.ä.)438 ist nachweislich sehr alt, es findet sich schon im altägyptischen Brüdermärchen und wurde seither in ganz unterschiedlicher Form tradiert.439 Im ostslavischen Märchen ist es nahezu unzertrennlich mit dem im Übrigen nur dort bekannten Kaščej verknüpft440: Zwar tritt es gelegentlich auch in anderen Zusammenhängen auf, doch in der überwiegenden Mehrheit der Volksmärchentexte ist es Attribut von diesem Bösewicht (siehe etwa Af.441 156-158, 269). Umgekehrt tritt Kaščej auch, wie erwähnt, fast nicht außerhalb der syntaktisch-semantischen Konstruktion des Erzähltyps auf, für den der Tod im Ei bestimmend ist – eine abweichende Ausformung davon ist in den Märchen zu sehen, in denen Kaščej nicht durch das Vernichten des Todes außerhalb des Körpers, sondern durch ein Wunderpferd zu Tode kommt442 (siehe z.B. Af. 159); diese sind aber weit weniger zahlreich443, und noch seltener übernimmt Kaščej die Rolle des Bösewichts in Varianten anderer Erzähltypen (siehe z.B. Af. 270).444

Seinerseits tritt der Typ SUS 3021, Kaščejs Tod im Ei, eher selten alleine und in der Regel in Kombination und Kontamination mit anderen Typen auf, die als Einführung dienen.445 Verschiedene Details tauchen hierbei immer wieder auf, sind aber sozusagen fakultative Ergänzungen. Dazu gehört etwa, dass Kaščej sich zu Anfang des Märchens in Gefangenschaft befindet, an eisernen Ketten in einem Gefängnis hängt, das der Held trotz Verbots betritt, um daraufhin von Kaščej, der sein Mitleid erregt, listig überredet zu werden, ihn zu befreien – worauf er ihm dann die Frau entführt und die Erzählung nach dem bekannten Muster zu Ende geführt wird.446 Aus der immer wieder vorkommenden Episode der ursprünglichen Gefangenschaft schließt Novikov, dass der Eigenname Kaščej (oft auch Koščej)447 wohl auf die bereits in altrussischen Texten auftretende gleichlautende Bezeichnung zurückzuführen ist, augenscheinlich eine Entlehnung aus den Turksprachen, die in der Bedeutung Knabe,

EM 6, s. v. „Herz des Unholds im Ei“, S. 929-933. 438 Mot. E710. External soul; auch Mot. E711.1. Soul in egg; Mot. E713. Soul hidden in a series of coverings. 439 Vgl. Thompson 1951, S. 275-276, sowie Cordun: EM 4, s.v. „External Soul“, S. 700-710. 440 Vgl. dazu Novikov 1966, S. 171; Novikov 1974, S. 217-219. 441 Die im Folgenden häufiger gebrauchte Abkürzung steht für die Märchensammlung Aleksandr Afanas’evs, die darauffolgende Zahl für die Nummer des jeweiligen Märchentextes darin. 442 SUS 3022 Smerť Kaščeja ot konja. 443 Vom sowjetische Märchenfilm werden sie ignoriert. 444 Vgl. zu diesem Abschnitt Novikov 1966, S. 151-152, 166-170, 170; Novikov 1974, S. 193, 210-216. 445 Vgl. Novikov 1966, S. 152-153; Novikov 1974, S. 194-195. 446 Vgl. Novikov 1966, S. 154, 155-156, 167-168; Novikov 1974, S. 197-198, 211-213. 447 Daneben existieren auch andere Varianten des Namens, siehe Novikov 1966, S. 149-150; Novikov 1974, S. 192.

105 Jüngling, aber auch Gefangener oder Sklave gebraucht wird.448 Kaščejs Epitheton ,Bessmertnyj’ wiederum scheint direkt auf seine Verbindung mit dem Tod außerhalb des Körpers hinzudeuten – das Wort hat eine andere Etymologie als das deutsche ,unsterblich’ und wäre wortwörtlich als ,todeslos’ wiederzugeben: Kaščej ist, wenn man diese Etymologie zugrundelegt, eben nicht unsterblich, er ist vielmehr ohne seinen Tod, da dieser an einem anderen Ort aufbewahrt wird. Neben dem Todesmotiv ist im Erzähltyp und den entsprechenden Volksmärchen vor allem die spezifische Dreieckskonstellation zwischen Held, Heldin und Bösewicht von Bedeutung, die die Dynamik der Handlung bestimmt – wie Novikov anmerkt: „Единственным яблоком раздора между героем сказки и Кащеем является женщина. Острая борьба за обладание ею составляет основной драматический конфликт произведения.“449 [„Den einzigen Zankapfel zwischen dem Märchenhelden und Kaščej stellt eine Frau dar. Der heftige Kampf um ihre Inbesitznahme macht den dramatischen Grundkonflikt des Werkes aus.“] Mehrheitlich handelt es sich bei der Heldin um eine (dem Helden) von Kaščej geraubte, sich unfreiwillig in seiner Gesellschaft befindliche Frau450, die er mit seinem Liebeswerben bedrängt und die sich entweder resigniert ins Unvermeidliche beugen oder aber ihn stolz und unerbittlich immer wieder zurückweisen.451 Meist sind es die Gefangenen selbst, die unter listiger Vorspiegelung von Zuneigung und Einsatz von weiblichem Charme von Kaščej erfahren, wo sich dessen Tod befindet, und diese Information an den Helden weitergeben452; in anderen Märchen erfährt der Held dies von übernatürlichen Helferfiguren, wie etwa der Baba-Jaga.453 Kaščej scheint über übernatürliche Kräfte zu verfügen, eine Art Zauberer und Gestaltwandler zu sein454, doch darüber hinausgehend ist aus dem Volksmärchen verhältnismäßig wenig über die Figur bekannt, bzw. unterscheiden sich die Charakteristika von Märchen zu Märchen. Anikins Behauptung, dass er meist als ein hagerer, knochiger alter

448 Vgl. Novikov 1966, S. 150, 173; Novikov 1974, S. 192-193. Anikin (1977, S. 130-131) dagegen versucht, Kaščej bzw. Koščej von dem Wort koš herzuleiten, das ihm zufolge das Oberhaupt der patriarchalischen Familie bezeichnete. Diese Herleitung wirkt jedoch im Lichte der von Novikov zurecht kritisierten ideologisierenden Interpretation der Kaščej-Figur (siehe unten) wenig überzeugend. 449 Novikov 1974, S. 195; vgl. auch Novikov 1966, S. 153. 450 Wenn man von einigen wenigen Varianten absieht, in denen keine Entführung stattfindet, sondern Kaščejs Töchter sich mit dem Helden zusammentun und diesem bei der Überwindung ihres Vaters helfen, siehe Novikov 1966, S. 153-154; Novikov 1974, S. 195. 451 Vgl. Novikov 1966, S. 154, 159-160; Novikov 1974, S. 195, 202-203. Es ist bemerkenswert, dass Kaščej die Frauen zwar gefangenhält, sie aber nicht körperlich bedrängt oder ihnen Gewalt androht und sich stattdessen ihre Liebe erhofft. 452 Vgl. Novikov 1966, S. 160-162; Novikov 1974, S. 203-206. 453 Vgl. Novikov 1966, S. 162-163; Novikov 1974, S. 206. 454 Vgl. Novikov 1966, S. 155; Novikov 1974, S. 197.

106 Mann mit glühenden Augen gedacht wird455, fußt eher auf literarischen denn auf Folkloretexten.456 Nichtsdestotrotz hat sich diese Vorstellung vom Äußeren Kaščejs, wohl auch durch entsprechende Darstellungen in der Bildenden Kunst (Ivan Bilibin, Viktor Vasnecov), als die wohl populärste durchgesetzt.457 Mit Anikins weiteren, vom Volksmärchenmaterial nicht gestützten Behauptungen und seiner Interpretation der Figur des Kaščej, die in blindem ideologisierendem Eifer darin einen kriegerischen Eindringling und einen unmenschlichen Unterdrücker mit religiösen Zügen sehen will, der seinen Weg ins Märchen mit Entstehen des Patriarchats und der Klassengesellschaft fand458, geht Novikov heftig ins Gericht und tut sie als simplifizierende Hyperbolisierung ab. Für ihn weist die Figur vielmehr mythologisch-dämonische Züge auf, die möglicherweise ins Altertum zurückweisen, ehe sie im Laufe ihrer Entwicklung vielfältigsten Einflüssen ausgesetzt war und entsprechend auch sehr verschiedenartige Züge aufweist.459 Als solche Varianten eines kulturellen Textes sind entsprechend auch die filmischen Transformationen Kaščejs zu sehen.

III.1.2. Kaščej Bessmertnyj im sowjetischen Märchenfilm Es verwundert nicht, dass Kaščej als einer der prominentesten Bösewichter im russischen Volksmärchen auch im sowjetischen Märchenfilm eine äußerst beliebte Figur ist. Filme, in denen er auftritt, rekurrieren im Grunde genommen fast alle auf die eine oder andere Art auf den Typ von seinem Tod im Ei. Neben dem sich wiederholende Erzählmuster, das gerade wegen seiner Einfachheit je nach Intention von verschiedenen Filmen verschieden ausgefüllt und gedeutet werden kann, ist hier also vor allem die Darstellung Kaščejs als Figur von Bedeutung, da dieser zwar funktional immer dieselbe Rolle ausfüllt – eben die des Bösewichts460 – aber darüber hinaus in seiner konkreten Gestaltung frei ist. Die Frage ist also nicht nur, wie und mit welchen Mitteln die Filme im einzelnen das Erzählmuster umsetzen, sondern insbesondere auch, was mit Kaščej und dem Bösen assoziiert ist und was im

455 Vgl. Anikin 1977, S. 130. 456 Vgl. Novikov 1966, S. 172. 457 Auch der sowjetische Märchenfilm zeichnet Kaščej in Orientierung an genau diesem Muster. 458 Vgl. Anikin 1977, S. 129-131. 459 Vgl. Novikov 1966, S. 171-173. An dieser Stelle soll kurz angemerkt sein: So gerechtfertigt Novikovs Kritik an Anikins Interpretation sein mag, so entspricht diese zumindest der gängigen Darstellung im sowjetischen Literatur- und Filmgeschehen – es ist richtiggehend auffällig, wie fast schon detailgenau der von Anikin beschriebene Kaščej der Gestaltung der Figur in dem Film Kaščej Bessmertnyj (Der unsterbliche Kaschtschai, 1944) entspricht. Diesem Streifen ist im Folgenden die erste Analyse gewidmet. 460 Kaščej agiert auch im Volksmärchen niemals ambivalent oder gar positiv, ganz im Gegensatz etwa zur ähnlich populären Figur der Baba-Jaga, die gelegentlich als eine Art weibliches Äquivalent zu ihm betrachtet wird.

107 Gegenzug die guten Helden ausmacht, also wie durch diese Kontrastbilder Identität und Alterität konstruiert werden und was daraus für Rückschlüsse auf die jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergründe gezogen werden können. In meinem Korpus sind 11 ,Kaščej-Filme’ auszumachen, die sowohl von Struktur und Inhalt als auch von Stil und Filmsprache her sehr unterschiedlich gestaltet sind und ein Spektrum von Adaption bis Mutation abdecken. Zwei von ihnen, die am stärksten typgetreu erscheinen, sollen nun exemplarisch näher betrachtet werden: Kaščej Bessmertnyj (Der unsterbliche Kaschtschai) und Ogon’, voda i... mednye truby (Feuer, Wasser und Posaunen).461 Beide haben nicht nur die Figur des Kaščej Bessmertnyj und ein Rekurrieren auf den Typ vom Tod im Ei gemeinsam, sondern auch ein und denselben Regisseur, Aleksandr Rou, und sogar denselben Darsteller in der Rolle des Kaščej, Georgij Milljar. Jedoch liegen zwischen den beiden Streifen 24 Jahre: Ersterer ist 1944 entstanden, unter Stalin auf dem Höhepunkt des Großen Vaterländischen Krieges, Zweiterer 1968 unter Brežnev, in dem Jahr, in dem mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei endgültig das Ende des Tauwetters und die Zeit der Stagnation hereinbrach. Dass sie deshalb trotz aller produzentenspezifischen, formalen und inhaltlichen Nähe ganz verschiedene Geschichten erzählen, ist zu erwarten.

III.2. Kaščej Bessmertnyj (Der unsterbliche Kaschtschai462, 1944) III.2.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung Kaščej Bessmertnyj ist der vierte Film von Aleksandr Rou (1906-1973), der das Märchenfilmgenre in der Sowjetunion 1938 begründet hatte und zur Entstehungszeit des Films nach wie vor sein einziger namhafter Vertreter war.463 Der Streifen wurde teilweise in der sibirischen Region Altai, teilweise in Stalinabad gedreht, der heutigen tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, wohin das Moskauer Studio Sojuzdetfiľm wegen des Krieges

461 Die übrigen Filme sind im Einzelnen: Veseloe volšebstvo (Die schöne Wassilissa/Die Hexe Akulina, 1969); Skazka o Mite i Maše, o Veselom Trubočiste i o Mastere Zolotye ruki ([Das Märchen von Mitja und Maša, vom fröhlichen Schornsteinfeger und dem Meister Goldenes Händchen], 1969); Novogodnie priključenija Maši i Miti ([Die Neujahrsabenteuer von Maša und Vitja], 1977); Tam, na nevedomych dorožkach... (Abenteuer mit der Tarnkappe, 1982); Posle doždička, v četverg... (Ein Kuckucksei am Zarenhof/Am Sankt- Nimmerleinstag, 1985); Na zlatom kryľce sideli... (Auf der goldenen Treppe saßen..., 1986); Lilovyj šar (Die lila Kugel); Ona s metloj, on v černoj šljape... ([Sie hat einen Besen, er einen schwarzen Hut...]) und Skazka pro vljublennogo maljara (Das Märchen vom verliebten Maler, alle drei von 1987). 462 Für den deutschen Verleihtitel wurde, aus unerfindlichen Gründen, diese ungewöhnliche Transkriptionsvariante gewählt. 463 Die anderen wenigen Märchenfilme, die zu dieser Zeit entstanden, stellten Ausnahmen im Repertoire ihrer Regisseure dar. Aleksandr Ptuškos Karriere als zweiter großer sowjetischer Märchenfilmer im eigentlichen Sinne sollte erst 1946 beginnen.

108 evakuiert worden war.464 Erstmals war Rou auch am Drehbuch beteiligt – zusammen mit Vladimir Švejcer, der bereits bei seinen vorherigen beiden Streifen (Co-)Drehbuchautor gewesen war –, und erstmals lag nicht ein bereits adaptierter Folklorestoff zugrunde465, sondern es wurde direkt auf Volksmärchentexte zurückgegriffen. Diese wurden jedoch genutzt, um eine klare politische Botschaft zu vermitteln: Kaščej Bessmertnyj versteht sich als Allegorie auf die aktuellen zeitgeschichtlichen Ereignisse, als Beitrag zur Kriegspropaganda gegen Nazideutschland, dessen Truppen kurz zuvor in die Sowjetunion eingefallen waren — Paramonova formuliert in ihrer Rou-Monographie die Intention folgendermaßen: „В те горячие военные времена сказка о борьбе с ненавистным Кащеем должна была восприниматься как произведение патриотическое. Кащей победим, победим Гитлер!“466 [„In jenen unruhigen Zeiten des Krieges sollte das Märchen vom Kampf mit dem verhassten Kaščej als patriotisches Werk begriffen werden. Kaščej ist besiegbar, und Hitler ist es auch!”] Das Ansinnen, ein Märchen für patriotische Propaganda dingbar zu machen, war schon vor Produktionsbeginn nicht unumstritten: Aleksej Tolstojs Rezension des Drehbuchs467 stellt einen heftigen Verriss dar, er hält es für eine „слащавая и конъюнктурная попытка подделаться под народную сказку“ [„süßlicher und konjunktureller Versuch, ein Volksmärchen zu imitieren“] und kommt zu dem Schluss: „Познать зрителю фашизм через показ кащеева царства, а героизм русского народа и союзных народов […], вряд ли эта задача удастся при осуществлении сценария“ [„Den Zuschauer den Faschismus im Zeigen von Kaščejs Reich und den Heroismus des russischen Volkes und der verbündeten Völker [...] spüren zu lassen, diese Aufgabe wird bei der Verwirklichung des Drehbuchs kaum gelingen“]. Eine zweite, von Pavel Judin verfasste Rezension468 fällt zwar zurückhaltender und weniger polemisch, aber im Wesen nicht viel besser aus. Georgij Aleksandrov, der damalige Leiter der Abteilung für Propaganda und Agitation des Zentralkommitees der KPdSU469, forderte auf dieser Grundlage sogar ein Drehverbot für den Film, worauf der Vorsitzende des Komitees für Filmwesen, Ivan Boľšakov, allerdings intervenierte.470 Doch auch die abschließende Einschätzung des fertigen Films durch den

464 Vgl. Solomina 2009; Arabova 2015. 465 Po ščuč’emu velen’ju (Der Zauberfisch, 1938) und Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Wassilissa, 1939) entstanden nach Theatervorlagen, Konek-Gorbunok (Das bucklige Pferdchen, 1941) nach dem bekannten Versmärchen von Eršov. 466 Paramonova 1979, S. 43. 467 Abgedruckt in Fomin 2005, S. 356-357. 468 Abgedruckt ebd., S. 357-358. 469 Nicht zu verwechseln mit dem in den 30er Jahren für seine Musikkomödien bekannten Filmregisseur Grigorij Aleksandrov. 470 Siehe das entsprechende Schreiben und den Kommentar des Kompilators dazu in Fomin 2005, S. 358-360. Einige in den Rezensionen und in seinem Schreiben besonders beanstandeten Stellen wurden, wie aus dem

109 Künstlerrat kann bestenfalls als durchwachsen bezeichnet werden471 – zwar wird hier nicht mehr, wie noch in den Drehbuchrezensionen, die Verbindung des Märchenhaften mit dem Aktuellen an sich kritisiert, doch der künstlerisch angeblich nicht befriedigende Umgang mit dem Folklorematerial und die stilistische Unausgewogenheit bleiben Stein des Anstoßes. Der Erfolg schien jedoch Rou zu bestätigen – Paramonova erwähnt die positive Zuschauerreaktion und das wohlwollende Presseecho in der Sowjetunion und im Ausland; ihr zufolge fügen sich die Einzelelemente des Films trotz ihrer Verschiedenheit zu einem organischen Ganzen zusammen, und „[в]сем строем своим фильм находил отзвук в сердцах зрителей.“472 [„in seinem ganzen Aufbau fand der Film Widerhall in den Herzen der Zuschauer.“] Miloserdova ist 2006 der Meinung, dass „возвышенный поэтический строй картины, глубокий и проникновенно искренний патриотизм, сильные характеры героев“473 [„die erhebende poetische Gestaltung des Films, der tiefe und durchweg aufrichtige Patriotismus und die starken Charaktere der Helden“] auch nach all den Jahren noch begeistern könnten. Eine wertende Beurteilung der künstlerischen Qualitäten des Films Kaščej Bessmertnyj, die sich der einen oder anderen Seite anschließen würde, gehört nicht zu den Aufgaben der vorliegenden Arbeit. Wichtig ist im gegebenen Rahmen zunächst lediglich, festzuhalten, dass es sich bei dem Streifen gleichermaßen um einen Märchen- und einen Propagandafilm handelt. Ziel ist es, die Interdependenzen aufzuzeigen, die zwischen dem syntaktisch-semantischen Grundgerüst des Märchens und der in dieses integrierten politisierten Botschaft bestehen: Es soll nicht nur aufgezeigt werden, was am Film Märchen und was Propaganda ist, sondern wie er die Märchenform – unter Beibehaltung des Stoffkerns und ohne strukturelle Transformationen – durch semantische Erweiterung sowie Instrumentalisierung der vorhandenen Semantik und Symbolik für seine didaktische Intention nutzt und welche filmischen Mittel er dabei jeweils anwendet.

III.2.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik I.A) HEIMATIDYLLE [00:00 – 14:28] Die erste Charakterisierung erfahren die Hauptfiguren bereits über den Paratext des Vorspanns – am Ende der Produktionsdaten werden nacheinander ihre Namen und die ihrer Darsteller eingeblendet und sie selbst zeitgleich in Nahaufnahme gezeigt: Nikita Kožemjaka (Sergej

fertigen Film hervorgeht, modifiziert; außerdem scheinen einige Liedeinlagen gestrichen worden zu sein. 471 Zumindest dem Ausschnitt nach zu urteilen, der in Fomin 2005, S. 379, abgedruckt ist. 472 Paramonova 1979, S. 44. 473 Miloserdova 2006, S. 52.

110 Stoljarov), der breitschultrige blonde Recke mit besticktem Hemd und Pelzmütze, blickt ernst drein und verzieht dann seinen Mund zu einem breiten Lächeln; ebenso Bulat Balagur (Aleksandr Širšov), mit Turban, großem Ohrring und nacktem Oberkörper ein stereotyper Orientale; Mar’ja Morevna (Galina Grigor’eva) trägt lange Zöpfe, einen prächtig verzierten Kokošnik und ein reichbesticktes Kostüm. Auffällig ist, wie die Nationalität der Helden in der folkloristischen Kostümierung als entscheidendes Attribut hervorgekehrt und positiv betont wird. Mar’ja wird schließlich von waberndem Rauch eingehüllt, der von der Seite kommt und zuletzt das ganze Bild ausfüllt – darauf erscheint dann der Name Kaščej Bessmertnyjs und seines Darstellers Georgij Milljar. Dieser wird nicht gezeigt: Dadurch, dass sein Erscheinungsbild zunächst Geheimnis bleibt, wird Spannung aufgebaut. Anschließend erfolgt gleich eine weitere Charakterisierung der Figuren in Form eines schriftlichen Prologs, der in ornamentalen Buchstaben über das Bild einer idyllischen Waldlandschaft läuft, über der gerade die Sonne aufgeht: „Начинается сказка / о русском богатыре — Никите Кожемяке / о его боевом друге — Булате Балагуре / о Марье Моревне — красоте ненаглядной / о злом вороге — Кащее Бессмертном.” [„Es beginnt das Märchen/ vom russischen Recken Nikita Kožemjaka / von seinem kämpferischen Freund Bulat Balagur / von Mar’ja Morevna, der Wunderschönen / von dem bösen Feind Kaščej Bessmertnyj”]. Die Namen sind der Volksmärchentradition entlehnt, stammen jedoch aus ganz unterschiedlichen Kontexten474 und haben hier eher ornamentalen Charakter. Die Epitheta jedoch geben bereits sehr viel Aufschluss über die Eigenschaften, die der Film seinen Figuren als die wichtigsten zuschreibt: Nikita ist nicht einfach ein Held, sondern ein russischer Recke – hier schwingt eine ganze Reihe von Konnotationen mit, wie tapfer, stark, patriotisch. Bulat dagegen scheint sich ausschließlich über den Bezug zu Nikita zu definieren; Mar’ja ist gänzlich auf ihre äußerliche Schönheit reduziert. Kaščej bleibt vorerst eine äußerst abstrakte Entität – er ist der Feind an sich, und das Attribut böse ist im Grunde tautologisch. Daraus folgt, dass die anderen Figuren als gut zu betrachten sind, doch ihr Gutsein ist eine implizite Eigenschaft. Der Film beginnt mit einer Exposition, die über ein Cross Cutting in unterschiedlicher Umgebung Mar’ja und Nikita separat einführt. Als Mar’jas hervorstechendste äußere Eigenschaft wird hier wiederum ihre große Schönheit hervorgehoben, denn sie ist es, die die Aufmerksamkeit des kecken jungen Burschen aus der Gauklertruppe erregt, und nur 474 Nikita Kožemjaka ist ein Drachentöter von übermenschlicher Kraft (vgl. das gleichnamige Märchen aus der Sammlung Afanas’evs, Af. 148); Mar’ja Morevna eine Kriegerjungfrau (ebenfalls die Titelheldin eines Märchens bei Afanas’ev, Af. 159, einer Kaščej-Variante); Bulat-Molodec (der Beiname Balagur scheint Erfindung des Films) entspricht dem Grimm’schen treuen Johannes als aktiver Gefährte eines passiven Helden (er steht in Af. 158, wiederum eine Kaščej-Variante, allerdings in Kontamination mit AaTh 516 Faithful John, dem Helden bei der Brautgewinnung und dann bei ihrer Befreiung von Kaščej bei).

111 ihretwegen will er um sie freien. Darauf aufbauend wird ihre Beziehung zum abwesenden Nikita thematisiert, die mit der unterschiedlichen Geschlechterzugehörigkeit der beiden zusammenhängt und quasi-familiären Charakters ist – sie sind einander versprochen, suženyj und suženaja. Symbolischer Ausdruck ihrer inneren wie äußeren Verbundenheit ist der Ring, den sie dem kecken Burschen als Zeichen dafür zeigt, dass sie für ihn als Braut nicht zu haben ist – eine Detailaufnahme fängt ihre Hand ein, die dann nach und nach in einer Überblende zu einer anderen, männlichen Hand mit einem identischen Ring wird: Die Kamera weicht zurück und zeigt, dass es sich um die Nikitas handelt. Dieser bringt nun seine Verbundenheit mit der Heimat explizit in einem Lied zum Ausdruck, in dem er auf seinem Ritt durch den Wald der Freude über seine Rückkehr in die vertrauten Gefielde zum Ausdruck bringt und deren Schönheit besingt. Unterdes wird sein Lied von ästhetisch wirkungsvollen Bilderfolgen untermalt, die die Natur als ein vollkommenes Idyll einfangen und damit einen emotionalen Appell an den Zuschauer aussenden: Eine ganze Reihe von postkartenartigen Totalen und Panoramaaufnahmen zeigt sonnendurchflutete Birkenwälder, den Lauf eines Flusses, den Horizont mit Schäfchenwolken, dazwischen sieht man auch zwitschernde Dompfaffen auf einem Zweig und hochwuchernde Farne zwischen den Bäumen. Der Text des Liedes und die Bilder ergänzen sich – mit beidem wird das abstrakte Konzept der Heimatliebe über die Ebene des Emotionalen und Ästhetischen anschaulich gemacht. Als nun wieder zu Mar’ja im Dorf geschnitten wird und sie dem Möchtegern-Freier ihr drittes Rätsel aufgibt, so wurde den Zuschauern, auch und insbesondere den kindlichen, die richtige Lösung bereits recht deutlich impliziert: „Кого любить должен добрый молодец больше отца с матерью, больше света белого?“ [„Wen soll ein kühner Jüngling mehr lieben als Vater und Mutter, mehr als die ganze Welt?“] Gemeint ist die Heimat, was dem Burschen aber erst später aufgehen wird, als er, weil er diese bis zum Letzten verteidigt hat, von einem feindlichen Pfeil getroffen im Sterben liegt. In diesem Ausschnitt wird Heimatliebe jedenfalls als bedeutende individuelle Eigenschaft sowohl Nikitas als auch Mar’jas etabliert – intendiert scheint, dass der Zuschauer ähnlich empfindet, insbesondere, da die Heimat auch die seine ist: Russland ist zwar in eine vage mystifizierte Vergangenheit versetzt475, doch es bleiben genügend ikonographische Zeichen, die eine Identifikation ermöglichen, von den

475 Erst bei näherem Hinsehen fällt die Kombination heidnischer mit christlicher Symbolik auf: Im Marktflecken befindet sich eine kleine Kirche mit Zwiebelturm, vor dessen Toren eine hölzerne Kapelle mit Giebelkreuzen, aber man sieht auch (wesentlich auffälliger) geschnitzte Pfahlstatuen, die altslavische Gottheiten zu repräsentieren scheinen.

112 trachtenhaften Kostümen über die detailreich gestalteten Holzhäuser (izby) bis hin zu den Birken als russisches Nationalsymbol. Die für die weitere Entwicklung der Geschichte entscheidendste Sphäre ist hier die Lokalisierung der Figuren – Mar’ja befindet sich in ihrem eigenen Bereich, im heimatlichen Marktflecken (posad), Nikita dagegen auf dem Weg dorthin. Er befindet sich im ungeschützten offenen Raum, Mar’ja dagegen im geschlossenen und rundum geschützten. Hier wird ein mehrschichtiges Modell konstruiert: Die malerische Natur der Wälder stellen einen offenen Raum dar, der aber gleichzeitig den Rahmen für einen geschlossenen Raum darstellt, den Marktflecken mit seiner hölzernen Umfriedung und den Wänden der Häuser, die einen weiteren Schutz darstellen. Dieser stellt das wohlbehütete Zentrum und Herzstück des Großraumes der Heimat dar, während die endlosen Wälder grenzenlose Freiheit bedeuten – beide Räume verschmelzen und sind Teile eines idealisierten Ganzen. In gewissem Sinne märchenhaft ist der Film hier, indem er dieses von Bildern getragene Motiv der idealisierten Heimat wie zur Bekräftigung noch einmal wiederholt: Nach Nikitas Lied vergehen kaum 3 Minuten, bis die Mädchen des Dorfes, um den Frühling zu begrüßen, Tauben freilassen und dabei ebenfalls ein Lied anstimmen, das die Schönheit der Heimat zum Thema hat. Auf dem Höhepunkt des Liedes wechseln sich Totalaufnahmen von Birkenwäldern und Bilder von den flatternden weißen Tauben am Himmel ab – eine Symbiose von besonderer epischer Wirkungskraft, bedenkt man den Charakter der Birke als russisches Nationalsymbol und den der Taube als internationales Friedenssymbol. Für die Geschichte als solche ist diese ,Wiederholung’ funktionslos, sie hat formelhaft-ornamentalen Charakter – und appelliert erneut an die positiven Emotionen des Zuschauers und seine Identifikationsbereitschaft. Umso heftiger muss auf diesen der Einbruch in das Idyll wirken, der im nächsten Ausschnitt erfolgt.

I.B) DAS IDYLL WIRD ZERSTÖRT [14:28 – 27:54] Der Einbruch erfolgt jäh und unvermittelt: Während die letzten Takte des Liedes verklingen, erscheint auf einmal auf der Totale eines Birkenwaldes eine riesenhafte schwarze Silhouette, die fast das ganze Bild ausfüllt – ein gehörnter Schütze, der seinen Bogen nach oben richtet. Man sieht kurz eine Taube auf ihrem Flug am Himmel, dann in der nächsten Einstellung einen muskulösen Arm, der den Bogen anspannt: Die Taube wird tödlich getroffen, sie fällt und landet mit einem Platscher im Wasser. Dieser symbolischen Zerstörung des Friedens folgt die tatsächliche: Eine von dramatisch immer stärker anschwellender Musik unterlegte, äußerst

113 rasch geschnittene Bilderfolge zeigt, wie Reiter mit Hörnermasken, deren Gesichter nicht zu erkennen sind, erst die Kornfelder in Brand legen, dann brandschatzend bis zum Marktflecken vordringen und darin einfallen. Hier tritt die Kehrseite der Geschütztheit des geschlossenen Raumes zu Tage: Der umfriedete Marktflecken wird zum Gefängnis ohne Fluchtmöglichkeit, denn die Umfriedung ist wie auch die Häuser selbst aus Holz und brennt daher lichterloh. Die jungen Frauen, unter ihnen Mar’ja, rennen in Panik zwischen den Flammen umher, die eindringenden Reiter kommen ihnen immer näher. Ein ,Mitleiden’ des Zuschauers scheint klar intendiert, da immer wieder in Nahe die entsetzten Gesichter der Frauen gezeigt werden. Diese Bilder haben sicherlich die stärkste Wirkung, doch auch sonst dürften die Bilder des russischen Marktfleckens mit all seiner nationalen Symbolik, der schließlich vollständig in Flammen steht, recht eindringlich empfunden werden – erst recht natürlich für diejenigen Zuschauer, die sich damit identifizieren. Warum sich nur Frauen im Marktflecken befinden, wird vom Film im Rahmen seiner Geschichte nie erklärt476, im Kontext seiner Zeit erscheint dies jedoch motiviert: Hier unterscheidet sich der Streifen nicht sehr von anderen – nicht-märchenhaften – sowjetischen Propagandafilmen während des Krieges, für die Richard Stites zum Sinnbildlichen der Frauenfiguren festhält: „Women [...] represent the innocence of the violated and martyred Mother Russia“477. Ästhetisch und filmsprachlich agiert der Film hier also wiederum auf der Ebene eines emotionalen Appells an den Zuschauer, der ihn empfänglich für die Botschaft macht – der Feind zerstört unser Land, der Feind bedroht unsere Frauen, der Feind zerstört unseren Frieden. Der besagte Feind ist dabei weiter eine abstrakte Entität – wie er selbst zunächst als Figur im Dunkeln bleibt, ist auch über die Motivation seiner Handlung nichts bekannt: Nur deren Folgen werden gezeigt. Diese aber haben die Auswirkung, dass der der böse Andere schon Hass hervorruft, bevor man überhaupt weiß, wer er ist. Bezeichnenderweise sind ja auch die Reiter, die in den Marktflecken einfallen, gesichtslos – konkrete Analogien herzustellen bleibt dem Zuschauer überlassen, auch wenn sie sich im Kontext der Entstehungszeit des Filmes gesehen natürlich aufdrängen. Funktional entspricht der langen und eindringlichen Szene des Einfalls der feindlichen Truppen einer Handlung, die im Volksmärchen in der Regel kaum mehr als einen Satz

476 Dagegen, dass sich die Männer im Krieg befinden, was eine mögliche Erklärung wäre, spricht etwa das Auftauchen der jungen Burschen zu Anfang des Films, die dann auf einem Schiff davonfahren – einer aus dieser Gruppe, Mar’jas Freier, taucht ja immerhin noch einmal auf, als er von Nikita tödlich verwundet gefunden wird, und gibt zu verstehen, dass er – wohl in seinem Dorf – gegen den Feind gekämpft hat. 477 Stites 1992, S. 115.

114 beansprucht: Der Entführung der Gefährtin des Helden durch Kaščej.478 Dass genau dies auch geschehen ist, wird dem Zuschauer wenig später mitgeteilt werden – dass diese Handlung aber nicht als die eigentlich entscheidende wirkt, sondern diese gewissermaßen nur ergänzt, liegt in einer Erweiterung der Semantik begründet: In den Volksmärchen von Kaščej Bessmertnyj ergibt sich die Geschichte allein aus dem familiärem Zustand bzw. Potential der Figuren – der Bösewicht raubt die Braut oder Frau des Helden auf freiem Feld, um sie zu seiner eigenen Frau zu machen, und einzige Motivation des Helden ist es, dies zu verhindern und den von ihm und der Heldin gewünschten familiären Zustand zu erreichen bzw. wieder herzustellen. Der im Film zunächst noch als unbekannte Größe agierende Kaščej wird in seinen Taten dagegen, soviel wird bereits deutlich, durchaus nicht in erster Linie von seinem Wunsch nach einer Frau gelenkt, sondern hat kriegerische Absichten – er raubt die Gefährtin des Helden nicht auf freiem Feld, sondern dringt mit Gewalt in einen fremden Bereich ein. Auch die Figur des Nikita unterscheidet sich von der des Volksmärchenhelden in ihrer semantischen Charakteristik, was im folgenden Ausschnitt deutlich wird: Als er in den Ruinen des zerstörten Marktfleckens den im Wasser treibenden Kokošnik seiner Braut findet und damit ihr Schicksal erahnt, seufzt er ihren Namen und sein Gesicht zeigt Trauer. Von einem Pilzmännchen erfährt er, dass Kaščej Bessmertnyj für den Einfall verantwortlich ist, und es zeigt ihm in einer Art Flashback-Vision auf der Wasseroberfläche die Ereignisse ein weiteres Mal – erneut sieht man Bilder des brennenden Marktfleckens zu dramatischer Musik, also wiederum eine ,märchenhafte’ Wiederholung eines Motivs. Hierbei ist deutlich zu sehen, dass die ohnmächtige Mar’ja von einem der Reiter auf seinem Pferd davongeschleppt wird. Die Augen des beobachtenden Nikita, die mittels Blende mit diesem Bild verschmelzen, weiten sich, als er dies sieht – und doch verliert er im Dialog mit dem Pilzmännchen kein Wort über Mar’ja, als er seine Absicht erklärt, gegen Kaščej ziehen zu wollen: Er hat vielmehr das Wohl des Volkes im Sinne. Der Film schafft hier, deutlich abweichend vom Volksmärchen, eine zusätzliche Bedeutungsdimension, die die Geschichte letztlich dominiert: Der Feind bedroht nicht nur das

478 Vgl. etwa Af. 157: „В это время приехал Кощей Бессмертный и увез Ненаглядную Красоту в свое государство. Пробудился от сна Иван-царевич, смотрит — нету Ненаглядной Красоты“ [„Zu dieser Zeit kam Koščej Bessmertnyj und nahm die Wunderschöne mit sich in sein Reich. Zarewitsch Ivan erwachte aus seinem Schlaf, er schaut [sic!] sich um – die Wunderschöne ist fort“]; Af. 158: „Откуда ни взялся Кощей Бессмертный — унес Василису Кирбитьевну. На заре очнулся Иван-царевич; видит, что нет его невесты, и горько заплакал.“ [„Von irgendwoher kam Koščej Bessmertnyj und trug Vasilisa Kirbiťevna davon. Im Morgengrauen erwachte Zarewitsch Ivan; er sieht [sic!], dass seine Braut weg ist, und fing an bitter zu weinen“].

115 individuelle familiäre Glück, sondern auch das kollektive Glück in Form von Frieden und Freiheit – der Raub Mar’jas war nur Nebeneffekt des Eindringens in den ureigenen Bereich nicht nur von dieser allein, sondern eben des gesamten russischen Volkes, und dies ist es, was Nikita gegen ihn aufbringt. Das Individuelle ordnet sich dem Kollektiven dadurch einerseits unter, es geht jedoch auch vollkommen darin auf: Der Sieg Nikitas über Kaščej hätte die Wiederherstellung des Friedenszustands im Lande zur Folge, und damit ginge die Befreiung Mar’jas, also das individuelle familiäre Glück für die Helden, ganz automatisch einher. Aber auch wenn man noch einen Schritt weitergeht und behauptet, dass das private Glück und das Glück des Volkes ein und dasselbe sind und Mar’ja, die Braut, einfach nur als Symbol für die Heimat zu sehen ist479, wird das syntaktische Strukturgefüge der Geschichte von dieser semantischen Erweiterung nicht betroffen – sie ist im Film und im Volksmärchen von Kaščej Bessmertnyj identisch. Die Szene, in der Nikita auf den Pilz-Zwerg trifft, ist dabei in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselszene, denn hier wird am stärksten Märchenhaftes mit Ideologisch- Propagandistischen vermischt und verschmolzen. Einerseits wird der Film dadurch nach über 20 Minuten erstmals in märchenhafte Bahnen gelenkt, denn wenn man von den Paratexten absieht, gibt es vorher nichts, was diesen als explizit dem Märchengenre zugehörig ausweist; die Mise-en-scène ist sogar ausgesprochen naturalistisch und könnte auch zu einem historischen Drama gehören. Als allerdings ein Kerlchen mit langem weißen Bart und einer Pilzkappe als Mütze auftaucht, das gerade mal einen Fuß hoch zu sein scheint480 – was tricktechnisch beeindruckt, wenn es mit Nikita gemeinsam im Bild zu sehen ist –, wird der Zuschauer darin versichert, dass er sich in einem Märchen befindet. Der Zwerg ist ein typischer magischer Ratgeber und Schenker, er erfüllt dieselbe Funktion wie die im Volksmärchen häufig anzutreffenden hilfreichen Alten: Wie diese prüft und berät er Nikita, und er stattet ihn mit einem Zaubergegenstand aus – einer wunderbaren Mütze, die sich später als Tarnkappe erweisen wird.481

479 Neben dem Motiv der Heimat als Mutter (Rodina-Mať) ist auch das der (stets als weiblich gedachten) Heimat als Braut in der russischen Kultur nicht unbekannt, vgl. etwa die folgende Stelle aus dem äußert populären Schlager Pesnja o Rodine (,Lied von der Heimat’) von Isaak Dunaevskij und Vasilij Lebedev- Kumač:„Но сурово брови мы насупим / если враг захочет нас сломать, – / как невесту, Родину мы любим, / бережем, как ласковую мать.“ [„Doch streng runzeln wir die Augenbrauen / wenn ein Feind uns unterzukriegen trachtet / wir lieben die Heimat wie eine Braut / und schützen sie wie eine zärtliche Mutter.“] Diese Zeilen singt bezeichnenderweise in Grigorij Aleksandrovs Musical-Filmhit Cirk (Zirkus, 1936) Nikita- Darsteller Sergej Stoljarov! 480 Das Gesicht des Kleinen ist nie deutlich zu sehen, so dass der Zuschauer allenfalls an der Stimme erahnen kann, dass hier Kaščej-Darsteller Georgij Milljar eine Doppelrolle spielt. Der Schauspieler, der zu Rous Stammensemble gehörte, wurde von diesem gerne in mehreren, durchaus unterschiedlichen Parts besetzt. 481 Vgl. etwa die analoge Situation in Af. 156, wo der Held auf der Suche nach Koščej von einer alten Frau mit

116 Er hat jedoch auch noch eine ganz andere Funktion: Nicht zufällig ähnelt der Dialog zwischen ihm und Nikita auch in sehr vieler Hinsicht dem Gespräch zwischen Mentor und positiven Helden, das für den Master Plot des Sozialistischen Realismus obligatorisch ist und darin einer Initiation gleichkommt: „A character who has already attained ,consciousness’ presides and helps the hero shed the last vestiges of his individualistic consciousness and cross over to ,there’. At that moment the spontaneity/consciousness dialectic is symbolically resolved.“482 Nikita erweist sich an der entsprechenden Stelle des Films als höchst aktiv, er will sofort von sich aus aufbrechen und gegen Kaščej ziehen – ob dies aber ein spontaner oder ein bewusster Akt ist, muss der Zwerg erst prüfen, und so ruft er Nikita, als er schon im Fortgehen begriffen ist, zurück. Nikita zeigt im Folgenden freilich durch seine Antworten, die von pathetischer Musik untermalt werden, dass er schon ein großes Bewusstsein im Sinne der ,richtigen Einstellung’ eines Kämpfers für die gute Sache besitzt – und doch muss der Zwerg nochmal hervorheben, wie stark das russische Herz ist und dass es nichts Heiligeres als die russische Erde gibt.483 So heißt er ihn auch an, eine Handvoll Heimaterde mitzunehmen – und es wird bezeichnenderweise diese und nicht die märchenhaft-magische Tarnkappe sein, die ihm letztlich bei der Überwindung Kaščejs hilft.

II. DIE BESETZTE STADT: EIN MITSTREITER WIRD GEFUNDEN [27:54 – 42:25] Nikitas Aufbruch hat einen Schauplatzwechsel zur Folge, der in sehr märchenhafter Art und Weise markiert wird – der Held kommt zu einem Felsblock an einer Wegkreuzung, auf dem ein formelhafter Spruch geschrieben steht, der ihn vor die Wahl zwischen Extremen stellt, wie sie der abstrakte Stil des Volksmärchens liebt: „Прямо ехать — убиту быть / вправо ехать — коня потерять / влево ехать — с конем погибнуть” [„Geradeaus reiten – getötet werden / nach rechts reiten – das Pferd verlieren / nach links reiten – mitsamt dem Pferd umkommen“].484 Er entscheidet

einem wunderbaren Pferd ausgestattet wird, oder Af. 157, wo ihm der Rat eines alten Mannes zu einem ebensolchen verhilft und ihm später insgesamt vier alte Frauen den Weg weisen und ihn beraten. 482 Clark 1985, S. 168; vgl. auch S. 172-173 sowie Clark 2001, S. 178. In Clarks Schema, das sie allerdings als relativ flexibel beschreibt, was den konkreten Ablauf der Ereignisse betrifft, entspricht das Gespräch der Incorporation und findet vor dem Finale statt (siehe Clark 1985, S. 259). 483 Dass hier der Zwerg die Rolle eines Mentors mit einem tiefen Bewusstsein erfüllt, scheint auch Judin in seiner Rezension aufzufallen und seine Kritik zu begründen (in Fomin 2005, S. 357): „[К]огда старичок, выросший из гриба, говорит о любви к Родине, не слишком ли это ответственная нагрузка для такого существа?“ [„Als der Alte, der aus dem Pilz gewachsen ist, von der Liebe zur Heimat spricht – ist das nicht eine allzu verantwortungsvolle Aufgabe für ein solches Wesen?“]. 484 Varianten dieses speziellen Motivs finden sich im russischen Volksmärchen zuhauf, siehe etwa Af. 168: „А в чистом поле стоит столб, а на столбу написаны эти слова: «Кто поедет от столба сего прямо, тот будет голоден и холоден; кто поедет в правую сторону, тот будет здрав и жив, а конь его будет мертв; а кто поедет в левую сторону, тот сам будет убит, а конь его жив и здрав останется».“ [„Auf freiem Felde

117 sich für das kleinste Übel und reitet nach rechts. Sein Weg ist lang und beschwerlich, doch dieser wird märchentypisch nicht ausladend geschildert oder überhaupt konkretisiert – ausgedrückt wird er vielmehr in drei mittels Schiebeblenden ineinander übergehenden Einstellungen, in denen in einer Detailaufnahme die Hufe des Pferdes zu sehen sind, die zuerst durch eine Blumenwiese, dann durch tiefen Schnee und schließlich durch Wüstensand stapfen. Ein weiteres Indiz, das über das Verstreichen der Zeit Aufschluss gibt, ohne zu präzisieren, zeigt sich, als die Kamera nun Nikita einfängt und man sieht, dass ihm ein Bart gewachsen ist. Sein Blick fällt auf eine orientalische Stadt, die nun in einem Panorama präsentiert wird: Sie erinnert in ihrer Exotik an Illustrationen aus 1001 Nacht, die Gestaltung ist eher phantastisch denn folkloristisch wie beim russischen Marktflecken. Die Schilderung des Übergangs zwischen den beiden Teilen veranschaulicht recht gut, was für die gesamte Episode in der Stadt charakteristisch ist: Das Märchenhafte wird nun im Vergleich zum ersten Teil des Films deutlich in den Vordergrund rücken, das Propagandistisch-Didaktische dagegen sekundäre Bedeutung bekommen. Der bisher dominierende naturalistische Stil weicht einem entrückt-surrealen, spielerisch-grotesken, eben märchenhaften, auch wenn die konkrete Episode recht frei fabuliert ist und in ihrer semantischen Zusammensetzung keine direkten Parallelen in Volksmärchentexten hat. Gänzlich verschwindet dabei die propagandistische Botschaft natürlich nicht: Die Stadt wurde von Kaščej eingenommen, erfährt Nikita von den Wächtern, und jeder Neuankömmling muss ihm Tribut zahlen – was bei Nikita als aufrichtigem Patrioten Empörung auslöst und ihn gegen die Wächter aufbringt, die für ihn durch diesen Akt des Nicht-Widerstandes, um die eigene Haut zu retten, zu Kollaborateuren und Kaščejs Schergen werden. Seiner modellhaft zu verstehenden semantischen Charakteristik des aktiven patriotischen Widerstandes, für den ein sich Ergeben Verrat gleichkommt, wird hier noch ein weiterer Baustein hinzugefügt, während über die Eigenschaften seines Gegners Kaščej wiederum ein wenig mehr preisgegeben wird: Er hat seine Truppen in mehr als nur die russischen Lande einfallen lassen, und das Ziel seiner kriegerischen Handlungen scheint Eroberung und Unterwerfung zu sein. Ist in diesen ersten Einstellungen des Ausschnitts die belehrende Intention noch relativ deutlich, so geht sie im Folgenden neben der Unterhaltungsfunktion fast völlig unter: Das

stand ein Markstein, und auf dem Markstein waren diese Worte geschrieben: ,Wer von diesem Markstein nach rechts reitet, der wird hungrig sein und frieren; wer nach rechts reitet, bleibt gesund und am Leben, doch sein Pferd wird sterben; wer aber nach links reitet, der wird selbst sterben, sein Pferd dagegen am Leben und gesund bleiben.’“].

118 Groteske findet seinen Ausdruck in der Darstellung des rückgratlosen Herrschers der Stadt, der kein Wort sagt, von seinen Dienern aufrecht hingesetzt werden muss und auch dann noch seine schlaffe Körperhaltung und seinen geistesabwesenden Gesichtsausdruck nicht verliert, sowie durch dessen dümmlichen Richter, der im Dialog die scharfzüngigen Antworten des zur Hinrichtung verurteilten Bulat Balagur nicht versteht. Bulat selbst wird freilich als tapferer Widerstandskämpfer gegen Kaščej charakterisiert, der auch seinem bevorstehenden Tod deshalb in stoischer Ruhe gegenübersteht, da es der Sache wegen geschieht – ein positiver Held eben, mehr wird dem Zuschauer nicht mitgeteilt: Er wird, wie schon im Prolog angedeutet, im weiteren Handlungsverlauf keine Eigendynamik entwickeln, sondern nur in einer Art Figurendoppelung als ,verlängerter Arm’ Nikitas agieren. Impliziert ist in seiner Figur übrigens eine Allusion auf die kameradschaftliche Unterstützung des russischen durch die anderen sowjetischen, auch zentralasiatisch-orientalischen Völker beim Kampf gegen Nazideutschland.485 Überhaupt keine belehrende Intention, aber dafür umsomehr an unterhaltenden Schauwerten sind in den folgenden Ereignisse um die Rettung Bulats durch Nikita zu erkennen – fast zum spielerischen Selbstzweck werden dabei die Trickaufnahmen erst mit der Tarnkappe, bei der sich Nikita und Bulat in Luft auflösen und sich Gegenstände wie von selbst bewegen, und anschließend mit dem fliegenden Teppich: Höhepunkt des Ausschnitts ist der spektakuläre Flug der beiden Helden darauf, der gut 3 Minuten währt und sie aus der Stadt durch den wolkenreichen Himmel führt, wo sie durch einen gefährlichen Gewittersturm in Turbulenzen geraten, bei denen Bulat fast herunterfällt und durch die die Helden schließlich gezwungen sind, am Eingang zu Kaščejs Reich eine Bruchlandung hinzulegen.

III. IM REICH DES FEINDES [42:25 – 01:03:40] Dominierte im ersten Teil des Films insgesamt gesehen das Ernste und Patriotisch- Didaktische über das Spielerische und Märchenhaft-Phantastische, im zweiten genau umgekehrt, so ist der Teil in Kaščejs Reich, wie dies schon bei der Begegnung Nikitas mit dem Zwerg der Fall war, eine Synthese der beiden Aspekte, wobei die Botschaft hier sich besonders deutlich in symbolischer Form äußert. Durch und durch märchenhaft-phantastisch mit gruseligen Zügen ist die Gestaltung der Mise-en-scène: Die geradezu expressionistisch

485 Vgl. dazu etwa Paramonova 1979, S. 43: „Даже образ друга Никиты — Булата Балагура, решенный в восточном стиле, — словно напоминал об органическом братском единстве наших народов, обеспечивщем победу над фашистском агрессором.“ [„Selbst die Figur von Nikitas Freund, des im östlichen Stil gestalteten Bulat Balagur, schien geradezu auf die organische brüderliche Einheit unserer Völker hinzuweisen, die den Sieg über den faschistischen Agressor sicherte.“]

119 wirkende Kulisse486 sowohl der Felsenlandschaft, in der eine Zugbrücke in Form einer monsterhaften Fratze den Eingang in Kaščejs Reich darstellt, als auch der von Schatten und Halbschatten dominierten Grotte, in der eine weitere, nur in Panoramashots voll sichtbare Felsenfratze einen riesigen Wasserfall ausspeit; das Bild der halb-durchsichtigen schlafenden Mar’ja, die auf ihrer kristallartigen, von ätherischem Licht beschienen Liegestätte ikonographisch an Illustrationen zu Puškins Skazka o mertvoj carevne (Märchen von der toten Zarentochter) erinnert; schließlich auch das Erscheinen Kaščejs, der nun endlich, nachdem bereits über zwei Drittel der filmischen Erzählzeit vergangen sind, persönlich auftaucht. Unter Blitz und Donner kommt er hinter einer Rauchwolke zum Vorschein, zunächst nur als bedrohliche schwarze Silhouette, dann ist er, meist aus der Untersicht, in seiner ganzen furchteinflößenden Pracht zu sehen: Ein hagerer Alter mit tiefen Augenhöhlen, eingefallenen Wangen und spitzer Nase, der einen langen, vampirhaften dunklen Umhang sowie verschiedenartigen metallisch-kalt glänzenden Schmuck trägt und dessen abgemagerte nackte Rippen auch ohne die daran angebrachten metallenen Applikationen wie die eines Skeletts wirken. Äußerst bivalent – zugleich märchenhaft und propagandistisch – ist dagegen der Dialog, den der Bösewicht, von Milljar expressiv-diabolisch gespielt, mit Mar’ja führt, nachdem er sie aus ihrem Zauberschlaf geweckt hat, während Nikita und Bulat in ihrem Versteck lauschen. Sehr aufschlussreich für die propagandistische Botschaft ist der Anfang des Gesprächs, in dem gewissermaßen eine märchenhafte dritte Wiederholung der beiden Schlüsselszenen in und um den Marktflecken stattfindet: К а щ е й : Как спалось тебе, красавица? Какие сны видала? М а р ь я : Видала я родной посад... реки голубые, нивы золотые... К а щ е й : Зря думаешь о них! От посада твоего уголья остались, черной грязью реки текут, хлеба моими конями вытоптаны! [K a š č e j : Wie hast du geschlafen, du Schöne? Was hast du im Traum gesehen? M a r’ j a : Ich sah den heimatlichen Marktflecken... die blauen Flüsse, die goldenen Äcker... K a š č e j : Vergeblich denkst du an sie! Von deinem Marktflecken ist nur Asche übriggeblieben, die Flüsse sind voll von schwarzem Schlamm, das Korn von meinen Pferden zertreten!] Die Bilder vom Anfang des Films werden hier in Worte ,übersetzt’ und damit beim Zuschauer zusammen mit den dazugehörigen Ereignissen in Erinnerung gerufen. Die jeweiligen Aussagen der Figuren kann man hier als gleichermaßen autoreferenziell sehen: Die ländliche Idylle, derer sich Mar’ja erinnert, ist zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört, sie existiert nicht mehr. Sie selbst aber, Mar’ja, ist nach wie vor da, und sie war in den Bildern des Anfangs

486 Hier scheint besonders nachvollziehbar, warum die Ästhetik des Films auch mit der von Fritz Langs Nibelungen-Epos (1924) in Verbindung gebracht wurde; ausführlicher dazu siehe Sirivlja 1997.

120 nicht nur Teil der Idylle, sondern stand sogar in deren Zentrum und war mit ihr zu einem idealisierten Ganzen verschmolzen – so wird sie hier letztlich zur sinnbildlichen Verkörperung der idealen, der heiligen russischen Heimat, die zwar aufs Äußerste bedroht, aber nicht gänzlich vernichtet ist. Die Bedrohung wiederum geht durch Kaščej aus – als er in barschen Worten ausdrückt, was der Einfall seiner Krieger bewirkt hat, stellt er den Bezug zwischen den damit in Verbindung stehenden erschreckenden Bildern und sich selbst her, denn er macht ganz explizit deutlich, dass er dafür verantwortlich war, dass die Zerstörung des Landes letztlich allein ihm zuzuschreiben ist: Das Böse bekommt ein Gesicht. Dadurch, dass sich nun Mar’ja in seiner Gefangenschaft befindet, wird seine Rolle als Schänder und Peiniger Russlands noch betont. Mar’ja als Personifikation des gebeutelten Russland, Kaščej als dessen grausamer Feind wirken hier als Symbole von großer emotionaler Wirkungskraft. Kaščej äußert im weiteren Verlauf der Szene, dass er sich als Beherrscher der Welt (vlastelin mira) betrachtet – damit liefert er das letzte Mosaikstück, das seine semantische Charakteristik bestimmt: Er hat keinen anderen Grund für seine Bosheit als den Wunsch nach Eroberung und Unterwerfung, ist also tatsächlich nichts weiter als das abstrakte Böse – eine Allusion auf jeden Feind, der Russland bedroht. Russland aber mag zwar zeitweise der Unterlegene sein (der Schlaf drängt Mar’ja in die Passivität), es ergibt sich jedoch niemals, auch keinem noch so grausamen Feind gegenüber und in keiner noch so aussichtslos scheinenden Situation: Mar’jas Widerstand gegen Kaščej kann auch als Sinnbild für die Kampfansage Russlands an jeden gesehen werden, der es zu bezwingen sucht. Gerade das Genre Märchen wegen seiner Überzeitlichkeit wirkt hier als die ideale Vermittlungsform für die zwar ohne weiteres auf die Situation von 1944 übertragbare, aber eben als zeitlos intendierte Botschaft des Films. Wenn Kaščej Mar’ja zwingen will, seine Frau zu werden, und sie ihm schmeichelnd das Geheimnis seines Todes entlockt, so orientiert sich der Dialog des Films hier sehr deutlich an den formelhaften Dialogen in den entsprechenden Volksmärchentexten, doch das tut der Botschaft in ihrer Aussagekraft keinen Abbruch: Sie ist verstehbar gerade weil Kaščejs Darstellung sowohl in seiner Ikonographie als auch im Schauspiel und im Dialog einem märchenhaften und keinesfalls einem identifizierbaren konkreten Feind entspricht, Mar’ja dagegen in all ihrer märchenhaften Zeitlosigkeit als russisch erkennbar ist, auch wenn sie selbst dazu im Dialog nicht einmal Bezug nimmt. Das einzige, was Kaščej dem anhaltenden Widerstand Mar’jas entgegensetzen kann, ist, sie wieder in ihren Zauberschlaf zu versetzen – er hat nur die Macht, sie handlungsunfähig zu machen, ihren Willen aber kann er nicht beugen. Unterdes hat sie geschickt die

121 Schwachstelle des scheinbar übermächtigen Feindes herausgefunden. Auch hier ist der sinnbildliche Gehalt, die Bezugsmöglichkeit auf den unbeugsamen, standhaften und einfallsreichen Charakter des russischen Volkes, recht deutlich. Kaščej nimmt Mar’ja ihren Ring ab – dieser allein hatte die Macht, sie aus dem Schlaf zu erwecken, und indem der Böse ihn in den rauschenden Wasserfall wirft, denkt er, sie sei endgültig ausgeschaltet. Nikita jedoch, der denselben Ring trägt, kann sie damit wieder erwecken: Der Ring ist äußeres Zeichen für die enge innere Verbindung, die zwischen den beiden besteht – auch hier sind sinnbildliche Deutungen nicht allzu abwegig: Der russische Mensch, der russische Krieger an sich ist so eng mit seiner Heimat verbunden, liebt sie so sehr, dass er sie erretten kann. Die Umstände sind widrig – Nikita und Bulat haben den fliegenden Teppich verloren und müssen nun feststellen, dass sie auch der Tarnkappe verlustig gegangen sind: Keine Magie hilft, sie müssen sich auf ihre eigene Kraft verlassen.487 Doch diese ist es, die ihnen letztlich zum märchenhaften Sieg verhilft – zusammen mit selbstloser Aufopferung für die Sache bis zum Schluss: Die wiedererwachte Mar’ja wirft Nikitas Ring in den Wasserfall, dass dieser den Weg für die Flucht Nikitas und Bulats freigibt – auch wenn sie selbst dadurch wieder in Schlaf verfällt: Hier ist sie als Sinnbild nicht für die Heimat an sich, sondern vielmehr als das einer Kämpferin dafür zu sehen. Das große Finale, für das der Film nun ein zweites Mal auf die Form des Cross Cutting zurückgreift und Nikita und Bulat getrennte Weg gehen lässt, arbeitet wiederum mit märchenhaften Elementen, die ob ihres sinnbildlichen Bedeutungsgehaltes kaum eines Kommentars bedürfen: Der weißgewandete Nikita trifft auf dem Schlachtfeld auf Kaščej, der sich eine riesige schwarzgewandete Armee herbeizaubert. Der russische Recke wirft die heilige Heimaterde hinter sich, und das russische Volk steht in Form eines riesigen Heers auf magische Weise hinter ihm – das strahlende Weiß ihrer Kleidung und Schilde steht dem Schwarz, das für Kaščejs Armee und diesen selbst kennzeichnend ist, gegenüber: Gut und Böse sind visuell klar definiert.488 Kaščej scheint unüberwindbar, denn jedes Mal, wenn ihm Nikita im – ungemein rasch geschnittenen – Zweikampf den Kopf abschlägt, wächst ihm ein neuer nach: Das Märchenmotiv dient hier dazu, die scheinbare Übermacht des Feindes zu demonstrieren. In der parallelmontierten Handlung findet Bulat unterdes auf dem schwarzen Berg den aus einer Flamme erwachsenden schwarzen Apfel, der den Tod Kaščejs enthalten soll – und darin eine weiße Taube. Dieser sitzt eine Schlange unter dem Flügel, die von Bulat

487 Hierauf weist auch Paramonova (1979, S.44) als erzählerische Besonderheit hin. 488 Besonders zur Geltung kommt der Kontrast Hell-Dunkel, da der Film eine Schwarzweißproduktion ist – welche Farben die Kostüme tatsächlich hatten, ist für die Wirkung irrelevant.

122 zerschmettert wird – er versteinert, und unterdes kann Nikita Kaščej endgültig vernichten, er wird zu einem Skelett und löst sich dann in Luft auf, das russische Volk jubelt. Kaščejs Felsenreich bricht in sich zusammen, Wasser überflutet es. Mar’ja in ihrer Grotte erwacht von den Strahlen der aufgehenden Sonne, sie steht von ihrer Liegestätte auf, um sie herum zieht die freigelassene Taube ihre Kreise und verweist auf die tödlich verletzte Taube vom Anfang des Films – nun schießt niemand mehr Pfeile auf sie ab, der ungestörte Frieden ist wieder hergestellt. Unterdes wird auch Bulat aus seiner Versteinerung wieder erlöst. Mit Überblendetricks sieht man, wie die Natur wieder zu blühen anfängt – auch hier visuelle Reminiszenzen auf den Anfang des Films: Die Kornfelder voller Ähren zeigen, dass der idyllische Vorkriegszustand wieder erreicht ist. Darauf verweist auch die musikalische Untermalung, die Nikitas Lied von der Schönheit der Heimat anzitiert. Die Triade Nikita, Mar’ja und Bulat wird auf Pferden sitzend in prächtigen folkloristischen Kriegerkostümen in einer Halbtotale eingefangen, wie sie zuversichtlich einander in die Augen und dann nach vorne blicken: Die malerische Bilderfolge von den Birkenwäldern, die Nikitas Ritt nach Hause begleitete, wird nun fast exakt wiederholt – die exakt gleichen Bilder scheinen deutlich zu machen, dass der Zustand vor Kaščejs Einfall nun wirklich exakt wiederhergestellt ist. Die letzte Dialogzeile des Films, die Mar’ja spricht, zeugt jedoch davon, dass dem nicht ganz so ist – der Zustand wurde sogar verbessert: „После грозы лучше старого, краше прежнего расцветает Русь!“ [„Nach dem Unwetter ist die Rus’ noch besser, erblüht sie noch schöner als früher!”] Mit diesem utopischen Moment geht der Film also über die bloße Restaurierung des Status quo hinaus. Die letzte Einstellung zeigt die drei Helden auf ihren Pferden in einer Panoramaeinstellung, wie auf einmal vor ihnen eine märchenhafte, von Sonnenstrahlen beschienen Stadt erscheint. Ein schriftlicher Epilog, der nun eingeblendet wird, variiert formelhaft den Prolog: „Так кончилась сказка / о русском богатыре — Никите Кожемяке / о его боевом друге — Булате Балагуре / о Марье Моревне — красоте ненаглядной / о злом вороге — Кащее Бессмертном.” [„So endete das Märchen / vom russischen Recken Nikita Kožemjaka / von seinem kämpferischen Freund Bulat Balagur / von Mar’ja Morevna, der Wunderschönen / von dem bösen Feind Kaščej Bessmertnyj”] Damit schließt sich der Kreis endgültig.

123 III.2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung Die semantische Charakteristik der drei Hauptfiguren489 des Films Kaščej Bessmertnyj, die sich aus der Analyse ergibt und im Folgenden nochmals tabellarisch anschaulich gemacht wird, zeigt, dass diese fast allesamt statischer Natur sind und damit der Schablonenhaftigkeit der Figuren des Märchens entsprechen:

Eigenschaften Mar’ja Nikita Kaščej Individuelle Eigenschaften jung jung alt weiblich männlich männlich menschlich menschlich übernatürlich gut gut böse schön stark Eroberungs-, passiv aktiv Unterwerfungsintention standhaft tapfer erbarmungslos schlau bewusst patriotisch patriotisch Familiärer Status Nikitas Braut Mar’jas Bräutigam ohne Frau Sozialer Status niedrig niedrig hoch Lokalisierung im eigenen Bereich auf offenem Feld (indirekt) Eindringling in → wird aus diesem → im eigenen zerstörten fremden Bereich geraubt Bereich → im eigenen Bereich (wird → Gefangene in fremdem → in fremdem Bereich dort vernichtet) Bereich

Als Variable fungiert einzig der Faktor der Lokalisierung, der gleichzeitig auch der eigentlich handlungsmotivierende ist: Mar’ja wird von Kaščej nicht nur aus ihrer höchsteigenen Umgebung gerissen, sondern diese wird von ihm auch noch zerstört. Für den Bösewicht ist hier der lokale Faktor auch der entscheidende: Er entführt nicht Mar’ja und zerstört nebenbei das Land, sondern zerstört das Land und entführt nebenbei Mar’ja. Im Volksmärchen bringt der Wunsch nach einer Frau ihn erst zu seinem Handeln, während Mar’ja für ihn im Film lediglich Kriegsbeute scheint und sein Wunsch, sie zu seiner Frau zu machen, sich erst aus der Situation ergibt, in die ihn der Wunsch nach Eroberung und Unterwerfung gebracht hat, der ihn eigentlich bestimmt. Für Nikita dagegen ist es nicht, wie für den Märchenhelden, der Verlust der Gefährtin an sich, der ihn zum Handeln bringt: Er zieht nicht aus Liebe zu Mar’ja gegen Kaščej, sondern aus Liebe zu seinem Land – Mar’jas Verlust bestärkt ihn darin nur, Kaščej vernichten und damit den Friedenszustand im Land wieder herstellen zu wollen. Es handelt sich also nicht nur um eine semantische Erweiterung, sondern um eine Schwerpunktverschiebung, mit der eine eigene Botschaft vermittelt wird – allerdings kann dafür einerseits sehr viel märchenhafte Semantik (aus verschiedenen Kontexten) genutzt

489 Bulat muss hier nicht mit aufgeführt werden, da die Figur im Rahmen der Handlung keinerlei Eigendynamik entwickelt und im Wesentlichen als Doppel Nikitas gesehen werden kann.

124 werden, andererseits muss dafür auch die syntaktische Grundstruktur des Märchens nicht verändert werden: Die Rettung Mar’jas fällt wie zufällig zusammen mit der Rettung des Landes, das Private mit dem Kollektiven, das Glück des Einzelnen mit dem des ganzen Volkes. In der Konfrontation zwischen Kaščej und Mar’ja manifestiert sich die Identität des einen mit dem anderen auf sehr sinnbildliche Art und Weise. In manchen Punkten unterscheidet sich der Film hier nicht allzu stark von den anderen sowjetischen Propagandafilmen der Zeit – sowohl, was die patriotische Grundbotschaft betrifft, als auch in den dafür verwendeten Motiven: So werden etwa auch in den Kriegsdramen Ona zaščiščaet rodinu ([Sie verteidigt die Heimat], 1943) von Fridrich Ėrmler und Zoja von Leo Arnštam (1944), letzterer wie Rous Film für ein Kinderpublikum produziert, die feierlich-idyllischen Bilder einer Vorkriegszeit den aufrührenden Bildern des grausamen Angriffs der Feinde gegenübergestellt, wenngleich darin keine ominösen schwarzen Krieger, sondern konkret die deutschen Faschisten die Angreifer sind. Auch in diesen beiden Filmen, sowie in Raduga ([Der Regenbogen], 1944) von Mark Donskoj, agieren weibliche Figuren gleichzeitig als emblematisches Symbol der geschändeten Heimat und als resolut-unbeugsame Kämpferinnen dafür, die dem Feind bis zum Letzten trotzen.490 Der Unterschied zu diesen Streifen besteht lediglich darin, dass in Kaščej Bessmertnyj die Botschaft im Gewand eines Märchens vermittelt wird – dabei wird die Form als solche genutzt, um mit ihrer Hilfe eine Botschaft zu platzieren: Das Märchengenre ist, auf Grund seiner traditionell einfachen syntaktischen Struktur und seiner ,ewigen’, überzeitlichen und symbolträchtigen Semantik, für eine solche Politisierung besonders empfänglich. Dass sich dabei ,realistische’ Bilderfolgen mit verspielt-ornamentalen, phantastisch wirkenden überschneiden, steht der Botschaft entsprechend nicht nur nicht im Wege, sondern wirkt sogar unterstützend darauf. Die Wechselwirkung von Märchenform und deren filmischer Umsetzung einerseits und didaktischer Botschaft andererseits reißt jedoch zu einem Gedankenspiel hin: Würden etwa sämtliche auf die zeitgenössische Realität beziehbaren und im Sinne des Sowjetsystems lesbaren Elemente aus Kaščej Bessmertnyj verschwinden oder ausgetauscht, so bliebe dennoch ein phantasievoll gestaltetes Märchen erhalten – nicht nur inhaltlich durch den innovativen Umgang mit Folkloremotivik, sondern insbesondere auch dank solcher Faktoren wie der aufwendigen Gestaltung der Mise-en-scène, der Spielfreude der Darsteller, des kreativen Umganges mit Filmtricks491: Allesamt Dinge, die mit der Botschaft größtenteils 490 Vgl. dazu Stites 1992, S. 114-116. 491 Die Filmanalyse hat hier versucht, besonders eindrucksvolle Momente zu schildern, was hoffentlich

125 nicht direkt verknüpft sind und in einem ,realistischen’ Film so nicht ohne weiteres umsetzbar wären. Die Frage liegt also nahe, ob Regisseur Aleksandr Rou hier die Märchenform ihrer Zeitlosigkeit wegen nur nutzte, um eine didaktische Botschaft zu vermitteln, oder ob ihm umgekehrt die von der Entstehungszeit diktierte Botschaft nur Mittel zum Zweck war, um ein unterhaltsames Märchen zu inszenieren? Es scheint jedenfalls nicht völlig eindeutig, was hier Verpackung und was Inhalt ist. Die Frage stellt sich aber nicht nur für diesen Film, sondern im Grunde für alle in der Stalinzeit entstandenen Märchenfilme, was der folgende Abschnitt deutlich machen soll.

III.3. Kontextualisierung und Bezug zum Gesamtkorpus: Der Märchenfilm der Stalinzeit Die Märchenfilme der Sowjetunion unter Stalin vor, während und nach dem Krieg unterscheiden sich in einem Punkt nicht grundsätzlich – in der Regel verändern sie das Volksmärchen- und Folklorematerial in der einen oder anderen Weise, sie politisieren es, so dass er mit einer Botschaft im Sinne des Sowjetsystems ausgestattet werden kann.492 In dieser Hinsicht ist auch Kaščej Bessmertnyj keine Ausnahme, wobei hier, der Kriegszeit geschuldet, das nationalpatriotische Moment dominiert. Einige andere herausragende Beispiele des stalinistischen Märchenfilms seien genannt: In Rous ersten Film, Po ščuč’emu velen’ju (Der Zauberfisch, 1938) werden Feudalismuskritik und der Wert der Arbeit thematisiert – aus dem notorischen Faulpelz und Egoisten Emelja aus dem Volksmärchen wird ein fleißiger und arbeitsamer positiver Held, der sich durch Optimismus und Lebensfreude ebenso wie durch Respektlosigkeit gegenüber der unterdrückerischen herrschenden Klasse (verkörpert durch den ebenso einfältigen wie grausamen Zaren) auszeichnet. Folgerichtig wird er am Ende auch nicht als Mann der Zarewna zum Herrscher gekrönt, sondern diese verlässt mit ihm den Zarenhof, um an seiner Seite ein einfaches arbeitsames Leben zu führen. Auch in Rous Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Wassilissa, 1939) steht der Wert der Arbeit im Mittelpunkt – so wird die Handlung des Volksmärchens von einem Zaren- an einen Bauernhof verlagert, die Protagonistin ist keine mächtige zauberkundige Zarewna, sondern eine einfache Frau aus dem Volke, und die Aufgabe, die der Bauer seinen zukünftigen

gelungen ist. 492 Was wohl auch einer der Gründe sein dürfte, warum diese Filme im Gegensatz zu vielen späteren Streifen nicht (mehr?) im deutschen (Kinder-)Fernsehen gezeigt werden (eigene Beobachtung), obwohl von den betreffenden Streifen deutsche Synchronisationen existieren.

126 Schwiegertöchtern gibt, trägt betont pragmatischen Charakter (Garbenbinden): Während die Braut des Helden sich statt durch Zauberei durch Fleiß und Arbeitseifer bewährt, scheitern die aus den höheren Gesellschaftsschichten stammenden Bräute der Brüder des Helden, da sie dumm und faul sind. Volšebnoe zerno (Das Zauberkorn, 1941) von Valentin Kadočnikov und Fedor Filippov handelt von der Suche zweier Kinder nach einem Korn, das Wünsche erfüllen kann – aber es muss erst gepflanzt, geschützt und umhegt werden, bis man es ernten kann: So wird es letztlich in seiner Magie rationalisiert, seine wundersame Kraft, die den Protagonisten am Ende zu Wohlstand verhilft, ist kein Wunder, sondern lediglich das Resultat von fleißiger gemeinschaftlicher Arbeit. In Aleksandr Ptuškos erstem Märchenfilm Kamennyj cvetok (Die steinerne Blume, 1946) sind ebenfalls Arbeit und Gemeinschaft zentrale Motive: Ein junger Steinschneider strebt nach Vollkommenheit in seinem Handwerk und gerät dadurch in den Einflussbereich einer geheimnisvollen Bergfee, doch der Aufenthalt bei dieser lehrt ihn, dass sein Platz bei seiner Braut und in der Gemeinschaft der Menschen ist, denen er mit seiner Arbeit viel besser dienen kann. Um solche und ähnliche systemstützenden Botschaft zu vermitteln, gab es allerdings auch genügend andere Möglichkeiten, als auf das Märchengenre zurückzugreifen. Fröhliche Arbeiter und Bauern, die in der Arbeit ihre Erfüllung finden, und böse Kapitalisten, Feudalisten und andere ideologischen Feinde kennt auch der ,realistische’ Film der Stalinzeit – ob für ein erwachsenes, kindliches oder gemischtes Publikum gedacht493 – zur Genüge: Sie finden sich in den populären Musikkomödien von Grigorij Aleksandrov (Svetlyj puť (Der helle Weg), 1940) und Ivan Pyr’ev (Svinarka i pastuch (Sie trafen sich in Moskau), 1941)494 ebenso wie in Fridrich Ėrmlers berühmt-berüchtigtem Politdrama Velikij graždanin (Der große Patriot, 1937-1939) oder Sergej Ėjzenštejns Historienepen (Aleksandr Nevskij (Alexander Newski), 1938) und vielen anderen Filmen der damaligen Jahre. Auch diese Streifen sind, in geringerem oder stärkerem Maße, didaktisiert und politisiert, denn „the Soviets were […] active, intensive, and succesful in harnessing the cinematic screen to these purposes“, und „Stalinist cinema was a key element of his spectacle state.“495

493 Es handelt sich um ein Kontinuum – ich bin geneigt, hier Prokhorov zuzustimmen, der schreibt (2008, S. 138): „[A]ge per se loses its significance in Stalinist culture because the ideological maturation does not have anything to do with physical age but has a lot to do with the acquisition of ideological consciousness.“ 494 Dies sind Filme, die vielleicht eher der Doktrin des sozialistischen Realismus entsprechen, aber de facto nicht allzu nah an der Lebensrealitiät und daher in mancher Hinsicht genauso ,unrealistisch’ bzw. ,märchenhaft’ sind wie der Märchenfilm. 495 Stites 1992, S. 94; vgl. zu diesem Abschnitt auch dort S. 85-94, insbesondere 88-95, sowie Prokhorov 2008,

127 Aber nur der Märchenfilm konnte mit solchen ästhetischen Spielereien aufwarten wie echten Tieren als ,Darstellern’, die mit menschlicher Stimme ,synchronisiert’ sprechen, und einem zum Fahrzeug umfunktionalisierten dampfenden Ofen, der sich durch die Landschaft bewegt (Po ščuč’emu velen’ju); einem schreckenserregenden dreiköpfigen Drachen, dessen Darstellung auf der Leinwand eine 11 Meter lange und 5 Meter hohe Puppenkonstruktion erforderte496 (Vasilisa Prekrasnaja); riesigen laufenden und sprechenden Bäumen (Volšebnoe zerno); einem abenteuerlichen Flug auf einem Teppich (Kaščej Bessmertnyj) oder auch beeindruckend gestalteten unterirdischen Höhlenreichen, die in glänzenden Farben im Dreischichtverfahren strahlen und aus dem Märchen Kamennyj cvetok den ersten bedeutenden Farbfilm der Sowjetunion werden ließen497. Die sowjetischen Märchenfilme der 30er und 40er Jahre weisen fast immer einen kreativen Umgang mit Folkloresemantik und eine originelle, wenn auch nicht immer technisch völlig makellose filmische Gestaltung auf. Die stets recht explizite jeweilige didaktische Botschaft fügt sich darin als obligatorische Zutat mehr oder weniger organisch und mehr oder weniger subtil ein. Eine große Ausnahme im stalinistischen Märchenfilm stellt Zoluška (Aschenbrödel, 1947) von Nadežda Koševerova und Michail Šapiro nach einem Drehbuch von Evgenij Švarc dar, denn dieser Streifen präsentiert seine stilisierte, durch naiven Surrealismus bestechende Märchenwelt ohne rationalisierenden Didaktismus oder politisierte Elemente und lässt dadurch keine klare Stellungnahme zum Sowjetsystem und dem von ihm propagierten Ideen erkennen498: So ist eine der zentralen Figuren ein König, der zwar ein wenig infantil, aber gleichzeitig auch weise und über die Maßen gutherzig wirkt, und dass etwas mit den dargestellten gesellschaftlichen Verhältnissen nicht in Ordnung sei, wird an keiner Stelle auch nur implizit ausgedrückt. Der Film distanziert sich vielmehr offen von etwaigen Realitätsbezügen: Er weist eine Ausstattung auf, die ihre Artifizialität offen zur Schau stellt – die Kulissen sind etwa klar erkennbar als Studiodekorationen aus Karton und Pappmaché – und die Figuren referieren in den Dialogen mehrfach spielerisch darauf, dass ihnen bewusst ist, dass sie sich in der irrealen Welt des Märchens befinden, in der Wunder an der Tagesordnung sind und die Phantasie alles Unmögliche möglich macht. Freilich wendet sich der Film auch nicht gegen das System – aesopische kritische Botschaften finden sich hier ebensowenig wie in den übrigen stalinistischen Märchenfilmen. Im Gegensatz zu diesen ist er

S. 133-141. 496 Vgl. Paramonova 1979, S. 37. 497 Vgl. Berger/Giera, S. 152. 498 Vgl. dazu auch Prokhorov 2008, S. 148.

128 jedoch geradezu anti-ideologisch – die Botschaften, die man darin entdecken mag, sind allenfalls universalistisch verstehbar, und der Streifen entzieht sich einer bestimmten politischen Lesart. Warum er dennoch von der Zensur nicht beanstandet wurde und mit großem Erfolg in den Kinos gezeigt wurde, lässt sich vielleicht am ehesten im konkreten Kontext der Zeit erklären: Im Jahr 1947, nach den harten, an politischen agitatorischen Losungen und Parolen reichen Kriegsjahren, wurde dem – erwachsenen wie kindlichen – Kinozuschauer, so scheint es, eine Art (offen) eskapistisches Trostpflaster gewährt.499 Dieses sollte jedoch ein ziemliches Einzelphänomen bleiben: Es folgten die mageren Jahre des sowjetischen Films, auch bekannt als die Zeit der malokartin’e – die jährliche Filmproduktion wurde auf Stalins Geheiß drastisch reduziert. Die offizielle Begründung dafür lautete, dass es einen Qualitätseinbruch in der heimischen Kinolandschaft gegeben hätte, und eine geringere Anzahl von Produktionen sollte gewährleisten, dass jeder Streifen ein Meisterwerk sei. Der wohl bedeutendste inoffizielle Grund war, dass damit Stalin als oberste Zensurinstanz der Überblick und damit die Kontrolle über die gesamte Filmproduktion weiter ermöglicht wurde.500 Es enstanden bis zum Tod des Diktators 1953 weniger als 20 Filme pro Jahr – 1951 waren es sogar nur 9 (!) – , und dem Märchenfilm kam dabei als Genre sowenig Priorität zu, dass er zwischenzeitlich zu existieren aufhörte. Erst 1952 wurde wieder ein Märchenfilm gedreht, Ptuškos Sadko (Lockendes Glück/Sadkos Abenteuer) nach einem Bylinenstoff501, der wiederum eine sehr explizite patriotische Botschaft aufweist: Der Guslispieler Sadko reist auf der Suche nach dem Glück durch ferne Länder nur, um am Ende festzustellen, dass es nur in der russischen Heimat zu finden ist. Vermittelt wird diese Botschaft mit Bildern von monumentaler Opulenz, spektakulären Massenszenen, Naturaufnahmen und Spezialeffekten – mit dieser Verbindung von Politisierung und Ausnutzung der märchenhaften Form für filmische Gestaltungsmöglichkeiten setzt er die Linie fort, die für den Märchenfilm der 30er und 40er Jahre charakteristisch war. Diese sollte auch noch nach 1953, im poststalinistischen Märchenfilm, ihre Vertreter 499 Vgl. dazu auch Pritulenko 2002, S. 75: „Только заглянув смерти в лицо, перенеся ужасы, от одной мысли о которых кровь стынет, можно научиться так светло и радостно воспринимать мир, с такой надеждой смотреть в будущее и так верить в счастье. «Золушка» явилась к зрителям 1947 года как долгожданный, заслуженный и с бесконечной благодарностью принятый подарок.” [„Nachdem man dem Tod ins Auge gesehen und solche Schrecken durchlebt hat, dass nur der Gedanke daran das Blut gefrieren lässt, kann man lernen, die Welt so licht und froh wahrzunehmen, mit einer solchen Hoffnung in die Zukunft blicken und so sehr an das Glück glauben. „Zoluška“ war 1947 für die Zuschauer wie ein langersehntes, schwerverdientes und mit endloser Dankbarkeit angenommenes Geschenk.“]. 500 Vgl. Engel 1999, S. 100-101. 501 Etwa zeitgleich entstand Rous Gogoľ-Adaption Majskaja noč’, ili utoplennica (Mainacht, 1952), die zumindest märchenhafte Züge enthält.

129 finden, doch war für diesen in viel stärkerem Maße eine Entwicklung zu beobachten, die der Film Zoluška schon in vieler Hinsicht vorweggenommen hatte – weg von der Politisierung, hin zu Unterhaltung und Ästhetisierung, weg von dezidierter Propaganda im Sinne des Sowjetsystems hin zu eher universalistischen Botschaften. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Zeit der Stagnation unter Brežnev – dazwischen lagen die Jahre der Tauwetter-Periode, deren Besonderheiten sich in Ansätzen auch im Märchenfilm wiederspiegelten, was im Rahmen des zweiten Samples noch eingängiger behandelt wird. Zunächst soll jedoch in einer Art Vorgriff ein Film der Stagnationszeit besprochen werden, da dieser sich, wie gesagt, wegen der Stoffähnlichkeit wie auch der Produzentengleichheit besonders für einen Vergleich mit Kaščej Bessmertnyj eignet und dadurch den Gegensatz zwischen dem Märchenfilm im Stalinismus und in der Post-Stalinzeit besonders deutlich wird. Er wirft vielleicht auch etwas Licht auf den speziellen Fall Aleksandr Rou und dessen Einstellung zum Märchenfilm, als dessen exponiertester Vertreter er noch bis zu seinem Tod 1973, also weit über die Zeit des Stalinismus hinaus gelten sollte.

III.4. Ogon’, voda i... mednye truby (Feuer, Wasser und Posaunen502, 1968) III.4.1. Entstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung 1968 befand sich Aleksandr Rou auf dem Höhepunkt seiner Popularität und wurde auch international gefeiert, nicht nur in sozialistischen Ländern: So hatte er etwa 1965 für seinen letzten Film Morozko (Abenteuer im Zauberwald, 1964) auf den Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen von San Marco verliehen bekommen.503 Den enormen Erfolg dieser Produktion konnte er mit seiner nächsten Arbeit zwar nicht wiederholen, aber auch Ogon’, voda i... mednye truby, sein zwölftes Märchen, sollte überaus wohlwollend aufgenommen werden. Paramonova ist zwar der Meinung, der Streifen enthalte teilweise „слишком много ,шума и треска’“ [„zuviel ,Lärm und Krach’“], lobt jedoch Rous Regieführung, und, so meint sie, „фильм все равно оставался интересным”504 [„trotzdem ist ein interessanter Film herausgekommen“]. Im Märchenfilmführer von Berger/Giera wird 1990 resümiert, er sei „[o]hne jeden Zweifel […] einer der schönsten und erfolgreichsten Filme […] Rous“505 – jedenfalls kann er bis heute als eines seiner meistgezeigten Werke im Fernsehen gelten, auch im deutschsprachigen Raum.

502 Der deutsche Verleihtitel ist etwas irreführend, denn truby sind Trompeten, und im Film sind auch stilisierte Fanfarentrompeten zu sehen. 503 Vgl. Paramonova 1979, S. 89. 504 Beide Zitate Paramonova 1979, S. 96. 505 Berger/Giera 1990, S. 184.

130 Der Stab der an der Produktion Beteiligten war fast derselbe wie bei Morozko – so waren etwa die Drehbuchautoren Michail Voľpin und Nikolaj Ėrdman und die junge Hauptdarstellerin Nataľja Sedych wieder mit dabei. Mit einem großen Teil des Filmtrupps hatte Rou, der ein beständiges Ensemble bevorzugte, sogar schon etliche Male zusammengearbeitet – Georgij Milljar etwa war bis dato sogar in jedem seiner Filme aufgetreten. Für Ogon’, voda i... mednye truby schlüpfte er, wie oben schon erwähnt, ein zweites Mal in die die Rolle des Kaščej Bessmertnyj, 24 Jahre nach seiner ersten Verkörperung des Bösewichts. Im Weiteren soll nun dargestellt werden, wie der Film den Stoff auf eine ganz andere Art und Weise wie sein Vorgänger handhabt, während er dabei durchaus auch Reminiszenzen auf diesen aufweist – statt patriotischem Pathos ist jedoch verspielter Humor in verschiedenen Schattierungen das zentrale Element und bestimmt den Grundton des Streifens. Kaščej agiert hier nicht als Personifikation eines abstrakten oder konkreten Übels, sondern als mit stereotyp-überzeichneten Eigenschaften ausgestatteter komischer Bösewicht. Das märchenhafte Sujet um den Raub der Heldin wiederum, bei dem der Film sich an keiner bestimmten Vorlage orientiert, dient nur als Aufhänger, um die Handlung in Gang zu bringen und den Helden auf der Suche nach seiner Liebsten in ein exzentrisches Abenteuer nach dem anderen stolpern zu lassen. Hierbei fungiert Kaščej lediglich als Stichwortgeber, indem er dafür sorgt, dass der Held darin jeweils verwickelt wird – auf die Abenteuer selbst hat er jedoch keinen Einfluss, sie haben an sich den Charakter eigenständiger Episoden, die nur lose verknüpft sind. Erzählt wird über sie bzw. die Rolle des Helden darin aber auch eine typische Initiationsgeschichte, wie sie dem klassischen Märchen wie dem Sozialistischen Realismus eigen ist – der Film weist hier durchaus didaktische Tendenzen auf, aber eine explizite, klar formulierte politische Grundbotschaft fehlt. Einzelne Elemente des Films können sogar auch als Satire auf die sowjetische Lebensrealität verstanden werden, obschon es sich im Ganzen um keinen ausnehmend systemkritischen, sondern eher apolitischen Streifen handelt. Hauptaufgabe der nun folgenden Analyse ist es entsprechend, aufzuzeigen, dass bei aller Schematik und kaum individualisierten Figuren, wie sie Märchen und Sozialistischer Realismus gemeinsam haben, der Grundkonflikt der Handlung auf einer persönlichen Ebene angesiedelt ist und die Entwicklung, die der Protagonist im Laufe des Films durchläuft, eine menschlich-moralische und keine soziale, politisch-weltanschauliche ist. Darin spiegelt er eine Tendenz wieder, die für den poststalinistischen Märchenfilm nicht untypisch ist. Neben

131 der die Figuren bestimmenden Semantik sollen die Wechselwirkungen zwischen Märchen, Humor, Satire und Wertevermittlung besonders berücksichtigt werden.

III.4.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik I.A) DAS LIEBESPAAR [00:00 – 07:39] Der Film setzt unmittelbar mit einer etwa 10 Sekunden langen Szene ein, die auch einem Horrorfilm entstammen könnte: Die junge Alenuška (Nataľja Sedych) und ihre kleine Ziege werden in einem düsteren Wald von einem grimmigen Wolf verfolgt, sie weichen vor ihm zurück – als er sie anzuspringen scheint und eine Detailaufnahme die vor Angst geweiteten Augen der Heldin einfängt, setzt der Vorspann ein. Durch diese Unterbrechung wird einerseits der Spannungsbogen gehalten, andererseits nimmt die Machart des Vorspanns den vorher gezeigten Bildern den Schrecken: Der Filmtitel erscheint in Form einer bilderbuchhaft-naiven Animation, und die Produktionsdaten begleitet fröhliche Musik – damit wird deutlich vermittelt, dass der bevorstehende Film kein düsterer, sondern ein heiterer sein wird. Das Genre wird mit dem anschließenden Erscheinen der alten Erzählerin in ihrem bunten Holzfensterchen präzisiert, die sich direkt an die Zuschauer wendet und ihnen mit formelhaften Worten zu verstehen gibt, dass nun ein Zaubermärchen gezeigt wird.506 Die folgenden Bilder eines idyllischen, lichtdurchfluteten Birkenwaldes mit einem Fluss sind eine Art Markenzeichen Rous – auch in der Einleitung zu Kaščej Bessmertnyj waren sie zum Einsatz gekommen, und singende Dompfaffen hatten auch dessen Helden Nikita auf seiner Heimkehr begrüßt. Mit diesem hat der Köhlerbursche Vasja (Aleksej Katyšev), der nun im Bild erscheint, allerdings schon vom äußerlichen Erscheinungsbild her recht wenig gemeinsam: Er ist kein breitschultriger Recke, sondern ein halbwüchsiger, dünnbrüstiger Jüngling mit verträumtem Rehblick. Sein verrußtes Gesicht gibt Aufschluss über seine Beschäftigung, der er auf einer Lichtung nachgeht. Auf diese Lichtung flüchtet nun die kleine Ziege – der sie verfolgende Wolf dagegen bleibt am Rande des dunklen Dickicht zurück, und als Vasja einen glühenden Holzscheit nach ihm wirft, trollt er sich sofort jaulend. Wenig später kommt auch Alenuška auf der Suche nach ihrer Ziege gelaufen – sie ist ebenso jung wie Vasja und mutet mit ihren großen Augen und ihrer dünnen Stimme geradezu kindlich

506 Die von Anastasija Zueva verkörperte Märchengroßmutter hatte Rou schon in Morozko eingesetzt, und sie sollte auch in seinen beiden noch nachfolgenden Filmen auftreten; davor hatte der Regisseur seine Filme von singenden Guslispielern einleiten lassen – beides sind Verfahren, die auf die mündliche Erzählsituation und den formelhaften Beginn des Volksmärchens verweisen.

132 an. Die beiden tauschen verwundert Blicke und beginnen ein unschuldiges Gespräch. Dieser kurze einleitende Filmabschnitt ermöglicht bereits eine erste semantische Charakterisierung der beiden Helden und schafft dabei die Grundvoraussetzungen für die weitere Entwicklung der Handlung. Beide offenbaren sich im Gespräch als ebenso gutmütig wie unbedarft, was sich durch ihr jugendliches Alter erklärt – weitergehend werden sie nicht individualisiert. Ihr niedriger sozialer Status wird präzisiert – er ist ein Köhler, sie eine Hirtin. Beides sind typisch märchenhafte Beschäftigungen, die mehr als symbolische Attribute denn als tatsächliche Berufe zu sehen sind: Damit wird primär auf ihre Isoliertheit von der Gemeinschaft verwiesen, sie haben weder soziale noch familiäre Bindungen und sind damit nicht nur für mögliche Abenteuer frei, sondern auch dafür, zueinander in Beziehung zu treten.507 Als Alenuška Vasja dann einen schüchternen Kuss gibt, wird damit ,kindgerecht’ angedeutet, dass sie nun nicht mehr gänzlich frei, sondern eine – quasi-familiäre – Liebes- Bindung eingegangen sind: Es ist diese semantische Sphäre, die den weiteren Verlauf der Ereignisse für sie beide bestimmen soll. Ihre sonstige Freiheit bleibt davon unangetastet, und damit steht auch ihre Lokalisierung im Einklang: Anders als in Kaščej Bessmertnyj, wo der Wald das positive Heimatkonzept und die entsprechende räumliche wie emotionale Zugehörigkeit der Helden verdeutlichte, befinden sich Vasja und Alenuška eher zufällig, sozusagen von Berufs wegen dort, nichts deutet darauf hin, dass sie daran gebunden sind. Es handelt sich hier vielmehr um einen offenen, herrenlosen und damit dynamischen Raum, der sowohl positive als auch negative Züge trägt: Es gibt nicht nur die freundliche, helle Lichtung, sondern zum Wald gehört genauso auch das bedrohliche dunkle Dickicht, in dem der Wolf Alenuška und ihre Ziege eingangs verfolgt hatte. Der Wolf aber, zu dem zwischenzeitlich geschnitten wird, ist kein gewöhnliches Raubtier, sondern ein Werwolf, der nun menschliche Gestalt annnimmt und Rache schwört, ehe er sich in Luft auflöst. Damit wird das drohende Unheil bereits angedeutet – der Werwolf jedoch ist nur der Handlanger eines anderen numinosen Bösewichts, der im folgenden Filmausschnitt näher vorgestellt wird.

I.B) DER BÖSEWICHT [07:39 – 16:05] Der lyrische Grundton, der die Darstellung des Liebespaars bestimmte, weicht nun breit ausgespielter Komik, die das Märchenhaft-Entrückte des Schauplatzes und der Figuren mit anachronistischen Anspielungen auf zeitgenössische Phänomene verknüpft. Dies beginnt 507 Zur Funktion der Berufe von Märchenhelden vgl. auch Horn 1983, S. 31-35, siehe daneben Lüthi 1974, S. 52 zur Isolierung des Märchenhelden als Voraussetzung für Kontaktfähigkeit.

133 bereits, als man in einer Totale die Baba-Jaga in ihrem Mörser über den blauen Wolkenhimmel fliegen sieht und dabei knatternde Motorengeräusche zu hören sind. Da auf dem Platz vor Kaščejs Höhle, zu dem sie unterwegs ist, schon allerlei weitere überdimensionale Mörser, Besen und sonstiges Fluggerät stehen, muss Kaščejs Diener sie, nachdem sie um ,Landeerlaubnis’ angefragt hat, mit winkenden Handbewegungen in eine ,Parklücke’ einweisen: Während er dabei halbtotal in Aufsicht gezeigt wird, sieht man die Baba-Jaga aus der Untersicht in Nah- und Großaufnahmen mit ihrem Besen wie mit einem Lenkrad manövrieren, ehe sie schließlich landet und dabei den Diener mit ihrem Mörser fast umfährt. Aus dem folgenden Dialogaustausch zwischen den beiden, der gespickt mit komischen Wortspielen ist, geht hervor, dass die Baba-Jaga Kaščejs Schwiegermutter in spe ist – seine Hochzeit mit ihrer Tochter steht kurz bevor. Die Komik besteht hier nicht nur in dem verfremdenden Spiel mit den beiden Folklorefiguren, die im Volksmärchen fast nie zusammentreffen, sondern auch darin, dass sie von ein und demselben Schauspieler gespielt werden508: Georgij Milljar brilliert hier in einer Doppelrolle – die Baba-Jaga mit langen grauen Zottelhaaren und Fetzengewand, die im tiefsten Bass spricht, hatte er schon in Vasilisa Prekrasnaja (Die schöne Wassilissa, 1939) wie auch in Morozko verkörpert. 1939 hatte er in seiner Darstellung auf Humor verzichtet und die düsteren Seiten der Hexengestalt hervorgehoben – die Ikonographie der Figur änderte sich seither nicht wesentlich, doch von Morozko an spielte er die Baba-Jaga als eine schrullig- exzentrische Alte.509 Kaščej wiederum, der in der darauffolgenden Szene erscheint, ähnelt trotz Darstellergleichheit nicht einmal ikonographisch seinem Vorgänger aus Kaščej Bessmertnyj: Der zitterige glatzköpfige Greis hat äußerlich nichts auch nur im Entferntesten Diabolisches an sich. Seine steife schwarze Militäruniform, deren weiße Quastenstreifen sehr vage an ein Skelett erinnern, samt Pickelhaube lassen ihn eher aufgeblasen als autoritär erscheinen, was Milljar in seinem körperlich-mimischen wie stimmlichen Spiel noch betont. Die Mise-en-scène in seinem Reich unterdes wird von in grellbunten Farben gehaltenen Bauten und Requisiten dominiert, die mit ihren ornamentalen Knochen, Totenköpfen und Fratzen wie eine karikaturistisch-spielzeughafte Version der expressionistisch angehauchen Kulissen aus dem ersten Film wirken.

508 Filmisch wird dies denkbar einfach gelöst, indem die beiden Figuren nie im selben Bildausschnitt zu sehen sind. 509 Obwohl sie komisch und wenig bedrohlich wirkt, agiert sie in Morozko wie auch dem späteren Film Zolotye roga (Der Hirsch mit dem goldenen Geweih, 1972) zumindest funktional als Bösewichtin – in Ogon’, voda i... mednye truby dagegen kann sie wenn schon nicht als klar positive, so doch jedenfalls als neutrale Figur gelten.

134 Die Hochzeitsszene weist unverkennbar Züge einer Typen- und Sittenkomödie auf: Unter den Gästen befinden sich, wie die Baba-Jaga bemerkt, „ведьм, чертей со всех волостей, всяких мастей“ [„Hexen und Teufel von überallher und jeglicher Couleur”] – dabei scheint sie sich durchaus auch auf die gesellschaftliche Herkunft zu beziehen, denn als die Gäste dem Brautpaar Spalier stehen, sieht man auf der einen Seite überwiegend vornehme Hexen mit Turmfrisuren, Pelzkrägen und federbesetzten Fächern, auf der anderen haben sich dagegen vor allem Hexen mit Kopftüchern und braunen dörflichen Kittelkleidern versammelt. Die genaue Hierarchie ist kaum durchschaubar, doch Standesdünkel spielen klar eine Rolle: Es liegt auf der Hand, dass Kaščej sich ,unter seinem Stand’ zu vermählen gedenkt – die Braut erwidert unwillkürlich die Verbeugung der Gäste, und die Hexen mit den Turmfrisuren echauffieren sich über ihre ungeschliffenen Manieren und tuscheln über die zornige Alte, die ihnen über den Mund fährt und sich dann auch noch als die Schwiegermutter herausstellt. Kaščej selbst wirkt im Übrigen, im Gegensatz zu seiner Braut, wenig glücklich über die bevorstehende Verbindung: Er scheint sich vielmehr resigniert in sein Schicksal zu beugen und bedenkt seine grünhaarige, langzähnige Zukünftige mit recht abschätzigen Seitenblicken. Schon bald jedoch bietet sich ihm ein Vorwand, sie wieder loszuwerden: Der Drache Zmej Gorynyč lässt als Hochzeitsgeschenk zwei Äpfel der Jugend überbringen510, die denjenigen, der sie isst, um 100 Jahre verjüngen, und da die Braut mit ihren gerade mal 104 Jahren damit zum Kleinkind würde, schlingt Kaščej, von der Kamera schief und in Zeitraffer eingefangen, gierig alle beide hinunter. Seine filmisch durch Überblende gelöste Verjüngung wird von den Gästen mit erstaunten Ausrufen bedacht – auch wenn sie sich für den Filmzuschauer darauf beschränkt, dass auf seiner Glatze nun dünner Flaum sprießt und ihm ein schwarzes Zwirbelbärtchen und ein zweites Paar Augenbrauen wächst. Seine Braut aber ist ihm nun zu alt: Er sagt sich von ihr los, und sie flüchtet heulend in die Arme ihrer Mutter. Als diese empört erklärt, er habe ja immerhin die Mitgift angenommen, wird angedeutet, warum er in die Verbindung überhaupt erst eingewilligt hat. Für die semantische Charakteristik Kaščejs ist dieser Ausschnitt sehr aufschlussreich. Seine Übernatürlichkeit ist hier im Grunde rein dekorativ und beschränkt sich auf die phantasievolle Ausstattung, ansonsten wirkt er selbst weniger wie ein numinoser Bösewicht als vielmehr wie eine vermenschlichte Karikatur eines eitlen komischen Alten. Seinem hohen

510 Dieses Motiv, hier humoristisch verfremdet, ist in der ostslavischen Folkloretradition vor allem aus dem Märchen Skazka o molodce-udaľce, molodiľnych jablokach i živoj vode (,Das Märchen vom kühnen Jüngling, den Äpfeln der Jugend und dem Wasser des Lebens’) als magische Kur bekannt, um die ein alternder und kranker Herrscher seine Söhne schickt, siehe Af. 171, 174, 176.

135 gesellschaftlichen Status und seiner Macht stehen sein greises Alter und seine anscheinende Verarmung gegenüber. Die beiden letzten Eigenschaften werden jedoch revidiert: Die Verjüngung scheint zwar in seiner Einbildung von sehr viel bedeutenderem Ausmaße zu sein als in Wirklichkeit, aber das Materielle ist ganz offensichtlich für ihn nun kein Thema mehr – an eine Rückgabe der Mitgift denkt er nicht, sondern lässt vielmehr erst Braut und Schwiegermutter, dann auch sämtliche Gäste davonjagen. Nun ist es freilich nicht zur ursprünglich geplanten Veränderung seines familiären Status gekommen – er ist nach wie vor ledig und ohne Braut, und dem muss nun Abhilfe geschaffen werden. Gesellschaftlich-soziale Präferenzen scheint Kaščej allerdings nach wie vor nicht zu haben – es ist ihm überhaupt augenscheinlich vollkommen egal, wer seine Braut ist, solange sie nur jung ist und damit seiner eigenen neu erworbenen ,Jugendlichkeit’ entspricht. Die Wahl fällt nur deshalb auf Alenuška, weil der rachsüchtige Werwolfdiener sie vorschlägt – bei allen Unterschieden zu der Stoffbearbeitung in Kaščej Bessmertnyj gibt es hier zu diesem Streifen also insofern eine Parallele, als dass die Heldin eher willkürlich und nicht etwa aus Interesse des Bösewichts an ihr persönlich entführt wird.

I.C) DIE SCHÄDIGUNG [16:05 – 27:20] Für Vasja und Alenuška scheint unterdes ein Feiertag bevorzustehen, denn sie haben ihre zerlumpte Alltagskleidung abgelegt und sind nun in einfache, aber adrett-gepflegte Festtagsgewänder gehüllt. Eine Gauklertruppe zieht durch den Wald und ruft das Volk zum nahgelegenen Jahrmarkt – ein Vergnügen, von dem die beiden allerdings nur träumen können, denn sie haben nicht das nötige Geld dafür. Vasja ist es, der seinen Unwillen darüber zum Ausdruck bringt und mit seinem gesellschaftlichen Status nicht zufrieden scheint, während Alenuška ihn beruhigt, denn das Träumen vom Jahrmarktvergnügen ist ihr genug. Am Ende ist es aber doch sie, die sich verführen lässt: Dreimal erscheint den jungen Leuten eine prächtige Troika, erst mit Braunen, dann mit Rappen und schließlich mit Schimmeln bespannt, und schließlich kann Alenuška nicht widerstehen, auf das Angebot des Kutschers – des Werwolfs in Verkleidung – zur Mitfahrt einzugehen, denn gerade eine Troikafahrt ist ihr größter Traum. Die Kehrseite des Waldes als weitgehend offener Raum, seine Ungeschütztheit, wird ihr jedoch zum Verhängnis: Die Troika stürmt mit ihr, aber ohne Vasja davon – nach einer rasanten Verfolgungsjagd mit viel Kamera- und Bildbewegung erreicht sie ein weites Feld, einen Raum, der gänzlich grenzenlos und damit noch weniger geschützt ist als der Wald. In

136 einer Panoramaeinstellung sieht man zunächst, wie das Gefährt sich in den Himmel erhebt und in den Wolken verschwindet, ehe inmitten der Landschaft Vasja in extremer Vogelperspektive eingefangen wird, der die Arme verzweifelt nach oben streckt und nach Alenuška ruft, deren Hilfeschreie unterdes bereits verhallt sind. Die gesamte Episode ist äußerst märchenhaft aufgebaut: Sowohl die dreimalig versuchte Verführung als auch die unfreiwillige Komplizenschaft Alenuškas bei ihrer eigenen Entführung haben Parallelen in zahlreichen Volksmärchen511, wenn sie auch im Kaščej-Typ nicht allzu verbreitet ist. In semantischer Hinsicht äußerst interessant ist vor allem die nun stattfindene Konfrontation Alenuškas mit Kaščej, worin Rou merklich ironischen Bezug zu der entsprechenden Szene in Kaščej Bessmertnyj nimmt. Während darin der Bösewicht sich seine Gefangenen mit Drohungen gefügig machen will, versucht er es hier, indem er sie mit seinem Reichtum beeindruckt; und im Gegensatz zu Mar’ja Morevna begegnet Alenuška ihm nicht mit Abscheu, sondern lediglich mit Befremdung. Auch sind ganz andere semantische Sphären relevant – zum einen spielt der soziale Status und das damit verbundene Selbstverständnis eine Rolle: Kaščej ist von hohem Status und hebt dies besonders hervor – so spricht er etwa Alenuška als Elena an, benutzt die bildungssprachliche statt der volkstümlichen Form ihres Namens. Reichtum ist für ihn mit Ansehen verbunden, und er geht selbstverständlich davon aus, dass dies auch für Alenuška so ist. Dieser aber ist die Bedeutung, die ein Baum mit einem Stamm aus Silber und Blättern aus Gold haben soll, vollkommen unverständlich, was insbesondere auch durch Nah- und Großaufnahmen ausgedrückt wird, die ihren unschuldig- naiven Gesichtsausdruck einfangen. Wie Mar’ja Morevna erinnert sie sich im Dialog an die ihr vertraute Umgebung, der sie entrissen wurde; die verwendete Symbolik ist sehr ähnlich, doch der Gesamtkontext ist ein ganz anderer – die Heimatverbundenheit ist hier durch reine Naturverbundenheit ersetzt: А л е н у ш к а : Мне наши деревья больше нравятся. К а щ е й : Какие такие ваши? А л е н у ш к а : Березки белоствольные. И листочки на них каждый год новенькие. [A l e n u š k a : Unsere Bäume gefallen mir besser. K a š č e j :Was soll das heißen, eure? A l e n u š k a : Die Birken mit ihren weißen Stämmen. Jedes Jahr tragen sie neue Blätter.] Der materielle Wert von Gold und Silber bedeutet ihr also nichts, ihr fällt nur die Künstlichkeit des Baums auf, der sie die Natürlichkeit echter Bäume vorzieht. Ihre Naivität

511 Eines der bekanntesten Beispiele aus dem ostslavischen Raum dürfte wohl das Märchen vom Jungen und der Hexe sein (SUS 327 C,F), worin die Schurkin den Helden ebenfalls zu entführen versucht, es ihr aber erst beim dritten Mal gelingt (siehe Af. 105-112). In Propps Morphologiemodell entsprechen die beiden Handlungen den Funktionen VI und VII, podvoch (,Falle’) und posobničestvo (,Komplizenschaft’), siehe Propp 1928, S. 39-40.

137 wird hier mit Unverdorbenheit assoziiert und ist dadurch positiv konnotiert, während Kaščejs Gleichsetzung von privatem Reichtum mit Ansehen negativ besetzt ist und sein Versuch, seine Gefangene damit zu beeindrucken, als plumpe Demagogie vorgeführt wird. Dieses Moment ist allerdings nur vage politisiert, da Alenuška Kaščejs annähernd ,kapitalistischer’ Gesinnung keine explizit ,sozialistische’ entgegensetzt: Den sozialen (bzw. Klassen-)Unterschied nimmt sie schließlich nicht bewusst, sondern eben nur instinktiv wahr und lehnt Kaščejs damit verbundene Einstellung ebenso instinktiv ab, indem sie sich von seinem Reichtum nicht beeindrucken lässt. Auch seine Übernatürlichkeit bzw. Numinosität lässt sie im Übrigen unbeeindruckt – dass er weder alt noch jung sei, sondern ewig, hält sie nicht davon ab, ihn, zu seiner großen Empörung, auch weiterhin als Großväterchen (deduška) zu bezeichnen. Es ist also der Altersunterschied, der für sie vor allem anderen die entscheidene Rolle spielt: Sie sieht in Kaščej einfach einen alten Mann. Was hinter seiner Aufforderung an sie steckt, Vasja zu vergessen, begreift sie daher zunächst gar nicht – die Möglichkeit, dass der Alte sie als potentielle Braut sehen könnte, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Sie gibt zu verstehen, dass sie in ihrer Situation weniger die Gefangenschaft an sich, die sie noch nicht so recht zu begreifen scheint, als vielmehr die erzwungene Trennung von Vasja als am meisten störend empfindet. Nach ihrem missglückten Fluchtversuch, bei dem nur ihre Ziege entfliehen kann, macht Kaščej ihr dann seine Heiratsabsichten unmissverständlich klar und versucht ihr nun das Leben, das sie im Reichtum führen würde, mit Worten schmackhaft zu machen. Die Wortwahl erinnert dabei wiederum an die analoge Konfrontation Kaščej – Mar’ja, doch Alenuška, die nun die reine Bosheit Kaščejs erkennt, leistet auf ganz andere Weise Widerstand: Sie reagiert mit den Mitteln eines ungerecht behandelten Kindes, beißt die Diener und streckt Kaščej die Zunge heraus. Die Gegenreaktion ist entsprechend: Wie ein ungezogenes Kind, das durch Hausarrest zur Raison gebracht werden soll, lässt Kaščej sie in seinen Kerkerturm einsperren, ein merkwürdiges Gebäude in Form eines Totenkopfes in einer Felslandschaft, das eine schiefe Totalaufnahme von außen einfängt. Ihr kindliches Benehmen aber lässt seinen Wunsch, sie zu heiraten, noch widersinniger erscheinen, und er erinnert in seiner Position als verhinderter Bräutigam noch stärker an den komischen Alten der klassischen Typenkomödie. Damit im Einklang steht auch die Strategie, die er im Weiteren verfolgt: Da ihm der einzige gewichtige Grund für Alenuškas Ablehnung ihm gegenüber ihre Verbindung zu Vasja zu sein scheint, will

138 er den Rivalen aus dem Weg räumen lassen. Die Ausführung dieses Planes übernimmt er allerdings nicht selbst, sondern überlässt sie seinen drei Werwolfdienern, die ihre Gestalt beliebig ändern können. Vasja sucht unterdes im Wald weiter nach seiner Gefährtin – allein die Liebe zu ihr, seiner zukünftigen Braut, dient ihm als Motiv, es wird nur die familiäre Ebene berührt: Er weiß ja nicht einmal, wer eigentlich hinter der Entführung steckt, geschweige denn, was dessen Motivation darstellte. Die drei Versuche, ihn zu beseitigen, werden für Vasja nichtsdestoweniger zu Charakterproben – er kommt in drei verschiedene Zarenreiche und muss sich dort jeweils, wie schon angedeutet, in einer Art Initiationsritual bewähren.

II.A) ERSTE PRÜFUNG: FEUER [27:20 – 40:54] Die im folgenden Abschnitt auftauchenden Bilder des brennenden Holzpalastes weisen für sich gesehen visuelle Parallelen zu Kaščej Bessmertnyj auf, doch hier haben sie keine emotional-aufwühlende, sondern eine komisch-groteske Funktion. Sie werden über ein Cross Cutting mit Bildern von der Feuerwehrtruppe verknüpft, die sich zum Ausrücken bereitmacht. Vor allem mit den Mitteln slapstickhafter körperlicher Komik wird ihre Inkompetenz und ineffiziente Arbeitsweise vorgeführt: Bevor sie zur Tat schreiten können, muss sich der chaotische Haufen erst einmal formieren. Das Ausrücken selbst wird dabei immer weiter verzögert, und unterdes wütet die Feuerbrunst fröhlich weiter. Obwohl die Truppe letztlich erst am Einsatzort erscheint, als dort schon nichts mehr zu retten ist, werden sie vom Zaren „за отличную службу и наружный вид“ [„für den hervorragenden Dienst und das äußere Erscheinungsbild”] mit Wodka und Geschenken belohnt und können erstmal in die Raucherpause gehen. Die überzogene Darstellung der Truppe kann sicherlich einfach als stereotyp- humoristisches Klischee gelten; es kann hierin aber auch ein satirischer Seitenhieb auf eine zu der Zeit in der Sowjetunion verbreitete Alltagserscheinung gesehen werden: Da „die Entlassung von Arbeitskräften und die Schließung von Betrieben wegen mangelnder Effizienz im System nicht vorgesehen [war]“512, hatten ineffiziente und inkompetente Arbeiter, wie die Feuerwehrtruppe im Film, wenig Konsequenzen zu befürchten, wenn sie nur den Anschein wahrten, zu arbeiten.513 Hier eine Kritik am Wirtschaftssystem hineinzulesen, wäre sicherlich

512 Neutatz 2013, S. 415. 513 Der gesicherte Arbeitsplatz war sicherlich keine grundsätzlich negative Erscheinung des Sowjetsystems, da die Bürger sich dadurch nicht um ihre berufliche Existenz sorgen mussten, vgl. dazu ebd., S. 431 – sie konnte aber durchaus auch negative Auswirkungen auf das Niveau der Arbeitsleistung haben.

139 gewagt – dass sich hier dessen Auswüchse in überspitzter Form wiederspiegeln, ist allerdings nicht gänzlich von der Hand zu weisen, auch wenn diese Lesart keineswegs zwingend ist. Der Zar und sein Hofstaat sind ebenfalls als überzeichnet-karikaturistische Stereotypen angelegt, deren Darstellung aber allein der Erzeugung von vordergründiger grotesker Komik verpflichtet zu sein scheint: Der gesamte Hausstand wurde in Sicherheit gebracht, doch die Zarewna hat man vergessen. Während die Feuerwehr nach wie vor auf sich warten lässt und ihr Vater noch mit seinen Höflingen herumstreitet, wer sie retten soll, erscheint Vasja, von allen unbemerkt, und stürzt sich nach nur kurzem Überlegen mit dem Zarenmantel als Decke in die Flammen. Tatsächlich bringt er darin kurz darauf die zappelnde Zarewna heil heraus. Durch seine Tat wird seine semantische Charakteristik um nachahmenswerte Eigenschaften im didaktischen Sinne ergänzt, einerseits um Tapferkeit, andererseits um selbstlose Hilfsbereitschaft. Mehr gute Eigenschaften stellt er an dieser Stelle nicht unter Beweis – die Aussicht auf eine Heirat mit der dicken, nasebohrenden und sich äußerst launisch gebenden Zarewna und auf die halbe Bibliothek des Zaren als Mitgift, die aus genau einem halben Buch besteht, kann kaum als ernsthafte Verlockung gelten, und dass er dies ablehnt entsprechend kaum als Zeichen seiner besonderen Charakterstärke und Treue, auch wenn er es unter der Begründung tut, dass er schon eine Braut habe. Die Ablehnung dient hier vielmehr lediglich als willkommener Vorwand für die drei ,alten Frauen’, die verkleideten Werwolfdiener, dem Zaren einzureden, Vasja für eine solche Majestätsbeleidigung zu bestrafen und in einem Sack ins Wasser werfen zu lassen.

II.B) ZWEITE PRÜFUNG: WASSER [38:42 – 56:22] Kaščej kann unterdes nicht Alenuškas Widerstand brechen, aber ihr immerhin einen Schrecken einjagen, indem er ihr mit einem Zauberteller zeigt, wie ihr Liebster ins Wasser gestoßen wird. Hier jedoch erwartet diesen schon seine nächste Bewährungsprobe, denn er kommt als Ertrunkener (utoplennik) ins Reich des Meereszaren. Die dortigen Szenen weisen eine originelle filmische Spielerei auf – bis auf den Mittel- bzw. Hauptteil, der im mit teils übergroßen stilisierten Korallen, Muscheln und sonstigem Meeresgut phantasievoll dekorierten Thronsaal spielt, ist über das Bild der ebenso phantasievoll dekorierten ,Außenkulisse’ per Überblendung die Oberfläche von leicht bewegtem Wasser gelegt, wodurch ein verschwommener ,Unter-Wasser-Effekt’ entsteht. Die „grüne Schwermut“ (zelenaja toska), an der der Meereszar leidet, weist ein

140 erkennbares satirisches Potential auf – das man wiederum auf die Lebensrealität in der Sowjetunion beziehen könnte: Sie ist vollauf verständlich, denn die ertrunkenen Jungfrauen, die ihm geopfert wurden und die er seither gefangenhält, bieten ihm wahrlich kein abwechslungsreiches Unterhaltungsprogramm. Sie können anmutig durch den Saal laufen und genau ein Lied zum Besten geben – ausgerechnet den volkstümlichen Schlager Kalinka, der bei Erscheinen des Films schon lange als Inbegriff russischer Folklore zum internationalen Klischee geworden war. Die Hofratgeberin jedoch versucht unbeirrt, den Zaren von der Vielfalt des Repertoires der Mädchen zu überzeugen – die darin besteht, dass sie nicht nur von rechts nach links, sondern auch von links nach rechts laufen können, und dass sie das Wort Kalinka auch durch Malinka ersetzen können: Eine plumpe Scheinvielfalt also, die der grauen Eintönigkeit keinen Abbruch tut. Vasja, der nun vor dem Zaren erscheint, scheint dessen Hoffnungen, dass er ihm die Langeweile zerstreuen könne, zunächst nicht zu erfüllen – kennt er doch auch nur Kalinka und Malinka, auch wenn er sich das eine Mal mit einer imaginierten Balalaika, das andere Mal mit einem imaginierten Akkordeon begleitet. Doch das Buch, das ihm dabei aus dem Gürtel fällt – die „halbe Bibliothek“ – erregt die Neugier des Zaren, erst recht, als er erfährt, was es mit dem Lesen auf sich hat: Das ,Märchen’ von Major Pronin514, das Vasja nun zu lesen beginnt, fesselt schließlich seine Aufmerksamkeit. Auch hier wird Vasjas Handeln weitgehend von den Umständen bestimmt, da ihm das Buch rein zufällig herunterfällt. Er muss aber immerhin nicht mehr nur auf die Umstände reagieren, sondern sie für sich zu nutzen wissen: Nur, wenn die ertrunkenen Jungfrauen wieder auf die Erde zurückkehren dürfen, will er weiter vorlesen. Hiermit stellt er einerseits erneut seine selbstlose Hilfsbereitschaft unter Beweis, andererseits erstmals seine Listigkeit – eine Art geistiges Pendant zu der Tapferkeit, die er vorher bewiesen hatte. Ihm wird dann zwar vom Zaren eine der Jungfrauen zur Frau angeboten, doch dies ist erneut keine tatsächliche Versuchung – denn die Mädchen erzählen schluchzend, sie hätten schon Bräutigame auf der Erde, so dass Vasja gar nicht Alenuška bräuchte, um aus Gutmütigkeit auf sie zu verzichten. Die Jungfrauen werden freigelassen, doch Vasja will der Meereszar nicht gehen lassen – denn wer soll ihm denn sonst aus dem Buch vorlesen? Selbst ist er nämlich des Lesens

514 Eine weitere anachronistische Anspielung: Major Pronin ist der Held einer Reihe von seit 1939 erschienenen äußerst populären Werken des Schriftstellers Lev Ovalov. Es handelt sich um einen sowjetischen Superagenten, der – nicht unähnlich James Bond – haarsträubende Spionageabenteuer erlebt. Er wurde auch zu einer Art moderner Folklorefigur und zum Gegenstand zahlreicher Anekdoten und humoristischer Erzählungen.

141 unkundig. So bleibt dem Gefangenen nichts anderes übrig, als ihm das Lesen beizubringen. Diese kurze Episode verpasst der Komik eine leicht rührende Note, da der Zar sich als gelehriger und enthusiastischer Schüler zeigt und Vasja zum Abschied bittet, doch bei Gelegenheit noch einmal zu ertrinken, damit sie zusammen lesen und sich unterhalten könnten. Er lässt ihn als Geschenk so prächtig wie einst Sadko515 einkleiden. Vasja scheint sich in diesem neuen Gewand durchaus zu gefallen – damit werfen die Ereignisse der folgenden Episode bereits ihre Schatten voraus.

II.C) DRITTE PRÜFUNG: DIE TROMPETEN DES RUHMS [56:22 – 01:12:05] Vasjas letztes Abenteuer ist für ihn das eigentlich entscheidende und charakterbildende, denn hier wird er, im Gegensatz zu den vorherigen Episoden, nicht mit seinen positiven, sondern seinen negativen Eigenschaften konfrontiert. Sie bringen ihn erstmals von seinem eigentlichen Ziel ab, was wiederum für Alenuška Konsequenzen zu haben droht. Erwartet wird der Retter der Jungfrauen vom dritten Zaren auf seinem Thron, in einer Halbnahe eingerahmt von Zarin und Zarewna, alle drei in kunstvoll gearbeiteten, geradezu überladenen Prunkgewändern in grell leuchtenden Farben. Eine Totale zeigt, wie er die Stadt betritt, und auf einen Wink des Zaren beginnt der pompöse Empfang: Mit Trompeten werden Fanfaren geblasen, die versammelten Gelehrten eilen auf Vasja zu und nehmen ihn in ihre Mitte, unterdes laufen Blüten streuende junge Mädchen ins Bild. Hinter dem Zarenthron tauchen nun die drei Werwölfe auf, diesmal als Gelehrte verkleidet, um dem Zaren unter Schmeicheleien einzureden, Vasja sei doch genau der richtige Bräutigam für seine Tochter. Der Zarenfamilie scheint dies ohnehin in den Plan zu passen. Vasja, der nun in Nahe gezeigt wird, strahlt unterdes über das ganze Gesicht: Die Ehrenbekundungen gefallen ihm sichtlich. Ein Blick auf die hübsche Zarewna wiederum, die in Großaufnahme eingefangen wird, sorgt bei ihm für ein fast schon lüstern zu nennendes Lächeln. Nun hält der Zar eine Rede, in der er den Neuankömmling mit einem Superlativ nach dem anderen bedenkt – er ist der Stärkste, der Weiseste, der Bescheidenste und, nach Einflüsterung durch die Zarewna, auch der Schönste. Bei jedem Lob wird zu Vasja geschnitten, dessen Gesichtsausdruck von Mal zu Mal arroganter, überheblicher und selbstverliebter wird.516 Als ihm nach der Rede unter erneuten Fanfaren und Blütenregen ein

515 Dies ist ein weiterer intertextueller Verweis. Der Bylinenstoff über den Novgoroder Guslispieler Sadko, der ins Reich des Meereszaren kommt, wurde in einem anderen Märchenfilm verarbeitet, Aleksandr Ptuškos Sadko (Lockendes Glück/Sadkos Abenteuer, 1952). 516 Laut der Besprechung in Berger/Giera 1990 ist in dieser merklichen Veränderung vor allem eine Leistung des Maskenbildners zu sehen, vgl. dort S. 186.

142 geschmückter Ehrenkranz um den Hals gelegt wird, ähnelt sein Gesicht bereits einer starren Maske. Er zeigt damit eine äußerste Empfänglichkeit für Schmeicheleien. Diese Neigung scheint ihm genauso instinktiv zueigen wie die positiven Eigenschaften – er reagiert auch hier nur auf die Umstände: Als der Zar schließlich mit der Zarewna zu ihm tritt und die Hände der beiden jungen Leute ineinander legt, lässt er dies willig mit sich geschehen. Die Werwölfe triumphieren, und als sie in der nächsten Szene bei Kaščej auftauchen, gibt er jedem von ihnen einen Kuss auf die Wange und führt mit ihnen ein Freudentänzchen auf: Der Rivale ist beseitigt – dank der Trompeten des Ruhms. Die groteske Szene um den in eine Schlägerei ausartenden Dauerstreit der weißbärtigen mit den rotbärtigen Weisen, ob ein Stock nun zwei Enden oder zwei Anfänge habe, ist ein komischer Einschub, der daneben zeigt, wie sehr Vasja sich korrumpieren hat lassen. Harfenspieler und blütenstreuende Mädchen begleiten ihn auf Schritt und Tritt, ständig wird er nur mit den ihm zugeschriebenen Superlativen angesprochen und seine Erklärung, wo beim Stock Anfang und Ende seien, wird prompt und ohne Umschweife als genial gepriesen – diese übermäßige Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, nimmt er jedoch nun schon selbstverständlich hin, was sein behäbiger Gang, sein hochnäsiger Blick und seine monoton- gelangweilte Sprechweise illustrieren. Der unverhoffte und ungeplante gesellschaftliche Aufstieg – er hat ja die Jungfrauen nicht etwa aus Kalkül, sondern aus Selbstlosigkeit gerettet – und die damit einhergehende bevorzugte Behandlung haben als Folge in ihm Eitelkeit und Überheblichkeit hervorgerrufen. Wenig später steht seine Heirat mit der Zarewna bevor, und Kaščej kann Alenuška die Untreue ihres Liebsten demonstrieren, indem er ihr mit dem Zauberteller die beginnenden Hochzeitsfeierlichkeiten zeigt. Er ist sich gänzlich sicher, dass sie ihn nun nicht mehr abweisen wird – hat in seiner Verblendung immer noch nicht verstanden, dass sie auch, wenn es Vasja nicht gäbe, den alten Mann nicht heiraten würde, der sie entführt hat. Alenuška zeigt sich entsprechend zwar zutiefst getroffen über Vasjas Untreue, aber gibt sich nur umso kämpferischer gegenüber Kaščej: Sein erwartungsvolles Grinsen beantwortet sie damit, dass sie ihn zur Türe hinausschiebt und sie hinter ihm zuschlägt. Erst jetzt begreift er, dass sie ihm grundsätzlich abgeneigt ist und sie sich ihm freiwillig nicht hingeben wird. In letzter Konsequenz bringt er nun seine Numinosität zum Einsatz – der komische alte Schurke wird dabei erstmals zum wirklich bedrohlichen Bösewicht, was sich filmisch eindrucksvoll äußert: Er erscheint auf einmal aus dem Nichts vor der verschlossenen Tür, schlägt seinen roten Umhang zurück, und Alenuškas schreckgeweitete Augen, von gleißend

143 rotem Licht beschienen, werden in Detailaufnahme gezeigt. Während er in der Halbtotale langsam auf sie zuschreitet und sie zurückweicht, schwillt die Musik dramatisch an. Es wird ganz dunkel im Raum, Kaščejs Augen jedoch beginnen zu glühen. Der zurückgeworfene Umhang ebenso wie die im Dunkeln glühenden Augen sind wiederum visuelle Reminiszenzen an den Kaščej aus dem 1944er-Film – und tatsächlich wirkt der Böse hier für einen Moment ebenso diabolisch wie sein Vorgänger. Alenuška aber schrumpft per Trickaufnahme zusammen und verwandelt sich in eine Kröte. Doch seinem eigentlichen Ziel ist Kaščej damit keinen Schritt näher, also ist ihm seine numinose Macht nicht wirklich von Nutzen. Hilfe ist unterdes unterwegs: Alenuškas kleine Ziege, die aus Kaščejs Reich entkommen ist, war den ganzen Film über immer wieder in kurzen Einstellungen auf ihrer Suche nach Vasja zu sehen – an den selben Orten wie dieser, aber immer ein kleines bisschen zu spät. Nun aber ist sie durch das Tor des Zarenschlosses geschlüpft. In dessen Inneren ist unterdes das Hochzeitsfestmahl in vollstem Gange. Während die Zarewna glücklich lächelt, ist Vasjas Blick gleichgültig und teilnahmslos. Dies ändert sich erst, als auf einmal die Ziege auftaucht, kurioserweise auf einem Speisetablett inmitten von Salat. Der von ihr gemeckerte Name Alenuškas sorgt für eine Veränderung in Vasjas Gesicht, in einer Großaufnahme eingefangen – seine blauen Augen leuchten auf, er beginnt zu lächeln: Die Erinnerung kehrt zurück. Die verlorene Erinnerung an die Geliebte ist im Übrigen ein verbreitetes Märchenmotiv, doch ist sie üblicherweise mit einer Form von Zauber verbunden, während Vasja nicht auf diese Weise entschuldigt ist: Es ist eine Charakterschwäche, die hier angeprangert wird und durch die er Alenuška verdrängt zu haben scheint. Entsprechend kommt die Erinnerung einer Art Selbsterkenntnis gleich – Vasja wird sich bewusst, wohin ihn seine negativen Neigungen geführt haben, und kann sich dadurch ihrer entledigen. Dies geschieht freilich in sehr vereinfachter Form – ohne jeden Zwischenschritt: Er ist sogleich bereit, der Ziege zu folgen, und rennt mit ihr über die gedeckte Tafel davon – nicht, ohne die Zarewna rasch um Verzeihung gebeten zu haben. Wie zu erwarten sind weder sie noch ihre Eltern von dem plötzlichen Sinneswandel begeistert, und Vasjas Flucht artet in einen 3- minütigen actionreichen Tumult voller Tricks und slapstickhafter Momente aus, auf dessen Höhepunkt der Zar in ein Weinfass fällt und mit einem kugelrunden Bauch daraus wieder auftaucht, da er es gänzlich ausgetrunken hat. Vasja aber entkommt aus dem Saal, schiebt den Riegel vor die Eingangstür und läuft mit der Ziege davon. Mit seiner zielstrebigen Flucht gegen alle Widerstände hat er erstmals selbst aktiv eine bewusste Entscheidung getroffen.

144 III. SIEG ÜBER DEN BÖSEWICHT [01:12:05 – 01:20:58] Nach den episodenhaften Abenteuern, die frei fabulierte Erweiterungen darstellen, kehrt der letzte Filmabschnitt zum traditionellen Kernsujet des Kaščej-Märchens zurück: Dazu gehört in vielen Varianten, wie schon angedeutet, dass es die Baba-Jaga ist, die den entscheidenden Hinweis gibt, wie Kaščej zu überwinden ist. Das ist auch im Film der Fall – Vasja trifft an der Grenze zu dessen Reich auf sie. Die Alte ist nach wie vor wütend auf den Bösewicht, weil er ihre Tochter vor dem Altar sitzengelassen hat, die ihrerseits nach Genugtuung verlangt. Diese humoristische Motivation, warum die Baba-Jaga dem Helden hilft, ist freilich märchenuntypischer Zusatz, der wiederum auf die Typenkomödie verweist; sehr an die Sprache des Märchens angelehnt dagegen der Wortlaut der Erklärung zu Kaščejs Tod, den Mutter und Tochter abgeben: „Трудно будет тебе ее [Аленушку] достать. Не легко с Кащеем совладать. Смерть его в яйце, яйцо в драгоценном ларце. А ларец тот под дубом зарыт, мхом, травою закрыт.“517 [„Es wird schwer sein, an sie [Alenuška] heranzukommen. Es ist nicht leicht, Kaščej zu bezwingen. Sein Tod ist in einem Ei, das Ei in einem kostbaren Kästchen. Und dieses Kästchen ist unter einer Eiche vergraben, mit Moos und Kraut bedeckt.”] Auch die zusätzlichen Anweisungen – Vasja muss einen verzauberten Wald rückwärts durchqueren und darf sich dabei nicht umsehen, da er sonst zu Stein würde518 – entsprechen durchaus märchenhaftem Duktus. Wichtig ist hier der recht explizite Initiationscharakter der Begegnung: Bevor die Baba-Jaga Vasja Informationen geben kann, muss sie zuerst wissen, ob er sich gegen Feuer, Wasser und Trompeten bewährt hat, also, ob er alle drei Prüfungen durchlaufen und bestanden hat. Er hat damit nicht nur positive Eigenschaften gezeigt, sondern vor allem auch seine eigene Schwäche erkannt und überwunden. So kann die Tochter der Baba-Jaga jubeln über die dadurch gewonnene Kraft – denn erst damit ist Vasja der Hilfe ihrer Mutter würdig, und erst damit ist klar, dass Vasja das Zeug dazu hat, Kaščej zu besiegen. Die nun unmittelbar einsetzende kurze Szene, in der Vasja den Zauberwald durchquert, dient dem Spannungsaufbau durch geradezu gruselfilmhafte Züge: Mit angstvoll verzerrtem Gesicht sieht man den Helden in Nahe mit der Ziege auf dem Arm rückwärts laufen, Blätter

517 Vgl. dazu Af. 269: „[Ц]аревич рассказал ей, что ищет свою жену Василису Премудрую. «А, знаю! — сказала баба-яга. — Она теперь у Кощея Бессмертного; трудно ее достать, нелегко с Кощеем сладить: смерть его на конце иглы, та игла в яйце, то яйцо в утке, та утка в зайце, тот заяц в сундуке, а сундук стоит на высоком дубу, и то дерево Кощей как свой глаз бережет».“ [„Der Zarewitsch erzählte ihr, dass er seine Frau Vasilisa Premudraja suche. ,Die kenne ich’, sagte die Baba-Jaga, ,sie ist nun bei Koščej Bessmertnyj; es ist schwer, an sie heranzukommen, es ist nicht einfach, Koščej zu überwinden: Sein Tod befindet sich an der Spitze einer Nadel, die Nadel ist in einem Ei, das Ei in einer Ente, die Ente in einem Hasen, der Hase in einer Truhe, und die Truhe steht auf einer hohen Eiche. Diesen Baum aber hütet Koščej wie seinen Augapfel.’“]. 518 Dies ist eine Vereinfachung der Variante im oben besprochenen Film Kaščej Bessmertnyj, wo das Finden des Todes zur Versteinerung führt.

145 wirbeln um ihn herum, das Bild ist von düsteren Schatten dominiert, die Geräuschkulisse besteht aus dramatischer Musik und diabolischem Geheule und Gelächter ohne erkennbare Quelle. Kurz darauf wird zu Kaščej in seiner Behausung geschnitten, den eine Vorahnung von seinem nahen Ende aus dem Schlaf gerissen zu haben scheint – sein mit schwarzen Totenköpfen verziertes Nachthemd und seine schwarze Schlafmütze mit Zipfel sorgen wiederum für eine komische Brechung der Dramatik. Vasja bedrohen unterdes lebendig gewordene Bäume, die ihre Äste nach ihm ausstrecken – doch er blickt sich nicht um und gräbt das Kästchen unter dem Eichbaum aus. Als nun Kaščej in seinem Nachthemd erscheint und Vasja anruft, halten die Bäume inne und die bedrohliche Geräuschkulisse setzt ebenso wie der Blättersturm schlagartig aus – sie entpuppen sich somit als reine Schreckeffekte, keine ernsthafte Bedrohung. Kaščejs Gejammer und sein Versuch, Vasja mit Gold zu bestechen, lassen ihn auf komische Weise erbärmlich wirken. Vasja hört nicht auf ihn und zerbricht das schwarze Ei – und der zappelnde und wimmernde Kaščej verwandelt sich unter Funkensprühen in eine Holzfigur, wie in seinem Reich schon einige herumstehen: Ein groteskes Ende für einen komischen Bösewicht. Wie auch in Kaščej Bessmertnyj geht das Ende des Bösewichts mit einer Veränderung in der Natur einher – eine sehr spielzeughafte, knallgelbe Sonne geht über der Silhouette einer Waldlandschaft auf. Als Vasja kurz darauf den Turm betritt, verwandelt Alenuška sich sogleich von einer Kröte in einen Menschen zurück, und die beiden verlassen den Turm. Die Diener Kaščejs empfangen sie mit Fanfarenbläsern – sie wollen Vasja zu ihrem neuen Herrn machen. Doch dieser zeigt, dass er seine Lektion gelernt hat: Bescheidenheit ist an die Stelle von Streben nach Ruhm und Reichtum getreten, und die damit verbundenen Verlockungen werden von ihm als trügerisch erkannt und ausgeschlagen. So sieht man in den letzten Einstellungen das Liebespaar auf idyllischen Wiesen mit Blumen in verschiedensten Farben unter blauem Schäfchenwolken-Himmel und im lichten, sonnendurchfluteten Birkenwald gemeinsam herumtollen: Die Schönheit der Natur symbolisiert hier jedoch keine kollektiv- gesellschaftlich relevante Veränderung, sondern nur das – wiedergewonnene – private Glück, das über allem steht. Die Märchenerzählerin beschließt das Märchen mit einem Verweis, dass die beiden bald geheiratet hätten, und der Schlusspointe, dass auf die Hochzeit unter allen Musikanten die Trompeter nicht eingeladen worden seien.

146 III.4.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung Auch hier sei die semantische Charakteristik der drei Hauptfiguren nochmal in tabellarischer Form festgehalten. Zunächst Alenuška und Kaščej, da vor allem die unmittelbare Konfrontantion zwischen ihnen ihre Eigenschaften besonders deutlich macht:

Eigenschaften Alenuška Kaščej Individuelle Eigenschaften jung alt weiblich männlich menschlich → tierisch (Kröte) → übernatürlich menschlich gut böse arm reich unschuldig verdorben standhaft Familiärer Status Vasjas Liebste ohne Frau Sozialer Status niedrig hoch Lokalisierung In Freiheit in herrenlosem Raum → Herr in seinem eigenen geschützten Bereich gefangen in fremdem Bereich → frei

Variable für Alenuška ist wiederum die Lokalisierung – sie ist insofern relevant, als dass der Konflikt dadurch hervorgerufen wird, dass Kaščej Alenuška in seinen Bereich bringen lässt und damit Macht über sie gewinnt, doch sie ist nicht der eigentlich konfliktbestimmende Aspekt. Die einzige andere Variable, die kurzzeitige Verwandlung von einem Menschen in eine Kröte, ist ebenfalls Ausdruck von Machtverhältnissen, da Alenuška gegen die numinose Zauberkraft Kaščejs machtlos ist – die Verzauberung ist eine Konsequenz des Konflikts, nicht ursächlich. In allen anderen Bereichen, die von statischen Eigenschaften bestimmt sind, charakterisieren polare Gegensätze die Beziehung zwischen den beiden: Motivation für die Entführung ist für Kaščej wie im Volksmärchen sein familiärer Status – er will eine Frau, und zwar eine junge, und Alenuška erfüllt diese Voraussetzungen. Was stört, ist ihre bereits geschlossene quasi-familiäre Verbindung zu Vasja – Kaščej versucht, die Grundlage dieser Verbindung zu zerstören, um sie so freiwillig in seine Arme zu treiben. Verblendet ist er jedoch darüber, dass ihn und Alenuška auch sonst Welten trennen – vom Alter bis hin zur Einstellung zu Reichtum und sozialem Status, für die die Opposition von unverdorbener Naturverbundenheit und Prunk- und Prahlsucht und nicht etwa von Klassenbewusstsein und feudalistischen Neigungen entscheidend ist. Alenuška ist dabei als bedrohte Unschuld stark idealisiert, Kaščej dagegen schrill-komisch überzeichnet, so dass beide weniger an üblicherweise nur vage charakterisierten Volksmärchenfiguren als vielmehr an Masken der

147 Typenkomödie erinnern, in denen sich sämtliche guten bzw. schlechten Eigenschaften manifestieren. Der Konflikt zwischen ihnen bleibt dabei stets persönlicher Natur und von privaten Faktoren geprägt. Auch Vasjas Kampf gegen Kaščej ist ein rein privater: Es geht ihm nicht um das Gemeinwohl oder ein für die Gesellschaft relevantes hehres Ziel, sondern ausschließlich um das gestörte private Glück. Die didaktische Botschaft des Films manifestiert sich dann in seinen drei Prüfungen, die in der Handlungslogik im Grunde genommen nur dazu dienen, dass er verschiedene Charaktereigenschaften hervorkehren kann. In semantischer Hinsicht erweist er sich hierbei, im Gegensatz zu der der anderen beiden Figuren, als recht dynamisch:

Eigenschaften Vasja Individuelle Eigenschaften jung männlich menschlich gut selbstlos-hilfsbereit tapfer listig arm → reich → arm empfänglich für Schmeicheleien → eitel-überheblich → bescheiden passiv → aktiv spontan → bewusst Familiärer Status Alenuškas Liebster → Bräutigam der Zarewna → Alenuškas Liebster Sozialer Status niedrig → hoch → niedrig Lokalisierung mobil

In seinen ersten beiden Abenteuern zeigt er zunächst als positiv dargestellte Eigenschaften, selbstlose Hilfsbereitschaft, Tapferkeit und Listigkeit. Diese sind ihm instinktiv-spontan zueigen – zum Einsatz bringt er sie, als es die konkrete Situation erfordert, ohne darüber nachzudenken oder selbst von sich aus aktiv zu werden. Ebenso instinktiv zueigen ist ihm jedoch eine Neigung zur Eitelkeit und Überheblichkeit, die ihn empfänglich für Schmeicheleien macht – und deshalb findet erst beim dritten Abenteuer, nachdem diese ihm zuteil werden und er in der Folge seiner Neigung nachgibt, eine Entwicklung mit ihm statt, die schließlich zu seiner Bewusstwerdung führt: Als er an Alenuška erinnert wird, begreift er, dass er beinahe sein Glück für seine negativen Neigungen geopfert hat, und nachdem er sich dieser bewusst geworden ist, kann er sie ablegen – und nun ist er dieses Glückes auch würdig. Dadurch, dass der grundsätzlich positive Held eben nicht nur idealisierte positive Eigenschaften hervorgekehrt, sondern auch dezidiert negative gezeigt und überwunden hat, hat er sich im menschlich-moralischen Sinne entwickelt.

148 Freilich verläuft seine Entwicklung reichlich schematisch, und er bleibt als Figur äußerst schablonenhaft. Als Held eines Märchenfilms hat er wenig gemeinsam mit den Helden der ,ernsten’ Filmgenres wie der Tragödie (z.B. Grigorij Kosincevs Gamlet (Hamlet), 1964) oder dem Jugenddrama (z.B. Marlen Chucievs Mne 20 let/Zastava Iľiča (Ich bin zwanzig Jahre alt), 1964), die im Poststalinismus oftmals als komplexe, hochgradig individualisierte Charaktere auf Sinnsuche auftreten, für die die Einzigartigkeit ihrer privaten Innenwelt ein zentraler Wert ist.519 Er entspricht aber auch nicht ganz den Gestalten des Volksmärchens, was Aleksandr Prochorov zufolge wiederum einige Helden poststalinistischer Komödien tun. Als Beispiel hierfür dient dem Autor u.a. der Protagonist der ungemein populären Streifen von Leonid Gajdaj Operacija Y i drugie priključenija Šurika (Operation Y und andere Abenteuer Schuriks, 1965) und Kavkazskaja plennica, ili novye priklučenija Šurika (Entführung im Kaukasus, 1967), in dem er eine Inkarnationen des märchenhaften Dummling Ivan sieht und den er folgendermaßen beschreibt: „В соответствии с подлинно фольклорными условностями, этот комический образ не наделяется ни идейной сознательностью, ни психологической глубиной, ни даже мелодраматической назидательностью.“ [„Ganz echten Folklorekonventionen entsprechend, ist diese komische Figur frei von ideellem Bewusstsein, psychologischer Tiefe und sogar melodramatischem Moralismus.“] Weiter heißt es zu den Komödien: „Борьба главных героев с общественными пророками […] – всего лишь предлог для разыгрывания фарсовых сцен, пересыпанных шутками, основанных на возвышении телесного низа.“520 [„Der Kampf der Protagonisten gegen gesellschaftliche Untugenden [...] ist nichts weiter als ein Vorwand für farcehafte Szenen voller Späße, die auf körperlicher Komik beruhen.“] Zwar ist auch die Gestaltung der episodenhaften Abenteuer Vasjas reich an vordergründig-unterhaltsamen Slapstick-Momenten und darin durchaus mit Gajdajs Werken und ähnlichen Streifen vergleichbar, aber im Gegensatz zu Alenuška, zu Kaščej und zu den grell-exzentrischen Nebenfiguren ist Vasja mehr als nur eine komische Maske, denn der Reifungsprozess, den er durchläuft, hat zwar eine verspielte Form, es steckt aber offensichtlich eine ernstgemeinte erzieherische Intention dahinter. Auffallend ist jedoch, wie schon angedeutet, dass diese nicht etwa auf ein weltanschauliches Bewusstsein in Bezug auf politisch-ideologische Belange des Sozialismus, sondern auf menschlich-moralische Qualitäten ganz allgemeiner Natur abzielt. Diese Form von unpolitischem Didaktismus ist recht typisch für die poststalinistischen Märchenfilme Rous: So lässt er z.B. in Novye pochoždenija kota v sapogach (Die Abenteuer

519 Vgl. Prochorov 2007, S. 117-119. 520 Beide Zitate ebd., S. 69.

149 des gestiefelten Katers, 1958) seine Heldin ein Märchen träumen, in dem ihr Pendant Wehleidigkeit ablegen muss; in Morozko (Abenteuer im Zauberwald, 1964) wird dem Protagonisten für seine Angeberei ein Bärenkopf angezaubert, den er erst wieder loswird, als er sich bessert, und in Zolotye roga (Der Hirsch mit dem goldenen Geweih, 1972), Rous letztem Film, bekommen drei Kinder die Folgen ihrer Ungehorsamkeit der Mutter gegenüber zu spüren, indem sie in die Gewalt der bösen Baba-Jaga geraten, aus der sie die Mutter erst wieder befreien muss.521 Diese Filme heben sich auch insofern von den Märchen Rous ab, die zur Zeit des Stalinismus entstanden sind, als dass sie die offiziell propagierten sozialistischen Werte eher marginalisieren oder ihnen gegenüber sogar geradezu indifferent erscheinen: So ist ja etwa in Ogon’, voda i... mednye truby am Ende aller Abenteuer alles wieder, wie es am Anfang war; der Status quo ist wiederhergestellt – das Liebespaar hat einander, aber mehr nicht. Damit sind sie jedoch zufrieden, denn Ruhm, Reichtum und hoher Status machen nicht glücklich – das private Glück dagegen bietet vollkommene Erfüllung, es steht über allem anderen: So lässt sich die universalistische Botschaft des Streifens im Grunde zusammenfassen. Dass Vasja und Alenuška nach wie vor arm und von niedrigem sozialen Status sind, spielt für sie, nachdem Vasja am Anfang des Films noch Unzufriedenheit damit geäußert hatte, nun keinerlei Rolle mehr. Der Held schlägt sogar bewusst die Übernahme von Kaščejs Reich aus, und damit im Übrigen auch die theoretische Möglichkeit, der Allgemeinheit zu dienen und etwas an den gesellschaftlichen Umständen zu verändern. Man sollte, so wäre eine sicherlich spekulative Lesart dieses Moments, die gesellschaftlichen Umstände, in denen man sich befindet, besser nicht beeinflussen wollen, da das nur Probleme mit sich bringen würde, sondern sie vielmehr so annehmen, wie sie sind – das Glück im Privaten ist ohnehin wichtiger. Das muss man sicher nicht unbedingt als einen Kommentar auf die gesellschaftliche Situation in der Sowjetunion in den späten 60er Jahren interpretieren, als die mit der Tauwetter-Periode entstandenen Hoffnungen auf eine größere gesellschaftspolitische Öffnung mehr und mehr schwanden. Fakt ist allerdings: Ein gesellschaftsutopisches Moment, wie es der Sozialistische Realismus vorsieht, fehlt in Ogon’, voda i... mednye truby völlig. In dieser Hinsicht ist der Streifen bei Weitem kein Einzelfall – nicht nur unter den Filmen Rous, sondern unter den poststalinistischen Märchenfilmen ganz allgemein. Bevor

521 Die unaufdringlich präsentierten didaktischen Botschaften in ihrer universalistischen Lesbarkeit und in Kombination mit unterhaltsamem Slapstick-Humor und farbenfroh-detailreicher Ausstattung erklären, warum diese Rou-Filme im Gegensatz zu seinen im Stalinismus entstandenen Arbeiten nach wie vor regelmäßig auch im deutschen Kinderfernsehprogramm auftauchen.

150 jedoch der Versuch unternommen werden soll, diese mit ihren verschiedenen Tendenzen in einer Überblicksdarstellung zu besprechen, lohnt es sich, noch einen näheren Blick auf einige Filme zu werfen, in die verschieden geartete Kritik am System als zentrales Moment Eingang fand. Wie im Folgenden erörtert wird, bieten sich hierfür besonders Filme an, in denen Herrscherfiguren eine wesentliche Rolle spielen.

IV. S a m p l e 2 : Fürsten, Könige, Zaren – Bilder von Herrschern und Herrschaft „Traditionelle Erzählstoffe können Herrschaftsverhältnisse in verschiedener Weise darstellen, sie können sie definieren, legitimieren, stabilisieren oder kritisieren“ – soweit der Artikel zum Stichwort „Herrschaft, Herrscher“ in der Enzyklopädie des Märchens522. Das Genre Märchen kennt als personifizierten Repräsentanten von Herrschaft in erster Linie den König523 bzw., im Falle des ostslavischen Märchens, als dessen Pendant den Zaren524. Ehe nun dessen Rolle und Funktion im sowjetischen Märchenfilm näher behandelt wird, soll zunächst versucht werden, darzustellen, welches Herrscherbild traditionell im Volksmärchen vermittelt wird und, davon ausgehend, dessen Funktion darin und auch im Kunstmärchen zu besprechen, dem ja der Märchenfilm letztlich zuzuordnen ist.

IV.1. Zum Hintergrund IV.1.1. Der Herrscher im Märchen Eine Besonderheit des Volksmärchens ist es, dass seine Monarchen, was ihre Alltagsgestaltung angeht, oftmals wenig majestätisch wirken, da in Erzählerkreisen nur sehr vage Vorstellungen über das Leben bei Hofe kursierten und sie sich bei dessen Schilderung eher an eigenen Erfahrungen orientierten – so kommt es, dass die Herrscher oftmals eher an reiche Bauern oder Gutsherren erinnern, bei denen zwar alles groß, prächtig und im Überfluss vorhanden ist, deren Alltagssorgen sich jedoch kaum von denen eines einfachen Mannes unterscheiden.525 Das ostslavische Volksmärchen ist hierbei keine Ausnahme – der Zar kann hier z.B. selbst Einkäufe auf dem Markt tätigen, den Ofen anheizen oder seinen Sohn zum Holzhacken in den Wald schicken.526 Während er recht häufig mit dem Regeln von

522 Tomkowiak: EM 6, S. 895. 523 Vgl. Tomkowiak: EM 6, S. 899, mit dem Verweis auf Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 134-148. 524 Es können allerdings auch im ostslavischen Märchen gelegentlich Könige auftreten (z.B. Af. 123, 164). 525 Vgl. Novikov 1976, S. 222, sowie Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 143-144. 526 Novikov 1976, S. 222-223.

151 Familienangelegenheiten beschäftigt ist527, bleibt seine Regierungstätigkeit meist im Dunkeln. Klar ist nur, dass er an der Spitze der gesellschaftlichen Ordnung steht und sich entsprechend alle Bewohner seines Reiches nach seinen Befehlen zu richten haben, er also über besondere Macht verfügt. Wie er diese handhabt, ist in der ostslavischen – wie auch der gesamteuropäischen – Folklore nicht festgelegt: Es gibt keine einheitliche Charakterzeichnung, die man als typisch bezeichnen könnte, sondern verschiedene Varianten, die sich im Spannungsfeld zweier polarer Gegensätze befinden – des positiven Ideals des rex iustus und der Negativausformung des rex tyrannus. Besonders deutlich wird dies, wenn der Märchenmonarch das Amt des Richters wahrnimmt: Dem weise und salomonisch urteilenden Landesvater, der den Schwachen und von Unrecht Bedrohten beisteht, steht der willkürlich urteilende Despot gegenüber.528 Auffällig sind die durchaus nicht seltenen Fälle, in denen der Herrscher, auch wenn sein Charakter grundsätzlich positiv gezeichnet ist, seiner formalen gesellschaftlichen Macht zum Trotz als eine äußerst schwache Figur erscheint: Der Held des Märchens ist ein einfacher Bursche oder aber ein Prinz bzw. Zarewitsch, in den seltensten Fällen jedoch ein regierender Monarch – dieser dagegen ist oftmals ohnmächtig vor einer Gefahr und bedarf deshalb gerade der Hilfe des Helden529, sei es, dass sein Reich von Feinden bedroht ist (wie z.B. in Af. 123), seine Tochter einem Ungeheuer in die Hände gefallen (Af. 140, 148) oder von Dämonen besessen ist (Af. 153) oder aber, dass er selbst schwach und krank darniederliegt und ein magisches Heilmittel zur Gesundung benötigt (Af. 171). Als explizit negativ zu sehen ist die Figur des Herrschers wiederum in dem ebenfalls nicht seltenen Fall, dass er seine Macht seinen Untergebenen gegenüber missbraucht: So lässt er etwa den Helden des Märchens schier unlösbare oder gar lebensgefährliche Aufgaben bewältigen oder schickt ihn auf Abenteuer mit Himmelfahrtskommandocharakter, um ihn loszuwerden – die Gründe dafür können vielfältig sein: Er lehnt ihn wegen seiner niedrigen Herkunft als Freier für seine Tochter ab (Af. 144), er begehrt seine schöne Ehefrau für sich selbst (Af. 212-214)530, oder aber der Held soll einfach eine habgierige Laune für ihn befriedigen (Af. 169).

527 „Kgl. Familienkonflikte“ ist daher ein eigener Abschnitt in Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 137- 139. 528 Vgl. Tomkowiak: EM 6, s.v. „Herrschaft, Herrscher“, S. 904-905, sowie insbesondere Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 136-137. 529 Vgl. hierzu auch Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 140. 530 Die Märchen des entsprechenden Erzähltyps (SUS 465 Krasavica-žena), der zu den populärsten im ostslavischen Raum gehört, schildern oft sehr plastisch die Bosheit und Grausamkeit des Herrschers, aber ebenso auch die Rache des Helden, vgl. dazu Novikov 1974, S. 223-226.

152 IV.1.2. Herrscher- und Herrschaftskritik Novikov behandelt in seiner Arbeit zu den Figuren im ostslavischen Volksmärchen den Zaren fast ausschließlich als negative Figur531 und sieht ihn dabei nicht als reines Phantasieprodukt, sondern als Objekt von Sozialsatire. Seine Erklärung, dass „под влиянием роста классового сознания и развития революционной борьбы трудовых масс происходит снижение и развенчивание образа сказочного царя“532 [„unter dem Einfluss des wachsenden Klassenbewusstseins und des sich entwickelnden revolutionären Kampfes der werktätigen Massen eine Herabsetzung und Entweihung der Figur des Märchenzaren stattfindet“], mag sich, zeitbedingt, etwas zu sehr auf eine normative Sichtweise historischer Entwicklungen berufen. Der Artikel „König, Königin“ in der Enzyklopädie des Märchens dagegen erklärt die häufig anzutreffenden negativen Züge des Märchenherrschers folgendermaßen: „Wenn neben positiver Wertung auch scharfe Kritik am K. [= König] geübt wird, handelt es sich selten um Vorbehalte gegenüber der Monarchie, sondern um Kritik an der charakterlichen oder moralischen Unzulänglichkeit eines individuellen K.s“533. Ansonsten, so heißt es etwas weiter unten im selben Artikel, sei der Herrscher oft auch nur deshalb negativ gezeichnet, um, ganz der Vorliebe des Märchens für Extreme entsprechend, als Kontrastfolie für den idealisierten Helden zu dienen: Nicht zuletzt tritt dieser ja in der Regel am Ende des Märchens an seine Stelle und wird selbst Herrscher – in poetischer Erfüllung sozialutopischer Wunschträume auch dann, wenn er ursprünglich aus der untersten Schicht stammt.534 Solche Aussagen beruhen auf unterschiedlichen Überzeugungen und Beobachtungen, die sich letztlich nicht verabsolutieren lassen, sondern jeweils an konkretem Material überprüft werden müssen. Gerade bei Volksmärchentexten ist eine Analyse oder Interpretation über den Aussagegehalt in dieser Hinsicht mitunter recht schwierig, was an ihrer Eigenschaft als mündlich tradierte Erzählungen ohne festen Autor liegt, in denen verschieden alte Schichten nahtlos ineinander fließen.535 Festzuhalten ist aber, dass sich gerade die Figur des Herrschers als Repräsentant von höchster Macht zur Folie eignet, Sozial- bzw. Gesellschaftskritik zum Ausdruck zu bringen, insbesondere auch über die Darstellung des Verhältnisses zwischen ihm und seinen Untergebenen.

531 Dass er sich auf dieses konzentriert, hat augenscheinlich ideologische Gründe, doch er kann sich dabei auf reichhaltige Belege aus Volksmärchentexten stützen. Daneben räumt er durchaus ein, dass im Märchen nicht nur ein Negativbild des Zaren anzutreffen ist, und erklärt dies mit dem Einfluss des aufoktroyierten zaristischen Weltbildes auf die bäuerlichen Märchenträgerschaft, vgl. ebd., S. 221-223. 532 Ebd., S. 223. 533 Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 139-140. 534 Vgl. ebd., S. 140, auch S. 144-145. 535 Deshalb ist es in der Regel auch nur bedingt hilfreich, wenn etwas zum Erzähler einer aufgezeichneten Version und dessen biographischen Umständen bekannt ist, was häufig nicht einmal der Fall ist.

153 Im sowjetischen Märchenfilm, wie im Kunstmärchen überhaupt, gibt es im Gegensatz zum Volksmärchen einen bekannten und konkreten zeitlichen und kulturell-gesellschaftlichen Entstehungskontext, der als Anhaltspunkt für eine Deutung dienen kann. Einerseits ist es dabei sicher nicht grundsätzlich verkehrt, etwa in einer Herrscherfigur mit negativen Zügen Kritik am der Vergangenheit angehörenden Gesellschaftssystem des Feudalismus zu vermuten, oder aber sie primär als Träger menschlicher Untugenden oder auch nur einer erzählerischen Funktion zu sehen, z.B. als Erzeuger von Komik. Die Ambiguität des Märchengenres mit seinen diffusen chronotopischen Gegebenheiten bietet aber auch eine Art Schutz, um, im aesopischen Sinne, kritische Töne einfließen zu lassen, die sich auf die aktuelle bzw. in unmittelbarer zeitlicher Nähe liegende Herrschaftssituation und die dazugehörigen gesellschaftlichen Umstände beziehen. Drei Filme, bei denen eine solche Lesart möglich ist, sollen im Folgenden näher vorgestellt und analysiert werden: Aleksandr Ptuškos Iľja Muromec (Ilja Muromez/Der Kampf um das Goldene Tor, 1956), Kain XVIII ([Kain XVIII.], 1963) von Nadežda Koševerova und Michail Šapiro und schließlich Boris Rycarevs Ivan da Mar’ja (Iwan und Marja, 1974). Die Streifen wurden alle in der poststalinistischen Sowjetunion gedreht und veröffentlicht, aber mit großem zeitlichen Abstand voneinander, und sind deshalb in recht verschiedenen gesellschaftlich-kulturpolitischen Kontexten zu sehen: Iľja Muromec wurde 3 Jahre nach Stalins Tod und etwa ein halbes Jahr nach der berühmten Geheimrede Chruščevs uraufgeführt, die den Prozess der Entstalinisierung einleitete; Kain XVIII lief auf dem Höhepunkt und kurz vor Ende des politischen Tauwetters erstmals über die Kinoleinwände; Entstehung und Premiere von Ivan da Mar’ja schließlich fallen mitten in die langen Periode der Stagnation. Entsprechend weisen, wie zu erwarten, die kritischen Untertöne jeweils eine recht unterschiedliche Färbung und Gerichtetheit auf – und eine unterschiedliche Schärfe.

IV.2. Iľja Muromec (Ilja Muromez/Der Kampf um das Goldene Tor536, 1956) IV.2.1. Enstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung Aleksandr Ptuško (1900-1973) begann seine Karriere als Kinoregisseur 1935 mit dem lose an den Jonathan-Swift-Klassiker angelehnten phantastischen Kinderfilm Novyj Gulliver (Der neue Gulliver), der ihm vor allem wegen seines innovativen Umgangs mit Tricktechnik 537 viel

536 DDR-Titel und BRD-Titel. Der BRD-Titel spielt offenbar auf das Goldene Tor von Kiew an, das zwar in der pseudohistorische Architektur des Filmes nachgebildet ist, aber zumindest im russischen Originaldialog nicht namentlich erwähnt wird. 537 Hier interagierte ein menschlicher Schauspieler mit zahlreichen Puppen.

154 Anerkennung einbrachte. Sein erster Märchenfilm im eigentlichen Sinne – von einigen kurzen Puppentrickfilmen abgesehen – war Kamennyj cvetok (Die steinerne Blume, 1946), und seither widmete er sich beim Studio Mosfiľm fast ausschließlich diesem Genre. Herausragendes Kennzeichen aller seiner Filme ist visuelle Opulenz. Iľja Muromec ist hierfür ein absolutes Musterbeispiel. Der Streifen ist sicherlich einer seiner bekanntesten und erfolgreichsten Filme. Er konnte in 87 Länder verkauft werden, und auf dem internationalen Filmfestival von Edinburgh erhielt er einen Sonderpreis.538 Es handelt sich um die erste sowjetische Filmproduktion im Breitbildformat, und sie wartet mit aufwendigen Tricks und Spezialeffekten, monumentaler Filmarchitektur und Naturpanoramen sowie gewaltigen Massenszenen auf. Besprechungen kommen daher in der Regel nicht umhin, die beeindruckenden Schauwerte lobend zu erwähnen. Sie sind mit durch das zugrundeliegende Folkloregenre bedingt, das der Byline, des altrussischen epischen Liedes, dessen Sujets denen des Märchens gleichen, das aber von einem erhabenen Grundton bestimmt ist und in dessen Mittelpunkt stets ein Recke von außergewöhnlicher Heldenhaftigkeit steht – in diesem Falle Iľja Muromec, Iľja aus Murom, dessen Größe „nicht in seiner ungeheuren physischen Kraft [liegt], sondern in der selbstlosen Hingabe an die Rus“539 und „der in sich die besten Eigenschaften seines Volkes verkörpert“540. „Ein Film über einen solchen Helden erforderte für die Inszenierung einen großen Maßstab“541, in dem wiederum die Handlung „in jeder Phase auf ihn ausgerichtet [ist], sogar dann, wenn er selbst nicht im Bild erscheint.“542 Der Streifen kombiniert, nach dem Drehbuch des Folkoristen Michail Kočnev, die Sujets mehrerer bekannter Bylinen um Iľja unter freier Variation zu einer zusammenhängenden Geschichte, so dass eine Art Biographie entsteht. Er weist in seiner Handlungs- und Figurengestaltung eine holzschnittartige Schablonenhaftigkeit auf, die sich auch in den formelhaft-altertümlichen Dialogen und dem deklamatorisch-theatralischem Spiel der Darsteller äußert und sich freilich ebenso durch die Folklorewurzeln erklären lässt wie der Monumentalismus – beides, Schablonenhaftigkeit und Monumentalismus, sind aber auch Kennzeichen des Sozialistischen Realismus, dem der Film in mancherlei Hinsicht verpflichtet zu sein scheint.

538 Miloserdova 2006, S. 57. 539 Berger/Giera 1990, S. 158. 540 Paramonowa 1966, S. 83. 541 Ebd., S. 83. 542 Berger/Giera 1990, S. 158.

155 Die Geschichte entspricht Folkloremustern ebenso wie in weiten Teilen dem sozialistisch-realistischen Master Plot, und die bombastische Machart wie auch der pathetische Patriotismus, den der Film aufweist, scheinen unmittelbar an die Traditionen der stalinistischen Vorzeige-Ästhetik anzuknüpfen. Auch wird hier eine Grundthematik aufgegriffen, die in den 30er Jahren in der Sowjetunion den öffentlichen Diskurs wie auch Literatur und Film entscheidend mitbestimmte und im Kalten Krieg eine erneute Konjunkturwelle erlebte – die Verteidigung der Heimat, nicht etwa wie im Zweiten Weltkrieg gegen konkrete und reale Angreifer, sondern gegen potentielle, hypothetische und symbolische Feinde Russlands bzw. der Sowjetunion, um ständige Rüstungsbereitschaft zu demonstrieren.543 Während der Film jedoch auf der einen Seite die Stärke und Einigkeit des Volkes idealisiert und insbesondere in der Figur des Protagonisten glorifiziert, übt er gleichzeitig in differenzierter Form Herrschaftskritik, und zwar über die Darstellung des Fürsten Vladimir, der, während sonst die Figurenzeichnung klar und ohne Grautöne zwischen Gut und Böse unterscheidet, zwar am Anfang als durchweg positiv, später dagegen als recht ambivalente Gestalt auftritt. Da die Handlung im Allgemeinen stets auf den Titelhelden konzentriert ist, manifestiert sich die Kritik insbesondere in der Beziehung zwischen den beiden. Die Wertung der Herrschaftskritik als zeitgeschichtlich-politischer Kommentar544 erscheint nicht allzu abwegig, da der Prozess der Entstalinisierung zu dem Zeitpunkt bereits eingesetzt hatte. Wie vom Film einerseits – insbesondere mit Hilfe der Verfahren des Sozialistischen Realismus – der Kult des Volkes propagiert und andererseits der Herrscher- und Personenkult verurteilt wird, soll der zentrale Schwerpunkt der folgenden Analyse sein.

IV.2.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik I.A) DIE INITIATION DES HELDEN [00:00 – 17:53] Der Vorspann ist von einer von einer opernhaft-wuchtig anmutenden Ouvertüre unterlegt, deren Leitmotiv sich in Variationen durch den ganzen Film zieht und dessen pathetisch- überhöhten Grundton mitbestimmt. Schon gleich in der ersten Szene wartet der Film mit Schauwerten auf, die sich hier an der Figur des mythischen Recken Svjatogor festmachen: Dieser wird per Trickaufnahme als gewaltiger Riese dargestellt, der Berge überragt und neben

543 Vgl. zu diesem Phänomen Clark 1985, S. 114, speziell zum Film Engel 1999, S. 81-82. 544 Wie z.B. in der Besprechung im Reclam-Führer zu Fantasy- und Märchenfilm angedeutet, Friedrich 2003, S. 62-63.

156 dem die wandernden Sänger (kaliki perechožie), die zu ihm kommen, in der selben Einstellung winzig klein wirken. Sie haben große Sorgen, denn die Rus’ ist von Feinden bedroht und bedarf eines Helden – Svjatogor aber erklärt, seine Zeit sei vorbei, ein neuer Recke müsse an seine Stelle treten. Bevor er sich mitsamt seinem Pferd allmählich in einen Berg verwandelt – ebenfalls tricktechnisch aufwendig gelöst – gibt er den Sängern den Auftrag, einen solchen zu finden und ihm sein Wunderschwert zu übergeben. Den zukünftigen Helden bekommt der Zuschauer in der nächsten Szene erstmals zu sehen. Als Handlungsort wird in einem Establishing Shot die aus folkloristischen Holzbauten bestehende idyllische Siedlung Karačarovo als Panorama eingeführt. Während die junge Vasilisa, die auf einem Platz zwischen den Häusern spinnt, ein trauriges Lied singt, folgt ein Schwenk ihrem Blick zu einer Hütte, und durch das Fenster sieht man, in einem Brustbild eingefangen, den Bauernburschen Iľja (Boris Andreev) mit sorgenvoller Mine sitzen. Aus einem kurzen Dialog zwischen Vasilisa, seiner Liebsten545, und deren Mutter geht hervor, dass er gelähmt ist und nicht aufstehen kann. Unmittelbar darauf ertönen erschreckte Rufe und die Warnglocke beginnt zu läuten – die bösen Tugaren, ihrem Aussehen nach vage an Hunnenkrieger erinnernd, dringen in die Siedlung ein. Es kommt zu einem heftigen Kampf mit den Dorfbewohnern, in deren Verlauf Vasilisa gefangengenommen und verschleppt wird. Iľja beobachtet die Szene aus seiner Hütte und verwünscht seine Lähmung. Eine kurze Szene zeigt dann den Überfall auf einen Warentross des Fürsten Vladimir in der Nähe der Siedlung: Der Anführer der Tugaren macht sich den Trossführer, den Bojaren Mišatyčka, eine erbärmliche Figur, mit Drohungen gefügig – die gefangene Vasilisa beobachtet mit verächtlichen Blicken, wie er, um sein Leben zu retten, einwilligt, als Spion für den Tugarenzaren Kalin gegen Kiew zu arbeiten. Anschließend wird die Handlung wieder direkt zu Iľja zurückgeführt: Die Wandersänger kommen in die Siedlung und machen vor seiner Hütte Halt. Sie bitten ihn um Wasser, und er heißt sie einzutreten – so wird in die Hütte geschnitten, und man sieht erstmals Iľja von Kopf bis Fuß: Er hat eine stattliche, muskulöse Statur, die ihm ein imposantes Erscheinungsbild gibt. Den Wanderern genügt eine kleine Bemerkung seinerseits, dass er sich Kraft wünsche, um die Rus’ gegen die Tugaren zu verteidigen, um in ihm den Auserwählten zu erkennen: Sie tauschen nur kurz Blicke, ehe sie ihm vom Saft eines Zauberkrauts zu trinken zu geben. Der Zauber allein genügt jedoch nicht, ihn aufzurichten – es bedarf einer äußeren Motivation, die dem Helden die tiefere Bedeutung seiner Bestimmung bewusst macht: Diese

545 Ihr genaues Verhältnis wird nicht explizit gemacht, doch sie scheint eher seine Braut als seine Frau zu sein.

157 erfolgt nun in Form eines Liedes der Sänger, das von der heiligen Heimat Mutter Rus’ und dem Unheil handelt, das die Tugaren über sie gebracht haben. Begleitet wird es von einer opulenten, überwiegend in Panorama und Totale gehaltene Bildfolge, die zunächst weite Wälder, Seen und Hügel zeigt, die die Schönheit der Rus’ symbolisieren, um dann die bösen Eindringlinge und ihre Taten zu präsentieren: Zar Kalin in einem überladenen Kriegergewand mit grimmigem Blick nähert sich langsam der Kamera, während hinter ihm ein großes Feuer brennt; man sieht das bedrohliche Tugarenheer, das brennende Kiew, eine weinende Frau mit einem kleinen Kind inmitten einer verbrannten Landschaft, Tugarenreiter beim Brandschatzen der Felder, schließlich schier endlose Züge von gefangenen Frauen, Kindern und Greisen, mit gebundenen Händen und zum Teil mit hölzernen Halsgeigen, die mit Peitschen vorwärts getrieben werden. Der Pathos des Liedtextes und die ruhige Melodie lassen die Bilder trotz ihrer Eindringlichkeit nicht emotional erschütternd wirken, sondern vielmehr als abstrakte ästhethische Hyperbeln erscheinen, die das Bedeutungsvolle und Erhabene der Ereignisse unterstreichen. Dem entspricht auch der Appell, der am Ende des Liedes bei ansteigender Melodie erfolgt: „В ком есть русский дух, / богатырский взмах / Возгорись огнем, / грудью встань за Русь!“ [„Wer russischen Geist, / heldenhafte Kraft in sich hat / Lass die Flamme in dir lodern, / erhebe dich für die Rus’!”] Dies ist sozusagen das Stichwort für Iľja, dessen bewegtes Gesicht in Großaufnahme eingefangen wird und der sich dann von seinem Sitz erhebt, während dazu fanfarenhafte Orchestermusik majestätisch anschwillt. Sie spielt in bombastischen Tönen weiter, während der geheilte Recke aus der Enge der dunklen Hütte langsam auf den Vorbau heraustritt, wo die Kamera hinter ihm den Ausblick auf die von der strahlenden Sonne erleuchtete Natur in Form von hohen Bäumen und einem breiten Strom einfängt, mit der Iľja so gewissermaßen verschmelzt. Dass die Sänger ihm nun das Wunderschwert Svjatogors übergeben, ist nur die letzte Konsequenz seiner Initiation und gleichzeitigen Stilisierung zum Nationalsymbol, wurde doch dem Zuschauer ohne Umschweife die Größe des zukünftigen Helden sowie seine Verbundenheit mit der Rus’ bereits deutlich impliziert. Iľjas Lähmung entspricht einer in Märchen wie Heldenepos weit verbreiteten Konvention, nach der der Held zu Anfang eine Form von Defekt aufweist, damit er später noch strahlender wirkt – dem Prinzip der extremen Kontraste entsprechend: Der Ärmste wird zum Reichsten, der Hässlichste zum Schönsten, der Schwächste zum Stärksten. Mit den aus den Folklorequellen entlehnten Elementen sind jedoch vom Film bis zu diesem Abschnitt auch, in reichlich überhöhter Form, die wichtigsten Formeln des sozialistischen Realismus

158 aktiviert worden: Zunächst ähnelt die Übergabe des Schwerts von Svjatogor an Iľja, wenn auch die Wandersänger als Vermittler dienen, der obligatorischen Szene des rituell- symbolischen Generationenwechsels, in der der Held die Aufgabe übernimmt, für die Sache einzutreten, für die schon sein älterer Mentor eingestanden hat.546 Die Aufgabe, die sich Iľja stellt, ist von besonderer Wichtigkeit für die Rus’, den mythisierten Vorgänger der Sowjetunion, als deren symbolischer Stellvertreter sie hier fungiert: Auch dem sozialistisch- realistischen Helden stellt sich stets eine Aufgabe, die für Staat und Volk von Belang ist, ob der Aufbau einer Fabrik oder eben auch der Verteidigungskampf gegen Feinde.547 Auch eine Wandlung vom spontan-instinktiven zum bewussten Begreifen durchläuft Iľja, allerdings nur in angedeuteter, minimaler Form: Das Lied macht ihm die Bedeutung seiner Aufgabe vollends bewusst, aber im Grunde vereinigt er bereits vorher Züge der beiden Prinzipien in idealer Form in sich – im Gegensatz zum Sozialistischen Realismus muss das Märchengenre hier seine Schematik bei der Figurenzeichnung nicht verbergen, und der innere Wandel, der dem typischen sozialistisch-realistischen Helden einen Anschein von realistischer menschlicher Individualität verleiht548, wird von dem märchenhaften äußeren Wandel ersetzt. So kann in Iľja Muromec der symbolische Generationenwechsel auch ganz zu Anfang stattfinden, Iľja steht schon vor der eigentlichen Aufgabe als idealer Held fest. Seine semantische Charakteristik ist im Grunde denkbar einfach: Er ist so patriotisch, dass der Schutz der Heimat für ihn über allem anderen steht, und er ist nunmehr von übermenschlicher Stärke. Das eine scheint dabei das andere regelrecht zu bedingen. Gleichzeitig wird aber auch herausgestellt, dass es sich um einen einfachen Burschen niederer Herkunft, eben einen Mann aus dem Volke handelt. Nachgeschoben ist der Initiation in der Folgeszene der Abschied und Auszug von zu Hause549, der im Film wiederum ideologisch aufgeladen ist: Iľja zeigt seine Bärenkräfte, indem er auf dem Feld seiner Eltern Baumstümpfe ausreißt und Felsblöcke fortwirft, doch die Hoffnungen der Mutter, nun nach seiner wundersamen Genesung einen ständigen kräftigen Helfer zu haben, muss er enttäuschen: „Ты прости меня, мать, не работник я в поле, не добытчик. Калин-царь заготовил стрелу смертную в сердце Киеву. Не велика мне, молодцу, честь сидеть в Карачарове.“ [„Verzeih, Mutter, ich bin kein Feldarbeiter, kein Versorger. Zar Kalin hat einen tödlichen Pfeil auf das Herz von Kiew gerichtet. Es macht mir, einem starken Jüngling, keine 546 Vgl. Clark 1985, S. 168-174; Clark 2001, S. 178-179. 547 Vgl. Clark 2001, S. 179-180. 548 Clark (1985, S. 16-17; 2001, S. 179) nennt den sozialistisch-realistischen Roman in diesem Zusammenhang einen „Bildungsroman“. 549 In der Morphologie des Märchens nach Propp (1928, S. 48-49) Funktion XI otpravka (,Auszug’), im Master Plot des sozialistischen Realismus nach Clark (1985, S. 256-257) Separation.

159 große Ehre, in Karačarovo zu sitzen.”] Dies sehen auch Iľjas Eltern ein und geben ihm ihren Segen, nach Kiew zu ziehen. Die ,kleinen’ Bedürfnisse der eigenen Familie haben sich den ,großen’ Bedürfnissen des Staates unterzuordnen – was an die Klischees sozialistisch-realistischer bzw. stalinistischer Rhetorik vom Staat als ,Überfamilie’ anzuknüpfen scheint550. Ein Nachbar schenkt dem Recken ein mickriges Fohlen, das sich jedoch, märchentypisch, als Wunderpferd entpuppt: Dreimaliges Baden im Tau macht aus ihm ein stattliches Ross – filmisch ist dies durch vier aufeinanderfolgende und durch Blende verschmelzende halbtotale Einstellungen von einem nebligen Feld gelöst, über dem langsam die Sonne aufgeht und auf dem Iľja, unter formelhaften Beschwörungen und wiederum zu majestätischer Musik, ein von Mal zu Mal größeres Pferd herumführt. Anschließend folgen opulente Panoramaaufnahmen von der Morgendämmerung über der Landschaft, in der man schließlich Iľja ganz klein davonreiten sieht. Auf dem Markstein, zu dem er kommt, steht geschrieben und wird von geheimnisvollen Stimmen ausgerufen: „Направо поедешь – богатому быть / Налево поедешь – женатому быть / А прямо поедешь – убитому быть“ [„Reite nach rechts, und du wirst reich / Reite nach links, und du findest eine Frau / Reite geradeaus, und du wirst getötet.”] Es handelt sich um eine Variation des bekannten Folkloremotivs, das auch z.B. in Kaščej Bessmertnyj zum Einsatz kam – dort wurde der Protagonist vor die Wahl zwischen mehreren quasi-zwangsläufigen Übeln gestellt, hier dagegen sind zwei Verlockungen dem extremen Übel entgegengestellt und die Wahl kommt somit einer Charakterprobe gleich: Iľja entscheidet sich gegen die glückversprechenden und für den gefährlichen Weg. Diese Wahl ist im Grunde nicht ungewöhnlich für einen typischen Märchenhelden – dieser trifft sie allerdings in der Regel aus dem instinktiven Gespür heraus, dass der gefährliche Weg zum individuellen Glück führt. Dagegen gehört die entsagungsvolle Ablehnung von ,individualistischen’ Heilsversprechen zu den typischen Merkmalen eines sozialistisch- realistischen positiven Helden, dem das Allgemeinwohl einziger Lebenszweck ist, und dies scheint hier eher zuzutreffen. Und im Gegensatz zum typischen Märchenhelden, der in der Regel allein mit der Wahl die Gefahr bereits gebannt hat, steht diese Iľja noch bevor, und ihre Überwindung markiert ihn wiederum endgültig in seiner Funktion als Über-Held: Er trifft auf Solovej-Razbojnik, den Räuber Nachtigall, vor allem dank einer starken maskenbildnerischen Leistung eine hässliche und furchterregende Erscheinung mit groteskem Antlitz, das wenig menschlich wirkt. Er sitzt in der Krone eines laublosen knorrigen Eichbaums, umgeben von schwarzen Wolken,

550 Vgl. Clark 1985, S. 115; Clark 2001, S. 178.

160 während auf der Lichtung davor menschliche Skelette verstreut liegen. Sein Pfiff mit vollen Backen erzeugt einen Sturm, der dafür sorgt, dass sich die Bäume biegen, wiederum tricktechnisch imposant gelöst – für Iľja allerdings mit seinen Bärenkräften ist nur ein einziger gezielter Wurf mit seiner Keule nötig, dass der Bösewicht vom Baum fällt, und er braucht nur eine Hand, um ihn am Gewand zu packen und emporzuheben. Als treuer Diener des Staates will er ihn nach Kiew bringen und vor Gericht stellen.

I.B) AM HOFE DES HERRSCHERS [17:53 – 29:41] Nachdem der Zuschauer nun mit dem Helden, dem Ideal des russischen Volkes, vertraut gemacht wurde, tritt dieser für den Augenblick aus dem Blickfeld, und nun wird der Herrscher über dieses Volk eingeführt. Die erste Einstellung dieses Abschnitts ist eine beeindruckende Totale, durch das Breitbildformat geradezu wie Panorama wirkend, die eine geschlossene Form aufweist: Handlungsort ist der Platz vor dem Palast, der das Bild nach hinten zu abgrenzt. Die Bildkomposition ist von zwei sich kreuzenden Diagonalen dominiert – in die Bildtiefe hinein ragt eine spitz zulaufende Treppe mit Fürst Vladimirs Thron am Kopfende, von dem aus wiederum nach oben hin links und rechts Aufgänge auseinanderlaufen. Die Ränder der Aufgänge wie auch der Treppe sind von stehenden Menschen gesäumt, die auf dem Platz stehenden Menschen setzen deren Reihen fort – und so laufen alle Linien letztlich bei Vladimirs Thron zusammen. Das Volk und der Herrscher wirken somit wie eine ebenso stabile wie harmonische Einheit: Der Fürst (Andrej Abrikosov), aufrecht vor seinem Thron stehend, ist einerseits klar das Zentrum des Bildes, auf das alle Aufmerksamkeit gerichtet ist, andererseits hebt er sich in der Totale auch kaum von den ihn umgebenden Menschen ab und wirkt wie einer von ihnen. Dieses ,demokratische’ Verhältnis wird dann auch in Worte gefasst: „С вами, бояре, князья-посадники, со всей дружиной богатырскою, думу думаю, суд княжий творю!“ [„Mit euch, Bojaren, fürstliche Statthalter, mit der ganzen Reckengefolgschaft halte ich Rat und sitze zu Gericht!”] ruft Vladimir aus, und das Volk antwortet wie ein Echo: „С тобой, княже господине, думу думаем, суд княжий творим!“ [„Mit dir, Herr und Fürst, halten wir Rat und sitzen zu Gericht!”] Der Fürst trifft jedoch, wie in der Szene deutlich wird, keineswegs seine richterlichen Entscheidungen zusammen mit dem Volk oder dessen Vertretern, sondern hat alleinige Entscheidungsgewalt – allerdings richtet er durchaus im Sinne des Volkes, als weiser Vertreter von dessen Interessen und Beistand der Unterdrückten: Nicht zugunsten des geizigen und ausbeuterischen Bojaren, sondern zugunsten des von diesem angeklagten einfachen

161 Handwerkers fällt sein salomonisches Urteil aus. An der Spitze des idealisierten Volkes steht also ein idealisierter Herrscher. Während der Verkündung des Urteilsspruchs wird Vladimir in Nahe gezeigt: Auch ohne sein goldbesetztes Gewand ist er, mit seinem graumelierten Vollbart und seinem durchdringenden Blick, eine Respekt einflößende Erscheinung – als positive Autoritätsperson wirkt er im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Vater der Nation im Sinne des sozialistisch- realistischen Mythos vom Volk als große Familie. Hierin scheint der Film, obwohl – oder gerade weil – die dargestellte Vergangenheit keine konkrete historische, sondern eine mythisch-märchenhafte ist, direkt an die Konventionen des Historienfilms aus der Hochzeit des Stalinismus anzuknüpfen, der von folgender Idee bestimmt war: „Die Vergangenheit sollte […] die Fortschrittlichkeit der Staatsidee in der Geschichte Rußlands demonstrieren, die Fortschrittlichkeit der Ausweitung und Festigung der Staatsgrenzen aufzeigen und die Monokratie legitimieren – als eine Staatsform, die den Bestrebungen und Wünschen des Volkes entspricht.“551 Den Aspekt der Expansion klammert der Film allerdings aus, und die hier noch legitim erscheinende Monokratie soll an späterer Stelle, wie eingangs angedeutet, in Frage gestellt werden. Der Idealisierung des Herrschers entspricht, dass Vladimir, als die Nachricht von der Rückkehr des Recken Dobrynja Nikitič von einer diplomatischen Mission eintrifft, das ganze Volk zu einem Festmahl einlädt und diejenigen, die im Palast keinen Platz mehr finden, draußen verköstigen lassen will. Dies zeugt nicht nur von seiner Freigiebigkeit: Die erfolgreich erfüllte Mission ist, wie sich im Folgenden herausstellt, für das ganze Volk relevant, da es sich um einen Friedensvertrag handelt – und deshalb soll auch das ganze Volk am Erfolg teilhaben dürfen, für den das Festmahl der entsprechende Ritus ist. Das Festmahl selbst bietet wiederum Gelegenheit für Bilder von visueller Opulenz – in einer Kamerafahrt aus Totalen und Halbtotalen schreitet Dobrynja mit seinen Begleitern zum Klang von Lobeschören durch den riesigen Saal im Palast, an Tischen voller Leute vorbei, ehe er den im Zentrum stehenden Tisch erreicht, an dem Vladimir und Fürstin Apraksija sitzen. Für das Aushandeln des Friedensvertrags bietet Vladimir Dobrynja einen Ehrenplatz an, den er sich frei wählen kann – und der Wunsch des Recken, dass er nicht bei ihm, sondern am Reckentisch sitzen will, wird vom volksnahen Fürsten, der dieses Bedürfnis versteht, voll respektiert. Die Szenen bei Hofe bis zu Iľjas Ankunft gehören zu den wenigen, die sich nicht

551 Engel 1999, S. 74.

162 direkt oder indirekt auf den Helden beziehen – sie wirken gewissermaßen vorbereitend, um dem Zuschauer deutlich zu machen, in welche Umgebung und insbesondere zu was für einem Herrscher Iľja kommen wird. Doch nun tritt wieder er selbst auf den Plan. In seinem groben Bauernkittel wirkt er, als er den Saal betritt, eher deplaziert neben den zahlreichen reichgekleideten Gästen, und er zieht auch gleich den Spott des jungen Recken Aleša Popovič552 auf sich, von dem er sich allerdings nicht beeindrucken lässt. Nun erscheint auch der zu Anfang eingeführte verräterische Bojare Mišatyčka wieder – er prahlt vor dem Fürsten unter Verdrehung der Ereignisse damit, die Tugaren bei Karačarovo in die Flucht geschlagen zu haben, und behauptet weiterhin, auch Solovej-Razbojnik vernichtet zu haben. Über das erste Ereignis weiß Iľja nichts, doch was Solovej betrifft, bezichtigt er den Bojaren offen der Lüge – sein Zwischenruf macht Vladimir auf den unbekannten Neuankömmling aufmerksam. Er fragt ihn freundlich nach seinem Namen, doch den von ihm gefangenen Solovej will er erst mit eigenen Augen sehen. Die Präsentation des gefangenen Bösewichts vor dem Palast ist wiederum primär Vorwand für eine Demonstration tricktechnischer Raffinessen – sein Pfiff sorgt für einen gewaltigen Tumult, bei dem Menschen und Gegenstände wild durch die Gegend gewirbelt werden. Iľja steigt dafür, einen solchen Bösewicht gefangen zu haben, im Ansehen von Aleša und Dobrynja, mit denen er sich sogleich verbrüdert. Vladimir nimmt den Helden, als Anerkennung für sein Verdienst, unter seine Recken auf und schenkt ihm einen Ring sowie Kettenhemd und Helm als Insignien – die Verbindung zwischen Herrscher und Volk wird somit symbolisch bekräftigt. Mit der Gefangennahme Solovejs, eines ,inneren Feindes’, hat Iľja seine Heldenhaftigkeit allerdings nur ,im kleinen Maßstab’ bewiesen – seine eigentliche Bewährungsprobe, die ihn spezifisch in seiner Funktion als Verteidiger des Vaterlandes bestätigt, steht noch bevor: Ein Abgesandter des Tugarenzaren Kalin samt Gefolge nähert sich. Vladimir will sie mit einem Gastmahl begrüßen lassen und zieht damit den Unmut Iľjas auf sich – derlei Freundlichkeit hätten solche ungebetenen Gäste nicht verdient. Hier deutet sich ein Konflikt zwischen ihm und Vladimir an – dieser fragt: „Князя править учишь?“ [„Willst du dem Fürsten das Herrschen lernen?”]. Iľjas Unmut ist ein Zeichen positiver Spontaneität, und wie sich kurz darauf herausstellt, war sein Impuls richtig – moralisch wirkt hier dennoch der Fürst im Recht: Bevor er ein Urteil über den Gesandten fällt, will er sich von diesem erst ein Bild machen, womit seine Besonnenheit hervorgehoben wird. 552 Dieser wird gespielt von Sergej Stoljarov, dem Nikita aus Kaščej Bessmertnyj, zu diesem Zeitpunkt 45 Jahre alt, aber neben dem tatsächlich 4 Jahre jüngeren Boris Andreev ungleich jugendlicher wirkend.

163 Das Erscheinen des Tugaren bestätigt freilich alle Vorurteile Iľjas – schon sein groteskes Äußeres gibt über seine Negativität Aufschluss: Er ist ein hässlicher Kerl von monströser Fettleibigkeit, der sich auf einem Schild tragen lässt und von einem riesigen, Fanfaren blasenden Gefolge umgeben ist. Ohne jegliche Begrüßung fordert er von Kiew im Auftrage Kalins Abgaben für 12 Jahre im Voraus unter wüsten Kriegsdrohungen. Hier wirkt nun Iľjas empörte Beschimpfung gerechtfertigt. Als der Botschafter dafür seinen Säbel nach ihm wirft, köpft er stattdessen eine steinerne Statue – Iľjas gezielter Wurf dagegen durchbohrt die Brust des Bösewichts und lässt ihn tot vom Schild fallen. Die Aktion erinnert an die entsprechende Szene mit Solovej, der ja ebenfalls durch einen Wurf mit einer Waffe zu Fall gebracht wurde und dem der Botschafter im Übrigen nicht unähnlich sieht – sozusagen eine märchentypisch-formelhafte Wiederholung visueller Natur. Die Stärke und Heldenhaftigkeit Iľjas ist damit diesmal nicht nur den eigenen Leuten, sondern insbesondere den Feinden der Rus’ demonstriert worden – das Gefolge des Botschafters stürmt in Panik davon, und Iľja ruft ihnen vor den Toren Kiews noch nach, sie sollten nur überall verkünden, dass die Rus’ nicht mehr ohne Schutz stehe. Eine Menschenmenge eilt zusammen, um Iľja als Helden zu feiern – und dieser erwidert die Lobesrufe und die Geschenke mit einer Verbeugung, um zu zeigen, dass er seinerseits das Volk ehrt, für das er eintritt. Der Fürst erscheint, um ihn ein weiteres Mal für seine Verdienste zu würdigen – diesmal mit einem Pelzmantel: Wiederum eine märchenhafte Wiederholung, da damit ein zweites Mal die organische Verbindung zwischen Volk und Herrscher bekräftigt wird. Die individuellen semantischen Eigenschaften der Figuren Iľja und Vladimir treten hier vor der übergeordneten Symbolik gänzlich in den Hintergrund: Der Bauernbursche von niedrigem Status und der sozial über allen stehende Herrscher stehen für die gleiche Sache – für beide, die gleichermaßen idealisiert sind, hat das Wohl des Volkes, der Gemeinschaft, mit der sie sich identifizieren, oberste Priorität.

I.C) DAS LIEBESLEBEN DES HELDEN [29:41 – 37:39] Die kurze Folgeszene zeigt, wie Iľja Fürst Vladimir und Fürstin Apraksija vom Raub Vasilisas berichtet. Bezeichnend ist, dass er zwar den Vorschlag der Fürstin, ihm eine neue adlige Braut zu finden, ablehnt, da ihm Liebe über Status und Reichtum stehe, aber sogleich das Thema wechselt und nach einem Heldenauftrag im Dienste des Volkes verlangt – der Dienst für die Gemeinschaft scheint ihm gleichsam Ersatz für das private Glück zu sein, wie es für einen sozialistisch-realistischen Helden charakteristisch ist. Sein Auftrag führt ihn in eine weit

164 entfernte Region an der Landesgrenze – sein Weg wird durch eine Bilderfolge von malerischen Landschaften in der Totale festgehalten, durch die er reitet. Es ist reiner Zufall, dass er in der Nähe der Grenze bei einer Gruppe Tugaren, die er in die Flucht schlägt, die geraubte Vasilisa wiederfindet – so können sie sich wieder in die Arme schließen. Eine Zwischenszene dient dazu, die Bojaren am Fürstenhof näher darzustellen, die explizit negativ gezeichnet werden als ein arroganter, streit- und selbstsüchtiger Haufen. Anschließend sieht man wiederum Vasilisa, die, während sie auf ihren Liebsten wartet, mit Hilfe von allerlei Tierchen ein Tischtuch webt und dabei ein Lied singt.553 Iľja trifft ein, und sie präsentiert ihm das Tischtuch als Geschenk – es handelt sich um ein magisches Tüchleindeckdich. Einiges deutet daraufhin, dass sie sich länger nicht gesehen haben, da sie ihn fragt, wo er so lange gewesen sei, und er seinerseits von Abenteuern im Dienste Kiews berichtet. Eine Szene später verabschiedet er sich bereits wieder – er will erneut zum Kampf mit den Tugaren an der Grenze aufbrechen, um dann nach Kiew zurückzukehren. Hier will er dann auch vom Verrat Mišatyčkas berichten, von dem er durch Vasilisa erfahren hat.554 Das Verhältnis Iľjas zu Vasilisa scheint sich, wie aus diesem Abschnitt hervorgeht, trotz ihrer gegenseitigen Liebesbekundungen auch nach ihrer Befreiung in jeder Hinsicht seinem Verhältnis zu seiner gemeinschaftsrelevanten Aufgabe als Verteidiger des Vaterlandes unterzuordnen – dass er ganz offensichtlich dieser Aufgabe wegen nicht viel Zeit mit ihr verbringt, wird von beiden als zwangsläufiges Opfer in Kauf genommen. Bezeichnend ist im Übrigen, dass die beiden aufeinanderfolgenden Szenen von ihrem Zusammensein eine Filmzeit von nicht einmal ganz 3 Minuten beanspruchen. Für die weitere Handlung relevant ist darin insbesondere Iľjas Bitte an Vasilisa, ihm einen Sohn zu schenken. Dies muss nicht unbedingt heißen, dass Vasilisa bereits schwanger ist und er darauf nur Bezug nimmt, sondern kann auch durchaus wörtlich genommen und als märchenhafter Wunsch verstanden werden. Der Sohn soll den Namen Sokoľniček tragen, zu einem unbesiegbaren Recken heranwachsen und den Ring erhalten, der dem Vater seinerseits von Vladimir geschenkt wurde.

II.A) DER BRUCH DES HERRSCHERS MIT DEM HELDEN [37:39 – 46:39] Der nun folgende Abschnitt enthält ein zentrales Schlüsselmoment des Films, da die als

553 Dieser Ausschnitt scheint in seinem verspielt-niedlichen Charakter nicht so recht zum pathetisch-erhabenen Grundton des Films zu passen. 554 Wenn man davon ausgeht, dass zwischen Vasilisas Befreiung und ihrem Wiedersehen mit Iľja viel Zeit vergangen ist, ist freilich unklar, warum Iľja dies nicht schon früher getan hat, da Vasilisa ihm ja direkt nach ihrer Befreiung davon mitteilen konnte. Dem Film liegt aber ohnehin offensichtlich ein sehr relativer Zeitbegriff zugrunde, der sich auch mit dem Märchengenre erklären lässt – denn dessen chronotopische Verhältnisse sind ja bekanntlich allgemein sehr diffus.

165 positiv eingeführte Herrscherfigur darin einen deutlichen Bruch in ihrer Charakterisierung erfährt und sich darin recht deutlich Kritik am Herrscherkult und damit an der Monokratie manifestiert, die in den vorherigen Szenen noch als ideal erschien. Zunächst wird die Vorgeschichte hierfür erzählt, die wiederum mit einer Tat der Tugaren zusammenhängen: Eine Karawane mit Handelsschiffen von Fürst Vladimir fährt durch malerische Landschaften den Fluss entlang, begleitet von den Klängen eines schwermütigen Liedes, das Vasilisa über ihre erneute Trennung von Iľja singt – sie befindet sich an Bord eines der Schiffe.555 Noch während des Gesangs werden Bilder von den sich zusammenrottenden Tugarenkriegern gezeigt, die kurz darauf unter dramatischer Musik in einer raschen actionreichen Schnittfolge die Schiffe überfallen und sich mit der Besatzung einen blutigen Kampf liefern – Vasilisa wird dabei erneut entführt. Ein scharfer Kontrast, der die Dramatik der Ereignisse betont, entsteht dadurch, dass diese Bilder unmittelbar übergehen in solche heiterer Natur: Eine Reihe von geschmückten Pferdeschlitten prescht zu fröhlicher Musik durch einen weißverschneiten Wald. Allerlei Volk hat sich versammelt, ein Festumzug zieht vorbei, Fässer werden gerollt, eine Strohpuppe angezündet, der Fürst und die Fürstin werfen Münzen in die Menge – es handelt sich um das Maslenica-Fest mit seinen Bräuchen, das gefeiert wird. Die fröhliche Musik setzt schlagartig aus, als Vladimir des Karawanenführers aus der vorigen Szene gewahr wird – mit zerrissenen Gewändern und vor Erschöpfung wankend schleppt er sich auf den Platz, um dem Füsten die Unglücksnachricht zu überbringen, dass seine Schiffe von den Tugaren ausgeplündert wurden und er sich als einziger retten konnte. Während er fortgebracht wird, fängt eine Halbnahe Vladimir an der Seite seiner Bojaren ein – sein unruhiger Blick verrät Fassungslosigkeit, dann blitzen seine Augen auf: Wo denn Iľja Muromec gewesen sei, ruft er aus, warum er dies nicht verhindert habe? Ganz offensichtlich sucht er nach irgendeinem Schuldigen, den er für das Unglück verantwortlich machen kann, und lässt sich von momentaner emotionaler Erregtheit statt von Vernunft leiten. Der neben ihm stehende Mišatyčka weiß dies auszunutzen, indem er Iľja zusätzlich schlecht macht und als Faulpelz, der sich nicht um das Kriegsgeschäft kümmere, verleumdet. Die Besonnenheit, die er in den vorherigen Szenen an den Tag legte, scheint dem Fürsten in dieser Situation gänzlich abzugehen – er zeigt vielmehr so etwas wie negative Spontaneität, indem er befiehlt, Iľja drei Jahre das Erscheinen bei Hofe zu verwehren. Den merklichen Unmut des versammelten Volkes über diese Entscheidung nimmt er nicht wahr, und auch die besorgte

555 Der Grund für ihren Aufenthalt dort ist unklar.

166 Äußerung Apraksijas, Kiew würde dadurch seinen Beschützer verlieren, kann ihn nicht umstimmen. Für die psychologische Gestaltung der Figur ist dieses Moment äußerst interessant, denn hier legt Vladimir die Maske des idealisierten Herrschers ab und erscheint als individualisierter Charakter: Er wird nicht zur negativen Figur, aber zeigt nachvollziehbare, menschliche Schwächen. Direkt im Anschluss daran wird der nichtsahnende Iľja mit der Entscheidung des Fürsten konfrontiert – die Musik der vorangegangenen Szene ist noch nicht verklungen, als er auf seinem Pferd vor dem Stadttor erscheint. In der winterlichen Hintergrundkulisse ist sehr viel Volk versammelt, das Zeuge der folgenden Auseinandersetzung wird und sich nach und nach um Iľja schart. Die Wächter teilen ihm zunächst mit bedrückten Minen mit, dass ihnen befohlen sei, ihn nicht hereinzulassen – da eilt auch schon eine Gruppe Bojaren unter Führung Mišatyčkas aus dem Palast, um sie nochmals übereifrig an den Befehl zu erinnern. Iľja gibt Mišatyčka zu verstehen, dass er um seinen Verrat Bescheid weiß, worauf der Angesprochene zusammenzuckt, doch die anderen Bojaren fahren unbeeindruckt mit ihrem Gezeter fort. Iľja, der sich als Opfer ihrer Verleumdungen wähnt, richtet drohend den Bogen auf sie – er macht sie zum Gespött, indem er auf eine Reihe Eiszapfen schießt, die klirrend auf sie hinabregnen. Während sie in den Palast eilen, um sich an den Fürsten zu wenden, macht Iľja seinem gerechten Zorn Luft, wobei das versammelte Volk ihn dabei mit zustimmendem Gemurmel und Zurufen bekräftigt. Er prangert das schmarotzerhafte Verhalten der Bojaren an, die zur Verteidigung der Rus’ gegen die Tugaren nicht beizutragen haben, während er den Fürsten dafür zu verurteilen scheint, dass er seine Verdienste nicht zu schätzen weiß. Erst der hinzueilende Dobrynja kann ihn in dieser Hinsicht beschwichtigen. Anstatt seinem spontanen Impuls weiter zu folgen und seinem eigenen Zorn nachzugeben, kommt Iľja schnell zur Besinnung und willigt ein, mit Dobrynja Vladimir persönlich aufzusuchen. Dieser dagegen ist, wie sich in der Folgeszene im Palast zeigt, durchaus nicht so einsichtig. Das Saalbeleuchtung gibt nur gedämpftes Licht, während ansonsten Schatten und Zwielicht die Szene dominieren, was dem düster-unheilvollen Grundton der Handlung entspricht. Die eigentliche Auseinandersetzung, überwiegend halbnah gefilmt, spielt sich zwischen Iľja und den Bojaren ab, die ihren Worten mit heftigen Bewegungen und Gesten Ausdruck verleihen: Iľja erklärt seinen Ausbruch und seine Entrüstung mit ehrlichen Worten, während die Bojaren ihn aufhetzerisch und unter Verdrehung der Tatsachen als Fürstenbeleidiger und Verräter an Kiew anklagen. Stimmen von draußen werden laut, die nach Iľja rufen. Mišatyčka nutzt dies, um ihn als Aufwiegler des Volkes gegen den Fürsten

167 darzustellen – Iľjas Worte, der Verrat lauere nicht im Volk, sondern im Palast, stoßen bei Vladimir auf taube Ohren. Er sitzt die ganze Zeit über in starrer Haltung und steinernem Gesichtsausdruck auf seinem Thron, wodurch seine festgefahrene Einstellung betont wird. So gibt er schließlich den Befehl, Iľja bei Wasser und Brot einzukerkern, um ihn so zur Einsicht zu zwingen. Iľja ist es ein Leichtes, die sich auf ihn stürzenden Bojaren mit einer einzigen Bewegung abzuschütteln, so dass sie durch den ganzen Raum stolpern. Er ist sich nicht nur bewusst, dass er im Recht ist, sondern auch, dass er sich dieses Recht mit Gewalt verschaffen könnte, doch davon sieht er ab und lässt sich abführen – allerdings nicht, ohne vorher dem Fürsten zu prophezeien: „Придет час, ты еще мне поклонишься.“ [„Die Stunde wird kommen, in der du noch vor mir niederknien wirst.”] Eine der wenigen Großaufnahmen des Ausschnitts fängt die Reaktion Vladimirs auf diese Worte ein, die sich in seinem Gesicht abzeichnet – sein Blick wird unsicher, und er wendet ihn langsam wie schuldbewusst zu Boden. Er scheint also durchaus zu ahnen, dass er falsch handelt, doch Sturheit, Stolz und Eitelkeit versperren ihm den Weg zur Einsicht. „Вы не Муромца обидели, вы у Русь-земли из рук меч выбили!“ [„Ihr habt nicht Muromec gekränkt, ihr habt der Rus’ das Schwert aus der Hand geschlagen!”] – mit diesen Worten führt Dobrynja Vladimir vor Augen, dass die Entscheidung für das ganze Volk verhängnisvolle Konsequenzen haben wird. Er und Aleša kündigen ihm den Dienst auf und wollen Kiew verlassen. Erst jetzt erhebt sich Vladimir von seinem Thron und verlässt sichtlich erregt den Raum – in einem Nebenzimmer reißt er sich symbolträchtig mit einer heftigen Bewegung seinen schweren goldbesetzten Mantel vom Leib und fasst sich an seinen goldenen Kragen, als ob er ihm das Atmen schwer machen würde: Die Insignien seiner Macht, die ja auch mit Verantwortung einhergeht, scheinen ihn geradezu zu erdrücken. Apraksija tritt hinzu, die nochmals an seine Vernunft appelliert und ihn erinnert, wieviel Gutes Iľja für die Rus’ getan habe. Obwohl Vladimir sichtlich mit sich selbst zu hadern scheint, ist das einzige Zugeständnis, das er zu machen bereit ist, der Auftrag an Mišatyčka, Iľja in seinem Verlies mit dem besten Essen zu versorgen. Nach außen hin gibt er vor, dass er sich erhofft, ihn dadurch zur Einsicht zu bringen – die abfällig geäußerten Bemerkung Mišatyčkas, er werde niemals einsichtig werden, quittiert er jedoch mit dem heftigen Befehl, ihn trotzdem aufs Beste zu versorgen. Der Ausschnitt ist in mehrfacher Hinsicht für die Fragestellung in Bezug auf Herrscherkritik bedeutsam. Vladimir handelt hier nicht aus böser Absicht heraus, sondern aus

168 menschlicher Schwäche. Sein Verhalten ist deshalb zwar bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, aber das macht seinen Fehler nicht weniger gravierend: Die Kränkung Iľjas ist, wie es Dobrynja anmerkt, als Kränkung des russischen Volkes zu verstehen, dessen ideale Verkörperung der Held ja darstellt – die Einigkeit von Herrscher und Volk ist also zerstört. Die zugrundeliegende Aussage lässt sich vielleicht folgendermaßen verallgemeinernd zusammenfassen: Auch der Herrscher, der sein Volk liebt und sonst weise regiert, ist nur ein Mensch und als solcher nicht gefeit davor, Fehler zu machen. Diese aber können schwere Folgen für das ganze Volk haben – und niemand kann ihn vor solchen Fehlern bewahren, wenn alle Macht bei ihm allein liegt. So gesehen formuliert der Film hier recht deutlich Kritik an der Monokratie, und hierin eine Allusion auf die politische Situation in der Sowjetunion zu sehen, ist naheliegend. Eine solche Deutung scheint in Anbetracht des zeitgeschichtlichen Kontexts durchaus nichts allzu gewagt – dazu aber später mehr.

II.B) DIE FEINDE [46:39 – 53:59] Der folgende Abschnitt dient einerseits als eine Art komisches Intermezzo, andererseits werden die Feinde, der Tugarenzar Kalin und seine Umgebung, näher vorgestellt und charakterisiert. Der verräterische Bojare Mišatyčka hat Iľja das Essen vorenthalten und wähnt ihn deshalb längst verhungert: Zeit für ihn, ein Fässchen mit einer Nachricht dem Dnepr zu übergeben, der es ins Tugarenreich tragen soll. Das Fässchen jedoch wird abgefangen, während Mišatyčka sich der Entdeckung nur durch Flucht entziehen kann – unter Verlust seiner Hose, die sich in einer Marderfalle verfängt. Diese wiederum landet schließlich statt des verabredeten Zeichens in dem Fässchen, und so haben die Berater Kalins, als sie das Fässchen öffnen, ihre liebe Not, ihrem entzürnten Herrscher die Hose mit abenteuerlichen Deutungen als Zeichen der Unterwerfung Kiews zu erklären. Von der vordergründigen Situationskomik nicht beeinträchtigt ist der überaus düstere visuelle Eindruck, der vom Tugarenreich und insbesondere von Zar Kalin selbst entsteht: Vor allem dessen ständiges Attribut, sein Sitz auf dem Rücken niedergebeugter Sklaven mit nackten Oberkörpern und stoisch leidenden Gesichtern, ist ein reichlich erschreckendes Detail. Kalin und seine Tugaren wirken wie groteske, aber furchteinflößende Karikaturen – darüber hinausgehend sind sie nicht weitergehend charakterisiert: Ihr einziges Bestreben besteht darin, die Rus’ zu vernichten. Diese eindimensional negative Zeichnung der ,äußeren Feinde’ ist ein Kennzeichen des sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung556, kann hier

556 Vgl. Clark 1985, S. 186; Engel 1999, S. 82.

169 aber auch damit erklärt werden, dass kein konkretes, individuelles Feindbild Russlands oder der Sowjetunion dargestellt wird, ob historisch oder aktuell, sondern einfach, wie im Märchen üblich, der böse Feind an sich. Entsprechend ist es nur folgerichtig, dass das in den Bylinen als Tataren identifizierte Volk im Film mit der unbestimmten Bezeichnung Tugaren versehen wurde, wenn hier auch sicherlich daneben Überlegungen zur Political Correctness, um ein modernes Schlagwort zu benutzen, eine Rolle gespielt haben dürften – die Tataren waren ja immerhin Sowjetbürger. Das diffus zentralasiatische Aussehen der Tugaren deutet freilich dennoch in eine bestimmte Richtung. Kalins kaltblütige Grausamkeit in Kombination mit Heimtücke steht in der Folgeszene im Mittelpunkt: Er bedrängt die gefangene Vasilisa, die sich ihm mit Abscheu verweigert. Sie hat in der Zwischenzeit Iľjas Sohn geboren: Sokoľniček hat mit 2 Jahren schon das Aussehen eines 5jährigen und trägt den Ring seines Vaters. Als er sich auf Kalin stürzt, um seine Mutter zu verteidigen, fasst dieser einen perfiden Plan, um sich für Vasilisas Ablehnung zu rächen557 – er will den Kleinen als sein eigenes Pflegekind zu erziehen und ihn so zu einem Tugarenkrieger machen. Ein Schnitt zeigt den Kleinen in Tugarentracht beim Bogenschießen auf einem großen Platz vor einer Schar Krieger, und eine Überblendung macht aus ihm einen jungen Mann. Wie wir vom beobachtenden Kalin erfahren, sind 8 Jahre ins Land gegangen – mit nur 10 Jahren ist aus Sokoľniček ein ausgewachsener Krieger geworden, der keine Erinnerung an seine Herkunft hat und sich trotz seiner blonden Lockenpracht als Tugare sieht. Die in der Nähe des Platzes in einem Sklavenlager in Fesseln gelegte Vasilisa muss zu ihrem großen Leiden das Geschehen mit ansehen – sie kommentiert es inbrünstig, doch für die Beteiligten ist sie offensichtlich ein unsichtbarer Beobachter, was hier als sehr theatralisches Erzählmittel wirkt. Als Sokoľniček Kalins ersten Zweikämpfer besiegt, hält Kalin die Zeit für reif, seinen Eroberungsfeldzug gen Kiew zu wagen.

II.C) REUE UND VERGEBUNG UM DER HEIMAT WILLEN [53:59 – 01:00:55] Mit Kalins Zug gegen Kiew beginnt eine regelrechte Kaskade an spektakulären Massenbildern: Die ohnehin schon gewaltige Anzahl an Statisten wird dabei im Panorama filmtechnisch durch Spiegeltrick noch vervielfacht, so dass das riesige Tugarenheer auf seinem Marsch zu Fuß und zu Pferde schier endlos wirkt, während Total- und Halbtotalaufnahmen deutlich machen, wie weit sie vorrücken – die Umgebung ist aus

557 Es scheint Kalin tatsächlich nur um Rache an Vasilisa zu gehen – nicht zu ahnen scheint er, dass es sich bei Sokoľniček um den Sohn von Iľja Muromec handelt, dem Verteidiger Kiews, der dessen Eroberung bisher verhindert hatte und an dem er daher besonderen Grund zur Rache hätte.

170 vorherigen Einstellungen als Teil der Rus’ bekannt. Die Bilder verfehlen nicht ihre beabsichtigte Wirkung558 – die Übermacht des Feindes wird deutlich spürbar. Auf den Zinnen der Stadtmauer vernehmen Fürst und Fürstin die Forderung Kalins nach einer Unmenge Gold, vorgetragen von drei berittenen Kriegern – obwohl diese neben dem Tor winzig erscheinen, wirken ihre wüsten Drohungen nach den vorher gezeigten Bildern des Heeres durchaus gefährlich. Vladimir ist gezwungen, auf die Forderung einzugehen, und kann sich nur eine Frist von drei Tagen ausbitten. Nachdem die drei Reiter verschwunden sind, zeigt ihn eine Halbnahe mit nachdenklichem, äußerst besorgtem Gesicht. Apraksija zeigt auf die Bojaren und fragt mit bitterer Stimme, wen von ihnen Vladimir denn als Zweikämpfer losschicken wolle? Sogleich zucken die Bojaren zusammen und weichen zurück, um sich dann rasch zu entfernen, bis auf Mišatyčka. Nur Iľja könne helfen, weiß die Fürstin. Vladimirs Gesicht bleibt unbewegt, doch er gibt mit gebrochener Stimme zu verstehen, dass er seinen Fehler nun eingesehen hat – er will selbst in den Kerker steigen und auf Knien um Verzeihung bitten. Klar ist, dass er diesen Schritt nicht um seiner selbst willen, sondern für sein Volk tun will, dessen Wohl ihm nach wie vor an erster Stelle steht: Nur seine persönliche Schwäche hat ihm die Augen davor verschlossen, dass er mit Iľjas Einkerkerung nicht im Interesse des Volkes handelte – im Moment der Gefahr wird ihm dies bewusst. Mišatyčkas Versuche, ihn davon abzuhalten, zu Iľja zu gehen, haben keinen Erfolg – seine Behauptung, der Gefangene habe das Essen verweigert, bringt ihm nur den Zorn Vladimirs ein, dass er darüber keinen Bericht erstattet habe. Der Schlüssel zum Kerker findet sich auch, und so machen sich Fürst, Fürstin und ein kleines Gefolge auf, hinabzusteigen. Ein sehr schwacher Schein fällt von der Eingangstür in den fast schwarz erscheinenden Innenraum – nur undeutlich erkennbar ist eine reglose liegende Person im Vordergrund. Erst als die Fackeln den Raum erhellen, wird diese als Iľja erkennbar. Da er sich nicht rührt, befürchter der Fürst, er sei gestorben – doch da richtet er sich auf und setzt sich. Seine Haare sind nun von Grau durchdrungen, sonst ist er aber unverändert. Er wirkt keinesfalls erfreut über den Besuch und wendet sich ab. Erst Mišatyčkas Lügen bringen ihn zum Reden: Er berichtet vom Verrat Mišatyčkas, den er damals aufdecken wollte, und demonstriert Vasilisas Tüchleindeckdich, das ihn während der Jahre im Kerker am Leben erhalten hat. Während er jedoch zu Vladimir spricht, wendet er ihm weiter ablehnend den Rücken zu und blickt finster drein. Auch, als der Fürst um Vergebung bittet und er und Apraksija 558 Zur Gänze können sie diese, das liegt auf der Hand, nur auf der Kinoleinwand entfalten, da dort das Breitbildformat richtig zur Geltung kommt.

171 niederknien, um ihn zur Hilfe gegen Kalin zu bewegen, ist er weiter abweisend. Erst, als auch das Gefolge, die Krieger und einfachen Leute ebenso wie die Bojaren, zu bitten beginnen, lässt er sich erweichen. Er steht auf, und sein wuchtiges musikalisches Leitmotiv erklingt und macht seine Entscheidung klar. Es ist erwartungsgemäß sein gewaltiger Patriotismus, der ihn zu dieser Entscheidung bringt: „А не ради князя Владимира, и не ради княгини Апраксии, а для ради матушки Свято-Русь земли и обиженный постараюся!“ [„Nicht um des Fürsten Vladimir willen, auch nicht für die Fürstin Apraksija, sondern um der heiligen Mutter Rus’ willen gebe ich trotz der Kränkung alles!”] Insbesondere im körperlichen Spiel der Darsteller Iľjas und Vladimirs, Andreev und Abrikosov, das für ein paar Momente ungewöhnlich subtil und unpathetisch wirkt, wird angedeutet, dass das Verhältnis zwischen ihnen immer noch von einer gewissen Spannung bestimmt ist: Iľja schenkt Vladimir zunächst keine Beachtung und geht an ihm vorbei die Treppe empor, Vladimir läuft ihm etwas unbeholfen nach und ruft nach einer goldenen Rüstung für den Helden – dieser zeigt darauf keine Reaktion. Während der Verräter Mišatyčka auf Befehl des Fürsten davongeschleppt wird, dreht der Recke sich kurz zu letzterem um, wendet sich aber rasch wieder ab. Vladimir unternimmt einen zaghaften Versuch, ihn mit der Hand zu berühren. Er hält jedoch in der Bewegung inne, und erst, als er Iľja direkt anspricht, wendet dieser sich ihm zu und sieht ihn direkt an. Was zu tun sei, fragt Vladimir, und Iľja rät ihm, das gesamte russische Volk zum Kampf zu sammeln. Vladimirs flammendes Versprechen, dies in drei Tagen zu vollbringen, beantwortet Iľja mit einem skeptisch- sorgenvollen Blick. Während der Fürst also mit schlechtem Gewissen fast zwanghaft versucht, seine Fehler vergessen zu machen, ist das Vertrauen des Recken in ihn erschüttert. Wie die nächste Szene zeigt, nicht nur das seine: Eine Kamerafahrt fängt die gespenstische Atmosphäre eines Schlachtfeldes nach der Schlacht ein, mit dunklen Wolken und Bergen von Kriegerleichen: Dobrynja und Aleša haben an der Grenze des Reiches einen verlustreichen Sieg hinter sich. Sie sind sich einig, dass die Heimat weiter verteidigt werden muss – darüber, ob sie nach Kiew zurückkehren und Vladimir unterstützen sollen, geraten sie jedoch so sehr in Streit, dass sie zu den Waffen greifen. Erst die Nachricht, dass Iľja am Leben sei und das Volk sammle, kann sie versöhnen und dazu bringen, sofort nach Kiew zu reisen.

III. DER KAMPF FÜR DIE HEIMAT [01:00:55 – 01:26:47] Der Rest des Streifens arbeitet im Grunde genommen nur noch auf das große Finale hin – wobei in kurzen Abständen ein Schauwert nach dem anderen aufgeboten wird. Dies beginnt

172 mit von bedrohlich-dramatischer Musik untermalten Bildern des nächtlichen Tugarenlagers mit seinen Feuern, das erst aus der Nähe in einer Halbtotale, dann von etwas weiter weg in Totale und schließlich von den Zinnen der Stadtmauer Kiews aus in einer Rundumkamerafahrt als ferner Lichterring gezeigt wird, der die Landschaft durchzieht und die ganze Stadt einkesselt. Da die russischen Heerestruppen am dritten Tag noch nicht erschienen sind, will Iľja in Verkleidung als Unterhändler ins Feindeslager gehen, um dort eine weitere Dreitagesfrist auszuhandeln. Das besorgte Angebot Vladimirs, dafür die kostbarsten Schätze mitzunehmen, schlägt er aus, denn er hat eine List ersonnen: Drei Schalen Gold, Silber und Perlen werden auf dem Weg verstreut. Im Feindeslager angekommen, gibt er Kalin gegenüber vor, die Schätze Kiews zerlöcherter Säcke wegen auf dem Weg verloren zu haben – und da Kalin dem vermeintlichen Bojaren nicht traut, schickt er seine eigenen Leute, sie einzusammeln, nicht, ohne dem Botschafter mit grausamer Strafe zu drohen, wenn er die Unwahrheit gesagt habe. Bilder der kriechend die Wege absuchenden Tugarenkrieger zeigen, dass sie sich die wenigen Münzen, die sie finden, selbst einstecken. Es folgt der Messertanz einer leichtbekleideten Tugarin zur Unterhaltung Kalins, während er ungeduldig wartet – ein weiterer Schauwert: Im Gegensatz zu den positiven Helden wird den Feinden, und mit ihnen den Zuschauern, eine gewisse Erotik zugestanden.559 Die Sucher kehren zurück und erklären, nichts gefunden zu haben – darauf hat Iľja nur gewartet: Er dreht einen der Kerle um, dem die eingesammelten Münzen aus dem Gewand fallen. Kalin wähnt sich von seinen eigenen Leuten betrogen – er ersticht zwei der Sucher und fordert von den anderen die Schätze Kiews, da sie sonst das selbe Schicksal ereile. Da die Tugaren lieber ihre eigenen Schätze hergeben, als den Zorn ihres Herrn zu riskieren, beginnen sie, diese vor seine Füße zu werfen: So wächst um ihn herum ein riesiger Berg aus Gold und Geschmeiden, der von Einstellung zu Einstellung größer wird – wiederum ein recht beeindruckendes Bild. Der unersättliche Kalin hat jedoch noch nicht genug – er verlangt, dass Iľja Muromec zu seiner Unterhaltung erscheint, dann würde er von Kiew abrücken. Drei Tage lässt sich Iľja Zeit, um sich erkennen zu geben – dann wirft er sein Bojarengewand ab und steht in voller Rüstung vor Kalin. Dieser denkt natürlich nicht daran, sein Versprechen zu halten – er zürnt über Iľjas List, doch da er seinen Mut bewundert, will er aus ihm einen Gefolgsmann machen. Ein solcher Verrat kommt für Iľja nicht in Frage – und er macht nochmal deutlich, dass er hier repräsentativ für den Russen an sich ist: „Еще век того не было, чтобы русский богатырь 559 Die Tänzerin ist ein Gast aus dem sozialistischen Ausland, die Nordkoreanerin An Seong Hui, die dafür sogar gesondert im Vorspann erwähnt wird.

173 отступился от родной земли!“ [„Das hat es noch nie gegeben, dass ein russischer Recke von seiner Heimat abgerückt wäre!”] Kalins Befehl, ihn festzunehmen, ist zwecklos – der Held zerreißt die Fesseln, pfeift sein Wunderpferd herbei und ist schon verschwunden. Unterdes aber steht in Kiew das russische Heer kampfbereit und wird Iľja von Vladimir in einer gemäldeähnlichen Totale stolz präsentiert. Kalin schickt nun vor der großen Schlacht Sokoľniček als Zweikämpfer gegen Iľja vor. So treffen schließlich Vater und Sohn auf dem Felde unerkannt aufeinander. Dieses bekannte Folkloremotiv wird vom Film allerdings eher nebenbei zur Hebung des Spannungsbogens abgehandelt und nimmt nicht sehr viel Raum ein: Der Kampf ist ansprechend gefilmt, findet aber ein schnelles Ende, als Iľja seinen Ring an Sokoľničeks Hand entdeckt – er deckt ihm seine wahre Herkunft auf, und Sokoľniček, der sich nun auch an seine Mutter erinnert, ist sofort bereit, die Seiten zu wechseln und für die Rus’ zu kämpfen. Zunächst soll er aber Vasilisa befreien, und damit er ungehindert ins Tugarenreich gelangt, lässt er sich zum Schein von seinem Vater besiegen. Dies ist das Zeichen für den Beginn der finalen großen Schlacht: Diese besteht aus einer Folge von action- und komparsenreichen Einstellungen, die in ihrer Mise-en-scène an wuchtig-monumentale Schlachtengemälde aus der Bildenden Kunst erinnern, insbesondere an die Darstellungen von Viktor Vasnecov. Eine Halbtotale der drei Helden Iľja, Dobrynja und Aleša in voller Rüstung auf ihren Pferden stellt etwa ganz offensichtlich dessen Werk Tri bogatyrja (Die drei Recken) von 1898 nach, allerdings in seiner epischen Breite noch gesteigert durch das russische Heer und die Türme Kiews im Hintergrund. Durch ein Cross Cutting wird unterdes Sokoľničeks Suche nach Vasilisa im Tugarenreich gezeigt, die die Versöhnung von Mutter und Sohn und Befreiung aller Gefangenen nach sich zieht. Die Schlacht nimmt weiter ihren Lauf: Als letzte Steigerungen des Monumentalen dienen Kalins Ritt auf einen gewaltigen Menschenberg aus seinen Kriegern, um einen Überblick über die Schlacht zu bekommen, und schließlich als Geheimwaffe der Tugaren ein tricktechnisch aufwendiger geflügelter und feuerspeiender dreiköpfiger Drache. Doch auch dieser wird von den russischen Helden vernichtet – Iľja und Sokoľniček, der unterdes auf dem Schlachtfeld angekommen ist, verpassen ihm gemeinsam den letzten Stoß. Damit ist der vormals übermächtig scheinende Feind endgültig besiegt – die Tugaren ergreifen die Flucht. Als Zar Kalin sich dem Schwert eines russischen Kriegers gegenübersieht, beginnt er erbärmlich um Gnade zu winseln. Iľja befiehlt, ihn nicht zu töten: Über ihn soll erst Gericht gehalten werden – bezeichnenderweise erklärt der Recke, dass das ganze Volk Richter sein soll, während er

174 Fürst Vladimir hier nicht einmal erwähnt. Nachdem Iľja nun auch mit Vasilisa wiedervereint wird, zeigen die letzten Einstellungen das siegreiche Volk vor den Toren Kiews versammelt. Vladimir verneigt sich vor Iľja und will ihm zu Ehren ein Festmahl geben. Das Angebot, am Hofe zu leben und Fürst oder Bojare zu werden, lehnt der Recke jedoch wohlweislich ab – bittet aber um Aufnahme Sokoľničeks unter die Gefolgsleute Kiews und übergibt ihm sein Wunderschwert: Da er nunmehr bewusst für die richtige Sache kämpft, kann hier ein erneuter Generationenwechsel stattfinden. Während das Volk seinem übergroßen Helden Iľja zujubelt, zeigt die letzte Einstellung eine Großaufnahme von diesem – seine abschließenden Worte machen jedoch erneut klar, dass er nichts weiter als ein Symbol ist, eine Verkörperung des idealen Volkes: „Не сгубили поганые красен Киев-град! Отстоял народ Русь-землю от погибели!“ [„Die Bösen haben das schöne Kiew nicht vernichtet! Das Volk hat die Rus’ vor dem Untergang bewahrt!”]

IV.2.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung Eine Gegenüberstellung der semantischen Charakteristika von Held und Herrscher in Iľja Muromec gestaltet sich folgendermaßen:

Eigenschaften Iľja Muromec Fürst Vladimir Individuelle Eigenschaften mittleren Alters mittleren Alters männlich männlich menschlich menschlich gut gut gelähmt → übermenschlich stark passiv → aktiv → passiv → aktiv passiv patriotisch patriotisch positive Spontaneität ↔ Bewusstsein Bewusstsein → negative Spontaneität → Bewusstsein (gerecht ↔ ungerecht) stur → einsichtig Familiärer Status liiert (verheiratet ?) mit Vasilisa verheiratet mit Apraksija Sozialer Status niedrig hoch Lokalisierung unbeweglich in seiner Hütte → mobil unbeweglich, da Aktionsradius nur innerhalb innerhalb der Grenzen der Rus’ → der Mauern Kiews bzw. in dessen unbeweglich im Kerker → mobil unmittelbarer Umgebung innerhalb der Rus’

Was die inneren Eigenschaften betrifft, ist die Figur des Titelhelden ein idealisierter und dadurch hochgradig statischer Charakter. Er zeigt durchweg Züge sowohl von positiver Spontaneität als auch von politischem Bewusstsein, die aber zu keinen offenen Widersprüchen führen. Veränderungen, die mit ihm vorgehen, sind dagegen rein äußerlicher Natur: Anfangs zwingt ihn nur seine Gelähmtheit zur Passivität, während die Veranlagung zur Aktivität

175 bereits gegeben ist und so das Innere durch Zauber nur nach Außen gekehrt werden muss. So kann er auch den geschlossenen Raum seiner Hütte, die für ihn wie ein Gefängnis ist, verlassen und in die Freiheit treten. Ein weiteres Mal in die Passivität und Unfreiheit wird er ebenfalls unfreiwillig gedrängt – was wiederum mit einer Lokalisierung in einem geschlossenen Raum einhergeht, diesmal einem tatsächlichen Gefängnis. Wie die Tabelle zeigt, entsprechen Iľja und Vladimir eigentlich in zahlreichen Eigenschaften einander – der Hauptunterschied ist der soziale Status. Am Anfang wirkt dieser nebensächlich, wird schließlich aber entscheidend für das Verhältnis der beiden Figuren: Allein seine Position als Fürst ist es, die Vladimir Macht über Iľja gibt und es ihm somit ermöglicht, diesen ungerecht zu behandeln. Iľja wäre wohl körperlich in der Lage, dieser Einkerkerung entgegenzuwirken, nicht aber moralisch – hier ist er ganz positiver Held im sozialistisch-realistischen Sinne: Auch wenn er persönlich gekränkt ist – sein integrer Patriotismus, seine Systemtreue sozusagen, sieht keine Auflehnung gegen den Herrscher vor, auch wenn dieser selbst unmoralisch handelt und seine Macht missbraucht. Dass er dies tut, macht der Film explizit klar – ohne damit aber den Fürsten zu einer negativen Figur zu machen: Er ist nicht böse, nur durch persönliche Schwächen fehlgeleitet. Es sind aber weniger diese selbst, die hier in Kritik geraten – sie sind ohnehin nur vage angedeutet. Vielmehr richtet sich der Film hier offensichtlich gegen eine Form der Monokratie, die es zulässt, dass die persönlichen Schwächen eines Herrschers so weitreichende Folgen für das ganze Volk nach sich ziehen können. Eine solche Deutung des Streites zwischen Vladimir und Iľja liegt nahe, ohne dass man die Monokratiekritik als gegen das Sowjetsystem per se gerichtet sehen muss. Der Machtmissbrauch des monokratisch herrschenden Stalin war vom neuen sowjetischen Parteichef Nikita Chruščev in seiner berühmten Geheimrede vom 25. Februar 1956 über den Personenkult, die in Auszügen auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, scharf verurteilt worden, und in diesem Kontext scheint auch der Film lesbar. Das sozialistische Gesellschaftsystem an sich wurde dagegen von der neuen Führung nicht als ursächlich gesehen oder gar in Frage gestellt560, und „[i]n some ways the entire drama of destalinization can be seen as a ceremonial legitimizing of the new government.“561 Auch dies findet in Iľja Muromec seinen Wiederhall: Dem schwachen und bisweilen ungerechten Herrscher wird darin ja ein starkes Volk gegenübergestellt, das in seiner Einigkeit und im

560 Für eine differenziertere Sicht auf die genauen Hintergründen und Folgen der Geheimrede und der Enstalinisierung vgl. Neutatz 2013, S. 363-370. 561 Clark 1985, S. 210.

176 Glauben an die richtige Sache stets integer und vorbildhaft bleibt und in der Figur Iľjas seine ideale Verkörperung findet – der neuen Linie der Kultur- und Gesellschaftspolitik entsprechend wird der Kult des Herrschers also kritisiert, der Kult des Volkes dagegen umso stärker zelebriert. Während sich der Streifen also in seiner Grundbotschaft den neuen kulturpolitischen Vorgaben anpasst, ist er im Bereich der Ästhetik wie in seiner grundsätzlichen narrativen Orientierung noch sehr stark am Sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung orientiert – er setzt in beidem auf das Spektakuläre und Grandiose. Der Antimonumentalismus, der ansonsten für den Film des Tauwetters bestimmend werden sollte562 und auch im Märchengenre seine Vertreter fand, lag einem Regisseur wie Aleksandr Ptuško völlig fern. Daraus Aussagen über dessen Einstellung zum System herauszulesen, scheint übrigens nicht unbedingt angebracht: In seinem Folgefilm, der russisch-finnischen Co-Produktion Sampo (Das gestohlene Glück, 1958), setzt er das finnisch-karelische Nationalepos Kalevala mit ebensoviel Pathos und naivem Pomp um wie die russischen Bylinen, so dass man ihm sicher keinen sowjetorussischen Nationalchauvinismus vorwerfen kann. Seine letzten beiden Filme dagegen, Skazka o care Saltane (Das Märchen vom Zaren Saltan, 1966) und Ruslan i Ljudmila (Ruslan und Ljudmila, 1972), die seinen früheren Werken in puncto Opulenz in nichts nachstehen, lassen keinerlei politische Ausrichtung erkennen und ersetzen das Pathos zu großen Teilen durch Humor, der sich insbesondere auf der Ebene der Bildgestaltung abspielt und das Grandiose so gekonnt ins Amüsant-Groteske übersteigert. Durch die Lektüre seiner verschiedenen Filme gewinnt man am ehesten den Eindruck, dass er mehr als Ästhet denn als Vertreter einer bestimmten Ideologie zu sehen ist: Die Verwirklichung beeindruckender und technisch ausgefeilter filmischer Verfahren und Effekte, für die eben gerade das Märchengenre willkommenen Nährboden bietet563, scheint ihm wichtiger als etwaige politisch-didaktische Botschaften.

562 Vgl. Stites 1992, S. 139; Prochorov 2007, S. 58. 563 Als der „rote Méliès“ wird Ptuško dafür in der von Engel herausgegebenen sowjetisch-russischen Filmgeschichte bezeichnet (Engel 1999, S. 151), die den Märchenfilm unbegreiflicherweise in weniger als einem Absatz abhandelt.

177 IV.3. Kain XVIII ([Kain XVIII.]564,1963) IV.3.1. Enstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung Kain XVIII ist eine Gemeinschaftsarbeit der Regisseure Nadežda Koševerova (1902-1989) und Michail Šapiro (1908-1971). Die beiden hatten bereits 16 Jahre zuvor einen enormen Erfolg mit Zoluška (Aschenbrödel, 1947) erzielt, einem Streifen, der zu den großen Klassikern des sowjetischen Märchenfilms gezählt wird. Seither hatten sie jedoch nicht mehr zusammengearbeitet und jeweils Einzelkarrieren verfolgt, und keiner der beiden hatte sich weiter im Märchengenre versucht. Insofern stellt Kain XVIII letztlich sowohl die Fortsetzung einer Linie als auch einen Neuanfang dar – letzteres in erster Linie für Koševerova, eine Schülerin von Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg565: Während für Šapiro die Produktion der vorletzte Film werden sollte, konnte sie sich im Anschluss als eine der originellsten Märchenfilmschaffenden in der Sowjetunion profilieren und war als solche bis in die späten 80er Jahre äußerst aktiv.566 Für das Drehbuch zeichneten sich Zoluška-Autor Evgenij Švarc sowie Nikolaj Ėrdman verantwortlich – es handelt sich jedoch um keine Zusammenarbeit im eigentlichen Sinne, da Švarc bereits im Jahre 1958 verstorben war. Koševerova war 1956 an ihn mit dem Vorschlag einer erneuten Zusammenarbeit herangetreten, und letztlich wurde entschieden, das Material des unveröffentlichten Stückes Golyj koroľ (Der nackte König) zu verwenden, das auf dem Andersen-Märchen von des Kaisers neuen Kleidern basierte. Dessen eigentliche Handlungslinie wurde allerdings zugunsten einer neuen Idee komplett eliminiert, und der Arbeitstitel des Drehbuchs lautete nunmehr Dva druga, ili Raz, dva, tri ([Zwei Freunde, oder: Eins, zwei, drei]). Das Werk konnte Švarc jedoch vor seinem Tod nicht mehr vollenden, und auf der Grundlage eines Fragments machte sich schließlich Ėrdman einige Jahre später an die Fertigstellung, wobei er nicht nur weiter-, sondern auch einiges umschrieb und die Geschichte seinen eigenen Ideen und seinem eigenen Stil anpasste.567

564 Der Film wurde nicht international vertrieben und hat deshalb auch keinen offiziellen deutschen Titel. 565 Vgl. Borovkov 1978, S. 67. 566 Koševerova ist vollkommen unverdient von Filmhistorikern bisher kaum beachtet worden; der einseitig geschriebene filmbiographische Aufsatz von Borovkov (1978) wird ihr kaum gerecht, zumal einige wichtige Filme erst nach dessen Erscheinen gedreht wurden. Als Frau konnte sie sich im von Männern dominierten Regiegeschäft behaupten, und in der Geschichte des Sowjetkinos ist sie sicherlich eine der Regisseurinnen mit den umfangreichsten Filmographien. Wenn von bedeutenden sowjetischen Regisseurinnen die Rede ist, fällt ihr Name jedoch kaum. Dies hängt sicherlich auch mit dem allgemein eher belächelten Märchenfilmgenre zusammen – Koševerova hat zwar auch einige Alltagskomödien und Zirkusfilme gedreht, doch das Märchen dominiert deutlich in ihrem Werk. Werden hingegen Märchenfilme ernsthaft besprochen, so werden oft nur Rou und Ptuško als Koryphäen genannt, obwohl Koševerovas Streifen denen dieser beiden weder in Quantität noch in Qualität nachstehen. 567 Zu den Informationen in diesem Abschnitt vgl. in der Švarc-Biographie von Binevič 2008 S. 612-616 sowie im Artikel von Kovalova (2010) S. 48.-51. Kovalovas Artikel ist eine Einführung in die von ihr

178 Soweit also zur Vorgeschichte von Kain XVIII. Der fertige Film stellt ein äußerst ungewöhnliches und in mancher Hinsicht bemerkenswertes Märchen für Erwachsene dar, das allerdings zu seiner Entstehungszeit nicht wirklich Eindruck machte. Von den Kritikern wurde die Produktion tendenziell allenfalls als durchwachsen bewertet: In einer zeitgenössischen Rezension etwa heißt es, die Regisseure hätten das Wesen des Švarc’schen satirischen Zugangs nicht richtig verstanden, dessen Poesie in seinem lebensnahen Humanismus läge, und „[п]оэтому сатира в основе оказывается условной, поверхностной, безобидной, а следовательно, не такой гуманной и целительной, какой она могла бы быть”568 [„deshalb erweist sich die Satire im Grunde als konventionell, oberflächlich, harmlos und in Folge dessen nicht so human und heilkräftig, wie sie hätte sein können.“]; und eine andere Besprechung kommt zwar zu einem letztlich grundsätzlich positiven Fazit, aber nicht, ohne sich vorher an der angeblichen Unausgearbeitetheit einzelner humoristischer Effekte, Unausgewogenheit einzelner Handlungslinien und der Mischung der allzu unterschiedlichen Stile von Švarc und Ėrdman in den Dialogen zu stören569.Von den Zuschauern dagegen wurde der Streifen kaum zur Kenntnis genommen.570 Er erhielt keinen großen Verleih, und auch heute noch zählt er zu den eher unbekannten Vertretern des Märchenfilms. International wurde er nicht vertrieben, von etwaigen fremdsprachig synchronisierten Fassungen ist mir nichts bekannt. Allein schon der bisherigen Unerforschtheit wegen scheint eine genauere Betrachtung des Films durchaus angebracht. In seinem Inszenierungsstil knüpft er direkt an den von Zoluška an und verstößt gegen sämtliche Konventionen des – insbesondere natürlich Sozialistischen – Realismus: Das Werk wurde vollständig im Studio gedreht, und statt filmillusionistische Mittel zu nutzen wurde mit offen theatralisch-artifiziellen Verfahren gearbeitet – als Kulisse dienen miniaturhafte stilisierte Bauten mit teils aufgemalten Fenstern und Türen, und die weitere Gestaltung der Mise-en-scène, also der Form der Bauten, Kostüme und Requisiten, wird von einem Stilmix bestimmt – die meisten Elemente verweisen auf eine vage Phantasievergangenheit, andere aber klar auf das 20. Jahrhundert, wieder andere muten geradezu futuristisch an, und die Lokalität der Schauplätze – zwei Königreiche – bleibt unbestimmt. So wird eine märchenhafte Entrücktheit erzeugt, während der Film ansonsten

herausgegebenen Veröffentlichung ausgewählter Drehbücher Ėrdmans (Ėrdman 2010). Das Drehbuch in der Endfassung, die etwas umfangreicher ist als der fertige Film und sich in einigen Details von diesem unterscheidet, findet sich dort S. 409-474. Die Frage, wieviel davon Švarc, wieviel Ėrdman zuzuschreiben ist, wird in den vorgenannten Abschnitten zur Entstehungsgeschichte angerissen. 568 Asarkan 1963. 569 Cimbal 1963. 570 Vgl. hierzu Kovalova 2010, S. 50-52.

179 syntaktisch-strukturell wie auch semantisch-motivisch stark vom klassischen Volksmärchenschema abweicht (Folkloremutation). Es gibt zwei Handlungslinien – die eine lässt sich am ehesten dem Genre der Liebes- und Verwechslungskomödie zuordnen, die zweite dagegen verweist klar in den Bereich der politischen Satire. Verbindendes Element ist die negative Titelfigur, der despotische und diktatorische König Kain XVIII., Herrscher eines Polizeistaats. Neben ihm agieren zwar auch positive Helden571, doch diese betrifft primär der erste Handlungsstrang, der bald in den Hintergrund tritt – Kain aber ist klar die Hauptfigur, um die sich letztlich alles dreht. Dass ein negativer Held, ein Bösewicht, im Mittelpunkt steht, ist für ein Märchen nicht gerade typisch, nahezu undenkbar scheint es aber für den Sozialistischen Realismus – von dessen Prinzipien ist der Film, wie angedeutet, auch sonst sehr weit entfernt. In den hintersinnigen Dialogen und im Handlungsverlauf finden sich jedoch recht deutliche satirische Anspielungen auf die reale Gegenwart. Insbesondere in seinem zentralen Motiv gibt der Streifen relativ unmissverständlich zu verstehen, dass sein Thema von zeitgeschichtlicher Relevanz ist: Eine besondere Mücke, die als Massenvernichtungswaffe eingesetzt werden soll, verweist klar auf die Atombombe. Diese wurde bekanntermaßen im Kalten Krieg spätestens seit der Kubakrise im Oktober 1962572 von allen Beteiligten als größte Bedrohung des wackligen Friedens zwischen den Supermächten empfunden, unabhängig davon, welche Seite sie letztlich zum Einsatz bringen würde. Interessanterweise bezieht der Film hier nicht eindeutig Stellung, was sozialistisch- realistischen Grundsätzen entspräche – er macht durch seine märchenhafte Unbestimmtheit nicht explizit, von welcher Seite er die Gefahr sieht, sondern scheint sich als allegorische Parabel ohne klaren Adressaten zu verstehen. Es scheint lohnenswert, hier ein wenig genauer nachzuhaken, und entsprechend soll Aufgabe der folgenden Analyse sein, insbesondere anhand der Gestaltung des Titelhelden und des Staates, an dessen Spitze er steht, das satirische Potential von Kain XVIII im Einzelnen genauer auszuloten – ohne sich dabei freilich allzusehr in spekulativen Interpretationen zu verlieren.

571 Mit dem modellhaften positiven Helden haben sie allerdings nur äußerst bedingt etwas zu tun – positiv meint hier mehr sympathisch gezeichnet. 572 Vgl. dazu Neutatz 2013, S. 405-406.

180 IV.3.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik I.A) DAS LIEBESPAAR [00:00 – 09:06] Dem Film ist ein vielsagender gereimter Prolog vorangestellt, der in schriftlicher Form auf der Leinwand erscheint und gleichzeitig aus dem Off eingesprochen wird: Это сказка без затей, но она не для детей...! Служит пусть она примером, по «неведомым краям»573, разным канцлерам-премьерам, генералам-изуверам, экс- и просто королям! [Dies ist ein Märchen ohne Schnörkel, aber es ist nicht für Kinder gedacht...! Möge es, „auf unbekanntem Territorium“, als Exempel dienen für verschiedene Kanzler und Premiers, für grausame Generäle, für Ex- und einfach nur Könige!] Hierdurch wird die Parabelhaftigkeit der Ereignisse, die im Film zu sehen sein werden, hervorgehoben – es wird dabei deutlich gemacht, dass sie als Negativbeispiel zu verstehen sind und als solches, im Sinne eines Fürstenspiegels, Machthaber ansprechen sollen, wobei die konkreten Adressaten aber unbestimmt bleiben. Der eigentliche Vorspann wird von einem Lied der beiden wandernden Musikanten Jan (Aleksandr Dem’janenko) und Žan (Stanislav Chitrov) eingeleitet, in dem diese zwischenzeitlich aus ihren Rollen fallen und die vierte Wand durchbrechen: Sie laden die Zuschauer ein, ihnen ins Märchen zu folgen. Direkt nach dem Vorspann setzen sie ihr Lied fort, wobei währenddessen auch die dritte positive Hauptfigur eingeführt wird: Die Prinzessin Milada (Svetlana Loščinina), die trübsinnig am Fenster des stilisierten Schlosses sitzend in einer Halbnahe eingefangen wird. Ihre Mine heitert sich auf, als sie der beiden Musikanten gewahr wird, die am Horizont auftauchen: Sie wandern über einen Weg dahin, der eine angedeutete rosa Wiese durchzieht, und nähern sich der miniaturhaften Blechmauer, auf deren Tor der Schriftzug ,Korolevstvo Vlasty’ (,Das Königreich Vlastas’) prangt. Der nun folgende Abschnitt des Films erinnert an ein operettenhaftes Lustspiel mit märchenhaften Zügen – Satirisch-Hintergründiges ist aber in Ansätzen auch hier schon vorhanden: Der Zutritt zu Vlastas Reich wird den beiden Kameraden von einem Wächter verwehrt. Als Žan erklärt, dass sein Freund in die Prinzessin verliebt sei und deshalb durchgelassen werden müsse, verlangt der Wächter einen Beweis für die Verliebtheit in Form eines Dokuments. Der Protest folgt auf den Fuß: „Какой же может быть документ если любовь только что началась? Она еще не оформлена!” [„Was denn für ein Dokument, wenn die Liebe gerade erst begonnen hat? Sie ist noch nicht amtlich!“] Verspottet wird hier engstirniger Bürokratismus – und als Mittel dagegen dient die

573 Hier wird offensichtlich auf den Prolog von Puškins Märchenpoem Ruslan i Ljudmila angespielt.

181 kreative Auslegung der Regeln: Als Jan und Žan erfahren, dass ihnen der Zutritt ins Königreich zu Fuß versagt ist, betreten sie es einfach auf den Händen laufend.574 Im Folgenden wird die unstandesgemäße Liebe von Jan und Milada weiter thematisiert – im Grunde das einzige Motiv, durch das die beiden näher charakterisiert werden. Žan wiederum ist auf die Rolle als verständnisvoller treuer Begleiter reduziert. Während er die Liebesbekundungen des jungen Paares auf seiner Mandoline begleitet, werden sie von den Hofdamen missbilligend belauscht – dass Milada das Schloss verlässt und sich mit Jan auf einer Sitzschaukel niederlässt, wo sie sich eng aneinander schmiegen, versetzt sie in helle Aufruhr. Jan willigt ein, zu gehen, wenn er vorher Milada küssen darf – und diese heißt die Hofdamen an, einen Kreis um sie zu bilden und sie so abzuschirmen: Hier wird das entsprechende Motiv aus Hans Christian Andersens Märchen vom Schweinehirten anzitiert. Und wie in diesem bleibt der Kuss letztlich dennoch nicht unentdeckt – ein krachender Pistolenschuss tut den Unmut der Königin Vlasta kund, die die Szene beobachtet hat und nun über den Platz hinzueilt. Die Erklärungen der jungen Leute, dass sie einander lieben, interessiert sie wenig – ohne viel Federlesens erklärt sie ihrer Tochter, dass sie ihr die Flausen durch eine Zwangsheirat austreiben will: Da der Nachbarkönig Kain XVIII. erneut unverheiratet ist, entscheidet sie kurzum, dass er der richtige Ehemann für Milada sei. Im folgenden Tumult gelingt es Jan und Žan, ihrer drohenden Verhaftung zu entfliehen – nicht ohne Milada noch zuzurufen, ihr baldmöglichst zu Hilfe zu kommen. Damit endet die Handlung im Königreich Vlastas: Dieser beschaulich wirkende Ort mit seinen hellen Farben, gepunkteten Wänden und den von gackernden Hühnern bevölkertem Hauptplatz wird im Film nicht mehr vorkommen. Man sieht, wie die beiden Musikanten in einer Totale die von einem Wegweiser markierte Grenze zu Kains Königreich überschreiten – die stilisierten Wiesen in Vlastas Reich sind rosa und der blaue Himmel darüber wolkenlos, die Wiesen in Kains Reich sind dagegen bezeichnenderweise schwarz und über ihnen hängen graue Wolken.

I.B) EIN POLIZEISTAAT UND SEIN HERRSCHER [09:06 – 20:43] Nach einem Schnitt sieht man in einer Totale Vlasta auf einem Pferd an denselbem Wegweiser vorrüberreiten – die Kamera folgt ihrem Ritt in das Königreich Kains, das in der folgenden Totale von außen gezeigt wird: Eine dicke Mauer mit diagonalen schwarz-weißen Streifen, hinter der ein tristes graues, ein wenig an ein Hochhaus erinnerndes stilisiertes Schloss hervorragt. Es scheint sich also um ein sehr viel abgeschirmteres Reich als das Vlastas zu 574 Das Motiv verwendet Koševerova ein weiteres Mal in ihrem letzten Film, Skazka pro vljublennogo maljara (Das Märchen vom verliebten Maler, 1987).

182 handeln. Der Eintritt ist auch nicht einfach so möglich, sondern es muss erst geklingelt werden – die drei verschiedenfarbigen Klingeln, die nun in Detail zu sehen sind, erinnern dabei sehr deutlich an eine Realie des Alltags in der Sowjetuinon. Neben ihnen ist ein Schild angebracht, wie sie zu benutzen sind: „Королю — 1 звонок / Первому Министру — 2 звонка / У Министра Финансов звонок не работает!!!“ [„Zum König – 1 x Klingeln / Zum Ersten Minister – 2 x Klingeln / Zum Finanzminister: Klingel funktioniert nicht!!!“] Von der letzten Spitze abgesehen, waren ähnliche Klingelsysteme bei sowjetischen Kommunalwohnungen sehr weit verbreitet575, so dass diese Anspielung sicher verstanden wurde. Vlasta klingelt zweimal, und während sie in ihrer Handtasche nach ihrer Krone kramt und sie unter einer Schnur mit Kringelgebäck findet, beobachtet sie der Premierminister dabei bereits durch einen riesigen Türspion in Form eines Auges. Der nun folgende Abschnitt zeigt in bissig-satirischer Form sämtliche Phänomene, die für einen Polizeistaat charakteristisch sind. Dies beginnt bereits, als der Premierminister Vlasta hereinführt und sie in einem schwarzen Vorraum von einem explosionsartigen Knall erschreckt wird – jeder Neuankömmling wird zunächst fotografiert, erklärt der Minister, und die Fotos dienen als Erinnerungsstück für den Chef der Geheimpolizei (!). Der Dialog um Miladas angebliches Interesse an Kain dreht sich vor allem um die Mitgift – und rasch kommen Korruption und Übervorteilung ins Spiel: Erst, als der Premierminister sich selbst einen Anteil daran ausgehandelt hat, und zwar den Löwenanteil, ist er zufrieden, und die Heirat kann abgemacht werden. Nebenbei erfährt Vlasta, dass Tauben und sogar Gespräche über sie in Kains Reich verboten sind, nachdem eine das Denkmal des Königs mit ihrem Kot verschandelt hat – ein Detail, das später für die Handlung relevant wird. Schließlich muss die Königin, zur endültigen Besiegelung der Abmachung, als Staatsgeschenk eine Kanone zur Verteidigung ihres Reiches annehmen – dass dieses bisher mangels Feinden keiner Verteidigung bedurfte, erklärt der Minister mit absurder Logik für hinfällig: Sobald eine Kanone da sei, würden sich auch Feinde einstellen. In einer späteren kurzen Szene wird man dann sehen, wie Vlasta die als Geschenk verpackte Kanone an der Grenze zu ihrem Reich in Empfang nimmt und dabei wenig begeistert feststellen muss, dass dazu auch eine Truppe bewaffneter Soldaten gehört – versorgen muss sie sie nicht, versichert ihr der Kommandeur, das könnten bewaffnete Soldaten selbst, wie die Erfahrung beim Verschenken von Kanonen gelehrt hat. Nach Vlastas Fortgang wird die Illustration der Mechanismen eines Polizeistaates in 575 Solche Klingelsysteme sind ein Alltagsphänomen, das sich auch im postsowjetischen Raum noch beobachten lässt: Bei den noch bestehenden Kommunalwohnungen ist es nach wie vor verbreitet.

183 Kains Reich weiter fortgesetzt: Aus der Wand tritt der dandyhaft elegant gekleidete Chef der Geheimpolizei heraus. Selbst der Erste Minister ist vor Überwachung nicht gefeit: Die bronzene weibliche Springbrunnenstatue, die im Hintergrund zu sehen war, erweist sich als kostümierter Agent, der das gesamte Gespräch mit der Königin mitgehört hat und es, wie es die Aufzeichnung einer Abhörwanze ermöglichen würde, wortgetreu wiedergeben kann. So kommt der Chef der Geheimpolizei auch der Korruption auf die Schliche – die allerdings letztendlich für den Minister verkraftbare Folgen nach sich zieht: Die Summe wird vom Polizeichef so umverteilt, dass König und Minister gleichviel erhalten, während er selbst ,für die Umstände’ ein Fünftel des Betrages einstreicht. Ständige Überwachung und eine omnipräsente Geheimpolizei, Korruption, Zensur und außenpolitisch die Schaffung von militärischen Abhängigkeiten sind also Züge, die Kains Reich kennzeichnen: Klassische Merkmale eines totalitaristischen Systems, die hier vorgeführt und somit verurteilt werden. Es bleibt dem Rezipienten überlassen, ob er hier die Sowjetunion, im Stalinismus oder auch darüber hinaus, wiedererkennt oder aber ein anderes diktatorisches Regime – wie etwa das Dritte Reich, auf das nun im Folgenden angespielt wird: Eine Fanfare unterbricht das Gespräch der beiden Herren, und ein Polizeitrupp kündigt feierlich das Erwachen des Königs an. Die Trompeten sind mit Flaggen geschmückt, auf denen der Buchstabe K prangt, der entfernt an ein Hakenkreuz erinnert, und die Ankündigung wird mit den Worten „Да здравствует король!“ beschlossen, was sich in etwa als ,Heil dem König!’ übersetzen lässt und wie der Hitlergruß von einer Bewegung begleitet wird, nur mit erhobenem Bein statt erhobenem Arm. Beide Allusionen, sowohl das K, in stilisierten Variationen an verschiedensten Requisiten und Kulissen angebracht, als auch die obligatorische Grußform, ziehen sich im Weiteren durch den ganzen Film. Nun wird dem Zuschauer erstmals die Titelfigur selbst, der Herrscher des Polizeistaats, präsentiert, zu dem der Premierminister eilt: Ein Schnitt markiert einen Schauplatzwechsel zu seinem Schlaf- und Wohnraum im Schloss, auffallend durch Weitläufigkeit, hohe Wände und avantgardistisch anmutende schwarze quadratische Leuchter, die mit einer Vielzahl rauchender Kerzen bestückt sind. Kain liegt noch im Bett, und zunächst sieht man ihn selbst nicht, sondern die Kamera nimmt seine Perspektive ein, während der Premier zu ihm spricht. Dass Milada sich in ihn verliebt habe, ruft Interesse bei ihm hervor – sein Kopf schiebt sich in Großaufnahme hinter dem schwarzen Bettvorhang hervor, das Auffälligste an ihm sind seine kleinen, unruhigen Augen. Skeptisch wird er, als er erfährt, dass er sich mit der Prinzessin nicht einfach nur vergnügen, sondern sie heiraten soll, und der Premier muss ihn erst von der

184 außenpolitischen Wichtigkeit dieses Aktes überzeugen. Wenig später lässt sich Kain, den der Mejerchoľd-Schüler Ėrast Garin mit viel Exzentrik spielt576, beim Frühstück im Bett von den Vorzügen Miladas berichten, und ihr jugendliches Alter von 16 Jahren bringt ihn endgültig dazu, in die Heirat einzuwilligen. Während er sich einkleiden und frisieren lässt, gibt er bereits Anweisungen, wie die Braut zu empfangen sei: Lieder sollen auf jeden Fall keine gesungen werden, denn ihm ist bekannt, dass kürzlich zwei wandernde Musikanten – der Zuschauer ahnt, dass es sich um Jan und Žan handelt – mit einem Spottlied Aufmerksamkeit erregt haben. Darin war nicht nur von den Korruptionsgeschäften des Premiers die Rede, sondern auch von der Dummheit des Königs, doch letzteren Aspekt scheint dieser sich nicht zusammenreimen zu können. Das Bild, das bisher von Kain entstanden ist, entspricht dem eines triebgesteuerten, selbstverliebten und ansonsten etwas einfältigen Gecken – diese Charakterzüge bleiben ihm auch erhalten, doch der dadurch erweckte Eindruck von Harmlosigkeit trügt: Im Verlauf der weiteren Handlung soll er sich darüber hinaus als unerwartet gefährlicher Despot und Kriegstreiber erweisen.

II. EIN MISSGLÜCKTER FLUCHTVERSUCH [20:43 – 27:50] Die Szene um den Empfang der Braut ist insofern interessant, als dass hier die Rolle der Masse und der Masseninszenierung im Totalitarismus thematisiert werden – der Eindruck von Masse entsteht dadurch, dass die als Kulisse dienende enge Gasse, die von miniaturhaften Gebäuden begrenzt wird, bis zur Paradelinie gänzlich von Menschen gefüllt ist. Das Volk wohnt dem Ereignis als Statisten bei, die unter dem Dirigat des Geheimpolizeichefs, mechanisch Hurrarufe skandieren und dabei im Takt Tambourstäbe heben. Sie gehören zur Szenerie wie das Feuerwerk, das Orchester und das von Kain angeordnete Übermaß an Schleifchen als Dekoration. Der Premierminister fungiert als Stellvertreter Kains und hält eine verquaste Rede, doch da Milada erklärt, dass sie erschöpft sei und zu ruhen wünsche, ist der Empfang rasch vorüber. Dies wird auch von einem jungen Mann aus der Menge mit einem Scherz kommentiert: „Быстро мы нынче отликовались!“ [„Diesmal haben wir schnell den Jubel hinter uns gebracht!“] Er gibt damit zu verstehen, dass solche Festivitäten nicht selten sind und nicht als große Ereignisse, sondern als reine Routine empfunden werden. Kaum hat er jedoch ausgesprochen, legt ihm ein elegant gekleideter älterer Herr die Hand auf seine Schulter und fordert ihn breit lächelnd auf, mitzukommen: Die Geheimpolizei hat ihre Ohren überall, und selbst harmloseste Witze gegen das System können gefährlich sein. Der konsternierte Blick, 576 Eine weitere Verbindung zu Zoluška – auch in diesem Film hatte Garin mitgespielt, ebenfalls einen exzentrischen König, aber einen überaus sympathischen.

185 den sich die beiden umstehenden Frauen zuwerfen, lässt nur vage ahnen, was dem jungen Mann bevorsteht. Unterdes gibt der Geheimpolizeichef in seinem Kabinett Anweisung an seine Leute, mit Hilfe der von ihnen geschossenen Fotografien nach den Musikanten zu suchen, die das Spottlied auf König und Premier verfasst haben – dieses musikalische Pamphlet, auf das nur indirekt referiert wird, soll die einzige annähernd politische Tat Jans und Žans bleiben. Die Fahndung nach ihnen soll im weiteren Handlungsverlauf zwar noch eine Rolle spielen, allerdings nur als funktionaler Aufhänger für Verwicklungen, während der Grund dafür in Vergessenheit geraten zu scheint. Ansonsten agieren sie nicht etwa als Untergrundkämpfer im Widerstand gegen den Polizeistaat und für das Volk, wie es ein positiver Held des Sozialistischen Realismus tun würde, sondern sind auch weiterhin nur an ihrem persönlichen Glück interessiert – an der Befreiung Miladas und ihrer Zusammenführung mit Jan. Als sie im Folgenden in Miladas Schlafzimmer eindringen und von ihr freudig begrüßt werden, ist ihr Vorschlag an sie entsprechend nur, gemeinsam zu fliehen, also Kains Reich mit all seinen Misständen einfach zu verlassen. Dieser Plan misslingt nur deshalb, weil auf einmal die Gouvernante der Prinzessin anklopft – so ersinnen die Freunde hinter der verschlossenen Tür in aller Eile einen Plan, um die bevorstehende Hochzeit zu verhindern, damit sie zu einem späteren Zeitpunkt fliehen können: Milada soll Kain durch ihr schlechtes Benehmen so verärgern, dass er von selbst von seinen Heiratsplänen ablässt. Da sie als Prinzessin aber keinerlei Schimpfwörter und Flüche kennt, muss sie ihr Jan auf ihren Fächer schreiben – den er allerdings, als er mit Žan durch den Kamin flieht, aus Versehen mitnimmt. Das alles wirkt auf märchenhaft-boulevardeske Art komisch, aber konstruiert-weltfern – dieser Zug soll den Handlungsstrang um die positiven Helden auch weiterhin kennzeichnen, während Kain im nun folgenden Abschnitt seine eigene Handlungslinie erhält, die diese nur peripher tangiert und in ihrer scharfen Satire keineswegs weltfern ist.

III. KAIN, ABEL UND DIE MASSENVERNICHTUNGSWAFFE [27:50 – 40:25] Dieser Abschnitt kann sicherlich als bedeutendste Schlüsselszene des Films gelten, da hier das Motiv der an die Atombombe angelehnte Massenvernichtungswaffe eingeführt wird. Zunächst aber sieht der Zuschauer Kain bei einer Beschäftigung, die wiederum klar auf die sowjetische Lebensrealität verweist: Die Morgengymnastik mit Musikbegleitung gehörte, zumindest als

186 soziokulturelles Klischee, fest zum sowjetischen Alltag577, und es gab im staatlichen Rundfunk regelmäßige Mitmachsendungen dazu. Auch Kain macht, mit allerlei Sportgeräten als Requisiten, fleißig seine Übungen, wenn auch das Radio in seinem Fall von einem eigenen sechsköpfigen Orchester ersetzt ist und ihn ein Arzt dabei mit der Stoppuhr beobachtet und immer mal wieder seinen Puls fühlt. Unterdes haben sich zwei Besucher eingefunden – der uniformierte Kriegsminister und ein Gelehrter mit Talar und Doktorhut, der eine entfernte Ähnlichkeit mit Albert Einstein aufweist. Bevor der König sich ihnen zuwendet, muss erst die Gymnastik zu Ende gebracht werden, und dem Minister wird die Ehre zuteil, die Übungen mitmachen zu müssen. Nachdem dies auf komische Weise geschehen ist, wirft Kain sich den Königsmantel über seinen gestreiften Sportanzug, setzt sich auf seinen Thron und erklärt sich bereit, den Gelehrten anzuhören. Dieser ist euphorisch, das Resultat seiner 40jährigen Forschung zu präsentieren – es wird in Detailaufnahme eingefangen und erscheint zunächst wenig beeindruckend: Eine sirrende Mücke, die sich in einem gläsernen Gefäß befindet. Kains Desinteresse, als der Gelehrte berichtet, ihm sei als erster Insektenforscher eine völlig neuartige Züchtung gelungen, ist offensichtlich – er seufzt merklich auf, beginnt mit seinen Händen herumzuspielen und sieht gelangweilt geradeaus. Der Gelehrte versucht, dem König an einem Beispiel die Bedeutung seiner Entdeckung begreiflich zu machen: Würde die Mücke erschlagen, so hätte dies eine gewaltige Explosion zur Folge. Diese unbändige Kraft will der Gelehrte zum Wohle der Menschheit nutzen – wie die Energie von Wind oder Wasser. Kains Interesse lässt bereits hier wieder nach, so dass der Kriegsminister eingreift, um ihm zu erklären, worin seiner Meinung nach der eigentliche Nutzen liegt: Auf kindlich- alberne Art ahmt er den Flug einer Mücke nach, und dies scheint Kain in seinem naiven Gemüt sehr anzusprechen, so dass er gebannt beobachtet, wie der Minister über ein Hantelgewicht springt und erklärt, dies sei die Grenze zu einem benachbarten Land: Hier würde er sich nun auf einem Menschen niederlassen, der explodieren würde – auch das wird vom Minister lautlich imitiert, und er erklärt, Kain müsse sich nur statt einer eine Million solcher Mücken vorstellen. Kain, der bisher eher schwer von Begriff wirkte, versteht auf einmal das Potential der Mücke als Massenvernichtungswaffe, und er und der Minister ahmen nun zusammen heftig gestikulierend stimmlich Explosionen nach, wobei sie immer lauter werden: Großaufnahmen zeigen dabei erst nacheinander die beiden, wie sie mit kindlichem Enthusiasmus bei der Sache sind, was äußerst bedrohlich wirkt – dann den Gelehrten, der die 577 Der Liedermacher Vladimir Vysockij hat ihr mit seinem Lied Utrennjaja gimnastika ein ironisches Denkmal gesetzt.

187 Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt. Er versucht vergeblich, sich Gehör zu verschaffen – Kain hört ihn gar nicht erst an, sondern gibt zu verstehen, er wolle nun das Insekt in Aktion sehen, wobei er leichthin dem Gelehrten mit dem Tode droht, wenn er sich weigern würde. Die Mücke wird also freigelassen und das Fenster sofort hinter ihr geschlossen – aus dem Koffer des Gelehrten kommt auf einmal ein Flimmern, das sich in eine frei im Raum schwebende Filmprojektion in Schwarzweiß verwandelt, auf der die Anwesenden die Ereignisse verfolgen können, während ein unheilvoll anschwillendes Sirren die Szene geräuschlich untermalt. Die Mücke fliegt erst zum Schlossgärtner, der sie allerdings mit seinem Pfeifenrauch verjagt – Grund genug für Kain, eine Antiraucherkampagne zu beschließen. Wesentlich bedeutender aber ist die folgende Station: Das kleine Filmbild zeigt zunächst ein Schloss, das Kain als das seines, wie er sich ausdrückt, geliebten Bruders Abel wiedererkennt – kurz darauf zeigt die Kamera diesen selbst, einen feist und träge anmutenden König mit Vollglatze. Er lässt sich eine Zigarre in den Mund stecken, worüber der beobachtende Kain sich wie ein ehrlich besorgter Bruder ereifert. Als die Mücke heranschwirrt, wirkt er für einen Moment erschrocken. Das Insekt lässt sich auf Abels Glatze nieder, und dieser holt mit der Hand aus – im nächsten Moment sieht man das ganze Schloss mit großer Wucht explodieren. Spätestens jetzt wird die implizierte Allusion auf die Atombombe eindeutig, denn der Ablauf der Explosion ist ikonographisch der eines Kernwaffentests nachempfunden, bis hin zur sich ausbreitenden gleißend hellen Pilzwolke. Sehr aufschlussreich ist an dieser Stelle die symbolische Verwendung biblischer Motivik: Kain tötet seinen Bruder Abel, wie es in der entsprechenden alttestamentlichen Erzählung sein Namensvetter getan hat. In Bezug auf die Atombomben-Allusion kann hier eine Warnung herausgelesen werden: Wird die Bombe eingesetzt, von welcher Seite auch immer, so ist dies genauso schlimm wie ein Brudermord. Dies ist im Einklang mit der traditionellen Lesart der Bibelgeschichte: Kain und Abel waren Söhne Adams und Evas, von denen die Menschheit abstammt – so sind alle Menschen letztlich Brüder, und jeder Mord ist als ein Brudermord zu verstehen. Den Kain des Films aber berührt der von ihm verschuldete Tod des eigenen Bruders, zu dem er kurz zuvor noch warme Zuneigung ausgedrückt hat, ganz und gar nicht: Er klatscht in die Hände, lacht zufrieden und gibt sogar seinem Minister vor lauter Freude einen Kuss – die zerstörerische Wirkung der ,Super-Mücke’ begeistert ihn. Er nimmt nicht nur kaltblütig den Tod des Bruders in Kauf, sondern ist damit noch lange nicht zufrieden – der Gelehrte, der vor lauter Entsetzen in Ohnmacht gefallen ist, wird von ihm wachgerüttelt, damit er ihm eine ganze Million Super-Mücken heranzüchtet. Der nun

188 folgende Ausschnitt, in dem Kain seine Machtambitionen offenbart, soll in Form eines kurzen Dialogtranskripts wiedergegeben werden, da nur so ein halbwegs adäquater Eindruck von der Rhetorik des Protagonisten vermittelt werden kann, in der er als zwar überzeichnend entlarvende, aber sehr treffende Verkörperung eines typischen totalitären Herrschers erscheint. Die Frage des Gelehrten, ob er denn gar kein Mitleid mit den Menschen habe, verwundert ihn geradezu: К а и н : Люди — будут детьми и родителями иностранных родителей. У ч е н ы й : Ваше Величество! Но ведь люди, живущие на нашей земле, почти все иностранцы! К а и н : Все — кроме нас. Поймите, профессор, как только они взорвутся, оставшиеся не взорвавшиеся оцепенеют от страха. Как только они оцепенеют, их можно брать голыми руками, вот так за горло, и я буду вот так их держать, пока они не поймут, что находятся в надежных руках! В о е н н ы й м и н и с т р : Они поймут, Ваше Величество. К а и н : Как только они это поймут, мы внедрим в них нашу культуру и наш каинский образ жизни! Все люди станут богатыми... кроме бедных. Земля превратится в рай, и в этом раю будет один бог — я! Господи, прости меня грешного! Конечно, и ты тоже, мы будем работать сообща! Благослови меня, коллега, на мой комариный подвиг! [K a i n : Menschen – das sind zukünftige Kinder und Eltern ausländischer Eltern. G e l e h r t e r : Euer Majestät! Aber die Menschen, die auf unserer Erde leben, sind doch fast alle Ausländer! K a i n : Alle – außer uns. Verstehen Sie, Professor, sobald sie explodieren, werden diejenigen, die nicht explodiert sind, vor Schreck erstarren. Sobald sie vor Schreck erstarrt sind, kann man sie mit bloßen Händen bei der Gurgel packen, und ich werde sie solange so halten, bis sie begreifen, dass sie sich in guten Händen befinden. K r i e g s m i n i s t e r : Das werden sie begreifen, Euer Majestät. K a i n : Sobald sie es begreifen, werden wir an sie unsere Kultur und unseren Kainschen Lebensstil herantragen. Alle Menschen werden reich... außer die Armen. Die Erde wird zum Paradies, und in diesem Paradies wird es einen Gott geben – mich! Oh Herr, vergib mir Sünder, dich natürlich auch! Wir werden gemeinschaftlich arbeiten! Gib mir deinen Segen, Kollege, für meine Mücken-Ruhmestat!] Kain wird während des ganzen Dialogs in Untersicht gezeigt, wodurch er sehr aggressiv- bedrohlich wirkt: Als er seine erste Ansprache an den Gelehrten hält, steht er über diesem, der noch wie benommen auf dem Boden sitzt, und demonstriert seine Worte, indem er ihn tatsächlich bei der Gurgel packt; später sieht man ihn in Halbtotale, wie er seine Rede mit großem Gestus und stimmlichem Pathos unter zwei Leuchtern stehend deklamiert. Nachdem er sich selbst zum Gott erklärt hat, fällt er erschrocken auf die Knie – der Schrecken währt nicht lange, da er Gott als seinen Verbündeten wähnt, und als er um dessen Segen bittet, falten er und der Kriegsminister wie zum Gebet die Hände, und wuchtige Orgelklänge ertönen. Der Personenkult, den Kain um sich herum aufbauen will, ist ein interessantes Detail – dieses Charakteristikum weisen viele diktatorische Herrscher auf, Hitler genauso wie Stalin. Klar ist, dass der Kult vom Film in jeder Form verurteilt wird, was ja durchaus dem Geist der

189 Tauwetterzeit entsprach. Auffällig ist hier aber auch ein anderer Zug, nämlich, dass Kain nicht nur militärische Unterwerfung vorsieht, sondern vor allem auch eine ideologische – er plant keine totale Vernichtung der Welt, sondern sieht Gewalt nur als Mittel zum Zweck, um sie sich gefügig zu machen und eine Umerziehung vorzunehmen, die die Durchsetzung seiner Weltsicht als der einzig richtigen zum Ziel hat. Darin sieht er die ideale Utopie, an die er aufrichtig zu glauben scheint. Was aber die Kainsche Ideologie genau beinhaltet, verschweigt der Film wohlweislich – spekulative Mutmaßungen darüber, ob hier möglicherweise auf das eigene System angespielt wird, scheinen hier nicht unbedingt zielführend, denn gerade die Uneindeutigkeit ermöglicht eine allegorische Lesart: Die Aussage ist, dass letztlich keine Ideologie solche Mittel der Drohung und Gewalt rechtfertigt. Dies ist eine Botschaft, die man durchaus als Warnung an die Atommächte verstehen kann, die Sowjetunion eingeschlossen. Zurück zur Filmhandlung: Kain stößt bei seinen Plänen auf Widerstand, da sich der Gelehrte aus Gewissensgründen weigert, zu kooperieren, und sich auch durch Bestechung nicht gefügig machen lässt – hierauf wird seine Verhaftung angeordnet. Der Kriegsminister aber weiß, dass es schon eine zweite Super-Mücke gibt, die wesentlich stärker ist als die erste, und bekommt deshalb von Kain den Auftrag, diese schnellstmöglich aus der Wohnung des Gelehrten herbeizuschaffen.

IV. EIN PLAN UND SEINE FOLGEN [40:25 – 54:45] Der folgende Ausschnitt wendet sich wieder der Handlungslinie um das verhinderte Liebespaar zu: Jan und Žan hecken einen Plan aus, um der streng bewachten Milada den Fächer mit den Schimpfworten zu übergeben. Da ihnen Geld für eine Verkleidung fehlt, beschließen sie, die immer noch von der Polizei gesucht werden, die auf ihre Ergreifung ausgesetzte Belohnung selbst einzuheimsen. Dies führt zu einer amüsanten buffonesken Szene, in der Jan in Frauenkleidern578 in die Rolle einer Dame schlüpft, die ganz offensichtlich dem leichten Gewerbe angehört und dem Chef der Geheimpolizei und seinem Stab an offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern den vorgeblich von ihr gefassten Žan präsentiert, um ihm nach Einstreichen der Belohnung durch einen Trick die Flucht zu ermöglichen. Der Verfolgung entzieht sich Žan, indem er in das offene Fenster eines Hauses springt – der Bewohnerin gaukelt er vor, er sei ein berühmter Schlagerstar, der vor seinen aufdringlichen Anhängern flüchte, worauf diese die an der Tür klingelnden Agenten für ihn vertreibt. 578 Die Logik bleibt hierbei auf der Strecke – woher die beiden Kameraden diese Verkleidung haben und warum sie hierfür kein Geld gebraucht haben, wird nicht erklärt.

190 Dies alles dient im Grunde nur dazu, Žan die Super-Mücke in die Hand zu spielen – denn die leichtgläubige junge Dame mit ihrem freizügigen Kleidchen, die ihn hemmungslos anflirtet, ist niemand anderes als die Frau des Gelehrten. Als es erneut an der Tür klingelt und sie die Rückkehr ihres Mannes vermutet, versteckt sie ihn im Nebenraum – der sich als ein Labor herausstellt, worin sich neben allerlei Reagenzgläsern und Gerätschaften auch ein Gefäß befindet, in dem eine Mücke herumschwirrt und an dem ein Zettel mit der Aufschrift „Смертельно! Не трогать!“ [„Tödlich! Nicht berühren!“] hängt. Der Besucher aber stellt sich als der Kriegsminister heraus, und aus dem Gespräch, das er mit der Frau des Gelehrten führt, erfährt der lauschende Žan, was es damit auf sich hat. Er fängt eine gewöhnliche Mücke ein, die er in ein identisches Gefäß steckt, um das mit der Super-Mücke an sich zu nehmen und aus dem Fenster zu flüchten. Zum Glück, wie sich herausstellt, denn die junge Frau erweist sich als ebenso einfältig wie königstreu, und es schert sie letztlich wenig, dass der Minister das Gefäß mit dem falschen Insekt an sich nimmt, um es zu Kain zu bringen. Die Tatsache, dass sich die echte Super-Mücke nun in den Händen Žans und damit der positiven Helden befindet, spielt jedoch für deren unmittelbares weiteres Handeln keine Rolle – sie nutzen sie nicht, um die Hochzeit zu verhindern, geschweige denn, um Kains Welteroberungspläne zu durchkreuzen, über die sie im Übrigen auch gar nicht wirklich im Klaren zu sein scheinen, sondern schaffen die Mücke, um deren Potential sie offensichtlich auch nur ansatzweise wissen, lediglich beiseite: Wie sie ihnen zufällig zugefallen ist, so zufällig entschärfen sie dadurch nebenbei die Gefahr, bleiben dabei aber passiv. Für Kain wiederum spielt es zunächst keine Rolle, dass er nun nichtsahnend statt der echten eine falsche Massenvernichtungswaffe besitzt – er will sie nämlich ohnehin nicht direkt einsetzen, sondern erst ihr Potential als Einschüchterungsmittel strategisch nutzen. Dies geschieht in Form einer Rede vor der Presse seines Landes, der sogenannten ,Kainova pečať’ – hierin liegt ein unübersetzbares Wortspiel, denn pečať bedeutet einerseits Presse sowie auch Stempel oder Siegel, andererseits bezeichnet Kainova pečať eben auch das Kainsmal. Alle Zeitungen sollen seine Rede kommentieren, in der er die angebliche Supermücke in ihrem Gefäß präsentiert, um damit dem Rest der Welt Angst und Bange zu machen. Die Rede selbst wird auf interessante Art dargestellt – der Auftritt wird nicht gezeigt, sondern in dieser Zeit vor die Tür des Saals geschnitten, vor der zwei Diener wachestehen, die die Rede hören. Sie besteht nur aus unartikulierten Lauten und Gebrüll, mit vereinzelten deutsch anmutenden Wortfetzen, während ein Orchester, in dem Pauken und Becken dominieren, den Krach lautmalerisch begleitet.

191 Das Ganze hat eine auffällige Ähnlichkeit mit Charles Chaplins Rede als Adenoid Hynkel in dem US-Film The Great Dictator (Der große Diktator, 1940), die ebenfalls aus unverständlichen und teils gebrüllten Lauten in Pseudodeutsch bestand.579 Hynkel ist eine Hitlerparodie, und Kains Auftritt spielt an dieser Stelle offensichtlich ebenfalls auf diesen an. Dabei zeigt sich sein gefährliches Charisma darin, dass der jüngere der beiden Diener sich von der Rede inspirieren lässt – auf einmal imitiert er mit Körper und Stimme ein Maschinengewehr und rennt dann davon, um sich als Freiwilliger zu melden. Kain lässt sich unterdes von einem Bischof beweihräuchern, womit er seinem Personenkult eine religiöse Komponente und seinem Welteroberungsplan den Charakter eines Heilsversprechens verleiht.

V.A) DIE HOCHZEIT WIRD VERHINDERT UND DIE MASSEN- VERNICHTUNGSWAFFE GERÄT AUSSER KONTROLLE [54:45 – 01:05:20] Der Vorabend der geplanten Hochzeit ist da, und die betrübte Milada soll auf einen Ball im Schloss gebracht und Kain vorgeführt werden. Ihre Begleitung wartet schon, und die Kutsche ist abfahrbereit, da taucht ein Reiter auf, der sich als Gesandter der Königin Vlasta ausgibt und ihr den Familienfächer sowie einen Kuss der Mutter überbringen will. Milada erkennt erleichtert den verkleideten Jan, nimmt ihren Fächter entgegen und nutzt die Gelegenheit, mehr als nur einen Kuss auszutauschen. Die nun folgende Szene im Schloss sticht durch ihre ausgefallen stilisierte Mise-en- scène hervor, die u.a. in einer Totale aus der Vogelperspektive eingefangen wird – wandhohe, symbolistisch anmutende Gemälde schmücken den Saal, die eigenartige Ritterfiguren mit Hörnern und Beilen zeigen; an den Wänden stehen mehrere Reihen von Regalen, deren Fächer allesamt mit brennenden Kerzen bestückt sind; und bei den in Formation stehenden Gästen mit ihren Phantasiekostümen fallen vor allem die rosaroten und violetten Turmfrisuren der Frauen auf. Kain sieht erstmals seine zukünftige Braut, und er ist von ihr vollends bezaubert – der gefährliche Despot und Diktator wird wieder zum einfältigen Trottel. Das hat unerwartete Folgen, denn Miladas vom Fächer abgelesene Schimpftirade zeigt bei ihm nicht die geringste Wirkung, er nimmt ihren Inhalt gar nicht wahr und schmachtet sie nur noch weiter an – seine Triebgesteuertheit macht ihn völlig blind für das Offensichtliche. Im Folgenden stimmen die Höflinge und Gäste, durch deren Reihen sich die Kamera von hinten nach vorne bewegt, in Kains Lobgesang auf Milada ein, wenn auch mit sehr aufgesetzt fröhlichen Gesichtern. 579 Es konnte leider nicht festgestellt werden, ab wann dieser Film in der Sowjetunion rezipiert werden konnte, und entsprechend kann nicht gesagt werden, ob hier tatsächlich eine Abhängigkeit vorliegt.

192 Milada muss gute Mine zum bösen Spiel machen – während des ersten Tanzes, einer Art parodistischer Charleston-Variation, kann sie Kain überreden, mit ihr in den Nebenraum zu gehen um Blindekuh zu spielen. Als Kain seine Augen verbunden hat, entflieht sie in den Korridor und stürzt sich ans Fenster – im Hof taucht Jan auf, dem sie vom Misslingen des Planes berichtet. Er behauptet, er wisse noch ein Schimpfwort, das sicher die gewünschte Wirkung erzielen würde – da er sich aber geniert, es laut auszusprechen, schreibt er es auf einen Zettel und wickelt diesen um einen Stein, den er seiner Liebsten durchs Fenster werfen will. Er zielt jedoch daneben: Der Stein landet im Nebenraum, wo der Kriegsminister mit seinen Leuten die angebliche Super-Mücke bewacht, und zertrümmert deren Gefäß – das Insekt entflieht. Ein Bote eilt in den Saal, um Kain die Unglücksnachricht zu überbringen – dieser befiehlt, die Fenster zu schließen und ihm eine Tabakspfeife zu bringen, in Erinnerung daran, wie die erste Mücke auf Tabakrauch reagiert hat. Da aber Kain selbst nicht raucht, raucht auch niemand in seiner ihn kultisch verehrenden Umgebung, und so muss die Pfeife des Schlossgärtners für ihn besorgt werden. Weiter als an seine eigene Sicherheit denkt der von Panik erfasste Diktator nicht – es sind der Kriegsminister und der Chef der Geheimpolizei, die mit Einschüchterungsmethoden verhindern, dass eine Massenpanik ausbricht: Die Festlichkeiten sollen fortgesetzt werden, als sei nichts geschehen, damit das Volk nichts bemerkt. Selbst in der größten Gefahrensituation soll also nach außen der Anschein von Normalität gewahrt werden. Es wird weiter musiziert und getanzt – die angsterfüllte Atmosphäre bleibt jedoch deutlich im Raum: Die Kamera schwenkt unruhig hin und her, während die Bewegungen der Tanzenden immer hektischer und panischer werden und auch die Musik wie unwillkürlich immer schneller wird. Die nichtsahnende Milada kehrt in den Saal zurück. Der unentwegt an seiner Pfeife ziehende Kain ruft sie zu sich, damit er sie in Rauch einhüllen kann. Während sie sich durch die wild tanzende Menge ihren Weg bahnt, setzt sich ihr eine Mücke auf die Schulter – sie zerquetscht sie und löst damit eine Panikreaktion aus: Die Menge kreischt auf, ihre angstverzerrten Gesichter und erhobenen Hände werden von der Kamera eingefangen. Es wird einen Moment totenstill, ehe sie sich langsam wieder zu rühren wagen. Und schon ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt: Auf Miladas Schulter zeigen sich Blutstropfen. Sie hat kein blaues, sondern gewöhnliches rotes Blut – also kann sie keine Prinzessin sein! Die Menge umringt sie und äußert ihre Empörung über die Schande. Es entsteht der Eindruck einer Gesellschaft, die Menschen nach physiologischen Merkmalen

193 einteilt und bewertet – und für die diese Bewertung so wichtig ist, dass sie sie eine gerade noch deutlich gefühlte Gefahr vollkommen vergessen lässt: Hierin ist unschwer eine weitere Anspielung auf das nationalsozialistische Deutschland zu erkennen – der naive Mythos vom blauen Blut des Adels dient als Offenlegung der Unsinnigkeit von dessen Rassenideologie. Kain selbst aber reagiert auf die Nachricht, seine Braut sei eine Plebejerin (plebejka), recht unberührt – er ist so sehr vom exzessiv inhalierten Tabakrauch benommen, dass ihm alles recht ist, was seine Höflinge entscheiden. Der Geheimpolizeichef nähert sich Milada, um ihr mit einem Handkuss mitzuteilen, sie sei verhaftet – in einer unmittelbaren Reaktion gibt sie ihrer Freude darüber Ausdruck, dass die Hochzeit nun doch geplatzt ist.

V.B) DER TYRANN BEKOMMT SEIN EIGENES GIFT ZU SCHMECKEN [01:05:20 – 01:15:20] Die Folgeszene zeigt weitere Facetten der semantische Charakteristik des Diktators: Er hat gegen die frei herumfliegende Super-Mücke eine Reihe von Sicherheitsvorkehrungen treffen lassen, die allerdings nur ihn selbst betreffen: In seinem Schlosshof hat er ein Zelt aus Moskitonetzen für sich bauen lassen, in dem er unruhig auf und ab geht; seine Wächter müssen ihm genauesten Bericht über herumschwirrende Insekten erstatten, und jeder Besucher muss sich vor dem Eintritt in das Zelt beräuchern lassen. Seine Untergebenen haben ihrerseits vorgesorgt und tragen Kopfbedeckungen mit moskitonetzähnlichen Schleiern vor dem Gesicht, so auch der Premierminister, der dem König Bericht über die neuesten Ereignisse erstatten will: Der Stein, der das Gefäß zertrümmert hat, wurde gefunden, und mit ihm der Zettel, den Jan an Milada geschrieben hat – mitsamt Anrede und Unterschrift. Der Minister berichtet in vorauseilendem Gehorsam von einer Verschwörung und liest das Geschriebene in einer zensierten Version vor, die freilich erahnen lässt, dass es sich um eine recht wüste Beschimpfung handelt. Kain, der selbst einen Blick auf den Zettel wirft, ist das genug, beide Beteiligten zum Tode zu verurteilen, ohne dass er auch nur etwas Genaueres über Kontext oder Umstände in Erfahrung zu bringen wünscht. Das einzige Indiz, der Zettel selbst, wird von ihm sogar in kleine Stücke zerrissen. Gibt das willkürlich gefällte Urteil als solches schon Aufschluss über das Wesen von Kains Gewaltherrschaft, so wird diese im Folgenden noch durch eine weitere Spitze gegen den Totalitarismus verschärft: Es spielt für Kain keine Rolle, dass er nicht einmal weiß, wer Jan ist, geschweige denn, wo er sich befindet – wenn er nicht gefasst werden könne, so müsse eben ein anderer an seine Stelle treten, und wenn es der

194 Premierminister selbst ist. Kain benötigt einfach einen Schuldigen, durch den er in der Krisensituation mit der Mücke seine Macht demonstrieren kann. Der Schaucharakter dieser Handlung wird dabei in der kurzen Zwischenszene deutlich, in der von der Polizeitruppe die Hinrichtung Miladas groß angekündigt wird – sie findet im königlichen Hippodrom statt, und anschließend sollen fröhliche Tänze stattfinden: Einerseits soll also demonstriert werden, was mit Systemgegnern passiert, andererseits wird als Sedativum Unterhaltung geboten, um die Massen ruhig zu halten und ihnen vorzugaukeln, dass die Situation unter Kontrolle ist – eine typische Erscheinung des Totalitarismus. Nach dem Premierminister erscheinen zwei weitere Besucher bei Kain, der Kriegsminister und der Geheimpolizeichef, die ihm über die Stimmung in der Armee und im Volk Bericht erstatten wollen. Kain erfährt, dass das Volk beunruhigt sei – was ihn ehrlich verwundert: Dass sich sein Volk um irgendjemand anderen als ihn selbst Sorgen machen kann, ist ihm in der wahnhaften Vorstellung von seiner eigenen Bedeutung durch und durch unverständlich. In Aufregung versetzt ihn jedoch das Gerücht, eine Taube sei im Lande aufgetaucht – insbesondere, als es sich als wahr herausstellt: In der folgenden Einstellung sieht man zu den Tönen einer ruhigen Melodie über den Himmel ganz klein eine weiße Taube fliegen, im hellen Licht der Sonne wie eine ätherische Erscheinung wirkend. Der Film nutzt hier die Symbolkraft der weißen Taube als Zeichen der Hoffnung und des Friedens – es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet dieser Vogel in Kains Reich verboten ist. Kain wiederum vergisst alle Sicherheitsvorkehrungen, reißt einem der Wächter das Gewehr aus der Hand und schießt mitten durch die Zeltwand hindurch. Die nächste Einstellung aber zeigt die Taube unversehrt davon fliegen, und Kain streckt seinen Kopf durch das Loch, das nun in der Zeltwand prangt, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich danebengeschossen hat. Dies hätte er nicht tun sollen: Eine Detaileinstellung seiner Nase zeigt, das sich darauf auf einmal eine sirrende Mücke niedergelassen hat. Der erschrockene Kain traut sich nicht, sich zu rühren – obwohl es sich vielleicht auch um eine gewöhnliche Mücke handeln könnte, ist die Angst, es könnte die Super-Mücke sein, zu groß. Minister und Polizeichef ergeht es nicht anders – Kain aber ruft sie zu sich und versucht, die Mücke zu bewegen, von seiner Nase auf die Nase einer der beiden zu fliegen. Auch hier zeigt er, wie sehr er von sich eingenommen ist – und als die beiden sich nicht für ihn opfern wollen und in Deckung gehen, beschimpft er sie als Verräter. Da muss Kain auf einmal niesen – als die Mücke danach immer noch unverändert auf seiner Nase sitzt, ergreifen die beiden Besucher panikartig die Flucht und lassen ihren König alleine zurück.

195 Das ist jedoch nur der Anfang von Kains Leidensweg: Ein Schnitt führt in sein großes Schlafzimmer im Schloss. Die dunkler gewordene Beleuchtung macht klar, dass einiges an Zeit verstrichen ist, während eine Nahaufnahme Kains im Profil zeigt, dass die Mücke immer noch sitzt. Der despotische Diktator, in unnatürlicher Pose seine Nase vorstreckend, hat sich nunmehr in ein erbärmliches Häufchen Elend verwandelt. Er ist ganz allein im großen Saal mit den brennenden Kerzen, der von dunklen Schatten durchdrungen ist, und auf seine verängstigten Rufe antwortet zunächst nur ein hallendes Echo. Zuletzt erscheint aber doch jemand – Kain kann den Fremden nicht zuordnen, und dieser stellt sich vor: Es ist der Toilettenmann (tualetnyj rabotnik), dessen Arbeit darin besteht, die Klos nach Benutzung zu säubern. Wie sich herausstellt, ist er der einzige, der nicht vor Angst vor dem möglicherweise explosiven Insekt die Flucht ergriffen hat. Kain will ihn erst angewidert wegschicken – doch dann ruft er ihn zurück: „Нет, не уходи от меня, туалетный работник! Мне страшно!“ [„Nein, geh nicht weg von mir, Toilettenmann! Ich habe Angst!“] Die beiden äußersten Enden der gesellschaftlichen Hierarchie kommen somit unter ungewöhnlichen Umständen zusammen: Die Rollen sind gewissermaßen vertauscht, der Toilettenmann hört sich ruhig und geduldig an, wie der König über sein Schicksal jammert. Selbst bibbernd vor Todesangst legt Kain dabei sein böses Wesen nicht ab – wenn er am Leben bleibe, so schwört er Gott, wolle er seinen ganzen Hofstaat ohne Gnade erschießen lassen. Nur dem Toilettenmann bietet er an, ihn zu seinem Oberkanzler zu machen – doch der lehnt ab, denn er, der für Sauberkeit steht, hält nichts von solchen schmutzigen Tätigkeiten.

V.C) EINE VERHINDERTE HINRICHTUNG, DER SIEG DES GUTEN UND DAS ENDE DES TYRANNEN [01:15:20 – 01:29:01] Milada wurde unterdes eine Nachricht ins Gefängnis geschmuggelt, dass Jan bei ihrer Hinrichtung im Henkerskostüm auftauchen würde, um sie zu retten – um diesen Plan in die Tat umzusetzen, soll der echte Henker abgefangen werden. Dessen Erscheinen auf der Leinwand ist äußerst erinnerungswürdig – sein Gefährt ist eine Art mobiles Schafott, das mit werbenden Aufschriften versehen ist, von denen vor allem das Angebot „Тиранам скидка — 15 %” [„Ermäßigung für Tyrannen: 15 %“] ins Auge sticht, und in einem Liedchen singt das harmlos aussehende Männchen von seinen alltäglichen Sorgen und seiner anspruchsvollen Arbeit (!). Jan und seine Verbündeten haben unterdes die Planken einer Brücke gelockert, um ihn zum Anhalten zu bringen, doch der Plan geht schief – er nimmt einen anderen Weg. So stürmt Jan, bereits als Henker verkleidet, kopflos davon, um Milada auf irgendeine andere Art

196 und Weise zu retten oder mit ihr zu sterben. Die bevorstehende Hinrichtung wird von den Untertanen Kains wie ein Volksfest gefeiert – es gibt Luftballons, Papiertröten und Bauchladenverkäuferinnen; der Henker wird unter Jubelrufen wie ein Star empfangen und nimmt, sein Beil schwingend, Ovationen und Blumen entgegen, und der königliche Bischof und seine Weihrauch schwingenden Messknaben begleiten tanzend Milada auf ihrem Gang zum Richtblock. Das Volk bleibt lenk- und manipulierbar – die Befriedigung der Vergnügungssucht lässt sie die darunterliegende Grausamkeit ebenso wie die drohende Gefahr durch die Mücke vergessen: An diese erinnern nur die die Gesichter verhüllenden Moskitonetzschleier, die dabei aber fast schon wie modische Attribute wirken. Außer Milada soll auch der Gelehrte hingerichtet werden, der die Zusammenarbeit mit Kain verweigert hat – der Priester gibt ihm zu verstehen, dass er am Leben bleiben könne, wenn er die Mücke auf der königlichen Nase identifiziere und damit der Ungewissheit ein Ende mache, doch der Wissenschaftler zieht vor, lieber zu sterben als von den unseligen Folgen seiner Entdeckung ein Leben lang gequält zu werden. Die Hinrichtung Miladas wird unterdes durch eine Reihe von Verwicklungen und Missverständnissen immer weiter verzögert: Sie vermutet unter der Henkerskapuze Jan und wähnt sich deshalb in Sicherheit – die Nachricht, die ihr herunterfällt, lässt indes die Minister und den Polizeichef glauben, der echte Henker sei falsch. Als sie ihn deshalb ins Kreuzverhör nehmen, fürchtet Milada daher, ihr Geliebter sei entdeckt. Dieser aber erscheint wenig später im Henkerskostüm, um den echten Henker als Hochstapler zu bezichtigen. All dies endet letztlich damit, dass das Liebespaar entdeckt wird und ihnen nun beiden die Hinrichtung droht. Dies aber wird in letzter Minute von Žan verhindert, der mit einem Pferd auf den Platz gestürmt kommt, das Gefäß mit der echten Super-Mücke in der Hand580: Diese dient ihm als Druckmittel, die Meute wie die Staatsbeamten in Schach zu halten. Dass Žan seine Drohung wahrmacht, das Gefäß zu zerschlagen, will zwar niemand riskieren, doch es werden sogleich Zweifel laut, ob es sich um die echte Mücke handelt. Der Premierminister erinnert sich an die Worte des Gelehrten, das Gefäß mit der Super-Mücke würde im Dunkeln leuchten, und jener

580 Hier weist der Film ein ,narratives Loch’ auf: Vorher hatte man in einer kurzen Einstellung Žan sich von Jan verabschieden und über die Grenze von Kains Königreich mit unbekanntem Ziel davonreiten sehen. Dabei hatte er Jan noch gebeten, die Hinrichtung so lange wie möglich aufzuhalten, er werde sich beeilen, so schnell wie möglich zurückzukehren – offensichtlich ist der Plan der beiden also von Anfang an, sich die Mücke zu beschaffen. Warum diese sich aber auf einmal in einem Ort jenseits der Landesgrenze befindet, zu dem man mehrere Stunden reiten muss, und wie sie dort hingekommen ist verschweigt der Streifen, ebenso wie nie erklärt wird, wie die beiden Helden auf einmal zu Verbündeten kommen, die Milada die Nachricht ins Gefängnis schmuggeln und Jan beim Überfall auf den Henker behilflich sein wollen.

197 bestätigt dies. Die aufgebrachte Menge fordert eine sofortige Überprüfung. Ehe dieser Spannungsbogen gelöst wird, wendet sich der Film jedoch per Schnitt noch ein letztes Mal Kain zu. Dieser ist in seinem Bett eingenickt, doch unruhige Träume reißen ihn aus seinem Schlaf: Aufgeregt berichtet er, er habe im Traum Gott gesehen, der ihn nach seinem Bruder Abel gefragt habe. Die trockene Antwort des Toilettenmannes, dass er diese Frage nicht das erste Mal gestellt habe, paraphrasiert im Prinzip ein weiteres Mal die Grundaussage des Films – immer wieder haben Menschen sich gegenseitig, also ihre Brüder, umgebracht, und dies ist zu verurteilen. Als Kain feststellt, dass die Mücke nach wie vor ungerührt auf seiner Nase sitzt, hält er es vor Angst nicht mehr aus: Der Toilettenmann soll ihn führen und keine Fragen stellen – mit diesen Worten zerrt er seinen Gesprächspartner eilig aus dem Zimmer. Auf dem abgedunkelten Hinrichtungsplatz, wo das Volk aufgeregt und ohne aufeinander zu achten durcheinanderläuft, stellt sich unterdes heraus, dass Žan die Wahrheit gesagt hat: Vom gläsernen Gefäß geht ein fluoreszierendes gleißendes Licht aus, wie von einer radioaktiven Substanz – der Film macht hierdurch ein weiteres Mal deutlich, wofür die Super-Mücke eine Metapher ist. Der Gelehrte verschafft sich Gehör – in guten Händen könnten die Kräfte der Mücke zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden.581 Mit dem Vorsatz, solche guten Hände zu finden, ziehen die drei Freunde sowie der Gelehrte ungehindert davon, unter den verdutzen Blicken der Anwesenden. Die Minister und der Bischof haben es nun äußerst eilig, als erster zu Kain zu kommen – denn jeder erhofft sich als Überbringer der Nachricht, dass die Mücke auf seiner Nase völlig harmlos ist, besondere Vorteile. Im Schloss angekommen, finden sie jedoch nur den Toilettenmann vor, der ihnen berichtet, dass der Diktator mittlerweile vor lauter Angst gestorben ist. Die drei erstarren hilflos, denn niemand traut sich, selbstständig zu handeln, und anschließend sieht man in einer Detailaufnahme, wie ein Luftzug die Kerzen eines der Leuchter nach und nach auslöscht. Die letzte Einstellung zeigt in der Ferne die Freunde und den Gelehrten von hinten, wie sie immer kleiner werdend mit unbekanntem Ziel gen Horizont ziehen. Dazu ertönt nach der Melodie vom Anfang des Films ein fröhliches Lied, das von dem Sieg der einfachen Leute über die Majestäten handelt und mit den Worten schließt: „Когда вокруг свобода, каждый сам себе король!“ [„Wenn ringsum Freiheit ist, ist jeder sein eigener König!“] Die Botschaft des Liedes kongruiert allerdings nicht so recht mit dem Inhalt des Filmes – Freiheit finden die Helden nur, indem sie das Reich Kains verlassen, was aber dort weiter passieren wird, scheint 581 Wie eine solche friedliche Nutzung der Mücke zum Wohle aller aussehen soll, macht der Film bezeichnenderweise nie explizit.

198 sie nicht zu interessieren. Unterdes bleibt offen, wer nach Kains Tod an dessen Stelle treten wird und ob sich dadurch etwas für die dortigen ,einfachen Leute’ bessern wird.

IV.3.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung Fasst man die semantischen Eigenschaften der Titelfigur in Kain XVIII zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

Eigenschaften Kain XVIII Individuelle Eigenschaften alt männlich menschlich böse despotisch egozentrisch-selbstverliebt triebgesteuert empathielos kaltblütig machtsüchtig/Eroberungs-, Unterwerfungsintention Streben nach ideologischer Gleichschaltung überzeugt von der Überlegenheit des eigenen Weltbilds charismatisch/wirkungsbewusst willkürlich Entscheidungen treffend Familiärer Status ledig → an Milada interessiert Sozialer Status hoch Lokalisierung unbeweglich in seinem eigenen Bereich

Nur die äußeren Eigenschaften sind ausschlaggebend für die Handlungslinie, die ihn mit den positiven Helden verbindet und einer konventionellen Typenkomödie entspricht: Alter Mann will seinen familiären Status ändern und junge Frau seines Standes heiraten – hieraus ergibt sich der ganze Konflikt: Seine Auserwählte hat bereits einen – unstandesgemäßen – Geliebten; das einzige Streben von ihr, ihrem Geliebten und dessen Freund ist es, die Hochzeit zu verhindern und so zum selbstbestimmten persönlichen Glück zu kommen. Ihre Ablehnung gegen den Bräutigam ist ausschließlich darauf begründet, dass er die Liebenden trennt, nicht etwa in seinen persönlichen Eigenschaften – bezeichnenderweise kommen Jan und Žan mit Kain ja nicht einmal in direkten Kontakt, während Miladas Treffen mit ihm von kurzer Dauer ist. Wirft man nun einen näheren Blick auf die inneren individuellen Eigenschaften Kains, so erhält man das Bild eines typischen totalitären Diktators in all seinen negativen Facetten. Es bleibt unklar, inwieweit die positiven Helden über diese Seite im Klaren sind – jedenfalls können sie kaum als seine Gegenspieler in dieser Hinsicht betrachtet werden: Sie kommen allesamt von außen in das Reich und verlassen es am Ende wieder; zwar bannen sie die

199 Gefahr, die durch die Super-Mücke ausgeht, aber dies geschieht eher zufällig und nicht gezielt, und eine Änderung der gesellschaftlichen Umstände wird von ihnen nicht herbeigeführt.582 Der Polizeistaat mit allen seinen Mechanismen, die der Film vorführt, bleibt als Negativbeispiel intakt: Neben dem despotischen Herrscher gibt es kein starkes Volk als Gegengewicht, vielmehr agiert es in den wenigen Szenen, in denen es als gesichtslose Masse auftaucht, manipulierbar und passiv.583 Was bleibt, ist also die Geschichte eines Diktators, der letzten Endes durch sich selbst zu Grunde geht – sozialistisch-realistisch ist ein solches Szenarium, wie gesagt, beim besten Willen nicht. Kain als Figur bietet sich natürlich für Spekulationen an. Wieviel man in ihm Züge von Hitler und wieviel von Stalin erkennen kann, ist sicher diskutabel. Eine gewisse Zweideutigkeit liegt darin, dass Kains Königreich zwar einerseits verschiedene Details aufweist, die als Parodie auf Hitlerdeutschland verstanden werden können, aber in anderen Zügen an die Lebensrealität der Sowjetunion erinnert, während die Elemente des Polizeistaates sämtlichen totalitären Regimes gemein sind und somit wiederum uneindeutig wirken.584 Das einzige Element, dessen reales Vorbild klar erkennbar ist, wird weder mit Stalin noch mit Hitler unmittelbar in Verbindung gebracht: Die Super-Mücke als Metapher für die Atombombe. Wie auch zahlreiche westliche, insbesondere US-amerikanische literarische und filmische Science Fiction-Werke derselben Zeit, die auf die eine oder andere Weise die Angst vor der Bombe thematisieren585, kann Kain XVIII als eine Warnung gelesen werden – allerdings warnt er auf eine andere Weise: Es handelt sich um keine apokalyptische ,Doomsday Vision’, die das mögliche Resultat eines hypothetischen Atomkrieges zeigt, sondern der Streifen analysiert vielmehr die generellen Mechanismen, die dazu führen können, und kommt dabei letztlich zu einer Kritik an jeder Form von Totalitarismus.

582 Wegen ihrer entsprechend reduzierten Rolle wurde darauf verzichtet, eine gesonderte tabellarische Eigenschaftscharakteristik der positiven Helden zu erstellen. 583 Švarc sah in seinem Drehbuchentwurf wohl noch ein braves Volk vor, das zusammen mit Jan und Žan am Schluss über das Ende des Tyrannen triumphiert (siehe Binevič 2008, S. 616); doch schon im fertigen Drehbuch von Ėrdman kommt dieses nicht mehr vor. Hier treten in einer frühen Szene (Ėrdman 2010, S. 418- 419) jugendliche Verteter einer Art Dissidentenkultur auf, die Jan und Žans Lieder hören; sie spielen aber im Folgenden keine Rolle mehr. 584 Insofern ist es allzu vereinfachend, wenn Cimbal in seiner Rezension behauptet, der Film „не нуждается, вообще говоря, в какой бы то ни было расшифровке“ [„braucht, allgemein gesagt, keinerlei besondere Entschlüsselung“] und seine Spitzen würdem sich eindeutig richten „против неофашистских атомщиков и […] оголтелых прислужников империализма“ [„gegen neofaschistische Atomkrieger und aufhetzerische Handlanger des Imperialismus“] (Cimbal 1963, S. 79). Freilich wäre eine andere Interpretation in einer Rezension der damaligen Zeit auch kaum in Frage gekommen. 585 Neben zahlreichen propagandistischen Werken ist sicherlich das bekannteste Beispiel Stanley Kubricks Film Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love The Bomb (Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, 1963), der wie Kain XVIII mit Mitteln der überzeichneten satirischen Komödie arbeitet, allerdings mit sehr viel pessimistischeren Grundtönen und deutlich schwärzerem Humor, und dabei alle Beteiligten gleichermaßen vorführt.

200 Es ist dabei gar nicht unbedingt relevant, ob der Figur des Kain ein realer Prototyp zugrundeliegt586 oder ein konkretes totalitäres System als Vorbild für sein Reich diente: In der Märchenform in ihrer Entrücktheit und gleichzeitigen universalen Lesbarkeit können direkte Schuldzuweisungen vermieden und die Adressaten abstrakt bleiben, ohne dass die Aussage und die damit verbundene Kritik als solche an Aktualität verliert. Als Propagandabeitrag zum Kalten Krieg ist der Film dadurch jedenfalls kaum deutbar. Anna Kovalova schreibt treffend: „Обратили ли на нее [сказку Каин XVIII] особое внимание «разные канцлеры- премьеры», «генералы-изуверы», «экс- и просто короли», это, к сожалению, не известно. Скорее всего, нет, а то она вряд ли бы вообще вышла на экран.“ 587 [„Ob es [das Märchen Kain XVIII.] besonders beachtet wurde von den ,Kanzler und Premiers’, den ,grausamen Generälen’ und den ,Ex- und einfach nur Königen’ ist leider nicht bekannt. Es ist aber unwahrscheinlich, denn sonst hätte es wohl kaum überhaupt auf der Leinwand erscheinen können.”] Diese – unbeachtete und unbeanstandete – offene Uneindeutigkeit ist ein Indiz für das veränderte kulturpolitische Klima in der Sowjetunion der Tauwetterzeit – unter Stalin wäre ein Streifen wie Kain XVIII sicher nicht möglich gewesen. Er sollte recht lange ein ziemliches Unikum unter den sowjetischen Märchenfilmen bleiben – die kurz darauf einsetzende Brežnev-Ära der Stagnation kannte nichts Vergleichbares, und erst die Perestrojka-Zeit brachte wieder Märchenfilme hervor, die eine ähnliche kritisch-satirische Schärfe aufweisen, freilich aber nunmehr mit sehr viel klarer definierten Adressaten. Die Filme wiederum, die Koševerova im Weiteren noch drehen sollte, sollten in eine etwas andere Richtung gehen. Avantgardistisch gestaltete, artifiziell-stilisierte Mise-en-scènes und theatralischer Inszenierungsstil sollten für sie zwar noch eine Weile eine Art Markenzeichen in filmästhetischer Hinsicht bleiben, ehe sie in späteren Werken nach und nach mit naturalistischeren Darstellungsformen verschmolzen, etwa durch den Einsatz von Natur- und Außenaufnahmen. Thematisch allerdings wandte sich die Regisseurin anderen Schwerpunkten zu, was auch damit zusammenhängt, dass sich ihre folgenden Filme primär an ein kindliches Publikum wenden. Das soll im Übrigen nicht heißen, dass sie mit ihrer zwischen Exzentrik und Lyrik schwankenden Machart nicht auch erwachsene Zuschauer mit ansprechen, jedoch liegt der Fokus nicht mehr, wie bei Kain XVIII, auf politischer Satire – es geht vielmehr, wie schon bei Zoluška, um universalere Themen apolitischer Natur, so etwa

586 Švarc vertraute offenbar Koševerova an, dass ihm die Grundinspiration für die Figur der US- Verteidigungsminister James Forrestal diente, in dessen Amtszeit der Zweite Weltkrieg und die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki fielen und von dem es hieß, dass er aus Angst vor den weiteren Folgen der Atombome verrückt wurde und Selbstmord beging; vgl. dazu Binevič 2008, S. 615, sowie Kovalova 2010, S. 49. 587 Kovalova 2010, S. 52.

201 zwischenmenschliche Beziehungen, moralische und verhaltensethische Fragen und das Recht auf selbstbestimmte Individualität. Diese manifestieren sich insbesondere in einer Reihe interessanter Heldenfiguren, die sich stets im Spannungsfeld zwischen hyperbolisierten Typen und reflektierenden Charakteren bewegen – hierzu gehört etwa der Soldat, der begreifen muss, dass Reichtum und Macht allein nicht glücklich machen und erkaufte oder erzwungene Gefühle wenig wert sind, in Staraja, staraja skazka (Ein uraltes Märchen, 1968); der Zarewitsch, der ausschließlich aufrichtig und ehrlich handelt und sich darin durch nichts beirren lässt, in Carevič Proša (Zarewitsch Proscha, 1974); der Sonderling Ivanuška, der weder fähig noch willens scheint, Schlechtes in seinen Mitmenschen wahrzunehmen, und dadurch das Gute in ihnen weckt, in Kak Ivanuška-Duračok za čudom chodil (Wie der dumme Iwanuschka das Wunder suchte, 1977), oder auch die Prinzessin, die lernt, sich durch äußere Umstände nicht beeinflussen oder abschrecken zu lassen und so selbstbestimmt zu ihrem Glück kommt, in Oslinaja škura (Eselshaut, 1982).

IV.4. Ivan da Mar’ja (Iwan und Marja, 1974) IV.4.1. Enstehungs- und Rezeptionskontext und genrespezifische Einordnung Ivan da Mar’ja entstand unter der Regie von Boris Rycarev (1930-1996), der nach einigen Gehversuchen in Filmen verschiedener Thematik sein erstes Kinomärchen Volšebnaja lampa Aladdina (Aladins Wunderlampe) im Jahre 1966 drehte. Seither widmete er sich fast ausschließlich diesem Genre – von ihm stammen insgesamt 9 Märchen recht vielseitiger Machart. Wesentlich jünger als Rou, Ptuško und Koševerova, die ja alle drei ihre Karriere im Stalinismus begannen, konnte er von Anfang an in einem Klima arbeiten, in dem der Druck auf Künstler, zwingend für das System didaktisch Nutzbares zu schaffen, so nicht mehr gegeben war. Das erklärt den oft verspielten, teils exzentrischen, teils philosophisch angehauchten, individualistisch-apolitischen Gundton seiner Streifen. Obwohl sein Nonkonformismus eher milde ausgeprägt wirkt, scheint er dabei, auch wenn er ihnen nirgendwo explizit zugerechnet wird, der von den Ideen des Tauwetters beeinflussten Generation der Šestidesjatniki (,Sechziger’) zumindest nahezustehen. Dafür spricht, dass etwa ein großer Teil der an Ivan da Mar’ja beteiligten Schauspieler zu den Stammensembles des Taganka-Theaters588 und des Theaters Sovremennik589 gehörten, die seit

588 Ivan Bortnik, Zinaida Slavina, Feliks Antipov, Vitalij Šapovalov. 589 Valentin Nikulin und Valentin Gaft. Michail Kozakov und Viktor Sergačev hatten bis 1970 bzw. 1971 zu der Truppe des Theaters gehört, Lija Achedžakova dagegen sollte 1977 dazustoßen.

202 der Tauwetterzeit als Hochburgen neuer, auch kritischer künstlerischer Sichtweisen galten, während Vladimir Vysockij, eine der Galionsfiguren der Šestidesjatniki590, sich für die Texte der musicalartigen Filmlieder verantwortlich zeichnete591. Der Film, dessen Drehbuch von Aleksandr Chmelik stammt, einem der Autoren der humoristischen Kinder-Kurzfilmreihe Eralaš, weist keine eigentlich märchenhafte syntaktische Struktur auf (Folkloremutation), lässt sich aber durch seine semantischen Elemente (das Figurenarsenal, der Schauplatz, das selbstverständliche Wunderbare) klar dem Märchen zuordnen. Die Mise-en-scène zeichnet sich durch eine Kombination von Außenaufnahmen mit theatralisch-stilisierten Bauten aus – als Drehort diente ein hügeliges Gelände in der Nähe der Stadt Kaluga, in das die miniaturhafte Kulisse hineingebaut wurde592, wobei die so bewirkte Artifizialität vom Film offen zur Schau gestellt wird. Der Schauspielstil der Darsteller ist unterdes betont chargierend, der vorherrschende Grundton heiter-grotesk – vieles spricht dafür, den Streifen als (selbst-)ironische Märchenparodie zu klassifizieren. Mit seinem spezifischen Humor richtet er sich dabei tendenziell eher an ältere Kinder und Jugendliche – Rycarev selbst hat sich über Intentionen, Genre und Zielgruppe in einem Interview während der Dreharbeiten folgendermaßen geäußert: В идеале, […] мы хотим создать современную импровизацию на темы известных русских сказок. Конечно же, это будет комедия. Все приключения сказочных персонажей как бы разыграны ряжеными. Мы надеемся, что, когда наш фильм будут смотреть малыши, им будет весело и страшно, как и положено на представлении сказки, подростки же поймут нашу иронию и пародийность. Я буду очень рад, если основными зрителями «Ивана да Марьи» станут подростки.593 [Im Idealfall wollen wir eine zeitgenössische Improvisation zu den Themen bekannter russischer Märchen schaffen. Natürlich wird es eine Komödie. Alle Abenteuer der Märchenfiguren werden sozusagen von Verkleideten vorgespielt. Wir hoffen, dass es für die kleinen Filmzuschauer lustig und gruselig wird, wie es sich für ein Märchenstück gehört, während die Jugendlichen unsere Ironie und Parodiehaftigkeit begreifen. Ich wäre sehr froh, wenn gerade Jugendliche das Hauptpublikum von „Ivan da Mar’ja“ würden.] Etwas befremdlich wirkt es also, wenn Romanenko in ihrer Besprechung594 dem Film vorwirft, dass er seine Zielgruppe nicht klar definiere – für die erwachsenen Zuschauer fehle dem Humor die Schärfe, für Kinder sei er zu anspielungsreich – und dabei die als Publikum anvisierten Jugendlichen schlichtweg übergeht. Ansonsten konnten zur Rezeption des Streifens keine weiterführenden Informationen eruiert werden, doch er scheint zumindest einen gewissen Erfolg gehabt zu haben, da z.B. auch eine deutschsprachige Synchronisation

590 Zu seinem Status wie auch den der beiden Theater in der Tauwetterzeit vgl. Engel 1999, S. 110. 591 Zumindest für den größten Teil – es werden auch einige adaptierte Volkslieder verwendet, und für einen Liedtext zeichnet sich Valentin Gaft verantwortlich. 592 Vgl. Provorov 1974, S. 12. 593 Zit. nach ebd., S. 12. 594 Vgl. Romanenko 1983, S. 39.

203 angefertigt wurde, die heutzutage noch ab und an im deutschen Fernsehen gezeigt wird. Interessant ist der Film einerseits, weil er insbesondere in der Darstellung der Beziehung zwischen den drei Hauptfiguren, dem Soldaten Ivan, seiner Braut Mar’ja und dem Herrscher, dem Zaren, in lockerer Weise den Kampf um individuellen Freiraum für das private Glück thematisiert, das sich nicht um jeden Preis Arbeit, Pflicht, der älteren Generation und der Obrigkeit unterordnen will. Andererseits sticht er durch seine verspielte Doppelbödigkeit hervor – er ist in mindestens zweierlei Hinsicht lesbar: Nicht nur die Konventionen des Märchens werden darin humorvoll auf die Schippe genommen, sondern auch die zentralen semantischen Komponenten des Sozialistischen Realismus ironisiert. Diese sind der Monumentalismus und die, nach Prochorov, „ключевы[е] культурны[е] троп[ы] советской эры“595 [„kulturellen Schlüsseltropen der Sowjetära“] – die Mythen von der Großen (Staats-)Familie und vom positiven Helden, der hier sogar offen parodiert wird. Mit welchen Mitteln und Verfahren die doppelte Parodie gestaltet ist und wie sich dabei die Ebenen gegenseitig durchdringen, soll mit der nun folgenden Analyse deutlich gemacht werden.

IV.4.2. Analyse unter Berücksichtigung der narrativen Ordnung der Geschichte und der Figurensemantik I.A) DIE RUHE IM REICH WIRD GESTÖRT [00:00 – 16:43] Nach dem Vorspann, den ein von einem Frauen-Folklorechor gesungenes Volkslied begleitet, werden in den ersten Einstellungen mittels einer einzigen Kamerafahrt in der Totale, die als Establishing Shot dient, alle Schauplätze eingeführt, die im Film von Bedeutung sein werden – die Handlung wird sich auf engstem Raum abspielen, in einem Zarenreich, das im Wesentlichen aus der ,Stadt’ und dem ,Dorf’ besteht, zwei zusammengewürfelten Ansammlungen miniaturistisch-spielzeughafter Bauten, die nur von einem schmalen Fluss voneinander getrennt sind. Evstignej XIII. (Ivan Ryžov), der Zar selbst, tritt bei dieser Kamerafahrt erstmals in Erscheinung – als Monarch identifizierbar ist er hier nur durch seine Krone, ansonsten wirkt der untersetzte Mann mit Knollennase, Vollbart und schütterem Haar, hochgekrempelten Leinenhosen und nacktem Oberkörper wenig majestätisch.596 Er ist mit Morgengymnastik beschäftigt, wie auch in Kain XVIII ein humoristisch- anachronistischer Verweis auf eine sowjetische Realie, und versichert sich im Anschluss

595 Prochorov 2007, S. 39. Als dritter Tropus kommt für den Autor der des Krieges hinzu (Genaueres siehe dort, S. 39-42), der vom Film jedoch nicht thematisiert wird. 596 Ryžov wurde bezeichnenderweise sonst vor allem in den Rollen kleiner Leute besetzt – das bekanntesteste Beispiel ist die brummige Vaterfigur in Vasilij Šukšins Kalina Krasnaja (Kalina Krassnaja – Roter Holunder, 1974).

204 daran, dass alles in seinem Herrschaftsbereich in Ordnung ist und seinen gewohnten Gang geht: Die Kamera vollzieht seine Kopfbewegung nach – er kann sein Reich von der Terrasse seines Schlosses aus zur Gänze überblicken, und sich mit seinen Untertanen per Zuruf unterhalten. Im weiteren Filmverlauf wird mit dem Raum gespielt – so wird etwa manchmal durch Kadrierung und Montage der Eindruck vermittelt, die nebeneinanderliegenden Schauplätze wären weit voneinander entfernt, doch da die tatsächlichen Größenverhältnisse offen gezeigt wurden, ist der Bezugspunkt stets die eigentlich winzige Größe des Reiches. Diese ist keine reine Stilisierung, sondern entspricht einer selbstironischen Märchenhaftigkeit – schließlich kennt auch das Volksmärchen zur Genüge Königreiche, die in weniger als einem Tag durchquert werden können.597 Ein paar Einstellungen später beginnt die eigentliche Handlung, wiederum auf der Schlossterrasse: Der Zar, nunmehr mit einem königlichen Pelz bekleidet598, hat Besuch – er beäugt wohlwollend, wie der puppenhaft-affektierte, mit merkwürdigem Akzent radebrechende ausländische Prinz Markizet seiner mauerblümchenhaften Tochter, der Zarewna Agrafena (Lija Achedžakova), schöne Augen macht und diese mit verschämtem Kichern geschmeichelt auf die Annäherungsversuche reagiert. Großes Interesse zeigen Vater und Tochter auch an dem Staatsgeschenk, das der Gast im Auftrag seines Vaters, des ausländischen Königs, mitgebracht hat – es handelt sich um einen weiteren Anachronismus in der Märchenwelt, ein Grammophon. Ein Schnitt versetzt nun den Zuschauer ans Stadttor, wo der brave Soldat Ivan (Ivan Bortnik) Wache hält. Er winkt die zahlreichen Besucher, die auf den Jahrmarkt wollen, herein, als auf einmal etwas Unvorhergesehens passiert: Solovej-Razbojnik, der Räuber Nachtigall, und seine Spießgesellen preschen auf ihrem Wagen mit verkehrtherum angespanntem, rückwärts laufendem Pferd übers Feld, singen dabei ein Räuberlied, und alle Passanten, die ihren Weg kreuzen, schubsen sie um oder scheuchen sie vor sich her. Die Menge flüchtet bei ihrem Anblick kreischend in die Stadt. Solovej, mit umgehängtem Fell, nacktem Oberkörper und tätowiertem Herz auf der Brust, hat mit seinem Folkloreäquivalent, der numinosen, monsterhaft-anthropomorphen Bylinenfigur599, nicht viel mehr als den Namen gemeinsam – er und seine Bande sind im Film im Grunde nichts weiter als krawallmachende Rowdies.

597 Vgl. Röhrich: EM 8, s.v. „König, Königin“, S. 143. Als Beispiel können die Märchen des Typs SUS 301 A,B Tri podzemnych carstva (,Die drei unterirdischen Reiche’) dienen: Der Held kommt dort nacheinander in drei unterirdische Reiche, um anschließend wieder zurückzuwandern, und das alles oftmals, bevor der Tag vorüber ist; vgl. z.B. Af. 128. 598 Im Laufe der Szene wird zwischen den Einstellungen unvermittelt das Kostüm des Zaren samt Krone gewechselt – hierbei scheint es sich aber um einen unbeabsichtigten Anschlussfehler zu handeln. 599 Vgl. Iľja Muromec für eine annähernd folkloretreue Darstellung.

205 Ivan wiederum, als Märchenfigur gleichermaßen stark profanisiert, stellt das Musterbild eines positiven Helden im Sinne des Sozialistischen Realismus dar, denn als seine bestimmenden Eigenschaften werden hier die mit diesem assozierten gängigsten Klischees herausgestellt: Er verkörpert Gelassenheit und Strenge600, indem er den Wagen der Bande zum Stehen bringt und Solovejs Pöbeleien mit stoischer Ruhe begegnet – sie rufen bei ihm nur milden Spott hervor, und auch als der Räuber zwischenzeitlich aus seiner Rolle fällt und versucht, ihn freundschaftlich zu überreden, nur ein Auge auf die Zarewna Agrafena werfen zu dürfen, bleibt er standhaft und lässt ihn als sozial zweifelhaftes Subjekt nicht in die Stadt hinein. Hier wird Ivan jedoch nicht als individuelle Persönlichkeit charakterisiert, sondern wie für den positiven Helden typisch lediglich in seiner Rolle bzw. Maske als pflichtbewusster Diener des Staates, in dem Fall als Wachsoldat. Da er nicht in die Stadt hineinkann, sorgt Solovej von der Stadtmauer aus für Trubel, indem er seinen schrillen Pfiff ertönen lässt, der einen regelrechten Sturm erzeugt und die Gesellschaft beim Zaren empfindlich stört: In einer Tricksequenz, die insbesondere mit Hilfe von Reverse Motion in Zeitlupe verwirklicht wird, werden Gegenstände und Menschen durch die Luft gewirbelt, der Grammophontrichter landet schließlich auf dem Kopf Markizets. Der Zar, der auf Grund der beengten räumlichen Verhältnisse nur wenige Schritte machen muss, um von der Stadtmauer aus Solovej sehen und mit ihm einen Dialog führen zu können, rügt diesen wegen seines Benehmens und wirkt dabei wie ein Vater, der einen ungezogenen Sohn zurechtweist. Dieser lässt sich allerdings davon nicht beeindrucken, nimmt seine Gitarre zur Hand und singt Agrafena eine Serenade. Die Zarewna ist davon sehr angetan, wippt im Takt mit und ignoriert nun den ausländischen Prinzen samt Grammophon. Während dieser frustriert davongeht, schleppt der Zar mit Hilfe der Kinderfrau mit Mühe seine sich sträubende Tochter davon, um sie vor dem schädlichen Einfluss zu bewahren. Interessant an dem Ausschnitt ist vor allem die Natur des Konflikts, der den Zaren eben nicht nur als Vater betrifft, sondern auch als Herrscher – darüber gibt ein von ihm im Sprechgesang vorgetragener Versmonolog Aufschluss: „Если в этот скорбный час / Спустим рукава – / Соловей освищeт нас / И пойдет молва: / Дескать, силой царский трон, / Все скудней, / Дескать, мало каши ел / Евстигней.“ [„Wenn wir in dieser leidvollen Stunde / die Hände in den Schoß legen, / wird uns Solovej auspfeifen, / und das Gerücht wird die Runde machen, / dass es um die Stärke des Zarenthrons / immer schlechter steht / und er noch grün hinter den Ohren ist, / der Evstignej!“] Wie der Zar seine familiäre Vaterrolle ausfüllt, wirkt sich also direkt auf seine

600 Diese Eigenschaften sind „conventional signs of the positive hero“ (Clark 1985, S. 123).

206 staatliche Funktion, sein Ansehen als Herrscher aus. In der stalinistischen Ausprägung des Sozialistischen Realismus ordnet sich die kleine Kernfamilie stets der Großen Staatsfamilie unter601, während die Filme des Tauwetters mit ihrer Hinwendung zum Privaten häufig die kleine Familie aufwerteten und als Miniaturvariante der Staatsfamilie fungieren ließen602 – hier wird beides ironisch verfremdet: Der Staat fungiert gewissermaßen als (leicht) vergrößerte Variante der kleinen Familie, denn die familiären Belange des Zaren sind Staatsbelange; zweiteres ist damit äußerst banalisiert. Der Zar selbst ist alles andere als ein souveräner Patriarch wie die sozialistisch-realistischen symbolischen Väter und Führerfiguren, er ist vielmehr höchstgradig überfordert. Dass er nicht in der Lage ist, den Konflikt selbst zu lösen, ist freilich gleichzeitig auch grundsätzlich der Logik des Märchens folgend: Könige und Zaren lösen darin ihre Probleme ja nahezu nie selbst, sondern sind auf Hilfe anderer angewiesen603 – und auch der folgende Erlass, dass derjenige, der Solovej vertreiben kann, das halbe Reich604 und die Zarewna zur Frau erhalten soll, ist durchaus märchentypisch.605 Der Woiwode (Heerführer) des Zaren kann gegen den Räuber und seine Bande nichts ausrichten – sein Versuch, sie mit einer Kanone beschießen zu lassen, endet damit, dass sie mit der Kanonenkugel Ball spielen. So gibt er den Befehl nach unten weiter, an Ivan, der immer noch vor der Stadtmauer Wache hält und von den Vorgängen offensichtlich nichts mitbekommen hat – auch von dem Erlass, der für den Helden des Volksmärchens Motivation zum Auszug wäre: Als Ivan dagegen loszieht, tut er dies ausschließlich mit dem Vorsatz der braven Erfüllung seiner Pflicht als Soldat.

I.B) DER HELD ERFÜLLT SEINEN AUFTRAG [16:43 – 24:57] Die folgende Episode weist in ihrer inhaltlichen Grundform parodistische Züge zweierlei Hinsicht auf. Ivan stellt sich, wie dem positiven Helden des Sozialistischen Realismus, eine Aufgabe, die von besonderer Relevanz für den Staat ist – der Staat aber ist nicht von monumentaler Größe, sondern in grotesker Ironie demonumentalisiert: Er ist so klein wie ein Dorf, so dass die Große Staatsfamilie im Grunde eine nur wenig erweiterte Kernfamilie darstellt und so letztlich eine familiäre Privatangelegenheit des Herrschers dem Wesen nach Staatssache ist. Außerdem wird hier eines der charakteristischen Märchenmerkmale auf den

601 Vgl. Clark 2001, S. 178. 602 Vgl. Prochorov 2007, S. 55. 603 In Propps Aktantenschema tritt er daher in der Regel als Aufgabensteller oder Sender auf, vgl. Propp 1928, S. 88-89. 8 604 Humoristisch verfremdet im gesungenen Erlass der Herolde als /16 des Reiches. 605 Mot. Q112. Half of kingdom as reward; T68. Princess offered as prize.

207 Kopf gestellt: Während der typische Volksmärchenheld ein Wanderer ist, der sich schon zu Anfang von zu Hause fortbegibt und sich eigentlich ständig in Bewegung befindet, um in weiter Ferne seine Abenteuer zu erleben und sein Glück zu finden606, spielt sich das Abenteuer Ivans, wie im Übrigen auch der ganze weitere Film, ,zu Hause’ ab: Er muss sich nicht ins dreimalneunte Zarenreich aufmachen, sondern trifft auf Solovej und seine Spießgesellen fast unmittelbar vor den Toren der Stadt, in einer alten Mühle. Der kurze Weg, den er dafür zurücklegen muss, wird vom Film durch ein offen stilisiertes Verfahren künstlich verlängert, wodurch sich ein subtiler komischer Effekt ergibt: Seine ,Wanderung’, während der er ein mehrstrophiges Lied singt, ist im Großen und Ganzen durch zwei längere Einstellungen mit wechselnden Einstellungsgrößen und Bildausschnitten dargestellt, die ihn einmal sehr langsam aus der Bildtiefe herauskommen und einmal in die Bildtiefe hineinlaufen lassen, ehe er schließlich die Mühle erreicht – der so erweckte Eindruck, dass er eine größere Strecke zurückgelegt hat, wird in den darauffolgenden Einstellungen konterkariert, in denen die Bildausschnitte deutlich zeigen, dass sich die Gebäude der Stadt in allernächster Nähe befinden. Die Konfrontation mit Solovej selbst, der weniger ein Bösewicht als mehr ein großspuriger Grobian von kindlich-naivem Übermut ist, führt zu keinem offenen Kampf – der Räuber schlägt stattdessen vor, einen Rätselwettbewerb zu veranstalten: Sollte er verlieren, will er sich samt seiner Bande aus der Umgebung trollen. Ivan bleibt ihm gegenüber weiter ruhig und gelassen – er bekommt eine ganze Reihe von Scherz- und Fangfragen sehr moderner Färbung gestellt, die teils auf Wortspielen basieren, erst von Solovej selbst, dann von den Mitgliedern seiner Bande. Ihre Rätsel werden in Form einer Gesangsnummer präsentiert, deren wilde Choreographie damit endet, dass sie allesamt per Filmtrick rückwärts auf einem Fass landen, von wo aus sie Ivan erwartungsvoll anstarren. Dieser jedoch hat alle Antworten sofort parat – ganz im Gegensatz zu Solovej, der auf die ihm im Anschluss gestellte Vexierfrage nur mit einem perplexen Gesichtsausdruck reagieren kann. Über die Figur Ivans, mit dessen lachendem Gesicht in Großaufnahme der Ausschnitt schließt, wird unterdes nach wie vor nichts Wesentliches bekannt – er ist weiterhin ruhig und unerschrocken, zeigt sich als schlau und von schneller Auffassungsgabe, doch über diese oberflächliche Maske hinausgehend wird er nicht charakterisiert: Er ist ein Held in Erfüllung einer Aufgabe und weiter nichts, wirkt also immer noch reichlich depersonalisiert.607 Dies soll

606 Vgl. Lüthi 1974, S. 29-30; Horn 1983, S. 6-10. Diesem märchenhaften Muster folgen auch die oben vorgestellten Filme Kaščej Bessmertnyj und Ogon’, voda... i mednye truby. 607 Als möglichen Hinweis auf seine Persönlichkeit kann allenfalls das Lied gelten, das er auf dem Weg zur

208 sich im nächsten Ausschnitt ändern.

II. DIE BRAUT DES HELDEN UND DER KONFLIKT MIT DEM HERRSCHER [24:57 – 34:28] Zunächst jedoch erscheint in einer kurzen Sequenz erstmals die Heldin des Films, das Dorfmädchen Mar’ja (Taťjana Piskunova). Sie wird im starken Kontrast zu den übrigen Dorfmädchen eingeführt: In einem Cross Cutting sieht man wie diese, in farbenfrohen Kostümen, mit Bändern und Schmuck herausgeputzt, auf zwei Schiffschaukeln schaukeln und müßiggehend ein Volkslied von verheißenen Reichtümern singen – Mar’ja unterdes, in einem schlichten Bauernkittel und einem strengen Kopftuch, das Hals, Haare und Stirn gänzlich verbirgt, wird bei der Arbeit gezeigt, sie wäscht Wäsche im Fluss, macht Heu, holt Wasser am Brunnen. Die fleißig-arbeitsame Bäuerin ist ebenfalls eine Maske, die einer depersonalisierten positiven Heldin entspricht. Als eines der Mädchen, das anhand von Ringen Orakelsprüche verkündet, Mar’ja weissagt, zu ihr würden bald Brautwerber kommen, erfährt der Zuschauer aber etwas Privates von ihr und gleichzeitig auch von Ivan: Sie will nichts von Brautwerbern wissen, weil sie bereits seine Braut und ihm versprochen ist. Aus diesem quasi-familiären Status soll sich dann in der nächsten Episode, in der wiederum Ivan im Mittelpunkt steht, für diesen ein Konflikt ergeben. Für seine Tat wird er mit einer regelrechten Parade gefeiert: Hüte und Mützen werden in die Luft geworfen, ein Triumphlied gesungen, und das Volk steht ihm Spalier und begrüßt ihn mit Blumensträußen. Der Zar schlüpft unterdes in komischer Aufregung in seine Rolle als repräsentatives Staatsoberhaupt – er läuft auf und ab, während er hektisch seine Wächter anweist, wo sie den Thron aufzustellen haben, und wirft seinen königlichen Pelzmantel über ein zerschlissen-fleckiges Leinengewand. Als Ivan schließlich vor ihm aufmarschiert, wendet er sich mit betonter Würde in Haltung und Stimme an ihn, um ihn für seine Tat auszuzeichnen. Hier kommt es allerdings zu einer unerwarteten Wendung: Ivan kann nicht nur mit einem Pelzmantel als Geschenk nichts anfangen und weist ihn zurück, sondern wird davon, dass er die Zarewna zur Frau bekommen soll, fast gänzlich aus der Fassung gebracht – schließlich hat er ja bereits eine Braut, und so lehnt er auch diese ,Ehre’ ab. Der Konflikt ergibt sich letztlich aus einer Vermischung zweier verschiedener, bisher getrennter Sphären: Der positive Held Ivan ist wohl als Soldat im Dienst bereit, jede Aufgabe

Mühle singt – in dessen gesellschaftskritischem Text ist die Rede vom schweren Schicksal des Soldaten, der immer nur Befehle ausführt und kämpft, obwohl er vom Frieden träumt. Ob es sich hier jedoch diegetisch gesehen um ein Lied oder den Ausdruck von Gedanken handelt, ist allerdings unklar.

209 für den Zaren als Staats- und Obrigkeitsrepräsentanten ohne Hinterfragen zu erfüllen – als dieser jedoch auch die familiäre, also private Sphäre beeinflussen will, wagt er, wenn auch zögerlich, Einspruch zu erheben. Dass ihn dabei die Überlappung der Sphären durcheinander bringt, zeigt sich darin, dass er übergangslos zwischen ,dienstlichem’ Rekrutentonfall und normaler Stimmlage hin und her wechselt, als ob er nicht wüsste, welche Rolle er einnehmen soll. Für den Zaren hingegen sind, wie sich schon angedeutet hat, die staatliche, offizielle und die familiäre, private Sphäre eins – mehr noch, für ihn kommt es einer staatlichen Beförderung gleich, innerhalb der ,Großen Staatsfamilie’ Teil seiner kleinen Familie zu werden, und mit der Verheiratung Ivans mit seiner Tochter würde diesem als Schwiegersohn ja darin ganz offiziell ein Platz zugewiesen. So versetzt ihn die Ablehnung zunächst in Befremden, dann in trotzigen Zorn, der ihn als launisch und autoritär charakterisiert: Er beschließt, den Soldaten für seinen Ungehorsam in den Kerker werfen zu lassen. Ivan ist zwar unzufrieden, lässt sich aber ohne Aufbegehren abführen – die Grundautorität des Zaren, der nicht nur die staatliche Obrigkeit, sondern auch die ältere Generation verkörpert, steht für ihn weiterhin außer Frage. Mar’ja hingegen, seine Braut, sieht dies anders, wie sich im Folgenden zeigen wird: Der Zar hat aus Rache angeordnet, dass sie mit dem Woiwoden verheiratet werden soll, und so kommt dieser in der nächsten Sequenz herausgeputzt in einem geschmückten Dreispänner mit seinen Brautwerbern ins Dorf gefahren. Mar’ja begrüßt die Besucher verwundert, immer noch in Bauernkittel und Kopftuch, die sie eher unansehnlich scheinen lassen. Als sie den Anlass des Besuches erfährt, wandelt sich jedoch ihr Äußeres, unvermittelt zwischen den Einstellungen inmitten des Dialoges: Auf einmal zeigt sie eine Nahaufnahme adrett gekleidet, mit langem Zopf und bezauberndem Lächeln als strahlende, durch helles Oberlicht fast schon ätherisch wirkende Schönheit. Sie legt damit sozusagen ihre Maske als fleißige Arbeiterin ab und agiert von nun an nur noch als Privatperson, als individueller Mensch – und zwar als ebenso selbstbewusster wie impulsiv-willensstarker: Kaum wurde ihr mitgeteilt, was mit Ivan geschehen ist, nimmt sie schon einen Rechen zur Hand, um den ungebetenen Gästen damit zu Leibe zu rücken. Sie weigert sich nicht nur, sich der privaten Fremdbestimmung durch die Obrigkeit zu fügen, sondern setzt sich aktiv dagegen zur Wehr. Dies resultiert in einen wilden slapstickhaften Tumult, in dem der Woiwode und seine Leute Mar’ja einzufangen versuchen, aber von dieser und den anderen Dorfbewohnern genarrt und schließlich vertrieben werden. Es ist klar, dass für Mar’ja die Sache noch nicht vorbei ist.

210 III.A) DER HELD IM KERKER UND EINE NEUE BEKANNTSCHAFT [34:28 – 41:54] Die nun folgende Episode zeigt erstmals einen Innenraum – sie spielt im Kerker, in dem Ivan an der Wand kauert und über seine Situation zu sinnieren scheint. In der düsteren Atmosphäre der engen Zelle, in der Eisenketten an den Wänden hängen und die lediglich durch einen vom Fenster kommenden trüben Lichtschein erhellt ist und ansonsten im Chiaroscuro-Halbdunkel liegt, verwundert es im Grunde nicht, dass sich auf einmal aus dem Schatten eine schwarze gespenstische Gestalt herauslöst – und sich als tatsächliches Gespenst herausstellt. Dieses macht jedoch auf Ivan keinerlei Eindruck – ob dies an dessen Unerschrockenheit liegt oder daran, dass das Geheule nicht allzu überzeugend gruselig wirkt, bleibt offen. Der Spukgeist Timoša scheint jedenfalls schon bessere Tage gesehen zu haben, und sowohl äußerlich, mit aufgenähten Skelettknochen auf seinem Gewand und grotesker Schminke, als auch in seinem Gebahren erinnert er eher an einen abgetakelten rollenmüden Schauspieler.608 Er erbettelt sich von Ivan Tabak, um sich eine Zigarette drehen zu können, und wenig später rauchen die beiden zusammen und führen ein Gespräch, das seine Komik daraus bezieht, dass Übernatürliches wie Alltägliches besprochen wird: Nachdem sie gemeinsam über den Zaren gelästert haben, berichtet Timoša wie nebenbei, dass er seit bald 1000 Jahren im Kerker spuke und seit 200 Jahren seine Mutter nicht mehr gesehen habe, die sich so nach ihm sehne. Hier ergeben sich für Ivans semantische Charakteristik erstmals individuellere Züge privater Natur: Die Geschichte rührt ihn zu Tränen, und er macht den Vorschlag, an Timošas Stelle im Kerker zu heulen, damit dieser seine Mutter besuchen kann – somit erweist er sich als mitfühlend und hilfsbereit. Die Kehrseite dieser positiven Eigenschaften wird sich im folgenden Abschnitt zeigen. Der Spukgeist nimmt jedenfalls den Vorschlag freudig an, schenkt Ivan zum Dank eine magische Balalaika und verschwindet im Dunkel, um sich darin im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufzulösen.

III.B) DIE RETTUNG DES HELDEN DURCH SEINE BRAUT [41:54-56:56] Unterdes ist Mar’ja am frühen Morgen im Dorf losgezogen, um Ivan zu retten – obwohl die Entfernung zur Stadt ja eigentlich kaum der Rede wert ist, wird durch eine Folge von verknappten Bildern ein langer Weg suggeriert, und sie kommt erst Mittags dort an. Verfremdende Züge trägt auch der folgende kurze Ausschnitt, in dem sie von der städtischen Hektik erschreckt wird – möglicherweise ein parodistischer Verweis auf die damals

608 Wie aus einer Äußerung des Darstellers Valentin Nikulin hervorgeht, die im Zeitschriftenartikel zu den Dreharbeiten zitiert wird (Provorov 1974, S. 11), wurde die Figur von ihm und Rycarev ganz bewusst so angelegt.

211 verbreitete Verteufelung des Urbanen in Literatur und Film609: Auf dem Platz befindet sich deutlich mehr Volk, als realistisch gesehen von den wenigen Häuschen beherbergt werden könnte, und alle scheinen ziellos durcheinander zu wuseln – man sieht zu schneller Musik aneinander vorbeieilende Menschen, fahrende Wägen, einige Einstellungen fangen nur unscharf Rümpfe oder Füße in rascher Bewegung ein. Auf ihrem Weg durch die Stadt kommt Mar’ja schließlich zum Kerkerturm, in dessen Schatten der Hofdichter des Zaren liegt, der das gerade mal zwei Mann hohe Bauwerk in schwülstigen Versen als monumentales achtes Weltwunder anpreist. Die Heldin zeigt sich als ebenso zielstrebig wie listig – zunächst findet sie durch Schmeicheleien heraus, dass der Weg zum Kerker über das Zarenschloss führt, dann reizt sie den abweisenden Gesprächspartner mit hänselndem Spott dazu, ihr zu verraten, dass dieses auch einen zweiten, geheimen Eingang hat. Und so findet sie sich schließlich im Schloss wieder – ausgerechnet in einem dunklen Zimmer, in dem die Zarewna Agrafena und ihre Kinderfrau mit einer Geisterbeschwörung beschäftigt sind. Sie halten auch zunächst Mar’ja, die unter einem Laken hervorkommt, für einen Geist – als sie dann aber erzählt, wer sie ist, findet sie in Agrafena eine unerwartete Verbündete, denn diese hat genug von ihrem autoritären Vater: Sie beschließt, ihm zum Trotz Mar’ja zu helfen, und lässt sich zu diesem Zweck von der Kinderfrau Pistolen besorgen. Mar’jas letzte Station vor der Rettung ihres Bräutigams ist schließlich die Schatzkammer, die Wand an Wand mit dem Kerker liegt. In diesem ebenfalls fast völlig dunklen Raum sind der Schatzmeister (kaznačej) und sein Kollege610, der mit dem modernen und dadurch komisch-anachronistischen Äquivalent Kassierer (kassir) bezeichnet wird, damit beschäftigt, Gold zu scheffeln. Das Lied, das sie dabei singen, handelt von sehr profanen Finanzproblemen und der Versuchung, sich selbst etwas von dem Gold einzustecken, der sie nur aus Angst vor Revisoren widerstehen. Die satirischen Gegenwartsbezüge sind hier recht klar zu erkennen – deutlich auf verbreitete Praktiken im sowjetischen Dienstleistungssektor verweist auch das Schild, mit dem sie ankündigen, sie hätten Mittagspause, sobald sich jemand ihrem Arbeitsplatz nähert.611 Als Mar’ja und Agrafena in vermummter Aufmachung erscheinen, müssen sie deshalb erst wild mit ihren Pistolen um sich schießen, um sich Respekt zu verschaffen. Der Forderung, einen Gang zum Kerker zu graben, müssen die beiden

609 Zu diesem Phänomen vgl. Clark 1985, S. 242-243. 610 Die beiden sind kurz vorher Mar’ja in der Stadt begegnet, ohne dass allerdings klar wurde, wer sie sind. 611 In der Sowjetunion der Stagnationszeit war es, so Neutatz 2013, S. 418, „selbstverständliche Praxis, nur mit halber Kraft zu arbeiten, während der Arbeitszeit privaten Besorgungen nachzugehen und den Arbeitsplatz zu benutzen, um für sich und die Familie verschiedene Dinge abzuzweigen, die sonst schwer oder gar nicht aufzutreiben waren.“

212 Beamten aber letztlich nicht nachkommen, da es einen solchen ohnehin schon gibt. Während Agrafena zurückbleibt, um die zwei zu bewachen, kann Mar’ja endlich zu Ivan vordringen. Der folgende Ausschnitt ist für die semantische Charakteristik der beiden Figuren, die im Film erstmals aufeinandertreffen, ebenso wie für ihr Verhältnis zueinander sehr aufschlussreich. Als Ivan Mar’ja erblickt, eilt er rasch freudig in ihre Arme, und die beiden bedenken einander mit allen möglichen zärtlichen Kosenamen, während im Schuss- Gegenschuss-Verfahren ihre seligen Blicke eingefangen und somit ihre innigen Gefühle füreinander demonstriert werden. Erst dann wird Ivan stutzig und fragt, wie Mar’ja denn überhaupt hergekommen sei. Ihre schluchzende Antwort jedoch, dass sie ihn befreien wolle, scheint er gar nicht so recht wahrzunehmen – stattdessen beginnt er sofort, sie zu infantilisieren, indem er sich sorgt, dass die dunkle und feuchte Umgebung schädlich für sie sei, sie anweist, sich niederzusetzen und sie ihrer nassen Füße wegen tadelt. Hierin zeigt sich erneut der für ihn charakteristische Zug der Selbstlosigkeit: Er ist es schließlich, der sich in einer prekären Situation befindet, doch er denkt nur an die möglichen Nachteile für seine Liebste. Sie hingegen nimmt nicht nur an seinem Schicksal emotional Anteil – es ist ihr eigenes dringendstes Bedürfnis, mit ihm zusammenzusein. Entsprechend sorgt seine kryptische Erklärung, dass er im Kerker bleiben müsse, da er einem Freund deswegen sein Wort gegeben habe, bei ihr für Unverständnis. Mitgefühl und Hilfbereitschaft gegenüber Timoša erweitern sich hier zur sturen Pflichtverbundenheit, die ihn auch privat kennzeichnet: Das gegebene Wort steht für Ivan über seinen eigenen Bedürfnissen, die er regelrecht zu verleugnen scheint – ist doch deutlich, dass auch er mit Mar’ja zusammensein will. Diese aber erweist sich im Folgenden in semantischer Hinsicht als sein binärer Widerpart – statt passiver, rationaler Selbstlosigkeit verkörpert sie aktives, emotionales Selbstbewusstsein: Sie will Ivan zwingen, mit ihr zu gehen. Dieses Moment wird vom Film durch Übertreibung ins Groteske gesteigert: Mar’ja löst unter Schluchzen den Abzug ihrer Pistole, nennt Ivan liebevoll „Аккуратненький ты мой!“ [„Du mein ganz Korrekter!“] und wischt sich mit dem Handrücken die Nase ab, ehe sie zärtlich fordert: „Рученьки вверх!“ [„Die Händchen hoch!“]. Letztendlich aber muss Ivan, der entgeistert die Hände hochnimmt, doch nicht aus seiner Rolle als positiver Held fallen und sein Wort brechen, denn Timoša kommt zurück und entbindet ihn somit von seinem Versprechen. Dabei wird nochmal auf komische Weise ein ironischer Rollentausch vorgenommen: Das Erscheinen des Gespensts aus dem Nichts sorgt bei Mar’ja für einen Ohnmachtsanfall, und die von ihr aktiv initiierte Flucht erlebt sie so in

213 einem Zustand der reglosen Passivität, während der ursprünglich passiv-zögerliche Ivan den aktiven Part übernehmen muss, indem er sie schließlich auf seinem Rücken aus dem Kerker trägt. Zurück bleibt der ratlose Spukgeist mit einem Beutel Pastetchen, die ihm seine Mutter mitgegeben hat.

VII.A) FLUCHT, VERFOLGUNG UND KONFRONTATION [56:56 – 01:11:46] Bevor die Haupthandlung weitergeht, wird in einem kurzen komischen Intermezzo die Nebenhandlungslinie um den ausländischen Prinzen Markizet zu Ende geführt: Er hat sich auf dem Weg zurück in sein Reich mit seinem Grammophon im Nebel verirrt und stößt auf Solovej und seine Spießgesellen, die mit ihm ihren Schabernack treiben wollen. Er selbst muss sie jedoch erst auf den Gedanken bringen, dass sie von ihm ein Lösegeld fordern sollen – und bietet sein Grammophon an, das ihm auf Grund seiner Schwere und Unhandlichkeit lästig geworden ist. Als er es demonstriert, kommen er und die junge Baba-Jaga612, das einzige weibliche Mitglied der Bande, sich beim Tanzen näher. Unter den Augen des verdutzten Solovej verwandelt sich diese durch ein Bad im Fluss von einem schmuddelig-unordentlichen Hexchen in eine glamouröse Dame, und da sie ihr bisheriges Dasein satt hat, beschließt sie, die Bande zu verlassen und mit dem selig verliebten Markizet613 in dessen Reich zu ziehen. Somit hat das Grammophon seinen ursprünglichen Zweck – dem Prinzen eine Braut zu erobern – doch noch erfüllt. Der folgende Ausschnitt wendet sich wieder dem Heldenpaar zu – ihr Verhältnis zueinander wird erneut auf eine harte Probe gestellt, da nun auch wieder der Herrscher in Person auf den Plan tritt: Vorerst sitzt er nichtsahnend Tee schlürfend auf seiner Terrasse, als seine Schatzmeister aus dem Schloss erscheinen und aufgeregt von einem Raubüberfall berichten. Dass die beiden Beamten ihre Stiefel in der Hand tragen und ihre Hemden merkwürdig ausgebeult sind, sie außerdem verdächtig klimpern, fällt ihm nicht weiter auf: Die beiden haben die Gelegenheit genutzt, sich selbst am Schatz zu bedienen, und schieben die Schuld ominösen Räubern zu, die auch noch den Soldaten befreit hätten. Die Reaktion des Monarchen, immer wieder in Nahe eingefangen, wird aus seiner Körpersprache und seinem sich ändernden Gesichtsausdruck sehr schön deutlich: Den Raub an sich scheint er eher als eine lästige Angelegenheit denn als ein großes Unglück zu sehen – entnervt zeigt er sich hingegen, als der Woiwode auf seine fordernden Rufe nicht antwortet,

612 Die Figur ähnelt ihrem gleichnamigen Folklore-Prototyp, ebenso wie Solovej dem seinen, nur sehr entfernt. 613 Derselbe, der sich im Übrigen am Anfang des Films aus unerwiderter Liebe zu Agrafena noch das Leben nehmen wollte!

214 und er schaut sogleich wehleidig drein. Als zwei der Wachen, die seelenruhig mit dem Aufwickeln von Wolle beschäftigt sind614, ihm mitteilen, dass der Woiwode von seiner Heiratsmission noch nicht zurückgekehrt sei, verstärkt sich sein wehleidig-gereiztes Gehabe noch, denn nun ist klar, dass er sich um die Angelegenheit selbst bekümmern muss. Hierdurch wird seine semantische Charakteristik um Eigenschaften ergänzt, die direkt verbunden sind mit dem von ihm schon mehrfach an den Tag gelegten Autoritarismus, der Erwartung, dass alles stets nach seinem Willen zu gehen hat: Passivität, Bequemlichkeit und Faulheit sind bei ihm geknüpft an eine Erwartungshaltung, dass alles für ihn erledigt wird. Dennoch bleibt ihm nichts übrig, als selbst aktiv zu werden und die Verfolgung der Flüchtigen aufzunehmen, und zwar in seinem ,Paramobil’ – hierbei handelt es sich um einen weiteren Anachronismus, ein altersschwaches Auto, das sich dadurch auszeichnet, dass es zwar sehr viele Auspuffdämpfe produziert, dabei aber reichlich langsam vom Fleck kommt, so dass die Wachen und die Schatzmeister keine Probleme haben, zu Fuß damit Schritt zu halten und es sogar zu überholen. Auch ansonsten ist die von fröhlicher Musik begleitete Verfolgungsjagd in amüsant-slapstickhafter Manier und mit zahlreichen visuellen Gags umgesetzt – so zeigt etwa eine Einstellung in der Vogelperspektive, wie sich Verfolger und Verfolgte im Kreis drehen. Zu den Flüchtenden gehören im Übrigen nicht nur Ivan und Mar’ja, sondern auch die Zarewna Agrafena, die sich ihnen angeschlossen hat. Ivan ist wieder gänzlich in seiner Rolle als selbstloser positiver Held, der die Zarewna, als sie vor Erschöpfung nicht mehr weiterkann, nicht zurücklassen will, und als der Zar, nachdem er seines Paramobils bei einer Explosion verlustig gegangen ist, die drei doch noch einholt, stellt er sich schützend vor die Frauen und zwingt den Zaren und seine Begleiter mit Hilfe seiner Zauberbalalaika zu einem Tanz, der sie völlig aus der Puste bringt. Aufschlussreich für die Semantik der Figuren und ihr jeweiliges Rollenverständnis ist der folgende Abschnitt, der sehr dialoglastig ist und insbesondere im Mittelteil wenig filmische Aktion enthält. Dass nicht er, sondern die Schatzmeister die Diebe sind, hat Ivan schnell unter Beweis gestellt – ein weiteres Tänzchen zum Spiel der Balalaika lässt sie all ihre Goldmünzen verlieren, und sie sind sofort reuig bereit, sich selbst in den Kerker zu bringen, denn den Weg kennen sie ja. Die Zarewna wiederum bestätigt, dass sie aus freien Stücken davongelaufen ist. Sie will sich selbst einen Bräutigam suchen und wirft ihrem Vater, bevor

614 Dies ist eine Variation einer Art Running Gag des Films: Die Wächter wurden vorher bei Maurerarbeiten und beim Körbeflechten gezeigt, völlig willkürlichen Tätigkeiten, die wie das Wolleaufwickeln nichts mit ihrer Funktion als Wächter zu tun haben und andeuten zu scheinen, dass sie ihre Arbeit nicht allzu ernst nehmen und/oder darin zu wenig zu tun haben.

215 sie davongeht, an den Kopf, ein Unterdrücker (ugnetateľ) zu sein – der Ausdruck aus der sowjetischen Rhetorik, der aus sozialistischer Sicht für einen feudalistischen Herrscher angebracht scheint, wirkt hier reichlich ironisch, da sie als Tochter auf sein Verhalten als Vater ihr gegenüber referiert. Andererseits ist der Zar ja als Herrscher wegen der Größe seines Staates nicht viel mehr als der Vorstand einer erweiterten Familie, also entsprechend auch hier eher als ein kleinformatiger Haustyrann zu sehen, dessen Macht und Einflussbereich letztlich begrenzt sind. Ivan ist sich dessen wohl bewusst, als er einen Versuch unternimmt, aus diesem Einflussbereich auszutreten – er erklärt dem Zaren offen, es sei nun Zeit, getrennte Wege zu gehen, und will gemeinsam mit Mar’ja ins Dorf gehen. Er erklärt bezeichnenderweise, dass er dort seinem Vater mit seinem Acker helfen wolle, die echte Familie hat also nun Priorität vor der Staatsfamilie – im Grunde nichts weiter als ein Code für selbstbestimmtes Handeln im privaten Bereich. Die Kleidung des Zaren wurde bei der Verfolgungsjagd arg mitgenommen und er hat dabei auch seine Krone verloren, so dass er nunmehr rein ikonographisch nichts mehr mit einem Monarchen gemein hat. Er wirkt gewissermaßen wie gestürzt, und offensichtlich sieht er ein, dass er aus seiner Rolle als Herrscher heraus nichts erreichen kann. Nun greift er aber zu einem manipulativen Schachzug: „Ты мне присягу давал, верой и правдой служить обещал, как же ты слово свое солдатское нарушишь, а?“ [„Du hast mir einen Eid geleistet, versprochen mir treu und ehrlich zu dienen – wie kannst du denn da dein Soldatenwort brechen?“] Er macht sich also Ivans Pflichtbewusstsein zu Nutze, seine herausragendste Eigenschaft. Und tatsächlich erreicht er so das von ihm Gewünschte – Ivan ändert zwar nicht seine negative Einstellung gegenüber der Person des Zaren, aber er muss ihm von sich aus gehorchen. Mar’ja protestiert und erinnert Ivan daran, dass der Zar ja auch nicht nach den Regeln spiele – doch dieser weiß genau, für wen welche Regeln im sozialistisch-realischen Märchen gelten: „Я ведь царь — мое слово царское, хочу даю, хочу обратно забираю. А он солдат, он этого не может, его слово твердое: Он положительный герой-то, правда, солдат? “ [„Ich bin der Zar, und mein Zarenwort kann ich, wie ich will, geben und auch wieder zurücknehmen. Er ist Soldat, er kann das nicht, sein Wort gilt: Er ist ein positiver Held, nicht wahr, Soldat?“ ] Der Satz wirkt fast wie eine freie Paraphrase der Passage aus dem berühmten Essay von Abram Terc (= Andrej Sinjavskij), in der dieser seinen polemischen Hauptkritikpunkt gegen den Protagonisten des Sozialistischen Realismus vorbringt: „Ни при каких условиях, даже для пользы дела, положительный герой не смеет казаться отрицательным. Даже перед

216 врагом, которого нужно перехитрить, обмануть, он обязан продемонстрировать свои положительные свойства.“615 [„Unter gar keinen Umständen, selbst für die gute Sache, wagt es der positive Held, negativ zu wirken. Selbst vor dem Feind, den es zu überlisten, zu betrügen gilt, ist er verpflichtet, seine positiven Eigenschaften zu demonstrieren.“] Und so muss Ivan, ob er will oder nicht, doch wieder mit dem Zaren ins Schloss zurückkehren, um nicht aus seiner Rolle zu fallen und ein positiver Held zu bleiben. Weshalb der Zar ihn eigentlich dorthin mitnimmt, wofür er ihn braucht, scheint ihm selber nicht klar zu sein. Es handelt sich um eine irrationale Aktion ihrer selbst willen, allenfalls zu Machtdemonstrationszwecken. Dafür spricht, dass der Zar sich damit vor seinen Untertanen brüstet – er läuft nacheinander zum Ackermann auf seinem winzigen Ackerstück und zum Kuhhirten mit seinen paar Kühen, die ganz am Anfang des Films zu sehen waren, um ihnen stolz zu berichten, dass er den Soldaten eingefangen habe. Beide winken jedoch müde ab, und der Hirte nennt ihn sogar einen Dummkopf – er murmelt das Wort zwar vor sich hin und behauptet dann, nichts gesagt zu haben, doch allzugroße Mühe, seine Meinung über den Zaren zu verbergen, gibt er sich nicht: Das Volk scheint seinen Herrscher lediglich als eine Art notwendiges Übel zu betrachten.

VII.B) DER HELD, DER HERRSCHER UND DIE LOSLÖSUNG [01:11:46 – 01:22:44] Im folgenden Ausschnitt tragen sowohl der Zar als auch Ivan frische Kleidung, die ihren Rollen entspricht – Ivan eine Uniform, der Zar seine Krone, als ob die alten Verhältnisse völlig wiederhergestellt seien. Der Zar brüstet sich auch vor der Kinderfrau, die am Terrassentisch sitzt und wartet, mit seiner Tat, kann sie damit aber nicht beeindrucken – sie ist vielmehr äußerst erbost darüber, dass er Ivan statt seiner Tochter mit nach Hause gebracht hat: Statt um seine staatlichen Untergebenen soll er sich lieber um die eigene Familie kümmern. Ausgerechnet für sein Familienleben, sofern es privat ist und nicht den Staat betrifft, sieht sich der Zar aber nicht verantwortlich – dafür werde ja die Kinderfrau bezahlt. Diese ist über eine solche Einstellung empört und hält ihm vor, was für ein schlechter Vater er sei. Der Zar lässt sich mal wieder von seinem trotzigen Zorn hinreißen und entlässt die Bedienstete, die es wagt, ihm Paroli zu bieten – er habe ja nun den Soldaten, der alles für ihn ohne Widerworte erledigen würde. Tatsächlich scheint sich Ivan, der im Hintergrund gewartet hat und nun diensteifrig

615 Terc 1967, S. 422. Ob hier eine Beeinflussung durch den 1957 verfassten, als ,antisowjetisch’ zensierten und offiziell nur im Westen erschienen Text vorliegt, dessen Autor nach einem Gefängnisaufenthalt emigriert war, ist mir nicht bekannt, und es soll nicht darüber spekuliert werden – nichtsdestoweniger sind die Parallelen auffällig.

217 herbeieilt, wieder völlig in seine Maske des depersonalisierten positiven Helden eingefunden zu haben: Er gibt mit fröhlichem Gesicht zu verstehen, dass er alles könne, was von ihm verlangt wird – ob nun Böden wischen, Wäsche waschen oder Kinder betreuen. Der Herrscher, wieder ganz in seinem Element der Bequemlichkeit, gibt ihm darauf eine ganze Reihe von Haushaltsarbeiten auf. Erst, als Ivan ihn warnt, ihm nicht in die Quere zu kommen, da er ihn sonst versehentlich mit dem Müll wegwerfen könne, und ihm den Stuhl unter dem Hintern wegzieht, merkt der Zar, dass eben doch nicht alles beim Alten ist: Ivan tut zwar wirklich alles, was von ihm verlangt wird – aber er tut es gründlicher, als es seinem Widersacher lieb ist. In einer raschen episodischen Montagesequenz in Halbtotale zu flotter Musik wird demonstriert, wie er die Arbeit in übermenschlicher Geschwindigkeit erledigt. Er eilt dabei jeweils aus einer Ecke des Bildes, um innerhalb des Bruchteils einer Sekunde aus der entgegengesetzten Richtung zu kommen – und immer wieder kommt ihm der Zar unfreiwillig in die Quere: Der Soldat jagt ihn mit dem Besen durchs Bild, wirft ihm Holzscheite zu, kippt Schmutzwasser in seine Richtung, und zuletzt bearbeitet er ihn zusammen mit einem Pelzmantel, unter den er irgendwie geraten ist, sogar mit dem Teppichklopfer. Als der Zar sich schließlich erschöpft an den Tisch setzt, schreckt er auf einmal zusammen – denn Ivan, der eben noch beim Teppichklopfen war, sitzt bereits neben ihm und bietet ihm in frostigem Tonfall Tee aus dem Samowar an. Ivan fällt also formal nicht aus seiner Rolle – er tut weiter seine Pflicht dem Zaren als Staats- und Obrigkeitsrepräsentanten gegenüber und bleibt so ,positiv’. Gleichzeitig tut er jedoch ziemlich unmissverständlich seine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen kund. Die beiden werden in Nahe nebeneinander sitzend gezeigt, und während der Soldat seinem Herrscher Tee einschenkt und ihm die Tasse reicht, bezeichnet er ihn offen als Taugenichts (neputevyj mužik) und wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Angesprochene sieht schuldbewusst drein, versucht aber nach wie vor in wehleidigem Ton, sich herauszureden und behauptet, dass ihn doch immerhin das Volk liebe. Genau aufs Stichwort tritt nun das Volk selbst auf den Plan – es besteht nur aus einer Handvoll Leuten, die Mar’ja um sich versammelt hat, um sich vom Dorf aus dem Schloss zu nähern und ein Spottlied im Častuška-Stil auf den Zaren zu singen. Hierin wird bezeichnenderweise sein Versagen als Herrscher unmittelbar mit seinem Versagen als Vater in Verbindung gebracht: Подходи, народ, смелее / К нам в большом количестве, / Мы споем об Евстигнее, / Об Его Величестве! / Вы себе представьте сцену, / Как папаша Евстигней / Дочь родную Аграфену / Думал сплавить поскорей. / Но не получается, / Царевна не

218 сплавляется! [Komm herbei, Volk, nur Mut, / komm zu uns in großer Zahl, / wir werden von Evstignej singen, / von Seiner Majestät! / Stellt euch nur die Szene vor: / Papachen Evstignej dachte, / seine leibliche Tochter Agrafena / schnellstmöglich an den Mann zu bringen. / Doch es klappt nicht – / Die Zarewna lässt sich nicht abschieben616!] Ihm wird vorgeworfen, seine familiäre Rolle ebensowenig angemessen auszufüllen wie seine Rolle als Staatsoberhaupt – in beiden Fällen, so wird impliziert, gibt er den ihm Untergeordneten zu wenig Entscheidungsfreiheit in privaten Fragen. Der Zar verfällt wieder in komischen Zorn, der ihm aber diesmal nicht weiterhilft: Er befiehlt dem Hofdichter, ein Antwortlied zu singen, in dem er in positivem Licht gezeigt und die Ankläger diskreditiert werden, doch dieses wird von Mar’ja spöttisch niedergesungen, und die Wachen weigern sich ebenso spöttisch singend, das Volk auseinanderzutreiben. Da der immer noch uneinsichtige Zar Ivan und Mar’ja für seinen Autoritätsverlust verantwortlich macht, gibt er dem Soldaten tobend seinen Abschied. Dieser reagiert jedoch für ihn unerwartet: Er umarmt ihn freudig und wirbelt ihn sogar übermütig im Kreis herum. Ohne es zu wollen, hat der Zar nämlich genau das getan, was von ihm als Herrscher erwartet wurde – Ivan hat nun endlich die private Freiheit, Mar’ja zu heiraten. Während die beiden Liebenden einander umarmen, sitzt der Zar trübsinnig auf den Stufen seiner Terrasse. Dass er aber doch etwas aus der Sache gelernt hat, zeigt sich im Folgenden, als zu seiner großen Überraschung Agrafena zu ihm zurückkehrt: Sie bittet ihn um seinen Segen, denn sie hat einen Bräutigam gefunden – ausgerechnet Solovej-Razbojnik. Der Vater scheint zwar mit der Wahl nicht so recht zufrieden, doch er belässt es bei einem zaghaften Vorwurf und stellt unter Beweis, dass er gewillt ist, die Wahl seiner Tochter zu respektieren – als der reumütige Räuber verspricht, sich zu bessern, gibt er dem Paar endgültig seinen Segen. Durch seine Einsicht, private Entscheidungsfreiheit zuzulassen, stellt er seine Autorität wieder her, es gibt keinen Grund für die Helden mehr, ihm feindlich gesinnt zu sein – so zeigt dann die letzte kurze Einstellung des Films die Hochzeit von Ivan und Mar’ja, bei der er fröhlich unter den Gästen sitzt und mit ihnen das Brautpaar hochleben lässt.

IV.4.3. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerung Wie die Analyse des Films ergibt, ist Ivan in seinem Handeln von verschiedenen Seiten beeinflusst – er steht gewissermaßen zwischen den Einflussbereichen des Zaren und Mar’jas:

616 Das Wortspiel mit dem umgangssprachlichen Gebrauch des Verbs ,splaviť’ bzw. ,splaviťsja’ (,loswerden’, ,abschieben’, aber eben auch ,verheiraten’) lässt sich kaum adäquat übersetzen.

219 Eigenschaften Zar Ivan Mar’ja Individuelle Eigenschaften alt jung jung männlich männlich weiblich menschlich menschlich menschlich ambivalent (böse → gut) gut gut inkompetent gelassen/streng/ fleißig autoritär unerschrocken launisch mitfühlend/hilfsbereit irrational pflichtbewusst selbstbewusst passiv aktiv zögerlich-abwägend spontan-impulsiv rational emotional

Familiärer Status ohne Frau Mar’jas Bräutigam/ Ivans Braut Vater von Agrafena potentieller Bräutigam potentieller von Agrafena bzw. Schwiegervater von Prinz Schwiegersohn des Zaren Markizet → potentieller Schwiegervater von Ivan → Schwiegervater von Solovej-Razbojnik Sozialer Status hoch (Staatsoberhaupt – niedrig (im Staatsdienst niedrig Ivans Vorgesetzter) dem Zaren verpflichtet) Lokalisierung Stadt (eigener Bereich ↔ Ständige Dorf (eigener Bereich) ↔ Stadt Dorf (nur formell eigener Zwischenposition (fremder Bereich) Bereich) zwischen Stadt und Dorf

Der Held befindet sich zwischen zwei Lokalitäten, die zwar nicht wirklich eine räumliche Opposition darstellen, da sie nur unwesentlich voneinander entfernt liegen, aber im Film symbolisch für verschiedene Bereiche stehen. Er steht anfangs als Wachsoldat vor dem Stadttor, also an der Grenze zwischen Stadt und Dorf: Die Stadt verkörpert die offizielle staatliche Sphäre – hier dient er dem Zaren; das Dorf steht für die private familiäre Sphäre, denn hier lebt seine Braut Mar’ja. Der symbolische lokale Status ergibt im Zusammenhang mit dem sozialen bzw. gesellschaftlichen Status ein Spannungsfeld – formal hat der Zar über beide Lokalitäten Macht, und der Konflikt ergibt sich gerade daraus, dass er sie für beide Bereiche gleichermaßen beansprucht: Er will über Ivan den Staatsdiener ebenso verfügen wie über Ivan den Privatmenschen, er soll sich nicht nur im Dienst, sondern auch privat nach seinem Willen richten. Inwieweit er dazu das Recht hat, wird im Folgenden in Frage gestellt – jedoch nicht von Ivan selbst, sondern von Mar’ja, die einerseits für den familiären Bereich steht, andererseits stellvertretend für Ivan, als eine Art Alter Ego, Selbstbestimmung darin fordert. Sie ist als binäres Gegenstücke zu ihm angelehnt: Wo er rational ist, ist sie emotional; wo er abwägend und zögerlich ist, ist sie impulsiv und spontan; wo er sich beugt, lehnt sie

220 sich auf, und wo er die Verpflichtungen anderen gegenüber für wichtig erachtet, sieht sie die Wichtigkeit der eigenen Bedürfnisse. Dieses Spannungsfeld bestimmt auch die Beziehung der beiden zueinander: Sein Pflichtbewusstsein zwingt Ivan zur Passivität, sowohl im Kerker gegenüber dem Spukgespenst als auch in der Auseinandersetzung mit dem Zaren, Mar’jas Selbstbewusstsein dagegen treibt ihn zum Handeln – er braucht erst ihren Ansporn, um seinen Bedürfnissen nachzugehen, ohne dabei allerdings aus seiner Rolle auszubrechen. In dieser Rolle, an die einige klischeehafte Eigenschaften geknüpft sind, ist er zwar von einer Art Bewusstsein geleitet, also von „complete self-control that enables the individual to be guided in all his actions by his awareness“617, doch dieses Bewusstsein ist nicht transzendenter Natur, sondern eben ein blindes Pflichtbewusstsein, und es ist in so überspitzter Form dargestellt, dass er als Figur, wenn man ihn denn zum Sozialistischen Realismus in Verbindung setzt, allenfalls als Parodie auf den positiven Helden gelesen werden kann – wie Terc-Sinjavskij treffend anmerkt: „Нельзя, не впадая в пародию, создать положительного героя (в полном соц. реалистическом качестве) и наделить его при этом человеческой психологией.“618 [„Es ist unmöglich, ohne in Parodie zu verfallen, einen positiven Helden (in voller soz.realistischer Qualität) zu schaffen und ihn dabei auch noch mit einer menschlichen Psychologie auszustatten.“] ,Menschliche’ Qualitäten zeigt Ivan wiederum erst in der Interaktion mit Mar’ja, die eben schon ganz zu Anfang aus ihrer Rolle als fleißige Bäuerin ausbricht und letztlich gerade nicht so handelt, wie es sich für eine positive Heldin gehört. Sie weist zwar insofern positive Spontaneität im sozialistisch-realistischen Sinne auf, als dass ihre Handlungen „purely visceral, willful, anarchic, or self-centered“619 sind, aber diese Spontaneität steht bei ihr in keinerlei dialektischen Verhältnis zu einem wie auch immer gearteten höheren gesellschaftlichen Bewusstsein, sondern existiert für sich selbst und bleibt auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet, was vom Film positiv bewertet wird. Kritik manifestiert sich in der Figur des Zaren, doch er verkörpert hier am Allerwenigsten einen feudalistischen Despoten, der in anderen Märchenfilmen als ideologisches Feindbild dient – nicht seine Machtposition als solche wird hinterfragt: Seine Rolle als Herrscher und Staatsoberhaupt und seine Rolle als Vater und Familienoberhaupt werden miteinander gleichgesetzt und dabei gewissermaßen als naturgegeben dargestellt. Kritisiert wird vielmehr seine willkürlich-autoritäre Art, diese Rollen auszufüllen, sowohl im

617 Clark 1985, S. 16. 618 Terc 1967, S. 443. 619 Clark 1985, S. 16.

221 Hinblick auf Ivan als auch auf seine Tochter Agrafena. Der Parallelismus von Staat und Familie macht dabei zwei Lesarten mit Appellcharakter möglich, die sich aus der negativen Bewertung seines Verhaltens ergeben: Die Väter- bzw. Elterngeneration soll nicht das Privatleben der jungen Generation bestimmen wollen, und der Staat soll sich nicht in die Privatangelegenheiten seiner Bürger mischen. Ivan da Mar’ja kann somit als ironisch-stilisiertes Plädoyer für individuelle Selbstbestimmung gelesen werden – die Helden verweigern sie sich der Devise, dass die Arbeit und die Pflicht über allem steht, und fordern private Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Dies geschieht freilich, ohne dass dabei das bestehende Wertesystem als Ganzes abgelehnt wird: Der Zar wird letztlich weder als Herrscher noch als Vater weiter in Frage gestellt, als er sich einsichtig zeigt – er ist kein wirklicher Bösewicht, sondern durchaus reformierbar. Tiefergehende Systemkritik wird vom Film also keine geübt. Er zeigt jedoch, dass die semantischen Schlüsselelemente des Sozialistischen Realismus, der ja zumindest offiziell nach wie vor die verbindliche Doktrin der Künste darstellte, in ihrer vormals als absolut geltenden Form schon so sehr als überholte Schlagworte und leere Hülsen empfunden wurden, dass sie sogar in einem im Grunde unpolitischen populären Märchenfilm beiläufig, aber relativ offen parodiert werden konnten, ohne dass dieser deshalb zensiert oder gar verboten wurde. Damit gibt er recht interessanten Aufschluss sowohl über das veränderte kulturpolitische Klima als auch über den veränderten Wertediskurs seiner Zeit.

IV.5. Kontextualisierung und Bezug zum Gesamtkorpus: Der Märchenfilm im Poststalinismus Der Stalinismus brachte fast ausnahmslos politisierte Märchenfilme, die recht klaren, am sozialistischen Realismus orientierten Mustern folgten. Nach Stalins Tod wurde das Bild jedoch ungleich vielfältiger: Wie schon die vier sehr unterschiedlichen poststalinistischen Streifen zeigen, die hier besprochen wurden, kann man durchaus von einer Art – wenn auch begrenztem – Pluralismus sprechen. Es gab zwar keine Einschnitte radikaler Natur, aber dennoch ist die Entwicklung bemerkenswert – nicht nur durch eine stetige Zunahme bei der Anzahl der produzierten Streifen und entsprechend die Profilierung vieler neuer Märchenregisseure, sondern damit einhergehend auch durch eine kontinuierliche Erweiterung des thematischen und künstlerischen Spektrums. Das gesellschaftliche Klima des Tauwetter- und das der Stagnationsära wirkten sich

222 auf den Märchenfilm unterschiedlich aus, doch es ist an dieser Stelle nicht unbedingt sinnvoll, die beiden Perioden separat abzuhandeln, da die Übergänge fließend sind und sich keine klaren Grenzen abzeichnen, sondern es sich vielmehr um ein großes Kontinuum handelt. Das Ende des Tauwetters wird üblicherweise entweder mit der Entmachtung Chruščevs 1964 oder aber mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968 festgelegt, aber wie Prochorov überzeugend darlegt620, sind die Entwicklungen in der sowjetischen Politik und im sowjetischen Film621 nicht völlig deckungsgleich – einerseits entstanden Streifen, die vom hoffnungsvollen Idealismus des Tauwetters und seinen Werten geprägt waren, noch bis Anfang der 70er Jahre, andererseits machten sich im Leinwandgeschehen die Auswüchse der Stagnation in Form von ironischen Inszenierungsmodi bereits Mitte der 60er Jahren bemerkbar.622 Der Kanon stalinistischer Werte wurde auch im Märchenfilm hinterfragt. So entstand etwa im Jahre 1957 mit der russisch-kirgisischen Produktion Legenda o ledjanom serdce ([Die Legende vom eisigen Herzen]), dem Debütwerk der Regisseure Aleksej Sacharov und Ėľdar Šengelaja623, ein Märchen, das sich entsprechend den neuen Werten, die der Tauwetter- Diskurs hervorbrachte, explizit vom Kult der Arbeit ab und dem Kult der intimen Emotionen zuwendet: Die Zauberflöte eines geheimnisvollen Alten aus dem Märchen kann das eisige Herz einer Bühnendiva schmelzen, nachdem sie vorher nur für ihre Arbeit gelebt hat – nunmehr lernt sie die Liebe kennen und findet ihr wahres Glück. Der Antagonist der Geschichte ist ein Theateradministrator, der die Liebe nur als Störung und Ablenkung von der Arbeit empfindet und dessen Kreativität unterdrückendes Karrieristentum mit Seelenlosigkeit gleichgesetzt wird – zur Strafe dafür wird er am Ende in einen Eisblock verwandelt. In seiner Grundaussage ist der Streifen ein apolitisches Plädoyer für die irrationale Romantik im rationalen Zeitalter, in dem es sich für Gefühle zu kämpfen lohnt, da sie Märchenwundern gleichkommen. Ivanuškas Mutter in Rous Mar’ja-iskusnica (Die verzauberte Marie, 1959) ist in die Hände eines bösen Wassermanns gefallen, Kotigoroškos Schwester in Letajuščij korabľ (Das fliegende Schiff, 1960) von Michail Juferov und Artur Vojteckij wurde von einem Drachen

620 Vgl. zum Gesamtabschnitt Prochorov 2007, S. 86-89. Der Autor stützt sich auf ähnliche Periodisierungen bei anderen Studien, siehe dort, S. 36. 621 Prochorov erwähnt auch die Literatur, deren Entwicklung aber wiederum nicht ganz deckungsgleich mit der des Films ist. 622 Es sollte angemerkt werden, das die beiden Phänomene einander nicht ausschließen. 623 Der Georgier Šengelaja sollte später mit seinen satirischen Tragigrotesken (Golubye gory, ili Nepravdopodobnaja istorija (Blaue Berge oder Eine unwahrscheinliche Geschichte), 1984) auch international für Aufsehen sorgen.

223 geraubt und Gerdas Ziehbruder Kai in Gennadij Kazanskijs Snežnaja koroleva (Die Schneekönigin, 1966) von einer dämonischen Naturfee entführt – die klassenfeindlichen Züge dieser numinosen Bösewichte sind kaum ausgeprägt und haben bestenfalls ornamentale Funktion, und für die kindlichen Helden624 bedeuten die Schädigungen individuelle Schicksalsschläge, denen sie sich ausschließlich um ihrer geliebten Familienmitglieder willen stellen. Der letztliche Sieg über die dunklen Mächte ist so nicht ideologischer oder gar politischer Natur, sondern fungiert als stilisierter Triumph des menschlichen Gefühls und der menschlichen Wärme, für die die in ihrem Eigenwert rehabilitierte Kernfamilie steht.625 Bezeichnend in dieser Hinsicht sind auch die erwachsenen Mentor- und Helferfiguren in Mar’ja-iskusnica und Snežnaja koroleva626, die sich weniger durch Strenge und Bewusstheit als vielmehr vor allem durch ihr Mitgefühl auszeichnen. Der Märchenfilm ,alter Prägung’ hörte unterdes keineswegs auf zu existieren: So entstand etwa 1959, 2 Jahre nach Iľja Muromec und auf dem Höhepunkt des Tauwetters, mit Ali-Sėttar Atakišievs Tajna kreposti (Das Geheimnis der Festung) ein geradezu mustergültiges Beispiel für die Umsetzung des sozialistisch-realistischen Master Plot im Märchen, wie es auch im Stalinismus möglich gewesen wäre: Der aserbaidschanische Film627 zeigt das Wasserwerk von Mingəçevir als sowjetisches Vorzeigeprojekt und Symbol von Fortschritt, ehe er einen Archäologieprofessor einer Gruppe von Pionieren eine ,Lokalsage’ erzählen lässt und damit einen Sprung in eine märchenhafte Vergangenheit macht. In dieser wird das Volk von einem ausbeuterischen Herrscher unterdrückt, der ihnen lebensnotwendiges Wasser vorenthält. Der Protagonist muss eine Reihe von spannend und mit teils recht beeindruckenden Tricks inszenierten magischen Abenteuern bestehen und dabei seine hitzköpfige Spontaneität bändigen, ehe er schließlich mit seinen Mitstreitern die Revolution anführt. In der Gegenwart der Rahmenhandlung tauchen dann die modernen Inkarnationen der Helden auf, von denselben Schauspielern gespielt – ganz im Sinne des utopischen Optimismus nach marxistischer Dialektik: Die im Vergleich zur Vergangenheit strahlende Gegenwart weist in eine noch strahlendere Zukunft. Ein politisierter Tauwetter-Märchenfilm etwas anderer Art ist Tri tolstjaka (Tibul besiegt die Dickwänste), die im Jahre 1966 unter der Regie von Aleksej Batalov und Iosif

624 Vgl. Prokhorov 2008, S. 142: „[T]he child embodied antimonumentalism as the key-trope of de- Stalinization.“ 625 Vgl. dazu Prochorov 2007, S. 55-56; Prokhorov 2008, S. 142. 626 In Mar’ja-iskusnica ist dies ein abgedankter Soldat, in Snežnaja koroleva ein Märchenerzähler. In Letajuščij korabľ gibt es keine zentrale Mentorfigur, aber einige kleinere Figuren fungieren als mitfühlende Helfer. 627 Der Filmtitel in Originalsprache, der bei Weitem nicht bei allen nicht-russischen Filmen festgestellt werden konnte, lautet Bir qalanın sirri.

224 Šapiro gedrehte Leinwandadaption des archetypischen Revolutionsmärchens der 20er Jahre von Jurij Oleša – in einer mit Breitbildformat und bunt-opulenter Ausstattung aufwartenden, gleichzeitig aber stark vergröbernden Version, die die Revolutionsthematik zum nahezu einzigen bestimmenden Moment macht und dank holzschnittartiger Figurenzeichnung sämtliche psychologischen Nuancierungen der in dieser Hinsicht deutlich komplexeren Vorlage vernachlässigt: So entstand eine sehr kommerziell wirkende Mischung zwischen Märchen und Abenteuer, die mit dem sozialistischen Realismus wenig gemeinsam hat. Um die Revolutionsromantik der 20er Jahre wieder neu zu beleben und ihr gleichzeitig ein anderes Gesicht zu geben, wurden damals übrigens auch andere populäre Genres genutzt – man denke etwa an Ėdmond Keosajans westernähnlichen Streifen Neulovimye mstiteli (Die geheimnisvollen Rächer, 1966).628 Der Hauptunterschied zwischen den Märchenfilmen vor und nach Stalin bestand, wie angedeutet, darin, dass nunmehr die politisiert-systemstützende Ausprägung nicht die einzig mögliche, sondern nurmehr eine von mehreren, teilweise auch einander gegenläufigen Formen darstellte. Stärker ausgeprägte ambivalente Bezüge zum System, die sich damals im ,realistischen’ Film herausbildeten, wie etwa im wohl berühmtesten Streifen der Tauwetterzeit, Michail Kalatozovs Kriegsmelodram Letjat žuravli (Die Kraniche ziehen, 1957)629, blieben im Märchenfilm allerdings rar, von wenigen Ausnahmen wie Kain XVIII. abgesehen. Ansonsten dominierte zwischen den spannungsgeladenen Polen von Politisierung und Depolitisierung von Werk zu Werk mal das eine, mal das andere: So wurde etwa in Ptuškos Alye parusa (Das purpurrote Segel, 1961), der Verfilmung einer durchweg apolitischen phantastisch-märchenhaften Erzählung von Aleksandr Grin, aus dem weltfern-träumerischen Helden durch eine Nebenhandlungslinie ein aufbegehrender Sozialrebell, der revolutionäre Umtriebe unterstützt, während Rous Filmversion von Korolevstvo krivych zerkal (Im Königreich der Zauberspiegel, 1963) umgekehrt aus dem sozialistisch-realistischen Crossover-Märchen Vitalij Gubarevs den politischen Aspekt marginalisiert, die Revolution gänzlich eliminiert und stattdessen das Abenteuerhafte der Handlung durch rasant- actionbetonte Szenen hervorhebt – freilich neben dem Moralisch-Didaktischen, wie für Rous spätere Arbeiten typisch (so ja auch in Ogon’, voda i... mednye truby). Unterdes fand sich offener Didaktismus nicht nur in den Arbeiten Rous, sondern auch in einigen anderen Märchenfilmen, wie z.B. in Zvezdnyj maľčik ([Der Sternenjunge], 1957) 628 Vgl. dazu Engel, S. 128-131; auch Prokhorov 2008, S. 142-143. 629 Vgl. dazu Stites 1992, S. 141; Engel 1999, S. 118-122; sowie insbesondere Prochorov, S. 174-206

225 von Anatolij Dudorov und Evgenij Ziľberštejn oder in Gleb Zeljanins Zachudaloe korolevstvo ([Das heruntergekommene Königreich], 1967). Es handelt sich aber in der Regel eben nicht mehr um politischen Didaktismus: Die Märchenhelden durchlaufen moralische statt weltanschauliche Erziehungs- und Reifungsprozesse, ganz ähnlich wie es zur selben Zeit auch die Helden in anderen Filmgenres tun, etwa im Sozialdrama (Julij Rajzmans Urok žizni (Meine Frau), 1955) oder im Alltagslustspiel (Jurij Čuljukins Devčata (Ist sie eine Wette wert?, 1961).630 Dies ist ein allgemeines Charakteristikum nicht nur des Films, sondern auch anderer Texte der Tauwetterzeit, die zwar die Werte des Stalinismus ablehnten, aber an seine formalen Traditionen anknüpften: „[И]стория индивидуального Bildung [sic!] героя остается ведущей повествовательной моделью как сталинской эпохи, так и эпохи оттепели.“631 [„Die Geschichte der individuellen Bildung des Helden ist das führende erzählerische Modell nicht nur der stalinistischen, sondern auch der Tauwetterepoche.“] Die Blütezeit des sowjetischen Märchenfilms sollte jedoch nicht während des Tauwetters, sondern in der Ära der Stagnation erfolgen. Bemerkenswert ist zunächst der enorme Anstieg der Produktionszahlen: Enstanden noch in den 50er und 60er Jahren, obwohl insgesamt gesehen die Kinoindustrie ausgebaut wurde und deutlich mehr Streifen hergestellt wurden632, selten mehr als 2 Märchenfilme pro Jahr, so waren es in den 70er und 80er Jahren im Schnitt 5 bzw. 6, und es konnten auch mal 10 (1983) oder sogar 13 (1976) sein 633 – Trick- und Kurzfilme nicht eingerechnet. Sicherlich gibt es dafür verschiedene Gründe, wie etwa die wachsende Rolle des Fernsehens, für die ein guter Teil der Filme produziert wurde, aber die vermehrte Hinwendung gerade zum Märchengenre scheint m.E. doch zumindest zum Teil auch ein Bedürfnis der Zeit gewesen zu sein. Die Jahre der Brežnev-Herrschaft in der Sowjetunion zeichnete sich durch gesellschaftspolitischen Konservatismus und Bürokratismus aus. Das Filmwesen war bestimmt von einer strengen Kontroll- und Zensurinstanz in Gestalt der staatlichen Behörde Goskino, die Tabubrüche und mögliche Systemkritik zu unterbinden suchte. Dennoch kann Stites festhalten: „This was far from being an age of ,grey’ cinema. [...] The range of subject and genre grew rapidly to create a complicated body of works, many of them masterful. The

630 Vgl. Engel 1999, S. 132. 631 Prochorov 2007, S. 42. 632 Vgl. Engel 1999, S. 112. 633 Die Zahlen sind dem für die Untersuchung verwendeten Korpus entnommen und natürlich nicht absolut – nicht zuletzt, da dem Korpus ja ein spezifisches Verständnis zugrundeliegt, was einen Märchenfilm ausmacht. Andere Untersuchungen würden daher vielleicht zu geringfügig abweichenden Zahlen kommen – es geht aber hier ohnehin um das Aufzeigen von generellen Tendenzen und nicht um eine statistische Auswertung.

226 drift away from politics was massive […].“634 Das Märchen bot dabei eine besondere Art von Eskapismus, der ihn von den ,realistischen’ Genres (ob für Kinder oder Erwachsene) abhob: Mit seinen Wundern und seiner Zauberei war es per se weit entfernt von der gesellschaftlichen Realität, gab nicht vor, diese abzubilden und musste zu ihr im Grunde keinerlei Stellung beziehen – die Märchenwelt konnte von Regisseuren und Drehbuchautoren einfach ihrer selbst wegen als kreatives Refugium für Phantasie und Spielfreude oder aber für Überlegungen zu ganz persönlichen Philosophien und Ideologien genutzt werden. Gerade im Märchenfilm entstanden daher zahlreiche Werke, die hochwertige Unterhaltung mit oder ohne Hintergedanken bieten und dabei spezifisch sozialistischen Sichtweisen eher eine Randposition zuweisen, sie oft auf ein Minimum reduzieren oder wie Versatzstücke nutzen. Ausnehmend subversive Botschaften wiederum sind ebenfalls nicht typisch für den Stagnations-Märchenfilm, wohl aber ironische Seitenhiebe, mal mehr und mal weniger versteckt, und grundsätzliche Sympathien mit nonkonformistischen Denkansätzen.635 Rycarev zeigt Ansätze dazu nicht erst in Ivan da Mar’ja, sondern schon in seinem ersten Film, Volšebnaja lampa Aladdina (Aladins Wunderlampe, 1966), einer verspielten Komödie mit phantasievoller, stilisiert-exotischer Ausstattung und surrealistisch anmutenden Momenten: Der Titelheld ist zwar ein einfacher Junge aus dem Volk, aber im Gegensatz zu seiner Mutter kein fleißiger Arbeiter, sondern ein verträumter Nichtstuer, und seine Angebetete, die Prinzessin Budur, ist zwar verwöhnt und launisch, aber in ihrer selbstbewusst aufbegehrenden Art letztlich sympathisch gezeichnet – keiner der beiden muss einen ausgeprägten Erziehungsprozess durchlaufen, und trotzdem bekommen sie am Ende einander. Der gute Zauberer in Koševerovas Staraja, staraja skazka (Ein uraltes Märchen, 1968) belehrt den Soldaten, dem er jeden Wunsch zu erfüllen bereit ist, dass es ihm obliege, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden, und deshalb der sinnvollste Wunsch ein Platz an der Universität ohne Aufnahmeprüfung wäre – diese moderner sozialistischer Rhetorik entlehnte Aussage wirkt nicht nur auf komisch-verfremdete Weise deplaziert im Märchen, sondern geradezu ironisch. Der Soldat will davon nichts wissen – er strebt nach privatem Glück, nach der Liebe der hochnäsigen Prinzessin. Ehe er diese erringt, muss er zwar noch leidvolle, zu bitteren Erkenntnisen führende Erfahrungen machen, aber etwas

634 Stites 1992, S. 169. 635 Vgl. zu diesem Absatz auch Engel 1999, S. 152; Prokhorov 2008, S. 144. Dass die Märchenfilme ohne jeden zeitgeistig-gesellschaftshistorischen Kontext rezipierbar sind, dürfte zum Teil auch die andauernde Popularität vieler dieser Produktionen in Ost wie West erklären.

227 Nützliches für die Gesellschaft erbringt der Protagonist bis zuletzt nicht. Immer häufiger tauchen in Märchenfilmen, die ihre literarischen und Folklore-Quellen frei interpretieren, als Hauptfiguren ausgeprägte Individualisten auf. So sind etwa die Zauberer in Pavel Arsenovs Koroľ-olen’ ([König Hirsch], 1969) und Mark Zacharovs Obyknovennoe čudo (Ein gewöhnliches Wunder, 1978) keine enigmatisch-allmächtigen Gestalten, sondern schöpferische Persönlichkeiten, die das in der Filmerzählung vor sich Gehende ersinnen. Beide geraten jedoch in ein Dilemma, als die von ihnen geschaffenen Werke ein Eigenleben entwickeln und sich nicht an die von ihnen vorgesehenen Regeln halten – so kommt es, dass sich der König Deramo in Koroľ-olen’ tatsächlich in einen Hirsch verwandelt, weil er an einen als Scherz gedachten Zauberspruch glaubt, und sich der menschliche Bär in Obyknovennoe čudo weigert, die Prinzessin zu küssen, weil dies seine Rückverwandlung in ein Tier zur Folge hätte. In metaphorischer Weise wird so das Problem der Verantwortung des Künstlers für das von ihm Geschaffene thematisiert. Sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form – beide Filme weisen eine eigenwillige, avantgardistisch anmutende Ästhetik mit artifiziell-theatralischen Verfremdungsverfahren auf – richten sich diese Produktionen primär an ein erwachsenes Publikum. Dies entspricht einer allgemeinen Tendenz – Märchenfilme für Erwachsene, oder zumindest für ein gemischtes Publikum, wurden in den 70er Jahren immer verbreiteter. Doch auch der ,klassische’ Märchenfilm für Kinder hat seine nonkonformistisch- individualistischen Heldenfiguren. So heben sich etwa die Protagonisten in Koševerovas Streifen Carevič Proša (Zarewitsch Proscha, 1974) und Kak Ivanuška-Duračok za čudom chodil (Wie der dumme Iwanuschka das Wunder suchte, 1977) in ihrem Idealismus und ihrem Streben nach Wahrheit, Ehrlichkeit und Güte von ihrer Umwelt ab, von der sie als naive Sonderlinge wahrgenommen und deshalb auch oft mit Misstrauen beäugt werden. Aber selbst das kleine, kecke und selbstbewusste Rotkäppchen in Leonid Nečaevs exzentrischem Musical Pro Krasnuju Šapočku ([Vom Rotkäppchen], 1977) ist eine Individualistin mit unkonventioneller Denkweise: Obwohl die kindliche Heldin ahnt, dass die beiden skurrilen Kerle, die ihr immer wieder über den Weg laufen, Wölfe mit dunklen Absichten ihr gegenüber sind, schenkt sie ihnen ihr uneingeschränktes Zutrauen – sie durchschaut intuitiv, dass sie in Wahrheit gar nicht so böse sind, wie sie es gerne wären. Überhaupt sind die Grenzen zwischen Gut und Böse in diesem Streifen sehr stark verwischt – während die (von menschlichen Schauspielern ohne besondere Kostümierung verkörperten!) scheinbar bösen Wölfe als komplexe, missverstandene Charaktere erscheinen, erweist sich der

228 scheinbar gute Jäger als feiger Opportunist. Eine ähnlich ausdifferenzierte Figurenzeichnung bietet Irina Povolockajas Alen’kij cvetoček (Die feuerrote Blume, 1977), eine Variante der Geschichte von der Schönen und dem Tier, worin die Zauberin, die für die Verwandlung des Prinzen in ein Ungeheuer verantwortlich ist, nicht aus Bosheit, sondern als Reaktion auf seine grausame Zurückweisung ihrer Liebe gehandelt hat. Ihre Verbitterung darüber, aus der sie sich nur schwer lösen kann, ist ebenso Thema des Films wie die aufkeimenden Gefühle zwischen dem Ungeheuer und dem jungen Mädchen. Hierfür wird eine ausgefallenen Farbdramaturgie eingesetzt, die Aufschluss über die sich verändernden Gefühle der Protagonisten gibt. Von der psychologischen Schwarzweißmalerei des sozialistisch-realistischen Märchens ist hier nichts mehr zu spüren. Daneben wurden, wie gehabt, auch weiterhin Filme gedreht, die dezidiert sozialistische Sichtweisen propagieren. Insbesondere in den Sowjetrepubliken entstanden Märchen mit ehrlichen Arbeiterhelden, die sich mit ausbeuterischen und unterdrückerischen Feudalisten auseinanderzusetzen haben, so z.B. in Usbekistan Chabibulla Fajzievs Semurg (Der Wundervogel Semurg, 1972) und Muchtar Aga-Mirzaevs Seďmoj džin ([Der siebte Dschinn], 1976), in Turkmenien Muchamed Sojunchanovs Mal, da udal ([Klein, aber keck], 1974) und in Weißrussland Pastuch Janka ([Der Hirte Janka], 1976) von Jurij Cvetkov und Vaclava Verbockaja.636 Ob diese Arbeiten als Zeichen von tatsächlichem Konformismus ihrer Produzenten oder als Konformismus pro Forma zu werten sind, wie es der gängigen Lesart von mit der Brežnevära verbundenen Phänomenen entspräche637, kann freilich nicht generalisierend beantwortet werden. Systemtreue Wertevermittlung ist in der Regel jedenfalls nicht die einzige Aufgabe, die sich solche Märchen stellen: So wurden durch sie obendrein z.B. nationalkulturelle Identitäten gestärkt, etwa durch detailreich gestaltete folkloristische Kostüme und Kulisse, Volkslieder und Aufnahmen von beeindruckenden Naturlandschaften vor Ort. Das Etikett der grauen Dutzendware, mit dem oftmals konformistische sowjetische Leindwandproduktionen dieser Zeit versehen werden, ist hier auch ansonsten eher mit Vorsicht zu gebrauchen, denn nicht selten gelingt es diesen Märchenfilmen durchaus, unabhängig von ihrer politischen Färbung und teils sehr konventionellen Machart, unterhaltsame Geschichten zu erzählen.

636 In Russland entstanden solche Filme zu dem Zeitpunkt erheblich seltener, aber auch hier gibt es Beispiele, wie etwa Gennadi Vasiľevs Poka b’jut časy (Der diebische König, 1976). 637 In „the cultural situation of the Stagnation period, […] the ,magical world’ of totalitarian ideology indeed ,lost it’s hold’“, wie Lipovetsky (2005, S. 247) trocken formuliert.

229 Eher kuriosen Charakter tragen dagegen die internationalen Co-Produktionen, die im Bereich des Märchenfilms in jenen Jahren realisiert wurden: Während die von der rumänischen Regisseurin Elisabeta Bostan inszenierte sowjetisch-rumänisch-französische Produktion Mama (Vom Wolf und den pfiffigen Geißlein, 1976) als extravagantes Revue- Musical überzeugt, erinnern die beiden in Zusammenarbeit mit Indien entstandenen Filmen Priključenija Ali-Baby i soroka razbojnikov638 (Ali Baba und die 40 Räuber, 1980) und Legenda o ljubvi639 (Legende von der Liebe, 1984), bei denen der Usbeke Latif Fajziev und der Inder Umesh Mehra gemeinsam Regie führten, mehr an melodramatische Abenteuer im typischen Bollywood-Stil denn an Märchen. Als Gegenstand für die in der Filmgeschichte einmalige Zusammenarbeit der Sowjetunion mit den USA wurde bezeichnenderweise ein Märchen als politisch unverfänglichstes Genre gewählt – George Cukors Sinjaja ptica640 (Der blaue Vogel, 1976) nach dem Maurice-Maeterlinck-Stück gilt im Allgemeinen als bizarr und wenig gelungen: Die unterschiedlichen Filmtraditionen sind darin deutlich zu spüren und scheinen miteinander zu konkurrieren anstatt zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die sowjetischen Märchenfilme der Tauwetter- wie auch der Stagnationsjahre im Gegensatz zu denen des Stalinismus kein einheitliches Bild in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit bieten, sondern auf sehr unterschiedliche Art diverse Einflüsse von ihr in sich aufnehmen und verarbeiten. In dieses weite Feld konnte an dieser Stelle nur ein kurzer Einblick gegeben werden, der auch als Anstoß für weitere Forschungen verstanden werden kann. Im Zentrum des nächsten und letzten Kapitels sollen nun die neuen Strömungen im Märchenfilm stehen, die die Perestrojka- Zeit mit sich brachte, und die gleichzeitig die letzten Ausläufer einer langen Tradition darstellen, die gemeinsam mit der Sowjetunion ihr Ende fand.

V. Perestrojka im Märchenfilm? Der nun folgende Abschnitt unterscheidet sich im Aufbau von den vorherigen – dies steht im Zusammenhang mit einer leicht veränderten Aufgabenstellung: Filme eines historischen Zeitabschnittes sollen hier gezielt in Hinblick darauf untersucht werden, inwiefern sie als symptomatisch für diesen Zeitabschnitt betrachtet werden können – es geht um die Perestrojka mit ihren tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen und Reformprozessen.

638 Titel in Hindi: Alibaba aur 40 chor. 639 Titel in Hindi: Sohni Mahiwal. 640 Englischsprachiger Titel: The Blue Bird.

230 Entsprechend werden in diesem Kapitel nicht erst Filme analysiert und dann in den kulturgeschichtlichen Kontext eingeordnet, sondern umgekehrt erfolgt zu Beginn ein Überblick auf die wichtigsten historischen Ereignisse und ihre Auswirkungen auf den Film allgemein. Dies erscheint insofern gerechtfertigt, als dass die Geschichte des sowjetischen Films bis dahin eher kontinuierlich verlief und keine Brüche radikaler Natur aufwies641; die Perestrojkazeit hingegen sorgte – anders als die Tauwetterzeit, als deren Fortsetzung sie manchmal gesehen wird – für einen deutlich und unmittelbar wahrzunehmenden Einschnitt in dieses Kontinuum. Im Folgenden soll es dann darum gehen, inwieweit sich die den filmischen Diskurs der Zeit bestimmenden Themen auch auf den Märchenfilm auswirkten. Mit diesem konkreten Ziel im Blick scheint es sinnvoller, die zu besprechenden Beispielfilme nicht ausführlich zu analysieren, sondern in skizzenhaften Kurzbesprechungen abzuhandeln und dabei insbesondere die für den forschungsspezifischen Kontext jeweils besonders signifikanten Momente hervorzuheben.

V.1. Kontextualisierung und Überblick: Der Märchenfilm in der Perestrojka Die in der Sowjetunion unter Michail Gorbačev ab 1985 eingeleiteten politischen Reformen, für deren Grundprinzipien die vielzitierten Schlüsselbegriffe Perestrojka (Umgestaltung) und Glasnosť (Offenheit) stehen, brachten in vielen Lebensbereichen Veränderungen mit sich. Für die sowjetische Filmindustrie war die wohl bedeutendste davon die schrittweise immer stärkere Einschränkung der Macht des Staatlichen Filmkomitees Gosfiľm, eines administrativen Gebildes, das bis dahin in sämtlichen Fragen von Produktion bis Verleih das letzte Wort hatte: So konnte ein relativ unabhängiges, nach marktwirtschaftlichen Prinzipien orientiertes Filmwesen entstehen. Mit Liberalisierung und Dezentralisierung einher ging, im Geiste der freien Meinungsäußerung, eine weitgehende Aufhebung der Zensur, was Autoren und Regisseuren ermöglichte, ohne ideologischen Druck im Grunde alles zu sagen und alles zu zeigen, auch das, was vorher als Tabu gegolten hatte.642 Das hatte zur Folge, dass im sowjetischen Film auf einmal ganz neue Themen, neue Strömungen und neue Sichtweisen auftauchten, die einem stark veränderten, hochgradig

641 Das hing teilweise auch damit zusammen, dass in den 60er und 70er Jahren gedrehte Filme, die zu stark von dem abwichen, was akzeptiert war, verboten und anschließend unter Verschluss gehalten wurden – diese sogenannten Regalfilme kamen erst in der Perestrojkazeit zur Aufführung; vgl. Engel 1999, S. 262-268. 642 Vgl. Engel 1999, S. 256-261, sowie Horton/Brashinsky 1992, S. 18-23, für einen guten Überblick zu den Reformen in der Filmindustrie, die im obigen Absatz verkürzt wiedergegeben werden, und ihren – auch negativen – Auswirkungen.

231 pluralistischen Zeitgeist entsprachen: „Die ästhetische und gesellschaftliche Entwicklung der relativ kurzen Perestrojkazeit lief wahrlich im Zeitraffer ab – Kunst, Literatur und Film eigneten sich die ausgegrenzte inoffizielle Kultur sowie internationale Tendenzen in einer ähnlichen Geschwindigkeit an, wie die Gesellschaft ihrer scheinbar sicheren Werte verlustig ging.“643 Ob diese Veränderungen sich aber auch auf den Märchenfilm mit seinen offen wirklichkeitsfernen Wunderwelten auswirkten und sich auch hier das neue, in vieler Hinsicht radikalisierte gesellschaftspolitische Klima zeigte, wie es das in anderen Filmgenres tat644, ist zweifellos eine legitime Frage. Generalisierende Antworten sind hier jedoch nicht möglich, denn was Andrew Horton und Michael Brashinsky für den sowjetischen Film insgesamt konstatieren, gilt auch für das Märchengenre: „Under glasnost, no single trend dominates.“645 Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion wurden eine ganze Reihe von Märchenfilmen verschiedenster Qualität und Machart gedreht, die die aktuelle Zeitgeschichte und damit im Zusammenhang stehende konjunkturelle Trends weitestgehend ignorieren – am einen Ende des Spektrums Avantgardewerke wie die letzen beiden Arbeiten Sergej Paradžanovs, Legenda o Suramskoj kreposti (Die Legende der Festung Suram, 1984, uraufgeführt 1986) und Ašik-kerib (Kerib, der Spielmann, 1988), formalistische Experimente, die Märchen- und Folklorestoffe als Vorwand nutzen, um mit ornamentaler Bildsprache und gemäldehaft-statischen Einstellungen die individuellen ästhetischen Visionen des Regisseurs wiederzugeben646; am entgegengesetzten Ende populäres Ausstattungskino wie die mit Syrien co-produzierten Orientabenteuer aus Tachir Sabirovs Scheherezade-Trilogie (I ešče odna noč’ Šacherezady... (Eine Nacht mit Scheherezade), 1984; Novye skazki Šacherezady (Die neuen Märchen von Scheherezade), 1986; Poslednjaja noč’ Šacherezady (Scheherezades letzte Nacht), 1987). Dazwischen lag das Gros der ,klassischen’ Märchenfilme, insbesondere für Kinder und Jugendliche. In manchen dieser konnten sich Verweise auf gesellschaftliche Entwicklungen durchaus beiläufig-implizit bemerkbar machen – so thematisieren etwa zwei exzentrische, in Steampunkmanier inszenierte Märchen, Na zlatom kryľce sideli... (Auf der goldenen Treppe saßen..., 1986) von Altmeister Rycarev und Raz, dva – gore ne beda ([Eins, zwei – da ist doch nichts dabei!], 1988) von Michail Juzovskij, eine Annäherung an den Westen: Zaren und

643 Engel 1999, S. 257. 644 Vgl. dazu Horton/Brashinsky 1992, S. 157-186. 645 Ebd., S. 25. 646 Paradžanov war lange verfemt gewesen, hatte wegen seiner Homosexualität viele Jahre in Haft verbracht und wurde erst kurz vor der Perestrojka rehabilitiert. Vgl. dazu auch ebd., S. 227-228.

232 Könige begegnen einander. Im ersten Film liegen das Zaren- und das Königreich eigentlich in gegenseitiger Sichtweite, doch das Zarenpaar beobachtet aufgeregt im zum Fernseher stilisierten Zauberspiegel, wie sich ihre drei Söhne im königlichen Ausland machen und wie es dort aussieht; im zweiten Film bricht zwischen dem Zaren und dem König wegen einer Nichtigkeit ein Krieg aus – am Ende jedoch versöhnen sie sich und stellen fest, wie viel sie eigentlich gemeinsam haben: Selbst ihre Namen, Ivan und Žan-Žan (Jean-Jean), sind nationale Varianten voneinander. Es kam aber durchaus auch vor, dass sich der Einfluss des Zeitgeistes nicht nur auf eine solche eher beiläufige Art, sondern sehr deutlich bemerkbar machte – im Folgenden sollen einige besonders prägnante Beispiele verschiedener Ausprägung etwas ausführlicher behandelt werden.

V.2. Černucha im Märchenfilm Zunächst ist hier das Phänomen der sogenannten černucha (zu deutsch etwa ,finsterstes Schwarz’) zu erwähnen: Bei dem Ausdruck handelt es sich um einen Perestrojka- Neologismus, der weniger ein Genre oder einen Stil als vielmehr einen bestimmten Grundton bezeichnet, der für viele Filme der damaligen Zeit charakteristisch war und sich durch einen hochgradig pessimistischer Blick fast ausschließlich auf die düsteren, schmutzigen Seiten und Abgründe der Realität auszeichnet – Vasilij Pičuls international erfolgreiches Sozialdrama Malen’kaja Vera (Kleine Vera, 1988) ist ein verhältnismäßig harmloser Vertreter dieser Richtung.647 Für den Märchenfilm ist černucha eher als Randerscheinung zu bewerten – umsomehr fallen ihre radikalsten Vertreter aus dem Rahmen des traditionellen Märchenfilms und sind daher von besonderem Interesse. Ivan Vasilevs Na pomošč’, bratcy! ([Zu Hilfe, Brüder!], 1988) erinnert in seiner bunt- folkloristischen Ausstattung und Mise-en-scène auf den ersten Blick an klassische Märchenfilme wie die von Aleksandr Rou – und zur Besetzung gehört sogar dessen Stammschauspieler, der damals 85jährige Georgij Milljar, eine Ikone des ,sauberen’, didaktischen Kindermärchens. Allerdings gehört der Streifen ganz eindeutig nicht in diese Kategorie – er verzerrt und dekonstruiert sie vielmehr regelrecht. Dies beginnt damit, dass sämtliche Tabus des Zeigbaren gebrochen werden: Die Hauptdarstellerinnen laufen über weite Strecken barbusig und halbnackt herum; Geschlechtsverkehr wird angedeutet; man sieht den von Milljar verkörperten halbverrückten greisen Zaren sogar mit einem Nachttopf beim

647 Vgl. ebd., S. 163-165, daneben auch Engel 1999, S. 283-285.

233 Toilettengang. Auf der inhaltlichen Ebene wiederum bietet sich ein äußerst düsteres Bild: Fast alle Figuren im Märchenreich werden als machthungrig, amoralisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht dargestellt. Annähernd positiv sind nur die beiden Titelfiguren gezeichnet, zwei einfältige Zwillingsbrüder, die der Zar losschickt, um für ihn um die Prinzessin aus dem dreimaldreizehnten Reich zu freien – in der Hoffnung, dass die beiden zu dumm sind, den Auftrag zu erfüllen und nicht zurückkommen, damit er nicht heiraten muss und die Macht für sich alleine behalten kann. Im Gegensatz zum Volksmärchen, wo die Unschuldigen und Einfältigen auch die zum Glück bestimmten sind und jenseitige Hilfe erhalten, die sie jede noch so schwierige Aufgabe meistern lässt, sind die geradezu schmerzhaft naiven Antihelden des Films jedoch auf sich alleine gestellt und zum Scheitern verurteilt. Nach ihrem absurden Abenteuer in dem fremden Reich kommen sie letztlich beide um – der zweite, indem er ein Bad in heißem und kaltem Wasser sowie in Milch nimmt, um endlich ein echter Recke zu werden: Ein Motiv, das im klassischen Märchen als letzte Krönung dient, um den Helden durch Magie auch äußerlich strahlend schön zu machen648, in der Märchendekonstruktion aber, in der es keine echte Magie gibt, nur dazu führt, dass er verbrüht. Die einzige Botschaft, die man in das sehr verworrene Werk, das sich als parodistisches Spiel zu sehen scheint, hineinlesen könnte, ist, dass die Welt schlecht ist und darin allein das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden gilt. Ėrnest Jasans Nečistaja sila ([Die bösen Mächte], 1989) ist kein Märchenfilm im engeren Sinne – er stellt vielmehr einen Versuch dar, ein sowjetisches Äquivalent zum Horrorfilm in seiner Funktion als erschreckendes Abbild der Gesellschaft zu schaffen. Dies tut er jedoch unter Rückgriff auf die Semantik und Motivik des Märchens, und durch das Vorhandensein einer Art Parallelwelt qualifiziert er sich als Crossover-Märchen: Eine rätselhafte Alte in einem altertümlichen Hexenhäuschen im Wald, die aus einer märchenhaften Vergangenheit zu stammen scheint, schenkt dem Helden, der den generischen Märchennamen Ivan trägt, die drei Zaubergegenstände aus der Tischleindeckdichgeschichte. Die gutgemeinten Gaben aber haben verhängnisvolle Auswirkungen: Die Goldmünzen, die das Zauberhorn produziert, sind der Grund dafür, dass Ivan, der sie im Gegensatz zu seinen gierigen Brüdern eigentlich in seiner Ehrlichkeit an den Staat abgeben will, wegen Devisenschiebung in einer Strafkolonie landet. In dieser düsteren, ausschließlich in Schwarzweiß gefilmten Umgebung versuchen ihn seine Mithäftlinge zur Erniedrigung zu vergewaltigen – mit seinem Zauberknüppel kann er sich Respekt zu verschaffen, doch dieser

648 Mot. D1865.2. Beautification by boiling and resuscitation.

234 sorgt später dafür, dass er aus Versehen einen Mitgefangenen tötet. Der Film stellt negative Erscheinungen der sowjetischen Realität prominent heraus, aber selbst der gewöhnliche Alltag mit seinen überwiegend bei schattenhaft-halbdunkler Beleuchtung eingefangenen barackenhaften Gebäuden und engen Wohnräumen scheint trostlos-hässlich. In dieser Welt wirken die Märchengegenstände als Fremdkörper – obwohl sie selbst in ihrer Funktionalität vom Film keinesfalls verfremdet werden: Sie funktionieren genauso, wie sie auch im Märchen funktionieren würden, aber während sie dort Glück gebracht hätten, treiben sie hier den Helden, einen eigentlich aufrichtigen und anständigen Burschen, unaufhaltsam immer weiter in sein Unglück. Es ist schwer zu sagen, mit welcher Intention diese Streifen gedreht wurden, die man wohl am ehesten als Antimärchen bezeichnen könnte – abgesehen von rein konjunkturellen Beweggründen: Sie kommen jedenfalls dem damaligen Bedürfnis entgegen, die neuen Möglichkeiten des nunmehr Zeigbaren völlig auszureizen. Es kann wohl als symptomatisch für die Perestrojkazeit mit ihrem Diskurs der Werte- und Orientierungslosigkeit und des Kulturpessimismus, für den černucha steht, gesehen werden, dass selbst das Märchen, das einst geheiligte Filmgenre für Kinder, das dazu diente, diesen positive Werte und eine optimistische Weltanschauung zu lehren, nun nicht mehr als heilig behandelt und in sein Gegenteil verkehrt wird. Schule sollte dies jedoch nicht machen, und für die Regisseure blieben die Filme jeweils die einzige Begegnung mit Märchenmaterial.649

V.3. Die Schatten der Vergangenheit und die Ungewissheit der Zukunft im Märchenfilm Die Filme Ubiť drakona (Tod dem Drachen/Den Drachen töten, 1988) von Mark Zacharov und Ne pokidaj... ([Geh nicht...], 1989) von Leonid Nečaev sind Märchen in einem eigentlicheren Sinne und, hierin eher den Traditionen des ,klassischen’ sowjetischen Märchenkinos folgend, sehr allegorisch in ihren Bezügen zur Wirklichkeit. Dennoch lassen sie Lesarten zu, die implizit den Aspekt der Vergangenheitsaufarbeitung aufgreifen und mit einem kritischen Blick auf die Gegenwart und offenen Fragen an die Zukunft verbinden. Damit berühren sie ein Thema, das eines der bestimmendsten für den Film der Perestrojka- Epoche war und sich in Werken unterschiedlichster Couleur manfestierte.650 Sowohl Zacharov (*1933) als auch Nečaev (1939-2010) hatten sich bereits in der

649 Über Vasilev ist weiter nichts bekannt, er drehte nach seinem Debüt mit Na pomošč’, bratcy! nur noch einen einzigen weiteren Film; Jasan stammt eigentlich aus dem Alltags-Jugendfilm, ehe er sich dem ,erwachsenen’ Genrekino und später -fernsehen zuwandte. 650 Für die Besprechung zahlreicher Beispiele vgl. Engel 1999, S. 268-283, sowie Horton/Brashinsky 1992, S. 33-66.

235 Stagnationszeit mit Märchen und phantastischen Filmen einen Namen als Regisseure gemacht – ersterer drehte primär für ein erwachsenes, zweiterer primär für ein kindliches Publikum, wobei aber beide letztlich immer auch die andere Gruppe mit ansprachen. Die beiden Streifen, die nun besprochen werden sollen, sind für ihr jeweiliges Œuvre insofern ungewöhnlich, als dass sie im Gegensatz zu ihren früheren Werken, die alle optimistisch und lebensbejahend schließen, recht ambivalente, offene Enden mit einem tragischen Unterton aufweisen. Dabei stehen im Mittelpunkt jeweils unterschiedliche Grundproblematiken, wenn diese auch eng miteinander verbunden sind: Ubiť drakona stellt die Frage nach dem Umgang mit dem ungewohnten Gut der Freiheit, in Ne pokidaj... geht es um die Wahrheit und die sich endlich bietende Möglichkeit, sie offen zu sagen. Beides ist, wie gesagt, eng verflochten mit der Aufarbeitung der Vergangenheit.

V.3.1. Ubiť drakona (Tod dem Drachen/Den Drachen töten, 1988): Die Kehrseite der Freiheit Ubiť drakona basiert auf dem Märchentheaterstück Drakon von Evgenij Švarc aus dem Jahre 1943. Dieses wiederum stellt eine freie Paraphrase des bekannten Erzähltyps des Drachentötermärchens dar: Der Drache ist hier ein Diktator in menschlicher Gestalt, den das Volk aus Angst verehrt und dem es blind folgt – da dies nicht nur als eine Allegorie auf Hitlerdeutschland verstanden, sondern durchaus auch als aesopische Kritik am Stalinismus gelesen werden konnte, wurde das Stück unter Stalin verboten und auch danach nur sehr vereinzelt aufgeführt651, ehe es unter dem Einfluss von Glasnosť, wie viele verbotene und halbverbotene Werke, eine Renaissance erlebte. Die Verfilmung durch Zacharov652 war nur folgerichtig – ebenso wie die Neuinterpretation des Stoffes im Angesicht der neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten, die er als Regisseur wie auch als Co-Drehbuchautor zusammen mit seinem langjährigen Arbeitspartner vornahm, dem Dramatiker Grigorij Gorin. Der Film verwendet eine eigentümliche Mise-en-scène, die diffuses Mittelalter mit Stilelementen aus verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts kombiniert und sich dadurch bewusst allzu offensichtlichen Wirklichkeitsverweisen verweigert. Der charismatische Drache, der nach Belieben zwischen drei menschlichen Erscheinungsformen als nazihafter Offizier, glamouröser Dandy und Samuraikrieger hin und her wechseln kann, ist keine direkte

651 Genaueres dazu siehe Binevič 2008, S. 418-437. 652 Der Regisseur hatte bereits im Tauwetterjahr 1962 das Stück für das Studententheater der MGU inszeniert, wo es nach wenigen Aufführungen abgesetzt wurde. Außerdem hatte er mit Obyknovennoe čudo (Ein gewöhnliches Wunder, 1978) schon einmal einen Švarc-Stoff für die Leinwand adaptiert.

236 Inkarnation von Stalin – er erinnert weniger ikonographisch als vielmehr mit seiner unberechenbaren Art an den Diktator. Sein grausamer Zynismus hingegen lässt ihn mehr als eine Verkörperung der menschenverachtenden Züge totalitaristischer Regimes an sich wirken – am eindrucksvollsten zeigt sich dies in einer im Stück nicht vorhandenen, äußerst drastisch wirkenden Szene, in der er einem seiner Untertanen mit einer Gabel ins nackte Gesäß sticht, bis dieses blutet, um dann auf die Frage, ob er glücklich sei, wie von ihm erwartet eine positive Antwort zu bekommen. Als der so Gequälte zusammenbricht, lässt der Drache seinen kleinen Sohn davonschleppen, da dieser später auf die Idee kommen könnte, seinen Vater zu rächen – und die anfangs verzweifelte Mutter nimmt auf einmal Haltung an und beginnt selig zu lächeln, als ihr ein Orden angeheftet wird. Die Diktatur ist, wie der Stalinismus, von einer Diskrepanz zwischen Sein und Schein geprägt, die aber von den im System Lebenden ohne Weiteres akzeptiert wird, was sie zu passiven Mitschuldigen an ihrer eigenen Misere macht. Die Drachenherrschaft wird, wie in der Vorlage, von dem fahrenden Ritter Lancelot nach einem ungleichen Kampf beendet, in dem er die Bestie töten kann. Der Held, bei Švarc selbstsicher und durchgehend von seinen Idealen und der Notwendigkeit des Kampfes überzeugt, wird im Film zu einem schüchternen, grüblerischen und schwankenden Charakter, der zwischenzeitlich sowohl an sich selbst als auch am Sinn des Kampfes für die gute Sache zweifelt. Wie im Stück verschwindet er anschließend spurlos, und als falscher Held tritt der Bürgermeister auf den Plan, der unter dem Drachen dessen Handlanger war, sich nun aber als Drachentöter und Befreier feiern lässt. Im Film erinnert er jedoch in seiner Hemdsärmeligkeit und demonstrierten Volksnähe an Chruščev653 und in seiner konfusen und undeutlichen Sprechweise und seiner ordensbehängten Uniform an Brežnev, wodurch eine neue Interpretationsebene in Bezug auf die sowjetische Geschichte entsteht. Das Volk nimmt seine Version der Geschichte und seine Machtansprüche trotz besseren Wissens fraglos hin, auch wenn es sich de facto in einer neuen Diktatur befindet. Der blinde Glaube an deren Notwendigkeit wird durch eine große Domkirche symbolisiert, die das Bild der als Handlungsort dienenden mittelalterlich anmutenden Stadt dominiert. Sie wird, wie dies ja auch in der Sowjetunion nicht unüblich war, zweckentfremdet und fungiert als Rathaus und Veranstaltungssaal – gleichzeitig verliert sie jedoch ihren Sakralcharakter nicht,

653 Einer der Gründe, warum das Stück auch zur Tauwetterzeit kaum zur Aufführung kam, war offensichtlich, dass die Figur des Bürgermeisters allein auf Grund ihrer Handlungsfunktion mit Chruščev in Verbindung gebracht werden konnte – obwohl eine solche Lesart von Švarc, wenn er keine prophetischen Fähigkeiten hatte, gar nicht intendiert sein konnte; vgl. Binevič 2008, S. 493.

237 denn hier huldigen die Menschen erst dem Drachen, dann dem Bürgermeister, deren Macht für sie heilig scheint und als eine Art Ersatzreligion fungiert. Als wohl krassester Unterschied zur Vorlage kann das Finale gesehen werden: Die Menschen können selbst, als Lancelot zurückkehrt und den Bürgermeister entlarvt, ihre anerzogene Sklavenmentalität nicht ablegen – die ungewohnte Freiheit scheint sie zu überfordern und zu erschrecken. Sie wollen stattdessen den Ritter als ihren neuen Herrn verehren, und dieser wiederum droht in seinem Eifer, sie umzuerziehen, fast schon ein neuer Drache zu werden: Er zeigt sich als hart und unnachsichtig, verurteilt in einer flammenden Rede die Menschen zornig dafür, dass sie sich so rückgratlos verhalten und will sie ungeduldig zu ihrem Glück zwingen. Erst die junge Elsa, die als Opfer für den Drachen vorgesehen war und deren Liebe den Ausschlag gegeben hat, dass er den Kampf gewagt hat, bringt ihn zur Besinnung: Sie hat Glaube und Hoffnung durch ihn wiedergefunden, doch da sie im Gegensatz zu den Anderen dabei frei zu denken gelernt hat, kann sie seinen befehlsähnlichen Heiratsantrag nach seiner Rede nur damit beantworten, dass sie ihm ein Glas Wein ins Gesicht kippt. Er merkt zwar nun ernüchtert, dass er mit seinem Verhalten dem Volk gegenüber in die totalitären Mechanismen des Drachen verfallen ist, doch erscheint er vollkommen ratlos ob einer Alternative. Ob die Menschen schließlich doch noch lernen werden, ihre Freiheit zu gebrauchen und den Drachen in ihren Köpfen selbst zu töten, bleibt offen, es wird nur klar, dass eine schwere Zeit bevorsteht: Vergangenheitsbewältigung ist ein langer Prozess mit unklarem Ende. Bezeichnend hierfür ist die letzte Szene, in der Lancelot in einer Schneelandschaft auf den wiederauferstandenen Drachen trifft, der in Gestalt eines bärtigen Onkels mit sympathischem Lächeln um sich eine Gruppe Kinder versammelt hat – um sie wird sich der eigentliche Kampf drehen. Übertragen heißt das wohl, welche Früchte im Endeffekt die Freiheit tragen wird, die die Perestrojka gebracht hat, wird sich letztlich erst bei der nachfolgenden Generation zeigen, und alles hängt davon ab, was für ein Verhältnis diese zur – stalinistischen und sonstigen – Vergangenheit entwickeln wird. Hier stellt der Film jedoch keine Prognosen auf.

V.3.2. Ne pokidaj... ([Geh nicht...], 1989): Der Wert der Wahrheit Ne pokidaj... ist ein musikalisches Märchen, das in einem stilisierten Rokoko-Ambiente spielt, durch sepiaähnliche Farbgebung und Ausleuchtung einen nostalgischen Patina-Effekt erzielt und ansonsten formal mit eher konventionellen Mitteln arbeitet – Nečaev bleibt seinem in

238 vielen Werken gepflegten Stil treu, der seinen Reiz aus phantasievoller Ausstattung und insbesondere aus Figurenzeichnung sowie scharfsinnigen Dialogen, Liedtexten und Handlungswendungen bezieht. Auch hier gibt eine Vorlage – ein Bühnenstück von Georgij Polonskij, das dieser selbst für die Leinwand adaptierte. Es beruht seinerseits auf einem englischen Kunstmärchen aus dem 19. Jahrhundert, William Makepeace Thackerays The Rose and the Ring, mit dem es aber letztlich nicht viel mehr als die Ausgangssituation und das zentrale Motiv gemeinsam hat, das aber stark abgewandelt wird. Im Gegensatz zu Ubiť drakona sind politische Allegorien in Nečaevs Film nicht das Hauptthema – in erster Linie wird eine intrigenreiche romantische Abenteuergeschichte erzählt654 – doch ein Subtext macht sich durchaus auch hier recht deutlich bemerkbar. Als Schauplatz dient das Phantasiekönigreich Abidonija, in dem nur nach außen hin alles in bester Ordnung scheint – es stellt sich jedoch immer deutlicher heraus, dass hier einiges im Argen liegt: Die königliche Familie erweist sich als hochgradig dysfunktional, ihre Mitglieder verbergen ihre gegenseitigen Animositäten nur sehr oberflächlich voreinander. Unterdes ist die innenpolitische Situation die eines äußerst repressiven Regimes – dies zeigt sich wiederum am deutlichsten anhand der Haltung der Machthaber zu Künstlern: Gaukler dürfen nur mit spezieller polizeilicher Genehmigung auftreten, es herrscht also ein strenger Zensurapparat. Das Puppenspielerpärchen Žak und Marta, das ins Land kommt, wird ohne viel Federlesens ins Gefängnis geworfen – Stein des Anstoßes sind ihre Marionetten, unter denen sich Karikaturen des Königs und des Kanzlers befinden. Als sich herausstellt, dass Žak ein zurückgekehrter Emigrant ist und die Puppen Erbstücke seines Vaters sind, ist das Schicksal der beiden endgültig besiegelt: Der Vater war ein politisch missliebiger Zeitgenosse, der in der Verbannung, in einer Art Straflager gestorben ist. Die Beteuerungen des Paares, dass ihre eigenen Stücke unpolitisch seien, hilft ihnen wenig. Parallelen zu Praktiken insbesondere des Stalinismus sind hier unschwer zu erkennen, wenn sie auch für viele totalitaristischen Systeme typisch sind. Deutlichere Verweise auf den Stalinismus und gleichzeitig auf eine Dissidentenkultur finden sich an späterer Stelle im Film: Der Kanzler führt dem König zwei Studenten vor, die als Interpreten eines pamphlethaften

654 Vor allem diese ist es, die den Streifen, der offensichtlich in seinem Erscheinungsjahr wenig Aufmerksamkeit erregte, über die Jahre zu einem Kultfilm kleineren Ausmaßes werden ließ: Eine Fanseite (Ne pokidaj..., www.nepokiny.narod.ru, letzter Zugriff 29.08.2015) existiert seit 2003; ihr Forum hat 397 registrierte Mitglieder, die sich über ihre Interpretationen und Lieblingshelden austauschen und sogar Fanfiction schreiben – wenn auch augenscheinlich weniger regelmäßig als noch vor einigen Jahren. Die Initiatorin der Seite, die diese aus reiner Liebhaberei ins Leben gerufen hat, teilte mir per Email mit, dass sie selbst von dem Ansturm überrascht war.

239 Liedes arrestiert wurden. Die Szene des Liedvortrages655 bleibt besonders in Erinnerung: Die beiden langhaarigen jungen Männer mit blessierten, eingefallenen Gesichtern blicken lakonisch drein und wippen mit ihren in Ketten gelegten Füßen im Takt, während sie zu einer fröhlichen Melodie einen von bitterer Ironie durchzogenen Text singen. Seiner besonderen Aussagekraft wegen sei dieser hier zur Gänze zitiert: В самом лучшем королевстве, / В самом-самом лучшем замке, / Жил-был самый, самый, самый / Замечательный король. / С детворой играл он в прятки, / И в колдунчики, и в салки, / И проигрывая даже / Он детишек не порол. / Он родителей, он родителей, он родителей – порол. Было жить тогда непросто / И крестьянам, и доцентам, / И всех штатских, и военных, / Тот король не обожал. / Лишь детей, по малолетству, / Не имевших документов,/Не заковывал он в цепи / И в темницы не сажал. / Он родителей, он родителей, он родителей – сажал. В самом лучшем королевстве, / Как сказали мы вначале, / Жил-да-был король, который / Детвору весьма любил. / Даже тех детей, что часто / Двойки в школе получали, / Не допрашивал в подвалах, / Не пытал и не казнил. / Он родителей, он родителей, он родителей – казнил. [Im allerbesten Königreich, / Im aller-allerbesten Schloss, / Lebte einmal der aller-aller-aller- / Großartigste König. / Er spielte mit den Kindern Verstecken, / Rollschuhlaufen und Fangen, / Und selbst wenn er verlor / Verhaute er die Kinder nicht. / Die Eltern, die Eltern, die Eltern – die verhaute er. Damals war das Leben nicht einfach / Für die Bauern und die Dozenten, / Und die Zivilisten und die Soldaten / Mochte jener König nicht allzusehr. / Nur die Kinder, die zu jung waren, / Um Papiere zu besitzen, / Legte er nicht in Ketten / Und warf sie nicht ins Gefängnis. / Die Eltern, die Eltern, die Eltern – die warf er ins Gefängnis. Im allerbesten Königreich, / Wie wir schon am Anfang gesagt haben, / Lebte einmal ein König, der / Kinder über alles liebte. / Selbst die Kinder, die oft / Schlechte Noten in der Schule bekamen, / Verhörte er nicht in Kellern, / Folterte sie nicht und richtete sie nicht hin. / Die Eltern, die Eltern, die Eltern – die richtete er hin.] Während man den jovial-einfältigen König des Films trotz seiner dunklen Seite mit diesen Zeilen nur mit Mühe in Verbindung bringt, scheint die Anspielung auf Stalin, dem die Propaganda seinerzeit als besten Freund der Kinder huldigte, offensichtlich. Auch die Erwähnung der Opfergruppen deutet in diese Richtung: Die Bauern waren die Leidtragenden der Zwangskollektivierung, während Gelehrte, die ihre Forschungen nicht nach dem Dogma des Marxismus ausrichteten, Gefahr liefen, als Staatsfeinde zu gelten. Soldaten wie Zivilisten, also eigentlich alle, konnten letzlich Opfer der terroristischen Säuberungsaktionen werden.656 Zusammen mit dem Gauklerpärchen ist der Prinz Penap’ju aus dem Nachbarkönigreich eingetroffen, vor dem die Inhaftierung der beiden verheimlicht wird und vor dem alle einen guten Eindruck machen wollen. Die vom Kanzler geschriebene Rede, die

655 Für den Text, wie auch für die übrigen Liedtexte, zeichnet sich nicht Drehbuchautor Polonskij, sondern Leonid Derbenev verantwortlich; die Lieder wurden von ihm und dem Komponisten Evgenij Krylatov speziell für den Film geschrieben. 656 Siehe dazu Neutatz 2013, S. 230-238, 350-352, 269-276.

240 der König zur Begrüßung des Gastes vorliest, enthält einen Satz, der als Spitze gegen eine Realie gelesen werden kann, die die Sowjetunion fast bis zu ihrem Ende bestimmte – die kaum zu verwirklichende Möglichkeit von Reisen ins (westliche) Ausland für einfache Sowjetbürger, die mit imaginierten Bildern des Unbekannten einherging657: „У нас в Абидонии, надо заметить, народ по характеру домосед, почти никто нигде не был. Но все замечательно отзываются о Вашей стране!“ [„Bei uns in Abidonija, muss man bemerken, besteht das Volk dem Charakter nach aus Stubenhockern, fast niemand war mal irgendwo. Aber alle berichten nur das Beste von Eurem Land!“] Neben solchen relativ offenen Anspielungen wartet der Film jedoch auch mit eher indirekten Allusionen auf seine Entstehungswirklichkeit auf: Kurz darauf taucht das einzige märchenhaft-magische Motiv auf, das dann für den weiteren Verlauf der Handlung die Schlüsselrolle spielen wird – eine blaue Rose. Diese hat ihre Inspiration in Thackerays Märchenerzählung; darin lässt sie ihren Besitzer schön und begehrenswert wirken. Im Film jedoch hat ihr Zauber eine grundsätzlich andere Funktion: Ihr Duft bringt jeden dazu, die Wahrheit zu sagen. Sie wird verdorrt unter den Erbstücken des Puppenspielers von der Kammerzofe Marsella gefunden, die sie gesundpflegt, und entfaltet kurz darauf ihre Wirkung: Ein dunkles Geheimnis kommt ans Licht, das seit vielen Jahren totgeschwiegen wurde – das frühere Königspaar ist einem Mordkomplott zum Opfer gefallen, an dem der jetzige König, der Kanzler und seine Frau, die Schwester der Königin, beteiligt waren. Lässt man die abenteuerlich-melodramatischen Genrekonventionen folgende Natur des Geheimnisses außer Acht, so lassen sich auch hier Parallelen mit der Wirklichkeit erkennen – wurden doch erst mit der Perestrojka die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit, sprich die Verbrechen des Stalinismus, in ihrem vollen Ausmaße aufgedeckt und diskutiert. Dies ist aber nicht das einzige Wunder, das die Rose vollbringt – nachdem sie so lange in einem Reich gelebt haben, in dem Lügen an der Tagesordnung waren, trauen sich die Menschen nun endlich, offen zu sagen, was sie wirklich denken, sie feiern enthusiastisch auf den Straßen, erhellen die Nacht mit Fackeln und träumen von einem ščasťe bez obmana, einem Glück ohne Betrug, wie es in dem Lied heißt, das die Helden gemeinsam mit dem fröhlichen Volk singen. Unter den Helden befindet sich neben dem Gauklerpärchen, dem ausländischen Prinzen und der Kammerzofe auch der rechtmäßige Thronfolger Patrik, der als Pflegekind in der Königsfamilie ein Schattendasein fristete – bisher konnte er seine Gefühle in Gedichten nur niederschreiben, weil er stumm war, doch durch den Zauber der Rose

657 Siehe etwa ebd., S. 457-459, 478-480.

241 gewinnt er seine Stimme zurück und kann sie nun auch laut äußern. Er war im Übrigen auch der Autor des dissidentischen Liedes. Der Kult um die Wahrheit als höchstem Wert war in der damaligen Zeit für die Intelligencija und die Kulturschaffenden eines der zentralsten Themen, denn nicht zuletzt dafür stand ja die von ihnen begrüßte Politik der Glasnosť, die die Möglichkeit eröffnete, sie offen zu sagen. Sie bestimmte auch den filmischen Diskurs wesentlich – „cinema must always be dedicated to truth“658, so zitieren Horton/Brashinsky den Regisseur Ėlem Klimov, der 1986-1988 als Erster Sekretär des Filmverbandes fungierte, und aus einem Interview mit Oleg Rudnev, dem Generaldirektor der Filmverleihgesellschaft Sovėksportfiľm, stammt die Aussage: „We used to lie a lot in the Soviet Union, and it resulted in false films, false literature, false art. Now, with glasnost, we can speak normally, openly.“659 Ne pokidaj... bietet hierfür mit dem Königreich, in dem eine Zeit zu Ende geht, in der Lügen und Schweigen die einzigen Alternativen waren, eine schöne Metapher.660 Der Film verpasst allerdings in seinem Finale den optimistischen Hoffnungen, die er bis dahin voll zu unterstützen scheint, einen tragischen Dämpfer. Es kommt zu einer Konfrontation der Helden mit dem Hauptantagonisten, dem Kanzler, der als einziger vom Zauber der Rose nicht betroffen ist – er kann sie wegen eines Schnupfens nicht riechen. Als er erfährt, was der Duft für eine Wirkung hat und das sich nun niemand mehr fürchtet, die Wahrheit auszusprechen, reagiert er ehrlich schockiert – und seine Worte wirken wie eine freie Paraphrase sämtlicher Ängste und Befürchtungen, die Perestrojka und Glasnosť in der sowjetischen Gesellschaft neben den Hoffnungen hervorriefen: „А люди не готовы к этому! Не готовы! Сумки почтальонов распухнут от правдивых доносов! Граждане Абидонии узнают друг о друге такое, знаете ли... Чернь отбросит всяческий стыд, что ей стесняться — да они же правдолюбцы: вот мы, глядите, любуйтесь на наш срам!“ [„Die Menschen sind dafür nicht bereit! Nicht bereit! Die Taschen der Briefträger werden überquellen vor wahrheitsgetreuen Denunziationen! Und was für Dinge die Bürger Abidonijas übereinander erfahren werden... Der Pöbel wird jegliches Schamgefühl ablegen, warum sich auch genieren – sie sind ja Anhänger der Wahrheit: Schaut nur her, erfreut euch an unserer Schande!“] Die von Enthusiasmus beseelten Helden freilich verlachen den Kanzler, der als

658 Horton/Brashinsky 1992, S. 22. 659 Ebd. 660 Durch Vermittlung der Initiatorin der Fanseite Ne pokidaj... konnte ich mit Svetlana Selezneva, der Darstellerin der Marsella, online Kontakt aufnehmen und ihr einige Fragen zum Film zukommen lassen. Sie blieb in ihrem Antwortschreiben sehr allgemein in ihren Aussagen und reagierte ausweichend auf Fragen zu konkreteren Interpretationsansätzen, bestätigte aber, dass Nečaev bei der Themenwahl des Films von den gesellschaftlichen Veränderungen der Perestrojka beeinflusst war.

242 Bösewicht ausgedient hat und den niemand mehr fürchtet – seine Schwarzmalerei nehmen sie nicht ernst. Da unternimmt er einen letzten verzweifelten Versuch, den Status quo wieder herzustellen – er schießt mit einer Pistole auf die Rose. Stattdessen trifft er jedoch die Kammerzofe Marsella, die diese fest an ihre Brust drückt. Als er bemerkt, dass sein Versuch zwecklos war, die Rose unbeschädigt ist und er somit die anstehenden Veränderungen nicht aufhalten kann, begeht er Selbstmord. Die Helden versammeln sich unterdes um die sterbende Marsella – der Tod der unschuldigen, für das Gute stehenden Figur scheint darauf hinzudeuten, dass das Eintreten für die Wahrheit nach wie vor zu einem Kampf werden kann, der seine Opfer fordert. Großaufnahmen zeigen die tief bekümmerten Gesichter der Helden, denen teilweise die Tränen in den Augen stehen. Unterdes singt der Thronfolger Patrik ein letztes Lied, dessen Text von verhaltenem Optimismus zeugt: „Весь наш мир, такой огромный, / Висит на ниточке одной. / Она надеждою зовется, / И верить хочется, так верить хочется, / Что эта нить не оборвется.“ [„Unsere ganze, riesige Welt / Hängt an einem einzigen Faden. / Er nennt sich Hoffnung / Und ich will daran glauben, ganz fest daran glauben, / Dass dieser Faden nicht zerreißt.“] Die letzte rätselhafte Einstellung des Films zeigt die blaue Rose auf der Brust Marsellas, die sich langsam rot färbt. Die Hoffnung bleibt also, mit ihr aber auch die Ungewissheit: Das Ende lässt sehr viele Fragen offen – nicht zuletzt die, welche Veränderungen die Möglichkeit, die Wahrheit offen auszusprechen, tatsächlich für Abidonija bringen wird. Ebenso offen schien 1989 die Frage, wohin Glasnosť und Perestrojka die Sowjetunion letztlich führen würden. An dieser Stelle sei noch kurz auf die Frage eingegangen, die sich sowohl für Ubiť drakona als auch für Ne pokidaj... unweigerlich aufdrängt – nämlich, warum die Regisseure die Form des Märchens brauchen, um sich auf die vergangene und aktuelle Realität der Sowjetunion zu beziehen, insbesondere, da ja zur Zeit der Perestrojka im Grunde, so möchte man meinen, alles offen gesagt werden konnte und solche aesopischen Verfahren daher unnötig scheinen. Man könnte hier natürlich den Vorwurf aufbringen, dass sie in alten Modellen verharren und unfähig sind, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Ich würde hier allerdings eine andere Sichtweise einnehmen – die beiden besprochenen Filme sind in ihren Botschaften zwar von ihrer Entstehungszeit und ihrem Entstehungsort beeinflusst, aber was sie vom populären Konjunkturkino der Perestrojka, das auch viele künstlerisch zweifelhafte Produktionen hervorbrachte, deutlich abhebt, ist, dass sie nicht daran gebunden sind – dass sie in einem märchenhaften Irgendwo und Irgendwann spielen, eröffnet die Möglichkeit, die Botschaften auf verschiedene Kontexte zu übertragen,

243 aktualisierend zu lesen und jeweils verschiedene Schlüsse daraus zu ziehen. Die Form des Märchens macht gerade ihre Stärke aus, denn dadurch werden sie zu zeitlosen Allegorien – ungeachtet dessen, dass sie zu den letzten Vertretern des Phänomens ,sowjetischer Märchenfilm’ zählen.

244 RESÜMEE Nach der Abhandlung der letzten Phase in der Geschichte des Untersuchungsgegenstands ist nun hier der Platz für abschließende Gedanken zu den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit. Diese hatte sich zur Aufgabe gemacht, das äußerst vielschichtige Phänomen des sowjetischen Märchenfilms in genrespezifischer und kulturhistorischer Perspektive näher zu beleuchten. Wie sich dieses Unterfangen gestaltet hat und inwieweit Antworten auf die Fragen, die eingangs angeklungen sind, gefunden werden konnten, ist Thema der nun folgenden Zusammenschau, die mit einem kurzen Ausblick endet. Der Märchenfilm spielt in einer besonderen Welt, in der per se alles möglich ist und daher selbst Zauber oder Übernatürliches – das, was in der realen Welt unmöglich scheint – nicht weiter verwundert. Seine Inspiration schöpft er aus dem reichhaltigen Material, das ihm die Folklore bietet – jedoch tut er dies auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Der direkte Rückgriff auf Volksmärchen und an Volksmärchen angelehnte Literatur ist nur eine von vielen Möglichkeiten, die er nutzen kann. Wenn er so vorgeht, so wird in der Regel der zugrundeliegende Stoff nicht einfach übernommen, sondern auf die eine oder andere Art und Weise modifiziert: Eine ,Erzähltypenadaption’ nach einem Volksmärchen stellt also gleichzeitig immer eine Variation dar. Im Märchenfilm kommen jedoch auch gänzlich neue Varianten von Erzähltypen vor, ,neue Erzähltypenvarianten’, die zwar erkennbar an einer aus Volksmärchentexten bekannten typischen Strukur folgen, aber diese mit in ihrer konkreten Ausformung originärer Semantik füllen. Damit hebt sich der Märchenfilm von literarischen Märchentraditionen ab, für die dies, so scheint es, weniger typisch ist. Mit dem Literaturmärchen teilt der Märchenfilm hingegen die Tendenz, Erzähltypen auf verschiedenste Weise zu mutieren – z.B. kann die Struktur nur noch Grundparallelen zu derjenigen des Typs erkennen lassen, charakteristische semantische Grundkonstellationen werden in neue Erzählzusammenhänge gestellt oder aber bekannte Erzählmuster werden verfremdet: All dies lässt sich unter den Begriff ,Erzähltypenmutation’ subsumieren. Es gibt jedoch auch Märchenfilme, die in keinerlei Bezug zu aus der Folklore bekannten Erzähltypen stehen. Einerseits können diese ,neue Erzähltypen’ schaffen, indem sie die dem Volksmärchen zugrundeliegende allgemeine Struktur unter Nutzung des Motivvorrats der Folklore mit semantischen Bausteinen auf ihre Weise besetzen. Andererseits können sie jedoch auch eine dem Volksmärchen fremde Struktur aufweisen, so dass der Bezug zur Folklore nur noch in der freien Verwendung von deren semantischem Motivvorrat besteht – ,Folkloremutationen’ sozusagen. Eine Art Hybridform stellen die ,sagenhaften Märchenfilme’ dar: Sie adaptieren

245 sagenhafte Folklorestoffe, nähern diese jedoch durch ihren Umgang mit dem Wunderbaren als selbstverständlichem Element dem Märchen an. Eine besondere Möglichkeit, die sich grundsätzlich allen diesen Spielarten des Märchenfilms bietet, ist das Verfahren des Crossover-Märchens, das seine Dynamik daraus bezieht, dass es die Märchenwelt mit einer realistischen Alltagswelt aufeinandertreffen lässt. All diese unterschiedlichen Ausformungen des Märchenfilms, die gelegentlich auch fließend ineinander übergehen, konnten in dieser Arbeit anhand des sowjetischen Märchenfilms, der in dieser Hinsicht auf eine lange Tradition zurückblickt, nachgewiesen und veranschaulicht werden. Die kommentierte Filmographie im Anhang ist ausführlich danach aufgearbeitet. Der besondere Nutzen der so erstellten Genretypologie liegt darin, dass sie auf verschiedenste Untersuchungsgegenstände übertragen werden kann, bei denen eine Zugehörigkeit zum Genre Märchen vorliegt, das als solches ja international und transmedial verbreitet ist: Es ist davon auszugehen, dass sich ebenso wie ihr sowjetisches Pendant auch die Märchenfilmkorpora aus Tschechien und der ehemaligen Tschechoslowakei, aus der ehemaligen DDR oder auch aus den USA, um nur die historisch wohl bedeutsamsten Märchenfilmländer zu nennen, in ihrem Bezug zur Folklore näher bestimmen lassen; aber auch auf, z.B., literarische Texte, Theaterstücke, Hörspiele oder Comics kann die Typologie angewendet werden. Welche kulturraumspezifischen bzw. kulturhistorischen Besonderheiten dagegen gerade der sowjetische Märchenfilm aufweist, in welchem Verhältnis er also zu seiner konkreten Entstehungswirklichkeit steht, was ihn als deren Produkt ausmacht und welche Entwicklungen sich hier beobachten lassen, war gesondert zu untersuchen, unter Berücksichtigung der erzählerischen Eigenheiten seiner medialen Form. Die Geschichte des sowjetischen Märchenfilms kann nicht losgelöst betrachtet werden von der didaktischen Funktion, die in der Sowjetunion jeder Form von Kunst zukommen sollte: Kunstwerke sahen sich immer auch vor die Aufgabe gestellt, an ihre Rezipienten die vom System als wichtig erachtete Werte zu vermitteln. Als Richtlinie hierfür diente die ,Methode’ des Sozialistische Realismus, der 1934 offiziell als verbindliche Doktrin festgelegt wurde. Der Sozialistische Realismus seinerseits aber leitete seine Grundprinzipien gerade aus den Mustern der bis dahin als bourgeoise Überbleibsel verpönten Folkloreformen her, die von Maksim Gor’kij als schöpferischen Ausdruck der Bedürfnisse und Wünsche des arbeitenden Volkes gesehen und damit nicht nur rehabilitiert wurden, sondern die von nun an als Vorbild jeglichen literarischen Schaffens dienen sollten. Was für die Literatur galt, sollte dann auch auf sämtliche andere

246 Künste ausstrahlen, so auch auf den Film. Trotz aller äußeren Unterschiede sind das Volksmärchen und der Sozialistische Realismus entsprechend wesensverwandt – sie erzählen beide innerhalb einer schematisch- formelhaften Struktur im Grunde Initiationsgeschichten, die in ihrem Universalanspruch nicht eigentlich an Raum und Zeit gebunden sind. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass das Volksmärchen in der Regel tendenzlos ist, die Werke des Sozialistischen Realismus dagegen automatisch eine didaktische Ausrichtung besitzen. Für den sowjetischen Märchenfilm, wie für jede Ausprägung des sowjetischem Kunstmärchen, hieß dies, dass er idealerweise Form und Inhalt des Volksmärchens beibehalten, aber darin wie im Sozialistischen Realismus eine didaktische Botschaft im Sinne des Sowjetsystems einflechten sollte. Als Träger dieser Botschaft eigneten sich in erster Linie die Figuren: In schematischen Narrativen – wie eben Volksmärchen und Sozialistischer Realismus – sind die semantischen Eigenschaften einer Figur unabhängig vom strukturellen Rahmen der Geschichte. Entsprechend war es möglich, die unreflektiert handelnden Helden des Volksmärchens im ,sozialistisch-realistischen Märchen’ in ,positive Helden’ umzuwandeln, die in ihren Handlungen von den das Sowjetsystem bestimmenden Werten geprägt sind, während über die Eigenschaften der Antagonisten wiederum bestimmte Feindbilder forciert werden konnten, ohne dass der Rahmen des Märchens dabei unbedingt besonders variiert werden musste. Auf diese Art und Weise sind vor allem die Märchenfilme des Stalinismus konzipiert, was hier anhand einer Analyse des Films Kaščej Bessmertnyj von Aleksandr Rou aus dem Jahre 1944 exemplarisch verdeutlicht wurde: Der Streifen nutzt die Form des Märchens in Gestalt eines bekannten Erzähltyps, dessen Grundstruktur er relativ unverändert beibehält, um einen Beitrag zur patriotischen Kriegspropaganda zu leisten. Die Figuren erfahren hier semantische Erweiterung, die eine Umfunktionierung zur Folge haben: Die Märchenheldin wird zu einem Symbol für die bedrohte Heimat, der Märchenbösewicht zu deren Peiniger und der Märchenheld zu ihrem Verteidiger. Wie der stalinistische Film allgemein, so wurde auch der stalinistische Märchenfilm instrumentalisiert, um in expliziter Weise systemstützende politisch-didaktische Botschaften zu vermitteln – im Gegensatz zu den anderen Filmgenres jedoch konnte er sich, bedingt eben durch die Form Märchen, eine verspielte Ästhetik erlauben, die die Frage legitim erscheinen lässt, ob die Botschaften teilweise nicht auch einfach als Mittel zum Zweck implementiert wurden, um Kreativität walten zu lassen. Der poststalinistische Märchenfilm hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass der Aspekt der Politisierung immer weiter in den Hintergrund trat – dies wird hier insbesondere

247 durch die Analyse von Rous Ogon’, voda i... mednye truby aus dem Jahre 1968 dargelegt. Hier adaptiert der Regisseur denselben Erzähltyp ein zweites Mal, und auch hier liegt eine didaktische Intention zugrunde – allerdings keine explizit politische, sondern eine allgemein menschlich-moralische. Bezeichnenderweise kämpft der Held, der sowohl moralisch nachahmenswerte Eigenschaften demonstriert als auch moralische Schwächen ablegen muss, nicht für eine gesellschaftlich relevante Sache, sondern für sein individuelles privates Glück. Moralische Reifungsprozesse ersetzen nicht nur in diesem, sondern in zahlreichen sowjetischen Märchenfilmen des Poststalinismus politisch-weltanschauliche, und das private Glück nimmt darin oft eine zentrale Rolle ein. Der politisch didaktisierte Märchenfilm hörte unterdes nicht auf zu existieren, war aber nur noch eine von mehreren möglichen Ausformungen. Ob und inwieweit auch kritische Lesarten für den sowjetischen Märchenfilm nach Stalin möglich sind, darüber geben die hier vorgenommenen Analysen dreier Filme Aufschluss, in denen Herrscherfiguren eine prominente Rolle zukommt. Aleksandr Ptuškos Iľja Muromec (1956) folgt den Mustern des Sozialistischen Realismus sehr eng. Der stalinistische Personenkult wird darin anhand der labil wirkenden und ambivalent handelnden Herrscherfigur verurteilt, während aber gleichzeitig der Kult des Volkes zelebriert wird, als dessen idealisierte Verkörperung die Figur des Helden gesehen werden kann – das ,alte’ System wird also verurteilt, das ,neue’ hingegen gestützt. Kain XVIII (1963) von Nadežda Koševerova und Michail Šapiro hingegen ist weit weniger eindeutig in seiner Gerichtetheit: Die Titelfigur vereint sämtliche Negativzüge eines totalitaristischen Herrschers in sich, und der Film lässt den Bezug zu realen Vorbildern allem Anschein nach bewusst offen – somit wird Totalitarismus an sich als Phänomen verurteilt, unabhängig von seiner konkreten Ausprägung. Boris Rycarevs Ivan da Mar’ja (1974) schließlich gestaltet sich als ironisches Spiel sowohl mit der Form des Märchens als auch mit der des Sozialistischen Realismus – im Helden und der Heldin werden Züge des positiven Helden parodiert, während der Herrscher als überforderter Vertreter des Staats und als ebenso überforderte Vaterfigur fungiert, wobei in beiden Fällen von ihm privater Freiraum eingefordert wird. Substantielle Systemkritik lässt der Film nicht erkennen, er nimmt das System aber augenscheinlich auch nicht so recht ernst. Die analysierten Filme können insofern als repräsentativ für den poststalinistischen sowjetischen Märchenfilm insgesamt betrachtet werden, als dass sie einen Eindruck von der Bandbreite vermitteln, die nunmehr darin möglich geworden war. In ihm manifestierten sich, wie auch im sowjetischen Film allgemein, neue Wertvorstellungen, die der Diskurs der

248 Tauwetter- und später der Stagnationsära hervorbrachte – beide Phasen heben sich nicht klar voneinander ab, sondern gehen fließend ineinander über: Der idealistische Kult der Emotionen und des Individuellen, der für erstere kennzeichnend war, fand im Märchenfilm ebenso seinen Ausdruck wie auch der für zweitere typische ironische Blick auf die Wirklichkeit und die Grundsympathie für alternative Denkweisen. Gerade die konservative Brežnev-Zeit war die Blütezeit des Märchenfilms, wohl auch dadurch bedingt, dass das Märchen auf Grund seiner Entrücktheit von der Wirklichkeit als eine Art kreatives Refugium dienen konnte. Seinen politisch-didaktischen Charakter verlor es als dabei als Ganzes immer mehr, auch wenn einzelne Produktionen ihn immer noch aufweisen konnten. Die gesellschaftlich-kulturellen Prozesse, die im Zuge der Perestrojka- und Glasnosť- Politik in der Sowjetunion stattfanden, sollten dem Märchenfilm ihren Stempel im Großen und Ganzen nur bedingt aufdrücken. Hier wurden zwei radikalere Vertreter vorgestellt, die man wohl am ehesten als ,märchenhafte černucha’ umschreiben kann, um dann ein wenig ausführlicher Mark Zacharovs Ubiť drakona (1988) und Leonid Nečaevs Ne pokidaj... (1989) als Beispiele für allegorische Ansätze von Vergangenheitsbewältigung im Märchenfilm zu besprechen, die darüber zu einer ambivalenten Bewertung der Gegenwart und einem unsicheren Blick in die Zukunft kommen. Wie sich an der Arbeit am großen Kapitel zum sowjetischen Märchenfilm und seinen Wirklichkeitsbezügen zeigte, ist es ungleich schwerer, diese darzustellen, als dies bei den Bezügen zur Folklore der Fall ist, die sich typologisch erfassen lassen – das hängt einerseits mit der Reichhaltigkeit und Komplexität des untersuchten Materials zusammen, andererseits damit, dass es sich bei Wirklichkeitsbezügen um keine fest eingrenzbare textuelle Kategorie handelt, sondern diese verschiedenste Ausformungen haben können. Dabei lassen sie sich einerseits nicht unabhängig von der ästhetisch-formalen Beschaffenheit eines Werkes betrachten, andererseits ist eine Vielzahl kontextueller Faktoren politischer, gesellschaftlicher, kultureller und individueller Natur mit zu berücksichtigen. Auch die Konzentration auf Fallstudien, die hier erfolgte, kann nicht gewährleisten, dass alle diese Aspekte erschöpfend erfasst werden. Insofern kann die vorliegende Arbeit nur als ein Versuch gesehen werden, Tendenzen aufzuzeigen, die sowjetische Märchenfilme auf die eine oder andere Art als Produkte ihrer Zeitgeschichte und der sie bestimmenden Diskurse kennzeichnen. In jedem Fall aber sieht sie sich als eine Ermutigung, sich mit dem äußerst ergiebigen Material, das der sowjetische Märchenfilm bietet, weiter auseinanderzusetzen. Hierfür gäbe es genug Möglichkeiten – so böte sich z.B. die stärkere Konzentration auf einen Zeitabschnitt

249 an; Vergleiche mit Märchenfilmtraditionen aus anderen Ländern kämen in Frage; und Studien zum Werk einzelner Regisseure wären sicherlich lohnende Unterfangen – Nadežda Koševerova oder Boris Rycarev etwa sind bisher sträflich unerforscht. Schließlich wäre es auch interessant, genauer zu betrachten, inwieweit in Russland und den sowjetischen Nachfolgestaaten Versuche unternommen wurden, das filmische Märchengenre wiederzubeleben. Die Tradition, die Märchenfilme in der Sowjetunion hatten, fand nach deren endgültigem Zusammenbruch in der Form keine Fortsetzung. Regisseuren, die sich noch zu sowjetischen Zeiten als Märchenfilmer etabliert hatten, war die Möglichkeit, in diesem Genre zu arbeiten, nur noch selten gegeben: Zacharov drehte in postsowjetischer Zeit bislang keinen einzigen Film mehr, und Michail Juzovskijs Maša i zveri ([Maša und die Tiere], 1995), Gennadij Vasiľevs russisch-chinesische Co-Produktion Volšebnyj portret (Das Zauberbildnis, 1997), Sergej Ovčarovs Skaz pro Fedota-streľca ([Die Erzählung von dem Schützen Fedot], 2001) und Nečaevs letzter Film Djumovočka ([Däumelinchen], 2007), in ihrer Machart jeweils sehr unterschiedlich, stellen ziemlich isolierte Erscheinungen dar. Heftig umstritten wiederum waren der von der Walt Disney Company für den russischen Markt produzierte fantasyhafte Publikumsschlager Kniga masterov (Das Buch der Meister, 2009) von Vadim Sokolovskij und das actionbetonte Crossover Reaľnaja skazka ([Ein reales Märchen], 2011) von Andrej Marmontov. Die Entwicklung des postsowjetischen Märchenspielfilms661 verläuft also bisher ziemlich unausgewogen, aber er liegt nicht völlig brach: Die Situation bleibt weiter spannend.

661 Ein wieder anderes Feld stellt der abendfüllende Zeichentrickfilm dar, in dem sich in Russland eine neue Tendenz herauszubilden scheint: Das Animationsstudio Meľnica hat sich auf Adaptionen von Folklore- und Märchenstoffen spezialisiert, und seine in regelmäßigen Abständen erscheinenden Streifen wie Tri bogatyrja i Šamachanskaja carica ([Die drei Recken und die Königin von Schemacha], 2010) oder Ivan Carevič i seryj volk ([Zarewitsch Iwan und der graue Wolf], 2011) sprechen ein immer breiteres Publikum verschiedener Altersklassen an.

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Zipes, Jack: The Enchanted Screen. The Unknown History of Fairy-Tale Films. Routledge, New York u.a. 2011.

Zipes, Jack: Happily Ever After. Fairy Tales, Children, and the Culture Industry. Routledge, New York u.a. 1997.

260 ANHANG

261 Kommentierte Filmographie

Erläuterungen zur Benutzung: Die Filmographie ist chronologisch geordnet; entscheidend war hier in der Regel das Jahr, das im Ab- bzw. Vorspann des Films genannt wird. Mehrere Filme, die im selben Jahr erschienen sind, werden in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, dem kyrillischen Alphabet folgend. Sofern nicht anders angegeben, wurden alle Filme in der russischsprachigen Version gesichtet.662 Die russischen Filmtitel sind in kyrillischer Schrift, fettgedruckt und unterstrichen wiedergegeben; es folgen, sofern vorhanden, unterstrichen etwaige anderssprachige Alternativtitel (bei nichtrussischen Produktionen oder internationalen Co-Produktionen, sofern diese bekannt sind663); anschließend kursiv der deutsche Verleihtitel664. Sollte es keinen deutschen Verleihtitel geben oder aber der deutsche Verleihtitel in seiner Bedeutung von der des Originaltitels erheblich abweichen, so wird, in eckigen Klammern und kursiv, eine möglichst wortgetreue Übersetzung angegeben. Es folgen die wichtigsten Eckdaten der Produktion: Produktionsland- und -jahr (Land jeweils UdSSR, aber mit dem Zusatz, welche Sowjetrepublik beteiligt war; daneben bei Co- Produktionen weitere beteiligte Länder); Produktionsfirma bzw. -firmen; Zusatz s/w bei Schwarzweißfilmen; Regisseur(in); Drehbuchautor(in); nach Reihenfolge des Vor- bzw. Abspanns die wichtigsten Darsteller. Anschließend wird, wiederum sofern vorhanden, zunächst die literarische Vorlage mit entsprechenden Angaben genannt. Slavisch- und englischsprachige Quellen werden in Originalsprache zitiert, ansonsten werden einschlägige Übersetzungen genannt665. In der Literatur gelegentlich anzutreffende ungenaue Angaben („nach Motiven russischer Märchen“

662 Bei den nichtrussischen Sowjetproduktionen ist es ohnehin, sofern nicht im Vor- oder Abspann auch Synchronsprecher genannt werden, nicht immer möglich, die Originalsprache der Produktion genau zu eruieren, insbesondere, wenn an der Produktion Mitwirkende aus Russland oder aber aus den anderen Sowjetrepubliken beteiligt waren. 663 Bei nichtrussischen Sowjetproduktionen ist dies nicht immer der Fall; auch die deutsch- und englischsprachige Filmliteratur gibt häufig den russischen Titel als Originaltitel an, und sofern für solche Filme nicht eine originalsprachige Version im Internet oder in Bibliotheken ausfindig gemacht werden und deren Titel identifiziert werden konnte, findet sich hier nur der russische Titel. 664 Nach den Angaben des Lexikons des internationalen Films bzw. Filmlexikon (www.zweitausendeins.de/ filmlexikon, letzter Zugriff 29.08.2015). 665 Ins Deutsche oder ins Russische. Russische Übersetzungen wurden dann hinzugezogen, wenn keine deutschsprachigen Übersetzungen vorlagen, wenn etwaigen deutschsprachigen Übersetzungen ohnehin das Russische als Mittlersprache diente (was insbesondere bei Märchensammlungen aus den Gebieten der Sowjetrepubliken der Fall ist), oder aber, wenn Hinweise auf die Verwendung der Filme ebendieser Übersetzungen vorlagen (bei den drei Šāhnāme-Adaptionen der Fall).

262 u.ä. ohne weiteren Zusatz) wurden vermieden, vielmehr wurde versucht, so präzise wie möglich zu sein: Bei Volksmärchenadaptionen wird auf Texte in den einschlägigen Sammlungen verwiesen666, die als direkte oder indirekte (durch Bearbeitungen) Vorlagen ausgemacht werden können oder zumindest repräsentative (National-)Varianten darstellen. Bei Kunstmärchen, die Volksmärchenparaphrasen darstellen, werden in der Regel667 ebenfalls Verweise auf entsprechende Volksmärchenvarianten gegeben. So soll es dem Leser ermöglicht werden, die Wege, die ein Stoff bis zum Märchenfilm genommen hat, leichter nachzuvollziehen. In einer Inhaltsangabe wird jeweils die Filmhandlung zusammenfassend wiedergegeben, um dem Leser einen kurzen, aber möglichst prägnanten Überblick über die wichtigsten Ereignisse zu bieten. Im Anschluss daran wird auf Besonderheiten der dramaturgischen und filmischen Gestaltung eingegangen. Es handelt sich hierbei nicht um erschöpfende Analysen sämtlicher filmischer Mittel, die die Filme jeweils aufweisen – dies würde eine andere Herangehensweise bei der Sichtung erfordern, die der Rahmen dieser Arbeit bei der Vielzahl an Filmen nicht hergibt. Vielmehr wird hier eine Beschreibung der auffälligsten Elemente der Inszenierung gegeben – etwa auf der Ebene Kostüme und Ausstattung, Einsatz von Musik und Filmtricks, Beleuchtung, dramaturgische Einfälle etc., um so einen allgemeinen Eindruck zu vermitteln. Sodann erfolgt eine Klassifizierung nach den sechs (in Kapitel B der Dissertation erarbeiteten) Kategorien Erzähltypenadaption (die entsprechende Erzähltypenbezeichnung nach AaTh und ATU668 bzw. AA und SUS669 wird genannt, mehrere Erzähltypen mit + abgetrennt); neue Erzähltypenvariante (auf den Typ wird mit „siehe“ verwiesen); Erzähltypenmutation (auf den Typ wird mit „vgl.“ verwiesen); neuer Erzähltyp; Folkloremutation; sagenhafter Märchenfilm. Damit wird ein Kommentar eingeleitet, der sowohl den Umgang mit der Vorlage als auch den Folklorebezug näher beschreibt. Ersteres

666 Da Märchen- und sonstige Folkloresammlungen in der Regel durchnummeriert sind, erfolgen aus praktischen Gründen solche Verweise mit abgekürztem Titel der jeweiligen Sammlung und entsprechender Nummer; Seitenzahlen werden nur genannt, wenn es keine Nummerierung gibt. 667 Eine Ausnahme wird bei den Märchen von Perrault gemacht. Der Form nach sind diese zwar (Volksmärchenstoffe paraphrasierende) Kunstmärchen, allerdings erschienen sie lange vor der großen Bewegung zur Verschriftlichung von Volksmärchen und waren so populär, dass sie umgekehrt oft auf diese Einfluss hatten, in besonderem Maße z. B. auf die der Grimm’schen Sammlung. 668 Da die Revision des AaTh durch Hansjörg Uther (ATU) teils eine Umbenennung und auch Umnummerierung einzelner Typen zur Folge hatte, ältere Publikationen aber stets auf den AaTh referieren, wurden beide zitiert. 669 Der Vollständigkeit halber werden zuerst alle Verzeichnisse angegeben. Im folgenden Fließtext wird dagegen der besseren Lesbarkeit halber jeweils nur der AaTh genannt, außer bei abweichenden Nummerierungen bzw., wenn eine spezifische Ausformung von Bedeutung ist.

263 erfolgt in ausführlicherer oder geraffter Form, je nach Bekanntheitsgrad der Vorlage und Charakter der Abweichungen des Films. Der Folklorebezug wird einerseits über die syntaktisch-strukturelle Ebene unter Bezugnahme auf die Erzähltypenkataloge und Propps Morphologie hergestellt, andererseits über die semantisch-motivische Ebene und unter Bezugnahme auf den Motif Index (Mot.). Dabei wird bei Erzähltypenadaptionen in der Regel nur dann direkt auf diesen verwiesen, sofern typenfremde Motive auftauchen oder die Motivgestaltung ungewöhnlich erscheint – für die typentsprechenden Motive genügt ein Verweis auf die Typenkataloge. Bei allen anderen Filmen werden die wichtigsten Motive soweit möglich670 generell mit Nummer und Bezeichnung gesondert aufgelistet. Beim Verweis auf die syntaktische Struktur nach Propps Morphologie schließlich (insbesondere für die neuen Erzähltypen relevant) wird nur auf die beim jeweiligen Film herausstechenden Funktionen hingewiesen (durch MS + römische Ziffer gekennzeichnet), die hinreichen, um eine entsprechende Klassifizierung zu rechtfertigen. Die Verweise auf den Mot. und die Morphologie sind also wiederum, auch der besseren Lesbarkeit willen, nicht in jedem Fall erschöpfend, doch ausreichend zur Orientierung. Schließlich erfolgen Literaturhinweise auf etwaige Besprechungen der einzelnen Filme im Rahmen von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen sowie in Nachschlagewerken, gedruckt und online. Die dort angegebene Literatur kann vergleichend und ergänzend zu den Besprechungen der vorliegenden Handreichung herangezogen werden. Am Ende der Gesamtfilmographie befindet sich dann ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie Indices, die den alphabetischen Zugriff auf die Filme nach russischem und deutschem Titel ermöglichen.

670 Gerade einige typisch ostslavische Märchenmotive sind im Mot. nicht verzeichnet.

264 По щучьему веленью Der Zauberfisch ([Auf des Hechts Geheiß]) UdSSR – Russland 1938; Sojuzdetfiľm. s/w Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Oleg Leonidov, Elizaveta Tarachovskaja. Darsteller: Petr Savin, Marija Kravčunovskaja, Georgij Milljar, Sof’ja Terenťeva u.a. Vorlage: Elizaveta Tarachovskaja: Po ščuč’emu velen’ju (1936; Tarachovskaja 1965, S. 178-205). Volksmärchenparaphrase (vgl. Af. 165, 166, 167 sowie 297). Inhaltsangabe: Emelja, ein einfacher Bursche, der mit seiner Mutter in Armut lebt, findet beim Wasserholen einen Hecht in seinem Eimer, der ihn mit menschlicher Stimme bittet, ihn freizulassen. Als er dies tut, verrät ihm der Hecht zum Dank einen Zauberspruch, mit dem er sich alle Wünsche erfüllen kann. Unterdes ist am Zarenhof große Not: Die Zarewna weint in einem fort und nichts kann sie zum Lachen bringen, weshalb ihr Vater bekanntmachen lässt, dass derjenige, der sie zum Lachen bringt, sie zur Frau erhalten soll. Ein Herold des Zaren wird Zeuge, wie Emelja seinen Zauber einsetzt, und er will ihn dazu bringen, sich beim Zaren einzufinden. Emelja jedoch weigert sich – der Zar soll selbst zu ihm kommen, wenn er etwas von ihm will. Währenddessen versuchen verschiedene Freier, die Zarewna zum Lachen zu bringen – ohne Erfolg. Als der Zar von Emelja und dessen Weigerung erfährt, zu ihm zu kommen, schickt er wütend seine Soldaten samt General aus, um ihn gewaltsam herzubringen. Emelja wünscht sich jedoch eine magische Ziehharmonika herbei, mit deren Spiel er die Soldaten zum Tanzen zwingt. Erst, als sie ihn bitten, ihnen zu Gefallen mitzukommen, da sie unfrei seien und der Zar sie sonst hinrichten lassen würde, willigt er ein. Er wünscht sich, dass sein Ofen zum Gefährt wird und ihn zum Palast bringt. Dort lässt er alle Anwesenden zu seiner Ziehharmonika tanzen, worauf die zunächst trotzige Zarewna schließlich zu lachen beginnt und dadurch Sympathie für Emelja entwickelt. Der Zar weigert sich jedoch, sie ihm zur Frau zu geben, da er nur ein einfacher Bauer sei. Darauf entfliehen Emelja und die Zarewna gemeinsam auf dem Ofen. Der Zar schickt seine Leute hinterher, doch gelingt es ihnen nicht, die beiden einzufangen. Die Zarewna wird Emelja heiraten und mit ihm gemeinsam ein einfaches, arbeitsames Leben führen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Schriftlicher Prolog als Einführung. Zwischentitel mit altertümlich anmutenden Schriftzügen werden eingesetzt, um die Szenen zu verbinden. Folkloristische Ausstattung. Es wird viel mit Außenaufnahmen gearbeitet, die die winterliche wie die sommerliche, ,typisch’ russische Natur in ästhetisch ansprechenden Bildern zeigen. Tatsächliche Tiere werden als ,Darsteller’ eingesetzt. Bei den Zaubereien kommen Filmtricks wie Stop Motion oder Reverse Motion zum Einsatz. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 675 The Lazy Boy = AA/SUS 675 Po ščuč’emu velen’ju + AaTh/ATU 559 Dungbeetle = AA/SUS 559 Nesmejana-carevna + AaTh/ATU 900 King Thrushbeard = AA/SUS 900 Gordaja nevesta. Der Film ist eine doppelte Adaption: Bei der Vorlage handelt es sich um ein Theaterstück, das wiederum ein bekanntes russisches Volksmärchen adaptiert, das AaTh 675 entspricht: Emelja-durak (siehe Af. 165, 166) bzw. Po ščuč’emu velen’ju (siehe Af. 167). Entsprechend der Vorlage werden auch im Film einzelne Züge und Motive aus anderen Erzähltypen übernommen bzw. ausgetauscht, wodurch eine Typenkontamination entsteht. Aufgebaut wird auf die Motivkombination um den dankbaren Hecht, die AaTh 675 zugrundeliegt. Aus Af. 165 stammen die im Film auftauchenden Motive der sich von selbst nach Hause bringenden Eimer, des sich von selbst fällenden und später spaltenden Holzes, des selbstfahrenden Schlittens sowie des Ofens als Fortbewegungsmittel.

265 Auch hier schickt der Zar seine Leute aus, Emelja mit Gewalt zu ihm zu bringen, worauf dieser einen Knüppel-aus-dem-Sack die Soldaten durchprügeln lässt. Das hier stattdessen verwendete Motiv (Mot. D1415.2. Magic musical instrument causes person to dance) kommt in der Folklore in Varianten von AaTh 559 wie auch in Kombination mit AaTh 675 vor (vgl. auch AaTh 592). Aus Af. 297 bzw. AaTh 559 stammt sonst lediglich der Grundzug, dass eine Prinzessin zum Lachen gebracht werden muss (vgl. Mot. H341. Suitor test: Making princess laugh). Die Szenen mit den zurückgewiesenen Freiern sowie die (allerdings nur angedeutete) „Umerziehung“ der Zarewna weist eine Grundähnlichkeit mit AaTh 900 auf (vgl. Mot. T251.2. Taming the shrew). Die Verfolger von Emelja und der Zarewna werden am Ende erst mit einer Verwandlung irregeführt, dann werden ihnen Gegenstände in den Weg geworfen, die sich in Hindernisse verwandeln, was dem Motiv der magischen Flucht entspricht (Mot. D671. Transformation flight, Mot. D672. Obstacle flight), das in der Folklore weit verbreitet, aber für keinen der zugrundeliegenden Typen kennzeichnend ist. Die für die Märchen des Typs charakteristischen Brüder und deren Frauen, von denen sich Emelja nur mit Mühe zur Arbeit überreden lässt, tauchen im Film nicht auf, stattdessen wird die Rolle von Emeljas Mutter eingeführt, um die sich dieser rührend bemüht: Die Hauptfigur erfährt generell die stärkste Transformation im Vergleich zur Folklore – mit dem Emelja des Volksmärchens, einem einfältigen, egoistischen und keineswegs gutmütigen Faulpelz671, hat der Protagonist des Films ausschließlich den Namen gemeinsam. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 24-36; Romanenko 1983, S. 8-9; Romanenko 1987, S. 15-17; Sputnickaja 2010, S. 81-86

Руслан и Людмила [Ruslan und Ljudmila] UdSSR – Russland 1938; Mosfiľm. s/w Regie: Viktor Nevežin, Ivan Nikitčenko; Drehbuch: Ivan Nikitčenko, Viktor Nevežin, Samuil Bolotin. Darsteller: Sergej Stoljarov, Ljudmila Glazova, Nikolaj Bubnov u.a. Vorlage: Aleksandr Puškin: Ruslan i Ljudmila (1820; Puškin 1977, S. 7-80). Inhaltsangabe: Dem altrussischen Recken Ruslan wird von dem zauberischen Zwerg Černomor seine eben angetraute Braut Ljudmila entführt. Er macht sich auf die Suche nach ihr und erlebt verschiedene Abenteuer: So besiegt er im Duell seinen Rivalen Rogdaj und hat auf einem verlassenen Schlachtfeld eine Begegnung mit einem riesigen Kopf, der ihm zu einem Zauberschwert verhilft. Unterdes versucht Ljudmila, sich in Černomors Reich dessen Annäherungsversuchen zu erwehren – dabei kann sie ihm seine Tarnkappe entwenden und sich dadurch seinem Zugriff zeitweilig entziehen. Ruslan erscheint, und er kann den Zwerg nach einem Kampf durch das Abschneiden seines Zauberbarts unschädlich machen. Davor ist es diesem jedoch gelungen, Ljudmila in einen Zauberschlaf zu versetzen. Ruslan nimmt die schlafende Liebste mit, doch auf dem Heimweg wird sie ihm von seinem Nebenbuhler Farlaf geraubt, dem dabei die Hexe Naina hilft. Farlaf gibt sich nun als Retter Ljudmilas aus. Doch als Feinde die Rus’ angreifen, ist es Ruslan, der sie besiegen kann. Anschließend kann er den falschen Helden entlarven, seine Liebste aus dem Schlaf erwecken und damit alles zum Guten zu wenden. Filmgestaltung, Besonderheiten:

671 Mot. L114.1. Lazy hero.

266 Die Kiewer Rus’ wird naturalistisch dargestellt, mit historisierend-folkloristischen Kostümen und Bauten; das Zauberreich Černomors und der Weg dorthin, in dem der weitaus größere Teil der Handlung spielt, ist dagegen von stilisiert wirkenden Studiokulissen und pseudo- orientalischen Phantasiebauten und -kostümen geprägt. Im Film wird von den Darstellern nicht gesprochen und es gibt auch keine sonstige intradiegetische Geräuschkulisse. Den größten Teil des Films über trägt eine Stimme aus dem Off Passagen aus dem Puškin-Text vor, während die Schauspieler dazu agieren. Darüber hinaus werden Zwischentitel verwendet, die in stilisierten Schriftzügen Textstellen zitieren. Andere Szenen sind gänzlich ohne Text, es wird Musik aus Michail Glinkas gleichnamiger Oper zur Untermalung eingesetzt. Das Übernatürlich-Magische bietet Anlass für zahlreiche Trickaufnahmen, so etwa bei einem Drachenkampf. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (über Vorlage); siehe AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff.. Das bekannte Puškinsche Poem bzw. Kunstmärchen, dessen Text der Film ausschließlich verwendet, paraphrasiert keinen konkreten Volksmärchenstoff, orientiert sich jedoch in seiner Struktur und seinen Motiven ganz offensichtlich an der des Typs vom Drachentötermärchen (insb. Mot. R11.1. Princess (maiden) abducted by monster (ogre); T68.1. Princess offered as price to rescuer; H1385.1. Quest for stolen princess; K1935. Impostors steal rescued princess; K1932 Impostors claim reward (prize) earned by hero). Der Drache als Bösewicht ist jedoch ersetzt durch den zwergenhaften Zauberer Černomor mit seinem magischen Bart (vgl. Mot. F451.3.3. Dwarf as magician; F451.2.3.1. Long-bearded dwarf; D1831.3. Magic strength resides in beard); unter den zusätzlichen Motiven ragen besonders die Tarnkappe (vgl. Mot. D1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe) und der Zauberschlaf (vgl. Mot. D1960. Magic sleep; D1964.2. Magic sleep induced by disappointed suitor) hervor. Da einerseits der Puškinsche Text zwar im Wortlaut unverändert, aber gekürzt verwendet wird, andererseits in den wortlosen Szenen die Handlung teils ausgeschmückt und leicht variiert wird, ergeben sich für den Film im Vergleich zur Vorlage einige Besonderheiten: Ein in der Vorlage nur angedeuteter Drachenkampf (Mot. B.11.11.1 Dragon fight) nimmt verhältnismäßig viel Raum ein; und die Erweckung Ljudmilas aus dem Zauberschlaf erfolgt nicht durch einen Ring, sondern durch einen Kuss (Mot. D1978.5. Waking from magic sleep by kiss). Unter den Kürzungen des Puškinschen Textes ist einerseits das Fehlen der Hintergrundgeschichte um Černomor und den Riesenkopf, andererseits vor allem die Eliminierung zweier Nebenfiguren hervorzuheben: Ruslans dritter Nebenbuhler Ratmir fehlt im Film ebenso wie der zauberkundige Finne. Da Ruslan entsprechend von letzterem nicht wiederbelebt werden kann, wird er von Farlaf, als dieser Ljudmila raubt, nicht getötet, sondern nur bewusstlos geschlagen.

Василиса Прекрасная Die schöne Wassilissa UdSSR – Russland 1939; Sojuzdetfiľm. s/w Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Galina Vladyčina, Oľga Nečaeva, Vladimir Švejcer. Darsteller: Georgij Milljar, Sergej Stoljarov, Valentina Sarogožskaja u.a. Vorlage: Galina Vladyčina, Oľga Nečaeva: Skazka ob Ivanuške i Vasilise Prekrasnoj (1939; Vladyčina/Nečaeva 1939). Volksmärchenparaphrase (vgl. Af. 269, auch 267, 268). Inhaltsangabe: Die drei Söhne eines Bauern sollen auf Wunsch ihres Vaters jeder einen Pfeil abschießen und dort, wo der Pfeil niederfällt, nach einer Braut suchen. Die älteren Brüder finden so die

267 Tochter eines Edelmanns und die eines Kaufmanns; der Pfeil des jüngsten Sohnes Ivanuška fällt jedoch in den Sumpf und wird ihm von einem Frosch gebracht, den er zu seiner Braut erklärt. Der Bauer zieht mit seinen Söhnen aufs Feld und beauftragt die künftigen Schwiegertöchter, Garben zu binden. Die menschlichen Bräute sind jedoch zu faul. Der Frosch dagegen verwandelt sich in eine junge Frau, die sich sogleich an die Arbeit macht. Die Schwägerinnen entdecken die abgelegte Froschhaut, die sie im Streit zerreißen und dann ins Feuer werfen. Die Arbeit der Froschbraut geben sie später als die ihre aus. Da erscheint die Froschbraut, gibt sich als Vasilisa zu erkennen und erklärt, Zmej Gorynyč habe sie auf drei Jahre in einen Frosch verwandelt – da aber die Froschhaut vor der Frist verbrannt wurde, sei sie ihm nun verfallen. Darauf verschwindet sie. Ivanuška macht sich auf die Suche nach ihr. Er trifft auf einen Schmied, der ihm verrät, wie er an ein Zauberschwert kommen kann – hierfür benötigt er einen Schlüssel, der in einem Ei versteckt ist. Unterdes wird Vasilisa von der Gehilfin des Zmej Gorynyč, der finsteren Baba-Jaga, bedrängt, diesen zu heiraten, doch sie weigert sich standhaft. Die Baba-Jaga versucht erfolglos, Ivanuška, der sich auf dem Weg ins Reich des Drachen befindet, unschädlich zu machen. Ein Bär, den sie gegen ihn schickt, wird zu seinem Helfer. Der Held kann zuerst den Schlüssel zum Versteck des Zauberschwerts und anschließend auch dieses selbst finden – es wird von einer riesigen Spinne bewacht, deren Rätsel er lösen muss. Bei Vasilisa erscheint unterdes Zmej Gorynyč – ein furchterregender geflügelter Drache mit drei Köpfen. Kurz darauf trifft jedoch auch Ivanuška ein. Während er ihm im Kampf alle drei Köpfe abschlagen kann, gelingt es Vasilisa, die Baba-Jaga zu überwältigen und zu töten. Ivanuška und Vasilisa sind wieder glücklich vereint. Filmgestaltung, Besonderheiten: Vor der eigentlichen Handlung steht ein Prolog, in dem drei Guslispieler mit einem Lied formelhaft ins Märchen einführen. Der Schauspieler Georgij Milljar spielt nicht nur den Vater des Helden, sondern auch die Frauenrolle der Baba-Jaga, die er im Folgenden für Regisseur Rou noch mehrmals verköpern sollte. Recht auffällig ist, dass im ersten Teil des Films ausgeprägt naturalistische Aufnahmen (Naturaufnahmen, traditionelle Architektur), vorherrschen und das dargestellte Bauernmilieu folkloristisch-realistisch gezeichnet ist, während der zweite Teil von künstlich-stilisierten Phantasiekulissen, und zahlreichen übernatürlich-magischen Elementen geprägt ist, die durch Filmtricks gestaltet sind – Höhepunkt ist eine riesige bewegliche Drachenkonstruktion. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 402 The Mouse (Cat, Frog etc.) as Bride = ATU 402 The Animal Bride = AA/SUS 402 Carevna-ljaguška + AaTh/ATU 400 The Man on a Quest for his Lost Wife = AA 400 A/SUS 4001 Muž iščet isčesnuvšuju ili pochiščennuju ženu. Der Film orientiert sich bei Sujet, Figuren und Aufbau an einem Theaterstück672, übernimmt dessen Dialog- Wortlaut aber nur stellenweise bzw. in modifizierter Form. Einige Handlungsdetails werden gekürzt bzw. umgewandelt, insbesondere der zweite Teil weicht darin stark vom Stück ab. Sowohl Stück als auch Film basieren, trotz des irreführenden Titels, der auf ein anderes Märchen verweist (Af. 104)673, erkennbar auf dem Volksmärchen von der Froschprinzessin (Carevna-ljaguška). Die hier stattfindende Kontamination von zwei Erzähltypen ist der Volksmärchenquelle entnommen, es handelt sich um eine insbesondere in der ostslavischen Erzähltradition verbreitete Verknüpfung (vgl. Beschreibung in AA und SUS). Das für die entsprechenden Volksmärchen typische Milieu wird geändert: Hier sind der Held und seine Brüder keine Zaren-, sondern Bauernsöhne. Der soziale Status der Bräute der beiden älteren 672 Das Verhältnis zwischen Theaterstück und Film ist nicht ganz klar: In der ersten Druckausgabe des Stücks wird der 28.11.1939 als Uraufführungsdatum angegeben; im Vorspann des Films findet sich die Jahresangabe 1939, und er wurde 1940 erstmals gezeigt. Die beiden Autorinnen des Stücks scheinen demnach bereits vor dessen Uraufführung an einer zweiten Version in Drehbuchform mitgearbeitet zu haben. 673 Vgl. auch Finist – Jasnyj Sokol (1974).

268 Brüder bleibt nichtsdestoweniger erhalten. Im Volksmärchen sind zwei Aufgaben auszuführen; hier wird dies auf eine einzige Aufgabe von betont pragmatisch-realistischem Charakter reduziert. Während im Volksmärchen die Aufgaben mit Hilfe von Zauberei gelöst werden und im Stück Ameisen und Bienen helfen, so wird sie im Film von der Heldin allein durch Fleiß und Geschick erfüllt, wie generell der Heldin hier keinerlei zauberische Fähigkeiten zukommen. Überhaupt wurde ihre Rolle (von Stück wie Film) sehr reduziert, während die des Helden entsprechend ausgebaut wurde. Nicht er verbrennt die Froschhaut seiner Liebsten, sondern die Bräute seiner Brüder. Als Bösewicht fungiert hier ein Drache (Mot. B11.2.3.2. Three-headed dragon), während im Volksmärchen oft Kaščej Bessmertnyj auftritt (siehe Af. 269). Der Ort, an dem sich dessen Tod befindet (in einer Reihe von Gegenständen und Tieren, Mot. E713. Soul hidden in a series of coverings), wird im Film zum Aufbewahrungsort eines Schlüssels, der wiederum den Aufbewahrungsort eines Zauberschwerts (Mot. D1081. Magic sword) öffnet. Die Figur der Baba-Jaga ist in den Volksmärchen des Typs üblicherweise eine hilfreiche Instanz, während sie hier zur Gehilfin des Bösewichts umfunktioniert wird. Beibehalten wurde das Motiv der hilfreichen Tiere, wenn auch im Film, im Gegensatz zum Stück, auf den Bären beschränkt. Im Stück findet das Zusammentreffen mit diesem innerhalb der dort wesentlich längeren und handlungsreicheren Episode in der Hütte der Baba-Jaga statt, die darin die Mutter des Drachen ist: Bei ihr tauchen die bösen Bräute der Brüder nochmal auf, und sie quält und piesackt ihre sprechende tierische Dienerschaft, von der im Film eben nur der – stumme und in seiner Rolle sehr reduzierte – Bär geblieben ist; die Tiere wenden sich gegen sie und helfen Ivanuška, sie zu überwinden, ehe dieser vor dem großen Kampf mit dem Drachen nochmal auf Vater und Brüder trifft. Im Film fehlt dies, er zeigt dafür ausführlicher Ivanuškas Suchwanderung und weist hier Motiverweiterungen auf, die im Stück fehlen, so den Schmied (vgl. Mot. F343.3. Fairy smith gives knight a magic sword) und die riesige Spinne (Mot. B873.3. Giant spider). Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 36-39; Schlesinger674; Sputnickaja 2010, S. 69-74, 86-88;

Майская ночь [Mainacht] UdSSR – Ukraine 1940; Kievskaja kinostudija. Regie, Drehbuch: Nikolaj Sadkovič. Darsteller: Stepan Škurat, Nataľja Užvij, Anton Dunajskij, Valentina Ivaševa u.a. Vorlage: Nikolaj Gogoľ: Majskaja noč’, ili utoplennica (1831; Gogoľ 1940, S. 153-180). Inhaltsangabe: Ein lauer Maiabend in einem ukrainischen Dorf. Der Kosake Levko liebt die junge Hanna, doch sein Vater, der Dorfvorsteher, der selbst ein Auge auf die Schönheit geworfen hat, will in die Heirat nicht einwilligen. Der verärgerte Levko spielt seinem Vater einige übermütige Streiche. Im Dorf steht bei einem Teich ein altes, verfallenes Haus, von dem allerlei erzählt wird: Ein verwitweter Sotnik und seine Tochter hätten darin gelebt. Der Sotnik habe sich ein zweites Mal verheiratet, und die Stiefmutter habe ihre Stieftochter zur Dienstmagd erniedrigt und das Leben zur Hölle gemacht. Eines Nachts habe sie sich in Gestalt einer dämonischen Katze zu ihr geschlichen – als die Tochter mit dem Säbel nach ihr schlug und am nächsten Tag die Stiefmutter eine verletzte Hand aufwies, war ihr klar, dass sie es mit einer Hexe zu tun

674 Schlesinger: Die schöne Wassilissa (UdSSR 1939): Heldenepos im Märchenfilm, http://suite101.de/ article/die-schoene-wassilissa-udssr-1939-heldenepos-im-marchenfilm-a137923#.U4hZVigoLKs (letzter Zugriff: 30.05.2014).

269 hatte. Da sie die Qualen nicht mehr ausgehalten habe, habe sie sich ertränkt. Als Ertrunkene sei es ihr gelungen, die Hexe ins Wasser zu ziehen, doch diese habe sich sogleich ebenfalls in eine Ertrunkene verwandelt, um der Strafe zu entgehen. Des Nachts erscheint Levko am Ufer des Teiches das ertrunkene Fräulein und bittet ihn, ihr zu helfen, ihre Stiefmutter unter den Ertrunkenen ausfindig zu machen. Levko findet sie, und zum Dank erhält er von dem Fräulein ein geheimnisvolles Papier. Dieses entpuppt sich als amtliches Schreiben des örtlichen Kommissars, das den Befehl an den Dorfvorsteher enthält, seinen Sohn und Hanna zu verheiraten. Dieser muss sich fügen, und so kommt doch noch alles zu einem guten Ende. Filmgestaltung, Besonderheiten: Einer der ersten Farbfilme der Sowjetunion. Naturalistisch-folkloristische Ausstattung, Betonung von ukrainischem „Kolorit“. Die zu Wassergeistern gewordenen Ertrunkenen erscheinen, durch Doppelbelichtung, als transparente Gestalten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh 510 Cinderella and Cap o’ Rushes = ATU 510 Cinderella and Peau d'Âne ff.. Der Film wie die literarische Vorlage sind grundsätzlich eher als dem Phantastischen zugehörig zu sehen, jedoch weist die mit der Haupthandlung verknüpfte Binnenerzählung von der Ertrunkenen sowohl auf motivischer als auch auf struktureller Ebene stark märchenhafte Züge auf – es kann darin m. E. eine mit tragischem Schluss versehene Mutation des Erzähltypenzyklus von Aschenputtel und Allerleihrauh gesehen werden, zu dem es verschiedene Parallelen aufweist (insb. Mot. S31. Cruel Stepmother; L55.1. Abused Stepdaughter; vgl. auch G205. Witch Stepmother). Die sonstigen Folkloremotive (vgl. Mot. G252. Witch in Form of Cat has Hand Cut off: Recognized Next Morning by Missing Hand; F420.5.2.6.3. Water-Spirits Take Revenge for Being Harmed; 420.5.1.3. Water-Spirits Help Lovers; Q116. Favorable Decree as Reward) verweisen in den Bereich des Sagenhaften; der Zwischenteil über die Streiche, die dem Dorfvorsteher gespielt werden, hat schwankhaften Charakter. Der Film ist eine sehr vorlagengetreue Adaption: Die Dialoge sind zu einem großen Teil fast unverändert wortwörtlich der Gogoľschen Erzählung entnommen; daneben wird, was dort auf der Erzählerebene realisiert wird, teilweise in Dialoge der Figuren eingearbeitet.

Волшебное зерно Das Zauberkorn UdSSR – Russland 1941; Mosfiľm. s/w Regie: Valentin Kadočnikov, Fedor Filippov; Drehbuch: Aleksej Simukov. Darsteller: Vova Tumalar’jan, Nina Zavarova, Vladimir Gribkov, Ivan Pereverzev u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Bei den armen Geschwistern Andrejka und Marijka und ihrer Tante erscheint eines Tages der mysteriöse Meister Alleskönner. Er schenkt den Kindern eine Zauberpfeife und ein Zauberkorn – wenn man dieses richtig pflege, so wachse es heran und könne Wünsche erfüllen. Er rät ihnen, sich an den Doktor Allwissend zu wenden, der ihnen bei der Pflege helfen könne, und warnt sie vor dem bösen Zauberer Kara-Mor, der ein ebensolches Korn besitze und daraus seine Macht beziehe. Die Kinder machen sich auf, den Doktor zu suchen – sie finden ihn schließlich und können ihn überreden, ihnen zu helfen. Unterdes erfährt Kara- Mor von dem Zauberkorn. Er schickt eine Armee von Rüsselkäfern los, die darüber herfallen. Als die Kinder erfahren, dass Kara-Mor dahinter steckt, beschließt Andrejka, diesen zu suchen und zu töten. Mit seiner Zauberpfeife ruft er den Wind herbei, der ihn ins Reich des Bösewichts tragen soll. Kara-Mor sendet unterdes seinen Gehilfen Živoglot, eine verwandelte

270 Ratte, aus, um Unheil zu stiften. Živoglot trifft zunächst auf Andrejka: Er verstellt sich und gibt vor, ihn zu einem Feind Kara-Mors zu schicken – tatsächlich weist er ihm den Weg zu Kara-Mor selbst. Anschließend kommt Živoglot zu dem Zauberkorn, das von Marijka, der Tante und dem Doktor gesundgepflegt und bewacht wird – auch hier tut er, als sei er ein guter Kerl. Andrejka ist währenddessen bei Kara-Mor angekommen, der ihm mit falscher Freundlichkeit begegnet – zu spät durchschaut der Junge den Betrug, er wird gefangengenommen. Einer der unterdrückten Untergebenen Kara-Mors, ein dunkelhäutiger Junge, befreit ihn jedoch, und gemeinsam können sie auch die von Kara-Mor in Ketten gelegten Baumgeister befreien. Ein Aufstand gegen den bösen Zauberer bricht los – sein Reich wird zerstört und er selbst in einer Truhe eingesperrt. Die beiden Jungen kehren zum Zauberkorn zurück, wo sie von den anderen freudig begrüßt werden. Živoglot verwandelt sich zurück in eine Ratte und wird von der Katze gefressen. Das Zauberkorn bringt neue Körner hervor, mit denen eine prächtige Hütte mit Gemüsegarten herbeigezaubert werden kann. Dies sei kein Wunder, sondern das Resultat ihrer Arbeit, erklärt der Meister, der nun wieder erscheint. Die restlichen Körner will er anderen Menschen bringen, die ihrer bedürfen. Die Kinder schließen sich ihm an. Filmgestaltung, Besonderheiten: Stilisierte Studiokulisse, sehr reduzierte Kostüme von teils folkloristischem, teils Phantasiecharakter. Die Tierfiguren werden durch Schauspieler in stilisierten Kostümen verkörpert, wobei die Rüsselkäfer auch filmtricktechnisch bedingt als in Käfergröße erscheinen. Der rattenhafte Živoglot wird am Ende in eine tatsächliche Ratte verwandelt. Tricktechnisch aufwendig sind die sprechenden Bäume bzw. Baumgeister gestaltet. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp. Zahlreiche Einzelmotive des Films sind aus der Folklore bekannt: Das Zauberkorn selbst (vgl. Mot. D965.8. Magic corn; D973. Magic grains), weiters die Zauberpfeife (vgl. Mot. D1224. Magic pipe (musical)), der Zauberspiegel Kara-Mors, durch den er von dem zweiten Zauberkorn erfährt (vgl. Mot. D11311.2. Mirror answers questions), der personifizierte Wind als Helfer (vgl. Mot. Z115. Wind personified). Die von Kara-Mor festgehaltenen Bäume (vgl. Mot. F441.2. Tree-spirit), die um Trinken bitten und dadurch zu neuen Kräften kommen, erinnern einerseits an Mot. G671. Wild man released from captivity aids hero, stellen aber auch eine ins Positiv verkehrte Variante des angeketteten Kaščej dar (vgl. z.B. Af. 159). Dass sich Kara-Mors Stärke in dem Zauberkorn befindet, kann als Variante von Mot. E710. External soul gesehen werden. Strukturell-syntaktisch kann der Film nach Propp als ein Märchen mit zwei ineinander verwobenen Haupt-Funktionsreihen verstanden werden, wobei die Suche von Andrejka und Marijka nach dem Doktor Allwissend den ersten Teil darstellt, ausgehend von einer Mangelsituation (MS VIIIa: Das Wissen des Doktor Allwissend wird benötigt), während die Schädigung des Korns durch Kara-Mor (MS VIII) und der anschließende Auszug von Andrejka (MS XI), um Kara-Mor im Kampf zu besiegen (MS XVI + XVIII), als zweiter Teil gesehen werden kann. Literaturhinweise/Besprechungen: (Miloserdova 2006, S. 50); (Sputnickaja 2010, S. 46-47)

Конек-Горбунок Das Wunderpferdchen UdSSR – Russland 1941; Sojuzdetfiľm. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Vladimir Švejcer. Darsteller: Petr Alejnikov, Marina Kovaleva, Veniamin Gut, Georgij Milljar u.a. Vorlage:

271 Petr Eršov: Konek-gorbunok (1834; Eršov 1976, S. 53-120). Volksmärchenparaphrase (vgl. Af. 170). Inhaltsangabe: Einem Bauern wird jede Nacht sein Feld zertrampelt, und so weist er seine drei Söhne an, es zu bewachen. Der verträumte jüngste Sohn Ivanuška entdeckt bei seiner Wache den Übeltäter – ein magisches Pferd, das er einfängt. Das Pferd verspricht ihm zwei prächtige Fohlen und ein wundersames buckliges Pferdchen, wenn er es freilässt. Außerdem findet Ivanuška unter seiner Mähne eine Feder des Feuervogels, die er trotz Warnung an sich nimmt. Das Pferd erfüllt sein Versprechen, doch die beiden prächtigen Fohlen werden Ivanuška von seinen älteren Brüdern entführt. Das bucklige Pferdchen jedoch spricht Ivanuška Trost zu, und sie nehmen gemeinsam die Verfolgung auf. Unterdes erregen die Brüder mit den Fohlen große Aufmerksamkeit auf dem Markt, der Zar selbst ist interessiert an ihnen. Ivanuška erscheint und gibt sich als Besitzer zu erkennen. Der Zar bezahlt ihn reichlich und bestimmt ihn zu seinem neuen Stallmeister – der bisherige Stallmeister schwört Rache. Als er Ivanuška mit der Feder des Feuervogels beobachtet, schwärzt er ihn beim Zaren an. Als der Zar erfährt, dass der Feuervogel bei der schönen Zarja-Zarjanica verkehrt, befiehlt er Ivanuška, ihm diese als Braut zu beschaffen. Zarja-Zarjanica wird jedoch unterdes mit ihrem Gefolge von dem Wal Čudo-Judo-Ryba-Kit verschlungen. Ivanuška kommt ins Reich des Mondes, der die Mutter Zarja-Zarjanicas ist – dieser weist ihn an, zum Meereszaren zu gehen und ihn aufzufordern, die Tochter freizugeben. Ivanuška führt den Auftrag aus, und als der Wal Zarja-Zarjanica wieder ausspuckt, entführt er sie für den Zaren. Sie will diesen aber nicht heiraten, er sei ihr zu alt – so fordert sie ihn auf, ein Verjüngungsbad in kochender Milch zu nehmen. Der Zar bestimmt, dass zuerst Ivanuška diese Prozedur über sich ergehen lassen soll. Zarja-Zarjanica schleicht sich nachts zu diesem und gibt ihm zu seinem Schutz eine Zauberblume. Als er morgens abgeholt wird, verliert er sie jedoch – gerade noch rechtzeitig kann das Pferdchen sie ihm nachbringen. Das Milchbad macht aus ihm einen prächtigen Jüngling, der Zar dagegen, als er es ihm nachtun will, kommt um. Ivanuška und Zarja-Zarjanica heiraten. Filmgestaltung, Besonderheiten: Einführung durch einen schriftlichen Prolog675 und das Lied eines Guslispielers.676 Szenenverbindende Zwischentitel in formelhaftem Stil. Antagonismen in der Ausstattung: Naturalistisch-folkloristisch und mit Naturaufnahmen (z.B. des Roggenfelds) in der Darstellung des bäuerlichen Milieus; das Zarenschloss nur von innen und künstlich- karikaturesk; die Reiche des Mondes und des Meereszaren durch verfremdete Phantasiekulissen. Ivanuškas Verwandlung in einen wunderschönen Jüngling wird lediglich durch prächtige Kleidung angedeutet – eine tatsächliche körperliche Verwandlung ist insofern nicht notwendig, als dass der Darsteller durchaus gängigen Schönheitsvorstellungen entspricht. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 531 Ferdinand the True and Ferdinand the False = ATU 531 The Clever Horse = SUS 531 Konek-gorbunok. Eršovs Versmärchen ist eine teils ausfabulierende Volksmärchenparaphrase (vgl. Af. 170), deren Popularität der der entsprechenden Volksmärchen gleichkommt.677 Im Film sind sämtliche Züge Ivanuškas, die ihn faul und bequem erscheinen lassen, getilgt678, was bleibt, ist sein verträumt-naiver Charakter. Die Rolle des buckligen Pferdchens ist sehr reduziert: Während es sowohl bei Eršov wie auch im Volksmärchen als weiser Ratgeber des Helden fungiert und ihm durch sein magisches Wissen 675 Vgl. Po ščuč’emu velen’ju (1938). 676 Vgl. Vasilisa Prekrasnaja (1939). 677 Es hat nicht nur seinerseits die mündliche Erzähltradition beeinflusst, sondern sogar der Typenbeschreibung im AA bzw. SUS ihren Namen gegeben. 678 Vgl. das Volksmärchen von Emelja und Po ščuč’emu velen’ju (1938).

272 die Erfüllung sämtlicher schwierigen Aufgaben ermöglicht, ist es im Film im Wesentlichen nur Ivanuškas Begleiter, während dieser seine Aufgaben größtenteils ohne Hilfe von Zauberei besteht. Zweimal kann es seine Magie dekorativ unter Beweis stellen: Durch besondere Geschwindigkeit (Mot. B184.1.1. Horse (mule) with magic speed) und einen Flug durch die Luft (Mot. B41.2. Flying horse) – vorlagenfremde Einschübe, die Anlass für Filmtricks bieten. Sehr gerafft ist die Episode um die Feder des Feuervogels, die die Aufmerksamkeit des Zaren erregt – den Vogel selbst muss Ivanuška gar nicht erst finden, sondern der Zar verlangt sofort die Beschaffung der Tochter des Mondes (hier mit dem mythischen Namen Zarja- Zarjanica der Morgenröte gleichgesetzt679 – bei Eršov und im Volksmärchen nur als Car’- Devica bezeichnet), was dadurch motiviert wird, dass der Feuervogel in ihrem Garten beheimatet ist. Bei der Episode um Čudo-Judo-Ryba-Kit, im Volksmärchen aus anderen Kontexten bekannt (vgl. z.B. Af. 305), wird die Vorlage variiert: Darin ist der Wal im Meer zur Strafe für das Verschlucken von Schiffen an eine Stelle gebannt und muss diese erst wieder freigeben; er fungiert später als Tierhelfer, indem er – als König des Wassers – einen im Meer verlorenen Ring beschaffen hilft. Als Variation dessen tritt im Film die Figur des Meereszaren auf (vgl. Mot. F252.1.0.2. King of Land under Water), zu dem Ivanuška muss – es handelt sich um eine im ostslavischen Raum populäre Märchenfigur, die aber für Varianten anderer Typen charakteristisch ist (vgl. z.B. Af. 219-226). Auch in der letzten Episode mit dem Verjüngungsbad wird die Vorlage variiert – darin erfolgt der rettende Zauber durch das Pferdchen, während hier Zarja-Zarjanica Ivanuška eine Zauberblume übergibt (Mot. D975. Magic flower)680. Dem Pferdchen kommt hier lediglich die Rolle zu, die verlorene Zauberblume nachzubringen, was eine filmische Cross Cutting-Montage zum Spannungsaufbau bedingt. Ivanuškas Krönung zum Zaren wird im Film zwar visuell angedeutet, aber nicht explizit dargestellt. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 39-41; Sputnickaja 2010, S. 88-91

Насреддин в Бухаре Nasreddin in Buchara UdSSR – Usbekistan 1943; Taškentskaja kinostudija. s/w Regie: Jakov Protazanov; Drehbuch: Leonid Solov’ev, Viktor Vitkovič. Darsteller: Lev Sverdlin, Konstantin Michajlov, Ėmmanuil Geller u.a. Vorlage: Leonid Solov’ev: Vozmutiteľ spokojstvija (1940; Solov’ev 1976, S. 7-211). Inhaltsangabe: Der berühmte Schelm Nasreddin kommt nach Buchara. Er rettet den Wucherer Džafar vor dem Ertrinken, doch dieser zeigt sich wenig dankbar. Kurz darauf wird er dann Zeuge, wie Džafar den armen Töpfer Nijaz bedrängt – wenn er seine Schulden nicht bezahlen könne, müssten er und seine Tochter Gjuľdžan seine Sklaven werden. Nijaz erhält nur eine Stunde Aufschub. Nasreddin verspricht Hilfe. In einer Teestube gibt er sich zu erkennen, und die Leute helfen ihm gerne mit Waren aus, die er zum Verkauf feil bietet. Ausgerechnet Džafar kauft ihm die Waren ab, und so kann Nasreddin mit dessen eigenem Geld Nijaz und Gjuľdžan von ihm freikaufen. Er bleibt als Gehilfe bei Nijaz, und er und Gjuľdžan kommen sich näher. Inzwischen hat auch der Emir erfahren, dass sich der verhasste „Unruhestifter“ Nasreddin in der Stadt befindet. Als ihm der rachsüchtige Džafar von Gjuľdžan und Nasreddin berichtet, lässt er das Mädchen für seinen Harem entführen. Die Spione des Emirs versuchen unterdes,

679 Vgl. Mot. A270.1. Goddess of dawn. 680 Vgl. Af. 170, wo das Pferdchen den Helden ein Zauberkraut suchen lässt.

273 die Bevölkerung über Nasreddin auszuhorchen. In Frauenkleidung führt dieser seine Verfolger irre und sorgt für einen allgemeinen Tumult. Dem auf Einladung des Emirs gerade aus Bagdad eingetroffenen Gelehrten Gussein Guslijar bringt er unter einem Vorwand dazu, ihm seine Kleider zu geben. Als Gussein verkleidet trifft er dann beim Emir ein und gewinnt dessen Vertrauen. Der echte Gussein wird indes festgenommen. Gjuľdžan ist im Harem vor Kummer erkrankt, und der Emir erlaubt dem falschen Gelehrten, den Harem zu betreten. Nasreddin gibt sich Gjuľdžan heimlich zu erkennen. Nachts verhilft er ihr dann zur Flucht. Am Tag darauf muss er feststellen, dass all seine Freunde festgenommen wurden und hingerichtet werden sollen. Listig presst er dem Emir das Versprechen ab, sie nicht zu strafen, wenn er auch den Hauptverbündeten Nasreddins nicht strafen wolle. Dann lässt er seine Verkleidung fallen – der Emir selbst war unwillentlich sein Hauptverbündeter. Nun muss der Herrscher alle gehen lassen. Nasreddin jedoch droht die Hinrichtung. Er soll in einem Sack ertränkt werden. Der Schelm bringt seine Wächter dazu, sich für eine Zeit zu entfernen. Džafar kommt vorüber, und der im Sack steckende Nasreddin macht ihm weis, der Sack sei ein Zaubersack und könne alle möglichen Gebrechen heilen. Džafar ist begierig, von seinen Leiden geheilt zu werden, und so lässt er Nasreddin aus dem Sack, steigt selbst hinein und wird schließlich anstelle von Nasreddin ertränkt. Dieser aber verlässt mit Gjuľdzan die Stadt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Ausstattung mit orientalischen Zügen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: ATU 1306 Miser Refuses to Give His Hand + AaTh/ATU 1535 The Rich and the Poor Peasant/Farmer (Unibos) = SUS 1535 Dorogaja koža bzw. AA 1535*B. Bei der Vorlage handelt es sich um den ersten Teil einer populären Roman-Dilogie, in der der sowjetrussische Autor Leonid Solov’ev zahlreiche aus der Folklore stammende Sujets verarbeitet hat, die als Schwankmärchen, Schwänke und Anekdoten um Chodža Nasreddin erzählt werden. Dabei tritt der antifeudalistisch-klassenkämpferische Aspekt in den Mittelpunkt, und aus der ambivalenten Schelmen- und Narrenfigur Nasreddin wird ein romantisierter Volksheld, der seine Listen und Betrügereien ausschließlich dafür einsetzt, den Unterdrückten zu helfen und die Ausbeuter zu bekämpfen. Schwänke neigen zur Kürze und werden auch in der Folkloretradition episodenhaft aneinandergereiht, und Typen und Motive gehen ineinander über – Solov’ev wiederum verknüpft diese miteinander, sodass eine Art Collage entsteht, und bettet sie in eine zusammenhängende Abenteuergeschichte ein. Der Schrifsteller war auch am Drehbuch beteiligt, weshalb der Film sehr vorlagengetreu und nur stellenweise gerafft und gekürzt erscheint. So übernimmt er – zugunsten der Haupthandlung – nicht alle potpourriartig-ausschmückenden Folkloreelemente, wohl aber die zwei zentralen und eigentlich handlungswichtigen, die entsprechend als typbildend betrachtet werden: Die Rettung des Geizhalses Džafar (ATU 1306), die das Abenteuer in Gang bringt, und am Ende das handlungsauflösende Ereignis der listigen Selbstrettung Nasreddins und gleichzeitigen Beseitigung Džafars (AaTh 1535; siehe auch Mot. K842. Dupe persuaded to take prisoner’s place in a sack). Beide haben Parallelen in der Nasreddin-Folklore; letzteres (vgl. Wess. 391) steht in der Tradition des Schwankmärchens, wo das Übernatürliche durch Tricks und Betrügereien ersetzt und damit einfältige Charaktere hinters Licht geführt werden.

Кащей Бессмертный Der unsterbliche Kaschtschai UdSSR – Russland 1944; Sojuzdetfiľm. s/w Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Vladimir Švejcer, Aleksandr Rou. Darsteller: Sergej Stoljarov, Aleksandr Širšov, Galina Grigor’eva, Georgij Milljar u.a.

274 Vorlage: Volksmärchen von Kaščej Bessmertnyj (vgl. Af. 158, 159). Inhaltsangabe: In einem altrussischen Marktflecken trifft eine Gruppe junger Burschen ein. Ein besonders kecker Bursche versucht, mit der schönen Mar’ja Morevna anzubandeln. Diese jedoch weist ihn spöttisch zurück, denn sie hat schon einen Bräutigam – den Recken Nikita Kožemjaka, der sich gerade auf dem Heimweg befindet. Wenig später fällt eine Horde schwarzer Krieger brandschatzend in den Marktflecken ein, und als Nikita diesen erreicht, findet er nur noch Schutt und Asche vor und keine lebende Seele. Ein Pilzmännchen erscheint und berichtet ihm, dass Kaščej Bessmertnyj dafür verantwortlich sei, der außerdem Mar’ja entführt habe. Der Zwerg gibt ihm eine Tarnkappe und eine Handvoll heiliger russischer Heimaterde mit, und Nikita bricht auf, gegen Kaščej zu kämpfen und seine Braut zu befreien. Er kommt in ein orientalisches Land, das von Kaščej besetzt ist. Hier soll der Recke Bulat Balagur hingerichtet werden, da er einen fliegenden Teppich stehlen wollte, um gegen den Bösewicht zu ziehen. Mit Hilfe der Tarnkappe kann Nikita ihn befreien, und gemeinsam entfliehen sie auf dem Teppich. Sie kommen in Kaščejs finsteres Reich, wo sie Mar’ja finden, aber ihre magischen Gegenstände verlieren. Mar’ja liegt in einem Zauberschlaf, und die beiden beobachten aus einem Versteck, wie Kaščej erscheint, sie daraus erweckt und dazu drängt, seine Frau zu werden. Durch eine List kann Mar’ja ihm ein Geheimnis entlocken: Kaščej bewahrt sein Herz außerhalb seines Körpers auf, und er verrät ihr, wo es versteckt ist. Da sie aber seinen Avancen weiter voller Verachtung widersteht, versetzt Kaščej sie zornig wieder in den Zauberschlaf. Nikita und Bulat können sie nur kurzzeitig daraus erwecken, doch sie haben die Hoffnung, dass mit Kaščejs Tod der Zauber endgültig gelöst wird. Bulat macht sich auf, das Herz Kaščejs zu finden, während Nikita gegen diesen zu Felde zieht. Als er die russische Heimaterde hinter sich wirft, steht das russische Volk gesammelt hinter ihm, um ihm gegen Kaščejs Armee beizustehen.681 Als Bulat das Herz Kaščejs findet und zerstört, wird dieser auch auf dem Felde von Nikita besiegt und getötet. Nikita, Mar’ja und Bulat können nun einer blühenden Zukunft entgegenblicken. Filmgestaltung, Besonderheiten: Formelhafter schriftlicher Prolog und Auftritt eines Guslispielers zu Beginn; Antagonismen in der Austattung682: Die ersten Szenen sind sehr naturalistisch gezeichnet, Naturaufnahmen und „realistischer“ Folklorismus mit Betonung des Russisch-Nationalen herrschen vor; helle Farbtöne und Licht dominieren. Auch der Angriff der Feinde ist naturalistisch gestaltet – die gezeigten Feuerbrünste haben sehr eindringlichen Charakter. Die orientalische Stadt wiederum hat in der Ausstattung halb naturalistischen, halb phantastisch-karikaturistischen Charakter. Kaščejs Aufenthaltsort dagegen wird als eine düstere schmucklose Felsenlandschaft präsentiert, aus der lediglich das fratzenhafte Gesicht, das den Eingang darstellt, herausragt. Kaščejs Krieger tragen allesamt tierähnliche Larven, ihre Gesichter sind nicht zu sehen. Verschiedene Trickaufnahmen, so etwa beim Flug auf dem fliegenden Teppich. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Dem Film liegt ein bekannter Volksmärchenstoff zugrunde, und er scheint in der Grundkonstellation insbesondere an eine Variante aus der Afanas’evschen Sammlung angelehnt (Af. 158), mit Anleihen aus anderen Märchentexten daraus (Af. 148 für

681 Vgl. Zolotye roga (1972). 682 Vgl. die vorherigen Filme Rous. Der Regisseur setzt auf bewährte Verfahren; ganz offensichtlich sucht er nach filmischen Äquivalenten zum formelhaften Beginn der Volksmärchen wie auch nach „Markenzeichen“ seines eigenen Inszenierungsstils.

275 den Namen des Haupthelden; 159 für den Namen der Hauptheldin und Einzelzüge). Die Grundstruktur des Typs wird beibehalten; es fehlt lediglich der erste Teil, das Finden und Gewinnen der Braut. Die beiden Helden sind jedoch, entgegen der Volksmärchenquellen, nicht Zarewitsch und Zarewna, sondern einfache Bewohner eines Marktfleckens, Nikita ist darüber hinaus ein Krieger. Bulat tritt auch in Af. 158 als Helfer auf: Er wird dort vom Helden von einer Prügelstrafe freigekauft, die ihm als säumiger Schuldner droht. Bulats Errettung vor der Hinrichtung im Film ist entsprechend als eine freie Variation dieses Motivs zu sehen. Im Folgenden hat er jedoch eine deutlich weniger aktive Rolle als im Märchen, wo er für den dort eher passiven Helden sämtliche Taten vollbringt. Ansonsten erweitert der Film um zahlreiche märchenhafte wie auch sonstige semantische Elemente: Die Motive des Zwergenhelfers (Mot. F451.5.1. Helpful dwarfs), der Tarnkappe (Mot. D1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe), des fliegenden Teppichs (Mot. D1520.19. Magic transportation by carpet) sind nicht typisch für den Erzähltyp und stammen aus anderen Kontexten. Das Motiv des Zauberschlafs (Mot. D1960. Magic sleep; D1964.2. Magic sleep induced by disappointed suitor), aus dem ein Ring erwecken kann, erinnert in der Form an Puškins Ruslan i Ljudmila. Das zentrale Motiv ist hier variiert – Kaščejs Tod befindet sich in einem schwarzen Apfel statt in einem Ei. In der Schlacht wächst ihm, als er von Nikita enthauptet wird, ein neuer Kopf nach (Mot. D1602.12. Self-returning head), was sonst vor allem aus den Drachentötermärchen (AaTh 300) bekannt ist. Der ganze Komplex, dass Kaščej mit seinen Kriegern ins Land einfällt und es verwüstet etc. ist dem Volksmärchen fremd und klare Erfindung des Films. Das Motiv der Versteinerung hat eine Parallele im Volksmärchen, aber in einem anderen Kontext – hier ist Bulat ein Schweigegebot auferlegt, und als er es bricht, wird er zu Stein und muss durch ein Opfer des Helden erlöst werden. Im Film löst der Tod Kaščejs den Zauber – ungeachtet dessen, dass dadurch die Logik leidet (die Tötung Kaščejs ruft gleichzeitig Verzauberung und Entzauberung hervor). Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 41-46; Miloserdova 2006, S. 52; Sirivlja 1997; Sputnickaja 2010, S. 91- 96

Каменный цветок Die steinerne Blume UdSSR – Russland 1946; Mosfiľm. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Pavel Bažov, Iosif Keller. Darsteller: Vladimir Družnikov, Tamara Makarova, Michail Trojanovskij, Ekaterina Derevščikova u.a. Vorlage: Pavel Bažov: Kamennyj cvetok (Bažov 1952, S. 58-77); Gornyj master (Bažov 1952, S. 78- 90; beide aus der Sammlung Malachitovaja škatulka, 1939). Inhaltsangabe: In einer Bergarbeitersiedlung im Ural: Der mürrische alte Steinschneidermeister Prokop’ič vergrault alle Lehrlinge, die er ausbilden soll. Der Hirtenjunge Danila jedoch kann sein Herz erweichen, und er nimmt ihn bei sich auf. Als er den Auftrag erhält, eine kunstvolle Malachitschatulle anzufertigen, aber ihm die schwere Arbeit zuviel wird, macht sich der inzwischen herangewachsene Danila heimlich ans Werk. Die Auftraggeber sind von der Schatulle begeistert, und Prokop’ič erkennt, dass Danila zu einem wahren Meister geworden ist. Dieser bleibt dem Steinschneidehandwerk treu. Für seine Braut Katja will er einen Kelch anfertigen, der einer Blume ähnelt. Schließlich kann er ihn fertigstellen, doch er ist mit dem Ergebnis unzufrieden – er strebt nach Vollkommenheit. Ein alter Meister warnt ihn, er solle

276 nicht in den Bannkreis der Herrin des Kupferberges geraten – diese besitze die Steinerne Blume, und nur wer diese gesehen habe, verstünde, was wahre Schönheit sei. Kurz darauf erscheint die Herrin Danila und verrät ihm, wie er zu ihr gelangen kann. Danila ist wie besessen von dem Gedanken an die Steinerne Blume, und am Abend der Hochzeit mit Katja macht er sich plötzlich auf zur Herrin. Man weiß, dass die Meister, die für sie arbeiten, nie wieder aus dem Berg zurückgekehrt sind. Sie führt ihn in ihr unterirdisches Reich und zeigt ihm all ihre Schätze, schließlich auch die Steinerne Blume. Nun will er aus Stein Unvergleichliches schaffen – den Verführungskünsten der Herrin aber widersteht Danila. In der Siedlung wird er unterdes für tot gehalten – Katja ist die einzige, die das nicht glauben will. Sie zieht zu Prokop’ič, um ihm zur Hand zu gehen. Unbemerkt von diesem versucht sie sich selbst im Steinschneidehandwerk, und auch aus ihr wird eine Meisterin. Prokop’ič stirbt. Beim Steinesuchen im Wald trifft Katja auf die Herrin, und sie tritt ihr keck entgegen und fordert sie auf, ihr Danila zurückgeben. Die Herrin meint höhnisch, sie solle nur nach ihm suchen. Als die standhaften Liebenden jedoch schließlich aufeinandertreffen, steht sie deren Wiedervereinigung nicht mehr im Wege – sie erklärt, all dies sei nur eine Prüfung für Danila gewesen, und lässt die beiden ziehen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung, in der ein alter Mann Kindern einer Bergarbeitersiedlung eine Geschichte erzählt. Ein großer Teil der Handlung spielt in der Natur, die vorwiegend in einer Kombination von detailreich-illusionistischer Studiokulisse mit echten Pflanzen und Tieren sehr malerisch abgebildet wird. Volkstümlich-folkloristische Bräuche, Lieder, Kostüme etc. werden in der Hochzeitsszene ausgiebig präsentiert. Das unterirdische Höhlenreich des Kupferberges wird in höchst aufwendig gestalteter Kulisse und in glänzenden Farben als Naturwunder dargestellt, während das Gewand der Herrin von Höhle zu Höhle die Farbe wechselt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neuer Erzähltyp. Die Erzählungen Bažovs sind von Folkloreerzählungen sagenhaften Charakters (skazy) der Ural-Bergleute inspiriert, aber zu einem großen Teil vom Autor selbst erdacht. Diesem Film zugrunde liegen insbesondere zwei einander fortsetzenden Erzählungen, die zwar einen sagenhaften Grundton, aber eine sehr märchenhafte Struktur aufweisen. Wohl durch die Co-Autorschaft Bažovs am Drehbuch bedingt ist der Film weitgehend vorlagentreu ohne größere Variationen. Zentral sind verschiedene Folkloremotive: Danilas Suche nach der Steinernen Blume (vgl. Mot. H1333.5. Quest for marvelous flower) wird zum Streben nach Vollkommenheit stilisiert (vgl. Mot. H1376.6. Quest for happiness). In der Handlungslinie um Katja klingt das Motiv vom verschwundenen Ehegatten an (Mot. H1385.4. Quest for vanished husband; vgl. auch AaTh 425 The Search for the Lost Husband). Verknüpft wird beides durch die Gestalt der Herrin des Kupferberges, einen ambivalenten Berggeist (vgl. Mot. F460. Mountain spirits (Huldra), vgl. auch Mot. N511.3.1. Treasure of mountain spirit). Nach Propps Modell liegt hier ein zweiteiliges Märchen vor, wobei beide Teile allerdings miteinander verwoben sind: Trotz Warnung folgt Danila den Verlockungen der Herrin (MS II- III). Seine Sehnsucht nach der Steinernen Blume stellt eine Mangelsituation dar (MS VIIIa); die Herrin wiederum fungiert als übernatürliche testende Instanz (MS XII). Unterdes wird Katja durch das Verschwinden Danilas eine Schädigung zugefügt (MS VIII), es folgt der Aufbruch, um ihn zu suchen (MS XI), anschließend Katjas Prüfung durch die Herrin parallel mit der Danilas und das Bestehen und die Belohnung beider (MS XII-XIV), womit auch die Schädigung aufgehoben wird und die beiden heimkehren können (MS XX). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 148-153; Miloserdova 2006, S. 53; Strobel/Strobel 1986, S. 44; Zipes 2011, S. 324-325

277 Похождения Насреддина Nasreddins Abenteuer UdSSR – Usbekistan 1946; Taškentskaja kinostudija. s/w Regie: Nabi Ganiev; Drehbuch: Viktor Vitkovič. Darsteller: Rozak Chamraev, Rachim Pirmuchamedov, Abid Džalilov, Julduz Rizaeva u.a. Vorlage: – , vgl. aber Leonid Solov’ev: Očarovannyj princ (1954; Solov’ev 1976, S. 215-553). Inhaltsangabe: Nasreddin macht Bekanntschaft mit einem notorischen Dieb und beschließt, ihn von seinem Lebenswandel abzubringen. Die beiden kommen zu einer Siedlung an einem Bergsee. Agabek, der Besitzer des Sees, verlangt von den Dörflern für die nächste Bewässerung eine deren Möglichkeiten übersteigende Summe – oder aber das Mädchen Zuľfi. Da die Dörfler auf das Wasser angewiesen sind, müssen sie einwilligen. Zuľfis Geliebter Said will sich aus Verzweiflung umbringen, doch Nasreddin hält ihn davon ab und sichert ihm Hilfe zu. Auf dem Basar von Kokand werden Nasreddin und der Dieb Zeugen einer weiteren Ungerechtigkeit: Der Geldwechsler Džurabaj nimmt einer armen Witwe ihren letzten Schmuck ab, verweigert ihr jedoch eine angemessene Bezahlung. Der empörte Dieb verschafft sich darauf Zutritt zu Džurabajs Haus, um den Schmuck zu stehlen. Džurabajs Frau will Rachimbaj, dem Hauptmann der Wache, ein Schäferstündchen gewähren. Džurabaj kommt unerwartet nach Hause, und Rachimbaj muss sich verstecken – in der Truhe mit Federn, in der bereits der Dieb sich versteckt hat. Dieser nutzt die Situation aus, und es folgt eine Reihe komischer Verwicklungen. Der gestohlene Schmuck wird im Garten von Zuľfis Vater deponiert, und dieser kann damit seine Tochter von Agabek freikaufen. Nasreddin lässt sich unterdes von Agabek als Verwalter des Sees anwerben, um diesem dann eine Komödie vorzuspielen: Er macht ihm weis, sein Esel sei ein verzauberter Prinz, der versprochen habe, denjenigen, der sich um ihn kümmere und ihn damit erlöse, zum Wesir zu machen. Eine kurzzeitige Verwandlung wird vorgegaukelt, der Dieb schlüpft in die Rolle des angeblichen Prinzen. Agabek ist begierig, Wesir zu werden, und er ist sogar bereit, seinen See gegen den Esel einzutauschen. Der ungewöhnliche Handel wird besiegelt. Als Agabek auf Anraten von Nasreddin in Kokand den für die Bewässerung erhaltenen Schmuck bei Džurabaj eintauschen will, erkennt dieser das Diebesgut wieder. Er lässt Agabek von Rachimbaj festnehmen und bestrafen. Mit einem Verwirrspiel sorgen Nasreddin und der Dieb dafür, dass der Schmuck nicht Džurabaj, sondern der Witwe zurückgegeben wird. Den See aber übergibt Nasreddin als Kollektivgut den Dörflern, und der reformierte Dieb wird als Verwalter eingesetzt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Ausstattung mit orientalischen Zügen; zahlreiche Naturaufnahmen. Märchen- und Folklorebezug (und Umgang mit Vorlagen): Erzähltypenmutation; vgl. AaTh 1529 Thief Claims to have been Transformed into a Horse = ATU 1529 Thief as Donkey = AA/SUS 1529 Podmen(a) lošadi (+ ATU 1419 The Returning Husband Hoodwinked bzw. AaTh 1419K* Lover Hidden in Chest = AA 1406*C/SUS 1419K* Bab’i uvertki). Wie der vorherige Nasreddin-Film macht auch dieser, der sich als Fortsetzung versteht, die Titelfigur zu einem Klassenkämpfer. Es gibt allerdings weniger direkte motivische Folkloreentlehnungen als dort. Schwankhaften Charakter hat die Episode um die untreue Ehefrau (vgl. ATU 1419/AaTh 1419K*; vgl. auch Mot. K1517.4. Lover hidden in chest with feathers). Der zentrale, handlungsbestimmende „gerechte Betrug“ nähert den Film dem Schwankmärchen an – durch das Motiv des angeblichen verzauberten Prinzen, das eine verfremdende Mutation eines in der Folklore verbreiteten Trickwunder-Motivs ist: Im entsprechendem Typ (AaTh 1529; auch Mot. K403. Thief claims to have been transformed into an ass; in Verbindung mit Nasreddin siehe z. B. Wess. 487) wird ein Pferd (Esel, Ochse

278 o. ä.) gestohlen und an seine Stelle tritt ein Mensch, der dem Besitzer versichert, er sei zur Strafe für seine Sünden in das Tier verwandelt worden und nun erlöst. Der Zusammenhang zwischen diesem Film und dem 1954 erstmals erschienen zweiten Nasreddin-Roman Solov’evs, Očarovannyj princ, dessen Sujet zu weiten Teilen mit dem des Films übereinstimmt, ist nicht ganz klar.683

Золушка Aschenbrödel UdSSR – Russland 1947; Lenfiľm. s/w Regie: Nadežda Koševerova, Michail Šapiro; Drehbuch: Evgenij Švarc. Darsteller: Janina Žejmo, Aleksej Konsovskij, Ėrast Garin, Faina Ranevskaja u.a. Vorlage: Charles Perrault: Cendrillon, ou la Petite Pantoufle de verre (Aschenputtel oder Der kleine gläserne Schuh, 1697; Perrault 1986, S. 95-104). Volksmärchenparaphrase. Inhaltsangabe: Die Försterstochter Zoluška (Aschenbrödel) ist zu allem fähig und vollbringt jede noch so unmögliche Aufgabe ihrer bösen Stiefmutter, die sie und ihren Vater mit spitzer Gehässigkeit behandelt und ihre eigenen Töchter verwöhnt. Sie ist sehr stolz auf ihre „Verbindungen“, auf Grund derer sie große Macht im Märchenkönigreich besitzt. Ein großer Ball steht bevor, zu dem der König alle eingeladen hat – Zoluška aber muss zu Hause bleiben. Da erscheint ihre Patin, die Fee, mit ihrem kleinen Gehilfen, dem Pagen. Sie zaubert ihr eine Kutsche und ein prächtiges Kleid, während ihr der Page gläserne Schuhe schenkt – sie soll aber um Mitternacht wieder zu Hause sein. Vor dem Schloss trifft Zoluška auf den König, der die Unbekannte freudig begrüßt – er spürt, dass etwas Wunderbares geschehen wird. Er stellt sie seinem Sohn vor, und die beiden verlieben sich augenblicklich. Die Magie des Hofzauberers sorgt dafür, dass jeder der Ballgäste für einige Zeit in seinem persönlichen Wunderland verweilen kann. Der Prinz und Zoluška finden sich in trauter Zweisamkeit wieder – sie sind so verliebt, dass sie gar nicht merken, als der Zauber vorüber ist. Doch bald schon ist es 12 Uhr, und Zoluška muss forteilen. Dem Prinz bleibt nur ihr Schuh. Der König ist ganz überrascht – sein Sohn hat Liebeskummer! Sogleich schickt er seine Soldaten in Siebenmeilenstiefeln los, um die Unbekannte zu finden, der der Schuh passt. So kommen sie auch zum Haus des Försters. Als der Schuh keiner ihrer Töchter passt, besinnt sich die Stiefmutter auf Zoluškas Fähigkeit, Unmögliches zu vollbringen – sie erpresst sie dazu, den Schuh einer ihrer Stiefschwestern anzupassen. Kurz darauf trifft die traurige Zoluška im Wald auf den Prinzen – sie flüchtet jedoch vor ihm, worauf er verzweifelt mit dem Entschluss davonstürzt, tollkühne Heldentaten zu vollbringen. Unterdes ist der König im Schloss verwirrt, die Stiefschwester vor sich zu sehen, doch die Stiefmutter beharrt darauf, er habe zu seinem Wort zu stehen. Bei einer Tanzprobe verliert die falsche Braut jedoch den Schuh, und danach will er ihr einfach nicht mehr passen. Der Förster erscheint mit seiner Tochter. Die Stiefmutter tobt, der König aber erkennt Zoluška und ist begeistert. Der kleine Page bringt den verschwundenen Prinzen herbei, und dem glücklichen Ende steht nichts mehr im Wege. Filmgestaltung, Besonderheiten:

683 Angaben auf verschiedenen Internet-Seiten zufolge (vgl. insbesondere Ch. Akbarov: Pochoždenia Nasreddina, http://nashnasreddin.ru/media/poxozhdeniya-nasreddina/, letzter Zugriff: 29.08.2015) wurde das Filmdrehbuch von Solov’ev (mit)verfasst, ohne das sein Name im Vorspann genannt wurde, und der Roman im Anschluss daran während des Lageraufenthalts des Autors auf dessen Grundlage geschrieben. Verlässliche Literatur, die diese Information bestätigt, konnte jedoch bisher keine ausfindig gemacht werden. Die sowjetische Werkausgabe (Solov’ev 1976) nennt zu dem Roman lediglich die Jahreszahl 1954 und erwähnt den 1946er-Film nicht.

279 Schriftlicher Prolog, der ankündigt, dass ein uraltes Märchen auf neue Art erzählt werde; anschließend Einführung durch einen Herold, der sich an ein unsichtbares Publikum wendet. Auch im Folgenden wird im Film, insbesondere durch die Figur des Königs, mehrfach die vierte Wand durchbrochen. Hochgradig stilisierte, reduziert-theaterhafte Ausstattung, die ihre Künstlichkeit offen zur Schau stellt – insbesondere auffällig bei den im Studio gedrehten „Außenaufnahmen“, bei denen u.a. Birken mit einer Nadelbaumkrone, augenscheinlich aus Pappmaché gefertigte Berge und Bäume und miniaturhafte Phantasiebauten sowie aufgemalte Hintergründe gezeigt werden. Kostüme sind als diffuser, weder zeitlich noch kulturell genauer verortbarer Stilmix gestaltet. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 510A Cinderella = SUS 510A Zoluška. Im Handlungskern hält sich der Film eng an das Perrault’sche Märchen; Drehbuchautor Evgenij Švarc übernimmt aus diesem sämtliche handlungswichtige Elemente: Das Aschenbrödel als Hausmagd, die boshafte Behandlung durch Stiefmutter und Stiefschwestern, die Feenpatin und die Verwandlung von Kürbis, Mäusen und Ratte, den Ball, das Gebot, um Mitternacht daheim zu sein, den gläsernen Schuh und die Schuhprobe, auch der zweite Schuh, den Aschenbrödel als endgültigen Beweis vorzeigen kann. Die Anweisung der Stiefmutter an ihre Töchter, die eine solle den großen Zeh einziehen, die andere die Ferse, erinnert an die Grimm- Version (KHM 21), in der diese Körperteile abgehackt werden. Generell ist die Rolle der Stiefschwestern reduziert, die der Stiefmutter dagegen erweitert. Bei Perrault heißt es kurz, die Stiefschwestern spielten „eine große Rolle im Lande“, was im Film durch die satirisch- überspitzt immer wieder betonten „Verbindungen“ (svjazi) der Stiefmutter ausgedrückt ist. Der Vater ist bei Perrault ein Edelmann, im Film dagegen ein Förster. Seine Rolle ist erweitert, bei Perrault wird nur am Anfang erwähnt, dass er ganz unter dem Einfluss der Stiefmutter steht, während er im Film als gutmütiger Mann dargestellt ist, der unter der Stiefmutter genauso zu leiden hat wie seine Tochter. Ebenso erweitert ist die Rolle des Königs, der bei Perrault nur nebenbei in einem Satz erwähnt wird. Eine Besonderheit kann darin gesehen werden, dass in den Dialogen das Spielerische betont wird – es handelt sich um das Märchenkönigreich, und es wird auf spielerische Weise explizit gemacht, dass die Figuren sich bewusst sind, sich in einem Märchen zu befinden, wo Wunder an der Tagesordnung und ein glückliches Ende unvermeidbar sind. Märchenhaften Charakter gewinnt der Film weiterhin durch einen sehr naiv-kindlichen Grundton, der klar als Stilmittel gekennzeichnet ist und das Unwirkliche des Geschehens betont. Verschiedene intertextuelle Anspielungen auf andere Märchen werden gemacht; dekorative Motiverweiterung sind insbesondere die Siebenmeilenstiefel der königlichen Soldaten (Mot. D.1521.1. Seven-league boots), doch auch sonst werden durchgehend im Zeichen des Wunderbaren Elemente eingefügt, die nicht unbedingt folklorehaft sind, wie etwa die magische Reise ins persönliche Wunderland oder die „goldenen Hände“ (zolotye ruki) Zoluškas, mit denen sie dafür sorgt, dass ihrer Stiefschwester der Schuh passt. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 123-126; Pritulenko 2002; Prokhorov 2008, S. 140; Romanenko 1983, S. 28-30; Romanenko 1987, S. 17-19; Miloserdova 2006, S. 53-54; Schlesinger684; Sputnickaja 2010, S. 49

684 Schlesinger: Das Märchen vom sowjetischen Aschenbrödel: Soluschka (UdSSR 1947), http://suite101.de/ article/das-marchen-vom-sowjetischen-aschenbroedel-soluschka-udssr-1947-a143646#.U4hXKCgoLKu (letzter Zugriff: 30.05.2014).

280 Майская ночь, или утопленница Mainacht UdSSR – Russland 1952; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Konstantin Isaev. Darsteller: Nikolaj Dosenko, Taťjana Konjuchova, Lilija Judina, Aleksandr Chvylja u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Majskaja noč’ (1940). Filmgestaltung, Besonderheiten: Stereofilm (3D). In einer Rahmenhandlung wird eine Erzählsituation konstruiert: Ein alter Mann erzählt den jungen Mädchen eines ukrainischen Dorfes ein Märchen. Weitgehend naturalistische Gestaltung mit Naturaufnahmen und folkloristischer Architektur und Kostümen mit ukrainischem „Kolorit“. Die Erzählung von der Ertrunkenen wird visualisiert, d.h. von Darstellern ohne Worte agiert, während die Stimme Levkos aus dem Off die Geschichte erzählt. Die dämonische schwarze Katze, die das Fräulein bedroht, wird durch Zeichentrick dargestellt. Nur verbalisiert und nicht gezeigt wird der Selbstmord des Fräuleins und die Verwandlung in eine Ertrunkene. Wie schon im vorherigen Film werden die Ertrunkenen durch Doppelbelichtung als transparente Gestalten präsentiert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Majskaja noč’ (1940). Der Film ist ähnlich vorlagengetreu verwendet ebenfalls in großen Teilen die Dialoge aus dem Gogoľschen Text; im direkten Vergleich sind keine nennenswerten Variationen oder Innovationen zu erkennen. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 48-54; Sputnickaja 2010, S. 99-101

Садко Lockendes Glück (DDR)/Sadkos Abenteuer (BRD) UdSSR – Russland 1952; Mosfiľm. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Konstantin Isaev. Darsteller: Sergej Stoljarov, Alla Larionova, Michail Trojanovskij, Nadir Mališevskij u.a. Vorlage: Bylinen um Sadko (vgl. Nov. b. 27-53, insbesondere 27, 28 sowie 31, 42) sowie Nikolaj Rimskij-Korsakovs Libretto zu seiner gleichnamigen Oper (Rimskij-Korsakov 1958). Inhaltsangabe: Im alten Novgorod leiden die armen Leute. Der Guslispieler Sadko hat gehört, dass der Vogel des Glücks in fernen Ländern zu finden sein soll – doch fehlen ihm die Mittel für diese Reise. Er versucht erfolglos, die reichen Kaufleute zu überreden, ihm Kapital zur Verfügung zu stellen – er würde gerne zum Ruhme von Novgorod mit Waren auf den Meeren handeln. Enttäuscht setzt er sich nachts ans Ufer des Iľmen’-Sees und spielt auf seiner Gusli – die Herrin des Sees ist bezaubert von seinem Spiel und will ihm helfen. Sadko geht mit den Kaufleuten eine Wette ein, dass er im Iľmen’-See Fische mit goldenen Federn fängt – im Gegenzug will er Kapital für Schiffe. Unterdes sucht er bereits nach Freiwilligen für seine Schiffsmannschaft und hat bald eine wackere Truppe zusammen. Die Zarewna aus dem See sorgt dafür, dass er die Fische tatsächlich fängt. Er gibt ein Freudenfest, über das er seinen eigentlichen Vorsatz fast vergisst – mit den letzten drei Fischen, die sich in Gold verwandeln, kann er schließlich drei Schiffe bauen lassen. Dann verabschiedet er sich von seiner Liebsten Ljubava und bricht auf. Zunächst kommen Sadko und seine Mannschaft ins Land der Waräger, deren zweifelhaftes Glück darin besteht, ihre Feinde niederzumetzeln. Als nächstes landen sie in Indien, wo sie erfahren, dass der Vogel des Glücks beim Maharadscha sein soll.

281 Auch dieses Glück erweist sich als trügerisch: Der Vogel Phönix, zu dem Sadko und seine Freunde nach einem gewonnenen Schachspiel vorgelassen werden, versucht, sie mit seinem Gesang auf ewig einzuschläfern. Gerade noch rechtzeitig kann Sadko seine Gusli anschlagen, deren Musik sie gegen den Zauber immun macht, und sie fliehen. Die Schiffe geraten in einen Sturm – der Meereszar fordert ein Opfer, und Sadko stellt sich freiwillig zur Verfügung. Er kommt ins Reich unter dem Meer, wo er das zankende Meereszarenpaar mit einem Lied friedlich stimmt. Sie wollen ihn nicht auf die Erde zurücklassen und ihn mit einer ihrer Töchter verheiraten – Sadko trifft wieder auf die Zarewna aus dem Iľmen’-See, die ihm Hilfe zusichert, wenn er sie wählt. Er will Ljubava nicht betrügen, und die Zarewna verzichtet schweren Herzens auf ihn und verhilft ihm zur Flucht. So kommt er schließlich nach Novgorod zurück. Er stellt fest, dass nichts schöner ist als die Heimat – diese ist das Glück. Filmgestaltung, Besonderheiten: Visuelle Opulenz. Das alte Novgorod wird in seiner Größe und seinem Glanz durch detailreiche Bauten und farbenfrohe Kostüme, die halb-historisierend, halb-folklorisierend wirken, dargestellt, verbunden mit ästhetisch ansprechenden Naturaufnahmen. Auch bei der Darstellung der verschiedenen Stationen der Seereise wird Opulenz aufgeboten: Das Land der Waräger ist durch eine karge Felsenlandschaft bei düsterem Wetter repräsentiert, ihre Kostüme wirken primitiv-grotesk. Der Indien-Verschnitt wirkt in den ersten Einstellungen auf dem Markt „authentisch“ exotisch; insbesondere der Maharadscha und sein Palast erscheinen dann als pompös-überladen und wiederum grotesk. Der Phönix wird durch Filmtrick mit dem Körper eines Vogels und dem Kopf einer Frau dargestellt. Das Reich des Meereszaren wiederum trägt rein phantastisch-stilisierten Charakter: Dominant sind vor allem die als mechanische Puppen erkennbaren Meerestiere sowie die Pflanzendekorationen. Als Filmmusik dienen Kompositionen aus Rimskij-Korsakovs Oper. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 677* Below the Sea = AA *677 I/SUS 677* Sadko. Neben der Sadko-Byline ist als weitere Inspiration des Films das Opernlibretto von Nikolaj Rimskij- Korsakov zu erkennen, das bereits Ausfabulierungen des Stoffes enthält – der Film geht jedoch noch deutlich weiter. Grundinhalt der Sadko-Byline ist folgender: Sadko ist ein armer Guslispieler, der auf einem Festmahl behauptet, Fische mit goldenen Federn (sic!) fangen zu können und dies mit Hilfe des Unter-Wasser-Zaren auch schafft. Anschließend lässt er sich 30 Schiffe bauen und sticht in See, um zu handeln. Auf der Rückkehr gerät er dann ins Reich des Meereszaren. Bei Rimskij-Korsakov findet sich das Anprangern der reichen Prahler auf dem Festmahl; Zusatz des Films dagegen ist Sadkos Beweggrund, den armen Leuten zum Glück zu verhelfen. Die Zarewna aus dem Iľmen’-See ist eine Modifizierung von Rimskij- Korsakovs Libretto – auch hier findet eine Tochter des Meereszaren an seinem Lied Gefallen. Der in der Folklore wie auch bei Rimskij-Korsakov thematisierte sagenhafte Reichtum, zu dem Sadko durch die Fische kommt, ist im Film soweit reduziert, dass er Geldmittel nur benötigt, um Schiffe zu bauen (3 statt 30!) und das Glück der Armen zu suchen: Es ist im Gegensatz zu den Vorlagen weder Abenteuerlust noch der Wunsch, Handel zu betreiben, der für ihn antreibender Faktor ist. Bei den darauffolgenden Abenteuern Sadkos handelt es sich um die größten Ausfabulierungen des Films: Sie haben ihre Grundinspiration wiederum in Rimskij-Korsakovs Oper, worin ausländische Kaufleute in Novgorod ihre Heimatländer in Arien besingen und Sadko verspricht, diese zu besuchen, was aber nicht gezeigt wird. Die Schilderung der Länder in den Arien stimmt mit dem im Film Dargestellten annähernd überein. Der Bericht des dritten Gastes aus Venedig, der im Gegensatz zu den ersten beiden Berichten positiv gestaltet wird, findet im Film keine entsprechende Darstellung. Der Vogel Phönix hat mit dem gleichnamigen mythischen Vogel685 nur den Namen gemein und ist

685 Mot. B32. Phoenix.

282 ansonsten eher mit der Sirene (vgl. Mot. B53. Siren: Bird with woman’s head; auch Mot. B53.4. Siren’s song causes sleep) verwandt. In der anschließenden Episode mit dem Meereszaren ist schließlich der Kern des Bylinenstoffs zu erkennen – hier hat er nur Episodencharakter. Während in allen Vorlagen der Meereszar dafür sorgt, dass die Schiffe nicht mehr vorankommen, sorgt er hier, was dramaturgisch effektvoller umsetzbar ist, für ein Unwetter. Der Streit zwischen Meereszar und -zarin ist aus der Folklore bekannt (vgl. AaTh 677 „Iron Is More Precious Than Gold“ = AA/SUS 677 V podvodnom carstve). Die Tochter des Meereszaren wird zur Helferfigur, die ihm zur Flucht verhilft, was in der Folklore zumeist dem heiligen Nikolaus zukommt (Mikola Možajskij; siehe z.B. Nov. B. 27, 28, 42), während in der Oper das Meerreich zerstört wird, Sadko und die Zarewna daraus fliehen und sich letztere in einen Fluss verwandelt. Literaturhinweise/Besprechungen: Miloserdova 2006, S. 56; Paramonova 1966, S. 83

Андриеш [Andrieş] UdSSR – Ukraine 1954; Kievskaja kinostudija. Regie: Sergej Paradžanov, Jakov Bazeljan; Drehbuch: Grigorij Koltunov, Emilian Bukov, Sergej Ljalin. Darsteller: Kostja Russu, Nodir Šašik, Ljudmila Sokolova, Kirill Štirbu u.a. Vorlage: Emilian Bukov: Skazanie ob Andrieše (1946; Bukov 1983, S. 234-384). Inhaltsangabe: Der Junge Andrieş ist Schafhirte in einem kleinen moldawischen Dorf. Eines Tages lernt er einen anderen Hirten kennen, der sich als der berühmte Recke Voinovan herausstellt. Dieser schenkt ihm als Zeichen seiner Freundschaft seine Flöte, die Zauberkräfte besitzt und deren Lied den Menschen Glück bringt. Der Klang der Flöte dringt in die Höhle des bösen Schwarzen Wirbelwinds, der Glück nicht ertragen kann und sogleich Übles ersinnt. Er entführt Voinovans Liebste Leana, die Schafherde von Andrieş, legt das Dorf in Schutt und Asche und raubt außerdem das Lied und damit das Glück der Menschen. Voinovan sammelt Haiduken um sich, um gegen den Schwarzen Wirbelwind zu kämpfen, und unabhängig von ihm macht sich auch Andrieş auf, der seine Herde wiederfinden will. Der Unwettergeist Barbă Cot will ihn mit einem Gewitterregen aufhalten, doch der fröhliche Narr Păcală steht ihm bei – er weiß, dass Barbă Cot nur mit Lachen besiegt werden kann, und gemeinsam sorgen sie dafür, dass bald wieder die Sonne scheint. Anschließend kommt Andrieş in einen Wald, in dem der Riese Strâmbă-Lemne sein Unwesen treibt – er kann den eigentlich gutmütigen Kerl jedoch besänftigen. Unterdes härten Voinovan und seine Haiduken ihre Streitkolben an der Sonne, denn gegen deren Licht ist der Schwarze Wirbelwind machtlos. Andrieş trifft auf einen brennenden Eichenbaum, der ihn bittet, die Eichel zu finden, die seine Lebenskraft enthält, und sie einzupflanzen. Dafür erhält er ein Zauberpferd, das ihn zur Höhle des Schwarzen Wirbelwinds bringt. Das verlorene Lied erklingt wieder. Das Abenteuer ist jedoch noch nicht vorbei: Der Schwarze Wirbelwind hat all seine Opfer in seiner Höhle versteinert. Andrieş versucht, seine Herde mit seiner Zauberflöte zu erwecken. Der Schwarze Wirbelwind nimmt die Gestalt Voinovans an und will ihn dazu bringen, ihm die Flöte zu geben. Der Junge durchschaut jedoch den Betrug, und vor Wut versteinert ihn der Bösewicht. Doch da dringen Voinovan und seine Haiduken in die Höhle ein, und mit ihren Streitkolben besiegen sie den Schwarzen Wirbelwind. Dieser wird selbst zu Stein, all seine Opfer aber werden erlöst. Filmgestaltung, Besonderheiten:

283 Eine Erzählerstimme aus dem Off führt in formelhafter Sprache in die Handlung ein. Folkloristische Kostüme und Bauten. Hauptschauplatz ist jedoch die Natur, viele Panoramaeinstellungen werden eingesetzt. Die Dialoge sind stellenweise in Versform und Reimen gehalten. Die Höhle des Schwarzen Wirbelwinds ist einfarbig grau im „expressionistischen“ Stil mit Ornamenten, Steinfiguren u.ä. gestaltet. Seine erste Verwandlung – von einer anthropomorphen Gestalt zu einem Menschen – und die letzten Verwandlung in einen Felsblock werden gezeigt; ansonsten taucht er in verschiedenen Verkleidungen, aber mit unverändertem Gesicht auf. Auch sonst ist visuell das Magische teils reduziert dargestellt: Agierende Gegenstände und Pflanzen sind nicht anthropomorphisiert, nur ihre Stimmen sind zu hören. Interessant ist der Auftritt Barbă Cots: Anfangs ist nur seine Stimme zu hören, dann ist sein Spiegelbild in einer Pfütze zu sehen, schließlich sieht man ihn undeutlich hinter einem Regenschauer, lediglich sein langer Bart ist klar zu erkennen. Tricktechnisch aufwendiger sind die Flüge durch die Luft des Schwarzen Wirbelwinds mit Leana, der davonwirbelnden Schafe und von Andrieş mit dem Zauberpferd gestaltet. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: (Filmische) Erzähltypenmutation/neuer Erzähltyp; vgl. AaTh/ATU 303 The Twins or Blood- Brothers= AA/SUS 303 Dva brata. Das zugrundeliegende Märchen-Poem des Sowjetschriftstellers Bukov ist ungemein umfangreich. Die Grundhandlung besteht darin, dass der Schwarze Wirbelwind die Herde von Andrieş raubt und dieser aufbricht, um ihn schließlich zu besiegen – der Bösewicht tritt dabei erst ganz am Ende persönlich in Erscheinung. Auf dem Weg zu ihm besteht Andrieş zahllose episodenhafte Abenteuer, die eine Art Querschnitt durch die (überwiegend) rumänisch-moldawische Folklore darstellen, in der sämtliche Figuren daraus auftreten und lose miteinander in Verbindung gebracht werden. Der Film verwendet nur einige der Episoden und modifiziert sie. Folklorefiguren sind der langbärtige Zwerg (Statu-Palmă-)Barbă Cot, der eulenspiegelhafte Narr Păcală, der Riese Strâmbă-Lemne und Leana (Ileana Cosânzeana). Letztere ist insbesondere aus Varianten des Drachentötermärchens (AaTh 300) als Liebste des Helden Făt-Frumos bekannt. Auch dieser tritt in Bukovs Poem in einer Episodenrolle auf – im Film ist er durch den (erfundenen) Recken Voinovan ersetzt. Das mit ihm verknüpfte zentrale Motiv der Zauberflöte (Mot. D1223.1. Magic flute) ist Zusatz des Films und kommt so in der Vorlage nicht vor. Voinovan hat nicht nur eine Episodenrolle, sondern fungiert als zweiter Held in einer Parallelhandlung. Damit weicht der Film vom einsträngigen Volksmärchenschema, das die Vorlage grundsätzlich einhält, ab. Die beiden Handlungsstränge entsprechen jedoch einer gedoppelten Märchenstruktur nach Propp: Der gleichzeitige Auszug (MS XI) von Voinovan und Andrieş ist darin motiviert, dass mehrere Schädigungen (MS VIII) vorgenommen werden: Der Raub Leanas, der für Voinovan Hauptgrund für den Auszug ist; der Raub der Herde, der dazu führt, dass Andrieş loszieht, und der Raub des Liedes, der für beide einen Beweggrund darstellt. Die Handlungslinie um Andrieş ist der typische Weg eines Märchenhelden: Er trifft auf hilfsbedürftige Wesen und erhält als Dank für seine Hilfe magische Gegenstände (MS XII- XIV). Er ist es, der das Lied wieder erklingen lässt, doch gegen den Schwarzen Wirbelwind kommt er (im Gegensatz zur Vorlage) nicht an, sondern wird von ihm zu Stein verwandelt – Voinovan obliegt die Vernichtung des Bösewichts und die Rettung der Versteinerten. Hier wiederum zeigen sich Strukturparallelen zum Zwei-Brüder-Märchen (AaTh 303), worin einer der Brüder nach einer Reihe von Abenteuern zu Stein verwandelt und dann vom zweiten Bruder erlöst wird. Auch die Verbundenheit zwischen Voinovan und Andrieş, die durch den Tausch der Flöten ausgedrückt wird, erinnert an diesen Typ.

284 Нестерка [Nesterka] UdSSR – Weißrussland 1955; Belarus’fiľm. Regie: Aleksandr Zarchi; Drehbuch: Vitalij Voľskij. Darsteller: Boris Tenin, Evgenij Polosin, Vera Pollo, Lilija Drozdova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Die junge Nastja und der kunstfertige Holzschnitzer Juras’ lieben einander, doch Nastja soll auf Wunsch ihrer Mutter den aufschneiderischen Gelehrten Samochvaľskij heiraten. Der Vater, der auf der Seite seiner Tochter ist, kann sich gegen seine kratzbürstige Frau nicht durchsetzen. Der beim einfachen Volk allseits beliebte Schelm Nesterka beschließt, den jungen Leuten zu helfen. Samochvaľskij wird von dem reichen Pan Baranovskij zu einem wissenschaftlichen Disput geladen, bei dem er seinen Verstand mit dem eines ausländischen Gelehrten messen soll. Dieser wird auf dem Weg von Nesterka und seinen Freunden abgefangen, und Nesterka nimmt seine Kleider an sich und seine Rolle ein. Durch seinen Witz gelingt es ihm, den Disput für sich zu entscheiden, Samochvaľskij der Lächerlichkeit preiszugeben und das Preisgeld einzuheimsen. Gerade noch rechtzeitig kann er fliehen, als der tatsächliche Gelehrte auftaucht. Er gerät jedoch in die Hände zweier Gutsherren, denen er einen Streich gespielt hat, und sie stecken ihn in einen Sack – im Wald kann er ihnen einen solchen Schrecken einjagen, dass sie ihn darin zurücklassen. Dem vorüberkommenden Samochvaľskij wiederum kann er weismachen, dass derjenige, der im Sack sitze, zum König gekrönt werde – für diese Ehre verzichtet der Dummkopf sogar schriftlich auf Nastja und kriecht in den Sack. Als die beiden Schurken zurückkommen, bezieht er, im Sack sitzend, erst eine gehörige Tracht Prügel von ihnen, ehe sie ihn zu Baranovskij bringen – wo sie dann selbst eine Tracht Prügel einfangen, weil sie den falschen Mann geschnappt haben. Unterdes wird im Haus von Nastjas Eltern alles zur Hochzeit vorbereitet, auch wenn die Braut todunglücklich ist. Nesterka jedoch bringt schließlich die beiden Verliebten zusammen und Nastjas Vater dazu, dass er sich endlich gegen seine Frau zur Wehr setzt und sie dazu bringt, ihre Einwilligung zur Heirat der beiden zu geben. Nesterka schenkt sein Preisgeld den Jungvermählten zur Hochzeit, um dann weiterzuziehen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Schriftlicher Prolog. Naturalistisch gestaltet mit zahlreichen Naturaufnahmen. Starke Betonung des Weißrussisch-Folkloristischen insbesondere in den Kostümen der einfachen Bevölkerung sowie in der Darstellung eines Volksfestes; weißrussische Einschübe im Dialog. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante; vgl. ATU 924 Discussion By Sign Language (bzw. AaTh 924B Sign Language Misunderstood) + AaTh/ATU 1535 The Rich and the Poor Peasant/Farmer (Unibos) = SUS 1535 Dorogaja koža bzw. AA 1535*B. Nesterka ist eine Schelmenfigur, die in verschiedenen weißrussischen Märchen auftritt (z.B. Af. 347; Bel. sk.: Skazki bytovye [...] 15, 15б) der Film weist jedoch über den Titelhelden hinausgehend zu diesen offensichtlich keine direkten Bezüge auf. Die Handlungslinie um das Liebespaar ist weitestgehend Erfindung. Der ,Disput’ zwischen dem verkleideten Nesterka und Samochvaľskij gibt dagegen in leicht modifizierter Form das schwankhafte Kernmotiv eines Novellenmärchens wieder (ATU 924): Die beiden führen eine Diskussion in Zeichensprache, wobei es Nesterka gelingt, den Gegner, der seine Gesten missversteht, letztlich vorzuführen (Mot. J1804. Conversation by sign language mutually misunderstood; vgl. auch H607.2.1. Learned professor from one university examines by signs a professor at another university (actually shoemaker or miller or the like)). Hinzugefügt wird noch ein weiteres Folkloremotiv, die Diskussion um den Mittelpunkt der Erde (Mot. H681.3. Riddle: what is the center of the

285 earth?). Die folgende Episode um die Befreiung aus dem Sack entstammt einem gängigen Schwankmärchen (AaTh 1535; auch Mot. K842. Dupe persuaded to take prisoner’s place in a sack).

Илья Муромец Ilja Muromez (DDR)/Der Kampf um das Goldene Tor (BRD) UdSSR – Russland 1956; Mosfiľm. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Michail Kočnev. Darsteller: Boris Andreev, Andrej Abrikosov, Nataľja Medvedeva, Nineľ Myškova u.a. Vorlage: Bylinen um Iľja Muromec (siehe I. M.; vgl. auch Af. 308, 309). Inhaltsangabe: Die Zeiten sind unruhig in der Kiewer Rus’: Der gelähmte Bauernbursche Iľja muss mit ansehen, wie seine Liebste Vasilisa von den bösen Tugaren geraubt wird. Wandernde Sänger heilen seine Lähmung, geben ihm Kraft und das Wunderschwert des Recken Svjatogor. Nun sieht Iľja sich berufen, nach Kiew zu gehen. Auf dem Weg dorthin kann er den gefährlichen Unhold Räuber Nachtigall gefangennehmen. Fürst Vladimir nimmt ihn dafür unter seine Recken auf, und er freundet sich mit Dobrynja Nikitič und Aleša Popovič an. Iľja gelingt es, Vasilisa zu befreien. Kurz darauf schenkt sie ihm ein Tüchleindeckdich, und er gibt ihr einen Ring für den Sohn, den sie von ihm erwartet. In Abwesenheit von Iľja überfallen die Tugaren russische Handelsschiffe und entführen Vasilisa erneut. Der Bojare Mišatyčka, der in Wahrheit für den tugarischen Zaren Kalin arbeitet, schwärzt bei Vladimir Iľja dafür an, dass er den Überfall nicht verhindert hat, und der Fürst will Iľja auf drei Jahre vom Hof verbannen. Als Iľja davon erfährt, reagiert er wütend – Vladimir gibt darauf Befehl, den Recken ins Gefängnis werfen zu lassen. Iľja ist tief gekränkt, doch lässt er es mit sich geschehen. Zar Kalin versucht unterdes, sich der gefangenen Vasilisa zu nähern, die ihm mit Abscheu begegnet. Er beschließt, ihr ihren kleinen Sohn Sokoľniček wegzunehmen und ihn wie einen Tugaren zu erziehen. Die Zeit vergeht, und Kalin sammelt ein riesiges Heer um sich, mit dem er Kiew belagert. Vladimir beschließt, Iľja demütig um Verzeihung zu bitten, da ohne ihn Kiew chancenlos ist. Mišatyčka hat heimlich Iľjas Essensrationen unterschlagen, doch Vasilisas Tüchlein hat ihn über die Jahre am Leben erhalten. Für die heilige Mutter Rus’ ist er bereit, die Kränkungen zu vergessen und zu kämpfen. Kalin beschließt, Sokoľniček als Zweikämpfer gegen die Rus’ ziehen zu lassen. So kommt es zum Kampf zwischen ihm und Iľja – gerade noch rechtzeitig erkennt Iľja anhand des Ringes, dass der Gegner sein Sohn ist. Die beiden versöhnen sich, Sokoľniček will nun für Kiew kämpfen. Zuerst jedoch befreit er seine Mutter aus der Gefangenschaft. Es folgt die alles entscheidende Schlacht. Trotz dem Einsatz eines dreiköpfigen Drachen unterliegen die Tugaren den tapferen Recken von Kiew. Iľja übergibt sein Wunderschwert seinem Sohn und bittet Vladimir, diesen als neuen Recken aufzunehmen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Erster sowjetischer Film im Breitbild-Format. Das Milieu wird halb-historisch, halb- märchenhaft gezeichnet, wobei die Darstellung der Kiewer Rus’ sich an Darstellungen der Bildenden Kunst orientiert. Insbesondere die drei Recken Iľja, Dobrynja und Aleša sind in Kostüm und Maske sehr stark an die Bilder von Viktor Vasnecov angelehnt. Die Kostüme der feindlichen Tugaren und deren Lager sind dagegen ein wilder Stilmix und grotesk dargestellt. Visuell äußerst opulent und mit vielen Schauwerten; im Guinness-Buch der Filmrekorde 1993 für seine Massenszenen686. Einige aufwendige Tricks und Effekte, etwa die Erscheinung des

686 Laut Charitonov/Ščerbak-Žukov 2003: 106 000 Statisten; 110[0] Pferde.

286 Recken Svjatogor als Riese und dessen Verwandlung in einen Berg, der Räuber Nachtigall als anthropomorphes Ungetüm sowie ein fliegender dreiköpfiger Drache. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AA *650 I/SUS 650C* Iľja Muromec (Subtyp, im AaTh nicht enthalten). Als Vorlage dient der Zyklus an Bylinen und Märchen, die sich um Iľja Muromec ranken – in Varianten des zugrundeliegenden Typs werden sie in der Regel episodisch aneinanderreiht, während der Film sie zueinander in Beziehung setzt, so dass sich eine Art Biographie des Folklorehelden ergibt. Die Episode, wie Iľja seine Kraft erhält, exisitiert in der Folklore in zwei Varianten – durch wandernde Sänger, die ihn von einer Lähmung heilen, oder durch den Recken Svjatogor, der sterbend Iľja seine Kraft übergibt. Der Film kombiniert beides zu einer einzigen Episode und lässt die Sänger im Auftrag Svjatogors dessen Wunderschwert Iľja übergeben (Mot. D1081. Magic sword; vgl. auch Mot. D1500.1.17.1. Magic sword cures disease). Die Überfälle der Tugaren, die sich als roter Faden durch den Film ziehen, entsprechen dem Sujet vom Tatareneinfall, in dem Zar Kalin und seine Truppen vor Kiew von Iľja geschlagen werden. Die Episode um den Räuber Nachtigall (Solovej- Razbojnik) entspricht annähernd der Folkloretradition – auch hier dient sie als Einführung Iľjas am Hofe Vladimirs, den prahlenden Bojaren zum Trotz. Dobrynja Nikitič und Aleša Popovič treten in einigen Bylinen zusammen mit Iľja als Triade, in anderen selbstständig auf. Die Charakterisierung im Film – Dobrynja als Diplomat, Aleša als Hitzkopf – ist der Folklore geläufig. Iľjas Braut Vasilisa und der spionierende Bojare Mišatyčka entstammen dagegen nicht der der Folklore, ebenso die mit ihnen verknüpften Handlungslinien: Im Film bietet die zweite Entführung Vasilisas eine Motivation dafür, dass Iľja bei Vladimir in Ungnade fällt – die Folklore kennt als Grund dafür verschiedene andere Varianten, manchmal wird der Streit auch nicht motiviert. Als Folge davon lässt Vladimir Iľja jedenfalls in einigen Varianten im Verlies einsperren; später jedoch ist dieser, als Kiew in Not ist, bereit, alle Kränkungen zu vergessen und Vladimir beizustehen. Das Überleben im Verlies Iľjas wird in den Bylinen in der Regel durch Vladimirs Tochter, die ihm heimlich Essen zukommen lässt, gesichert – im Film rettet ihn das äußerst märchenhafte Tüchleindeckdich (Mot. D1472.1.8. Magic tablecloth supplies food and drink). Der gesamte Komplex um Iľja und seinen Sohn, die gegeneinander kämpfen, ist wiederum ein eigenständiges Bylinensujet (vgl. Mot. N731.2. Father-son combat), doch endet es in der Folklore tragisch mit der Tötung des Sohnes. Der Film setzt an diese Stelle eine Versöhnungsszene, in der Sokoľniček die Seiten wechselt. Der dreiköpfige Drache (Mot. B11.2.3.2. Three-headed dragon) ist ein märchenhaftes Zusatzmotiv – es gibt jedoch durchaus auch Märchen, in denen Iľja als Drachentöter fungiert (z.B. Af. 310). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 153-158; Friedrich 2003, S. 61-64; Giesen 1990, S. 262-264; (Miloserdova 2006, S. 57); Paramonova 1966, S. 83-84

Звездный мальчик [Der Sternenjunge] UdSSR – Russland 1957; Mosfiľm. s/w Regie: Anatolij Dudorov, Evgenij Ziľberštejn; Drehbuch: Jurij Davydov, Nina Davydova. Darsteller: Marija Vinogradova, Sergej Golovanov, Elizaveta Kuzjurina u.a. Vorlage: Oscar Wilde: The Star-Child (Wilde 1994, S. 260-270); The Birthday of the Infanta (Wilde 1994, S: 223-225; beide aus der Sammlung A House of Pomegranates, 1891). Inhaltsangabe:

287 Ein Holzfäller findet an der Stelle, an der er einen Stern hat fallen sehen, ein Baby, das er mit nach Hause nimmt, um es aufzuziehen. Das Sternenkind wächst zu einem schönen, aber eitlen und hartherzigen Jungen heran. Da die Tochter des Fürsten von ihm gehört hat, lässt sie ihn zu ihrem Geburtstag einladen. Kurze Zeit später erscheint eine Bettlerin, die von dem Sternenjungen verspottet und beschimpft wird. Sie jedoch erkennt in ihm ihren Sohn wieder, den sie schon lange sucht. Der Sternenjunge weigert sich anzuerkennen, dass seine Mutter eine arme Bettlerin ist, und jagt sie fort. Auf einmal geht mit ihm eine Verwandlung vor: Aus dem schönen Knaben wird ein hässlicher Wicht. Er bemerkt dies jedoch nicht und macht sich auf zum Geburtstag der Fürstentochter. Diese hält den hässlichen Kerl für amüsant, und der Sternenjunge missversteht ihren Spott als Bewunderung. Als jedoch sein Blick in einen Spiegel fällt und er seine veränderte Gestalt sieht, errät er die Zusammenhänge und bricht vor Verzweiflung wie tot zusammen. Die Fürstentochter ist empört, dass er sie nun nicht mehr unterhalten kann. Er kommt jedoch wieder zu sich, und er fühlt Scham, weil er seine Mutter fortgejagt hat. Nun will er sie suchen und um Vergebung bitten. Seine Suchwanderung ist lange und hart. Eines Tages rettet er einen anderen Jungen vor dem Ertrinken, und dieser, der sich Waldjunge nennt, wird sein Freund. Sie kommen zu einer finsteren Stadt. Die Münze, die er als Wegzoll zahlen soll, gibt der Sternenjunge selbstlos einem Bettler. Da erscheint der böse Zauberer, der Herrscher über die Stadt. Er nimmt den Sternenjungen gefangen und macht ihn zu seinem Sklaven. Vor dem Stadttor soll er für ihn eine weitere Münze finden – sonst droht ihm der Tod. Mit Hilfe des Waldjungen findet der Sternenjunge die Münze, doch wieder erscheint der Bettler – das Mitleid ist stärker als die Angst, und der Sternenjunge überlässt ihm den Fund. Der Zauberer wird durch diese gute Tat vernichtet – er kann gerade noch gestehen, dass er es war, der den Sternenjungen einst seiner Mutter geraubt und ihn außerdem hartherzig hat werden lassen. Wenig später findet der Sternenjunge seine Mutter wieder. Durch ihre Vergebung wird er wieder schön. Filmgestaltung, Besonderheiten: Theaterhafte Studiokulissen, stilisierte Kostüme. Die Titelrolle sowie fast alle anderen Kinderrollen (Jungen und Mädchen) werden von erwachsenen Schauspielerinnen verkörpert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neuer Erzähltyp/Folkloremutation. Wildes Kunstmärchen The Star-Child verwendet Folkloreelemente in stark modifizierter Form: So hat das zentrale Motiv der mysteriösen Sternengeburt keine direkten Äquivalente (vgl. aber Mot. D439.5.2. Transformation: star to person). Es wird ohnehin ,dekonstruiert’, um dann eine Geschichte über bestraften Stolz und Sühne durch Leiden zu erzählen (vgl. dazu Mot. Q331. Pride punished, Q331.2. Vanity punished; Q551.8. Deformity as punishment; D1872.1. Handsome man magically made ugly). Betrachtet man das Moment der Kränkung der Mutter durch ihren Sohn als (Selbst-)Schädigung von Letzterem (MS VIII), dessen Folge Deformierung und Reue sind, so sind diese wiederum Auslöser für einen Auszug (MS XI), der letztlich zu Bewährungsproben und deren Bestehen (MS XII-XIV) sowie zu der Beseitigung der Schädigung führt (MS XIX) – ein Schema im Sinne Propps, wenn auch überformt. Der Film behält die syntaktische Struktur bei, sorgt jedoch für verschiedene Verschiebungen: Die Hartherzigkeit des Sternenjungen wird im Film eher verharmlost dargestellt und erst in der Szene mit der Bettlerin voll ausgespielt. Bei Wilde bemerkt er, dass er hässlich geworden ist, ziemlich bald im Anschluss, als ihn seine Spielkameraden deswegen verspotten – im Film wird dies durch den Einschub der Grundhandlung aus Wildes The Birthday of the Infanta ersetzt, mit entsprechenden Anpassungen. Der psychologische Hintergrund der Infantin fehlt der Fürstentochter – sie ist einfach nur verzogen und bösartig, womit sie ein Abbild des Sternenjungen darstellt. Dieser tritt hier an die Stelle des Zwergs, der ebenfalls nichts von seiner Hässlichkeit weiß, aber gutmütig ist und beim Erkennen aus Verzweiflung tatsächlich

288 tot zusammenbricht. Auf den arroganten Sternenjungen dagegen wirkt das Erkennen seiner Hässlichkeit läuternd. Die Suche nach seiner Mutter gibt der Film zunächst weitgehend vorlagengetreu wieder, bis zum Auftauchen des Waldjungen – dieser sehr individualisierte Charakter agiert als Helferfigur anstelle eines nicht näher geschilderten Hasen bei Wilde. Die Episode um den bösen Zauberer ist vereinfacht dargestellt; der Film erklärt ihn auf sehr konstruierte Weise als verantwortlich für das Schicksal des Sternenjungen (den Raub von seiner Mutter und auch seine Hartherzigkeit). Vereinfacht ist auch der Schluss: Die Entzauberung des Sternenjungen erfolgt bei Wilde schon vor dem Finden der Mutter, doch er fühlt sich nicht glücklich, ohne sie gefunden und ihre Vergebung erwirkt zu haben – im Film ist die Vergebung Auslöser für die Entzauberung. Bei Wilde entpuppen sich die Mutter und die im Film anonym bleibende Bettlerfigur als König und Königin. Es findet auch im Film eine Verwandlung der Mutter in eine prächtig gekleidete Frau statt, jedoch wird dies nicht kommentiert und der Film endet an der Stelle. Er verkappt somit auch um den tragischen Nachsatz, der erklärt, dass das Glück des Sternenjungen nicht von langer Dauer war.

Легенда о ледяном сердце [Die Legende vom eisigen Herzen] UdSSR – Russland/ UdSSR – Kirgisien 1957; Mosfiľm/Frunzenskaja kinostudija. Regie: Aleksej Sacharov, Ėľdar Šengelaja; Drehbuch: Viktor Vitkovič, Grigorij Jagdfeľd. Darsteller: D. Ibraimova, Arsen Umuraliev, K. Bektenov, Muratbek Ryskulov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Zauberer Kambar lebt im Tienschan-Gebirge und sammelt die Lieder seines Volkes. Eines Tages hört er das Lied des Baggerführers Mėėrkan – dieser ist verliebt in die Bühnenkünstlerin Ajnakan, doch die Schöne hat ein Herz aus Eis. Kambar will Mėėrkan helfen. Bei einem Auftritt Ajnakans erscheint er plötzlich auf der Bühne, und er erzählt eine tragisch endende Sage von zwei Verliebten. Auf deren Grab sei eine Platane gewachsen – aus ihrem Holz habe er eine Zauberflöte geschnitzt, die Liebe erwecken könne. Diese schenkt er Ajnakan. Als diese nachts darauf spielt, verspürt sie Liebe für Mėėrkan, den sie niemals gesehen hat – zum Unwillen von Ašik, dem Theateradministrator, der selbst ein Auge auf sie geworfen hat. Als Mėėrkan von einem Auftritt Ajnakans im Radio hört, ist er auf einmal nicht mehr zu halten und lässt sich von einem Hubschrauber zu ihr bringen. Die beiden Liebenden fallen sich unter dem Jubel des Publikums in die Arme. Nur Ašik ist nicht begeistert. Es gelingt ihm, Ajnakans Flöte zu stehlen und zu verbrennen – Ajnakans Gefühle erlöschen. Mėėrkan ist verzweifelt, doch da erscheint erneut Kambar – der junge Mann soll nicht verzagen, er müsse nur den Weg zum Grab der Verliebten auf sich nehmen, dort könne er eine neue Zauberflöte machen. Unterdes willigt die gleichgültig gewordene Ajnakan in Ašiks Heiratsantrag ein. Ašik hat kein künstlerisches Talent, doch träumt er davon, mit einer Oper einen großen Erfolg zu landen, und dafür will er den Zauberer Kambar einbinden. Tatsächlich ist Kambar bereit, für ihn eine Oper zu schreiben, die er als die seine ausgeben kann. Er warnt ihn jedoch davor, die Oper ohne Seele auf die Bühne zu bringen. Unterdes kommt Mėėrkan ans Ziel seiner Suchwanderung, und er kann eine neue Flöte machen. Auf dem Rückweg trifft er einen traurigen jungen Pferdehirten, dessen Geliebte auf Willen ihrer Eltern einen anderen heiraten muss. Mėėrkan spielt auf seiner Zauberflöte, und alles wendet sich zum Guten: Die Eltern ändern ihre Meinung, und die Liebenden dürfen heiraten. Während der Premierenvorstellung der Oper erscheint Kambar und verwandelt Ašik in einen Eisblock. Mėėrkan und Ajnakan aber werden mit seiner Hilfe wieder glücklich vereint. Filmgestaltung, Besonderheiten:

289 Der Zauberer Kambar durchbricht am Anfang und am Ende des Films die vierte Wand, um sich direkt ans Publikum zu wenden. Der Film hat fast keine Innenaufnahmen, sondern größtenteils die Natur als Hintergrundkulisse (bei der Sprengbaustelle, Freilicht-Oper, Hochzeit des Pferdehirten vor der Jurte usw.). Die Sage von den zwei Verliebten wird als Zeichentrick-Sequenz erzählt. Kirgisisch-nationale und folkloristische Züge werden vor allem bei der Hochzeitsszene herausgestellt. Märchen- und Folklorebezug: Neuer (filmischer) Erzähltyp. Als Crossover-Märchen präsentiert, das in der Gegenwart angesiedelt ist, spielt der Film mit Märchenelementen und -traditionen. Es lässt sich keine direkte Vorlage feststellen, aber lose Orientierung an Folkloretexten: Vom Jäger Kambar wird berichtet, dass er der erste kirgische Musikant gewesen sei (vgl. Kirg. sk. [129], S. 342-343); die von Kambar im Film erzählte Geschichte, als deren Variation mit glücklichem Ende die späteren Ereignisse gesehen werden können, erinnert entfernt an einen Sagenstoff (vgl. Kirg. sk. [111], S. 325-326; vgl. auch Mot. T86. Lovers buried in same grave). Auch hier findet sich das Motiv der Liebe zu einem Unbekannten (Mot. T11. Falling in love with person never seen). Die Flöte (vgl. Mot. D1223.1. Magic flute), deren einzige Funktion darin besteht, Ajnakans Herz zu schmelzen und ihre Liebe zu erwecken, ist ein modifiziertes Volksmärchenmotiv, während das eisige Herz selbst eher auf die romantische Kunstmärchentradition verweist687. Nach Propps Strukturmodell liegen hier zwei Funktionsreihen vor, von denen insbesondere die zweite eng dem Märchenschema folgt: Ašik ist der Schädiger, der die Flöte und damit Ajnakans Liebe zerstört (MS VIII); er ist gleichzeitig im nächsten Zug der falsche Held, indem er die Rolle Mėėrkans bei der willenlosen Ajnakan einnimmt (MS XXIV). Mėėrkan zieht aus, um die Schädigung zu beseitigen (MS XI). Kambar wirkt als Schenker, indem er den Weg weist und Anweisungen gibt (MS XII) – eine ähnliche Funktion erfüllen die toten Liebenden (vgl. Mot. E631. Reincarnation in plant (tree) growing from grave), die ihm letztlich zu der Zauberflöte verhelfen (MS XIV), mit der letztlich Ajankans Liebe wiedererweckt wird (MS XIX). Es folgt Ašiks Bestrafung (MS XXIX).

Новые похождения кота в сапогах Die Abenteuer des gestiefelten Katers UdSSR – Russland 1958; Kinostudija im. M. Gor’kogo/Jaltinskaja kinostudija. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Sergej Michalkov. Darsteller: Marija Barabanova, Anatolij Kubackij, Vjačeslav Žarikov, Oľga Gorelova u.a. Vorlage: Charles Perrault: Le Maître Chat ou le Chat botté (Meister Kater oder Der gestiefelte Kater; 1697; Perrault 1986, S. 82-89) – Volksmärchenparaphrase; Sergej Michalkov: Smech i slezy (1946; Michalkov 1963, S. 297-366). Inhaltsangabe: Die sowjetische Schülerin Ljuba ist krank. Als sie einschläft, träumt sie ein Märchen: Sie ist darin die schwerkranke Prinzessin des Schachkönigreichs. Der König ist verzweifelt und lässt bekannt geben, dass derjenige, der seine Tochter heilen könne, das halbe Königreich erhalten solle. Unterdes ist einem armen Müllerburschen als einziges Erbstück ein Kater geblieben. Dieser beginnt auf einmal, zu sprechen, und verwandelt sich in einen Menschen: Da der Müllerbursche immer für ihn gesorgt hat, will er sich revanchieren. Er schleicht sich ins

687 Vgl. z.B. Wilhelm Hauffs Das kalte Herz und Andersens Die Schneekönigin und die entsprechenden Filmadaptionen (Skazka, rasskazannaja noč’ju, 1981 bzw. Snežnaja koroleva, 1966; Tajna snežnoj korolevy, 1986); siehe auch Tri tolstjaka (1966).

290 Schloss und wird Zeuge, wie der Prinzessin zur Aufheiterung eine mechanische Nachtigall präsentiert wird. Die Prinzessin jedoch wünscht sich eine richtige Nachtigall. Rasch eilt der Kater zu seinem Herrn, der eine Nachtigall besitzt – er muss ihm diese für seine Pläne überlassen. Kurze Zeit später überreicht er sie dem König als Geschenk seines Herrn, den er kurzerhand zum Marquis Carabas erklärt. Anschließend kehrt er zum Müllerburschen zurück, den er anweist, sich auszuziehen und in einem Fluss zu baden, an dem der König vorbeikommen soll. Diesem macht der Kater weis, die Kleider des Marquis seien gestohlen wurden. Der König ist von dem jungen Mann gleich angetan und lässt ihn und den Kater in den Palast bringen. Dort erfahren sie von den Machenschaften des Ministers Krivello und der Hofdame Dvuliče, die die Macht im Königreich an sich reissen wollen. Am nächsten Tag schleichen sich der Kater und der „Marquis“ ins Zimmer der Prinzessin – sie stellen fest, dass die Kur, die ihr Krivello und Dvuliče verordnet haben, alles andere als zur Genesung beiträgt. Mit den Methoden des Müllerburschen dagegen geht es ihr sogleich besser. Wenig später ist sie ganz gesund, zum Leidwesen der Bösewichte. Diese bekommen unterdes Unterstützung von der Zauberin Pique-Dame – sie entführt die Prinzessin und sperrt sie in einen Turm. Hilfe ist jedoch schon unterwegs. Der Kater kann die Zauberin mit einem Trick dazu bringen, sich in eine Maus zu verwandeln – und schon hat er sie verschluckt. Die Prinzessin wird befreit, die beiden Intriganten bestraft. Die Prinzessin und der „Marquis“ werden heiraten. Als Ljuba aus ihrem Traum erwacht, ist sie gesund geworden. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung, die die Ereignisse als Traum erklärt. Die Haupthandlung, in der dieselben Schauspieler auftreten, spielt in stilisierter Ausstattung, die Schach-, Karten- und Dominospiel nachempfunden ist; gepaart mit echten Naturaufnahmen. Ein Teil der Dialoge ist in Versform gehalten, worauf auch als Besonderheit hingewiesen wird. Der Kater wird abwechselnd von einer echten Katze und einer Schauspielerin verkörpert; die Rolle der bösen Zauberin ist mit einem Schauspieler (der auch den Hofnarren spielt) und einer Schauspielerin doppelt besetzt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 545B Puss in Boots = AA/SUS 545B Kot v sapogach. Der Sowjetschriftsteller Sergej Michalkov kombinierte als Drehbuchautor das Sujet seines phantastischen Kindertheaterstücks unter Beibehaltung von vielen Dialogen mit Perraults Märchen vom Gestiefelten Kater: Die Haupthandlung des Films ist die des Märchens, während das Stück zu dessen Variation genutzt wird. So landet darin ein sowjetischer Junge im Traum im Schachkönigreich, während im Film die Rahmenhandlung nur indirekt mit den Traumereignissen verknüpft ist. Der kranke Prinz ist durch eine kranke Prinzessin ersetzt, deren Heilung mit deren Hand und dem halben Königreich belohnt werden soll (Mot. H346. Princess given to man who can heal her; Q112. Half of kingdom as reward). Die Figuren des Königs und der Höflinge enstammen ihrer Charakterisierung nach dem Stück, der Müllerssohn trägt Züge von dessen Helden – als Figur ist er freilich dem Perrault’schen Märchen entlehnt. Darin will er seinen Kater schlachten, wogegen dieser sich auflehnt und stattdessen ein Paar Stiefel fordert; im Film dagegen behandelt er den Kater gut und dieser will sich dafür revanchieren. Es folgt die Verwandlung in einen (katzenähnlichen) Menschen, der bereits Stiefel trägt, die darüber hinaus rasende Geschwindigkeit bewirken (vgl. Mot. D.1521.1. Seven-league boots). Die mechanische Nachtigall, der eine lebendige vorgezogen wird, ist Anlehnung an Andersen (Die Nachtigall, Der Schweinehirt) und freie Variation des Perrault-Märchens, in dem erlegte Rebhühner u.ä. das Wohlwollen des Königs sichern. Während in diesem anschließend die Handlung bereits dem Finale entgegenschreitet, folgt der Film nun dem Michalkov-Stück mit der Geschichte um die Heilung der Prinzessin durch Lachen (vgl. Mot. H341. Suitor test: making princess laugh) und den Intrigen der Höflinge. Erst beim Finale orientiert sie sich wieder an Perraults Märchen, wobei der Menschenfresser

291 durch die böse Zauberin Pique-Dame ersetzt ist. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 59-61; Sputnickaja 1979, S. 103-105; Zipes 2011, S. 327-328

Сампо Das gestohlene Glück ([Der Sampo]) UdSSR – Russland/Finnland 1958; Mosfiľm/Suomi-Filmi. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Viktor Vitkovič, Grigorij Jagdfeľd. Darsteller: Urho Somersalmi, Anna Oročko, Ivan Voronov, Andris Ošin’ u.a. Vorlage: Elias Lönnrot: Kalevala (1835; Lönnrot 2004). Inhaltsangabe: Lemminkäinen und Annikki aus dem Volk von Kalevala verlieben sich ineinander. Annikki ist die Schwester des Schmieds Ilmarinen, der für sein Volk die Zaubermühle Sampo schmieden soll, die Mehl, Salz und Gold mahlt. Dafür braucht er jedoch das Himmelsfeuer, das die böse Louhi aus dem finsteren Pohjola gestohlen hat. Diese will des Goldes wegen ihrerseits den Sampo besitzen, und so entführt sie Annikki. Lemminkäinen und Ilmarinen brechen zu ihrer Rettung auf. Louhi lässt Lemminkäinen ihr Schlangenfeld pflügen und fordert von Ilmarinen, ihr den Sampo zu schmieden. Dann gibt sie Annikki frei. Als diese jedoch erfährt, zu welchem Preis ihre Freilassung erwirkt wurde, ist sie entsetzt: Vom Sampo hängt schließlich das Glück von Kalevala ab. Lemminkäinen kehrt nach Pohjola zurück, um von Louhi den Sampo zurückzufordern. Diese aber ermordet ihn hinterrücks. Die Nachricht von seinem Tod erreicht Kalevala, doch seine Mutter will dies nicht glauben: Sie macht sich auf die Suche nach ihrem Sohn, befragt die Birke, den Weg und die Sonne und kommt schließlich nach Pohjola, wo sie die Herausgabe des Toten erwirken kann. Sie bringt ihn nach Kalevala, wo es ihr gelingt, ihn auf magische Weise wiederzubeleben. Lemminkäinen aber bricht sogleich erneut nach Pohjola auf. Diesmal gelingt es ihm, den Sampo zu entführen, doch Louhi lässt ihn von den Naturgewalten verfolgen. Lemminkäinens Boot kentert, er erreicht Kalevala schwimmend – vom Sampo konnte er jedoch nur ein kleines Stück retten. Der weise Väinämöinen erklärt, auch ein kleines Stück würde Glück für das Volk bedeuten. Die Hochzeit von Lemminkäinen und Annikki wird gefeiert, doch die rachsüchtige Louhi sorgt für ein Ende des fröhlichen Treibens: Sie stiehlt die Sonne vom Himmel, das Land wird dunkel, und sie sorgt mit Schneestürmen für ewigen Winter. Ilmarinen will eine neue Sonne schmieden, doch Väinämöinen weist ihn auf die Sinnlosigkeit des Vorhabens hin. Er weiß jedoch Rat und lässt viele Kantelen herstellen – mit diesen Musikinstrumenten in den Händen ziehen die Männer von Kalevala geschlossen nach Pohjola, und ihr magischer Klang ist stärker als der Zauber Louhis. Diese erstarrt zu Stein, und die Sonne wird befreit. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Einführung über einen Prolog zu Elias Lönnrot, in dem dieser gezeigt wird, wie er von einem Volkssänger seine Lieder aufzeichnet. Visuelle Opulenz: Das Land von Kalevala wird neben ästhetisch ansprechenden Naturaufnahmen durch finnisch-karelische folkloristische Kostüme, Bräuche, Tänze etc. charakterisiert. Pohjola ist demgegenüber als ständig von tobenden Wellen umspülte karge Felsenlandschaft dargestellt, deren Einwohner spärliche Phantasie-Kostüme tragen. Ausgiebiger Einsatz von Filmtricks und Spezialeffekten, etwa beim Diebstahl der Sonne. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 565 The Magic Mill = AA/SUS 565 Čudesnaja meľnica. Der Film adaptiert nicht das gesamte Kalevala-Epos, worin Lönnrot episches Liedgut

292 ergänzend zu einem zusammengehörigen Ganzen verarbeitet hat, sondern in erster Linie die Episode um den Sampo, die weitgehend dem Märchentyp AaTh 565 entspricht, und die damit in Zusammenhang stehenden Handlungslinien. Mit der Vorlage wird sehr frei umgegangen – insbesondere fällt ins Auge, dass die Ambivalenz der Figuren keinen Eingang in den Film fand: Im Epos ist Louhi genausowenig eindimensional böse wie die Helden eindimensional gut sind, insbesondere Lemminkäinen ist eine eher zwielichtige, rüpelhafte Trickster-Gestalt. Im Film dagegen herrscht eine klare Trennung von Gut und Böse vor, was eher Mustern des Volksmärchens entspricht. Die sekundäre Nebenfigur Annikki wird zur Geliebten Lemminkäinens und zu einer Hauptfigur gemacht, deren Entführung die Handlung in Gang bringt. Illmarinen fertigt ihretwegen für Louhi den Sampo an (vgl. Mot. D1263. Magic mill; D1601.21.1. Self-grinding salt mill), während dieser in der Vorlage im Rahmen von Illmarinens Werben um Louhis Tochter gebaut wird. Der Film schafft sich so einen „gerechten“ Grund, warum Lemminkäinen Louhi den Sampo wieder entwenden will. Nach seiner Ermordung durch Louhi macht sich seine Mutter auf die Suche nach ihm, was weitgehend der Vorlage entspricht und märchenhaft gestaltet ist (vgl. Mot. H1232. Direction on quest given by sun, moon, wind and stars). Ausgespart ist der drastische Zug, dass die Mutter im Totenfluss erst die Einzelteile ihres Sohnes zusammensuchen muss – das Meer spuckt den unversehrten Körper Lemminkäinens aus und er wird wiederbelebt (Mot. E50. Resuscitation by magic). Das Zersplittern des Sampo beim Versuch, ihn zu entführen, ist im Film beibehalten, jedoch ohne die zu erwartende ätiologische Komponente688. Louhis folgende Versuche, dem Volk von Kalevala zu schaden, werden auf den Diebstahl der Sonne reduziert (Mot. A721.1. Theft of sun); der Alleingang Väinämöinens bei der Zurückeroberung ist durch die episch wirksamere „Kollektivvariante“ des ganzen Volkes ersetzt. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 159-162; Miloserdova 2006, S. 57

Марья-искусница Die verzauberte Marie ([Mar’ja die Kunstfertige]) Produktionsland und -jahr: UdSSR – Russland 1959; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Evgenij Švarc. Darsteller: Michail Kuznecov, Nineľ Myškova, Vitja Perevalov, Anatolij Kubackij u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Ein verabschiedeter Soldat gerät auf seinem Weg nach Hause in einen verwunschenen Wald. Dort trifft er auf den Jungen Ivanuška, dem der böse Wassermann Vodokrut seine Mutter geraubt hat, die kunstfertige Mar’ja. Er beschließt, ihm bei seiner Suche nach ihr zu helfen. Vodokrut erscheint und versucht die beiden mit seinem Zauber einzuschüchtern, doch der Soldat hat keine Angst vor ihm. Mit seiner Trommel kann er ihn in Schach halten – Vodokrut füchtet sich vor deren Klang. Er streitet den Raub Mar’jas ab und schlägt den beiden vor, mit ihm in sein Reich unter Wasser zu kommen, um sich selbst zu überzeugen. Mar’ja ist unterdes in großer Sorge um ihren Sohn und hat schon mehrfach versucht, auszubrechen. Sie wird jedoch mit einem Zauber belegt, der sie alles vergessen lässt und in einen schlafwandlerischen Zustand der Gleichgültigkeit versetzt. Vodokrut versucht, den Soldaten und Ivanuška mit den skurrilen Bewohnern und Wundern seines Reiches von ihrem Vorhaben abzulenken, doch ohne Erfolg. Auch sein vergiftetes Essen rühren sie nicht an, und von seinem Reichtum lassen sie sich nicht verblenden. Unterdes mischt sich Vodokruts Enkelin Alenuška ins Geschehen, die sich mit Mar’ja angefreundet hat. Vodokrut kann ihr weismachen, dass die Besucher

688 Mot. A1115.2. Why the sea is salt: magic salt mill.

293 dieser Böses wollen. Um sie zu retten, soll sie mit einem Zauber Doppelgängerinnen von ihr schaffen. Aus diesen soll nun Ivanuška seine Mutter herausfinden. Alenuška, die inzwischen den Betrug ihres Großvaters durchschaut hat, hilft ihnen dabei – er findet die Richtige. Als Vodokrut sein Wort nicht halten und Mar’ja nicht herausgeben will, empört Alenuška sich und beschließt, ihn zu verlassen und mit dem Soldaten, Ivanuška und Mar’ja zu entfliehen. Vodokrut und seine Leute können ihre Flucht nicht verhindern. Doch auch die heimatliche Umgebung kann Mar’ja nicht aus ihrer Gleichgültigkeit erwecken. Als aber Vodokrut im Brunnen auftaucht und versucht, sich an Ivanuška zu vergreifen, wird der Zauber aufgehoben: Mit ungeahnter Kraft verteidigt sie ihren Jungen. Vodokrut, der ohne Wasser hilflos ist, wird vernichtet. Die Helden beschließen, zum glücklichen Ende ein großes Freudenfest zu feiern. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Soldat bricht zu Beginn und zu Ende des Films die vierte Wand und wendet sich direkt an die Zuschauer. Eine kontrastive Gegenüberstellung erfolgt zwischen der lebendigen, ästhetisch ansprechenden und idyllisch wirkenden Natur der ersten Szenen und erst der toten, düsteren Natur des verwunschenen Waldes (beides durch Außenaufnahmen in der Natur verwirklicht) und dann des (Studio-)Unter-Wasser-Reiches, das sich durch skurrile Künstlichkeit auszeichnet. In ersterer treten (durch Filmtricks bedingt) echte sprechende Tiere auf (Bären, Tauben). Vodokrut erscheint zunächst als Riese und nimmt erst später menschliche Größe an. In seinem Reich werden monsterhafte Raubfische gezeigt, was einerseits durch Großaufnahmen von normalgroßen Fischen, andererseits durch Puppen bewerkstelligt wird; auch andere Filmtricks werden eingesetzt, so sieht man z.B. winzige Nixen. Die skurrilen Unter-Wasser-Bewohner wirken auch in ihren Kostümen karikaturistisch-grotesk. Durch Spiegeltrick wird die Versechsfachung Mar’jas bewirkt. Die letzten Minuten des Films zeigen eine idealisiert wirkende, „typisch“ russische Holzhütte, wiederum von tatsächlicher Natur umgeben. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 313 The Magic Flight = AA/SUS 313 Čudesnoe Begstvo. Der Film greift auf keine konkrete Märchenvorlage zurück, gleicht aber in seiner syntaktischen Gesamtstruktur AaTh 313, worin ebenfalls eine Person in die Gewalt eines übernatürlichen Feindes gerät und dessen Tochter als Fluchthelferin agiert. Charakteristisch für diesen Typ ist das auch hier auftretende Doppelgängerinnen-Motiv als Prüfung (Mot. H161.0.1 Recognition of person among identical companions). Die Verwandlungsflucht689 fehlt, doch auch hier werden die Verfolger mit magischen Mitteln aufgehalten (durch eine Gusli, die sie zum Tanzen zwingt: Mot. D1415.2. Magic musical instrument causes person to dance). Der Zauber, der Mar’ja gleichgültig werden lässt, erscheint wie eine Modifikation von Mot. D2000. Magic forgetfulness, das auch mit AaTh 313 assoziiert wird, wenn auch in anderem Kontext. Lediglich der Anfang (die Entführung Mar’jas und Ivanuškas Aufbruch, sie zu retten) erinnert an den Drachentötermärchen-Komplex (AaTh 300ff.). Ansonsten machen sich insbesondere an der Figur des Vodokrut zahlreiche zusätzliche Märchen- und Folkloremotive fest (Mot. F420.5.2.2. Water-spirits kidnap mortals and keep them under water; F420.4.1. Water-spirits possess magic power; F420.4.8. Water-spirits have treasures under water; F420.4.6. Water-man is rendered powerless if kept away from water). Sein Diener Kvak taucht als froschähnliche Gestalt auf (vgl. Mot. F420.1.3.10. Water-spirit as frog). Die Figur des tapferen verabschiedeten Soldaten ist eine verbreitete Erscheinung in der ostslavischen wie der internationalen Märchentradition (vgl. z.B. Af. 153, KHM 116). Technisch gesehen die Hauptfigur, ist er im Film funktionell (nach Propp) nur Helfer, während der Junge Ivanuška als Held gesehen werden kann. Literaturhinweise/Besprechungen:

689 Mot. D671. Transformation flight.

294 Berger/Giera 1990, S. 163-166; Paramonova 1979, S. 61-67; Sputnickaja 2010, S. 101-103, 105-106

Насреддин в Ходженте, или Очарованный принц690 Nasreddin in Chodshent UdSSR – Tadschikistan 1959; Produktionsfirma: Tadžikfiľm. Regie, Drehbuch: Amo Bek-Nazarov, Ėrazm Karamjan. Darsteller: Gurgen Tonunc, Marat Aripov, Stalina Azamatova u.a. Vorlage: Siehe Pochoždenija Nasreddina (1946). Inhaltsagabe: Chodža Nasreddin kommt nach Chodžent, auf dessen Straßen er den Dieb von Bagdad kennenlernt, den es ebenfalls hierher verschlagen hat. Die beiden schließen sich zusammen. Sie erfahren, dass 40 Mädchen der Schulden des Chans wegen in die Sklaverei verkauft wurden, und beobachten, wie deren Väter beim Wucherer Rachimbaj den von ihnen gesammelten Schmuck zu verkaufen suchen, um sie auszulösen. Rachimbaj nimmt ihnen den Schmuck ab, verweigert ihnen jedoch die Bezahlung, und Kamiľbek, der Hauptmann der Wache, den er herbeiruft, lässt die Männer fortjagen. Rachimbaj lädt Kamiľbek in sein Haus ein, und Nasreddin heißt den Dieb an, ihnen heimlich zu folgen. Der Wucherer zeigt dem Hauptmann seine Araberhengste, die er für die bevorstehenden Reiterfestspiele erstanden hat, und sein neues Haremsmädchen Zumrad. Unterdes erkennt Nasreddin vor den Stadttoren unter den Ankömmlingen den einfältigen Kronprinzen von Buchara – dieser hat sich aus einer Laune heraus als Pilger verkleidet. Nasreddin überzeugt die Wachen davon, dass er ein Verrückter ist, und sie nehmen ihn fest. In dieser Nacht stiehlt sich der Dieb in Zumrads Gemach – die beiden verlieben sich, und sie fliehen gemeinsam. Nasreddin hat unterdes einen Plan geschmiedet: In seinem Auftrag stiehlt der Dieb die Hengste Rachimbajs, und er selbst gibt sich als Wahrsager mit der Fähigkeit aus, gestohlenes Gut ausfindig zu machen. An ihn muss sich Rachimbaj wenden, als er den Diebstahl bemerkt. Der Dieb konnte jedoch die Pferde nicht an den vereinbarten Ort bringen, da er in die Hände von Räubern gefallen ist, und so wird Nasreddin als Betrüger ins Gefängnis geworfen. Hier trifft er auf den Prinzen, den er dazu bringen kann, einen Erlass über die Absetzung des Chans zu unterschreiben. Kurz darauf kann er dann Kamiľbek durch eine List davon überzeugen, dass er ein tatsächlicher Wahrsager ist, und wird freigelassen. Bei den Reiterfestspielen kulminieren die Ereignisse. Schließlich wird die Ankunft des Prinzen von Buchara angekündigt: Es ist der verkleidete Dieb, die Räuber sind sein Gefolge. Er lässt den Chan und seine Verbündeten bestrafen und ordnet an, dass die Gefangenen freigelassen und die 40 Mädchen zu ihren Eltern zurückgeführt werden. Das Volk jubelt ihm und Nasreddin zu. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistisch gestaltet, sehr detailreiche Ausstattung und Kulissen. Optisch erinnert der Film in seiner Milieuzeichnung und Ausstattung sehr stark an die exotisch-pseudoorientalische Phantasiewelt entsprechender Hollywood-Produktionen. Zwei längere Zeichentricksequenzen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Der Film basiert in seinem Handlungskern lose auf Solov’evs Očarovannyj princ, insbesondere dem ersten Teil, allerdings ohne die zentrale Episode um den titelgebenden verzauberten Prinzen691 und der damit verbundenen Handlungslinie. Er stellt

690 Da die russischsprachige Version nicht ausfindig gemacht werden konnte, wurde anhand der deutsch synchronisierten Version ausgewertet. 691 Der Filmtitel wirkt daher irreführend.

295 vielmehr die Nebenhandlungen in den Mittelpunkt, übernimmt einige Einzelelemente aus Vozmutiteľ spokojstvija692 und fabuliert sonst aus. Motive bzw. Kurzanekdoten aus beiden Solov’ev-Romanen wie auch der Chodža-Nasreddin-Folklore fließen in den Film mit ein, z.B. Mot. J1172.2. Payment With The Clink Of Money (= AaTh 1804B), H771. Why is the hair gray before the beard? (= AaTh 921C), und die Episode um die gestohlenen Pferde hat Schwankmärchencharakter (vgl. Mot. K1956.2. Sham wise man hides something and is rewarded for finding it). Ansonsten jedoch tritt das Schwankhafte stark in den Hintergrund zugunsten eines romantisch-novellistischen Abenteuers, das an die Geschichten aus 1001 Nacht, aber auch an westliche Orientmärchen-Filmproduktionen erinnert: Stärkster Berührungspunkt hiermit ist die Figur des Diebs von Bagdad, die zwar auch in Solov’evs Roman vorkommt, dort jedoch als kauzig-komischer, hässlicher Glatzkopf beschrieben wird, während er im Film als romantischer Held durch einen ausgesucht gutaussehenden jungen Mann dargestellt wird, dessen Kostümierung klar an den von Douglas Fairbanks in dem gleichnamigen Hollywoodstreifen verkörperten Thief of Bagdad (1924) angelehnt ist. Zusatz des Films sind die Räuber, die sich als edelmütig entpuppen und deren Hauptmann Ali-Baba ist – eine Anlehnung an das gleichnamige Märchen aus 1001 Nacht, der ein populärer Irrtum zugrundeliegt.693 Eine Anlehnung an diese Sammlung ist auch in dem einfältigen Prinzen von Buchara zu sehen, der sich wie Hārūn ar-Rašīd unerkannt unters Volk mischen will (vgl. auch Mot. K1812.17. King in disguise to spy out his kingdom, K1817.2. Disguise as palmer (pilgrim), K1812.0.1. King in disguise beaten by his own men).

Тайна крепости Bir qalanın sirri694 Das Geheimnis der Festung UdSSR – Aserbaidschan 1959; Azerbajdžanfiľm. Regie: Әlisәttar Atakişiyev (Ali-Sėttar Atakišiev); Drehbuch: Məmmәdhüseyn Tәhmasib (Mamedgusejn Tachmasib). Darsteller: Gündüz Abbasov, Tamara Kokova, Mәmmәdrza Şeyxzamanov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Einer Schulklasse wird auf einer Exkursion nach Mingəçevir von einem Archäologieprofessor ein Märchen erzählt: Der Tyrann Simnar-Chan unterdrückt mit Hilfe seines zauberkundigen Wesirs Göygös Kosa sein Volk und verweigert ihnen sogar das Wasser. Er lässt verbreiten, dass ein Felsen, unter dem sich ein Fluss staut, ein verzauberter Drache sei. Der Gelehrte Eldostu weiß jedoch, dass dies nicht stimmt. Sein Freund, der Meister, und dessen Schüler Elşən sollen den Felsen zertrümmern. Außerdem ist es Eldostu und seiner Schülerin Mətanət, die Elşən liebt, gelungen, ein Elixier herzustellen, das Steine auflösen kann – es soll für besondere Steine genutzt werden, die die Felder fruchtbar machen. Simnar und Göygöz Kosa erfahren von den Plänen, und sie wollen hinter das Geheimnis des Elixiers kommen. Als Eldostu es nicht verraten will, nehmen sie ihn gefangen. Kurz darauf wird von Göygöz Kosa auch der Meister entführt. Anschließend verbreitet er das Gerücht, der Drache sei für das Verschwinden der beiden verantwortlich. Auch Mətanət fällt durch eine List Göygöz Kosas in

692 Interessanterweise gibt es mit den ersten beiden mit Solov’evs Dilogie assozierten Nasreddin-Filmen, Nasreddin v Buchare (1943) und Pochoždenija Nasreddina (1946), inhaltlich kaum Überschneidungen. 693 Filmbeispiele, in denen Ali-Baba vom Gegner der Räuber zu deren Hauptmann gemacht wird, kennt auch Schmitt 1993, S. 245-246. 694 Da die russischsprachige Version nicht ausfindig gemacht werden konnte, wurde anhand der deutsch synchronisierten Synchronisation ausgewertet, die mit der aserbaidschanischen Version soweit als möglich abgeglichen wurde.

296 die Hände des Chans und wird in dessen Festung geschafft, und auch sie wird gedrängt, das Geheimnis des Elixiers zu verraten, doch sie zeigt sich ebenso standhaft wie ihr Lehrer. Darauf lässt Simnar von Göygöz Kosa erst die Arme Eldostus versteinern, dann verwandelt er Mǝtanǝt ganz zu Stein. Unterdes hat Elşən in Erfahrung gebracht, wo die anderen gefangengehalten werden. Eldostu kann befreit werden, seine Arme sind jedoch immer noch versteinert, und nur das Elixier kann ihn erlösen. Um dies zu brauen, sind jedoch besondere Kenntnisse nötig, die sich nur durch ein langwieriges Studium aneignen lassen. Elşən meint, er wolle sich im Kampf gegen Simnar und Göygöz Kosa lieber auf seine Kraft verlassen, doch Eldostu erklärt ihm, Kraft alleine reiche nicht aus, und auch die wieder entsteinerte Mǝtanǝt ruft ihm in einer Vision zu, er solle Kraft und Wissen verbinden. So gibt er sich dem Studium hin, und schließlich ist er würdig, den Gürtel der Weisheit zu tragen. Mit diesem kann er Göygöz Kosas Zauber trotzen und ihn vernichten. Dann dringt er in die Festung vor, wo er Mǝtanǝt befreien und auch Simnar im Zweikampf töten kann. Das Volk kann nun den Felsen zertrümmern und den Fluss freilegen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung, in der dieselben Schauspieler auftreten wie in der Haupthandlung. Diese ist an Originalschauplätzen gedreht – vor dem Wasserwerk von Mingəçevir. Die Haupthandlung ist durch zahlreiche Aufnahmen von Naturlandschaften und Originalgebäuden als Kulisse, eher einfache Architektur bei den Innenaufnahmen sowie detailreiche Kostüme mit orientalischen Zügen gekennzeichnet. Verschiedene Filmtricks und Spezialeffekte werden verwendet, es kommt Zeichentrick sowie Blendetechnik zum Einsatz. Eine längere Sequenz, die komplett gezeichnet ist (die Bücher Elşəns werden lebendig). Echte „sprechende“ Tiere treten als „Darsteller“ auf. Märchen- und Folk lorebezug und Umgang mit Vorlagen : Folkloremutation. Durch die Verknüpfung mit der realen, in der Sowjetunion für ihr Wasserwerk bekannten Stadt Mingəçevir und der Erklärung des Sujets durch die Rahmenhandlung wird die Haupthandlung als Ortssage gekennzeichnet. Diese scheint jedoch erfunden zu sein – nach dem Drehbuch eines Folkloristen entstanden, weist der Film keine Parallelen zu Erzähltypen, wohl aber zahlreiche Folkloremotive auf. In modifizierter Form betrifft dies Mot. B11.7.1. Dragon controls water-supply und D429.2.2. Transformation: Dragon to stone, die sich allerdings beide als Betrug herausstellen. Vgl. dagegen die antagonistisch gegenübergestellten zentralen magischen Motive: Mot. D231. Transformation: Man to stone, was die Bösewichte in erster Linie gegen ihre Gegner einsetzen, und D452.1.10. Transformation: Rock to water, das erklärte Ziel der Helden. Letzteres wird allerdings rationalisiert und nicht als übernatürlich, sondern als wissenschaftliche Erkenntnis präsentiert. Ähnlich wird auch Elşəns Studium der Bücher mit einem naturwissenschaftlichen Studium gleichgesetzt, obwohl auch hier Surreales einfließt; so ist Elşən z.B. danach auch in der Lage, die Sprache der Tiere zu verstehen (Mot. B216. Knowledge of animal languages, B217. Animal language learned). Auch der „Gürtel der Weisheit“, mit dem letztlich Göygöz Kosa besiegt werden kann, ist ein rationalisiertes magisches Motiv (vgl. Mot. D1057. Magic belt, D1313.18. Magic belt assures victory). Neben der Modifikation der Semantik ist der Film auch strukturell-syntaktisch nicht märchenhaft – es findet zwar durch das Zurückhalten des Wassers eine Schädigung statt, doch der Weg zu deren Beseitigung ist nicht geradlinig dem Märchenmuster und dessen Funktionen folgend, was auch damit zusammenhängt, dass es mehrere Heldenfiguren und verschiedene, ineinander verflochtene Parallelhandlungen gibt.

297 Летающий корабль Das fliegende Schiff UdSSR – Ukraine 1960; Kinostudija im. A. P. Dovženko. Regie: Michail Juferov, Artur Vojteckij; Drehbuch: Anatolij Šijan. Darsteller: Igor’ Eršov, Larisa Gordejčik, Ada Rogovceva, Robert Kljavin u.a. Vorlage: Volksmärchen von Pokatigorošek/Kotigoroško (vgl. Af. 133, 134). Inhaltsangabe: Kotigoroško ist zwar noch ein kleiner Junge, aber er verfügt bereits über außergewöhnliche Kräfte. Eines Tages raubt ein böser Drache seine Schwester Alenka, und er macht sich auf, sie zu retten. Auf seinem Weg befreit er einen Schnelläufer aus einer Falle und gibt dem angeketteten Recken Vernigora ein Stück Brot, womit dieser seine Stärke zurückgewinnt. Och, der Diener des Drachen, versucht dagegen, den Jungen zu vernichten, aber ohne Erfolg. In einem verwunschenen Wald trifft Kotigoroško schließlich auf die junge Lebeduška, eine Gefangene des Drachen, die von diesem bezaubert wurde. Sie rät ihm, zu den Menschen zurückzukehren und sich dort Hilfe zu holen. Der Drache gibt unterdes ein rauschendes Fest, zu dem allerlei sinistres Volk geladen ist. Er fragt großspurig, ob es irgendjemand gäbe, der es mit ihm aufnehmen könne. Och berichtet ihm von Kotigoroško, der fast bis an die Grenzen seines Reiches vorgedrungen sei. Doch der Drache glaubt sich sicher, da die Menschen über kein Schwert verfügten, das ihn besiegen könne. Kotigoroško aber lässt sich unterdes ein ebensolches Schwert schmieden, um sich dann erneut auf den Weg zu machen. Er kommt zu einer Quelle, in der das Wasser des Lebens fließt. Die dort lebenden Kosaken zeigen ihm außerdem eine mächtige Eiche, aus deren Stamm man ein fliegendes Schiff machen könne. Es gelingt dem Jungen, den Baum zu fällen, und so kann er seinen Weg mit dem fliegenden Schiff fortsetzen. Der Drache schickt Kotigoroško seinen Bruder und seine beiden Schwestern entgegen, doch sie unterliegen ihm. Och dagegen kann den Jungen aus einem Hinterhalt mit einem vergifteten Pfeil niederstrecken. Hilfe naht in Gestalt des Schnelläufers, der ihn mit dem Wasser des Lebens heilt. Nun betritt Kotigoroško das Reich des Drachen, wo es zum finalen Kampf kommt. Der Drache wird getötet, alle seine Gefangenen werden erlöst. Nur Alenka fehlt – sie hat der Drache töten lassen, da sie ihn nicht heiraten wollte. Doch zum Glück hat Kotigoroško noch vom Wasser des Lebens, und so können die Geschwister schließlich gemeinsam nach Hause zurückkehren. Filmgestaltung, Besonderheiten: Schriftlicher Prolog und Erzählerstimme. Der Drache wird nicht als echsenhaftes Ungeheuer dargestellt, sondern von einem Menschen ohne besondere Kostümierung verkörpert. Ansonsten sind die Kostüme des Helden und der Dörfler angedeutet-folkloristisch, die übrigen Figuren tragen exzentrisch-stilisierte Phantasiekostüme. In der Kleidung der positiven Figuren dominiert weiß, bei der der Bösen überwiegt schwarz. Der Film verwendet ausschließlich Studiokulissen und -ausstattung, die zum Teil sehr stilisiert ist, so z.B. durch aufgemalte Hintergründe. Das Reich des Drachen ist in sehr schattenreicher Beleuchtung und mit viel waberndem verschiedenfarbigem Rauch gestaltet. Zauberei wird überwiegend mit einfachen Mitteln wie Puppenspiel oder optische Täuschung dargestellt, aber auch einige Explosionstricks kommen zum Einsatz. Herausstechend durch ihre exzentrische Inszenierungsart ist die von Jazzmusik untermalte Szene des Festbanketts beim Drachen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 312D Brother Saves His Sister and Brothers from the Dragon = ATU 312D Rescue by the Brother bzw. AA *312 I = SUS 312D Katigorošek. Das im ostslavischen und insbesondere ukrainischen Raum sehr populäre Sujet ist im Film schwach zu erkennen – es fehlen sowohl die erfolglosen älteren Brüder als auch die Wundergeburt des

298 Helden aus einer Erbse695, geblieben ist die entführte Schwester, der Kampf mit dem Drachen und das Wasser des Lebens. In manchen Varianten des Typs (vgl. Af. 134) wird auch noch vom Kampf des Helden mit Verwandten des Drachen berichtet, die diesen rächen wollen – dies zeigt der Film in abgewandelter Form. Nicht unbedingt typisch ist der Auftritt Kotigoroškos als kleiner Junge, womit hier angedeutet ist, dass auch die Kleinen zu großen Taten fähig sind (vgl. Mot. L100. Unpromising hero (heroine)). Die Erscheinungsform des Drachen (zmej) in menschlicher Gestalt entspricht durchaus ostslavischer Märchentradition – hier wirken Drachen oftmals stark vermenschlicht (vgl. etwa Af. 204, 209). Ansonsten zitiert der Film in collagehafter Weise zahlreiche bekannte Märchen an: Kotigoroško berichtet, sein richtiger Name sei Ivanuška – seine Schwester heißt Alenka, was nicht nur generische Märchennamen sind, sondern auch auf das Märchen von Sestrica Alenuška, bratec Ivanuška (AaTh/ATU 450 Little Brother and Little Sister = AA/SUS Bratec i sestrica, siehe Af. 260- 263) verweist. Der Name Och wiederum ist in der Regel mit dem Zauberlehrmeister aus AaTh/ATU 325 (The Magician and his Pupil = AA/SUS 325 Chitraja nauka) verbunden (siehe Af. 250). Auch die Namen der Geschwister des Drachen (Jasat, Jurza, Murza) verweisen auf andere Märchenkontexte. Das titelgebende (aber erst sehr spät auftauchende und nicht wirklich handlungsrelevante) fliegende Schiff stammt ebenfalls aus einem eigenen Märchen (AaTh 513B The Land and Water Ship = AA/SUS 513B Letučij korabľ, siehe Af. 144; vgl. auch Mot. D1118. Magic airships). Die tote Alenka in ihrem gläsernen Sarg an goldenen Ketten hängt, erinnert an die Puškin’sche Variante des Schneewittchenmärchens (O mertvoj carevne i semi bogatyrjach696). Zahlreiche weitere Zitate aus Märchen und Kindergeschichten ziehen sich durch den Film, teils ausführlicher, teils nur in visuellen Andeutungen – so lassen sich etwa unter den Gästen des Drachen verschiedene bekannte Schurken erkennen, wie etwa Karabas-Barabas (Buratino) oder der Wolf mit den drei kleinen Schweinchen.

Хрустальный башмачок [Der Kristallpantoffel] UdSSR – Russland 1960; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou, Rostislav Zacharov; Drehbuch: Aleksandr Gincburg, Rostislav Zacharov, Aleksandr Rou. Darsteller: Raisa Stručkova, Gennadij Ledjach, Elena Vanke u.a. Vorlage: Ballett Zoluška nach der Musik Sergej Prokof’evs und dem Libretto Nikolaj Volkovs (1945). Volksmärchenparaphrase (vgl. KHM 21, auch Perrault 1986, S. 95-104). Inhaltsangabe: Zoluška wird von ihrer Stiefmutter und deren Töchtern wie eine Dienstmagd gehalten, der schwache Vater wird von ihnen tyrannisiert. Eine alte Bettlerin erscheint. Die Stiefschwestern wollen sie fortjagen, Zoluška jedoch gibt ihr ihren einzigen Kanten Brot. Zum großen Ball im Königsschloss wird Zoluška nicht mitgenommen – als sie davon träumt und für sich selbst tanzt, erscheint auf einmal wieder die Bettlerin. Sie schenkt ihr ein Paar kristallener Tanzschuhe und verwandelt sich in eine schöne Fee. Kurz darauf erscheinen dann auch die Feen der vier Jahreszeiten, von denen jede Zoluška etwas für den Ball schenkt. Der Zwerg der zwölften Stunde dagegen erinnert sie daran, dass sie um Mitternacht wieder zu Hause sein muss. Unterdes blamieren sich auf dem Ball Stiefmutter und Stiefschwestern durch ihre plumpen Versuche, sich an den Prinzen heranzumachen. Zoluškas Erscheinen ruft große

695 Mot. T511.3. Conception from eating vegetable. 696 Siehe Osennie kolokola (1978).

299 Bewunderung bei allen hervor. Der Prinz jedoch ist besonders bezaubert von ihr, und er weicht nicht mehr von ihrer Seite und lässt keinen anderen mit ihr tanzen. Da taucht jedoch der mahnende Zwerg der zwölften Stunde auf: Zoluška eilt davon und verliert dabei einen ihrer Kristallpantoffel. Der Prinz setzt darauf alles daran, den zweiten Schuh und dessen Trägerin zu finden – dafür bereist er die ganze Welt: Er kommt nach Andalusien und in den Orient und erregt an beiden Orten mit seinen Schuhproben Eifersuchtsszenen, Zoluška aber findet er nicht. Schließlich kommt er ins Haus der Stiefmutter – beide Stiefschwestern und sogar die Stiefmutter reißen sich um den Schuh. Als er der Stiefmutter nicht passt, will sie sich mit einer Schere die Zehen abschneiden – Zoluška geht dazwischen, verliert dabei den zweiten Schuh und wird vom Prinzen erkannt: Ende gut, alles gut. Filmgestaltung, Besonderheiten: Ballettfilm ohne Sprache. Die Kulisse ist größtenteils mehr oder weniger deutlich erkennbar eine Ballettbühne, erscheint allerdings großräumiger und zumindest ansatzweise filmisch naturalisiert, auch wird der Hintergrund öfters durch filmische Blendverfahren gewechselt. In der Rolle der Bettlerin (ohne Tanzparts) erscheint der von Rou öfters in Frauenrollen eingesetzte Georgij Milljar. Durch Filmtricks gelöst sind das Erscheinen der Bettlerin aus dem Nichts, ihre Verwandlung in die schöne Fee und die anschließenden Auftritte der Feen der vier Jahreszeiten vor jeweils unterschiedlichen Hintergründen, am Ende schließlich das erneute Erscheinen der Fee und deren Wegzaubern der beiden Liebenden in den Palastgarten. Der zweimalige Auftritt des Zwergs und der tanzenden Zwölfen als Mahnung für Zoluška erinnert sehr stark an eine andere filmische Variante des Stoffes aus der Frühzeit des Films, Georges Méliès’ Cendrillon (1899), und wirkt wie ein visuelles Zitat. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 510A Cinderella = SUS 510A Zoluška. Das Prokof’evsche Ballett, das seinerseits eng dem Typ folgt, wird fast ohne Variationen umgesetzt. Enthalten und darstellerisch umgesetzt ist auch dessen musikalisches Selbstzitat – die Stiefschwestern streiten sich auf den Ball um die drei Orangen des Prinzen, womit auf die Oper Ľubov’ k trem apeľsinam angespielt wird, ein anderes Werk des Komponisten nach einem Märchenstoff (AaTh/ATU 408 The Three Oranges = AA/SUS 408 Ľubov’ k trem apeľsinam). Die dankbare alte Bettlerin, die sich als Fee erweist, ist als Modifikation der Feenpatin bei Perrault zu sehen (vgl. Mot. Q44. Reward for almsgiving; F330. Grateful fairies; siehe auch Die Feen bei Perrault 1986, S. 90-94). Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 67-72; Sputnickaja 2010, S. 106-109

Алые паруса Das purpurrote Segel UdSSR – Russland 1961; Mosfiľm. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Aleksej Jurovskij, Aleksej Nagornyj. Darsteller: Anastasija Vertinskaja, Vasilij Lanovoj, Lena Čeremšanova, Saša Lupenko u.a. Vorlage: Aleksandr Grin: Alye parusa (1923; Grin 1994, S. 5-72). Inhaltsangabe: Der Seemann Longren kehrt nach längerer Zeit nach Hause zurück. Er muss feststellen, dass seine Frau Meri nach der Geburt ihrer Tochter Assoľ an einer Krankheit verstorben ist. Der Wirt Menners wollte ihre schwere Situation ausnutzen und ihre Liebe erzwingen, doch sie hat sich verweigert. Longren zieht Assoľ liebevoll auf. Er beginnt, Spielzeugschiffe zu schnitzen und zu verkaufen. Eines Tages sieht er, wie Menners bei einem Sturm mit seinem Boot aufs

300 Meer hinausgetrieben wird, doch er kommt ihm nicht zu Hilfe. Seither ist er unter der Bevölkerung verrufen, und die kleine Assoľ wird von den anderen Kindern geschnitten und gehänselt, weshalb sie sich in Phantasiewelten flüchtet. Eines Tages trifft sie auf einen geheimnisvollen Fremden, der ihr erzählt, dereinst werde ein Prinz in einem Schiff mit leuchtend roten Segeln kommen und sie mitnehmen. Auch wenn dies Quelle für erneuten Spott ist, glaubt das Mädchen fest daran. Unterdes wächst in einem Schloss der Grafensohn Artur Grej heran, der zum Leidwesen seiner strengen Eltern nichts von den ruhmvollen Ahnen wissen will, sondern lieber mit den Dienstboten spielt und seinen Träumereien über die Seefahrt nachhängt. Als er ein junger Mann geworden ist, gerät er mit seinem despotischen Vater in Streit und beschließt, sein Elternhaus für immer zu verlassen. Er heuert auf dem Schiff des raubeinigen Kapitän Gop als Matrose an – obwohl dieser zunächst skeptisch ist, erweist Grej sich als äußerst tüchtig. Schließlich erkennt Gop in ihm Kapitänsqualitäten und macht ihm daher ein eigenes Schiff zum Geschenk. Auch Assoľ ist mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen. Ihren Traum von dem Prinzen hat sie immer noch nicht vergessen, und sie wird von allen als Sonderling betrachtet. Eines Tages verschlägt es Grej in die Gegend, und er findet die schlafende Assoľ im Wald. Er ist von ihr bezaubert und steckt ihr einen Ring an den Finger. Als sie erwacht, weiß sie, dass ihr Prinz naht. Grej erfährt von Assoľs Geschichte, und er beschließt, ihren Traum wahr werden zu lassen. Er kauft für sein Schiff leuchtend rote Segel und geht damit vor Assoľs Dorf vor Anker. Vor den staunenden Augen der Menschenmenge, die sich versammelt hat, nimmt er die glückliche Assoľ mit sich. Wunder, so weiß er, können wahr werden, wenn man sie mit den eigenen Händen bewirkt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Existiert auch in einer Breitbild-Version. Die naturalistische, visuell opulente Austattung des Films lässt eine genaue nationale und zeitliche Einordnung nicht zu, Kostüme und Architektur (verschiedene Drehorte) erscheinen als ein diffuser Mix, am ehesten an die Mitte des 19. Jahrhunderts und Südeuropa erinnernd. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Grins „Féerie“ (Eigenbenennung) ist ein sehr kunstvolles Werk mit einem eigentümlichen Strukturgefüge, das in einer Art Märchenwelt697 spielt und, obwohl es ohne tatsächliche Magie oder übernatürliche Momente auskommt, transformierte Motive aus der Folklore erkennen lässt (vgl. Mot. L102. Unpromising heroine, L162. Lowly heroine marries prince (king); siehe auch AaTh 510 ff. (sog. Cinderella Cycle); daneben Mot. T11.3. Love through dream; N711. King (prince) accidentally finds maiden in woods (tree) and marries her) – im Kern die märchenhafte Formel, dass der vorgeblich Schwache am Ende triumphiert. Während bei Grin vereinzelte Verweise auf die Neuzeit zu finden sind, verlegt der Film die Handlung in eine stilisierte Vergangenheit. Die Geschichten der beiden Helden vor ihrer Zusammenführung werden zunächst in Form von Parallelhandlungen698 erzählt – während der Film sich bei der Handlungslinie um Assoľ relativ eng an die Vorlage hält, geht er mit der um Grej699 im Gegenteil äußerst frei um und webt antifeudalistische Töne ein: In der Vorlage sind seine Eltern reich, aber keine Ausbeuter, und sie begegnen den Träumereien ihres Sohnes mit Nachsicht bis Desinteresse statt mit Tadel und Verweisen. Es kommt darin auch zu keinem gewaltsamen Bruch mit dem Vater, sondern zu einem heimlichen Ausreißen, um zur See zu gehen – aus einer romantischen Spinnerei heraus, und der behütete Jüngling entwickelt sich

697 Der Literaturkritiker Kornelij Zelinskij prägte im Zusammenhang mit der Vorliebe Grins, in seinen Werken immer wieder dieselben geographischen Phantasienamen zu verwenden, diese aber auch zu realen Orten in Bezug zu setzen und damit gewissermaßen eine eigene Topographie zu schaffen, den Begriff ,Grinlandija’ als das Land, worin Grins Geschichten angesiedelt sind. Dieses weist manchmal phantastische und öfters durchaus auch märchenhafte Züge auf. 698 Im Prinzip eine Parallelmontage mit jeweils recht langen Sequenzen. 699 Bei Grin in der Schreibweise Grėj.

301 erst in der Schule des raubeinigen Gop zum tüchtigen Seemann (im Film existiert die Verzärteltheit Grejs nur als Vorurteil Gops). Zum Kapitän wird er bei Grin nicht durch Vermittlung Gops, sondern weil er sich mit elterlichem Geld700 ein eigenes Schiff kauft. Weiterhin schiebt der Film eine unmotiviert wirkende Szene ein, in der Grej in der Stadt Zurbagan (bekannt aus anderen Werken Grins) vor Anker geht und sich als Unterstützer der dort vor sich gehenden revolutionären Bewegung zeigt. Schließlich finden sich die Aussagen Grejs, dass man Wunder mit seinen eigenen Händen erwirken müsse, nicht in der Vorlage, die die wundergleichen Vorgänge ohne moralisierende Erklärung einfach geschehen lässt. Literaturhinweise/Besprechungen: Sputnickaja 2010, S. 51

Вечера на хуторе близ Диканьки : Ночь перед рождеством Die Nacht vor Weihnachten UdSSR – Russland 1961; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie, Drehbuch: Aleksandr Rou. Darsteller: Georgij Milljar, Aleksandr Chvylja, Ljudmila Myznikova, Jurij Tavrov u.a. Vorlage: Nikolaj Gogoľ: Noč’ pered roždestvom (1832; Gogoľ 1940, S. 201-243). Inhaltsangabe: Es ist die Nacht vor Weihnachten in einem ukrainischen Dorf. Der Teufel hegt einen Groll auf den Schmied Vakula, der ihn in einem Bild verunglimpft hat, und beschließt, ihm einen Streich zu spielen: Er stiehlt den Mond, um den Kosaken Čub abzuhalten, das Haus zu verlassen. In dessen Tochter Oksana ist Vakula verliebt, und er hofft, damit das Stelldichein zu verhindern. Čub aber verlässt trotzdem das Haus, und Vakula sucht Oksana auf. Das stolze Mädchen hat allerdings nur Spott für ihn übrig: Erst, wenn er ihr solche Stiefelchen bringt, wie sie die Zarin trägt, will sie ihn heiraten. Unterdes schäkert Vakulas Mutter, die Dorfhexe Solocha, in ihrem Haus mit dem Teufel herum, als auf einmal der Dorfvorsteher vor der Tür steht: Auch er hat ein Auge auf die sinnliche Solocha geworfen. Der Teufel wird in einem Kohlesack versteckt, doch auch für den Dorfvorsteher dauert die traute Zweisamkeit nicht lange – er muss ebenfalls in einen Sack kriechen, als der Kirchendiener vor der Tür steht, und dieser muss sich wiederum verstecken, als auch noch Čub erscheint. Als Vakula nach Hause kommt, verbirgt sich auch dieser in einem Sack. Vakula wiederum wundert sich über die herumstehenden Kohlesäcke und bringt sie hinaus. Den Sack mit dem Teufel nimmt er mit sich, und es dauert nicht lange, da findet er heraus, wen er auf dem Rücken getragen hat: Der Teufel ist auch gleich bereit, ihm bei der Eroberung Oksanas zu helfen. Auf einen Teufelspakt aber lässt sich der Schmied nicht ein – vielmehr prügelt er den Teufel durch und zwingt ihn, ihm zu Diensten zu sein: Er muss ihn auf seinem Rücken bis nach St. Petersburg fliegen. Dort kommt er schließlich in den Palast der Zarin, die ihm auch tatsächlich ihre Stiefelchen schenkt. Im Morgengrauen bringt der Teufel ihn ins Dorf zurück. Hier haben unterdes die Säcke mit den verhinderten Liebhabern für einige komische Verwicklungen gesorgt. Über Vakula aber geht das Gerücht um, er habe sich aus Liebeskummer umgebracht. Umso mehr tut es Oksana leid, wie sie ihn behandelt hat. Doch wenig später steht der Schmied nicht nur quicklebendig, sondern auch noch mit den Stiefelchen der Zarin vor ihr. Diese aber will sie gar nicht mehr, und da auch Čub seinen Segen gibt, kann die Hochzeit stattfinden. Filmgestaltung, Besonderheiten: Im Vorspann wird zunächst ein Buch mit dem Namen Gogoľs aufgeschlagen, und bei den

700 Der Vater ist bei Grin mittlerweile verstorben, zu seiner Mutter aber hält er weiter Kontakt. Im Film ist umgekehrt die Mutter verstorben, als es zum Bruch mit dem Vater kommt.

302 Produktionsdaten werden die Figuren und ihre Darsteller als animierte Karikaturen gezeigt, zu denen eine Stimme aus dem Off jeweils die entsprechenden einführenden Zeilen aus dem Gogoľschen Text zitiert. Die Erzählerstimme ist auch während des Films öfter mit Passagen daraus zu hören; ansonsten werden öfter durch Voice Over Gedanken der Figuren präsentiert. Der Film weist, insbesondere bei der Darstellung des Übernatürlichen, eine sehr bilderbuchhaft-stilisierte Bildsprache auf, so etwa in den Episoden mit Solocha auf ihrem Besen, die am Himmel spielzeugähnliche Sterne einsammelt. Dieser Stil wechselt sich ab mit folkloristischen Szenen insbesondere beim lustigen Treiben während des Koljada-Singens, das mit nahezu ethnographischer Genauigkeit abgebildet wird. Die Kostüme der Menschen sind folkloristisch gestaltet; der Teufel gleicht in seiner Erscheinungsform einer Art haarigem Tierchen (der Gogoľschen Beschreibung nahe). Die bildliche Teufelsdarstellung Vakulas wird in Form einer Zeichentricksequenz präsentiert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 1730 The Entrapped Suitors = AA/SUS 1730 Pop, ďjakon i ďjačok u krasavicy + AaTh 330 The Smith Outwits The Devil = ATU 330 The Smith and the Devil = AA/SUS 330A Soldat (kuznec) i čert (smerť). Gogoľs Erzählung weist starke syntaktisch-strukturelle Parallelen zu zwei Erzähltypen auf – ein schwankhafter Typ lässt sich in der Episode der voreinander versteckten Liebhaber Solochas ausmachen (AaTh 1730), der Erzählstrang um Vakula und den Teufel als dessen unfreiwilliger Helfer lässt sich mit dem schwankähnlichen Zaubermärchen AaTh 330 in Verbindung bringen, worin ein Schmied, der einen Teufelspakt eingegangen ist, den Teufel überlistet und in einen magischen Sack wünscht. Daneben findet sich in der Erzählung das komisch ausgestaltete, ursprünglich mythische Motiv des Mondraubes (vgl. Mot. A758. Theft of moon). Im Grunde hält sich der Film eng an die Vorlage, auch durch teilweise Verwendung des Originaltextes, stellt sie aber in kindlich-naiven, farbenfrohen Bildern dar (siehe oben) – insbesondere dadurch weichen die Züge des Phantastischen, die die Vorlage enthält, einer verspielt- märchenhaften Ästhetik. Das von Vakula gemalte Bild als Zeichentricksequenz erinnert etwa wenig an eine Kirchenmalerei. Überhaupt reduziert der Film das religiös-christliche Element sehr stark, was am Auffälligsten ist, als Vakula sich den Teufel nicht mit der Bekreuzigungsgeste, sondern lediglich mit seiner Muskelkraft gefügig macht. Durch das Fehlen des religiösen Elementes wirkt die Erfüllung von Oksanas Forderung, die Stiefel der Zarin zu besorgen, mehr wie eine märchenhafte Brautwerberaufgabe (vgl. Mot. H335.0.2. Girl assigns tasks to her suitors, Mot. H355. Suitor test: finding an extraordinary object). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 167-170; Paramonova 1979, S. 72-74; Sputnickaja 2010, S. 109-111

Лесная песня Лісова пісня701 [Das Waldlied] UdSSR – Ukraine 1961; Kinostudija im. A. P. Dovženko. Regie, Drehbuch: Viktor Ivčenko. Darsteller: Rajisa Nedaškivs’ka, Volodymyr Sydorčuk, Petro Veskljarov u.a. Vorlage: Lesja Ukrajinka: Lisova pisnja (1912; Ukrajinka 1964, S. 199-290). Inhaltsangabe: Der Wald ist bevölkert von allerlei Naturgeistern, darunter die Baumnymphe Mavka. Der junge Lukaš bezaubert sie mit seinem Flötenspiel, und die beiden verlieben sich. Mavka ist

701 Der Film wurde in der ukrainischsprachigen Originalversion gesichtet.

303 bereit, alles hinter sich zu lassen und mit Lukaš zu den Menschen zu gehen. Sein Onkel Lev, der mit der Natur im Einklang lebt, heißt die Beziehung gut, doch seine Mutter ist der Waldnymphe von Anfang an feindlich gesinnt. Unter ihrem Einfluss kühlen Lukaš’ Gefühle für Mavka deutlich ab, und als er die junge Witwe Kylyna kennenlernt, weist er sie schließlich von sich. Als er sich entscheidet, Kylyna zu heiraten, lässt sich die verzweifelte Mavka von einem Todesgespenst mitnehmen. Lukaš wird von Mavkas Vater, dem Waldgeist, in einen Werwolf verwandelt. Als Onkel Lev und mit ihm die letzte Verbindung zwischen Mensch und Natur stirbt, sehen die Naturgeister nun keine Veranlassung mehr, Lukaš’ Familie zu schonen, und sie suchen sie mit Plagen heim. Durch Lukaš’ Tränen erwacht Mavka wieder zum Leben, denn ihre Liebe ist noch nicht erloschen. Er wird wieder ein Mensch. Mavka kommt zu seiner Hütte, wo sie auf Kylyna trifft. Als sie von dieser verflucht wird, verwandelt sie sich in eine Trauerweide. Kylyna will sie fällen, doch da versetzt der Feuergeist die Hütte in Flammen und lässt sie niederbrennen. Lukaš kehrt nicht mit Kylyna, deren Kindern und seiner Mutter ins Dorf zurück, er erkennt die Seelenlosigkeit der Menschen und flüchtet in den Wald. Dort beginnt er, auf seiner Flöte zu spielen, träumt vom Glück mit Mavka und spielt immer weiter, bis er im Schnee erfroren ist. Filmgestaltung, Besonderheiten: Angedeutete Rahmenhandlung, in der eine junge Frau einem jungen Mann die Geschichte vorliest (die Darsteller der Protagonisten). Die Kostüme sind einfach gestaltet, mit angedeutet folkloristischen Zügen. Hauptschauplatz ist der Wald: Der Film macht ausführlichen Gebrauch von Naturaufnahmen zu unterschiedlicher Tageszeit und entsprechend veränderter Lichtgebung und zeigt dabei auch die verschiedenen Jahreszeiten – mit jedem Jahreszeitenwechsel, der durch deutliche Schnitte markiert ist und eine veränderte Natur zeigt, geht auch eine Veränderung in den Beziehungen der Protagonisten zueinander einher. Die Zeugenschaft der Naturgeister wird immer wieder durch kurze Einstellungen markiert, die sie in ihrem jeweiligen Element mit beobachtendem Gesicht zeigen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Lesja Ukrajinkas neoromantisches Feendrama ist in einer von zahlreichen numinosen Gestalten bevölkerten Welt angesiedelt, die alle ihre Wurzeln in der ukrainischen Folklore haben (etwa der Waldgeist – lisovyk; die Wasserrusalka; der teufelhafte Kuc’ u.a.). Als zentrales Motiv ist das der Mahrtenehe zu sehen, das in der Folklore häufig anzutreffen ist (vgl. Mot. T91.3. Love of mortal and supernatural person; T111. Marriage of mortal and supernatural being; F441.2.3.1. Man marries tree maiden). Statt einer märchenhaften Geschichte von Schädigung, Auszug und Sieg bestimmt hier das Sujet einer tragischen Liebe, die von der feindlichen Umwelt zerstört wird, die Handlung, was einerseits an die Sage, andererseits an Kunstmärchen der Romantik erinnert (vgl. etwa den Undine-Stoff). Der Film verwendet unter einigen kleineren Kürzungen ausschließlich die Dialoge der Theatervorlage, jedoch mit Besonderheiten, die insbesondere die Filmsprache betreffen. Die Möglichkeiten des Mediums Film werden genutzt, um darzustellen, was im Stück hinter der Bühne geschieht und nur in Dialogen thematisiert wird – so zeigt etwa eine elliptischen Schnittfolge alles, was sich zwischen 2. und 3. Akt abspielt, darunter die Verwandlung von Lukaš in einen Werwolf (vgl. Mot. D113.1. Transformation: man to wolf), den Todesschlaf Mavkas unter der Erde, ihr Erwachen daraus und die Entzauberung von Lukaš.

Каин XVIII [Kain XVIII.] UdSSR – Russland 1963; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova, Michail Šapiro; Drehbuch: Evgenij Švarc, Nikolaj Ėrdman.

304 Darsteller: Ėrast Garin, Lidija Sucharevskaja, Svetlana Loščinina, Jurij Ljubimov u.a. Vorlage: – (siehe aber Kommentar) Inhaltsangabe: Der fahrende Musikant Jan und die Prinzessin Milada haben sich verliebt. Miladas Mutter aber hat andere Pläne für ihre Tochter: Sie soll mit dem benachbarten König Kain XVIII. verheiratet werden. Jan und sein Kamerad Žan versprechen, sie vor diesem Schicksal zu bewahren. Kain ist der launische Despot eines Polizeistaates, dem eines Tages von einem Gelehrten das Resultat seiner langen Forschung präsentiert wird: Eine Mücke, die, wenn man sie zerschlägt, eine Explosion auslöst. Der Gelehrte gedenkt, diese zum Wohle der Menschheit einzusetzen, doch Kain reizt vielmehr ihr Potential als Massenvernichtungswaffe, die ihm den Weg zur Weltherrschaft ebnen könnte. Der entsetzte Wissenschaftler wird ins Gefängnis geworfen. Durch eine Kette von komischen Abenteuern landet Žan in der Wohnung des Gelehrten, nimmt dort die Super-Mücke an sich und tauscht sie gegen eine gewöhnliche Mücke aus, die ins Schloss gebracht wird. Die Hochzeit Kains mit Milada steht unterdes bevor, und alle Pläne des Liebespaars, sie zu verhindern, scheinen fehlzuschlagen. Da geht das Gefäß mit der angeblichen Super-Mücke zu Bruch – diese kommt frei, und eine Massenpanik bricht aus. Kain lässt für sich eine Reihe von absurden Sicherheitsvorkehrungen treffen. Als er von Miladas Verbindung mit Jan erfährt, ordnet er ihre Hinrichtung an. Kurze Zeit später landet dann eine Mücke auf seiner Nase – niemand traut sich, sie zu zerschlagen, denn es könnte ja die Super-Mücke sein. Klammheimlich macht sich Kains gesamter Hofstaat aus dem Staub – er bleibt alleine zurück, und die Mücke will und will nicht von seiner Nase davonfliegen. Unterdes steht Miladas Hinrichtung bevor. Jans Plan, seine Liebste zu retten, geht schief, und er wird ebenfalls gefasst. Doch gerade noch rechtzeitig taucht Žan auf, der mit dem Gefäß mit der echten Super-Mücke Panik verbreiten und die Freilassung der beiden sowie des Gelehrten erwirken kann. Mit dem Vorsatz, jemanden zu finden, der die Mücke zum Wohle der Menschheit einsetzt, ziehen die vier davon. Kain jedoch, dem ein völlig harmloses Insekt auf der Nase saß, ist mittlerweile vor lauter Angst gestorben. Filmgestaltung, Besonderheiten: Schriftlicher Prolog; anschließend treten die beiden Musikanten auf und singen ein Lied, mit dem sie die vierte Wand brechen und das Märchen ankündigen. Hochgradig stilisierte, theaterhafte Ausstattung mit unverkennbaren Studiokulissen, die diesen Fakt nicht zu verbergen suchen, diffusem Stilmix bei den Kostümen und wild eingestreute Anachronismen (Kain bei der Morgengymnastik, Fahndungsfotos der Musikanten etc.). Kains Auftritt vor der Presse und seine gebrüllte, aus unartikulierten Lauten bestehende Rede wirkt wie ein Filmzitat – sie erinnert sehr stark an die entsprechende Szene um die Rede des Adenoid Hynkel in Charles Chaplins The Great Dictator (1940). Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation. Die Drehbuchendfassung stammt von Nikolaj Ėrdman, zugrunde liegt ein unvollendeten Drehbuch des 1958 verstorbenen Evgenij Švarc, der darin einige Elemente seines bis dahin aus Zensurgründen unveröffentlichten Stückes Golyj koroľ (1934, erstmals erschienen 1960) verwendet. Darin folgt die Haupthandlungslinie dem Andersen-Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, doch die entsprechenden Elemente eliminiert der Film komplett. Zitiert wird hier vielmehr die biblische Kain-Geschichte: Auch der Kain des Films tötet in einem „Probelauf“ der Mücke seinen Bruder Abel (vgl. Mot. S73.1. Fratricide). Der Film richtet sich, wie im Prolog explizit ausgedrückt wird, nicht an Kinder und nutzt die Form Märchen, um in zwar allegorischer, aber erstaunlich eindeutiger Weise Bezug auf zeitgeschichtliche Ereignisse zu nehmen und auf die Gefahren der Atombombe hinzuweisen. Märchenspezifisch ist, dass Raum und Zeit nicht konkretisiert werden, was durch die theaterhaft-stilisierte Ausstattung betont wird; der Handlungsraum wird als Königreich in

305 einer prä-technischen Vergangenheit (wenn auch unter humoristischem Einsatz von Anachronismen) mit entsprechendem Figurenarsenal präsentiert (Märchenwelt). Die Super- Mücke, eine Allusion auf die Atombombe, dient als „märchenhaftes“ Element des Übernatürlich-Außergewöhnlichen, wobei es sich um kein Folkloremotiv, sondern um ein dem Märchengenre angepasstes semantisches Element der Science Fiction bzw. Naučnaja Fantastika handelt.

Королевство кривых зеркал Im Königreich der Zauberspiegel UdSSR – Russland 1963; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Vitalij Gubarev, Lev Arkaďev. Darsteller: Olja Jukina, Tanja Jukina, Taťjana Baryševa, Andrej Stopran u.a. Vorlage: Vitalij Gubarev: Korolevstvo krivych zerkal (1951; Gubarev 2008). Inhaltsangabe: Die sowjetische Drittklässlerin Olja weist eine ganze Reihe schlechter Angewohnheiten auf, gesteht sich diese aber nicht ein. Als sie alleine zu Hause ist, beginnt auf einmal der Spiegel in der Wohnung mit ihr zu sprechen – er lädt sie ein, einen Blick von außen auf sich selbst zu werfen. Sie steigt in ihn hinein und trifft auf ihr eigenes Spiegelbild, Jalo. Die beiden Mädchen befinden sich in einem merkwürdigen Märchenkönigreich, in dem überall Spiegel aufgehängt sind, die die Realität verzerrt darstellen – das unterdrückte Volk soll darüber hinweggetäuscht werden, wie die Zustände wirklich sind. Olja und Jalo bekommen mit, wie sich ein Junge dagegen auflehnt und dafür von einem bösen Minister in einen Turm gesperrt und zum Tode verurteilt wird. Sie beschließen, ihm zu helfen. Als Pagen verkleidet können sie zum König vordringen, doch dieser stellt sich als geistlose Marionette seiner drei skrupellosen Berater heraus. Diese planen insgeheim seinen Sturz, intrigieren aber auch gegeneinander, da jeder auf den Königsthron hofft. Olja und Jalo können einen der beiden Schlüssel für den Turm entwenden und damit entfliehen. Als die Mädchen am Turm ankommen, hat Jalo den Schlüssel allerdings verloren, und sie müssen sich aufmachen, den Zweiten zu besorgen. Bevor sie jedoch an diesen herankommen, haben sie noch eine ganze Reihe von Abenteuern zu bestehen. Dabei nimmt Olja an Jalo ihre eigenen schlechten Angewohnheiten wahr, was ihr hilft, sie selbst zu überwinden. Schließlich können die Mädchen den Jungen befreien, und die Bösewichte werden in Tiere verwandelt. Olja findet sich kurz darauf in der zeitgenössischen Realität wieder – sie hat sich grundlegend gebessert. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Wirklichkeit der Gegenwart wird naturalistisch dargestellt, während die Parallelwelt des Königreichs der krummen Spiegel mit stilisierten Bauten und Kulissen sowie Kostümen in grellen Farben, die als exzentrische Mischung von Moden aus verschiedenen Zeiten und reinen Phantasiekreationen erscheinen, als zeit- und raumlos charakterisiert wird. Ažab, einer der Berater des Königs, hat durch grünliche Schminke, Gesichtswarzen und Glatze ein krötenähnliches Aussehen, bei den anderen bösen Figuren sind die Andeutungen auf die Tiernatur im Kostüm dezenter. Nach der Flucht der Mädchen werden zahlreiche Außenaufnahmen mit Naturlandschaften eingesetzt, die u.a. den Hintergrund für eine abenteuerliche Verfolgungsjagd bieten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Die Vorlage ist eine Kindergeschichte des Sowjetautors Gubarev, die sich der Mittel des Crossover-Märchens bedient, um eine didaktische Botschaft zu vermitteln. Während Olja und ihr Spiegelbild Jalo charakterlich einander entsprechen und Olja deshalb

306 bei Jalo ihre eigenen Fehler erkennt, ist das Spiegelkönigreich in deutlicher Antagonie zur sowjetischen (Soll-)Realität aufgebaut – eine Klassengesellschaft, in der das einfache Volk unterdrückt und ihm eine schöne Scheinrealität nur vorgegaukelt wird.702 Hierfür dienen die Zauberspiegel, ein stark transformiertes märchenhaftes Motiv (vgl. Mot. D1163. Magic mirror), das in einen folklorefernen spezifischen Kontext gestellt wird (vgl. dazu auch Andersens Schneekönigin). Der Film ändert einige Details (so das Alter der Protagonistinnen, die in der Vorlage 11 Jahre alt sind) und ist sonst vergleichsweise werkgetreu (Gubarev ist Mitautor des Drehbuchs), doch schwächt er den penentrant belehrenden Ton der Vorlage ab und betont so mehr den Abenteuercharakter des Geschehens. Die in der Vorlage immer wieder anklingende Thematik der revolutionären Bestrebungen im Volk ist im Film lediglich in einer Aussage des bösen Ministers Koršun präsent. Es ist keine ausgeprägt märchenhafte syntaktische Struktur zu erkennen – eine Schädigung findet statt (die Gefangennahme des Jungen Gurd), doch der Weg der beiden Mädchen zu dessen Rettung wird nicht geradlinig in Stationen über Helfer, Schenker oder Hilfsmittel gelöst, und immer wieder wird auf den Reformierungsprozess Oljas hingewiesen. Die Verwandlung der Bösewichte in Tiere (vgl. Mot. Q551.3.2. Punishment: transformation into animal)703 ist Zusatz des Films; die Ausdeutung ist ein modifiziertes Folkloremotiv: Die Bösewichte nehmen die Gestalt an, die ihrem wahren Wesen entspricht – das sich in ihren rückwärtsgelesenen Namen ausdrückt (vgl. Mot. Q584. Transformation as fitting punishment). Während die Vorlage am Schluss noch das jubelnde Volk, das nun besseren Zeiten entgegensieht, erwähnt, ehe Olja durch den Spiegel in ihre Welt zurückkehrt, findet sie sich im Film relativ unvermittelt in der Wohnung der Großmutter wieder, womit der traumhafte Charakter des Geschehens impliziert wird. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 74-77; Sputnickaja 2010, S. 112-114

Морозко Abenteuer im Zauberwald ([Der Frost704]) UdSSR – Russland 1964; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Michail Voľpin, Nikolaj Ėrdman. Darsteller: Aleksandr Chvylja, Nataľja Sedych, Ėduard Izotov, Inna Čurikova u.a. Vorlage: Volksmärchen von Morozko (vgl. Af. 95, 96). Inhaltsangabe: Die herzensgute Nasten’ka hat unter ihrer tyrannischen Stiefmutter zu leiden, die ihr die schwersten Arbeiten aufträgt, ihre eigene faule Tochter Marfuška dagegen verhätschelt. Unterdes bricht in einem anderen Dorf Ivan zu einer Wanderschaft auf, ein eitler, selbstsüchtiger und von sich eingenommener junger Mann. Ein Zwerg schenkt ihm einen magischen Bogen, doch er hält es nicht für nötig, sich zu bedanken – das soll doch ein Bär übernehmen. Kurz darauf trifft Ivan auf Nasten’ka, der er mit seiner Prahlerei gar nicht imponieren kann. Da trifft ihn der Zauber des Zwerges: Ihm wächst ein Bärenkopf. Er gibt zwar Nasten’ka die Schuld, doch kurz darauf muss er erfahren, dass er sich die Verwandlung selbst zuzuschreiben hat und sie nur durch Läuterung wieder rückgängig machen kann. Ivan macht sich daran, gute Taten zu vollbringen, doch da er dies zunächst nur aus Berechnung und nicht aus reinem Herzen tut, dauert es noch eine ganze Weile, bis er den Zauber schließlich 702 Grundsätzlich bietet sich durch die Spiegelmetapher auch eine andere Interpretationsmöglichkeit an – das Königreich als Spiegelbild der gesellschaftlichen Umstände in der Sowjetunion; doch scheint diese Lesart keineswegs in der Intention des Autors zu liegen. 703 Vgl. dazu auch Poka b’jut časy (1976), Prikjučenija Arslana (1988). 704 Als Eigenname des personifizierten Naturphänomens, Diminutivform.

307 brechen kann. Unterdes versucht die Stiefmutter, Marfuška unter die Haube zu bekommen – da aber die Freier alle Nasten’ka bevorzugen, befiehlt sie ihrem schwachen Mann zornig, diese im tiefsten Winter in den Wald zu bringen und auszusetzen. Ivan macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Nasten’ka, und dabei trifft er auf die schrullige Baba-Jaga in ihrer Hütte auf Hühnerbeinchen. Statt ihm zu helfen, versucht diese, ihn in ihrem Ofen zu braten. Ivan erweist sich jedoch als schlauer und trickst sie aus. Nasten’ka hat indessen im Wald eine Begegnung mit Morozko, dem Frost, einem gutmütigen Großväterchen, das ihr einen warmen Mantel gibt und sie dann mit in sein Haus nimmt. Er warnt sie davor, seinen Stab zu berühren, da dieser alles auf immer erstarren lässt. Durch einen Trick der rachsüchtigen Baba-Jaga berührt sie ihn jedoch in seiner Abwesenheit, und sie verfällt in einen Zauberschlaf. So findet sie Ivan, der bei ihr um Vergebung für sein Verhalten bittet und sie damit erwecken kann. Morozko entlässt die beiden mit Schätzen ausgestattet nach Hause. Dort sorgen sie für Aufsehen – Marfuška will auch Schätze, vor allem aber einen Bräutigam, und so geht auch sie in den Wald. Durch ihre grobe Art jedoch verärgert sie Morozko, und dieser schickt sie mit einem Spottgeschenk zurück. Ivan und Nasten’ka aber heiraten. Filmgestaltung, Besonderheiten: Prolog und Epilog – an die Stelle der für Regisseur Rou vorher typischen Guslispieler tritt erstmals die von Anastasija Zueva gespielte alte Märchenerzählerin in folkloristischem Kostüm, die ein an ein Puppentheater erinnerndes Fensterchen öffnet und sich mit formelhaften Worten an die Zuschauer wendet, die Handlung mehrfach aus dem Off kommentiert und zum Schluss wiederum mit formelhaften Worten das Fensterchen schließt. Folkloristische Holzarchitektur und Kostüme bei den beiden Dörfern und ihren Bewohnern. Ansonsten dient als Hauptschauplatz die Natur des Waldes – dieselbe Landschaft wird im ersten Teil im Sommer, im zweiten Teil im Winter präsentiert. Karikatureskes Spiel der Darsteller der negativen Figuren. Die übernatürlichen Gestalten tragen Phantasiekostüme mit folkloristischen Zügen. Zweiter Auftritt705 von Georgij Milljar in der Rolle der Baba-Jaga. Der Zwerg wird dagegen von einer von einem Mann synchronisierten zierlichen Frau gespielt. Ausgiebiger Einsatz von verschiedenen Filmtricks (Blendetechnik, Zeitraffer, Reverse Motion); insbesondere bei den Szenen mit der Baba-Jaga (bewegliche Hütte auf Hühnerbeinen, lebendige Bäume, Flug im Mörser etc.). Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 480 The Spinning Women by the Spring: The Kind and the Unkind Girls = ATU 480 The Kind and the Unkind Girls = AA 480*B/SUS 480 Mačecha i padčerica (+ neue Erzähltypenvariante – vgl. AaTh/ATU 400 The Man on a Quest for his Lost Wife = AA 401A/SUS 4001 Muž iščet isčesnuvšuju ili pochiščennuju ženu + neuer Erzähltyp). Die Handlungslinie um Nasten’ka ist eine breit ausgeschmückte, aber im Kern getreue Wiedergabe des Volksmärchens, wobei sich in einzelnen Details eine Orientierung an den Afanas’ev’schen Varianten (Af. 95, 96) zeigt. Deutlich abweichend von den Vorstellungen des Volksmärchens wirkt allerdings Morozko, der nicht als anthropomorph-bedrohliche Naturerscheinung auftritt, sondern dem gutmütigen Gabenbringer Ded Moroz („Väterchen Frost“) gleicht.706 Abgemildert ist die Bestrafung der Stiefschwester – statt der märchentypischen Tötung begnügt sich der Film mit einer „kindgerechten“ Demütigung. Der Handlungsstrang um Ivan wiederum scheint keine Volksmärchengrundlage zu haben.707 Die Geschichte um Ivans Prahlsucht und seine Läuterung (vgl. Mot. D661. Transformation as

705 25 Jahre (!) nach Vasilisa Prekrasnaja (1939). 706 Aleksandr Chvylja in der Rolle des Morozko sollte dann wiederum das Erscheinungsbild von Ded Moroz in der Sowjetunion entscheidend prägen. 707 Die Existenz des von Paramonova (1979, S. 80), Sputnickaja (2010, S. 115) und mehreren Internetquellen erwähnten angeblichen Volksmärchens Ivan s medvež’ej golovoj, das trotz intensiver Recherche nicht aufgetrieben werden konnte, wage ich in Frage zu stellen.

308 punishment; D113.2. Transformation: man to bear) erscheint schon in ihrem stark auf Moral ausgerichteten Ton nicht der tendenzlosen Volksmärchendichtung verhaftet. Ivans Suche nach Nasten’ka dagegen entspricht im Grunde AaTh 400 (vgl. auch Mot. H1385.3. Quest for vanished wife (mistress)), das üblicherweise mit anderen Erzähltypen verschiedener Prägung kombiniert wird. Die Kombination mit AaTh 480 ist nicht gängig, doch kann sie als filmische Variantenbildung in Folkloretradition gewertet werden. Von besonderem Interesse ist die Episode mit der Baba-Jaga: In ostslavischen Varianten von AaTh 400 ist eine Begegnung mit der Baba-Jaga durchaus üblich, sie tritt als Helfer- und Ratgeberfigur (Schenker) auf (vgl. z.B. Af. 267-269, 570). Auch im Volksmärchen ist die Baba-Jaga dem Ratsuchenden oft zunächst feindlich gesinnt, diese Feindlichkeit wird aber schnell mit teilweise recht harschen Worten des Helden überwunden – der Film variiert hier sehr frei, indem er das Ofenmotiv verwendet (vgl. Mot. G526. Ogre deceived by feigned ignorance of hero; G513.3.2. Ogre killed in his own oven). Ein solches Verhalten der Baba-Jaga kennt das Volksmärchen eigentlich nur, wenn sie als Entführerin agiert (vgl. Af. 106; AaTh 327 ff.) – Rat Suchenden hilft sie üblicherweise weiter. Der Film deutet eine Hilfestellung nur an; die Baba-Jaga bleibt darin eine Schurkin, die weiterhin Böses im Sinne hat. Die darauffolgende Episode, in der Nasten’ka durch die Berührung mit dem Stab Morozkos in einen Zauberschlaf versetzt wird und anschließend von Ivan daraus wieder erweckt wird, ist wiederum freie Variation von Motiven (vgl. Mot. D1960. Magic sleep; Mot. 1962.6. Magic sleep from breaking tabu). Literaturhinweise/Besprechungen: Bartsch 2009; Berger/Giera 1990, S. 171-174; Friedrich 2003, S. 76-79; Paramonova 1966, S. 81-82; Paramonova 1979, S. 79-89; Romanenko 1983, S. 10-11; Sputnickaja 2010, S. 114-117

Обыкновенное чудо [Ein gewöhnliches Wunder] UdSSR – Russland 1964; Kinostudija im. M. Gor’kogo. s/w Regie, Drehbuch: Ėrast Garin, Chesja Lokšina. Darsteller: Aleksej Konsovskij, Nina Zorskaja, Oleg Vidov, Ėrast Garin u.a. Vorlage: Evgenij Švarc: Obyknovennoe čudo (1954; Švarc 1972, S. 401-475). Inhaltsangabe: Obwohl er es seiner Frau versprochen hat, kann ein Zauberer es nicht lassen, mit seiner Magie Streiche zu spielen. Er hat einen Bären in einen Menschen verwandelt, und nur durch den Kuss einer Prinzessin kann dieser wieder seine eigene Gestalt erlangen. Deshalb hat der Zauberer dafür gesorgt, dass sich ein König mit Prinzessin und Gefolge zu seinem Haus verirrt. Der verwandelte Bär trifft auf die Prinzessin, ohne um deren Identität zu wissen, und die beiden verlieben sich ineinander. Als der Bär dann erfährt, wer seine Angebetete ist, eilt er bestürzt davon. Die Prinzessin wiederum, die sein Verhalten nicht versteht, verfällt in Verzweiflung. Schließlich brennt sie in Männerkleidern durch, und sie landet als Lehrling eines Jägers in einer Herberge. In diese Herberge kommen nun bei einem Schneesturm sowohl der König mit Gefolge auf der Suche nach ihr als auch wenig später der Bär. Als dieser auf die verkleidete Prinzessin trifft und sie schließlich erkennt, kommt es zu einer Auseinandersetzung, die nur neue Missverständnisse zur Folge hat. Unterdes hat der Herbergswirt in der Ersten Hofdame seine einstige Liebe erkannt, und die beiden haben auch den restlichen Hofstaat von der Anwesenheit der Prinzessin informiert. Diese ist mittlerweile in einen unberechenbaren Zustand zwischen Apathie und Rage verfallen, und sie entschließt sich plötzlich, den von allen verhassten Verwaltungsminister zu ehelichen. Erst, als die Trauung kurz bevorsteht, gesteht der Bär der Prinzessin die Wahrheit, warum er geflüchtet ist

309 und was ihr Kuss bewirken würde. Sie wollen ihrer Liebe entsagen und sich nie mehr wieder sehen, und die Prinzessin geht fort. Der Zauberer, der auf einmal erscheint, beschimpft den Bären als Feigling, doch dieser trifft eine Abmachung mit dem Jäger: Wenn er die Prinzessin küsse und sich in ein Tier zurückverwandle, solle er ihn erschießen. Die Zeit vergeht, und im Königsschloss steht es nicht zum Besten: Der Verwaltungsminister hat alle Macht an sich gerissen, und seine Hochzeit mit der Prinzessin steht kurz bevor. Schließlich trifft aber noch rechtzeitig der Bär ein: Es kommt zum Kuss zwischen ihm und der Prinzessin, aber er bleibt ein Mensch – ein Wunder ist geschehen, bewirkt durch die Macht der Liebe. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Ausstattung stellt einen konsequenten Mix aus zeitlos-märchenhaften Elementen (stilisiert und aus verschiedenen Epochen) und modernen Anachronismen dar: Der königliche Tross besteht aus barock wirkenden Kutschen, aber auch aus einem Auto; der König wird einmal in einem Schottenanzug mit Quilt, später dann in märchenhafter Aufmachung mit Hermelinmantel, Perücke und Krone gezeigt708; der Henker (eine stumme Rolle) erscheint in Anzug und Melone, packt sein ,Handwerkszeug’ aus einer Art Instrumentenkasten und liest Zeitung, in den letzten Szenen dagegen ist er in eine barocke Livree gewandet; auch die Minister werden mal im Anzug, mal in Uniformen, mal in Livrees gezeigt; die Prinzessin erscheint zunächst in einem schlichten Kleid, dann in einer Art Cowboy-Anzug mit Sombrero, später in einem märchenhaften Kleid mit Krone usw. Es werden keinerlei besondere Filmtricks oder Spezialeffekte eingesetzt. Der Film kennt (der Dreiaktstruktur des Theaterstücks entsprechend) im Grunde nur drei Schauplätze: Das Haus des Zauberers in den Bergen mit Garten, die Herberge, das Königsschloss mit Park. Der erste „Akt“ ist jedoch eingerahmt durch die Ankunft des königlichen Tross, der durch die Landschaft ziehend gezeigt wird, sowie die Flucht der Prinzessin, die in einer Verfolgungsjagd mündet, an der wiederum der ganze Tross beteiligt ist. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage), vgl. AaTh/ATU 425A The Monster (Animal) as Bridegroom = AA/SUS 425A Amur i Psicheja, AaTh/ATU 425C Beauty and the Beast = AA/SUS 425C Alen’kij cvetoček, weitere Subtypen. Der Film hält sich, von einigen Kürzungen abgesehen, relativ textgenau an das Stück von Švarc, die Figuren des Zauberers und des Königs sind jedoch in ihrer Ambivalenz abgeschwächt, insbesondere der König wirkt zwar irrational, aber doch eher sympathisch. Es handelt sich gewissermaßen um eine Märchenparodie, die ausgehend vom zentralen Motiv einen Erzähltyp verfremdend-ironisch auf den Kopf stellt: Der in einen Menschen verwandelte Bär ist eine Umkehrung des Motivs vom in einen Bären verwandelten Menschen (Mot. D113.2. Transformation: man to bear), das für den Typ vom Tierbräutigam charakteristisch ist (AaTh 425A ff.). Für dessen syntaktische Struktur ist weiterhin das Motiv der Suchwanderung nach dem verschwundenen Liebsten kennzeichnend (Mot. H1385.4. Quest for vanished husband; vgl. auch Mot. H1385.3. Quest for vanished wife (mistress)) – während hier die Liebenden, statt einander zu suchen, mehrfach voneinander forteilen und sich nicht wiedersehen wollen. Die letzte Spitze besteht im Motiv des Kusses: Statt das Wunder der Rückverwandlung auszulösen (vgl. Mot. D735.1. Beauty and the beast. Disenchantment of animal by being kissed by woman (man), besteht das Wunder hier darin, dass keine Rückverwandlung in einen Bären stattfindet.

708 Ein klares visuelles Zitat: Es wird auf den König aus Zoluška (1947) angespielt – der Darsteller beider Rollen ist der hier auch Regie führende Ėrast Garin

310 Большая кошачья сказка [Das große Katzenmärchen] UdSSR – Russland 1965; Leningradskoe Televidenie. s/w Regie: David Karasik; Drehbuch: Roza Kopylova. Darsteller: Sergej Jurskij, Iziľ Zabludovskij, Nikolaj Trofimov, Anna Lisjanskaja u.a. Vorlage: Karel Čapek: Velká kočicí pohádka (Das große Katzenmärchen; Čapek 1932, S. 9-75; aus der Sammlung Devatero pohádek (Doktoren, Katzen, Schwalben und Spatzen [Neun Märchen]), 1932). Inhaltsangabe: Eine heulende Prinzessin wird von einer alten Frau getröstet und neugierig gemacht: Sie erzählt ihr von einem sonderbaren Tierchen, das sie ihr geben will, wenn der König ihr einen Wunsch erfüllt. Das Tierchen stellt sich als gewöhnliche Katze heraus, doch alles, was die schlaue alte Frau von ihr erzählt hat, stimmt. Durch eine weitere List kann sie sich soviel Taler ausbitten, wie die Königinmutter silberne Haare auf dem Kopf hat. Beim Zählen ihrer Haare hat diese prophetische Träume vom zukünftigen König, den die Katze mitsamt seinem Haus herbeibringen wird, doch niemand kann dies so recht deuten. Kurz darauf kommt die Katze abhanden. Ein Zauberer wird verdächtigt, sie gestohlen zu haben, und die besten Detektive des Landes machen sich auf, ihn zu fangen. Keiner von ihnen hat jedoch Erfolg, der Zauberer kann sie alle an der Nase herumführen. Da schaltet sich der berühmte Sidney Hall ein, der bekanntgibt, in 40 Tagen um die Welt zu reisen und dabei den Zauberer einfangen zu wollen. Als er zurückkehrt, hat er tatsächlich den Zauberer gefasst. Wenig später berichtet er von den grotesken Abenteuern, die ihm wiederfahren sind und in deren Verlauf er auch eine Braut gefunden hat. Er denkt, die Neugier des Zauberers, wie er ihn zu fassen gedenke, habe diesen in seine Arme geführt, es stellt sich jedoch heraus, dass der Gegner den Plan durchschaut, ihm geholfen und sich ihm schließlich freiwillig ausgeliefert hat. Durch das Eingreifen der Prinzessin bekommt der Zauberer nur eine milde Strafe. Die Katze hat er jedoch nicht mehr – sie ist zurück zu der alten Frau gelaufen, da sie sich an deren Haus, in dem sie geboren ist, gewöhnt hat. Der Enkel der Alten, Vašek, muss die Katze zurückbringen. Da sie aber im Folgenden immer wieder zurückläuft, sehen dieser und die Prinzessin sich nun regelmäßig und freunden sich an. Schließlich wird beschlossen, das ganze Haus zum Schloss zu schaffen, damit die Katze nicht mehr dorthin zurückläuft. Die Freundschaft zwischen Vašek und der Prinzessin aber wird dazu führen, dass er eines Tages König sein wird. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakľ). Ein Erzähler im Anzug, der in Zwischenschnitten gezeigt wird, führt ein, kommentiert und beendet die Geschichte. Der Film ist in Kapitel unterteilt, deren Übergang jeweils von vier Tänzerinnen markiert wird, die an einer Stange tanzen und Karten mit den jeweiligen Überschriften hochhalten – diese treten auch sonst immer wieder als „Chor“ in Erscheinung. Der Film ist als eine Art Nummernrevue inszeniert, mit Elementen von Stegreiftheater, Clownerie und Ballett. Alle Schauspieler spielen nicht nur ihre Rollen, sondern tragen auch erzählten Text vor und schlüpfen dabei ständig aus den Rollen, teilweise durch An- und Ablegen der improvisiert wirkenden Kostüme. Die Katze wird zuerst durch eine echte Katze verkörpert, die dann ohne Erklärung gegen ein Stofftier ausgetauscht wird. Theaterhaft-reduzierte Kulisse: Als Hintergrund dienen Papierwände, auf denen die Umrisse eines stilisierten Schlosses abgebildet sind und die ansonsten kreuz und quer mit Ausschnitten aus dem Čapek-Text beklebt sind. Bei den Abenteuern von Sidney Hall ist die Kulisse auf den Boden aufgemalt – die Kamera filmt von oben. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage), vgl. AaTh/ATU 461 Three Hairs from the Devil’s Beard.

311 Im Wesentlichen ist der Film, trotz seiner exzentrischen Darstellungsform (die sich bei Čapeks Schreibstil durchaus anzubieten scheint), vorlagengetreu und weist nur einige Raffungen auf. Grundsätzlich verfremden sowohl der Vorlagentext als auch der Film die Form Märchen sehr stark, vielfach ist sie nur in der Darstellung des Milieus, der Figuren und der Pointen zu merken. Der eingeschobene Mittelteil, die Handlungslinien um die Detektive und um Sidney Hall, haben keinerlei märchenhafte Züge, sondern durch groteske Übertreibungen allenfalls Münchhausen-Charakter. Im Kern märchenhaft ist dagegen die Geschichte um das „Wundertierchen“ Katze, die Handlungen der schlauen Alten verweisen in die Richtung des Rätselmärchens (vgl. Mot. H580. Enigmatic statements). Die Episode um die Haare der Königinmutter weisen Parallelen zu AaTh 461 auf, wiederum in verfremdeter Form: In entsprechenden Volksmärchen sind vom Helden drei goldene Haare eines übernatürlichen Wesens zu beschaffen, dem diese im Schlaf ausgerissen werden, wodurch es dreimal hochschreckt und Antworten auf Fragen geben muss, die dem Helden auf seiner Suchwanderung gestellt wurden. Die Haare der Königinmutter sind silbern, und auch sie wird dreimal durch Haarausreißen aus dem Schaf gerissen – statt Fragen zu antworten, berichtet sie von ihren prophetischen Träumen. Einer davon berichtet von der späteren Königswürde eines einfachen Jungen – auch AaTh 461 enthält eine solche Prophezeiung (vgl. auch Mot. D1812.3.3. Future revealed in dream; M312. Prophecy of future greatness for youth).

Город мастеров Die Stadt der Meister UdSSR – Weißrussland 1965; Belarus’fiľm. Regie: Vladimir Byčkov; Drehbuch: Nikolaj Ėrdman. Darsteller: Georgij Lapeto, Mar’jana Vertinskaja, Lev Lemke, Savelij Kramarov u.a. Vorlage: Tamara Gabbe: Gorod masterov, ili Skazka o dvuch gorbunach (1943; Gabbe 1958, S. 3-92). Inhaltsangabe: Die mittelalterliche Stadt der Meister, in der das Handwerk hoch in Ehren steht, wird von ausländischen Truppen unter Führung des bösen Herzogs de Malikorn erobert und unterworfen. Der allseits beliebte bucklige Straßenkehrer Karakoľ will sich der fremden Macht nicht beugen und trotzt ihr mit sämtlichen Mitteln. Er ist verliebt in die schöne Veronika, die seine Liebe erwidert und seinem Buckel keine Beachtung schenkt. Auch Klik- Kljak, der einfältige Sohn des korrumpierten Bürgermeisters, hat ein Auge auf die junge Frau geworfen, und er erhofft sich die Hilfe des Herzogs. Dieser verlangt jedoch von ihm, zuerst den Aufständler Karakoľ auszuschalten. Als der Herzog, der ebenfalls einen Buckel hat, Veronika sieht, gefällt sie ihm und er versucht, sie dazu zu bringen, sich ihm hinzugeben – sie erteilt ihm jedoch eine Abfuhr. Klik-Kljak will Karakoľ im Wald in eine Fallgrube locken, doch der Plan geht schief: Klik-Kljak und der Herzog fallen selbst hinein. Durch eine Hinterlist kann der Herzog den vorbeikommenden Karakoľ dazu bringen, ihnen herauszuhelfen, um ihn anschließend von seinen Leuten gefangennehmen zu lassen und seine Hinrichtung zu beschließen. Er stattet ihm einen Besuch in seinem Gefängnis ab, da er sein Geheimnis erfahren will – er versteht nicht, warum er so beliebt ist, wo er doch wie er einen Buckel hat. Karakoľ kann den Herzog überwältigen und als dieser verkleidet das Gefängnis verlassen. Bevor der Betrug bemerkt wird, kann er Veronika befreien, die mit dem Herzog zwangsverheiratet werden sollte. In der Stadt bricht der offene Aufstand gegen die Besatzer los, Karakoľ kann auch die Partisanen, die sich im Wald versteckt hatten, zu Hilfe rufen. Im Zweikampf gelingt es ihm, den Herzog zu töten, doch auch er wird von einem Pfeil tödlich getroffen. Die Tränen Veronikas und der Frauen bewirken jedoch ein Wunder: Karakoľ wird

312 wieder zum Leben erweckt, und er ist auf einmal auch seinen Buckel los. Unter seiner Führung können dann die Besatzer endgültig besiegt und aus der Stadt vertrieben werden, und er und Veronika sehen einer glücklichen Zukunft entgegen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film arbeitet vor allem mit einer historischen mitteleuropäisch-mittelalterlichen Stadtkulisse und mit Naturaufnahmen in einem Wald. Die Kostüme sind diffus mittelalterlich; es wird eine auffallende Farbensymbolik verwendet: Die Eroberer tragen Schwarz und Weiß, ihre Gesichter sind allesamt grau geschminkt. Die Handwerksmeister und Partisanen zeichnen sich durch rote (!) Kostüme aus; die übrigen Stadtbewohner tragen überwiegend helle bunte Farben. Karakoľs Kostüm ist gräulich-unauffällig. Ein Lied begleitet Karakoľ als eine Art Leitmotiv; die Filmmusik ist ansonsten stilisierte Imitation von Renaissance-Kompositionen. Stellenweise nimmt das körperliche Spiel der Darsteller unvermittelt stilisierte Formen an. Die Straßenkämpfe sind aufwendig als Massenszenen inszeniert. Filmisch interessant gelöst ist die magische Heilung Karakoľs: Der Schatten des tot daliegenden Karakoľ ist zu sehen, der sich dann erhebt – an der Silhouette ist zu erkennen, dass er keinen Buckel mehr hat. Dann wird quasi unvermittelt zur nächsten Szene geschnitten, wo er dann ohne Buckel auftritt. Epilog, in dem eine Stimme aus dem Off mit formelhaften Worten den Film schließt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage), vgl. AaTh/ATU 503 The Gifts of the Little People709. Film wie Vorlage erzählen eine Abenteuergeschichte im Gewand eines Märchens. Sehr entfernt sind darin semantische Parallelen zu AaTh 503 zu erkennen: Darin geht es um einen Buckligen, der numinose Wesen bei ihrem Treiben belauscht, durch seine Freundlichkeit ihr Wohlwollen erregt und dafür von seinem Buckel befreit und belohnt wird (Mot. F344.1. Fairies remove hunchback’s hump (or replace it)). Als ein zweiter Buckliger, ein negativer falscher Held, dasselbe in einer missglückten Nachahmung versucht, wird er bestraft. Film und Vorlage behalten die Opposition der beiden buckligen Antagonisten und die magische Befreiung des Helden von seinem Buckel bei, wobei es zu einer psychologischen Ausdeutung bzw. Weiterführung des Motivkomplexes kommt: Die versuchte Nachahmung des Herzogs besteht darin, dass er das Geheimnis von Karakoľs Beliebtheit und seiner Unbeliebtheit ergründen will. Der Buckel ist jedoch, entgegen seiner Vermutung und im Gegensatz zum Volksmärchen, nicht das eigentliche Wesentliche, sondern eine reine Äußerlichkeit – Karakoľ ist trotz seines Buckels beliebt, weil sein Charakter gut ist. Mit seiner magischen Heilung wird entsprechend nur nochmal das Äußere dem Inneren angepasst – und er gleichzeitig für sein Gutsein belohnt. Diesen Grundgedanken des Stücks behält der Film bei, der ansonsten eine Reihe von Änderungen vornimmt: So wird etwa einiges dargestellt und ausfabuliert, was im Stück hinter der Bühne geschieht oder nur angedeutet ist, so etwa anfangs die Einnahme der Stadt durch die fremden Eindringlinge und am Ende die Straßenkämpfe zwischen den Stadtbewohnern und den Eroberern. Verschiedene Nebenrollen erfahren eine starke Reduzierung: Der Waffenschmied Martin, im Stück eine Art Volksheld; Klik-Kljak und sein Vater, die nach der Episode mit der Fallgrube nicht mehr vorkommen, während das Stück sie am Ende nochmal ihres Verrätertums wegen anprangert; schließlich Giľom, der Berater des Herzogs: Er ist im Stück der Einzige der Eroberer, der neben diesem individualisiert ist, im Film werden einige weitere Nebenrollen eingeführt und er tritt in den Hintergrund. Im Stück besitzt er ein Zauberschwert, mit dem er zunächst Karakoľ tötet, das aber dann mit seiner Magie dessen Heilung bewirkt710. Im Film dagegen wird Karakoľ von einem anonymen Bogenschützen getötet, und seine Auferstehung und Heilung wird durch die Tränen, die um ihn geweint werden, ausgelöst (vgl. Mot. E58. Resuscitation by weeping).

709 Der Typ hat keine Entsprechung im AA/SUS, da er im ostslavischen Raum nicht vertreten ist. 710 Vgl. Mot. D1081. Magic sword; D771.8. Disenchantment and transformation by means of a magic sword.

313 Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1966, S. 88-89; Paramonova 1979, S. 127-128; Romanenko 1983, S. 31

Волшебная лампа Аладдина Aladins Wunderlampe UdSSR – Russland 1966; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Viktor Vitkovič, Grigorij Jagdfeľd. Darsteller: Boris Bystrov, Dodo Čogovadze, Sarry Karryev, Andrej Fajt u.a. Vorlage: Märchen aus 1001 Nacht von Aladdin und der Wunderlampe (1001 Nacht II/2, S. 659-791). Inhaltsangabe: Im alten Bagdad: Der verträumte Aladdin sieht eines Tages zufällig die Sultanstochter Budur und verliebt sich sofort in sie. Kurz darauf kommt ein mysteriöser Zauberer zu ihm und gibt sich als sein verschollener Onkel aus. Aladdin soll für ihn in einer verwunschenen Stadt eine Lampe besorgen. Der Zauberer hat finstere Absichten, doch Aladdin kann seinem Tötungsversuch mitsamt der Lampe entgehen. Aus dieser erscheint ein Dschinn, der sich als Sklave der Lampe vorstellt. Aladdin nimmt ihn mit nach Hause, wo er mit seinem neuen Freund bei seiner Mutter für einige Aufregung sorgt. Kurz darauf wünscht er sich Budur her, und diese verschwindet aus dem Palast. Während die Leute des Sultans die Stadt nach ihr durchsuchen, findet sie sichtlich Gefallen an Aladdin und seinen schüchternen Annäherungsversuchen. Als er gefangen und vor den Sultan gebracht wird, hält er gleich um die Hand der Prinzessin an. Der empörte Sultan lässt ihn ins Gefängnis werfen. Budur protestiert, und der Sultan beschließt verärgert, sie mit dem Sohn seines Wesirs zu verheiraten. Anschließend macht er seiner widerspenstigen Tochter weis, sie habe alle ihre Erlebnisse mit Aladdin nur geträumt. Aladdins Mutter hat unterdes den Dschinn dazu gebracht, Aladdin zu befreien, und dieser tut alles, um die Heirat zu verhindern – mit Erfolg. Dann wiederum lässt er sich zu Budur bringen, der er beweist, dass kein Traum, sondern Zauberei hinter ihren Abenteuern steckt. Von der Wunderlampe begeistert, befiehlt sie dem Dschinn, alles für die Hochzeit mit Aladdin bereitzumachen – dem herbeigewünschten Sultan und seinen Höflingen erklärt sie, sie würden nur träumen, und sie lassen alles geschehen. Nur Aladdin ist mit dieser „Traumhochzeit“ nicht einverstanden, und die beiden geraten in Streit. Hierbei gelingt es dem zurückgekehrten Zauberer, die Lampe an sich zu bringen: Er wünscht sich zum Bräutigam und neuen Sultan, Aladdin dagegen lässt er vom Dschinn in die Wüste bringen, um ihn zu töten. Der Dschinn jedoch zögert – er ist zwar der Sklave der Lampe, aber auch Aladdins Freund. Dieser bietet ihm schließlich einen Ausweg: Der Dschinn soll einfach von der Lampe in einen Tonkrug umziehen. Der Zauberer wird von einer Ziege davongejagt, der Sultan versöhnlicht gestimmt, und Aladdin und Budur finden doch noch zusammen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Handlung spielt in einem sehr stilisiert-märchenhaften Bagdad, das durch exotisiert- orientalische Bauten (Filmarchitektur) und Kostüme gekennzeichnet ist. Die Darstellung der verwunschenen Stadt ist interessant gelöst: De facto handelt es sich um die menschenleere und in düstere Farben getauchte Bagdad-Kulissen; eine entrückt-surrealistische Atmosphäre wird geschaffen, so durch geheimnisvolle Stimmen, Aladdins Rufen, ohne das ein Ton zu hören ist, eine Treppe, an deren Ende die Lampe steht, während rundherum alles schwarz ist etc. Der Dschinn wird als eine große Erscheinung aus Feuer, aus roten Flammen dargestellt, über die oben per Filmtrick Kopf und Rumpf des Schauspielers gelegt sind. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 561 Aladdin = AA/SUS 561 Lampa Aladdina. Der Film

314 folgt einer weitverbreiteten Konvention, indem er den Ort der Handlung des Märchens von China in den orientalischen Raum bzw. nach Bagdad verlegt. Ansonsten ist der syntaktische Kern des Sujets beibehalten, in Details variiert der Film dagegen stark. So beobachtet Aladin nicht gezielt und heimlich die Prinzessin (Badr-el-)Budur auf ihrem Weg ins Bad, sondern bekommt sie dabei zufällig und ohne sein aktives Zutun zu Gesicht. Annähernd vorlagengetreu ist der Betrug des Zauberers, um sich Aladdins Mithilfe zu sichern, gestaltet; die Episode an dem magischen Ort ist leicht modifiziert – so ist der Geist des Rings eliminiert, und Aladdin trifft gleich auf den Geist der Lampe. Während der Zauberer im Märchen Aladdin einsperrt und sich unbehelligt aus dem Staub macht, bietet der Film eine humoristische Bestrafung: Aladdins Wunsch, der Zauberer solle sich in alle vier Himmelsrichtungen davonmachen, wird vom Dschinn wörtlich genommen – der Zauberer spaltet sich in vier Personen. Damit wird auch eine Erklärung mitgeliefert, warum er längere Zeit nicht in die Handlung eingreift: Die vier „gespaltenen Persönlichkeiten“ mussten erst wieder zusammenfinden. Aladdins Freien beim Sultan um Budur ist stark transformiert: Im Märchen bittet sich der Sultan eine Frist aus, im Laufe derer er jedoch seine Tochter mit dem Sohn seines Wesirs verheiratet. Im Film ist dies Bestrafung für deren Aufmüpfigkeit – der erste, der zur Tür hereinkommt, soll ihr Mann werden (vgl. Mot. T62. Princess to marry first man who asks for her). Ähnlich dem Märchen spielt Aladdin dann auch im Film mit Hilfe des Dschinns dem Bräutigam bzw. Ehemann der Prinzessin Streiche, bis die Ehe wieder annuliert wird. Die gesamte Handlungslinie um die angeblich nur geträumten Erlebnisse ist schwankhafte Erfindung des Films (vgl. auch Mot. J1155. „And then I woke up“). Variiert und stark verkappt ist die Episode um die Rückkehr des Zauberers und der Entwendung der Lampe durch ihn. Während im Märchen im Folgenden der Ringgeist auf den Plan tritt und Aladdin hilft, bietet der Film eine originelle Deutung der Märchenlogik mit klassenkämpferischer Note: Der Dschinn soll sich nicht zum Sklave der Lampe machen lassen und nicht für deren Herrn alles tun. Die humoristische Bestrafung des Zauberers ersetzt dessen Tötung in der Vorlage; die Episode um seinen Bruder und dessen Rache ist eliminiert. Literaturhinweise/Besprechungen: Sputnickaja 2010, S. 52-53

12 могил Ходжи Насреддина [Die 12 Gräber des Chodža Nasreddin] UdSSR – Tadschikistan 1966; Tadžikfiľm. Regie: Klimentij Minc; Drehbuch: Timur Zuľfikarov, Nasriddin Islamov, Klimentij Minc. Darsteller: Bəşir Səfəroğlu, Stalina Azamatova, Nozukmo Šomansurova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Chodža Nasreddin, über die Jahrhunderte immer wieder totgesagt, findet sich auf einmal in der sowjetischen Gegenwart wieder. Er wird Zeuge eines wissenschaftlichen Disputs über seine Person, bei dem geklärt werden soll, ob es ihn tatsächlich gab oder er nur eine Märchenfigur ist – es existieren 11 angebliche Grabmähler von ihm, ein neu entdecktes zwölftes soll nun Gewissheit schaffen. Nasreddin selbst kann darüber nur den Kopf schütteln. Kurze Zeit später hat er einen Unfall und landet im Krankenhaus, doch als er seine Identität preisgibt, wird er für verrückt erklärt und in die Psychiatrie überwiesen. Nach seiner abenteuerlichen Flucht gerät er zunächst in die Dreharbeiten eines Nasreddin-Films und wird mit dem Hauptdarsteller verwechselt. Als er dann auf seinem Esel in einer Kolchose eintrifft, wird er irrtümlich für den neuen Vertreter der Volkskontrolle gehalten, und er wird mit sehr viel Prunk empfangen. Die tatsächliche Vertreterin der Volkskontrolle dagegen, die es

315 vorzieht, inkognito zu bleiben, hat Schwierigkeiten, auch nur ein Zimmer zu finden. Sie kommt dem Missverständnis auf die Schliche, bittet jedoch Nasreddin, die Komödie mitzuspielen – sie hat zu Recht den Verdacht, dass in der Verwaltung der Kolchose einiges nicht stimmt. Während einer Galavorstellung ihm zu Ehren kann Nasreddin die Machenschaften zweier Gauner aufdecken und die Bürokraten der Lächerlichkeit preisgeben. Nasreddin müsse man nicht unter den Toten suchen, sondern unter den Lebenden, erklärt er der jungen Frau, die an seinem zwölften Grab interessiert war – er sei immer dort, wo es Ungerechtigkeit gebe. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die ersten Szenen, die in der märchenhaften Vergangenheit spielen, sind in Schwarzweiß gehalten, bei den Szenen, die in der Gegenwart spielen, wird zu Farbe übergewechselt. Naturalistische Darstellung mit einigen sehr slapstickhaften Szenen. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation, vgl. AaTh/ATU 1558 Welcome to the clothes. Der Film verknüpft ein bekanntes schwankhaftes Folkloresujet, das von der verwechselten Identität (Mot. J1766. One person mistaken for another) auf Grund des äußeren Auftretens (AaTh 1558; auch Mot. J1561.3. Welcome to the clothes), das auch in der Literatur verbreitet ist (vgl. etwa Gogoľs Revisor), mit Elementen des Surreal-Phantastischen bzw. des Crossover-Märchens: Der einer märchenhaften Vergangenheit entstammende Schelm Chodža Nasreddin taucht in der Gegenwart auf. Der zugrundeliegende Typ ist durchaus auch mit dieser Figur assoziiert (vgl. Wess. 55), die sonst eher der Charakterisierung Solov’evs entspricht: Nasreddin wird als lebendiger Anachronismus präsentiert, dem die Besonderheiten der modernen Welt unbekannt sind und der sich zunächst nicht zurechtfindet, sich aber bald schon auf universelle, zeit- und ortsungebundene Werte besinnt und dadurch gewissermaßen seine eigene ewige Aktualität als Kämpfer gegen Ungerechtigkeit begründet, was stark ideologisch motiviert wird.

Сказка о царе Салтане Das Märchen vom Zaren Saltan UdSSR – Russland 1966; Mosfiľm. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Aleksandr Ptuško, Igor’ Gelejn. Darsteller: Vladimir Andreev, Larisa Golubkina, Oleg Vidov, Ksenija Rjabinkina u.a. Vorlage: Aleksandr Puškin: Skazka o care Saltane, o syne ego slavnom i mogučem bogatyre knjaze Gvidone Saltanoviče i o prekrasnoj carevne Lebedi (1832; Puškin 1977, S. 313-337). Volksmärchenparaphrase (vgl. Af. 283-287). Inhaltsangabe: Drei Mädchen werden des Abends beim Spinnen heimlich vom Zaren Saltan beobachtet, und sie unterhalten sich darüber, was sie machen würden, wenn sie Zarin wären. Die Antwort der Jüngsten gefällt ihm am Besten, und er gibt sich zu erkennen und nimmt sie zur Frau, zum großen Neid ihrer Schwestern. In der Zarenmutter Babaricha und dem Oheim Saltans, die um ihre Macht fürchten, finden sie Verbündete gegen die neue Zarin. Als diese in kriegsbedingter Abwesenheit Saltans einen Sohn gebärt, fälschen sie einen Brief, so dass Saltan denken muss, seine Frau habe ein Tier geboren. Auch die Antwort auf den Brief tauschen sie aus: Die Zarin und ihr Neugeborenes sollen in einem Fass ins Wasser geworfen werden. Dies geschieht – der Zarewitsch Gvidon wächst im Fass schnell zu einem jungen Mann heran, und er und seine Mutter stranden auf einer Insel. Dort rettet er einem Schwan das Leben, und dieser stellt sich als verzauberte Zarewna heraus. Dank ihrem Zutun findet Gvidon eine verwunschene Stadt, die er entzaubert und zu deren Fürsten er gekrönt wird. Da er seinen Vater sehen will,

316 verwandelt ihn die Schwanenjungfrau in eine Mücke und er fliegt in dessen Reich, wo er die Vorgänge im Palast belauschen kann: Zu Saltan dringt durch reisende Kaufleute die Kunde, dass auf der einst kahlen Insel nun eine blühende Stadt voller Wunder steht. Saltan äußert den Wunsch, sie zu besuchen, doch die Schwestern können ihn davon abhalten. Ähnliche Szenarien folgen noch zweimal, und beim dritten Mal lässt Saltan sich nicht mehr zurückhalten und bricht auf zu der Wunderinsel. Gvidon ist indessen aufgegangen, dass er und die schöne Schwanenjungfrau füreinander bestimmt sind, und er hat sie geheiratet. Als nun Saltan eintrifft, wird er von seinem Sohn und seiner Frau begrüßt, die er um Vergebung bittet – sie vergibt ihm und ist froh über die Wiedervereinigung. Die Bösewichte werden bei einem Fluchtversuch geschnappt, doch ihnen wird im Zuge der allgemeinen Freude verziehen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Der Film zeigt den Vorspann auf den Seiten eines Puškin-Buches, das umgeblättert wird, ehe auf einer Seite der Anfang des Märchens mit einer Illustration zu sehen ist, die sich dann in das erste Bild des Films verwandelt. Auch ansonsten orientiert sich der Film ikonographisch an Puškin-Illustrationen; er ist visuell sehr opulent gestaltet, mit detailreichen pseudohistorischen Kostümen und Prachtbauten, vielen Massenszenen (volksfesthafte Aufläufe, Schlachten etc.), beeindruckenden Naturaufnahmen sowie teilweise recht aufwendigen Filmtricks (z.B. das tanzende Eichhörnchen; 33 Riesen, die aus dem Meer kommen; die Verwandlung des Schwans in eine Jungfrau und später Gvidons in ein Insekt und zurück); im Gegensatz zu den vorherigen Filmen Ptuškos nimmt er jedoch dabei auch teilweise humoristisch-karikatureske Formen an. Das Spiel der Schauspieler ist stilisiert- theatralisch, und die Dialoge sind durchgängig in Reimversen gehalten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 707 The Three Golden Sons = ATU 707 The Three Golden Children = AA/SUS 707 Čudesnye deti. Eine weitgehend vorlagengetreue Adaption des Puškin’schen Versmärchens, das seinerseits inhaltlich eng am Volksmärchentyp ist, aber von Puškins besonderem Sprachstil geprägt. Dem wird im Film Rechnung getragen, indem die gereimten Dialoge teilweise direkt der Vorlage entnommen sind, teilweise deren Stil imitieren. Die Änderungen und Variationen des Films sind verschiedener Art: Erweitert wird der Reigen der Bösewichte um den Oheim des Zaren, der allerdings keine Eigendynamik entwickelt. Er und Babaricha erhalten eine Motivation für ihre böse Gesinnung der Zarin gegenüber – sie fürchten um ihre Macht, ihr Intrigantentum wird hervorgehoben. Der Krieg, in den Saltan ziehen muss, wird von der Vorlage nur kurz erwähnt, ist aber im Film Anlass für aufwendige Massenszenen. Das von Puškin verwendete Motiv des märchenhaft schnellen Wuchses (Mot. T585. Precocious infant)711 wird gezeigt: Man sieht einen immer größer werdenden Säugling auf der Leinwand; diese Visualisierung ist zum Verständnis der Handlung notwendig, denn wenig später sieht man den voll ausgewachsenen Gvidon im Fass mit seiner Mutter. Eingefügt sind kurze Szenen, die Saltans Gefühlshaltung thematisieren: Er vermisst seine Frau, als er sie zu Hause nicht mehr vorfindet, und hat Sehnsucht nach ihr – weder Puškin noch die Folklore kennen solche Psychologisierungen, sondern lassen den Vater das Vorgefallene erstmal „vergessen“. Die Schwanenjungfrau verwandelt sich im Film gleich beim ersten Treffen mit Gvidon in einen Menschen.712 Im Gegensatz zur Vorlage liegt die Wunderstadt in einem Zauberschlaf (vgl. Mot. D1960. Magic sleep) und muss erst von Gvidon erlöst werden – was konsequent scheint, da hiermit begründet wird, warum er zu deren Fürsten ernannt wird. Verkappt ist der Strang um die drei Wunder, die Saltan neugierig 711 Begleitet von der traditionellen Formel „ne po dnjam, a po časam“ („[er wächst] nicht in Tagen, sondern in Stunden“). 712 Diese Änderung wirkt einleuchtend: Einerseits wird der Schauspielerin etwas zu tun gegeben, andererseits erscheint für den Zuschauer (in der wortsprachlichen Vorlage scheint dies weniger relevant) eine menschliche Helferfigur nachvollziehbarer, insbesondere, da sie später zum Liebesobjekt des Helden wird.

317 auf Gvidons Stadt machen – das singende Eichhörnchen ist schon in der Stadt vorhanden und muss nicht erst von der Schwanenjungfrau erbeten werden. Es kommt entsprechend nur zu zwei Verwandlungen Gvidons in Insekten, dagegen aber zu drei Besuchen von Kaufleuten bei Saltan (statt vier bei Puškin), womit die märchenhafte Dreiheit verschoben ist, aber erhalten bleibt. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1966, S. 84-85; Romanenko 1983, S. 17-18

Снежная королева Die Schneekönigin UdSSR – Russland 1966; Lenfiľm. Regie: Gennadij Kazanskij; Drehbuch: Evgenij Švarc713. Darsteller: Valerij Nikitenko, Lena Proklova, Slava Cjupa, Evgenija Meľnikova u.a. Vorlage: Evgenij Švarc: Snežnaja koroleva (1938; Švarc 1972, S. 135-200). Kunstmärchenparaphrase (Hans Christian Andersen: Sneedronningen (Die Schneekönigin), 1844; Andersen 1982 I, S. 256-288). Inhaltsangabe: Die Kinder Kai und Gerda leben zusammen mit Gerdas Großmutter in einer Dachstube. Eines Tages erscheint bei ihnen der zwielichtige Kommerzienrat, der mit Eisschränken handelt – er will ihren immerblühenden Rosenstrauch für seine Raritätensammlung kaufen. Als die Großmutter ablehnt, kündigt der Kommerzienrat an, sich bei seiner Königin zu beschweren. Von einem befreundeten Märchenerzähler erfahren die Kinder, dass es sich dabei um die Schneekönigin handelt. Kurz darauf erscheint diese selbst – sie möchte Kai mitnehmen, dem sie ein Leben in Reichtum verspricht. Der Junge weigert sich standhaft. Der Abschiedskuss der Königin aber lässt sein Herz zu Eis erstarren, und am nächsten Tag entführt sie ihn. Gerda macht sich auf, den verschwundenen Freund zu suchen. Auf ihrer Wanderung trifft sie zunächst auf zwei Raben, die ihr von dem Jungen berichten, der die Prinzessin des Landes geheiratet habe. In der Hoffnung, es sei Kai, lässt sie sich ins Schloss mitnehmen. Der Prinz ist nicht Kai, doch er und die Prinzessin versprechen ihr Hilfe. Als sie sich entfernt haben, trifft Gerda auf den König, der beim Kommerzienrat Schulden hat und sie deshalb auf dessen Anweisung gefangennehmen will. Der Märchenerzähler und das Prinzenpaar aber verhindern Schlimmeres, und sie kann weiterziehen. Nun wendet sich der Kommerzienrat an eine Räuberbande, die er auf die Fährte von Gerdas goldener Kutsche lockt – im Gegenzug verlangt er die Auslieferung des Mädchens. Gerda fällt den Räubern in die Hände, doch da die Tochter der Räuberhauptfrau sie für sich beansprucht, geht der Kommerzienrat leer aus. In der Gefangenschaft des Räubermädchens befindet sich auch ein Rentier, das das Reich der Schneekönigin kennt und weiß, dass sich Kai dort befindet. Der Märchenerzähler hat sich in Verkleidung unter die Räuber geschmuggelt und will ihr zur Flucht verhelfen, doch das Räubermädchen entdeckt sie dabei. Schließlich lässt sie sich aber erweichen, Gerda und das Rentier gehen zu lassen – den Märchenerzähler dagegen behält sie als Gefangenen. So kommt Gerda schließlich ins Schloss der Schneekönigin – dort findet sie Kai wieder, dessen Herz sie zum Schmelzen bringen kann. Sie gehen gemeinsam fort, die sich ihnen entgegenstellende Schneekönigin kann sie nicht aufhalten. Die beiden kehren gemeinsam nach Hause zurück.

713 Der als Drehbuchautor angegebene Švarc war bereits 1958 verstorben. Sein Theaterstück Snežnaja koroleva sollte bereits kurz nach der Uraufführung verfilmt werden – die Dreharbeiten mussten jedoch im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch abgebrochen werden. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass für diesen Film auf das damals von Švarc selbst adaptierte Skript zurückgegriffen wurde.

318 Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Figur des Märchenerzählers fungiert gleichzeitig als Erzähler und als handelnde Figur. Zeitlich und räumlich deuten die Kostüme und Bauten (historische Stadtkulisse) anfangs europäisches Biedermeier an, was aber in den späteren Szenen durch Stilmix und Phantasiekostüme wieder relativiert wird. Entsprechend Gerdas Suchwanderung ändert sich der Hintergrund ständig: In Zwischeneinstellungen sieht man sie in Panoramaeinstellungen die sich mit den Jahreszeiten ändernde Natur bewandern; das Schloss des Königs ist diffuses Barock; in der Räuberburg sind vage Anklänge an die Romantik zu erkennen; der Palast der Schneekönigin wird als stilisierte Phantasielandschaft aus Schnee und Eis präsentiert, die hauptsächlich in Panoramaeinstellung zu sehen und durch weite Flächen und minimale räumliche Ausstattung gekennzeichnet ist. Der Kommerzienrat tritt mit leicht gräulich geschminktem Gesicht auf, später hat auch der verzauberte Kai ein solches; die Schneekönigin erscheint mit vollkommen weißem Gesicht. Die Tierfiguren werden mit Hilfe von beweglichen Puppen dargestellt. Verschiedene humoristische Anachronismen (z.B. Skier, ein Kühlschrank, ein Fahrrad). Der Film setzt immer wieder auch Zeichentrickelemente ein, die in Kombination mit Realfilmelementen auftreten (z.B. die Schneekönigin als Schneewirbel; die schattenhaften Träume im Schloss des Königs; die ihre Form ändernden Schneeflocken, die sich Gerda vor dem Schloss der Schneekönigin in den Weg stellen). Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage), vgl. AaTh/ATU 451 The Maiden Who Seeks her Brothers = AA/SUS 451 Braťja-vorony sowie AaTh/ATU 425 (ff.) The Search for the Lost Husband. Das Andersen’sche Märchen hat keine Volksmärchengrundlage, weist aber syntaktische Parallelen zu zwei Typen auf.714 Von Evgenij Švarc wiederum wurde es für sein Theaterstück wie ein Volksmärchen adaptiert, so dass der Film letztlich eine doppelte Adaption darstellt und entsprechend zwei Vorlagen zu berücksichtigen sind. Das Stück behält den Handlungskern bei, teilweise modifiziert715, eliminiert aber die Einführungsepisode mit dem Splitter des Zauberspiegels, der Kais Herz erstarren lässt (ein Kuss der Schneekönigin erfüllt darin diese Funktion) sowie sämtliche christliche Motivik, die bei Andersen enthalten ist; außerdem wird Gerdas Suchwanderung um zwei Episoden (bei der Blumenfee und der Lappin) verkappt, wodurch die Vier-Jahreszeiten-Symbolik verloren geht. Dafür fügt sie an Motiven insbesondere den immerblühenden Rosenstrauch (vgl. Mot. D965.3. Magic rosebush) hinzu sowie als neue Figuren den Kommerzienrat, den verschuldeten König und den Märchenerzähler. Im Film ist der Märchenerzähler ikonographisch an Andersen angelehnt. Ansonsten folgt er dem Stück relativ eng, unter Beibehaltung eines Großteils der Dialoge. Er arbeitet aber auch intertextuelle Andersen-Verweise ein, die im Stück fehlen – etwa durch die Kurzauftritte eines Schornsteinfegers, eines Hausgeistes und eines Tintenfasses.716 Im Stück wird von der Entführung Kais nur berichtet, der Film zeigt sie in Übereinstimmung mit dem Andersen-Text. Weiterhin wird im Stück explizit erklärt, der Prinz und die Prinzessin seien noch Kinder – nur könnten Prinzessinnen eben dann heiraten, wenn sie Lust darauf hätten. Der Film umgeht dies und zeigt sie beide in deutlich heiratsfähigem 714 In der Interpretation des Märchens als mit diesen Typen verwandt folge ich Schmitt 1993, S. 230. 715 Insbesondere wird der Hintergrund von Kai und Gerda präzisiert bzw. plausibilisiert: Bei Andersen sind sie Nachbarskinder – ihre jeweiligen Eltern werden nur kurz am Anfang erwähnt, dann tritt eine erzählerische Lücke auf: Weder ist vom Tod der Eltern die Rede, noch davon, dass sie am späteren Schicksal ihrer Kinder irgendwelchen Anteil hätten. Stattdessen tritt die unvermittelt eingeführte Großmutter auf den Plan, von der nicht klar gesagt wird, wessen Großmutter sie eigentlich ist. Im Theaterstück (und Film) werden klarere Aussagen gemacht: Die Großmutter ist Gerdas Großmutter, sie hat sowohl ihre Enkeltochter als auch den Jungen, dessen Eltern früh starben, aufgezogen. 716 Siehe Die Hirtin und der Schornsteinfeger (Hyrdinden og Skorsteensfeiere); Die Feder und das Tintenfass (Pen og Blækhuus); Das Heinzelmännchen und die Madam (Nissen og Madam) sowie Das Heinzelmännchen beim Speckhöker (Nissen hos Spekhøkeren).

319 Alter. Das Geschehen um die Räuber ist in Stück wie Film im Vergleich zu Andersen abgemildert, diese erscheinen nicht grausam, sondern eher grotesk; der Film verkappt hier etwas. Das letzte Viertel des Films schließlich weist die stärksten Unterschiede zum Stück auf, gleichzeitig aber eine stärkere Annäherung an Andersen: Gerda stellen sich Schneeflocken, die bedrohliche (Zeichentrick-)Gestalt annehmen, in den Weg – während ihr bei Andersen ein Gebet Kraft gibt, ist es im Film reine Kühnheit. Die Erlösung Kais erfolgt bei Andersen durch heiße Tränen, im Stück wird der genaue Auslöser nicht präzisiert, im Film ist es der Kuss Gerdas, der sozusagen die Wirkung des Kusses der Schneekönigin wieder aufhebt. Eliminiert ist die Episode aus dem Stück um die Verfolgung Kais und Gerdas durch Kommerzienrat und Schneekönigin bis nach Hause, wo dann alle Helfer nochmal auftauchen und sie gemeinsam besiegen. Sowohl im Stück als auch im Film fehlt der bei Andersen auftretende Zug, dass Kai und Gerda im Laufe der Abenteuer erwachsen geworden sind, was sie erst zuletzt merken.717 Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 175-178

Три толстяка Tibul besiegt die Dickwänste UdSSR – Russland 1966; Lenfiľm. Regie: Aleksej Batalov, Iosif Šapiro; Drehbuch: Aleksej Batalov, Michail Oľševskij. Darsteller: Lina Braknite, Petja Artem’ev, Aleksej Batalov, Valentin Nikulin u.a. Vorlage: Jurij Oleša: Tri tolstjaka (1924; Oleša 1974, S. 95-188). Inhaltsangabe: Ein kleiner Zirkustrupp kommt ins Land der drei Dickwänste, in dem revolutionäre Umbruchstimmung herrscht. Der Seiltänzer Tibul schließt sich den Aufständischen an. Bei einer abenteuerlichen Flucht landet er im Haus des Wissenschaftlers Doktor Gaspar, der ihm hilft, zu entkommen. Kurz darauf wird der Doktor in den Palast gerufen: Die lebendige Puppe von Tutti, dem Ziehsohn und designierten Nachfolger der Dickwänste, wurde bei den Kämpfen beschädigt, und Gaspar wird mit deren Reparatur beauftragt. Die Revolutionäre wollen unterdes den Kanzler als Geisel nehmen, um damit ihren Forderungen an die Obrigkeit Nachdruck verleihen – dabei kommt es jedoch zu einer folgenreichen Verwechslung: In der Kutsche des Kanzlers sitzt statt diesem Gaspar, dem im Trubel die Puppe abhanden kommt. Bei Tibul und den Zirkusleuten trifft er jedoch auf das Mädchen Suok, das der Puppe wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sie erklärt sich bereit, die Puppe zu spielen – und auch, Tutti heimlich den Schlüssel zu dem Raubtierkäfig zu entwenden, in dem der Revolutionsführer Prospero eingesperrt ist. Tutti ist froh, die angebliche Puppe wiederzuhaben. Gaspar fordert jedoch im Gegenzug, die zum Tode verurteilten Aufständler zu begnadigen. Der General Karaska willigt zum Schein darauf ein, dann sperrt er Gaspar jedoch in eine Zelle und stellt ihn kalt. Tutti merkt unterdes recht schnell, dass Suok ein echtes Mädchen ist, doch er verrät sie nicht, da er froh ist, endlich einen lebenden Menschen als Spielkameraden zu haben. Nachts entwendet Suok heimlich den Schlüssel und befreit Prospero. Dieser entkommt, sie selbst aber wird gefasst – die echte Puppe wurde gefunden, und die Machthaber erraten die Zusammenhänge. So soll sie am nächsten Tag gemeinsam mit den Aufständischen hingerichtet werden. Tutti will Suoks Hinrichtung verhindern und wird von Karaska angeschossen. In der Folge kommt es dann zum offenen Aufstand der Rebellen um Tibul und Prospero, die sich verkleidet in der Menge befinden. Der Kampf wird letztendlich siegreich

717 Sowohl auf einer Theaterbühne als auch im Film scheint dies auch nicht befriedigend lösbar.

320 von den Aufständischen für sich entschieden: Die Machthaber werden gestürzt, das Volk triumphiert. Tutti schließt sich dem Zirkustrupp an und zieht mit ihnen gemeinsam weiter. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Die Ausstattung des Films ist naturalistisch; historische Stadtkulisse und Kostüme weisen auf ein mitteleuropäisches Land in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, ohne zu konkretisieren. Die drei Dickwänste werden von vollschlanken, zusätzlich noch ausgestopften Schauspielern verkörpert, deren Aufmachung fast identisch ist – sie werden nicht weiter individualisiert. Zahlreiche Massenszenen, so bei den dekadenten Banketts der Dickwänste wie auch bei den Straßenschlachten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Olešas Revolutionsmärchenroman mutiert die Form Märchen stark, doch die Handlung spielt in einer unkonkretisierten und märchenhaft stilisierten Vergangenheit, und neben dem zentralen Folkloremotiv von der menschenähnlichen Puppe (Mot. D1620.0.1. Automatic doll) tauchen noch weitere märchenähnliche Elemente auf. Der Film verkürzt und transformiert seine Vorlage teilweise stark. So stellen im Buch Überläufer unter den Gardesoldaten der Dickwänste ein handlungswichtiges Element dar, im Film fehlen sie. Zusatz des Films ist dagegen die Figur des intriganten General Karaska. Auch die versuchte Geiselnahme des Kanzlers durch die Revolutionäre fehlt in der Vorlage, darin verliert Gaspar die Puppe bei anderer Gelegenheit. Die Figur des Gaspar als Vertreter der Intelligenz ist insofern vereinfacht, als dass er von Anfang an in vollem Ausmaße über die revolutionären Vorgänge Bescheid weiß. Insbesondere aber ist Tuttis Rolle im Film deutlich transformiert: In der Vorlage wird von ihm ein kompliziertes Bild eines empfindsamen, abgeschotteten einsamen Jungens gezeichnet, der keinerlei Vorstellung von der sozialen Realität hat. Er ahnt bis zuletzt nicht, dass Suok keine Puppe ist – trotzdem sie mit ihm wie ein vernunftbegabtes Wesen spricht. Der Film setzt andere Akzente: Tutti ist eher verwöhnt und launisch, und sein Charakterwandel wird markiert, als er sich offen gegen die Machthaber stellt. Als er angeschossen wird, erkennt er zu seiner Freude, dass er kein eisernes Herz hat, wie ihm seine Umgebung weisgemacht hat – ein dem Kunstmärchen nahes Motiv718, das in der Vorlage als reelle Möglichkeit dargestellt wird: Der Gelehrte Tub hat sich geweigert, ein solches anzufertigen. Er ist auch für die Herstellung der Puppe verantwortlich, die wie ein Mensch wächst, und hat sie nach dem Ebenbild Suoks hergestellt, die in Wahrheit Tuttis Zwillingsschwester ist. Suok findet dies heraus, als sie auf den gefangenen Tub trifft, der sich in eine monsterähnliche Gestalt verwandelt hat. Diesen phantastisch-märchenähnlichen Handlungsstrang eliminiert der Film ganz; Tuttis Herkunft wie auch die Ähnlichkeit zwischen Suok und der Puppe bleiben ungeklärt. Insgesamt fällt auf, dass im Film die Revolutionsthematik zum nahezu einzigen bestimmenden Moment wird, wohingegen andere Elemente insbesondere psychologischer Natur kaum ausgearbeitet werden. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 31-32

Удивительная история, похожая на сказку Eine wunderbare Geschichte (DDR)/Eine wunderbare, ungewöhnliche Geschichte (BRD) UdSSR – Russland 1966; Mosnaučfiľm. Regie: Boris Dolin; Drehbuch: Boris Dolin, Grigorij Jagdfeľd. Darsteller: Oleg Žakov, Valentin Maklašin, Saša Chotoevič, Tanja Antipina u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Den grimme Ælling (Das hässliche junge Entlein, 1843; Andersen

718 Siehe auch Legenda o ledjanom serdce (1957).

321 1982 I, S. 237-247). Inhaltsangabe: Im Naturschutzreservat Askanija-Nova findet ein Junge ein verwaistes Schwanenei. Er schiebt es einer brütenden Henne unter, und das bald ausschlüpfende Schwanenküken erlebt das Märchen vom hässlichen Entlein neu: Eltern und Geschwister beäugen es misstrauisch, insbesondere, als es zeigt, dass es schwimmen kann. Das „Entlein“ (wie es durchgehend genannt wird) wird schließlich davongejagt. Allein und ganz auf sich gestellt, erkundet es das Reservat und hat Begegnungen mit verschiedensten Bewohnern, so etwa mit einem Nandu, der vom Abenteuer seiner Gefangennahme in Südamerika berichtet, und einer Schneegans, die vom Prozess der Beringung erzählt. Freunde jedoch findet es nicht. Als es keine Kraft mehr hat, lässt es sich bei einer Schar Kraniche nieder, die es nur unwillig neben sich dulden. Eines Tages aber nähert sich ein Fuchs – das Entlein warnt nicht nur die Kraniche, sondern nimmt sogar den Kampf mit diesem auf. Es kann ihn vertreiben, doch sein Flügel wird verletzt, und als der Winter naht, kann es deshalb nicht in den Süden ziehen. Die Wunde verheilt, doch bald darauf gerät es in ein Fischernetz: Der Fischer, der es für eine Gans hält, will aus ihm einen Festtagsbraten machen. Dessen kleine Enkelin aber entlässt es heimlich in die Freiheit. Bei einem Unwetter wird es schließlich von einem gutmütigen Leuchtturmwärter gefunden, der es bei sich aufnimmt und großzieht. Anschließend entlässt er es in die Freiheit – aus ihm ist zu seiner eigenen Verwunderung ein schöner Schwan geworden, und es fliegt mit den anderen Schwänen davon. Filmgestaltung, Besonderheiten: Kein herkömmlicher Spielfilm, sondern ein Tierfilm mit Spielfilmhandlung – als „Schauspieler“ treten Tiere auf, darunter auch sehr exotische. Größtenteils werden sie einem Naturschutzreservat in ihrer natürlichen Umgebung gezeigt, während eine Voice-over-Stimme nicht nur als Erzähler fungiert, sondern auch mit jeweils verstellter Stimme die Tiere „synchronisiert“. Die Natur wird in sehr ansprechenden Bildern eingefangen – vorrangig sieht man Steppe und Tundra, daneben zahlreiche Seen und Gewässer. Menschen agieren nur in kleinen Nebenrollen, und menschliche Behausungen sind nur sehr kurzzeitig zu sehen. Der Film ist in verschiedene ,Kapitel’ unterteilt, jeweils angedeutet durch eine abgefilmte Buchseite mit Kapitelüberschriften in ornamentalen Lettern: Jedes Kapitel zeigt den tierischen Hauptdarsteller719 ein wenig mehr herangewachsen – vom Schwanenküken (dem „hässlichen Entlein“) bis hin zum voll ausgewachsenen Schwan. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation (über Vorlage). Im Film wie in Andersens Märchen, das syntaktisch nicht eigentlich märchenhaft ist, steht das Motiv vom Helden von unscheinbarer Gestalt (vgl. Mot. L112. Hero (heroine) of unpromising appearance) im Mittelpunkt, und die Auflösung kann als Variante des Motivs von der märchenhaften Verwandlung (vgl. Mot. D52.2. Ugly man becomes handsome) gelesen werden, das gewissermaßen parodiert wird, indem es durch einen natürlichen Vorgang im Tierreich ersetzt ist. Diese beiden Momente behält der Film bei, während er ansonsten den Andersen-Text nur als Inspiration nutzt: Der Film ist kein Märchenfilm im herkömmlichen Sinne, sondern trägt viele Züge einer für Kinder aufbereiteten populärwissenschaftlichen Tier- und Naturdokumentation.720 Dabei wird der Andersen-Text als bekannt vorausgesetzt und der Erzähler nimmt mehrfach darauf Bezug – in diesem Kontext ist zu verstehen, dass die Hauptfigur konsequent „Entlein“ genannt wird, obwohl sie in einem Hühnernest zur Welt kommt und Enten nicht vorkommen.

719 Laut Vorspann handelt es sich um ein und dasselbe Tier – am Ende der kurzen Liste der Mitwirkenden ist zu lesen: „>Gadkij utenok< po imeni Urzun“ („Ein ,hässliches Entlein’ namens Urzun“). 720 Für die der Regisseur Dolin Spezialist ist.

322 Захудалое королевство [Das heruntergekommene Königreich] UdSSR – Russland 1967; Leningradskoe Televidenie. s/w Regie: Gleb Seljanin; Drehbuch: Gleb Seljanin, Iosif Cionskij. Darsteller: Michail Devjatkin, Oľga Volkova, Jurij Ovsjanko, Zinaida Afanasenko u.a. Vorlage: Josef Lada: O zázračném jablíčku (Der Wunderapfel; Lada 2004, S. 37-52); O statečné princezně (Die tapfere Prinzessin; ebd., S. 5-24) (beide aus der Sammlung Nezbedné pohádky (Leicht missratene Märchen), 1946). Inhaltsangabe: In der Hölle ist Mangel an Sündern, und Oberteufel Lucifer rügt seinen Untergebenen Beelzebub – dieser soll neue herbeischaffen, am Besten aus dem Heruntergekommenen Königreich. Beelzebub hat sich auch schnell jemanden ausgeschaut, die ungezogene Prinzessin Máňa. Diese wird auch von dem guten Zauberer Habaděj beobachtet, der ihr einen Denkzettel verpassen will und ihr ein Horn anhext – wenn sie sich nicht bessert, soll es ihr ewig bleiben. Der König lässt unterdes bekanntgeben, dass derjenige, der seine Tochter heilen könne, das halbe Königreich und sie zur Frau erhalte. Unterdes wird der gutmütige, aber faule Honza von seiner Mutter zu Habaděj geschickt – Faulheit könne durch gute Taten geheilt werden, und so soll ihm der Zauberer bei der Heilung der Prinzessin helfen. Er erhält von ihm einen Zauberapfel, nach dessen Verzehr Máňa ihr Horn verlieren soll. Beelzebub jedoch funkt dazwischen und sorgt dafür, dass Honza erstmal nach Hause geht – prompt wird dort der Apfel von seiner Kuh gefressen, der sogleich ein Horn abfällt. Honza muss erneut zum Zauberer, der ihm diesmal zwei Äpfel gibt – einen, der ein Horn wachsen, einen, der es abfallen lässt. Doch wieder geht durch eine Einmischung Beelzebub alles schief: Als Doktor verkleidet, verabreicht Honza Máňa den falschen Apfel, und dieser wächst ein zweites Horn. Nun aber hat Hadaběj keine Äpfel mehr, und Honza muss sich etwas anderes ausdenken – er heuert als Hilfskoch in der Schlossküche an und bereitet für Máňa Apfeltaschen aus dem verbliebenen Apfel zu. Zur Freude aller verliert die Prinzessin nun ihre Hörner, doch vom Retter ist weit und breit keine Spur. Schuld daran ist wieder Beelzebub: Lucifer hat ihn ausgescholten, als er Máňa als Sünderin in die Hölle holen wollte, denn diese hat sich schon längst gebessert. Der eigentliche Sünder aber ist der Schlosskoch! Durch eine Verwechslung aber entführt Beelzebub stattdessen Honza. Wer einmal in der Hölle ist, muss dort bleiben, es sei denn, es findet sich jemand, der ihn zurückholt – nun ist es also an Máňa, ihren entführten Retter zu retten. Mit Hilfe von Hadaběj und dessen Schwester gelangt sie in die Hölle, wo sie mit Lucifer einen Handel eingeht – da er die drei von ihr gestellten Rätsel nicht lösen kann, muss er Honza herausgeben. Nun können Honza und Máňa Hochzeit feiern. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakľ) mit stilisiert-theaterhafter Ausstattung, z.B. Hintergrundkulissen aufgemalt, Requisiten angedeutet, mehrere spielzeughafte Tierpuppen. Exzentrische Anachronismen. Filmtricks z.B. beim Wachsen des Horns auf Máňas Kopf, beim Verzaubern der Äpfel etc. Ein Vorspann im eigentlichen Sinne fehlt, vielmehr wird er von den königlichen Herolden ,ausgerufen’; der Abspann dagegen wird auf einer Papierrolle eingeblendet, die der Darsteller des Zauberers hochhält. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage), vgl. AaTh/ATU 566 The Three Magic Objects and the Wonderful Fruits (Fortunatus) = AA/SUS 566 Roga + AaTh/ATU 1178 The Devil Outriddled. Der Film kombiniert die Sujets von zwei Märchen des tschechischen Schriftstellers Josef Lada miteinander, die beide stark überformt Parallelen zu Erzähltypen aufweisen: O zázračném jablíčku erinnert an den Fortunatus-Stoff (AaTh 566), worin eine böswillige

323 Prinzessin dem Helden magische Gegenstände stiehlt und er ihr dafür mit Hilfe von Zauberfrüchten Hörner wachsen lässt, die er erst, als er die Gegenstände zurückerhält, mit Hilfe von anderen Zauberfrüchten entfernt (Mot. D992.1. Magic horns (grow on person’s forehead); D1375.2. Magic object (fruit, nut, water, flowers) removes horns from person). In Film und Vorlage entspricht dem die magische Bestrafung der Prinzessin und ihre Erlösung, wobei der Held, der faule Honza (als generischer Märchenname im Tschechischen), Züge des märchenhaften Dummlings trägt (vgl. Mot. L101. Unpromising hero (male Cinderella); L114.1. Lazy hero; L161. Lowly hero marries princess). Der Film schließt an diese Geschichte nahtlos das Sujet von O statečné princezně an, woraus der Name der Prinzessin stammt – kaum hat Honza Máňa erlöst, wird er irrtümlich vom Teufel Beelzebub in die Hölle entführt, wobei die Teufel schon von Anfang an mitagieren. Das hier zentrale Motiv weist einerseits Bezüge zum Orpheus-Mythos auf, worin eine Person aus dem Totenreich zurückgeholt wird (vgl. Mot. F81. Descent to lower world of dead (Hell, Hades); F81.1. Orpheus), erinnert aber in noch stärkerem Maße an den Typ vom durch schlaue Rätsel besiegten Teufel (AaTh 1178; vgl. auch Mot. G303.16.19.3. One is freed if he can set a task the devil cannot perform).

В тринадцатом часу ночи [Um 13 Uhr nachts] UdSSR – Russland 1968; Ėkran. Regie: Larisa Šepiťko; Drehbuch: Semen Lungin, Iľja Nusinov. Darsteller: Zinnovij Gerdt, Anatolij Papanov, Georgij Vicin, Viktor Bajkov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Film ist im Stile einer Revue gestaltet, deren Showeinlagen nur sehr lose mit einem dünnen Handlungsfaden verknüpft sind: In der Hütte der Baba-Jaga hat sich eine Gruppe Märchenfiguren versammelt, um gemeinsam Silvester zu feiern. Als Ehrengast trifft ein Zwerg aus dem Ausland ein, für den die Rusalka dolmetschen muss. Sie haben einen angeregten Abend und verfolgen die Neujahrsshow im Fernsehen, als auf einmal der Zwerg verschwindet – er hat sich einfach in die Show hineingezaubert. Die anderen eilen ihm aufgeregt nach, und so landen sie alle im Fernsehstudio, wo sie die Übertragung gewaltig durcheinanderbringen und die Baba-Jaga schließlich alle Menschen in Tiere verwandelt. Erst die Tränen des kleinen Zwerges bringen sie dazu, alle wieder zu entzaubern und das große Show-Finale einzuleiten. Filmgestaltung, Besonderheiten: Sketchhafte Revue. Zahlreichen Showeinlagen verschiedenster Couleur mit Gastauftritten bekannter Künstler. Die Baba-Jaga, in einem recht glamourösen Outfit, wird von einem Mann gespielt. Der Ančutka erinnert an einen Stiljaga, er trägt weite Schlaghosen mit blinkenden Applikationen. Die Kostüme der anderen Gestalten sind jeweils ein Mix zwischen moderner und folkloristisch-phantastischer Kleidung. Der Zwerg wird von einem kleinen Jungen gespielt. Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation. Märchen- und folklorehaft sind lediglich die Figuren, die aber sehr exzentrisch-verfremdet dargestellt sind: Die Baba-Jaga, der Domovoj (Hausgeist), der Vodjanoj (Wassermann), der Lešij (Waldschrat), der Ančutka (teufel- und faunähnliche Gestalt), der Ovinnyj (Scheunengeist), die Rusalka (Nixe) und der Zwerg.

324 Калиф-аист [Kalif Storch] UdSSR – Russland 1968; Ėkran. s/w Regie: Vladimir Chramov; Drehbuch: Zoja Petrova, Vladimir Lugovoj. Darsteller: Vladimir Andreev, Sergej Martinson, Nataľja Selezneva u.a. Vorlage: Wilhelm Hauff: Die Geschichte von Kalif Storch (Hauff 1986, S. 16-27; aus dem Zyklus Die Karawane, 1826). Inhaltsangabe: Der Kalif von Bagdad ist launenhaft und sturköpfig. Eines Tages lässt er sich von einem Händler ein Pulver verkaufen, das Zauberkräfte hat: Man kann sich damit in Tiere verwandeln und die Tiersprache verstehen, doch ist es verboten, während der Verwandlung zu lachen, da einem sonst das Zauberwort zur Rückverwandlung entfällt. Der Kalif und sein Wesir verwandeln sich in Störche, und als sie ein Gespräch zweier echter Störche belauschen, brechen sie in Lachen aus und vergessen das Zauberwort. Nicht nur ihre Storchengestalt macht ihnen nun Kopfzerbrechen – da immer alles für sie erledigt wurde, haben sie nie gelernt, sich selbst zu versorgen und sind mit den einfachsten Dingen überfordert. Der Hofweise Selim wundert sich zwar, dass die Storche sprechen können, ihre Identität aber glaubt er ihnen nicht. Schuld an allem ist der Zauberer Kaschnur, der sich am Kalifen dafür rächen wollte, dass er ihn nicht zu seinem Hofzauberer gemacht hat. Schließlich treffen die beiden Störche bei einer Ruine auf eine Eule, die ebenfalls verwandelt wurde: Es ist eine indische Prinzessin, die Kaschnur dafür verzaubert hat, dass sie ihn nicht heiraten wollte. Sie kann nur dann erlöst werden, wenn sie jemand zur Frau nimmt, was der Kalif ihr nach einigem Zögern verspricht. In der Ruine, so weiß die Eule, steht Kaschnurs Treffen mit seinen Gehilfen, den Räubern, bevor – die drei belauschen dieses Treffen und bekommen so schließlich das Zauberwort heraus. Sie verwandeln sich in Menschen zurück, und der Kalif schwört, sich in Zukunft zu bessern. Kaschnur wird vergeben und sogar zum Hofzauberer gemacht, und auch er gelobt Besserung. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück. (fiľm-spektakľ). In besonders auffälligem Maße theaterhaft reduzierte Mittel – die Verwandlung des Kalifen und des Wesirs in Störche beschränkt sich auf die Kostüme: Kopfbedeckungen mit schnabelähnlichen Applikationen, lange Ärmel als Flügel und an Vogelfüße erinnernde Schnabelschuhe, die allerdings in mehreren Schnitten nach und nach erscheinen. Auch die in eine Eule verwandelte Prinzessin ist ein Mensch mit nur im Gewand angedeuteten eulenhaften Zügen. Die Rückverwandlung in Menschen beschränkt sich entsprechend auf Wechsel des Gewandes. Mehrere Lieder werden gesungen, die Szenen sind ansonsten von Jazz-Klängen untermalt. Herausstechend ist das Lied des Zauberers und der Räuber, das auf die Melodie des Beatles-Songs Can’t buy me love (!) gesungen wird. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage), vgl. AaTh 670 The Animal Languages = ATU 670 The Man Who Understands Animal Languages = AA/SUS 670 Jazyk životnych. Hauffs Märchen kombiniert das Motiv des tiersprachenkundigen Menschen (Mot. B216. Knowledge of animal languages. Person understands them) mit Tierverwandlungsmotiven (Mot. D155.1. Transformation: man to stork; D153.2. Transformation: man to owl) – die Verwandlung wird durch ein magisches Pulver (Mot. D572.6. Transformation by magic powder) in Verbindung mit Wortzauber (Mot. D522. Transformation through magic word (charm)) herbeigeführt, schließlich ist damit noch ein Lachtabu (Mot. C460. Laughing tabu) verknüpft. Im Ganzen weist das Sujet einen bruchstückhaften Bezug zu einem Erzähltyp (AaTh/AA/SUS 670) auf

325 und trägt ansonsten sowohl schwankhafte als auch zaubermärchenhafte Züge.721 Der Film folgt der Vorlage im Wesentlichen, verharmlost sie aber teilweise „kindgerecht“ und didaktisiert sie: So müssen sowohl der Kalif als auch, in geringerem Maße, der Wesir, als sie in Störche verwandelt sind, ihre Mängel feststellen und unterlaufen einen Reformierungsprozess. Leicht erweitert ist die Rolle des Weisen Selim. Bei Hauff hat Kaschnur die Verwandlung des Kalifen deshalb herbeigeführt, um seinen Sohn auf den Thron zu bringen, und er wird am Ende zur Strafe hingerichtet, was der Film deutlich abmildert.

Огонь, вода и… медные трубы Feuer, Wasser und Posaunen UdSSR – Russland 1968; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Michail Voľpin, Nikolaj Ėrdman. Darsteller: Nataľja Sedych, Aleksej Katyšev, Georgij Milljar, Vera Altajskaja u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Köhlerbursche Vasja und das Hirtenmädchen Alenuška lernen sich kennen und lieben. Unterdes steht im Reich von Kaščej Bessmertnyjs dessen Hochzeit mit der Tochter der Baba- Jaga bevor. Als Hochzeitsgeschenk werden Äpfel der Jugend gebracht, die den Bräutigam um 200 Jahre verjüngen – nun aber ist ihm auf einmal seine Braut zu alt, er will sich eine jüngere suchen. Alenuška erscheint ihm dafür gerade die Richtige, und er lässt sie entführen. Da sie aber sein Liebeswerben entschieden zurückweist, sperrt er sie in einem Turm ein. Vasja hat sich unterdes auf die Suche nach seiner verschwundenen Liebsten gemacht. Kaščej aber beauftragt seine drei Werwolfgehilfen, ihn auf Abwege zu führen und Alenuška vergessen zu machen. Drei Abenteuer hat Vasja zu bestehen: Zuerst rettet er eine Zarewna aus einem brennenden Palast, und diese und ihr Vater bestehen darauf, dass er sie nun auch heiraten müsse. Da er aber seiner Alenuška treu bleibt, gerät der Zar in Wut und lässt ihn in einem Sack ins Wasser werfen. So kommt er ins Reich des Wasserzaren, der dort 11 Jungfrauen gefangenhält. Er selbst langweilt sich furchtbar – mit den Geschichten aus seinem Buch aber kann Vasja ihn aufheitern. Bevor er weiterliest, verlangt er jedoch eine Belohnung: Nicht etwa eine der Jungfrauen zur Frau, sondern deren Freilassung. Der Zar willigt zerknirscht ein, Vasja selbst aber lässt er erst gehen, nachdem er ihm das Lesen beigebracht hat. Weil er die Jungfrauen gerettet hat, wird Vasja in dem Reich, in das er nun kommt, als großer Held gefeiert. Durch die Verehrung, die ihm von allen Seiten zuteil wird, die sogenannten Posaunen des Ruhms, wird er zeitweilig korrumpiert und verblendet. Kaščej triumphiert und zeigt dies Alenuška, doch da sie sich trotzdem weigert, ihn zu heiraten, verwandelt er sie in eine Kröte. Erst kurz vor der Hochzeit mit der Zarewna wird Vasja an Alenuška erinnert, er besinnt sich und macht sich nach Kaščejs Reich auf. An dessen Grenze trifft er auf die Baba-Jaga und ihre Tochter. Als die Baba-Jaga erfährt, dass Vasja Feuer, Wasser und den Posaunen des Ruhms widerstehen konnte, verrät sie ihm, wo der Tod Kaščejs versteckt ist. Er findet und zerstört ihn, und Kaščej verwandelt sich in eine Holzstatue. Alenuška wird aus ihrer Verzauberung erlöst, und sie und Vasja können glücklich nach Hause zurückkehren. Filmgestaltung, Besonderheiten: Prolog und Epilog mit Märchenerzählerin mit puppenbühnenähnlichem Fenster.722 Insbesondere im ersten Teil werden sehr viele ästhetisch ansprechende Naturaufnahmen präsentiert; das Reich von Kaščej weist dagegen eine ausgesprochen grelle Farbgebung mit spielzeughafter surrealistischer Phantasiedekoration auf, die Einwohner wie die

721 Vgl. hierzu Schmitt 1993, S. 231, 475-476. 722 Vgl. Morozko (1964).

326 Hochzeitsgäse tragen in Kostüm und Maske exzentrisch-skurrile Züge. In der Episode im Unter-Wasser-Reich sind teilweise per Überblendung Wellen auf das Bild gelegt, die einen Verschwimmungseffekt zur Folge haben. Dritter Auftritt von Georgij Milljar in der Rolle der Baba-Jaga und zweiter in der Rolle des Kaščej. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Dem Film liegen offensichtlich keine konkreten Volksmärchentexte als Quelle zugrunde, er orientiert sich aber in seinem syntaktischen Grundgerüst klar an dem Typ vom Tod im Ei (AaTh 302), der im ostslavischen Raum fast immer mit der Figur des Kaščej Bessmertnyj als Frauenentführer verbunden ist (Mot. R.11.1. Princess (maiden) abducted by monster (ogre)), dessen außerhalb seines Körpers versteckter Tod vernichtet werden muss (Mot. E710. External soul; E713. Soul hidden in a series of coverings; E711.1. Soul in egg; K956. Murder by destroying external soul). Dass gerade die Baba-Jaga dem Helden den Aufbewahrungsort des Todes verrät (vgl. Mot. H1233.1.1. Old woman helps on quest), ist durchaus im Sinne der ostslavischen Volksmärchentradition (vgl. z.B. Af. 269). Deren Motivation dafür – sie ist auf Kaščej wütend, weil er ihre Tochter vor dem Traualtar verlassen hat – ist freilich humoristischer Film-Zusatz, wie die gesamte Handlungslinie um die geplante Hochzeit und die Äpfel der Jugend (Mot. D1338.3.1. Rejuvenation by apple). Vasjas episodenhafte Abenteuer haben keine direkten Parallelen in der Folklore, doch es handelt sich grundsätzlich um märchenhafte Prüfungen unter Berücksichtigung des Gesetzes der Dreizahl723: Drei Abenteuer in drei Zarenreichen mit drei Jungfrauen, wobei verschiedene Motive angedeutet werden (vgl. Mot. H1511. Heat test; H1538. Drowning test; H1556.2. Test of fidelity through submitting hero to temptations). Am stärksten dem Märchen verhaftet wirkt die Episode beim Wasserzaren (vgl. Mot. F252.1.0.2. King of Land under Water; F420.5.2.2. Water-spirits kidnap mortals and keep them under water). Alenuškas Verwandlung in eine Kröte (Mot. D196. Transformation: man to toad) ist eine Anspielung an das populäre Märchen von der Froschprinzessin (AaTh 402)724. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 183-186; Paramonova 1979, S. 89-96; Sputnickaja 2010, S. 117-119

Снегурочка Schneeflöckchen UdSSR – Russland 1968; Lenfiľm. Regie: Pavel Kadočnikov; Drehbuch: Daniil Dėľ, Pavel Kadočnikov. Darsteller: Evgenija Filonova, Evgenij Žarikov, Irina Gubanova, Boris Chimičev u.a. Vorlage: Aleksandr Ostrovskij: Sneguročka (1873; Ostrovskij 1989). Inhaltsangabe: Im Lande der Berendeer, in heidnischer Vorzeit. Sneguročka, die Tochter des Winters und des Frühlings, kommt zu den Menschen – ein altes Kleinbauernpaar nimmt sie auf. Das Mädchen ist anders als die anderen, sie ist unschuldig und unbedarft, doch ihr fehlt die Fähigkeit, zu lieben. Sie und der lebenslustige Hirte Leľ fühlen sich jedoch zueinander hingezogen. Eines Tages kommt der reiche Kaufmann Mizgir’ ins Dorf, um um seine Geliebte Kupava zu freien. Als er aber deren Freundin Sneguročka sieht, verliebt er sich in diese und lässt seine gekränkte Braut stehen. Leľ dagegen fühlt sich von Sneguročka verschmäht. Diese aber weist Mizgir’ trotz all seiner Geschenke zurück. Unterdes ist der Zar Berendej in großer Sorge, in

723 Vgl. Podarok černogo kolduna (1978). 724 Vgl. Vasilisa Prekrasnaja (1939).

327 seinem Volk scheint ihm die Liebe zu fehlen, und daher zürnt der Sonnengott Jarilo. Um ihn zu besänftigen, sollen an seinem bevorstehenden Festtag die jungen Paare unter den Berendeern vermählt werden. Da wendet sich Kupava an den Zaren, er soll ihr gegen den Schurken Mizgir’ beistehen. Dieser wird vor Gericht gestellt und soll verbannt werden. Nun trifft Sneguročka ein, der Anlass des Streites, und Berendej erfährt, dass ihr die Liebe fremd ist. Er ruft daher die jungen Burschen dazu auf, ihr das Gefühl nahezubringen. Sowohl Leľ als auch Mizgir’, dessen Verbannung aufgeschoben wird, wollen bis zum nächsten Morgen Liebe in ihr erwecken. Die Feierlichkeiten zum Vorabend des Jarilo-Festtages beginnen. Leľ, dessen Lied den Zaren erfreut hat, darf sich als erster eine Braut wählen. Sneguročka reagiert verständnislos, als er Kupava wählt. Mizgir’ verfolgt Sneguročka mit seinem Werben und will sich ihre Liebe sogar mit Gewalt erobern, ehe die Waldgeister eingreifen und ihn fortlocken. Als Sneguročka kurz darauf Leľ und Kupava zusammen sieht und Schmerz fühlt, hält sie es nicht mehr aus – sie will endlich wissen, was Liebe ist. So wendet sie sich an ihre Mutter, den Frühling, und bittet sie um die Gabe zu lieben. Diese warnt sie, dass dies ihren Tod bedeute, doch Sneguročka ist dies gleich. Wenig später trifft sie auf Mizgir’, und sie empfindet Liebe für ihn. Mizgir’ will dies voller Freude bei Sonnenaufgang allen kundtun. Als aber die Sonne aufgeht, schmilzt Sneguročka unter ihren Strahlen. Der verzweifelte Mizgir’ bricht darüber tot zusammen. Der Zar kündigt den Beginn des Sommers an, das Jarilo-Fest beginnt. Filmgestaltung, Besonderheiten: In Kostümen und Bauten wird eine folkloristische heidnische Vorzeit heraufbeschworen, hauptsächlich wird mit Außenaufnahmen gearbeitet, der Wald und die von hölzernen Hütten mit Ornamenschnitzereien bestimmte Sloboda dienen als Haupthintergrund. Im folkloristisch- ethnographischen Stil werden neben volkstümlichen Liedern zahlreiche Bräuche und Rituale eingearbeitet, insbesondere bei der Darstellung des Maslenica-Fests und beim Festtag des Jarilo (Ivan Kupala). Dramaturgischer Einsatz von Wetter-Symbolik: Als Mizgir’ Kupava öffentlich beleidigt und sie sich ins Wasser stürzen will, wird die aufkochende Situation durch gewitterhaften Regenfall untermalt; als Mizgir’ Sneguročka verfolgt und bedrängt, geht ein heftiger Wind; während die Szene, in der Sneguročka von ihrer Mutter den die Liebe symbolisierende Blumenkranz erhält, vor sonnendurchfluteter Natur spielt. In der letzten Szene wird gezeigt, wie Sneguročka sich in einem hellen Sonnenstrahl langsam auflöst, während noch ihre letzten Worte zu hören sind. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 703* The Artificial Child = AA *703/SUS 703* Sneguročka. Ostrovskijs Theaterstück ist mit den Volksmärchen vom Schneemädchen (AaTh 703*) nur bruchstückhaft verwandt, es transformiert das zentrale Motiv (Mot. T677. Substitute for a child. Aged, childless couple carve themselves a child from wood, or make one from snow, clay, and the like; vgl. auch F433.1. Spirit of snow) und behält den typischen Zug des Schmelzens der Heldin bei (Mot. F1041.4. Person melts away from heat), ansonsten handelt es sich um ein originales, hochliterarisches Werk, das von der mythologischen Schule und deren Faszination für das slavische Heidentum beeinflusst ist. Der Film ist eine werkgetreue Umsetzung des Theaterstücks unter Beibehaltung der rauhen, streckenweise grausamen Seite der tragischen Liebesgeschichte. Es wird zu großen Teilen der Dialog der Vorlage in gekürzter und ansonsten nur leicht abgeänderter Form verwendet. Eliminiert sind einige nicht handlungstragende Rollen, insbesondere die Figur der Elena Prekrasnaja, der Frau des Beraters des Zaren, die mit Leľ anbandeln will. Mizgir’ begeht im Gegensatz zur Vorlage nicht Selbstmord, indem er sich ertränkt, sondern bricht aus Verzweiflung tot zusammen. Der vom Stück vorgesehene Auftritt des Jarilo mit einem Menschenschädel in der einen und einem Garbenbündel in der anderen Hand fehlt, der Sonnengott wird lediglich durch die aufgehende Sonne dargestellt.

328 Старая, старая сказка Ein uraltes Märchen UdSSR – Russland 1968; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Julij Dunskij, Valerij Frid. Darsteller: Oleg Daľ, Marina Neelova, Vladimir Ėtuš, Georgij Vicin u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Fyrtøjet (Das Feuerzeug; 1835; Andersen 1982 I, S. 5-12). Volksmärchenparaphrase (vgl. KHM 116). Inhaltsangabe: Ein Puppenspieler und eine Wirtstochter lieben sich, und sie beschließen, miteinander durchzubrennen. In der Nacht davor spielen die Puppen dem Puppenspieler ein Märchen vor: Ein Soldat trifft auf eine Hexe, für die er aus einem Brunnen einen Goldschatz hervorholen soll. Sie hintergeht ihn und will ihn im Brunnen seinem Schicksal überlassen. Er kann sich aber befreien und die Hexe in die Flucht schlagen, die das Gold und außerdem ihren Kater zurücklässt. Dieser erweist sich als verwunschener Zauberer, der nun erlöst ist. Seine magische Hilfe lehnt der Soldat jedoch ab – das Gold ist ihm Belohnung genug. Ein Feuerzeug als Geschenk nimmt er widerwillig an. Kurz darauf kommt der Soldat in ein Königreich. Er trifft auf die dortige Prinzessin, in die er sich trotz ihres garstigen Wesens sofort verliebt. Bei ihr trifft unterdes ein schüchterner Prinz als Freier ein, den sie grob zurückweist – zum Leidwesen des Königs, der sich einen Schwiegersohn erhofft, der ihm aus seinen Schulden heraushelfen kann. Umsomehr ist er beeindruckt von dem Soldaten, der nun als Freier auftritt und mit seinem Reichtum protzt. Die Prinzessin jedoch weist auch ihn zurück. Kurz darauf wird sein Gold alle. Er lernt den zurückgewiesenen Prinzen kennen, der sich mittlerweile als Schornsteinfeger verdingt, und freundet sich mit dem Leidensgenossen an. Als er kurz darauf nachts sein Feuerzeug gebraucht, steht plötzlich der Zauberer vor ihm und fragt nach seinen Wünschen. Der Soldat lässt sich die Prinzessin herbeischaffen, die denkt, sie träumt. Die zwei machen einen Spaziergang über die Dächer der Stadt, und die Prinzessin verhält sich nett und freundlich – sie sei aber nur im Traum so, erklärt sie. Am nächsten Morgen ist sie zwar bereit, zu heiraten – aber nur den Freier, der ihr eine Rätselfrage beantworten kann. Mit Hilfe des Zauberers gelingt dies dem Soldaten, und die Hochzeit soll schon trotz des Protests der Prinzessin stattfinden, als der König erfährt, dass der Soldat mittellos ist – da soll er hingerichtet werden. Mit Magie kann der Soldat den König schließlich doch dazu zwingen, ihm die Prinzessin zur Frau zu geben. Kurz darauf wird ihm jedoch klar, dass Liebe ohne Gegenliebe sinnlos ist, und er verlässt die Prinzessin kurz vor der Trauung. Sein Abschiedskuss aber löst in dieser einen Wandel aus – sie läuft ihm nach und gesteht ihm ihre Liebe ein. Im Leben aber gibt es kein glückliches Ende: Die Wirtstochter will ihren Vater und ihr Elternhaus nicht verlassen, und der Puppenspieler zieht traurig alleine fort. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung, in der dieselben Hauptdarsteller auftreten wie in der Haupthandlung. Diese ist durch höchstradig stilisierte, theaterhaft reduziert wirkende Studioausstattung (ohne Außenaufnahmen) geprägt: Der blaue Himmel und die Landschaft mit Bäumen und übergroßen Blumen sind aufgemalt, die grellbunten Häuserfassaden in der Stadt bestehen aus Stoff und Kartonage etc. – und auch das Spiel der Darsteller ist eher distanziert, sie orientieren sich mehr an der Kamera als an ihren Mitspielern. Das Artifizielle wird durch die spielerische Inszenierungsform noch betont und intragdiegetisch begründet: Es handelt sich um ein Theaterstück, das die Puppen dem Puppenspieler zeigen. Humoristischer Einsatz von Anachronismen; insbesondere ein Staubsauger anstatt eines Hexenbesens. Als der Soldat Magie gegen den König einsetzt, werden Teile von dessen Gesicht in Gemüse verwandelt – ikonographische Anleihen bei den Gemälden von Giuseppe Arcimboldo sind zu erkennen.

329 Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 562 The Spirit in the Blue Light = AA/SUS 562 Duch v golubom svete. Das Grundsujet ist das des Andersen’schen Märchens, das wiederum die inhaltlich kaum variierende Bearbeitung eines Volksmärchenstoffes darstellt725, und die syntaktische Struktur bleibt durchgängig zu erkennen. Der Soldat findet das Feuerzeug nicht in der unterirdischen Höhle mit den Schätzen, sondern es wird ihm vom guten Zauberer zum Geschenk gemacht (vgl. Mot. D812.6. Magic object received from witch or wizard), der in einen Kater verwandelt war (vgl. Mot. D142. Transformation: man to cat). Dieser ersetzt die drei Hunde, die bei Andersen als magische Helfer fungieren. Die anfängliche Arroganz der Prinzessin und der angedeutete Reformierungsprozess (vgl. Mot. T251.2. Taming the shrew) verweisen auf ein anderes Andersen-Märchen, Der Schweinehirt. Hieraus ist auch der Prinz entlehnt, der ihr als Geschenk eine Nachtigall und eine Rose mitbringt und von ihr hochnäsig zurückgewiesen wird (vgl. Mot. T74.01. Suitor ill-treated). Wie in diesem will der Prinz in der Nähe der Prinzessin bleiben, er nimmt jedoch nicht den Platz eines Schweinehirten, sondern den eines Schornsteinfegers ein, womit wiederum auf den Titelhelden in Die Hirtin und der Schornsteinfeger angespielt wird. Er freundet sich mit dem Soldaten an und ersetzt dann später den anonymen Schusterjungen aus der Hauptvorlage, indem er dem Helden sein Feuerzeug beibringt, als der König ihn zum Tode verurteilen will. Der Schachzug der Prinzessin, nur denjenigen heiraten zu wollen, der ihre Rätsel lösen kann (vgl. Mot. H342. Suitor test: outwitting princess; H551. Princess offered to man who can out-riddle her), erinnert an Der Reisekamerad. Allgemein auffällig ist, dass der Film mit dem Andersen-Stoff sehr spielerisch umgeht. So wird etwa die Hexe als eine freundliche und dauerlächelnde Dame mittleren Alters eingeführt, deren böse Handlungen reichlich überraschend wirken. Der Soldat schlägt ihr wie bei Andersen den Kopf ab, doch sie setzt ihn sich einfach wieder auf und eilt davon – um gegen Ende in einer kurzen Szene nochmal aufzutauchen und zu behaupten, sie sei des Teufels Großmutter (vgl. Mot. G303.11.4. The devil’s˜ grandmother). Beim Hinrichtungsprozess gleiten die Ereignisse ins Groteske ab, als die Waffen der königlichen Soldaten in Luftballons verzaubert werden und im Gesicht des Königs plötzlich Gemüse wächst (die Tötung, die bei Andersen steht, ist eliminiert). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 179-183; Romanenko 1983, S. 32-33; Schlesinger726

Варвара-краса, длинная коса Die schöne Warwara UdSSR – Russland 1969; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Michail Čuprin, Aleksandr Rou. Darsteller: Michail Pudovkin, Georgij Milljar, Anatolij Kubackij, Lidija Koroleva u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zar Eremej wird beim Trinken aus einem Brunnen von einer Hand am Bart gepackt – Čudo- Judo, der Zar des Reiches unter Wasser, lässt ihn erst los, als er ihm das zu geben verspricht, von dem er in seinem Reich nichts weiß. Als Eremej nach Hause kommt, muss er mit Schrecken feststellen, dass ihm in seiner Abwesenheit ein Sohn geboren wurde – wovon er nichts wusste. Ein Plan wird gefasst: Der Zarewitsch soll heimlich mit dem Sohn eines

725 Es hat dann seinerseits wiederum die Volksmärchenerzähltradition beeinflusst. 726 Schlesinger: Wie das Jahr 1968 den sowjetischen Märchenfilm verändert hat, http://suite101.de/article/wie- das-jahr-1968-den-sowjetischen-maerchenfilm-veraendert-hat-a89484#.U4hnYCgoLKs (letzter Zugriff: 30.05.2014).

330 Fischers vertauscht werden, damit dieser später an Čudo-Judo abgetreten, der Zarewitsch aber wieder zurückgeholt werden kann. Der Tausch geht jedoch schief, die beiden Kinder werden versehentlich wieder zurückgetauscht. Die Zeit vergeht. Zarewitsch Andrej entwickelt sich zu einem verfressenen Lümmel, und sein Vater zieht ihm den Fischerjungen Andrej vor, den er für seinen wahren Sohn hält. Unterdes grämt sich im Reich Čudo-Judos dessen Tochter Varvara – ihre magischen Fähigkeiten bedeuten ihr nichts, sie träumt davon, ein Mensch zu sein. So lehnt sie auch die von ihrem Vater präsentierten Freier ab, denn sie wünscht sich einen menschlichen Bräutigam. Da fällt Čudo-Judo sein Handel mit Eremej ein, und er verlangt von diesem die Herausgabe seines Sohnes. So wird der Zarewitsch in den Brunnen gestürzt. Während er nun durch seine rüpelhafte Art die Bewohner des Unter-Wasser-Reiches verärgert, wird der Fischerjunge in den Palast gebracht. Als er aber erfährt, dass seinetwegen ein anderer geopfert wurde, macht er sich sofort auf, um den Irrtum aufzuklären. Der Zarewitsch erscheint vor Čudo-Judo – Varvara ist von der Aussicht auf einen solchen Bräutigam gar nicht erfreut, und er soll erst eine Prüfung bestehen: Sie verwandelt sich, und der Zarewitsch soll sie aus einer Gruppe Tauben herausfinden. Seine Hinrichtung nach erfolglosem Raten kann der Fischerjunge gerade noch verhindern: Da er der echte Zarewitsch sei, solle man ihn stattdessen hinrichten. Varvara aber besteht darauf, dass auch er sich an der Prüfung versuchen darf. Er löst die Aufgabe mit Leichtigkeit, und Varvara will ihn gerne heiraten. Dies aber ist wieder Čudo-Judo nicht recht. Varvara und der Fischerjunge flüchten gemeinsam auf die Erde. Dort angekommen, stellt sich schließlich die Wahrheit über die Identität der beiden Andrejs heraus. Der Zarewitsch nimmt, zum Unmut des Zaren, wieder seinen Platz ein. Der Fischerjunge und Varvara aber schwelgen im gemeinsamen Glück. Filmgestaltung, Besonderheiten: Prolog und Epilog mit Märchenerzählerin.727 Zahlreiche ästhetisch ansprechende Naturaufnahmen. Das Zarenreich Eremejs ist von Bauten und Requisiten geprägt, die oft comicartig anmutende Tiere repräsentieren, ansonsten in pseudofolkloristischem Stil gehalten. Čudo-Judos unterirdisches Reich ist in bunten Farben dargestellt und sehr schrill stilisiert. Čudo-Judo selbst erscheint als ein haariges Wesen mit Eselsohren; ähnlich skurril gestaltet und in ihrer Kostümierung an Tiere angelehnt sind die Freier Varvaras. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen : Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 313 The Magic Flight = AA/SUS 313 Čudesnoe Begstvo. Kein konkreter Text ist als Vorlage eruierbar728, wohl aber eine Grundorientierung an der Struktur der Volksmärchen von der magischen Flucht (AaTh 313, vgl. z.B. Af. 219-226), an deren Ausgangspunkt häufig das Motiv des unbedachten Versprechens oder Jephthah- Gelübdes steht (Mot. S240. Children unwittingly promised (sold); auch S211. Child sold (promised) to devil (ogre)). Der gesamte Handlungsstrang um die vertauschten Kinder hat Parallelen in der Folklore und im Volksmärchen (vgl. Mot. S252.1. Vain attempt to save promised child by use of substitute; auch K1921.1. Son of the king and of the smith exchanged), ist aber für AaTh 313 eher untypisch und entsprechend als Variantenbildung des Films zu sehen. Die von Čudo-Judo gestellte Freieraufgabe wiederum ist ein Motiv, das durchaus häufig in AaTh 313 anzutreffen ist (Mot. H161. Recognition of transformed person among identical companions) – wobei der Fischerjunge entgegen der Volksmärchentradition die Hilfe Varvaras gar nicht nötig hat. Die Flucht der Liebenden ist aus zwei verschiedenen Komponenten zusammengesetzt, die im Volksmärchen üblicherweise einzeln auftreten: Sie

727 Vgl. Morozko (1964), Ogon’, voda i... mednye truby (1968). 728 Charitonov/Ščerbak-Žukov 2003 und Sputnickaja 2010 nennen Vasilij Žukovskijs Kunstmärchen Skazka o care Berendee, eine Volksmärchenparaphrase, als Vorlage, doch sind daraus keine direkten Entlehnungen zu erkennen, die über die syntaktische Grundstruktur von AaTh 313 hinausgehen – das Personal wie auch die Ausschmückung der Episoden unterscheidet sich sogar wesentlich, so ist etwa der Bösewicht Koščej Bessmertnyj.

331 verwandeln sich zunächst, um die Verfolger zu täuschen (Mot. D671. Transformation flight), dann werden die Verfolger von den Tieren aus dem unterirdischen Reich aufgehalten, die der Fischerssohn auf seinem Hinweg gefüttert hat (vgl. Mot. B391. Animal grateful for food; B523. Animal saves man from pursuer). Ansonsten zeichnet sich der Film durch verspielten Detailreichtum und Psychologisierung insbesondere der beiden Hauptcharaktere aus und schmückt damit das Volksmärchensujet reichlich aus. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 187-191; Paramonova 1979, S. 96-100; Sputnickaja 2010, S. 119-121

Веселое волшебство Die schöne Wassilissa (DDR)/Die Hexe Akulina (BRD) ([Lustige Zauberei]) UdSSR – Russland 1969; Kinostudija im. M. Gor’kogo. s/w Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Nina Gernet, Grigorij Jagdfeľd. Darsteller: Marina Kozodaeva, Andrej Vojnovskij, Valentina Sperantova, Elizaveta Uvarova u.a. Vorlage: Nina Gernet/Grigorij Jagfeľd: Katja i čudesa (1963; Gernet/Jagdfeľd 1963). Inhaltsangabe: Die Schülerin Katja findet heraus, dass die Bibliotheksputzfrau Akulina Ivanovna in Wahrheit die Baba-Jaga ist. Sie ist auf der Suche nach ihrer Enkelin Vasilisa, die von Kaščej Bessmertnyj entführt wurde, und Katja bietet ihr ihre Hilfe an. Im Wald treffen sie auf die launische Kikimora, die ihnen hilft, Kaščejs Palast zu finden. Darin wiederum ist die Truhe, in der die verwandelte Vasilisa eingesperrt ist – als sie aber im Zauberbuch nach einem Spruch suchen, um diese zu öffnen, stellt sich heraus, dass sie versehentlich das falsche Buch aus der Schulbibliothek mitgenommen haben. Das echte ist inzwischen in die Hände von Katjas Schulkameraden Lisičkin geraten, und diesem wiederum wird es von der strengen Bibliothekarin Zoja Petrovna abgenommen. Als sie einen Spruch daraus laut aufsagt, findet sie sich plötzlich im Wald wieder, wo sie die skurrilen Zauberwesen an ihrem Verstand zweifeln lassen. Katja macht sich unterdes auf in die Bibliothek, um das Zauberbuch zu holen, und trifft dort auf Lisičkin. Ein missglückter Zauber versetzt die beiden Kinder auf einen Kirchturm, und die Baba-Jaga muss sie auf ihrem fliegenden Besen retten. Der übermütige Lisičkin fällt jedoch vom Besen herunter. Als Katja und die Baba-Jaga nun im Palast Kaščejs ankommen, müssen sie feststellen, dass die Truhe nicht mehr da ist – die Kikimora hat sie im Spiel an den Lešij verloren. Dieser wiederum, in dessen Hände Lisičkin geraten ist, weigert sich lange, die Truhe wieder herzugeben. Erst Lisičkin gelingt es, ihm ins Gewissen zu reden. Endlich kann die Truhe geöffnet werden. Darin befindet sich ein Frosch – die verzauberte Vasilisa. Kurz darauf trifft dann auch Kaščej ein, ein zerstreuter alter Herr. Er entzaubert Vasilisa, und die Baba-Jaga kann ihre Enkelin in die Arme schließen. Nun muss das Märchen nur noch zu Ende gebracht werden: Die Baba-Jaga fungiert als Souffleuse für Kaščej, und Katja schlüpft in die Rolle Vasilisas. Mitten in das Märchen platzt Zoja Petrovna herein, die alle gehörig zusammenstaucht und eine Erklärung fordert. Da spricht sie unversehens das Zauberwort aus und sitzt plötzlich wieder in der Bibliothek. Hier treffen nun nach und nach auch alle anderen ein. Unzufrieden mit deren Verhalten setzt sich Zoja Petrovna auf einmal auf einen Besen und fliegt damit davon. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film ist mit reduzierten, zu einem großen Teil naturalistischen Mitteln inszeniert und baut so eine bewusste Opposition zwischen Gesagtem und Gezeigtem auf: Die Märchenfiguren tragen einfache Kleidung mit modernen Zügen und ohne ausgeprägt märchenhafte Attributik,

332 und der sogenannte „Palast“ Kaščejs ist ein verfallener Holzschuppen. Demgegenüber steht die Alltagskulisse eines sowjetischen Städtchens mit historischem Zentrum und die Schulbibliothek sowie der Wald, die visuell keine besonderen Auffälligkeiten aufweisen. An „magischen“ Filmtricks stechen zunächst lediglich die Flüge auf dem Hexenbesen hervor. Erst im Finale findet so etwas wie ein Stilwechsel statt: Verwandlungen werden durchgeführt – Kaščej verwandelt den Frosch in Vasilisa (die als einzige deutlich im Stil einer Märchenheldin gekleidet ist), später dann sich selbst kurzzeitig in Tiere; dabei werden als inszenatorische Mittel Licht und Schatten und die Geräuschkulisse eines Gewitters eingesetzt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh 402 The Mouse (Cat, Frog etc.) as Bride = ATU 402 The Animal Bride = AA/SUS 402 Carevna-ljaguška sowie AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Crossover-Märchen, das lose auf einen bekannten Volksmärchenstoff referiert – betroffen sind zwei Erzähltypen, die auch in der Volksmärchentradition häufig verknüpft werden. Die sehr kindhafte Theatervorlage wird leicht abgewandelt und ausgeschmückt. Wie sie setzt der Film direkt mit dem für die beiden Typen charakteristischen Motiv der Suchwanderung ein (vgl. Mot. H1385. Quest for lost persons), verlagert es jedoch – denn Zarewitsch Ivan hat nicht, anders als im auch Katja bekannten Volksmärchen, Vasilisa gerettet, so dass sich ihre Großmutter, die Baba- Jaga, schon seit Märchenzeiten und bis zum heutigen Tag auf der Suche nach ihr befindet. Die Verwandtschaft der verschwundenen Heldin mit der Baba-Jaga ist im Stück eine Nennverwandtschaft729, als tatsächliche wie im Film ist sie dem Volksmärchen aber durchaus geläufig.730 Die weiteren Ereignisse surreal-komischen Charakters haben nichts wirklich märchenhaftes an sich; die Figuren der Kikimora und des Lešij sind primär in ihrer Benennung von der Folklore inspiriert und sonst auf jeweils originelle Art charakterisiert. Parallelen zu beiden Typen werden erst wieder beim Finale sichtbar, das zu großen Teilen Erfindung des Films ist – im Stück wurde Kaščejs Tod im Ei schon vor langer Zeit zerstört, während der Film dieses Motiv731 gänzlich eliminiert und Kaščej selbst auftreten lässt. Mit ihm erfolgt dann die Ausagierung der Märchenhandlung, die den selbstironischen Charakter eines Theaterspiels einnimmt: Kaščej hat Vasilisa in einen Frosch verwandelt (vgl. AaTh 402; Mot. D195. Transformation: man to frog), und er bedrängt sie, wenn auch in stilisierter Form, mit seinem Liebeswerben (vgl. SUS 3021). Dabei verwandelt er sich auch selbst sukzessive in mehrere Tiere (vgl. Mot. D610. Repeated transformation), ehe Zoja Petrovna hereinplatzt. Auch im Stück setzt die dort Nadežda Filippovna genannte Figur mit ihrem Auftauchen den Geschehnissen ein Ende. In der letzten Szene scheint alles wieder beim Alten und die Wahrhaftigkeit der Märchenereignisse wird in Frage gestellt – ehe es zur Schluss-Pointe kommt, die erneut einen ironischen Bruch darstellt und im Stück fehlt. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 41-42

Король-олень [König Hirsch] UdSSR – Russland 1969; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Pavel Arsenov; Drehbuch: Vadim Korostylev. Darsteller: Jurij Jakovlev, Valentina Maljavina, Sergej Jurskij, Vladimir Šlezinger u.a.

729 Dort ist außerdem eine Anspielung auf die Ereignisse von AaTh 480 mit der Baba-Jaga als Prüfinstanz enthalten. 730 Vgl. dazu z.B. Novikov 1974, S. 145, 180. 731 Mot. E710. External soul.

333 Vorlage: Carlo Gozzi: Il re cervo (König Hirsch, 1762; Gozzi 1972). Inhaltsangabe: König Deramo will sich eine Frau suchen – diese aber soll ihn ehrlich lieben und nicht lügen. Der Zauberer Durandarte schenkt ihm eine Statue, die die Gestalt des Ersten Ministers Tartaglia hat – diese lache immer, wenn eine Lüge gesprochen würde. Der böse Tartaglia jedoch zerstört die Statue und nimmt deren Rolle ein. Er will, dass Deramo seine Tochter Clarice heiratet. Diese aber liebt zu seinem Verdruss Leander, den Sohn des Zweiten Ministers Pantalone. Dessen Tochter Angela wiederum liebt Deramo, auf sie aber hat Tartaglia selbst ein Auge geworfen. Tartaglia will bei Clarices Zusammentreffen mit Deramo ernst bleiben, doch wird er von Leander heimlich gekitzelt, bis er in Lachen ausbricht. Nun ist Angela an der Reihe. Zunächst wirft sie Deramo vor, dass er sich von einer leblosen Statue Vorschriften machen lasse. Als sie ihm dann zögernd ihre Liebe gesteht, bricht die falsche Statue in Lachen aus – Deramo aber ist dies gleich, er glaubt Angela. Tartaglia schwört Rache. Die Gelegenheit dazu erhält er bei einer Hirschjagd, als Deramo ihm ein Geheimnis verrät: Von Durandate wisse er einen Zauberspruch, durch den man in den Körper eines toten Lebewesens schlüpfen könne, während der eigene Körper so lange stirbt. Als Deramo sich in einen Hirsch verwandelt, schlüpft Tartaglia in dessen Körper. Seinen eigenen toten Körper lässt er im Wald zurück, um dann als Deramo demjenigen eine Belohnung zu versprechen, der den Hirsch findet und tötet. Unterdes schlüpft Deramo aus dem Körper des Hirschs in Tartaglias Körper. Der echte Tartaglia kommt dahinter, und er setzt nun eine Belohnung auf die Gefangennahme des falschen Tartaglia aus. Dieser wendet sich unterdes an Durandarte, doch der kann ihm nicht helfen – er sei gar kein Zauberer, gesteht er, nur ein Dichter. Der Zauberspruch sei nur ein Spaß gewesen, den Deramo zu ernst genommen habe. So muss sich Deramo selbst eine List ausdenken, um in den Palast zu kommen. Angela sehnt sich unterdes nach ihrem Mann, als sie auf einmal dessen Stimme hört – der versteckte Verwandelte erzählt ihr die ganze Geschichte. Angela glaubt ihm, selbst als sie ihn dann in der Gestalt Tartaglias sieht. Da erscheint auf einmal Tartaglia in Deramos Gestalt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Schriftlicher Prolog, der ankündigt, das alte Märchen sei „aus dem Gedächtnis“ adaptiert worden. Anschließend wird in einem Raum voller „lebendiger“ Portraits über den Dichter Durandarte eingeführt, der durchgängig als Erzähler und teilweise als handelnde Figur fungiert. Stilisierte, ausgesucht exzentrische Machart sowohl in Ausstattung als auch im Spiel der Darsteller. Kostüme und Theaterschminke, angelehnt an die Commedia dell'arte-Tradition. Die theaterhaften Kulissen werden teilweise so drapiert, dass sie von Natur umgeben sind. Tartaglia ist exzentrisch mit Sonnenbrille gestaltet; die Brautanwärterinnen tragen ins Groteske gesteigerte Kostüme. Die Vernichtung der Tartaglia-Statue durch diesen selbst ist filmisch durch Stop Motion inszeniert, wobei der Schauspieler sowohl die Statue als auch sich selbst spielt. Während der Jagd-Szene fungieren als Pferde große Puppen, die den Schauspielern um den Bauch gebunden sind, als Hirsche fungieren dagegen Gemälde von Hirschen, wobei das Bild des weißen Hirschs in mehreren Varianten existiert. Die Verwandlungen Tartaglias und Deramos werden mit Farbfiltern verfremdet. Nach der Verwandlung sprechen die beiden Schauspieler mit der Stimme des jeweils anderen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 678 The King Transfers His Soul to a Parrot. Carlo Gozzis Märchenkomödie im Stile der Commedia dell'arte übernimmt die syntaktische Grundstruktur eines bekannten Märchenstoffes (AaTh 678) unter Variierung des zentralen Motivs (Mot. E725. Soul leaves one body and enters another)732 und dem

732 Mot. D157. Transformation: man to parrot vs. D114.1.1. Transformation: man to deer

334 zusätzlichen Motiv der Zauberstatue (vgl. Mot. D1268. Magic statue (doll); D1317.9. Statue gives warning; D1316. Magic object reveals truth.). Diese Statue hat im Film das Aussehen Tartaglias, so dass dieser deren Stelle einnehmen kann – ein vorlagenfremder Zug: Dort verrät märchenhaft die Statue Deramo, dass Angela die Wahrheit sagt, die Lösung des Films ist demgegenüber eine originelle Ausfabulierung. Der Film eliminiert die Nebenfiguren Truffaldino, Smeraldina und Brighella, geht mit der Vorlage frei um und parodiert und verfremdet insbesondere die Märchenform des Stücks: Die Figuren fallen mehrfach aus ihrer Rolle, und sie nehmen darauf Bezug, dass sie sich in einem Märchen befinden. Insbesondere auffällig ist eine Stelle, in der Tartaglia äußert, nicht weiter Bösewicht sein zu wollen – was aber die Erzählerfigur Durandarte nicht gestattet. Die Erzählerfunktion hat dieser bei Gozzi nicht, er ist die meiste Zeit über in einen Papagei verwandelt. Im Film dagegen führt er seinen Diener Cigolotti, der die Papageienverwandlung erwartet, mit einem echten Papagei irre und ist gar kein wirklicher Zauberer – Deramos Verwandlung mit seinem Spruch ist sozusagen ein Unfall. Auch die Schlusslösung des Films ist eine andere: Im Stück schlüpft er nicht in Tartaglias Körper, sondern in den eines alten Mannes, und kann als solcher Angela, der bereits ein Gefühl verraten hat, dass der verwandelte Tartaglia nicht ihr Mann ist, von seiner wahren Identität überzeugen. Dass im Film dagegen Deramo ausgerechnet im Körper des ihr verhassten Tartaglia stecken soll, ist eine psychologische Weiterführung dieses Moments. Während im Stück nun Durandarte als Deus-ex-machina agiert und die Rückverwandlung Deramos bewirkt, bricht der Film hier abrupt ab und das Ende bleibt offen. Literaturhinweise/Besprechungen: Sputnickaja 2010, S. 51-52

Сказка о Мите и Маше, о Веселом Трубочисте и Мастере Золотые Руки [Das Märchen von Mitja und Maša, vom fröhlichen Schornsteinfeger und dem Meister Goldenes Händchen] UdSSR – Russland 1969; Leningradskoe Televidenie. s/w Regie: Gleb Seljanin; Drehbuch: Veniamin Kaverin. Darsteller: Aleša Meškov, Lena Ponikarovskaja, Georgij Kolosov, Zinaida Dorogova u.a. Vorlage: Veniamin Kaverin: O Mite i Maše, o Veselom Trubočiste i Mastere Zolotye Ruki (1938; Kaverin 1963, S. 85-122). Inhaltsangabe: Kaščej Bessmertnyj lässt von einem seiner 1000 Brüder, Kaščej dem Jüngeren, Maša entführen, ein Mädchen aus Leningrad, das seiner verstorbenen Tochter gleicht. Mašas Bruder Mitja macht sich auf die Suche nach seiner Schwester. Hilfe erhält er von einem Clown, der ihm verrät, wie er in Kaščejs Reich kommt. Dort trifft er auf einen Dohlenjungen. Von diesem erfährt er, dass Kaščej versucht, Maša böse zu machen, sie ihm aber tapfer widersteht. Die Dohlenmutter erscheint, und sie berichtet Mitja, dass seine Schwester von drei bösen Wölfen bewacht wird – wenn aber diese jemand anderes als Kaščej beim Namen rufe, so würden sie sich in kinderliebende Hunde verwandeln. Sie erklärt sich bereit, zu versuchen, die Namen herauszufinden. Der Dohlenjunge führt Mitja zu einem alten Buchbinder. Dessen Sohn, der Meister Goldenes Händchen, wurde eingekerkert, weil er sich geweigert hat, das Kästchen zuzulöten, in dem Kaščej seinen Tod aufbewahrt. Die Dohle kehrt zurück – sie hat von dem gefangenen Meister den Namen des ersten Hundes in Erfahrung bringen können und außerdem den Rat erhalten, sich an den fröhlichen Schornsteinfeger zu wenden. Wenig später treffen die Helden auf diesen, und er kann ihnen den zweiten Namen verraten. Mitja beschließt, durch den Kamin in Kaščejs Palast einzudringen. Es gelingt ihm tatsächlich, zu

335 Maša vorzudringen, die ihn verstecken kann. Dann wird sie selbst fortgebracht, und Mitja wird Zeuge, wie Kaščej den Meister herbringen lässt: Er erklärt ihm, er wolle Maša freilassen, und er solle ein Kästchen mit Geschenken für sie zulöten. Als der Meister skeptisch ist, wird Maša gerufen – in Wahrheit handelt es sich um den verwandelten Kaščej den Jüngeren. Der Meister fällt auf die List herein, und so schmiedet er unwissentlich Kaščejs Tod ein. Kurz darauf legt Kaščej sich schlafen. Mitja versucht, ihm seinen Tod zu stehlen, doch er wird erwischt und in einen Keller gesperrt. Hier kann er jedoch den Namen des dritten Hundes erlauschen, und schließlich kann ihn der Dohlenjunge retten. Mit Hilfe der drei Hunde befreien sie nun Maša und den Meister, um anschließend Kaščejs Tod zu stehlen. Nach einer abenteuerlichen Verfolgungsjagd können sie das Kästchen öffnen und den Tod zerstören, Kaščej und seine Brüder lösen sich in Luft auf. Mitja und Maša kehren nach Hause zurück. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakeľ) mit stilisiert-theaterhafter Ästhetik, reduzierte Theaterkulissen und aufgemalte Hintergründe. Clown als Erzählerfigur, der sich als Autor der Geschichte zu erkennen gibt und mehrfach ins Geschehen eingreift.. Tiere werden von Schauspielern in Kostümen gespielt (der Dohlenjunge von einer erwachsenen Schauspielerin); Auftauchen aus dem Nichts und Verwandlung durch filmische Verfahren (Stop Motion, Überblende) verwirklicht. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (über Vorlage); siehe AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Die Vorlage von Sowjetschriftsteller Kaverin ist ein Crossover-Märchen, das sich in seiner syntaktischen Grundstruktur eng an den bekannten Volksmärchenstoff (AaTh 302) anlehnt, wenn es auch in der semantischen Ausgestaltung des Personals und der einzelnen Episoden frei fabuliert. Kaščej entführt hier keine potentielle Braut, sondern ein Kind (vgl. Mot. R10.3. Children abducted), und er bedrängt sie nicht mit Liebeswerben, sondern will sie dazu bringen, zum Bösen überzuwechseln. Entsprechend ist auch der Held verkindlicht, und er sucht nicht seine Liebste, sondern seine Schwester (vgl. Mot. H1385.6. Quest for lost sister; G551.1. Rescue of sister from ogre by brother). Das Reich Kaščejs wird als Parodie eines totalitaristischen Staates gestaltet, was im Film nur abgeschwächt erkennbar ist. Gerafft ist der Handlungsstrang um die Namen der drei Hunde und deren Herausfinden, das den Charakter einer märchenhaften Dreizahl-Prüfung hat (vgl. Mot. C430. Name tabu; C432.1. Guessing name of supernatural creature gives power over him). In der Vorlage sterben sie, wenn ihre Namen laut ausgesprochen werden, wohingegen die Variante des Films arg konstruiert wirkt. Es gibt noch einige raffende Kürzungen und Variationen (wie die Erzählerfunktion des Clowns), doch im Wesentlichen ist der Streifen, für dessen Drehbuch sich der Autor der Vorlage verantwortlich zeichnet, vorlagentreu.

Карлик нос [Zwerg Nase] UdSSR – Russland 1970; Centraľnoe televidenie. s/w Regie: Galina Orlova; Drehbuch: Jurij Korinec. Darsteller: Vladimir Ivanov, Sergej Savčenko, Valentina Tumanova, Taťjana Strukova u.a. Vorlage: Wilhelm Hauff: Zwerg Nase (Hauff 1986, S. 136-170; aus dem Zyklus Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven, 1825). Inhaltsangabe: Eines Tages erscheint eine merkwürdige Alte am Stand der Marktfrau Hanna. Als sie erfährt, dass Hanna hofft, Kräuter zu finden, mit denen sie den bösen Zauber der Kräuterhexe

336 aufheben könne, wird sie unwirsch und wühlt wild in den Waren herum, und Hannas 14jähriger Sohn Jakob fährt sie deswegen an. Schließlich kauft sie sechs Kohlköpfe und heißt Jakob an, sie ihr nach Hause zu tragen. In ihrer Hütte, die innen wie ein orientalischer Palast wirkt, gibt sie dem Jungen eine Suppe zu essen, nach deren Genuss er einschläft. Er hat einen Traum, in dem er zusammen mit Eichhörnchen und Meerschweinchen bei der Alten das Kochen lernt. Als er aufwacht, ist er auf einmal in einen Zwerg mit langer Nase verwandelt: Die Alte ist die Kräuterhexe und hat ihn verzaubert, um sich an seiner Mutter zu rächen. Sein Traum war Wirklichkeit, und es sind sieben Jahre vergangen. Nun könne er vielleicht Koch beim verfressenen Herzog werden, doch erst solle er sich doch seiner Mutter zeigen, höhnt die Hexe. Jakob kommt in die Stadt zurück und sieht auf dem Markt seine traurige Mutter sitzen, traut sich jedoch nicht, sich ihr zu nähern. Er macht sich auf zum Herzogsschloss, wo er seine Dienste als Koch anbietet. Die Leute des Herzogs warnen ihn, dass ihr Herr Köche, die nicht seinen Geschmack treffen, köpfen lässt. Jakob schreckt dies nicht. Seine Kochkunst gefällt dem Herzog, und er ernennt ihn zu seinem Leibkoch. Er kommt in hohes Ansehen. Bei einem Marktbesuch trifft er auf seine Mutter, der er sich aber nicht zu erkennen gibt. Eines Tages beginnt eine Gans, die er schlachten will, plötzlich zu sprechen: Sie ist Mimi, die Tochter eines Zauberers, der einen Streit mit der Kräuterhexe hatte, worauf sie aus Rache verwandelt wurde. Jakob freundet sich mit der Leidensgenossin an. Nach einiger Zeit bekommt er den Auftrag, für den Herzog, der Besuch von einem Freund habe, die Pastete Souzeraine zuzubereiten – aber unbedingt mit Mondkraut, sonst drohe ihm die Hinrichtung. Jakob, der von diesem Kraut noch nie gehört hat, will schon verzweifeln, doch Mimi erinnert sich, dass dies das Kraut ist, das ihre Erlösung bewirken kann. Bei Nacht schleichen sie sich in den Park und finden es, und als sie es brechen, stirbt die Hexe, sie aber werden zurückverwandelt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Anfangs wird mit einem schriftlichen Prolog gesagt, die Geschichte habe sich vor genau 400 Jahren zugetragen; die Filmmusik stammt von Komponisten des 16. Jahrhunderts; die Kostüme sind diffus mitteleuropäisch. Die Meerschweinchen und Eichhörnchen werden von stilisiert kostümierten Schauspielern gespielt. Ansonsten ist der Film, trotzdem es ein Filmstück (fiľm-spektakľ) ist, wenig theaterhaft, sondern mehr naturalistisch inszeniert, auch mit Außenaufnahmen. Die Gans wird durch ein tatsächliches „sprechendes“ Tier verkörpert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 327 The Children and the Ogre ff.. Hauffs populäre Geschichte ist nur sehr bruchstückhaft mit AaTh 327 verwandt733, woran in erster Linie die Episode im Hexenhaus erinnert (vgl. Mot. G401. Children wander into ogre’s house); ansonsten steht es in der Tradition der romantischen Kunstmärchen und verwendet frei Verwandlungsmotive (so z.B. Mot. D52.1. Transformation: man becomes hideous; D661. Transformation as punishment; D161.2. Transformation: man to goose). Der Film folgt der Vorlage ziemlich eng, variiert werden Details: So wird etwa Jakobs Vater, der für den Handlungsverlauf nicht wichtig ist, eliminiert, und die Kräuterhexe bekommt mit Hannas Ansinnen eine zusätzliche Motivation, Jakob zu verwandeln. Die Szene im Hexenhaus ist um Details verkappt (die Verwandlung der Kohlköpfe im Korb der Hexe in Menschenköpfe fehlt) und in geraffter Form dargestellt. Die anschließenden Ereignisse sind variiert: Bei Hauff ist Jakob sich weder der verstrichenen Zeit noch seiner Verwandlung bewusst – erst, als seine Eltern ihn nicht mehr erkennen und er von ihnen beschimpft und fortgejagt wird, während er von allen Seiten Spott zu erleiden hat, wird ihm dies vollends klar. Der Film mildert dies deutlich ab: Der Spott, dem der wissende Jakob ausgesetzt ist, wird in in kurzen dialoglosen Einstellungen angedeutet, und er traut sich nicht, seiner Mutter zu nähern und beobachtet sie

733 In der Interpretation des Märchens als von diesem Erzähltyp beeinflusst folge ich Schmitt 1993, S. 231, 546- 547.

337 nur aus der Ferne. Die spätere Szene auf dem Markt, in dem er als Koch des Herzogs auf sie trifft, ist dagegen ein ausschmückender Einschub. Die Episode mit der Gans Mimi modifiziert der Film, indem er auch für Mimis Verwandlung die Kräuterhexe verantwortlich macht, und ergänzt, dass diese sterben müsse, wenn die beiden zurückverwandelt werden (ein Detail, das in seiner Konsequenz volksmärchenhaft wirkt). Stark gerafft ist die Episode um die Pastete Souzeräne. Hierauf folgt Jakobs Verzweiflung, Mimis Hilfe und die Entzauberung der beiden – eine romantische Verbindung, die bei Hauff fehlt, wird durch Bilder zumindest angedeutet. Der Film endet an dieser Stelle, der „Kräuterkrieg“ als Folge von Jakobs Verschwinden fehlt.

Весенняя сказка [Ein Frühlingsmärchen] UdSSR – Weißrussland 1971; Belarus’fiľm. Regie, Drehbuch: Jurij Cvetkov. Darsteller: Natalija Bogunova, Aleksej Katyšev, Galina Orlova, Evgenij Kindinov u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Sneguročka (1968). Filmgestaltung, Besonderheiten: Lange Zeichentricksequenz mit einer tanzenden Schneeflocke, die zu einem Mädchen wird, zur Einführung. Folkloristisch-naturalistische Ausstattung unter Einsatz von zahlreichen Liedern und Bräuchen, insbesondere das Maslenica-Fest wird sehr ausgiebig dargestellt. Neben dem idyllisch gestalteten Dorf mit Holzarchitektur wird vor allem die Natur des Waldes als Kulisse genutzt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Sneguročka (1968). Die Grundhandlung entspricht der Vorlage (siehe oben), und es wird auch hier zu großen Teilen der Dialog des Stücks verwendet; es lassen sich jedoch nichtsdestoweniger durch Kürzung und Ausgestaltung einige bedeutsame Unterschiede ausmachen, die dessen Tragik deutlich mindern und dem allgemein sehr heiteren Grundton dieses Streifens entsprechen: Es fehlt der Dialog zwischen Winter und Frühling, nur die heitere Zeichentricksequenz gibt zunächst Aufschluss über Sneguročkas Herkunft. Ihr kaltes Herz wird nicht erwähnt, nur ihre Scham, und es kommt zu keinen Anfeindungen gegen sie im Dorf. Dass Liebe ihren Tod bedeute, wird ebenfalls nicht erwähnt, und es wird auch nicht gezeigt, wie sie schmilzt: Man hört nur ihre entsprechenden Worte, während dabei die Sonne zu sehen ist – ob ein tatsächliches Schmelzen stattgefunden hat, eine andere Verwandlung oder das Schmelzen nur als Metapher zu verstehen ist, ist nicht klar. Sowohl Mizgir’s Selbstmord als auch die Ansprache des Zaren Berendejs, dass der Tod der beiden ihre Freude nicht schmälern könne, fehlen. Stattdessen sieht man lediglich direkt im Anschluss in der letzten Einstellung die feiernden Berendeer, unter denen freilich Sneguročka und Mizgir’fehlen – aber explizit wird nichts gemacht.

Лада из страны Берендеев [Lada aus dem Land der Berendeer] UdSSR – Ukraine 1971; Kinostudija im. A. P. Dovženko. Regie: Anatolij Bukovskij; Drehbuch: Aleksandr Filimonov. Darsteller: Svetlana Pelichovskaja, Majja Bulgakova, Nikolaj Jakovčenko, Nikolaj Grin’ko u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe:

338 Lada ist die Enkelin der Baba-Jaga, einer gutmütigen Alten. Diese erlaubt ihr, mit ihrem Mörser zu fliegen, was Lada übermütig ausnutzt – kurze Zeit später hat sie einen Unfall, und als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht, findet sie sich in einem fremden Königreich wieder. Dort trifft sie auf den Zwerg Puzik, der ebenfalls hier gestrandet ist. In dem Reich soll zu Ehren der Prinzessin Maggot ein internationales Gesangsturnier stattfinden. Da aber alle ausländischen Teilnehmerinnen abgesprungen sind, organisiert sich der Zeremonienminister in einer Hafenspelunke Ersatz. Dem König ist ohnehin gleich, wer die Teilnehmerinnen wirklich sind, solange nur seine Tochter gewinnt – deren Sieg ist abgemachte Sache. Unterdes werden Lada und Puzik wegen Rumtreiberei verhaftet, und im Gefängnis lernen sie den Zauberer Rej kennen. Dieser verhilft ihnen zur Freilassung. Kurz darauf treffen sie auf den Zeremonienminister, der Lada prompt als Teilnehmerin für das Turnier verpflichtet. Da der Gewinnerin angeblich ein Visum und ein Schiff winken, hofft Lada, auf diese Weise nach Hause zu kommen. Das Turnier wird von der siegessicheren Maggot eröffnet, weitere Nummern folgen, ehe als Letzte Lada auftritt. Ihr Auftritt bezaubert alle so sehr, dass allen Abmachungen mit den Preisrichtern zum Trotz sie die erste Runde des Turniers gewinnt. König und Prinzessin toben, der Zeremonienminister ist in Erklärungsnot. Doch auch Rej, der mittlerweile Sympathien für Lada entwickelt hat, steht unter Druck: Er soll mit seiner Zauberei Maggots Sieg garantieren, sonst droht ihm die Hinrichtung. Kurz darauf verliert er auch noch seine Magie – er hat versehentlich gegen ein Zauberergesetz verstoßen. Puzik, der den Intrigen um das Turnier auf die Schliche gekommen ist, klärt Lada darüber auf. Die zweite Runde beginnt. Ladas Auftritt wird erneut umjubelt. Anschließend flüchtet sie jedoch zusammen mit Rej und Puzik. Maggot wird daraufhin zu sehr verhaltenem Applaus zur Siegerin erklärt, doch die entzürnte Prinzessin verlangt, die Flüchtigen zu bestrafen. Bevor sie jedoch gefasst werden können, kommt ihnen die Baba-Jaga in ihrem Mörser zu Hilfe – gemeinsam fliegen sie darin davon. Filmgestaltung, Besonderheiten: Im Stile einer musikalischen Revue inszeniert. Stilisierte Studio-Ausstattung mit theaterhaften Kulissen, teilweise aufgemalten Hintergründen und diffusem Stilmix und Phantasiekreationen bei den Kostümen. Der Zwerg Puzik wird von einem kleinen Jungen gespielt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Der Film, der Züge eines Crossover-Märchens trägt, benutzt das Märchengenre in erster Linie, um den Musiknummern einen Rahmen zu geben – im Zentrum steht der Gesangswettbewerb. Dessen Teilnehmerinnen wird eine märchenhafte Aura verpasst, indem sie als Inkarnationen von verschiedensten Folklorefiguren auftreten: „Skylla und Charybdis“ singen zu einer zirkushaften Choreographie; die „Sirin“ trägt ein tieftrauriges, die „Gamajun“ dagegen ein fröhliches Lied vor; und „Scheherazades“ Darbietung ist von einem Bauchtanz begleitet. Kaum etwas gemeinsam mit den Zwergen und Zauberern aus dem Märchen haben Puzik und Rej, der seine Magie durch Verstoß gegen ein „Zauberergesetz“ verliert (vgl. Mot. C947. Magic power lost by breaking tabu). Enger an ihr Märchenvorbild angelehnt ist die Baba-Jaga, die immerhin mit ihrem klassischen Attribut auftritt, dem Mörser, der hier mit einem Lied zum Fliegen gebracht wird (vgl. Mot. D1275. Magic song).

Тень [Der Schatten] UdSSR – Russland 1971; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Julij Dunskij, Valerij Frid. Darsteller: Oleg Daľ, Anastasija Vertinskaja, Marina Neelova, Ljudmila Gurčenko u.a. Vorlage:

339 Evgenij Švarc: Ten’ (1940; Švarc 1972, S. 201-275). Kunstmärchenparaphrase (Hans Christian Andersen: Skyggen (Der Schatten), 1847; Andersen 1982 I 1, S. 358-371). Inhaltsangabe: Der Gelehrte Christian Teodor kommt in ein Land, in dem Märchen Wirklichkeit sind – und wie jeder Neuankömmling wird auch er Teil eines Märchens. Er hat sich gerade in die Prinzessin verliebt, als ihm auf einmal sein Schatten davonläuft. Seine Schattenlosigkeit wird wie eine Krankheit kuriert und scheint nicht weiter schlimm zu sein. Den hohen Ministern ist es aber gar nicht recht, dass er das Herz der Prinzessin erobert hat, und sie wollen ihn aus dem Weg schaffen – der Schatten, der unterdes Menschengestalt angenommen hat und sich Teodor Christian nennt, bietet ihnen dafür seine Hilfe an. Christian Teodor weiß von alledem nichts, und er träumt davon, die Welt zu verbessern: Anstatt durch die Prinzessin König zu werden, will er mit ihr durchbrennen, und so verabreden sie ein Treffen am Bahnhof. Doch bevor die Prinzessin aufbrechen kann, erscheint der Schatten bei ihr – obwohl sie anfangs widerstrebt, kann er sie mit seinen Reden immer mehr umgarnen. Christian Teodor muss kurz darauf feststellen, dass er nicht nur die Prinzessin an seinen Schatten verloren hat, sondern auch all seine Freunde ihn verraten haben. Die einzige, die nach wie vor zu ihm hält, ist die Tochter seines Herbergswirts, die sich in ihn verliebt hat. Der Schatten, der die Prinzessin geheiratet hat, bietet ihm höhnisch an, nun sein Schatten zu werden. Da spielt der Gelehrte seinen letzten Trumpf aus: Er weiß, wie der Schatten zeitweilig in seine wahre Gestalt zurückverwandelt werden kann, und will damit allen beweisen, wer dieser wirklich ist. Doch auch dieser Versuch scheitert – das Offensichtliche wird von allen Anwesenden geleugnet, der Schatten hat schon zu viel Macht. So kann er kurz darauf befehlen, dass seinem ehemaligen Herrn der Kopf abgeschlagen wird. Dies aber hat für ihn unerwartete Konsequenzen: Kaum ist Christian Teodor ohne Kopf, ist auch sein Schatten kopflos. So muss Christian Teodor mit dem Wasser des Lebens vom Tode erweckt werden, damit auch der Schatten wieder lebt. Die Prinzessin ist unterdes von dessen Verhalten abgestoßen und will ihn festnehmen lassen, worauf er wieder seine Schattengestalt annimmt und verschwindet. Christian Teodor aber verlässt, trotz Bitten der Prinzessin, gemeinsam mit der Herbergstochter das Land. Filmgestaltung, Besonderheiten: Gelehrter und Schatten (Christian Teodor und Teodor Christian) werden in einer Doppelrolle vom selben Darsteller gespielt. Höchstgradig stilisierte Ausstattung mit kartonageartigen Kulissen sowie theaterhaften Kostümen und Requisiten, die vage auf eine südeuropäische Vergangenheit verweisen und einige Anachronismen aufweisen, z.B. eine Lokomotive, ein altmodisches Auto etc. In einigen Einstellungen ohne Darsteller werden hier Miniaturkonstruktionen durch optische Täuschung als lebensgroße Requisiten bzw. Kulissen präsentiert – so lassen sich etwa die fahrende Lokomotive oder die Panorama-Stadtansicht mit Schloss klar als Miniaturspielzeuge erkennen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation (über Vorlagen). Andersens Märchen lehnt sich lose an Adelbert von Chamissos Erzählung Peter Schlehmils wunderbare Geschichte an und übernimmt daraus das zentrale Motiv (Mot. F1038. Person without shadow), um daraus ein originales Sujet zu entwickeln, indem er dem Schatten eine eigene Persönlichkeit gibt (vgl. auch Mot. E743. Soul as shadow). Wie viele Märchen Andersens mit tragischem Finale ist das Strukturgefüge kein typisch märchenhaftes. Das Švarc’sche Theaterstück behält nur die Grundelemente der Handlung bei734, und wie Andersens Märchen einen expliziten intertextuellen Verweis auf den Chamisso-Text enthält, arbeitet Švarc einen solchen auf die Andersen’sche Quelle ein – Christian Teodor landet in einem Märchen, dessen Sujet und Ausgang bekannt ist, womit sich das Werk klar als Neuinterpretation präsentiert. Diese manifestiert sich nicht nur in neuen

734 Für eine werkgetreue Adaption vgl. die entsprechende Episode in Bluždajuščie ogon’ki (1979).

340 Figuren und dem Schauplatz eines stilisiert-ironisierten Märchenreiches sowie humoristisch- grotesken Details, wie etwa den Figuren von zwei „anständigen“ Menschenfressern (vgl. Mot. G10. Cannibalism), die es auf den Gelehrten abgesehen haben, sondern auch in einem optimistischeren Grundton und einem glücklichen Ende, in dem u.a. das Wasser des Lebens (Mot. E80. Water of Life) eine Rolle spielt. Der Film nimmt einige raffende Kürzungen, Umstellungen und dramaturgische Anpassungen vor, folgt der Švarc’schen Vorlage aber sonst unter Beibehaltung vieler Dialoge ohne größere Variationen. Hinzugefügt wird die Ankunft Christian Teodors im Märchenland und die versuchte Flucht daraus mit der Lokomotive, womit der der Film mit den anachronistischen Verfahren des Crossover-Märchens spielt.

Двенадцать месяцев [Die zwölf Monate] UdSSR – Russland 1972; Lenfiľm. Regie, Drehbuch: Anatolij Granik. Darsteller: Liana Žvanija, Nikolaj Volkov, Oľga Viklandt, Marina Maľceva u.a. Vorlage: Samuil Maršak: Dvenadcať mesjacev (1943; Maršak 1968, S. 307-376). Volksmärchenparaphrase (vgl. O dvanácti měsíčkach, Něm. S. 121-131). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Kurz vor dem Jahreswechsel. Eine Königin, die noch ein junges Mädchen ist, treibt mit ihren Launen ihren Hauslehrer zur Verzweiflung. Obwohl tiefer Winter ist, möchte sie Schneeglöckchen haben, und sie gibt bekannt, dass derjenige, der ihr welche bringt, reich belohnt wird. Davon erfahren eine Witwe und deren Tochter, die gierig auf die Belohnung sind – die von ihnen verhasste Stieftochter wird trotz Eiseskälte hinausgeschickt, um die Blumen zu suchen. Völlig durchgefroren kommt sie zu einem Feuer, um das sich wie jedes Jahr alle zwölf Monate versammelt haben. Als diese von ihrem Schicksal erfahren, helfen sie ihr: Sie nehmen nacheinander für kurze Zeit das Szepter über die Natur in die Hand, bis die Reihe an den April kommt, der Schneeglöckchen erblühen lässt. Außerdem gibt er der Stieftochter einen Ring, mit dem sie sie um Hilfe rufen kann – sie muss aber versprechen, niemandem von ihrer Begegnung zu erzählen. (2) Die Stiefmutter und ihre Tochter bringen am Tag darauf die Blumen der Königin, die darüber hoch erfreut ist. Als sie jedoch wissen will, wo sie sie herhaben, geraten die beiden in Erklärungsnot und müssen schließlich die Wahrheit gestehen. Die Königin lässt sich in den Wald bringen, wo sie von der Stieftochter alles erfahren will. Als diese jedoch das Geheimnis nicht verrät, gerät die Königin in Wut, und in ihrer Not wendet die Stieftochter den Zauber des Rings an. Da verschwindet sie, und es wird auf einmal Frühling. Die Königin freut sich, dass selbst die Natur ihrem Willen zu gehorchen scheint. Auf den Frühling folgt jedoch unmittelbar Sommer, dann Herbst und schließlich wieder kalter Winter. Das Gefolge der Königin flüchtet, und auch ihrer warmen Kleidung geht sie verlustig. Der Weg zurück zum Palast aber ist weit. Nur ihr Hauslehrer und ein alter Soldat sind bei ihr geblieben, sowie die Stiefmutter und ihre Tochter. Kurz darauf treffen sie auf den Januar, der jedem einen Wunsch gewährt. Stiefmutter und Tochter geraten darüber in Streit, und schließlich werden sie in Hunde verwandelt. Kurz darauf kommen alle an das Feuer, an dem die Stieftochter schon mit den Monaten sitzt, die sie reichlich beschenkt haben. Sie hat Mitleid mit den verwandelten Hunden, doch der Januar erklärt, sie müssten sich erst bessern, bevor sie erlöst werden können. Die Königin aber hat ihre Lektion gelernt. Sie gelobt Besserung, und alle verabschieden sich von den Monaten. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film ist bis auf eine kurze Szene am Anfang (mit echten „sprechenden“ Tieren im Wald)

341 vor höchstgradig stilisierten Studiokulissen gedreht, so tragen etwa die Tannenbäume Silberlametta statt Nadeln und sind mit watteähnlichem Kunstschnee überhäuft, der von einer Windmaschine herumgewirbelt wird; die Wände des Königsschloss sind deutlich aus Pappmaché; die Dorfkulisse besteht aus einer spielzeughaften Häuserfassade aus kartonähnlichem Material usw., und auch sämtliche Requisiten, z.B. die Schneeglöckchen, sind deutlich künstlich. Die Kostüme sind theaterhaft, diffus mitteleuropäisch und zeitlich unbestimmt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 480 The Spinning Women by the Spring: The Kind and the Unkind Girls = ATU 480 The Kind and the Unkind Girls = AA 480*B/SUS 480 Mačecha i padčerica. Der Film folgt der Vorlage äußerst genau; die Rolle der auftretenden Waldtiere ist auf ein Minimum reduziert, ansonsten ist der Großteil der Dialoge nahezu unverändert erhalten geblieben. Maršaks Theaterstück stellt die Adaption eines der bekanntesten und variantenreichsten Erzähltypen dar.735 Die Variante mit den 12 Monaten als prüfende übernatürliche Instanz (Mot. Z122.3. Twelve Months seated about fire) ist insbesondere im Westslavischen verbreitet (vgl. Něm., S. 121-131736). Das hier verwendete Motiv einer unerfüllbaren Aufgabe (Mot. H1020. Tasks contrary to law of nature; H1023.3. Task: bringing berries (fruits, roses) in winter) wird erweiternd ausgedeutet, indem der Schwerpunkt auf der Aufgabenstellerin liegt (im Volksmärchen kommt diese Funktion in der Regel der Stiefverwandtschaft ohne besondere Motivation zu, vgl. neben Něm. auch KHM 13) – deren Reformierungsprozess steht dann im Mittelpunkt. Die Königin und der gesamte mit ihr verbundene Handlungsstrang sind entsprechend Erfindungen Maršaks. Ihnen gegenüber tritt die nominale Heldin und der zugrundeliegende Erzähltyp (AaTh 480) in den Hintergrund, wobei dieser im Prinzip als Ganzes beibehalten und mit der Bestrafung von Stiefmutter und Stiefschwester (Mot. Q551.3.2.7. Punishment: transformation to dog) zu Ende geführt wird.

Золотые рога Der Hirsch mit dem goldenen Geweih UdSSR – Russland 1972; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Aleksandr Rou; Drehbuch: Aleksandr Rou, Lev Potemkin. Darsteller: Raisa Rjazanova, Volodja Belov, Ira Čigrinova, Lena Čigrinova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zwei kleine Mädchen, die Zwillinge Mašen’ka und Dašen’ka, wagen sich beim Pilzesuchen in den ihnen verbotenen Zauberwald vor – dort geraten sie in den Machtbereich der Baba- Jaga, die sie gefangennimmt und in Rehe verwandelt. Ihre Mutter Evdokija bricht auf, um sie zu retten. Ihr Sohn Kirjuša soll daheimbleiben, doch er beschließt, heimlich fortzulaufen, um ebenfalls die Schwestern zu suchen. Evdokija hilft auf ihrem Weg dem Hirsch mit dem goldenen Geweih, vor bösen Räubern zu entkommen, und dieser gibt ihr zum Dank einen Zauberring. Er rät ihr auch, sich an die Sonne zu wenden – den Weg dorthin weist ihr ein Kolobok (Kugelbrot). Weder Sonne noch Mond jedoch können ihr sagen, wo ihre Töchter sind, erst der Wind weiß darüber Bescheid, und so macht sie sich schließlich auf zur Baba- Jaga. Diese schickt ihr eine Feuerbrunst entgegen, um sie zu vernichten, doch mit dem Zauberring des Hirschs kann sie sich davor retten. Unterdes kommt Kirjuša zur Baba-Jaga.

735 Vgl. auch Morozko (1964). 736 Verschiedene Detailübereinstimmungen und Maršaks Tätigkeit als Übersetzer aus dem Tschechischen weisen daraufhin, dass ebendiese Variante seine Quelle war.

342 Anfangs kann er dieser durch seine Pfiffigkeit widerstehen, doch dann verwandelt sie ihn in ein Zicklein und kündigt an, ihn verspeisen zu wollen. Kurz darauf kommt jedoch Evdokija zur Hütte der Baba-Jaga, und sie fordert von dieser energisch die Herausgabe ihrer Kinder. Als die Baba-Jaga sich weigert, kommt es zu einem erbitterten Zweikampf. Evdokija, die sich durch eine Handvoll geheiligte russische Heimaterde in eine bewaffnete Kriegerin verwandelt737, kann die Baba-Jaga besiegen und ihre Kinder erlösen. Die Waldbewohner, die genug von Baba-Jagas üblen Taten haben, jagen diese mitsamt ihrer Hütte in den Sumpf, wo der Wassermann schon auf sie wartet. Evdokija und ihre Kinder aber gehen nach Hause. Filmgestaltung, Besonderheiten: Mit der Handlung nicht verknüpfte Einführungssequenz mit einem Tanzensemble. Letzter Auftritt von „Märchenerzählerin“ Anastasija Zueva und „Baba-Jaga“ Georgij Milljar. Die Tiere werden durch tatsächliche „sprechende“ Tiere dargestellt. Das naturalistisch- folkloristische, sehr stark das Element des Russischen betonende Dorf, in dem Evdokija mit ihren Kindern lebt, steht dem ebenso düster wie surreal-skurril gestalteten Waldreich der Baba-Jaga hinter dem Sumpf gegenüber, in dem der größte Teil der Handlung spielt. Es hebt sich vom naturalistisch gestalteten, das Dorf umgebenden Teil des Waldes, in dem der Hirsch mit dem Goldenen Geweih herrscht, insbesondere auch durch die Beleuchtung klar ab (lichtdurchflutet vs. schattenreich). Die Kostüme der menschlichen Darsteller sind zeitlich unbestimmt folkloristisch-russisch; die der übernatürlichen Figuren Phantasiekreationen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (neuer Subtyp?)738; vgl. AaTh 480A* Three Sisters Set out to Save their Little Brother = AA 480*E/SUS 480A* Sestra (tri sestry) otpravljaetsja spasať svoego brata. Im Kern des losen syntaktischen Gerüsts steht das Motiv der Suchwanderung (vgl. Mot. H1385. Quest for lost persons), das für verschiedene Typen zentral ist (vgl. etwa AaTh 451; 425 ff.), aber in der dargestellten Form insbesondere an AaTh 480A* erinnert: Hier ist eine Entführung von Kindern durch ein hexenartiges Wesen (vgl. Mot. G261. Witch steals children) handlungsauslösend, und diese Funktion wird im ostslavischen Märchen fast ausnahmslos von der Baba-Jaga erfüllt (vgl. Af. 113; insbesondere Af. 558). Ansonsten ist der Film sehr collagehaft mit zahlreichen sprechenden Tieren, numinosen Folkloregestalten und übernatürlichen Elementen ausgestattet, die aneinandergereiht und bunt zusammengewürfelt wirken (vgl. z.B. Mot. D683.2. Transformation by witch (sorceress), D114.1.1. Transformation: man to deer, D134. Transformation: man to goat (he-goat, she-goat, kid etc.); B443.1. Helpful deer (stag, doe), B102.3. Golden deer; D1382.11. Magic ring protects against fire; D1313. Magic object points out road; H1232. Direction on quest given by sun, moon, wind and stars etc.) und von denen einige gänzlich funktionslos und rein dekorativ sind. Ein freier und nicht stringenter Umgang mit insbesondere magischen semantischen Elementen ist durchaus nicht untypisch für das Volksmärchen, wenn auch nicht in so gehäufter Form. Literaturhinweise/Besprechungen: Paramonova 1979, S. 100-104; Sputnickaja 2010, S. 121-123

Руслан и Людмила Ruslan und Ljudmila UdSSR – Russland 1972; Mosfiľm. Regie: Aleksandr Ptuško; Drehbuch: Aleksandr Ptuško, Samuil Bolotin. Darsteller: Valerij Kozinec, Nataľja Petrova, Vladimir Fedorov, Marija Kapnist-Serko u.a.

737 Vgl. Kaščej Bessmertnyj (1944). 738 Vgl. Dva klena (1974).

343 Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Ruslan i Ljudmila (1938). Zweiteiler. Filmgestaltung, Besonderheiten: Prolog, in dem ein Buch mit dem Puškin’sche Poem aufgeschlagen wird und eine bunte Illustration sich dann in das tatsächliche Filmbild verwandelt. Auch ansonsten visuell Anlehnung an Puškin-Illustrationen.739 Die Dialoge sind in Versform gehalten und entstammen entweder dem Puškinschen Poem oder ahmen dessen Stil nach. Die Kiewer Rus’ ist in Bauten und Kostümen folkloristisch-historisierend dargestellt, wenn auch von besonderer, detailverliebter Opulenz, die von Naturaufnahmen und – für Ptuško typisch – Massenszenen gestützt ist; demgegenüber sind die Petschenegen, die mit dem historischen Volksstamm ausschließlich den Namen zu teilen scheinen, in wilde Phantasiekostüme gekleidet; noch stärker in seiner visuellen Opulenz wirkt das pseudoorientalische, grottenhafte Phantasiereich Černomors, das durch beeindruckende Gesteinsformationen wie auch durch zahlreiche „wunderbare“ Spezialeffekte und ästhetische Spielereien gekennzeichnet ist. Aufwendig gestaltet sind etwa über einer dampfenden Schlucht liegende, freischwebende Kristallplatten; steinerne Riesen; der riesige Kopf und, wie zu erwarten, der Flug von Ruslan und Černomor durch die Luft. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Ruslan i Ljudmila (1938). Im Grunde ähnlich wie der Film von 1938 sehr vorlagengetreu; da die 1938er-Version jedoch einige Kürzungen aufweist und sich dieser Streifen hingegen durch einige Ausfabulierungen und Erweiterungen auszeichnet (die primär dekorativer Natur sind), seien hier die Hauptunterschiede genannt: Erhalten sind alle drei Nebenbuhler Ruslans, auch Ratmir mit dessen Nebenhandlungslinie, in der er sein Glück bei einem Fischermädchen findet und Ljudmila vergisst. Auch der Finne tritt auf, mitsamt seiner Vorgeschichte, worin er erst um Naina wirbt und um ihretwillen die Zauberkunst erlernt, um dann zu ihrem erklärten Feind zu werden. Ebenso bleibt die Vorgeschichte um den riesigen Kopf erhalten: Sein Schicksal als Kopf ohne Körper hat er einer Hinterlist seines Bruders, des Zwerges Černomor, zu verdanken. Zu den Erweiterungen des Films gehören ein Friedensvertrag mit den von Ruslan schon zu Beginn geschlagenen Petschenegen, den diese brechen, als sie von einem weiteren enttäuschten Freier Ljudmilas von Ruslans Tod unterrichtet werden – den Schlacht- und Belagerungsszenen, bis der ins Leben zurückgeholte Ruslan eingreift, wird sehr viel Raum eingeräumt. Zu den Versuchen, Ruslan zu schaden, die Naina in der Vorlage unternimmt, werden vom Film noch zahlreiche weitere eingefügt. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 196-200

Семург740 Der Wundervogel Semurg UdSSR – Usbekistan 1972; Uzbekfiľm. Regie: Chabibulla Fajziev; Drehbuch: Inna Filimonova. Darsteller: Chikmat Lapytov, Tamara Šakirova, Chabibulla Karimov, Guli Chamraeva u.a. Vorlage: Hamid Olimjon (Chamid Alimdžan): Semurg‘ yoki Parizod va Bunyod (Semurg, oder: Parizod und Bunyod, 1939; in: Naumov 1980, S. 638-667). Inhaltsangabe:

739 Vgl. Skazka o care Saltane (1966). 740 Da die russischsprachige Version nicht ausfindig gemacht werden konnte, wurde anhand der deutsch synchronisierten Version ausgewertet.

344 Der Hirte Bun’jad rettet Parizad, der Tochter des Chans, vor einem Tiger das Leben, doch sie zeigt sich wenig dankbar. Kurz darauf hat er eine Begegnung mit zwei mythischen Wesen: Mit Semurg, dem Vogel des Glücks, und mit dem Riesen Jalmagyz, der ihn für das Böse gewinnen will. Er entscheidet sich jedoch für den Weg des Guten, und Semurg schenkt ihm eine Zauberflöte. Wenig später drängt es Bun’jad hinaus in die Welt, auch kann er die schöne Parizad nicht vergessen. Um deren Hand halten unterdes verschiedene Freier an, doch sie will nur denjenigen heiraten, der ihre beiden Prüfungen besteht. Der Prinz Šerzod meistert die erste Aufgabe, scheitert jedoch an der zweiten und soll hingerichtet werden. Da schaltet sich Bun’jad ein, der selbst die Prüfung bestehen und damit Šerzod retten will. Mit der magischen Hilfe Semurgs gelingt es ihm. Da trifft auf einmal die Kunde ein, dass Jalmagyz im Reich Unheil anrichtet. Der Chan und sein Gefolge flüchten, doch Bun’jad erklärt sich bereit, gegen den Riesen zu kämpfen. Dafür schmiedet ihm das Volk ein Schwert. Parizad gibt heimlich Šerzod den Auftrag, Bun’jad zu töten, und dieser schließt sich mit diesem Ziel dem Hirten an. Auf dem Weg haben die beiden Gefährten einige Gefahren zu bewältigen, und Bun’jad, dem Semurg beisteht, rettet Šerzod mehrfach das Leben. Die Helfer Jalmagyz’, Nixen und Zwerge, sind von ihm Unterdrückte, und als Bun’jad sich von ihnen nicht verblenden lässt, helfen sie ihm mit magischen Geschenken. Schließlich kommt es zum Kampf mit Jalmagyz, dessen Anblick seine Gegner versteinern lässt – Šerzod wird versteinert, Bun’jad jedoch sieht ihn nicht an und kämpft. Mit Hilfe der Zaubergaben kann er schließlich den Sieg davontragen. Danach bricht er bewusstlos zusammen, und der aus der Versteinerung erlöste Šerzod nimmt den Bart des Riesen als Beweisstück an sich und lässt den Gefährten liegen. Er lässt sich als Retter feiern, doch als die Hochzeit zwischen ihm und Parizad bevorsteht, trifft Bun’jad ein und klärt den Betrug auf. Šerzod zeigt sich reuig, doch die hochmütige Parizad ist unbeirrbar und will auch jetzt Bun’jad nicht heiraten. Dieser jedoch, der nun ihr wahres Gesicht erkennt, hat auch kein Interesse mehr an ihr. Stattdessen zieht er mit seiner treuen Jugendfreundin fort, einem Hirtenmädchen, das auf der Suche nach ihm bis in den Palast gekommen ist. Filmgestaltung, Besonderheiten: Zahlreiche Naturaufnahmen von nahezu unberührten Landschaften; an Originalschauplätzen gedreht. Naturalistische Darstellung, dabei starke Betonung des Usbekisch-Nationalen durch folkloristische Kostüme und Dorfkulisse. Zeitlich in einer nicht näher definierten Vergangenheit angesiedelt. Der titelgebende mythische Vogel Semurg wird als ätherische, geisterhafte Erscheinung einer Frau dargestellt – ohne explizit vogelhafte Züge; in zwei Szenen wird, bevor Semurg erscheint, in einer kurzen Einstellung ein am Himmel kreisender Vogel gezeigt, worin eine implizite Andeutung gesehen werden kann, dass die Frauenfigur eine Transformation darstellt. Jalmagyz tritt in einem düsteren Phantasiekostüm auf und erscheint durch Filmtrick als Riese; der Kampf mit ihm ist aufwendig mit Spezialeffekten gestaltet. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante: AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja. An das Versmärchen des Sowjetautors Olimjon ist der Film nur sehr lose angelehnt: Wie im Film lässt darin Parizad ihre Freier als Prüfung einen Baum ausreißen (vgl. Mot. H331. Suitor contests: bride offered as prize), doch ist sie mit dem Hirten Bun’yad, der dies bewältigt, als Bräutigam nicht zufrieden und schickt ihn deswegen in den Kampf mit dem Dämon Jalmogyz, mit dem sie in Wahrheit unter einer Decke steckt. Bei diesem Kampf steht dem Helden nun der mythische Vogel Semurg bei (Mot. B31.5. Simorg: giant bird), dessen Auftritt dem im usbekischen Volksmärchen entspricht: Bun’jad erwirkt sich seine Dankbarkeit, indem er seine Jungen vor einem Drachen rettet (vgl. z.B. Uzb. sk. I, S. 434- 444, 489-496). Der Film fabuliert das einfache Sujet stark aus, und in der zentralen Handlungslinie ist nun unschwer das Drachentötermärchen zu erkennen, mit Jalmagyz in der

345 Funktion des Drachen (Mot. G346. Devastating monster) und insbesondere durch die Episode um Šerzod als falschem Helden (vgl. Mot. K1932. Impostor claims reward (prize) earned by hero).741 Die beiden übernatürlichen Antagonisten werden gleich zu Anfang eingeführt, und alles Magisch-Märchenhafte geht von ihnen aus: Semurg gibt Bun’jad die Macht, sie mit seiner Flöte herbeizurufen (vgl. Mot. D1421.6.1. Magic flute summons fairy); sie sendet ihm ein fliegendes Pferd (Mot. B41.2. Flying horse) und sorgt dafür, dass in der Wüste Wasser fließt (vgl. Mot. D927.1. Spring made by magic). Jalmagyz, eine in der usbekischen Folklore verbreitete dämonische Gestalt, lässt seine Gegner mit seinem Blick zu Stein erstarren (vgl. Mot. D581. Petrification by glance; C300. Looking tabu; C961.2. Transformation to stone for breaking tabu), und die als Verführer auftretenden Zwerge und Nixen stehen unter seinem Einfluss – sie helfen aber letztlich Bun’jad und steuern magische Hilfsmittel für den Kampf bei, einen Edelstein und einen Wasserschleier (vgl. Mot. D1380.11. Magic jewel protects; D1381.26. Magic veil protects from attack). Die nicht märchentypische Schlusslösung – die Prinzessin wird verschmäht – ist aus der Vorlage beibehalten, Bun’jads Jugendliebe weiterer Zusatz. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 192-195; Schmitt 1993, S. 544-545

Сказание о Рустаме Die Rustam-Legende UdSSR – Tadschikistan 1972; Tadžikfiľm. Regie: Boris Kimjagarov; Drehbuch: Grigorij Koltunov. Darsteller: Bimbolat Vataev, Otar Koberidze, Machmudžan Vachidov, Svetlana Norbaeva u.a. Vorlage: Abū’l-Qāsem Ferdausi: Šāhnāme (ca. 977-1010; Firdosi 1957, S. 350-410; Firdosi 1960, S. 7- 15). Inhaltsangabe: Erster Teil einer Trilogie742; Zweiteiler. (1) Der ruhmsüchtige iranische Schah Kavus ruft einen Krieg gegen das von mächtigen Diven beherrschte Mazandaran aus. Den berühmten Recken Rustam nimmt er nicht mit ins Feld, da er fürchtet, dessen Ruhm könne den seinen überschatten. Die Schlacht wird zu einer Niederlage für Kavus’ Heer, das der Magie der Feinde nicht widerstehen kann. Kavus und seine Getreuen geraten in Gefangenschaft. Rustam zieht los, um ihnen zu Hilfe zu eilen. Dabei kreuzen sich seine Wege immer wieder mit dem bösen Div Tulad, der jede Gestalt annehmen und aus leblosem Material menschenähnliche Wesen schaffen kann. Doch ob in der Gestalt des Hofpoeten oder als alte Kupplerin – immer wird er von Rustam durchschaut und besiegt. Tulad schwört Rache – er will dafür sorgen, dass Rustam durch sich selbst umkommt. Sein Versuch jedoch, Rustams Gestalt anzunehmen und diesen im Zweikampf zu töten, scheitert ebenfalls – der echte Rustam siegt. Kurz darauf befreit er Kavus aus der Gefangenschaft. (2) Der Schah kehrt daraufhin als Sieger heim, doch das Volk bejubelt vor allem Rustam. Kavus fürchtet um seine Macht, und um ihn loszuwerden, schickt er Rustam an die Grenze mit Samangan: Diese soll er ganz alleine verteidigen. Rustam beugt sich dem Befehl. Während er nachts die Grenze bewacht, kommt wieder Tulad zu ihm. Rustam betrachtet den ewigen Streit mit dem Widersacher, der immer auch von philosophischen Gesprächen über Gut und Böse begleitet ist, fast schon als ein Spiel. Auch diesmal zieht Tulad den Kürzeren. Als sich Rustam dann schlafen legt, läuft sein Wunderhengst Rachš mit einer Herde Wildpferde davon. Rustam erwacht und ist über den

741 Siehe zu dieser Interpretation auch Schmitt 1993, S. 544-545. 742 Mit Rustam i Suchrab (1973) und Skazanie o Sijavuše (1976).

346 Verlust entzürnt. Er macht sich auf nach Samangan. Der Herrscher des Landes will ihm Truppen entgegenschicken, doch seine kluge Tochter Tachmina rät ihm, ihn wie einen Freund zu empfangen. Als sie Rustam dann sieht, wird Tachmina von heißer Liebe gepackt. Nachts schleicht sie sich heimlich zu ihm und gesteht ihm ihre Gefühle. Dies ist ganz im Sinne Tulads, der auch hier seine Hände im Spiel hat: Tachmina soll den Mörder Rustams gebären. Rustam ist von ihr bezaubert, und am Tag darauf heiraten sie. Als Rachš wiedergefunden wird, zieht Rustam jedoch weiter. Dem Sohn, den Tachmina von ihm erwartet, soll diese nicht verraten, wer sein Vater ist – erst soll er sich selbst als Held bewähren. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Opulent gestaltet, mit Massenszenen, beeindruckenden Landschafts- aufnahmen, Kostümen im Stil von Monumentalfilmen, die die persische Geschichte glorifizieren: Die Ausstattung entspricht keiner bestimmten Epoche, sondern verweist eher vage auf eine „mythische Vorzeit“. Zahlreiche Tricks und Spezialeffekte, insbesondere in der Schlachtszene, in der sich Kavus plötzlich alleine auf dem Schlachtfeld befindet und dann von einer unsichtbaren Macht in die Luft gehoben wird. Der Dialog ist großteils in Versen gehalten. Interessant ist die Szene an der Grenze zu Samangan – sie ist fast gänzlich im Dunkel und Halbdunkel gedreht, mit Eulenrufen u.ä. als Tonkulisse und mit zahlreichen Trickverwandlungen angereichert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Sagenhafter Märchenfilm. Zugrunde liegen Erzählungen aus Ferdausis umfangreiches Epos Šāhnāme (niedergeschrieben ca. 977-1010), dem wohl berühmtesten Werk der persischen Literatur. Es vermischt, wie üblich in Heldendichtung und Mythologie, Phantastisch- Wunderbares und Historisches, die Erzählungen fußen in der Folkloretradition und haben teils sagen-, legenden-, märchenhaften Charakter. Der Film geht mit seiner Quelle äußerst frei um. Ihr entlehnt ist der handlungsauslösende törichte Kriegszug von Kavus gegen das Land der Divs und Zauberer und entsprechend die vernichtende Niederlage und Gefangennahme. Nur noch sehr bruchstückhaft lässt sich jedoch in den folgenden Ereignissen der Zyklus um die sieben Heldentaten des Rustam erkennen. Dieser tritt mit seinen bekannten Attributen auf, dem Pantherfell, dem Lasso und dem Wunderpferd Rachš. Größtenteils Erfindung des Films ist sein ständiger Gegner Tulad743, der sich in Tiere und Menschen verwandeln (vgl. Mot. D630. Transformation and disenchantment at will) und aus lebloser Materie menschenähnliche Wesen schaffen kann (vgl. Mot. D430. Transformation: object to person), die sich jedoch durch ihre unnatürliche Augenfarbe verraten (vgl. Mot. F541.6. Eyes remarkable as to color). Die Episode, in der er als alte Kupplerin erscheint, erinnert lose an das Abenteuer Rustams mit der bösen Zauberin, die ihn in verführerischer Gestalt irreführen will. Kavus wird vorlagengerecht befreit, seine paranoide Angst vor Rustam und der Versuch, diesen mit einem Himmelfahrtsauftrag zu vernichten (vgl. Mot. H1211. Quests assigned in order to get rid of hero), ist wiederum Beigabe des Films. Während Rustam schläft, deutet der Film einen Kampf des Pferdes Rachš mit einer Schlange und einem Tiger an, was eine Parallele in der Vorlage hat (Rachš besiegt einen Löwen und einen Drachen). Entgegen dieser wird Rachš nicht von turanischen Reitern entführt, sondern läuft davon. Die folgenden Ereignisse entsprechen annähernd denen bei Ferdausi, in nur leicht modifizierter Form. Auch hier zieht Rustam bald fort: Der Armreif, den Tachmina dem ungeborenen Kind geben soll, ist der Vorlage entnommen und läutet ein offenes Ende ein – die weiteren Ereignisse sind Gegenstand des Fortsetzungsfilms Rustam i Suchrab (1973).

743 In der Vorlage tritt in in einer kurzen Episode ein als fahrender Sänger verwandelter Div auf, dessen Lied Kavus zum Krieg anstachelt, was Tulads erstem Auftritt im Film entspricht, doch die Figur dieses anonymen Divs spielt dann im weiteren Vorlauf der Handlung keine Rolle mehr.

347 Горя бояться — счастья не видать [Glück hat nur, wer das Unglück nicht fürchtet] UdSSR – Weißrussland 1973; Belarus’fiľm. Regie, Drehbuch: Viktor Turov. Darsteller: Konstantin Adaševskij, Nataľja Vorob’eva, Evgenija Sabeľnikova, Gelij Sysoev u.a. Vorlage: Samuil Maršak: Gorja bojaťsja – sčasťja ne vidať (1922; Maršak 1968, S. 377-422). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Der Zar ist auf der Jagd. Ein Kaufmann wird trotz seiner Proteste von seinen Wachen festgenommen, da sie ihn für einen Räuber halten. Als Feuer zum Braten der Jagdbeute fehlt, meldet sich der Gefangene zu Wort – er hat ein Feuerzeug. Der Zar lässt ihn frei und kauft ihm das Feuerzeug ab. Dem Ausspruch, dass er ihm sein Unglück als Beigabe überlasse, schenkt er keine Beachtung. Kurz darauf wird er jedoch von einem Unglück nach dem anderen heimgesucht: Die Staatskasse ist auf einmal leer; Tochter und zukünftiger Schwiegersohn verlassen ihn; schließlich wird ihm von drei Seiten gleichzeitig der Krieg erklärt. Er hat jedoch niemanden, den er hinschicken kann – alle haben ihn im Stich gelassen. Kurz darauf macht der Zar dann Bekanntschaft mit dem Unglück persönlich, das ihm erklärt, das er es selbst erstanden hat. Nur, wenn er etwas verkauft und es als Beigabe mitgibt, kann er es wieder loswerden. Vor der Tür hält der Soldat Ivan Wache, der als einziger nicht das Weite gesucht hat, und der Zar ruft ihn an. (2) Er will ihm unbedingt etwas verkaufen. Ivan lässt sich schließlich breitschlagen, für einen Fünfer eine Tabaksdose anzunehmen – aber nur mit einer schriftlichen Bestätigung. Wenig später zieht er in den Krieg. Das Unglück aber, das ihn triezen will, beeindruckt ihn wenig. Durch eine List kann er es in die Dose sperren. Nach Kriegsende sucht Ivan seine Liebste Nastja auf. Ihr Onkel, der Müller, ist seit seinem Verkauf des Unglücks reich geworden, doch nach wie vor ist er gegen die Verbindung Nastjas mit Ivan. Stattdessen soll sie mit dem Kaufmann verheiratet werden, der ebenfalls wieder Glück hat. Doch sie verweigert sich und erklärt, sie sei Ivans Braut. Dieser wird als Habenichts verspottet, und so zeigt er die kostbare Tabaksdose vor. Kaufmann und Müller bezichtigen ihn jedoch des Diebstahls und schleppen ihn vor den Zaren. Dieser, auch wieder im Glück, will an die Geschichte nicht erinnert werden und versucht, den Verkauf der Dose als Scherz abzutun. Da Ivan jedoch alles schriftlich hat, drängt er ihn im Geheimen, ihm Schriftstück samt Dose zurückzugeben. Ivan besteht darauf, auch seinen Fünfer zurückzubekommen – damit wird der Kauf rückgängig gemacht, und wenig später taucht zum Schrecken von Zar, Kaufmann und Müller auf dem Thron das Unglück auf. Ivan und Nastja aber feiern Hochzeit. Filmgestaltung, Besonderheiten: Mit einer Rahmenhandlung versehen, die den Film als „Theater im Theater“ kennzeichnet – die Darsteller treten als Gaukler auf, die für ein den Film hindurch immer wieder gezeigtes kindliches Publikum ein Spektakel präsentieren744 und dafür jeweils in bestimmte Rollen schlüpfen. Dadurch erklärt sich auch das Stilisiert-Theaterhafte in Kulisse und Ausstattung, die neben wenigen Außenaufnahmen vorherrschen; die Kostüme sind als diffuser Stilmix gestaltet. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 735A Bad Luck Imprisoned = AA *735 I/SUS 735A Gore (Nužda). Der Film übernimmt die Handlung von Maršaks Theaterstück mit leichten dramaturgischen Anpassungen, aber ohne größere Variationen. Hinzugefügt ist nur die Rahmenhandlung; die ersten Szenen, in dem Nastjas Onkel dem Kaufmann sein Unglück verkauft und dieser dann von Räubern überfallen wird, sind eliminiert und von den

744 Vgl. Umnye vešči (1973).

348 Ereignissen wird nur indirekt berichtet; aus dem Onkel wird statt eines Holzfällers ein Müller. Das Märchenhafte manifestiert sich in Gestalt des personifizierten Unglücks, das seine „Besitzer“ verfolgt (vgl. Mot. N250.2. Persecution by bad luck; N251. Person pursued by misfortune), aber von Ivan ausgetrickst wird (vgl. Mot. N112.1. Bad luck put into a sack; N250.4. Bad luck banished and freed). Als Ganzes erinnern Stück und Film darin an einen weitverbreiteten Erzähltyp, der aber auf originelle Art transformiert wird, so dass zwar die grundsätzliche Handlungsdynamik erkennbar bleibt, aber die syntaktische Grundstruktur sich ändert: In AaTh 735A stehen zwei Brüder im Mittelpunkt, von denen der eine arm und der andere reich ist. Der Arme wird vom Unglück verfolgt und schließlich gänzlich in den Ruin getrieben. Erst, als er es einfängt und gefangensetzt, ändert sich sein Schicksal und er wird reich. Sein neidischer Bruder lässt das Unglück frei, damit es ihn wieder verfolgt – doch es bleibt nun stattdessen bei ihm selbst.

Рустам и Сухраб Die Schlacht im Tal der weißen Tulpen ([Rustam und Suchrab]) UdSSR – Tadschikistan 1973; Tadžikfiľm. Regie: Boris Kimjagarov; Drehbuch: Grigorij Koltunov Darsteller: Bimbolat Vataev, Chašim Gadoev, Sajram Isaeva, Svetlana Norbaeva u.a. Vorlage: Abū’l-Qāsem Ferdausi: Šāhnāme (Firdosi 1960, S. 15-96). Inhaltsangabe: Zweiter Teil einer Trilogie745. Rustams Sohn Suchrab ist mittlerweile wie dieser ein mächtiger Krieger. Wer sein Vater ist, hat ihm seine Mutter Tachmina nicht verraten. Afrasiab, der Herrscher von Turan, dem Suchrab Untertan ist, ist jedoch darüber im Bilde. Er würde Iran gerne erobern, doch gegen Rustam haben seine Truppen keine Chance. Daher will er es so einrichten, dass Suchrab und Rustam unerkannt im Zweikampf aufeinander treffen. Dies ist auch im Sinne des Divs Tulad, der mit Rustam noch eine Rechnung offenhat. Afrasiab erklärt also Iran den Krieg und bestimmt Suchrab zu seinem Heerführer. Tachmina jedoch deckt Suchrab die Identität seines Vaters auf. Suchrab will sich ihm zu erkennen geben. Tachminas Bruder Žandarazm, der Rustam kennt, soll ihn begleiten und ihm den Vater zeigen. Das Heer zieht los. Sie marschieren gegen die Weiße Festung, die die Grenze zu Iran markiert. Dort wird Suchrab von der amazonenhaften Gurdofarid zum Kampf herausgefordert. Sie unterliegt ihm, kann sich jedoch durch eine List der Gefangennahme entziehen. Die Bewohner der Festung ziehen sich aus dieser zurück, um in einem Lager auf Hilfe durch iranische Truppen unter Führung Rustams zu warten. Als Rustam eintrifft, lässt er sich heimlich in die eroberte Festung bringen, um einen Blick auf den ihm unbekannten Suchrab zu werfen. Er wird von Žandarazm entdeckt, doch dieser kommt nicht dazu, ihn über Suchrab aufzuklären, und wird von Gurdofarid getötet. Wenig später beginnt die Schlacht, die in Zweikämpfen ausgetragen werden soll. Rustam wird instruiert, Suchrab seinen Namen nicht zu verraten. So stehen sich schließlich Vater und Sohn gegenüber. Ihr Kampf erfolgt in mehreren Etappen. Unterdes trifft Tachmina im Lager ein, die von den Ereignissen erfahren hat und den Kampf aufhalten will. Gurdofarid verspricht, ihr zu helfen, und kann durch eine List zum Kampfplatz vordringen. Doch als sie Rustam mitteilt, dass Suchrab sein Sohn ist, hat er ihm schon den Todesstoß versetzt. Verzweiflung übermannt ihn. Sein alter Feind Tulad aber triumphiert. Der sterbende Suchrab bittet seinen Vater, den blutigen Krieg zu beenden. Kurz darauf kommt Tachmina hinzu, die ihren toten Sohn nur noch beweinen kann. Rustam will den letzten Willen Suchrabs erfüllen und ruft die Kämpfenden zum Frieden auf – seine Worte verhallen jedoch ungehört.

745 Mit Skazanie o Rustame (1972) und Skazanie o Sijavuše (1976)

349 Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Der Film beginnt mit einem schriftlichen Prolog, der die Vorgeschichte berichtet, die im Film Skazanie o Rustame (1972) erzählt wurde. Dialoge in Versform; visuell opulent in der Ästhetik des Vorgängerfilms (siehe auch dort). Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Sagenhafter Märchenfilm. Im Gegensatz zum Vorgängerfilm bleibt der Streifen relativ nah an den Erzählungen des Šāhnāme, in deren Zentrum ein weitverbreitetes Folkloremotiv steht (Mot. N731.2. Father-son combat; auch N349.2. Father kills his son in battle rage)746. Dennoch werden auch hier einige Modifikationen vorgenommen – insbesondere werden Logiklöcher gefüllt sowie Beweggründe für bestimmte Handlungen stärker motiviert. Das märchenhaft-wundersame Heranwachsen Suchrabs747 spart der Film aus. Entsprechend fällt einer der Gründe weg, warum Rustam ihn nicht als seinen Sohn erkennt – im Šāhnāme hat er es nicht für möglich gehalten, dass dieser so schnell heranwächst. Hier ist der Film „realistischer“, wie er auch überhaupt nahezu ohne wundersame Elemente auskommt: Der Div Tulad hat eine passive Beobachterrolle, erst am Ende macht er sich in seiner Übernatürlichkeit bemerkbar und triumphiert über Rustam. Er konstatiert dabei explizit, dass ihm seine Rache auch ohne Einsatz von Magie gelungen sei. Die Abenteuer um die Weiße Festung werden leicht abgeändert: So wird Chadžir zum Sohn Goždechems und zum Bruder Gurdofarids, und durch Suchrabs Sieg über ihn wird deren Zorn gegenüber Suchrab stärker motiviert. Der Zweikampf zwischen Suchrab und Gurdofarid ist vorlagengetreu, die weitere Rolle Letzterer ist dagegen ausschmückendes Beiwerk: So dringt etwa bei Ferdausi Rustam heimlich alleine in die Weiße Festung ein und tötet dabei Žandarazm – im Film begleitet ihn Gurdofarid, die ihren Bruder befreien will. Sie ist es auch, die letztlich Žandarazm tötet. Der Zweikampf zwischen Vater und Sohn ist im Wesentlichen vorlagengetreu. Erfindung des Films ist hingegen die Episode, in der die verzweifelte Tachmina erscheint und letztlich für die Identitätsaufklärung sorgt – in der Vorlage ahnt der sterbende Suchrab, wer sein Gegner ist, und gibt ihm seine eigene Identität preis. Suchrabs letzte Bitte ist wie in der Vorlage, den Krieg zu beenden – während dies jedoch darin auch erreicht wird, stellt der Film durch die Fortführung des sinnlosen Gemetzels explizit eine Antikriegsbotschaft ans Ende.

Самый сильный [Der Allerstärkste] UdSSR – Russland 1973; Sverdlovskaja kinostudija. Regie: Oleg Nikolaevskij; Drehbuch: Jaroslav Filippov. Darsteller: Nikolaj Merzlikin, Evgenij Vesnik, Taťjana Kljueva, Vladimir Dovejko u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Ein altes Ehepaar formt sich aus Teig ein Kind, das lebendig wird und in Windeseile heranwächst – wenig später ist es schon ein junger Mann. Dieser bekommt den Namen Batyr und zeichnet sich durch außergewöhnliche Stärke aus. Die Nachbarin Gjuľček verliebt sich in ihn, doch er verlässt sie und die Zieheltern kurz darauf – es zieht ihn in die Welt hinaus. Auf seiner Wanderung lernt er vier Kameraden kennen: Der erste ist ein nie sein Ziel verfehlender Schütze, der zweite hat ein überaus feines Gehör, der dritte ist ein nicht einzuholender Schnelläufer und der vierte kann blasen wie der Wind. Ihr Angebot, bei ihnen zu bleiben und mit ihnen ihr Land zu besorgen, lernt Batyr jedoch ab – er will wie ein König leben. So kommt er in die Hauptstadt, wo gerade ein Wettbewerb um die Hand der Zarewna stattfindet.

746 Vgl. dazu, neben dem Hildebrandslied, Cú Chullainn aus dem Ulster-Zyklus u.a., auch Iľja Muromec (1956). 747 Mot. T585. Precocious infant.

350 Ein finsterer Fremder kann mit seinem Reichtum Zar wie Zarewna für sich einnehmen. Batyr findet das Ganze amüsant und sorgt mit seinem Gelächter für Unwillen – mit seiner Stärke kann er alle Versuche, ihn festzunehmen, abwenden. Der Fremde entpuppt sich als Div, der eine Armee gegen ihn herbeizaubert. Mit der herbeigerufenen Hilfe der vier Kameraden kann Batyr auch dieser Gefahr widerstehen. Der Zar nimmt ihn als Gast auf, doch plant er mit seinem Zwillingsbruder, dem Wesir, bereits eine Intrige. Batyr entkommt jedoch aus einem Tigerkäfig, in den er gestoßen wird, und kann den Zaren zwingen, ihm eine Machtposition zu geben. Er schickt nach seinen vier Kameraden. Diese folgen seinem Ruf, sind jedoch von Batyrs herrschaftlichem Gehabe nicht begeistert und kehren heim. Batyr verliert seine Kraft und kann von den Leuten des Wesirs festgenommen werden. Sowohl dieser als auch der Zar, die gegeneinander intrigieren, wollen ihn für sich gewinnen, doch er verweigert sich. Kurz darauf findet ein Prozess gegen ihn statt. Batyr selbst hat inzwischen gemerkt, dass er durch sein Verhalten seine Freunde und Lieben verletzt hat. Der Zar will ihn freilassen, wenn er oder jemand anderes für ihn drei Rätsel löst, die der Div ihm einsagt. Gjuľček, die Batyr gefolgt ist, kommt ihm zu Hilfe. Darauf wird sie jedoch vom Div entführt. Batyr macht sich auf, sie zu retten – da er nun aus Liebe handelt und bereit ist, seine Seele zu opfern, kann er den Div töten und Gjuľček befreien. Sie kehren glücklich zu Batyrs Zieheltern zurück. Filmgestaltung, Besonderheiten: Kommentierende Erzählerstimme aus dem Off. Der Film ist insofern interessant, als dass er in seiner Darstellung russische mit zentralasiatischen folkloristischen Elementen wild mixt: Das Dorf, in dem die Alten leben, ist äußerlich ein rein russisches – dem entgegen stehen die Namen Batyr (= Recke) und Gjuľček, die turksprachlicher Herkunft sind. Das Land wird beherrscht von einem Zaren, jedoch hat er keinen Minister, sondern einen Wesir; die Zarenstadt ist orientalisch gestaltet, und auch der Div entstammt östlicher Tradition. Die vier Kameraden sind eindeutig verschiedener ethnischer Herkunft. Kostüm und Aufmachung der Zarewna scheinen dagegen Phantasiekreationen. Als humorvoller Anachronismus wirkt in erster Linie die Szene des Freierwettbewerbs, der ähnlich einem Sportwettkampf gestaltet ist, inklusive einer Spielstandtafel; ansonsten sind Gesangsnummern und Hintergrundmusik sehr modern. Futuristisch angehaucht erscheint das Reich des Div, das auch höllenhafte Züge trägt. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 650A Strong John = SUS 650A Ivan Medvež’e Uško (+ AaTh/ATU 513 The Extraordinary Companions bzw. AaTh/ATU 513A Six Go through the Whole World = SUS 513A Šesť čudesnych tovariščej). Der Film setzt mit dem Motiv des künstlichen Kindes ein (Mot. T677. Substitute for a child. Aged, childless couple carve themselves a child from wood, or make one from snow, clay, and the like), das wunderhaft schnell heranwächst (Mot. T585. Precocious infant), und entwickelt sich von da an in sehr enger Anlehnung an AaTh 650A. Der Held ist wie dort von übermenschlicher Stärke und in seinem Verhalten unbändig (Mot. F610. Remarkably strong man; Mot. L114.3. Unruly hero), und er lässt sich eine 25 Pud schwere Keule machen, die nur er tragen kann (Mot. F612.3.1. Giant cane for strong man). Ebenfalls typentsprechend ist der Auszug des Helden von zu Hause – allerdings wird er nicht wegen seiner Unbändigkeit von dort fortgeschickt748, sondern geht im Gegenteil aus freien Stücken und zum Leidwesen der Zurückbleibenden. Eingefügt ist weiterhin das häufig mit AaTh 650A verknüpfte Motiv der außergewöhnlichen Gefährten (Mot. F601. Extraordinary companions; siehe auch AaTh 301B The Strong Man and His Companions), die ihn aber nicht wie dort hintergehen, sondern in einer Gefahrensituation zu Hilfe kommen (Mot. F601.4. Extraordinary companions rescue hero), ähnlich wie in AaTh 513A, mit dem es ansonsten auch die Freieraufgaben (vgl. Mot.H331. Suitor contests: bride offered as prize) gemein hat sowie den Betrug durch den

748 Mot. F612. Strong hero sent from home.

351 Herrscher. Die Schlussepisode ist freie Kombination von Folkloremotiven (vgl. Mot. H541.1. Riddle propounded on pain of death; H974.1. Task performed with help of mistress; H1385.3. Quest for vanished wife (mistress)), die auf der Ausdeutung des Eingangsmotivs aufbauen, die sich durch die Geschichte zieht: Batyr sind, da er aus Teig gemacht ist, menschliche Gefühle fremd, er muss erst seine Selbstsucht ablegen und dadurch gänzlich Mensch werden.

Умные вещи [Die klugen Dinge] UdSSR – Russland 1973; Lenfiľm. Regie: Anatolij Granik; Drehbuch: Anatolij Granik, Aleksej Tverskoj. Darsteller: Sergej Paršin, Natalija Bogunova, Nikolaj Krjukov, Evgenij Vesnik u.a. Vorlage: Samuil Maršak: Umnye vešči (1945; Maršak 1968, S. 423-488). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Ein Bursche mit dem Spitznamen Musikant sucht auf dem Jahrmarkt einen Spiegel für seine Braut. Er kommt zu einem Laden, in dem wundersame Dinge feilgeboten werden, darunter eine Tarnkappe, ein Tüchleindeckdich und einiges mehr. Dort findet er einen Spiegel, der die Wahrheit sagt, und bekommt auch noch ein Zauberpfeifchen, das für denjenigen, der das Musizieren liebt, von selbst spielt. Bezahlen muss er dafür nichts, denn die „klugen Dinge“ sind unbezahlbar. Sie werden an jeden weggegeben, der sie wünscht, erklärt der Alte im Laden – doch nicht jeder könne damit umgehen. Wenig später kommt ein vornehmes Ehepaar hinzu. Sie sind voller Gier an allen Dingen gleichermaßen interessiert, und sie wollen sich nicht damit abfinden, dass das Pfeifchen schon dem Musikanten versprochen ist. Auf einmal ist der gesamte Laden verschwunden – die Dinge aber sind noch da. Der Musikant will den Edelleuten das Pfeifchen nicht geben, und sie bezichtigen ihn des Diebstahls. Er kann entfliehen, doch als er in sein Dorf kommt und eine Unterredung mit seiner Braut hat, mit der die Hochzeit bevorsteht, erscheinen Soldaten und verhaften ihn. Das Pfeifchen wird ihm abgenommen, der Spiegel zerstört. (2) Die Edelleute haben unterdes aus Kalkül ihre Wunderdinge dem Zaren als Geschenk angeboten. Dieser kündigt darauf seinen Besuch an, um sie zu begutachen. Unterdes ist es der Braut gelungen, die Tarnkappe heimlich zu entwenden. Der Zar trifft mitsamt Gefolge ein, und das Ehepaar demonstriert stolz die Zaubergegenstände – sie geben an, sie für teures Geld erstanden zu haben. Doch schon wenig später beginnen sie zur großen Verlegenheit der beiden, nicht mehr richtig zu funktionieren. Auf die Worte der Edelfrau ist auf einmal ein Echo zu vernehmen – das, wie sich herausstellt, eine eigene Meinung hat: Es ist die unsichtbare Braut, die den Zaren darüber aufklärt, dass der zu Unrecht eingesperrte Musikant der eigentliche Besitzer des Zauberpfeifchens ist. Darauf lässt der Zar diesen herbringen, und da er im Gegensatz zum Edelmann dem Pfeifchen eine schöne Melodie entlocken kann, stellt sich die Wahrheit heraus. Der Zar lässt die Edelleute festnehmen. Die Wunderdinge dagegen lässt der Alte aus dem Laden wieder verschwinden. Der Musikant und seine Braut aber können endlich Hochzeit feiern. Filmgestaltung, Besonderheiten: Eine Art Prolog, in der die Darsteller der zwei Schneider, die in der Haupthandlung als komische Nebenfiguren auftauchen, in einem modernen Ambiente eine Theatervorstellung ankündigen und die Bühne vorbereiten. Diesem Verfahren des „Theaters im Theater“749 ist der Filmstil geschuldet: Stilisiert-theaterhafte Kulissen, ein großer Teil des Hintergrundes nur aufgemalt; Kostüme wilder Stilmix – bei Hofe tragen alle eine Schärpe mit ihrer jeweiligen Figurenbezeichnung. Das Innere des Zauberladens wird als ausschließlich schwarzer

749 Vgl. Gorja bojaťsja – sčasťja ne vidať (1973).

352 Hintergrund präsentiert, von dem sich die Menschen und Dinge jeweils abheben. Schauplätze bzw. Schauplatzwechsel werden mit ornamentalen Schrifttafeln markiert, die von Darstellern hochgehalten werden oder an der Kulisse angebracht sind. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Das Maršak’sche Theaterstück wird, wie auch bei den beiden anderen, etwa zeitgleich entstandenen Maršak-Verfilmungen750, ohne größere Variationen für den Film adaptiert. Es liegt keine deutlich erkennbare märchenhafte syntaktische Struktur zugrunde, die Handlung entwickelt ihre Dynamik vielmehr aus dem versatzstückhaften Einsatz der Zauberdinge heraus, die allesamt dem semantischen Motivvorrat des Volksmärchens entspringen und insbesondere im ostslavischen Raum verbreitet sind (vgl. Mot. D1081. Magic sword; D1521.1. Seven-league boots; D1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe; D1155. Magic carpet, D1520.19. Magic transportation by carpet; D1153.1. Magic tablecloth, D1472.1.8. Magic tablecloth supplies food and drink; D1601.18. Self- playing musical instruments, D1224. Magic pipe (musical); D1163. Magic mirror), aber in der Geballtheit dort nicht auftreten. Die sieben Dinge sind jedoch nicht alle gleichwichtig für die Handlung: Fliegender Teppich und Zauberschwert bleiben gänzlich funktionslos, wobei letzteres zumindest im Dialog eine größere Rolle spielt; Siebenmeilenstiefel und Tüchleindeckdich werden rein dekorativ eingesetzt; Pfeifchen, Tarnkappe und Zauberspiegel sind dagegen alle auf die eine oder andere Art und Weise funktionstragend.

Два клена [Die zwei Ahornbäume] UdSSR – Russland 1974; Leningradskoe Televidenie. s/w Regie: Jurij Dubravin; Drehbuch: V. Šumilin. Darsteller: Taťjana Ivanova, Valentina Kosobuckaja, Igor’ Efimov, Aleksandr Dem’janenko u.a. Vorlage: Evgenij Švarc: Dva klena (1953; Švarc 1972, S. 351-399). Inhaltsangabe: Ein Bär, ein Hund und ein Kater sind in den Haushalt der Baba-Jaga geraten und müssen ihr dienen. Eines Tages erscheint die junge Vasilisa bei ihnen, die schon lange ihre beiden verschwundenen Söhne sucht. Da sie sie freundlich behandelt, erwidern sie ihre Freundlichkeit – ihre Herrin jedoch, die Baba-Jaga, ist gar nicht erfreut über Vasilisas Erscheinen: Sie ist es, die die Söhne entführt und versteckt hat. Sie erklärt ihr jedoch, wenn sie in ihre Dienste treten und so gut arbeiten würde, dass sie sie loben müsse, dann könne sie mit ihnen nach Hause gehen. Vasilisa willigt ein, und mit Hilfe der Tiere schafft sie es, alle Aufgaben der Baba-Jaga in deren Abwesenheit zu erfüllen. Unterdes hat sich Vasilisas dritter Sohn Ivanuška aufgemacht, sie und seine Brüder zu finden. Hund und Kater verstecken ihn, da er seiner Mutter nicht unter die Augen treten will – er ist ohne ihre Erlaubnis von zu Hause fort. Kurz darauf fällt er jedoch der Baba-Jaga in die Hände, und als er um Hilfe ruft, ist seine Mutter gleich zur Stelle. Auf ihre Drohungen hin muss die Baba-Jaga den Jungen freigeben. Nun hat sie jedoch einen Vorwand, warum sie Vasilisa nicht loben kann, und sie soll ihre Söhne selbst finden. Sie sind in zwei Ahornbäume verwandelt, und Vasilisa erkennt sie trotz dieses Zaubers. Die Baba-Jaga gibt ihr eine weitere Aufgabe, erst dann will sie sie loben und den Zauber aufheben: Vasilisa soll das Schloss an ihrer Hütte ausbessern. Dies erledigt sie und sperrt dabei prompt die Baba-Jaga in ihrer eigenen Hütte ein. So in die Enge gedrängt, gibt diese kleinlaut zu, dass nicht sie, sondern ihre Großmutter die Jungen verzaubert hat – um sie

750 Dvenadcať mesjacev (1972); Gorja bojaťsja – sčasťja ne vidať (1973).

353 zu erlösen ist Wasser des Lebens nötig, und um dies zu bekommen muss man einen weiten Weg auf sich nehmen. Zum Glück erinnert sich der Bär, dass sein Vater einen Vorrat an Lebenswasser versteckt hat, und der Kater kann diesen besorgen, während der Hund die Baba-Jaga ablenkt. So können die beiden Jungen erlöst werden. Sie schließen Mutter und Bruder in die Arme, und alle sind glücklich – nur die eingesperrte Baba-Jaga murrt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakľ). Prolog mit einem Märchenerzähler in der Gegenwart, der dann in die Geschichte „springt“ und gelegentlich in die Handlung eingreift – die vorgeblich in einem Papiertheater in Miniaturgröße spielt. Der Schauplatz wird nie gewechselt. Der Film ist stilisiert und extrem minimalistisch ausgestattet; die Darsteller tragen angedeutete Kostüme oder moderne Alltagskleidung – die Baba-Jaga tritt als junge, glamouröse Frau auf, die Tiere sind menschliche Darsteller nahezu ohne Kostümierung. Die Hütte der Baba-Jaga auf Hühnerbeinen wird verfremdet als Motorrad mit Anhänger präsentiert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (neuer Subtyp?, über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 480A* Three Sisters Set out to Save their Little Brother = AA 480*E/SUS 480A* Sestra (tri sestry) otpravljaetsja spasať svoego brata. In der Theatervorlage kommentieren die verwandelten Brüder (Mot. D215. Transformation: man to tree) die ganze Zeit über die Vorgänge, doch ihre Stimmen werden von niemandem gehört – der Film reduziert ihre Rolle auf ein Minimum. Die Figur des Erzählers ist dagegen Zugabe. Ansonsten werden die Ereignisse etwas gerafft und Details eliminiert, im Wesentlichen ist der Film jedoch vorlagengetreu. In seiner syntaktischen Grundstruktur weisen Film und Stück, wie auch Zolotye roga (1972)751, deutliche Parallelen zu AaTh 480A* auf. Hier wird insbesondere der Prüfungscharakter betont, den die Aufgaben der Baba-Jaga für Vasilisa haben (vgl. Mot. G204 Girl in service of witch; H935. Witch assigns tasks) – wie im Grundtyp AaTh 480, und wie dort kommen der Heldin Tiere zu Hilfe (Mot. H982. Animals help man perform task), die eigentlich im Dienst des Gegners stehen. Die Figur der Baba-Jaga wird vom Film zwar äußerlich verfremdet, entspricht aber doch in ihren Hauptzügen dem hexenhaften Folkloreäquivalent in seiner negativen Ausformung. Ihre Anweisung, wie das Wasser des Lebens zu finden ist (Mot. E80. Water of Life), deutet das Motiv der Suchwanderung an, die normalerweise dessen Erwerb vorausgeht (vgl. Mot. H1321.2. Quest for marvelous water).

Иван да Марья Iwan und Marja UdSSR – Russland 1974; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Aleksandr Chmelik. Darsteller: Ivan Bortnik, Taťjana Piskunova, Ivan Ryžov, Lija Achedžakova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Im winzigen Reich des Zaren Evstignej ist ein ausländischer Prinz eingetroffen, der um die Zarewna Agrafena freit. Da kommt es dem Zaren sehr ungelegen, dass der Räuber Nachtigall mit seinen Kumpanen die Gegend unsicher macht – umsomehr, als dass er auch noch Agrafena schöne Augen macht und diese darauf den Prinzen links liegen lässt. So gibt er bekannt, dass derjenige, der den Räuber vertreiben kann, seine Tochter zur Frau erhält. Es gelingt dies dem Soldaten Ivan, der den Räuber in einem Rätselwettbewerb schlägt. Er will jedoch die Zarewna gar nicht heiraten, denn er hat in seinem Dorf schon eine Braut, Mar’ja.

751 Mit dem der Film auch sonst eine Reihe von Charakteristika teilt, was evtl. eine Klassifizierung als gemeinsamer „neuer Subtyp“ rechtfertigen würde.

354 Darauf fühlt sich Evstignej beleidigt, lässt Ivan ins Gefängnis werfen und bestimmt, dass der Woiwode statt seiner Mar’ja heiraten soll. Diesem wird jedoch von der erbosten Mar’ja im Dorf ein wüster Empfang bereitet, und statt ihn zu heiraten, bricht sie auf, um ihren Ivan zu befreien. Dieser macht unterdes im Kerker Bekanntschaft mit dem Spukgeist Timoša. Damit der seine Mutter besuchen kann, bietet Ivan ihm an, solange für ihn zu spuken. Unterdes kann sich Mar’ja Zugang zum Schloss verschaffen – hier trifft sie auf Agrafena, die ihr hilft, in den Kerker vorzudringen. Ivan aber will seinen Platz Timošas wegen nicht verlassen, und Mar’ja will ihn schon mit erhobener Pistole dazu zwingen, als Timoša zurückkehrt. Darauf fliehen die beiden Liebenden zusammen mit Agrafena. Der Zar kann sie einholen, doch Agrafena sagt sich von ihrem Vater los – sie will losziehen, um sich selbst einen Bräutigam suchen. Der Zar will nun Ivan überreden, mit ihm zurückzugehen – schließlich habe er sein Soldatenwort gegeben, ihm zu dienen. Obwohl Mar’ja protestiert, will Ivan sein Wort nicht brechen und kommt tatsächlich mit. Er macht dem Zaren jedoch schließlich klar, dass er ein schlechter Herrscher ist. Als auch noch Mar’ja vor dem Schloss erscheint und mit ihren Freunden ein Spottlied über ihn singt, entlässt der Zar wütend Ivan. Der aber hat auf seinen Abschied nur gewartet: Nun sind er und Mar’ja endlich frei zu heiraten. Unterdes kommt Agrafena zurück – sie hat als ihren Bräutigam ausgerechnet den Räuber Nachtigall auserkoren. Der Zar kapituliert schließlich vor den Umständen und wird weich. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Hintergrund ist grundsätzlich naturalistisch-folkloristisch mit Betonung des Russisch- Nationalen gestaltet, was sich sowohl in den Kostümen als auch in den Kulissen niederschlägt, jedoch in der Architektur artifiziell-stilisiert und von zahlreichen Anachronismen geprägt, wie etwa dem Auto des Zaren, und ironisierend zur Schau gestellt. Es werden einige Volkslieder, -tänze und -rätsel präsentiert; die Volkslieder werden jedoch durch Kompositionen von Vladimir Vysockij ergänzt, die teilweise auch die Handlung vorantreiben. Der ,ausländische Prinz’ Markizet erinnert in seinem Kleidungsstil an das französische Barock; das Gespenst Timofej trägt ein stilisiertes schwarzes Kostüm, auf dem ein Knochengerippe aufgemalt ist, und ist grotesk geschminkt. Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation. Der Film wartet mit zahlreichen Folkloremotiven auf, verwendet diese jedoch eher versatzstückhaft-dekorativ und verfremdet sie. So wird etwa aus dem numinosen Räuber Nachtigall752 mit seinem schrecklichen Pfiff (vgl. Mot. D2142.1.6. Wind raised by whistling) ein pöbelnder Rowdy, und die junge Baba-Jaga aus seinem Gefolge hat ihr bisheriges Dasein satt und verschönert sich durch ein Bad im Fluss (vgl. Mot. D562. Transformation by bathing), um mit dem ausländischen Prinzen davonzuziehen. Das Spukgespenst Timoša (Mot. E281. Ghosts haunt house; Mot. E293. Ghosts frighten people (deliberately)) spukt nur, weil dies seine Aufgabe ist, und schenkt Ivan, als dieser ihn vertritt, eine magische Balalaika (vgl. Mot. D812.4. Magic object received from ghost; D1415.2. Magic musical instrument causes person to dance) – dabei ist das Spuken anstelle von Gespenstern eine nicht wirklich märchentypische Heldenaufgabe. Die Einzelpisoden sind eher sketchhaft gestaltet, so dass im Ganzen eine Art Märchenparodie im Collage-Stil ensteht. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 39

752 Vgl. dazu die folkloretypische Darstellung in Iľja Muromec (1956).

355 Мал, да удал [Klein, aber keck] UdSSR – Turkmenien 1974; Turkmenfiľm. Regie: Muchamed Sojunchanov; Drehbuch: Gennadij Nikitin, Allaberdy Chaidov. Darsteller: Čary Orazberdiev, Durdy Saparov, Sabira Ataeva, Akmurad Bjašimov u.a. Vorlage: Volksmärchen von Jartygulak (vgl. Turkm. sk. 44; siehe auch Aleksandrova/Tuberovskij 1963). Inhaltsangabe: Ein armer alter Mann muss sich bei einem reichen Baj Saatgut borgen. Er ist gezwungen, auf dessen halsabschneiderische Bedingungen einzugehen und auch seine Ochsen zu verpfänden. Auf dem Heimweg findet er auf einmal hinter dem Ohr seines Kamels den Däumling Jartygulak. Da der Alte und seine Frau sich schon lange einen Sohn gewünscht haben, nehmen sie ihn bei sich auf, zur Freude der ganzen Siedlung. Kurz darauf beobachtet der Baj, wie Jartygulak seinem Pflegevater beim Pflügen hilft – da er niemanden sieht, der die Ochsen antreibt, hält er diese für Zauberochsen. Der Mulla verspricht, ihm mit Arglist zu helfen, an diese heranzukommen – dafür erhofft er sich die Hand der Nichte des Bajs, die aber den Schmied Veli liebt. All die Pläne des Mullas werden jedoch durch Jartygulak durchkreuzt: Eine falsche Beschuldigung gegen den Alten wegen Diebstahls endet mit einer Bloßstellung des Bajs; die falschen Derwische, die den Alten durch ihr Schmarotzertum ins frühe Grab treiben sollen, werden verjagt. Der letzte Plan jedoch scheint aufzugehen: Der Mulla behauptet, in diesem Jahr käme der Mai, und damit auch die Frist für die Rückzahlung der Schulden, 5 Wochen früher. Doch auf Initiative Velis sammelt die ganze Siedlung für den Alten, und schon haben sie genug zusammen, um die Schulden zu begleichen. Der Mulla startet einen letzten Versuch, dies zu vereiteln, doch sein falscher böser Zauberer wird von Jartygulak entlarvt. Nun kann der Baj sich nicht mehr herausreden, er muss die Schulden als bezahlt anerkennen. Der Alte fordert außerdem, dass er seine Nichte Veli zur Frau gibt. Der Baj geht zum Schein darauf ein, jedoch nur im Tausch für die angeblichen Zauberochsen. Als jedoch die Brautsänfte in der Siedlung eintrifft, ist sie leer – der Baj hat die Leute schon wieder betrogen. Unterdes entlässt er all seine Feldarbeiter, da er glaubt, mit den Zauberochsen das große Los gezogen zu haben. Doch zunächst rühren sie sich nicht vom Fleck, dann werden sie auf einmal, durch heimliches Eingreifen von Jartygulak, rasend und greifen alles und jeden an. Schließlich fleht der Baj den Alten an, seine Ochsen zurückzunehmen – dessen Bedingung ist jedoch, dass endlich die Hochzeit zwischen den beiden Liebenden stattfinden kann. So endet doch noch alles gut. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Hintergrund ist naturalistisch gestaltet, die Handlung spielt in einem folkloristisch gestalteten turkmenischen Aul, umgeben von Steppenlandschaft. Die Darstellung des Däumlings ist filmisch denkbar einfach gelöst – selten ist er durch Trickaufnahmen mit anderen Figuren in derselben Einstellung zu sehen, zumeist sieht man ihn alleine inmitten überdimensionaler Requisiten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 700 Tom Thumb = ATU 700 Thumbling = AA/SUS 700 Maľčik s paľčik. Zugrunde liegt eine turkmenische Variante des Däumlingsmärchens, direkte Vorlage scheint allerdings eine für Kinder literarisch aufbereitete Version zu sein (Aleksandrova/Tuberovskij 1963), die den Stoff ausdehnt und durch Einfügung zahlreicher Episoden, die nur teilweise Folkloreentsprechungen haben, daraus einen ganzen Geschichtenzyklus macht753 – der Film weist Übereinstimmungen mit einigen der Episoden

753 Vgl. im Vorwort zu Turkm. sk.: „[Д]опускались целые вставки придуманных переводчиками эпизодов

356 auf. Die wechselnden Bösewichte der herrschenden Klasse werden in Gestalt des Bajs und des Mulla zusammengefasst; die unter sozialer Ungerechtigkeit leidenden Opfer, denen geholfen wird, sind durch Jartygulaks Zieheltern repräsentiert. Die nur lose zusammenhängenden Einzelgeschichten werden in einen großen (wenn auch episodenhaften) Erzählzusammenhang gestellt, in dessen Mittelpunkt einerseits die Schulden stehen, die Jartygulaks Vater beim Baj gemacht hat, andererseits die Liebesgeschichte um Bachytguľ und Veli (der in der Vorlage fehlt). Volksmärchenhaft und typentsprechend ist im Film Jartygulaks wunderbares Erscheinen bei seinen Zieheltern sowie die schwankähnliche Episode mit den angeblichen Zauberochsen, während die andere dafür charakteristische Episode, in der Jartygulak vom Wolf verschluckt wird und sich aus dessen Bauch bemerkbar macht, fehlt. Ansonsten führt Jartygulaks listiges Handeln zu einer Reihe von schwankmärchenähnlichen Trickwundern, bei denen der Baj und der Mulla sowie ihre Handlanger angeführt werden.

Финист — ясный сокол Finist, heller Falke UdSSR – Russland 1974; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Gennadij Vasiľev; Drehbuch: Aleksandr Rou, Lev Potemkin. Darsteller: Vjačeslav Voskresenskij, Svetlana Orlova, Michail Kononov u.a. Vorlage: Nikolaj Šestakov: Finist Jasnyj sokol (1939; Šestakov 1979, S. 107-158). Inhaltsangabe: Der brave Ackersmann Finist ist zugleich auch ein mächtiger Krieger. Da er deshalb dem bösen Magier Kartaus, der mit seinen Truppen das Land unsicher macht, ein Dorn im Auge ist, lässt dieser ihn von seinem Gehilfen Kastrjuk in eine Falle locken und in ein Ungeheuer verwandeln. Der Woiwode wartet unterdes mit seinen Kämpfern ungeduldig auf Finist, und er schickt seinen Schreiber Jaša los, um ihn zu finden. Zunächst trifft dieser jedoch auf die junge Alena, die Finist einst gerettet hatte und die deshalb ebenfalls nach ihm sucht. Außerdem sind Agafon und Anfisa, ein zankendes Ehepaar, im Wald unterwegs. An ihr Feuer kommen Jaša und Alena am Abend. Wenig später taucht bei ihnen eine geheimnisvolle Kräuterfrau auf, die Alena berichtet, dass das Ungeheuer ein erlösungsbedürftiger verwandelter Mensch sei, und der mürrischen Anfisa ein Zauberfarn schenkt, das einen Wunsch erfüllen kann. Darüber geraten diese und ihr Mann jedoch in Streit, und sie wünscht ihn unbedachterweise unter die Erde, in die er prompt versinkt. Voller Wut macht sich Anfisa darauf zur Siedlung auf, um sich zu beschweren. Dort jedoch erregt sie mit ihren Geschichten nur den Unwillen des Woiwoden und er lässt sie in einen Schuppen sperren – zu Kastrjuk, der kurz zuvor gefangen wurde. Kartaus’ Leute nähern sich bereits der Siedlung, als auf einmal zum Schrecken aller das Ungeheuer erscheint. Nur Alena tritt ohne Furcht zu ihm, und sie kann den Zauber lösen: Finist wird wieder ein Mensch, und sogleich ruft er zum Kampf gegen die Feinde auf. Unter seiner Führung werden sie in die Flucht geschlagen. Unterdes kann jedoch Kastrjuk sich befreien und Anfisa mit dem Versprechen, ihren Mann zurückzuholen, einwickeln und dazu verleiten, Finist einen Zauberkamm ins Haar zu stecken. Dadurch verliert er seine Kraft, und Kartaus’ Leute können ihn entführen. Zusammen mit Jaša macht sich Alena auf die Suche nach ihm. Mit magischer Hilfe kommen sie zu Kartaus’ Schloss und können ins Verlies vordringen. Dort entfernt Alena den Kamm aus Finists Haar, und er kann sich mit seiner wiedergewonnen Kraft befreien. Es folgt ein finaler Kampf, in dem er Kartaus besiegen und vernichten kann. Darauf taucht auch Agafon aus der Erde wieder auf und wird von Anfisa in

(например, сказка «Яртыгулак» в издании 1963 г.).“ [„Es gab ganze Einschübe, die aus von den Übersetzern ausgedachten Episoden bestanden (z.B. das Märchen Jartygulak in der Ausgabe von 1963).]

357 die Arme geschlossen. Finist und Alena gehen glücklich gemeinsam davon. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film orientiert sich in seiner Ästhetik an der der Filme Aleksandr Rous754: Er zeichnet sich durch farbenfroh-folkloristische Kostüme aus; die alte Rus’ ist naturalistisch und visuell opulent gestaltet, zahlreiche Naturaufnahmen werden eingesetzt. Volkstümlich- folkloristischen Bräuchen, Liedern, Tänzen wird relativ viel Platz eingeräumt. Demgegenüber stehen die grotesk-phantastischen Kostüme der Bösewichte, die allesamt rothaarig dargestellt sind, und das düstere Reich von Kartaus mit seiner Spinnensymbolik. Direkte Rou-Zitate finden sich an zwei Stellen: In einem Prolog, in dem eine Märchenerzählerin ein großes Tor öffnet755, und in einer Szene, in der Schauspieler Georgij Milljar in seiner Rolle auf seine „Ahnengalerie“ verweist und ihn zwei Bilder einmal als Kaščej Bessmertnyj und einmal als Baba-Jaga in Standbildern aus Rou-Filmen zeigen756. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (teils über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 425A The Monster (Animal) as Bridegroom = AA/SUS 425A Amur i Psicheja ff. + AaTh 750A The Wishes = ATU 750A The Three Wishes. Der Film ist inhaltlich größtenteils von Šestakovs Theaterstück abhängig, hält sich jedoch nicht an dessen Text und nimmt zahlreiche Umstellungen, Umdeutungen und Modifikationen vor. So ersetzt etwa der Schreiber Jaša einen tapferen Soldaten, die drei magischen alten Weiblein drei alte Männer usw. Die im Stück deutlich bösartigere Bauersfrau sorgt darin für ein magisches Vergessen Finists und nimmt die Rolle der falschen Braut ein, worin sich eine bruchstückhafte Parallele zum Volksmärchen vom Falkenjüngling (vgl. Af. 234-235) entdecken lässt – im Film fehlt dies. Ansonsten haben trotz des irreführenden Titels757 weder Film noch Vorlage viel mit diesem Märchen gemein, es stand nur Pate für die Benennung des außergewöhnlich starken Titelhelden (vgl. Mot. F610. Remarkably strong man). Es liegt vielmehr eine freie Variation des Typs vom erlösungsbedürftigen Tierbräutigam vor (AaTh 425A ff.), dessen syntaktische Grundstruktur in der Haupthandlungslinie trotz leicht abgewandelter Form erkennbar bleibt: Alena erlöst den verwunschenen Finist durch ihre Liebe (vgl. Mot. D735.1. Beauty and the beast), danach verliert sie ihn wieder und muss sich auf eine Suchwanderung begeben (Mot. H1385.4. Quest for vanished husband), wobei ihr ein magisches Garnknäul den Weg weist (Mot. D1313.1.1. Magic ball of thread indicates road). Der schwankmärchenhafte Typ von den törichten Wünschen (AaTh 750A; vgl. auch Mot. J2071. Three foolish wishes) ist im Nebenhandlungsstrang um Anfisa und Agafon enthalten, wobei er im Film durch das Motiv des magischen Johanniskrauts ausgelöst wird (Mot. D965.14. Magic fern blossom. May be obtained on St. John’s eve). Ansonsten wird der Stoff mit zahlreichen weiteren Folkloremotiven angereichert, aus denen insbesondere der vom Film im Vergleich zur Vorlage wiederum modifizierte Motivkomplex um den Zauberkamm heraussticht (vgl. Mot. D1364.9. Comb causes magic sleep; D1410. Magic object renders person helpless; D765.1. Disenchantment by removing cause of enchantment). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 201-204; Paramonova 1979, S. 104-109; Zipes 2011, S. 234

754 Ihm ist der Film auch gewidmet. Die Idee zum Projekt stammt von ihm, und er war am Drehbuch beteiligt, konnte den Film aber vor seinem Tod (1973) nicht mehr verwirklichen. 755 Vgl. Morozko (1964); Ogon’, voda i... mednye truby (1968); Varvara-krasa, dlinnaja kosa (1969); Zolotye roga (1972). 756 Kaščej Bessmertnyj (1944); Morozko (1964). 757 Vgl. auch Vasilisa Prekrasnaja (1939).

358 Царевич Проша Zarewitsch Proscha UdSSR – Russland 1974; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Michail Voľpin. Darsteller: Sergej Martynov, Valerij Zolotouchin, Taťjana Šestakova, Evgenij Tiličeev u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Zarewitsch Proša weigert sich eines Tages, seinem Vater einen Traum zu erzählen. Dieser verstößt ihn vor lauter Wut und lässt ihn im Wald an einen Baum binden. Dort findet ihn der Nachbarkönig, der ihn zunächst befreit. Als Proša jedoch auch ihm den Traum nicht verraten will, lässt er ihn einsperren. Die Prinzessin hat sich jedoch in Proša verliebt und will ihm zur Flucht verhelfen. Wenig später erscheint der Herzog Derdidas, um um sie zu freien. Sie weist ihn ab und gesteht freimütig die Liebe zu dem Gefangenen. Derdidas bietet scheinheilig seine Hilfe an, doch legt er die Prinzessin herein und entführt sie. Proša, vom König davongejagt, macht sich auf die Suche nach ihr. Er begegnet dem magischen Alten Och. Dieser schenkt ihm eine Tarnkappe, doch als Proša errät, dass er sich dafür erhofft, seinen Traum zu erfahren, lässt er das Geschenk zurück. Es wird von dem Schelm Lutonja gefunden – dem wiederum kommt eine Tarnkappe gerade recht. Kurz darauf treffen er und Proša aufeinander und freunden sich an. Proša überlässt Lutonja gern die Tarnkappe, denn er selbst will nur auf ehrliche Weise die Prinzessin retten. Lutonja hat eine Reihe von Abenteuern: Auf dem Markt will er sich unsichtbar an den Essensständen gütlich tun – da er die Tarnkappe jedoch falsch herum aufhat, fallen seine Diebereien auf. Mit Witz und Dreistigkeit übersteht Lutonja das Abenteuer jedoch unbeschadet. Kurz darauf fällt er einer Räuberbande in die Hände, aber auch diese kann er schnell auf seine Seite ziehen. Unterdes wendet sich Derdidas an einen Zauberer, der ihm ein Mittel gibt, um die Gestalt Prošas anzunehmen – da die Prinzessin sich immer noch standhaft gegen seine Annäherungen wehrt, will er sie so hintergehen. Nach einigen Verwicklungen treffen schließlich Proša und sein Doppelgänger bei der Prinzessin aufeinander. Die Prinzessin fordert beide auf, den Traum zu erzählen, der alles ins Rollen gebracht habe. Auf diese Art und Weise kann sie herausfinden, wer der echte Held ist, und ihn anschließend in die Arme schließen. Der böse Derdidas aber löst sich in Luft auf. Filmgestaltung, Besonderheiten: Erzählerstimme aus dem Off, die immer wieder kommentiert. Für Szenenübergänge bzw. Schauplatzwechsel werden aus Metall geformte Miniaturen verwendet, die dann in den tatsächlichen Szenenhintergrund übergehen. Der Film erinnert in seiner Ausstattung an eine Stilcollage mit merkbaren Schwenks und Brüchen: Bis zum Ende des Aufenthalts von Proša beim Nachbarkönig werden ausschließlich künstlich-stilisierte Kulissen eingesetzt, ab dann dominieren jedoch Außenaufnahmen in der Natur und naturalistische Kulissen. Ein erneuter Stilbruch ist das Laboratorium des Zauberers, das wiederum an die für die vorherigen Filme Koševerovas typischen künstlich-stilisierte Ausstattung erinnert. Im Reich von Prošas Vater sind Kostüme wie Kulissen sehr bunt und pseudofolkloristisch russisch, beim Nachbarkönig entfernt an Barock erinnernd, im Wald schließlich erscheint alles eher naturalistisch- folkloristisch. Das Schloss von Derdidas ist ein tatsächliches Schloss, die Kostüme diffus barockhaft. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh 725 The Dream = ATU 725 Prophecy of Future Sovereignity = AA/SUS 725 Nerasskazannyj son. Klar zu erkennen ist in der Grundhandlung die syntaktische Struktur von AaTh 725, worin der Sohn zuerst nicht seinem Vater und dann auch niemandem sonst seinen Traum erzählen will und deswegen zahlreiche Abenteuer zu bestehen hat. Der Typ ist in der Folklore sehr variantenreich, und so lassen sich auch die

359 Abenteuer des Films als weitere Variante lesen: Das numinose Wesen Och und das im Film gezeigte mit ihm verknüpfte Motiv (er kommt bei einem Stöhnlaut herbei, den er als seinen Namen interpretiert; Mot. C21. „Ah me!“: Ogre’s name uttered) entstammt eigentlich einem anderen Kontext (vgl. z.B. Af. 250); er dient hier als Schenker eines Zaubergegenstandes (Mot. D1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe). In der Ausdeutung des zentralen Motivs weicht der Film von der Volksmärchentradition ab – Prošas Motivation dafür, den Traum nicht zu erzählen, liegt in seiner Ehrlichkeit begründet. Seine Ehrlichkeit ist es auch, die alle weiteren Abenteuer auslöst, ihn in Gefahr bringt, aber letztendlich auch zu einem guten Ende führt – denn in der Schlusslösung erklärt er, dass er nicht etwa, wie es sein Doppelgänger behauptet und wie es im Volksmärchen üblich ist (vgl. z.B. Af. 240), im Traum alle Abenteuer vorhergesehen hat (vgl. Mot. D.1812.3.3. Future revealed in dream), sondern der Prinzessin im Traum begegnet ist (vgl. Mot. T11.3. Love through dream) und ihr sein Versprechen gegeben hat, niemandem davon zu erzählen. Dem ehrlichen Proša ist der charismatische und eigentlich gutmütige Betrüger Lutonja gegenübergestellt, dessen Abenteuer parallel zur Haupthandlung schwankhaften Charakter haben.

Вкус халвы [Der Geschmack von Halva] UdSSR – Russland 1975; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Pavel Arsenov; Drehbuch: Viktor Vitkovič. Darsteller: Rifat Musin, Nabi Rachimov, Mušrava Kasymova, Armen Džigarchanjan u.a. Vorlage: Leonid Solov’ev: Očarovannyj princ, Kapitel 33 (Solov’ev 1976, S. 467-494). Inhaltsangabe: Im alten Buchara. Der Emir bläst Trübsal, da er den Geschmack seiner Lieblingsspeise Halva nicht mehr spürt. Seine Gleichgültigkeit wird von seinem Wesir ausgenutzt, der durchsetzen kann, dass für Träume und ähnliche Dinge absurde Steuern erhoben werden. Unterdes finden ein alter Töpfer und seine Frau in einem Tonkrug einen Säugling, den sie bei sich aufnehmen und wie einen Sohn aufziehen. Es ist niemand anderes als Nasreddin, der bei ihnen zu einem jungen Burschen heranwächst. Eines Tages steht er einer armen alten Bettlerin mit ihrem Kater gegen eine Horde spottender Kinder bei. Im Folgenden hilft der Junge ihr dann listig, an Geld zu kommen: Er preist das seltene „Tier genannt Kater“ an und verlangt von jedem Geld, der einen Blick darauf werfen will – auf die anfängliche Verblüffung beim Anblick des ganz gewöhnlichen Katers folgt bei den Leuten erkennendes Lachen. Die Kunde davon dringt auch in den Palast, und der Wesir meint, ein Mittel gegen das Leiden des Emirs gefunden zu haben – zusammen mit seinem Lachen soll er auch den Geschmack von Halva zurückgewinnen. Der Emir wird von dem Kater, als er ihn ansehen will, jedoch gekratzt. Er ist darauf beleidigt und befiehlt, das Tier hinrichten zu lassen. Der Wesir sieht eine Chance für eine Intrige und will den Emir glauben lassen, der Kater sei ein Wertier. Unterdes kommt Nasreddin zum Palast – er bittet um die Herausgabe des Katers, über dessen Verlust die Bettlerin tief traurig ist. Der Wesir macht ihm weis, dass er ihn vor der Hinrichtung retten könne, wenn er bestätige, dass der Kater ein Wertier sei. Als Nasreddin dies vor Gericht tut, behauptet jedoch der Wesir, der Junge sei die menschliche Inkarnation des Katers und müsse hingerichtet werden. Nasreddin entgeht dem Henkersbeil, indem er behauptet, er wisse, wie der Emir wieder den Geschmack von Halva spüren könne. Dafür verlangt er jedoch, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Der Emir nimmt ihn mit in seine Gemächer, und Nasreddin kann ihm mit seinem Witz die Augen darüber öffnen, dass er vor lauter Halva jeden Sinn fürs Regieren verloren hat. Während der Emir nun die ungerechten Gesetze ändert, flieht der Wesir aus Furcht vor Bestrafung.

360 Filmgestaltung, Besonderheiten: Märchenerzähler, der immer wieder im Bild erscheint. Naturalistische Gestaltung mit diffus- märchenhaften Zügen. Zahlreiche, teilweise handlungserklärende Lieder. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 1651 Whittington’s Cat = AA/SUS 1651 Sčasťje ot koški. Das 33. Kapitel des Solov’ev-Romans stellt eine eingeschobene, in sich abgeschlossene und mit der Haupthandlung nicht direkt verknüpfte Erzählung über die Kindheit Chodža Nasreddins dar. Darin wird ihm eine Findlingsvergangenheit zugeschrieben (Mot. L111.2. Foundling hero), und es wird von seinem ersten Streich berichtet, mit dem er einer armen Bettlerin zu Geld verhilft: Hierin ist in stark transformierter Form ein schwankhafter Erzähltyp (AaTh 1651; vgl. auch Mot. N411.1. Whittington’s cat) zu erkennen, worin eine Katze für viel Geld in ein Land verkauft wird, wo es keine Katzen gibt – Solov’evs Ausdeutung nähert das zentrale Motiv einem Trickwunder an. Der Film eliminiert Details, aber übernimmt ansonsten diese Handlungslinie zur Gänze – daneben fügt er den gesamten Handlungsstrang um den Emir, den Geschmack von Halva und die absurden Steuern ein, die ebenfalls schwankhaft wirken, aber keine Folkloreparallelen zu haben scheinen, und verknüpft die beiden Geschichten.

Новогодние приключения Маши и Вити [Die Neujahrsabenteuer von Maša und Vitja] UdSSR – Russland 1975; Lenfiľm. Regie: Igor’ Usov, Gennadij Kazanskij; Drehbuch: Pavel Finn. Darsteller: Nataša Simonova, Jura Nachratov, Igor’ Efimov, Irina Borisova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zwei sowjetische Schulkinder, die Wunderliebhaberin Maša und der wissenschaftsgläubige Vitja, erfahren von Väterchen Frost, dass Sneguročka von Kaščej Bessmertnyj entführt wurde und deshalb das Neujahrsfest in Gefahr ist. Sie machen sich zu einer Rettungsaktion auf ins Märchenland. Als Kaščejs drei Gehilfen, die Baba-Jaga, der Lešij und der Kater Matvej, davon erfahren, wollen sie alles daransetzen, die beiden aufzuhalten. Zuerst werden sie von der Baba-Jaga in ihre Hütte gelockt – sie hat vor, sie später zu verspeisen. Die Kinder können jedoch in ihrem fliegenden Mörser, der einen Wankelmotor enthält, entfliehen. Sie helfen einem Ofen und erhalten von ihm eine glühende Kohle, die ihnen den Weg weist. Diese wird jedoch von dem Lešij gelöscht, auf den sie nun treffen – er versucht, die beiden gegeneinander auszuspielen und voneinander zu trennen, doch ohne Erfolg. Mit Hilfe von Stromschlägen kann er vertrieben werden. Die Kinder stoßen auf einen Apfelbaum, dem sie ebenfalls helfen – er schenkt ihnen einen wegweisenden Apfel. Dieser wiederum wird vom Kater Matvej gefressen. Der droht ohne viel Umstände, dasselbe mit den Kindern zu machen, doch Maša kann ihn mit einem Märchen ablenken, ehe Vitja ihn mit einer mechanischen Spielzeugmaus fortlockt. Als letztes helfen die Kinder einem Waldmännlein, dessen Wollknäuel sie schließlich zu Kaščejs Palast bringt. Dort jedoch wird Maša von Vitja getrennt, sie landet alleine vor Kaščej. Angst hat sie keine vor ihm, denn sie weiß alles über ihn aus dem Märchen. Den Bösewicht quälen Zahnschmerzen, und Maša verspricht, sie ihm zu heilen, wenn er im Gegenzug Sneguročka gehen lässt. Kaščej bleibt keine Wahl – Sneguročka wird freigelassen. Kaum hat Maša jedoch die Zahnschmerzen mit Soda behandelt, will Kaščej sie schon hinrichten lassen. Da erfährt er von seinen Gehilfen, dass Vitja vor dem Tor steht und ihn zum Kampf fordert. Zauberschwert und -lanze Kaščejs sind machtlos gegen Vitjas Magneten, und er erzwingt Mašas Freilassung. Kaščej schickt den

361 Kindern sofort seine drei Gehilfen nach, doch die Verfolger werden von Waldmännlein, Apfelbaum und Ofen aufgehalten. Vitja und Maša aber können schließlich mit Väterchen Frost, Sneguročka und vielen anderen Kindern das neue Jahr feiern. Filmgestaltung, Besonderheiten: Im Stil einer Neujahrsrevue für Kinder. Stilisiert-theaterhafte Studiokulissen im Märchenreich. Exzentrisch-anachronistische Kostüme der Bösewichte, so die Baba-Jaga in glamouröser Aufmachung und im Minirock, der Kater Matvej (kostümierter Schauspieler) in Jeans mit einer daran befestigen Steinschleuder. Der Ofen und der Apfelbaum werden von Schauspielerinnen gespielt, deren Gesichter über die Gegenstände geblendet werden. Am Ende treten die Darsteller – anstelle eines Abspanns – zunächst im Kostüm einzeln auf und werden per Überblende ohne Kostüm gezeigt, um jeweils zum Neuen Jahr zu gratulieren. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante/Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Der Film ist ein Crossover-Märchen von sehr revuehaftem Charakter, das zahlreiche semantische Märchenelemente verfremdet und parodiert, aber dabei doch eine sehr märchenhafte syntaktische Grundstruktur beibehält. Eine Schädigung wird von Kaščej vorgenommen, der, wie es in den Volksmärchen mit seiner Beteiligung (SUS 3021) üblich ist, eine Jungfrau raubt, in dem Fall die pseudomärchenhafte Neujahrsgabenbringerin Sneguročka. Maša und Vitja brechen zu ihrer Rettung auf, und ihre Abenteuer sind zwar mit auf den Kontrast von Märchen und „moderner Wissenschaft“ angelegten Anspielungen und Pointen ausgestattet, zeichnen aber syntaktisch einen typischen Märchenweg nach. Die guten Helfer sind auch semantisch eng mit entsprechenden Folkloremotiven verknüpft (vgl. Mot. D1658.1. Objects repay kindness; D1658.3.3. Grateful objects give helper gifts; D1313. Magic object points out road; auch D670. Magic flight), die grell gestalteten Bösewichte, die zusammen in einer Rockgruppe spielen (!), sind dagegen ihren Folkloreäquivalenten gegenüber grotesk verfremdet. Baba-Jaga, Lešij und Kaščej sind bekannte Figuren, während der Kater Matvej als Parodie auf den märchenerzählenden Kater Bajun angelegt scheint (vgl. zu diesem z.B. Af. 215, 284) – er kennt im Gegensatz zu diesem kein einziges Märchen.

Птичье молоко [Die Vogelmilch] UdSSR – Georgien 1975; Gruzija-fiľm. Regie: Nikolaj Sanišvili; Drehbuch: Anzor Salukvadze. Darsteller: Gega Kobachidze, Nino Dolidze, Sesilija Takaišvili, Guram Pircchavala u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Ein armer Bauernjunge wird eines Tages von einem geheimnisvollen Fremden aufgesucht. Die klugen Antworten des Burschen gefallen diesem, und er weist ihn an, seinen Spuren zu folgen, dann werde er sein Glück finden – damit verschwindet er wieder. Der Junge macht sich auf, ihn zu suchen. Auf dem Weg hat er verschiedene Begegnungen: Eine alte Frau hat einen lahmen Enkel. Das einzige Heilmittel für ihn ist Vogelmilch, doch die Katze hat sie gefressen und soll deshalb leiden. Der Junge bittet, sie mitnehmen zu dürfen und verspricht Hilfe. Ein Fischer hat eine stumme Tochter, und ihr kann nur eine Feder des Paradiesvogels helfen – doch diesen hat der Hund verjagt, und er soll ertränkt werden. Der Junge rettet auch ihn und verspricht wieder seine Hilfe. Als nächstes kommt er zu einem großen Strom. Der Fährmann will ihn nur übersetzen, wenn er drei Rätsel löst. Nachdem er dies gemeistert hat und übergesetzt wurde, trifft er auf ein an einen Felsen gegekettetes Mädchen. Sie erklärt, sie

362 sei eine Gefangene des schwarzen Zauberers, und nur, wenn dieser sein Herz wieder den Menschen schenke, könne sie erlöst werden. Schließlich kommt der Junge zum Schloss des schwarzen Zauberers – es ist niemand anderes als der Fremde. Er gewährt dem Jungen, da er ihn gefunden hat, drei Wünsche. Die Wünsche des Jungen sind allesamt selbstlos – er wünscht sich Vogelmilch, eine Feder des Paradiesvogels und die Rückgabe des Herzens. Der Zauberer erfüllt alles. Der Junge hilft nun der Tochter des Fischers und dem Enkel der Alten, ehe er und das befreite Mädchen glücklich zusammen weiterziehen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Film spielt fast ausschließlich im Freien vor beeindruckenden Naturkulissen. Enthält lange lyrische, dialoglose Passagen ohne wirkliche Handlung, in der in erster Linie die Suchwanderung mit Naturbildern der sich ändernden Landschaft untermalt wird. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh 460A The Journey to God to Receive Reward = ATU 460A The Journey to God (Fortune) =AA/SUS 460A Putešestvie k bogu za nagradoj ff.. Der Film folgt, ohne sich an einem konkreten Volksmärchen zu orientieren, ziemlich genau der syntaktischen Struktur von AaTh 460Aff.: Der Held zieht aus, um ein übernatürliches Wesen aufzusuchen, auf seinem Weg werden ihm Fragen gestellt, und er kann auf dem Rückweg die Antworten überbringen (Mot. H1291. Questions asked on way to otherworld; H1292. Answers found in otherworld to questions propounded on the way). Die Ausformung der Einzelepisoden erfolgt unter Einsatz von bekannten Motiven (vgl. Mot. B735. Bird gives milk, D1500.1.33.1. Magic healing milk; D1021. Magic feather; B102.1. Golden bird), ohne dass die geradlinige Struktur erweitert wird, was in höchstem Maße volksmärchentypisch ist. Lediglich am Ende ist darin eine psychologisierende Variation zu sehen, dass mit drei selbstlos eingesetzten Wünschen (vgl. Mot. D1761.0.2. Limited number of wishes granted) das eigene Glück erreicht wird.

Волшебная книга Мурада [Murads Zauberbuch] UdSSR – Turkmenien 1976; Turkmenfiľm. Regie: Muchamed Sojunchanov; Drehbuch: Sof’ja Prokof’eva, Genrich Sapgir. Darsteller: Čary Orazberdiev, T. Gummadov, Ėdžebaj Orunova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der sowjetische Schüler Murad hat vor seinen Kameraden angegeben, sein Onkel sei Pilot – in Wahrheit ist dieser jedoch Lastwagenfahrer. Als er seinen Besuch ankündigt, droht die Lüge aufzufliegen. Murad erhofft sich Hilfe von dem Däumling Jartygulak aus seinem Märchenbuch. Jartygulak schenkt ihm Zauberbonbons, doch die dazugehörige Warnung, sie nur für das Gute einzusetzen, will der eigensinnige Murad nicht hören. Die Bonbons sorgen für eine Reihe von verrückter Verwandlungen: Murads Großmutter wird in ein Kleinkind verwandelt, sein kleiner Bruder hingegen in einen erwachsenen Jockey, den sogleich ein Trainer abholt und mitnimmt. Murad dagegen nimmt die Gestalt eines Erwachsenen an, um sich seinen Kameraden als sein eigener Onkel zu verkaufen und diese mit Geschichten von seinen Pilotenabenteuern zu beeindrucken. Mit seinen Prahlereien verwickelt er sich jedoch in Widersprüche, die die Kinder immer skeptischer werden lassen. Kurz darauf entdeckt Murad seinen verwandelten kleinen Bruder im Fernsehen – beim Pferderennen auf einem schnellen Pferd, und die Wirkung des Zauberbonbons soll bald nachlassen! Voller Schreck macht sich Murad auf zum Hippodrom, um das Schlimmste zu verhindern. Mit der Hilfe von Jartygulak kann er gerade noch rechtzeitig das Pferd zum Stehen bringen, auf dem sich mittlerweile der

363 Jockey wieder in ein Kleinkind verwandelt hat. Auch die Großmutter wird zurückverwandelt – verwirrt und ohne Erinnerung nimmt sie den Bruder mit nach Hause. Dort kann sie freudig ihren Sohn den LKW-Fahrer begrüßen. Dieser hat sich bereits mit Murads Kameraden angefreundet, die von seiner nützlichen Arbeit ganz beeindruckt sind und unbedingt auf seinem LKW mitfahren wollen. Nur Murad muss die Szene aus einem Versteck beobachten – er hat sich als einziger noch nicht zurückverwandelt. Erst, nachdem er sich für sein Verhalten bei Jartygulak kleinlaut entschuldigt hat, und durch die Fürbitte seiner Freundin Ajguľ, die ihm die ganze Zeit über treu beigestanden hat, wird auch seine Rückverwandlung bewirkt. Nun kann er zu den Anderen stoßen und die Rundfahrt im LKW seines Onkels mitmachen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Gestaltung der zeitgenössischen Realität. Die Rolle von Jartygulak wird vom selben Kinderschauspieler wie in Mal, da udal (1974) verkörpert, sogar im selben Kostüm, weshalb der Film auch als eine Art lose Fortsetzung gesehen werden kann. Die Welt des Märchens, aus der Jartygulak stammt, befindet sich auf den Seiten eines Buches; Ereignisse darin werden in einem aus ornamentalen Mustern bestehenden Rahmen präsentiert, wodurch Buchillustrationen angedeutet werden. Jartygulak tritt, wenn er mit den Kindern außerhalb des Buches kommuniziert, in einer reduzierten Kulisse mit sehr viel an Neujahrsschmuck erinnernden Dekorationen auf. Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation. Crossover-Märchen, dessen einzige Verbindung zum Märchengenre in der Volksmärchenfigur Jartygulak besteht (Mot. F535.1. Thumbling), der als Angehöriger einer Märchenwelt präsentiert wird, die sich zwischen den Seiten eines Märchenbuches befindet und in der zwei seiner Abenteuer angedeutet werden. Ansonsten haben die Ereignisse surreal- komischen Charakter.

Иваника и Симоника Ivanika da Simonika [Ivanika und Simonika] UdSSR – Georgien 1976; Gruzija-fiľm. Regie, Drehbuch: Pavle Čarkviani. Darsteller: Guram Palavandišvili, Gija Peradze, Levan Azarašvili, Nodar Piranišvili u.a. Vorlage: Volksmärchen von Ivanika und Simonika (Gruz. sk. 138). Inhaltsangabe: Der reiche Simonika jagt seinen Bruder Ivanika fort – er soll ein Jahr anderswo arbeiten und ihm dann seinen Lohn bringen. Ivanika tritt in die Dienste eines Hirten. Er arbeitet fleißig, doch der Hirte prellt ihn um seinen gerechten Lohn. Simonika aber will den Beteuerungen seines Bruders nicht glauben, und dieser kann ihm nichts recht machen. Ivanika muss sein einziges Lämmchen schlachten. Er macht sich auf den Weg, um dessen Haut zu verkaufen. Die Nacht überrascht ihn, und er bittet bei einem Haus um Unterschlupf. Die Hausherrin weist ihn grob ab – sie erwartet den Diakon, mit dem sie sich bei einem Schäferstündchen vergnügen will. Ihr Mann, der Jäger, kommt jedoch frühzeitig nach Hause. Ivanika bekommt mit, wo die Frau Liebhaber und Essen versteckt, bevor ihr Mann eintritt. Anschließend klopft er erneut, und der Jäger gewährt ihm Zutritt. Ivanika kann ihm weismachen, seine Schafshaut habe Zauberkräfte, und mit ihr könne er Essen herbeizaubern und einen Teufel in der Gestalt des Diakon heraufbeschwören – in der Truhe, in der sich der tatsächliche Diakon verbirgt. Der Jäger gibt ihm ein Fuhrwerk mit Ochsen für die Haut – den Teufel in der Truhe soll er aber mitnehmen. Unterwegs erbettelt der Diakon dann von Ivanika seine Freilassung – zum Preis

364 eines Pferdes. Dem verblüfften Simonika erklärt Ivanika, er sei zu seinem Reichtum durch den Verkauf der Schafshaut gekommen. Der Bruder schlachtet darauf all seine Schafe. Beim Versuch, ihre Häute zu verkaufen, gerät er ausgerechnet an den Jäger und handelt sich eine Tracht Prügel ein. Um sich an Ivanika zu rächen, bringt er diesen mit einer List dazu, in einen Sack zu kriechen, um ihn damit ins Wasser zu werfen. Als er sich jedoch kurz entfernt, wird der Sack von dem bösen Hirten geöffnet. Ivanika macht ihm weis, der Sack würde ihn ins Paradies bringen. Der Hirte nimmt seine Stelle ein und wird statt seiner ertränkt. Als Simonika nun seinen Bruder mit der Schafherde des Hirten sieht, erklärt dieser, er habe sie von der Königin des Wasserreiches erhalten. Voller Gier stürzt sich Simonika ins Wasser und ertrinkt. Ivanika ist nun reich und sein eigener Herr. Filmgestaltung, Besonderheiten: Minimalistisch ausgestattet, größtenteils im Freien (in einer malerischen Berglandschaft) spielend. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 1535 The Rich and the Poor Peasant/Farmer (Unibos) = SUS 1535 Dorogaja koža. Der Film stellt eine lineare Nacherzählung des zugrundeliegenden Volksmärchens ohne größere Variationen dar. Erweiterung ist lediglich die Figur eines zwergenhaften Dieners des reichen Hirten, der von diesem ausgebeutet wird und sich nach dessen Ende mit Simonika zusammentut, um gemeinsam die große Schafherde zu hüten.

Мама Vom Wolf und den pfiffigen Geißlein ([Mama]) UdSSR – Russland/Rumänien/Frankreich 1976; Mosfiľm/Romȃnia Film/Ralux Film. Regie: Elisabeta Bostan; Drehbuch: Jurij Ėntin, Vasilica Istrate. Darsteller: Ljudmila Gurčenko, Michail Bojarskij, Oleg Popov, Savelij Kramarov u.a. Vorlage: Volksmärchen von dem Wolf und den Geißlein (vgl. KHM 5; Af. 53, 54; insbesondere aber auch die literarisierte Variante von Ion Creangă: Mol. sk., S. 14-21). Inhaltsangabe: Die Ziege Tante Maša ist im Dorf der Tiere allseits beliebt – nur dem Wolf sind ihre fünf lebhaften Geißlein ein Dorn im Auge. Sie nimmt sie jedoch energisch gegen ihn in Schutz. Als im Dorf Jahrmarkt ist, geht die Ziege hin, schärft jedoch ihren Kindern ein, daheimzubleiben und niemandem außer ihr die Tür zu öffnen – als Erkennungszeichen vereinbaren sie ein Lied. Der Wolf belauscht die Szene. Darauf fasst er mit seinen drei Kumpanen den Plan, die Geißlein zu entführen, um von der Ziege ein Lösegeld zu erpressen. Seine kläglichen Versuche, die Melodie nachzuahmen, werden jedoch von den Kindern leicht entlarvt. Unterdes will der Geißenjunge Mitjaj nicht zu Hause sitzen – er läuft fort und mischt sich heimlich ins bunte Jahrmarkttreiben. Die Kumpane des Wolfs entdecken ihn und beginnen, ihn zu jagen. Als die Ziege nach Hause kommt und ihr von Mitjajs Verschwinden berichtet wird, hat sie sofort den Wolf im Verdacht. Sie sucht ihn auf und stellt ihn zur Rede – der Wolf gibt sich jedoch gekränkt ob des Verdachts. Die verzweifelte Ziege macht sich auf die Suche nach ihrem Jungen. Unterdes wird es Winter. Mitjaj konnte sich kaum vor seinen Verfolgern retten. Er läuft rasch nach Hause, wo er gerade noch sieht, dass der Wolf mit verstellter Stimme das Erkennungslied zum Besten gibt. Diesmal fallen die Geißlein auf ihn herein, und Mitjajs Warnungen kommen zu spät – auch er wird mit den anderen in einen Sack gesteckt. Nur ein Geißlein konnte sich verstecken, und dieses kann der zurückkommenden Ziege Bericht erstatten. Nun aber ist deren Kampfgeist geweckt. Zum Schein geht sie auf die Lösegeldforderungen des Wolfs ein, heckt jedoch mit ihren Freunden aus dem Dorf einen

365 Plan aus. Als der Wolf zum vereinbarten Treffpunkt beim Dorfteich kommt, sind dort alle versammelt. Ihm sind die Zeugen unangenehm, doch die Ziege hält ihn eine ganze Weile hin und fordert ihn zum Tanz auf dem Eis auf. Schließlich sorgt sie dafür, dass er in ein Eisloch fällt. Dem Ertrinken nah, muss er klein beigeben und seine Kumpane losschicken, um die Geißlein freizulassen, die ihre Mutter in die Arme schließen. Da der Wolf sich reumütig zeigt, wird ihm vergeben, und er stimmt mit allen zusammen in ein Lied auf die Mutterliebe ein. Filmgestaltung, Besonderheiten: In drei Sprachfassungen (Russisch, Rumänisch, Englisch) simultan gedrehter Film.758 Der Vorspann zeigt die Darsteller ohne Kostüme am Set, wie sie sich auf den Dreh vorbereiten. Musical: Der überwiegende Teil der Filmdialoge wird gesungen, daneben werden zahlreiche nicht direkt handlungsrelevante Gesangs- und Tanznummern in revuehafter Form dargeboten. Daneben auch Eiskunstlaufszenen. Im Film agieren ausschließlich Tiere, die von menschlichen Darstellern in exzentrischen stilisierten Kostümen und Schminke verkörpert werden. Als Kulisse dient die Natur und Phantasiebauten. Beteiligung von bekannten Ballett-, Eislauf- und Zirkuskünstlern mit entsprechenden Nummern; die Musik ist jazzorientiert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 123 The Wolf and the Kids = AA/SUS 123 Volk i kozljata. Die russischen Varianten des Volksmärchens scheinen weniger eine Rolle gespielt zu haben, da hier das Märchen in der Grimm’schen Fassung populärer ist; außer dieser kann insbesondere die in Rumänien populäre, literarisierte Variante von Ion Creangă als Hauptvorlage betrachtet werden. Wie sämtliche Besprechungen des Films betonen, wurde bei der Anzahl der Geißlein ein Kompromiss gefunden: Statt sieben wie bei den Grimms und drei wie bei Creangă hat hier die Ziege fünf Junge. Aus Creangăs Version stammt das Lied der Ziege als Erkennungszeichen; daneben ist die Bestrafung des Wolfes eine Modifikation des dort verwendeten Motivs: Darin rächt sich die Ziege in drastischer Weise am Wolf, der ihre zwei älteren Kinder gefressen hat (es gibt keine Rettung aus dem Bauch), indem sie ihn durch eine List in eine Feuergrube stürzt und darin trotz seiner flehentlichen Bitten verrecken lässt – demgegenüber steht das Eisloch im Film, aus dem der Wolf, als er die Geißlein freilässt und verspricht, sich zu bessern, herausgezogen wird. Im Großen und Ganzen wird ansonsten der Grundplot beibehalten, aber in spielerisch-ironischer Weise verharmlost – dem Wolf scheint das Fressen der Geißlein nicht „zeitgemäß“, und er will stattdessen Lösegeld erpressen. Daneben wird mit zahlreichen revue- und zirkushaften Einlagen ausgeschmückt; der Schauplatz des tierischen Dorfes mit seinen verschieden charakterisierten Bewohnern, die als Nebenfiguren auftreten oder einfach nur dekorativ in Musiknummern eingesetzt werden, entstammt der Phantasie der Filmautoren. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 361-363; Romanenko 1983, S. 38-39

Отважный Ширак [Der tapfere Širak] UdSSR – Tadschikistan 1976; Tadžikfiľm. Regie: Mukadas Machmudov; Drehbuch: Arkadij Inin. Darsteller: Saido Kurbanov, Ljucija Ryskulova, Churšed Ganiev, Anvar Mansurov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Eine Theatertruppe zeigt in einem Pionierlager ein Märchen: Der Schelm Širak kommt in eine Stadt, die von einem Drachen bedroht wird. Die Einwohner lassen sich von einer

758 Die Transkription und Analyse bezieht sich auf die russische Version.

366 Räuberbande schützen – die sie im Gegenzug jährlich mit einem Sack Gold und einer Jungfrau entschädigen müssen. Nur für einen zweiten Sack Gold sind die Räuber bereit, auf die Jungfrau zu verzichten. Die Reihe ist nun an der schönen Zajnab, deren arme Mutter diese Forderung nicht erfüllen kann. Širak beschließt, sie zu retten. Das Mädchen aber will gar nicht gerettet werden – sie ist sehr launisch und schwärmt insgeheim für den Räuberhauptmann Chasan. Širak macht sich auf zur Räuberhöhle. Dort beobachtet er, wie die Räuber sich mit dem Spruch „Sesam, öffne dich!“ Einlass verschaffen. Širak tut es ihnen gleich, und in der Höhle trifft er auf einen Jungen namens Sesam. Er stellt sich ihm als großer Zauberer vor, muss dann jedoch kläglich eingestehen, dass er das Zaubern nie richtig gelernt hat und deshalb auch in die Hände der Räuber gefallen ist. Širak bietet ihm seine Freundschaft an, was der Kleine gerne annimmt. Gemeinsam stehlen sie den Räubern einen Sack Gold, mit dem sie Zajnab freikaufen. Diese ist zwar darüber nicht erfreut, und auch Chasan ist wütend über den Betrug, doch sie müssen sich fügen. Zajnab plant mit den Räubern gemeinsam Rache, doch alle Versuche, Širak zu schaden, gehen nach hinten los – er ist zu schlau. Schließlich fordert Chasan Širak zu einem öffentlichen Kräftemessen heraus – auch hier versagt der Räuberhauptmann. Zajnab gibt nach und nach ihren Widerwillen gegenüber Širak auf, und bei einem nächtlichen Treffen wird ihre Liebe zu ihm geweckt. Unterdes unternehmen die Räuber einen letzten Vorstoß – sie haben sich in fünf Tonkrügen versteckt, die Sesam als Geschenk in Širaks Haus bringen soll. Der Junge jedoch durchschaut das Vorhaben, und mit Fröschen jagt er die Räuber aus den Krügen. Nun können alle ihre Feigheit sehen. Die Stadtbewohner wollen sich endlich gegen ihre Tyrannei erheben, als sich auf einmal der Drache rührt. Širak jedoch tritt ihm furchtlos entgegen – und es stellt sich heraus, dass der Drache eine von den Räubern bediente Maschine ist, die sie zu ihren Zwecken benutzt haben. Die Bösen müssen sich ergeben. Širak und Zajnab aber brechen ins nächste Märchen auf. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Rahmenhandlung erklärt den Ausstattungsstil: Dekorationen, Requisiten und Kostüme haben bewusst „improvisierten“ Charakter, wie es für eine Vorstellung in einem Pionierlager denkbar ist. Als Spielraum dient eine begrenzte Bühne – ein Verfahren, das jedoch nicht immer konsequent durchgezogen wird; auch werden Szenenwechsel durch Schnitte bewerkstelligt. Da es sich um eine Freiluftbühne handelt, werden auch Naturaufnahmen gezeigt. Das „Publikum“, eine große Menge Kinder, wird mehrfach mit einbezogen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation; vgl. ATU 954 The Forty Thieves (Ali Baba) = AA/SUS 676 Dva brata i sorok razbojnikov (Ali Baba) (= AaTh 676 Open Sesame + AaTh 954 The Forty Thieves). Die Grundhandlung ist sehr lose an das Ali-Baba-Märchen angelehnt, was sich insbesondere an der Kombination einzelner semantischer Elemente festmacht: Die Räuber in ihrer Schatzhöhle, der Türwächter „Sesam“ als ironisch-verfremdende Ausdeutung der Zauberformel (vgl. Mot. D1552.2. Mountain opens to magic formula (Open Sesame)), schließlich die Episode mit den Räubern in den Krügen (vgl. Mot. K312. Thieves hidden in oil casks) – die, wiederum in verharmlosend-spielerischer Umdeutung, nicht mit heißem Öl übergossen, sondern mit Fröschen aus den Krügen gejagt werden. Der Umgang mit dem zweiten Hauptmotiv erinnert entfernt an das Drachentötermärchen (AaTh 300) – der Drache fordert angeblich ein Opfer, und die Räuberbande gibt sich als Drachenbezwinger aus und nimmt so gewissermaßen die Rolle des falschen Helden ein. Die Figur der Zajnab kann als eine Variante der gezähmten Widerspenstigen gesehen werden (vgl. Mot. T251.2. Taming the shrew). Schwankhafte Züge nimmt der Film durch den Einsatz von Rätseln, Scherzfragen, und sonstigen einzelnen Motiven an, die mit der leicht tricksterhaften Figur des Širak verknüpft sind, z.B. entgeht er einem Versuch der Räuber, ihn im Schlaf zu ermorden, indem er nicht selbst unter seine Schlafdecke kriecht, sondern einen Lumpenhaufen als Attrappe

367 darunterschiebt (Mot. K525.1. Substituted object left in bed while intended victim escapes) wirft beim Kräftemessen mit Chasan statt einem Stein ein Vögelchen (Mot. K18.3. Throwing contest: bird substituted for stone) usw. (vgl. auch AaTh 1640).

Пастух Янка [Der Hirte Janka] UdSSR – Weißrussland 1976; Belarus’fiľm. Regie: Jurij Cvetkov, Vaclava Verbockaja; Drehbuch: Ė. Dovnar, Artur Voľskij. Darsteller: Aleksej Mokrousov, Svetlana Michaľkova, Vladimir Kuljabin, Evgenij Lebedev u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zweiteiler.759 (1) Auf dem Weg zu seiner Braut, der Prinzessin des Landes, kehrt Prinz Kukimor bei einem Pan ein. Da ihm dessen kunstvoller Wandteppich gefällt, kauft er ihn – und die Weberin, die Leibeigene Marinka, gleich mit. Dass diese gerade Hochzeit mit dem Hirten Janka feiern wollte, interessiert ihn wenig. Janka macht sich auf, seine verschleppte Braut zu befreien. Unterdes lässt der König Durimont bekanntgeben, dass derjenige, der ihm ein Wunderding bringe, reich belohnt werden soll. Janka trifft im Wald auf einen alten Mann, und als er sich ihm gegenüber hilfsbereit zeigt, bekommt er eine Zauberflöte geschenkt. Derweil findet eine Palastrevolte statt – Durimont wird von seinem Zwillingsbruder Obaldin entmachtet, Königin und Prinzessin werden durch ihre Doppelgängerinnen ersetzt. Die Höflinge ziehen es vor, sich nicht einzumischen, und auch Kukimor ist es egal, wen er letztlich heiratet. Janka kommt zum Schloss: Er will dem König die Zauberflöte bringen und hofft, dass dieser dann Marinka freilässt. Obaldin ist angetan von der Flöte, die Wünsche erfüllen kann, doch er will Marinka trotzdem nicht freilassen – stattdessen lässt er Janka die Flöte abnehmen und ihn eingekerkern. Die Flöte aber verliert ihre Zauberkraft, und so wird sie Janka bald darauf nachgeworfen. (2) In seinen Händen ist sie wieder magisch, und er kann sich mit ihrer Hilfe befreien. In den geheimen Gängen des Schlosses stößt er auf den dort gefangenen Durimont. Wenn er ihm helfe, die Krone zurückzuerobern, so wolle er in Zukunft ein gerechter Herrscher sein, verspricht er Janka. Es gelingt den beiden, einen Weg ins Freie zu finden. Janka bringt Durimont dazu, mit ihm ein einfaches Leben zu führen. Durimont gewöhnt sich nur schwer daran, doch schließlich scheint er sich tatsächlich geläutert zu haben und verspricht vor versammeltem Volk, die Verhältnisse grundlegend zu ändern, sobald er wieder König sei. Kurz darauf gelingt es ihm dann, im Schloss die Machtverhältnisse wieder umzukehren. Doch Jankas Hoffnungen erfüllen sich nicht: Kaum wieder in Königswürden, vergisst Durimont all seine Versprechungen. Er lässt Janka die Flöte abnehmen und seine baldige Hinrichtung anordnen. Einen deswegen drohenden Volksaufstand kann er mit dem Zauber der Flöte verhindern. Inzwischen aber hat Marinka sich befreien können. Es gelingt ihr, die Flöte an sich zu bringen und sie Janka zuzuspielen. So kann dieser letztlich nicht nur seine Hinrichtung verhindern, sondern Durimont samt Anhang in Spielkarten verwandeln. Dem Glück des Volkes und der Hochzeit mit Marinka steht nun nichts mehr im Wege. Filmgestaltung, Besonderheiten: Besondere Betonung des Weißrussisch-Nationalen in folkloristischen Kostümen und Architektur, Bräuchen, künstlerisch bearbeiteten Volksliedern sowie idyllischen Waldlandschaften. Die Höflinge dagegen tragen teilweise skurrile, diffuse Stilmix-Kostüme, die Renaissance-Schlosskulisse weist Phantasiedekorationen auf. Drei Doppelrollen: Die

759 Existiert auch in einer verkürzten Kinofassung unter dem Titel Marinka, Janka i tajny korolevskogo zamka. Die vorliegende Analyse beruht auf der im Internet zugänglichen zweiteiligen Fernsehfassung.

368 königlichen Zwillingsbrüder sowie deren jeweilige Gattinnen und Töchter werden von denselben Schauspielern verkörpert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neuer Erzähltyp/Folkloremutation. Auf der semantischen Ebene sticht insbesondere das Motiv der Zauberflöte hervor (Mot. D1223.1. Magic flute). Es wird als magisches Geschenk vom Helden Janka gewonnen, nachdem dieser von dem numinosen Alten geprüft wurde (MS XII-XIV), und er setzt es anschließend ein, um die vorher vorgenommene Schädigung (MS VIII: Der Raub Marinkas) zu beseitigen. Soweit ist die syntaktische Grundstruktur erkennbar märchenhaft. Die darauffolgenden Ereignisse modifizieren diese Struktur stark, ohne sie aber gänzlich zu eliminieren. Die Schädigung kann zunächst noch nicht beseitigt werden, es folgt die Handlungslinie, in der Janka auf den entthronten Durimont trifft (vgl. Mot. P15.3. King loses his kingdom to impostor; K2211. Treacherous brother) und ihm hilft. Diese ist schwer einzuordnen – betrachtet man aber Durimonts späteren Verrat an seinem Retter (vgl. Mot. K2246.1. Treacherous king), so kann er als weiterer Schädiger gesehen werden, und es ergibt sich entsprechend eine Paarfunktion aus Betrug und unfreiwilliger Komplizenschaft (MS VII- VIII) des Helden, die zu seinem eigenen Verderben bzw. zu einer Schädigung (MS VIII) in einem neuen Zug führt. Danach führt der Film in sehr geraffter Form zur letztlichen Beseitigung der ursprünglichen Schädigung und zum Sieg über den Schädiger sowie seiner Bestrafung (MS XVI, XVIII, XXX; vgl. Mot. Q281.2. Ungrateful ruler is deposed; Q551.3. Punishment: transformation)760.

Пока бьют часы Der diebische König ([Solange die Uhr schlägt]) UdSSR – Russland 1976; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Gennadij Vasiľev; Drehbuch: Sofja Prokof’eva, Gennadij Vasiľev. Darsteller: Rita Sergeečeva, Georgij Vicin, Nataľja Teniščeva, Vitalij Gordienko u.a. Vorlage: Sof’ja Prokof’eva: Skazka o vetre v bezvetrennyj den’ (1967; Prokof’eva 1970)761. Inhaltsangabe: Die sowjetische Schülerin Maša liest ein Märchenbuch: Darin geht es um einen König, der mit Hilfe einer Tarnkappe seine Untertanen tyrannisiert – des Nachts verpasst er allem, was ihm gefällt, ob Mensch oder Gegenstand, einen Stempel, und das Gestempelte gehört dann ihm. Ein alter Gärtner hat für seine lahme Tochter eine Zauberblume herangezüchtet, mit deren Hilfe sie wieder laufen können soll. Auch diese wird vom König für sich beansprucht – die lesende Maša aber ist mit dieser Wendung nicht einverstanden, und auf einmal befindet sie sich selbst mitten im Märchengeschehen. Bei ihrem Kampf mit den Leuten des Königs kommt ihr ein junger Geiger zu Hilfe, der ihr die Flucht ermöglichen kann, selbst jedoch dabei gefangen wird. Die Leute sind traurig, denn der Geiger hat mit seinem Spiel Freude in ihr Leben gebracht. Maša bekommt von der Gärtnerstochter die Zauberblume, mit der sie ihn retten soll. Es gelingt ihr, sich Zugang zum Schloss zu verschaffen. Dort trifft sie auf den Hofbarbier und seinen Sohn, die ihr versprechen, die Blume dem Geiger zu bringen – zu spät erkennt Maša deren böse Absichten. Wenig später findet sie jedoch Unterstützung bei einer Wirtschafterin und den Dienstbotenkindern, die ihr helfen, dem Geiger eine Feile und ein Seil zuzuspielen. Unterdes ist der König in heller Aufregung – seine Tarnkappe wurde beschädigt und funktioniert nicht mehr. Nun hat er kein Mittel mehr, die Bevölkerung auszubeuten. Die

760 Vgl. zu letzterem Korolevstvo krivych zerkal (1963), Poka b’jut časy (1976). 761 Eine stellenweise stark überarbeitete Fassung wurde später von der Autorin unter dem Filmtitel Poka b’jut časy veröffentlicht; die darin enthaltenen Variationen orientieren sich jedoch nicht an der Filmversion.

369 Zauberblume, die ihm der Hofbarbier bringt, kommt ihm da gerade recht: Er befiehlt dem Barbier, daraus einen Unsichtbarkeitstrank zu brauen. Mit dessen Hilfe will er zum mächtigsten Mann der Welt werden. Maša jedoch konnte die Szene belauschen. Der Geiger konnte sich unterdes befreien und hilft ihr, sich Zugang zum Laboratorium zu verschaffen, in dem sich der unselige Trank befindet, und diesen zu vernichten. Dabei fällt er jedoch wieder in die Hände der Leute des Königs. Dieser sieht als letzten Weg, seine Macht zu erhalten, sich das Volk durch Angst gefügig zu machen: Er befiehlt die Hinrichtung des Geigers. Doch das Volk lässt sich dies nicht gefallen, es kommt zum Aufstand. Dabei sorgt die Angst um den Geiger bei der Gärtnerstochter dafür, dass sie aufsteht und laufen kann. Das Volk siegt, der König und sein Anhang verwandeln sich in Ungeziefer. Maša schlägt zufrieden ihr Buch zu. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung und Haupthandlung verschmelzen, als die lesende Maša, deren Stimme als Erzählerstimme aus dem Off zu hören ist, Teil des Geschehens wird. Der Darsteller des Großvaters aus der Rahmenhandlung agiert in einer Doppelrolle: In der Haupthandlung spielt er den Gärtner. Die Märchenwelt ist weitestgehend naturalistisch gestaltet, aber mit zeitlich und lokal nicht genau bestimmbarer Ausstattung, die diffus mitteleuropäische Züge trägt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Der Film orientiert sich nur lose am Märchenroman der auch am Drehbuch beteiligten Sowjetautorin Prokof’eva, beide weisen jedoch keine märchenhafte Struktur auf, sondern verwenden nur semantische Elemente bzw. Motive frei und stellen die Revolutionsthematik hervor. Das Verfahren des Crossover-Märchens fehlt in der Vorlage, darin ist die Heldin Matja Teil der Märchenwelt. Auch die Verwendung des zentralen Motivs unterscheidet sich: Im Buch ist nicht nur der König im Besitz einer Tarnkappe (Mot. D1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe), sondern alle Angehörigen der herrschenden Klasse – dem Volk wird vorgegaukelt, sie seien so schön, dass ihr Anblick sonst Neid hervorrufen würde, und darin liege ihre Überlegenheit und ihr Herrschaftsanspruch begründet. Die Zauberblume (Mot. D975. Magic flower) dient darin ausschließlich zur Herstellung des Unsichtbarkeitstranks (vgl. Mot. D1361.6. Magic flower renders invisible), und es werden anstatt des Geigers die Brüder der Heldin entführt, die mit Hilfe des Tranks neue Tarnkappen weben sollen. Die Heldin wiederum wird beauftragt, die alten Tarnkappen zu waschen, entwendet jedoch eine und erlebt damit einige Abenteuer. Unterdes haben die Brüder eine Windmaschine hergestellt, mit Hilfe derer alle Tarnkappen fortgeweht werden – die Reichen entpuppen sich als gar nicht so schön, und dies löst den revolutionären Volksaufstand aus. Der Film behält also im Vergleich die Grundaussage der Vorlage bei, wandelt das Sujet aber sonst stark ab und fügt Elemente hinzu; so wird etwa das Motiv der magischen Bestrafung eingesetzt (vgl. Mot. Q551.3.2. Punishment: transformation into animal)762. Der Handlungsstrang um den Geiger ist so in der Vorlage nicht vorhanden, hat jedoch Parallelen in einer kurzen Binnenerzählung. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 41

Принцесса на горошине Die Prinzessin auf der Erbse/Prinzessin gesucht UdSSR – Russland 1976; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Feliks Mironer. Darsteller: Irina Malyševa, Andrej Podoš’jan, Innokentij Smoktunovskij, Alisa Frejndlich u.a. Vorlage:

762 Vgl. Korolevstvo krivych zerkal (1963), Priključenija Arslana (1988).

370 Hans Christian Andersen: Prindsessen paa Ærten (Die Prinzessin auf der Erbse, 1835; Andersen 1982 I, S. 25); Svinedrengen (Der Schweinehirt, 1841; ebd., S. 215-220); Reisekammeraten (Der Reisekamerad, 1835; ebd., S. 47-67); Det Utroligste (Das Unglaublichste, 1871; Andersen 1982 II, S. 459-462). Inhaltsangabe: Bei einem starken Unwetter klopft es an der Schlosspforte, und ein Mädchen steht davor, das behauptet, eine Prinzessin zu sein. Der König aber ist der Meinung, Prinzessinnen kämen nicht von selbst, man müsse sie erobern – so schickt er den Prinzen auf die Suche nach einer Braut. Er erlebt auf seiner Wanderung Abenteuer mit drei unterschiedlichen Prinzessinnen. Die erste lehnt ihn hochmütig ab, da ihr seine einfachen Geschenke nicht gefallen. Er verkleidet sich als Schweinehirt und erregt mit Wunderdingen ihre Aufmerksamkeit. Sie will sie ihm abkaufen, doch er will sie ihr nur zum Tausch gegen Küsse geben – worauf sie widerwillig eingeht. Ihr Vater bekommt jedoch die Küsserei mit und jagt sie wütend fort, weil sie sich mit einem Schweinehirten abgibt. Der Prinz aber will sie nun nicht mehr. Er macht sich auf ins nächste Königreich. Die dortige Prinzessin lässt jeden Freier, der ihre Gedanken nicht erraten kann, töten. Der Prinz wird nachts Zeuge, wie sie sich heimlich aus dem Schloss schleicht. Er folgt ihr in ein unterirdisches Geisterreich, wo er ihr Zwiegespräch mit einem Troll belauschen kann: Die beiden lieben sich, und sie machen ab, woran die Prinzessin denken soll. So kann der Prinz am nächsten Tag zweimal die richtige Antwort geben, die dritte Frage aber verschiebt die Prinzessin. Der Prinz folgt ihr nachts wieder ins unterirdische Reich und fordert nach ihrem Fortgehen den Troll zum Kampf heraus. Der Troll besiegt ihn, nutzt dies aber nicht aus. Er erklärt, dass er ein verzauberter Königssohn ist und die Prinzessin ihn mit ihrer Liebe erlösen könnte, wenn sie nur offen zu ihm stehen würde. Am Tag darauf konfrontiert der Prinz sie mit ihrem Geliebten, und sie überwindet ihre Ängste und gesteht vor allen ihre Gefühle. Der Troll wird entzaubert, der Prinz aber zieht weiter. Die dritte Prinzessin ist eine Kunstliebhaberin, und sie will denjenigen zum Manne nehmen, der ihr das Unglaublichste präsentiert. Unter all den um ihre Gunst buhlenden Künstlern gefällt ihr der Prinz mit seiner Rose im Glas am Besten, und sie will ihm schon die Hand reichen, als auf einmal ein Fremder erscheint. Er zerstört Glas und Rose und rühmt sich, damit das Unglaublichste vollbracht zu haben – und die beeindruckte Prinzessin geht mit ihm fort. Der Prinz kehrt nach Hause zurück. Die Besucherin von damals ist noch immer im Schloss, und der Prinz ist von ihr sehr angetan. Die berühmte Erbsenprobe wird veranstaltet – sie ist eine echte Prinzessin, und einer Verbindung zwischen ihr und dem Prinzen steht nichts im Wege. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die einzelnen Episoden werden jeweils durch Bilder von der Suchwanderung des Prinzen eingeleitet, in dem dieser durch sich verändernde Landschaften reitet – dazu wird jeweils Musik aus Antonion Vivaldis Vier Jahreszeiten gespielt. Als Kulisse werden, neben der Natur, vier tatsächliche Schlösser in verschiedenen Baustilen eingesetzt: Romanik, Rokoko, Gotik, Klassik. Die Kostüme verweisen ebenfalls als unkonkreter Stilmix auf eine „zeitlose Vergangenheit“. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Kombination (über die jeweiligen Vorlagen) von Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 704 Princess on the pea; AaTh 507A/ATU 507 The Monster’s Bride = AA 507A/SUS 507 Blagodarnyj mertvec; und Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 900 King Thrushbeard = AA/SUS 900 Gordaja nevesta; AaTh/ATU 653A The Rarest Thing in the World = AA/SUS 653A Tri ženicha. In der Einleitung von Andersens Märchen von der Prinzessin auf der Erbse wird kurz erwähnt, dass ein Prinz auf der ganzen Welt nach einer Prinzessin zum Heiraten gesucht habe – der Film nimmt dies als Aufhänger, um die Suche anhand der Sujets von drei anderen Andersen-Märchen in Episodenform darzustellen. Verbindendes Element ist jeweils

371 der Prinz, der die Hauptrolle des entsprechenden Märchenhelden übernimmt. Insbesondere auch, um die Sujets miteinander zu verknüpfen, werden die jeweiligen Vorlagen abgewandelt. Das Märchen vom Schweinehirten, das nur bruchstückhaft an AaTh 900 erinnert (vgl. Mot. T74.0.1. Suitor ill-treated; L431. Arrogant mistress repaid in kind by her lover), wird annähernd vorlagengetreu adaptiert. Im Märchen vom Reisekameraden, das eine Volksmärchenparaphrase darstellt (AaTh 507), wird zunächst die zentrale Helferfigur des dankbaren Toten eliminiert – der Prinz als Freier kommt selbst hinter das Geheimnis der Prinzessin. Dieses wird stark modifiziert: Der Geliebte der Prinzessin ist kein böser Magier, sondern ein edler verwunschener Prinz (vgl. Mot. D94. Transformation: man to ogre), der wiederum durch das öffentliche Liebesbekenntnis erlöst werden kann (vgl. Mot. D735.1. Beauty and the beast). Für den Prinzen kommt es also hier, im Gegensatz zum Helden bei Andersen, nicht zur Heirat mit der Prinzessin – er sucht weiter. Noch freier mit der Vorlage, die sich bruchstückhaft auf einen Erzähltyp bezieht (AaTh 653A, vgl. Mot. H355.0.1. Who will find the most marvelous thing?), geht die folgende Episode um: Der Wettbewerb wird ausgeschmückt; die Prinz tritt hier an die Stelle des Freiers, der eine wundersame Uhr geschaffen hat, die wiederum von einer Rose hinter Glas ersetzt wird. Diese wird von dem Fremden zerstört, und die Prinzessin zieht ihn dem Prinzen vor – während die Prinzessin der Vorlage sich unwillig in ihr Schicksal beugt, die Uhr durch ein Wunder sich an dem Grobian, der sie zerstört hat, rächt und doch noch Held und Prinzessin zusammenfinden. Der Prinz im Film bleibt auch hier ohne Braut – diese findet er schließlich daheim vor: Dieses Moment ist ausschmückende Variation, doch ansonsten entspricht die Geschichte um die Erbsenprobe dem Inhalt des Andersen’schen Märchens. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 213-217; Schmitt 1993, S. 503; Zipes 2011, S. 261-263

Русалочка Die traurige Nixe ([Die kleine Seejungfrau]) UdSSR – Russland/Bulgarien 1976; Kinostudija im. M. Gor’kogo/Studija za igralni filmi. Regie: Vladimir Byčkov; Drehbuch: Viktor Vitkovič, Grigorij Jagdfeľd. Darsteller: Vika Novikova, Valentin Nikulin, Galina Artemeva, Jurij Senkevič u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Den lille Havfrue (Die kleine Seejungfrau, 1837; Andersen 1982 I, S. 67-90). Inhaltsangabe: Auf dem Schiff des Prinzen ist eine große Feier im Gange, als auf einmal zum Schrecken aller aus dem Meer die Seejungfrauen auftauchen – unter ihren Gesängen zerschellt das Schiff an den Klippen. Der Prinz jedoch wird von der jüngsten Seejungfrau gerettet und ans sichere Ufer gebracht. Als sich Menschen nähern, versteckt sie sich und bekommt mit, wie der ohnmächtige Prinz von einer Prinzessin gefunden wird, die er nach seinem Erwachen für seine Retterin hält. Die Seejungfrau hat sich jedoch unsterblich in den Prinzen verliebt. Der Vagabund Suľpitius will ihr helfen. Er macht eine Hexe ausfindig, und diese erklärt sich bereit, die Seejungfrau in einen Menschen zu verwandeln – für den Preis ihrer grünen Haare. Die schmerzenden Menschenbeine und die Aussicht, sterben zu müssen, wenn der Prinz ihr eine andere vorziehe, schrecken die Seejungfrau nicht. Wenn jemand aber sein Leben für sie gäbe, würde sie ewig werden. Suľpitius bringt die Seejungfrau zum Schloss, wo er den Prinzen auf sie aufmerksam machen will. Diesen hat die Prinzessin, seine angebliche Retterin, um den Finger gewickelt, doch ein seltsamer Traum bedrückt ihn. Die Seejungfrau wird unterdes von einem Fischer wiedererkannt: Eine aufgebrachte Menge will sie kurz darauf als

372 Unheilsbringerin auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Gerade noch rechtzeitig kann der Prinz dies verhindern. Die Prinzessin findet Gefallen an dem Mädchen und nimmt es in ihr Gefolge auf. Um ihre Hand buhlt neben dem Prinzen noch ein dunkler Ritter, und sie will ein Turnier entscheiden lassen. Als der Prinz während des Kampfes erkennt, dass sie beiden ihre Gunst zugesichert hat, zögert er und wird vom Ritter aus dem Hinterhalt getötet. Auf diesen feigen Angriff reagiert die Prinzessin mit Verachtung. Um den toten Prinzen weint jedoch nur die Seejungfrau. Die Hexe kann ihn vom Tode erwecken, doch er bricht sogleich zur Prinzessin auf. Er hat deren Falschheit erkannt, doch fühlt er sich ihr verpflichtet und beschließt, sie zu heiraten. Die Seejungfrau wohnt der Hochzeit bei und weiß, dass sie bald sterben muss. Plötzlich greift den Prinzen ein maskierter Kämpfer an. Er kann ihm jedoch einen tödlichen Stich versetzen. Es ist Suľpitius, der sein Leben für die Seejungfrau geopfert hat. Diese wird zu einem für den Prinzen unerreichbaren Traum. Jedem, der sie sieht, bringt sie jedoch Glück. Filmgestaltung, Besonderheiten: In einer Postkutsche spielende Rahmenhandlung, in der sechs Schauspieler der Haupthandlung auftreten: Der Darsteller des Suľpitius verkörpert eine visuell an Hans Christian Andersen angelehnte Figur, die dem Mädchen, das später als Seejungfrau auftritt, die Geschichte erzählt. Die Kostüme in der Kutsche sind ans 19. Jahrhundert angelehnt, während die Zeit der Haupthandlung in der aufwendigen Ausstattung auf Mittelalter hinweist und auch explizit als das 13. Jahrhundert bezeichnet wird. Am Anfang der Haupthandlung wird in einer kurzen phantastischen Sequenz die Welt unter Wasser gezeigt – im Schwarm dahinschwimmende fischschwänzige Seejungfrauen, der Meereskönig in einer großen Muschel sitzend und auf seiner Geige spielend. Die Hexe trägt exzentrisch-vulgäre Kostüme, die als Stilbruch in der sonst einheitlichen Mittelalterausstattung wirken. Anfangs ist ihr Haar grellorange, nach dem Tausch mit der Meerjungfrau grünlich (diese wiederum hat von nun an blondes Haar). Interessant ist die Darstellung der Magie der Hexe bei der Verwandlung der Seejungfrau und der Wiederbelebung des Prinzen: Aus der Weite aufgenommen, sieht man sie unter Rauch und ruhiger mystischer Musik um den jeweils zu Bezaubernden tanzen. Von diesen Szenen abgesehen verzichtet der Film auf breites Ausspielen der märchenhaft- übernatürlichen Elemente und ist über weite Strecken naturalistisch-historisierend gezeichnet. Erst bei der Verwandlung der Seejungfrau in einen „Traum“ wird das Mystische wieder dargestellt: Die Seejungfrau verschwindet, um in der nächsten Einstellung an einer wenig entfernten Stelle wieder aufzutauchen – und wieder zu verschwinden, sobald der Prinz sich ihr zu nähern versucht. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh763 313C The Forgotten Fiancée = AA/SUS 313C Zabytaja nevesta. Das Andersen’sche Märchen weist strukturelle Bezüge zur Episode der vergessenen Braut in AaTh 313C auf: Auch darin vergisst der Held seine Retterin (vgl. auch Mot. D2003. Forgotten Fiancé) – im Gegensatz dazu kann sie jedoch bei Andersen nicht seine Erinnerung wachrufen, und das Geschehen endet tragisch.764 Damit erschöpft sich der Erzähltypenbezug; ansonsten handelt es sich um ein originales Sujet, in dessen Mittelpunkt Andersen die Figur der Seejungfrau und das Motiv von deren Liebe zu einem Sterblichen stellt (Mot. B81. Mermaid; T91.3. Love of mortal and supernatural person). Der Film hält sich im inhaltlichen Grundgerüst an die Vorlage, deutet jedoch aus, fügt hinzu und variiert. Die Einleitung in der Welt unter Wasser wird, bis auf eine kurze Bilderfolge, eliminiert; die Rolle der Schwestern und des Meerkönigs beschränken sich auf stumme Auftritte, der Film

763 Der ATU listet diesen Subtyp nicht mehr gesondert auf; er wird von der Beschreibung von ATU 313 miterfasst. 764 In der Interpretation der Geschichte als ins Tragische gewendete Form dieses Erzähltyps folge ich Schmitt 1993, S. 230, 482-484.

373 setzt fast direkt mit der Rettung des Prinzen ein. Die weiteren Handlungen der Seejungfrau erklären sich ausschließlich aus der Liebe zum Prinzen, nicht aus dem Wunsch nach einer menschlichen, unsterblichen Seele. Ihr wird als Helfer die tragische Figur des Suľpitius zur Seite gestellt, der auch für sie den Kontakt mit der Hexe herstellt, die hier kein Seewesen, sondern menschlich ist. Der Preis, den die Seejungfrau für die Menschenbeine zahlen muss, ist nicht ihre Stimme765, sondern ihre verführerischen Haare (vgl. hierzu den Loreley-Stoff): Die Seejungfrau kann weiter sprechen, doch trotzdem kann sie den Prinzen nicht für sich gewinnen. Ihre Unfähigkeit, zu lügen, ist psychologisierende Hinzufügung, ebenso wie die Anfeindungen, denen die Seejungfrau ausgesetzt ist; Erweiterung ist auch das Turnier mit Tod und Wiedererweckung des Prinzen (vgl. Mot. E50. Resuscitation by magic). Am Ende opfert sich die Seejungfrau nicht für den Prinzen wie im Märchentext, sondern Suľpitius opfert sich für sie. Auch die Schlusslösung wird modifiziert: Wird bei Andersen die Heldin zu einem Luftgeist und hat die Möglichkeit, durch gute Taten eine Seele zu erlangen, so wird sie im Film zu einem Traum, der denjenigen Glück bringt, die ihn sehen. Beide Lösungen sind nicht folkloretypisch, sondern philosophisch-psychologisierend. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 205-208; Zipes 2011, S. 259-261

Седьмой джин [Der siebte Dschinn] UdSSR – Usbekistan 1976; Uzbekfiľm. Regie: Muchtar Aga-Mirzaev; Drehbuch: Leonard Babachanov. Darsteller: Saib Chodžaev, Bachtijar Ichtijarov, Isamat Ergešev, Jakub Achmedov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: In einer Höhle leben sechs böse Dschinne – nur der Siebte ist gut. Zur Strafe wird er von den Anderen in einen Lehmklumpen verwandelt. Diesen wiederum findet der Töpfer Nabi, der besessen von der Idee ist, einen besonderen Tonkrug herzustellen. Der Lieblingskrug des Chans ist nämlich zerbrochen, und er will ihm einen neuen bringen, damit er die Erlaubnis gibt, einen Kanal zu graben – die armen Leuten des Tals brauchen Wasser. Mit dem Lehm gelingt ihm endlich die Herstellung des Krugs. Daraus entsteigt der Dschinn und bietet ihm fröhlich seine Dienste an. Unterdes soll der Chan über einen Dieb Gericht halten, der behauptet, nach seiner Hinrichtung würde er im Himmel zum Schah gekrönt werden. Der einfältige Chan will sich schon an seiner Statt hängen lassen, um selbst Schah zu werden, als sich der von Nabi alarmierte Dschinn einschaltet und ihn von dem dummen Schritt abhält. Anschließend demonstriert er seine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, und der beeindruckte Chan macht ihn zu seinem Wesir. Nabi wird unterdes von der Prinzessin gefunden, die auf sein Ansinnen zornig reagiert. Gerade noch rechtzeitig erscheint der Dschinn: Mit seiner Magie kann er Prinzessin und Chan dazu bringen, alles nach seinem Willen zu tun. Der Chan erlaubt nicht nur den Kanalbau, er beschließt auch, seine Schätze an das Volk zu verteilen und sich mit seiner Tochter in die Wüste zurückzuziehen, um dort wie einfache Leute zu arbeiten. Doch schon wenig später bereuen sie ihre Entscheidung. Hilfe kommt ihnen von den bösen Dschinnen zu, die sie wieder in den Palast versetzen und dem Chan seine Macht zurückgeben. Dem guten Dschinn wird seine Zauberkraft genommen, und so kann er sich nicht wehren, als er festgenommen wird. Nabi aber befreit ihn. Unterdes lassen die bösen Dschinne den Kanal austrocknen – sie denken, dass die Menschen den guten Dschinn dann verstoßen und er zu ihnen zurückkehrt. Nabi aber lässt seinen Freund nicht im Stich, und gemeinsam machen sie

765 Vgl. dazu Mot. C400. Speaking tabu.

374 sich auf zur Dschinnhöhle. Der Dschinn zerstört dort den Zauberspiegel, der die Dschinne am Leben erhält. Auch er selbst wird vernichtet. Das Wasser aber beginnt erneut zu fließen. Wenig später findet Nabi den Dschinn wieder – er ist Mensch geworden und hat keine Erinnerung mehr an seine Vergangenheit, ist aber glücklich. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistisch-folkloristische Gestaltung von Dorf und Palast sowie deren Bewohnern; viele Naturaufnahmen von Berglandschaften; an einer Stelle unvermittelter Stilbruch durch einen aufgemalten Himmel mit Halbmond als Hintergrund. Die Höhle der Dschinne ist Phantasiekulisse, die ausschließlich von rotem Feuerschein beleuchtet ist. Die Dschinne weisen freie Oberkörper auf, sie tragen Baströcke und sind im Gesicht grotesk geschminkt; der Oberdschinn trägt darüber hinaus eine exzentrische Kopfbedeckung. Der gute Titelheld ist als einziger nicht geschminkt, sondern lediglich seine Augenbrauen sind grell gefärbt – sie und die Augen werden in Detailaufnahme gezeigt, wenn er seinen Zauberspruch aufsagt. Er tritt ansonsten ohne besondere Filmtricks in menschlicher Größe auf. Die Szene mit dem schlauen Dieb ist von Musik unterlegt und von einer Stimme aus dem Off in Versen kommentierend erzählt, während die Darsteller lediglich stumm agieren. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp. Der Film schöpft frei aus dem semantischen Motivvorrat der Folklore – hierhin gehören insbesondere die Figur des Dschinns (Mot. N813. Helpful genie; vgl. auch G307. Jinn) und der Zauberspiegel (Mot. D1163. Magic mirror; vgl. auch D1812.5.1.3. Breaking mirror as evil omen). Eine nicht eigentlich märchenhafte Struktur ergibt sich, wenn der Dschinn als Hauptfigur betrachtet und nur sein Weg nachvollzogen wird – hier ergibt sich die Handlungsdynamik aus Rebellion, Verstoß und rebellierender Rückkehr, dabei ist ein Erziehungsprozess enthalten. Geht man von Nabi als Helden aus, so lässt sich eine nur wenig modifizierte märchenhafte Struktur erkennen: Ausgangspunkt ist eine Mangelsituation (MS VIIIa: Das fehlende Wasser), und Nabi rettet den Dschinn und gewinnt in ihm einen magischen Helfer (MS XII-XIV). Dank seines Eingreifens wird der Wassermangel beseitigt (MS XIX), ehe es zu einem neuen Zug durch das Eingreifen der bösen Dschinne kommt, der nun eine Schädigung auslöst (MS VIII: Das Wasser verschwindet wieder), die dann durch Kampf mit und Vernichtung der Schädiger (MS XVI + XVIII) wiederum liquidiert wird. Der eingeschobenen und für die Gesamthandlung nicht relevanten Episode um den Dieb liegt ein bekannter schwankhafter Erzähltyp zugrunde (AaTh 1534A The Innocent Man Chosen to Fit the Stake (Noose) = ATU 1534A The Innocent Man Condemned to Death).

Синяя птица The Blue Bird Der blaue Vogel UdSSR – Russland/USA 1976; Lenfiľm/Twentieth Century Fox. Regie: George Cukor; Drehbuch: Aleksej Kapler, Hugh Whitemore, Alfred Hayes. Darsteller: Elizabeth Taylor, Jane Fonda, Cicely Tyson, Ava Gardner, Margarita Terechova, Georgij Vicin u.a. Vorlage: Maurice Maeterlinck: L'Oiseau bleu (Der blaue Vogel, 1908; Maeterlinck 1913). Inhaltsangabe: Als die Holzfällerskinder Tyltyl und Mytyl zu spät nach Hause kommen, werden sie von ihrer Mutter ohne Abendessen ins Bett geschickt. Nachts erwachen sie, und es erscheint auf einmal eine alte Hexe in ihrer Hütte: Sie erklärt, um einem kranken Mädchen zu helfen, bräuchte sie den blauen Vogel, und die Geschwister sollen ihn finden. Sie gibt ihnen ein Hütchen mit

375 einem Zauberdiamanten, und kurz darauf verwandelt sie sich in die Fee des Lichts. Mit ihr nehmen auch Feuer, Wasser, Milch, Brot, Zucker sowie Hund und Katze menschliche Gestalt an, um sie auf ihrer Reise zu begleiten. Während der Hund die Kinder vergöttert, versucht die Katze ständig heimlich, ihnen zu schaden und die Anderen gegen sie aufzuwiegeln. Die Kinder kommen nun auf ihrer Suchwanderung an ganz verschiedene Orte. Im Land der Erinnerung treffen sie auf ihre verstorbenen Großeltern. Der blaue Vogel, den sie hier finden, färbt sich jedoch kurz darauf grau. Als nächstes kommen Tyltyl und Mytyl ins finstere Schloss der Nacht, wo die Geheimnisse der Natur verborgen sind. Die Nacht muss ihnen gestatten, alle Räume zu durchsuchen, und nach Begegnungen mit Gespenstern und Kriegen finden sie im letzten Raum viele blaue Vögel. Sie fangen einige ein, doch wenig später sterben sie – denn die Vögel der Träume ertragen das Tageslicht nicht. Hierauf geraten die Gefährten ins Reich der Freuden – die groben sinnlichen Freuden drohen, sie zu verblenden, doch Tyltyl kann noch rechtzeitig den Zauberdiamanten einsetzen. Nun begegnen die Kinder der Mutterliebe, die ihrer tatsächlichen Mutter sehr gleicht. Als Nächstes folgen sie der Spur des blauen Vogels in einen Wald. Dort hat die Katze die Bäume gegen die Holzfällerskinder aufgehetzt, und sie werden von ihnen bedroht, doch der Diamant kann sie wieder in ihre natürliche Bewegungslosigkeit versetzen. Im Reich der Zukunft schließlich treffen die Kinder auf die Ungeborenen, die darauf warten, dass Vater Zeit sie in die Welt entlässt. Doch auch hier finden sie den blauen Vogel nicht. Sie kommen wieder nach Hause, wo alle Begleiter wieder ihre eigentliche Gestalt annehmen. Als die Kinder am Morgen erwachen, entdecken sie, dass Tyltyls Käfigtaube sich blau gefärbt hat. Sie schenken sie dem kranken Mädchen, das sogleich gesundet. Auf einmal kann der Vogel entweichen und fliegt fort. Tyltyl jedoch tröstet das Mädchen – er ist voller Zuversicht, ihn wieder einfangen zu können. Filmgestaltung, Besonderheiten: Erster und einziger von der Sowjetunion und den USA co-produzierter Film. Die Darsteller wurden in den jeweiligen Fremdsprachen synchronisiert. Längere Tanznummern, insbesondere im Palast der Nacht, wo der dortige Vogel durch die Ballerina Nadežda Pavlova gespielt wird. Der Dialog ist teilweise in Versen gehalten. Schauspielerin Elizabeth Taylor spielt vier Rollen, die einen Bezug zueinander haben. Die Verwandlungen der Dinge in menschliche Wesen sowie magische Ortswechsel werden filmtechnisch durch langsame Überblenden gelöst, zwischen die bunte Illustrationen geschnitten werden. Der Film setzt eine sehr intensive, grelle Farbdramaturgie ein. Die Ausstattung zu Beginn ist von vage europäischen, einer diffusen Vergangenheit angehörigen Kostümen und Bauten geprägt, die ikonographisch an Märchen-Illustrationen angelehnt sind, wie es im Übrigen die Vorlage in ihren Regiehinweisen vorgibt. An den verschiedenen Orten der Suchwanderung wechseln sich phantastisch-stilisierte Studiokulissen und -kostüme mit Naturaufnahmen und Gebäuden und Kostümen verschiedener historischer Zugehörigkeit ab. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation/neuer Erzähltyp. Das symbolistische Bühnenmärchen von Maeterlinck lässt nur noch in Ansätzen eine märchenhafte syntaktische Struktur erkennen: Die Suche nach dem blauen Vogel (vgl. Mot. H1331.1. Quest for marvelous bird; auch H1376.6. Quest for happiness) wird hervorgerufen durch eine Mangelsituation (MS VIIIa), und als erste Schenkerfigur tritt die Fee auf, die die Kinder prüft und von der sie dann den Zauberdiamanten erhalten (vgl. Mot. D1071. Magic jewel; auch D1380.11. Magic jewel protects) sowie die Tiere und Gegenstände als Helferfiguren zur Seite gestellt bekommen (MS XII-XIV). Auf dem Weg treffen Tyltyl und Mytyl dann verschiedene weitere Schenkerfiguren – für sich gesehen könnten auch diese Begegnungen großteils als Prüfungen interpretiert werden, doch erhalten die Kinder letztlich weder neue magische Gegenstände, noch kommen sie dem eigentlichen Ziel ihrer Suche näher. Das letztliche Finden des Vogels am Ort des

376 Aufbruchs, dessen anschließendes Davonfliegen und das Andeuten, dass er erneut gefunden werden kann, sind im Kontext des Symbolismus interpretierbare syntaktische Elemente – einer märchenhaften Struktur entsprechen sie nicht. Der Film nimmt im Vergleich zur Vorlage einige Variationen und Umdeutungen vor: In der Vorlage beginnen die Ereignisse mit dem nächtlichen Erwachen der Kinder, der Film stellt eine Episode voran, in der die strenge, aber sorgende Mutter sie zu Bett schickt. Weiters werden nicht nur die Rollen der Fee Bérylune und der des Lichts zu einer zusammengefasst, sondern durch den Einsatz derselben Darstellerin wird auch ein expliziter Bezug zur Figur der Mutter hergestellt. Dagegen fehlt der Bezug der Nachbarin mit der kleinen kranken Tochter zur Fee – sie sind nicht identisch. Die verstorbenen Geschwister Tyltyls und Mytyls im Reich der Vergangenheit werden eliminiert und auch im Dialog nicht erwähnt. Geblieben ist immerhin der ungeborene Bruder im Reich der Zukunft, der meint, er werde nicht lange leben. Ansonsten wird der Dialog der Vorlage wenig bzw. nur stark modifiziert verwendet, viel wird gerafft und vereinfacht: So fehlen die Szenen im Palast der Fee und auf dem Friedhof; die Episode mit den Freuden ist abgewandelt und stellt ein nicht näher definiertes weibliches „Vergnügen“ in den Mittelpunkt, die personfizierten Glückseligkeiten dagegen beschränken sich auf die Mutterliebe usw. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 31

Сказание о Сиявуше Die Tragödie von Siawusch UdSSR – Tadschikistan 1976; Tadžikfiľm. Regie: Boris Kimjagarov; Drehbuch: Grigorij Koltunov. Darsteller: Farchad Jusufov, Svetlana Orlova, Otar Koberidze, Bimbolat Vataev u.a. Vorlage: Abū’l-Qāsem Ferdausi: Šāhnāme (Firdosi 1960, S. 97-252, 267-271). Inhaltsangabe: Dritter Teil einer Trilogie766; Zweiteiler. (1) Zwischen zwei Kriegern entbrennt um eine heimatlose junge Frau ein Streit, der bis vor Schah Kavus kommt. Die schlaue Frau kann diesen für sich einnehmen, und er macht sie zu seiner Königin. Wenig später stirbt sie im Kindbett. Kavus will deshalb seinen Sohn Sijavuš nicht sehen. Rustam aber darf ihn fern vom Hofe großziehen. Nachdem Kavus lange Witwer war, erschleicht sich die Sklavin Sudaba sein Vertrauen, und kurz darauf heiraten sie. Indes ist Sijavuš herangewachsen und hat den Wunsch, seinen Vater zu sehen. Rustam begleitet ihn. Sijavuš kann Kavus für sich gewinnen, seine Stiefmutter aber verliebt sich in ihn. Als er ihre Verführungsversuche zurückweist, beschuldigt sie ihn, sich an ihr vergangen zu haben. Kavus weiß nicht, wem er glauben soll. Mit einer Feuerprobe beweist Sijavuš seine Unschuld. Auf sein Bitten wird Sudaba nicht bestraft. Kurz darauf wird Kavus von Afrasiab der Krieg erklärt. Obwohl Sijavuš Kriege verabscheut, zieht er gemeinsam mit Rustam in die Schlacht. Dabei tötet er Afrasiabs Sohn, der ihm aufs Haar gleicht. Afrasiab macht ein Friedensangebot. Da Sijavuš dem nicht traut, verlangt er turanische Geiseln als Unterpfand. (2) Er empfängt diese und schickt Rustam als Boten zu Kavus, um dessen Einverständnis für den Friedensabschluss einzuholen. Unter Einfluss Sudabas gibt Kavus jedoch Befehl, die Geiseln zu töten und Sijavuš zurückzubeordern. Rustam verweigert Kavus empört weitere Dienste. Sijavuš erhält die Botschaft seines Vaters, doch will er sich nicht beugen. Um den Frieden zu sichern, liefert er sich selbst Afrasiab als Geisel aus – Kavus kann Turan nicht angreifen, solange sein Sohn dort Gefangener ist. Afrasiab findet Gefallen an Sijavuš und gibt ihm sogar seine Tochter zur Frau.

766 Mit Skazanie o Rustame (1972) und Rustam i Suchrab (1973).

377 An der Grenze zu Iran baut Sijavuš eine neue Stadt, in die bald Glück und Frieden einkehren. Sudaba hat jedoch ihre Rachepläne nicht aufgegeben und verbündet sich mit Afrasiabs Bruder. Dieser kann einen heimlichen Besuch Rustams bei Sijavuš dafür nutzen, Afrasiab an eine Verschwörung glauben zu lassen. Sijavuš beschließt, mit allen Männern die Stadt zu verlassen, um Blutvergießen zu vermeiden. Afrasiabs Truppen können sie jedoch einholen. Sijavuš fällt in die Hände Afrasiabs und soll hingerichtet werden. Um Kavus jedoch keinen Grund für einen Rachefeldzug zu geben, gibt er sich selbst den Tod. Rustam, rasend vor Trauer, tötet Sudaba. Kurz darauf greifen Afrasiabs Truppen Iran an. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat; visuelle Opulenz; Dialoge in Versform etc.767; Sijavuš und Afrasiabs Sohn werden in einer Doppelrolle vom selben Darsteller gespielt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Sagenhafter Märchenfilm. Auch die Erzählungen um Sijavuš im Šāhnāme-Epos haben ihre Wurzeln in der Folklore; handlungsbestimmend ist das Motiv der unerwiderten Liebe der Stiefmutter zu ihrem Stiefsohn, die fatale Folgen hat (vgl. Mot. K2111. Potiphar’s Wife, vgl. z.B. Phaidra und Hippolytos). Von den drei Filmen der Rustam-Trilogie ist dieser jedoch der am wenigsten märchenhafte. Seine Aufnahme ins Korpus ist primär dem Bezug zu den ersten beiden Filmen geschuldet, da es sich um eine, wenn auch vergleichsweise lose verknüpfte, Fortsetzung handelt: So kann der Handlungsraum als Märchenwelt festgelegt werden, obwohl fast jede Form des offen Wunderbaren oder Realitatsfern-Außergewöhnlichen fehlt – allenfalls die mythische Feuerprobe, mit der Sijavuš seine Unschuld beweist, kann hierzu gerechnet werden (Mot. H221. Ordeal by fire). Der Film rafft die Ereignisse und eliminiert Details, hält sich aber im Wesentlichen eng an den Inhalt der Vorlage. Einige Variationen sind dennoch hervorzuheben – dazu gehört insbesondere die vom Film hinzugefügte Gestalt von Afrasiabs Sohn, der äußerlich Sijavuš bis aufs Haar gleicht, aber im Gegensatz zu diesem blut- und kriegsdurstig ist; sowie die Absicht von Sijavuš, durch seine Anwesenheit in Turan einem Angriff von Seiten Irans vorzubeugen. Deutlich variiert wird auch das Ende: In der Vorlage wird Sijavuš getötet, im Film gibt er sich selbst den Tod, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. All diese Details dienen, neben anderen, dazu, die Antikriegsbotschaft des Films hervorzuheben, die wie schon im Vorgängerfilm prominenter ist als in der Vorlage.

Степанова памятка Stepans Vermächtnis UdSSR – Russland 1976; Lenfiľm. Regie: Konstantin Eršov; Drehbuch: Konstantin Eršov, Gleb Panfilov. Darsteller: Larisa Čikurova, Gennadij Egorov, Irina Gubanova, Nataľja Andrejčenko u.a. Vorlage: Pavel Bažov: Mednoj gory chozjajka (Bažov 1952, S. 27-35); Malachitovaja škatulka (Bažov 1952, S. 36-57; beide aus der Sammlung Malachitovaja škatulka, 1939). Inhaltsangabe: Dem leibeigenen Ural-Bergarbeiter Stepan begegnet im Wald die Herrin des Kupferberges. In ihrem Auftrag richtet er dem Minenverwalter aus, er solle ihren Berg in Ruhe lassen. Dieser tut Stepans Warnung als Aberglauben ab, er lässt ihn auspeitschen und dann im Berg angekettet nach Malachit graben. Die Herrin aber holt ihn in ihr Reich, sie umsorgt ihn und zeigt ihm ihre Schätze, denn sie ist einsam und sehnt sich nach Liebe. Stepan fühlt sich zwar zu ihr hingezogen, lehnt jedoch ihren Antrag ab, da er bereits eine Braut hat. Die Herrin ist gekränkt, aber sie schenkt Stepan für seine Braut eine Malachitschatulle mit Schmuck und

767 Vgl. Skazanie o Rustame (1972) und Rustam i Suchrab (1973).

378 lässt ihn wenig später einen riesigen Malachitbrocken finden. Der Minenbesitzer ist mit diesem Fund zufrieden, er will damit der Zarin ein Malachitzimmer bauen lassen. Stepan willigt ein, einen weiteren Brocken zu finden, handelt sich aber als Bedingung seine Freiheit aus. Kurz darauf wird der böse Minenverwalter bei dem Versuch, den Brocken zu heben, von diesem unter sich begraben. Stepan aber baut für sich und seine Braut Nastja ein Haus, und kurz darauf heiraten die beiden. Bei der Geburt ihres Kindes droht Nastja zu sterben – der herbeigeeilte Stepan stellt verblüfft fest, dass die Herrin als Geburtshelferin zugegen war und seine Frau gerettet hat. Die Tochter Tanjuša wächst heran und interessiert sich wie ihr Vater für Berggestein. Stepan kann nicht von der Herrin lassen und trifft sich heimlich mit ihr. Die Zeit vergeht, und aus Tanjuša wird eine junge Frau. Der kranke Stepan hofft, dass sie einmal das Malachitzimmer der Zarin sehen kann, von dem er immerfort träumt. Kurz, nachdem er seine Tochter mit dem Schmuck aus der Schatulle bewundert hat, schläft er ein und stirbt. Tanjuša wird von Vasilij umworben, dem Sohn des Minenbesitzers. Sie erwidert seine Gefühle, doch verlangt sie von ihm als Beweis seiner Liebe, sie nach Petersburg zu bringen, damit sie das Malachitzimmer sehen kann. Er bringt sie tatsächlich in den Zarenpalast, steht jedoch nicht zu ihr, und sie weist ihn zurück. Der Zarin erklärt sie unverfroren, für die feinen Herrschaften sei das Zimmer, für das ihr Vater sich abgemüht hat, zu schade. Anschließend lehnt sie sich an die Malachitwand und verschmilzt plötzlich mit ihr. Der Spuk sorgt für Aufregung. Kurz darauf taucht Tanjuša jedoch wieder in der heimatlichen Hütte auf. Filmgestaltung, Besonderheiten: Lyrische Einschübe ohne Dialog; einige volkstümliche Lieder. Im Mittelpunkt steht das Milieu der Ural-Bergarbeiter, das in leuchtenden Farben und mit folkloristischen Kostümen dargestellt wird. Daneben spielen Naturaufnahmen eine große Rolle. Die Herrin des Kupferberges erscheint größtenteils in traditioneller bäuerlicher Kleidung; auch ihr Reich erscheint eher der lebendigen Welt zugehörig als dem Numinosen: Ihr Bad, ihr gedeckter Tisch mit Samovar, ihre selbstdrehenden Spinnräder scheinen lebensnah-folkloristisch. Es hat jedoch auch, insbesondere wenn die Herrin alleine darin gezeigt wird, durch die Steine Züge des Kalten, Unechten. Das herrschaftliche Milieu (Kostüme an Barockmode angelehnt) wird negativ gezeichnet. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkoremutation. Zugrunde liegen in erster Linie zwei einander fortsetzende Erzählungen aus Bažovs Skaz-Zyklus Malachitovaja škatulka768, die eher sagen- als märchenhaften Charakter tragen, aber auch das nicht verwundernde Numinose kennen. Der Handlungsstrang um den brutalen Verwalter und sein Ende entstammt einer dritten Erzählung, Prikazčikovy podošvy. Den Grundinhalt der Hauptvorlagen behält der Film bei, kürzt jedoch und setzt andere Akzente durch Modifikation einzelner Elemente: So ist die Beziehung zwischen Stepan und der Herrin des Kupferberges, die den Namen Ksenija erhält, ein explizit gemachtes Liebesverhältnis (vgl. Mot. T91.3. Love of mortal and supernatural person). Dabei wird die Herrin stark vermenschlicht, sie tritt nicht als enigmatische numinose Figur, sondern als sich nach Liebe sehnende einsame Frau auf – so reagiert sie in der Vorlage positiv, als Stepan ihre Prüfung besteht und Nastja trotz ihrer Avancen treubleibt, während der Film zwar ihre Belohnung beibehält, aber auch ihre Kränkung deutlich macht. Die Episode um Stepans Malachitfunde ist dahingehend verändert, dass schon hier das Zimmer im Zarenpalast eingeführt wird. Die Vorlage deutet Stepans tragische Hingezogenheit zur Herrin an und lässt ihn letztlich alleine und einsam im Wald sterben, während im Film die Herrin Stepans Glück wegen auf ihn verzichtet und er im Kreise seiner Lieben stirbt – die Entfremdung diesen gegenüber hat er überwunden. Durch den Auftritt der Herrin als Geburtshelferin wird Tanjušas Verbindung mit ihr eingeleitet, während dies in der Vorlage bei einem Besuch der

768 Vgl. Kamennyj cvetok (1946).

379 Herrin in Gestalt einer Landstreicherin geschieht. Tanjuša erfährt ebenfalls keine Entfremdung von ihrer Familie wie in der Vorlage, es herrscht im Gegenteil ein herzliches Verhältnis vor. Anschließend wird eine Reihe von Episoden um die Malachitschatulle und Tanjušas eigensinnigen Charakter eliminiert und die Ereignisse mit dem Werben Vasilijs um Tanjuša fortgesetzt. Er ist jedoch nicht der Geliebte der Verwaltersfrau, sondern frei von Bindungen, und die Gefühle zwischen ihm und Tanjuša sind gegenseitig, obwohl ihn Tanjuša wie in der Vorlage verspottet und ihm die Bedingung stellt, ihr das Malachitzimmer zu zeigen. Erst, als Vasilij dort nicht zu ihr steht, weist sie ihn zurück und verschwindet vorlagengetreu auf wundersame Art in der Malachitwand (vgl. Mot. D230. Transformation: man to a mineral form). Das tragische Ende Vasilijs fehlt; und Tanjuša taucht nicht als Doppelgängerin der Herrin des Kupferberges wieder auf, sondern kehrt zu ihrer Familie zurück. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 22-23; Sputnickaja 2010, S. 54-55

Туфли с золотыми пряжками [Die Pantoffeln mit den goldenen Schnallen] UdSSR – Ukraine 1976; Odesskaja kinostudija. Regie: Georgij Jungvaľd-Chiľkevič; Drehbuch: Kim Meškov. Darsteller: Vladimir Gerasimov, Irina Malyševa, Lev Durov, Oleg Belov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Der Bastschuhmacher Ivanuška will auf dem Jahrmarkt sein Glück finden. Auf dem Weg begegnet er dem Gaukler Timonja, mit dem er sich anfreundet. Mit List entgehen die beiden einem Raubüberfall. Die beiden Räuber aber finden schon bald neue Opfer: Zwei berühmte ausländische Detektive, die in einer Kutsche zum Zaren unterwegs sind. Die Räuber stehlen den Schlafenden ihre Kleidung und beschließen, ihre Identität anzunehmen, damit sie den Zaren ausrauben können. Dieser hat die Detektive zu sich beordert, da er ständig um seinen Besitz fürchtet, besonders um seine Krone und seine Goldpantoffeln. Die Pantoffeln aber verschwinden kurz vor Ankunft der falschen Detektive, die Krone sackt einer der beiden heimlich ein – und der Zar gibt ihnen sogleich Befehl, sie wiederzufinden. Unterdes will die Zarewna Mar’juška sich unerkannt auf dem Jahrmarkt vergnügen – sie tauscht mit ihrer Zofe die Kleider und mischt sich unters Volk. Hier trifft sie auf Ivanuška, und die zwei verlieben sich. Mar’juška läuft mit Ivanuška heimlich fort. (2) Kurz darauf entdeckt der Zar ihre Flucht. Er gibt bekannt, dass derjenige, der sie zu ihm zurückbringt, das halbe Reich erhält. Die Liebenden sind unterdes bei einem gutmütigen Kutscher eingekehrt. Dieser bittet Ivanuška, ihn auf den Jahrmarkt zu begleiten. In ihrer Abwesenheit wird jedoch Mar’juška von den falschen Detektiven gefunden und in den Palast zurückgebracht. Ivanuška erfährt unterdes die Wahrheit über seine Braut. Kurz darauf treffen die echten Detektive im Palast ein. Der Betrug der Räuber wird aufgedeckt – sie können sich jedoch durch Flucht ihrer Strafe entziehen. Die vom Zaren selbst verlegten Pantoffeln finden sich wieder, und der Fall der Krone wird von den Detektiven gelöst – auch sie können jedoch nicht verhindern, dass sie im Moor versinkt. Unterdes hat der Zar sich ausgedacht, dass nur derjenige, der über Nacht ein weder steinernes noch hölzernes prächtiges Haus bauen kann, seine Tochter zur Frau erhält. Diese Aufgabe bewältigt Ivanuška – er baut ein winziges Haus aus Bast. Der Zar will ihm trotzdem Mar’juška nicht geben, und als er erfährt, wer Ivanuška ist, ordnet er seine Hinrichtung an – doch hierbei macht das Volk nicht mit: Die Leute rotten sich zusammen und stellen den Zaren zur Rede, und schließlich muss dieser einlenken und dem Paar seinen Segen geben. Filmgestaltung, Besonderheiten:

380 Rahmenhandlung, in dem der Gaukler Timonja das Märchen mit Hilfe eines Raek- Guckkastens zeigt. Malerische Naturaufnahmen. In den Kulissen des Novgoroder Freilichtmuseum für Holzarchitektur gedreht, unter Beteiligung von Novgoroder Folkloretanz- und -liederensembles; entsprechend folkloristische Kostüme und naturalistische Machart. Die ausländischen Detektive fallen durch besonders karikaturistische Zeichnung auf: Sie tragen diffuse Barock-Kostüme und -Perücken, verdrehen die russische Sprache und sprechen mit einem Phantasieakzent, in den sie französische, deutsche, englische und spanische Sprachbrocken einfließen lassen. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp. Der erste Teil entwickelt seine Handlungsdynamik insbesondere aus der Liebe zwischen der verkleideten Prinzessin und dem einfachen Jungen (vgl. Mot. K1812.8. Incognito queen (princess); T91.6.4. Princess falls in love with lowly boy), die miteinander durchbrennen (Mot. R225. Elopement). Strukturell liegt Ivans Auszug (MS XI) auf Grund einer Mangelsituation (MS VIIIa) zugrunde – er sucht das Glück (vgl. Mot. H1376.6. Quest for happiness) und findet es in Gestalt Mar’juškas (MS XIX). In einem zweiten Zug findet dann eine Schädigung statt (MS VIII), indem Mar’juška im Auftrag ihres Vaters entführt wird. Darauf folgt dann wiederum eine schwierige Aufgabe (MS XXV), die der König den Freiern seiner Tochter stellt (vgl. Mot. H335. Tasks assigned suitors). Die konkrete Aufgabe hat keine direkten Folkloreparallelen (vgl. aber Mot. H1104. Task: building castle in one night), sie trägt unmöglichen wie auch paradoxen Charakter (Mot. H1010. Impossible tasks; H1050. Paradoxical tasks), wobei Ivans Lösung (MS XXVI) Letzterem entspricht. Die komische Nebenhandlung um die titelgebenden Pantoffeln, die Räuber und die Detektive sind ausschmückendes Beiwerk ohne Folkloreparallelen.

Аленький цветочек Die feuerrote Blume UdSSR – Russland 1977; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Irina Povolockaja; Drehbuch: Nataľja Rjazanceva. Darsteller: Marina Iľičeva, Lev Durov, Alla Demidova, Aleksej Černov u.a. Vorlage: Sergej Aksakov: Alen’kij cvetoček (1858; Aksakov 1955, S. 583-603). Volksmärchen- paraphrase (vgl. Af. 276). Inhaltsangabe: Ein Kaufmann bricht zu einer Reise auf. Seine beiden älteren Töchter haben besondere Wünsche, was er ihnen mitbringen soll – die jüngste Tochter Alena würde jedoch am liebsten selbst mitfahren. Sie wünscht sich eine feuerrote Blume, die sie im Traum gesehen hat. Auf seiner Reise trifft der Kaufmann immer wieder auf einen geheimnisvollen Alten, der ihn schließlich in ein verwunschenes Schloss lockt. Dort ist er der Diener einer Zauberin. Nach traumhaft-unheimlichen Erlebnissen findet der Kaufmann im Schlossgarten die feuerrote Blume – als er sie jedoch bricht, erscheint ein entzürntes Ungeheuer, das ihn zu seinem Gefangenen machen will. Er bittet verzweifelt, sich wenigstens von seinen Töchtern verabschieden zu dürfen, und das Ungeheuer gewährt dies und gibt ihm einen Ring, mit dem er zu ihm zurückkehren kann. Zu Hause versuchen ihn seine älteren Töchter zu überreden, den Ring fortzuwerfen, doch er will sein Wort nicht brechen. Alena aber entwendet ihm den Ring und kommt so an seiner Stelle zum Schloss. Das Ungeheuer erschreckt sie, doch bald darauf merkt sie, dass es sich um ein freundliches, trauriges Wesen handelt. Es war einst ein Prinz, doch die Zauberin hat ihn verwandelt, weil er ihre Liebe zurückgewiesen hat. Seither lebt sie in Einsamkeit im Schloss und verharrt verbittert in dumpfer Langeweile. Nur der alte

381 Diener ist bei ihr geblieben. Das kalte, düstere Schloss macht Alena Angst, doch die Gesellschaft des Ungeheuers, dessen Anblick sie bald nicht mehr schrecklich findet, im blühenden Garten behagt ihr – sie freunden sich zum großen Unverständnis der Zauberin, die Alena zum Gehen bewegen will, immer mehr an. Als sie Sehnsucht nach ihrem Vater hat, lässt das Ungeheuer sie gehen, obwohl es fürchtet, dass sie nicht zurückkommt und es ohne sie sterben muss. Alena verspricht jedoch, am nächsten Tag um Mitternacht zurückzusein. Da aber ihre Schwestern die Uhr anhalten, kommt sie zu spät und findet das Ungeheuer wie tot vor. Sie gesteht ihm weinend ihre Liebe, und auf einmal verwandelt es sich in einen schönen Prinzen – sie hat ihn erlöst. Die beiden heiraten. Das Schloss wird wieder ein Ort der Freude, nur die Zauberin will es unglücklich verlassen. Der Diener begleitet sie – er will sie nicht alleinelassen, solange sie nicht ihr gutes Herz wiedergewonnen hat. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Dorfkulisse ist folkoristisch-russisch gestaltet, das Schloss im Barockstil, der auch die Kostüme der Zauberin und des Dieners kennzeichnet. Ausgefallene Farbdramaturgie: Im Schloss der Zauberin wird mit teils grellen, teils kontrastreichen, teils düsteren Farbfiltern und besonderer Beleuchtung gearbeitet, die sich je nach Blickwinkel ändern. Die Zauberin erscheint mit sich mit der Beleuchtung ändernden Haarfarbe. Der Schlossgarten dagegen wird, je mehr sich Alena und das Ungeheuer anfreunden, in immer wärmeren und freundlicheren, natürlichen Farben gestaltet und ist der Kälte und Künstlichkeit der Innenräume des Schlosses gegenübergestellt. Das Ungeheuer wird als eine Art Pflanzenwesen dargestellt und niemals ganz gezeigt – man sieht z.B. seine Augen, seine Silhouette oder es ist undeutlich aus der Ferne zu sehen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 425C Beauty and the Beast = AA/SUS 425C Alen’kij cvetoček. Aksakovs Volksmärchenparaphrase, die sich insbesondere durch kunstvolle Sprache auszeichnet, ist die im russischsprachigen Raum bei Weitem populärste Variante des Märchens von der Schönen und dem Tier.769 Der Film variiert im Detail, behält die Grundhandlung und die wesentlichen Elemente bei, setzt jedoch eigene Akzente: Die Vorgeschichte für die Verzauberung des Prinzen wird bei Aksakov nur am Ende kurz erwähnt – eine böse Zauberin lag im Streit mit seinem Vater und hat ihn deshalb geraubt und verzaubert. Der Film dagegen lässt die Zauberin den Prinzen aus Kränkung verwandeln – er hat ihre Liebe und ihre rote Blume hochmütig zurückgewiesen und sie verspottet. Davon ausgehend, macht der Film aus der Zauberin eine Hauptfigur und widmet ihr besondere Aufmerksamkeit, indem er ihre Verbitterung thematisiert wie auch ihre letztlich mögliche „Erlösung“ daraus. Ihr zur Seite gestellt wird die Figur des treuen alten Dieners, der gänzlich Erfindung des Films ist. Ansonsten stellt der Film insbesondere die langsame Annäherung zwischen Alena und dem Ungeheuer hervor, die er im Kern vorlagengetreu wiedergibt, aber auf seine Art ausgestaltet und damit eine Kontrastfolie zur Figur der Zauberin aufbaut. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 218-221; Erhart 2007, S. 124-130; Liptay 2004, S. 222-226; Romanenko 1983, S. 15-17; Zipes 2011, S. 236-237

769 Wie auch Eršovs Konek-Gorbunok (siehe Konek-Gorbunok, 1941) diente es als Namensgeber für die Typenbeschreibung im AA bzw. SUS.

382 Гариб в стране джиннов770 Qərib cinlər diyarında Garib im Lande der Dshinn UdSSR – Aserbaidschan 1977; Azerbajdžanfiľm. Regie: Әlisәttar Atakişiyev (Ali-Sėttar Atakišiev); Drehbuch: Hikmәt Ziya (Chikmet Zija). Darsteller: Bəxtiyar Xanızadə, Muxtar Maniyev, Amalija Pənahova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Die Zwillinge Qərib und Sahib bestellen gemeinsam ihr Stück Land, doch Qərib träumt von einem besseren Leben. Eines Tages erscheint bei ihm Akşad, der Herrscher der Dschinne: Er verspricht, ihn reich zu machen, wenn er mit in sein Reich kommt und den Dschinnen dort beibringt, wie man Getreide pflanzt und Brot macht. Qərib willigt ein und verlässt Bruder, Mutter und Braut. Im Land der Dschinne erfüllt er nicht nur Akşads Aufgabe zur vollen Zufriedenheit, sondern hilft den Dschinnen auch in vielen anderen Dingen. Akşad macht ihn zu seinem Großwesir. Der alte Wesir und sein Sohn schwören Rache und sichern sich die Hilfe der verführerischen Sklavin Zərri zu – deren Versuch, Qərib den Verstand zu nehmen, wird jedoch von Akşad verhindert. Um sich ihrer Strafe zu entziehen, flüchtet Zərri zu Akşads Feind Riqdas. Diesen kann sie so betören, dass er sie zu seiner Frau macht. Als er erfährt, wie gut es den Dschinnen in Akşads Reich dank Qərib geht, schickt er Zərri als Botschafterin dorthin. Diese fordert Akşad zu einem Rätselwettbewerb heraus, wenn er ihn verliert, soll er Qərib an Riqdas abtreten. Qərib löst für Akşad die Rätsel, doch Zərri sieht das als unrecht und fordert trotzdem die Herausgabe Qəribs. Als ihr dies verweigert wird, bringt sie Riqdas dazu, Akşad den Krieg zu erklären. Dieser jedoch kann wiederum mit einer List Qəribs gewonnen werden, Riqdas und seine Untertanen werden allesamt zu Gefangenen gemacht. Qərib erhält für seine Verdienste einen Ring, mit dem er den Großmeister aller Dschinne herbeirufen kann. Kurz darauf befällt ihn jedoch Sehnsucht nach seiner Heimat und seinen Lieben. Er verlangt von Akşad, dass dieser ihn freigibt und nach Hause gehen lässt. Akşad aber will ihn nicht gehen lassen und um jeden Preis zurückhalten, im Zweifelsfall auch mit Gewalt. Qərib erfährt von einem alten Menschen, der sich in Gefangenschaft der Dschinne befindet, dass Dschinne kein Herz haben und von ihnen nichts zu erwarten ist. Bevor er stirbt, weist ihn der Alte auf die Macht seines Ringes hin. Qərib ruft den Großmeister der Dschinne herbei, den Satan – und dieser muss alle seine Wünsche erfüllen und ihn nach Hause bringen. Voller Wut setzt Akşad die Felder von Qəribs Dorf in Brand, doch Qərib kann das Feuer mit allen gemeinsam löschen. Seine Lieben schließen ihn in die Arme, und er bleibt von nun an bei ihnen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Einführung durch Off-Erzählerstimme. Qərib und Sahib werden vom selben Schauspieler in einer Doppelrolle verkörpert. Als Hintergrund dienen primär Naturaufnahmen und die Höhlenkulisse in der Welt der Dschinne. Die Dschinne sind als menschliche Gestalten, aber mit Hörnern und Schwänzen sowie grotesken (teils aus Fell bestehenden, an Höhlenmenschen erinnernden) Kostümen dargestellt. Zərri wechselt mehrfach die Haarfarbe. Verschiedene trickanimierte Fabeltiere, insbesondere ein Drache; daneben behutsam Zeichentrick. Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation. Das Hauptsujet ist original. Auf semantischer Ebene werden dabei verschiedene Motive verknüpft: Die Dschinne (Mot. G307. Jinn) agieren nicht als hilfreiche Geister, sondern tragen eher dämonische Züge; ihr Reich ist als eine Anderwelt gestaltet (vgl. Mot. G302.2.1. Kingdom of demons; F124. Journey to land of demons), denn der Weg dorthin

770 Da die russischsprachige Version nicht ausfindig gemacht werden konnte, wurde der Film nach der deutsch synchronisierten Version ausgewertet, die mit der aserbaidschanischen Version soweit als möglich abgeglichen wurde.

383 kann nur auf dem Rücken eines Dschinns zurückgelegt werden (vgl. Mot. D2121.5. Magic journey: man carried by spirit or devil). Qərib agiert als eine Art Kulturheros, der den Dschinnen die Zivilisation nahebringt (vgl. Mot. A541. Culture hero teaches arts and crafts). Letztlich wird sein Aufenthalt in ihrem Reich jedoch im Sinne einer Verführung durch das Böse gedeutet (vgl. Mot. G302.9.3. Demons tempt men), und folgerichtig kommt es zu seiner Flucht, bei der Qərib sich den “Herrscher der Dschinne” durch den Zauberring gefügig macht und als Helfer gewinnt (vgl. Mot. D1421.1.6. Magic ring summons genie; F101.4. Escape from lower world by magic). Hieraus ergibt sich eine eigentümliche syntaktische Struktur, die keine Folkloreparallelen hat.

Как Иванушка-Дурачок за чудом ходил Wie der dumme Iwanuschka das Wunder suchte UdSSR – Russland 1977; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Michail Voľpin Darsteller: Oleg Daľ, Elena Proklova, Michail Gluzskij, Taťjana Peľtcer u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der reiche Kaufmann Marko Bogatyj ist bestohlen worden. Das Diebesgut aber fällt dem ebenso naiven wie grundehrlichen Ivanuška in die Hände, der es auch gleich zurückbringt. Markos Tochter Nasten’ka ist der junge Mann sehr sympathisch, ihr Vater jedoch traut Ivanuškas Ehrlichkeit nicht. Ein Traum lässt ihn glauben, er habe es auf seinen Reichtum abgesehen, und er beauftragt seine Haushälterin Varvara, ihn aus dem Weg zu räumen. Deren Plan geht jedoch schief – sie gesteht Ivanuška die Wahrheit und rät ihm, fortzugehen. Marko erzählt sie, er sei tot – dies aber schockiert die lauschende Nasten’ka so sehr, dass sie schwer erkrankt: Sie kann nichts mehr fühlen und verfällt in Gleichgültigkeit. Nur ein Wunder kann ihr helfen, und Varvara bittet Ivanuška, danach zu suchen. Ivanuška bricht auf. Zunächst kommt er zur Baba-Jaga, die ihm den Weg zu einem der letzten Zauberer im dreimalzehnten Reich weist. Auf dem Weg dorthin schläft er auf seinem Pferdewagen ein, und sein Pferd wird ihm gestohlen: An seine Stelle tritt einer der Pferdediebe, der ihm weismachen kann, er sei von einem bösen Zauberer in das Tier verwandelt worden und nun endlich erlöst. Ivanuška lässt ihn ziehen, sein ehrliches Mitleid jedoch beschämt den Dieb, und er treibt ihm das Pferd wieder zu. Ivanuška aber glaubt, sein neuer Freund sei wieder verwandelt worden, und will ihn vom Zauberer im dreimalzehnten Reich erlösen lassen. Kurz darauf kommt er an dessen Grenze. Um diese überschreiten und weiterziehen zu dürfen, muss er für den König erst eine knifflige Aufgabe erfüllen. Schließlich aber kommt er zu dem Zauberer. Dieser ist schwer deprimiert, dass seine Wunderdinge von den Menschen immer nur gewissenlos zu eigennützigen Zwecken missbraucht werden. Ivanuškas Selbstlosigkeit rührt ihn jedoch. Da das Pferd kein verzauberter Mensch ist, kann er ihm damit nicht helfen, wohl gibt er ihm aber eine Zaubertafel für Nasten’ka. Die magischen Heilungsversuche haben zunächst komische Folgen, doch schließlich wird alles gut: Nasten’ka findet ihre Gefühle wieder und gesteht dem glücklichen Ivanuška ihre Liebe. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat. Der Film arbeitet größtenteils mit stilmischenden Phantasie-Kostümen, die trotz des Inhalts wenig spezifisch russisch-folkloristische Züge tragen. Neben der innen und außen lubokhaft-stilisiert gestalteten Holzarchitektur des Dorfes und dem düsteren Schlossgemäuer, in dem der Zauberer wohnt, wird die Natur als Hauptkulisse genutzt. Die Hütte der Baba-Jaga ist eine improvisierte Konstruktion aus Reisig. Der Inszenierungsstil ist eher ruhig und ohne besondere „filmische“ Effekte, abgesehen von einer kurzen

384 Tricksequenz, in der Ivanuška auf seinem Pferd durch die Luft fliegt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation/neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 461 Three Hairs from the Devil’s Beard = AA/SUS 461 Marko Bogatyj (+ AaTh 1529 Thief Claims to have been Transformed into a Horse = ATU 1529 Thief as Donkey = AA/SUS 1529 Podmen(a) lošadi). Der Film stellt ein Konglomerat aus verschiedensten märchenhaften Elementen dar. Die Haupthandlung ist lose an die ostslavische Ausformung von AaTh 461 angelehnt (vgl. Af. 305-306): Darin versucht der reiche, geizige Kaufmann Marko Bogatyj den armen Helden loszuwerden, nachdem er in einer Prophezeiung gehört hat, dass er seine Tochter heiraten und ihn beerben wird771 – er schickt ihn auf eine gefährliche Suchwanderung772. Geblieben ist im Film in erster Linie Markos Misstrauen gegenüber Ivanuška und seine Versuche, ihn zu beiseitigen (Mot. H1510. Tests of power to survive. Vain attempts to kill hero), die Suchwanderung dagegen ist nicht von ihm initiiert, sondern durch Nasten’kas Krankheit motiviert (vgl. Mot. H1324. Quest for marvelous remedy). Sie unterscheidet sich sonst stark von der für AaTh 461 typischen Suchwanderung. Insbesondere sticht hierbei die Episode um das gestohlene Pferd heraus: Zugrunde liegt die unveränderte Struktur eines schwankhaften Typs (AaTh 529) – von diesem unterscheidet sie sich jedoch dadurch, dass die Sympathie auf Ivanuškas Seite ist und er in seiner Unschuld den Dieb dazu rührt, ihm das Pferd wieder zurückzutreiben. Der Name Ivan-Durak ist generisch für den einfältigen Helden des russischen Märchens (vgl. Mot. Z253. Fool as hero), in seiner besonderen Charakterisierung ist der Film jedoch originell. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 209-212; Zipes 2011, S. 328-329

Кольца Альманзора Die Zauberringe des Almansor/Die Zauberringe UdSSR – Russland 1977; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Igor’ Voznesenskij; Drehbuch: Valentin Vinogradov. Darsteller: Svetlana Smirnova, Michail Kononov, Valentina Talyzina, Ljudmila Dmitrieva u.a. Vorlage: Tamara Gabbe: Olovjannye koľca (1953; Gabbe 1958, S. 151-240). Inhaltsangabe: Ein Piratenschiff ist in der Bucht des Reiches von Fazanija und Pavlinija auf Grund gelaufen. Die Piraten, die ein neues benötigen, belauschen ein Gespräch zwischen dem Zauberer Aľmanzor und der Königin: Diese weiß nicht, was sie mit ihren Töchtern machen soll – Avgusta ist böse, Aleli dumm. Aľmanzors Zauberringe können jedoch nur einer von beiden helfen – der eine kann dem Träger das verschaffen, was ihm am meisten fehlt, der andere ist als Trauring für dessen Liebe gedacht. Vor die Wahl gestellt, wählt Avgusta einen Goldring, Aleli aber den magischen Zinnring. Wenig später freundet sie sich mit dem Gärtner Zenziver an, der wie sie oft verspottet wird. Zwei Prinzen treffen ein, die um die Prinzessinnen freien. Beide haben es jedoch nur auf den Thron abgesehen. Kurz darauf werden Avgusta und Aleli von den Piraten entführt. Trotz Aussicht auf den Thron sind die feigen Prinzen kaum zu bewegen, sich zur Rettung aufzumachen. Unterdes versuchen die Piraten auf ihrem Schiffswrack, Aleli dazu zu bringen, ihnen ihren Zauberring zu schenken, denn die Ringe können weder gestohlen noch gekauft werden. Diese jedoch weigert sich. Avgusta soll ihre Schwester überreden. Unterdes starten die Prinzen eine Rettungsaktion, die mit ihrer

771 Mot. M312. Prophecy of future greatness for youth. 772 Mot. H1211. Quests assigned in order to get rid of hero.

385 Gefangennahme endet. Zenziver hat sich jedoch an Bord geschmuggelt, und es gelingt ihm mit List, alle vier Gefangenen zu befreien. Auf der Flucht in einem Boot jedoch wird er von den Prinzen ins Wasser gestoßen. Im Schloss geben sie sich dann als Retter der Prinzessinnen aus. Die Königin beschließt, jedem eine ihrer Töchter zur Frau und ein halbes Königreich zu geben. Damit sind die Prinzen jedoch nicht einverstanden – beide wollen das ganze Königreich und behaupten, jeweils allein für die Rettung verantwortlich zu sein. Aleli aber besteht darauf, dass Zenziver der wahre Held ist. Dieser hat sich retten können und trifft wenig später ein – er hat auch den zweiten Ring gefunden. Da erscheint Aľmanzor, dem die Königin vorwirft, dass seine Ringe nur Unglück gebracht hätten. Er jedoch meint, sie hätten zwei Liebende vereint, und Aleli sei auch klüger geworden – wenn sie überhaupt je dumm war. Die garstige Avgusta wird schließlich von beiden Prinzen zurückgewiesen, Aleli und Zenziver aber verlassen gemeinsam das Königreich. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film verwendet eine satte, leuchtende Farbgebung, die insbesondere bei den detailreichen, märchenhaften Stilmix-Kostümen zur Geltung kommt, die weder Ort noch Zeit konkretisieren. Die sonstige Ausstattung verwendet historische Kulissen mit Phantasiedekorationen (Schloss und Turmlabor Aľmanzors), Außenaufnahmen (Schlossgarten) sowie aufwendige Filmarchitektur (Piratenschiff). Die Prinzen werden beide von Schauspielern im mittleren Alter verkörpert, der eine tritt als bebrillter Fant, der andere als vollschlanker Rüpel auf. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neuer Erzähltyp. Die Dialoge von Tamara Gabbes Theaterstück werden vom Film teilweise in modifizierter Form übernommen, der Inhalt wird gerafft und teils leicht variiert wiedergegeben – so kommt es etwa zu einigen Szenenumstellungen und Figurenumbenennungen. Größter inhaltlicher Unterschied ist die Motivation des Piratenkapitäns Muchamieľ, der hier nicht die Ringe für die Tochter seines Sultans erobern, sondern mit ihrer Hilfe an ein neues Schiff herankommen will. Die wesentlichen, handlungsbestimmenden Elemente sind alle beibehalten.773 Es handelt sich um ein originales Sujet unter Verwendung verschiedener Motive (vgl. insbesondere Mot. D1316.4.1. Magic ring shows the true nature of its possessor; L100. Unpromising hero (heroine); R12.1. Maiden abducted by pirates (robbers); L156.1. Lowly hero overcomes proud rivals), das eine deutlich märchenhafte Struktur aufweist: Eine Schädigung (MS VIII) findet mit der Entführung der Prinzessinnen statt, es kommt zum Kampf mit den Piraten (MS XVI) durch Zenziver, der eine Verfolgungsjagd und erfolgreiche Flucht auslöst (MS XXI-XXII). Die Prinzen fungieren dann später als falsche Helden, die sich fremder Tat brüsten (MS XXIV), werden aber entlarvt (MS XXVIII) – am Ende steht Zenzivers und Alelis Vereinigung (MS XXXI).

Первая любовь Насреддина [Nasreddins erste Liebe] UdSSR – Tadschikistan 1977; Tadžikfiľm. Regie: Anvar Turaev; Drehbuch: Timur Zuľfikarov. Darsteller: Sokrat Abdukadyrov, Nino Dolidze, Ato Muchammedžanov, Chašim Gadoev u.a. Vorlage: Timur Zuľfikarov: Pervaja ljubov’ Chodži Nasreddina (1974; Zuľfikarov 2001, S. 1-32). Inhaltsangabe: Den jungen Nasreddin zieht es fort von zu Hause, er will sich einer Karawane anschließen

773 Vgl. dazu auch Olovjannye koľca (1983).

386 und die Welt sehen, doch seine Zieheltern wollen ihn nicht fortlassen. Er rettet dem reichen Talgat-Bek das Leben, und dieser gewinnt Gefallen an dem jungen Mann, der sich nicht scheut, ihm die Wahrheit zu sagen – einen solchen braucht ein jeder Herr, und er nimmt ihn mit in sein Haus. Tagat-Bek will den unerfahrenen Nasreddin in die Kunst der Liebe einweihen und zeigt ihm seinen Harem, doch Nasreddin findet keinen Gefallen daran. Kurz darauf stirbt Talgat-Bek – sein böser Diener Kara-Buton hat ihn in seinem Machtstreben vergiftet. Nasreddin flüchtet vor ihm in den Garten, wo er auf Talgat-Beks Tochter Suchajľ trifft. Die beiden entdecken ihre Liebe füreinander. Wenig später muss Nasreddin jedoch vor Kara-Buton flüchten, der Suchajľ droht, sie gegen ihren Willen zur Frau zu nehmen. Nasreddin ist so von Sinnen vor Liebe, dass ihn der bösartige Heiler Iľjas durchprügeln lässt – er wird jedoch von seinem älteren Freund gerettet, dem Schmied Rustam. Dieser lädt einen wandernden blinden Derwisch in sein Haus ein, der Nasreddin über das Leiden und die Schönheit der Liebe erzählt und darüber, dass er froh ist, blind zu sein und die Ungerechtigkeit der Welt nicht mehr sehen zu müssen. Rustam erklärt sich bereit, Nasreddin zu helfen, wieder mit Suchajľ zusammenzutreffen. Er begleitet ihn zum Garten und hält Wache, während Nasreddin und Suchajľ eine Liebesnacht verbringen. Am nächsten Morgen werden sie von Kara-Buton überrascht – dieser erschießt zunächst mit einem Pfeil Rustam, den er irrtümlich für Nasreddin hält. Dann lässt er Nasreddin in den Zindan werfen. Hier trifft er den Derwisch wieder, der meint, wer die Wahrheit sage, lande hier, und auch andere zu Unrecht einsitzende Gefangene. Es gelingt ihm, zu fliehen und auch die anderen zu befreien, nur der Derwisch, der sein Ende kommen sieht, zieht es vor, zu bleiben. Kurz darauf verabschiedet sich Nasreddin von seiner Mutter – er wird sich der Karawane anschließen. Suchajľ findet er in ihrem Garten nicht mehr vor, verabschiedet sich jedoch symbolisch von ihr und schwört, sich an Kara-Buton für Rustams Tod zu rächen und wiederzukommen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Ausstattung mit zentralasiatischen Zügen. Leiser Film mit vielen Naturaufnahmen, langen Einstellungen und dialoglosen lyrischen Passagen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Der Bezug zum Märchengenre wird im Film wie auch in der zugrundeliegenden Erzählung, die in erster Linie mit dem Verfahren des Stream of Consciousness arbeitet, ausschließlich über die Figur des Nasreddin hergestellt, der üblicherweise in Schwänken, Anekdoten oder Schwankmärchen beheimatet ist, hier aber im Zentrum einer lyrischen Erzählung mit philosophischen und parabelhaften Zügen steht. Der Schauplatz und die Figuren haben symbolisch-angedeuteten Charakter (wenn man so will, eine Märchenwelt). Timur Zuľfikarov, der Autor der Vorlage, ist auch für das Drehbuch verantwortlich, und der Film ist sehr vorlagengetreu.

Про Красную Шапочку [Vom Rotkäppchen] UdSSR – Weißrussland 1977; Belarus’fiľm. Regie: Leonid Nečaev; Drehbuch: Inna Vetkina. Darsteller: Jana Poplavskaja, Rina Zelenaja, Evgenij Evstigneev, Vladimir Basov u.a. Vorlage: ,Fortsetzung’ des Volksmärchens von Rotkäppchen (vgl. KHM 26; daneben Perrault 1986, S. 70-73). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Seit Rotkäppchens Abenteuer mit dem Wolf ist ein Jahr vergangen. Die alte Wolfsmutter hat einen Kameraden ihres verstorbenen Sohnes angeheuert, um sich an dem

387 Mädchen zu rächen – ihr zweiter, sanftmütige Sohn soll ihn dabei unterstützen, damit aus ihm endlich ein echter Wolf wird. Rotkäppchen wird mit der fingierten Nachricht, dass ihre Großmutter erneut erkrankt sei, in den Wald gelockt. Die beiden Wölfe versuchen, das Mädchen in Verkleidung irrezuführen, um es dann in ihren Sack zu stecken. Doch ob im Gewand von Holzfällern, Schmetterlingsforschern oder feinen Damen – alle Versuche schlagen fehl. Rotkäppchen sieht in der Verfolgungsjagd, die sie halb durchschaut, ein Spiel. Der kleine Sohn des verstorbenen Wolfes zerstreitet sich unterdes mit der alten Wölfin, da er die Menschen mag, und läuft von zu Hause fort. Rotkäppchen trifft derweil auf ein verwöhntes kleines Kind, das sie herrisch für sich beansprucht und mitnehmen lässt. Rotkäppchen liest dem Kleinen gehörig die Leviten und kann mit Hilfe der Wölfe aus ihrer Gefangenschaft fliehen. Bevor diese sie jedoch in ihren Sack stecken können, wird der ihnen vom kleinen Wolf gestohlen. (2) Sie können ihn ihm kurz darauf wieder abnehmen, und er flüchtet sich vor ihnen in einen Brunnenschacht. Hier findet ihn Rotkäppchen. Anfangs gibt er sich trotzig, doch dann öffnet er sich ihr immer mehr. Unterdes schockiert das ehemals verwöhnte Kind seine Umgebung, da es auf Rotkäppchens Rat hin alles selbst machen will. Kurze Zeit später trifft Rotkäppchen wieder auf die beiden großen Wölfe. Das freundliche Wesen des Mädchens lässt sie längst nicht mehr unberührt, doch sie haben ihre Pläne noch nicht aufgegeben. Als Rotkäppchen zufällig die Wahrheit erfährt, will sie sie erst nicht glauben und ist sehr enttäuscht. Sie trifft das Kind wieder und schickt es zu ihrer Großmutter, während sie selbst den Wölfen einen Schlaftrunk gibt. So werden sie vom Jäger gefunden – dieser will die Schlafenden gleich erschießen, doch das will Rotkäppchen nicht zulassen. Die Wölfe erwachen, und sie können den Jäger schnell entwaffnen. Rotkäppchen macht den beiden bittere Vorwürfe, dass sie ihr Vertrauen missbraucht haben, und ihr Gewissen regt sich. Derweil haben das Kind und die Großmutter die Dorfbewohner zusammengetrommelt, um Rotkäppchen zu Hilfe zu eilen. Als sie aber schon nahen, verhilft Rotkäppchen den Wölfen zur Flucht. Wenig später schläft sie bei ihrer Großmutter erschöpft, aber glücklich ein. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Wölfe werden durch Schauspieler verkörpert, die sich weder in Kostüm noch in Make-up von den Menschen besonders unterscheiden – sie agieren auch wie Menschen, und ihre „Wölfischkeit“ beschränkt sich auf Andeutungen im Dialog. Der Film wurde größtenteils in der Natur gedreht – Rotkäppchen wandert durch recht exotische Wald-, Felsen-, Wiesen- und Strandlandschaften. Die Kostüme stellen einen diffusen Stilmix mit mitteleuropäischen wie auch russischen Zügen dar, aus dem weder Ort noch Zeit hervorgehen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh 333 The Glutton (Red Riding Hood) = ATU 333 Little Red Riding Hood = AA/SUS 333A Krasnaja šapočka. Der Film hat eigentlich recht wenig Märchenhaftes an sich – er spielt in einer stilisierten Märchenwelt, in der zwischen Menschen und Tieren keine so genaue Trennlinie gezogen wird, und die Hauptfiguren (Rotkäppchen, Großmutter, Wölfe, Jäger) entsprechen zumindest dem Namen nach den Hauptfiguren aus dem bekannten Volksmärchen, als dessen Fortsetzung sich der Film präsentiert und auf das entsprechend im Dialog immer wieder Bezug genommen wird. Die zahlreichen Verkleidungen der Wölfe können als Anspielung auf die Großmutterverkleidung darin gesehen werden (Mot. K2011. Wolf poses as „grandmother“ and kills child). Ansonsten werden die Mittel von Parodie und Verfremdung genutzt, um bestimmte Akzente zu setzen: So stellt etwa der kleine Wolf in Frage, dass Wölfe Menschen fressen müssen, und die alte Wölfin entgegnet dem, Rotkäppchen hätte eben damals nicht immer die Wahrheit sagen sollen, dann wäre sie auch nicht gefressen worden – Rotkäppchens Arglosigkeit wird also mit ihrer Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe erklärt, die wiederum auch einen starken Gerechtigkeitssinn bedingen. Dieser färbt schließlich auf die Wölfe ab und führt letztlich zu

388 deren Reformierung, was wiederum einen Bruch mit Märchenkonventionen darstellt. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1987, S. 23-26

Сказание о храбром витязе Фэт-Фрумосе [Die Sage vom tapferen Recken Făt-Frumos] UdSSR – Moldawien 1977; Moldova-fiľm. Regie: Vlad Ioviţă; Drehbuch: Vlad Ioviţă, Nicolae Esinencu. Darsteller: Vladimir Antonik, Constanta Tirtau, Ion Ungureanu, Eugenia Todorascu u.a. Vorlage: Moldawische (rumänische) Volksmärchen von Făt-Frumos (vgl. Mol. sk., S. 286-301; S. 334- 345). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Beunruhigt von Schreien, die er hört, verabschiedet sich der Recke Făt-Frumos von seiner Mutter und zieht los. Die Schreie wurden von den Brüdern Ileana Cosânzeanas ausgestoßen, die von dem Drachen Laur Balaur entführt wurde. Sie haben nacheinander versucht, sie zu retten, doch Laur Balaur hat sie alle besiegt und sie sind nun verschiedenen Qualen ausgesetzt. Făt-Frumos verspricht ihnen seine Hilfe. Kurz darauf trifft er auf die drei jüngeren Söhne Laur Balaurs. Mit einer List kann er ihnen nicht nur drei Zauberdinge abnehmen, sondern erfährt auch, dass zum Sieg über den Drachen ein Wunderpferd nötig ist, das sich auf der Insel befindet, auf der Ileana gefangengehalten wird. Er findet dort das Pferd und kann auch Ileana befreien. Laur-Balaur ist inzwischen über sein Kommen alarmiert. Seine Mutter, eine Hexe, rät ihm, ihm seine drei älteren Söhne entgegenzuschicken, doch Făt- Frumos kann sie alle im Kampf besiegen. Die Hexe rät Laur Balaur, nun seine drei Töchter gegen ihn zu schicken – sie sollen ihn verführen und ins Verderben stürzen. Doch auch dies schlägt letztlich fehl. Nun greift die Hexe selbst ein: Sie lässt Făt-Frumos’ Mutter entführen und nimmt selbst ihre Gestalt an. (2) Als Făt-Frumos dann seine angebliche Mutter vor seinem Kampf noch einmal besucht, klagt sie, dass sie ohne das Ei des Feuervogels sterben müsse. Făt-Frumos macht sich auf die Suche danach und findet nach einigen Mühen den Feuervogel, wird aber von seinem Anblick blind. Er kehrt mit dem Ei zu seiner angeblichen Mutter zurück, die aber nun behauptet, sie bräuchte Milch der Hirschkuh mit dem goldenen Stern. Făt-Frumos nimmt auch diesen Weg auf sich. Dieses Abenteuer kostet ihm seine Jugend. Doch die Hexe ist immer noch nicht zufrieden: Sie verlangt nun das Wasser des Lebens. Die Suche danach ist wiederum sehr mühsam. Die Quelle mit dem Lebenswasser ist von giftigen Bächen umgeben, und Făt-Frumos verspricht ihr, diese später umzuleiten. Als er sich aber nun zum Kampf rüsten will, haben ihn seine Kräfte verlassen, und der Hexe gelingt es, ihn zu töten. Ileana jedoch kann ihn mit dem Lebenswasser erwecken und auch Kraft, Jugend und Augenlicht zurückgeben. Nun kann er endlich gegen Laur Balaur ziehen, um ihn schließlich zu besiegen und zu töten. Auf dem Siegesfest erinnert er sich jedoch an die Quelle – er zieht erneut los, denn erst, wenn diese vom Gift befreit ist, ist das Böse ganz vernichtet. Filmgestaltung, Besonderheiten: Erzählerstimme aus dem Off. Mischung aus folkloristischer und Phantasie-Ausstattung. Der Drache Laur-Balaur wird, wie sämtliche Mitglieder seiner Familie, in menschlicher Gestalt präsentiert. Ästhetisch ansprechende Naturaufnahmen von verschiedenartigen Landschaften. Einige „sprechende“ Tiere. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 300A The Fight on the Bridge = AA 300*B/SUS 300A Boj na kalinovom mostu + AaTh 590 The Prince and the Arm Bands = ATU 590 The Faithless

389 Mother = AA/SUS 590 Carevič i braslety bzw. AaTh/ATU 315 The Faithless Sister = AA 315A/SUS 315 Zverinoe moloko (+ vgl. AaTh 518 Devils (Giants) Fight over Magic Objects = ATU 518 Men Fight over Magic Objects = AA/SUS 518 Obmanutye čerti (lešie)). Der Film kombiniert die Sujets verschiedener moldawisch-rumänischer Märchen, in denen der Held den generischen Namen Făt-Frumos trägt und sich als Drachentöter hervortut – diese Märchen verwenden ihrerseits Elemente verschiedener Typen und stellen somit Kontaminationen dar. Charakteristisch für sie ist das wundersam schnelle Heranwachsen des Helden (Mot. T585. Precocious infant), das auch im Film dargestellt wird. Dessen erster Teil (vgl. Mol. sk., S. 286-301) entspricht in seinen Grundzügen dem Drachentöter-Subtyp 300A – wie dort werden erst drei Drachenbrüder besiegt, dann die Rache von drei verwandelten Drachenjungfrauen vereitelt, und auch das Zauberpferd als Helfer entspricht diesem Typ. Die Brüder Ileanas und die drei jüngeren, dümmlichen Drachensöhne mit ihren magischen Gegenständen, die ihnen Făt-Frumos durch eine List entwendet (Mot. D830. Magic object acquired by trickery; vgl. AaTh 518), sind Hinzufügungen des Films. Dessen zweiter Teil ist am Ehesten AaTh 590 bzw. 315774 zuzuordnen, worin die Mutter (oder eine andere Verwandte) des Helden sich mit dem Bösewicht verbündet und ihren Sohn unter dem Vorwand einer Krankheit auf gefährliche Suchwanderungen schickt – in der spezifischen moldawischen Variante (vgl. Mol. sk., S. 334-345) kommt dies, wie im Film, nicht der Mutter des Helden zu, sondern der Mutter eines Drachen, die deren Gestalt annimmt. Die beiden ersten magischen Heilmittel wie auch die damit verbundenen Abenteuer und die Schwächungen von Făt-Frumos sind Variationen des Films, während das letzte (Mot. E80. Water of life), ebenso wie die Tötung und Wiederbelebung durch Ileana, der Volksmärchenquelle entsprechen.

Захудалое королевство [Das heruntergekommene Königreich] UdSSR – Russland 1978; Leningradskoe Televidenie. Regie: Gleb Seljanin; Drehbuch: Iosif Cionskij. Darsteller: Lev Lemke, Taťjana Kudrjavceva, Valerij Degtjar’, Svetlana Karpinsjkaja u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Zachudaloe korolevstvo (1967). Zweiteiler. Filmgestaltung, Besonderheiten/ Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Zachudaloe korolevstvo (1967). Dieses Filmstück (fiľm-spektakľ) ist ein Remake desselben Regisseurs, und die Filme sind sehr eng aneinander angelehnt: Es handelt sich größtenteils um ein Szene-für-Szene-Remake, nur etwas gestreckt vor allem durch Lieder, leicht erweiterte Dialoge und wenige zusätzliche Szenen. Ansonsten entsprechen sowohl die Inszenierung als auch die sonstige Machart einander, teilweise treten sogar dieselben Schauspieler auf.

Любовь моя, печаль моя Bir A şk Masalı Meine Liebe – meine Trauer UdSSR – Russland/Türkei 1978; Produktionsfirma: Mosfiľm/Tuğra Film. Regie, Drehbuch: Əjdǝr İbrahimov. Darsteller: Türkân Şoray, Alla Sigalova, Faruk Peker, Yılmaz Duru u.a.

774 Die beiden Typen sind sehr ähnlich und können oftmals nicht klar voneinander abgegrenzt werden.

390 Vorlage: Nâzım Hikmet: Bir Aşk Masalı (Legende von der Liebe/Die Liebe ein Märchen; Alternativtitel: Ferhad ile Şirin (Ferhad und Schirin), 1948; Hikmet 1961, S. 5-97). Inhaltsangabe: Die Einwohner der Stadt Arzen leiden, weil sie kein Wasser haben. Unterdes ist Şirin, die Schwester der Sultanin Mehmene Bânu, schwer krank, und die Herrscherin setzt eine hohe Belohnung für ihre Heilung aus. Ein geheimnisvoller Fremder trifft ein und erklärt sich bereit, Şirin zu heilen – um ihre Schwester zu retten, muss Mehmene Bânu jedoch ihre Schönheit opfern. Auch wenn der Wesir, der ihr in heimlicher Liebe zugetan ist, sie davon abzuhalten versucht, geht die Sultanin darauf ein. Ihr Antlitz wird hässlich, sie verbirgt es von nun an, doch Şirin gesundet. Ein Palast wird für sie gebaut. Als Mehmene Bânu und Şirin die Arbeit mit ihrem Gefolge begutachten, werden beide Frauen auf den jungen Maler Ferhad aufmerksam und verlieben sich in ihn. Es ist jedoch Şirin, die er wiederliebt, und die beiden haben ein heimliches Treffen und beschließen, miteinander zu fliehen. Die Leute der Mehmene Bânu können sie jedoch wieder einfangen. Mehmene Bânu ist hin und hergerissen zwischen ihrer Liebe für Ferhad und der für ihre Schwester. Şirin geht gänzlich in der Liebe zu Ferhad auf, doch ahnt sie nichts von den Gefühlen Mehmenet Bânus. Als diese schließlich mit Ferhad zusammentrifft, stellt sie ihm eine Bedingung, damit sie der Verbindung mit Şirin zustimmt: Er soll zuerst allein die Felsen des Eisenbergs beiseite schaffen und dessen Wasser in die Stadt umleiten – eine Arbeit, die jedoch viele Jahre dauern kann, in denen er Şirin nicht sehen darf. Ferhad willigt ein. 10 Jahre gehen ins Land, in denen er eifrig arbeitet und zu einem Hoffnungsträger für das Volk wird. Vom hasserfüllten Wesir erfährt Şirin unterdes, dass ihre Schwester ihre Liebe zu Ferhad für sie geopfert hat. Mehmene Bânu streitet dies jedoch ab – sie will nun einwilligen in Şirins Hochzeit mit Ferhad, wenn dieser die Arbeit am Berg sofort einstellt. Şirin eilt mit der Botschaft zu Ferhad, doch der will dem Volk das Wasser nicht vorenthalten. Şirin willigt schweren Herzens ein, weiter zu warten. Ferhad beendet wenig später seine Arbeit, stürzt jedoch durch einen Unfall in die Fluten und ertrinkt. Şirin gibt sich darauf selbst den Tod, und Mehmene Bânu bricht über ihren Leichen zusammen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film beginnt und schließt mit einem schriftlichen Nezāmī-Zitat. Die erste zentrale Szene an Şirins Krankenbett, die gut ein Drittel der Filmzeit einnimmt, hat durch den einen beengt dargestellten Schauplatz fast Kammerspiel-Charakter, jedoch jeweils kurz unterbrochen durch die durch Filmtricks visualisierten Gedanken der Anwesenden. Visualisiert wird dann auch die Verwandlung Mehmene Bânus – für wenige Sekunden sieht man in einer Großaufnahme ein graues, mit Warzen besetztes, abstoßend hergerichtetes Gesicht, während dramatische Musik zu hören ist. Derselbe Effekt, wiederum nur für wenige Sekunden, wird ein zweites Mal eingesetzt, als sie später Ferhad ihr Gesicht zeigt. Visuell ist der Film ab der Heilung Şirins opulent-historisierend gestaltet, mit zahlreichen Naturaufnahmen und Prunkbauten als Kulisse. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Sagenhafter Märchenfilm. Hikmets Bühnenstück beruht auf der u.a. im türkischen und persischen Raum in vielen Varianten verbreiteten Sage775 um Ferhad und Şirin, in deren Kern eine tragische Dreiecksbeziehung steht (vgl. Mot. T92.1. The triangle plot and its solutions. Two men in love with the same woman; two women with the same man), gepaart mit einer schwierigen Aufgabe (vgl. Mot. H1010. Impossible Tasks, auch MS XXV). Jedoch setzt er darin auch inhaltlich eigene Akzente: Nicht der König Chosrau und der Künstler Ferhad sind Rivalen um die Liebe Şirins, sondern Şirin und ihre ältere Schwester Mehmene Bânu lieben beide Ferhad (Mot. T92.8. Sisters in love with same man). Der Liebesgeschichte wird bei

775 Literarisch bearbeitet wurde sie bereits im berühmten Epos von Nezāmī.

391 Hikmet weiters der semantisch äußerst märchenhafte, wenn auch psychologisch ausgedeutete Handlungsstrang um Şirins Krankheit, ihre wundersame Heilung und Mehmene Bânus Opfer ihrer Schönheit vorangestellt (vgl. Mot. D2161. Magic healing power; D1871. Girl magically made hideous). Der Film übernimmt unter dramaturgischen Anpassungen Aufbau und einen großen Teil der Dialoge der Vorlage, variiert jedoch an verschiedenen Stellen – insbesondere wird der Liebesgeschichte ein tragisches Ende gegeben: Das Stück ist hier offen, es endet an der Stelle, als Ferhad Şirin erklärt, er wolle erst seinen Auftrag des Volkes wegen beenden, und Şirin sich in ihr Schicksal fügt, weiter warten zu müssen. Die Lösung des Films verweist dagegen auf das in der Folklore verbreitete tragische Ende der Sage.

Обыкновенное чудо Ein gewöhnliches Wunder UdSSR – Russland 1978; Mosfiľm. Regie, Drehbuch: Mark Zacharov. Darsteller: Oleg Jankovskij, Irina Kupčenko, Evgenij Leonov, Evgenija Simonova u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Obyknovennoe čudo (1964). Filmgestaltung, Besonderheiten: Exzentrische Machart: Die Ausstattung ist theaterhaft-stilisiert und dabei surrealistisch gehalten – so weist das Haus des Zauberers bühnenbildhaft bemalte Wände auf, ein Räderwerk, eine Leiter, antike Möbel und allerlei Kuriositäten befinden sich darin, doch wachsen dort in manchen Einstellungen auch Sträucher und Bäume, und Innen und Außen ist nicht immer klar getrennt. Ein Bild mit einem Drachen, der mit Netzen gefangen wird, wird immer wieder prominent hervorgehoben. In den Außenszenen reiten die Darsteller durch bergige Schluchten, die eine westernhafte Ästhetik aufweisen – das Kostüm des Bären erinnert stark an einen Cowboy, inklusive Lederkluft und Schlapphut. Der Film ist zu großen Teilen von Musik untermalt, die jeweils eine bestimmte Stimmung betont. Es werden auch einige Lieder gesungen, die eine ähnliche Funktion erfüllen. Stellenweise bewegen die Darsteller ihre Lippen nicht, während der Dialog erklingt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Obyknovennoe čudo (1964). Der Film ist nah am Text der Theatervorlage, wie auch die 1964-er Version; er behält im Gegensatz zu dieser insbesondere die Ambivalenz der Figur des Königs bei. Doch gibt es, neben der eigenen Stilistik, auch einige inhaltliche Variationen und Interpretationsunterschiede – dies betrifft insbesondere die Figur des Zauberers: In diesem Film wird er zum Autor des Märchens, das er seiner Frau zur Unterhaltung schreibt, stilisiert. Die Figuren verselbstständigen sich jedoch und entwickeln eigenen Willen, und seine Geschichte gerät ihm außer Kontrolle – er verweigert sich deshalb, sie weiter zu schreiben, und verbittert darüber. Über das Auftauchen des Bären gegen seinen Willen am Ende ist er überrascht, und schließlich entscheidet er sich, doch einzugreifen und dem Märchen einen guten Schluss zu geben. Literaturhinweise/Besprechungen: Sputnickaja 2010, S. 55

Осенние колокола Von der schönen Zarentochter und den sieben Recken ([Herbstglocken]) UdSSR – Russland 1978; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Vladimir Gorikker; Drehbuch: Aleksandr Volodin.

392 Darsteller: Irina Alferova, Aleksandr Kirillov, Ljudmila Drebneva, Ljubov’ Čirkova u.a. Vorlage: Aleksandr Puškin: Skazka o mertvoj carevne i o semi bogatyrjach (1833; Puškin 1977, S. 344- 357). Volksmärchenparaphrase (vgl. Af. 210, 211; KHM 53). Inhaltsangabe: Der Zar verlässt die Zarin, um die Welt zu bereisen. Sie gebärt ihm in seiner Abwesenheit eine Tochter und verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihm. Als er zurückkehrt, nimmt sie die freudige Aufregung so sehr mit, dass sie stirbt. Der Zar nimmt sich eine zweite Frau, die den Zauberspiegel, den er für die verstorbene Zarin mitgebracht hat, für sich entdeckt: Er bestätigt ihr, dass sie die Schönste von Allen ist. Unterdes wächst die Zarewna zu einer jungen Frau heran, und der Prinz Elisej freit um sie. Kurz vor der Hochzeit erklärt der Spiegel der Zarin, dass ihre Stieftochter schöner als sie ist. Voller Wut dingt sie heimlich Räuber, sie während der Hochzeitsfeierlichkeiten zu entführen und in den Wald zu bringen, wo die Zofe Černavka sie dann fesseln und zurücklassen soll, doch diese bringt es nicht über sich und lässt sie laufen. Die Zarewna kommt zu einem Haus, in dem sieben Recken leben, die sie bei sich aufnehmen und denen sie von nun an den Haushalt führt. Ihre Liebeswerbungen jedoch weist sie zurück – sie bleibt Elisej treu. Unterdes erfährt die Zarin von ihrem Spiegel, dass ihre Stieftochter noch am Leben ist, und befiehlt sofort Černavka, sie mit einem vergifteten Apfel aus dem Weg zu schaffen. Černavka kommt, verkleidet als Bettlerin, zum Haus der Recken, als diese nicht da sind, und übergibt der Zarewna den Apfel. Sie isst ihn, und die Recken finden sie bei ihrer Rückkehr tot vor. Darauf bauen sie ihr tieftraurig einen offenen Kristallsarg in einer Höhle. Inzwischen war Elisej auf der Suche nach seiner Braut bei Sonne, Mond und Wind – schließlich findet er sie, und sie erwacht aus ihrem Todesschlaf. Die Zarin, die Böses ahnt, hat jedoch ihre Kämpfer geschickt, um die beiden zu töten – dem Prinzen kommen die Recken zu Hilfe, und gemeinsam können sie die Kämpfer in die Flucht schlagen. Elisej und die Zarewna kehren in die Hauptstadt zurück, wo sie unter Jubel vom Zaren und dem Volk empfangen werden. Die Stiefmutter macht gute Miene zum bösen Spiel. Filmgestaltung, Besonderheiten: Prolog, in dem das Arbeitszimmer Puškins mit dessen Portrait gezeigt wird: Dazu ist die Stimme einer Märchenerzählerin aus dem Off zu hören, wobei ein Kind immer wieder Verständnisfragen stellt. Der eigentliche Film hat in seinen Dialogen ausschließlich den Puškinschen Text zur Grundlage, der in großen Teilen aus dem Off vorgelesen wird, und die Schauspieler sprechen nur dann, wenn im Text wörtliche Rede vorkommt. Daneben ist der Film über weite Strecken ohne Worte gedreht und von Musik klassischer Komponisten untermalt (u.a. Musorgskij, Kalinnikov, Glazunov); nur an zwei Stellen werden volksliedhafte Einschübe gebracht. Visuell orientiert sich der Film in seiner Opulenz klar an den Filmen von Ptuško. Die folkloristischen Kostüme sind detailreich gestaltet; als Kulisse dienen die „historischen“ Bauten des Freilichtmuseums Suzdaľ. Einer der sieben Recken wird – als dramaturgischer Einfall – von einem kleinen Jungen gespielt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 709 Snow-White = AA/SUS 709 Volšebnoe zerkaľce (Mertvaja carevna). Puškins Versmärchen ist die mit Details angereicherte und in kunstvollen Versen abgefasste Paraphrase des bekannten Sneewittchen-Stoffes (vgl. auch Af. 210-211). Zu seinen Erweiterungen gehört insbesondere, dass die Zarewna schon vor dem Hauptabenteuer einen Bräutigam hat, der sich nach ihrem Verschwinden auf die Suche nach ihr macht (vgl. Mot. H1385.3. Quest for vanished wife (mistress); H1232. Direction on quest given by sun, moon, wind and stars). Der Film verwendet nur den Text der Vorlage, kürzt ihn aber und schmückt in stummen Szenen an manchen Stellen visuell aus oder wandelt ab776: So ist etwa

776 Vgl. auch Ruslan i Ljudmila (1938).

393 die am Anfang in einer langen Bilderfolge erzählte Reise des Zaren, während der er an verschiedene Orte kommt, freie Ausfabulierung, in der Vorlage wird sie mit einem Nebensatz angedeutet. Ebenso Erfindung des Films ist, dass der Zar den Zauberspiegel für seine erste Frau von der Reise mitbringt und er durch Zufall in die Hände der Stiefmutter kommt, und der Überfall der von dieser gedungenen Räuber während der Hochzeit. Dieselben Räuber treten am Ende in einer weiteren zusätzlichen spannungssteigernden Szene nochmal auf, als sie die aus ihrem Zauberschlaf erwachte Zarewna und Elisej angreifen und erst die Ankunft der Recken zum Sieg über sie verhilft. Der plötzliche Tod der Stiefmutter aus der Vorlage, von ihrer Wut hervorgerufen, ist dagegen eliminiert. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 221-225; Romanenko 1983, S. 19-21

Подарок черного колдуна Das Geschenk des schwarzen Zauberers UdSSR – Russland 1978; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Vladislav Fedoseev, Iosif Oľšanskij. Darsteller: Elena Kondraťeva, Boris Ščerbakov, Larisa Danilina, Lija Achedžakova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Die Bäuerin Matrena wünscht sich von der Mutter Erde ein Kind, und diese erfüllt den Wunsch: Matrena findet ein Mädchen, das sie Vasilisa nennt und das märchenhaft schnell zu einer jungen Frau heranwächst. Kurz darauf taucht der schwarze Zauberer bei Matrena auf und schenkt ihr für Vasilisa eine Truhe mit einem Hochzeitsgewand – wenn sie dieses trägt, soll der erste Wunsch, den sie ausspricht, sich erfüllen. Matrena ahnt Böses und verbietet Vasilisa, die Truhe zu öffnen. Unterdes verliebt sich diese in den Schmied Ivan. Entgegen dem Gebot der Mutter öffnet sie die Truhe und legt das Gewand an. Als Ivan einem anderen Mädchen schöne Augen macht, wünscht sie sich, dass er niemals wieder eine andere ansieht – und er erblindet. Vasilisa erfährt, dass sie dafür verantwortlich ist und nur das Wasser des Lebens Ivan wieder sehend machen kann. So macht sich mit ihm zusammen auf die Suche. Ihnen schließt sich ein Vogelscheuchenpaar an, die hoffen, dass sie mit dem Lebenswasser zu Menschen werden können. Die Gehilfen des Zauberers sollen Vasilisa vom rechten Wege abbringen. Ein Werwolf lockt Ivan in eine Höhle, in der sich angeblich das Lebenswasser befindet, und will dann Vasilisa mit seiner Musik einschläfern, um sie Ivan vergessen zu machen. Sie wehrt sich jedoch gegen den Zauber, und der Spuk verschwindet. Anschließend treffen sie auf eine schöne junge Frau, die sie in ihr Haus einlädt. Auch sie behauptet, den Weg zum Lebenswasser zu kennen, doch verlangt sie dafür, dass Vasilisa auf Ivan verzichtet und ihn ihr überlässt. Vasilisa willigt ein – auch dieser Prüfung kann sie standhalten, der Zauber wird gelöst. So kommen sie schließlich zum Brunnen, in dem sich das Lebenswasser befindet. Das Rad jedoch, das gedreht werden muss, um an es heranzukommen, lässt die Menschen bei jeder Drehung altern. Ivans Versuch schlägt fehl, der Eimer entgleitet ihm. Nun nimmt Vasilisa die mühevolle Arbeit auf sich: Sie holt das Lebenswasser aus dem Brunnen, kann Ivan wieder jung und sehend machen, wird jedoch selbst darüber eine alte Frau. Auf dem Weg nach Hause stirbt sie. Matrena bittet voller Trauer die Mutter Erde, ihre Tochter das Leben zurückzugeben – und diese erfüllt den Wunsch. Vasilisa und Ivan heiraten, und die Vogelscheuchen sind froh, dass sie wieder daheim und doch keine Menschen geworden sind. Filmgestaltung, Besonderheiten: Folkloristische Ausstattung. Düstere Farbgebung durch ausgeklügelte Beleuchtung und Spiel mit Schatten in der freien Natur. Die zwei Vogelscheuchen werden sowohl durch echte

394 Vogelscheuchen als auch durch Schauspieler verkörpert. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp. Der Film setzt ein mit der im Märchen beliebten Motivkombination vom auf magische Weise erfüllten Kinderwunsch und dem wundersamen Heranwachsen (vgl. Mot. T548. Birth obtained through magic or prayer; T585. Precocious infant). Das unheilbringende Geschenk des schwarzen Zauberers ist mit einem Tabu verknüpft (vgl. Mot. C321. Tabu: looking into box (Pandora)), das von Vasilisa gebrochen wird – hierin ist die syntaktische Paarfunktionen des Verbots und dessen Übertretung realisiert (MS II-III). Als Folge davon löst ein voreiliger Wunsch (Mot. J2072. Short-sighted wish) die Schädigung aus (MS VIII), die in Ivans Erblindung besteht (vgl. Mot. D2062.2.1. Blinding by curse). Es folgt der Aufbruch zur Suchwanderung (MS XI; Mot. H1324. Quest for marvelous remedy; H1321.1. Quest for Water of Life). Die der märchenhaften Dreizahl folgenden Stationen der Suche wiederum sind Prüfungen (MS XII) verschiedenen Charakters777, die auf die Leidensfähigkeit Vasilisas abzielen: Die erste variiert das Motiv des magischen Vergessens (Mot. D2000. Magic forgetfulness), die zweite das der falschen Braut (Mot. K1911. The false bride (substituted bride)). Der Brunnen der dritten Prüfung wiederum hat einerseits Züge eines Jungbrunnens (Mot. D1338.1.1. Fountain of youth), löst andererseits auch Alterung aus (vgl. Mot. D1341.1. Magic fountain makes person old). Nach der Heilung Ivans (MS XIX; Mot. D2161.3.1. Blindness magically cured) folgt die Rückkehr (MS XX) und, in einem märchenuntypischen spannungssteigernden Moment, erst jetzt Tod und anschließende Wiederbelebung Vasilisas durch die Bitte an die heidnisch anmutende „Mutter Erde“ (vgl. Mot. E63. Resuscitation by prayer). Die als „Comic Relief“ fungierende Nebenhandlung um die Vogelscheuchen hat keine Folkloreparallelen. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 11-13

Сказка как сказка [Einfach ein Märchen] UdSSR – Ukraine 1978; Ukrtelefiľm. Regie: Oleg Bijma; Drehbuch: S. Svetlicňaja Darsteller: Nadežda Smirnova, Andrej Gradov, Nina Iľina, Galina Loginova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Die Handlung des Märchens zieht sich als roter Faden durch eine Nummernrevue: In einem Märchenreich leben eine gute und eine böse Fee. Die gute Fee zaubert der Prinzessin einen Traum von einem jungen Mann, in den sie sich verliebt. Um ihn zu finden, lässt sie einen großen Ball veranstalten, zu dem alle jungen Männer des Reiches eingeladen werden. Tatsächlich erscheint auch der Mann aus dem Traum, ein Musikant, und die beiden können sich in die Arme schließen – doch auch die böse Fee hat auf den Musikanten ein Auge geworfen, und sie entführt ihn. Die Prinzessin macht sich darauf auf die Suche nach ihm, trifft auf allerlei buntes Volk, so auch auf die sieben Zwerge, und kommt schließlich ins Reich der bösen Fee. Diese hat mittlerweile mit allen Tricks versucht, den Musikanten zu verführen, doch er ist der Prinzessin treugeblieben. Erst ein gefälschter Brief, der angeblich von der Prinzessin stammt und in dem sie schreibt, dass sie ihn nicht mehr liebt, treibt den Musikanten in die Arme der Fee – doch kaum erscheint die Prinzessin, lässt er sie auch schon wieder stehen. Die guten Fee erscheint und vereint die beiden Liebenden. Die böse Fee ist frustriert und will sich erschießen, doch der Märchenerzähler kann sie dazubringen, stattdessen mit den

777 Vgl. Ogon’, voda i... mednye truby (1968).

395 anderen in die große Finalnummer einzustimmen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakľ). Auf einer Studio-Showbühne mit Vorhang gedreht, entsprechend stilisierte, puppenstubenartige Kulisse, varietéhafte Kostüme, Anachronismen. Eine Art Conferencier fungiert als Erzähler und kommentiert die Ereignisse. Die Darsteller haben keine Dialoge, dafür sind sie beteiligt an den zahlreichen von Showeinlagen begleiteten Gesangsnummern, die eher dünn mit der Handlung verknüpft sind – der Film hat eher Revuecharakter. Musik bekannter Komponisten aus dem Populärbereich wird verwendet; bekannte Estradekünstler treten auf. Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation/neuer Erzähltyp: Der Film verwendet einige bekannte Motive (insbesondere Mot. T11.3. Love through dream; T91.6.4. Princess falls in love with lowly boy) und sonstige märchenhafte semantische „Hintergrundelemente“ (Königreich, Prinzessin, Feen, Zwerge), er verfremdet sie teils etwas durch Anachronismen. Die syntaktische Struktur ist annähernd märchenhaft durch Schädigung (MS VIII) und deren Beseitigung (MS XIX), doch die dazwischen stattfindende Suchwanderung (vgl. Mot. H1385.5. Quest for vanished lover) dient in erster Linie dem Einstreuen von nicht mit der Handlung verknüpften Musiknummern und ist dabei so sehr reduziert, dass es schwerfällt, hier Funktionen auszumachen und tatsächlich von einem neuen Erzähltyp zu sprechen.

Хорезмийская легенда [Eine choresmische Legende] UdSSR – Usbekistan 1978; Uzbekfiľm. Regie: Jurij Stepčuk; Drehbuch: Kamil Ikramov, Oľga Sideľnikova. Darsteller: Uľmas Alichodžaev, Tamara Šakirova, Rustam Tuljaganov, Kudrat Chodžaev u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Der Kürschner Maksud ist dem Chan von Chiva wegen seiner obrigkeitskritischen Gedichte ein Dorn im Auge. Außerdem begehrt er dessen Braut Malika. Er findet eine Gelegenheit, Maksud festnehmen zu lassen, doch seine Hinrichtung würde einen Volksaufstand provozieren. So trägt er ihm auf Anraten eines Muezzin stattdessen auf, die großen choresmischen Handwerksmeister zu finden, die irgendwohin in die Sklaverei verschleppt wurden. Maksud zieht los. Ihm schließt sich der Straßenjunge Pulat an, dessen Großvater zu den Meistern gehörte. Auf einem Teekessel finden sie eine Nachricht der Meister. Der Kessel wurde in Karatašbad gekauft, und Maksud folgt der Spur. Der Herrscher von Karatašbad siecht krank dahin und wird nur von der Erinnerung an seine Gräueltaten am Leben erhalten. Nachdem ihm Maksud seine Grausamkeit vorwirft, lässt er ihn ins Gefängnis werfen und beschließt seine Hinrichtung. Kurze Zeit später stirbt er jedoch. (2) Pulat kann Maksud befreien. Dieser hat auf der Schwertscheide des Herrschers eine weitere Botschaft der Meister entdeckt, die in die Stadt Mezgir verweist. Dort haben sie weitere Abenteuer, ehe ein Scherge des Chans sie einholt – dessen Plan geht jedoch schief, er wird überwältigt. Um sein Leben zu retten, gibt er Maksud den Hinweis, die Meister im Reich der Königin Rapoj zu suchen. Da er Pulat nicht weiteren Gefahren aussetzen will, schickt Maksud ihn mit einer Karawane zurück nach Chiva. Als der Junge jedoch erfährt, dass in Rapojs Reich Räuber ihr Unwesen treiben, kehrt er sofort um. Die Räuber können Maksud gefangennehmen, doch statt ihn zu töten, will der Hauptmann Maksud überreden, einer der ihren zu werden – er weigert sich standhaft. Wenig später kann ihn wiederum Pulat befreien. Unterdes bringt der böse Muezzin den Chan um und reißt die Macht an sich. Derweil kommen Maksud und Pulat in

396 Rapojs Reich, wo Maksud der Königin das Leben rettet. Aus Dankbarkeit will sie Pulats Großvater die Freiheit schenken, doch Maksud besteht darauf, dass sie alle Meister aus der Sklaverei freilässt. So handelt er mit ihr aus, dass er soviele Männer mitnehmen darf, wie in die Haut eines Stiers passen. Die Haut wird jedoch in feine Riemen geschnitten, dass alle Meister sie halten können. Rapoj gibt nach und lässt sie ziehen. Zurück in Chiva, muss Maksud erst noch den Muezzin besiegen, ehe für ihn und Malika wieder alles gut wird. Filmgestaltung, Besonderheiten: Kurze Einleitung einer Erzählerstimme aus dem Off. Opulent ausgestaltet, mit pseudohistorischen Kostümen und Prachtbauten sowie zahlreichen Landschaftsaufnahmen – dabei wird auch der Verlauf der Jahreszeiten in ästhetisch ansprechenden Bildern eingefangen. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 465 The Man Persecuted Because of his Beautiful Wife = AA/SUS 465 Krasavica-žena (+ AaTh 2400/ATU 927C* The Ground is Measured with a Horse’s Skin (Ox-Hide) = AA 2000*/SUS 2400 Chitrosť Didony). Die Grundstruktur zu Beginn des Films ist klar AaTh 465 entlehnt – dafür sprechen eine Reihe von semantisch-syntaktischen Gegebenheiten, die für diesen charakteristisch sind: Der Herrscher begehrt die Liebste des Helden und will sie besitzen, deshalb will er den Helden loswerden – und stellt ihm auf Anraten eines bösen Ratgebers eine schier unlösbare Aufgabe (vgl. Mot. H931.1. Prince envious of hero’s wife assigns hero tasks; H1211. Quests assigned in order to get rid of hero; H919.2. Tasks assigned at suggestion of religious person). Eliminiert ist dagegen der übernatürliche Charakter der Liebsten und deren Rolle als Helferin778 – als Helfer tritt stattdessen der Junge Pulat auf. Die zusätzlichen semantischen Elemente sind von der sozialistischen Sichtweise geprägt: Der Chan begehrt nicht nur Malika, sondern fürchtet auch Maksud wegen seiner antifeudalistischen Gedichte und seinem Einfluss im Volk. Auch die konkrete Aufgabe, die im Gegensatz zu den Volksmärchen des Typs keine übernatürlichen Elemente enthält und den Film damit zu einem Novellenmärchen macht, kann in diesem Kontext verstanden werden (vgl. dazu Mot. H1385. Quest for lost persons; R61. Person sold into slavery; H31. Recognition by unique ability). Die handlungsentscheidende List, mit der Maksud letztlich die Meister befreit, ist eine modifizierte Variante des Problems der Dido, das nicht nur als Einzelmotiv (Mot. K185.1. Deceptive land purchase: ox-hide measure), sondern auch als Typ (AaTh 2400) bekannt ist.

Блуждающие огоньки Žaltvyksl ės [Die Irrlichter] UdSSR – Litauen 1979; Litovskaja kinostudija. Regie: Gytis Lukšas; Drehbuch: Romas Gudaitis, Gytis Lukšas. Darsteller: Monika Mironaitė, Stasys Petronaitis, Pranas Piaulokas, Valdas Vatautis u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Lygtemændene ere i Byen, sagde Mosekonen (Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau, 1865; Andersen 1982 I, S. 259-273); Pigen, som traadte paa Brødet (Das Mädchen, das auf das Brot trat, 1859; ebd., S. 62-71); Skyggen (Der Schatten, 1847; Andersen 1982 I, S. 358-371); Guldskat (Goldschatz, 1865; Andersen 1982 II, S. 291- 299); Kejserens nye Klæder (Des Kaisers neue Kleider, 1837; Andersen 1982 I, S. 90-95). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Einen Märchenerzähler hat das Märchen verlassen. Bei ihm erscheint die Moorfrau – sie ist bereit, ihm zu neuen Märchen zu verhelfen. Zum Ausgleich will sie

778 Mot. H1233.2.1. Quest accomplished with aid of wife.

397 verstehen lernen, was menschliches Glück ist. Vier Märchen sieht der Erzähler: Das Mädchen, das auf das Brot trat: Das Mädchen Inge arbeitet als Gesellschafterin. Ihr wird Urlaub gegeben, um ihre Mutter zu besuchen, doch als sie diese sieht, schämt sie sich für sie und kehrt um. Um sich ihre Schuhe nicht schmutzig zu machen, tritt sie auf ein Brot – da verschwindet sie und landet in einer unterirdischen Zwischenwelt, wo sie von nun an gefangen ist. Inge bereut ihre Tat und ruft nach ihrer Mutter, die sie um Vergebung bittet. Die Mutter hört die Rufe – um ihre Tochter zu retten, erlegt ihr der Kummer schwere Prüfungen auf. Da die Mutter bereit ist, alles zu opfern, kann sie Inge erlösen. Der Schatten: Einem Gelehrten auf Reisen kommt sein Schatten abhanden. Jahre später trifft er ihn wieder: Er ist Mensch geworden und hat es zu hohem Ansehen gebracht, und er bietet ihm an, nun sein Schatten zu werden. Während es dem Schatten nun immer besser geht, siecht der Gelehrte immer mehr dahin. Als der Schatten eine Prinzessin heiraten will, soll der Gelehrte ganz sein Menschsein aufgeben. Dieser weigert sich, doch der Schatten entledigt sich seiner, indem er erzählt, sein Schatten sei verrückt geworden und bilde sich ein, ein Mensch zu sein. Bevor der Gelehrte hingerichtet werden kann, stirbt er von selbst. (2) Der Goldschatz: Peter ist der Sohn eines Trommlers und seiner Frau, die sich für ihn Großes erhoffen. Seine ganze Umgebung scheint ihm wohlgesonnen. Er überlebt als Trommler einen Krieg und sein Talent lässt ihn zu einem berühmten Künstler werden. Als er nach Hause zurückkehrt, empfangen ihn der General und seine Frau zuvorkommend – doch nur, bis er um die Hand ihrer Tochter anhält, seine Jugendliebe: Diese soll einen Beamten heiraten, und Peter wird des Hauses verwiesen. Verzweifelt schlägt er auf seine Trommel ein, bis deren Fell platzt. Des Königs779 neue Kleider: Ein König ist besessen von seiner Garderobe. Unterdes intrigieren am Hof alle gegeneinander. Zwei Ausländer kommen ins Land, die sich als Schneider ausgeben und vorgeben, dem König ein Gewand anfertigen zu können, das von dummen und ihres Amtes unwürdigen Personen nicht gesehen werden könnte. Sie tun nur so, als ob sie Stoff bearbeiten, da aber niemand zugeben will, nichts zu sehen, kommt der Schwindel nicht heraus. Erst, als der König sich bei einer Parade dem Volk nackt präsentiert, ruft ein kleines Kind die Wahrheit heraus. Der König ist erst peinlich berührt, dann jedoch stimmt er ins allgemeine Gelächter mit ein. Der Erzähler bedankt sich bei der Moorfrau für die Märchen. Ihr aber ist das menschliche Glück nach wie vor fremd geblieben. Sie warnt den Erzähler vor den Irrlichtern, die unerkannt unter den Menschen umhergehen. Sein Wissen darüber ist jedoch nutzlos, denn sie hat ihm sein Glück genommen – jeder wird nur glauben, er erzähle nur ein neues Märchen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Episodisch aufgebaut: In einer Rahmenhandlung trifft ein optisch an Andersen angelehnter Märchenerzähler auf eine Moorhexe, die ihm vier Märchen zeigt. Eingeleitet wird dabei jedes neue Märchen mit einem darin zentralen Gegenstand, den der Märchenerzähler im Moor findet. Stilmix bei Ausstattung, Bauten und Kostümen, die jeweils auf das Mittel- bzw. Nordeuropa einer diffusen Vergangenheit verweisen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Die Einzelepisoden teilen sich in drei Folkloremutationen, zwei Erzähltypenadaptionen: AaTh/ATU 962** The Girl Who Played with the Bread; AaTh 1620 The King’s New Clothes = ATU 1620 The Emperor’s New Clothes = AA/SUS 1620 Novoe plaťe korolja. Der Film geht mit den Andersen-Märchen verschieden um. Als Vorlage für die Rahmenhandlung dient Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau, ein von Andersen eigentümlich gestaltetes „Metamärchen“ mit intertextuellen Verweisen und autobiographischen Zügen: Der Film reduziert es auf die Grundzüge – die Suche nach dem Märchen, die Begegnung mit der Moorfrau, deren Warnung vor den Irrlichtern (vgl. Mot. F491.1. Will-o’-the-Wisp leads

779 In litauischen wie russischen Andersen-Übersetzungen wird statt Kaiser üblicherweise das Wort für König benutzt (lit. karalius, rus. koroľ).

398 people astray). Die Metapher von den Irrlichtern wurde einerseits dazu genutzt, die vier Märchen, in denen es um Moral und falsche Werte geht, damit in Verbindung zu bringen, andererseits wurde die Frage nach dem Wesen menschlichen Glücks hinzugefügt. Auf eines der Märchen wird bereits in der Vorlage verwiesen – Das Mädchen, das auf das Brot trat, das einen Erzähltyp paraphrasiert (AaTh 962**). Der Film verkappt die lange Leidensgeschichte der Heldin, die erst zuletzt als Vögelchen eine Chance zur Buße bekommt, und lässt das Mädchen stattdessen durch die Aufopferung ihrer Mutter erlösen. Der Schatten ist weitestgehend vorlagengetreu umgesetzt, bis auf die Variation am Ende, dass der Gelehrte schon vor seiner Hinrichtung stirbt.780 Bei Der Goldschatz dagegen, das mit dem Motiv des unscheinbaren Helden spielt (Mot. L100. Unpromising hero (heroine)), verschiebt der Film den Schwerpunkt: Bei Andersen weist die Bürgermeisterstochter selbst Peters Liebe zurück, und er gibt sich enttäuscht ganz dem Streben nach Ruhm hin und wird berühmt – im Film ist er schon berühmt, ihm wird aber trotzdem die Hand der Generalstochter, die ihn liebt, wegen seiner gesellschaftlichen Herkunft verweigert. Des Kaisers neue Kleider, worin Andersen einen Schwanktyp paraphrasiert (AaTh 1620), wird wiederum annähernd vorlagengetreu umgesetzt, wenn auch mit einigen satirisch-humoristischen Details angereichert sowie einem leicht variierten Ende, das dem König in ein Lachen der Selbsterkenntnis zugesteht.

Возьми меня с собой Der Gaukler und das Mädchen ([Nimm mich mit]) Produktionsland und -jahr: UdSSR – Russland 1979; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Iosif Oľšanskij, Viktor Oľšanskij, Boris Rycarev. Darsteller: Aleksej Zajcev, Ljudmila Dmitrieva, Svetlana Orlova, Artur Niščenkin u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Eine Gauklertruppe kommt in ein Dorf. Der Gaukler Mitrocha treibt seine Späße mit der tapsigen Dunja und verspottet dann einen reichen Bauern, was in einer Schlägerei mündet. Die Gaukler werden verjagt, und sie schließen zornig Mitrocha aus ihrer Truppe aus. Dunja aber ist ihm nachgelaufen: Sie will ihn unbedingt begleiten, und widerwillig nimmt er sie mit. Er hat vor, in die Stadt zu seinem Freund Afonja zu gehen, um wie dieser sesshaft zu werden. Kurz darauf werden die beiden Zeugen eines Überfalls auf einen Bojaren. Den Räubern steht die schöne Alena vor, die mit diesem eine Rechnung offen hat. Die Leute des Bojaren entkommen, Mitrocha und Dunja aber fallen in die Hände der Räuber. Mit einer traurigen Ballade rührt Mitrocha sie jedoch so sehr, dass Alena sie gehen lässt und verspricht, ihnen in der Not zu Hilfe zu kommen. Sie erzählt, dass der Bojare ihren Liebsten Filat umgebracht habe und sie unter die Räuber gegangen sei, um sich an ihm zu rächen. In einem Wirtshaus werden Mitrocha und Dunja von einem Schergen des Bojaren entdeckt, der über ihre Verbindung mit Alena weiß, und nur mit Mühe und Not entkommen die zwei. Dunja hat sich mittlerweile in Mitrocha verliebt, doch dieser scheint davon nichts zu merken. Sie kommen zu Afonja und seiner Familie. Dieser erinnert sich mit Freuden an seine Gauklerzeit mit Mitrocha. Da tauchen die Leute des Bojaren auf und nehmen Mitrocha und Dunja gefangen. Im Gefängnis treffen sie auf den totgeglaubten Filat – diesem wiederum wurde weisgemacht, Alena, die der Bojare ihm mit Gewalt nehmen wollte, habe sich umgebracht. Unterdes ist Hilfe in Gestalt des bärenstarken Afonja unterwegs. Es gelingt ihm, die drei zu befreien, doch Mitrocha wird auf der Flucht gefasst. Dunja erinnert sich an das Versprechen Alenas, und sie schickt Filat zu den Räubern. Unterdes soll Mitrocha öffentlich hingerichtet werden. Da

780 Vgl. auch Ten’ (1971), der die Švarc’sche Bearbeitung des Andersen-Märchens adaptiert, die ihrerseits nur lose mit dem Ursprungstext verknüpft ist.

399 erscheint auf einmal Dunja, die mit ihm ein Possenspiel beginnt und damit die Menge und sogar den Bojaren erheitert. Dennoch will dieser beide hinrichten lassen. Im Angesicht des Todes erkennt Mitrocha, dass er Dunja liebt. Gerade noch rechtzeitig treffen die Räuber ein. Es kommt zu einem Kampf, in dem der Bojare getötet und seine Leute besiegt werden. Mitrocha und Dunja aber werden von nun an gemeinsam als Gaukler durchs Land ziehen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistisch-historisierende Ausstattung mit vielen Naturaufnahmen. Das Gauklertum wird durch zirkushafte Possen, Lieder etc. folkloristisch dargestellt. Actionreiche Fecht- und Kampfszenen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Der Film kann als Novellenmärchen mit schwank- und abenteuerhaften Zügen betrachtet werden. Er romantisiert das Gauklertum und orientiert sich dabei an verschiedenen Folkloregenres, ohne sich auf konkrete Quellen zu berufen. Märchenhaften Charakter gewinnt er insbesondere durch die Neigung zu spielerisch-grotesken Hyperbeln, die sich in Details festmachen (z.B. zieht sich Mitrocha an den Haaren selbst aus dem Wasser etc.), dadurch entsteht eine Art Märchenwelt. Alena und ihre edle bzw. reformierte Räuberbande (vgl. Mot. N765. Meeting with robber band; N884. Robber as helper) sind Entlehnungen aus dem Räuberroman. Der spannungssteigernde Schluss entspricht einem verbreiteten Motiv (Mot. K555. Executioner kept busy or interested until rescue comes).

Соловей Die Nachtigall UdSSR – Russland 1979; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Michail Voľpin. Darsteller: Svetlana Smirnova, Jurij Vasiľev, Aleksandr Vokač, Zinovij Gerdt u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Nattergalen (Die Nachtigall, 1843; Andersen 1982 I, S. 225-235); Kejserens nye Klæder (Des Kaisers neue Kleider, 1837; ebd., S. 90-95). Inhaltsangabe: Der König ist gestorben, und die Suche nach dem als Säugling verschwundenen Kronprinzen wird wieder aufgenommen. Die Sucher kommen auch zu dem jungen Ėvan – dieser hat kurz zuvor einem Zauberer das Leben gerettet, und da sich dieser erkenntlich zeigen will, zaubert er ihm heimlich die Erkennungsmerkmale des Kronprinzen an. Ėvan gilt nun als der neue König, er wird in den Palast gebracht, seine Braut Marija bleibt zurück. Anfangs tut er sich schwer mit der Etikette, doch dann findet er mehr und mehr Gefallen am Leben bei Hofe, auch wenn dort viel falscher Schein vorherrscht. Der Schlossgarten ist durchweg künstlich und wurde vom Hofmechanikus konstruiert. Als Ėvan den Wunsch äußert, Vögel darin singen hören zu wollen, baut dieser eine mechanische Nachtigall. Derweil kommt Marija Ėvans wegen in den Palast und nimmt eine Anstellung in der Spülküche an. Die Krönung steht bevor, und ein ausländischer Schneider soll Ėvan ein Gewand dafür schneidern. Dieser behauptet, einen Stoff zu besitzen, der für alle Dummen und ihres Amtes Unwürdigen unsichtbar sei. Tatsächlich ist er ein Betrüger und der Stoff existiert gar nicht. Bei der Krönungsfeier tritt Ėvan dann halbnackt vor seinen Hofstaat. Niemand traut sich, ihn aufzuklären – nur Marija, die fassungslos über seine Verblendung ist, ruft die Wahrheit heraus. Die Wachen wollen sie sofort festnehmen, doch ihr gelingt die Flucht – dabei gerät sie in das Haus des Zauberers. Als sie erfährt, dass er für Ėvans Königstum verantwortlich ist, macht sie ihm bittere Vorwürfe. Eine Rücknahme des Zaubers ist jedoch nur dann möglich, wenn Ėvan selbst es will. Dies soll mit einer List erreicht werden: Marija wird in eine

400 Prinzessin verwandelt, die auf einem königlichen Ball erscheint. Ėvan findet Gefallen an ihr und versucht, sie mit seinen künstlichen Geschenken zu beeindrucken. Beim verabredeten Stelldichein wartet jedoch dann eine mechanische Puppe auf ihn – die Prinzessin spottet, vielleicht ziehe er ja auch künstliche Prinzessinnen vor. Der bedrückte Ėvan verfällt kurz darauf in eine Fieberkrankheit. Marija bittet die lebendige Nachtigall, für ihn zu singen und ihn wieder gesund zu machen. Ėvan genest, hinterlässt eine Nachricht über seinen Verzicht auf die Krone und flieht aus dem Palast – um mit Marija Nachtigallengesang zu lauschen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Kombination aus Naturkulissen und den künstlich-stilisierten Dekorationen des Palastes und des Palastgartens – ein Antagonismus, der in der Handlung direkt thematisiert wird. Die Kostüme der einfachen Bevölkerung, aus denen sich auch der Zauberer nicht besonders abhebt, sind vage mitteleuropäisch-folkloristisch, die der Höfling exzentrischer Stilmix mit Barockanklängen. Mit der Rolle des Hofmechanikus, eines Erfinders, gehen einige Steampunk-Anachronismen einher – humoristisch breit ausgespielt wird dies, als die Musik in der Ballszene von einer mechanischen Konstruktion mit einer Art Magnetspule kommt, die sich verheddert und dann die Musik verzerrt und mit beschleunigter oder verlangsamter Geschwindigkeit abspielt, worauf alle Höflinge ihren Tanzstil jeweils anpassen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation + Erzähltypenadaption: AaTh 1620 The King’s New Clothes = ATU 1620 The Emperor’s New Clothes = AA/SUS 1620 Novoe plaťe korolja. Der Film verwebt die Sujets von zwei Andersen-Märchen miteinander und geht ziemlich frei mit ihnen um. Das in Die Nachtigall zentrale Motiv des echten und des unechten Singvogels, eine Erfindung Andersens ohne direkte Folkloreparallen (vgl. Mot. D1620. Magic automata), wird nur als Grundinspiration genutzt; das gesellschaftskritische Kernthema des Märchens wird ausgedeutet und erweitert: Der Opposition zwischen dem Natürlichen und Lebendigen sowie dem Künstlichen und Mechanischen wird noch eine weitere Dimension hinzugefügt, die der Genügsamkeit im Gegensatz zum Streben nach Ruhm und Reichtum. Hierfür wird die typische Märchenabfolge umgekehrt: Der niedrige Held wird – hier durch Magie bewerkstelligt – schon zu Anfang König (vgl. Mot. L165. Lowly boy becomes king), um am Ende dem Thron zu entsagen. Das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern (AaTh 1620) fungiert in modifizierter und geraffter Form als Einzelepisode, um die beginnende Korrumpiertheit Ėvans darzustellen. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 226-229; Romanenko 1983, S. 27-28

Всадник на золотом коне Der Reiter auf dem goldenen Pferd UdSSR – Russland 1980; Mosfiľm. Regie: Vasilij Žuravlev; Drehbuch: Viktor Vitkovič. Darsteller: Fidan Gafarov, Irina Malyševa, Iľšat Jumagulov, Chusain Kudašev u.a. Vorlage: Viktor Vitkovič: Slovo o zemle Aj (1956; Vitkovič 1956). Inhaltsangabe: Im Lande Aj wollen sich zwei Nomadenstämme vereinen, und deshalb sollen die Kinder der Häuptlinge, Kusėr-Murzas Tochter Aj und Kusmės-Bijs Sohn Altynduga, vermählt werden. Einer Prophezeiung zufolge soll mit ihrer Vereinigung der böse Katil-Badtša seine Macht verlieren, und so beauftragt er die Hexe Mjasekaj, die beiden zu trennen. Diese erscheint verkleidet bei Kusėr-Murza und redet ihm ein, Kusmės-Bij wolle ihm seine Macht streitig

401 machen und sei außerdem für das Verschwinden seines Sohnes vor langer Zeit verantwortlich. Voller Wut zieht Kusėr-Murza mit seinem Stamm fort. Ein Zaubertrank Mjasekajs lässt Altynduga Aj vergessen. Mjasekajs Sohn Jangyzak, der mit seinem magischen Gesang alle erstarren lassen kann, stiehlt im Auftrag von Katil-Badtša Kusmės-Bij einen Zauberstrauch. Kurz darauf erscheint er mit seinen beiden Brüdern bei Kusėr-Murza – alle drei begehren sie Aj zur Frau. Um Zeit zu gewinnen, erklärt diese, ein Wettreit solle entscheiden. Heimlich lässt sie Altynduga eine Nachricht zukommen. Dieser erinnert sich wieder an Aj und bricht mit einem Wunderpferd auf, sie zu suchen. Unterwegs trifft er auf Jangyzak und kämpft mit ihm – er kann ihn besiegen, verschont ihn jedoch. Die beiden verbrüdern sich und Jangyzak wechselt die Seiten. Wenig später sind die beiden Liebenden wieder vereint, und Kusėr-Murza erkennt Altynduga als Wettstreitsteilnehmer an. Unterdes erfährt Katil-Badtša von der Schönheit Ajs und will sie für sich selbst – das Ungeheuer Tašpaš soll sie entführen. Gegen Jangyzaks Gesang ist aber selbst dieses machtlos. Als Katil-Badtša Mjasekaj ihres Sohnes wegen zur Rede stellt, gesteht diese, dass er nicht ihr Kind, sondern der entführte Sohn Kusėr- Murzas ist. Den Wettstreit um Ajs Hand kann Altynduga derweil für sich entscheiden. Wieder nähert sich Tašpaš, diesmal mit Ohrstöpseln ausgerüstet, und kann Jangyzak überwältigen. Höhnisch verrät er ihm die Wahrheit über seine Herkunft. Doch bevor Tašpaš weiter Böses anrichten kann, wird er von Aj mit einem Bogenschuss an seiner einzigen verwundbaren Stelle getötet. Mit einem Heer ziehen Altynduga und Jangyzak gegen Katil-Badtša, und sie besiegen ihn und Mjasekaj. Die Verbindung Altyndugas und Ajs und ihrer Stämme wird nun endgültig besiegelt. Jangyzak aber findet an Altyndugas Schwester Gefallen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Existiert auch in einer Stereofilm-Variante (3D). Visuelle Opulenz durch malerische Landschaftsaufnahmen. Folkloristische Ausstattung bei der Gestaltung der Nomadenlager und der Kostüme seiner Bewohner, unter Betonung des Baschkirisch-Nationalen. Katil-Badtšas Schloss, das aus stilisierten Studiokulissen besteht, ist dagegen weitestgehend düstere Phantasiekreation. Das Steinmonster Tašpaš wird von einem Schauspieler in aufwendigem Ganzkörperkostüm gespielt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neuer Erzähltyp. Die zugrundeliegende Erzählung Vitkovičs781 verwendet zahlreiche Einzelelemente aus dem baschkirischen Märchen- und Folkloreschatz, geht aber sehr frei damit um. Fast alle Namen der handelnden Personen finden sich auch in Märchen wieder, meist aber in völlig anderen Kontexten (siehe z.B. für Altynduga: Baš. sk. 12; Tašpaš: 7; Jangyzak: 17). Mjasekaj ist die generische Bezeichnung für eine der Baba-Jaga ähnliche hexenhafte Gestalt (vgl. z.B. Baš. sk. 9, 14). Jangyzak hat mit dem Helden aus dem Märchen zumindest die Eigenschaft gemein, ein wundersamer Musikant zu sein (vgl. Mot. D1275. Magic song; auch D2072.6. Paralysis by singing magic song). Im Zusammenhang mit dem handlungsauslösende Ereignis agieren Kusėr und Kusmės ähnlich wie die gleichnamigen Stammeshäuptlinge aus der Folklore (vgl. Baš. sk. 8): Obwohl ihre Kinder einander versprochen sind, verweigert Kusėr Kusmės’ Sohn die Hand seiner Tochter. Die Begleitumstände und alle weiteren Ereignisse sind jedoch freie Variationen Vitkovičs. Der Film nimmt einige Änderungen an der Erzählung vor: So sind darin die Helden anfangs noch Kinder, und Altyndugas Erinnerung an Aj (vgl. Mot. D2000. Magic forgetfulness) wird nach deren Fortzug erst im Jugendalter wieder geweckt. Die Rolle des Wunderpferds (vgl. Mot. B184.1. Magic horse; B102.2. Golden horse) ist, trotz der Nennung im Titel, auf ein Minimum reduziert. Auch ansonsten wird teilweise gekürzt, gerafft und umgestellt, Džangarchan wird in Katil-Badtša umbenannt – im Kern ist der Film jedoch vorlagentreu. So

781 Allem Anschein war sie schon bei ihrem Ersterscheinen 1956 als Kinodrehbuch angedacht, wovon der volle Titel zeugt: Slovo o zemle Aj. Kinoskazka.

402 findet sich auch hier der magische Rosenstrauch (vgl. Mot. D965.3. Magic rosebush) und der Wettstreit um Ajs Hand (vgl. Mot. H331.1. Suitor contest: difficult riding). In der Figur des Tašpaš sind verschiedene Motive verknüpft (vgl. Mot. D1635. Golem; G371. Stone giants; Z311. Achilles heel. Invulnerability except in one spot). Die Grundstruktur ist dabei weitgehend märchenhaft: Katil-Badtša erfährt von Altynduga und Aj (MS V), in seinem Auftrag erwirkt Mjasekaj mit einer List eine Schädigung (MS VI-VIII); Altynduga bricht auf (MS XI), sein Kampf mit Jangyzak kann als Prüfung angesehen werden – und Jangyzak wechselt von der Rolle des Schenkers in die Rolle des magischen Helfers (MS XII-XIV). Das Wettreiten ist eine schwierige Aufgabe (MS XXV), dem Kampf und Sieg über die Bösewichte nachgeordnet sind (MS XVI + XVIII). Literaturhinweise/Besprechungen: Zipes 2011, S. 331

Ледяная внучка Die Eisfee UdSSR – Russland 1980; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie, Drehbuch: Boris Rycarev. Darsteller: Svetlana Orlova, Andrej Gradov, Ljudmila Šagalova, Boris Saburov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: In die Stube des Töpfers Gridja verirrt sich das Schneeflockenmädchen Ljuba, das ihn neckt und ankündigt, zurückzukehren. Unterdes streitet sich das alte Ehepaar Katerina und Eremej darum, wer Holz im Wald holen soll, und sie gehen darüber eine Wette ein, wer länger schweigen kann. Eine Nachbarin hält die beiden starr daliegenden Alten für tot, und schon hat sich fast das ganze Dorf bei ihnen versammelt und zankt um ihre Habseligkeiten. Schließlich kann Katerina nicht mehr an sich halten und spricht, und so muss sie zur Freude Eremejs in den Wald. Beim Holzsammeln trifft sie auf die menschgewordene Ljuba, die sie mit nach Hause nimmt und die von den beiden Alten als Enkelin aufgenommen wird. Als sie und Gridja aufeinandertreffen, verlieben sie sich ineinander. Unterdes erscheint der Fürst im Dorf, der sich unter seinen Untergebenen eine Braut aussuchen will. Ljuba bezaubert ihn, und ohne ihre Einwilligung zu erfragen, beschließt er, sie zu heiraten. Die Alten träumen schon von einer goldenen Zukunft, doch Ljuba ist verzweifelt und bespricht sich mit Gridja. Dieser hält daraufhin selbst um Ljubas Hand an, versucht, sie den Brautwerbern des Fürsten zu entführen, kann jedoch nicht verhindern, dass sie schließlich gefangen und aufs Schloss gebracht wird. Der Fürst will sie nicht zwingen, seine Frau zu werden, überredet sie jedoch hinterlistig, bis zum nächsten Tag im Schloss zu bleiben. Ihre Ziehgroßeltern werden unterdes zu Dienstboten in der Küche gemacht. Als Gridja aufs Schloss kommt und Ljubas Herausgabe fordert, kann der Fürst ihm weismachen, sie habe sich seines Reichtums wegen freiwillig dazu entschieden, seine Frau zu werden. Der enttäuschte Gridja geht davon. Als Ljuba am Tag darauf mit der fürstlichen Kutsche ins Dorf kommt, um zu ihm zurückzukehren, weist er sie zurück. Die verzweifelte Ljuba verwandelt sich darauf in eine dämonische Eisfee, die alles und jeden zu Eis erstarren lässt. Voller Angst flüchten die Alten vor ihr zu Gridja, der von ihnen erfährt, dass der Fürst ihn betrogen hat. Ljuba erscheint, und Gridja kann mit seinem Liebesgeständnis und der Wärme des Feuers bewirken, dass ihr Herz auftaut und sie wieder ein Mensch wird. Alles erwacht wieder zum Leben. Bald darauf erlebt Ljuba mit Gridja ihren ersten Frühling. Filmgestaltung, Besonderheiten: Erzählerstimme aus dem Off am Anfang und am Ende. Folkloristische Ausstattung bei Kostümen und der Holzarchitektur des idyllisch gestalteten verschneiten Dorfes, aber auch im

403 ebenfalls hölzernen, prunkvoll-lubokhaften Fürstenschloss. Daneben wird auch der winterliche Birkenwald und die Wiesen in malerischen Bildern eingefangen. Ljuba wird zunächst in einem stilisierten Schneeflockenkostüm per Blendetechnik als transparente Erscheinung gezeigt – später manifestiert sie sich aus einem Strahl von Regenbogenlicht als Mensch. Nach ihrer Verwandlung in den Eisdämon ist sie wiederum transparent und trägt das stilisierte Kostüm, das jedoch nurmehr in kaltem Licht angeleuchtet ist, Haut und Haare sind von gräulich-weißer Farbe, und sie spricht mit Hall in der Stimme. Musikalisch ist der Film unterlegt von Čajkovskij-Kompositionen, dazu verschiedene volksliedhafte Lieder. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 703* The Artificial Child = AA *703/SUS 703* Sneguročka (+ Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 1351 The Silence Wager = AA/SUS 1315 Kto zagovorit pervym). In seinen Hauptmotiven erinnert der Film an die Volksmärchen von Sneguročka (vgl. Mot. T677. Substitute for a child. Aged, childless couple carve themselves a child from wood, or make one from snow, clay, and the like; auch F433.1. Spirit of snow); im Aufbau und in Einzelzügen sind auch Anlehnungen an das gleichnamige Ostrovskij-Stück zu erkennen782 – auch zu diesem weist der Film jedoch nur bruchstückhafte Verwandtschaft auf und präsentiert ein in seiner Ausformung weitgehend originales Sujet. Die einführende Episode um den Streit der Alten am Anfang entspricht einem populären schwankhaften Typ (AaTh 1351; auch Mot. J2511. The silence wager). Ein besonderer Schwerpunkt wird dann auf das Motiv der Mahrtenverbindung gelegt (Mot. T91.3. Love of mortal and supernatural person) – es ist jedoch nicht, wie häufig in der Folklore, Ljubas übernatürliche Herkunft, die die Beziehung zwischen ihr und Gridja gefährdet, sondern rein menschliche Intrigen (vgl. Mot. T84. Lovers treacherously separated). Ihre anschließende dämonischen Inkarnation, die Menschen erstarren lässt (vgl. Mot. D581. Petrification by glance)783, kennt keine direkten Parallelen in Volksmärchen und Folklore784, ebensowenig wie die Form ihrer Erlösung (vgl. aber Mot. D791.2.1. Disenchantment of girl only by lover). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 230-233; Romanenko 1983, S. 13-14

Новые приключения Муравья и Блохи Zgapari [Die neuen Abenteuer von Ameise und Floh] UdSSR – Georgien 1980; Gruzija-fiľm. Regie: Konstantin Surmava; Drehbuch: Mari Gvelesiani. Darsteller: Georgij Sicharulidze, Kacha Dalegašvili, Bakuri Bakuradze, Iraklij Bendeliani u.a. Vorlage: Volksmärchen von Ameise und Floh (vgl. Gruz. sk. 153). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Eine Gruppe von Tblissier Schulkindern verfilmt mit der professionellen Hilfe eines Regisseurs ein Märchen: In einem Ameisenhaufen trifft die Nachricht ein, dass ein Staudamm gebrochen sei und alles überschwemmt zu werden droht. Eine mutige Ameise erklärt sich bereit, aufzubrechen, um den Damm zu reparieren. Auf dem Weg schließt sie Freundschaft mit einem Floh. Bei der Überquerung eines Flusses rutscht der Stamm, den sie als Brücke benutzt haben, weg, und während der Floh ans Ufer springt, steht die Ameise auf einmal auf einem Stein inmitten der tosenden Fluten. Der Floh verspricht, Hilfe zu holen.

782 Vgl. dazu Sneguročka (1968); Vesennjaja skazka (1971). 783 Vgl. dazu auch Legenda o ledjanom serdce (1957). 784 Sie erinnert darin entfernt an Andersens Schneekönigin.

404 Zuerst kommt er ins Reich der Schweine, deren Zaren er um Borsten bittet, um ein Seil daraus zu knüpfen. Der Schweinezar aber trägt Perücke – damit ihm echte Schweineborsten wachsen, muss er Eicheln essen. Der Eichenbaum aber ist von den bösen Raben und deren König besetzt, die den Floh gefangennehmen. Er wird gerettet von den Mziurovcy, den Kindern der Sonne, die jedem in Not helfen und nun zu seinen Begleitern werden. Zusammen brechen sie zur Burg der geflügelten Ritter auf, die die Raben vertreiben sollen. Es ist jedoch nur ein Ritter daheim, der sich als verkleidete Frau erweist – ihre Jungen sind noch klein, und um zu echten Rittern heranzuwachsen, brauchen sie Hirse. (2) Floh und Mziurovcy brechen auf, welche zu besorgen, doch die bösen Mäuse haben das Hirsefeld besetzt und dessen Herrin zur Gefangenen gemacht. Die letzte Ähre können die Freunde auf deren Wunsch hin retten – die freundlichen Bewohner einer Blumenwiese nehmen das Ährenmädchen gerne bei sich auf. Floh und Mziurovcy ziehen weiter. Sie kommen zum Gestiefelten Kater, den sie bitten, die Mäuse zu fangen. Dieser braucht dazu jedoch Milch. Dafür gehen die Freunde zum Menschen, einem Kuhhirten. Als dieser erfährt, dass er es mit dem Floh aus dem Märchen zu tun hat, gibt er ihm gerne Milch. Nun geht die Ereigniskette rückwärts, und schließlich können die Freunde mit einem Borstenseil die Ameise retten. Sie wollen nun gemeinsam den Damm reparieren, doch da schaltet sich der Regisseur des Films ein: Der Damm ist intakt, alles war nur eine Prüfung, mit der sie bewiesen haben, was sie für gute Freunde sind. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Hauptrollen sowie zahlreiche Statistenparts werden von kindlichen Laiendarstellern, Pionieren aus Tblissier Schulen, verkörpert. In einer Art Rahmenhandlung berichtet eine kindliche Erzählerstimme aus dem Off davon, dass es sich um ein Projekt der Pioniere handelt, die eine Aufführung in den Filmstudios von Gruzija-Fiľm verfilmen – statt eines Vorspanns werden die entsprechenden Produktionsdaten von der Erzählerin gesprochen. Die Darsteller fahren durch die Straßen des zeitgenössischen Tblissi, die Vorbereitungen werden gezeigt, ein Regisseur weist die Kinder ein usw., ehe der eigentliche Film beginnt. Die Akteure sind laut Geschichte Tiere und animierte Objekte – diese werden zwar in den Kostümen annähernd angedeutet, jedoch scheinen sie soweit anthropomorphisiert, dass auch in den Dialogen teilweise die Grenzen verschwimmen. Am Ende wird dann explizit die Grenze zwischen Erzähltem und Erzählung durchbrochen. Viele Außenaufnahmen, mit einigen modernen Anachronismen (die, da es sich um kein traditionelles Zaubermärchen handelt, nicht weiter stören). Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: Vgl.785 AaTh/ATU 2030 The Old Woman and her Pig. Der Film stellt im Korpus ein einmaliges Kuriosum dar: Er adaptiert ein Kettenmärchen – diese populäre Erzählform bildet ihre Episoden dadurch, dass in formelhaften Aufzählungen immer wieder auf die Ereignisse der vorherigen Episode zurückgegriffen wird. Das hier zugrundeliegende bekannte Märchen ist schnell nacherzählt: Die Ameise fällt ins Wasser; der Floh bittet das Schwein um Borsten für ein Seil und dieses fordert als Gegenleistung Eicheln; der Eichenbaum will, dass der Rabe von ihm ablässt; dieser wiederum fordert dafür ein Küken; die Glucke fordert dafür Hirse; das Erdloch will dafür von der Maus befreit werden; diese von der Katze; diese verlangt dafür Milch – und diese erhält der Floh schließlich von der Kuh, wodurch die Kette geschlossen und die Ameise gerettet werden kann. Die Grundstruktur der Vorlage wird vom Film also beibehalten, er variiert sie jedoch dadurch, indem er eine abenteuerhafte Vorgeschichte erfindet, daraus seine Dynamik aufbaut und die Einzelepisoden jeweils modifiziert und ausfabuliert. Dabei werden die Akteure mit zusätzlichen märchenhaften semantischen Attributen versehen – am Auffälligsten im Fall des „gestiefelten

785 Das bekannte georgische Volksmärchen hat keine eindeutige Entsprechung in den Typenindices; wie in den Kommentaren zu Gruz. sk. vermerkt, kann es aber am Ehesten AaTh 2030 zugeordnet werden.

405 Katers“. Die „Mziurovcy“ (ein Tblissier Pionier-Musikensemble) werden dem Floh als Helfer zur Seite gestellt, um die Botschaft des Films stärker zu betonen – es handelt sich um eine kindliche Parabel um den Wert der Freundschaft. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1987, S. 31-33

Приключения Али-Бабы и сорока разбойников Alibaba aur 40 chor786 Ali Baba und die 40 Räuber UdSSR – Usbekistan/Indien 1980; Uzbekfiľm/Eagle Films. Regie: Latif Fajziev, Umesh Mehra; Drehbuch: Boris Saakov, Shanti Prakash Bakshi. Darsteller: Dharmendra, Hema Malini, Rolan Bykov, Zakir Muchamedžanov u.a. Vorlage: Märchen aus 1001 Nacht von Ali Baba und den 40 Räubern (1001 Nacht II/2, S. 791-859). Inhaltsangabe: Ein Kaufmann und seine Tochter geraten in die Gewalt der Räuberbande Abu Hasans, die die Umgebung der Stadt Guljabad terrorisiert. Sie werden nicht getötet, da die Kenntnisse des Kaufmanns über Schwarzpulver Abu Hasan nützlich scheinen. Die Tochter, Fatima, wird erpresst, für die Räuber Botengänge zu machen. Derweil erfahren die Brüder Kasym und Ali- Baba, dass ihr lange totgeglaubter Vater Jusuf am Leben und auf dem Weg zu ihnen ist. Bevor er jedoch Guljabad erreicht, kommt es durch die Sprengung der Staumauer durch die Räuber zu einer Überschwemmung, und er wird von den Fluten mitgerissen. Aufregung bricht aus, da Guljabads Einwohner ohne die Staumauer kein Wasser haben. Der Stadtfürst lässt welches importieren, doch dies wird zu teuren Preisen verkauft. Die Flutwelle trägt Jusuf indes bis nach Indien, wo ihn der Radscha findet und bei sich aufnimmt. Von hier aus kann er seine Familie benachrichtigen. Ali-Baba bricht auf, um den Vater abzuholen. Gerade als er im Radschapalast eintrifft, kommt es dort zu einem Umsturz. Ali-Baba und Jusuf werden in die Ereignisse verwickelt, und sie verhelfen gemeinsam der Prinzessin Mardžina zur Flucht. Zu dritt wollen sie sich einer Karawane anschließen. Fatima erfährt unterdes auf einem ihrer Botengänge, dass ihr Vater sich umgebracht hat, damit sie nicht seinetwegen zu den Räubern zurückkehrt. Sie trifft auf Kasym, den sie so betören kann, dass er sie zur Frau nimmt. Ali- Baba und Mardžina geraten unterdes in Konflikt mit dem Karawanenführer Mustafa. Im Trubel eines Überfalls der Räuber wird Mardžina von ihm entführt und Jusuf schwer verletzt. Ali-Baba bringt den Vater nach Hause, wo er jedoch wenig später stirbt. Sein letzter Wunsch ist es, dass die Staumauer wiedererrichtet wird. Kurz darauf findet Ali-Baba Mardžina wieder – auf dem Sklavenmarkt, wo Mustafa sie verkaufen will. Um sie zu retten, bittet Ali-Baba Kasym um Geld, doch dieser erklärt sich nur bereit, wenn er ihm sein ganzes Erbteil abtritt. Wenig später sieht Ali-Baba beim Holzsammeln in den Bergen zufällig, wie sich die Räuber nähern und ihre geheime Höhle mit einem Zauberwort öffnen. Als sie sich wieder entfernt haben, öffnet er selbst die Höhle und findet dort riesige Schätze vor. Er nimmt jedoch nur soviel Gold mit, wie für den Bau der Staumauer nötig ist. Kasym entlockt seinem Bruder das Geheimnis der Höhle, und er bereichert sich selbst dort. Als er wieder hinaus will, hat er das Zauberwort vergessen. Er wird von den Räubern entdeckt und getötet. Als er nicht zurückkehrt, wendet sich Fatima an Ali-Baba. Dieser geht zur Höhle und entwendet Kasyms

786 Die sowjetische und die indische Fassung, beide online zugänglich, unterscheiden sich erheblich voneinander – nicht nur durch veränderte Szenenfolge, Szenenauslassungen, zusätzliche Szenen und Lieder (in der indischen Fassung), sondern stellenweise ist auch die Handlungsstruktur verändert, Szenen wurden augenscheinlich in mehreren Varianten gedreht.

406 Leichnam. Die Räuber verlieren seine Spur, doch Ali-Baba gibt sich selbst preis: Er verrät dem Stadtfürsten, wo die Räuberhöhle ist – dieser und Abu Hasan sind jedoch eine Person. Er gibt vor, Ali-Baba mit 40 Krügen Gold belohnen zu wollen – in Wahrheit stecken die Räuber darin. Fatima schöpft Verdacht. Die Krüge werden ins Wasser geworfen, und kurz darauf wird der falsche Fürst vor den Bürgern Guljabads entlarvt. Er kann flüchten, wird aber von Ali- Baba in der Höhle gestellt und getötet. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat. Aus dem Off gesprochener formelhafter Prolog und Epilog. Usbekisch- indische Co-Produktion mit drei langen Musiknummern im Bollywood-Stil. Opulente Ausstattung mit Massenszenen, Spezialeffekten und sonstigen Schauwerten. Kostüme und Architektur weisen auf diffuse orientalische Märchenvergangenheit hin. Beeindruckende Landschaftsaufnahmen. Gedreht ausschließlich an originalen Schauplätzen in Usbekistan, verschiedenen Sowjetrepubliken und Indien. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: ATU 954 The Forty Thieves (Ali Baba) = AA/SUS 676 Dva brata i sorok razbojnikov (Ali Baba) (= AaTh 676 Open Sesame + AaTh 954 The Forty Thieves). Gut drei Viertel des Films haben mit dem Sujet des bekannten Märchens aus 1001 Nacht eigentlich nichts zu tun – alle actionreich-abenteuerlichen Ereignisse und Verwicklungen bis zur Entdeckung der Räuberhöhle durch Ali Baba sind novellistische Erfindung des Films. Erst hier setzt die Handlung des Märchens ein, die im Kern vorlagengetreu präsentiert, aber in Einzelzügen stark modifiziert wird – was auch der Vorgeschichte geschuldet ist: Zu den Modifikationen gehört etwa, dass Ali Baba die Schätze nicht für sich, sondern ausschließlich für den Bau der Staumauer nutzt; vor allem aber auch die doppelte Identität des Räuberhauptmanns. Als Kasyms Frau agiert Fatima, die eine gemeinsame Vergangenheit mit den Räubern verbindet – später übernimmt sie auch eine Funktion der schlauen Sklavin aus dem Märchen, indem sie hinter das Geheimnis der Räuber in den Krügen kommt und sie beseitigen hilft (jedoch nicht, wie im Märchen, durch siedendes Öl). Die Rolle von Ali-Babas Frau wiederum kommt Mardžina zu, mit der Ali-Baba eine lange Vorgeschichte verbindet – auch sie übernimmt teilweise Funktionen der Sklavin, mit der sie auch den Namen teilt. Genaugenommen werden so die Rollen der beiden Ehefrauen erweitert und die Sklavin als eigenständige Figur eliminiert – es fehlt entsprechend auch der Schluss des Märchens, indem Ali-Baba ihr aus Dankbarkeit die Freiheit schenkt und sie mit seinem Sohn verheiratet. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 234-238

Акмаль, дракон и принцесса [Akmaľ, der Drache und die Prinzessin] UdSSR – Usbekistan 1981; Uzbekfiľm. Regie: Jurij Stepčuk; Drehbuch: Lev Arkaďev. Darsteller: Sokrat Sulejmanov, Diľnoza Rasulova, Radžab Adašev, Iroda Alieva u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Milizionär Nuriev sucht den kleinen Ausreißer Akmaľ und findet diesen in den Bergen wieder. Auf der Wache gibt der Junge zur Verblüffung aller zu Protokoll, er sei im Märchen gewesen. Dort hat er einen alten Zauberer getroffen. Von ihm erfährt er, dass die Geburtstagsfeier der Prinzessin Guzaľ bevorsteht. Aus seinem Märchenbuch weiß der Junge jedoch, dass sie an diesem Tag von einem Drachen entführt werden soll, und so macht er sich sofort auf, sie zu retten. Vom Zauberer erhält er dafür ein Zauberpferd. Dann, so behauptet

407 Akmaľ zum Unglauben seiner Zuhörer, sei auf einmal Nuriev im Märchen erschienen. Auch dieser kommt zunächst zum Zauberer, den er erst überzeugen muss, dass er Akmaľs Freund ist. Da sein Motorrad im Märchenreich nicht fährt, gibt ihm der Alte einen motorisierten Zauberesel. Akmaľ kommt unterdes zum Palast – er ist zu spät, der Drache war bereits da, er hat die Prinzessin entführt und alle Anwesenden mit seinem Blick erstarren lassen. Nur der Chan hat sich rechtzeitig unter den Tisch geflüchtet. Seine größte Sorge ist, dass er wegen der Erstarrung seiner Untertanen niemanden mehr zu befehligen hat. Akmaľ bietet er jedoch sein halbes Königreich an, wenn er die Prinzessin rettet. Auf seinem Weg zum Drachen begegnet dem Jungen dann eine Hexe mit Zahnschmerzen. Er zieht ihr den schmerzenden Zahn, und sie verspricht ihm, dem Bösen abzuschwören und nur noch Gutes zu tun. Akmaľ hat es jedoch so eilig zum Drachen, dass er ihre Ratschläge nicht hören will. In seinem Auftrag hält die Hexe Nuriev auf, der seine Verfolgung noch nicht aufgegeben hat. Er aber kann sie dazu bringen, ihn um Akmaľs Willen gehen zu lassen – denn schließlich soll dieser seinen Kampf nicht allein austragen. Außerdem verrät sie ihm, was Akmaľ nicht hören wollte: Eine magischen Tulpe bedeutet das Verderben für den Drachen. Dieser will derweil die Prinzessin fressen, als Akmaľ eintrifft – der Kampf beginnt. Aber erst, als Nuriev hinzukommt und sie die Zaubertulpe einsetzen, kann der Drache besiegt werden. Damit beendet Akmaľ seine Geschichte. Er lächelt seiner Freundin zu, die der Prinzessin aufs Haar gleicht, und reitet auf seinem Zauberpferd davon. Filmgestaltung, Besonderheiten: Das Märchenreich ist von Phantasiekostümen mit orientalischen Zügen und insbesondere von Naturaufnahmen von Berglandschaften geprägt; die Grenze dazu wird von rötlichen Rauch markiert – dahinter befinden sich geschmückte Neujahrstannen, auf denen laut dem Zauberer das Spielzeug wächst. Auch sonst wabert immer wieder verschiedenfarbiger Rauch durch die Landschaft. Der Drache wird durch eine vergrößert aufgenommene, mit Farbfiltern und Negativbelichtung verfremdete Eidechse dargestellt. Der verzauberte Esel bewegt sich in Zeitraffergeschwindigkeit fort und gibt dabei Motorengeräusche von sich – in einer humoristischen Szene versucht Nuriev zu tanken und sucht nach einer Öffnung für Benzin, ehe er dem Esel aus dem Kanister zu trinken gibt. Die Zaubertulpe hat einen Blütenkelch aus Feuer, und von ihr geht ein Zeichentrickstrahlen aus. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation/neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff. (erster Teil). In der Grundstruktur des Films lässt sich ohne Schwierigkeiten das Sujet des Drachentötermärchen erkennen: Die Prinzessin droht, das Opfer des Drachen zu werden (Mot. R11.1. Princess (maiden) abducted by monster (ogre); auch B11.10. Sacrifice of human being to dragon), Akmaľ wird das halbe Königreich für ihre Rettung versprochen (Mot. Q112. Half of kingdom as reward), es kommt zum entscheidenden Kampf, der für ihn siegreich ausgeht (Mot. B11.11. Dragon fight; R111.1.3. Rescue of princess (maiden) from dragon). Einige semantische Erweiterungen sind durchaus im Sinne des Märchens – wie etwa das Zauberpferd (Mot. B184.1. Magic horse), die Zaubertulpe (Mot. D975. Magic flower) oder die Fähigkeit des Drachens, mit seinem Blick Menschen erstarren zu lassen (vgl. Mot. D581. Petrification by glance). Andere dagegen werden in parodistisch- verfremdeter Form eingesetzt, wie etwa der „motorisierte Esel“ (vgl. Mot. B184.1.1. Horse (mule) with magic speed) oder die Hexe mit dem einen Zahn (vgl. Mot. G214.1. Witch with long teeth) – schließlich erscheint auch Akmaľ selbst als eine originelle Variante des unscheinbaren Helden (Mot. L100. Unpromising hero (heroine)): Die komische Verfremdung der Motive liegt in erster Linie im Verfahren des Crossover-Märchens und der Gegenüberstellung der „realistischen“ modernen Welt und der Märchenwelt begründet. Der zweite Teil des Drachentötermärchens (die Rückkehr des Helden und seine Konfrontation mit

408 dem falschen Helden) fehlt in diesem Film, findet sich dann aber interessanterweise im „Sequel“ wieder (Novye priključenija Akmalja, 1983).

Андрей и злой чародей [Andrej und der böse Zauberer] UdSSR – Weißrussland 1981; Belarus’fiľm. Regie: Gennadij Charlan; Drehbuch: Ėrnst Koljadenko. Darsteller: Andrej Smoljakov, Irina Kiseleva, Georgij Milljar, Michail Kononov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der böse Zauberer Cmok fängt eines Nachts einen Stern und will, dass dieser ihn in einen Menschen verwandelt. Die Sternenjungfrau aber erklärt, ein Mensch könne nur sein, wer Gutes tue, und Cmok sperrt sie wütend ein. Der Bursche Andrej, der Nachtwache hält, hat indes den Stern fallen sehen und will ihn im Wald suchen. Dort löscht er einen brennenden Ameisenhaufen und rettet zwei Bärenjunge aus einer Grube. Er sieht auch die Folgen von Cmoks üblen Taten: Dieser lässt alle Tiere, die ihm in die Quere kommen, erstarren. Andrej macht sich zu seiner unterirdischen Höhle auf, um mit ihm zu kämpfen – er kann aber nichts gegen ihn ausrichten und wird von ihm in ein Verlies geworfen. Eine Ameise kommt ihm zu Hilfe und zeigt ihm den Weg zur Sternenjungfrau. Diese gibt ihm ein Knäuel, das ihn zu ihrem Vater führen soll, der Sonne, und verhilft ihm zur Flucht. Als Andrej in sein Dorf kommt, muss jedoch feststellen, dass dieses menschenleer und verwunschen ist – auch das ist Cmoks Werk. Dieser, der selbst nur nachts Macht hat und tagsüber nichts tun kann, schickt unterdes seine drei Diener los, um Andrej zu schaden – den Domovoj, den Lešij und den Wassermann. Die drei sind eigentlich gutmütig und dienen Cmok nur aus Furcht. Zuerst macht sich der Lešij ans Werk – aus der Fallgrube, die er Andrej gebaut hat, hilft diesem jedoch ein Biber wieder heraus, und als er zwischen zwei Bäumen eingeklemmt wird, kommt ihm der Bär zu Hilfe. Letztlich fällt der Lešij selbst in seine Grube, und Andrej muss ihn herausziehen. Als nächstes soll der Wassermann Andrej in einem Teich ertränken – dieser kann jedoch an sein Gewissen appellieren, und der Wassermann trollt sich. Cmok lässt ihn dafür erstarren, wie auch vor ihm den Lešij. Der Domovoj soll Andrej endgültig ins Verderben stürzen, doch er verweigert sich und wird ebenfalls verzaubert. Andrej aber kommt unterdes zur Sonne. Mit deren Geschenk, einem Zauberspiegel, der Sonnenstrahlen reflektiert, kann Andrej schließlich den Bösewicht vernichten, und all dessen Zauber wird wieder rückgängig gemacht. Der Stern darf nicht mehr an den Himmel zurückkehren – Andrej nimmt ihn als seine Braut in sein Dorf mit. Domovoj, Lešij und Wassermann können endlich wieder in Ruhe und Frieden in ihren Elementen hausen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Eine Ameise dient als Erzähler. Folkloristisch-naturalistische Darstellung des Dorfes. Spiel mit Lichtdramaturgie: Das dunkle, graue unterirdische Reich Cmoks mit Spinnweben, Knochen und Skelett-Teilen als Dekoration, das mit Sepia-Farbfiltern verfremdet ist, steht der lichtdurchfluteten, in natürlichen Farben leuchtenden Natur gegenüber. Cmok ist skurril geschminkt, hat schwarze Pupillen, die er herausnehmen kann, und trägt ein exzentrisches schwarzes Phantasiekostüm; er wird als Gestaltwandler präsentiert. Seine Diener sind eher märchenhaft-folkloristisch hergerichtet – der Lešij in einem faunhaften Fellgewand mit Schwanz, der Wassermann mit grünlichem Gewand, Schminke und Haaren, der Domovoj mit Vollbart und brauner sackartiger Kleidung. Die Sternenjungfrau trägt ein weites helles Kleid und einen funkelnden Schleier. Echte „sprechende“ Tiere werden als „Nebendarsteller“ eingesetzt, daneben aber auch zur Tierdarstellung Puppentrick verwendet (wie bei der

409 Ameise). Die Sonne wiederum wird per Filmtrick interessant dargestellt: Das Bild wird mit gleißenden bunten Farbfiltern verfremdet, und Andrej befindet sich auf einer leichten Anhöhe vor einem riesigen Auge – das ist alles, was von der Sonne zu sehen ist. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante: AaTh/ATU 554 The Grateful Animals = AA/SUS 554 Blagodarnye životnye. Dem Film liegt kein bestimmter Märchentext zugrunde, in seiner Struktur aber orientiert er sich augenscheinlich am Typ von den dankbaren Tieren: Auch darin rettet der Held Tiere in Not und erwirkt damit ihre Dankbarkeit (hier: Mot. B364.2. Animal grateful for rescue from fire; B361. Animals grateful for rescue from pit) – diese wiederum äußert sich darin, dass sie ihm ihrerseits bei seinen Abenteuern helfen (Mot. H982. Animals help man perform task bzw. H1233.6. Animals help hero on quest; hier: B481.1. Helpful ant; B435.4. Helpful bear). Darüber hinaus benutzt der Film weitere bekannte Märchenmotive, die zur Ausfabulierung bzw. Variantenbildung dienen – diese manifestieren sich insbesondere in den Figuren des Bösewichts Cmok und der Sternenjungfrau. Cmok lässt mit seinem Zauber alle erstarren (vgl. Mot. D581. Petrification by glance) und verzaubert auch Andrejs Heimatdorf (vgl. Mot. F768.2. City of enchanted people); er hat aber nur nachts Macht (Mot. D1719.9.1. Magic power only at night). Die Sternenjungfrau (Mot. A762. Star descends as human being) weist Andrej mit ihrem Knäuel den Weg zur Sonne (Mot. D1313.1.1. Magic ball of thread indicates road; H1284. Quest for sun for answer to questions). Auf diesem Weg nun treten Lešij, Wassermann und Domovoj, die nur ungern Cmok dienen787, gewissermaßen als Prüfer auf. Zuletzt steht, märchentypisch, die Vernichtung des Bösewichts und Liquidierung der Schädigung (Mot. D1653.1.8. Magic mirror as infallible weapon; D763. Disenchantment by destroying enchanter) sowie die Hochzeit (Mot. A762.2. Mortal marries star-girl).

Лесная песня — Мавка Das Lied von der Waldfee UdSSR – Ukraine 1981; Kinostudija im. A. P. Dovženko. Regie, Drehbuch: Jurij Iľenko. Darsteller: Ljudmila Efimenko, Viktor Kremlev, Majja Bulgakova, Ivan Mikolajčuk u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Lesnaja pesnja (1961). Filmgestaltung, Besonderheiten: Als Handlungsraum dient ausschließlich die sich verändernde Natur. Nur der Dialog der Vorlage wird verwendet, aber sehr reduziert – daneben gibt es lange wortlose Szenen, die lyrischen Charakter haben und mehr Stimmung als Handlung zeigen. Teilweise geht darstellerisches Spiel dabei in stilisierte Choreographie über. Die Kostüme sind nur angedeutet und weisen einige exzentrische Auffälligkeiten auf: Der Waldgeist erscheint in einem Pelzgewand; Kuc’ tritt in schwarzem Anzug und Zylinder auf; Kleinwüchsige spielen die Geister der bösen Tage (zlydni). Der Waldgeist und Onkel Lev werden vom selben Darsteller verkörpert. Besonders in Szene gesetzt wird die Hauptdarstellerin Ljudmila Efimenko: Die erste Einstellung des Films zeigt ein Portrait von Lesja Ukrajinka, das sich langsam in ein Standbild Efimenkos verwandelt und schließlich diese mit einer Laubkrone als Mavka zeigt. Im Verlaufe des Films wird sie dann auffällig oft alleine bzw. in Verbindung mit Naturkulisse gezeigt, insbesondere wird in Nah- und Großaufnahme ihr mimisches Spiel betont. Dabei trägt sie leichte, teilweise fast durchsichtige Gewänder verschiedener Farbe (je nach Jahreszeit; eine Szene zeigt sie auch kurz nackt) und ist mit zahlreichen Blumen,

787 Vgl. dazu auch Semurg (1972).

410 Blättern, Beeren und ähnlichem geschmückt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Lesnaja pesnja (1961). Besonderheiten liegen primär im Stil und der Darstellungsform, rein inhaltlich ist dieser Film weitgehend der Theatervorlage entsprechend. Erweitert wird allerdings der Schluss um eine enigmatische stumme Szene: Der Waldgeist nimmt dem erforenen Lukaš die Flöte ab und gibt sie dann wenig später einem von Kylynas Kindern – dieses beginnt erst, unbeholfen darauf zu spielen; dann ist jedoch eine klare Melodie zu hören. In der letzten Einstellung wird dann nochmals die verbrannte Hütte gezeigt.

Радуга семи надежд788 Der Prinz und der Töpfer/Der Regenbogen der sieben Hoffnungen UdSSR – Usbekistan 1981; Uzbekfiľm. Regie: Chabibulla Fajziev; Drehbuch: Achmedchan Abu-Bakar. Darsteller: Safura Ibragimova, Abubagir Kabulov, Rustam Sagdulaev, Šuchrat Ergašev u.a. Vorlage: Usbekisches Volksmärchen (vgl. Uzb. sk. I, S. 445-447). Inhaltsangabe: Prinz Bachtijar lernt bei einem Ausritt die schöne Guľšan kennen, und die beiden verlieben sich ineinander. Sie trennen sich wieder, doch Bachtijar lässt im ganzen Volk nach dem Mädchen suchen. Bei ihrem Vater, dem Töpfer Nabi, wird Guľšan entdeckt – als sie jedoch erfährt, dass Bachtijar der Prinz ist und kein Handwerk beherrscht, lehnt sie seinen Antrag ab, denn sie will nur einen Handwerksmeister heiraten. Derweil ist aus dem Palast ein Pferd entlaufen, und wer es zurückbringt, soll reich belohnt werden. Dies gelingt Nabis Neffen Ėľdor – doch erkennt er in dem Tier das Pferd seines vor einiger Zeit verschwundenen Vaters. Es wurde der Chanun, Bachtijars Mutter, von dem Steuereintreiber Karataš geschenkt, der das Volk mit seinen Abgabenforderungen peinigt, und Ėľdor schöpft gegen ihn Verdacht. Unterdes flüchtet Bachtijar, da seine Mutter ihn verheiraten will, aus dem Palast, und auf der Flucht trifft er auf Ėľdor. Diesem berichtet er von seinem Kummer mit Guľšan, und er bietet sich an, ihn Nabi, ohne seine Identität preiszugeben, als Lehrling zu vermitteln, dass er das Töpfern erlerne. So geschieht es auch – er muss sich zwar in Geduld üben, doch schließlich wird aus Bachtijar ein fähiger Töpfer. Guľšan bekommt davon nichts mit, da sie auf Besuch bei einer Verwandten ist. Unterdes stellt sich heraus, dass Karataš tatsächlich für das Verschwinden von Ėľdors Vater verantwortlich ist: Er lässt die besten Handwerker entführen und zwingt sie, für ihn zu arbeiten, um ihre Waren teuer zu verkaufen. Derweil kehrt Guľšan nach Hause zurück – glücklich willigt sie nun in die Heirat mit Bachtijar ein. Auf dem Weg zum Palast fällt Bachtijar jedoch in die Hände von Karataš. Da dieser sich für eine Kränkung des Prinzen rächen will, sperrt er ihn zu seinen übrigen Gefangenen. Dass er nun ein Meistertöpfer ist, kommt ihm gerade recht. Es gelingt dem Prinzen, die zwei Handlanger von Karataš für das Handwerk zu begeistern und bringt sie dazu, ihm zu helfen. Heimlich arbeitet er Botschaften in seine Tonkrüge ein. Ein solcher Krug fällt Ėľdor auf dem Markt auf, und er trommelt seine Freunde zusammen, die gemeinsam Bachtijar und alle Meister befreien und Karataš bestrafen können. Bachtijar aber wird mit seiner Guľsan glücklich wiedervereint. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistisch-folkloristische Ausstattung. Im Handwerksviertel wird durch verschieden- farbigen Rauch aus den Kaminen ein interessanter Effekt erzielt. Einige „authentische“

788 Da die russischsprachige Version nicht ausfindig gemacht werden konnte, wurde der Film anhand der deutsch synchronisierten Version ausgewertet.

411 Alltagsszenen halbdokumentarischen Charakters, die die Ausübung traditionellen Handwerks sowie ihre Endprodukte präsentieren. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypendaption; vgl.789 AaTh/ATU 888A* The Basketmaker = AA/SUS 888A* Pleteľščik. Als Vorlage lässt sich ein usbekisches Volksmärchen ausmachen – der Film ändert einige Details und auch den Titel (Šelkovyj kover), weist jedoch daneben genug Übereinstimmungen auf, um als Erzähltypenadaption zu gelten: Die Tochter eines armen Mannes will den Zaren nur heiraten, wenn er ein Handwerk lernt. Im Märchen ist dies das Teppichknüpfen, doch auch hier verschwinden Menschen (Kaufleute)790, da sie in die Hand von Räubern fallen791 – was dann auch mit dem Zaren geschieht. Ein von ihm geknüpfter Teppich erfüllt dieselbe Funktion wie der von Bachtijar gefertigte Tonkrug. Alles Weitere ist Ausfabulierung bzw. Ausschmückung des Films – der betrügerische Wesir als Drahtzieher hinter den Entführungen, um sich zu bereichern (vgl. Mot. K2248. Treacherous minister), die positive Nebenfigur des Handwerkers Ėľdor und seine Freundschaft mit dem Prinzen (vgl. Mot. P32. Friendship of prince and commoner), aber auch die beiden komischen Handlanger, die schließlich für den Wert der Arbeit begeistert werden, dienen dazu, die der sozialistischen Sichtweise entsprechende Botschaft, die sich grundsätzlich auch im Märchen findet, noch stärker hervorzuheben. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 239-242

Сказка, рассказанная ночью Märchen in der Nacht erzählt (DDR)/Die Märchen der Nacht (BRD) UdSSR – Russland 1981; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Irma Rauš; Drehbuch: Igor’ Fedorov. Darsteller: Igor’ Kostolevskij, Aleksandr Lazarev, Aleksandr Galibin, Aleksandr Kaljagin u.a. Vorlage: Wilhelm Hauff: Das Wirtshaus im Spessart (Hauff 1986, S. 239-410); Das kalte Herz (ebd., S. 271-297, 380-400; Rahmenhandlung und eine Binnenerzählung des Zyklus Das Wirtshaus im Spessart, 1828). Inhaltsangabe: Die Handwerksburschen Edwin und Hugo verirren sich nachts im Wald und finden zu einem verlassenen Wirtshaus, wo sich bereits ein Student und ein Apotheker eingefunden haben. Der Student erzählt seinen Gefährten ein Märchen: Der Köhler Peter Munk ist verbittert über seine Armut, und er träumt von großen Reichtümern. Er trifft auf das Waldmännchen, das ihn zu einem großen Handwerksmeister machen will, doch dies schlägt er aus. Der Holländer Michel dagegen, den Peter kurz darauf trifft, verspricht, ihn ohne Arbeit reich zu machen. Die Erzählung wird unterbrochen: Auch eine Gräfin mit ihren Begleitern sucht im Wirtshaus Zuflucht. Sie ist auf dem Weg zu ihrem ihr unbekannten Bräutigam, und da sie gerne auch das 789 Zweimal im Korpus vertreten, in diesem usbekischen und einem georgischen Film(Tri opleuchi), jeweils auf entsprechenden Volksmärchen beruhend, existieren mindestens noch eine kasachische (vgl. Kaz. sk. III, S. 95-98) und eine armenische Variante dieses Sujets (von Gazaros Agajan als Anait literarisch bearbeitet und 1947 auch verfilmt, aber leider nur in einer armenischsprachigen Variante zugänglich). Da alle vier Märchen untereinander in ihrem Sujet sehr ähnlich sind, mit der Typbeschreibung in AaTh/ATU aber nur ungefähr übereinstimmen (insbesondere in Mot. P51. Noble person saves self from difficulties by knowledge of a trade), wäre zu fragen, ob es sich nicht um einen eigenen Typ oder zumindest Subtyp handelt. 790 Vgl. dazu auch Chorezmijskaja legenda (1978). 791 Dieses Detail ist vom Märchen im Sinne der Variantenbildung hinzugefügt; die strukturelle Detailübereinstimmung rechtfertigt insofern m. E. eine Einordnung als Erzähltypenadaption und nicht als neue Erzähltypenvariante.

412 Märchen hören will, erzählt der Student weiter: Peter erfährt Michels Bedingung – er soll ihm sein Herz geben, es sei ohnehin leichter ohne. Peter willigt ein. Er wird reich und kann seine Braut Ilsa heiraten, doch nun wird er auch grausam und gefühllos. Die Erzählung wird erneut unterbrochen – Räuber stehen vor der Tür. Sie fordern die Herausgabe der Gräfin, für die sie ein Lösegeld erpressen wollen. Edwin erklärt sich bereit, in Frauenkleidern ihre Rolle einzunehmen. Der Student, der sich in die Gräfin verliebt hat, begleitet ihn. Sie werden von den Räubern in ihr Versteck gebracht, und der Hauptmann selbst hält Wache. Er hat nichts dagegen, das Märchen weiter zu hören. Die gutherzige Ilsa verteilt Essen an die Armen. Als Peter sie dabei entdeckt, verstößt er sie wütend, und in ihrer Verzweiflung begeht sie Selbstmord. Peter beginnt von nun an, sein Gewissen zu plagen, und er will Michel aufsuchen, damit er ihm sein Herz und Ilsa zurückgibt. Doch er findet ihn nicht mehr, und so bleibt er gramgebeugt zurück. Der Räuberhauptmann ist von der Geschichte so gerührt, dass er beschließt, den Gefangenen zu helfen. Er flieht mit ihnen gemeinsam. Unterdes erreicht die Lösegeldforderung den Bräutigam der Gräfin. Dieser, ein gefühlloser Klotz, will darauf nicht eingehen. Als die falsche Gräfin mit Student und Räuberhauptmann erscheint und Edwins Verkleidung auffliegt, will er alle drei hinrichten lassen. Die echte Gräfin trifft ein, doch auch sie kann dagegen nichts ausrichten. Unterdes haben die Räuber das Schloss umzingelt – es kommt zu einem Tumult, bei dem die Gefangenen fliehen können. Im Wirtshaus finden sie alle wieder zusammen, und Gräfin und Student schließen einander in die Arme. Filmgestaltung, Besonderheiten: „Märchen im Märchen“ durch Rahmen- und Binnenerzählung. Detailreiche Ausstattung mit Anklängen an die europäische Romantik, aber ohne zu konkretisieren. Atmosphärisch dicht inszeniert sind sowohl die Szenen im geheimnisvollen Wirtshaus (Nebel, knarrende Geräusche, verlöschende Kerzen etc. dienen als dramaturgische Mittel) als auch in der Geschichte vom kalten Herzen, insbesondere die Szenen im stets im Halbdunkel gehaltenen Reich Michels – es wird als Felsengrotte präsentiert, deren Boden mit Wasser bedeckt und an deren Wänden die Herzen der Menschen in Keramikdöschen mit ihren Namen aufgereiht sind. Auch der dramaturgische Einsatz von stilisiert romantischer Musik dient der Stimmungserzeugung; es gibt einige surreale „Traumsequenzen“. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation + Erzähltypenmutation (über Vorlage Das kalte Herz): AaTh 330 The Smith Outwits the Devil = ATU 330 The Smith and the Devil. Wie bei Hauff fungiert im Film Das Wirtshaus im Spessart als Rahmenhandlung für Das kalte Herz, das dort zusammen mit anderen Geschichten erzählt wird und in zwei „Abteilungen“ wiedergegeben wird – auch daran hält sich der Film. Hauffs Rahmenerzählung ist eine novellistische Abenteuergeschichte mit Räuberthematik, die Binnenerzählung dagegen weist sowohl sagen- als auch märchenhafte Züge auf – strukturelle Grundzüge teilt sie mit dem Erzähltyp vom Teufelspakt (AaTh 330; vgl. insb. Mot. M211. Man sells soul to devil), doch dieser wird sehr stark transformiert.792 Der Film nimmt an beiden Vorlagen einige Modifikationen vor. Auffällig sind Detailverschiebungen – so sind etwa die Handwerksburschen nicht Gold- und Zirkelschmied, sondern Uhrmacher und Waffenschmied, aus dem Fuhrmann wird ein Apotheker und die Geschichte von Peter Munk wird vom Schwarzwald nach Pommern verlagert. Die Grundstrukur von letzterem Märchen wird im Großen und Ganzen beibehalten – eine kleinere Änderung kann darin gesehen werden, dass die Rolle von Peters Mutter eliminiert und dafür

792 Schmitt (1993, S. 231) stellt bei Hauff Parallelen zu diesem Erzähltyp, daneben auch zu AaTh 750A The Wishes fest, wobei er die entsprechenden Adaptionen in seiner kommentierten Filmographie im Anhang aus irgendeinem Grund nur letzterem Typ zuordnet. Da jedoch das in AaTh 330 prominente Motiv des Teufelspakts und der Überwindung des Teufels bzw. des Holländer-Michel bei Hauff das zentrale ist, während die Exposition nur entfernt an AaTh 750A erinnert und die Auflösung dieses Types gänzlich fehlt, wurde hier für eine Zuordnung zu AaTh 330 entschieden.

413 seine Liebste früher eingeführt wird und seine Wesensänderung miterlebt; eine bedeutende Änderung betrifft jedoch das Ende: Während bei Hauff Peter, einem Rat des hilfreichen Waldgeistes folgend, durch eine List sein Herz zurückerlangt und auch seine von ihm in seiner Wut erschlagene Frau wieder ins Leben zurückkehrt, zieht der Film einen tragischen Ausgang vor. Die Rahmengeschichte wiederum versieht insbesondere die handelnden Personen mit eigenen Charakterzügen, die sie von ihren literarischen Prototypen abheben, und wird, dadurch mitbedingt, teilweise auch strukturell erweitert: Die Gräfin ist keine ältere, sondern eine junge Frau, und ihre Liebesgeschichte mit dem Studenten ist, ebenso wie ihr flegelhafter Bräutigam, Erfindung bzw. Erweiterung des Films. Bei Hauff dagegen liegt ein stärkeres Gewicht auf dem Burschen, der mit der Gräfin die Kleider tauscht, und er stellt sich letztlich als ihr Patensohn heraus.

Чертенок Nukitsamees [Das Teufelchen] UdSSR – Estland 1981; Tallinfiľm. Regie: Helle Murdmaa; Drehbuch: Helle Murdmaa, Helgi Oidermaa, Olav Ehala. Darsteller: Egert Soll, Anna-Liisa Kurve, Ülari Kirsipuu, Ita Ever u.a. Vorlage: Oskar Luts: Nukitsamees (Der gehörnte Junge, 1920; Luts 1987). Inhaltsangabe: Die Geschwister Kusti und Iti verirren sich im Wald und werden von einer bösen Hexe aufgegriffen und in deren Hütte gebracht, wo außer ihr noch ihre zwei gefräßigen älteren Söhne, der ständig schlafende Alte und ihr kleinster Sohn mit dem Spitznamen Buka leben. Die beiden müssen ihr dienen: Kusti muss den Garten und die Tiere versorgen, seine Schwester Iti soll sich um Buka kümmern. Dieser erweist sich als wahrer Teufelsbraten, der ihr keine ruhige Minute lässt. Trotz allem gewinnt Iti ihn lieb, und als sich den Kindern die Möglichkeit der Flucht bietet, nehmen sie ihn mit. Sie kommen zurück in ihr Dorf, zu Eltern, Großvater und ihren vielen Geschwistern. Bukas Erscheinen löst Befremden aus, auch, weil der Junge Hörner hat, doch Iti besteht darauf, für ihn zu sorgen und ihn aufziehen zu wollen. Die Eltern meinen, wenn er ein Teufelchen bleibe, müsse er in den Wald zurück, doch wenn er sich zu einem Mensch entwickle, könne er bleiben. Der Kleine spielt zunächst weiter seine Streiche, und mehrfach will Kusti ihn verprügeln – Iti aber lässt dies nicht zu, da auch ihre Mutter sie nicht mit der Rute, sondern mit Liebe erzogen hat. Eine Weile erscheint Buka unverbesserlich, doch dann wird er immer zahmer. Seine Hörner bleiben ihm jedoch, und so beschließen die Kinder, sie ihm abzusägen. Sie wachsen ihm sogleich wieder nach, und da er sich ungeliebt fühlt, reißt er aus, um in den Wald zurückzugehen. Die Familie aber macht sich, als sie sein Verschwinden entdeckt, auf, um ihn zu suchen. Als er sieht, wie sehr sie sich um ihn sorgen, entscheidet er sich doch, bei ihnen zu bleiben – und seine Hörner fallen von ganz alleine ab. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film teilt sich in zwei Abschnitte, die durch die zwei Schauplätze markiert sind – das finstere Hexenhaus und der heimatliche Bauernhof der Kinder. Der in Naturaufnahmen dargestellte Wald nimmt eine „Zwischenposition“ ein: Er hat einen freundlichen, hellen Teil, den eine Lichtung klar von der düsteren Umgebung des Hexenhauses abtrennt.793 Estnischer „Kolorit“ wird insbesondere in der Ausstattung des Bauernhofs und den folkloristischen Kostümen seiner Bewohner vermittelt, während die Bösewichte „primitive“

793 Vgl. Zolotye roga (1972).

414 Phantasiekostüme tragen. Bukis Wandlung wird auch äußerlich dargestellt, er verwandelt sich von Szene zu Szene mehr von einem schmutzigen „Teufelchen“ mit Fellkleid und zerzausten Haaren in einen adrett gekleideten, sauberen und gekämmten Jungen – das Abfallen der Hörner ist erst die letzte Konsequenz. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 327A . Oskar Luts’ Kindererzählung lehnt sich in seiner Exposion und seinem ersten Teil deutlich an das Hänsel- und-Gretel-Märchen an – wie dort geraten zwei Geschwister in die Gewalt einer Hexe (vgl. Mot. G412. Children lured into ogre’s house) und müssen ihr dienen. Die weiteren Ereignisse um den gehörnten kleinen Jungen sind jedoch freie Erfindung und weisen keine Folkloreparallelen auf. Der erste Teil des Films ist relativ vorlagengetreu, bis auf die Zauberkräfte, die der Hexe hier im Gegensatz zum Buch zugeschrieben werden, und den sprechenden Vogel, der den Kindern bei der Flucht hilft und der im Film fehlt, ab der Rückkehr der Kinder nach Hause werden jedoch einige wesentliche Modifikationen vorgenommen: Während es in der Vorlage Kustis von seinen Eltern übernommene Erziehungsmethoden mit Drohungen und Rutenschlägen sind, die beim verwöhnten kleinen Buki letztlich anschlagen, ist es im Film im Gegenteil die von der Mutter gelernte gewaltfreie und liebevolle Erziehung Itis, die aus ihm letztlich einen guten Jungen macht. In der Vorlage sind Kusti und Iti die einzigen Kinder ihrer Eltern, im Film dagegen haben sie eine Vielzahl von Geschwistern – diese wiederum sorgen mit ihren kindlichen Spötteleien dafür, dass Buki sich ungeliebt fühlt und fortläuft. Auch dies ist Erfindung des Films: In der Vorlage erfahren die Kinder, dass die Hexe und ihr Haushalt spurlos verschwunden sind, während Buki hier der Weg offensteht, zurückzukehren – er sich aber letztlich dagegen entscheidet, was wiederum mit der Liebe, die ihm von der Familie entgegengebracht wird, psychologisch motiviert wird.

Ассоль [Assoľ] UdSSR – Russland 1982; Ėkran. Regie, Drehbuch: Boris Stepancev. Darsteller: Elena Zajceva, Marina Rjazanceva, Andrej Charitonov, Denis Bondar’ u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Alye parusa (1961). Filmgestaltung, Besonderheiten: Eigenwillige, experimentelle Darstellungsform: Eine Erzählerstimme aus dem Off erzählt die Geschichte, zu der die Darsteller agieren – dabei werden durchgängig Farbfilter verwendet, die einen Verfremdungseffekt zur Folge haben; die Schauspieler agieren in teils aufgemalten, teils animierten, teils stilisieren, expressionistisch wirkenden Kulissen; dazwischen werden immer wieder Zeichentricksequenzen verschiedener Machart geschnitten, die teilweise auch phantastisch-märchenhaften Charakter haben. Einsatz von swinghafter Musik zur Untermalung, Stilmittel des Stummfilms. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Alye parusa (1961). Den Umgang mit der Vorlage betreffend gibt es insbesondere auch im Vergleich mit der früheren Verfilmung einige Unterschiede: Während der Streifen von 1961 in einer diffusen Vergangenheit angesiedelt ist, lehnt sich dieser Film in seiner visuellen Ausgestaltung an die Erscheinungszeit von Grins Erzählung an, die 20er Jahre. Im Gegensatz zur 1961er-Version ist hier Grėjs Hintergrund weitestgehend vorlagentreu: Grėj ist kein Klassenkämpfer, sondern ein geschichtenliebender Träumer – verschiedene Details aus der Vorlage werden dabei beibehalten; als Ausfabulierung zu

415 betrachten ist, dass Grėj sich auch selbst Märchen von Prinzessinnen und Drachen mit sich in der Heldenrolle ausdenkt, die auch visualisiert werden. Der Wirt Menners hat hier eine eifersüchtige Frau, die ihn ertappt, als er sich Mėri zu nähern versucht, und die diese hinaus in den Regen jagt. Erweitert ist ansonsten insbesondere die Figur von Menners’ Sohn Chin, der in der Vorlage und im ersten Film nur eine untergeordnete Rolle spielt: Er wird schon als Kind eingeführt – nachdem sein Vater durch Longren zu Tode gekommen ist, schlägt er Assoľ, zu der er im Folgenden dann eine Art Hassliebe entwickelt. Er baut ihr aus Holz und Lumpen ein Schiff mit roten Segeln und macht sich über sie lustig; als junger Mann macht er ihr den Hof und wird von ihr abgelehnt; in der letzten Szene verteilt er Spielzeugschiffe mit roten Segeln an die Leute, die Grėj und Assoľ beim Davonfahren auf ihrem Schiff nachsehen.

Василий Буслаев Kühne Recken von Nowgorod ([Vasilij Buslaev]) UdSSR – Russland 1982; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Gennadij Vasiľev; Drehbuch: Sergej Narovčatov, Boris Šustrov, Gennadij Vasiľev. Darsteller: Dmitrij Zolotouchin, Ljudmila Chitjaeva, Irina Alferova, Dmitrij Matveev u.a. Vorlage: Bylinen um Vasilij Buslaevič (vgl. Nov. b. 1-26; siehe auch Af. 311). Inhaltsangabe: Der Novgoroder Recke Vasilij Buslaev bandelt mit einer Bojarentochter an und mischt übermütig die Leute ihres Vaters auf, wobei einiges zu Bruch geht. Die Bojaren sammeln sich und beschweren sich bei Vasilijs Mutter, die ihren Sohn zur Strafe in die Scheune sperrt. Dort hört er das Gespräch zweier Reisender mit und erfährt, dass Fürst Gleb Polockij und seine Leute von Feinden verschleppt wurden – nur ein echter Held könne sie retten. Vasilij fühlt sich dazu berufen, und so sucht er kurz darauf nach Recken, die sich mit ihm gemeinsam auf die Suche nach dem Fürsten machen wollen. Auch Glebs tapfere Tochter Ksenija nimmt er in seine Mannschaft auf. Sie stechen in See. Auf einer von den Feinden eingenommenen Insel kommt es zu einem Kampf mit diesen, in dessen Verlauf Ksenija entführt wird. Vasilij und seine Leute nehmen die Verfolgung auf. Sie können eines der feindlichen Schiffe einholen und entern: Ksenija ist nicht darauf, doch die befreiten Galeeresklaven erweisen sich als Leute des Fürsten Gleb und teilen mit, dass dieser nach Byzanz gebracht wurde, um als Sklave in den Steinbrüchen zu arbeiten. So machen sich Vasilij und seine Leute dorthin auf. Am Ziel angekommen, rettet Vasilij der jungen Kaiserin das Leben. Der Kaiser verspricht ihm dafür die Erfüllung jeden Wunsches – dass unter seinen Steinbruchsklaven Russen sind, bestreitet er jedoch zunächst. Die Kaiserin versucht, Vasilij für ein Mordkomplott gegen ihren Mann zu gewinnen, doch dieser lehnt ab. Schließlich erklärt sich der Kaiser bereit, die Russen freizulassen, wenn Vasilij ein Turnier mit Kämpfern aus aller Herren Länder gewinnt. Vasilij gelingt dies, und er findet auch Ksenija wieder. Der Kaiser muss zu seinem Wort stehen und die Sklaven freilassen, doch Fürst Gleb ist schon zu schwach und stirbt kurz darauf – nicht, ohne Vasilij vor einem schrecklichen Feind zu warnen, der in die Rus’ einfallen würde. Die Recken kehren nach Novgorod zurück. Vasilij heiratet Ksenija, und er will ein Heer sammeln, um dem drohenden Feind entgegenzutreten. Unter den Kaufleuten finden sich jedoch viele, die davon nichts wissen wollen – darauf ruft Vasilij entzürnt alle, die gegen ihn sind, auf, mit ihm zu kämpfen. Ein heftiger Kampf folgt, doch die Nachricht vom Einfall der Feinde versöhnt die Widersacher, und Vasilij zieht mit einem geeinten Heer in die Schlacht. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Visuelle Opulenz durch Naturaufnahmen und monumentale, historisierende Ausstattung, die die Novgoroder Rus’ glorifiziert. Schauwerte durch Massenszenen und

416 actionreich inszenierte Kämpfe und Schlägereien. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AA *650IV/SUS 650E* Vasilij Buslaevič. Der ambivalente „Rüpel- Recke“ Vasilij Buslaev(ič) wird im Film zu einer fast durchweg positiven Figur, und nur noch am Anfang und am Ende ist in Ansätzen das zugrundeliegende Bylinensujet zu erkennen: Im Zentrum stehen darin Vasilijs Raufereien mit den Novgorodern, worin er mit seiner Bärenstärke einiges Unheil anrichtet – das hyperbolisierte Detail, dass er dabei in seinem Übermut Arme und Köpfe abreißt, bewahrt der Film nur in Form einer übertreibenden Erzählung des Narren Fiľka. Auch hier wird er jedoch für seine Streiche von seiner Mutter in die Scheune gesperrt, um danach auf eine Seereise in die Ferne aufzubrechen. Die Suche nach einer Mannschaft794 hat in den Bylinen eine Parallele im Kräftemessen Vasilijs mit verschiedenen Recken, die er zu seinen Freunden und Raufkumpanen macht (vgl. z.B. Nov. b. 1, 2, 3). Der Grund für die Seereise sowie sämtliche Abenteuer, die im Film nun folgen, sind dagegen bunte Ausfabulierung mit losen Folkloreanleihen – im Zentrum steht eine Suchwanderung nach in die Sklaverei verschleppten Personen (Mot. H1385. Quest for lost persons; R61. Person sold into slavery).795 Nach der Rückkehr steht dann wiederum das aus den Bylinen bekannte Element, dass Vasilij sich mit ganz Novgorod prügeln will – während dies aber dort in der Regel nicht näher motiviert wird, wendet sich Vasilij im Film nur gegen diejenigen, die nicht mit ihm das Land verteidigen wollen. Ansonsten nimmt auch hier der Streit blutige Formen an, aber endet nicht mit Vasilijs Triumph, sondern mit der Versöhnung der Widersacher und dem gemeinsamen Zug gegen den Feind.

Гляди веселей [Lass den Kopf nicht hängen796] UdSSR – Tadschikistan 1982; Tadžikfiľm. Regie: Marat Aripov; Drehbuch: Dmitrij Bulgakov, Leonid Čigrin. Darsteller: Marat Aripov, Sajdo Kurbanov, Mucharbek Akov, Chabibullo Abdurazakov u.a. Vorlage /Inhaltsangabe : Siehe Pochoždenija Nasreddina (1946) und Nasreddin v Chodžente (1959). Dreiteiler. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Ausstattung mit orientalischen Zügen, Naturaufnahmen von Berglandschaften. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Pochoždenija Nasreddina (1946). Dreiteiler. Dem Dieb wird hier eine vorlagenfremde, arg konstruiert wirkende Hintergrundgeschichte gegeben, die ihn den Bergsee im Würfelspiel gewinnen und anschließend an Agabek wieder verlieren lässt – als er sieht, wie Agabek die Leute, die das Wasser brauchen, ausbeutet, fasst er den Plan, sich zu rächen und den Leuten den See zurückzugeben, wofür er Nasreddin als Helfer gewinnt. Als einzige sonstige nennenswerte Erweiterung wird die Figur einer entlaufenen Sklavin eingeführt, die als Liebesobjekt für den (verhältnismäßig jungen) Dieb fungiert. Ansonsten ist der Film äußerst vorlagengetreu; für eine geraffte Inhaltsangabe siehe Pochoždenija Nasreddina (1946), hinzu kommt die Handlungslinie um die entführten Pferde und Nasreddins falsche Wahrsagerei, die in Nasreddin v Chodžente (1959) im Mittelpunkt steht.

Ослиная шкура Die Prinzessin mit der Eselshaut

794 Vgl. auch Sadko (1952). 795 Vgl. auch Chorezmijskaja legenda (1978). 796 Ungefähres Äquivalent; wortwörtlich „Schau fröhlicher drein“.

417 UdSSR – Russland 1982; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Michail Voľpin. Darsteller: Vladimir Ėtuš, Svetlana Nemoljaeva, Vera Novikova, Aleksandr Galibin u.a. Vorlage: Charles Perrault: Peau d'Âne (Eselshaut, 1697; Perrault 1986, S. 34-48). Volksmärchenparaphrase. Inhaltsangabe: Ein König hat einen Goldesel – als dieser kein Gold mehr gibt, wird er verjagt und stirbt. Die eigentliche Geschichte beginnt jedoch mit der Geburt der Prinzessin Teresa: Zu deren Taufe wird eine böse Fee nicht eingeladen. Sie erscheint trotzdem und spricht eine Weissagung über die Prinzessin, dass diese nur unter einer Voraussetzung glücklich werde – welche, verrät sie jedoch nicht: Es bleibt ein Geheimnis. Nur Teresas Patin, die gute Fee, scheint Bescheid zu wissen. Teresa wächst heran, und sie und Jacques, der Prinz des Nachbarreichs, verlieben sich ineinander. Unterdes hat der verwitwete König jedoch wieder geheiratet, und seine neue Frau ist sehr kapriziös: Sie fordert von ihm, Krieg anzufangen und sich als Eroberer hervorzutun. Da hierfür Geld fehlt, soll Teresa mit einem reichen alten König verheiratet werden. Sie beugt sich zwar zunächst, bricht sogar mit Jacques, kurz vor der Trauung jedoch flieht sie. Die gute Fee gibt ihr die Haut des Goldesels, die sie sich anlegen soll, und verwandelt sie in ein unscheinbares Aschenputtel. So kann sie ihren Verfolgern entkommen. Außerdem gibt sie ihr einen Ring mit, mit dem sie sich zurückverwandeln kann. Sie zieht als Bettlerin durchs Land, erlebt eine Reihe von Abenteuern, und schließlich gerät sie ins Haus der reichen Madame Bourabeau, die sie als Dienstmädchen einstellt. Ihr Reichtum rührt daher, dass ihr Gemahl ein Räuberhauptmann ist. Dessen Bande macht kurz darauf einen Gefangenen und sperrt ihn ein. Teresa bringt in Erfahrung, dass es sich um Prinz Jacques handelt, den sie immer noch liebt. Sie schleicht sich nachts in die Schlafkammer der Bourabeaus, stiehlt den Schlüssel zu Jacques’ Gefängnis und spielt ihn ihm zu – er sieht jedoch nur die Hand seiner Retterin mit dem Ring daran. Kurz darauf hat er eine Begegnung mit der Bettlerin in der Eselshaut – ihr erzählt er, dass er Teresa nicht vergessen kann, aber das Mädchen heiraten will, das ihn gerettet hat. Teresa spielt ihm daraufhin ihren Ring zu, und er bestimmt, dass diejenige, der dieser passt, seine Frau werden soll. Er passt jedoch niemand anderem als der Eselshaut, und zum Erstaunen aller verwandelt sie sich mit ihm in die Prinzessin Teresa zurück. Die beiden Liebenden heiraten, und alles wird gut. Die Bedingung für Teresas Glück aber war, dass sie sich auch im Unglück des Glückes würdig erweise. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Prolog: Eine Gemäldegalerie, in der Darsteller in Rahmen Porträts verkörpern. Der Hofpoet tritt aus dem Rahmen heraus, um das Märchen zu erzählen, in dem er auch auftritt. Diffus-stilisierte Kostüme, die teils vage auf das französische 17. Jahrhundert hindeuten; Kulissen sind historische Originalbauten, daneben zahlreiche Naturaufnahmen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh 510B The Dress of Gold, of Silver, and of Stars (Cap o’ Rushes) = ATU 510B Peau d'Âne = AA/SUS 510B Svinoj čechol. Das Perrault’sche Märchen ist im Film erwartungsgemäß um den Inzest-Aspekt verkappt – der König begehrt nicht seine eigene Tochter zur Frau, und es fehlen auch die drei wundersamen Kleider, die sie als unmögliche Aufgabe von ihm fordert, um ihn von sich fernzuhalten. Die Eselshaut wiederum wird dem Goldesel nicht auf ihren Wunsch abgezogen, sondern er ist bereits vorher vereendet. Die Flucht wird hier durch die bevorstehende Heirat mit dem ungeliebten alten Nachbarkönig motiviert. Prinz und Prinzessin kennen sich im Film schon von Anfang an, und ihre letztliche Zusammenführung ist eine Wiedervereinigung. Ansonsten wird insbesondere bei den Abenteuern der verkleideten Prinzessin frei variiert und ausgeschmückt. Der Film verwendet

418 einige märchenhafte semantische Elemente, die sonst eher aus anderen Kontexten bekannt sind – die Episode mit der zur Taufe uneingeladenen bösen Fee etwa aus dem Dornröschen- Märchen (AaTh 410; Mot. F312. Fairy presides at child’s birth; F361.1.1. Fairy takes revenge for not being invited to feast; vgl. F316. Fairy lays curse on child), die garstige Stiefmutter (Mot. S31. Cruel Stepmother) dagegen u.a. aus Aschenputtel (AaTh 510A). Da diese Märchen auch im Perrault’schen Repertoire zu finden sind, können darin auch intertextuelle Verweise auf den Autor gesehen werden. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 243-246

Там, на неведомых дорожках... Abenteuer mit der Tarnkappe ([Dort, auf unbekannten Wegen...]797) UdSSR – Russland 1982; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Michail Juzovskij; Drehbuch: Alla Achundova. Darsteller: Roman Monakstyrskij, Taťjana Peľtcer, Leonid Charitonov, Taťjana Aksjuta u.a. Vorlage: Ėduard Uspenskij: Vniz po volšebnoj reke (1972; Uspenskij 1972). Inhaltsangabe: Der sowjetische Schüler Mitja soll eine Großtante besuchen – er stellt fest, dass diese niemand anderes als die Baba-Jaga ist und im Märchenwald lebt. Dort tut sich einiges: Der gütige Zar Makar bestraft seinen Schreiber Čumička, weil der ihm ein Silberknäuel von Vasilisa der Allweisen stehlen wollte. Čumička schwört Rache – er will Makars Erzfeind Kaščej Bessmertnyj freilassen. Die Baba-Jaga macht sich gemeinsam mit Mitja auf einem fahrendem Ofen auf, um den Zaren zu warnen. Derweil kann Čumička jedoch Kaščej aus dem Kerker befreien, und dieser reißt die Macht im Reich an sich – die Leute des Zaren hat er schnell auf seine Seite gezogen, Makar wird eingesperrt und die Baba-Jaga, die ihm zu Hilfe kommen will, gleich mit. Nun liegt es an Mitja, die Lage zu retten: Das Silberknäuel soll ihn zu Vasilisa führen, die sicher Rat wisse. Kaščej sammelt unterdes seine Freunde um sich, um Unheil zu stiften: Den Räuber Nachtigall, das einäugige Unheil und den dreiköpfigen Drachen Zmej Gorynyč. Mitja kommt zu Vasilisa, die sich als junges Mädchen herausstellt. Zusammen finden sie heraus, wo Kaščejs Tod versteckt ist, und während sich Vasilisas Domovoj aufmacht, ihn zu suchen, soll Mitja in den Palast zurück, um Makar und der Baba-Jaga beizustehen – eine Tarnkappe soll ihm dabei helfen. Unsichtbar mischt Mitja ein Festgelage Kaščejs auf, um dann die Gefangenen zu befreien – doch dies wird entdeckt. Die Baba-Jaga kann zwar fliehen, Mitja und Makar aber sollen nun Zmej Gorynyč zum Fraß vorgeworfen werden. Mit einem Zauberwasser kann dieser jedoch in eine dreiköpfige Ziege verwandelt werden, und dank der unsichtbaren Baba-Jaga entkommen die beiden. Nun rüsten sich die guten Kräfte des Märchens gegen Kaščej und seine bösen Gefährten. Der Domovoj kommt zurück, doch hat er Kaščejs Tod, der in einer Nadel steckt, in einem Heuhaufen verloren. Mitja zieht mit einer magnetisch aufgeladenen Schere los, um danach zu suchen. Mit List werden die Bösewichte einer nach dem anderen besiegt, und als Mitja Kaščejs Tod findet, muss auch dieser sich geschlagen geben – so kommt das Märchen zu einem guten Ende. Filmgestaltung, Besonderheiten: Farbenfrohe phantastische Ausstattung mit folkloristisch-lubokhaften, aber auch rein stilisierten Zügen. Ausgiebiger Einsatz von verschiedenen Spezialeffekten und Filmtricks. Interessant ist insbesondere der Auftritt des dreiköpfigen Drachen gelöst: Er ist selbst nie zu sehen, man hört nur sein Geschnaube und sieht roten Rauch – sowohl bei seiner Ankunft bei

797 Der Originaltitel zitiert den Prolog aus Puškins Ruslan i Ljudmila an.

419 Kaščej, bei der nur die Beobachtenden gezeigt werden, als auch später dann aus der großen Scheune, in der er sich befindet. Sie wird erst geöffnet, als aus dem Drachen bereits eine dreiköpfige Ziege geworden ist. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Uspenskijs Kindererzählung hat die Form eines Crossover-Märchens und stellt ein buntes Potpourri aus zahlreichen verschiedenen Märchenmotiven und -figuren dar, die dabei spielerisch parodiert und/oder verfremdet werden. Der Film behält den Grundhandlungsstrang und viele der Einfälle bei, kürzt aber um Details und Episoden, eliminiert märchenhafte Nebenfiguren, modifiziert andere Elemente und fügt auch eigene Ideen ein. Daneben wird die Struktur verändert: In der Vorlage werden drei Handlungslinien parallel geführt – Kaščej übernimmt die Macht und ersinnt Böses; Vasilisa plant mit ihren Freunden den Widerstand; Mitja und die Baba-Jaga beobachten die Ereignisse und fiebern mit, während sie sich selbst noch auf dem Weg befinden und erst sehr spät, als die Fäden zusammengeführt werden, aktiv ins Geschehen eingreifen. Der Film dagegen löst die meisten Parallelmomente auf, insbesondere zugunsten einer aktiveren Rolle Mitjas, der fast von Anfang an am Abenteuer beteiligt ist. Eine bedeutende semantische Veränderung des Films, ist die Erscheinungsform Vasilisas als junges Mädchen, kaum älter als Mitja. Im Zentrum stehen in Film wie Vorlage die bösen Taten Kaščej Bessmertnyjs, der untypischerweise in die Rolle eines Usurpators schlüpft, aber wie in den entsprechenden Volksmärchen (AaTh 302) zunächst von seinen Ketten befreit wird und durch Wasser seine Kräfte wiedererlangt (vgl. z.B. Af. 159); im Film wird auch seine märchentypische Überwindung beibehalten (Mot. E713. Soul hidden in a series of coverings; E711.1. Soul in egg; E745.2. Soul as needle). Die Baba-Jaga wird mit der für sie typischen Hütte auf Hühnerbeinen präsentiert, und sie bewahrt sogar ein wenig von ihrer charakteristischen Ambivalenz, wenn sie z.B. Mitja „aus Gewohnheit“ auffordert, sich auf den Ofenschieber zu setzen. Den Ofen als Fortbewegungsmittel dagegen leiht sie sich von Emelja (SUS 675; vgl. Af. 165-166). Vasilisa die Allweise (Vasilisa Premudraja), aus dem Märchen sonst vor allem als Fluchthelferin und Braut des Helden bekannt (AaTh 313; vgl. Af. 222-225), wird hier zu einer „Erfinderin“, zu deren Haus ein rollendes Knäuel führt (Mot. D1313.1.1. Magic ball of thread indicates road) und in deren Haus sich allerhand Wunderdinge befinden, so u.a. auch die Tarnkappe (Mot. D1361.15. Magic cap renders invisible: Tarnkappe). Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1983, S. 42

Три оплеухи [Die drei Ohrfeigen] UdSSR – Georgien 1982; Gruzija-fiľm. Regie: Ėlgudža Žgenti; Drehbuch: Iraklij Gociridze, Petre Gruzinskij. Darsteller: Ija Parulava, Soso Džačvliani, Michail Vašadze, Vachtang Kikabidze u.a. Vorlage: Georgisches Volksmärchen (vgl. Gruz. sk. 118). Inhaltsangabe: Ein junger Fürst bereist die ganze Welt, um eine Braut für sich zu finden – doch erst bei seiner Rückkehr, im Handwerkerviertel seiner eigenen Hauptstadt, begegnet er der schönen Tamro und verliebt sich in sie. Er schickt seinen Wesir als Brautwerber zu deren Vater, dem Waffenschmied, doch dieser will seine Tochter niemandem geben, der kein Handwerk beherrscht. Der Fürst ist verblüfft – und beschließt, die Bedingung zu erfüllen und ein

420 Handwerk zu erlernen. Der Wesir soll nach einem für ihn passenden Gewerbe suchen. Dieser hat damit seine Schwierigkeiten – ob Bäcker, Töpfer, Schneider oder Weinküfer, nichts erscheint ihm geeignet für einen Herrscher. Schließlich aber kann er den als einfachen Burschen verkleideten Fürsten bei einem Ziseliermeister unterbringen. Dieser erweist sich als bärbeißig, aber gerecht, und der Fürst wird nach anfänglichen Schwierigkeiten zu einem gelehrigen Schüler – seine Liebe zu Tamro gibt ihm Kraft. Diese findet heraus, was er für sie tut, und bei einem Treffen gesteht sie ihm ihre Liebe und Bewunderung. Wenig später wird der Fürst dann feierlich in die Meistergilde aufgenommen, was nach Handwerkertradition durch drei Ohrfeigen bekräftigt wird. Anschließend zieht er durch den Wald, wo er einer Räuberbande in die Hände fällt, die ihn für einen Kaufmann halten. Er erklärt jedoch, er sei ein Handwerker, und für seine Ziselierkunst könnten sie viel Geld bekommen – der Hauptmann lässt ihn zum Beweis ein Ziselierbild herstellen. Einer der Räuber soll dieses zu Tamro bringen, die dafür sehr viel zahlen würde – Tamro jedoch flieht mit dem Bild auf dem schnellsten Wege in den Palast, denn der Fürst hat darauf heimlich eine Nachricht eingraviert. Der Wesir schickt sofort bewaffnete Männer aus, die die Räuber festnehmen und den Fürsten befreien können. Dieser kann nun endlich seine Tamro heiraten. Er bestimmt, dass von nun an jeder in seinem Reich, ob reich oder arm, vor seiner Hochzeit ein Handwerk erlernt haben muss, da darin die Weisheit der Menschen liege. Filmgestaltung, Besonderheiten: Erzählerstimme aus dem Off. Folkloristisch-naturalistische Ausstattung. Die verschiedenen Werkstättenbesuche des Wesirs werden mit fröhlichen Liedern der jeweiligen Meister und Arbeiter verbunden, die sie bei ihrer Tätigkeit singen – die wiederum in detailreicher und halbdokumentarischer Bildersprache gezeigt wird. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: Vgl. AaTh/ATU 888A* The Basketmaker = AA/SUS 888A* Pleteľščik. Dem Film liegt eine georgische Variante desselben Volksmärchens zugrunde, an das sich auch Raduga semi nadežd (1981) anlehnt798. Von seiner Vorlage799 unterscheidet es sich u.a. dadurch, dass hier nicht die Braut selbst, sondern deren Vater die Forderung an den königlichen Freier stellt, ein Handwerk zu erlernen. Besonderes Augenmerk wird hier auf die Suche des Wesirs nach dem geeigneten Handwerk für seinen Herrscher gelegt; das Teppichknüpfen ist durch das Ziselieren ersetzt; ansonsten sind alle wesentlichen Handlungselemente ohne besondere Variationen beibehalten.

Али-Баба и 40 разбойников [Ali-Baba und die 40 Räuber] UdSSR – Russland 1983; Lentelefiľm. Regie: Oleg Rjabokon’; Drehbuch: Veniamin Smechov. Darsteller: Oleg Tabakov, Taťjana Nikitina, Sergej Jurskij, Nataľja Tenjakova u.a. Vorlage: Siehe Priključenija Ali-Baby i soroka razbojnikov (1979). Inhaltsangabe: Im alten Persien. Der Händler Mustafa erzählt auf dem Basar das Märchen von Ali-Baba: Dieser teilt, obwohl er arm ist, sein Hab und Gut stets mit allen, und heiratet die ebenso arme Zejnab. Sein reicher Bruder Kasym heiratet dagegen die ebenso reiche Fatima. Eines Tages beobachtet Ali-Baba 40 Räuber dabei, wie sie ihre Höhle mit einem Zauberwort öffnen. Als

798 Vgl. dort für die Typzuordnung. 799 Auch hier sprechen einige Detailübereinstimmungen für eine Erzähltypenadaption; insbesondere die aktive Suche des Zaren nach einer Braut.

421 sie fort sind, tut er es ihnen gleich und nimmt sich von den Schätzen mit, die dort liegen. Zejnab weiß nicht, wie sie diese messen soll, und bittet Fatima um ein Maß – diese bestreicht es heimlich mit Honig, und als sie es zurückbekommt und ein Goldstück klebengeblieben ist, drängt sie Kasym, der Sache auf den Grund zu gehen. Ali-Baba erzählt seinem Bruder gutmütig das Geheimnis der Höhle, und dieser begibt sich gierig dorthin. Als er wieder herauswill, fällt ihm jedoch das Zauberwort partout nicht mehr ein, die Räuber finden und töten ihn. Ali-Baba nimmt darauf Fatima bei sich auf und lässt verbreiten, dass Kasym von Wölfen gefressen wurde. Die Räuber erfahren, dass Ali-Baba bei ihnen war, und der Hauptmann Hasan schickt einen Spion in die Stadt. Bei dem redseligen Mustafa erfährt dieser, wo Ali-Baba wohnt. Er klebt als Erkennungszeichen ein Kreuz auf dessen Haustür, doch Fatima erscheint dies verdächtig und sie beklebt alle Häuser der Umgebung mit Kreuzen, so dass die Räuber das Haus nicht finden. Darauf geht Hasan selbst auf den Basar, und der dumme Mustafa zeigt ihm das Haus und hilft ihm sogar, 40 Ölkrüge zu kaufen. Darin verstecken sich die Räuber, und Hasan gibt sich Ali-Baba gegenüber als Kaufmann aus, der um Gastfreundschaft bittet. Fatima und Zejnab finden heraus, was wirklich in den Krügen steckt. Während Zejnab Hasan ablenkt, schleicht sich Fatima in den Hof, wo sie in die Krüge heißes Öl gießt und damit die Räuber tötet. Nachdem Ali-Baba schon ganz verwirrt ist, dass Zejnab immerfort singen will, erscheint Fatima. Sie tanzt für den Gast und tötet ihn dabei mit einem Dolch, und der verdutzte Ali-Baba erfährt von den Frauen, dass sie ihn gerettet haben. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Einführung erfolgt durch bildfüllende bunte, märchenbuchhafte Illustrationen; der Vorspann zeigt wiederum zunächst gemalte Figuren auf den Seiten eines Buches, die sich dann in die Hauptdarsteller „verwandeln“. Eine Erzählerfigur, die aber auch mit den anderen Figuren interagiert. Revuehaftes Musical; die wenigen gesprochenen Dialoge sind in Versform und in sketchhaft-komischer Form gehalten, wie auch die Lieder zu einem großen Teil humorvoller Natur sind – die Übergänge zwischen Sprechgesang und Gesang dabei sind fließend. Stilisiert exotische Fernsehstudiokulissen und Kostüme. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Priključenija Ali-Baby i soroka razbojnikov (1979). Der Film verlegt den Schauplatz der Handlung nach Persien und eliminiert die Rolle der Sklavin Mardžina, alle deren Handlungen werden von Kasyms Frau Fatima ausgeführt800. Ansonsten ist der Film, trotz humoristischer Darstellungsform, inhaltlich bis hin zu vielen Details vorlagengetreu und ohne Erweiterungen.

Волшебная ночь Jadosnuri game [Die verzauberte Nacht] UdSSR – Georgien 1983; Gruzija-fiľm. Regie: Temur Palavandišvili; Drehbuch: Aleksandr Sulamanidze. Darsteller: Tamaz Toloraja, Rezo Imnaišvili, Vachtang Pančulidze, Levan Učanejšvili u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Ein Vater hat bestimmt, dass derjenige unter seinen drei Söhnen sein Erbe bekommen soll, der sein Handwerk am Besten beherrscht. Die Brüder treffen sich nun erstmals nach ihrem Auszug in einem Wald wieder, wo der Schlüssel zum väterlichen Erbe versteckt ist. Der Älteste ist ein Zimmermann geworden, der Mittlere ein Schneider und der Jüngste ein Arzt und Zauberkundiger. Was sie nicht ahnen: Diese Nacht sind die Waldgeister und alle Pflanzen

800 Vgl. die ähnliche Lösung in Priključenija Ali-Baby i soroka razbojnikov (1979).

422 zum Leben erwacht und feiern ein Fest. Als sich die Brüder ihrem Feuer nähern, verstecken sie sich schnell. Die Brüder beschließen, am Feuer die Nacht zu verbringen. Der Zimmermann sammelt Holz, dabei schlägt er jedoch mit seiner Axt wahllos Bäume nieder. Die Zarin des Waldes trifft sich mit ihren Beratern, darunter der Wächter der Tiere Očopintre, und beschließt, den Menschen die Axt abzuhandeln. Unterdes wollen die Brüder die Nacht abwechselnd Wache halten. Die Reihe ist zuerst an dem Zimmermann. Zum Zeitvertreib fertigt er aus einem Baum die Statue eines Mädchens an. Očopintre erscheint, er bietet ihm für seine Axt große Schätze an und führt ihn in die Schatzhöhle der Geister. Als der Zimmermann sich jedoch gierig immer mehr nimmt, greift der Schatzwächter ein – und er steht am Ende ganz ohne Schatz da. Die zweite Wache hält der Schneider. Er bewundert die Holzstatue und näht für sie prächtige Kleider. Unterdes hat der übermütige Jäger Ibruch erfahren, wie er seinem Feind Očopintre mit einem Wunsch die Magie nehmen kann. Hierzu braucht er die Hilfe des Schneiders, und er bietet ihm dafür kostbare Felle und Pelze an. Der Schneider lässt sich verführen, doch Očopintre kann den Wunsch unwirksam machen. Nun soll der Arzt wachen. Er erweckt die Holzstatue mit Hilfe von magischen Kräutern zum Leben. Die älteren Brüder erwachen, und jeder beansprucht das Mädchen, das sie gemeinsam geschaffen haben, für sich. Dieses jedoch ruft die anderen Geister zum Feuer, und die Brüder finden sich verblüfft in deren Reigen wieder. Am Morgen verschwinden alle Geister, und auch das Mädchen wird wieder in einen Baum verwandelt. Die Brüder werden die Nacht nicht vergessen. Sie bereuen ihre Fehler, und da sie sich nicht entscheiden können, wer der beste Meister ist, beschließen sie, das Erbe des Vaters gemeinsam anzutreten. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Figur des Očopintre fungiert auch als Erzähler. Der Film spielt gänzlich in der Natur und größtenteils bei Nacht – aus dem dunklen Hintergrund heben sich oftmals nur die agierenden Figuren und einzelne Gegenstände und Bäume ab. Die Waldgeister tragen theaterhafte Phantasiekostüme mit Pflanzen- und Fellschmuck. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; vgl. AaTh/ATU 945 Luck and Intelligence = AA/SUS 945 Um i ščasťe (vgl. auch AaTh 654 The Three Brothers = ATU 654 The Three Agile Brothers = AA/SUS 654 Tri iskusnych brata). Das im Zentrum des Films stehende Motiv (Mot. F1023. Creation of a person by cooperation of skillful men; H621. Skillful companions create woman: to whom does she belong?) formt in der Folklore eher selten eine eigenständige Geschichte, sondern wird vielmehr in der Regel als gleichnishafte Dilemma-Erzählung in AaTh 945 eingearbeitet, wo es dazu dient, die schweigende Prinzessin zum Reden zu bringen.801 Durch das Vermächtnis des Vaters und die letztliche Einigung der Brüder sind auch Strukturparallelen zu AaTh 654 zu erkennen, worin sich die Söhne ebenfalls durch ungewöhnliche Kunstfertigkeiten auszeichnen. Der Kontext, in den der Film die Kreation des Mädchens stellt, ist eine originale und eher ungewöhnliche Ausdeutung: Verknüpft werden dabei der achtlose Umgang der Menschen mit der Natur und das selbstsüchtige Streben nach persönlichem Vorteil, dem jeder der Brüder zeitweise erliegt. Als Rahmen für sämtlichen Zauber dient die mit numinosen Vorstellungen bedachte Nacht vor Gründonnerstag – wie erklärt wird, ist nur in dieser Nacht der Wald lebendig. Dabei ist er von allerlei Figuren aus der georgischen Folklore und Mythologie bevölkert, wozu auch der Waldgeist Očopintre gehört.

Капля меда Mi katil meghr

801 Mot. F954.2.1. Dumb princess is brought to speech by tale ending with question to be solved.

423 [Der Tropfen Honig] UdSSR – Armenien 1983; Armenfiľm. Regie, Drehbuch: Genrich Maljan. Darsteller: Ašot Adamjan, Sirvard Abešjan, Liza Azizjan, David Akopjan u.a. Vorlage: Hovhannes Tumanjan: Kac’in achper (ru. Bratec Topor [Bruder Axt], 1907; Tumanjan 1977, S. 107-108); Xelok’n ow himary (ru. Umnyj i glupyj [Der Dumme und der Kluge], 1908)802; Nēsoyi k’aṙabałnise (ru. Kak lečili Kirakosa [Wie Kirakos kuriert wurde], 1910; Tumanjan 1977, S. 63-65); Sutlik vorskany (ru. Ochotnik-vraľ [Der Jäger und Aufschneider], 1910; ebd., S. 132-133); Barekendan (ru. Maslenica, 1910; ebd., S. 129-131); Anxelk’ mardy (ru. Glupyj čelovek [Der Dummkopf], 1894; ebd., S. 97-99); Tern ow caṙan (ru. Chozjain i sluga [Herr und Diener], 1908; ebd., S. 122-126); Kikosi mahy (ru. Smerť Kikosa [Der Tod des Kikos], 1913; ebd., S. 153-156); Mi katil mełr (ru. Kaplja meda803 [Der Tropfen Honig], 1909). Volksmärchenparaphrasen. Inhaltsangabe: In Form eines Episodenfilms werden 9 Märchen präsentiert: In Bruder Axt kommt ein Mann mit einer Axt in ein Dorf, in dem Äxte unbekannt sind – die einfältigen Dorfbewohner überreden ihn, ihnen die Axt zu überlassen, doch haben sie damit soviel Unglück, dass sie sie ihm freiwillig wieder zurückgeben. In Der Dumme und der Kluge nutzt ein Mann seinen dummen Bruder aus. Dieser verkauft einer Ruine ein Kalb, und als er darin einen Schatz findet, nimmt er sich nur soviel, wie das Kalb wert war. Als der Kluge davon erfährt, nimmt er den ganzen Schatz an sich und nutzt seinen Bruder weiter aus. In Wie Kirakos kuriert wurde wird ein kranker Mann von seinen wohlmeinenden Bekannten in einem Dampfbad mit Steinen zu Tode kuriert. Der Jäger und Aufschneider ist ein Lügenmärchen über eine Jagd voller widersprüchlich-absurder Ereignisse. Im Mittelpunkt von Maslenica steht ein dummes Ehepaar. Der Mann hat Butter und Reis für das Maslenica-Fest gekauft, doch die Frau gibt dies einem Fremden mit, der behauptet, sein Name sei Maslenica. Der Mann nimmt die Verfolgung auf, doch der Betrüger kann diesem nicht nur entkommen, sondern mit einer List auch noch sein Pferd abluchsen. Der Dummkopf arbeitet hart, aber hat kein Glück, so dass er zu Gott aufbricht, um ihn danach zu fragen. Ein hungriger Wolf, ein unglückliches Mädchen und ein ausgetrockneter Baum bitten ihn, für sie ebenfalls um Rat zu fragen. Auf seinem Rückweg von Gott berichtet der Dummkopf, der Baum sei wegen eines Schatzes in seinen Wurzeln ausgetrocknet und das Mädchen solle sich einen Liebsten suchen – er selbst jedoch zieht weiter, um sein Glück zu finden. Dem Wolf rät er, den nächsten Dummkopf zu fressen, und er frisst ihn auf der Stelle. In Herr und Diener stellt ein reicher Bauer einen Knecht unter der Bedingung ein, dass er seinen Lohn bekommt, wenn er ihn wütend macht, aber ohne Lohn bleibt, wenn er selbst wütend wird. Er schikaniert ihn jedoch so sehr, dass der Knecht die Wette verliert. Nun tritt dessen Bruder in den Dienst des Reichen – er dreht listig den Spieß um und kommt nach einigen Tricks zu seinem Lohn. In Der Tod des Kikos steigert sich eine Familie so sehr in den Gedanken hinein, dass dem imaginierten Sohn der ältesten Tochter ein Unglück zustoßen könne, dass sie sich kaum beruhigen können. Der Tropfen Honig schließlich ist durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen Anlass für einen Krieg. Filmgestaltung, Besonderheiten: Exzentrische Darstellungsform, die sich explizit als künstlerisches Verfahren zu erkennen gibt: Die Märchen werden mit minimalistischen Mitteln im Stile eines Stegreiftheaters 802 Konnte in den wenigen in deutschsprachigen Bibliotheken erhältlichen gedruckten Tumanjan-Ausgaben in mir verständlichen Sprachen nicht gefunden werden; im Internet russische Version einsehbar,z.B.: Tumanjan: Umnyj i durak, http://armen-tales.ru/glava/Ovanes-Tumanyan/Umnyy-i-durak/ (letzter Zugriff 29.08.2015). 803 Wie in der vorherigen Fußnote. Siehe im Internet: Tumanjan: Kaplja meda, http://armenianhouse.org/ tumanyan/legends-ru/honey.html (letzter Zugriff 29.08.2015).

424 dargestellt. Als einzige Kulisse dient eine große Wiese vor dem Hintergrund einer Berglandschaft, von der in verschiedenen Einstellungsgrößen mal mehr, mal weniger gezeigt wird, auch in Panoramashots. Daneben werden von den Schauspielern verschiedenfarbige Decken hochgehalten und wie improvisierte Vorhänge verwendet, die jeweils den Hintergrund für die Episoden abgeben – wodurch sich ein recht beschränkter Aktionsbereich ergibt. Einige Schauspieler fungieren als Erzähler, einige agieren, teilweise auch beides zugleich; viele tauchen in verschiedenen Rollen in mehreren Episoden auf. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Der Film adaptiert nicht weniger als 9 Märchen größtenteils schwankhaften Charakters des armenischen Nationalschriftstellers Hovhannes Tumanjan, die ohne inhaltliche Verknüpfung episodenhaft aneinandergereiht werden. Die Kürze der jeweiligen Episoden entspricht der der Vorlagentexte, die inhaltlich ohne Variationen übernommen werden. Es handelt sich fast ausschließlich um Volksmärchenparaphrasen und entsprechend um Erzähltypenadaptionen, die hier in der Reihenfolge der Episoden aufgelistet werden: AaTh 1202 The Grain Harvesting = ATU 1202 The Dangerous Sickle = AA/SUS 1202 –; AaTh 1643 The Broken Image = ATU 1643 Money Inside the Statue = AA/SUS 1643 Durak i bereza; (vgl.) AaTh 1965 Knoist and his Three Sons = ATU 1965 The Disabled Comrades; AaTh/ATU 1541 For the Long Winter = AA/SUS 1541 Vesna-krasna (+ AaTh 1540 The Student from Paradise (Paris) = AA/SUS 1540 S togo sveta vychodec); AaTh 460A The Journey to God to Receive Reward = ATU 460A The Journey to God (Fortune) = AA/SUS 460A Putešestvie k bogu za nagradoj; AaTh 1000 Bargain Not to Become Angry = ATU 1000 Contest Not to Become Angry = AA/SUS 1000 Ugovor ne serdiťsja (+ AaTh/ATU 1006* „Kill the Sheep that is Looking at You“ = AA *1006 I/SUS 1006* „Zarež’ ovcu (vola), kotoraja na tebja posmotrit“+ AaTh/ATU 1029 The Woman as Cuckoo in the Tree = AA/SUS 1029 Žena chozjaina na dereve); AaTh/ATU 1450 Clever Elsie = AA/SUS 1450 Glupaja nevesta; AaTh/ATU 2036 Drop of Honey Causes Chain of Accidents. Nicht zuordnen lässt sich lediglich die Geschichte um die Heilung von Kirakos, die keinerlei Folkloreparallelen zu haben scheint.

Небывальщина Verkehrte Welt ([Eine Lügengeschichte804]) UdSSR – Russland 1983; Lenfiľm. Regie, Drehbuch: Sergej Ovčarov. Darsteller: Aleksandr Kuznecov, Aleksej Buldakov, Sergej Bechterev, Igor’ Ivanov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Während die Männer im Krieg sind, wird in einem Dorf der einfältige Neznam geboren, der märchenhaft schnell heranwächst und sogleich verheiratet wird. Unterdes versucht ein Kleinbauer mit allen möglichen Mitteln, zu fliegen – seine Versuche schlagen jedoch alle fehl. Im Dorf findet ein Jahrmarkt statt. Neznam will seine Kuh verkaufen, tauscht sie jedoch erst gegen eine Ziege und dann gegen einen Spazierstock ein, was seine Frau so wütend macht, dass sie ihn fortjagt – ohne Verstand soll er nicht zurückkommen. Neznam trifft kurz darauf auf einen Soldaten, der ihm erzählt, er sei auf dem Weg ins gelobte Land, wo es Milchflüsse und Kisselufer gibt. Er will ihn jedoch nicht mitnehmen, denn jeder muss seinen Weg dorthin selbst finden. Im Folgenden begegnet Neznam erst einem Mann, der seine Frau in einer Truhe

804 Eigentlich ein unübersetzbares Wortspiel mit dem Wort byvaľščina, das in etwa Sage bedeutet und etymologisch Glaubhaftigkeit impliziert, und dem Verneinungspräfix ne-; das üblicherweise im Russischen gebrauchte Wort für Lügengeschichte oder Lügenmärchen lautet nebylica.

425 mit sich trägt und trotzdem von ihr betrogen wird, dann stößt er auf Menschen, die versuchen, die Sonne auszublasen. Schließlich trifft er erneut auf den Soldaten, und gemeinsam geraten sie zuerst in einem absurden Krieg, dann in die Hölle, die von lauter verführerischen Sünderinnen bevölkert ist. Hier stößt auch der Kleinbauer zu ihnen. Sie mischen die Hölle so sehr auf, dass der Teufel sie davonjagt. Auf ihrer Wanderung treffen sie nun einen Mann, der an einem Seil ins Paradies klettern will. Neznam will auch dorthin, doch er fällt vom Seil herunter. Die drei Gefährten kehren ins Dorf zurück, wo Neznam und seine Frau sich freudig in die Arme fallen. Viele Jahre später sind die beiden mit einer großen Kinderschar gesegnet, als beim winterlichen Maslenica-Umzug der Soldat wieder auftaucht: Er behauptet, mit seinem Schmiedehammer alte Leute wieder jung machen zu können. Dies erweist sich als Zaubertrick. Plötzlich wird die allgemeine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gezogen: Der Kleinbauer hat seine Arme ausgebreitet und fliegt. Neznam verlangt vom Soldaten, ebenfalls junggemacht zu werden – doch im Gegensatz zu den anderen „Junggeglühten“ wird aus ihm tatsächlich ein nacktes Kleinkind, das durch den Schnee davonläuft. Filmgestaltung, Besonderheiten: Nicht mit herkömmlichen narrativen Mitteln erzählter Film, sondern mehr ein ästhetisches Experiment im Stile eines phantasmagorischen filmischen Lubok. Sehr wenig gesprochener Dialog. Daneben werden Sprichwörter und formelhafte Wendungen, Častuški (epigrammartige Kurzgesänge), Spiele, Bräuche, Tänze eingestreut und Motive aus Märchen, Sagen und anderen Folkloregenres aneinandergereiht. Eine Stimme aus dem Off kommentiert immer wieder in formelhaft-hyperbolistischer Art und Weise und zitiert damit Wendungen aus Lügenmärchen an. Märchen- und Folklorebezug: Durch die potpourriartige Anordnung der verschiedensten Märchen- und Folkloreelemente, ohne sich an bestimmten Quellen zu orientieren, lässt sich der Film nur schwer einordnen. Hinzu kommt die eigenwillige Struktur: So etwas wie ein narrativer roter Faden ist zwar zu erkennen, doch der Film zeigt keine stringente Handlungsführung – die drei Haupthelden werden in verschiedenen, episodenhaft wirkenden Situationen präsentiert, die nur lose oder gar nicht verknüpft sind. Neznams unsinniger Tausch, der seine skurrile Suchwanderung auslöst, ist einem Schwanktyp nachempfunden (AaTh/ATU 1415 Lucky Hans = AA/SUS 1415 Mena), während das immer wieder thematisierte gelobte Land, wo an allem Überfluss herrscht, aus dem Bereich des Lügenmärchens stammt (vgl. AaTh/ATU 1930 Schlaraffenland/1932 Church Built of Cheese = AA/SUS 1930/1932 Strana obetovannaja), einem Märchengenre (vgl. AaTh 1875-1999; Mot. X900-1899), das der Film im Titel andeutet und mit dem er sich in seinem Hang zur Groteske auch als Ganzes am Besten umschreiben lässt. Nicht alle der kleineren mosaikstückartigen semantischen Elementen im Film stammen unbedingt aus diesem Kontext, doch grundsätzliche Folkloreparallelen haben sehr viele – ob Neznams schneller Wuchs (Mot. T585. Precocious infant), der Mann mit seiner Frau in der Truhe (Mot. T382. Attempt to keep wife chaste by carrying her in box; vgl. auch AaTh 1426), der Versuch, die Sonne auszublasen (Mot. J1968.1. Foolish fight with the sun), das Seil ins Paradies (Mot. F51. Sky-rope) oder die Verjüngungsschmiede (Mot. D1880. Magic rejuvenation; vgl. auch D1886. Rejuvenation by burning). Literaturhinweise/Besprechungen: Fomin 2001, S. 170-178

Новые приключения Акмаля [Akmaľs neue Abenteuer]

426 UdSSR – Usbekistan 1983; Uzbekfiľm. Regie: Jurij Stepčuk; Drehbuch: Lev Arkaďev. Darsteller: Diľnoza Rasulova, Sokrat Sulejmanov, Iroda Alieva, Vachid Kadyrov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Fortsetzung von Akmaľ, drakon i princessa (1981); Zweiteiler. (1) Zwei Jahre sind vergangen, seit Akmaľ im Märchen war. Seine Freundin Guzaľ hat es ihm nie so richtig geglaubt – als sie eines Tages verschwindet und Nuriev ihn um Hilfe bittet, ahnt Akmaľ, dass sie sich selbst ins Märchen aufgemacht hat. Das hat sie tatsächlich, aber dort hat sich einiges verändert: Der Chan behauptet, den Drachen selbst getötet zu haben und hat verboten, Akmaľs Namen je wieder zu erwähnen. Da sich die Prinzessin nicht beugen wollte, wurde sie auf eine schwimmende Insel gebracht – diese liegt in einem Stausee, der dem Volk das Wasser vorenthält. Guzaľ gelangt unbemerkt dorthin. Da die Mädchen sich aufs Haar gleichen, nimmt Guzaľ den Platz der Prinzessin ein, und diese flieht – sie will ihrem Vater die Karte stehlen, die das Versteck des Schlüssels zum Stausee anzeigt. Unterdes treffen Akmaľ und Nuriev im Märchen ein. Akmaľ kommt in den Palast, um dort nach Guzaľ zu suchen. Der Chan lässt ihn jedoch ins Verlies werfen. Seine Mitgefangenen tragen alle den Namen Akmaľ und haben sich geweigert, ihn abzulegen. Derweil greift Nuriev die Prinzessin auf, die er für Guzaľ hält. Er kann Akmaľ und die anderen befreien, und die Prinzessin stiehlt unterdes heimlich die Karte: Mit deren Hilfe finden die drei den Schlüssel und geben dem Volk das Wasser zurück. Da Akmaľ und Nuriev jedoch die Prinzessin für Guzaľ halten, nehmen sie sie mit nach Hause. (2) Bald jedoch läuft sie aus Guzaľs Wohnung fort. Derweil kann die echte Guzaľ mit Hilfe der Akmaľs durch eine List den Chan und seinen Anhang einsperren. Akmaľ und Nuriev ist unterdes aufgegangen, dass sie die echte Prinzessin mitgenommen haben, und sie machen sich auf die Suche nach ihr. Sie hat derweil den Jungen Kamiľ kennenlernt, der nur mit Mühe glauben kann, dass sie aus dem Märchen kommt. Gemeinsam treffen sie auf den Zauberer, der einen Ausflug in die moderne Welt macht, und kurze Zeit später stoßen auch Akmaľ und Nuriev zu ihnen. Im Märchenreich haben sich unterdes der Chan und sein Anhang aus dem Kerker befreien können. Das Volk ist auf Seiten der Prinzessin, aber der Chan bezichtigt Guzaľ der Hochstapelei: Sie soll ihre Identität beweisen, indem sie ihr Können in allerlei Haus- und Handarbeiten zeigt. Guzaľ kann nichts davon, und so gerät sie in arge Bedrängnis – gerade noch rechtzeitig trifft die echte Prinzessin ein und kann mit ihr unbemerkt wieder die Rollen tauschen. Guzaľ aber kehrt mit Akmaľ und Nuriev in die moderne Welt zurück. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Gestaltung der zeitgenössischen Realität. Der Übergang von Menschen- und Märchenreich ist durch wabernden rötlichen Rauch markiert, der auch jeweils zauberhafte Verwandlungen begleitet. Das Märchenreich ist in Bauten und Kostümen diffus orientalisch- märchenhaft gestaltet und vor allem durch viele Naturaufnahmen von Berg- und Steppenlandschaften sowie einem See geprägt, Unwirklichkeit wird durch ständig präsenten verschiedenfarbigen Rauch markiert. Guzaľ und die Prinzessin werden durch dieselbe Kinderdarstellerin verkörpert, sie sind nur selten per Filmtrick in derselben Einstellung zu sehen und sonst mit einem Rücken-Double im Schuss-Gegenschuss-Verfahren aufgenommen. Akmaľs Ankunft im Palast ist Anlass für eine actionreiche Schlägerei-Szene. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation/neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja ff. (zweiter Teil). Das Crossover-Märchen knüpft direkt an die Ereignisse aus dem Vorgängerfilm an, und durch die Bezugnahme auf den Drachenkampf Akmaľs werden deutliche Parallelen zum zweiten Teil des entsprechenden Typs (AaTh 300) sichtbar: Der Chan gibt sich wie dort der falsche Held als Drachentöter aus

427 (vgl. Mot. K1932. Impostor claims reward (prize) earned by hero) und wendet Drohungen und Gewalt an, um die Wahrheit zu vertuschen (Mot. K1933. Impostor forces oath of secrecy), und wie dort bringt erst die Rückkehr des Helden die Sache wieder ins Lot – auch der Versuch des Chans, Akmaľ auszuschalten (vgl. Mot. K1931.5. Impostors throw hero into prison), fügt sich nahtlos in die Struktur ein. Der Handlungsstrang um Guzaľ und die Prinzessin und deren Rollentausch dagegen, der zunächst parallel geführt und dann zur Haupthandlung wird, zieht seine Inspiration eher aus der Literatur denn aus der Folklore (vgl. z.B. Mark Twains The Prince and the Pauper) und baut dann wiederum seine Dynamik insbesondere aus den Gegensätzen der Märchen- und der modernen Welt auf, führt aber schließlich mit einem märchenhaften Motiv zu Ende – die Prinzessin beweist ihre Identität mit ihrer Kunstfertigkeit (Mot. H31. Recognition by unique ability; vgl. insb. H35.3. Recognition by unique needle-work).

Оловянные кольца [Die Ringe aus Zinn] UdSSR – Russland 1983; Leningradskoe Televidenie. Regie, Drehbuch: Gleb Seljanin. Darsteller: Efim Kameneckij, Igor’ Efimov, Zinaida Šarko, Irina Mazurkevič u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Koľca Aľmanzora (1977). Zweiteiler. Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakľ) mit theaterhaft-stilisierter Ausstattung und Studiokulissen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Koľca Aľmanzora (1977). Während der Film von 1977 die Dialoge adaptiert und den Inhalt variiert, folgt dieser Film textgenau der Theatervorlage: So ist von dem Zauberers Aľmanzor nur die Rede – an seiner Stelle tritt der Arzt Lečiboľ auf, und die Piraten brauchen kein neues Schiff, sondern wollen die Ringe für die Tochter ihres Sultans. Auch wird Zinziver (wie er sich hier und im Stück schreibt) nicht von den Prinzen ins Wasser gestoßen, sondern bleibt auf der Flucht zurück.

Приключения маленького Мука [Die Abenteuer des kleinen Muck] UdSSR – Tadschikistan 1983; Tadžikfiľm. Regie: Elizaveta Kimjagarova; Drehbuch: Julij Dunskij, Valerij Frid. Darsteller: Bachtier Fidoev, Aleksandr Parra, Larisa Belogurova, Džachongir Fajziev u.a. Vorlage: Wilhelm Hauff: Die Geschichte von dem kleinen Muck (Hauff 1986, S. 78-98; aus dem Zyklus Die Karawane, 1826). Inhaltsangabe: Die böse Stiefmutter sorgt dafür, dass der kleine Muck von seinem Vater fortgeschickt wird. Auf seiner Wanderung freundet er sich mit dem Kaufmannssohn Hasan an. Dieser liebt die Prinzessin Amina – der König ist jedoch gegen die Verbindung, und Hasan ist in die Dienste des Zauberers Sulejman getreten, da er sich durch Magie Hilfe erhofft. Auch Muck wird Sulejmans Diener. Der Zauberer ist jedoch ebenso unfähig wie hartherzig – so straft er Muck dafür, dass er seinen Esel gut behandelt. Hasan überredet Muck zur Flucht. Vorher aber stehlen sie Sulejman einen Stecken und ein Paar Schuhe. Der dankbare Esel erscheint Muck im Traum, und von ihm erfährt er, dass man sich mit den Schuhen in Windeseile fortbewegen,

428 mit dem Stecken Kupfer in Gold verwandeln kann. Dank der Schuhe wird Muck Läufer des Königs. Als ersten Auftrag bringt er einen Brief zum Nachbarkönig – der Antwortbrief enthält die Botschaft, dass der Prinz um Amina freien will. Der König ist zufrieden, Muck soll von nun an für ihn in ferne Länder reisen und von dort Wunderdinge mitbringen. Die Höflinge im Palast jedoch begegnen Muck mit Ablehnung, und nur Amina ist nett zu ihm. Er verspricht, ihr und Hasan zu helfen. Als er Schnee herbeibringt, der als Wunder gesehen wird, verspricht ihm der König die Erfüllung eines Wunsches. Muck zieht jedoch seinen Zorn auf sich, da er sich die Vereinigung von Amina und Hasan wünscht, und er muss von nun an im Hundezwinger arbeiten. Die Höflinge verspotten ihn, und Muck hofft, ihre Freundschaft zu gewinnen, indem er ihnen Kupfer in Gold verwandelt. Dies spricht sich bis zum König herum, und dieser bezichtigt Muck des Diebstahls und lässt ihn in eine Grube werfen. Hasan verhilft ihm zur Flucht. Er findet einen Feigenbaum, dessen Früchte ihm Eselsohren wachsen lassen. Wieder erscheint ihm der Esel im Traum und verrät ihm, welche Früchte den Zauber aufheben. In Verkleidung schenkt Muck die Feigen dem König, und dieser isst sie. Muck kann ihn nun dazu zwingen, Amina und Hasan seinen Segen zu geben – erst danach lässt er die Eselsohren wieder verschwinden. Muck will den Liebenden den Zauberstecken schenken, doch sie verzichten darauf und ziehen gemeinsam fort. Muck aber lässt seine Zauberdinge liegen und will zu seinem Vater zurückkehren. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Vorspann zeigt figurinenhafte Bilder der Figuren. Diffus orientalische Ausstattung in Kostüm und Bauten; zahlreiche Naturaufnahmen von Steppenlandschaften. Der Zauberer trägt ein exzentrisch stilisiertes Kostüm. Der Esel wird von einem echten „sprechenden“ Tier verkörpert. Mucks Schnellauf wird als Flug durch die Luft dargestellt – die Landschaft zieht per Blue Screen-Verfahren unter ihm dahin. Gesangsnummern im „Popstil“. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (über Vorlage); siehe AaTh/ATU 566 The Three Magic Objects and the Wonderful Fruits (Fortunatus) = AA/SUS 566 Roga. Unter all den Märchen Hauffs ist das vom kleinen Muck strukturell am stärksten dem Volksmärchen verhaftet – der Fortunatus-Typ (AaTh 566) lässt sich insbesondere im zweiten Teil deutlich ausmachen (vgl. insb. Mot. D895. Magic object returned in payment for removal of magic horns), wenn er auch modifiziert und ausgeschmückt wird. Als eine der bedeutendsten Erweiterungen kann angesehen werden, dass er einen körperlich missgestalteten Helden in den Mittelpunkt stellt805 – ein Zug, der vom Film eliminiert wird: Der Muck des Films ist ein anmutiger kleiner Junge. Während der Hauff’sche Muck nicht einmal von seinem Vater geliebt und nach dessen Tod fortgetrieben wird, stellt ihm der Film einen fürsorglichen Vater zur Seite, und die Vertreibung ist einer bösen Stiefmutter geschuldet (Mot. S31. Cruel Stepmother). Statt bei einer skurrilen Hexe tritt er im Film bei einem nicht weniger skurrilen Zauberer in Dienst, und statt um Katzen und Hunde kümmert er sich um einen Esel, der dann später wie der Hund bei Hauff als magischer Helfer im Traum wiedererscheint (Mot. B402. Helpful ass) und den Gebrauch der Zauberdinge erklärt – der Stecken kann hier nicht Gold finden, sondern selbst welches produzieren (vgl. Mot. D2102. Gold magically produced). Annähernd der Vorlage entsprechend sind Mucks Abenteuer am Königshof; deutlich erweitert wird jedoch die Figur der Prinzessin: Sie bekommt eine Liebesgeschichte zugeschrieben, der ihr Vater im Wege steht – ihr Liebster Hasan ist Hinzufügung des Films.806 Während er bei Hauff dem König zur Strafe seine Eselsohren lässt, befreit er ihn im Film davon, lässt dann seine Zauberdinge

805 Vgl. Mot. L112.3. Deformed child as hero. 806 Dass hierfür der auch in der Sowjetunion äußerst populäre DDR-Märchenfilm Die Geschichte vom kleinen Muck (1953) Pate stand, der eine ähnliche Erweiterung der Vorlage enthält, ist sehr wahrscheinlich – zumal auch dort der Geliebte den Namen Hassan trägt.

429 liegen807 und kehrt zu seinem Vater zurück808 – in der Vorlage dagegen wird geschildert, wie er als reicher und weiser, aber verbitterter Mann alt wird.

Сказка о Звездном Мальчике [Das Märchen vom Sternenjungen] UdSSR – Weißrussland 1983; Belarus’fiľm. Regie: Leonid Nečaev; Drehbuch: Inna Vetkina Darsteller: Pavel Černyšev, Larisa Ponomarenko, Vanja Pčelkin, Igor’ Sysoev u.a. Vorlage: Wie Zvezdnyj maľčik (1957). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Eines Tages gerät eine fremde Galaxie in den Einflussbereich der Erde und empfängt von dieser Energie, die Gefühle auslöst. Da Gefühle als schädlich gelten, beschließen die Außerirdischen, eines ihrer Kinder auf die Erde zu schicken und dort aufwachsen zu lassen, da ein einziger Mensch mit kaltem Herzen erhebliche Veränderungen bewirken kann. Dem Säugling jedoch stürzt sich unerwartet seine Mutter hinterher. Der Junge wird von einem Förster gefunden, der ihn liebevoll aufzieht. Die entbehrungsreiche Suche nach ihrem Sohn macht aus der Mutter unterdes eine Bettlerin. Der Sohn wächst zu einem talentierten, aber etwas überheblichen Jungen heran. Gänzlich wandelt sich sein Charakter jedoch erst, als er von einer weissagenden Zigeunerin erfährt, dass er von einem anderen Stern stammt – von nun an hält er sich für etwas Besseres und verhält sich grausam. Seine Mutter findet ihn schließlich, doch er verspottet sie und jagt sie fort. Kurz darauf verlässt er das Dorf. (2) Bald überkommt ihn jedoch Scham. Er trifft einen kleinen buckligen Jungen, der im Wald lebt, ohne Mutter aufgewachsen ist und noch nie sein Spiegelbild gesehen hat. Seine freundliche Art rührt den Sternenjungen. Kurz darauf erfahren die beiden, dass die Infantin zu ihrem Geburtstag alle Kinder des Landes einlädt, und sie machen sich zum Palast auf. Die Infantin ist verzogen und herrisch. Der Sternenjunge erregt durch seine Schönheit ihre Aufmerksamkeit, der Waldjunge bringt sie mit einen Tanz zum Lachen. Kurz darauf sieht der Kleine sein Spiegelbild, versteht, dass er nur Spottobjekt war, und bricht wie tot zusammen. Der Sternenjunge ist davon tief getroffen, und die Annäherungsversuche der Infantin, die das Ereignis kaltlässt, weist er zurück. Aus Zorn schickt die Infantin ihm heimlich Leute hinterher – wenn er auf seine Mutter trifft, sollen sie beide einsperren. Die Mutter ist unterdes mit fahrenden Zigeunern unterwegs, die auch den Waldjungen gesundgepflegt haben. In einer Stadt findet der Sternenjunge sie schließlich wieder, und er verteidigt sie gegen die Soldaten der Infantin. Diese trifft ein und führt sich herrisch auf, doch ihr ständiger Begleiter hat eine unangenehme Nachricht für sie: Ihr Vater, der König, hat beschlossen, sie mit der Rute züchtigen zu lassen, damit sie wisse, wie sich Demütigung anfühlt. Der Sternenjunge ist mit seiner Mutter glücklich wieder vereint. Die Außerirdischen aber, die die Geschehnisse die ganze Zeit beobachtet haben, haben längst den Wert der Gefühle erkannt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Ausstattung in den Szenen auf der Erde naturalistisch, diffus mitteleuropäisch und zeitlich einer vagen Vergangenheit angehörend (Stilmix); in der fremden Galaxie dagegen futuristische Kostüme und sehr reduzierte Kulissen, dazwischen werden immer wieder Bilder vom Kosmos gezeigt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Zvezdnyj maľčik (1957). Wie schon der Streifen von 1957 kombiniert

807 Auch hier scheint Beeinflussung von Seiten des DDR-Films vorzuliegen. 808 Die Existenz der Stiefmutter scheint der Film hier vergessen zu haben.

430 auch dieser Film die Sujets von zwei unabhängigen Wilde-Märchen, doch die Art und Weise der Verknüpfung unterscheidet sich wesentlich. Als Haupthandlung dient auch hier The Star- Child, wobei unter Beibehaltung der Grundhandlungslinie und märchenhafter Stilisiertheit Science Fiction-Elemente hinzugefügt werden und sich dadurch ein eigenwilliger Genremix ergibt: Die mysteriöse Sternengeburt des Helden wird ausfabuliert, indem er tatsächlich von einem fremden Stern, einem anderen Planeten stammt – auch hier lässt ihn das Wissen darüber Züge von Hochmut und Hartherzigkeit annehmen. Während er in der Vorlage von Beginn an sowohl über das Wissen von seiner Sternengeburt als auch über Hochmut verfügt, dient im Film die Begegnung mit der Zigeunerin für ihn als psychologisches Schlüsselerlebnis. Auffällig transformiert sind die auf die Begegnung mit seiner Mutter folgenden Ereignisse: Die magische Verhässlichung des Sternenjungen ist gänzlich eliminiert, seine Schönheit bleibt ihm, und er verlässt sein Dorf nicht geläutert, um seine Mutter zu suchen, sondern, weil er sich unverstanden und zu Höherem berufen sieht. Seine Läuterung erfolgt erst nach und nach, und der Film fügt auch hier auf subtile Weise ein psychologisches Schlüsselerlebnis ein: Die Begegnung mit dem Waldjungen, der dem Zwerg aus The Birthday of the Infanta nachempfunden ist – wie dieser ahnt auch der Waldjunge nichts von seiner eigenen äußeren Hässlichkeit (die visuell freilich nur andeutungsweise dargestellt wird)809, und er zeichnet sich durch Güte und „innere Schönheit“ aus. Von der oberflächlichen Infantin werden die beiden ungleichen Kameraden dann nur nach ihrem Äußeren beurteilt – das Schicksal seines Freundes und die Gefühlskälte der Infantin aber lässt den Sternenjungen dann nochmal deutlich erkennen, welche Werte richtig und welche falsch sind. Die darauffolgenden Ereignisse lösen sich dann nahezu gänzlich von den Vorlagen: Nur die Zusammenführung des Sternenjungen mit seiner Mutter ist erhalten, aber wiederum ohne jegliche märchenhaft-magische Elemente.

Сказка странствий Das Märchen einer Wanderung (DDR)/Eine phantastische Geschichte (BRD)/Das Märchen von der großen Reise UdSSR – Russland/ČSSR/Rumänien 1983. Mosfiľm/Barrandov/Studioul Cinematografic Bucuresti/Sovinfiľm. Regie: Aleksandr Mitta; Drehbuch: Aleksandr Mitta, Julij Dunskij, Valerij Frid. Darsteller: Andrej Mironov, Taťjana Aksjuta, Lev Durov, Ksjuša Pirjatinskaja u.a. Vorlage: – (siehe aber Kommentar) Inhaltsangabe: Die Geschwister Maj und Marta sind arme Waisenkinder. Maj hat zwar die Gabe, Gold aufzuspüren, doch das will Marta nicht, da er dabei Schmerzen empfindet. Der böse Gorgon und sein Kumpan entführen Maj, um sich mit seiner Fähigkeit zu bereichern. Die verzweifelte Marta macht sich auf die Suche nach ihrem Bruder. Dabei trifft sie auf den Erfinder Orlando, der davon träumt, mit seinen Ideen die Welt zu verbessern, und die beiden ziehen zusammen weiter. Sie finden eine Siedlung, die auf dem Rücken eines Drachen gebaut wurde und in der idyllische Zustände herrschen: Durch die Wärme des Drachen gedeiht alles von alleine, und niemand muss arbeiten. Marta wird zurückgehalten, als sie weiter will, da niemand von dem Paradies erfahren soll – Orlando hilft ihr und sie fliehen gemeinsam. Unterdes erhebt sich der

809 Der Junge ist eigentlich recht hübsch, lediglich von etwas kleinem Wuchs und einem kaum auffallenden Buckel. Die Scheu, einen körperlich entstellten bzw. behinderten Helden auch tatsächlich realitätsgetreu zu zeigen, hat der Film mit dem DDR-Märchen Die Geschichte vom kleinen Muck (1953) gemeinsam (während die sowjetische Variante Priključenija malen’kogo Muka (1983) das Element der Deformiertheit gänzlich eliminiert, vgl. dort). Schmitt (1993, S. 462) vermutet, dass darin damit die Identifikationsbereitschaft der kindlichen Zuschauer erhöht werden soll – dies scheint auch hier zuzutreffen.

431 Drache, und die Siedlung geht in Flammen auf. Durch eine Intrige der Entführer Majs wird Orlando kurz darauf wegen Zauberei angeklagt, ihm wird ein Scheinprozess gemacht und er wird zum Verhungern in einen Turm eingemauert – im letzten Moment schlüpft auch Marta hinein. Unterdes hat Gorgon, aller Goldgier zum Trotz, fast so etwas wie Zuneigung zu Maj gefasst, und er verteidigt ihn gegen seinen Kumpanen. Marta und Orlando erklimmen die Spitze des Kerkerturms, und aus altem Gerümpel kann Orlando eine Flugmaschine bauen, mit der sie entfliehen können. Sie landen in der Nähe einer Stadt, in der die Pest in Gestalt einer verführerischen Frau umgeht. Sie finden zwei kleine Kinder, die ihre Eltern verloren haben, und kümmern sich um sie – sie fühlen sich wie eine Familie. Doch da holt die Pest sie ein. Orlando kann sie vertreiben, lässt jedoch dabei sein Leben. In der Stadt beginnt ein Freudenfest, die Kinder finden ihre Großmutter. Marta setzt ihre Suche nach Maj fort, aber erst 10 Jahre später findet sie ihn: Unter Gorgons Einfluss ist er ein grausamer Feudalherr geworden. Er kann mittlerweile Gold nicht nur aufspüren, sondern auch an sich ziehen, und spürt keinen Schmerz mehr dabei. Majs Wesenswandel bestürzt Marta. Gorgon, der will, dass in Maj seine Seele fortlebt, sperrt Marta ein. Als Maj davon erfährt, will er sie freilassen, doch sie sieht keinen Sinn mehr im Leben. Verzweifelt zieht Maj alles Gold in seinem Schloss an sich, und das Gebäude stürzt zusammen. Marta birgt Maj aus den Trümmern. Er hat seine Gabe verloren, doch erwacht in ihm die Seele Orlandos, der für ihn gestorben ist. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbild-Format. Kurzer schriftlicher, formelhafter Prolog. Detailreiche, opulente Ausstattung, die aufwendige Filmbauten, historische Architektur und Landschaftsaufnahmen als Kulisse verwendet. Zeitlich wird, sowohl der Story als auch Architektur und Kostümen nach, das ausgehende Mittelalter bzw. der Beginn der Renaissance in einem nicht näher konkretisierten Mitteleuropa angedeutet. Sehr düsterer Grundton, Anleihen beim Fantasy- Genre mit intensiv eingesetzten Spezialeffekten von großem Schauwert, so etwa, als der riesige Drache sich erhebt und alles in ein pyrotechnisches Feuermeer verwandelt oder, als Maj das Gold im Schloss an sich zieht. Die Filmmusik stammt von Aľfred Šnitke und wird als dramaturgisches Mittel eingesetzt, um emotionale Momente zu unterstreichen. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation, vgl. AaTh/ATU 451 The Maiden Who Seeks her Brothers = AA/SUS 451 Braťja-vorony sowie AaTh/ATU 425 (ff.) The Search for the Lost Husband. Inspiriert und strukturell beeinflusst ist der Film deutlich von Hans Christian Andersens Die Schneekönigin, und die ähnlich klingenden Namen der Helden (Maj – Kai, Marta – Gerda) sind bewusst gewählt. Andersens Märchen erinnert schon seinerseits nur bruchstückhaft an einen Erzähltyp – der Film formt wiederum aus der Grundidee ein eigenständiges Sujet, wobei er dabei einige Elemente, die für Andersen kennzeichnend waren, regelrecht dekonstruiert: Wie Kai wird im Film Maj entführt, und seine Schwester Marta macht sich wie Gerda auf eine lange und leidvolle Suchwanderung nach ihm. Während Gerda jedoch auf viele freundliche Helfer trifft, hat Marta nur Orlando an ihrer Seite, mit dem sie durch eine ihnen feindlich gesinnte Welt wandert.810 Der Orlando-Figur wird ziemlich viel Aufmerksamkeit zugewendet und dabei der Selbstfindungsprozess eines Denkers und Philosophen abgehandelt. Die märchenhaften Elemente werden vom Film verschieden modifiziert und nehmen dabei gleichnishaften Charakter an: Die Gabe Majs, Gold zu finden, weist Folkloreparallelen auf (vgl. Mot. D2101. Treasure magically discovered; auch D2102. Gold magically produced; D2100.1. Inexhaustible treasure) – semantischer Zusatz ist, dass sie Maj Schmerzen bereitet, gegen die er aber letztlich immun wird, indem er sich Hartherzigkeit aneignet: Dies kann auch als Anklage gegen eine Welt gelesen werden, die Reichtum und Macht zum Preis des Mitgefühls ermöglicht. Die Episode mit dem Drachen wiederum erinnert nicht nur an den Atlantis-

810 Auf diese Auffälligkeiten weist schon die Besprechung in Berger/Giera 1990 hin (S. 250).

432 Mythos, sondern auch an Eršovs Konek-Gorbunok811: Darin hat sich auf dem Rücken des im Meer gebannten riesigen Wals ein Dorf gebildet, und bevor der erlöste Wal untertaucht, muss der Held dessen Bewohner vor der Gefahr warnen und sie evakuieren. Der Wal ist hier durch den symbolträchtigen Drachen ersetzt (vgl. auch Mot. B11.6.4. Dragon guards holy land), auf seinem Rücken herrschen paradiesische Zustände, von denen niemand erfahren soll (vgl. Mot. C423. Tabu: revealing the marvelous) – die Gefahr durch ihn ist jedoch ständig präsent, und er ist letzlich nur so lange gut, wie ihn niemand reizt: Als dies geschieht, besiegeln die Siedler ihren eigenen Untergang. Diese Episode lässt vielseitige allegorische Deutungen zu. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 247-251; Fomin 2001, S. 193-195; Friedrich 2003, S. 133-136; Strobel/Strobel 1986, S. 55-56

Ученик лекаря Der Lehrling des Medicus UdSSR – Russland 1983; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Isaj Kuznecov. Darsteller: Oleg Kazančeev, Oleg Golubickij, Nataľja Vavilova, Ariadna Šengelaja u.a. Vorlage: Volksmärchen vom neidischen Arzt (vgl. Bŭlg. prik. 145 = Balk. 3).812 Inhaltsangabe: Der Bursche Radomir lebt vom Verkauf angeblicher Wunderarzneien. Die junge Todorka, die einer Gauklertruppe angehört, erhofft sich von ihm Hilfe für ihre gelähmte Mutter. Als sich Radomir als Schwindler erweist, ist sie enttäuscht. Er aber hat sich in sie verliebt und beschließt, ihretwillen ein echter Arzt zu werden. Der Leibarzt des Zaren, Vazili, will sein Wissen an niemanden weitergeben. Da sein taubstummer Gehilfe verstorben ist, stellt sich Radomir taubstumm, erregt Vazilis Aufmerksamkeit und wird sein neuer Gehilfe. Kosta, der Berater des Zaren, kommt hinter sein Geheimnis, doch verrät er ihn nicht und will ihm sogar helfen. Auch, als er erfährt, dass das Studium der Heilkunst Jahre dauert, will Radomir bei seinem Vorhaben bleiben. Todorka gesteht ihm ihre Liebe, bevor sie mit den Gauklern weiterzieht. Die Jahre vergehen. Ein Opfer Radomirs Scharlatanereien erkennt ihn wieder und bezichtigt ihn, den Taubstummen nur zu spielen. Vazili lässt ihn foltern, doch er hält den Qualen stand. Reuevoll pflegt Vazili, der eine Zuneigung zu ihm gefasst hat, ihn wieder gesund. Unterdes will der Zar sich verheiraten – er zieht eine Braut aus dem Volk vor, und seine Aufmerksamkeit fällt auf die zurückgekehrte Todorka. Radomir kommt glücklich in deren Haus – er weiß, wie er ihre Mutter heilen kann, und beginnt gleich die Behandlung. Da erscheinen die Leute des Zaren, die Todorka in den Palast bringen. Als sie erfährt, dass sie die Frau des Zaren werden soll, flüchtet sie erschreckt in den Palastgarten. Dort wird sie gefunden, bewusstlos und von einer Krankheit befallen. Vazili wird gerufen. Als er eine falsche Behandlung beginnen will, spricht der vermeintlich taubstumme Gehilfe plötzlich. Vazili ist von dem Betrug empört. Da er jedoch Radomirs Behandlungsvorschlag als richtig erkennt, heilt er Todorka. Dafür verlangt er vom Zaren den Tod seines Gehilfen. Radomir macht einen Vorschlag: Vazili soll ihm ein Gift mischen – wenn er es erkenne und ein Gegengift finde, so will er Vazili ein Gift verabreichen. Der Arzt willigt ein. Radomir kann sich heilen, doch Vazili stirbt – obwohl ihm nur Wasser gereicht wurde: Der Hass und die

811 Vgl. Konek-Gorbunok (1941) und Konek-Gorbunok (1986). 812 Direkte Vorlage war wahrscheinlich die russischsprachige literarisierte Nacherzählung Učenik lekarja (in: Gesse/Zadunajskaja 1976, S. 310-315). Dafür sprechen neben der sicheren Rezipierbarkeit auf Grund der Sprache insbesondere die Namen der Protagonisten und verschiedene Handlungsdetails.

433 Verzweiflung, das Gift nicht zu erkennen, haben ihn getötet. Der Zar erfährt, dass Todorka Radomir liebt, und verzichtet freiwillig auf sie. Filmgestaltung, Besonderheiten: Existiert auch in einer Stereofilmvariante (3D). Vorspann vor stilisierten Mittelalterbildern. Ausstattung und Bauten siedeln den Film in einem nicht näher konkretisierten südosteuropäischen Land in einem diffusen Mittelalter an. Vier musikalische Einschübe von dem bekannten Musiktrio Meridian in der Rolle von fahrenden Spielleuten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: (Erzähltypenadaption:) Vgl. AaTh/ATU 325 The Magician and His Pupil. Das zugrundeliegende Volksmärchen hat keine eindeutige Entsprechung in den Erzähltypenverzeichnissen, weist jedoch durch den Wettkampf zwischen Meister und Schüler, den letzterer gewinnt, Strukturparallelen zum Typ vom Zauberwettkampf auf (AaTh 325).813 Der Film behält alle wesentlichen Elemente und auch einige Details des Volksmärchens bei, insbesondere die Schlusslösung (Mot. F1041.1.10. Death (illness) from envy). Erweiterung ist die Hintergrundgeschichte des Helden als hochstaplerischer Scharlatan (Mot. K1955. Sham physician) und entsprechend dessen Läuterung und Motivation, Arzt zu werden. Auch die gesamte Liebesgeschichte zwischen Radomir und Todorka ist Hinzufügung des Films: Im Märchen ist es die Tochter des Zaren, die lebensbedrohlich erkrankt und vom Arzt mit Hilfe des Helden geheilt wird. Hier wird stattdessen die Braut seiner Wahl von der Krankheit befallen (vgl. Mot. T91.6.2. King (prince) in love with a lowly girl), die aber einen anderen liebt – er erweist sich bei dieser Dreiecksgeschichte als nobler Rivale und verzichtet (vgl. Mot. T92.1. The triangle plot and its solutions). Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 252-255

Белая роза бессмертия Ukvdavedis tetri vardi Weiße Rose der Unsterblichkeit UdSSR – Georgien 1984; Gruzija-fiľm. Regie, Drehbuch: Nana Mčedlidze. Darsteller: Ėka Vibliani, Mamuka Kagadišvili, Nino Kakabadze, Nana Kvateladze u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Die junge Teona wird entführt. Während sich der Entführer noch überlegt, wie er sie gewinnbringend in einen Harem verkaufen kann, entwischt sie unbemerkt. Sie wird von einem Mann und einer Frau als Pflegeeltern aufgenommen, doch als die Pflegemutter durch ihren Zauberspiegel erfährt, dass das Mädchen schöner ist als sie, trachtet sie ihr nach dem Leben, und Teona flüchtet. Auf ihrer Flucht erweist sie sich einer Reihe von Gegenständen gegenüber als hilfsbereit, die ihr dies später vergelten. Schließlich kommt sie zu 10 Brüdern, die sie wie eine Schwester liebgewinnen – die Pflegemutter, die ihren Aufenthaltsort durch den Zauberspiegel erfahren hat, kann jedoch durch ein vergiftetes Geschenk ihren Scheintod herbeiführen. Unterdes hat sich ihr Bräutigam Mzečabuka auf die Suche nach ihr gemacht und besteht dabei eine Reihe von Abenteuern. Als er zu den Brüdern kommt, können diese nur von Teonas Tod berichten – sie haben sie auf ein Floß gelegt, das sie der Strömung des Flusses übergeben haben. Hier wiederum ist sie im Reich eines Wassermannes gelandet, dessen Liebe sie jedoch zurückweist und der sie schließlich freigibt. Sie gerät an einen

813 Hierauf weist August Leskien in den Anmerkungen zu den von ihm herausgegebenen Balkanmärchen aus Bulgarien (Balk.) hin.

434 Fürstenhof, wo die eifersüchtige Prinzessin Maržena sie in den Kerker werfen lässt. Kurz darauf erscheint Mzečabuka, dem ihre Freilassung unter der Bedingung versprochen wird, dass er herausfindet, warum Marženas Schuhe jede Nacht durchgetanzt sind. Er bringt dies mit Hilfe von Zaubergegenständen in Erfahrung, doch die Prinzessin betrügt ihn und bringt die Gegenstände an sich. Er findet Zauberfrüchte, die einem Menschen ein Geweih wachsen lassen, verkauft sie in Verkleidung Maržena, und erst, als sie die Wahrheit gesteht, entzaubert er sie. Die geläuterte Prinzessin schließt sich ihm als Gefährtin an. Teona ist jedoch mittlerweile aus dem Gefängnis geflohen und an einen Königshof geraten – die dortige launenhafte Prinzessin will sie nur freigeben, wenn ihr drei Wunderdinge besorgt werden, darunter der goldene Vogel. Bei dem Versuch, diesen zu gewinnen, werden jedoch sowohl der Held als auch seine Gefährtin in Schatten verwandelt. Nun ist es an Teona, die beiden mit der weißen Rose der Unsterblichkeit zu erlösen, die von einem bösen Monster bewacht wird – dieses kann sie durch ihren Gesang rühren, und so wird schließlich alles gut. Filmgestaltung, Besonderheiten: Durchgehend Erzählerstimme aus dem Off, die teilweise sehr ironisch kommentiert. Die Ausstattung ist naturalistisch; die Kostüme und Kulissen sind ein diffuser Stilmix, der weder örtlich noch zeitlich konkretisiert. Zwei unerwartet auftauchende Anachronismen: Ein kleiner Junge im Sporttrikot mit einem Fußball fordert Mzečabuka zu einem Spiel heraus, bevor er ihm den Weg weist814; moderne Musik und entsprechende Tanzschritte bei Marženkas Aufenthalt im unterirdischen Reich, bei dem sie ein Paar Schuhe nach dem anderen durchtanzt. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante(n); siehe AaTh/ATU 1430 The Man and his Wife Build Air Castles = AA 1430*A/SUS 1430 Razrušennye mečtanija + AaTh/ATU 709 Snow-White = AA/SUS 709 Volšebnoe zerkaľce (Mertvaja carevna) + AaTh 480 The Spinning Women by the Spring: The Kind and the Unkind Girls = ATU 480 The Kind and the Unkind Girls = AA 480*B/SUS 480 Mačecha i padčerica + AaTh/ATU 400 The Man on a Quest for his Lost Wife = AA 401A/SUS 4001 Muž iščet isčesnuvšuju ili pochiščennuju ženu + AaTh/ATU 306 The Danced-out Shoes = AA/SUS 306 Nočnye pljaski + AaTh/ATU 566 The Three Magic Objects and the Wonderful Fruits (Fortunatus) = AA/SUS 566 Roga + AaTh 550 Search for = ATU 550 Bird, Horse and Princess = AA/SUS 550 Carevič i seryj volk + AaTh/ATU 425C Beauty and the Beast = AA/SUS 425C Alen’kij cvetoček. Dem Film gelingt es, ohne dass sich eine bestimmte Volksmärchenquelle nachweisen lässt, mindestens 8 bekannte Märchensujets zu einer zusammenhängenden Handlung zu verbinden. Einige der Typen werden nur teilweise oder bruchstückhaft wiedergegeben (AaTh 480; AaTh 425C), die meisten aber werden zumindest annähernd in ihrer Gesamtstruktur übernommen. Semantische Elemente werden dabei bunt variiert und im Zweifelsfall verknüpfend der übergeordneten Handlungslinie angepasst. Lediglich die Episode im Reich des Wassermanns konnte keinem Erzähltypenmuster zugewiesen werden, sondern ließ nur Motivverwendung erkennen (vgl. Mot. F420.5.2.2. Water-spirits kidnap mortals and keep them under water, F420.6.1.1. Water- man woos mortal girl).

Бойся, враг, девятого сына Der neunte Sohn des Hirten ([Fürchte, Feind, den neunten Sohn])

814 Kann eventuell als intertextuelle Anspielung auf den bekanntesten Film der Regisseurin gesehen werden, Pervaja lastočka (Wie der Fußball nach Georgien kam, 1975).

435 UdSSR – Kasachstan 1984; Kazachfiľm. Regie: Viktor Pusurmanov, Viktor Čugunov; Drehbuch: Oľga Bondarenko. Darsteller: Kairat Nurkadilov, Guľžan Aspetova, Nurmachan Žanturin, Lejla Džumalieva u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Zauber der Fee Akkempir lässt die Natur erblühen, doch der böse Zauberer Tasbol lässt eine Steinlawine über die Blumen hinwegfegen. Akkempir prophezeit ihm, dass er seine Macht verlieren und von dem Sohn eines Pferdehirten besiegt werde. So fordert Tasbol von dem Pferdehirten Eržan die Herausgabe seiner neun Söhne, von denen der jüngste gerade erst geboren ist. Als Eržan sich weigert, verwandelt Tasbol ihn und seine Herde in Felsblöcke. Die acht erwachsenen Söhne ziehen aus, den Vater zu retten. Tasbols Tochter Kunkej soll sie irreführen, doch sie warnt die Recken stattdessen. Dennoch gelingt es Tasbol, sie in eine Höhle zu locken und einzusperren. Das Lied ihrer Ahnen gibt ihnen jedoch Kraft, und erst eine Zauberwurzel lässt sie alles vergessen. Kunkej flieht vor ihrem Vater. Unterdes ist der neunte Sohn Eržans, Erkenže, zu einem jungen Burschen herangewachsen und macht sich auf, Vater und Brüder zu suchen. Er trifft auf Akkempir und deren Töchter. Die Fee bietet ihm ihren Schutz an, doch Erkenže lehnt diesen voller Selbstsicherheit ab. Da Akkempir ihn für zu unreif hält, um mit Tasbol zu kämpfen, verweigert sie ihm ihre Hilfe – er entführt darauf übermütig ihre jüngste Tochter Aislu. Kurz darauf besinnt er sich jedoch und schickt das kecke Mädchen zu ihrer Mutter zurück. Sie wird aber von einem Gehilfen Tasbols entführt, der sie für Kunkej hält. Kurz darauf lässt sich Erkenže auf einen ungleichen Kampf mit Tasbols Gehilfen ein und bleibt verletzt zurück. Akkempir heilt ihn heimlich und schenkt ihm eine Zauberflöte. Wenig später erscheint Kunkej, die ihm helfen will, doch von Tasbols Gehilfen angegriffen wird. Akkempir greift ein und rettet sie. Kunkej will sich nicht weiter vor ihrem Vater verstecken und verwandelt sich in einen Lichtstrahl. Kurz darauf trifft Erkenže auf seine Brüder – sie sind zu willenlosen Kriegern Tasbols geworden und erkennen ihn nicht wieder. Tasbol verlangt von Erkenže, dass er ebenfalls sein Krieger wird. Erkenže weist dies empört zurück. Er beginnt, auf seiner Zauberflöte das Lied der Ahnen zu spielen – und weckt damit die Erinnerungen seiner Brüder. Tasbol wird durch Aislus Magie zu Stein, der Vater der Brüder und seine Herde werden erlöst. Gemeinsam kehren sie nach Hause zurück – Aislu an Erkenžes Seite. Filmgestaltung, Besonderheiten: Als Hauptschauplatz dient die Natur, die in malerischen Bildern von Wüsten-, Gebirgs- und Steppenlandschaften eingefangen wird. Die Kostüme der menschlichen Figuren wie auch der Feen sind folkloristisch und mit kasachischem „Kolorit“ gestaltet; die Bösewichte tragen dagegen Phantasiekreationen. Tasbol wird in der Regel erhöht stehend und aus der Froschperspektive aufgenommen, wodurch er in einigen Einstellungen wie ein Riese wirkt. Die acht älteren Brüder sind identisch gekleidet, zuerst in Nomadenkriegerkleidung, dann in schwarzen Kettenhemden und Helmen als Krieger Tasbols. Eine echte „sprechende“ Schildkröte spielt eine Rolle. Das „Lied der Ahnen“ zieht sich als Leitmotiv durch den Film. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh 312D Brother Saves His Sister and Brothers from the Dragon = ATU 312D Rescue by the Brother = AA *312 I/SUS 312D Katigorošek. Für den Film konnte keine konkrete Volksmärchenquelle ausgemacht werden; die einzelnen semantischen Elemente greifen jedoch Folkloretraditionen auf: So ist etwa eine Neunzahl von Brüdern nicht untypisch für das kasachische Märchen (vgl. Kaz. sk. I, S. 7-33; III, S. 52-54), und das Pferdehirtentum spielt darin eine große Rolle (Kaz. sk. I, S. 7-33, 121-129; III, S. 21- 23). (Ak-)Kempir ist eine der Baba-Jaga verwandte ambivalente Figur, die in verschiedenen Märchen mal als gut (vgl. z.B. Kaz. sk. I, S. 33-46), mal als böse (z.B. Kaz. sk. I, S. 7-33; II,

436 S. 141-142) erscheint und im Film zur guten Kraft der Natur stilisiert wird. Ihr Gegenspieler Tasbol hat keine direkte Folkloreentsprechung, wohl aber sein Versteinerungszauber (Mot. D231. Transformation: man to stone) – tas bol ist hierfür eine gängige märchenhafte Formel. Ansonsten wird märchenhafte Semantik frei verwendet, so die Prophezeiung von Tasbols Fall (Mot. M341.2.19. Prophecy: death at hands of certain person), der Vergessenszauber (vgl. Mot. D2000. Magic forgetfulness), das Lied der Ahnen, das Kraft und später Erinnerung gibt (vgl. Mot. D1275. Magic song, D1335.12. Magic song gives strength, D2006. Magic reawakening of memory) sowie die Zauberflöte (Mot. D1223.1. Magic flute). Die Struktur entspricht weitestgehend der von AaTh 312D – wie dort wird einer Familie von einem Drachen bzw. monsterhaften Bösewicht eine Schädigung zugefügt, die älteren Söhne scheitern, und erst der Jüngste (Mot. L10. Victorious youngest son) kann das Unglück beseitigen und seine Brüder retten. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 256-259; Strobel/Strobel 1986, S. 42-43

Иванко и царь Поганин [Ivanko und Zar Poganin] UdSSR – Ukraine 1984; Ukrtelefiľm. Regie: Boris Nebieridze; Drehbuch: Oleg Tumanov. Darsteller: Griša Pavlenko, Nastja Girenkova, Nodar Mgaloblišvili, Lev Durov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Obwohl die Rabengesetze eigentlich die Einmischung in menschliche Angelegenheiten verbieten, rettet der Rabenzar Karkaron den Säugling Ivanko vor dem bösen Zaren Poganin, der ihm einer Prophezeiung wegen nach dem Leben trachtet, und bringt ihn in sein Reich. Poganin lässt derweil Ivankos Mutter von der Eule Čivetta in eine Greisin verwandeln – sie warnt ihn jedoch, dass sein Ende drohe, wenn ihr Sohn sie dennoch wiedererkennen sollte. Dieser wächst unterdes bei den Raben in dem Glauben auf, Karkaron sei sein Vater. Als er die Wiesennymphe Povetrulja trifft, klärt sie ihn auf, dass er ein Mensch ist, und als er darauf Karkaron zur Rede stellt, gesteht dieser ihm die Wahrheit. Ivanko will nun seine Mutter aus Poganins Gefangenschaft befreien. Karkaron gibt ihm eine Zauberflöte, mit der er ihn dreimal um Hilfe rufen kann, und weist ihn an, Tieren mit Achtung zu begegnen – dann würden sie ihm beistehen. Auf seinem Weg zu den Menschen trifft Ivanko Povetrulja wieder, die sich ihm anschließt. Zusammen werden sie dreimal von Čivetta und dem verräterischen Raben Karri, der mit ihr unter einer Decke steckt, in gefährliche Abenteuer verwickelt – dabei zeigen sie Mut, ihnen wird von Tieren geholfen, doch müssen sie auch Karkaron dreimal herbeirufen. Dieser aber will seinem Ziehsohn auch weiterhin helfen, und da er damit als Zar Unglück über das Rabenvolk bringen würde, verzichtet er auf die Krone und fliegt alleine fort. Ivanko und Povetrulja erreichen indes Poganins Reich. Dieser stellt sich freundlich und verspricht Ivanko, seine Mutter freizugeben, wenn er sie unter seinen Gefangenen herausfindet. Der Junge erkennt seine Mutter trotz ihrer Verwandlung, und sie wird erlöst. Poganin aber weigert sich, sie freizugeben, und will auch Ivanko gefangennehmen – es kommt zum Kampf. Povetrulja kann Poganins Gefangene befreien, und diese unterstützen sie. Unterdes trifft Karkaron ein, der sich mit Čivetta einen Kampf liefert – er tötet sie, wird jedoch kurz darauf von Karri hinterrücks erstochen. Auch dieser muss aber bald sein Leben lassen. Die treuen Rabenkrieger erscheinen und bringen den sterbenden Karkaron auf dessen Wunsch hin fort. Sein Tod veranlasst die Kämpfenden, sich zu versöhnen – Poganin wird von den eigenen Leuten im Stich gelassen und steht schließlich ganz alleine da.

437 Filmgestaltung, Besonderheiten: Die „tierischen“ Figuren erscheinen größtenteils in menschlicher Gestalt in leicht stilisierten Kostümen und verwandeln sich nur bei Bedarf in Zeichentricktiere; es kommen insbesondere dadurch sowohl reine Zeichentrick- als auch mit Zeichentrick kombinierte Sequenzen zum Einsatz. Daneben erscheinen in „Nebenrollen“ auch tatsächliche „sprechende“ Tiere. Ein traditionelles volkstümliches Wiegenlied dient als musikalisches Leitmotiv. Malerische Naturaufnahmen; das Reich Poganins ist diffus orientalisch gestaltet. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 930 The Prophecy = AA/(SUS) 930 Ot suďby ne ujdeš. Der Film weist einige strukturelle Parallelen zum Typ vom unausweichbarem Schicksal auf: Auch darin ist eine Prophezeiung der Anlass, dass dem Helden schon in der Wiege nach dem Leben getrachtet wird – sie wird hier der Eule Čivetta in den Mund gelegt (Mot. B143.0.3. Owl as prophetic bird; vgl. auch G211.4.4. Witch in form of owl): Poganins Schreckensherrschaft wird durch Ivanko beendet werden (vgl. Mot. M342.1. Prophecy of downfall of king (prince); auch M341.2.19. Prophecy: death at hands of certain person). Die Art, wie versucht wird, Ivanko loszuwerden, ist durchaus typentsprechend: Er wird in einem Boot ausgesetzt (Mot. M371. Exposure of infant to avoid fulfillment of prophecy; S331. Exposure of child in boat (floating chest)). Die folgenden Ereignisse erinnern jedoch nicht mehr an den Typ, sie folgen einer märchenhaften Struktur, sind jedoch in ihrer Zusammensetzung original, beginnend mit der Rettung durch Karkaron (vgl. Mot. R13.3.1. Abduction by ravens; B451.5. Helpful raven) und Ivankos Aufwachsen im Reich der Raben (vgl. Mot. B222. Kingdom (land) of birds). Ivanko besteht auf seiner Suchwanderung zusammen mit Povetrulja Prüfungen verschiedener Art – dabei ist einerseits die Zauberflöte Karkarons zu erwähnen, mit der er ihn herbeirufen kann (Mot. D1223.1. Magic flute; D1421. Magic object summons helper), andererseits kommen ihm Tiere, denen er freundlich begegnet, zu Hilfe (Mot. B350. Grateful animals) – der Film macht dabei mehrfach seine „ökologische“ Botschaft explizit. Am Schluss steht dann das Motiv der Entzauberung durch Wiedererkennen (Mot. D772.1. Disenchantment by recognition).

И еще одна ночь Шахерезады ... Eine Nacht mit Scheherezade UdSSR – Tadschikistan 1984; Tadžikfiľm. Regie: Tachir Sabirov; Drehbuch: Valerij Karen, Tachir Sabirov. Darsteller: Elena Tonunc, Adeľ Aľ-Chadad, Larisa Belogurova, Šarif Kabulov u.a. Vorlage: Wilhelm Hauff: Saids Schicksale (Hauff 1986, S. 300-347; aus dem Zyklus Das Wirtshaus im Spessart, 1827); Rahmenhandlung aus den Märchen aus 1001 Nacht. Inhaltsangabe: Erster Teil einer Trilogie815. Scheherezade erzählt dem Kalifen ein Märchen: Bei der Geburt des Jungen Azamat stirbt dessen Mutter, doch vorher wurde ihr von einem Zauberer ein Wunderpfeichen für ihren Sohn gegeben – seine Magie soll jedoch erst nach seinem 20. Geburtstag wirksam werden. Als Azamat 19 Jahre ist, sieht er im Traum ein schönes Mädchen. Kurz darauf wird er zum Karawanenführer ernannt, verabschiedet sich von seinem Vater und zieht los. Die Karawane wird jedoch von Räubern überfallen und er in der Wüste zurückgelassen. Eine zweite Karawane findet ihn, und deren Führer Karabaj nimmt ihn mit. Am Zielort angekommen, weigert er sich jedoch, Azamat gehen zu lassen, solange er ihn nicht für die Reise bezahlt. Da Azamat kein Geld hat, muss er seine Schulden in Karabajs

815 Mit Novye skazki Šacherezady (1986) und Poslednjaja noč’ Šacherezady (1987).

438 Laden abarbeiten. Unterdes weiß der Kalif durch Scheherezade, dass Azamat in seiner Stadt ist, doch sie hat zu seinem Unwillen ihre Erzählung unterbrochen. Die Kalifentochter Malika will an einem öffentlichen Turnier teilnehmen – ihr Vater unterstützt sie, doch muss sie es der Sitte wegen inkognito und als Mann verkleidet tun. Auch Azamat nimmt am Turnier teil. Dabei rettet er Malika, in der er das Mädchen aus dem Traum erkennt, das Leben. Sie erringt den Sieg, doch spricht sie Azamat offen ihren Dank aus. In dieser Nacht streifen der Kalif und sein Wesir Džaffar in Verkleidung durch die Stadt. Der böse Džaffar hat jedoch heimlich Räuber gedungen, den Kalifen zu töten. Azamat wird Zeuge des Überfalls und kann ihn retten. Der Kalif lädt ihn dankbar ein, am nächsten Tag in den Palast zu kommen, und Džaffar muss ihm einen vollen Geldbeutel geben. Als er sich am nächsten Tag damit von Karabaj freikaufen will, wird er jedoch von diesem des Diebstahls bezichtigt, vor Gericht gezerrt und dazu verurteilt, in einer Truhe ins Wasser geworfen zu werden. Unterdes erfährt der Kalif von Scheherezade die Wahrheit über die Geschehnisse. Die Truhe mit Azamat zerschellt an den Klippen vor dem Palast: Azamat ist frei und wird vom Kalifen empfangen. Nachdem Džaffar bestraft wurde, wird Azamat mit seinem Vater wiedervereinigt, der sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte. Sie ziehen davon. Als Azamat erfährt, dass sein 20. Geburtstag ist, zaubert er mit seiner Pfeife Malika aus dem Palast herbei – glücklich fallen sie sich in die Arme. Filmgestaltung, Besonderheiten: Opulente, detailreiche und farbenfrohe Ausstattung mit vielen Massenszenen, die die Handlung in einer diffusen, exotisch-orientalischen Vergangenheit ansiedelt. Dialoge stellenweise in Versform. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation (über Vorlage). Der Film verschmilzt seine Rahmenhandlung in origineller Weise mit der eigentlichen Märchenhandlung: Scheherezade erzählt dem Kalifen ein Märchen, das sich jedoch zur gleichen Zeit tatsächlich ereignet und in das der Kalif schließlich selbst verwickelt wird. Scheherezade als Geschichtenerzählerin ist Entlehnung aus 1001 Nacht, die Haupthandlung dagegen entstammt Hauffs Saids Schicksale. Dabei handelt es sich um eine novellistisch-abenteuerhafte Erzählung mit einzelnen märchenhaften Zügen, die nur vage an die Schicksalsmärchen (AaTh 930-949) erinnert, aber sich strukturell davon abhebt. Der Film behält zwar die Grundhandlung der Vorlage bei, ändert aber sämtliche Namen der Protagonisten, variiert und fabuliert stellenweise bunt aus. Die Fee, die bei Hauff über das Schicksal des Helden wacht und von der sein Zauberpfeifchen (vgl. Mot. D1224. Magic pipe (musical)) stammt, ist durch einen Zauberer ersetzt, der sich aber im Übrigen gleich verhält. Sehr reduziert ist die Episode mit dem Karawanenüberfall – Azamat wird gleich gefesselt ausgesetzt, während Said, der Held der Vorlage, erst in die Gefangenschaft der Räuberbande gerät und dort ein Abenteuer erlebt. Azamats Traumvision von Malika (Mot. T11.3. Love through dream) wie auch überhaupt die Figur der Prinzessin und die gesamte Liebesgeschichte sind Hinzufügungen des Films – Said bleibt, wie viele Hauff’sche Märchenhelden, romanzen- und ehelos. Variiert ist auch die Episode mit dem Überfall auf den Kalifen: Bei Hauff sind es Mitglieder der Räuberbande, die den Kalifen des Lösegelds wegen entführen wollen, während im Film der böse Wesir (vgl. Mot. K2248. Treacherous minister) für einen Mordanschlag verantwortlich ist. Azamats Aussetzung im Meer durch Verleumdung des Kaufmanns ist im Vergleich zur Vorlage modifiziert und gerafft erzählt, doch auch darin kommt Said schließlich zufällig vor den Palast: Der Kalif glaubt ihm dort seine Erzählung, als er einen Ring vorzeigt, den er von ihm bekommen hat816. Es folgt eine modifizierte Entlarvung der Bösewichte (bei Hauff sind es der Kaufmann und der falsche Richter, die im Film der intrigante Wesir schon vorher töten lässt) und, vorlagenentsprechend, eine Wiedervereinigung mit dem Vater.

816 Mot. H80. Identification by tokens.

439 Легенда о любви Sohni Mahiwal Legende von der Liebe UdSSR – Usbekistan/Indien 1984; Uzbekfiľm/Eagle Films/Sovinfiľm. Regie: Latif Fajziev, Umesh Mehra; Drehbuch: Uľmaz Umarbekov, Latif Fajziev, Javed Siddiqi, Umesh Mehra. Darsteller: Sunny Deol, Poonam Dhillon, Nabi Rachimov, Shammi Kapoor u.a. Vorlage: Im Sindh und im Punjab verbreitetes Volksmärchen (vgl. Sind [5], S. 93-98). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Zwei Paaren wird vom Vater der Wüste die Erfüllung ihres Kinderwunsches versprochen. Das Paar aus Indien bekommt eine Tochter namens Sanija, das Paar aus Buchara einen Sohn namens Izzat. Sie wachsen heran. Izzat erblickt in einem Wasserkrug eine Vision von Sanija. Er beschließt, nach ihr suchen und schließt sich einer Karawane nach Indien an. Auf dem Weg rettet er den jungen Džabru aus der Gefangenschaft einer Räuberbande: Deren Anführerin Zarina erkennt Izzats Ehrenhaftigkeit, und sie lässt die beiden ziehen. Sie hatte Džabru entführt, um sich an dessen Schwester Maľkani zu rächen. Wenig später trifft Izzat auf Sanija – sie verlieben sich sofort. Izzat wird Lehrling bei Sanijas Vater, einem Töpfer. Sanija jedoch war eigentlich bereits Džabru versprochen, und die reiche Maľkani setzt, als ihr Bruder wieder auftaucht, all ihre Macht ein, dass die Ehe zustande kommt. Als Sanijas Vater hinter die Beziehung zwischen seiner Tochter und Izzat kommt, jagt er diesen zornig fort. Der Händler Nur, dessen Liebeswerben Sanija zurückgewiesen hatte, kann Zarina weismachen, Izzat bedränge Sanija gegen ihren Willen, und sie lässt diesen entführen. (2) Als sie die Wahrheit herausfindet, lässt sie ihn jedoch wieder gehen – nicht, ohne ihm ihre Geschichte erzählt zu haben: Obwohl sie ihrem Liebsten in schweren Zeiten beigestanden hat, hat dieser sie mit Maľkani betrogen. Darauf hat sie ihn getötet und sich den Räubern angeschlossen. Izzat wird Kuhhirte, und er und Sanija treffen sich heimlich am Fluss. Nur aber vergiftet das Weidegras der Kühe, und Izzat wird deswegen vor Gericht gestellt und aus der Siedlung vertrieben. Sanija aber soll Džabru heiraten. Dieser, der von Sanijas und Izzats Liebe nichts ahnt, findet kurz darauf den erkrankten Izzat in den Bergen und lässt ihn gesundpflegen. Die beiden schwören sich Freundschaft. Izzat erfährt, dass Džabru Sanija heiraten will, doch will er dem Glück seines Freundes nicht im Wege stehen und verrät sich nicht. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten wird er von Maľkanis Leuten entführt. Er kann sich mit Hilfe seines treuen Dieners befreien. Unterdes stört Zarina mit ihren Räubern die Trauung – durch sie erfährt Džabru von den wahren Gefühlen seiner Braut. Izzat zuliebe verzichtet er freiwillig auf Sanija. Izzat ist unterdes in ein Unwetter geraten und bleibt erschöpft am anderen Flussufer zurück, während sein Diener Hilfe holt. Sanija eilt zum Fluss, und die Liebenden schwimmen aufeinander zu – sie ertrinken beide. Ihre Liebe aber ist unsterblich. Filmgestaltung, Besonderheiten: Visuell opulente usbekisch-indische Co-Produktion mit zahlreichen Gesangs- und Tanznummern im Bollywood-Stil. Zusammenarbeit derselben Studios wie bei Priključenija Ali-Baby i 40 razbojnikov (1980), dieselben Regisseure, teilweise dasselbe Drehteam und dieselben Schauspieler. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Sagenhafter Märchenfilm/(Erzähltypenadaption): Vgl. AaTh/ATU 666* Hero and Leander. Die zugrundeliegende balladenhafte Folkloreerzählung ist unter den Titeln Sohni Mahiwal und Suhni Mehar sowohl in Indien als auch in Pakistan (Pandschab und Sindh) sehr populär.

440 Im Kern steht eine Variante des Stoffs von Hero und Leander (AaTh 666*): Sohni und Izzat werden am selben Tag an verschiedenen Orten geboren, und beiden wird ein schweres Schicksal in der Liebe prophezeit (vgl. Mot. M369.8. Prophecies about children born at the same time). Auf einer Reise sieht der erwachsene Izzat Sohni in der Töpferwerkstatt ihres Vaters und verliebt sich in sie. Als all sein Geld aufgebraucht ist, muss er sich als Hirte verdingen, und Sohni wird von ihrem Vater zur Heirat mit einem ungeliebten Mann gezwungen. Um heimlich ihren Liebsten zu sehen, schwimmt Sohni regelmäßig durch den Fluss, an dessen anderem Ufer er lebt. Ihre Schwägerin kommt dahinter und manipuliert den Tontopf, den sie als Schwimmhilfe benutzt – Sohni stirbt in den Fluten (Mot. T83.1. Girl drowns as she swims to see her lover), und Izzat folgt ihr in den Tod. Diese einfache Geschichte wird vom Film modifiziert und in mannigfaltiger Weise ausfabuliert, begonnen mit dem märchenhaften Motiv der Vision Sohni-Sanijas im Tonkrug, die Izzats Liebe erweckt (Mot. T11. Falling in love with person never seen; vgl. auch T11.5. Falling in love with reflection in water). Sind sowohl der Mann der Heldin als auch dessen Schwester in der Vorlage nicht näher charakterisiert, so schmückt der Film ihre Rollen breit aus und fügt eine melodramatische Hintergrundgeschichte ein, in der auch noch eine Räuberbande mit einer edlen Anführerin817 von Bedeutung ist (vgl. Mot. N765. Meeting with robber band).

Легенда о Сурамской крепости Ambavi Suramis c’ixisa Die Legende der Festung Suram UdSSR – Georgien 1984; Gruzija-fiľm. Regie: Dodo Abašidze, Sergej Paradžanov; Drehbuch: Važa Gigašvili. Darsteller: Veriko Andžaparidze, Dodo Abašidze, Sofiko Čiaureli, Duduchana Cerodze u.a. Vorlage: Daniėl Čonkadze: Suramis c’ixe (Die Festung Suram, 1859; Čonkadze 1952) sowie entsprechende Folkloreerzählungen (vgl. Gruz. Pred. 152). Inhaltsangabe: Der Leibeigene Durmišchan erhält von seinem Fürsten die Freiheit. Er will in die Fremde gehen und Geld verdienen, um auch seine Geliebte Vardo freikaufen zu können – diese hat dunkle Vorahnungen, doch sie kann ihn nicht zurückhalten. In einer Karawanserei trifft er den reichen Kaufmann Nodar, der ihm seine Geschichte erzählt: Er ist Georgier und wurde als Leibeigener geboren. Als sein Herr durch seine Grausamkeit den Tod seiner Mutter verschuldete, hat Nodar ihn getötet. Nach seiner Flucht über die Grenze hat er einen anderen Namen angenommen, ist zum Islam übergetreten und reich geworden, wird jedoch von Heimweh und schlechtem Gewissen wegen des Verrats an seinem Glauben geplagt. Er nimmt Durmišchan mit in die Hafenstadt Gulanšaro und hilft ihm, als Kaufmann Fuß zu fassen. Während Vardo immer noch auf ihn wartet, heiratet Durmišchan eine andere und bekommt einen Sohn. Vardo erfährt davon durch eine Wahrsagerin, die kurz darauf stirbt – Vardo nimmt ihren Platz ein. Durmišchans Sohn Zurab wird unterdes von einem gelehrten Dudelsackpfeifer in der Geschichte Georgiens unterrichtet und im christlichen Glauben gelehrt. Nodar überlässt all seine Besitztümer Durmišchan und tritt wieder zum Christentum über. Seine düsteren Vorahnungen manifestieren sich in einem Alptraum, worin er deswegen getötet wird. Unterdes ist Georgien vom Feind bedroht – der Herrscher erfährt, dass alle Festungen den Angriffen standhalten, nur die Festung Suram stürzt immer wieder ein. Vardo wird um ihren Rat als Wahrsagerin gefragt, und sie erklärt, wenn sich ein Jüngling lebendig in die Festungswände einmauern ließe, würde die Festung unzerstörbar und das Volk unbesiegbar.

817 Vgl. Voz’mi menja s soboj (1979).

441 Zurab opfert sich freiwillig, um Georgien zu retten. Das Opfer zeigt Wirkung: Die Festung kann nun kein Feind mehr erschüttern. Filmgestaltung, Besonderheiten: Anspruchsvoller, eigenwillig-experimenteller filmischer Stil, der sein Sujet nicht auf herkömmliche Weise narrativ wiedergibt, sondern vor allem durch Symbolik und assoziative Bildsprache (insbesondere unter Einsatz von detailreichen tableaux vivants). Als Hintergrundmusik dienen durchgehend georgische volkstümliche Gesänge. Neben der Natur dient als einzige Kulisse die Ruine einer steinernen Festung, die den Hintergrund für sämtliche Szenen abgibt – sie sind in statischen, gemäldehaften Einstellungen in deren Mauern, direkt davor, in näherer oder weiterer Entfernung davon gefilmt. Die Dialoge sind minimalistisch, der Schauspielstil reduziert-deklamatorisch; Handlungen werden nicht naturalistisch, sondern angedeutet und surrealistisch-verfremdet dargestellt. Der Film ist in mehrere Kapitel unterteilt, jeweils durch Zwischenüberschriften markiert, die dem Zuschauer am Ehesten eine Orientierung über das folgende Geschehen bieten. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Sagenhafter Märchenfilm. Das im Zentrum stehende Motiv vom Bauopfer (Mot. S261. Foundation sacrifice) ist in der Folklore international weit verbreitet, und der damit assoziierte Motivkreis formt einen bekannten Sagenstoff, der mit verschiedenen Bauwerken ätiologisch verknüpft wird. Der Film legt sich die Sage von der Festung Surami zugrunde (vgl. Gruz. Pred. 152) – deren Sujet setzt sich eigentlich nur aus der immer wieder einstürzenden Festung, dem Einmauern eines Jünglings und der dadurch gewonnenen Uneinnehmbarkeit zusammen. Sämtliche vorherige Ereignisse entstammen der literarischen Bearbeitung von Daniėl Čonkadze.818 Diese stellt den Sagenstoff als Höhepunkt einer Abfolge von Ereignissen ins Zentrum einer eigenständigen Erzählung, als deren Hauptthema sich die Verurteilung der Leibeigenschaft erkennen lässt. Der Film übernimmt das Sujet etwas gekürzt, aber zu großen Teilen unverändert und behält dabei auch die Namen sämtlicher handelnder Figuren bei (die Sage benennt nur Zurab). Eine bedeutende Modifikation wird jedoch in der Behandlung des Sagenstoffes selbst vorgenommen: Bei Čonkadze wird dieser so sehr modifiziert, das alles Mystische daraus verschwindet – die Wahrsagerei wird als betrügerisches Gewerbe dargestellt, und die Prophezeiung, die Vardo bezüglich Zurabs Opfer abgibt, dient ihrer persönlichen Rache am treulosen Durmišchan. Am Schluss sucht dieser sie deswegen verzweifelt auf, und sie finden gemeinsam den Tod. Im Film dagegen ist Vardo tatsächlich hellseherisch begabt, und Zurab wird auch zu seinem Opfer nicht gezwungen, sondern geht in seinem Patriotismus freiwillig in den Tod. Vardo offenbart sich in der Vorlage vor der Stelle, an der Zurab eingemauert ist, in einer Racherede, während sie im Film dort gerade betont, dass sie keine Rache geübt und Zurab wie einen Sohn geliebt habe, außerdem, dass Zurabs Opfer ihn unsterblich machen würde. Entsprechend wird dann am Schluss des Filmes nochmal der große Wert des Opfers betont, durch das nun die Festung – wie in der Sage – tatsächlich unzerstörbar ist. Literaturhinweise/Besprechungen: Fomin 2001, S. 121-127

Осенний подарок фей Das Herbstgeschenk der Fee

818 Weitere Verweise werden im Vorspann auf die Schriftsteller Niko Lordkipanidze (K’eduxrelni, dt. Die Unbeugsamen) und David Suliašvili (Zurabis c’ixe, dt. Die Festung Zurabs) gemacht, deren weniger bekannte literarische Adaptionen der Sage leider nicht aufgetrieben werden konnten. Der größte Unterschied zu diesen scheint in der Endauflösung zu bestehen, da nach Angaben im Internet in beiden Werken Zurab letztlich gerettet wird. Der Einfluss von Čonkadzes’ Werk ist jedenfalls nicht nur in der Figurenbenennung, sondern im gesamten Handlungsgerüst zu merken und scheint ganz entschieden zu überwiegen.

442 UdSSR – Weißrussland 1984; Belarus’fiľm. Regie: Vladimir Byčkov; Drehbuch: Vladimir Byčkov, Anatolij Galiev. Darsteller: Valentin Nikulin, Marija Surina, Vitalij Kotovickij, Anatolij Ravikovič u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Lykkens kalosker (Die Galoschen des Glücks, 1838; Andersen 1982 I, S. 95-125). Inhaltsangabe: Obwohl die erfahrene Fee der Trauer sie warnt, beschließt die junge Glücksfee, den Menschen ein Paar Galoschen zu schenken, die Wünsche erfüllen können. Ihre Wahl, wer sie erhalten soll, fällt auf die junge Frøken. Sie freut sich sehr darüber und bringt die Galoschen zu ihrem Großvater – der aber tut den Zauber als Teufelsspuk ab und sperrt die Galoschen weg. Frøken weint, ihr Großvater habe das Glück versteckt – dies spricht sich in Windeseile in der Stadt herum und dringt auch zu den gierigen Beratern des kindlichen Königs. Wenig später wird der Großvater verhaftet. Seine Wohnung wird durchsucht, und ein Schreiber nimmt heimlich die Galoschen an sich. Bald darauf wünscht er sich, auf einem Ball an der Stelle eines königlichen Lakais sein zu dürfen. Anschließend nimmt er die Stelle von immer höherrangigen Personen ein, ehe er sich unvorsichtigerweise seinen eigenen Tod wünscht. Die Galoschen kommen nun einem Dichter in die Hände, und dessen Wunsch nach unsterblichem Ruhm versetzt ihn ins Mittelalter, wo er die Gunst einer Herzogin erringt – diese hat jedoch die Angewohnheit, ihre Verehrer in Turnieren gegeneinander kämpfen zu lassen, damit sie für sie sterben. Voller Panik wünscht er sich in die Gegenwart zurück. Unterdes wird der Großvater vor dem Schloss öffentlich an den Pranger gestellt. Niemand verspottet ihn jedoch. Die Galoschen findet derweil die Frau eines armen Künstlers, die sich wünscht, dass ihr Mann endlich seine Bilder verkauft. Tatsächlich kann dieser sich bald vor Käufern kaum retten und wird reich, gibt seiner Frau in seiner Verblendung jedoch nichts von dem Reichtum ab und sie beschließt in ihrer Not, die Galoschen zu verkaufen. Der kindliche König schleicht sich unterdes nachts heimlich zum Großvater und begnadigt ihn. Über die Frau des Künstlers kommen die Galoschen dann schließlich wieder zu diesem – sein zynischer Wunsch, in den Himmel zu kommen, erfüllt sich ebenfalls: Im Paradies ist aber alles so perfekt, dass er sich im Müßiggang langweilt und sich wieder auf die Erde wünscht. Er gibt die Galoschen Frøken und fordert sie auf, sie loszuwerden. Frøken wünscht sich, dass alles wieder wird, wie es war. Während sie und ihr Liebster, ein Laternenanzünder, sich glücklich umarmen, erfüllt sich der König selbst seinen größten Wunsch – einmal die Laternen der Stadt anzuzünden. Filmgestaltung, Besonderheiten: Kommentierende Erzählerstimme aus dem Off. Mittelalterliche historische Stadtkulisse und Kostüme, die auf Mittel- bzw. Nordeuropa zur Zeit des frühen 19. Jahrhunderts (Biedermeier) verweisen. Die erste Szene stellt in kurzen Einstellungen sämtliche Figuren vor, die ihre jeweiligen geheimen Wünsch äußern. Anschließend lässt der Film die verschiedenen Handlungsstränge parallel verlaufen – während eine Figur die Galoschen besitzt, wird in Zwischenschnitten gezeigt, was die Vor- und Nachbesitzer unterdes erleben. Zeichentricksequenzen im Stile von Buchillustrationen sowie beschriebenen Buchseiten leiten jeweils eine neues Abenteuer in Zusammenhang mit den Galoschen ein, und geht ein Wunsch durch diese in Erfüllung, so wird dies durch einen charakteristischen Ton markiert. Die Mittelalter-Sequenz ist sehr überspitzt dargestellt – die Herzogin zeigt dem Dichter die ausgestellten Köpfe (!) ihrer Verehrer, die für sie gestorben sind; die Köpfe sind jedoch allesamt merklich lebendig und ziehen dem Dichter Grimassen. Auch die Sequenz im Paradies ist sehr ironisch dargestellt: Das Paradies besteht aus einer grellbunt-kitschigen, stilisierten Phantasiekulisse, die von Spielzeugtieren und puttenhaften Kindern besiedelt ist, die Reigen tanzen und süßliche Lieder singen.

443 Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 844 The Luck-bringing Shirt. Andersens Erzählung trägt phantastische Züge; sie modifiziert das Motiv vom Hemd des Glücklichen (Mot. N135.3. The luck-bringing shirt) und orientiert sich in seiner Struktur äußerst lose an dem entsprechenden Typ (AaTh 844), der mit der Moral schließt, dass Glück nicht erworben werden kann. Als Andersens Erfindung können die Feengestalten Glück und Trauer betrachtet werden, eine eigentümliche Doppelung der Fortuna-Gestalt (vgl. Mot. Z134. Fortune personified). Während bei Andersen nur eine Gehilfin des Glücks auftritt, ist es im Film die Fee des Glücks selbst, doch ist sie keine feste Entität, sondern das Amt scheint zu Rotieren: Die Fee der Trauer berichtet, in ihrer Jugend selbst Glücksfee gewesen zu sein. Ansonsten orientiert sich der Film nur sehr lose an der Andersen’schen Grundhandlung, nach der die Galoschen in verschiedene Hände geraten und Wünsche erfüllen, die sich allesamt als töricht erweisen und für Verwirrung sorgen: Die Figuren und die Ausgestaltung der Einzelepisoden haben nur teilweise entfernte Parallelen in der Vorlage; so wünscht sich etwa der Dichter wie Andersens Justizrat in der Zeit zurück, der Schreiber wünscht sich wie Andersens Wächter an die Stelle eines anderen usw. Der kindliche König ist Erfindung des Films, doch seine Sehnsucht nach dem Glück nähert den Film AaTh 844 stärker an, worin gerade ein König und dessen Suche nach dem Glück im Mittelpunkt stehen.

Серебряная пряжа Каролины Karoliine h õbelõng Karolinas Silberfaden UdSSR – Estland 1984; Tallinfiľm. Regie: Helle Murdmaa; Drehbuch: Helle Murdmaa, Vladislav Koržec. Darsteller: Chätrin Bagala, Martin Veinmann, Rein Aren, Salme Reek u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Die launische Prinzessin Karolina vergrault alle ihre Freier mit ihren Streichen. Auch der junge König Kaspar, der sich ernsthaft in sie verliebt, wird von ihr gekränkt und verspottet. In dieser Nacht lockt ein fremder Bettler mit seinem Zauberspinnrad, das Musik erklingen lässt, Karolina aus ihrem Bett – sie will es unbedingt haben. Als ihr Vater sie deswegen ausschimpft, läuft sie trotzig davon, dem Fremden hinterher, der in Wirklichkeit Kaspar ist. Als sie ihn einholt, fängt sie mit ihm sogleich zu zanken an. Weil sie nicht auf seine Warnungen hört, gerät sie mehrfach in Gefahr und muss von ihm gerettet werden. Anfangs zeigt sie keine Dankbarkeit, doch nach und nach legt sie ihre Hochnäsigkeit ab. Sie begegnen einem Wolf, von dem Kaspar erklärt, er sei ein verzauberter Mensch, dem man mit dem Messer Brot anbieten müsse, um ihn zu erlösen – in letzter Sekunde lässt Karolina jedoch das Messer fallen und der Wolf läuft davon. Als nach einem weiteren Abenteuer Karolina in einem letzten Anfall von Trotz davonläuft, fällt sie einer Räuberbande in die Hände, die sie an einen verwunschenen Ort entführen. Sie kann jedoch die Räuber mit einer List vertreiben. Nun erscheint erneut der Wolf – diesmal reicht sie ihm das Brot samt Messer, und im selben Moment findet sie sich neben Kaspar vor ihrem heimatlichen Schloss wieder. Kaspar meint, sie könne nun zurückgehen, doch sie will sich nicht von ihm trennen – selbst, als er erklärt, dass er sie nur als Braut seine ärmliche Hütte betreten lasse. Sie folgt ihm und erklärt sich bereit, für ihn zu spinnen. Das Spinnen will ihr trotz aller Anstrengung nicht von der Hand gehen – da erscheint eine schöne Frau, die sich als der erlöste Wolf entpuppt, und mit ihrer Hilfe gelingt es Karolina, silberne Fäden zu spinnen. Sie will sie auf dem Schloss verkaufen, wird jedoch zurückgewiesen. Auf einmal sieht sie, dass die Hütte brennt – aus Angst um

444 Kaspar stürzt sich in die Flammen. Da steht sie jedoch plötzlich auf wundersame Weise vor einem Schloss, aus dem ihr Kaspar als König entgegenkommt und sie hineinführt. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Ausstattung ist naturalistisch-folkloristisch und verweist auf diffuses Mittelalter. Kulisse für die Wanderung Karolinas ist die Natur mit zahlreichen ästhetisch ansprechenden Aufnahmen von Wald und Wiesen. Interessant ist die letzte Szene: Die Hütte, die nur aus zu einer zeltähnlichen Konstruktion aufgeschichteten Holzscheiten besteht, brennt, und um sie herum tanzen Leute einen Reigen wie um ein Freudenfeuer zur Melodie des Zauberspinnrads – Karolina stürzt sich durch die Menschenmenge hindurch und in die Flammen, und in der nächsten Einstellung ist unvermittelt das Schloss zu sehen. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 900 King Thrushbeard = AA/SUS 900 Gordaja nevesta. Der Film orientiert sich in seiner Grundstruktur deutlich an AaTh 900, dem König- Drosselbart-Märchen: Wie dort gibt es eine hochmütige und launische Prinzessin, die ihre Freier verspottet (Mot. T74.0.1. Suitor ill-treated), und wie dort muss sie als einfaches Mädchen in der Welt einen Erziehungsprozess durchlaufen, der von ihrem abgewiesenen Freier in Bettler-Verkleidung initiiert ist (Mot. K1816.0.3. Menial disguise of princess’ lover; K187.1. Disguise as beggar; L431. Arrogant mistress repaid in kind by her lover; T251.2. Taming the shrew). Das Novellenmärchensujet wird durch zahlreiche magisch-übernatürliche Elemente angereichert – so haben etwa Karoline und Kaspar auf ihrer Wanderung Begegnungen mit Feen, Sumpfgeistern, einer Nixe und einem Zwerg. Insbesondere jedoch ragen aus den magischen Motiven das Zauberspinnrad (vgl. Mot. F876. Golden spinning- wheel; D2183. Magic spinning; F877.1. Gold (silver, copper) thread) und die erlöste Wölfin als Helferin hervor (vgl. Mot. D113.1. Transformation: man to wolf; B435.3. Helpful wolf).

Сказки старого волшебника [Die Märchen des alten Zauberers] UdSSR – Ukraine 1984; Odesskaja kinostudija. Regie: Nataľja Zbandut; Drehbuch: Iosif Leonidov, Viktor Viktorov. Darsteller: Anton Tabakov, Anna Isajkina, Igor’ Kvaša, Sergej Jurskij u.a. Vorlage: Charles Perrault: La Belle au Bois dormant (Die schlafende Schöne im Walde, 1697; Perrault 1986, S. 55-69). Volksmärchenparaphrase. Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Der „Hüter der Märchen“ erzählt eine neue Geschichte: Dem Königspaar wird eine Tochter geboren, und zu ihrer Taufe werden die Helden der verschiedensten Märchen eingeladen. Nur die böse Zauberin bleibt durch einen Irrtum ohne Einladung. Sie erscheint trotzdem, gibt sich gekränkt – und erklärt, dass die Prinzessin sich an ihrem 16. Geburtstag an einer Spindel stechen und tot umfallen wird. Die gute Fee aber kann den Spruch abmildern: Die Prinzessin wird nicht sterben, sondern nur 100 Jahre schlafen, damit sie dann ein schöner Prinz wachküssen kann. Es vergehen fast 16 Jahre. Im Königreich sind Spindeln verboten worden – da nichts Neues mehr gesponnen werden kann, müssen alle Bewohner ihre alte verschlissenne Kleidung tragen. Da trifft ein Prinz aus einem fremden Reich ein – verwundert über die Zustände, erfindet er den Webstuhl. Er macht noch einige weitere nützliche Erfindungen, und er und die Prinzessin verlieben sich ineinander. Dies aber geht gegen die Märchengesetze: Der Prinz ist 100 Jahre zu früh dran. Selbst die gute Fee ist machtlos. Die Prinzessin selbst ahnt nicht, was ihr bevorsteht. Der König aber klärt den Prinzen auf, und dieser verlässt schweren Herzens das Königreich. (2) Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kommt

445 es zum Spindelstich, die Prinzessin schläft ein. Nach 100 Jahren glaubt die böse Zauberin, gesiegt zu haben – der Prinz aber ist zwar gealtert, doch er lebt noch und liebt die Prinzessin nach wie vor. Er macht sich auf, sie zu erlösen. Unterdes haben sich die Umstände im Königreich geändert, und er muss einige Abenteuer bestehen und Versuchungen widerstehen. Schließlich mischt sich die Zauberin selbst ins Geschehen: Sie redet dem Prinzen ein, die Prinzessin würde ihn zwar aus Dankbarkeit nicht zurückweisen, doch da sie selbst jung und er ein Greis sei, würde das Leben an seiner Seite eine Qual für sie sein. Der Prinz will ihr dies nicht antun und geht traurig davon. Nun aber greift der Hüter der Märchen ein – er bewirkt einen Sinneswandel beim Prinzen, und dieser beschließt, ohne Rücksicht auf Verluste die Prinzessin doch zu küssen. Sie erwacht, und der Prinz wird durch ein Wunder wieder jung. Alle Märchenfiguren feiern zusammen ein großes Freudenfest. Filmgestaltung, Besonderheiten: Vor- und Abspann vor märchenbuchhaften Illustrationen. Der „Hüter der Märchen“ erfüllt Erzählerfunktion, interagiert jedoch auch in ironischer Brechung mit den handelnden Figuren und tritt insbesondere immer wieder mit der bösen Zauberin in Zwischenschnitten in Dialog.819 Er ist anfangs mit einem Kostüm im Stil des 17. Jahrhunderts zu sehen und erinnert ikonographisch vage an Perrault, noch vor Beginn der Haupthandlung verwandelt er sich jedoch und trägt nun eher moderne Kleidung. Die sonstige Ausstattung verweist wiederum vage auf das Frankreich der Zeit Perraults, und die Kostüme sind an entsprechende Märchenillustrationen angelehnt. Ironische Anachronismen werden von der Figur des Prinzen eingeführt, der neben dem Webstuhl auch die Nähmaschine und das Fahrrad erfindet. Die Fee und die Zauberin wandeln ihr Aussehen, sie tragen Kostüme aus verschiedenen Zeiten und ändern Haarfarbe und Frisur. Der jugendliche und der gealterte Prinz werden von verschiedenen Darstellern verkörpert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 410 Sleeping Beauty = AA/SUS 410 Spjaščaja carevna. Der unbekanntere zweite Teil des Perrault’schen Märchens, der die Ereignisse nach dem Erwachen aus dem Dornröschenschlaf schildert (die Prinzessin sieht sich Bedrohungend durch ihre menschenfresserische Schwiegermutter ausgesetzt), wird vom Film nicht umgesetzt. Dem Schreibstil des Autors, der sich durch ironische Anspielungen auszeichnet, wird vom Film dadurch Rechnung getragen, dass ansonsten das Sujet seiner Dornröschen-Variante grundsätzlich beibehalten, aber in spielerischer Weise verfremdet wird.820 Rund um die Haupthandlung werden in einem intertextuellen Spiel Themen und Figuren aus anderen Perrault’schen Märchen dekorativ angeordnet: Rotkäppchen, Aschenbrödel und ihre Stiefmutter, Blaubart und seine Frau sowie der Menschenfresser aus dem Märchen vom Gestiefelten Kater haben als Bewohner des Königreichs „Gastauftritte“. Ansonsten macht sich das selbstironische Spiel mit dem Märchengenre insbesondere am „verfrühten“ Erscheinen des Prinzen fest, das nicht dem bekannten Sujet entspricht und entsprechend unvorhergesehen ist: Die Figuren sind sich bewusst, dass sie sich in einem Märchen befinden, und sie wissen, dass sich Märchen nach bestimmten „Gesetzen“ richten müssen. Deren Sinn wird von ihnen hinterfragt, doch ein Auflehnen scheint nicht möglich. Dieser Faden wird weitergesponnen, indem sich dann statt eines jungen ein gealterter Prinz zur Erlösung aufmacht – und dann auf einmal durch ein Wunder wieder jung wird (vgl. Mot. D1880. Magic rejuvenation): Dies wiederum führt sämtliche „Märchengesetze“ ad absurdum – denn das einzige „Gesetz“ des Märchens ist, dass nichts unmöglich ist. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1987, S. 35-36

819 Vgl. Tajna snežnoj korolevy (1986). 820 Vgl. Zoluška (1947); Tajna snežnoj korolevy (1986).

446 Мальчик с пальчик Spr ī d ī tis/Pohádka o Malíčkovi Das Märchen vom Däumling UdSSR – Lettland/ČSSR 1985; Rižskaja kinostudija/Barrandov. Regie, Drehbuch: Gunārs Piesis. Darsteller: Ronalds Neilands, Dace Gasjuna, Dzinta Klētniece, Elvīra Baldiņa u.a. Vorlage: Anna Brigadere: Sprïdïtis (1903; Brigadere 1922). Inhaltsangabe: Der Teufel kündigt an, die Prinzessin zu seiner Braut machen zu wollen. Der König lässt darauf bekanntgeben, dass derjenige, der sie vor diesem Schicksal rettet, sie zur Frau erhalten soll. Davon erfährt auch der kleine Junge Däumling. Da er unter seiner bösen Stiefmutter zu leiden hat, beschließt er, von zu Hause fortzulaufen und einen Schatz zu finden. Er wird jedoch von den Irrlichtern in den Sumpf gelockt, und die Mutter der Winde muss ihn retten. Er will ihr beweisen, wie arbeitssam er ist, und so lässt sie ihn ihre Söhne bewachen. Gegen die tosenden Winde ist er jedoch machtlos. Da er aber guten Willen gezeigt hat, erhält er eine Zauberpfeife, nach der jeder tanzen muss. Wenig später kommt er in einen Wald, in dem ein Riese sein Unwesen treibt. Als er Zeuge wird, wie dieser eine Gruppe von Kindern verfolgt, um sie zu fressen, zwingt er den Riesen solange zum Tanz, bis er Besserung gelobt. Die Mutter des Waldes schenkt dem Däumling dafür ein Zauberstöckchen, an dem jeder klebenbleiben muss. Am Abend kommt er dann in die Hütte eines reichen Geizhalses, wo er um ein Nachtlager bittet. Der Geizhals lässt ihn erst bleiben, als er verspricht, die Tür zu bewachen und niemanden hereinzulassen. Als aber ein armer alter Mann um Einlass bittet, lässt er ihn ein. Der Hausherr wird böse, doch der Däumling kann ihn und seine Dienerin schließlich mit dem Klebezauber überwinden. Der Alte schenkt ihm einen Wunschring. Nun kommt der Däumling schließlich an den Königshof, wo er mit Hilfe seiner Zauberdinge den Teufel verjagen und die Prinzessin retten kann. Der König will sie verheiraten, doch die Prinzessin erweist sich als launische falsche Schlange und befindet den Däumling für nicht gut genug. Eine Hexe soll ihn für sie nachts zu Tode erschrecken, doch der Plan geht schief. Enttäuscht von der Prinzessin verwandelt sich der Däumling mit seinem Ring in einen Schwan und fliegt zurück in sein Dorf. Dort haben ihn alle vermisst, selbst die Stiefmutter. Da erscheint der König, um vom Däumling die Herausgabe seiner Zauberdinge zu fordern – diese aber hat er längst nicht mehr. Die resolute Stiefmutter gefällt dem König so sehr, dass er sie als Hofdame in den Palast mitnimmt – dort soll sie mit der Prinzessin fertigwerden. Der Däumling aber feiert mit den anderen Dorfbewohnern das Sonnwendfest. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Ausstattung des Films ist naturalistisch-folkloristisch, insbesondere bei der Darstellung des Heimatdorfes des Däumlings wird lettischer „Kolorit“ betont, der etwa in der Darstellung des Sonnwendfests (Liga) präsent ist und sich auch in stilisiert volkstümlicher Hintergrundmusik äußert. Malerische Naturaufnahmen von Feldern, Wiesen und Wald bei der Wanderung des Däumlings. Die Mutter der Winde und die Mutter des Waldes werden als übergroße transparente Erscheinungen mittels Überblende dargestellt; der Riese tritt nur in wenigen Einstellungen per Filmtrick neben den anderen Darstellern als riesig auf, zumeist wird er alleine gezeigt und seine Größe durch Froschperspektive der Kamera dargestellt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante (über Vorlage); siehe AaTh/ATU 592 The Dance Among Thorns = AA/SUS 592 Čudesnaja skripka. Der Titelheld des Films und der Theatervorlage ist kein

447 tatsächlicher Däumling (vgl. Mot. F535.1. Thumbling), sondern einfach ein kleiner Junge, der große Taten vollbringt (vgl. Mot. L101. Unpromising hero (male Cinderella)). Das Märchenstück der lettischen Nationalschriftstellerin Anna Brigadere ist in seiner semantischen Konstellation weitgehend original, weist in seiner Struktur jedoch deutliche Parallelen zu AaTh 592 auf821: Darin flieht ebenfalls ein Junge vor seiner Stiefmutter (Mot. S322.4. Evil stepmother casts boy forth) und erlangt durch seine Güte magische Gegenstände, darunter eine Geige, die zum Tanzen zwingt (Mot. D1415. Magic object compels person to dance), was er in einigen Varianten an einem bösen Riesen erprobt. Die übrigen Motive, unter denen insbesondere das Zauberstöckchen und der Ring hervorstechen (Mot. D1413. Magic object holds person fast; D572.2. Transformation by ring sowie D1395.5. Magic ring enables captive to escape), sind als Variantenbildung zu werten. Der Film ist im Wesentlichen vorlagengetreu, wenn auch nicht textgenau dem Stück folgend – es gibt einige Detailverkappungen, dramaturgische Anpassungen und Hinzufügungen: So wird etwa die die Drohung des Teufels, die Prinzessin zu holen, in dramatisierter Form schon am Anfang noch vor Einführung des Däumlings präsentiert, während im Stück dieser Handlungsstrang relativ unvermittelt als Episode einsetzt; die Prinzessin gibt dem Däumling im Stück Rätsel auf, um ihn nicht heiraten zu müssen – dieser Zug ist im Film eliminiert; die Ernennung der Stiefmutter zur Hofdame am Ende hingegen ist Zugabe des Films. Literaturhinweise/Besprechungen: Berger/Giera 1990, S. 260-263; Schmitt 1993, S. 493-494

После дождичка, в четверг... Ein Kuckucksei am Zarenhof (DDR)/Am Sankt-Nimmerleinstag822 (BRD) UdSSR – Russland 1985; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Michail Juzovskij; Drehbuch: Julij Kim. Darsteller: Taťjana Peľtcer, Oleg Tabakov, Vladislav Toldykov, Aleksej Vojtjuk u.a. Vorlage: Aleksandr Ostrovskij: Ivan-Carevič (Fragment, 1867-1868; Ostrovskij 1989, S. 213-297, 298- 318). Inhaltsangabe: Der Sohn des Zaren, der Sohn der Beschließerin Varvara und ein Findelkind werden alle drei Ivan genannt und sollen zusammen aufwachsen. Varvara aber legt ihren Sohn in die Wiege des Zarewitsch und lässt die anderen beiden rauben. 20 Jahre vergehen: Während es dem falschen Zarewitsch gut geht, müssen die zwei anderen Ivans bei Varvaras Bruder Egorij im Steinbruch schuften. Eines Tages gelingt ihnen mit einem fliegenden Teppich die Flucht. Unterdes soll der Zar seine Macht an seinen angeblichen Sohn abtreten, doch da er den launischen Bengel nicht mag, bestimmt er, dass derjenige, der die von Kaščej Bessmertnyj entführte Zarewna Milolika rettet, sein Nachfolger werden soll. Varvara schickt ihren Sohn mit Egorij los, doch auch die anderen beiden Ivans wollen ihr Glück versuchen. Varvaras Ivan fordert Kaščej zum Spiel auf einem verzauberten Brett auf. Kaščej geht darauf ein, und er setzt immer höhere Einsätze – zuletzt sogar seinen Tod im Ei. Nach seinem Sieg will Ivan schon triumphieren, doch das Ei ist eine Fälschung, und Kaščej verwandelt ihn und Egorij zu Holz. Nun kommen die beiden anderen Ivans in Kaščejs Reich, dessen Grenze von der Baba- Jaga bewacht wird – diese verhält sich erst feindlich, letztlich aber hilft sie ihnen. Dem wahren Zarewitsch gelingt es, sich zu Milolika schleichen, doch Kaščej kann ihn gefangensetzen und befiehlt dem Findling, ihm den Feuervogel zu bringen, um seinen Freund

821 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Schmitt, S. 493-494. 822 Äquivalent der Redewendung, wortwörtlich „Nach dem Regen am Donnerstag”.

448 zu retten. Der Vogel, der die Gestalt einer Jungfrau hat, wird vom Schah Babadur im Käfig gehalten. Der Findling kann diesen schließlich dazu bringen, seine Gefangene freizulassen. Unterdes findet der Zarewitsch heraus, wo sich der echte Tod Kaščejs befindet und tauscht ihn mit der Fälschung aus. Es kommt zum Kampf der Ivans mit Kaščej, als dieser sich plötzlich freundlich stellt: Er will alle gehen lassen, der Zarewitsch soll nur eine Zeit seinen Tod bewachen. Mit dieser List will er Milolika beweisen, dass auch ihr Ivan zu einer bösen Tat fähig ist – doch obwohl der Zarewitsch weiß, dass es sich um den echten Tod handelt, zerstört er das Ei nicht. Wütend nimmt Kaščej es wieder an sich, und in der Meinung, es handle sich um die Fälschung, zertrümmert er es und stirbt. Seine zu Holz erstarrte Opfer werden erlöst. Kurz darauf treffen der Zar und Varvara ein, und Varvara muss die Wahrheit über den Kindertausch zugeben. Der Zarewitsch soll nun zusammen mit Milolika den Thron besteigen, der Findling aber will mit seiner Braut, der Vogeljungfrau, ein Wanderleben führen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Schriftlicher Prolog; die Ereignisse bis zum Raub der Kinder werden darin als priskazka markiert. Die Ausstattung ist naturalistisch und diffus folkloristisch. Verschiedene Spezialeffekte kommen zum Einsatz, insbesondere bei den Flügen auf dem Zauberteppich. Der Feuervogel tritt als junge Frau in einem Kostüm mit Federapplikationen auf. Ungewöhnlich wirkt neben der Charakterisierung Kaščejs auch dessen visuelle Gestaltung: Er wird nicht als hagerer Alter dargestellt, sondern von dem vollschlanken Schauspieler Oleg Tabakov verkörpert, der mit vergoldetem Kostüm und Haaren sowie Goldzähnen auftritt. Sein Schloss ist durch skurrile Phantasiedekorationen geprägt, und alle seine Untertanen tragen vergoldete Masken. Im Reich von Babadur, das diffus orientalisch gestaltet ist, werden zwei folkloristische Spiele ausführlich gezeigt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (teils über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce; AaTh 550 Search for the Golden Bird = ATU 550 Bird, Horse and Princess = AA/SUS 550 Carevič i seryj volk. Dem Film liegt das Sujet eines unvollendet gebliebenen Theaterstücks von Ostrovskij zugrunde, das in fragmentarischer Form vorliegt.823 Es handelt sich um eine geistreiche Märchenparodie, die verschiedene strukturell-semantische Anleihen erkennen lässt: Die gleichzeitig geborenen Helden verschiedener Herkunft, die alle Ivan genannt werden und miteinander aufwachsen, sind im ostslavischen Raum eine gängige Einführungsepisode und in unterschiedlichen Märchentypen anzutreffen (Mot. T589.7. Simultaneous births; siehe etwa Af. 136, 137, 139). Die von Kaščej entführte und zu befreiende Jungfrau sowie die Überwindung des Bösewichts durch das Zerstören seines Todes (Mot. E711.1. Soul in egg; K956. Murder by destroying external soul) entstammen SUS 3021, dem Kaščej-Märchen. Die Suche nach dem Feuervogel wiederum (Mot. B102.1. Golden bird; H1331.1. Quest for marvelous bird), die weitere Aufgaben nach sich zieht, steht im Zentrum von AaTh 550. Der konkrete Umgang mit den Motivkombinationen und der spezifische syntaktische Handlungsaufbau sind dagegen Ostrovskijs Erfindung. Der Film übernimmt von ihm wiederum Grundhandlung und Figuren, geht jedoch seinerseits sehr frei damit um, modifiziert teils stark und fügt eigene Ideen hinzu. Zu den wichtigsten Änderungen gehört Folgendes: Bei Ostrovskij treten vier Ivans auf – der vierte, der Sohn des Kammermädchens, und seine Braut, Milolikas Dienerin, werden vom Film eliminiert, während aus dem Katzensohn824 Ivan ein Findelkind wird. Während die

823 Es existiert ein skizzenhafter Entwurf eines Fünfakters; in Dialogform und mit szenischen Anweisungen ausgearbeitet wurden letztlich nur die zwei ersten Akte sowie etwa die Hälfte des dritten Aktes. Dabei ist festzustellen, dass diese Ausarbeitung sich teils leicht, teils aber auch recht deutlich vom ursprünglichen Entwurf unterscheidet. 824 Hier hält sich Ostrovskij an die gängige Ausformung der Märchenepisode: Nach dem Genuss eines Fischs gebären die Zarin, ein Kammermädchen und ein Tier jeweils einen Sohn. Dies trifft als Komplex im

449 Helden im Stück die Wahrheit über ihre Herkunft ziemlich am Anfang erfahren, lässt der Film sie bis zuletzt im Zweifel darüber – damit wird eine eigene Aussage getätigt: Die beiden kommen zu dem Schluss, dass die Geburt nicht über den Platz eines Menschen im Leben entscheiden sollte. Weiterhin kennt das Stück zwei Freier um die Hand Milolikas, einen greisen Zaren und einen krimtatarischen Chan, die bei Kaščej um deren Hand anhalten und von ihm angeführt werden – die drei Ivans sollen, um Milolika zu befreien, von dem einen den Feuervogel, von dem anderen ein Zauberpferd entführen. Letztere Episode fehlt ganz im Film, erstere findet sich in abgewandelter Form wieder825: Aus dem Chan wird der Schah Babadur (im Stück der Name des Wesirs), und die Erscheinungsform des Feuervogels als eigenständige Figur in Gestalt einer Jungfrau (vgl. Mot. B50. Bird-men) ist freie Variation des Films. Größtenteils Erfindung des Films ist weiterhin die Charakterisierung Kaščejs – die originelle Auflösung des Motivs von seinem Tod im Ei findet sich ebenfalls so nicht bei Ostrovskij, wo er „klassisch“ vernichtet wird, indem das Versteck des Todes durch eine List in Erfahrung gebracht und dieser zerstört wird.

Про кота... [Vom Kater...] UdSSR – Russland 1985; Ėkran. Regie: Svjatoslav Čekin; Drehbuch: David Samojlov. Darsteller: Leonid Jarmoľnik, Aľbert Filozov, Marina Levtova, Petr Ščerbakov u.a. Vorlage: Charles Perrault: Le Maître Chat ou le Chat botté (Meister Kater oder Der gestiefelte Kater). Siehe Novye pochožednija kota v sapogach (1958). Inhaltsangabe: Dem jüngsten Müllerssohn, der selbst ein fauler Taugenichts ist, scheint der von Vater ererbte gestiefelte Kater zu nichts nütze. Der Kater aber bringt im Namen des Marquis Carabas immer wieder Essen zum Königsschloss, und da die Staatskasse vollkommen leer und Schmalhans Küchenmeister ist, ist er dort ein willkommener Gast. Noch mehr nimmt er König und Prinzessin für sich ein, als er sich als begabter Jazzmusiker entpuppt. Besonders die Prinzessin ist von ihm angetan. Der Kater aber tut alles nur für seinen Herrn. Er überredet den König, eine Ausfahrt zu machen, und währenddessen bringt er zuerst eine Gruppe Schnitter, dann eine Gruppe Erntearbeiterinnen dazu, ihm zu sagen, sie würden auf dem Lande des Marquis Carabas arbeiten. Der Müllerssohn aber muss zu seinem Glück geradezu gezwungen werden: Nur mit Mühe lässt er sich vom Kater überreden, den ertrinkenden Marquis zu mimen und damit den König und sein Gefolge auf sich aufmerksam zu machen. Der König lässt ihn retten, und er fühlt sich in dessen und der Prinzessin Gesellschaft immer wohler. Unterdes eilt der Kater rasch zum Schloss des Menschenfressers, eines von neuerster Technik und Robotern umgebenen gelangweilten Intellektuellen. Er verwickelt ihn in ein Gespräch und bringt ihn dazu, sich erst in einen Löwen, dann in eine Maus zu verwandeln, die er auffrisst. Dann erobert er das Schloss für seinen Herrn, der dort selbstzufrieden König und Prinzessin als Gäste empfängt. Der König will ihm seine Tochter zur Frau geben, doch die Prinzessin ist von der Aussicht auf so einen groben Bräutigam gar nicht erfreut – sie will viel lieber den Kater heiraten. Das wiederum bringt diesen in höchste Verlegenheit, und die Prinzessin ist von seiner Reaktion beleidigt. Sie beschwert sich beim Müllerssohn, der darauf ostslavischen Märchen sehr häufig auf, und es verwundert, dass es weder in den Typverzeichnissen noch im Mot. zusammenfassend beschrieben wird. Der vierte Ivan, der Sohn der Beschließerin, und der Kindstausch sind dagegen nicht volksmärchentypisch; vgl. dazu auch Varvara-krasa, dlinnaja kosa (1969). 825 Ostrovskijs fertig ausgearbeitetes Skript endet mit der Szene im Reich des Chans noch vor dem Raub des Feuervogels.

450 den Kater fortjagt – als er sich aber dann der Prinzessin nähern will, zeigt sie ihm die kalte Schulter. Der Kater beschließt unterdes, seine Stiefel loszuwerden, niemandem mehr zu dienen und ein Leben als freier Kater zu führen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Jazzfilm mit zahlreichen entsprechenden Songs, daneben auch Country-, Pop-, Rockmusikklänge. Die Jazzband Vizit wird auf einer Bühne gezeigt und bei den Nummern immer wieder dazwischengeschnitten bzw. deutlich gemacht, dass sie die Musik spielen. Von den Darstellern tritt auf dieser Bühne ansonsten nur der Kater sowie später der König auf. Die anachronistisch-slangsprachlich gefärbten Dialoge sind teilweise in Versform. Sie siedeln die Geschichte trotz moderner Ausstattung in einer märchenhaft-stilisierten Vergangenheit an, was über das Verfahren der Verfremdung geschieht: So werden die märchenhaften Requisiten durch solche des technisierten Zeitalters ersetzt, jedoch in den Dialogen bleiben die Bezeichnungen des Märchens – ein Anhängerauto wird als Esel bezeichnet, Fahrradfahrer als Reiter etc. Der Kater wird von einem Schauspieler verkörpert, ohne zoomorphe Andeutungen in Kostüm oder Maske; nur in ein paar Einstellungen ist ein echter Kater zu sehen. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption/Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 545B Puss in Boots = AA/SUS 545B Kot v sapogach. Im Grunde genommen handelt es sich um eine ziemlich punktgenaue Nacherzählung des Märchens, die ihre Komik in erster Linie aus der in höchstem Maße verfremdenden Darstellungsform zieht (siehe oben) – inhaltlich verläuft jedoch zumindest zunächst alles ziemlich genau nach dem Perrault’schen Märchen. Eine inhaltliche Abweichung ist dagegen einerseits der negative Charakter des Müllerssohns, andererseits die damit zusammenhängende Schlusslösung, die letztlich das klassische Märchenende auf den Kopf stellt und regelrecht ad absurdum geführt: Der Kater wird zwar von einem Menschen gespielt, aber im Dialog mehrfach in seinem Katersein charakterisiert. Wie sich jedoch herausstellt, ist er auch intradiegetisch so weit vermenschlicht, dass die Prinzessin ihn seinem Besitzer als Geliebten vorziehen kann – auch wenn letztlich die Unmöglichkeit einer solchen Verbindung thematisiert wird.

Созвездие любви [Das Sternbild der Liebe] UdSSR – Usbekistan 1985; Uzbekfiľm. Regie: Zinovij Rojzman; Drehbuch: Dmitrij Bulgakov. Darsteller: Nazim Tuljachodžaev, Boris Chimičev, Leonid Jarmoľnik, Sergej Jurskij u.a. Vorlage: – (siehe aber Kommentar) Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Eine gute Zauberin gelobt, den Jungen Faruch zu schützen. Sie stellt ihm als Gefährten einen Narren zur Seite, der in Wahrheit ihr menschlicher Geliebter ist. Faruch wächst heran und wird Krieger eines Beks. In dessen Auftrag soll er den Aufständischen Mansur fangen. Dieser ist der Geliebte seiner Schwester Mochiguľ, und Faruch lässt ihn ihr zuliebe laufen. Der intrigante Höfling Guljam-mirza überredet den Bek, Mochiguľ und Faruchs Braut Zebo entführen und dem Emir als Geschenk für seinen Harem zu schicken. Er lässt es so aussehen, als seien des Emirs Leute für Mochiguľs Entführung verantwortlich, und zieht unter dem Vorwand in die Hauptstadt, von diesem ihre Rückgabe erbitten zu wollen – tatsächlich erhofft er sich bei ihm eine Machtposition. Faruch beschließt, mit ihm zu gehen. Auf dem Weg fällt er in die Hände von Mansurs Leuten. Mansur kann ihn von der Richtigkeit des Aufstandes gegen die Herrschenden überzeugen. Bald darauf gerät Faruch zu dem Kaufmann Safarbek, der ihn erpresst, für ihn zu arbeiten. (2) Er tut dies im Auftrag Guljam-

451 mirzas, der ihn in der Hand hat. Einige Zeit später rettet Faruch ihn, als Räuber den Laden überfallen. Safarbek ist ihm dankbar, und er erzählt ihm, dass er seit Jahren nach seiner Tochter sucht. Kurz darauf trifft Faruch auf die Zauberin, die sich ihm offenbart und ihm als Helferin die junge Barakčin zur Seite stellt. Sie mimt eine Sklavin, Faruch wird verwandelt und agiert als ihr Herr. Das Mädchen erregt die Aufmerksamkeit Guljam-mirzas, und er lässt die beiden vor den Emir bringen. Der Emir ist so bezaubert von Barakčin, dass er Faruch im Austausch für sie Mochiguľ und Zebo gibt – so wird Faruch mit seiner Liebsten wiedervereint. Er will sich jedoch noch an Guljam-mirza rächen. Die Zauberin gibt ihm ein Amulett mit, das er in äußerster Not zerreißen soll. Er geht in den Palast, wo er Guljam-mirza tötet, ehe er sich freiwillig den Wachen ergibt. Der Emir bietet ihm an, sein Krieger zu werden – als er dies ablehnt, wird seine Hinrichtung beschlossen. Barakčin sucht ihn im Kerker auf, und er erkennt in ihr die Tochter Safarbeks. Außerdem kann er ihr das Amulett geben, das sie zerreißt, als er gerade geköpft werden soll – und plötzlich findet er sich in Freiheit wieder. Im Amulett war die ewige Jugend der Zauberin verwahrt, doch nun ist diese endlich mit dem Narren vereint. Auch die beiden anderen Liebespaare und Barakčin und ihr Vater finden wieder zusammen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Opulente Ausstattung mit orientalisch-folkloristischen Zügen, die auf eine diffuse Vergangenheit verweist. Zahlreiche Naturaufnahmen. Einsatz von elektronischer Musik und immer wieder von verfremdenden Farbfiltern. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neuer Erzähltyp. Zum größten Teil stellt der Film in seiner Handlung ein Originalwerk dar, einzelne Züge und Details sind jedoch Wilhelm Hauffs Saids Schicksale826 entnommen – auch darin tritt eine gute Fee als Beschützerin des Helden auf, und wie im Film handelt es sich bei ihr um eine Freundin seiner verstorbenen Mutter. Ihre Macht ist jedoch begrenzt, da der Held gegen ihr Gebot verstößt und vor seinem 20. Geburtstag das Haus verlässt – im Film lautet das Gebot an Faruch, den Vater nicht vor der Hochzeit zu verlassen (vgl. Mot. C756. Tabu: doing thing before certain time; C901.1.5. Tabu imposed by fairy), und wird gebrochen, als Zebo vor der Hochzeit entführt wird und Faruch aufbricht, um sie zu suchen. Strukturell entspricht dies der Paarfunktion von Verbot und Übertretung (MS XII-XIII), und ab hier entwickelt sich der Film syntaktisch auf annähernd märchenhafte Weise: Die Entführung der Mädchen ist eine Schädigung (MS VIII), auf diese folgt der Auszug (MS XI), die Begegnung mit der Zauberin als Prüfung sowie deren Unterstützung (MS XII-XIV), die Wiedergewinnung der Mädchen (MS XIX) und Bestrafung des Schädigers Guljam-mirza (MS XXX). Bei der Liebe zwischen der Zauberin und dem Narren handelt es sich um ein ausgedeutetes Folkloremotiv (Mot. F302. Fairy mistress). Wiederum an Hauff angelehnt und ohne Folkloreparallelen ist der Handlungsstrang, in dem Safarbek Faruch zur Arbeit in seinem Laden zwingt. Original, aber folkloretypisch ist dagegen Safarbeks Suche nach Barakčin und deren Suche nach ihm (vgl. Mot. H1385.2. Quest for vanished daughter; H1385.7. Quest for lost father). Eher als novellistische Ausschmückungen erscheinen hingegen sämtliche antifeudalistischen und prorevolutionären Züge des Films, wie etwa die tendenziell negativ gezeichneten Herrscherfiguren und der edle Aufständische Mansur.

Красные башмачки [Die roten Schuhe] UdSSR – Ukraine 1986; Ukrtelefiľm.

826 Siehe I ešče odna noč’ Šacherezady... (1984).

452 Regie: Boris Nebieridze; Drehbuch: Oleg Tumanov. Darsteller: Nastja Girenkova, Nonna Terenťeva, Igor’ Dmitriev, Valentin Makarov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Förster erzählt seiner Enkelin ein Märchen darüber, dass man die Natur achten soll: Eine böse Hexe und ihr Gefolge sind in einen Wald eingefallen und haben ihn verseucht, die Menschen werden davon krank. Von der weisen Orina erfährt die kleine Marijka, dass ein Zauberkraut nötig ist, um die Hexe zu vertreiben – dies blüht jedoch nur für einen besonderen Menschen. Marijka ist überzeugt, dass dies ihr älterer Bruder Mikola sein muss. So macht sich dieser in den Wald auf. Hier trifft er auf die Nymphe Povetrulja, die ihm ihren Zaubergürtel schenkt. Sie bittet ihren Vater, den Herrscher des Waldes, ihm auch die roten Schuhe zu geben, die für den Kampf mit der Hexe nötig sind – doch er hält Mikola für ihrer nicht würdig, da er den Menschen misstraut. Es gelingt der Hexe, Mikola durch eine List gefangenzunehmen – da er jedoch den Gürtel trägt, kann sie ihm nichts weiter anhaben, und er lässt sich erst bei Vollmond abnehmen. Nun ist es an Marijka, den Wald und ihren Bruder zu retten. Orina rät ihr, das Vertrauen des Waldherrschers zu gewinnen, damit er ihr die roten Schuhe gibt. Sie erfährt auch, dass Orina seine Frau ist und sie von der Hexe getrennt wurden. Ein alter Kosake soll Marijka helfen – vor dem Sumpfgeist dagegen, der ein doppeltes Spiel treibt, soll sie sich in Acht nehmen. In drei Prüfungen muss das Mädchen nun Ehrlichkeit, Schlauheit und Mut unter Beweis stehen: Zuerst verspricht sie einer Schlange, die sich unter einem Baum verklemmt hat, Hilfe und kehrt tatsächlich zurück. Dann wird sie von der Hexe gefangengenommen, kann jedoch deren unwilligen Helfer, den Wassermann, schlau auf ihre Seite ziehen, und er verhilft ihr zur Flucht. Ihren Mut muss sie zeigen, indem sie eine Schlucht auf einem Baumstamm überquert, um zum Waldherrscher zu kommen. Derweil wird Mikola von der Hexe und dem Sumpfgeist bedrängt – der Vollmond steht kurz bevor, und der Sumpfgeist soll ihn ertränken. Der Waldherrscher empfängt unterdes Marijka freundlich und schenkt ihr die roten Schuhe. Mit ihnen an den Füßen kann sie ihren Bruder vor dem Ertrinken retten und die Hexe vernichten. Während das Zauberkraut erblüht, erwacht die Natur des Waldes zu neuem Leben. Auch Orina und der Waldherrscher werden wieder vereint, und die Menschen gesunden. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung mit denselben Darstellern wie in der Haupthandlung. Handlungsvorantreibende Lieder dienen als Dialogersatz. Die menschlichen Figuren tragen dezent folkloristische Kleidung, die übernatürlichen Wesen vorwiegend stilisierte Phantasiekostüme. Echte „sprechende“ Tiere kommen zum Einsatz. Hauptschauplatz ist die Natur des Waldes. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp. Das Märchen verwendet, um seine „ökologische“ Botschaft zu vermitteln827, eine klar märchenhafte Struktur: Eine doppelte Schädigung (MS VIII) wird durch die Hexe vorgenommen, zuerst durch ihren Einfall in den Wald, dann durch die Gefangennahme Mikolas. Marijka entscheidet sich zur Gegenwehr (MS X) und zieht aus (MS XI), sie besteht drei Prüfungen durch übernatürliche Instanzen (MS XII-XIII), worauf sie schließlich – der Waldherrscher fungiert als Schenker – die roten Schuhe als magisches Hilfsmittel erhält (MS XIV) und damit ihren Bruder und den Wald retten kann: Beide Schädigungen werden beseitigt (MS XIX) und gleichzeitig die Hexe bestraft (MS XXX). Die märchenhafte Semantik des Films macht sich einerseits an den zentralen magischen Motiven des Zauberkrauts, des Zaubergürtels und der roten Schuhe (Mot. D965. Magic plant; D1057. Magic belt; D1065.2. Magic shoes) fest, andererseits an den übernatürlichen Figuren, die vor

827 Vgl. Ivanko i Car’ Poganin (1984).

453 allem Wald- und Naturgeister darstellen (vgl. Mot. F441. Wood-spirit).

Конек-Горбунок [Das bucklige Pferdchen] UdSSR – Russland 1986; Leningradskoe Televidenie. Regie: Boris Geršt; Drehbuch: Rudoľf Eremenko, Boris Geršt. Darsteller: Jurij Karlenko, Margarita Smirnova, Evgenij Ganelin, Andrej Ankudinov u.a. Vorlage/Inhaltsangabe: Siehe Konek-Gorbunok (1941). Filmgestaltung, Besonderheiten: Filmstück (fiľm-spektakľ) in theaterhafter Ausstattung. Pferdchen und Feuervogel werden von Schauspielern verkörpert. Wenn Ivan auf dem Pferdchen reitet, erscheint dieses als Puppe mit dem Kopf des Schauspielers; der Ritt selbst wird durch einen Filmtrick gelöst. In der Finalszene kommt es bei Ivans Verwandlung zu einer ironischen Brechung: Er trägt nun einen modernen schwarzen Anzug mit Hemd. Anschließend verlässt das Paar die theaterhafte Kulisse, tritt aus dem Gebäude heraus und bricht in einem Auto zur Hochzeitsreise auf. Die Schauspieler der übrigen Rollen erscheinen, während der Abspann läuft, nochmal kurz in modernen Kostümen, das Pferd als Chauffeur, der Zar als Tankwart usw. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Konek-Gorbunok (1941). Im Gegensatz zu jenem ist dieser Film, trotz kleinerer Variationen, Kürzungen und Ausschmückungen, im Großen und Ganzen textgetreu – Dialoge der Vorlage werden verwendet; daneben fungieren drei Gaukler als Erzählerfiguren, deren Text zu großen Teilen dem Erzählertext entspricht. Dem Pferdchen kommt, der Vorlage entsprechend, ein deutlich aktiverer Part zu. Die Episode im Reich des Mondes fehlt.

Левша Der Linkshänder UdSSR – Russland 1986; Lenfiľm. Regie, Drehbuch: Sergej Ovčarov Darsteller: Nikolaj Stockij, Vladimir Gostjuchin, Leonid Kuravlev, Jurij Jakovlev u.a. Vorlage: Nikolaj Leskov: Skaz o tuľskom kosom Levše i o staľnoj bloche (1881; Leskov 1958, S. 26- 59). Inhaltsangabe: Nach dem Wiener Kongress bereist Zar Aleksandr Pavlovič Europa, um zu sehen, was es dort für Wunder gibt. In seinem Gefolge ist der mürrische Donkosake Platov, der am liebsten nach Hause will, wo ihm alles besser scheint. Dem Herrscher dagegen gefällt es insbesondere in England, wo er sich von allerlei Erfindungen begeistern lässt. Mit nach Russland bringt er einen mikroskopisch kleinen stählernen Floh, der tanzen kann. Nach seinem Tod findet sein Nachfolger, Zar Nikolaj Palkovič, das mechanische Wunder – Platov schlägt ihm vor, für ihn einen russischen Meister zu finden, der etwas noch Erstaunlicheres schafft. Dafür reist er nach Tula, wo er den dortigen Meistern den Floh zeigt. Drei Meister unter der Führung des „Linkshänders“ erklären sich bereit, die Engländer zu übertreffen. Sie machen sich gleich an die Arbeit, doch als Platov zurückkommt, sieht er nur den scheinbar unveränderten Floh und ist außer sich vor Wut. Er schleppt den Linkshänder mit in die Hauptstadt, damit er die Sache vor dem Zaren verantwortet. Dort stellt sich jedoch Verblüffendes heraus: Der Floh tanzt zwar nicht mehr, aber dafür haben ihm die Meister winzige Hufeisen angefertigt. Der Linkshänder

454 erntet großes Lob, und der Floh wird sogleich nach England geschickt, zusammen mit dem Linkshänder. Dieser wird wie ein Fürst empfangen, lernt die Arbeitsbedingungen und technischen Errungenschaften kennen, die ihm sehr gefallen, aber hat dennoch Heimweh. Obwohl ihn seine Gastgeber lange überreden wollen, zu bleiben, besteigt er ein Schiff zurück nach Russland. An Bord lässt er sich mit einem englischen Seemann auf einen Wettstreit ein, wer trinkfester ist, was damit endet, dass beide bei der Ankunft im verschneiten Russland furchtbar krank sind. Während jedoch dem Engländer sogleich die beste ärztliche Behandlung gewährt wird, wird der Linkshänder, da er keine Papiere besitzt, von Ort zu Ort geschleppt und nirgendwo aufgenommen. Er stirbt schließlich im Schnee, nicht, ohne nochmal seine Botschaft für den Zaren loszuwerden: Er hat gesehen, dass die Waffen der Engländer besser sind, weil sie nicht mit Ziegelsteinen gereinigt werden – in Russland sollen das die Soldaten auch nicht mehr tun. Filmgestaltung, Besonderheiten: Experimentelle, grotesk-übersteigerte Darstellungsform: So wird etwa die Europareise des Zaren Nikolaj auf einer überdimensionalen geographischen Karte gezeigt; in England sorgt eine Pumpe für Nebel; in der Werkstatt der Tulaer Meister ist die Luft so dick, dass Äxte und Hämmer darin schweben; dem Linkshänder wird in England als Unterhaltung ein manierierter Boxkampf vorgeführt und er zeigt seinen Gastgebern, wie man Fußball spielt; in den englischen Betrieben hat jeder Arbeiter eine Multiplikationstabelle (!) als Hilfe über seinem Arbeitsplatz hängen usw. Durchs Geschehen führt eine Erzählerstimme aus dem Off; die Schauspieler agieren größtenteils nur mimisch, in sehr stilisierter Form. Einige wenige sprechen ausnahmsweise: Aleksandr benutzt Falsett-Singsang, Nikolaj spricht bei seinen offiziellen Reden vorwiegend gebrochenes Russisch mit ausgeprägtem französischen Akzent, im Gespräch mit Platov dagegen benutzt er einfache Volkssprache (prostorečie). Die Kostüme sind farbenfroh-detailreich und an Lubok-Darstellungen angelehnt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Der Erzählung von Nikolaj Leskov liegt eine kurze Folklore-Anekdote zugrunde, in deren Mittelpunkt das „mechanische Wunder“ des winzigen künstlichen Flohs steht: Die Engländer haben ihn angefertigt, aber die Russen haben ihm Hufeisen gemacht. Dieses Kürzest-Sujet828 hat Leskov ausgearbeitet und in den Rahmen eines in volkstümlich anmutender Rede erzählten Skaz mit grotesken Zügen gestellt. Im Film werden die Handlungen visuell übersteigert-stilisiert umgesetzt und satirisch ausgeschmückt (siehe oben), dabei trägt die Off-Erzählerstimme den etwas gekürzten Text der Vorlage im Wortlaut vor. An wenigen Stellen wird dieser auch etwas abgewandelt und erweitert – so etwa wird Zar Nikolaj (dem der Film den volkstümlichen Spottnamen „Palkovič“ gibt) vor dem Entdecken des Flohs im Nachlass seines Bruders von seinem Minister Kiselvrode ein Bericht über eine Reihe von in ihrem Nutzen recht zweifelhaften echt russischen Erfindungen erstattet.

На златом крыльце сидели... Auf der goldenen Treppe saßen... UdSSR – Russland 1986; Kinostudija M. Gor’kogo. Regie: Boris Rycarev; Drehbuch: Aleksandr Chmelik, Boris Rycarev. Darsteller: Elena Denisova, Gennadij Frolov, Sergej Nikolaev, Aleksandr Novikov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Drei Zarewitsche brechen ins Nachbarkönigreich auf – die älteren beiden wollen um die

828 Eigentlich handelt es sich lediglich um ein formelhaftes Motiv; es ist jedoch trotz Folkloreursprungs in der Form nicht im Mot. zu finden.

455 dortige Prinzessin freien, der gutmütig-naive Ivan kommt einfach so mit. Im Reich liegt so einiges im Argen: Die Königin muss sämtliche Arbeit alleine machen, denn der König ist schon viele Jahre verschollen, und Kaščej Bessmertnyj belästigt die Prinzessin mit seinem Liebeswerben und richtet dabei mit seinen Flügen auf dem Roboterdrachen Zmej Gorynyč viel Unheil an. Zum Unwillen seiner bequemen Brüder erklärt sich Ivan bereit, ihn zu vertreiben – und mit Hilfe der pfiffigen Alena gelingt es ihm tatsächlich, den Drachen zu vernichten und Kaščej damit unschädlich zu machen. Die Prinzessin jedoch schiebt ihre Entscheidung, einen der Zarewitsche zu heiraten, weiter auf – zuerst sollen die drei das heruntergekommene Königreich einer Grundsanierung unterziehen. Auch diese Aufgabe bleibt an Ivan hängen. Die Handwerksmeister, die das Königreich wieder auf Vordermann bringen könnten, wurden jedoch von Kaščej entführt. Alena hilft Ivan erneut, indem sie ihn zu der Höhle führt, in der sie gefangengehalten werden. Trotz aller Versuche Kaščejs, Ivan aufzuhalten, findet er die Meister – einer jedoch fehlt, ohne den sie die Arbeit nicht beginnen können: Der Zimmermann. Als solcher war immer der verschollene König tätig – wo dieser sich befindet, weiß wiederum Kaščej: Er ist beim Zaren des Reiches unter Wasser und hat sämtliche Erinnerungen an sein früheres Leben verloren. Kaščej hilft Ivan, dorthin zu kommen – nicht, ohne sich dafür einen Vorteil zu erhoffen: Der Wasserzar soll ihm im Austausch für Ivan eine Flasche mitsamt Flaschengeist geben. Diese erhält er auch, doch der Geist ist ihm alles andere als dienstbar – er steckt ihn vielmehr selbst in die Flasche und wirft sie zurück ins Meer. Ivan schafft es derweil, dass die Erinnerung des Königs zurückkehrt, und sie kehren gemeinsam auf die Erde zurück – die Königin kann endlich ihren Gatten wieder in die Arme schließen. Die Prinzessin unterdes hat sich entschieden, Ivan zum Mann zu nehmen – wohingegen sich dieser heftig sträubt, denn er hat an Alena Gefallen gefunden. Da aber stellt sich heraus, dass die Prinzessin und Alena ein und dieselbe Person sind, und ihrer Verbindung steht nichts mehr im Wege. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat. Vor- und Abspann vor Märchenillustrationen, die die Ausstattung des Films und dessen Figuren karikaturistisch-wahrheitsgetreu abbilden – sämtliche Figuren sind im Film ikonographisch verfremdet dargestellt, so trägt etwa die Prinzessin eine Hornbrille und eine überdimensionale Perücke, die bis an die Decke reicht; Kaščej tritt in einer Art Sporttrikot auf, auf dem ein stilisiertes Skelett angedeutet ist etc. Dass es sich bei der Prinzessin und der burschikosen Alena um dieselbe Darstellerin handelt, ist wegen der aufwendigen Kostümierung ersterer nicht gleich ersichtlich. Das Zarenreich trägt folkloristisch-russische Züge, das Königreich hingegen, das sich in Sichtweite befindet, ist eher mitteleuropäisch gestaltet. Der Film benutzt das Verfahren des Steampunk mit zahlreichen parodistischen Anachronismen: Neben dem motorisierten Roboterdrachen schreibt u.a. der Zar seine Memoiren auf einer Schreibmaschine; Kaščej versucht Ivan mit Diaprojektionen zu erschrecken, ehe er sich in der Filmrolle verheddert; der Wasserzar benutzt einen elektrischen Rasierapparat usw. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp. Der Film spielt mit dem Genre Märchen, nicht nur durch das Stilmittel des Steampunk, indem ein Nebeneinander von märchenhaft-unkonkreter Vergangenheit und Elementen des Zeitalters der modernen Technik geschaffen wird829, sondern auch mit dem Verfahren der doppelten Verfremdung: Trotz dem als Selbstverständlichkeit betrachteten Vorhandensein von Wundern und magischen Märchenfiguren erkennen einige Figuren im Dialog explizit nicht an, dass sie sich in einem Märchen befinden. Die Kernhandlung weist eigentlich eine durchaus märchenhafte syntaktische Struktur auf: Eine Mangelsituation (MS VIIIa), das Fehlen einer Braut, sorgt für den Auszug der Zarewitsche (MS XI). Ihnen werden

829 Vgl. auch Raz, dva – gore ne beda! (1988).

456 dann schwierige Aufgaben gestellt, die Ivan löst (MS XXV-XXVI). Auch die semantischen Elemente sind sehr märchenhaft: Von drei Brüdern erweist sich der jüngste, verlachte „Dummling“ als Held (Mot. L10. Victorious youngest son; L101. Unpromising hero (male Cinderella)). Er verhält sich im Gegensatz zu den älteren Brüdern gutmütig (vgl. Mot. Q2. Kind and unkind, L13. Compassionate youngest son), und er besteht, mit einer treuen Helferin an der Seite (Mot. N831. Girl as helper), drei Prüfungen, die eine Prinzessin als Freieraufgaben stellt (Mot. H310. Suitor tests). Die Ausgestaltung der Geschehnisse ist jedoch höchstgradig verfremdet. Kaščej bedrängt die Prinzessin mit seinem Liebeswerben, doch ohne sie deswegen zu entführen (wie in SUS 3021) – stattdessen richtet er auf seinem Drachen Schaden im Königreich an, der in Stromausfällen, abbröckelndem Putz und ähnlichem besteht (vgl. Mot. G346. Devastating monster. Lays waste to the land). Der Drache ist zu einer Art Flugzeug-Roboter geworden, und im Drachenkampf (Mot. B11.11. Fight with dragon) blockiert Ivan seinen Motor und löst damit seine Explosion aus. Die Grundsanierung des maroden Königreichs als Freieraufgabe ist eine weitere Verfremdung einer märchenhaften Prüfung. Dafür ist eine Suchwanderung erforderlich, um die Handwerksmeister zu finden (Mot. H1385. Quest for lost persons) – statt der Prinzessin hat Kaščej nämlich diese entführt, als eine Art Ersatzhandlung. Nachdem sie gefunden sind, wird der eher harmlose Bösewicht Kaščej gar zu einem Helfer des Helden, wenn auch aus Eigennutz, indem er Ivan nicht nur verrät, dass sich der König beim Wasser-Zaren befindet (Mot. F420.5.2.2. Water-spirits kidnap mortals and keep them under water), sondern ihm auch den Weg dorthin zeigt. Nachdem Ivan die verlorene Erinnerung des Königs geweckt hat (vgl. Mot. D2000. Magic forgetfulness), müssen sie nicht etwa vor dem Wasserzaren fliehen (wie in AaTh 313), sondern dieser ist von ihnen so gelangweilt, dass er sie selbst gehen lässt. In der Episode um Kaščej und den Flaschengeist wird ein weiteres Mal die Märchenlogik auf den Kopf gestellt: Der Geist erweist sich weder als hilfreicher Wunscherfüller, noch wird er durch eine List in die Flasche zurückverbannt (wie in AaTh 331) – sondern steckt vielmehr seinen Befreier in die Flasche (vgl. Mot. K717. Deception into bottle (vessel)). Eine weitere Verfremdung findet sich schließlich in der Schlusslösung: Im Märchen markiert in der Regel die Hochzeit des unscheinbaren Helden mit der Prinzessin den Höhepunkt – Ivan verweigert sich dessen, da er seiner Helferin Alena zugetan ist. Dies wird dann ad absurdum geführt, da die unscheinbare Alena und die Prinzessin sich als eine Person erweisen – also war es die künftige Braut, die bei den Freieraufgaben geholfen hat (Mot. H335.0.1. Bride helps suitor perform his tasks)! Der Film schließt jedoch nicht mit der Hochzeit, sondern lässt die jugendlichen Helden im Schlusstableau mit einer Gruppe Kindern gemeinsam Drachen steigen.

Новые сказки Шахерезады Die neuen Märchen von Scheherezade UdSSR – Tadschikistan/Syrien 1986; Tadžikfiľm/Ganemfilm/Sovinfiľm. Regie: Tachir Sabirov; Drehbuch: Valerij Karen, Tachir Sabirov. Darsteller: Ugulbek Muzaffarov, Tamara Jandieva, Burchon Radžabov, Sadidin Bakdunis u.a. Vorlage: Rahmenhandlung sowie Märchen vom Schuhflicker Maruf aus 1001 Nacht (1001 Nacht VI/2, S. 571-644). Inhaltsangabe: Zweiter Teil einer Trilogie830; Zweiteiler. (1) Scheherezade erzählt dem Kalifen ein neues Märchen: In Misra lebt der Schuster Maruf, der unter seiner garstigen Frau Fatima zu leiden hat. Durch eine Intrige dieser wird er aus der Stadt gejagt. Er trifft auf einen Dschinn, der ihn

830 Mit I ešče odna noč’ Šacherezady (1984) und Poslednjaja noč’ Šacherezady (1987).

457 auf seinen Wunsch dorthin bringt, wo seine Frau ihn nicht findet – in die Stadt des Kalifen. Dort ist gerade Prinzessin Ėsmėgjuľ in den Straßen unterwegs, und wer sie unverschleiert sieht, dem droht die Todesstrafe – der Kaufmann Ali will Maruf warnen, doch da werden sie beide entdeckt. Maruf aber kann Gnade für sie erwirken. Ali will ihm aus Dankbarkeit helfen, in der Stadt Fuß zu fassen: Er soll behaupten, eine Karawane zu erwarten, und bis zu deren Ankunft Kredit von den Kaufleuten erbitten. Damit wiederum soll er sich einen Laden einrichten und mit dem Geld, das er verdient, seine Schulden zurückzahlen. Tatsächlich wird Maruf Kredit gewährt, doch statt sich damit einen Laden einzurichten, verteilt er alles Geld an die Armen. Scheherezade unterbricht ihre Erzählung. Kurz darauf wird Maruf, über den sich die Kaufleute beschwert haben, vor den Kalifen gebracht – auch vor diesem beharrt er darauf, dass seine Karawane bald eintreffen würde, und hält gleich noch um Ėsmėgjuľs Hand an. (2) Der wissende Kalif verlangt einen großen Brautschatz für sie – und lässt Maruf, der diesen mit Eintreffen der Karawane verspricht, unter Bewachung stellen. Erst durch Scheherezades Erzählung erfährt er, dass sein Gefangener durch eine List geflohen und dabei in den Gemächern Ėsmėgjuľs gelandet ist. Nachdem diese ihn erst bedroht, kann er schließlich Liebe in ihr erwecken, und sie verschafft ihm ein Boot, auf dem er davonfährt. Er erleidet jedoch Schiffbruch und rettet sich auf eine Insel. Dort kommt er in eine Geisterstadt, wo ihm ein geheimnisvoller Fremder den Weg in ein unterirdisches Reich weist – hier findet er kostbare Schätze vor, die von einer riesigen Schlange bewacht werden. Deren Macht endet jedoch genau bei Marufs Ankunft, und bevor sie verschwindet, übergibt sie ihm einen Zauberring. Mit diesem kann er den Dschinn herbeirufen, der erklärt, er sei nun sein Diener und würde ihm jeden Wunsch erfüllen. Da wünscht sich Maruf, dass der Dschinn ihn und alle Schätze an die Erdoberfläche befördert und ihm eine prächtige Karawane herbeizaubert. Mit dieser kehrt er dann wenig später in die Kalifenstadt zurück. Filmgestaltung, Besonderheiten: Opulente, detailreiche und farbenfrohe Ausstattung mit vielen Massenszenen, die die Handlung in einer diffusen, exotisch-orientalischen Vergangenheit ansiedelt. Dialoge stellenweise in Versform. Verschiedene Filmtricks und Spezialeffekte kommen zum Einsatz, z.B. bei der Darstellung des Dschinns, der mal als Riese, mal in menschlicher Größe und mal winzig erscheint, sowie einer riesigen Spinne, die Maruf in der Höhle des Dschinns angreift, und der riesigen Schlange, die den Schatz bewacht. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 560 The Magic Ring = AA/SUS 560 Volšebnoe koľco. Die Vorlage aus 1001 Nacht ist eine sehr ausgeschmückte Variante von AaTh 560. Der Film adaptiert sie weitgehend vorlagengetreu, mit nur kleineren Variationen – so ist Marufs Heimatort Misra statt Kairo, Fatima wird ausfabulierend eine Affaire zugeschrieben, und der Geist, der Maruf von ihr fortträgt, und der Dschinn des Rings sind identisch. Wie schon im Vorgängerfilm I ešče odna noč’ Šacherezady... (1984) verschwimmen die Grenzen der Rahmenhandlung mit denen der Haupthandlung – der Kalif, dem Scheherezade das Märchen von Maruf erzählt, und der Kalif der Erzählung sind eine Person. Ist im Märchen kurzsichtige Habgier ausschlaggebend, warum er Maruf alles glaubt, so weiß er im Film durch Scheherezade um dessen Betrug, und er ist gespannt und halb amüsiert darüber, wie weit er damit noch gehen wird. Die Charakterisierung seiner Tochter, der Prinzessin, als männerhassend und die Episode, in der sich alle vor ihr verstecken müssen, sind Ausschmückung des Films. Nach ihrem Wandel verhilft sie ihm wie in der Vorlage zur Flucht, und die Ereignisse danach sind sehr vorlagengetreu, lediglich die Wächterschlange (Mot. B875.1. Giant serpent; B108.1. Serpent as patron of wealth) ist Hinzufügung. Mit der Rückkehr Marufs bricht der Film abrupt ab, die folgenden Ereignisse des Märchens schildert der Nachfolgefilm Poslednjaja noč’ Šacherezady (1987).

458 Тайна Снежной Королевы. Сказка про сказку [Das Geheimnis der Schneekönigin. Märchen über ein Märchen] UdSSR – Russland 1986; Ėkran. Regie: Nikolaj Aleksandrovič; Drehbuch: Vadim Korostylev. Darsteller: Alisa Frejndlich, Oleg Efremov, Nina Gomiašvili, Jan Puzyrevskij u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: Sneedronningen (Die Schneekönigin). Siehe Snežnaja koroleva (1966). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Das Märchen von der Schneekönigin wird unter veränderten Voraussetzungen neu erzählt: Gerda und Kai sind älter geworden, für sie hat die Zeit, in der alles wie im Märchen schien, bereits aufgehört. Die Schneekönigin hat unterdes eine Eisschule eröffnet, in der Gleichgültigkeit und Gefühlskälte gelehrt werden. Kai sieht sich, da er herangewachsen ist, plötzlich als etwas Besseres – und gibt damit der Königin Macht über ihn, sie muss ihn nur noch zu sich locken. Gerda will unverzüglich aufbrechen, ihn zu suchen, und für sie lässt die „Stimme des Märchens“ es frühzeitig Frühling werden. Sie warnt sie, den Sommer nicht zu verpassen, da im Winter die Schneekönigin neue Macht bekommt, und sie soll unterscheiden lernen, was wahres Wunder und was Täuschung sei. Die ersten Wunderhelfer, die Gerda begegnen, erweisen sich jedoch als Betrüger: Der Schneemann, der eine hohe Mauer um sie herum wachsen lässt, und die Blumen, die sie solange darin festhalten, bis der Sommer vorüber ist. Derweil wird Kai in die Eisschule aufgenommen. (2) Gerda wird von Frau Herbst gefunden. Sie weist ihr den Weg zum Schloss des „Barons, den es nicht gibt“. Dieser jedoch ist bei der Schneekönigin wegen seines Speiseeiskonsums verschuldet und nun in ihrer Hand: Sie befiehlt ihm, Gerda zu töten. Hin- und hergerissen, bringt er dies aber dann doch nicht fertig und schickt Gerda stattdessen zu den Räubern. Deren Anführerin ist seine Frau, die ihn verlassen hat. Bei ihnen soll sich das Rentier befinden, das den Weg ins Reich der Schneekönigin kennt. Zum Entsetzen der Stimme des Märchens ist jedoch nichts, wie es sein sollte: Die Räuber sind des Räuberlebens müde und lassen ihre Anführerin allein, und das Rentier, zu dem diese Gerda führt, ist unterdes gestorben. Zur selben Zeit verlangt Kai, der Musterschüler der Eisschule, von der Schneekönigin, dass diese Gerda zu ihm bringt – er habe sich an ihre Gesellschaft gewöhnt. So holt sie Gerda selbst in ihren Palast – dort macht sie ihr Spiegelbild lebendig, damit die gefühllose Doppelgängerin ihren Platz an Kais Seite einnehmen kann. Der gleichgültig gewordene Kai zieht tatsächlich zunächst die Eisgerda vor, und es kostet der echten Gerda viele Mühen, in ihm wieder menschliche Wärme zu erwecken und ihn zu erlösen. Die Schneekönigin aber, so warnt die Stimme des Märchens, wird es geben, solange es Gleichgültigkeit gibt, und muss immer wieder neu besiegt werden. Filmgestaltung, Besonderheiten: Ein ikonographisch vage an Andersen erinnernder Märchenerzähler – die „Stimme des Märchens“ – führt unter Durchbrechung der vierten Wand durch die Handlung und ist gleichzeitig in ironischer Brechung darin involviert.831 Märchenhaft-expressionistische Illustrationen sowie Einstellungen von kunstvollen mechanischen Spielzeugen, die Märchen von Andersen darstellen, werden zur Verbindung der Szenen eingesetzt. Die mittelalterlich- mitteleuropäische Stadtkulisse und die Wohnung der Kinder sind naturalistisch gestaltet, die Kostüme der Kinder entsprechen dem 19. Jahrhundert. Der Palast der Schneekönigin ist hingegen stilisierte Phantasiekreation, ebenso wie die Kostüme der übernatürlichen Wesen. Die Suchwanderung Gerdas findet wiederum überwiegend in der Natur statt, die im Laufe der

831 Vgl. Skazki starogo volšebnika (1984).

459 sich verändernden Jahreszeiten gezeigt wird. Es wird immer wieder hin- und hergeschnitten zwischen Gerda bei ihren Abenteuern und der Schneekönigin in ihrem Palast, die die Ereignisse durch eine Art Fernseher beobachtet, kommentiert und eingreift. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Klassifizierung wie Snežnaja koroleva (1966). Aus dem Andersen’schen Märchen entlehnt der Film die drei Hauptfiguren (Gerda, Kai und die Schneekönigin) sowie das Grundgerüst der Handlung: Die Schneekönigin entführt Kai, und Gerda sucht, findet und erlöst ihn. Der Film gibt sich ansonsten ganz explizit als Neuinterpretation zu erkennen: Mit dem Alter der Protagonisten wird ihr im Vergleich zum Andersen-Text verändertes Verhalten erklärt, und so stehen Gerda auch ganz andere Herausforderungen bevor – wie der Erzähler, die „Stimme des Märchens“, ihr erklärt, muss sie lernen, Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden, also eine Art Reifungsprozess durchmachen. Die Einzelepisoden erinnern nur entfernt an den Andersen-Text: Die Episode mit den hinterhältigen Pflanzen ist vage angelehnt an Gerdas Aufenthalt bei der freundlichen Blumenfee, der sich ebenfalls in den Herbst zieht; die Figur des Barons erinnert, durch seine Verschuldung bei der Schneekönigin, etwas an den König aus der Švarc’schen Andersen-Adaption832, der dort wiederum an die Andersen entlehnte Episode mit Prinz und Prinzessin geknüpft ist; die Räuberhauptfrau schließlich ist ihrem Vorbild aus dem Andersen-Märchen sehr unähnlich, was der Märchenerzähler „Stimme des Märchens“, der mit ihr interagiert, explizit konstatiert. Dieser steht den „veränderten Voraussetzungen“ des Märchens recht hilflos gegenüber und weiß nicht, wie er damit umgehen soll, dass dieses nicht den gewohnten Gang nimmt – insbesondere kann er deshalb die Schachzüge der Schneekönigin nicht vorhersehen. Der Film spielt hier selbstironisch mit der Märchenform833. Als Zeichen davon finden sich auch intertextuelle Querverweise auf andere Märchen – unter den Räuber befinden sich etwa der Schweinehirt und der Schuster, die später in ihre eigenen Märchen zurückkehren; und Gerda erhält vom Märchenerzähler das letzte Hölzchen des Mädchens mit den Schwefelhölzern, das ihr aus der Not helfen soll. Literaturhinweise/Besprechungen: Romanenko 1987, S. 33-34

Дикие лебеди Metsluiged Die elf Schwäne UdSSR – Estland 1987; Tallinfiľm. Regie: Helle Karis (Murdmaa); Drehbuch: Helle Karis, Savva Kuliš, Juhan Viiding. Darsteller: Katri Horma, Juris Žagars, Andris Žagars, Ines Aru u.a. Vorlage: Hans Christian Andersen: De vilde svaner (Die wilden Schwäne, 1838; Andersen 1982 I, S. 134-150). Volksmärchenparaphrase (vgl. KHM 49). Inhaltsangabe: Prinzessin Elisa, die Tochter des Königs, ist vor langer Zeit verschollen. Kurz vor ihrem Geburtstag wird ein Mädchen gefunden, das ebenfalls Elisa heißt und ihr gleicht – die Königin jedoch lässt es so verunstalten, dass der König es nicht als seine Tochter wiedererkennt, und es wird unter Spott fortgejagt. Im Traum erscheint Elisa ihre verstorbene Mutter: Von ihr erfährt sie, dass sie tatsächlich die Prinzessin ist – ihre böse Stiefmutter hat das Herz des Vaters verzaubert und sie und ihre elf Brüder getrennt. Sie macht sich auf die Suche nach diesen. Elf Prinzen aber hat niemand gesehen, nur elf Schwäne – und Elisa wird

832 Siehe Snežnaja koroleva (1966). 833 Vgl. Zoluška (1947); Skazki starogo volšebnika (1984).

460 klar, dass die Brüder verzaubert sind. Kurz darauf findet sie sie – nur nachts haben sie ihre menschliche Gestalt, und um sie zu erlösen, muss Elisa ihnen Hemden aus Brennesseln nähen und bis sie alle fertig sind schweigen und ihre Gedanken verbergen. Elisa wird in der Hütte der Schwäne von einem jungen König gefunden, der sie mitnimmt und zu seiner Frau macht. Da er sieht, dass sie etwas bedrückt, gibt er ihr einen Raum, in dem sie alleinsein kann. Dorthin flüchtet sie nun heimlich jede Nacht, um weiter an den Hemden zu nähen. Davor schleicht sie auf den Friedhof, um Brennesseln zu pflücken. Böse Hexen bedrängen sie dabei, um bei Tag in Gestalt gewöhnlicher Frauen wilde Gerüchte über sie in Umlauf zu setzen. Ein misstrauischer Erzbischof folgt ihr nachts heimlich. Er zieht seine eigenen Schlüsse aus seinen Beobachtungen und teilt dem König mit, dass seine Frau eine Hexe sei. Der König will dies nicht glauben, doch da Elisa ihm ihre Gefühle nicht zeigen darf, fühlt er sich von ihr zurückgewiesen. Als er sie selbst bei einem nächtlichen Friedhofsbesuch beobachtet, ist er gezwungen, sie vor Gericht zu stellen. Er will jedoch nicht das Urteil über sie sprechen, sondern das Volk soll entscheiden. Dieses jedoch wird von den Hexen aufgewiegelt und fordert, dass sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll. Erst im letzten Moment kommen ihre Brüder zu Hilfe, die sie nun erlöst hat – ein Hemd aber ist unvollendet, und ein Bruder muss deshalb ein Schwan bleiben: Er kann nur in Träumen bei den Geschwistern sein. Der König schließt Elisa glücklich in die Arme, der Erzbischof aber will schamvoll als einfacher Pilger Buße zu tun. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Ausstattung ist naturalistisch-folkloristisch und siedelt den Film in einer diffusen mitteleuropäischen Vergangenheit an. Neben mittelalterlichen Burggemäuern kommen sehr viele ästhetisch ansprechende Naturaufnahmen zum Einsatz, die insbesondere, den Flug der Schwäne symbolisierend, als Panorama in Vogelperspektive gefilmt werden. Der Geist der Mutter erscheint nur bei Nacht und ist dabei von einem unwirklichen hellen Schein umgeben. Die elf Schwäne werden von tatsächlichen Schwänen verkörpert, die eigens für den Film dressiert wurden. Der Film kommt über sehr weite Strecken ohne gesprochenen Dialog aus. Dramaturgischer Einsatz von Musik als Effekt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 451 The Maiden Who Seeks her Brothers = AA/SUS 451 Braťja-vorony. Andersens Märchen paraphrasiert einen bekannten Volksmärchenstoff. Der Film wiederum hält sich sehr eng an seine Vorlage, mit nur wenigen leichten Abweichungen: Der fehlgeschlagene magische Anschlag der bösen Stiefmutter auf Elisa fehlt, es kommt gleich zu deren Verunstaltung; an Stelle der Fee, die bei Andersen Elisa im Traum erscheint, setzt der Film die verstorbene Mutter als Helferin (vgl. Mot. E323.2. Dead mother returns to aid persecuted children). Elisas Aufgabe wird im Film weiterhin dadurch erschwert, dass sie nicht nur schweigen, sondern auch ihre Gefühle verbergen muss – als der König Elisa fragt, ob sie ihn liebt, darf sie ihm dies nicht zeigen. Die Rolle der Hexen wird ausfabuliert – sie erscheinen nicht nur nachts auf dem Friedhof, sondern mischen sich tagsüber unter die Leute, um Elisa zu verleumden. Der Erzbischof wird im Gegensatz zur Vorlage nicht durchweg negativ gezeichnet, und am Ende zeigt er sich reuevoll. Die größte Variation findet jedoch am Schluss statt – der letzte Bruder behält von seiner Verwandlung nicht nur einen Schwanenflügel zurück, sondern die Erlösung bleibt ihm vollends verwehrt.

Лиловый шар Die lila Kugel UdSSR – Russland 1987; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Pavel Arsenov; Drehbuch: Kir Bulyčev.

461 Darsteller: Nataša Guseva, Saša Gusev, Vjačeslav Nevinnyj, Boris Ščerbakov u.a. Vorlage: Kir Bulyčev: Lilovyj šar (1983; Bulyčev 1996, S. 279-415). Inhaltsangabe: Im Jahre 2087: Die Schülerin Alisa befindet sich mit ihrem Vater und Kapitän Zelenyj auf einer Weltraumexpedition. Sie stoßen auf ein verlassenes Raumschiff, und bei der Erkundung treffen sie ihren Freund, den Außerirdischen Gromozeka. Gemeinsam finden sie heraus, dass es sich um ein legendäres Erobererschiff handelt und die Besatzung von einem Virus getötet wurde, der alle Lebewesen dazu bringt, einander zu hassen. Der Virus wurde in einer lila Kugel auch auf die Erde gebracht, um diese zu erobern – die Kugel fungiert als Zeitzünder, sie soll den Virus in wenigen Tagen freisetzen. Der Versuch der Freunde, die Behörden zu alarmieren, schlägt fehl – niemand glaubt ihnen, und das Raumschiff wird auch noch unter Quarantäne gestellt. Nun besteht die einzige Hoffnung darin, mit der Zeitmaschine zurückzureisen, zu beobachten, wo die Kugel versteckt wurde und sie unschädlich zu machen. Sie wurde in der Epoche der Legenden auf die Erde gebracht, in der Märchen Wirklichkeit waren. Alisa will in Begleitung Gromozekas die Mission ausführen. Ihren Frosch, den sie für eine verzauberte Prinzessin hält, lässt sie in der Obhut des Märchenskeptikers Zelenyj zurück. Im Märchen gelandet, treffen Alisa und Gromozeka auf den Menschenfresser, den Pferdefresser, Kaščej und die Baba-Jaga, und sie retten den aufgeweckten Jungen Gerasik, den die vier verspeisen wollen. Während Gromozeka die Bösewichte in Schach hält, ziehen die Kinder los, das Raumschiff der feindlichen Außerirdischen zu suchen. Wenig später finden sie es und beobachten heimlich, wie die Besatzung aussteigt. Das Auftauchen von Alisas Bekannten, dem Zauberer Uuuch, erschreckt diese jedoch, und das Raumschiff droht fortzufliegen – gerade noch rechtzeitig schmuggelt sich Alisa mit einer Tarnkappe des Zauberers an Bord und kann so beobachten, wo die Kugel versteckt wird und sie dann an sich nehmen. Gerasik lehnt ab, mit in die Zukunft zu reisen – dort sei es ja langweilig, weil alles schon erfunden sei, und so kehren Gromozeka und Alisa alleine dorthin zurück. Während sie noch überlegen, wie sie die Kugel unschädlich machen können, erscheint Uuuch und wirft sie Richtung Sonne, wo sie verglüht. Er ist aus der Vergangenheit gekommen, um Alisa zu sagen, dass Liebe die Prinzessin erlösen kann. Zelenyj hat dies jedoch schon selbst bemerkt – aus dem Frosch ist eine junge Frau geworden. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die Szenen auf dem Raumschiff in der Zukunft sind in einer aufwendig gestalteten futuristischen Studiokulisse gedreht. Gromozeka wird als großer bärtiger Mann mit sechs Armen dargestellt. Bei den Szenen in der Epoche der Legenden hingegen dient als Schauplatz ausschließlich die Natur, die von mit Puppentrick verwirklichten exotischen Märchen- und Urzeit-Tieren in (Über-)Lebensgröße bevölkert ist. Die Kostüme der Märchenfiguren werden mit einfachen Mitteln als eine Mischung aus steinzeitlicher und märchenhafter Ästhetik präsentiert. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Die zugrundeliegende Erzählung Kir Bulyčevs, in der seine bekannteste Heldin Alisa Selezneva im Mittelpunkt steht, entstammt einer Trilogie, die in Crossover-Form (über Zeitreisen) Elemente der Science Fiction mit Semantik aus dem Märchen verknüpft. Es gibt Querbezüge zu den vorhergehenden Erzählungen Zapovednik skazok und Kozlik Ivan Ivanovič, die der Film teils beibehält, teils eliminiert – so ist im Film die Rede davon, dass Alisa schon einmal in die Epoche der Legenden gereist ist, was in Kozlik Ivan Ivanovič geschah. Hier fand auch ihr erstes Zusammentreffen mit dem Jungen Gerasik statt, während sie sich im Film das erste Mal zu treffen scheinen. Die vier Märchenbösewichte, die nur dem Namen nach mit den entsprechenden Folklorefiguren verwandt sind, entstammen ebenfalls

462 den Vorgängererzählungen, in der Erzählung Lilovyj šar treten nurmehr Baba-Jaga und Menschenfresser auf. Ansonsten ist der Film bei den Abenteuern in der Epoche der Legenden annähernd vorlagengetreu, wenn die Ereignisse auch mit Detailkürzungen und in äußerst geraffter Form präsentiert werden. Die Handlung in der Zukunft wird dagegen leicht modifiziert und variiert, der Wanderplanet wird durch ein verlassenes Raumschiff ersetzt, und insbesondere wird als zusätzliche Figur Kapitän Zelenyj834 eingeführt – und zusammen mit diesem auch die in einen Frosch verwandelte Zarewna und deren Erlösung, womit das Sujet des bekannte Märchens von der Froschprinzessin (AaTh 402)835 anzitiert wird.

Она с метлой, он в черной шляпе... [Sie hat einen Besen, er einen schwarzen Hut...] UdSSR – Russland 1987; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Vitalij Makarov; Drehbuch: Nina Fomina Darsteller: Marija Evstigneeva, Aleksandr Friš, Michail Svetin, Nina Ruslanova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Dem Märchenschreiber Zjablik fallen keine Märchen mehr ein, nur Überschriften dazu. Seine Frau Vasilisa ist der Meinung, er brauche eine Zaubermütze, die ihm das Denken abnimmt. Unterdes landet eines von Zjabliks Papieren im Märchenwald bei der Tochter der Baba-Jaga – sie versteht die Überschrift „Kaufe Zauberlampe“ als Aufforderung, und da sie mit dem Sohn von Koščej im Zwist steht, der sie zur Heirat drängen will, flüchtet sie mitsamt ihrer Zauberlampe zu den Menschen. In Zjabliks Wohnhaus lernt sie den Medizinstudenten Aleksej kennen, der ihr gleich sympathisch ist. Vasilisa Zjablik dagegen weist sie schroff ab – sie bräuchten keine Lampe, sondern eine Mütze. Da wünscht sie sich rasch von dem Zauberer, der in der Lampe sitzt, eine solche Mütze, stellt die Lampe aber vor der Wohnung Aleksejs ab. Kaum trägt Zjablik die Mütze, fallen ihm auch schon jede Menge Märchen ein. Kurz darauf erscheint Koščejs Sohn, sorgt für gehörigen Wirbel und stiehlt die Zaubermütze, um seinen eigenen Hut dazulassen. Darauf bedrängen die Zjabliks Baba-Jagas Tochter, die Zauberlampe zurückzuholen. Diese hat mittlerweile Aleksejs kleiner Bruder Jura, und er hat sich mit dem Zauberer angefreundet. Als nun Baba-Jagas Tochter vor der Tür steht, wird sie von Aleksej, Jura und dem Zauberer sehr freundlich empfangen. Sie beschließen, die Lampe zum Altmetall zu geben, damit der Zauberer frei wird. Aleksej und Baba-Jagas Tochter aber verlieben sich ineinander. Unterdes hat Zjablik den Hut von Koščejs Sohn aufgezogen – da wird er plötzlich unsichtbar, und der Hut lässt sich nicht mehr abnehmen. Baba-Jagas Tochter kann dagegen nichts ausrichten, genausowenig wie Aleksej, der keine Diagnose für die „Krankheit“ findet. Der Zauberer aber weiß, dass sie von Eigennutz hervorgerufen wird und dagegen keine Magie hilft. Vasilisa jagt böse Baba-Jagas Tochter fort. Als sie traurig vor ihrer Hütte sitzt, erscheint Koščejs Sohn bei ihr – er will sie immer noch heiraten, doch sie bringt ihn mit einer List dazu, sich in einen Marienkäfer zu verwandeln, den ihr Rabe auffrisst. Da erwacht Zjablik daheim auf seinem Sofa – er scheint alles nur geträumt zu haben und erkennt darin ein gutes Sujet für ein neues Märchen. Da erscheint ihm auf einmal Koščejs Sohn als Spuk, und kurz darauf sieht er, wie Baba-Jagas Tochter bei Aleksej klingelt und die beiden gemeinsam fortgehen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Stereofilm (3D). Die Märchenwelt, in deren Zentrum die Hütte von Baba-Jagas Tochter auf Hühnerbeinen steht, ist hochgradig stilisierte Studiokulisse. Weitestgehend naturalistische Darstellung der zeitgenössischen Realität, wobei die vollgestopfte Wohnung der Zjabliks auch

834 Auch dieser ist aus den Alisa-Erzählungen bekannt, aber kommt in der ganzen Skazki-Trilogie nicht vor. 835 Vgl. dazu Vasilisa Prekrasnaja (1939).

463 einige altertümlich-folkloristische Möbel und Dekorationen enthält. Die drei Figuren aus der Märchenwelt tragen exzentrische Kostüme, die Anklänge an die Mode der 80er Jahre aufweisen und ikonographisch die entsprechenden Folkloreäquivalente eher verfremden. Die Wunderlampe ist eine Gaslampe, in deren Glaskuppel der tricktechnisch verkleinerte Zauberer erscheint, sobald man sie aufdreht. Der sprechende Rabe wird durch Puppentrick dargestellt. Der Film enthält zahlreiche Musiknummern im Disco-Stil der 80er Jahre. Märchen- und Folklorebezug: Folkloremutation. Der surreal-komische Film ist über das Verfahren des Crossover-Märchens nur sehr lose mit Folklore verknüpft. Bei den beiden Antagonisten aus der Märchenwelt besteht eine Verbindung zu den Figuren Baba-Jaga und Koščej836 sogut wie nur „dem Namen nach“. Die magischen Kopfbedeckungen und ihre jeweilige Wirkung sind stark transformierte Märchenmotive (vgl. Mot. D1067.2. Magic cap, D1300.2. Cap gives magic wisdom; D1067.1. Magic hat, D1361.14. Magic hat renders invisible); annähernd „klassisch“ traktiert, wenn auch durch die Freilassung etwas ausfabuliert837, wird dagegen das Motiv des Lampengeists (vgl. Mot. D1421.1.5. Magic lamp summons genie). Die Überwindung Koščejs ist eine Variation der bekannten List des gestiefelten Katers (vgl. Mot. K722. Giant tricked into becoming mouse).

Последняя ночь Шахерезады Scheherezades letzte Nacht UdSSR – Tadschikistan/Syrien 1987; Tadžikfiľm/Ganemfilm/Sovinfiľm. Regie: Tachir Sabirov; Drehbuch: Valerij Karen, Tachir Sabirov. Darsteller: Elena Tonunc, Tachir Sabirov, Ulugbek Muzaffarov, Tamara Jandieva u.a. Vorlage: Rahmenhandlung und Märchen von Maruf dem Schuhflicker aus 1001 Nacht (siehe Novye skazki Šacherezady, 1986) sowie Wilhelm Hauff: Die Errettung Fatmes (Hauff 1986, S. 58- 77; aus dem Zyklus Die Karawane, 1825). Inhaltsangabe: Dritter Teil einer Trilogie838, direkte Fortsetzung von Novye skazki Šacherezady. Maruf trifft mit seiner Karawane ein und erscheint vor dem Kalifen. Dieser willigt nun ein, ihm Ėsmėgjuľ zur Frau zu geben. Der böse Wesir Džaffar will jedoch beweisen, dass Maruf ein Hochstapler ist. Er lässt Ali foltern und erfährt so, dass Maruf vor seiner Frau Fatima geflüchtet ist. Er lässt diese entführen und in den Palast bringen, wo sie ihre Ansprüche auf Maruf geltend macht. Maruf lässt sie von dem Dschinn in einen Affen verwandeln. Der Kalif hat unterdes Vorbehalte gegen Maruf, dessen Geschichte er kennt, und Džaffar soll ihm seinen Zauberring entwenden, was ihm auch gelingt. Doch statt den Ring dem Kalifen zu geben, versetzt er diesen zusammen mit Maruf in eine weit entfernte Wüste, um sich selbst zum Kalifen ausrufen zu lassen. Er bedrängt nun Ėsmėgjuľ, seine Frau zu werden. Außerdem soll Scheherezade nun ihm ihre Märchen erzählen. Diese kann ihn mit einer List dazu bringen, den Ring abzulegen, und Ėsmėgjuľ nimmt ihn an sich. Der Dschinn verwandelt für sie Džaffar in eine Echse und bringt den Kalifen und Maruf zurück. Sie gerät mit Maruf in Streit, und dabei rutscht ihr der Ring vom Finger und landet wieder bei ihm. Er wünscht sich vom Dschinn, dass er sie auf seinem Rücken nach Misra fliegt. Auf dem Flug geht der Streit zwischen den beiden weiter, bis der Dschinn genug hat und Ėsmėgjuľ zu Tiuli-Kos versetzt. Er erklärt Maruf, dass es an ihm selbst sei, sie zu retten. Maruf zieht los. Er rettet einen Mann,

836 Der Film benutzt diese Schreibung, die neben der Form Kaščej auch im Volksmärchen vorkommt. 837 Vgl. dazu auch Volšebnaja lampa Aladina (1966). 838 Mit I ešče odna noč’ Šacherezady (1984) und Novye skazki Šacherezady (1986).

464 von dem er erfährt, dass Tiuli-Kos ein alter Greis ist, der verrückt nach jungen Frauen ist und deshalb einen riesigen Harem besitzt, in dem sich nun auch Ėsmėgjuľ befindet. Außerdem will er an die Wurzel der Jugend herankommen. Maruf gibt sich als Wunderarzt aus und behauptet, diese zu besitzen. Tiuli-Kos empfängt ihn, und er erfährt dessen eigentliches Problem: Seine Haremssklavinnen verachten und verspotten ihn. Maruf schiebt dies auf eine Krankheit der Schönen, die er heilen müsse. Er verabreicht Ėsmėgjuľ, mit der er sich vorher versöhnt hat, einen Trank, der ihren Scheintod herbeiführt. Nach einigen Verwicklungen wird sie in die Wüste gebracht, wo sie dann aufwacht und mit Maruf glücklich vereint ist. Nun ist auch der Dschinn wieder zur Stelle, der sie auf ihren Wunsch nach Misra in Marufs Schusterwerkstatt bringt und auch die anderen Sklavinnen von Tiuli-Kos befreit. Scheherezade beendet ihre Erzählung. Filmgestaltung, Besonderheiten: Opulente, detailreiche und farbenfrohe Ausstattung mit vielen Massenszenen, die die Handlung in einer diffusen, exotisch-orientalischen Vergangenheit ansiedelt. Dialoge stellenweise in Versform. Filmtricks und Spezialeffekte kommen zum Einsatz, so etwa bei der Darstellung des riesigen Dschinns und bei den Flügen der Helden mit ihm durch die Lüfte sowie bei der Darstellung eines Drachen, der den Kalifen und Maruf in der Wüste bedroht. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption (AaTh 560; siehe I ešče odna č’ Šacherezady, 1986) + Folkloremutation. Der Film führt zunächst den Handlungsstrang aus dem Märchen von Maruf aus 1001 Nacht zu Ende, der im Vorgängerfilm begonnen wurde, im Anschluss wird dann relativ nahtlos mit den Figuren daraus das Sujet von Wilhelm Hauffs Die Errettung Fatmes wiedergegeben. Wie schon in den vorherigen Filmen der Trilogie verschwimmen die Grenzen zwischen Rahmenhandlung und eigentlicher Erzählung. Die Ereignisse aus dem Märchen von Maruf werden dabei modifiziert und auch in ihrem zeitlichen Ablauf umgestellt: In der Vorlage erscheint Marufs frühere Frau erst nach dem Tod der Prinzessin – sie schmeichelt sich bei ihrem Mann ein, wird jedoch beim Versuch, den Zauberring zu stehlen, von seinem Sohn ertappt und getötet. Dem voraus geht die Geschichte um den bösen Wesir, der den Ring an sich bringt und Unheil stiftet. Während im Film Scheherezade die List ersinnt, um ihm den Ring zu stehlen, ist dies im Märchen das Verdienst der Prinzessin, die ihn im Folgenden auch bis zu ihrem Tod behält, da sie dies für sicherer hält, als ihn Maruf oder ihrem Vater zu geben. Der Film setzt an diese Stelle den Streit zwischen Maruf und Ėsmėgjuľ und den Zorn des Dschinns darüber – dies dient als Übergang zu den Ereignissen des Hauff-Märchens: Ėsmėgjuľ wird in den Harem von Tiuli-Kos versetzt. Bei Hauff wird die Schwester des Helden von Piraten entführt und an Thiuli-Kos (der Name bleibt im Film) verkauft, und der Held macht sich auf die Suche nach ihr. Im Film ist entsprechend das zentrale Motiv839 variiert (vgl. Mot. H1385.3. Quest for vanished wife (mistress)). Die Abenteuer, die der Held des Hauff-Märchens bei einer Räuberbande erlebt, adaptiert der Film nicht, der Auftritt Marufs als angeblicher Arzt und die List, mit der Ėsmėgjuľ befreit wird, entspricht jedoch recht genau dem Versuch, der in der Vorlage zur Rettung Fatmes unternommen wird – leicht ausgeschmückt, insbesondere durch das Motiv der Wurzel der Jugend (vgl. Mot. D1338.2.2. Root of eternal youth). In der Vorlage schlägt der Versuch fehl, und es muss erst ein neuer Plan ersonnen werden – im Film dagegen klappt die Rettung auf Anhieb, und die Ereignisse werden mit der Versöhnung und Wiedervereinigung der Liebenden zu Ende geführt. Schon bei Hauff ist eine märchenhafte Struktur nur in Ansätzen vorhanden, der Film reduziert sie auf ein Minimum: Die Entführung der Heldin entspricht einer Schädigung, deren Beseitigung und der Weg dorthin entsprechen jedoch nicht dem Propp’schen Schema und tragen eher Abenteuercharakter.

839 Mot. H1385.6. Quest for lost sister.

465 Сказка о прекрасной Айсулу Das Märchen von der schönen Aisulu UdSSR – Kasachstan 1987; Kazachfiľm. Regie: Rustem Tažibaev, Viktor Čugunov; Drehbuch: Nina Davydova, Rustem Tažibaev, Viktor Čugunov. Darsteller: Saule Žumartova, Sagi Ašimov, Kenes Nurlanov, Raisa Muchameďjarova u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Chan Taukeľ ist in Schwermut verfallen. Seine bösartige Schwester Karašaš kann im Reich nach ihrem Willen schalten und walten – das Volk hat unter ihr zu leiden. Um sich abzulenken, geht Taukeľ auf die Jagd und sieht einen Lautenspieler, der mit seinem Lied eine Erinnerung in ihm wachruft: Auf der Jagd war es auch, als er ihn das erste Mal getroffen hat – Žaksygeľdy, den Pferdehirten, der die Tiere versteht und dessen Laute Zauberkräfte hat. Bald darauf lernte er auch dessen Zwillingsschwester kennen, die schöne Ajsulu, die sich mit Pflanzen auskennt und mit ihren Hände heilen kann. Er verliebt sich in sie, und gegen den Widerstand von Karašaš nimmt er sie zur Frau. Žaksygeľdy, der Taukeľs Freund geworden ist, zieht zu ihnen in den Palast. Bald schon macht sich Ajsulus Einfluss auf Taukeľ bemerkbar: Er weist Karašaš für ihr grausames Handeln zurecht und will keine Feldzüge mehr des Eroberns willen machen. Ajsulu wird von ihm schwanger. Taukeľ muss wegen Friedensverhandlungen für längere Zeit fortziehen, und Žaksygeľdy begleitet ihn. Ajsulu bekommt zwei Kinder, doch Karašaš nimmt sie ihr heimlich fort und tauscht sie durch Hundewelpen aus. Žaksygeľdy kommt früher als erwartet zurück und bekommt gerade noch mit, wie die neugeborenen Kinder in einer Truhe fortgeschafft werden. Er nimmt die Verfolgung auf, wird jedoch von einem Diener von Karašaš getötet, und die Truhe treibt im Wasser davon. Unterdes wird Ajsulu, die wahnsinnig geworden ist, als Hexe aus dem Palast vertrieben. Sie findet die Leiche Žaksygeľdys und holt ihn durch Handauflegen ins Leben zurück. Die Truhe wird unterdes von Ajsulus und Žaksygeľdys Eltern gefunden, und sie nehmen die darin befindlichen Säuglinge bei sich auf. Der gramgebeugte Žaksygeľdy kommt nach Jahren zu ihnen – auch Ajsulu ist bei ihnen gestrandet. Als Žaksygeľdy die Kinder sieht, die inzwischen herangewachsen sind, und erfährt, wie sie gefunden wurden, begreift er die Zusammenhänge. Ajsulus Verstand wird wieder klar. Durch Žaksygeľdys Lied erwacht Taukeľ wie aus einem Traum: Er findet Ajsulu wieder und schließt seine Kinder in die Arme. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistisch-folkloristische Gestaltung. Als Schauplätze dienen der eher düstere Palast und die lichtdurchflutete Natur mit Wald, Berg- und Steppenlandschaften. Auffällig starker Einsatz von Blendetechnik, mit der Flashbacks, Visionen, traumhaft-surreale Sequenzen, emotionale Momente ausgedrückt werden. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh 707 The Three Golden Sons = ATU 707 The Three Golden Children = AA/SUS 707 Čudesnye deti; AaTh/ATU 712 Crescentia. Eine bestimmte Volksmärchenquelle konnte nicht ausfindig gemacht werden; es liegen jedoch eindeutige Parallelen zu den Märchen von der verleumdeten Ehefrau vor (Mot. K2110.1. Calumniated wife) – insbesondere zu AaTh 707, woran u.a. der Zug der aus dem Weg geschafften und durch Welpen ersetzten Neugeborenen erinnert (Mot. S301. Children exposed; K2115. Animal-birth slander; vgl. dazu Kaz. sk. I, S. 33-46), aber auch zu AaTh 712: Dort wird die Heldin von ihrem königlichen Schwager verleumdet, im Film ist es die Schwägerin (Mot. K2212.2. Treacherous sister-in-law); und wie in diesem Typ verfügt die Heldin über

466 besondere heilerische Kräfte (Mot. D2161. Magic healing power). Die Auflösung ist in beiden Typen gleich und findet sich auch im Film: Der Held, die verstoßene Heldin und deren Kinder werden wiedervereint (Mot. S451. Outcast wife at last united with husband and children). Als Erweiterung im Sinne von Variantenbildung ist Žaksygeľdy zu betrachten, der Musikant mit der Zauberlaute (Mot. D1232. Magic lute), der wie seine Schwester auf besondere Weise mit der Natur verbunden ist – sie kennt sich mit Pflanzen aus, er versteht die Sprache der Tiere (Mot. B216. Knowledge of animal languages).

Сказка про влюбленного маляра Das Märchen vom verliebten Maler UdSSR – Russland 1987; Lenfiľm. Regie: Nadežda Koševerova; Drehbuch: Michail Voľpin, Valerij Frid. Darsteller: Nikolaj Stockij, Nina Urgant, Oľga Volkova, Valerij Ivčenko u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Maler Makar wird angeheuert, einen heruntergekommenen Palast neu zu streichen. Dabei sieht er eine junge Frau, die eine Krone anprobiert, und verliebt sich in sie. Da er sie aber für die Königin hält, glaubt er, dass die Liebe hoffnungslos ist. Er erfährt, dass der Sohn der Königin des Nachbarreichs vor langer Zeit von Kaščej Bessmertnyj geraubt wurde und sie vor Kummer blind geworden ist. Darauf beschließt er, sich als der Sohn auszugeben und so zum Prinzen zu werden, damit er um seine Königin freien kann. Der Betrug gelingt, doch schon bald holt Makar sein schlechtes Gewissen in Form von einer Vision seiner Liebsten ein – er gesteht darauf der blinden Königin nicht nur die Wahrheit, sondern verspricht, ihr ihren Sohn zurückzubringen. Auf dem Weg zu Kaščej begegnet ihm ein Lešij, der ihm eine Zaubermütze und ein Krähenei schenkt und ihn zur Baba-Jaga schickt. Diese wiederum gibt ihm einen Vogel, der ihm den Weg zum Versteck von Kaščejs Tod zeigt, und eine Flöte, nach der jeder tanzen muss. Kurz darauf findet Makar Kaščejs Tod, doch ein grimmiger Wächter hütet diesen streng, und er muss weiterziehen. Im Reich von Kaščej kann er dann mit seiner Flöte für Trubel sorgen und wird vor Kaščej selbst gebracht. Diesen kann er mit dem Krähenei in Panik versetzen – er glaubt, dass es das Ei ist, in dem sein Tod steckt. Im Austausch dafür ist er bereit, den Prinzen, den er in eine Schildkröte verwandelt hatte, zurückzuverwandeln und freizugeben. Er tut dies, doch Makar behält das Ei, damit Kaščej keinen Schaden mehr anrichtet. Zusammen mit dem Prinzen kehrt er zur blinden Königin zurück, die ihren Sohn glücklich in die Arme schließt und dabei ihr Augenlicht wiedererlangt. Makar will traurig fortziehen – der Prinz hält ihn jedoch zurück: Er erklärt ihn zu seinem Nennbruder, und damit sei er auch ein Prinz und würdig, um eine Königin zu freien. Gemeinsam brechen sie ins Nachbarkönigreich auf – dort stellt sich dann heraus, das alles ein Missverständnis war: Die dortige Königin ist ein wahres Scheusal, das Mädchen mit der Krone aber war nur eine einfache Kammerzofe. Sie willigt gerne ein, Makars Frau zu werden. Die ehemals blinde Königin und ihr Sohn wollen sie bei sich aufnehmen, doch die beiden beschließen, dass das Leben im Palast nichts für sie ist und sie lieber gemeinsam in der Welt herumziehen wollen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat. Die Kostüme stellen einen diffusen Mix aus Mittelalter, Barock, folkloristisch-russischen Elementen, Phantasiekreationen u.a. dar. Die Ausstattung ist ansonsten naturalistisch; ein großer Teil der Handlung findet in der in ästhetisch ansprechenden Bildern eingefangenen Natur des Waldes statt. Der Wächter von Kaščejs Tod spricht mit verzerrter Stimme. Kaščejs Reich wird als eine schmucklose weiße Stein- und Felsenlandschaft dargestellt. Der Thronsaal in seinem Schloss zeichnet sich dadurch aus, dass

467 er rhombenförmig ausgerichtet ist – der Thron und die Eingangstor befinden sich in den gegenüberliegenden Winkeln, während die Wände voller Gemälde sind, was den Saal besonders eng erscheinen lässt. Kaščej selbst ist zunächst auf dem Thron sitzend zu sehen, ein alter Mann mit einem vage an einen katholischen geistlichen Würdenträger erinnernden Kostüm mit weitem Talar, der mit überdimensional breiten Schultern ausgestattet ist – steht er jedoch auf, so kommt ein komischer Effekt zum Einsatz: Die Schulterapplikationen samt Talar bleiben am Thron zurück, und er offenbart seinen hageren Körperbau. In einer späteren Szene ist der Talar durch eine Art Ritterrüstung ersetzt, deren Schulterapplikationen ebenso am Thron befestigt sind. Die garstige Königin erscheint mit einer dicken Schminkschicht, völlig überfrachtetem Kostüm und mehrfarbiger Perücke, und sie zeichnet sich durch die Angewohnheit aus, mit dem Mund das Geräusch eines Maschinengewehrs nachzuahmen. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 1558 Welcome to the Clothes + AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Als Handlungsauslöser fungiert die Liebe Makars zur angeblichen Königin (vgl. Mot. T91.6.1. Lowly person falls in love with king (queen)) – ihretwegen will er durch Betrug die Identität eines Prinzen erschwindeln (vgl. Mot. J1766. One person mistaken for another). Hierin zeigen sich Parallelen zu literarischen und Kunstmärchen-Traditionen, etwa zum hochstaplerischen Helden von Wilhelm Hauffs Märchen vom falschen Prinzen, das einen schwankhaften Erzähltyp mutiert (AaTh 1558840; auch Mot. J1561.3. Welcome to the clothes, K1952. Sham prince (nobleman)). Die folgenden Ereignisse nach seiner Läuterung berufen sich klar auf das Kaščej-Märchen (SUS 3021), wenn auch Kaščejs Entführungsopfer hier untypischerweise männlichen Geschlechts ist und von ihm schon im Kindesalter geraubt wurde. Als märchenhafte Schenkerfiguren auf Makars Suchwanderung treten der Lešij und die Baba-Jaga auf. Die Gaben der Baba-Jaga haben magischen Charakter (Mot. D1313. Magic object points out road; D1415.2. Magic musical instrument causes person to dance), während dies für die Geschenke des Lešij eher fragwürdig erscheint, auch wenn er behauptet, die Mütze helfe beim Denken (vgl. Mot. D1300.2. Cap gives magic wisdom). Mit dem Krähenei dagegen wird Kaščej überlistet (Mot. K1700. Deception through bluffing) – denn im Gegensatz zum Helden im Volksmärchen konnte Makar Kaščejs Tod zwar ausfindig machen (Mot. E713. Soul hidden in a series of coverings; E711.1. Soul in egg), aber nicht an sich bringen. Die folgenden Ereignisse, beginnend mit der Erlösung des Prinzen (vgl. Mot. D193. Transformation: man to tortoise (turtle)), sind freie Motivkombination; die Episode um die garstige Königin ist schwankhafte Erfindung des Films.

Ашик-кериб Kerib, der Spielmann UdSSR – Georgien 1988; Gruzija-fiľm. Regie: David Abašidze, Sergej Paradžanov; Drehbuch: Gija Badridze. Darsteller: Jurij Mgojan, Sofiko Čiaureli, Ramaz Čikchvadze, Konstantin Stepankov u.a. Vorlage: Michail Lermontov: Ašik-Kerib (1837/1846; Lermontov 1981, S. 175-182). Volksmärchen- paraphrase. Inhaltsangabe: Der Spielmann Ašik-Kerib liebt die schöne Maguľ-Megeri, doch weil er arm ist, verweigert deren reicher Vater seine Zustimmung zur Hochzeit. So beschließt Kerib, auf Wanderschaft zu gehen, um Reichtum zu erlangen, und seine Liebste will tausend Tage auf ihn warten. Sein

840 Vgl. dazu auch Schmitt 1993, S. 231.

468 Nebenbuhler Kuršud-Bek stiehlt Kerib jedoch seine Kleidung und behauptet in seinem Dorf, er sei ertrunken. Seine Mutter erblindet darauf vor Kummer. Unterdes wird Kerib von guten Menschen geholfen, und ein sterbender alter Spielmann segnet ihn, bevor er zu seiner Wanderung aufbricht. Er spielt auf der Hochzeit der Blinden und auf der Hochzeit der Taubstummen, wird Hofmusikant erst bei einem Pascha und dann bei einem Sultan und erlebt einige Abenteuer, die seine Rückkehr verzögern. Auf seine Gebete hin erscheint jedoch ein Heiliger auf einem weißen Pferd, der ihn in Windeseile zurück in seine Heimat versetzt – er gibt ihm Geld und Wunderstaub von den Hufen seines Pferdes mit. Tausend Tage sind vergangen. Gerade soll Maguľ-Megeri an Kuršud-Bek verheiratet werden. Kerib erscheint, doch Kuršud-Bek will nicht glauben, dass er es ist, und er wird verlacht, als er erzählt, wie schnell er die große Entfernung nach Hause zurückgelegt hat. Da lässt Kerib seine blinde Mutter herbeibringen, der er mit dem Staub das Augenlicht wiedergibt. Nach diesem Wunder zweifelt niemand mehr an seinen Worten. Seiner Hochzeit mit Maguľ-Megeri, die sich schon vor Verzweiflung das Leben nehmen wollte, steht nun nichts mehr im Wege. Filmgestaltung, Besonderheiten: Anspruchsvoll-exzentrische Filmkomposition, die das Sujet mit minimalistischem Dialogeinsatz und kraftvoller symbolischer Bildsprache erzählt, die mit leuchtenden Farben operiert und oftmals durch die Mis-en-scène, die Anordnung der Einzelelemente eines Bilds, an Gemälde (Stilleben und Tableaux vivants) erinnert; in Kapitel eingeteilt, deren Übergänge mit Zwischentiteln markiert sind.841 Zahlreiche Volksgesänge werden zur musikalischen Untermalung verwendet. Als Kulisse dient mehrheitlich die Natur und verschiedene Ruinen. aufwendig und detailreich gestaltet sind die Kostüme, die aserbaidschanische Trachten nachempfinden, und folkloristischen Requisiten. Teilweise werden Masken, theaterhafte Schminke und andere Verfremdungseffekte eingesetzt; insbesondere auffällig ist ein Tiger, den zwei Schauspieler in einem Tigerfell verkörpern, sowie zwei Anachronismen – in der Szene beim Sultan ist der Klang von Maschinengewehren zu hören; in der letzten Einstellung wird eine Filmkamera gezeigt, auf der sich eine Taube niederlässt. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenadaption: AaTh/ATU 974 The Homecoming Husband = AA *891/SUS 974 Muž na svaďbe svoej ženy. Lermontovs Erzählung paraphrasiert ein aserbaidschanisches Volksmärchen, das dadurch erstmals literarisch festgehalten wurde und sich AaTh 974 zuordnen lässt. Der Film variiert insbesondere den Beginn: Hier ist es der Vater der Braut, der seine Zustimmung zur Hochzeit verweigert, während es bei Lermontov Ašik-Keribs eigener Wunsch ist, sieben Jahre auf Wanderschaft zu gehen und sich Reichtum zu erarbeiten, damit er Maguľ-Megeri in nichts verpflichtet ist. Die Wanderschaft selbst ist vom Film stark ausfabuliert, insbesondere sind die Episoden um den sterbenden alten Spielmann, die beiden Hochzeiten, auf denen Ašik-Kerib aufspielt, und der zweite Herrscher Einfügungen: Hier nutzt Paradžanov einerseits die Möglichkeit, traditionelle aserbaidschanische Volksgesänge sowie Bräuche in eigenwilliger Form zu ästhetisieren, andererseits in ornamentaler Bildsprache seine individuellen künstlerischen Visionen zu verwirklichen. Eliminiert aus der Vorlage wurde die Schüssel, die Maguľ-Megeri Ašik-Kerib zukommen lässt, um ihn an sein Versprechen zu erinnern und zur Rückkehr zu bewegen, sowie die Episode, in der Ašik-Kerib nach Hause zurückkehrt und ihm seine eigene Mutter seine Identität nicht glaubt, da sie ihn für tot hält. Weitgehend vorlagengetreu sind dagegen sowohl die Begegnung Ašik-Keribs mit dem Heiligen, der ihn nach Hause versetzt (Mot. D2122. Journey with magic speed), als auch die Ereignisse auf der Hochzeit, in der der Held schließlich durch die magische Heilung seiner Mutter (Mot. D935.3. Magic dust; F952. Blindness miraculously cured) dieser und allen anderen die Wahrheit seiner Worte beweisen kann und mit seiner treuen Braut wiedervereint

841 Vgl. Legenda o Suramskoj kreposti (1984).

469 wird – es fehlt jedoch die versöhnliche Vereinigung Kuršud-Beks mit Ašik-Keribs Schwester.

На помощь, братцы! [Zu Hilfe, Brüder!] UdSSR – Russland 1988; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Ivan Vasilev; Drehbuch: Sergej Bodrov, Ivan Vasilev. Darsteller: Sergej Kurbskij, Sergej Skripkin, Georgij Milljar, Nikolaj Oljalin u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zwei einfältige Zwillingsbrüder, einer schwarz-, der andere rothaarig, lieben beide die schöne Fekla, die Tochter des Woiwoden. Dieser aber will sie nur einem Recken zur Frau geben. Um solche zu werden, sind die Brüder sogar bereit, ein Bad in kaltem und kochendem Wasser und heißer Milch auf sich zu nehmen. Unterdes wird bekanntgegeben, dass der verwitwete greise Zar eine neue Frau sucht. Fekla ist fest entschlossen, Zarin zu werden. Der Zar aber will eigentlich gar nicht heiraten, da er um seine Macht fürchtet. Als die Höflinge ihn jedoch dazu drängen, erklärt er, dass er nur die Prinzessin aus dem weit entfernten dreimaldreizehnten Reich zur Frau will. Die Brüder werden dorthin geschickt, in der Hoffnung, dass sie zu dumm sind, die Prinzessin zu finden, und nicht wieder zurückkehren – dabei wird ganz vergessen, ihnen den Auftrag überhaupt mitzuteilen. Im letzten Moment schließt sich ihnen der Woiwode an. Sie landen tatsächlich im dreimaldreizehnten Reich, doch die Prinzessin hat kein Interesse an einer Hochzeit mit dem Zaren. Nacheinander stehen beide Brüder kurz davor, stattdessen mit ihr verheiratet zu werden und ihr Zwillinge zur Welt zu bringen, denn in dem Reich gebären die Männer. Unterdes hat jedoch der Woiwode Truppen um sich gesammelt, um die Prinzessin mit Gewalt zu entführen. Es kommt zu einer Schlacht, und ehe die Prinzessin sich ergibt und mitnehmen lässt, kommt der Rothaarige ums Leben. Der Schwarzhaarige aber wird von einem riesigen Fisch verschluckt. Nach vielen Jahren entsteigt er dessen Rachen. Er macht sich auf, um sich am Zaren zu rächen – muss aber feststellen, dass an dessen Stelle nun Fekla Zarin geworden ist. Die Prinzessin wiederum wurde von ihr zur Dienstmagd gemacht, doch sie hat im Volk Verbündete für sich gewonnen und plant den Aufstand. Fekla ist froh, dass der Schwarzhaarige zurückgekehrt ist, und sie will ihn zu ihrem Zaren machen. Er lehnt ab, da er ein Dummkopf sei – nur ein Recke könne es zu etwas bringen. So nimmt er denn schließlich das Bad in den drei Flüssigkeiten, doch es hat nicht den gewünschten Effekt – er kommt dabei um. Die Prinzessin verkauft seinen Tod als Märtyreropfer, und ihre Aufständischen übernehmen die Macht. Jahre später werden von einem Mann Zwillinge geboren – ein Schwarz- und ein Rothaariger, und alles beginnt von vorne... Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film beginnt mit einem Gogoľ-Zitat über einen Zwischentitel in ornamentaler Schrift. Anschließend ist in der ersten Einstellung ein lichtdurchfluteter Wald zu sehen, und volkstümliche Musik ertönt, die auf einmal durch die immer lauter werdenden Schmerzensschreie einer Frau durchbrochen wird, der eine andere Frauenstimme beruhigend zuspricht, ehe schließlich Kindergeschrei zu hören ist – auf diese Art und Weise wird die Geburt der Brüder dargestellt. Die Schluss-Szene entspricht diesem fast 1 : 1, wie auch sonst einige Elemente immer wieder auftauchen, teils variiert – so etwa auch eine fallende Glocke, der riesige Fisch. Nach der prologhaften ersten Szene folgt ein weiteren Zwischentitel, dann sieht man ein folkloristisches, „typisch russisch“ gestaltetes Dorf – traditioneller, idyllischer Märchenfilmästhetik entsprechend, die auch in den Kostümen vorherrscht, aber durch die Groteskheit des Inhalts ad absurdum geführt wird. Es wird viel nackte Haut gezeigt – insbesondere treten sowohl Fekla als auch die Prinzessin fast durchgängig halbnackt und

470 barbusig auf. Geschlechtsverkehr wird mehrfach angedeutet. Im dreimaldreizehnten Königreich sind, mit Ausnahme der Prinzessin, alle in Pseudo-Barock-Kostüme gehüllt und grotesk-theaterhaft geschminkt; eine lange Szene dort spielt auf einer Art Bühne vor Publikum. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh 531 Ferdinand the True and Ferdinand the False = ATU 531 The Clever Horse = AA/SUS 531 Konek-Gorbunok. Der Film weist sowohl in der syntaktischen Struktur als auch auf der semantischen Ebene märchenhafte Züge auf, doch beides wird mit Mitteln der Groteske höchstgradig verfremdet. Als Auslöser für die Haupthandlung dient die Entsendung der beiden Brüder. Ein Herrscher, der den Helden loswerden will und ihn deshalb auf eine Himmelfahrtsmission schickt (vgl. Mot. H1211. Quests assigned in order to get rid of hero), steht u.a. auch im Mittelpunkt vom Märchen vom Zauberpferdchen (SUS 531)842 – an dessen Ende wiederum steht traditionell das Bad des Helden in den drei Flüssigkeiten, durch das er zu einem prachtvollen Burschen wird (vgl. Mot. D1865.2. Beautification by boiling and resuscitation; D1866.1. Beautification by bathing). Diese Motive werden vom Film aufgegriffen, jedoch verzerrt und regelrecht dekonstruiert: Der Zar ist weniger daran interessiert, die Brüder loszuwerden – sein Hauptinteresse ist es vielmehr, dass sein Auftrag (vgl. Mot. H1381.3.1.1. Quest for bride for king) nicht erfüllt werden kann. Die Wahl fällt deshalb auf die Brüder, weil sie am unfähigsten erscheinen, ihn zu erfüllen, und die Aussicht, dass sie dabei umkommen können, wird eher nebenbei in Kauf genommen – als letzte Spitze wird ihnen der Zweck der Suchwanderung nicht einmal mitgeteilt. Als Spiel mit Genderrollen können die schwangeren Männer betrachtet werden (vgl. Mot. T578. Pregnant man). Der immer wieder auftauchende riesige Fisch lässt vielseitige Deutungen zu – in Bezug auf die Folklore kann er als Entlehnung aus dem Lügenmärchen (Mot. X1301. Lie: the great fish; X1723.1.2. Lie: man swallowed by fish and later rescued alive), aber auch als Parodie auf Zaubermotive vom hilfreichen Fisch als Symbol für trügerischen Wohlstand betrachtet werden (vgl. etwa Puškins Skazka o rybake i rybke; das Märchen von Emelja843 u.a.). Die einzigen annähernd positiven Figuren, die der Film aufweist, sind die beiden einfältigen Brüder, doch während im Volksmärchen die einfältigen Figuren auch die zum Glück Bestimmten sind, sind die Brüder hier durch ihre geradezu schmerzhaft naive Art letztlich zum Scheitern verurteilt: Der sehnliche Wunsch, durch ein Bad zu einem echten Recken zu werden, erweist sich nicht nur als töricht, sondern auch als verhängnisvoll.

Поляна сказок [Die Lichtung der Märchen] UdSSR – Ukraine 1988; Kinostudija im. A. P. Dovženko. Regie: Leonid Gorovec; Drehbuch: Kir Bulyčev. Darsteller: Nikolaj Stockij, Viktorija Korsun, Jurij Potemkin, Vladimir Nikolenko u.a. Vorlage: Kir Bulyčev: Nedostojnyj bogatyr’ (1970; Bulyčev 1997, S. 86-122). Inhaltsangabe: Der Fremdenführer Kuz’ma zeigt Touristen auf einer Busfahrt sein Heimatstädtchen Velikij Gusljar. In einer Pause schläft er ein und hat einen Traum: Das Denkmal des Stadtgründers wird enthüllt, das an einem Heißluftballon befestigt ist. Plötzlich aber wird der Ballon samt Denkmal fortgeweht, und mit ihnen zusammen Kuz’ma. Er landet bei einer geheimnisvollen

842 Vgl. Konek-Gorbunok (1941) und Konek-Gorbunok (1986). 843 Siehe Po ščuč’emu velen’ju (1938).

471 Höhle, wo er ein schönes Mädchen in einem Kristallsarg findet, das in einem Zauberschlaf liegt. Er erweckt sie mit seinem Kuss, und die beiden verlieben sich. Kuz’ma aber lebt in einem Wohnheim, und dort herrschen strenge Regeln: Mar’ja, die Schöne aus dem Märchen, darf nicht hinein. So lassen sich die beiden auf einer Waldlichtung nieder – Kuz’ma beginnt, für seine Liebste Märchenfiguren zu schnitzen und will eine Holzhütte bauen. Unterdes erklärt Batyev, der Direktor der Kulturbehörde, das über der Stadt fliegende Denkmal zu einer einmaligen Sehenswürdigkeit. Als er erfährt, was auf der Lichtung vor sich geht, die für ein Naherholungsgebiet gedacht war, wittert er eine neue Goldgrube – die Lichtung soll zu einem Märchenpark und Austragungsort für Massenveranstaltungen umfunktioniert werden. Kuz’ma soll Direktor des Parks werden, und außerdem wird ihm und Mar’ja eine eigene Wohnung versprochen. Dafür muss ihr Bund nur „offiziell“ gemacht werden – dass Mar’ja keine Papiere hat, spielt keine Rolle, denn dem Standesamt steht Batyevs Stiefmutter vor. Kuz’ma lässt sich von den schönen Reden einwickeln, doch Mar’ja fürchtet, dass der ihnen angebotene Apfel vergiftet ist. Kuz’ma willigt ein, Holzfiguren auf Staatsauftrag zu schnitzen und Eintritt für die Märchenlichtung zu verlangen. Bald finden sich darauf neben Märchenfiguren auch Helden der Arbeit, und Kuz’ma merkt gar nicht, dass er nach und nach Teil des bürokratischen, auf Profit ausgerichteten Systems wird. Mar’ja verlässt ihn – er findet sie schlafend in der Höhle wieder, doch diesmal kann er sie nicht wieder aus dem Zauberschlaf erwecken. Kuz’ma erwacht aus seinem Traum. Er versucht, mit Mar’jas Doppelgängerin, die unter den Fahrgästen im Bus ist, anzubandeln, doch diese meint spöttisch, er habe nicht einmal genug Geld, um sie ins Museum einzuladen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Rahmenhandlung, die sämtliche Ereignisse als Traum des Protagonisten erklärt. Naturalistische Darstellung der zeitgenössischen Realität. Mar’ja, die ein dezent folkloristisches Gewand trägt, wird zunächst in einer Höhle in einem Kristallsarg gefunden, was ikonographisch auf Puškins O mertvoj care i semi bogatyrjach844 verweist. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 709 Snow-White = AA/SUS 709 Volšebnoe zerkaľce (Mertvaja carevna). Von der phantastischen Erzählung Kir Bulyčevs, der sich auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, wird vom Film nur das Verfahren des Crossover-Märchens und die entsprechende Grundidee übernommen: Eine Märchenprinzessin erwacht aus ihrem Zauberschlaf (vgl. Mot. D1978.5. Waking from magic sleep by kiss) in der modernen Welt. Die Vorlage jedoch entwickelt ihre Dynamik daraus, dass der „Falsche“, ein unsympathischer Charakter, den erlösenden Kuss tut – der positive Held, der diesen bekämpft, tritt erst später auf den Plan. Die Prinzessin wiederum ist darin ein verwöhnter Teenager, und letztlich kommt es zu keiner ernsthaften Liebesgeschichte. Dabei vermischt die Erzählung Elemente aus zwei verschiedenen Typen, aus dem von Dornröschen (AaTh 410) und dem von Sneewittchen (AaTh 709), mit Schwerpunkt auf Ersterem – so wird z.B. die Prinzessin mitsamt ihrem Hofstaat erweckt. Der Film dagegen lässt nur zu AaTh 709 Bezüge erkennen: Nicht nur ist die Umgebung, in der Mar’ja erweckt wird, der Puškin’schen Variante entnommen, vor allem aber taucht immer wieder der vergiftete Apfel auf (vgl. Mot. S.111.4. Murder with poisoned apple) und wird als Symbol für die Korrumpierung durch das System verwendet. Dabei sieht man ihn stets in den Händen einer Frau, die Batyev einmal als seine Stiefmutter bezeichnet – auch das ein Verweis auf das Märchen. Приключения Арслана [Arslans Abenteuer] UdSSR – Usbekistan 1988; Uzbekfiľm. Regie: Georgij Bzarov; Drehbuch: Jurij Stepčuk

844 Siehe Osennie kolokola (1978).

472 Darsteller: Muchamedžan Rachimov, Tamilla Muchamedova, Dilorom Kambarova, Melis Abzalov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Der Waisenjunge Arslan gerät in Gefangenschaft bei dem bösen Zauberer Karašach und muss in dessen Steinbruch schuften. Hier erfährt er von einer guten Fee namens „Gewissen“, und er flieht, um sie zu suchen. Karašach setzt seinen Hund Šer auf seine Spur – dieser aber stürzt in eine Fallgrube. Als ihm Arslan aus Mitleid heraushilft, verwandelt er sich in einen Menschen: Seine Tiergestalt hatte er dem Zauber der Grausamkeit zu verdanken, mit dem ihn Karašach belegt hatte und von dem er nun erlöst ist. Er hilft Arslan, doch bald fällt er wieder in die Hände Karašachs. Unterdes erlöst Arslan im Laufe seiner Abenteuer den Waldgeist Lešak von seiner Verschlagenheit, das Mädchen Julduz von ihrer Selbstverliebtheit und schließlich deren Großvater, den Herrn der blauen Berge, von seiner Faulheit. Jedes Mal platzt dabei eine Perle in Karašachs magischem Rosenkranz und er verliert ein Stück seiner Macht. (2) Wütend kommt er in die Höhle des Herrn der blauen Berge, wo er eine Truhe versteckt hat – muss jedoch feststellen, dass diese fort ist: Seine Feindin Skolopendra hat sie an sich gebracht. Julduz folgt unterdes Arslan und will sich ihm als Gefährtin anschließen, doch dies lehnt er trotzig ab. Šer wird mit einem neuen Zauber belegt – dem der Gleichgültigkeit. So sieht er teilnahmslos zu, als Karašachs Diener die beiden Kinder in einen leeren Brunnen stoßen. Derweil kann Skolopendra Karašach seinen Rosenkranz abnehmen – sie weiß zwar nicht damit umzugehen, doch ihr Feind ist nun ohne Macht, und sie selbst nimmt seinen Platz ein. Unterdes löst sich der Zauber von Šer, und er rettet Arslan und Julduz. Auf der Suche nach Karašach treffen sie einen Fischer, der meint, sie zu ihm führen zu können – doch er ist mit dem Zauber der Lüge belegt und führt sie stattdessen zurück zu den blauen Bergen. Hier erfahren sie, dass Skolopendra alle Macht an sich gerissen hat. Auch die Truhe, in der sie die Fee vermuten, ist in ihren Händen. Arslan schleicht sich heimlich in die Höhle – hier wird er Zeuge, wie Skolopendra und Karašach sich um die Truhe streiten. Karašach offenbart, dass darin der Stein der Gerechtigkeit ist, ohne den die Menschen hilflos seien und der sie beide vernichten könne. Während sie miteinander kämpfen, kann Arslan den Schlüssel zur Truhe an sich nehmen und sie öffnen. Die Bösewichte sind besiegt und müssen ihre wahre Gestalt annehmen – sie werden zu einem Tausendfuß und zu einem Skorpion. Die Fee des Gewissens aber, erfährt Arslan, ist nun frei – sie lebt in jedem Menschen. Filmgestaltung, Besonderheiten: Als Hauptschauplatz des Films dient die Natur, Berg-, Wüsten und Steppenlandschaften, sowie eine dunkle Berghöhle. Die Kostüme der menschlichen Figuren sind eher folkloristisch gestaltet, die der Übernatürlichen sind skurrile Phantasiekreationen. Die Hauptfiguren werden jeweils durch musikalische Leitmotive begleitet. Eher einfache Filmtricks werden eingesetzt – so geht etwa vom magischen Rosenkranz ein Zeichentrick-Funkeln aus, Insekten und Kleingetier wird durch Puppentrick dargestellt. Märchen- und Folklorebezug: Neuer Erzähltyp/Folkloremutation. Auf der semantischen Ebene lassen sich im Film einige frei verwendete Märchenmotive erkennen, so etwa den zur Strafe in einen Hund verwandelten Šer (vgl. Mot. Q551.3.2.7. Punishment: transformation to dog) oder der Bestrafung der Bösewichte (Mot. Q551.3.2. Punishment: transformation into animal)845; einige erinnern nur vage an allgemeinere Motive, wie etwa der Rosenkranz (vgl. Mot. D801.1. Magic objects possessed by witch, sorcerer or evil dwarf). Die syntaktische Struktur ist in Ansätzen märchenhaft, sie wird jedoch erweitert und die Funktionen werden teilweise modifiziert: Arslan gerät durch einen hinterlistigen Betrug in die Hände Karašachs (vgl. MS VI-VII), dort

845 Vgl. dazu Korolevstvo krivych zerkal (1963), Poka b’jut časy (1976).

473 erfährt er von der Schädigung, die dieser vorgenommen hat – die Gefangennahme der Fee des Gewissens (MS VIII), und er entscheidet sich zur Gegenwehr (MS X). Seine Flucht kann als Variante des Aufbruchs (MS XI) gesehen werden. Die Begegnungen mit den von Karašach verzauberten Wesen entspricht einer Reihe von Prüfungen (MS XII), die er besteht (MS XIII) und durch die er (teils magische) Helfer gewinnt (MS XIV). Die ungeplante Rückkehr zu den blauen Bergen erweist sich als Erreichen des Bestimmungsortes (MS XV), wo der Kampf zwischen den Bösewichten den Kampf zwischen Held und Bösewicht ersetzt (MS XVI) – Arslan ist am eigentlichen Kampf nicht beteiligt, doch der Sieg ist letztlich auf seiner Seite (MS XVIII). Die Schädigung wird beseitigt (MS XIX), wobei diese Funktion modifiziert und symbolisch ausgedeutet wird: Nicht die Fee des Gewissens war in der Truhe, sondern der Stein der Gerechtigkeit – durch die Vernichtung der gewissenlosen Bösewichte hat Arslan die Gerechtigkeit wiederhergestellt, und das Gewissen der Menschen, für das die Fee nur eine Metapher war, hat er nach und nach in den Verzauberten wieder erweckt, und es wird in Zukunft verhindern, dass es zu erneuter Ungerechtigkeit kommt.

Раз, два — горе не беда! [Eins, zwei – da ist doch nichts dabei!846] UdSSR – Russland 1988; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Michail Juzovskij; Drehbuch: Julij Kim. Darsteller: Oleg Tabakov, Marina Jakovleva, Andrej Sokolov, Semen Farada u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Zar will seine Tochter Marija-Luiza dem Soldaten Ivan für seine Verdienste zur Frau geben. Ivan verzichtet jedoch auf die Zarewna, die ohnehin den Erfinder Danilov liebt, und bittet stattdessen um Urlaub, damit er seine Liebste Marusja heiraten kann. Der beleidigte Zar entlässt ihn darauf aus seinen Diensten – an seine Stelle tritt sein rüpelhafter Bruder Foma. Dieser ist eifersüchtig auf alles, was Ivan erreicht hat, und hat auch ein Auge auf Marusja geworfen. Unterdes trifft bei Hof der König Žan-Žan ein, der um Marija-Luizas Hand anhält. Die beiden Herrscher geraten jedoch in einen kindischen Streit, und Žan-Žan erklärt dem Zaren den Krieg und warnt ihn vor seiner Spezialwaffe – dem „Kleinen“ Karbaras. Unterdes soll die Hochzeit von Ivan und Marusja gefeiert werden – sie wird jedoch von Foma gestört, der Marusjas Mutter auf seine Seite ziehen konnte. Da trifft die Nachricht von der Kriegserklärung ein – einzig Foma ist darüber erfreut, denn nun kann er zeigen, was in ihm steckt. Karbaras stellt sich als riesiger Roboter heraus, dem Žan-Žan mit einer Pfeife Befehle geben kann. Danilov hat ein Strahlengewehr gebaut, das zerstörerische Kraft hat, allerdings nur auf kurze Entfernung funktioniert. Foma aber will ohne diese Waffe gegen Karbaras ziehen. In seinem Übermut zerstört er das „Ohr“ des Giganten – Žan-Žans Pfeife kann ihm nicht mehr Einhalt gebieten, er gerät außer Kontrolle und droht, alles zu vernichten. Die ehemaligen Gegner setzen nun all ihre Hoffnung auf den Soldaten Ivan. Mit vereinten Kräften können sie ein listenreiches Ablenkungsmanöver organisieren, so dass dieser sich Karbaras nähern und ihn mit dem Strahlengewehr beschießen kann. Es gelingt ihm, die Maschine zu zerstören, doch dabei wird er selbst tödlich verwundet. Seine Leiche wird in den Palast gebracht – nur ein ganzer Kelch voll Wasser des Lebens kann ihm noch helfen. Jeder im Reich besitzt davon eine kleine Menge für den Notfall – zuerst will niemand etwas abgeben, doch als Marija-Luiza und Danilov den Anfang machen, ziehen alle nach. Den letzten Tropfen steuert Foma bei. Der einzige Wunsch, den der wieder zum Leben erwachte Ivan hat, ist, dass sich die Herrscher versöhnen, damit es nie wieder zu so einem schrecklichen Krieg kommt.

846 Nahezu unübersetzbare Redewendung, wortwörtlich in etwa: „Eins, zwei – Kummer ist kein Unglück“.

474 Dem Wunsch wird entsprochen, und auch die beiden Liebespaare werden endlich vereint. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat. Der Vorspann wird von einem gesprochenen Prolog begleitet, in dem die einzelnen Figuren vorgestellt werden, während auf der Leinwand diesen nachempfundene folkloristische Puppen zu sehen sind – diese sieht man erneut beim Abspann. Der Film kombiniert in Steampunk-Manier traditionelle Märchenelemente frei mit futuristischen Anachronismen; die Kostüme und die Ausstattung stellen entsprechend eine Mischung aus diffuser Märchen-Vergangenheit und ebenso diffusem Futurismus dar. Das Dorf, in dem Ivan lebt, und seine Bewohner sind mit folkoristisch-russischen Zügen ausgestattet. Sehr aufwendig gestaltet ist der riesige Drachenroboter, und der action- und explosionsreiche Kampf bietet zahlreiche Schauwerte und Spezialeffekte. Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja. Der Film bedient sich recht ausgiebig des Stilmittels des Steampunk847 – die Handlung spielt in einer nicht konkretisierten Märchenvergangenheit, in der aber Errungenschaften des technologischen Zeitalters und sogar solche futuristischen Charakters ihren festen Platz haben: Dies manifestiert sich neben dekorativen Details insbesondere in zwei handlungswichtigen Elementen, der Figur des ferngesteuerten Roboters Karbaras und dem Laserstrahlengewehr als Wunderwaffe. Karbaras kann als verfremdeter Drache betrachtet werden (vgl. Mot. B11. Dragon; G346. Devastating monster. Lays waste to the land), und das Strahlengewehr übernimmt die Funktion des Zauberschwerts aus dem Drachentötermärchen (vgl. Mot. D1081. Magic sword). Zu Anfang des Films soll Ivan bezeichnenderweise insbesondere dafür belohnt werden, dass er einen Drachen getötet hat, und neben diesem Querverweis enthält der der Film auch verschiedene weitere Strukturparallelen zu AaTh 300: Der Auslöser für den Angriff auf das Zarenreich durch Karbaras ist darin zu sehen, dass dessen Besitzer Žan-Žan Ansprüche auf die Prinzessin stellt – wie der Drache in AaTh 300; und die Figur des Foma erinnert an den für diesen Typ charakteristischen falschen Helden – er behauptet jedoch nicht im Nachhinein, die Tat des Helden begangen zu haben848, sondern versucht sich selbst großspurig an einer Heldentat und scheitert daran nicht nur, sondern macht alles noch schlimmer, so dass es am Helden liegt, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Eine letzte Parallele besteht schließlich darin, dass auch Ivan nach seinem Sieg getötet wird und erst durch das Wasser des Lebens wiederbelebt werden muss (Mot. E80. Water of Life. Resuscitation by water). Ivans Wunsch nach Frieden stellt noch einmal die vorher zumindest latent präsente Antikriegsbotschaft des Films hervor.

Сказка о волшебном бисере Das Märchen von den Zauberperlen UdSSR – Turkmenien 1988; Turkmenfiľm. Regie: Iľmurad Bekmiev; Drehbuch: Svetlana Michaľčenko Darsteller: Tyllagozeľ Geľdyeva, Jusup Kuliev, Begenč Kunibekov, Berdy Aširov u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) Der Kaufmann Mamed nimmt erstmals seine Tochter Ajguľ und seinen kleinen Sohn Aman mit auf die Reise, damit sie etwas von der Welt sehen. Doch Ajguľ wird von einer seltsamen Krankheit befallen, so dass die beiden zurück in ihr Heimatdorf geschickt werden. Dafür will Mamed ihnen mitbringen, was sie sich wünschen – Ajguľ wünscht sich nur eine

847 Vgl. dazu auch Na zlatom kryľce sideli... (1986). 848 Mot. K1932. Impostor claims reward (prize) earned by hero.

475 Handvoll silberner Kunstperlen. Unterdes raubt ein böser Dev dem Kamelhirten Murad seine Herde, und er macht sich auf, sie zu suchen. Dabei kommt er ins Dorf von Ajguľ, die mit ihren Märchen Aman und seine Freunde unterhält. Die beiden verlieben sich. Der Dev lockt unterdes Mamed, der nirgendwo Silberperlen finden konnte, in eine Höhle. Dort findet dieser einen stummen zweiten Dev vor, der ihm einen ganzen Sack Perlen mitgibt. Zu Hause stellt Mamed jedoch fest, dass der Sack ein Loch hat. Die Spur der verlorenen Perlen aber zeigt dem bösen Dev den Weg ins Dorf, und er entführt Ajguľ. (2) Murad bricht auf, sie zu retten, und kurz darauf ziehen auch Aman und seine Freunde los. Sie haben Ajguľs Märchenbuch dabei, das ihnen bei manchem Abenteuer hilft. Murad findet auf seiner Suchwanderung die junge Gjuľdžemal, ebenfalls eine Gefangene des bösen Devs. Dieser quält sie mit seinem Liebeswerben und tötet sie, wenn sie sich dagegen wehrt, um sie danach ins Leben zurückholen. Sie verspricht Murad, vom Dev etwas über Ajguľ in Erfahrung zu bringen. Diese aber ist mit anderen Mädchen in der Höhle gefangen, die der zweite Dev bewacht. Aus ihren Tränen werden Silberperlen, die der böse Dev sammelt. Aman und seine Freunde treffen auf eine kauzige Einsiedlerin, die ihnen den Weg zur Höhle weist. Gjuľdžemal erfährt derweil durch einer List vom bösen Dev nicht nur Ajguľs Aufenthaltsort, sondern auch, wo die Seele des Bösewichts versteckt ist. Anschließend flieht sie mit Murad. Aman ist derweil mit seinen Freunden bei der Höhle angekommen und wagt sich mutig vor. Der zweite Dev erweist sich als gutartig – er ist selbst ein Gefangener des bösen Devs, und Aman kann sich mit ihm anfreunden. Nun treffen auch Murad und Gjuľdžemal ein. Die Seele des bösen Devs wird gefunden und zerstört. Ajguľ und die anderen Mädchen werden befreit, Gjuľdžemals Liebster, der in einen Kater verwandelt war, wird erlöst, und auch die Kamele tauchen wieder auf. Filmgestaltung, Besonderheiten: Die erste Einstellung des Films zeigt ein sich öffnendes Märchenbuch, in der letzten schließt sich dieses wieder – während des Films kommt ihm eine Schlüsselrolle zu. Eine männliche und eine weibliche Erzählerstimme kommentieren abwechselnd aus dem Off formelhaft die Handlung. Die Ausstattung ist folkloristisch-naturalistisch. Hauptkulisse sind Naturschauplätze, Steppen und Berglandschaften, in denen sich auch das Jurtendorf befindet, in dem die Helden leben, die Stadt mit Marktplatz sowie später die düstere Höhle des Devs. Der schwarzgekleidete böse Dev hat Menschengestalt, während der gute Dev maskenbildnerisch als ein haariges, tierhaftes Ungeheuer hergerichtet ist. Märchen- und Folklorebezug: Neue Erzähltypenvariante; siehe AaTh/ATU 425C Beauty and the Beast = AA/SUS 425C Alen’kij cvetoček + AaTh/ATU 302 The Ogre’s (Devil’s) Heart in the Egg = SUS 3021 Smerť Kaščeja v jajce. Der Film macht strukturelle Anleihen insbesondere bei zwei Märchentypen: Der erste Teil erinnert stark an das Märchen von der Schönen und dem Tier (AaTh 425C) – so findet sich auch hier der Kaufmann, der sich auf Reisen begibt und seine Kinder befragt, was er ihnen mitbringen soll, und der bescheidene, aber nur scheinbar leicht zu erfüllende Wunsch der Tochter (Mot. L221. Modest request: present from the journey). Unwissentlich besiegelt der Vater damit das Schicksal Ajguľs – eine Variante des Jephtah-Gelübdes (vgl. Mot. S240. Children unwittingly promised (sold)). Hier enden die Parallelen zu AaTh 425C, denn Ajguľ gerät nicht zu einem erlösungsbedürftigen Bräutigam, sondern wird von einem Bösewicht entführt – wie im Kaščej-Märchen (AaTh 302 bzw. SUS 3021). Diesem entspricht auch die Suchwanderung durch Murad (Mot. H1385.3. Quest for vanished wife (mistress)) sowie letztlich der Handlungsstrang um die Überwindung des Devs durch das Zerstören seiner Seele (Mot. E710. External soul; K975.2. Secret of external soul learned by deception; K956. Murder by destroying external soul). Über diese Grundparallelen zu den beiden Typen hinausgehend schmückt der Film mit verschiedenen semantischen Elementen aus, die frei verwendet werden, und enthält auch eine spielerische Anspielung auf das bewusst als

476 märchenhaft Wahrgenommene: Aman und seine Freunde, die Nebenhelden, bestehen ihre Abenteuer mit Hilfe des Wissens, das sie aus einem Märchenbuch haben.

Фантастическая история [Eine phantastische Geschichte] UdSSR – Ukraine 1988; Kinostudija im. A. P. Dovženko. Regie: Nikolaj Iľinskij; Drehbuch: Nikolaj Iľinskij, Gennadij Ėngstrem. Darsteller: Evgenij Knjazev, Konstantin Titov, Nataľja Tabakova, Goša Belen’kij u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der kleine Ole gerät in das Haus am Meer des einsamen alten Johannes, der ihm seine Lebensgeschichte erzählt: Einst war er als Erbauer von lebensechten mechanischen Puppen in ganz Europa berühmt. Er lernt die kranke junge Dana kennen, und sie verlieben sich und träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Im Casino gerät Johannes mit einem Fremden in Streit, den er bezichtigt, seinen Freund Halder beim Spiel betrogen zu haben. Kurz darauf steht der unheimliche pockennarbige Fremde vor der Tür, tötet Halder und warnt Johannes, dass er auch ihn töten würde. Johannes sucht Rat bei einem Zen-Meister, der ihn in der Kampfkunst unterrichten soll. Doch der Meister will ihn nicht lehren, da er nur an den Tod seines Gegners denke statt an das Gute und die Gerechtigkeit. Er selbst will an Johannes’ Stelle dem Fremden gegenübertreten. Es stellt sich heraus, dass dieser der Tod selbst ist. Der Meister gibt ihm sein Leben, fordert jedoch im Austausch dafür, dass Johannes die Möglichkeit haben soll, den Weg der Wahrhaftigkeit zu finden: Wenn ihm Reichtum, Ruhm und Annehmlichkeiten gleich seien und er ihm ohne Angst ins Angesicht sehen könne, dann dürfe er ihn holen. Kurz darauf erregt Johannes mit seinen Puppen, die satirisch der hohen Gesellschaft den Spiegel vorhalten, das Wohlwollen eines Kurfürsten, der ihm anbietet, in seine Dienste zu treten und für ihn mit seinen Puppen Feste zu gestalten. Johannes willigt ein. In einer Festtagsparade stellt er den Kurfürsten und seine Höflinge bloß, doch der Kurfürst schluckt seinen Ärger herunter. Kurz darauf wird Johannes Zeuge von dessen Grausamkeit, als er einen Dichter, der gewagt hat, ihn zu kritisieren, auf einem Ball wie zum Spaß erschießt. Er verschließt jedoch die Augen davor und gibt sich dem rauschenden Leben hin. Unterdes stirbt Dana an einer Erkältung, die sie sich zugezogen hat, als sie vergeblich auf ihn gewartet hat. Ihr Tod verbittert Johannes. Er widmet sein weiteres Leben dem Schiffsbau. Damit beendet er seine Erzählung. Als Ole ihn nach längerer Zeit wieder besucht, begegnet ihm der Pockennarbige. Er ist gekommen, um Johannes zu holen – dieser aber hat endlich Frieden gefunden. Er hat nur einen Wunsch, den ihm der Pockennarbige erfüllt: Die Puppe Danas erwacht zum Leben, und er lässt sich mit ihr trauen, um dann auf einem Schiff mit ihr davonzufahren, wie er es ihr einst versprochen hat. Filmgestaltung, Besonderheiten: Breitbildformat. Rahmen- und Binnenhandlung: Johannes erzählt Ole seine Lebensgeschichte, die in Form von langen Flashbacks gezeigt wird. Am Ende wird beides zusammengeführt. Die Kostüme und Ausstattung sowie die stilisierte Musik verweisen (wie auch die Namen) auf mittel- bzw. nordeuropäisches Barock, ohne genauer zu konkretisieren. Der Tod wechselt zwischen den Schnitten seine Gestalt: Mal ist er im Offizierskostüm und ohne weitere Auffälligkeiten im Gesicht, mal mit schwarzem Kapuzenmantel und großen Pockennarben zu sehen. Die beweglichen mechanischen Puppen werden durch Schauspieler verkörpert, die abgehackte Bewegungen und Redeweisen annehmen. Dramaturgischer Einsatz von düsteren Farben, Spiel mit Schatten und Halbdunkel, Farbfilter. Märchen- und Folklorebezug:

477 Folkloremutation. Zentrale Motive des Films entstammen der Folklore, insbesondere der personifizierte Tod (Mot. Z111. Death personified; vgl. auch Z111.5. Death (fate) assumes various forms to destroy men) und die menschenähnlichen automatischen Puppen (Mot. D1620.0.1. Automatic doll). Ihre Auswahl und Anordnung erinnern jedoch eher an das romantische Kunstmärchen, dem der Film auch in seinem düster-tragischen Grundton und seiner Symbolbeladenheit verhaftet ist. Der Pakt zwischen dem Tod und dem Zen-Meister, der das Leben von Johannes betrifft (vgl. Mot. M210. Bargain with devil), und die Dynamik, die sich daraus entwickelt, erinnern stark an die Faust-Sage und vor allem deren Bearbeitung durch Goethe, wenn auch in modifizierter Form.

Убить дракона Tod dem Drachen/Den Drachen töten UdSSR – Russland/BRD 1988; Mosfiľm/Bavaria Film/ZDF. Regie: Mark Zacharov; Drehbuch: Grigorij Gorin, Mark Zacharov. Darsteller: Aleksandr Abdulov, Oleg Jankovskij, Evgenij Leonov, Vjačeslav Tichonov u.a. Vorlage: Evgenij Švarc: Drakon (1943; Švarc 1972, S. 277-349). Inhaltsangabe: Der fahrende Ritter Lancelot kommt in eine Stadt, in der ein Drache lebt: Er herrscht hier schon mehrere 100 Jahre und gilt als großer Wohltäter. Jedes Jahr wählt er ein junges Mädchen aus, das ihm geopfert wird, und dieses Jahr ist seine Wahl auf Elsa gefallen, die Tochter des Stadtarchivars. Ihretwegen will Lancelot in der Stadt bleiben und beschließt, den Drachen zu töten. Da erscheint dieser auch schon selbst – er kann nach Belieben menschliche Gestalt annehmen. Lancelot fasst den Mut, ihn zum Kampf zu fordern. Das Recht, sich Unterstützung bei der Bevölkerung zu holen, das ihm schließlich gewährt wird, bringt ihm jedoch wenig – obwohl viele der Stadtbewohner unter der Despotie des unberechenbaren Drachen zu leiden haben, reden sie sich ein, es gehe ihnen gut und sie bräuchten keine Freiheit. Elsa soll Lancelot vor dem Kampf töten und wird deshalb von allen Seiten unter Druck gesetzt und eingeschüchtert. Ihre Gespräche mit Lancelot aber geben ihr Hoffnung, und zwischen den beiden keimt Liebe auf. Lancelot wiederum, der mehrfach selbst den Mut zu verlieren droht, ist endgültig zum Kampf bereit, als Elsa dem Drachen offen ihre Gefolgschaft verweigert und Lancelot ihre Liebe und ihren Glauben an ihn versichert. Der ungleiche Kampf beginnt, und Lancelot scheint gegen das fliegende und feuerspeiende Ungetüm chancenlos zu sein, als ihm unerwartet Hilfe von einer Gruppe von Leuten zukommt, die lange im Untergrund ausgeharrt haben. Sie verschaffen ihm ein Schwert, einen Heißluftballon und eine Tarnkappe, und nun wendet sich das Blatt: Lancelot kann den Drachen töten. Die Bevölkerung jubelt – doch die ungewohnte Freiheit hat Chaos und Gewalt in den Straßen zur Folge. Lancelot aber ist verschwunden. Der Bürgermeister, der in der Zeit des Drachen dessen Marionette war, nutzt die Gelegenheit, sich selbst zum Drachentöter zu erklären. Froh, wieder jemanden zu haben, an den sie glauben können, nehmen die Stadtbewohner seine Machtansprüche fraglos hin: Er wird Präsident. Nun will er die unglückliche Elsa heiraten. Im letzten Moment trifft Lancelot ein. Die Stadtbewohner knien nun vor ihm als ihrem neuen Herrn nieder – sie verstehen nicht, dass er sie nicht beherrschen, sondern ihnen Freiheit geben will. Er gerät in Rage, will jeden zwingen, den Drachen in sich selbst zu töten. Elsa jedoch weist seinen groben Antrag an sie zurück. Kurz darauf trifft er auf den wiederauferstandenen Drachen: Er hat eine Gruppe von Kindern um sich versammelt, denen gegenüber er sich als lieber Onkel zeigt. Lancelot fordert ihn erneut zum Kampf. Filmgestaltung, Besonderheiten:

478 Die Kostüme und Requisiten stellen einen wilden Stilmix dar, der teilweise altertümliche Züge aufweist, aber insbesondere auch anachronistisch Neuzeitliches aus verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts kombiniert; militärische, ordenbehängte Uniformen nehmen dabei einen besonderen Platz ein. Als Kulisse dient eine mittelalterliche Stadt mit einem Fluss sowie die sich vor der Stadt befindliche morastreiche Sumpflandschaft. Einer der Hauptschauplätze ist eine prächtige Domkirche im Zentrum der Stadt, die allerdings als Rathaus dient. Beim Drachenkampf bricht die Kirchspitze zusammen. In seiner Menschengestalt hat der Drache drei verschiedene „Gesichter“: Als nazihafter Offizier mit tiefer Narbe, Stahlhelm und schwarzem Mantel, als Dandy mit weißem Anzug und blondem Scheitel und als Samuraikrieger. Beim actionreichen Kampf nimmt er dann „Drachengestalt“ an – diese wird symbolisch durch ein undeutlich zu erkennendes Kriegsflugzeug dargestellt, das riesige Feuerbälle abschießt, die als Explosionen niedergehen. Ein viertes „menschliches Gesicht“ zeigt er in der letzten Szene als dezent gekleider, sympathischer bärtiger Onkel. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Erzähltypenmutation (über Vorlage); vgl. AaTh/ATU 300 The Dragon Slayer = AA 300A/SUS 3001 Pobediteľ zmeja. Der Theatervorlage von Evgenij Švarc lag kein bestimmtes Märchen zugrunde, doch verweist die syntaktische Stuktur klar auf den Typ vom Drachentöter, von dem auch sämtliche zentrale Motive enthalten sind: Die Jungfrau, die dem Drachen geopfert werden soll (Mot. S262. Periodic sacrifices to a monster), die Errettung ersterer durch den Kampf mit letzterem (Mot. R111.1.3. Rescue of princess (maiden) from dragon; B11.11. Fight with dragon), schließlich der falsche Held (Mot. K1932. Impostor claims reward (prize) earned by hero). Diese syntaktisch-semantischen Elemente werden jedoch durch eine zweite, satirische Ebene erweitert und verfremdet – der Drache ist ein in menschlicher Gestalt auftretender Diktator, das unterdrückte Volk verehrt ihn aus Angst und folgt ihm blind, und entsprechend hat der Held im Gegensatz zum Märchen beim Drachenkampf nicht dessen Unterstützung oder zumindest Billigung. Die filmische Adaption ist in Struktur und Kernelementen der Handlung nah an der Vorlage, der Text des Stücks wird zu einem Teil verwendet, aber zum Teil auch erweitert und stellenweise wesentlich verändert. Lancelot, bei Švarc selbstsicher und idealistisch, wird im Film zu einem grübelnden Zweifler. Der Film eliminiert seine märchenhaften Tierhelfer849, einen Kater und einen Esel; die menschlichen Helfer dagegen, die ihm Zaubergegenstände für den Kampf beisteuern (der fliegende Teppich ist durch einen Heißluftballon ersetzt), erhalten Züge von Dissidenten. Die gehorsamen Bürger der Stadt, die im Stück Komparsen- und Kleinstsprechrollen haben, werden durch den Gelehrten Fridrichsen und seine Familie individualisiert, die die Erniedrigungen durch den Drachen ohne Aufbegehren hinnehmen. Die Gewalt auf den Straßen, die dessen Tod auslöst, ist filmischer Zusatz. Die größten Unterschiede finden sich im Finale: Auch bei Švarc erscheint Lancelot noch rechtzeitig, bevor der Bürgermeister Elsa heiraten kann – und auch dort rügt er die Bevölkerung, die die Lüge des Bürgermeisters erkannt, aber ohne Weiteres akzeptiert hat. Anschließend erklärt er jedoch nachsichtig, den Drachen in den Köpfen der Menschen zu töten, sei nur noch eine kleinere Arbeit, der er sich mit Geduld und Liebe widmen will, und das Stück endet mit der Hochzeit mit Elsa. Das Ende des Films dagegen ist offen – ob die Menschen letztlich verstehen werden, selbst den Drachen in sich zu töten, ist ungewiss; Elsa weigert sich, den veränderten, hartgewordenen Rückkehrer zu heiraten, der schon fast ein neuer Drache zu werden droht, und ernüchtert ihn dadurch; schließlich lässt insbesondere die letzte Szene, in der Lancelot den Drachen, der die Kinder, die neue Generation, um sich versammelt hat, erneut zum Kampf herausfordert, Spielraum für vielfältige Deutungen.

849 Mot. B300. Helpful animal.

479 Возвращение Ходжи Насреддина [Die Rückkehr des Chodža Nasreddin] UdSSR – Russland 1989; Kinostudija im. M. Gor’kogo. Regie: Rejn Liblik; Drehbuch: Timur Zuľfikarov. Darsteller: Ramaz Čchikvadze, Gombožavyn Gombosurėn, Iľdar Šadaev, Mark Tumachani u.a. Vorlage: Timur Zuľfikarov: Vozvraščenie Chodži Nasreddina (Zuľfikarov 2001, S.33-80). Inhaltsangabe: Zwei Säuglinge werden am selben Tag in einem Dorf geboren: Chodža Nasreddin wird als Findelkind von Mamlakat aufgenommen, deren eigener Sohn bei der Geburt gestorben ist; Timur Tamerlan ist der Sohn eines reichen Kriegers, dessen Frau aber den Sohn nicht säugen kann. Mamlakat wird seine Amme, und so werden die beiden Jungen Milchbrüder. Sie wachsen gemeinsam auf. Nasreddin verliebt sich in Timurs Schwester, doch da dieser gegen die Verbindung ist, endet sie unglücklich. Nasreddin verlässt das Dorf und wird zum ewig reisenden Schelm und Weisen und zum Kämpfer für Gerechtigkeit. Er trifft auf seine echte Mutter, eine Zigeunerin, doch die beiden erkennen einander nicht. Timur dagegen wird zum grausamen Tyrannen und Eroberer. Viele Jahre später, als beide schon alt sind, treffen sie wieder aufeinander und blicken auf ihr Leben zurück. Immer haben sie gegeneinander gekämpft. Beide sind einsam und verbittert und leiden, der eine wegen seiner schlechten Taten, der andere, weil der Weg des Guten nirgendwo hinzuführen scheint. Sie machen sich auf den Weg in ihr Geburtsdorf. Doch es stellt sich heraus, dass ihr Dorf längst nicht mehr steht. Sie kehren bei der jungen Chanifa ein, die sie für wandernde Derwische hält. Es stellt sich heraus, dass bei dieser auch die alte Mamlakat lebt, die beide erkennt. Sie eröffnet Timur, dass Chanifa seine Tochter ist, die einer Liebesgeschichte mit einem einfachen Dorfmädchen entstammt. Er lässt darauf das Haus und die Umgebung in Schutt und Asche legen, und Chanifa kommt um. Das Böse und das Gute sind aber auf ewig verbunden: Als ihre Zeit gekommen ist, zu sterben, schleppt Nasreddin Timur auf seinem Rücken mit ins Paradies. Filmgestaltung, Besonderheiten: Der Film ist nicht stringent erzählt, sondern reiht oftmals assoziativ Bilder teils surrealer Natur und philosophische Dialoge und Monologe, die teilweise aus dem Off ertönen, aneinander. Das Sujet ist dabei nicht immer klar erkennbar und nachvollziehbar, insbesondere werden die Ereignisse nicht durchgehend chronologisch, sondern alinear und mit Flashbacks dargestellt. Dabei sind viele Rollen doppelt besetzt – die Figuren in ihrer Jugend und viele Jahrzehnte später. Die Kostüme sind vage historisierend und teilweise verfremdend überfrachtet. Jurten und Zeltlager, karge, bergige Naturkulissen, der prunkvolle Palast Timurs, ein von ausgemergelten Gefangenen gezogenes Brunnenrad wechseln einander als Schauplätze rasch ab; besonders herausragend ist jedoch der Weg ins Paradies, für den eine Brücke über einem Abgrund voll rotglühender Lava überquert werden muss. Schatten und dunkle Beleuchtung sowie Nachtszenen, aber auch gleißendes Sonnenlicht werden als dramaturgische Mittel eingesetzt. Eine Geräuschkulisse aus monotonem ruhigem Gesang, bedrohlich anschwellender Musik und Naturgeräuschen, wie Windrauschen, Donner, Vogelrufe und Grillenzirpen betont die düstere Stimmung. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Dem Film liegt eine Erzählung von Timur Zuľfikarov zugrunde, der sich auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Sie ist hauptsächlich im Stil eines Stream of Consciousness geschrieben und mit Folklore und Märchen nur sehr bedingt verbunden850: Im

850 Vgl. auch Pervaja ljubov’ Nasreddina (1977), ebenfalls nach einer Vorlage Zuľfikarovs und von ihm selbst

480 Mittelpunkt steht die Schwank- und Märchenfigur Chodža Nasreddin, die hier zum Milchbruder des historischen Mongolenherrschers Timur Tamerlan erklärt wird. Die Dynamik bezieht sich aus den gegensätzlichen Eigenschaften, die den beiden in Folklore und Geschichtsschreibung zugeschrieben werden – Nasreddin als Kämpfer für Gerechtigkeit wird zum Symbol des Guten an sich, Timur als Tyrann und Eroberer dagegen zum Symbol für das Böse, und ihr Milchbrudertum drückt die enge gegenseitige Verbundenheit der beiden Prinzipien aus. Das Geschehen nimmt so philosophisch-allegorische Form an.

Не покидай... [Geh nicht...] UdSSR – Weißrussland 1989; Belarus’fiľm. Regie: Leonid Nečaev; Drehbuch: Georgij Polonskij. Darsteller: Lidija Fedoseeva-Šukšina, Vjačeslav Nevinnyj, Varvara Vladimirova, Igor’ Krasavin u.a. Vorlage: Georgij Polonskij: Ne pokidaj (1984)851. Kunstmärchenparaphrase (William Makepeace Thackeray: The Rose and the Ring, 1855; Thackeray 1911, S. 301-430). Inhaltsangabe: Zweiteiler. (1) König Teodor interessiert sich nur für Pferde, und die Macht in seinem Reich Abidonija liegt beim intriganten Kanzler Daviľ und seiner Frau Ottilija, der Schwester der Königin, Flora. Am Hof lebt als Floras Zögling der stumme Patrik, der sich nur fetzenhaft an seine Vergangenheit erinnern kann. Er merkt nicht, dass das Dienstmädchen Marsella ihm zugetan ist, denn er ist unglücklich in die Prinzessin Aľbina verliebt. Diese erwartet einen Freier, den Prinzen Penap’ju aus dem Nachbarreich. Der aber wird im Grenzwald von Räubern überfallen und bis aufs Hemd ausgeraubt. In der Nähe befindet sich das Puppenspielerpaar Žak und Marta, das eine Truhe mit den Marionetten von Žaks Vater ausgegraben hat, die dessen Vermächtnis darstellen. Sie helfen dem Prinzen und freunden sich mit ihm an. Er erfährt von ihnen, dass in Abidonija Gauklerauftritte ohne polizeiliche Erlaubnis verboten sind, und überredet sie, mit ihm in den Palast zu kommen, wo er sich beim König dafür einsetzen will, dass sie auftreten dürfen. Sie werden jedoch zunächst alle drei verhaftet. Da Penap’ju darauf beharrt, wird er Teodor vorgeführt und kann ihn von seiner Identität überzeugen. Marta und Žak werden jedoch ohne sein Wissen eingesperrt, als Teodor erfährt, wer Žaks Vater war. Marsella soll dessen Truhe verbrennen. Sie und Patrik finden eine blaue Rose darin – und die Botschaft, dass jeder, der sie riecht, die Wahrheit sagen muss. (2) Auf dem Empfang, der Penap’ju bereitet wird, zeigt die Rose ihre Wirkung. Patrik beginnt auf einmal zu sprechen. Dann bewirkt der Rosenduft eine Reihe von Geständnissen und bringt ein dunkles Geheimnis zu Tage: Patrik ist in Wahrheit der Neffe Floras, der Sohn des früheren Königspaars und der rechtmäßige Thronfolger. Žaks Vater, der Puppenspieler, war mit seinen Eltern befreundet. Diese aber sind einem Mordkomplott Teodors, Daviľs und Ottilijas zum Opfer gefallen. Die königlichen Soldaten sagen Daviľ, was sie wirklich von ihm denken, und befreien Žak und Marta. Der reuevolle Teodor, der die Lebenslüge leid ist, verzichtet auf die Krone. Daviľ dagegen ist der einzige, auf den der Rosenduft nicht wirkt, da er Schnupfen hat.

adaptiert. 851 Eine Bibliotheksrecherche nach dem Werk blieb erfolglos, auch per Fernleihe: Ein Band, der es möglicherweise enthält, wird in der einzigen besitzenden Bibliothek vermisst. Es musste daher auf das Internet zurückgegriffen werden. Neben dem Text des Stücks wurde dort noch eine in Prosa geschriebene Filmerzählung (kinopovesť) ausfindig gemacht, offensichtlich eine überarbeitete Version, die stärker dem fertigen Streifen ähnelt – unklar ist, ob sie vor oder nach ihm entstanden ist. Zu den genauen URLs siehe Literaturverzeichnis.

481 Als er erfährt, dass die Rose der Grund für die Ereignisse ist, versucht er, sie zu zerschießen – trifft jedoch Marsella. Anschließend begeht er Selbstmord. Die sterbende Marsella, um die sich alle versammelt haben, bittet Patrik, für sie zu singen. Die blaue Rose färbt sich rot. Filmgestaltung, Besonderheiten: Als Hauptschauplatz dient die historische Schloss-Innenkulisse, ansonsten kommen ein Wald und die Fassaden einer mittelalterlichen Stadt zum Einsatz. Die Kostüme sind ein diffuser Stilmix mit Rokoko-Anklängen und teils sehr exzentrischen Zügen – so trägt etwa Prinzessin Aľbina in einer Szene eine rosarote Perücke und einen rüschenbesetzten Minirock, in einer anderen Ottilija ein nietenbesetztes Anzugkleid mit Stehkragen usw. Die fetzenhaften Erinnerungen Patriks werden in kurzen, durch Doppelbelichtung undeutlichen Bilderfolgen gezeigt, in der die Kamera die Untersichtsperspektive eines kleinen Kindes einnimmt. Seine Gedanken werden jeweils durch Lieder ausgedrückt, die aus dem Off ertönen – die Stimme entspricht der, mit der er dann später auch zu sprechen beginnt. Die kunstvoll gearbeiteten Marionetten sind nach dem Ebenbild einiger der Hauptdarsteller gefertigt, was eine Schlüsselrolle spielt. Bevor der Duft der Rose etwas bewirkt, ist ein bestimmter Ton zu hören. Jede der Figuren wird bei ihrem Erscheinem von einer Art musikalischem Erkennungsmotiv aus dem jeweiligen Lied begleitet, das von ihr im Laufe des Films gesungen wurde. Märchen- und Folklorebezug und Umgang mit Vorlagen: Folkloremutation. Dem Film liegt ein Stück von Georgij Polonskij zugrunde, das dieser selbst für die Leinwand adaptierte. Dabei änderte er, neben Details wie einigen Namensvariationen (Kradus wurde zu Teodor, Želtopljuš zu Žak), die Dialoge und die dramaturgische Struktur sehr stark ab, der Grundinhalt als solcher blieb jedoch weitestgehend erhalten. Aus der Handlung verschwanden vor allem das Motiv eines geplanten Gesetzes des Kanzlers, das Erinnerungen verbietet, sowie der Wunsch der sterbenden Marsella an Aľbina, dass diese sich um Patrik kümmern soll. Das Stück seinerseits basiert auf einem satirischen Weihnachtsmärchen des englischen Schriftstellers William Makepeace Thackeray: Daran angelehnt, wenn auch umbenannt, sind der Handlungsort eines stilisierten Märchenkönigreichs, die Konstellation der Hauptfiguren und teilweise deren Gestaltung sowie die dramatische Ausgangssituation – das eigentliche Sujet dagegen erinnert nur entfernt an die Vorlage, und aus der Ausgangssituation entwickelt sich eine eigenständige Dynamik. Penap’ju entspricht dem Prinzen Bulbo, dessen bevorstehende Ankunft die Handlung in Gang bringt – er ist wie dieser leicht einfältig, aber im Gegensatz zu ihm durchweg sympathisch gezeichnet. Patrik entspricht Giglio, dem rechtmäßigen Thronerben – anders als dieser ist er jedoch stumm und muss erst seine Sprache wiedergewinnen (vgl. Mot. L124. Dumb hero; D2025. Magic recovery of speech). Giglios Herkunft ist kein Geheimnis, und sein Onkel hat ihm die Macht nach dem natürlichen Tod seiner Eltern genommen. Ermordet wurden dagegen die Eltern der weiblichen Heldin Betsinda-Rosalba, der wahren Thronerbin des Nachbarreichs, die als Zofe im Palast landet – lose an diese angelehnt ist die Figur Marsella. Ebenfalls nur sehr vage an Figuren aus Thackerays Märchen erinnern Daviľ und Ottilija, König, Königin und Prinzessin entsprechen zumindest annähernd ihren Prototypen. Das Puppenspielerpaar schließlich hat keinerlei Entsprechung in Thackerays Märchen. Die hilfreiche Fee daraus wird gänzlich eliminiert, und von den zwei zentralen magischen Motiven fehlt das des Zauberrings, der seinen Träger schön erscheinen lässt und beliebt macht852, das der Zauberrose (vgl. Mot. D975.2. Magic rose) wird dagegen herausgestellt und dabei stark abgewandelt und umfunktioniert: Bei Thackeray entspricht ihr Zauber dem des Rings, bei Polonskij lässt dagegen ihr Duft jeden die Wahrheit sagen (vgl. Mot. D1316. Magic object reveals truth, auch D1318. Magic object reveals guilt).

852 Vgl. Mot. D1076. Magic ring; D1355.4. Ring produces love.

482 Нечистая сила [Die bösen Mächte853] UdSSR – Russland 1989; Lenfiľm. Regie, Drehbuch: Ėrnest Jasan. Darsteller: Pavel Andreev, Rimma Markova, Roman Karcev, Viktor Grigorjuk u.a. Vorlage: – Inhaltsangabe: Der Forstinstutsmitarbeiter Ivan Denisov verläuft sich im Wald und trifft auf eine geheimnisvolle Alte. Sie führt ihn zu einem Sumpf, wo sie auf drei skurrile Gestalten treffen, die ein Horn, einen Knüppel und ein Tuch ausgraben. Die Alte nimmt ihnen die Sachen ab und lädt Ivan in ihre Hütte ein. Das Tuch stellt sich als Tüchleindeckdich heraus, mit dem sie ihn bewirtet, und er erhält von ihr das Horn, das Goldmünzen produzieren kann. Kurz darauf erscheinen die drei Teufel bei Ivan, die im Folgenden immer wieder seinen Weg kreuzen. Er kommt in Erklärungsnot gegenüber den Behörden, woher er die seltenen Münzen hat. Als seine Geschichte auf Unglauben stößt, nimmt er einen jungen Polizisten mit zur Hütte der Alten. Die Alte bewirtet sie und schenkt Ivan den Knüppel, der die Polizisten, die ihn und seinen Begleiter verhaften wollen, durchprügelt und in die Flucht schlägt. Als Ivan nach Hause kommt, muss er feststellen, dass sein Vater und seine Brüder mit dem Goldhorn Schindluder treiben. Er will die von ihnen produzierten Münzen dem Staat abgeben und bittet einen der Teufel im Austausch für das Horn um Hilfe. Doch Ivans Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus: Er wird wegen Devisenschiebung verhaftet und schließlich in eine Strafkolonie gebracht. Dort hat ein alter Häftling das Sagen, der, wie sich herausstellt, ebenfalls die Alte aus dem Wald kennt. Er stellt Ivan unter seinen Schutz, kommt jedoch bald auf die Krankenstation. Sein Gehilfe will Ivan zur Erniedrigung vergewaltigen lassen, doch dieser verschafft sich mit dem Knüppel Respekt: Nun bestimmt er die Regeln. Seine Feinde stellen ihm jedoch eine Falle – er tötet mit dem Knüppel aus Versehen einen Mithäftling. Darauf bekommt er Gewissensqualen und bittet die Teufel, ihm seine Erinnerungen zu nehmen – dafür gibt er ihnen den Knüppel. Als Folge eines von seinen Feinden initiierten „Unfalls“ erleidet er eine schwere Amnesie. Im Angesicht dessen wird er aus der Haft entlassen. Durch Vermittlung seines Bruders wird er Totengräber auf einem Friedhof. Auch hier trifft er auf die drei Teufel, die ihn zu einem Leben in Saus und Braus ermutigen. Als die Alte auf den Friedhof kommt, überreden sie ihn, von ihr auch das Tüchlein zu erbitten, und als sie alle drei Dinge haben, verschwinden sie. Ivan wird Zeuge eines Begräbnisses, von dem er erst zuletzt merkt, dass es sich um das seiner eigenen Mutter handelt. Er eilt der Alten nach, die dieser wie aus dem Gesicht geschnitten ist, und fällt vor ihr auf die Knie. Filmgestaltung, Besonderheiten: Naturalistische Darstellung der zeitgenössischen Realität. Die Alte aus dem Sumpf ist dezent folkloristisch gekleidet, ihre auf einem Stamm stehende Holzhütte erinnert an ein Hexenhäuschen. Die drei Teufel fallen anfangs durch zerlumpte folkloristische Kleidung und wirres struppiges Haar auf, später tragen sie dann unauffällige zeitgenössische Kleidung. Der Film lässt viele Szenen nachts spielen, bei künstlicher oder nur sehr schwacher Beleuchtung und sehr viel Schatten, und schafft sich so eine recht düstere Atmosphäre. Sämtliche in der Arbeitskolonie spielende Szenen sind in Schwarzweiß gehalten, wodurch die Atmosphäre dann noch verstärkt wird. Nach dem „Unfall“ folgt eine surreal-alptraumhafte Sequenz. Die Alte und die Mutter werden von ein und derselben Darstellerin gespielt, die allerdings jeweils so verschieden hergerichtet ist, dass dies nicht sofort auffällt und erst am Ende klar wird.

853 Wortwörtlich „Die unreine Kraft“; nečistaja sila oder nečisť wird als Sammelwort gebraucht, das sämtliche dämonische Folklorefiguren bezeichnet.

483 Märchen- und Folklorebezug: Erzähltypenmutation; vgl. AaTh 563 The Table, the Ass, and the Stick = ATU 563 The Table, the Donkey, and the Stick = AA/SUS 563 Čudesnjye dary. Der Film ist an sich wenig märchenhaft und eher im Bereich der düsteren Phantastik anzusiedeln, doch die spezifische Kombination der drei zentralen Motive entstammt klar dem Tischlein-deck-dich-Märchen (AaTh 563): Tüchlein (Mot. D1472.1.8. Magic tablecloth supplies food and drink), Horn (vgl. Mot. D2102. Gold magically produced) und Knüppel (Mot. D1401.1. Magic club (stick) beats person) werden wie darin dem Helden, der auch noch den generischen Märchennamen Ivan trägt und der jüngste von drei Söhnen ist, für seine Güte von einer numinosen Instanz geschenkt. Die Alte aus dem Sumpf, entfernt an die Baba-Jaga erinnernd, erzählt davon, dass im Sumpf einst eine reiche Stadt voller Wunder gestanden habe und verweist damit auf eine in vager Vergangenheit liegende Märchenrealität – ein Verfahren des Crossover-Märchens, das viele Deutungen zulässt. Sie selbst ist ein Relikt dieser Zeit, doch ihre gutgemeinten magischen Geschenke passen nicht in die sehr düster gezeichnete sowjetische zeitgenössische Realität und können selbst einem aufrichtigen Menschen nicht helfen: Ivan Denisov werden sie zum Verhängnis und bringen ihm nur Unglück.

LITERATURVERZEICHNIS Märchen- und Folkloresammlungen854

854 Inkl. „Buchmärchen“.

484 Af. = Afanas’ev, Aleksandr N.: Narodnye russkie skazki A. N. Afanas’eva v 3 t-ach. Nauka, Moskva 1984-1985.

Balk. = Leskien, August (Hrsg.): Balkanmärchen aus Bulgarien. Diederichs, Jena 1915.

Baš. sk. = Bessonov, Aleksandr G./Dmitriev, Nikolaj K. (red.): Baškirskie narodnye skazki. Bašgosizdat, Ufa 1941.

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Online-Filmdatenbanken

493 Die nachfolgend gelisteten Online-Quellen enthalten zu vielen der in der vorliegenden Filmographie enthaltenen Filme Einträge. Die Beschreibungen des Filminhalts sind oft sehr knapp, aber die Datenbanken haben insofern einen gewissen Mehrwert, als dass sie leichter zugänglich sind als gedruckte Quellen und im Vergleich zu diesen oft recht umfangreiche Produktionsdaten enthalten. Gerade die großen Datenbanken, die zu großen Teilen von anonymen Benutzern im offenen Netz mit Informationen befüllt werden, und die keine ständige Kontrolle über die Richtigkeit ihrer Daten bieten können, sind in dieser Hinsicht zwar mit Vorsicht zu genießen, aber als erste Anlaufstelle auf Filme durchaus geeignet. Um dem Leser hier eine grobe Orientierung zu ermöglichen, wie die Quellen zu bewerten sind, wurden sie jeweils mit kurzen Annotationen versehen. www.kino-teatr.ru Umfangreichste Website zum sowjetischen und russischem Film (in geringerem Umfang auch zu internationalen Produktionen), russischsprachig, primär von anonymen Usern befüllt, enthält zu nahezu allen Filmen Produktionsdaten, (von Usern erstellte) Kurzbesprechungen und teilweise Bildmaterial. kino-teatr.ru, hrsg. von Irina Timofeeva (Chefred.)/OOO kino-teatr.ru, www.kino-teatr.ru, 2006 ff. [Letzter Zugriff: 29.08.2015] www.russischerfilm.net Annotiertes Online-Verzeichnis der Sammlung russischer und sowjetischer Filme des Instituts für Slawistik der Universität Innsbruck (deutschsprachig). Teilweise eigene Kurzbesprechungen, teilweise Wiedergabe der Artikel aus dem „Lexikon des internationalen Films“. russischerfilm.net, hrsg. von Eva Binder für das Medienarchiv des Instituts für Slawistik der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, www.russischerfilm.net, 2006 ff. [Letzter Zugriff: 29.08.2015] www.fandom.ru/about_fan/kino/index.htm Wichtigste Produktionsdaten und sehr kurze Besprechungen zu vielen sowjetischen Märchen- und phantastischen Filmen (russischsprachig). Online-Version [Letzter Zugriff: 29.08.2015] von: Charitonov, Evgenij V./Ščerbak-Žukov, Andrej V.: Na ėkrane – Čudo. Otečestvennaja kinofantastika i kinoskazka: 1909-2002 gg. Materialy k populjarnoj ėnciklopedii. Naučno- issledovateľskij institut kinoiskusstva, Moskva 2003. www.zweitausendeins.de/filmlexikon/ Enthält alle im deutschsprachigen Raum gezeigten internationalen Filme mit den Besprechungen aus dem „Lexikon des internationalen Films“ (Stand August 2013), die sehr kurze Inhaltsangaben und teilweise Kritiken enthalten (deutschsprachig). Filmlexikon, hrsg. vom Zweitausendeins-Verlag, www.zweitausendeins.de/filmlexikon, o. J. [Letzter Zugriff: 29.08.2015] Das Lexikon des internationalen Films in Druckform (mit Seitenzahlen sowie zusätzlichen Begleittexten): Lexikon des internationalen Films. 4 Bde., Hrsg.: Katholisches Institut für Medieninformation KIM/Katholische Filmkommission für Deutschland (Red. Horst-Peter Koll et al.), Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt a. M. 2002. sowie: Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 2001 ff., bisher 14 Bde., Hrsg.: Katholisches

494 Institut für Medieninformation KIM/Katholische Filmkommission für Deutschland (Red. Horst-Peter Koll et al.), Schüren-Verlag, Marburg 2003 ff.. www.imdb.com Weltweit größte internationale Filmdatenbank, englischsprachig, zu großen Teilen von anonymen Usern befüllt. Produktionsdaten, teilweise Bildmaterial und evtl. User- Besprechungen. Der sowjetische Film ist sehr lückenhaft dokumentiert. The Internet Movie Database, hrsg. von Imdb.com, inc., www.imdb.com, 1990 ff. [Letzter Zugriff 29.08.2015].

495 INDEX

(Die Seitenzahlenangaben markieren jeweils den Beginn des Eintrags)

Titel russischsprachig

Акмаль, дракон и принцесса 407 Иван да Марья 354 Аленький цветочек 381 Иваника и Симоника 364 Али-Баба и 40 разбойников 421 Иванко и царь Поганин 437 Алые паруса 300 Илья Муромец 286 Андрей и злой чародей 409 Каин XVIII 304 Андриеш 283 Как Иванушка-Дурачок за чудом ходил 384 Ассоль 415 Калиф-аист 325 Ашик-кериб 468 Каменный цветок 276 Белая роза бессмертия 434 Капля меда 424 Блуждающие огоньки 397 Карлик нос 336 Бойся, враг, девятого сына 436 Кащей Бессмертный 274 Большая кошачья сказка 311 Кольца Альманзора 385 В тринадцатом часу ночи 324 Конек-Горбунок (1941) 271 Варвара-краса, длинная коса 330 Конек-Горбунок (1986) 454 Василий Буслаев 416 Королевство кривых зеркал 306 Василиса Прекрасная 267 Король-олень 333 Веселое волшебство 332 Красные башмачки 453 Весенняя сказка 338 Лада из страны Берендеев 338 Вечера на хуторе близ Диканьки: Ночь перед Левша 454 рождеством 302 Легенда о ледяном сердце 289 Вкус халвы 360 Легенда о любви 440 Возвращение Ходжи Насреддина 480 Легенда о Сурамской крепости 441 Возьми меня с собой 399 Ледяная внучка 403 Волшебная книга Мурада 363 Лесная песня 303 Волшебная лампа Аладдина 314 Лесная песня – Мавка 410 Волшебная ночь 422 Летающий корабль 298 Волшебное зерно 270 Лиловый шар 462 Всадник на золотом коне 401 Любовь моя, печаль моя 390 Гариб в стране джиннов 383 Майская ночь 269 Гляди веселей 417 Майская ночь, или утопленница 281 Город мастеров 312 Мал, да удал 356 Горя бояться – счастья не видать 348 Мальчик с пальчик 447 Два клена 353 Мама 365 Двенадцать месяцев 341 Марья-искусница 293 12 могил Ходжи Насреддина 315 Морозко 307 Дикие лебеди 460 На златом крыльце сидели… 455 Захудалое королевство (1967) 323 На помощь, братцы! 470 Захудалое королевство (1978) 390 Насреддин в Бухаре 273 Звездный мальчик 287 Насреддин в Ходженте, или Очарованный принц Золотые рога 342 295 Золушка 279 Не покидай… 481 И еще одна ночь Шахерезады… 438 Небывальщина 425

496 Нестерка 285 Сказка, рассказанная ночью 412 Нечистая сила 483 Сказка странствий 431 Новогодние приключения Маши и Вити 361 Сказки старого волшебника 445 Новые похождения кота в сапогах 290 Созвездия любви 451 Новые приключения Акмаля 427 Соловей 400 Новые приключения Муравья и Блохи 404 Старая, старая сказка 329 Новые сказки Шахерезады 457 Степанова памятка 378 Обыкновенное чудо (1964) 309 Тайна крепости 296 Обыкновенное чудо (1978) 392 Тайна Снежной Королевы. Сказка про сказку 459 Огонь, вода и… медные трубы 326 Там, на неведомых дорожках… 419 Оловянные кольца 428 Тень 339 Она с метлой, он в черной шляпе… 463 Три оплеухи 420 Осенние колокола 392 Три толстяка 320 Осенний подарок фей 443 Туфли с золотыми пряжками 380 Ослиная шкура 418 Убить дракона 478 Отважный Ширак 366 Удивительная история, похожая на сказку 321 Пастух Янка 368 Умные вещи 352 Первая любовь Насреддина 386 Ученик лекаря 433 По щучьему веленью 265 Фантастическая история 477 Подарок черного колдуна 394 Финист – ясный сокол 357 Пока бьют часы 369 Хорезмийская легенда 396 Поляна сказок 471 Хрустальный башмачок 299 После дождичка, в четверг… 448 Царевич Проша 359 Последняя ночь Шахерезады 464 Чертенок 414 Похождения Насреддина 278 Приключения Али-Бабы и сорока разбойников 406 Приключения Арслана 473 Приключения маленького Мука 428 Принцесса на горошине 370 Про кота… 450 Про Красную Шапочку 387 Птичье молоко 362 Радуга семи надежд 411 Раз, два – горе не беда! 474 Русалочка 372 Руслан и Людмила (1938) 266 Руслан и Людмила (1972) 343 Рустам и Сухраб 349 Садко 281 Сампо 292 Самый сильный 350 Седьмой джин 374 Семург 344 Серебряная пряжа Каролины 444 Синяя птица 375 Снегурочка 327 Снежная королева 318 Сказание о Рустаме 346 Сказание о Сиявуше 377 Сказание о храбром витязе Фэт-Фрумосе 389 Сказка как сказка 395 Сказка о волшебном бисере 475 Сказка о Звездном Мальчике 430 Сказка о Мите и Маше, о Веселом Трубочисте и Мастере Золотые Руки 335 Сказка о прекрасной Айсулу 466 Сказка о царе Салтане 316 Сказка про влюбленного маляра 467

497 Titel deutschsprachig

Die Abenteuer des gestiefelten Katers 290 [Das heruntergekommene Königreich] (1967) 323 [Die Abenteuer des kleinen Muck] 428 [Das heruntergekommene Königreich] (1978) 390 Abenteuer im Zauberwald 307 Die Hexe Akulina = Die schöne Wassilissa (1969) Abenteuer mit der Tarnkappe 419 Der Hirsch mit dem goldenen Geweih 342 [Akmaľ, der Drache und die Prinzessin] 407 [Der Hirte Janka] 368 [Akmaľs neue Abenteuer] 427 Ilja Muromez 286 Aladins Wunderlampe 314 Im Königreich der Zauberspiegel 306 Ali Baba und die 40 Räuber (1980) 406 [Die Irrlichter] 397 [Ali-Baba und die 40 Räuber] (1983) 421 [Ivanika und Simonika] 364 [Der Allerstärkste] 350 [Ivanko und Zar Poganin] 437 Am Sankt-Nimmerleinstag = Ein Kuckucksei am Iwan und Marja 354 Zarenhof [Kain XVIII.] 304 [Andrej und der böse Zauberer] 409 [Kalif Storch] 325 [Andrieş] 283 Der Kampf um das Goldene Tor = Ilja Muromez [Arslans Abenteuer] 473 Karolinas Silberfaden 444 Aschenbrödel 279 Kerib, der Spielmann 468 [Assoľ] 415 [Klein, aber keck] 356 Auf der goldenen Treppe saßen... 455 [Die kleine Seejungfrau] = Die traurige Nixe [Auf des Hechts Geheiß] = Der Zauberfisch [Die klugen Dinge] 352 Der blaue Vogel 375 [König Hirsch] 333 [Die bösen Mächte] 483 [Der Kristallpantoffel] 299 [Das bucklige Pferdchen] 454 Kühne Recken von Nowgorod 416 [Eine choresmische Legende] 396 Ein Kuckucksei am Zarenhof 448 Den Drachen töten = Tod dem Drachen [Lada aus dem Land der Berendeer] 338 Der diebische König 369 [Lass den Kopf nicht hängen] 417 [Dort, auf unbekannten Wegen...] = Abenteuer mit der Meine Liebe – meine Trauer 390 Tarnkappe Die Legende der Festung Suram 441 [Die drei Ohrfeigen] 420 [Die Legende vom eisigen Herzen] 289 [Einfach ein Märchen] 395 Legende von der Liebe 440 [Eins, zwei – da ist doch nichts dabei!] 474 Der Lehrling des Medicus 433 Die Eisfee 403 [Die Lichtung der Märchen] 471 Die elf Schwäne 460 Das Lied von der Waldfee 410 Feuer, Wasser und Posaunen 326 Die lila Kugel 462 Die feuerrote Blume 381 Der Linkshänder 463 Finist, heller Falke 357 Lockendes Glück 281 Das fliegende Schiff 298 [Eine Lügengeschichte] = Verkehrte Welt [Der Frost] = Abenteuer im Zauberwald [Lustige Zauberei] = Die schöne Wassilissa (1969) [Ein Frühlingsmärchen] 338 [Mainacht] (1940) 269 [Fürchte, Feind, den neunten Sohn] = Der neunte Sohn Mainacht (1952) 281 des Hirten [Mama] = Vom Wolf und den pfiffigen Geißlein Garib im Lande der Dshinn 383 Das Märchen einer Wanderung 431 Der Gaukler und das Mädchen 399 Die Märchen der Nacht = Märchen in der Nacht [Geh nicht...] 481 erzählt Das Geheimnis der Festung 296 [Die Märchen des alten Zauberers] 445 [Das Geheimnis der Schneekönigin. Märchen über ein Märchen in der Nacht erzählt 412 Märchen] 459 Das Märchen von der schönen Aisulu 466 Das gestohlene Glück 292 [Das Märchen von Mitja und Maša, vom fröhlichen [Ein gewöhnliches Wunder] (1964) 309 Schornsteinfeger und dem Meister Goldenes Ein gewöhnliches Wunder (1978) 392 Händchen] 335 Das Geschenk des schwarzen Zauberers 394 Das Märchen vom Däumling 447 [Der Geschmack von Halva] 360 [Das Märchen vom Sternenjungen] 430 [Glück hat nur, wer das Unglück nicht fürchtet] 348 Das Märchen vom verliebten Maler 467 [Das große Katzenmärchen] 311 Das Märchen vom Zaren Saltan 316 Das Herbstgeschenk der Fee 443 Das Märchen von den Zauberperlen 475 [Herbstglocken] = Von der schönen Zarentochter und Das Märchen von der großen Reise = Das Märchen den sieben Recken einer Wanderung

498 [Mar’ja die Kunstfertige] = Die verzauberte Marie Die Tragödie von Siawusch 377 [Murads Zauberbuch] 363 Die traurige Nixe 372 Eine Nacht mit Scheherezade 438 [Der Tropfen Honig] 424 Die Nacht vor Weihnachten 302 [Um 13 Uhr nachts] 324 Die Nachtigall 400 Der unsterbliche Kaschtschai 274 Nasreddin in Buchara 273 Ein uraltes Märchen 329 Nasreddin in Chodshent 295 Verkehrte Welt 425 Nasreddins Abenteuer 278 Die verzauberte Marie 293 [Nasreddins erste Liebe] 386 [Die verzauberte Nacht] 422 [Nesterka] 285 [Vasilij Buslaev] = Kühne Recken von Nowgorod [Die neuen Abenteuer von Ameise und Floh] 404 [Die Vogelmilch] 362 Die neuen Märchen von Scheherezade 457 [Vom Kater...] 450 [Die Neujahrsabenteuer von Maša und Vitja] 361 [Vom Rotkäppchen] 387 Der neunte Sohn des Hirten 436 Vom Wolf und den pfiffigen Geißlein 365 [Nimm mich mit] = Der Gaukler und das Mädchen Von der schönen Zarentochter und den sieben Recken [Die Pantoffeln mit den goldenen Schnallen] 380 392 Eine phantastische Geschichte (1982) = Das Märchen [Das Waldlied] 303 einer Wanderung Weiße Rose der Unsterblichkeit 434 [Eine phantastische Geschichte] (1988) 477 Wie der dumme Iwanuschka das Wunder suchte 384 Der Prinz und der Töpfer 411 Eine wunderbare Geschichte (Eine wunderbare, Die Prinzessin auf der Erbse 370 ungewöhnliche Geschichte) 321 Prinzessin gesucht = Die Prinzessin auf der Erbse Das Wunderpferdchen 271 Die Prinzessin mit der Eselshaut 418 Der Wundervogel Semurg 344 Das purpurrote Segel 300 Zarewitsch Proscha 359 Der Regenbogen der sieben Hoffnungen = Der Prinz Der Zauberfisch 265 und der Töpfer Das Zauberkorn 270 Der Reiter auf dem goldenen Pferd 401 Die Zauberringe des Almansor 385 [Die Ringe aus Zinn] 428 [Zu Hilfe, Brüder!] 470 [Die roten Schuhe] 453 [Die zwei Ahornbäume] 353 [Die Rückkehr des Chodža Nasreddin] 480 [Zwerg Nase] 336 [Ruslan und Ljudmila] (1938) 266 [Die 12 Gräber des Chodža Nasreddin] 315 Ruslan und Ljudmila (1972) 343 [Die zwölf Monate] 341 Die Rustam-Legende 346 [Rustam und Suchrab] = Die Schlacht im Tal der weißen Tulpen Sadkos Abenteuer = Lockendes Glück [Die Sage vom tapferen Recken Făt-Frumos] 389 [Der Sampo] = Das gestohlene Glück [Der Schatten] 339 Scheherezades letzte Nacht 464 Die Schlacht im Tal der weißen Tulpen 349 Schneeflöckchen 327 Die Schneekönigin 318 Die schöne Warwara 330 Die schöne Wassilissa (1939) 267 Die schöne Wassilissa (1969) 332 [Sie hat einen Besen, er einen schwarzen Hut...] 463 [Der siebte Dschinn] 374 [Solange die Uhr schlägt] = Der diebische König Die Stadt der Meister 312 Die steinerne Blume 276 Stepans Vermächtnis 378 [Das Sternbild der Liebe] 451 [Der Sternenjunge] 287 [Der tapfere Širak] 366 [Das Teufelchen] 414 Tibul besiegt die Dickwänste 320 Tod dem Drachen 478

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