JNM 06 20 01 Cover Peter Schärli.Indd
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JUBILÄUM 50 JAHRE LONDON JAZZ COMPOSERS DiE TRANSFORMATION VON STRUKTUR UND FREIHEIT PD/ZVG FOTO: Das London Jazz Composers Orchestra (LJCO) hat in den letzten 50 Jahren die Auffassungen von zeitgenössischem Jazz, Neuer Musik und freier Improvisation grundlegend erweitert. Der orches- trale Klangkörper ist auch ein Lebenskern von Barry Guy: Der Kontrabassist und Komponist hat für das Orchester beispielhafte Werke geschrieben. Barry Guy und das LJCO sind Marksteine für die zeitgenössische Jazz-Avantgarde. Von Pirmin Bossart Wer den Kontrabassisten Barry Guy zeugte.” Wer war damals nicht alles dabei – JNM: Barry Guy, Sie haben in Interviews die live erlebt hat, weiss um die Virtuosität und die grossen Namen der englischen Free Sze- drei Phasen erwähnt, die das LJCO durchlau- die Energie, mit welcher dieser Musiker einen ne: Evan Parker, Paul Rutherford, Harry Be- fen hat. Wie sehen Sie das heute? sofort in Bann zieht. Man spürt: Da ist einer, ckett, Derek Bailey, Tony Oxley, Paul Lytton, Barry Guy: Die drei Phasen bezogen sich auf der mit allen Fasern seines Geistes und sei- Trevor Watts, Simon Picard, Marc Charig, Bar- mein persönliches Verständnis davon, wo ich nes Körpers Musik macht. Diese Unbedingtheit re Phillips usw. im gesamten Projekt stand und wo Anpas - steckt auch in seinem Engagement mit dem s ungen in Betracht gezogen werden muss- London Jazz Composers Orchestra (LJCO), INDIVIDUALITÄT UND KOLLEKTIV ten, um das Potenzial des Orchesters auszu- das dieses Jahr sein 50-jähriges Bestehen Jedes langfristige Projekt wie das schöpfen. Aktivitätsphasen haben vor allem feiert. 1970 gründete Barry Guy, der zuvor mit LJCO durchläuft einen evolutionären Zyklus. mit ästhetischen Entscheidungen zu tun, die John Stevens, Trevor Watts und Paul Ruther- ”Als ich das Orchester gründete, spiegelte das sich mit der Zeit langsam verändern. Um es ford im Spontaneous Music Ensemble ge- erste Stück 'Ode' lediglich meine damalige klar zu sagen: In der Phase I brachte meine spielt hatte, das London Jazz Composers Or- Arbeitssituation wider”, sagt Guy. ”Ode war eigene Musik den Stein ins Rollen. Phase II lud chestra. Der Klangkörper wurde sein Werk- eine Feier der vielen Musiker, die meine Be- die Band-Mitglieder ein, neben meiner eige- zeug und seine Katharsis. mühungen unterstützten, frei improvisierte nen Musik Stücke zu schreiben. Und die Pha- Mit seinen Kompositionen hat er den Musik als Lebensweise anzunehmen.” Guy hat se III fand mich wirklich als Hauptkomponist/ modernen Orchestersound an den Klippen es mit seinen Werken immer verstanden, sei- Regisseur. von Jazz, Neuer Musik und Improvisation in ne Musiker in unterschiedlichsten Konstellati- JNM: Tritt das Orchester nach 50 Jahren in neue Dimensionen geführt. Vielleicht half ihm onen in den Brennpunkt zu rücken. Gleichzei- eine vierte Phase ein? Wie würden Sie diese sein Studium der Architektur, aber da war tig strotzen sie vor Ideenreichtum und Vitali- beschreiben? auch ein tiefes Interesse an Komposition, ein tät. Vor allem aber hat Guy die Wechselspiele BG: Man könnte den Zeitraum von 1998 bis Lebensgefühl, ein Aufbruch, eine Vision. Was von Struktur und Freiheit, Komposition und heute als Phase IV bezeichnen. Während die- ihn im London der frühen 1970er-Jahre moti- Im provisation, Individualität und Kollektiv wie ser zwei Jahrzehnte war das LJCO eher eine viert habe, sei der Idealismus seiner Kollegen kein anderer ausgelotet und darin auch Frei- "Projektband" mit sehr wenigen Einzelkonzer- gewesen, sagt Guy. ”Wir waren jung und auf räume geöffnet, vermeintliche Gegensätze ten. Zudem gründete ich im Jahr 2000 auch der Suche nach Situationen, die manchmal überwunden. Zusammen mit der hymnischen das Barry Guy New Orchestra (BGNO) und verwirrend waren und das ganze Ethos des- Kraft, die seine Themen auszeichnen, entstan- 2014 The Blue Shroud Band, die es mir er- sen, was improvisierte Musik ausmacht, in- den Musikwerke von einer unerhörten Span- laubten, mich auf etwas kleinere Ensembles frage stellten. Diese verwirrenden Momente nung, durchleuchtet von vielfältigsten Farben, und andere Klanglandschaften und Stile zu boten jedoch immer eine Lösung, die von der Texturen und Stimmungen. konzentrieren. In dieser Phase IV hat sich für Hartnäckigkeit und dem Weitblick der Spieler das LJCO das Konzept entwickelt, nicht nur 54 JAZZ JNM_06_20_54-56_London_Jazz_Barry_Guy_Trouv.indd 54 26.10.20 21:01 JUBILÄUM ONDON JAZZ COMPOSERS ORCHESTRA meine grossen Kompositionen zu präsentie- Auch seine Partnerin Maya Homburger betei- von Intakt Records kamen zusammen mit ei- ren, sondern auch die kleineren Gruppen in- ligte sich an der Finanzierung. ner aussergewöhnlichen musikalischen Be- nerhalb der Band. Intakt sicherte sich die Rechte an gleiterin. JNM: Was hält das Interesse und die Leiden- einem Dutzend LJCO-Produktionen, die alle JNM: Gibt es Einsichten, die Ihnen bezüglich schaft für das LJCO über einen so langen Zeit- weiterhin lieferbar sind. Ein Katalog aus An- Ihrer Arbeit mit dem LJCO in diesen 50 musi- raum zusammen? lass des 50. Geburtstages präsentiert alle bei kalischen Jahren klarer geworden sind? BG: Ein Hauptgrund für meine ungebrochene Intakt erschienenen Veröffentlichungen des BG: Jedes LJCO-Projekt stellt die gleichen Faszination und Begeisterung für das LJCO ist LJCO. ”Die Musik des LJCO ist der Soundtrack Fragen: Hat die Musik funktioniert? War die der unverwechselbare und äusserst spannen- der Zeit im Aufbruch der europäischen Avant- Struktur zufriedenstellend? Bin ich meiner de Big-Band-Sound, den man in dieser "klas- garde der 1970er- und 1980er-Jahre”, sagt Verpflichtung nachgekommen, ein musikali- sischen" grossen Jazz-Besetzung bekommt. Landolt. ”Musikalisch gelingt Barry Guy eine sches Umfeld zu schaffen, das den Musikern Im Laufe der Jahre sind die Auftritte technisch höchst eigene Verquickung von zeitgenössi- Meinungsfreiheit gewährt? Diese Art der Be- immer besser, aber auch lockerer und freier schem Jazz und Neuer Musik, von Improvisa- fragung fördert eine ständige Neubewertung geworden. Das ist die ideale Kombination und tion und Komposition.” Gefragt nach seinen der Methodik und eine Verfeinerung der Ver- etwas, nach dem ich mein ganzes Leben lang liebsten LJCO-Werken nennt Landolt neben fahren, die klärt und nicht verwirrt. gestrebt habe. Und schliesslich: Die Solo-Im- dem ”Zürich Concert mit Anthony Braxton” provisationen scheinen verschiedene und sich die Komposition ”Harmos”. ”Das ist ein gros- ständig weiterentwickelnde Dimensionen zu ser Wurf von Barry, der zusammen mit 'Doub- besitzen, die die Werke über meine kühnsten le Trouble', 'Theoria' und 'Three Pieces' in die Träume hinausheben. Geschichte eingehen wird.” ”Harmos” wurde diesen Frühling auf FÖRDERUNG IN ZÜRICH Einladung und mit Unterstützung des polni- Das LJCO hätte nie seine Ausstrah- schen Labes ”NotTwo” (Marek Winiarski) in lung und überhaupt Existenzkraft erreicht, Krakau gespielt, wo das LJCO an drei Aben- wenn es in den frühen 1980er-Jahren im Um- den sein 50. Jubiläum feierte. Mit dabei wa- feld des Veranstalter-Teams Fabrikjazz nicht ren auch die Schweizer Musiker Jürg Wicki- auf eine solche Resonanz gestossen wäre. halder (s), Lucas Niggli (dr), Marc Unternährer Eine treibende Kraft war Patrik Landolt, der (tba) und Andreas Tschopp (tb), die seit eini- damals als Journalist, Musikfan und Veran- ger Zeit mit anderen europäischen Musikern stalter viel in London war und die Verbindung zum verjüngten Stamm des LJCO gehören. zur Schweiz initiierte. ”In London kaufte ich das Doppel album 'Ode' und fand das Werk JNM: Sie haben erst in Zürich begonnen, Ihr grandios.” 1985 spielte das LJCO erstmals bei Werk mit dem LJCO umfassender zu dokumen- Fabrikjazz in der Roten Fabrik und führte Barry tieren. Guys wohl bekanntestes Werk ”Harmos” auf. BG: Ich hatte in der Anfangszeit weder die Die Begeisterung über diesen Auftritt Verbindungen noch das Geld, um Aufnahmen führte in der Folge zu einer engen Zusammen- zu machen. Ich bedauere dies. Vielleicht war arbeit. Es entstand ein Projekt des LJCO mit ich zu sehr in andere musikalische Aktivitäten Anthony Braxton, das am Taktlos in Zürich, vertieft, um mich auf diesen Aspekt zu kon- Bern und Basel 1987 aufgeführt und ein Jahr zentrieren. später als fünfte Produktion von Intakt Re- In dieser Zeit hatte ich mich mit vielen Tour- cords veröffentlicht wurde. Auf ”Double Trou- neen und Aufnahmen auf die barocke und ble Two” (1996) kamen Marylin Crispell, Pier- klassische historische Musikpraxis konzent- re Favre und Irène Schweizer ins Spiel, auf riert und war auch an der kommerziellen Ses- ”Three Pieces” (1996) auch Maggie Nichols. sion-Szene in London beteiligt (Film, Fernse- Irène Schweizer spielte mehrere CDs mit dem hen, Pop usw.) sowie an zeitgenössischen LJCO ein, unter anderem ”Theoria” (1991) und Solo-Bassrezitalen und Kompositionen. Es das ”Schaffhausen Concert” (2008). war eine verrückte Lebensphase, und es ist PD/ZVG Kurzum: Die Zürcher Connection ein Wunder, dass ich überhaupt noch Zeit für schuf das Fundament für die produktivste freie Improvisationskonzerte fand. FOTO: Phase des Orchesters. Ermöglicht wurde dies Das Szenario änderte sich, als mir Patrik Lan- durch ein geschickt die vorhandenen Netz- dolt und Rosmarie A. Meier die Möglichkeit JNM: Beeinflussen die jüngeren Musiker, die in werke nutzendes Zusammenspiel von Takt- boten, das Orchester für Intakt Records auf- den letzten Jahren zum Orchestra gestossen los Zürich/Bern/Basel, Fabrikjazz, Kulturzent- zunehmen. Dies stellte eine höchst erstaunli- sind, auch Ihre Art des musikalischen Denkens