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John Culshaw (5) Der Herr der Klänge: John Culshaw - Pionier der Stereo - Aufnahmetechnik.

Eine der kontinuierlichsten und ganz offensichtlich für beide Seiten sehr erfreulichen und einvernehmlichen Kooperationen im Hause Decca entwickelte sich zwischen John Culshaw und Georg Solti. Siebzehn Jahre nach der ersten Zusammenarbeit 1949, also in jenem Jahr 1966, als der gemeinsame, epochemachende erste Stereo - Ring der Schallplattengeschichte einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wurde, da nahm Solti mit dem London Symphony Orchestra auch eine Anthologie unter dem Motto Romantisches Russland auf. Diese so glutvolle wie brillante Aufnahme wurde in der Kingsway Hall aufgenommen, produziert von John Culshaw und zusätzlich ausbalanciert von Gordon Parry, dem gleichen Team also, das für den musikalischen wie technischen Ausnahmerang des Solti - Rings verantwortlich zeichnete. Das Programm zeigte nahezu jede Facette von Soltis interpretatorischen Stärken und beginnt mit einer elektrisierenden Wiedergabe von Glinkas Ruslan und Ljudmila- Ouverture. Die atemberaubende Artikulation der Londoner Streicher muss man gehört haben, um sie für möglich zu halten.

------CD Decca 460 977 2 track 1 5’00 ------

Die Ouverture zu Mikhail Glinkas Oper Ruslan und Ljudmila mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Georg Solti. John Culshaw hat einmal versucht, zusammen mit seinen berühmten Kollegen Kenneth Wilkinson, Christopher Raeburn, Ray Minshull, Erik Smith, Gordon Parry und einigen andern, seine bahnbrechende Klangästhetik und – philosophie mit Worten so zu umreißen: Jede Tonaufzeichnung erfordert einen angemessenen Rahmen. Gleich, ob es sich um einen Konzertsaal oder eine Kirche handelt, um ein Kammermusikpodium oder ein Theater… der Ort, an dem sich Musiker versammeln, und wo Mikrophone aufgestellt werden, muss nicht nur dem Musikstil angemessen sein, sondern muss auch die sehr spezifischen Kriterien einer Schallplattenaufnahme erfüllen. Gute 2

Konzertsäle sind nicht automatisch optimale Tonstudios. Dieses Bemühen um Raum und Transparenz führte schließlich zu einem Aufnahmeverfahren mit einem völlig neuartigen Mikrophonmodus: dem berühmten Decca – Tree, dem Decca –Baum oder auch Decca – Dreieck. Ein Mikrophonsystem, das größere Klarheit und Tiefenstaffelung bei Musik-aufnahmen ermöglichst, und das nicht VOR, sondern IM und ÜBER dem Orchester installiert wird. Schon bei unseren ersten Versuchen in den fünfziger Jahren kamen wir zu der Überzeugung, dass die Positionierung von Stimmen oder Instrumenten auf unserer Klangbühne ein Gefühl der Räumlichkeit, Transparenz, Durchsichtigkeit und Durchhörbarkeit schaffen sollte. Das war immer unser oberstes Prinzip.

------CD Decca 460 977 2 track 5 ab 7’00 = 6’30 ------

Die Polowetzer Tänze aus Alexander Borodins Oper Prinz Igor mit dem London Symphony Orchestra und dessen Chor unter der Leitung von Georg Solti.

Unser nächster Künstler aus dem Decca - Stall der 50er und 60er Jahre hatte mit solchen Reißern, wie wir sie gerade gehört haben, eher wenig im Sinn. Was nicht heißen soll, dass er es in seinem Repertoire nicht auch hat krachen lassen. Aber seine Medienpräsenz und Teilhabe am musikalischen JetSet tendierte gegen Null, deshalb steht sein Name heute nur noch bei einer kleinen Schar von Conaisseuren hoch im Kurs, als Synonym für hervorrragende künstlerische Leistung, für Eigenwilligkeit und Unangepasstheit. Die Rede ist von dem Schweizer Dirigenten Peter Maag, geboren 1919 in St. Gallen. In dem weltoffenen, gastfreundlichen Haus von Maags Eltern verkehrten die Mitglieder der Busch - Familie ebenso wie Paul Hindemith und Fritz Reiner... wie und - Konstellationen, die das Weltbürgertum Maags entscheidend geprägt haben. Mit Mentoren wie in Sachen Klavierspiel und Wilhelm Furtwängler, was die dirigentischen Ambitionen anging, bewegte er sich in einem Umfeld, um das ihn sicher viele seiner jungen Kollegen beneideten.

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Aufhorchen ließen zuerst seine frühen Mozart – Einspielungen mit dem London Symphony Orchestra.

------CD Decca 466 500 2 track 12 3‘05 ------

Der erste Satz – Allegro spirituoso aus der G – Dur Sinfonie KV 318 von Wolfgang Amadeus Mozart mit dem London Symphony Orchestra und Peter Maag am Pult, aufgenommen 1959. Das wundervoll lebendige Spiel, zu dem der Dirigent das Orchester inspirierte, ist frühzeitig erkannt worden. Maags Realisierung Mozartscher Sinfonien und später auch Opern (die er leider nicht für Decca aufgenommen hat) eilte von Anfang an der Ruf stilvoller Eleganz, Anmut und Selbstsicherheit voraus.

Man schätzte die pointierte Phrasierung, die vorbildliche Klarheit...eine Musizierpraxis, die manches Element der historisierenden Aufführungspraxis um Jahrzehnte vorwegnahm. Mozart sei der Schlüssel zu seinem Musizieren, zur Musik überhaupt - das hat Maag immer wieder betont - und auch: Mozarts Musik sei dem Wesen nach Drama, nicht nur die Opern, sondern gleichermaßen Sonate und Sinfonie. Auf die Frage, was in diesem Verständnis bei Mozart das Drama ausmache, nennt er spontan.... den unfehlbaren, nie auftrumpfenden Geschmack, aber auch die Balance von ernsten und heiteren Elementen.

------CD Decca 466 500 2 track 11 3’50 ------

Eines der 4 Zwischenspiele aus der Bühnenmusik zur Tragödie Thamos, König von Ägypten KV 345 von Wolfgang Amadeus Mozart. Peter Maag leitete das London Symphony Orchestra. Ebenso hochgelobt wie Peter Maags frühe Mozart-Einspielungen wurden seine Mendelssohn - Interpretationen der späten 50er, frühen 60er Jahre. Ihre Frische und Spontaneität, ihre rhythmische Lebendigkeit und 4

Klarheit in der Textur sind seither kaum erreicht und schon gar nicht überboten worden. In Mozarts Werken sah er eine grundlegende Verwandschaft zu Shakespeare, auch das führt uns bei Maag zu Mendelssohn, nämlich über dessen Musik zum Sommernachtstraum. Sollten Sie diese Aufnahmen als schwarze Scheiben besitzen, meine Damen und Herren, dann schätzen Sie sich glücklich, und behalten Sie sie, denn sie erzielen seit geraumer Zeit absolute Höchstpreise auf dem Sammlermarkt. Ungeachtet der Tatsache, dass die Dritte Sinfonie und die Sommernachtstraum - Bühnenmusik mittlerweile in High - Tech Überarbeitung als CD vorliegen. Nirgendwo findet man in der Ouverture so federleichte, ätherisch schnelle und präzise Streicher, rhythmisch von unvergleichlichem Schwung. Und dann der Hochzeitsmarsch…. fein ausschwingend in den Violinen und Celli, gleichzeitig knattert es beispiellos im Blech, wie es eben nur bei Peter Maag am Pult klingt. Apollinisch und dionysisch - das waren für ihn eben keine Gegensatzpaare sondern zwei Seiten der gleichen Medaille.

------CD Decca 466 500 2 466 990 2 track 10 4‘37 ------

Der Hochzeitsmarsch aus Felix Mendelssohn - Bartholdys Sommernachtstraum - Bühnenmusik mit dem London Symphony Orchestra unter Peter Maag. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs kehrte er dem Big Business eines nur noch profitorientierten Musikbetriebs völlig unerwartet den Rücken, er zog sich ganz von der Welt zurück, um in einem buddhistischen Kloster in Hongkong wieder zu sich selbst zu finden. Die ganze Hektik des Musikbetriebs ...die Eitelkeiten - das alles hatte mit Musik nichts mehr zu tun. Ich war zu ehrgeizig geworden- zwischen mich und die Musik hatte sich ein Schatten gestellt. Solche Eigenwilligkeiten hat ihm die Musikindustrie nie verziehen. Nach seiner Rückkehr aus Asien war er aus den Karteien der tonangebenden Agenturen gestrichen. Dem unkonventionellen Maestro war dieser Sachverhalt nie Anlass für 5

Selbstmitleid oder Lamento. Er haderte nicht damit, hatte sich vielmehr, nicht nur aus Altersgründen, aus der Verwertungsmaschinerie der Musikindustrie zurückgezogen, wollte nur noch, auch wenn er damit vom großen Geld abgeschnitten war, nur noch unter Bedingungen arbeiten, die ihm und den ihm anvertrauten Musikern gut taten. So wirkte er im letzten Abschnitt seiner Karriere überwiegend in kleineren Zentren, dirigierte vornehmlich in Italien, das ihm zur zweiten Heimat wurde. An ein großes Orchester wollte er sich nicht mehr fest binden, keiner der marktbeherrschenden Konzerne hat ihn je wieder in nennenswertem Umfang unter Vertrag genommen. Schade, aber auch unter diesen in seinen letzten Lebensjahrzehnten erschienenen Einspielungen bei kleineren Labels lassen sich viele Preziosen entdecken Und wenn mir manchmal im Herbst oder Winter nach Mendelssohns Hebriden – Ouverture oder der Schottischen Sinfonie zumute ist, dann gibt es für mich einen ganz klaren Favoriten.

------CD Decca 466 990 2 track 2 4‘11 ------

Der zweite Satz: Vivace non troppo aus der Dritten Symphonie in a-moll , der Schottischen von Felix Mendelssohn Bartholdy. Peter Maag dirigierte das London Philharmonic Orchestra. Eine Aufnahme aus des Dirigenten Decca – Zeit vor rund einem halben Jahrhundert. John Culshaw hat in seinen beiden Büchern über seine zwanzigjährigen Erfahrungen in der Schallplattenindustrie eindringlich gezeigt, dass viele Aufnahmen der Schallplattengeschichte, die man heute als „Referenz“ bezeichnet, durch winzigste Zufälle, durch ein bisschen weniger Zielstrebigkeit um ein Haar niemals zustande gekommen wären. Unsere nächste Musik gibt dafür ein frappierendes Beispiel. Musik mit Kirsten Flagstad, einer der bedeutendsten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Die Kraft und die Fülle ihrer Stimme waren legendär und singulär. In den mörderischsten Rollen, die das gesamte Bühnenrepertoire kennt: als Brünnhilde und Isolde war sie von Mitte der Dreißiger bis Anfang der fünfziger Jahre weltweit unübertroffen. Nach einer letzten Isolde in London 1952 wollte sie aber keine Wagnerrollen 6 mehr singen, und verabschiedete sich in der Flagstad-typischen Art von ihrem Publikum, das ihr über Jahrzehnte die Treue gehalten hatte: aufrichtig, herzlich und unaffektiert. So überzeugend sie immer noch die First Lady des Wagnergesangs verkörperte: niemand hätte weniger von einer Primadonna an sich haben können. An diesem Punkt hätte normalerweise Flagstads Schallplattenkarriere geendet. Aber dann kam der norwegische Rundfunk und bat sie, mit 60 noch einmal die Brünnhilde zu singen, worauf sie sich als stets patriotische Norwegerin bereitwillig einließ. John Culshaw hatte von dieser Produktion Wind bekommen, und reiste rasch entschlossen nach Oslo. Er war seit Jahren infiziert von Wagner, besessen, gegen alle Widrigkeiten den gesamten Ring in der Luxusklasse einzuspielen, begeistert: menschlich und künstlerisch von Kirsten Flagstad. Die pflegte übrigens auf die Frage zu antworten, was unverzichtbar sei für einen Erfolg auf der Wagnerbühne: vor allem ein paar bequeme Schuhe. Culshaw pilgerte also nach Oslo, und bewies offensichtlich so überzeugende Fähigkeiten als Fruaenflüsterer, dass im Juni 1956 Wagners Wesendoncklieder und im Mai 1957 Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen und Kindertotenlieder aufgenommen wurden. Dass er versucht haben muss, die Flagstad mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für eine möglichst großflächige Beteiligung an dem Soltischen Ring zu gewinnen, der immer konkretere Formen anzunehmen begann, kann als sicher gelten, aber Mom Kirsten muss dem jungen Heißsporn dann doch klargemacht haben, dass es besser ist, sich auf weniges zu beschränken: Auf die Freia im Rheingold der Gesamtaufnahme, auf die Brünnhilde im 3. und auf die Sieglinde im 1. Akt der Walküre.

------CD Decca 421 877 2 track 5 4’54 ------

Der Männer Sippe saß hier im Saal – Kirsten Flagstad als Sieglinde im ersten Akt von Richard Wagners Walküre. Hans Knappertsbusch leitete die Wiener Philharmoniker in dieser 1958 entstandenen Aufnahme. Bei aller Begeisterung für Wagner John Culshaw selbst hat die Realisierung des Brittenschen War 7

Requiem als die Produktion bezeichnet, die ihn von allen am meisten erfüllt habe.

Man kann vermuten,dass seine persönliche enge Freundschaft mit Britten und Pears diese Einschätzung mitbeeinflusst haben. Jeder Musikfreund wird, wenn er zuhause seine Platten-Sammlung durchkramt, seine Favoriten benennen, die auf Initiative dieses kühnen Klangdesigners entstanden sind. Im Goldenen Buch der Tonaufzeichnung hat sich unser Protagonist aber weltweit und für alle Zeiten mit seinem ersten Stereo – Ring der Schallplattengeschichte unter Georg Solti verewigt.

In dem ihm eigenen distinctly britischen understatement schreibt er dazu im Beiheft der Götterdämmerung: Es ist mittlerweile üblich geworden, Wagners Regieanweisungen zu ignorieren, wir haben uns inzwischen an Rheintöchter gewöhnt, die nicht schwimmen, an einen Drachen, dessen Stimme aus den Kulissen ertönt, und an ein Pferd, das zwar mehrfach angesprochen und am Ende sogar in einen Scheiterhaufen geritten wird, das aber die ganze Zeit unsichtbar bleibt. Der Text wird unverständlich und geradezu absurd, wenn bestimmte Handlungen und Geräuscheffekte ausgelassen werden. So fiel der Schallplatte die Aufgabe zu, mit den Mitteln des Hörspiels das ursprünglich beabsichtigte Drama zu realisieren und sich dabei auf den Komponisten als höchste Autorität zu berufen. Ziel dieser Aufnahme war es daher, die Musik ebenso wie das Drama zum Leben zu erwecken, und zwar ausschließlich auf der akustischen Ebene.

Bei aller Komplexität und Monumentalität: Dieses gigantische Werk erfordert auch einen kammermusikalischen Ansatz, wie man ihn für die Einstudierung und Aufführung eines Streichquartettes erwarten würde. Jede einzelne Note hat eine musikalische Bedeutung, und trägt außerdem zur emotionalen und gedanklichen Dramaturgie des Werkes bei. Unter dem Gesichtspunkt einer Schallplattenaufnahme erschienen uns Wagners Ansichten, wie sie aus seinen Schriften und Regieanweisungen hervorgehen, als die einzig richtigen. Ein so umfangreiches Werk lässt sich nur im Ganzen erfassen, wenn man auch die kleinsten Einzelheiten 8 gründlich berücksichtigt hat. Sollten die Hörer zu der Auffassung kommen, dass Musik, Drama und Klang in dieser Aufnahme untrennbar miteinander verbunden sind, dann nehme ich es als Zeichen dafür, dass die Verantwortlichen ihr Ziel erreicht haben.

------Decca 414 115 2 Disc 4 track 15 ab 2’34 = 5‘50 ------

SvD: Der Herr der Klänge: John Culshaw – Pionier der Stereo - Aufnahmetechnik. Das war das Thema dieser Musikstundenwoche mit Rainer Damm. Zuletzt hörten Sie das Finale von Richard Wagners Götterdämmerung mit Birgit Nilsson als Brünnhilde und den Wiener Philharmonikern mit Georg Solti am Pult. Ein Ausschnitt aus dem ersten Stereo – Ring der Schallplattengeschichte.

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