Editorial

Kampf ohne Grenzen

An Warnungen hat es nicht gefehlt: Der syrische Bürgerkrieg, der in nunmehr über drei Jahren fast 200 000 Menschenleben gekostet hat, würde auf Dauer nicht auf syrisches Territorium beschränkt bleiben. Im Juni dieses Jahres über­ rannte die dschihadistische Miliz „Islamischer Staat“ (IS) die irakische Millio­ nenstadt Mossul, rückte bedrohlich nahe an Iraks Hauptstadt Bagdad im Süden und die vergleichsweise stabilen autonomen Kurdengebiete im Norden vor, zwang Hunderttausende zur Flucht und ermordet bestialisch alle, die sich ihr in den Weg stellen oder die sie als „Ungläubige“ brandmarkt – wie die islami­ sche Sekte der Jesiden. Die Kämpfe im Nahen Osten haben Grenzen und noch aus der Kolonialzeit stammende Ordnungen hinfällig werden lassen. Staaten zerfallen, so Rainer Hermann in dieser Ausgabe, weil sie im Grunde nie mehr waren als Selbst­ bedienungsläden für kleine Eliten. Neue Ordnungen sind noch nicht zu sehen und nicht zuletzt deshalb bleiben die Kämpfe des Nahen Ostens auch nicht auf die Region beschränkt. Nach einer weiteren, mit aller Härte geführten Ausein­ andersetzung zwischen Israel und der islamistischen Hamas in Gaza fanden in europäischen Städten Solidaritätskundgebungen statt, bei denen auch antisemi­ tische Parolen gebrüllt wurden. Und es ist alles andere als Angstmacherei, wenn man annimmt, dass Dschihadisten – zu denen auch junge Europäer sto­ ßen – ihren Krieg gegen den Westen auch im Westen führen wollen. Mit dem Vordringen der IS-Kämpfer gewinnt auch die Debatte über „Mehr Verantwortung“ Deutschlands an Dringlichkeit. Zum ersten Mal wird er­ wogen, Waffen auch in Kriegsgebiete zu liefern. Dabei bleibt zu bedenken: Verantwortung bedeutet oft Abwägung zwischen schlechten (Waffenlieferun­ gen) und noch schlechteren Optionen (ein von einer genozidalen Miliz geführ­ ter Terrorstaat mit Zugriff auf Ölressourcen). Und wer mehr Verantwortung übernimmt, muss wissen, wer die wichtigsten Partner auch außerhalb der EU sind. Für die Deutschen, das ergab unsere IP-Forsa-Umfrage, ist das klar: Allen Diskussionen über Bespitzelungen zum Trotz sind das immer noch die USA.

DR. SYLKE TEMPEL Chefredakteurin

IP • September / Oktober 2014 1 Inhalt

4 IP-Forsa-Frage: Deutschlands Partner

SCHWERPUNKT Kampf ohne Grenzen 8 Rainer Hermann Nach dem Staatszerfall Bild nur in Noch zeichnet sich keine neue Printausgabe arabische Ordnung ab 16 Akteure im Überblick verfügbar Mächte und Milizen Guido Steinberg (IS), Hassan Mneimneh (Irak, Katar), Günther Seufert (Kurden, Türkei), Meir Javedanfar (Hisbollah, Iran), Henner Fürtig (Saudi-Arabien), 8 Auseinanderfallen Andreas Jacobs (Ägypten) Die arabische Welt befindet 40 Interview mit Gershon Baskin sich in der tiefsten Krise seit dem Mongolensturm „Abbas ist ein Partner, die Hamas nicht“ Warum Frieden in Nahost möglich ist

45 Florence Gaub Prinzipienfragen Wie in der arabischen Welt internationale Bild nur in Politik gemacht wird Deutschlands Partner Printausgabe 50 Jochen Bittner Unverzichtbar, trotz allem verfügbar Warum das Bündnis mit Amerika für uns strategisch alternativlos ist

56 Jacob Heilbrunn Her mit der Charmeoffensive! Deutschland und die USA verbindet weit 50 Zusammenhalten mehr als sie trennt Wie die transatlantische Partnerschaft neu belebt 60 Annegret Bendiek werden könnte Abschied von der Juniorpartnerschaft Ohne seine europäischen Partner wird

Fotos Titel: © Stringer / REUTERS Titel: Fotos 3: EdStock/iStockphoto picture alliance/dpa; Seite Seite 2: © Stringer/Reuters/Corbis, Inhalt: Fotos Berlin in Washington kaum Gehör finden

2 IP • September / Oktober 2014 Bild nur in Printausgabe verfügbar

118 Merkels Meinung Was Joachim Gauck, Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen in der Außen-, Europa- und Sicherheits- politik für richtig halten, wissen wir spätestens seit der Münchner Sicher- heitskonferenz. Doch was sagt eigentlich die Kanzlerin dazu? Das ist weniger schwer zu ermitteln als man zunächst glauben mag

Gegen den Strich 68 Christoph von Marschall Obamas Außenpolitik Die Bilanz des US-Präsidenten ist besser als viele behaupten

Geheimdienste 74 Rhodri Jeffreys-Jones Eine Frage der Etikette Die Spionage gegen Deutschland zeugt von amerikanischer Unreife Sicherheitspolitik 107 Philipp Rotmann Argentinien Stabile Fragilität 78 Ingo Malcher Für mehr Realismus in der internationalen Unter Geiern Konfliktbearbeitung Der Fall Argentinien zeigt: Die Welt braucht ein Insolvenzrecht für Staaten 114 Karl-Heinz Kamp Jenseits der Ukraine-Krise Entwicklungsbanken Fünf aktuelle Fragen, auf die die NATO 88 Rolf J. Langhammer Antworten finden muss Ein klares Signal ... aber auch nicht viel mehr: Der BRICS- Essay Bank fehlt noch ein Geschäftsmodell 118 Andreas Rinke Keine Sphinx an der Spree China Was und wie die Bundeskanzlerin außen- 92 Jonathan Fenby und europapolitisch denkt Maschinist der Macht Xi Jinping häuft immer mehr Einfluss an – 128 Brief aus … Kabul | Ronja v. Wurmb-Seibel um die Herrschaft der KP zu retten Was man aushält

Umweltpolitik 130 Internationale Presse | Andreas Stein 97 Sven Titz Burgfrieden in der Ukraine Kleine Schritte statt großer Wurf Wie sich der Klimaschutz auch ohne 134 Buchkritik | Lenz Jacobsen, Andreas Eckert globales Abkommen vorantreiben lässt Jäger und Sammler Ressourcen 102 Marco Overhaus und Kirsten Westphal 144 Schlusspunkt | Alan Posener Kein Rückzug in Sicht Raketen vom Schwarzmarkt Trotz Schieferrevolution bleiben die USA am Persischen Golf 142 Impressum

IP • September / Oktober 2014 3 IP-Forsa-Frage

Deutschlands Partner IP|09 /10|14

Die USA sind alles in allem der zurzeit wichtigste politische Partner Deutschlands außerhalb Europas

Nein 26 %

Ja 68 %

Unterschiedliche Bewertungen nach Altersgruppen

19 % 26 % 27 % 37 % 57 % 68 % 68 % 75 %

18 – 29-Jährige 30 – 44-Jährige 45 – 59-Jährige 60 Jahre und älter

… und nach Parteienpräferenz

18 % 26 % 38 % 30 % 76 % 73 % 58 % 61 %

CDU / CSU SPD Linke Grüne

Datenbasis: 1004 Befragte in Deutschland. Erhebungszeitraum: 12.–14. August 2014. An 100 % fehlende Angaben: „weiß nicht“. Statistische Fehlertoleranz: + / – 3 Prozentpunkte. Quelle: Forsa.

4 IP • September / Oktober 2014 IP-Forsa-Frage

Deutschlands Partner IP|09 /10|14

Wenn nicht die USA: Welches Land ist zurzeit der wichtigste politische Partner Deutschlands?

China 39 %

Russland 27 %

Indien 6 %

keines davon 28 %

Allen Problemen zum Trotz: Es steht nach wie vor gut um die transatlantische Partnerschaft. Das zeigen die Ergebnisse der IP-Forsa-Frage. Mehr als zwei Drittel der befragten Bundesbürger (68 Prozent) meinen, dass die USA der zurzeit wichtigste Partner Deutschlands außerhalb Europas sind, nur ein gutes Viertel (26 Prozent) ist nicht dieser Ansicht. In dieser Frage sind sich Ost- und Westdeutsche weitgehend einig (64 Prozent bzw. 68 Prozent für „Ja“). Unterschiede zeigen sich jedoch in den Alterskohorten: Besonders zahlreich sind die Befürworter der transatlantischen Partnerschaft unter den über 60-Jährigen (75 Prozent) und den Anhängern von CDU und CSU (76 Prozent), während die unter 30-Jährigen mit 57 Prozent und die Anhänger der Links­ partei hier, allerdings nur vergleichsweise knapp, mit 58 Prozent unter dem Durchschnitt liegen. Von den Befragten, die die USA nicht für den wichtigsten Partner Deutsch- lands außerhalb Europas halten, geben 39 Prozent ihre Präferenz für China, 27 Prozent für Russland­ und nur 6 Prozent für Indien. Die jüngste Altersgruppe­ der 18- bis 29-Jährigen ist in der Frage nach dem wichtigsten Partner am brei- testen aufgestellt; mit 34 Prozent steht auch für sie China an der Spitze (sonst 39 Prozent), für Russland können sich nur 29 Prozent entscheiden, 18 Prozent, und damit weit über dem Durchschnitt der zwischen 1 und 4 Prozent rangie- renden älteren Altersgruppen, nennen auch Indien als wichtigsten Partner. Insgesamt wollten sich 28 Prozent für keines dieser Länder entscheiden.

IP • September / Oktober 2014 5 © picture alliance/dpa

Juli / August 2014 Nr. 4 69. Jahr € 14,90 Österr. € 17,00 2728 CHINACONTACT Leserreise

Spannende Auswärtstaktik Chinareise mit Neue Ideen für Deutschlands Außenpolitik Businessprogramm ab € 2.230,– In ihrer jüngsten Ausgabe nahm INTERNATIONALE Limitierte Teilnehmerzahl! POLITIK den von Außenminister Frank-Walter Stein- meier angestoßenen „Review 2014“-Prozess auf, in

Auswärtstaktik dessen Verlauf die Grundlagen und Ziele deutscher China besser verstehen Außenpolitik überdacht werden sollen. Dies führen Ein Blick hinter die Kulissen des chinesischen Wirtschaftswunders wir in dieser und in folgenden Ausgaben fort – mit Reisen Sie nach Chengdu und Chongqing und entdecken Sie die Provinz Sichuan vom 31.10.2014 – 8.11.2014 Anmeldeschluss: 31.7.2014 einem Blick auf Deutschlands Beziehungen zu ➜ weitere Infos und Anmeldung: www.owc.de/leserreise OWC-Verlag für Außenwirtschaft GmbH Wahlen Gaza Sicherheit Frau Marlene Bartl • [email protected] Berliner Allee 67, D-40212 Düsseldorf Die Ukrainer stehen für Kontrolle, Armut, ewiger Vorschläge von Xenia Tel. +49 211 550426-16 westliche Werte ein, EU- Widerstand – so regiert Dormandy und Kathleen seinen wichtigsten Partnern in der Welt. Den Fax: +49 211 550426-55 4 Bürger nicht. Ein Essay die Hamas. Eine Reportage McInnis für eine NATO 2014 von Richard Herzinger von Silke Mertins der Zukunft Anfang machen die USA.

1 IP • September/Oktober 2014 Deutschlands Partner

Im Kalten Krieg war die transatlantische Partnerschaft gelebte Realität, heute sind die deutsch- amerikanischen Beziehungen so belastet wie lange nicht: Zeit, sich auf die Grundlagen des weiter unverzichtbaren Verhältnisses zu besinnen und die Aussprache über Differenzen zu suchen.

IP • September/Oktober 2014 2 Kampf ohne Grenzen

Nach dem Staatszerfall In der arabischen Welt zeichnet sich noch keine neue Ordnung ab

Rainer Hermann | Die politische Landkarte im Nahen und Mittleren Osten löst sich auf. Syrien, Irak, Libyen, Jemen, Ägypten – die Liste der zerfallen- den Staaten ist lang. Dafür entstehen konfessionell legitimierte Ordnungen oder neue Entitäten, die durch lokale Milizen und Warlords beherrscht werden.

Die Proteste des Jahres 2011, die wegen der unzutreffenden Bezeichnung ­„Arabischer Frühling“ unrealistische Erwartungen geweckt hatten, haben einen Prozess angestoßen, der unvermeidbar war: den Zerfall von Staaten, die nie Na­tionalstaaten waren, und die Auflösung von Grenzen, die einst von den Kolonialmächten gezogen worden sind. Hundert Jahre später geht die postkolo­ niale Übergangsepoche im Nahen und Mittleren Osten zu Ende, ohne dass sich bereits die Konturen einer neuen arabischen Ordnung abzeichneten. Die arabische Welt befindet sich in der tiefsten Krise seit dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert und der Zerstörung von Bagdad im Jahr 1258. Der Aufruhr, der aller Voraussicht nach noch lange anhalten wird, hat lokal agierende zentrifugale Kräfte freigesetzt, die sich von den Zentren der alten Staaten lösen. Damit verändern sie die Ordnung, die noch die europäischen Kolonialmächte entworfen hatten und die arabische Autokraten seither zu ihrem Vorteil verteidigt haben. Doch die Prozesse verlaufen nicht überall gleich. Man kann drei große Re­ gionen unterscheiden: In Nordafrika bestehen mit Ägypten, Tunesien und Marokko drei Staaten mit einer nationalen Identität, die sich über lange Zeit­ räume gebildet hat. Sie sind stabil, auch wenn sie unterschiedliche­ Wege ein­ schlagen: Ägypten ist eine repressive Diktatur, Tunesien eine bislang funktio­ nierende Demokratie, Marokko eine aufgeklärte Monarchie. In Libyen hin­ gegen zerfällt der Staat. In Algerien ist die Frage, wie lange die Armee das Land ruhig halten kann. Für die Staaten auf der Arabischen Halbinsel trifft unverändert die Formu­ lierung „Stämme mit Flaggen“ zu. Mit dieser abfälligen Bemerkung hatte der ägyptische Diplomat Tahseen Bashir in den siebziger Jahren die neuen ­Staaten auf der Arabischen Halbinsel charakterisiert. Diese sind stabiler als arabische

8 IP • September / Oktober 2014 Nach dem Staatszerfall

Republiken, weil die traditionellen Stämme den gesellschaftlichen Zusammen­ halt sichern und damit die Identifizierung mit dem neuen „Staat“– der ledig­ lich eine moderne Fassade der bisherigen Stammes­ordnung ist, denn es ist ja nur die Flagge, die dieses Gebilde zum Staat macht. Die Staaten der Levante hingegen lösen sich auf. Hier hatten die Kolonial­ mächte am stärksten eingegriffen: mit der Aufteilung der kolonialen Interes­ sensgebiete und dann 1916 mit der Ziehung der Grenzen durch zwei Diploma­ ten, den Franzosen François Georges-Picot und den Engländer Mark Sykes, sowie mit der britischen Balfour-Deklaration von 1917, die versprach, in Paläs­ tina eine „nationale Heimstätte“ für das jüdische Volk zu errichten. In Syrien und im Irak sind die alten Ordnungen zerstört, der Konflikt greift auf den Li­ banon über, und wie ein Wunder bleibt Jordanien von den Umwälzungen bis­ lang verschont.

Warum zerfällt der Staat, wenn er eine religiöse Notwendigkeit ist? Der Staatszerfall ist umso erstaunlicher, als es den Muslimen aufgetragen ist, in Staaten zu leben. Denn nur so sei es ihnen möglich, ihren Glauben zu prakti­ zieren. Der Staat war für die Muslime in der Frühzeit des Islams ein Geschenk Allahs. Seine wichtigste Aufgabe sollte es sein, jedem Muslim ein gutes Leben nach den religiösen Grundsätzen zu ermöglichen. Fortan war das die wichtigs­ te Aufgabe der Herrscher, Kalifen und Sultane. Die traditionelle sunnitisch-is­ lamische Theologie geht sogar so weit zu sagen, ein Leben unter einem Despo­ ten sei einem Leben in der Anarchie vorzuziehen. Ein Herrscher stand an der Spitze der Gemeinschaft der Muslime, der Umma, die keine ethnischen, regionalen und sozialen Unterschiede kennen sollte. Nach dem Untergang der ersten islamischen Groß­ reiche der Omayyaden in Damaskus (661 bis 750) und der Eigentlich brauchen Abbasiden in Bagdad (750 bis 1258) etablierten sich regio­ Muslime einen Staat, um nale Staaten, die stabile Ordnungen garantierten. Das Os­ manische Reich (1399 bis 1922) akzeptierte neben der ihren Glauben zu leben „Millet“, also der „Nation“, der Muslime auch „Millets“ anderer Religionsgruppen wie der griechisch-orthodoxen und armenischen Christen. Der osmanische Sultankalif hatte dafür zu sorgen, dass auch sie in Frieden leben konnten. Wenn es einem Muslim aufgetragen ist, in einem Staat zu leben, warum lösen sich dann heute Staaten auf? Und was tritt an ihre Stelle? Staaten wie Syrien, der Irak oder der Jemen zerfallen, weil die Eliten dieser politischen Ordnung keinen Sinn gegeben haben und weil heute zu viele Menschen der Überzeugung sind, dass ihnen der Staat, in dem sie leben, keinen Vorteil bringt. Sie suchen einen neuen Kitt, der einen kleineren, aber homogenen Ausschnitt aus der Gemeinschaft zusammenhalten kann. Der hat dann Bestand, wenn er seinen Mitgliedern geben kann, was ihnen die Staaten, vor allem die Republi­ ken des 20. Jahrhunderts, vorenthalten haben: soziale Sicherheit, wirtschaft­ liches Wohlergehen, gesellschaftlichen Frieden. Syrien, der Irak und Libyen­ sind gescheitert, weil sie kolonial-künstliche Staatsgebilde ohne deckungs­

IP • September / Oktober 2014 9 Kampf ohne Grenzen

gleiche Nation sind. In Ägypten stimmen die Grenzen zwar mit einem Volk überein, das sich – bis auf die Nubier – als ägyptisch definiert. Dort findet zwar keine Desintegration wie in Syrien, dem Irak und Libyen statt, die immer tiefer in immer brutaleren Bürgerkriegen versinken. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie als Staaten gescheitert sind. In diesen Staaten herrschten kleine Eliten. Ihren Kern bildeten seit dem Ende der Kolonialzeit und der Unabhängigkeit die Armee und der Sicherheits­ apparat sowie die Spitzen von Bürokratie und Medien. Sie kontrollierten die Ressourcen des Staates, nahmen den größten Teil für sich und gaben der Be­ völkerung nur, was übrig blieb; und sie kontrollierten mit dem umfangreichen ­Sicherheitsapparat auch die Bevölkerung. Diese Eliten brauch(t)en den Staat, der ihnen ein gutes Leben ermöglicht hat, aber nicht die Bevölkerung. Gering ist die Bindung der Eliten an die Bevölkerung vor allem dort, wo sie über Ren­ teneinnahmen verfügen. Dazu gehören das Erdöl, etwa im Irak und in Libyen, und in Ägypten auch die Einnahmen aus dem Suez-Kanal. Wer von Renten­ einnahmen, aber nicht von den Steuern der Bürger lebt, braucht auch keine Bürger. Die Bevölkerung aber erkannte in solchen Staaten einen immer gerin­ geren Nutzen für sich. Weil der Staat nur für die Elite da war, aber nicht für die Gesellschaft, kam er einer seiner wesentlichen Aufgaben nicht nach, nämlich eine Solidargemein­ schaft zu sein: Wann immer jemand in Not geriet, sei es Der Staat war nur für durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit, der Staat half und die Elite da, nicht für den hilft ihm nicht. Durch seine repressive Politik – zuletzt etwa im Irak unter dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri gemeinen Bürger al-Maliki – erfüllte er auch seine Aufgabe nicht, gesellschaft­ lichen Frieden zu stiften. Wenn diese Staaten zerfallen, dann deshalb, weil die Menschen es so wollen. Wenn der Staat versagt und die Men­ schen in ihm keinen Nutzen sehen, weshalb sollten sie an ihm festhalten?­ Die postkolonialen Staaten sahen zwar von außen aus wie Staaten – mit staatlichen Institutionen wie einer Justiz, einer Währung und einer Armee, mit einer Bürokratie, einer Regierung und oft einem aus formalen Wahlen hervor­ gegangenen „Parlament“. Ihnen fehlte aber das moderne Konzept des Staatsbür­ gers. Das wird bereits im arabischen Begriff für „Bürger“ sichtbar. Das Arabi­ sche gebraucht dafür „muwatin“. Der Begriff ist von „watan“ abgeleitet, was „Geburts- und Wohnort“ bedeutet. Der „muwatin“ ist damit ein „Mitbürger“ im Sinne eines „Landsmanns“, aber kein Staatsbürger im modernen liberal- demokratischen Verständnis. Die Eliten der Staaten haben sich gegenüber dem „muwatin“ auch so verhalten. Ein „muwatin“ darf man sein, aber Opposition gegenüber den Eliten war und ist nicht erlaubt. Die Bürger eines Staates waren also nie gleichberechtigt, hatten nie die glei­ chen Chancen, nicht im Alltag, nicht vor den Gerichten. Wer nicht zur Elite eines Staates gehörte oder ihre Protektion genoss, war marginalisiert. Im Irak von Saddam Hussein wurde erst die Mehrheit der religiösen Schiiten an den Rand gedrängt, im Irak nach ihm sind es die Sunniten; im Syrien der Assad- Dynastie hatten Alawiten und Angehörige anderer Minderheiten mehr Chan­

10 IP • September / Oktober 2014 Bild nur in Printausgabe verfügbar

cen als die sunnitische Mehrheit; in Ägypten hatte sich an der Spitze der Die Staaten der Machtpyramide ein klientelistisches System gebildet, bei dem die Sicherheits­ Levante lösen sich auf: die Ruinen kräfte, die führenden Vertreter der staatlichen Bürokratie und kooptierte Un­ eines Wohnhauses ternehmer das Sagen hatten – und es seit dem Putsch vom 3. Juli 2013 wieder in Aleppo nach haben. Ein Klassensystem bildete sich heraus, gegen das seit wenigen Jahren einem Luftangriff der Assad-treuen nun diejenigen aufbegehren, die ausgeschlossen waren. syrischen Luftwaffe

Drei Varianten neuer Ordnung Was tritt an die Stelle des alten Staates, wenn er die an ihn gerichteten Erwar­ tungen nicht mehr erfüllen kann? Drei Varianten zeichnen sich ab: eine kon­ fessionell legitimierte Ordnung; Sicherheit gewährleistende lokale Milizen; in der Anarchie gedeihende Warlords. Die arabische Welt kennt Beispiele für alle drei Varianten. Sie füllen auf absehbare Zeit das Vakuum dort, wo es keine Staatlichkeit mehr gibt. Sie überlappen sich und sind im Fluss. Unklar ist, wie viel von der alten Ordnung doch noch gerettet werden kann, zumal der Westen eine Veränderung von Grenzen eigentlich nicht akzeptieren will. Gemeinsam ist den drei Varianten, dass sie sich auf die kommunale Ebene konzentrieren, dass sie einen hohen Grad an Autonomie haben und dass sie ethnisch wie religiös homogener sind als die alten staatlichen Konstrukte, womit in den neuen Entitäten die Wahrscheinlichkeit für Konflikte abnimmt. So kehren (zumindest vorläufig) Strukturen zurück, die denjenigen ähneln, die bis zum Ersten Weltkrieg Bestand hatten. Damals hatte das Osmanische Reich den „Millets“ und regionalen Herrschern Autonomie zugestanden, solange sie die Oberherrschaft der Hohen Pforte anerkannten. Der Unterschied zu damals ist, dass es heute weder eine starke islamische Ordnungsmacht gibt, wie es damals – wenn auch mit Abstrichen – das Osma­

IP • September / Oktober 2014 11 Kampf ohne Grenzen

nische Reich war, und auch keine externe Ordnungsmacht wie die Kolonial­ mächte Großbritannien und Frankreich. Letztere sind längst keine globalen Akteure mehr; auch der Einfluss der Vereinigten Staaten schwindet in der Re­ gion. Das Fiasko im Irak, das Zuwarten in Syrien und die Unfähigkeit, im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern eine friedliche Lösung herbei­ zuführen, haben das Vertrauen in die Fähigkeiten Amerikas reduziert. Das Vakuum ist noch bedrohlicher, weil keine Ideologie in Sicht ist, die der arabischen Welt Heil verspricht. Der arabische Nationalismus hat ausgespielt, zuletzt als faschistoide Ideologie baathistischer Minderheitsregime in Syrien und im Irak. Ohne Staat und ohne große Ideologie wird der Islam zum wich­ tigsten identitätsstiftenden Bindemittel.

Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten Da der Staat keine Solidargemeinschaft ist, in der beispielsweise Syrer und Iraker Sicherheit finden, organisieren sie sich in eigenen Sozialstrukturen. Dazu eignen sich Konfessionen, bei denen sich Menschen über ihr religiöses Bekenntnis definieren und bei denen ein Konsens besteht. Dieses soziale Mi­ lieu wird zum neuen Raum gegenseitiger Absicherung. Konflikte finden nun nicht mehr innerhalb von Staaten statt, sondern zwischen neuen sunnitischen und schiitischen Entitäten. Die Folge ist der konfessionell aufgeladene Kampf, der sich heute in der Levante abspielt. Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ist in dieser Schärfe neu. In der Vergangenheit hatten sie sich in Staaten Erst der Staatszerfall gab aufgehoben gefühlt; als das nicht mehr der Fall war, sorgten den Konfessionen ihre die Sicherheitsapparate dafür, dass alles ruhig blieb. Nun ist die Angst gewichen; jeder Einzelne findet Sicherheit bei politische Bedeutung seinen Glaubensbrüdern und -schwestern. So hat erst der Zerfall der Staaten den Konfessionen die politische Bedeu­ tung gegeben, die sie heute haben. Bei den konfessionell begründeten quasistaatlichen Gebilden sind zwei Ver­ sionen erkennbar: der „islamische Staat“ (daula islamiyya) der Dschihadisten sowie ein religiös begründeter „säkularer Staat“, der „zivile Staat“ (daula mada­ niyya) der gemäßigten Islamisten und vor allem der Muslimbrüder. Der islami­ sche Staat ist die politische Form einer Terrorgruppe, die im Irak von 2003 an aus dem Kampf gegen die amerikanischen Besatzer entstanden war und die von 2012 an im Aufstand gegen den syrischen Staat unter Präsident Baschar al-Assad der militärisch wichtigste Flügel wurde. Die äußerste Brutalität bei der Ausmerzung von Andersgläubigen, vor allem Christen und Jesiden, aber auch Schiiten und liberaler Sunniten, hat dazu geführt, dass sich selbst die Führung von Al-Kaida von diesen sunnitischen Extremisten distanziert hat. Und doch hat sich IS, der „Islamische Staat“, dessen Führer Abu Bakr al- Baghdadi sich zum Kalifen mit Namen Ibrahim ausgerufen hat, entlang des Euphrats ausgebreitet und in den sunnitischen Provinzen des Irak Fuß gefasst. Er nennt sich nicht nur Staat, er ist es auch. Der zivile Arm des „Islami­ schen Staates“ treibt Steuern und Zölle ein, erpresst aber auch Schutzgelder an

12 IP • September / Oktober 2014 Nach dem Staatszerfall

den Checkpoints seines neuen Herrschaftsbereichs. Er kümmert sich auch um die Infrastruktur; die Bewaffneten sorgen für Ruhe und Ordnung, die zur sprichwörtlichen Friedhofsruhe wird. Vieles spricht dafür, dass dieser „Islami­ sche Staat“ auf Dauer nicht existenzfähig ist. Kein Staat würde ihn anerken­ nen, ein legaler Handel mit einem solchen Terrorstaat ist nicht denkbar. Damit fehlten ihm aber zum Beispiel Ersatzteile, um einen Ölbohrturm, ein Kraftwerk oder auch nur eine Bäckerei zu reparieren. Und wo soll der „Islamische Staat“ sein Erdöl vermarkten? Andererseits gibt es Berichte, nach denen sich das Leben in diesen – nur noch rein sunnitischen – Regionen „normalisiert“, wenn auch mit den Mit­ teln einer Terrorherrschaft, die einen rigiden Moralkodex durchsetzt. So sol­ len Bürger vor der Unsicherheit aus Aleppo in den Herr­ schaftsbereich des „Islamischen Staates“ geflüchtet sein. Der „Islamische Staat“ Zudem war das heutige Königreich Saudi-Arabien in den treibt Steuern ein und zwanziger Jahren unter ähnlichen Bedingungen entstan­ den: Eine puritanische, Ikhwan genannte Kriegerbande sorgt für die Infrastruktur hatte unter Führung des späteren Königs Abdelaziz den größten Teil der bis dahin zersplitterten Arabischen Halbinsel erobert und vereinigt – mit Blut, aber nicht mit der Barbarei des „Islamischen Staates“. Danach entmachtete Abdelaziz die Kriegerbande und gründete den Staat der Dynastie Al Saud. Den „Islamischen Staat“ aber, der aus dem Kampf gegen als schiitisch wahr­ genommene Herrscher in Damaskus und Bagdad hervorgegangen ist, lehnen die meisten sunnitischen Muslime ab. Sie ziehen einen „zivilen Staat“ vor, wie ihn die Muslimbrüder als theoretisches Konstrukt entwickelt haben. Das ist ein weitgehend säkularisierter Staat, der aber auf den Werten des Islams gründet. Diese Form besteht weiter nur in der Theorie, da es noch keine Gelegenheit zur praktischen Umsetzung gegeben hat.

Milizenherrschaft in Libyen In Syrien und im Irak definieren sich die meisten Gruppen, die einander be­ kämpfen, über ihre Religion. Das ist in Libyen anders. Dort sind nahezu alle Einwohner sunnitische Muslime. Libyen bietet Anschauungsunterricht für eine andere Variante des Staatszerfalls: Mehr als 200 lokale Milizen haben die Waffenarsenale und damit die Kontrolle über das Land übernommen. Wäh­ rend im Westen das Auseinanderfallen eines Staates für viele eine Horrorvor­ stellung ist, wollten die Libyer genau das. Denn die vielen lokalen Milizen er­ füllen die staatlichen Aufgaben besser, als es der bisherige Staat getan hat. Lokale Milizenführer, die wie Oligarchen handeln, erheben Steuern und bie­ ten den Menschen im Gegenzug Leistungen an, indem sie beispielsweise Un­ ternehmen betreiben und damit Arbeitsplätze schaffen. Außerhalb der großen Zentren Tripoli und Benghasi garantieren diese Mi­ lizen Sicherheit – oft in Kooperation mit kleinen, allein nicht handlungsfähigen staatlichen Sicherheitskräften; sie übernehmen Aufgaben der Polizei und er­ richten Straßenkontrollen. In der Hauptstadt Tripoli und in Benghasi verfolgen

IP • September / Oktober 2014 13 Kampf ohne Grenzen

sie in einem blutigen Machtkampf jedoch ihre eigenen politischen Interessen. Dabei bekämpfen sich die zwei mächtigsten Milizen. Die aus Misurata steht an der Seite der Islamisten, die aus Zintan an der Seite des aufständischen Gene­ rals Khalifa Haftar, der eine säkulare Allianz schmiedet und von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Westen unterstützt wird. Die konfessionell definierten Regionen sind großflächig, die der Milizen viel kleiner. Noch kleiner sind die Herrschaftsgebiete der lokalen Warlords, wie es sie vor allem in Syrien gibt. Je länger der Konflikt dort dauert, desto mehr eta­ blieren sie sich als lokale Herrscher. Ihre Einbindung in neue staatliche Struk­ turen wird schwierig werden. Viele von ihnen stehen an der Spitze von einer der mehr als tausend lokalen Milizen. Sie leben von der Kriegswirtschaft und haben kein Interesse an einer friedlichen Ordnung. Ein Beispiel sind die „nationalen Selbstverteidigungskräfte“, die Funktio­ nen der syrischen Armee erfüllen. Die ersten von ihnen wurden im November 2012 zum Schutz von Ortschaften in der Provinz Homs ge­ In Syrien etablieren gründet. Die regimetreuen Shabiha-Banden waren zwar sich Warlords als 2011 bei der Niederschlagung der Proteste wichtig, hatten aber danach bei militärischen Operationen keine Bedeutung lokale Herrscher mehr. Zunächst haben sie noch einzelne Orte beschützt. Die „nationalen Verteidigungskräfte“ bestehen aus freiwilligen Zivilisten, ihre Einheiten sind immer mehr formalisiert, und sie verfügen über eigene Waffen. Ihre Stärke wird auf 100 000 Mann geschätzt. Sie sind eine Gefahr, weil sie keinem zentralen Kommando unterstehen und leicht von an­ deren als Söldner angeworben werden könnten.

Ein Flickenteppich neuer Allianzen Der Nahe und Mittlere Osten ist seit 2011 zu einer hybriden Ordnung mit staatlichen und quasistaatlichen Elementen geworden. Der Flickenteppich mit konfessionell definierten Regionen sowie der Herrschaft von Milizen und War­ lords zeigt, wie sich die bisherigen Grenzen faktisch auflösen. Kriege und wech­ selnde Allianzen werden eine neue politische Landkarte hervorbringen. Möglicherweise wird es dann statt einem Irak drei neue Staaten geben – einen schiitischen, einen kurdischen und einen sunnitischen, der sich bis auf das heutige Territorium Syriens erstrecken kann. In Syrien wird die bisherige Republik entlang der Achse Damaskus – Aleppo und entlang der Mittelmeer­ küste weiter bestehen; die Kurden werden ihre Autonomie nicht abgeben­ und sich von den sunnitischen Arabern fernhalten; Bestand haben könnte ein sun­ nitisches Rebellengebiet südlich von Damaskus. Libyen ist in den Grenzen des bisherigen Staates nicht zu halten, nicht einmal in den Grenzen der drei histo­ rischen Provinzen Tripolitanien, Cyreneika und Fezzan; das Land reiht sich wie bereits Somalia in die Liste der „failed states“ ein. Auch im Jemen kontrolliert die Zentralregierung das Land nicht mehr; es zerbricht in mindestens vier Teile, wobei neben der Religion (die Huthis im Norden sind Schiiten) die Stämme als Solidargemeinschaft eine Rolle spielen. Der Rest der Arabischen Halbinsel mit den sechs Staaten des Golf-Koopera­

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tionsrats wird noch länger als ein Jahrzehnt stabil bleiben. Danach reichen die Öleinnahmen nicht mehr aus, um sich weiter die Loyalität der Bevölkerung zu erkaufen. Dann werden die Menschen Steuern zahlen und politische Partizipa­ tion einfordern.

Ein bedrohliches Vakuum Die Auflösung der Grenzen hat begonnen. Der Westen schreckt vor ihrer Neu­ ziehung und dem Entstehen neuer Staaten zurück – aus Angst vor den damit verbundenen Turbulenzen. Zustimmung kommt nicht einmal für einen Kur­ denstaat auf, obwohl er faktisch bereits existiert. Weshalb soll es aber nicht drei Iraks geben, wenn der eine Irak nicht funktioniert hat? Weshalb soll es nicht sechs oder mehr Libyen geben, wenn das eine Libyen nicht zusammengehalten werden kann? Eine anhaltende Staatenlosigkeit birgt Gefahren für die regionale Sicher­ heit. Erstes zeigen die Lehren aus dem Fall Libyen, dass bei einem Staatszerfall Waffen frei zirkulieren. Waffen aus libyschen Beständen befinden sich heute in den Händen von Dschihadisten in Mali und anderswo in Afrika, in Syrien und im Irak. In Syrien sind heute Waffen Der Neuanfang muss im Umlauf, die jeden Staat bedrohen. Zweitens können von innen kommen und sich Schmuggler frei bewegen, und für kriminelle Vereini­ gungen gibt es keine Hindernisse mehr, wenn die Grenzen geht einher mit Anarchie fallen. Mit Waffen handeln, Dschihadisten anwerben und in die Schlacht schicken – das ist die Welt der dschihadistischen Internationa­ le. In Syrien sind heute mehr Dschihadisten, als in den zwölf Jahren des Af­ ghanistan-Konflikts Dschihadisten am Hindukusch gekämpft haben. Syrien aber liegt vor den Toren Europas. Der Staatszerfall in der arabischen Welt und vor allem in der Levante schafft ein Vakuum, das bedrohlich ist. Viele Akteure mischen mit, eine neue Ordnung ist nicht in Sicht. Zu den wenigen Gewissheiten gehört, dass der Iran einer der Gewinner sein wird. Auch im Iran leben viele Minderheiten; die vergangenen Jahrzehnte haben aber gezeigt, dass sich kein Keil zwischen sie und die persische Mehrheit treiben lässt. Anders als die meisten arabi­ schen Staaten, vor allem die „Stämme mit Flaggen“ am Golf, blickt der Iran auf eine lange nationale Tradition zurück und auf eine Geschichte von mehr als 2000 Jahren als funktionierendes Staatswesen. Die Nachbarn des Iran Rainer Hermann stehen wieder am Anfang. Die Lehre schreibt für die Frank­ aus der jüngsten Zeit ist, dass auslän­ furter Allgemeine dische Interventionen in der Region Zeitung vor allem über den Nahen Osten und keine funktionierenden Staaten her­ die islamische Welt. vorbringen. Der Anstoß muss von innen kommen, und er ist mit Anar­ chie verbunden.

IP • September / Oktober 2014 15 Kampf ohne Grenzen

Mächte und Milizen Wer sind die wichtigsten Akteure des Nahen Ostens? Und was wollen sie?

Sie tauchten auf wie die finstersten Mächte der Hölle. Schwarz gekleidet und unter schwarzem Banner eroberten die Milizen des „Islamischen Staa- tes“ im Juni dieses Jahres beinahe im Handstreich die Millionenstadt Mos- sul nahe der Grenze zu den autonomen Kurdengebieten, erbeuteten moder- nes Kriegsgerät sowie einen der wichtigsten Staudämme des Irak – und er- morden bestialisch jeden, der sich ihnen in den Weg stellt oder als Feind gilt: Angehörige der islamischen Sekte der Jesiden, Schiiten, Christen. Hundert- tausende flohen bereits vor der Terrorherrschaft der IS unter ihrem Anfüh- rer Abu Bakr al-Bagdadi. Die Schnelligkeit, mit der die IS-Kämpfer vordringen konnten, mag selbst langjährige Beobachter der Region überrascht haben. Doch der IS ist keine Macht, die aus dem Nichts auftauchte. Er hat sich im Jahr 2000 als „Wider- standstruppe“ gegen die amerikanische Besatzung formiert und Kampferfah- rung in Syrien gesammelt, wo er bereits größere Gebiete unter ihrer Kontrol- le hält; im Irak konnte der IS auch auf die Unterstützung ehemaliger Baa- thisten zählen, die nach dem Sturz Saddam Husseins geschasst wurden – und auf die Sympathie von Sunniten, die von der Regierung des inzwischen zurückgetretenen schiitischen Premiers Nuri al-Maliki systematisch diskri- miniert wurden. Eine Gruppe zu unterstützen, um eine andere Macht damit zu schlagen, ohne auf den potenziellen Schaden selbst für eigene Verbündete zu achten – das ist eines der destruktivsten Prinzipien des Nahen und Mittleren Os- tens. Um den Sturz Baschar al-Assads zu befördern, hat die Türkei auch is- lamistischen Kräften die Einreise nach Syrien ermöglicht, die nun den Kur- den im Norden des Irak zum Verhängnis zu werden drohen, zu denen Anka- ra, nicht zuletzt um seine eigene Energieversorgung zu sichern, gute Bezie- hungen pflegt. Der Iran, der sich als Schutzmacht der Schiiten versteht, schickte Kämpfer der Al-Kuds-Brigade nach Syrien und unterstützt dort auch die schiitisch-liba- nesische Hisbollah, was einen Bürgerkrieg nur noch verschärft hat, der auf den Irak übergriff, wo Schiiten jetzt zu Opfern sunnitischer Dschihadisten werden. Um sich aus dem Schatten des großen Nachbarn Saudi-Arabien zu

16 IP • September / Oktober 2014 Mächte und Milizen

Türkei

Syrien Iran

Irak

Ägypten Katar

Saudi-Arabien

Stand: 5.8.2014

von IS kontrolliertes Gebiet Autonome Region Kurdistan Kurdengebiet

lösen, finanzierte und förderte das kleine Katar Gruppen wie die ägyptischen Muslimbrüder oder deren palästinensischen Ableger Hamas, was wiederum die Saudis und selbstverständlich auch die ägyptische Militärregierung verär- gert, die die Herrschaft der Muslimbruderschaft im vergangenen Jahr mit einem Coup beendet hatte. Der faktische Zerfall Syriens und der drohende Zerfall des Irak sind nicht nur humanitäre Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes. Sie berühren auch unmittelbar europäische und amerikanische Sicherheitsinteressen. Doch wer in dieser Region handeln will, der handelt in einem Geflecht widerstreitender, gleichzeitig dicht miteinander verwobener und zuweilen nur schwer durch- schaubarer Interessenlagen. Im Folgenden analysieren Experten die wichtigs- ten Kräfte der Region.

IP • September / Oktober 2014 17 Kampf ohne Grenzen

Islamischer Staat (IS) Eine terroristische Organisation, noch brutaler als Al-Kaida

Im Juni 2014 eroberten ISIS-Kämpfer (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) weite Teile des West- und Nordwestirak und nahmen die Millionenstadt Mos- sul im Sturm. Der Erfolg veranlasste ihren Anführer, Abu Bakr al-Bagdadi (Ibrahim al-Badri), sich am 29. Juni in der Großen Moschee von Mossul zum Kalifen aller Muslime auszurufen. ISIS wurde kurzerhand in Islamischer Staat (IS) umbenannt. Die großspurige Rhetorik täuscht leicht darüber hinweg, dass es sich bei IS nicht um einen Staat, sondern um eine terroristische Organisation handelt, die erst seit dem Jahr 2000 besteht – allerdings unter einem anderen Namen, den sie dann auch mehrfach wechselte. Sie verfügt über nicht mehr als 10 000 bis 20 000 Kämpfer. Die Organisation ist aus der irakischen Al-Kaida hervorgegan- gen, die von dem Jordanier Abu Musab az-Zarqawi (1966–2006) gegründet wurde, die aber – trotz ihres Namens – von der Al-Kaida-Zentrale in Pakistan unabhängig blieb. Die irakische Al-Kaida entwickelte sogar ein eigenes strategi- sches Profil: Zarqawi plante, durch möglichst aufsehenerregende, brutale und opferreiche Anschläge auf schiitische Würdenträger, Heiligtümer, Sicherheits- kräfte und Zivilisten Gegenschläge auf die sunnitische Bevölkerung zu provo- zieren und sich in dem folgenden Bürgerkrieg im Irak zum führenden Verteidi- ger der Sunniten aufzuschwingen. Der tiefe Hass auf die Schiiten wurde ebenso wie die selbst für Dschihadis- ten außergewöhnlich große Brutalität und die extreme antiisraelische und an- tijüdische Orientierung zum Markenzeichen der irakischen Al-Kaida. Zwar hält auch die Al-Kaida-Führung die Schiiten für Ungläubige, doch sie lehnte direkte Angriffe auf sie ab, weil sie den Kampf gegen die USA als Priorität ansah und nicht unnötig einen weiteren Gegner provozieren wollte. Der Bin- Laden-Stellvertreter Aiman az-Zawahiri machte dies in einem Brief an Zarqawi aus dem Jahr 2005 deutlich, als er den Jordanier ermahnte, dass seine antischi- itische Strategie und die enthemmte Gewalt gegen Zivilisten Al-Kaida die öf- fentliche Unterstützung raubten. Doch Zarqawi weigerte sich, dem Rat des Ägypters zu folgen. Dass die irakische Al-Kaida die Führung der dschihadistischen Bewegung übernehmen wollte, wurde schon im Oktober 2006 klar, als sie sich in „Islami- scher Staat im Irak“ (ISI) umbenannte. Der neue Anführer, Abu Umar al-Bag- dadi (Hamid az-Zawi), nahm den Titel „Befehlshaber der Gläubigen“ an – was einen Führungsanspruch für die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen impli- ziert. Dieser latente Konflikt brach jedoch erst auf, als der stark geschwächte ISI nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak Ende 2011 unter der Führung von Abu Bakr al-Bagdadi – der nicht mit Abu Umar verwandt ist, es handelt sich um einen Kampfnamen – wieder erstarkte. Schon Ende 2013 eroberten ISI/ISIS- Kämpfer ihre alte Hochburg Falludscha und auch Teile von Ramadi westlich von Bagdad; im Sommer 2014 folgte dann der Siegeszug in Mossul.

18 IP • September / Oktober 2014 Islamischer Staat (IS)

Der IS ist aber zu schwach, um die Hauptstadt Bagdad einnehmen zu kön- nen. Nach der Eroberung von Mossul hatte sich die Terrorgruppe vielmehr auf den Kampf im benachbarten Syrien konzentriert, wo sie seit April 2013 als eigenständiger Akteur auftrat. Bis dahin hatte ISI seinen syrischen Ableger Nusra-Front unterstützt, der sich aber nicht so kontrollieren ließ, wie Bagdadi das wünschte, sondern sich immer mehr Al-Kaida zuwandte. In Syrien kämpf- te ISIS zunächst nur selten gegen Regimetruppen, sondern griff vor allem Gebiete an, die bereits von Aufständischen „befreit“ worden waren. Dies hatte im Winter 2013/14 zu schweren Kämpfen unter den Rebellen geführt, nach denen sich ISIS aus Aleppo und Umgebung zurückziehen musste. Doch im Laufe einer großen Offensive im Juni und Juli 2014 gelang es ISIS/IS, die mitt- lerweile feindliche Nusra-Front in der Provinz Deir ez-Zor entscheidend zu schlagen und die Kontrolle über weite Teile Nord- und Ostsyriens zu festigen. Ab Juli folgten auch die ersten heftigen Gefechte zwischen IS und dem Regime in Damaskus, das hohe Verluste zu ver- zeichnen hatte. Durch die Erfolge im Irak und in Syri- en sind ISIS beziehungsweise IS und Bag- dadi zu einer ernsthaften Konkurrenz für Al-Kaida unter der Führung von Aiman as-Zawahiri geworden. Dies zeigt sich vor allem an der großen Zahl der ausländi- Bild nur in schen Syrien-Kämpfer, die sich von ande- ren Gruppen abgewandt und dem IS ange- Printausgabe schlossen haben. Für sie scheinen Bagda- dis Hass auf die Schiiten, die hemmungs- verfügbar lose Brutalität und die Fixierung auf die „Befreiung“ Jerusalems eher dem Wesens- kern der salafistisch-dschihadistischen Ideologie zu entsprechen als Zawahiris politischer Pragmatismus. Hinzu kommt die sehr gute finanzielle Ausstattung der Gruppierung. Sie erhält zwar keine staatliche Unterstützung, wie so oft behauptet wird, doch hat sie auf ihrem Siegeszug im Irak hundert Millionen Dollar erbeutet. Die Gruppe kann zudem auf Spenden reicher Privat- leute aus den Golf-Staaten sowie auf Einnahmen aus Steuern und Zöllen und Einkünfte aus dem Verkauf von Gas und Öl zählen, die es dem IS sogar erlau- ben, seinen Kämpfern Gehälter zu zahlen. Es spricht einiges dafür, dass sich die Dschihadisten im Vorderen Orient in Zukunft vermehrt an diesem „Zarqawi-Paradigma“ orientieren werden: Brutale Gewalttaten gegen Schiiten, Alawiten, Christen und andere Minderheiten und die Angriffe auf israelische und jüdische Ziele werden sich häufen. Insgesamt wird der Dschihadismus unpolitischer, sektenartiger und vielleicht auch apoka- lyptischer werden, als dies bisher der Fall war.

Dr. Guido Steinberg arbeitet in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten der SWP.

IP • September / Oktober 2014 19 Kampf ohne Grenzen

Irak Keine Führungsstrategie im Land der Extremisten

Auch vor dem Blitzkrieg der IS-Milizen am 10. Juni, mit dem Bagdad die Kon- trolle über große Teile des Nordwestens des Landes verlor, war der Irak kein einheitlicher Nationalstaat mehr. Nun mögen die Gründe für einige der heuti- gen Schwierigkeiten in der jüngsten Geschichte des Landes liegen. Für die meisten Probleme jedoch ist die irakische Regierung selbst verantwortlich. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen im Jahr 2011 hätte sich der Irak zum politischen Schwergewicht in der Region mit der Fähigkeit und dem Wil- len entwickeln können, die Rivalität zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabi- en und dem schiitischen Iran zu entschärfen. Stattdessen aber wurde der Irak selbst zum Schauplatz und nun Schlachtfeld dieser Rivalität. Wohl wahr: Der Rückzug der Amerikaner kam in militärischer wie politi- scher Hinsicht zu früh. Die irakische Armee war noch lange nicht in der Lage, verantwortlich für Stabilität und Sicherheit im Land zu sorgen. Und die neu gegründeten Institutionen waren noch zu fragil; es fehlte an Vertrauen zwischen den verschiedenen Gruppierungen, die sich ja in diesen Institutionen angemes- sen repräsentiert fühlen sollten. Das Resultat waren eine offene Rivalität zwi- schen den ethnischen und religiösen Gruppierungen und die Wiederkehr des autoritären Staates, dessen Erbe ja ohnehin noch nicht überwunden war. In seinem Bestreben, die eigene Macht zu festigen, hatte sich Premier Nuri al-Maliki wohl seine alte Nemesis, Ex-Diktator Saddam Hussein, zum Vorbild genommen. Auf die Proteste von Sunniten gegen die Diskriminierungen durch Bagdad reagierte Maliki nicht etwa mit nennenswerten Zugeständnissen, son- dern mit dem altbekannten Mittel der Repression. Ein großer Teil der sunniti- schen Bevölkerung entfremdete sich dadurch dem irakischen Staat weiter und lud die damals schon geschwächten IS-Milizen geradezu dazu ein, die ethnisch- religiösen Konflikte für eigene Zwecke zu nutzen. Optimisten im politischen Establishment Bagdads hielten folgende Punkte für wesentlich, um eine strategische Perspektive für einen Irak nach Saddam Hussein zu schaffen: Die USA sollten wichtigster Partner bleiben, der Irak müsste wieder eine wesentliche Rolle auf dem Ölmarkt spielen; das Land bräuchte einen Ent- wicklungsschub, um das volle Potenzial seiner Ressourcen ausschöpfen zu können; es bedürf- te der Etablierung eines föderales Systems, um Bild nur in den unterschiedlichen Gruppierungen gerecht zu werden, wobei die Einheit des Landes nicht Printausgabe gefährden werden darf, und schließlich dürfte sich der Irak nicht an regionalen und interna- verfügbar tionalen Konflikten beteiligen, sondern müsste vielmehr einen Beitrag zu deren Lösung leis- ten.

20 IP • September / Oktober 2014 Irak

Eine politische Kultur, die von Rachsucht geprägt ist, ungezügelte Korrup­ tion, Habgier, Populismus und ein Mangel an tiefen Überzeugungen bei gleich- zeitig überbordender Leidenschaft, wenn es um das Austragen religiöser oder ethnischer Konflikte geht, lassen eine solche strategische Perspektive jedoch geradezu illusionär erscheinen. Anstatt die eigenen Fehler kritisch zu reflektie- ren, macht man in Bagdad wahlweise Saudi-Arabien, den Iran oder die Verei- nigten Staaten für die Misere im Irak verantwortlich. Nun fand der amerikani- sche Rückzug tatsächlich zum falschen Zeitpunkt statt. Unbestritten ist auch die Tatsache, dass Saudi-Arabien und der Iran zur Instabilität beitrugen, weil sie ebenfalls versuchten, ihnen gewogene Kräfte im Irak zu unterstützen und damit die Gräben zwischen den Gruppierungen noch vertieften. Gerne auch sucht man einen Großteil der „Schuld“ für den derzeitigen Zerfall des Irak in der Entscheidung der damaligen US-Zivilverwaltung, als Teil einer in der Tat inkonsistenten „Ent-Baathisierung“ auch die irakischen Streitkräfte aufgelöst zu haben. Nur war diese Entscheidung auch wesentlich von zuvor unterdrückten Gruppen der Gesellschaft beeinflusst, die eine „Wiedergutmachung“ verlangten – die nun wiederum darin bestand, den einstigen Gegner zu marginalisieren. Aber dennoch kann Bagdad sich nicht seiner Verantwortung ent- ledigen, die historische Gelegenheit verpasst zu haben, einen einheit- lichen Nationalstaat zu etablieren. Diese Regierung blieb während der vergangenen zehn Jahre völlig dysfunktional, reagierte auf Terror mit noch mehr Terror, verschwendete Energien mit überflüssigen Streitereien mit der kurdischen Regierung, anstatt mit ihr zu koope- rieren, und verpasste immer wieder günstige Momente, um auf inter- nationaler Ebene wichtige Allianzen zu schmieden. In diesem Punkt Bild hat auch die türkische Regierung eine äußerst unrühmliche Rolle gespielt. Im Augenblick – und vor allem nach dem Rücktritt Malikis zu- gunsten seines Parteigenossen Haidar al-Abadi – kann es aber nicht um eine Abrechnung mit der irakischen Regierung gehen oder um die Fragen einer stringenten Strategie; es geht um die Existenz des Irak und das nackte Überleben von großen Teilen seiner Bevölke- rung. Die Schneise der Zerstörung, die der Terror der IS-Milizen durch weite Teile des Irak geschlagen hat und die demografischen Konsequenzen, die deren Wüten mit sich bringt, scheinen irreversi- bel. Würde sich die Gefahr allein auf irakisches Territorium beschränken, so handelte es sich höchstens um ein moralisches Versäumnis, wenn die Weltge- meinschaft nicht einschreiten würde oder sich höchstens zu symbolischen Aktionen durchringen könnte. Der Zerfall Syriens aber ist der beste Beweis, wie sehr eine Strategie des Stillhaltens (bei gleichzeitigem Beklagen einer hu- manitären Katastrophe) zwar schon ad nauseam betrieben wurde, aber doch zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Stillhalten hat den Krieg, der jetzt auch im Irak stattfindet, ja erst mit befördert – und dass der Irak vom Bürgerkrieg in

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Syrien in Mitleidenschaft gezogen würde, das war vorhersehbar. Den Irak jetzt mit diesem Problem allein zu lassen, ist jedenfalls keine Option. Dass Bagdad momentan keine kohärente Führungsstrategie aufweisen kann und eine strategische Neuausrichtung dringend nötig hat, ist offensichtlich. Ähnlich offensichtlich ist zudem, dass Bagdad nicht in der Lage ist, sich allein der IS-Milizen zu erwehren. Um die regionale Stabilität und die internationale Ordnung wieder herzustellen, ist ein neuer Interventionismus notwendig, der alle regionalen Akteure beteiligt und international abgesegnet ist. Ein solcher Interventionismus müsste auch das Problem Syrien einbeziehen Selbstver- ständlich wäre dies ein ebenso teures wie komplexes Vorhaben. Die Kosten und die Schwierigkeiten eines Eingreifens allerdings verblassen angesichts der Pro- bleme und Kosten, die entstehen, wenn nicht interveniert würde.

Hassan Mneimneh, Senior Transatlantic Fellow, of the U.S. in Washington, D.C.

Kurden Der Angriff des IS zeigt, welch wichtige Rolle Erbil in der Region spielt

Im System der Nationalstaaten des Nahen Ostens wurden die Kurden, die ver- streut im Iran, im Irak, in Syrien und der Türkei leben, primär als Störenfriede angesehen – von den Regierungen in der Region und von denen der westlichen Welt. Die großen Parteien der Irakischen Kurden, die Kurdisch Demokratische Partei (KDP) Masud Barzanis und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) von Dschalal Talabani stehen noch heute auf der Terrorliste Washingtons, ungeach- tet der Tatsache, dass die USA durch ihren Krieg im Irak entscheidend zur Entstehung des kurdischen Staates beigetragen haben. Die wichtigste Organisa- tion der türkischen Kurden, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), wird nach wie vor sowohl in Washington als auch in Brüssel als Terrororganisation einge- stuft. Dabei führt sie bereits seit über einem Jahr Friedensverhandlungen mit der Regierung in Ankara und hat öffentlich das definitive Ende ihres bewaffne- ten Kampfes gegen die Türkei verkündet. Die Demokratische Union (PYD), die bei weitem einflussreichste Kraft unter den Kurden Syriens, die stark unter Einfluss der PKK steht, ist offiziell nicht als Terrororganisation gelistet, doch die westlichen Staaten halten sich mit Kontakten und Gesprächen zurück. Jetzt unterstreicht der Angriff des „Islamischen Staates“ (IS) auf Erbil, die Hauptstadt des kurdischen Teilstaats im Irak, die eminente politische Rolle, die die Kurden heute im Nahen Osten spielen. Bis zur Bedrängung durch IS-Kämp- fer war das wirtschaftlich aufblühende Erbil nicht nur eine sichere Insel im Meer des von Terroranschlägen geplagten Irak. Erbil war und ist im islamischen Nahen Osten auch das einzige Beispiel für die relativ erfolgreiche Implementie- rung eines politischen Modells, das Westorientierung, Marktwirtschaft und Parlamentarismus zusammen verwirklichen will. Mehr noch, trotz der bisheri- gen Rückschläge der kurdischen Kämpfer gegen den IS sind die Peschmerga aus Irakisch-Kurdistan und die Kämpfer der PKK und der PYD unverzichtbarer Teil

22 IP • September / Oktober 2014 Kurden

jeder militärischen Koalition gegen den sich ausbreitenden Terrorstaat. Sie sind am stärksten motiviert, noch am ehesten zu gemeinsamem und koordiniertem Handeln in der Lage und befinden sich in ihrem Kampf gegen den IS heute praktisch in einer Front mit der Regierung des Irak und den USA. Diese von IS provozierte Konstellation ist in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, worauf sich die Kurden der Türkei, des Irak und Syriens eingestellt hatten – und auch dessen, was ihre Führer angestrebt hatten. In Irakisch-Kurdistan hatte Staatspräsident Masud Barzani ganz auf die Kooperation mit Ankara gesetzt. Die Türkei sollte nicht nur, wie schon jetzt, ein großer Investor in der Infrastruktur und der Hauptlieferant von Lebens- mitteln und Industriegütern sein, sondern zu einem primären Abnehmer und zum zentralen Transitland für kurdisches Erdöl und Erdgas werden. Ankara sollte deshalb aus eigenem Interesse Barzanis Politik größtmöglicher Autono- mie oder gar Unabhängigkeit von Bagdad unterstützen. Tatsächlich waren of- fizielle Stellen in Irakisch-Kurdistan und der Türkei nicht müde geworden, von der Komplementarität der energiereichen, aber industriearmen irakisch- kurdischen und der industrialisierten, aber energieabhängigen türkischen Wirtschaft zu sprechen. Abkommen zwischen der staatlichen Türkischen Pe- troleum Aktiengesellschaft (TPAO), Exxon Mobile und Erbil zur gemeinsa- men Förderung und Ausbeutung von irakisch-kurdischen Erdöl- und Erdgas- feldern sowie die Fertigstellung einer Pipeline in den türkischen Mittelmeer- hafen Ceyhan, beides gegen den erbitterten Widerstand Bagdads, sind konkre- te Ergebnisse dieser Politik. Barzani und den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan verband darüber hinaus die gemeinsame Sorge vor zu großem Einfluss des seit nunmehr 15 Jahren in der Türkei inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Nach einer langen Reihe von Geheimverhandlungen mit dem türkischen Geheimdienst hatte dieser am 21. März 2013 das definitive Ende des bewaffneten Kampfes gegen die türkische Regierung verkündet und dabei die Rhetorik des türkischen Außenministers Ahmed Davutoglu vom unver- meidbaren Ende des nahöstlichen Staatensystems von Sy- kes-Picot übernommen. Die gemeinsame Rhetorik konnte freilich die unterschiedlichen Interessen der Verhandlungs- Bild partner nicht überdecken. Erdogan geht es um die Entwaff- nung der PKK und um die Zurückdrängung ihres Einflusses in der Türkei, während Öcalan auf die Überführung der PKK in eine legale politische Kraft unter Festschreibung ihrer faktischen Hegemonie über die türkischen Kurdenge- biete hinarbeitet. Erdogan will die Kurden in das politische System der Türkei integrieren, Öcalan will die Anerken- nung der Kurden als gleichberechtigte Gründungsnation der Türkischen Republik und als logische Folge davon politische Autonomie.

IP • September / Oktober 2014 23 Kampf ohne Grenzen

Diese gegensätzlichen Ziele sind der Hauptgrund dafür, dass die Verhand- lungen nur zäh voranschreiten, die PKK im Oktober 2013 den Teilabzug ihrer Kämpfer stoppte und zu einer Politik der Mobilisierung von Massenprotesten überging. Dass Erdogan im Juli 2014 der PKK mit einem Gesetz, das die Ver- handlungen erstmals auf eine gesetzliche Grundlage stellt, einen Schritt entge- genkam, ändert nichts am prinzipiellen Widerstreit der Interessen. Das zeigt sich nirgends deutlicher als an der strikten türkischen Ablehnung jeglicher Selbstverwaltung der Kurden in Syrien, die um die Jahreswende 2013/14 unter Führung der PYD etabliert worden ist. Ankaras Unterstützung zuerst moderat islamischer, dann auch salafistischer und dschihadistischer Gruppen in Syrien war immer auch auf die Verhinderung kurdischer Autonomie unter Führung der PYD/PKK in Syrien gerichtet. Auch in dieser Frage kooperierte Barzani mit der Türkei. Am 16. November 2013 besuchte er zusammen mit Erdogan Diyarbakir, das Zentrum der türki- schen Kurden, und zeigte so seine Unterstützung für Erdogans Politik gegen- über Öcalan. Nur wenig später schloss er die Grenzen Irakisch-Kurdistans zu Rojava, den kurdischen Gebieten in Syrien, und erschwerte damit den Aufbau der kurdischen Selbstverwaltung. Barzanis Streben nach Unabhängigkeit positionierte ihn gegen Bagdad, mit dem er heute gegen IS kooperieren muss. Gegen IS ist er erneut auf die Hilfe der USA angewiesen, die ihn in den letzten Monaten erfolglos gedrängt hatten, mit seiner Energiepolitik die Einheit des Irak nicht zu gefährden. Nach langem Zögern musste Barzani Mitte August auch das Angebot der PKK und der PYD akzeptieren, gegen die er in den vergangenen beiden Jahren Politik gemacht hatte, gemeinsam gegen ISIS/IS vorzugehen. Die Türkei hingegen, auf die er große Hoffnungen gesetzt hatte, hat sich auch nach dem Angriff von IS-Milizen auf Erbil nicht dazu hinreißen lassen, den „Islamischen Staat“ des Terrorismus zu bezichtigen, geschweige denn militärisch gegen ihn vorzugehen. Doch Barzani muss seine Politik auch deshalb vollkommen neu überden- ken, weil sein größter innerkurdischer Konkurrent, Öcalan mit seiner PKK und der ihr nahen PYD, als moralischer Gewinner aus den bisherigen Entwicklun- gen hervorgegangen sind. Die PKK hat sich zuerst und in entschiedener Weise als Schutzmacht aller Kurden präsentiert, gleich in welchem Staat sie leben und gleich welcher Konfession sie sind. Sie hat den Peschmerga-Milizen des Nord­ irak ihre Unterstützung angeboten und Kämpfer zur Rettung der bedrohten kurdischen Jesiden ins irakische Sindschar-Gebirge entsandt. Öcalan und die PKK werden deshalb gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen und ihren Einfluss auch im Nordirak erhöhen, wo schon heute die PUK und Goran, die dritte Kraft der Kurden im Irak, viel freundlicher auf die PKK blicken als auf die KDP Masud Barzanis. Ohne die PKK und die ihr nahestehenden Parteien in Syrien, im Irak und im Iran ist die künftige außenpolitische Orientierung der Kurden nicht mehr zu bestimmen.

Dr. Günther Seufert arbeitet in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der SWP.

24 IP • September / Oktober 2014 Hisbollah

Hisbollah Die libanesische Schiitenmiliz kämpft in Syrien auch um die eigene Existenz

Das Engagement der Hisbollah in Syrien ist überwiegend militärischer Natur. In erster Linie stellt die „Partei Gottes“ Kämpfer für Baschar al-Assads Armee im Krieg gegen die Opposition bereit. Dabei fragt man sich natürlich: Syriens Militär ist viel größer und stärker als die Verbände der Hisbollah, im Gegensatz zur libanesischen Schiitenmiliz verfügt sie sogar über eine Marine und eine Luftwaffe – wozu braucht Assad also die Hisbollah-Kämpfer? Die Schlüssel- worte bei der Beantwortung der Frage sind: Einsatzbereitschaft und Erfahrung. Assad braucht die Hisbollah-Kämpfer, weil sie so motiviert sind – motivier- ter als einige in den Reihen seiner Armee im Kampf gegen die Verbände der Opposition. Assads Familie entstammt der alewitischen Minderheit in Syrien, die verhältnismäßig klein ist: Nur 12 Prozent der Bevölkerung gehören ihr an. Im syrischen Bürgerkrieg stehen die Alewiten auf der gleichen Seite wie ande- re Minderheiten, die Drusen und Christen. Allerdings ist die sunnitische Bevöl- kerungsmehrheit in Syrien geradezu erdrückend. Obwohl Assad von anderen syrischen, nichtsunnitischen Minderheiten im Bürgerkrieg unterstützt wird, vertraut er am stärksten auf seine eigene religiö- se Volksgruppe – die Alewiten, mit denen er blutsverwandt ist. Hinzu kommt, worauf mich ein EU-Diplomat, der viele Jahre in Damaskus tätig war, einmal hinwies: „Die Alewiten wissen: Falls sie den syrischen Bürgerkrieg verlieren, werden sie alle – ob Zivilisten oder Militärs, Erwachsene oder Kinder – Opfer eines Genozids werden. Sie wären dann alle zum Tode verdammt. So heißt es: Töten oder getötet werden.“ Kurz: Der größte Nachteil der Alewiten im Bür- gerkrieg ist ihre zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber der sunnitischen Mehrheit, die aufgrund der Verfolgung durch das Assad-Regime überwiegend zur Opposition hält. Hier kommt die Hisbollah ins Spiel. Die alewitische Sekte des Islam wurde lange als die den Schiiten am nächsten stehende betrachtet. Tatsächlich wurden die Alewiten 1974 vom Imam Musa Sadr, dem damaligen geistlichen Ober- haupt der libanesischen Schiiten, als zum Schiismus gehörig anerkannt. Die Hisbollah versteht sich selbst als Führerin und Verteidigerin der libanesischen Schiiten. Der Aufstieg militanter sunnitischer Gruppen in Syrien und im Liba- non bereitet auch ihr Sorgen. Der Führungsriege der Hisbollah ist bewusst: Falls die syrische Opposition im Bürgerkrieg gewinnt, gibt es für sie zwei Sze- narien – ein schlechtes und ein noch schlechteres. Im schlechten Szenario obsiegt die säkulare syrische Opposition. Der Sieg dieser Gruppe würde das Ende jahrzehntelanger militärischer Kooperation und Unterstützung durch die syrische Regierung bedeuten. Zudem würde die Hisbollah wichtige, durch Syrien verlaufende Routen verlieren, über die die iranische Regierung die Hisbollah viele Jahre lang mit Waffen versorgt hat. Die Waffen direkt über den Beiruter Flughafen an die Hisbollah zu liefern, hätte zu Konflikten mit anderen libanesischen Volksgruppen geführt, die diese

IP • September / Oktober 2014 25 Kampf ohne Grenzen

­Waffenlieferungen missbilligen – zumal es die Hisbollah vor große Probleme stellen würde, allein über die Luftverbindung als Lieferroute zu verfügen, denn im Fall eines erneuten Krieges mit Israel ließe sich der Flughafen leicht attackieren. Im noch schlechteren Szenario gewinnen die extremistischen sunnitischen Oppositionsgruppen den syrischen Bürgerkrieg, wie zum Beispiel der Islami- sche Staat (IS). Damit würde die Hisbollah nicht nur die Unterstützung Da- maskus’ und die wichtigsten Routen für Waffenlieferungen aus dem Iran ver- lieren, sondern müsste damit rechnen, von der neuen syrischen Regierung mit aller Härte verfolgt zu werden. Es ist bereits zu – bislang sporadischen – Atta- cken von Seiten extremistischer sunnitischer Gruppen gegen die Hisbollah im Libanon gekommen. Sollten sie in Syrien siegen, könnte die gesamte libane- sisch-syrische Grenze, die zu Teilen von Schiiten bevölkert wird, Tag und Nacht Ziel heftiger, tödlicher Angriffe werden; ja, eine großangelegte Invasion Syriens wäre wahrscheinlich. Deshalb verlässt sich Assad auf die militärische Hilfe der Hisbollah- Kämpfer. Sie setzen sich im Krieg ebenso stark ein wie Assads alewitische Kräfte, denn sollte Assad verlieren, stünde auch für die Hisbollah viel auf dem Spiel, im Libanon und in Syrien. Ein weiterer Grund ist die Erfahren- heit der Hisbollah-Kämpfer. Die Schiitenmiliz hat im Südlibanon über 15 Jahre einen Guerillakrieg gegen Israel geführt, der im Mai 2000 in Israels Rückzug mündete. Die Hisbollah hat also viel Erfahrung in Sachen Guerrilla­ kriegstaktiken gesammelt. Jetzt gibt sie ihr Wissen an Assads Truppen wei- ter, die gegen eine Reihe von säkularen und extremistischen sunnitischen Oppositionsgruppen kämpfen. Auch im Irak bringt sich die Hisbollah lediglich militärisch ein. Mehr ist von der Miliz, die von iranischer Wirtschaftshilfe abhängig ist, auch nicht zu erwarten. Sie kann es sich gar nicht leisten, ihre Verbündeten finanziell zu unterstützen, seien sie in Syrien oder im Irak. Dort bilden Hisbollah-Angehö- rige vor allem diverse irakisch-schiitische Gruppen aus, die gegen extremistische sunnitische Gruppen wie die Terrororganisationen Al-Kaida oder Islamischer Staat kämpfen – oder in verschiedenen irakischen Regionen auch gegen sunnitische Stämme. Zudem gibt es Berichte darüber, dass Hisbollah-Einheiten Soldaten der iraki- schen Armee ausgebildet und mit ihnen gekämpft Bild nur in haben. Die Zahl der Hisbollah-Kämpfer im Irak ist viel klei- Printausgabe ner als in Syrien. Ein Grund dafür ist, dass die Hisbollah verfügbar ihre Kapazitäten mit ihrem Eingreifen im syrischen Bür- gerkrieg bereits ausgereizt hat. Ein weiterer Grund ist wohl der, dass der Irak mit seiner schiitischen Bevölke- rungsmehrheit keinen Mangel an Kämpfern hat. Ein weiterer Unterschied zum Engagement der Hisbollah in Syrien: Im Irak arbeitet die Hisbollah mit nichtstaatli-

26 IP • September / Oktober 2014 Iran

chen Akteuren wie schiitischen Milizen, die dem Iran nahestehen, und staatli- chen Akteuren wie der irakischen Armee gleichermaßen zusammen, während sie in Syrien allein mit Assads Armee kooperiert.

Meir Javedanfar ist Dozent am Interdisciplinary Center (IDC) in Herzliya, Israel.

Iran Die Islamische Republik sieht sich regional bedroht wie lange nicht mehr

„Syrien steht an vorderster Linie der Widerstandsfront in der Region“, erklärte Kassem Suleimani, Befehlshaber der Al-Kuds-Brigade der Iranischen Revoluti- onsgarden, am 14. September 2013 auf einer Konferenz in Teheran. Das ver- standen viele – im Iran ebenso wie im Ausland – als Warnung. Sollte Assad stürzen, würde dies den Iran verwundbar machen und womöglich dessen Posi- tion in der Region als Teil der antiisraelischen und antiamerikanischen „Wi- derstandsachse“ schwächen. Der immer brutalere Verlauf des Krieges in Syrien hat aber offensichtlich auch die iranische Sichtweise verändert. „Irans Frontlinie verläuft durch Syri- en und den Libanon – und wir stehen dort in einer religiösen Pflicht. Wir müssen die syrische Bevölkerung beschützen, weil Syrien das erste Land war, das uns während des Krieges mit Saddam Husseins Irak geholfen hat. Wenn wir sie heute nicht verteidigen, wird sich die feindliche Front bis an unsere Grenze verschieben.“ So äußerte sich Mazaher Majdi, stellvertretender Befehls- haber der Ansar-al-Hossein-Brigade der Revolutionsgarden im Mai 2014. Ab jetzt müsse der Iran „seine Verteidigungslinien nach vorn schieben“. Sollte Assad besiegt werden, so lautet offenbar die neue Auffassung, wäre der Iran und der Sturz der Islamischen Republik das nächste Ziel. Nichts aber ist dem Obersten Religionsführer Ajatollah Ali Khamenei wichtiger als der Bestand seines Regimes. Deshalb nimmt der Iran die Ereignisse in Syrien so ernst. Und deshalb ist der Iran auch so stark in Syriens militärische, wirtschaft- liche und diplomatische Geschicke involviert. Der militärische Einfluss des Iran in Syrien ist vielfältig: Angehörige der Al-Kuds-Brigade, des extraterritorialen Armes der Revolutionsgarden, beraten und bilden Assads Truppen aus; teilweise kämpfen sie auch an deren Seite. Die Al-Kuds-Brigade hat in Syrien bereits einige Verluste hinnehmen müssen; sogar hochrangige Offiziere wie General Hassan Schateri wurden dort getötet. Ein weiterer Aspekt des iranischen Militärengagements in Syrien ist die Beteiligung libanesischer Kämpfer der Hisbollah-Bewegung am syrischen Bür- gerkrieg. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Hisbollah ohne die iranische Zustimmung eingegriffen hätte; unter anderem ist der Iran einer ihrer größten Geldgeber. Auch wirtschaftlich ist der Iran in Syrien involviert. Der syrische Bürger- krieg hat die wichtigsten Einnahmequellen des syrischen Regimes stark in Mitleidenschaft gezogen – den Tourismus und den Energiesektor. Laut einem

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Bericht der New York Times vom Oktober 2011 beliefen sich die syrischen Wäh- rungsreserven zu diesem Zeitpunkt auf insgesamt 18 Milliarden Dollar – genug, um die Importe des Landes zwei Jahre lang zu finanzieren. Nun sind schon mehr als drei Jahre vergangen und Assad ist immer noch zahlungsfähig. Dass es Assad bis heute möglich ist, den Krieg zu finanzieren, ist zum größ- ten Teil Irans großzügiger finanzieller Unterstützung zuzuschreiben, zu der auch Kredite und Darlehen gehören. So verlängerte Teheran die Laufzeit eines Kredits über 3,6 Milliarden Dollar, um Syrien weiter Erdölimporte zu erlauben. Es wird vermutet, dass der Iran Syrien über die Jahre eine ganze Reihe solcher Kredite und Zuschüsse gewährt hat; ihr Wert dürfte sich auf mehrere Milliar- den Dollar belaufen. Ohne diese finanzielle Hilfe hätte das Assad-Regime den Krieg tatsächlich längst verloren – wegen Bankrott. Die Islamische Republik ist aber auch diplomatisch involviert; sie war inter- national stets die größte Unterstützerin Assads. Im Nahen und Mittleren Osten ist der Iran sogar der einzige diplomatische Verbündete des Assad-Regimes, der es gegen saudische Anfeindungen und die Versuche, das syrische Regime zu isolieren, in Schutz nimmt. Auch die diplomatische Hilfe des Iran ist vielfältig: So ermöglichte es Tehe- ran dem syrischen Regime, an der Konferenz der Blockfreien-Bewegung 2012 teilzunehmen, was für das schon weitgehend isolierte syrische Regime von größter Bedeutung war. Zudem sorgte die Teheraner Regierung dafür, dass die syrische Delegation während der Konferenz respektvoll behandelt wurde. Die iranische Presse ging sogar so weit, die offene Kritik des damaligen ägypti- schen Präsidenten Mohammed Mursi an Syrien schlicht nicht wiederzugeben. Auch gegenüber dem Westen hat der Iran Syrien immer wieder diplomatisch unterstützt. Teheran ist aber auch im Irak involviert. So wurde beispielsweise die iraki- sche Luftwaffe mit iranischen Kampfjets ausgestattet. Ähnlich wie Syrien, nur in kleinerem Umfang, sind auch im Irak Al-Kuds-Einheiten aktiv, um die iraki- sche Armee und die schiitischen Milizen bei ihren Kämpfen gegen die Terror- verbände des Islamischen Staates zu unterstützen. Es ist nicht das erste Mal, dass Angehörige der Al-Kuds-Brigade im Irak im Einsatz sind. Schon kurz nach der amerikanischen Irak-Invasion 2003 wurden sie in die Kämpfe verwickelt. US-Streitkräfte nahmen 2007 sogar einige Undercover-Kämpfer der Al-Kuds- Brigade gefangen und hielten sie bis 2009 fest. Auch an den Planungen für die Verteidigung großer Städte wie Bagdad war die Al-Kuds-Brigade und ihr Kom- mandeur Suleimani beteiligt. Im Unterschied zum Bild nur in iranischen Engagement in Syrien bilden iranische Militärs im Irak nichtstaatliche Akteure aus – haupt- Printausgabe sächlich schiitische Milizen, die überwiegend im verfügbar Süden des Irak beheimatet sind. Auch wirtschaftlich mischt der Iran im Nachbar- land mit, allerdings nicht so stark wie in Syrien, denn die irakische Wirtschaft war bislang in einem besse-

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ren Zustand als die syrische. Die wichtigste Einnahmequelle des Landes, der irakische Ölsektor, ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen und hat immer größere Einnahmen erwirtschaftet. Von großer Bedeutung ist die finan- zielle Hilfe für diverse schiitische politische Parteien und deren Milizen. In den vergangenen Jahren war das vor allem die 2003 gegründete Mahdi-Armee des Predigers Muktada al-­Sadr. Eine weitere Einheit, die iranische Unterstützung erfuhr, war die Badr-Brigade – Teil der vom irakischen Kleriker Ajatollah Al- Hakim aufgebauten Badr-Organisation. Die finanzielle Lebensfähigkeit der irakischen Wirtschaft ist für den Iran äußerst wichtig, denn ein wirtschaftlicher Verfall könnte die Stärke und das Ansehen seiner schiitischen Verbündeten gefährden. Zudem ist der Irak Tehe- rans größter Ölexportmarkt. Iranische Unternehmen verdienen im Irak-Geschäft Milliarden Dollar und sind in vielen Branchen auch direkt tätig, zum Beispiel beim (Pilger-)Tourismus, in der Bauindustrie und bei der Fertigung von Haus- haltswaren. Zudem plant der Iran, bald auch Gas in den Irak zu exportieren. Anders als in Syrien bestimmt der Iran im Irak auch die Politik mit – und das seit dem Sturz Saddam Husseins durch die Amerikaner 2003. Seitdem för- dert der Iran verschiedene schiitische und kurdische Fraktionen. Der Iran ist schließlich ein schiitischer Staat mit einem Obersten Religionsführer: und nach der Staatsauffassung des iranischen Regimes ist dieser für die Schiiten Gottes Stellvertreter auf Erden. Dass Teheran auch in der Politik des überwiegend sunnitisch geprägten irakischen Kurdengebiets engagiert ist, hat hauptsächlich strategische Gründe. Mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) arbeitet der Iran schon seit 1983 zusammen, seit beide gegen Saddams Einheiten kooperierten. Bis heute pflegt Teheran die Beziehungen zur PUK, auch um den Einfluss der Demokra- tischen Partei Kurdistans (DPK) einzudämmen, von der das Regime vermutet, dass sie gute Beziehungen zum iranischen Erzfeind Israel, zu den USA und dem regionalen Rivalen Türkei unterhält.

Meir Javedanfar ist Dozent am Interdisciplinary Center (IDC) in Herzliya, Israel.

Katar Im Zickzackkurs durch unsichere Gewässer

Zwei Fragen stellen sich angesichts der politischen Entscheidungen Katars nicht nur der jüngsten Zeit, sondern sogar der vergangenen 20 Jahre: Sind sie das Ergebnis einer umfassenden Gesamtstrategie? Das würde nicht so recht zur eher überschaubaren Größe und bisherigen historischen Rolle Katars passen. Oder sind die vorsichtigen und vergeblichen Versuche, eine politische Füh- rungsrolle einzunehmen, Teil einer Art „Selbstbefreiung“ aus regionalen Ab- hängigkeiten, die man in Katar zuweilen eher als „Unterwürfigkeit“ sehen mag? Ganz falsch ist beides nicht. Denn Katars politische Strategie deutet schon darauf hin, das es beharrlich versucht, sich einen bedeutenden Platz in

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Wirtschaft, Politik und Geschichte zu sichern. Bei genauerer Betrachung hin- gegen zeigt sich, wie schwächeanfällig ein kleiner Staat selbst auf dem Höhe- punkt seines politischen Einflusses sein kann. Dank seines natürlichen Ressourcenreichtums hat Katar ein Konglomerat von Unternehmen und finanziellen Beteiligungen aufgebaut, das sich über die ganze Welt erstreckt und den Wohlstand des Landes auch für die Zeit sichert, wenn seine Gasreserven versiegen. Zusätzlich zu ambitionierten Bauprojekten im Inland und dem Landerwerb im Ausland ist es Katar gelungen – wenngleich möglicherweise mit fragwürdigen Mitteln – den Zuschlag für eine Reihe von international bedeutsamen Großereignissen zu bekommen. An erster Stelle steht dabei natürlich die Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2022. Doch ungeachtet aller weltumspannender Aktivitäten bleibt die Region der wichtigste Bezugspunkt für Doha: Seine Rivalen sind das benachbarte Dubai, Abu Dhabi und Bahrain. In den vergangenen Jahren konnten wir ein Wettren- nen zwischen den Golf-Metropolen beobachten, die alle die Symbole des globa- len Wohlstands und Fortschritts importierten – von Universitäten und Think Tanks über Modellstädte bis hin zu den modernsten militärischen Verteidi- gungssystemen. Bei den Verhandlungen innerhalb des Golf-Kooperationsrats (GCC) legt das Emirat großen Wert darauf, den Einfluss Saudi-Arabiens nicht überhand neh- men zu lassen. Es scheint, als sei das Katar bislang auch gelungen, und zwar nicht zuletzt, weil es das Bündnis mit den USA pflegt, zeitweilig die Gesprächskanäle Richtung Iran offenhält und auch in gutem Einvernehmen mit der Türkei steht. Nun führte dieser strategische Kurs allerdings in steigendem Maße zu Unstimmigkeiten zwischen Katar und seinen Nachbarn – nicht nur mit Saudi-Arabien selbst, sondern auch mit den Vereinigten Ara- bischen Emiraten und Bahrain. Katars Einfluss innerhalb des GCC wurde dadurch geschmälert. Daneben sind es zwei ganz grundsätzliche Punkte, die Katars Be- ziehungen zu seinen regionalen Partnern weiterhin belasten: Doha unterstützt und beherbergt die Muslimbruderschaft und es toleriert – oder fördert – eine einseitige und provokante Berichterstattung durch sein Al-Dschasira-Medienimperium. Die Feindseligkeit Saudi- Arabiens gegenüber der Muslimbruderschaft geht darauf zurück, dass sich die Organisation als eine „dritte Partei“ in der Auseinanderset- Bild zung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran positioniert und zeitwei- se eine Verständigung mit Teheran zum Schaden von Riad befürwor- tet hat. Die Aktivitäten der Muslimbruderschaft in den GCC-Ländern wurden als Bedrohung gesehen, weshalb die katarische Umarmungs- strategie gegenüber den Muslimbrüdern als untragbar galt. Ursprünglich mag die Verbindung zwischen der katarischen Füh- rung und der Muslimbruderschaft stärker aus persönlichen Beziehun- gen resultiert haben als aus strategischen Überlegungen. Im Zuge sei- ner Versuche, das internationale Standing Katars zu verbessern, ver- folgte der damalige Emir Hamad Bin Khalifa al-Thani einen gemäßig-

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ten Ansatz in regionalen arabischen Angelegenheiten. Er beherbergte eine Reihe von Intellektuellen in Doha – Liberale, Nationalisten, Islamisten (wobei bei letzteren die Präferenz auf Denkern lag, die Islam und Demokratie für mit- einander kompatibel halten). Zwei von ihnen haben Katars strategisches Den- ken entscheidend beeinflusst: Yusuf al-Qaradawi, eine der konservativen Füh- rungsfiguren der ägyptischen Muslimbrüder, und Azmi Bischara, ein eher zu den Progressiven zählender Palästinenser und ehemaliges Mitglied der israeli- schen Knesset. Qaradawi, der dank seiner Verbindung zu Katar an internationalem Ein- fluss gewann, schien Dohas Versuch, konventionelle islamische Grundsätze und moderne Ansätze miteinander in Einklang zu bringen, zeitweise geradezu beispielhaft zu verkörpern. Dieser Ansatz wurde allerdings durch die Ereignis- se in Ägypten deutlich geschwächt; nach der Revolution vom 25. Januar 2011 entwickelte sich Qaradawi zum Hardliner und nach dem Staatsstreich am 5. Juli 2013 in Kairo endgültig zum Radikalen. Auch um den neuen katarischen Emir Tamim Bin Hamad al-Thani, der Ende Juni 2013 seinem Vater Hamad nachgefolgt war, dazu zu bringen, Qaradawi fallen zu lassen, begannen Saudi- Arabien und seine Verbündeten einen regelrechten diplomatischen Kleinkrieg mit Katar. Es dürfte indes unrealistisch sein, von Doha zu erwarten, dass es die Unterstützung der Muslimbruderschaft ganz aufgibt. Doha hat verstanden, dass die Muslimbrüder nicht in der Lage sind, die ver- sprochene regionale politische Balance zwischen den extremen Auswüchsen der Islamisten und den säkularen „Liberalen“ zu liefern, denen es an sozialer Zug- kraft mangelt. Das hat immerhin zu einer nachlassenden Unterstützung der Organisation und einer Suche nach Alternativen geführt. Eine dieser Alternativen wird durch Azmi Bischara verkörpert, Vertreter eines rationaleren, wenngleich zuweilen etwas populistischen Diskurses. Bi­ schara wurde durch den neuen Emir ermächtigt, ein weiteres Medienimperi- um neben dem von den Muslimbrüdern dominierten Al-Dschasira-Komplex zu schaffen – ein Schachzug, den man als Zeichen der Unfähigkeit der Regie- rung interpretiert wurde, einer konsequenten Linie zu folgen, aber auch als Folge der mangelnden Entschlossenheit, die „alte Garde“ der Sponsoren Al- Dschasiras abzusetzen. Weit problematischer als diese vergleichsweise harmlose Medienexpansion sind die Versuche Katars, hauptsächlich in Syrien und Libyen, sich radikale Milizen zunutze zu machen. Dohas Einfluss auf die Al-Nusra-Front, den syri- schen Zweig der Al-Kaida, wurde immer wieder deutlich, wenn sich Al-Nusra und andere radikale Gruppen Katars Wünschen fügten – etwa, indem sie schi- itische Pilger und christliche Nonnen, die sie in Geiselhaft genommen hatten, freiließen oder indem sie sich aus einer libanesischen Stadt zurückzogen, die sie zuvor überfallen hatten. Das ist eine schmale Dividende, wenn man be- denkt, dass der Preis dafür war, die Opposition gegen das repressive syrische Regime weiter in Richtung eines radikalen Islamismus zu treiben. Katar schwankt bei seinen strategischen Überlegungen zwischen der Hoff- nung nach einer stabilen regionalen und internationalen Ordnung und den

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Ängsten, die aus seiner prekären Situation resultieren. Insbesondere unter seinem neuen jungen Emir versucht das kleine, reiche Katar, durch die unsiche- ren Gewässer seiner gefährlichen Nachbarschaft zu navigieren. Ein stabilisie- render Faktor, der Doha davor schützt, in Extreme abzurutschen, ist seine Be- ziehung zu den USA. Entscheidungen in Doha werden auch mit Rücksicht auf amerikanische Wünsche und Präferenzen getroffen. Manche schreiben selbst die Amtsübergabe an den jungen Tamim Bin Hamad al-Thani dem Bestreben zu, damit auch die USA zufriedenzustellen – was eher zweifelhaft ist. In jedem Fall aber würde ein Nachlassen des amerikanischen Engagements zu größerer Unbeständigkeit und stärkerer Neigung zu Extremen bei Katars strategischen Entscheidungen führen.

Hassan Mneimneh, Senior Transatlantic Fellow, German Marshall Fund of the U.S. in Washington, D.C.

Türkei Einst Ordnungsmacht, hat es sich Ankara mit fast allen Nachbarn verdorben

Noch im Januar 2014 lieferte der türkische Nationale Geheimdienst (MIT) Dschihadisten in Syrien Waffen und Munition. Dabei war längst klar, dass es diesen Gruppen weniger um den Sturz Baschar al-Assads als um die Etablie- rung ihrer tyrannischen Herrschaft und um die Ausweitung der von ihnen kontrollierten Gebiete geht. Beweise für die Lieferungen legte am 21. Juli 2014 der stellvertretende Vorsitzende der oppositionellen Volkspartei der Republik (CHP) Bülent Tezcan im Parlament vor. Er präsentierte Protokolle der Staats- anwaltschaft im grenznahen Adana, die bei der Untersuchung dreier auffälli- ger Sattelschlepper auf dem Weg nach Syrien im Januar festgestellt hatten, dass die Lastwagen mit Lenkflugkörpern, Granatwerfern und Flakmunition bestückt waren. Die Durchsuchung war allerdings unvollständig geblieben. Agenten des Geheimdiensts hatten ihren Abbruch erzwungen; als sich die Regierung im April 2014 die dafür notwendigen Kompetenzen verschafft hatte, wurden die beteiligten Staatsanwälte umgehend strafversetzt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sah diese Aktion der Staatsanwälte als Teil eines internationa- len Komplotts gegen seine Regierung, ausgeführt von Anhängern des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Und Erdogans Berater vermuteten die Strippenzieher in Washington und Tel Aviv. Die Episode spiegelt die zentralen Aspekte der heutigen türkischen Außen- politik im Nahen Osten wider: den Übergang der außenpolitischen Regie vom Außenministerium zum Geheimdienst, von Außenminister Ahmet Davutoglu zu Ministerpräsident Erdogan und dem Chef des Geheimdiensts Hakan Fidan; die konfessionell bestimmte Parteinahme für sunnitisch-muslimische Akteure, anfänglich die Muslimbruderschaft, später auch radikale Gruppen; wachsende Distanz zu den USA und offene Gegnerschaft zu Israel; Aufgabe nahezu jegli- cher Orientierung auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, erkenn-

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bar an autoritären Tendenzen, die faktisch zur Aufhebung der Gewaltenteilung geführt haben, sowie ein überbordendes Selbstvertrauen und die damit einher- gehende Unbedachtheit hinsichtlich der Folgen des eigenen Handelns. Seit Wochen halten die IS-Dschihadisten über 30 Mitarbeiter des türkischen Gene- ralkonsulats von Mossul als Geiseln fest. Ankara, das vor wenigen Jahren angetreten war, als neue Gestaltungsmacht im Nahen Osten mit allen Akteuren in Verbindung zu stehen und eine auf Ausgleich orientierte Außenpolitik zu betreiben, steht heute in fünf seiner Nachbarstaaten vor verschlossenen Türen. Aus Kairo und Tel Aviv hat es seine Botschafter abgezogen. Aus unterschiedlichen Gründen waren schon davor die diplomatischen Drähte mit Damaskus, Nikosia und Jerewan unterbrochen. Aufgrund Ankaras Unterstützung für die sunnitischen Kräfte im Irak und ak- tuell wegen des Ölexports aus Irakisch-Kurdistan sind die Beziehungen der Türkei zur schiitisch dominierten Regierung in Bagdad gefährdet. Das Verhält- nis zum Iran ist aufgrund gegensätzlicher Haltungen der beiden Länder in der Syrien-Frage, aber auch wegen der Stationierung des NATO-Radars zur Rake- tenabwehr in der Türkei belastet. Auch mit dem größten Konkurrenten des Iran im Nahen Osten, Saudi- Arabien, gibt es Differenzen. Riad unterstützte den Putsch gegen die Muslim- brüder in Kairo und inthronisierte Abd al-Fattah as-Sisi, den Erdogan öffent- lich als Tyrannen bezeichnet. So ist Ankara heute weder Teil der neuen Inter- essengemeinschaft von Israel, Saudi-Arabien und Ägypten, die sich gegen die Muslimbruderschaft und andere islamistische Strömungen gebildet hat, noch ist es auf der Gegenseite eine bestimmende Kraft. Neben der punktuellen Ko- operation mit Katar, das zusammen mit der Türkei als entschiedener Verteidi- ger der Hamas auftritt, hat Erdogan in der Nachbarschaft nur noch einen Freund: den Präsidenten der Kurdischen Regionalregierung im Nordirak, Masud Barzani. Viel Energie verwendet der türkische Ministerpräsident außer- dem auf den Ausbau der Freundschaft mit dem russischen Präsidenten, Wladi- mir Putin. Dabei hatte die Außenpolitik der AKP vielverspre- chend begonnen. In Brüssel hatte Erdogan die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erreicht. Auf Zypern hatte er den UN-Plan zur Wiedervereinigung der Insel unter- stützt, die Beziehungen zu Griechenland waren intensi- viert und die Protokolle zum Ausgleich mit Armenien unterschrieben worden. Die Türkei hatte zwischen Israel Bild nur in und Syrien vermittelt und im Irak Kontakt zu allen politi- schen Kräften gepflegt, Damaskus wirtschaftlich und po- Printausgabe litisch an sich gebunden und auf einen allmählichen Wandel in Syrien hingearbeitet. Die Türkei hatte sich als verfügbar wohlwollende Ordnungsmacht präsentiert, die über den tiefen Gräben nahöstlicher Politik stehe und gerade des- halb Einfluss nehmen könne. Doch da, wo es möglich ge- wesen wäre, auf Zypern, in Armenien und Griechenland

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hielt die Türkei diese Politik nicht durch, sondern zog sich alsbald auf die alten kompromisslosen Positionen zurück. Im Nahen Osten selbst führten die Um- brüche in Ägypten und Syrien dazu, dass Ankara von einer maßvollen Politik des Ausgleichs zu einer Politik der kompromisslosen Unterstützung sunnitisch- muslimischer Strömungen und Akteure wechselte. Das Scheitern dieser Akteu- re in Ägypten und Syrien war gleichzeitig das Scheitern der türkischen Nahost- Politik. Sicher, die Entwicklungen in der Region haben es Ankara nicht leicht ge- macht. So entschied sich Israel, noch während Erdogans Vermittlungsversuche mit Syrien Ende 2008, zu einer militärischen Intervention gegen die Hamas in Gaza. Wenig später wurden neun türkische Staatsbürger bei der Erstürmung der Gaza-Flotille getötet. Der Verlauf des Bürgerkriegs in Syrien und der Putsch as-Sisis in Ägypten entzogen Ankaras Politik die Grundlage. Doch die Regie- rung Erdogan hat sich zu schnell von ihrer eigenen Version einer auf Win-win- Ergebnisse orientierten Außenpolitik verabschiedet und sie hat sich zudem überhastet in eine von konfessionellen Identitäten und Interessen bestimmte Außenpolitik gestürzt. Die augenblickliche Kurskorrektur erscheint nicht weniger radikal und die Frage, ob sie von größerem Augenmaß geprägt ist, muss offen bleiben. Erdogans Vergleich Israels mit Nazideutschland, die Beschuldigungen seiner Berater, Washington würde auf den Sturz der Regierung hinarbeiten und die von den USA kritisierte Einfuhr „kurdischen“ Öls aus dem Irak vertiefen die Verstim- mung mit Washington. Die gegenwärtige Welle autoritärer Politik entfremdet Ankara und Brüssel. Die enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Masud Barza- ni steht für die Abkehr von der ursprünglichen Politik Davutoglus, die eine Führungsrolle der Türkei in der arabisch-islamischen Welt anstrebte. Heute geht es um die Sicherung der direkten nationalen Interessen. Priorität haben die Lösung des Kurdenproblems und die langfristige Sicherung der Energiever- sorgung. Für die Erreichung beider Ziele spielt der Kurdenstaat im Irak eine Schlüsselrolle. Barzani soll den Einfluss von PKK-Führer Öcalan ausbalancie- ren, mit dem Ankara Friedensgespräche führt, und „kurdisches“ Öl und später Gas sollen den Energiehunger der Türkei stillen. Die Verschlechterung der Beziehungen zur westlichen Welt möchte Erdogan mit einer Annäherung an Russland wettmachen. Im Gespräch sind eine Zoll- union, Handel über die beiden Landeswährungen, die Einrichtung von Frei- handelszonen, die gegenseitige Förderung von Investitionen und die Verstär- kung der ohnehin engen Kooperation im Energiebereich. Die wiederholten Vorstöße von Ministerpräsident Erdogan, die Mitgliedschaft der Türkei in der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zu erwägen, sagen viel aus über das politische Klima in Ankara.

Dr. Günther Seufert arbeitet in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der SWP.

34 IP • September / Oktober 2014 Saudi-Arabien

Saudi-Arabien Ein Familienbetrieb mit Öl und religiöser Legitimierung

Saudi-Arabien ist das einzige Land der Erde, in dessen offizieller Bezeichnung sich der Name der herrschenden Familie widerspiegelt. Der Aufstieg der Fami- lie Saud geht auf das Jahr 1744 zurück, als der Dynastiegründer Mohammed Ibn Saud dem sunnitischen Reformer Mohammed Ibn Abd al-Wahhab zusi- cherte, dessen außerordentlich konservative Religionsauslegung – nur die ori- ginären Aussagen von Koran und Sunna sind legitim – als die allein gültige anzunehmen, und sie überdies zu schützen und zu verbreiten. Abd al-Wahhab revanchierte sich mit dem Versprechen – auch für seine Nachkommen – die Herrschaft der Al Saud als einzig rechtmäßige zu proklamieren. Die so begrün- dete symbiotische Beziehung trägt bis in die Gegenwart und begünstigte nicht nur eine außergewöhnliche Machtfülle des Königs, sondern auch eine privile- gierte Stellung der Geistlichkeit; Koran und Sunna gelten offiziell als Verfas- sung, politische Parteien und Organisationen sind verboten, die Bürgerrechte extrem eingeschränkt. Das grundlegende Interesse der Familie Saud besteht deshalb in der Fortset- zung ihrer Herrschaft über den größten Staat auf der Arabischen Halbinsel. Neben der religiösen Legitimierung wurde dabei der Besitz der größten Erdöl- vorräte der Welt zu ihrem wichtigsten Instrument. Die enormen Exporterlöse führten zu einer rapiden Modernisierung des Landes und erlaubten dem Herr- scherhaus die Auflage eines generösen Wohlfahrtsprogramms zum „Aufkauf“ politischen Unmuts. Folgerichtig gilt das Hauptaugenmerk der Familie Saud der Pflege ihrer wichtigsten Herrschaftsinstrumente. Da der Wahhabismus von Schiiten, aber auch von der Mehrheit sunnitischer Muslime als selektives sau- disches Phänomen wahrgenommen wird, gingen die saudischen Könige dazu über, die Legitimität ihrer Herrschaft im In- und Ausland sowie einen weltweiten islamischen Führungsanspruch dadurch einzufordern bzw. zu proklamieren, dass sie sich als „Hüter der Hei- ligen Stätten“ Mekka und Medina titulieren und mit der Organisation der Pilgerfahrt die Erfüllung einer der Bild nur in wichtigsten muslimischen Pflichten garantieren. Poli- tisch untermauerte Saudi-Arabien den Anspruch durch Printausgabe die Gründung und Ansiedlung weltweit agierender muslimischer Organisationen wie der 1962 gegründe- verfügbar ten Islamischen Weltliga und der 1969 gegründeten Organisation für Islamische Zusammenarbeit. Der Schärfung des zweiten Instruments dient vor allem eine (Mit)kontrolle des internationalen Erdöl- markts, etwa durch exponiertes Agieren in der 1960 gegründeten „Organisation erdölexportierender Staa-

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ten (OPEC) und die Verhinderung des Zugriffs von Konkurrenten auf die eige- nen Lagerstätten. Die Dominanz auf der Arabischen Halbinsel soll der 1981 gegründete und in Riad beheimatete Golf-Kooperationsrat sichern, in der Golf- Region genießt die Abwehr irakischer und in jüngster Zeit eher iranischer Hegemonieambitionen Priorität. Hierbei offenbart sich allerdings ein eklatan- ter Nachteil Saudi-Arabiens gegenüber seinen tatsächlichen oder vermeintli- chen Herausforderern. Mit einer Fläche von 2,2 Millionen Quadratkilometern ist Saudi-Arabien zwar ein großer Staat, er beherbergt aber nur 28 Millionen Einwohner, davon sind etwa 16 Millionen Staatsbürger. Trotz gigantischer Rüstungsausgaben zeigte sich Saudi-Arabien deshalb zweimal in der jüngeren Geschichte verteidigungsunfähig: bei der Besetzung der Großen Moschee 1979 und der drohenden irakischen Invasion 1990/91. 1991 erwiesen sich die USA als Retter. Allein die Tatsache, dass Saudi-Ara- bien weltgrößter Erdölexporteur und die USA weltgrößter -importeur ist, be- gründete außerordentlich enge Beziehungen zwischen beiden Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach der Kuwait-Krise übernahmen die USA auch formal die militärische Sicherung der Saud-Herrschaft. Die Könige bedank- ten sich mit einem umfangreichen Investitionsprogramm in den USA. Durch diese hohe Kapitalbeteiligung ist Saudi-Arabien unmittelbar am Wohlergehen der US-Wirtschaft interessiert; es entstand quasi ein Kartell von Erzeugern und Verbrauchern, dessen gemeinsame Interessen auch die durch 9/11 hervorgerufe- ne tiefe politische Krise zwischen beiden Ländern überwinden halfen. Die Identifizierung der beiden wichtigsten Herrschaftsinstrumente weist auch auf die größten Risiken für die Saud-Herrschaft hin. In den letzten 30 Jah- ren verkörperte die Islamische Republik Iran die größte Gefahr für die Auf- rechterhaltung des islamischen Legitimitäts- und Führungsanspruchs. Revolu- tionsführer Khomeini und seine Anhänger reklamierten einen islamischen Führungsanspruch, der darauf baute, die Interessen der „unterdrückten musli- mischen Mehrheit“ zu vertreten; sie kritisierten den elitären „amerikanischen Islam“ in Saudi-Arabien. Zudem erklärte Khomeini den Islam und die Monar- chie für unvereinbar. Nicht zuletzt aufgrund seiner militärischen Unterlegen- heit verfolgt Saudi-Arabien gegenüber dieser direkten Herausforderung eine Politik der Akquirierung westlicher und sunnitischer Hilfe, indem es die irani- sche Politik als antiwestlich und schiitisch bezeichnet. Mit dem „Arabischen Frühling“ entstand gerade im Kontext des Letztgenannten eine zusätzliche Gefahr. Die zunächst hohe Popularität der Muslimbruderschaft und verwand- ter Organisationen in der arabischen Welt ergab sich sowohl aus ihrer konse- quenten Haltung gegenüber autokratischer Herrschaft und westlicher Bevor- mundung als auch dem Vorhaben, eine islamische Gesellschaft auf partizipato- rischer Grundlage (Wahlen) zu errichten. Somit stellten also Sunniten die wichtigsten Prinzipien der Saud-Herrschaft in Frage. Folgerichtig avancierte die Muslimbruderschaft in jüngster Zeit neben dem Iran zum Hauptgegner saudischer Außenpolitik. Saudi-Arabien begrüßte den Sturz des von der Muslimbruderschaft gestell- ten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi nachdrücklich und unterstützt

36 IP • September / Oktober 2014 Ägypten

seinen Nachfolger, den ehemaligen General al-Sisi, mit erheblichen finanziellen Mitteln. Riad bekämpft die Hamas und alle anderen in der Tradition der Mus- limbruderschaft agierenden islamistischen Organisationen. Die Konfrontation mit dem Iran ist in allen gegenwärtigen Krisenherden der Region, vor allem in Syrien und im Irak, offensichtlich. Als wichtiges Instrument der Rückversiche- rung gegenüber dem Westen dient der Friedensplan von 2002, den der heutige König Abdullah entwarf, um das nach 9/11 gestörte Verhältnis zu den USA zu verbessern. Das nach der Annahme durch die Arabische Liga verbindliche An- gebot bringt Saudi-Arabien immer wieder dann ins Spiel, wenn seine „unver- zichtbare“ Rolle für westliche Interessen in der Region illustriert werden soll. Die unverändert große Nachfrage nach Erdöl und die immer offensichtli- cheren Grenzen alternativer Fördermethoden lassen Saudi-Arabien im Bereich des zweiten Instruments eher zuversichtlich in die Zukunft sehen. Nachteile der Erdölförderung als „Monokultur“, etwa sinkende Weltmarktpreise, werden durch Investitionserlöse tendenziell ausgeglichen. Die Saud-Familie wirkt als Balancefaktor zwischen dem Teil der Bevölkerung, dem die Modernisierung zu rasant verlief und dem Teil, dem es nicht schnell genug geht. Die schwache, zersplitterte und entmündigte Opposition muss das Königshaus gegenwärtig weniger fürchten als den unausweichlichen internen Generationswechsel.

Prof. Dr. Henner Fürtig ist Direktor des GIGA Institute of Middle East Studies.

Ägypten Parolen statt Programm – und keine Strategie zur Krisenbewältigung

Selten wurde ein so hoher Wahlsieg mit so wenig politischem Inhalt errungen. Mit offiziell knapp 97 Prozent der abgegebenen Stimmen wählten die Ägypter Ende Mai den früheren Militärchef Abd al-Fattah as-Sisi zu ihrem neuen Prä- sidenten. Sisi steht für Sicherheit und Stabilität. Und genau hiernach sehnt sich eine Mehrheit der Ägypter nach dreieinhalb Jahren Chaos, Rezession und Un- übersichtlichkeit. Dementsprechend kurz hielt sich der neue starke Mann in Kairo vor seiner Wahl damit auf, den zukünftigen politischen Kurs des Landes zu erläutern. Stattdessen bekamen die Ägypter pathetische Durchhalteparolen und populistische Phrasen zu hören. Auch zweieinhalb Monate nach der Wahl ist von einem strategischen Re- formprogramm zur Überwindung der ökonomischen und politischen Krise wenig zu erkennen. Vermutlich gibt es gar keins. Was es allerdings gibt, ist ein unausgesprochenes Leitbild, auf das sich wesentliche Teile der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten des Landes verständigt haben. Ägyp- ten soll danach wieder eine prowestliche Regionalmacht mit hohen Wachs- tumsraten werden, wo es sich als Angehöriger der Armee und der Eliten gut leben lässt und wo die ständig wachsende Mehrheitsbevölkerung durchgefüt- tert wird, ohne weitergehende Ansprüche zu stellen. Zurück also zu Mubarak? Nicht ganz. Die Revolution von 2011 hatten aus Sicht der Militärs vor allem die

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gescheiterte Wirtschaftspolitik neoliberaler Reformer und die unkontrollierten Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure zu verantworten. Damit sich ein derartiger „Betriebsunfall“ nicht wiederholt, werden im neuen Ägypten die unter Mubarak partiell existierenden Handlungsspielräume für unabhängige Medien, Oppositionelle und Zivilgesellschaft sukzessive geschlossen und der bisherige Wirtschaftskurs durch eine Art Staatswirtschaft mit nationalisti- schen Untertönen ersetzt. Dieses Leitbild „Mubarak minus“ beruht auf drei Elementen: erstens der Wiederherstellung von innerer Sicherheit und regionaler Bedeutung, zweitens der Beschränkung und Kontrolle politischer Partizipations- und Mitwirkungs- ansprüche und drittens der Verbesserung der sozioökonomischen Lage der Be- völkerung. Die ersten beiden Elemente sind in der Umsetzung eng verknüpft. Das ägyptische Militärregime hat seit seiner Machtübernahme Mitte 2013 ein Si- cherheitsnarrativ aufgebaut, das zum Teil groteske Züge annimmt. Zwar sind der Staatszerfall Libyens und die im Sinai operierenden Terrorgruppen reale Bedrohungen. Sicherheit und Stabilität werden aber auch immer mehr zum Vorwand, um jegliche Opposition als Verrat am Vaterland zu diskreditieren. Tausende Muslimbrüder, viele Journa- listen, Künstler, Oppositionelle und sogar die Initiatoren der Revolution von 2011 wurden in den vergangenen Mo- naten verhaftet, Hunderte Todesurteile gefällt. Sisi selbst bekannte nach seiner Wahl, dass er von demokratischen Freiheiten unter den gegebenen Bedingungen nur wenig halte. Stattdessen setzt er auf einen „nationalen Moralis- Bild nur in mus“, der sich u.a. in Spendenaufrufen für öffentliche Projekte äußert. Das erinnert an die Zeiten Gamal Abdel Printausgabe Nassers, trägt aber nur, solange sich die wirtschaftliche Krise nicht weiter verschärft. Gerade hier ist der Hand- verfügbar lungsbedarf so groß wie akut. 4,5 Milliarden Dollar kosten die jährlichen Nahrungsmittelimporte. Gewaltige 19 Mil- liarden Dollar verschlingen die Subventionen von Grund- nahrungsmitteln und Energie im Jahr. Der für das Land enorm wichtige Tourismus bringt kaum noch Geld und – was noch schlimmer ist – schafft immer weniger Jobs. Gleichzeitig ist das Bevölkerungswachstum ungebrochen. Am ehesten könnte der neue starke Mann in Kairo mit der Wiederherstellung innenpolitischer Stabilität und re- gionalpolitischer Bedeutung Erfolg haben. Die Armee steht hinter Sisi. Polizei und Geheimdienste haben die vergangenen Jahre weitgehend unbeschadet überstanden. Die Muslimbrüder sind kaltgestellt und islamistische Experimen- te durch die Morde der IS-Fanatiker in Syrien und Irak weiter diskreditiert. Die aktuellen Vermittlungsbemühungen Kairos im Gaza-Konflikt zeigen außerdem das Bemühungen, wieder in die bewährte Rolle einer stabilisierenden Regional- und Vermittlungsmacht zurückzufinden. Wie schon unter Mubarak sichert

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dies die Unterstützung der Golf-Staaten und des Westens, verspricht Einfluss auf die verhasste Hamas und lenkt die eigene Bevölkerung von dem wieder wachsenden ägyptischen Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem ungelieb- ten Nachbar Israel – vor allem in den Bereichen Sicherheit und Energie – ab. Im wirtschaftlichen Bereich fehlen hingegen die Mittel für einen Neuanfang. Nach dem Militärputsch im Sommer 2013 hatten die Golf-Staaten den neuen Machthabern mit rund zwölf Milliarden Dollar und erheblichen Energieliefe- rungen geholfen. Eine Weiterführung dieses Engagements wird von einer Zu- sammenarbeit mit IWF und Weltbank abhängig gemacht. Zugleich wurden auf Druck der arabischen Geldgeber internationale Berater eingeschaltet. Deren Empfehlungen sind keinesfalls überraschend. Vor allem das ägyptische Subven- tionssystem soll umgehend reformiert werden. Als erste Konsequenz wurden die Treibstoffpreise erhöht. Nach Einschätzungen von Experten ist das allenfalls ein Anfang. Sie fordern außerdem eine Verbesserung des Investitionsklimas und eine Reform des Arbeitsmarkts. Bislang ist hiervon wenig zu sehen. Stattdessen werden prestigeträchtige Großprojekte verkündet. Eine Milliarde Hektar neues Farmland soll im Süden des Landes erschlossen werden, der Suez-Kanal eine zweite Fahrrinne erhalten und neue Industrie- und Technologiezonen entste- hen. Darüber hinaus stehen Infrastrukturprojekte und eine Förderung des dar- benden Tourismussektors auf dem Programm. Die Chancen, dass derartige Projekte das Land aus der Krise führen könn- ten, sind gering. Beobachter prognostizieren ein Wirtschaftswachstum von 3,2 Prozent – viel zu wenig. Um das Land ökonomisch zukunftsfähig zu ma- chen, müsste neben dem Subventionsabbau das zweite Grundproblem der ägyptischen Wirtschaft angegangen werden: der alles beherrschende Einfluss der Militärs. Die Firmen der Armee können jeden zivilen Bewerber aus dem Rennen jagen. Sie arbeiten steuerfrei, setzen Rekruten ein ohne Löhne zu zah- len und unterstehen keinerlei ziviler Aufsicht. Niemand weiß, wie groß der Anteil der Militärfirmen an der Wirtschaftsleistung des Landes ist. Schätzun- gen reichen von 10 bis 40 Prozent. Vieles spricht dafür, dass dieser Anteil unter der derzeitigen Militärregierung weiter wächst. Das ist vielleicht gut für die Sicherheit, aber auf jeden Fall schlecht fürs Geschäft und damit für die Ent- wicklung des Landes. Ägyptens neuer Präsident weiß, dass er der Wirtschaftskrise wenig entge- genzusetzen hat. Deshalb baut er auf Unterdrückung, Nationalismus und Paro- len. Diese Rechnung geht auf, solange Unternehmer, Medien und der Sicher- heitsapparat an einem Strang ziehen, die breite Bevölkerung nicht hungert und es einen gemeinsamen Feind (die Islamisten) gibt. Die geringe Beteiligung an den Präsidentschaftswahlen im Mai hat aber deutlich gemacht, dass Sisi we- sentlich unpopulärer ist, als die regimetreuen Medien glauben machen wollen. Sollten die Preise weiter steigen, der Strom noch häufiger ausfallen und wieder vermehrt Anschläge verübt werden, könnte die Elitenkoalition hinter Sisi schnell bröckeln und ihn letztendlich aus dem Amt jagen. Auch das hätte Sisi dann mit Mubarak gemeinsam.

Dr. Andreas Jacobs ist Research Advisor am NATO Defense College in Rom.

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„Abbas ist ein Partner, die Hamas nicht“ Warum ein Frieden in Nahost noch immer möglich wäre – und mit wem

Der jüngste Gaza-Krieg hat die Hoffnungen auf einen friedlichen Ausgleich zwischen Israel und Palästinensern auf einen neuen Tiefpunkt sinken las- sen. Was gibt noch Anlass zum Optimismus, was wären die Voraussetzun- gen für erneute Verhandlungen? Gershon Baskin, Gründer des israelisch- palästinensischen Think-Tanks IPCR, im Gespräch.

IP: Herr Baskin, zum dritten Mal nach 2008/09 und 2012 haben sich Israel und die Hamas eine heftige militärische Auseinandersetzung geliefert. Was muss ge- schehen, damit es nicht zu einem nächsten Krieg kommt? Gershon Baskin: Zunächst einmal bestand das Problem darin, dass beide Sei- ten nicht wussten, wie sie diesen Krieg beenden können, ohne wesentliche politische Vorteile errungen zu haben – und keine Seite erlaubt der anderen Seite, einen solchen Vorteil für sich zu reklamieren. Was Israels Ministerpräsi- dent Benjamin Netanjahu offensichtlich sehen will, ist eine geschwächte Hamas. Doch die regiert immer noch.

IP: Warum will er eher eine geschwächte Hamas in Gaza, anstatt den Versuch zu unternehmen, der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Machmud Abbas wieder zur Regierung über den Gaza-Streifen zu verhelfen? Baskin: Er will meines Erachtens am Status quo festhalten. Denn eine ge- schwächte Hamas wäre keine Bedrohung mehr. Und da sie Verhandlungen mit Israel oder die Anerkennung des Existenzrechts Israels ablehnt, müsste man sich auch nicht auf Verhandlungen mit der Autonomiebehörde einlassen: Was nützt ein Abkommen, wenn eine wesentliche politische Kraft der Palästinenser sich nicht daran hält?

IP: Ist die Hamas denn wirklich geschwächt? Nach den vergangenen Auseinander- setzungen ist es ihr doch recht schnell gelungen, wieder aufzurüsten. Baskin: Das israelische Militär scheint sich jedenfalls der Illusion hinzugeben, dass man der Hamas beträchtlichen Schaden zugefügt habe und dass man auch das eigene Abschreckungspotenzial wieder hergestellt habe. Offensichtlich ist man auch der Überzeugung, man könne eine Wiederbewaffnung verhindern.

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Nur: Vor Beginn des Krieges war die Hamas politisch und wirtschaftlich an einem Tiefpunkt angelangt. Mit dem Krieg hat sie neue Unterstützer gefunden: Nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank solidarisieren sich viele mit ihr, weil sie sagen: Dieser Krieg wird nicht gegen die Hamas geführt, sondern gegen uns Palästinenser.

IP: Im Gaza-Streifen scheint sich aber auch Unmut über die Hamas zu regen. Baskin: Noch ist die Bevölkerung Gazas zutiefst traumatisiert, da richtet sich alle Wut gegen Israel. Aber die Entscheidung der Hamas, sich in die- sen Krieg zu begeben, könnte durchaus zum Boomerang werden. Die Leute sehen ja, dass es den Hamas-Führern weitgehend gelungen ist, sich in Si- cherheit zu bringen, während die Zivil- bevölkerung einen enormen Preis ge- zahlt hat. Es ist also nicht ganz ausge- Gershon Baskin ist Kodirektor des Israel/Palestine Center for Research and Information (IPCRI) – einem Think-Tank, den er im Jahre schlossen, dass man die Hamas-Füh- 1988 gründete. Er war wesentlich an den Verhandlungen mit der rung dafür verantwortlich macht, Hamas zur Freilassung des Soldaten Gilad Shalit beteiligt. wenn das jetzige tiefe Trauma sich vielleicht ein bisschen gelegt hat. Grundsätzlich aber gilt: Die Hamas lässt sich nur durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen schwächen.

IP: Und die wären? Baskin: Ich habe schon vor langer Zeit vorgeschlagen, dass Israel die Arabische Friedensinitiative von 2002 als Grundlage für Verhandlungen akzeptieren solle. Diese Initiative wurde ja immerhin von allen islamischen Staaten angenom- men, und sie verspricht eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel, wenn Israel sich vollständig aus den 1967 besetzten Gebieten zurückzieht. Israel muss sich bereit erklären, direkt mit den Palästinensern unter Führung von Machmud Abbas über die Schaffung eines palästinensischen Staates auf dieser Basis zu verhandeln. Ich wäre auch dafür, die Nachbarstaaten mit Hilfe einer Konferenz auf Grundlage der arabischen Initiative einzubeziehen. Gaza muss Gegenstand der Verhandlungen sein, und es wäre notwendig, in Kooperation der Arabischen Liga mit Israel, den USA und den Europäern einen Fahrplan für die Schaffung eines palästinensischen Staates auch auf dem Gebiet Gazas vorzulegen, was natürlich die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Gazas und die Entwaffnung der Hamas einschließt.

IP: Und wie wäre diese Entwaffnung zu bewerkstelligen? Baskin: Ich würde eine arabisch geführte multinationale Truppe vorschlagen, die für ein halbes oder ganzes Jahr in Gaza stationiert wird, um die Hamas weitgehend zu entwaffnen – dafür ist es auch wichtig, Ägypten, Jordanien und

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die Palästinensische Autonomiebehörde einzubeziehen. Und ich würde ver­ suchen, das Ganze mit einer Resolution des UN-Sicherheitsrats zu unter­ füttern, sodass diese arabisch geführte multinationale Truppe ein starkes Mandat besäße.

IP: Gibt es dafür Bereitschaft auf der arabischen Seite? Baskin: Wenn es eine Bereitschaft Israels gäbe, die Grundsätze der Arabischen Friedensinitiative anzunehmen, dann gehe ich ganz sicher davon aus, dass es eine große Bereitschaft auf arabischer Seite gäbe. Wir sprechen jetzt natürlich nicht von Krisenstaaten wie Libyen, Syrien oder dem Libanon – aber immerhin von Ägypten, Jordanien, Palästina, Saudi-Arabien und den Golf-Staaten; viel- leicht wäre sogar Katar an Bord zu bekommen.

IP: Israel hat die Arabische Friedensinitiative nie besonders ernst genommen. Warum sollte es das jetzt tun? Baskin: Vor Kurzem hat der saudische Prinz Turki al-Feisal einen Kommentar in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlicht, in dem er betont, dass diese Initiative natürlich kein Diktat ist. Wenn Israelis und Palästinenser andere Arrangements vereinbaren als jene, die in dieser Initiative festgelegt sind, so wäre das akzeptabel. Damit dürften einige der israelischen Vorbehalte im Grun- de ausgeräumt sein. In der israelischen Regierung gäbe es da durchaus Interes- se, aber das Problem ist der israelische Premierminister, denn eine solche Initi- ative kann ohne die Unterstützung des Premiers nicht auf den Weg gebracht werden oder als Verhandlungsgrundlage dienen. Netanjahu aber scheint unter allen Umständen am Status quo festhalten zu wollen.

IP: Aus ideologischen Gründen oder weil es ihm an strategischer Weitsicht fehlt? Baskin: Weder noch. Netanjahu ist nicht nur ein Angstmacher, er empfindet diese Ängste selbst: Er fürchtet wirklich, dass in diesem Chaos, in dem sich der Nahe und Mittlere Osten gerade befindet, auch die Westbank zu einer Art von „Hamastan“ werden kann und man von dort einen für Israel wesentlich dra- matischeren Raketenbeschuss erleben könnte als den aus Gaza.

IP: Ganz unbegründet ist diese Furcht doch aber nicht? Baskin: Wenn wir nicht eine umfassende Lösung mit den Palästinensern fin- den, dann gibt es zwei sehr viel größere Probleme. Das eine ist die wachsende Isolation und Delegitimierung Israels, die wir ja jetzt schon beobachten können – die Welt ist schlicht der Auffassung, dass diese Besatzung nach 47 Jahren beendet werden muss. Und das zweite ist die Gefahr einer Destabilisierung in der Westbank – die sich jetzt schon abzeichnet –, in Ostjerusalem und in der arabischen Gemeinschaft in Israel und Jordanien. Das ist eine viel größere Be- drohung für Israel. Wenn wir uns aber in ernsthafte Verhandlungen begeben würden, dann könnten wir alle möglichen Sicherheitsarrangements diskutie- ren, die Israels Bedenken und auch berechtigten Befürchtungen Rechnung tragen – und die in einer Kooperation mit den Palästinensern, den Jordaniern,

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Ägyptern, den USA und Europa stattfinden könnten. Das würde Israel mehr Sicherheit geben, als auf dem Status quo zu beharren.

IP: Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre es, die Hamas daran zu hindern, den Verhandlungsprozess zu stören. Wie könnte das gelingen? Baskin: Die einzige Möglichkeit sehe ich in einem Plan, der drei Elemente be- rücksichtigt: Stabilität, die politische Seite des Konflikts und Ökonomie. Ein- fach nur Aufbau- oder sonstige Gelder in den Gaza-Streifen zu pumpen und zu denken, dann würde sich das Problem schon erledigen, wird nicht funktionie- ren. Wiederaufbau bei anhaltender umfassender Kontrolle durch Israel – die ja stattfindet, obgleich Israel nicht mehr im Gaza-Streifen selbst präsent ist – wird nichts daran ändern, dass die Menschen Freiheit haben und ihr Leben nach ihrem Gutdünken gestalten möchten. Es ist umgekehrt: Der Beginn von ernst gemeinten Verhandlungen würde die Hamas schwächen. Bislang haben wir faktisch die Extremisten gestärkt und den Moderaten im Grunde jegliche Be- lohnung für ihr Wohlverhalten verweigert – und zu diesem „Wohlverhalten“ gehört auch eine enge Sicherheitskooperation zwischen der Autonomiebehörde und Israel. Und ich meine „ernsthafte Verhandlungen“ und nicht das, was der amerikanische Außenminister John Kerry aufgeführt hat.

IP: Was war daran falsch? Baskin: Gehen wir einmal davon aus, dass die Verhandlungen mit ernster Ab- sicht begonnen wurden. Aber im November brach alles zusammen, danach haben sich Israelis und Palästinenser nicht ein einziges Mal mehr persönlich getroffen. Es hätte also offensichtlich sein müssen, dass es zu nichts führt, wenn die politischen Führungskräfte einander nicht treffen, ja noch nicht ein- mal miteinander telefonieren! Aber die Amerikaner haben bis Juni dieses Jah- res die Scharade einer „Shuttle-Diplomatie“ aufgeführt, und alle anderen – auch die Europäer – haben bei dieser Farce mitgemacht, in der Hoffnung, dass man vielleicht doch irgendetwas erreichen könnte. Das ist aberwitzig.

IP: Wenn Premier Netanjahu und Präsident Abbas nicht einmal miteinander tele- fonieren, warum sollten sie jetzt in ernsthafte Verhandlungen eintreten? Baskin: Vertrauen muss man erst aufbauen. Und das gilt doch vor allem für den israelisch-palästinensischen Kontext, in dem beide Seiten immer wieder gegen Vereinbarungen verstoßen haben. Vertrauen ist nur durch Taten wieder herzustellen und nicht durch gegenseitige Versicherungen, denn die haben ihre Glaubwürdigkeit längst verloren. Grundsätzlich ist die Bedeutung guter persön- licher Beziehungen nicht zu unterschätzen. Und dann geht es natürlich um den politischen Willen. Auf der palästinensischen Seite ist der doch zweifelsohne vorhanden: Man will einen Staat. Abbas hat Netanjahu auch wiederholt wissen lassen, dass er bereit ist, sich mit dem israelischen Premier zu treffen – öffent- lich oder auch nicht öffentlich. Keine Antwort.

IP: Nochmals: Was würde dieses Verhalten ändern?

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Baskin: Ein Schluss, den wir aus diesem Krieg ziehen können, ist doch: Abbas ist ein Partner für Verhandlungen, die Hamas ist es nicht. Und das verstehen auch immer mehr Leute selbst in dieser Regierung – auch Leute, die vorgestern noch glaubten, bei Abbas handele es sich ebenfalls um einen Terroristen. Es könnte sich also eine strategische Neuausrichtung ergeben, die in etwa so aus- sieht: Die Region befindet sich im Zerfall, islamischer Fundamentalismus und Dschihadismus werden stärker, und wir müssen versuchen, unsere strategische Lage deutlich zu verbessern. Das wäre möglich, wenn wir regional verankerte Sicherheits- und Friedensabkommen hätten.

IP: Können die USA und Europa hier eine Rolle spielen – oder ist jetzt der Moment gekommen, dieses Problem von den regionalen Beteiligten lösen zu lassen? Baskin: Ein kompletter Rückzug wäre falsch. Ideal wäre es, wenn die USA und Europa eher als Moderatoren auftreten, die beide Seiten zusammenbringen, Ideen einspeisen und den Prozess erleichtern, aber nicht kontrollieren würden.

IP: Israels Außenminister Avigdor Liebermann hat vor Kurzem die Idee aufge- bracht, deutsche Inspektoren an die Grenzen des Gaza-Streifens zu schicken, um weiteren Waffenschmuggel zu unterbinden. Baskin: Liebermann hat vorgeschlagen, dass solche Inspektoren eingesetzt wer- den, wenn die Hamas nicht mehr an der Macht ist – wie auch immer er das an- stellen will. Er könnte sich eine UN-Peacekeeping-Mission in Gaza vorstellen, die nach dem Vorbild der UN-Kräfte in Ost-Timor und Kosovo funktionieren würde.

IP: Aber die Vorbedingung wäre, dass die Hamas nicht mehr an der Macht wäre. Ist das nicht illusorisch? Baskin: Rein militärisch betrachtet ist es möglich, dass Israel den Gaza-Streifen wieder besetzt. Aber nur zu einem unerhörten Preis – es wäre wohl der Aus­ löser für eine dritte Intifada.

IP: Auch hierzulande wird vorgeschlagen, wieder Polizeikräfte zur Grenzkontrolle nach Gaza zu schicken, um Waffenschmuggel zu unterbinden. Ist das realistisch? Baskin: Es gab ja in diesem Sinn keine Polizeikräfte in Gaza, sondern eine „Monitoring Commission“ namens EUBAM, deren Aufgabe es war, die Imple- mentierung eines Abkommens zur Grenzsicherung zu überwachen – als die Palästinensische Autonomiebehörde dort noch an der Regierung war. Ein „Mo- nitoring“, das mit zivilen Kräften durchgeführt wird, ist eine ganz andere Auf- gabe als „Entmilitarisierung“, für die man gut bewaffnete und mit einem robus- ten Mandat versehene Kräfte braucht. Niemand würde eine solche Mission ohne ein größeres Abkommen auf sich nehmen, denn das würde im Grunde nichts anderes bedeuten, als Leute in den Tod zu schicken. Und welches Land würde seine Bürger für Gaza sterben lassen?

Das Interview führte Sylke Tempel

44 IP • September / Oktober 2014 Prinzipienfragen

Prinzipienfragen Wie in der arabischen Welt Politik gemacht wird: eine Glosse

Florence Gaub | Früher verliefen die Fronten in der arabischen Welt so klar, dass man vom „arabischen Kalten Krieg“ sprach. Heute ist alles so unüber- sichtlich, dass man selbst mit Organigrammen in Wandteppichgröße nicht weit kommt. Das liegt vor allem an den Prinzipien und Spielregeln, die heute die arabische Politik bestimmen. Die IP stellt die zwei wichtigsten vor.

Das Prinzip Familienkrieg. Es gab einmal eine Zeit in der arabischen Welt, da hatten Allianzen noch ihre Ordnung. Wenn A mit B und C verbandelt war, bedeutete es im Umkehrschluss, dass B und C ebenfalls Verbündete waren. Tempi passati! Im Großen und Ganzen gab es damals zwei Teams, hier die Monarchien, dort die revolutionären Republiken, und Israel saß in der Mitte. So stabil waren diese Blöcke, dass der amerikanische Politologe Malcolm Kerr die Situ- ation als „arabischen Kalten Krieg“ bezeichnete. Kerr wurde später von Dschi- hadisten ermordet, und die arabische Welt ist heute nicht mehr bi-, sondern multipolar, was ein schrecklich kompliziertes, wandteppichgroßes Organi- gramm mit vielen Pfeilen ergibt und im Ergebnis stark nach einer Massenka- rambolage aussieht. Denn das Prinzip, nach dem politische Entscheidungsträ- ger heute handeln, entspricht dem arabischen Sprichwort: „Ich gegen meinen Bruder, mein Bruder und ich gegen unseren Cousin, mein Bruder, mein Cou- sin und ich gegen den Fremden.“ Und das sieht so aus: Die klassische „Palästina-Allianz“ (Hisbollah-Hamas- Syrien-Iran) steht so nicht mehr, weil sich die Hamas von der Hisbollah und Syrien losgesagt hat – aber nach wie vor dem Iran nahe steht. Das ist deshalb unpraktisch, weil sie das einzige palästinensische Mitglied war – aber unver- meidlich, weil die Hamas stark von Katar unterstützt wird. Katar wiederum steht an der Seite der Muslimbrüder in Ägypten (von denen die Hamas ein Ableger ist) und hat sich deshalb mit drei seiner Golf-Nachbarn gestritten, was wiederum zu einer Annäherung mit dem Iran geführt hat – der in Syrien aber die andere Seite unterstützt. Wenn es um Syrien geht, sind sich die Golf-Staaten dann doch wieder einig, dass alles besser ist als Assad, sogar Dschihadisten. Algerien hat in dem ganzen

IP • September / Oktober 2014 45 Kampf ohne Grenzen

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Chaos entschieden, es sich einfach zu machen und an seiner Außenpolitik schlicht nichts zu ändern. Doch das implodierende Libyen macht es immer schwieriger, diese stark antiinterventionistische Position durchzuhalten. Der Irak und der Libanon haben Meinungslosigkeit zur Landespolitik ge- macht, was eine interessante Idee wäre, wenn sich die Bürger selbst auch daran halten würden. Ägypten hat es am schlimmsten, denn es wäre gerne mit Syrien alliiert, was aber etwas unpopulär ist – und der „Club der neuen Demo- kraten“ hat bislang nur ein Mitglied, Tunesien, und nimmt momentan keine weiteren auf. So musste sich Ägypten also mit seinem Erzfeind, Saudi-Arabi- en, aussöhnen, um nicht ganz alleine auf dem arabischen Schulhof herumzu- stehen. Aufgedröselt bedeutet das außenpolitische Prinzip der konzentrischen ­Familienkriegskreise, dass Dispute vor allem dann auftreten, wenn ein Akteur einem anderen besonders nahe steht, geografisch und/oder politisch. Die arabische Welt ist demzufolge besonders dann geeint, wenn sie einem Außenseiter wie den USA oder Europa gegenübertritt; auf die regionale Ebene übertragen bedeutet das, dass Ad-hoc-Allianzen gegen etwas gebildet werden (beispielsweise gegen die Existenz Israels, gegen die Präsenz amerikanischer Truppen in der Region, gegen die Muslimbrüder an der Macht) und sehr sel- ten für etwas (beispielsweise für wirtschaftliche Integration, für politische Einigung, für eine konzertierte Aktion in Sachen Libyen, Syrien, Irak usw.). Und genau das ist das Problem: Eine Anti-Außenpolitik ist nicht produktiv, sondern destruktiv.

46 IP • September / Oktober 2014 Prinzipienfragen

Arabokratie: eine Spielanleitung. Das Ziel dieses Spieles ist es, das eigene ara- bische politische System zu etablieren. Es stehen zwei zur Auswahl: Demokra- tie und Autokratie. Die Spieldauer ist im Normalfall drei Jahre, denn so lange dauert es statistisch, bis 46 Prozent der Spieler die Demokratie und 39 Prozent die Autokratie erreicht haben. (Die verbleibenden 15 Prozent brauchen unge- fähr ein Jahrzehnt zur Demokratie, wofür die wenigsten momentan Zeit haben.) Das Spiel beginnt fast immer mit einer wirtschaftlichen Krise: Wo das Einkommensgefälle zwischen den Reichsten und den Ärmsten ganz besonders groß ist, sind die Bedingungen für Unruhen besonders gut, wie in Ägypten oder in Tunesien zu erleben war. Zwei Akteure bestimmen das Spiel – aber ein dritter entscheidet es: Die Alte Garde, die die Autokratie bevorzugt, und das Neue Volk, das Demokratie etablieren will, treten gegeneinander an. Beide Gruppen handeln dabei allein gemäß den eigenen Interessen. Die Alte Garde, die ihrer Personalstärke nach eine eher kleine Gruppe ist, monopolisiert meistens Reichtum und Ressourcen und möchte diese nicht unbedingt teilen. Das Neue Volk hingegen mag am de- mokratischen System, dass es den nationalen Reichtum ein Stück weit umver- teilt und noch dazu Planungssicherheit für die Zukunft gibt, denn Demokratie garantiert Wahlen. Wo das Neue Volk auch so genug vom Kuchen abbekommt, zum Beispiel in den Golf-Staaten, interessiert es sich meist nur mäßig für einen politischen Wandel. Der Mittelstand ist der Joker und entscheidet das Spiel, denn er verstärkt die Position der Gruppe, die ihn gezogen hat. Im arabischen Raum versteckt er sich oft im Militär oder in anderen staatlichen Institutionen. Als das Militär 2011 – im ägyptischen Fall 2013 – ein Regime zu Fall brachte, konnte man deutlich erkennen, dass der Mittelstand seine eigenen Interessen hat und nicht zwangsläufig ein Demokratie-Unterstützer ist. Auch wenn Aristoteles schrieb, dass der Mittelstand das Rückgrat dieses Systems ist, so hängt es am Ende doch davon ab, ob seine Interessen gewahrt sind. Sind diese in Gefahr – zum Bei- spiel, wenn die Niederschlagung eines Aufstands politisch oder wirtschaftlich zu teuer ist –, wird er sich dem Neuen Volk anschließen. Ist eines der beiden Systeme etab- liert, ist das Spiel allerdings noch Dr. Florence Gaub lange nicht zu Ende. Nur wem es ge- arbeitet am EUISS lingt, zwei von drei Staatsaufgaben zu (Europäische Union erfüllen – Sicherheit, Wohlstand und Institut für Sicherheits- studien) in Paris Repräsentation – und damit zeigt, vor allem zur langfristig die bessere Option zu sein, arabischen Welt. wird sich halten. Für alle anderen gilt: Gehen Sie zurück auf Los.

IP • September / Oktober 2014 47 © picture alliance/dpa

Juli / August 2014 Nr. 4 69. Jahr € 14,90 Österr. € 17,00 2728 CHINACONTACT Leserreise

Spannende Auswärtstaktik Chinareise mit Neue Ideen für Deutschlands Außenpolitik Businessprogramm ab € 2.230,– In ihrer jüngsten Ausgabe nahm INTERNATIONALE Limitierte Teilnehmerzahl! POLITIK den von Außenminister Frank-Walter Stein- meier angestoßenen „Review 2014“-Prozess auf, in

Auswärtstaktik dessen Verlauf die Grundlagen und Ziele deutscher China besser verstehen Außenpolitik überdacht werden sollen. Dies führen Ein Blick hinter die Kulissen des chinesischen Wirtschaftswunders wir in dieser und in folgenden Ausgaben fort – mit Reisen Sie nach Chengdu und Chongqing und entdecken Sie die Provinz Sichuan vom 31.10.2014 – 8.11.2014 Anmeldeschluss: 31.7.2014 einem Blick auf Deutschlands Beziehungen zu ➜ weitere Infos und Anmeldung: www.owc.de/leserreise OWC-Verlag für Außenwirtschaft GmbH Wahlen Gaza Sicherheit Frau Marlene Bartl • [email protected] Berliner Allee 67, D-40212 Düsseldorf Die Ukrainer stehen für Kontrolle, Armut, ewiger Vorschläge von Xenia Tel. +49 211 550426-16 westliche Werte ein, EU- Widerstand – so regiert Dormandy und Kathleen seinen wichtigsten Partnern in der Welt. Den Fax: +49 211 550426-55 4 Bürger nicht. Ein Essay die Hamas. Eine Reportage McInnis für eine NATO 2014 von Richard Herzinger von Silke Mertins der Zukunft Anfang machen die USA.

1 IP • September/Oktober 2014 Deutschlands Partner

Im Kalten Krieg war die transatlantische Partnerschaft gelebte Realität, heute sind die deutsch- amerikanischen Beziehungen so belastet wie lange nicht: Zeit, sich auf die Grundlagen des weiter unverzichtbaren Verhältnisses zu besinnen und die Aussprache über Differenzen zu suchen.

IP • September/Oktober 2014 2 Deutschlands Partner

Unverzichtbar, trotz allem Warum Deutschland und die Vereinigten Staaten Verbündete bleiben müssen

Jochen Bittner | Das Bündnis mit Amerika ist für Deutschland in vielfacher Hinsicht strategisch nicht nur wichtig – es ist unersetzlich. Denn es steht für ein pluralistisch-liberales Lebensmodell, das in vielen Teilen der Welt unter Druck gerät, selbst in Europa. Allerdings braucht die Partnerschaft eine Erneuerung. Und dazu sollte Berlin selbstbewusst beitragen.

In welcher Welt leben wir eigentlich? listischen Demokratiemodells bewege. Und was, wenn wir das gar nicht wis- Aber es gebe Gegenkräfte: „Während sen? Die Politikprofessoren Walter die Schatten länger werden und die Russell Mead und G. John Ikenberry ersten Sterne erscheinen, werden trugen unlängst einen eindrucksvol- Herrscher wie Putin weiter über die len Streit aus. Mead zeichnet in der Weltbühne schreiten. Sie werden sich Zeitschrift Foreign Affairs ein poeti- nicht sanft in die Nacht verabschie- sches Bild für eine große Besorgnis. den, sie werden wüten, wüten gegen Wir lebten im „Dämmerlicht der Ge- das sterbende Licht.“ Tiefe politische schichte“, schrieb er. In bestimmten Analyse oder Angstprosa von eher Regionen der Erde stehe „die Sonne belletristischer Qualität? der Geschichte“ noch hoch am Him- Auf Mead antwortet ebenfalls in mel, dort sei der unruhige Tag nicht Foreign Affairs der Princeton-Profes- zu Ende; in Russland etwa, in China, sor G. John Ikenberry. China und im Iran und im Mittleren Osten. In Russland, konterte er, seien doch anderen Teilen – Mead nennt sie die wohl allenfalls „part-time spoilers“, „posthistorischen“ Weltgegenden – aber keine ernsthaft revisionistischen sehe man den friedlichen Mond am Mächte. Die liberale, regelbasierte Himmel stehen; das Zeichen, die Ta- Weltordnung entwickle sich weiter, gesmühen zu beenden und sich sanft überall, unaufhaltsam. Schließlich zu betten.1 strebe alle Welt nach einer wohl­ Es möge zwar stimmen, so Mead, habenden Mittelschicht, und die sei dass die Geschichte sich unaufhalt- ohne internationale Verflechtung und sam in Richtung des liberalen, kapita- ohne akzeptierte Friedensordnung

1 Walter Russell Mead: The Return of Geopolitics, Foreign Affairs, Mai/Juni 2014, S. 69–79.

50 IP • September / Oktober 2014 Unverzichtbar, trotz allem

nun einmal nicht zu haben. Weder nern, des ethnischen Nationalismus Moskau noch Peking hätten „das Inte- und der Destabilisierung nach außen resse, die Ideen, die Fähigkeiten oder und der Propaganda gegenüber dem die Verbündeten, um die bestehenden Westen fortsetzen, könnte Europa als globalen Regeln und Institutionen strategische Antwort am Ende nur umzustülpen“. Putin möge gerade ein eine Neuauflage der Eindämmungs­ paar kleine Schlachten gewinnen, politik übrigbleiben, um die weitere aber er verliere den Krieg.2 Erosion von Gren- Es gibt jetzt drei Möglichkeiten. zen in Europa auf- Die Tragik des Ost- Entweder Mead hat recht, und die zuhalten. Deren blocks: nie gute Jeans Geopolitik ist zurückgekehrt in eine klassische (und er- Welt, in der sie zu ihrer Freude west- folgreiche) Version produziert zu haben lich des Urals auf einen Haufen Naiv- nach George F. linge trifft. Oder wir erleben, nach Kennan hat zwei Komponenten: mili- Ikenberry, nur ein letztes, verzweifel- tärische Abschreckung und ideologi- tes Aufbäumen des Expansionismus. sche Anziehung. Für die Abschre- Oder aber, Möglichkeit drei, Mead ckungskomponente liegt auf der und Ikenberry haben beide recht, und Hand, warum Europa die Vereinigten Staaten wie Russland bedienen sich Staaten braucht. mal aggressiver Machtpolitik, mal in- Viel wichtiger ist jedoch die Soft- ternationaler Kooperation – je nach- Power-Komponente. Für sie gilt in dem, was im Einzelfall mehr Erfolg noch stärkerem Maße das Kooperati- verspricht. onsgebot mit den Vereinigten Staaten. Das Entscheidende an dieser Aus- Europa und Amerika sind mehr denn wahl ist: Wie immer es kommt, die je aufeinander angewiesen, um ein deutsche Außenpolitik sollte ange- attraktives Gegenmodell zum russi- sichts des Zweifels für den ungüns- schen „Closed-shop“-Modell zu bil- tigsten Fall aufgestellt sein. Genau den. Die anziehende Wirkung von deswegen ist die Westbindung, ist die Demokratie, Freiheit und dem steten Partnerschaft mit Amerika für Versuch, die Lebensqualität zu opti- Deutschland weiterhin unerlässlich. mieren, wird sich im selben Maße verstärken, wie Europa und Amerika Partner mit vielen Fähigkeiten diese Qualitäten verteidigen und ent- Gut, in solchen Zweifelszeiten einen falten. Nach einem Bonmot des Wirt- Bündnispartner zu haben, der mehre- schaftshistorikers Niall Ferguson be- re Spielarten beherrscht. Die ungüns- stand die vielleicht größte Tragik der tigste Entwicklung, die sich in Russ- Arbeiter- und Bauernstaaten des Ost- land abspielen könnte, wäre, dass blocks darin, dass sie es nie fertig- Putin ehrgeizig an dem Ziel festhält, brachten, ein anständiges Paar Jeans ein imperiales Gegengewicht zur Su- zu produzieren. Will sagen: Wächst permacht USA aufzubauen, sowohl der Unterschied der Lebensqualitä- geografisch wie auch ideell. Sollte er ten, die zwei Systeme bieten, steigt seine Politik der Autokratie im In- auf der benachteiligten Seite der

2 G. John Ikenberry: The Illusion of Geopolitics, Foreign Affairs, Mai/Juni 2014, S. 80–90.

IP • September / Oktober 2014 51 Deutschlands Partner

­gesellschaftliche Druck nach Verän- verschiedenheiten; sie müssen des- derungen. Die Anziehungskraft des halb im Binnenverhältnis der transat- Westens hat schon einmal eine anti­ lantischen Partnerschaft besprochen liberale Ideologie kollabieren lassen, und gelöst werden. und sie kann es wieder, auch gegen- über einem chauvinistischen Russ- Es gibt sie noch: geteilte Werte land, das sich „Neurussland“ einver- Aber teilen wir denn noch gemeinsa- leibt. Ersetze Jeans durch iPhone. Das me Werte? Ist das Zerwürfnis darüber Freihandelsabkommen TTIP mit den nicht schon viel zu tief? Der Irak- USA liegt deswegen nicht nur im Krieg, die Folterbilder aus dem Abu- wirtschaftlichen, sondern auch im Ghraib-Gefängnis, Guantánamo, Ent- strategischen Interesse Europas und führungsflüge der CIA, die Strategie Deutschlands. der gezielten Tötungen per Drohnen, Spätestens seit seiner Brandrede die Massendatensammlung der NSA, auf der Münchner Sicherheitskonfe- die Spionage von US-Agenten bis ins renz 2007 setzt Putin darauf, die Ein- Handy der Bundeskanzlerin hinein heit des Westens zu schwächen, indem werfen die Frage auf, ob sich Deutsch- er gezielt den Antiamerikanismus in land und die Vereinigten Staaten in Europa anheizt. Die monopolare Welt der Außenpolitik überhaupt noch auf führe dazu, „dass sich schon niemand einem gemeinsamen moralischen mehr in Sicherheit fühlt“, rief er da- Fundament bewegen. mals mehrmals vom Rednerpult. Für viele Einzelfälle, um es deut- Besonders in Deutschland verfängt lich zu sagen, ist diese Frage mit Nein diese vermeintliche Sorge um eine zu beantworten. Sowohl bei der ausgeglichene Weltordnung. Sie nährt Schwelle zu militärischer Gewalt wie das hierzulande verbreitete Gefühl, bei der präemptiven Gefahrenabwehr sich nach Ende des Kalten Krieges als auch beim Datenschutz haben endlich von den sich in Amerika andere Güterabwä- TTIP ist in Europas Vereinigten Staa- gungen durchgesetzt als in Deutsch- wirtschaftlichem und ten emanzipieren land. All das hat mit unterschiedli- zu müssen. Der cher Geschichte genauso zu tun wie strategischem Interesse Vergleich mit pu- mit Unterschieden in der Rechtskul- bertären Ablöse- tur und gesellschaftlichen Einstellun- prozessen ist sicher nicht überzogen. gen. Seit dem weltpolitischen Stress- Anders ist kaum zu erklären, warum moment „11. Sep­tember“ treten diese „der Ukraine-Konflikt mit Russland Unterschiede gleichsam katalytisch für Teile der deutschen Bevölkerung hervor. ein Konflikt mit Amerika ist“, wie es Eine klare Aussprache über alles der Kollege Sebastian Fischer treffend Trennende zwischen Europa und formuliert hat – und falsch. So richtig Amerika ist deshalb lange überfällig. nämlich sämtliche Hinweise auf Feh- Wir müssen über alles neu und offen ler und Exzesse in Amerikas „war on streiten, von der Killerdrohne bis zur terror“ sind, sie dürfen den Westen Facebook-Überwachung. Die Deut- nicht spalten. Meinungsverschieden- schen glauben mehrheitlich nicht heiten sind nicht notwendig Werte- daran, dass es „gerechte Kriege“

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geben kann. Die Amerikaner denken Rechtsstaatlichkeit: Hinsichtlich Wie in jeder guten das schon. Die Deutschen sind eine der „Rule of Law“ hat Deutschland Partnerschaft ist es an der Zeit, sich die postheroische Gesellschaft. Die Ame- mit Amerika noch immer mehr ge- „basics“ in Erinne- rikaner glauben noch an tatsächliche mein als mit manchem europäischen rung zu rufen: Helden – und an tatsächliche Anti- Land, mit Ungarn, Rumänien oder Barack Obama und Angela Merkel im helden, die man, eben weil sie es sind, Bulgarien etwa. Das starke Bewusst- Schloss Charlotten- per Joystick „ausschalten“ könne. sein dafür, dass die Herrschenden sich burg, Juni 2013 Der Datenschutz, zweites Beispiel, dem Gesetz zu unterwerfen haben, gilt in Deutschland (auch aufgrund statt das Gesetz dem Herrschenden zu der Erfahrungen mit und unterwerfen, speist sich in Deutsch- Stasi) als unmittelbar an die Men- land aus der Aufklärung, in Amerika schenwürde gekoppelt. In Amerika aus dem Gründungsmythos der anti- wird er aus dem Eigentumsrecht ab- feudalistischen Nation. geleitet. Es bedarf hier einer neuen, Demokratie: „Government of the gemeinsamen Begründung, oder je- people, by the people, for the people, denfalls eines Minimalkonsenses, mit shall not perish from the Earth.“ Wer dem beide Seiten leben können. würde das berühmte Lincoln-Gebot bis Schließlich sind alle Unterschiede heute mit dickerer Tinte unterschrei- noch graduell, nicht kategorial. Dies- ben als die Bewohner Westeuropas? seits von Auslegungs- und Rechtferti- Pluralismus, Meinungs- und Gewis- gungspraktiken besteht Konsens über sensfreiheit: Die Überzeugung, dass die grundlegenden Werte. Es gilt, der Staat sich aus allen Kirchen, Re- diese Unterscheidung zu wahren. daktionen und sozialen Medien her­ Damit das gelingt, ist es, wie in jeder auszuhalten hat, wird von Berlin aus guten Partnerschaft, an der Zeit, sich gesehen nach Westen hin stärker, die „basics“ in Erinnerung zu rufen: nach Osten hin schwächer.

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Arbeitsethos: Ja, auch die gemeinsa- Befragten im ARD-Deutschlandtrend me religiöse Grundierung spielt eine vom April 2014. Rolle. Der Protestantismus hat beide Nehmen wir für einen Moment Gesellschaften, die deutsche und die die Position dieser Beinahe-Mehrheit amerikanische, produktiver als andere ein. Welche außenpolitische Grund- gemacht. Die Deutschen arbeiten und ausrichtung wäre dann statt der trans- beten zwar heute atlantischen aus ihrer Sicht die richti- Die Notwendigkeit der weniger als die ge? Sich auf die Stärkung Europas Selbstkritik sollte zum Amerikaner, aber konzentrieren, lautet eine häufige dass beide eher Entgegnung. Wäre das nicht die logi- atlantischen Erbe zählen leben, um zu arbei- sche Weiterentwicklung der Rolle, die ten, als arbeiten, Deutschland, jedenfalls in der Wäh- um zu leben, dieser alte Befund rungspolitik, schon innehatte? Die stimmt auch über hundert Jahre nach kleine Großmacht, der Primus inter Max Webers berühmter Rechercherei- Pares der Europäischen Union? se durch die Vereinigten Staaten noch. Diese Position übersieht zwei we- Vielleicht sollte man die Einsicht in sentliche Einwände. Wollen die ande- die Notwendigkeit der Selbstkritik ren Europäer ein solches Europa? ebenfalls zum atlantischen Erbe zäh- Und sollten es die Deutschen selbst len, da sie eng mit diesem Ethos ver- wollen? Die Südeuropäer haben deut- bunden ist. lich kein Interesse an einem noch do- minanteren Deutschland. Und Balten Nicht weniger, mehr Westbindung und Polen würden ihr Schicksal nie- Deutschland ist eine kleine Groß- mals einer militärischen Schutzmacht macht geworden. Genau deswegen EU allein anvertrauen. Für sie war darf es seine Westbindung nicht und ist die NATO-Mitgliedschaft Ga- schwächen, sondern muss sie stärken. rant ihrer Souveränität. Der ehemalige US-Präsidenten-Bera- Auch für Deutschland selbst ter David Frum schrieb Ende Juli in schafft die immer tiefere Integration der ZEIT (31/2014): „Deutschland in die EU, anders als manch romanti- hat seinen berechtigten Platz unter sche Theorie, keineswegs durchge- den Großmächten wieder eingenom- hend mehr Souveränität. Die EU-Mit- men. Es hat sich dabei allerdings gliedschaft schränkt die nationale gleichzeitig von der Bündnisstruktur Souveränität zunächst einmal ein, al- der Nachkriegszeit wegbewegt.“ Die- lerdings mit der Chance auf Souverä- sen Befund mag man für übertrieben nitätsgewinne im Verbund. Wie sou- halten, aber richtig ist sicher, dass ein verän aber war Deutschland bei der wachsender Anteil der Deutschen mit Gewährung der Milliardenkredite für der wiedergewonnenen Souveränität die EU-Krisenländer? des Landes dessen Emanzipation von Die EU schafft eben nur im besten der Schutzmacht Amerikas unter Be- Fall mehr außenpolitische Schlag- weis gestellt sehen möchte. Deutsch- kraft, in der Handelspolitik etwa. Im land solle eine „mittlere Position“ Regelfall schafft sie Sachzwänge. zwischen Russland und dem Westen Diese, wie etwa Normenharmonisie- einnehmen, sagten 49 Prozent der rung, rentieren sich in volkswirt-

54 IP • September / Oktober 2014 Unverzichtbar, trotz allem

schaftlicher Hinsicht zwar häufig. des Malaysia-Airlines-Passagierflug- Aber sie führen auch zu Politiken des zeugs auf Flug MH17 noch Hub- kleinsten gemeinsamen Nenners. schrauberträger an Russland ver- Dasselbe minimierende Prinzip gilt kauft, demonst- für die Außenpolitik. Selbst wenn also riert auf geradezu Ist „lebenslange“ Europa durch eine integrierte Rüs- dünkelhafte Weise, Partnerschaft anachro- tungspolitik und eine gemeinsam zu dass ihm der indi- entsendende Europäische Armee zu viduelle nationale nistisch wie die Ehe? den Fähigkeiten der USA aufschlie- Nutzen weit vor ßen und sich dadurch von der NATO strategischen Gemeinschaftszielen entkoppeln könnte – Deutschlands geht. Dasselbe gilt im Zweifel für sicherheitspolitische Gestaltungsmög- Großbritannien. Der Insel ist das lichkeiten würden in einem solchen Schicksal der Europäischen Union so Verbund kleiner. gleichgültig wie noch nie, und im Konfliktfall würde London seine eige- Alternativen? Fehlanzeige! nen Interessen nicht für europäische Mit wem denn also sonst? Oder: Ziele aufs Spiel setzen. Warum sich aber überhaupt für eine Kurzum: Die Partnerschaft mit strategische Gemeinschaft entschei- Amerika ist strategisch wichtig, weil den? Ist die Idee, sich quasi lebenslang sie für ein pluralistisch-liberales Le- an eine Partnernation zu binden, fak- bensmodell steht, das unter Druck tisch nicht genauso anachronistisch gerät, selbst innerhalb Europas. Die wie die lebenslange Ehe? Warum soll- Partnerschaft braucht allerdings eine te sich Deutschland nicht in seiner Erneuerung, einen aufgefrischten Nachbarschaft nach Alternativen um- Konsens über die Reichweite gemein- sehen? Tun wir das einfach mal. samer Werte. Im europäischen Ver- Auf wen also sollen sich die Deut- bund allein werden Deutschlands schen im Ernstfall verlassen? Zwei ­außenpolitische Gestaltungsmöglich- andere ständige Mitglieder des UN- keiten eher abnehmen. Zur Verteidi- Sicherheitsrats bieten sich an. Frank- gung einer Partnerschaft gehört aber reich wäre die (jedenfalls geografisch) auch die Verteidigung der eigenen am nahesten liegende Antwort – al- Position. Deutschland darf sich dabei lerdings nur dann, wenn man die mehr Selbstbewusstsein erlauben. „Freundschaft“ zwischen den beiden Schließlich ist unseren Freunden Ländern noch immer nicht für bloß längst klar, wer in Europa die „indis- eine freundliche Fiktion hält. Unser pensible nation“ ist. Nachbar ist zentralstaatlich und ­etatistisch, die Führungsschicht ein Dr. Jochen Bittner einziges Beziehungsgeflecht, der Ar- ist Redakteur der ZEIT. beitsmarkt und die Industriepolitik protektionistisch, die Außenhandels- politik opportunistisch. Sicher, op- portunistisch sind auch deutsche Waffenexporte. Aber wer nach der Krim-Annexion und dem Abschuss

IP • September / Oktober 2014 55 Deutschlands Partner

Her mit der Charmeoffensive! Deutschland und die USA verbindet weit mehr als sie trennt

Jacob Heilbrunn | Knapp den Fängen der Russen entkommen – und denen der Amerikaner: So interpretiert man in Deutschland wohl das Ende des Kal- ten Krieges. Erinnert Putins Gebaren nun die Deutschen an die Vorteile der Westbindung? Fest steht jedenfalls: Beide Partner müssen sich wieder mehr anstrengen, denn Zwist und Misstrauen können sie sich gar nicht leisten.

In Evelyn Waughs Roman „Scoop“ Vorteil manipulieren – hat weltweit verkündet Lord Copper, Zeitungsba­ an Boden gewonnen, nicht zuletzt in ron und Eigentümer des Boulevard­ Deutschland. Ein Beispiel dafür ist, blatts Daily Beast, bei einem Mittag­ dass die Vereinigten Staaten heute oft essen, dass ihn die Aussichten auf mit großem Misstrauen betrachtet einen Krieg im afrikanischen Staat werden. Ishmaelia „außerordentlich erfreuen“: „Wir glauben, das wird ein sehr viel­ Eine lange Anklageschrift versprechender kleiner Krieg“, erklärt Aus deutscher Sicht scheinen die USA er zynisch seinen Gästen. „Man könn­ aus Folgendem zu bestehen: zuerst te sagen: ein Mikrokosmos der Welten­ einmal aus Medien, die den Mächti­ dramen. Wir wollen ihm höchste Pub­ gen dienen, und zwar ausschließlich. lizität verleihen. Große Zeitungen ar­ Dann ist da der Irak-Krieg. Und na­ beiten mit einer Komplexität, die die türlich Abu Ghraib. Dazu noch der Öffentlichkeit nur selten versteht. Der NSA-Überwachungsskandal und die Bürger weiß kaum etwas von der ge­ reflexhafte Unterstützung Israels. Von waltigen Maschinerie, die für ihn im der Todesstrafe und wildgewordenen Gegenzug für seinen morgendlichen­ christlichen Fundamentalisten ganz Penny in Gang gesetzt wird.“ zu schweigen. Die Anklageschrift Waughs brillantes Buch von 1938 wird jede Woche länger. war als Parodie auf die britische Ober­ Anders gesagt: Was wir in jüngster schicht und ihre imperialen Torheiten Zeit erlebt haben, ist etwas, das sich gedacht. Doch im Laufe der Jahrzehn­ weder Deutschland noch die Vereinig­ te ist etwas Seltsames passiert. Die ten Staaten leisten können. Beide Na­ Denkweise – dass die Reichen und tionen verbindet weit mehr als sie Mächtigen Weltereignisse zu ihrem trennt. Sie teilen Werte und geopoliti­

56 IP • September / Oktober 2014 Her mit der Charmeoffensive!

sche Interessen. Die „transatlantische der Russen, sondern auch denen der Partnerschaft“ ist nicht einfach eine Amerikaner. Nun sind sie frei, um … Phrase, sondern seit dem Ende des ja, was genau eigentlich zu tun? Um Zweiten Weltkriegs beständige Reali­ sich der Erinnerung an die Nazizeit tät. Aber ohne Wladimir Putin, der zu entledigen? Nein. Anders als in zum wichtigsten Trommler für die Japan ist die Reue für die Verbrechen NATO beziehungsweise eine Mit­ zentrales Element der modernen deut­ gliedschaft im Nordatlantischen Ver­ schen Identität – heute womöglich in teidigungsbündnis geworden ist, wäre einem stärkeren Ausmaß als je zuvor. die Allianz wohl weiter verfallen. So nahm man auch im Ausland Notiz Nun liefert die Rückkehr der Geo­ davon, dass Bundeskanzlerin Angela politik Berlin und Washington die Merkel sich Pekinger Versuchen wi­ Chance auf einen Neuanfang. Als dersetzte, den Besuch des Holocaust­ Erstes sollten sich beide Länder einge­ mahnmals als gegen Tokio gerichteten stehen, dass sie sich nicht zum ersten PR-Coup zu missbrauchen. Mal an diesem Punkt wiederfinden. Die deutsche Nachkriegsgeschichte Wunderbares Wirtschaftswunder? liest sich als langwieriger Prozess, Unter Merkel hat Deutschland ein schmerzhafte Wahrheiten zu akzep­ neues Wirtschaftswunder erlebt, um tieren, die das Land lieber ignoriert das es von Europa und Amerika be­ hätte – von der Wiederbewaffnung in neidet wird. Doch für Deutschlands den fünfziger Jahren bis zum NATO- Außenpolitik sind dessen Folgen nicht Doppelbeschluss von 1983, als sich ganz so „wunderbar“: In Südeuropa die deutsche Linke in den Wahn stei­ wird das Land nun gerte, dass die Regierung von US-Prä­ als unterdrückeri­ Deutschland will am sident Ronald Reagan vorhabe, Mittel­ sche Macht wahr­ liebsten wieder Zünglein europa in ein Versuchslabor für Nuk­ genommen, und in learkriege zu verwandeln. Tatsache den Vereinigten an der Waage spielen ist, dass Waffen keine Kriege auslö­ Staaten ist man sen; sie helfen, sie zu verhindern. Ein der Ansicht, Deutschlands ökonomi­ Begriff, an den man sowohl Deutsch­ sche Stärke habe dazu geführt, dass land als auch die Vereinigten Staaten das Land vor der Außenpolitik die erinnern sollte, ist „Abschreckung“. Augen verschließe. Seit der Wieder­ Zwischen 1949 und 1989 brach kein vereinigung, so lässt sich argumentie­ dritter Weltkrieg aus; der Frieden ren, hat sich Deutschland in eine hielt. Ein präemptiver Krieg war nicht Wirtschaftsweltmacht verwandelt, die notwendig. Die von US-Diplomat davor zurückschreckt, in der interna­ George F. Kennan konzipierte Ein­ tionalen Politik mehr als allenfalls dämmungspolitik funktionierte. Die eine Nebenrolle zu spielen. Abschreckung schreckte ab. Man kann sich des Eindrucks Viele Deutsche scheinen allerdings nicht erwehren, dass das Land am andere Schlüsse gezogen zu haben. Sie liebsten wieder seine traditionelle verstehen den Kalten Krieg als Sack­ Rolle als Zünglein an der Waage spie­ gasse, aus der sie knapp entkommen len wollte – und will. Es möchte so­ sind – und zwar nicht nur den Fängen wohl mit dem Osten als auch mit dem

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Wird Wladimir Putins Westen flirten, ohne sich für die eine vertrauen würden. Den größten Feh­ Gebahren ausrei- oder andere Seite zu entscheiden. Und ler, den die Vereinigten Staaten nach chen, um den Deut- schen die Vorteile das hat bis zu einem gewissen Punkt Ende des Kalten Krieges begangen der Westbindung auch funktioniert. Der Ansatz hat haben, war, ihre „public diplomacy“, wieder ins Gedächt- sich aber überlebt, wenn Russland also vor allem ihre Kulturdiplomatie nis zu rufen? immer aggressiver auftritt, um sich und die Öffentlichkeitsarbeit, einzu­ wieder seine traditionelle Einfluss­ stellen und stattdessen in der Außen­ zone in Osteuropa zu schaffen. Es ist politik einfach auf das amerikanische nicht leicht, als „postmoderne Macht“ Militär zu setzen. daherzukommen, wenn eine andere Ein führender CDU-Politiker wies noch nicht einmal so ganz in der Mo­ unlängst darauf hin, dass die jünge­ derne angekommen ist. Russlands ren Politiker in den Reihen seiner Griff nach der Krim erinnert eher an Partei schlicht keine Erinnerungen den Einmarsch Friedrich des Großen mehr daran hätten, was Amerika in Schlesien von 1740 als an die Akti­ während des Kalten Krieges für on einer saturierten Macht. Deutschland bedeutete. In jenen Jahr­ Wird Putins Gebahren ausreichen, zehnten lud die United States Infor­ um den Deutschen die Vorteile der mation Agency, die von der Regie­ Westbindung wieder ins Gedächtnis rung Clinton törichterweise aufgelöst zu rufen? Eine Umfrage von ARD- und dem US-Außenministerium ein­ Deutschlandtrend, wonach nur verleibt wurde, regelmäßig deutsche 15 Prozent Russland für einen ver­ Bundestagsabgeordnete und Nach­ trauenswürdigen Partner halten, deu­ wuchspolitiker ein, um ihnen die Ver­ tet darauf hin. Das heißt aber noch einigten Staaten nahezubringen. Das lange nicht, dass die Deutschen des­ ist passé. Umso dringender ist heute halb automatisch den Amerikanern eine neue Charmeoffensive!

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Denn ungeachtet des riesigen pulieren, rund um die Welt in den Rummels beim Auftritt des damaligen­ Krieg zu ziehen. Amerika bleibt eine Präsidentschaftskandidaten Barack Demokratie – eine, in der sich die Po­ Obama an der Berliner Siegessäule litik beinahe über Nacht radikal ver­ 2008: Tatsache ist, dass er die deut­ ändern kann. Es ist gut möglich, dass schen Hoffnungen auf eine transpa­ die USA ihre eige­ rentere und offenere US-Politik ent­ ne Version vom Deutsche Hoffnungen täuscht hat. Die amerikanische Blitzkrieg aufge­ auf Barack Obama ­Spionage gegen Deutschland ist offen­ ben und zum Sitz­ sichtlich außer Kontrolle geraten – krieg übergehen. wurden enttäuscht ebenso wie die gegen die eigenen Und das Einzige, Bürger. Die Deutschen sollten erken­ was die Deutschen noch mehr auf­ nen, dass die USA nicht monolithisch bringen würde als Vereinigte Staaten, sind und die Gegenreaktion, der NSA die dauernd international eingreifen, und der CIA die Flügel zu stutzen, wäre wohl ein Amerika, das – ent­ bereits eingesetzt hat. fremdet von seinen Verbündeten und Paradoxerweise kommt der stärks­ abgeschreckt vom wachsenden Chaos te Widerstand gegen die George W. in der Welt – überhaupt nichts mehr Bush-Politik – die Obama in vielen täte. Eine „Festung Amerika“ wäre Bereichen fortgesetzt hat – von dem allerdings für niemanden eine Lösung. republikanischen Senator Rand Paul, Es ist höchste Zeit, dass sich beide einem Staatsliberalen. Das Thema Seiten darauf konzentrieren, zusam­ Überwachung durch die Regierung menzuarbeiten. Angesichts der Kri­ dürfte bei den nächsten Präsident­ sen und Konflikte im Nahen und schaftswahlen eine zentrale Rolle Mittleren Osten, des aufstrebenden spielen, militärische Interventionen Chinas und Russlands und der Not­ im Ausland ebenso. Die Republikaner wendigkeit engerer Handelsbeziehun­ erleben womöglich einen Bürgerkrieg gen können sich Deutschland und die in den eigenen Reihen wegen der Fra­ Vereinigten Staaten einen fortgesetz­ gen, ob sie weiter für eine kriegeri­ ten Zwist schlecht leisten. Sie müssen sche Außenpolitik stehen wollen und ihre Differenzen beilegen und sich ob diese mit der amerikanischen Tra­ des alten Ausspruchs von Benjamin dition vereinbar ist oder nicht. Franklin erinnern: „We hang together or we hang separately“ – entweder Bloß keine „Festung Amerika“ halten wir zusammen oder man Tatsächlich wendet sich die öffentli­ knüpft uns einzeln auf. che Meinung in den USA gegen die endlosen Kriege, in die sich das Land Jacob Heilbrunn im vergangenen Jahrzehnt gestürzt ist Chefredakteur von hat. So müsste man eigentlich die The National Interest. Deutschen warnen: Wehe, wenn Ihre Wünsche in Erfüllung gehen! Glau­ ben Sie nicht an einfältige Vorstellun­ gen von den ruchlosen Eliten, die amerikanische Bauerntrampel mani­

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Abschied von der Juniorpartnerschaft Für mehr deutsche Führung in und durch Europa

Annegret Bendiek | Die Diskussionen über deutsche Außenpolitik im Rahmen der Review 2014 (Titelthema IP 4/2014) haben bestätigt: Deutschland soll eine stärkere globale Rolle spielen. Wohin Deutschland außen- und europa- politisch führen soll, bleibt aber unbeantwortet. Ziele und Mittel deutscher Außenpolitik sind nun in einem außenpolitischen Weißbuch festzuhalten.

„Eine Außenpolitik, die keine breite Das einhellige Fazit, das sich aus Unterstützung hat, ist keine gute und allen 50 Außensichten ziehen lässt, auch keine nachhaltige Außenpoli- lautet, dass Deutschland eine stärkere tik“, stellt Patricia Flor, Abteilungslei- globale Rolle spielen sollte. Diese For- terin im Auswärtigen Amt, auf einer derung Deutschlands ist gleichzeitig der zahlreichen Review-Veranstaltun- – und das ist die zweite wichtige Bot- gen heraus. Friedensforscher Michael schaft – eingebettet in den Wunsch Brzoska entgegnet: „Wenn man die nach einem stärkeren europapoliti- Bevölkerung fragt, was sie über Au- schen Engagement. „Mehr deutsche ßenpolitik denkt, dann ist das, als Führung in und durch Europa“ ist würde man das Orakel in Delphi be- kurz gesagt der durchgängige Tenor fragen. Man bekommt so ungenaue der internationalen Experten. Weni- Antworten, dass jeder hören kann, ger klar wird in den Beiträgen, ob der was er will.“ Wunsch nach mehr Deutschland auch „Nicht mit uns!“, so lautet jeden- die Bereitschaft beinhaltet, eine selbst- falls die Antwort auf die ungenaue bewusstere deutsche Interessenpolitik Frage der Körber-Stiftung, ob sich die zu akzeptieren, oder ob das Mehr Deutschen mehr – auch militärisch – letztlich nur auf höhere finanzielle engagieren sollen. Dennoch ist vielen und logistische Beiträge bezogen ist. im Lande sehr wohl bewusst, dass Vieles wird hier davon abhängen, ob „das vertrauensvolle Zusammenleben Deutschland es schafft, zusätzliches in Osnabrück (und anderen deutschen Vertrauen aufzubauen und ob seine Städten) auch davon abhängt, wie wir neue Außenpolitik „nicht auf Hege- uns im Ausland bewegen“, bringt der moniebestrebungen gründet“, son- Oberbürgermeister dieser Stadt, Wolf- dern vielmehr „die notwendige An- gang Griesert, es auf den Punkt. passung an die Veränderungen im

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globalen System“ ist (María Soledad sich Deutschland so zögerlich verhalte Loaeza). und seine Potenziale bei Konfliktlö- sungen zu wenig einsetze (Chellaney, Wertschätzung Deutschlands James Shikwati, Mahbubani, Annan, Die Ausgangsbedingungen für dieses Louise Arbour). neue Projekt einer eigenständigen Mit dem neuen außenpolitischen ­Außenpolitik sind relativ gut. Deutsch- Selbstverständnis stellt sich die Frage land ist mit einer „klugen, besonne- nach den Interessen und den strategi- nen und verantwortungsbewussten schen Zielen Deutschlands. „Das sind Außenpolitik“ anerkanntermaßen ein Fragen, die lange als tabu galten, weil Erfolgsmodell, das „ein Stützpfeiler man vorgab, dass deutsche Interessen des multilateralen Staatensystems und deckungsgleich mit europäischen Inte- ein mustergültiges Mitglied der Welt- ressen seien. Gleichwohl existiert ein gemeinschaft“ (Kofi Annan) gewor- klares nationales Interesse“ (Shimon den ist. In den 70 Jahren seit Kriegs- Stein/Sylke Tempel). Offensichtlich ende hat es eine rechtsstaatliche De- ist lediglich, dass mokratie mit hoher internationaler Deutschland zu Die Chancen für eine Ausstrahlungskraft als „interkulturel- einem hohen Maß neue eigenständige ler Vermittler“ (Brahma Chellaney) von anderen Staa- und „als Brücke zwischen Nord und ten abhängig ist. Außenpolitik stehen gut Süd“ entwickelt (Davood Moradian, Es „bezieht wichti- Kishore Mahbubani). ge Vorleistungen aus anderen Ländern Deutschland hat seine Vergangen- und hängt von dem Bezug energeti- heit auf eine Weise verarbeitet, die scher und mineralischer Rohstoffe aus internationale Anerkennung findet, dem Ausland ab“ (Markus Kerber). und ist die wichtigste treibende Kraft Die „Verminderung dieser Vulnerabi- des europäischen Integrationsprozes- lität“ liegt Herfried Münkler zufolge ses (Loukas Tsoukalis). „Deutschland „nicht nur im deutschen, sondern vor muss nicht mehr befürchten, dass sein allem auch im wohlverstandenen eu- Handeln bei seinen Nachbarn auto- ropäischen Interesse“. matisch Angst und Argwohn auslöst“ (Anne-Marie Slaughter). Es ist auch Mehr Führung in und durch die EU außenpolitisch eine Zivilmacht, die Die internationalen Experten sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sich ebenfalls weitgehend einig bezüg- Menschenrechte als wichtigste Ziel- lich ihrer Kritik an Deutschland. Es größen der internationalen Zusam- beschränke sich zu sehr auf seine eige- menarbeit betont (Moradian, Robert nen Interessen, habe zu wenig Gestal- Kappel, Dirk Messner). Militärische tungsbewusstsein und sei zu sehr auf Instrumente zur Durchsetzung natio- die Verfolgung ökonomischer Anlie- naler Interessen werden nur in Aus- gen ausgerichtet. Die deutsche Euro- nahmefällen eingesetzt (Harald Mül- papolitik gilt als von kurzfristigen In- ler, Eberhard Sandschneider). Insbe- teressen geprägt und lasse hinreichen- sondere, aber nicht nur Autoren aus den strategischen Gestaltungswillen der ehemaligen „Dritten Welt“ äußern vermissen (Nathalie Tocci, Daniela Bedauern und Unverständnis, dass Schwarzer). Die kurzfristigen Interes-

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sen deutscher Unternehmen domi- tisch in Europa zu investieren. Nur nierten immer wieder die langfristi- wenn die Mitgliedstaaten integra- gen gemeinsamen Interessen Europas tions- und außenpolitisch an einem (Volker Perthes, Charles Grant). Es Strang ziehen, bringt Europa das poli- habe sich ein funktionaler und an na- tische Gewicht auf die Waage, das tionalen Interessen ausgerichteter Deutschland zur Realisierung seiner Umgang mit Europa durchgesetzt Interessen braucht. (Slaughter). Integrationspolitisch muss Berlin Daneben kommt auch die Idee dabei dreierlei schaffen: Es „muss die Deutschlands als einer unersetzlichen wesentlichen Konstruktionsfehler der Nation für den Integrationsprozess Euro-Zone korrigieren“ und zugleich zum Ausdruck. Die europäische Inte- verhindern, „dass die südeuropäi- grationsdynamik hänge davon ab, dass schen Schuldnerstaaten in soziales Deutschland Führung übernimmt Elend und politische Instabilität ab- und andere Mitgliedstaaten auf dem gleiten“ (Timothy Garton Ash). Auch eingeschlagenen Weg mitnimmt – ob soll der „unverzichtbare Ausbau de- im Rahmen des mokratischer und verfassungsrechtli- Deutschland sollte Weimarer Drei- cher Kontrolle in der Euro-Zone“ an- auch weiter politisch in ecks (Wolf Lepen- gegangen werden, der zum Ziel haben ies), der EU-3 (Jan sollte, die EU insgesamt und nicht nur Europa investieren Melissen u.a.), die 18 Mitglieder der Euro-Zone zu eines deutsch-fran- stärken. Aus britischer Perspektive zösischen Tandems (Lepenies) oder wird die Erzielung eines neuen EU- einer Pioniergruppe (Feng Zhong- Konsenses notwendig sein; das Beste- ping). Deutschland ist die „zentrale hen auf Alternativlosigkeit wird nur Mittlermacht“ (Slaughter) in der EU, die Distanz zwischen den EU-Institu- die die differenzierte Integration tionen und der Öffentlichkeit vergrö- (Schwarzer, Tsoukalis) gestalten soll. ßern (Lawrence Freedman). Ohne eine stärkere Führung Europas Zu den wichtigsten geopolitischen durch Deutschland als „weiche Kraft“ Herausforderungen werden neben der (Elizabeth Sidiropoulos) bzw. als Finanzkrise die China- und Russland- „Mustereuropäer“ (Jan Techau) drohe Politik und die Energiepolitik gezählt der Integrationsprozess an Dynamik (Anne-Marie Le Gloannec, Sverre zu verlieren und Europa vor den we- Lodgaard). „China ist ‚the only BRIC sentlichen Herausforderungen zu ver- in the Wall‘ – ein Partner, ohne den es sagen. nicht mehr geht“ (Felix Kullmann). Europa und Deutschland sind Sollte es Europa (unter deutscher Füh- heute untrennbar verkoppelt. So wie rung) nicht schaffen, hier einheitlich die europäische Integration ohne aufzutreten, drohe die Gefahr, dass die deutsches Engagement nicht voran­ Mitgliedstaaten von China und Russ- gehen kann, so ist auch Deutschland land gegeneinander ausgespielt wür- darauf angewiesen, seine Interessen den (Grant, François Godement, Se- in und durch Europa zu verfolgen bastian Heilmann, Thomas Risse). (Lepenies, Kerber). Deutschland ist Auch die Stabilisierung der euro- daher gut beraten, auch weiter poli- päischen Nachbarschaft wird von vie-

62 IP • September / Oktober 2014 Bild nur in Printausgabe verfügbar

len Autoren als eine der ganz wesent- gerien und Nigeria verringert und Europa und lichen Herausforderungen betrachtet. ganz generell eine präventive Stabili- Deutschland sind heute untrennbar Während die Krim-Krise und der Um- sierungspolitik in der europäischen verkoppelt gang mit Russland ganz im Zeichen Peripherie befördert werden, um der globalen Konfliktkonfiguration Flüchtlingsströme, wirtschaftliches interpretiert werden (so besonders Elend und umfassende Perspektivlo- deutlich John J. Mearsheimer) und sigkeit zu bekämpfen. Deutschland entsprechend sehr unterschiedliche wird eine zentrale Rolle nicht nur in Antworten – bis hin zur Neuauflage der Neuordnung des Verhältnisses zu der EU-Erweiterungspolitik (Tocci, Russland zugewiesen, sondern auch Fuat Keyman) – erfahren, gilt die Sta- in der Afrika-Politik (Shikwati, Ade- bilisierung des Südens durchweg als bajo/Virk, Lepenies, Sidiropoulus). eine Frage des verstärkten ökonomi- Dafür müssen aber die Schwachstel- schen Engagements und der Öffnung len des europäischen Krisenmanage- europäischer Märkte für Waren und ments angegangen werden (Jean-­ Personen (Shikwati, Sidiropoulos). Marie Guéhenno, Constanze Stelzen- Die Abschaffung von Ausfuhrerstat- müller, Arbour, Annan). tungen für landwirtschaftliche Er- zeugnisse wird hier ebenso eingefor- Transatlantische Bindung dert (Adekeye Adebajo/Kudrat Virk) Eine zweite große Debatte findet in wie die Unterstützung so genannter Bezug auf die außenpolitische Einbin- subregionaler Säulen wie Nigeria, dung Deutschlands in die NATO und Südafrika, Kenia und Algerien. Die seine Akzeptanz einer amerikani- deutsche Abhängigkeit von Erdgas- schen Führung statt. Eine ganze Reihe einfuhren aus Russland solle durch von Stimmen erwartet von Deutsch- die Einfuhr von mehr Erdgas aus Al- land ein selbstbewussteres Auftreten

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mit einem eigenständigeren außenpo- die transatlantische Bindung nicht zu litischen Profil. Deutschland wird als gefährden und aktuelle Differenzen potenzielle Brücke zwischen dem „in- wie über die NSA oder die Israel-Poli- dustrialisierten Norden“ und dem tik nicht zu stark zu bewerten (Joa- „aufstrebenden Süden“ gesehen und chim Krause). Die Westbindung gilt teile eine ganze Reihe von Interessen als „die zentrale politische und strate- mit Staaten wie Indien, Brasilien, gische Schicksalsfrage für Europa“ Japan, Südafrika und Nigeria (Adeba- und sollte durch steigende Militäraus- jo/Virk). Die deut- gaben im Rahmen der NATO deutlich TTIP darf nicht an sche Russland-Po- gemacht werden. Allen „Neutralitäts- kleinkarierten Einzel- litik dürfe nicht und Äquidistanz-Träumen“ wird hin- nur aus dem Kon- gegen eine klare Absage erteilt interessen scheitern flikt über die Krim (Techau, Le Gloannec). „Tatsächlich heraus verstanden kommt den USA, nicht der EU, durch werden, sondern müsse sich „in eine ihre Arbeit in der NATO die Rolle des umfassendere Eurasien-Strategie ein- wichtigsten Garanten für Frieden in fügen, die auch Länder wie China, In- Europa zu“ (Mearsheimer). dien und wichtige eurasische Akteure Ganz ähnlich ist auch für Michael wie die Türkei und den Iran einbe- Wolffsohn die Bindung an die USA zieht“ (Dmitri Trenin, Godement). eine existenzielle Frage: „Ohne die Gegen eine automatische Anbin- USA keine NATO, kein Schutz.“ Mit dung Deutschlands an die USA argu- den USA verbindet auch die EU eine mentieren auch Friedensforscher wie „strategische Partnerschaft“, die mehr Harald Müller. Deutschlands außen- ist als eine punktuelle Interessenge- politische „Zurückhaltung sei ein meinschaft (Stein/Tempel). guter Leitgedanke“, der in der Vergan- Eine klare Unterstützung des genheit viel Schaden vermieden habe. transatlantischen Handelsabkom- Die Nichtbeteiligung am zweiten Irak- mens TTIP wird in diesem Kontext Krieg sowie die Enthaltung bei der Li- eingefordert (Ash, Kerber). TTIP ist byen-Resolution des UN-Sicherheits- ein „geostrategisches Projekt, das als rats hätten sich längerfristig als richtig solches zu kommunizieren ist“ (Stein/ erwiesen. Umstritten ist hier aller- Tempel). „Das wichtigste Vorhaben dings die Frage, ob Deutschland einen im transatlantischen Verhältnis ist die eigenen Weg gehen sollte, wenn es in (…) TTIP, die von Berlin aus nur seinen politischen Überzeugungen halbherzig unterstützt wird. Auch von seinen europäischen Verbündeten hier sollte die deutsche Außenpolitik abweicht. Während Ash, Freedman, im gemeinsamen europäischen Inter- Grant und Arbour etwa die Entschei- esse dafür sorgen, dass die TTIP nicht dung Deutschlands, sich bei der Liby- an kleinkarierten Einzelinteressen en-Resolution zu enthalten, scharf kri- scheitert … Klare Worte und klares tisieren, loben viele asiatische Autoren Handeln – etwa in der NSA-Affäre – die hier zum Ausdruck kommende schaden den transatlantischen Bezie- außenpolitische Zurückhaltung. hungen nicht, sie sind unter Partnern Auf der anderen Seite wird völlig normal“ (Risse). „TTIP bietet Deutschland nachdrücklich gemahnt, eine der besten Chancen, (…) um das

64 IP • September / Oktober 2014 Abschied von der Juniorpartnerschaft

atlantische Verhältnis wieder zu stär- eine größere strategische Ausrichtung ken. Großbritannien wird bei diesen verleihen (Adebajo/Virk). Bemühungen auf jeden Fall an der Ein durch Europa handelndes Seite Deutschlands stehen“ (Ash). Deutschland könne ebenfalls den He- Die deutsche Wut über die ameri- rausforderungen der Gestaltung einer kanische Spionage wäre so viel einfa- digitalen Gesellschaft und der Schaf- cher zu akzeptieren, wenn deutsche fung eines innovativen Wirtschafts- Außenpolitik nicht so „mehrdeutig“ raums (Kerber, Reiner Hoffmann, (Techau) wäre und „ohne Kurs und Stein/Tempel) bes- Karte“ (Wolffsohn). Der ehemalige ser begegnen. Nur Alleine wird deutsche NSA-Mitarbeiter und Computerspezi- mit und durch Eu- Politik kaum Gehör alist Ira Winkler schreibt in seinem ropa könnten Fra- Buch „Spies among us“ über „die of- gen der Datensi- in Washington finden fensichtliche Bereitschaft deutscher cherheit und der Unternehmen, sensible Informatio- Handelsliberalisierung mit den USA nen und Technologie an Staaten auf Augenhöhe verhandelt werden durchsickern zu lassen, die Amerika (Melissen u.a.). Alleine für sich han- feindlich gegenüberstehen“, darunter delnd habe die deutsche Politik hinge- an den Iran – Deutschland bleibt gen nur geringe Chancen, in Washing- einer der wichtigsten Handelspartner ton Gehör zu finden und den notwen- der Islamischen Republik. digen Verhandlungsdruck aufzubau- en, um weitreichende Einigungen Deutschland in Europa im Globalen erzielen zu können. Auch für die Deutlich wird in vielen Beiträgen deutsche Wirtschaft bleibe die feste ebenfalls die Ansicht, dass eine selbst- Einbindung in den gesamteuropäi- bewusstere deutsche Außenpolitik schen Kontext von zentraler Bedeu- fest in den europäischen Kontext ein- tung. Die Entwicklung global konkur- gebunden sein müsse. Alleine sei renzfähiger Cloud-Anbieter, Suchma- Deutschland zu klein, um globalpoliti- schinen und anderer strategisch wich- sche Veränderungen bewirken zu kön- tiger Unternehmen sei nur dann zu nen. Zusammen mit den anderen Mit- erwarten, wenn sie – ähnlich wie der gliedstaaten der EU könne Deutsch- Airbus vor nunmehr 40 Jahren – suk- land aber dazu beitragen, „Amerika zu zessive in Europa aufgebaut und ge- multilateralisieren“ und „Russland zu fördert würden. europäisieren“ (Mahbubani). Annan In dem Engagement Deutschlands sieht in einem von Deutschland ge- beim Aufbau einer global wettbe- prägten Europa einen Vorreiter globa- werbsfähigen digitalen Wirtschaft ler Klimapolitik, der sich geeint auch („Industrie 4.0“) ist vielleicht der gegen die USA würde durchsetzen größte und wichtigste deutsche Bei- können. Deutschland soll sich als po- trag zu einem prosperierenden Euro- tenzielle Nord-Süd-Brücke sehen und pa und damit zur Schaffung eines den dem GIBSA-Quadrilogue (Deutsch- eigenen Interessen zuträglichen Um- land, Indien, Brasilien und Südafrika) felds zu sehen.1 Die Zeiten, in denen

1 Vgl. Roland Berger: Den Vorsprung sichern, Handelsblatt, 18.7.2014.

IP • September / Oktober 2014 65 Deutschlands Partner

Herzlich willkommen beim Wirtschafts- und Industriepolitik na- deutschen Selbstverständnisses und tional gedacht werden konnten, sind eine Aufforderung, diesen Weg in und lange vorbei. Euro- durch Europa und in einer erwachse- Netzwerk der Außenpolitik Das Selbstbewusstsein pa, nicht Deutsch- nen und gleichberechtigten Partner- muss mit Solidarität und land, ist heute der schaft mit den USA weiter zu be- angemessene Be- schreiten. Wenn dieses Selbstbewusst- Sensibilität einhergehen zugsrahmen. Hier sein dann noch mit größerer ökono- gilt es, Investiti- mischer Solidarität mit Südeuropa onspotenzial zu mobilisieren, und und mit mehr politischer Sensibilität hier sind sowohl die wesentlichen gegenüber Rüstungsexporten einher- Chancen als auch die Gefahren zu geht, dann dürften auch die wichtigs- sehen. ten Kritikpunkte an der deutschen Chancen finden sich in der Nutz- Politik erkannt worden sein. barmachung des riesigen brachliegen- Gerade die vielen Studierenden, den Arbeitskräftepotenzials in Südeu- die sich an der Kommentierung des ropa und seiner Aktivierung für den Review-Prozesses beteiligt haben, for- Aufbau einer dynamischen, flexiblen derten dies ein. Sie sollten ernst ge- und innovativen digitalen Wirtschaft. nommen werden. Nur so kann die Breit angelegte grenzüberschreitende Kluft zwischen der sachlichen Not- Ausbildungs- und Integrationspro- wendigkeit eines stärkeren globalpoli- gramme in den Arbeitsmarkt werden tischen Engagements Deutschlands benötigt. Die Überalterung der deut- und der noch immer dominanten Zö- schen Gesellschaft, der Mangel an gerlichkeit der deutschen Gesellschaft, Fachkräften und die Grenzen des diesen Weg zu beschreiten, mittelfris- deutschen Marktes finden die ange- tig überwunden werden. Die interna- messene Antwort in einer Überwin- tionalen Expertinnen und Experten dung nationalen wirtschafts- und ar- plädieren für eine deutsche Führungs- beitsmarktpolitischen Denkens und rolle in und durch Europa. Nun gilt es ihrer Europäisierung. innenpolitisch zu klären, für welche Die Gefahren liegen ähnlich offen- Ziele und mit welchen Mitteln deut- sichtlich auf der Hand. Wenn diese sche Europapolitik eintreten soll. Die Schritte unterbleiben, dann wird sich Ergebnisse dieser Verständigung soll- der ökonomische und soziale Graben ten in einem „außenpolitischen Weiß- zwischen Nord- und Südeuropa wei- buch“ (Maull) münden. ter vertiefen und sich auch politisch zum Ausdruck bringen. Es werden Dr. Annegret dann weder eine gemeinsame Außen- ­Bendiek ist wissen- politik noch ein koordiniertes Auftre- schaftliche Mitarbeiterin ten gegenüber China, Russland und der Stiftung Wissen- schaft und Politik und den USA zu realisieren sein. derzeit tätig in der Pro- Die vielleicht wichtigste Lehre aus jektgruppe Review 2014 den internationalen Kommentaren ist des Planungsstabs des Auswärtigen Amtes. daher eine Bestätigung des neuen

66 IP • September / Oktober 2014 Gegen den Strich

Obamas Außenpolitik

Christoph von Marschall | Mit vielen Vorschusslorbeeren 2009 ins Amt gestar- tet, gilt Barack Obama heute manchem Beobachter als gescheiterter Präsi- dent. Das betrifft besonders die Außenpolitik. Mit Recht? Ist Obama ein außenpolitischer Schwächling, der seine Verbündeten durch seine Unfähig- keit, klare strategische Positionen zu beziehen, zur Verzweiflung bringt?

Seine Außenpolitik: eine einzige Enttäuschung­ Gemessen woran? Schaut man auf die außenpolitischen Erwartungen, die ver- schiedene Gruppen bei Obamas Amtsantritt im Januar 2009 an den neuen Prä- sidenten gerichtet hatten, dann ergibt sich eine beeindruckende Liste: Bushs Kriege im Irak und in Afghanistan beenden; Guantánamo schließen; ein neues Verhältnis zur islamischen Welt begründen; das Zerwürfnis mit Europa beenden; den Ausgleich mit Russland suchen; eine neue Ära der Abrüstung einleiten und bei der Reduzierung der Atomwaffen anfangen; den Nahost-Konflikt befrieden; den Atomstreit mit dem Iran beilegen; die Beziehung zu China entspannen; die Welt vor den Treibhausgasen retten. Die Liste ist noch längst nicht vollständig. Und das alles zusätzlich zu der innen- und wirtschaftspolitischen Herkules- Aufgabe, die USA aus der tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise herauszuführen. Bei Lichte besehen hatten Wahlkampfslogans wie „Yes We Can“, „Hope“ und „Change“ gar nicht auf die Außen-, sondern auf die Innenpolitik gezielt. Zwangs- läufig weckte der Hype aber auch überzogene Hoffnungen für einen Kurswechsel in der Weltpolitik – Hoffnungen, die ein Präsident aus Fleisch und Blut realisti- scherweise nicht zu erfüllen vermag. „Expectation management“, das Herunter- moderieren der Erwartungen, wurde in den ersten Monaten der Obama-Präsi- dentschaft zur größten Herausforderung. Doch im Oktober 2009 folgte auch noch der Friedensnobelpreis – als zusätzliche Last für einen Präsidenten, zu dessen Hauptaufgabe es angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise geworden war, die nationale und globale Ökonomie zu stabilisieren. Es wirkt ein bisschen wohlfeil, wenn ausgerechnet diejenigen, die die überzogenen Erwartungen da- mals genährt hatten, jetzt darüber klagen, dass Obama sie nicht alle erfüllt habe.

68 IPIP •• SeptemberSeptember / /Oktober Oktober 2014 Obamas Außenpolitik

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Außenpolitischer Versager? Gemach. Man darf mit dem Stand der Dinge in der Welt unzufrie- den sein – mit Barack Obama muss man es nicht unbedingt

Der Präsident hat kein einziges seiner außenpolitischen Versprechen­ gehalten

Das ist eindeutig falsch. Obama hat den Abzug der US-Truppen aus dem Irak vollendet und den aus Afghanistan auf den Weg gebracht. Die Hindernisse und Widersprüche, die dabei zutage traten, sind weniger auf mangelnden Willen Obamas als auf die Persönlichkeitsdefizite seiner Partner in den Kriegsgebieten zurückzuführen sowie auf die verworrenen Machtstrukturen dort. Wie Obama im Wahlkampf in Aussicht stellte, hat er im Frühjahr 2010 einen weitreichenden Abrüstungsvertrag mit Russland geschlossen. Ein Drittel der strategischen Atomraketen wird verschrottet. Wie versprochen, hat er auch die Schließung des Lagers für Terrorverdächtige in Guantánamo eingeleitet. Dieses Vorhaben scheiterte – jedoch nicht an Obama, sondern an der Feigheit vieler Abgeordneter und Senatoren seiner Demokratischen Partei, die ihm die Zustimmung zu den notwendigen Maßnahmen verweigerten. Das Angebot eines neuen Umgangs mit der islamischen Welt unterstrich der Präsident im Sommer 2009 mit seiner Rede in Kairo. Im Umgang mit dem Iran hatte Obama versprochen, auf Diplomatie zu setzen. Auch diese Zusage hat er gehalten. Ob Afghanistan, Irak, Guantánamo, Russland, arabische Welt oder Iran: Man darf mit dem Stand der Dinge unzufrieden sein. Wer ihn aber in ers- ter Linie Obama anlasten möchte, muss erklären, was die Alternativen gewesen wären und warum sie zu besseren Ergebnissen geführt hätten. Ein US-Präsident ist kein Allmächtiger, der überall seinen Willen durchsetzen kann.

IP • September/OktoberSeptember / Oktober 2014 2014 6969 Gegen den Strich

Seine Außenpolitik: George W. Bush mit Drohnen

Das stimmt bis zu einem gewissen Grad. Allein in den ersten zwei Amtsjah- ren hat Obama mehr Drohnen zur Tötung mutmaßlicher Terroranführer einge- setzt als Bush in zwei Amtszeiten. Generell hat sich Obama bei Amerikas Kampf gegen den Terror nicht so weit von Bush entfernt wie im Wahlkampf angekün- digt. Ein Pazifist war er nie. Wer diesem Irrtum angehangen hatte, wurde bald eines Schlechteren belehrt. Überraschend schnell erlag Obama der Versuchung, man könne mit Drohnen einen Krieg führen, der weniger gefährlich für Ameri- kas Soldaten ist und zugleich die Risiken für „Kollateralschäden“ unter der Zivil- bevölkerung minimiert. Zwar sind beide Hoffnungen grundsätzlich nicht unbe- rechtigt. Aber die Gesamtbilanz hängt dann doch von der Zahl der Drohnenein- sätze ab und dem tatsächlichen Bemühen, zivile Opfer zu vermeiden. Auch im Umgang mit Russland spricht manches für die These, Obama re- agiere härter als Bush. Im Georgien-Krieg 2008 beantwortete Wladimir Putin den Versuch des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, abtrünnige Gebiete in Ossetien wieder unter Kontrolle zu bringen, mit dem Einmarsch. Was tat Bush dagegen? Nichts. Obamas Sanktionen im Ukraine-Krieg 2014 sind weniger, als manche Republikaner fordern. Aber mehr, als Bush 2008 für Georgien tat. Es gibt weitere Beispiele, wo Obamas Handeln sich offenkundig von Bushs unterscheidet, etwa beim Umgang mit Israels Führung. Obama scheut den Kon- flikt mit Regierungschef Netanjahu nicht. Seine Verärgerung über dessen Sied- lungspolitik und Kompromissverweigerung hat er mehrfach bis an die Grenze des diplomatischen Eklats deutlich gemacht – und dafür einen innenpolitischen Preis bezahlt, da die Mehrheit der Amerikaner es im Zweifel mit Israel hält. Der größte Unterschied zwischen den beiden Präsidenten ergibt sich aus den Prioritäten, die sie angesichts der wirtschaftlichen Grundlagen setzen konnten. Bush trat in einer Zeit vermeintlicher Prosperität an und plante schon lange vor 9/11 eine aktive Außenpolitik. Obama übernahm die Präsidentschaft, als Amerika sich bereits im militärischen „Overstretch“ befand und die Folgen der Finanzkrise die Diskrepanz zwischen Wollen und Können unübersehbar machten. Er musste die Ressourcen auf das „Nationbuilding at home“ umleiten.

Unter Obama hört Amerika endlich auf, den Weltpolizisten­ zu spielen

Das haben die USA noch nie getan, auch wenn das eine verbreitete Lesart ist. Die USA nehmen zwar für sich in Anspruch, die weltweite Rechtsordnung schützen zu wollen. Tatsächlich interveniert haben sie jedoch immer nur in ausgewählten Einzelfällen – nämlich dann, wenn der mutmaßliche Aufwand und Ertrag in einem aus ihrer Sicht vernünftigen Verhältnis standen.

70 IPIP •• SeptemberSeptember / /Oktober Oktober 2014 Obamas Außenpolitik

Obama beurteilt diese Möglichkeiten vorsichtiger als Bush, vor allem aus Sorge vor einem erneuten „Overstretch“. Generell möchte er das militärische Engage- ment Amerikas reduzieren und seinem Land die Gelegenheit geben, wirtschaft- lich zu gesunden. Deshalb hat er in Syrien lange gezögert einzugreifen – manche sagen: so lange, bis der beste Moment verstrichen war. In Libyen hat er dagegen Frankreich und Großbritannien bei ihrem Interventionswunsch unterstützt, wenn auch nach dem vorsichtigen und für amerikanische Ohren ungewohnten Motto „Leading from behind“. Im Sommer 2014 war er zu begrenztem militäri- schen Eingreifen im Irak bereit um zu verhindern, dass IS das ganze Land be- droht – obwohl die USA erst zuvor aus dem Land abgezogen waren und jegliche neue Intervention wie ein Kurswechsel aussehen könnte. Der Spezialeinsatz zur Ergreifung Osama Bin Ladens in Pakistan 2011 spricht ebenfalls gegen die These, Obamas Amerika habe das Interventionsden- ken völlig aufgegeben. Und gegenüber dem Iran hat der Präsident stets betont, dass er die Entwicklung einer Atombombe militärisch stoppen werde, falls er mit diplomatischen Mitteln dieses Ziel nicht erreiche. In Asien fordern viele Staaten aus Sorge vor Chinas Aufstieg die militärische Präsenz der USA, zu der zwangsläufig dann auch die Bereitschaft gehört, sie zum Schutz der internatio- nalen Ordnung dort zu nutzen. Obama weist solche Erwartungen nicht zurück. Er kommt ihnen auf moderate Weise entgegen.

Obama hat keinerlei Interesse an Europa

Doch, hat er. In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft war Europa das häufigste Reiseziel Obamas. In den Europäern sah der Präsident die einzigen verlässlichen Verbündeten, zumal die USA mit keinem anderen Kontinent durch ein so enges Netz gemeinsamer Werte, gemeinsamer Geschichte und ge- meinsamer Institutionen verbunden sind. Das war nicht zwangsläufig, denn Obama ist der erste US-Präsident, den biografisch mehr mit dem pazifischen Raum (und Afrika) verbindet als mit Europa. Doch mittlerweile ist er ähnlich enttäuscht von Europas Unfähigkeit, inter- national effektiv zu handeln, wie umgekehrt Europa von ihm enttäuscht ist. Pragmatiker, der er ist, sieht Obama die Treffen mit den Europäern nicht als Selbstzweck nach der Prämisse „Gut, dass wir uns mal wieder gesehen haben“. Als 2010 ein EU-USA-Gipfel in Europa anstand und die EU-Spitze sich mit Spanien, das gerade die Ratspräsidentschaft innehatte, ein Prestigeduell lieferte, ob das Treffen in Brüssel oder Madrid stattfinden solle, sagte Obama ab. Jetzt, in der Ukraine-Krise, sucht Obama den Gedankenaustausch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Sie ist ihm wichtig, weil sie Putin offenbar besser einschätzen kann als andere und weil sie noch funktionierende Ge- sprächskanäle nach Moskau hat. Obama könnte sich darauf zurückziehen, dass der Krieg in der Ukraine ein europäisches Problem sei. Und doch bemüht er sich um eine gemeinsame Reaktion Amerikas und Europas. Diesmal führen die USA nicht allein, wie noch in den neunziger Jahren in den Balkan-Kriegen, als

IP • September/OktoberSeptember / Oktober 2014 2014 7171 Gegen den Strich

Europa hoffnungslos zerstritten war. Diesmal führt Amerika gemeinsam mit Deutschland, der neuen Führungsmacht in Europa. Wenn militärische Fähig- keiten gefragt sind, wird Obama sich eher an Frankreich und Großbritannien halten als an Deutschland – und wenn es um das Vorgehen gegen Terrororga- nisationen in Afrika geht, im Zweifel an Paris.

Der Präsident hat nichts unternommen, um den NSA-Skandal zu entschärfen

Nichts? Natürlich hat Obama viel zu spät begriffen, wie groß die Empörung über die NSA-Praktiken in Europa und speziell in Deutschland ist. Man darf nicht einmal sicher sein, dass er die Tragweite und die Auswirkungen auf das Bild der USA in Europa bis heute voll erfasst hat. Reagiert hat der Präsident schließlich aber doch, sogar mehrfach. Er hat Reden über den Zielkonflikt zwi- schen dem Schutz der Privatsphäre und dem Wunsch nach Sicherheit vor Ter- ror gehalten. Er hat die Übergriffe der Dienste beklagt und eine Expertenkom- mission einberufen, die den Auftrag erhielt, die Vorwürfe zu überprüfen und Vorschläge zur Eingrenzung der Dienste zu machen. Er hat einen Großteil der Empfehlungen übernommen, darunter die Einrichtung eines „Bürgeranwalts“, der bei den gerichtlichen Entscheidungen zur Überwachung von Individuen deren Rechte vertritt. Und er hat Nichtamerikanern rechtlich verbindliche Zu- sicherungen gegen das Ausspionieren gegeben. Mit alledem hat Obama Kritik von nahezu allen Seiten auf sich gezogen, denn es liegt in der Natur der Sache, dass seine Maßnahmen die Erwartungen der meisten Europäer nicht erfüllten und zugleich vielen Amerikanern zu weit gingen. Die USA befinden sich noch immer in einer Art „Post 9/11-Schock“. Zum Befund gehört freilich auch eine erstaunliche Heuchelei auf beiden Seiten des Atlantiks. Die USA reden sich gerne damit heraus, dass alle spio- nieren, und zwar in ähnlichem Maße wie sie – was so nicht stimmt. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihr Sicherheitsapparat samt den Geheimdiensten nach 9/11 überreagiert hat und die vorgesehenen „Checks and Balances“ durch Parlamentsausschüsse und Gerichte in diesem Klima der Terrorangst nicht verlässlich funktionieren. In Deutschland wiederum argumentieren viele von einer Kanzel der höhe- ren Moral aus, ganz so, als könne man hierzulande Sicherheit vor Terror ohne amerikanische Methoden garantieren – obwohl die deutschen Sicherheits­ experten nahezu unisono bekräftigen, dass es in beträchtlichem Maße Hinwei- sen der US-Dienste zu verdanken war, dass Anschläge in Deutschland vereitelt wurden. Keine der deutschen Parteien, ob in Regierung oder Opposition, hat bisher der Öffentlichkeit erschöpfend erklärt, welche Arten der Geheimdienst- arbeit sie billigen und wo aus ihrer Sicht die genaue Trennlinie zu inakzeptab- len Praktiken verläuft.

72 IPIP •• SeptemberSeptember / /Oktober Oktober 2014 Obamas Außenpolitik

Obama ist ein außenpolitischer Schwächling

Nicht so voreilig. Zwar gibt es viele, die Obamas Politik ablehnen, doch die Gründe, aus denen sie das tun, stehen miteinander zum Teil im Widerstreit. So tritt der Präsident aus Sicht der meisten Amerikaner zu zahm gegenüber Russland auf; vielen Europäern gehen seine Sanktionen gegen Putin zu weit. Die Israelis werfen ihm vor, er breche die traditionelle Solidarität mit dem jüdischen Staat und habe zu viel Verständnis für die Palästinenser; arabische Alliierte wiederum wünschen sich mehr Härte gegen die Hamas und andere Extremisten. Im Gaza-Krieg vermitteln die USA zwar nicht, weil sie die Hamas als Ter- rororganisation sehen und offiziell keine direkten Kontakte zu ihr pflegen; in den Gesprächen mit der moderaten Fatah und dem palästinensischen Präsiden- ten Abbas sind die USA hingegen weiter der zentrale Ansprechpartner. Oba- mas Verhalten gegenüber China wirkt auf Beobachter von fernen Kontinenten unnötig konfrontativ; die Anrainer in der Region verlangen dagegen ein ent- schlosseneres Auftreten der USA gegenüber Peking. Gemeinsam ist diesen Sichtweisen das Erschrecken über die Weltlage und die Frustration, dass nicht einmal die Supermacht USA die schlimmsten Aus- wüchse verhindern kann. Aus ihnen ergibt sich aber kein Konsens, was der US-Präsident tun könnte und tun sollte, um eine Besserung zu erwirken. Was zu der Frage führt, ob das verbreitete Bild einer angeblichen Handlungsschwä- che der USA vor allem auf Obamas persönliche Defizite zurückzuführen ist oder andere Ursachen hat. Womöglich ist die Weltpolitik 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der bipo- laren Ordnung so unübersichtlich geworden und sind die Erwartungen an die Politik der Supermacht USA so divers, dass selbst ein Messias sie nicht zu er- füllen vermag. Kommt hinzu, dass es für Obama im Zweifel wichtiger ist, fol- genreiche Entscheidungen wie die Kriege George W. Bushs in Afghanistan oder im Irak zu vermeiden, als Amerikas beträchtliches Potenzial dafür einzusetzen, mehr Einfluss auf den Gang der Dinge zu nehmen. Diese Abwägung lässt die USA schwächer aussehen, als es aus westlicher und auch deutscher Sicht wünschenswert wäre. Maßstab für die Bewertung der Außenpolitik können aber nicht Wünsche sein. Sie muss sich daran orientieren, welche Handlungsoptionen ein Präsident hat. Obama hat das Pech, in Zeiten zu regieren, die diesen Optionen enge Grenzen setzen – wegen des weltwei- Dr. Christoph von ten Übermaßes todverherrlichender Marschall ist Diploma-­ Akteure wie Hamas und IS, der dest- tischer­ Korrespondent ruktiven Strategie Russlands, das sei- der Chefredaktion des Tagesspiegels. Zuletzt nen Einfluss nicht auf Konfliktlösung, erschien von ihm: „Der sondern auf Lösungsverhinderung neue Obama. Was gründet – und wegen des Erbes, das von der zweiten Amts- zeit zu erwarten ist“. George W. Bush ihm hinterlassen hat.

IP • September/OktoberSeptember / Oktober 2014 2014 7373 Geheimdienste

Eine Frage der Etikette – und Strategie Die gegen Deutschland gerichtete Spionage zeugt von amerikanischer Unreife

Rhodri Jeffreys-Jones | Spionieren unter Freunden „geht gar nicht“, so Angela Merkel. Dennoch ist das gang und gäbe. Die empörten deutschen Reaktio- nen auf die US-Spionage sind dennoch angemessen, denn sie verstößt gegen internationale Etikette, gegen ethische Normen und zeugt von einer falschen Strategie. Abhilfe könnte ein „erwachsener“ EU-Geheimdienst schaffen.

Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Weniger bekannt dagegen ist wohl überreagiert? Oder hat sie, ganz im das Ausmaß der Spionagetätigkeiten Gegenteil, der Debatte um internatio- unter verbündeten Mächten. Die gab nale Geheimdienstbeziehungen zu es sogar zwischen den Vereinigten mehr Ernsthaftigkeit verholfen? Und Staaten und Großbritannien – zwei sollte das der Fall sein, haben wir es Staaten, die während der Anfangsjah- dann mit Fragen der Etikette, der re des Kalten Krieges einen besonders Ethik oder, wie in diesem Artikel ar- engen Nachrichtenaustausch, ja eine gumentiert wird, eigentlich mit strate- „special intelligence relationship“ gischen Fragen zu tun? pflegten. In einem Memorandum vom Der Historiker wird darauf verwei- 29. September 1941 machte Alastair sen, dass es schon immer Spionage Denniston, Chef der Abhör- und De- zwischen Ländern gegeben hat, ein- chiffriereinheit, aus der das heutige schließlich des Ausspionierens von Government Communications Head- Staatsoberhäuptern und Regierungs- quarters (GCHQ) hervorging, den chefs. Auch Deutschland hat andere Vorschlag, Großbritannien solle seine Nationen ausspioniert – und das nicht Spionagetätigkeiten in den USA ange- nur zu Kriegszeiten. Franz von Papen, sichts der „Intimität“ des anglo-ameri- ein Vorgänger Merkels, war ein ehe- kanischen Verhältnisses bis zum Be- maliger Spion. Doch er ist nicht der ginn von Friedensverhandlungen ein- einzige, der es an die Spitze seines stellen – ein Eingeständnis sowohl der Landes gebracht hätte; George Bush üblichen Praxis zur damaligen Zeit als sen. (zuvor CIA-Direktor) und Wladi- auch zukünftiger Intentionen. mir Putin (Ex-KGBler und Chef des- Man könnte denken, es hätte zu sen Nachfolgebehörde FSB) haben den Zeiten, als Reinhard Gehlen Chef auch eine Geheimdienstvergangenheit. des Bundesnachrichtendiensts (BND)

74 IP • September / Oktober 2014 Eine Frage der Etikette – und Strategie

war (bis 1968), für die CIA keinen Parteien Einfluss zu nehmen. Bei- Grund gegeben, Bonn auszuspionie- spielsweise erhielt Ende der fünfziger, ren; Gehlen war ja praktisch „ihr Anfang der sechziger Jahre die eher Mann“. Tatsächlich aber nahmen die rechtsgerichtete Gruppe innerhalb der Aktivitäten der CIA in Westdeutsch- britischen, damals oppositionellen La- land nicht ab. Ironischerweise wurde bour Party um Hugh Gaitskell gehei- es mit der Verschärfung der Sicher- me Gelder von der CIA, um sie gegen- heitsmaßen auf Seiten der DDR und über wichtigen Vertretern der demo- der Errichtung der Mauer einfacher, kratischen Linken wie Michael Foot die verbündete Bundesrepublik aus- oder Aneurin Bevan zu stärken. zuspionieren. Die Spionage gegen die Was nicht unbedingt heißt, dass DDR dagegen degenerierte zum Rät- hier amerikanische und britische Ge- selraten auf der Grundlage suspekter heimdienste gegeneinander arbeite- ostdeutscher Regierungsdaten. ten. So gibt es Gerüchte, dass an der geheimen Finanzierung des Kultur- Spionage unter Freunden magazins Encounter durch die CIA Kurzum: Spionage findet auch unter auch der britische befreundeten Nationen statt – und Auslandsgeheim- Im Nachkriegseuropa das kann böse Folgen haben. 1922 dienst MI6 betei- versuchte die CIA aktiv, lieferten amerikanische Abhörspezia- ligt war. Auch die listen während der Washingtoner Verstrickung ame- auf Parteien einzuwirken Flottenkonferenz ihren politischen rikanischer, briti- Vorgesetzten Informationen über Ja- scher und australischer Geheimdiens- pans Verhandlungspositionen. Zum te in die Verschwörung gegen den Ende des Jahrzehnts ging ein großer britischen Labour-Premierminister Aufschrei durch die japanische Pres- Harold Wilson (1964–1970) und sei- se, als Tokio durch das Buch des ame- nen australischen Partei- und Amts- rikanischen Whistleblowers Herbert kollegen Gough Whitlam (1972–1975) Yadley davon erfuhr. Es war erniedri- lässt einen bitteren Nachgeschmack gend. Japan taumelte in den Militaris- zurück, den nur rückhaltlose Aufklä- mus und marschierte in die Mand- rung beseitigen könnte. Und die ist schurei ein – der Anfang vom Ende relativ unwahrscheinlich. des erhofften dauerhaften Friedens. Man hätte annehmen können, Langfristig lernte Japan mehr aus der dass all dieser „antikommunistische“ Affäre und begann, die eigenen Spio- Unsinn mit Ende des Kalten Krieges nageaktivitäten auszuweiten. Eine begraben worden wäre. Aber kaum CIA-Studie von 1987 zeigte, dass das sieht sich Bürokratie bedroht, erfindet Ausspionieren europäischer und ame- sie sich und ihre Mission neu: Jetzt rikanischer Wirtschaftsgeheimnisse geht es um Terrorismus. Nach dem nun die Ressourcen japanischer Nach- gescheiterten Versuch von US-Senator richtendienste zu 80 Prozent band. Daniel P. Moynihan, die CIA in den Vom Europa der Nachkriegszeit neunziger Jahren abzuschaffen, kehr- wissen wir, dass die CIA und andere te man zum „business as usual“ zu- US-Nachrichtendienste systematisch rück. Dann kamen die großen Enthül- und aktiv versuchten, auf politische lungen – erst Echelon, dann Wiki­

IP • September / Oktober 2014 75 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Leaks und zuletzt Snowden, der die noch die Kommunisten an der Macht Aktivitäten der NSA offenlegte. waren. Im Vergleich dazu bot Merkel Sollte die deutsche Bundeskanzle- ein leichtes und freundliches Ziel; sie rin also, wie ihre Kritiker meinen, hatte sich entschlossen, den Amerika- endlich „erwachsen werden“ und ein- nern nicht mit paranoidem Misstrau- sehen, dass die Welt nun einmal so en zu begegnen. Sie und andere Füh- funktioniert? Ich denke: Nein. Denn rungspersönlichkeiten, die den Fall es liegt ein klarer Verstoß gegen die studieren, dürften zukünftig weniger Etikette vor. Das einfach herunterzu- vertrauensvoll agieren. spielen würde bedeuten, dass man das Während die Massenüberwachung Prinzip mit Füßen tritt, dass sich in durch NSA und GCHQ deutsche, ame- einer gefährlichen Welt voller komple- rikanische und britische Bürger be- xer politischer Probleme Regierungs- wegt, hat sie für gegenseitiges Vertrau- chefs und ihre Diplomaten gegenseitig en auf internationaler Ebene offen- mit Respekt behandeln, wenn man kundig keine katastrophalen Folgen. überhaupt irgendwelche Fortschritte Aber dass man die Kanzlerin auf diese erzielen will. Zumal Verstöße gegen Weise verärgerte, stellt der amerikani- die Etikette demütigend sein können. schen Folgenabschätzung ein erbärm- Allein die Tatsache, dass es möglich liches Zeugnis aus und lässt einen war, ihre persönliche Kommunikation ganz allgemein an Washingtons Ur- abzuhören, hat dafür gesorgt, dass teilsvermögen zweifeln. Merkel wie ein naives Dummchen Es mag einige überraschen: Auch dastand. Zumal man als Fußnote noch in der Welt der Geheimdienste hat erwähnen könnte, dass die CIA be- Ethik ihren Platz. Wenn auf unethi- kanntermaßen kläglich daran schei- sches Handeln zurückgegriffen wird, terte, den Kreml auszuforschen, als sei es in Form von Telefonüberwa-

76 IP • September / Oktober 2014 Eine Frage der Etikette – und Strategie

chung oder Folter, muss es sowohl tina 2013 abgehört haben. Trotz des einen triftigen Grund dafür geben als eigentlich „besonderen“ Verhältnisses auch eine gewisse Verhältnismäßig- zwischen Mossad und CIA geht das keit gewahrt werden. Beide Faktoren gegenseitige Ausspionieren also fröh- wurden in den jüngsten deutsch-ame- lich weiter. rikanischen Spionageaffären offen- Die EU könnte hier zukünftig eine sichtlich ignoriert – weitere Fehlurtei- größere Rolle spielen. Einige Grund- le auf Seiten Washingtons. steine für die Gewinnung von Ge- heimdiensterkenntnissen auf europäi- Wissensmonopol als Schwäche scher Ebene sind Am schwersten aber wiegen wohl die bereits gelegt. Eu- Ein „No Spy“-Abkommen strategischen Fragen, die die Fälle auf- ropol ist im Grun- wäre völlig überflüssig geworfen haben. Deutschland ist de ein polizeilicher nicht Mitglied des „Five Eyes“-Club, Geheimdienst. Das und folgenlos dem die USA, Großbritannien und EU Intelligence drei ehemalige „weiße“ britische Ko- Analysis Centre (INTCEN) berät den lonien angehören: Kanada, Australien Europäischen Auswärtigen Dienst. und Neuseeland – eine Gruppe, die Und obwohl es von einigen Geheim- bestrebt ist, Geheiminformationen dienstlern dafür kritisiert wird, dass weltweit zu kontrollieren und die ih- es keine Kapazitäten für das eigene rerseits von den USA dominiert wird. Sammeln von Erkenntnissen hat, übt In Washington ist man der Meinung, INTCEN analytische Funktionen aus, dass Informationen Macht sind; dabei die für die Zukunft einiges hoffen las- ist ihr Informationsmonopol eine sen. Ein Satellitenaufklärungssystem Schwäche. Wenn niemand mehr über gibt es schon. die Informationen verfügt, um dich zu Vielleicht wird Brüssel eines Tages hinterfragen, folgt eine schlechte Aus- über geheimdienstliche Kapazitäten wertung von Geheimdiensterkennt- verfügen, die denen der Amerikaner nissen der nächsten. Indem Washing- ebenbürtig sind. Dann könnte es so- ton Deutschland und andere Länder wohl den USA als auch dem Rest der aus seinem engsten Kreis stößt, Welt eine unabhängige, auf Geheim- schneiden sich die USA ins eigene diensterkenntnissen basierende Sicht Fleisch und beeinträchtigen damit bieten. Sollte es so kommen, ist zu ihre Sicherheit. hoffen, dass die EU-Geheimdienstler In umgekehrter Sicht ist das kein erwachsen genug sind, nicht auch das Problem, das Deutschland allein lösen Weiße Haus auszuspionieren. könnte. Ein „No Spy“-Abkommen mit den USA wäre genauso überflüssig Prof. Rhodri Jeffreys- und folgenlos wie ähnliche Vereinba- Jones lehrte Ge- rungen. Das zeigt auch die Spiegel- schichte in Edinburgh, Geschichte („Der tapfere Missionar“, ist Präsident der Scot- tish Association for the Nr. 32/2014) über die Spionageaffäre Study of America und um den amerikanischen Außenminis- Autor von „In Spies ter John Kerry, den die Israelis bei We Trust: The Story of Western Intelligence“. seinen Friedensbemühungen in Paläs-

IP • September / Oktober 2014 77 Argentinien

Unter Geiern Der Fall Argentinien zeigt: Die Welt braucht ein Insolvenzrecht für Staaten

Ingo Malcher | Seit mehr als einem Jahrzehnt setzt sich Argentinien bereits mit Hedgefonds auseinander, die bei der Staatspleite 2001 billig Anleihen aufkauften und seitdem auf volle Kompensation pochen. Zuletzt bekamen sie vor dem amerikanischen Supreme Court recht – eine Fehlentscheidung mit weitreichenden Folgen: Umschuldungen werden künftig noch schwieriger.

Beim Geld hört die Freundschaft auf. Angreifer zu verwenden. Der Ständi- Diese Erfahrung machte auch Cipria- ge Schiedshof in Den Haag hatte an no Castro, Venezuelas Präsident zu dieser Form des Geldeintreibens Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Jahr nichts auszusetzen. 1907 wurden die 1902 schuldete sein Land Deutsch- Haager Konventionen dann allerdings land und Großbritannien 96,6 Millio- um einen wichtigen Passus ergänzt: nen Reichsmark. Das Geld war unter Der Einsatz des Militärs zum Ein­ anderem in den Bau einer Eisenbahn- treiben ausstehender Schulden ist linie geflossen. Doch nun war Venezu- seither international geächtet – Ver- elas Staatskasse leer, und Castro stell- änderungen in der Art, wie internati- te die Zahlungen ein. onale Finanzbeziehungen geregelt Die Reaktion aus Europa kam werden, sind also möglich. prompt: Das kaiserliche Deutschland und Großbritannien zogen vor der Das Urteil venezolanischen Küste Kriegsschiffe Ohne Schiffe und Kanonen – und zusammen und blockierten am 9. No- dennoch ziemlich rabiat – ging der vember 1902 den Hafen von La Guai- Hedgefonds-Manager Paul Singer, ra. Während die Briten versuchten, Chef von Elliott Management, gegen Puerto Cabello zu erobern, beschos- Argenti­nien vor, seit sich das Land sen die Deutschen ein Fort am Mara- zur Jahreswende 2001/02 zahlungs- caibo-See. So wurde Castro gezwun- unfähig melden musste. Am 16. Juni gen, 30 Prozent der Zolleinnahmen 2014 bestätigte der Oberste Gerichts- für den Schuldendienst an die beiden hof in Washington1 ein Urteil von

1 Supreme Court of the United States: Republic of Argentina v. NML Capital, Ltd., nachzulesen unter: http://www.supremecourt.gov/opinions/13pdf/12-842_g3bi.pdf.

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Thomas Poole Griesa, dem Obersten vorstellbar, dass ein Schuldenschnitt, Richter des United States District wie er für Griechenland 2012 durch- Court for the Southern District of gesetzt wurde, in dieser Form noch New York. Der hatte zuvor entschie- einmal gelingen könnte.3 Aber bislang den: Argentinien muss NML Capital, tut sich wenig. einem Hedgefonds, der zu Singers El- liott-Imperium gehört und auf den Die Pleite Cayman Islands registriert ist, 1,3 Mil- Das Jahr 2002 begann in Argentinien liarden Dollar überweisen. NML hatte ebenso turbulent, wie das alte zu nicht an den freiwilligen Schulden- Ende gegangen war. Die Länderrisiko- schnitten von 2005 und 2010 teilge- punkte, die die Gefahr eines Staats- nommen, bei denen rund 93 Prozent bankrotts beziffern, kamen in den der Investoren sich damit einverstan- Nachrichten so zuverlässig vor wie den erklärt hatten, einen „haircut“ die Verkehrsmeldungen und der Wet- von 70 Prozent hinzunehmen und terbericht – und sich mit 30 Prozent ihrer Forderun- sie verkündeten Eingefrorene Konten, gen zufriedenzugeben. NML hatte die täglich schlechtere Plünderungen, Straßen- Papiere seinerseits zu rund 30 Pro- Aussichten. Die zent ihres Nominalwerts gekauft. Bankkonten waren schlachten mit Toten Das Urteil hat Folgen, die weit eingefroren, fast über Argentinien hinausreichen. Es täglich kam es zu Straßenschlachten, verändert die Kräfteverhältnisse auf Supermärkte wurden geplündert, der den internationalen Finanzmärkten – Kongress brannte, bei Auseinander- zugunsten der Hedgefonds. Und es setzungen zwischen Demonstranten wird künftig für Staaten, die ihre und der Polizei gab es zahlreiche Tote. Schulden nicht mehr bezahlen kön- Nach dem Rücktritt von Präsident nen, deutlich schwieriger werden, Fernando de la Rúa sahen die Argen- einen Weg aus der Krise zu finden tinier vier weitere Präsidenten in und sich mit Gläubigern zu einigen. 14 Tagen; keiner konnte sich halten. Der Fall Argentinien zeigt deut- Der Jahreswechsel markierte das lich, wie dringend nötig internationa- Ende der marktradikalen Dekade, die le Regeln für Staatspleiten sind. José der von 1989 bis 1999 amtierende Car- Antonio Ocampo, ehemaliger Gene- los Menem 1992 mit der Peso-Dollar- ralsekretär der UN-Wirtschaftskom- Parität eingeleitet hatte. Statt in der mission für Lateinamerika und die „Ersten Welt“ anzukommen, wie es Karibik (CEPAL), hält ein supranatio- der Präsident vollmundig versprochen nales Regelwerk für Pleitestaaten hatte, wurde das Land um Jahre zu- nach dem Urteil für „unausweich- rückgeworfen. Einst große Unterneh- lich“.2 Gerade Europa sollte daran ein men waren bankrott, die ­Gehälter Interesse haben. Denn es ist schwer ­sanken, die Mittelschicht rutschte ab

2 José Antonio Ocampo: Guest post: implications of the US Supreme Court ruling on Argentina, in beyondbricks, Financial Times, 23.6.2014. 3 Private Gläubiger verzichteten auf nominal 53,5 Prozent ihrer Forderungen; durch die faktisch niedrigeren Zinssätze der neuen Papiere jedoch auf noch mehr.

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und die Armut stieg. Unter Menem 2001 verkündete Übergangspräsident wurden öffentliche Unternehmen pri- Adolfo Rodríguez Saá, dass die Regie- vatisiert, der Staatssektor entschlackt, rung den Schuldendienst einstellen die Außenzölle gesenkt. Wichtigstes werde. Es folgten Jahre des mühevol- Element dieser Politik war die Bin- len Wiederaufbaus und die Erkennt- dung des argentinischen Peso an den nis, dass Krisen nicht mit einem Knall US-Dollar im Wechsel eins zu eins. enden und es danach schnell wieder Die derart überbewertete Währung aufwärts geht. erleichterte Importe, was der heimi- schen Industrie schwer schadete. Als Die Geier die Dekade zu Ende ging, hatten sich In den Wochen vor der Staatspleite die Schulden des Landes verdoppelt, kauften mehrere Hedgefonds Argenti- die Wirtschaft geriet in eine schwere nien-Anleihen zu Discounterpreisen. Rezession und zu allem Unglück san- Wer damals noch Papiere des südame- ken auch noch die Preise für Agrar- rikanischen Staates besaß, versuchte rohstoffe, die wichtigsten Exportpro- sie schnell und zu jedem Preis loszu- dukte Argentiniens. werden, was den Verkäufern schwere Um den Zusammenbruch zu ver- Verluste bescherte. Während der ers- meiden, setzte die Regierung harte ten Wochen des Jahres 2002 – als Ar- Sparmaßnahmen durch. Doch die gentinien schon pleite war – regis­ Austeritätspolitik verschlimmerte die trierte die Zentralbank Transaktionen Lage: Sie würgte das Wachstum voll- der Hedgefonds in Höhe von ends ab, die Staats- einer Milliarde Dollar. Sie kauften in Krisen enden nicht mit einnahmen sanken jenem Moment im Schnitt zu 18 Pro- einem Knall, nach dem weiter. Im Novem- zent des Nominalwerts. Im Januar ber 2001 lebten 2002 hielten sie schon Papiere im es wieder aufwärts geht 35,5 Prozent der Wert von acht Milliarden Dollar.5 Bevölkerung in Hedgefonds wie NML, NM LTD, Armut, die Arbeitslosigkeit lag bei Gramercy, Southern Cross, Aurelios, über 20 Prozent, die Verschuldung Blue Angel, ACP Master, VR Global des Landes betrug 144 Milliarden Partners investieren in hochriskante Dollar. Davon entfielen 73 Prozent Papiere, sie werden daher manchmal auf Staatsanleihen, der Rest waren auch „Vulture Funds“ genannt: „Gei- Außenstände gegenüber internationa- erfonds“. Sie kaufen Anleihen von len Organisationen wie dem Interna- Firmen und Staaten, die entweder tionalen Währungsfonds, der Welt- kurz vor der Pleite stehen oder bereits bank, der Interamerikanischen Ent- bankrott sind. Ihr Geschäft besteht wicklungsbank und dem Club von darin, die Papiere möglichst billig zu Paris.4 Das größte Problem waren also kaufen und dann in einer Einigung die Verpflichtungen gegenüber priva- mit dem Schuldner eine höhere Ren- ten Investoren. Am 24. Dezember dite zu erzielen – oder, wie im Falle

4 Carlos Burgueño: Los Buitres. Historia oculta de la mayor operación financiera contra la Argen- tina, Buenos Aires 2013, S. 20. 5 Carlos Burgueño (s.o.), S. 20.

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Argentiniens, gerichtlich den Nomi- Wirtschaftsminister Roberto Lavagna Ohne Schiffe und nalwert plus Zinsen zu fordern. Da­ (2002–2005) führte die Verhandlun- Kanonen, aber ­dennoch rabiat in bei kommt es mehr auf die Rechtsan- gen mit den Gläubigern. Aber das war seinem Vorgehen: wälte als auf Volks- oder Betriebs­ nicht seine einzige Aufgabe. Lavagna Hedgefonds-Chef wirte an. wurde Minister eines Landes, das in Paul Singer Bei Staatsanleihen gilt das Recht einer schweren Krise steckte. Zualler- des Landes, in dem sie aufgelegt wer- erst musste er das Land wieder auf- den. New York ist für Staatsanleihen bauen. „Entwicklung ist viel mehr als der größte Finanzplatz der Welt, nir- Wirtschaftswachstum. Entwicklung gendwo finden die Papiere so viele ist Gerechtigkeit, soziale Mobilität, Käufer.6 Werden sie dort aufgelegt, ist Kultur, Lebensqualität“, schrieb er bei Auseinandersetzungen der Ge- später in seinen Erinnerungen.7 Lava- richtsstand New York. Dort befasst gna gelang es, mehrere Brandherde zu sich Richter Griesa vom United States löschen: Er gab die gesperrten Bank- District Court for the Southern Dis- guthaben wieder frei, wertete die trict of New York mit Argentiniens Währung ab, hielt die Inflation im Staatspleite. Auch er stand stets unter Zaum und sorgte für Wachstum. Druck: Wenn er nicht US-Recht Nach langen und zähen Verhand- durchsetzt, verliert der Finanzplatz lungen mit den Gläubigern brachte er New York an Attraktivität. auch ein Abkommen zur Umschul- In der Auseinandersetzung mit den dung auf den Weg: Auf die argentini- Hedgefonds wollte man auf argentini- schen Schuldpapiere wurde ein Ab- scher Seite einen Prozess vermeiden. schlag von 63 Prozent vorgenommen.

6 New York extends IFC lead, The Banker, September 2012, S. 141. 7 Roberto Lavagna: Trece Meses Cruciales en la Historia Argentina, Buenos Aires 2011, S. 12.

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Am 25. Januar 2005 präsentierte die Ab Mitte 2005 zog Elliott alle Re- Regierung den Vorschlag. Einen gister. Vorübergehend gelang es dem Monat später hatten 76,15 Prozent Hedgefonds, einen Titel über 100 Mil- aller Gläubiger eingewilligt. Die be- lionen Dollar zu erwirken, die die ar- treffenden Schuldtitel waren in acht gentinische Zentralbank bei der Fede- verschiedenen Ländern aufgelegt wor- ral Reserve zur Gewährleistung des den. Insgesamt wurden in dieser Ope- Zahlungsverkehrs deponiert hatte. ration 82 Milliarden Dollar Schulden Der Oberste Gerichtshof der Vereinig- umgewandelt­ und ten Staaten hob das Urteil jedoch spä- Seit 2003 lautet das 21 Milliarden Dol- ter wieder auf. Währenddessen ver- Motto: „Mit Geiern wird lar an Zinsen. Der suchte die argentinische Regierung im argentinische Kon- Geheimen, das Angebot zum Schul- nicht verhandelt.“ gress verbot es dar- dentausch denjenigen Investoren er- aufhin, an dieser neut anzubieten, die nicht an der Entscheidung zu rütteln. Néstor Operation­ 2005 teilgenommen hatten. Kirchner hatte schon 2003 als Präsi- Tatsächlich konnte im April 2010 ein dent die Parole ausgegeben: „Mit Gei- Erfolg vermeldet werden: Nun hatten ern wird nicht verhandelt.“ 93,4 Prozent aller Gläubiger das Ange- Die Hedgefonds hätten noch bot der Regierung akzeptiert. So hoffte immer einen guten Gewinn gemacht, man, Elliott zu isolieren. wenn sie das Angebot damals ange- nommen hätten. Aber sie lehnten ab. Weltweites Geldeintreiben Nach der Einigung der Regierung mit Um an ihr Geld zu kommen, versuch- der Mehrheit der Gläubiger gingen sie ten die Fonds zwischen 2005 und juristisch gegen Argentinien vor. Zwi- 2012, 28 Objekte Argentiniens im schen April 2005 und Juni 2007 klag- Ausland zu pfänden, darunter die ten mehr als 50 Hedgefonds vor Rich- Residenz des Botschafters in Wa- ter Griesa in New York. Insgesamt shington, die Präsidentenmaschine ging es um elf Milliarden Dollar. Das Tango 01, die Konten des Konsulats meiste Geld hielten die Fonds, die zu in Miami, den Satelliten Aquarius, Elliott Management von Paul Singer argentinische Patente, das Konsulats- gehören. Elliott hatte schon bei Ge- gebäude in Frankfurt, die Konten der schäften mit Schulden Perus, Pana- argentinischen Botschaft in Berlin. mas und der Republik Kongo ähnliche Von hohem symbolischem Wert war Strategien erfolgreich durchgesetzt.8 der Versuch, das letzte Haus von José Elliotts Fonds kauften noch argentini- de San Martín im französischen Bou- sche Schuldpapiere, als das Land logne-sur-Mer zu pfänden und zu schon Pleite war – zu rund 30 Prozent versteigern. San Martín ist der Befrei- des Nominalwerts. ungsheld Argentiniens, er vertrieb

8 Mit Papieren aus Peru ist es Paul Singer, dem Chef von NML so gelungen, eine Rendite von 400 Prozent zu erzielen. 1996 hatte er für rund elf Millionen Dollar Bankschulden gekauft, für die die Regierung gebürgt hatte. 2000 erhielt er 58 Millionen, Gerichte in Großbritannien, den USA, Luxemburg, Belgien, Deutschland und Kanada wurden dafür eingeschaltet. Vgl. Paul Singer Will Make Argentina Pay, Bloomberg Business Week, 7.8.2014.

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1812 die spanischen Kolonialherren freite der Internationale Seegerichts- aus Teilen Chiles und Perus. Er starb hof in Hamburg das Schiff Monate arm und einsam in Frankreich. Das später. Haus in der Grande Rue wurde später Sofern die Absicht darin bestand, von der argentinischen Regierung ge- Argentinien durch derartige Aktionen kauft, sie hat dort ein kleines Muse- mürbe zu machen, wurde das Gegen- um eingerichtet. 2010 entschied ein teil erreicht. Argentiniens seit 2007 französisches Gericht, das Haus sei amtierende Präsidentin Cristina ein „historisches Gut“ und daher Fernández de Kirchner wiederholte nicht pfändbar. immerzu das Credo ihres 2010 ver- Weitaus mehr als nur symboli- storbenen Mannes schen Wert hatte der Versuch von El- Néstor Kirchner: Elliott versuchte gar, liott, die Konten der Argentinischen Keine Verhandlun- ein Segelschulschiff in Zentralbank bei der Bank für Interna- gen mit den Gei- tionalen Zahlungsausgleich (BIZ) – ern. Dabei agierte Ghana zu pfänden der Zentralbank der Zentralbanken – die Regierung je- zu pfänden. Für Argentinien ist die doch nicht immer geschickt. So schlug Schweiz ein besonders wichtiger Fi- sie bei Fragen der Staatsschulden eine nanzplatz. Denn wegen der Schwie- antiimperialistische Rhetorik im Stile rigkeiten in den USA braucht das der siebziger Jahre an. „Keinen Land eine zweite Route für den Zah- Schritt“ wollten Kirchner und Fernán- lungsverkehr, um nicht von der Welt dez den Hedgefonds entgegenkom- abgeschnitten zu werden. men, was Richter Griesa sichtlich irri- Schon 2006 wurde Elliott in der tierte. Er selbst zog sich auf das Dogma Schweiz vorstellig, die dortige Justiz zurück: Verträge sind einzuhalten – nahm sich aber erst 2009 des Falles ganz gleich, welche sozialen Folgen an. Ziel war es, das Guthaben der das für ein Land haben könnte. Argentinischen Zentralbank bei der Erst spät lenkte die argentinische BIZ zu beschlagnahmen, was jedoch Regierung ein, offenbar nachdem ihre von den Gerichten und der Regierung eigenen Anwälte aus der Kanzlei Clea- abgelehnt wurde. Eine andere Ent- ry Gotlieb Steen & Hamilton (CGS&H) scheidung hätte dem internationalen sie gedrängt hatten, Elliott ein Ange- Finanzsystem wohl einen Schock ver- bot zu machen. Der Vorschlag lautete: setzt: Gelder bei der BIZ, einer zent- Der zu Elliott gehörende Fonds NML ralen Instanz im internationalen Fi- erhält die gleichen Konditionen wie nanzwesen, wären dann nicht mehr die Gläubiger, die den Schuldentausch vor den Übergriffen privater Akteure angenommen haben. Sie hätten dann sicher gewesen. Die Beschlagnah- noch immer, so rechnete der argenti- mung des Segelschulschiffs „Liber- nische Wirtschaftsminister Axel Ki- tad“ in Ghana 2012 scheiterte auch. cillof vor, 9 einen Gewinn von 300 Pro- Nachdem ein Richter in Ghana die zent gemacht. Der Vorschlag wurde Fregatte hatte festsetzen lassen, be- abgelehnt. Argentinien versuchte gel-

9 Kicillof dijo que los buitre „no aceptaron la oferta“ y que „Argentina no firmará cualquier cosa“, Telam, 30.7.2014.

IP • September / Oktober 2014 83 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Bei Fragen der tend zu machen, dass das Land, falls kann: ein Staatsbankrott der ganz ei- Staatsschulden Elliott Recht bekäme, auch die ande- genen Sorte – der eigentlich keiner ist. schnell mit anti­ imperialistischer ren Gläubiger voll ausbezahlen müss- Eine Beschwerde Argentiniens Rhetorik bei der te – selbst jene, deren Papiere einst- wies der Oberste Gerichtshof der Ver- Hand: Argentiniens mals nicht in den USA ausgegeben einigten Staaten ab. Seitdem sind die Präsidentin Cristina Fernandez de worden waren. Dies hätte zur Folge, Fronten verhärtet und die Frage um- Kirchner­ und dass das Land 43 Milliarden Dollar stritten, ob Argentinien, wenn es sich Wirtschaftsminister bezahlen müsste – bei Devisenreser- weiter weigert, die Schulden an Elliott Axel Kicillof ven von (zum damaligen Zeitpunkt zu zahlen, wiederum als „bankrott“ 2013) 42,65 Milliarden Dollar. zu gelten hat. Dabei gibt es womöglich Richter Griesa entschied: Wenn einen Ausweg: In den Verträgen von Argentinien die Mehrheit der Gläubi- 2005 und 2010, mit denen die Schul- ger bedient, muss das Land auch NML den umstrukturiert wurden, gibt es Capital bedienen – und zwar ohne eine so genannte „Rufo“-Klausel Abzüge. So wurde Argentinien dazu (Rights Upon Future Offers), wonach verurteilt, 1,3 Milliarden Dollar an das Angebot nicht mehr für andere NML zu zahlen. Zudem wurde per Investoren nachgebessert werden Gerichtsbeschluss jene Bank, die kann. Ende 2014 verfällt diese Klau- Bank of New York Mellon, blockiert, sel, und Argentinien könnte Elliott die von Argentinien dazu bestimmt auszahlen, ohne dass das Folgen hätte. worden war, die Zahlungen an jene Praktisch ist das möglich, politisch Gläubiger auszuführen, die den Schul- aber kaum vorstellbar. dentausch angenommen hatten. Da- durch entstand die skurrile Situation, Ungeregelter Staatsbankrott dass Argentinien seine Schulden zwar Im Falle einer Firmenpleite gibt es in bedienen, aber nicht überweisen Deutschland ein Insolvenzverfahren.

84 IP • September / Oktober 2014 Unter Geiern

In den USA gibt es Gläubigerschutz dass die Risikoaufschläge für die Pa- nach Chapter 11. Für die Privatwirt- piere nicht mehr ins Unermessliche schaft gilt in jedem Fall die beschränk- steigen könnten – was bei Schulden- te Haftung. Nur bei Staatspleiten gibt krisen die Refinanzierung der Au- es kein international verbindliches ßenstände immer erschwert oder Schuldrecht. Geht ein Land pleite, letztendlich unmöglich macht. Damit muss es sich mit seinen Gläubigern hätte die Regierung zunächst einmal einigen. Zeit gewonnen, um ihren Haushalt zu Dies ist stets ein langer und konsolidieren.“10 schwieriger Prozess. Ein Staat hat Aber es geht Krueger um mehr als viele Aufgaben: Er muss seine Infra- um Zeitgewinn für eine Regierung, die struktur unterhalten, seine Beamten auch mit den Gläubigern verhandeln bezahlen, Krankenhäuser, Schulen, muss, ob und auf Universitäten finanzieren, Konjunk- welchen Teil ihrer Nur bei Staatspleiten gibt turhilfen, Sozialhilfe, Polizei, Militär, Schulden diese ver- es kein international Zoll, Verwaltung – all das kostet Geld. zichten und wie Und doch gibt es keine Formel, mit und wann sie die verbindliches Schuldrecht der ermittelt wird, wie viel Geld ein Zahlungen wieder Staat in einer Krise an Schulden über- aufnimmt. Solche Verhandlungen, so haupt noch bezahlen kann. Krueger, könnten von supranationa- Anne Krueger hatte als damalige len Institutionen wie dem IWF beglei- stellvertretende Chefin des Internati- tet werden, der gemeinsam mit der onalen Währungsfonds (IWF) einen Regierung im Haushalt nach Einspar- solchen Vorschlag präsentiert, der potenzial sucht oder neue Einnahme- 2003 aber am Widerstand der USA quellen erschließt. Dadurch könne er- scheiterte. Krueger ist der Ansicht, mittelt werden, wie viel Geld die Re- dass eine Regierung Meldung machen gierung tatsächlich in den Schulden- müsste, wenn absehbar ist, dass sie dienst fließen lassen kann. „Der Druck ihren Zahlungsverpflichtungen nicht kommt nicht mehr vom Markt, son- mehr nachkommen kann. „Sie müss- dern er ist politischer Art. Es ist letzt- te dann, ähnlich wie in den USA nach lich wie beim amerikanischen Chapter Chapter 11, Gläubigerschutz beantra- 11, wo ein Richter darüber entschei- gen“, sagte sie 2010 im Interview. det, ob es in einer Firma Potenzial gibt, „Dies kann nur die Regierung ma- womit Geld verdient werden kann, ob chen und nicht von den Gläubigern es die Möglichkeit gibt zu sparen oder erzwungen werden. Im Idealfall fällt ob die Firma geschlossen werden die Regierung diese Entscheidung, muss.“ bevor sie die Zahlungen aussetzt. Un- Es sei zudem denkbar, dass Mehr- mittelbar danach würde an den Märk- heitsentscheidungen getroffen wer- ten der Handel mit den Staatsanlei- den, also dass die Mehrheit der Gläu- hen dieses Landes vorübergehend biger die Minderheit überstimmt. Zu ausgesetzt. Dies hätte den Vorteil, einer Konfrontation wie der zwischen

10 Anne Krueger im Interview mit brand eins, 7/2010, S. 34 f.

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Argentinien und Elliott könnte es schwierig. Denn die Lehre, die einige dann nicht mehr kommen. Elliott Investoren daraus ziehen könnten, hätte überstimmt werden können, was lautet: Man braucht nur einen langen aber in der Praxis schwierig geworden Atem und muss sich auf keinen Kom- wäre, da es bei Staatspleiten meist um promiss einlassen. „Wenn Investoren mehrere Papiersorten geht und nicht wissen, sie haben eine Chance, über nur um eine einzige Anleihe.11 die Gerichte das ganze Geld zu krie- Kruegers Vorschläge sehen man- gen, warum sollten sie bei einer che in Argentinien kritisch. Es könne Schuldenrestrukturierung mitma- nicht sein, dass „Washingtoner Tech- chen?“, fragt der ehemalige CEPAL- nokraten“ im Falle einer Pleite die Chef Ocampo.13 Wirtschaftspolitik in einem Land Was, wenn Griechenland einen übernehmen, sagt zum Beispiel Ro- weiteren Schuldenerlass braucht? berto Lavagna, der frühere Wirt- Oder Italien pleite geht? Oder Spani- schaftsminister: „Was es braucht, sind en? Was, wenn in einem solchen Fall andere Dinge. Jede Umstrukturierung, die Pleitegeier aus der Investment- die von drei Vierteln aller Gläubiger branche zuschlagen? Und nicht mit akzeptiert wird, sich verhandeln lassen? Das Urteil des Supreme muss auch für die- Man stelle sich folgendes Szenario Court erschwert künftige jenigen Gläubiger vor: Griechenland braucht einen wei- gelten, die dagegen teren Schuldenschnitt. Die griechi- Umschuldungen waren. Das müsste schen Anleihen werden von Kleinan- international gere- legern, europäischen Banken und Re- gelt werden und würde helfen, mit gierungen sowie Hedgefonds gehal- jeder Pleite in der Welt einfacher um- ten. Die Kleinanleger, die Banken und zugehen. Und es braucht mehr Trans- die Regierungen einigen sich auf parenz, wer die Gläubiger sind. Wer einen Verzicht von 50 Prozent ihrer Staatsanleihen zum vollen Preis ge- Forderungen. Die Hedgefonds, die ge- kauft hat, verdient eine bessere Be- rade einmal 5 Prozent der Papiere in handlung als der Spekulant, der für ihrer Hand haben, machen nicht mit 15 Cent ein Papier gekauft hat, das und bestehen darauf, dass der Nomi- einen Nominalwert von einem Dollar nalwert plus Zinsen bezahlt werden hat.“12 muss. Ein Gericht in London, wo die Im Prinzip sind sich aber beide Papiere ausgegeben wurden, gibt fast einig: Auf zwischenstaatlicher ihnen Recht. Was dann? Die einfachs- Ebene muss ein Mechanismus gefun- te Lösung wäre es, die europäischen den werden. Die Entscheidung des Regierungen würden die Hedgefonds Supreme Court gestaltet künftige auszahlen – eine besondere Form der Umschuldungsverhandlungen­ sehr Umverteilung, bei der die Steuerzah-

11 Zweifel an der Funktionalität so genannter Collective Action Clauses (CACs) kommen vom IWF. International Monetary Funds: The Fund’s lending framework and sovereign debt. Prelim- nary considerations, Washington, Juni 2014. 12 Roberto Lavagna im Interview mit brand eins, 9/2011, S. 33. 13 José Antonio Ocampo: Guest post: implications of the US Supreme Court ruling on Argentina, beyondbricks, Financial Times, 23.6.2014.

86 IP • September / Oktober 2014 Unter Geiern

ler die Renditen der Investoren über- Sicher ist: Die Welt ist ein klein weisen. wenig unübersichtlicher geworden – und man wundert sich, warum Welt- Öffentliche vor privaten Interessen bank und Wäh- Wie weiter? „Wir betreten Neuland“, rungsfonds so still Ein Land muss so ent- kommentierte Lavagna das Urteil. „Es bleiben und wes- schuldet werden, dass gibt keine vergleichbaren Fälle.“ halb die Europäi- Würde Argentinien NML voll auszah- sche Union nicht Wachstum möglich ist len, müsste es dies auch gegenüber klar Stellung be- den anderen Gläubigern tun – was zieht: Die Welt braucht ein Insolvenz- schwere soziale Folgen hätte. Private recht für Staaten. Ob dies in Form Gewinninteressen stünden über dem eines Schiedsgerichts geschaffen wird Interesse eines Staates, der für seine oder über bilaterale Verträge, ist letzt- Bürger verantwortlich ist. Möglich ist lich zweitrangig. auch eine weitere Runde Umschul- Bei der Gestaltung der Regeln dungsverhandlungen. Die könnte Mo- muss es darum gehen, ein Land so zu nate oder Jahre dauern, in denen das entschulden, dass dessen Wirtschaft Land wirtschaftlich auf der Stelle tritt. wieder wachsen kann. Ziel der Rege- Es ist schwer zu sagen, wie es mit Ar- lungen muss also sein, dass eine Re- gentinien und Elliott weitergehen soll. gierung funktionsfähig bleibt und der Es wird darüber spekuliert, ob argen- Verantwortung, die sie ihrer Bevölke- tinische Unternehmen den Hedge- rung gegenüber hat, gerecht werden fonds auszahlen. „Wenn kein Deal kann. Kurz: Das öffentliche Interesse zustande kommt, bedeutet das nicht eines Staates muss in Krisensituatio- das Ende der Welt“, sagt Aldo Ferrer, nen schwerer wiegen als das private ein argentinischer Ökonom und frü- Interesse von Investoren. Gäbe es eine herer Wirtschaftsminister. solche Regel bereits, müssten sich Aber es geht eben nicht nur um ­Elliott und Co. ein anderes Geschäfts- Argentinien. Olivier Blanchard, Chef- feld suchen. ökonom des IWF, sagte: „Die Welt wird dafür einen Preis zahlen.“14 Die Inter- Dr. Ingo Malcher ist national Capital Market Association Redakteur bei brand arbeitet offenbar an Richtlinien, die eins. Zuvor war er zehn Hedgefonds dazu zwingen könnten, an Jahre Korrespondent in Argentinien. 2008 Umschuldungsoperationen teilzuneh- erschien sein Buch men, wenn die Mehrheit der Investo- „Tango Argentino. ren ihnen zustimmt. Ob dies Realität ­Porträt eines Landes“. wird, ist aber offen.

14 Zitiert nach Argentina: Unresolved debts, Financial Times, 6.8.2014.

IP • September / Oktober 2014 87 Entwicklungsbanken

Ein klares Signal ... aber nicht viel mehr: Der BRICS-Bank fehlt noch ein Geschäftsmodell

Rolf J. Langhammer | Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika haben mit der Gründung der BRICS-Entwicklungsbank ein Zeichen gegen die ­Dominanz der OECD-Staaten beim Internationalen Währungsfonds und bei der Weltbank gesetzt. Zunächst handelt es sich aber eher um einen Fonds als um eine Bank, denn der Zugang zu den Kapitalmärkten wird schwierig.

Man könnte meinen, dass an Ent­ Einfluss auf die Kreditvergabe und die wicklungsbanken kein Mangel be­ Projekte gegenüber den etablierten steht: Jeder Geberstaat hat eine Ent­ OECD-Staaten nur gering sei. wicklungsbank. In Deutschland ist Offenkundig trifft dies auf die dies die Kreditanstalt für Wiederauf­ IBRD zu, in der die Regeln der bau. Auf multilateraler Ebene gibt es Bretton­ -Woods-Institutionen gelten: neben der Internationalen Bank für Stimmrechte sind wie beim Internati­ Wiederaufbau und Entwicklung onalen Währungsfonds (IWF) nach (IBRD), die zur Weltbankgruppe ge­ Kapitalanteilen gewichtet, und hier hört, fünf regionale Entwicklungs­ haben die OECD-Staaten ökonomisch banken: für Afrika, Asien, Latein­ und politisch sinnvolle Stimmrechts­ amerika und die Karibik sowie für reformen zugunsten der Schwellen- Europa. und Entwicklungsländer stets hinaus­ Die fünf Schwellenländer Brasi­ gezögert. Dahinter stand, dass sie sich lien, Russland, Indien, China und nicht auf den Abbau der Stimmrechte Südafrika gründeten am 15. Juli 2014 der europäischen Staaten und den im brasilianischen Fortaleza eine eige­ Verzicht auf die Vetoposition der USA ne Entwicklungsbank („New Deve­ einigen konnten. lopment Bank“) – zunächst mit einem Weniger offenkundig ist das be­ zu gleichen Teilen gezeichneten Ein­ klagte Mitsprachedefizit bei den regi­ lagekapital von 50 Milliarden Dollar, onalen Entwicklungsbanken. Die der das später verdoppelt werden soll. In Region zugehörigen Länder verfügen ihren jeweiligen Regionen sind die dort über die Mehrheit der Stimm­ BRICS-Staaten bereits Teilhaber an rechte, aber diese sind historisch ge­ den bestehenden Entwicklungsban­ prägt und reflektieren nicht mehr die ken. Sie beklagen aber, dass dort ihr heutige Wirtschaftskraft der Länder.

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Nun Herren (und So besitzen China und Indien bei der stützung bei Zahlungsbilanzproble­ Dame) im eigenen Haus? Die Grün- Asiatischen Entwicklungsbank nur men haben die BRICS-Staaten ein dung der New einen Stimmrechtsanteil von jeweils politisches Signal gegen die beiden Development Bank knapp über 5 Prozent – gegenüber Bretton-Woods-Institutionen und die durch die BRICS- Staats- und jeweils fast 13 Prozent von Japan und Dominanz der OECD-Staaten in Regierungschefs den USA als nichtregionalem Mit­ deren Management gesetzt. Die dazu­ am 15. Juli 2014 glied. Daraus erklärt sich auch die gehörige Vorgeschichte beginnt mit in Fortaleza führende Rolle Japans bei der Vergabe der Asien-Krise 1997. Damals wurde von Mitteln und im Management der dem IWF vorgeworfen, zu harte und Bank. bis ins kleinste Detail reichende Vor­ Bei der Interamerikanischen Ent­ bedingungen für die Bewilligung von wicklungsbank, die ihren Sitz be­ Zahlungsbilanzhilfen formuliert zu zeichnenderweise in Washington und haben – mit dem Ergebnis, dass die nicht in einer lateinamerikanischen Hilfe zu spät kam. Hauptstadt hat, sieht es ähnlich aus. Seither kritisieren die BRICS-­ Brasi­lien hält einen Stimmrechtsan­ Staaten den Währungsfonds und auch teil von knapp 11 Prozent (den glei­ die Weltbank, weil sie Hilfen von chen Anteil übrigens wie das ökono­ Konditionen abhängig machen und misch und politisch weitaus schwä­ weil sie mit zweierlei Maß messen chere Argentinien) gegenüber 30 Pro­ würden, wenn sie nach Gefolgschaf­ zent der USA. ten und Widersachern der USA unter­ Mit der Gründung ihrer Bank und scheiden. De facto richten sie die Kri­ gleichzeitig eines Reservefonds (Con­ tik gegen die OECD-Mitgliedstaaten tingent Reserve Allocation / CRA) und weniger gegen das Management von 100 Milliarden Dollar zur Unter­ der beiden Institutionen,­ denen sie

IP • September / Oktober 2014 89 Entwicklungsbanken

vorwerfen, nicht Herren im eigenen schüsse! – für Projekte und Program­ Haus zu sein. me in Entwicklungsländern weiter. Das Entscheidungsproblem über Über dieses Kapitalfenster verfügt die Zahlungsbilanzhilfen ließe sich aber BRICS-Bank noch nicht. Sie braucht auch beim CRA nicht umgehen. es aber dringend, um eine Multiplika­ China, mit einem Einlagegewicht von torrolle zu spielen und damit Wir­ 41 Prozent und als einziges Land ohne kung zu erzielen. Zahlungsbilanzprobleme, hätte stets Sollte die neue Bank in diese Rich­ ein gewichtiges Wort bei Hilfen mitzu­ tung gehen, stünde sie jedoch vor er­ reden und wäre heblichen Problemen. Jedes der fünf Auf den Kapitalmärkten zudem auch stän­ Schwellenländer weist mindestens stünde die neue Bank dig in der Geber­ einen der folgenden Malus-Faktoren rolle, sozusagen auf, die auf Kapitalmärkten mit Risi­ vor großen Problemen ein „lender of last kozuschlägen bepreist würden – resort“ innerhalb wenn überhaupt Anleger bereit der Gruppe. Ein Konflikt zwischen wären, diese Anleihen zu zeichnen: den fünf Staaten, die auch untereinan­ inkonvertible Währungen, ein nach der politische Probleme haben, wäre außen geschlossenes Kapitalverkehrs­ vorprogrammiert – es sei denn, China konto, intransparente und teilweise würde aus übergeordneten Solidari­ unentwickelte heimische Finanz­ tätserwägungen heraus und unter Ver­ märkte, fragile und ver­glichen mit zicht auf die eigenen Einflussmöglich­ OECD-Ländern unsichere Rechtssys­ keiten den wohlwollenden ­Hegemon teme sowie unter Abwertungsver­ spielen. dacht stehende und international wenig gehandelte Währungen. Unklares Geschäftsmodell Würde die neue BRICS-Bank das So klar das politische Signal ist, so aus ihren aufgelegten Anleihen ein­ unklar ist das gegenwärtige wirt­ geworbene Kapital kostengerecht an schaftliche Geschäftsmodell der die Entwicklungsländer weitergeben, BRICS-Bank. Zum jetzigen Zeitpunkt müssten ihre Kredite deutlich teurer ist sie keine Bank im eigentlichen sein als die der Weltbank oder der re­ Sinne, sondern lediglich ein Fonds, gionalen Entwicklungsbanken. Wären der aus Steuergeldern der Mitglieder sie es nicht, müssten die Steuerzahler gespeist wird. Alle Entwicklungs­ in den fünf Staaten dafür gerade­ banken verfügen aber neben diesem stehen. Fondsfenster, das für die ärmsten Erschwerend kommt hinzu, dass Entwicklungsländer auf Zuschuss­ die Empfängerländer wahrscheinlich basis gedacht ist, noch über ein Kapi­ Kredite in OECD-Währungen bevor­ talfenster: Sie legen Anleihen auf zugen würden, um beim Kauf von dem internationalen Kapitalmarkt Gütern die kostengünstigste Quelle auf, können dank der Bonität ihrer nutzen zu können. Diese Währungen Mitglieder einen A-Level-Status bean­ können aber von den Zentralbanken spruchen und damit sehr günstige der BRICS-Staaten nicht geschaffen Konditionen erhalten und geben diese werden, und diese Kredite könnten Vorteile als Kredite – nicht als Zu­ teuer werden, sollte die heimische

90 IP • September / Oktober 2014 Ein klares Signal

Währung abwerten. Für das Wechsel­ derum von den Steuerzahlern in den kursrisiko müssten wiederum die BRICS-Staaten subventioniert wer­ BRICS-Steuerzahler aufkommen. den müsste. Freundlich formuliert Also dürfte die BRICS-Bank versu­ hieße das: Diese Bank müsste tiefere chen, auf internationalen Märkten Taschen als andere Entwicklungs­ Anleihen in ihren Währungen aufzu­ banken haben. legen. Dagegen stünden aber die ge­ Die genannten Die Bank will Projekte nannten Malus-Faktoren. Probleme können unterstützen, die andere Alternativ könnte versucht wer­ sich aber auch nur den, Anleihen nur auf den BRICS- als Schwierigkei­ Geber nicht finanzieren Märkten aufzulegen und die Empfän­ ten im Übergang ger dazu zu verpflichten, einen Teil erweisen. Mit der Entwicklung der der Hilfsmittel für Käufe in den Ge­ Kapitalmärkte in diesen Ländern, mit berstaaten zu verwenden („gebunde­ der Öffnung zum internationalen Ka­ ne Entwicklungshilfe“). De facto pitalverkehr und mit größerem Ge­ würde dies einem teilweisen Rück­ wicht ihrer Währungen als internatio­ transfer von Mitteln in die Geberstaa­ nale Transaktions-, Fakturierungs- ten nahekommen und für die Emp­ und Anlagewährungen würde die fänger weitaus weniger attraktiv sein, BRICS-Bank aus dem Stadium der als Kredite aus den traditionellen Isolation und der Antihaltung heraus­ OECD-Quellen zu erhalten, die unge­ kommen. Sie könnte ein weiteres bundene Mittel vergeben. komplementäres Angebot zu den etab­ Neben den Problemen auf der lierten Entwicklungsbanken sein, Aufbringungsseite hat die Bank auch Probleme auf der Verwendungsseite. Prof. Dr. Sie will offensichtlich Projekte oder Rolf J. Langhammer Programme unterstützen, die andere arbeitet am Institut für Geber nicht bereit sind zu finanzie­ Weltwirtschaft in Kiel und lehrt internationalen ren. Dies könnte auch an mangelnder Handel und Entwick- Rentabilität der Projekte liegen. lungsökonomik an der Damit würde die BRICS-Bank viel­ WHU Otto Beisheim School of Management. leicht zu einer „Bad Bank“, die wie­

Dieser Beitrag erschien zuerst in Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 8/2014, www.wirtschaftsdienst.eu.

IP • September / Oktober 2014 91 China

Maschinist der Macht Xi Jinping entwickelt sich zum Alleinherrscher – um die KP zu stärken

Jonathan Fenby | Fast unbemerkt vom Rest der Welt hat sich Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping eine beispiellose Machtfülle gesichert. Dies merkt man auch seiner aktiveren Außenpolitik an. Doch Xi handelt aus innen­ politischen Motiven: Die dringenden Wirtschafts- und Sozialreformen muss er nicht zuletzt gegen eine widerstrebende Partei durchsetzen.

Seit er im November 2012 zum Gene- hat, um die Aufsicht über nationale ralsekretär von Chinas Kommunisti- Sicherheit, Wirtschaftsreformen, mili- scher Partei (KPCh) ernannt wurde tärische Modernisierung und Cybersi- – der Spitzenposten des Landes –, hat cherheit zu zentralisieren. Er hat eine Xi Jinping eine noch nie dagewesene große Anti-Korruptionskampagne ins Fülle von Ämtern und Funktionen Leben gerufen, in deren Folge 2013 besetzt, die ihn zum mächtigsten nach offiziellen Angaben 180 000 Per- Herrscher Chinas seit Deng Xiaoping sonen belangt wurden. Zuletzt wur- machen. Tatsächlich ist seine direkte den Ermittlungen gegen eine der Autorität sogar noch größer als wichtigsten Figuren der vergangenen Dengs, der es vorzog, durch andere zu Regierung eingeleitet, den ehemaligen wirken. Auch wenn es außerhalb Sicherheitschef Zhou Yongkang, und Chinas kaum aufgefallen ist: Der dessen weit verzweigtes Netzwerk. 61-jährige Sohn eines Kaders der ers- Xi hat zudem den mächtigen inlän- ten KPCh-Führungsgeneration ist dischen Sicherheitsapparat, dessen zum mächtigsten Mann der Groß- Budget sogar das der Volksbefreiungs- macht aufgestiegen, unberührt von armee übersteigt, unter seine Kontrol- Wahlen oder Gesetzgebungsprozes- le gebracht. Er hat sich die Loyalität sen, und führt damit eine Volkswirt- der Armee gesichert, indem er eng mit schaft an, die immer noch eine jähr­ dem Oberkommando zusammengear- liche Wachstumsrate von mehr als beitet, die Aufrüstung des Militärs 7 Prozent erreicht. gefördert und ranghohe Offiziere in Xi ist außerdem Staatspräsident sein näheres Umfeld versetzt hat. Par- und Vorsitzender der Zentralen Mili- allel dazu hat er einen Anti-Korrup­ tärkommission. Zudem steht er vier tionsfeldzug gegen hochgestellte Ge- neuen Gremien vor, die er geschaffen neräle im Ruhestand gestartet. Er hat

92 IP • September / Oktober 2014 Maschinist der Macht

darauf bestanden, dass die KPCh wurde. Xi scheint dabei die treibende durch Selbstkritiksitzungen und die Kraft zu sein: China wird vermutlich Wiederbelebung der Ideologie der stärker seinen Energieinteressen in „Massenlinie“ aus der Ära Mao Ze- Sibirien nachgehen und Infrastruk- dongs gestärkt werden muss. Er lässt turprojekte in Moskau und anderen härter gegen Dissidenten vorgehen, Städten durchführen. wirkliche und vermeintliche. Mit sei- Als Vorsitzender der außenpoliti- nem Streben nach dem „chinesischen schen Führungsgruppe der KP gibt Xi Traum“ von nationaler Modernisie- im Konflikt mit dem aggressiver auf- rung spielt er zudem stärker die natio- tretenden Japan um die Senkaku/ nalistische Karte, vor allem im Streit Diaoyu-Inseln im Ostchinesischen mit Japan. Für ausländische Firmen, Meer die Linie vor. Dabei erhebt die in China aktiv sind, wird die Ar- China weiter Gebietsansprüche im beit immer schwieriger. Südchinesischen Meer und verlegt Öl- bohrplattformen in die Gewässer Vi- Aktivere Außenpolitik etnams. Vor Kur- Auch auf der Weltbühne spielt Xi eine zem reiste Xi zum Für ausländische Firmen aktive Rolle. Er hat die USA besucht, Staatsbesuch nach wird die Arbeit in China Russland, Deutschland, Frankreich, Südkorea, um das die EU-Hauptstadt Brüssel, Latein- angespannte Ver- immer schwieriger amerika, Südostasien sowie zwei Gip- hältnis zwischen fel der BRICS-Staaten. Er führt auch Seoul und Tokio auszunutzen. Von die Beziehungen zu Afrika fort, die Öl Nordkorea hielt sich Xi fern. Das und Rohstoffe einbringen. Besonders Land bleibt ein extremes Ärgernis: wichtig ist ihm das Verhältnis zu Ber- Peking gelingt es nicht, seinen „klei- lin: Peking sieht in Angela Merkel die nen Bruder“ zur Räson zu bringen. wichtigste Fürsprecherin in Europa, Der Generalsekretär hat sogar ein außerdem muss die Bundesrepublik Händchen für PR: In einer vermutlich die starke Position ihrer Firmen in der sorgfältigen Inszenierung aß er in Volksrepublik erhalten. einem Eckrestaurant eine einfache Chinas Außenpolitik wird wie bis- Mahlzeit, „Suppe und vier Brötchen“. her davon bestimmt, die Rohstoffzu- Dabei ging er mit den Gästen so ent- fuhr zu sichern, die das Land braucht, spannt um, wie es seinem Vorgänger um seine Wirtschaft am Laufen zu nie gelungen war. Zu einem freundli- halten. Doch Xi hat sich stärker profi- cheren Image verhilft ihm auch seine liert als sein Vorgänger, Hu Jintao, zweite Ehefrau, Peng Liyuan, eine und wirkt auf internationalem Par- populäre Sängerin von Volksliedern. kett selbstsicherer. Die Ukraine-Krise Als sie auf einer Auslandsreise mit und die Sanktionen des Westens ihrem Mann mit einer Handtasche haben Wladimir Putin in eine engere eines südchinesischen Herstellers fo- Beziehung mit Peking gedrängt. Dies tografiert wurde, war die Marke im spiegelt sich auch in dem Abkommen Internet noch am gleichen Tag aus­ über russische Gaslieferungen für die verkauft. Volksrepublik wider, das im Mai bei Einige Analysten sagen voraus, Gesprächen in Schanghai geschlossen dass Xis Machtfülle innerhalb des po-

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litischen Systems auf Widerstand sto- Geschäftsmann, wurde verhaftet. Erst ßen werde. Doch dafür gibt es bisher am 29. Juli wurden die Ermittlungen keinerlei Anzeichen. Im August warn- gegen den früheren Sicherheitschef te Xi vor Widerstand gegen seine An- selbst eingeleitet, wegen „schwerer ti-Korruptionskampagne, was aber Disziplinarvergehen“, ein Codebegriff kaum verwunderlich ist angesichts für Korruption. Zhou ist das erste Ex- des Ausmaßes der Korruption in der Mitglied des Ständigen Ausschusses Volksrepublik und der Bestechlichkeit und der höchstrangige Funktionär, seiner schlecht bezahlten Beamten der je auf diese Weise im kommunisti- und Funktionäre. Tatsächlich führt Xi schen System belangt wurde. die Kampagne ungerührt fort, gemein- sam mit Wang Qishan, der ebenfalls Priorität Systemerhalt dem Ständigen Ausschuss des Polit­ Xis oberstes Ziel bei der Anhäufung büros angehört und als dessen rechte von Macht ist es, das politische Sys- Hand gilt. Und tem zu stärken. Als er Generalsekre- Xis größter Albtraum auch wenn Xis tär wurde, sprach Xi vom schlechten ist der Zusammenbruch Ansinnen, die Par- Zustand der 86 Millionen Mitglieder teikader mögen be- zählenden KP und von der Notwen- der Sowjetunion scheidener leben digkeit einer „Stärkung der Partei“ – und auf Bankette, daher seine furiose Kampagne gegen Luxusgeschenke und motorisierte Es- Korruption; daher der Vorstoß, die korten verzichten, um dem chinesi- Partei zu verschlanken, indem man all schen Volk näher zu sein, nicht beson- jene loswird, die in der KP nur eine ders beliebt sein dürfte: Sie haben Möglichkeit sehen, die eigene Karriere keine andere Wahl, als dieser Linie zu voranzutreiben und Vergünstigungen folgen. Hu regierte stets im Konsens, einzustreichen; daher auch die Neu- der ihn oft zu ersticken drohte. Xi hat entdeckung alter Mao-Slogans oder ebenfalls einen Konsens herbeigeführt politischer Techniken wie dem harten – doch er bestimmt ihn. Nun, da seine Vorgehen gegen Oppositionelle und Autorität gefestigt ist, lautet die Frage: den Versuchen, die sozialen Medien Was wird er damit machen? zu kontrollieren; daher auch der Ein- Unwahrscheinlich ist, dass er diese satz der verschwiegenen, parteiinter- große Machtfülle einfach nur zum nen Disziplinarkommission unter Lei- Selbstzweck angehäuft hat. Er ist ein tung von Wang Qishan, die außerhalb vorsichtiger Maschinist der Macht, des zivilen Rechts operiert. der sich absichert und erst bewegt, Xis Albtraum sind Michail Gorbat- wenn er genügend Rückhalt gesam- schows Reformen und der Zusam- melt hat. Der Feldzug gegen Zhou menbruch der Sowjetunion. Als das Yongkang war von langer Hand ge- System der UdSSR unter Druck ge- plant: Erst wurde dessen Protegé Bo riet, habe es keinen starken Mann ge- Xilai abgeurteilt, dann wurden Zhous geben, der sich für seinen Erhalt ein- Verbündete im Sicherheitsapparat, in gesetzt hätte, sagte er einmal. Xi weiß der Öl- und Gasindustrie und in der genau, wem diese Aufgabe in der Provinz Sezuan entmachtet, einer Volksrepublik zufällt, und er will si- nach dem anderen. Zhous Sohn, ein cherstellen, dass er mächtig genug ist,

94 IP • September / Oktober 2014 Maschinist der Macht

sie zu meistern. Während des Volks- erwartung in den Städten des Nor- kongresses 2012 ließ Wang seinen dens um 5,5 Jahre. Mehr als 10 Pro- Kollegen eine Lektüreliste zukommen. zent des Bodens sind durch Schwer- Ganz oben stand eine historische metallablagerungen und durch von Warnung: Alexis de Tocquevilles Ana- den Flüssen angespülte Schadstoffe lyse vom Untergang der Bourbonen in verseucht. Viele Wasserläufe sind ver- Frankreich, die durch unausgegorene schmutzt, obwohl sie als Trinkwasser- und schlecht durchgeführte Reformen quellen dienen. Es und den Verlust der Unterstützung gibt immer mehr Das „Wahrheits-Defizit“ durch die Mittelschicht zu Fall ge- Lebensmittelskan- führt zu 180 000 bracht wurden. dale aller Art, von Wie bei Deng lautet auch Xis kontaminierter Ba- Protesten im Jahr ­Priorität, die Macht der Kommunisti- bymilch bis Gam- schen Partei zu erhalten; beide setzen melfleisch. Die ungleiche Verteilung auf Wirtschaftswachstum. Allerdings des Wohlstands im vermeintlich kom- haben Xi und die anderen Lenker an munistischen System ist stärker aus- der Spitze begriffen, dass Dengs Er- geprägt als in Europa oder den USA. folgsrezept – billige Arbeitskraft, billi- Die Menschen sind wütend angesichts ges Kapital und starke Exportmärkte der Ungerechtigkeiten in einer Gesell- – heute an Grenzen stößt. Chinas schaft, in der die Armen zwar immer Löhne sind stark gestiegen; Kapital ist weniger arm sind, die Reichen aber teurer geworden, vor allem für den immer schneller noch reicher werden. privaten Sektor, der am meisten Hinzu kommt, was ich „Wahr- Wachstum generiert; und ausländi- heits-Defizit“ nenne: Das Fehlen eines sche Märkte sind auch nicht mehr Rechtsstaats und eines unabhängigen das, was sie einmal waren. Justizsystems führt dazu, dass China im Jahr rund 180 000 Proteste erlebt. Ein neues Wachstumsmodell? Sie richten sich gegen so unterschied- Die Wirtschaft muss neu aufgestellt liche Missstände wie Umweltver- werden: weniger Abhängigkeit von schmutzung, Fehlverhalten der Polizei Exporten und Anlageinvestitionen in oder, der häufigste Grund, die Be- Infrastruktur und Immobilien. Der schlagnahmung von landwirtschaft- einheimische Konsum muss angekur- lich nutzbarem Boden durch die örtli- belt werden. Die überschüssigen In- chen Behörden. Dieser wird dann als dustriekapazitäten, die sich allein im Bauland neu klassifiziert und an Un- Stahlsektor auf 30 Prozent belaufen, ternehmer verkauft, zu einem Preis, müssen verringert werden. Auch das der die Entschädigung für die Bauern Finanzsystem braucht ernsthafte Zu- um ein Vielfaches übersteigt. wendung, denn die Schattenbank- Nachdem er sich politisch etabliert wirtschaft boomt. hatte, nutzte Xi im November 2013 Zudem steht China vor einer gan- ein KP-Plenum dazu, ein neues Pro- zen Reihe sozialer Probleme, von gramm für Wirtschafts- und Sozialre- denen viele ihre Ursache im ökonomi- formen auf den Weg zu bringen – eine schen Wachstumsmodell haben. Die wichtige Verlagerung. Denn in der schlechte Luft verringert die Lebens- Vergangenheit, nachdem sich Deng

IP • September / Oktober 2014 95 China

1978 mit seinem ganzen politischen sucht, eine zweite Wirtschaftsrevolu- Gewicht hinter die Reformen gestellt tion in Gang zu setzen, was ihn histo- hatte, war Wirtschaftspolitik die Do- risch auf eine Stufe mit Deng stellen mäne der Staatsregierung, die im würde. Sein Programm ist langfristig Machtgefüge unterhalb der Parteifüh- angelegt – der Fahrplan für die rung rangiert. „60 Entscheidungen“ des Plenums Nun hat Xi diese Reformfelder zu reicht bis in das Jahr 2020, und es seiner persönlichen Aufgabe gemacht werden wohl nicht alle umgesetzt. (eine politische Reform bleibt aller- Und doch habe ich, als ich in diesem dings ein Tabu). Er bringe, wie er es Jahr durch China gereist bin, Anzei- ausdrückte, das Gewicht der wichtigs- chen dafür entdeckt, dass vor Ort ei- ten Parteiorgane in niges passiert. So hat man etwa die Die Frage bleibt: Stellung gegen die- Rechte der Wanderarbeiter gestärkt Fortwährende Kontrolle jenigen, die keine sowie größere und effizientere Land- Veränderung des wirtschaftsbetriebe geschaffen. oder echte Reformen? Systems wollen – Zum Moment der Wahrheit dürfte weil sie bislang es dann kommen, wenn der Reform- sehr gut von ihm profitiert haben. Die fahrplan auf die politischen Realitä- Anti-Korruptionskampagne ist eine ten trifft. Denn Reform bedeutet per weitere Waffe, um Reformen durchzu- Definition, dass Kontrollmechanis- setzen. Mit dem Sturz von Zhou Yong- men gelockert werden, die das chine- kang wurde ein halbes Dutzend hoch- sische System durchziehen, auch rangiger Unternehmenschefs in der wenn sie nicht immer effektiv ange- Öl- und Gasindustrie entlassen. Auch wandt werden. Der Einparteienstaat der Energiesektor und große Misch- hat naturgemäß an allem Interesse. In konzerne wurden ins Visier genom- Unternehmen aller Größen gibt es men. Nun besteht die Aussicht, dass eine kommunistische Zelle, wichtige in den großen Staatsunternehmen ef- Posten in Firmen und Organisationen fizientere Manager eingesetzt werden, werden von der Parteiführung be- weil das Reformprogramm eine Diver- setzt. Mit dem Beispiel Gorbatschows sifizierung der Eigentumsverhältnisse zur Abschreckung könnte Xi durch- vorsieht. Die Chefs der großen Staats- aus an den Punkt kommen, an dem er konzerne werden diese Botschaft sich entscheiden muss: echte Refor- wohl verstehen und sich mehr an- men oder fortwährende Kontrolle strengen. durch die Partei. Es mag sein, dass das eine übermä- ßig optimistische Analyse ist. Träg- heit ist eine starke Kraft in einer Ge- Jonathan Fenby sellschaft, die von großem und un- war Chefredakteur des gleich verteiltem Reichtum geprägt ist Observer und der South – erworben in einem System, das sich China Morning Post; zuletzt erschienen mit weitaus weniger Kontrolle und „Will China Dominate Regulierung entwickelt hat, als die the 21st Century? offizielle Darstellung vorgibt. Doch Xi (2014) und „Tiger Head, Snake Tails“ (2012). wirkt wie jemand, der ernsthaft ver-

96 IP • September / Oktober 2014 Kleine Schritte statt großer Wurf

Kleine Schritte statt großer Wurf Wie sich der Klimaschutz auch ohne globales Abkommen vorantreiben lässt

Sven Titz | Die Verhandlungen über einen weltweiten Vertrag zur Einhaltung der Zwei-Grad-Grenze kommen nicht weiter. Dafür aber gewinnen pragma- tische Ansätze an Popularität. Ihr Grundgedanke: Wäre es nicht sinnvoll, den Wettbewerb um kohlenstoffarme, effiziente und günstige Energielösun- gen mit Armutsbekämpfung und Stadtplanung zu verknüpfen?

20 Jahre nach Inkrafttreten des UN- seln sei. Aus einer solchen Bilanzie- Rahmen­übereinkommens zum Kli- rung im Klimabericht von 2007 waren mawandel (UNFCCC) im Jahr 1994 damals politische Klimaziele abgelei- wartet die Welt noch immer auf einen tet worden – insbesondere für euro- globalen Vertrag zur raschen Verrin- päische Länder.

gung des CO2-Ausstoßes. Informative Grafiken zu den Emis- Dabei treten die Verhinderer eines sionen je nach Wirtschaftskraft fin- globalen Vertrags immer selbstbe- den sich auch im neuen Bericht: Sie wusster auf: Autoren des UN-Klima- zeigen, dass die größten Mengen an rats (IPCC) berichteten, sie hätten Treibhausgasen – historisch betrach- Teile der Zusammenfassung für Politi- tet – in den Industrieländern emittiert ker, die sie für den dritten Teil des wurden, dass die höchsten Wachs- Klimaberichts angefertigt hatten, auf tumsraten an Emissionen heute aber politischen Druck hin zusammenstrei- in aufstrebenden Ländern zu ver- chen müssen. Das ist keine Petitesse, zeichnen sind. sondern könnte ein Indiz dafür sein, All dies wurde in der Zusammen- dass sich eine Wende in der Diskus­ fassung gestrichen, da es die Klima- sion über die Klimapolitik anbahnt. verhandlungen in einer Weise hätte In diesem dritten Teil des UN- beeinflussen können, die manchen Klimaberichts geht es im Wesent- der Beteiligten nicht recht gewesen lichen um Strategien für den Klima- wäre. Zu den intervenierenden Län- schutz. Der Streit um die Zusammen- dervertretern zählten die aus Brasilien fassung entbrannte an der Frage, wie und China. Fehlen die Informa­tionen der Ausstoß von Treibhausgasen aber in der von den Regierungen ab­ nach Ländergruppen unterschied- gesegneten Zusammenfassung, kön- licher Wirtschaftskraft aufzuschlüs- nen sie kaum Wirkung erzielen.

IP • September / Oktober 2014 97 Umweltpolitik

Der Vorfall zeigt einmal mehr, Lösung abzuarbeiten“, konstatierte dass die Wissenschaft gegenüber der Oliver Geden, Experte der Stiftung Po­litik einen schweren Stand hat. Ei­ Wissenschaft und Politik in Berlin nen Verbesserungsvorschlag machten (SWP), in einem Beitrag am 4. Juni in kürzlich David Victor, Experte für der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Umweltpolitik an der University of Entziehen sich die beteiligten Ak- California in San teure bindenden Verpflichtungen zur Kohlenstoffarme Energie- Diego, und zwei Emissionsverringerung immer wie- quellen sollen marktreif weitere Autoren der, dann lässt der Anreiz nach, die des UN-Klimarats: Diskussion weiterzuführen. Klima­ gemacht werden In Zukunft solle politische Ansätze, die darauf ausge- mehr Wert auf richtet sind, konkrete Fortschritte zu Klima­berichte gelegt werden, die in erreichen, ohne ein globales Verhand- den Einzelstaaten angefertigt werden. lungsziel vor Augen zu haben, wer- Nationale Berichte würden den je- den daher immer beliebter. Statt für weiligen Umständen besser gerecht; eine globale Deckelung des Treibh- außerdem sei es dadurch möglich, die ausgasausstoßes einzutreten, empfeh- sehr verschiedenen wissenschaftli- len „Klimapragmatiker“ wie Victor, chen Standpunkte vollständiger abzu- vorrangig die Entwicklung von koh- bilden, schrieben sie Anfang Juli im lenstoffarmen Energiequellen so­wie Magazin Science. von Techniken effizienter Energie- Kleinere Brötchen werden nicht nutzung zu fördern, damit diese sich nur in der Beratung der Klimapolitik später auf dem Markt durchsetzen gebacken, sondern auch in der Klima- können. politik selbst. In der Öffentlichkeit wird diese zumeist mit den internati- Armutsbekämpfung vor Klimaschutz onalen Verhandlungen über die Zwei- Besonders konsequent vertritt diesen Grad-Grenze verbunden – und mit Klimapragmatismus das „Break- den Folgerungen, die daraus gezogen through Institute“ in Kalifornien. Im werden. Vieles deutet aber darauf April gab die Denkfabrik – zusam- hin, dass sich die Ausrichtung der men mit dem Consortium for Science, Klimapolitik gerade ändert. Policy, and Outcomes der Arizona Je mehr Länder dabei mitwirken State University – eine Stellungnah- sollen, den Ausstoß an Treibhaus­ me heraus. Darin versuchen 13 Um- gasen zu senken, desto unwahrschein- welt- und Energieexperten die Not- licher werde es, dass ein einzelnes wendigkeit klimapolitischer Maßnah- Programm mit bindenden Zielen und men mit dem globalen Wirtschafts- Zeitplänen funktioniere, schreiben wachstum zu versöhnen. Victor und seine Mitautoren. „Um zu Zu den Autoren zählen bekannte verhindern, dass der politische Pro- Wissenschaftler wie Ted Nordhaus, zess durch das wiederholte Scheitern Roger Pielke jr., Daniel Sarewitz und großer Klimagipfel endgültig seine Le- Michael Shellenberger. „Our High- gitimation verliert, hat die Klima­ Energy Planet“ (Unser Hochenergie- diplomatie faktisch Abstand davon planet) lautet der Titel ihres Doku- genommen, sich an der ganz großen ments. Der Name ist Programm. Die

98 IP • September / Oktober 2014 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Pointe der Breakthrough-Strategie be- Wachstum sei notwendig; die Emissi- Die aufstrebenden steht darin, die Entwicklungskurve, onen würden voraussichtlich noch Staaten Asiens machen keine die alle industrialisierten Länder steigen. Ein verpflichtendes Limit für Anstalten, von der durchgemacht haben, begleitend im die Emissionen lehnt Indien ebenso vorgezeichneten Sinne des Klimaschutzes zu nutzen, ab wie Brasilien und China. Entwicklungskurve abzuweichen: anstatt sie mehr oder weniger zu be- Die Breakthrough-Experten gehen der Zhangjiang- kämpfen, wie dies in anderen Konzep- von der weithin geteilten Prämisse Hightech-Park in ten mitunter der Fall ist. Erst der ra- aus, dass eine gerechte, prosperieren- Pudong, Schanghai sante Ausbau der Energiesys­teme, so de und ökologisch nachhaltig ausge- die Breakthrough-Experten, ermögli- richtete Gesellschaft erreicht werden chte den Wohlstand, in dem Umwelt- soll. Wer sich dieses Ziel setze, der schutz zu einer Priorität wurde und müsse vorrangig einen gleichberech- der Ausstoß an Treibhausgasen dank tigten Zugang zu Energie anstreben. technischem Fortschritt wieder zu Noch habe mehr als eine Milliarde sinken begann. Diese Entwicklungs- Menschen keinerlei Zugang zu Elek- tendenz wird also als unumstößlich trizität. Die Entwicklungs- und akzeptiert. Schwellenländer verstädterten derart In der Tat machen die aufstre- rasch, dass ihre Energiesysteme stark benden Staaten Asiens derzeit keine ausgebaut werden müssten. Auch Anstalten, von der vorgezeichneten viele andere Entwicklungsrückstände Entwicklungskurve wesentlich abzu- seien aufzuholen: Fast drei Milliarden weichen. „Wenn wir nicht die Armut Menschen würden noch über offenem bekämpfen und beseitigen, können Feuer mit Holz, Kohle oder getrock- wir kaum den Klimawandel ange- netem Dung kochen. Atemwegser- hen“, erklärte kürzlich der indische krankungen, die auf Luftverschmut- Umweltminister Prakash Javadekar. zung in Innenräumen zurückzufüh-

IP • September / Oktober 2014 99 Umweltpolitik

ren seien, kosteten jährlich zwei Mil- ­zurück – das wiederum nütze der lionen Menschen das Leben. ­Lebensqualität und dem Tourismus. Den Breakthrough-Autoren zufol- Durch Maßnahmen dieser Art könn- ge gibt es für die Umwandlung der ten bis zum Jahr 2030 fast 100 000 Energieversorgung in Ländern wie smogbedingte vorzeitige Todesfälle Indien keine Musterlösung. Die Be- vermieden und der Ausstoß an Treib- dingungen seien dafür zu unter- hausgasen beträchtlich reduziert wer- schiedlich. Die deutsche Energiewen- den, heißt es in der Studie. de gilt in der kalifornischen Denkfa- Bei orthodoxen Umweltschützern brik daher keineswegs als Blaupause rufen derartige Strategien gelegent- für die Entwicklung in anderen Län- lich Widerstand hervor. Kritisch äu- dern; das Konzept, das auf die Nut- ßerte sich zum Beispiel der austra- zung erneuerbarer Energiequellen lische Ethikprofessor Clive Hamilton zugeschnitten ist, sieht man eher in einem Kommentar für das US-Ma- skeptisch. Die Au- gazin Scientific American (19. Juni): Die deutsche Energie- toren empfehlen Er hielt den Pragmatikern à la Break­ wende ist keine Blau- vielmehr technolo- through Institute vor, die Gefahren gischen Pluralis- der globalen Erwärmung zu unter- pause für andere Länder mus: Man müsse schätzen und das Potenzial neuer bei allen Energie- Techniken zu überschätzen. Ihren quellen Fortschritte erzielen – in der Optimismus betrachtet Hamilton als Kernenergie ebenso wie bei den fossi- gefährliches Wunschdenken. len Energiequellen, bei der Wasser- Die Ernüchterung in der Klimapo- kraft ebenso wie bei der Sonnen- und litik ist allerdings inzwischen so groß, der Windenergie. dass an pragmatischen Ansätzen kaum ein Weg vorbei zu führen Gefährliches Wunschdenken? scheint – ganz gleich, ob man sie nun Mit dem pragmatischen Ansatz liegt als solche bezeichnet oder nicht. Es das Breakthrough Institute im Trend. gibt da viele Spielarten. Die große Nach konkreten Lösungen für den Bandbreite an Lösungsoptionen sollte Klimaschutz, die in ein ganzheitliches dabei helfen, mögliche Konflikte mit Entwicklungskonzept eingebettet entschiedenen Umweltschützern zu sind, hat zuletzt auch die Weltbank entschärfen. gesucht. In der Studie „Climate-Smart Development“ stellen Fachleute an- Neubelebung der US-Klimapolitik hand von Fallstudien Maßnahmen Ein wichtiger Impuls könnte jetzt vor, die gleich in mehrfacher Hinsicht von der neu belebten Klimapolitik der einen Nutzen versprechen – sowohl USA ausgehen. Dort sollen die Emis- für das Klima als auch für die wirt- sionen von Kohlekraftwerken deut- schaftliche Entwicklung und die Ge- lich gesenkt werden. Anfang Juli sundheit der Menschen. Der Ausbau schlossen die USA und China zudem der öffentlichen Verkehrsmittel sei mehrere Kooperationsabkommen ab, ein Beispiel dafür: Er spare Treibstoff um moderne Techniken für Kohle- und Zeit, die Produktivität der Wirt- kraftwerke nach Fernost zu trans­ schaft steige, und der Smog gehe ferieren. Zu dem Paket zählen aus-

100 IP • September / Oktober 2014 Kleine Schritte statt großer Wurf

drücklich auch Techniken zur Ab- Dabei geht es ebenfalls um den scheidung und Speicherung von Austausch von Konzepten, gefördert ­Kohlendioxid im Untergrund (CCS). durch Konferenzen, Studienreisen Angesichts des mehrfachen Nutzens und Publikationen. Ob ein Bahnhof – Verringerung von Smog, Senkung umweltschonend der Kohlendioxid-Emissionen und ausgebaut wird In Wien will man auf 240 Steigerung der Effizienz – ist diese wie in Freiburg, Hektar Land Smart-City- Zusammenarbeit ein typisches Bei- Stadtviertel gep- spiel für einen pragmatischen ­Ansatz. lant werden wie Technologien testen in München oder Kommunaler Klimaschutz die Wärmedämmung eines Gebäu- Konkrete Fortschritte im Klimaschutz debestands in Utrecht verbessert werden auch von internationalen wird – die Initiative „Energycities“ Netzwerken unterhalb der Regie- dokumentiert Beispiele, wie sich die rungsebene erhofft. Ein Beispiel sind Aufgaben am günstigsten im Sinne die „C40 Cities“: Dieser 2005 gegrün- des Klimaschutzes lösen und dabei dete weltumspannende Städtebund möglichst viele Beteiligte einbezie- hat sich zum Ziel gesetzt, den Treib­ hen lassen. hausgasausstoß auf lokaler Ebene zu Pragmatische Ansätze zum Klima- reduzieren. Dazu werden Best-Practi- schutz werden schon länger disku- ce-Konzepte ausgetauscht und Preise tiert, haben aber in letzter Zeit ange- verliehen. Typische Beispiele für Pro- sichts der stockenden globalen Klima- jekte von C40-Städten: In Oslo müs- verhandlungen an Bedeutung gewon- sen bis 2015 alle städtischen Fahrzeu- nen. Besonders relevant sind solche ge elektrisch betrieben sein, wofür Ansätze vor allem bei der Energiever- den Behörden zinslose Darlehen ge- sorgung in Entwicklungs- und währt werden; in Wien sollen auf 240 Schwellenländern und bei der Stadt- Hektar Land in 8500 Hightech-Ge- planung. Derzeit gibt es schon einen bäuden klimaschonende Smart-City- regen Austausch von Best-Practice- Technologien getestet werden. Beispielen. Die Institutionalisierung Inzwischen sind 69 Städte bei C40 der neuen Ansätze hat gerade erst mit dabei, darunter Megastädte wie begonnen. Tokio, New York, Lagos und Mumbai, aber auch kleinere Städte wie die ein- zigen beiden deutschen Teilnehmer Heidelberg und Berlin. Heidelberg Dr. Sven Titz spielt auch auf europäischer Ebene arbeitet als freier eine Rolle. Bis 2015 hat die Stadt die Wissenschaftsjournalist Präsidentschaft von „Energycities“ in Berlin. inne, einem europäischen Zusammen- schluss von Gemeinden, die sich einer lokalen „Energietransformation“ ver- schrieben haben.

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Kein Rückzug in Sicht Trotz Schieferrevolution bleiben die USA am Persischen Golf

Marco Overhaus und Kirsten Westphal | Für die USA sind direkte Energieliefe- rungen aus dem Persischen Golf nicht mehr von vitaler Bedeutung. Deshalb steigt die Erwartung, dass sie sich aus dieser Region zurückziehen. Aber das wird nicht geschehen. Allerdings werden sich Art und Umfang des amerikanischen Engagements verändern – mit Folgen für Europa.

Seit Jahrzehnten haben die Vereinig­ USA ein. Das zeigt sich zum Beispiel ten Staaten eine politische und mili­ in der zunächst zurückhaltenden tärische Vormachtstellung am Persi­ Reak­tion der Obama-Regierung auf schen Golf. Darüber hinaus war die das Vorrücken der IS-Dschihadisten Sicherung des Zugangs zu den dorti­ im Irak. Beide Entwicklungen – die gen Ölvorkommen immer eine we­ Schieferrevolu­tion und die innenpoli­ sentliche Priorität Washingtons. Diese tischen Zwänge – wecken Befürch­ Verknüpfung von sicherheits- und tungen innerhalb und außerhalb energiepolitischen Interessen wird Amerikas, dass sich die USA aus der nun durch die so genannte Schiefer­ Golf-Region zurückziehen könnten. revolution in den USA in Frage ge­ Eine solche Entwicklung ist je­ stellt. Angesichts des sprunghaften doch unwahrscheinlich, denn die Anstiegs der Förderung von heimi­ USA haben weiterhin starke wirt­ schem, nichtkonventionellem Öl und schaftliche und sicherheitspolitische Gas (vor allem Tight Oil und Schiefer­ Interessen in dieser Region. Man gas) sehen sich die USA auf dem Weg kann davon ausgehen, dass sich die zur Energie-Eigenständigkeit oder gar Veränderungen auf den Energiemärk­ zur Energie-Unabhängigkeit – nicht ten auf die amerikanische Politik aus­ zuletzt von Öl- und Gasimporten aus wirken werden. Denn Washington der Golf-Region. wird gegenüber Europa noch mehr Gleichzeitig schränken die Spar­ als bisher auf eine ausgewogene zwänge, die politische Polarisierung in Lastenteilung bei der Sicherung der Washington und die Interventions­ Seewege in der Region pochen. müdigkeit der breiteren Öffentlichkeit Zudem gewinnen wirtschaftliche Ins­ die sicherheitspolitischen und militä­ trumente gegenüber militärischen an rischen Handlungsmöglichkeiten der Bedeutung.

102 IP • September / Oktober 2014 Kein Rückzug in Sicht

Die USA entwickeln sich zum Selbst­ (täglich 1,3 Millionen Barrel). Zum versorger bei Energie. Betrachtet man Vergleich: Die amerikanische Tight- den NAFTA-Raum insgesamt – also Oil-Förderung 2013 machte etwa 2,3 die USA, Kanada und Mexiko –, dann Millionen Barrel täglich aus. Insge­ gilt diese Feststellung erst recht. Die samt geht die IEA davon aus, dass USA sind seit Mitte 2013 der größte Nordamerika am Energieproduzent weltweit. Beim Ende dieser Deka­ Die USA entwickeln Erdgas könnten sie sogar zum Netto­ de unabhängig von sich zum Selbstversorger exporteur werden. So sanken die ame­ Energieimporten rikanischen Erdgasimporte zwischen sein wird. Infolge bei Energie 2008 und 2013 um nahezu 40 Pro­ der Schieferrevolu­ zent, die Importe von verflüssigtem tion hat sich die Energiesicherheit der Gas (LNG) schrumpften gar auf ein USA also deutlich verbessert. Durch Zehntel des damaligen Volumens.1 den Zugang zu heimischer und bezahl­ Die Internationale Energieagentur barer Energie sind die USA auch weni­ (IEA) geht in ihrem aktuellen World ger anfällig für Preisschwankungen Energy Outlook davon aus, dass die auf den Energiemärkten. Förderung von Erdgas in den USA Trotzdem bleibt die Golf-Region wie im gesamten NAFTA-Raum bis für die globale Öl- und LNG-Versor­ 2035 kontinuierlich um 1,1 Prozent gung und mittelbar auch für die US- jähr­lich steigen wird. Der Erdgas- Wirtschaft von strategischer Bedeu­ Boom soll Jahrzehnte andauern. tung. Die USA werden auch in Zu­ Zwar sind auch beim Erdöl und kunft bedeutende Mengen an Öl vom den Kondensaten sinkende Importab­ globalen Markt beziehen. Der Mittlere hängigkeiten zu verzeichnen, nämlich Osten bleibt wiederum das Rückgrat von 60 Prozent 2005 auf 40 Prozent der weltweiten Energieversorgung, 2012. Prognosen zufolge wird der denn er verfügt über die größten Öl- Schieferöl-Boom nach einer Dekade und Gasvorkommen mit den niedrigs­ aber langsam abflauen.2 ten Förderkosten. Die Ölproduzenten Die Öl- und Gas­importe aus der am Golf sind die „Swing Supplier“, Golf-Region haben bereits vor der die Lieferausfälle aus anderen Län­ Schieferrevolution nur einen Bruch­ dern mit ihren freien Förderkapazitä­ teil der gesamten Versorgung der USA ten kompensieren können. Im Um­ ausgemacht. Denn Washington war kehrschluss aber heißt das, dass ein schon immer bestrebt, die Importab­ Ausfall der Exporte vom Golf auch in hängigkeit von der Golf-Region zu Zeiten der Schieferrevolution kaum ­reduzieren. Mit einem Anteil von aufzufangen wäre. 13 Prozent an den Gesamtimporten Die strategische Bedeutung der Öl­ der USA ist Saudi-Arabien nach Kana­ förderländer des Mittleren Ostens da zweitgrößter Lieferant von Rohöl zeigt sich auch mit Blick auf den Irak.

1 BP: Statistical Review of World Energy 2014, London, Juni 2014, S. 30. 2 Vgl. Adam Sieminski: Outlook for U.S. shale oil and gas, Presentation at the IAEE/AEA ­Meeting 4.1.2014, Philadelphia, http://www.eia.gov/pressroom/presentations/siemin­ ski_01042014.pdf.

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Noch 2012 ging die IEA in ihrem rikanischen Iran-Diplomatie­ entge­ World Energy Outlook davon aus, genzuwirken. dass der Irak gemeinsam mit nicht­ Die militärische Präsenz ist ein konventionellen Quellen aus anderen wichtiger Indikator für das außen- Regionen das künftige weltweite und sicherheitspolitische Engagement Nachfragewachs­ der USA am Golf. Noch 2003, nach Gegen Risiken wie die tum decken würde. dem Einmarsch­ in den Irak, standen Entwicklung im Irak sind Die optimistische mehr als 120 000 US-Soldaten in dem Erwartung der Land sowie weitere 25 000 US-Solda­ die USA nicht immun IEA, dass der Irak ten in Kuwait. Im gleichen Jahr zogen seine Ölförderung die USA ihre Truppen aus Saudi- von 3,3 Millionen Barrel auf sukzessi­ Arabien weitgehend ab. Ende 2011 ve sechs Millionen Barrel pro Tag bis verließen ihre Truppen dann auch 20203 steigern könnte, erwies sich al­ den Irak. Der Rückzug aus Saudi- lerdings als illusorisch. Der Vormarsch Arabien und dem Irak wurde begleitet der IS-Milizen ist schon heute ein durch den Ausbau der Präsenz in großes Risiko, aber vor allem langfris­ Katar, Kuwait­ und Bahrain. tig können die Folgen im Irak für den Ungeachtet dieser großen Schwan­ Ölmarkt gravierend sein. Gegen all kungen war der „amerikanische Fuß­ diese Entwicklungen sind die USA abdruck“ in den sechs Mitgliedstaa­ nicht immun. ten des Golf-Kooperationsrats (GCC) 2013 deutlich größer als vor dem Militärische Präsenz am Golf Irak-Krieg: 2001 stationierten die Amerika macht keine Anstalten, sich USA noch etwa 14 000 Soldaten auf strategisch und politisch aus der Re­ dem Territorium dieser Staaten; 2013 gion zurückzuziehen. Neben der waren es mehr als 26 000.4 Insgesamt energiepolitischen Bedeutung des verfügen die USA am oder unmittel­ Persischen Golfes spielen sicherheits­ bar um den Persischen Golf über etwa politische Interessen eine wesentliche 35 000 US-Soldaten.5 Das militäri­ Rolle. So hat die Obama-Regierung in sche Dispositiv Amerikas schließt den vergangenen Jahren verstärkt di­ moderne Fähigkeiten der Armee, Ma­ plomatisches Kapital am Golf bzw. im rine und Luftwaffe ein sowie Ausrüs­ Mittleren Osten im Zusammenhang tung und Installationen im Bereich mit dem iranischen Atomprogramm der Raketenabwehr. Die maritime investiert. Außenminister John Kerry Präsenz Amerikas in der Golf-Region und Verteidigungsminister­ Chuck ist von großer Bedeutung für die Hagel signalisieren seit 2013 sogar ­Sicherung der Straße von Hormus. ein verstärktes­ Engagement in die Sie umfasst in der Regel um die Region, um der Verunsicherung bei 40 Schiffe, darunter mindestens den Golf­-Staaten angesichts der ame­ einen Flugzeugträgerverband.

3 Meghan L. O’Sullivan: Future of Oil Hangs on Iraqi Politics, Bloomberg View, 9.7.2014. 4 IISS (Hrsg.): The Military Balance 2002 und The Military Balance 2014, London. 5 U.S. Department of Defense: IISS Manama Dialogue: Speech Delivered by Secretary of Defense Chuck Hagel, Manama, Bahrain, 7.12.2013.

104 IP • September / Oktober 2014 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Es ist nicht vorherzusehen, ob ferrevolution die Position Amerikas Amerika macht und inwiefern sich das sicherheitspo­ und schafft auch außenpolitisch neue keine Anstalten, sich strategisch litische Engagement der USA am Per­ Handlungsoptionen jenseits des Mili­ und politisch aus sischen Golf verändern wird. Weil die tärischen. Während die USA wirt­ der Region­ zurück- Abhängigkeit Europas und Asiens schaftlich von den Veränderungen zuziehen: der Flugzeugträger von den Energiequellen am Golf im der Energiemärkte profitieren, gelten USS Enterprise Verhältnis zu den USA steigt, ist die Hauptproduzenten von konventi­ im Suez-Kanal, auf davon auszugehen, dass Washington onellem Öl und Gas – die OPEC- dem Weg zum Golf bei der Sicherung der Seewege von Staaten und Russland – als Verlierer. und zur Golf-Region mehr Lastentei­ Ihre Marktanteile können sinken, so­ lung erwarten wird. Zwar hält sich dass diese Staaten ihre Energieres­ die US-Regierung bislang mit öffentli­ sourcen nicht mehr so stark wie bis­ chen Forderungen zurück. Dennoch her für außenpolitische Zwecke inst­ mehren sich Stimmen im Kongress, in rumentalisieren können.6 In dieser den Medien und aus den Think Konstellation gewinnt „economic sta­ Tanks, die angesichts des Wandels tecraft“, also der Einsatz wirtschaftli­ auf den Energiemärkten eine breitere cher Instrumente für außenpolitische Verteilung der Kosten und Risiken Ziele, aus Sicht Washingtons an Be­ fordern, die mit der Sicherung der deutung. Die Umsetzung der interna­ Handelswege verbunden sind. tionalen Sanktionen­ gegen den Iran Aus Sicht der US-Administration wird in diesem Zusammenhang von sowie vieler Abgeordneter und Sena­ unabhängigen Kommentatoren wie toren des Kongresses stärkt die Schie­ von US-Regierungsvertretern als bei­

6 David Hastings Dunn und Mark J.L. McClelland: Shale gas and the revival of American power: debunking decline?, International Affairs 6/2013, S.1411–1428, S. 1412, 1418 und 1421.

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spielhaft angeführt. Das Argument Die Erwartungen der USA werden lautet, dass die steigende Ölprodukti­ sich daher in Zukunft verstärkt an die on in den USA der Sorge vor höheren EU richten. Diese hat im Juni 2014 internationalen Preisen entgegenge­ erstmals eine Gemeinsame Maritime wirkt und so den Aufbau einer inter­ Sicherheitsstrategie verabschiedet, die nationalen Sanktionskoalition gegen die Bedeutung der maritimen Sicher­ den Iran ermöglicht oder zumindest heit für die Energieversorgung Euro­ erleichtert habe.7 pas unterstreicht und den Schutz der internationalen Seewege als Kerninte­ Erwartungen an die Europäer resse identifiziert. Diese Strategie soll Nicht alle Experten stimmen diesen bis Ende 2014 mit konkreten Maß­ geopolitischen Argumenten zu. Sie nahmen untermauert werden. Für verweisen auf erhebliche Unwägbar­ eine exponiertere europäische Rolle keiten hinsichtlich der Wirtschaftlich­ am Persischen Golf böten sich u.a. keit und Nachhaltigkeit des amerika­ Hilfe beim Aufbau maritimer Kapazi­ nischen Öl- bzw. Gas-Booms sowie täten der arabischen Golf-Staaten (z.B. des Umfangs künftiger Exporte. Küstenwache und Minenräumung) Trotzdem gewinnt „economic state­ an. Aber auch energiepolitisch sollten craft“ in den USA an politischer At­ sich Deutschland und die EU der traktivität. Die Schieferrevolution neuen Situation stellen und die inter­ könnte dazu beitragen, dass sich die nationale Kooperation zum Ein­hegen Gewichtung im amerikanischen Inst­ von Energiekrisen neu ausgestalten. rumentenmix am Persischen Golf ver­ ändert. Darüber hinaus ist davon aus­ Dr. Marco Overhaus zugehen, dass die USA in Zukunft ist wissenschaftlicher von ihren Partnern mehr sicherheits­ Mitarbeiter in der For- politische und militärische Lastentei­ schungsgruppe Amerika der Stiftung Wissen- lung am Golf einfordern werden. Be­ schaft und Politik (SWP) reits heute lenkt Amerika sein sicher­ in Berlin. heits- und verteidigungspolitisches­ Engagement verstärkt auf den Ausbau der Fähigkeiten von regionalen Part­ nern. Angesichts der Konflikte inner­ Dr. Kirsten Westphal halb des Golf-Kooperationsrats blei­ ist wissenschaftliche ben die Ergebnisse solcher Bemühun­ Mitarbeiterin in der For- gen bislang jedoch eher bescheiden. schungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wis- Aus Sicht Washingtons erscheint senschaft und Politik zudem eine exponiertere sicherheits­ (SWP) in Berlin. politische Rolle Chinas am Golf nicht wünschenswert.

7 Daniel Yergin: Unconventional Oil and Gas Revolution in US „Goes beyond Energy Itself“. Testimony before US House Energy and Commerce Subcommittee on Energy and Power, IHS Pressroom, 5.2.2013; Tom Donilon: Energy and American Power. Farewell to Declinism, Foreign Affairs (Snapshot), 15.6.2013.

106 IP • September / Oktober 2014 Stabile Fragilität

Stabile Fragilität Für mehr Realismus in der internationalen Konfliktbearbeitung

Philipp Rotmann | Nach Afghanistan muss sich nicht nur Deutschland be- scheidenere Ziele für künftige Interventionen setzen. Frieden und Demo- kratie sind wichtig. Doch verantwortlich handeln heißt, keine überhöhten Erwartungen zu wecken, sondern mit klarer Analyse, langem Atem und den richtigen Mitteln eine rudimentäre Stabilität herzustellen. Das kostet Geld.

Wenn Ende 2014 der letzte deutsche ren“ („fixing failed states“), ist am ISAF-Soldat in Kabul oder Mazar-e- Ende – nicht nur in Deutschland. Sharif ins Flugzeug steigt, geht eine Diese Erkenntnis ist richtig, aber Ära zu Ende – unabhängig davon, ob unzureichend. Der Zusammenbruch es eine Folgemission geben wird oder politischer Ordnungen, der Ausbruch nicht. Die Katerstimmung hat längst von Bürgerkriegen, ethnisch oder reli- eingesetzt, auch wenn die dringend giös motivierte Massaker und Vertrei- notwendige Debatte über Fehler und bungen gehören zu den drängendsten Lehren aus dem internationalen Af- außen- und sicherheitspolitischen­ ghanistan-Engagement seit 2001 erst ­Herausforderungen, nicht erst seit langsam ins Rollen kommt. Die ge- dem jüngsten Ruf nach mehr deut- meinsame Arbeitshypothese der deut- scher Verantwortung. Immer wieder schen Politik ist klar: Nie wieder! Von stehen verschämte militärische Beiträ- der Libyen-Enthaltung 2011 bis zu der ge im Mittelpunkt, weil die Diskussi- absurden Debatte über ein Sanitäts- on über politische Stabilisierungskon- flugzeug für die Zentralafrikanische zepte fehlt. Dass Stabilisierung immer Republik 2014 bestimmt diese Inter- im internationalen Verbund erfolgen ventionsmüdigkeit die außen- und si- muss, entlässt die deutsche Außen­ cherheitspolitische Entscheidungsfin- politik nicht aus der Pflicht, sich eige- dung.1 Die naive Arroganz der Vor- ne Gedanken zu machen – gerade stellung, „kaputte Staaten zu reparie- über eine politische Strategie. Denn

1 Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen schlug im Januar 2014 u.a. die Entsendung eines Lazarettflugzeugs der Bundeswehr als Teil eines EU-Einsatzes in der Zentralafrikanischen Repu- blik vor. Aufgrund erheblicher innenpolitischer Widerstände wurden letztlich zwei geleaste Antonow-Transportflugzeuge als deutscher Beitrag zugesagt.

IP • September / Oktober 2014 107 Sicherheitspolitik

nur diese kann den Einsatz militäri- diskreditiert, doch die pseudorealisti- scher oder ziviler Mittel verantwort- sche Alternative wiedererstarkender lich begründen. Geostrategen ist ebenso weltfremd: Zu Recht fragte Bundespräsident Staatsversagen ruft nicht zuallererst Joachim Gauck auf der Münchner Terrorismus hervor, und diesem ist ­Sicherheitskonferenz: „Tun wir, was mit Kampfdrohnen und der Aufrüs- wir könnten, um unsere Nachbar- tung repressiver Sicherheits­apparate schaft zu stabilisieren, im Osten wie sicher nicht nachhaltig beizukommen. in Afrika? … Engagieren wir uns schon ausreichend dort, wo die Bun- „Fragilität“ herrscht überall desrepublik eigens Kompetenz entwi- Notwendig ist deshalb ein verantwort- ckelt hat – nämlich bei der Prävention licher Ansatz zum Umgang mit der von Konflikten?“ Im Extremfall dürfe Wirklichkeit sicherheitspolitischer dies im Sinne der Schutzverantwor- Krisen. Unabhängig vom jeweiligen tung auch ein militärisches Eingreifen Anlass für ein internationales Enga- zum Schutz von gement – ob es darum geht, einen Hauptkriterien sind das Menschen vor Völ- brüchigen Waffenstillstand abzusi- Gewaltmonopol, soziale kermord, Kriegs- chern oder massenhafte Gräueltaten verbrechen, ethni- zu verhindern – besteht eine grundle- Leistungen, Legitimität schen Säuberun- gende Herausforderung in der analyti- gen und Verbre- schen Einordnung dessen, wie Politik chen gegen die Menschheit nicht und Gewalt vor Ort in Mali oder im ausschließen. In der Öffentlichkeit Irak eigentlich zu verstehen sind. Das bleibt Überzeugungsarbeit zu leisten: ist natürlich überall anders und nur Nur eine knappe Minderheit der Be- aus der lokalen Geschichte zu verste- völkerung (46 Prozent) wünscht sich hen. Der Begriff der „Fragilität“ hat ein stärkeres deutsches Engagement; sich dennoch durchgesetzt, um das zu zumindest bei den Unter-30-Jährigen bezeichnen, was „Krisenländer“ von ist es eine deutliche Mehrheit (57 Pro- „normal funktionierenden“ Ländern zent). Höhere Beiträge zu UN-Frie- unterscheidet. denstruppen, Logistik, Diplomatie Fragilität ist allerdings nach den und humanitärer Hilfe genießen brei- gängigen Definitionen der OECD wie te Akzeptanz bei den Befürwortern; auch der Bundesregierung schon dann nur Kampfeinsätze stoßen auf grund- gegeben, wenn nur einer der drei sätzliche Skepsis (18 Prozent).2 Kern­aspekte moderner westlicher Wie soll dieses Engagement also Staatlichkeit erheblich schwächelt: das aussehen? Die naive Vorstellung des Gewaltmonopol, die Legitimität oder technokratischen Staatsaufbaus ist die sozialen Basisdienstleistungen.3

2 Forsa-Umfrage, IP März/April 2014, S. 5; ähnliche Ergebnisse erbrachte auch die detailliertere Umfrage der Körber-Stiftung im April/Mai 2014, siehe http://www.koerber-stiftung.de/internati- onale-politik/sonderthemen/umfrage-aussenpolitik.html 3 Auswärtiges Amt, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten: Ressortübergreifende Leitlinien, September 2012; OECD: Conflict and Fragility. Do No Harm – International Support for Statebuilding, Paris 2010.

108 IP • September / Oktober 2014 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Da liegt das Problem, denn das ist kei- recht stabil und widerstandsfähig. Eine grundlegende neswegs selten: Staatliche Institutio- Staatliche Institutionen sind hinrei- Herausforderung ist die analytische nen sind in Entwicklungsländern fast chend handlungsfähig, um nach Einordnung dessen, immer schwach, auch wenn die Si- außen ein Mindestmaß an Verant- wie Politik und cherheitskräfte oft zu stark scheinen. wortung im internationalen System Gewalt in Krisen- staaten eigentlich Wirtschaftliche Schwäche und Kor- wahrzunehmen – bis hin zu erhebli- zu verstehen sind: ruption gehen auf Kosten öffentlicher chen Beiträgen zur globalen Ordnung indischer Blauhelm- Bildungs- oder Gesundheitsleistungen.­ im Rahmen der Friedensmissionen soldat in Kiwanja, Kongo Organisierte Gewalt unterhalb der der Vereinten Nationen und der Afri- Kriegsschwelle ist in der Mehrzahl kanischen Union, wie sie Indien, der Staaten der Welt an der Tagesord- Bangladesch oder Ruanda leisten. nung, und zwar häufig seit vielen Was von Deutschland aus fremd Jahren. oder „fragil“ erscheint, ist für einen Indien und Pakistan, Mexiko, Ni- Großteil der Welt die Normalität. Auf geria oder Angola sind Beispiele Grundlage dieser Definitionen ver- dafür, was den Großteil so genannter liert der Begriff der Fragilität jede „fragiler Staaten“ ausmacht: eine Trennschärfe und führt als Richt- leidlich stabile politische Ordnung, schnur für den Umgang mit akuten die trotz eines hohen Gewaltniveaus Krisen und Kriegen in die Irre. Von und häufiger Schocks, z.B. durch Ter- der Frage der Prävention einmal abge- roranschläge oder regionale Erfolge sehen, ertönt der Ruf nach politi- von Aufständischen, nicht zusam- schem oder gar militärischem Eingrei- menbricht. Politische Prozesse regeln fen zu Recht nicht dann, wenn ein Konflikte, Gewalt ist dabei ein übli- Land in einem Aspekt moderner ches Mittel unter vielen. Diese Me- Staatlichkeit schwächelt, sondern chanismen sind bei aller „Fragilität“ erst, wenn die politischen Mechanis-

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men zur Aushandlung strittiger Fra- Auch in anderen Ländern wurden gen versagen und die fragile Machtba- diese Fragen bereits diskutiert, und lance zerbricht. Das ist in akuten man versucht aus den oft schmerzli- Krisen der Fall, wie sie heute im chen Erfahrungen der vergangenen Südsudan, im Irak, in Syrien, in der Jahrzehnte zu lernen. Briten und Ame- Demokratischen Republik Kongo, in rikaner, Niederländer und Kanadier Somalia, in der Zentralafrikanischen argumentieren heute viel realistischer. Republik, in Afghanistan und anders- Nicht umfassender Staatsaufbau ist die wo bestehen. Aufgabe einer Krisenintervention, sondern leidliche Stabilisierung: die Schnelles, sichtbares Engagement Unterstützung lokaler Kräfte bei der Dort ist der Staat nicht als repräsenta- Bewältigung des akuten Ausnahmezu- tiv anerkannt, sondern ständig und stands extremer politischer Volatilität gewaltsam umstritten. Regierungen und kriegerischer Gewalt – mit allen sind brüchige Herrschafts- und Ver- angemessenen und notwendigen Mit- sorgungsapparate, denen es nicht nur teln, das heißt nach Bedarf zivil, poli- an Effektivität mangelt, sondern vor zeilich und militärisch, als Teil einer allem an Ausgleich: Viele Beteiligte politischen Strategie. nutzen staatliche Macht nur zum ei- Das mittelfristige Ziel ist nicht das genen Vorteil bzw. Ideal von Frieden, Wohlstand oder Amerikaner, Briten und für die eigene ­Demokratie, sondern ein stabiles Ni- Kanadier argumentieren Gruppe. Unter die- veau von Fragilität, wie in Ghana oder sen Bedingungen Bangladesch. Diese Definition von heute viel realistischer sind die klassi- Stabilisierung mag anspruchslos klin- schen Instrumente gen, doch auch Frieden, Menschen- der zwischenstaatlichen und multila- rechten und Demokratie ist mit ver- teralen Zusammenarbeit überfordert. antwortlichen, plausiblen und nach- Ihnen fehlt der lokale Partner: ein haltigen Schritten mehr gedient als Regierungs- und Verwaltungsapparat, mit unerfüllbaren Erwartungen. der halbwegs funktioniert – bei der Erbringung von Leistungen wie der Es bleibt eine Risikoinvestition Herstellung politischer Legitimität. Bei diesem Verständnis von Stabilisie- Erfährt eine solche Krise inter­ rung geht es nicht in erster Linie um nationale Aufmerksamkeit – meist den Bau von Polizeistationen oder die durch eine akute Zuspitzung der mili- Ausbildung von Fachleuten nach all- tärischen oder humanitären Lage wie gemeingültigen Prinzipien, sondern im August der Vormarsch der IS- um einen sensiblen politischen Pro- Kämpfer und drohende Massaker an zess. Das erfordert aktive und verant- Jesiden im Irak – dann entsteht plötz- wortliche Führung und die Entwick- lich Handlungsdruck. Um eine Eska- lung eines detaillierten Verständnisses lation zu vermeiden, ist ein schneller der vielschichtigen Konflikte. Der Einstieg in ein sichtbares Engagement Eingriff in eine gewaltgeprägte Dyna- notwendig. Kluge, bescheidene Kom- mik in einem fremden Kontext ist für munikation muss gleichzeitig die Er- alle Beteiligten – die lokale Bevölke- wartungen lokaler Akteure dämpfen. rung und ihre Eliten, aber auch für

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die internationalen Interventen – mit kermord. Kosten, Risiko und Dauer hohen Risiken verbunden. Das gilt eines solchen Eingreifens und die umso mehr, als es immer noch wenig damit verbundene Mitverantwortung gesicherte wissenschaftliche Erkennt- machen die Entscheidung nicht leicht. nisse gibt, die der Praxis eine klare Doch leider gibt es immer wieder Situ- Richtschnur an die Hand geben. ationen, in denen sie notwendig wird. Jedes Stabilisierungsengagement Dafür muss inten- ist deshalb eine Risikoinvestition. Die siv vorgesorgt wer- Kosten und Risiken sind Gefahr des Scheiterns ist groß, auf den – und zwar hoch, und es gibt keine der Ebene einzelner Maßnahmen oft nicht isoliert, son- noch größer als die Wahrscheinlich- dern als Teil des Standardlösungen keit des Erfolgs. Dieses Risiko ist nur umfassenden Inst- teilweise wirksam zu steuern: Gar rumentariums der Konfliktbearbei- nicht zu intervenieren vermeidet die tung und Friedensförderung im euro- Kosten der Stabilisierung, nicht aber päischen wie globalen Rahmen. die menschlichen und politischen Fol- gen der befürchteten Eskalation. Institutionalisieren und investieren Symbolische Beiträge, wie Deutsch- Welche Mittel jeweils notwendig und lands Engagement im Südsudan 2011 angemessen sind, hängt von der ein- bis 2013, kosten wenig und bringen zelnen Krise ab; Standardlösungen wenig, sind sicher keine Stabilisie- gibt es nicht. Diplomatie und Media­ rung, unterstreichen allerdings die tion, fachliche Beratung und Ausbil- eigene politische Mitverantwortung dung, Finanzierung und Bau von In­ für die weitere Lageentwicklung. Hö- frastruktur, polizeiliche und militäri- here Beiträge bergen höhere Risiken, sche Komponenten, kurz- und lang- schaffen aber erst die Chance für fristig wirkende Elemente müssen einen leidlichen Erfolg, wie in Bosni- ihre Funktion als Teile einer politi- en, Kosovo, Sierra Leone, Liberia oder schen Strategie erfüllen. Während die Timor-Leste.4 Vereinten Nationen seit 1956 an der Die Investition in ein Stabilisie- (oft schleppenden) Entwicklung ihrer rungsengagement ist dann zu verant- Stabilisierungsinstrumente arbeiten worten oder gar notwendig, wenn die und andere Akteure wie die USA, Folgen der Nichteinmischung als sehr Großbritannien und Frankreich auf schwerwiegend beurteilt werden und eigene Erfahrungen zurückblicken, wenn selbst ein leidlicher Erfolg wie hat Deutschland erst nach 1989 be- auf dem westlichen Balkan einen ver- gonnen, sich vorsichtig an internatio- gleichsweise hohen Gewinn ver- naler Friedensförderung und Kon- spricht: die Abwendung oder Beendi- fliktbewältigung zu beteiligen. gung einer jahrelang währenden In Deutschland wurden in den (Selbst-)Zerstörung ganzer Gesell- vergangenen zwei Jahrzehnten Schritt schaften oder die Verhinderung mas- für Schritt einige wichtige Werkzeuge senhafter Gräueltaten bis hin zu Völ- geschaffen. Etablierte Institutionen

4 Michael Doyle und Nicholas Sambanis: Making War and Building Peace: United Nations Peace Operations, Princeton University Press 2006.

IP • September / Oktober 2014 111 Sicherheitspolitik

der Entwicklungszusammenarbeit, wie dies in Großbritannien, den Nie- die Bundeswehr und die Polizeibehör- derlanden, Kanada und den Vereinig- den haben nicht nur erhebliche Bei- ten Staaten erfolgt ist. träge geleistet, sondern sich dadurch Das erfordert auch finanzielle und auch in teils erheblichem Maße ver- personelle Ressourcen: Stabilisierung ändert. Die jüngsten Bundeswehrre- ist teuer, um ein Vielfaches teurer als formen sind ebenso Ausdruck dieses die Pflege klassischer zwischenstaat­ Prozesses wie die Schaffung des Zen- licher Beziehungen. Schon mit der trums für Internationale Friedensein- symbolischen Entsendung einiger Po- sätze (ZIF) und die wachsenden Fä- lizeibeamter oder Stabsoffiziere in higkeiten von GIZ und KfW-Bank zur eine UN- oder EU-Mission wächst die Arbeit in fragilen Anzahl der Politikerbesuche sprung- Die Erwartungen steigen; Kontexten. Wäh- haft an. Sie alle müssen vorbereitet werden sie enttäuscht, rend das ZIF auf und betreut werden; Anfragen aus die Initia­tive der Parlament und Zivilgesellschaft bin- entsteht neuer Schaden ersten rot-grünen den erhebliche Ressourcen in den Koalition zurück- Ministerien. geht, sind die praktischen Entwick- Gleichzeitig wachsen die Erwar- lungen in der Bundeswehr und der tungen an den angemessenen Umfang Entwicklungszusammenarbeit vor eines deutschen Engagements vor allem den Erfahrungen in Afghanis- Ort. Kann der deutsche Beitrag einen tan geschuldet. echten Unterschied machen? Das ist Die politischen Beiträge des Aus- mit ein paar Beratern zur Kleinwaf- wärtigen Amtes wurden demgegen- fenkontrolle im Südsudan nicht un­ über immer nur einzelfallbezogen und bedingt gegeben. Demgegenüber ver- vorübergehend auf- und wieder abge- leiht das niederländische Paket aus baut. Im Auswärtigen Amt entstan- Feldnachrichtenkräften, Aufklärungs- den im Laufe der Jahre immer wieder drohnen, Spezialkräften und Kampf- neue Arbeits- und Sonderstäbe ebenso hubschraubern der UN-Mission MI- wie spezielle Haushaltstitel für den NUSMA Fähigkeiten, über die kaum westlichen Balkan, Nordafghanistan eine andere Friedensmission verfügt.5 und den Maghreb. Sie schaffen kurz- Ohne angemessene Investitionen in fristig mehr politische Analyse, kön- die politischen und zivilen Mittel sind nen politisch-militärische Einsätze deutsche Beteiligungen an Stabilisie- der UN und der EU aktiv mitgestalten rungsengagements letztlich unverant- und außerhalb der oft schwerfälligen wortlich – zu hoch ist der Schaden, Entwicklungshilfe erhebliche Finanz- der aus enttäuschten Erwartungen mittel einsetzen, um die Dynamiken entsteht. vor Ort zu beeinflussen. Diese Ad- Daraus darf aber nicht der Fehl- hoc-Lösungen füllen eine Lücke; sie schluss gezogen werden, dass nur gilt es auf Grundlage eigener und kurzfristige Maßnahmen oder Haus- fremder Erfahrungen weiterzuentwi- haltsmittel benötigt würden: Das Ge- ckeln und institutionell zu verankern, genteil ist der Fall. Dauerkrisen wie in

5 Colum Lynch: Dutch double down in Mali, ForeignPolicy.com, 30.11.2013.

112 IP • September / Oktober 2014 Stabile Fragilität

Afghanistan oder im Kongo bleiben wortlichen Umgang mit Stabilisie- über Jahre akut und erfordern eine rung gehört deshalb, die Unvollkom- Mischung aus kurz-, mittel- und lang- menheit der bestehenden Instrumen- fristigen Stabilisierungsinstrumenten. te anzuerkennen Entsprechende Mittel müssen von und jede Maßnah- Den größten Einfluss denen der zivilen Krisenprävention me so zu gestalten, haben lokale Eliten, nicht getrennt werden: Zu groß ist sonst die dass daraus ge- Versuchung, bei dringendem Stabili- lernt wird und die externe „Stabilisierer“ sierungsbedarf die Präventionsmittel gewonnenen Er- anzuzapfen. kenntnisse direkt in die Weiterent- All das sind Bausteine, keine Stan- wicklung einfließen. Das gilt im Übri- dardlösungen. Daraus sind in jedem gen auch für alle anderen Instrumen- Einzelfall abhängig von der jeweiligen te, die im Umgang mit fragilen Staa- Krise ein konkretes internationales ten zum Einsatz kommen und häufig Engagement und ein konkreter deut- noch nicht so konfliktsensibel und scher Beitrag zu gestalten. Der Begriff krisenpräventiv ausgelegt werden, der Stabilisierung darf dabei nicht zu wie dies notwendig wäre. erneutem Übermut verleiten: Es sind Der Ausbruch des Bürgerkriegs im nicht die externen „Stabilisierer“, die Südsudan im Dezember 2013 stimmt den größten Einfluss auf die Entwick- in dieser Hinsicht besonders nach- lungen vor Ort haben, sondern am denklich. Die Vereinten Nationen, ehesten lokale Eliten. Großbritannien und Norwegen, aber Außerdem muss die internatio­ auch Deutschland waren dort seit der nale Gemeinschaft vermeiden, sich Unabhängigkeit 2011 in hohem Maße selbst im Weg zu stehen. Die gemisch- engagiert – neben der Entwicklungs- te Bilanz der vergangenen Jahrzehnte zusammenarbeit vor allem bei der macht deutlich, wie leicht eine Inter- Ausstattung und Ausbildung von Po- vention selbst destabilisierend wirken lizei und Streitkräften. Erhebliche kann. Viele Eingriffe, die mit dem Summen flossen in die sichere Lage- Ziel der Stabilisierung vorgenommen rung von Kleinwaffen und die Liefe- wurden, waren kontraproduktiv: rung von Funkgeräten. Doch um die Dazu gehören zum Beispiel die tiefen Risse innerhalb der südsudane- Durchführung von Wahlen in Situa­ sischen Machteliten kümmerte sich tionen, in denen diese mehr Schaden niemand. als Nutzen gebracht haben, oder die erhebliche wirtschaftliche und soziale Philipp Rotmann Destabilisierung durch Lohn- und ist Associate Director Preisspiralen infolge internationaler beim Global Public Militär­interventionen. Policy Institute in Berlin. 2014 erschien u.a. seine Studie „Stabilisierung: Ein ständiger Lernprozess Begriffe, Strukturen und Stabilisierung wird auch in Zukunft Praxis im Vergleich.“ ein Lernprozess bleiben. Zum verant-

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Jenseits der Ukraine-Krise Fünf aktuelle Fragen, auf die die NATO Antworten finden muss

Karl-Heinz Kamp | Liegt die Zukunft der NATO in ihrer Vergangenheit? Das könnte man meinen, glauben doch nicht wenige zwischen Riga und Lissa- bon, dass sich das Bündnis wieder als Verteidigungsallianz und Beschützer der Bündnisgrenzen nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags begreifen sollte. Damit aber würde man einige zentrale Themen vernachlässigen.

Natürlich ist die Ukraine-Krise eines ­„Strategischen Konzept“ dargelegte der Hauptthemen des NATO-Gipfels 360-Grad-Perspektive bewahren. im walisischen Cardiff Anfang Sep- Dafür müssen die 28 Mitglieder tember, schließlich sind ihre Auswir- gemeinsame Positionen in mindestens kungen kaum zu unterschätzen. Ohne fünf Kernfragen finden, die von der Zweifel ist mit den Vorgängen in der Ukraine-Krise beeinflusst sind, aber Ukraine eine Neujustierung der Auf- weit darüber hinausgehen. gaben und Ziele der Allianz erforder- lich. Allerdings müssen auch Ent- Wie weiter mit Russland? wicklungen wie der Aufstieg Chinas, Das völkerrechtswidrige Handeln die Eruptionen in der arabischen Moskaus hat gerade nach dem Ab- Welt, die begrenzten Erfolge der Ope- schuss des malaysischen Zivilflug- rationen in Libyen und Afghanistan zeugs allseits zu mehr Realismus im oder die Umorientierung der USA von Umgang mit Russland geführt. Zu außenpolitischen zu innenpolitischen diesem Realismus gehört die Einsicht, Problemen in die Überlegungen einbe- dass man auch mit einem antiwestlich zogen werden. orientierten Moskau wird auskom- Die langfristige Aufgabe der men müssen. Russland ist Vetomacht NATO ist es deshalb, die begründeten im UN-Sicherheitsrat und ist Ver- Sorgen über die Großmachtambitio- handlungspartner, wenn es etwa um nen Russlands ebenso zu berück­ das Atomwaffenprogramm des Iran sichtigen wie die globalen Probleme geht. In der Arktis braucht man russi- des 21. Jahrhunderts. Statt sich nur sche Eisbrecher, sollte es zur Havarie auf mögliche Gefahren aus dem Osten eines Containerschiffs auf den nun zu konzentrieren, muss das Bündnis länger eisfreien Routen kommen. seine schon im derzeit gültigen Russisches Gas wird für viele Länder

114 IP • September / Oktober 2014 Jenseits der Ukraine-Krise

noch für lange Zeit unverzichtbar Russland zweitgrößte Land in Europa bleiben. mit gewaltigen Korruptionsproble- Hierbei ergeben sich vier grund- men, dysfunktionalen staatlichen sätzliche Optionen: eine Strategische Strukturen, ausgezehrter Wirtschaft, Partnerschaft, wie sie in der Vergan- ethnischen Konflikten und russischer genheit angestrebt wurde; eine nor- Präsenz auf eigenem Boden über- male Partnerschaft ohne privilegierte haupt in NATO (und EU) integriert Beziehungen; eine einfache Nachbar- werden? schaft oder gar eine Gegnerschaft. Die „Mitgliedschaftsfrage“ wird Eine Rückkehr zur Strategischen Part- noch dringlicher, weil in Schweden nerschaft scheint zumindest für die und Finnland mittlerweile sogar auf Regierungszeit von Präsident Wladi- Regierungsebene über einen NATO- mir Putin unmöglich: Ein Land, das Beitritt nachgedacht wird. Das ist Nachbarländer illegal besetzt, kann zwar grundsätzlich zu begrüßen, wirft keine privilegierten Beziehungen zu aber weitere Prob- einer demokratischen Institution wie leme auf. Der ame- Die Frage der NATO- der NATO haben. Stattdessen muss rikanische Kon- Erweiterung hat neuen sich das Bündnis auf eine der drei gress, der die Auf- übrigen Kategorien einigen. Keine nahme neuer Mit- Schwung bekommen schließt Kooperation grundsätzlich glieder ratifizieren aus, jede erfordert aber andere sicher- muss, hat in der Vergangenheit einen heitspolitische Maßnahmen. Verteidigungshaushalt von mindes- tens 2 Prozent des Bruttoinlandspro- Neue Mitglieder für das Bündnis? dukts von jedem Beitrittskandidaten Die zuletzt in den Hintergrund getre- gefordert. Schweden und Finnland tene Frage der NATO-Erweiterung müssten ihre Ausgaben entsprechend hat nun neuen Schwung bekommen. erhöhen. Gelänge ihnen dieser Kraft- Der Ukraine und Georgien hatte man akt, würde das den Druck auf alle 2008 die NATO-Mitgliedschaft im anderen Mitgliedstaaten nach größe- Grundsatz versprochen. Kiew legte ren Verteidigungsbudgets dramatisch 2010 seine Beitrittsambitionen von erhöhen. sich aus auf Eis und Georgien wurde nach dem russisch-georgischen Krieg Welche Folgen hat der amerika- von der NATO eher hingehalten. Tif- nische Schwenk nach Asien? lis wird künftig noch stärker in die Die 2012 erfolgte Ankündigung der NATO drängen, obgleich es nach wie Obama-Regierung, sich künftig stär- vor territoriale Streitigkeiten zwi- ker den Problemen in der asiatisch- schen Georgien und Russland gibt. pazifischen Region zuzuwenden, hat Allerdings dürfte die Ukraine ihre weitreichende Folgen für die euro-­ Entscheidung von 2010 alsbald revi- atlantischen Sicherheitsbeziehungen. dieren und auf die Zusage einer Mit- Es zeigt sich erneut, dass Europa von gliedschaft pochen. Damit muss sich der sicherheitspolitischen Stabilität das Bündnis der Kernfrage stellen, die des asiatisch-pazifischen Raumes pro- man bislang mit politischer Rhetorik fitiert (durch die Meerenge von Ma­ übertüncht hatte: Kann das nach lakka verlaufen 40 Prozent des globa-

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len Warenverkehrs), dass aber nur die litärischen Know-how des Bündnisses USA die militärischen und politischen profitieren. Kapazitäten haben, um als Ordnungs- Die Ukraine-Krise hat aber eine macht in der Region auftreten zu kön- weitere Frage aufgebracht, die lange nen. Da auch der amerikanische Ver- vermieden wurde: Soll aus einer teidigungshaushalt erheblich zusam- engen, formalen Partnerschaft mit mengestrichen wird, stellt sich die der NATO irgendeine Form der Si- Frage nach einer fairen Lastenteilung cherheitsverantwortung für die Part- mit aller Schärfe. nerstaaten erwachsen? Im Fall der Die NATO hat eine Debatte darü- Ukraine hat die NATO dies katego- ber bislang sorgsam vermieden; das risch abgelehnt und ein militärisches wird mit der Ukraine-Krise nicht län- Handeln mit der Begründung ausge- ger durchzuhalten sein. Europa er- schlossen, die Ukraine sein kein wartet von den USA als stärkstem ­NATO-Mitglied und unterliege damit Bündnispartner glaubwürdige Sicher- nicht der im NATO-Vertrag festgeleg- heitsversprechen gegenüber Russ- ten Solidaritätspflicht. Formal trifft lands imperialen das sicher zu, politisch ist die Lage Entsteht aus einer Träumen. Dazu komplizierter. Das Rahmendoku- formalen Partnerschaft werden die USA ment, das der Partnerschaft für den nur bereit sein, Frieden (PfP) zugrunde liegt und das die Pflicht zur Solidarität? wenn NATO-Eu- von allen PfP-Partnern unterzeichnet ropa nicht nur wurde, sieht enge Konsultationen mit wirtschaftlich weltweit agiert, son- der NATO vor, falls sich ein Partner- dern auch sicherheitspolitisch inter- staat bedroht fühlen sollte. Diese national mehr Verantwortung über- ­Regelung wurde oft als verstecktes nimmt. Fehlen Europa die Mittel für Sicherheitsversprechen gesehen. eine weitreichende Machtprojektion In den späten neunziger Jahren etwa nach Asien, so muss es sich stär- drängten die drei baltischen Staaten ker seinen Nachbarregionen widmen, in die NATO – da man Moskau aber um damit amerikanische Kapazitäten nicht verschrecken wollte, argumen- für geografisch entfernter liegende Re- tierten prominente NATO-Vertreter, gionen frei zu machen. Geschieht das dass die Balten sich auch ohne for­ nicht, gefährdet man beides: sowohl male NATO-Zugehörigkeit der Soli- die Sicherheit in Europa als auch die darität des Bündnisses sicher sein Stabilität in Asien und anderswo. könnten. Durch enge Kooperation mit den Beitrittsaspiranten würde die Wie geht man mit den Partnern um? Grenze zwischen Mitglied- und Eine der großen Erfolgsgeschichten Nichtmitgliedschaft „papierdünn“, so der NATO ist die Zusammenarbeit die damalige US-Außenministerin mit einer Vielzahl von Partnerstaaten. Madeleine Albright. Dahinter stand Gerade im Afghanistan-Einsatz zeigt die Botschaft, dass die NATO nicht sich der beiderseitige Nutzen ganz tatenlos zusehen würde, wenn Est- praktisch: Die NATO erhält personel- land, Lettland oder Litauen von Russ- le und materielle Unterstützung von land bedroht werden. An diese unter- den Partnern, während diese vom mi- schwellige Unterstützung werden

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sich Partnerstaaten der NATO künf- erfolgreiches Eingreifen nicht auto- tig erinnern. matisch Sicherheit und Stabilität zur Folge hat. In Libyen wie auch in Af- Kann die NATO eine Rolle im ghanistan wurden mit gewaltigen ­Mittleren Osten spielen? Kosten (und Op- In der Vergangenheit hatte die NATO fern) nur begrenz- Interventionen werden der so genannten MENA-Region te Erfolge erzielt, unwahrscheinlicher, auch große Aufmerksamkeit gewidmet. was wiederum die Über ihre Partnerschaftsprogramme allgemeine Inter- wenn sie geboten wären „Mittelmeerdialog“ (MD) und „Istan- ventionsmüdigkeit buler Kooperations-Initiative“ (ICI) in vielen NATO-Ländern erklärt. arbeitete die Allianz mit rund einem Auch hat die Ukraine-Krise die Grä- Dutzend meist islamischer Staaten in ben zwischen dem „Westen“ und der Region zusammen, half bei der einem sich dezidiert antiwestlich ge- Ausbildung von Streitkräften und er- benden Russland vertieft. Es ist nur läuterte die Rolle des Militärs in de- schwer vorstellbar, dass Moskau noch mokratischen Gesellschaften. Darü- einmal im UN-Sicherheitsrat mit ber hinaus hat die NATO direktes einer Enthaltung faktisch für eine Krisenmanagement in der Region ge- NATO-Militäraktion in Nordafrika leistet, indem sie 2011 in Libyen mili- oder im Mittleren Osten stimmt. tärisch intervenierte und eine brutale Der kommende NATO-Gipfel Niederschlagung des Aufstands durch wird zwar wie bei solchen Großereig- das Gaddafi-Regime verhinderte. nissen üblich als historisch eingestuft Die jüngsten Entwicklungen wei- werden – so könnte man die politi- sen darauf hin, dass beide Formen des sche Richtung der Allianz bereits Engagements – die Zusammenarbeit jetzt einvernehmlich vorgeben. Ver- mit Staaten und die Intervention in mutlich ist er aber eher der Beginn humanitären Katastrophen – künftig einer neuen Kursbestimmung, die schwerer werden. Der Zerfall des Irak, sich über Monate oder gar Jahre er- der Niedergang Libyens, die Zersplitte- strecken wird. Verteidigung, Krisen- rung Syriens, die Errichtung von Kali- management und kooperative Sicher- faten oder die Dauerkrise in Ägypten heit durch Partnerschaften bleiben als deuten eine nachhaltige Erosion von Kernfunktionen der NATO gültig. Ihr Staatlichkeit an. Zerfallen Staaten und Verhältnis zueinander muss aber neu Regierungen, so verschwinden damit bestimmt werden. die Ansprechpartner, mit denen die NATO erfolgreich kooperieren kann. Die Auswirkungen auf MD und ICI Dr. Karl-Heinz Kamp dürften erheblich sein. ist Direktor für Weiter- Auch Interventionen werden entwicklung an der immer unwahrscheinlicher, selbst Bundesakademie für Sicherheitspolitik in wenn sie angesichts dramatischer ­Berlin. Der Autor gibt Menschenrechtsverletzungen geboten seine persönliche wären. Einerseits hat gerade das Bei- Meinung­ wieder. spiel Libyen gezeigt, dass auch ein

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Keine Sphinx an der Spree Was und wie die Bundeskanzlerin außen- und europapolitisch denkt

Andreas Rinke | Die Münchner Sicherheitskonferenz hat eine Debatte über die deutsche Außenpolitik ausgelöst. Trotz der viel diskutierten Reden von Joachim Gauck, Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen blieb offen: Was hält eigentlich die Kanzlerin in der Außen-, Europa- und Sicher- heitspolitik für richtig? Antworten sind gar nicht so schwer zu finden.

Dass Angela Merkel einen anderen Politikstil als andere Spitzenpolitiker pflegt, ist oft geschrieben und diskutiert worden. Die einen arbeiten sich an einem abwartenden, manchmal zögerlich wirkenden Kurs in der Innenpolitik ab. An- dere vermissen auch in der Außenpolitik – etwa bei der Schuldenkrise in der Euro-Zone – Führung, eine Vision, ein Gesamtkonzept, wohin Merkel mit ihrer Politik eigentlich will. Die Kanzlerin hielt stets dagegen, dass „auf Sicht fahren“, eine Politik der kleinen Schritte, angesichts der großen Ungewissheiten gerade in der Schul- denkrise das richtige Konzept sei. In der Europa-Politik gab sie als Richtschnur deshalb die relativ allgemein klingende Losung „Solidität und Solidarität“ aus; daran müsse man jeden Schritt messen. Große programmatische Entwürfe des zukünftigen Kurses Europas oder des finalen Zieles der europäischen Integra- tion vermied sie dagegen. Der Grund: Ihrer Meinung nach mussten so viele strittige, kurzfristige Entscheidungen umgesetzt werden – von der Einrichtung des Euro-Rettungsschirms bis zur Verabschiedung des Fiskalpakts, von den Hilfsprogrammen bis zur Bankenunion –, dass Debatten etwa über den Ziel- punkt der europäischen Entwicklung nur abgelenkt hätten. Denn ein offener Schlagabtausch darüber hätte vor allem die tatsächlich großen Interessen­ gegensätze und Zielvorstellungen der 28 EU-Regierungen offenbart und wahr- scheinlich vertieft.

Skepsis gegenüber großen Reden Dazu kommt eine bei Merkel offenbar tiefsitzende­ Skepsis gegenüber großen Reden – womit sie das politische Gegenmodell zu US-Präsident Barack Obama ist. Dessen internationales Image wurde vor allem durch seine Ankündigungen und Versprechen geprägt: einer neuen amerikanischen, moralischeren Außen-

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politik, eines Aufbruchs in eine neue Ära im Nahen Osten und Nordafrika. Merkel war dieser Stil gerade zu Beginn von Obamas Amtszeit offen suspekt. Im Unionslager wird die Kritik an den fehlenden großen europa- oder außen­ politischen Reden deshalb auch seit Jahren süffisant mit dem Hinweis auf die vielen nicht gehaltenen Versprechen Obamas gekontert. Verfolgt man Merkels Äußerungen der vergangenen Jahre, lässt sich den- noch deutlich erkennen, dass sie sowohl in der Europa- als auch Außenpolitik durchaus klare Positionen bezogen hat. Nur gibt es zwei eklatante Unterschie- de: Erstens bleiben diese offenbar unterhalb der Wahrnehmungsschwelle vie- ler Medien; fast wirkt es so, als ob es Merkel manchmal sogar darauf anlege. Zweitens wird ihr außenpolitischer Diskurs oft gar nicht als solcher erkannt, weil er ganz andere Inhalte als die üblichen Debatten etwa der Sicherheits­ politiker hat.

Spielräume statt Visionen So hat Merkel beispielweise am 7. Februar 2012 vor der Bela Foundation in Berlin ziemlich deutlich ihre Zukunftsvision einer EU skizziert, über die es ihrer Meinung nach noch viel Streit geben werde: „über eine Europäische Union mit einer Kommission, die mit den Kompetenzen, die wir als National- staaten abgeben, als europäische Regierung fungiert, mit einem starken Euro- päischen Parlament – das im Zuge der europäischen Integration schon immer stärker geworden ist –, mit einem Rat der Staats- und Regierungschefs als zweiter Kammer und mit einem Europäischen Gerichtshof als oberster europä- ischer Instanz, der wir uns dann auch fügen müssen“. Zwei Monate später wiederholte sie diese Vorstellungen einer europäischen Regierung vor Studenten in Prag und verwies auf die zwangsläufige Entwick- lung, dass die Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen vergemeinschaften würden. Das klingt ähnlich integrationistisch wie etwa die Entwürfe Ursula von der Leyens oder Wolfgang Schäubles Die Bundeskanzlerin für ein föderales Europa – nur dass sich Merkel als Regie- geht mit Bekenntnissen rungschefin politisch Spielraum erhalten will und schon deshalb mit solchen Bekenntnissen sparsam umgeht. Denn absichtlich sparsam um sie hat die Erfahrung gemacht, dass gerade sie als Chefin des größten Mitgliedstaats die EU mit zusammenhalten muss – inklusive eines immer europakritischeren Großbritanniens. Eine große Europa-Rede mit Fest- legungen würde ihr vielleicht kurzfristig Lob von Seiten der Integrationisten einbringen, aber ihren politischen Spielraum verringern. Außerdem ist im Merkel-Lager nach bald neun Jahren Regierungserfahrung der Eindruck gereift, dass die europäischen Integrationsbekenntnisse gerade französischer Politiker meist nur Fassade sind: Integration sei in Paris – partei- übergreifend – nur in dem Rahmen gewünscht, in dem finanzielle Risiken auf EU-Partner abgewälzt werden könnten, heißt es. Ansonsten blockiere Paris immer wieder weitreichende Kompetenzübertragungen auf die EU-Ebene und verhindere auch die dafür nötigen Änderungen des EU-Vertrags. Warum sich also dann nicht lieber gleich auf das jeweils Machbare konzentrieren, statt

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Grundsatzdebatten zu führen, lautet die Schlussfolgerung. Deshalb hält sich Merkel mit großen EU-Entwürfen zurück und geht offenbar lieber das Risiko ein, sich vorwerfen zu lassen, sie erkläre ihre Politik nicht ausreichend. In der außenpolitischen Debatte ist dies ähnlich. Auch hier hat Merkel den Eindruck, dass sich viele Regierungen mit der Entwicklung zu einer multipola- ren Welt momentan auf „Neuland“ vorwagen – mit ungewissem Ausgang, was allzu große Zukunftsentwürfe verbietet. Dazu kommt auch hier das Gefühl, dass sie ihren eigenen Gestaltungsspielraum als Kanzlerin Das Fehlen einer großen einengte, wenn sie zu deutlich würde: nach außen, weil Rede heißt nicht Mangel Merkel erkennbar der Meinung ist, dass eine Exportnation wie Deutschland anders zwischen Weltmächten lavieren an politischen Positionen muss als andere; nach innen, weil es – wie in der Europapo- litik – eine klar empfundene Diskrepanz zwischen Notwen- digkeiten und Mehrheitsstimmungen gerade in Deutschland gibt. Wie brisant Debatten in einer vor allem innenpolitisch denkenden deutschen Öffentlich- keit sind, hat schon der frühere Bundespräsident Horst Köhler zu spüren be- kommen, als er über deutsche Interessen sprach – und auch Joachim Gauck, der sich für seine Äußerungen zur Bundeswehr nun von ostdeutschen Pfarrern Verrat an pazifistischen Ideen vorwerfen lassen muss.

Vermeidung des Eindrucks von Konkurrenzsituationen Hinzu kommt das schwierige Rollenspiel in einer Mediengesellschaft, die Po- litik immer stärker personalisiert – und permanent vermeintliche Profilierun- gen auf Kosten anderer oder aber Absprachen unter den Hauptakteuren er- kennen will. Zudem könnte das Verhältnis zwischen Kanzlerin und Außenmi- nister Schaden nehmen, wenn Merkel plötzlich häufiger außenpolitische Ori- entierungsreden halten würde. Schon die rot-grüne Regierung war von der „Koch-und-Kellner“-Debatte zwischen dem damaligen Kanzler Gerhard Schrö- der und Außenminister Joschka Fischer überschattet. Da Merkel gerade in Krisenzeiten überragendes Interesse an einer sehr engen Abstimmung mit Steinmeier, aber durchaus auch mit Gauck hat, vermeidet sie jeden Eindruck einer Konkurrenzsituation. Aber auch hier gilt: Das Fehlen der einen großen Rede darf nicht als Fehlen von Positionen gedeutet werden. Man muss nur genauer hinhören. Wie Merkel denkt, wurde etwa zuletzt bei ihrem Auftritt vor der Bundespressekonferenz am 18. Juli 2014 deutlich. Damals sagte sie mit Bezug auf die außenpolitische Debatte: „Ich glaube, wenn man sich die Entwicklung der außenpolitischen Aktivitäten der Bundesrepublik Deutschland seit 1990 anschaut, dann sieht man einen sowieso ansteigenden Weg von Engagement in vielen Krisenherden. Das heißt, das ist jetzt keine neue Diskussion, aber sie muss auch immer wie- der geführt werden.“ Nur sieht sich Merkel offensichtlich weniger in der Rolle derjenigen, die akademische Debatten führen sollten, sondern als diejenige, die Außenpolitik praktisch umsetzt. Vor allem die westliche Öffentlichkeit misst Außenpolitik immer an der Entschiedenheit, das eigene Militär einsetzen zu wollen. Dass man sich in den

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vergangenen Jahren vor allem in den USA und Großbritannien so sehr an Eine Pazifistin Deutschland abgearbeitet hat, liegt auch an der Neigung, die Verlässlichkeit war und ist Angela Merkel­ nicht: und Entschlossenheit der Bundesrepublik genau daran zu messen. Phasen des die Bundeskanzlerin Engagements der Bundeswehr etwa im Kosovo oder in Afghanistan wurden beim Besuch des deshalb positiv vermerkt. Phasen des Nicht­engagements im Irak oder in Libyen Bundeswehr- Feldlagers im weckten gleich grundsätzliche Zweifel an der Zuverlässigkeit Deutschlands. afghanischen Kunduz, Mai 2013 Die zivile Kanzlerin Tatsächlich ist angesichts dieser Fixierung auf Militäreinsätze die Gefahr, Mer- kel misszuverstehen, mindestens so groß wie bei ihrem Vorgänger Schröder. Zwar hat die damalige CDU-Oppositionsführerin 2003 gegen Schröders „Nein“ zur amerikanischen Irak-Intervention Position bezogen und ist dafür in Wa- shington gefeiert worden. Aber von dieser Haltung ist die Kanzlerin elf Jahre später und mit Blick auf den ins Chaos abgestürzten Irak weit entfernt. Erkenn- bar haben die Fehlschläge der westlichen Interventions­politik der vergangenen Jahre ihre Spuren auch in ihrem Denken hinterlassen. Wenn Merkel heute spontan die deutsche Rolle in der internationalen Poli- tik beschreiben muss, dann klingt es so: „Diese Verantwortung ist eine politi- sche Verantwortung, ist eine entwicklungspolitische Verantwortung. Wir haben im Grunde am Beispiel des Afghanistan-Einsatzes auch dieses Miteinan- der von verschiedenen Ressorts eingeübt. Wir wissen inzwischen: Es gibt kei- nen einzigen Konflikt, der allein militärisch gelöst werden kann, sondern es bedarf einer politischen Initiative, die zum Teil dann auch militärische Kompo- nenten hat. Ich glaube, das Beispiel Afghanistan steht dafür“, hatte sie auf be- sagter Pressekonferenz betont und dann auch umgehend die übliche Kritik der NATO-Partner zurückgewiesen.

IP • September / Oktober 2014 121 Essay

„Wenn ich anschaue, welche Konflikte wir zurzeit haben und welches En- gagement Deutschland in diesem Zusammenhang aufbringt, dann würde ich sagen, dass wir entsprechend der Größe unseres Landes uns doch stark einbrin- gen. Wir gehören zu den größten Beitragszahlern bei den Vereinten Nationen. Wir legen auch immer viel Wert auf multilaterale Aktivitäten. Wir sind in vielen Einzelfällen als Bundesrepublik Deutschland engagiert, genauso in euro- päischen Projekten, denn die Europäische Sicherheits- und Außenpolitik muss ja auch gestärkt werden.“ Ein Widerspruch zu den Reden Gaucks ist das nicht, der ebenfalls ausdrück- lich ein militärisches Engagement nur als Ultima Ratio, als die letzte aller Opti- onen, bezeichnet. Nur haben beide unterschiedliche Rollen: Gauck will eine deutsche Gesellschaft aufrütteln, die seiner Meinung nach in Erwartungs-Management einen verantwortungslosen Pazifismus abzugleiten droht. ist für Merkel ein zen­- Seine Welt ist das Wort, weil er als Bundespräsident keine exekutive Macht hat. Merkel als Entscheiderin sucht dagegen trales Element von Politik den praktischen Ansatz: Wenn etwas gemacht werden soll, dann richtig. Deshalb sind die Auslandsmissionen, die Deutschland schon eingegangen ist, erfolgreich abzuschließen. Deshalb muss der Westen bei jeder neuen Entscheidung realistisch einschätzen, was er kann – und was nicht. Ohnehin hält Merkel das richtige „Erwartungs-Management“ für das zentrale Element einer glaubwürdigen Politik – und des eigenen Machterhalts.

Wieder in Mode: Militärische Zurückhaltung Die Kluft zu den USA, Frankreich und Großbritannien schließt sich derzeit, weil sich auch dort der Hang zu Militärinterventionen angesichts einer Mi- schung aus Finanznöten,­ Ernüchterung und nachlassendem politischen Willen abschwächt. Aber eine Pazifistin war und ist Merkel nicht. Nachdem US- Streitkräfte Osama Bin Laden getötet hatten, gratulierte die Kanzlerin den Amerikanern am 2. Mai 2011 und fügte ausdrücklich hinzu: „Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.“ Die vorsichtigen grundsätzlichen Äußerungen sind übrigens auch Ergebnis der langen Regierungserfahrung, dass bestimmte NATO- und EU-Partner gleich die ganze Hand ergreifen, wenn nur ein Finger gereicht wird. Das gilt sowohl für die in Berlin eigentlich schon seit Jahrzehnten misstrauisch beob- achtete französische Interventionsfreude in früheren afrikanischen Kolonien als auch für die ewige NATO-Debatte über nationale Verteidigungsausgaben. Frankreichs Präsident François Hollande bekam zwar nachträglich begrenzte deutsche Hilfe für die Einsätze in Mali und der Zentralafrikanischen Republik – aber verbunden mit der Mahnung, dass die Franzosen endlich aufhören müssten, erst national und allein zu entscheiden und dann die europäische Solidarität zu verlangen. Auf Forderungen des scheidenden NATO-General­ sekretärs Anders Fogh Rasmussen nach einer erheblichen Aufstockung des Bundeswehretats antwortete Merkel wohl aus einem ähnlichen Grund am 2. Juli demonstrativ mit dem etwas provokanten Hinweis, „dass wir unsere Verteidigungsausgaben auf keinen Fall senken werden“.

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Dazu kommt Merkels wachsende Überzeugung, dass sich manchmal mehr erreichen lässt, wenn man indirekt arbeitet. Seit 2008 verfolgt sie deshalb eine Politik des „enabling“ oder der „Ertüchtigung“, die seit vergangenem Dezember sogar offizielles Element der EU-Außen- und Sicherheitspolitik geworden ist. Dahinter steht ihre Überzeugung, dass es in vielen Fällen erfolgreicher für das betroffene Land und politisch weniger riskant für westliche Staaten ist, statt eigener Kampftruppen vor allem Ausbilder und Material in Krisenregionen zu schicken. Wie heikel aber auch diese niedrigschwellige Hilfe etwa für Regional- organisationen in Afrika oder einzelne Länder ist, hat Merkel allerdings schon 2011 in Angola zu spüren bekommen, als die Lieferung deutscher Küsten- schutzboote an das ölreiche Land als „Kanonenbootpolitik“ und „Aufrüstung“ diskreditiert wurde. Also hält sich Merkel auch hier mit öffentlichen Äußerungen zurück, zumal in der Großen Koalition immer öfter für Zündstoff sorgt, dass sich die SPD als Vorreiterin einer Reduzierung deutscher Rüstungsexporte sieht. An Merkels Überzeugung, dass diese „Ertüchtigung“ eigentlich gerade für die traditionell kriegsmüde deutsche Gesellschaft ein sinnvoller sicherheitspolitischer Ansatz wäre, ändert dies allerdings nichts.

Das emanzipierte Deutschland Merkel steht außenpolitisch viel stärker in der Kontinuität der Politik deut- scher Kanzler, als dies bisher wahrgenommen wurde. Und diese Politik lässt sich im Zeitraffer als kon­tinuierlicher Versuch begreifen, Deutschland Schritt für Schritt außenpolitische Souveränität zurückzuholen – ohne dabei einen neuen „deutschen Sonderweg“ einzu- Merkel hat die Emanzi- schlagen. Die grobe Linie verläuft wie folgt: Konrad Ade- pation gegenüber den nauer hat der Bundesrepublik die Möglichkeit zur Rehabili- tierung im Westen geschaffen. erreichte die Verbündeten fortgesetzt Öffnung und eine eigenständigere deutsche Politik nach Osten. Helmut Kohl hat mit der Einheit die Voraussetzung für die „Normalisie- rung“ der deutschen Außenpolitik hergestellt und die Bundesrepublik dabei gleichzeitig dauerhaft in EU-Strukturen verankert. Gerhard Schröder und Angela Merkel haben dann letztlich beide diese Emanzipation gegenüber den Verbündeten umgesetzt. Schröders „Nein“ zur Irak-Intervention der amerikanischen Schutzmacht 2003 machte Washington erstmals deutlich, dass es fortan keinen Automatismus mehr geben wird, dass Deutschland jedem amerikanischen Weg folgt. Joschka Fischers „I am not convinced“ ist dafür zum geflügelten Wort geworden. Merkel bestätigte diesen selbstbewussteren Kurs trotz aller Differenzen mit Schröder letztlich, als sie auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 entschieden und erfolgreich das Vorhaben von US-Präsident George W. Bush abblockte, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen. Und die Ausweisung des CIA-Repräsentanten aus Berlin sowie die Entscheidung der Regierung Anfang August 2014, deutschen Geheimdiensten bei der Spionageabwehr künftig einen „360-Grad-Blick“ – also auch die Verteidigung gegen US-Ausspähungen – zu

IP • September / Oktober 2014 123 Essay

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In Merkels außen­ erlauben, ist der vorerst letzte Schritt in dieser Entwicklung. Merkels „Nein“ politischem Denken zur Libyen-Intervention 2011 sorgte dafür, dass dieselbe Botschaft auch den zählen vor allem wirtschaftliche engsten europäischen Verbündeten Frankreich erreichte. Angesichts der Ent- Stärke und die wicklung in Libyen sieht man sich in Berlin heute darin bestätigt, dass Nicolas Fähigkeit, der Welt Sarkozy und David Cameron damals vor allem aus innenpolitischen Gründen neue Ideen an zubieten: auf der den Sturz Muammar al-Gaddafis betrieben – ohne ein wirkliches Konzept zu Technologiemesse haben, was danach folgen sollte. CeBIT in Hannover, Als Fehler wird im Nachhinein allerdings angesehen, dass man damals er- März 2014 neut die Missverständnisse zuließ, Deutschland könnte sich zum einen auf die Seite Russlands und Chinas geschlagen haben und neige zum anderen zu einem gefährlichen Pazifismus – statt den Blick der Partner darauf zu lenken, wie groß damals die Ablehnung einer Militärintervention nicht nur bei vielen EU- Partnern, sondern weltweit und auch bei anderen Demokratien wie Brasilien oder Indien war.

Bekennende Transatlantikerin Dass Merkel die Enthaltung bei der Libyen-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat von den westlichen Partnern nicht dauerhaft übel genommen wurde, mag zum einen daran liegen, dass CDU und CSU es schafften, die Kritik an der gemein- sam getroffenen Entscheidung vor allem bei Außenminister Guido Westerwel- le (FDP) abzuladen. Zum anderen aber hatte sich durch eine Vielzahl von Positionierungen längst ein Bild der Kanzlerin verfestigt, das anders als bei Schröder keine grundsätzlichen Zweifel an ihrer West-Ausrichtung zuließ. Seit Amts­antritt hatte sie sich sehr deutlich als Transatlantikerin geoutet und den Schutz Israels zur deutschen Staatsräson erklärt. In der EU und auch in Großbritannien gilt

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sie bis heute als eine der letzten, die politische Nähe zum Vereinigten Königreich­ empfinden. In bewusster Abgrenzung zu Schröder hatte sie zudem mehr Dis- tanz zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin gewahrt und den Dalai Lama sogar im Kanzleramt empfangen. Merkel sah und sieht Deutschlands Platz klar im Westen – und versucht seit 2007 deshalb auch, eine transatlantische Frei- handelszone der EU mit den USA durchzusetzen. Diese grundsätzliche Wertebetonung in der ersten Hälfte ihrer bisherigen Amtszeit erlaubte Merkel in der zweiten Hälfte dann übrigens einen sehr real- politischen Kurs gegenüber China, das mittlerweile zu den von ihr am meisten besuchten Ländern gehört. Und bis zur erneuten Rückkehr Putins ins Präsi- dentenamt 2012 verfolgten auch die CDU-Vorsitzende und ihre Partei eine Russland-Politik, die unter dem alten Motto Auch in der Außenpolitik „Wandel durch Handel und Annäherung“ stand. Erst als versucht sich Merkel als Putin 2013 offen die EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine und Moldawien verhindern wollte und später nach Netzwerkerin der Halbinsel Krim griff, schwenkte Merkel entschieden um. Die Annexion der Krim betrachtet sie als so gravierenden Eingriff in die europäische Nachkriegsordnung, dass die internationale Gemeinschaft die Nichtanerkennung notfalls wie bei der deutschen Teilung jahrzehntelang durchhalten müsse. Deutschland dominiert seither die europäische Ukraine- Politik mit einem Doppelansatz von Gesprächsversuchen mit Moskau und dem Drängen auf eine entschiedenere Sanktionspolitik. Dahinter steckt sowohl bei Merkel als auch bei Steinmeier die Erfahrung aus der Schuldenkrise: Die EU bewegt sich nur, wenn die größte Volkswirt- schaft eine aktive Rolle spielt. Einfach ist das nicht, weil es eine permanente Spannung zwischen dem Anspruch auf eine gemeinsame EU-Außenpolitik und dem gleichzeitigen Wunsch gibt, als richtig und notwendig erachtete Schritte auch durchzusetzen. Auch dies ist übrigens ein Grund, warum deutsche Politi- ker generell Probleme mit der Definition nationaler Interessen in der Außen- politik haben.

Neue Instrumente, neue Inhalte Dass Merkels außenpolitisches Denken für viele keine klaren Konturen hat, liegt aber auch daran, dass Außenpolitik für sie sehr vielschichtig ist – was übrigens auch für Steinmeier gilt. Der Außenminister war in seiner ersten Le- gislaturperiode von einigen dafür belächelt worden, dass er Soft-Power-Fakto- ren wie die auswärtige Schul-, Kultur- und Wissenschaftspolitik in den Vorder- grund geschoben hatte. Dabei hat dies für Deutschlands Stellung in der Welt nachhaltigere Wirkung als große Reden. Bei Merkel ist eine Mischung neuer Techniken und Inhalte in der Außen- politik zu beobachten. Wie in der Innenpolitik versucht sie sich auch in den Außenbeziehungen als Netzwerkerin. Weil Deutschland in der EU und der Welt ohnehin immer auf Partner angewiesen ist, besteht für sie Politik aus der permanenten Suche nach Verbündeten. Ganz gezielt setzt sie dabei nicht nur auf die aktuellen Regierungschefs, sondern auch auf den politischen Nach-

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wuchs: Wie erfolgreich das ist, zeigt die Tatsache, dass sie sowohl den heutigen italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi als auch Chinas Staatspräsi- denten Xi Jinping schon lange vor deren Amtsantritten getroffen hatte. Das verbindet. Unter Merkel wurden zudem die Kontakte zu den Schwellenländern massiv ausgebaut. Ganz gezielt setzt die Kanzlerin dabei das Instrument von Regie- rungskonsultationen mit immer mehr Staaten als Bindemittel für gewünschte strategische Beziehungen ein. Der Clou: Während sich andere westliche Staaten immer noch auf die klassische Diplomatie oder die Sicherheits- und Handels- politik konzentrieren, sollen Deutschlands Partner auf der ganzen Breite von der Sozial- bis zur Bildungspolitik eingebunden werden. Selbst die so genann- ten Kanzler-Stipendien gibt es heute nicht mehr nur für Nachwuchskräfte aus den USA, Russland oder China, sondern seit vergangenem Jahr auch für solche aus Indien und Brasilien.

Wichtigste Grundlagen: Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit Klassische Diplomatie ist für die Physikerin also nur das vorletzte Mittel bei der Frage, ob und wie man in der Welt eigene Vorstellungen durchsetzen kann. Entscheidender ist für Merkel, auf welcher Grundlage Politiker eigentlich mit- einander reden können – und da zählen vor allem die wirtschaftliche Stärke eines Landes und die Fähigkeit, der Welt neue Ideen anzubieten. „90 Prozent des Wachstums in der Welt werden heute außerhalb Europas erzielt. … Ob man mit der südkoreanischen Präsidentin spricht oder mit dem chinesischen Präsi- denten oder verfolgt, was in den Vereinigten Staaten von Amerika passiert, man weiß: Überall schlafen die Menschen nicht etwa, sondern sie sind ex­trem kreativ, extrem innovativ. Insofern müssen wir uns sputen und alles dafür tun, dass wir unseren Mehrwert aus der europäischen Einigung und aus dem euro- päischen Binnenmarkt wirklich nutzen“, mahnte sie deshalb bei der Eröffnung der Hannover-Messe im April 2014. Kohl und Schröder mögen mit ihrer Außenpolitik auch deutsche Industrie- förderpolitik betrieben haben: Für Merkel aber sind kluge Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsfähigkeit die wichtigsten Grund­lagen einer Der Schock über die erfolgreichen Außenpolitik. Deshalb kann der Schock, den US-Abhöraktionen kann die Aufdeckung der US-Abhöraktionen in Deutschland aus- gelöst hat, gar nicht überschätzt werden: Denn er zeigte den nicht überschätzt werden Akteuren in Berlin die technologische Hilflosigkeit einer angeblich führenden Industrienation, die auch nach Mer- kels Ansicht den Anschluss an entscheidende Zukunftstechnologien im IT- Bereich verloren hat und nun mühsam aufholen muss. Deshalb kommen in sehr vielen Reden Merkels seit Jahren die Zahlen 1, 7, 25 und 50 vor. Deutschland mache nur noch etwa 1 Prozent der Weltbevölke- rung aus, die EU immerhin noch 7 Prozent – Tendenz fallend, hämmert die Kanzlerin ihren Zuhörern seit etwa zwei Jahren immer wieder ein. Dafür er- wirtschafteten die Europäer derzeit immerhin noch knapp 25 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts, stünden für 50 Prozent der weltweiten Sozialaus-

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gaben. Die Moral aus diesen Zahlen: Um das europäische und deutsche Modell einer soziale(re)n Marktwirtschaft zu bewahren, müssten sich die Europäer in einem globalen, immer härter werdenden Überlebenskampf unter den er- schwerten Bedingungen eines sinkenden Bevölkerungsanteils behaupten. Diese Überzeugung ist eine der Ursachen ihrer Ungeduld, dass sich die EU- Staaten immer noch die aus ihrer Sicht überholten Debatten über Wachstum durch neue Schulden leisten, statt sich mit aller Entschiedenheit auf die stärker werdende Konkurrenz in Asien, aber auch in Amerika vorzubereiten. Mehrfach hat die Kanzlerin in den vergangenen Jahren gewarnt, dass sich westliche Demokratien in einem weltweiten System- Das westliche Modell kampf mit autoritären Regimen nur durchsetzen könnten, muss sich auch wenn sie zeigten, dass sie für ihre Bürger auch eine wirt- schaftliche Erfolgsgeschichte seien. Dies ist ein Grund, warum wirtschaftlich bewähren Merkel statt über Auslandseinsätze viel häufiger über die Notwendigkeit hoher Forschungs- und Entwicklungsausgaben redet, was bei Si- cherheitspolitikern eher als nachgeordnetes Thema gilt. Aber die Kanzlerin war hinter und vor den Kulissen seit Amtsantritt im Jahr 2005 eine treibende Kraft für die stetige Erhöhung der Bundesausgaben auf diesem Gebiet. Denn sie sieht hier eine weltweite Auseinandersetzung: Während in der EU nur vier Staaten das bereits im Jahr 2000 formulierte Ziel erreicht haben, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts anzuheben, liegen sie beispielsweise in Südkorea bereits bei über 4 Prozent. Mehr Forschung aber bedeutet die Aussicht auf neue innova- tive Produkte – und eröffnet die Chan- Dr. Andreas Rinke ce, sich auch in Zukunft noch moderne ist politischer Chef- Sicherheitstechnologien leisten zu kön- korrespondent der nen. Deshalb dürfte die Debatte darü- Nachrichtenagentur Reuters in Berlin. ber, wofür die Bundesregierung entste- hende Spielräume in den kommenden Bundeshaushalten nutzen wird, beson- ders spannend werden.

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Brief aus … Kabul Was man aushält Nicht die Afghanen haben sich an den Krieg gewöhnt – sondern wir

Ronja von Wurmb-Seibel | Liebe Leser, Ein Leser aus Deutschland antwortete: ich muss Sie warnen: Dies ist ein wü­ „Komischerweise brauchten die Teil­ tender Brief. Wenn Sie keine Lust auf nehmer von ww2 keine [Therapie] Wut haben, verstehe ich das – ich bin und sind trotzdem klargekommen.“ auch kein großer Fan von Wut –, doch Ich antwortete, dass ich das für ziemli­ dann müssen Sie weiterblättern. chen Quatsch hielte. Er schrieb: Vor ein paar Monaten saß ich mit „Warum? Die Leute hatten Schlimmes einem befreundeten Arzt in Kabul erlebt und sind klargekommen. Besser beim Abendessen. Er erzählte von als die heutige ‚Generation Weiner­ einem afghanischen Soldaten, der den lich‘.“ Er habe „den Eindruck, dass die Job gewechselt hatte, weil er nicht Afghanen mit dem Dauerkrieg besser mehr kämpfen wollte, den dann aber klarkommen als die Besatzersoldaten.“ die Erinnerungen an den Krieg nicht Ich wurde wütend. Ich bin nicht losließen. Am Ende sagte der Arzt: dafür bekannt, dass ich schnell weine, „Weißt du, in einer Sache irrt sich die aber in diesem Moment schossen mir medizinische Welt: Eine posttraumati­ Tränen in die Augen, so wütend war sche Belastungsstörung ist keine Stö­ ich. Abends lag ich im Bett und konn­ rung. Es ist eine ganz normale Reak­ te nicht einschlafen. tion, auf die Brutalität und die Gewalt, Ich erinnerte mich an ein Ge­ die man im Krieg erlebt. Würde je­ spräch, bei dem mir ein hochrangiger mand nicht reagieren – das wäre die Bundeswehrsoldat erklärt hatte, für Störung.“ Ich fand, er hatte Recht, und die Afghanen habe der Tod eine ganz postete sein Zitat bei Twitter. 36 Leute andere Bedeutung als für uns Deut­ retweeteten, so viele wie nie zuvor. sche. Sie hätten sich daran gewöhnt. Einige Wochen später postete ich Ich fragte ihn damals, ob er schon einen Artikel, den ein Kollege in der einmal eine afghanische Familie ge­ FAZ geschrieben hatte. Er handelte troffen hätte, die jemanden verloren davon, wie Deutschland mit seinen hat. Er verneinte. Ich sagte, dass ich Elitesoldaten umgeht (nicht besonders mehrere Familien getroffen hätte und gut) und am Rande auch davon, wie es dass mein Eindruck ein anderer sei. den Elitesoldaten nach ihren Einsät­ Daraufhin er: Das ist dann Ihre Mei­

zen geht (auch nicht besonders gut). nung – meine ist eine andere. Kettel © Henning

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Diese Woche ist es dann wieder Es stimmt nicht, dass die Leute in passiert: Jemand schrieb mir, die Af­ Afghanistan die Gewalt aushalten. Sie ghanen hätten sich an Gewalt ge­ haben einfach nur keine andere Wahl. wöhnt. Der Krieg sei Alltag geworden. Sie machen weiter mit ihrem Alltag, Sie kämen damit klar. weil sie gelernt haben, dass man das Ich wurde wieder wütend. Und ich muss, um zu überleben. Es gibt hier spürte den Drang, einmal ausführlich keine staatlichen Systeme, die Men­ zu erklären, warum: Sätze wie diese schen in Not helfen, wie wir es in machen mich wütend, weil sie unter­ Deutschland gewöhnt sind. stellen, dass Afghanen eine andere Warum sollte der Tod eines Einzel­ Spezies Menschen sind. Menschen, nen weniger schlimm sein, nur weil die schon irgendwie damit klarkom­ um einen herum noch viele andere men, wenn ihr Bruder in die Luft ge­ sterben? Das sehen nur wir so: In jagt oder ihr Vater erschossen wird. einem Land, in Vor allem unterstellen sie, dass es dem jedes Jahr Gibt es Menschen, die Menschen gibt, die den Krieg ganz gut Tausende getötet damit klarkommen, wenn aushalten. Ist es dann noch so werden – was sind schlimm, Krieg zu führen? Wenn die da schon ein, zwei ihre Familie getötet wird? Menschen ihn ja irgendwie vertragen? mehr? Es gibt Ganz abgesehen davon: Die Men­ Nachrichtenagenturen, die eine fixe schen in Afghanistan kommen nicht Mindestgrenze an Toten haben – klar. 67 Prozent der afghanischen Be­ davor berichten sie nicht über An­ völkerung leiden an Depressionen – schläge in Afghanistan. und das sind noch die offiziellen Vielleicht gewöhnt man sich an ­Zahlen des Gesundheitsministeriums, Panzer, an Waffen und den Klang sehr wahrscheinlich sind es mehr. einer Explosion. Aber man gewöhnt Ich kenne Leute, die Albträume sich nicht daran, dass ein Freund zer­ haben; die nachts immer wieder fetzt wird, dass ein Vater von einer sehen, wie ihr Bruder bei einer Explo­ Drohne getötet wird oder ein Kind bei sion stirbt. Die im Schlaf schreien. Ich einem Luftangriff stirbt. Man gewöhnt kenne Leute, die jedes Mal weinen, sich nicht daran, Angst um seine Fa­ wenn sie über den Tod eines Freun­ milie zu haben. des reden, und solche, die abends Die einzigen, die sich an den Krieg beim Einschlafen beten, dass sie mor­ in Afghanistan gewöhnt haben, sind gens wieder aufwachen. wir, die ihn nur aus den Nachrichten Ich kenne Leute, die trinken gegen kennen. Wir sind weit genug weg. den Schmerz, die Opium rauchen oder Heroin spritzen. Ich kenne Leute, die Ronja von Wurmb- mit ihren Fäusten und Köpfen immer Seibel lebt als wieder gegen die Wand schlagen, Reporterin und Foto­ damit der Schmerz endlich weggeht, grafin in Kabul. Im März 2015 erscheint beim und ich kenne Leute, die versucht DVA-Verlag ihr erstes haben, sich umzubringen, weil sie mit Buch. dem Stress nicht klarkommen, den dieser „Dauerkrieg“ mit sich bringt.

IP • September / Oktober 2014 129 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Internationale Presse Burgfrieden in der Ukraine Die Medien sehen sich im Krieg mit Russland und halten sich mit Kritik an der Regierung zurück

Andreas Stein | Gehörte es bis zum einem Beitrag für das Internetportal Sturz von Präsident Wiktor Januko­ Ukrajinska Prawda (Ukrainische witsch beinahe zum guten Ton, die Wahrheit, 14. Juli), wie sich viele uk­ Regierung zu kritisieren und für alle rainische russischsprachige Intellektu­ Probleme verantwortlich zu machen, elle von ihren Illusionen verabschie­ so herrscht angesichts der russischen den: „Obwohl ich erst nach der Unab­ Aggression zuerst auf der Krim und hängigkeit der Ukraine in die Schule dann im Osten der Ukraine jetzt of­ kam, erhielt ich die typische russisch- fenbar eine stillschweigende Überein­ sowjetische Ausbildung. Ich bin mit kunft, die Regierungspolitik nicht in­ russischen Filmen, russischer Musik frage zu stellen. Die von Russland und russischen Büchern aufgewach­ unterstützten Aufständischen wer­ sen. Lange habe ich Russland als be­ den, wie von der Regierung, fast freundetes, verwandtes Land ange­ durchgängig als Terroristen bezeich­ sehen. Doch das alles ist jetzt Ver­ net, und das Wort Bürgerkrieg wird gangenheit.“ In Anlehnung an den vermieden. Zweifel an Regierungs­ Vorschlag des Dnipropetrowsker Olig­ verlautbarungen oder am Kriegskurs archen Ihor Kolomoisky träumt Kas­ werden, wenn überhaupt, nur verhal­ anski davon, sich von Russland „mit ten geäußert, denn unter den Umstän­ einer drei Meter hohen Mauer, wie den des Krieges laufen Kritiker stän­ Israel von Palästina“ abzugrenzen. dig Gefahr, als russische Agenten ge­ Verbittert gesteht der ebenfalls aus brandmarkt zu werden. dem Donbass geflüchtete Luhansker Blogger Serhij Iwanow ein, dass die Abschied von Russland von Russland eingeschleusten Terro­ Die Erschütterungen, die die ehemali­ risten nicht ohne die Unterstützung ge Sowjetrepublik bei ihrer beschleu­ der lokalen Bevölkerung haben agie­ nigten Abnabelung vom einstigen ren können. In einem Blogeintrag bei Bruderstaat Russland durchlebt, führ­ der Ukrajinska Prawda schreibt er: ten zu nachhaltigen Veränderungen „Wie traurig es auch sein mag, doch im Weltbild ihrer Einwohner. Der aus in absehbarer Zukunft wird Kiew Donezk nach Kiew geflüchtete Jour­ nicht die Sympathien einer kritischen nalist Denis Kasanski beschreibt in Masse der Einwohner des Donbass

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erobern – der Masse, die alles möglich terpräsident Arseni Jazenjuk am machte, was gerade vor sich geht. Und 15. Juli alle Teilnehmer an sozialen keine Geschenke, keine Almosen oder Protesten zu Agenten des russischen Vereinbarungen hinter den Kulissen Geheimdiensts FSB. Ähnlich verhielt werden hier helfen, das Bewusstsein sich Innenminister Arsen Awakow, und die Mentalität dieser Menschen der zwei Tage zuvor den auf dem Kie­ zu verändern. Das wäre in etwa so, wer Unabhängigkeitsplatz noch beste­ wie aus einem Nokia 3110 ein iPhone henden Restmai­ zu machen, das heißt, es ist unmög­ dan zu einem Pro­ Bei der Regierung lich“ (3. August). jekt des FSB dekla­ wächst die Angst vor Die vermeintliche Nichtverein­ riert hatte, womit barkeit der proletarischen Kultur der er diesem Protest­ sozialen Protesten deklassierten Bewohner des Donbass, lager angesichts die sich allzu gern der Propaganda des des allgegenwärtigen Hurrapatriotis­ Nachbarstaats hingeben, mit den bes­ mus das Todesurteil ausgesprochen sergestellten und im eigenen Selbstver­ hatte. Und Anfang August sprach ständnis aufgeklärten Kreisen vor Bürgermeister Witali Klitschko von allem in der Mittelschicht der Haupt­ russischem Geld und russischen Päs­ stadt kulminiert in der Bezeichnung sen auf dem Maidan. der „Watniki“. In Anspielung auf die Die sich offenkundig verstärkende Wattejacken von Gulag-Insassen be­ Angst vor Protesten angesichts der zeichnet dieser Begriff all diejenigen, wachsenden sozialen Probleme im die den prowestlichen Kurs der neuen Land erinnert Dmytro Korotkow von Regierung nicht mittragen wollen oder der Tageszeitung Westi (26. Juli) an ökonomisch können. Oleksander Pry­ den vorigen Herbst. „Im Herbst 2013 lypko von der Tageszeitung Den war es natürlich nicht schwer, die re­ (8. August) sieht in den „Watniki“, volutionäre Welle gegen (Ministerprä­ oder im vulgärmarxistisch ausgedrück­ sident) Mykola Asarow zu erheben, ten „Lumpenproletariat“, die Leute, unter dem in zwei Jahren bei fehlen­ die „in ihrer Weltsicht eingeschränkt der Inflation die Minimalstandards sind“ und zu allen Zeiten „Gurken nur geringfügig verbessert wurden. Es und Wodka“ haben. Er verortet sie in wurde die Losung ausgegeben: ‚Asa­ den „Billigklassen der ukrainischen row hat auf die europäische Integra­ Eisenbahnwaggons“, doch nicht nur. tion verzichtet‘, und niemand wollte Sorgen macht er sich vor allem um die die Erklärungen hören, dass der Inter­ „dünne Mittelschicht“, dass sich diese nationale Währungsfonds Geld nicht auch den „Watniki“ anschließe und ohne drakonische Bedingungen gibt, soziale Forderungen stelle. dass der Preis für russisches Gas un­ tragbar ist und Russland wegen der Sprachrohre der Regierung Assoziierung seine Grenzen für uns Die Tageszeitung ist damit ganz auf schließt.“ Seiner Meinung nach wür­ Regierungslinie. Angesichts eingefro­ den schon bald die Standarderklärun­ rener Renten und Mindestlöhne, von gen – dass wahlweise die Vorgänger, Abwertung, Kriegssteuer, steigender der Kreml oder die Terroristen im Gebühren und Preise erklärte Minis­ Donbass schuld seien – nicht mehr

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greifen. Denn weder der Kreml noch Militärs erhöhen. Und die breite An­ die Terroristen würden Rechnungen wendung von Kampfflugzeugen, Hau­ schicken oder Preise erhöhen. Diese bitzen und Raketenwerfern in den tickende Zeitbombe könnte Korotkow Städten erhöht die Zahl der Opfer zufolge bereits im Herbst explodieren. unter der Zivilbevölkerung spürbar. Vor diesem Hintergrund wird der In Kiew ist man nicht bereit, Luhansk Ruf in Kiewer Kreisen, den Unruhe­ in Stalingrad und Donezk in Grosny herd Donbass ziehen zu lassen, immer zu verwandeln.“ Nebenher drückt lauter. Allerdings wagt die Führung Rachmanin die tiefe Überzeugung der des Landes bisher Kiewer Elite aus, dass dem Land auch Luhansk soll kein nicht, diesen Ge­ weiterhin eine russische Invasion Stalingrad und Donezk danken auszuspre­ droht: „Putin hat den Marsch nach chen. Das könnte Kiew nicht abgeblasen, er wartet auf kein Grosny werden ebenso den politi­ bessere Zeiten. Er braucht den Don­ schen Tod bedeu­ bass nicht, er braucht die Ukraine, ten wie die Anerkennung des Verlusts und er ist bereit zu warten.“ der von Russland annektierten Halb­ insel Krim. Deshalb besteht das politi­ Putin, das Feindbild Nummer eins sche Kiew trotz aller Probleme auf die Der russische Präsident Wladimir Fortsetzung des „Antiterroroperati­ Putin dient nicht zuletzt nach dem on“ genannten Krieges im Osten. bisher ungeklärten Abschuss des ma­ Aber ein Sieg über die von Russland laysischen Passagierflugzeugs MH17 unterstützten Separatisten ist unge­ über dem Gebiet der Separatisten am achtet einiger Geländegewinne nicht 17. Juli als Feindbild Nummer eins. abzusehen. Zudem halten die Separa­ „Nachdem Russland faktisch durch tisten mit Luhansk und Donezk die die Hände der Terroristen das Passa­ Gebietszentren in ihrer Gewalt. gierflugzeug abgeschossen hat, ist die Das Dilemma der ukrainischen Situation im Donbass von einem loka­ Führung beschreibt der Chefredak­ len Konflikt zu einer Weltbedrohung teur der einflussreichen Wochenzei­ geworden. Und davor kann man nicht tung Dserkalo Tyschnja (Wochenspie­ mehr die Augen verschließen“, schrie­ gel) Serhij Rachmanin (8. August): ben Natalka Posnjak-Chomenko und „Die Erstürmung von Großstädten, Laryssa Salimonowytsch in der Tages­ die gut befestigt sind und von einer zeitung Ukrajina Moloda (Junge Uk­ großen Zahl bewaffneter Kämpfer raine, 22. Juli). verteidigt werden, könnte zu großen In der vorhergehenden Ausgabe Verlusten führen, sowohl unter den hatte Sorjana Krit (18. Juli), auf den Sicherheitskräften als auch unter der eingeleiteten Prozess der Sanktionen friedlichen Bevölkerung. In Donezk gegen Russland abzielend, beinahe beispielsweise befinden sich noch triumphierend noch geschrieben: zwischen 300 000 und 500 000 ‚Zivi­ „Straflosigkeit kann nicht ewig wäh­ listen‘. Donezk und Luhansk ohne ren, so schwer das auch einigen klei­ den großflächigen Einsatz von Artille­ nen, selbstgefälligen Diktatoren zu rie und Luftwaffe einzunehmen, glauben fällt. Wladimir Putin bewegt würde die Verluste des ukrainischen sich auf sein ‚Nürnberg‘ noch zu,

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doch die Unannehmlichkeiten haben stehen russische Staatsmedien unter bereits begonnen.“ Dabei werden dem Generalverdacht der Propaganda Sanktionen, wie Olha Woroschbyt im oder gar der Zusammenarbeit mit den Wochenjournal Ukrajinsky Tyschden Separatisten; mehrere Mitarbeiter des (8. August) anmerkt, bereits auf dem Armeesenders Swesda und des Staats­ Euromaidan falsch verstanden. „Für kanals Russia today wurden bereits die Mehrzahl der Bürger hatten sie ausgewiesen. Ein neues Ausmaß an damals, wie auch jetzt, ungefähr die Gewalt zeigte die Entführung von drei gleiche Bedeutung: Bestrafung der ukrainischen Jour­ Schuldigen nach dem Robin-Hood- nalisten des Sen­ Auch Journalisten Prinzip (den Reichen nehmen und ders 112: Sie wur­ geraten immer mehr den Armen geben). Doch für diejeni­ den Anfang Au­ gen, die diese Sanktionen verhängen gust nach fünf zwischen die Fronten sollen, hat das in jedem Fall eine ande­ Tagen Erniedri­ re Bedeutung und andere Folgen.“ gungen durch das Freiwilligenbatail­ Angesichts immer größer werden­ lon Krywbass, u.a. mit Scheinerschie­ der Verluste in den Streitkräften und ßungen, nackt auf einem Feld im Ge­ einer herben Niederlage an der russi­ biet Dnipropetrowsk ausgesetzt. schen Grenze, die von den Kiewer Ihnen wurde vorgeworfen, den Sepa­ Medien weitgehend ignoriert wurde ratistenführer Igor Girkin (Strelkow) – oder wie in der Zeitung Ukrajina interviewt und Aufnahmen von Moloda (8. August) nach der offiziel­ Flüchtlingen in einem russischen len Sprachregelung als „heißer siegrei­ Aufnahmelager gemacht zu haben cher Kampf“ übernommen wurde – und somit für die Gegenseite zu arbei­ merkte der mit den Separatisten sym­ ten. Regierungsnahe Medien wie die pathisierende Schriftsteller Oles Busi­ Ukrajinska Prawda (6. August) titel­ na in der auflagenstarken Tageszeitung ten: „Terroristen hielten Journalisten Segodnja (7. August) an: „Die Preisga­ mehrere Tage gefangen“. be der 72. Brigade ist das Resultat des Auch wenn der Konflikt im Osten ambitionierten Planes der prowestli­ bis zum Herbst eingedämmt werden chen Kiewer Politiker zur militäri­ sollte, werden die über die Jahre ange­ schen Befriedung des Donbass. Präsi­ stauten sozialen Probleme das Land dent Poroschenko fand nicht die Weis­ kaum zur Ruhe kommen lassen. Die heit, die Antiterroroperation zu stop­ für Oktober geplanten vorgezogenen pen.“ Steigende Opferzahlen unter Parlamentswahlen werden ihren Teil der Zivilbevölkerung und Proteste dazu beitragen. gegen Einberufungen lassen ihn Paral­ lelen zum Bürgerkrieg im vorigen Andreas Stein Jahrhundert ziehen: „Das offizielle arbeitet seit 2011 als Kiew sträubt sich, wie die provisori­ Korrespondent für die sche Regierung im Sommer 1917, die Deutsche Presse-­ Agentur in der Ukraine Realität zu sehen.“ und betreibt seit 2007 Immer häufiger geraten auch Jour­ das Portal ukraine- nalisten zwischen die Fronten oder nachrichten.de. werden an ihrer Arbeit gehindert. So

IP • September / Oktober 2014 133 Buchkritik

Jäger und Sammler Der Fall Snowden: ein Politskandal, dessen Folgen noch kaum abzusehen sind

Lenz Jacobsen | 14 Monate nach Beginn der NSA-Affäre hat Edward Snow- den es von den Zeitschriftentiteln auf die Buchcover geschafft. Drei Neuer- scheinungen beleuchten den Überwachungsskandal aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Lesenswert sind sie alle, doch die entscheidende Frage beant- worten sie nicht: Was macht der Staat eigentlich mit dem Wissen über uns?

Natürlich ist er längst Symbol gewor- Drei lesenswerte Bücher sind in den, Ikone für die meisten und Verrä- diesem Sommer zum Thema erschie- ter für manche. Der Teenager-Bart- nen, und jedes beantwortet diese Frage schatten, die funktional frisierten anders. Die entscheidenden Fragen Haare, die Brille, oben mit schwarzem aber beantwortet keines von ihnen. Rand und unten ohne. Dieses Jungs- Da ist zuerst das Buch von Luke Gesicht, Nerd-Gesicht, dieses blasse, Harding, „Edward Snowden. Ge- irritierend harmlose Gesicht des Ed- schichte einer Weltaffäre“, und so Gui- ward Joseph Snowden. So schreiben sie do-Knopp-haft der Titel, so wirkungs- seit über einem Jahr über den Whist- bewusst sind dann auch die 276 Seiten. leblower, der eine staatliche Überwa- Eine Personality-Story, die sich kaum chungspraxis offen legte, gegen die sich um Akten schert, sondern fast nur um alle Dystopien und Warnungen wie denjenigen, der sie ausgegraben hat. harmlose Kindereien ausnehmen. Harding war Korrespondent des bri- Nun schaut einen dieses Gesicht tischen Guardian in Berlin, Neu-Delhi also von den Buchcovern an, und die und zuletzt in Moskau. Ein profilierter Frage ist, 14 Monate nach Beginn der Auslandsreporter, der sich im Fall NSA-Affäre, womit man sich als Leser Snowden vor allem auf eins beschränkt: lieber beschäftigen will: mit der aben- biografische Details zu sammeln. teuerlichen Geschichte dieses Mannes, Das liest sich natürlich ganz wun- mit diesem wichtigsten Spionagethril- derbar. Ein „Junge mit dichten blon- ler, den die Realität zu bieten hat. Oder den Haaren und einem breiten Lä- doch mit den Akten, mit den Enthül- cheln“ ist der kleine Snowden hier, lungen, mit dem gigantischen politi- Autor Harding erzählt von der Tren- schen Skandal. Was ist interessanter, nung der Eltern und davon, wie der der Botschafter oder die Botschaft? spätere Geheimnisverräter am Schul-

134 IP • September / Oktober 2014 Jäger und Sammler

abschluss scheiterte. Er versucht ein ner Ausbilder eher das Ziel haben, Psychogramm Snowdens anhand sei- „Araber zu töten“, resigniert er. ner Einträge in Onlineforen in den Diese Enttäuschung wiederholt vergangenen 15 Jahren und anhand sich in Snowdens Arbeit für den US- seiner biografischen Stationen. Inte- Geheimdienst. Anfangs noch vertei­ ressant ist das deshalb, weil Snowdens digt er die Notwendigkeit von Staats­ Auflehnung, sein totaler Kurswech- geheimnissen mit radikaler Unbedingt- sel, ja tatsächlich unverständlich sind heit. Als die New York Times über Ge- oder zumindest staunenswert in ihrer heimgespräche zwischen Israel und kühlen Konsequenz. den USA zum Thema Iran berichtet, Harding berichtet also davon, wie wütet Snowden über die Journalisten der junge Nerd Snowden Webmaster und ihre Informanten: „Denen sollte einer japanischen Comicseite ist. Wie man in die Eier schießen.“ er den strammen Republikaner John Vier Jahre später ist Snowden McCain als „erstklassigen Anführer“ selbst Informant, und zwar der wich- und „Kerl mit echten Werten“ be- tigste von allen. Harding kann diese schreibt und Hillary Clinton als eine Entwicklung nur grob nachzeichnen Luke Harding: „Seuche für das Land“. Wie er in einer und ist dabei auf die paar immerglei- Edward Snowden. Geschichte einer Diskussion um Arbeitslosigkeit – chen Zitate des Whistleblowers ange- Weltaffäre. Berlin: Snowden ist gegen Sozialversiche- wiesen, die seit Monaten herumge­ Edition Weltkiosk rungen – seine Gegner als „beschis- reicht werden. Er schmückt sie des- 2014, 288 Seiten, 19,90 ¤. Das Buch sene Minderbemittelten“ bepöbelt. halb mit bunten Beschreibungen aus: erschien auf Eng- Heute ist dieser Mann ein Held vor über die Pool-Dance-Trainings von lisch 2014 bei Faber allem der Linken; ein Linker aber war Snowdens Freundin auf Hawaii und & Faber (London). Übersetzung: er nie, das macht dieses Buch klar. Er über den Weg zur Arbeit bei der NSA Henning Hoff und hasst den Sozialismus und sagt dafür dort: „Nur 13 Minuten von Tür zu Luisa Seeling über seine Pistole: „Ich liebe sie zu Tür. Brachliegende Flächen säumen Tode.“ Snowden ist ein Libertärer, der die Straßen. (…) Der Highway hebt dem Staat eher Übergriffigkeit unter- und senkt sich, entlang hoher Erdhü- stellt als Fürsorge zutraut, und der gel und einem Gewirr von Gräsern, trotzdem jahrelang eine unbedingte die den Blick auf die Landschaft be- Solidarität zu diesem Staat empfindet, hindern. Schnell fühlt man sich gefan- zu dessen Verfassung vor allem. gen.“ Ist nun die Landschaft der Denn Snowden vertritt einen poli- Grund für Snowdens Entscheidung? tischen Minimalismus, der nur die in An Stellen wie dieser kippt das Buch der Verfassung festgeschriebenen in platte Küchenpsychologie. Grundsätze anerkennt, diese aber Hardings Buch ist das unterhalt- umso vehementer verteidigt, idealis- samste der drei Snowden-Titel, weil es tisch und voller Sendungsbewusstsein. am hemmungslosesten auf Snowden Er tritt bald nach Beginn des Irak- fokussiert. Es erzählt um jeden Preis Kriegs in die US-Armee ein, „weil ich eine persönliche Geschichte – und gibt als menschliches Wesen die Verpflich- damit genau dem Impuls nach, der tung spürte, dabei zu helfen, ein Volk auch die Berichterstattung in vielen von der Unterdrückung zu befreien“. Medien über die NSA-Affäre prägt: Als er feststellt, dass die meisten sei- Das Leben des Whistleblowers ist nun

IP • September / Oktober 2014 135 Buchkritik

mal anschaulicher und einfacher zu Tyrannei verwandeln würde, wenn verstehen als die komplexen Projekte jemals ein Diktator die Macht über- der Geheimdienste, die er enthüllt hat. nähme, würden die technischen Fä- higkeiten der Geheimdienste es der Sammeln, sammeln, sammeln Regierung ermöglichen, eine totale Dass es auch anders geht, dass man Tyrannei zu errichten.“ spannend über all das schreiben kann, In Churchs Bericht deutete sich, ohne an der Personality-Oberfläche zu fast 40 Jahre vor Snowden, bereits bleiben, beweist das Buch der beiden zweierlei an: die Eigendynamik der Guardian-Journalisten Holger Stark Überwacher, deren Job und Daseins- und Marcel Rosenbach. Sie fahren berechtigung es nun mal war, mög- nicht zu den Wohnorten Snowdens, lichst viel und gut zu überwachen. sondern zu den Horchposten der Ge- „Alles sammeln!“ lautet das Ziel des heimdienste, ihren Serverfarmen und langjährigen NSA-Chefs Keith Ale- Hauptquartieren. Das ist genauso an- xander. Man kann sich darüber empö- schaulich, nur ungleich relevanter. ren, doch ein bisschen systemtheore- Stark und Rosenbach haben gleich tische Nüchternheit hilft beim Ver- nach Beginn der NSA-Affäre zusam- ständnis eher weiter. Überwachungs- Marcel Rosenbach und Holger Stark: men mit der engen Snowden-Ver- dienste und ihre Angestellten, Der NSA-Komplex. trauten und Dokumentarfilmerin Anführer und Assoziierten bilden Edward Snowden Laura Poitras einige der wichtigsten genau so ein gesellschaftliches Subsy- und der Weg in die totale Überwa- Teilaspekte der Überwachungspraxis stem wie politische Parteien oder die chung. München: enthüllt. Ihr Buch „Der NSA-Kom- freie Wirtschaft, und dieses Subsy- Deutsche Verlags- plex“ ist das beste der drei hier be- stem folgt seinem funktionalen Impe- Anstalt (DVA) 2014, 384 Seiten, 19,99 ¤ sprochenen. Weil es die richtige Mi- rativ, wie Niklas Luhmann das nennt, schung findet aus erzählerischer Dra- in diesem Fall: sammeln, sammeln, maturgie und Anschaulichkeit, einem sammeln. Alexander und seine NSA recherchegesättigten Detailreichtum verhalten sich nur konsequent, sie si- und einer politischen Analyse, die die chern ihre eigene Existenz, indem sie verschiedenen Teile zu einem großen immer neue Gebiete für ihre Aufgabe Ganzen rahmt. Der „NSA-Komplex“ erschließen. Aufgabe der Überwacher ist somit ein mustergültig gelungenes ist, möglichst viel und gut zu überwa- journalistisches Sachbuch. chen, und nicht, sich selbst Grenzen Sie graben zum Beispiel jene Epi- zu setzen. Dafür ist die Politik da. sode aus dem Jahr 1975 aus, als ein Das ist die zweite Erkenntnis aus Untersuchungsausschuss des US-Se- Churchs Bericht. „Wir müssen dafür nats unter Vorsitz von Frank Church sorgen, dass diese Behörde und alle bereits vor den Machtmöglichkeiten Behörden, die über diese Technik ver- der NSA warnte. Dessen Fähigkeiten fügen, innerhalb der Gesetze agieren könnten jederzeit auch gegen Ameri- und unter einer ernstzunehmenden kaner eingesetzt werden, dann hätte Aufsicht, so dass wir niemals in diesen niemand mehr eine Privatsphäre und Abgrund geraten“, warnte er. Nach niemand könne sich mehr verstecken, Snowden ist klar: Beides hat nicht erklärte Church. „Und wenn diese funktioniert. Als Reaktion auf den Regierung sich irgendwann in eine Church-Bericht schuf die US-Regie-

136 IP • September / Oktober 2014 Jäger und Sammler

rung das Fisa-Gericht, in dem Bundes- Tagesthemen-Moderators Hanns-Joa- richter unter Ausschluss der Öffent- chim Friedrichs, ein Journalist „sollte lichkeit entscheiden, welche Überwa- sich mit keiner Sache gemein machen, chung erlaubt ist und welche nicht. In auch nicht mit einer guten“. den ersten 24 Jahren seiner Existenz Das ist zwar ein Nebenschauplatz bis 2002 lehnte dieses Gericht, in dem der Affäre, führt aber trotzdem zu nur eine Seite gehört wird – die der ihrem aktuellen Kern: der Frage nach Geheimdienste – keinen einzigen den Konsequenzen. Denn erst in der Überwachungsantrag ab. In den Jah- Reaktion auf Snowdens Enthüllungen ren 2002 bis 2012 wies es elf Anfragen zeigt sich, was wir von dieser beinahe ab und genehmigte über 20 000. totalen Überwachung halten. Was wir ertragen und was nicht. Greenwald hat Was wir ertragen und was nicht sich entschieden und ist deshalb vom Glenn Greenwald, der Guardian-Jour- Beobachter zum Mitspieler geworden. nalist, der Snowdens Informationen Und alle anderen? Wir wissen nun, seit über einem Jahr Stück für Stück dass unsere Mails und Telefonate, un- in die Welt trägt, berichtet von dieser sere Chats und unsere Aufenthaltsorte, eindrücklichen Fisa-Statistik in sei- unsere Freunde und die allermeisten nem eigenen Buch über die NSA-Affä- unserer Klicks von Behörden gespei- re. „Die globale Überwachung“ be- chert werden, die niemand effektiv steht eigentlich aus drei Büchern, und kontrolliert. Wir wissen, dass Staats- das entspricht der Aufteilung, die chefs, UN-Delegierte und ausländische auch die Debatte in der Öffentlichkeit Konzerne gezielt abgehört werden, prägt: Im ersten Teil berichtet Green- dass unsere Überwachung eine Dimen- wald von der abenteuerlichen Anbah- sion erreicht hat, gegen die „1984“ ein Glenn Greenwald: nung des Treffens mit Snowden, von harmloses Kinderbuch war. Die globale Über- wachung. Der Fall Gesprächen in verschlüsselten Chats Und doch hat sich nichts geändert. Snowden, die mit dem unbekannten Informanten, In den USA und Großbritannien amerikanischen von Streitereien mit dem Guardian nicht, weil nur eine Minderheit der Geheimdienste und die Folgen. und mit Anwälten, und vor allem von Bevölkerung und der Politik die Über- Aus dem Eng- Snowden selbst, dessen Konsequenz wachung überhaupt als Problem emp- lischen von Gabriele er sehr schnell zu bewundern beginnt. findet. Auch in Deutschland nicht, Gockel, Robert Weiß, Thomas Wol- „Ich möchte nicht zu den Men- weil zwar die meisten Leitartikler die lermann und Maria schen gehören, die Angst haben, ihre NSA verdammen, auf den Straßen Zybak. München: Prinzipien zu verteidigen“, zitiert er aber doch nur ein paar Hunderte zu- Droemer Knaur Verlag 2014, 368 den Whistleblower, und schreibt sich sammenkommen, um gegen sie zu Seiten, 19,99 ¤ fortan eben das auf die Fahnen: Kom- demonstrieren. Ein Teil der deutschen promisslosigkeit im Kampf für die Politik ist stolz darauf, das Ganze vermeintlich gute Sache, gegen Über- nicht so ernst zu nehmen. „Im Gegen- wachung. Insbesondere in Deutsch- satz zu ihnen trage ich es mit Fas- land hat Greenwald mit dieser Hal- sung“, sagte Bundestagspräsident tung eine Debatte über die Grenze Norbert Lammert süffisant, als der zwischen Journalismus und Aktivis- Linken-Fraktionschef Gregor Gysi auf mus ausgelöst, denn hierzulande gilt die Überwachung schimpfte. Da lach- für die meisten noch das Motto des te der halbe Bundestag und konnte

IP • September / Oktober 2014 137 Buchkritik

sich sicher sein, den Großteil der Be- auch den von Foucault und vor allem völkerung auf seiner Seite zu wissen. Bentham beschworenen Freiheitswil- Auch 14 Monate nach Beginn der len des Menschen in Frage. Enthüllung des Skandals gibt es keine Vielleicht liegt es auch daran, dass ernsthaften politischen Konse- diese Überwachung nicht spürbar ist quenzen. Noch nicht einmal dazu, und bisher für kaum jemanden Konse- Snowden Asyl zu gewähren, konnte quenzen hat. Denn, und das ist die sich ein europäisches Land durchrin- große und in allen drei Büchern unbe- gen; er sitzt weiter in Moskau. antwortete Frage: Was macht der Staat Der zweite Teil von Greenwalds mit diesen Billiarden von Datensätzen, Buch besteht aus Original-Doku- mit den Bewegungsprofilen und Proto- menten von Snowden und ihren Er- kollen, mit all diesem Wissen über läuterungen. Man kann an einer belie- uns? Das Zeitalter von „Big Data“ ist bigen Seite aufschlagen und findet da, aber wie diese gelesen werden und Unglaubliches: Allein in einem Monat wie das die Welt verändert, ist unklar. speicherte ein Programm namens Wie würde eine Politik aussehen, FAIRVIEW sechs Milliarden Daten- die tatsächlich auf der datenförmigen, sätze von Telefonaten auf der ganzen totalen Beobachtung des Lebens aller Welt. Ein anderes sammelte im Jahr Bürger basiert? Was tut eine Regie- 2012 knapp 500 Milliarden Mal Meta- rung, wenn sie in ihren Speichern daten von Internetnutzern ein. So sehen kann, was wir tun? Ein Szenario geht es immer weiter und alle hängen wäre: Politik wird zur Verwaltung des- mit drin, Geheimdienste und Unter- sen, was sowieso schon ist. Denn in nehmen auf fast der ganzen Welt. unseren Metadaten steht nichts über Das dritte Kapitel ist ein Manifest unsere Wünsche. Sie beschreiben nur, gegen Überwachung, in dem Snowden was wir sind, und nicht, was wir wol- mit Orwell, Bentham und Foucault all len und werden. Mit jedem Datensatz die klassischen politischen Denker auf- im Speicher der Geheimdienste, aber fährt, die die Überzeugung vertraten, auch auf den Servern der Internetun- dass die Freiheit schrumpft und am ternehmen, steigt die Macht, die diese Ende stirbt, wenn der Staat seine Bür- über unsere Leben haben. Darauf zu ger kontrolliert. Greenwald schreibt, hoffen, dass sie diese nicht missbrau- Menschen veränderten „ihr Verhalten chen, ist kein Ausweg, sondern die radikal, wenn sie wissen, dass sie über- Kapitulation. wacht werden. Sie werden alles daran setzen zu tun, was von ihnen erwartet wird, und wollen Scham und Verurtei- Lenz Jacobsen lungen vermeiden.“ ist Politikredakteur bei Doch stimmt das wirklich? Bis ZEIT Online. jetzt deutet wenig darauf hin, dass die Überwachten die Überwachung tat- sächlich als Einschränkung empfin- den. Die Folgenlosigkeit der Snow- den-Enthüllungen stellt so nebenbei

138 IP • September / Oktober 2014 Wirtschaftsboom und Terrorangst

Wirtschaftsboom und Terrorangst Alte Probleme, neue Möglichkeiten: Neuerscheinungen zu Afrika

Andreas Eckert | Aufbruchstimmung mit Wachstumsraten von über 5 Prozent hier, Anschläge und Chaos da: Schwärmt ein Teil der internationalen ­Expertenszene vom afrikanischen Wirtschaftswunder, so schaut ein ande- rer mit Sorge auf Afrika als Hort des internationalen Terrorismus. Fünf Versuche, ein realistisches Bild des Kontinents zu zeichnen.

Als Nelson Mandela im vergangenen Lichtgestalt Mandela. Der Autor, Chri- Dezember im Alter von 95 Jahren sto Brand, diente als Aufseher auf der starb, hielt die Welt für einige Augen- Gefängnisinsel Robben Island. Seine blicke den Atem an. Wie kaum ein Botschaft: Mandelas Fähigkeit zur anderer war der Jurist, Freiheitskämp- ­Versöhnung war so groß, dass ein als fer und Schöpfer eines friedlichen „Staatsfeind“ gebrandmarkter schwar- Südafrikas bereits zu Lebzeiten eine zer politischer Häftling und sein Legende geworden. ­weißer burischer Gefängniswärter Doch ungeachtet des hohen Anse- Freunde werden konnten. Brand be- hens, das Mandela national wie inter- schreibt detailreich, wie sich die bei- national genoss, war er insbesondere den anfreundeten und wie er gelegent- unter den radikalen Kräften des Afri- lich Kleinigkeiten wie Brot oder Haar- kanischen Nationalkongresses wegen pomade in die Zelle schmuggelte. Be- seiner Konzilianz gegenüber den Wei- sonders beeindruckt war er von ßen nicht unumstritten. Und sein Pro- Mandelas Selbstdisziplin und seinem Christo Brand mit Barbara Jones: jekt einer nichtrassistischen „Regen- Engagement für die Weiterbildung der Mein Gefangener, bogennation“ scheint seit geraumer Gefangenen. Insgesamt eine ein- mein Freund Man- Zeit stecken geblieben zu sein. Die drucksvolle Geschichte, der man sich dela. St. Pölten: Residenz Verlag, Wut über Korruption und Vettern- schwer entziehen kann, selbst wenn 2014, 288 Seiten, wirtschaft wächst 20 Jahre nach den die Schrecken der Apartheid hier in 22,90 ¤ ersten freien Wahlen beständig. Die sehr gedämpftem Licht erscheinen. Bekämpfung der Armut zeitigt bislang wenig Erfolge, viele Jugendliche sehen Unglaubliche Wachstumsgeschichte für sich kaum eine Zukunft. Wirtschaftlich war Südafrika lange „Mein Gefangener, mein Freund Jahre die Lokomotive des Kontinents. Mandela“ präsentiert noch einmal die Inzwischen hat Nigeria das Land am

IP • September / Oktober 2014 139 Buchkritik

Hort des Terrorismus Kap klar als stärkste Wirtschafts- macht Afrikas überholt. Eine Reihe Während die einen das afrikanische von Staaten südlich der Sahara glänzt Wirtschaftswunder beschwören, seit Jahren mit Wachstumsraten von schauen andere mit Sorge auf Afrika über 5 Prozent. Der Wirtschaftsjour- als Hort des internationalen Terroris- nalist Christian Hiller von Gaertrin- mus. Der langjährige Afrika-Korres- gen glaubt, Afrika sei dabei, „die un- pondent Marc Engelhardt hat jetzt ein glaubliche Wachstumsgeschichte, die informatives Buch vorgelegt, in dem er Asien in den vergangenen 20 Jahren aufzeigt, dass sich hinter dem so ge- erlebt hat, zu wiederholen“. Seine nannten islamistischen Terror zuvor- Sorge: Deutschland und die deutsche derst organisierte Kriminalität ver- Wirtschaft nähmen an diesem Auf- birgt. Die Terrortruppe Boko Haram schwung so gut wie nicht teil, viele etwa finanziert sich vor allem durch Christian Hiller von Gaertringen: Unternehmer hielten ein Engagement Schutzgelder, die Geschäftsleuten, Afrika ist das in Afrika für einen Luxus, den sie Bürgermeistern, Investoren und sogar neue Asien. Ein sich nicht leisten können. Gouverneuren abgepresst werden. Kontinent im Aufschwung. Hiller von Gaertringen argumen- Boko Haram besteht zwar aus- Hamburg: Hoff- tiert durchaus überzeugend, das Image schließlich aus Muslimen, doch religi- mann und Campe des Kontinents sei heute düsterer als öse Gründe, so Engelhardt, seien nur Verlag, 2014, 286 Seiten, 24,00 ¤ die Realität; der einseitige Blick aus der Deckmantel für ihre Taten. Wer Deutschland auf das menschliche gut zahlt, erhält die gewünschte Ware: Leid, auf Kriege, Krankheiten und Auftragsmorde, Anschläge, Chaos. Der Korrup­tion verstelle die Sicht auf die Autor sieht nur einen Weg, effizient wirtschaftliche Dynamik. Doch am gegen die Terroristen vorzugehen: Es Ende seines Streifzugs durch verschie- gilt, ihre Geldquellen auszutrocknen. dene afrikanische Länder muss der Das ist leichter gesagt als getan, aber Autor konstatieren, dass die Dinge Engelhardt ist zuzustimmen, dass mi- noch längst nicht überall zum Besten litärische Interventionen hier wenig stehen. helfen. Und obgleich es richtig ist, auf Sicher, man kann das hohe Bevöl- die zentrale ökonomische Dimension kerungswachstum als einen der größ- des Terrors hinzuweisen, darf nicht ten Reichtümer betrachten und mit vergessen werden, dass religiöse As- den Beratern von Roland Berger be- pekte weiterhin eine Rolle spielen – Marc Engelhardt: haupten: „Afrika besitzt mehr als eine gerade für diejenigen, die sich zu die- Heiliger Krieg, Milliarde potenzieller Konsumenten.“ sen Gruppen hingezogen fühlen und ­heiliger Profit. ­Afrika als neues Doch die große Herausforderung be- sie unterstützen. Schlachtfeld des steht darin, den immer besser ausge- Mali zählt ebenfalls zu den Beispie- internationalen bildeten Jugendlichen Arbeitsplätze len, die Engelhardt in seinem Panora- ­Terrorismus. Berlin: Christoph zu bieten. Daran hapert es bisher ge- ma des Terrorismus in Afrika ausführ- Links Verlag, 2014, waltig, wie das Beispiel Nigeria zeigt: lich behandelt. Bis vor kurzem noch 223 Seiten, 16,90 ¤ Hier entstehen kaum neue Jobs, weder galt der westafrikanische Binnenstaat in der Ölförderung oder der Rohstoff- unter Experten als politische „Vor­ ausbeute noch in der boomenden Te- zeigedemokratie“. Kulturinteressierte lekommunikationsbranche oder im kannten die Gelehrtenstadt Timbuktu florierenden Zementsektor. mit ihren berühmten Bibliotheken,

140 IP • September / Oktober 2014 Wirtschaftsboom und Terrorangst

ansonsten existierte das Land für die tion zu einem „islamischen Anspruch“, deutsche Öffentlichkeit praktisch der die Einführung einer islamischen nicht. Das änderte sich schlagartig im Gesellschaftsordnung zum Ziel hat. März 2012, als das Militär in Bamako Die Berichte und Reportagen von putschte, bewaffnete, teils islamis- Charlotte Wiedemann gehören seit tische Gruppen im Norden des Landes Jahren zum Besten, was in der deut- einen Aufstand anzettelten und An- schen Presse über Mali zu lesen ist. In fang 2013 französische Streitkräfte ihrem neuen Buch bietet sie ein ein- einen militärischen Gegenschlag lan- fühlsames Porträt des „verwundeten cierten. Die Bundeswehr unterstützte Landes“. Besonders gelungen ist ein Frankreich durch die Ausbildung der Kapitel, das sich den Manuskripten malischen Armee sowie durch Logi- von Timbuktu widmet. Die Autorin Martin Hofbauer stik für den Kampfeinsatz. Der Sam- stellt Abdelkadar Haidara vor, der eine und Philipp Münch: Wegweiser zur melband „Wegweiser der Geschichte: der inzwischen 35 Familienbiblio- Geschichte: Mali. Mali“, Teil einer vom Zentrum für theken in der Stadt besitzt. Und erzählt Paderborn: Fer- Militärgeschichte und Sozialwissen- quasi nebenbei die Geschichte der Ge- dinand Schöningh Verlag, 2013, schaften der Bundeswehr herausgege- lehrtenstadt und ihrer kulturellen 263 Seiten, 15,90 ¤ benen Reihe, bietet nun kompakt und Schätze, von denen die meisten auch kompetent Informationen zu Ge- dank einer beherzten, von Haidara or- schichte und Gesellschaft des Landes, ganisierten Rettungsaktion vor den Is- zu diversen Aspekten der malischen lamisten gerettet werden konnten. Gesellschaft wie Wirtschaft, Literatur, Derzeit sieht Wiedemann Mali an Ethnizität oder zur Rolle internationa- einer Wegscheide. Sie warnt vor einer ler Akteure. Entwicklung, bei der das Land zum Der Tuareg-Konflikt ist Thema bloßen Objekt westlicher Sicherheits- gleich mehrerer Aufsätze. In seiner strategien würde. Zu viele Mitspieler – konzisen Darlegung des von 1968 bis etwa Frankreich, China, die Golf-Staa- 1991 dauernden Militärregimes Mous- ten oder Russland – würden das Beste sa Traorés hebt Klaus Schlichte die für Mali versprechen und doch nur ei- Auseinandersetzungen zwischen der gene Interessen verfolgen. Ob aller- Charlotte Zentralregierung in Bamako im Süden dings, wie die Autorin vorschlägt, die Wiedemann: Mali oder das des Landes und Teilen der Tuareg-Be- Anknüpfung an vorkoloniale Traditi- ­Ringen um Würde. völkerung im Norden als wichtiges onen mit modernen Mitteln den einzig Meine Reisen in Kennzeichen dieser Periode hervor. möglichen Weg für ein friedliches und einem verwunde- ten Land. Die meisten Tuareg, schreibt der Bre- prosperierendes Mali bedeutet, er- München: Siedler mer Politologe, nahmen die Zentralre- scheint ein wenig zweifelhaft. Verlag, 2014, gierung als nicht weniger „kolonialis- 303 Seiten, 14,90 ¤ tisch“ wahr als zuvor den franzö- Prof. Dr. sischen Kolonialstaat. Georg Klute und Andreas Eckert Baz Lecocq greifen diesen Faden auf lehrt die Geschichte und zeigen, dass im Norden Malis seit Afrikas am Institut für Asien- und Afrika­ dem Ende der Kolonialzeit die Forde- wissenschaften der rung nach Unabhängigkeit oder Auto- Humboldt-Universität nomie besteht. Dieses Anliegen exi- zu Berlin. stiert neben, teilweise auch in Opposi-

IP • September / Oktober 2014 141 INTERNATIONALE POLITIK ist die Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Die DGAP versteht sich als nationales Netzwerk für deutsche Außenpolitik an den Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Medien. Sie begleitet als unabhängiger, überparteilicher, gemeinnütziger und privater Verein mit mehr als 2500 Mitgliedern aktiv die politische Meinungsbildung zu allen relevanten außenpolitischen Themen. Ihre international besetzten Vortragsveranstaltungen, Konferenzen und Studien- gruppen sind ein wichtiges Berliner Debattenforum. Im Forschungsinstitut der DGAP arbeitet ein Team von Wissenschaftlern an praxisbezogenen Analysen; mit ihrer außenpolitischen Spezialbibliothek, ihren Internetseiten www.dgap.org, www.internationalepolitik.de und www.ip-journal.org bietet die DGAP umfassende und aktuelle Informationen zu allen Fragen der Außenpolitik.­ Die Zeitschrift INTERNATIONALE POLITIK, 1945 von Wilhelm Cornides unter dem Namen „Europa-Archiv“ gegründet, erscheint alle zwei Monate. Die IP verfolgt das Ziel, außenpolitische Debatten auf hohem internationalen ­Niveau zu führen, aktuelle Entwicklungen durch sorgfältige Analysen einzu- ordnen und so zur Kursbestimmung der deutschen Außenpolitik beizutragen. Die in der Zeitschrift geäußerten Meinungen sind die der Autoren.

Vorstand der DGAP Dr. Arend Oetker, Präsident; Paul Freiherr von Maltzahn, Generalsekretär; Dr. Tessen von Heydebreck­ , Schatzmeister; Jutta Freifrau von Falkenhausen, Syndika; Dr. Michael J. Inacker, Hagen Graf ­Lambsdorff, Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts; Dr. Sylke Tempel, Chefredakteurin INTERNATIONALE POLITIK; Dr. Elke Dittrich, Leiterin der ­Bibliothek und ­Dokumentationsstelle und Verwaltung

Präsidium Niels Annen, Dr. Stefanie Babst, Prof. Dr. Roland Berger, Elmar Brok, Sevim Dagdelen, Dr. Thomas Enders, Prof. Dr. Lars P. Feld, Dr. Stephan Goetz, Prof. Dr. Armin Grunwald, Dr. Werner Hoyer, Wolfgang Ischinger, Dr. Christian Jacobs, Bertram Kawlath, Eckart von Klaeden, Prof. Dr. Joachim Krause, Prof. Dr. Charles A. Kupchan, Prof. Dr. Klaus Mangold, Philipp Mißfelder, Hildegard Müller, Prof. Dr. Günther Nonnenmacher, Christopher Freiherr von Oppenheim, Dr. Bernhard Reutersberg, Prof. Dr. Thomas Risse, Herbert J. Scheidt, Dr. Frithjof Schmidt, Stephan Steinlein, Karsten D. Voigt, Dr. Ludolf G. von Wartenberg, Dr. Heinrich Weiss, Prof. Dr. Michael Zürn

142 IP • September / Oktober 2014 Impressum

Herausgeber Redaktionsanschrift Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik: Rauchstraße 17 / 18 | 10787 Berlin Dr. h.c. Hans-Dietrich Genscher Tel.: +49 (0)30 25 42 31-46 Prof. Dr. Joachim Krause Fax: +49 (0)30 25 42 31-67 Paul Freiherr von Maltzahn [email protected] Dr. Arend Oetker Marketing und Anzeigen Prof. Dr. Eberhard Sandschneider DGAP Consulting GmbH Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin Chefredakteurin Stefan Dauwe Dr. Sylke Tempel (V.i.S.d.P.) [email protected] Tel.: +49 (0)30 26 30 20 65 Redaktion Dr. Henning Hoff, Uta Kuhlmann-Awad, Layout Dr. Joachim Staron Thorsten Kirchhoff Redaktionelle Mitarbeit: Verlag/Abonnenten-Service Leonie von Hammerstein, Nicola Staender BVA Bielefelder Verlag/ Standort Köln Projektmanagerin: Severine Naeve Friesenplatz 16 | 50672 Köln Tel.: +49 (0)221 2587 248 Beirat Fax: +49 (0)221 2587 249 Prof. Timothy Garton Ash, Oxford University [email protected] Dr. Guido Goldman, Druckerei Dr. Richard Herzinger, Welt-Gruppe Media-Print Group GmbH Dr. Michael J. Inacker, WMP-EuroCom AG Eggertstraße 30 | 33100 Paderborn Dr. Josef Joffe, DIE ZEIT, Stanford University Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Kaiser, Harvard University Pressevertrieb Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung SI special-interest MD & M Pressevertrieb Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin Nordendstraße 2 | 64546 Mörfelden-Walldorf Prof. Dr. Günther Nonnenmacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung Erscheinungsweise Prof. Dr. Volker Perthes, zweimonatlich Stiftung Wissenschaft und Politik Bezugspreise Prof. Dr. Helmut Reisen, Berlin Einzelpreis IP 14,90 € Dr. Gary Smith, American Academy Jahresabonnement Inland 118,00 € Markus Spillmann, Neue Zürcher Zeitung Jahresabonnement Ausland 128,00 € Prof. Angela Stent, Georgetown University Luftpost 155,00 € Daniel Vernet, Le Monde Studentenabonnement 73,00 € Dr. Bernhard von Mutius, Potsdam Studentenabonnement Ausland 83,00 € (Nachweis erforderlich) Probeabonnement (2 Ausg.) 19,50 €

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IP • September / Oktober 2014 143 Schlusspunkt

Raketen vom Schwarzmarkt Der IS-Vormarsch ist ein Argument für strengere Ausfuhrbestimmungen

Wie konnte der „Islamische Staat“ Woher hat der IS also seine Waf­ so schnell so weite Gebiete erobern? fen? Er verfügt über russische Panzer, Woher bekommen die Terroristen ihre Flug­abwehrkanonen, Maschinenge­ Waffen? Und, das fragen sich einige wehre und Sturmgewehre; amerikani­ Politiker jetzt: Ist das deutsche Kriegs­ sche Humvees, Antipanzer-Raketen, waffenkontrollgesetz zu restriktiv? Haubitzen und „Stinger“-Boden-Luft- Angesichts der Vertreibung und Raketen sowie Haubitzen, Raketen- Ermordung von Christen, Jesiden und und Granatwerfer aus kroatischer Schiiten durch die IS-Kämpfer er­ und chinesischer Produktion. Einige scheint es – will man nicht, wie die dieser Waffen wurden mit Hilfe der USA, militärisch eingreifen – als ein Saudis auf dem Schwarzmarkt ge­ Gebot der Fairness, die kurdischen kauft. Der allergrößte Teil jedoch Peschmerga, die sich dem IS entgegen­ wurde von der syrischen und iraki­ stellen, mit Waffen zu unterstützen. schen Armee sowie „gemäßigten“ sy­ Der Fraktionsvorsitzende der Union rischen Rebellen erbeutet. im Bundestag, Volker Kauder, forderte Kann man sicher sein, dass Waf­ also eine Revision des Gesetzes, das fen für die Peschmerga nicht in die den Export deutscher Waffen in Kri­ Hände des „Islamischen Staates“ fal­ senregionen untersagt. len? Dass sie nicht von den Kurden Im Interview mit der WELT be­ benutzt werden, um gegen die iraki­ schwor Kauder auch Europa: „Ich sche Zentralregierung zu kämpfen? kann mir nicht vorstellen, dass die Dass sie nicht bei der PKK landen? europäischen Armeen ihre Waffen in Oder auf dem Schwarzmarkt? Zukunft nur noch in Amerika oder Das Arsenal der Dschihadisten ist sonst wo einkaufen“. Die Schaffung kein Argument dafür, die Ausfuhr­ einer gemeinsamen Rüstungsindust­ bestimmungen zu lockern. Es ist ein rie „wäre eine Aufgabe für Europa“. Argument dafür, weltweit den Waf­ Schon. Natürlich sollen deutsche Rüs­ fenverkauf strikter zu handhaben. tungsfirmen „europäische Armeen“ – Einheitliche europäische Standards, und auch die USA und unsere strate­ ob bei Gurken, Glühbirnen oder Ge­ gischen Partner in aller Welt, ein­ wehren, sind kein Wert an sich. Einigt schließlich Israel – weiterhin mit Waf­ sich Europa auf die strikten deutschen fen beliefern. Nur erfordert das nicht Waffenausfuhrbestimmungen: schön. die Lockerung der Ausfuhrbestim­ Wenn nicht, dann nicht. Und will mungen. Deutschland ist ja jetzt man irakische Christen, Jesiden, schon der drittgrößte Waffenexporteur­ ­Schiiten – und Ölfelder! – schützen, der Welt. (Kauders Vorstoß hat natür­ muss man das halt selber tun. lich nichts damit zu tun, dass in sei­ nem Wahlbezirk der Waffenproduzent ALAN POSENER ist politischer Korrespondent der WELT-Gruppe. Heckler und Koch beheimatet ist.)

144 IP • September / Oktober 2014