HERAUSGegeben von MICHAEL TÖTEBERG

Eine Serie von Achim von Borries Henk Handloegten

Mit Fotografien von Joachim Gern FrÉdÉric Batier Verlag Kiepenheuer & Witsch, FSC® N001512

1. Aufla­ ge­ 2018

© 2018 by Ver­lag Ki­epen­heu­er & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag­ ge­ stal­ tung:­ Rudolf Linn, Köln Umschlagmotiv: © X Filme Creative Pool Entertainment GmbH / Degeto Film GmbH / Beta Film GmbH / Sky Deutschland GmbH 2017 Innengestaltung: Anita Wertiprach, Hamburg Gesetzt aus der Neutraface Satz: Buch-Werk­statt GmbH, Bad Aib­ling Druck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG, Krugzell ISBN 978-3-462-05250-3 ist Gereon R ath

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Tom Tykwer dreht Babyl on Berlin

Liv Lisa Fries ist Charlotte Ritter

11 HENK Handloegten dreht

Peter Kurth ist bruno W olter Achim von Borries dreht Babyl on Berlin

vorwort

tom tykwer, henk handloe gten und achim v on borries

ilme sind wie Reisen; Reisen in fremde Welten, Zeiten, F Figuren. 2013 haben wir uns gemeinsam aufgemacht zu einer Reise in das sagenumwobene Berlin der Zwanzigerjahre — jenem verschwundenen Kosmos, welcher der Welt bis heute als Mythos erhalten ist. Am Anfang stand ein Roman von Volker Kutscher und der Wunsch, Zeit und Stadt wieder aufleben zu lassen und sie in einem Film als das zu feiern, was sie waren: Deutschlands radikaler Aufbruch in die Moderne, eine Hochzeit der Kunst und der Kultur, Nährboden politischer Utopien und Intrigen, ebenso kurze wie heftige Blüte in einer Zwischenkriegsphase. Das Amal­ gam der Zeit war widersprüchlich, geprägt von Revolution und Gegenrevolution. Zu jeder Strömung gab es ein »Dagegen«, der Zeitgeist pendelte gefährlich zwischen den Extremen — wer am Ende die Oberhand gewonnen hat, ist hinlänglich bekannt. Wie sehr die Jahre nach 1933 Gesellschaft und Land für Jahrzehn­ te verwüsteten, macht fassungslos und lässt sich vielleicht erst ­heute, mehr als 70 Jahre nach Kriegsende, wirklich ermessen. Im Mai 1929, in dem »Babylon Berlin« beginnt, konnte sich selbst der hellsichtigste Beobachter nicht ausmalen, wohin die »Reise« gehen würde. Schon in unseren ersten Gesprächen wurde klar: Wir müssen unsere Helden aus ihrer Gegenwart heraus erzählen.­ Ohne Wissen über die Zukunft, ohne Wertung und mahnenden Zeige­ finger der Nachgeborenen — und damit in genau der Widersprüch­ lichkeit, die alle Menschen zu allen Zeiten in sich tragen. Das Porträt einer Epoche sollte es werden, ein Sitten­gemälde und eine Liebes­ erklärung an Berlin, jene Stadt, die uns drei Zugezogenen in mehr als drei Jahrzehnten Heimat geworden ist. Berlin war in den Zwanzigern so international wie erst heute wieder. Es war Schmelztiegel und Mahlstrom in einem, ein Kaleidoskop von Glücksrittern und Verlorenen, schon damals arm und sexy. Und die Berliner? Sind und waren immer schnell, immer direkt, nie höflich, ihr rauer Charme schon damals ebenso

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entwaffnend wie gewöhnungsbedürftig. Doch in der Weimarer Republik gab es einen eigenen »Geist«, deutlich geprägt auch von einer jüdisch-deutschen Kultur, die unwiederbringlich verloren ist. Dieses Buch soll das babylonische Berlin vor allem in Bildern feiern. Schon lange vor dem Drehstart kam Joachim Gern mit sei­ ner Idee zu uns, ein fotografisches Making-of zu versuchen. Seine Bilder, die den Hauptteil dieses Buches ausmachen, dokumentie­ ren unsere Reise; zugleich bildet sich in ihnen eine eigene Welt ab. Unmittelbar sehen sie uns an, Gesichter der Gegenwart und doch aus der Vergangenheit. Frédéric Batier war der Standfoto­ graf, er kann wie kein anderer komplexe Szenerien in einem Bild zusammenfassen. Die Fotos, die er gemacht hat, fangen die Kon­ zentration und Stimmung am Set ein, sind Erinnerung und doch mehr als das: Zeugnis einer Liebe zum Detail, welche die Arbeit aller geprägt hat.

»Babylon Berlin« war von Anfang an ein Gemeinschaftsprojekt. Stefan Arndt, Uwe Schott und Michael Polle schulterten einen Produzentenjob, bei dem außergewöhnliche Konstellationen (wie zum Beispiel die Kooperation von ARD und Sky) ebenso heraus­ fordernd waren wie das Jonglieren mit einem verzwickten Bud­ get, das auf 16 völlig unterschiedliche Episoden zu verteilen war. Und so, wie wir drei eine gemeinsame Sprache finden muss­ ten, wurde der kreative Kosmos bald erweitert: um das fantasti­ sche Szenenbild von Uli Hanisch, die berauschenden Kostümbil­ Stellvertretend für das riesige der Pierre-Yves Gayrauds, die Lebendigkeit des Maskenbilds im Team, das in einem mehrjährigen Team um Heiko Schmidt und Kerstin Gecklein, die Unermüdlich­ Kraftakt »Babylon Berlin« geschaffen hat, danken wir keit der Editoren Alexander Berner, Claus Wehlisch­ und Antje unseren drei Regieassistenten Zynga — und natürlich die drei eigenen Handschriften unserer Sebastian Fahr-Brix, Arndt Bildgestalter Bernd Fischer, Frank Griebe und Philipp Haber­ Wiegering und Laura Mihartescu. landt, die zu einer einzigen neuen verschmolzen: Alle Abteilun­ Besonderer Dank gilt auch den gen haben miteinander und gemeinsam darum ge­rungen, diesen Partnern von ARD-Degeto, Sky und Beta-Film, die bereit Film ebenso modern wie historisch angemessen zu erzählen. waren, neue Wege gemeinsam zu Am Ende sind allerdings die Schauspieler das Gesicht dieser beschreiten. Last but not least Serie. Sie geben das ihre hin und machen aus den Vorlagen erst bedanken wir uns bei Michael Figuren, Menschen aus Fleisch und Blut. Wir durften mit Schau­ Töteberg, ohne den es dieses spielern arbeiten, die uns mit ihrem Talent und ihrer Leidenschaft Buch nicht gegeben hätte. hineinreißen in den Strudel der Geschichte. Die Arbeit mit ihnen gehört zu den beglückendsten Erfahrungen unserer Reise.

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VOM ROMAN Z UM FILM

michael töteberg

it »Der nasse Fisch«, dem ersten Band seiner Reihe um M Gereon Rath, hatte Volker Kutscher 2007 literarisches Neuland betreten. Drogen und Politik, Mord und Kunst, Emanzi­ pation und Extremismus: »Spree-Chicago«, ein Zitat von Walther Rathenau, diente Kutscher als Motto für den Auftakt. Die von extremen gesellschaftlichen Umbrüchen geprägte Phase deut­ scher Geschichte verknüpfte er mit klassischen Noir-Elementen, die seinerzeit Hardboiled-Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler in die Literatur einbrachten. Und ins Kino, denn sie waren filmaffine Autoren, so wie es auch Kutscher ist, der sich wiederum für Kommissar Gereon Rath und seine Welt vom Kino inspirieren ließ. Ende 2002 sah er kurz nacheinan­ Erschienen 2007: der zwei Filme, die zum entscheidenden Anstoß wurden: Sam Der Roman Mendes’ 1931 spielenden Gangsterfilm »Road to Perdition« und »Der nasse Fisch« Fritz Langs im Berlin des Jahres 1931 entstandenes Meisterwerk »M — Eine Stadt sucht einen Mörder«. Die Filmindustrie schielt immer nach verfilmbaren Best­ sellern. Aber es brauchte sechs Jahre und X Filme, um die Film­pläne mit Gereon Rath Wirklichkeit werden zu lassen. Man hatte seit Langem nach einem Stoff gesucht, der in den Zwanzi­ gerjahren spielt, da kamen die Kutscher-Romane gerade recht. Tykwer verabredete sich Ende Juni 2013 mit Kutscher bei X Filme in Berlin. Mit dabei waren Henk Handloegten und Achim von Borries, denn von Anfang an war klar: Ein Regisseur allein würde ein solches Projekt nicht stemmen können. Bei dem Gespräch pochte Kutscher nicht auf Werktreue. Solange die Filmemacher seine Figuren und den Roman nicht verrieten, ließ er ihnen freie Hand. Tykwer bedankte sich später per Brief bei ihm für das Vertrauen: »Ich brauche es als Rückendeckung, denn ich will ernsthaft etwas absolut Außer­ gewöhnliches, ein wenig Irrsinniges machen, eine Serie eben, wie es sie nicht mal ansatzweise bisher in Deutschland gegeben

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hat.« Zugleich kündigte er an: »Über viele kleine Unterarme, Verästelungen, Neuerfindungen und Variationen wirst du sicher (und hoffentlich angenehm) überrascht sein.« Die drei Filmemacher teilten sich nicht etwa die Episoden auf, sondern schrieben gemeinsam. Die Wände ihres Büros bei X Filme zierten Hunderte von Karteikarten mit Stichworten: Es galt, nicht den Überblick zu verlieren und einen dramaturgi­ schen Bogen über eine weite Strecke zu entwickeln, handelte es sich doch um ein wahrhaft episches Projekt. Der Roman gab die Eckpunkte vor, ansonsten gingen sie kreativ mit der literari­ schen Vorlage um, sahen — wie es Tykwer formulierte — in dem Buch »eine Einladung zum ausufernden seriellen Erzählen«, die sie beherzt annahmen. Das Format der Serie eröffnete dem filmischen Erzählen neue Möglichkeiten. Achim von Borries: »Man kann in Serien eine romanhafte Tiefe erreichen, man kann mit Figuren in Abgründe, in Sackgassen laufen wie im richtigen Leben — und sie trotzdem nicht verlieren.« Nebenfiguren und Milieus, die bei Kutscher nur gestreift werden, wurden aufge­ wertet. Es sei alles irgendwie dem Roman entwachsen, erklärt Tykwer, aber manche Stränge hätten sich verselbstständigt: »Noch nie habe ich mich einem Roman so verpflichtet gefühlt und ihn gleichzeitig hinter mir gelassen.« Im November 2015 lagen die Drehbücher komplett vor. Man traf sich in Berlin, um sie Volker Kutscher persönlich zu über­ reichen. Das war ein durchaus kritischer Moment, schließlich hatten die Filmautoren sich im Laufe der Zeit immer weiter vom Roman entfernt. Nach der Lektüre war Kutscher erst einmal ge­ »Kutscher lässt diese unterge- schockt: Da musste er ziemlich viel lesen, was nicht (oder ganz gangene Stadt so wieder aufleben, dass man denkt, man gehe durch anders) in seinem Roman stand, vor allem: Seine Charly war sie hindurch. So sollte auch die jetzt eine aus dem Proletariat, während sie bei ihm aus klein­ visuelle Umsetzung sein: Wir tun bürgerlichen Beamtenverhältnissen kam und Jura studierte. so, als gebe es die Stadt noch, »Babylon Berlin« wollte alle gesellschaftlichen Schichten und schauen nach links und nach sozialen Milieus der Stadt umfassen; indem die Filmautoren rechts, als würden wir den Film heute drehen.« Charlotte in eine Arbeiterfamilie verpflanzten, konnten sie eine doppelte Emanzipationsgeschichte erzählen, die eines Arbeiter­ Henk Handloegten kinds und einer Frau. »Ein Milieu, das bei mir im Roman am Rande vorkommt, wird dadurch mit ins Zentrum gerückt. Das ist durchaus plausibel und nicht unwichtig«, sagte Kutscher schließlich. »Die Party-Stadt Berlin mit all dem Glamour gab

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es damals wirklich, aber ebenfalls ein Elend, das wir uns heute kaum noch vorstellen können.« Eine Prämisse war: Die Serie sollte in Berlin gedreht werden, möglichst »on location«. Der Alexanderplatz wurde auf dem Alexanderplatz gedreht, obwohl Funkturm, Weltzeituhr und fast alles andere später wegretuschiert werden musste. Und so waren an einem Tag im Juni 2016 auf dem Alex, zwischen Elektronik­ markt und Galeria Kaufhof, abgerissene Proletarier und bettelnde Kriegsversehrte unterwegs. Ausstatter Uli Hanisch verwandelte das ehemalige Stummfilmkino Delphi — 1929 eröffnet, war das Stummfilmkino schon bald darauf ein »ehemaliges«, denn die Tonfilmrevolution stand vor der Tür — in den mondänen Tanz­ palast Moka Efti. Im Berliner Ensemble, dem ehemaligen Theater am Schiffbauerdamm, wo 1928 die »Dreigroschenoper« urauf­ geführt wurde und in »Babylon Berlin« während eines Staats­ besuchs die Operation Prangertag stattfindet, brauchte man nichts zu ändern. Für die Aufnahmen hatte sich Peter Kurth hoch

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oben in den Kronleuchter gezwängt, ebenso der Kameramann. »Man hat auch gute Doubles gefunden«, bescheinigt Kutscher den Filmemachern. »Statt des Polizeipräsidiums, der Roten Burg, die nicht mehr steht,nahm man das das Rote Rathaus, weil es die­ selbe Backstein-Neorenaissance-Fassade hat. Liebevoll kopierte man die Türmchen des Präsidiums hinein.« Dass Studio Babelsberg gerade ein »Metropolitan Backlot« plante, erwies sich als Glücksfall: Uli Hanisch entwarf die »Neue Berliner Straße« gleichzeitig für das Studio und für »Babylon Berlin«. Zwei traditionsreiche Institutionen der Berliner Gastro­ nomie wurden dort gebaut. Schon einmal wurde von der Straße aus ein Bösewicht im Café Josty beobachtet: Herr Grundeis, Das Cover der ersten der dem Emil im Zug das Geld gestohlen hat, macht es sich auf englischen Ausgabe von der Terrasse gemütlich. Während der Halunke »Eier im Glas »Der nasse Fisch« und solche Sachen« isst, steht Emil hinter einer Litfaßsäule und lässt ihn nicht aus den Augen. Erich Kästner schrieb »Emil und die Detektive« 1929 in seinem Stammcafé, dem Josty. Charlotte geht mit Greta — die angeblich keinen Hunger hat, dann aber ordentlich reinhaut — zu Aschinger. Das »Dorado für die Schnell- und Billigesser«, so Curt Moreck in seinem Stadtführer, war eine frühe Form von Fast-Food-Systemgastronomie auf der Basis von Erbsensuppe. »Aschinger hat ein großes Café und Restaurant. Wer keinen Bauch hat, kann einen kriegen, wer einen hat, kann ihn beliebig vergrößern.« Das steht in einem Roman, der eben­ falls 1929 veröffentlicht wurde: »Berlin Alexanderplatz« von Alfred Döblin. Am 17. Mai 2016 begannen die Dreharbeiten. Ein Mammut­ projekt: zwei Staffeln, zusammen 16 Episoden à 45 Minuten, Budget rund 38 Millionen Euro. 180 Drehtage, 230 Sprechrollen, ganze Statistenheere, 50 Hauptmotive und 240 Nebenschau­ plätze, fast 400 Mitarbeiter. Und drei Regisseure. Das wäre nicht gegangen, hätten Tykwer, Handloegten und von Borries nicht zuvor schon Jahre über dem Drehbuch zusammengeses­ sen und eine gemeinsame Vision entwickelt. Viel drang von den Dreharbeiten nicht nach außen. Keine Pressetermine, stattdessen: Closed Set. Journalisten wurden Einblicke in die Produktion des stargespickten Serienprojekts verwehrt. Für den Romanautor machte man eine Ausnahme. Am 18. September war Volker Kutscher auf Setbesuch.

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volker kutscher

atürlich bist du aufgeregt. Du wirst sie zum ersten Mal N sehen. Charlotte Ritter. Stefan Jänicke. Die Gräfin Sorokina. Das »Moka Efti«. Die Welt deiner Fantasie wird Gestalt annehmen. Die Welt von Gereon Rath. Dein Roman »Der nasse Fisch« wird in Szene gesetzt. Aber das Erste, was du siehst, als du dich dem Drehort näherst, ist ein Bild, so skurril, dass es sogar in Berlin Aufmerk­ samkeit erregt: Prenzlauer Allee, Kreuzung Ostseestraße; eine riesige Menschentraube auf dem Fußgängerüberweg, der zu Pit Stop hinüberführt, zu Rewe und Fressnapf und Aldi, zu einer beispielhaft hässlichen Ansammlung deutscher Gewerbe- architektur des 21. Jahrhunderts, wie sie sich nicht nur in Berlin in die vorhandenen Baulücken frisst. Doch die Menschen, es sind an die hundert, die brav das grüne Ampelmännchen abge- wartet haben, bevor sie die Straße überqueren, wirken, als seien sie aus einer riesigen Zeitmaschine gefallen. Männer in Volker Kutscher arbeitete nach Dreiteilern und Hut, Frauen in Hängekleidchen und Cloche dem Studium der Germanistik, über dem Bubikopf, Berliner aus einem anderen Jahrzehnt, aus Philosophie und Geschichte zu- nächst als Tageszeitungsredakteur, einem anderen Jahrhundert auf dem Weg zum Tanztee. bevor er seinen ersten Kriminal- Die Passanten, die nicht wissen, was da los ist, staunen roman schrieb. Heute lebt er als Bauklötze. Du, der du weißt, was da los ist, staunst ebenfalls. freier Autor in Köln. »Der nasse Vielleicht keine Bauklötze, aber: So groß hast du dir das nicht Fisch« ist der Auftakt zu einer vorgestellt. Dass da ein halbes Stadtviertel auf den Kopf gestellt Reihe von Romanen um Kommissar Gereon Rath, deren siebter Band wird. Auf dem Mittelstreifen der Ostseestraße, wo sonst Autos »Marlow« gerade erschienen ist. parken, auf einer Fläche so groß wie zwei Fußballfelder, stehen jetzt Zelte. Riesige Zelte, festzeltgroße Zelte. Und dahinter Lastwagen, Anhänger, Trailer. Eine richtige kleine mobile Stadt. Eigentlich hast du es doch gewusst: Dass 150 Statisten mit­ wirken, um das Nachtleben im »Moka Efti« des Jahres 1929 möglichst lebensecht aufleben zu lassen. Aber du hast nicht daran gedacht, dass diese 150 Leute auch eingekleidet werden müssen, dass sie geschminkt werden, dass ihnen die Haare

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­zurechtgemacht, dass Achselhaare angeklebt werden müssen Der Autor auf Setbesuch: (kein Witz!), dass die alle irgendwann ja auch mal Pause haben Volker Kutscher vorne links, und etwas essen und trinken müssen. Eigentlich alles außer an der Kamera Tom Tykwer und Christian Almesberger, ganz übernachten. Der Anblick ist gleichermaßen beeindruckend wie links steht Frank Griebe. desillusionierend. Das hier ist der Maschinenraum des Sets; hier In der Loge Lars Eidinger als wird geschuftet und geschwitzt, damit der Dampfer fährt, doch Alfred Nyssen und Holger die Passagiere bekommen ihn nie zu sehen, den Schweiß nicht Handtke als sein Anwalt. und nicht die Schufterei. Du freust dich, einen Blick in den Ma­ schinenraum werfen zu können, doch mehr noch interessiert dich der Dampfer. Ein kurzer Zwischenstopp in der Zeltstadt also, und es geht weiter, über dieselbe Fußgängerampel, über die vorhin noch hundertfünfzig junge Leute in Zwanzigerjahre-Klamotten gegangen sind, einmal um die Ecke, in die Gustav-Adolf-Straße, wo Berlin schon wieder nach Berlin aussieht und nicht nach austauschbarer deutscher Hässlichkeit; hinein in das ehemalige Stummfilmkino Delphi, das sich an diesem September­tag des Jahres 2016 ins Epizentrum des Berliner Nachtlebens verwandelt

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hat. Des Berliner Nachtlebens im Frühjahr 1929. Aus dem Delphi ist der Tanztempel »Moka Efti« geworden. Du betrittst den Raum auf demselben Weg wie die Zuschau­ er von »Babylon Berlin« in jener Szene, in der sie Charlotte zum ersten Mal ins Innere des »Moka Efti« folgen. Das weißt du noch nicht, weil du diese Szene erst viel später auf dem Bildschirm sehen wirst. Aber es ist derselbe Weg, dieselbe überwältigende Erfahrung. Plötzlich öffnet sich, nach dem ruhigen Foyer und »Gereon Rath habe ich im Buch einer kurzen Strecke durch den Seitengang, der große Saal, und ganz bewusst nur grob skizziert, der ist gedrängt voll mit Menschen. Eben jenen Menschen, die weil ich wollte, dass jeder Leser sich seinen eigenen Gereon vor- du zuvor über die Kreuzung hast gehen sehen. Aber nun sind stellt. Der mag nicht bei jedem sie in ihrem Element. Hier sind sie keine Aliens, hier passen sie aussehen wie in der Serie, doch hinein, hier dominiert die Eleganz der Zwanziger. Volker Bruch spielt die Rolle Lautes Stimmengewirr. An der Theke steht eine Champagner- großartig, er zeigt Rath als einen Mann, der nicht genau weiß, was Pyramide, dahinter Barmänner mit Fliege, auf der Bühne, unter er will; das passt zur Figur, wie dem Art-déco-Neon-Logo des »Moka Efti«, die Band. Tänzerinnen ich sie angelegt habe.« im Bananenrock. Lichtsäulen. Bis in die Kleinigkeiten, Speise­ Volker Kutscher im Interview der FAZ karten, Aschenbecher und Streichholzbriefchen, ist hier alles auf Zwanziger getrimmt. Die wenigen Menschen, die anders gekleidet sind, in Jeans und Sneakers, fallen kaum auf, sie sind eindeutig in der Minderheit. Arbeiter aus dem Maschinenraum. Und einer der drei Steuermänner: Tom Tykwer. Letzte Achselhaare werden angeklebt. Zigaretten angezün­ det, künstlicher Schweiß versprüht, gleich soll gedreht werden. Du nimmst in der Loge Platz, hast den besten Blick auf die Bühne. Denn auch dort tut sich was. Das Saallicht geht aus, das Bühnenlicht an. Die Band beginnt zu spielen, und dann kommt sie auf die Bühne, mit schwarzem Ledermantel, schwarzem Hut und schwarzem Schnurrbart: Severija Janusauškaitė als Nikoros, das Show-Alter-Ego von Swetlana Gräfin Sorokina. »Zu Asche, zu Staub, dem Licht geraubt«. Gänsehaut. Das Lied ist viel moderner, als du erwartet hast. Eigens für »Babylon Berlin« geschrieben. Passt das überhaupt in die Zeit? Das ist das Erste, was du denkst. Und gibst dir selbst die Antwort. Ja und nein. Ja, weil damals in der Kunst so vieles möglich war und Neues ausprobiert wurde, weil auch die Instru­ mentierung stimmt. Nein, weil die Musik auf Traditionen zurück­ greift, die es 1929 noch nicht gab. Rammstein kommt dir in den Sinn. Rammstein als Salonorchester. Dazu eine Stimme, die an

27 Zu Asche, zu Staub dem Licht geraubt doch noch nicht jetzt Wunder warten bis zuletzt

Ozean der Zeit ewiges Gesetz zu Asche, zu Staub zu Asche doch noch nicht jetzt zu Asche, zu Staub dem Licht geraubt doch noch nicht jetzt Wunder warten doch noch nicht jetzt Wunder warten bis zuletzt es ist wohl nur ein Traum das bloße Haschen nach dem Wind wer weiß es schon genau die Uhr an deiner Wand sie ist gefüllt mit Sand leg deine Hand in mein und lass uns ewig sein du triffst nun deine Wahl und wirfst uns zwischen Glück und Qual doch kann ich dir verzeihen du bist dem Tod so nah doch dein Blick so klar erkennt er mich, ich bin bereit und such mit dir Unsterblichkeit besuch in b abylon

Zarah Leander erinnert. Was für eine Kombination! Es haut dich in den Sessel. Und die Frau da auf der Bühne, diese Frau, die einen Mann spielt — was für eine Ausstrahlung, was für ein Charisma, was für eine Bühnenpräsenz. Und was für eine Performance. Du Zu Asche, zu Staub vergisst, dass du gerade bei Dreharbeiten zuschaust; die Men­ dem Licht geraubt schen unten tanzen ausgelassen, du vergisst, dass es Statisten doch noch nicht jetzt sind, du siehst keine Kameras mehr, keine Kabel, keine Mikro­ Wunder warten bis zuletzt fone, nur noch diese grandiose Show da auf der Bühne und die Ozean der Zeit Ekstase auf der Tanzfläche, hörst dieses Lied, das sich immer ewiges Gesetz mehr in deinen Gehörgang schraubt. Und das mit einem pyro­ zu Asche, zu Staub technischen Knalleffekt endet, wie es einem Lied geziemt, das zu Asche Rammstein gespielt hätten, wenn es die 1929 schon gegeben doch noch nicht jetzt hätte. Als es zu Ende ist, hättest du beinahe applaudiert. Viel­ zu Asche, zu Staub leicht hast du es sogar. Jedenfalls ist dir klar, das hier ist der dem Licht geraubt Song. Du weißt noch nicht, dass er in unterschiedlichen Versio­ doch noch nicht jetzt nen immer wieder auftauchen wird in »Babylon Berlin«, über die Wunder warten ganze Strecke der Fernsehserie. Aber du weißt, dass er auf doch noch nicht jetzt den Punkt bringt, was »Babylon Berlin« sein will und sein wird: Wunder warten bis zuletzt das Gestern im Heute, das Heute im Gestern. »Babylon Berlin« es ist wohl nur ein Traum ist keine historische Serie, so wie deine Romane keine histori- das bloße Haschen nach dem Wind schen Romane sind. wer weiß es schon genau Wir sind beim Film, also wird die Szene wiederholt, der ganze großartige Auftritt von Severija Janušauskaitė, der eksta­ die Uhr an deiner Wand tische Tanz der Hundertfünfzig. Irgendwo da unten tanzt auch sie ist gefüllt mit Sand leg deine Hand in mein Charlotte. Charlotte Ritter. Liv Lisa Fries. Doch du kannst sie »Die Figuren sind anders angelegt und lass uns ewig sein nicht ausmachen im Gewühl. Da unten ist sie eine von vielen. als im Roman. Charlotte hat einen Du wirst sie erst später treffen, kurz darauf, nicht am Set, son­ anderen sozialen Hintergrund, sie muss sich von weiter unten nach du triffst nun deine Wahl und dern im Maschinenraum, in der Zeltstadt auf der Ostseestraße. wirfst uns zwischen Glück und Qual oben kämpfen, aber vom Charak- Sie sitzt auf der Treppe ihres Trailers, blinzelt unter der Sonnen­ doch kann ich dir verzeihen ter her ist es dieselbe Figur, eine du bist dem Tod so nah brille ins Licht, neben ihr sitzt Anton von Lucke, beide noch in Frau, die die neuen Freiheiten doch dein Blick so klar ihren Kostümen. Sie ist Charlotte Ritter, er ist Stefan Jänicke. der Republik nutzen möchte, um erkennt er mich, ich bin bereit Charlotte ist die wichtigste weibliche Figur deiner Romane, sich zu emanzipieren.« und such mit dir Unsterblichkeit die wichtigste nach Gereon Rath. Und Liv Lisa Fries kommt der Volker Kutscher im Interview der FAZ Charlotte Ritter deiner Vorstellung auf gespenstische Weise nahe. Ist gleichermaßen tough und zerbrechlich. Du siehst Charly. Auch wenn sie im Film nur Lotte genannt wird, für dich ist es Charly. Und Liv Lisa Fries sieht so aus, wie du dir Charly vorgestellt hast. Trotz der Änderungen, die das Drehbuch an

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deiner Figur vorgenommen hat. Natürlich ist sie anders. Und dann auf erstaunliche, ja erschreckende Weise auch wieder genauso wie in deiner Fantasie. Die Lotte Ritter von »Babylon Berlin« ist ­hemdsärmeliger, ­vielleicht auch ein bisschen weniger damenhaft als die ­Charly Ritter der Romane. Lotte stammt aus ärmsten proletarischen Verhältnissen, während Charly als einzige Tochter eines Gefängnis­wärters in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. Aber so unterschiedlich die beiden Figuren auch angelegt »Wer mich wirklich umgehauen sind — die ­proletarische Fernsehlotte und die kleinbürgerliche hat, ohne dass ich damit die Roman-Charly —, so identisch sind sie doch in ihrem Wesen und anderen schauspielerischen Leistungen abwerten möchte, ist dem, was sie antreibt im Leben: es der Welt, sosehr die einem Peter Kurth als Bruno Wolter. auch Steine in den Weg legt (und das sind durchaus gewaltige Er ist ja nicht nur ein Bösewicht. Steine), zu zeigen. Dass sie sich nicht unterkriegen lassen, es trotz Er ist zwar korrumpierbar und allem nach oben schaffen. Dass sie stark genug sind, um sich als brutal, wie man anfangs sieht, Frauen in einer männerdominierten Welt zu behaupten. Dass sie er muss sich durchsetzen, aber wenn man ihn mit seiner Frau es mit dem Leben, so unerbittlich und gnadenlos sich dieses auch Emmy erlebt, wird einem warm zeigen wird, immer und immer wieder aufnehmen werden. ums Herz.« Dann geht es ins Produktionsbüro. Du hast dir vier, fünf Volker Kutscher im Interview der FAZ Räume vorgestellt, in denen ein paar Schreibtische stehen und eine Kaffeemaschine blubbert oder, wenn es hochkommt, eine Espressomaschine dröhnt. Aber auch hier hat deine Vorstellung nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Du betrittst einen riesigen Gebäudekomplex in der Mauerstraße. Ehemals DDR-Innen- ministerium. Noch ehemalser: Deutsche Bank. Ganze Zimmer­ fluchten. Endlose Gänge. Treppenhäuser. Und alles von der Produktion in Beschlag genommen. Unten sind ganze Trakte in Lagerräume und Kleiderschränke verwandelt, alles voller Garderobe, Hunderte Kostüme, die in der ehemaligen Küche die nötige Patina erhalten. Oben dann tatsächlich Büros, Schneideräume, aber auch Sets. Die meisten Innenaufnahmen im Polizeipräsidium wurden hier gedreht. Der Gangsterluxus des Armeniers. Und Charlys Proletarierelend im Kreise ihrer Großfamilie, die runtergerockte Zweizimmerwohnung, in der gleich vier Generationen hausen. Und an den Wänden in den langen Gängen überall Skizzen, Fotos, Produktionspläne. Hier wird dir zum ersten Mal wirklich klar, welch riesiger Aufwand für »Babylon Berlin« getrieben wird. Und für einen Moment wirst du ganz ehrfürchtig. Denkst daran, wie du dich

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vor mehr als zwölf Jahren hingesetzt hast, um einen Roman »Es ist eine Interpretation, aber anzufangen, in dem ein Kölner Kommissar im Berlin des Jahres sie widerspricht nicht dem, was ich erzähle. Eine Adaption darf 1929 ermitteln sollte. Ein Buch entsteht in Einsamkeit, im stillen frei mit der Vorlage umgehen.« Kämmerlein. Du und dein leerer Bildschirm. Den es zu füllen gilt; mit Buchstaben, Worten, Sätzen, mit Sinn, mit einer Ge­ Volker Kutscher im Interview der FAZ schichte. Ein Film ist das komplette Gegenteil. Und dann durchzuckt dich ein Gedanke: Mensch, wenn du dich vor zwölf Jahren nicht hingesetzt und diesen ­Ro­man ge­schrieben hättest, dann gäbe es das alles hier nicht. Schon eine Art Schmetterlingseffekt. Jedenfalls nicht vorhersehbar. Da sitzt einer monatelang allein vor seinem Computer, und viele Jahre später wird ein ehemaliges Innenministerium in Beschlag genommen, wird der Alex gesperrt, wird eine neue Außenkulisse aus dem Boden gestampft, und und und. Darf man gar nicht dran denken, an so was. Besser wieder zurück an den Schreibtisch. Die Filmwelt vergessen und zurück in die Roman­ welt. Es sind noch ein paar Rath-Romane zu schreiben.

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BILDER VOM DREH fotografien v on Frédéric Batier

Karl Markovics, an der Kamera Bernd Fischer

Severija Janušauskaitė und Ivan Shvedoff, an der Kamera Bernd Fischer

Links: Achim von Borries

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Tom Tykwer bei der Familie Ritter: Laura Kiehne, Pit Bukowski und Liv Lisa Fries

1. Mai. Philipp Haberlandt an der Kamera

Henk Handloegten und Leonie Benesch, an der Kamera Philipp Haberlandt

34 bilder vom dreh

Dreharbeiten am Alexanderplatz

Henk Handloegten, Fritzi Haberlandt und Marie Gruber

Im Auto Kameramann Frank Griebe

35 bilder vom dreh

Liv Lisa Fries, Irene Böhm und Tom Tykwer

Ivo Pietzcker mit Tom Tykwer in der Industriebrache

Hannah Herzsprung und Henk Handloegten

36 bilder vom dreh

Impressionen von den Dreharbeiten der 1.-Mai-Demonstration

In Aktion: Philipp Haberlandt filmt Peter Kurth und Volker Bruch

Frank Griebe an der Kamera. Aufnahmen zum Kriegstrauma von Gereon Rath

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SERIENGUIDE

1. Staffel

Atmen Sie ganz ruhig — ein und aus. Versuchen Sie nicht, Ihre Gedanken zu ordnen. Lassen Sie sie einfach los und atmen Sie ganz tief. Und wenn ich »Jetzt« sage, werden Sie die Augen öffnen. Jetzt!

Machen Sie die Augen wieder zu. Gut. Und nun gehen Sie doppelt so tief in Ihre Entspannung wie zuvor. Lassen Sie sich Zeit.

Ich führe dich jetzt zurück zu der Quelle. Zu der Quelle deiner Angst. Ich werde dich leiten Schritt für Schritt. Schritt für Schritt bis zur Quelle deiner Angst.

Bis zur Wahrheit.