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der Bruch mit den Studios. Gemeinsam mit einer Gruppe befreundeter Filmemacher begründete er das Neue Taiwanesische Kino, das in den Folgejahren persön- lichere, experimentellere Formen des Filmschaffens erkundete. Bevor er sich den historischen Stoffen zuwandte, drehte Hou eine Serie von Filmen, die von eigenen Jugenderlebnissen inspiriert waren und in denen er Schritt für Schritt jene lyrische, antidramati- sche filmische Form etablierte, die sein Schaffen bis heute prägt.

Die Filme, die Hou ab Mitte der 1990er Jahre verwirk- lichte, lassen sich nicht mehr thematisch oder stilis- tisch gruppieren; tatsächlich stellt jeder einzelne einen ganz eigenen ästhetischen Entwurf dar. Manche Also like Life blicken auf die urbane Gegenwart Taipehs, andere auf chinesische Bordelle in der Frühphase des 20. Jahr- Die Filme von Hou Hsiao-hsien hunderts. Zweimal unternimmt Hou Ausflüge über die taiwanesischen Landesgrenzen, nach Japan und Frankreich. Mit seinem neuesten Film The Assassin Hou Hsiao-hsien wurde im Jahr 1947 in der südchine- kehrt er schließlich zu seinen Anfängen im populären sischen Guangdong-Provinz geboren. Schon als er ein Genrekino zurück. Jahr alt ist, flieht er mit seiner Familie vor den Schre- Die Filmreihe Also like Life – Die Filme von Hou Hsiao- cken des Bürgerkriegs nach , wo ein Jahr später hsien , die das Zeughauskino in Zusammenarbeit mit von der regierenden Kuomintang-Partei das Kriegs- Richard I. Suchenski (Center for Moving Image Arts at recht ausgerufen wird. Die Ereignisse jener Jahre, in Bard College) und der Deutschen Kinemathek orga- denen unzählige Menschen im Krieg fielen oder von nisiert, ermöglicht es erstmals in Berlin, dieses viel- Geheimdiensten beseitigt wurden, prägen Taiwan in gestaltige Werk, das die „Zeichen der Geschichte“ vielerlei Hinsicht bis heute; und ebenso das Kino Hou (Rainer Rother) immer wieder neu anordnet, in seiner Hsiao-hsiens, des größten taiwanesischen Regisseurs. Gänze zu erkunden. Bis auf The Assassin werden alle In Europa ist Hou vor allem durch seine 1989 mit A City Langfilme auf Zelluloidmaterial vorgeführt, zum Teil of Sadness begonnene historische Trilogie bekannt in eigens für diese Werkschau gezogenen Kopien. geworden, die als eine Art filmische Traumaaufarbei- Also like Life wurde in Zusammenarbeit mit der Deutschen tung verstanden werden kann: Der Regisseur interes- Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, dem siert sich gerade nicht für die bloße Ereignisgeschich- Culture Center, dem Taiwan Film Institute und dem Kultur- ministerium der Republik China (Taiwan) organisiert. Eine zur te, sondern für die Narben, die die Vergangenheit im Retrospektive erschienene englischsprachige Monografie kollektiven Gedächtnis, aber auch in individuellen über Hou Hsiao-hsien ist zum Preis von 22 € an der Kinokasse erhältlich. Biografien hinterlassen hat. Wo sich andere Historien- filme zu allwissenden Richtern über die Geschichte aufspielen, wird bei Hou der Akt des Erinnerns selbst prekär. Freilich repräsentiert die historische Trilogie nur einen kleinen Teil dieses einmaligen Werks. Hou hatte seine Karriere bereits 1980 begonnen, zunächst noch in- mitten der taiwanesischen Filmindustrie. 1983 folgte 6 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 7

Tong nien wang shi Er zi de da wan ou A Time to Live, a Time to Die The Sandwich Man

RC 456L, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Yu An-shun, Tien Feng, RC 456Q, R: Hou Hsiao-hsien, Tseng Chuang-hsiang, Wan Jen, B: Wu Nien-jen, Mei Fang, Tang Ju-yun, Hsiao Ai, Hsin Shu-fen, 4Q6' · 35 mm, OmeU D: Chen Po-cheng, Yang Li-yin, 4TU' · 35 mm, OmeU DI 26.52. um 65 Uhr · Eröffnung der Retrospektive mit Rainer Rother FR 2M.52. um 2N.35 Uhr und Thomas Arslan

Unter den vier großen autobiografisch inspirierten Filmen, die Hou in den 1980er Jahren gedreht hat, ist A Time to Live, a Time to Die der hemmungslos emotionalste. In dem Coming-of-Age-Drama um den kratzbürstigen Teenager Ah Hsiao fließen die Tränen gleich literweise - der um drei Todesfälle herum inszenierte Film enthält einige der eindrücklichsten Heulszenen der Filmgeschichte. Hous Inszenierung drückt allerdings ihrerseits keineswegs auf die Tränendrüse: Der Tod ist ein Teil des Lebens und verwandelt sich mit der Zeit genauso in eine Erinnerung wie die von der Großmutter zubereitete Lieblings- mahlzeit oder der Baum vor dem Haus der Nachbarn. A Time to Live, a Time to Die ist ein früher Höhepunkt im Schaffen des Regisseurs Ein Schlüsselwerk der jüngeren taiwanesischen Filmgeschichte. und Hous erste Zusammenarbeit mit dem Kameramann Lee Ping Bin, Gemeinsam mit seinen Kollegen Wan Jen und Tseng Chuang-hsiang dessen malerisch ausgeleuchtete Teleobjektivfotografie seinem dreht Hou 1983 einen Omnibusfilm, der eine neue Form des Film- Werk seither eine unverwechselbare Textur verleiht. (lf) schaffens ankündigt: Alltagsgeschichten statt Genreformeln, location shooting statt Studiokulisse, auch: Freundschaftsnetzwerke statt Hai shang hua Filmindustrie. Alle drei Episoden von The Sandwich Man spielen in den 1960er Jahren, zu Zeiten des Kalten Kriegs.

RC/J 4556, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Tony Leung, Michiko Hada, Hous Beitrag eröffnet den Film und gibt ihm den Titel: Es geht um Carina Lau, , Michelle Reis, Rebecca Pan, Vicky Wei, 44I' · 35 mm, OmeU einen Mann, der als lebende Werbetafel einen Sandwich-Shop MI 23.52. um 65 Uhr + SO 2:.52. um 65.35 Uhr anpreist. Auch die anderen beiden Episoden handeln von Geschäfts- Ein Ausnahmefilm in Hous Filmo- und Tauschbeziehungen: Zunächst verkaufen zwei Freunde defektes grafie, ein wunderschön foto- Kochzubehör, dann versucht ein Mann, aus einem von einem US- grafiertes Werk der unbedingten Soldaten verursachten Unfall Profit zu schlagen. Diese letzte Episode Stilisierung: Der komplett im verärgert konservative Politiker, sie wird zum ersten Skandalfilm Studio entstandene Flowers of des Neuen Taiwanesischen Kinos. (lf) Shanghai erweckt ein chinesi- sches Rotlichtviertel aus der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwen- de zum Leben. Fließende Kamerabewegungen zeigen und verbergen zugleich das Schicksal von fünf Prostituierten. Die Frauen sind der männlichen Willkür zwar letzten Endes schutzlos ausgeliefert, den- noch verläuft jede Lebenslinie ein wenig anders – und auch die Freier müssen erkennen, dass die opiumgeschwängerte Gegenwelt der Bordelle kein Ausweg, sondern eine Sackgasse ist. Die Vergangenheit, in die Flowers of Shanghai entführt, ist nicht mehr dieselbe, von der die Filme der historischen Trilogie erzählen. Es gibt aus diesen rötlich- ocker-gefärbten Bildern, aus dieser versiegelten Zeit des ewigen erzwungenen Liebesdienstes kein Entkommen, keinen Überschlag in die Gegenwart. (lf) 8 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 9

Jiu shi liu liu de ta Zai na he pan qing cao qing The Green, Green Grass of Home

RC 456T, R/B: Hou Hsiao-hsien, D: Kenny Bee, Feng Fei-fei, Anthony Chan, 5T' RC 456I, R/B: Hou Hsiao-Hsien, D: Kenny Bee, Chiang Ling, Chen Mei-feng, 54' · 35 mm, OmeU · 16 mm, OmeU FR 2M.52. um 62 Uhr SA 2U.52. um 62 Uhr

Der dritte und letzte Film, den Hou mit Kantopop-Superstar Kenny Bee unter den Bedingungen des kommerziellen Starkinosystems gedreht hat, ist, was Bildsprache und erzählerischen Rhythmus angeht, schon nah an jenen Werken, mit denen der Regisseur unmit- telbar danach das Neue Taiwanesische Kino begründete: Eine mit leichter Hand skizzierte und ein weiteres Mal mit eingängigen Musik- einlagen unterfütterte Romanze zweier Lehrer (Bee und Chiang Ling) steht nur nominell im Zentrum, faktisch tritt sie über weite Strecken Gleich in seinem ersten Film verschlägt es Hou Hsiao-hsien an seinen in den Hintergrund zugunsten atemberaubender Naturaufnahmen Lieblingsschauplatz, in die ländliche taiwanesische Provinz. Das und rührender Miniaturen aus dem Leben der Schüler. Die wendige Cute Girl des Titels ist Wenqi Pan (Feng Fei-fei), Tochter aus reichem Regie und das ungezwungene Spiel der jungen Darsteller haben den Haus, die den Sohn eines Geschäftspartners ihres Vaters heiraten soll Filmwissenschaftler und Hou-Verehrer David Bordwell dazu veran- – dann aber erst einmal ihre Tante auf dem Land besucht und dort lasst, The Green, Green Grass of Home mit den Jugendkomödien des den Landvermesser Daigang Gu (Kenny Bee) kennen lernt. Bald muss Japaners Yasujirō Ozu zu vergleichen. (lf) das Paar die im taiwanesischen Kino dieser Zeit oft gestellte Frage beantworten, ob ihre junge Liebe dem familiären Druck standhalten Bei qing cheng shi kann. Hous Debüt gehorcht auf den ersten Blick ganz den Regeln der kom- RC/HK 4565, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, Wu Nien-je, D: Li Tien-lu, Chen merziellen taiwanesischen Filmindustrie seiner Zeit. Die gelegentlich Sung-yung, Jack Kao, Tony Leung, Hsin Shu-fen, 4L6' · 35 mm, OmeU sentimentale, meist jedoch erfreulich schwungvolle romantische DI 2W.52. um 65 Uhr Komödie mit musikalischen Einlagen ist von den Produzenten vor Am 28. Februar 1947 schlugen Truppen der nationalistischen allem als Vehikel für den männlichen Hauptdarsteller Kenny Bee an- Kuomintang-Bewegung äußerst blutig einen Aufstand nieder, dem gelegt, einen bis heute im gesamten chinesischen Sprachraum er- sich große Teile der taiwanesischen Bevölkerung angeschlossen folgreichen Popstar. Hous Regie ist schon in diesem grundsympathi- hatten. Dieses traumatische Datum sowie die nachfolgenden bleier- schen Debüt elegant und aufmerksam, erhebt sich nie über die nen Jahre des „weißen Terrors“ verarbeitet Hou in seinem bekann- Figuren. (lf) testen Film, der 1989 auf dem Filmfestival Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. A City of Sadness begnügt sich nicht damit, brav Ereignisgeschichte nachzuerzählen; stattdessen bricht sich in dem zugleich episch formatierten und intim inszenierten Film der historische Schrecken im tragischen Schicksal der Familie Lin, die verzweifelt versucht, in den Wirren des Bürgerkriegs Alltagsrou- tinen aufrecht zu erhalten. Aber vergebens. Zurück bleibt ein Kalei- doskop fragmentarischer Erinnerungen, das in krassem und unbeding- tem Widerspruch steht zu den heroischen Kollektiverzählungen. (lf) 10 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 11

Xi meng ren sheng Hao nan hao nu The Puppetmaster Good Men, Good Women

RC 455Q, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, Wu Nien-je, D: Li Tien-lu, Lim RC/J 455L, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Annie Shizuka Inoh, , Giong, Chen Kuei-chung, Tsuo Chuwei, Hung Liu, Vicky Wei, 4ZI' · 35 mm, OmU Jack Kao, Vicky Wei, Hsi Hsiang, 4T6' · 35 mm, OmU MI 65.52. um 65 Uhr DO 62.52. um 65 Uhr

Der zweite Teil von Hous historischer Trilogie führt zurück in die Zeit Der Abschluss seiner historischen Trilogie ist Hous abstraktester, der japanischen Besatzung Taiwans während des Pazifikkriegs. Er vielleicht auch sein ambitioniertester Film. Die hochgradig reflexive, basiert auf den Erinnerungen des legendären Puppenspielers Li Tian-lu , über mehrere Zeit- und Realitätsebenen gestaffelte Erzählanord- der in zwei vorherigen Filmen des Regisseurs Nebenrollen übernom- nung von Good Men, Good Women nimmt ihren Ausgangspunkt bei men hatte. Seine Puppenvorführungen, die immer wieder in den Film Dreharbeiten zu einem Biopic über das Leben eines (historisch ver- eindringen, ziehen eine reflexive Ebene ein, verweisen aber auch bürgten) Liebespaars, das in den 1930er, 1940er und 1950er Jahren auf einen Begriff von volkstümlicher Kunst, den Hous Kino nie ganz im politischen Untergrund aktiv war und erst gegen die japanischen hinter sich lässt. Besatzer, dann gegen die nationalistische Kuomintang-Regierung kämpfte. Zu den politischen Verwerfungen seiner Zeit verhält sich Li nicht, oder höchstens indirekt. Darin ähnelt er Hou, der nicht daran interessiert Stärker als in den vorherigen Filmen arbeitet Hou mit antinaturalis- ist, Geschichte nachträglich zu ordnen und moralisch zu beurteilen, tischer Stilisierung: Ein Film im Film ist im monochromen Stil des sondern sich damit begnügt, einigen höchstpersönlichen Echos der frühen Kinos gehalten. Daneben stehen alternative Erinnerungsbilder Vergangenheit nachzuspüren. Gesten wie das Anzünden einer Ziga- in bunten, knalligen Farben. Good Men, Good Women treibt die Dekon- rette oder Bilder wie das einer staubigen Landstraße in der Sommer- struktion klassischer Modelle der Geschichtsdarstellung auf die hitze sind in der erinnernden Rückschau wichtiger als die Frage, wer Spitze: Jeder Erinnerungsakt bringt eine andere Vergangenheit her- wann wo auf welcher Seite stand. (lf) vor. Echt sind nur die Gefühle der Erinnernden. (lf) 12 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 13

Feng er ti ta cai HHH – Un portrait de Hou Hsiao-Hsien

Cheerful Wind F/RC 455[, R/B: Olivier Assayas, 5I' · DigiBeta, OmeU RC 4564, R/B: Hou Hsiao-Hsien, D: Kenny Bee, Feng Fei-fei, Anthony Chan, 5T' SA 63.52. um 2W Uhr · 35 mm, OmeU Vorprogramm: FR 66.52. um 2W Uhr + SA 63.52. um 62 Uhr The Electric Princess Picture House F ITT[, R: Hou Hsiao-hsien, Z' · DVD, OmeU La belle époque RC IT44, R: Hou Hsiao-hsien, U' · DVD, OmeU Hous zweite Regiearbeit vereinigt ein weiteres Mal die beiden Lieben- den seines Debüts, diesmal in einem Film mit origineller Prämisse – der Alternativtitel Play While You Play gibt die verspielte Tonart vor: Feng Fei-fei verkörpert eine Modefotografin, die sich während eines Werbeshootings in der Provinz in eines ihrer Modelle verliebt; näm- lich in einen von Kenny Bee verkörperten Sehbehinderten, der in einer Seifenreklame den nicht eben geschmackvollen Slogan „Rein wie das Herz eines Blinden“ veranschaulichen soll. Es folgen, auf- gelockert von zahlreichen Popsongs, romantisch-komödiantische Irrungen und Wirrungen. Nicht zuletzt dank Chen Kun Haos filigraner, sich einem dokumentarischen Ethos annähernder Kameraarbeit drin- gen in dieses dynamische, ein wenig durchgeknallte Stück populäres Kino Motive ein, die auf die späteren Großtaten Hous verweisen: Als Hous Filme in den 1980er Jahren erstmals auch auf europäischen Beobachtungen am Wegrand, atmosphärische Stillstellungen. (lf) Festivals auftauchten, wurden sie von Olivier Assayas, der damals als Filmkritiker für die Cahiers du cinema schrieb, frenetisch bejubelt. 1997, Assayas ist längst selbst ein arrivierter Regisseur, dreht er für Feng gui lai de ren die Fernsehserie Cinéma, de notre temps einen Beitrag über den be- wunderten Kollegen. HHH - Un portrait de Hou Hsiao-Hsien ist kein RC 456Q, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Doze Niu, To Tsung-hua, klassisches Künstlerporträt, eher ein frei formatiertes Gespräch auf Lin Hsiu-ling, Chang Shih, 4T4' · 35 mm, OmeU Augenhöhe. Hou und Assayas fahren durch Taiwan und besuchen FR 66.52. um 62 Uhr + DI 6U.52. um 65 Uhr Drehorte alter Filme, essen und trinken gemeinsam, unterhalten sich Hous vierter Langfilm ist ein Befreiungsschlag nicht nur für sein nicht nur übers Kino, sondern auch über Gott und die Welt. eigenes Schaffen, sondern für das gesamte taiwanesische Kino: The Im Vorprogramm laufen zwei kurze Arbeiten, die im Rahmen von Boys from Fengkuei lässt Genreformeln, Starsystem, Studiokulissen, Omnibusfilmen entstanden sind. The Electric Princess Picture House überhaupt alle vorformatierten Wahrnehmungstechniken des popu - beschreibt den Niedergang eines einstmals blühenden Kinotheaters. lären Genrekinos hinter sich und entwirft eine Ästhetik, die „ein La belle époque entwirft in nur fünf Minuten eine ganze Erinnerungs- dichtes, sinnliches Äquivalent der Erinnerung darstellt“ (Harry Tomicek) , welt. (lf) eine audiovisuelle Sprache, in der alle Gefühle, alle Sinneseindrücke gleichberechtigt nebeneinander bestehen bleiben dürfen. Auch inhaltlich geht es, inspiriert von Hous eigenen Jugenderlebnissen, um einen Neuanfang. Drei Jungs aus dem provinziellen Nirgendwo eines Fischerdorfes lassen die Enge ihrer Heimat hinter sich und beginnen in der Hafenstadt ein selbstbestimmtes, aber auch riskan- tes Leben – ein Leben, das viel mit einer jungen Frau zu tun hat, die die Jungs und in mancher Hinsicht auch den Film vor ein unlösbares Rätsel stellt. The Boys from Fengkuei markiert außerdem den Beginn der Arbeitsbeziehung Hous mit der Schriftstellerin Chu Tien-wen, die fortan für fast alle Hou-Filme die Drehbücher verfasst. (lf) 14 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 15

Dong dong de jia qi Ni luo he nu er A Summer at Grandpa’s

RC 456Z, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Wang Chi-kuang, Li Shu-chen, RC 456[, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Yang Lin, Jack Kao, Yang Fan, Ku Chun, Mei Fang, Yen Cheng-kuo, 56' · 35 mm, OmeU Li Tien-lu, Tsui Fu-sheng, 5Q' · 35 mm, OmeU SO 6b.52. um 65.35 Uhr + DO 6N.52. um 65 Uhr FR 6W.52. um 62 Uhr + SO 32.52. um 62 Uhr

Ein oft übersehenes Kleinod in Hous Filmografie, versteckt zwischen der vorhergehenden autobiografischen Tetra- und der nachfolgenden historischen Trilogie. Es geht um Lin Hsiao-yang, Tochter eines Poli- zisten und Schwester eines Kleinkriminellen. Lin, die heimlich in einen der schweren Jungs verliebt ist, feiert zwar ihre Geburtstage im Kreise von Gangstern, deren weiße Anzüge und Macho-Posen wie aus amerikanischen Filmen ausgeliehen wirken; dennoch bleibt sie, wenn es ernst wird, auf Distanz und träumt sich lieber, daher der Filmtitel, vermittels von Comics ins alte Ägypten. Daughter of the Nile ist seit den RomKom-Anfängen der erste Film Hous, der Genremotive aufgreift und der erste Film mit einer weib- Die Grundbewegung im Kino Hous führt vom Land in die Stadt. lichen Hauptfigur. Sowie der erste überhaupt, der sich ganz der A Summer at Grandpa’s beschreibt den umgekehrten Weg. Zwei junge urbanen Moderne Taiwans verschreibt. James Quandt fühlt sich Geschwister werden, wegen der Krankheit der Mutter, zum Groß- angesichts des „anomischen Rhythmus der Jugendkultur Taipehs“ vater geschickt, der als Landarzt ein gemächliches, für die Besucher an das Frühwerk Jean-Luc Godards erinnert. (lf) allerdings reichlich exotisches Leben führt. Zuerst fremdeln die beiden, aber bald beginnen sie, während langer Streifzüge durch Felder und Wiesen, gemeinsam mit dem Film eine neue Perspektive Lian lian feng chen auf die Welt einzuüben. Dust in the Wind Der zweite Teil von Hous autobiografischer Tetralogie lässt sich RC 456U, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, Wu Nien-jen D: Wang Ching-wen, Hsin Shu-fen, Li Tien-lu, Chen Shu-fang, 44T' · 35 mm, OmeU vorbehaltlos auf die Perspektive zweier Kinder ein – und findet dabei SA 35.52. um 62 Uhr zwar 1001 kleine Schönheiten, aber deshalb noch lange keine ur- Wo A Time to Live and a Time to Die Hous eigene Jugenderinnerungen sprüngliche Unschuld. Tatsächlich blickt A Summer at Grandpa’s verarbeitet, beruht der Nachfolger Dust in the Wind auf einer Episode furchtlos in emotionale Abgründe, die gerade deshalb so tief gähnen, weil die, vor denen sie sich auftun, noch nicht von den tagtäglichen aus dem Leben des Drehbuchautors Wu Nien-jen, einer zentralen Figur der Taiwanesischen Neuen Welle. Es geht um den jungen Ah-yuan, Niederlagen des Alltagslebens abgehärtet sind. (lf) der nach der Schule in die Hauptstadt Taipeh zieht. Seine Freundin Ah-yun schließt sich ihm zunächst an, lernt dann aber, während er Militärdienst leisten muss, einen anderen kennen.

Stärker noch als in seinen vorherigen Filmen betont Hou die flüch- tigen, brüchigen, instabilen Aspekte des Erinnerns. „Ein Film aus Nichtigkeiten, kleinsten Dingen, verrinnenden Augenblicken. Irgend- wann wird man gewahr, dass sich Änderungen vollzogen haben – das Ende einer Jugend, das Absterben einer Liebe, die Anbahnung eines Schicksals. Und man begreift, dass solche Nichtigkeiten un- wiederbringlich sind, Perlen eines Wunders, das der Nichtwissende „Alltag“ nennt. (Harry Tomicek). (lf) 16 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 17

Nan guo zai jian, nan guo Kohi jiko Goodbye South, Goodbye Café Lumière

RC/J 455U, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Jack Kao, Hsu Kuei-ying, J/RC ITTQ, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Yo Hitoto, Tadanobu Asano, Lim Giong, Annie Shizuka Inoh, Hsi Hsiang, 44I' · 35 mm, OmeU Masato Hagiwara, Kimiko Yo, Nenji Kobayashi, 4TQ' · 35 mm, OmeU DO 5b.56. um 65 Uhr + SA 5U.56. um 2N.35 Uhr FR 5M.56. um 62 Uhr + SO 5:.56. um 2N Uhr

Drei Kleinkriminelle driften haltlos durch die Karaoke-Bars und Spiel- Im ersten Film, den Hou Hsiao-hsien außerhalb Taiwans verwirklicht, höllen des taiwanesischen Südens. Alle Familienbanden sind zer- erweist er einem seiner Lieblingsregisseure, dessen Filme er nach brochen und auch die ländliche bis kleinstädtische Provinz, die in eigenen Angaben allerdings erst lange nach Beginn seiner eigenen Hous Filmen der 1980er Jahre noch in einem satten, fast utopischen Karriere kennengelernt hatte, Referenz: Café Lumière wird vom Grün leuchtete, hat ihre Unschuld unwiederbringlich verloren; sie legendären Studio Shochiku als Hommage an Yasujirō Ozu, den japa- ist in der westlich geprägten Moderne angekommen. nischen Großmeister der Alltagsbeschreibung, in Auftrag gegeben. Die Verbindung zu Ozu bleibt freilich lose, beschränkt sich weitgehend Hou selbst findet in seinem ersten Gegenwartsfilm seit Daughter auf die allgegenwärtigen Eisenbahnen, die auch ein Lieblingsmotiv of the Nile zu einer neuen, agileren Bildsprache. Immer wieder setzt des älteren Regisseurs waren. Ansonsten ist die Spielhandlung sich die in den vorherigen Filmen fast durchweg statische Kamera ähnlich reduziert wie in : Es geht um eine junge in fließenden, hypnotischen tracking shots in Bewegung. In eine Be- wegung ohne Ziel freilich. Die jungen Protagonisten kommen nirgend- Frau, die eine tragische Familiengeschichte hinter sich lässt und stattdessen auf den Spuren eines taiwanesischen Komponisten Tokio wo an, verlieren sich in einem Labyrinth aus schlecht durchdachten durchstreift. Tatsächlich ist Café Lumière ein Film aus Fußgänger- Ränken und verkorksten persönlichen Beziehungen . Goodbye South, perspektive. Gemeinsam mit der Protagonistin blickt Hous nach den Goodbye ist Hous melancholischster Film, eine sanft schillernde stilistischen Experimenten der Vorgängerfilme diesmal wieder fast Elegie auf die Gegenwart. (lf) dokumentarisch anmutende Kamera neugierig auf die ungewohnte Umgebung. (lf) 18 DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN DIE FILME VON HOU HSIAO0HSIEN 19

Qian xi man po Zui hao de shi guang Millennium Mambo

RC/F ITT4, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: , Jack Kao, Tuan Chun- F/RC ITTL, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Shu Qi, , Mei Fang, hao, Chen Yi-hsuan, Jun Takeuchi, Ko Takeuchi, Doze Niu, 4TL' · 35 mm, OmeU Liao Shu-chen, Ti Mei, Chen Shih-shan, Li Pei-hsuan, 4QI' · 35 mm, OmeU DI 5W.56. um 65 Uhr SA 5U.56. um 62 Uhr

Am Anfang steht eine der schönsten Einstellungen im Werk Hous: Ein Film in drei Episoden, der zu- Eine Plansequenz in sanfter, unaufdringlicher Zeitlupe, die Vicky (Shu nächst wie eine konzentrierte Qi), die junge Hauptfigur des Films, verfolgt, wie sie beschwingt Bestandsaufnahme des bisherigen einen Fußgängerüberweg entlangläuft, die Haare im Wind flatternd, Werks wirkt: A Time for Love be- mit der Kamera flirtend. Darüber liegt filigrane Elektromusik und schreibt eine Jungendromanze im ein hingehauchter Voice Over. Ein Stück Gegenwart, zur Transzendenz Taiwan der 1960er Jahre und erhoben – und gleichzeitig eine Art Cine-Geburt: Shu Qi ist in allen evoziert das autobiografisch inspirierte Frühwerk; A Time for Freedom drei Hou-Filmen, in denen sie bislang vor der Kamera stand, gleich- ist eine Miniatur um ein chinesisches Bordell im Jahr 1911, die an die zeitig ganz unbedingt lebendig und ein schwer fassbares, fast äthe- historische Trilogie und vor allem an Flowers of Shanghai anschließt; risches Kinowesen. In Millennium Mambo spielt sie eine junge Frau, A Time for Youth entführt ein weiteres Mal in die Clubcultur der der es nicht gelingt, sich von ihrem brutalen Freund zu lösen und die taiwanesischen Gegenwart, die bereits Millennium Mambo erkundete. Verbunden werden die Kapitel durch die Hauptdarsteller Shu Qi und sich fast willenlos in die neonbeleuchtete Großstadtnacht fallen lässt. Aus Hous eleganter Bildsprache ist jegliche historische Tiefe Chang Chen, die drei Versionen derselben Liebesgeschichte darstellen. verschwunden, die spiegelglatten Oberflächen des modernen Taipeh Three Times ist ein hochkomplexes Spiel um Wiederholung und bieten keinerlei Halt. (lf) Varianz. Die drei Episoden sind zwar durch zahlreiche Echos und Reime miteinander verbunden, gehen jedoch nie ganz ineinander auf. Jede Liebe schafft ihre eigene Welt. (lf) Le voyage du ballon rouge Hong qiqiu Nie yin niang F/RC ITT[, R: Hou Hsiao-hsien, B: François Margolin, D: Juliette Binoche, Simon Iteanu, Song Fang, Hippolyte Girardot, Louise Margolin, Anna Sigalevitch, 44L' · The Assassin 35 mm, OmeU RC/CN/HK/F IT4L, R: Hou Hsiao-hsien, B: Chu Tien-wen, D: Shu Qi, Chang Chen, SO 5:.56. um 65.35 Uhr + MI 25.56. um 65 Uhr Satoshi Tsumabuki, , Nikki Hsieh, Jiang Wen, Tadanobu Asano, 4TZ' · DCP, OmU Hous zweite Arbeit im Ausland führt ihn nach Paris: Le voyage du DO 22.56. um 65 Uhr ballon rouge entsteht als Auftragsarbeit für das Musée d'Orsay und Acht lange Jahre liegen zwischen ist der erste Film seit The Green, Green Grass of Home , der nicht auf Le voyage du ballon rouge und einem Drehbuch Chu Tien-wens beruht. Die Erzählung folgt der chine- The Assassin . Die Produktions- und sischen Filmstudentin Song, die als Babysitterin peripherer Teil einer vor allem Finanzierungsgeschichte französischen Familie (in der Rolle der Mutter: Juliette Binoche) wird. von Hous neuestem und mit Der Titel ist eine Anspielung auf Albert Lamorisses Kurzfilmklassiker Abstand aufwändigstem und Le ballon rouge – Song plant ein Remake. Der mit spielerischer Leichtig- teuerstem Film reicht sogar bis ins Jahr 2005 zurück. Verantwortlich keit inszenierte Europaausflug ist mit zahlreichen Verweisen auf die für die lange Verzögerung waren vor allem skeptische Geldgeber, handwerklichen Aspekte von Kunstproduktion durchsetzt. Einmal was man zumindest insoweit nachvollziehen kann, als er mit seiner wird ein Klavier gestimmt, ein andermal wird vorgeführt, wie ein Vorliebe für lange, atmosphärische Plansequenzen nicht der nächst- Puppenspieler sich vor dem Publikum verbirgt, auch der Mann in liegende Regisseur für ein Martial-Arts-Epos um eine Auftragskillerin Grün, der den roten Ballon auf seinem nur scheinbar willkürlichen in der Tang-Dynastie ist. Nach der Premiere in Cannes 2015, wo Hou Weg durch Paris lenkt, wird für Songs Film digital retuschiert. (lf) als bester Regisseur ausgezeichnet wird, sind sich die Kritiken aller- dings einig: Das Warten hat sich gelohnt, The Assassin ist ein Kampf- kunstfilm wie kein zweiter. (lf)