Nr. 78 improfil April 2015 Theorie und Praxis improvisierter Musik ehemals ringgespräch über gruppenimprovisation

Offene Bühne Improvisation adhoc

Thema mit Beiträgenvon Charles Bramley | Frank Fiedler | Reinhard Gagel | Wolfgang Hille | Klaus Holsten | Christoph Irmer | Bernd Kirchner | hwmueller | Matthias Schwabe | Marei Seuthe | Max Stehle || Unterricht || Ich und die Improvisation || Intermezzo || Porträt || Vorgestellt || Berichte || Ring_Internes || Ring_Veranstaltungen || Ring_Informationen Inhalt

FREIE IMPROVISATION: 03 Editorial

Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc 04 Reinhard Gagel Die Offene Bühne– ein Phänomen der Improvisation, dem man Beachtung schenken sollte 08 Charles Bramley Too important to be left to the Musicians: un-Musical activism and sonic fictions 11 Marei Seuthe Offene Bühne – Thema der Frühjahrstagung März 2014 des ring für gruppenimprovisation Babette Werth 13 Frank Fiedler hörenmachen 14 Matthias Schwabe Kontrollierter Kontrollverlust? – Die Offene Bühne im exploratorium berlin Nicht fragen, wohin es geht, – mitreisen. 19 Wolfgang Hille »Das ICH und das WIR brauchen einander.« open stage Improvisieren macht intelligent! 20 Max Stehle Wer hat Angst vor Meer? Offene Bühne– Erfahrungen im exploratorium berlin »Improvisiertes Musikmachen ist ephemer, flüchtig.« 21 Bernd Kircher Ist Improvisation gefährlich? Erfahrungsbericht Offene Bühne im exploratorium berlin Nicht alle Komplizen lesen Noten. 22 Reinhard Gagel »Improvisieren lernen kann jede/r!« Individueller Ausdruck und soziale Gruppe – positive und negative Freiheit »Die einen spielen, die anderen hören zu, …« 24 hwmueller Improvisation ist ideal. Improvisation als nichtintentionale Kommunikation. Ein Annäherungsversuch an die Offene Bühne Lerne ich erst jetzt hören? 27 Reinhard Gagel Viel Meer improvisieren! Offhandopera– eine Oper aus dem Stegreif 31 Klaus Holsten Die Sinfonie des Augenblicks. Eine besondere Form der Offenen Bühne 34 Christoph Irmer Von der Geschlossenheit der Offenen Bühne 39 Reinhard Gagel Babette Werth, Rheinländerin, Künstlerin zwischen Ruhe und Unruhe, dichtet, Die Offene Bühne als kulturelles Phänomen. Thesen und Kurzbeschreibungen pflegt den Improvisationsvirus, lebt in Berlin. ([email protected])

Unterricht 40 Nicole Kettiger Espace Musical – eine Schule für kreative Pädagogik

42 Fridhelm Klein Auf Offener Bühne zuhören

Ich und die Improvisation 45 Gerd Rieger Hausmusik – Community Music – Free Music. Wie ich den Weg zur freien Improvisation fand 49 Johannes von Wrochem Wie die Improvisation mich bekam und ich die Improvisation bekam Zitate aus: ringgesprächübergruppenimprovisation, April 2014 »Das ICH und das WIR brauchen einander.« Matthias Schwabe, (Seite 6) Intermezzo »„Improvisiertes Musikmachen ist ephemer, flüchtig.“« Reinhard Gagel, (Seite 27) »Improvisieren lernen kann jede/r!« Matthias Schwabe 52 Marei Seuthe KÖNNEN IMPROVISATOREN TANZEN? Gagel/Zoepf Den Glücksfall wiederholbar machen können – oder: Wer ist hier eigentlich ein Profi? »Die einen spielen, die anderen hören zu, …« Reinhard Gagel, (Seite 36, Ausschnitt)

improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 1 Inhalt Editorial

Porträt Editorial 54 Vario 51 – exploratorium berlin im Gespräch Ein Interview Liebe Leserinnen und Leser,

Vorgestellt Ab diesem Heft ändert das gute alte ringgespräch über 60 Büchertisch gruppenimprovisation seinen Namen und heißt nun improfil – Lesetipps Theorie und Praxis musikalischer Improvisation. Der Name ringgespräch entstand in den 1960er Jahren und bezeichnete die Idee eines Gedan- kenaustausches innerhalb des Vereins ring für gruppenimprovisation, es Berichte handelte sich sozusagen um ein Gruppengespräch in Heftform. Seit den 64 FREI – Festival für improvisierte Musik. Krefeld, 23. - 25. Mai 2014. 1990er Jahren änderte sich der vereinsinterne Charakter. Die neu eingeführten Betrachtungen über Inklusivität in improvisierter Musik Heft-Themen und die Einbeziehung zahlreicher kompetenter AutorInnen auch von außer- [Carl Bergstrøm-Nielsen] halb des rings machten das ringgespräch zu einer Fachzeitschrift, die auch für Außenstehen- 66 Improvisation erforschen – forschend improvisieren: de interessant war. Infolgedessen fand sie seit Beginn des neuen Jahrtausends Eingang in Ein Symposium im exploratorium berlin 29. Mai bis 1. Juni 2014 zahlreichen Universitäts- und Hochschulbibliotheken. Eine Namensänderung, die der neuen [Reinhard Gagel] Identität gerecht wird, war daher schon seit längerem im Gespräch. 68 exploring improvisation – 10 Jahre exploratorium berlin / Bilder Zum 50jährigen Ringjubiläum Nun also improfil. Das Konzept der Zeitschrift wird sich so, wie es sich in den letzten Jah- 71 Von der Lust im leeren Raum zu agieren [Veronika Hilberath] ren entwickelt hat, mit dem neuen Namen nicht ändern. Nicht zuletzt deshalb haben wir 71 Impression einer Zuhörerin [Clara Wignanek] die laufende Heft-Nummerierung fortgesetzt. Doch das Dach wird anders, es wird größer: 72 Ein Tag für die Improvisation am 19. Juli 2014 in Kassel [Barbara Gabler] improfil wird dem Umstand Rechnung tragen, dass wir zunehmend internationale Kontakte 73 Die Kunst der Schwärme – Eine Stadt als soziales Kunstwerk am pflegen und auch Beiträge von Musikern und Forschern aus anderen Ländern aufnehmen. 21. September 2014 [Willem Schulz, Marcus Beuter] Der Umfang wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Thema wächst, Veröffentli- 74 Kinder spielen mit Klängen und Tönen chungen vor allem im Bereich kultureller Studien und artbased-research verdeutlichen, dass am 27. Sept. 2014 in Hamburg [Gesine Thomforde] dem Improvisieren große Aufmerksamkeit zuteil wird. improfil meint Improvisation und ihr 74 Improvisationskonzert „Saitenmosaik“ im Schumannhaus Profil, das wir – und die vielen Autorinnen und Autoren – in musikalischer, philosophischer, in Bonn am 31. Oktober 2014 [Sibylle Hoedt-Schmidt u.a.] soziologischer und künstlerischer Weise textlich und visuell weiter entwickeln wollen. 75 Intuitiva New Arts Festival. Internationaler Austausch seit 1995. Redaktion: [Carl Bergstrøm-Nielsen] Diese erste Ausgabe von improfil widmet sich dem Thema Offene Bühne. Seit dem Beginn ei- Dr. Reinhard Gagel, Berlin 77 INTUITIVA 2014 New Art Conference in Lubiaz/Polen vom ner improvisierenden Szene hat es dieses Phänomen gegeben: die Möglichkeit, ohne Casting Matthias Schwabe, Berlin 30. Juli bis 4. August 2014 [Max Stehle] und explizite Voraussetzung mit anderen öffentlich zusammen zu spielen. Wir haben bereits Chef vom Dienst: Iris Broderius, Berlin 78 Umwertung aller Improvisationswerte? Vs.Interpretation. in Heft LXX von 2004 unter dem Titel Orte der Improvisation verschiedene Arten von Offe- Abkürzungen in der Rubrik Vorgestellt: Festival of Improvisation vom 16. bis 20. Juli 2014 in Prag nen Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum (und Dänemark) vorgestellt. Wir werden rg = Reinhard Gagel, ms = Matthias Schwabe [Carl Bergstrøm-Nielsen] dazu aber auch kritische Fragen stellen: Wo sind die Grenzen? Ist das eigentlich nur „Jam“ Layout: Jenny Possin, Hamburg 80 Icarus Piano – der Pianist, Improvisator, Hochschullehrer und und „fun“ oder genügt es auch qualitativen Ansprüchen der improvisierten Musik? Was heißt Illustrationen: Prof. Fridhelm Klein, Intermedia-Künstler Klaus Runze am 6. September 2014 im eigentlich offen sein, offen bleiben? Wie kommen Professionelle, Szene-Ansprüche, Feuille- München exploratorium berlin [Reinhard Gagel] ton mit der Tatsache zurecht, dass hier häufig musikalische Laien spielen? Wird der partizipa- 81 HumaNoise Congress No. 26 – Tage Improvisierter Musik vom tive Ansatz dem künstlerischen Phänomen gerecht? Redaktions- und Bestelladresse: 26. bis 28. September 2014 im Kunsthaus Wiesbaden Redaktion improfil [Doris Kösterke] In diesem Heft kommen verschiedene Ansichten zu Wort. Darunter sind die Beteiligten c/o exploratorium berlin 82 14. SYMPOSIUM IMPROVISIERTE MUSIK der LAG selbst, die sich äußern wollen: ihre Erfahrungen mit Spielen und Mitspielen, mit Hören Mehringdamm 55, 10961 Berlin Improvisierte Musik Hessen am 1. und 2. November 2014 und Gehört-Werden, mit Achtsamkeit und Unachtsamkeit, mit den eigenen und fremden Tel. (030) 84 72 10 52 [Walter Schreiber] musikalischen Ansprüchen. Zugleich wird die Reflektion unserer Frühjahrstagung 2014 fort- [email protected] 82 Metamorphose der Glasmusik [ Walter Sons] gesetzt, die die Offene Bühnen zum Thema hatte und erste Diskussionsanstöße gab. [email protected]

ISSN 1616-721X 83 Ring_Internes Viel Spaß dabei wünscht im Namen des Redaktionsteams Erscheinungsweise: einmal jährlich Erstauflage: 1.000 Selbstkostenpreis: 5,00 € 84 Ring_Veranstaltungen improfil ist das Verbandsorgan des rings für Gruppenimprovisation und wird den 85 Ring_Informationen Vereinsmitgliedern kostenlos zugestellt Dr. Reinhard Gagel

2 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 3 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

Die Offene Bühne – ein Phänomen der Improvisation, dem man Beachtung schenken sollte von Reinhard Gagel, Berlin

Ausgangspunkt

Ich beobachte die Offenen Bühnen im exploratorium: als Beteili- ternden, schrillen und klirrenden musikalischen Sprache. Alles, die zur Realisierung seines Projektes nötig seien. Während hier die sich nicht kalkuliert in Szene setzen, sondern ihren Platz gungsmöglichkeit, als künstlerisches Format, in dem Produkti- was auf der Bühne geschieht, gilt als Musik, daran hat sich jeder also allein der Zweck die Mittel bestimme, sei für das Vorgehen erst finden und in diesem Platzfinden auch den Rahmen selbst on und Aufführung zusammenfällt, als Möglichkeit, nicht nur zu halten; das geheime Einverständnis, in Tönen, Klängen, in des bricoleurs (d.i. Bastler, Anm d. Red.) zudem von Bedeutung, schaffen. Das entscheidende Wort, das Lévi-Strauss verwendet, Spezialisten des Betriebs als Produzenten zu erleben. Da bin ich Lautstärken und Tempi zu denken, denn auch die Offene Büh- inwiefern die von ihm verwendeten Mittel den Zweck determi- ist Dialog: nicht eine Gebrauchsanleitung, sondern ein mitei- schnell enthusiastisch, da heben meine Gedanken schnell ab: ne hat ihre ganz eigenen Spannungen, ihre haarfeinen Gesetze, nieren. Allein das zufällige Zusammenkommen von Musikern nander sich verschränkendes Verhältnis von gegenseitigem Be- Das ist doch eine Kultur, in der nicht ausgebildete Musiker öf- ihre notwendigen Regeln – die aber werden erst für dieses Stück und die Art ihrer Zusammenarbeit in einem kurzen Moment fruchten und Schaffen. Dialog, wie wir ihn in der Improvisation fentlich zusammenspielen, in der es Treffpunkte gibt, wo eine geschaffen und können sich immer wieder ändern im Laufe des schöpferischer Tätigkeit würde eine Planung völlig überfordern. im Ensemble auch kennen. selbstverständliche Produktion von neuer Musik stattfindet. Wo nächsten Stückes. Und die Musiker freuen sich über ihr Stück, Selbst wenn Regeln vorher explizit und allen bekannt wären, so „Zu diesen Mitteln ...trete der Bastler nun in „eine Art Dialog“, in das Musikmachen nicht das Reproduzieren von Kompositionen es war ihres, sie lächeln sich an, sie beklatschen sich, die Zu- wie wir das bei Jam-Sessions vermuten können (wo Standards dem er erkundet, welche Möglichkeiten diese zufällig zusam- ist, sondern das Koproduzieren neuer Musik. Wo Spaß, Spiel schauer in einer Art von gemeinsamem Expertentum geben ihre die Abläufe vorlegen), bleibt der offene Charakter der Konstel- mengekommenen Dinge ihm bieten, um herzustellen, was er und ein bisschen Sport zusammen kommen, wo dann auch Zustimmung bekannt, neigen ihr Haupt vor den eben gehörten lationen und Zufälle ein bestimmender Faktor. Keine Regeln herstellen möchte, und in dem er das, was er herstellen möch- noch der Zufall regiert im Date mit Unbekannten auf einer klei- Besonderheiten, nehmen sich im Stillen ein Vorbild, ohne etwas halten, sondern Regeln selbst geben, ist die Devise, hier bei der te, zugleich so modifiziert, dass er es mit ihnen auch herstellen nen Bühne. Und wie die Konturen musikalischer Gestalten nur plagiieren zu wollen, lassen sich inspirieren, schauen ungeduldig Offenen Bühne noch mehr als bei offiziellen Konzerten, denn kann. Im Unterschied zum Ingenieur sei für ihn bestimmend, aus den Menschen, die sie produzieren, entstehen; jede Kons- auf die Tafel, auf der notiert wird, wann sie dran sind. Das ist hier ist evident, dass sich niemand abgesprochen haben kann. dass er letztlich nie genau produziert haben wird, was er pro- tellation an Stimmen, Instrumenten, Objekten und Bewegun- eine Kultur des gemeinsamen öffentlichen Produzierens, einer Also tritt das Basteln an die Stelle einer kalkulierten Strategie – duzieren wollte, dass das Ergebnis seiner Tätigkeit also einen gen schafft wieder eine andere Gestalt. Wo diese Menschen sich Menschen-Musik, die zunächst ihren Erzeugungs-Akt selbst im in der Offenen Bühne ist auch schon die Ensemble-Konstellation „Kompromiss zwischen der Struktur des instrumentalen Ganzen nicht ausweisen müssen durch Ausbildung, durch technisches Blick hat: nicht das Ergebnis, was herauskommt, gar was her- „gebastelt“. und der des Projektes“ darstellen und „unvermeidlich gegenüber Können, durch Szenenzugehörigkeit, durch Zusammenspiel auskommen soll, was gefragt, oder verkäuflich oder als neue (an- der ursprünglichen Absicht verschoben sein wird“.3 mit großen Musikern, und auch als ‚Nichtmusiker‘ ihrer Musi- gesagte, populäre) Musik wahrnehmbar, kritisierbar, erforsch- „ ...Das damit verbundene Vorgehen, das sich durch einen tasten- kalität ihren Lauf lassen können. Wie ich die Menschen in ihrer bar wäre. Eine Kultur, in der eine altbekannte und selbst für den, versuchenden Charakter wie auch durch eine große Anfälligkeit Die ganze Musik, gut, neu, aktuell, sofort! Unmittelbarkeit erlebe, Klänge zu erzeugen, auch mal zu viel, neuste Musik immer geltende Produktionsreihenfolge durch- für Rückschläge, Digressionen und unerwartete Entdeckungen aus- mal zu laut, mal die anderen überlagernd, mal zu schüchtern, brochen wird: die des Komponisten, dessen Stück von jemand zeichnet, liegt auch in der Art der Mittel begründet, derer der Bastler Neue Musik, eine nie gehörte Musik aus dem Basteln? Aus mal Platz lassend, mal alles überspielend. Wie ich seltsame Din- einstudiert wird, der es dann für andere wiederum aufführt. Es sich bedient. Anders als der Ingenieur arbeitet er nämlich nicht mit dem miteinander Basteln? Aus einer kollektiven Kreation? Der ge erfahre, wie Klänge produziert werden können. Es gibt keine entsteht eine Musik, die nur für den Moment gilt; nicht zum Werkzeugen und Materialien, die im Blick auf das zusammenge- Komponist Matthias Spahlinger, sehr interessiert an politischen Vorschriften, keine Vorlagen: Offenbar tun hier alle etwas, was Anhören im Wohnzimmer, auch nicht zum passiven Genuss als stellt worden sind, was mit ihnen hergestellt werden soll. Stattdessen und sozialen Implikationen musikalischen Schaffens, formuliert sich aus der Situation ergibt, finden sich miteinander ab, sind Zuhörer. Hier geht es um Musik an der Schneide ihrer Produk- greift er auf einen überlieferten und beschränkten Vorrat von ganz das Verhältnis Mensch – Neue Musik provokant so: „Wir nei- einander fremd, aber auf der Bühne doch komplizenhaft nah, tion, die relevant ist, weil man die beteiligten Menschen sieht heterogenen Mitteln zurück, der sich aus Werkzeugen, Materialien, gen dazu, zu denken, die musikalischen Strukturen haben an sich an etwas Gemeinsamem arbeitend1. Arbeiten meint nicht Ar- und weil es ein realer Produktionsvorgang ist. Resten, altem Kram und Abfall zusammensetzt und zunächst in kei- Sinn, auch unabhängig davon, ob sie von Menschen gehört oder beit, sondern einen Prozess des Produzierens, der offenbar Lust nem Bezug zu dem, was produziert werden soll, steht.“ 2 nicht gehört werden, während der Sinn, den Musik hat, in der macht, der auch eine Haltung erwartet, da gibt es niemanden, Eine Kultur des Bastelns Neuen Musik sichtbarer deutlicher und auch thematisch abgehan- der sich lustig macht, sich distanziert, der stört oder zerstört. Das Das kann im wahrsten Sinne Klangabfallmaterial sein: seltsam delt dadurch entsteht, dass sich Menschen zusammentun und Mu- Publikum ist Produzent: Zuschauer werden zu Spielern, Spieler Aber es ist keine komplett geplante Musik, sie ist nicht die Ar- Klingendes; Klangerzeuger, die selbst gebastelt sind; Instrumen- sik machen. Das muss nicht Improvisation sein, aber es kann sein, zu Zuschauern. Alle hören und produzieren, was anderswo viel- beit von Ingenieuren, sondern von Bastlern. Claude Lévi-Strauss te, die nicht ‚beherrscht‘ werden (wollen), so wie das die noni- dass die Musik konzeptionell wird oder aus Kommunikationsspie- leicht keine Musik wäre: alle Rauheiten der Stimme, alle Ne- hat dieses Gegensatzpaar zum Ausgang für Überlegungen einer diomatische Musik (siehe die Ästhetik von AMM) nutzt und len besteht.“4. Eine Stückeproduktion, die an einem Abend in bengeräusche der Instrumente, alle Missbrauchsmöglichkeiten anderen Art von Denken, von Wissenschaft, aber auch von anbietet. Das können auch Fragmente von Sprachen, Zitate die zwanzig gehen kann, alle einmal produziert, dann vergessen von Klangerzeugern, alle Merkmale einer stammelnden, stot- Kunstproduktion genommen. Seine Überlegungen geben den von Stilen, verfremdete Motive, freejazziges Energiespiel sein, – flüchtig in ihrer Konsistenz, vielleicht nicht im Gedächtnis Besonderheiten Offener Bühnen einen schlüssigen Hintergrund. 1 Zum Thema Offene Bühneund Komplizenschaft s.a. Reinhard Gagel, „Komplizen Lévi-Strauss erklärt, dass die Arbeit des Ingenieurs davon abhän- 2 Michael Bies, „Claude Lévi-Strauss und das wilde Basteln“, in: Sandro Zanetti 3 Bies in: ebda. S. 208 auf der Bühne – Improvisation als kulturelles Modell“, in: ringgespräch über gruppen- ge, ob er über genau die Mittel und Werkzeuge verfügen könne, (Hrsg), Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien, Berlin Diaphanes 4 „Veruneinheitlichende Ideen, Mathias Spahlinger spricht über den Komponisten improvisation 2014, S. 24 ff 2014, S.208 Hans Wüthrich“, in: Dissonance 111, 09 2010, S.48

4 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 5 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

der Spieler, vielleicht nicht im Gedächtnis der Zuschauer, aber sind Musiker, egal ob ausgebildet, erfahren, auf allen Bühnen Offene Bühnen geben Rahmen und bestimmen Regeln. Improvisia- Die Offene Bühne gibt denjenigen eine künstlerische Stimme, nicht – oder selten – aufgenommen oder archiviert. Das sind der Welt oder Anfänger, die für einen Moment an einem Strang kum, Improvisatorium, Improvisohrium sind alles Veranstaltungen, die sich nicht trauen würden im offiziellen Betrieb oder sie doch wohl viel zu viele Stücke an einem Abend – wer soll die ziehen. Wichtig ist allein, ob wir von uns absehen können, den die von jemand für jemand organisiert und auch mit gewissen nirgendwo loswerden können. Nirgendwo können sich musi- alle hören, archivieren, in welchen Kanal sollen sie eingespeist Anderen sehen, nicht nur uns selbst spiegeln wollen. Es ist ein Regeln versehen sind. Seien es die Zugangsregeln, wie man Leute kalische Laien so direkt ausleben als hier in den Offenen Büh- werden? Wer sie hören will, sind ihre Produzenten. Jeder offizi- hochrangiges Mitmachen – nicht ein elementar niedrigschwelli- zusammenstellt oder sich zusammenfinden lässt, mit Tafeln, mit nen, nirgendwo ist die Kunst professioneller Improvisatoren so elle kulturelle Betrieb sucht das Besondere, das Einmalige, das ges pädagogisches Orff-Spielchen. Hier wird gleich in die Vollen Listen, mit jemand, der sitzt und schreibt, den man ansprechen in einen Kontext gestellt, in dem nicht Technik, Können oder Wiederholbare, das Wiedererkennbare. Nicht so viele Stücke, gegangen: Musik, neu, aktuell, sofort... muss. Seien es die expliziten Angebote des exploratoriums, zu des- Wissen oder Ausbildung über Kunst entscheiden, sondern das immer neue Konstellationen. Der ephemere Charakter steht ge- sen Grundsäule die Offene Bühne in unterschiedlich differenzier- Unmittelbare, aus der Situation Mögliche und Erscheinende. gen Stückproduktion und kulturellem Ertrag. Offene Bühne als kulturelles und künstlerisches Projekt ter Zielrichtung gehört. Sei es das Improvisiakum, das ich nach Sehen wir die Offene Bühne nicht bloß als ein pädagogisches einer Zeit des Wildwuchses heute stärker strukturiert habe. Seien Experiment, eine Art Vorstufe zur richtigen Bühne, sondern als Den Menschen eine Stimme geben Das findet nicht nur im exploratorium berlin, sondern in vielen es Formen, die in ihrer Organisationsform einen künstlerischen eine Bühne für eine Musikproduktion, dann billigen wir den weiteren Orten statt, wie sich im Tagungsbericht der Frühjahrs- Anspruch formulieren, wie Formen der Offenen Bühne als Per- Musikern einerseits eine Lust zu, Kunst zu machen, dies mit Nicht nur Stücke der Besten, sondern eine gute selbstverständ- tagung des ring für gruppenimprovisation 2014 nachlesen lässt. formance, z.B. das Format listen and play, das Michael Rabuske anderen zusammen zu tun und andererseits akzeptieren wir die liche Musik schaffen: eine Musik, die aus der tiefen Erfahrung, Aber es findet vom kulturellen Betrieb unbeachtet statt. Es gilt rituell zu später Nachtzeit 2012 im exploratorium veranstaltete Mittel, mit denen sie das tun. Im Rahmen der bildenden Kunst der Versenkung in den Klang, aus einem gemeinsam geschaf- als pädagogische Musik, aber nicht als Kunst. Es gilt als soziale oder wie die Offhandopera, in der ich die Offene Bühne und ihr gib es solche Versuche. Das museum of everything ist ein reisen- fenen Sinn besteht. Denn der Bastler ist der, der mit ganzem Musik, aber nicht als Kunst. Es ist vielleicht partizipative Musik, Potential als Darstellungsmethode einer Minioper nutze. des Museum8, das nicht-professionelle Künstler in den jeweili- Herzen dabei ist, eine Einheit seines Tuns im Suchen und Fin- politisch korrekt, aber doch keine Kunst. Aber was machen all gen Gastländern in vorläufigen, zusammengebastelten Ausstel- den ersehnt. „Schließlich ist er nicht der Mensch, der bloß seine die professionellen Musiker anders, die z.B. auf den kleinen Büh- Vor gut 20 Jahren habe ich die Offenen Bühnen der improvisier- lungen präsentiert. Originalität und Eigenständigkeit der Bilder „vorgefassten Ziele“ kennt, zu „deren Realisierung er alle Dinge nen in Berlin oft genauso zufällig zusammengewürfelt zusam- ten Musik in der Kölner Szene zum ersten Mal kennengelernt. sind wichtiger als Marktwert und Namedropping. Viele der zu Mitteln degradiert“ 5 – diese Rolle erfüllt bei Lévi-Strauss der menspielen, für einen kurzen Abend vereint auf der Bühne des Neben Konzerten, in denen ich Musikern zuhören konnte, gab Künstler sind in Zusammenhängen der Art Brut zu sehen, also Ingenieur –, sondern derjenige, der seine Pläne zugleich an die Sowieso (Club in Berlin, Anm. d. Red.)? Das zentrale Verfahren es – anders als in jeder anderen Musikkultur, die ich als klas- Kunst von Menschen mit speziellen ‚needs‘. Aber hat nicht jeder Möglichkeiten anpasst, die ein überkommenes Arsenal an Möglich- ist doch komplett gleich: sich oft kaum kennende Musiker oder sisch ausgebildeter Musiker kennengelernt hatte – eine Kultur Mensch seine speziellen ‚needs‘? keiten und Werkzeugen ihm eröffnet. Er ist zunächst vor allem ein sich vom Hörensagen Schätzende spielen öffentlich miteinan- des Mitmachens, in der man durch Eintrag auf einer Liste Teil Finder, der gleichsam auf Abwegen zum Erfinder wird, wenn er der im Modus des „Adhoc-Konzertes“. Mit allen Implikationen eines Bühnenprogramms werden konnte, die öffentlich ist. nicht allein ‚seine vorgefassten‘ Zwecke berücksichtigen und nicht der Stars, mit denen man spielen will, der Stars untereinander, Mich überzeugte die Idee einer Musikkultur der Teilhabe. In ei- allein seinem Kalkül folgen kann, sondern gezwungen ist, sich auf die gerne miteinander spielen möchten, mit Aura und Künstler- ner Publikation nannte ich Offene Bühnen einen „dritten Weg“ Zufälle einzulassen – wenn er also die Einschränkungen und Hin- verehrung im Kleinen. Dafür gibt es Musiker und Zuschauer, der Musikausübung- und vermittlung: Konzerte und mediale dernisse, vor die ihn die zuhandenen Mittel stellen, als Gelegenhei- deren Trennung unumstößlich ist: auf diese Bühne dürfen am Präsentation als Präsentationskultur, Offene Bühne als Ort, wo ten zum Improvisieren, zum Ausweichen und Experimentieren mit Abend nur die besonderen, es gibt Eintrittsgeld und die Bühne Produktion und Rezeption zusammenfällt7. 1997 habe ich das unerwarteten Möglichkeiten zu nutzen vermag“.6 Kollektives Bas- als Marktgeschehen. Das ist dann Kunst, das andere nicht. Und Improvisiakum gegründet, das am Anfang ein großes Mitspiel- teln? Basteln ist das Umgehen mit all dem Unerwarteten, mit darüber sprechen dann alle, wenn sie über improvisierte Musik format war: ein ganzes Wochenende in der Kölner Musikschule Dr. Reinhard Gagel: Musikalische Improvisation (Piano, Moog Synthesizer), den Einschränkungen und Hindernissen, die der andere dem reden: über die Künstler, über die Namen, über die Gruppen, in immer neuen Konstellationen miteinander spielen können. Projekte zwischen Medien und Musikstilen (Zapping-Collage-Projekte) , Male- Spielen in den Weg legt, und die gemeinsam gemeistert werden die Verbindungen, die Engagements. Aber auch diese Konzer- Ich finde, Offene Bühnen sind eine Erfolgsgeschichte der Im- rei (Assemblage), Improvisationscoaching sowie Forschung über Improvisation wollen. Kollektive Kreation relativiert das Geniedenken: Wir te können misslingen, genauso wie nicht alles auf der Offenen provisation, die weitaus mehr Beachtung verdient hätte, als der in Form von Publikationen und Lecture Performances. Er ist Lehrbeauftragter Bühne gelingt. Sie stammt aus den Tiefen improvisatorischer Betrieb ihr zukommen lässt. für Improvisation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Wien Kunstanspruches: Alle spielen miteinander im gleichen Modus, und künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am exploratorium berlin, wo er 5 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München Zürich 2002, S. 186 auf Augenhöhe, ohne sich auszubeuten, ohne unterschiedliche den Bereich Forschung betreut. 6 Michael Bies, „Claude Lévy-Strauss und das wilde Basteln“, in: Sandro Zanetti Preise, als ebenbürtige Partner. (Hrsg), Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien, Berlin Diaphanes 7 Reinhard Gagel, „Workshops, Verabredungen und Improvisatorien“, in: Reinhard 2014, S.212 Gagel/Joachim Zoepf: Können Improvisatoren tanzen?, Hofheim Wolke 2003 8 www.musevery.com

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Too important to be left to the Musicians: matter how ‘experimental’, we are safe in their hands, it’s not visers playing in various groupings, recording at least 3 albums ‘just noise’,- they really know what they are doing because they a week, with no other guidance. The ethos of this atmosphere un-Musical activism and sonic fictions are professional musicians playing professional music. This I provided me with enough confidence to explore this approach feel, chokes the life out of the music and its potential for acti- to music-making through a kind of practice that I have been vism and revolution. following ever since: Ok, so let’s now look at approaching music from an un-Musical perspective. As an untrained musician myself, someone who has Felt Beak seeks through example to emphasise that the only way never learnt any chords, keys, scales, or anything like that, my to make ‚good‘ (meaningful, relevant, ) art is to do, do, do, do, von Charles Bramley, Newcastle upon Tyne (GB) initial motive for pursuing improvisation was in response to a do, even to the extent that consciously reflecting on and prescribing compulsory performance at a university, which at the time was what you do becomes an impediment to the doing. a centre for ‘music and inclusivity’. I failed, and the assessment report read: Applying this to un-Musical activism then revolves around creating multiple outlets for newcomers; workshops, recording Charlie is totally unable to deal with musical responsibility… he sessions, performance events, etc. I recruit participants by ad- OK, so today I’m going to Musical activism seeks to bypass this conception of music and appears to be completely frozen…his contributions were severely out vertising via social media and other avenues, specifically asking be talking about ways of hopes instead to pursue real-time-based conceptions of music, of time, and were considered to be unmusical… for people who either identify as ‘non-musicians’, ‘unmusical’, using improvisation as a in which music is available immediately in various socially ac- form of social activism in cessible spaces. The problem for an un-Musical activism comes which we try to oblitera- from within, because the idea of improvisation as being revolu- te notions of professionalism tionary is being damaged by those so-called ‘alternative’ organi- that lead to the archaic insistence sations who claim to be ‘experimental’, yet beneath the surface of a ‘learn the rules before you break of their own myths, expose the completely orthodox and soci- them’ mentality. Instead, we pursue means ally redundant substance of their outputs. of reinventing music-making as an immedia- te, socially accessible activity for those who have For instance, organizations such as the ‘Dutch Impro Academy’ been absurdly labelled ‘non-musicians’ or ‘unmusi- who despite having a huge promotional poster that simply says cal’. To begin with some context, I’m going to read out a PLAY on their website, somehow convince people to pay €400 Workshops for people quote from music writer Kodwo Eshun, who is criticising the for the chance to PLAY with a select group of improvisers such of all ages: children and adults playing music state of music journalism as a ‘giant inertia engine’, but in doing as Han Benink Or, how about the experimental music magazine together. so, actually gives a very useful context for the wider critique of The Wire who describes itself in the following terms: “Passionate, music discourse in general: intelligent and provocative, The Wire wages war on the mundane Fotos: Charles Bramley and the mediocre”. In in my home-town of Newcastle, England, A giant inertia engine to put the brakes on breaks, a moronizer the organisation who labels itself ‘A Better Noise’, regularly pro- Inevitably bruised by this experience, an already insecure relati- or just people who have had minimal music-making experience. placing all thought on permanent pause, a futureshock absorber, motes its performers in the following kinds of terminology: onship with music-making exploited further by the assumption With all of the workshops I do, I try to be careful not to repeat forever shielding its readers from the future‘s cuts, tracks, scratches... that there is such a thing as ‘unmusical’ and that such a term can what can often happen with non-musicians in improvisation The fuel this inertia engine runs on is fossil fuel: the proper album, “He has collaborated with many of the finest European & interna- be justified by the legitimating hierarchy of professional musi- workshops, as Paul Hegarty discusses: ‘non-musicians can often the Real Song, the pure, the true, the proper, the intelligent…the tional musicians”. cianship who seek to uphold the structural orthodoxies of the undergo an initiation ritual where their innate musicality is to be musical… all notions that… maintain a hierarchy of the senses, “Three major figures in contemporary music”. past. I was told the term ‘unmusical’ was justified because the brought out. If they seem incapable of following the implied rules of that petrify music into a solid state in which everyone knows where “Celebrating 21 years of the best of free-improvisation”. assessment panel were experienced, professional musicians with a band…they will be shuffled back to the ranks of the non-musical’ they stand, and what real music really is…. When music is praised “Extraordinary musicians with extraordinary skill sets creating an great standing. There was an unmistakable truth to the fact I (Hegarty, 93). For me, the aim is not to show how you were as real, pure, proper and true, then it‘s too late: decay has set in and extraordinary and revelatory language! was frozen to the stage, petrified, heart thumping out of my musical all along, but instead to craft a non-fixed existential the maggots aren‘t far off’ (Eshun, 00[-006])1 “Three sets of heavyweight improvisation” chest with palpitations, adrenaline through the roof, terrified. musicality by unraveling ideology that had restricted the partici- The problem I continue to have with this situation is not to do pants’ willingness to define their own music. Deep pest excavati- Readily swap the topic of journalism for musicology, for mu- Does it not stink of a betrayal hearing improvisation described with the performance itself, or the judgement of it, but more, on is often required for this stage. Instruments laid out all over sic education, for music, or for improvisation, and the point in these terms, hearing how apparently ‘revolutionary’ it is, yet how institutions can help foster a musical discourse that allows the floor, no instruction, no guidance, retrieving misplaced me- remains the same. There is a stubborn blockage that consistent- improvisors are billed consistently on the basis of what their sta- this extreme fear of music performance in the first place, and mories of the fun of musical exploration. When we do exercises, ly prevents music in its various forms from extending beyond tus is, or how many other ‘renowned’ players they have played how apparently ‘progressive’ music departments remain deeply they are geared towards this kind of unselfconscious exploration the professionalism and specialism that stratifies its participants with, not to mention that the vast majority of players are highly embedded within fossil fuel orthodoxy. of music. Once people feel sufficiently freed up from whatever into those who can and those who cannot. We’re told we can’t trained musicians, and that most of the practices of these orga- constraints they felt beforehand, we regularly engage in ungui- play it, unless we do x y and z first. Learn the rules before you nisations happen in isolated cultural spaces for connoisseurs ? Through the following 4 years, a dedicated commitment to ded collective improvisation. I’ll quote at length from one of the break them etc. The ossified solid-state of music congeals in This culture is what Eshun might refer to as ‘Maggot Improv’, what became known as Felt Beak, an organisation developed in participants, Nicola Bushell: this misanthropic blockage: saturated, bloated and elite. Un- that heavyweight improvisation, the finest international impro- Newcastle by improviser Will Edmondes, radically altered my visers, who are fed up of being told improvisation is easy and potential to make music by turning away from restrictive values By the age of 30, I‘d lost all nerve and given up on playing music. ‘anyone could do it’, and so return to their reserved seats at the of musicality. The idea of Felt Beak being a record-label plat- Even just being near an instrument in the company of a ‚musician‘ 1 Kodwo Eshun’s book is paginated according to its own distinctive format throug- hout. top table where they perceive belonging, assuring us that no form for the hyper-proliferated output of a network of impro- dried my mouth and scared the hell out of me. I‘d tried so hard and

8 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 9 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

failed! The first [unmusical] workshop was terrifying! A room full A resurgence of music for immediate enjoyment, for daily communi- Offene Bühne – Thema der Frühjahrstagung des of instruments. Once I learned how to relax [however], and realised cation, rather than for a confined spectacle. No study is required to there was no wrong way to do this, I began to completely enjoy the play this kind of music…It is thus accessible to everyone, breaking ring für gruppenimprovisation experience. Each week we became more relaxed and attuned to the the barrier raised by an apprenticeship in the code and the instru- The MUSIC WE were making! Our first performance was immen- ment (Attali, 140). It heralds the arrival of new social relations vom 7. bis 9. März 2014 im exploratorium berlin se! As soon as we started playing, all doubt drained from my body... (Attali, 20). We were doing it... I have never been so wired in my entire life as I was after that gig. Such new social relations though would need to expose the hy- pocrisy of using terms such as ‘freedom’. ‘experimental’ or ‘re- volution’ in improvisation discourses that flagrantly disregard In terms of the the particular model of improvisation typically the power relations involved with who can and who cannot von Marei Seuthe, Köln deployed then, this has emerged from the micro-groups them- participate. I’ll finish with this quote from Christopher Small, selves and the broader Felt Beak aesthetic - an anarchic mode which is where the title for this paper comes from: of operation which allows each group to decide for themselves how to proceed with no external restrictions, such as those that Music is too important to be left to the musicians, and in recog- Das Thema der letzten Frühjahrstagung des rings für gruppenim- tion sanft anzuleiten, sie entweder zu dirigieren oder durch eine come from European ‘non-idiomatic’ or ‘free-improv’ models, in nizing this fact we strike a blow at the experts’ domination…we provisation war die Offene Bühne in ihren verschiedenen Ausprä- Aufwärmphase und ein Schluss-Feedback zu strukturieren und which for example, a ‘famous’ European free-improvisor can tell control our own musical destiny, provide our own music rather than gungen und mit all ihren Möglichkeiten und Schwierigkeiten. indirekt zu steuern. (Eine genaue Beschreibung der Beispiele für a group of music students that initiating a short rhythm is ‘shut- leaving it altogether to someone else to provide. (Small, 1977, 214) Unter der Moderation von Reinhard Gagel und Wolfgang Schlie- die Offene Bühne findet sich auf der folgenden Seite.) ting everyone else out of the group’ and makes things ‘banal’. mann wurde die Offene Bühnezunächst von anderen offenen Die Tagungsteilnehmer konnten sich an zwei Angeboten des ex- I’ve found this approach doesn’t offer anything in terms of un- Angeboten abgegrenzt, mit denen sie das Charakteristikum der ploratoriums aktiv beteiligen: Am Freitag fand dort die von Rein- Musical activism.2 In reaction against this absurdity, the content Offenheit für Teilnehmer aller Art gemeinsam hat, sich aber zu- hard Gagel geleitete Offhandoperastatt, und am Samstag mode- of un-Musical improvised practice can be as chaotic or coherent sätzlich mit dem Element der Bühne auseinandersetzt. Wo eine rierte Matthias Schwabe die monatlich, normalerweise sonntags, as the groups decide, with particular enjoyment of electronic Bühne ist, ist im Grunde genommen auch ein Bereich für Zu- angebotene Offene Bühne. beat-based styles, avant-garde and free- rock forms typically schauer, d.h. es gibt Produzenten und Rezipienten, die beide an In der von ihm entwickelten Form der spontan improvisierten deployed , drawing significant influence from the thought and dem Angebot der Offenen Bühne partizipieren. Man kann sich Text-Musik-Collage geht es Reinhard Gagel um das gemeinsame practice of artists such as William Parker and Hamid Drake. This gegenseitig zuhören oder auch Zuhörer von außen einladen. Erschaffen eines Mini-Musik-Dramas. Er stellt ein ‚Libretto‘ (in more Afrological model seems to get closer to a much talked Die Bühne bietet in jedem Falle einen Anreiz, eine bestimmte unserem Falle Wunderliche Irrwege aus Texten von Bruno Schulz) about ideal, having a collective hyperaware attitude combined ‚vorführbare‘ Qualität der Improvisation zu erreichen, die einem zur Verfügung und dirigiert die einzelnen Aktionen mit leicht ver- with a bold expressiveness on an individual level. What I have gewissen Kunstanspruch genügen soll. Andererseits ist der Un- ständlichen Handzeichen. Die Ereignisse sind dementsprechend found incredibly liberating about it, is that when people get to- terschied zu einem von einem Veranstalter organisierten und gelenkt, lassen aber noch viel Spielraum für eigene Gestaltung. gether, they don’t even use the word ‘improvisation’, they tend eventuell sogar öffentlich geförderten Improvisations- Ein sehr gut funktionierendes Mittel, einzelne Gruppen to just say ‘let’s play’. Importantly though, it also departs from konzert greifbar, in dem sich erfahrene Musiker auf der Spieler schnell an dirigieren zu können, sind ver- the idea of a ‘jam session’, in which there is an implied inferio- dem Konzertpodium treffen und mit einer meist schiedenfarbige Blätter, die verteilt werden. Wenn rity from the ‘real thing’. On the contrary, this is the suggestion zahlenden Zuhörerschaft die Ergebnisse ihres in- nun ein Blatt in einer bestimmten Farbe vom Diri- that the ‘real thing’ will always be improvised. In this way, on a tensiven Erforschens teilen. genten in die Höhe gehalten wird, spielen alle, die micro-scale, it doesn’t feel like an separate alienated and isola- Charly Bramley I am a researcher, performer and workshop leader based in Im weiteren Verlauf der Tagung wurden von ein Blatt in dieser Farbe bekommen haben. ting musical scene, but a potential redefinition of Music itself, Newcastle upon Tyne, England. My work explores the extent to which impro- den Teilnehmern verschiedene Konzepte von Bei der Offenen Bühneam nächsten Tag wurde, in which anyone and everyone can join in. I’ll play a short video visation can be utilised as a type of socio-musical activism, which widens access Offenen Bühnenvorgestellt. Sie reichten von der abgesehen von einer Anmoderation von Matthias medley to show you the kind of stuff people get up to. and participation by inviting so called ‘non-musicians’ who may consider them- Caro Shopping Music in einer Galerie in Ham- Schwabe, die auf die Wichtigkeit des Hörens abzielte, What I’m trying to suggest with all of this then is not just that selves ‘unmusical’ to engage in various open-access workshops, recording sessi- burg über Angebote mit und ohne Dirigat in und einer Einteilung in Spielergruppen, nichts vorgege- there are significant activist potentials to improvised practice ons and performance events in socially accessible community settings throug- Krefeld und Wiesbaden, einem Mitmachkonzert ben. Das Risiko des Scheiterns ist bei so großer Offenheit and that this music can be accessed immediately by people from hout Newcastle. I want to obliterate the negative effects of professionalism and beim Sommermarkt, organisiert vom Klanghaus wahrscheinlich größer. Jedenfalls gab es dann doch einige various different backgrounds in open-public settings, but that specialism that obstruct and hinder access to music, and in doing so, change the in Klein Jasedow und einer Klangchoreographie mit Unmutsäußerungen am nächsten Tag, weil einer der Pi- any such potential is being kept out of view by either the strict typical perception of music from an out of reach ‘specialist’ art only for ‘experts’, über 300 Teilnehmern in Düsseldorf bis zu den viel- anisten die ganze Zeit mit seinen tonalen Kaskaden ‘die parameters applied to the musical approaches themselves under into a radically accessible and irresistible practice, available immediately to an- fältigen Angeboten im exploratorium berlin. Dabei Luft besetzt’ hatte und es anscheinend unmöglich gewe- the guise of ‘freedom’, or the way these musics are operated soci- yone and everyone. I specifically propose an ‘un-Musical activism’ that reflects waren vor allem die Organisation, das Setting und sen war, dies zu beeinflussen. Die Frage nach der Qualität ally to preserve the hierarchy, privilege and exclusion of high-art the need for a fundamental dismantling of fixed ideas on what musicians are and die Zielsetzung dieser Offenen Bühnenim Fokus. dieser Improvisationen wurde gestellt, da ja eigentlich nur musical culture. what music can be. un-Musical activism reinvents an originally pejorative term, Oft war eine Moderation eingeplant, manchmal ‚erfahrene‘ Musiker an diesem Format teilnehmen sollten, bei What are we pursuing here then? Jacques Attali says it, probab- in order to devise means by which so-called ‘non-musicians’ and the apparently wurden Zeitlimits für die Stücke gesetzt und Beset- denen man ein gewisses Maß an Überblick über das musi- ly most directly: ‘unmusical’ can reclaim music through regular music-making opportunities. As zungen abgesprochen. Viele der Angebote finden kalische Geschehen erwarten durfte. Dennoch bleibt die a completely un-trained musician myself I have benefited hugely from the ac- regelmäßig, z.B. einmal im Monat statt. Es geht den Bewertung einer freien Improvisation subjektiv, und es cessibility of improvised practice. I am a regular performer in various improvised Veranstaltern darum, dass Menschen musizierend ist schwierig, allgemeingültige Maßstäbe für sie zu 2 Possible question/criticism: ‘free-from’ free-from a lifetime of musical habits, and therefore someone who is highly trained, therefore doesn’t lend itself well to new- music activity in Newcastle, including the monthly performance event ‘Blue zusammenkommen, ein ‚Miteinander-Zeit-Gefühl‘ formulieren. Zumindest sollte eine Wertung immer comers, nothing to relate to from their current situation. I think you have to start Rinse’, the record label ‘Felt Beak’ and my own weekly improvised music series entwickeln und ihren eigenen Ausdruck oder ihre vor dem Hintergrund des Respekts stattfinden, da from where people are, and then they are more willing to go on a journey with you, which are open-access. eigene Stimme finden. Dabei ist es wichtig, die Ak- jeder mit seiner Bedürfnislage in Bezug auf das Im- rather than imposing something from outside onto them.

10 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 11 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

provisieren ernstgenommen werden sollte. Eine wichtige Qualität Angebote für Offene Bühnen: hörenmachen der Improvisation liegt in ihrer Unvorhersehbarkeit, so dass auch unerwünschte oder als störend empfundene Aktionen jederzeit Berlin: exploratorium berlin: möglich sind. Die BegriffeLoyalität und Verantwortung fielen, Offene Bühne(einmal monatlich, zwei Sets, Stücke sollen und die Frage, ob die offenen Angebote eher therapeutischen als 5 – 7 Minuten dauern, 20 – 30 Teilnehmer) künstlerischen Nutzen haben, wurde gestellt. Die Grundhaltung Offene Bühne Musik und Bewegung beim Improvisieren auf der Offenen Bühnesollte jedenfalls ange- (alle zwei Monate, moderiert) sichts der ständigen Möglichkeit des Misslingens aus der Frage Offene Bühne Musik und Poesie (einmal monatlich) „wie gehe ich mit diesem problematischen Ereignis um?“ entstehen, Offhandopera (einmal monatlich) sodass Machtkämpfe unter den Spielern oder Lähmung durch Treffpunkt Großgruppe(nicht mehr im Angebot) Ratlosigkeit vermieden werden können. Außerdem können bei von Frank Fiedler, Berlin der Offenen Bühne verschiedene Grade an Begrenzung der Mög- Hamburg: Caro Shopping Music, organisiert von der Gruppe lichkeiten und eine Strukturierung der Abläufe zur Steigerung der Tonart (einmal im Monat samstags um 14.30 h in einer Galerie, Qualität sinnvoll sein. Dauer: 30 Minuten, kleine Ensembles und Gäste) Die Tagung bot den Teilnehmern auch immer wieder Raum für www.tonarthamburg.wordpress.com Bühne offen: anfangen: nun mach mal! eigene freie Improvisationen in verschiedenen Konstellationen. So viele Anfänger: Sie wurden sehr selbstkritisch beurteilt, und es war zu spüren, dass Klanghaus Klein Jasedow: Sinfonie des Augenblicks Mitmach- jetzt. vielleicht. nun. doch. lieber. noch. äh. nicht. zuspät. nach. dir. folgen. über die langen Jahre der intensiven Beschäftigung mit frei impro- konzerte beim Sommermarkt (20 bis 60 Teilnehmer, können bis alle darin sind visierter Musik sich bei einigen gewisse Ermüdungserscheinungen Instrumente wählen, Aktionen werden mit Handzeichen ge- blindlings hellhörig hierher gefolgt und die Angst vor dem Immer-Gleichen des improvisatorischen steuert, kein Publikum) www.klangundkörper.de als würde die Musik uns vorangehen Einerlei zeigten. Man konnte jedoch auch erleben, wie die Gefahr klopfen pusten tanzen zupfen singen streichen des allzu routinierten Spiels immer wieder umgangen wurde und Köln: Winterjazz (Improvisation im Jazz-Zusammenhang) wir uns den Weg frei: neue, spannende musikalische Ereignisse in einer Haltung von Meditations- und Vokalimprovisationskonzerte im Klangraum Ku- Ist da Jemand? (will sagen: Bin ich hier?) höchster Konzentration und Unbedingtheit geschaffen wurden. nigunde (einmal im Monat freitags, moderiert von Hinnerick Es sieht so aus als seien Alle da Für mich als Neuling in der Runde war das eine sehr bereichernde Bröskamp. Erfahrene Improvisatoren spielen im Altarraum, das und hört sich an wie ein Jedes in seiner Zeit. Erfahrung, wie ich auch das ganze Wochenende als anregend und Publikum macht je nach Moderation mit und kommt sogar sin- Die Bühne ist eine Gegend vielfältig erlebt habe. gend nach vorne und fängt je nachdem auch an zu tanzen.) so dicht, dass Einer nicht am Andern vorbeikommt Abschließend wurde noch einmal die Spielsituation bei der Offe- so leer, dass Beide sich begegnen wollen müssen. nen Bühne reflektiert. Hierzu brachte Reinhard Gagel den Begriff Köln und Düsseldorf: Open Stage (draußen im Park, einmal im Im Nu sind alle Sekundenplätze besetzt der ‚Komplizenschaft‘ ins Spiel, der eigentlich aus der Kriminalis- Monat, Anweisungen entweder „Listen!“ oder Verabredungen, umgeben von Einsamkeit wird‘s eng tik stammt und sich auf eine kurzfristige Zusammenarbeit auf ein Zeichen mit Fahne, Dauer der Stücke 6 Minuten mit Stoppuhr) und nur im Atmen von bestimmtes Ziel hin bezieht. Diese Zusammenarbeit, die auch auf tun&lassen hören&machen temporären Vereinbarungen (‚compliances‘) beruht, beinhaltet Krefeld: Offene Bühneim Werkhaus (8 – 10 Musiker kommen wird Platz für Jeden: hier etwas Widerständisches und Konspiratives, was, wenn man und spielen, es wird verabredet wer mit wem, zweimal im Jahr, lauter umschlungene Monaden ihn auf die Improvisation anwendet, den Reiz dieser Art des Mu- moderiert von Gerd Rieger), s. Bericht S. 64 leise tanzflächendeckende Rhizome sikmachens in der Gruppe ausmachen kann. Von Gesa Ziemer1 JazzKlub-Session (Vorgabe: „Sucht euch eure Partner“, am Ende Darinnen ist es meist liegt zu dem Thema eine Arbeit vor, die den Tagungsteilnehmern ein Dirigat, zweimal im Jahr) heißoderkalt hartoderweich helloderdunkel lautundluise warm empfohlen wurde. genauso meist aber auch Lüneburg: Offene Bühnefür Laien (Geschichte als Vorgabe und lau trüb zäh matt sonajahalt. graphische Darstellungen) Meist ist das Eine gar nicht aufregender als das Andere: Wenn die Heldentat am Geringfügigen verübt wird. Marei Seuthe, geboren in Köln, verlegte nach ihrem Cellostudium an der Mu- Wiesbaden: Improvisohrium (Ensemble öffnet sich für andere, Wenn die Schönheit knapp am Beiläufigen vorbeiläuft. sikhochschule Köln und einer anschließenden Gesangsausbildung ihren Schwer- einmal im Monat, Setting: Wünsche für Besetzungen, Dauer Wenn der Zauber sich am Immergleichen versucht. punkt auf Improvisation und Neue Musik. So gestaltete sie als Musikerin und der Stücke +/- 10 Minuten) www.kunsthauswiesbaden.org Mangels Verboten traut sich zwischen Schöpfung und Erschöpfung Performerin mehrere Tanztheaterproduktionen, erarbeitete mit den Ensembles Fußnoten (Konzerte als Offene Bühne) die dritte der Schwestern (N.N.), tritt hinter Jeden und erlaubt. Foliafolie und Cello en Vogue inszenierte Konzerte für den WDR und trat mit Fußnoten 2 (jährlicher Workshop außerhalb Wiesbadens) Und wenn er schließlich da ist: der Schluss dem improvisierenden Chor Millefleurs bei internationalen Festivals auf. Einige sind da manchmal Gesichter wie von Kindern: ihrer Projekte wurden als CD veröffentlicht, zuletzt das Duoprojekt Satiesfactory überrascht vom Platzen einer Seifenblase lachend. mit Dietmar Bonnen bei OBSTmusic (2012). 2009 wurde sie als Bühnenmu- (Ehre den Ton: Er könnte der letzte sein.) sikerin mit der Produktion Wunschkonzert des Schauspiels Köln zum Berliner Theatertreffen eingeladen und war 2012 und 2014 guest artist beim New Di- rections Cello Festival in Ithaca, New York. Sie ist Dozentin an der Rheinischen Musikschule der Stadt Köln für Cello, Orchester und Musiktheater. Frank Fiedler spielt Schlagzeug, lebt vom Unterrichten, improvisiert mit 1 Gesa Ziemer, Komplizenschaft – Neue Perspektiven auf Kollektivität, Transcript Musikern und Tänzerinnen z.B. im Trio Tun&Lassen. Verlag, Bielefeld 2013

12 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 13 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

Kontrollierter Kontrollverlust? Offene Bühne einen kreativen Gruppenprozess einzulassen. Daneben gibt es die mutigen Zeitgenossen, die absolute Anfänger sind und bei der Die Offene Bühne im exploratorium berlin Freie Improvisation Offenen Bühne ihre ersten Erfahrungen sammeln. Das kann gut — Lauschen gehen, es kann aber auch sehr schwierig werden. Dann gibt es — Kreatives Potential der Gruppe nutzen die Gruppe derer, die im exploratorium auch regelmäßig Work- — Dauer: 5 – 7’ shops besuchen. Sie sind bei der Offenen Bühne eher selten, weil für viele die Arbeit in einer kontinuierlichen Workshopgruppe Weitere Regeln: oder einem kontinuierlichen Ensemble befriedigender ist als ein — Grenzen der Mitspieler respektieren Abend, an dem man sich dem Risiko aussetzt, mit Leuten zu — Achtsamkeit für Instrumente und Raum spielen, mit denen man sich möglicherweise nicht versteht oder von Matthias Schwabe, Berlin — Misslingen gehört dazu nichts zu sagen hat. Und schließlich gibt es eine Gruppe, auf die — Feedbacks in eigener Verantwortlichkeit das Angebot ursprünglich abzielte, nämlich Musiker, die auch in öffentlichen Improvisationskonzerten zu erleben sind. Davon Es folgt eine Pause und danach ein zweiter längerer Teil, in dem, je sind leider nur wenige der Offenen Bühne treu geblieben, weil Entstehung und Geschichte nach Anzahl der aktiven Anwesenden, alle noch weitere 2 – 3 Mal sie qualitativ nur begrenzt auf ihre Kosten kamen. Andererseits Die Offene Bühne ist ein Format, das seit Gründung des explo- In gewisser Weise gehören dazu auch die beiden Veranstaltungen auftreten können. Die Dauer der Stücke soll ca. 5 – 7 Minuten brauche ich sie dringend, um ein gewisses Grund-Niveau sicher ratorium berlin (im Jahr 2004) eine wichtige Rolle spielt, ange- betragen, damit alle mehrmals spielen können. zu stellen. Nur wenn 3 – 4 solcher erfahrener improvisierender siedelt zwischen Konzert und Workshop: öffentliche Auftritts- — T.I.P. – Treffpunkt für InstrumentalpädagogInnen Es gibt weder verbales Feedback noch irgendwelche Aufwärm- Ensemble-Musiker anwesend sind, gelingt der Abend. möglichkeit einerseits, Ort musikalischen Lernens andererseits, (1 x monatlich) sowie übungen. Allerdings gibt es seit 2010 alle 2 – 3 Monate ein op- vor allem aber eine Möglichkeit des Explorierens in mehrfacher — Nichts und alles für Musiktherapeuten in der tionales informelles Nachgespräch, das nach der Offenen Bühne Gelingen – was heißt das? Qualität versus Experiment Hinsicht. Sterbebegleitung (1 x monatlich). stattfindet. Dazu später mehr. Wenn ich von „gelingen“ spreche, dann gehe ich von dem aus, was mich selbst an der Offenen Bühneinteressiert: Ich möchte Die Offene Bühne im exploratorium ist bezüglich der Akzeptanz Näheres zu diesen Veranstaltungen ist dem Programm des explo- Zur Gruppenbildung Gelegenheit geben, in verschiedenen Besetzungen und mit unter- eine Erfolgsgeschichte, wozu sicherlich auch beiträgt, dass es sich ratoriums zu entnehmen (im Internet unter http://exploratori- Das Thema Gruppenbildung hat mehrere Phasen und Diskussi- schiedlichen Mitspielern Stücke zu improvisieren, die qualitativ um ein kostenfreies Angebot handelt. Sie findet einmal monat- um-berlin.de/category/improvisations_treffs/). onsrunden durchlaufen. Anfangs wurden die Gruppen eigenstän- überzeugend sind, wohl wissend, dass man über Qualität streiten lich am Sonntagabend von 19 – 22 h statt, die Zahl der aktiven dig gebildet. In der ersten Hälfte auf Zuruf, für die zweite Hälfte kann. Das Problem, das sich dabei stellt, macht sich weniger an TeilnehmerInnen betrug anfangs 15 – 25, mittlerweile eher 25 Offene Bühne – eine Definition konnte man sich in der Pause zu Ensembles zusammen finden der Frage fest, ob das eine Stück etwas besser oder das andere etwas – 35, in einzelnen Fällen waren es sogar über 40. Dazu kommen Zu Beginn jeder Offenen Bühne versuche ich diese mit wenigen und auf einer Tafel eintragen. Beides stieß längerfristig auf Unzu- weniger gut beurteilt wird, sondern vielmehr daran, ob die Spieler zwischen 0 und 15 Zuhörer, von denen immer wieder einige Sätzen zu definieren: Die Offene Bühne ist ein Treffpunkt für im- friedenheit. Vor allem für die zweite Phase gab es einen bisweilen sich für das Thema musikalische Qualität überhaupt interessieren die gesamten drei Stunden bleiben und sich anschließend positiv provisierende MusikerInnen und VertreterInnen anderer Kunst- unschönen Run auf die Tafel, um möglichst in mehreren der auf oder ob sie aus anderen Gründen da sind, beispielsweise um äußern, andere bleiben nur zeitweise und ich kenne daher ihre formen, der die Chance bietet, in adhoc gebildeten Formationen 12 begrenzten Stücke spielen zu können. Wer zu langsam war, Feedbacks nicht. In den mehr als 10 Jahren gab es keine Offene gemeinsame Improvisationen auf der Bühne zu präsentieren. hatte das Nachsehen. Mittlerweile losen wir die erste Runde aus. — auf der Bühne anderen zu zeigen, was sie „drauf“ haben Bühne, in der nicht mindestens ein neuer Akteur mit dabei war, Dabei geht es nicht um stilgebundene, sondern um Freie Im- In der zweiten Runde bilden sich Ensembles dadurch, dass alle — sich von anderen zu allen möglichen gewagten Experimenten, was natürlich im Umkehrschluss bedeutet, dass viele Teilnehmer provisation. Das Einbringen von stilgebundenen Elementen ist aufstehen und sich in Kleingruppen zusammentun, so dass defi- gerne auch in Verbindung mit Bewegung, Sprache auch nur einmalig oder nur gelegentlich kamen. Demgegenüber zwar nicht verboten, aber es verursacht meist Probleme, weil es nitiv alle untergebracht sind, und zwar genau einmal. Die dritte und Theatralischem, inspirieren zu lassen steht ein „harter Kern“ von Personen, die mehr oder weniger auf spezielle Sprachen zurückgreift, die man lernen muss, um sie Runde erfolgt nach einem spontanen Prinzip: jeweils 3 – 5 Perso- zuverlässig mit dabei sind, manche sind auch mehrere Monate zu beherrschen. Die Freie Improvisation ist dagegen der Versuch nen gehen auf die Bühne und spielen, dann folgen die nächsten Letzteres scheint für viele ein sehr wichtiges Thema zu sein und oder sogar Jahre lang nicht zu sehen und tauchen dann plötzlich einer universellen Sprache, die mit dem Klingenden an sich ar- 3 – 5 Personen. Auch in dieser Runde kommt jede/r nur einmal eigentlich werden sie damit dem Anspruch an die explorative wieder auf. beitet, was auch Geräusche jeglicher Art mit einbezieht. an die Reihe. Wenn wenig Zeit ist, dürfen die Stücke nur 2 oder 3 Grundausrichtung des exploratorium voll und ganz gerecht. Minuten lang sein. Wenn noch Zeit übrig ist, gibt es eine zusätz- Tatsächlich kann die Lust am Experiment zu qualitativ sehr über- Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche zusätzliche Spezial- Erwünscht ist, dass liche Runde dieser Art. zeugenden Stücken führen. Das geschieht, wenn der Wunsch zu Formate entwickelt: experimentieren zu einer inneren Offenheit führt, die aus der — die Musik aus dem intensiven Aufeinander-Hören entsteht Wer kommt zur Offenen Bühne? Wahrnehmung dessen, was der musikalische Prozess „verlangt“, — Offene Bühne Musik & Bewegung(alle 2 – 3 Monate) — die Mitspielenden sich auf das konzentrieren, was sich zwi- In unserem Programmheft ist die Offene Bühne als „Angebot an neue Ideen generiert. — Offene Bühne Poesie & Musik(einmal monatlich) schen ihnen entwickelt, improvisationserfahrene Musikerinnen und Musiker“ sowie Ver- Schwierig wird es dann, wenn das Neue bzw. die Grenzüber- — Impro-Treff U15 für Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre — die kollektive Kreativität somit als besondere Chance der treterInnen anderer Kunstformen angekündigt. Tatsächlich ist schreitung zum Selbstzweck wird, wenn eine Art Wettbewerb des (alle 2 – 3 Monate) Ensemble-Improvisation begriffen und genutzt wird. die Besetzung sehr gemischt. Die wichtigste Klientel sind nach (vermeintlich) Originellen bzw. Noch-nie-Dagewesenen stattfin- — die Offhandopera meiner Beobachtung Personen, die schon seit vielen Jahren mit det. Dabei entstehen häufig Situationen, die einzig für die (un- (siehe dazu den Beitrag von Reinhard Gagel) Diese und weitere Ansagen, die ich weiter unten noch erläutere, sind ihrem Instrument improvisatorisch unterwegs sind, es teils au- erfahrenen) Spieler Grenzüberschreitungen darstellen, jedoch — Grenzgänge für Stimme, Klang und Bewegung auf einem Plakat an der Wand zusammengefasst (siehe S. 15 oben) todidaktisch erlernt haben. Die Offene Bühne bietet ihnen end- nicht für die Erfahreneren unter den Mitspielern und Zuhörern. (einmal monatlich) Im exploratorium gibt es eine Dramaturgie des Abends: Im ersten lich ein Forum, Gleichgesinnte zu treffen, sich in verschiedenen Dann wird sozusagen das Rad zum 100sten Mal neu erfunden, — zeitweise ein Treffpunkt Großgruppe Teil stelle ich das Format vor, anschließend nennen alle Spieler Besetzungen auszuprobieren und Bühnenerfahrung zu sammeln. von einzelnen Spielern stolz präsentiert und von einzelnen Zu- (vierteljährlich) ihren Namen und ihr Instrument bzw. ihr künstlerisches Medium Manche dieser Personen sind es gewohnt, in der Gruppe zu spie- hörern euphorisch bejubelt, während die anderen, die solcherlei und das Spezialformat listen and play! (z.B. Bewegung, Dichtung etc.). Dann erfolgt ein Durchlauf, in len, anderen merkt man an, dass sie sich vorwiegend mit Solo- Wieder-Erfindungen schon häufig erlebt haben, nur genervt mit (einen Monat lang jeden Abend 1 Stunde!) dem alle Mitspielenden einmal auf der Bühne zu erleben sind. Improvisation beschäftigen und Schwierigkeiten haben, sich auf den Augen rollen.

14 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 15 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

An dieser Stelle ist häufig eine fatale Interaktion mit dem Publi- „irgendetwas“. Das gesamte erste Set war einfach nur schrecklich! der Aggression und halten dagegen, entweder weil sie selbst an- und limitiert damit die (sinnvollen) Handlungsmöglichkeiten kum zu beobachten. Insbesondere, wenn witzige Aktionen von Das Vorbild-Prinzip ist für mich einer der wichtigsten Schlüs- gesprochen sind oder weil sie die Art der Kritik missbilligen. der Mitspieler. Aber das haben wir uns so ausgesucht (Stichwort: einzelnen Zuhörern belacht werden, entsteht bisweilen geradezu sel, um Qualität einzubringen: Ich brauche unter den Akteu- Hilfreich war das Nachgespräch vor allem dann, wenn wir Ver- Freiwilligkeit) und wir empfinden die musikalischen Aktionen ein Sog, weitere „Lacher“ zu ernten, was die Stücke fast immer in rInnen einige gute Spieler, die durch ihr Spiel zeigen, worauf änderungen oder neue Varianten des Formats entwickelt haben. der anderen häufig als Bereicherung des gemeinsamen Prozesses schlechtes Laien-Theater abdriften lässt. Das ist menschlich sehr es ankommt. Inwiefern die unerfahreneren Akteure daraus ler- Ich bin seit einiger Zeit dazu übergegangen, zu Beginn der Offe- und als Anregung für eigenen Ideen. Dennoch ist es wichtig zu verständlich, künstlerisch aber sehr schade! nen können, ist nicht gesichert. Es ist aber zu beobachten, dass nen Bühne anzusagen, dass Feedbacks in eigener Verantwortung verstehen, dass Freiheit zwar heißt, (fast) alles tun zu dürfen, dass Abende, an denen nur sehr wenige erfahrene Spieler anwesend erfolgen sollten. Ich halte es für am sinnvollsten, dass die Spie- jedoch nicht alles, was ich darf, auch sinnvoll ist. Die eigentliche Herausforderung besteht also darin, den durch- sind, sich schwierig gestalten. lerInnen sich gegenseitig direkt ansprechen, wenn sie das Gefühl Das (insbesondere in der Musik) befreiende Gefühl, selbst zu aus wünschenswerten Drang nach Grenzüberschreitung und hatten, in ihrem Stück sei etwas geschehen, was es zu klären gilt. entscheiden, wie ich agieren, was ich spielen will, also keinem Neuartigem, aber auch nach Anerkennung aus dem Publikum 2. Verbale Reflexion Das muss dann natürlich in der Pause oder nach der Veranstal- Notentext und keinem festgelegten Stück zu gehorchen, kann mit dem Bedürfnis nach Qualität zu verbinden. In Anbetracht In Workshops arbeite ich gerne mit verbaler Reflexion von Stü- tung geschehen. bisweilen zu einem Ausleben von Bedürfnissen führen, die mit von vielen unerfahrenen Teilnehmern heißt das oftmals, einen cken. Bei der Offenen Bühne verzichte ich darauf bewusst, und Musik bzw. künstlerischer Arbeit wenig zu tun haben. Ein Ta- „Sinn“ für Qualität überhaupt erst zu entwickeln. Nachfolgend zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist die Zahl der anwesenden 3. Input bubruch wird dann zum Akt der Selbsterprobung. Das geht fast einige Überlegungen dazu. Akteure meist so groß, dass Sprechen über die Stücke die ohnehin In den letzten Monaten habe ich beobachtet, dass die erste Hälfte immer auf Kosten des künstlerischen Prozesses, bisweilen aber häufig recht gut gelang, vermutlich, weil die Begegnungen noch auch auf Kosten des Raumes, der Instrumente und/oder der Mit- „frisch“ waren. Probleme traten dagegen oft in der zweiten Hälfte spieler. So geschehen, wenn im Rausch des Entdeckens Instru- auf. Deshalb habe ich einige Male nach der Pause einen verba- mente (des exploratorium) und der Raum in grenzwertiger Weise len Input initiiert. Das konnte eine 5-minütige Ideensammlung traktiert und bisweilen beschädigt oder die Instrumente von Mit- zum Thema „Was macht eine gute Improvisation aus?“ sein, aber spielern als eigenes Spielmaterial genutzt werden. auch eine Spielregel eher allgemeiner Art, die ich als „optionale Anregung“ deklariere. Soll heißen: Wer sich davon angesprochen fühlt, kann sie berücksichtigen, wem sie nicht einleuchtet, sollte sie einfach ignorieren.

Hier einige Beispiele, zunächst aus meiner Sammlung von soge- nannten „Fokus“-Spielregeln, die dazu dienen, beim freien Im- provisieren die Aufmerksamkeit auf bestimmte relevante Themen zu fokussieren. Ich würde jeweils nur eine dieser Regeln als Input formulieren.

— Spiele nur, wenn du etwas zu sagen hast, dann aber stehe auch dazu! — Spiele nur, was du vorher innerlich gehört hast. — Wer pausiert, macht sich beliebt. Musikalische Qualität anregen: Erfahrungen begrenzte Spielzeit noch weiter verringern würde. Zum anderen — Weniger ist mehr! Spiele mit möglichst wenig musikali- 1. Das Vorbild-Prinzip: bedarf es für eine Reflexion einer Atmosphäre, in der Kritik geäu- schem Material und lote dessen Möglichkeiten aus. An einem Abend in der Anfangszeit des exploratorium spielten ßert werden kann, ohne dass sich der Kritisierte gedemütigt fühlt. als erstes drei erfahrene Musiker der deutschen Impro-Szene. Ihr Dies ist schon in festen Gruppen nicht ganz einfach, in einer Ver- Hilfreich finde ich auch das „Ja-Und-Prinzip“, das ich von der Das, was es braucht, ist eigentlich eine Art „kontrollierter Kon- Stück war sehr eindrücklich, bestach durch hohe Präsenz, hohe anstaltung mit über 30 Anwesenden, die teilweise neu sind, halte Theater-Improvisation gelernt habe. „Ja“ bedeutet: du kannst trollverlust“: als Spieler versuche ich, mich dem künstlerischen Konzentration und vor allem durch einen sehr deutlich wahr- ich das für nicht umsetzbar. an einem Beitrag, der dir nicht gefällt, nichts ändern. Es bleibt Prozess hinzugeben, ihn nicht zu kontrollieren, sondern ihm zu nehmbaren „Klangsinn“ für alles, was an Geräuschen und Klän- Allerdings arbeite ich in der Offenen Bühne Musik & Bewegung dir nichts anderes übrig, als ihn zu akzeptieren, „ja“ zu sagen. folgen, bin aber gleichzeitig in der Lage meine Begrenzungen gen entstand. Offenbar waren alle Anwesenden in der Lage, diese durchaus mit Reflexion. Hier ist die Teilnehmerzahl geringer, die Was dir bleibt, ist das „und“: du kannst durch deinen eigenen wahrzunehmen, die mir mein Körper und mein Instrument Eigenschaften auf irgendeiner Ebene, bewusst oder unbewusst, zu Anwesenden lassen sich meist in 4 – 5 Gruppen aufteilen. Dann Beitrag die Musik so gestalten, dass das Ganze Sinn macht. setzen, aber auch der Respekt vor den anderen (Personen, Din- verstehen. Jedenfalls war der gesamte erste Teil des Abends von gibt es in der ersten Hälfte des Abends jeweils nach zwei Stücken Soll heißen: Halte dich nicht damit auf, dich über Beiträge zu gen ...). Was das heißt, darüber gehen die Meinungen bisweilen diesen genannten Qualitäten geprägt – durchweg entstanden gute eine Reflexionsphase, die sich allerdings primär mit der Frage ärgern, die dir nicht gefallen, sondern überlege, wie du durch dei- auseinander. Die meisten Tänzer sind es gewohnt, mit ihren bis sehr gute Stücke. auseinandersetzt: Wie war das Verhältnis zwischen Musik und nen eigenen Beitrag konstruktiv etwas ändern kannst. Partnern auch hautnah zu kommunizieren, insbesondere wenn Einige Monate später geschah das Gegenteil. Auf der Bühne war Bewegung? Diese Gespräche sind manchmal sehr spannend. In sie von der in den letzten Jahren populär gewordenen Kontakt- in der ersten Besetzung eine Spielerin, die mir nachher bestätigte, der zweiten (dann kürzeren) Hälfte kommen dann allerdings alle Freiräume und Grenzverletzungen Improvisation kommen, bei der die ständige Berührung mit dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben improvisierte. Der Musi- Spieler nur noch ein einziges weiteres Mal an die Reihe. Die Offene Bühne ist eine Übung im Umgang mit Freiheit. Die einem Bewegungspartner oberstes Gebot ist. Wenn sie dieses ker, der sie mitgebracht hatte, hatte ihr gesagt, sie solle einfach „ir- Für die „normale“ Offene Bühne biete ich alle 2 bis 3 Monate Freiheit meines Handelns endet da, wo es in die Freiheit anderer Gebot auf den Umgang mit Musikern übertragen, gibt es Prob- gendetwas“ spielen, nur keine harmonischen Dreiklänge. Genau ein Nachgespräch an, in dem Themen nach Bedarf angespro- eingreift. Genau genommen gibt es deshalb eigentlich sehr we- leme! Auch beim Tanzen würden sie respektieren, dass es intime so klang ihr Spiel: nach „irgendetwas“, verbunden mit einer laten- chen werden können. Es hat sich herausgestellt, dass häufig nig Freiheit in der sogenannten Freien Improvisation (die ja nur Körperzonen gibt, die für andere tabu sind. Ebenso intim und ten Hemmung, weil sie etwas (nämlich die Dreiklänge) vermei- dann, wenn über einzelne Stücke kritisch diskutiert wird, eine so heißt, weil sie im Gegensatz zu idiomatischer Improvisation tabu ist für die meisten Musiker ihr Instrument. Dass Tänzer den sollte. Diese Haltung verbreitete sich wie ein Virus. Es war, sehr gereizte Stimmung aufkommt: Die einen lassen ihren Frust frei von stilistischen Regeln ist). Denn jeder Spieler greift mit sei- das nicht wissen, ist nicht verwunderlich. Wenn sie aber trotz als hätte jemand zu Beginn angesagt: heute spielen wir alle einfach über Misslungenes heraus, die anderen empfinden dies als Akt nen musikalischen Aktionen in das gemeinsame Geschehen ein deutlicher Signale der betroffenen Musiker nicht davon ablas-

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sen, in deren Instrumente einzugreifen, wird es zum Problem, — ganz wichtig: eine Art musikalische Kontaktbörse, bei der open stage weil es sich dabei um eine massive Grenzverletzung handelt. ich AkteurInnen kennen lerne, die ebenfalls dieser doch Dies geschieht glücklicherweise selten, aber doch immer wie- eher seltenen Art des Musizierens anhängen, und unter der. Daher werde ich versuchen, auch dieses Thema in die leider denen ich mir aussuchen kann, mit wem ich gerne auch immer länger werdende Liste meiner Ansagen zu Beginn der außerhalb der Offenen Bühne zusammen spielen möchte. Offenen Bühneeinzubauen. In der Offenen Bühne haben sich schon mehrere Ensembles zusammengefunden und eine Bildende Künstlerin lädt Macht das alles Sinn? regelmäßig einige der Musiker zu öffentlichen Auftritten in Die Offene Bühne ist die offenste Veranstaltungsform, die wir im ihr eigenes Atelier ein. exploratorium anbieten. Ein Prozess mit um die 30 Musiker wird hier mit nur wenigen Worten eingeleitet, die Moderation durch Dies scheint die dabei entstehenden problematischen Situationen von Wolfgang Hille, Berlin mich bezieht sich vorwiegend auf die Zusammenstellung der Ad- aufzuwiegen, so dass ich mir selbst nur vornehmen kann, das For- hoc-Besetzungen. Dieses Vorgehen kann zu grandiosen Abenden mat kontinuierlich zu beobachten, zu hinterfragen und zu ver- führen, an deren Ende ich hoch zufrieden bin, manchmal aber bessern, alleine, im Dialog mit anderen und im vierteljährlichen auch zu völlig misslungenen, die mich am Format zweifeln lassen. Nachgespräch in der großen Gruppe. alles fürs ohr, geräusche, klänge, sprache, gesang, all dies selbst in alledem versuchsweise getan schließlich der erste auftritt in Macht das alles Sinn? Kann man mit so wenigen Vorgaben einen zu erzeugen, es bedeutete mir ungeheuer viel, und alles dies bei der galerie stella berlin mitte 2011 zum geburtstag der kunst mit solch offenen Prozess sinnvoll gestalten? einem beklagenswerten schulunterricht, der darin nichts weiter n.h. am cello (sie mit langjährigem unterricht darin) v.w. an der hergab als das singen von fahrtenliedern, volksliedern, weih- viola (unterricht in gitarre, geige, viola) und mir an der geige, nachtsliedern, kirchenliedern. und als instrumentalunterricht ohne alles an unterricht. wir nahmen’s auf und ich fand’s toll. allenfalls das spielen einer blockflöte. kein darüber hinausge- es folgten abende bei amuse-gueule mit ungewöhnlichen ange- hender instrumentalunterricht, nichts an ermutigung, nichts an boten von john cage zu freier komposition und spielweise an- möglichkeiten des ausprobierens, des zur verfügung stellens von regend. gefolgt von den möglichkeiten des kommrum friedenau instrumenten, des zusätzlichen unterrichts darin. und zuhaus mit seinem raum voller verschiedenster instrumente und dem nichts anderes. in nichts unterstützt. im gegenteil eher noch da- angebot sie ohne alles an vorgaben in einer gruppe ungehindert rin eingeschüchtert. die geige meines vaters überhaupt in die spielen zu können. und last not least das exploratorium mit allen hand zu nehmen, war schon schier ein verbrechen. seinen offenen gruppen, die es mir erlauben, alles dies in anre- es galt allein das du kannst – du kannst nicht. alles strikt besser- gender und selbst diskutierter weise fortzuführen. wisserisch autoritär und krass destruktiv gegen alles, was diesem gefolgt von weiteren auftritten im kunstraum gad mit u.m. kasernenton nicht entsprach. in keiner weise irgendetwas an elektronik, ich geige, dez 14 und malena bar, u.m. elektronik, förderung, an freier entfaltung etc. v.w. mundharmonika et al, w.n. stimme, ich geige et al, jan 15. so suchte ich meinen riesenwunsch danach, in dieser weise et- ich finde die gruppensituationen des exploratoriums wunderbar, was zu tun – zu sprechen, zu singen, instrumente zu spielen, sei’s mit allen ihren möglichkeiten des was wie wo der freien entfal- auch mit der blockflöte beginnend, mit gitarre, klavier – selbst tung, der eigenen impulse wie der anderer, der anregungen, die zu erfüllen und sei’s auch dadurch, dass ich auf jedem klavier, an sich daraus ergeben können, ist man bereit dazu, sie offen zu dem ich vorbeikam, versuchte wenigstens einen ton zu spielen. artikulieren und aufzunehmen. jedes instrument, sobald ich eine chance dazu hatte, wenigstens Ich setze bei der Beantwortung dieser Frage auf die Abstimmung in die hand zu nehmen, versuchsweise zu spielen. selbst eine mit den Füßen. Auch wenn ich sehr wohl registriert habe, dass orgel. dies alles ohne jeglichen unterricht darin. ich versuchte viele AkteurInnen nur einmal auftauchen und dann nie wieder, mich mit der orientierung an mir selbst in all dies hineinzutas- ist doch der große Anteil an treuen Offene Bühne-Besuchern ein ten, und sei es das kratz kratz als allererstes auf einer geige. und viel wichtigeres Argument. Das zeigen auch die in diesem Heft schritt für schritt davon ausgehend mich in alle möglichkeiten veröffentlichten Besucher-Beiträge, die allesamt von erfahrenen dieses instrumentes wie jedes anderen hineinzutasten. in alles, Musikern stammen. was mit ihnen möglich ist an geräuschen, an tönen et al. und schon allein die dazugehörigen bewegungen, sie machen mir Nach meiner Beobachtung bietet die Offene Bühneden Akteur- spaß. etwas darin zu tun, mich zu bewegen, unschuldig unbe- Innen Matthias Schwabe, *1958, studierte Komposition und Musiktheorie in Karlsruhe fangen. offen frei. und dies zuallerletzt gerade auf der geige, das und Hamburg. Ausbildung und Mitarbeit bei Lilli Friedemann in Musikalischer letzte schwierigste instrument für mich, mich dort heranzutrau- — einen (weitgehend) kritikfreien Raum des Erprobens Gruppenimprovisation. Seit 1984 freiberuflich tätig in Berlin als Komponist, en nach all den verboten dazu von zuhaus. — eine immer wieder neue Auseinandersetzung im Zusammen- Improvisationsmusiker, Musikpädagoge und Musikpädagogik-Autor. Grün- und außer den instrumenten gehört zu alledem letztlich auch spiel mit teils neuen, teils bekannten SpielpartnerInnen dungsmitglied des Improvisationsensembles Ex Tempore. Fortbildungstätigkeit im jeder andere gegenstand und was sich damit anfangen lässt an — eine sehr freie Form musikalischen Lernens, weil ich an Bereich kreativer Musikpädagogik im In- und Ausland. Lehraufträge am Sozialpä- erzeugung von geräuschen et al. dazu die sprache, stimme, stim- einem dreistündigen Abend i.d.R. in ca. 3 von 18 Stücken dagogischen Institut Berlin und an der Universität der Künste Berlin. Zahlreiche men, geräusche, gesang mit ihr. dazu naturgeräusche, die der mitspiele, also 15 Stücke anhöre, mir Gedanken darüber Veröffentlichungen über musikalische Improvisation und Kreativität. Gründer straße, der u-bahn, die aller orte und in allem den unterschied mache, ob und warum sie mir gefallen und mich dabei mit und Leiter des Veranstaltungs- und Fortbildungszentrums für improvisierte Musik von gelernt – ungelernt aufhebend so gut es geht. positiven und negativen Vorbildern auseinandersetze exploratorium berlin.

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Offene Bühne– Erfahrungen im exploratorium berlin So entstehen immer wieder Momente überraschender Schön- heit und berührender Verletzlichkeit. Dass es in uneingespiel- ten und heterogenen Gruppen auch manchmal zu Abstürzen kommt, ist der Preis der Offenheit.

Als Teil der Erfahrungsmöglichkeiten, die das exploratorium bie- Max Andreas Stehle, Saxophon, Klavier, Stimme – spielt seit Ende der 1970er tet, hat die Offene Bühne ihren Anteil an der Entwicklung vieler Jahre frei improvisierte Musik in verschiedenen Formationen vom Duo bis Musiker und dem hohen Qualitätsniveau vieler Auftritte. Ich habe Großensemble, auch mit Tänzern, Poeten, Video-Künstlern und Malern. Seit dort das exploratorium kennengelernt, viele schöne Momente er- 2 Jahren im exploratorium berlin und ring für gruppenimprovisation aktiv (u.a. lebt und einige liebe Musikerkollegen und –Freunde gewonnen. WHN und SCHWARM 13). von Max Stehle, Berlin

In diesem Artikel beziehe ich mich hauptsächlich auf 4. Humor, musikalische Zitate und überraschende, komische die Offene Bühne im exploratorium berlin. Aus Wendungen in der Improvisation liebe ich. Es gibt aber 10 – 30 anwesenden Musikern, Vokalis- auf der Offenen Bühne immer wieder Situationen, die ich ten und Tänzern werden hier nach ver- nur als Klamauk empfinde. Es wird auf Lacher gezielt, die schiedenen Kriterien adhoc-Ensemble von Musik bleibt auf der Strecke. Oder es wird eine ungewisse, in der Regel 3 –7 Spielern gebildet, die 5 – 7 spannungsreiche Situation Richtung Komik gedreht und so Minuten für ein frei improvisiertes Stück ha- in flache Gewässer geleitet, während ein (Aus-)Halten der ben. So kommen in zwei Sets im Laufe eines Spannung tiefer geführt hätte. Abends 10 – 18 Stücke auf die Bühne, jeder Spieler hat 2 – 3 Auftrittsmöglichkeiten. Gespräche über diese Erfahrungen und Wahrnehmungen weisen in zwei Richtungen: Musiker, die das Bestreben teilen, ihre Im- Als ich im Sommer 2013 zum ersten Mal die Of- provisationen kompositorisch zu strukturieren und zu gestalten, fene Bühne besucht habe, war ich von der Qualität kommen zu einem hohen Maß an Übereinstimmung in ihren der Auftritte positiv überrascht: gutes Zuhören, Wechsel von Wertungen. Dieser Ansatz bringt für mich persönlich eine Fülle stillen und wilden Phasen, von Gruppenklang zu Dialogstruk- an musikalischen und emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten. turen, und das Gefühl der Bezogenheit unter den Spielern. Erfahrungsbericht Offene Bühne im exploratorium berlin Kurz: Es gab viel Musik, die dem, was ich mir von freier Impro- Es gibt aber auf der Offenen Bühne auch Teilnehmer, die einer visation wünsche, nahe kam. anderen Ästhetik folgen: gegen kompositorische und gestalte- rische Impulse (und Qualitätsvorstellungen) wird eine unbe- Rückblickend kann ich sagen, dass hier etwas Glück dabei war: dingte Freiheit gesetzt, die sich gegen jede Strukturierung und nicht alle Abende der Offenen Bühne, die ich seither besucht Wertung wehrt. Dies führt auch zu anderen Wahrnehmungen habe, habe ich so positiv empfunden. Manchmal treten weniger von Spielsituationen. erfreuliche Wahrnehmungen in den Vordergrund: von Bernd Kircher, Berlin Doch es gibt auch Brücken über diese Polarisierung: 1. Freier Ausdruck kann so dominant werden, dass für andere Manchmal gelingt es mir als Hörer, meine Wahrnehmung aus Impulse kein Platz mehr bleibt. Es entsteht der Eindruck den Bewertungen zu befreien – dann kann ich plötzlich Gefal- von Selbstbezogenheit und fehlendem Zuhören. len finden an Prozessen, auch wenn sie meinen Vorlieben und Die Offene Bühne ist für mich immer wieder Inspiration und versuche ich, mich der ‚weißen Leinwand‘ des Nicht-Wissens meiner Ästhetik nicht entsprechen. Herausforderung. Ich finde es erstaunlich, wie in zufällig zu- auszusetzen und möglichst nicht auf gewohnte Muster zurück- 2. Die Ausdrucksmöglichkeiten von Musiker, Sänger und Tän- sammengestellten Konstellationen im besten Fall gemeinsam zugreifen. zer in ihrem gewählten Medium können begrenzt erschei- Und als beteiligter Musiker eröffnet mir diese Weitung über instantan Musik komponiert wird. nen, sei es aus mangelnder Übung und Erfahrung, sei es aus meine Urteile hinaus Interaktions- und Interventionsmöglich- Ein schönes Training in spontanem Erfinden! Ängstlichkeit oder anderer innerer Begrenzung. Dazu zählt keiten, die ich davor nicht gefunden habe. Das sind durchaus Die wesentliche Voraussetzung ist natürlich, dass alle aufeinan- für mich auch die Begrenzung auf eine bestimmte Harmo- Glücksmomente. der hören. Das findet im Idealfall statt und dann ereignen sich nik. Auch begrenzte Möglichkeiten können einfühlsam im magische Momente. Gesamtklang eingesetzt werden, aber manches erscheint Das gelingt nicht immer. Doch auch die Frage: „Was ist es denn, unverbunden und/oder beliebig. was ich hier so gar nicht hören/spüren mag?“, ist zwar nicht ange- Eine Herausforderung entsteht, wenn sehr verschiedene Auffas- Bernd Kircher, Alt- und Sopransaxophon. Aus der Zusammenarbeit mit nehm, aber durchaus bereichernd. sungen und Wahrnehmungen aufeinander treffen. Ich spiele ja KünstlerInnen aus vielen Teilen der Welt hat er sich ein vielseitiges, breit gefä- 3. Es gibt Spielsituationen, in denen ich weder musikalisch- hier meistens mit Leuten zusammen, die ich mir nicht unbe- chertes Ausdrucksspektrum erspielt, das von freien, experimentellen Klangbil- ästhetische Beziehungen zwischen den Akteuren, noch eine Die Möglichkeit des ‚Misslingens‘ liegt in jeder Aufführung, zu- dingt ausgesucht hätte. Da kann ich dann immer wieder aufs dern bis zu konkreten, rhythmisch-melodiösen Kompositionen und Improvisa- musikalische Idee wahrnehmen kann. mal wenn sie im und aus dem Moment entsteht. Darin liegt ja Neue schauen, wie ich kreativ mit der Situation umgehe. Das tionen reicht. Stummfilmkonzerte, Theatermusiken und Lesungen mit Musik auch eine große Kraft, wenn wir ‚am Abgrund‘ entlang gehen. Spektrum reicht von Resonanz bis Zumutung. Musikalisch erweitern den Aufführungsrahmen. www.parageetmusic.de

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Individueller Ausdruck und soziale Gruppe nahm keinen Kontakt auf, ihn interessierte nur, was seine Fin- keine rein musikalische Angelegenheit. Es ist immer ein Konglo- ger gerade spielten. Wie weit geht diese „Okkupation“ fremder merat aus sozialem/interaktivem Handeln und musikalischem – positive und negative Freiheit Instrumente, wo hat sie Grenzen? Wenn ich das schreibe, regt Handeln, oder klarer: improvisierte Musik ist in besonderem sich ein Schamgefühl – sei nicht so kleinlich, er hat doch seine Maße auch soziales Handeln. Fritsch vermutet, dass sein Erlebnis Kreativität ausleben wollen und das ist doch prima – andererseits aus einer Dokumentation – selbst aus einem Film – nicht her- hätte ich nie das Instrument von jemand anderem besetzt oder ausgehört werden kann bzw. nicht sichtbar wäre. Wenn ich die die Elektronik von jemand anders bedient. Im Laufe des Abends Aufnahme unseres Spielens hören würde (sie liegt mir leider nicht schmiss auch jemand – vielleicht in musikalischer Absicht – mit vor), könnte ich dann sagen, was für eine musikalische Qualität Klangschalen durch den Raum, bewusst riskierend, dass etwas „Agressivität“ hat? Vielleicht hört man ja, dass etwas „ungemes- vom Instrumentarium auch kaputtgehen könnte. Welcher Wert sen“ den bisherigen Aktionen gegenüber ist? War das ganze viel- von Reinhard Gagel, Berlin gilt? Das freie Agieren, die eigene ungebremste Individualität, leicht sogar ein Ansporn, eine Steigerung der Energie? Und ging oder die Wahrung der Grenze der Persönlichkeit, einer Kon- es eigentlich den anderen genauso, haben sie das auch gespürt? Ich vention, gar einer Gruppenmoral? Es ist etwas anderes, in eine bin sicher, dass eine Rückmeldungsrunde einiges davon zu Tage Musik der anderen einzusteigen als das Instrument besetzen und gebracht hätte, improvisierende Musiker sind in der Wahrneh- Die Musiker, die auf einer Offenen „Ende der 60er Jahre, K. Stockhausens Unbegrenzt im Freien, in okkupieren zu wollen... mung sozialer Vorgänge oft sehr sensibel (ich habe solche Nachge- Bühne zusammenspielen, kennen St. Paul de Vence. Musiker aus Köln und Paris und ein Sänger aus Wie vielfältig ist die Motivation im offenen Raum Klänge zu set- spräche beim Improvisiakum in Köln erlebt). sich oft nicht, haben meist kei- London, Roy Hart, mit einer Stimme von mehr als vier Oktaven zen? Man kann musikalische Anregungen aufgreifen, man kann Ich möchte meine Ausführungen als Reflexion darüber verstan- ne Erfahrung im musikalischen Umfang. Im „unbegrenzten“ Spiel entwickelt sich ein Kampf, ziem- seinen inneren Motivationen folgen (sich auf jeden Fall ausleben) den wissen, wie freies, offenes Improvisieren – weshalb ja so viele Umgang miteinander, keine ge- lich niederes Niveau, affenhaft. Die Geräuschkulisse meiner Brat- oder sozialen Konventionen (hier darf ich jetzt nicht) folgen oder kommen – in hohem Masse auch von der Einhaltung bestimmter meinsame Probengeschichte, oft sche gegen die drohenden Schreie der mikrophonierten Stimme. Der übergriffig werden (er bedrängt mich und ich wehre mich mit Regeln, Konventionen und Haltungen lebt, Freiheit sich gerade auch keine besondere Improvisati- Kampf eskaliert. Ich sitze auf einem Stuhl, das Kabel meines Kon- Klängen, wie Johannes Frisch beschreibt). In allen Fällen ergibt auf dieser erst entfalten kann. Das wird besonders deutlich, wenn onsroutine. Alles, was geschieht, ist taktmikrophons ist kurz, der Sänger mit dem Mikrophon in der sich meist trotzdem eine klingende Form. Bei mir machte der Grenzen überschritten werden, eine Regel nicht eingehalten wird, sozusagen das erste Mal, es hat seinen Hand ist freier. Er kommt auf mich zu, bedroht mich, hebt mich beschriebene Kontext sicherlich, dass ich in gewisser Weise mein gar wenn Übergriffe geschehen, die zu Bedrängtheitsgefühlen, gar Reiz, bildet aber auch ein Risiko – für die hoch aus meinem Stuhl. Ich wehre mich mit meinen Klängen, er Instrument „verteidigte“ und vielleicht wirklich länger und an- zu Angst führen. Es geht letztlich um den Umfang von Freiheit entstehende Musik und gar für einen selbst. Es geht um etwas, ist stärker. Ich habe Angst. Die Szene ist nicht dokumentiert. Auch ders – weniger hörend als sich behauptend – gespielt habe. in der improvisierten Musik. Der Philosoph Isaiah Berlin spricht das zentral fürs Improvisieren und auch für die Offenen Bühnen wenn es eine Aufnahme gegeben hätte – nicht einmal ein Film hätte Ich selbst bin sogar moralisch berührt, wenn ich andere nicht von zwei Konzepten der Freiheit: einer positiven Freiheit (ich ist, nämlich um die Freiheit, und um die Grenzen dieser Frei- dies festhalten können.“ 1 lasse – und muss auch jetzt beim Schreiben innerlich kämpfen: kann tun, was ich will, es gibt keine Grenzen) und einer negativen heit, gipfelnd in dem Satz: Da nimmt sich einer eine Freiheit, Wo ist der Unterschied, wenn einer tun will, was er will und dies Freiheit (ich kann innerhalb enger und weniger enger Grenzen die für andere möglicherweise zu weit geht. Dies ist eine Improvisations-Schilderung, in der ein Musiker mit seinem Instrument tut oder an meinem, an dem scheinbar tun, was ich will). Gary Peters resumiert die negative Freiheit: Solche Fragen bilden sich in der Art des Improvisierens ab und über das Musikalische hinaus über die Fragilität der sozialen und noch so viel Platz frei ist... Die beschriebenen fliegenden Me- sie haben Einfluss auf den Fortgang einer Musik. Es gibt eine psychischen Beziehungen der Spieler untereinander berichtet. tallschalen waren so eine „positive Freiheit“ – ich tue, was ich „In essence negative freedom is a collective ideal. It protects the collec- Unterschicht – aber eine sehr entscheidende – des musikalischen Mein Erlebnis, über das ich nun genauer nachdenken möchte, will, vielleicht zu laut und nicht dem musikalischen Stand der tive by establishing a regime of noninterference that, in breaking with Agierens, die u.a. auf bestimmten Konventionen beruht, die un- geschah ebenfalls bei einer langen nächtlichen Offenen Bühne, Gruppe zu der Zeit angemessen, aber ich tue es. Diese Aktion ist „men´s constant tendency to conformity,“ allows the individual the geschrieben sind, auf Haltungen, die der einzelne einzuhalten in der ca. acht Musiker auf der Bühne spielten und ein kleines zwiespältig und zeugt nicht von kollektivem Gestalten, sondern scope and the space for „spontaneity, originality, genius (and) mental hat, damit der freie Raum organisiert und bespielt werden kann. Publikum zuhörte. Es war ein ca. einstündiges Stück, das sich von sich Bahn brechender Individualität. Wie schreibt der engli- energy,“ all of which figure large in the world of Improvisation. Posi- Die Offene Bühne hat solche Konventionen z.B. darin, dass man ohne Unterbrechung von Aktion zu Aktion weiterentwickelte. sche Philosoph Gary Peters in seiner Philosophie der Improvisati- tive freedom, on the other hand, is an ideal of singularity, and it has nicht, während andere spielen, auf die Bühne geht oder dass auf Ich war am Klavier besonderen „Übergriffen“ ausgesetzt. Wäh- on über „positive Freiheit“? rather more worrying vocabulary, one inescapably intertwined with der Bühne nicht gesprochen werden soll; die Einhaltung des rend ich spielte, kam ein anderer Spieler zum Flügel und begann a notion of mastery that has worn well during the modern period.“ 3 letzteren zwingt die Beteiligten dazu, alles über musikalische zu klimpern, tat dies später wieder mit einem heftigen Cluster, The“positive“ sense of the word „liberty“ derives from the wish on the Aktionen auszuhandeln. Musik wird dann auch zu einem der mein Spiel, meine musikalischen Gedanken und mich per- part of the individual to be his own master. I wish my life and de- Ich gehe davon aus, dass die meiste improvisierte Musik – vor nonverbalen „ich finde, es muss Schluss sein“ oder „ich biete sönlich störte, den ich notgedrungen ausdeutete als musika- cisions to depend in myself, not an external forces of whatever kind. allem auf den Offenen Bühnen – in der Ausbalancierung von po- dir was zum Mit-Spielen an“ oder „hier muss was Neues her“. lisches Zeichen für „Ende“ und dem folgte. Zwar gab es diese I wish to be the instrument of my own. ...acts of will...I wish to be sitiver und negativer Freiheit entsteht, und die Menschen, die Diese Unterströmung ist nur während des Spielens zu ermitteln, Ebene „musikalischer Verständigung“ – es war auch musikalisch somebody, not nobody; a doer.“2 kommen, beides brauchen, weil die positive Freiheit allein keine sie ist musikalisch und nur in der Echtzeit – als musikalisches durchaus sinnvoll, ein Ende zu setzen – aber das ist eine po- Ensembleimprovisation ermöglicht, sich schnell erschöpft und Zeichen – relevant, erst nachher kann man darüber reden, was sitive Umdeutung, eigentlich war es von dem Spieler als eine Andererseits – und das ist ja das Potential einer improvisierenden in besonderen Moment sogar Angst macht. man gewollt hat und was das Problem war. Mit dieser doppelten Art aggressiver Boxschlag gemeint, den ich auch so wahrnahm. Gruppe – sind die anderen dann schließlich darauf eingegangen, Damit das richtig verstanden wird: Das Beschriebene war nur Kommunikation – musikalisch und sozial – und mit den daraus Da schlug jemand zu und „wollte“ mich treffen. Jemand anders es ergab sich eine wilde ffff-Turbulenz Session, die dem Werfen eben nur ein Aspekt der gesamten nächtlichen Improvisation, sich ergebenden Grenzen muss man umgehen können. Sie kön- wiederum setzte sich später einfach zu mir an der Flügel, seine dann eine gewisse musikalische Folgerichtigkeit gab. Immer noch in der es ansonsten meist Gelungenes gab. Die Atmosphäre der nen auch persönlich relevant werden. Auffassung schien zu sein, dass der Flügel eh so groß sei, dass er hatte da jemand seine Aktivität ausgelebt, aber immerhin konnten Nacht und die Intensität der Musik haben zu Entgrenzungen mit Der Kölner Komponist Johannes Fritsch, in den späten 1960er Platz für alle böte und er deshalb seine Ideen drauf verwirkli- die anderen eine musikalische Motivation erkennen, blieben in beigetragen – im positiven wie im negativen Sinne. Die ansonsten Jahren improvisierend aktiv in der Gruppe um Karlheinz Stock- chen könne und mich zu einer Beschränkung meiner Aktionen ihrer Handlungsfreiheit intakt und konnten ihn damit einbinden. fruchtbaren und vielfältigen Interaktionen, haben alle – und auch hausen, hat in einem Aufsatz Improvisation und Ekstase sogar zwingen könne. Er ging nicht auf das ein, was ich spielte, er Improvisieren – und vor allem auf den Offenen Bühnen – ist eben mich – am Ende dazu gebracht, mit einem Hochgefühl sich die über Bedrohtheitsgefühle beim Improvisieren mit einem Musi- Hände zu schütteln und insgesamt erfüllt nach Haus zu gehen. ker in einer besonders zugespitzten Situation geschrieben. 2 Gary Peters: The Philosophy of Improvisation, Chicago The University of Chicago 1 Johannes Fritsch: „Improvisation und Ekstase“ in: Reinhard Gagel/Joachim Press 2011, S. 23 3 Peters ebda. S 23 Zoepf: Können Improvisatoren tanzen? Hofheim Wolke Verlag 2003, S.63

22 Nr.78 • April 2O15 improfil • Theorie und Praxis improvisierter Musik 23 Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc Thema: Offene Bühne – Improvisation adhoc

Zuhörern) wahrgenommen wurde. Diese Höhepunkte waren während plötzlich alle das Gleiche denken und empfinden, bar Improvisation als nichtintentionale Kommunikation Ausdruck von Echtzeit, eines Logos, dem sich Niemand ohne jeder Vorteilsnahme. Gelegentlich sind sich Musiker über das, weiteres entziehen konnte. Nicht ich spielte, nicht wir, ‚Es‘ spiel- was gerade passiert ist, so einig, aber keiner kann mit Bestimmt- Ein Annäherungsversuch an die Offene Bühne te. Diese Momente sind einmalig. Wenn man sich diese Sessions heit sagen, was ‚Es‘ war. Diese Gleichzeitigkeit aller Beteiligten, später anhört, findet man gelegentlich musikalische Raffinesse, erzeugt Konsens. Kein Konsens der Ausgewogenheit der gesell- nie aber den Höhepunkt des Momentes des Entstehens. D.h. schaftlichen Kräften, keine Gleichgültigkeit gegenüber Interes- die Erfahrung dieses ‚kollektiven Kreativraumes‘ ist an einem sen und Bedürfnisse der Einzelner. Vielmehr scheint eine ver- vergänglichen Raum- und Zeitpunkt gebunden und nicht wie- steckte oder gefühlte Vernunft von Gerechtigkeit zu sprechen, dererfahrbar. obschon einige scheinbar benachteiligt werden. Dieses Grund- Diesen musikalischen an die Echtzeit geschmiedete ‚Unort‘ erlebnis kenne ich aus der Offene Bühne nur zu genau. Es war al- von hwmueller, Berlin würde ich als den außersprachlichen Moment bezeichnen. Die- les stimmig, nur ich empfinde Unbefriedigung, fühle mich nicht sen Moment halte ich für den Ursprung jedes autopoetischen ausreichend ‚entfaltet‘. Dieses Defizit treibt den Politiker voran, schöpferischen Aktes. Dieser ist ‚außerpersonal‘, sprich an kei- macht ihn eitel und zum Werkzeug von Einzelin- ne Person gebunden und daher auch als Motor jeder teressen. Das Gefühl von Gerechtigkeit ist im Kollektivbildung zu verstehen. Daher ist die Kunst ‚nichtintentionalen Diskurs‘ aber mehrdimen- Die nichtintentionale Kommunikation te Raum der Intention, der in seiner Zeitlichkeit der Reflexion der ‚nichtintentionalen Kommunikation‘. auch be- sional und lässt sich nicht auf schlichtes Gut und das musikalische Bewusstsein über das, was geschehen soll Vorschub leistet. Bei der Improvisa- kannt unter dem Begriff des ‚offenen Diskurses (er- oder Böse reduzieren. Dennoch: Die mentale tion führt dieser extrem kurze Moment zwischen unerwartetem gebnisoffenes Streitgespräch/platonisches Gastmahl/ und emotionale Abwesenheit von dem kollekti- Auch wenn der erstmal recht unscharfe Begriff der Offe- Hören eines Klanges und das Formen der Antwort und etc.)‘ gesellschaftspolitisch von höchster Bedeutung ven ‚Flow‘, die ‚Echtzeitentfremdung‘ – getrieben nen Bühne eher die klassische