Deutschland

und „Ratte aus Pankow“ nannten ihn die westlichen Medien. Von den SED-Zeitun- POLITISCHES BUCH gen ließ er sich als „Erster Tischler seines Staates“ feiern, als der „bedeutendste deutsche Politiker des Jahrhunderts“. Erster Tischler seines Staates Weil Ulbricht ein „Virtuose der Macht“ war, als fleißiger Apparatschik ausdauernd, , der DDR-Diktator mit der Fistelstimme, als gedächtnisstarker Kaderchef nachtra- gend, gnadenlos und repressiv, wurde er war der mächtigste Mann des deutschen Kommunismus. Eine neue schon Anfang der fünfziger Jahre „zum Biografie schildert sein Leben zwischen Frühsport und Politbüro. mächtigsten Mann der DDR“, urteilt nun der Autor Mario Frank in einer neuen Bio- ie Lobhudeleien auf den DDR-Chef grafie: „Mehr noch – zum mächtigsten Walter Ulbricht waren so richtig Deutschen seiner Zeit“**. Dschön auf Touren gebracht wor- Frank, 42, geboren in und jetzt den, als in Moskau im Sommer 1953 der als Jurist und Geschäftsführer in damals allmächtige Staatssicherheitsminis- tätig, hat in jahrelanger Recherche die ver- ter Lawrentij Berija den Daumen senkte: steckten und verstreuten Belege der Ul- „Ich habe noch nie im Leben einen solchen bricht-Vita zusammengetragen. In Moskau Idioten gesehen“, urteilte der gefürchtete durfte er die Akten der Kommunistischen Henker über den deutschen Genossen. Internationale einsehen, eine Fundgrube, Im fernen fielen den Dichtern die die 70 Jahre lang verschlossen war. Die Griffel aus der Hand. Das „Neue Deutsch- faktenreiche Biografie erschien in der ver- land“, Zentralorgan der SED, stellte von gangenen Woche. „Ulbrichts Lebenstraum einem Tag auf den anderen jede Bericht- war der Sowjetstaat in Deutschland“, erstattung über den Generalsekretär der schreibt Frank, die Diktatur des Proleta- Partei ein. Eigentlich wollte der am 30. Juni riats mit Ulbricht als Diktator. ganz groß seinen 60. Geburtstag feiern. Doch nun schien allen Kreml-Astrologen Walter Ulbrichts letztes Stündlein nahe. Wer Berija, den Freund des kurzen Prozesses,

zum Feind hatte, dem war nicht zu helfen. IM BILD ZEIT Doch Walter Ulbricht, Tischlergeselle Jungfunktionär Ulbricht (um 1913) aus Leipzig, seit der Revolution von 1918 Geltungssucht und Askese Ulbricht (r.), SPIEGEL-Redakteure* Rote Fahnen an den Rhein tragen

Dieser Vision hat er sein ganzes Leben untergeordnet. Um fit zu bleiben, rauchte und trank er nicht, trieb Frühsport (jeden Morgen um sechs) und bevorzugte frische Eier und Rohkost (das hielt er für gesund). Er liebte nur die Partei, den Genossen Sta- lin und seine Ehefrau Lotte. Sein Leben lang war Ulbricht mit nie-

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST mandem befreundet. Um Vater und Mutter Ehepaar Ulbricht, ZK-Sekretär Honecker (r., 1968): „Der muss noch lernen“ hat er sich nicht gekümmert, seine beiden Geschwister machten sich früh nach dem Berufspolitiker, hatte wieder mal Glück. de er dank einer seltenen Kombination von Westen auf und davon, der Bruder gleich bis Der Genickschuss traf nicht ihn, sondern Eigenschaften – Tapferkeit und Opportu- nach Amerika. Die kleine Beate Ulbricht, Berija. Ehe der mit dem deutschen „Idio- nismus, Geltungssucht und Askese, Macht- 1946 als Waisenkind adoptiert, verfiel Män- ten“ Ulbricht abrechnen konnte, wurde er willen und Geduld, physische Fitness und nern und der Trunksucht; sie starb jung. im Kampf um die Macht nach Stalins Tod Gemütsarmut – zum mächtigsten Kommu- „Wir werden siegen, weil uns der große selbst liquidiert, wie in der Großen So- nisten, den Deutschland je hervorbrachte. Stalin führt“, versprach der Funktionär sei- wjetunion üblich durch einen „unerwarte- Als Diktator von Russlands Gnaden war ten Nahschuss in den Hinterkopf“. er nach dem Zweiten Weltkrieg in der so- * Rudolf Augstein, Hans Detlev Becker und Hans Dieter So knapp am Tod vorbeigeschrammt ist wjetisch besetzten Zone, der späteren Jaene im September 1957 im „Haus der Einheit“ in Ost- Berlin. Ulbricht häufig. Denn das Risiko scheute DDR, Herr über Leben und Tod. „Verbre- ** Mario Frank: „Walter Ulbricht. Eine deutsche Biogra- der kleine Sachse nie. 1893 geboren, wur- cher“, „Mauer-Mörder“, „Russen-Knecht“ fie“. Siedler Verlag, Berlin; 540 Seiten; 48 Mark.

66 der spiegel 12/2001 Deutschland nen Genossen ein ums andere Mal. Dabei Der ging, wie immer, aufs Ganze. Wo- hegten die deutschen Revolutionäre an chenlang lag der Emigrant 1942/43 vor Sta- Ulbrichts Talenten durchaus Zweifel. Zwar lingrad in eiskalten Erdlöchern und trieb wählten sie ihn schon 1923 in das Zentral- unter Beschuss Lautsprecherpropaganda, komitee der Partei (mit der kleinsten Stim- für Stalin, gegen Hitler. Seinerzeit lernte menzahl), er galt aber vielen als „Holz- er den sowjetischen Genossen Nikita Ser- kopf“. Seine Reden waren ohne Feuer, sei- gejewitsch Chruschtschow kennen, was sich ne Stimme blieb nach einer Kehlkopfdiph- zehn Jahre später als nützlich erweisen soll- therie 1911 lebenslang fistelig und kippte te, denn der wurde Stalins Nachfolger. bei Erregung um. Die sächsische Sprach- Seinem Ziel, die roten Fahnen von der färbung verlor er nie. Sein fliehendes Kinn Elbe an den Rhein zu tragen und dabei vor polsterte er mit einem Spitzbart auf. Die allem das Ruhrgebiet einzugemeinden, kam populärste Parole beim Volksaufstand am Ulbricht nie näher. Auf gar keinen Fall woll- 17. Juni 1953 lautete deshalb: „Der Spitzbart te er sich freien, gesamtdeutschen Wahlen muss weg!“ Ulbricht floh unter sowjeti- stellen. Im September 1957 empfing er im schen Schutz nach Berlin-Karlshorst. Ost-Berliner „Haus der Einheit“ vier SPIE- Dass aus den Wirren des Ersten Welt- GEL-Redakteure zum Gespräch, ein No- kriegs im Osten ein Sowjetreich entstanden vum (SPIEGEL 39/1957). Der alte Kommu- war, hat dem Leipziger Schneidersohn nist, platziert unter der Bronzestatuette ei- mehrfach das Leben gerettet. nes Arbeiters mit Gewehr, agitierte lebhaft Prag, Paris und immer wieder Moskau für eine „Konföderation“ zwischen Bonn hießen während der Nazi-Zeit die Orte der und Pankow, den Abzug der westlichen Be- Emigration. Hier wie dort trieb Ulbricht – satzungstruppen und die Aufhebung der seit 1928 auch Mitglied der Kommunisti- Wehrpflicht in Westdeutschland. schen Partei der Sowjetunion (KPdSU) – Auf die Frage des SPIEGEL-Heraus- Parteiarbeit. Dabei erwies er sich als sehr ge- gebers Rudolf Augstein: „Und wo ist der JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST Moskau-Besucher Ulbricht (2. v. l.)*: Fleißiger Apparatschik schmeidig. Viermal wechselte er zwischen Punkt vier: Abhaltung freier Wahlen?“, 1919 und 1939 seine Überzeugung, was die antwortete Ulbricht: „Moment! Langsam, SPD anging, alles 180-Grad-Kehrtwendun- langsam!“ Erst müsse alles andere ge- gen, von Stalin befohlen. Dem Kreml-Füh- schehen und vor allem Bundeskanzler rer folgte Ulbricht auch in den Jahren der Konrad Adenauer verschwinden, denn der Moskauer Säuberungen 1936 bis 1938. Sta- sei „ein Atomkriegspolitiker“ und wolle lins mörderischem Kehraus der Partei fielen „Deutschland in die Katastrophe treiben“. (neben Hunderttausenden Russen) auch Aus der „Konföderation“ wurde bekannt- Hunderte deutscher Kommunisten zum Op- lich nichts. fer. Ulbricht und sein damaliger Gehilfe, der Richtig gefährlich wurde die Lage für den spätere SPD-Fraktionsvorsitzende in Bonn, betagten Bolschewisten erst, als seine jün- Herbert Wehner, entschieden, welche deut- geren Konkurrenten, allen voran Erich schen Genossen von der Geheimpolizei ver- Honecker, begannen, die russische Karte schont bleiben sollten. Es waren nur wenige. gegen ihn auszuspielen. „Der Honecker“, Von den neun führenden deutschen schimpfte Ulbricht 1970, „ist noch ein grü- Kommunisten, die in Moskau Asyl gesucht ner, unreifer Kommunist. Er muss noch ler- hatten, wurden fünf ermordet. Nur zwei nen!“ Damals war Ulbricht 77, Honecker überlebten unbeschadet – Ulbricht und 57. Die Tage des Alten waren gezählt. Wilhelm Pieck, später erster DDR-Staats- Bis zu seinem Tod im Sommer 1973 präsident. Wehner, eigentlich dazu auser- grummelte er gegen „Schundliteratur“ und sehen, Ulbrichts KP-Linie im Untergrund „Ringelsocken“, „Junker“ und „Revan- Hitler-Deutschlands durchzusetzen, geriet chisten“. Seine Frau Lotte lebt noch, in 1942 im neutralen Schweden in Haft und Berlin-Pankow, in einer Villa mit Personal. sagte Ulbricht Lebewohl. Sie hat den Kaiser überlebt, Lenin und Sta- lin gut gekannt, ist ganz klar im Kopf, weiß * Mit Mao Tse-tung (l.), Stalin und Chruschtschow 1949 bei alles und schweigt eisern. Im April feiert sie den Feierlichkeiten zu Stalins 70. Geburtstag. ihren 98. Geburtstag. Hans Halter

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