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Die Dame mit dem Hut 100 Jahre selbstbestimmtes Leben – Die Stifterin Dagmar Westberg

von Astrid Ludwig

Dagmar Westberg schaut nicht verbittert auf ihre gestohlene Jugend während der Nazizeit; die 99-jährige Stifterin engagiert sich lieber hier und jetzt aktiv für junge Wissenschaftler und zukunftsweisende Forschungsprojekte an der Goethe-Universität.

achlässigkeit akzeptiert die Wahl-Frank- Dagmar Westberg wurde 1914 in furterin Dagmar Westberg nicht – auch geboren. »Ich bin so alt wie die Goethe-Univer- Nnicht im hohen Alter, da zeigt sich ihre sität. Das passt doch gut zusammen«, lacht sie. hanseatische Erziehung. In beiger Bluse und Eine Liaison, die seit 2009 währt und mit dem Hose sitzt die alte Dame auf dem Sofa in Dagmar Westberg-Universitätsfonds, dem nach ihrem Wohnzimmer im Westend – sorgfältig ihr benannten Preis und mit der jährlichen Dag- geschminkt und frisiert. Sie ist klein, zart und mar Westberg-Vorlesung in den Geistes- und unglaublich agil. »Älter werden, damit fangen Humanwissenschaften ihren Ausdruck findet. wir gar nicht erst an«, lautet ihr Lebensmotto. Zum 100. Geburtstag plant sie, der Hochschule Auf dem Couchtisch zwei Gläschen für ihren ein weiteres Geschenk zu machen; aber das ver- Lieblingssherry und kleine Köstlichkeiten aus rät sie noch nicht. selbst zubereitetem Forellenmus – alles schön Der Universität fühlt sie sich auch wegen gerichtet, darauf legt sie Wert! Und wenn sie zu ihres berühmten Namensgebers verbunden. Ihr einer der vielen Einladungen aus dem Haus Vater, ein Anwalt, dessen Familie aus Riga geht, dann niemals ohne Hut. stammte, war ein großer Goethe-Freund. Vor der Familie zitierte er aus Goethes Werken und Ein Doppeljubiläum: Goethe-Universität und schrieb auch selbst gern Verse. »Das habe ich ihre Stifterin feiern gemeinsam Geburtstag von ihm geerbt.« Unlängst hat Dagmar West- Im Dezember feiert Dagmar Westberg ihren berg übrigens ihre Biografie veröffentlicht. 100. Geburtstag. Im Städel wird ein großer Empfang stattfinden. Die umfangreiche Gäste- Die unerwartete Ankunft des sechsten Kindes liste stellt sie selbst zusammen. »Ich habe Simon Im Esszimmer der Hamburger Anwaltsfamilie gefragt, ob er Musik für mich macht. Leider hat wuchs Dagmar Westberg mit Bildern von Emil er keine Zeit.« – »Simon?« – »Ja, Sir Simon Nolde und anderen Meistern auf. Der Vater Rattle.« Den Kontakt zu dem britischen Chef­ legte großen Wert auf eine gute Ausbildung dirigenten der Berliner Philharmoniker hat ­seiner Kinder. Dagmar Westberg, die Jüngste die alte Dame vor einigen Jahren selbst auf­ von sechs Geschwistern, war sein Augapfel. Mit gebaut. Sie ist wissbegierig und kontakt- ihr hatte niemand gerechnet, berichtet die alte freudig – diese Eigenschaften charakterisieren Dame schelmisch schmunzelnd: »Nachdem sie besonders. mein Bruder Olaf geboren war, sagte die

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­Hebamme: ›Da kommt noch eins – und das war von den Nazis als »Halbjüdin« angesehen ich‹.« Sie hat Humor, eine Mischung aus trocke- wurde. Einen »Webfehler« nennt sie das heute nem Hamburger Witz und Berliner Schnauze. mit ironischer Distanz. »In unserer Familie gab Ihr Großneffe Martin Hahn, ein Mediziner, es keine jüdische Tradition, meine Eltern waren beschreibt seine Tante »Daggi« nicht nur als evangelischen Glaubens, hatten christlich gehei- »unglaublich diszipliniert und energisch«, son- ratet.« Als die Nürnberger Rassengesetze 1933 dern auch als »eine Frau, die immer sagt, was in Kraft traten, war Dagmar Westberg 19 Jahre sie denkt und sich nicht darum kümmert, ob alt: »Man kann sich heute gar nicht vorstellen, sich andere ­aufregen«. wie belastend das war.« So verbot das »zum Als Kleinste fühlte sich Dagmar Westberg in Schutze des deutschen Blutes und der deut- ihrer Kindheit von den Geschwistern stets schen Ehre« erlassene Gesetz auch die Ehe- gegängelt und herumkommandiert. Von den schließung zwischen Juden und Nichtjuden.

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1 Dagmar Westberg, 1939. drei Mädchen war sie schließlich das einzige, »Wir ›halbjüdischen‹ Mädchen blieben zwangs- das Abitur machte – an einem Knabengymna- weise solo – und das in meinen besten Jahren.« 2 Silberhochzeit sium. Sie wollte raus aus dem Dunstkreis der Dagmar Westberg hat auch nach dem Ende der der Eltern, 1926. Familie, und der Vater ermunterte sie zu einem NS-Herrschaft nicht geheiratet. Auch wenn sie 3 Blankenese 1928, Aufenthalt in England. Mit 20 Jahren fuhr sie viele Freunde hatte, ihre Unabhängigkeit schätzt auf dem Süllberg – 1934 mit dem Schiff von Hamburg nach Groß- sie bis heute. Geburtstagsfeier des britannien und legte auf einem privaten College Zurück aus England arbeitete die junge Frau Vaters zum 56. im Süden der Insel ein Sprachexamen ab. Dort zunächst in einem Hamburger Exportbüro, 4 Dagmar Westberg erwarb sie die Englisch-Kenntnisse, die ihr spä- 1939 vermittelte ihr ihr Vater eine Stelle beim und ihr VW Käfer. ter das Überleben sichern sollten. amerikanischen Generalkonsulat der Hanse- Mit der Machtübernahme der Nationalsozia- stadt. Dort blieb sie, bis 1941 die diplomatischen listen veränderte sich ihr Leben schlagartig, Beziehungen zwischen Deutschland und den erinnert sich Dagmar Westberg. Nach dem Col- USA abbrachen. Sie wechselte nach Berlin und lege wollte sie eigentlich in England bleiben, arbeitete dort zunächst bei einem Patentanwalt. hatte bereits eine Stelle als Lehrerin an der Ihre Familie in Hamburg kam bis Kriegsende Lyton School nahe London in Aussicht. Doch glimpflich davon. Doch in Berlin erlebte sie die das Verhältnis zwischen Deutschland und Eng- grausame Realität, als sich der Anwalt, dessen land verschlechterte sich zusehends. Im Som- Frau jüdischer Herkunft war, mit seiner Familie mer 1936 wurde ihr Visum nicht verlängert, das Leben nahm. und sie musste ausreisen. Die Rückkehr gestaltete sich schwierig. 1933 Die Amerikaner retten ihr das Leben hatte sie erstmals erfahren, dass ihre Mutter aus Die zarte, kleine Frau muss in den folgenden einer jüdischen Familie kam und sie deshalb Jahren gleich mehrere Schutzengel gehabt

104 2.2014 | Forschung Frankfurt Forschung fördern haben. Sie schaffte es, 1943 eine Anstellung in »Frankfurt ist meine zweite Heimat.« Hier der Schutzmachtabteilung der Schweizer Bot- konnte sie als unabhängige Frau leben, die in den schaft in Berlin zu finden. Hier wurden auch die 1950er Jahren bereits den Führerschein machte Interessen der Amerikaner und anderer kriegs- und bald ihr eigenes Auto fuhr. Auch finanziell führender Länder wahrgenommen, berichtet war Dagmar Westberg durch das Vermögen ihrer sie. Die Beschäftigung in der Schweizer Bot- Familie unabhängig. Der von ihr noch heute sehr schaft verschaffte ihr einen sicheren Status. Der verehrte Großonkel Oscar Troplowitz entwickelte schützte sie auch bei einem kurzen Ferien­ die kleine Pharmafirma, die er von dem Apothe- aufenthalt in Kitzbühel vor der Verhaftung, ker Carl Paul aus Altona gekauft hatte, als dort eines Nachts die Gestapo an ihre zum weitverzweigten Unternehmen Beiersdorf, ­Hotel­zimmertür hämmerte, um ihre Papiere zu das so nützliche Dinge wie Creme, Hansa- kontrollieren. plast und Tesafilm auf den Markt gebracht hat.

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Unter dem Eindruck des verheerenden »Sympathische Kosmopolitin« und Bombenkriegs wurde ihre Abteilung von Berlin »großherzige Mäzenin« in die Nähe von Wangen – nicht weit von der Gern hätte sie studiert: »Journalismus oder The- Schweizer Grenze – verlegt. Dort erlebte sie das aterwissenschaften. Als junge Frau wollte ich Ende des Nazi-Terrors. Im Mai 1945 wurden die Schauspielerin werden.« Ihren Interessen für diplomatischen Zuständigkeiten der Schweizer Kunst und Wissenschaft ging Dagmar Westberg Schutzmacht wieder an die Alliierten zurück- ohne Studienabschluss intensiv nach. Schon als übertragen, und Dagmar Westberg wurde mit junge Frau war der früh verstorbene, kinderlose der Schweizer Botschafts-Abteilung nach Bad Großonkel mütterlicherseits Oscar Troplowitz Homburg versetzt, da das nahe Frankfurt auch ihr Vorbild als Kunstmäzen. »Ich war erst vier, der Sitz der amerikanischen Militärregierung als er starb und habe ihn leider nie richtig ken- war. 1946 kehrte sie dann in den Dienst der US- nengelernt, aber viel über ihn erfahren.« Trop- Diplomaten zurück – allerdings in Frankfurt. lowitz war ein Unternehmer, der sich für sein Dagmar Westberg war dabei, als das amerikani- Personal engagierte: Er führte als einer der ers- sche Generalkonsulat in der Bockenheimer ten die 48-Stunden-Woche ein und schuf für Anlage eröffnet wurde, und auch beim späteren seine Beschäftigten eine Alters- und Hinter­ Umzug in die Siesmayerstraße. Während dieser bliebenenkasse. Außerdem war er ein großer Zeit lernte sie auch bekannte Persönlichkeiten Kunstliebhaber, Sammler und Mäzen. Die Ham- wie Colin Powell kennen, der als Drei-Sterne- burger Kunsthalle verdankt ihm einige ihrer General in die Bundesrepublik berufen war und Schätze, darunter einen Picasso. »Ich halte sein später US-Außenminister werden sollte. »Den Erbe als Mäzenin hoch. Ich möchte der All­ Amerikanern«, betont Dagmar Westberg, »habe gemeinheit etwas Gutes tun.« So unterstützt ich viel zu verdanken.« sie, assistiert von ihren finanziellen Beratern,

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Die Stifterin gemeinsam mit dem Vizepräsident der Goethe-Universität, Prof. Matthias Lutz-Bachmann – bei einem ihrer häufigen Besuche im Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg.

das Frankfurter Städel mit großzügigen Kunst- schenkungen, hat die Dagmar Westberg-Stiftung­ ins Leben gerufen, fördert soziale Projekte – und eben die Goethe-Universität. Es sind vor allem die geisteswissenschaftlichen Projekte, die sie an der Universität unterstützt – besonders die mit Bezug zur Anglistik, weil sie sich England und den Amerikanern weiter eng verbunden fühlt. Die frühere Oberbürgermeisterin Frankfurts Petra Roth bezeichnet Dagmar Westberg als »großherzige Mäzenin«. Das Stiftertum, wie Dagmar Westberg es lebe, sei prägendes Element urbaner Kultur, so Roth. Prof. Dr. Matthias Lutz Bachmann, Vize-Präsident der Goethe-Univer- sität, lobt ihre »scharfsinnigen Bemerkungen Auf einen Blick: und lebendigen Rückfragen«, bezeichnet sie als Dagmar Westbergs Engagement »sympathische Kosmopolitin mit weitem Hori- zont«. Die Universität sei dankbar, dass sie als großherzige Stifterin besonders »die Geistes­ rstmals wurde 2010 der Dagmar Westberg-Preis ver­liehen, der wissenschaften unterstützt, die es stets schwerer nun jährlich herausragende geistes­wissenschaftliche Abschluss- haben als andere Disziplinen«. Dagmar West- Earbeiten honoriert, die einen Bezug zu Großbritannien haben. berg denkt schon über neue Projekte mit der Zusätzlich richtete sie den Dagmar Westberg-Universitätsfonds ein. Universität nach. Auch Prof. Dr. Manfred Schu- Mit seiner Hilfe sollen wissenschaftliche Studien zur britischen bert-Zsilavecz hat als Vizepräsident der Goethe- Literatur, Kultur und Geschichte an der Goethe-Universität vorange­ Universität des Öfteren Gelegenheit, mit der trieben werden. Beides wird von der Deutsch-Britischen-Gesellschaft, Stifterin ins Gespräch zu kommen, und schätzt deren Ehrenmitglied­ sie ist, zusammen mit der Goethe-Universität ihre Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit. »Mir verantwortet. imponiert ihre Klugheit und ihr tiefer Fundus an Seit 2011 gibt es auch einen zusätzlichen Universitätsfonds der Lebenserfahrung. Und – was nicht vergessen ­Stifterin, der eine Stiftungsgastprofessur ermöglicht. Jährlich wird ein werden darf – sie versteht es, das Leben zu genie- hochkarätiger Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin auf den ßen«, ergänzt der Pharmakologe.  Campus Westend oder an das Bad Homburger Forschungskolleg Humanwissenschaften als Fellow eingeladen, um Vorträge zu halten und an Kolloquien und Diskussionen teilzunehmen. 2013 kam Martha ­Nussbaum, Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago, nach Frankfurt; sie gilt als eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart. An der US-amerikanischen Princeton University fördert Dagmar Westberg das »German Summer Work Program«, dies soll das Interesse an deutscher Sprache und Kultur in den USA wecken und wachhalten. Mit einem Stipendium können die amerikanischen Studierenden sechs Wochen ein Praktikum in einem deutschen Unternehmen machen. 2000 gründete sie die Dagmar Westberg-Stiftung, die sich kulturell und sozial engagiert, die sowohl unverschuldet in Not geratene Menschen unterstützt als auch öffentliche Kunstsammlungen fördert. Die Autorin Auch das Frankfurter Städel Museum unterstützt sie regelmäßig und Astrid Ludwig, 49, arbeitet seit 30 Jahren als großzügig, so stiftete sie dem Städel 2008 ein wertvolles Altarbild. Im Redakteurin. Ein Schwerpunkt der freiberuflich Übrigen ist ein Saal des Museums nach ihr benannt. In Anerkennung tätigen Journalistin sind Themen aus dem ihrer »Verdienste um das Gemeinwohl« wurde ­Dagmar Westberg 2009 Hochschul- und Wissenschaftsbereich. in Wiesbaden vom damaligen hessischen ­Ministerpräsidenten Roland [email protected] Koch mit der Georg-August-Zinn-Medaille ausgezeichnet.

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