Bernd Rill (Hrsg.)

Frankreichs Grandeur – Einst und Jetzt

Argumente und Materialien 93 zum Zeitgeschehen

www.hss.de Bernd Rill (Hrsg.)

FRANKREICHS GRANDEUR – EINST UND JETZT

Impressum

ISBN 978-3-88795-435-2 Herausgeber Copyright 2014, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0 E-Mail: [email protected], Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Leiter der Akademie für Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Politik und Zeitgeschehen Leiter PRÖ / Publikationen Hubertus Klingsbögl Redaktion Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Marion Steib (Redaktionsassistentin) Druck Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München

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INHALT

05 EINFÜHRUNG Bernd Rill

11 VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL? Joseph Jurt

19 DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“ Frankreich im Ersten Weltkrieg Daniel Mollenhauer

31 1919-1939: FRANKREICHS SICHERHEIT DURCH HEGEMONIE? Roland Höhne

37 VICHY UND DIE KOLLABORATION Klaus-Ulrich Hammel

49 GROßMACHTANSPRUCH UND ARABISCHE POLITIK Roland Höhne

57 FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG Henrik Uterwedde

65 FRANKREICHS EUROPAPOLITIK: WIE PHOENIX AUS DER ASCHE? Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

75 FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN INTERNATIONALEM GESTALTUNGSANSPRUCH UND NATIONALEN BUDGETZWÄNGEN Ronja Kempin

85 ZUR WELTGELTUNG DER FRANZÖSISCHEN KULTUR IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG Volker Steinkamp

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EINFÜHRUNG

BERND RILL ||||| Wie definiert, beschreibt, misst man die „Grandeur“ eines Staates? Auf diese Frage sind zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten möglich. Es bieten sich quer durch die Geschichte viererlei Maßstäbe an: politische, militärische, ökonomische, kulturelle, um in verein- fachenden Schlagworten zu bleiben. Das Mongolenreich der „Goldenen Horde“ in Russland und Westasien dürfte man wohl auf ganz überwiegend militärische Grandeur festlegen können, den Stadt- staat Athen kurz vor seinem Aufgehen in der römischen Provinz „Achaia“ (also kurz vor 146 v.Chr.) hingegen auf die kulturelle Komponente. Aber Frankreich hatte nach allen vier Maßstäben Grandeur, und in dieser Publikation wird der Frage nachgegangen, wie viel davon ihm noch heute zuzuerken- nen ist.

An mehr als an ein zeitgeschichtliches Bild talität zwischen Deutschen und Franzosen sind ist dabei nicht gedacht, denn eindeutige Ver- überhaupt derart deutlich, dass auch die inten- falls-Szenarien mögen gut sein für Schlagzeilen, sive, stabile, wünschenswerte und zukunfts- aber wer wüsste nicht, dass solche Szenarien fähige Zusammenarbeit beider daran so bald sich einfach besser verkaufen als Optimismus nichts ändern wird. Diese Publikation soll auch oder differenzierende Herangehensweise. Des- ein Beitrag dazu sein, für die andere Mentalität halb befand Nicolas Beytout im konservativen Frankreichs das Verständnis zu fördern. Auch „Figaro“ vom 20. März 2007: „Frankreich fühlt einen Partner in Freundschaft muss man in sei- sich in schlechtem Zustand, und dennoch hat ner ganz spezifischen Eigenart zu erfassen versu- es alles, um sich gut zu fühlen.“ chen, denn das fördert die Freundschaft. Nichtsdestoweniger ist der Niedergang Frank- Zum Stichwort „geschichtsgesättigt“: Die reichs ein Thema, das, über grelle Schlagzeilen französische Entwicklung seit der Formation hinaus, die französische Öffentlichkeit nicht des west-karolingischen Teilreiches nach dem loslässt und unter den renommierten Intellek- Vertrag von Verdun (843) wurde in der Retro- tuellen der Hauptstadt fast schon eine eigene spektive als eine virtuelle Nachfolgerschaft des Literatur- und Essay-Gattung hervorgerufen hat, Römischen Reiches interpretiert, mit welchen die „declinologie“. Dahinter muss ein Stand des Argumenten und Konstrukten, muss allerdings Bewusstseins vermutet werden, der jedenfalls eher die Mediävisten interessieren als unsere in dem Teil der Nation, der für den öffentli- Publikation. Jedenfalls liegen die Wurzeln der chen Diskurs relevant ist, allgemein vorhanden in der Moderne sprichwörtlich gewordenen ist und der sich dabei auf Denkmuster einlässt, „exception française“ schon im Mittelalter. Die die den gebildeten Franzosen vertraut sind. substantivische Vokabel deutet darauf hin, dass Ein solcher Diskurs ist geschichtsgesättigt, der heute empfundene Verlust an „Grandeur“ natürlich im Sinne einer positiven Sonderrolle einen sehr hohen Vergleichsmaßstab bemüht, Frankreichs unter den Staaten Europas, wenn der eine Kontinuität des gut durchorganisierten nicht gar der Welt, und das in einer Dimen- Staates seit Karl dem Kahlen, dem König der sion, die den durch zwei verlorene Weltkriege Teilung von 843, bis heute postuliert. Das hindurchgegangenen Deutschen fremd ist. Die stößt bei der Betrachtung der internen Verhält- Unterschiede in der historisch-politischen Men- nisse und politischen Entwicklung zwar an sei-

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ne Grenzen, da die Revolution von 1789 ff. bis dafür geeignet, dass der Verlust an Grandeur hin zur endgültigen Konstituierung der Repu- nicht als linearer Prozess zu beschreiben ist. blik (1879) zwischen Monarchisten, Bonapartis- Denn unter Napoleon III. hat Frankreich eine ten und Republikanern scharf umstritten war, durchgreifende Modernisierung erlebt, man aber wird aufrechterhalten im Verhältnis zum könnte den Neffen des großen Korsen fast europäischen Ausland, das an die „exception schon mit den „Entwicklungsdiktatoren“ der française“ nicht recht glauben wollte. Die Fall- Dritten Welt im 20. Jahrhundert vergleichen. höhe ist also desto dramatischer, je mehr an Und die Republik hat durch einschneidende Vorstellungen von historischer Dignität sie zur Heeresreformen und intensiven Festungsbau Voraussetzung hat. an der Grenze zum deutschen Kaiserreich (ein Da man sich also für unser Thema auf das Name für alle: Verdun) die richtigen Lehren Feld der Historie begeben muss, ist der Gedanke aus dem militärischen Versagen im Krieg von naheliegend, dass auch der hier thematisierte 1870/71 gezogen. Dadurch bewahrte Frank- Verlust an Grandeur einen Vorlauf hat, der nicht reich seinen Status als einer der großen Akteure erst mit der deutschen Wiedervereinigung von im Spiel des „Europäischen Gleichgewichts“ 1990, der EU-Erweiterung nach Osten und und blieb ein begehrter Bündnispartner. Südosten und insgesamt mit der Relativierung Und durch das ganze 19. Jahrhundert blieb der Position Europas in einer Welt der multi- Paris so etwas wie die kulturelle Hauptstadt polaren (oder US-gesteuerten, darauf kommt es Europas, letztlich unangefochten durch alle in- hier nicht an) Globalisierung einsetzt. ternen Wirren (Revolutionen von 1830, 1848, Es sei die These gewagt: Der Niedergang die blutige „Pariser Kommune“ von 1871) und Frankreichs als einer Vormacht, Einflussmacht, auch durch alle äußeren Niederlagen. kulturellen Führungsnation beginnt schon mit Im Ersten Weltkrieg hat das Land schwere dem Zusammenbruch des napoleonischen Im- Verluste an Menschenleben und im Norden periums, besiegelt durch die Niederlage von auch an Material und Infrastruktur hinnehmen Waterloo (1815). Der große Napoleon hatte müssen, die es derart an den Rand seiner Leis- die Kräfte Frankreichs auf eine Weise überbe- tungsfähigkeit brachten, dass der Schluss nicht ansprucht, die nichts anderes als Erschöpfung abwegig ist, es hätte ohne britische und ins- hinterlassen konnte. Nach Waterloo war eine besondere, gegen Kriegsende, amerikanische französische Hegemonie in Europa nicht mehr Unterstützung dem deutschen Ansturm wieder möglich, die machtpolitisch und militärisch nicht standgehalten. verstandene „exception française“ war an ihr Doch gegenüber dem besiegten Deutsch- Ende gekommen. Das napoleonische Imperium land war es nach Kriegsende aufgerufen, ohne war ein lehrbuchtauglicher Fall von „imperial die USA, die sich aus der europäischen Politik overstretch“ gewesen. zurückzogen, und ohne viel britische Rücken- Bonaparte generierte den Bonapartismus, deckung die Nachkriegsordnung zu wahren. das war der letzte Sieg, den der krebskranke Ein spezieller Beitrag in dieser Publikation stellt Empereur von seinem fernen Verbannungsort dar, dass es damit, je länger desto deutlicher, St. Helena aus errang und dessen politische überfordert war, auf politischem, militärischem, Ideologie seinen Neffen als Napoleon III. in aber auch auf ökonomischem Gebiet. Eine He- Frankreich wieder an die Herrschaft brachte gemonie auf dem Kontinent war nur durch die (1851/52). Bekanntlich endete diese zweite Niederhaltung Deutschlands zu gewährleisten, Kaiserherrschaft auf französischem Boden mit doch nicht nur Hitlers aggressive Außenpolitik, der Niederlage und Gefangennahme Napo- sondern das überlegen deutsche Potential an leons III. bei Sedan und dem anschließenden sich machten diese Aufgabe auf Dauer unmög- Sieg der Deutschen auch über die Dritte Re- lich. Die ab 1930 gebaute Verteidigungslinie an publik, die kurz nach Sedan dem Kaiserreich der deutschen Grenze, die nach dem Kriegs- nachgefolgt war (1870/71). minister Maginot benannt wurde, war das Dabei sind die Entwicklung von „Second sichtbare Zeichen des französischen Hegemonie- Empire“ und Dritter Republik als Hinweis Verzichtes – was einige hohe Militärs damals

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auch offen aussprachen: Wer nur sein eigenes die sind, unter dem Druck von tödlicher Ge- Territorium verteidigen will, verzichtet von An- fahr in die Höhe blicken und sich aufrecht fang an auf „power projection“ nach außen. halten muss. Kurz, nach meiner Auffassung Im Mai / Juni 1940 fiel die französische kann Frankreich ohne Grandeur nicht Frank- Armee bekanntlich binnen weniger Wochen der reich sein.“ deutschen „Blitzkriegs“-Strategie zum Opfer. Solches Pathos klingt für viele wohl nicht Die Niederlage war noch viel deutlicher als die mehr ganz zeitgemäß. Man könnte auch bemer- von 1870/71. Die Folgen für das französische ken, dass die Formulierung von der „bestimm- Selbstbewusstsein wurden nur dadurch relati- ten Idee von Frankreich“ geborgt erscheint aus viert, dass Deutschland den Krieg am Ende einem programmatischen Satz des revanchisti- dennoch verlor, wenn auch nicht mit einem schen, antisemitischen Blut- und Boden-Schrift- entscheidenden französischen Beitrag zu die- stellers (darauf hatten die Barden des „Dritten sem Ende. Die Vichy-Regierung und Kreise der Reiches“ kein Monopol) Maurice Barres (1862- politisch maßgeblichen Öffentlichkeit hatten 1923): „Wenn man von Frankreich eine be- zunächst, auch aus ideologischen Gründen, ei- stimmte Idee vorgibt, dann heißt das auch, ne dauernde Unterordnung unter Deutschland dass man uns erlaubt, eine bestimmte Rolle zu akzeptiert. Die Anstrengungen der Resistance spielen.“ Damit soll nicht behauptet werden, der und der militärische Beitrag de Gaulles mit sei- Staatsmann der historischen deutsch-französi- nen Streitkräften von „ libre“ hätten nicht schen Aussöhnung sei gleichen Geistes Kind genügt, dem Land einen offiziell gleichberechtig- gewesen wie Maurice Barres. Es soll nur gesagt ten Status an der Seite der Sieger zu verschaffen, sein, dass einem Nationalgefühl über die Dis- wenn die Briten nicht darauf bestanden hätten, positionsmarken hinaus, die man setzen kann, um im Nachkriegseuropa Unterstützung gegen um das Vorhandensein einer Einheit namens den sowjetischen Koloss zu erhalten. „Nation“ zu konstatieren, stets ein unauflösba- Dennoch ist die Rolle de Gaulles für die res Moment von Irrationalität innewohnt, denn Nachkriegsgeschichte Frankreichs kaum zu präzise Analyse und der Stolz, der den Glauben überschätzen. Der General hatte die erklärte an „Grandeur“ trägt, sind zwei verschiedene Absicht, mit der „Verwicklung in den Abstieg“ Dinge. zu „brechen“, so Alain Duhamel in „La Marque Außerdem entwickelte de Gaulle beim Ab- et la Trace“. Seine Memoiren begann er später fassen seiner Memoiren einen literarischen mit dem programmatischen Satz: „Während Ehrgeiz, wie er bei deutschen Spitzenpolitikern meines ganzen Lebens habe ich mir eine be- unüblich sein dürfte. Er versuchte, seine Prosa stimmte Idee von Frankreich gemacht.“ Er sagt an dem stilistischen Vorbild des schwungvollen es tatsächlich nicht genauer, er sagt nur: „une Romantikers Chateaubriand zu orientieren – certaine idee de la France“. Das wird in den daher wohl die Prinzessin und die Madonna folgenden Sätzen auf für einen derart vielseitigen gleich zu Beginn, und er borgte eben auch bei Politiker und Praktiker merkwürdig poetisie- Maurice Barres, denn dieser konnte nun einmal rende Weise nicht etwa näher ausgeführt, son- hinreißend schreiben. dern nur umspielt: „Was in mir an Affektivem De Gaulle hat eine sehr ambitionierte Außen- ist, stellt sich natürlich Frankreich vor, wie eine politik betrieben und damit Frankreich nach- Prinzessin in den Märchen oder die Madonna haltig in den Mittelpunkt weltweiter Aufmerk- auf Mauerfresken, wie für ein hervorragendes samkeit gerückt, gerade als mit dem desaströsen und exzeptionelles Geschick bestimmt.“ und für das Mutterland aussichtslosen Krieg in Doch dann wird der Autor handfester: Algerien Ersteres ein wesentliches Attribut sei- „Frankreich ist nicht wirklich es selbst, wenn ner Weltgeltung verlor. Aber eigentlich hat er es nicht einen ersten Rang besetzt; dass nur an Frankreichs Position in der Welt nichts Sub- ausgreifende Unternehmungen in der Lage sind, stantielles geändert, und er wusste selbst, dass die Gärstoffe der Zerstreuung auszugleichen, das auch gar nicht möglich war. Den ständigen die sein Volk in sich selbst trägt; dass unser Sitz im Sicherheitsrat der UNO, eine hervorra- Land, so wie es ist, unter den anderen, so wie gende Plattform, um sich weit und breit Gehör

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zu verschaffen, hat er geerbt; die europäische Maurice Vaisse einen Hinweis: „Es ist das Integration hat er grundsätzlich anerkannt, was Wort (le verbe) des Generals de Gaulle, das die angesichts der Aussöhnung mit Deutschland Grandeur Frankreichs geschaffen hat.“ Der logisch war; seine ehrgeizige Ostpolitik, als ob hochliterarische Ausdruck „le verbe“ klingt an Frankreich mit der Sowjetunion auf gleichem an das „Wort Gottes“, meint also nicht einfach Machtniveau hätte verhandeln können, fand das Reden, sondern das Aufweisen von über- ihre deutliche Grenze darin, dass er den sowje- greifenden Zusammenhängen, meint Sinnstif- tischen Wunsch nach Anerkennung der Teilung tung für das Leben überhaupt. Der Sinn aber Deutschlands klar zurückwies. Seine „arabi- ruht in der emotional, bedingten „bestimmten sche Politik“ war eher originell dadurch, dass Idee von Frankreich“. De Gaulle hat durch seine er sich nach dem 6-Tage-Krieg vehement gegen vielen engagierten, programmatischen, rheto- Israel positionierte, als dass sie Frankreich des- risch sorgfältig gemeißelten Reden und Presse- halb bei den arabischen Staaten strategisch zu konferenzen, die für ihn ein sehr wichtiges nennenden Einfluss verschafft hätte. Und die Führungsmittel waren, den Franzosen darüber Förderung von Rüstungsexport, so sehr sie bei hinweggeholfen, dass die Zeiten ihres großen allen Beteiligten eine Rolle spielt, wird man historischen Ruhmes, ihrer Grandeur, vorbei nicht als die Hauptaufgabe von Außenpolitik sind, dass sie eine europäische Macht mit eini- bezeichnen wollen. De Gaulle hat die Ameri- gen anderen zusammen sind und im Weltmaß- kaner vielfach herausgefordert, aber trotz des stab nur eine Mittelmacht. Die listige Idee, den Bestehens auf eigener atomarer Bewaffnung hat französischen Einfluss durch Ausnützung der er den amerikanischen atomaren Schutz für integrativen Strukturen in der EU international Westeuropa doch stets zu schätzen gewusst, zu stärken, widerspricht grundsätzlich dem und das Verlassen des westlichen Bündnisses Gedanken der europäischen Integration, hat musste ihm bei seinem entwickelten Gespür dementsprechend viele Gegner in der EU und für Machtpolitik wie ein Sprung ins Nichts ähnelt zu sehr den in die Historie abgesunkenen erscheinen. Dass er die militärische Integration Hegemonie-Bestrebungen, um weit führen zu der NATO verlassen hat, darf diese Konstante können. nicht vergessen lassen. Denn er hat es wohl- Frankreich ist nach wie vor weltweit prä- weislich unterlassen, aus dem Bündnis gänzlich sent mit seinen „Territoires d’Outremer“ und auszutreten. „Departements d’Outremer“, von St. Pierre et Wenn der General also die außenpolitische Miquelon vor der Küste von Neufundland über Welt eigentlich gar nicht verändert hat, warum die Karibik und Guayana bis zur Komoren- ist er dann für die französische Nachkriegsge- Insel im Indischen Ozean und bis nach schichte so wichtig? Man kann hier anführen, Polynesien im Südpazifik. Seine umfassende dass die auf ihn zugeschnittene Verfassung der Organisation der „Francophonie“ zeugt von „Fünften Republik“ dem Lande bis heute eine dem fortbestehenden Anspruch, ganz global schlagkräftige Exekutive sichert, die außenpoli- eine kulturbestimmende Nation zu sein, und tisch entscheidend ins Gewicht fallen kann. tatsächlich wäre die Welt ohne die französische Das hat Präsident Sarkozy bewiesen, als er im Sprache und Kultur unendlich ärmer. Die Sonne August / September 2008 den Konflikt zwischen der ehemaligen Grandeur strahlt noch – aber Russland und Georgien vermittelte, ferner, als im Abendschein. er sich 2011 für die Bombardierung des Libyen Wir Deutsche sollten jedoch den Stolz der von Muammar al Ghaddafi stark machte. Prä- meisten Franzosen auf ihre Geschichte und sident Hollande ist solchen Handlungsmustern Tradition nicht als unzeitgemäße Don-Quijote- gefolgt, als er 2013 in und in der Zentral- rie abtun, sondern besser ein wenig neidisch afrikanischen Republik intervenierte. über den Rhein blicken. Denn man muss nicht Da diese Aktionen aber auch die Grenzen undifferenziert über das alte Preußen der Auf- französischer Machtprojektion aufgezeigt haben, klärungszeit, die Weimarer Klassik oder sonst müssen wir auf die obige Frage zurückkom- ein Phänomen, das sich aus unserer Vergangen- men. Da bietet die Feststellung des Historikers heit immer noch vorweisen lässt, zu schwärmen

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anfangen, um zu erkennen: In der Vergangen- heit ruhen lebendige Kräfte, auf die wir zur Bewältigung der Zukunft lieber nicht verzich- ten sollten. Das können wir von den Franzosen lernen.

||||| BERND RILL bis Dezember 2013 Referent für Recht, Staat, Europäische Integration, Integrationspolitik und Dialog der Kulturen, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

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VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL?

JOSEPH JURT ||||| Was kann man unter dem jakobinischen Gesellschaftsideal verstehen? Ich denke, man kann hier drei Aspekte unterscheiden: zunächst einmal die Säkularreligion der Nation, die eine Bindekraft entfaltet und soziale Kohäsion schafft; dann das unmittelbare Verhältnis des Bürgers zum Staat ohne Vermittlungsinstitutionen und schließlich die zentralistische Organisation des Staates. Bestimmen diese Prinzipien, die auf das Konzept der modernen Nation zurückgehen, die durch die Französische Revolution entstand, heute noch die Gesellschaft unseres Nachbarlandes oder gehören sie endgültig der Vergangenheit an? Eine Antwort darauf ist nicht einfach.

DIE IDEE DER NATION ALS SÄKULARRELIGION chen danach nicht in den Büchern politischer Die Idee der Nation als Bürgernation, so wie Schriftsteller zu suchen, die diese Revolution sie im Kontext der Französischen Revolution nicht vorausgesehen haben, und auch nicht in entstand, wurde zu einer Orientierungsmatrix, den Gesetzbüchern von Tyrannen, denen es die eine Identitätswirkung auslöste, welche nur genügte, ihre Macht zu missbrauchen und die mit der zu vergleichen ist, die das Christentum sich wenig um den Nachweis ihrer Legitimität während Jahrhunderten ausübte. Die Idee der scherten.“ 1 Nation bestimmte nicht nur das Leben, son- Die Idee des totalen Bruchs mit der Vergan- dern auch die Bereitschaft zum Opfertod (pro genheit, der Wille, eine völlig neue Ordnung zu patria mori) . Das moderne Nationalbewusst- begründen, waren in der Tat konstitutiv für das sein, das sich damals ausbildete, übte eine dem neue Selbstverständnis der französischen Re- konfessionellen Wir-Bewusstsein ähnliche iden- publik. Ihr zentrales Credo war, nach Mona titäre Funktion aus. Die Nation wurde zum Ozouf, die Idee der alterslosen Revolution; jede Objekt einer Sakralisierung. Generation könne sich als erste betrachten und Die neue, nationale Identitätsvorstellung ar- die Revolutionäre seien Kinder ohne Mutter, tikulierte die Opposition zum Ancien Régime – gemäß dem Motto aus Montesquieus „Esprit ähnlich wie zur Zeit der Reformation – mit des lois (prolem sine matre creatam)“, sie seien der symbolischen Waffe des Bildersturms, der in der Lage, die soziale und politische Ordnung allerdings nach einer ersten Welle der Gewalt völlig neu zu konzipieren. Die Franzosen such- rationalisiert wurde und sich auf das Emblema- ten so ihre republikanische Identität im Bruch tische beschränkte. mit der Zeit, d. h. der Vergangenheit, während Das Pathos des Neubeginns ging bis zur die Vereinigten Staaten sich in der räumlichen Schaffung eines neuen Kalenders, der den bis- Trennung vom „Mutterland“ konstituierten. 2 herigen Zeitrhythmus radikal verändern sollte. Die Nation, die sich nun als eigenständiges Robespierre unterstrich, dass man bei den Subjekt verstand, musste sich ihre Symbole sel- Repräsentationsformen früherer Systeme keine ber schaffen. Sie tat dies teils durch die Substi- Anleihen machen könne: „Die Theorie der tution katholischer Riten durch rationalistische revolutionären Regierung ist so neu wie die Re- Gegenmodelle, häufig in antiker Einkleidung volution, die sie hervorgebracht hat. Wir brau- (Fest des höchsten Wesens) oder durch die

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Säkularisierung christlicher Kultformen (etwa Zwischenbereiche; es sind dies gemeinsame durch den Märtyrerkult, den man Marat wid- glaubensähnliche Haltungen aller Art in Bezug mete, dessen Statue an die Stelle der Heiligen- auf scheinbar weltliche Gegenstände wie die statuen trat).3 Nationalflagge, das Vaterland, bestimmte poli- Zu den neuen offiziellen Symbolen, die der tische Organisationsformen, bestimmte Helden moderne Nationalstaat, der aus der Französi- oder historische Ereignisse. […] Sie sind in einem schen Revolution hervorging, sich zu eigen gewissen Sinn nicht von spezifisch religiösen machte, zählten vor allem die Trikolore, die Glaubensüberzeugungen zu unterscheiden.“5 Marseillaise und die Figur der Freiheit, die zur Entfaltet die Säkularreligion der Nation Verkörperung der Republik wurde. Im Kontext heute noch in Frankreich diese Bindekraft? der neoklassischen Antikenrezeption hatte die Zweifellos findet man am Nationalfeiertag, dem weibliche Allegorie der Freiheit mit den der 14. Juli, mit der Parade auf den Champs-Elysées manumissio entlehnten Attributen der phrygi- eine noch relativ ungebrochene Form der schen Mütze (pileus) auf einem Stabe (vindicta) Selbstdarstellung der Nation, der man kaum zuerst Eingang in die Formensprache der jun- anderswo in Europa so begegnet. Aber schon gen amerikanischen Republik gefunden und beim Bicentenaire der Französischen Revolu- wurde von der Ersten Französischen Republik tion, 1989, entfalteten die alten Symbole nicht übernommen. Auch das Symbol der phrygi- mehr die ungebrochene Wirkung. Damals fiel schen Mütze (für uns Jakobinermütze) war der spielerische Umgang mit diesem Erbe auf, anglo-amerikanischen Ursprungs und wurde etwa wenn man in Läden Mini-Guillotinen von der Französischen Revolution über diesen feilbot. Das stand im Gegensatz zum Ernst der Umweg rezipiert.4 Debatten über die Nationalsymbole in den ost- Dieser neue Typus von Symbolen hatte europäischen Ländern, die nach der Implosion nicht mehr bloß eine unmittelbare Funktion als des Sowjet-Imperiums ihre volle Souveränität Erkennungszeichen in der kriegerischen Aus- wieder erreichen konnten.6 einandersetzung, verwies auch nicht auf ein Vor allem seit der Jahrhundertwende finden Herrschergeschlecht, sondern übersetzte das die Nationalsymbole in Frankreich nicht mehr Zugehörigkeitsgefühl der Bürger, die nun die fraglose Resonanz bei den Bürgern. Anlässlich Quelle der Souveränität darstellten und das eines Freundschaftsspieles im Stade de France Geschick der Nation mitbestimmten. zwischen den Fußball-Nationalmannschaften Die Sakralisierung der Nation bewirkte un- von Frankreich und Algerien am 6. Oktober zweifelhaft, dass der Wille einer grundlegenden 2001 wurde die Marseillaise ausgepfiffen und Neugestaltung der politischen Ordnung im die Sportministerin, die Ruhe schaffen wollte, Sinn einer Partizipation aller Bürger gegen die mit einer Wasserflasche beworfen. Am 11. Mai Privilegienordnung des Ancien Régime irreversi- 2002 wurde die Nationalhymne anlässlich ei- bel wurde. Die unbedingte Schärfe der internen nes Spieles zwischen dem SC Bastia und dem Abgrenzung erklärt auch den missionarischen FC Lorient von korsischen Fans ausgepfiffen. Charakter, den die Revolution annahm. Staatspräsident Chirac verließ die Tribüne, das Was erstaunt, ist, dass selbst Geister, die Spiel wurde unterbrochen und erst nach einer dem Christentum nahestanden, die säkulari- Entschuldigung des Präsidenten der Französi- sierte Religion der Nation bestätigten, indem sie schen Fußball-Federation wieder aufgenommen. den Tod für das Vaterland mit dem Opfertod Im März 2003 wurde dann in einem Gesetz der Christi in Verbindung brachten. Die Ausfüh- „outrage au drapeau ou à l’hymne national“ zu rungen von Joseph de Maistre in den Soirées de einem Delikt erklärt. Die Nationalhymne wur- Saint-Pétersbourg zeugen davon. de aber auch weiterhin ausgepfiffen: 2007 in Emile Durkheim hat seinerseits sehr klar ge- Spielen mit Italien und Marokko, 2008 bei ei- sehen, wie die Säkularreligion der Nation den nem Freundschaftsspiel mit der Mannschaft von Platz des Christentums einnahm, um die Kohä- Tunesien. Die Regierung erklärte darauf, dass renz der Gesellschaft zu garantieren. „Zwischen jeder Sportanlass, bei dem die Nationalhymne der Wissenschaft und dem Glauben gibt es ausgepfiffen werde, sofort abgebrochen werde.

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Im Dezember 2010 wurde ein junger Algerier, Im Ancien Régime gab es eine Vielfalt von der eine Fahnenstange mit der Trikolore zer- Rechtshoheiten und Körperschaften und damit brochen hatte, erstmals im Geltungszeitraum auch eine Vielzahl von Zugehörigkeiten. Die des neuen Gesetzes zu einer Strafe verurteilt. In Revolution fegte diese zwischengeschalteten den USA hat im Übrigen der Oberste Gerichts- Institutionen, die Privilegien verleihen konnten, hof festgehalten, dass die Profanation des Ster- weg und stellte das Individuum unmittelbar nebanners kein Delikt darstelle und durch das dem Staat, der die Nation politisch organisier- Prinzip der Meinungsfreiheit geschützt sei. te, gegenüber. Die Revolutionäre folgten hier Die hier geschilderten Vorgänge belegen, Rousseau und nicht Montesquieu. In Ropus- dass die Säkularreligion der Nation sich abge- seaus Augen war die Abhängigkeit von anderen schwächt hat. Man hat festgestellt, dass vor al- eine Quelle der Unfreiheit. Die intermediären lem Jugendliche maghrebinischer Herkunft aus Körperschaften zwischen dem Individuum und den Banlieues die Nationalhymne auspfiffen. Sie dem Staat verhinderten den Menschen, frei zu sind besonders von sozialem Ausschluss und sein und sollten darum abgeschafft werden. Der Arbeitslosigkeit betroffen. Sie vermögen sich Bürger, direkter Ausdruck der volonté générale, nicht mehr mit der Nation und ihren Symbolen sollte darum – im Gegensatz zu England – zu identifizieren. Das Problem ist vor allem unabhängig von allen zwischengeschalteten sozialer und nicht so sehr politischer Natur.7 Körperschaften sein und in enger und direkter Es lässt sich so in der Tat feststellen, dass Beziehung zum Staat bleiben. sich die jakobinische Säkularreligion der Nati- „Die Staatsbürgerschaft ist wie die Nation on abgeschwächt hat. Die soziale Kohäsion ist ein unteilbares Ganzes“, schreibt die Soziologin schwächer geworden, was sich andererseits in Dominique Schnapper. „Sie muss vom Zentral- einem Anwachsen nationalistischer, ja rassisti- staat organisiert und garantiert werden, der scher Reaktionen gegenüber denjenigen äußert, Ausdruck der volonté générale ist und der auch die sich ausgeschlossen fühlen und es oft auch die Gesellschaft hervorbringt.“9 Die Verfassung sind. von 1791 definiert in Titel III, Artikel I klar die Unteilbarkeit der nationalen Souveränität: DER BÜRGER ALS UNMITTELBARER „La souveraineté est une, indivisible, inaliénable ANGEHÖRIGER DES STAATES et imprescriptible. Elle appartient à la nation; Frankreich war seit seiner Konstitution als aucune section du peuple, aucun individu ne Nation zu Beginn der Neuzeit eine Staatsnati- peut s’en attribuer l’exercice.“ In Frankreich ist on. Die Kultur war ein Attribut, nicht jedoch der Bürger unmittelbarer Angehöriger des Staa- das Fundament der Nation. Als die National- tes; keine Körperschaft kann Teil-Souveränität versammlung 1789 die Souveränität der Nation beanspruchen. Diese neue unmittelbare Staats- ausrief, da wurde die Mitgliedschaft in dieser bürgerschaft erlaubte dem Staat die direkte Be- souveränen Nation in der politisch-rechtlichen steuerung, die Heranziehung jeden Bürgers zum Form der Staatsbürgerschaft und nicht im Sin- Militärdienst sowie direkte Anordnungen an ne einer ethnischen Zugehörigkeit zu einem Fremde. Volk vertreten. Die Grenzen der Nation waren Dieses unmittelbare Verhältnis vom Bürger diejenigen des Staates, dessen Souveränität sie zum Staat ohne dazwischengeschaltete Körper- selbst legitimierte. Die Zugehörigkeit war nur schaften äußert sich auch in der leichten Ein- in ihrem politischen Aspekt kodifiziert. „Die bürgerung, die auf dem ius soli beruht (allerdings bürgerrechtliche Dimension blieb unkodifiziert. mit der Forderung eines mindestens 5-jährigen Dies verursachte in der frühen Revolutionszeit Aufenthalts im Lande). Dieses sehr liberale Ein- keine Probleme, denn die Verfassung von 1791 bürgerungsgesetz stammt indes erst aus dem garantierte Nicht-Staatsangehörigen die gleichen Jahre 1889. Vorher galt in Frankreich das ius wesentlichen Bürgerrechte wie den Staatsbür- sanguinis. Man wurde Franzose durch Abstam- gern: die Erb- und Vertragsfreiheit, die Freiheit mung. Das führte dazu, dass die Situation der der Person, des Eigentums und der Religion Söhne von Einwandern, die in Frankreich zur und die Gleichheit vor dem Gesetz.“8 Welt kamen, vorteilhafter war als die der fran-

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zösischen Altersgenossen. Die Söhne von Aus- Kommunitarismus, die Angst, eine Gruppe ländern mussten keinen Militärdienst leisten würde sich innerhalb der „République une et und waren darum früher auf dem Arbeitsmarkt indivisible“ absondern. Die Staatsbürgerschaft präsent. Mit dem Gesetz vom 26. Juni 1889 allein vermag aber nicht die Integration zu wurde das ius soli eingeführt. Die in Frankreich schaffen. Gruppen oder Gemeinschaften, die von ausländischen Eltern geborenen Kinder gewisse kulturelle Eigenschaften teilen, könnten wurden mit dem Erreichen der Mündigkeit aber dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Franzosen. Es blieb ihnen die Frist von einem Wenn in Deutschland die politische Integra- Jahr, um diese Einbürgerung abzulehnen und tion über die Erlangung der Staatsbürgerschaft die alte Staatsbürgerschaft zu behalten.10 Mit schwieriger ist, so gelingt doch die wirtschaftli- diesem Einbürgerungsgesetz wird die Distanz che Integration besser. „Die jungen Leute in zwischen den Einheimischen und den Fremden Vororten großer Städte sind – anders als die stärker markiert. Die Staatsbürgerschaft meint meisten jungen Türken in Berlin – Franzosen, nun auch eine explizite Zugehörigkeit zum Staat und sie sind als Franzosen diskriminiert“, be- (mit dem Wahlrecht und der Militärpflicht). merkt dazu Alfred Grosser. „Als Franzose dis- Gérard Noiriel unterstreicht in diesem Zu- kriminiert zu sein aber ist noch schlimmer, als sammenhang die Tatsache, dass es zwischen als Ausländer diskriminiert zu sein. Diese Leute dem ius sanguinis und dem ius soli keinen qua- kommen nicht aus ihren ,Ghettos‘ heraus und litativen Unterschied gibt. Länder mit großen haben keine Berufschancen. In den letzten Jah- Auswandererquoten wie Deutschland und Ita- ren sehen sie sich einer Polizei gegenüber, die lien bevorzugen das ius sanguinis, um so auch sie nur angreift und brandmarkt. Manche von die ausgewanderten Landsleute zu behalten. In diesen suchen eine neue Identität. Und finden Frankreich gab es ab Ende des 19. Jahrhun- sie im Islam – nicht, weil sie Islamisten wären, derts kaum eine Auswanderungsbewegung wie sondern weil sie von Frankreich, ihrem Vater- in den meisten anderen europäischen Ländern. land, schlecht behandelt worden sind.“13 Darum wollte man die Einwanderer über das Die Angst vor dem Kommunitarismus be- ius soli einbürgern, dies auch, um über mehr stimmt auch die Sprachpolitik Frankreichs. Soldaten zu verfügen, was auch darum als 1991 schuf man eine eigene Gebietskörperschaft wichtig erschien, weil Frankreich demogra- auf Korsika. Im Artikel I des dazu erlassenen phisch gegenüber Deutschland enorm ins Hin- Gesetzes sprach man von Korsika als einer „le- tertreffen geraten war. Es handelte sich nicht so bendigen, historisch gewachsenen kulturellen sehr um eine großzügige Politik im Sinne der Gemeinschaft“, die aus dem „korsischen Volk Menschenrechts-Deklaration, sondern, wie Gé- als einem Bestandteil des französischen Volkes“ rard Noiriel schreibt, „une politique annexion- bestehe. Der Verfassungsrat erklärte diesen Ge- niste, qui vise non pas un territoire mais une setzestext als mit dem Prinzip der unteilbaren population.“11 Republik nicht vereinbar.14 Ein Jahr danach hob Daher ist es nicht sinnvoll, dem französi- man die französische Sprache auf Verfassungs- schen ius soli, das ja erst 1889 zur Norm wurde rang: „Le français est la langue de la Républi- und dies aus demographisch-militärischen que.“ Die Charta des Europa-Rates hinsichtlich Gründen, einen höheren moralischen Stellen- der Rechte der Minderheitensprachen wurde wert zuzuschreiben als dem deutschen ius san- gleichzeitig vom französischen Verfassungsrat guinis.12 Tatsache bleibt indes, dass in Frank- als nicht verfassungskonform betrachtet. Auch reich geborene Söhne und Töchter mit 18 Jahren hier wieder die Angst vor dem Kommunitaris- automatisch die Staatsbürgerschaft bekommen, mus. Auch die Ursprungssprachen der Einwan- während sie in Deutschland erst ein Gesuch derer werden so behandelt wie die Dialekte, die stellen müssen. man leicht herablassend patois nennt. Der Dis- Gleichzeitig sind dazwischengeschaltete Kör- kurs über die Nationalsprache ist so seit zwei perschaften aufgrund der Unmittelbarkeit des Jahrhunderten, schreibt Anne-Marie Thiesse, Citoyen zum Staat verpönt. Das Stichwort, das durch die Angst vor einem Aufbrechen der immer wieder beschworen wird, ist das des Einheit der Nation vermittels der Ko-Existenz

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mehrerer Sprachen geprägt. Man verkennt da- die der meisten europäischen Nationen. Aber bei, dass gerade die Förderung der Zweispra- auch diese ist zentralstaatlich konzipiert. Seit ein chigkeit einen großen Vorteil darstellt.15 paar Jahren werden alle Forschungszentren der Hinsichtlich des unmittelbaren Verhältnis- französischen Universitäten evaluiert. Damit ses des Bürgers zum Staat kann man sagen, wird eine nationale Organisation beauftragt, dass man zu sehr an diesem jakobinischen die AERES (Agence d’évaluation de la recher- Prinzip festhält. Zum Nachteil der Integration. che et de l’enseignement supérieur), die diese Evaluation in ganz Frankreich nach demselben DAS PRINZIP DES ZENTRALISMUS Schema vornimmt. Das Prinzip der zentralistischen Organisati- Es gibt aber auch schon Widerstände gegen on des Staates wird ebenfalls vom Konzept der diesen Zentralismus. So etwa die Protestaktion unteilbaren Souveränität der Nation abgeleitet. der Bretonen im Oktober 2013, die nicht bloß Dieses Prinzip entwickelte sich seit der absolu- eine soziale Bewegung war, sondern Bretonen ten Monarchie und wurde durch die Französi- fast aller Parteien und sozialen Gruppen um- sche Revolution noch verstärkt. Der Begriff des fasste, die gegen die Einführung einer Schwer- Jakobinismus verbindet sich gerade mit dem verkehrsabgabe in der Bretagne und gegen die extremen Zentralismus, mit der Konzentration Schließung von Agrarbetrieben demonstrierten. der gesamten politischen Gewalt in Paris und Dabei forderte man auch mehr Autonomie für einer totalen administrativen, juristischen und die Region. Mit der Zerstörung von Mautstellen kulturellen Uniformität des Landes. wurde indirekt auch die Hoheit des Zentral- Mit der Loi Defferre von 1982 wurde eine staates in Frage gestellt. Die kilometerabhängige sehr moderate Dezentralisierung veranlasst. neue Maut wurde als illegale Steuer des franzö- Doch die Kompetenzen, die man den Regionen sischen Staates gegenüber der „bretonischen und den Départements zusprach, waren sehr Nation“ bezeichnet. Mit den roten Mützen, die begrenzt und sind nicht vergleichbar mit denen, die Protestierenden trugen, erinnerten sie an den die Regionen oder Bundesländer in föderalis- Widerstand der Bretonen gegen eine neue Steu- tisch organisierten Staaten kennen. Der breto- er, die Ludwig XIV. 1675 eingeführt hatte.17 nische Politiker Christian Troadec fordert so Die nach wie vor sehr zentralistische Organi- für die Bretagne eine Regionalisierung mit mehr sation des Staates in Frankreich steht in einem „institutioneller und finanzieller Autonomie“. gewissen Widerspruch zu anderen Bewegungen Um zu verdeutlichen, wie groß noch die Be- in Europa, etwa in Spanien oder in England, vormundung durch Paris ist, vergleicht er die die allerdings bis zu einem Separatismus der Bretagne mit Schottland. Schottland habe etwa Regionen führen könnten. Die zentralistische gleich viel Einwohner, könne indes über ein Organisation steht aber auch in Widerspruch Budget von 44 Milliarden autonom verfügen, zum Prinzip der Subsidiarität, die zu einem während die Mittel der Bretagne sich nur auf Grundsatz der EU erklärt wurde. eine Milliarde beliefen.16 Das jakobinische Prinzip des Zentralismus In Frankreich wird die Idee der Gleichheit bestimmt letztlich immer noch weitgehend die sehr hochgehalten; gleichzeitig befürchtet man, Organisation des französischen Staates. Diese dass sich in den Provinzen Lokalfürsten etab- Organisationsweise hat zweifellos ihre Schwä- lieren könnten, die mehr partikuläre Interessen chen und Schwerfälligkeiten, die oft mit den vertreten. Die zentralistische Organisation des Schwerfälligkeiten und Schwächen der Verwal- Staates erklärt auch das beliebte Doppelman- tung zusammenhängen, gegenüber der sich Poli- dat von Politikern als Député-Maire: Der Bür- tiker als ohnmächtig empfinden.18 germeister einer großen Stadt ist oft gleichzeitig Das Fazit ist gemischt: Das kohäsionsstif- Mitglied der Nationalversammlung. Man erhofft tende jakobinische Prinzip der Säkularreligion so vom Bürgermeister, dass er sich für seine der Nation hat an Bindekraft verloren. Das ja- Stadt bei der Zentralregierung einsetzt. kobinische Prinzip der Unteilbarkeit der Souve- Frankreich betreibt auch eine sehr aktive ränität, das keine intermediären Körperschaften Kulturpolitik, deren Budget weit höher ist als zwischen dem Staat und dem Bürger toleriert,

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sowie die ebenfalls von diesem Prinzip abgelei- ANMERKUNGEN tete zentralistische Organisation des Staates be- 1 stimmen nach wie vor die französische Gesell- Fink, Gonthier-Louis: Die Problematik der franzö- schaft, nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. sischen nationalen Identität in der Zeit des Um- bruchs zwischen Ancien Régime und Thermidor (1750-1794), in: Identitäten. Erfahrungen und Fik- PROF. DR. DR. H.C. JOSEPH JURT ||||| tionen um 1800, hrsg. von Gonthier-Louis Fink und emeritierter Professor für französische Andreas Klinger, Bern u. a. 2004, S. 17. Literaturwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität, 2 Ozouf, Mona: L’idée républicaine et l’interpréta- Freiburg tion du passé national, in: Le Monde, 19.6.1998, S. 14. Das Motto „problem sine matre creatam“, das Montesquieu seinem Esprit des lois voranstellte, stammte aus Ovids Metamorphosen II, 553, und unterstrich den Anspruch des Autors, für sein Werk gebe es keine Vorbilder. 3 Vgl. Herding, Klaus: Im Zeichen der Aufklärung. Studien zur Moderne, Frankfurt a. M. 1989, S. 95- 126: „Davids ‚Marat’ als dernier appel à l’unité révolutionnaire“. 4 Vgl. Jurt, Joseph: Die Allegorie der Freiheit in der französischen Tradition, in: Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, hrsg. von K. Knabel, D. Rieger und S. Wodianka, Göttingen 2005, S. 113-126. Die Phrygische Mütze war zunächst die Kopfbedeckung der alten Phrygier (eine kegelför- mige, hohe Mütze mit nach vorn geneigter ausge- stopfter Kuppe, an den Ohren oft mit zwei schmalen Laschen versehen). Die Jakobiner assoziierten sie mit dem pileus, der Kopfbedeckung, die den befrei- ten Sklaven in der Antike auszeichnete; die rote Mütze wurde von ihnen als Symbol der Freiheit und der republikanischen Gesinnung getragen. 5 Durkheim, Emile: De la définition des phénomènes religieux, in: L’année sociologique, 2, 1897-1898, S. 20: „Entre la science et la foi il existe des intermédiaires; ce sont les croyances communes de toute sorte, relatives à des objets laïques en apparence, tels que le drapeau, la patrie, telle forme d’organisation politique, tel héros ou tel événement historique etc. ... Elles sont, dans une certaine mesure, indiscernables des croyances proprement religieuses.“ Zur Rolle der Nationalsymbole siehe auch Jurt, Joseph: Die Rolle der Nationalsymbole in Deutschland und Frankreich, in: Marianne – Germania, Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789-1914, hrsg. von E. François, M. C. Hook-Demarle, R. Meyer-Kalkus und M. Werner, Leipzig 1998, S. 141-155. 6 Vgl. Reichler, Claude: La réserve du symbolique, in: Les Temps Modernes 550/1992, S. 85-93. 7 Vgl. Marsaud, Cyril: L’hymne national sifflé dans les stades: une polémique française, in: www.cafebabel.fr, Stand: 24.11.2008. Man kann sich fragen, ob sich am 19. November 2013 etwas gewandelt hat, als die Fußballmannschaft Frank- reichs im Zeichen der napoleonischen Losung

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„Impossible n’est pas français“ den Sieg über die onsfähigkeit des Landes beruht. Man geht nach Mannschaft der Ukraine davontrug und sich für die dem Soziologen Matthias Bös davon aus, dass sich Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro qualifizierte. der Fremde schnell integrieren kann und muss. Sie- Nach dem Spiel stimmte die Mannschaft spontan he hierzu Bös, Matthias: Ethnisierung des Rechts? die Marseillaise an, und 80 000 Zuschauer stimm- Staatsbürgerschaft in Deutschland, Frankreich, ten in den Jubelgesang ein und schwenkten die Großbritannien und den USA, in: Kölner Zeitschrift Trikolore-Fähnchen. Von einem neuen (stark über- für Soziologie und Sozialpsychologie 45/1993, triebenen?) Optimismus zeugte etwa die Reaktion S. 619-643; Jurt, Joseph: Allemagne-France: débat der Regionalzeitung La Dépêche du Midi nach dem sur la nation. Les Français vus d’Allemagne, in: Spiel: „Wenn ‚Les Bleus‘ die sehr unwahrschein- Commentaire 4/1996, S. 335-339. liche Qualifikation gelungen ist, dann wird alles 13 Grosser, Alfred: Gesellschaft und Politik in Frank- möglich: Vollbeschäftigung und ein zweistelliges reich und Deutschland, in: zur debatte 6/2013, S. 7. Wachstum scheinen kaum mehr als ein Kinder- 14 Nach Thiesse, Anne-Marie: Faire les Français. spiel. Die Nation hat plötzlich einen Grund gefun- Quelle identité nationale?, Paris 2010, S. 109. den, an sich selbst zu glauben.“ 15 Ebd., S. 112-113. 8 Brubaker, Rogers: Einwanderung und National- 16 staat in Frankreich und Deutschland, in: Der Staat Balmer, Rudolf: Rote Mützen und bretonische 28/1989, S. 18. Fahnen, in: Neue Zürcher Zeitung, 22.11.2013, S. 8. 17 9 Schnapper, Dominique: La communauté des citoyens. Vgl. Rist, Manfred: Die Bretagne wird zum Brenn- Sur l’idée moderne de la nation, Paris 1994, S. 91: punkt der Unzufriedenheit, in: Neue Zürcher Zei- „La citoyenneté est comme la nation un tout tung, 6.11.2013, S. 3; auch Le Bourdonnec, Yanick: indivisible, elle doit être organisée, garantie par un Halte à la gauche centralisatrice!, in: Le Monde, État centralisé, expression de la volonté générale, 14.11.2013 sowie die Gegenposition von Morvan, producteur de la société.“ Françoise: Bonnets rouges: des dérives autonomistes derrière les revendications sociales, in: Le Monde, 10 Thiesse, Anne-Marie: Faire les Français. Quelle 13.11.2013. identité nationale?, Paris 2010, S. 160-161. 18 11 Siehe dazu die Reaktion des Philosophen Hassner, Noiriel, Gérard: A quoi sert l’identité nationale?, Pierre: „Ce qui fonde un Etat, c’est la coïncidence Marseille 2007, S. 22. d’une communauté, d’un territoire, d’une autorité, 12 Man hat immer wieder betont, dass im deutschen d’une légitimité et d’une administration. Or ces élé- Selbstverständnis der Nation der ethnische Aspekt, ments constitutifs sont en train de se disjoindre.“ sprich die Abstammung, neben den kulturellen Zitiert bei Fressoz, Françoise: François Hollande Gemeinsamkeiten eine wichtige Rolle gespielt hat. à la recherche du pouvoir perdu, in: Le Monde, Man hat darum die Tradition des deutschen ius 21.11.2013, S. 23. sanguinis der französischen Tradition des ius soli entgegengesetzt. Das ius sanguinis war aber ein modernes Konzept, das man dem Territorialprinzip der absoluten Monarchie entgegensetzte; es sollte Personen, die außerhalb des Staatsterritoriums ge- boren wurden, erlauben, die Staatsangehörigkeit der Eltern (bzw. des Vaters) beizubehalten. Selbst wenn es bisweilen auch ethnisch interpretiert wur- de, hatte dieses Prinzip nichts mit dem späteren Rassismus der Nationalsozialisten zu tun. Die Op- position der Staatsbürgerschaftskonzepte in Frank- reich und Deutschland ist keineswegs so radikal, wie oft behauptet wird. Die meisten Franzosen sind heute Franzosen, weil ihre Eltern Franzosen waren. Auch bei in Frankreich geborenen Ausländern ver- langt man als Voraussetzung der Zuerkennung der französischen Staatsbürgerschaft einen Aufenthalt im Land von mindestens fünf Jahren, d. h man setzt voraus, dass zum Land durch diesen Aufent- halt eine persönliche Beziehung entstanden ist. Frankreich wendet auch nicht ein systematisches ius soli an. Zweifellos ist die Einbürgerung in Frankreich leichter als in Deutschland, was auch auf einer optimistischen Sichtweise der Assimilati-

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DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“

Frankreich im Ersten Weltkrieg

DANIEL MOLLENHAUER ||||| Bis heute wird der Erste Weltkrieg in Frankreich „La Grande Guerre“, der „große Krieg“ genannt. Die Erinnerung an ihn ist unverändert lebendig: Filme, Comics und neu eröffnete Museen zeugen ebenso davon wie die zahlreichen Gedenkveranstaltungen, die im Jubilä- umsjahr 2014 geplant sind. Was aber bedeutete der Krieg für Frankreich? Und was bedeutet er heute? Auf diese Fragen versucht der vorliegende Beitrag eine Antwort zu geben.

Als Lazare (eigentlich: Lazzaro) Ponticelli der Erste Weltkrieg, „la Grande Guerre“, im 1897 in einem kleinen Dorf in der italienischen französischen kollektiven Gedächtnis einen so Emilia-Romagna geboren wurde, deutete nichts viel größeren Stellenwert besitzt als in Deutsch- darauf hin, dass ihm gut 110 Jahre später ein- land? Was bedeutete der Krieg für Frankreich? 3 mal die Ehre eines französischen Staatsbegräb- nisses zuteil werden sollte. Diese hatte er der DER WELTKRIEG IN FRANKREICH Tatsache zu verdanken, dass er sich 1914 bei Frankreich war – im Unterschied zu Deutsch- Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger land – nicht nur Kriegsteilnehmer, sondern in der Fremdenlegion engagiert hatte. Lazare gleichzeitig auch Kriegsschauplatz. Diese schein- Ponticelli überlebte den Krieg – und zwar länger bar banale Feststellung war für die französische als jeder andere seiner ehemaligen Kameraden. Wahrnehmung und Deutung des Krieges schon Seit Januar 2008 war er schließlich der letzte bei den Zeitgenossen von fundamentaler Be- Veteran des „Großen Krieges“, der noch am deutung, und sie ist es bis heute geblieben. Von Leben war: „Le dernier poilu“. Sein Tod am August 1914 bis November 1918 fand das 12. März 2008 war ein Ereignis, das landesweit Kriegsgeschehen auf französischem Territorium für Aufmerksamkeit sorgte. Fünf Tage später statt, trugen die Schlachten der Westfront fran- fand im Invalidendom mit großem Pomp und zösische Namen, waren es französische Land- in Anwesenheit des Präsidenten der Republik, schaften, die von den hin und her wogenden Nicolas Sarkozy, das Staatsbegräbnis statt. 1 Angriffen und Gegenangriffen verwüstet, fran- Der mutmaßlich letzte deutsche Weltkriegs- zösische Städte, die vom Artilleriebeschuss zer- veteran, der Oberlandesgerichtsrat a. D. Dr. Erich stört wurden. Und es war die französische Kästner, ist ebenfalls 2008, nur wenige Wochen Hauptstadt Paris, die zweimal, nämlich im vor Ponticelli, gestorben – sein Tod jedoch ist Spätsommer 1914 und erneut im Frühjahr 1918, von der Öffentlichkeit vollkommen unbemerkt in die Reichweite der deutschen Geschütze geblieben. 2 Niemand wäre hierzulande auf die kam. Die Materialität des Krieges und die exis- Idee gekommen, ihm zu Ehren eine Schweige- tenzielle Bedrohung, die der Krieg für den minute in allen Schulen des Landes einzurich- Fortbestand der eigenen Nation bedeutete, wa- ten. Wie ist diese auffällige deutsch-französische ren dadurch für Franzosen sehr viel unmittel- Asymmetrie zu erklären? Woran liegt es, dass barer spürbar als dies etwa für Engländer oder

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 19 DANIEL MOLLENHAUER

auch für Deutsche der Fall war. „Les Allemands waren entscheidende Offensivaktionen kaum sont à Noyon“: Die Deutschen sind in Noyon, mehr möglich. Die Front war dennoch nicht einer Kleinstadt nordöstlich von Paris, keine gänzlich symmetrisch aufgebaut. Die französi- 100 km vom Zentrum des französischen Staa- sche, westliche Seite wurde bewusst als eine tes entfernt. Auf diese Formel, die er von 1914 Art Provisorium verstanden, denn man wollte bis 1917 gebetsmühlenhaft in seiner Zeitung aus psychologischen Gründen den Eindruck „L’homme enchaînée“ wiederholte, brachte vermeiden, man habe sich mit dem Stellungs- Georges Clemenceau die Situation4 – und er krieg – und damit mit der deutschen Besetzung drückte damit eine Grundtatsache der französi- mehrerer französischer Departements – abge- schen Kriegserfahrung aus. funden. Entsprechend hielt die französische Der französische Versuch, den Krieg durch Militärführung bis Mitte 1917 – letztlich gegen offensive Aktionen vom eigenen Land fernzu- alle Vernunft – an der grundsätzlichen Auffas- halten, war bereits in den ersten Kriegstagen sung fest, dass die Wiederaufnahme der Offen- gescheitert. Zwar konnte der deutsche Vor- sive möglich sei und unter allen Umständen marsch bekanntlich in der ersten Marneschlacht der Durchbruch, die „percée“ durch die deut- gestoppt und damit die Umsetzung des schen Linien, versucht werden müsse. Die hier- Schlieffen-Plans, der einen schnellen Erfolg im aus resultierenden Schlachten – im Artois, in Westen vorgesehen hatte, vereitelt werden, der der Champagne, an der Somme und am Übergang zur eigenen Offensive jedoch gelang Chemin des Dames nahe Reims im April 1917 – nicht. In den folgenden Wochen kam der Krieg zeichneten sich durch exorbitant hohe Verlust- (bei gleichzeitig mörderischen Kampfhandlun- raten bei gleichzeitig verschwindend geringen gen mit extrem hohen Todesraten) zum Still- Geländegewinnen aus. Das Trommelfeuer der stand, die Front stabilisierte sich, die feindlichen Artillerie, das in der Theorie die Verteidigung Armeen gruben sich ein, bauten ihre Stellungen des Gegners außer Gefecht setzen sollte, erwies aus, organisierten Versorgung und Nachschub. sich selbst dann als wirkungslos, wenn es, wie Das französische Territorium war von nun an in den ersten Kriegsjahren üblich, auf mehrere (und im Grunde bis zum Schluss des Krieges) Tage ausgedehnt wurde. Schon eine intakt ge- dreigeteilt: Im Osten die von der deutschen bliebene MG-Stellung konnte für den Angrei- Armee besetzte Zone, daran anschließend das fer, der sich zudem in einem durch die Granat- eigentliche Frontgebiet (in dessen Kern sich das einschläge völlig zerwühlten, unübersichtlichen stellenweise kaum 100 Meter breite no man’s Gelände bewegen musste, fatal sein. Die lang- land zwischen den jeweils vordersten Gräben anhaltende Artillerievorbereitung hatte zudem befand), westlich davon schließlich das unbe- den Nachteil, den Gegner frühzeitig über einen setzte, „freie“ Frankreich, in dem die Ökono- bevorstehenden Angriff zu informieren; jeglicher mie, die Politik, der gesamte Lebensrhythmus Überraschungseffekt ging damit verloren. mit zunehmender Dauer des Krieges immer Ausgerechnet bei der Schlacht, die sowohl stärker auf die Bedürfnisse der Kriegführung im französischen als auch im deutschen kollek- ausgerichtet wurden. tiven Gedächtnis als das Symbol des „Menschen- Die Westfront, deren Verlauf zwischen dem schlachthauses“ Westfront gilt, ging der An- Winter 1914/15 und dem Frühjahr 1918 weit- griff von der deutschen Seite aus. Die Schlacht gehend unverändert blieb, sollte zum emblema- von Verdun, die am 21. Februar 1916 mit tischen Erfahrungsraum des Stellungskrieges stundenlanger Artillerievorbereitung von unge- werden.5 Dabei kam mit zunehmender Kriegs- heurer Intensität begann, tobte bis zum De- dauer die Überlegenheit der Defensive immer zember 1916.6 Das Gebiet der Schlacht war eng deutlicher zum Vorschein. Gegen die planmä- begrenzt: Es ging um einen etwa 15 Kilometer ßig ausgebauten Verteidigungsstellungen – die tiefen Geländebogen östlich und nördlich der Stacheldrahtverhaue, die MG-Nester, die ge- alten Festungsstadt Verdun, ein Gelände, das staffelten Schützengrabenlinien, die Verkehrs- zum Tal der Maas hin steil abfiel und das von verbindungen ins Hinterland, die das schnelle französischer Seite durch zahlreiche Forts stark Herbeiholen von Verstärkung ermöglichten – befestigt war. Der Einsatz von Material und

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Truppen erreichte dabei bislang ungekannte regionen (etwa die Gegend um Lille, Roubaix Ausmaße. Entscheidende Geländegewinne und Tourcoing) lagen, die nun in deutscher gelangen jedoch trotz einiger spektakulärer Hand waren. Die französische Kohle- und Teilerfolge weder den angreifenden Deutschen Stahlproduktion sank dramatisch, und die Ab- noch den verteidigenden Franzosen. Was nach hängigkeit des Landes von Rohstoffimporten den monatelangen Kämpfen zurückblieb, waren wurde massiv verstärkt. Für die betroffenen eine Wüstenlandschaft und Ruinen. Die beson- Menschen (insgesamt über 2 Millionen), die ders umkämpfte Höhe „Toter Mann“ („Mort Annette Becker nicht ohne Grund die „verges- Homme“) auf dem linken Ufer der Maas verlor senen Opfer“ des Krieges genannt hat, stellte die sechs Meter an Höhe. Neun Dörfer, die sich im Besatzung in vielfacher Hinsicht eine schwere Gebiet der Schlacht befunden hatten, wurden Belastung dar. Sie litten unter der Isolation vollständig zerstört und auch nie wieder aufge- vom restlichen Frankreich (jeglicher Schriftver- baut. Die Felder um sie herum waren unfrucht- kehr mit Innerfrankreich war strikt verboten), bar geworden, sie wurden aufgegeben und mit unter den Zwangseinquartierungen deutscher der Zeit aufgeforstet – heute befindet sich hier Soldaten und Offiziere, unter den Requisitio- ein auf den ersten Blick idyllischer Wald, der nen von Lebensmitteln, Wertgegenständen und aber bei näherem Hinsehen die Spuren des Metallwaren, unter der Zwangsarbeit, die für die Krieges (Granattrichter, Schützengräben, Un- Besatzer zu leisten war, unter der Demontage terstände, Verteidigungswerke) nicht verbergen von Industrieanlagen sowie unter den Evakuie- kann. Verdun ist allerdings nicht nur wegen rungen und Deportationen. Auch die Versor- dieser immensen Zerstörungen zum Symbol gungslage war schlecht; vielfach beherrschte der Westfront geworden. Aus französischer der Hunger den Alltag, und je schwieriger die Perspektive wurde die Schlacht an der Maas Lebensbedingungen im Reich selbst wurden, gleichzeitig zum Symbol des Widerstandes ge- desto härter wurde das Regiment in den besetz- gen die Invasion und des unbedingten Durch- ten Gebieten, insbesondere in den Städten. haltewillens der Nation. „Ils ne passeront pas“ Obwohl die deutschen Militärbehörden („Sie werden nicht durchkommen“) lautete der grundsätzlich bereit waren, sich an die Bestim- Tagesbefehl General Nivelles am 23. Juni 1916; mungen der Haager Landkriegsordnung von wie eine Antwort darauf ziert heute noch die 1907 über den Umgang mit besetzten Gebieten Inschrift „Ils n’ont pas passé“ („sie sind nicht zu halten, so ist doch unübersehbar, dass sie durchgekommen“) das beeindruckende Krie- zwischen 1914 und 1918 mit großer Härte in den gerdenkmal auf dem „Toten Mann“. Über die besetzten französischen Departements herrsch- einzig verbliebene, schon während des Krieges ten. Den Einheimischen begegnete man mit „voie sacrée“ getaufte Verbindungsstraße zum grundsätzlichem Misstrauen, das von der Furcht Hinterland, wurde mit Lastwagen Tag und vor Partisanen (den „franc-tireurs“) genährt Nacht Nachschub an Material an die Front ge- wurde. Jede Form der tatsächlichen oder ver- bracht. Truppen wurden möglichst nur kurze meintlichen Widerständigkeit konnte hart be- Zeit an der vordersten Linie gelassen und relativ straft werden und wurde hart bestraft, auch wenn früh abgelöst; dies hatte zur Folge, dass die Repressalien großen Stils, wie sie zu Beginn des große Mehrheit der französischen Einheiten Krieges vor allem in Belgien des Öfteren vorge- (70 von insgesamt 85 Divisionen) irgendwann kommen waren, nun weitestgehend ausblieben. im Laufe der Schlacht bei Verdun zum Einsatz Eine große psychologische Belastung stellte kamen. Truppen anderer Nationen spielten hin- auch der Zwang dar, auf verschiedenste Weise gegen kaum eine Rolle: Verdun blieb die natio- für den Besatzer, also den Feind, zu arbeiten. nale Verteidigungsschlacht par excellence. Gerade in diesem heiklen Punkt war die Haager Durch den Kriegsverlauf in den ersten Mo- Landkriegsordnung uneindeutig. So war es im naten nach Kriegsbeginn sind 10 französische Prinzip verboten, die Bewohner der besetzten Departements ganz oder teilweise unter deutsche Gebiete zu Tätigkeiten zu verpflichten, die mit Besatzung geraten.7 Besonders gravierend war, den Kriegsoperationen zusammenhängen (z. B. dass hier einige der bedeutendsten Industrie- das Ausheben von Gräben); Zwangsarbeit für

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 21 DANIEL MOLLENHAUER

die Bedürfnisse der Besatzungsarmee (etwa die weckte die französische Regierung dann den Instandsetzung der zerstörten Infrastruktur) war Eindruck, tatsächlich alles in ihrer Macht ste- hingegen erlaubt. Zwischen den beiden Formen hende zu tun, um den drohenden Krieg noch eine klare Grenze zu ziehen war jedoch in der zu vermeiden, sie hielt die eigenen Truppen Praxis kaum möglich. Letztlich waren es immer von der Grenze fern und zögerte die Kriegser- die militärischen Bedürfnisse des Besatzers, die klärung so lange hinaus, bis die Regierung des den Ausschlag gaben – in Reinform sollte dies Deutschen Reiches ihr zuvorkam und so die in der sogenannten „Operation Alberich“ im Verantwortung für den Beginn der Kampfhand- Frühjahr 1917 zum Ausdruck kommen, als sich lungen übernahm. die deutsche Armee im Zuge einer Frontbegra- Durch die Ereignisse der ersten Monate digung freiwillig etwa 40 km zurückzog und gewann der Krieg in der französischen Öffent- dabei eine Politik der verbrannten Erde prakti- lichkeit noch an Legitimität. Der Bruch der bel- zierte. gischen Neutralität, die Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerungen in Belgien und Nord- DIE FRANZÖSISCHE NATION IM KRIEG frankreich, schließlich die Zerstörung wertvoller Der Krieg fand aber nicht nur im eigenen Kulturgüter wie der Bibliothek von Löwen oder Land statt, er war – aus Sicht der großen der Kathedrale von Reims wurden in der Propa- Mehrheit der Franzosen – auch ein gerechter ganda zum Bild der „barbarischen“ Kriegfüh- Krieg. Der Kriegsausbruch entsprach einer rung der Deutschen verdichtet.11 Dies ermög- Bedrohungsanalyse, die in weiten Teilen der lichte es, alte Klischees von der zivilisatorischen Gesellschaft und über die politischen Lager- Überlegenheit der französischen Nation neu grenzen hinweg weit verbreitet war. Nicht der aufleben zu lassen.12 Zahlreiche Intellektuelle, Wunsch nach „Revanche“ stand dabei im Vor- darunter nicht nur nationalistische Schriftstel- dergrund, sondern vielmehr die Verteidigung ler wie Maurice Barrès, sondern auch Wissen- gegen einen Nachbarn, der als unberechenbar, schaftler wie der Soziologe Emile Durkheim potenziell aggressiv und wegen seiner demo- oder der Historiker Ernest Lavisse taten sich graphischen Stärke und seiner industriellen bei dieser „geistigen Mobilmachung“ hervor. Macht als strukturell überlegen angesehen Dabei wurden nicht nur alte republikanisch- wurde. In der Julikrise 1914 schienen sich die revolutionäre Ideen von einer fortschrittlichen düsteren Vorhersagen eines Clemenceau, der „Mission“ Frankreichs gegenüber den rück- schon 1912 vor dem deutschen Willen zum ständigen, monarchischen und militaristischen Krieg gewarnt hatte,8 zu bewahrheiten. Aus all- Gesellschaften Mitteleuropas (Russland tauch- gemeiner französischer Sicht kamen die Krise te in diesem Bild nicht auf) reaktiviert; auch und schließlich der Krieg dennoch völlig unvor- rassistische Vorstellungen von den moralischen bereitet. Das Attentat von Sarajewo war kaum Defiziten der „germanischen Rasse“ spielten als Bedrohung für den europäischen Frieden eine Rolle.13 Eine zentrale, staatliche Steuerung wahrgenommen worden, das Land war mit an- dieser Propaganda gab es übrigens in Frankreich deren Problemen oder schlicht mit den Sommer- ebenso wenig wie in Deutschland: Es waren die ferien beschäftigt.9 Eigene Interessen schienen Intellektuellen selbst, die auf diese Weise ihren bei der Auseinandersetzung zwischen Serbien Beitrag für die Landesverteidigung leisten woll- einerseits und Österreich-Ungarn andererseits ten; abweichende Stimmen wie die eines Romain nicht im Spiel. Dass Staatspräsident Raymond Rolland waren rar. Poincaré, wie neuere Studien gezeigt haben, wäh- Der politische Ausdruck dieser Verteidi- rend seiner Russlandreise (13.-23. Juli) durch- gungsgemeinschaft, die nicht (nur) auf Zwang aus krisenverschärfend gewirkt hatte, indem er und Indoktrination, sondern auf den geteilten dem Bündnispartner im Grunde bedingungs- Überzeugungen der großen Mehrheit der Fran- lose Unterstützung zugesichert hatte, war in zosen beruhte, war die sogenannte „union der Öffentlichkeit nicht bekannt und spielte bei sacrée“, das Bündnis aller maßgeblichen poli- den innerfranzösischen Debatten keine Rolle.10 tischen Kräfte, das bereits wenige Tage nach In den entscheidenden letzten Julitagen er- Kriegsausbruch zwischen den Parteien ge-

22 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“

schlossen wurde.14 Kern dieses Bündnisses war Lebens.17 Auch für die (vor dem Krieg strikt die Überzeugung, dass in der Stunde der existen- antimilitaristische und pazifistische) Arbeiter- ziellen Gefahr für die Nation die weltanschau- bewegung brachte die Integration in die „union lichen Unterschiede zwischen den einzelnen sacrée“ handfeste Vorteile. Zunächst verzich- Parteien zurücktreten und alle Kräfte zuguns- tete die Regierung auf Repressivmaßnahmen ten der Landesverteidigung gebündelt werden gegen sozialistische Aktivisten, von denen man müssten. Vier Punkte sind dabei hervorzuhe- Widerstand gegen den Krieg erwarten konnte. ben. Erstens: Die „union sacrée“ war vor allem Als besonders wichtig sollte sich die Übernahme negativ definiert. Es ging darum, die deutsche des Rüstungsministeriums durch den Reform- Invasion zurückzuschlagen, das Vaterland zu sozialisten Albert Thomas erweisen. Unter sei- befreien. Darüber hinausgehende Kriegsziele ner Ägide konnten die Rüstungsanstrengungen blieben bewusst ausgeklammert, und tatsächlich im Rahmen des Möglichen sozial abgefedert gingen die Vorstellungen über die zukünftige werden, die Gewerkschaften wurden gestärkt Nachkriegsordnung weit auseinander, sieht man und anerkannt, es erfolgten einige wichtige einmal von dem Sonderfall Elsass-Lothringen Weichenstellungen für die Organisation der in- ab, dessen Rückkehr zu Frankreich (verstanden dustriellen Arbeitsbeziehungen der Nachkriegs- als Revision eines früheren Unrechts) von allen zeit.18 Parteien gefordert wurde.15 Zweitens zeigte Die „union sacrée“ war somit nicht nur sich in der „union sacrée“, wie stark doch die Ideologie oder eine Phrase, sondern durchaus „Nationalisierung“ Frankreichs fortgeschritten gelebte politische Praxis. Dennoch sollte sie und wie allgemein anerkannt der Wert des den Krieg nicht überdauern: An den vielfältigen Patriotismus in der französischen Gesellschaft Belastungen des Jahres 1917 ist sie schließlich war – trotz der tiefen Gräben, die durch die poli- zerbrochen. Drei voneinander unabhängige tischen, sozialen und nicht zuletzt religiösen Aus- Phänomene kamen dabei zusammen: Der Miss- einandersetzungen zwischen den „deux France“, erfolg der großangelegten französischen Offen- den beiden Frankreich, gerissen worden waren. sive am Chemin des Dames im April (Nivelle- Diese Fähigkeit zur nationalen Einheit war Offensive), militärisch ein völliger Fehlschlag vor 1914 vielfach angezweifelt worden; umso bei enormen Verlusten (147.000 Mann in nur erstaunlicher erschien den Zeitgenossen das zwei Wochen), führte in der französischen Ar- „Wunder der inneren Einheit“ (Thomas Rai- mee zu einer massiven Krise der Kampfmoral. thel).16 Diese Einheit bedeutete drittens nicht Diese mündete in eine regelrechte Meuterei- eine De-Legitimierung der Parteien und der bewegung, die zeitweise durchaus bedrohliche innergesellschaftlichen Interessenkonflikte; sie Ausmaße annahm. Kollektiv, das war neu, führte nicht zur Ideologie einer „Volksgemein- verweigerten die Einheiten ihren Offizieren den schaft“, sondern erkannte den weltanschauli- Gehorsam; teilweise kam es auch zu gewaltsa- chen Pluralismus, der das nachrevolutionäre men Übergriffen. Frankreich geprägt hatte, ausdrücklich an. Zwi- Auch an der „Heimatfront“ entwickelten schen den Parteien sollte während des Krieges sich unübersehbare Krisensymptome. Obwohl ein „Waffenstillstand“ („trève“) herrschen. Dass die Gewerkschaft CGT weiterhin der Regie- aber Katholiken Katholiken, Sozialisten Sozia- rung vertraute, nahm nach dem harten Winter listen und Republikaner Republikaner bleiben 1916/17 die Zahl der innerbetrieblichen Kon- würden, daran bestand kein Zweifel. Schließlich flikte deutlich zu, nicht zuletzt auch unter dem bedeutete die „union sacrée“ für die bisherigen Eindruck der Februarrevolution in Russland politischen Außenseiter, insbesondere Sozialis- und der militärischen Entwicklung an der ten und Katholiken, einen wichtigen Integra- Front.19 Auch wenn die Ausmaße der Streik- tionsschub: Die aggressiv antiklerikale Politik welle begrenzt blieben, so waren sie doch der Vorkriegszeit, die 1905 zur Trennung von alarmierend, zumal zu den Forderungen der Staat und Kirche geführt hatte, wurde nicht (häufig weiblichen) Streikenden in vielen Fällen fortgeführt; gesellschaftlich kam es kriegsbe- ein baldiger Friedensschluss zählte. Wie dieser dingt sogar zu einer Renaissance des religiösen Frieden aussehen sollte, blieb dabei extrem

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 23 DANIEL MOLLENHAUER

vage. Unübersehbar aber war, dass die Arbeiter im Jargon der Soldaten und der Kriegspropa- den Eindruck gewannen, ihre Regierung enga- ganda, letztlich an dem Elend die Schuld trage, giere sich nicht genug dafür, dem mörderischen einte die französische Nation auch über das Krieg ein Ende zu setzen. Krisenjahr 1917 hinweg. Diese Einheitserfah- Schließlich wuchs auch in der sozialisti- rung war, ungeachtet aller ideologischen Über- schen Partei der Anteil derer, die der Regierung höhungen, die zweite Grundtatsache dieses eine Abkehr von den defensiven Kriegszielen Krieges – die zweite Antwort auf die eingangs und mangelnden Friedenswillen vorwarfen. Die gestellten Fragen nach den Gründen für die tiefe verschiedenen (mehr oder weniger seriösen) Verankerung der „Grande Guerre“ im kollekti- Friedensinitiativen seitens der Mittelmächte ven Gedächtnis der französischen Nation. oder neutraler Akteure waren in Paris auf taube Ohren gestoßen. Noch gravierender war, dass TRIUMPH UND TRAUER: im Laufe des Jahres 1917 geheime Verhandlun- AMBIVALENZEN DES SIEGES gen der Alliierten über die Kriegsziele ans Licht Letztlich also haben die französische Nation der Öffentlichkeit gelangten, in denen die Re- und auch (was vielleicht noch weniger zu er- gierung Briand deutlich annexionistische Am- warten war bzw. erwartet wurde) die französi- bitionen gezeigt hatte. Die „union sacrée“ war sche Republik die Bewährungsprobe des Krie- diesen Belastungen nicht mehr gewachsen – im ges bestanden. Die sogenannte Heimatfront hat September zogen die Sozialisten ihre Minister gehalten, allen Entbehrungen zum Trotz, die aus der Regierung zurück.20 Mit der Ernennung zivilen republikanischen Institutionen haben Georges Clemenceaus zum Regierungschef kurze auch unter den Bedingungen des Krieges funk- Zeit später war innenpolitisch ein Wendepunkt tioniert und an der militärischen Front konnte erreicht: Denn anders als seine Vorgänger stand selbst die letzte große deutsche Offensive im für den nun schon 76-jährigen Politiker nicht Frühjahr 1918 erfolgreich abgewehrt werden. die Integration der Nation im Vordergrund, Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes sondern allein die Mobilisierung für den Krieg. am 11. November 1918 ging der Krieg zu Ende, Dies schloss auch ein rigoroses Vorgehen gegen und Frankreich zählte zu den Siegern. Sobald tatsächliche oder vermeintliche „innere Feinde“ das Ereignis in der Öffentlichkeit bekannt mit ein: Spionen, Verrätern sowie Defaitisten wurde, strömten die Menschen zu Tausenden wurde der Prozess gemacht.21 Mit seinem auto- auf die Straßen, die Kirchenglocken läuteten im ritären Politikstil brach er zudem mit der etab- ganzen Land und die Abgeordnetenkammer lierten politischen Kultur der Vorkriegszeit. huldigte Regierungschef Georges Clemenceau, Die Krise des Jahres 1917 darf jedoch nicht von nun an „Père la Victoire“ genannt, der mit darüber hinwegtäuschen, dass der Grundkon- stehenden Ovationen gefeiert wurde. Gut ein sens über den Krieg, der sich seit 1914 her- halbes Jahr später, am 14. Juli 1919, fand die ausgebildet hatte, bestehen blieb. Weder den offizielle Siegesfeier statt; ein kilometerlanger meuternden Soldaten noch den streikenden Triumphzug der Armee vor Hunderttausenden Arbeiterinnen und Arbeitern noch den opponie- von Zuschauern bewegte sich durch die Stra- renden Sozialisten ging es bei ihren Aktionen ßen von Paris. Sie markierte den Beginn einer darum, die Kriegsanstrengungen einzustellen Weltkriegserinnerung im Modus der Helden- und ihre Forderungen zur Not auch unter In- verehrung und der Glorifizierung der eigenen kaufnahme der militärischen Niederlage durch- Nation. In dieser Sicht hatte der Krieg die Über- zusetzen. „Frieden um jeden Preis“ war bei den legenheit des eigenen Volkes und der eigenen Gruppen und Individuen, die man als „Pazifis- Werte bestätigt; Selbstkritik und Empathie für ten“ bezeichnete, genauso wenig mehrheits- den Gegner hatten in ihr keinen Platz. fähig wie „Revolution um jeden Preis“ bei den Der Triumphalismus, der hier zum Ausdruck linken Sozialisten. Die Überzeugung, dass das kam, war jedoch nur eine Seite der Medaille. Vaterland verteidigt werden muss, dass der Denn der Sieg trug Trauer:22 Niemand konnte, „Eindringling“ vom französischen Boden zu ver- bei aller Freude und allem Stolz über den treiben ist und dass der Deutsche, „le boche“ glücklichen Kriegsausgang, die humanitären

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Kosten des Sieges übersehen. Zu präsent, zu beseitigt, Gebäude repariert oder erneuert, die allgegenwärtig waren die Opfer. Noch heute Infrastruktur neu aufgebaut werden. Allein im kann man sich ein Bild von den ungeheuren Département Somme waren 205 Dörfer voll- Verlusten machen, wenn man die langen Na- ständig, weitere 176 Dörfer teilweise zerstört, menslisten auf den Kriegerdenkmälern selbst weit über 50.000 Häuser waren betroffen.25 kleinster Dörfer des ländlichen Frankreichs be- Der innerste Kern der Kampfgebiete, ein Streifen trachtet. Zu den Toten kamen die, die schwere von 10-25 Kilometer Breite, wurde zur „zone oder schwerste Verwundungen an Körper oder rouge“, einer (vermeintlich) auf immer unbe- Seele davongetragen hatten; die (vielfach noch wohnbaren Zone, erklärt. Überall an der ehe- jungen) Invaliden, denen Gliedmaßen ampu- maligen Front zeugten (und zeugen) riesige tiert worden waren, die Gesichtsverletzten, die Soldatenfriedhöfe von den Kämpfen, die hier unter ihren Verstümmelungen psychisch in stattgefunden haben. Vielerorts ließen die Regie- besonderem Maße litten, die schwer Traumati- rungen der Alliierten monumentale Denkmäler sierten, die die Erinnerung an die Kriegserleb- errichten, die an die Schlachten und ihre Opfer nisse – das Artilleriefeuer, das Giftgas, den erinnern sollten – Briten in Thiepval an der Nahkampf, das Leid und den Tod der Kamera- Somme, Amerikaner in Montfaucon in den den – nicht mehr losließ. Die Statistiken kön- Argonnen, Frankreich etwa in Notre-Dame-de- nen das individuelle Leid, das sich hinter den Lorette (Flandern), in Verdun und am Hart- nackten Zahlen verbirgt, nicht abbilden. Aber mannswillerkopf (frz. „Vieil Armand“) in den sie sprechen für sich: Insgesamt waren während Vogesen. Die Westfront wandelte sich vom des Krieges 1.383.000 französische Soldaten „Kriegsschauplatz“ zum „Gedächtnisraum“, gefallen (dies ergibt einen Durchschnitt von so die prägnante Formulierung von Susanne fast 900 pro Tag); in einigen Jahrgängen, vor Brandt.26 allem denjenigen, die bei Kriegsausbruch die Die Ambivalenz von Triumph und Trauer aktive Armee stellten, betrug die Verlustquote beherrschte die französische Erinnerungskultur bis zu 25 %.23 Prozentual waren die Verluste der 1920er- und 1930er-Jahre; staatliches, kom- der französischen Armee deutlich höher als die munales, militärisches, zivilgesellschaftliches und der deutschen, was sicher auch eine Folge der privates Gedenken wirkten dabei zusammen Offensivstrategie in den ersten drei Kriegsjah- (ohne jedoch immer am gleichen Strang zu zie- ren war. 300.000 Männer galten als schwerst hen). Eine zentrale Rolle spielten die Verbände kriegsversehrt, 700.000 Kinder waren verwaist, der ehemaligen Frontkämpfer, die erfolgreich 600.000 Frauen waren zu Witwen geworden.24 (und mit einigem Recht) für sich reklamierten, Für die traditionell schwache französische De- die Stimme der „poilus“ zu repräsentieren. mographie (das ganze 19. Jahrhundert über Antoine Prost hat geschätzt, dass Ende der war die Geburtenrate Frankreichs die niedrigs- 1920er-Jahre um die 3 Millionen Männer Mit- te in ganz Europa) war dies eine Katastrophe, glieder in einem der zahlreichen Verbände wa- deren Folgen noch nach vielen Jahren zu spü- ren, aus denen sich die Bewegung zusammen- ren waren. Aber auch die kurzfristigen sozialen setzte – die „Anciens combattants“ waren eine Konsequenzen waren enorm: Es waren Invali- regelrechte Massenbewegung, deren Stimme den-, Witwen und Waisenrenten zu zahlen, der Gewicht hatte.27 Dezidiert stellten sie die Trauer Arbeitskräftemangel musste kompensiert wer- um die Opfer in den Vordergrund des Geden- den. kens. In ihren Augen war es der „citoyen- Dazu kamen die materiellen Verwüstungen, soldat“, der Bürger in Uniform, der Frankreich die der Krieg hinterlassen hatte. Der Wieder- durch sein Opfer („sacrifice“) vor dem Unter- aufbau der durch den Krieg und die Besatzung gang gerettet hatte, nicht der Staat und die Re- zerstörten Regionen zog sich ebenfalls über gierung, nicht die Armee und der Generalstab. Jahre hin, so dass die Wunden des Krieges noch Das Credo der Veteranen war antimilitaristisch viele Jahre sichtbar blieben. Nur langsam kehr- und pazifistisch. Der hinter ihnen liegende Krieg te die evakuierte oder geflohene Bevölkerung hatte in ihren Augen nur dann einen Sinn, zurück. Trümmer und Kriegsmaterial mussten wenn es der letzte gewesen ist. Auf Veranlas-

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sung der Veteranen war schon 1922 der zu beurteilen? Ist die Armeeführung verantwor- 11. November, also der Tag des Waffenstill- tungslos mit dem Leben der ihnen anvertrauten standes, zum staatlichen Gedenktag „des Sieges Soldaten umgegangen, hat sie das „Menschen- und des Friedens“ erhoben worden. In den fol- material“ sinnlos „verheizt“? Ähnlich kontro- genden Jahren legten sie größten Wert darauf, vers wurde die Frage debattiert, welche Konse- das Gefallenengedenken in den Mittelpunkt quenzen aus dem Krieg zu ziehen seien: Sollte der Feiern zu rücken, und zwar mit Erfolg.28 Es man dem unterlegenen Deutschland mit Härte entwickelte sich ein Gedenkritual, dessen Kern- begegnen oder sollte man dem republikanisch element die Versammlung der Gemeinde vor gewordenen Nachbarn eine Chance geben, sich dem örtlichen Kriegerdenkmal (auf Französisch in die internationale Völkergemeinschaft zu bezeichnenderweise „monument aux morts“, integrieren? War der Versailler Friedensvertrag also Gefallenendenkmal genannt) war. Diese zu hart (wie man auf der politischen Linken waren dank staatlicher Subventionen und öf- meinte)? Oder etwa zu sanft (wie die nationa- fentlicher Spendensammlungen in den 1920er- listische Rechte kritisierte)? Konnte es ein ein- Jahren in nahezu allen Kommunen des Landes faches Zurück zu dem liberal-republikanischen errichtet worden.29 Die Spannung zwischen Parlamentarismus der Vorkriegszeit geben? Nun „Sieg“ und „Trauer“ lässt sich auch in ihrer gab es durchaus auch Stimmen, die das Wie- Gestaltung und den Inschriften leicht wieder- deraufleben des Parteienstreits in den 1920er- finden. Das Spektrum war außerordentlich breit. und 1930er-Jahren für einen „Verrat“ an dem Ausgesprochene Siegesdenkmäler, erkennbar Einheitserlebnis der Schützengräben hielten an den Symbolen des französischen Triumphes und die die „union sacrée“ antiparlamentarisch und der deutschen Niederlage sowie einer viril- gegen die Parteien als Interessenvertretung von heroischen Darstellung der Soldaten, bildeten (legitimen) Partikularinteressen wendeten. das eine Extrem; hier fielen die Soldaten „glor- Die populäre Erinnerung an den Krieg blieb reich“ oder „heroisch“ für das Vaterland, die von diesen politischen Debatten jedoch weit- Nation oder Frankreich im Kampf gegen die gehend unberührt; ein Minimalkonsens blieb „Barbarei“. Das andere Extrem repräsentierten über die politischen Lager hinweg bestehen, die (wenigen) radikal pazifistischen Denkmäler, dessen Kern der Stolz auf die „Bewährung“ der in denen dem Krieg insgesamt jede Legitimität eigenen Nation im Krieg und der Respekt vor abgesprochen wurde. Hier wurde nicht nur ge- den Opfern blieb. Dieser Grundkonsens wurde trauert, sondern auch angeklagt („maudite soit auch durch die Erfahrung des Zweiten Welt- la guerre“ – „verflucht sei der Krieg“; so die krieges und der „dunklen Jahre“ der Okkupa- Inschrift auf dem Denkmal von Gentioux). Da- tion und Kollaboration nicht grundlegend er- zwischen lagen zahlreiche feine Abstufungen; schüttert, im Gegenteil. Der Erste Weltkrieg die Regel aber war, dass das Leid der Opfer – blieb die Referenz, das Modell des modernen das der gefallenen oder verletzten Soldaten und Massenkrieges, der „richtige“ Krieg, der Krieg, das der Hinterbliebenen – nicht verschleiert, mit dem das 20. Jahrhundert und die Verwer- sondern offen gezeigt wurde. Vielfach findet fungen der Moderne begonnen haben, der An- man ausgesprochen realistische Darstellungen fang des zweiten „30-jährigen Krieges“, wie de aus dem Kriegsalltag; und auch das Sterben der Gaulle gesagt hat. Soldaten ist kein Tabu, im Gegenteil. Die Nachkriegszeit war somit durch einen 1914-2014: WELTKRIEGSGEDENKEN HEUTE ausgesprochenen Pluralismus der Kriegsdeutun- Von den „anciens combattants“, die so lange gen geprägt. Scheinbare Gewissheiten wurden die Träger des Weltkriegsgedenkens waren, ist in Frage gestellt: War Frankreich tatsächlich so heute, 100 Jahre nach Beginn der Kämpfe, nie- unschuldig am Kriegsausbruch, wie man ange- mand mehr am Leben. Dennoch ist der Krieg nommen hatte? Wie war die Rolle von Staats- im kollektiven Gedächtnis der Nation weiterhin präsident Raymond Poincaré (von einem Teil erstaunlich präsent. Laut Nicolas Offenstadt, der Öffentlichkeit mit beißender Kritik nur noch der mit seinem Buch „14-18 aujourd’hui“ eine „Poincaré-la-guerre“ genannt) in der Julikrise Art Bestandsaufnahme der verschiedenen For-

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men der Erinnerung vorgelegt hat, ist derzeit militärischen Führer, nicht die verantwortlichen geradezu eine Renaissance des Interesses für Politiker stehen im Zentrum des Interesses, son- den Krieg, den die Ur- oder Ururgroßväter der dern die einfachen Soldaten, die die unmensch- heute Erwachsenen in den Gräben bei Verdun, lichen Lebensbedingungen in den Schützengrä- Reims, Soissons oder Arras geführt haben, zu ben ertragen mussten und von denen so viele erkennen. Zu dieser Renaissance zählt das ge- den Krieg nicht überleben sollten. Dieses Op- nealogische Interesse von Privatleuten an der fergedenken ist weitgehend entpolitisiert. Die Kriegserfahrung der eigenen Vorfahren ebenso Opfer und die Sache, für die sie gefallen sind, wie das lokalhistorische Interesse von Ge- werden dabei künstlich getrennt, und dass die schichtsvereinen (vor allem in den Regionen Soldaten selbst Teil der „Kriegskultur“ gewesen der Front), die sich um die Instandhaltung des sind, gerät aus dem Blick. Zweitens ist das materiellen Erbes („patrimoine“) der großen neue Interesse für den Ersten Weltkrieg geprägt Schlachten kümmern. Auch in der Populärkul- durch Internationalisierung und Europäisierung. tur ist der Krieg präsent: Filme wie Jean-Pierre Als Ressource im politischen Diskurs dient der Jeunets „Un long dimanche de fiançailles“ Erste Weltkrieg nur noch als Negativfolie, vor (dtsch.: „Mathilde – eine große Liebe“), die der die Erfolgsgeschichte der europäischen Graphic Novels von Jacques Tardi („Putain de Einigung umso heller leuchten kann. Vielfach guerre“ u. a.) oder dem Autorenduo Kris und sind daher in den letzten Jahren Initiativen zu Maël („Notre mère la guerre“) oder Romane beobachten, in denen der enge nationalstaatli- wie zuletzt Jean Echenoz’ „14“ finden auch bei che Fokus überwunden wird. Dies ist etwa im einem breiteren Publikum großen Anklang, „Historial de la Grande Guerre“ in Péronne der selbst die zeitgenössische Musik macht keine Fall; am Hartmannswillerkopf in den Vogesen Ausnahme.30 Und nicht zuletzt in der Politik ist soll 2015 eine neue Gedenkstätte explizit als der Krieg ein Thema geblieben, etwa, wenn es deutsch-französischer Erinnerungsort eingeweiht um die Frage einer möglichen Rehabilitierung werden. Auch auf der politischen Ebene sind der hingerichteten Deserteure oder Meuterer zahlreiche Begegnungen führender Staatsmän- geht, wie sie 1997 der damalige Ministerpräsi- ner und -frauen geplant, die prominent von dent Lionel Jospin ins Gespräch gebracht hatte, dieser neuen supranationalen Perspektive auf oder wenn es um die Integration der ehemali- den Krieg zeugen. So ist es nicht ausgeschlos- gen Kolonialtruppen in das Weltkriegsgedenken sen, dass sich der „Große Krieg“, der bisher ein geht. nationaler Erinnerungsort par excellence war, Der hundertste Jahrestag des Kriegsbeginns langsam zu einem europäischen Erinnerungsort wird, das lässt sich jetzt schon mit Gewissheit wandeln wird. sagen, erneut von der Vitalität der Kriegserin- nerung in Frankreich zeugen.31 Der Große ||||| DR. DANIEL MOLLENHAUER Krieg ist heute allerdings nicht mehr deshalb Lehrkraft für besondere Aufgaben, Historisches interessant, weil er in einem unmittelbaren Zu- Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität, sammenhang mit der Gegenwart steht und da- München durch „Lehren“ für deren Bewältigung zur Ver- fügung stellt. Im Gegenteil, er fasziniert, gerade weil er so fremd geworden ist. In zwei weiteren Punkten unterscheidet sich das heutige Geden- ken von der lebendigen Erinnerung der Zeit- zeugengeneration. Der neue Gedenkboom re- flektiert erstens einen grundsätzlichen Wandel der Erinnerungskultur, der in einem engen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah steht: nämlich die Hinwendung zu den Opfern der massenhaften Gewalt, die das 20. Jahrhundert geprägt hat. Nicht die

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10 ANMERKUNGEN Schmidt, Stephan: Frankreichs Außenpolitik in der

Julikrise 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Aus- 1 Offenstadt, Nicolas: Die „derniers poilus“. Zur bruchs des Ersten Weltkrieges, München 2009. identitätsstiftenden Kraft von Kriegsveteranen im 11 Horne, John / Kramer, Alan: Deutsche Kriegsgreuel zeitgenössischen Frankreich, in: Burgfrieden und 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004. Union sacrée. Literarische Deutungen und politische 12 Zu den Feindbildern vgl. Jeismann, Michael: Das Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frank- Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen reich 1914-1933, hrsg. von Wolfram Pyta und Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland Carsten Kretschmann, München 2011, S. 313-328; und Frankreich, 1792-1918, Stuttgart 1992. Hopquin, Benoît: Lazare Ponticelli, Le dernier poilu 13 français, in: Le Monde, 12.3.2008. Jurt, Joseph: Frankreichs engagierte Intellektuelle. 2 Von Zola bis Bourdieu, Göttingen 2012, S. 63-80. Vgl. Kloth, Hans Michael: Der leise Tod des letzten 14 Veteranen, in: Spiegel-online, 24.1.2008, http:// Zum Gesamtzusammenhang vgl. Pyta, Wolfram / www.spiegel.de/einestages/erster-weltkrieg-a-9465 Kretschmann, Carsten (Hrsg.): Burgfrieden und 60.html, Stand: 30.3.2014; vgl. auch Weinrich, Union sacrée, München 2011 (= Historische Zeit- Arndt: Der Centenaire und die deutsch-französi- schrift, Beiheft 54). 15 schen Beziehungen, http://grandeguerre.hypothes Zu den französischen Kriegszielen vgl. Stevenson, es.org/143, Stand: 30.3.2014. David: French War Aims against Germany 1914- 3 Überblicksdarstellungen zur Thematik, auf die sich 1919, Oxford 1982. 16 auch dieser Beitrag stützt, sind u. a. Becker, Jean- Vgl. zum Gesamtzusammenhang Audoin-Rouzeau, Jacques / Krumeich, Gerd: Der Große Krieg. Stéphane /Becker, Jean-Jacques: La France, la na- Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg tion, la guerre: 1850-1920, Paris 1995; Raithel, 1914-1918, Essen 2010; Audoin-Rouzeau, Stépha- Thomas: Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studi- ne / Becker, Annette / Smith, Leonhard V.: France en zur deutschen und französischen Öffentlichkeit and the Great War 1914-1918, Cambridge 2003; zu Beginn des Ersten Weltkriegs, Bonn 1996. Duroselle, Jean-Baptiste: La Grande Guerre des 17 Becker, Annette: La guerre et la foi. De la mort à la Français. L’incompréhensible, Paris 1994. Aus ver- mémoire, 1914-1930, Paris 1994; Hoffmann, Mi- gleichender Perspektive ungemein anregend: Leon- chael: Die französischen Katholiken und der Erste hard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte Weltkrieg. Die Rückkehr aus der Sondergesellschaft, des Ersten Weltkriegs, München 2014. in: Burgfrieden und Union sacrée. Literarische Deu- 4 Die Formel garniert in verschiedensten Variationen tungen und politische Ordnungsvorstellungen in zahlreiche Artikel Clemenceaus, z. B. La seule Deutschland und Frankreich 1914-1933, hrsg. von question, in: L’homme enchaîné, 11.2.1916, S. 1. Wolfram Pyta und Carsten Kretschmann, München 5 2011, S. 85-108. Brandt, Susanne: Vom Kriegsschauplatz zum Ge- 18 dächtnisraum. Die Westfront 1914-1940, Baden- Grossheim, Heinrich: Sozialisten in der Verantwor- Baden 2000; Bourne, John M.: Art. Westfront, in: tung. Die französischen Sozialisten und Gewerk- Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs, hrsg. von schafter im Ersten Weltkrieg 1914-1917, Bonn 1978. Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Paderborn 19 Zu den Streiks Duroselle: La Grande Guerre des 2003, S. 960-967. Français, S. 197-202. 20 6 Krumeich, Gerd: Der Mensch als „Material“. Verdun, Grossheim: Sozialisten in der Verantwortung. 21. Februar bis 9. September 1916, in: Schlachten 21 Zu Georges Clemenceau vgl. den Sammelband Brod- der Weltgeschichte, hrsg. von Stig Förster, Markus ziak, Sylvie / Fontaine, Caroline (Hrsg.): Georges Pöhlmann und Dierk Walter, München 2004, Clemenceau et la Grande Guerre, 1906-1929, Paris S. 295-305; Münch, Matti: Verdun. Mythos und 2010; zur Jagd auf Spione und „innere Feinde“ Alltag einer Schlacht, München 2006; Prost, Antoine: Bavendamm, Gundula: Spionage und Verrat. Kon- Verdun, in: Les Lieux de mémoire, Bd. 2, hrsg. von spirative Kriegserzählungen und französische Innen- Pierre Nora, Paris 1997, S. 1755-1780; Jessen, Olaf: politik 1914-1917, Essen 2004. Verdun 1916, München 2014. 22 „La victoire endeuillée“ hat Bruno Cabanes sehr zu 7 Becker, Annette: Les cicatrices rouges 14-18. France Recht seine wichtige Studie über die Demobilisierung et Belgique occupées, Paris 2010; Nivet, Philippe: der französischen Soldaten in den Jahren 1919/20 La France occupée 1918-1918, Paris 2011. betitelt; Cabanes, Bruno: La victoire endeuillée. La 8 Vgl. Mollenhauer, Daniel: Sous le canon d’Agadir. sortie de guerre des soldats français (1918-1920), Clemenceau et le raidissement de 1911, in: Georges Paris 2004. Clemenceau et la Grande Guerre, hrsg. von Sylvie 23 Zahlen nach Audoin-Rouzeau / Becker / Smith: Brodziak und Caroline Fontaine, Paris 2010, S. 67-82. France and the Great War, S. 69. 9 Becker, Jean-Jacques: 1914, comment le Français 24 Zahlen nach Krumeich / Becker: Der Große Krieg, sont entrés dans la guerre, Paris 1977. S. 305-306.

28 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“

25 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Collectif: Recons- tructions en Picardie après 1918, Paris 2000; Zah- len nach Lobry, Gérard: La vie au „provisoire“, in: Reconstructions en Picardie après 1918, von Collectif, Paris 2000, S. 34-49, hier S. 35. 26 Brandt: Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnis- raum; Bourne: Art. Westfront, in: Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs, S. 960-967. 27 Prost, Antoine: Les Anciens combattants, 1914-1939, Paris 1977, S. 67. 28 Dalisson, Remi: 11 novembre. Du souvenir à la mémoire, Paris 2013. 29 Becker, Annette: Les Monuments aux morts. Patrimoine et mémoire de la Grande Guerre, Paris 1988; Rive, Philippe (Hrsg.): Monuments de mémoire. Les monuments aux morts de la Première Guerre Mondiale, Paris 1991; Prost, Antoine: Les monuments aux morts. Culte républicain? Culte civique? Culte patriotique?, in: Les Lieux de mémoire, Bd. 1, hrsg. von Pierre Nora, Paris 1997, S. 199-223. 30 Offenstadt, Nicolas: 14-18 aujourd’hui. La Grande Guerre dans la France contemporaire, Paris 2010, S. 13-100. 31 Einen Eindruck vermittelt etwa das Werk von Jeanneney, Jean-Noël: La Grande Guerre, si loin, si proche. Réflexions sur un Centenaire, Paris 2013, vgl. auch den vom damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Auftrag gegebene Bericht des Senators Joseph Zimet zu dem Stand der Planungen, in deutscher Sprache unter: www.grandeguerre.hypo theses.org/359, Stand: 5.4.2014.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 29

1919-1939: FRANKREICHS SICHERHEIT DURCH HEGEMONIE?

ROLAND HÖHNE ||||| Seit der Niederlage von 1870/71 und der Gründung des Deutschen Reiches fühlten sich die Franzosen von Deutschland bedroht. Grundlage dafür bildeten das negative Deutsch- landbild und die wachsende wirtschaftliche und militärische Macht des östlichen Nachbarn.

DIE TRADITIONEN DER gespielt, den Versailler Vertrag aber nicht rati- FRANZÖSISCHEN AUßENPOLITIK fiziert. 3 Sie waren zwar grundsätzlich an der Aus der Sicht der französischen Eliten, insbe- Wahrung der europäischen Nachkriegsordnung sondere der publizistischen, waren die Deutschen interessiert, wollten sich jedoch nicht für diese brutal, aggressiv, militaristisch, nationalistisch aktiv engagieren. Sie zogen ihre Truppen aus und treulos. Aufgrund ihres Volkscharakters, Europa zurück und traten dem Völkerbund ihrer numerischen, wirtschaftlichen und militä- nicht bei. rischen Stärke bildeten sie eine tödliche Gefahr, Frankreich sah sich daher gezwungen, seine vor der sich Frankreich nur durch die Optimie- Sicherheit mit eigenen Mitteln zu organisieren. rung seiner militärischen Kräfte und durch Es tat dies, indem es weiterhin umfangreiche Bündnisse schützen könne. 1 Neben dem sich Streitkräfte unterhielt, seinen Rüstungsvorsprung daraus ergebenden Streben nach Sicherheit be- gegenüber Deutschland wahrte und sich um hauptete sich jedoch das Streben nach europäi- den Abschluss von Bündnissen in Ostmittel- scher Vorherrschaft. Es speiste sich aus einem europa bemühte. Es rechtfertigte diese Politik Geschichtsbild, das sich an französischer Macht mit sicherheitspolitischen Argumenten. Frank- und Größe seit Ludwig XIV. orientierte. Beide reichs Streitkräfte müssten in der Lage sein, Traditionen haben die französische Deutsch- Deutschland durch die Drohung oder die An- land- und Europapolitik in der Zwischenkriegs- wendung von Gewalt zur Erfüllung des Frie- zeit stark beeinflusst. densvertrages zu zwingen und, falls dies nicht gelinge, einen eventuellen deutschen Angriff DIE ORGANISATION DER SICHERHEIT bereits an der Grenze abwehren zu können. Die Bei der Organisation seiner Sicherheit nach militärische Situation vom Spätsommer 1914 dem I. Weltkrieg rechnete Frankreich zunächst dürfe sich nicht wiederholen, da Frankreich mit der weiteren Unterstützung seiner Kriegs- diesmal nicht mit einem russischen Entlastungs- verbündeten, insbesondere Großbritanniens. Es angriff rechnen könne und eine erneute britische strebte daher den Abschluss eines französisch- Intervention ungewiss sei. britischen Sicherheits- und Garantiepaktes an. Die französische Führung vertraute jedoch Die Briten waren jedoch dazu nicht bereit, weil nicht nur militärischer Macht, sondern suchte sie sich nicht an die französische Nachkriegs- Frankreichs Sicherheit auch durch wirtschaftli- politik binden wollten. 2 Frankreich zählte ur- che Stärke abzusichern. Diese betrachtete es sprünglich auch auf die USA. Diese hatten bei sowohl zum Unterhalt eines glaubwürdigen den Friedensverhandlungen eine wichtige Rolle Drohpotentials als auch für die wirtschaftliche,

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 31 ROLAND HÖHNE

speziell finanzielle Durchdringung Ostmittel- Frankreich resultierenden Gefahren zu bannen, europas für erforderlich. Man war sich der hätten sich schon die französischen Könige seit Diskrepanz zwischen dem französischen und Franz I. (1515-1547) bemüht, das „europäische dem deutschen Wirtschaftspotential durchaus Gleichgewicht“ durch „östliche Gegengewichte“ bewusst. Deshalb strebte man im Westen die zu erhalten. Die Aufgabe dieser Politik durch wirtschaftliche Anbindung des Saargebietes Napoleon III. habe 1866 zum preußischen Sieg und des Rheinlandes an Frankreich sowie den über Österreich geführt, dessen Folge die fran- Abschluss von Handelsabkommen mit den ost- zösische Niederlage von 1870/71 gewesen sei. mitteleuropäischen Nachfolgestaaten der Habs- Von Sadowa (Königgrätz) habe ein direkter Weg burgermonarchie und des Zarenreiches an. Die nach Sedan geführt. Wenngleich diese Konti- französische Diplomatie konnte sich dabei auf nuitäts- bzw. Kausalkette wissenschaftlich nicht die Interessen einflussreicher Wirtschaftskreise haltbar war, so trug sie doch erheblich zur Le- stützen. Die Finanz- und Handelspolitik der gitimation der französischen Ostmitteleuropa- USA und Großbritanniens gegenüber Deutsch- politik bei und verschaffte ihr die notwendige land betrachtete sie als gefährlich, da sie den innenpolitische Unterstützung. wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands Mit dem wichtigsten ostmitteleuropäischen förderte, der in Paris als potentielle Bedrohung Nachkriegsstaat, Polen, schloss Frankreich be- galt. reits im Februar 1921 umfangreiche Wirtschafts- Eine zentrale Rolle in diesem Sicherheitskon- verträge, die im Februar 1922 in Kraft traten, zept spielte die Reparationspolitik. Deutsche sowie eine geheime Militärkonvention. Die ein- Reparationen sollten die strukturelle Schwäche zelnen wirtschaftlichen und militärischen Ab- der französischen Wirtschaft – insbesondere die machungen wurden dann 1924 durch ein offi- unzureichende Energiebasis der Schwerindustrie zielles Bündnis vertraglich abgesichert. Dadurch (Koks, Kohle) – ausgleichen, zum Aufbau der gewann Frankreich ein beachtliches östliches zerstörten Gebiete beitragen, die Rückzahlung „Gegengewicht“ gegen Deutschland, das jedoch der interalliierten Kriegsschulden an Großbri- Russland in keiner Weise ersetzten konnte. tannien und die USA erleichtern, die Steuerlast Polen besaß weder dessen Einwohnerzahl noch der französischen Bevölkerung mindern und die dessen Ressourcenreichtum und strategische wirtschaftliche Erholung des besiegten Gegners Tiefe. Außerdem hatte es mit zahlreichen in- verlangsamen. Die Reparationen hatten somit neren, insbesondere ethnischen und sozialen eine außen- und sicherheitspolitische und auch Problemen zu kämpfen und war mit all seinen eine innergesellschaftliche Funktion. Das ver- Nachbarn wegen territorialer Konflikte verfein- bindende Element bildete die Finanzpolitik.4 det. Als dessen Bündnispartner wurde Frank- Frankreich bemühte sich darum, seine Si- reich besonders mit den äußeren Problemen cherheit auch durch Bündnisse im Osten abzu- belastet.5 Dies komplizierte nicht nur sein Ver- sichern. Da Russland infolge von Revolution und hältnis zu Deutschland, sondern auch zur Sow- Bürgerkrieg als Bündnispartner entfiel, suchte jetunion und zur Tschechoslowakei. es die ostmitteleuropäischen Staaten nicht nur Letztere besaß eine strategische Schlüssel- politisch, sondern auch militärisch, wirtschaft- stellung für den Donauraum. Als Ersatz für die lich und kulturell eng an sich zu binden. Diese zerbrochene Habsburgmonarchie plante die sollten eine deutsche Ostexpansion verhindern französische Diplomatie zunächst die Schaffung und zusätzlich das sowjetische Russland als einer Donaukonföderation mit Ungarn als Kern. „cordon sanitaire“ von Europa fernhalten. Es Dieser Plan scheiterte jedoch am Widerstand begründete diese Bestrebungen sowohl mit der ungarischen Nachbarstaaten Tschechoslo- geopolitischen als auch mit historischen Argu- wakei, Rumänien und Jugoslawien, die sich vor menten. Deutschland werde zunächst versu- dem ungarischen Revisionismus fürchteten.6 chen, die Nachkriegsordnung in Ostmitteleuro- Auf Betreiben des tschechischen Außenminis- pa zu revidieren, um dieses seiner Kontrolle zu ters Benesch schlossen sich diese stattdessen in unterwerfen. Es folge damit den traditionellen den Jahren 1920/21 durch bilaterale Bündnisse Linien seiner Ostexpansion. Um die daraus für in der „Kleinen Entente“ zusammen. Diese war

32 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 1919-1939: FRANKREICHS SICHERHEIT DURCH HEGEMONIE?

primär gegen Ungarn gerichtet und sollte insge- Die Bilanz der französischen Bemühungen samt eine Restauration der Habsburgermonar- um die Schaffung eines kontinentaleuropäischen chie verhindern. Frankreich intensivierte dar- Sicherheitssystems unter französischer Führung aufhin seine bilateralen Beziehungen zu deren in den ersten Nachkriegsjahren war zwiespältig. Mitgliedern und bemühte sich, deren Interes- Einerseits gelang es Paris, die Länder der Klei- senkonflikte zu schlichten und ihr Verhältnis nen Entente sowie Polen eng an sich zu binden zu Polen zu verbessern. und die österreichische Selbständigkeit zu stär- 1924 schloss es einen politischen Pakt mit ken. Frankreich wurde so zur Vormacht auf dem der Tschechoslowakei, der sich gegen Deutsch- europäischen Kontinent. Andererseits fehlten land richtete, aber auf tschechoslowakisches ihm aber die Mittel, um diese Länder auch Drängen keine Militärkonvention enthielt. Prag wirtschaftlich und finanziell zu durchdringen strebte zwar französischen Beistand gegen einen und sie so von sich abhängig zu machen. Ferner eventuellen deutschen Angriff an, wollte sich belastete es sich mit den vielfältigen Problemen jedoch nicht wie Polen zu eng an Frankreich dieser Region. Dadurch vertiefte es nicht nur binden, um seine Beziehungen zu Großbritan- den Gegensatz zu Deutschland, sondern auch nien nicht zu belasten, auf dessen Finanzhilfe zur Sowjetunion und komplizierte sein Verhält- es angewiesen war.7 Mit Rumänien und Jugo- nis zu Italien und zu Großbritannien. slawien schloss Frankreich zwar keine Militär- Nach dem Scheitern der Ruhrbesetzung bündnisse, wohl aber Handelsverträge und Fi- (1923) ging es ihm daher nicht mehr um die nanzabkommen. Mit Rücksicht auf die prekäre Schaffung eines unter französischer Führung Finanzsituation weigerten sich jedoch die fran- stehenden europäischen Kontinentalsystems, zösischen Parlamentarier, die notwendigen Kre- sondern um die Stärkung der Beziehungen zu dite zu bewilligen. Die Beziehungen zu beiden den einzelnen ostmittel- und südosteuropäi- Ländern wurden daher nicht so eng wie zu Polen schen Staaten, insbesondere zu Polen und der und, mit Abstand, zur Tschechoslowakei. „Kleine Entente“ sowie um die Beilegung ihrer Als Ergänzung seiner Beziehungen zur zahlreichen bilateralen Konflikte. Die Funkti- „Kleinen Entente“ suchte Frankreich auch die onsfähigkeit dieser Bündnisse hing im hohen Unabhängigkeit Österreichs zu stärken, um Maße von seiner Handlungsfähigkeit und sei- dessen Anschluss an das Deutsche Reich zu nem Handlungswillen ab. verhindern. So knüpfte es finanzielle Hilfen an die Bedingung, dass Österreich seine Unab- SANKTIONSPOLITIK hängigkeit gegen alle Anschlussbestrebungen Als sich Anfang 1921 deutsche Reparations- verteidigen werde. Langfristig strebte es so lieferungen leicht verzögerten, besetzten franzö- die Schaffung eines mitteleuropäischen Sicher- sische und belgische Truppen am 8. März 1921 heitssystems an, das die ursprüngliche Funktion Duisburg und Düsseldorf. Damit gewannen sie der Habsburgermonarchie als „Gegengewicht“ eine strategisch günstige Ausgangsposition für zu Deutschland übernehmen sollte. Infolge der eine Besetzung des gesamten rheinisch-westfä- unterschiedlichen Interessenlagen bzw. Interes- lischen Industriegebietes. Bei dieser Operation seninterpretationen der Nachfolgestaaten der wurde Frankreich von Großbritannien unter- Donaumonarchie ist dies jedoch nicht gelungen. stützt. Gemeinsam stellten sie Deutschland am Frankreichs Bemühungen um die Einbe- 5. Mai 1921 ein Ultimatum, mit dem sie dieses ziehung Jugoslawiens in sein kontinentaleuro- zur Einhaltung eines Zeitplanes für die Repara- päisches Sicherheitssystem belasteten erheblich tionszahlungen von 132 Milliarden Goldmark seine Beziehungen zu Italien. Rom engagierte zwingen wollten. Dies führte gemeinsam mit der sich zwar grundsätzlich wie Frankreich für die pro-polnischen Haltung Frankreichs in Ober- Wahrung der Nachkriegsordnung, wollte jedoch schlesien9 zu einer deutschen Versteifung in diese auf dem Balkan zu seinen Gunsten ver- der Reparationsfrage sowie zur Deutschlands ändern. Es rivalisierte daher mit Frankreich bei Annäherung an die Sowjetunion durch den der politischen und wirtschaftlichen Durchdrin- Abschluss des Rapallo-Vertrages am 16. April gung dieser Region.8 1922.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 33 ROLAND HÖHNE

Die von Raymond Poincaré geführte franzö- musste es einer von den USA betriebenen inter- sische Regierung reagierte auf die Umorientie- nationalen Neuregelung der Reparations- und rung der deutschen Außenpolitik im Januar Kriegsschuldentilgung durch den Dawes-Plan 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebietes ge- zustimmen. Entsprechend diesem Abkommen meinsam mit Belgien.10 Als Vorwand diente eine räumte es 1925 die Ruhr, verblieb aber im erneute Verzögerung der deutschen Reparati- Rheinland. Es hatte damit seine Ziele nur teil- onsleistungen. Offiziell wollte daher Frankreich weise erreicht. Es erhielt zwar wieder deutsche durch die Kontrolle der dortigen Kohle- und Reparationsleistungen, war aber nun finanzpoli- Koksproduktion als „produktiver Pfänder“ die tisch auf die USA angewiesen. Diese engagierten Erfüllung der deutschen Reparationsverpflich- sich finanziell wieder stark in Europa und er- tungen erzwingen. In Wirklichkeit aber ging es möglichten so den wirtschaftliche Wiederauf- Poincaré um eine Machtdemonstration gegen- stieg Deutschlands. Die Politik der Sicherheit über Deutschland, um dieses zur Abkehr von durch Sanktionen war gescheitert.13 der Sowjetunion zu veranlassen. Außerdem wollte er eine „rheinische Entität“ unter fran- VERSTÄNDIGUNGSPOLITIK zösischer Kontrolle schaffen, etwa durch einen Als Alternative zur Sanktionspolitik suchte Sonderstatus des Rheinlandes analog dem des das Cartel des Gauches, das 1924 die Wahlen Saargebietes. Es würde zwar formal weiterhin zur Nationalversammlung gewonnen hatte, zum Deutschen Reich gehören, aber wirtschaft- zunächst unter Edouard Herriot, ab 1925 unter lich eng an Frankreich angebunden sein. Im der Federführung seines Außenmisters Aristide Gegensatz zu 1921 unterstützten diesmal Groß- Briand eine Verständigung mit Deutschland.14 britannien und die USA nicht die französische Das Ergebnis dieser Bemühungen waren die Sanktionspolitik.11 Verträge von Locarno (1925).15 An ihrer Aus- Deutschland reagierte auf die französische arbeitung nahmen neben Frankreich und Ruhrbesetzung mit passivem Widerstand: Es Deutschland auch Großbritannien, Italien, Bel- stellte die Reparationsleistungen an die beiden gien, zeitweise Polen und die Tschechoslowakei Besatzungsmächte ein, Industrie, Verwaltung teil. Ihren Kern bildeten der Garantiepakt zwi- und Verkehr wurden teilweise durch General- schen dem Deutschen Reich, Frankreich sowie streiks lahmgelegt, Behörden und Betriebe wei- Belgien. Deutschland erkannte mit diesem die gerten sich häufig, die Anordnungen der Besat- im Versailler Vertrag festgelegte Westgrenze an, zungsmächte auszuführen. Diese antworteten die von Großbritannien und Italien garantiert darauf mit Strafen und Strafmaßnahmen und wurde. Im Falle eines deutschen Angriffs auf übernahmen die Eintreibung von Reparationen Belgien und / oder Frankreich (wie 1914) oder teilweise selbst. Finanziell war die Ruhrbeset- aber einer Invasion Deutschlands durch belgi- zung trotzdem ein Verlustgeschäft. Aber auch sche und / oder französische Truppen (wie 1923) Deutschland litt unter den finanziellen Folgen würden die Garantiemächte zugunsten des An- des passiven Widerstandes. Da es die Löhne gegriffenen militärisch intervenieren. von etwa zwei Millionen Arbeitern des Ruhr- Mit Polen und der Tschechoslowakei schloss gebietes weiterzahlte, sah es sich gezwungen, Deutschland lediglich Schiedsverträge, da es die neues Geld zu drucken und heizte so die Infla- im Versailler Vertrag gezogene deutsche Ost- tion an. Produktionsausfälle verschärften die grenze nicht anerkannte. Als Ausgleich sicherte Wirtschaftskrise, geringere Steuereinnahmen be- Frankreich in gesonderten Verträgen seinen bei- lasteten den Haushalt. Der neue Reichskanzler den östlichen Verbündeten für den Fall eines Gustav Stresemann brach deshalb am 26. Sep- deutschen Angriffes militärische Hilfe zu. Groß- tember 1923 den passiven Widerstand ab und britannien lehnte dagegen eine vertragliche Ga- bot Frankreich Verhandlungen an. Poncaré rantie des territorialen Status quo in Ostmittel- lehnte diese ebenso ab wie britische Vermitt- europa ab. So entstanden zwei unterschiedliche lungsvorschläge.12 Da Frankreich jedoch Anfang Sicherheitszonen in Europa, wodurch die fran- 1924 in eine schwere Finanzkrise geriet, die es zösischen Bündnisverträge mit den ostmitteleu- aus eigener Kraft nicht überwinden konnte, ropäischen Verbündeten, insbesondere Polen,

34 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 1919-1939: FRANKREICHS SICHERHEIT DURCH HEGEMONIE?

entwertet wurden. Durch den geplanten Beitritt Deutschland musste jedoch weiterhin Re- Deutschlands zum Völkerbund sollten jedoch parationen zahlen und die territoriale Nach- beide europäischen Sicherheitszonen mitein- kriegsordnung respektieren. Deutsche Versu- ander verflochten werden.16 che, die von Belgien annektierten Gebiete von Die Bereitschaft Frankreichs zu einer parti- Eupen / Malmedy zurückzukaufen, scheiterten ellen Verständigung mit Deutschland in der am französischen Einspruch. Auch das An- Sicherheitsfrage beruhte auf der Erkenntnis, dass schlussverbot Österreichs an das Deutsche die Sanktionspolitik die französischen Mittel, Reich blieb bestehen. Als beide in der Welt- insbesondere die finanziellen, weit überforderte wirtschaftskrise eine Zollunion planten, erklär- und dadurch die finanzielle Abhängigkeit von te Briand: „L’Anschluss c’est la guerre“. Die Großbritannien und den USA erhöhte sowie Locarnoära war daher de facto schon vor der die innenpolitische Stabilität gefährdete. Wei- NS-Machtergreifung zu Ende. Hitler brach tere Motive bildeten der wachsende Pazifismus definitiv mit ihr, indem er aus dem Völkerbund sowie die Wehrunwilligkeit in der Bevölkerung austrat, die allgemeine Wehrpflicht wieder ein- und die Notwendigkeit, mit Deutschland über führte und im März 1936 die entmilitarisierte die Neuregelung der Handelsbeziehungen zu Rheinlandzone besetzte. verhandeln. Im Versailler Vertrag hatte Deutsch- Frankreich protestierte zwar jedes Mal, inter- land den Siegermächten die einseitige Meistbe- venierte aber nicht. Doch es suchte eine engere günstigung einräumen müssen. Mit dem Aus- Zusammenarbeit mit Großbritannien, Italien laufen dieser Verpflichtung am 10. Januar 1925 und der Sowjetunion. Es folgte damit dem erhielt es seine handelspolitische Souveränität Muster seiner Vorkriegsdiplomatie. Da Groß- zurück und konnte nun wieder selbst über sei- britannien jedoch einen partiellen Ausgleich ne Handelspolitik bestimmen. Daraus ergaben mit Deutschland suchte, folgte es seit 1936 sich vielfältige Probleme für französische bzw. dessen Appeasementpolitik. Diese führte 1938 französisch kontrollierte Unternehmen, so vor zum Münchner Abkommen, welches das Ende allem im Elsass, in Lothringen sowie im Saarge- einer eigenständigen Deutschlandpolitik Frank- biet. Dortige Wirtschaftskreise drängten daher reichs bedeutete. Nach dem deutschen Angriff auf eine Normalisierung der Beziehungen zu auf Polen schloss es sich der britischen Kriegs- Deutschland. erklärung an das Deutsche Reich an. Seine Die Verständigungspolitik führte durch die Deutschlandpolitik der Zwischenkriegszeit war Locarno-Verträge zu einer gewissen Normali- definitiv gescheitert. Streben nach Sicherheit sierung der deutsch-französischen Beziehungen oder nach Hegemonie? und zu einer begrenzten Revision des Versailler Frankreich begründete seine Deutschland- Vertrages. So wurde die direkte alliierte Kon- und Europapolitik der Zwischenkriegszeit stets trolle der deutschen Abrüstung durch eine lo- mit seinem Sicherheitsinteresse. Dieses erforde- ckerere Kontrolle des Völkerbundes ersetzt, die re zum Ausgleich der potentiellen Überlegen- bereits der Weimarer Republik in späteren Jahren heit Deutschlands eigene Stärke, eine integrale eine geheime Aufrüstung ermöglichte. Belgier Verteidigung der europäischen Nachkriegsord- und Franzosen räumten die nördliche Besat- nung, die Begrenzung der deutschen Machtent- zungszone und vereinbarten eine vorzeitige faltung und Bündnisse. Da die Kriegsallianz Räumung der verbleibenden Besatzungsgebiete. nach den Friedensschlüssen zerfiel, sei die enge Im Schutze der Verträge ging Frankreich unter Kooperation mit den ostmittel- und südost- innergesellschaftlichem Druck zu einer Defen- europäischen Nachfolgestaaten unerlässlich ge- sivstrategie über, die zu einer Reorganisation wesen. Die Kritiker der französischen Sicher- seiner Streitkräfte und zum Bau der Maginot- heitspolitik in Deutschland, aber auch in den linie führte. Theoretisch blieb die Möglichkeit Vereinigten Staaten und teilweise in Großbri- einer französischen Intervention im Falle eines tannien bezeichneten das französische Streben deutsch-polnischen Konflikts bestehen, wurde nach optimaler Sicherheit nur als Vorwand aber unwahrscheinlich. Das bedeutete eine für das Streben nach kontinentaleuropäischer Entwertung des französisch-polnischen Paktes. Hegemonie.17

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 35 ROLAND HÖHNE

Wer hat recht? Es ist zweifellos richtig, 5 Le Goyet, Pierre: France – Pologne 1919-1939: de dass Deutschland auch nach dem I. Weltkrieg l’amitié romantique à la méfiance réciproque, Paris Frankreich potentiell überlegen blieb. Aber 1991. 6 resultierte daraus bereits eine potentielle Bedro- Durch den Friedensschluss von Trianon (1920) hatte Ungarn zwei Drittel seines Territoriums und hung oder ergab sich diese erst aus der franzö- ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Es musste sischen Sanktionspolitik? Aus der Rückschau das ehemalige „Oberungarn“ (die Slowakei) in der von fast 100 Jahren spricht vieles für die zweite neugegründeten Tschechoslowakei aufgehen lassen, These. Verantwortlich war dafür neben dem Siebenbürgen an Rumänien, die Voivodina und negativen Deutschlandbild vor allem das Den- Kroatien dem Königreich Jugoslawien überlassen. 7 ken der Machtelite in machtpolitischen Kate- Statt einer Militärkonvention vereinbarten beide gorien. Nach diesen war ein Konflikt zwischen Länder den Austausch von zwei „interpretierenden Briefen“, die die Ausarbeitung von Plänen für eine Frankreich und Deutschland unvermeidlich, eventuell gemeinsame Verteidigung vorsahen. Dies wenn Frankreich ihn nicht rechtzeitig verhin- konnte jedoch die geplante Militärkonvention nicht derte. Über die Wege, wie dies geschehen sollte, ersetzen. war sich die Machtelite allerdings nicht einig. 8 Vgl. Le Mual, Frédéric: La France et l’Italie dans les Die nationale Rechte und rechte Mitte bevor- Balkans 1914-1919: le contentieux adriatique, Paris zugte unter Poincaré in den Jahren 1919-1924 2006. 9 Sicherheit durch Vormacht, die linke Mitte und Dort hatte am 20.3.1921 eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit stattgefunden, gemäßigte Linke unter Briand Sicherheit durch bei der sich 59,04 Prozent für den Verbleib bei Verständigung. Aber auch Briand war nicht Deutschland, 40,6 Prozent für den Anschluss an bereit, substantielle Konzessionen an Deutsch- Polen aussprachen. Daraufhin erfolge auf französi- land zu machen, welche die unerlässliche Vor- sches Betreiben eine Aufteilung der Region zwischen aussetzung für eine dauerhafte Verständigung beiden Ländern. 10 bildeten. So blieb seine Politik auf eine Teilver- Geplant war sie bereits im November 1922; vgl. ständigung im Westen beschränkt. Die dringend Zimmermann, Ludwig: Frankreichs Ruhrpolitik von Versailles bis zum Dawesplan, hrsg. von Walter notwendige Verständigung im Osten erfolgte 18 Peter Fuchs, Göttingen 1971; Krumeich, Gerd / nicht. Frankreich besaß aber nicht die Mittel, Schröder, Joachim (Hrsg.): Der Schatten des Welt- Deutschland dauerhaft zur integralen Respek- krieges: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004. tierung der Nachkriegsordnung zu zwingen. Das 11 Zur britischen Haltung vgl. O’Riordan, Elspeth Y.: Scheitern der französischen Sicherheitspolitik Britain and the Ruhr crisis, Basingstoke u. a. 2001. war daher vorprogrammiert. 12 Vgl. Documents diplomatiques français 1923, Bd. 2 (1.7.-31.12.), Ministère des Affaires étrangères, ||||| PROF. DR. ROLAND HÖHNE Paris, Commission des Archives diplomatiques – Direction des Archives, hrsg. von Christian Baechler, emeritierter Professor für Landeswissenschaft Brüssel u. a. 2013. Romanistik, Fachgebiet Geschichte / Politik, 13 Vgl. Jeanesson, Stanislas: Poincaré, la France et la Universität Kassel Ruhr 1922-1924. Histoire d’une occupation, Straß- burg 1998. 14 Siebert, Ferdinand: Aristide Briand 1862-1932. Ein Staatsmann zwischen Frankreich und Europa. Zürich ANMERKUNGEN 1973; Schulz, Matthias: Aristide Briand (1862-1932),

1 Vgl. Digeon, Claude: La crise allemande de la pensée in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom In- française (1870-1914), Paris 1959. stitut für Europäische Geschichte, Mainz 2010. 15 2 Vgl. Kleine-Ahlbrandt, William Laird: The burden of Jacobson, Jan: Locarno diplomacy. Germany and victory: France, Britain, and the enforcement of the the West 1925-1929, Princeton, N.J. 1972. 16 Versailles peace 1919-1925, Lanham, Md. u. a. 1995. Keeton, Edward D.: Briand’s Locarno Diplomacy. 3 Der Senat verweigerte seine Zustimmung. Im Wash- French Economics, Politics, and Diplomacy 1925- ingtoner Abkommen mit Deutschland von 1920 1929, New York, 2. Aufl., 1987. sicherten die USA jedoch ihre Interessen. 17 Vgl. Zimmerman: Frankreichs Ruhrpolitik. 4 Vgl. Wurm, Clemens A.: Die französische Sicher- 18 Schattkowsky, Ralph (Hrsg.): Locarno und Osteu- heitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924- ropa: Fragen eines europäischen Sicherheitssystems 1926, Frankfurt a. M. 1979. in den 20er-Jahren, Marburg 1994.

36 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93

VICHY UND DIE KOLLABORATION

KLAUS-ULRICH HAMMEL ||||| Das Kriegsvölkerrecht legt es Besatzungsregimen auf, innerstaatliche Strukturen im besetzten Territorium zu respektieren und die Lebensbedürfnisse der Bevölkerung sicherzustellen. Andererseits sind staatliche Organe und Verwaltungen gehalten, den Weisungen der Besatzungstruppen nachzukommen und mit ihnen „zusammenzuarbeiten“, die Bevölkerung ist verpflichtet, sich jeglicher feindseliger Aktivitäten zu enthalten – beide, in bestimmtem Umfang Leistungen gegenüber den feindlichen Besatzungstruppen oder der besetzenden Macht zu erbringen. In allen durch die Wehrmacht besetzten Ländern Europas kam es während des 2. Weltkrieges zur Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht, einerseits durch den Zwang, der durch sie ausgeübt wurde, andererseits aber auch auf freiwilliger Basis, bedingt durch innerstaatliche oder innerge- sellschaftliche Überzeugungen und Antriebe, die auf historisch gewachsenen und aktuell wirksamen Grundpositionen beruhten. Das Ausmaß der „Kollaboration“, so der negativ geprägte Begriff nach dem Krieg, war in den Ländern unterschiedlich. Einigkeit besteht darüber, dass die Kollaboration in Frankreich eine besonders intensive Form annahm.

EINFÜHRUNG 1 die sogenannten „Intellektuellen“ oder „Künst- Die deutsche Besatzungsherrschaft in Frank- ler“ bis hin zu „einfachen“ Franzosen oder reich dauerte – vereinfacht gerechnet – vom Französinnen. 25. Juni 1940, dem Tag des Wirksamwerdens Die Kollaboration hatte vielfältige Ursachen des Waffenstillstandes, bis zur Einnahme von oder Auslöser, die von den zuvor genannten Paris am 25. August 1944, nach der Landung rechtlichen Verpflichtungen über den ausgeüb- der Alliierten in der Normandie. In Abhängig- ten Druck durch die Besatzungsmacht bis zu keit vom Vorrücken der Front zur deutschen einem Spektrum innerfranzösischer Beweggrün- Grenze blieben aber auch danach Teile Frank- de reichten. Gerade Forschungen der letzten reichs von den deutschen Armeen „beherrscht“. Jahrzehnte haben die Tatsache enthüllt, dass Die Intensität der Kollaboration in diesem das Ausmaß nicht vor allem durch den Zwang Zeitraum war unterschiedlich. Die durchaus der deutschen Besatzungsmacht, sondern verschiedenen Formen und „Träger“ der Kol- durch eine im größeren Umfange praktizierte laboration werden fälschlicherweise unter dem Freiwilligkeit in der französischen Bevölkerung Begriff „Vichy“, dem Sitz der französischen Re- begründet war. Nach dem Krieg, nach der „Be- gierung unter Marschall Pétain, zusammenge- freiung“, die – so die Behauptung – zudem nicht fasst. Die Felder der Kollaboration erstreckten in erster Linie durch die Alliierten, vielmehr sich auf alle Politik- und Lebensbereiche. Mit durch die Franzosen selbst herbeigeführt wor- dem deutschen Besatzungssystem zusammen den sei, war es opportun gewesen, dieses Aus- arbeiteten die französische Regierung und ihre maß an Freiwilligkeit durch den Mythos des nachgeordneten Regierungs- und Verwaltungs- Widerstandes, der Résistance, zu überdecken. organe (z. B. Polizei, Justiz), regierungsunabhän- Der Mythos der Selbstbefreiung und der Résis- gige politische Organisationen, Wirtschaftsun- tance, der angeblich die überwiegende Mehrheit ternehmen und kulturelle Organe und Einrich- der Franzosen angehört hätte, überdeckte auch tungen, Gruppierungen in der Bevölkerung wie die überaus grausame und rechtlose Abrech-

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nung mit der Kollaboration während der soge- weiterhin, hatte aber keine Aufgabe mehr. Im nannten „épuration“, der Säuberung, unmittel- Rahmen der Abstimmungen in den parlamen- bar in den Jahren nach dem Ende des Krieges. tarischen Gremien, die am 9./10. Juli 1940 er- folgten, wurde die Verfassung fast einstimmig POLITISCHE RAHMENBEDINGUNGEN angenommen. In der Nationalversammlung Die Besatzungszeit dauerte also vier Jahre stimmten von 666 anwesenden Abgeordneten und einige Monate. Am 16. Juni 1940 bildete 569 Abgeordnete zu, 80 Personen stimmten mit Marschall Pétain als Nachfolger des demissio- nein, 17 Personen enthielten sich der Stimme. nierten Ministerpräsidenten Reynaud eine neue Entsprechend den Waffenstillstandsbedin- französische Regierung. Der Regierungssitz war gungen blieben etwa zwei Fünftel des Territo- vor den herannahenden Deutschen von Paris riums von deutschen Truppen unbesetzt. Die nach Bordeaux verlegt worden. Am 18. Mai Demarkationslinie verlief in etwa von der war Pétain, der auf dringende Bitten Reynauds Schweizer Grenze bei Genf über Autun und von seinem Botschafterposten in Madrid nach Dijon in Richtung Tours an der Loire und von Frankreich zurückgekehrt war, als Vizepräsident dort aus faktisch parallel zur Atlantikküste über des Ministerrates in die Regierung eingetreten. Bordeaux zu spanischen Grenze. Nord- und Am 25. Juni trat der Waffenstillstand, um den Ostfrankreich, die Bretagne und die Norman- die französische Regierung bei der Regierung die, Mittelfrankreich und die gesamte Atlantik- des Deutschen Reiches nachgesucht hatte, in küste gehörten zu der Zone, die von deutschen Kraft. Schon die öffentliche Ankündigung, dass Truppen besetzt wurde. Die Besatzungszone man um einen Waffenstillstand nachsuche, umfasste 49 Departements mit 23 Millionen hatte in der französischen Bevölkerung gren- Einwohnern. Dieser Teil Frankreichs kam unter zenlosen Jubel und Bewunderung für Pétain deutsche Militärverwaltung (Militärbefehlshaber hervorgerufen. Frankreich bzw. Militärbefehlshaber Belgien- Als Kontrastprogramm zur späteren Ver- Nordfrankreich für die Departements Nord und dammung des Regierungschefs von Vichy sei Pas de Calais). Die Departements im Elsass und ein Kommentar François Mauriacs zitiert, mit in Lothringen kamen unter zivile Verwaltungen, dem dieser die Rundfunkansprache des Mar- d. h. sie wurden von Gauleitern regiert.3 Die schalls am Tag des Waffenstillstands würdigte: französischen Kolonien blieben unangetastet, „Die Worte Marschall Pétains am Abend des Vichy übte dort die Regierungsgewalt aus. 25. Juni klangen fast zeitlos; nicht ein Mensch Am 28. Juni war General de Gaulle in Lon- sprach zu uns, sondern aus der Tiefe unserer don von den Briten als Führer der „Freien Fran- Geschichte hörten wir den Aufruf der gedemü- zosen“ anerkannt worden. Er bildete wenigstens tigten großen Nation emporsteigen. Die Toten vordergründig einen Gegenpol zur Regierung von Verdun und die Menge der Unzähligen, die in Vichy. Als Folge des – von Vichy „unter der durch die Jahrhunderte die Fackel weitergaben, Hand“ gebilligten – Seitenwechsels der franzö- die unseren schwachen Händen entfallen ist, sischen Truppen in Nordafrika, nach der Lan- hatten diesen Greis zu uns entsandt.“2 Aus den dung der Alliierten dort, besetzten die deutschen Franzosen waren anscheinend 40 Millionen Divisionen im November 1942 auch die bisher „Pétainisten“ geworden. nicht besetzten Teile Frankreichs. Die Zusam- Am 30. Juni 1940 wurde der Regierungssitz menarbeitsverhältnisse mit französischen Regie- nach Vichy, im unbesetzten Teil Frankreichs, ver- rungs- und Verwaltungsstellen wurden denen legt. Der Wiederaufstieg Frankreichs bedurfte im bisher schon besetzten Teil Frankreichs an- einer neuen Ordnung. Die Dritte Republik hatte geglichen. sich als unfähig erwiesen, zukunftsweisende Lö- Nach der Landung der Alliierten im Juni sungen für die anstehenden vielfältigen Prob- 1944 in der Normandie und im August in Süd- leme zu finden. Durch eine Verfassungsreform frankreich verringerte sich der Raum des durch wurden dem Marschall, zugleich Staatsober- die Vichy-Administration regierten Gebiets stän- haupt und Regierungschef, quasi diktatorische dig. Bereits im Juni 1943 hatte sich in Algier das Befugnisse übertragen. Das Parlament bestand „Comité français de la Libération nationale“

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(CFLN) unter der Führung de Gaulles gebildet, und Frankreich“, so zitiert E. Jäckel Hitler selbst, das im August 1943 durch die USA, Großbri- sei nur sinnvoll „unter der Voraussetzung, dass tannien und die Sowjetunion als vorläufige Deutschland in der Vernichtung Frankreichs französische Regierung anerkannt worden war. wirklich nur ein Mittel sieht, um danach unse- Die weit überwiegende Anzahl der Territorien rem Volke endlich an anderer Stelle die mögli- in den Kolonien unterstellte sich diesem Komi- che Ausdehnung geben zu können.“4 Für die tee und sagte sich damit von Vichy los. Wendung nach Osten musste der Rücken im Vor den herannahenden alliierten Truppen Westen frei sein. G. Hirschfeld schreibt, dass wurde die Regierung des Marschalls von den weder Hitler noch seine Satrapen „eine feste Deutschen gezwungen, den Regierungssitz Zug oder gar endgültige Vorstellung von einer spä- um Zug nach Osten zu verlegen. Über Belfort teren französischen Staatlichkeit“ hatten. Die und Baden-Baden bezog man im September politische Rolle Frankreichs nach dem Krieg 1944 eine „Enklave“ um Sigmaringen. Pétain „sah [er] … bloß als Manövriermasse in künfti- und einige seiner Minister weigerten sich aus gen Verhandlungen, die er mit einem geschla- Protest gegen den deutschen Zwang, die ohne- genen Großbritannien führen wollte.“5 hin nur noch fiktive Regierungsgewalt vom Aus- Mit einer kaum glaublichen Voreingenom- land aus wahrzunehmen. Anders eine Gruppe menheit und Missachtung des politischen Ge- von Ultra-Kollaborateuren (auf die wir noch wichts Frankreichs verweigerte sich Hitler einem zurückkommen), die mit einem verzweifelten fairen Ausgleich und einer fairen Zusammen- Einsatz an der Seite des NS-Systems eine Wende arbeit, er verspielte damit politische Möglich- herbeizuführen hofften. Im Raum Sigmaringen keiten, die bis zu einem Bündnis des Reichs mit bildete sich eine Quasi-Regierung, „La Commis- Frankreich gegen Großbritannien reichen konn- sion gouvernementale française pour la défense ten. Hitlers Ansichten und Grundeinstellungen des intérêts nationaux“. Angesichts der chao- blieben Pétain nicht verborgen. Durch seine Be- tischen Lage im Herbst 1944 bis Frühjahr 1945 reitschaft, mit der deutschen Besatzungsmacht gelang es der Kommission nicht, irgendeine zu kollaborieren, gedachte er, gerade den Status Regierungsgewalt auszuüben, schon gar nicht Frankreichs in einer Nachkriegsordnung mit be- in Frankreich. einflussen zu können. Die Franzosen waren an einer Kollaboration wesentlich stärker interes- DER DEUTSCHE PARTNER siert als die Deutschen. Adolf Hitler war ein Bewunderer der Briten Ungeachtet der Absichten für eine Nach- und des britischen Empire. In einer absoluten kriegsordnung war aber das politische und mili- Fehleinschätzung der Mentalität der britischen tärische Gewicht objektiv auch eines besiegten Führungsschichten glaubte er fast über die ge- Frankreichs ein wesentlicher Faktor für die samte Dauer des Krieges, mit Großbritannien zu Fortführung des Krieges durch das Reich: In einem gegenseitigen Interessenausgleich kom- militärstrategischer bzw. operativer Hinsicht bot men zu können. Den Franzosen misstraute der die französische Atlantikküste eine Basis für Diktator zutiefst. Selbst wenn es gelänge, briti- den Blockadekrieg auf dem Atlantik. Eine zu sche Machtambitionen aus Europa abzulenken, erwartende „Rückkehr auf den Kontinent“ der dann war er sich sicher, dass Frankreich deut- Briten in Form einer Seelandung, wahrschein- schen Hegemonialansprüchen aus Prinzip ent- lich zusammen mit den Amerikanern, musste gegentreten würde. Die Revision von Versailles über französische Gebiete in Westafrika, im war 1938 nahezu abgeschlossen. Eine Wieder- Mittelmeerraum oder in Frankreich selbst er- herstellung der Grenzen von 1914 im Westen folgen. Aus kriegswirtschaftlicher Sicht war für strebte Hitler nach seinen Bekundungen nicht die Fortführung des Krieges die Nutzung der an. Die Rolle, die er Frankreich nach dessen französischen Industrie- und Wirtschaftspoten- Niederwerfung durch den Feldzug von 1940 tiale außerordentlich vorteilhaft. Durch Propa- zugedacht hatte, wird von verschiedenen Auto- gandaaktionen und die Deklaration angeblich ren unterschiedlich bewertet: „Das ewige und gleicher geistiger Ziele („Europagedanke“, An- an sich so unfruchtbare Ringen zwischen uns ti-Bolschewismus) hoffte man in Frankreich,

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ähnlich wie in den anderen besetzten westeuro- waren. Ab dem 9. März 1942 wurde jedoch die päischen Staaten, eine breite Basis der Unter- Dienststelle eines „Höheren SS- und Polizeifüh- stützung für den Feldzug gegen die Sowjetunion rers“ eingerichtet (SS-Brigadeführer Carl Oberg), zu gewinnen. diese wurde im Laufe der Zeit – außerhalb des Alle diese Vorteile gingen nicht nur verloren, Operationsgebietes des Oberbefehlshaber West sondern würden voll auf der Seite der Kriegs- – für alle polizeilichen Aufgaben, für das Auf- gegner zum Tragen kommen, sollten sich die rechterhalten der öffentlichen Sicherheit und Franzosen entschließen, in das Lager der Alliier- Ordnung verantwortlich. Zuständig wurde sie ten überzugehen. Eine an deutschen Interessen auch für die Durchführung der Repressions- ausgerichtete Besatzungspolitik musste in der und Sühnemaßnahmen und die Deportation Realität deswegen den Franzosen kurzfristig wie der Juden. langfristig Vorteile bringen, sollte die nach dem Die Organisation zur Erfüllung deutscher Waffenstillstand durchaus gegebene positive Forderungen auf dem Gebiet der Wirtschaft Grundstimmung in der französischen Bevölke- unterlag zahlreichen Änderungen. Bis zum April rung für Deutschland erhalten und ein Abfall 1943 erhielt der „Wirtschafts- und Rüstungsstab“ verhindert werden. Andernfalls konnte man seine Weisungen von verschiedenen Behörden auf eine zunehmende Gegnerschaft nur mit des Reiches, darunter dem Wirtschaftsministe- Repression und gewaltsamer Unterdrückung rium oder dem Ministerium für Rüstung und reagieren. Die ethische Dimension einmal un- Kriegsproduktion (Albert Speer). Vergleichbar berücksichtigt, ist es angesichts dieser Sachlage wurden alle Tätigkeiten auf dem Gebiet der unbegreiflich, mit welcher ideologischen Beses- Propaganda, der Presse und des Rundfunks senheit rassistische Konzepte der NS-Politik – durch eine Propagandaabteilung, die anfangs Unterdrückung, Entrechtung und Eliminierung dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) des Judentums – auch in Frankreich zu einem unterstand und um deren Zuständigkeit später wesentlichen Element der Besatzungspolitik der Botschafter in Paris und das Propaganda- gemacht wurden. ministerium Auseinandersetzungen führten, Die deutsche Besatzungsherrschaft wurde gesteuert. durch konkurrierende Organisationen ausge- Die Methoden zur Ausübung der Besat- übt, deren Handeln auch von konkurrierenden zungsherrschaft deckten ein weites Spektrum Absichten geprägt war und nicht von gemein- ab: einerseits das Wecken von Sympathie und samen Ideen oder Zielen bestimmt. Allenfalls Zustimmung (siehe die moderaten Waffenstill- der Wille Hitlers gab eine allgemeine Richtung standsbedingungen), das Einräumen von Frei- vor. In der Praxis gab es keine zentrale Leitung, räumen und Entscheidungsfreiheit im alltägli- Verantwortlichkeit oder Kontrolle. Zuständig- chen Leben, Maßnahmen zum Hervorrufen von keiten überschnitten sich oder standen im Freiwilligkeit, andererseits Unterdrückung und Gegensatz zueinander. Nur einige Organe der Zwangsmaßnahmen unter Missachtung des Besatzungsmacht können angeführt werden. Völkerrechts. Da das besetzte Frankreich unter Militärver- Die Militärverwaltung war bemüht, ihren waltung blieb, stellten die Militärbefehlshaber Auftrag auf der Grundlage überlieferter Rechts- formell die zentralen Behörden dar. Entspre- und Moralvorstellungen zu erfüllen. Spielräu- chend dem Waffenstillstandsvertrag übten sie me, welche die „Desorganisation“ bot, wurden in ihren Bereichen „alle Rechte der besetzenden genutzt. Viele Repressions- oder Zwangsmaß- Macht“ aus.6 Das Auswärtige Amt verfolgte nahmen wurden unterlaufen oder nicht im be- seine Interessen durch die „Deutsche Botschaft fohlenen Ausmaß umgesetzt. Dies galt auch für in Paris“. Eine Außenstelle befand sich in Vichy. die Dienststellen der SS und des SD. Die Studie Botschafter war für die Dauer der Besetzung Umbreits über den Militärbefehlshaber Frank- Otto Abetz. Sicherheitsdienst (SD) und Sicher- reich zeigt Beispiele dazu in jedem Kapitel auf. heitspolizei verfügten zunächst nur über unter- Auf der Grundlage der grundsätzlich frankophi- geordnete Dienststellen, die an die Weisungen len Einstellungen der Führerpersönlichkeiten war des Militärbefehlshabers Frankreich gebunden man bemüht, bei der Durchsetzung deutscher

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Interessen auch das Augenmaß für die Bedürf- Überzeugungen, die solche Einstellungen nisse der französischen Bevölkerung nicht zu trugen, hatten bei innerfranzösischen Ausein- verlieren.7 andersetzungen im Rahmen des Bonapartismus oder des Boulangismus schon eine Rolle ge- BEWEGGRÜNDE ZUR KOLLABORATION spielt. Die Auseinandersetzungen zwischen Drey- 40 Millionen Franzosen waren zu Pétainisten fus-Anhängern und Dreyfus-Gegnern (Beginn geworden, im Vertrauen zum Marschall, der sie 20. Jahrhundert) verstärkten ein weiteres Ele- in einer Zeit führen sollte, in der es nach der ment innerfranzösischer Befindlichkeiten, den Hinnahme einer der größten Katastrophen in Antisemitismus. Zeev Sternhell verordnet den der französischen Geschichte kaum mehr als Beginn faschistischer geistiger Strömungen Vermutungen gab, wie sich ihr Schicksal weiter- schon auf das Jahr 1885. entwickeln würde. Die weit überwiegende Vor den Franzosen im Sommer 1940 stand Mehrheit neigte zum Abwarten, zum „Attentis- die Niederlage gegen die Wehrmacht. Die Nie- mus“, der auch der Grundhaltung Pétains ent- derlage Großbritanniens schien nur noch eine sprach. Der Anteil der aktiven Kollaborateure Frage der Zeit zu sein. Ein Kriegseintritt der veränderte sich naturgemäß über die Zeit, betrug USA war nicht abzusehen. Der Nimbus der maximal nur wenige Prozentanteile innerhalb der unbesiegbaren Wehrmacht dauerte auch weit Gesamtbevölkerung, war aber um ein Vielfaches in das Jahr 1942 an, mit dem Vorstoß in den höher, gemessen an den Anteilen, die im Laufe kaukasischen Raum und bis vor die Tore Kai- der Besatzungszeit in der Résistance tätig waren.8 ros. Die Nachkriegsordnung in Europa würde Ist es angemessen, die Hinnahme der Besat- durch das Deutsche Reich bestimmt werden. zungsherrschaft, das Arrangieren mit ihr, bereits War es da nicht klüger, sich mit den Siegern zu als eine Form der Kollaboration zu bezeichnen? arrangieren und einen Beitrag zum „Endsieg“ Die Gründe zur tatsächlich praktizierten zu leisten? Kollaboration waren vielschichtig. In zuneh- Obgleich Marschall Pétain bei seinem Ein- mendem Maße hatte man mit der Kritik der tritt in die Regierung die Niederlage nicht mehr politischen Parteien der Dritten Republik auch verhindern konnte, war er mit seiner ganzen den Vorwurf des Versagens des Parlamentaris- Kraft bemüht, ihre Folgen zu mildern. Die mus verbunden. Es entstand der Ruf nach dem Schuld an der Niederlage lastete er den Politi- „starken Staat“. Losgelöst von den Extrembei- kern der Dritten Republik an. Ein neues Frank- spielen in Deutschland und in der Sowjetunion reich unter dem Motto „Arbeit, Familie, Vater- waren die Parlamente in vielen Staaten Europas land“ war zu schaffen. Ein politisches Konzept durch totalitäre oder quasi-totalitäre Systeme Pétains für Frankreich in einem Europa, das ausgeschaltet worden: in Polen, Italien, einem nach dem Krieg von Deutschland dominiert Teil der baltischen Staaten, in Österreich, Ru- würde, lässt sich allenfalls in den Grundzügen mänien, auch in Portugal und Spanien.9 ableiten. Er war in gewisser Weise von den Der Bürgerkrieg in Spanien, hautnah mit- politischen Theorien Charles Maurras' von der erlebt in Frankreich, die Erfahrungen mit der „Action française“ beeinflusst, teilte aber nicht eigenen Volksfrontregierung 1936/37 hatten dessen wirren Atheismus.11 eine Ablehnung des Kommunismus / Bolsche- Ein Frankreich nach den Vorstellungen wismus zur Folge. Einen Weg dazwischen Pétains würde in gewisser Hinsicht klerikal- schien Deutschland anzubieten, in dem eine konservativ sein, sich bei Ablehnung des Par- „neue Ordnung“, mit der Lösung der sozialen lamentarismus auf einen starken Staat stützen Frage, nach der Meinung der Franzosen, ent- und die „Einheit in der Nation“ verkörpern. standen war. „Hitlers Staat erschien nach 1933 Wie es der französischen „Rechten“ entsprach, nicht nur vielen Deutschen als Modell einer waren antisemitische Positionen einbezogen. neuen Ordnung zwischen liberalem Kapitalis- Pétain war überzeugter Antikommunist, nicht mus und Kommunismus, er war auch für viele ohne Grund war er nach dem Ende des Spani- kleine national-sozialistische Bewegungen in schen Bürgerkrieges 1939 als Botschafter nach Europa ein attraktives Vorbild.“10 Madrid gesandt worden.

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In seinen Bemühungen, noch während des Populaire“ (RNP), hatte sich vom Marxismus Waffenstillstandes dessen Bestimmungen und abgewandt und der nationalen Revolution ver- Auflagen der Besatzung zu mildern (zumindest schrieben. Seine politischen Thesen, die er den Deutschen keinen Vorwand zu geben, sie entwickelte, umfassten faschistische und anti- zu verschärfen) und die Bedingungen eines semitische Elemente. Ab 1940 wandte er sich Friedensschlusses günstig zu beeinflussen, be- Pétain zu, vertrat aber weitgehende kollaboratio- trieb Pétain eine Mischung von „Kollaboration nistische Belange, die nach dem Krieg zu einem und Kollaborationsverweigerung“. Pétain allein partnerschaftlichen Nebeneinander Frankreichs war jedoch nicht „Vichy“. und Deutschlands führen sollten. Jaques Doriot, Ein so überlegter und sich kontrollierender 1920/1930 überzeugter Kommunist, gründete Mann wie Admiral Darlan, Oberbefehlshaber der nach seiner Abwendung eine eigene Partei, den Flotte und anfangs Marineminister, zwischen „Parti Populaire Français“ (PPF), der unter dem Februar 1941 und April 1942 Ministerpräsident Einfluss Drieu la Rochelles ebenfalls faschisti- und der „starke Mann“ hinter Pétain, wäre sche Positionen einnahm. Zeitlich wechselnd als nach dem Überfall einer britischen Flottenein- Gegenspieler Lavals geltend, betrachtete Doriot heit auf den französischen Stützpunkt Mers-el- sich als den Bewahrer der nationalen Revoluti- Kebir bei Oran im Juli 1940 zum Kriegseintritt on. Als Renegat fasziniert von Hitlers Antibol- an der Seite Deutschlands gegen Großbritanni- schewismus, forderte er den Eintritt Frankreichs en bereit gewesen.12 Insbesondere in den ver- in den Krieg gegen die Sowjetunion an deut- schiedenen Kabinetten Vichys gab es eine Reihe scher Seite. Joseph Darnand war zunächst An- von Ministern (z. B. Bichelonne – Minister für hänger der „Action française“ gewesen, 1936 Industrieproduktion, Bonnard – Erziehungs- wurde er Mitglied des PPF. Unter dem Einfluss minister, Darnand – Innenminister), die aus Pétains übernahm er ab Januar 1943 die Miliz, verschiedenen Gründen, in der Regel ideologi- die er zunehmend radikalisierte und nicht nur schen, heftig gegen den Attentismus des Mar- als Mittel zum Kampf gegen die Résistance schalls opponierten und in der theoretischen ansah, sondern als „neue Elite Frankreichs mit Bereitschaft wie in der praktischen Ausübung dem Auftrag, an der Seite Deutschlands die für wesentlich weitreichendere Formen der Kol- Prinzipien der nationalen Revolution zu vertei- laboration eintraten. Pierre Laval, in jüngeren digen.“13 Jahren radikaler Sozialist, erhob als Politiker einen „autoritär-technokratischen“ Machtan- PRAKTIZIERTE KOLLABORATION spruch. Im Juni 1940 war er der Schöpfer der In den vorstehenden Rahmen sollen nun neuen französischen Verfassung. Obwohl Laval einige Beispiele der praktizierten Kollaboration erster Ministerpräsident Pétains war, missbil- eingebaut werden, wenn auch nur fragmenta- ligte dieser dessen Radikalität, vor allem die risch und ohne auf Zusammenhänge und Wi- stark antibritische Einstellung. Von Pétain im dersprüche einzugehen. Dezember 1940 entlassen, wurde er auf Druck Im Prinzip waren die Zuständigkeiten der der Deutschen im April 1942 wieder Minister- Regierung in Vichy auf die neutrale Zone be- präsident, er lavierte zwischen Pétain und den schränkt. Wollte Pétain für ganz Frankreich radikalen Ultras. Zu dieser Zeit noch vom Sieg handeln und auch die Interessen der Franzosen des NS-Systems überzeugt, war er zu weiteren im besetzten Gebiet wahrnehmen, dann durf- Konzessionen an die Deutschen bereit. ten ihn die im Waffenstillstandsvertrag festge- Die „Ultra-Kollaborateure“, die weder von legten Regeln nicht beschränken. Zuvor wurde Pétain noch Laval unter Kontrolle zu bringen ausgeführt, dass Pétain mit einer Mischung von waren – weil sie den Interessen konkurrierender Kollaboration und Kollaborationsverweigerung deutscher Gruppierungen dienten –, fanden ih- arbeitete. ren Weg zu einem gewissen Faschismus grund- Während des Treffens mit Hitler im Oktober sätzlich aus dem extrem linken Lager, den Radi- 1940 in Montoire gelang es ihm, sich durch die kalsozialisten oder Kommunisten. Marcel Déat, Zusage zur Kollaboration der Forderung nach ab 1941 Gründer des „Rassemblement National einer Beteiligung am Krieg gegen Großbritan-

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nien zu widersetzen. Zudem hätten die Bedin- hatte sich Admiral Darlan, der Vertraute Pé- gungen Deutschlands und Italiens ohnehin tains, im Zeitraum der Landung in Algier auf- keinen akzeptablen Friedensschluss erlaubt. gehalten.14 Ab dem Herbst 1943 nahmen die Ähnlich wie Franco war Pétain ein kühl kalku- ehemaligen Vichy-Truppen zusammen mit frei- lierender Politiker, für ihn war nicht entschie- französischen Verbänden im Rahmen eines den, dass er an der Seite Deutschlands „auf der französischen Expeditionskorps am Feldzug in richtigen Seite“, nämlich der der Sieger, stehen Italien gegen die Deutschen teil. Eine fortge- würde. setzte oder gar intensivere militärische Kollabo- Ein offener Konflikt mit England würde das ration musste zu einer inneren Zerrissenheit französische Kolonialreich gefährden. Ungeach- der Franzosen führen. Ungeachtet dessen for- tet dessen sahen sich die Franzosen veranlasst, derten die deutschen Truppen bei der Vorbe- im Mai / Juli 1941 gemeinsam mit den Deut- reitung der Abwehr der Invasion entsprechende schen gegen eine Operation der Briten und Unterstützung, die nicht verweigert wurde. Dies Freien Franzosen in Syrien und im Irak vorzu- änderte sich dann ab dem Sommer 1944 auf gehen. Obgleich er wie fast alle französischen Grund der tatsächlich eingetretenen Lage. Politiker Vorbehalte gegen England hatte, ließ Im April 2008 erregte die Ausstellung des Pétain die Kontakte zu den USA, die schon vor Fotografen André Zucca in Paris Aufsehen und ihrem eigenen Kriegseintritt England massiv Empörung in weiten Kreisen. Es war, wie man- unterstützten, nie abreißen. Robert Murphy, der cher sagte, eine „Empörung gegen die Wirk- Vertraute des US-Präsidenten Roosevelt, war lichkeit“, gab doch die Ausstellung einen Hin- sein Ansprechpartner. Andererseits war Pétain, weis auf die tatsächlichen Gegebenheiten in die Machtposition Frankreichs hinter sich, bis Paris unter der Besetzung, die zu den allgemein in das Jahr 1943 (Konferenz von Casablanca!) akzeptierten Anschauungen und angeblichen eine ganz andere Größe als der unbekannte Realitäten im Gegensatz standen. Im besetzten General de Gaulle in London mit der Freifran- Frankreich, nicht nur in Paris, gab es eine geis- zösischen Bewegung. tige und emotionell abgestützte Kollaboration, Die Niederlage der Deutschen in der Schlacht die zwar der Propaganda, aber nicht des staat- um England, die offensichtliche Orientierung lichen Drucks bedurfte.15 Deutschlands im Winter 1940 nach Osten lie- Hatte man bei den Franzosen den Aufstieg ßen Pétain, trotz seines Antikommunismus, des Nachbarn jenseits des Rheins aus der Nie- noch vorsichtiger werden. Obgleich radikale derlage von 1918 schon bewundert, dann über- Kollaborateure eine Beteiligung am Krieg gegen wältigte nun der Sieg der Wehrmacht nach ei- die Sowjetunion forderten (siehe oben), kam nem Feldzug von etwa sechs Wochen. Hinzu dies für den Marschall nie in Frage. Auf Betreiben kamen die Effizienz und das Gefühl für Maß, namhafter Kollaborateure wie Brinon, Doriot mit dem die Besatzungsbehörden vordergrün- oder Drieu la Rochelle wurde im Sommer 1941 dig ein normales Leben ermöglichten. Sieger die „Légion des Volontiers Français contre le haben einen unwiderstehlichen Nimbus, im bolchevisme“ gebildet, nach offiziellen Anga- Vergleich zur deprimierenden Last, welche die ben mit 13.500 Freiwilligen, nach der Schät- Verlierer niederdrückt. Nicht nur die militäri- zung mit allen zusätzlichen Formationen knapp sche Leistung beeindruckte die Bevölkerung, 20.000 Mann. Als Vergleich sei angefügt, dass auch Aussehen, Auftreten und Verhalten der sich zu den Freien Franzosen auch nur 35.000 deutschen Soldaten erweckten Respekt und Mann gemeldet hatten. Die Legion wurde von Sympathie. Dieser Wirkungen war sich die mi- Pétain nur zögernd unterstützt. Bis Kriegsende litärische Führung bewusst und hatte strenge blieben die französischen Truppen an der Ost- Regeln für den Umgang der Besatzungstruppen front eingesetzt. mit der Bevölkerung erlassen. Man muss nicht Wenige Tage nach der Landung der Anglo- so weit gehen wie K. Harpprecht, der in der Amerikaner traten die bisher Vichy unterstellten Hinwendung der Französinnen an deutsche französischen Truppen in Nordafrika auf die Soldaten einen Akt der Selbstemanzipation Seite der Alliierten über. Unter einem Vorwand sieht. In jedem Falle zeigt die Tatsache, dass aus

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solchen Verhältnissen ungefähr 200.000 Besat- wechselte und nach dem Krieg von seinen Ein- zungskinder entstanden (in Wirklichkeit muss stellungen nichts mehr wissen wollte – immerhin die Zahl der Verhältnisse ja dann wesentlich setzte er sich für frühere Kollaborateure ein. höher gelegen haben), mit welchen Gefühlen Um das Thema nicht zu überfrachten, sol- sich Franzosen und Deutsche begegneten – nach len der wirtschaftlichen Kollaboration nur dem Krieg wurde dies verächtlich als „collabo- wenige Sätze gelten. Wegen der Zentralisierung ration horizontale“ bezeichnet. und staatlichen Lenkung in beiden Ländern für Paris war nicht nur an der Oberfläche eine die Zwecke der Kriegswirtschaft war dies eine geistig freie Stadt, die Korrekturen und Beein- besondere Form der staatlich kontrollierten flussungen der Propagandaabteilung waren zu- Kollaboration. Einerseits bestand ein starkes rückhaltend. Auch nach den zunehmenden französisches Interesse an einer wirtschaftlichen Provokationen durch Anschläge oder Aktionen Zusammenarbeit für den Erhalt der Lebens- der Untergrundbewegung wurde versucht, ein grundlagen der Bevölkerung, die Kompensation geistiges Milieu aufrechtzuerhalten, wenn auch für verlorene Märkte und die Aufrechterhaltung Misstrauen und Zurückhaltung wuchsen, eben- der Produktion. Andererseits war Deutschland so wie die Repression im Laufe der Zeit zu- nahezu ausschließlich an einer Ausbeutung der nahm.16 französischen Potentiale für die eigene Krieg- Allein die Tatsache, dass so unterschiedliche führung interessiert. Die Entwicklung über die Intellektuelle wie Henry Montherlant, André Zeit, rücksichtsloser Druck und Zwang führten Malraux, Drieu la Rochelle, Jaques Benoist- dazu, dass die Wirtschaft ein Bereich der „Kol- Méchin oder Jean Paul Sartre ihre geistigen laboration“ war, bei dem nur noch die Zwecke Auffassungen und Künstler wie Maillol, Cocteau, der Besatzungsmacht galten. Am Beispiel des Vlaminck oder Charles Despiau ihre künstleri- Arbeitseinsatzes soll dies deutlich gemacht wer- schen Überzeugungen vertreten und sich im den: Nach verschiedenen Entlassungswellen Dialog mit Deutschen wie Ernst Jünger, Fried- arbeiteten bis zum Kriegsende ca. eine Million rich Sieburg, Carlo Schmid oder Arno Breker französischer Kriegsgefangener in Deutschland, austauschen konnten, ist bemerkenswert. Auf dazu kamen 500.000 Zwangsarbeiter. Hinzu die freie Diskussion allein kam es an, nicht auf kamen in Frankreich weitere 1,4 Millionen Ar- eine angestrebte Symbiose im Geist. beiter, weil die deutsche Kriegsproduktion dort- Paris war für deutsche Intellektuelle ein hin verlegt worden war. Auf die fatalen Folgen Zentrum, wie es ein vergleichbares im Reich dieser Zwangsmaßnahmen wiesen verantwor- nicht gab. In keinem Land der Welt „erschienen tungsbewusste französische und deutsche Ex- zwischen 1941 und 1944 mehr wissenschaftli- perten hin – vergebens.18 che, literarische und künstlerische Publikationen Ein besonders dunkles Kapitel der Kollabo- als in Frankreich. Es waren allein 9.348 Buch- ration stellt die Beteiligung an der Deportation titel.“17 Die Vergleichszahlen für die USA oder von 76.000 französischen Juden und damit an Großbritannien betrugen 8.320 bzw. 6.705 Titel. ihrer Ermordung in Vernichtungslagern dar. Auch Film und Theater erlebten eine Fortset- Diese Kategorisierung trifft auch auf die Be- zung ihrer Blüte. Unter der deutschen Besat- kämpfung von Opposition und Résistance bzw. zungszeit wurden 152 Spiel- und 400 Doku- die Durchführung von Repressal- und Sühne- mentarfilme gedreht, darunter so zeitlose Werke maßnahmen zu. wie Marcel Carnés „Kinder des Olymp“ mit Um die grausamen Abrechnungen nach dem Arletty und Jean-Louis Barrault. Dramatiker Krieg einordnen zu können, ist es nötig, hier wie Jean Anouilh festigten ihren Ruf, und ein einige Angaben zu machen. Für die Deutschen Filmregisseur wie Henri Clouzot begann seine war es angenehm, die Bekämpfung von Opposi- beispiellose Karriere im Zeitraum unter der Be- tion und Widerstand, das Aufrechterhalten von setzung. Eine unübersehbare Zahl von Künstlern Ordnung und Sicherheit im besetzten Gebiet hegte Sympathien für Pétain oder die Deut- soweit als möglich der französischen Polizei und schen, Serge Lifar, Coco Chanel oder Sartre, Justiz und den Verbänden der Miliz zu überlas- der rechtzeitig auf die Seite des Widerstandes sen. Zudem reichten Polizei und militärische

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Sicherungsverbände nicht aus, die genannten gen die Bürgerrechte beschnitten und die Juden Zwecke selbst sicherzustellen. Rechtstaatliche ausgegrenzt. Im Oktober 1940 wurde eine Prinzipien wurden dabei nicht aus Überzeu- Volkszählung zur Ermittlung der Zahl der Ju- gung beachtet, sondern nur wenn es opportun den durchgeführt. Im Mai 1942, diesmal abge- war. Bis zu 70.000 Menschen wurden ständig in stimmt mit den Deutschen, wurde das Tragen Gefängnissen und Lagern gehalten. Beispiels- des Gelben Sterns angeordnet. weise wurden durch die französische Polizei im Inzwischen waren die Vorbereitungen der Jahr 1943 9.000 Personen wegen ihrer politi- deutschen SS-/SD-Führung zur Versammlung schen Betätigung verhaftet. Die Justiz arbeitete und Deportation angelaufen. Mit einer Über- mit den Maßstäben eines totalitären Staates. einkunft von 2. Juli 1942 gaben Laval und René Repressions- oder Sühnemaßnahmen waren Bousquet, der Generalsekretär der französischen zwar grundsätzlich legal, nicht jedoch in ihrem Polizei, die Juden zur Deportation frei. Die Fest- Umfang und der Art und Weise ihrer Durch- nahme und Versammlung in Lagern war eine führung. Die Zahl der unterschiedlichen Opfer Aufgabe der französischen Polizei. In Frank- der faschistischen Milizen dürfte in die Zehn- reich waren nur etwa 2.400 deutsche Polizisten tausende gehen. und SD-Leute verfügbar. Die erste Massenver- Die Tatsache der Ermordung von 76.000 Ju- haftung begann am 16. Juli. Fast bis zur Befrei- den war bekannt, der Anteil der Vichy-Regie- ung wurden die Judendeportationen vom Lager rung und der Franzosen daran war nach dem Drancy aus durchgeführt. Nach Klarsfeld wur- Krieg mit Verschweigen und Verdrängen über- den in 85 Transporten exakt 75.721 Personen gangen worden. Mit den unerbittlichen For- nach Auschwitz verbracht.19 schungen und Enthüllungen von Kritikern wie Rousso, Beate und Serge Klarsfeld – die auch AUFARBEITUNG IN DER NACHKRIEGSZEIT – vor Politikern der Fünften Republik nicht Halt ABSCHLUSS machten – sind jedoch die Tatsachen mittler- Im Gegensatz zu Frankreich hatte die Aufar- weile dokumentiert. Präsident Chirac hat sich beitung der Kollaboration in Deutschland wenig 1995 für diesen Ausschnitt der Kollaboration Bedeutung. Hier standen Verbrechen während entschuldigt. Die eigenständige Verhaftung der der Besatzungszeit und Kriegsverbrechen im Juden bzw. die Beteiligung an der Deportation Vordergrund, wobei ein Teil dieser Delikte auch war kein Werk von Ultra-Kollaborateuren, die von französischen Gerichten zu verurteilen war, Verantwortung hierfür fällt voll in die Verantwor- wie im Prozess gegen den SS-General Oberg tung von „Vichy“, angefangen vom Marschall oder gegen Dr. Knochen, den SD-Chef in bis zu den unteren Ebenen von Verwaltung, Frankreich. Justiz und Polizei. Es ist allerdings eine offene Kollaborateure auf deutscher Seite wie bei- Frage, ob – wie mittlerweile für Deutschland spielsweise der Bildhauer Arno Breker oder behauptet – auf Grund verbreiteter antisemiti- Dr. Best, der Leiter des Verwaltungsstabes des scher Einstellungen die Verfolgungsmaßnahmen Militärbefehlshabers Frankreich, wurden nicht gegen die französischen Juden Zustimmung in wegen ihrer Beiträge zur Kollaboration kriti- der Bevölkerung gefunden haben. Immerhin siert oder verurteilt (Best), sondern wegen ihrer haben 75 Prozent den Völkermord überlebt, Einstellungen oder ihrer anderen Tätigkeiten wohl auch durch Umstände, die nicht auf einem während der NS-Zeit.20 „Wollen“ beruhten. Die Abrechnung mit Vichy und der Kolla- Diskriminierende Maßnahmen und Maß- boration begann in Frankreich schon während nahmen zur Entrechtung der jüdischen Bevöl- des Krieges, sie nahm an willkürlicher Gewalt kerungsanteile setzten in Vichy bald ein, ohne und Missachtung humaner Prinzipien zu, je Forderung der Deutschen. Dies waren „voraus- mehr die Befreiung durch die Alliierten voran- eilende Maßnahmen“, von denen man sich kam. Nach der Landung in der Normandie Wohlwollen bei anderen Gelegenheiten ver- wurden bürgerkriegsartige Kämpfe zwischen sprach. Zwischen August 1940 und März 1941 Vichy-Milizen und Formationen der Résistance wurden durch 17 Gesetze und 23 Verordnun- ausgefochten. Je nach den Befindlichkeiten der

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 45 KLAUS-ULRICH HAMMEL

jeweiligen Autoren differieren die Opferzahlen Die Gründe für Abrechnung und „épura- erheblich, auch offizielle Angaben oder Statis- tion“ waren vielschichtig, teilweise wider- tiken sind wenig verlässlich. Noch während der sprachen sie einander. Zu diesen Gründen Besatzungszeit wurden ca. 5.000 Kollabora- gehört die „Exkulpation“ für das Verhalten in teure in Auseinandersetzungen mit dem Maquis der Besatzungszeit, für das „nationale Versa- getötet, zum großen Teil handelte es sich ein- gen“, überhaupt zur Zusammenarbeit mit der fach um Hinrichtungen „in den Wochen vor Besatzungsmacht bereit gewesen zu sein. Inso- der Befreiung“. Durch Standgerichtsurteile nach fern war die Säuberung in gewisser Weise eine dem September 1944 wurden über 1.300 Per- Form des nachträglichen Widerstandes. Ursa- sonen hingerichtet. Nach wilden Verfolgungen, chen für die Abrechnung waren auch Vergel- die zum Teil persönlichen oder klassenkampf- tung und Rache, verbunden mit dem Bemühen, ähnlichen Abrechnungen dienten, wurden offi- eigenes fragwürdiges Verhalten während der ziellen Angaben zufolge zwischen 9.000 und Kollaboration zu überdecken – beispielsweise knapp 11.000 Menschen ohne Urteil umge- bei den Kommunisten zwischen dem Sommer bracht, Schätzungen liegen bei bis zu 50.000 1940 bis zum Beginn des Russlandfeldzuges „spontanen Liquidierungen“, de Gaulle geht im Juni 1941. Schließlich: Je ausgeprägter die immerhin noch von einer Schätzung um die Form der Kollaboration war, desto stärker war 35.000 Personen aus.21 die Rechtfertigung für den individuellen Atten- Mehrere hunderttausend Menschen wurden tismus bzw. je höher die Zahl der Kollabo- in Gefängnisse oder Lager geworfen, darunter rateure, desto höher die „Leistung“ der Résis- auch das Lager Drancy, in das französische tance – der Mythos der Nachkriegszeit bildete Juden vor ihrer Deportation verbracht worden sich heraus. waren. Ungefähr 20.000 Französinnen, die Ver- Mit diesen Mythen, wie mit anderen, ließ es hältnisse mit deutschen Soldaten eingegangen sich jahrzehntelang gut leben. Dazu gehörte der waren, wurden geschändet durch die Straßen Mythos der absoluten Besatzungsherrschaft, getrieben. Bis 1949 wurden etwa 35.000 Ge- der den Franzosen gar keine Alternative zur fängnisstrafen ausgesprochen, andere Strafen aufgezwungenen Kollaboration gelassen hätte reichten von der gesellschaftlichen Ächtung, (Raymond Aron) bzw. dass das Regime des dem Entzug der bürgerlichen Rechte, Berufs- Marschalls auf Grund der den Deutschen abge- verboten oder Entfernung aus dem Staatsdienst rungenen Konzessionen wenigstens zu einer bis zur Enteignung bei Unternehmern. Beson- Milderung der Besatzungsherrschaft beigetragen dere Formen der Kollaboration wurden von be- habe (Amouroux). sonderen Gerichten abgeurteilt, beispielsweise Dann zeigten sich die Auswirkungen des von der Haute Cour de la Justice. Regierungsmit- Kalten Krieges. Die reale Gefahr eines kommu- glieder oder besonders hohe Funktionäre wur- nistischen Europa bestimmte auch die inneren den hier vor Gericht gestellt. Marschall Pétain Einstellungen in Frankreich. Man hatte Wichti- wurde zum Tode verurteilt, aber als 89-jähriger geres zu tun, als in der Vergangenheit „herum- Greis zu lebenslanger Haft begnadigt. Pierre zurühren“. Die Zuweisung der Schuld an die Laval wurde im Oktober 1945 exekutiert, ein Deutschen war bequem, „les enfants maudits“, gleiches Schicksal erlitten Brinon, Minister und die Besatzungskinder waren in der Versenkung Beauftragter Vichys beim deutschen Botschafter verschwunden. Lange Zeit kam man mit der in Paris, Darnand, der Führer der Milizen, oder nationalen Lebenslüge zurecht, aber nicht auf Brassilach, Schriftsteller und geistiger Wegbe- Dauer. Neben den Forschungen der Historiker reiter des Faschismus in Frankreich. Déat, der brachten plakative Fälle wie der Prozess 1987 Führer der RNP, wurde in Abwesenheit zum gegen den SD-Chef in Lyon, Klaus Barbie,22 Tode verurteilt, Drieu la Rochelle zog den Selbst- gegen den früheren Polizeipräfekten Maurice mord einem Todesurteil vor, der Unternehmer Papon 1997, der wegen der Mitwirkung an der Louis Renault verstarb vor seinem Prozess im Deportation von Juden verurteilt wurde, oder Gefängnis, höchstwahrscheinlich an Folgen der der geplante Prozess gegen den genannten René Folter. Bousquet, der wegen der Ermordung des An-

46 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 VICHY UND DIE KOLLABORATION

geklagten 1991 abgesagt werden musste, die Frankfurt a. M. 1992; de Gaulle, Charles: Memoi- „verdrängte Wahrheit“ ans Licht. ren, hier Band 1: Der Ruf / 1940-1942, Berlin / Schuld unterliegt der Normalverteilung, sie Frankfurt a. M. 1955; Shirer, William L.: Der Zu- sammenbruch Frankreichs – Aufstieg und Fall der lässt sich nicht nur einer Seite anlasten. Nach Dritten Republik, München / Zürich 1970. Ziele dem Krieg war die deutsch-französische Freund- und Organisation der deutschen Besatzungsherr- schaft implementiert worden, das schrittweise schaft: Jäckel, Eberhard: Frankreich in Hitlers Eu- Aufdecken der Wahrheit hat sie nicht berührt. ropa, Stuttgart 1968; Ders.: Hitlers Weltanschau- Am Entstehen dieser Freundschaft haben oft ung, Stuttgart 1983; Hillgruber, Andreas: Hitlers die mitgewirkt, die man früher Kollaborateure Strategie. Politik und Kriegführung 1940-1941, Bonn, 3. Aufl., 1993; Umbreit, Hans: Der Militär- nennen konnte. befehlshaber in Frankreich 1940-1944, Boppard Umbreit schreibt in der mehrfach erwähnten 1968. Träger der Kollaboration: Sternhell, Zeev: Studie, „dass das deutsch-französische Verhält- Ni gauche, ni droit, l’idéologie fasciste en France, nis … eine Entwicklung genommen hatte, mit Paris 2000; Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner der seit 1945 kaum gerechnet werden konnte. Epoche, München 1963; Weißmann, Karlheiz: Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung … beide Völker sind, im Guten wie im Schlech- 1890-1933, München 1998; Seidler, Franz: Die Kol- ten, seit 1940 in so engem Kontakt gewesen, laboration 1939-1945. Zeitgeschichtliche Dokumen- dass eine Neubesinnung auf das gemeinsame tation in Biographien (Lexikon), München 1999. Schicksal unerlässlich gewesen ist. … außerdem Die französische Gesellschaft während der Besat- haben sich auch während des Krieges mensch- zungszeit: Hirschfeld, Gerhard / Marsh, Patrick liche Beziehungen entwickelt, die oft anschlie- (Hrsg.): Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirt- schaft und Kultur während der nationalsozialisti- ßend noch Bestand hatten.“ schen Besatzung 1940-1944, Frankfurt a. M. 1991; Und er zitiert Ernst Jünger: „Der zweite Harpprecht, Klaus: Arletty und ihr deutscher Offizier: Weltkrieg hat ungeheure Zerstörungen gebracht. Eine Liebe in Zeiten des Krieges, Frankfurt a. M. Aber er hat auch Vorurteile geschwächt, die 2011; Vaughan, Hal: Coco Chanel – Der schwarze unüberwindlich schienen, und Türen aufge- Engel. Ein Leben als Nazi-Agentin, Hamburg 2011; stoßen, die nicht mehr zu schließen sind.“23 Vercors: Das Schweigen des Meeres, Zürich 1999; Jünger, Ernst: Strahlungen I und II, hier Das erste bzw. das zweite Pariser Tagebuch, Stuttgart 1980. KLAUS-ULRICH HAMMEL ||||| Felder der Kollaboration: Lieb, Peter: Konventionel- Oberst a. D., Generalstabsoffizier, Verfasser ler Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegs- zahlreicher militärgeschichtlicher Schriften und führung und Partisanenbekämpfung in Frankreich Studien 1943/44, München 2008; Klarsfeld, Serge: Vichy- Ausschwitz. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, Darmstadt 2007; Seibel, Wolfgang: Macht und Moral. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, 1940-1944, München 2010; hierzu ANMERKUNGEN ist weiter heranzuziehen Umbreit: Der Militärbe- fehlshaber in Frankreich. Nachkriegszeit / Abrech- 1 An dieser Stelle soll eine Auswahl der Literatur ange- nung mit der Kollaboration: Rousso, Henri: Frank- führt werden, die bei der Bearbeitung des Themas reich und die „dunklen Jahre“, Jena 2010; Aron, in erster Linie herangezogen wurde. Gesamtdar- Raymond: Histoire de l’épuration, 3 Bände, Paris stellungen: Rousso, Henri: Le syndrome de Vichy 1974; Picaper, Jean-Paul / Norz, Ludwig: Die Kin- de 1944 à nos jours, Paris 1990; Aron, Raymond: der der Schande: Das tragische Schicksal deutscher Histoire de Vichy, Paris 1954; Paxton, Robert: Vichy Besatzungskinder in Frankreich, München 2005. France: Old Guard and New Order, 1940-1944, 2 New York 1972; Amouroux, Henri: La grande Mauriac, Francois, in: Le Figaro, 3.7.1941, zitiert histoire des Français sous l’occupation, 10 Bände, nach Benoist-Méchin, Jacques: Der Himmel stürzt Paris ab 1976. Der Feldzug von 1940 und das Ende ein. Frankreichs Tragödie 1940, Düsseldorf 1958, der Dritten Republik: Benoist-Méchin, Jacques: S. 519. Der Himmel stürzt ein. Frankreichs Tragödie 1940, 3 Dies ließ die erneute Annexion der Provinzen als Düsseldorf 1958; Heimsoeth, Hans-Jürgen: Der Zu- eine vorweggenommene Tatsache erscheinen. Logi- sammenbruch der Dritten Französischen Republik; scherweise wurde von der französischen Regierung Frankreich während der „Drôle de Guerre“ 1939/40, alles unternommen, um die Bindungen aufrecht zu Bonn 1990; Bloch, Marc: Die seltsame Niederlage: erhalten und gewisse deutsche Maßnahmen zu un- Frankreich 1940 – Der Historiker als Zeitzeuge, terlaufen.

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4 Jäckel: Hitlers Weltanschauung, S. 43; das Zitat 19 Bei den vorangegangenen Darstellungen habe ich stammt aus Hitlers „Mein Kampf“, S. 766 f. mich vor allem auf Rousso: Frankreich und die 5 Hirschfeld / Marsh (Hrsg.): Kollaboration in Frank- „dunklen Jahre“ sowie auf Klarsfeld: Vichy – reich, hier die Einführung Hirschfelds, S. 12. Auschwitz. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frank- reich, Seibel: Macht und Moral. Die „Endlösung 6 Umbreit: Der Militärbefehlshaber in Frankreich der Judenfrage“ in Frankreich und Lieb: Konventio- 1940-1944, S. 10. neller Krieg oder NS-Weltanschauung? gestützt. 7 Einen guten Eindruck darüber geben Umbreit sowie 20 Ernst Jünger beschreibt in seinen Tagebüchern Walter Bargatzky in seinen Erinnerungen: Hotel „Strahlungen“ ein faszinierendes Bild der in Paris Majestic. Ein Deutscher im besetzten Frankreich, tätigen deutschen Persönlichkeiten. Besonders be- Freiburg 1998. zeichnend ist seine Darstellung im Hinblick darauf, 8 Nach Auffassung verschiedener Autoren hat der wie nahe moralisches Versagen und moralische Anteil aktiver Résistance-Kämpfer nie mehr als Größe nebeneinander lagen und ineinander über- 40.000 Mann betragen. Nachdem der Sieg abzuse- gingen. Beispielsweise wurde nach dem Krieg in hen war, begaben sich Zehntausende mit zweifel- Bezug auf die Person Bests mehr mit schwarz-weiß- haften Gründen in das Lager des Widerstandes und Kategorien gearbeitet. taten sich mit besonders brutalen Aktionen hervor. 21 Die angegebenen Zahlen habe ich von Harpprecht: 9 Zu Versagen des Parlamentarismus siehe Seidler: Arletty und ihr deutscher Offizier, S. 323 f. und Die Kollaboration 1939-1945 (Lexikon), S. 8 ff. Seidler: Die Kollaboration 1939-1945, S. 22 ff. über- 10 Weißmann: Der Nationale Sozialismus, S. 16. nommen. 22 11 Zu Maurras siehe Seidler: Die Kollaboration 1939- Vgl. die „Spiegel“-Serie von Heinz Höhne über den 1945 (Lexikon), S. 366 ff. Barbie-Prozess ab der Ausgabe 19/1987. 23 12 Darlan war auf Grund des Ablaufs der Operationen Umbreit: Der Militärbefehlshaber in Frankreich. bis zur Räumung von Dünkirchen ohnehin ein Geg- ner Englands geworden. Es dürfte weniger bekannt sein, dass es wegen eines missglückten Angriffs der Briten und Freien Franzosen auf Dakar noch im September 1940 zu einem französischen Luftangriff auf Gibraltar als Vergeltung gekommen ist. 13 Siehe hierzu Jurt, Joseph: Frankreichs engagierte In- tellektuelle: Von Zola bis Bourdieu, Göttingen 2012, hier das Kapitel 8: Extreme Fremdbestimmung: Die Zeit der Besetzung (1940-1944); vgl. auch die Bio- graphien von Darnand, Déat und Doriot bei Seidler: Die Kollaboration 1939-1945 (Lexikon). 14 Die Bemühungen, vor allem der Amerikaner, um vor oder möglichst bald nach der Landung die Vichy- Truppen in Nordafrika zu neutralisieren, und die geringe Bedeutung, welche die Bewegung de Gaulles dabei hatte, habe ich in: Der Krieg in Italien 1943- 45. Brennpunkt Cassino-Schlachten, Bielefeld 2012, beschrieben. Hier die Kapitel 1 und 2. Admiral Darlan wurde nur wenige Tage nach dem Umsturz in Algier unter mysteriösen Umständen ermordet. 15 Siehe u. a. den Bericht von Joseph Hanimann über die Zucca-Ausstellung in der FAZ, 25.4.2008. 16 Hier ist auf die Schilderungen Ernst Jüngers, Klaus Harpprechts, aber auch von anderen zu verweisen. 17 Seidler: Die Kollaboration 1939-1945 (Lexikon), S. 24. 18 Siehe hierzu Margairaz, Michel: Deutschland, Vichy und die ökonomische Kollaboration, in: Kollabora- tion in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940- 1944, hrsg. von Gerhard Hirschfeld und Patrick Marsh, Frankfurt a. M. 1991.

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GROßMACHTANSPRUCH UND ARABISCHE POLITIK

ROLAND HÖHNE ||||| Trotz des realen Machtverlustes seit 1940 beansprucht Frankreich weiterhin, Großmacht zu sein. Um diesen Anspruch durchzusetzen, entwickelte Charles de Gaulle 1967 die „arabische Politik“. Deren Ziel war es, als eigenständige Macht in der arabischen Welt präsent zu sein und an den wichtigen Entscheidungen der Region mitzuwirken. Sie war vor allem gegen die USA gerichtet. Seine Nachfolger haben die Grundlinien dieser Politik fortgesetzt, sie jedoch stets den sich verändernden internationalen Konstellationen angepasst. Seit der Präsidentschaft von Sarkozy verfolgen sie diese nicht mehr gegen, sondern mit den USA. So ist es Frankreich gelungen, bis heute einen erheblichen Einfluss in der arabischen Welt auszuüben.

GROßMACHTDISKURS UND französischen Außenpolitik. Er hat sowohl eine GROßMACHTPOLITIK innen- als auch außenpolitische Funktion. In- „La France ne peut pas être la France sans la nenpolitisch dient er der nationalen Kohäsion grandeur.“1 Dieser berühmte Satz de Gaulles und damit Stabilität, außenpolitisch der Kom- bezeichnet die nationale Größe als konstituti- pensation des realen Machtverlustes seit 1940 ves Element der französischen Identität. Unter und der Legitimation des Anspruchs auf welt- Größe verstand der General neben Prestige und weite Mitsprache. 4 Ruhm vor allem Macht und Einfluss in der Welt. Frankreich müsse weltweit gehört und DIE GEBURT DER ARABISCHEN POLITIK geschätzt werden. Seine Worte und seine Taten Im Rahmen seiner nationalen Unabhängig- müssten bei internationalen Entscheidungen Ge- keits- und Großmachtpolitik strebte de Gaulle wicht haben. Deshalb müsse es auch weltweit nach dem Ende des Algerienkrieges (1962) eine präsent sein: politisch, sprachlich-kulturell, ter- eigenständige Rolle in der arabischen Welt an. ritorial, militärisch. De Gaulle begründete sei- Er wolle dadurch einerseits den Verlust der nen Großmachtanspruch mit der ruhmreichen Kolonialherrschaft über Nordafrika kompensie- Geschichte Frankreichs, die diesem eine be- ren, andererseits seine Unabhängigkeit von den sondere Rolle in der Welt zuweise. 2 Dieser An- USA demonstrieren. Außerdem ging es ihm um spruch ist von seinen Nachfolgern reduziert, aber handfeste wirtschaftliche Interessen. Das wich- keineswegs aufgegeben worden. So erklärte der tigste Problem jener Zeit war der Nahost-Kon- gegenwärtige Staatspräsident François Hollande flikt zwischen Israel und seinen arabischen Nach- nach dem erfolgreichen Abschluss der Mali- barn. In diesem nahm Frankreich zunächst eine intervention im Mai 2013, Frankreich gelte auf pro-israelische Haltung ein. Es belieferte Israel der internationalen Bühne nun wieder als „gro- mit schweren Waffen (Panzer, Flugzeuge), un- ße Nation von Gewicht“. 3 Als fester Bestandteil terstützte es diplomatisch und kooperierte mit des nationalen Selbstverständnisses beeinflusst ihm während der britisch-französischen Suez- der Großmachtdiskurs das außenpolitische intervention 1956. Den gemeinsamen Gegner Denken und Handeln der französischen Akteu- bildete der arabische Nationalismus mit seinem re und ist damit ein integraler Bestandteil der Zentrum Ägypten unter Abdel Nasser.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 49 ROLAND HÖHNE

De Gaulle setzte nach seiner Rückkehr an die können. Lediglich im Irak spielte es eine eigen- Macht im Mai 1958 zunächst die pro-israeli- ständige Rolle. sche Politik der IV. Republik fort. Nach dem Ihren Höhepunkt erreichte die internationale Ende des Algerienkrieges 1962 begann er jedoch Kooperationspolitik 1990/91 mit der Beteiligung langsam, einen grundlegenden Kurswechsel am ersten Golfkrieg an der Seite der Amerika- vorzubereiten. Am Vorabend des Sechs-Tage- ner. Frankreich hoffte dadurch, ein Mitspra- Krieges von 1967 warnte er Israel vor einem cherecht bei der Regelung des Irakproblems zu Waffengang. Als dieses dann auf die ägyptische gewinnen. Dies gelang ihm aber nicht, da sein Blockade des Golfes von Kaaba doch mit einer militärischer Beitrag zur Niederwerfung der Offensive antwortete, verhängte er am 2. Juni Diktatur Saddam Husseins zu gering war.6 Es 1967 ein Waffenembargo und verurteilte das verlor jedoch erheblich an Prestige unter den israelische Vorgehen.5 Trotz heftiger innerfran- arabischen Massen, besonders in Nordafrika. zösischer und internationaler Proteste hielt er Dort entwickelten sich in Algerien die Ausein- an seinem pro-arabischen Kurs fest. Die „arabi- andersetzungen zwischen religiösen und säkula- sche Politik“ war geboren. Sie beruhte offiziell ren Kräften zu einem erbarmungslosen Bürger- auf den Prinzipien der Selbstbestimmung, der krieg. In diesem unterstützte Paris das säkulare Souveränität, der Nichteinmischung in innere FLN-Regime u. a. durch das Vorgehen gegen Angelegenheiten, der Partnerschaft und der islamistische Aktivitäten unter den nordafrika- Kooperation, ihren Kern aber bildete die Inter- nischen Einwanderern in Frankreich, griff aber essenkonvergenz gegenüber den USA. Frank- nicht direkt ein. reich wollte als Partner der arabischen Länder wieder zu einem eigenständigen Machtfaktor im STRATEGIEWANDEL NACH DEM ENDE DES Nahen Osten aufsteigen, die arabischen Staaten OST-WEST-KONFLIKTS der Region hofften, sich mit französischer Hilfe Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aus der einseitige Abhängigkeit von den USA zu wandte sich Frankreich noch unter Mitterrand befreien, ohne dabei, wie Ägypten unter Nasser, stärker dem Süden zu. Es suchte hier einen in sowjetische Abhängigkeit zu geraten. Ausgleich für die Verschiebung des innereuro- Die wirtschaftliche Basis der arabischen Poli- päischen Kräfteverhältnisses durch die Wieder- tik bestand vor allem im Geschäft: Rüstungsgüter vereinigung Deutschlands, gleichzeitig aber auch gegen Erdöl. Dieses Tauschgeschäft entsprach Schutz vor den neuen Gefahren (Islamismus, der gegenseitigen Interessenlage. Frankreich Terrorismus, Wanderungsbewegungen), die sich unterhielt im Interesse seiner Unabhängigkeits- aus der Instabilität und Entwicklungsschwäche und Großmachtpolitik eine überdimensionierte der südlichen und östlichen Mittelmeerländer nationale Rüstungsindustrie, die sich nur durch ergaben. Angesichts der Größe der Aufgaben massive Rüstungsexporte finanzieren ließ, die bemühte es sich, dafür europäische Ressourcen arabischen Staaten, vor allem Libyen, der Irak, zu mobilisieren. Dies gelang auch auf der euro- Saudi-Arabien und die Golfemirate, verfügten päisch-mediterranen Konferenz von Barcelona über reiche Erdölvorkommen, die ihnen den 1995, an denen sich außer den damaligen EU- Import von modernen Rüstungsgütern erlaub- Mitgliedern auch elf Länder des südlichen und ten. östlichen Mittelmeerraums sowie Vertreter der De Gaulles arabische Politik verschaffte palästinensischen Autonomiegebiete beteiligten. Frankreich erhebliche Popularität in der arabi- Ihr Ergebnis war der sogenannte Barcelonapro- schen Welt, schloss es jedoch von den Bemü- zess, der die arabischen Anrainer des Mittel- hungen um eine Lösung des Nahost-Konflikts meeres in die europäische Stabilisierungs- und aus. Trotzdem hielten seine Nachfolger an ihr Entwicklungspolitik einbinden solle. Trotz fest. Mitterrand versuchte jedoch, den Nahost- großartiger Projekte und erheblicher Mittel ist Konflikt zu beeinflussen, indem er sich an der dies jedoch nicht gelungen. UN-Libanonmission 1982/83 beteiligte. Frank- Zur obersten Priorität der französischen Au- reich wurde so in die innerlibanesischen Wirren ßenpolitik wurden die Nord-Süd-Beziehungen hineingezogen, ohne diese groß beeinflussen zu aber erst unter dem Neo-Gaullisten Jacques

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Chirac (1995-2007). Er wollte vor allem die Osten suchte er im Gegensatz zu Mitterrand Chancen nutzen, die sich für Frankreich aus nicht primär die Zusammenarbeit mit den Golf- dem Trend zur Multipolarität des internatio- emiraten, sondern mit Saudi-Arabien. Dieses nalen Systems ergaben. Um dazu in der Lage strebte nach dem 1. Golfkrieg eine Diversifika- zu sein, baute er die französischen Interven- tion seiner Rüstungsimporte an, um nicht völ- tionskapazitäten durch eine Streitkräftereform lig von den USA abhängig zu sein. Frankreich aus.7 mit seiner hochentwickelten Rüstungsindustrie In Zukunft sollten die Streitkräfte in der bot sich ihm als Partner an. Lage sein, gleichzeitig an zwei Konfliktherden Im Irakkonflikt verfolgte er einen neogaul- präsent zu sein. Um eine bessere Kooperation listischen Kurs. Er beteiligte Frankreich nicht mit den USA bei internationalen Konflikten zu an der anglo-amerikanischen Kontrolle der ermöglichen, plante Chirac auch 1996 die Rück- Flugverbotszonen, die über dem Irak nach dem kehr in die integrierten Kommandostrukturen 1. Golfkrieg eingerichtet worden waren, und der Atlantischen Allianz. Als Preis verlangte er kritisierte das UN-Embargo gegen das Land. allerdings die Übertragung des NATO-Süd- Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen droh- europakommandos an einen Franzosen, um so te er mit einem Veto, falls die USA versuchen auch innerhalb der Allianz die französische Po- sollten, eine internationale Legitimation für eine sition im Mittelmeerraum zu stärken. Dieses Irakintervention zu erlangen. Als die Amerika- wird traditionell von einem US-Admiral wahr- ner dann auch ohne UN-Mandat mit „willigen“ genommen, der auch gleichzeitig Befehlshaber Verbündeten intervenierten, entschied er sich der 6. US-Flotte im Mittelmeer ist. Die Erfül- nach anfänglichem Zögern gegen eine Teil- lung der französischen Forderung hätte bedeu- nahme. Er wurde dabei sowohl von Berlin als tet, dass diese Personalunion aufgelöst und die auch von Moskau unterstützt, aber von vielen 6. US-Flotte einem französischen NATO- arabischen und europäischen Regierungen, be- Offizier unterstellt worden wäre. Die Amerika- sonders im Osten der EU, heftig kritisiert. In ner lehnten daher Chiracs Forderung ab. den Vereinigten Staaten löste seine Haltung Chirac forderte auch eine Beteiligung der starke Empörung aus. Innerhalb des Westens EU an den Bemühungen um eine Regelung des war damit Frankreich weitgehend isoliert, bei Nahostkonflikts. Im Rahmen ihrer Mittelmeer- den arabischen Massen aber erneut populär. politik finanzierte diese 80 % der internationa- len Aufbauprogramme in den palästinensischen Autonomiegebieten. Chirac hoffte, dabei eine DIE PRO-AMERIKANISCHE WENDE UNTER führende Rolle zu spielen. Er machte sich zum NICOLAS SARKOZY Sprecher palästinensischer Interessen und kriti- Chiracs Nachfolger, Nicolas Sarkozy (2007- sierte die israelische Siedlungspolitik. Dadurch 2012), verfolgte ebenfalls die Grundziele der gewann er Sympathien bei den Arabern, nicht arabischen Politik, wollte sie jedoch nicht mehr jedoch die Unterstützung der pro-amerikanisch gegen, sondern gemeinsam mit den USA errei- eingestellten EU-Mitglieder. Diese waren mehr- chen. 2009 kehrte Frankreich deshalb in die heitlich vor allem nicht bereit, sich militärisch integrierte Kommandostruktur der NATO zu- im Nahen Osten zu engagieren. Daher scheiterte rück, wie es bereits Chirac angestrebt hatte. sein Vorstoß. Dies bedeutete jedoch keineswegs den Verzicht Nach der israelischen Intervention im Liba- auf eine eigenständige Nah- und Mittelostpoli- non 2006 verstärkte er jedoch das dortige fran- tik.8 So vereinbarte er die Errichtung eines Mi- zösische Blau-Helm-Kontingent. Dieses hatte im litärstützpunktes in Abu Dhabi am Persischen Rahmen der UN-Friedensmission die Aufgabe, Golf und schloss mit dem Emirat umfangreiche gemeinsam mit der libanesischen Armee nach wirtschaftliche und kulturelle Abkommen. An- dem Abzug der israelischen Truppen die liba- gesicht der geopolitischen und geostrategischen nesische Souveränität im Süden des Landes Gegebenheiten der Region war dieser Schritt wiederherzustellen und das Einsickern von be- nur im Einvernehmen mit den Vereinigten waffneten Milizen zu verhindern. Im Mittleren Staaten sinnvoll.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 51 ROLAND HÖHNE

Er versuchte aber auch, der arabischen Poli- flussgebiet. 1943 besetzten französische Kolo- tik durch die Gründung einer Mittelmeerunion nialtruppen die Region Fezzan im Süden des einen festen institutionellen Rahmen zu geben. Landes, mussten sich aber unter britisch- Deren vorrangiges politisches Ziel sollte die amerikanischem Druck nach dem Krieg wieder Beilegung des Nahostkonflikts bilden. Ferner zurückziehen.10 sollte sie der Türkei eine Alternative zur EU- Nach seinem Staatsstreich übernahm 1969 Mitgliedschaft bieten. Mitglieder der Union soll- Oberst Gaddafi die Macht. Französische Bemü- ten nur die mediterranen Länder einschließlich hungen, das Land in seinen Einflussbereich ein- des atlantischen Portugal werden. Damit war zubeziehen, scheiterten an dessen panarabischen sie als Konkurrenz zur EU und ihrem Barcelona- und panafrikanischen Ambitionen. Gaddafi Prozess konzipiert. Dies traf auf den heftigen wollte die arabischen und afrikanischen Staa- Widerstand der ausgeschlossenen nördlichen ten vereinen. In den ersten 25 Jahren seiner EU-Länder, insbesondere Deutschlands. Dar- Herrschaft lancierte er 12 bilaterale und trilate- aufhin reduzierte Sarkozy seine Pläne. Die rale Vereinigungsprojekte mit 8 Staaten. Keines geplante Organisation sollte kein Konkurrenz- davon war erfolgreich.11 Im Jahr 1999 ergriff er unternehmen zur EU bilden, sondern dessen die Initiative für die Gründung einer Afrikani- Strukturen ergänzen und bereichern. Dies drück- schen Union (AU). Gaddafi hoffte, in ihr eine te sich in ihrer neuen Bezeichnung „Union für führende Rolle zu spielen, ergänzt werden soll- das Mittelmeer“ aus. So wurde eine Zusam- te diese durch eine afrikanisch-arabische Wäh- menarbeit mit allen EU-Ländern möglich. Am rungsunion, die ihre Mitglieder unabhängig vom 13. Juli 2008 wurde die Union mit großem Dollar und Euro machen würde. Ihr Zahlungs- Pomp vom Europäischen Rat in Paris gegründet. mittel sollte der Gold-Dinar sein, der durch die An der Gründungsveranstaltung beteiligten sich Goldreserven der libyschen Zentralbank gedeckt 43 Staaten, darunter alle EU-Mitglieder, die wurde. Ferner strebte Gaddafi 2011 noch die Türkei, Israel und die arabischen Länder mit Einrichtung eines Afrikanischen Währungsfonds Ausnahme Libyens. Letzteres akzeptierte, wie (AWF) an, um die afrikanischen Staaten unab- bereits beim Euro-mediterranen Projekt der hängig vom IWF zu machen. EU, lediglich einen Beobachterstatus. Die Union Alle drei Initiativen bedrohten den französi- krankte von Anfang an an den zahlreichen In- schen Einfluss im frankophonen Afrika und in teressengegensätzen ihrer Mitglieder, insbeson- der arabischen Welt. Das galt vor allem für den dere zwischen Israel und seinen arabischen Plan einer Währungsunion, denn im Falle sei- Nachbarn. Die israelische Intervention im ner Verwirklichung würde dies das Ende des Gaza-Streifen vom Dezember 2009 (Gegossenes CFA-Franc bedeuten, durch den die franko- Blei) blockierte weitgehend den institutionellen phonen Staaten Schwarzafrikas finanzpolitisch Ausbau der Union. Die Protestbewegung in an Frankreich gekoppelt sind. Gaddafi verletzte den arabischen Ländern (Arabischer Frühling) aber auch die französischen Interessen direkt führte dann 2011 de facto zu ihrer Handlungs- durch seine politischen und militärischen In- unfähigkeit. Sarkozys Traum von einer Füh- terventionen im tschadischen Bürgerkrieg.12 Er rungsrolle im Mittelmeer und damit auch im wollte, wie bereits sein Vorgänger König Idris, Nahen Osten erfüllte sich nicht. einen Grenzstreifen im nördlichen Tschad an- Ein besonderes Problem für die französische nektieren und das Land in eine islamische Re- Mittelmeerpolitik war Libyen. Geopolitisch bil- publik verwandeln, die ähnlich organisiert sein det es die Landbrücke zwischen dem Maghreb sollte wie der libysche Staat. Er hoffte, dadurch und dem Maschrek sowie das Tor zu Schwarz- auf Kosten der Franzosen Einfluss in Zentral- afrika. Deshalb hatte Frankreich bereits im afrika zu gewinnen. Er scheiterte jedoch am 19. Jahrhundert im Zuge seiner Mittelmeer- Widerstand tschadischer Kräfte, die von Frank- expansion versucht, Tripolitanien zu besetzten, reich unterstützt wurden.13 war aber am britischen Widerstand gescheitert. Libyen war und ist jedoch für Frankreich 1911 wurde Libyen italienische Kolonie,9 nach nicht nur aus geopolitischen, sondern auch aus dem II. Weltkrieg britisch-amerikanisches Ein- wirtschaftlichen Gründen wichtig. Es ist ein

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ressourcenreiches Land, das vor allem über Eliten im arabischen Raum, de facto erfolgte große Erdöl- und Gasvorkommen verfügt, die dieser aber nur in einigen von ihnen. In Tune- es zu einem wichtigen Energieexporteur mach- sien und Ägypten beschränkte sich Sarkozy auf ten.14 Die französische Erdölgesellschaft Total politische Schützenhilfe, in Libyen griff er am war zwar vor dem Libyenkrieg an der Förde- 19. März gemeinsam mit Großbritannien und rung und Vermarktung des libyschen Erdöls den USA auch militärisch ein. Die rechtliche beteiligt, erreichte aber bei weitem nicht den Grundlage bildete ein UN-Mandat für die Er- Anteil der italienischen ENI. richtung einer Flugverbotszone im Lande zum Ende der 1990er-, Anfang der 2000er-Jahre Schutze der Zivilbevölkerung.16 Frankreich und veränderten sich die Rahmenbedingungen der seine Verbündeten weiteten das UN-Mandat französisch-libyschen Beziehungen. Das Verhält- aber rasch auf den Sturz des Gaddafi-Regimes nis Libyens zum Westen entspannte sich, die aus. UN-Sanktionen wurden aufgehoben, Gaddafi Die USA drängten jedoch darauf, die Ko- verzichtete auf den Besitz von ABC-Waffen. ordinierung des alliierten Luftkrieges auf die Eine Kooperation mit Libyen schien möglich. NATO zu übertragen. Wochenlang sträubte Chirac ergriff die Initiative und besuchte am sich Sarkozy dagegen, musste aber schließlich 24. November 2004 Gaddafi in Tripolis. Er bot nachgeben. Ende März übernahm die NATO diesem einen „konstruktiven Dialog“ sowie eine die Führung.17 Die Hauptlast der Kriegsfüh- „wahre Partnerschaft“ an. Er wolle die diplo- rung trugen die Amerikaner, denn nur sie matischen Beziehungen, die nach einem Flug- konnten die libysche Flugabwehr und das stark zeugzwischenfall über dem Tschad abgebrochen ausgebaute Bunkersystem brechen. Sie hielten worden waren, wieder aufnehmen, die wirt- sich jedoch aus politischen Gründen im Hin- schaftliche Zusammenarbeit intensivieren und tergrund und überließen Sarkozy weiterhin Libyen bei der zivilen Nutzung der Atomener- die öffentliche Regie. Dieser nutzte sie reichlich gie helfen. Sarkozy setzte Chiracs Bemühungen für die eigene Selbstdarstellung. Der Erfolg der fort und empfing Gaddafi zu einem Gegenbe- Intervention, der Sturz Gaddafis, wurde daher such in Paris. Er vereinbarte mit ihm nicht nur ihm zugeschrieben. Davon profitierte Frank- konventionelle Geschäfte im Bereich Rüstungs- reich nicht nur politisch sondern auch wirt- güter und Erdöl, sondern auch den Transfer von schaftlich. Nukleartechnologie zum Aufbau einer libyschen Der Libyenkonflikt hatte jedoch einmal mehr Atomwirtschaft. Sie sollte zwar nur der zivilen gezeigt, dass zwar Frankreich in einem regiona- Nutzung dienen, ein militärischer Missbrauch len Konflikt die Initiative ergreifen kann, deren war bei dem unberechenbaren Gaddafi aber Erfolg aber außerhalb von Schwarzafrika von keineswegs auszuschließen. den USA abhängt. So scheint sich ein neues Verhältnis zwischen Frankreich und den USA STRATEGIEWANDEL NACH AUSBRUCH DES in der arabischen Welt herauszubilden. Ange- „ARABISCHEN FRÜHLINGS“ sichts ihres Macht- und Prestigeverlustes über- Der Aufruhr in den arabischen Ländern lassen die USA den Europäern, d. h. Frankreich gegen die autoritären Regime im Jahre 2011 und Großbritannien, die Initiative und entschei- veränderte grundlegend die französischen Be- den dann selbst, ob sie dieser folgen oder nicht. ziehungen zur arabischen Welt. Bis dahin hatte Dies wurde während des gegenwärtigen Syrien- Frankreich autoritäre Regime im Interesse von konfliktes erneut deutlich. Sarkozys Nachfolger, Sicherheit und Stabilität unterstützt. Nun aber François Hollande, forderte 2012/13 wieder- wechselte Sarkozy die Strategie. Er schwang holt eine westliche Intervention in Syrien zu- sich zum Vorkämpfer der Freiheit und Selbst- gunsten der Regierungsgegner im Namen der bestimmung der arabischen Völker auf und Menschenrechte. Der amerikanische Präsident machte die Förderung der Demokratie und den Obama schien ihm zunächst zu folgen, verzich- Schutz der Menschenrechte zum zentralen Ziel tete aber dann im Herbst 2013 auf ein militäri- der französischen Politik.15 Dies bedeutete pro- sches Eingreifen. Die Libyenintervention wie- grammatisch einen Bruch mit den autoritären derholte sich nicht.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 53 ROLAND HÖHNE

FAZIT zitäten noch über die operativen Mittel für Die aus dem Großmachtanspruch, aber auch eigenständige Militäroperationen in der arabi- aus handfesten Interessen resultierende arabi- schen Welt. Sein wichtigstes Statussymbol, sei- sche Politik zeigt deutlich die Möglichkeiten, ne Atomwaffen, sind in regionalen Konflikten aber auch die Grenzen Frankreichs in der arabi- stumpf. Dank seiner arabischen Politik übt es schen Welt. Während es in Nordafrika seinen im arabischen Raum jedoch beträchtlichen Einfluss nach der Unabhängigkeit Tunesiens, politischen und kulturellen Einfluss aus. Sein Marokkos und Algeriens (1956-1962) auf neu- Voluntarismus hat sich somit ausgezahlt. Sein er Grundlage wahren bzw. ausbauen konnte, ursprüngliches Ziel, als eigenständiger Macht- gelang ihm dies im Nahen und Mittleren Osten faktor seinen Großmachtanspruch durchzuset- nur in bescheidenem Maße. Hier stieß es nicht zen, hat es jedoch nicht erreicht. nur auf die widerstreitenden Interessen Israels und seiner arabischen Nachbarn, sondern auch ||||| PROF. DR. ROLAND HÖHNE auf die Interessen der USA und bis zum Ende emeritierter Professor für Landeswissenschaft des Ost-Westkonflikts auf die der Sowjetunion. Romanistik, Fachgebiet Geschichte / Politik, Indem es sich zum Wortführer arabischer Inter- Universität Kassel essen gegen beide machte, vermochte es unter de Gaulle erheblich an Einfluss in den arabi- schen Ländern gewinnen, von denen es auch wirtschaftlich profitierte. Von den Bemühun- gen um eine Regelung des Nahost-Konfliktes war es jedoch ausgeschlossen. Dies gelang ihm auch nicht durch seine Beteiligung an der UN- Friedensmission im Libanon. Die Teilnahme an der Seite der Amerikaner am 1. Golfkrieg 1991 brachte ihm nur geringen Gewinn, da sein mili- tärischer Beitrag zu gering war. Bei der Gestal- tung der irakischen Nachkriegsordnung spielte es keine Rolle. Sein Versuch, europäische Res- sourcen für seine arabische Politik zu mobilisie- ren (Barcelonaprozess) verlief ebenso im Sande wie das Projekt einer Mittelmeerunion unter französisch-ägyptischer Führung. Die unter Ein- beziehung aller EU-Länder gegründete „Union für das Mittelmeer“ scheiterte schon nach kur- zer Zeit an den widerstreitenden Interessen ihrer Mitglieder. Hier zeigte sich deutlich die Diskrepanz zwi- schen hochgesteckten Zielen und begrenzter Gestaltungskraft. Mit der Errichtung eines Mi- litärstützpunktes in Abu Dhabi am Persischen Golf macht Frankreich jedoch deutlich, dass es seine Ambitionen in der arabischen Welt kei- neswegs aufgegeben hat. Allerdings verfolgt es diese seit Sarkozy nun an der Seite der USA. Dadurch war es im Libyenkonflikt erfolgreich. Dessen Verlauf machte aber erneut die Grenzen seiner militärischen Handlungsmöglichkeiten deutlich. Trotz der Streitkräftereform Chiracs verfügt es weder über die militärischen Kapa-

54 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 GROßMACHTANSPRUCH UND ARABISCHE POLITIK

ANMERKUNGEN dische Unternehmen, die Kontrolle über sie liegt

jedoch in libyscher Hand. http://de.wikipedia.org/ 1 „Frankreich kann nicht Frankreich sein ohne Grö- wiki/Erd%C3%B6l/Tabellen_und_Grafiken, Stand: ße“, zitiert nach De Gaulle, Charles: Mémoires de 18.1.2014. guerre. L’ appel 1940-1942, Paris 1954, S. 7. 15 Sarkozy, Nicolas:„Les peuples arabes attendent une 2 Vgl. Cerny, Philip P.: The Politics of Grandeur. politique gaulliste“, in: Le Monde, 29.2.2011, eben- Ideological Aspects of de Gaulle’s Foreign Policy, so im Interview „Wenn ein Volk seine Freiheit ein- Cambridge 1980. fordert, steht Frankreich künftig an seiner Seite. 3 Le Monde, 18.5.2013 Stabilität ist ein Ziel, das man mit Hilfe von Demo- 4 Vgl. Vaïsse, Maurice: La puissance ou l’influence? kratie und Achtung der Menschenrechte erreichen La France dans le monde depuis 1958, Paris 2009. kann; sie ist nicht mehr ein Zustand, den es zum 5 Vgl. seine Pressekonferenz vom 27.11.1967. Preis von so viel Ungerechtigkeit aufrecht zu erhal- 6 Unter amerikanischer Führung beteiligten sich am ten gilt“, in: L´Express, 4.5.2011. 16 Irakkrieg 750.000 Soldaten aus 3 Ländern. Die USA UN-Resolution 1973. stellten 500.000, die Briten 40.000, die Franzosen 17 Es beteiligten sich jedoch nicht alle NATO-Staaten, aber nur 12.000 Mann. Das französische Kontin- u. a. Deutschland, an der Intervention. gent war auf die logistische und informationelle Unterstützung der Amerikaner angewiesen. Da die französischen Kampfflugzeuge über kein Nachtradar verfügten, wären sie ohne amerikanische Unter- stützung nachts nicht einsatzfähig gewesen. 7 Vgl. Irondelle, Bastien: La réforme des armées en France, Paris 2011. 8 Vgl. Kempin, Ronja: Ziele und Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik. Preisgabe des gaul- listischen Erbes?, in: Länderbericht Frankreich, hrsg. von Adolf Kimmel und Henrik Uterwedde, Bonn, 3. Aufl., 2012, S. 318-335. Allgemein zur französischen Haltung gegenüber der NATO: http://fr.wikipedia.org.wikiR%C3%A9int%c%A9g ration-de_la_France_dans_le_c, Stand: 22.1.2014. 9 In den französisch-italienischen Auseinandersetzun- gen um Tunesien schlug Frankreich 1884 und 1888 Italien vor, sich Tripolitaniens zu bemächtigen, das damals noch zum Osmanischen Reich gehörte. Im türkisch-italienischen Krieg gelang es dann Italien 1911, Tripolitanien und die Cyrenaika zu annektie- ren, die es 1934 zur Kolonie Libyen vereinte. 10 De Gaulle wollte Fessan an Algerien angliedern. 1947 wurde die Region UN-Treuhandmandat, 1951 Teil des Königreichs Libyen. 11 http://de.wikipedia.org/wiki/Libysch-Arabisch-Afri kanische_Vereinigungsprojekte, Stand: 22.1.2014. 12 1978/79, 1980/81, 1983-87. 13 Frankreich intervenierte dreimal in den tschadischen Bürgerkrieg und unterstützte die antilibyschen Kräfte. Vgl. Libysch-Tschadischer Grenzkrieg, http://de.wiki pedia.org/wiki/Libysch-Tschadischer_Grenzkrieg, Stand: 22.1.2014. 14 Vor dem Bürgerkrieg 2011 förderte es 1,6 Millio- nen Barrel am Tag. 2010 exportierte es 55,9 Millio- nen Tonnen Erdöl. Seine Erdölreserven werden auf 44 Milliarden Barrel geschätzt. Es sind die größten in Afrika. Vermutlich sind sie noch wesentlich grö- ßer, da längst nicht die gesamte Fläche des Landes und das Offshoregebiet exploriert sind. Die Förde- rung und Vermarktung erfolgt zwar durch auslän-

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FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG

HENRIK UTERWEDDE ||||| Glaubt man manchen Urteilen, so steht Frankreichs Wirtschaft am Ab- grund. Aber stimmt das? Die folgende Analyse zeigt, dass Frankreich, ähnlich wie Deutschland vor gut einem Jahrzehnt, vor schwierigen Strukturreformen steht. Aber unser Nachbarland verfügt auch über Stärken und ist in der Lage, seine Probleme zu überwinden. In diesem Zusammenhang gibt die 2013 eingeleitete neue Wirtschaftspolitik Präsident Hollandes Anlass zu verhaltenem Optimismus.

DEUTSCH-FRANZÖSISCHES Ökonomie, an der sich Frankreich immer misst. WIRTSCHAFTSGEFÄLLE Während etwa Deutschland anhaltende und Frankreichs Wirtschaft präsentiert sich der- steigende Handelsbilanzüberschüsse verzeichnet, zeit in einer schlechten Verfassung. Das Land hat sich die Bilanz in Frankreich verschlechtert sieht sich einer gleich fünffachen Krise gegen- und steht seit 2003 tief in den roten Zahlen. über, deren Elemente miteinander verwoben Die deutsche Exportwirtschaft hat im Euro- sind: eine hohe Staatsverschuldung, die sich seit raum Marktanteile hinzugewonnen, während 2002 verdoppelt hat; eine Wachstumskrise, die die französischen Exporte an Umfang verloren 2006 begann und zu einer wirtschaftlichen Sta- haben: 1998 machten sie 56 % der deutschen gnation geführt hat; eine hohe Arbeitslosigkeit, Exportwerte aus, 2010 nur noch 40 %. Auch die die seit der weltweiten Finanz- und Wirtschafts- französische Industrie verliert zunehmend an krise 2008/09 immer weiter angestiegen ist und Gewicht. Während die Industrie in Deutsch- derzeit die Rekordmarke von 11 % erreicht hat; land ihren Anteil an der Gesamtwirtschaft an- ein relativer Niedergang der Industrie, der deut- nähernd behaupten konnte, war der Substanz- lich stärker ausgefallen ist als in den Nachbar- verlust der französischen Industrie im letzten ländern, zahlreiche industrielle Arbeitsplätze Jahrzehnt beträchtlich und schwerwiegender vernichtet hat und den Anteil der Industrie an als in allen anderen EU-Staaten. 1 der Wertschöpfung von 18 % (2000) auf 12,5 % Entsprechend ist die Wahrnehmung in den (2011) hat schrumpfen lassen; schließlich eine internationalen Medien. Frankreich sei „der Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit, die kranke Mann Europas“, befindet das Handels- seit 2003 zu stetig steigenden Handelsbilanz- blatt am 26. Oktober 2012. „Wird Frankreich defiziten geführt hat und sich in rückläufigen das neue Griechenland?“ titelt die Bild-Zeitung Marktanteilen französischer Produzenten in vom 31. Oktober 2012. Das britische Wochen- Europa und weltweit äußert. magazin The Economist vom 17. November All dies ist das Ergebnis einer seit zehn Jah- 2012 ortet eine „Zeitbombe im Herzen Euro- ren anhaltenden, zunächst schleichenden und in pas“. Für Focus online ist unser Nachbar der jüngster Zeit immer offenkundigeren Abwärts- „neue kranke Mann Europas“ (1. Februar 2013). spirale, die in Frankreich als „décrochage“ In Frankreich ist die Stimmung – wie oft in den wahrgenommen wird, das heißt als zunehmende vergangenen Jahrzehnten – von tiefem Pessi- Abkopplung von der erfolgreichen deutschen mismus in Bezug auf das eigene Land geprägt.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 57 HENRIK UTERWEDDE

Dies nährt defensive Haltungen gegenüber der hat, aber auch, weil für Frankreich die „gefühlte Globalisierung. Im Vorfeld der Präsidentschafts- Augenhöhe“ mit Deutschland auch auf wirt- wahlen 2012 beurteilten 63 % der Befragten ei- schaftlichem Gebiet wichtig ist. Seit De Gaulle zu ner Umfrage die Folgen der Globalisierung für Beginn der damaligen Europäischen Wirtschafts- Frankreich als „extrem negativ“; bei den Arbei- gemeinschaft (EWG) 1958 der französischen tern waren es sogar 75 %. Nach einer anderen, Wirtschaft ein einschneidendes Sanierungs- und im Januar 2014 veröffentlichten Umfrage fin- Modernisierungsprogramm verordnete, haben den 47 % der Franzosen, ihr Land sollte sich französische Regierungen immer wieder das Ziel stärker gegenüber der Welt (in erster Linie der verfolgt, das Wirtschaftsgefälle zum deutschen Weltwirtschaft) schützen. Die Globalisierung Nachbarn wenn nicht einzuebnen, so doch in wird in erster Linie als Bedrohung von außen, Grenzen zu halten. Denn die intensive deutsch- als Gefahr für das französische Wirtschafts- und französische Zusammenarbeit, die als „Motor“ Sozialmodell gesehen. Aber auch der Euroskep- der europäischen Integration fungieren sollte, ist tizismus wächst: Nur noch 35 % der Befragten aus Pariser Sicht nur als eine Partnerschaft un- (gegenüber noch 52 % im Oktober 2011) sind ter Gleichen denkbar. Insofern hat man auf die der Meinung, dass die Zugehörigkeit zur Euro- deutsche Wirtschaft immer mit einer Mischung päischen Union eine gute Sache für Frankreich aus Bewunderung (das „deutsche Modell“ als sei; fast ebenso viele (32 %) denken das Gegen- Vorbild) und Unbehagen gegenüber der „deut- teil.2 schen Wirtschaftsmacht“ geschaut.4 Dies hat – Diese prekäre Rolle der französischen Wirt- vor allem in den letzten Jahren, in denen sich schaft im Rahmen der Globalisierung, aber auch das Wirtschaftsgefälle aufgrund der französi- der Europäischen Integration wird nicht nur als schen Schwächen verstärkt hat und sich der rein ökonomisches Problem gesehen, sondern Streit um den richtigen Weg zur Lösung der auch als politischer Bedeutungsverlust Frank- Euro-Krise mehrfach zuspitzte – zu wiederhol- reichs in Europa. Generell wird die Wirtschaft ter Kritik an der „deutschen Dominanz“ und zu Recht als wichtiger Faktor des Einflusses in dem „deutschen Europa“ geführt: Deutschland, der Weltpolitik gesehen. So formuliert das so die Argumentation, dränge den europäi- 2008 erschienene Weißbuch der französischen schen Nachbarn sein Wirtschaftsmodell und Regierung zur Außen- und Europapolitik: „Im seine Sparpolitik (die zumeist als „Austerität“ Kern […] bleiben die klassischen ökonomischen gebrandmarkt wird) auf. Dabei nahmen die Parameter entscheidend. Demographie, Wachs- Debatten zuweilen bizarre, ja hysterische Züge tum, sozialer Zusammenhalt, Ausbildungsstand an, die mit der Wirklichkeit nur wenig gemein und Vitalität der inhaltlichen Debatten, Dynamik haben.5 der Unternehmen mit Champions auf europäi- Denn das systematische Schlechtreden der scher und weltweiter Ebene und einem Netz- französischen Wirtschaft wird der tatsächlichen werk kleiner und mittlerer Unternehmen, die Situation wenig gerecht – ebenso übrigens wie nach außen geöffnet sind, Innovationsfähigkeit die systematische Überhöhung des „deutschen und technologischer Vorsprung: Dies sind wei- Modells“ (man denke nur an die unbewältigten terhin die unentbehrlichen und einzig dauerhaf- Probleme der Energiewende, des demographi- ten Fundamente der Macht und des Einflusses schen Wandels oder der nachhaltigen Finan- in der Welt.“3 Insofern wird der wirtschaftli- zierung der Sozialversicherung angesichts der chen Position Frankreichs in Europa und der kostenträchtigen, durch die Große Koalition Weltwirtschaft immer eine hohe Aufmerksam- angekündigten Leistungsverbesserungen in der keit geschenkt – als Gradmesser für Frankreichs Rentenversicherung). Insofern sollte die Diver- Rolle in der Welt. genz der letzten Jahre, so besorgniserregend sie Dabei ist es vor allem der deutsche Nachbar, aus französischer Sicht ist, auch nicht überinter- an dem sich Frankreich misst – weil die deut- pretiert werden. Zum einen darf man über der sche Wirtschaft seit Beginn der europäischen kurzfristigen Sichtweise die langfristigen Trends Integration, spätestens aber seit den 1970er- nicht außer Acht lassen. In sehr langfristiger Jahren eine führende Rolle in Europa gespielt Betrachtungsweise ist die wirtschaftliche Ent-

58 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG

wicklung, gemessen am Wachstum des Brutto- ausgedehnte Preiskontrollen, Kreditsteuerung, inlandsprodukts, in beiden Ländern erstaunlich Industriepolitik usw. Allerdings setzte schon ähnlich verlaufen. Auch hat es immer wieder mit Beginn der europäischen Integration 1958 Phasen gegeben, in denen Frankreich besser ein spürbarer Wandel ein. Spätestens seit den dastand als Deutschland: So wies die französi- 1980er-Jahren hat sich Frankreich liberalisiert sche Wirtschaft in den Jahren 1995 bis 2005 und sich dem Leitbild einer sozialen, regulierten, eine überdurchschnittlich hohe Wachstumsrate offenen Marktwirtschaft verschrieben. Damit auf, die deutlich über derjenigen Deutschlands hat es sich ordnungspolitisch dem deutschen lag.6 Zum anderen täuscht Frankreichs durch- Wirtschaftsmodell angenähert.8 weg schwächeres Abschneiden im bilateralen Dennoch bleibt der Staatseinfluss auf die Vergleich mit Deutschland darüber hinweg, dass Wirtschaft weiterhin hoch. In gewissem Wider- die französische Wirtschaft, nimmt man die spruch zu der erfolgten Liberalisierung sind die gesamte EU als Maßstab, oft gut abschneidet. Diskurse (und die Erwartungen der Wähler) Selbst die aktuellen Probleme bei Wachstum, weiterhin interventionistisch geprägt. Dies schlägt Beschäftigung, Verschuldung und Wettbewerbs- sich auch in einer Staatsquote (Anteil der öf- fähigkeit sind keine französische Ausnahme, fentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt) sondern entsprechen oft dem europäischen nieder, die mit 56,6 % (2011) innerhalb der Durchschnitt. Es gibt also weniger ein speziel- OECD nur noch von Dänemark übertroffen les französisches Problem als vielmehr eine wird. Entsprechend zählt auch die Abgaben- deutsche Ausnahmestellung in Europa. Drittens quote (Anteil der Steuern und Abgaben am darf der Fokus auf die zurzeit überwiegend dis- Bruttoinlandsprodukt) mit 42,2 % zu den höchs- kutierten Schwächen nicht die vorhandenen ten im Rahmen der OECD. Der öffentliche Stärken verdecken. Sonst wäre kaum erklärbar, Sektor im weiten Sinne (Staat, Gebietskörper- dass Frankreich nach wie vor die fünftstärkste schaften, Sozialversicherung, Krankenhäuser, Ökonomie und das fünftstärkste Exportland öffentliche Unternehmen) ist sehr umfangreich der Welt ist und in Europa (nach Deutschland) und beschäftigt mit 6,4 Millionen Personen je- den zweiten Platz einnimmt. Ähnliches gilt für den vierten Franzosen. die bislang ungebrochene Attraktivität Frank- Die Folgen sind zwiespältig. Zwar vermag reichs für ausländische Direktinvestitionen. der hohe Anteil des öffentlichen Sektors Kri- Ein nüchterner Blick auf Frankreichs Posi- senfolgen abzumildern und hat insofern eine tion in der Globalisierung muss sich also auf stabilisierende Wirkung auf die wirtschaftliche die fundamentalen, strukturellen Stärken und Entwicklung. Auch die Fähigkeit, rasch auf Schwächen des Nachbarn konzentrieren. Dies Krisen reagieren zu können, ist angesichts der soll im Folgenden versucht werden.7 vorhandenen Steuerungsinstrumente des Staates relativ hoch. So kam Frankreich in der weltwei- ten Krise 2008/09 verhältnismäßig glimpflich ÖKONOMISCHE STÄRKEN UND SCHWÄCHEN davon: Das Inlandsprodukt schrumpfte „nur“ um 3,1 % gegenüber 5,1 % in Deutschland. Das Erbe des Staats-Kapitalismus „Das letzte noch aufrechte Modell ist Frank- Frankreich war nach 1945 das herausragen- reich“, kommentierte seinerzeit das US-Magazin de Beispiel eines „etatistischen“, d. h. staatlich Newsweek am 19. Januar 2009. Die Euphorie gelenkten Wirtschaftsmodells. Dies lag daran, war allerdings nur von kurzer Dauer, weil die dass das Land in seiner wirtschaftlichen und Kehrseiten des französischen Wirtschaftsmodells sozialen Entwicklung stark hinter seinen Nach- nicht zu übersehen waren: Der schwergewich- barn zurückgeblieben war. Die Aufgabe, diesen tige öffentliche Sektor produziert Kosten, die Rückstand aufzuholen und die Modernisierung nicht durch Einnahmen gedeckt sind und damit des Landes gezielt voranzutreiben, wurde dem zu einer wachsenden Schuldenlast beigetragen Staat anvertraut. Dieser verfügte über zahlrei- haben. Darüber hinaus ist die Abgabenbelas- che Instrumente: nationalisierter Bankensektor, tung für Bürger und vor allem die Unternehmen sektorale Investitionsplanung, Protektionismus, ständig gestiegen, was ihre Kosten, Ertragslage

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 59 HENRIK UTERWEDDE

und preisliche Wettbewerbsfähigkeit zunehmend einer gestiegenen Abgabenlast, die den Kosten- beeinträchtigt hat. Sinnvolle und notwendige druck auf die Unternehmen erhöht und ihre Anpassungen des öffentlichen Dienstes, etwa Gewinne, ihre Investitionen und ihre Wettbe- durch eine Staats- und Verwaltungsreform, werbsfähigkeit beeinträchtigt hat. Ferner ist die sind immer wieder durch starre Regelungen Stimulierung der Binnennachfrage aufgrund und durch den starken Widerstand der Ge- der Wettbewerbsschwächen der französischen werkschaften verhindert worden. Bis 2008 ist Unternehmen nur bedingt wirksam: Wenn die die Zahl der öffentlich Beschäftigten unaufhalt- französischen Produkte nicht attraktiv genug sam gestiegen, bevor Präsident Sarkozy erstmals sind, kaufen die Konsumenten eher bei der die Zahl der Beamten um 150.000 innerhalb Konkurrenz, was dann die Importe, nicht aber von fünf Jahren gesenkt hat. Zwar hat François die Produktion und das Wachstum in Frank- Hollande diese unpopuläre Politik nach seiner reich anregt. Wahl 2012 umgehend gestoppt, aber auch er Fazit: Frankreich hat heute in erster Linie sieht sich dem gewaltigen Problem gegenüber, kein Nachfrage-, sondern ein Angebotsprob- die öffentlichen Ausgaben strukturell zu senken lem. Künftiges Wachstum wird sich stärker als und die schwerfälligen Verwaltungsstrukturen bisher auf eine Angebotspolitik stützen müs- zu vereinfachen. Der Präsident hat daher, wie sen, die über die Förderung von Bildung und schon sein Vorgänger, eine durchgreifende Ausbildung, Forschung und Entwicklung sowie Staats- und Verwaltungsreform und eine Durch- Innovationen und Investitionen die qualitative forstung der zahlreichen öffentlichen Ausga- Wettbewerbsfähigkeit und damit das Wachs- benprogramme auf die Tagesordnung gesetzt. tumspotenzial Frankreichs erhöht. Nur zögernd Dies ist auf Dauer unumgänglich, um die hat sich die französische Wirtschaftspolitik in Handlungsfähigkeit und Finanzierbarkeit des diese Richtung bewegt und erst Anfang 2014 Staates zu erhalten. die Notwendigkeit einer neuen Angebotspolitik offen anerkannt. Grenzen der Nachfragepolitik Das französische Wachstumsmodell basiert Sozialstaat: im Wesentlichen auf einer – durch kreditfinan- großzügig, aber defizitär zierte staatliche Impulse genährten – Dynamik Frankreich verfügt über ein weit gespanntes der Binnennachfrage. Bis in die jüngste Zeit hat Netz der sozialen Sicherung (Sécurité sociale) dieser nachfrageorientierte, keynesianische das parteiübergreifend als wesentlicher Teil des Grundansatz die französische Wirtschaftspolitik französischen Sozialmodells angesehen und ver- geprägt. In die gleiche Richtung gingen eine eher teidigt wird. Die Sozialquote (Anteil der Sozial- expansive Lohnpolitik, eine Beschäftigungspo- ausgaben am Bruttoinlandsprodukt) ist mit litik, die sich auf die Schaffung von öffentlich 32 % im Vergleich mit den übrigen Ländern finanzierten Arbeitsplätzen in wenig produkti- der Eurozone (26,5 %) sehr hoch. Die schritt- ven Sektoren (Dienstleistungen an Haushalte, weise ausgebaute, nach allen internationalen öffentlicher Sektor) konzentrierte, und das aus- Standards durchweg großzügige soziale Absi- gedehnte System der sozialen Sicherung. Dieser cherung aller Franzosen hat ihren Teil zur Kurs hat lange Zeit eine dynamische Binnen- Wachstumsdynamik und zur Vermeidung bzw. nachfrage gefördert, das Wachstum stimuliert Begrenzung von Armut geleistet. Eine Beson- und, wie gesehen, die Folgen der weltweiten derheit ist die seit den 1930er-Jahren begonnene Wirtschaftskrise 2008/09 gemildert. Das Pro- Politik zugunsten der Familien, die seither kon- blem dabei ist, dass die Rezepte von Keynes stant verfolgt wurde und viele Facetten umfasst immer nur halb angewandt worden sind: In (Familienbeihilfen als Leistung der Sozialver- wachstumsschwachen Jahren wurden defizitfi- sicherung, familienfreundliches Einkommen- nanzierte Konjunkturprogramme aufgelegt, aber steuerrecht, Ausbau frühkindlicher Betreuung, in den Wachstumsperioden wurden die Defizi- Ganztagsschulen, usw.). Dies hat die Erwerbs- te nicht zurückgefahren. Im Ergebnis ging der tätigkeit der Frauen nachhaltig gefördert, die öffentliche Schuldenstand in die Höhe, trotz Entwicklung von Kinderarmut erfolgreich be-

60 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG

kämpft und ist eine wesentliche Ursache für Daran hat sich, trotz zwischenzeitlich ehrgeizi- die relativ günstige demographische Situation ger industriepolitischer Anstrengungen, nichts Frankreichs: Die Bevölkerungsdynamik ist die Wesentliches geändert. Nach zwischenzeitlichen stärkste in Europa, was sich positiv auf das Erfolgen hat sich die Handelsbilanz Frankreichs Wachstumspotenzial der französischen Wirt- seit 2000 ständig verschlechtert und weist seit schaft auswirken dürfte. 2004 permanent rote Zahlen auf. Im internatio- Aber die Finanzierung der Sozialversiche- nalen Wettbewerb, aber auch innerhalb der rung ist aus dem Ruder geraten. Die Kranken-, Europäischen Union sind die Marktanteile der Renten-, Arbeitslosenversicherung sowie das französischen Exportindustrie zurückgegangen. System der Familienbeihilfen weisen hohe De- Zwischen 2000 und 2010 sank der Anteil fizite aus. Die staatliche Politik hält am Modell Frankreichs an den Gesamtexporten der Euro- einer öffentlich finanzierten und organisierten zone um 3,6 Punkte. Ein weiteres Problem ist „Sozialversicherung für alle Franzosen“ fest der relative und absolute Bedeutungsverlust und lehnt privatwirtschaftliche Vorsorgemodel- der Industrie. Der Anteil der Industrie an der le bzw. Zusatzversorgungen ab. Da sie aber die französischen Wertschöpfung ist gesunken, und bereits sehr hohe Abgabenbelastung nicht noch zwar stärker als in allen anderen europäischen weiter nach oben schrauben will, sind Reformen Ländern; in den vergangenen zehn Jahren sind der sozialen Sicherungssysteme unvermeidlich ca. 700.000 industrielle Arbeitsplätze verloren geworden. Dies ist in mehreren Etappen in der gegangen. Dieser als „Entindustrialisierung“ Rentenversicherung erfolgt, um diese auf den beklagte Trend nagt am Anspruch Frankreichs, wachsenden Anteil alter Menschen in den über eine starke, breit aufgestellte, diversifizierte kommenden Jahrzehnten vorzubereiten. In der Industriestruktur zu verfügen. Krankenversicherung ist die Anpassung über Dabei gerät oft in den Hintergrund, dass die vermehrte Leistungseinschränkungen und Zu- französische Wirtschaft über zahlreiche Stärken zahlungen der Versicherten erfolgt, die für verfügt, die in einem Sachverständigenbericht Letztere aber teilweise durch Zusatzversicherun- zur Situation der Industrie wie folgt beschrie- gen wieder aufgefangen werden können. Insge- ben werden: Frankreich ist „gemeinsam mit samt reichen diese Maßnahmen alleine nicht den Vereinigten Staaten und Deutschland eines aus; eine Reform der Finanzierung der Sozial- der drei Länder, die eine starke Automobil- versicherung steht auf der Tagesordnung. Im industrie und eine mächtige Luftfahrtindustrie Kern geht es darum, die Sozialabgaben, die den unterhalten; diese zwei Branchen haben eine Faktor Arbeit und damit die Wettbewerbs- strukturierende Wirkung auf die Gesamtheit fähigkeit der Unternehmen belasten, zu senken der Industrie. Frankreich ist Marktführer im oder jedenfalls stabil zu halten. Dafür müssten Kernkraftsektor und gut aufgestellt in anderen vermehrt der Verbrauch oder andere Einkom- strukturbestimmenden Industriezweigen wie mensarten als die Löhne besteuert werden (Er- dem Hoch- und Tiefbau, der Wasserversor- höhung der Mehrwertsteuer oder der Sozialver- gung, der Müllbeseitigung, dem Eisenbahnbau sicherungssteuer, Einführung einer Ökosteuer). oder der Nahrungsmittelindustrie.“10 In der Aber auch um Einschnitte in das Leistungssys- Rangliste der 500 weltweit größten Unterneh- tem wird man auf die Dauer vermutlich nicht mensgruppen sind französische Konzerne mit herumkommen.9 40 (gegenüber 39 für Deutschland und 26 für Großbritannien) ebenfalls gut vertreten. Eine Wettbewerbsfähigkeit: Reihe von Unternehmen sind unter den Welt- Licht und Schatten marktführern: Danone (Lebensmittel), Veolia Seit den 1970er-Jahren kann man Frank- (kommunale Dienstleistungen), LVMH (Luxus- reichs außenwirtschaftliche Position als ambi- güter), L’Oréal (Kosmetik), Alstom (Schienen- valent bezeichnen: Sie ist schwächer als die fahrzeugbau), Decaux (Werbung), EDF (Energie) dominanten Ökonomien wie Deutschland, die und viele andere. Frankreich ist ferner, neben USA (oder zeitweise Japan), aber stärker als den USA und Großbritannien, weltweit einer die übrigen Volkswirtschaften etwa Südeuropas. der größten Exporteure von Dienstleistungen

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 61 HENRIK UTERWEDDE

und weist dort eine Reihe von Stärken auf EINE NEUE REFORMPOLITIK? (Banken, kommunale Dienstleistungen, Hyper- Mit der Verschärfung der wirtschaftlichen märkte, Tourismus, Filmindustrie u. a.). Lage der letzten Jahre sind die aufgezeigten Auf der anderen Seite sind die strukturellen strukturellen Probleme in den Vordergrund ge- Schwächen nicht zu übersehen. Erstens steht die treten, allen voran die Schuldenkrise und die gute internationale Präsenz französischer Groß- Schwächen der Wettbewerbsfähigkeit. Sie ha- unternehmen in einem eigentümlichen Kontrast ben das Land vor erhebliche Anpassungs- und zur notorischen Schwäche im Bereich mittlerer Reformzwänge gestellt. Doch obwohl die Pro- Unternehmen. Das Fehlen eines leistungs- und bleme und auch teilweise die möglichen Lö- exportstarken selbständigen Mittelstands in der sungen seit geraumer Zeit bekannt sind, hat die Unternehmenslandschaft – Ergebnis einer jahr- Politik nur sehr zögerlich reagiert. Zwar sind in zehntelangen, einseitig auf die Großunterneh- den vergangenen Jahren durchaus wichtige Re- men konzentrierten Industriepolitik – ist mitt- formen verabschiedet worden, etwa die Renten- lerweile ein Dauerthema in der französischen reform (2009), die Verbesserung der Innovati- Debatte. Die Folge: Die Zahl der exportieren- ons- und Forschungsförderung , die Förderung den Unternehmen ist mit 95.300 nur halb so regionaler Cluster, die Einrichtung der Mittel- groß wie in Italien und beträgt nur ein gutes standsbank (2005), eines Strategischen Investi- Viertel der deutschen Exporteure (364.000; tionsfonds (2009) und einer nationalen Anleihe Zahlen für 2008), davon realisiert 1 % an die in Höhe von 35 Mrd. Euro zur Finanzierung 70 % des gesamten Ausfuhrhandels.11 Zweitens von Zukunftsprojekten (2009). Aber diese führen die hohen Lohnnebenkosten – die Steu- Reformen blieben Stückwerk und ließen eine er- und Abgabenlast der französischen Unter- übergreifende Handschrift vermissen. So blieb nehmen betrug 2008 im Durchschnitt 14,5 % gerade die Bilanz von Präsident Nicolas Sarko- ihrer Wertschöpfung, was einen europäischen zy (2007-12), der mit dem expliziten Anspruch Spitzenwert darstellt und doppelt so hoch war angetreten war, Frankreich durch Reformen wie in Deutschland (7,8 %) – zu geringeren grundlegend zu verändern, trotz mancher Gewinnspannen der französischen Unterneh- zunächst viel versprechender Ansätze enttäu- men als in fast allen anderen europäischen schend.13 Ländern, was ihre Möglichkeiten zu Investitio- Der sozialistische Präsident Hollande setzte nen begrenzt. 12 Dies führt auch, drittens, zu zunächst, in offensichtlicher Unterschätzung der Defiziten in der Innovationsfähigkeit. Seit Ende Problemlage, wirtschaftspolitische Akzente, die der 1990er-Jahre stagniert der Anteil der Aus- den notwendigen Reformen zuwiderliefen (teil- gaben für Forschung und Entwicklung (FuE) weise Zurücknahme der Rentenreform, Stopp an der Wirtschaftsleistung und erreichte 2009 des Stellenabbaus im öffentlichen Dienst, wei- 2,21 %, während er sich in Deutschland im tere Steuer- und Abgabenerhöhungen). Als aber gleichen Zeitraum von 2,19 % (1996) auf 2,78 % die Kluft zwischen den von ihm geweckten Er- gesteigert hat. Es sind dabei vor allem die sehr wartungen und der Realität der Krise immer geringen unternehmerischen FuE-Aufwendun- größer wurde, begann der Präsident Ende 2012 gen, die den Unterschied ausmachen. Dies hat umzusteuern. Zum einen legte er sich auf den Auswirkungen auf die qualitative Wettbewerbs- Kurs der Haushaltskonsolidierung fest und fähigkeit der französischen Unternehmen im kündigte überdies an, bis 2017 die öffentlichen globalen Wettbewerb: Die Produktpalette der Ausgaben um mehr als 50 Mrd. senken zu wol- französischen Firmen ist nicht ausreichend auf len. Zum zweiten legte die Regierung am hochwertige Qualitätsprodukte konzentriert, 6. November 2012 einen „Nationalen Pakt für für die man höhere Preise verlangen und damit Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäf- höhere Erlöse erzielen kann. Das macht die tigung“ vor, der nicht weniger als 35 Einzel- französische Exportindustrie anfälliger für die maßnahmen enthält. Damit wurden Konturen (weltweit verschärfte) Preiskonkurrenz. Ferner einer neuen Angebotspolitik sichtbar, die die sind sie zu wenig an den weltweiten Wachs- Unternehmen entlasten, ihre Innovationsfähig- tumsmärkten außerhalb Europas präsent. keit fördern, ihr steuerliches Umfeld stabilisie-

62 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG

ren, die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen ||||| PROF. DR. HENRIK UTERWEDDE und der Arbeitnehmer stärken und mehr ko- Stellvertretender Direktor des Deutsch- operative Strukturen fördern wollte. Darüber Französischen Instituts (dfi), Ludwigsburg erreichte die Regierung, dass die Sozialpartner sich in Verhandlungen über eine Reform des verkrusteten Arbeitsmarktes einigten, die dann ANMERKUNGEN vom Parlament im Frühjahr 2013 bestätigt 1 wurde.14 Vgl. Uterwedde, Henrik: Ende der Divergenzen? Erst im Januar 2014 bekannte sich aller- Perspektiven der deutschen und der französischen Wirtschaftspolitik, DGAPanalyse 11, 4.11.2013, dings Präsident Hollande offensiv zu dieser https://dgap.org/de/think-tank/publikationen/dgap neuen Reform- und Angebotspolitik und schlug analyse/ende-der-divergenzen, Stand: 30.1.2014. den Unternehmen einen „Verantwortungspakt“ 2 Sciences Po / Cevipof: Baromètre de la confiance (Pacte de responsabilité) vor: Weitere Entlas- politique, vague 5/2014. tungen der Unternehmen von Sozialabgaben 3 La France et l’Europe dans le monde. Livre blanc (zusammen mit den Maßnahmen 2012 handelt sur la politique étrangère et européenne de la France, es sich um 35 Mrd. Euro), keine weiteren Steu- 2008-2020, Paris 2008 (Übersetzung des Autors). 4 er- und Abgabenbelastungen, weniger bürokra- Vgl. dazu mit vielen Beispielen Uterwedde, Henrik: tische Hürden für Unternehmen. Dafür sollen Vorbild oder unbequemer Nachbar? Die deutsche Wirtschaftspolitik aus französischer Sicht, in: Orien- sich die Unternehmen zu Gegenleistungen in tierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Form von Ausbildungsverträgen, Arbeitsplätzen 115/2008, S. 57-62, http://www.ludwig-erhard-stiftu und stärkerer Einbeziehung der Arbeitnehmer- ng.de/files/orientierungen115.pdf, Stand: 30.1.2014. vertretungen bereit erklären. 5 Vgl. z. B. die kritische Auseinandersetzung des Dies ist ein mutiger Schritt angesichts der Wirtschaftsjournalisten Duval, Guillaume mit dem im Linken- und im Gewerkschaftsmilieu weit „deutschen Modell“: Made in Germany. Le modèle allemand au-delà des mythes, Paris 2013. Zu einer verbreiteten Ablehnung jeglicher „Geschenke kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema an die Unternehmer“. Es ist noch zu früh, um „Deutsches Europa“ vgl. Uterwedde, Henrik: abzuschätzen, ob mit diesen Ankündigungen L’Europe allemande, mythe ou réalité?, in: Alle- wirklich eine wirtschaftspolitische Wende ein- magne d’aujourd’hui 199/2012, S. 51-60. geleitet worden ist. Dennoch: Der nunmehr 6 Vgl. dazu Mistral, Jacques: Frankreich, der außen- eingeschlagene Weg weist in die richtige Rich- wirtschaftliche Druck und Europa, in: Frankreich tung, weil er an wesentlichen Schwächen der Jahrbuch 2008, hrsg. vom Deutsch-Französischen Institut, Wiesbaden 2009, S. 51-67, hier S. 52 f. Wirtschaft ansetzt. Es wird nunmehr darauf an- 7 Der folgende Abschnitt lehnt sich in seiner Argu- kommen, die Ankündigungen Schritt für Schritt mentation an eine frühere Bestandsaufnahme des umzusetzen und gegenüber dem zu erwartenden Autors an. Vgl. Uterwedde, Henrik: Frankreich: heftigen politischen Widerstand nicht einzu- Grundlagen der Grandeur, in: Außenpolitik in der knicken. Wirtschafts- und Finanzkrise, Jahrbuch Internatio- Der Weg aus der Krise kann gelingen, denn nale Politik Nr. 29, hrsg. von Josef Braml u. a., wie beschrieben, weist Frankreichs Wirtschaft München 2012, S. 137-146; vgl. auch Uterwedde, Henrik: Frankreichs Wirtschaft. Potenziale und Her- auch eine Reihe von Stärken auf, die bei den ausforderungen, in: Politische Studien 447/2013, Krisendiskussionen leicht aus dem Blickwinkel S. 60-70. geraten. Frankreich hat es selbst in der Hand, 8 Vgl. dazu Uterwedde, Henrik: Zwischen Staat und seine Position in der Weltwirtschaft zu konsoli- Markt. Frankreichs Wirtschaftssystem im Wandel, in: dieren und noch stärker als bisher die Chancen Länderbericht Frankreich, hrsg. von Adolf Kimmel der Globalisierung zu nutzen. Dabei können, und Henrik Uterwedde, Bonn 2012, S. 172-190. 9 so formuliert es das Wirtschaftsforschungs- Vgl. zur Sozialen Sicherung Grillmayer, Dominik: institut Coe-Rexecode, „einige der bisherigen Frankreichs Wohlfahrtsstaat im Umbruch, in: Län- derbericht Frankreich, hrsg. von Adolf Kimmel und Schwächen [...] zu wirklichen Chancen werden, Henrik Uterwedde, Bonn 2012, S. 222-223. vorausgesetzt natürlich, dass die notwendigen 10 Etats généraux de l’industrie française. Bilan de la Reformen weiter verfolgt, verstärkt und umge- concertation. Rapport final, Paris 2010, S. 30 setzt werden.“15 (Übersetzung des Autors).

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 63 HENRIK UTERWEDDE

11 Crédit Agricole, Perspectives France, 31.1.2012, S. 6. 12 COE-Rexecode: Mettre un terme à la divergence de compétitivité entre la France et l’Allemagne, Paris 2011, S. 146. 13 Zur Politik Sarkozys vgl. Uterwedde, Henrik: Sarko- zys Wirtschafts- und Sozialreformen. Eine Zwischen- bilanz, in: Aktuelle Frankreich-Analysen 22/2009. 14 Ausführlich zur neuen Politik vgl. Uterwedde, Henrik: Frankreichs schwieriger Weg aus der Krise, in: Orien- tierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 137/2013, S. 46-52, http://www.ludwig-erhard-stif tung.de/files/orientierungen_137_kl123.pdf, Stand: 30.1.2014; zu den 2014 angekündigten Maßnahmen vgl. Artus, Patrick: France: les grandes lignes du „Pacte de Responsabilité“, in: Special Report 5/2014. 15 Coe-Rexecode: Faiblesses et atouts de la France dans la zone euro. Le défi de la reconvergence, Paris 2012, S. 2.

64 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93

FRANKREICHS EUROPAPOLITIK: WIE PHOENIX AUS DER ASCHE?

GISELA MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET ||||| Die Gestaltungsmacht, die Frankreich traditionell im integrierten Europa ausübt, ist unter Präsident Chirac markant gesunken. Vielfältige Faktoren wie Frankreichs sinkendes internationales Gewicht und die Eurokrise haben diese Entwicklung unter Sarkozy weiter beschleunigt. Doch im Januar 2014 hat Staatspräsident Hollande einen spektakulä- ren Kurswechsel angekündigt. Was hat ihn dazu veranlasst? Werden der EU damit neue Horizonte eröffnet?

FRANKREICH, SEINE INTERNATIONALE ROLLE erwuchs Frankreich oft der Vorwurf, den Inte- UND EUROPA grationsprozess zur eigenen Macht- und Ein- In einem Band, der „Frankreichs Grandeur – flusswahrung zu instrumentalisieren. einst und jetzt“ zum Thema hat, darf ein Beitrag Es darf aber nicht vergessen werden, dass über die Europapolitik unseres linksrheinischen Frankreichs überaus hartnäckige Verteidigung Nachbarn keinesfalls fehlen. Denn Frankreichs seiner Rolle und seines Rangs sich aus dem „Grandeur“ oder besser sein Bild von sich Selbstverständnis speist, eine ganz besondere selbst wies schon immer einen starken Bezug Aufgabe in der Welt erfüllen zu müssen. In der zum europäischen Einigungsprozess auf. Frank- Tat ist Frankreich trotz der gravierenden reich stand nicht nur von Anbeginn im Zen- Machtverschiebungen, die sich in den vergan- trum dieses europäischen Projektes, sondern es genen Jahrzehnten in der Weltpolitik ergeben verfolgte damit auch zwei klar erkennbare Ziel- haben, einem gewissen Bild von sich selbst treu setzungen. Zum einen sollte das tatkräftig von geblieben, dem Bild einer Nation, die eine Mis- Frankreich geförderte Integrationsunterfangen sion, eine „vocation“ zu erfüllen hat. Diese Mis- dem Kontinent nach Ende des Zweiten Welt- sion, die lange Zeit den Kern der inzwischen kriegs Frieden, Sicherheit und Wohlstand be- deutlich verblassten sog. „exception française“ 2 scheren, was zwangsläufig auch eine breit ange- ausmachte, besteht in der Verantwortung der legte Kontrolle über den deutschen Weststaat Heimat der Menschen- und Bürgerrechte, zur via multipler kooperativer Einbindung impli- Zivilisierung der Welt beizutragen, d. h. für zierte. Zum zweiten verfolgte Frankreich in sei- die Durchsetzung und Weiterentwicklung des ner (zumeist) sehr engagierten Europapolitik 1 Völkerrechts und die Respektierung der Men- parallel stets auch den Plan, mittels des Eini- schenrechte einzutreten. Nachdem das Ende des gungsprojektes seine internationale Bedeutung, Ost-West-Konfliktes zumindest ansatzweise das seine Rolle und seinen Rang in der Welt abzu- prinzipien- und verantwortungslose, schädliche sichern. Diese beruhten auf dem Status als Lagerdenken obsolet hat werden lassen, trat die- (ehemalige) Welt- und Kolonialmacht sowie als ses Merkmal französischer Außenpolitik immer Siegermacht des Zweiten Weltkriegs, als Stän- deutlicher zu Tage. So sind viele markante au- diges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und als ßenpolitische Entscheidungen Frankreichs der Atommacht. Aus dieser zweiten Zielsetzung jüngeren Zeit dieser als Vermächtnis der großen

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 65 GISELA MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET

Revolution von 1789 entstammenden Selbst- vor allem in den letzten Jahren sind die wirt- perzeption zuzurechnen. Konkret kann hier auf schaftlichen und finanziellen Grundlagen, die den Widerstand Chiracs 2002/2003 verwiesen eine herausgehobene internationale Rolle mate- werden, der sich im Kontext des Irak-Kriegs riell unterfüttern könnten, weiter erodiert. Weil gegen die Übergehung der UN zur Wehr setzte, aber „Frankreichs globaler Geltungsanspruch auf das Agieren Sarkozys im Georgien-Krieg […] bis heute innenpolitisch als sakrosankt“ von 2008 sowie vor allem auf sein Engagement gilt,4 ist der europäische Kontext immer wichti- in Libyen 2011, das der Durchsetzung des ger geworden; denn nur im Rahmen eines star- Konzepts der Responsibility to Protect (R2P) ken Europa hat Frankreich heute eine Chance, diente. Restbestände seines besonderen Ranges auf in- Mit Blick auf Hollandes Amtszeit sind seine ternationaler Bühne aufrecht zu erhalten. Dazu klaren Positionierungen im Falle der syrischen ist aber notwendig, dass Frankreich in Europa Chemiewaffen, die er hart geächtet sehen woll- zu den politisch und wirtschaftlich stärksten te, sowie bei den jüngsten Verhandlungen zum Staaten zählt, was letzthin nicht mehr der Fall Atomprogramm des Iran zu nennen. Und selbst- war / ist. redend stechen seine Entscheidungen ins Auge, Es ist hier nicht der Ort, detailliert und wis- sowohl in Mali (Januar 2013) als auch in der senschaftlich fundiert den französischen Beitrag Zentralafrikanischen Republik (Dezember 2013) zum europäischen Projekt daraufhin zu unter- zu intervenieren, zum Schutz der Zivilbevölke- suchen, wie Paris im Zeitverlauf versuchte, das rung im Sinne der R2P und zur Verhinderung Integrationsprojekt so zu stärken, dass es als gravierender Menschrechtsverbrechen, wenn Plattform und Verstärker der eigenen Rolle in nicht gar eines Völkermordes. In nicht zu über- der Welt dienen kann. Insbesondere kann keine bietender Klarheit gab der Staatspräsident sei- systematische Analyse dazu vorgelegt werden, nem Verständnis von Frankreichs Rolle in der wie Frankreich die Realisierung des eigenen Welt anlässlich eines Truppenbesuchs in Mali Leitbilds einer „Europe puissance“, d. h. eines Ausdruck; Frankreich, so Hollande, habe eine auch sicherheits- und verteidigungspolitisch au- Mission zu erfüllen. „Frankreich ist nicht ein tonom handlungsfähigen, integrierten Europa Land, das auf sich bezogen ist und nur seine vorangetrieben hat. Vielmehr soll eine rekon- Unabhängigkeit gewährleisten muss. […] Es ist struktive Analyse zur französischen Europapoli- ein Land, das eine Botschaft an die Welt zu tik seit Mitte der 1990er-Jahre vorgelegt werden, richten hat, ein Land, das Werte, Prinzipien die – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu und internationalen Einfluss hat.“3 erheben – den eingangs angesprochenen Gestal- Inwiefern dieses Festhalten an und Anspruch tungsverlust auszuleuchten versucht und den auf eine „vocation française“ den jüngsten Poli- Brückenschlag zwischen Europa- und Außen- tikwechsel Hollandes mitverursacht hat, gilt es politik wagt. später zu diskutieren. Die These aber lautet, dass Frankreichs internationaler Machtanspruch DER TIEFSTSTAND FRANZÖSISCHER nach wie vor eine äußerst wichtige Hinter- EUROPAPOLITIK UNTER JACQUES CHIRAC grundfolie für sein Agieren in Europa darstellt. Nachfolgende Analyse setzt mit der doppel- Zweifelsohne haben Frankreichs Fähigkeiten, ten Präsidentschaft Jacques Chiracs (1995-2007) dem selbstgestellten Anspruch gerecht zu wer- ein,5 in deren Verlauf ein Tiefststand französi- den und Rolle und Rang zu verteidigen, im scher Europapolitik eintrat. Diese These, die es Zeitverlauf kontinuierlich abgenommen. Dabei vergleichsweise ausführlich zu belegen gilt, un- ist ein deutliches Auseinanderklaffen zwischen terstellt, dass mit den Antworten der Europäer Anspruch und Wirklichkeit nicht neu; schließ- und somit auch Frankreichs auf den Fall der lich bezeichnet Ernst Weisenfeld Charles de Berliner Mauer und die deutsche Einheit, auf Gaulle genau deshalb als „Magier im Elysée“ den Kollaps der UdSSR und das Ende des Kal- (1990), weil er diese Diskrepanz so meisterlich ten Kriegs der Höhepunkt und die Glanzzeit zu überspielen vermochte. Aber nicht alle Haus- bisheriger Europapolitik erreicht war. In der herren des Elysée waren oder sind Magier, und Tat konnte damals in kurzer Zeit sehr Beachtli-

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ches realisiert werden; mit Maastricht wurden kleiner Staaten zur Gewichts- und Einflusswah- die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) rung der Großen als notwendig erachtete, und die Gemeinsame Außen- und Sicherheits- missglückte 1997 und führte 2000 zu einem politik (GASP) auf die Gleise gesetzt, die neu- deutsch-französischen Eklat, weil Chirac an der geschaffene EU institutionell gestärkt und 1993 Stimmenparität aller sog. großen Mitgliedstaa- mit den Kopenhagener Kriterien die Bedingun- ten festhielt. Das vereinte Deutschland hätte gen der sich abzeichnenden EU-Osterweiterung aufgrund seiner deutlich größeren Bevölkerung gesetzt. besser gestellt werden müssen; in Nizza blieb Seither aber sehen manche Autoren die EU es aber bei der Stimmparität. in einer latenten Krise. Vor allem wird die fla- Gleichwohl trug Chirac im Rahmen des grante Visionslosigkeit beklagt, die die Integra- deutsch-französischen Motors der Integration zu tionsgemeinschaft und ihre wichtigsten Ent- Fortschritten bei: 1997 zusammen mit Kanzler scheidungsträger seither kennzeichnet. Nach Kohl zum „Integrationsbeschleunigungsinstru- Maastricht habe Europa kein neues, identitäts- ment“ der verstärkten Zusammenarbeit (Modell stiftendes Projekt mehr entwickelt. Mit Blick auf der flexiblen Integration). Auch zur Schaffung François Mitterrand ist von den „goldenen Jah- des neuen Amtes des Hohen Vertreters für die ren der Integration“ die Rede.6 In der Tat war GASP (HV), der der jungen Außenpolitik der Mitterrand – zumindest nach seiner radikalen EU Gesicht und Stimme verleihen sollte, trug wirtschaftspolitischen Kehrtwende von 1983 – Chirac wesentlich bei, wenngleich sein maxi- ein wichtiger Baumeister der EU. Außerdem mal intergouvernemental angelegter Vorschlag, sah der strategisch denkende Präsident den be- den HV direkt dem Europäischen Rat zu unter- deutenden Macht- und Einflussverlust voraus, stellen, sich nicht durchsetzte.7 Zweifelsohne den die Zeitenwende für Frankreich bedeutete. war Chiracs wichtigstes Ziel die Schaffung einer Diesen versuchte er unter anderem durch eine „Europe puissance“, die sich perfekt mit der substantielle Vertiefung der europäischen In- „vocation française“ verknüpfen ließ; dies aber – tegration, die das vereinte Deutschland stärker wie schon Mitterrand in Maastricht – mittels der einbinden sollte, auszugleichen. Kurz: Mitter- intergouvernementalen, souveränitätsschonen- rands Europapolitik stellt für seine Nachfolger den Methode erreichen zu wollen, veranschau- die Referenz dar, an der sie sich messen lassen licht exemplarisch jenen typisch französischen müssen. Widerspruch, der „zwischen einem exzessiven Ehrgeiz für ein Europa, das man nicht nur stark, Chiracs Habenseite sondern auch unabhängig sehen möchte, und Zunächst ist anzumerken, dass trotz der einer exzessiven Zurückhaltung, wenn es darum oben zitierten Klage über die Stagnation des geht, Souveränitäten zu teilen“, besteht.8 europäischen Projektes auch nach Maastricht Der wichtigste und progressivste Aspekt von noch substantielle Integrationsfortschritte erzielt Chiracs Europapolitik besteht in seinen zahl- werden konnten. Dies setzt zwangsläufig sowohl reichen Beiträgen zum 2002 beginnenden Ver- Frankreichs Einverständnis als auch ein zumin- fassungsgebungsprozess der EU. Chirac brach- dest passables Funktionieren des deutsch-fran- te all diese Initiativen gemeinsam mit Kanzler zösischen „Motors der Integration“ voraus. So Schröder ein. Seine Handschrift ist besonders wurde der Kraftakt der Osterweiterung erfolg- deutlich im neuen Amt des „ständigen Präsi- reich gemeistert, obwohl sie nicht zu Frankreichs denten des Europäischen Rats“ zu erkennen, oberster Priorität zählte. Bei den institutionellen das erneut die intergouvernementale Seite im Reformen aber, die im Vorfeld der Osterweite- institutionellen Dreieck der EU stärkt. Im Ge- rung notwendig waren, spielte Chirac während genzug musste er die von Deutschland stark der Regierungskonferenzen von Amsterdam verfochtene substantielle Aufwertung und Neu- (1997) und Nizza (2000) eine wenig konstruk- gestaltung des Amtes des Hohen Vertreters (HV) tive Rolle. Die von ihm angestrebte Neuwä- hinnehmen.9 Der erstaunlichste Positionswech- gung der Stimmen im Rat, die er angesichts des sel in Chiracs Europapolitik aber ist in seiner absehbaren Beitritts zahlreicher mittlerer und Akzeptanz der sog. doppelten Mehrheit zu er-

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kennen, die bei Mehrheitsbeschlüssen im Mi- worten. Angesprochen ist hier zum einen der nisterrat zum Einsatz kommt: Wenn 55 % der Vorschlag von Wolfgang Schäuble und Karl EU-Staaten, die 65 % der EU-Bevölkerung ver- Lamers aus dem Jahr 1994, im Vorfeld der Euro- treten, einer Vorlage zustimmen, ist sie Be- Einführung ein „Kerneuropa“ zu schaffen. Des- schluss; diese Regelung hatte der 2002 einge- sen föderativen Grundgedanken jedoch lehnte setzte „Konvent zur Zukunft der Europäischen Chirac vehement ab.12 Als mit Joschka Fischers Union“ erarbeitet. Damit wurde die noch in berühmter Humboldt-Rede vom Mai 2000 zur Nizza vehement verteidigte deutsch-französi- „Finalität der europäischen Integration“ von sche Parität hinfällig, ein wahrer Tabubruch. deutscher Seite erneut ein Vorstoß zur Födera- Chirac äußerte sich dazu nur sehr lapidar: „Der lisierung der EU erfolgte, blieb Chirac wieder Kompromiss [gemeint ist die Parität] stützte eine konstruktive Antwort schuldig. In seiner sich auf Kriterien der Vergangenheit. [...] Die Rede vom 27. Juni 2000 vor dem deutschen Demokratie verlangt, dass der Bevölkerungszahl Bundestag sprach er zwar von einem Avant- Rechnung getragen wird.“10 garde-Europa, de facto aber offerierte er keine Höchst interessant ist, dass all diese deutsch- tragfähige Integrationsperspektive. französischen Impulse, die sich weitestgehend Eine augenfällig gesunkene europapolitische im Lissabon-Vertrag wiederfinden und somit die Gestaltungsmacht hatte Chirac dann nach sei- EU-Gegenwart prägen, im Kontext des spekta- ner verhängnisvollen Entscheidung hinzuneh- kulären Schulterschlusses erfolgten, den Chirac men, den vom Verfassungskonvent erarbeiteten und Schröder 2002 vollzogen, um sich gegen und vom Europäischen Rat im Juni 2004 ange- die Kriegsabsichten der Angelsachsen gegen den nommenen „Vertrag über eine Verfassung für Irak zur wehren. Konkret stemmten sie sich ge- Europa“ (VVE) direkt vom Volk ratifizieren zu gen die Mandatierung solch eines Kriegs durch lassen.13 Das Referendum vom 29. Mai 2005 den UN-Sicherheitsrat und damit gegen dessen endete bekanntlich mit einer Ablehnung des VVE Instrumentalisierung und Marginalisierung. Das durch 54,8 Prozent der Franzosen bei nahezu Argument ist nun, dass Chirac nicht zuletzt 70-prozentiger Wahlbeteiligung – eine wahre deshalb all die weitreichenden EU-Innovatio- Katastrophe. Damit war das politische Ende nen zuließ, weil Schröder ihm dabei half, Frank- Chiracs gekommen, auch wenn er noch bis Mai reichs herausgehobene internationale Rolle als 2007 amtierte – er wurde zur „lame duck“. So Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates voll bleibt Chiracs gewichtigstes europapolitisches auszuspielen und damit erneut seinen Rang zu Vermächtnis ein doppeltes Versäumnis: Denn es bewahren. Mithin stellt dieser Schulterschluss ist ihm nicht gelungen, die nach Maastricht ein- eine neue Variante der angesprochenen „Instru- setzende sukzessive Distanzierung der Franzosen mentalisierung“ europapolitischer Zusammen- vom europäischen Einigungswerk zu überwinden hänge zu Frankreichs Gunsten dar – allerdings und ein neues, parteiübergreifendes Bekenntnis mit großem Mehrwert für Europa. zu Europa zu schaffen; vielmehr hat sein Refe- rendumsbeschluss die europapolitische Spaltung Chiracs sinkende europapolitische des Landes weiter vertieft und somit die Erosion Gestaltungsmacht des permissiven (proeuropäischen) Konsensus Die Defizite der Chirac‘schen Europapolitik befördert. Auch hat er zweimal föderalistische sollen an zwei Aspekten festgemacht werden. So Avancen Deutschlands unbeantwortet gelassen. zeigte Chirac, der sich selbst als „Euro-Pragma- tiker“ sah, aber wohl die Unumgänglichkeit FRANKREICHS EUROPAPOLITIK Europas erkannt hatte,11 keinerlei Interesse an UNTER SARKOZY: einer Stärkung des politischen EU-Systems bei- AUSGEBREMST VON DER EURO-KRISE spielsweise im Sinne einer Föderalisierung der Als Nicolas Sarkozy das Amt des Staatsprä- EU mittels Aufwertung der supranationalen In- sidenten antrat, verkündete er noch am Wahl- stitutionen Kommission und EP. Wohl deshalb abend des 6. Mai 2007: „Heute Abend ist unterließ es Chirac gleich zweimal, auf weitrei- Frankreich in Europa zurück.“ Damit erhob der chende deutsche Vorstöße konstruktiv zu ant- neue Präsident unmissverständlich einen Füh-

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rungsanspruch. Zunächst jedoch stand er euro- eine erfolgreiche Regierungskonferenz im Juni papolitisch vor einer großen Herausforderung. 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft. Inso- So galt es, das sperrige Referendumsergebnis, fern darf er nicht nur als erster wahrer Integra- Chiracs vergiftetes Vermächtnis, zu überwinden, tionist im Elysée gelten, sondern auch als maß- damit Frankreich – nach zweijähriger weitge- geblicher Architekt des Lissabon-Vertrags. Den hender Absenz auf europäischer Bühne – seine von ihm ermöglichten Durchbruch hat Sarkozy angestammte und unverzichtbare Rolle als selbstbewusst als „große[n] Erfolg für die deut- Integrationspromotor wieder ausfüllen konnte. sche Ratspräsidentschaft“ bezeichnet, um hinzu- Dies war zugleich die Voraussetzung dafür, dass zufügen: „Er war ein Erfolg für Frankreich“16 – Sarkozys außenpolitische Zielsetzung des Erhalts womit er vollkommen Recht hatte. Frankreich des Rangs Frankreichs in der Welt erreichbar war also unübersehbar zurück in Europa, und würde – ein Ziel, das für Sarkozy unstrittig war.14 Sarkozy vertrat unüberhörbar einen französi- schen Führungsanspruch. Das musste all jene Sarkozys Führungsanspruch in Europa freuen und beruhigen, die Helmut Schmidts Die europapolitischen Hürden nahm der un- berühmtes Diktum verinnerlicht haben: Ohne gewöhnlich energische, zupackende und tempo- Frankreich ist alles nichts. reiche „speedy Sarko“ gleich zu Beginn seiner In der vergleichsweise kurzen Zeit, die ihm Amtszeit bravourös. Zunächst, zum Teil noch zur aktiven europapolitischen Gestaltung gege- im Wahlkampf, entwickelte er ein neues euro- ben war, entfaltete Sarkozy zahlreiche Initia- papolitisches Leitbild, das direkt an den offen- tiven und Vorstöße; erwähnt sei hier nur sein sichtlichsten Defiziten der EU ansetzte. Diesen heftig kritisierter „patriotisme économique“, der setzte Sarkozy die Vision eines politischen, ter- durch die Schaffung großer, international wett- ritorial begrenzten, schützenden und starken bewerbsfähiger „champions“ zur Selbstbehaup- Europa, das die Globalisierung zu zähmen tung Europas beitragen sollten. Im Gedächtnis versteht, entgegen. Mit seinem neuen Leitbild geblieben ist weiterhin sein Projekt, eine von konnte er seine Wähler überzeugen. Dies gab den EU-Anrainern, sprich von Frankreich domi- ihm die Chance, die maßgeblich von Frank- nierte „Union für das Mittelmeer“ zu schaffen. reich ausgelöste europäische Blockade zu über- Diese als Affront gegen den seit 1995 laufenden winden. Denn die EU bedurfte dringend neuer Barcelona-Prozess sowie die von den nördlichen Vertragsgrundlagen. Sarkozy bekannte sich zu Mitgliedstaaten perzipierte Initiative konnte allen wesentlichen Neuerungen des VVE: zur letztendlich noch zu einem EU-Gesamtprojekt doppelten Mehrheit unter Aufgabe der deutsch- umgebogen werden. Gleichwohl wurde sie al- französischen Parität ebenso wie zur substan- lenthalben als rücksichtslose „Erneuerung des tiellen Aufwertung des EP und vielem mehr. französischen Führungsanspruchs“ interpretiert; Damit hat Sarkozy, Jahrgang 1955, der sich als es wurde argumentiert, dass Frankreichs Rück- „Europäer des Herzens, des Verstands und der kehr nach Europa „nicht notwendigerweise Überzeugung“ bezeichnete,15 den traditionellen einen ‚europäischen Mehrwert‘“ besitze.17 Ei- intergouvernementalen Reflex seiner Vorgänger nen solchen erkennt die Verfasserin aber durch- weitgehend aufgegeben und den bereits mehr- aus, nicht zuletzt mit Blick auf Frankreichs fach angesprochenen typisch französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008, Widerspruch großenteils überwunden. als Sarkozy nicht nur tatkräftig zur Beilegung Als der Europäische Rat sich 2006/2007 dazu der Georgien-Krise beitrug, sondern auch für die entschloss, die Substanz des VVE weitestgehend europäische Migrationspolitik sowie für GASP erhalten zu wollen, ging Sarkozy sehr pragma- und GSVP wichtige neue Impulse setzte. tisch und taktisch hochversiert vor. Er wollte all die VVE-Innovationen mittels eines „traité sim- Sarkozys Europapolitik im Würgegriff plifié“, eines vereinfachten Vertrages, erhalten, der Euro-Krise der eines zweiten Referendums in Frankreich Als die in den USA ausgelöste Finanzkrise ab nicht mehr bedürfe. Mit dieser europapoliti- Sommer 2008 massiv auf Europa überschwapp- schen List machte er de facto den Weg frei für te, reagierte Ratspräsident Sarkozy gewohnt zu-

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packend und temporeich. Eurozonen-, G8- und Hollandes schwieriges Debut in Europa G-20-Treffen jagten sich, um der Krise Herr zu Hollands Europapolitik begann mit einer werden. Dabei stieß Sarkozy auf eine zögerliche krachenden Niederlage. Hatte er im Wahlkampf deutsche Kanzlerin, die das Ausmaß der Krise noch publikumswirksam gefordert, den sehr zunächst wohl nicht erkannte – was Sarkozy weitreichenden Fiskalpakt vom Dezember 2011 zu sarkastischen Sticheleien veranlasste: Frank- durch Nachverhandlungen weniger austeritäts- reich handle, während Deutschland noch nach- orientiert zu gestalten, so musste er bald klein denke. beigeben: Der Pakt wurde auch von Frankreich Doch dann wuchs sich die internationale unverändert ratifiziert und trat im Januar 2013 Finanzkrise zu einer europäischen Staatsschul- in Kraft. Seine nachfolgenden Versuche, die denkrise aus, die die EU und insbesondere die südlichen, besonders krisengeschüttelten Euro- Eurozone in ihren Grundfesten erschütterte, so Staaten gegen das sog. „deutsche Spardiktat“ dass vorübergehend ein Scheitern des Euro nicht zu formieren, führten lediglich zu dem im Juni mehr ausgeschlossen werden konnte. Die Staats- 2012 vereinbarten „Pakt für Wachstum und und Regierungschefs der Eurozone traten in Beschäftigung“, der vorrangig die alarmierend einen permanenten Krisenmanagement-Modus hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten ein; sie erarbeiteten im Zeitraum 2009-2012 bekämpfen will. Zwar kam es im Kontext des zahlreiche neue Regeln für die Euro-Govern- ausgiebig gefeierten 50. Jahrestages des Elysée- ance, die letztendlich zu einer Stabilisierung der Vertrags zu einigen französischen Vorschlägen, Währungsunion führten. beispielsweise zur Einrichtung eines „gouverne- Im Verlauf dieses permanenten Krisenma- ment économique“ zur besseren Steuerung der nagements spielte Nicolas Sarkozy zusammen Eurozone – eine wahrlich nicht neue Idee aus mit Angela Merkel eine überaus dominante Paris – und am 30. Mai 2013 auch zu gemein- Rolle, ihre Zusammenarbeit fiel während des samen deutsch-französischen Initiativen, die Krisenhöhepunkts derart intensiv aus, dass man durchaus Weitreichendes beinhalteten. Doch das deutsch-französische Tandem nur mehr als angesichts weiter sinkender Wirtschaftsdaten „Merkozy“ apostrophierte. Und Merkozy gab mit steigender Arbeitslosigkeit, angesichts deut- bei der Rettung des Euro unangefochten den licher, mit strengen Auflagen versehener Kritik Takt an. Doch als sich die wirtschaftliche Lage aus Brüssel zu Frankreichs Budgetplanungen in Frankreich weiter eintrübte und im Februar und angesichts der ins Bodenlose fallenden 2012 die Bonität des Landes herabgestuft wur- Umfragewerte des Präsidenten19 blieb Hollandes de, war es vorbei mit dem Krisenmanagement (Europa-)Politik weitgehend glücklos. Letzthin auf Augenhöhe zwischen Berlin und Paris. Es galt Frankreich als der „kranke Mann Euro- folgten zwei Jahre der eindeutigen deutschen pas“ – auch wenn mit Wirtschaftsminister Pierre Dominanz sowohl in den bilateralen Beziehun- Moscovici zu relativieren ist: „Wenn der Kranke gen als auch im Euro-Rettungskurs. Die in die- Europas zu sein bedeutet, dass man die fünft ser Zeitspanne heftig geführte Debatte über die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt ist, dann sog. deutsche Hegemonie zeigte beiden Haupt- möchte ich gerne krank sein.“20 städten und der gesamten EU die Destruktivität Zu dieser äußerst schwierigen Gemengelage und Unerträglichkeit einer auf einen einzigen kommt noch eine weitere, die wohl größte Ge- EU- bzw. Eurozonen-Mitgliedstaat konzentrier- fahr für Frankreichs Zukunft hinzu: der seit Jah- ten Führungsrolle auf.18 ren andauernde, sich letztlich aber deutlich be- schleunigende Aufstieg des rechtsextremen Front EINE EUROPAPOLITISCHE RELANCE UNTER National, der u. a. den Euro abschaffen und FRANÇOIS HOLLANDE? Frankreich aus der EU herausführen will. Bei Frankreichs Europapolitik und Einfluss auf das den anstehenden Europawahlen vom Mai 2014 EU-Geschehen haben in den ersten eineinhalb wird dem FN unter Führung von Marine Le Pen Jahren der Präsidentschaft François Hollandes vorausgesagt, Frankreichweit die meisten Stim- weiter abgenommen. Doch seit Januar 2014 sind men holen zu können – das wäre eine politische die Weichen allem Anschein nach neu gestellt. Katastrophe allergrößten Ausmaßes.

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Hollandes Kurswechsel – erstarkenden Rechtsextremismus frontal an, Vorleistung für eine erneuerte Rolle in Europa indem er die geplante Erneuerung Frankreichs Vor diesem rundum bedrohlichen Hinter- dem Kampf gegen „Antisemitismus, Rassismus, grund hat François Hollande in einer Pressekon- Fremdenfeindlichkeit“ widmet. Dies zielt zu- ferenz vom 14. Januar 2014 einen spektakulä- nächst auf die Kommunalwahlen im März und ren Kurswechsel angekündigt, der in vielerlei die Europawahlen im Mai 2014 ab, kann aber Hinsicht an Mitterrands Kehrtwende von 1983 auch ein wichtiger Schritt zur Erneuerung des erinnert, die seinerzeit als Bekehrung vom Sau- notwendigen permissiven Konsensus sein. lus zum Paulus bezeichnet wurde. Mit dem Selbstredend ist derzeit noch keineswegs Rücken an der Wand stehend – aber gestärkt gesichert, dass Hollandes mutige Flucht nach durch die große internationale Anerkennung für vorne gelingt; das Gros des linken Lagers fühlt Frankreichs militärisches Engagement in Mali sich provoziert, die Rechte ist sich über die und der Zentralafrikanischen Republik – hat richtige Reaktion uneins, und der Arbeitsgeber- der bisher als mutlos geltende Präsident eine verband MEDEF möchte um jeden Preis klar wahre „Flucht nach vorn“ angetreten.21 Denn bezifferte Gegenleistungen für die zugesagten Hollande kündigt in seinem „Pakt der Verant- Kostenentlastungen vermeiden. wortung“ nicht weniger als einen veritablen wirtschafts- und haushaltspolitischen Kurs- AUSBLICK wechsel an, der nun – und das ist das wirklich So kamen die bislang positivsten Reaktio- Spektakuläre – vor allem auf Angebotspolitik nen aus Deutschland, und zwar in Gestalt des setzt. So sollen die Unternehmen bis 2017 um Angebots der neuen großen Koalition, interna- 30 Mrd. Euro entlastet werden und im Gegen- tional mehr Verantwortung übernehmen zu wol- zug dafür Arbeitsplätze schaffen und Investitio- len. Angesprochen sind hier die vielbeachteten nen generieren. Diese Gegenleistungen müssten Reden, die Bundespräsident Gauck, Verteidi- auf dem Verhandlungsweg „Branche für Bran- gungsministerin von der Leyen und Außenmi- che festgelegt werden und bezifferte Ziele für nister Steinmeier auf der Münchner Sicherheits- Einstellung von Jugendlichen, Seniorenarbeit, konferenz 2014 hielten, und die im Vergleich Arbeitsplatzqualität, Ausbildung […] enthalten.“ zur schwarz-gelben Politik ebenfalls einen Insgesamt müsse das „Hauptproblem Frank- deutlichen Kurswechsel anzeigen.22 Ohne hier reichs“ angegangen werden, „nämlich seine auf Details und Nuancen eingehen zu können, Produktion. […] Wir müssen mehr produzieren, sei die Interpretation gewagt, dass dies wir müssen besser produzieren. Also muss man Deutschlands (sicherheits- und verteidigungs- beim Angebot ansetzen. Beim Angebot!“ – so politische) Antwort auf Frankreichs (wirt- Hollande. Den wichtigsten Hebel zur Kosten- schafts- und finanzpolitische) Vorleistung ist. reduktion setzt der Präsident beim Staatshaus- „Do ut des“ ist die entscheidende Grundregel im halt an. 2014 seien 15 Mrd. Euro an Einspa- politischen Geschäft – so auch in den deutsch- rungen zu realisieren, zwischen 2015 und 2017 französischen Beziehungen, die zu neuem Leben weitere 50 Mrd. Sein Sparziel möchte Hollande erwacht scheinen. Dies bringt – hoffentlich – durch strukturelle Reformen, die sämtliche nicht nur das Ende der kurzen, aber heftig um- Staatsaufgaben betreffen, erreichen. strittenen, insgesamt negativ zu bewertenden Letztlich unterstellt Hollande diesen seinen Phase eindeutiger deutscher Dominanz in Euro- Pakt für Verantwortung zwei übergeordneten pa mit sich; vielmehr eröffnet die lange erwar- Zielsetzungen: Zum einen müsse Frankreich tete Kehrtwende Frankreichs im Namen Euro- seine wirtschaftliche Stärke wiederfinden, „wenn pas der Integrationsgemeinschaft auch neue es seinen Einfluss in der Welt bewahren […], Horizonte. Die Marschrichtung wird – auch wenn es auf die Entwicklung Europas einwir- angesichts der sich zuspitzenden Euroskepsis ken will.“ Hier ist deutlich wieder der überaus in Großbritannien – mutmaßlich in Richtung enge Nexus zwischen Europapolitik und globa- eines Kerneuropa, genauer eines Eurozonen- lem Geltungsanspruch zu erkennen. Zweitens – Kerneuropa, gehen, das nicht nur in der bisher indirekter – geht Hollande die Gefahr eines unbeachtet gebliebenen deutsch-französischen

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 71 GISELA MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET

Erklärung vom 30. Mai 2013 mit dem Vorschlag ANMERKUNGEN angedacht wurde, Eurozonen-spezifische Struk- 1 turen innerhalb des EP zu schaffen, sondern Die Einschränkung bezieht sich auf de Gaulles eu- das auch von Hollande im Januar 2014 erneut ropapolitische Eskapaden; konkret angesprochen sind hier die Fouchet-Pläne 1961-1962, de Gaulles explizit thematisiert wurde. „Politik des leeren Stuhls“ in der Europäischen Sicherlich ist es noch ein weiter Weg bis zur Gemeinschaft (EG) 1965-1966 sowie seine vehe- veritablen politischen Union Europas – in wel- mente Ablehnung eines britischen EG-Beitritts, vgl. cher Formation auch immer –, zu der dann Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Frankreichs Eu- notwendigerweise auch eine glaubhafte euro- ropapolitik, Wiesbaden 2004, S. 23 ff. 2 päische Außen- und Sicherheitspolitik gehören Vgl. dazu Praus, Angelika: Das Ende einer Aus- muss. Inzwischen liegen auch erste Debatten- nahme? Frankreich und die Zeitenwende 1989/90, Marburg 2014. beiträge aus der Mitte der Gesellschaft vor. 3 Hollande, François, in: Le Monde, 21.9.2013. Nachdem die (deutsche) Glienicker-Gruppe 4 Brüne, Stefan: Frankreichs Außenpolitik unter am 25. Oktober 2013 in Vorleistung gegangen 23 François Hollande, in: Politische Studien 447/2013, war, erfolgte jüngst endlich mal wieder ein S. 52. innovativer, vor allem an Deutschland adres- 5 1995-2002 übte Chirac eine siebenjährige Amtszeit sierter Vorstoß aus Frankreich: Die sog. Groupe aus (septennat), 2002-2007 die erste fünfjährige Eiffel Europe schlägt die Schaffung einer födera- Amtszeit (quinquennat). len „politischen Euro-Gemeinschaft“ mit eige- 6 Für Nachweise vgl. Müller-Brandeck-Bocquet; nem Parlament, Regierung und Haushalt vor.24 Gisela: Was vom europäischen Projekt übrigbleibt … Dies soll als weiteres Zeichen dafür gewertet Zerfall oder Neustart?, Würzburg 2013, http://opus. werden, dass eine europapolitische Relance be- bibliothek.uni-wuerzburg.de/frontdoor.php?source_ opus=8356 vorsteht, die auch von Frankreich aktiv mitini- 7 Gemäß Art. 26 EUV-Amsterdam wurde der „Gene- tiiert wird. Wenn unser linksrheinischer Nach- ralsekretär des Rates und Hohe Vertreter“ für die bar aber zu seiner tradierten Rolle als wichtiger GASP dem Rat zugeordnet. Ideen- und Impulsgeber für Europa zurückfin- 8 Toulemon, Robert: La Construction de l’Europe det und wenn Deutschland diese Gunst der (1979-1999), in: Politique étrangère 3/1999, S. 584. Stunde zu nutzen weiß, dann – so der optimis- 9 Rüger, Carolin: A position under construction: tische Ausblick – könnte Europa seine Zukunft Future prospects of the High Representative after noch vor sich haben. the Lisbon Treaty, in: The High Representative for the EU Foreign and Security Policy – Review and Prospects, hrsg. von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ||||| PROF. DR. GISELA MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET und Carolin Rüger, Baden-Baden 2011, S. 201-233. Professorin für Europaforschung und Internatio- 10 Chirac, Jacques, zitiert in Müller-Brandeck-Bocquet: nale Beziehungen, Institut für Politikwissenschaft Frankreichs Europapolitik, S. 266. und Sozialforschung, Universität Würzburg 11 Ebd., S. 167. 12 Dulphy, Anne / Manigand, Christine: Face à l’élar- gissement de l’Union Européenne, in: La politique étrangère de Jacques Chirac, hrsg. von Christian Lequesne und Maurice Vaisse, Paris 2013, S. 43. 13 Eine politische Fehlentscheidung erster Klasse hatte Chirac bereits im April 1997 getroffen, als er die Auflösung der Nationalversammlung und mithin Neuwahlen verfügte. Er meinte, sich im Vorfeld der Euroeinführung erneut der Unterstützung der Wäh- ler versichern zu müssen. Seine Taktik schlug fehl; vielmehr handelte sich Chirac die äußerst ungeliebte Kohabitation mit Lionel Jospin ein, der den europa- politischen Handlungsspielraum des Staatspräsiden- ten beträchtlich einschränkte; diesen erhielt Chirac erst mit den Präsidentschaftswahlen von 2002 zu- rück, als er haushoch gegen den FN-Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen gewann.

72 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS EUROPAPOLITIK: WIE PHOENIX AUS DER ASCH E ?

14 Martens, Stephan: Französische Außenpolitik unter Nicolas Sarkozy, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 38/2007, S. 21 f. 15 Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Frankreich: zurück in Europa, aber mit welchem Kurs?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 38/2007, S. 14. 16 Ebd., S. 16. 17 Schild, Joachim: Sarkozys Europapolitik. Das zu- nehmende Gewicht der Innenpolitik, in: Integration 3/2007, S. 221. 18 Vgl. statt vieler: Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Deutschland – Europas einzige Führungsmacht?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10/2012, S. 16-22. 19 Anfang 2013 befürworteten nur mehr 22 % der Befragten die Politik Hollandes; das ist ein Tiefst- stand für französische Präsidenten, in: Le Monde, 8.2.2013. 20 Moscovici, Pierre, in: Le Monde, 27.1.2014. 21 Hollande, François, in: Süddeutsche Zeitung, 16.1.2014. Hollandes Rede (in deutscher Sprache) ist abrufbar unter: www.ambafrance.de.org 22 http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Re den/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140131- Muenchner-Sicherheitskonferenz.html; http://www. securityconference.de/fileadmin/MSC_/2014/Reden /2014-01-31_Rede_BMin_von_der_Leyen_MSC_ 2014.pdf; http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Info service/Presse/Reden/2014/140201-BM_M%C3%B CSiKo.html 23 http://www.zeit.de/2013/43/glienicker-gruppe-euro paeische-union 24 http://www.groupe-eiffel.eu/pour-une-communaute- politique-de-leuro/, vgl. auch Süddeutsche Zeitung, 15./16.2.2014.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 73

FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN INTERNATIONALEM GESTALTUNGSANSPRUCH UND NATIONALEN BUDGETZWÄNGEN

RONJA KEMPIN ||||| Frankreich prescht militärisch vor, gestern in Libyen und Mali, heute in der Zentralafrikanischen Republik. Gleichzeitig verordnen die Regierungsverantwortlichen in Paris den Streitkräften einen harschen Sparkurs und verkleinern die Armee drastisch. Gelingt Frankreich der Spagat zwischen internationalem Gestaltungsanspruch und nationalem Haushaltsdruck? Oder sind die Interventionen in Afrika das letzte Aufbäumen von Europas letzter Militärmacht?

EINLEITUNG im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Frankreich sendet in der Sicherheits- und Nuklearwaffen, über die das Land seit 1960 Verteidigungspolitik gegenwärtig widersprüch- verfügt, katapultierten Paris schließlich in den liche Signale aus. Die militärischen Einsätze in Kreis der militärischen Großmächte. 1 Wann im- Libyen, Mali und der Zentralafrikanischen Re- mer es gilt, in Krisen und Konflikten Stellung publik verdeutlichen, dass die politische Elite zu beziehen, sich einzumischen,2 ist Frankreich des Landes weiterhin gewillt ist, das Weltge- zur Stelle. In Afrika etwa hat Paris seit der Ent- schehen durch den Einsatz militärischer Mittel lassung seiner ehemaligen Kolonien in die Un- und Fähigkeiten zu beeinflussen. Zur gleichen abhängigkeit 39 Mal militärisch eingegriffen. 3 Zeit belegen Ankündigungen wie diejenige, das 110. französische Infanterieregiment aus Kos- Libyen 2011 tengründen aus Deutschland abzuziehen, wie So auch im März 2011, als das Land unter der angespannt die finanzielle Situation der franzö- Führung von Staatspräsident Nicolas Sarkozy sischen Streitkräfte ist. Gelingt dem Militär der den internationalen Militäreinsatz in Libyen Spagat zwischen internationalem Gestaltungs- anführte. Die Mitglieder des UN-Sicherheitsra- anspruch und nationalem Haushaltsdruck? tes hatten auf Drängen Frankreichs am 17. März 2011 die UN-Resolution 1973 verabschiedet. 4 Frankreichs internationale Der Text erlaubte der internationalen Staaten- Militärengagements gemeinschaft, Militärschläge gegen das Regime Seit der Französischen Revolution von 1789 des libyschen Diktators Gaddafi durchzufüh- mit ihrem Vermächtnis von „Freiheit, Gleich- ren. Im Februar 2011 hatte die Protestwelle des heit, Brüderlichkeit“ sehen sich die Regierungs- „arabischen Frühlings“ Libyen erreicht. In Ben- verantwortlichen des Landes in der Pflicht, die- gasi, der zweitgrößten Stadt des Landes, war es sen zivilisatorischen Errungenschaften weltweit zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen, Geltung zu verschaffen und für ihre Einhaltung der Polizei und den Anhängern Muammar al- einzutreten. Die Überzeugung, eine besondere Gaddafis gekommen, die schnell in blutige Verantwortung für das Weltgeschehen zu tra- Kämpfe mündeten. Nachdem es den Regierungs- gen, wuchs mit dem Ende des Zweiten Welt- truppen Anfang März gelungen war, strategi- krieges weiter an. Der Sieg über Nazideutsch- sche Städte zurückzuerobern, drohte Gaddafi land brachte Frankreich einen ständigen Sitz der Bevölkerung Bengasis mit einem Blutbad.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 75 RONJA KEMPIN

Um dieses zu verhindern, vereinbarte die inter- Kabul und Pakistan getötet. Nach seiner Wahl nationale Gemeinschaft schließlich, zum Schutz zum Staatspräsidenten setzte Hollande sein der Bevölkerung vor Übergriffen des Regimes Versprechen um: Zwei Jahre vor dem für 2014 eine Flugverbotszone einzurichten und diese geplanten Ende des Einsatzes der Internationa- militärisch zu sichern. Die von Frankreich und len Schutztruppe (ISAF) verließen die französi- Großbritannien angeführte internationale Mili- schen Kampfeinheiten Afghanistan. Bereits im täroperation mündete im Oktober 2011 in die Juli 2012 übergab Frankreich die Schutzver- Ermordung Muammar al-Gaddafis und die Be- antwortung für die Provinz an die afghanischen freiung des Landes.5 Frankreich leistete dabei Autoritäten. Im November 2012 holte es die zwei Drittel aller Flugeinsätze. Im Rahmen der französische Flagge im Feldlager Nidschrab ein „Opération Harmattan“ stellte das Land Aus- und verlegte die verbliebenen 500 Soldaten sei- rüstung und Personal im Wert von täglich ner Kampftruppe nach Hause zurück.7 1 Mio. Euro zur Verfügung. Auch politisch Doch waren die Streitkräfte des Landes be- führte Frankreich die internationale Gemein- reits wenige Wochen später wieder im Einsatz, schaft: Die Regierung in Paris lehnte Kompro- diesmal in Afrika: Sahelistan, so nennt man in misse mit dem libyschen Regime ab, beharrte Paris die 7.500 Kilometer lange Wüste, die vom auf dem Sturz des Diktators und lieferte den Senegal bis nach Somalia reicht – ein Gebiet, Rebellen heimlich Waffen sowie die Expertise durchzogen von Schmuggler- und Drogenrou- seiner Militärberater. Nach dem Sturz Gaddafis ten, unmöglich zu beherrschen, weder von den versicherte Nicolas Sarkozy auf dem Flugzeug- schwachen afrikanischen Staaten Mali, Niger träger Charles de Gaulle, sein Land werde sich oder Tschad noch von Frankreich, der ehema- „überall engagieren, wo die Freiheit der Völker ligen Kolonialmacht. Und doch bearbeitet das und die Demokratie bedroht sind“.6 Land gegenwärtig gleich zwei Krisenherde mili- tärisch: Im Januar 2013 entsandte Staatspräsi- Mali und Zentralafrikanische Republik 2013 dent François Hollande 2.500 Soldaten nach Dieser Devise scheint sich auch Nicolas Sar- Mali mit dem Auftrag, den Vormarsch ebenso kozys Nachfolger im höchsten Staatsamt Frank- entschlossener wie gut gerüsteter und trainierter reichs verpflichtet zu fühlen. Der im Mai 2012 Islamisten auf die Hauptstadt Bamako zu stop- zum 7. Präsidenten der V. Republik gewählte pen. Elf Monate später, am 5. Dezember 2013, François Hollande führte die Streitkräfte seines erteilte Hollande 1.600 französischen Armee- Landes im Januar sowie im Dezember 2013 angehörigen den Befehl, in der Zentralafrikani- erneut in militärische Auseinandersetzungen, schen Republik religiös motivierte Gewalttaten zunächst im Mali, dann in die Zentralafrikani- zu unterbinden und überlebenswichtige Versor- sche Republik. gungsrouten des Landes in den Tschad sowie Dabei schien es zunächst, als vollziehe der nach Kamerun zu sichern. sozialistische Präsident eine Abkehr von der Politik militärischer Interventionen. Im Wahl- KOSTSPIELIGE INTERVENTIONEN ZUR UNZEIT kampf hatte Hollande im Frühjahr 2012 ver- Doch kamen die beiden jüngsten Interven- sprochen, im Falle seiner Wahl Frankreichs tionen für die Regierung in Paris zur Unzeit – Soldaten vorzeitig aus Afghanistan abzuziehen. aus zwei Gründen. Im Januar 2012 hatte eine Serie von Anschlägen gegen französische Militärangehörige zu einer Alternativlose Lage in Afrika verschärften Kritik am Engagement des Landes Zum einen versucht Frankreich seit Jahren, in Afghanistan geführt. Frankreich hatte in die Beziehungen zu seinen ehemaligen Kolonien Afghanistan die Verantwortung für die Provinz in Afrika auf eine neue Grundlage zu stellen. Kapisa, nordöstlich von Kabul. Dort erlitten Bei seinem Antrittsbesuch in Senegal erklärte französische Kampftruppen seit ihrer Verlegung Präsident Hollande im Oktober 2012 die Zeit im Jahr 2008 schwere Verluste: Knapp zwei der „Françafrique“, des dichten Geflechts politi- Drittel der 88 getöteten französischen Soldaten scher, militärischer und wirtschaftlicher Geheim- wurden in dieser Schlüsselprovinz zwischen verbindungen, mit dem Paris darauf abzielte,

76 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN GESTALTUNGSANSPRU CH UND BUDGETZWÄNGEN

seine Vorrangstellung im frankophonen Afrika Stellung gebracht hätte, erwiesen sich als zu zu bewahren, endgültig für „beendet“.8 Mit schwach, um gegen Islamisten der Gruppen seinem Eingreifen in die Konflikte in Mali und Ansar Dine und al-Qaida im islamischen Magh- der Zentralafrikanischen Republik erweckt der reb vorzugehen, die in Nord-Mali die Kontrolle Elysée-Palast gleichwohl den Eindruck, in der übernommen hatten. In der Zentralafrikanischen Kontinuität der französischen Afrikapolitik ver- Republik zeigte sich nach dem Staatsstreich vom haftet zu sein. Seit der Rede Mitterrands 1990 März 2013, dass die gut 3.000 Mann starke afri- in La Baule, in der er Frankreichs Entwick- kanische Eingreiftruppe schlecht ausgerüstet, lungshilfe an Schritte der demokratischen Ent- unkoordiniert und untereinander so zerstritten wicklung knüpfte, predigen die Staatschefs den war, dass sie nicht in der Lage war, die Ausbrei- Neuanfang der französisch-afrikanischen Bezie- tung von Chaos und Gewalt im Land aufzuhal- hungen – und lassen im nächsten Moment die ten. Auch aus der EU drangen allein Skepsis Armee zugunsten korrupter Machthaber ein- und Abwarten nach Paris. In Deutschland be- schreiten. Doch wer Frankreichs Handeln in stand parteiübergreifend Konsens, nicht „fran- der Sahel-Zone als neokoloniale Machtpolitik zösischen Interessen hinterherzulaufen“. Mali abqualifiziert, verkennt, dass Frankreichs Lage und Zentralafrika werden „nicht als der erste kompliziert ist. Kreis deutscher Sicherheitspolitik“ angesehen.11 Als einzige in Europa betrachtet die Regie- Bereits in der Libyen-Krise 2011 hatten die EU- rung in Paris die Entwicklungen in der Sahel- Staaten Frankreich signalisiert, in akuten Kri- Zone seit Jahren mit Sorge. Das „Weißbuch sensituationen militärisch nicht zur Verfügung zur Verteidigung und nationalen Sicherheit“ zu stehen. Was blieb Frankreich, welches sich von 2008 bezeichnet die Region als „kritische für jahrzehntelange Korruption und Misswirt- Zone“ für die Sicherheit Frankreichs. Man- schaft in seinen ehemaligen Kolonien verant- gelnde staatliche Strukturen, eine Ausweitung wortlich fühlt, anderes übrig, als den Gesuchen rechtsfreier Zonen und die Existenz krimineller der Regierungsverantwortlichen in Mali und der Netzwerke bedrohten, so die Autoren des Regie- Zentralafrikanischen Republik um militärische rungsdokuments, die Interessen des Landes. Sie Unterstützung Rechnung zu tragen?12 begünstigten illegale Migration, die religiöse Radikalisierung muslimisch geprägter Gebiete Finanzielle Überlastung und das Erstarken fundamentalistischer Sekten Die zögerliche Haltung der französischen in christlichen Regionen. Zudem hätten sie, so Regierungsverantwortlichen, militärisch in bei- die Einschätzung in Paris, zur Folge, dass sich den Konflikten einzugreifen, wird verständlich Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida in der vor dem Hintergrund einer Haushaltslage, die Sahel-Zone festsetzen und sich Routen für den extrem angespannt ist. Vertrieb von Drogen und die Verbreitung von Schon lange bemüht man sich in Paris darum, Massenvernichtungswaffen ausprägten.9 Paris die Kosten für die Auslandseinsätze der eigenen reagierte: mit Elitesoldaten, Ausbildern für Streitkräfte zu reduzieren. Verteidigungsminister Sicherheitskräfte, mit Geld und Material. Seit Jean-Yves LeDrian hatte etwa Mitte Oktober Juli 2010 ist Frankreich „im Krieg mit al-Qaida 2012 bekanntgegeben, dass der Abzug der im islamischen Maghreb“.10 französischen Kampftruppen aus Afghanistan Dass Frankreich heute Krieg in Mali und im Jahr 2013 auch finanziellen Erwägungen ge- der Zentralafrikanischen Republik führt, liegt schuldet sei. Eine Rückholung der 1.500 fran- jedoch zuvorderst in einer Mischung aus Alter- zösischen Kampftruppen ermögliche den Streit- nativlosigkeit und historischer Verantwortung kräften, über 90 Mio. Euro einzusparen.13 Ein begründet. Allzu gern hätte Paris die militärische Jahr später, am 31. Oktober 2013, kündigte die Konfliktlösung an die westafrikanische Wirt- französische Regierung an, das der deutsch- schaftsgemeinschaft abgetreten. Deren Streit- französischen Brigade angehörende 110. franzö- kräfte, die Frankreich im April 2012, als Mali sische Infanterieregiment im Verlauf des Jahres infolge eines Militärputsches und dem Auf- 2014 aus dem deutschen Standort Donau- stand der Tuareg faktisch geteilt wurde, gern in eschingen abzuziehen. Die etwa 5.500 Mann

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starke Brigade war auf dem 50. deutsch-franzö- die Konsequenzen, welche sich aus dem Ende sischen Gipfel im November 1983 gegründet des Ost-West-Konflikts für die Sicherheit Frank- worden. Sie ist das Symbol, mit dem beide Seiten reichs und Europas ergeben. Das dritte Weiß- ihren Willen zum Ausdruck bringen, sich auch buch, welches unter der Präsidentschaft Nico- militärisch vertieft integrieren zu wollen. Noch las Sarkozys erarbeitet und 2008 veröffentlich heute ist die deutsch-französische Brigade der wurde, stellt erstmals eine Verknüpfung her weltweit einzige integrierte einsatzfähige Groß- zwischen der Verteidigung und der nationalen verband.14 Dass Paris sein 1.200 Mann umfas- Sicherheit. Entsprechend schreibt es der Aufklä- sendes Jägerbataillon nunmehr aus der Brigade rung eine besondere Rolle zu. Darüber hinaus abzieht und nach Frankreich zurückverlegt, ist öffnet es den Weg für die vollständige Rückkehr ein weiterer Ausweis seiner finanziellen Eng- Frankreichs in die militärische NATO-Integra- pässe. Der Unterhalt des Infanterieregiments ist tion, für die es sich explizit ausspricht.17 in Deutschland drei Mal höher als in Frank- Aus zwei Gründen hielt es François Hollande reich.15 nur vier Jahre nach Erscheinen des „Weißbuch Ende 2013 schließlich beschlossen die politi- über die Verteidigung und die nationale Sicher- schen Verantwortungsträger in Paris, das Budget heit“ für wichtig, die Aussagen des Dokuments für die Auslandseinsätze der französischen Streit- aus dem Jahr 2008 überprüfen zu lassen: Zum kräfte deutlich zu reduzieren. Bislang sieht der einen haben sich seit der Veröffentlichung des französische Verteidigungsetat für die Aus- Weißbuchs von Nicolas Sarkozy gewichtige landseinsätze seiner Streitkräfte eine Dotierung geostrategische Veränderungen ergeben. Dazu von 630 Mio. Euro vor. Dass dieser Betrag viel zählen aus französischer Sicht insbesondere der zu knapp bemessen ist, verdeutlicht der Blick weiter rasch voranschreitende Aufstieg Chinas, auf die Ausgaben des Jahres 2011. Hier betru- welches sich zunehmend auch in der Sicher- gen die Aufwendungen der Streitkräfte für Aus- heits- und Verteidigungspolitik zu einer Groß- landseinsätze in Kosovo, Elfenbeinküste, Sahel, macht entwickelt, die Abwendung der USA Libanon, Libyen, dem indischen Ozean und von Europa zugunsten des asiatisch-pazifischen Afghanistan insgesamt 1,3 Mrd. Euro.16 Für die Raums sowie die Umbrüche in der arabischen kommenden fünf Jahre ist jedoch vorgesehen, Welt. Zum anderen zwingen die wirtschaftli- die Haushaltsmittel für Auslandseinsätze auf chen Schwierigkeiten des Landes Frankreich 450 Mio. Euro zu kürzen. dazu, seine Militärausgaben anzupassen. Der Weißbuchkommission erteilte François Hollande AUF DEM WEG ZU EINER KLEINEREN, den Auftrag, Frankreich aus der „Verneinung ABER BESSER AUSGESTATTETEN ARMEE? der Realitäten“ zu führen und ein sicherheits- VERTEIDIGUNGSWEIßBUCH UND und verteidigungspolitisches Projekt aufzu- MILITÄRISCHES PROGRAMMGESETZ zeigen, welches das Land auch finanzieren Dass Frankreich seinen internationalen An- könne.18 sprüchen in Zukunft gleichwohl weiter gerecht werden kann, darum bemüht sich die Regie- Strategische Prioritäten Frankreichs rung von Staatspräsident François Hollande Es waren die Umbrüche in der arabischen seit ihrem Amtsantritt. Am 13. Juli 2012 ordnete Welt und die mit ihnen verbundenen französi- der Präsident die Redaktion eines neuen Vertei- schen Militärinterventionen in Libyen und Mali digungsweißbuches an. Es ist das vierte Mal in sowie die lahmende Konjunktur und die rasant der Geschichte der V. Republik, dass die Staats- steigende Staatsverschuldung, welche die Arbei- führung eine Überprüfung der strategischen ten am neuen Weißbuch erheblich in die Länge Grundlagen von Frankreichs Sicherheits- und zogen. Die 46 Mitglieder der Weißbuchkom- Verteidigungspolitik anordnet. Im ersten Weiß- mission waren beauftragt, das neue Strategie- buch, welches 1972 erschien, schrieb das Land dokument bis Anfang 2013 zu erarbeiten und die nukleare Abschreckung als Bestandteil sei- dem Ministerrat vorzulegen. Tatsächlich konnte ner Sicherheits- und Verteidigungspolitik fest. das neue Dokument jedoch erst am 29. April Das 1994 veröffentlichte Weißbuch untersuchte 2013 an den Präsidenten übergeben werden.

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Das neue Weißbuch hält im Prinzip an den Frankreichs von jährlich 3,7 Mrd. Euro – diese strategischen Prioritäten seines Vorgängerdoku- Summe entspricht 26 % der Ausgaben des mentes fest – Schutz, Aufklärung, Prävention, Ausrüstungsbudgets des Verteidigungsministe- Abschreckung und Intervention. Gleichzeitig riums – beizubehalten. Zudem sprach er sich stellt es jedoch den Schutz des Territoriums, die dafür aus, die bereits unter Nicolas Sarkozy be- Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung schlossene Modernisierung der Nuklearwaffen mit ihren beiden Komponenten (See und Luft) fortzusetzen.20 sowie die Fähigkeit der Streitkräfte zu externen Mit Blick auf die Fähigkeiten des Landes zum Interventionen als Schwerpunkte heraus.19 militärischen Eingreifen in Krisen und Konflik- Um das französische Staatsgebiet sowie die te stellt das neue Weißbuch heraus, dass Asien französischen Staatsangehörigen bestmöglich vor als geostrategischer Schwerpunkt französischer Angriffen zu schützen, plant Frankreich, seine sicherheits- und verteidigungspolitischer Ein- Fähigkeit zur Frühwarnung und Ausklärung zu flussnahme im Vergleich zum Dokument von stärken. Das Verteidigungsweißbuch von 2013 2008 an Bedeutung verloren hat. Deutlich stellt heraus, dass hierzu die Geheimdienste ge- wichtiger geworden ist für Frankreich hingegen stärkt und Aufklärungssysteme im Weltall sowie der afrikanische Kontinent mit seinen zahlrei- elektronische Überwachungsmaßnahmen ver- chen Krisen und Konflikten. bessert werden müssen. Das Ausbrechen neuer Damit das Land auch künftig mit militäri- Krisen und Konflikte in Europas unmittelbarer schen Mitteln in Krisen in seinem unmittelbaren Nachbarschaft hat für die Autoren des Vertei- regionalen Umfeld eingreifen kann, seien, so digungsweißbuches im Jahr 2013 die Fähigkeit streicht das Weißbuch heraus, Investitionen zur Aufklärung in Echtzeit besonders dringlich dringend geboten. Die Operationen in Libyen gemacht. und Mali hätten einmal mehr verdeutlicht, wie Zum Schutz des Territoriums wie der Bür- sehr auch Frankreich von der militärischen Un- ger zählt in Frankreich auch die Sicherheit des terstützung der USA abhänge. Ohne die Hilfe Internets. Aufbauend auf dem Weißbuch von Washingtons wäre Paris nicht in der Lage gewe- 2008 wird auch im Dokument von 2013 die sen, den Libyen-Einsatz der NATO über einen Notwendigkeit betont, technische Kapazitäten Zeitraum von sechs Monaten zu leiten. Allein zur Identifizierung der Urheber von Cyberatta- die militärischen Fähigkeiten der USA – Marsch- cken weiterzuentwickeln und die entsprechend flugkörper, Drohnen und elektronische Krieg- offensiven Fähigkeiten potenzieller Gegner ab- führung – hätten Paris zum Erfolg in Libyen zuschätzen. Bereits im Weißbuch 2008 wurde verholfen. Entsprechend müsse Frankreich seine die Sicherheit von Netzwerken als künftige Prio- Führungsmittel, Informationssysteme, nachrich- rität definiert. Nun wird Frankreich eine neue tendienstlichen Informationen, Überwachung, Organisation im Bereich Cybersicherheit schaf- Zielerfassung und Aufklärung verbessern. Die fen, die nicht nur defensiven Charakter hat. „Opération Serval“ in Mali habe den Mitglie- Die nukleare Abschreckung bleibt auch wei- dern der Weißbuchkommission verdeutlicht, terhin eine Priorität französischer Sicherheits- dass Streitkräfte auch kurzfristig einsatzfähig und Verteidigungspolitik. Noch während der zur Verfügung stehen und über große Entfer- Erarbeitung des Weißbuchs wurde darüber nungen operieren können müssen. Profitiert spekuliert, dass Frankreich nicht länger in der habe Frankreich in Mali gleichwohl von dem Lage sei, die beiden Komponenten seiner nuk- Umstand, dass die 2008 von Nicolas Sarkozy learen Abschreckung – see- und luftgestützt – zu beschlossene Schließung französischer Militär- finanzieren. Doch stellte François Hollande basen in Afrika am Widerstand lokaler Macht- alsbald klar, dass er, wie alle Präsidenten vor haber gescheitert sei, die allesamt davor warn- ihm, an beiden Komponenten der nuklearen ten, dass diesem Schritt politische Instabilitäten Abschreckung festhält. Zur Aufrechterhaltung folgen könnten. So konnte Frankreich bei sei- der nuklearen Abschreckungsfähigkeit seines nem Eingreifen in Mali auf eigene Kräfte zurück- Landes erklärte er sich bereit, die finanziellen greifen, die in Burkina Faso, Tschad und der Ausgaben für die beiden Nuklearkapazitäten Elfenbeinküste stationiert waren.21

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 79 RONJA KEMPIN

Umstrukturierungen der Streitkräfte für eine größere Operation einsetzen zu können. Um die als dringend erachteten militärischen Stattdessen werden Operationen in kleinerem Fähigkeiten beschaffen zu können, schlagen die Umfang angepeilt. Dafür wird Frankreich 5.000 Autoren des Verteidigungsweißbuchs vor, Ein- schnell einsatzfähige Truppen unterhalten, aus schnitte bei vorhandenen militärischen Fähig- denen kurzfristig Verbände von 2.300 Mann keiten vorzunehmen und die Teilstreitkräfte für Operationen bis zu sieben Tagen Dauer Heer, Marine und Luftwaffe zu verkleinern und formiert werden können. Für längere Operatio- neu zu organisieren. nen sind 7.000 Mann Bodentruppen mit zirka Insbesondere Luftwaffe und Marine sind ge- 12 Kampfflugzeugen, einer Fregatte, einem Jagd- fordert, Opfer zu erbringen. So ist die Luftwaffe U-Boot sowie einem Transport- und Komman- gehalten, die Lebensdauer ihrer neuen Mirage- doschiff und auch Spezialeinheiten vorgesehen. Kampfflugzeuge zu verlängern, die über ihre Frankreich plant, gleichzeitig drei Operationen Laufzeit hinaus einem so genannten „retrofit“ des Typs „Serval“ in Mali durchführen zu kön- unterzogen werden. Die Zuführung der mo- nen und die 7.000 Soldaten auf drei Opera- dernen Kampfflugzeuge vom Typ Rafale wird tionsfelder verbringen zu können. Für größere fortgesetzt. Jedoch muss die Luftwaffe auch hier Operationen, etwa zur Durchsetzung von mit einer deutlich geringeren Anzahl an Flug- Zwangsmaßnahmen, werden ein Heeresverband zeugen rechnen. Das Weißbuch sieht vor, allen- von zwei Brigaden mit 15.000 Soldaten, etwa falls 225 Flugzeuge, nicht aber die ursprünglich 34 Kampfflugzeugen, einem Flugzeugträger, geplanten 286 Flugzeuge zu beschaffen. Die zwei Transport- und Kommandoschiffen sowie Marine wird lediglich 10 neue Fregatten erhal- Spezialeinsatzkräfte zur Verfügung stehen.24 ten; drei weniger, als im Weißbuch von 2008 Kritiker des Weißbuches zweifeln jedoch eingeplant.22 daran, dass diese Einsatzplanungen realistisch Des Weiteren wird der Umfang der Streit- sind. Führende Militärs äußern die Befürchtung, kräfte weiter reduziert. Die bis dato in diesem dass die Zeiten für die operative Vorbereitung – Umfang einzigartige „Deflation des Personalbe- Flugstunden, Trainingsmaßnahmen – den Spar- standes“, die bereits unter der Regierung von zwängen zum Opfer fallen und die Streitkräfte Nicolas Sarkozy eingeleitet worden war, wird entsprechend nicht im geplanten Umfang ein- fortgesetzt. Das neue Weißbuch legt für die satzfähig sein werden.25 Aufgrund der finanziel- kommenden sechs Jahre eine weitere Einspa- len Schwierigkeiten der öffentlichen Haushalte rung von 34.000 Dienstposten vor. Allein 2014 werden weitere Einschnitte befürchtet. In mili- will Paris in der französischen Armee 7.881 mi- tärischen Kreisen wird damit gerechnet, dass litärische wie zivile Dienstposten einsparen. Bis im Anschluss an die französischen Kommu- zum Jahr 2019 werden die Streitkräfte dann nalwahlen Ende März 2014 weitere Kürzungen um 33.675 Personen verkleinert. Diese Redu- bekannt gegeben werden, insbesondere die zierung des Streitkräfteformats muss gleichsam Schließung von Standorten. addiert werden zu der bereits im Jahr 2008 angeordneten Streichung von 54.000 militäri- Das militärische Programmgesetz 2014-2019 schen Dienstposten. Zwischen 2009 und 2019 Diese Befürchtungen versucht der französi- werden die französischen Streitkräfte somit sche Verteidigungsminister Jean-Yves LeDrian knapp 80.000 Stellen und damit insgesamt ein zu zerstreuen. Bei der Vorstellung des militäri- Viertel ihres Personals, abbauen müssen. Das schen Programmgesetzes 2014-2019, in dem die Militär, welches etwa 10 % des französischen strategischen Ziele des Weißbuchs in planeri- Beamtenapparates ausmacht, wird somit 60 % sche wie finanzielle Kennzahlen umgesetzt wer- des Personalabbaus im öffentlichen Dienst des den, sicherte er den Streitkräften im Sommer Landes tragen.23 2013 zu, dass sich Frankreich, wenn es den Abstriche müssen die Streitkräfte ferner vorgegebenen Budgetrahmen einhält, unter den mit Blick auf ihre Einsatzfähigkeit hinnehmen. wichtigsten sicherheits- und verteidigungspoliti- So wird das avisierte Ziel aufgegeben, bis zu schen Ländern der Welt halten wird. In Europa 30.000 Bodentruppen und 70 Kampfflugzeuge werde es den ersten Platz als gewichtigster Ver-

80 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN GESTALTUNGSANSPRU CH UND BUDGETZWÄNGEN

teidigungsakteur einnehmen. Schließlich rühmt gesetz vollständig auszuführen. Die vorangegan- sich die Regierung auch dafür, die wichtigsten genen Gesetze wurden während ihrer Laufzeit Rüstungsverträge aufrechterhalten zu können, finanziell immer wieder nach unten korrigiert. wenngleich diese zeitlich nach hinten gestreckt Als Faustregel gilt, dass den 5-jährigen Pro- werden.26 grammgesetzen die Finanzierung des letzten Für den Zeitraum zwischen 2014 und 2019 Jahres, allzu oft gar der letzten beiden Jahre sieht das militärische Programmgesetz einen fehlte. Ein Blick auf die Umsetzung des Militä- Verteidigungshaushalt von 190 Mrd. Euro vor. rischen Programmgesetzes 2008-2013 verdeut- Es hält fest, dass das Budget in den kommen- licht, dass von den dort eingeplanten 3,47 Mrd. den Jahren auf dem Niveau des Jahres 2013, Euro „Sondereinnahmen“ lediglich 980 Mio. somit bei 31,4 Mrd. Euro jährlich, gehalten Euro erzielt wurden.28 Zu diesen wenig opti- wird. Ab dem Jahr 2016 soll das Budget ein mistischen Zahlen gesellt sich ein gewaltiges wenig ansteigen, um 2019 schließlich 32,5 Mrd. Finanzierungsloch, welches in den vergangenen Euro zu betragen. Das Verteidigungsbudget Jahren immer weiter angewachsen und Schät- beläuft sich weiterhin auf 1,5 % des BNP. zungen zufolge bei ebenfalls mindestens 3 Mrd. Schließt man die Pensionszahlungen ein, wie Euro liegt. dies in den Budgetplanungen der NATO üblich ist, liegt der Etat künftig bei 1,76 % des BNP. SCHLUSSFOLGERUNGEN Gegenwärtig beträgt er 1,9 %.27 Frankreich erhebt weiterhin den Anspruch, Doch sind gewichtige Zweifel an den Kenn- die internationalen Beziehungen durch eine ak- zahlen des militärischen Programmgesetzes tive Außen- und Sicherheitspolitik zu bestim- angebracht. Die vorgesehenen Budgetzahlen men. Zu den wichtigsten Instrumenten hierfür können allein dann erreicht werden, wenn es zählen die Streitkräfte des Landes. Die schwache dem Verteidigungsministerium gelingt, „Son- Wirtschaftsleistung und die damit verbundene dereinnahmen“ in Höhe von 6,1 Mrd. Euro zu hohe Verschuldung des Staates beschneiden erzielen. Das Ministerium muss Gebäude und gleichwohl die Handlungsfähigkeit der franzö- Liegenschaften veräußern und Hertz-Frequen- sischen Armee. Um einen tragfähigen Kom- zen ebenso verkaufen wie Beteiligungen an pri- promiss zwischen Gestaltungsanspruch und vaten Firmen. So plant der französische Staat, Haushaltsdisziplin bemüht sich die sozialisti- sich von Airbus-Unternehmensanteilen im Wert sche Regierung unter Präsident Hollande seit von etwa 1,2 Mrd. Euro zu trennen. Entschei- ihrer Amtsübernahme im Mai 2012. Das im dend ist jedoch insbesondere der Verkauf der April 2013 veröffentlichte Weißbuch „Vertei- Rafale-Kampfflugzeuge. So räumt der Verteidi- digung und nationale Sicherheit“ und das im gungsminister, der seit Antritt der sozialisti- Dezember 2013 verabschiedete militärische Pro- schen Regierung im Mai 2012 bereits drei Mal grammgesetz 2014-2019 zeichnen den Weg für in Saudi-Arabien zu Verkaufsgesprächen war, finanzierbare Streitkräfte vor. Beide Dokumen- offen ein, dass der Erfolg des militärischen Pro- te machen deutlich, dass auch die letzte ver- grammgesetzes am Export des Kampffliegers bliebene Militärmacht in Europa künftig Krisen hängt. Skepsis ist also angebracht. Weder hat allenfalls im Umfang derjenigen im Mali und das Finanzministerium seine Zustimmung dazu der Zentralafrikanischen Republik wird bearbei- gegeben, dass die Erlöse dieser Verkäufe tat- ten können. Daher wird auch aus Frankreich sächlich dem Verteidigungsetat zugeführt wer- der Ruf nach militärischer Integration in Europa den können, noch kann das Militär davon aus- immer lauter – Aufgabe und Chance zugleich gehen, dass die geplanten Einnahmen zeitnah für die deutsch-französische Partnerschaft. und in der avisierten Höhe erfolgen. So gehen Experten bereits jetzt davon aus, dass der jähr- ||||| DR. RONJA KEMPIN liche Verteidigungsetat zwischen 1 und 3 Mrd. Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin Euro geringer ausfallen wird als angenommen. In der Vergangenheit ist es Frankreich zudem noch nie gelungen, ein militärisches Programm-

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 81 RONJA KEMPIN

12 ANMERKUNGEN Die Krise in im Frühjahr 2012 ausgebro- chen: Im April 2012 überfielen Tuareg-Rebellen, 1 Sauder, Axel: Souveränität und Integration. Deut- die sich seit Jahren im Konflikt mit der malischen sche und französische Konzeptionen europäischer Regierung befinden, die Stellungen der malischen Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges Armee im Norden des Landes. Im Anschluss riefen (1990-1993), Baden-Baden 1995. sie die Unabhängigkeit ihres Territoriums aus. Hin- 2 Das so genannte „Recht auf Einmischung“ wurde fort war Mali faktisch zweigeteilt. Im Januar 2013 erstmals im Jahr 1979 vom französischen Philoso- starteten die Rebellen gleichwohl eine Offensive auf phen Jean-François Revel verwendet und geprägt. die Stadt Konna, welche sich hinter der Demarkati- 1988 wurde das Recht auf Einmischung in innere onslinie befand. Schnell war die Stadt eingenom- Angelegenheiten eines Staates aus humanitären men und die Rebellen setzen ihren Vormarsch in Gründen in das Völkerrecht aufgenommen. Richtung der Hauptstadt Bamako fort. Mali drohte 3 in die Hände islamistischer Gruppen zu fallen. Der Kempin, Ronja: Solo in Sahelistan, in: Security Präsident sowie die Staaten der Westafrikani- Times, Special Edition of the Atlantic Times for schen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS riefen the 50th Munich Security Conference, 31.1.2014, Frankreich offiziell um militärische Unterstützung S. 21, http://www.the-atlantic-times.com/download/ an. Am 11. Januar 2013 erteilte François Hollande Security_Times_Feb2014.pdf, Stand 31.1.2014. den französischen Soldaten den Befehl zum Ein- 4 United Nations Security Council: Resolution 1973 greifen. In der Zentralafrikanischen Republik war (2011), Adopted by the Security Council at its 6498th es bereits im März 2013 zu einem Staatsstreich ge- meeting, on 17 March 2011, http://daccess-dds- kommen. Dabei hatte das vorwiegend muslimische ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N11/268/39/PDF/N Rebellenbündnis Séléka den amtierenden Staats- 1126839.pdf?OpenElement, Stand 31.1.2014. chef Bozizé gestürzt. Frankreich sah sich zu diesem 5 Lacher, Wolfram: Bruchlinien der Revolution. Ak- Zeitpunkt nicht geneigt, militärisch zugunsten der teure, Lager und Konflikte im neuen Libyen, SWP- etablierten Machthaber einzugreifen. Paris betrach- Studie S 5, März 2013, http://www.swp-berlin.org/file tete mit Sorgen, wie eines der ärmsten Länder der admin/contents/products/studien/2013_S05_lac.pdf, Welt in Gewalt und Chaos versank. Doch erst der Stand 31.1.2014. Hilferuf des Premierministers der Zentralafrikani- 6 schen Republik, Tiangaye, führte Paris im Dezember Der Ausspruch Sarkozys ist zitiert nach Ulrich, Ste- 2013 vor Augen, dass es an der Zeit ist zu handeln. fan: Sarkozy und das Glück des Mutigen, in: Süd- „Von Frankreich, so erkannte François Hollande, deutsche Zeitung, 1.9.2011. wird erwartet, dass es eine humanitäre Katastrophe 7 Seit Beginn des internationalen Afghanistan-Einsat- verhindert.“ Paris agiert auf einem Staatsgebiet, in zes 2001 hatte Frankreich 65.000 Soldaten an den dem nahezu eine Million Menschen auf der Flucht Hindukusch verbracht. Paris hatte durchschnittlich vor Rebellen ist, im Rahmen einer UN-Resolution 4.000 Armeeangehörige im Einsatz. Damit war es unter Kapitel VII, welche den Rückgriff auf militä- nach den USA, Großbritannien, Deutschland und rische Mittel aus humanitären Gründen erlaubt. Italien der fünftgrößte Truppensteller der ISAF. 13 Franzosen verlassen Afghanistan endgültig. François Vgl. dazu Frankreich beendet offiziell Kampfeinsatz Hollande macht sein Wahlkampfversprechen wahr: in Afghanistan. Soldaten aus Kapisa abgezogen, in: Die letzten französischen Soldaten sind aus Kabul Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.2012; Fran- abgereist, am Dienstag sollen sie in Paris ankommen, zosen verlassen Afghanistan endgültig. François in: Zeit online, 16.12.2012, http://www.zeit.de/poli Hollande macht sein Wahlkampfversprechen wahr: tik/ausland/2012-12/afghanistan-frankreich-abzug, Die letzten französischen Soldaten sind aus Kabul Stand 31.1.2014. abgereist, am Dienstag sollen sie in Paris ankommen, 14 Die Brigade setzt sich zusammen aus einem gemisch- in: Zeit online, 16.12.2012, http://www.zeit.de/poli ten Stab, einem gemischten Versorgungsbataillon, tik/ausland/2012-12/afghanistan-frankreich-abzug, dem 110. französischen Infanterieregiment, einem Stand 31.1.2014. französischen Aufklärungsregiment, einem deutschen 8 François Hollande à Dakar: „Le temps de la Franç- Jägerbataillon, einem deutschen Artilleriebataillon afrique est resolu“, in: Le Monde, 12.10.2012. und einer deutschen Panzerpionierkompanie. Vgl. 9 dazu Kempin, Ronja: Deutsch-französische Zusam- Ministère de la Défense: Défense et Sécurité natio- menarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungs- nale. Le Livre blanc, Paris 2008, S. 44-47. politik – Vernunftehe vor dem Aus?, in: Zeitschrift 10 Knaup, Horand / Repinski, Gordon / Schult, Chris- für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS) 2/2012, toph: Soldaten in Sandalen, in: Der Spiegel S. 203-214. 44/2012, 29.10.2012, S. 94-96. 15 Soldt, Rüdiger / Wiegel, Michaela: Sag’ zum Ab- 11 Heyer, Julia u.a.: Rechnung fürs Nichtstun, in: Der schied leise au revoir, in: Frankfurter Allgemeine Spiegel 51/2013, 16.12.2013, S. 86-88. Zeitung, 24.10.2013, S. 3.

82 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN GESTALTUNGSANSPRU CH UND BUDGETZWÄNGEN

16 Boyer, Yves: French defence policy in a time of uncer- tainties, in: Fondation pour la Recherche Stratégique (FRS), Note Nr. 4/13, S. 3, http://www.frstrategie. org/barreFRS/publications/notes/2013/201304.pdf, Stand 4.2.2014. 17 Kempin, Ronja: Modernisierung der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Das Weißbuch „Verteidigung und nationale Sicherheit“ und seine Umsetzung, SWP-Aktuell 2008/A 68, August 2008. 18 Direction de l’information légale et administrative: Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013, Préface du Président de la République, Paris 2013, S. 7-8, http://www.livreblancdefenseetsecurite.gouv. fr/pdf/le_livre_blanc_de_la_defense_2013.pdf, Stand 31.1.2014. 19 Guibert, Nathalie: Défense: la France prépare les guerres de demain avec des ambitions réduites, in: Le Monde, 30.4.2013, S. 1. 20 Rist, Manfred: Frankreich bleibt Atommacht mit Ambitionen, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.4.2013, S. 8; Direction de l’information légale et administra- tive: Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013. 21 Direction de l’information légale et administrative: Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013. 22 Guisnel, Jean: Les points noirs du Livre Blanc, in: Le Point, 29.4.2013. 23 Barluet, Alain: Comment l’armée vit-elle les restric- tions budgétaires?, in: Le Figaro, 28.10.2013, S. 17. 24 Direction de légale et administrative: Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013. 25 Ende Oktober 2013 jedoch berichtete die konserva- tive französische Tageszeitung „Le Figaro“ vom Hil- feruf eines Obersten, der eine Situation „finanzieller Strangulation“ beklagt, welche die operative Hand- lungsfähigkeit der Streitkräfte erheblich beeinträch- tige. Vgl. dazu Barluet: Comment l’armée vit-elle les restrictions budgétaires? 26 LeDrian, Jean-Yves: Allocution devant l’Assemblée nationale à l’occasion de l’examen du projet de loi de programmation militaire, Paris, 26.11.2013, http://www.defense.gouv.fr/ministre/prises-de-paro le-du-ministre/prises-de-parole-de-m.-jean-yves-le-dr ian/lpm-allocution-de-jean-yves-le-drian-ministre- de-la-defense-devant-l-assemblee-nationale, Stand 31.1.2014. 27 Journal Officiel de la République Française: Loi n° 2013-1168 du 18 décembre 2013 relative à la programmation militaire pour les années 2014 à 2019 et portant diverses dispositions concernant la défense et la sécurité nationale, 18-12-2013 Loi LPM 2014 a ̀ 2019.pdf, Stand 31.1.2014. 28 Guillermard, Véronique: Défense: les cinq éléments marquants du livre blanc, in: LeFigaro.fr, 29.4.2013, http://www.lefigaro.fr/conjoncture/2013/04/29/20 002-20130429ARTFIG00357-defense-les-cinq-elem ents-marquants-du-livre-blanc.php?print=true, Stand 31.1.2014.

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ZUR WELTGELTUNG DER FRANZÖSISCHEN KULTUR IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

VOLKER STEINKAMP ||||| Von den Zeiten eines Kardinals Richelieu bis in die Gegenwart der V. Republik hat Frankreich aus der besonderen Bedeutung und Ausstrahlung seiner Kultur und Sprache stets den Anspruch auf eine Sonderstellung des Landes innerhalb der Staatengemein- schaft abgeleitet. Der Beitrag geht der Frage nach, welche außenpolitische Rolle der französischen Kultur unter den grundlegend gewandelten Verhältnissen des 21. Jahrhunderts noch zukommen kann.

KULTUR UND POLITIK IN FRANKREICH SEIT Konzeption von Frankreich als puissance KARDINAL RICHELIEU d´influence gezogen hat. Denn auch wenn, wie Als der französische Außenminister Laurent Fabius betont, das heutige Frankreich anders Fabius im März 2013 eine außenpolitische als im 17. Jahrhundert keinerlei hegemoniale Grundsatzrede „La France, puissance d´in- Absichten mehr hege, so verdanke es doch sei- fluence“ (Frankreich als „Einflussmacht“) in der nen gegenwärtigen Status als puissance d´in- altehrwürdigen Pariser Sorbonne hielt, tat er fluence in beträchtlichem Maße eben Kardinal dies im Amphithéâtre Richelieu, jenem großen Richelieu. Denn dieser habe bereits über eine Hörsaal, der benannt ist nach dem berühmten Einsicht verfügt, die noch immer von hoher Ersten Minister von König Ludwig XIII., der Aktualität für die Gegenwart sei: die Erkenntnis, zugleich Vorsteher und großer Förderer der dass die Macht eines Landes nicht allein auf Pariser Universität gewesen ist und in deren seiner militärischen Stärke, sondern eben auch von ihm in Auftrag gegebener Kapelle sich auf der Ausstrahlungskraft seiner Kultur beru- auch seine monumentale Grabstelle befindet. he. „Déjà au temps de Richelieu, la puissance Natürlich konnte an einem solchen Ort ein n’était pas qu’une affaire de troupes et de canons, Außenminister im geschichtsbewussten Frank- mais aussi de rayonnement et de culture.“ 2 reich es nicht an einer Reverenz an den genius (Schon zu Richelieus Zeiten war die Macht loci fehlen lassen. Laurent Fabius hat sich indes nicht allein eine Frage von Truppen und Kano- nicht darauf beschränkt, Kardinal Richelieu als nen, sondern auch der Ausstrahlung und der eine der bedeutendsten Figuren der französi- Kultur. 3) schen Geschichte, als Architekten der französi- In der Tat, wie wohl kein Staatsmann vor schen Außenpolitik in der ersten Hälfte des ihm hat Kardinal Richelieu die politische Dimen- 17. Jahrhunderts („maître d´œuvre de la sion der Kultur erkannt und aus dieser Erkennt- politique étrangère de Louis XIII.“) und damit nis die Konsequenz gezogen, die Kultur in den als Wegbereiter von Frankreichs Aufstieg zur Dienst der Politik und der Macht zu stellen. europäischen Hegemonialmacht („grand artisan Dies galt zum einen für die Innenpolitik, wo de la puissance de la France“) zu würdigen. 1 vor allem die Literatur und die Sprache – man Als interessanter noch für unseren Zusammen- denke nur an die von Richelieu betriebene hang aber erscheint es, dass Fabius eine direkte Gründung der Académie française im Jahr Linie von Richelieu und dem 17. Jahrhundert 1635 – eine zentrale identitätsstiftende Funktion in die Welt des 21. Jahrhunderts und zu seiner bei der von ihm angestrebten Etablierung der

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absolutistischen Monarchie zugewiesen bekom- mer wieder aus der herausragenden und eben men haben. Es galt zum anderen aber eben auch auch von anderen Nationen weitgehend aner- für die Außenpolitik, wo nach den Vorstellun- kannten Bedeutung und Ausstrahlung seiner gen des Kardinals Frankreichs politischer Auf- Kultur, seiner Literatur und nicht zuletzt seiner stieg zur europäischen Hegemonialmacht mit Sprache auch den Anspruch auf eine politische seinem Aufstieg zur führenden Kulturnation Sonderstellung des Landes innerhalb der euro- auf dem Kontinent einhergehen musste – und päischen bzw. später dann der internationalen dann im Zeitalter des Sonnenkönigs Louis XIV. Staatengemeinschaft abgeleitet hat. (1643-1715) ja auch tatsächlich einhergegan- gen ist. DIE AUSWÄRTIGE KULTURPOLITIK DER Kardinal Richelieu kann daher nicht nur als V. REPUBLIK ein früher Pionier dessen, was heute gerne unter Gerade im Frankreich der V. Republik, des- dem modernen angelsächsischen und daher von sen internationale Position nach dem Ende des Franzosen nicht sonderlich geliebten Begriff der großen französischen Kolonialreichs und der soft power subsumiert wird, gelten.4 Vielmehr Unabhängigkeit Algeriens außenpolitisch deut- hat er zugleich auch jene spezifische Beziehung lich geschwächt war, ist von Beginn an dem von Politik und Kultur begründet, wie sie in rayonnement culturel eine wichtige machtpoli- dieser Intensität wohl nur in Frankreich zu fin- tische Funktion erwachsen, mit deren Hilfe ein den ist. Unabhängig davon, wie man diese enge General de Gaulle nicht ohne Erfolg den Ver- Beziehung beurteilen mag,5 so bleibt doch die lust an politischer Macht auszugleichen oder Feststellung: Kulturelle Fragen sind in Frank- zumindest zu mildern gesucht hat, oder, um es reich seit den Zeiten eines Richelieu, und daran in moderner Terminologie auszudrücken: Die hat selbst die Französische Revolution nichts kulturelle soft power sollte die geringer gewor- zu ändern vermocht, immer auch eminent poli- dene hard power kompensieren. tische Fragen mit entsprechender Brisanz. Dies Für den Gründungsvater der V. Republik gilt dann natürlich auch für die Fragestellung fand der von ihm vehement vertretene Anspruch dieses Beitrags, die nur auf den ersten Blick ein Frankreichs auf eine Großmachtstellung oder Thema vor allem für das Feuilleton zu sein zumindest auf eine über ihre tatsächliche poli- scheint. Denn auch und gerade in der Gegen- tisch-militärische Bedeutung weit hinausge- wart des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach hende Rolle in der internationalen Politik seine der globalen Stellung und Bedeutung der fran- eigentliche Begründung in der weit über die zösischen Kultur oder nach dem rayonnement eigenen Grenzen ausstrahlenden civilisation culturel (kulturelle Ausstrahlung) eben nicht française. Kurz: die vielzitierte grandeur Frank- nur für die Identität und das Selbstverständnis reichs war in erster Linie die grandeur seiner der Nation im Innern, sondern ebenso für seine Kultur und Zivilisation. Stellung in der Welt und mehr noch für die Dabei hat sich die V. Republik seit ihren französische Selbst-Wahrnehmung der eigenen Anfängen nicht darauf beschränkt, die franzö- Position weiterhin von großer Wichtigkeit und sische Kultur gleichsam aus sich selbst heraus vermag als solche immer noch erhitzte Debat- ihre Ausstrahlung und Wirkung auf den Rest ten auszulösen. der Welt entfalten zu lassen, der rayonnement Auch in dieser Frage kann Frankreich, wie in culturel wurde vielmehr zum Ziel einer überaus so vielem, auf eine longue durée zurückblicken, ambitionierten und mit beachtlichen finanziel- die mindestens bis in die Zeit des eben zitierten len Mitteln ausgestatteten Auswärtigen Kultur- Richelieu zurückreicht.6 Auch ohne diese lange politik (politique culturelle étrangère), die – Geschichte hier im einzelnen ausbreiten zu parallel zur Einrichtung des eher nach Innen können, kann man doch festhalten, dass gerichteten Kulturministeriums unter André Frankreich in unterschiedlichen historischen Malraux im Jahre 1959 – die französische Spra- Kontexten, unter dem Ancien régime des 17. und che und die Errungenschaften der französischen 18. Jahrhunderts wie unter den verschiedenen Zivilisation nach außen in die Welt tragen soll- Republiken des 19. und 20. Jahrhunderts, im- te.7 Diese in der Folge im breiten nationalen

86 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 ZUR WELTGELTUNG DER FRANZÖSISCHEN KULTUR IM ZEITALT ER DER GLOBALISIERUNG

Konsens von konservativen wie von sozialisti- DIE FRANZÖSISCHE KULTUR IN DER schen Präsidenten und Regierungen gleicherma- GLOBALISIERUNG ßen intensiv betriebene diplomatie culturelle Am Anfang des 21. Jahrhunderts dürfte so hat Frankreich zu dem Staat mit dem höchsten wohl kaum ein Weg an der ernüchternden Er- Etat für die Auswärtige Kulturpolitik und dem kenntnis vorbeiführen, dass von einer Weltgel- dichtesten Netz an Kulturinstituten (réseau tung der französischen Kultur nicht mehr in culturel) weltweit werden lassen. Ungeachtet dem Sinne gesprochen werden kann, wie dies verschiedener Sparrunden und der damit ver- in der Vergangenheit nicht nur von Franzosen, bundenen Schließung von einer ganzen Anzahl sondern gerade auch von Nicht-Franzosen getan von Instituten (auch in Deutschland, das aber worden ist, und es gibt auch momentan wenig weiter das Land mit den meisten französischen Indizien, dass sich dies in absehbarer Zeit wie- Kultureinrichtungen bleibt), verfügt Frankreich der ändern wird. auch heute über den gesamten Globus verteilt Dieser globale Bedeutungsverlust aber ist, noch über 140 Instituts français und weitere das sei sogleich betont, relativer Natur, d. h. er rund 160 Kooperationseinrichtungen, die so- scheint zunächst einmal weniger mit dem inne- genannten services de coopération et d´action ren Zustand der französischen Gegenwartskul- culturelle, sowie über 900 Vertretungen der tur an sich zu tun zu haben, vielmehr die Folge Sprachschule Alliance française, von denen fast der grundlegend veränderten Bedingungen in die Hälfte von der französischen Regierung der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts zu finanziell unterstützt wird. Dazu kommen als sein. integrale Bestandteile der politique culturelle Denn die Kultur der Globalisierung ist nun étrangère noch das Auslandsschulwesen mit einmal amerikanisch-angelsächsisch geprägt, und immerhin rund 500 Schulen und Gymnasien und ihre Sprache ist weltweit das Englische. Die insgesamt fast 300.000 Schülern sowie die ver- Globalisierung hat so den schon lange zuvor schiedenen international ausgerichteten staatli- eingesetzten Niedergang des Französischen als chen Medien wie der Radiosender Radio France der ehemals vorherrschenden Weltsprache der International, TV5 als der von Frankreich be- Diplomatie und der gesellschaftlichen und geis- herrschte Fernsehsender der Organisation In- tigen Eliten weiter beschleunigt und auf einen ternationale de la Francophonie oder auch der neuen Tiefpunkt geführt, mit der Folge, dass es staatliche Nachrichtensender France24 als der mittlerweile in seiner weltweiten Bedeutung so- Versuch einer französischen Antwort auf das gar hinter andere Sprachen wie das Spanische amerikanische CNN.8 und das Chinesische zu fallen droht. Daran Zu all diesen Anstrengungen der Außenpoli- dürfte zumindest vorerst wohl auch die von tik ist aber auch noch das französische Engage- Außenminister Fabius immer wieder angeführte ment in der OIF, der Organisation Internatio- Perspektive, dass aufgrund der demographischen nale de la Francophonie, zu addieren, jener Entwicklung auf dem afrikanischen Kontinent weltumspannenden Organisation, die sich die in der Jahrhundertmitte insgesamt rund 750 Mil- Förderung und Verbreitung der französischen lionen Menschen auf der Erde französisch spre- Sprache und der frankophonen Kultur zum chen werden, nichts Grundlegendes ändern.9 Ziel gesetzt hat und in der Frankreich als Mut- Diese Abwärtsentwicklung des Französischen terland der Frankophonie gleichsam von Natur und seiner Bedeutung, deren Auswirkungen aus, aber auch aufgrund seiner politischen und sich auch in Deutschland an den Schulen und wirtschaftlichen Stärke, eine dominierende Rolle den Universitäten in Form eines deutlichen spielt. Rückgangs des Französischunterrichts bzw. der Und doch: auch diese ambitionierte, in ih- Zahl der Französischstudenten manifestieren, rem Voluntarismus typisch französische Politik hat nun auch in Frankreich selbst im Frühjahr hat jenen Bedeutungsverlust nicht zu verhindern 2013 zu einer beinah revolutionär anmutenden gewusst, den die französische Kultur und Spra- gesetzlichen Regelung geführt,10 mit der die so- che in den letzten Jahrzehnten ganz offenkundig zialistische Regierung die Attraktivität des fran- im weltweiten Maßstab erlitten haben. zösischen Hochschulwesens für ausländische

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Studierende zu steigern beabsichtigt, nicht oh- für Forschung und Hochschulwesen (Recher- ne für dieses Ziel zugleich den Bruch mit einer che et Enseignement supérieur), Geneviève gleichsam heiligen Tradition des Französischen Fiorasco, in der Libération vom 19. März 2013, als einziger Sprache der Republik in Kauf zu die nicht nur das Problem der französischen nehmen. Universitäten, sondern zugleich auch das grund- Dieses republikanische und in der Verfas- legende Dilemma der französischen Kultur und sung der V. Republik festgeschriebene Sprach- Sprache im Zeitalter der Globalisierung insge- verständnis, dessen Wurzeln bis in die Zeit der samt anschaulich auf den Punkt zu bringen Französischen Revolution zurückreichen, war weiß: zuletzt in der sogenannten Loi Toubon, dem „Si nous n’autorisons pas les cours en anglais, nach dem damaligen gaullistischen Kulturmi- nous n’attirerons pas les étudiants de pays émer- nister Jacques Toubon benannten Sprachgesetz gents comme la Corée du Sud et l’Inde. Et nous von 1994, noch einmal durch die Vorschrift nous retrouverons à cinq à discuter de Proust bekräftigt worden, dass in allen schulischen autour d’une table, même si j’aime Proust.“12 und universitären Institutionen der Republik („Wenn wir nicht Kurse in englischer Sprache nur Französisch gesprochen werden dürfe, von erlauben, werden wir keine Studierenden aus ganz wenigen natürlichen Ausnahmen wie dem den aufstrebenden Ländern wie Südkorea und Fremdsprachenunterricht einmal abgesehen. Indien nach Frankreich locken. Und dann wir Wenn es noch eines Belegs bedurft hätte, werden uns zu fünft an einem Tisch sitzend dass das Französische seinen Status als führen- wiederfinden, um über Proust zu reden, auch de Weltsprache sogar in den Augen der Fran- wenn ich Proust liebe.“) zosen selbst verloren hat, dann ist es wohl die Gerade mit dieser Anmerkung zu Marcel auf ausdrücklichen Wunsch der Konferenz der Proust hat Fiorasco auch – vielleicht ungewollt – Universitätspräsidenten in dem neuen Hoch- daran erinnert, dass nicht nur in sprachlicher, schulgesetz erteilte Genehmigung, dass in den sondern auch in allgemein kultureller Hinsicht Hochschulen der Republik fortan Kurse und die Globalisierung kein französisch geprägter Seminare auch in einer Fremdsprache, womit Prozess ist, dass sich vielmehr die traditionell natürlich im wesentlichen das Englische ge- elitär ausgerichtete französische Hochkultur, meint ist, abgehalten werden dürfen. Natürlich als deren herausragende Symbolfigur der Autor hat sich in Frankreich wie immer in solchen der Recherche du temps perdu von ihr stell- Fragen der Sprache ein Sturm der Entrüstung vertretend angeführt wird, schon von ihrer gegen dieses Vorhaben erhoben, und sogleich Geschichte her in einem natürlichen und wohl wurde die alarmistische Befürchtung laut, dass unvermeidlichen Spannungsverhältnis zu der der Verlust der Universalität der französischen angelsächsisch dominierten Massenkultur in Kultur („la perte de ce qui a fait jusqu’à ce jour der globalisierten Welt befindet, ein Umstand, l’universalité de la culture français“) unmittelbar der nicht eben geeignet ist, ihre weltweite Aus- bevorstehe und die Einführung des Englischen strahlung und Attraktivität zu steigern. als Sprache an den Universitäten des Landes Die Gefahr, dass die Produkte der französi- Frankreich zu einer Provinz unter linguistischer schen Kultur nur noch die Franzosen selbst Vormundschaft werden lasse: „Imposer l’anglais oder allenfalls ein paar Eingeweihte, die be- pour l’enseignement et la recherche, ce serait rühmten happy few,13 interessieren, betrifft réduire la France à une province sous tutelle dabei sogar auch ein Medium wie den Film, der linguistique et sans aucun attrait.“11 (Forschung eigentlich immer zu den Stärken und nicht zu- und Lehre das Englische aufzuzwingen hieße letzt auch zu den Exportschlagern des Landes Frankreich zu einer Provinz unter linguistischer gehört hat. Vormundschaft und ohne jegliche Anziehungs- Wie immer man zu dem französischen Prin- kraft zu degradieren.) zip der sogenannten „exception culturelle“ (kul- Als aufschlussreicher als dieser erwartbare turelle Ausnahme) stehen mag,14 mit dessen Widerstand erscheint dagegen die pragmati- Hilfe es Frankreich – mit Unterstützung Deutsch- sche Rechtfertigung der zuständigen Ministerin lands und der meisten anderen EU-Staaten,

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aber gegen den Widerstand Großbritanniens – reichs traditionelle Rolle in der Welt sich ihrer- gelungen ist, die Kultur und insbesondere den seits in einem grundlegenden Wandel befindet. Bereich des Filmwesens (l´audiovisuel) bereits Der rayonnement culturel, die Ausstrahlung der im Vorfeld aus den Verhandlungen der EU mit französischen Kultur und Sprache, über Jahr- den USA über ein Freihandelsabkommen aus- hunderte wie selbstverständlich ein tragender zuklammern und ihr damit erneut, wie schon Pfeiler des französischen Universalismus und seinerzeit bei der sogenannten Uruguay-Runde damit des französischen Selbstverständnisses der GATT-Verhandlungen zum Welthandel, als einer mit einer besonderen zivilisatorischen einen Sonderstatus zuzusprechen, so ist doch Mission ausgestatteten Nation, hat seine Wir- implizit damit auch das unfreiwillige Einge- kung zwar nicht vollständig verloren, aber ständnis verbunden, dass selbst die durchaus doch so entscheidend an Kraft eingebüßt, dass noch immer relativ erfolgreiche französische er nicht mehr jene kompensatorische Macht zu Filmwirtschaft – immerhin die zweitgrößte der entfalten vermag, die sich noch ein De Gaulle Welt nach der amerikanischen – ohne staatli- für seine Politik der grandeur zunutze zu ma- che Protektion nicht mehr auf dem globalen chen wusste. Auch scheinen die Zeiten, in denen Markt bestehen kann. Paris mit seinen pulsierenden Quartiers wie Die Reihe der Beispiele, anhand derer die Montmartre, Montparnasse, Quartier latin und problematische Stellung der französischen Kul- Saint Germain-des-Prés die geistige und künstle- tur und Sprache in der globalisierten Welt rische Avantgarde aus aller Welt unwidersteh- sichtbar wird, ließe sich noch fortführen, ohne lich anzog und sich mit Recht als intellektuelle dass sich aber an dem Befund, den der ehema- Hauptstadt der Welt fühlen konnte, auf abseh- lige Außenminister Hubert Védrine bereits im bare Zeit vorüber zu sein. Jahr 2008 formuliert hat, Wesentliches ändern Ohne Zweifel geht damit eine nicht zu un- würde: terschätzende Schwächung der Position Frank- „Elle [la mondialisation, V.S.] ne nous reichs in der Staatengemeinschaft einher. Denn permet pas de nous projeter sur le monde avec am Anfang des 21. Jahrhunderts kann das Land nos idées, nos valeurs, notre langue. C’est le realistischerweise nicht mehr auf seinen Status monde qui se projette sur nous et, pis encore, als weltweit ausstrahlende kulturelle Großmacht qui a tendance à nous juger inadaptés.“15 verweisen. (Die Globalisierung erlaubt uns nicht, uns Es kann mithin daraus auch keinen An- in die Welt hinein zu projizieren mit unseren spruch mehr auf eine vermeintliche Sonder- Ideen, unseren Werten, unserer Sprache. Es ist stellung innerhalb der internationalen Politik vielmehr die Welt, die sich auf uns projiziert ableiten, wie es dies in der V. Republik bis in und – schlimmer noch – dazu neigt, uns für die jüngere Vergangenheit hinein immer wieder unvorbereitet zu halten.) und nicht selten durchaus mit beachtlichem Er- folg getan hat. DAS ENDE DER SONDERSTELLUNG UND Dieser Wandel kann nun auch nicht ohne SEINE FOLGEN Folgen für die Selbstwahrnehmung und auch Was aber folgt aus einem solchen Befund, die Selbstdarstellung des Landes bleiben. Denn der – aus der Feder eines französischen Sozia- wenn das Frankreich der Gegenwart seine kul- listen und nicht aus der eines angelsächsischen turelle Sonderstellung nunmehr definitiv ein- Neoliberalen stammend – die grundsätzliche gebüßt hat, dann sollten seine Politiker – im Problematik des Verhältnisses Frankreichs zur wohlverstandenen eigenen Interesse – auch die Globalisierung illusionslos und ohne die zuwei- überkommene Rhetorik ablegen, die eine solche len in Frankreich anzutreffende Selbstverklärung Sonderrolle für das Land noch weiter reklamiert. oder Realitätsflucht in den Blick nimmt? Die Zeit einer gaullistischen oder gaullistisch in- Védrines These verweist zunächst einmal spirierten Rhetorik, wie sie über weite Strecken auf den unabweisbaren Umstand, dass sich im die Geschichte der V. Republik entscheidend Zeitalter der Globalisierung, in der sich wan- geprägt hat, scheint vielmehr unwiderruflich delnden Welt des 21. Jahrhunderts auch Frank- vorbei zu sein. Zwischen dem hochgemuten

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subjektiven Anspruch auf eine französische hat die Kultur erkennbar an Gewicht verloren. Ausnahmestellung, auf die berühmte exception Das gilt zum einen für die innerfranzösische française, und der weit weniger glanzvollen, Kulturpolitik, in der es kein annähernd so ambi- objektiven Machtposition des Landes in der tioniertes Projekt wie noch zu Zeiten des ersten internationalen Politik hat zwar auch schon zu sozialistischen Präsidenten François Mitterrand Zeiten eines General de Gaulle eine beachtliche und seines legendären Kulturministers Jack Lücke geklafft.16 Und gerade mit der geschwäch- Lang zu geben scheint, das geeignet wäre, die ten Position Frankreichs hatte der Gründungs- Weltgeltung der französischen Kultur zu beför- vater der V. Republik gesprächsweise kurz vor dern. Das gilt zum anderen aber eben auch für seinem Tod sogar die Notwendigkeit seiner so- die Auswärtige Kulturpolitik, die nicht nur in genannten grande politique begründet: „C’est finanzieller Hinsicht ganz offenkundig nicht im parce que nous ne sommes plus une grande Fokus der gegenwärtigen französischen Außen- puissance qu’il nous faut une grande politique, politik steht. Vielleicht schwingt dabei auch die parce que, si nous n’avons pas une grande Erkenntnis mit, dass die kulturelle Ausstrahlung politique, comme nous ne sommes plus une eines Landes ohnehin nicht in erster Linie das grande puissance, nous ne serons plus rien.“17 Ergebnis einer voluntaristischen Politik ist, wie (Weil Frankreich keine Großmacht mehr ist, gerade das Beispiel der USA zeigt, denen Fabi- brauchen wir eine große Politik, denn wenn us – ein für einen französischen Außenminister wir keine große Politik mehr haben, werden beachtliches Zugeständnis – ausdrücklich die wir, gerade weil wir keine Großmacht mehr Position nicht nur als politischer, sondern auch sind, nichts mehr sein.) als kultureller Führungsmacht zugesteht.18 In der Gegenwart der globalisierten Welt In der Konzeption von Frankreich als puis- des 21. Jahrhunderts aber müsste das Beharren sance d´influence, wie sie auch von Präsident auf einer solch traditionellen Großmacht-Rolle, François Hollande vertreten wird, hat so die für die es in der Gegenwart keine Entsprechung diplomatie culturelle offenkundig in dem Maße in der Wirklichkeit mehr gibt, bestenfalls nos- an Bedeutung verloren, in dem auch der talgisch anmuten und wäre daher auch nicht rayonnement culturel im globalen Maßstab mehr als Ausdruck einer an der Realität ausge- nachgelassen hat. Die Kulturdiplomatie sieht richteten Politik zu verstehen. sich vielmehr im Wesentlichen wieder auf ihre soft-power-Funktion als Imageförderin reduziert. DIE ROLLE DER KULTUR IN DER AKTUELLEN Als solche spielt sie nur noch eine untergeord- FRANZÖSISCHEN AUßENPOLITIK nete Rolle, die die politische und wirtschaftli- Schaut man sich die Verlautbarungen der che hard power des Landes, die im Zentrum aktuellen französischen Regierung näher an, so der französischen Außenpolitik steht, allenfalls hat es den Anschein, als habe diese mehr als ergänzen soll.19 ihre Vorgängerinnen die veränderte Wirklichkeit Neben der überaus aktiven Rolle, die Frank- zur Kenntnis genommen. reich unter Hollandes Präsidentschaft in der Zwar spricht auch Außenminister Fabius in internationalen Politik nicht zuletzt auch bei seiner eingangs zitierten Grundsatzrede an der der militärischen Lösung von Konflikten wie in Sorbonne noch von der diplomatie culturelle Mali und in der Zentralafrikanischen Republik mit ihrem ausgedehnten Netzwerk als einem eingenommen hat, wird dabei in zunehmenden Trumpf („atout“), den es auch weiter im Inter- Maße der diplomatie économique eine Schlüs- esse Frankreichs zu nutzen gelte. Von der mit- selfunktion zugesprochen. Weil einerseits in der unter allzu selbstgewissen Diktion vergangener globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts die Zeiten, die einen gleichsam natürlichen Primat Stellung eines Landes entscheidend auf seiner der civilisation française behauptete, ist jedoch Wirtschaftskraft beruht und andererseits Frank- in seiner Rede und auch anderswo deutlich reichs Wirtschaft deutlich an internationaler weniger zu vernehmen. Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat, besteht Aber nicht nur auf der Diskursebene, auch in ohne Zweifel auf diesem Gebiet ein großer der praktischen Politik der jetzigen Regierung Nachholbedarf. Nicht ohne Grund hat Präsi-

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dent Hollande daher auf seiner großen Presse- ANMERKUNGEN konferenz im Élysée-Palast am 14. Januar 2014 1 den wirtschaftspolitischen Kurswechsel, mit Fabius, Laurent: La France, puissance d’influence: dem die französische Wirtschaft aus ihrer tiefen quelle politique internationale?, Conférence, Paris, 27.3.2013, in: http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/les- Krise herausgeführt werden soll, auch außen- ministres-818/laurent-fabius/discours-21591/article/ politisch begründet: la-france-puissance-d-influence, Stand: 22.1.2014. „C’est maintenant que la France dans 10 ans 2 Ebd. se prépare. Ce que je veux qu’elle soit: forte dans 3 Diese und die folgenden Übersetzungen der franzö- son économie, sinon il n’y a pas de diplomatie sischen Zitate stammen vom Verfasser. 20 possible, pas d’influence internationale.“ 4 Vgl. Steinkamp, Volker: Frankreichs soft power im (Jetzt werden die Weichen gestellt für das 21. Jahrhundert, in: Frankreich Jahrbuch 2011, hrsg. Frankreich in zehn Jahren. Ich will Frankreich vom Deutsch-französischen Institut, Ludwigsburg wirtschaftlich stark, sonst ist keine Diplomatie, 2012, S. 131-142. 5 kein internationaler Einfluss möglich.) Vgl. dazu etwa die Bemerkungen von Marc Fuma- Doch sollte bei aller Bedeutung der Wirt- roli, dem wohl profiliertesten Kritiker des französi- schen „État culturel“ (so auch der Titel seiner 1992 schaft in der globalisierten Welt die außenpoli- erschienenen, aufsehenerregenden Essays) und zu- tische Rolle der französischen Kultur und des gleich selber Mitglied in der wichtigsten staatlichen rayonnement culturel auch in der Zukunft Kulturinstitution, der von Kardinal Richelieu ge- nicht geringgeschätzt werden. Denn das Frank- gründeten Académie française: „Die Anstrengungen reich des 21. Jahrhunderts wird zwar nicht des Kardinals führten dazu, dass die Künste in Frankreich primär als Mittel der Politik etabliert und mehr die kulturelle Großmacht sein, die es in verstanden wurden – diese ‚Erbsünde’ wird Riche- den vergangenen Jahrhunderten ohne Zweifel lieu immer anhaften.“ Fumaroli, Marc: Richelieu, gewesen ist. Doch es wird auch weiterhin über Patron der Künste, in: Richelieu (1585-1642) – Kunst, eine reiche, auf einer langen Geschichte beru- Macht und Politik, hrsg. von Hilliard T. Goldfard, hende Kultur verfügen, deren Faszination auch Gent 2002, S. 43. im Zeitalter der Globalisierung noch über die 6 Mit einigem Recht ließe sich bereits auf den Re- Grenzen des Landes hinaus auszustrahlen und naissance-König François I. verweisen, der schon in auf diese Weise auch in Zukunft den Einfluss der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts eine überaus aktive Kulturpolitik betrieben hat, u. a. indem er Frankreichs in der Welt zu mehren vermag. die berühmtesten Künstler und Architekten aus dem Italien der Renaissance (der bekannteste unter ihnen ||||| PROF. DR. VOLKER STEINKAMP war Leonardo da Vinci) an seinen Hof holte und das Collège royal, das heutige Collège de France, Professor für Französische und Italienische Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität gründete. Duisburg-Essen 7 Zu Frankreichs politique culturelle étrangère vgl. Steinkamp, Volker: Die Auswärtige Kulturpolitik als Instrument der französischen Außenpolitik, in: Frankreich-Themen 2010, hrsg. von Claire Demes- may und Katrin Sold, Baden-Baden 2012, S. 73-82. 8 Diese Angaben stammen weitgehend aus: Entretien avec Laurent Fabius, in: Revue internationale et stratégique 1/2013, S. 53-65. 9 So u. a. in seiner oben zitierten Sorbonne-Rede, vgl. Fabius: La France, puissance d’influence. 10 Näheres zu dieser LOI n° 2013-660 du 22 juillet 2013 relative à l'enseignement supérieur et à la recherche findet sich in: http://www.legifrance.gouv. fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000027735 009, Stand: 22.1.2014. 11 So heißt es in einer von verschiedenen Hochschulpro- fessoren und Intellektuellen unterzeichneten Petition in Le Monde vom 21.5.2013, vgl. http://www.lemon de.fr/idees/article/2013/05/21/pour-l-universite-et-

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la-recherche-le-changement-promis-tourne-au-desa stre_3388555_3232.html, Stand: 22.1.2014. 12 http://www.liberation.fr/societe/2013/03/19/refor me-du-superieur-le-projet-fade-fache-deja_889812, Stand: 22.1.2014. 13 Als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Faszination, die die französische Kultur auch heute noch auf ein hochgebildetes „Elite“-Publikum auch in der angelsächsischen Welt auszuüben vermag, sei auf das Interview verwiesen, das die Revue des deux mondes (Juni 2013) mit dem amerikanischen Supreme-Court-Richter Stephen Breyer geführt hat und in dem dieser eine stupende Vertrautheit mit dem Romanwerk Marcel Prousts bezeugt. In engli- scher Übersetzung ist dieses lesenswerte Interview auch in der New York Review of Books (7.11.2013) erschienen: http://www.nybooks.com/articles/arch ives/2013/nov/07/reading-proust/, Stand: 22.1.2014. 14 Hier kann nur auf die angelsächsisch-französische Debatte verwiesen werden, die im Frühjahr 2013 zwischen dem englischen Economist und Le Monde mit den üblichen Frontlinien zum wiederholten Mal zur Frage der „exception culturelle“ geführt worden ist. Vgl. dazu u. a. die Kolumne „Charlemagne“ im Economist vom 15.6.2013, http://www.economist. com/news/europe/21579493-transatlantic-free-trade- deal-needlessly-held-up-over-subsidies-film-makers- lexception, Stand: 22.1.2014 und die Antwort von Franchon, Alain: „My exception culturelle is good“, in: Le Monde, 3.7.2013. 15 Védrine, Hubert: Continuer l’histoire, Paris 2008, S. 120. 16 Henry Kissinger sieht bereits zu Zeiten Napoléons III. „an inherent gap between France’s image of itself as the dominant nation of Europe and its capacity to live up to it – a gap that has blighted French policy to this day.“; Kissinger, Henry A.: Diplomacy, New York 1994, S. 119. 17 Zitiert in: Saint Robert, Philippe de: Septennats interrompus, Paris 1975, S. 18. 18 So in einer Rede vor der École polytechnique am 25.6.2013, http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/les- ministres-818/laurent-fabius/discours-21591/article/ politique-etrangere-de-la-france, Stand: 22.1.2014. 19 Ebd. Diese Wertigkeit hat Fabius in der soeben an- geführten Rede in aller Deutlichkeit formuliert: „Le rayonnement culturel, intellectuel et scientifique contribue à notre poids politique et participe à la construction d’une image positive de la France. Ce sont des dimensions complémentaires des aspects politiques et économiques de notre politique étran- gère.“ 20 http://www.elysee.fr/chronologie/#e5397,2014-01- 14,confe-rence-de-presse-et-v-ux-aux-journalistes- confpr-2, Stand: 22.1.2014.

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VERANTWORTLICH Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

HERAUSGEBER Bernd Rill bis Dezember 2013 Referent für Recht, Staat, Europäische Integration, Integrationspolitik und Dialog der Kulturen, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

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Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen

Die „Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen“ werden ab Nr. 14 parallel zur Druckfassung auch als PDF-Datei auf der Homepage der Hanns-Seidel-Stiftung angeboten: www.hss.de/mediathek/publikationen.html. Ausgaben, die noch nicht vergriffen sind, können dort oder telefonisch unter 089/1258-263 kostenfrei bestellt werden.

Nr. 01 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschen Universitäten Nr. 02 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung Nr. 03 Start in die Zukunft – Das Future-Board Nr. 04 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben Nr. 05 „Stille Allianz“? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa Nr. 06 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas Nr. 07 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union Nr. 08 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel- und Osteuropa Nr. 09 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten eines Krisenherdes Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven Nr. 12 Russland und der Westen Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in Osteuropa – Ausgewählte Fallstudien Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und Studienberechtigung – Leistungsfähige in der beruflichen Erstausbildung Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag für Schulleitungen und Kollegien Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick am Beginn des 21. Jahrhunderts Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungen für die Friedenssicherung Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt – Ausgewählte Aspekte Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau? Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicher Perspektive – Ein deutsch-koreanischer Dialog Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 95 Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts Nr. 29 Spanien und Europa Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichen Gesellschaft Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitik auf dem Prüfstand Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln Nr. 34 Die Zukunft der NATO Nr. 35 Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen Nr. 36 Neue Wege in der Prävention Nr. 37 Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz Nr. 38 Qualifizierung und Beschäftigung Nr. 39 Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns Nr. 40 Terrorismus und Recht – Der wehrhafte Rechtsstaat Nr. 41 Indien heute – Brennpunkte seiner Innenpolitik Nr. 42 Deutschland und seine Partner im Osten – Gemeinsame Kulturarbeit im erweiterten Europa Nr. 43 Herausforderung Europa – Die Christen im Spannungsfeld von nationaler Identität, demokratischer Gesellschaft und politischer Kultur Nr. 44 Die Universalität der Menschenrechte Nr. 45 Reformfähigkeit und Reformstau – ein europäischer Vergleich Nr. 46 Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in der Diskussion Nr. 47 Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Nr. 48 Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie, Ethik und Bürgerengagement Nr. 49 Globalisierung und demografischer Wandel – Fakten und Konsequenzen zweier Megatrends Nr. 50 Islamistischer Terrorismus und Massenvernichtungsmittel Nr. 51 Rumänien und Bulgarien vor den Toren der EU Nr. 52 Bürgerschaftliches Engagement im Sozialstaat Nr. 53 Kinder philosophieren Nr. 54 Perspektiven für die Agrarwirtschaft im Alpenraum Nr. 55 Brasilien – Großmacht in Lateinamerika Nr. 56 Rauschgift, Organisierte Kriminalität und Terrorismus Nr. 57 Fröhlicher Patriotismus? Eine WM-Nachlese Nr. 58 Bildung in Bestform – Welche Schule braucht Bayern? Nr. 59 „Sie werden Euch hassen ...“ – Christenverfolgung weltweit Nr. 60 Vergangenheitsbewältigung im Osten – Russland, Polen, Rumänien Nr. 61 Die Ukraine – Partner der EU

96 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 Nr. 62 Der Weg Pakistans – Rückblick und Ausblick Nr. 63 Von den Ideen zum Erfolg: Bildung im Wandel Nr. 64 Religionsunterricht in offener Gesellschaft Nr. 65 Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa – Perspektiven eines religiös geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert Nr. 66 Frankreichs Außenpolitik Nr. 67 Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension Nr. 68 Ist jede Beratung eine gute Beratung? Qualität der staatlichen Schulberatung in Bayern Nr. 69 Von Nizza nach Lissabon – neuer Aufschwung für die EU Nr. 70 Frauen in der Politik Nr. 71 Berufsgruppen in der beruflichen Erstausbildung Nr. 72 Zukunftsfähig bleiben! Welche Werte sind hierfür unverzichtbar? Nr. 73 Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen Nr. 74 Die Dynamik der europäischen Institutionen Nr. 75 Nationale Demokratie in der Ukraine Nr. 76 Die Wirtschaftsschule von morgen Nr. 77 Ist der Kommunismus wieder hoffähig? Anmerkungen zur Diskussion um Sozialismus und Kommunismus in Deutschland Nr. 78 Gerechtigkeit für alle Regionen in Bayern – Nachdenkliches zur gleichwertigen Entwicklung von Stadt und Land Nr. 79 Begegnen, Verstehen, Zukunft sichern – Beiträge der Schule zu einem gelungenen kulturellen Miteinander Nr. 80 Türkische Außenpolitik Nr. 81 Die Wirtschaftsschule neu gedacht – Neukonzeption einer traditionsreichen Schulart Nr. 82 Homo oecologicus – Menschenbilder im 21. Jahrhundert Nr. 83 Bildung braucht Bindung Nr. 84 Hochschulpolitik: Deutschland und Großbritannien im Vergleich Nr. 85 Energie aus Biomasse – Ethik und Praxis Nr. 86 Türkische Innenpolitik – Abschied vom Kemalismus? Nr. 87 Homo neurobiologicus – Ist der Mensch nur sein Gehirn? Nr. 88 Frauen im ländlichen Raum Nr. 89 Kirche im ländlichen Raum – Resignation oder Aufbruch? Nr. 90 Ohne Frauen ist kein Staat zu machen – Gleichstellung als Motor für nachhaltige Entwicklung Nr. 91 Der Erste Weltkrieg – „In Europa gehen die Lichter aus!“ Nr. 92 Deutsch als Identitätssprache der deutschen Minderheiten Nr. 93 Frankreichs Grandeur – Einst und Jetzt

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