Das Turiner Grabtuch. Faszination und Provokation eines außergewöhnlichen Gegenstandes.

MASTERARBEIT zur Erlangung des akademischen Grades „Master of Arts“(M.A.) an der Karl-Franzens-Universität Graz

eingereicht von Maria Stefania Gabrielli bei Univ.-Prof. Dr. Bernhard Körner Institut für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz Graz 2016

Inhalt Vorwort ...... 5 Einleitung: Zwischen Geschichte, Glaube und Vernunft ...... 8 1 Fakten und Legenden eines Rätsels ...... 12 1.1 Die offizielle Geschichte ...... 12 1.1.1 Die ersten Spuren ...... 12 1.1.2 Im Haus Savoyen ...... 13 1.1.3 Eine neue Heimat in Turin ...... 16 1.1.4 ...... 18 1.1.5 Die Offenbarung der Fotografie ...... 20 1.1.6 Die Bestätigung von Enrie ...... 22 1.2 Das Grabtuch und die Wissenschaft ...... 24 1.2.1 Der Abdruck eines Mannes ...... 25 1.2.2 Das Zeugnis der Pollen ...... 28 1.2.3 Das Jahr 1978 und das STURP ...... 29 1.2.4 Die Natur des Abbildes ...... 31 1.2.5 Über die Entstehung des Abbildes ...... 32 2 Eine geheimnisvolle Vergangenheit ...... 34 2.1 Zurück zu den Anfängen ...... 34 2.1.1 Die ersten Jahrhunderte ...... 34 2.1.2 In der Stadt Edessa ...... 37 2.1.3 Abgar: Eine berühmte Legende ...... 38 2.1.4 Das Mandylion von Konstantinopel ...... 40 3 Die geistige Erfahrung ...... 44 3.1 Mehr als ein archäologischer Fund ...... 44 3.2 In den dunklen Jahrhunderten ...... 46 3.3 Frankreich und das Haus Savoyen ...... 50 3.4 Die Devotionen des Mittelalters ...... 53 3.5 Durch die Barockzeit und den Illuminismus ...... 56 3.6 Nach Secondo Pia...... 59 3.7 Die Päpste und das Grabtuch ...... 62 3.8 Retter des Grabtuches ...... 64 3.9 Forscher und Wissenschaftler über ihre Erfahrung ...... 65 4 Die Position der Kirche ...... 69 4.1 Eine endlose Kontroverse ...... 69 4.2 Das Problem der Authentizität ...... 70

2

4.2.1 Das Zeugnis der Evangelien ...... 70 4.2.2 Indizien aus der Welt der Kunst ...... 72 4.2.3 Grabtuch und Mandylion? ...... 73 4.2.4 Anatomische Beweise ...... 74 4.2.5 Buchstaben um das Gesicht ...... 74 4.2.6 Eine probabilistische Berechnung ...... 76 4.3 Kirchliche Stellungsnahmen ...... 77 4.3.1 Wissenschaft und Wunder ...... 78 4.3.2 Ikone oder Reliquie? ...... 81 4.3.3 Die Herausforderung der Datierung ...... 82 4.3.4 Das Kuznetsov-Experiment ...... 84 4.3.5 Reliquie ist nun Tabu ...... 85 4.4 Papst Johannes Paul II ...... 86 4.5 Was sagt nun die katholische Kirche? ...... 87 5 Spirituelle Impulse ...... 89 5.1 Wovon das Grabtuch spricht ...... 89 5.2 Das Leid der Menschen ...... 90 5.3 Un amore piú grande ...... 91 5.4 Sehen und sehen lassen ...... 92 Fazit ...... 94 Preghiera davanti alla Sindone ...... 95 Gebet vor dem Grabtuch ...... 96 Bilderanhang ...... 97 Bildquellen ...... 107 Bibliographie ...... 108

3

Ehrenwörtliche Erklärung

Ich versichere, dass ich die eingereichte Masterarbeit selbständig verfasst, andere als die an- gegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfsmittel bedient habe. Ich versichere ferner, dass ich diese Masterarbeit bisher weder im In- noch im Ausland in irgendeiner Form als wissenschaftliche Arbeit vorgelegt habe.

Ort und Datum: Name: Maria Stefania Gabrielli

......

4

Vorwort

Bücher sind für mich immer etwas Besonderes gewesen. Als ich ein kleines Kind war, pflegte mein Vater mir jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorzulesen. Das Gleiche musste meine Mutter tun, als wir am Esstisch saßen und ich nicht essen wollte. Ich liebte es sehr, Geschichten zuzuhören, und sobald ich lesen gelernt hatte, fing ich an, allein durch die Welt der Bücher zu reisen. Manche hatte ich zu Hause, viele lieh ich mir aus der Bibliothek aus. Mein Vater besaß aber auch einige wertvolle Exemplare davon, die er auch heute noch im Wohnzimmer aufbewahrt, und so nutzte ich immer wieder jene Momente, wenn ich allein da- heim war, um unter seinen Büchern zu schmökern. Es gab keine große Auswahl für ein zwölf- jähriges Mädchen: Neben seinen Büchern, meistens Fachbücher, und Ordnern mit Zeitungsar- tikel gab es noch seine in verschiedenen Ordnern aufbewahrte Briefmarkensammlung und man- che Fotoalben mit Blitzlichtern aus seiner Jugend. Mein Vater interessierte sich sehr für The- men wie Politik und die Mafia, aber auch beispielsweise für die Dolomiten und alles, was mit ihnen verbunden ist (von der Geologie zur Flora bis zu den zwei Weltkriegen), für die Biogra- phie einiger berühmten Persönlichkeiten wie J.F. Kennedy oder für die Biographie meines Ur- großvaters, der eine wichtige Rolle in der Geschichte des Alpinismus im 20.Jahrhundert ein- nahm. Also alles in allem nichts besonders Aufregendes für ein junges Mädchen. Eines Tages aber entdeckte ich ein Buch, der Titel lautete „Verdetto sulla Sindone“ (Urteil über das Grab- tuch), das meine Aufmerksamkeit erregte. Ich machte es mir auf der Couch bequem und fing an zu lesen.

Die Neugier und das Interesse, welches diese Lektüre damals in mir erweckte, begleiten mich heute noch, nach mehr als zwanzig Jahren.

Ich kannte diese berühmte Reliquie. Meine Mutter sprach manchmal darüber. In ihrem festen Glauben zweifelte sie nicht daran: das war das Grabtuch, in das Jesus nach seinem Tod gewi- ckelt wurde, ein wunderbares Zeichen für seine Auferstehung.

Das Buch von Stevenson und Habermas (Stevenson, Kenneth E.; Habermas, Gary R.: Verdetto sulla Sindone. Brescia: Editrice Queriniana 1981.) betrachtete aber das Thema unter einem an- deren Licht. Als Mitglieder des STURP ( Research Project 1978) stellten sie all die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen dieses außergewöhnlichen Objektes dar. Am Ende des Buches blieben aber mehr Fragen offen als beantwortet wurden. Ist es wirk-

5 lich das Grabtuch Christi? Sehen wir auf diesem Leinen die wirklichen Gesichtszüge des be- rühmtesten Mannes der Geschichte? Können wir die Auferstehung, provozierendes und faszi- nierendes Faktum des christlichen Glaubens, hier für wissenschaftlich bewiesen erklären?

Wenn man sich mit dem Turiner Grabtuch auseinander setzen will, hat man keine großen Op- tionen. Es gibt viele Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind, und es gibt keinen Platz für eine naive, oberflächliche Religiosität. Diese Reliquie lädt alle ein, in die Tiefe zu gehen, Fak- ten unter dem Licht abendländischer Vernunft zu analysieren und das Phänomen mit einer Art Synopsis von Glaube und Vernunft, Religion und Wissenschaft zu sehen. Man darf Religion auch kritisch betrachten, man darf hinterfragen, man darf verstehen wollen: das war für mich die spannendste Entdeckung an diesem Buch damals, eine Entdeckung, die mich später dazu gebracht hat, ein theologisches Studium anzufangen.

Gott zu lieben und Ihn kennen zu lernen mit Herz, Seele und vollem Verstand, das sollte das erste Ziel im Leben eines Christen sein. Meines ist es jedenfalls.

Hier möchte ich die Gelegenheit nützen, um mich bei meinen Eltern zu bedanken. Meine Mutter hat mir beigebracht, die Schönheit Gottes in meinem Alltag wahrzunehmen und seine liebevolle Anwesenheit in jedem Moment zu spüren. Von meinem Vater habe ich die Neugier und das Denken geerbt, die natürliche Neigung, mir Sachen genau anzuschauen, zu hinterfragen und verstehen zu wollen. Ohne diese kleinen Samen wäre ich jetzt nicht hier, mit dieser Arbeit in meinen Händen, Zeugnis meiner „atemberaubenden“ Reise durch die Welt des Turiner Grab- tuches.

Meine Dankbarkeit geht auch an meinen Ehemann, Manuel: bei ihm findet meine Wissensgier immer einen guten Nährboden. Danke „Amore“ für die schönen Gespräche, die vielen Mo- mente des Austausches und die spannenden Zeitschriften, die du mir hin und wieder besorgt hast.

Der Dank gilt auch meinen Kindern Alissa, Giona, Jakob, Maya und Noah. Sie haben mich in all diesen Jahren des Studiums begleitet, mich manchmal bemitleidet, sich oft mit mir gefreut und mich sehr oft einfach ertragen müssen.

Danke an meine Wegbegleiterinnen, ins besonders an Gabi, Daniele und Martina für die schö- nen Stunden im Garten mit Skripten und Sekt. Wir haben Freude und Furcht dieses Studiums geteilt und waren immer für einander da.

6

Zum Schluss gilt mein besonderer Dank Dr. Peter Allmaier und Herrn Mag. Patrick Kohlweg für die Übersetzungen der italienischen und der französischen Zitate und an Herrn Mag. Franz Zelsacher für das Lektorieren und die Korrektur meiner Masterarbeit.

Auf zwei Aspekte in meiner Arbeit möchte ich noch hinweisen. Es geht um die Verwendung von zwei Begriffen.

Aus praktischen Gründen habe ich meistens das Wort Reliquie verwendet, um das Turiner Grabtuch zu bezeichnen, was, um ganz genau zu sein, bestreitbar ist. Damit wollte ich keine persönliche Stellungnahme in der Debatte bezüglich der Authentizität dieses Gegenstandes äu- ßern.

Auch den Begriff Schweißtuch verwende ich manchmal. Die Argumentation, dass ein Schweißtuch etwas anderes als ein Grabtuch ist, mag in diesem Kontext ganz zutreffend sein. Der Begriff wurde trotzdem genommen, da er als genaue Übersetzung des italienischen sudario gilt, ein Begriff, der im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Tuch für die Bestattung einer Leiche bezeichnet.

7

Einleitung: Zwischen Geschichte, Glaube und Vernunft

Seit den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte wird die Kirche von der Suche nach besonderen Gegenständen begleitet. Man versuchte in den verschiedensten Jahrhunderten die irdischen Überreste von besonders religiösen und gläubigen Menschen für sich zu gewinnen, nicht nur mit dem Gedanken, sich an diesen Toten zu erinnern, sondern auch mit dem Glauben, dass man durch die Nähe dieser Gegenstände Anteil an ihrer Macht und Ausstrahlung oder einen beson- deren Segen erhalten wurde. Die so genannten Reliquien (Lateinisch: reliquiae) konnten die Gebeine eines Märtyrers sein, aber auch die Gebrauchsgegenstände und die Bekleidung, die dieser besondere Mensch in seinem Leben benutzt hatte. Als Ausdruck der Volksfrömmigkeit entwickelte sich allmählich eine richtige Verehrung dieser Überreste, basierend auf dem Glau- ben, dass die Kraft des Heiligen Geistes in ihnen noch anwesend und wirksam sei und sich in Wundern äußern könne. Infolgedessen pilgerten viele Gläubige von weit her zu diesen Reli- quien. Mit der gallikanischen Liturgie zwischen dem zweiten und dem fünften Jahrhundert be- gann man, die Gebeine von Märtyrern und Heiligen aus den Gräbern zu nehmen und sie unter einem Altar zu bestatten. Im Spätmittelalter gab es die Möglichkeit, im Laufe von Pilgerreisen und verbunden mit der Reliquienverehrung auch Ablässe zu empfangen.

Dieser Aspekt der Volksfrömmigkeit hatte seine Höhen und Tiefen, erlebte aber eine deutliche Wende in der Zeit der Aufklärung mit der Inthronisierung der Vernunft und mit dem Aufkom- men der Wissenschaften und nicht zuletzt mit der Französischen Revolution.1

Obwohl man heute die Reliquien und ihre Verehrung als reine „Erinnerungen“ an das mittelal- terliche Glaubensleben und durch die Theologie nicht wirklich begründbar betrachtet, sind und bleiben die Überreste von vielen Heiligen mehr oder weniger auf der ganzen Welt Objekt der Verehrung und Ziel von Pilgerfahrten. Vielen dieser Objekte werden Wunder zugeschrieben, deshalb wollen Pilger sie sehen, berühren, ihnen nahe sein, in der Hoffnung, Segen zu empfan- gen oder Heilung zu erleben.

Unter den verschiedensten Überresten, die die katholische Kirche aufbewahrt, spielen die Je- susreliquien eine besondere Rolle. Schon im 2.Jahrhundert wurden sie von Helena, der Mutter des Kaisers Konstantin, systematisch gesammelt und aufbewahrt. Es sind meistens Dinge, wel- che Jesus in seinem irdischen Leben verwendet oder auch nur berührt hat. Darunter befinden

1 Vgl. Maritz, Heinz: Reliquien. II. Historisch-theologisch, in: LThK 8 (1999), 1091-1093. 8 sich zum Beispiel die Hölzer der Krippe, die Krüge vom Weinwunder, die Palmzweige vom Einzug in Jerusalem, die Reliquien des letzten Abendmahls wie der Tisch oder der Kelch, die Passionsreliquien wie die Dornenkrone, die Geißelsäule, die Lanze und die Nägel oder die Ge- wandreliquien, wie die Windel vom neugeborenen Jesuskind, seine Sandalen, seine Tunika und der Schurz der Fußwaschung.

Eine ganz besonders wichtige Rolle spielen unter den Jesusreliquien seine Abbildungen, welche im Laufe der Geschichte als Vera Icon, als wahre Ikone, bezeichnet wurden. Das Manopello- Tuch, das Tuch von Orviedo, das Abgar-Bild und das Turiner Grabtuch zählen hier zu den wichtigsten.2

Diese letzte Abbildung ist ohne Zweifel die bekannteste und außergewöhnlichste Reliquie in der ganzen Geschichte des Christentums, denn sie ist und bleibt, heute wie vor achthundert Jahren, im Zentrum leidenschaftlichen Interesses und tiefen Glaubens. Kein anderer Gegen- stand auf der Welt ist Objekt so vieler unterschiedlicher Untersuchungen und so leidenschaft- licher Auseinandersetzungen geworden. Dieses Tuch wurde, seitdem die erste photographische Aufnahme möglich wurde, unzählige Male unter die Lupe genommen, beobachtet, analysiert, reproduziert und diskutiert. Wissenschaftler aus der ganzen Welt beschäftigen sich mit der Frage nach der Authentizität und der Entstehung des Abdruckes. Hunderte von Büchern wurden im Laufe des letzten Jahrhunderts publiziert und mit großer Aufmerksamkeit rezipiert. Eine eigene Studienrichtung wurde im Kontext dieses Tuches begründet, die so genannte Syndono- logie.

Eine Frage lässt sich nun stellen: Was ist eigentlich das Turiner Grabtuch? Und was ist so be- sonders an ihm, dass Ausstellungen, in denen das Tuch gezeigt wurde, durch die Jahrhunderte Millionen von Menschen aus ganz Europa und der ganzen Welt anzogen, dass wichtige Per- sönlichkeiten aller Epochen sich vor ihm verbeugten, dass ein Papst Ablässe mit seiner Vereh- rung verband, dass sogar eine königliche Familie es als das wichtigstes Herrschaftssymbol für sich betrachtete, dass phantasiereiche Verschwörungstheorien in den letzten Jahrzehnten ent- standen sind, welche das Grabtuch in den Händen der Tempelritter oder als begehrtes Kulturgut der Nazis sehen will? Warum ist es heute immer noch so schwer, eine objektiv-wissenschaftli- che Analyse dieses Gegenstandes durchzuführen, welcher so viele Menschen in ihrem Glauben berührt und so viele Wissenschaftler gleichzeitig fasziniert und provoziert?

2 Vgl. Sörries, Reiner: Was von Jesus übrig blieb. Kevelaer: Bercker Graphischer Betrieb 2012, 46-47. 9

Auf diese Frage wollen wir im Laufe dieser Arbeit eine Antwort finden, indem wir diese be- sondere Reliquie näher betrachten und kennenlernen.

Das Worte Sindone, das in Italien das Turiner Grabtuch bezeichnet, stammt aus dem Lateini- schen „sindon –ŏnis“, das seinerseits aus dem griechischen „σινδών –όνος“ kommt. Der Ur- sprung davon muss aber in der semitischen Sprache gesucht werden, wo unter sindon ein Lei- nenstoff und all die daraus hergestellten Manufakturwaren verstanden werden. Gemäß der Evangelien bezeichnet es heute meistens ein Bestattungstuch aus dem jüdischen Kulturkreis der Zeit Jesu.

Auf den ersten Blick ist eine Beschreibung dieses Tuches schnell gemacht: Es handelt sich dabei um ein Leinentuch, wie schon gesagt, in einem Fischrückgratmuster gewebt, in der Größe von 4,41x1,13 Metern, auf dem eine doppelte Abbildung einer menschlichen Leiche (vordere und hintere Seite, am Kopf verbunden) zu sehen ist. Auch mit bloßem Auge erkennt man, dass dieser Mann nach unzähligen Qualen und infolge einer Kreuzigung gestorben ist. Wenn man aber das Abbild auf dem Tuch genauer betrachtet, erkennt man einige Besonderheiten, welche an die Leidensgeschichte Jesu, wie sie in den vier Evangelien berichtet wird, erinnert. Die Tra- dition sieht dieses Tuch als das Leichentuch an, in dem Jesus nach seinem Tod bestattet worden ist und als solches wurde das Turiner Grabtuch seit seinem ersten Erscheinen im 14.Jahrhundert verehrt.3

Das Aufkommen der Aufklärung und der damit verbundene Machtverlust der Kirche im 19. Jahrhundert bedeuteten aber eine große Wende in der Einschätzung dieses Gegenstandes, denn die Wissenschaft und die Religionskritik hegten Zweifel an seiner Echtheit, zogen seine Ver- ehrung ins Lächerliche. Doch unerwarteter Weise wurden genau die wissenschaftlichen Unter- suchungen, die das Grabtuch eigentlich für immer in den Bereich des mittelalterlichen Aber- glaubens verdammen wollten, gleichsam zu einem Beweis für das Wunder, was die Menschen zu noch stärkerem Interesse und zu noch größerer Verehrung bewegen sollten.

Weit entfernt von dem Anspruch, eine Antwort auf die schwierige Frage der Authentizität zu finden (das überlasse ich gern kompetenteren Fachleuten), habe ich mir in dieser Arbeit vorge- nommen, eine einfache, für alle zugängliche Darstellung des Problemaufrisses, bzw. des Dis- kussionsstandes rund ums Turiner Grabtuch darzulegen. Neben den zur Zeit bekannten Fakten,

3 Vgl. Sanfrancesco, Antonio: Sindone, dai Templari ai Savoia: la storia in dieci punti, in: http://www.famigliacri- stiana.it/articolo/sindone-tutto-quello-che-c-e-da-sapere.aspx (abgerufen am 21.10.2015). 10 seien dies historische Daten, Aspekte wissenschaftlicher Untersuchungen oder auch theolo- gisch-exegetische Debatten, interessierten mich für im Besonderen dessen geistige und spiritu- elle Bedeutung, einerseits für alle Menschen, die mit diesem Gegenstand in Berührung gekom- men sind, und andererseits für die Christen auf eine besonderen Art. Es ist erstaunlich, welch beinahe unvorstellbare Anziehungskraft dieses Tuch im Laufe seiner Geschichte auf einfache Menschen, sowie auf wichtige Bischöfe und Kardinäle und sogar auf Könige und Adelige aus- geübt hat und welche Faszination es in der Welt der heutigen Wissenschaft ausstrahlt. Zum Schluss möchte ich im letzten Teil meiner Arbeit die Auseinandersetzung der katholischen Kir- che mit diesem gleichsam rätselhaften wie geheimnisvollen Objekt der europäischen Glaubens- geschichte darstellen und ihre offizielle Position, nicht selten durch die wissenschaftlichen Ent- deckungen beeinflusst, von der Zeit der ersten Ausstellungen an bis heute, erläutern. Einige spirituelle Impulse sollen uns zum Schluss zu einer tieferen Rezeption und einem tieferen Ver- ständnis dieses religiösen Gegenstandes führen. Die Pastoral des Turiner Grabtuches steht heute, vielleicht mehr als in der Vergangenheit, besonders im Mittelpunkt der Diözese Turin und ist allgemein zentral im religiösen Italien verankert.

11

1 Fakten und Legenden eines Rätsels

1.1 Die offizielle Geschichte 1.1.1 Die ersten Spuren Die offizielle Geschichte des Turiner Grabtuches beginnt in Lirey, einer unbedeutenden Ort- schaft 160 Kilometer südöstlich von Paris. Wir schreiben das Jahr 1349. Eine gewisse Jeanne de Vergy, Witwe des französischen Adeligen Geoffry de Charny, stellt in einer kleinen, aus Holz erbauten Kirche ein Tuch mit dem Abdruck einer menschlichen Leiche aus, das sie als das Bestattungstuch des Herrn Jesu Christi präsentiert. Finanzielle Schwierigkeiten sollen die edle Dame zu diesem Schritt bewegt haben. Die Reaktion der Gläubigen lässt nicht lange auf sich warten: Bald strömen sie in Massen nach Lirey, um die heilige Reliquie zu sehen. 4

Auch die Reaktion des Ortsbischofs von Troyes, Pierre d’Arcis, Bischof, kommt umgehend: Er wendet sich mit einem Schreiben an den in Avignon residierenden Gegenpapst Clemens VII, in dem er über die Ausstellung in Lirey berichtet und das Tuch als eine Fälschung und die Initiative von Madame Vergy als ein Skandal bezeichnet. Dieses erste Dokument wird mit dem Jahr 1389 datiert, wobei die Historiker die erste Ausstellung einige Jahre früher ansetzen. Denn anscheinend wurde das Tuch Pilgern schon öfter als einmal gezeigt. Eine aus der Seine heraus- gefischte Pilgermedaille aus dem Jahre 1357 zeigt nämlich den Mann des Grabtuches: Es ist, genauer gesagt, der Körper eines Mannes, unbekleidet, mit überkreuzten Armen und langen Haaren. Vordere und hintere Seite sind deutlich zu erkennen, Kopf an Kopf nebeneinander dar- gestellt. Daneben befinden sich die zwei Familienwappen der Familien de Charny und de Vergy.5

Die Ausstellungen in dieser Zeit ziehen eine große Menge an Menschen an, Gläubige aus den benachbarten Gegenden, welche den kostbaren Gegenstand sehen und vor ihm beten wollen und sich Segen und Heilung erwarten. Trotz Anklage von Pierre d’Arcis genehmigt Clemens VII die Ausstellungen des Tuches mit der Bedingung, dass es nicht als Reliquie verehrt, sondern nur als Abbild für die Meditation betrachtet wird. Im Jahr 1418 entscheidet die Kirche, dass das Tuch der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich sein soll, die Ausstellungen werden verboten und es folgt eine Zeit der Latenz, in der das Grabtuch versteckt bleibt. Aus der Chronik ist uns bekannt, dass Marguerite, der letzte Erbe von Geoffroy II, im Jahr 1449 eine Ausstellung in

4 Vgl. Siliato, Maria Grazia, Und das Grabtuch ist doch echt. München: Wilhem Heyne Verlag, 1997, 252-253. 5 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 252-253. 12

Chimay, im Hinault, veranstaltet: Wieder strömen die Menschen sintflutartig dahin, während der Ortsbischof zwei sacrae paginae professores den Auftrag gibt, ihre Meinung darüber zu äußern. Auf zwei Fragen sollen die Kleriker antworten: Ob das Grabtuch echt und ob dessen Ausstellung seitens Marguerite genehmigt ist. Das Ergebnis ist bekannt: Wie sich schon Cle- mens VII geäußert hatte, „entscheidet“ man sich auch jetzt für die Unechtheit des Tuches, trotz- dem wird nichts darüber gesagt, ob es gestattet sein soll, es auszustellen oder nicht, ein Zeichen vielleicht, dass es in der Öffentlichkeit weiter gezeigt wurde. Gleichzeitig aber verlangen die Domherren von Lirey die Abgabe des Tuches an die Kirche. Marguerite stimmt zu, einige Re- liquien, Privateigentum ihrer Familie, abzugeben, aber nicht das Grabtuch.6

Die Reaktion der Kirche ist sehr hart: Im Jahr 1446 wird Marguerite vom Gericht von Besançon dazu verurteilt, das Grabtuch umgehend zurück zu geben, das sie während des Hundertjährigen Krieges von den Kanonikern von Lirey anvertraut bekommen hatte. Marguerite weigert sich und kurz darauf verkauft sie den kostbaren Gegenstand an das Haus Savoyen. Der Vertrag trägt das Datum 22. März 1453. Eine neue Anklage der Kanoniker von Lirey wird eingebracht und am 30. Mai 1457 wird Marguerite erneut vom Gericht von Besançon verurteilt und mit der Exkommunikation bestraft. Um die Kleriker ob des großen Verlusts zu besänftigen, verspricht der Herzog von Savoyen ihnen die Summe von fünfzig Goldfranken, die aber nie gezahlt wur- den.7

1.1.2 Im Haus Savoyen Das heilige Leinen, jetzt im Besitz von Herzog Luigi di Savoia und seiner Gattin Anna von Montenegro, findet sein Zuhause in Chambery, im französischen Alpenvorland, Residenz der königlichen Familie.8 Die neuen Besitzer ordnen sofort den Bau eines Nebengebäudes ihres Schlosses an, eine eigene Kapelle, wo die kostbare Reliquie aufbewahrt werden soll. Die Über- führung dahin geschieht im Jahr 1502.9

Unter dem Patronat einer so angesehenen Dynastie bekommt das Tuch eine andere Wertigkeit in der Öffentlichkeit: Immer mehr wird es als das echte Tuch anerkannt, in dem Jesus nach

6 Vgl. Zaccone, Gian Maria; Ghiberti, Giuseppe: Guardare la Sindone. Cinquecento anni di liturgia sindonica. To- rino: Effatá Editrice 2007, 113-114. 7 Vgl. Barberis, Bruno; Boccaletti, Massimo: Il caso Sindone non é chiuso. Milano: Edizioni San Paolo 2010, 44- 45. 8 Vgl. Hesemann, Michael: Die stummen Zeugen von Golgatha. Die faszinierende Geschichte der Passionsreli- quien Christi. München: Heinrich Hugendubel Verlag 2000, 212. 9 Vgl. Baima Bollone, Pier Luigi: Sindone o no. Torino: Societá Editrice Internazionale, 1990, 138. 13 seinem Tod eingehüllt wurde. Um das Jahr 1464 teilt selbst Papst Sixtus IV mit, dass er das Sindon für eine echte Reliquie halte.10

Dem hohen geistigen Wert des Leinens entsprechend, bemühen sich die Savoyen auch um die offizielle Anerkennung des Grabtuchkultes. So erhebt Papst Paul II (1464-1471) die Kapelle des Tuches zur Kollegiatskirche, während Sixtus IV sie zur Sainte Chapelle erhebt und dabei den damaligen Volkswillen bestätigt. Im Jahr 1506 fordern der Herzog Carlo III und seine Mut- ter Claudia vom Heiligen Stuhl die liturgische Anerkennung des Grabtuches und die Einrich- tung einer nach ihm benannten Bruderschaft. Außerdem wollen sie die Genehmigung erwirken, dass im Zusammenhang mit dem Heiligen Leinen jeden Karfreitag die Möglichkeit eines voll- kommenen Ablasses für alle Anwesenden gegeben ist. .

Der Papst antwortet positiv auf den Wunsch der königlichen Familie und mit der berühmten Bulle vom 9. Mai 1506 werden „Offizium und Messe zur Ehre der Reliquie“ genehmigt. Der liturgische Jahrestag wird am 4. Mai festgelegt. Ab diesem Zeitpunkt verbreiten sich die Ver- ehrung und der Kult des Grabtuches rasant unter den Gläubigen, die sich endlich in jeder Hin- sicht in ihrem Glauben anerkannt fühlen. Die Zahl der Ausstellungen nimmt dementsprechend zu. Von Jahr zu Jahr werden die liturgischen Feierlichkeiten um das Grabtuch immer festlicher, Klerus und Volk nehmen in großer Zahl und mit großer Begeisterung daran teil, man feiert in der Heiligen Kapelle prunkvolle Hochzeiten und zahlreiche Kunstschätze schmücken den Auf- bewahrungsort der heiligen Reliquie.11

Im Haus Savoyen spielt aber das Sindon zusätzlich eine andere wichtige Rolle: Es ist nicht nur ein religiöser Gegenstand, mit geistiger und pastoraler Bedeutung, sondern auch die „dynasti- sche Reliquie“ schlechthin, welche die Macht seiner Besitzer offiziell legitimiert. Aus diesem Grund genießt sie im königlichen Leben besondere Aufmerksamkeit und großes Ansehen.12

Welche Wertigkeit das Leinen für die Savoyen haben muss, wird auch von der Tatsache bestä- tigt, dass die heilige Reliquie die Herzöge auf ihren Reisen durch die Alpen immer begleitet und dabei gern ausgestellt wird. So sind einige kleine Ausstellungen dokumentiert, wie in Pi- nerolo (Trient) im Jahr 1478, in Vercelli im Jahr 1494 und in Torino im Jahr 1498.13

10 Vgl. Stevenson, Kenneth E.; Habermas, Gary R.: Verdetto sulla Sindone. Brescia: Editrice Queriniana 1981, 39-40. 11 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 139. 12 Vgl. Zaccone, Un velo, 22. 13 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 47. 14

Auch die Art, wie während der Reisen mit der Reliquie umgegangen wird, soll ein erleuchten- des Zeichen für seinen Wert sein. Der Theologe Rosina, Kaplan und Wächter des Heiligen Leinens, schreibt am 28. Oktober 1785, dass Carlo Emanuele III das Tuch auf einer Reise nach Genua mit der königlichen Familie mitnimmt. Dabei wird, wie es üblich ist, das Tuch in ein eigenes Zimmer gestellt, eine adäquate Unterkunft, welche immer mit Kerzenbeleuchtung aus- stattet ist.14

Die Geschichte des Grabtuches und das Schicksal des Hauses Savoyen scheinen schon seit dem Jahr der Vererbung unlösbar miteinander verbunden zu sein. Wichtige Anlässe für die Ausstel- lungen sind meistens neben dem jährlichen liturgischen Gedenktag am 4. Mai die Hochzeiten und Taufen der königlichen Familie, sowie die Besuche wichtiger Persönlichkeiten. Bemer- kenswert sind auch die Ausstellungen in den folgenden Jahren: 1613 aufgrund des Besuches des Bischofs von Genf, Franz von Sales; 1620 für die Hochzeit von Vittorio Amedeo I mit Cristina von Frankreich; 1633 für das Ende der Pest; 1642 für den Frieden zwischen Cristina von Frankreich und ihren Schwägern Tommaso und Maurizio di Savoia oder 1649 für das Ende der Bauarbeiten an der Kapelle des Gaurini in Torino.

Auch im Ausland scheint das Tuch Bekanntheit zu genießen. Als im Jahr 1706 die Stadt von Torino von der französischen Armee belagert wird, ist der französische General Louis d’Aubus- son de la Feuillade so überzeugt, die Stadt zu erobern, dass er am Anfang der Belagerung seinen Soldaten verspricht, er werde bald den „Te deum laudamus“ in der Kapelle des heiligen Grab- tuches singen.15

Einen beachtlichen Fall stellt auch der Besuch des Königs von Frankreich, Franz I von Valois (1494-1547), dar, welcher von Lion nach Chambery pilgert, um die heilige Reliquie zu vereh- ren, in der Überzeugung, dass sie ihm zum Sieg in der Schlacht bei Marignano verholfen habe.16

Das Jahr 1532 soll leider auch in der Geschichte des Grabtuches berühmt werden. In der Nacht zwischen dem 3. und dem 4. Dezember verschlingen riesige Flammen die Kapelle, wo es auf- bewahrt ist. Die Ursachen sind nicht historisch dokumentiert, man vermutet aber eine vorsätz- liche Brandstiftung. Glücklicherweise gelingt es dem Schlosser Guillaume Pussod, den silber- nen Reliquienschrein in Sicherheit zu bringen, nachdem er ihn mit kaltem Wasser abgekühlt hat. Die Nachricht verbreitet sich rasch in der Stadt, zusammen mit dem Gerücht, dass das Tuch

14 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 60. 15 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 55. 16 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 139. 15 von den Flammen zerstört wurde. Für lange Zeit sind viele Menschen überzeugt, dass die Re- liquie verloren gegangen ist und durch eine Kopie ersetzt wurde. Erst am 15. April 1534 wird eine genaue Untersuchung von Kardinal Luis de Gorrevod angeordnet. In Anwesenheit von zwölf Zeugen, darunter drei Bischöfe, wird das Tuch aufgerollt, seine Echtheit bestätigt und die vom Brand verursachten Schäden verifiziert. Am nächsten Tag wird das Sindon in einer feierlichen Prozession zum Klarissenkloster von Saint-Clair-en-Ville in Chambery überführt. Hier soll es von den frommen Nonnen so gut wie möglich ausgebessert werden.17

Die 48 Lagen des gefalteten Leinen sind im Laufe des Brandes von einigen Silbertropfen des geschmolzenen Reliquiars durchlöchert worden und Brandflecken sind deutlich zu erkennen. Zur Erleichterung aller Kleriker und der königlichen Familie ist aber das Abbild auf dem Sin- don verschont geblieben.18

1.1.3 Eine neue Heimat in Turin Im Jahr 1576 wütet in Mailand die Pest. Der Erzbischof Carlo Borromeo, glühender Reliquien- verehrer, leistet einen feierlichen Eid: Wenn der schwarze Tod vor Jahresende weicht, wird er zu Fuß zum Grabtuch des Herrn pilgern. Seine Gebete werden erhört und der Bischof macht sich auf den Weg nach Chambery. Für den Herzog Emanuele Filiberto di Savoia bietet Bor- romeos Absicht die perfekte Gelegenheit für die ersten Schritte seines geplanten Vorhabens: Schon länger will er die Hauptstadt des Herzogtums nach Turin bringen, und jetzt spielt ihm die Geschichte die Begründung in die Hand, dem mailändischen Erzbischof die beschwerliche Pilgerreise über die Alpen zu ersparen. So lässt er die heilige Reliquie in seine Residenz nach Turin überführen.19 Der Heilige Carlo erreicht Turin nach einer Drei-Tages Reise, der Herzog kommt ihm entgegen und empfängt ihn am Stadttor. Zu dieser besonderen Gelegenheit wird das Sindon vierzig Stunden am Hauptaltar der Kathedrale ausgestellt.20

Emanuele Filiberto wird später in seinem Testament anordnen, dass eine eigene Kapelle gebaut werden soll. Die Arbeiten eines Anbaues zur Kathedrale des heiligen Johannes des Täufers beginnen unter Führung des berühmten Architekten Gaurino Guarini erst im Jahr 1657. Hier findet das Turiner Grabtuch am 1. Juni 1694 seine neue Heimat.21

17 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 49-50. 18 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 212. 19 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 213. 20 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 142. 21 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 213. 16

Die Monarchen fordern auch hier in der norditalienischen Stadt die Verehrung und den Kult der heiligen Reliquie massiv, nicht nur aus religiösen und pastoralen Gründen, sondern auch aufgrund machtpolitischer Interessen in einem Klima katholischer Reformen und unterstützt von bedeutenden Persönlichkeiten, wie dem oben genannten Erzbischof Borromeo.

Die Barockzeit stellt die Epoche des höchsten Glanzes für die verehrte Reliquie dar, geprägt von zahlreichen Ausstellungen und einer blühenden Literatur. Das Grabtuch steht im Mittel- punkt einer intensiven katechetischen Tätigkeit, einer stark verbreiteten Verehrung und einer immer wachsenden Volksfrömmigkeit. 22

Die Besuche berühmter Persönlichkeiten erweisen dem Sindon große Ehre. Auf dem Weg nach Paris, aus Anlass der Krönung von Napoleon, verbringt Papst Pius II am 13. November 1804 einen Tag in Turin und will das Grabtuch sehen. Am 19. Mai 1815 erreicht Pius VII auf seiner Flucht von Rom die Stadt, fliehend aufgrund des Angriffes von Gioacchino Murat, des Königs von Neapel, und ist wieder Gast der königlichen Familie. Am 21. Mai tragen König und Papst das Heilige Leinen in seinem Schrein in einer Prozession gemeinsam bis zum Palast Madama. Hier wird die Reliquie aufgerollt und ausgestellt. Nach der Ausstellung kommt sie in ihren Schrein zurück, der mit den königlichen und den päpstlichen Symbolen versiegelt wird. Ab diesem Zeitpunkt wird das Sindon unter dem Altar von Bertola im Turiner Dom bleiben und die Stadt nicht mehr verlassen. Erst mit den Bombardierungen auf die Stadt im Laufe des Ersten Weltkrieges erscheint die Sicherheit der Reliquie so fragwürdig, dass man sich entscheidet, sie aus der Kapelle zu entfernen. In eine schwere Asbestdecke eingewickelt, verschwindet das Hei- lige Leinen in einer dicken Eisenkiste für kurze Zeit ins zweite Untergeschoss vom Palazzo Reale.

Aus Sicherheitsgründen wird die Entfernung der Reliquie aus Turin am Anfang des Zweiten Weltkrieges angeordnet. Als wichtige Industriestadt ist Turin ganz besonders von Bombardie- rungen gefährdet. In der Nacht vom 7. September 1939 verlässt das Tuch die Hauptstadt von Piemont in einer Holzkiste Aufschrift reliquiario, Reliquienschrein. Mit einem Zug erreicht es in der Früh Rom, und von dort wird es zum Santuario di Montevergine gebracht. In dieser abgelegenen Ortschaft bleibt es sieben Jahre und einen Monat, versteckt in einer Grabnische bei einer Mauer, bis es am 28. Oktober 1946 von den Mönchen wieder hervorgeholt wird und seine Reise zurück nach Turin antreten kann.

22 Vgl. Zaccone, Un velo, 22.

17

Am 18. März 1983 stirbt der Exkönig von Savoyen, Umberto II, und in seinem Testament hin- terlässt er dem Papst die kostbare Reliquie. Der Heilige Stuhl nimmt am 23. Oktober die Schen- kung an und benennt den Erzbischof von Turin zum Wächter pro-tempore des Grabtuches.23

1.1.4 Secondo Pia 1898 ist für das Turiner Grabtuch das Jahr der großen Wende. Zum ersten Mal in seiner Ge- schichte wird es mit Erlaubnis des Haus Savoyens offiziell fotografiert. Die unerwarteten Er- gebnisse übertreffen die allgemeinen Erwartungen und ziehen die Aufmerksamkeit von Milli- onen von Menschen auf der ganzen Welt auf sich. Plötzlich interessieren sich nicht nur Gläu- bige und Kleriker für diese außergewöhnliche Reliquie, sondern auch Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen wollen das Leinen untersuchen. Von diesem Zeitpunkt an gilt das Turiner Grabtuch in der Öffentlichkeit nicht mehr als ein reines Verehrungs-, sondern auch als Studienobjekt der neuen Wissenschaften.

Diese ersten Fotos tragen aber auch eine große religiöse Bedeutung. Im Einklang mit dem ma- terialistischen und antireligiösen Geist der damaligen Zeit machen sich viele Menschen lustig über die Volksfrömmigkeit der Pilger, welche in großer Zahl zur Eröffnung der Ausstellung nach Turin strömen. Die Kritiker betrachten die Verehrung der berühmten Reliquie als puren Fetischismus und reine Naivität und wundern sich, dass die katholische Kirche ein so grobes und unästhetisches Abbild als Reliquie anerkennen kann. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fotos des Grabtuches als eine Art Revanche der Frommen und der Kirche dar: Sie beweisen, dass die Gläubigen, der Klerus und die Tradition viel näher an der Wahrheit sind als alle Mate- rialisten und Skeptiker. Das Grabtuch ist nicht kein einfaches, grobes und misslungenes Kunst- werk mehr: Es ist eine außerordentliche und durch menschliche Technik nicht reproduzierbare Abbildung.24

Es lohnt sich nun einen aufmerksameren Blick auf die Ereignisse dieses in die Geschichte ein- gegangenen Jahres zu werfen. Wir befinden uns am Ende des 19. Jahrhunderts, die Kunst der Fotografie hat schon ihre technische Sicherheit erreicht und wird eine unverzichtbare Gefährtin aller Wissenschaften und Künste. Ihr Auge gilt als viel glaubwürdiger als das menschliche und die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe genaue Details aufzunehmen, als unbeschränkt. Wegen ihrer

23 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 143-145. 24 Vgl. Enrie, Giuseppe: La Santa Sindone rivelata dalla fotografia. Torino: Societá Editrice Internazionale 1933, 133 18 sprichwörtlichen Zuverlässigkeit wird sie mehr und mehr in allen Bereichen angewendet, denn sie allein könne, gemäß damaliger Ansicht, vollkommene Resultate garantieren.25

Enrico Federico Jest, Maschinenbauer an der Universität Turin, baut einen Fotoapparat nach dem Vorbild der ersten Pioniere, Joseph Nicéphore Niépce, Louis-Jacques-Mandé Daguerre und William Henry Fox, welche im Jahr 1839 ihre ersten Ergebnisse in diesem Bereich veröf- fentlicht hatten. Er selbst kommt anlässlich der Ausstellung im Jahre 1842 auf die Idee, das Grabtuch das erste Mal mit Hilfe der neuen Technologie aufzunehmen. Leider kann er sein Projekt aufgrund der ungünstigen Raumbedingungen und der kurzen Dauer der Ausstellung nicht zu Ende bringen, wie wir aus einem kleinen Artikel einer damals in Turin gedruckten wissenschaftlich-literarischen Zeitschrift erfahren. Es vergehen weitere 56 Jahre, bis die Aus- stellung anlässlich der Hochzeit des zukünftigen Umberto I mit Margherita di Savoia im Jahr 1868 eine neue Chance bietet, diese wird aber nicht genutzt.26

Wir müssen weitere 30 Jahre warten und wieder entscheidet der König, das Grabtuch auszu- stellen. Die politische Situation in Italien scheint instabil, Unzufriedenheit und Missstimmung herrschen im ganzen Lande. Umberto I hofft, die Missstände durch eine Reihe von Initiativen zu beseitigen, welche die internationale Aufmerksamkeit auf Turin ziehen und ein neues Bild Italiens bieten können. Die Anlässe für diese Ausstellung sind zahlreich. Das Haus Savoyen will den 50. Jahrestag des Albertinischen Statuts prunkvoll feiern, der Kronprinz Vittorio Ema- nuele wird bald die Prinzessin Elena von Montenegro heiraten, während die Kirche in Turin das vierte Zentenar der Kathedrale des Heiligen Johannes des Täufers und das dritte Zentenar der Bruderschaft des Heiligen Grabtuches und der Bruderschaft des Heiligen Rocco vorberei- tet.27

Zusätzlich wird eine Exposition der Kirchenkunst organisiert, ein bedeutungsvolles Zeichen der Aktivitäten der katholischen Bewegung in Piemont, mitten in einer politisch sehr ange- spannten Zeit. So wird die Ausstellung des Grabtuches ein riesiger Erfolg. Sie wird am 25. Mai eröffnet und am 2. Juni nachmittags beendet und zählt insgesamt 800.000 Besucher, durch- schnittlich 95.000 Besucher täglich, welche Tag und Nacht in einer stillen Prozession an der Reliquie vorüberziehen.

25 Vgl. Enrie, La Santa Sindone rivelata, 3. 26 Vgl. Zaccone, La fotografia della Sindone, 83-84. 27 Vgl. Peracchino, Maria Margherita: Sindone: sappiamo di non sapere, in: http://www.lindro.it/0-cul- tura/2015-02-13/167264-sindone-sappiamo-di-non-sapere (abgerufen am 22.10.2015). 19

In den Monaten der fieberhaften Vorbereitungen ist die Idee entstanden, das Grabtuch zu foto- grafieren. Das Interesse für die neue Kunst in der nördlichen Hauptstadt zeigt sich sehr leben- dig. Im April 1898 hat sich innerhalb der Exposition der Kirchenkunst eine eigene Kommission für die Fotografie, die für die Vorbereitungen der Fotoaufnahmen der Heiligen Reliquien ver- antwortlich ist, gebildet, noch bevor das königliche Haus seine Genehmigung dafür erteilt.28

Don Natale Noguier de Malijai, Physikprofessor am Gymnasium Valsalice, hat den Baron An- tonio Manno um Hilfe gebeten, um vom König die Erlaubnis zu erhalten, das Grabtuch während der Ausstellung zu fotografieren. Für diese wichtige Aufgabe wurde Secondo Pia gewählt, An- walt und Hobby-Photograph, sehr berühmt für seine Leidenschaft für die neue Kunst, aber auch für seine skrupellose Genauigkeit und Professionalität. Pia ist zu dieser Zeit auch Präsident der „cultori dell’arte fotografica“, sozusagen Liebhaber der fotographischen Künste, ist 43 Jahre alt und hat 22 Jahre Erfahrung hinter sich. Umberto I erteilt die heißbegehrte Genehmigung nicht nur aufgrund der Eindringlichkeit des Barons Antonio Manno, sondern auch weil Pia bereit ist, die gesamten Kosten der Operation zu übernehmen und dabei gleichzeitig auf jegliche Rechte verzichtet.29

1.1.5 Die Offenbarung der Fotografie Es ist keine leichte Aufgabe, sogar für einen erfahrenen Photographen wie Secondo Pia. Am Abend des 25.Mai 1898 steht ihm das Grabtuch zur Verfügung, bevor die Ausstellung eröffnet wird. Zwei elektrische Scheinwerfer beleuchten das Grabtuch, welches in einem kostbaren Rah- men ausgestellt ist und alles andere als homogen beleuchtet wird. Pia versucht, das Problem mit zwei geschliffenen Glasplatten zu lösen, aber nach erst fünf Minuten schmelzen beide auf- grund der hohen Temperatur der Scheinwerfer. Für diesen ersten Tag muss der Anwalt seine Arbeit abbrechen, die Leute warten ungeduldig, dass ihnen die Türen geöffnet werden. 22.000 Pilger sollen es an diesem Tag sein. Am 28. Mai kehrt Pia in die Kapelle mit zwei neuen Platten zurück, die er etwas weiter entfernt von den Scheinwerfern montiert. Diesmal ist das heilige Leinen zusätzlich von einem Glas geschützt, was die Arbeit des Photographen erneut erschwert. Trotz weiterer Beleuchtungsprobleme schafft es Pia endlich, zwei Fotos aufzunehmen. Es ist spät in der Nacht, als er seine Aufgabe beendet und nach Hause kommt, um sich dort sofort

28 Vgl. Zaccone, Gian Maria: La fotografia della Sindone nella storia, in: Zaccone, Gian Maria (Hg.) Le due facce della Sindone. Pellegrini e scienziati alla ricerca di un volto, Torino: Editrice ODPF 2000, 85-86. 29Vgl. Vacchiano, Michele: Secondo Pia: un dilettante di grande formato, in: http://www.nadir.it/pandora/SE- CONDO_PIA/default.html (abgerufen am 21.10.2015). 20 wieder an die Arbeit zu machen und die Bilder zu entwickeln. Als er in der Dunkelkammer die Fotoplatte aus der Flüssigkeit nimmt und das Abbild des Grabtuches langsam sichtbar wird, kann er kaum glauben, was er vor Augen hat, so erstaunlich ist für ihn die unerwartete Entde- ckung: Das Gesicht des Mannes auf dem Grabtuch erscheint ihm als ein Positivbild, das bedeu- tet, dass das Abbild in der Realität ein Negativ sein muss. Nur das Abbild aber, denn die Blut- flecken und die Brandlöcher verhalten sich dagegen wie es jeder Gegenstand für gewöhnlich tut.30

Der erste, den er über die unglaublichen Ergebnisse seiner Fotos informiert, ist natürlich der Baron Manno, und im Nu füllt sich die Werkstatt von Pia mit Neugierigen. Über die verblüf- fende Entdeckung berichten bald auch die Zeitungen wie zum Beispiel der Osservatore Romano in der Ausgabe vom 14.-15. Juni.31

Auch lokale Zeitungen wie La Gazzetta Piementese berichten von Pia und seinen Fotos schon in der Woche nach der Aufnahme. L’Italia Reale-Corriere Nazionale veröffentlicht einen Ar- tikel („Pias Bild ist prächtig gelungen“) am 1.-2. Juni. Am 13. Juni ist der Cittadino di Genova mit dem Titel „Die Offenbarung“ dran und am 14. Juni schreiben der Avvenire („Eine unerwar- tete Nachricht“) und der schon erwähnte Observatore Romano („Ein erstaunliches Ereignis“) über Pias Entdeckung.32

Bald folgen die Reaktionen in der Öffentlichkeit: Eine Kette von widersprüchlichen Meinungen bildet sich, denn neben Freunden und Wohlgesinnten des Anwalts gibt es viele misstrauische und skeptische Stellungnahmen. Die Arbeit von Pia wird teilweise hart kritisiert, man vermutet sogar, er habe das Bild durch einige von ihm erfundene Techniken „manipuliert“, man stellt seine Ernsthaftigkeit und seine Zuverlässigkeit mit der Begründung in Frage, dass er kein Profi auf diesem Gebiet, sondern „nur“ ein Amateur sei. Die Töne der Kritiker in den zahlreichen Diskussionen werden oft richtiggehend aggressiv. Die Kritiker gehören nicht allein den Reihen der bekennenden Agnostiker an, sondern auch denen der Gläubigen.33

Die erste bedeutungsvolle Attacke gegen das Werk des Turiner Anwaltes kommt aus Paris. Die Fachschrift Le moniteur de la photographie veröffentlicht am 15. September 1898 einen Artikel über Pias Fotos, in dem die Ernsthaftigkeit des Fotografen und die Professionalität im Rahmen

30 Vgl. Peracchino, La Sindone che rivoluziona. 31 Vgl. Peracchino, La Sindone che rivoluziona. 32 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 73-74. 33 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 76-77. 21 der Fotoaufnahmen angezweifelt wird. Darauf vermehren sich wie ein Sturm explizite Beschul- digungen hinsichtlich der Manipulation und nachträglicher Bearbeitung der Bilder.34

Viele andere aber erkennen den Wert von Pias technischer Leistung und seine hochfachlichen Fähigkeiten an. Einer von ihnen schreibt: „Die Fotografien von 1898 sind die eines Amateurs; sie haben einen unbestreitbaren dokumentarischen Wert. Sie sind die Feststellung einer Tatsa- che.“35

Auch die heimlich aufgenommenen Fotos vom Salesianer Don Natale Nuguier, vom Jesuiten Gianmaria Sanna Solaro und vom Ingenieur Splendorelli bestätigen übereinstimmend die Ar- beit von Secondo Pia, was aber von Pias teils verleumderischen Gegnern nicht ernst genommen wird.36

Bei der Diskussion der damaligen Debatten dürfen wir zwei Punkte nicht vergessen: der Begriff des Negativs eines Bildes ist in dieser Zeit noch nicht wirklich bekannt und die meisten in den Diskussionen involvierten Personen besitzen keine großen photographischen Kenntnisse. Unter den gnadenlosen Beschuldigungen leidet der Turiner Anwalt immens. Er muss weitere drei- unddreißig Jahre darauf warten, dass seine Entdeckung bestätigt und sein guter Ruf wieder her- gestellt ist.

1.1.6 Die Bestätigung von Enrie Die Ausstellung des Heiligen Grabtuches im Jahre 1931 ist erneut mit einer Hochzeit im kö- niglichen Haus verbunden: Der Kronprinz Umberto heiratet am 8. Jänner 1930 die Prinzessin Maria José de Brabante. Für die Eröffnung der Ausstellung wird aber auf den Amtsantritt des neuen Erzbischofes von Turin, Maurilio Fossati, gewartet, welcher am 3.Mai 1931 in einer fei- erlichen Messe die Ausstellung offiziell öffnet. Im Dom sind mit ihm einundzwanzig Bischöfe, sechszehn Prinzen, die ganze Zivilbehörde der Stadt, Vertreter der faschistischen Partei und eine riesige Menge Gläubiger anwesend. Ungefähr zwei Millionen Menschen besuchen das

34 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 167. 35 Pregues, Thomas M., zitiert nach: Fossati, Luigi: La ripresa della fotografia della Sacra Sindone durante l’Ostensione del 1898, in: http://www.shroud.it/FOSSATI1.PDF (abgerufen am 21.10.2015). “Les photographies de 1898 ne sont pas d’un amateur; elles ont una valeur documentaire incontestable. Elles sont la constatation d’un fait“ 36 Vgl. Zaccone, La fotografia della Sindone, 88-89. 22

Heilige Leinen bis zum Ende der Ausstellung am 24. Mai und über fünfhundert Anfälle von Bewusstlosigkeit wird berichtet.37

Der neuerwählte Erzbischof hat aber schon in der Zeit der Ausstellungsvorbereitungen Rat von Papst Pius XI eingeholt. Er ist wie viele Wissenschaftler der Meinung, dass es höchste Zeit für weitere Fotoaufnahmen der Heilige Reliquie ist, obgleich viele Geistliche in seinem Umfeld dagegen sind. Dank der Unterstützung des Papstes genehmigt Fossati die neuen Fotoaufnah- men.

Aufgrund seiner unbestreitbaren Fähigkeiten wird Giuseppe Enrie, ein Profi-Fotograf, mit die- ser Aufgabe betraut. Für seine Arbeit schlägt er ein bestimmtes Programm vor: Er will die glä- serne Schutzplatte vom Grabtuch entfernen, damit er seine Bilder so nah wie möglich vor dem Objekt aufnehmen kann. Nicht nur das Tuch als Ganzes interessiert ihn: Er will sich auch auf kleinere Details konzentrieren. Die fotografischen Aufnahmen beginnen am 3. Mai 1931 nach der feierlichen Eröffnung der Ausstellung, als endlich alle Gläubigen und wichtigen Persön- lichkeiten den Dom verlassen haben. Zwei Helfer stehen Enrie zur Seite: Secondo Pia, erster Fotograf des Grabtuches, und der französische Biochemiker Paul Vignon.38

Die Sakristei des Domes wird für diese spezielle Gelegenheit zur Dunkelkammer umfunktio- niert und die drei Männer können gleich dort die ersten Bilder entwickeln. Um eventuelle Kri- tiken und Beschuldigungen zu vermeiden, will Giuseppe Enrie bei seiner Arbeit von einem Komitee aus fünf Experten begleitet werden, die später versichern können, dass die Fotos auf keinen Fall manipuliert oder bearbeitet wurden. An drei verschiedenen Terminen (3., 19. und 22. Mai) werden zwölf Fotos aufgenommen, welche das ganze Tuch, aber auch einige Details wie den Rücken, die Schulter, das Gesicht und die linke Hand zeigen. Technisch betrachtet gelten sie noch heute als absolut perfekt, werden auch für die moderneren Untersuchungen von vielen Wissenschaftlern verwendet und verifizieren unwiderlegbar die Ergebnisse der Arbeit von Secondo Pia.39

Nachdem die Arbeiten an den Fotoaufnahmen bis spät in die Nacht hinein dauern, entscheidet Enrie, die anderen Platten zu Hause zu entwickeln. Der Salesianer Don Tonelli begleitet ihn und die zwei arbeiten bis vier in der Früh. Erst am Abend des 4. Mai kann sich der Photograph zum Erzbischof begeben, um ihm all die entwickelten Bilder zu zeigen.

37 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 87. 38 Vgl. Peracchino, La Sindone che rivoluziona. 39 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 88-89. 23

Ergriffen von den Fotos kontaktiert der Erzbischof umgehend den Kronprinzen. Am nächsten Tag, dem 5. Mai, darf Enrie den Erzbischof Fossati zum königlichen Palast begleiten, wo er lang und mit großem Interesse über seine technische Arbeit befragt wird. Am gleichen Tag werden alle Kopien der aufgenommenen Fotos nach Rom zum König gesendet, welcher auch den Wunsch geäußert hat, sie zu sehen. Am 9. Mai wird Enrie die Genehmigung erteilt, sie zu veröffentlichen.40

Der Heilige Vater und der Duce sind von den photographischen Ergebnissen begeistert und wollen die Fotos persönlich untersuchen. Die Nachricht verbreitet sich schnell unter Klerikern, Gläubigen und Wissenschaftlern, die sich jetzt noch stärker in Befürworter und Skeptiker dif- ferenzieren.

1.2 Das Grabtuch und die Wissenschaft In Pias Fotos sehen viele einen wichtigen Moment oder sogar den wichtigsten Moment in der Geschichte der Heiligen Reliquie: das Grabtuch ist nun keine reine „Glaubenssache“ mehr, sondern bekommt zunehmend Aufmerksamkeit von verschiedensten Wissenschaften. Das Jahr 1898 gilt deshalb als Geburtsstunde aller Studien und Untersuchungen des Heiligen Leinens, welches von einer wachsenden und blühenden Literatur begleitet wird.

Man pflegt, wenn man sich im Bereich der Syndonologie bewegt, chronologisch von drei Peri- oden der Studien um das Turiner Grabtuch zu reden. Die erste Periode hat eigentlich wenig Relevanz für die Welt des Wissens, ist eher von der Volksfrömmigkeit und der Tradition ge- prägt und endet mit Pias fotographischer Entdeckung am 25. Mai 1898. Die zweite Periode beginnt mit Pias Werk und betrifft eine Zeitspanne bis zum Jahre 1950, wo die erste nationale „Studienzusammenkunft“ stattfindet. In diese zweiundfünfzig Jahre fallen hauptsächlich die Studien des Biochemikers Paul Vignon und seine Dampftheorie als Erklärungsmodell der Ent- stehung des Abdrucks. Die Hauptthemen rund um das Grabtuch werden von vielen Wissen- schaftlern erstellt und später genauer untersucht. Darunter zählen zum Beispiel die Eigenschaf- ten des Stoffes, die anatomische Beschreibung des Mannes auf dem Tuch, die Rolle seines Gesichtes im Rahmen der byzantinischen Malerei, die Natur der Blutflecken und nicht zuletzt die Frage nach der Entstehung des Abbildes. Die dritte Periode der Studien um das Grabtuch

40 Vgl. Enrie, La Santa Sindone rivelata, 88. 24 umfasst die Zeit von 1950 bis 1978, zwanzig Jahre, in denen wesentliche Fortschritte im Be- reich der Archäologie gemacht wurden. Wissenschaftler im Ausland, wie der Kriminologe Max Frei in der Schweiz, oder Forscher von berühmten Instituten in den USA interessieren sich leidenschaftlich für die Heilige Reliquie. Diese Periode endet mit dem Jahr 1978, das ohne Zweifel als das wissenschaftliche Jahr in der Geschichte des Turiner Grabtuches schlechthin bezeichnet werden kann: Mit Hilfe von hochmodernen Geräten wird es von einem amerikani- schen Team interdisziplinär und gezielt untersucht. Nach diesem äußerst spannenden Moment der Studien folgt eigentlich eine vierte Periode, gekennzeichnet von regelmäßigen Zusammen- künften von Forschern und Wissenschaftlern und begleitet von einem regen Austausch zwi- schen Ländern und einem neu erwachten Interesse der Welt der Medien, aber auch im Bereich der Volksfrömmigkeit.41

1.2.1 Der Abdruck eines Mannes Einer der ersten Wissenschaftler, der sich mit dem Studium des Grabtuches befasst, ist der Franzose , Anatomieprofessor an der Sorbonne Universität in Paris, überzeugter Agnostiker und Schüler von Paul Vignon. Von der anatomischen Perfektion des Abbildes fas- ziniert, kann er nach vertieften Studien eine genaue Beschreibung des Mannes auf dem Heiligen Leinen widergeben: Mann mit Bart, 1,78 Meter groß, zwischen 30 und 35 Jahre alt, wahrschein- lich 79 Kilogramm schwer, mit einem gut gebauten und muskulösen Körper. Zahlreiche Details deuten auf einen gewaltsamen Tod durch Geißelung und Kreuzigung hin: Wunden, Prellungen, Hautabschürfungen, Stiche und ein aufgeblähter Unterleib. Delage bestätigt, dass all diese Wunden anatomisch perfekt sind, bis ins kleinste Detail.42

Eine weitere sorgfältige Untersuchung des Mannes am Grabtuch aus medizinischer Sicht wird knapp dreißig Jahre später von einem anderen berühmten Anatomieprofessor durchgeführt. Oberarzt und Leiter des Krankenhaus Saint Joseph in Paris, Pierre Barbet, interessiert sich für die Fotoaufnahmen von Giuseppe Enrie und beginnt eine Serie von Studien, welche das ge- richtsmedizinische Grundwissen des Abbildes darstellt. Aus seiner Arbeit haben wir eine ge- naue Beschreibung von dem, was mit bloßem Auge schwer zu erkennen ist.43

41 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 165-173. 42 Vgl. Stevenson, Verdetto, 42-43. 43 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 95-96. 25

1.2.1.1 Die Abbildeigenschaften Wie schon gesagt, verhält sich der Abdruck auf dem Grabtuch wie ein Negativ: das bedeutet, dass Körperteile, die in der Natur reliefartig als heller erscheinen, in diesem Fall dunkler sind (zum Beispiel Nase oder Wangen); dementsprechend sind Teile, die tiefer liegen und in der Natur als dunkler erscheinen, auf dem Grabtuch heller (siehe Augenhöhle). Auf gleiche Art und Weise kann man die so genannte Raumumstellung beobachten, nach der die linke und die rechte Seite des Bildes auf dem Leinen verkehrt erscheinen. Außerdem sehen wir, dass Abdruck und Blutflecken zwei verschiedenen Realitätsebenen angehören: Das Abbild des Mannes zeigt un- deutliche Konturen und erscheint als ein Negativ, während das Blut auf dem Stoff deutlich erkennbar ist und sich wie ein normaler Gegenstand als Positiv verhält.44

1.2.1.2 Kopf und Gesicht Am Gesicht des „Grabtuchmannes“ erkennen wir zahlreiche Prellungen, die rechte Seite er- scheint deutlich geschwollen mit kleineren Wunden, und man kann auf den Fotoaufnahmen auch erkennen, dass die Nase gebrochen wurde. Das alles deutet auf eine äußerst brutale Miss- handlung vor dem Eintreten des Todes hin. Auf der Stirn, am Kopf und entlang der Haare kann man mehrere Bluttropfen sehen, welche von kleinen Stichwunden herrühren und an eine Dor- nenhaube erinnern. Die Blutergüsse zeigen außerdem in zwei verschiedene Richtungen: Das sagt uns, dass der Kopf des Mannes auf dem Kreuz zwei unterschiedliche Positionen einge- nommen haben muss, einmal nach links und einmal nach rechts gebeugt.45

Der Mann auf dem Tuch trug lange Haare, welche auf dem Abbild im Nacken zusammenge- bunden erscheinen, wie es bei den Nasiräern, enthaltsam lebende Gottesmänner aus dem alten Israel, öfter der Fall war.46

1.2.1.3 Oberkörper und Rücken Die Haut an diesen zwei Körperteilen weist zahlreichen Wunden auf, ungefähr hundert kleine Hautabschürfungen in Form von zwei kleinen Kugeln, die sich zwei Zentimeter voneinander entfernt befinden. Sie sind auch auf den Beinen erkennbar und erinnern an eine in römischer Zeit sehr verbreitete Form der Geißel, dem so genannten flagrum. Dieses Folterinstrument be- stand aus zwei oder drei Lederriemen, an einen Holzgriff gebunden, an deren Ende ein Paar miteinander verbundener Bleichkugeln befestigt war. Anhand der Art der Wunden kann Barbet

44 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 96-97. 45 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 98-100. 46 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 227. 26 feststellen, dass sich der Mann komplett nackt über eine Säule beugte und von mindestens zwei Männern gleichzeitig gegeißelt wurde.

Eine Wunde am Oberkörper fällt besonders auf: Es handelt sich um eine Schnittwunde, eiför- mig, in der Größe von 4,5 mal 1,5 Zentimetern, welche durch eine Schnittwaffe verursacht wurde. Darunter befindet sich ein großer Blutfleck, 6 mal 15 Zentimeter groß. Die Bluteigen- schaften zeigen, dass ihm diese Wunde erst nach seinem Tod zugefügt wurde, da die verschie- denen Blutbestandteile, das leichtere Plasma und das schwerere korpuskulare Element, schon voneinander getrennt sind, was gewöhnlich erst nach dem Auftreten des Todes geschieht.

Am Rücken sind in Schulterblatthöhe weitere Hauptabschürfungen festzustellen, die von einem großen viereckigen Gegenstand herrühren, vermutlich von dem so genannten patibulum. Das patibulum war bei einer römischen Kreuzigung der waagerechte Balken des Kreuzes, welchen der Zum-Tode-Verurteilte selbst bis zum Hinrichtungsort auf den Schultern tragen musste.47

1.2.1.4 Hände und Füße Auf dem Abbild der vorderen Seite des Mannes sind die Arme zu erkennen: Sie liegen nach vorne leicht gebogen, die Hände auf der Scham gekreuzt, die linke Hand über der rechten. Auch hier sind Blutergüsse feststellbar, welche sich zwischen dem Handgelenk und dem Ellbogen befinden. Barbet beschreibt die Wunde an der Hand als eiförmige Stichwunde, die von einer Stichwaffe, beispielsweise ein Nagel, verursacht worden sein könnte. Besonders interessant ist an dieser Stelle deren Position, und zwar nicht in der Mitte der Handfläche, wie es die ikono- graphische Tradition gewöhnlich vermittelt, sondern erstaunlicherweise im Handgelenk. In die- sem Kontext ist das Experiment von Barbet erwähnenswert, das versucht dieses Detail zu er- klären. Er nimmt den abgeschnittenen Arm einer Leiche, hängt daran ein 45kg schweres Ge- wicht und nagelt es in der Mitte der Handfläche an eine Wand. Wenige Minute später zerreißt die Handfläche und der Arm mitsamt Gewicht fällt zu Boden. Für den Arzt ist es klar: Kein Mann konnte auf diese Weise gekreuzigt werden. Der einzige Punkt, der imstande ist, das Ge- wicht eines erwachsenen Mannes zu halten, ist der so genannte Destot-Punkt im Handgelenk. Dieser Punkt befindet sich nämlich zwischen den Knochen des Gelenkes und bietet die perfekte Möglichkeit, schwere Gewichte „aufzuhängen“, wie Barbet in einem weiteren Versuch beweist. Der Mann des Grabtuches musste auf diese Weise gekreuzigt worden sein. Das würde auch erklären, warum der Daumen des Mannes nicht sichtbar ist. Bei der Einführung eines Nagels in

47 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 101-105. 27 den Destot-Punkt wird ein Nerv beschädigt und dadurch das Zusammenziehen des Daumens verursacht.

Was die Beine angeht, so fallen auch hier die Zeichen der Geißelung, sowie einige Prellungen auf, welche auf einen oder mehrere Stürze zurückzuführen sind. Auf dem hinteren Teil des rechten Fußes ist die Wunde zu erkennen, die von einem Nagel verursacht wurde. Nach genauer Analyse stellt Barbet die Hypothese auf, dass die Füße aufeinander gelegt und mit einem ein- zigen Nagel ans stipes, den senkrechten Teil des Kreuzes, genagelt wurden. Heute bestätigt die Mehrzahl der Forscher seine Erkenntnis.48

1.2.2 Das Zeugnis der Pollen Die Fotoaufnahmen von Cordiglia Judica im Jahre 1969 werden von einer wissenschaftlichen Inspektion begleitet, mit dem Ziel, eine systematischere Untersuchung der Heilige Reliquie durchzuführen. Diese wird schließlich 1973 vom Ex-König Italiens Umberto genehmigt und zieht eine Reihe von Experten aus verschiedenen Ländern nach Turin, welche das Grabtuch drei Tage lang für Untersuchungen zur Verfügung gestellt bekommen. Einige Fasern dürfen sogar aus dem Tuch entfernt werden.

Eine erste Analyse des Stoffes verweist auf eine seltene Webetechnik, die nur im Nahen und Mittleren Osten um die Zeitenwende verbreitet war, das so genannte Fischgratmuster. Sie lässt vermuten, dass sein Ursprung im syrischen Gebiet im 1. Jahrhundert liegt.49

Zu den Untersuchungen wird auch Max Frei Sulzer eingeladen, ein Schweizer Kriminologe. Seine Aufgabe besteht darin, die Bilder des Tuches zu beglaubigen. Als leidenschaftlicher Bo- taniker beobachtet er aber Pollensporen auf dem Stoff und bittet um die Erlaubnis, eine Probe Staub von der Heiligen Reliquie zu entnehmen. Nach einer langen Identifikationsarbeit kann er Spuren von einigen Mineralien, mehreren Pilzsporen und die Sporen von 59 verschiedenen Pflanzen erkennen, wobei manche für den mitteleuropäischen Raum und für Norditalien ty- pisch, während andere in diesem geographischen Bereich unbekannt sind. Frei macht sich im Frühling auf die Reise und sammelt Pollen in verschiedenen Ländern des östlichen Mittelmee- res. Die Ergebnisse seiner Studien sind äußerst spannend. Auf dem Turiner Grabtuch kann er

48 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 111-123. 49 Vgl. Hessemann, Die stummen Zeugen, 224. 28 die Pollen zahlreicher Pflanzen aus dem Nahen Osten identifizieren. So haben auf dem Lei- chentuch folgende Pflanzen ihre Spuren hinterlassen: das Epimedium pubigerum (Socken- blume), typisch für den Bosporus, die Gegend um Konstantinopel; Steppenpflanzen wie die Hixiolirion montanum (Bergamaryllis), die Atraphaxis spinosa, die Glacium grandiflorum und die Gundelia tournefortii, typisch im Iran und in der Türkei (wo sich die Stadt Edessa befand); Wüstenpflanzen wie die Anabasis aphylla, die Reaumuria hirtella oder die Acacia albida, wel- che im Gebiet um das Tote Meer und im Jordantal verbreitet sind und zuletzt Onosma orientalis und Hyoscyamus aureus, welche in der Nähe von Jerusalem wachsen.50

Zwei israelische Forscher, Avinoam Danin, Botaniker, und Uri Baruch, Archäologe und Pro- fessor an der Jüdischen Universität in Jerusalem, bestätigen später die Arbeit des Schweizer Kriminologen und fügen weitere interessante Details hinzu. Sie beobachten, dass die Pollen der Pflanzen, welche in Palästina wachsen, zahlreich auf dem Tuch vorhanden sind und dass es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Ort gibt, wo alle diese Pflanzen gleichzeitig wachsen, und zwar in einem sehr kleinen Gebiet in Palästina, zwischen Jerusalem und Hebron.51

Die Pollenstudien spielen eine sehr wichtige Rolle in der wissenschaftlichen Debatte, um die Geschichte des Grabtuches zu rekonstruieren und sie werden von den meisten Befürwortern der Authentizität der Reliquie als Hauptbeweis verwendet, um die Abstammung des Leinens aus dem Heiligen Land zu untermauern.

1.2.3 Das Jahr 1978 und das STURP Die Ausstellung des Jahres 1978, organisiert anlässlich der vierhundert Jahrfeier des Grabtu- ches in Turin, dauert vom 26. August bis zum 8. Oktober und ist eine der am besten besuchten Ausstellungen der Heilige Reliquie. Drei Millionen und dreihunderttausend Menschen, darun- ter dreihundert Bischöfe und einundzwanzig Kardinäle, bestaunen den großen Eisenrahmen, in dem das Leinen für diesen Anlass aufgespannt ist. Auch Karol Wojtyla macht in Turin eine Zwischenstation auf seiner Reise zur Konklave nach Rom.52

50 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 129-135. 51 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 170-171. 52 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 139. 29

Entscheidend ist dieses Jahr aber für die bahnbrechenden wissenschaftlichen Studien des Tu- ches, welche durch ein aus den USA angereistes Forscherteam unerwartete und aufsehenerre- gende Ergebnisse zeitigen.

Nach der Zusammenkunft von Wissenschaftlern in Albuquerque im März 1977, entstand in Nordamerika die Idee eines interdisziplinären Forschungsprojektes rund um das Turiner Grab- tuch. Das STURP, Shroud of Turin Research Project, wird vom damaligen Kardinal Anastasio Ballestrero und vom im Exil lebenden König Umberto II umgehend genehmigt. Die amerika- nischen Wissenschaftler kommen in Turin eine Woche vor dem Ende der Ausstellung mit sie- ben Tonnen wissenschaftlicher Apparaturen an. Vom 8. Oktober 23 Uhr bis zum 14. Oktober 14 Uhr arbeiten sie pausenlos mit den neuesten Technologien, machen erneute Fotoaufnahmen und sammeln Daten. Unter den vierzig Forschern befinden sich auch einige Persönlichkeiten aus Europa wie der Schweizer Max Frei Sulze und Pier Luigi Baima Bollone und zwei Kleriker. Gonnella, Ballestreros wissenschaftlicher Berater, ist mit drei Kollegen für die technische Auf- sicht zuständig. Er erzählt: „Kein anderer Gegenstand ist archäologisch jemals so genau unter- sucht worden wie das Turiner Tuch. Zum ersten Mal wurde das Labor zum Untersuchungsge- genstand gebracht und nicht das Objekt ins Labor“.53

Die amerikanischen Forscher suchen eine Antwort hauptsächlich auf drei Fragen: 1) Woraus besteht der Abdruck auf dem Tuch? 2) Welcher Prozess führte zu seiner Entstehung? 3) Welcher Natur sind die gut sichtbaren Blutflecken?

Die dritte Frage wird von den Männern des STURPs problemlos beantwortet: Es ist menschli- ches Blut, was man auf dem Tuch feststellen kann. Schwieriger ist es allerdings für die For- scher, eine Antwort auf die ersten zwei Fragen zu geben.

53 Barberis, Il caso Sindone, 145. „Nessun oggetto archeologico era mai stato sottoposto a tante misure. Per la prima volta si usó la tecnica di portare il laboratorio al campione, anziché viceversa”. 30

1.2.4 Die Natur des Abbildes Die mikroskopische Untersuchung beantwortet schnell die erste Frage: Das Abbild ist einfach das Ergebnis eines Vergilbungsprozesses der winzigen Fasern, aus denen die Tuchfäden beste- hen.54 Gestützt von ihrer Analyse machen die Forscher eine Liste der Haupteigenschaften des Abdruckes.

1.2.4.1 Die Oberflächenbeschaffenheit Der Vergilbungsprozess fand nur an der Oberfläche des Stoffes statt und betrifft nur zwei oder drei Fasern in der Tiefe. Die verschiedenen Tönungen, die wir mit unserem Auge wahrnehmen, sind auf die unterschiedliche Dichte der vergilbten Fasern zurückzuführen.

1.2.4.2 Die Details Das Abbild des Mannes auf dem Tuch erscheint sehr detailreich. Die Forscher können auch anhand der Bilder von Giuseppe Enrie aus dem Jahre 1931 die Zeichen der Geißelung deutlich erkennen und alle dem Mann zugefügten Wunden zählen.

1.2.4.3 Thermische Eigenschaften Man geht davon aus, dass der Abdruck thermostabil ist, denn die Vergilbung des Stoffes neben den Brandflecken zeigt die gleichen Eigenschaften wie die anderen Teile des Tuches. Die Fär- bung ist praktisch überall gleich.

1.2.4.4 Pigmente Auf dem Grabtuch sind keine Spuren von Pigmenten oder Farbstoffen zu erkennen. Diese Be- obachtung untermauert die Erkenntnis, dass die Reliquie auf keinen Fall das Werk eines geni- alen Künstlers sein kann.

1.2.4.5 Dreidimensionalität Die Intensität der Färbung ändert sich in den verschiedenen Teilen des Abbildes. Anhand dieser Beobachtung erkennen die Forscher des STURP etwas Unglaubliches: Die Distanz zwischen Körper und Tuch ist mathematisch so präzise definierbar, dass sie eine perfekte Rekonstruktion des Mannes auf dem Heiligen Leinen in 3D ermöglicht (was normalerweise mit keinem hand- gemachten Gemälde möglich ist).

1.2.4.6 Negativ Das Abbild ist ein Negativ, ein äußerst seltenes Phänomen.

54 Vgl. Stevenson, Verdetto, 90. 31

1.2.4.7 Maltechnik Bei der Beobachtung des Abdruckes und dessen Farben kann man keine „Richtung“ erkennen. Keine Pinselstriche fallen auf.

1.2.4.8 Chemische Stabilität Die gelbe Farbe, in der sich das Antlitz des Mannes zeigt, kann man nicht lösen, verfärben oder verändern. Keine chemische Substanz wirkt auf das Abbild.

1.2.4.9 Reaktion auf dem Wasser Das Grabtuch kam im Laufe seiner Geschichte öfter mit Wasser in Kontakt, insbesondere wäh- rend des Brandes in Chambery im Jahre 1532. Anscheinend hat das Abbild keinen Schaden davongetragen.

Diese von den Forscher aufgelisteten Eigenschaften und Merkmale des Gegenstandes werden in der Folge im Kontext unterschiedlicher Theorien diskutiert, welche eine Antwort auf die zweite Frage der Wissenschaftler zu geben versuchen.55

1.2.5 Über die Entstehung des Abbildes Wie das Abbild auf dem Stoff entstanden ist, stellt wahrscheinlich die spannendste Frage und gleichzeitige das größte Geheimnis dar. Die unterschiedlichsten Theorien wurden im Laufe der Jahrhunderte formuliert und viele Versuche durchgeführt, um ein ähnliches Bild zu reproduzie- ren.

Die Forscher des STURP teilen in erster Linie diese Theorien in zwei Hauptgruppen: Die erste Gruppe von Hypothesen vertritt die Ansicht, dass das Abbild auf dem Grabtuch von menschli- cher Hand gemacht wurde; die zweite Gruppe von Hypothesen will das Abbild auf einen natür- lichen Prozess zurückführen.

Folgende Theorien werden im Rahmen des STURP formuliert:

1.2.5.1 Das Abbild wurde gemalt Das hat man jahrhundertelang geglaubt. Diese Idee wurde zum ersten Mal von Bischof Pierre d’Arcis im Jahr 1389 in Lirey vertreten und oft von katholischen Intellektuellen im 19. Jahr- hundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts übernommen. Die Untersuchungen unter dem

55 Vgl. Stevenson, Verdetto, 79-80. 32

Mikroskop zeigen aber, dass sich auf dem Grabtuch viele Fremdkörper befinden, wie Insekten- teile, Pollen, Wachs oder Wolle, aber keine Spuren von Farbe. Das Abbild ist nicht durch die Applikation von Pigmenten, sondern durch die Degradation der Zellulose im Stoff entstanden.56

1.2.5.2 Modifikation durch Chemikalien Nach dieser Theorie entstand das Abbild durch Einwirkung von chemischen Stoffen, wie zum Beispiel Säuren, welche dann durch Wasser entfernt wurden. Samuel Pellicori, Wissenschaftler des Forschungszentrums von Santa Barbara (USA), versuchte diesen Prozess im Labor zu re- produzieren. Er erwärmte Stoffproben bei 150°, im Ofen beschmierte sie mit Hautsekretionen, Olivenöl und Myrre und ließ sie drei Stunden darin „backen“. Dieser Versuch kann beweisen, wie bestimmte Stoffen unter bestimmten Bedingungen die Zellulosefasern verändern können, kann aber nichts darüber aussagen, wie ein menschlicher Körper so perfekt in seinen Proporti- onen entstehen konnte (ähnlich der Dampftheorie von Paul Vignon).57

1.2.5.3 Das Abbild ist eine Verbrennung Schon am Anfang der Untersuchungen dominiert diese Hypothese unter den Forschern. Die Studien des STURP bestätigen diese Hypothese, trotzdem ist die Frage, wie das Abbild ent- standen ist, nicht vollständig beantwortet. Ray Rogers, Chemiker des National Laboratory von Los Alamos, hatte schon in den vergangenen Jahren vorgeschlagen, dass das Abbild durch eine rapide Erwärmung, eine Art Explosion von Energie, entstehen konnte. Die Forscher des STURP erklären am Ende ihrer Untersuchungen, dass diese Theorie nicht vertretbar sei, denn welche Quelle könnte solche Energie überhaupt produzieren?58

Manche Befürworter der Authentizität des Grabtuches wagen sogar die Hypothese zu formu- lieren, dass die Auferstehung, von der die Evangelien berichten, diese Art von Energieexplosion sein könnte. Selbst Giulio Fanti, Assistenzprofessor für mechanische und thermische Forschung am Institut für Ingenieurwesen an der Universität Padua, scheut sich nicht als gläubiger Christ und Wissenschaftler darüber „laut“ nachzudenken. Tatsache ist aber, dass die zweite Frage der STURP-Forscher bis heute unbeantwortet bleibt.

56 Vgl. Stevenson, Verdetto, 92-95. 57 Vgl. Stevenson, Verdetto, 98-99. 58 Vgl. Stevenson, Verdetto, 104-107. 33

2 Eine geheimnisvolle Vergangenheit

2.1 Zurück zu den Anfängen Das Turiner Grabtuch bedeutet eine echte Herausforderung für die Forschung, nicht nur im wissenschaftlichen Bereich, sondern auch aus einer historischen Perspektive. Das Syndon, wie schon im ersten Kapitel erwähnt, taucht plötzlich in Frankreich in der Mitte des 14.Jahrhunderts auf. Von diesem Zeitpunkt an ist seine Existenz mehrfach dokumentiert und für alle unbestreit- bar. Die wissenschaftlichen Studien weisen darauf hin, dass es kein Werk eines mittelalterli- chen Künstlers ist, sondern ein echtes Grabtuch, in dem höchstwahrscheinlich die Leiche eines Gekreuzigten eingehüllt wurde. Es ist aber allgemein bekannt, dass es diese Art der Tötung größtenteils nur in der römischen Zeit gab. Außerdem lassen andere Elemente, wie die Pollen- untersuchungen oder die Stoffanalyse, kaum Zweifel an einer zeitlich früheren Datierung dieser Reliquie als das 14.Jahrhundert zu. Den Historikern aber stehen keinerlei Hinweise auf seine Existenz vor dem 14. Jahrhundert zur Verfügung. Aus dem ersten Jahrtausend kennen wir aber Texte und Dokumente, die von einem Abbild Christi berichten, welches als das wahre Grabtuch Jesu verehrt wurde. Ob dieses Leichentuch mit dem Turiner Grabtuch identisch ist oder nicht, darüber streiten sich die Experten. Eine Antwort auf diese Frage zu geben ist schwer. Die his- torischen Fakten um das Abbild Christi vermischen sich nicht selten mit zahlreichen Legenden und so bedeutet eine ernsthafte Analyse der offiziellen Dokumente für die Wissenschaftler oft eine Sache reiner Interpretation.

Der geschichtliche Weg, den die Befürworter für die Authentizität des Turnier Grabtuches re- konstruiert haben, klingt äußerst eindrucksvoll und einnehmend, soll aber doch mit Vorbehalt betrachtet werden.

Wir machen nun einen Sprung zurück in die Zeit der Anfänge, wo alles beginnen hätte können.

2.1.1 Die ersten Jahrhunderte Ein erster Ausgangspunkt für unsere Recherche befindet sich im Johannes Evangelium. Die Auferstehung Jesu wird wie folgt beschrieben: „Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab entfernt worden war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und den Jüngern, die Jesus liebten und sagte zu ihnen: Man hat den Herrn aus dem Grab genommen und wir wissen nicht, wohin man

34 ihn gelegt hat. Da begaben sich Petrus und die anderen Jünger dorthin und kamen zum Grab; sie machten sich beide zusammen auf den Weg dorthin, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als erster am Grab an. Er beugte sich nach unten und sah die Leinenbin- den liegen, ging aber nicht in die Bestattungsstätte hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Kopf Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusam- mengebunden daneben an einer besonderen Stelle. Da ging auch der andere Jünger, der zuerst an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte.“ (Joh. 20,1-8).

Informationen über das Leichentuch Jesu oder das Leinen, welches im Grab nach der Auferste- hung zurückgeblieben ist, fehlen in den Berichten der Synoptiker komplett. Was weiß man also sonst noch aus den Quellen dieser Zeit?

Es ist bekannt und historisch dokumentiert, dass Kaiser Konstantin und seine Mutter Helena im 4. Jahrhundert nach Jerusalem reisten, um die Orte kennen zu lernen, wo Jesus gelebt hatte. Der Bischof der ersten jüdisch-christlichen Gemeinde kannte all diese Orte gut und so begannen Konstantin und Helena die ersten archäologischen Ausgrabungen, besonders am Golgota und am Grab, wo sie dann eine Basilika errichteten. Es wurde festgestellt, dass die Grabkammer genau so aussah, wie sie Johannes in seinem Bericht beschreibt. Neben dem Grab fand man eine alte Wasserzisterne mit übereinanderliegenden schweren Balken und alten Nägeln. Dies- bezüglich schrieb der Kirchenvater Kyrill von Jerusalem (313-386), dass man zur Zeit Kon- stantins in Jerusalem das Holz des Kreuzes fand.59

Was aber ist mit dem Grabtuch? Wieso wurde es nicht von Kyrill erwähnt? Weil es hier nicht gefunden wurde? Weil es zu dieser Zeit nicht mehr existierte?

Im Hebräer-Evangelium kann man eine erste Antwort, oder wenigstens eine erste Spur zu einer Antwort finden. Dieses berichtet, dass das Grabtuch, das Jesus nach seinem Tod einhüllte, dem Apostel Petrus zur Aufbewahrung übergeben wurde. Gleichzeitig aber wird es als Träger der religiösen Unreinheit bezeichnet. Könnte vielleicht dieses Phänomen der Unreinheit die Be- gründung für das Schweigen der ersten Jahrhunderte bezüglich dieser Reliquie sein? Sicherlich wurde ein mit Blut verschmutztes Tuch bei den Jüngern und den ersten Christen als nichts

59 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 104-108. 35

Positives gesehen, was in der jüdischen Tradition begründet ist. Außerdem erinnerte es an die Kreuzigung Jesu, eine damals nur für die schlimmsten Verbrecher vorbehaltene Todesart.60

Man kann also vermuten, dass das Grabtuch Jesu gleich nach seinem Tod und seiner Auferste- hung von einigen Jüngern oder von einer neu entstandenen christlichen Gemeinde aufbewahrt wurde, und dass der Aufbewahrungsort aufgrund seiner negativen religiösen Behaftung geheim blieb.

Als im Jahr 66 n.Ch. der erste jüdische Aufstand gegen die römische Besatzung ausbrach, flo- hen viele Christen aus Jerusalem. Ein christlicher Historiker, Eusebius von Caesarea, schrieb 300 Jahre später, die Judenchristen hätten damals durch ein Orakel die Weisung erhalten, die Hauptstadt zu verlassen und in ein Land jenseits des Jordans zu ziehen, in die Stadt Pella, dort- hin, wo sie jenseits des Machtbereichs der Römer waren,. Dieses Ereignis wird in einem Doku- ment vom Konzil von Nicäa bestätigt. Weil die Judenchristen angeklagt wurden, beim Aufstand keine Partei ergriffen zu haben, flohen sie aus der Hauptstadt Israels; das war zwei Jahre vor ihrer Zerstörung, wobei sie ihre kostbarsten Bilder und Gegenstände (möglicherweise auch das Grabtuch des Herrn) mitnahmen. Der einzige mögliche Fluchtweg führte damals von Jerusalem zum Toten Meer, wo die essenischen Mönche lebten.61

Mit dem zweiten jüdischen Krieg, sechzig Jahre später, mussten die Menschen der vielen ju- denchristlichen Gemeinden wieder fliehen. Kaiser Hadrian wollte unbarmherzig gegen Juden und Christen vorgehen. Deshalb entschieden sich viele Judenchristen einen Zufluchtsort im Norden zu suchen, und zwar im Reich Osrhoene, ein vom römischen Reich im Westen und vom persischen Reich im Osten unabhängiges Gebiet. In ihrer Hauptstadt Edessa, tausend Kilometer nördlich von Jerusalem, herrschte eine semitische Dynastie, man sprach Aramäisch und es be- fand sich dort ein wichtiges Zentrum jüdischer Studien.62

Wenn das Grabtuch Jesu von einer der ersten judenchristlichen Gemeinden aufbewahrt wurde, dann klingt die Hypothese plausibel, dass es mit ihnen die Reise von Jerusalem über das Tote Meer bis nach Edessa unternahm. Die Pollenuntersuchungen vom Schweizer Max Frei Sulze würden diese Reise bestätigen. Trotzdem bleibt es nur eine Hypothese, für die keine histori- schen Beweise vorhanden sind.

60 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 156-158. 61 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 151-153. 62 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 158-162. 36

2.1.2 In der Stadt Edessa In der Zeit der Unterwerfung Jerusalems durch Hadrian und mit der Ankunft emigrierter Ju- denchristen in Edessa, heute Sanliurfa, taucht ein Tuch auf, das unter den Historikern unter dem Namen „Bild von Edessa“ bekannt ist. Das Grabtuch, auf dem früher nur Blutflecken zu erken- nen waren, zeigte nun das durch die Vergilbung entstandene Bild des Gekreuzigten. Das macht das unreine Bestattungstuch zum Eikon Acheiropoieton, zum nicht von Menschenhänden ge- machten Bild.63

212 n.Chr. eroberte der römische Kaiser Caracalla die Stadt Edessa und machte sie zu einer römischen Militärbasis, der colonia edessaenorum. Die christlichen Gemeinden mussten aus Angst vor Verfolgungen in den Untergrund gehen. Manche Dokumente aus dieser Zeit berich- ten, dass ein Bischof das Aicheiropoieton in eine Nische der Stadtmauer einmauern ließ, um es vor den römischen Besatzungssoldaten zu schützen. Die Zeit verging, Kriege um die Stadt und Schlachten zwischen Römern und Persern folgten aufeinander.64

Im Jahre 544 wurde Edessa vom persischen König Chosrau I Anuschirwan belagert. Ein großer damaliger Historiker aus Antiochien, Schriftsteller und kaiserlicher Präfekt, Evagrios Scholas- tikos erzählt, dass dem Bischof Eulalius im Traum das Tuch in einer Nische der Stadtmauer erschien. Nachdem er das Tuch aus seinem steinernen Versteck „befreien ließ“, wurde es in einer Prozession durch die Stadt geführt, bis hin vor die Befestigungsmauer. Plötzlich änderte der Wind seine Richtung und im persischen Lager brach plötzlich ein Feuer aus, welches die Belagerung aufhob. Er nannte das Bild auf dem Tuch theoteuktos eikon, das bedeutet „das von Gott gemachte Bild“. Infolge dieser Ereignisse unterzeichnete Kaiser Justinian einen Waffen- stillstand und ließ eine große Kirche, die Hagia Sophia, für den jetzt verehrten Gegenstand bauen.65

63 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 63-164. 64 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 165. 65 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 168-171. 37

2.1.3 Abgar: Eine berühmte Legende Um die Frage, wie das Grabtuch nach Edessa kam, rankt sich eine sehr bekannte Legende. Man kann, um präziser zu sein, von mehreren Legenden sprechen, die sich aus der einen ursprüng- lichen entwickelt haben.

Protagonist aller Versionen ist Abgar v. Ukkama, der zurzeit Jesu in der Stadt Edessa herrschte. Die ersten Dokumente der legendären Erzählung finden wir in der Historia ecclesiastica, der Kirchengeschichte von Eusebius von Caesarea, zwischen 311 und 325 niedergeschrieben.

“König Abgar, welcher ruhmreich über die Völker jenseits des Euphrat regierte und an einer schweren körperlichen, mit menschlicher Kraft nicht zu heilenden Krankheit litt, wandte sich, als er von dem be- rühmten Namen Jesus und von seinen allgemein beglaubigten Wundern hörte, in einem Briefe hilfeflehend an ihn mit der Bitte, geheilt zu werden. Auf sein Verlangen zu kommen, ging Jesus damals allerdings nicht ein, doch würdigte er ihn eines eigenen Briefes, in welchem er versprach, einen seiner Jünger zu ihm zu schicken, um ihn von der Krankheit zu befreien und zugleich ihm und allen seinen Angehörigen das See- lenheil zu geben.”66 Später, so erzählt die Legende weiter, wurde das Tuch vom Apostel Judas Thaddäus, einem der Siebzig, zum König Abgar gebracht, der ihn heilte und das Christentum in Oshroene verbrei- tete.

In dieser ersten Version ist noch keine Rede von einem Bild von Jesus. Davon wird erst in der Doctrina Addai berichtet, einem christlich-syrischen Text aus dem 5. Jahrhundert, in welchem der Botschafter Hanan, königlicher Archivar und Maler, zu Jesus gesandt wird und von ihm ein Portrait malt.

„Als der Archivar Hanan sah, wie Jesus gesprochen hatte, und da er der königliche Maler war, begann er das Bild Jesu mit besonderen Farben zu malen, und brachte es zu seinem Herrscher Abgar. Als König Abgar das Bild sah, nahm er es mit großer Freude an und stellte es mit großer Ehrerbietung in einem der Räume des Palastes auf”.67 Man vermutet, dass diese ersten zwei Texte voneinander unabhängig entstanden sind, aber der gleichen Tradition angehörten.

66 Eusebius Caesariensis, Historia ecclesiastica, I,13,2-5, zitiert nach: Nicolotti, Dal Mandilion di Edessa, 9. „Il re Abgar, nobilmente regnante sulle genti al di lá dell’Eufrate, con il corpo consunto da un male terribile ed incurabile con mezzo umano, quando venne a conoscenza del celebre nome di Gesú e dei suoi prodigi da tutti concordamente attestati gli si rivolse supplice inviando una lettera tramite un corriere, chiedendogli la libera- zione dalla malattia. Ma questi, pur non avendo allora prestato ascolto a lui che domandava, lo degnó almeno di una lettera personale, promettendogli che gli avrebbe inviato uno dei suoi apostoli per la guarigione della sua malattia e, al contempo, per la salvezza sua e di tutti suoi congiunti” 67 Doctrina Addai, pp4-5, zitiert nach: Nicolotti, Dal Mandilion di Edessa, 12. „Quando Hanan l’archivista vide che Gesú gli aveva parlato in quel modo, siccome era il pittore del re, prese e dipinse l’immagine di gesú con pigmenti scelti e la portó con sé al re Abgar suo sovrano. E quando Abgar vide l’immagine, la accolse con grande gioia e la collocó con grande onore in una delle stanze del palazzo.” 38

Dieselbe Erzählung, noch weiter ausgearbeitet, finden wir im 6. Jahrhundert in den Acta Marmaris.

„Was tat also der König Abgar? Er kannte fähige Maler. Diesen befahl er, gemeinsam mit seinen Gesandten zu Jesus zu gehen, ein Bild vom Antlitz unseres Herrn anzufertigen und ihm zu bringen, Er wollte das Antlitz Jesu so sehen, als würde er ihm persönlich begegnen. Es gelang ihnen jedoch nicht, ein Abbild des verehrenswürdigen menschlichen Anlitzes unseres Herrn anzufertigen. Als Jesus in seiner göttlichen Weis- heit die Liebe sah, die Abgar ihm entgegenbrachte, und wie die Maler sich vergeblich mühten, ein Bild von ihm anzufertigen, nahm er, der Schöpfer der Welt, ein Tuch und drückte es an sein Gesicht. Das Abbild zeigte ihn, wie er aussah”.68 So sehen wir, wie der Briefwechsel zwischen Jesus und König Abgar plötzlich zu einem Bild führte, wobei die Schutzfunktion, welche der ursprüngliche Text, der Brief Jesu, hatte, auf sein Bild übergeht. Der Tradition nach konnte eben dieses Bild das verehrte Abbild auf dem Tuch von Edessa sein, das die Stadt aus der persischen Belagerung rettete.69

Die Zeit, in der sich das Gemälde von Hanan in das mächtige Acheiropoieton verwandelte, geht vom Jahre 550 n.Chr. bis zum Ende des gleichen Jahrhunderts, als sich im byzantinischen Raum mehrere Legenden über solche Bilder verbreiteten.70

Manche Autoren aber wollen die Geburtsstunde der Legende des Bildes Jesu und des Acheiro- poietons viel früher ansetzen und meinen, dass die ersten Versionen schon am Anfang des 4. Jahrhunderts bekannt waren. Eusebius von Caesarea aber habe sie aufgrund seiner Abneigung gegen die Bilderverehrung im ikonoklastischen Kontext nie erwähnt. In zwei Passagen des Tex- tes Vita di Daniele di Galas, Das Leben von Daniel aus Galas, vom Schriftsteller und Dichter Giacomo di Sarug (450-520) könnte man eine Bestätigung dieser Vermutung erkennen:

Danach machten sie sich auf den Weg nach Edessa, um den Segen vom Bild Christi zu erhalten, das sich dort befand. Sie wollten noch die Einsiedler besuchen, die auf dem Berg von Edessa wohnen. 71 Daraus wird es klar, wie vielfältig die Zeichen sind, welche auf die mögliche Existenz des Turi- ner Grabtuches in den ersten Jahrhunderten hinweisen und wie schwierig es ist, aufgrund der

68 Acta mar Maris, 3, zitiert nach: Nicolotti, Dal Mandilion di Edessa, 15. „Che cosa fece, dunque, il re Abgar? Vide dei pittori abili e ordinó loro di andare con i suoi ambasciatori, di pit- turare e riportare con un dipinto il volto di nostro Signore, perché egli potesse godere della sua immagine come (sarebbe avvenuto) nell’incontrarlo. Andarono dunque i pittori con gli ambasciatori del re, eppure non riusci- vano a pitturare la pittura della venerabile umanitá di nostro Signore, Nostro Signore, allora, quando nella sua divina conoscenza vide l’amore di Abgar nei suoi confronti, avendo visto che i pittori si affaticavano per riuscire a pitturare un’immagine per come (egli) era, ma non riuscivano, prese un telo e lo premette sul proprio volto, il vivificatore del mondo, e (l’immagine) risultó come (egli) era”. 69 Vgl. Nicolotti, Dal Mandilion di Edessa, 17. 70 Vgl. Nicolotti, Dal Mandilion di Edessa, 19. 71 Hanna Dolabani, Manuskript 8.273 der Kirche der Vierzig Märtyrer, zitiert nach: Nicolotti, Dal Mandilion di Edessa, 24-25. „Allora, dopo queste cose, si misero in viaggio verso la cittá di Edessa, soprattutto per esser benedetti dall’im- magine di Cristo che si trova in quel luogo e per far visita ai solitari che sono sulla montagna di Edessa” 39 verschiedenen Kontexte (jüdische Kultur, Geschichte oder philosophische Auseinandersetzun- gen) zu einer richtigen Deutung der verschiedenen Autoren und ihrer Dokumente zu gelangen. Außerdem streiten sich viele Forscher und Historiker, ob man die Turiner Reliquie mit dem Acheiropoieton von Edessa identifizieren kann, eine Debatte, auf die wir später zurückkommen werden.

2.1.4 Das Mandylion von Konstantinopel 638 n.Chr. wird Edessa von den Arabern belagert und nach Verhandlungen erobert. Die Kirche, in der das Tuch aufbewahrt ist, bleibt trotz des Krieges unversehrt, der christliche Glaube darf weiter praktiziert werden, religiöse Zeichen und Symbole sind wie überall im arabischen Raum üblich, allerdings in der Öffentlichkeit verboten. So kann der Kult um das Tuch nur mit größter Zurückhaltung weiter gepflegt werden.

In dieser Zeit taucht ein neuer Begriff für das Tuch von Edessa auf: Es wird nun mandil genannt, das aus dem Arabischen kommt und so viel wie Tuch bedeutet. Im Griechischen heißt das Wort mandylion.

942 greift der Kaiser von Konstantinopel mit seinem General Kurkuos die Stadt an. Der Kalif macht Friedensvorschläge und Roman I verlangt, so wie es vom Araber Al Masudi geschrieben hinterlassen, nur eine Sache: Das Tuch, auf dem das Gesicht Christi abgebildet ist. Für die kostbare Reliquie wird den Arabern in Edessa vieles versprochen: der Rückzug aller byzantini- schen Truppen, die Zusage die Stadt nie mehr anzugreifen, weiters zwölftausend Silberdenare und die Freilassung von dreihundert Gefangenen.72

Das Mandylion erreicht Konstantinopel so am 15. August 944, wo es von der kaiserlichen Fa- milie feierlich empfangen wird und weswegen der Patriarch Theophylaktos die Tore der Hagia Sophia öffnet. Ein Jahr später lässt der neue Kaiser Konstantin VII eine Goldmünze mit dem Bild des Tuches prägen und macht den 16. August zum offiziellen Gedenktag des Mandylions.73

Von der Präsenz des Heiligen Leinens in der byzantinischen Hauptstadt haben wir zahlreiche Dokumente und Zeugnisse. Der Historiker Johannes Kinnamos (1143-1185) berichtet, dass während des ersten Kreuzzuges (1147) der Kaiser Manuel I Komnenos Ludwig VII, dem König

72 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 174-180. 73 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 26. 40

Frankreichs, auf dem Weg ins Heilige Land die Bestattungstücher Jesu zeigt, welche in der Marienkirche im Blachernenpalast aufbewahrt sind.

In einem in der Nationalbibliothek von Budapest aufbewahrten Manuskript wird von einem Besuch des Kaisers von Konstantinopel durch eine ungarische Delegation berichtet. Der Text, Codex Pray genannt, ist begleitet von zwei Darstellungen: Auf der einen ist die Salbung Jesu nach der Kreuzigung und dessen Niederlegung ins Grab zu sehen; auf der zweiten die Entde- ckung des leeren Grabes durch die drei Frauen. Das Bestattungstuch, auf das im zweiten Bild ein Engel mit den Finger deutet, zeigt große Ähnlichkeiten mit dem Turiner Grabtuch. Man kann wohl vermuten, dass die Botschafter aus Ungarn das Heiligen Leinen zu sehen bekommen haben und es so wahrheitsgetreu darstellen konnten.74

Im darauffolgenden Jahr bekommt das Mandylion erneut Besuch: Im Jahr 1151 kann Abt Nicholas Soemundarson aus Island die verehrte Reliquie bestaunen, von der er sich genaue Notizen macht. Sie sind heute noch bekannt.75

Auch ein gewisser Robert de Clary, ein Ritter aus Frankreich, darf in dem prunkvollen Blachernenpalast das Tuch sehen, das er als Sydoine bezeichnet.76

Die letzten Dokumente über den Aufenthalt des Mandylions in Konstantinopel stammen aus der Zeit vor dem Jahre 1204: Am 12. April dieses Jahres wird die byzantinische Hauptstadt durch die Kreuzzüge vollkommen geplündert. Die Chroniken der Zeit erzählen von unvorstell- baren Massakern und schrecklicher Gewalt. Eine in der Nationalbibliothek in Kopenhagen auf- bewahrte Handschrift berichtet über Robert de Clary und erzählt, dass sich in Konstantinopel unter anderem auch eine Kirche befand, wo das Grabtuch unseres Herren Jesus Christus aufbe- wahrt war. Niemand wusste angeblich, was mit dem Syndon nach der Plünderung der Stadt im Jahr 1204 passiert ist.

Und in einem von Theodoros I. Angelos Komnenos an Papst Innozenz III gerichteten Brief können wir lesen, dass die Venezianer und die Franzosen all die Schätze, Gold, Silber und Elfenbein und die heiligen Reliquien stahlen, unter anderem auch das Tuch, in das unser Herr nach seinem Tod und vor seiner Auferstehung gehüllt war. Bekannt ist auch, dass all diese kostbaren Gegenstände in Venedig, in Frankreich und an anderen Orten versteckt waren, das Heilige Leinen aber nach Athen gebracht worden ist. Empört und entsetzt über die Plünderung

74 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 29-30. 75 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 211-212. 76 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 226. 41 der Stadt und die Entweihung ihrer zahlreichen Kirchen, droht der Papst allen Beteiligten mit der Exkommunikation. Kein Wunder also, so meinen manche Grabtuchexperten, dass ab die- sem Zeitpunkt das Heilige Tuch wie vom Erdboden verschlungen verschwunden isWie das Syndon letztendlich Frankreich und Lirey erreicht hat, ist weder sicher, noch historisch doku- mentiert. Darüber sind verschiedene Theorien entstanden, im Folgenden möchte ich die ver- breitetsten erwähnen.

Die spannendste von allen ist auf jeden Fall die so genannte Tempelrittertheorie, welche vom englischen Historiker vorgeschlagen wurde. Das Grabtuch taucht im Jahre 1359 im Besitz von Geoffroy de Charny auf, ein Name, der sehr dem Nehmen Geoffroy de Charnay ähnelt, Hauslehrer für den Tempelritterorden in der Normandie. Angenommen die zwei waren verwandt, so könnte man plausibel annehmen, dass das Heilige Leinen durch den mächtigen Orden seinen Weg von Konstantinopel nach Frankreich gefunden hat. Um diese Theorie zu untermauern, erklärt Ian Wilson, dass die Tempelritter ein geheimnisvolles Gesicht mit Bart und langen Haaren verehrten, von dem in der Zeit des Zweiten Weltkrieges eine Darstellung auf einer Holztafel aus dem 13.-14.Jahrhundert in Templecombe (England), ein bekanntestes Tempelritterzentrum, aufgefunden wurde. Das männliche Gesicht erinnert in allen Einzelheiten an das Gesicht des Mandylions.

Die zweite Hypothese verfolgt eine andere Spur. 1247 überlässt Balduin II, auch Namur ge- nannt, der letzte in Konstantinopel amtierende Kaiser des Lateinischen Reichs, viele Reliquien dem König von Frankreich, Ludwig IX, dem zukünftigen Heiligen Ludwig. In der Liste der heiligen Gegenstände soll auch ein Teil des Syndon gewesen sein. Es könnte während der Kreuzzüge nach Frankreich gekommen sein. Dem Turiner Grabtuch, wie wir wissen, fehlen manche Teile.

Eine dritte Möglichkeit sieht Geoffroy de Charny in der Hauptrolle: Er soll am 24. Juni 1346 an der so genannten Schlacht von Smyrna im Rahmen einer Expedition gegen die Türken mit Humbert II (Viennois) teilgenommen habe. Da soll er das Grabtuch bekommen und nach Frank- reich mitgenommen haben.

Die letzte, für die meisten glaubwürdigste Hypothese, geht in die Zeit des vierten Kreuzzuges zurück, als Othon de la Roche, Herr von Burgund, nach der Plünderung von Konstantinopel zum Stadtherzog gemacht wird. Er wohnt, zufällig oder nicht, in dem Blachernen Stadtviertel, wo das Mandylion das letzte Mal gesichtet wurde. Jeanne de Vergy, zweite Frau von Geoffry, Herr in Lirey, stammt direkt von ihm ab. Als Beweis gilt das schon erwähnte, in der Seine

42 gefundene Medaillon, auf dem das Turnier Grabtuch neben zwei Wappen dargestellt ist, den Wappen der Familien de Vergy und de Charny.77

77 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 35-39. 43

3 Die geistige Erfahrung

3.1 Mehr als ein archäologischer Fund Sich mit dem Turiner Grabtuch auseinander zu setzen bedeutet in erster Linie, es mit einem archäologischen Fund zu tun zu haben, welchen viele Wissenschaftler aus der ganzen Welt zu erklären und zu analysieren versucht haben. Es gibt aber andere Aspekte dieses außergewöhn- lichen Gegenstandes, die wir in dieser Arbeit nicht übersehen können. Das Grabtuch ist für Millionen von Menschen mehr als ein Denkmal der vergangenen Zeit: Es ist ein heiliger Ge- genstand, mit einer starken religiösen Bedeutung und einer enormen Anziehungskraft. Schon in den 70er Jahren, als die ersten großen wissenschaftlichen Untersuchungen im Rahmen des STURP stattgefunden haben, sprach man in der Öffentlichkeit vom Phänomen Syndon. Im Vor- dergrund stand die große Debatte um die Authentizität dieses Fundes, aber auch um die Be- obachtung der emotionalen Implikationen dieser von unzähligen Christen verehrten Reliquie.

Es schien schon damals deutlich, dass ein objektiver Zugang zu diesem Gegenstand unmöglich ist. Die Reaktionen auf die Ergebnisse der amerikanischen Forscher teilten die Öffentlichkeit in zwei divergente Gruppierungen, besser gesagt in drei. Auf einer Seite standen die Misstrau- ischen, die Kritischen: Sie waren diesem Phänomen gegenüber feindlich gesinnt. Meistens stan- den diese Menschen der Religion und Kirche sehr distanziert gegenüber. Auf der anderen Seite waren all die Gläubigen zu finden, welche das Turiner Grabtuch als eine heilige Reliquie ver- ehrten. Für Christen besaß sie fast einen höheren Wert als die Bibel und die kirchenamtliche Position der Kirche. Zwischen diesen zwei Extremen gab es eine dritte Gruppe: Es handelte sich um viele Christen, meistens evangelische, aber auch progressive Katholiken, die in dieser Debatte eine kritische Haltung zeigten. Sie meinten, das Grabtuch lenke die Gläubigen nur vom echten Kern des christlichen Glaubens ab und sie rechtfertigten ihre Position mit der Tatsache des Missbrauchs der Reliquien innerhalb der Kirchengeschichte.78

Warum ist es so schwer dem Turiner Grabtuch neutral zu begegnen und es objektiv zu bewer- ten? Weil es hier um etwas Religiöses geht. Die Behauptung oder sogar nur die Vermutung, dass in diesem Tuch wirklich die Leiche Jesu nach seinem Tod am Kreuz eingehüllt war und dass das Abbild durch ein unerklärliches Phänomen wie das einer hypothetischen Auferstehung entstanden wäre, könnten entscheidende Konsequenzen nach sich ziehen. Glaube und Religion sprechen eine Person auf einer emotionalen Ebene an, provozieren und verlangen nach einer

78 Vgl. Stevenson, Verdetto, 11-13. 44

Entscheidung. Der wissenschaftliche Beweis, dass Jesus tatsächlich vom Tode auferstanden ist, könnte die Lebenseinstellung vieler Menschen in Frage stellen und in diesem Sinn ziemlich unangenehm sein. Für andere aber, die sowieso an Christus glauben und mit ihm durchs Leben gehen, bedeutet das Abbild auf dem Heiligen Leinen eine Art geistiger Nahrung, eine Quelle der Kraft und der Hoffnung. Die stark geprägte spirituelle Dimension dieser Reliquie weist über das archäologische Interesse hinaus und äußert sich in der großen Zahl an Gläubigen, die das Turiner Grabtuch verehren.

Franco Garelli hat im Jahr 1978 eine interessante Analyse der Besucher der damalige Ausstel- lung gemacht und hat dabei 2000 Pilger und 400 Busfahrer am Ausgang des Domes befragt. In seinem Buch “Il volto di Dio”, „Das Gesicht Gottes“, erschienen 1981, berichtet er von diesen Gesprächen und beschreibt die Betroffenheit der Menschen, welche sich oft von diesem Abbild, von diesen Zeichen eines schrecklichen Leidens so stark angesprochen fühlen. Niemand kann gleichgültig bleiben. Wer an die Authentizität dieses Tuches glaubt, sieht sich in das Mysterium des Todes und der Auferstehung Jesu direkt hineingenommen. Wer an der Echtheit zweifelt, muss trotz allem die Ähnlichkeiten zwischen Abbild und der Leidensgeschichte der Evangelien anerkennen. Auch wer keiner Religion oder Konfession angehört, zeigt sich meistens vom Drama dieses Menschen tief berührt.

In allen Fällen bedeutet der Besuch des Turiner Grabtuches eine tiefe menschliche Erfahrung, welche Fragen ohne Antworten aufwirft und zur Stille, zur Andacht und zur persönlichen Re- flexion einlädt. Natürlich gibt es Pilger, die enttäuscht nach Hause zurückkehren, weil sie ein schärferes Bild erwartet hatten oder dann gibt es andere, meistens Protestanten, die Verehrung und Pilgereisen nicht verstehen können. Ein Waldenser Pastor erklärte zum Beispiel, dass nur eine Kirche, die den Sinn der Anwesenheit des lebendigen Christus verloren hat, zur Grabstätte pilgert, um die Zeichen seines (eigenen) Todes zu suchen. Viele aber haben ihre Begegnung mit dem Grabtuch mit folgenden Worten ausgedrückt: Ein unsagbares Gefühl, ein wunderbarer Eindruck, oft auch mit Angst und Schrecken, ja fast mit körperlichen Schmerzen verbunden. „Ich habe verstanden, dass es etwas Übernatürliches gibt“. „Je mehr ich es anschaue, desto geringer wurde für mich die Distanz zwischen Himmel und Erde“. „Ich habe in mir gesagt, ich glaube“. „Der Ausdruck des Gesichtes ist unaussprechlich“. „Jetzt weiß ich, dass mein Retter lebt“ oder „Ich habe mich klein vor solcher Große gefühlt.“79

79 Vgl. Garelli, Franco: Il volto. Dal 1978 ad oggi, in: http://www.deho- niane.it:9080/komodo/trunk/webapp/web/files/riviste/archivio/01/199810342a.htm (abgerufen am 21.10.2015). 45

Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass auch Gläubige der orthodoxen Kirche zahlreich und mit großer emotionaler Teilnahme nach Turin pilgern, um das Grabtuch zu verehren. Das macht aus diesem Leinen einen wichtigen Gegenstand für den ökumenischen Dialog.80

Das Grabtuch besitzt einen tiefen spirituellen Sinn, Sinn eines Glaubens, der auch Geheimnis ist. Geheimnis ist Gott, Schöpfer der Welt, und jede Begegnung des Menschen mit ihm. Das Turiner Grabtuch besitzt für viele Menschen große Bedeutung, ihre tiefe Betroffenheit und das starke spirituelle Erlebnis in der Begegnung mit dieser Reliquie faszinieren mich immer wieder. Deshalb möchte ich in dem folgenden Kapitel die Spiritualität des Grabtuches im Laufe seiner Geschichte näher betrachten und darstellen.

3.2 In den dunklen Jahrhunderten Wenn man von der geistigen Bedeutung des Turiner Grabtuches in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte reden will, muss man voraussetzen, dass das Mandylion von Edessa und das in Turin verehrte Leinen dasselbe sind. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, seine Geschichte bis zu den Anfängen zurückzuverfolgen. Wir dürfen also nicht vergessen, dass alles, was über das Tuch vor dem 14. Jahrhundert gesagt wird, Vermutungswissen ist und nicht Fak- tum.

Weder in den Evangelien, noch in den Tagebüchern von Reisenden im Heiligen Land aus den 4. und 6. Jahrhunderten nach Christus werden die Bestattungstücher, deren Weitergabe oder deren Verehrung erwähnt. Das lässt natürlich viel Platz für zahlreiche Vermutungen und The- orien und Phantasien.

Wir wissen mit Sicherheit, dass schon Kaiser Konstantin und seine Mutter Helena die Orte besichtigt haben, wo Jesus gelebt hat, und sie suchten auch nach Reliquien. Auch viele Pilger- berichte aus dem 4. Jahrhundert reden ausführlich über diese Orte, es wird der Stall von Beth- lehem oder der Saal des letzten Abendmahls erwähnt, oder man findet auch Hinweise zu Ge- genständen, mit denen Christus in Kontakt gekommen ist, so wie die Krippe der Geburt Jesu oder die Krüge des Weihwasserwunders bei Kana.81

80 Vgl. Peracchino, Sindone: sappiamo. 81 Vgl. Sörries, Was von Jesus, 46-47. 46

Nirgendwo aber wird von Grabtüchern berichtet. Warum? Wieso bleibt es für so viele Jahrhun- derte versteckt? Warum wird es nicht offiziell verehrt?

Im Hebräer-Evangelium steht geschrieben, dass das Grabtuch Jesu dem Apostel Petrus überge- ben wird, damit er es aufbewahrt. Es wird aber aufgrund der Blutflecke als shatnez bezeichnet, Träger der religiösen Unreinheit, Erinnerung an den furchtbaren Tod Jesu am Kreuz. In der jüdischen Mentalität der damaligen Zeit ist diese Art der Todesstrafe besonders negativ behaf- tet, weil sie im römischen Reich nur für die schlimmsten Verbrecher verwendet wird. Deshalb neigen die Befürworter der Authentizität des Turiner Grabtuches dazu zu glauben, dass das auch für die Jünger Jesu gilt.82

Es ist deshalb zu vermuten, dass die ersten Christen aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln und ihrer Abneigung gegen alles, was mit einer Leiche in Berührung gekommen ist, das Tuch versteck- ten, es aber trotzdem als Erinnerung an die Auferstehung sorgfältig aufbewahrten. Das Leben der frühchristlichen Gemeinden wird in den darauffolgenden Jahrhunderten ohne Zweifel von den offiziellen kirchlichen Richtlinien hinsichtlich der Sakralkunst und der Darstellung der Kreuzigung beeinflusst. Das Kreuz soll eher leer dargestellt werden und der Körper Jesu durch ein Lamm oder einen Stern ersetzt werden. Auch innerhalb der Kontroverse zwischen Nestori- aner und Monofisten um die wahre Natur Jesu im 5. und 6. Jahrhundert bleibt die Darstellung der Kreuzigung nicht unberührt.

Das monophysitistische Verbot den leidenden Jesus am Kreuz darzustellen verbreitet sich in die ganze christliche Hemisphäre. Das könnte auch einen Einfluss auf die Verehrung des Grab- tuches gehabt haben, welches das Abbild des toten Jesu mit den Zeichen der Passion darstellt. Im 8. Jahrhundert bricht der so genannte ikonoklastische Kampf aus: Für mehr als hundert Jahre bedeutet das einen echten „Krieg“ gegen die Verehrung aller religiösen Bilder. Die Darstellun- gen Jesu werden entfernt und ein Bilderverbot setzt sich durch. Erst mit dem byzantinischen Kaiser Basileios I. (867-886) gibt es wieder künstlerische Aktivitäten und im 9. und 10. Jahr- hundert entsteht in Konstantinopel eine neue Kreuzigungsikonografie; Zufälligerweise in der Zeit, in der das Mandylion in diese Stadt kommt und zum ersten Mal in seiner wahren Größe gezeigt wird.83

Mit der Zeit wird das durch die Vergilbung entstandene Bild auf dem Tuch immer deutlicher und kräftiger. Das Antlitz Jesu zeigt sich jetzt visuell dominant und verdrängt die Blutflecken

82 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 156. 83 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 82-84. 47 in den Hintergrund. In Edessa angekommen wird es jetzt nicht mehr als ein unreines Bestat- tungstuch, sondern als das Eikon Acheiropoieton betrachtet, das nicht von Menschenhänden gemachte Bild. Aber 211 nach Christus müssen die hier lebenden Judenchristen aufgrund der römischen Eroberung in den Untergrund gehen und einige Dokumente der Zeit berichten, dass der damalige Bischof das Acheiropoieton in einer Nische der Stadtmauer versteckt hat, die er dann zumauern ließ, um es vor der sicheren Zerstörung zu retten.84

Die Wiederentdeckung des Tuches scheint legendär wie übernatürlich zu sein und bestimmt die zukünftige Verehrung des Acheiropoietons für die nächsten Jahrhunderte in der Hauptstadt des Reiches Oshrene. Die Wiederfindung des Bestattungstuches Jesu in einer Nische der Stadt E- dessa im Jahr 544 durch den Bischof Eulalios ist von einem Historiker von großer literarischen Bedeutung, Anwalt, Schriftsteller und kaiserlicher Präfekt seiner Zeit, Euagrios Scholastikos dokumentiert. Er spricht von einem “theoteuktos eikon”, einem von Gott gemachten Bild. Der Kaiser Justinian lässt für dieses wunderwirkende Tuch eine große Kirche, die Hagia Sophia, bauen.85

Das Acheiropoieton, auch Abgar-Bild genannt, stellt für die frühchristliche Tradition die wert- vollste Reliquie dar. In der von Justinian gebauten Kirche wird es in einer Marmorvertäfelung eingelassen und mit einem Festhymnus besungen: “Geprägt ist der Marmor durch das Bild, das nicht von Händen gemacht ist”.86

Noch mehr: Als das bedeutendste Heiligtum der Stadt Edessa (das ist die Zeit, in der die Abgar- Legenden entstehen), beeinflusst es die gesamte christliche Ikonographie der damaligen Zeit. Ab diesem Zeitpunkt bekommen die Jesusdarstellungen, die bis jetzt an den jungen und bartlo- sen Gottessohn Apollon erinnerten und komplett uneinheitlich erschienen, plötzlich ein neues Gesicht: Ein strenges, bärtiges Antlitz, mit langen Haaren, einer Locke auf der Stirn und tief- liegende Augen, genauso wie das Turiner Grabtuch. Heute noch ist dieses Gesicht das meist verbreitete Modell für die orthodoxe Ikonographie. Und als das wahre Tuch, das Jesus zum König Abgar für seine Genesung schickte, wird es in Edessa verehrt.87

84 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 163-165. 85 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 168-171. 86 Sörries, Was von Jesus, 264. 87 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 217-218. 48

Unter arabischer Herrschaft bekommt das Acheiropoieton einen neuen Namen: Es ist nun nicht mehr das Acheiropoieton, das von Gott gemachte Bild, sondern das Mandylion, vom Arabi- schen mandil, was einfach „Tuch“ bedeutet . Die Christen der Stadt dürfen ihre Religion weiter ausüben, wenn auch nicht öffentlich, und die Verehrung des Grabtuches weiter pflegen.88

Erst mit der „Übersiedlung“ nach Konstantinopel beginnt die Glanzzeit des Mandylions, das am 15. August 944 nach einer Überprüfung bezüglich seiner Echtheit vom Kaiser Konstantin VII feierlich empfangen und am nächsten Tag vom Patriarchen Theophylaktos in einer feierli- chen Prozession durch die Stadt bis zur Hagia Sophia gebracht wird. Hesemann schreibt in seinem Buch „Die stummen Zeugen des Golgota“ wie der Kaiser ehrfurchtsvoll den länglichen Reliquienbehälter vom Feldherrn Johannes Kurkuas entgegennimmt, ihn öffnet, das Tuch vor- sichtig aus dem Behälter nimmt und es in liebevoller Verehrung küsst.

In der Hauptkirche Konstantinopel findet ein feierlicher Gottesdienst zu Ehren des Heiligen Tuches statt, bei dem der Archediakon Gregorios eine Predigt über die so ersehnte Reliquie hält. Er betont, dass das Mandylion eben keine gemalte heilige Reliquie sei, sondern dass der Glanz dieses Antlitzes aus den Schweißtropfen und aus dem Blut von dem Mann entstanden ist, der Ursprung des Lebens ist. Zum Schluss wird das Heilige Leinen in einer erneuten Pro- zession mit Kaiser und Patriarch in den Palastbezirk gebracht. Von diesem Moment an soll es in unmittelbarer Nähe des Thronanwärters aufbewahrt bleiben, und zwar in der Marienkirche in dem Blechernen Palast.89

In den darauffolgenden Jahren erreicht auch dank des von Konstantin garantierten Friedens die byzantinische Liturgie ihren Höhepunkt. Es entstehen zahlreiche Texte und Kompositionen für das Ritual des „Festes des Heiligen Tuches“, welches jedes Jahr am 16. August in Erinnerung an die Ankunft des Mandylions in der Marienkirche prächtig gefeiert wird.90

Deutliche Spuren des Mandylions sind in zahlreichen Dokumenten der byzantinischen Liturgie zu finden. Es handelt sich um historische, theologische, liturgische und homiletische Texte, in griechischer Originalsprache verfasst und in andere im byzantinischen Ritus gebrauchte Spra- chen, wie Slawisch, Rumänisch, Arabisch oder Georgianisch, übersetzt. Sie sind heute noch vorhanden und vermitteln zahlreiche Informationen über das Fest des Heiligen Mandylions.91

88 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 218. 89 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 219-220. 90 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 199-202. 91 Vgl. Cappi, Mario: La Sindone dalla A alla Z. Padova: Messaggero di S.Antonio Editrice 1997, 266-267. 49

Für den Ritus dieses Festes verfasst der Patriarch von Konstantinopel Germanos höchstpersön- lich einen Kanon für das Morgengebet: “Mein Herr, im Augenblick deines Leidens warst du gedemütigt und wurdest unkenntlich. Und doch hast du das Universum erleuchtet, denn die Form deines Körpers schimmert durch. Dein Abdruck aus dem Stoff wird uns wie ein Schatz geschenkt.”92

Aus diesen Worten kann man deutlich erkennen, dass das Abbild auf dem Tuch nicht nur ein Gesicht darstellt, sondern einen ganzen Körper. Den Bewohnern von Konstantinopel wird es immer deutlicher , dass das Mandylion kein einfaches Geschenk Jesu an den König Abgar sein kann und mit der Zeit wird der Name Mandylion durch Sindon ersetzt, ein Begriff, der bei den Synoptikern für Leichentuch steht.93

3.3 Frankreich und das Haus Savoyen Mit den ersten Ausstellungen des Grabtuches in Frankreich strömen die Pilger massenhaft zur kleinen Holzkirche in Lirey und hinterlassen großzügige Spenden. Trotz heftiger Proteste des Ortsbischofs von Troyes, Pierre d’Arcis, und manch kirchlicher Verbote wurde jede Ausstel- lung einen riesiger Erfolg. Noch unglaublicher erscheinen die Zahlen der Pilger bei diesen „kleinen“ Veranstaltungen, wenn man die beschränkten Kommunikationsmittel und Fortbewe- gungsmittel der damalige Zeit bedenkt. Bekannt ist auf jeden Fall, dass die Charny, aber auch die Kleriker von Lirey, das ausgestellte Tuch ohne Zweifel als eine echte Reliquie betrachte- ten.94

Die gläubige Verehrung äußert sich auch im Wunsch das Heilige Grabtuch an mehreren Orten gleichzeitig sehen zu können: Deshalb werden verschiedene Kopien des Leinens hergestellt, welche auf spiritueller Ebene denselben Wert wie das Original genießen. In diesen Fällen küm- mern sich die Gläubigen weniger um die Echtheit des verehrten Gegenstandes, sondern sehen in ihm eine symbolische Darstellung, eine Erinnerung an das Leiden des Herrn. Sie sind nicht Reliquien wie das Grabtuch der Familie Charny, sondern Abbildungen mit einer katechetischen Funktion.95

92 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 220. 93 Vgl. Hesemann, Die stummen Zeugen, 221. 94 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 110-11. 95 Vgl. Enrie, La Santa Sindone rivelata, 105-106. 50

Erst mit dem Erwerb des Grabtuches über das Haus Savoyen durch Herzog Luigi und seine Gattin Anne de Lusignan und mit seiner Überführung im Jahr 1453 nach Chambery, damals Hauptstadt des Herzogtums, beginnt dieser Kult des Grabtuches zu blühen. Im Besitz der ade- ligen Familie bekommt es natürlich einen neuen Stellenwert. Die Savoyen sehen in dem Heili- gen Leinen die „dynastische Reliquie” schlechthin, welche ihre führende Rolle legitimiert, und behandeln es dementsprechend mit der gebührenden Verehrung. Das Heilige Tuch begleitet sie auf all ihren Reisen, die auch oft den Anlass für kleine Ausstellungen bieten, so wie in Pinerolo (1478), in Vercelli (1494) und in Turin (1498). Sein Name erscheint unter dem Begriff su- darium in einer Liste von Reliquien, welche am 6. Juni 1483 verfasst wurde. Am 11. Juni 1502 wird das verehrte Sindon in einer feierlichen Prozession in die Kapelle im Castello Ducale, dem Herzogsschloss, überführt und von Papst Sixtus IV als „heilig“ bezeichnet.96

Im Jahr 1503 organisiert die Familie Savoyen in Bourg-en-Bresse eine Ausstellung für den Erzherzog Philipp, den Schönen, Bruder von Marguerite de Charny. Diese soll aber nicht einen privaten Charakter haben, sondern ein öffentliches Ereignis sein. Anwesend sind drei Bischöfe, welche das Grabtuch auf einer Bühne hoch halten. Anlässlich dieser Ausstellung werden zwei Predigten gehalten, eine für die Adeligen und eine für das auf dem Platz versammelte Volk. Die Schrift eines bekannten Chronisten der Zeit, Antoine de Lalaing, Herr von Montigny, be- zeugt die starke spirituelle Richtung der Homilien, in denen die Passion Christi, seine fünf Wunden und sein vergossene Blut erwähnt werden. Die Heilige Reliquie zeigt nicht nur das Abbild Jesu, sondern trägt in sich auch sein kostbares Blut, das auch vom Papst Sixtus IV als solches anerkannt wird. Das verleiht ihr seine besondere spirituelle Bedeutung. Weiter werden Wunderheilungen erwähnt, die sich während der Ausstellungen öfter ereignen, so wie die plötz- liche Heilung eines Stummen im Jahr 1578. Vorhanden sind weiter die päpstliche Genehmi- gung für die Verehrung, deren theologische Grundlage der Abdruck des Körpers so wie das Blut Christi sind, die Volksfrömmigkeit und die in den Wundern gesehene göttliche Hand.97

All die notwendigen Bedingungen für den Kult des Grabtuches sind erfüllt. So beantragen der Herzog Carlo III und seine Mutter Claudia im Jahr 1506 beim Papst Julius II die liturgische Anerkennung des Grabtuches mit Offizium und Messe, mit der zusätzliche Bitte um die Ge- nehmigung eine nach der Reliquie benannte Bruderschaft gründen und das Heilige Leine jeden Karfreitag mit vollkommenen Ablass für alle Anwesenden ausstellen zu dürfen. Die Antwort des Papstes ist positiv: Mit der Bulle vom 9. Mai 1506 stimmt Julius II dem Offizium und der

96 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 47. 97 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 117-120. 51

Messe für die Heilige Reliquie zu und fixiert deren liturgisches Fest am 4. Mai. Ab diesem Moment verbreitet sich die Verehrung des Grabtuches rasant dank der häufigen Ausstellungen und den damit verbundenen „spirituellen Vorteilen“. Die Feiern werden mit der Zeit bei stei- gender Teilnehme des Volkes und des Klerus immer pompöser.98

Große Verehrung wird dem Grabtuch anlässlich der Restaurierungsarbeiten durch die Klarissen in Chambery nach dem Brand im Jahr 1532 erwiesen. Nach mehreren Untersuchungen, die den Zustand der Tuches feststellten, wird die Heilige Reliquie am 16. April 1534 in einer feierlichen Prozession zum Kloster Sainte-Claire-en-Ville in Chambery überführt, um dort restauriert zu werden. Die vier „frömmsten“ Schwester werden ausgesucht: Sie arbeiten Tage lang auf den Knien, unter den aufmerksamen Augen der Herzogswachen.99

Bedeutungsvoll ist in diesem Fall auch das Verhalten der Gläubigen, denen es durch ein kleines Fenster erlaubt war, die Arbeit der Nonnen zu beobachten. Es wird berichtet, dass viele Men- schen zum Klarissenkloster pilgerten, sie kamen sogar aus Rom oder Jerusalem, und sie reagie- ren begeistert auf das von Kerzen umgebene Tuch und auf die Psalmen singenden Klarissen.

„Die Menschen schrien mit lauter Stimme der Barmherzigkeit mit Gefühlen der Frömmigkeit, welche sich nicht ausdrücken konnte, und sie wandten sich, völlig gelindert, in sich“.100

Sogar die Soldaten, während ihrem Wachdienst, standen da „die brennende Kerzen haltend, sich aneinanderreihend, einer nach dem anderen mit so einer großen Bescheidenheit, so dass sie eher als Novizen einer gut reformierten Religion erschienen als Weltliche“.101

Dieses geschieht in einer tiefen spirituellen Haltung: Alle Klarissen des Klosters sind bei den Arbeiten anwesend und beten zusammen, alle wie vor Gott stehend. Auch die minuziöse Dar- stellung der Wundmale des Abdruckes bezeugt die starke spirituelle Erfahrung dieser Frauen, welche nicht nur die Geschichte dieses Menschen schauen, sondern miterleben: das missgestal- tete Gesicht, der gerissenen Bart, die Spuren einer Kette am Hals und eines Seils am Rücken, die Blutflecken, welche am ganzen Körper zu erkennen sind.

98 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 139. 99 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 49-51. 100 Archivio di Stato di Torino, Contado di Nizza, mz. 6 n. 6, zitiert nach: Zaccone, Guardare la Sindone, 124. “Les peoples criaient à haute voix miséricorde avec des sentiments de devotion qui ne se pouvait pas exprimer, et ils s’en retournaient extrêment consoles”. 101 Archivio di Stato di Torino, Contado di Nizza, mz. 6 n. 6, zitiert nach: Zaccone, Guardare la Sindone, 124. “tenant des cierges allumés, se succédant les uns aux autres avec une si grande modestie qu’ils semblaient plutôt à des novices d’une Religion bien réformée qu’à des séculiers”. 52

Die gleiche fromme Haltung wird auch eine Prinzessin des Hauses Savoyen dem Grabtuch ge- genüber erweisen. Im Jahr 1868 muss das Heilige Leinen, wie öfter in seiner Geschichte, aus- gebessert werden. Außergewöhnliche Schneiderin ist diesmal die Prinzessin Clotilde von Sa- voyen: Nachdem sie an der Heiligen Messe teilgenommen und gebeichtet hat, erfüllt sie an- dächtig ihre Aufgabe auf den Knien.102

Die tiefe Verehrung des herrschenden Hauses lässt sich in vielen Bereichen beobachten. Als Besitzer der Reliquie sind die Savoyen auch für deren Kultus und deren Pastoral zuständig, welche ganz besonders anlässlich der Ausstellungen und in der Fastenzeit gepflegt werden. Der Kanoniker Antonio Nosio erzählt im Jahr 1874 in einem Brief an der Accedemia di Storia Ecclesiastica Subalpina, der Akademie der subalpinen Kirchengeschichte, Folgendes:

“Unsere frommen Herrscher richteten ihre ganze Sorge darauf, für sich selbst und für ihre Völker nach den renommiertesten Predigern zu suche, die sie in die reinen Lehren unserer heiligen Religion einführten (...) und vereinbarten mit ihnen über das reichliche Stipendium hinaus auch Ehrungen, Kutschen, Sänften, Pa- gen, Einladungen am Hof und Geschenke: Es gab eine sehr schöne Ansprache über das Grabtuch und über die Fußwaschung am Gründonnerstag, je eine über das Mahl und eine über das Totentuch.”103 Am 4. Mai, am Tag des Festes für das Grabtuch, wird die Stadt besonders schön beleuchtet und alle Anwesenden können sich an den Feuerwerken erfreuen, Zeichen der gläubigen Haltung des königlichen Hauses und Ausdruck seines Ansehens.104

3.4 Die Devotionen des Mittelalters Um die religiöse Bedeutung des Turiner Grabtuches seit seinem Auftauchen bis heute zu ver- stehen, müssen wir die historischen, kulturellen und religiösen Hintergründe betrachten, die es begleitet haben. Das Mittelalter mit seiner Spiritualität ist ein besonders guter Nährboden für die Verehrung dieses außergewöhnlichen Gegenstandes. Die Menschlichkeit Christi steht wäh- rend dieser Zeit in der Volksfrömmigkeit im Vordergrund: Der Herr hat menschliche Gestalt angenommen, damit er leiden und büßen kann, aber auch um erhöht zu werden, denn er ist ein Werkzeug der Erlösung. So wird der Leib Christi Metapher für den Heilsweg aller Menschen, in dem Gott selbst leidet und büßt, aber auch den Tod durch die Auferstehung überwindet. Die

102 Vgl Barberis, Il caso Sindone, 56. 103 Bosio, Antonio: I predicatori quaresimali della Real Casa di Savoia. Torino: Libreria S. Giuseppe, 1874, 7. „I nostri religiosi sovrani ogni lor cura mettevano, onde procurare a se stessi ad ai loro popoli i piú rinomati pre- dicatori, i quali li istruissero nei piú sani principi della nostra santa religione (…) ed accordavano ai medesimi oltre l’abbondante stipendio, onori, carrozze, portantine, valletti a piedi, inviti a Corte, regali: vi era un tanto pel discorso della Sindone, e per quello della Lavanda dei piedi nel giovedí santo, un tanto per il piatto e per il sudario“. 104 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 188. 53

Existenz des Grabtuches unter den Menschen steht für den großen Heilsplan Gottes für alle seine Kinder.105

Diese mittelalterliche Frömmigkeit für den leidenden Christus findet ihre spirituellen Wurzeln besonders in zwei großen Figuren der Kirchengeschichte: dem Heilige Franz von Assisi und in Bernhard de Clairvaux. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass man durch die Meditation der Leidensgeschichte unseres Herrn das große Mysterium des Wortes durchdringen kann, noch mehr als durch philosophische Überlegungen. Neben der Meditation rückt aber auch die Erfah- rung selbst in den Vordergrund: Der Heilige Anselm äußert zum Beispiel den Wunsch, das Leiden Christi in seiner Seele zu spüren, während der Heilige Franz von Assisi oder Klara von Montefalco diese Erfahrung mit ihrem eigenen Leib durchmachen. Besonders der Arme aus Assisi ermöglicht durch seine Schriften und Predigten und durch seine Brüder, dass die Fröm- migkeit für die Menschlichkeit Christi in den Alltag der Gläubigen Einzug hält. So beschreibt Giovanni de’ Cauli in seinen Meditationes vitae Christi auf eine äußerst theatralische Art die Passion unseres Herrn und vermittelt sie als das Geheimnis der Erlösung, indem er nach dem Leiden und dem Tod auch einen gebührenden Platz für Freude und Hoffnung lässt.106

Manche Historiker sehen die Entwicklung dieser Frömmigkeitsformen als eine Reaktion auf die großen Katastrophen, welche ganz Europa im 14. Jahrhundert heimgesucht haben, gemeint sind der Krieg und die schwarze Pest. Die Angst der Menschen äußert sich in apokalyptischen Tendenzen, unterstützt auch von dem großen Schisma mit der Westkirche. Die Kirche kann nicht mehr die Orientierung und die Sicherheit anbieten, für die sie immer zuständig gewesen ist und so suchen die Gläubigen ihren Halt in der ewigen Wahrheit, in dem Evangelium, wo sie den Kontakt mit Gott finden, und zwar durch Jesus Christus. Meditations- und Gebetsbücher für den persönlichen Gebrauch verbreiten sich zusammen mit der Bibel und der Verehrung der Heiligen, der Schutzengels und mit den Pilgerreisen.107

Innerhalb des Glaubenslebens dieser Zeit spielen auch die Reliquien eine wichtige Rolle, be- sonders die so genannten Jesus-Reliquien, konkrete Zeugen des irdischen Lebens des histori- schen Jesu, welche kirchengeschichtlich betrachtet in der Europa des Mittelalters ihren Höhen- punkt erreichen.108

105 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 61-62. 106 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 72-78. 107 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 81-83. 108 Vgl. Sörries, Was von Jesus, 45. 54

Und während viele andere Reliquien in dieser Zeit verehrt werden, so wird auch das Heilige Tuch zuerst in Lirey, in Chambery und später in Turin zum Ziel zahlreicher Pilgerreisen und zum Objekt der Volksfrömmigkeit in vielen Ländern. Die Gläubigen warten geduldig stunden- lang, bis sie die Reliquie betrachten können, und es wird immer wieder von Menschen berichtet, welche während der Ausstellungen geheilt werden. Das Grabtuch ist nicht nur Mittel für die Zunahme des Glaubens, wie von manchen Vertretern der offiziellen Kirche vorsichtig behaup- tet wird, sondern Mittelpunkt einer wahren Volksverehrung.109

Der damalige Erzbischof von Mailand Carlo Borremeo leistet dazu einen guten Beitrag. Auf- grund eines Eides im Jahr 1578, während der großen Pest, begibt sich der Heilige auf Pilgerreise zum Grabtuch. Der Herzog Emanuele Filiberto von Savoyen geht ihm entgegen und lässt das Sindon als Zeichen tiefer Ehrfurcht nach Turin überführen. Am 10. Oktober, nach drei Tagen Pilgerschaft, erreicht Carlo die Stadt in Piemont, in der eine Sonderausstellung stattfindet. Elf Bischöfe und Kardinäle halten das Heilige Tuch und zeigen es den versammelten Menschen.110

Carlo Borromeo legt schon seit seiner Vorbereitungszeit auf die Priesterweihe großes Augen- merk auf die Kontemplation des Passionsgeheimnisses. Das Kruzifix stellt für ihn das belieb- testes Gebetsbuch dar und der zukünftige Bischof strebt selbst danach das Leben des gedemü- tigten und leidenden Christus nachzuerleben. Oft erinnert er die Menschen in seinen Predigten an den Opfertod Jesu am Kreuz und lädt alle ein, über sein Leiden, über seine Schmerzen, die Nägel, die Geißelung, das Blut Christi zu meditieren, um die profane Welt zu überwinden. Denn so wie der Herr und sein Fleisch so viel Schmerz ertragen mussten, so können auch wir und unser Fleisch den gleichen Schmerz empfinden.111

Selbst am Sterbebett umgibt sich der Mailänder Bischof mit frommen Bildern der Leidensge- schichte Jesu und allen, die danach fragen, erzählt er, dass die Betrachtung des Leidens des Herr und der Grablegung ihm in der Krankheit großen Trost spendet. Diese Neigung des Hei- ligen Carlo, sich in das Leidensmysterium Christi einzufühlen, soll auf eine sehr relevante Weise die Begegnung mit dem Heiligen Grabtuch und seine Verehrung geprägt haben, die er unermüdlich in seiner Pastoralarbeit fordert.112

Wie wurde aber das Grabtuch von den Menschen dieser Zeit aufgenommen? Der Pater Francesco Adorno darf das Sindon am 10.Oktober 1578 im Rahmen einer privaten Ausstellung

109 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 113. 110 Vgl. Baima Bollone, Sindone o no, 142. 111 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 128-129. 112 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 134-135. 55 betrachten und berichtet: „Ich war innerlich sehr bewegt, als mich der Kardinal verstehen ließ, ich solle etwas Anspornendes zur Verehrung und Anbetung sagen, ich war aber dazu nicht im- stande, da ich durch meine Tränen davon abgehalten wurde.”113

Agostino Cusano begleitet den Heiligen Carlo bei seiner ersten Pilgerfahrt nach Turin und er- zählt in einem Bericht an eine berühmte Persönlichkeit von dem Abdruck des wahren und na- türlichen Körpers des Herrn, von den Wunden und den Narben, welche er aufgrund unserer Sünden austragen musste. Cusano unterstreicht in seiner Schrift, dass das Bild kein Kunststück eines Menschen sei, sondern Ergebnis eines Wunders.114

An diesen zwei Beispielen spiegelt sich ein religiöses Klima von tiefer, gefühlsbeladener Spi- ritualität, signifikant für die Begegnung von vielen gläubigen und frommen Menschen mit der Heiligen Reliquie in Turin.

3.5 Durch die Barockzeit und den Illuminismus Die Figur von Carlo Borromeo und seine Beziehung zum Turiner Grabtuch dient als bestes Beispiel für den bedeutungsvollen Wandel dafür, wie Reliquien in der Barockzeit gesehen und aufgenommen werden. Die Sorgen des 4. Laterankonzils im Jahr 1215 über die Gefahren einer möglichen Fehlentwicklung zu Idolatrieformen der Religion im Kontext von Reliquien werden im Konzil von Trient (1545-1563) wieder aufgerollt. Die Konzilsväter mahnen zu einem adä- quaten Gebrauch dieser Kultobjekte: Die Passion Christi und deren irdischen Zeichen führen nicht Gott zu den Menschen, wie es im Mittelalter erlebt wurde, sondern den Menschen zu Gott. Das ist ein bedeutungsvoller Punkt in der katholischen Reform.115

Über das Grabtuch verbreiten sich aber in dieser Zeit zahlreiche Wundererzählungen. Diese berühren am meisten das fromme Volk, wecken dessen Interesse und stehen oft im Mittelpunkt vieler Publikationen um Ausstellungen des Grabtuches. Die Königin Margherita zum Beispiel schreibt den Wunderkräften der verehrten Reliquie das Scheitern zweier Attentate auf ihren Ehemann, den König Umberto I, zu. Selbst die Prediger, welche in der Fastenzeit regelmäßig ihre Homilie halten dürfen, reden dabei über den Abdruck auf dem Heiligen Leinen wie von

113 Padre Adorno, Francesco, zitiert nach: Zaccone, Guardare la Sindone, 140. “Mi sentii talmente commosso, che havendomi il Cardinale fatto intendere che dicessi cosa alcuna incitativa a reverenza e devotione, non potei farlo, impedito dalle lacrime” 114 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 140-142. 115 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 102. 56 einem Wunder Gottes. Und im Angesicht dieses Wunders werden die Gläubigen eingeladen, über den Leidensweg Christi zu meditieren, um dadurch in sich selbst die Liebe zu Ihm zu entflammen, wobei der Begriff Wunder Gottes auf die Erlösung der Menschen durch die Men- schwerdung Gottes verweisen will.116

Im 18. Jahrhundert wird das Sindon öfters anlässlich königlicher Hochzeiten ausgestellt. Zu- ständig für dessen Kultus war nicht der Erzbischof von Turin, sondern der Großalmosenier, der Hofbischof des Hauses Savoyen, deshalb müssen wir auf das Jahr 1775 warten, bis wir ein erstes offizielles kirchliches Dokument über das Grabtuch finden. Es ist ein Pastoralbrief vom Monsignor Francesco Luserna Rorengo di Rorá, in welchem eine Ausstellung angekündigt wird und die königliche Familie ausdrücklich als von Gott für die Führung des Landes auserwählt präsentiert wird.117

Das Gleiche kommt in der Literatur des ganzen Jahrhunderts zum Ausdruck. Reich an lobenden und feierlichen Worten, wenden sich literarische Werke dieser Zeit an die savoyischen Herr- scher, für die das Heilige Leinen Krone und Schild ist. Damit wollen sie eine Gegenströmung zur Kultur der Aufklärung und zur Säkularisierung der Gesellschaft sein. In einer Zeit der Wandlung, gekennzeichnet durch die revolutionären Ideen des Aufklärung, die Restauration, die moti risorgimentali, die Auferstehungsbewegungen und die Konflikte zwischen Rom und dem italienischen Staat, zwischen Kirche und intellektuellen Strömungen wird jetzt die Turiner Reliquie von einem Zeichen der barmherzigen Liebe Gottes zum Sinnbild für den Schutz vor den Feinden. Sie wird zum Symbol eines Glaubens, der sich neuen Prüfungen stellen und in Anbetracht kultureller Veränderungen seine Treue zu Gott und zum König beweisen muss.118

Die Schwierigkeiten der Kirche in dieser Zeit zeigen sich in der Abschaffung des Festes des Grabtuches, die vom Papst Pius VI mit dem Dekret vom 27. Mai 1786 beschlossen wird, der letzte Schritt auf einem langwierigen Weg von Diskussionen über die Reduktion der Feiertage, welche von Aufklärungskreisen gefordert wird. Außerhalb aufklärerischer Strömungen wird manchmal auch aus innerkirchlichen Kreisen Kritik an der Volksfrömmigkeit und der Vereh- rung von Reliquien laut. Manche Jansenisten äußern sich im Fahrwasser der ablehnenden Po- sition Calvins polemisch gegen manche Andachtsformen der Passion, sie klassifizieren sie als übertrieben und nicht bibelkonform. Auch eine gewisse Attraktivität für die französische Kultur unter den Adeligen und innerhalb des Bürgertums, sowie die Verbreitung vieler aufklärerischer

116 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 180-181. 117 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 189-190 118 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 167-169. 57

Werke bedroht den christlichen Glauben vieler Gläubiger, die sich den neuen Gegebenheiten der Zeit gegenüber manchmal kritisch, manchmal neugierig verhalten. Die Gefahr eines Ein- fluss- und Machtverlustes der Religion, begleitet vom Auftauchen gesellschaftlicher Unruhen, zwingt die Zivilbehörde und die kirchliche Autorität dazu, im Jahr 1749 die meisten religiösen Feste wieder einzuführen. Auch die Wiedereinführung des Grabtuchfestes am 4. Mai fungiert als ein Akt gegen die aufklärerischen Feinde.119

Im 19. Jahrhundert behält das Turiner Grabtuch seine religiöse und politische Bedeutung. In beiden Bereichen bedeutet es Schutz und Kontinuität mit der Vergangenheit, welche feierlich in den öffentlichen, von Vittorio Emanuele I initiierten Ausstellungen der Jahre1814 und 1815 zum Ausdruck kommen. Auch die literarische Produktion der ersten vierzig Jahre des Jahrhun- derts bezeugt mit rhetorisch hochstilisierten und siegessicheren Tönen die starke Verehrung der Heiligen Reliquie. Das Heilige Leinen, als blutiges Bild des verstorbenen Erlösers, soll alle zur Meditation über die Sünden und zur Entsagung von grenzenloser Gier nach Ruhm und Reich- tum führen. Es soll Hilfe anbieten gegen menschliche Schwächen und Symbol sein für eine konkrete Begegnung mit dem Göttlichen. Es soll den Gegensatz zwischen der hoffärtigen Weis- heit der Menschen und der Weisheit des Kreuzes betonen, indem es die falschen Weisen ver- wirrt, die den christlichen Glauben und seine Ausdrucksformen verachten. Das Grabtuch wird zum Glaubenszeugnis gegenüber einer sich zunehmend verbreitenden Ungläubigkeit und einer immer stärker werdenden religiösen Gleichgültigkeit. Erst in den 40er Jahren kehrt sich der gesellschaftliche Aspekt der Reliquie stärker in den Vordergrund. Immer mehr identifiziert sich die Region Piemont mit den nationalen Bewegungen. So tauchen Begriffe wie „Fahne des Mar- tyriums und des Sieges“ auf, begleitet von einer mit militärischem Vokabular und kriegerischen Akzenten geprägten Sprache. Das Sindon will den Kampf Christi gegen die Welt und die Un- terwelt und dessen Triumph in Erinnerung rufen. Es soll nicht mehr nur als Hilfe für die aske- tische Überwindung der persönlichen Fehler dienen, sondern als Waffe im Kampf für eine von Gerechtigkeit und Wahrheit beherrschte Gesellschaft. Auch die Kirche, im Vatikan wie überall, trage zum Wohlbefinden und zum Ruhm der Nation bei, denn der Triumph des Staates könne sich nicht ohne Triumph des Glaubens vollziehen.120

Nach der erfolgten Einheit Italiens tauchen andere Feinde des Grabtuch am Horizont auf: der liberale Staat als Usurpator der päpstlichen Rechte und Leugner der christlichen Werte, die religiöse Gleichgültigkeit, die Philosophie, der Laizismus und die neuen Sozialbewegungen.

119 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 165-167. 120 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 170-174. 58

Die politische und gesellschaftliche Valenz des Grabtuches kommt nun verstärkt zum Vor- schein. Die Heilige Reliquie ist Abbild der Wahrheit, auf der Christus als König und Kapitän gegen die falschen Ideologien der Zeit erscheint, zum Beispiel gegen den Sozialismus. Der Missionar Giuseppe Banterle unterstreicht die Notwendigkeit des christlichen Glaubens für die gesellschaftliche Entwicklung der Nation zur Durchsetzung von Kultur, Gerechtigkeit und Mo- ral in der Öffentlichkeit und unterstreicht diesbezüglich das Primat der Stadt Turin aufgrund ihrer Verbindung mit der in ihr verehrten Reliquie. Das Turiner Grabtuch wird als Fahne des Glaubens präsentiert. Und genauso wie eine Fahne Symbol für Freiheit und Heimat ist, so ist das Heilige Leinen Symbol für die unendliche Liebe Gottes für die Menschen.121

3.6 Nach Secondo Pia Die Vorbereitungen für die Ausstellung im Jahr 1898 verlaufen im Geiste der Volkstradition. Diese hatte die Heilige Reliquie durch das 19. Jahrhundert mit der Überzeugung begleitet, dass sie aus dem direkten Kontakt mit dem Leib Jesu, mit seinem Blut und seinen Wunden entstan- den war. Oder sie war das Ergebnis eines Wunders, stummer Zeuge des entsetzlichen Leidens und des Todes unseres Herrn. Die Besucher kommen zahlreich wie erwartet, trotz eines Klimas der Rechtfertigung der Reliquienverehrung vor Waldensern und Protestanten. Keiner aber kann sich damals auch nur vorstellen, dass die Ergebnisse der fotografischen Aufnahmen von Se- condo Pia genau diese „gläubige Vorstellung“ bestätigen werden. Wie könnte man sonst die unglaublichen Eigenschaften des Abbildes erklären? Die Annahme das Grabtuch wäre eine mittelalterliche Fälschung scheitert daran, dass das Phänomen des Negativs damals unbekannt war. Großes Staunen und Ergriffenheit verbreiten sich schnell unter dem Volk. Die unerwarte- ten Ergebnisse von Pias Arbeit sind für die meisten Gläubigen die unbestreitbare Bestätigung des Volksglaubens und seiner Überzeugungen. Dass in der Geschichte der Reliquie viele As- pekte nicht erklärbar oder logisch nachvollziehbar sind, ist kein stichhaltiges Argument gegen ihre Echtheit. Außerdem zeigt jetzt das Abbild auf den Fotos mit noch größerer Genauigkeit die Züge Christi, seinen Körper, sein Gesicht und seine furchtbaren Wunden, die sonst für das menschliche Auge nicht erkennbar wären. Es ist das echte Bild Jesu, das sich nach fast zwei- tausend Jahren allen Menschen wie durch ein Wunder offenbart und das aufgrund der Machart nicht von Künstlern der Vergangenheit hergestellt hätte werden können.122

121 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 175-178. 122 Vgl. Enrie, La Santa Sindone rivelata, 5-6. 59

Secondo Pia selbst erlebt seine Erfahrung als erster Fotograf des Grabtuches wie einen unver- gesslichen und bewegenden Moment. In einem Brief auf Französisch, den Pia an Arthur Loth schickt, beschreibt er seine Entdeckung wie folgt: „Ich habe zwei Platten 50 mal 60 Zentimeter groß belichtet, eine für 14 und die andere für 20 Minuten, indem ich ein Voigtländer-Objektiv mit einer Zwei- Millimeter-Blende verwendet habe. (…) In der Dunkelkammer, ganz auf meine Arbeit konzentriert, war ich emotional tief bewegt, als ich während des Entwicklungsprozesses zum ersten Mal das heilige Antlitz auf den Platten erscheinen sah. Es war so eindeutig, dass ich erstaunt und zugleich innerlich ruhig war, denn von diesem Augenblick an konnte ich sicher sein, meine Unternehmung positiv abschließen zu können.“ Das Enkelkind des Helfers von Pia, der draußen vor der Dunkelkammer wartete, erzählt von jener Nacht: „An der Schwelle der Dunkelkammer stand Pia. In den Händen hielt er die große Platte, von der noch das Fixativ tropfte. Als er sich meinem Großvater zuwandte, war dieser über dessen seltsamen Gesichts- ausdruck erstaunt. Da senkte er den Blick auf die Platte und sah dann selbst. Die beiden standen sich gegenüber und konnten den Blick nicht von diesem wunderbaren Negativ lösen, das nach deren fotographischen Erfahrung ein Negativ hätte sein müssen, doch… Pia war es, der zuerst das Schweigen brach: Schau, Carlino, wenn das kein Wunder ist.“123

Im wissenschaftlichen Bereich entstehen ein paar Jahre später die ersten Reaktionen auf Pias Entdeckung. Der französische Arzt und Pathologe Yves Delage behauptet nach einem sorgfäl- tigen Studium des Abbildes des Grabtuches, dass die von ihm festgestellten medizinischen Er- gebnisse nur zu folgender Conclusio führen können: Der Mann auf dem Tuch ist Jesus von Nazareth. Delages muss für seine Behauptung und für seine Position schwere Kritik von vielen Kollegen annehmen. Die Akademie der Wissenschaften in Frankreich weigert sich, die Ergeb- nisse seiner Studien zu veröffentlichen. Von einem Brief an ein Kolleg kennen wir die Position von Delages, deklarierter Agnostiker, die viele französische Wissenschaftler zu seinen Gegnern machte. Er schreibt:

123 Vacchiano, Secondo Pia. “Esposi due lastre cm 50x60, una con posa di 14 minuti e l'altra con posa di 20 minuti, usando un obiettivo Voigtländer con diaframma da due millimetri. (…) Chiuso in camera oscura, tutto intento al mio lavoro, ho pro- vato una fortissima emozione quando durante lo sviluppo ho visto per la prima volta apparire sulla lastra il sa- cro volto, con tanta evidenza che ne rimasi stupito e anche lieto, perché da quel momento potevo avere la cer- tezza del buon esito della mia impresa." Das Enkelkind des Helfers von Pia, der draußen vor dem Dunkelkammer wartete, erzählt von jener Nacht: "Sulla soglia della camera oscura era il Pia. Con le mani stringeva la grande lastra ancora gocciolante di fissativo. Fattoglisi incontro mio nonno fu colpito dalla strana espressione del suo volto. Abbassò gli occhi sulla lastra e vide. In piedi, uno di fronte all'altro, i due non riuscivano a staccare lo sguardo da quell'immagine negativa me- ravigliosa che per loro esperienza fotografica doveva essere in negativo e invece... Fu il Pia a rompere per primo il silenzio: Varda, Carlin, se sossì a l'è nen un miràcol!" (Guarda, Carlino, se questo non è un miracolo)” 60

“Eine Frage religiösen Charakters wurde zu einem Problem, das an sich rein wissenschaftlich ist. Daraus folgte, dass die Emotionalität überwog und die nüchterne Überlegung vernebelt wurde. Wenn es sich da- gegen nicht um Jesus Christus, sondern um eine Person wie Sargon, Achill oder einen der Pharaonen ge- handelt hätte, hätte niemand etwas einzuwenden gehabt… Ich blieb bei der Behandlung dieses Themas dem wahren Geist der Wissenschaft stets treu, ich suchte nur die Wahrheit und achtete nicht darauf, ob ich die Interessen einer religiösen Organisation verletzen könnte… Ich anerkenne Jesus Christus als historische Persönlichkeit und verstehe nicht, warum bestimmte Leute dadurch schockiert sind, dass es auch eine nach- vollziehbare Spur seiner irdischen Existenz geben könnte.”124 Es scheint also deutlich, dass die Reaktionen auf die ersten Fotos des Grabtuches die Menschen in zwei großen Gruppierungen trennen, je nachdem ob sie offen sind an ein Wunder zu glauben oder es hartnäckig verleugnen wollen. Wie sich jeder vorstellen kann, beeinflussen religiöse Vorstellungen und Überzeugungen die jeweilige Position. Kein archäologischer Fund und keine Reliquie haben mehr Emotionen hervorgerufen als diese.

Dreißig Jahre nach den ersten Fotos von Secondo Pia wird der Profi Fotograf Giuseppe Enrie beauftragt das Turiner Grabtuch erneut zu fotografieren. Seine Arbeit soll diesmal streng über- wacht und kontrolliert werden, um eine endgültige Antwort auf die Vermutung einer Manipu- lation der Bilder seitens Pia geben zu können. In seinem Buch „La Santa Sindone rivelata dalla fotografia“(Das Heilige Grabtuch offenbart von der Fotografie) erzählt Enrie seine einzigartige Erfahrung mit dem Sindon. So beschreibt er die Entwicklung der ersten Aufnahmen: „Die Zeit der Ausstellung passte genau und alle Details des Bildes waren perfekt. Nachdem ich erst kürz- lich die Bestätigung der Untersuchung erhalten hatte, beeilte ich mich, diese in das Presby- terium zu bringen, damit es Seine Eminenz, der Erzbischof, und die zahlreichen Anwesenden bestaunen konnten. Denn alle waren neugierig auf das Ergebnis. (…) Das Ergebnis entsprach genau dem, was man erwartet hatte, es war identisch mit dem, was von allen Anwesenden er- hofft worden war. Ich werde mich daran als einen der schönsten Momente meines Lebens er- innern, sicherlich der bewegendste meiner Karriere, der Augenblick, in dem ich meine perfekte Platte dem begierigen Blick Seiner Eminenz, dem Erzbischof, und jener ganzen illustren Ver- sammlung vorstellte. “125

124 Delages Yves, zitiert nach: Stevenson, Verdetto, 42-43. “Una questione di carattere religioso si é venuta ad innestare su un problema che é di per sé puramente scien- tifico. Risultato di ció: ha prevalso l’emotivitá e il raziocinio é stato offuscato. Se invece di Gesú Cristo si fosse trattato di una persona come Sargon, Achille o uno dei faraoni, nessuno avrebbe avuto da eccepire… Sono stato Fedele al vero spirito della scienza trattando questo argomento, cercando solo la veritá, non curandomi se potevo ledere gli interessi di qualche organizzazione religiosa… Io riconosco Gesú Cristo come un personag- gio storico e non vedo perché certa gente debba scandalizzarsi del fatto che esista una traccia tangibile della sua esistenza terrena”. 125 Enrie, La Santa Sindone rivelata, 85. „Il tempo di esposizione risultó esatto e tutti i particolari dell’immagine resi alla perfezione. Ottenuto in breve il fissaggio di tale prova, mi affrettai a portarla nel presbiterio per farla ammirare a S.Em. l’Arcivescovo e ai nume- rosi presenti, tutti ansiosi di conoscerne il risultato. (…) Il risultato era quello su cui si contava: era pienamente quello tanto desiderato da tutti i presenti. Ricorderó come uno dei momenti piú belli della mia vita, certo il piú 61

Erst am Abend des 4. Mai kann sich der Photograph zum Erzbischof begeben und zeigt ihm die restlichen Bilder. Enrie erinnert sich an die Reaktion von Fossati:

“Ich hatte das Glück ganz allein nur mit dem erlauchten Prälaten zu sein und Zeuge seiner hingebungs- vollen und intensiven Gemütsregung zu sein. Er beugte das Knie vor jener ersten fotografischen Kopie, nahm sie in die Hand, küsste sie und zwei Tränen zeigten sich in seinem männlichen und ausdrucksstarken Gesicht. Jetzt rief er aus: “O welche Tröstung hat mir der Herr gegeben“. Danach konnte er seinen Blick nicht mehr von den Kopien lösen und bewunderte nach und nach die Form der ganzen Gestalt des Erlösers, die Klarheit der Zeichen des Leidens und den außerordentlichen wie göttlichen Ausdruck des heiligen Ant- litzes.“126 Wunderschön sind auch die enthusiastischen Worte des französischen Schriftstellers Paul Clau- del, der wie viele andere in dieser Zeit in dem Mann des Tuches die Züge Christi erkennt:

“Er ist es. Es ist sein Antlitz. Das Antlitz, das so viele Propheten und so viele Heilige zu sehen gewünscht hatten … das, was sich so deutlich auf dieser edlen und so fürchterlich verunstalteten Physiognomie zeigt, ist der Ausdruck eines außergewöhnlichen Friedens, einer Feierlichkeit verbunden mit einer süßen Ernst- haftigkeit und einer tiefen Ruhe, ohne Spuren menschlichen Leidens und dem Eindruck von Schwäche. Man bleibt ganz überwältigt von seiner Vornehmheit, seiner Majestät, seinem Ernst und seiner Traurigkeit. Es ist wirklich das Antlitz eines Toten, der auferstanden ist.“127

3.7 Die Päpste und das Grabtuch Wie schon im ersten Kapitel erwähnt, besuchte Papst Pius VII, Gregorio Luigi Barnaba Chi- aramonti, im Laufe seiner Reisen zweimal das Turiner Grabtuch. Er fühlte sich der Reliquie sehr verbunden. In der Festchronik des Festes am 22. Mai 1815 in Turin wurde berichtet: „Es steht für ihn (den Papst) außer Zweifel, dass unsere Nachkommen einen süßen Neid gegen uns hegen werden, wenn sie von dem seltenen und ehrfürchtigen Ereignis hören, das wir genießen durften; wir wünschen ihnen von Herzen, dass sie eines Tages ähnlich glücklich sein wer- den.“128

emozionante della mia carriera, l’istante in cui sottoposi agli sguardi avidi di S.Em. l’Arcivescovo e di tutta quella eletta accolta di persone la mia lastra perfetta.” 126 Enrie, Giuseppe, La Santa Sindone rivelata dalla fotografia, 88. „Ebbi la ventura di trovarmi da solo a solo coll’illustre prelato e di essere testimone della sua commozione fer- vida ed intensa. Egli piegó le ginocchia innanzi a quella prima copia fotografica poi la prese e la bació e due la- crime gli spuntarono sul viso maschio e forte. Indi esclamó: <> (…) Non poteva poscia staccare lo sguardo da tutte quante le copie, ammirandone a volta a volta la descrizione evi- dente di tutta la figura del Redentore e la chiarezza dei segni della Passione e la straordinaria e divina espres- sione del S.Volto.” 127 Claudel Paul, zitiert nach: Gottardo, Roberto: Papi, pellegrini e poeti. Il fascino del mistero, in: Luoghi dell’in- finito Anno XiX/194 (2015), 33. “È lui! È il suo volto! Questo volto che tanti profeti e tanti santi hanno desiderato contemplare…ció che tra- spare meglio su questa nobile fisionomia cosí tremendamente martoriata é un senso di straordinaria pace, di solennitá unita a dolce serenitá e a calma profonda, senza trace di passione umana e senza impronta di debo- lezza. Si resta conquistati dalla sua nobiltá, dalla sua maestá, dalla sua serietá, dalla sua tristezza. È davvero il volto di un morto che é risuscitato”. 128 Cappi, Mario, La Sindone dalla A alla Z, 319. 62

Dieselbe Überzeugung zur Echtheit des Tuches finden wir später bei Papst Pius XI, Achille Ratti. Er ließ die Ausstellung 1931 veranstalten und fürchtete sich nicht vor Kritik und Miss- verständnissen. Der Kardinal Maurilio Fossati erzählt in seinem im Jahr 1939 erschienenen Bericht „Pius XI und das Heilige Grabtuch“ von den letzten Lebensjahren des Papstes und von seiner Verbundenheit der Reliquie gegenüber:

„Je näher er dem Sterben war, desto mehr verspürte er den Wunsch, über das Grabtuch zu sprechen. Er nutzte jede Gelegenheit, mit kleinen Zeichen tiefer Ehrerbietung die Verehrung zu fördern. Wenige Tage vor seinem Tod, am 3. Februar 1939, empfing er Seine Eminenz, Kardinal Villeneuve, Erzbischof von Quebec, gemeinsam mit anderen Bischöfen aus Kanada. Er gab ihnen persönlichen das Bild des Heiligen Antlitzes und erklärte ihnen, dass dieses das Antlitz Jesu repräsentiere, dem Grabtuch nachgebildet.”129 Auch einige Päpste unserer Zeit haben sich mit dem Heilige Leinen beschäftigt. Für sie hat oft die Begegnung mit dieser Reliquie eine starke spirituelle Erfahrung bedeutet, welche sie teil- weise tief berührt und stark geprägt hat.

Papst Paul VI, Giovanni Battista Montini, spricht im Rahmen der ersten Fernsehausstellung im Jahre 1973 von seiner eigenen Ergriffenheit bei der Betrachtung des Volto Santo auf einem großen Bildschirm:

“Was auch immer das historische und wissenschaftliche Urteil sein mag, das sich tüchtige Forscher über diese so viele Überraschungen und Geheimnisse hegende Reliquie bilden mögen… das Antlitz Christi, wie es hier dargestellt wird, erscheint uns so wahr, so tief, so menschlich und göttlich, wie wir es in keinem anderen Bild bewundern und verehren können; es ist für uns ein Augenblick eines einzigartigen Zau- bers.”130 Fünfundzwanzig Jahre später, bei der Ausstellung im Jahre 1998, unterstreicht Johannes Paul II erneut den Wert der wissenschaftlichen Untersuchungen um das Grabtuch und lädt alle Forscher dazu ein, ihre Arbeit vorurteilsfrei, mit innerer Freiheit und Respekt für die wissen- schaftlichen Methoden, sowie mit Bedacht für die Sensibilität der Gläubigen durchzuführen. Er prägt dafür einige Ausdrücke, die eine bleibende Stelle in der Geschichte der Spiritualität des Grabtuches einnehmen. Das Turiner Grabtuch ist für Wojtyla in erster Linie ein Spiegel der

“Egli (der Papst) é fuor di dubbio che i nostri posteri, all’udire che noi godemmo di sí raro e devoto spettacolo, ci porteranno dolce invidia; noi auguriamo loro cordialmente di essere un giorno altrettanto fortunati”. 129 Cappi, La Sindone, 32. “Quanto piú si avvicinava l’ora della morte, tanto piú sentiva il desiderio di parlare della S.Sindone; approfittava di ogni occasione per propagarne il culto con accenti di profonda venerazione. Il 3 febbraio 1939, pochi giorni prima della morte, ricevendo l’ Em.mo cardinal Villeneuve, arcivescovo di Qebec, con altri Em.mi vescovi del Canada, distribuiva loro di sua mano l’immagine del Santo Volto, spiegando che rappresentava il Volto di Gesú, ispirato alla Sindone”. 130 Paul VI, zitiert nach: Gottardo, Roberto: Papi, pellegrini e poeti. Il fascino del mistero, in: Luoghi dell’infinito Anno XiX/194 (2015), 33. „Qualunque sia il giudizio storico e scientifico che valenti studiosi vorranno esprimere circa cotesta sorpren- dente e misteriosa reliquia…il volto di Cristo, ivi raffigurata, ci apparve cosí vero, cosí profondo, cosí umano e divino, quale in nessuna altra immagine avevamo potuto ammirare e venerar; fu quello per noi un momento d’incanto singolare.“ 63

Evangelien, demütiges Zeichen, das uns auf Ihn verweist, der da abgebildet ist. Es ist aber auch eine Darstellung des menschlichen Leidens und nicht zuletzt die Darstellung der Liebe Gottes, der Seinen Sohn für uns gegeben hat. Schließlich ist es eine Provokation der Vernunft, so ge- heimnisvoll und unerklärbar noch für die Forscher, Herausforderung und Dorn im Auge für alle, welche vom Primat der Wissenschaft überzeugt sind.

Benedikt XVI spricht vom Grabtuch als einer Ikone des Karsamstags, Zeichen des Schweigen Gottes in der Dunkelheit des Todes, finsteres Mysterium des Glaubens und gleichzeitig leuch- tender Beweis grenzenloser Hoffnung.

Das Thema der Stille kehrt in den Meditationen von Papst Franziskus wieder. Für ihn spricht das Gesicht des Tuches in seiner Stummheit und schaut uns an. Viele Menschen, so das argen- tinische Oberhaupt der katholischen Kirche, pilgern vielleicht nach Turin, um zu sehen und um gesehen zu werden und nicht um etwas zu bekommen. Der Abdruck auf dem Leinen erinnert uns an die vielen Männern und Frauen auf der ganzen Welt, die in ihrer Würde verletzt wurden, als Opfer von Krieg und Gewalt.

Tatsächlich findet man im Pilgerbuch der Turiner Ausstellung von 2010, in welchem tausende von Gläubigen ihre Gedanken hinterlassen haben, keine Gebete, keine Bitten, sondern nur Worte der Dankbarkeit und des Staunens, ein Zeichen dafür, dass das Tuch heute, wie in den vergangenen Jahrhunderten, nicht aufhört, das Herz vieler Menschen zu berühren und zu be- schenken.131

3.8 Retter des Grabtuches Es ist nicht verwunderlich, dass gläubige Christen, egal welcher Konfession sie angehören, sich von dieser Reliquie so tief berührt fühlen. Ob einfache Laien, Pilger, Priester, Ordensleute, Bischöfe oder Päpste und Kardinäle, alle werden vom geheimnisvollen Antlitz auf dem Grab- tuch erreicht und in ihrem Inneren angesprochen.

Wie verhält es sich aber mit jenen Menschen, die beruflich mit dem Turiner Grabtuch in Kon- takt treten? Wir wissen zum Beispiel, dass nicht alle Forscher, welche im Jahre 1978 im Rah- men des STURP nach Turin kamen, der christlichen Religion angehörten. Einige von ihnen

131 Vgl. Gottardo, Roberto: Papi, pellegrini e poeti. Il fascino del mistero, in: Luoghi dell’infinito Anno XiX/194 (2015), 35. 64 waren Juden oder sogar deklarierte Agnostiker und Atheisten. Wie haben diese Menschen die Begegnung mit dem stummen Mann des Tuches erlebt?

Eine sehr rührende Geschichte, die ich hier ansprechen möchte, wird uns von einem Feuerwehr- mann aus Turin erzählt: Mario Trematore, heute 62 Jahre alt. Er ist der Mann, welcher in der Nacht zwischen dem 11. und dem 12. April 1997 das Turiner Grabtuch aus seiner brennenden Kapelle rettete. In dem furchtbaren Brand ging alles verloren, die 25 Meter hohen Flammen verschlangen alles, was sie auf ihrem Weg fanden, nur den Reliquiar mit dem Heiligen Leinen nicht. Für den damaligen Kardinal Giovanni Saldarini eigentlich ein Wunder. Was erzählt Ma- rio Trematore von jener Nacht? Er erinnert sich an einen Brand, wie man ihn sogar als Feuer- wehrprofi selten im Leben sieht, an die eigene Angst und an die Sorgen um seine eigenen Kol- legen. Die Gefahr bestand nicht darin, dass das Feuer das Tuch verschlingen könnte, sondern eher darin, dass das Dach der Kapelle einstürzen könnte. Er erinnert sich aber auch eine unbe- schreibliche Kraft, die er in sich spürte, die nicht nur menschlich sein konnte, die es ihm er- möglichte, das schusssichere Glas des Reliquiars mit einem schweren Hammer zu zersplittern. In dem Augenblickt, so erzählt er in einem Interview, habe ich die Kraft aus dem Geist von einer Milliarde Gläubiger bekommen.

Was bedeutet das Turiner Grabtuch für ihn heute? Eine Antwort zu geben ist für ihn schwierig, denn die Vernunft kann das Geheimnis nicht erklären. Tatsache ist, dass für den Turiner Feu- erwehrmann an dem Tag das Leben einen tieferen Sinn bekommen hat und eine spirituelle Er- fahrung begann. Nach dem Beispiel von Christus, der den Weg der Demut und des Dienstes gewählt hat, möchte Mario auch nach dieser dramatischen Erfahrung leben und er hat in den darauffolgenden Jahren zwei kleine Gebetsgruppen gegründet, eine in Turin und eine in Bari, und beide “Il Mandylion” genannt.132

3.9 Forscher und Wissenschaftler über ihre Erfahrung In den letzten hundert Jahren haben die wissenschaftlichen Untersuchungen des Turiner Grab- tuchs berühmten Forschern aus den verschiedensten Bereichen die Möglichkeit geboten, sich mit einem außergewöhnlichen Studienobjekt auseinander zu setzen. Viele von ihnen haben sich

132 Vgl. Di Giglio, Alberto: Mario Trematore. Il pompiere che ha salvato la Sindone, in: Credere. La gioia della fede Anno III/16 (2015), 7-11. 65 diesen Studien aus reinem Interesse gewidmet, oft ohne Entgelt, aber mit vielen Stunden schwe- rer Arbeit.

Wenn man die Geschichte dieser Reliquie als spirituelle Erfahrung betrachtet, kann man die Ergebnisse dieser Fachmänner nur bestaunen: Denn ihre Arbeit brachte sie zusammen mit den erstaunlichen Entdeckungen zu einer persönlichen Beziehung zu dem Mann des Tuches.

Stevenson und Habermas zum Beispiel, Mitglieder des STURP und Autoren des Buches „Ver- dict on the Shroud“ (Urteil über das Grabtuch), waren wie viele andere Kollegen am Anfang der Arbeiten in Turin sehr misstrauisch. Sie hatten schon in den USA viel über dieses außerge- wöhnliche Objekt gehört, glaubten aber nicht an seine Echtheit. Ihre Haltung sollte sich im Laufe der Untersuchungen ändern: Das STURP lieferte ihnen all die notwendigen wissenschaft- lichen Daten, um sich von seiner Authentizität zu überzeugen.133

Pier Luigi Baima Bollone, Gerichtsmediziner an der Universität von Turin, hat sein ganzes Leben das Turiner Grabtuch studiert. Aus den Erzählungen seiner Eltern in der Kindheit sind sein großes Interesse und die unwiderstehliche Faszination für diese Reliquie entstanden. Im- mer wieder berichtet er von seiner ersten Begegnung mit dem Tuch als einem unvergesslichen Moment der Ergriffenheit. „Als ich an der Reihe war, so erklärte er in einem Interview, hatte ich den Eindruck, als ob das Bild Gestalt annehme. Es war so, als hätte ich es dreidimensional gesehen, und ich dachte, dass mir meine Augen übel mitspielten.“134 Als gläubiger Christ und Wissenschaftler möchte er das Grabtuch auch während der Ausstellung besuchen. Für sein spi- rituelles Leben wirkt die Reliquie immer wieder erschütternd und hält, unabhängig von seinem religiösen Hintergrund, an seiner Überzeugung fest:

„Aufgrund rationaler und wissenschaftlicher Überlegungen bin ich mir sicher, dass das, worüber wir spre- chen, das Leichentuch ist, in dem Jesus Christus vor 2000 Jahren eingehüllt worden ist. Diese Ansicht würde auch ich, wenn ich ein Atheist wäre, so vertreten. Unter den Forschern, die an seine Echtheit glauben, sind zahlreiche Juden, Protestanten und Agnostiker. (…) Auch weil die Wahrscheinlichkeitsrechnung von einer Möglichkeit von 1 zu 225 Milliarden spricht, dass das Grabtuch nicht echt sei.“135

133 Vgl. Stevenson, Verdetto, 16. 134 Baima Bollone, Pier Luigi zitiert nach: Ternavasio, Maurizio: Quella scoperta mi ha cambiato la vita, in: http://vaticaninsider.lastampa.it/news/dettaglio-articolo/articolo/sindone-40535/ (abgerufen am 22.10.2015). „Quando è toccato a me” so erklärt er in einem Interview “ho avuto l’impressione che l’immagine prendesse corpo. Era come se la vedessi in tre dimensioni, e ho pensato che i miei occhi mi stessero facendo un brutto scherzo.” 135 Baima Bollone, zitiert nach: Ternavasio, Maurizio: Quella scoperta mi ha cambiato la vita, in: http://vatica- ninsider.lastampa.it/news/dettaglio-articolo/articolo/sindone-40535/ (abgerufen am 22.10.2015). „Sono certo, per ragioni razionali e scientifiche, che quello di cui stiamo parlando sia il Lenzuolo con cui è stato avvolto Gesù Cristo duemila anni fa. Lo direi anche se fossi ateo. E tra i ricercatori che credono nella sua genui- nità ci sono numerosi ebrei, protestanti e agnostici. (…) Anche perché il calcolo delle probabilità parla di una pos- sibilità su 225 miliardi che la Sindone sia falsa.” 66

Einigen der Forscher wurden folgende zwei Fragen gestellt: Wann fand Ihre erste Begegnung mit dem Sindon statt? Und: Was hat diese Begegnung für Ihr Leben und Ihren Beruf bedeutet?

John Jackson, einer der Begründer des STURP, hat im Alter von 13 oder 14 Jahren das erste Mal vom Grabtuch gehört. Seine Mutter hatte ihm damals erzählt, sie habe ein Bild von Jesus. Als Kind hätte er ihr gleich geantwortet, er würde eines Tages erforschen, wie dieses Abbild entstanden ist. Im katholischen Glauben erzogen ist das Grabtuch für Jackson immer ein dop- peltes Studienobjekt, das es einerseits aus einer wissenschaftlichen und andererseits aus einer spirituellen Perspektive zu betrachten galt.

„Ich erachte es mittlerweile als Privileg, dieses Bild studieren und betrachten zu dürfen; es ermüdet mich nie, und ich denke, dass mein spirituelles Leben durch diese Forschungsarbeit in großem Maß bereichert worden ist.”136 Die erste Begegnung mit dem Turiner Grabtuch erlebte Sebastiano Rodante, Arzt aus Catania, im Jahr 1941, als er noch Gymnasiast war. Ein Priester, mit dem er befreundet war, schenkte ihm das Buch von Giuseppe Enrie und augenblicklich wandelte sich der Skeptizismus des jun- gen Studenten in Neugier. Aus Neugier wurde Interesse, als Rodante die Ergebnisse des Nati- onalkongresses über das Grabtuch las. Und aus dem Interesse wuchs die Leidenschaft. Im Laufe der Zeit konnte er sich auch von der Echtheit des Tuches überzeugen, denn der abgebildete Mann konnte für ihn niemand anderer sein als Jesus Christus. Außerdem zieht er heute wie damals viel Kraft aus der Betrachtung dieses Gesichtes. Die tägliche Meditation über das Lei- den dieses Mannes gibt ihm Kraft im Leben, die ihm hilft, kleine und große Hindernisse zu überwinden, aber in erster Linie die Schmerzen der Mitmenschen zu verstehen.137

Für Ian Wilson, britischer Experte der Kunstgeschichte, begann das Abenteuer mit dem Turiner Grabtuch im Jahr 1955.

„Ich habe von der Existenz des Tuches erfahren, als ich 1955 einen von Leonard Cheshire, einem englischen Kapitän und Kriegshelden geschriebenen Artikel, gelesen habe. Als 14-jähriger Londoner Student, der ich damals war, und vollkommener Agnostiker, aber mit großem Interesse für die Kunst, hat mich seine Be- trachtung nicht nur beeindruckt, sondern sie hat meinen Agnostizismus aufgrund der absoluten Abwesen- heit jeglichen künstlerischen Stils sofort in Zweifel verwandelt.”138

136 Jackson, John zitiert nach: Barberis, Il caso Sindone, 267-268. „Considero tuttora un privilegio studiare e contemplare quell’immagine né mi stanco mai di farlo e ritengo che la mia vita spirituale sia stata grandemente arricchita da questo tipo di studi.” 137 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 271-272. 138 Wilson, Ian zitiert nach: Barberis, Il caso Sindone, 276-277. „Appresi dell’esistenza del Telo nel 1955 leggendo un articolo a firma di Leonard Cheshire, capitano inglese, eroe di guerra. Da studente londinese quattordicenne qual ero, completamente agnostico ma con grande inte- resse per l’arte, la sua contemplazione, oltre ad impressionarmi, si trasformó subito in sfida al mio agnostici- smo per via dell’assoluta mancanza di uno stile artistico”. 67

In seinen Studien als Kunsthistoriker wurde er von David Willis, katholischer Arzt, und Maurus Green, einem Benediktiner, begleitet. Wilson erzählt, dass bei ihm die Auseinandersetzung mit dem Mann des Tuches, die tiefe Spiritualität von Willis und Maurus und nicht zuletzt die Ehe mit einer Katholikin seine Konversion zum Katholizismus im Jahre 1972 herbeiführten. Für den Engländer hatte das Heilige Leinen einen großen Einfluss auf sein Leben, nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch.139

Auch die intensive Beziehung von Gian Maria Zaccone, Direktor des Grabtuchmuseums, mit dem Sindon entstand in seiner Studienzeit. Er sah es zum ersten Mal anlässlich der ersten Fern- seherausstellung im Jahr 1973 und war von den Worten des Papstes Paul VI sehr berührt. Sein wirkliches Interesse wurde erst vier Jahre später entfacht, als sein Vater ihm einen Zeitungsar- tikel über die Untersuchungen zur Dreidimensionalität von Jackson und Jamper zeigte. Um seine Neugier zu befriedigen, schickte ihn der Pfarrer zum alten Don Coero Bogna, von dem der junge Student mit zahlreichen Büchern beladen nach Hause kam. „Geben Sie Acht.“, hatte der Priester zu ihm gesagt, „das Leichentuch ist ein gefährliches Schweißtuch. Wenn jemand mit diesem Phänomen in Kontakt tritt, wird er davon umgarnt und es gelingt ihm nur sehr schwer, daraus wieder zu entkommen.“140 Und er hatte Recht! Nach dreißig Jahre bewegt sich Zaccone noch immer in der faszinierenden Welt des Turiner Grabtuches, welches er zusammen mit seiner Familie als das größte Geschenk seines Lebens bezeichnet.

„Wenn du hören willst und kannst, dann ist jenes Bild furchterregend eloquent, und es fordert dich auf zu einer persönlichen Konfrontation. Manche weichen dieser Konfrontation mit der menschlichen und – für den, der glaubt – mit der göttlichen Realität Jesu Christi aus. Ich fürchte, das ist der eigentliche Grund, warum einige, vielleicht auch unbewusst, auch davor die Flucht ergreifen.”141

139 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 277-279. 140 Zaccone, zitiert nach: Barberis, Il caso Sindone, 280. “Faccia attenzione: la Sindone è un pericoloso sudario. Quando uno vi entra ne viene avvolto in modo che diffi- cilmente riesce ad uscirne”. 141 Zaccone, Gian Maria zitiert nach: Barberis, Il caso Sindone, 281. „Se vuoi e sai ascoltare, quell’immagine è terribilmente eloquente e ti costringe ad un confronto, ad interro- garti. Comunque a non eludere il confronto con la realtá umana e – per chi crede – divina di Gesú Cristo. Temo sia questa la vera ragione per cui tanti, forse anche inconsciamente, la rifiutano”. 68

4 Die Position der Kirche

4.1 Eine endlose Kontroverse Seit dem Zeitpunkt seines Auftauchens in Frankreich sind um das Turiner Grabtuch die heißes- ten Debatten entstanden. Im Mittelpunkt steht die Frage nach seiner Authentizität, die heute mehr denn je aktuell erscheint. Waren die Menschen im Mittelalter mehr an der spirituelle Be- deutung dieser Reliquie interessiert als daran, ob sie echt ist und kein Problem daran sahen, selbst Kopien verschiedener Natur zu verehren, so wollen die Menschen heute eine Antwort auf die Frage, ob das Heilige Leinen in Turin wirklich das Abbild von Jesus von Nazareth ist. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hatte man gehofft, eine sichere, wissenschaftlich fundierte Ant- wort auf diese Frage zu bekommen Ein befriedigendes Ergebnis blieb aber aus. Denn je inten- siver sich die Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen mit diesem Tuch auseinandersetzten, desto geheimnisumwitterter wurde dieses Objekt.

Die Publikationen von Experten, die ihre Beweise für oder gegen die Echtheit dieses heiligen Gegenstandes darstellen wollten, haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant vermehrt und großes Interesse in einem breiten Publikum erweckt. Innerhalb dieser unterschiedlichen Inter- pretationen, Meinungen und Ansichten von Denkern und Forschern, die sich oft äußerst emo- tional mit ihren Argumenten und Gegenargumenten „bekämpft“ haben, hat auch die katholische Kirche ihre offizielle Position immer wieder definieren müssen. Welche Haltung soll man ei- nem so verehrten Objekt gegenüber zeigen, das von Millionen von Gläubigen verehrt wird, von zahlreichen Skeptiker lächerlich gemacht wird und das nicht einmal die besten Wissenschaftler der Welt befriedigend erklären können? Die katholische Kirche versucht, das wissen wir genau, mit solchen heiklen Themen vorsichtig umzugehen. Die Authentizität dieses Tuch zu bestäti- gen, könnte die Ernsthaftigkeit und die Glaubwürdigkeit des Heiligen Stuhls ins Lächerliche ziehen. Sich dagegen zu positionieren, könnten die Sensibilität und die Spiritualität vieler Glau- bensanhänger verletzen und würde nicht zuletzt bedeuten eine jahrhundertealte Tradition nicht anzuerkennen, welche das geistige Leben Italiens begleitet hat.

Wie die katholische Kirche im Fortgang der Zeit mit der schwierige Frage der Authentizität umgegangen ist, hängt von mehreren Faktoren ab.

69

4.2 Das Problem der Authentizität Wenn man sich mit der Frage nach der Echtheit des Turiner Grabtuch auseinandersetzten will, muss in erster Linie einmal klar gestellt werden, dass der Begriff Authentizität alles andere als eindeutig ist. Es gibt mindestens drei Bedeutungen dieses Begriffes.

Im ersten Fall meint man damit, dass das Abbild und die Blutflecken auf dem Stoff durch einen natürlichen Prozess entstanden sind, und zwar aufgrund einer menschlichen Leiche, welche in diesem Tuch eingehüllt war. Weder Ersteres noch Zweiteres sind Werke menschlicher Hand, sind keine künstlichen Produkte und es wurde auch keine unbekannte Methode verwendet, um das Grabtuch, so wie wir es kennen, zu fertigen.

Eine zweite Bedeutung findet sich im historischen Konnex. Man geht davon aus, dass die vier synoptischen Evangelien, sowie manche Apokryphen, auf das Bestattungstuch von Jesus Bezug nehmen. Das Turiner Grabtuch könnte in diesem Fall echt sein, wenn bewiesen wird, dass es aus dem ersten Jahrhundert stammt und eine menschliche Leiche einhüllte.

Die dritte Bedeutung ist eben mit der Gestalt von Jesus von Nazareth verbunden und für ge- wöhnlich wird dieser Begriff von den meisten Menschen so verstanden und dies lässt sich durch folgende Frage ausdrücken: Ist dieses Tuch wirklich das Leinen, das vor zweitausend Jahren den toten Körper von Christus einhüllte? Können wir den Mann des Tuches mit all den Zeichen der Geißelung und der Kreuzigung als den historischen Jesus identifizieren?142

Ich möchte im Folgenden bei dieser letzten Bedeutung bleiben und ich werde versuchen, all die mit dem Turiner Grabtuch verbundenen Informationen darzustellen, die für und gegen seine Echtheit sprechen.

4.2.1 Das Zeugnis der Evangelien Das Grabtuch von Turin wird verständlicherweise deshalb mit der Figur von Jesus verbunden, weil es eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen der Todesart des Mannes auf dem Heiligen Lei- nen und dem Tod Christus, wie es in den vier Evangelien beschrieben wird, gibt. Niemandem entgeht das grausame Prozedere einer römischen Kreuzigung, wie wir sie auch aus anderen historischen Quelle kennen, mit der dieser vorausgehenden Geißelung, welche auf den Fotos

142 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 12-15. 70 von Enrie deutlich wahrzunehmen sind. Besonders fallen die Zeichen einer brutalen Misshand- lung vor der Hinrichtung auf, so wie die Wunden einer möglichen Dornenkrone am Kopf und eines Lanzenstiches am Brustkorb. Das Schicksal des Mannes auf dem Heiligen Tuch ist der Beschreibung des Schicksals von Jesus Christus durch die Evangelisten sehr ähnlich und bei- nahe identisch.

Was aber die Bestattung Jesu angeht, so sind die Informationsquellen etwas spärlicher. Von den Synoptiker wissen wir nur, dass sie aufgrund des bevorstehenden Sabbats in großer Eile erfolgte, und nur bei Johannes allein finden wir den Hinweis von dem Leinen im Grab.

Für manche stellt dieser Aspekt eine zusätzliche Verbindung mit dem Tod Jesu dar, denn auch der Mann des Grabtuches wurde nicht gemäß traditioneller Bestattungsprozeduren begraben. Die zahlreichen Blutflecken lassen aber erkennen, dass er unbekleidet, ungewaschen und nur teilweise gesalbt ins Tuch gelegt wurde, was nicht den damaligen Bestattungsbräuchen ent- spricht. Diese Art der Bestattung könnte auf eine übereilte Vorgangsweise hinweisen. Es könnte aber auch mit einem essenischen Friedhof in Verbindung gebracht werden, der in den 50er Jahren bei einem Kloster am Toten Meer gefunden wurde. Die Skelette der dort lebenden As- keten wurden ohne Schmuck, ohne Geschirr und nur eingehüllt in ein Leinentuch gefunden.143

Was mit dem Leinen des Herrn nach der Auserstehung geschah, erfahren wir nur aus den Apokryphen. Das Hebräer-Evangelium berichtet, dass der auferstandene Jesu Jakob erscheint und ihm persönlich sein Syndon als Zeichen der Auferstehung überreicht. Im Gamaliel Evan- gelium wird von Pilatus berichtet der nach seiner Bekehrung zum christlichen Glauben überna- türliche Taten im Name Jesu und vermittelt über seine Grabtücher vollbringt. Das Nikodemus Evangelium erzählt, dass Jesus nach der Auferstehung vor Nikodemus erscheint und ihm seine noch im Grab liegenden Leinen zeigt. Es handelt sich dabei um Zeugnisse aus einer späteren Zeit, welche nicht als historisch glaubwürdig gelten können. Sie beweisen trotzdem ein gewis- ses Interesse für das, was von der Bestattung Jesu noch „übrig geblieben“ ist.

Was gegen die verbindende Identität zwischen dem Mann des Turiner Grabtuches und Christus spricht, sind wieder die biblischen Texte. Die Evangelisten verwenden Verben wie „einwickeln, binden oder einschnüren“, während das Tuch von Turin, wie die Wissenschaftler es rekonstru- iert haben, einfach um den Leichnam gelegt wurde.144

143 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 330-331. 144 Vgl. Peracchino, Sindone: Sappiamo. 71

4.2.2 Indizien aus der Welt der Kunst Das größte Problem für die Historiker besteht in den langen Jahrhunderten, in denen vom Grab- tuch Jesu keine deutlichen Spuren vorhanden sind. Die Zeit zwischen dem Tod Jesu und dem Auftauchen des Acheiropoietos in Edessa stellen eine echte Herausforderung für all die Befür- worter der Authentizität des Turiner Grabtuches da. Für die Gegner scheint die Antwort deut- lich zu sein: Es gibt keine Beweise, bzw. diesbezügliche Indizien seiner Existenz während die- ser Zeitspanne, weil es einfach nicht existierte. Dagegen aber tauchen einige Hinweise einer möglichen Existenz des Heiligen Tuches auf, wenn man die sakrale Ikonografie der ersten Jahr- hunderte nach Christus betrachtet. Ohne bei diesem Thema zu sehr ins Detail zu gehen (daraus könnte eine eigene Masterarbeit werden), sei nur erwähnt, dass viele Kunstwerke einheitlich die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen der mindestens ab dem 6. Jahrhundert existierenden iko- nographischen Darstellung Jesu und dem Gesicht auf dem Turiner Grabtuch zeigen. Wenn Christus früher nach dem Vorbild Apollons dargestellt wurde, jung und ohne Bart, so zeigen ab diesem Zeitpunkt mehrere berühmte Ikonen (wie die der Heiligen Sophia in Salonicco, des Pantokrators in Delphi, des segnendne Christus im Dom von Monreale oder des Jesus im Klos- ter von der Heiligen Katherina am Sinai) einen neue Art der Darstellung von Jesus. Auf den byzantinischen Kruzifixen hat er Schnurrbart und Bart mit zwei Spitzen, in der Mitte geteilte Haare, bei der Nase und den Jochbögen asymmetrische Züge, Falten an der Stirn, Hände mit vier Fingern, ein kürzeres Bein und eine Körperverkrümmung. All diese Details können nur, so die Befürworter der Echtheit des Turiner Grabtuches, von einer einzigen Inspirationsquelle her stammen, die schon damals als echtes Bild des Herrn bekannt sein musste. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Computeranalyse, die 1976 von Jean Lorre und Donald Lynn im Jet Propulsion Laboratory von Pasadena (NASA) am Grabtuch von Turin durchgeführt wurde. Sie haben die aufgenommenen Bilder des Gesichtes von den Wunden und von den durch die Folter verursachten körperlichen Veränderungen „gereinigt“ und es dann mit den Gesichtern der schon oben erwähnten Christusikonen verglichen, indem sie diese mit Hilfe von Computer- technik übereinander legten. Das Ergebnis brachte eine hohe Anzahl von Übereinstimmungen, so dass man mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten kann, dass der Mann des Turiner Grab- tuches den Prototyp der christlichen Ikonographie darstellen kann.145

145 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 150-156. 72

4.2.3 Grabtuch und Mandylion? Was die mögliche Synonymität von Turiner Grabtuch und Mandylion von Edessa betrifft, so streiten sich die Experten noch immer.

Für diese These sprechen manche Hinweise, so die Miniatur auf dem Codex Pray, wo drei Löcher mit L-Form und das Fischgratmuster des Stoffes auffallen und deutlich der in Turin verehrten Reliquie ähneln.

Worüber sich aber die meisten Historiker und Syndonologen, die Grabtuchexperten, nicht eini- gen können, ist die Frage nach der Natur des Mandylions: War es ein Tuch nur mit dem Gesicht Christi oder hatte es den Abdruck seines ganzen Körpers? Viele haben die Antwort in der Be- zeichnung tetradiplon gesucht, das in den Akten von Taddäus, einer zwischen 609 und 944 verfassten griechischen Rezension der Abgar-Legende, als Synonym für das Tuch von Edessa verwendet wurde und „in vier gefaltet“ bedeutet. Nach der Interpretation des englischen Kunst- historikers Ian Wilson wurde das Turiner Grabtuch damals vierfach gefaltet, um seine wahre Natur, seine Unreinheit zu verbergen. Tatsächlich ist es möglich das Grabtuch so zusammen- zufalten, dass man nur das Gesicht zu sehen bekommt. Andrea Nicolotti, Geschichtsprofessor an der Universität Turin, vertritt dagegen die Überzeugung, dass das Turiner Grabtuch und das Mandylion absolut nichts miteinander zu tun haben. In der Legende von Abgar, erklärt er, werde von einem Bild des lebenden Jesus berichtet. Wie könnte es mit einem Gesicht identifi- ziert werden, der geschlossene Augen aufweist?146

Außerdem sehen Experten Probleme, was die richtige, bzw. adäquate Übersetzung des griechi- schen Textes betrifft. Manche Worte aus dem Griechischen können mit verschiedenen Begrif- fen übersetzt werden: So ist es zum Beispiel nicht klar, ob Jesus auf dem Tuch sein „Gesicht“ oder sein „Erscheinen“ hinterließ.147 Und klar ist auch nicht, ob es sich dabei um ein kleines Tuch handelt, was man gewöhnlich für die Hände oder das Gesicht verwendet, oder ob damit ein größeres Stoffstück, wie etwa ein Mantel gemeint sein könnte.148

Daran erkennt man schon die Schwierigkeiten, eine mögliche Existenz des Turiner Grabtuches vor dem 14. Jahrhundert zu beweisen.

146 Vgl. Nicolotti, Andrea: Dal Mandylion di Edessa alla Sindone di Torino. Metamorfosi di una leggenda. Ales- sandria: Edizioni dell’Orso, 2011, 41-43. 147 Vgl. Nicolotti, Dal Mandylion di Edessa, 35-37. 148 Vgl. Nicolotti, Dal Mandylion di Edessa, 32-33. 73

4.2.4 Anatomische Beweise Seit den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen am Grabtuch ist den Ärzten und Pathologen die Genauigkeit der Darstellung des menschlichen Körpers aufgefallen. Yves Delage studierte als Erster das Bild des gekreuzigten Mannes und beobachtete fasziniert, wie realitätstreu alles zu erkennen war. Einige Jahre später beschäftigte sich der Anatomieprofessor Pierre Barbet mit dem Abdruck auf dem Heiligen Leinen, das er minuziös beschrieb.149 Was aber die Forscher noch mehr überrascht, sind die Ergebnisse mit Hilfe digitaler Medien. Durch Bildanalyse konnte John Jackson, amerikanischer Physiker in Albuquerque (New Mexico), die Schwär- zungsdichte eines jeden Punkte des Abbildes feststellen und messen. Daraus konnte man er- kennen, dass die Beziehung zwischen hellen und dunklen Tönen mathematisch exakt war. Der Abdruck konnte dreidimensional dargestellt werden und erscheint dabei perfekt in allen Di- mensionen. Dagegen resultieren die dreidimensionalen Bilder von Kopien, seien sie Gemälde oder eine Skulptur, verzerrt und nicht der Perfektion des Originals entsprechend.150

4.2.5 Buchstaben um das Gesicht Großes Interesse im Rahmen des STURP erregte eine sensationelle Entdeckung, welche für viele Historiker der Beweis für die Herkunft des Heiligen Leinen schlechthin sein könnte: John Jackson und Eric Jumper, zwei Physiker, welche die Dreidimensionalität des Abbildes nach- wiesen, entdeckten zwei runde Objekte in den Augenhöhlen des Mannes auf dem Grabtuch. Sie erinnern an zwei Münzen.

Der erste, der sie gesehen hat, war Francis Filas, Jesuit und Professor an der Theologieuniver- sität von Loyola in Chicago, dies bereits im Jahre 1954. Er glaubte auf einer Vergrößerung eines Bildes von Giuseppe Enrie vier Buchstaben (UCAI) in einer Augenhöhle zu sehen und dachte, dass es vielleicht eine Münze hätte sein können. Erst zwanzig Jahre später können die Forscher des STURP seine faszinierende Theorie bestätigen. Auch Ian Wilson, der Historiker aus England, erkennt in beiden Augen das Abbild zweier Münzen, welche er als von den römi- schen Prokuratoren in Palästina gedruckte Münzen identifiziert. Er stellt die Hypothese auf, dass die Buchstaben UCAI ein Teil des Namenszuges „TIBEPIOU KAISAROS“(von Tiberius Cäsar) seien und erkennt darin den lepton lituus, eine kleine Münze, die zur Zeit Tiberius zwi- schen dem 29. und dem 32. Jahr nach Christus verbreitet war. Die fehlende Übereinstimmung

149 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 95. 150 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 53-62. 74 zwischen den Buchstaben C und K ließe sich durch eine Reihe falsch gedruckter Münzen er- klären, wobei das K in das C umgewandelt wurde; von dieser Münze gibt es ein Exemplar.

Diese sollen aber nicht die einzigen auf dem Syndon sichtbaren, bzw. entdeckten Buchstaben bleiben. Dank der neuen digitalen Technologien, welche immer präzisere Fotoaufnahmen des Turiner Grabtuches und des auf ihm abgebildeten Mannes ermöglichen, können die Forscher neue interessante Elemente aufspüren.

Die Forscher des optischen Physikinstituts von Orsay, in der Nähe von Paris, haben eine Me- thode entwickelt, mit der es möglich ist, uralte, nicht mehr erkennbare Schriften zu lesen. Im Jahre 1998 entdeckte Professor André Marion griechische und lateinische Buchstaben im Ge- sicht des Mannes auf dem Grabtuch, aus welchen ganze Worte entstehen. Der Informatikex- perte Thierry Castex meint auch hebräische Buchstaben zu erkennen.

Nach langen Studien behauptet , Forscherin im vatikanischen Geheimarchiv und weltweitbekannte Expertin für antike und mittelalterliche Schriftstücke und Dokumente, die Lösung dieses Enigmas gefunden zu haben. Auf dem Grabtuch wurde ein Schild angebracht, auf dem der Begräbnisakt des Verstorbenen eingetragen wurde. Das war eine verbreitete Praxis für das Begräbnis eines Gekreuzigten, der gewöhnlich in einem öffentlichen Grab beigesetzt wurde, bis die Familie ihn nach einem Jahr „Reinigungszeit“ wieder zurückbekommen durfte. Darauf sind Worte wie „iber“, vielleicht Teil von Tiberius; „innece(m)“, das man mit „zum Tode“ übersetzten könnte und „neazare“, das an „nazarenos“ erinnert, zu erkennen. Die Italie- nerin lässt keinen Zweifel daran, dass die Schriftzüge eindeutig Bezug zum Todes Jesu haben und einen absoluten Beweis für diese antike Herkunft darstellen. Auf dem Tuch kann man die Worte „(I)esosu(s)“ und Nazaränus“ erkennen; der Begriff Christus fehlt jedoch, ein Zeichen, dass der Schreiber kein Jünger war. Weiters ist noch zu lesen: „in der neunten Stunde hingelegt, ich vollstrecke, sechzehn, verurteilt und Monat des hebräischen Kalender.“151

Unter der Annahme ein mittelalterlicher Künstler hätte Details auf seinem Kunstwerk einge- fügt, die mit bloßen Augen nicht erkennbar sind, so bleibt die unbeantwortete Frage: Warum?

Die Experten neigen immer mehr dazu, das Abbild auf dem Tuch als nicht menschliches Werk anzusehen, können sich aber gleichzeitig nicht erklären, wie es entstanden ist. Noch weniger sind sie in der Lage, die Frage der Authentizität wissenschaftlich zu beantworten und plädieren eher für eine Relativierung des Problems. Man solle die historischen Untersuchungen aus einer

151 Vgl. De Lorenzi, Angelo: La prova regina, in: Sindone. Storia e mistero Anno V/4 (2015), 22. 75 anderen Perspektive betreiben, eher mit dem Ziel, die Rolle des Grabtuches für die Menschen der verschiedenen Epochen herauszuarbeiten, statt krampfartig eine Antwort auf die Frage nach der Echtheit zu suchen.152

Die fruchtbarste Art dem Grabtuch zu begegnen sei es, seine religiöse Bedeutung im Laufe der Jahrhunderte zu betrachten. Die Geschichte dieser Reliquie verbindet ein Miteinander von Ver- ehrung und Volksfrömmigkeit, welche noch heute stark in unserer aufgeklärten Gesellschaft präsent ist. Viel wichtiger als wissenschaftlich zu ergründen, wer der Mann des Tuches ist, lohnt es sich vielleicht der Frage nach zu gehen, welche Bedeutung dieser Mann für die Men- schen hat.153

4.2.6 Eine probabilistische Berechnung Viele Forscher haben sich in ihrem Leben dem Studium des Grabtuches zugewendet und haben versucht, die Identität des Mannes auf dem Heiligen Leinen mit Jesus von Nazareth zu bewei- sen. Ein einfacher Ansatz dieses Problem zu lösen bestünde in der wissenschaftlichen und quan- titativen Überprüfung der Ähnlichkeiten zwischen den biblischen Berichten über den Tod Jesu und den uns bekannten Fakten über das Abbild des Syndons. Forscher haben die Methode der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Turiner Grabtuch angewendet. Durch diese Methode kann man aufgrund von einfachen Berechnungen mathematisch feststellen, welche Wahr- scheinlichkeit es gibt, dass der Mann auf dem Leinen und Christus dieselbe Person sind. Dafür sind alle Aspekte wichtig, die den zwei Männern gemeinsam sind, wie zum Beispiel die Grab- legung, die Stichwunden am Kopf, das Tragen des patibulums, die Kreuzigung mit Nägeln, die Wunde am Brustkorb, die übereilte Grablegung und der kurze „Aufenthalt“ im Grab. Alles was in den Evangelien über Jesus berichtet wird, weist auf eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Hinrichtung hin. In den meisten Fällen wurden die Zum-Tode-Verurteilten in Massengräber geworfen, nicht immer mussten sie ihren patibulum tragen, oft wurden sie mit Seilen und nicht mit Nägeln an das Kreuz gehängt und meistens wurden ihnen die Beine gebrochen, um den Sterbebeprozess zu beschleunigen, anstatt ihr Herz mit einer Lanze zu durchstechen. Außerdem wird nie von einer Dornenhaube oder Dornenkrone berichtet. Experten haben nun die Wahr- scheinlichkeit berechnet, dass all diese Aspekte in einem einzigen Kreuzigungsfall gleichzeitig

152 Vgl. Zaccone, Gianmaria: È possibile una storia della Sindone? In: http://www.sindone.org/diocesitorino/al- legati/54388/03%20Intervento%20Zaccone.pdf (abgerufen am 21.10.2015). 153 Vgl. Colagrande, Fabio: Sindone, Ostensione 2015: superare l’ossessione autenticitá, in: http://it.radiovati- cana.va/news/2015/04/16/sindone,_ostensione_2015_superare_ossessione_autenticit%C3%A0_/1137367 (abgerufen am 21.10.2015). 76 auftreten. Das Ergebnis spricht für sich allein. Unter 200 Milliarden möglichen Gekreuzigten besteht nur eine Möglichkeit, dass jemand all die Merkmale des Mannes am Grabtuch gleich- zeitig aufweist. Wenn man dann noch den Faktor einberechnet, wie es die Forscher gemacht haben, dass im römischen Reich, solange es bestand, sicher nicht mehr als 200 Millionen Men- schen gelebt haben, können wir die mathematische Schlussfolgerung ziehen, dass diese Wahr- scheinlichkeit sogar noch geringer ist. Mit der Methode der Wahrscheinlichkeitsberechnung gesprochen scheint es also äußerst wahrscheinlich, dass der Abdruck auf dem Turiner Grabtuch das Antlitz von Jesus von Nazareth zeigt.154

4.3 Kirchliche Stellungsnahmen Auch die Rolle und Bedeutung des Turiner Grabtuches in der katholischen Kirche wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder von der beunruhigenden Frage bezüglich seiner Authen- tizität begleitet. Aus der Zeit seines ersten Auftauchens in Lirey ist ein erstes offizielles Doku- ment bekannt, in dem der Heilige Gegenstand vom Troyer Bischof Pierre d’Arcis als eine Fäl- schung deklariert wurde. D’Arcis behauptete sogar, er wisse, wie das Abbild gemalt wurde. Was die Pilger in ihrer Frömmigkeit als ein Wunder betrachteten, beschrieb der Ortsbischof als skandalös mit der Befürchtung, dass sich die Verehrung des Tuches in Idolatrie verwandeln könnte. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse um das Syndon beweisen heute, dass es sich da- mals um eine Lüge handelte. Denn uns ist heute bekannt, dass der wahre Grund der feindlichen Haltung des Klerikers rein finanzieller Natur war. Im selben Jahr1389, war das Dach der bi- schöflichen Kathedrale eingestürzt und die dringend notwendige Reparatur konnte nur mithilfe von Spenden von Pilgern geschehen, die aber leider ausblieben, weil die frommen Gläubigen lieber nach Lirey pilgerten. Es ist wird hier also deutlich, dass es dem Bischof weniger um die Echtheit der verehrten Reliquie ging, sondern eher um ein Machtspiel zwischen der bischöfli- chen Autorität auf der einen Seite und der Familie Charny und den Klerikern von Lirey auf der anderen.155

Das Problem der Echtheit der verehrten Reliquie tauchte in den darauffolgenden Jahrhunderten für die katholische Kirche aber immer wieder auf, begleitet von der Frage, ob sie deren Aus- stellung genehmigen sollte oder nicht. Die grundsätzliche Haltung der Kirche in dieser Zeit ist von Skepsis kenngezeichnet: Meistens wird das Tuch für unecht erklärt, das nicht als Reliquie,

154 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 216-226. 155 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 43-44. 77 sondern nur als Abbild zu verehren ist. Perioden, in denen die Ausstellungen genehmigt wer- den, wechseln sich ab mit Zeiten der Verbote. Die Sache änderte sich mit der Übergabe des Tuches in die Hände der königlichen Familie von Savoyen. Eine offizielle Stellungnahme sei- tens der Kirche bleibt aber aus, sogar als Papst Julius II auf Anfrage von Karl dem Guten im Jahr 1506 den Kultus in der Öffentlichkeit genehmigt und einen Gedenktag für das Heilige Leinen festsetzt.156

Das Grabtuch wurde vielleicht in dieser Zeit auf dem gleichen Niveau gesehen wie viele andere Reliquien, deren Herkunft unbekannt ist und die deshalb dubios erscheinen. In und nach einer Epoche des Mittelalters, in der die enorme Nachfrage nach Reliquien zur systematischen Her- stellung von Fälschungen geführt hat, kann man die zurückhaltende Haltung der offiziellen Kirche nur zu gut verstehen.

Ein neuer Abschnitt beginnt mit den Fotos von Secondo Pia und den ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Abbild auf dem Grabtuch entschlüsselt sich durch die photographischen Aufnahmen plötzlich wie ein echtes, unerwartetes Wunder, während immer mehr Wissen- schaftler außerhalb der Kirche großes Interesse für die Heilige Reliquie zeigen. Welche Position soll nun die Kirche einnehmen?

4.3.1 Wissenschaft und Wunder Das Aufblühen der Wissenschaften und der technischen Errungenschaften um die Jahrhundert- wende bildet den idealen Hintergrund, so meinen viele, um endlich die ewige Frage der Au- thentizität des Turiner Grabtuchs zu beantworten. Die Kirche selbst scheint immer mehr für neue Erkenntnisse offen zu sein und interessiert sich für die neue Kunst der Fotografie.

Wie schon erwähnt erwecken Pias Aufnahmen große Bewunderung in der Öffentlichkeit, aber auch tiefes Misstrauen. Das mag im ersten Moment überraschend klingen, betrachten wir aber manche Aspekte der damaligen neuen Kunst, können wir darauf sofort eine plausible Begrün- dung finden. Einerseits ist die Bewertung des Werkes des Turiner Anwaltes vom mangelnden Wissen über die Technik des fotografischen Negativs abhängig, andererseits ist die Unsicher- heit vieler, sowohl in der Welt der Wissenschaft als auch in der Kirche, auf die so genannte spiritistische Fotografie zurückzuführen. Diese soll in den USA zufällig entstanden sein, als der

156 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 47-49. 78 in Boston lebende Graveur William Mumler im Jahr 1861 mit seinem Fotoapparat experimen- tierte. Auf dem Bild eines im Zimmer leer stehenden Stuhles war das Antlitz eines kleinen Jungen erschienen. Die Nachricht verbreitete sich rasant unter spiritistischen Kreisen. Mit dem Anspruch übersinnliche und paranormale Phänomene mit der Fotografie festhalten zu können- begannen viele Amateurfotografen wie Mumler aus finanziellen Gründen ihre Bilder zu mani- pulieren.157

Diese Zusammenhänge sind der Nährboden für die ersten Zweifel an der Arbeit von Secondo Pia. Für die Kirche aber stellt sich auch die Frage, wie man in solchem Kontext zwei so wider- sprüchliche Realitäten wie Wunder und Glauben auf der einen und Wissenschaft auf der ande- ren Seite miteinander versöhnen könne.

Wunder stellen für das Christentum ein konstitutives Element des eigenen Glaubens dar: Im Alten Testament wird von zahlreichen, über die Vernunft unerklärlichen Ereignissen berichtet, die Jahwe zugeschrieben werden. Jesus selbst galt in seiner Zeit als Wundertäter, der Menschen heilte, Dämonen austrieb und Tote erweckte. Alles ist Wunder für die Heilige Schrift, alles geht aus der Hand des Schöpfers hervor, alles ist ein Zeichen des Auftretens Gottes im menschlichen Leben.

Die Wissenschaften dagegen vertreten den Anspruch, jedes Phänomen im Licht der Vernunft erklären zu können. Alles, was man nicht logisch erklären kann, wird einfach in den Bereich des Wunders geschoben, wie in einen Warteraum, bis die menschliche Erkenntnisfähigkeit in der Lage sein wird, sein Geheimnis zu enthüllen. In diesem Sinn ist es die Absicht der Wissen- schaft den Glauben von seinem Geheimnischarakter zu befreien.

Wie steht heute die Kirche vor dieser uralten Auseinandersetzung zwischen theologischen und wissenschaftlichen Ansprüchen? Gibt es wirklich keine Begegnungsmöglichkeiten?

Über Wunder wird in der am 24. April 1870 verabschiedeten Konstitution über den katholi- schen Glauben Dei Filius kategorisch erklärt, dass all diejenigen, welche Wunder nur als Fabeln oder Mythen betrachten und behaupten ihr göttlicher Ursprung sei nicht zu beweisen, mit dem Anathema (Ausschluss aus der Kirche) belegt werden sollen.158

157 Vgl. Spirit Photography: It's Strange & Controversial History, in: http://www.prairieghosts.com/ph_hi- story.html (abgerufen am 21.10.2015). / SINDONE: STORIA DI UN MISTERO (Regie: Tornielli Andrea/ Roncalli Marco ITA 2015). 158 Vgl. Imbach, Josef: Wunder. Eine existenzielle Auslegung. Würzburg: Echter Verlag 1995, 32. 79

Heute spricht die katholische Kirche in milderen Tönen. Ohne ihre Überzeugung der Existenz von Wundern zu widerlegen, behauptet sie, dass es keine Widersprüche zwischen Glauben und Vernunft gebe, denn beide fänden ihren Ursprung in Gott. Gott allein schenke den Menschen die Gabe des Glaubens und die Gabe der Erkenntnis.159

Ein weiterer Punkt, der innerhalb der Debatte über die Authentizität des Turiner Grabtuches eine wichtige Rolle spielt, scheint der folgende zu sein: Die Dimensionen von Glaube und Wis- sen sind auf keinen Fall strikt auseinander zu halten, weil auch Wissenschaftler an etwas glau- ben und Theologen einen bestimmten Wissenstand besitzen. Hier sollte man alle Beteiligten daran erinnern, dass man weder reine Theologie noch absolut „saubere“ Wissenschaft betreiben kann.

Schließlich sei noch erwähnt, was diese zwei Bereiche der menschlichen Erkenntnis verbindet: die Erfahrung des Staunens. Im Wahrnehmen des Unerwarteten und des Unerklärlichen findet sich der allererste Ausgangspunkt der theologischen Reflexionen und der wissenschaftlichen Recherchen, die gelegentliche das Phänomen nicht konträr, sondern bloß aus verschiedenen Blickwinkeln erklären wollen.

In der Debatte um das Turiner Grabtuch und dessen Wahrheit genießt aber die katholische Kir- che einen Vorsprung, so zu sagen einen Vorteil. Auf der Suche nach der Identität des geheim- nisvolles Antlitzes auf dem Heiligen Leinen verfügt sie über eine gewisse innere Freiheit, die vielleicht für Wissenschaftler, Agnostiker oder Atheisten wenig erfreulich ist, denn ein hypo- thetischer Beweis, dass das Syndon nicht den toten Körper von Jesus von Nazareth eingehüllt hat, hätte keine Konsequenzen für ihren Glauben. Die kirchliche Autorität ist nicht von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen abhängig, noch weniger die Glaubwürdig- keit der christlichen Botschaft. Die Erkenntnis dagegen, dass der Mann des Tuches tatsächlich Jesus Christus ist, könnte für viele Wissenschaftler, Agnostiker oder Atheisten eine echte Nie- derlage bedeuten. Sie müssten doch die Existenz von Wundern und vielleicht sogar von Gott anerkennen.

Der Kardinal Giacomo Biffi schreibt im Jahr 2000:

„Soweit ich weiß, hat kein Verantwortlicher der Kirche jemals das Grabtuch als Beweis für die Wahrheit des Christentums angeführt. Der Gläubige jedoch ist ein Forscher, der – insofern er glaubt – an keine grund-

159 Vgl. Catechismo della Chiesa Cattolica, 20. 80

sätzlichen Bedingungen gebunden ist: er kann in Ruhe gläubig sein und die Echtheit des Grabtuches ableh- nen. Es ist jedoch viel schwieriger, zur Annahme der Echtheit dieses außergewöhnlichen Funds zu gelangen und weiterhin ungläubig zu bleiben.”160

4.3.2 Ikone oder Reliquie? Jahrhunderte lang wurde das Turiner Grabtuch von tausenden von Menschen besucht und ver- ehrt. Für einfache Bauern, Soldaten und Geschäftsleute, sowie für Kleriker, Ordensmenschen, Päpste und Kardinäle galt es als die Passionsreliquie Christi schlechthin, obwohl die offizielle Kirche sich nicht deutlich dazu äußerte. Tatsache ist aber, dass viele Päpste der Vergangenheit es als Reliquie bezeichneten, von seiner Echtheit überzeugt waren und es persönlich hinge- bungsvoll verehrten.

Wir wissen aber, dass das Syndon in Lirey von kirchlichen Autoritäten mit einer äußerst skep- tischen Haltung betrachtet wurde und seine Ausstellungen nur unter der Bedingung zugelassen wurden, dass es nicht als Reliquie, sondern nur als Abbild, als Ikone für die persönliche Medi- tation gilt.161

Welchen Stellenwert soll also das Grabtuch haben? Ist es eine Reliquie, die allerwichtigste Re- liquie der Christenheit, oder ist es nur eine Darstellung, eine Erinnerung an die Passion des Herrn? Was unterscheidet im Allgemeinen und insbesonders im Fall des Heiligen Leinens eine Reliquie von einer Ikone?

Unter dem Begriff Ikone versteht man in erster Linie ein Kultbild mit der Darstellung heiliger Menschen und ihres Lebens innerhalb der orthodoxen Kirche. Im übertragenen Sinn kann die- ses Wort auch einen Gegenstand bezeichnen, der für bestimmte Werte und Vorstellungen steht.162

Als Reliquien dagegen galten bei den frühchristlichen Gemeinden die Gebeine eines Märtyrers oder all die Gegenstände, mit denen dieser besondere Mensch in Berührung gekommen war. Später machte sich Kaiser Konstantin auf die Suche nach den Orten und den Gegenständen, mit denen das Leben Jesu und das seiner Jünger verbunden gewesen waren. Auch sie wurden als

160 Vgl. Peracchino, Sindone: sappiamo. “Nessun responsabile della Chiesa, che io sappia, ha mai elencato la Sindone tra le prove della verità del cristia- nesimo. Il credente è perciò un ricercatore che, in quanto credente, non ha condizionamenti di principio: può tranquillamente aver fede e negare l’autenticità della Sindone. È invece molto più arduo arrivare ad ammettere l’autenticità di questo eccezionale reperto e continuare a non credere in niente.” 161 Vgl. Zaccone, Guardare la Sindone, 108. 162 Vgl. Ikone, in: http://www.duden.de/rechtschreibung/Ikone (abgerufen am 07.03.2016). 81

Reliquien verehrt und dienten hauptsächlich der spirituellen Ermunterung der Gläubigen. Für die Menschen damals war die archäologische Authentizität dieser Gegenstände nicht so we- sentlich in ihrem Glaubensleben, wichtiger schien für sie der Symbolcharakter zu sein. Deshalb wurden oft auch Kopien (vom Turiner Grabtuch sind mehrere Kopie bekannt) angefertigt und im Pastoral eingesetzt. So wird verständlich, dass Ikonen und Reliquien in den vergangenen Jahrhunderten nicht so klar zu trennen waren. In der Antike geschah es außerdem oft, dass man die Knochen eines Heiligen pulverisierte. Das Pulver wurde dann mit Farben gemischt. Die mit solchen Pigmenten gemalten Ikonen sollten noch intensiver die Anwesenheit der dargestellten Person ins Gedächtnis rufen. Kein Wunder also, dass diese Begriffe sich damals viel näher als heute standen.163

Das Turiner Grabtuch wurde in seiner Geschichte von den kirchlichen Autoritäten abwechselnd mit beiden Worten bezeichnet. Als die wissenschaftlichen Studien um das Tuch begannen und sich die Frage nach seiner Echtheit schärfte, wurde es der Kirche nach und nach klarer, dass auch eine begriffliche Klarstellung von ihrer Seite von großer Bedeutung war. Soll man also das Heilige Leinen in Turin als Reliquie oder als Ikone bezeichnen? Die Entscheidung blieb bei den verschiedenen Päpsten des 20. Jahrhunderts immer vom fachlichen Wissensstand der Ex- perten abhängig. Solange die Untersuchungen keine explizite Widerlegung der Authentizität beweisen konnten, sprachen die Heiligen Väter vom Grabtuch als der Reliquie der Christenheit schlechthin, die uns von Christus hinterlassen wurde.

Das sollte sich schlagartig im Jahr 1983 ändern, als die Datierung des Turiner Grabtuches end- lich genehmigt und durchgeführt wurde.

4.3.3 Die Herausforderung der Datierung Am Ende ihrer Arbeit fassen die amerikanischen Wissenschaftler des STURP eine Reihe von Vorschlägen für zukünftige Studien und Forschungen zusammen und übergeben sie sie dem Custode Pontificio, dem päpstlichen Wärter, da der Heilige Vater ein Jahr vorher Eigentümer der kostbaren Reliquie geworden ist. In dieser Liste findet sich der Vorschlag, eine genaue Datierung des Alters des Grabtuches mit der C-14 Methode, welche 1947 vom Amerikaner Willard Frank Libby entdeckt wurde, durchzuführen.164

163 Vgl. Peracchino, Sindone: sappiamo. 164 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 173. 82

Für die meisten Menschen stellt diese Methode die Möglichkeit schlechthin dar, eine endgültige Antwort auf die Frage der Authentizität zu geben. Angelockt von der damit verbundenen Wer- bung, melden sich drei Labore aus den USA (Brookhaven, Tucson, Rochester), zwei aus Eng- land (Harwell und Oxford) und eins aus der Schweiz (Zürich), um die Datierung durchzuführen. Im Jahr 1985 wird beschlossen, dem British Museum die ganze Operation anzuvertrauen. Die Experten des STURP sollen die Stoffprobe entnehmen, und zwar unter der Bedingung, dass sie gleichzeitig und unabhängig voneinander arbeiten und die Ergebnisse in primis an Rom und Turin übermittelt werden.165

Am 21. April 1988 werden in der Sakristei des Turiner Doms und vor den Augen des Erzbi- schofes die drei Stoffproben entnommen, die für die drei auserwählten Labore (Tucson, Oxford und Zürich) gedacht sind. Die Arbeitsbedingungen werden aber offensichtlich nicht respektiert: Tucson führt die Datierung im Mai durch, Zürich im Juni und Oxford im August. Nicht nur das: Am 8. Mai wird durch die BBC in Zürich eine Reportage gedreht, in der die drei Stoffproben aus ihren Eisenröhren genommen werden. Am 27. Juli wird der Film ausgestrahlt, also bevor Oxford seine Untersuchung durchführt hat. Am 28. September erfährt man in Turin endlich die endgültigen Ergebnisse der C-14 Datierung: Das Grabtuch stammt aus dem Mittelalter.166

Am 13.Oktober 1988 wird das Ergebnis in Rom unter großer medialer Anteilnahme offiziell veröffentlicht. Auf die Erwartungen und Emotionen der Anwesenden folgt nur Stille. Das Turi- ner Grabtuch wurde von den drei Labors zwischen 1260 und 1390 datiert. Kardinal Ballestrero, lächelnd und gelassen, drückt die Reaktion der Kirche auf die Ergebnisse mit folgenden Worten aus:

„Indem die Kirche der Wissenschaft die Bewertung dieser Ergebnisse anvertraut, betont sie ihre Achtung und ihre Verehrung dieser verehrungswürdigen Ikone Christi, die Objekt der Wertschätzung der Gläubigen bleibt gemäß der Haltung, die seit jeher dem Heiligen Grabtuch gegenüber entgegengebracht worden ist, wonach der Wert des Bildes höher ist als ein eventueller historischer Befund“.167 Nur drei Tage später erscheint das Buch von David Sox „The Shroud unmasked: Uncovering the Greatest Forgery of All Time“ (Das Grabtuch ist demaskiert: Die Enthüllung des größten Betrugs aller Zeiten). In die Freude der Grabtuchgegner mischen sich die Zweifel derer, welche die nicht ganz sauberen Ergebnisse der Datierung nicht kritiklos akzeptieren wollen. Es wurde

165 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 178-179. 166 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 181-184. 167 Cardinal Ballestrero, zitiert nach: Barberis, Il caso Sindone, 186. „Nel rimettere alla scienza la valutazione di questi risultati, la Chiesa ribadisce il suo rispetto e la sua venera- zione per questa veneranda icona di Cristo, che rimane oggetto del culto dei fedeli, in coerenza con l’atteggia- mento da sempre espresso nei riguardi della S. Sindone, nella quale il valore dell’immagine è preminente ri- spetto all’eventuale valore di reperto storico”. 83 sogar die Anschuldigung ausgesprochen, dass die Stoffproben für die Untersuchungen ge- tauscht wurden, dass die Stoffstücke ungünstig aus einem verschmutzten Bereich des Tuches entnommen wurden und dass die Arbeit der drei Laboratorien nicht professionell, sondern man- gelhaft und oberflächlich gewesen sei. Schließlich wurden von den für die Entnahme der Stoff- proben Zuständigen und von den Wissenschaftlern der drei Labore unterschiedliche Werte be- züglich Größe und Gewicht der eben genannten Stoffproben genannt. Zu viele Inkonsequenzen lassen viele Fragen offen.168

4.3.4 Das Kuznetsov-Experiment In einem Klima voller Misstrauen findet in Rom vom 10. bis zum 12.Juni 1993 ein Symposium über das Turiner Grabtuch statt. Organisiert vom C.I.E.L.T. (Centre International d’Etudes sur le Linceul de Turine) weist das internationale Treffen viele Namen berühmter Wissenschaftler aus der ganzen Welt auf. Unter ihnen erwecken zwei russische Wissenschaftler, Dimitri Kuz- netsov (Lenin-Preisträger und Leiter des Sedov-Biopolymer-Labors in Moskau) und Andrej Ivanov mit ihrem Vortrag über die Genauigkeit der C-14-Methode bei alten Leinen großes In- teresse. Damit wollen sie beweisen, dass die für die Datierung verwendete Methode im Fall des Turiner Grabtuches nicht geeignet war.169

Nachdem Kuznetsov vergebens versucht hat von Dr. Tite erklärende Informationen über die in England durchgeführte Radiodatierung zu bekommen, entscheidet er sich für ein praktisches Experiment. Er ist der Meinung, dass bestimmte Faktoren, wie zum Beispiel hohe Temperatu- ren, die Ergebnisse einer Radiodatierung beeinflussen, bzw. verfälschen können. Kuznetsov verwendet dafür ein altes jüdisches Leinen, das in einem Labor in Arizona offiziell auf den Zeitraum zwischen 100 v.Ch. und dem Jahr 100 n.Chr. datiert wurde, und simuliert im Labor dieselben physikalischen Bedingungen des Brandes von Chambery im Jahre 1532. Sein in Mos- kau durchgeführtes Experiment wird Fire Simulating Model genannt. Damals befand sich das Grabtuch eingeschlossen in einem Silberkasten bei wenig Sauerstoff und großer Hitze. Es sei zu vermuten, so der russische Wissenschaftler, dass Moleküle von Holz, Seide, Silber und Zinn sich vermischt haben, die viel jünger als das Tuch selbst sind, und dass dieser Prozess, der so genannte Isotopenaustausch, die Datierung der Stoffproben in Tucson, Oxford und Zürich ver- fälscht habe. Das alte jüdische Leinen wird also in einem Holzkasten, der mit Seide und Silber

168 Vgl. Barberis, Il caso Sindone, 188-190. 169 Vgl. Cappi, La Sindone, 192-194. 84 ausgelegt ist, sehr hohen Temperaturen und Wasserdampf ausgesetzt. Danach wird das Tuch wieder durch die C-14-Methode untersucht. Ergebnis: Plötzlich ist es um viele Jahrhunderte jünger. Für Kuznetsov klingt die Schlussfolgerung unbestreitbar: die Radiodatierung ist in die- sem Fall, und dementsprechend auch im Fall des Turiner Grabtuches, falsch.170

4.3.5 Reliquie ist nun Tabu Die Worte des Kardinals Ballestrero bei der Pressemeldung am 13. Oktber 1988 zeigt mit einem Wort die neue, den wissenschaftlichen Ergebnissen angepasste offizielle Haltung der Kirche dem Turiner Grabtuch gegenüber. Es wird nicht mehr als Reliquie, sondern als Ikone bezeich- net. Ab diesem Tag wird kein Vertreter der katholischen Kirche das Heilige Leinen in Turin offiziell als Reliquie benennen, sogar in den einzelnen Gemeinden wird es ausdrücklich verbo- ten diesen Begriff und seine Synonyme zu verwenden; das Syndon wird nun immer mehr Be- deutung für Pastoral und Spiritualität gewinnen. Das geschieht in erster Linie, so meinen man- che, um unnötige Probleme zu vermeiden. Das Grabtuch als Ikone zu bezeichnen kann kein Fehler sein, weil ja die Übereinstimmung zwischen seinem Abbild und der Beschreibung des Todes Jesu in den vier Evangelien unwiderlegbar zu sein scheint. Wenn wir den Mann auf dem Grabtuch betrachten, sei es nun echt oder nicht, gehen die Gedanken automatisch zu Christus zurück. Würden wir weiter behaupten, das Heilige Leinen in Turin sei eine Reliquie, wäre damit implizit gemeint, dass ihr Abbild mit seinen 700 Wunden durch den direkten Kontakt mit dem toten Körper Jesu entstanden sei, und das kann nach der Radiodatierung im Jahr 1988 offiziell niemand vertreten.171

Was bedeutet aber die Veränderung der Bezeichnung nun für die Gläubigen? Was sollen sie damit verbinden bzw. verstehen?

Eine Ikone ist in erster Linie ein Leitbild. Besonders im orthodoxen Kontext spürt man stark diese Rolle, wo Gläubige durch Ikonen in Gottes Geheimnis hineingeführt werden. Dadurch wird ein Ereignis der Vergangenheit in die Gegenwart gehoben, damit der Mensch jederzeit das sieht, was er durch die Offenbarung sieht, und das glaubt, was er sieht. Dadurch wird wahre Glaubenserfahrung konkret, wie in der Apostelgeschichte beschrieben: „Da wandte ich mich um, weil ich sehen wollte, wer zu mir sprach“ (Off 1,12). Die Ikone wird in diesem Sinn als

170 Vgl. Siliato, Und das Grabtuch, 38-41. 171 Vgl. Petrosillo, Orazio: Il tabú della Sindone come reliquia, in: Studi cattolici 471 (2000), 338-339. 85

Übersetzung des Wortes verstanden, welche das „Alphabet der Farben und die Sprache des Symbols“ verwendet. Die Ikone zeigt das, was das Wort zu erklären versucht.172

4.4 Papst Johannes Paul II Auf seiner Reise nach Madagaskar am 28.April 1989 hat der Journalist Orazio Petrosillo die Möglichkeit, das erste Mal nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Radiodatierung, mit Papst Wojtyla über die für ihn persönliche Bedeutung des Turiner Grabtuches zu reden. Die Frage lautet, ob das Tuch eine einfache Ikone oder eine Reliquie sei. Es geht nicht um eine offizielle Stellungnahme des Heiligen Stuhls, sondern um eine persönliche Meinung. Der Papst antwortet, ohne jeglichen Zweifel zu zeigen: „Eine Reliquie ist es auf jeden Fall, und die Über- zeugung jener ist nicht grundlos, die darin das Abbild des Leibes Christi zu sehen glauben.”173

Neun Jahre später pilgert der polnische Papst nach Turin, um vor dem Grabtuch zu beten. In seiner wunderschönen Rede zu diesem Anlass stellt er das Heilige Leinen mit stark emotionalen Tönen dar. Für ihn ist das Turiner Grabtuch ein einzigartiges Geschenk, schockierendes Zei- chen der leidenden Liebe des Erlösers, Zeuge des Leidensweges, des Todes und der Auferste- hung des Herrn. In dem Abdruck auf dem Tuch ist das gesamte Geheimnis des Osterfestes zusammengefasst. Wojtyla bezeichnet das Grabtuch als einen Spiegel des Evangeliums. Vor ihm kann man es nicht vermeiden, an Jesus von Nazareth zu denken, auf sein Leben zu blicken und sich in der Tiefe des eigenen Gewissens Fragen zu stellen.

Johannes Paul II sieht in dem Tuch eine Ikone des Leidens aller Menschen aller Zeiten, es will uns an die vielen Brüder und Schwestern erinnern, welche auf der ganzen Welt leiden und un- sere Hilfe benötigen. Es ist aber auch eine Ikone der Liebe Gottes für die Menschheit, vor der jeder von uns nur rufen kann: „In Wahrheit konntest Du mich nicht mehr lieben!“ Damit klingt es wie eine Einladung, die eigene Existenz nach dem Vorbild Jesu zu gestalten. Und es ist eine Ikone der Ohnmacht vor dem Tod und der Stille. In der Ohnmacht des Todes sind wir alle zur Hoffnung der Auferstehung berufen und in der Stille Gottes werden wir alle eingeladen, das Vergängliche zu überwinden, um das Wesentliche zu entdecken, eben die geheimnisvolle Liebe des Vaters. Schließlich sieht der Papst in dem Syndon eine „provocazione all’intelligenza“, eine

172 Vgl. Mirri, Luciana: <>: l’oriente cristiano e la sindone, in: Studi ecumenici Anno XVII/2 (1999), 310-311. 173 Johannes Paul II, zitiert nach: Petrosillo, Il tabú della Sindone, 338. 86

Herausforderung für die Vernunft, die jeder Gläubige und jeder Wissenschaftler mit allem Ernst annehmen sollte.174

4.5 Was sagt nun die katholische Kirche? In erster Linie kann die katholische Kirche nicht umhin, die Ähnlichkeiten zwischen dem Mann des Grabtuches und der Leidensgeschichte Jesu anzuerkennen und zu akzeptieren. Auch die Forscher haben es von Anfang an getan und es steht für jeden fest, dass ein verblüffender Kon- nex zwischen diesen zwei Männern existiert und viele fasziniert.

Die Beziehung der katholischen Kirche zu Reliquien hat sich in der Vergangenheit gewöhn- lich in drei unterschiedlichen Formen manifestiert: 1. in der Suche nach der Wahrheit der Reliquien, dies war immer wieder von Untersuchungen und Verboten begleitet; 2. in dem Phänomen einer gesunden Volksfrömmigkeit, wobei die Kirche die Reliquie immer als Wegweiser zu Christus und zu Gott sah; 3. in der Pastoral, als Werk der Kirche für das Wachsen des spirituellen Lebens ihrer Gläubi- gen.175

Was die Authentizität des Turiner Grabtuches angeht, äußert sich Johannes Paul II mit folgen- den Worten:

“Da es sich um keinen Gegenstand des Glaubens handelt, hat die Kirche keine spezifische Kompetenz, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Sie vertraut den Wissenschaftlern die Aufgabe an, die Forschungen fortzusetzen, um zu adäquaten Antworten auf jene Fragestellungen zu gelangen, die mit diesem Leintuch, das gemäß der Tradition den Leib unseres Erlösers umhüllt haben soll, verbunden sind. Die Kirche ermutigt dazu, an die Untersuchung des Leichentuchs ohne vorgefasste Meinung heranzugehen, die zu Schlüssen führen, die keine sind. Sie lädt ein, mit innerer Freiheit an die Sache heranzugehen und mit gebührendem Respekt sowohl was die wissenschaftliche Methode als auch das Empfinden der Gläubigen betrifft.”176

174 Vgl. Johannes Paul II, La Sacra Sindone, in: http://www.partecipiamo.it/angela_magnoni/sacra_sindone/gio- vanni_paolo_ii_la_sacra_sindone.pdf (abgerufen am 22.10.2015). 175 Vgl. Ciraselli, Pietro: La reliquia Sindone e legittimitá del suo culto, in: Padre Coero-Borga/ Intrigillo, G. (Hg.): La Sindone. Nuovi studi e ricerche, Milano: Edizioni Paoline 1986, 405-407. 176 Johannes Paul II, zitiert nach: Zaccone, La fotografia della Sindone, 29. “Non trattandosi di una materia di fede, la Chiesa non ha competenza specifica per pronunciarsi su tali que- stioni. Essa affida agli scienziati il compito di continuare ad indagare per giungere a trovare risposte adeguate agli interrogativi connessi con questo lenzuolo che, secondo la tradizione, avrebbe avvolto il corpo del nostro Redentore. La Chiesa esorta ad affrontare lo studio della Sindone senza posizioni precostituite, che diano per scontati risultati che tali non sono; li invita ad agire con libertá interiore e premuroso rispetto sia della metodo- logia scientifica sia della sensibilitá dei credenti”. 87

Die Gläubigen und so auch die offizielle Kirche benötigen keinen Beweis und noch weniger die wissenschaftliche Bestätigung der Identität von Jesus als Mann auf dem Grabtuch, um den eigenen Glauben zu leben.

Neben der Anerkennung der wichtigen Beiträge aller durchgeführten Studien der letzten hun- dert Jahre akzeptiert und fördert die katholische Kirche die Pflege einer hundertjährigen Ver- ehrung (nicht aber Anbetung, was oft von der protestantischen Welt als Kritik verwendet wird) dieser „Ikone Christi“.177 Damit hat sich dank der gut besuchten Ausstellungen der letzten zwanzig Jahre eine tiefgreifende Spiritualität im Zusammenhang mit dem Grabtuch in mehr oder weniger allen Regionen Italiens verbreitet, welche in der Pastoral der verschiedenen Diö- zesen, besonders in der von Turin, ein großes Echo findet.

Zum Schluss ein Gedanke aus der Rede von Papst Franziskus in Turin am 21. Juni 2015 vor dem Grabtuch. Bei dieser Ausstellung, anlässlich des zweihundertjährigen Geburtstags des Hei- ligen Giovanni Bosco, spricht der Heilige Vater von der bedeutenden Aufgabe der katholischen Kirche, nämlich Wächter des Grabtuches zu sein:

„Wächter des Grabtuches zu sein, heißt nicht nur, dieses der Welt zur Schau zu stellen. Aber wir wissen, dass unsere Kirche aus dem Leiden Christi die Kraft zu jener größeren Liebe empfängt – das ist das Motto, das wir für die Ausstellung gewählt haben (die größte Liebe) – , die zum Werkzeug einer neuen Gesellschaft wird: eine Gesellschaft der Liebe; einer neuen Anstrengung der Kirche, arm unter den Armen zu sein, aber offen für die Aufnahme und die Integration vieler unserer Brüder, auch der Immigranten… Es gibt also viele Herausforderungen, die zu einer Quelle der authentischen Erneuerung unserer Gemeinschaft werden können.”178

177 Vgl. Peracchino Maria Margherita, Sindone: sappiamo di non sapere. 178 Franziskus, zitiert nach: De Carolis, Francesco: Il 21 giugno il Papa a Torino per l’OStensione della Sindone, in: http://it.radiovaticana.va/news/2014/11/05/il_21_giugno_il_papa_a_torino_per_lostensione_della_sin- done/1110214 (abgerufen am 21.10.2015). “Essere custodi della Sindone non vuol dire soltanto offrirla in ostensione al mondo. Ma sappiamo che la nostra Chiesa, dalla Passione di Cristo, trae la forza di quell’amore più grande – questo è il motto che abbiamo scelto per l’Ostensione (L’Amore piú grande) – che diventa il veicolo di una nuova civiltà: la civiltà dell’amore; di un nuovo impegno della Chiesa per essere povera in mezzo ai poveri ma aperta all’accoglienza e all’integrazione di tanti nostri fratelli, anche immigrati … Insomma, tante sfide che possono diventare risorse per un rinnova- mento autentico della nostra comunità”. 88

5 Spirituelle Impulse

5.1 Wovon das Grabtuch spricht Über die Spiritualität des Turiner Grabtuches zu sprechen bedeutet unter anderem, dem Leiden der Menschen und der Liebe Gottes zu begegnen. Viele Menschen fühlen sich in dieser Begeg- nung tief berührt, persönlich angesprochen und emotional berührt. Was die Besucher des Grab- tuches bei der Betrachtung seines Abbildes empfinden, hat Franco Garelli in einem im Jahr 1981 veröffentlichten Buch „Il volto di Dio“ (Das Gesicht Gottes) gesammelt und dokumen- tiert. Im Laufe dieser Ausstellung wurden 2.000 Pilgern am Ausgang des Turiner Domes und 400 Busfahrern mehrere Fragen gestellt: „Glauben Sie an die Echtheit dieser Reliquie und füh- len Sie sich von den Zeichen der Passion Christi auf eine unbedingte Weise angesprochen?“ Das Ergebnis dieser Befragung ist eindeutig. Das Grabtuch stellt für die Menschen ein einzig- artiges Dokument dar, den Berührungspunkt von Tod und Auferstehung des Sohnes Gottes schlechthin. Für alle, welche vorher noch Zweifel hatten, bleibt die Übereinstimmung zwischen den Zeichen auf dem Leinen und der Passionsgeschichte der Evangelien unübersehbar. Wer an das Grabtuch absolut nicht glaubt, beobachtet auf jeden Fall das schmerzvolle Drama eines Mannes, das zum Geheimnis geworden ist.

Die Begegnung mit dem Mann des Grabtuches bedeutet in allen Fällen für die meisten Besucher eine tiefe menschliche Erfahrung, die zu Auseinandersetzung und Reflexion einlädt und manch- mal sogar den Charakter einer starken religiösen Betroffenheit aufweist. Viele haben ein „Nicht ausdrückbares Gefühl“ („un sentimento inesprimibile“) erlebt: „Una sensazione meravigliosa, di paura e di sgomento, quasi una sofferenza fisica“ („Ein wunderschönes Gefühl, von Angst und Erschütterung, fast ein körperliches Leiden“), „ho capito che esiste qualcosa di sopranna- turale“ (“ich habe verstanden, dass es etwas Übernatürliches gibt”), „ho detto dentro di me: credo“ („ich habe in mir selbst gesagt: ich glaube“), „adesso so che il mio Salvatore è vivo“ („jetzt weiß ich, dass mein Erlöser lebt“), „mi sono sentita piccola e peccatrice di fronte a tale grandezza“ („vor solcher Größe habe ich mich selbst wie eine kleine Sünderin erlebt“), „mi sembrava che il corpo martoriato di Cristo non fosse solo il suo, ma quello di ogni uomo sulla terra“ („ich habe den Eindruck gehabt, dass der gequälte Körper des Christus der Körper jedes Menschen der Erde ist“), „mi ha colpito il contrasto, tra i segni delle spine e il volto sereno e buono“ („mich hat der Gegensatz zwischen den Zeichen der Dornen und dem gütigen, entspannten Gesicht beeindruckt“).

89

Diese Worte äußern mit Kraft und Klarheit die emotionsbeladene Begegnung vieler Menschen mit dem Mann des Grabtuches und deren spirituelle „Spuren“. Es ist eine Betroffenheit, welche aus der Betrachtung des Todes und aus dem Bewusstsein des menschlichen Sterblich-Seins entspringt, aber auch aus der Frage (für alle, die nicht gläubig sind) oder aus der Hoffnung (für die, die glauben), dass der Tod wohl nicht das letzte Wort hat, sondern etwas Größeres, Mäch- tigeres existiert. Viele haben zum ersten Mal konkret gespürt, was Jesus für sie am Kreuz erlit- ten hat und sie haben sich vor dem Zeugnis dieses Leidens die Frage gestellt: Was mache ich für Ihn? Für manche war die Begegnung mit dem Grabtuch eine stille, aber emotionsbeladene Betrachtung, ein kontemplativer Moment, aus dem Dankbarkeit entstand.179

Die Reflexionen dieser Pilger, Männer und Frauen jedes Alters, fassen in beeindruckender Weise die Spiritualität des Grabtuches zusammen, wie viele Priester, Ordensleute, Kardinäle und Päpste sie in den letzten Jahrzehnten in ihren Meditationen oder Katechesen dargestellt haben.

5.2 Das Leid der Menschen Mit dem Thema des Bösen ist das Leiden der Menschen direkt verbunden. So spricht das Abbild auf dem Turiner Grabtuch nicht nur von einem Mann, der irgendwann und irgendwo brutal misshandelt und getötet wurde, sondern von allen Menschen, die auch heute in verschiedenen Ländern der Welt verfolgt, gequält und getötet werden. Diesen Gedanken teilt Franziskus in seiner via crucis des Karfreitags 2015. „Oft, fährt er fort, „schauen wir einfach zu. Bei diesem Leiden, bei diesem ungerechten Leiden spielt unser Schweigen eine böse Rolle: indem wir zu- schauen und nichts sagen, werden wir selber zu Komplizen des Leidens vieler unschuldigen Menschen.“180

Durch dieses Leiden glauben manche Menschen den Atheismus begründen zu können, so wie Georg Büchner, deutscher Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, welcher in seinem Drama „Dan- tons Tod“(1835) das menschliche Leiden als den Fels des Atheismus bezeichnet. Emblematisch klingen auch die Worte des französischen Denkers und Atheisten Jean Cotureau: „Ich glaube nicht an Gott. Wenn Gott existieren sollte, wäre er das Böse in Person. Ich negiere ihn lieber,

179 Vgl. Garelli, Franco: Il volto. Dal 1978 ad oggi, in: http://www.deho- niane.it:9080/komodo/trunk/webapp/web/files/riviste/archivio/01/199810342a.htm (abgerufen am 21.10.2015). 180 Vgl. Prisciandaro, Vittoria: Nella croce tutti gli „abbandoni“ del mondo, in: Credere. La gioia della fede Anno III/16 (2015), 12. 90 als ihm die Verantwortung für das Böse zu übertragen.“181 Vor dem Hintergrund des Glaubens kann man aber der Theodizee-Frage anders gegenübertreten. Auf den Karfreitag, Symbol des Leidens, folgt der Karsamstag, Symbol des Todes Gottes. Benedikt XVI spricht in seiner Me- ditation vor dem Turiner Grabtuch am 2. Mai 2010 vom Geheimnis des Karsamstags, dem Tag, an dem Gott Fleisch geworden, gestorben und ins Reich des Todes hinuntergestiegen ist. Es ist der Tag, an dem Gott versteckt bleibt, unauffindbar für die Menschen, der Tag der Enttäuschung und der Hoffnungslosigkeit.

Dieses Versteckt-Sein Gottes bildet nach Ratzinger einen wichtigen Teil der Spiritualität des zeitgenössischen Menschen, der sich wie eine Leere im Herzen vieler Menschen zeigt. Nach den zwei Weltkriegen, den Konzentrationslagern, den Atombomben von Hiroshima und Na- gasaki, den russischen Gulags und vielem mehr scheint unsere Epoche immer mehr ein Kar- freitag zu sein. Das ist die Zeit der Stille und der großen Fragen. Das Heilige Leinen in Turin ist Zeuge dieses Tages. Genau im Moment größter Verzweiflung und Desorientierung spricht das Grabtuch zu jedem von uns „Worte“ der Solidarität. Jesus ist ins Reich des Todes hinabge- stiegen und er ist in die absolute, extremste Einsamkeit aller und jedes Menschen eingetreten, um dort seine Liebe zu schenken. Wo die tiefste Verlassenheit herrscht, dort wollte auch Gott sein. „Passio Christi. Passio hominis.“ So das Motto der heurigen Ausstellung, sie möchte Zeuge dieser Verbundenheit sein, die sich zur Hoffnung verwandelt. Wo das Leiden der Men- schen von der liebevollen Präsenz Gottes begleitet wird, dort kann auch die tiefste Dunkelheit durch das Licht der Auferstehung erhellt werden. Wenn wir das Grabtuch mit den Augen des Glaubens betrachten können wir dieses Licht wahrnehmen und in den Blutflecken die Spuren des Lebens und der Liebe Christi erkennen.182

5.3 Un amore piú grande Im gewählten Motto der Ausstellung im Jahr 2015 finden die Christen den Grund ihrer Hoff- nung und das Licht des Ostersonntags: eine größere Liebe. Eine Liebe, die sich freiwillig hin- gibt, die das Leiden miterlebt und mitträgt. Der Dichter Paul Claudel hat geschrieben; „Gott ist

181 Jean Countreau, zitiert nach: Ravasi, Gianfranco: Dolore di Cristo, dolore dell’uomo, in: http://www.sin- done.org/diocesitorino/allegati/25515/testo_Ravasi.pdf (abgerufen am 07.03.2016). “Non credo in Dio. Se Dio esistesse, sarebbe il male in persona. Preferisco negarlo piuttosto che addossargli la responsabilità del male”. 182 Vgl. Benedikt XVI: Le parole di Benedetto XVI davanti alla Sindone, in: http://www.partecipiamo.it/an- gela_magnoni/sacra_sindone/sacra_sindone.htm (Abgerufen am 22.10.2015). 91 nicht gekommen, um das Leid abzuschaffen, auch nicht, um es zu erklären, sondern um es mit seiner Gegenwart zu erfüllen.“ Mit Jesus hat Gott nicht versucht, das Leiden oder das Böse ethisch oder ideologisch zu rechtfertigen, sondern Er wollte durch seinen Sohn die Menschen durch die Erfahrung des Leidens begleiten und tragen. Die Liebe Gottes schützt uns nicht vor den Schmerzen des Lebens, so meinte der Schweizer Theologe Hans Küng, sie hilft uns aber, sie zu tragen und zu überwinden.

In diesem Sinn erzählt der Kardinal Gianfranco Ravasi vom italienischen Schriftsteller Ennio Flaiano (1910-1972). 1942 wurde ihm eine Tochter geschenkt, Luisa, die schon im Alter von acht Jahren am Ohtahara-Syndrom erkrankte. In einem Roman, der aber nicht fertiggeschrieben wurde, hatte sich Flaiano eine Szene vorgestellt, in der Jesus zurück auf die Erde kommt, um sich um die Letzten und die Kranken zu kümmern. Vor den neugierigen Augen der Journalisten und Fotoreporter kommt ein Mann mit der kranken Tochter, bleibt vor Jesus stehen und sagt ihm: „Ich will nicht, dass du sie heilst, nur dass du sie liebst!“ Jesus küsst das Mädchen und ruft: „In Wahrheit hat dieser Mann um das gebeten, was ich geben kann.“ Nach diesen Worten verschwindet er in einem großen Licht und lässt Neugierige und Journalisten zurück, die das Geschehen zu kommentieren und zu beschreiben beginnen. In dieser Szene, in dieser zärtlichen und demütigen Bitte des Vaters an Jesus, beschreibt der Schriftsteller sich und die eigene Liebe für die leidende Tochter selbst. Er wünscht sich kein Wunder, keine Heilung. Er fleht um die liebevolle Hand des Vaters, die er auf das kleine Mädchen legen soll, damit sie ihr Schicksal besser ertragen kann. Er fleht nur um die Liebe Gottes, nicht mehr.183

5.4 Sehen und sehen lassen Papst Franziskus lädt uns alle ein, im Abdruck des Turiner Grabtuches diese Liebe Gottes zu erkennen. In seiner Rede anlässlich der Fernsehausstellung des Jahres 2013 richtet der argenti- nische Papst seine Aufmerksamkeit auf den Blick des Mannes auf dem Tuch. Unser Sehen soll mehr als ein Wahrnehmen mit den Augen sein. Es soll zum betenden Sehen werden, zu einem stillen Dialog. Die geschlossenen Augen dieses Gesichtes können uns auf eine geheimnisvolle Weise ansehen und in der Stille sprechen sie uns an. Die Begegnung mit dem Grabtuch wird zum Dialog, indem unser Sehen sich mit einem Ansehen-Lassen abwechselt. Und durch diesen inneren Blick werden wir vom Wort Gottes erreicht, das unser Leben ansprechen will, ganz

183 Vgl. Ravasi, Dolore di Cristo. 92 persönlich, durch die sprechende Stille der Liebe. Daraus entsteht das Bewusstsein: Gott ist Mensch geworden, ist in die Geschichte eingetreten, hat das Böse in der Welt auf sich genom- men, um uns zu befreien. Trotzdem drückt dieses Gesicht einen tiefen Frieden und eine könig- liche Majestät aus. Es teilt die frohe Botschaft mit: Hab´ Vertrauen auch in den schwierigsten Zeiten, verlier´ nie die Hoffnung, denn die Macht der Liebe Gottes kann alles überwinden.184

In dem Sehen aber können wir unseren Glauben finden bzw. wieder finden. Denn wenn es stimmt, was der Hl. Bonaventura schreibt, dass die Kontemplation der Übergang von der äuße- ren zur inneren Welt ist, dann hilft uns auch der Blick auf das Turiner Grabtuch Gott in unserem Leben zu entdecken und seine Präsenz wahrzunehmen.185

Zum Schluss möchte ich die Frage, warum so viele Menschen heute noch immer nach Turin zum Heiligen Grabtuch pilgern, mit einem Zitat des russischen Mönchs und Bischofs Theophan der Klausner (1815-1894) beantworten:

„Die Schönheit Gottes zu schauen und sich daran zu erfreuen, davon eingenommen zu werden, ist ein Be- dürfnis des Geistes: das ist sein Leben, sein Paradies… Die Seele wendet sich mit Freude an das, wovon sie ein Reflex zu sein scheint, insofern sie davon umgeben ist; oder sie findet oder bringt Werke hervor, von denen sie hofft, dass sie jenes Bild darstellen, das sie geschaut hat.”186 Mögen uns diese Worte auf unserem spirituellen Weg begleiten und anregen, damit wir nie aufhören, das Angesicht Gottes zu suchen, wo es auch immer zum Erscheinen kommt.

184 Vgl. Franziskus: La Sacra Sindone, in: http://www.partecipiamo.it/angela_magnoni/sacra_sin- done/papa_francesco_la_sacra_sindone.pdf (abgerufen am 22.10.2015). 185 Vgl.Mirri, <>, 309. 186 Teofane il recluso, Antologia spirituale. 93

Fazit

Von der Lektüre einer Diplomarbeit erwartet man gewöhnlich -so dachte ich immer- viele in- teressante Informationen und zum Schluss klare Antworten. Das kann ich leider am Ende mei- ner Masterarbeit nicht anbieten, so gern ich das auch tun möchte.

Viele Menschen haben sich in ihrem Leben mit dem Turiner Grabtuch auseinander gesetzt, Wissenschaftler, Kunsthistoriker, Biologen, Chemiker, Mediziner, Theologen und sogar Poli- zisten haben es erforscht und studiert. Daneben haben es Millionen von Gläubigen und Nicht- Gläubigen im Laufe der Jahrhunderte verehrt und aus ihm Nahrung für ihr spirituelles Leben gezogen.

Wie soll man das alles miteinander ins rechte Lot bringen? Eine Erkenntnis hat sich in mir während der langen, unermüdlichen Lektüre der umfangreichen Literatur durchgesetzt: Man kann das Turiner Grabtuch betrachten, studieren, analysieren, fo- tografieren, reproduzieren, anschauen, darüber meditieren, es verehren oder verleugnen, es lie- ben oder auslachen, aber nur eine Sache kann man nicht und zwar vor ihm gleichgültig und unberührt bleiben. Das Grabtuch verführt und gleichzeitig irritiert es: Es verführt auf eine un- erklärliche Weise durch seine Nähe zur Person Christi und es irritiert, indem es sich der Ver- nunft nicht unterwerfen „will“. Paul Johannes II sprach in diesem Zusammenhang von einer Provokation für die menschliche Vernunft, denn je tiefgründiger und genauer sich die Untersu- chungen gestalten, desto mehr Fragen bringen sie ans Licht.

Glaube, Wissenschaft und Emotionalität vermischen sich oft unvermeidlich miteinander, so dass nur eine Möglichkeit bleibt: Bei all den vielen Fragen, Antworten und unbeantworteten Fragestellungen gilt es die eigenen Antworten zu finden.

Die Wissenschaft hat nämlich gezeigt, dass sie in all diesen Jahren nicht stichhaltig vermitteln kann, was dieses Objekt wirklich ist. So wie die theologische Gottesfrage eher mit der via ne- gativa als mit der via positiva beantwortet werden kann, so können auch Forscher heute immer noch nur die eine Frage beantworten, was das Turiner Grabtuch nicht ist, und das haben sie mit großer Klarheit getan: Das Turiner Grabtuch ist kein von Menschen gemachtes Kunstwerk. Im Endeffekt ist es auch kein vollkommen neues Phänomen, denn es war schon in Edessa und in Konstantinopel vor mehr als tausend Jahren bekannt.

94

Was also nun? So spannend die wissenschaftlichen Studien auch sein mögen, so möchte ich sie trotzdem nicht überbewerten, denn sie sind menschlich und dementsprechend begrenzt. Man sollte die Geschichte, die Tradition und Volksfrömmigkeit dieses Gegenstandes nicht unter- schätzen, denn sie zeigen auf welche Weise Menschen in verschiedenen Epochen gesehen, ge- dacht und gespürt haben (und es ist heute eine verbreitete und akzeptierte Tatsache, dass Wissen nicht nur rational erworben werden kann). Ich würde meine Leser am Ende meiner Arbeit ein- fach dazu einladen, sich weiter vom Turiner Grabtuch faszinieren und provozieren zu lassen, neue Entdeckungen und neue Studien weiter zu verfolgen und dabei einen Ehrenplatz für Gott zu reservieren. Es mag nicht wissenschaftlich sein, aber Wissenschaft ist nicht alles.

Mit den modernen Mitteln können wir das Grabtuch nicht erklären, vielleicht wird das eines Tages möglich sein. Im Moment möchte ich nur an die Worte von Augustinus erinnern, der sagte „Si enim comprenhendis non est deus“ (Wenn man ihn versteht, ist er nicht Gott).187

Am Ende meiner Arbeit möchte ich noch ein schönes Gebet zitieren, das ich im Laufe meiner Recherche gefunden habe und das ich zu meinem Lebensprogramm machen möchte.

Preghiera davanti alla Sindone Imprimi il tuo Volto in me, Signore, perché il Padre vedendo Te in me ripeta: ”Tu sei il figlio che amo”, e perché chiunque mi incontra veda una scintilla del Padre.

Imprimi il tuo Volto in me, Signore, perché possa essere testimone della tua luce e della tua bontà, e dell'infinita tenerezza che hai per ogni creatura.

Imprimi il tuo Volto in me, Signore, perché io possa essere un segno del tuo amore per i piccoli e i poveri, per gli ammalati e gli esclusi.

Imprimi il tuo Volto in me, Signore, perché sia una Sindone vivente che porta in sé i segni della tua morte e Resurrezione.

Amen.188

187 Augustinus: Sermo 117 “DE VERBIS EVANGELII IOANNIS (1, 1-3)“, in: http://www.augustinus.it/latino/dis- corsi/discorso_152_testo.htm (abgerufen am 10.04.2016). 188 Preghiera davanti alla Sindone, in: http://www.sindone.info/PRAYER1.HTM (abgerufen am 10.03.2016). 95

Gebet vor dem Grabtuch Präge, Herr, dein Gesicht in mir ein, damit der Vater dich in mir erkennt und wiederholt: „Du bist mein geliebter Sohn“, und damit jeder, der mir begegnet, einen Funken des Vaters sehe.

Präge, Herr, dein Gesicht in mir ein, damit ich Zeuge deines Lichtes und deiner Güte werde, und der unendlichen Zärtlichkeit, die du für alle Geschöpfe hast.

Präge, Herr, dein Gesicht in mir ein, damit ich ein Zeichen deiner Liebe für die Kleinen und Armen sein kann, für die Kranken und Ausgeschlossenen.

Präge, Herr, dein Gesicht in mir ein, damit ich ein lebendiges Grabtuch sei, das in sich die Zeichen deines Todes und deiner Auferstehung birgt.

Amen.

96

Bilderanhang

1. Das Turiner Grabtuch wie es heute den zahlreichen Pilgern gezeigt wird.

2. Vordere Seite des Abdruckes (links) mit fotografischem Negativ (rechts).

97

3. Die Grablegung Jesu von Giovanni Battista Della Rovere. 17. Jh. (Pinacoteca Sabauda).

4. Druck mit der Ausstellung des Jahres 1578 von Giovanni Testa.

98

5. Medaillon von Lirey. 14. Jh. (Musée Nationale du Moyen, Cluny, Paris)

6. Der Apostel Thaddäus und König Abgar V mit dem Mandylion. Ikone des Katharinenklosters vom Sinai (10.Jh).

99

7. Fund des Mandylion in einer Nische der Stadtmauer von Edessa.

8. Nach Erkenntnis von Ian Wilson und John Jackson wurde das Turiner Grabtuch lange Zeit auf diese Weise zusammengefaltet und war deshalb als Tetradiplon bekannt.

100

9. Die feierliche Übergabe des Mandylion von Edessa an Kaiser Konstantin VII am 15. August 944 in Konstantinopel.

10. Die Miniatur aus dem Codex Pray. Manche Details, wie sie auch auf dem Turiner Grabtuch zu finden sind, sollten beweisen, dass Grabtuch und Mandylion dasselbe sind.

101

11. Das Gesicht des Grabtuches und Darstellungen Christi aus verschiedenen Epochen. Von oben im Uhrzeigersinn: Pantokrátor – Gold - von Konstantin II (7.Jh.); Pantokrátor – Mosaik – aus der Kuppel des Daphni Klosters (9.Jh.); Detail von Christus mit Maria und Aposteln – Mosaik der Hagia Sophia in Tessaloniki (8.-9.Jh.); Pantokrátor – Detail einer Ikone des Katharinenklosters vom Sinai (4.Jh.).

12. Weg des Grabtuches von Jerusalem nach Turin, wie ihn die Befürworter der Authentizität rekonstruiert haben..

102

13. Der Turiner Anwalt Secondo Pia mit der Camera, mit welcher er die ersten Aufnahmen des Grabtuches im Jahre 1898 durchführte.

14. Forscher und Wissenschaftler untersuchen das Grabtuch im Rahmen des STURP in Turin im Jahr 1978. 103

15. 3D Rekonstruktion des Gesichtes vom Grabtuch.

16. Veröffentlichung der Ergebnisse des Carbontest mit Vertretern der drei zuständigen Labore.

104

17. Die auf dem Grabtuch von Barbara Frale entdeckten Buchstaben und ihre mögliche Bedeutung.

18. Die römische Münze, die manche Forscher auf dem Grabtuch zu sehen meinen.

105

19. 12. April 1997: Der Feuerwehrmann Mario Trematore bringt das Reliquiar mit dem Turiner Grabtuch in Sicherheit, nachdem die Flammen eines furchterregenden Brandes die Capella Guarini verwüstet haben.

20. Der neue Behälter, in dem das Grabtuch heute aufbewahrt wird.

106

Bildquellen

1. http://www.zipnews.it/2015/04/torino-tutto-pronto-per-lostensione-della-sindone/ 2. http://lasindoneditorino.blogspot.co.at/ 3. http://www.uaar.it/news/2015/04/17/ostensione-sindone-costi-pubblici/ 4. http://www.mole24.it/2014/09/15/ok-sacra-sindone-per-molti-secoli-ospite-di-torino/ 5. http://www.imagomundi.biz/resch/andreas-resch-das-grabtuch-von-turin-geschichte 6. https://ilpalazzodisichelgaita.wordpress.com/2013/07/09/quale-storia-racconta-la-sin- done/ 7. http://www.imagomundi.biz/resch/andreas-resch-das-grabtuch-von-turin-geschichte 8. https://ilpalazzodisichelgaita.wordpress.com/2013/07/09/quale-storia-racconta-la-sin- done/ 9. http://it.paperblog.com/la-sindone-di-torino-non-e-il-mandylion-di-edessa-57614/ 10. http://greatshroudofturinfaq.com/History/Greek-Byzantine/Pray-Codex/pray3.html + http://suaire-de-turin-vom.blogspot.co.at/p/etude-detaillee2.html 11. https://ilpalazzodisichelgaita.wordpress.com/2013/07/09/quale-storia-racconta-la-sin- done/ 12. http://www.imagomundi.biz/resch/andreas-resch-das-grabtuch-von-turin-geschichte 13. http://www.imagomundi.biz/resch/andreas-resch-das-grabtuch-von-turin-geschichte 14. http://www.lasacrasindone.altervista.org/Sindonologia.htm + http://www.lindro.it/sin- done-intervista-john-jackson-e-barrie-schwortz-dello-sturp/ 15. http://www.uccronline.it/2016/02/22/andrea-nicolotti-e-la-sindone-un-approccio-apo- logetico-e-poco-scientifico/ 16. http://bible.archeologie.free.fr/linceulturin.html 17. http://www.christianismus.it/modules.php?name=News&file=print&sid=156 18. https://www.cicap.org/n/articolo.php?id=273767 19. http://www.imagomundi.biz/resch/andreas-resch-das-grabtuch-von-turin-geschichte 20. http://www.imagomundi.biz/resch/andreas-resch-das-grabtuch-von-turin-geschichte (alle abgerufen am 09.05.2016)

107

Bibliographie

 Antologia Spirituale: Teofane il Recluso, in: http://www.sindone.org/santa_sin- done/vita_di_fede/00024024_Antologia_spirituale.html (abgerufen am 07.03.2016).  Augustinus: Sermo 117 “DE VERBIS EVANGELII IOANNIS (1, 1-3)“ , in: http://www.augustinus.it/latino/discorsi/discorso_152_testo.htm (abgerufen am 10.04.2016).  Baima Bollone, Pierluigi: Quella scoperta mi ha cambiato la vita, in: http://vaticaninsi- der.lastampa.it/news/dettaglio-articolo/articolo/sindone-40535/ (abgerufen am 22.10.2015).  Baima Bollone, Pier Luigi: Sindone o no. Torino: Societá Editrice Internazionale, 1990.  Barberis, Bruno; Boccaletti, Massimo: Il caso Sindone non é chiuso. Milano: Edizioni San Paolo 2010.  Benedikt XVI: Le parole di Benedetto davanti alla Sindone, in: http://www.parteci- piamo.it/angela_magnoni/sacra_sindone/sacra_sindone.htm (Abgerufen am 22.10.2015).  Bosio, Antonio: I predicatori quaresimali della Real Casa di Savoia. Torino: Libreria S. Giuseppe, 1874.  Cappi, Mario: La Sindone dalla A alla Z. Padova: Messaggero di S.Antonio Editrice 1997.  Catechismo Chiesa Cattolica. Compendio. Cittá del Vaticano: Libreria Editrice Vati- cana, 2005.  Ciraselli, Pietro: La reliquia Sindone e legittimitá del suo culto, in: Padre Coero- Borga/ Intrigillo, G. (Hg.): La Sindone. Nuovi studi e ricerche, Milano: Edizioni Pao- line 1986, 405.  Colagrande, Fabio: Sindone, Ostensione 2015: superare l’ossessione autenticitá, in: http://it.radiovaticana.va/news/2015/04/16/sindone,_ostensione_2015_superare_osses- sione_autenticit%C3%A0_/1137367 (abgerufen am 21.10.2015).  De Carolis, Francesco: Il 21 giugno il Papa a Torino per l’OStensione della Sindone, in: http://it.radiovaticana.va/news/2014/11/05/il_21_giugno_il_papa_a_torino_per_lo- stensione_della_sindone/1110214 (abgerufen am 21.10.2015).

108

 De Lorenzi, Angelo: La prova regina, in: Sindone. Storia e mistero Anno V/4 (2015), 22.  Di Giglio, Alberto: Mario Trematore. Il pompiere che ha salvato la Sindone, in: Cre- dere. La gioia della fede Anno III/16 (2015), 7-11.  Enrie, Giuseppe: La Santa Sindone rivelata dalla fotografia. Torino: Societá Editrice Internazionale 1933.  Fossati, Luigi: La ripresa della fotografia della Sacra Sindone durante l’Ostensione del 1898, in: http://www.shroud.it/FOSSATI1.PDF (abgerufen am 21.10.2015).  Franziskus: La Sacra Sindone, in: http://www.partecipiamo.it/angela_magnoni/sa- cra_sindone/papa_francesco_la_sacra_sindone.pdf (abgerufen am 22.10.2016).  Fossati Luigi: La ripresa della fotografia della Sacra Sindone durante l’Ostensione del 1898, in: http://www.shroud.it/FOSSATI1.PDF (abgerufen am 21.10.2015).  Garelli, Franco: Il volto. Dal 1978 ad oggi, in: http://www.deho- niane.it:9080/komodo/trunk/webapp/web/files/riviste/archivio/01/199810342a.htm (abgerufen am 21.10.2015).  Gottardo, Roberto: Papi, pellegrini e poeti. Il fascino del mistero, in: Luoghi dell’infi- nito Anno XiX/194 (2015), 33-35.  Hesemann, Michael: Die stummen Zeugen von Golgatha. Die faszinierende Ge- schichte der Passionsreliquien Christi. München: Heinrich Hugendubel Verlag 2000.  Ikone, in: http://www.duden.de/rechtschreibung/Ikone (abgerufen am 07.03.2016).  Imbach, Josef: Wunder. Eine existenzielle Auslegung. Würzburg: Echter Verlag 1995.  Johannes Paul II: La Sacra Sindone, in: http://www.partecipiamo.it/angela_mag- noni/sacra_sindone/giovanni_paolo_ii_la_sacra_sindone.pdf (abgerufen am 22.10.2016).  Maritz, Heinz: Reliquien. II. Historisch-theologisch, in: LThK 8 (1999) 1091-1093.  Mirri, Luciana: <>: l’oriente cristiano e la sindone, in: Studi ecume- nici Anno XVII/2 (1999), 310-311.  Nicolotti, Andrea: Dal Mandylion di Edessa alla Sindone di Torino. Metamorfosi di una leggenda. Alessandria: Edizioni dell’Orso, 2011.  Peracchino, Maria Margherita: Sindone: la fotografia che rivoluziona, in: http://www.lindro.it/0-cultura/2015-03-19/169645-sindone-la-fotografia-che-rivolu- ziona (abgerufen am 22.10.2015).

109

 Peracchino, Maria Margherita: Sindone: sappiamo di non sapere, in: http://www.lin- dro.it/0-cultura/2015-02-13/167264-sindone-sappiamo-di-non-sapere (abgerufen am 22.10.2015).  Petrosillo, Orazio: Il tabú della Sindone come reliquia, in: Studi cattolici 471 (2000), 338-344.  Preghiera davanti alla Sindone, in: http://www.sindone.info/PRAYER1.HTM (abgeru- fen am 10.03.2016).  Prisciandaro, Vittoria: Nella croce tutti gli „abbandoni“ del mondo, in: Credere. La gi- oia della fede Anno III/16 (2015), 12-15.  Ravasi, Gianfranco: Dolore di Cristo, dolore dell’uomo, in: http://www.sin- done.org/diocesitorino/allegati/25515/testo_Ravasi.pdf (abgerufen am 07.03.2016).  Sanfrancesco, Antonio: Sindone, dai Templari ai Savoia: la storia in dieci punti, in: http://www.famigliacristiana.it/articolo/sindone-tutto-quello-che-c-e-da-sapere.aspx (abgerufen am 21.10.2015).  Siliato, Maria Grazia: Und das Grabtuch ist doch echt. München: Wilhelm Heyne Ver- lag, 1997.  SINDONE: STORIA DI UN MISTERO (Regie: Tornielli Andrea/ Roncalli Marco ITA 2015).  Sörries, Reiner: Was von Jesus übrig blieb. Kevelaer: Bercker Graphischer Betrieb 2012.  Spirit Photography: Its Strange & Controversial History, in: http://www.prai- rieghosts.com/ph_history.html (abgerufen am 21.10.2015.  Stevenson, Kenneth E.; Habermas, Gary R.: Verdetto sulla Sindone. Brescia: Editrice Queriniana 1981.  Ternavasio, Maurizio: Quella scoperta mi ha cambiato la vita, in: http://vaticaninsi- der.lastampa.it/news/dettaglio-articolo/articolo/sindone-40535/ (abgerufen am 22.10.2015).  Vacchiano, Michele: Secondo Pia: un dilettante di grande formato, in: http://www.na- dir.it/pandora/SECONDO_PIA/default.html (abgerufen am 21.10.2015).  Zaccone, Gianmaria: È possibile una storia della Sindone? In: http://www.sin- done.org/diocesitorino/allegati/54388/03%20Intervento%20Zaccone.pdf (abgerufen am 21.10.2015).

110

 Zaccone, Gian Maria: La fotografia della Sindone nella storia, in: Zaccone, Gian Ma- ria (Hg.) Le due facce della Sindone. Pellegrini e scienziati alla ricerca di un volto, Torino: Editrice ODPF 2000, 83-95.  Zaccone, Gianmaria: Un velo dalle 1000 trame, in: Luoghi dell’infinito Anno XiX/194 (2015), 20- 24.  Zaccone, Gian Maria; Ghiberti, Giuseppe: Guardare la Sindone. Cinquecento anni di liturgia sindonica. Torino: Effatá Editrice, 2007.

111