Geschichte Der Physik an Der Universität Heidelberg
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5. Gelungener Neuanfang (1945–1960) Für die Heidelberger Bürger war der Krieg mit dem Einmarsch der Ame- rikaner am 30. März 1945 zu Ende. Die Universität wurde auf Anordnung der Besatzungsmacht geschlossen. Aber schon wenige Tage später kon stituierte sich – auf Initiative der amerikanischen Spionageabwehr (CIC, Counter Intelligence Corps) – eine kleine Gruppe von politisch unbelasteten Professoren, um Pläne für eine innere und äußere Erneuerung der Univer- sität auszuarbeiten. Zu dieser Gruppe, die nach der Zahl ihrer Mitglieder »Dreizehnerausschuss« genannt wurde, gehörte neben dem Philosophen Karl Jaspers und dem Chirurgen Karl Heinrich Bauer auch der Physiker Wolfgang Gentner als Vertreter der Nichtordinarien. Nach intensiven Verhandlungen mit den Vertretern der amerikanischen Besatzung wurde erreicht, dass schon im August 1945 ein neuer Rektor, Karl Heinrich Bauer, gewählt werden durfte und danach die Universität schrittweise wieder- eröffnet werden konnte: zuerst die Fakultäten der Medizin und Theologie und die übrigen im Januar 1946 (Wolgast S. 167 ff). 115 Personelle Erneuerung Zur Erneuerung der Universität gehörte insbesondere, dass alle Profes- soren auf ihre politische Vergangenheit überprüft wurden und je nach dem Grad ihrer Belastung entlassen oder weiterbeschäftigt wurden. Dazu zwei Beispiele aus der Physik (Schönbeck 2006, S. 1139 ff): Ludwig Wesch, Professor für technische Physik und Leiter des Instituts für Weltpost und Nachrichtenwesen, wurde im April 1945 verhaftet und aus seiner Professur entlassen. Er ging in die Privatwirtschaft, wo er offensichtlich erfolgreich war, denn er wurde Inhaber von ca. 40 deutschen und 200 ausländischen Patenten. Lenards Nachfolger August Becker wurde zunächst in seinem Amt bestätigt, aber plötzlich – einen Monat vor dem Erreichen seines Ruhe- standes – im Februar 1946 entlassen. Der Grund war wohl ein Brief Le- nards, wie sich aus einem Schreiben des damaligen Dekans Karl Freuden- berg an die Landesverwaltung ergibt, in dem es heißt: »Vor kurzem ist jedoch das besondere Interesse der amerikani- schen Behörden am Physikalischen Institut erwacht, angeblich durch einen Brief Lenards, der Professor Becker beschuldigt, ihn, Lenard, zum Nationalsozialismus verleitet zu haben.« (Schönbeck 2006, S. 1142) Ein solcher Brief Lenards – sofern es ihn gab – ist ungeheuerlich und umso unverständlicher, als Lenard wegen seines Verhaltens unter den National- sozialisten vermutlich wegen seines hohen Alters selbst nicht mehr zur Rechenschaft gezogen wurde. Becker wurde im Rahmen eines Spruchkam- merverfahrens als »Mitläufer« eingestuft, beglich seinen Sühnebescheid und wurde im Jahr 1951 als Emeritus wieder in die Universität aufgenommen. Mit den amerikanischen Truppen kam auch der amerikanische Ge- heimdienst nach Heidelberg. Der Physiker Samuel Goudsmit war Leiter der ALSOSMission, die den Stand der deutschen Kernforschung erkun- den sollte. Direkt nach der Besetzung Heidelbergs verhörte Goudsmit auch Bothe und Gentner. Etwa zwei Monate später erfuhr Goudsmit, dass Bothe verhaftet worden war: »Es war wohl im Juni [1945], als ich schon wieder in Paris war, dass ich von unserem Heidelberger Büro hörte, dass Bothe von der lo- kalen Spionageabwehr verhaftet worden war. Ich ordnete eine sofortige 116 | 5. Gelungener Neuanfang (1945–1960) Untersuchung an. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen unbe- gründeten Verdacht im Zusammenhang mit den Aktivitäten des »Wehr- wolfs«, einer fanatischen Untergrundorganisation der Nazis. Auf unsere Empfehlung hin wurde Bothe sofort entlassen. Er konnte uns sicher leicht verzeihen, dass wir ihn grundlos ins Gefängnis gebracht hatten; so etwas gehörte unter den Nazis zum Alltag. Doch fast unerträglich muss es für ihn gewesen sein, dass er mit seinem Erzfeind Wesch eine Zelle teilen musste. Die Offiziere der Spionageabwehr hatten nicht genügend Zellen und, da [mit Wesch] schon ein anderer Professor bei ihnen einsaß, sperrten sie einfach Bothe mit diesem zusammen.« (Goudsmit 1947, S. 86) Das Gebäude AlbertUeberleStraße 3–5, in dem Weschs Institut für wehrwissenschaftliche Forschungen untergebracht war, wurde nach Kriegsende von der amerikanischen Armee beschlagnahmt, das wissen- schaftliche Material wurde durchforstet und zum Teil abtransportiert. Danach zog der amerikanische Geheimdienst (CIA) ein. Im Jahr 1959 wurde das Gebäude dem neugegründeten Institut für Angewandte Phy- sik zugewiesen. Bothe übernahm das Steuer Die Vakanz am Physikalischen Institut konnte schnell beendet werden: Schon am 1. Mai 1946 übernahm Walther Bothe den Lehrstuhl für Physik. Das war nicht nur für die Universität eine gute Lösung, sondern auch für ihn persönlich, denn seine Abteilung im KaiserWilhelmInstitut (KWI) wurde von den Amerikanern bis 1953 besetzt gehalten. Außerdem kannte Bothe sich an der Universität aus, da er schon einmal, von 1932 bis 1934, den Lehrstuhl innegehabt hatte. Aber er übernahm ein in jeder Hinsicht heruntergewirtschaftetes Institut. Zuletzt hatten noch die Amerikaner daraus den größten Teil der interessanten Apparate abtransportiert. Glücklicherweise konnte er sich auf kompetente Assistenten und Dokto- randen, die er aus dem KWI mitgebracht hatte, stützen. Um die wissen- schaftliche Arbeit in Gang zu bringen, musste viel improvisiert werden. Einige Geräte konnten aus dem KWI und aus Weschs früherem Institut übernommen werden. Auch Restposten aus Wehrmachtsbeständen konn- ten billig erworben werden. Andere Geräte mussten in der Werkstatt ge- baut werden. Bothe übernahm das Steuer | 117 Die Forschungs und Doktorarbeiten schlossen sich thematisch an die Arbeiten im KWI an. Die kernphysikalischen Arbeiten Bothes verteilten sich in diesen Jahren auf Neutronenuntersuchungen, Elektronenstreuung und kosmische Strahlung. Mit Hilfe der Neutronenstreuung an leichten Kernen wurden angeregte Zustände von leichten Kernen studiert. Die Vielfachstreuung von Elektronen mit Energien bis zu 1 MeV wurde unter- sucht und ein ßSpektrometer für die Untersuchung der KernßZerfälle konstruiert. Mehr Details findet man in dem sehr informativen Aufsatz von Kopfermann (Kopfermann 1960) über die Geschichte der Heidelber- ger Physik in der Zeit von 1945 bis 1960. Bothe musste auch den Studienbetrieb organisieren. Er hielt die große Vorlesung, was ihm anfangs nicht leichtfiel, und prüfte die Studen- ten, wobei er hohe Ansprüche stellte: »Wie in allen anderen deutschen Universitäten stieg in diesen Jahren die Zahl der Bewerber um einen Studienplatz auch in Heidelberg dramatisch. Bothe meinte, dass er sich dieser Studen- tenflut mit aller Kraft entgegenstemmen müsse. Sein wiederholt formuliertes Ziel war es, mit einer möglichst kleinen Zahl hoch- qualifizierter Mitarbeiter möglichst gute Physik zu machen. Er führte deshalb Semestralprüfungen für Rückmeldescheine ein. Nur mit einem von ihm unterschriebenen Rückmeldeschein durfte das Studium im folgenden Semester fortgesetzt werden. Ein Viertel der Kandidaten bestand diese Prüfung und blieb von da ab un- behelligt. Wer nicht bestanden hatte, musste ein Semester später wiederholen.« (SchmidtRohr 1996, S. 60 f) Und wie fühlten sich die Studenten der Physik zu dieser Zeit? Berthold Stech, der bei Bothe promoviert hatte und später in Heidelberg Professor für theoretische Physik wurde, erinnerte sich noch gerne an seine ersten Semester: »Mein Studium nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft wurde durch finanzielle Opfer meiner Eltern und Geschwister ermöglicht. 1946 waren die Hörsäle der Universität überfüllt mit zurückgekehrten und vielfach auch verwundeten Kriegs- teilnehmern. Trotz schwieriger Lebensverhältnisse – wir hat- ten nur selten genug zu essen – war es eine wunderbare Zeit. 118 | 5. Gelungener Neuanfang (1945–1960) Wir Studenten genossen die völlig ungewohnte Freiheit, wir mussten keinem Befehl mehr folgen und konnten frei entschei- den, was wir tun und lassen wollten. Ich hatte zusammen mit einem Studenten der Volkswirtschaft ein Zimmer im Collegium Academicum, wo sich jetzt die Universitätsverwaltung befindet. Im Collegium Academicum habe ich Freunde gefunden, wir ha- ben viel gefeiert und getanzt, denn wir hatten außerordentlich viel nachzuholen. Aber es wurde auch sehr viel gearbeitet. Mei- nen ersten Besuch des großen PhysikHörsaals am Philosophen- weg werde ich nie vergessen. Von oben, im überfüllten Hörsaal, sah ich tief unten den weißhaarigen Professor Bothe, wie er wie ein großer Zaubermeister mit merkwürdigen Geräten hantierte. Ich habe fast nichts verstanden und bin deshalb zum kleinen Hörsaal gegangen. Dort las Professor Walter Wessel als Gastpro- fessor die theoretische Mechanik. Es gab viel weniger Studenten, da diese Vorlesung für Hörer des 3. Semesters gedacht war. Ich blieb dabei und habe in der Tat von Wessel sehr viel profitiert. Die Vorlesung war außerordentlich anregend und weckte mein Interesse für theoretische Arbeiten. Wessel ging allerdings nach diesem Semester in die Vereinigten Staaten und kam erst sehr viel später als Professor für theoretische Mechanik nach Heidel- berg zurück. Bis 1949, als Hans Jensen nach Heidelberg berufen wurde, gab es in Heidelberg keine Lehrer mehr für theoretische Physik.« (Stech 2017, S. 170) Das Physikalische Kolloquium, das bis heute eine »geheiligte« Institution der Heidelberger Physik ist, wurde im Wintersemester 1947/48 durch Bothe begonnen, jeweils freitags um 18:15 Uhr. Der Redner, der meist aus dem Institut kam, sprach vor etwa 20 bis 30 Zuhörern und es wurde intensiv diskutiert. Bothes sechzigster Geburtstag im Jahr 1951 war die erste Gelegen-