Neue Instrumente Im Kampf Gegen Die Unterdrückung
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Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung Von Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International Salil Shetty © Matt Writtle 2010 wird möglicherweise als ein Jahr der Zei- Technik, um den Machtlosen und Entrechteten tenwende in die Geschichte der Menschen- eine Stimme zu geben. Vom Fernschreiber, rechte eingehen: Menschenrechtsverteidiger Fotokopierer und Faxgerät über Radio, Fernse- und Journalisten bedienten sich zunehmend hen und Satellitenkommunikation bis hin zu neuer Technologien, um die Mächtigen mit der Telefon, E-Mail und Internet nutzen wir alle Wahrheit zu konfrontieren und auf diese Weise Möglichkeiten, um möglichst viele Menschen auf eine stärkere Einhaltung der Menschen- zu mobilisieren. Diese Instrumente haben den rechte zu dringen. Es war auch das Jahr, in Kampf für die Menschenrechte vorange- dem einige repressive Regierungen damit rech- bracht, trotz ausgeklügelter Versuche von Re- nen mussten, dass ihre Tage gezählt sind. gierungen, den Informationsfluss zu stoppen Informationen zu besitzen, verleiht Macht, und die Kommunikation zu zensieren. und für Menschen, die sich gegen den Miss- Die Online-Plattform Wikileaks, die es sich brauch der Macht durch Staaten und andere zum Ziel gesetzt hat, Dokumente aus einer Institutionen wehren, sind dies bewegte Zei- Vielzahl von Quellen ins Internet zu stellen, ten. Der Kampf zwischen denen, die Men- begann 2010 damit, die ersten von hundert- schenrechtsverstöße begehen, und den muti- tausenden geheimer Dokumente zu veröffent- gen und einfallsreichen Menschen, die diese lichen, die ihr Bradley Manning, ein IT-Spezia- Verstöße an die Öffentlichkeit bringen, währt list der US-Armee, zugespielt haben soll. Dem schon lange. Amnesty International hat seit 22-Jährigen, der sich derzeit in Untersu- ihrer Gründung vor einem halben Jahrhundert chungshaft befindet, droht eine Haftstrafe von schon ähnlich bedeutsame Verschiebungen in möglicherweise mehr als 50 Jahren, sollte er diesem Machtgefüge beobachtet und mitge- wegen Spionage und anderer Straftaten schul- staltet. Als eine Bewegung, deren Ziel es ist, in- dig gesprochen werden. ternationales Aufsehen zu erregen, um einzel- Wikileaks hat für Whistleblower, die auf nen verfolgten Menschen zu helfen, unterstüt- Missstände hinweisen wollen, einen weltweit zen wir das Engagement derer, die eine Welt zugänglichen »Abladeplatz« für ihre Doku- der wirklich frei zugänglichen Informationen mente geschaffen. Die Verbreitung und Veröf- anstreben, in der Menschen ihr Recht auf fentlichung geheimer und vertraulicher Regie- friedliche Meinungsäußerung jenseits behörd- rungsdokumente demonstrierte die Macht licher Kontrolle ausüben können. dieser Plattform. Dass Wikileaks auch einen Seit nunmehr 50 Jahren bedient sich Beitrag für die Sache der Menschenrechte Amnesty International der jeweils modernsten leistet, hat Amnesty International bereits 2009 Vorwort 7 anerkannt, als die Plattform Informationen zu lich, dass sich ihr Zorn sowohl gegen die brutale Menschenrechtsverletzungen in Kenia ins In- Unterdrückung richtete, unter der all diejeni- ternet stellte. gen litten, die sich gegen das autoritäre System Doch es waren die klassischen Zeitungsjour- aufzulehnen wagten, als auch gegen die wirt- nalisten und politischen Analysten, die sich schaftliche Misere des Landes, die zum Teil auf durch das Dickicht der Rohdaten kämpften, sie die Korruption der Regierung zurückzuführen auswerteten und darin Beweise für Straftaten war. und Menschenrechtsverletzungen fanden. Im Januar 2011, knapp einen Monat nach der Zur Verbreitung dieser Informationen standen Verzweiflungstat von Mohamed Bouazizi, politisch engagierten Menschen neue Kommu- stürzte die Regierung von Präsident Zine el-Abi- nikationsmittel wie SMS-Dienste und die Inter- dine Ben Ali. Er verließ das Land und suchte netseiten sozialer Netzwerke zur Verfügung, mit Zuflucht im saudi-arabischen Jiddah. Die Men- deren Hilfe Menschen mobilisiert werden schen in Tunesien feierten das Ende einer konnten, um öffentlichen Druck auszuüben. über 20 Jahre währenden undemokratischen Ein eindrückliches und zugleich tragisches Herrschaft und stellten die Weichen für den Beispiel dafür, welche Wirkung eine individu- Aufbau eines partizipatorischen und rechts- elle Handlung erzielen kann, wenn sie durch staatlichen Regierungssystems mit freien die neuen Instrumente der virtuellen Welt ver- Wahlen. stärkt wird, ist die Geschichte des Gemüse- Der Sturz von Ben Ali hatte spürbare Auswir- händlers Mohamed Bouazizi. Er verbrannte kungen auf die Region und die gesamte Welt. sich im Dezember 2010 in der tunesischen Für Regierungen, die darauf gründen, abwei- Stadt Sidi Bouzid vor dem Rathaus, weil er die chende Meinungen durch Folter und Repres- Schikanen durch die Polizei, die Erniedrigung, sion zu unterdrücken, und die Reichtum ange- die wirtschaftliche Not und das Ohnmachtsge- häuft haben, der auf Korruption und Ausbeu- 2. Korrekturgang 29.3.11 & Bosse Clausen fühl, das er mit vielen jungen Menschen in Tu- tung beruht, drohte es ungemütlich zu werden. nesien teilte, nicht mehr ertrug. Die Nachricht Auch die herrschenden Eliten in den betref- von seiner verzweifelten Auflehnung verbreitete fenden Ländern und die ausländischen Regie- 000835 sich über Handys und das Internet schnell in rungen, die diese illegitimen Regime stützten, ganz Tunesien und bahnte der seit langem während sie gleichzeitig Demokratie und Men- schwelenden Unzufriedenheit mit dem re- schenrechte predigten, wurden zusehends pressiven Staatsapparat neue Wege. Mohamed nervös. Bouazizi starb an seinen Verbrennungen, Der Umbruch in Tunesien löste in Windeseile doch seine Wut lebte in Form von Straßenpro- Unruhen in anderen Ländern aus. Auch in testen im ganzen Land weiter. Viele engagierte Jordanien und Algerien, im Jemen, in Bahrein, Bürgerinnen und Bürger Tunesiens, Gewerk- Libyen und Ägypten gingen Menschen auf die schafter, Oppositionelle und viele junge Men- Straße. In Ägypten griffen die Proteste auf das schen, die sich zum Teil über soziale Netzwerke ganze Land über. im Internet verständigten, gingen auf die Zwar waren die Instrumente, die 2010 zum Straße und demonstrierten ihr Mitgefühl für das Einsatz kamen, neu, die Forderungen der Schicksal von Mohamed Bouazizi. Gemein- Menschen waren es hingegen nicht: Es ging sam forderten so erfahrene und junge Protestie- um ein Leben in Würde, samt aller bürger- rende ein repressives System heraus. lichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Die tunesische Regierung versuchte, eine to- und sozialen Rechte. Engagierte Menschen- tale Mediensperre zu verhängen und blo- rechtsverteidiger auf der ganzen Welt, die allzu ckierte den Zugang zum Internet, doch dank lange wegen ihrer politischen Meinung, ihres der neuen Technologien verbreiteten sich die Glaubens oder ihrer Identität Gefängnis, Folter Nachrichten dennoch in der gesamten Welt. und Gewalt hatten befürchten oder erdulden S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Die Menschen auf der Straße machten deut- müssen, hofften auf eine Welt mit neuen Mög- 8 Vorwort lichkeiten – darauf, keine Angst mehr haben ökonomischer Teilhabe zum Ausdruck brach- zu müssen und in sinnvoller Weise am politi- ten. Weder das eine noch das andere zu ha- schen Leben teilhaben zu können. Die Mittei- ben, ist eine Erfahrung, die sie mit Millionen, lungen, die im Internet zu lesen waren, mach- wenn nicht Milliarden Menschen auf der gan- ten deutlich, dass viele Menschen, die die tu- zen Welt teilten. nesischen Aktivisten unterstützten, deren Sor- Als eine Organisation, die sich zunächst vor gen angesichts der wirtschaftlichen Misere allem für die Rechte gewaltloser politischer sehr gut nachempfinden konnten. Gefangener einsetzte, hat Amnesty Internatio- Die latente Frustration von Menschen, die in nal inzwischen längst begriffen, dass es ge- repressiven Staaten leben, kann jederzeit aus- nauso wichtig ist, die Menschenrechtsverlet- brechen. Im Juni 2010 starb in Ägypten Khaled zungen zugrundeliegenden Missstände, die Said, nachdem zwei Polizisten ihn in einem In- engagierte Bürger dazu bewegen, Briefe zu ternet-Café in Alexandria zu Tode geprügelt hat- schreiben und auf die Straße zu gehen, aufzu- ten. Sein Tod löste einen öffentlichen Auf- zeigen wie zu fordern, Menschenrechtsvertei- schrei der Empörung aus – was im Nachhinein diger nicht länger ins Gefängnis zu werfen und als Vorbote der massiven Demonstrationen in zu misshandeln. Die sozialen Netzwerke und Ägypten im Jahr 2011 gelten kann. Die Polizei- Plattformen im Internet mögen neu sein, aber beamten wurden wegen widerrechtlicher Fest- sie sind wichtig, weil sie ein wirksames Instru- nahme und Folterung von Khaled Said ange- ment sind, das es kritische Menschen, die un- klagt, aber nicht direkt für seinen Tod verant- ter vergleichbar repressiven Systemen weltweit wortlich gemacht. Im Iran beschränkten die Re- leiden, ermöglicht, sich zu verbünden und ge- gierungsbehörden den Zugang zu Informatio- genseitig zu unterstützen. nen, die von außerhalb ins Land kamen, z. B. durch das Internet, nachdem die Empörung Enthüllungen im Netz über die umstrittenen Wahlen im Jahr 2009 Im Juli begannen Wikileaks und einige große nicht abebbte und die Wunden, die das bru- Zeitungen mit der Veröffentlichung von fast tale Vorgehen gegen die Demonstranten ge- 100000 Dokumenten zum Krieg in Afghanistan. schlagen hatte, weiter schwärten. Daraufhin entzündeten sich Diskussionen In China versuchte die Regierung einen Vor- über den Inhalt, die Rechtmäßigkeit und die