Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung

Von Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Salil Shetty © Matt Writtle

2010 wird möglicherweise als ein Jahr der Zei- Technik, um den Machtlosen und Entrechteten tenwende in die Geschichte der Menschen- eine Stimme zu geben. Vom Fernschreiber, rechte eingehen: Menschenrechtsverteidiger Fotokopierer und Faxgerät über Radio, Fernse- und Journalisten bedienten sich zunehmend hen und Satellitenkommunikation bis hin zu neuer Technologien, um die Mächtigen mit der Telefon, E-Mail und Internet nutzen wir alle Wahrheit zu konfrontieren und auf diese Weise Möglichkeiten, um möglichst viele Menschen auf eine stärkere Einhaltung der Menschen- zu mobilisieren. Diese Instrumente haben den rechte zu dringen. Es war auch das Jahr, in Kampf für die Menschenrechte vorange- dem einige repressive Regierungen damit rech- bracht, trotz ausgeklügelter Versuche von Re- nen mussten, dass ihre Tage gezählt sind. gierungen, den Informationsfluss zu stoppen Informationen zu besitzen, verleiht Macht, und die Kommunikation zu zensieren. und für Menschen, die sich gegen den Miss- Die Online-Plattform Wikileaks, die es sich brauch der Macht durch Staaten und andere zum Ziel gesetzt hat, Dokumente aus einer Institutionen wehren, sind dies bewegte Zei- Vielzahl von Quellen ins Internet zu stellen, ten. Der Kampf zwischen denen, die Men- begann 2010 damit, die ersten von hundert- schenrechtsverstöße begehen, und den muti- tausenden geheimer Dokumente zu veröffent- gen und einfallsreichen Menschen, die diese lichen, die ihr Bradley Manning, ein IT-Spezia- Verstöße an die Öffentlichkeit bringen, währt list der US-Armee, zugespielt haben soll. Dem schon lange. Amnesty International hat seit 22-Jährigen, der sich derzeit in Untersu- ihrer Gründung vor einem halben Jahrhundert chungshaft befindet, droht eine Haftstrafe von schon ähnlich bedeutsame Verschiebungen in möglicherweise mehr als 50 Jahren, sollte er diesem Machtgefüge beobachtet und mitge- wegen Spionage und anderer Straftaten schul- staltet. Als eine Bewegung, deren Ziel es ist, in- dig gesprochen werden. ternationales Aufsehen zu erregen, um einzel- Wikileaks hat für Whistleblower, die auf nen verfolgten Menschen zu helfen, unterstüt- Missstände hinweisen wollen, einen weltweit zen wir das Engagement derer, die eine Welt zugänglichen »Abladeplatz« für ihre Doku- der wirklich frei zugänglichen Informationen mente geschaffen. Die Verbreitung und Veröf- anstreben, in der Menschen ihr Recht auf fentlichung geheimer und vertraulicher Regie- friedliche Meinungsäußerung jenseits behörd- rungsdokumente demonstrierte die Macht licher Kontrolle ausüben können. dieser Plattform. Dass Wikileaks auch einen Seit nunmehr 50 Jahren bedient sich Beitrag für die Sache der Menschenrechte Amnesty International der jeweils modernsten leistet, hat Amnesty International bereits 2009

Vorwort 7 anerkannt, als die Plattform Informationen zu lich, dass sich ihr Zorn sowohl gegen die brutale Menschenrechtsverletzungen in Kenia ins In- Unterdrückung richtete, unter der all diejeni- ternet stellte. gen litten, die sich gegen das autoritäre System Doch es waren die klassischen Zeitungsjour- aufzulehnen wagten, als auch gegen die wirt- nalisten und politischen Analysten, die sich schaftliche Misere des Landes, die zum Teil auf durch das Dickicht der Rohdaten kämpften, sie die Korruption der Regierung zurückzuführen auswerteten und darin Beweise für Straftaten war. und Menschenrechtsverletzungen fanden. Im Januar 2011, knapp einen Monat nach der Zur Verbreitung dieser Informationen standen Verzweiflungstat von Mohamed Bouazizi, politisch engagierten Menschen neue Kommu- stürzte die Regierung von Präsident Zine el-Abi- nikationsmittel wie SMS-Dienste und die Inter- dine Ben Ali. Er verließ das Land und suchte netseiten sozialer Netzwerke zur Verfügung, mit Zuflucht im saudi-arabischen Jiddah. Die Men- deren Hilfe Menschen mobilisiert werden schen in Tunesien feierten das Ende einer konnten, um öffentlichen Druck auszuüben. über 20 Jahre währenden undemokratischen Ein eindrückliches und zugleich tragisches Herrschaft und stellten die Weichen für den Beispiel dafür, welche Wirkung eine individu- Aufbau eines partizipatorischen und rechts- elle Handlung erzielen kann, wenn sie durch staatlichen Regierungssystems mit freien die neuen Instrumente der virtuellen Welt ver- Wahlen. stärkt wird, ist die Geschichte des Gemüse- Der Sturz von Ben Ali hatte spürbare Auswir- händlers Mohamed Bouazizi. Er verbrannte kungen auf die Region und die gesamte Welt. sich im Dezember 2010 in der tunesischen Für Regierungen, die darauf gründen, abwei- Stadt Sidi Bouzid vor dem Rathaus, weil er die chende Meinungen durch Folter und Repres- Schikanen durch die Polizei, die Erniedrigung, sion zu unterdrücken, und die Reichtum ange- die wirtschaftliche Not und das Ohnmachtsge- häuft haben, der auf Korruption und Ausbeu- 2. Korrekturgang 29.3.11 & Bosse Clausen fühl, das er mit vielen jungen Menschen in Tu- tung beruht, drohte es ungemütlich zu werden. nesien teilte, nicht mehr ertrug. Die Nachricht Auch die herrschenden Eliten in den betref- von seiner verzweifelten Auflehnung verbreitete fenden Ländern und die ausländischen Regie- 000835 sich über Handys und das Internet schnell in rungen, die diese illegitimen Regime stützten, ganz Tunesien und bahnte der seit langem während sie gleichzeitig Demokratie und Men- schwelenden Unzufriedenheit mit dem re- schenrechte predigten, wurden zusehends pressiven Staatsapparat neue Wege. Mohamed nervös. Bouazizi starb an seinen Verbrennungen, Der Umbruch in Tunesien löste in Windeseile doch seine Wut lebte in Form von Straßenpro- Unruhen in anderen Ländern aus. Auch in testen im ganzen Land weiter. Viele engagierte Jordanien und Algerien, im Jemen, in Bahrein, Bürgerinnen und Bürger Tunesiens, Gewerk- Libyen und Ägypten gingen Menschen auf die schafter, Oppositionelle und viele junge Men- Straße. In Ägypten griffen die Proteste auf das schen, die sich zum Teil über soziale Netzwerke ganze Land über. im Internet verständigten, gingen auf die Zwar waren die Instrumente, die 2010 zum Straße und demonstrierten ihr Mitgefühl für das Einsatz kamen, neu, die Forderungen der Schicksal von Mohamed Bouazizi. Gemein- Menschen waren es hingegen nicht: Es ging sam forderten so erfahrene und junge Protestie- um ein Leben in Würde, samt aller bürger- rende ein repressives System heraus. lichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Die tunesische Regierung versuchte, eine to- und sozialen Rechte. Engagierte Menschen- tale Mediensperre zu verhängen und blo- rechtsverteidiger auf der ganzen Welt, die allzu ckierte den Zugang zum Internet, doch dank lange wegen ihrer politischen Meinung, ihres der neuen Technologien verbreiteten sich die Glaubens oder ihrer Identität Gefängnis, Folter Nachrichten dennoch in der gesamten Welt. und Gewalt hatten befürchten oder erdulden

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Die Menschen auf der Straße machten deut- müssen, hofften auf eine Welt mit neuen Mög-

8 Vorwort lichkeiten – darauf, keine Angst mehr haben ökonomischer Teilhabe zum Ausdruck brach- zu müssen und in sinnvoller Weise am politi- ten. Weder das eine noch das andere zu ha- schen Leben teilhaben zu können. Die Mittei- ben, ist eine Erfahrung, die sie mit Millionen, lungen, die im Internet zu lesen waren, mach- wenn nicht Milliarden Menschen auf der gan- ten deutlich, dass viele Menschen, die die tu- zen Welt teilten. nesischen Aktivisten unterstützten, deren Sor- Als eine Organisation, die sich zunächst vor gen angesichts der wirtschaftlichen Misere allem für die Rechte gewaltloser politischer sehr gut nachempfinden konnten. Gefangener einsetzte, hat Amnesty Internatio- Die latente Frustration von Menschen, die in nal inzwischen längst begriffen, dass es ge- repressiven Staaten leben, kann jederzeit aus- nauso wichtig ist, die Menschenrechtsverlet- brechen. Im Juni 2010 starb in Ägypten Khaled zungen zugrundeliegenden Missstände, die Said, nachdem zwei Polizisten ihn in einem In- engagierte Bürger dazu bewegen, Briefe zu ternet-Café in Alexandria zu Tode geprügelt hat- schreiben und auf die Straße zu gehen, aufzu- ten. Sein Tod löste einen öffentlichen Auf- zeigen wie zu fordern, Menschenrechtsvertei- schrei der Empörung aus – was im Nachhinein diger nicht länger ins Gefängnis zu werfen und als Vorbote der massiven Demonstrationen in zu misshandeln. Die sozialen Netzwerke und Ägypten im Jahr 2011 gelten kann. Die Polizei- Plattformen im Internet mögen neu sein, aber beamten wurden wegen widerrechtlicher Fest- sie sind wichtig, weil sie ein wirksames Instru- nahme und Folterung von Khaled Said ange- ment sind, das es kritische Menschen, die un- klagt, aber nicht direkt für seinen Tod verant- ter vergleichbar repressiven Systemen weltweit wortlich gemacht. Im Iran beschränkten die Re- leiden, ermöglicht, sich zu verbünden und ge- gierungsbehörden den Zugang zu Informatio- genseitig zu unterstützen. nen, die von außerhalb ins Land kamen, z. B. durch das Internet, nachdem die Empörung Enthüllungen im Netz über die umstrittenen Wahlen im Jahr 2009 Im Juli begannen Wikileaks und einige große nicht abebbte und die Wunden, die das bru- Zeitungen mit der Veröffentlichung von fast tale Vorgehen gegen die Demonstranten ge- 100000 Dokumenten zum Krieg in Afghanistan. schlagen hatte, weiter schwärten. Daraufhin entzündeten sich Diskussionen In China versuchte die Regierung einen Vor- über den Inhalt, die Rechtmäßigkeit und die fall zu vertuschen, bei dem ein junger Mann Folgen dieser Enthüllungen. Die Dokumente betrunken Auto gefahren war und dabei eine lieferten wertvolle Bestätigungen für Men- junge Frau getötet und eine weitere schwer schenrechtsverletzungen, über die Journalis- verletzt hatte. Als die Polizei ihn stoppte, hatte ten und Menschenrechtsverteidiger zuvor be- er auf seine familiären Verbindungen zu einem reits berichtet hatten, die aber von der afgha- hochrangigen Polizeioffizier verwiesen. Der nischen Regierung, der US-amerikanischen Satz »Mein Vater ist Li Gang« wurde immer Regierung und seitens der NATO immer be- wieder von Bloggern ins Internet gestellt und stritten worden waren. Gleichzeitig waren Men- trotz aller Gegenmaßnahmen der Behörden schenrechtsorganisationen aber auch alar- in China im Handumdrehen zum geflügelten miert, als Taliban ankündigten, sie würden die Wort, zur Metapher für den alltäglichen bei Wikileaks eingestellten Dokumente prüfen Machtmissbrauch. und alle Afghanen bestrafen, die mit der afgha- Politiker, die bürgerliche und politische nischen Regierung und ihren internationalen Rechte höher bewerten als wirtschaftliche, so- Unterstützern kooperiert hätten. Die neue Tech- ziale und kulturelle Rechte (oder umgekehrt), nologie birgt sowohl Chancen als auch Risi- konnten angesichts der Proteste erkennen, ken, wie alle Werkzeuge. Wikileaks ergriff Maß- dass dies ein falscher Gegensatz ist. Das zeigte nahmen, um sicherzustellen, dass bei der Ver- die Vehemenz, mit der die Menschen ihre öffentlichung von Dokumenten künftig der be- Frustration über den Mangel an politischer wie währte Grundsatz »niemandem Schaden zu-

Vorwort 9 fügen« gewahrt wird – ein Grundprinzip der Ar- die Lupe genommen wurde, gab existierenden beit von Amnesty International in den vergan- Bewegungen frischen Auftrieb und brachte genen 50 Jahren. neue Akteure auf die Bühne. Als Reaktion auf diese Veröffentlichungen gin- gen die von den Enthüllungen betroffenen Re- Weltweite Erschütterungen gierungen mit einem uralten Argument zum Das Drama um Wikileaks lässt sich aus ver- Gegenangriff über. Sie erklärten, die Bekannt- schiedenen Perspektiven betrachten: Wäh- gabe von Dokumenten, die Übergriffe und rend manche Kommentatoren bemängeln, Straftaten von Regierungen aufdeckten, ge- dass die Plattform im »moralischen Nie- fährde die nationale Sicherheit und sei somit il- mandsland« agiere, sehen andere in ihr ein mo- legal. In den meisten Fällen wurden die Ent- dernes Pendant zur Veröffentlichung der Pen- hüllungen, die Beweise enthielten für Verstöße tagon-Papiere, die seinerzeit die »Watergate-Af- gegen das Völkerrecht und für das Versäum- färe« ausgelöst hatten. Unbestritten ist jedoch, nis, diese Straftaten zu untersuchen und die dass die Enthüllungen Wirkung zeigten. Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen, Ohne den Kampf mutiger Menschenrechts- schlicht ignoriert. verteidiger in den vergangenen 20 Jahren Im Oktober schaltete Wikileaks fast 400000 hätte es die »Jasmin-Revolution« in Tunesien Dokumente zum Krieg im Irak frei. Erneut be- nicht gegeben. Dass diese aktiven Menschen mühten die betroffenen Regierungen das im Ausland Unterstützung fanden, ist mög- Schlagwort der nationalen Sicherheit, und er- licherweise auch darauf zurückzuführen, dass neut machten Amnesty International und an- Wikileaks-Dokumente über Tunesien gelesen dere Menschenrechtsorganisationen klar, wurden und man den Grund ihrer Empörung dass eben diese Regierungen ihrer Verpflich- verstand. So machten einige der Dokumente tung zur Ermittlung und strafrechtlichen Ver- deutlich, dass vielen Regierungen weltweit so- 2. Korrekturgang 29.3.11 & Bosse Clausen folgung mutmaßlicher Kriegsverbrechen und wohl die politische Repression in Tunesien als anderer Verbrechen im Sinne des Völker- auch die mangelnden ökonomischen Per- rechts nicht nachkamen. Aus den Dokumenten spektiven der Bevölkerung bewusst waren, 000835 ging auch hervor, dass genau die Regierun- dass sie jedoch kaum auf Veränderungen gen, die Berichte von Amnesty International drängten. Eine diplomatische Depesche zeigte, und anderen Menschenrechtsorganisationen dass sowohl der kanadische als auch der bri- über solche Verstöße zurückwiesen, selbst im tische und der US-amerikanische Botschafter Besitz von Dokumenten waren, die die Rich- wussten, dass die tunesischen Sicherheits- tigkeit dieser Berichte unzweifelhaft bestätig- kräfte Gefangene folterten, dass die sogenann- ten. ten diplomatischen Zusicherungen der Regie- Dies wurde jedoch noch überboten, als Wiki- rung, nach Tunesien zurückgeführte Gefan- leaks und fünf große internationale Zeitungen gene nicht zu foltern, zwar »von Wert«, aber Ende November 2010 gleichzeitig mit der Veröf- nicht hinreichend verlässlich waren und dass fentlichung der ersten 220 von insgesamt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz 251287 vertraulichen – aber nicht als »top se- keinen Zugang zu den Haftzentren des Innen- cret« eingestuften – diplomatischen Depe- ministeriums erhielt. schen aus 274 US-amerikanischen Botschaf- In einer weiteren ins Netz gestellten Depesche ten, Konsulaten und diplomatischen Vertre- äußerte sich der US-amerikanische Botschaf- tungen weltweit begannen, die aus der Zeit zwi- ter ausführlich zur wirtschaftlichen Misere Tu- schen dem 28. Dezember 1966 und dem nesiens, die er darauf zurückführte, dass das 28. Februar 2010 stammten. Dieses jetzt zu- Land von Korruption durchdrungen sei. Sie rei- gängliche neue Material, das unverzüglich so- che von den Beutezügen der Polizei bis hin wohl von jungen engagierten Bloggern als auch zum langen Arm der »Familie«, d. h. den nähe-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht von altgedienten Zeitungsredakteuren unter ren und ferneren Verwandten von Ben Ali, die

10 Vorwort Wütende Proteste gegen ein repressives Regime – Tunesien im Dezember 2010 © Fethi Belaid/AFP/Getty Images ihre Macht zur Anhäufung von Reichtum nutz- nicht dazu durchringen konnten, von außen ten. Druck auf die Regierung auszuüben und auf Womit wir wieder bei Mohamed Bouazizi wä- die Wahrung der Menschenrechte zu pochen. ren und vielen anderen Bürgern Tunesiens, Das Zusammenwirken dieser beiden Ereig- die offenbar alle Hoffnung aufgegeben hatten nisse scheint der tunesischen Protestbewegung angesichts von Folter und wirtschaftlicher breiten Rückhalt verschafft zu haben. Beson- Ausbeutung, angesichts der Korruption der Re- ders große Unterstützung kam von den Men- gierung, der Brutalität der Polizei und der er- schen in den Nachbarländern, die oft eben- barmungslosen Unterdrückung der politischen falls an der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, Opposition sowie aller anderen kritischen kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und Stimmen. Bouazizi stand kein politischer Weg sozialen Rechte gehindert wurden. offen, sein Recht auf wirtschaftliche Chancen einzufordern, und als er die Sache selbst in die Eine vielsagende Reaktion Hand nahm und auf seinem kleinen Karren Die Reaktion der westlichen Regierungen auf Obst und Gemüse verkaufte, konfiszierte die die Situation in Tunesien und Ägypten ist sehr Polizei seine Waren. Als er sich bei den Behör- aufschlussreich. Die US-Regierung beendete den über die Polizeiübergriffe beschweren ihre langjährige Beziehung zum tunesischen wollte, nahm man weder seine Anzeige entge- Präsidenten. Die französische Außenministerin gen noch wurden Ermittlungen eingeleitet. bot der Regierung Ben Alis zunächst an, ihn Mohamed Bouazizi stand mit seinen Proble- beim Umgang mit den Protesten zu unterstüt- men keineswegs allein da. Seine Selbstver- zen, doch als dies in Frankreich einen Sturm brennung erfolgte etwa zur gleichen Zeit, als der Entrüstung auslöste und Zine el-Abidine Wikileaks die ersten Dokumente über Tune- Ben Ali aus Tunesien flüchtete, entschied man sien ins Netz stellte, aus denen klar hervorging, sich schließlich dafür, die Protestbewegung zu dass die westlichen Regierungen, die das Re- unterstützen. Als es in Ägypten zu ähnlichen gime von Ben Ali stützten, sehr wohl um all Protesten kam, wirkten die Regierungen der diese Problemen wussten, sich aber offenbar USA und vieler europäischer Staaten zunächst

Vorwort 11 völlig überrascht und zeigten keinerlei Bereit- »Nie war die Informationsfreiheit so groß wie schaft, die ersten Forderungen der Demons- heute«, sagte Clinton. »Selbst in autoritären trierenden nach einem sofortigen Rücktritt von Ländern helfen Informationsnetzwerke den Präsident Muhammad Hosni Mubarak zu un- Menschen, neue Fakten an die Öffentlichkeit zu terstützen. bringen und die Regierungen stärker zur Ver- Insbesondere die USA haben ungeachtet aller antwortung zu ziehen.« Beweise für die Brutalität der Regierung Mu- Sie sprach auch davon, dass Barack Obama barak in den vergangenen 30 Jahren viel in de- bei seinem China-Besuch im November 2009 ren Stabilität investiert. Auch zahlreiche an- das Recht der Menschen auf freien Zugang zu dere Regierungen in der ganzen Welt, die gerne Informationen verteidigt und gesagt habe, »je Bekenntnisse zu Menschenrechten und De- freier die Informationsströme zirkulieren kön- mokratie ablegen, haben politische Anführer nen, desto stärker werden die Gesellschaf- wie Muhammad Hosni Mubarak in Ägypten ten«. Er habe davon gesprochen, wie der Zu- und Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien aus- gang zu Informationen den Bürgerinnen und drücklich unterstützt, wohl wissend, dass sie Bürgern helfe, »ihre Regierungen zur Verant- korrupt waren und die Rechte der eigenen Be- wortung zu ziehen, neue Ideen zu entwickeln völkerung mit Füßen traten. So erfolgte bei- und die eigene Kreativität zu entfalten«. spielsweise die erste »außerordentliche Über- Doch die USA sind nicht das einzige Land, stellung«, also das »Outsourcing« von Folter, das sich ein ordentliches und folgsames Inter- unter der Regierung von Bill Clinton, als Gefan- net wünscht und das die neuen Technologien gene nach Ägypten verbracht wurden – ein gleichzeitig nutzt, um das Recht auf Privat- Land, das für die systematische Anwendung sphäre auszuhebeln. Durch das Internet tritt von Folter bekannt war. Die Beweise für diese einmal mehr das Bestreben von Regierungen Scheinheiligkeit, die durch die vielen von Wiki- zutage, den Zugang zu Informationen zu kon- 2. Korrekturgang 29.3.11 & Bosse Clausen leaks veröffentlichten diplomatischen Depe- trollieren. So werden Inhalte im Internet zen- schen einmal mehr untermauert wurden, stel- siert, die den Mächtigen als Bedrohung er- len diese Regierungen bloß und nähren Zwei- scheinen, gleichzeitig bedienen sich Regie- 000835 fel an ihren Bekenntnisse zu den Menschen- rungen selbst schon längst des »Hackens« und rechten. Am Schluss war der Mut der friedlich der Überwachung. Protestierenden, die ihr Leben auf den Straßen Doch haben die Regierungen nicht alles unter Kairos u.a. Städte riskierten, stärker als der Kontrolle, so sehr sie sich dies auch wünschen Durchhaltewillen von Präsident Mubarak und mögen. In China hat die sogenannte Great Fire- seiner Unterstützer. wall bei der Unterdrückung der freien Diskus- Seit die diplomatischen Depeschen ins Inter- sion im Internet eine große und unselige Rolle net gestellt wurden, suchen die betroffenen gespielt. Wer gegen die Regeln verstieß, wurde Regierungen hektisch nach Straftaten, die man schikaniert oder ins Gefängnis gesperrt. So Wikileaks (und Bradley Manning) zur Last le- wurde zum Beispiel im Juli 2010 Hairat Niyaz, gen könnte. Diese Reaktion gibt sehr zu den- ein uigurischer Journalist und Redakteur einer ken. Die US-Regierung, die Wikileaks am hef- Internetseite, wegen »Gefährdung der Staats- tigsten attackierte, hatte kurz zuvor noch eine sicherheit« zu 15 Jahren Haft verurteilt. Als Be- ganz andere Meinung vertreten und neue Ent- weise führte das Gericht Interviews an, die er wicklungen zur Verbreitung von Informationen ausländischen Medien gegeben hatte, sowie über andere Länder unterstützt. Im Januar seine Online-Übersetzung eines Protestauf- 2010 hatte US-Außenministerin Hillary Clinton rufs einer uigurischen Organisation im Ausland. die Regierungen weltweit aufgefordert, ihren Darin wurde der Umgang der Regierung mit Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum In- einem Vorfall in Shaoguan in der südchinesi- ternet nicht zu verwehren, und die Zensur des schen Provinz Guangdong kritisiert, als min-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Internets mit der Berliner Mauer verglichen. destens zwei Uiguren bei Auseinandersetzun-

12 Vorwort Einschränkung der Pressefreiheit in Russland im März 2010 © Thomasz Kizny gen zwischen Han-Chinesen und uigurischen wurde, dass er den Friedensnobelpreis erhalten Arbeitern getötet wurden. Doch trotz aller aus- würde, überschlugen sich die Internet-Aktivis- geklügelten Technologie – immer wieder wur- ten in ihrem Bemühen, ihn gebührend zu wür- den und werden die chinesischen Behörden digen. Die chinesische Regierung setzte indes von den Internet-Nutzern aufgeschreckt und alles daran, die Diskussion rasch zu beenden. ausgetrickst. Das Internet bleibt »ein wildes Offenbar hatte sie nicht mit einer so breiten Fohlen, das sich nicht zähmen lässt«, um es Unterstützung für einen Mann gerechnet, der mit den Worten der kubanischen Bloggerin offiziell als »Verräter« galt. Die Behörden blo- Yoani Sánchez zu sagen. ckierten sogar das Suchwort »leerer Stuhl« – Ein weiteres Beispiel ist Liu Xiaobo, der Litera- denn viele Chinesen benutzten diesen Begriff turwissenschaftler und Mitautor der Charta 08, in Anspielung auf das Fehlen von Liu Xiaobo bei einem Dokument, das von zahlreichen chinesi- der Preisverleihung in Oslo im Dezember. schen Dissidenten unterzeichnet wurde. Liu Bis zum Fall Wikileaks schienen die Regierun- Xiaobo wurde von den Aktivitäten der osteuro- gen sicher zu sein, dass sie die Oberhand be- päischen Intellektuellen inspiriert, die in den halten würden. Aber als die Unternehmen, die 70er und 80er Jahren gegen autoritäre kommu- für die Arbeit von Wikileaks unerlässlich wa- nistische Regime gekämpft hatten. Auch ren, ihre Unterstützung der Plattform einstellten ihnen kamen damals neue technische Möglich- – wobei unklar blieb, ob dies auf unmittelba- keiten zugute – sie nutzten Kopier- und Faxge- ren Druck seitens der US-Regierung erfolgte –, räte, um ihre Ideen zu verbreiten, die Regierun- griffen Hacker in aller Welt die Firmen und Re- gen herauszufordern und sie schließlich zu gierungen an, die Wikileaks verurteilten. stürzen. Die verstärkte Hacker-Aktivität und die Ver- Selbst nach seiner Verurteilung zu elf Jahren öffentlichung zahlreicher weiterer Dokumente Haft am Weihnachtstag 2009 war Liu Xiaobo – ungeachtet der Empörung verschiedener Re- den meisten einfachen Chinesen unbekannt. gierungen und ihrer Drohungen – haben ge- Als jedoch im Oktober 2010 angekündigt zeigt, dass Wikileaks die Spielregeln der Infor-

Vorwort 13 mationskontrolle verändert hat. Es wurde auch das humanitäre Völkerrecht vertuscht werden deutlich, dass einige Hacker ohne jede Rück- sollen. Doch umgekehrt rechtfertigen Heuche- sicht vorgehen und damit den Schutz der Pri- lei und Täuschung seitens der Regierungen vatsphäre und die Sicherheit einzelner Perso- auch keine Hackerangriffe auf die Staatsan- nen gefährden. waltschaft und die Verletzung der Privatsphäre der Klägerinnen. Vorsicht: Ausgewogenheit ist wichtig Der Wunsch, Informationen zu veröffentlichen, Eine digitale Zukunft kann seine eigenen Probleme hervorrufen, für die Menschenrechte wenn dabei die Rechte des Einzelnen nicht Genau wie andere Kommunikationstechniken ausreichend geschützt werden. Im August er- hat das Internet nichts Magisches oder Deter- statteten zwei Frauen gegen Julian Assange, ministisches. Technologie ist weder grundsätz- den Gründer von Wikileaks, Strafanzeige nach lich gut noch schlecht für die Menschen- dem schwedischen Gesetz wegen sexueller Nö- rechte. Sie ist ein Werkzeug, das beide Seiten tigung. Hacker veröffentlichten die Namen der benutzen, sowohl diejenigen, die Ungerechtig- beiden Frauen, die in den Medien als Handlan- keiten überall auf der Welt anprangern wollen, gerinnen der US-amerikanischen und der als auch diejenigen, die den Zugang zu Infor- schwedischen Regierung diffamiert worden wa- mationen kontrollieren und kritische Stimmen ren. Dies zeigt, dass Frauen in der neuen vir- unterdrücken wollen. Das gilt heute und wird tuellen Welt weiterhin als Bauernopfer gelten – auch in Zukunft so sein. UKW-Radios und Mo- oder schlimmer noch, als hinnehmbarer Kolla- biltelefone haben in Afrika sicherlich mehr teralschaden. Um es klar zu sagen: Die beiden zum Schutz und zur Förderung der Menschen- Frauen haben Anspruch auf die gründliche rechte beigetragen als die meisten herkömm- Untersuchung der Vorwürfe, die sie gegen Ju- lichen Methoden. Und die kenianische Website 2. Korrekturgang 29.3.11 & Bosse Clausen lian Assange erheben, und darauf, dass bei Ushahidi.com hat mit ihrer innovativen Nut- Vorliegen ausreichender Beweise Strafverfol- zung des sogenannten Crowdsourcing völlig gungsmaßnahmen gegen ihn eingeleitet wer- neue Möglichkeiten zur Konfliktverhütung er- 000835 den. Für Julian Assange muss der Grundsatz öffnet. der Unschuldsvermutung gelten, und er muss Technologien dienen den Zwecken derjeni- ein rechtsstaatliches und faires Verfahren er- gen, die sie in der Hand haben – ob sie nun halten. Rechte schützen oder beschränken wollen. In Die Rechtslage in Bezug auf die Menschen- einer Welt ungleich verteilter Macht sind Re- rechte ist eindeutig. Die Regierungen müssen gierungen und andere Institutionen allerdings transparent agieren und dürfen das Recht auf eher in der Lage, Technologien auszunutzen freie Meinungsäußerung (einschließlich des und zu missbrauchen, als lokale Aktivisten, be- Rechts, Informationen zu empfangen und wei- drängte Menschenrechtsanwälte, unerschro- terzugeben) nur dann einschränken, wenn es ckene Whistleblower und andere Einzelperso- zur Wahrung des Ansehens und der Rechte an- nen, deren Gerechtigkeitsempfinden sie derer Menschen oder zum Schutz der natio- drängt, mit Hilfe der neuen Technologien Infor- nalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der mationen zu beschaffen oder eine Ungerech- Gesundheit der Bevölkerung oder der öffent- tigkeit zu dokumentieren. lichen Moral erforderlich ist. Das Ansinnen In der Debatte um Wikileaks und in der Kon- mancher Regierungen, das Interesse der na- troverse um mutmaßliche sexuelle Übergriffe tionalen Sicherheit als Joker auszuspielen, um von Julian Assange wurde deutlich, dass die die Informationsfreiheit einzuschränken, ist Verbreitung von Dokumenten ohne ausrei- niemals gerechtfertigt – besonders dann nicht, chende Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz wenn mit solchen Einschränkungen Men- der darin genannten Personen in moralischer

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schenrechtsverletzungen und Verstöße gegen Hinsicht problematisch ist. Hier fehlt es an der

14 Vorwort moralischen Eindeutigkeit, mit der – zumin- ten unserer Zeit« bezeichnete, entstand nach dest im Nachhinein – die Veröffentlichung der einem Aufruf des britischen Anwalts Peter Be- Pentagon-Papiere bewertet wird. Wer Wikile- nenson, der darum bat, man möge sich der aks unmoralisch findet, muss sich eines klar »vergessenen Gefangenen« erinnern. Ausge- machen: Wenn die Instanzen versagen, die löst wurde sein Engagement durch einen Be- den Mächtigen die Wahrheit sagen sollten, ist richt über zwei junge Portugiesen, die ins Ge- es verständlich, dass die Menschen, die tag- fängnis geworfen worden waren, weil sie mit täglich unter Machtmissbrauch leiden, von Wi- ihren Gläsern auf die Freiheit angestoßen hat- kileaks begeistert sind. Ihre letzte Hoffnung ten. ist, dass die Enthüllung von Information dazu Zum Glück für Tausende von vergessenen führt, dass die Verantwortlichen zur Rechen- Gefangenen hat diese »Verrücktheit« nicht nur schaft gezogen werden – wie konfus, beschä- bis heute angedauert, sondern sie gedeiht auch mend und scheinbar kontraproduktiv die ent- weiter. Wir und unsere Verbündeten sind nach hüllten Informationen auch sein mögen. wie vor fest entschlossen, uns für das Recht auf Für Amnesty International und andere Men- Informations- und Meinungsfreiheit einzuset- schenrechtsverteidiger, die die Möglichkeiten zen. Gemeinsam haben wir erfolgreich für die der neuen Technologien erkennen, sind dies in Freilassung Tausender gewaltloser politischer jedem Fall aufregende Zeiten. Sie können uns Gefangener gekämpft, einige davon – so zum dabei helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, Beispiel Ellen Johnson Sirleaf – sind heute uns miteinander zu verbinden und über alle Staatsoberhäupter. Gemeinsam haben wir zur Grenzen hinweg Diskussionen zu führen, auf Freilassung von Aung San Suu Kyi im Novem- die keine staatliche Zensur mehr Zugriff hat. ber 2010 beigetragen und damit einmal mehr Wir haben die Hoffnung auf ein Leben in einer gezeigt, dass unnachgiebige Beharrlichkeit gleichberechtigten Welt, in der alle Menschen einen Wandel zum Guten bewirken kann. Ge- tatsächlich Zugang zu allen relevanten Informa- meinsam haben wir ungezählte Leben gerettet tionen haben und sich umfassend an allen – so zum Beispiel vor kurzem das Leben zweier Entscheidungen beteiligen können, die sie engagierter Gegner eines Bergbauprojekts. Die selbst betreffen, und auf eine Welt, in der beiden hatten sich den Sicherheitskräften ent- keine Ungerechtigkeit unwidersprochen bleibt. gegengestellt, als diese eine Auseinanderset- Amnesty International wird 2011 50 Jahre alt. zung vom Zaun brachen, um die Protestieren- Die Organisation, die ein zeitgenössischer Kri- den loszuwerden, die ihr Leben aufs Spiel setz- tiker einmal als »eine der größeren Verrückthei- ten, um den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.

Warten auf das Ende von Diskriminierung und Ausgrenzung: Ein Roma-Mädchen in einem Lager unweit von Paris im September 2010 © Juan Pablo Gutierrez

Vorwort 15 Die Welt hat sich in den vergangenen 50 Jah- ten einfordern, versuchen Regierungen, be- ren dramatisch verändert, gleichgeblieben ist waffnete Gruppen, Unternehmen und interna- jedoch die Aufforderung an die Einzelnen zu- tionale Institutionen zu verhindern, dass man sammenzustehen, um gegen Unrecht zu ihr Handeln überprüft und sie dafür zur Re- kämpfen und die Menschenrechte zu verteidi- chenschaft zieht. gen, wo auch immer auf der Welt. Nicht nur die Freilassung von Aung San Suu Dieses Jubiläum ist ein Anlass, um uns vorzu- Kyi und die Unerschrockenheit von Liu Xiaobo stellen, wie viel Einzelne erreichen können, machen uns Mut, sondern auch die Standhaf- wenn sie sich zusammentun. Wenn alle 3 Mio. tigkeit tausender gewaltloser politischer Ge- Amnesty-Mitglieder jeweils einen weiteren fangener und die Entschlossenheit zahlreicher Menschen dafür gewinnen könnten, sich an Menschenrechtsverteidiger. Bewunderung unserem Bemühen für Gerechtigkeit zu betei- verdient auch die Beharrlichkeit von hundert- ligen, würde sich unsere Wirksamkeit verdop- tausenden einfachen Tunesiern, die ange- peln. Die Ereignisse im Nahen Osten und sichts des Schicksals von Mohamed Bouazizi Nordafrika haben gezeigt, dass das gemein- entschlossen waren, allen Widrigkeiten zum same Handeln vieler Einzelner, die sich in Trotz, sein Vermächtnis zu erfüllen, indem sie ihrem Wunsch nach fairer Behandlung der Bür- den Kampf gegen den Machtmissbrauch, der ger durch den Staat einig sind, repressive Re- zu seinem Tod geführt hatte, gemeinsam fort- gierungen zu Fall bringen kann. setzten. Als Amnesty International verspre- Es ist weiterhin sehr wichtig, dass sich Ein- chen wir, unsere Anstrengungen zur Stärkung zelne, denen Rechte und Freiheiten am Her- der weltweiten Menschenrechtsbewegung zu zen liegen, im eigenen Land und jenseits der verdoppeln und alles zu tun, um zu verhindern, Grenzen Verbündete suchen, denn die Regie- dass sich ein Mensch in seiner Verzweiflung rungen lassen nicht nach in ihrem Bemühen, angesichts staatlicher Willkür so alleingelassen 2. Korrekturgang 29.3.11 & Bosse Clausen diejenigen zu verfolgen, die gegen Machtmiss- fühlt, dass er oder sie keinen Ausweg mehr brauch protestieren. Während mutige und ent- sieht. schlossene Einzelne ihre Rechte und Freihei- 000835 S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

16 Vorwort Die Menschenrechtssituation im Überblick S. Fischer Verlag 240.142 Jahresbericht Amnesty International 2011 000835 2. Korrekturgang 31.3.11 Clausen & Bosse nachbarten Tschad. Bei manchen Angriffen Afrika nahmen bewaffnete Rebellen und Regierungs- truppen gezielt Zivilpersonen ins Visier. Nach wie vor waren einige Teile der Region Darfur für »Alle wissen, wie mein Sohn zu Tode humanitäre Hilfsorganisationen und für die kam, aber niemand will diesen Fall auf- gemeinsame Friedenstruppe der Afrikanischen klären. Sie haben das Problem zusam- Union (AU) und der UN (UNAMID) unzugäng- men mit der Leiche vergraben. Die Be- lich. Immer wieder wurden in Darfur nach dem hörden wollen nicht darüber sprechen.« Muster, das in den vergangenen Jahren be- reits im Tschad zu beobachten war, Mitarbeiter Die Mutter von Dominique Lopy, der 2007 im Senegal nach von Hilfsorganisationen und UNAMID-Ange- Folterungen in Polizeigewahrsam gestorben war, gegenüber hörige entführt. Die im Berichtsjahr unternom- Amnesty International im Jahr 2010. menen Anläufe zu Vermittlungsversuchen brachten keine greifbaren Ergebnisse. Auch im Jahr 2010 setzten die sudanesischen Be- Im Jahr 2010 feierten viele Länder Afrikas den hörden, insbesondere der Geheimdienst 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit, andere (National Intelligence and Security Service – bereiteten sich auf das bevorstehende Jubi- NISS), die repressive Politik in Darfur mit will- läum vor. Trotz aller Feierlichkeiten blieben kürlichen Festnahmen, Misshandlungen und die Hoffnungen und Erwartungen zahlloser Afri- Inhaftierungen ohne Anklage fort. Die Vorberei- kaner weiter unerfüllt, denn ihre Menschen- tungen für die Volksabstimmung über die Un- rechte wurden weder respektiert noch ge- abhängigkeit des südlichen Landesteils führten schützt. Was durch die Missachtung der erfreulicherweise nicht zu vermehrten Gewalt- Menschenrechte ausgelöst wird, zeigt sich in taten. der Not, der Unterdrückung und der Gewalt, Die Beziehungen zwischen dem Tschad und unter denen die Menschen auf dem gesamten dem Sudan besserten sich, und die Spannun- Kontinent leiden: die Bewohner der soge- gen zwischen den beiden Ländern nahmen nannten informellen Siedlungen in Port Har- ab. Es wurde eine gemeinsame Grenzüber- court, Nigeria, die Häftlinge, die in Angola wachung vereinbart, und beide Staaten ver- noch immer im Gefängnis sitzen, obwohl das sprachen, bewaffnete Oppositionsgruppen im Gesetz, auf dessen Grundlage sie angeklagt jeweils anderen Land nicht zu unterstützen. Die wurden, längst nicht mehr in Kraft ist, die beiden Staatschefs statteten einander einen Frauen und Mädchen in Burkina Faso, denen offiziellen Besuch ab. Obwohl der Tschad Ver- ihre sexuellen und reproduktiven Rechte ver- tragsstaat des Römischen Statuts des Interna- weigert werden, und die Millionen Menschen, tionalen Strafgerichtshofs ist, wurde der suda- die weiterhin vor Armut und bewaffneten Kon- nesische Staatspräsident Omar al-Bashir un- flikten flüchten müssen. geachtet des gegen ihn ergangenen internatio- nalen Haftbefehls wegen Kriegsverbrechen, Konflikte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völ- In den vergangenen zehn Jahren konnte eine kermord nicht festgenommen, als er das Land ganze Reihe langjähriger Bürgerkriege been- im Juli besuchte. Auch die kenianischen Be- det werden, doch noch immer bringen zahlrei- hörden nahmen ihn im August bei einem Be- che Konflikte Tod und Zerstörung mit sich. such in Nairobi nicht fest. Der Sudan verwei- Aufgrund der bewaffneten Auseinanderset- gerte weiterhin die Auslieferung von Personen, zungen in der südsudanesischen Region Dar- gegen die Haftbefehle des Internationalen fur, die im Verlauf des Jahres 2010 an Intensität Strafgerichtshofs vorlagen. Im Juli bekräftigte zunahmen, verloren Tausende von Menschen die AU auf ihrem Gipfeltreffen erneut ihre Ver- ihr Obdach; einige von ihnen flohen in den be- weigerung der Zusammenarbeit mit dem In-

Afrika 19 ternationalen Strafgerichtshof zur Festsetzung der Zivilbevölkerung. Die Militärhilfe, die die und Überstellung von Präsident al-Bashir. TFG von mehreren Staaten wie z. B. den USA Trotz möglicher gravierender Folgen für die Si- erhielt, war nicht mit geeigneten Auflagen ver- cherheit von hunderttausenden Flüchtlingen knüpft und hat deshalb möglicherweise noch im Osten des Tschad gab der UN-Sicherheitsrat zur Verschlechterung der Menschenrechts- dem Antrag der tschadischen Regierung auf situation und der humanitären Lage beigetra- Abzug der UN-Mission aus dem Tschad und gen. Die internationale Gemeinschaft drängte der Zentralafrikanischen Republik (MINUR- zudem nicht nachhaltig darauf, die Verant- CAT) statt. Die dort lebenden Flüchtlinge waren wortlichen für Kriegsverbrechen zur Rechen- weiter von Menschenrechtsverletzungen – wie schaft zu ziehen. Gewalt gegen Frauen und Zwangsrekrutierung Im Zuge des Konflikts im Osten der Demokra- von Kindersoldaten durch die tschadische Ar- tischen Republik Kongo (DR Kongo) waren mee und andere bewaffnete Gruppen – be- zahlreiche Verstöße gegen die Menschenrechte droht. und das humanitäre Völkerrecht zu verzeich- Auch 2010 waren weite Teile der Zentralafri- nen. In Walikale (Provinz Nordkivu) begingen kanischen Republik unter der Kontrolle be- Mitglieder bewaffneter Gruppen bei Überfällen waffneter Rebellen, und die Zivilbevölkerung auf Dörfer innerhalb von vier Tagen über 300 wurde immer wieder zur Zielscheibe der ugan- Vergewaltigungen. Weder die Streitkräfte der dischen Rebellengruppe Widerstandsarmee DR Kongo (Forces Armées de la République des Herrn (Lord’s Resistance Army). Zehntau- Démocratique du Congo – FARDC) noch die sende von Menschen mussten weiter als Bin- nicht weit entfernt stationierten Blauhelme der nenflüchtlinge fern von ihren Wohnorten le- UN-Friedensmission MONUC griffen ein. An- ben, und Gewalt gegen Frauen war auch 2010 gehörige der FARDC waren für zahlreiche Men- ein gravierendes Problem. schenrechtsverletzungen in diesem Gebiet 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen In Somalia dauerte der bewaffnete Konflikt verantwortlich. Fast niemand wurde für gravie- zwischen den Einheiten der Föderalen Über- rende Menschenrechtsverstöße wie Vergewal- gangsregierung (TFG), die von der Friedensmis- tigungen und andere sexuelle Übergriffe zur 000835 sion der AU für Somalia (AMISOM) unterstützt Verantwortung gezogen. Die Regierung der wurden, und islamistischen Gruppen unver- DR Kongo weigerte sich nach wie vor, den mindert an; besonders stark betroffen war die vom Internationalen Strafgerichtshof per Haft- Hauptstadt Mogadischu. Hunderttausende befehl gesuchten Bosco Ntaganda auszulie- Menschen wurden 2010 aus ihren Wohnorten fern. Diesem hochrangigen Armeeoffizier wird vertrieben. Aufgrund der prekären Sicherheits- vorgeworfen, Kinder für die Armee rekrutiert lage und der Gefahr für humanitäre Helfer, zur und in bewaffneten Einheiten eingesetzt zu Zielscheibe von Anschlägen durch islamisti- haben. sche Gruppen zu werden, war der Zugang zu Im Oktober veröffentlichten die UN einen Be- humanitären Hilfsleistungen stark einge- richt über die gravierenden Verstöße gegen die schränkt. Die Konfliktparteien ergriffen nicht Menschenrechte und das humanitäre Völker- die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen, um recht, die zwischen 1993 und 2003 in der DR die Zahl ziviler Opfer bei den militärischen Kongo begangen worden waren. Der Bericht Auseinandersetzungen möglichst gering zu hal- enthält auch zahlreiche Empfehlungen für die ten, in einigen Fällen richteten sich ihre Ope- Stärkung der Justiz des Landes und für die Be- rationen sogar gezielt gegen die Zivilbevölke- kämpfung der Straflosigkeit, deren Umset- rung. Alle Konfliktparteien rekrutierten auch zung politischer Unterstützung bedarf. Dass Kinder für den Einsatz in ihren bewaffneten Ein- Länder wie Ruanda und Uganda, die in dem heiten. Die internationale Gemeinschaft sorgte Bericht als Verantwortliche für Menschen- sich indes mehr um die Probleme mit Piraten rechtsverletzungen genannt werden, den Be-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht vor der somalischen Küste als um das Elend richt kritisierten, war ein enttäuschender Hin-

20 Die Menschenrechtssituation im Überblick weis auf die fehlende Bereitschaft, die Täter an. Die Gegenmaßnahmen der nigerianischen zur Rechenschaft zu ziehen. Sicherheitskräfte waren oft mit Menschen- Vor allem weil der politische Wille fehlte, wur- rechtsverletzungen wie außergerichtlichen den auch in anderen Ländern nur geringe Hinrichtungen und Folterungen verbunden. Fortschritte erzielt in dem Bemühen, die Täter Auch in anderen Regionen Nigerias scheuten für Verbrechen im Sinne des Völkerrechts zur die Strafverfolgungsorgane bei der Durchset- Verantwortung zu ziehen. In Burundi waren bis zung der Gesetze in der Regel nicht vor Men- Ende 2010 weder die vereinbarte Wahrheits- schenrechtsverletzungen wie willkürlichen und Versöhnungskommission noch das ge- Festnahmen, Folterungen und anderen Miss- plante Sondergericht zur Aufarbeitung der handlungen zurück, und es gab viele Fälle von Kriegsverbrechen eingerichtet worden. In Libe- Verschwindenlassen und rechtswidrigen Tö- ria wurde fast keine Empfehlung der Wahr- tungen, zum Teil in Form staatlicher Morde. Im heits- und Versöhnungskommission umgesetzt, Bundesstaat Plateau wurden bei Ausbrüchen auch nicht die Einrichtung eines Sonderstraf- ethnischer und religiös motivierter Gewalt er- gerichts zur Aufarbeitung der während des Bür- neut Hunderte von Menschen getötet und gerkriegs begangenen Verbrechen gegen das Tausende aus ihren Wohnorten vertrieben. Völkerrecht. Im Senegal erklärte Präsident Ab- Gegen Ende des Jahres 2010 wurde aus Bu- doulaye Wade im Dezember, er sei nicht an rundi eine Reihe von außergerichtlichen Hin- weiteren Strafverfolgungsmaßnahmen gegen richtungen gemeldet. Unter den Opfern waren den ehemaligen Präsidenten des Tschad, His- Menschen mit Verbindungen zu der Oppositi- sène Habré, interessiert, obwohl die finanziel- onspartei Nationale Befreiungskräfte (Forces len Mittel für ein Gerichtsverfahren anschei- Nationales de Libération). Zwar wurde eine nend zur Verfügung standen. Dies stellt eine Untersuchungskommission zu den Vorfällen unverhohlene Missachtung der Verpflichtun- eingerichtet, die aber bis Jahresende keine Er- gen Senegals nach dem Völkerrecht dar und gebnisse vermeldete. widerspricht auch dem Ersuchen der AU. Ein In Südafrika wurden zahlreiche Fälle von Fol- weiterer Rückschritt war die Entscheidung des ter und Misshandlung, u. a. durch Schläge, kenianischen Parlaments im Dezember, Elektroschocks, Beinaheersticken und Mord- einem Antrag auf Rücktritt vom Römischen Sta- drohungen, durch die Polizei gemeldet. Zu tut stattzugeben, nachdem der Chefankläger vielen davon führte die Polizeiaufsichtsbehörde des Internationalen Strafgerichtshofs die Na- eine Untersuchung durch. Auch in Uganda men von sechs kenianischen Staatsbürgern kam es nach den Bombenanschlägen im Juli, genannt hatte, die er vor Gericht vorladen wolle. bei denen mindestens 76 Menschen den Tod fanden, zu Menschenrechtsverletzungen. Öffentliche Sicherheit Einige verdächtigte Personen wurden festge- Menschenrechtsverletzungen durch Ange- nommen und ohne Kontakt zur Außenwelt in hörige der Sicherheits- und Strafverfolgungs- Haft gehalten; andere wurden rechtswidrig organe waren auch 2010 in ganz Afrika zu be- von Kenia nach Uganda verbracht und dort in klagen. Zu den dokumentierten Verstößen Haft genommen. zählten staatliche Morde, Folterungen und an- In Mosambik setzte die Polizei bei Protesten dere Misshandlungen sowie exzessive Gewalt- gegen die hohen Lebenshaltungskosten im anwendung der Sicherheitskräfte, die oft Land scharfe Munition gegen die Demonstrie- rechtswidrige Tötungen zur Folge hatte. renden ein und tötete mindestens 14 Men- Die Lage im Nigerdelta verschärfte sich im schen. Auch in Guinea schossen die Sicher- Laufe des Jahres weiter. Bewaffnete Gruppen heitskräfte mit scharfer Munition auf friedliche und kriminelle Banden entführten zahlreiche Demonstrierende, und in Kenia forderte ein Arbeiter von Erdölgesellschaften samt ihren Polizeieinsatz in einer informellen Siedlung in Angehörigen und griffen mehrere Erdölanlagen Nairobi sieben Todesopfer.

Afrika 21 In zahlreichen afrikanischen Ländern wie chung zu einer Reihe von Granatenanschlä- Burkina Faso, Kamerun, Eritrea, Ghana, Mau- gen im Vorfeld der Wahlen mehrere Menschen retanien, Südafrika, Swasiland und der Repu- vom Geheimdienst festgenommen und gefol- blik Kongo waren Todesfälle im Gewahrsam tert. Obwohl die burundische Regierung öffent- der Sicherheitskräfte zu vermelden. Oft waren lich die Einleitung von Ermittlungen ankün- die Opfer zuvor gefoltert bzw. misshandelt digte, war bis zum Jahresende noch kein Ver- worden. In anderen Ländern wie Angola, Benin, antwortlicher für seine Taten zur Rechen- Burundi, Liberia, Malawi, Sierra Leone und schafft gezogen worden. Den Oppositions- Tansania waren die Haftbedingungen in den parteien wurde es zudem vorübergehend ver- Gefängnissen nach wie vor unzumutbar boten, Versammlungen abzuhalten. hart. In Ruanda wurde vor den Wahlen im August Zwar war in Afrika ein Trend hin zur Abschaf- 2010 ebenfalls die Meinungs- und Versamm- fung der Todesstrafe zu verzeichnen, doch lungsfreiheit drastisch eingeschränkt. Oppositi- wurden in Äquatorialguinea, im Sudan und in onsparteien wurden an der Aufstellung von Somalia auch im Jahr 2010 Menschen hinge- Kandidaten gehindert, Regierungsgegner ver- richtet, die in unfairen Verfahren zum Tod ver- haftet und zahlreiche Medieneinrichtungen urteilt worden waren. Auch aus Botswana geschlossen. Viele Journalisten verließen das wurde eine Hinrichtung gemeldet. Gabun Land. Vage formulierte Gesetze über »Völker- schaffte hingegen 2010 die Todesstrafe ab. mordideologie« und »Sektierertum« wurden dazu benutzt, die freie Meinungsäußerung Unterdrückung nachhaltig zu unterdrücken. Nach der Ermor- abweichender Meinungen dung eines prominenten Politikers und eines In mehreren Ländern fanden Wahlen statt, die Journalisten sowie mehreren Granatenanschlä- von Gewalt und einer Zunahme der Men- gen, die zahlreiche Todesopfer forderten, ver- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen schenrechtsverletzungen begleitet waren; schärften sich im Vorfeld der Wahlen die Span- kaum einer der Verantwortlichen für diese Ver- nungen und das Klima der Unsicherheit im stöße wurde jedoch zur Rechenschaft gezogen. Land. 000835 Im Sudan wurde im Zusammenhang mit den Auch in Guinea waren vor den Präsident- Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im schaftswahlen verstärkt gewalttätige Über- April 2010 das Recht auf freie Meinungsäuße- griffe und Menschenrechtsverletzungen zu ver- rung massiv unterdrückt. Zahlreiche Medien- zeichnen. Die Sicherheitskräfte gingen mit ex- organe erhielten Arbeitsverbot, für die Druck- zessiver Gewalt vor und feuerten wahllos mit medien wurde die Vorzensur wieder einge- scharfer Munition auf Protestierende. Wäh- führt, Journalisten wurden verhaftet und einige rend des Wahlkampfs wurden Dutzende von von ihnen auch gefoltert. Für viele Menschen- Menschen willkürlich in Haft genommen; oft rechtsverletzungen war der Geheimdienst NISS durften sie weder Besuch von ihren Angehöri- verantwortlich, seine Mitarbeiter waren durch gen noch von einem Anwalt erhalten, und sie das neue Gesetz über die nationale Sicherheit, wurden auch nicht medizinisch versorgt. das im Februar in Kraft trat, vor Strafverfol- In Côte d’Ivoire wurde das Ergebnis der Präsi- gung geschützt. dentschaftswahlen im Dezember 2010 von Auch in Äthiopien führten die Wahlen im Mai dem amtierenden Präsidenten Laurent Gbagbo zu einer Einschränkung der Meinungs- und nicht akzeptiert. Zahlreiche außergerichtliche Versammlungsfreiheit. Nach Angabe der Oppo- Hinrichtungen, Fälle von Verschwindenlassen sitionsparteien wurden u. a. in der Region Oro- und willkürlichen Festnahmen waren den mia vor dem Wahlgang zahlreiche ihrer Mitglie- Gbagbo-loyalen Sicherheitskräften zuzurech- der und Funktionäre schikaniert, mit Schlägen nen. Trotz politischen Drucks seitens der UN, misshandelt und verhaftet. der AU und der Wirtschaftsgemeinschaft West-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht In Burundi wurden im Rahmen der Untersu- afrikanischer Staaten (ECOWAS) weigerte sich

22 Die Menschenrechtssituation im Überblick Laurent Gbagbo, sein Amt aufzugeben. Es kam Ruanda und Südafrika sowie in Swaziland, zu einer politischen Pattsituation im Land und Tansania, Togo, Uganda und Simbabwe zu der Befürchtung, dass die Gewalt zunehmen statt. werde. In Burundi, Äquatorialguinea, Madagaskar, Auch in vielen anderen Ländern wurden die Niger und Togo wurden politische Gegner der Rechte auf freie Meinungsäußerung, auf Ver- Regierung rechtswidrig bzw. willkürlich festge- einigungsfreiheit und auf friedliche Versamm- nommen. In Uganda lösten Polizeibeamte und lung missachtet. Menschenrechtsverteidiger, bewaffnete Männer in Zivil eine Kundgebung Journalisten und Mitglieder der Oppositionspar- der Opposition auf und misshandelten zahlrei- teien mussten nicht nur mit Einschüchterung che Teilnehmer der Demonstration. und mit Schikanen rechnen, sondern auch mit In Eritrea befanden sich viele Journalisten, willkürlicher Inhaftierung, Folterung oder Religionsführer und engagierte Bürger nach Misshandlung oder gar mit ihrer widerrecht- wie vor in Haft, wo sie oft keinen Kontakt zur lichen Tötung. Außenwelt hatten und von Misshandlungen Zur willkürlichen Festnahme von Menschen- bedroht waren. rechtsverteidigern und engagierten Bürgerin- In einigen Ländern, zum Beispiel in Somalia, nen und Bürgern kam es in Angola, der Zentral- waren bewaffnete Gruppen wie die al-Shabab- afrikanischen Republik, in Gambia und Niger Milizen für Übergriffe gegen Journalisten und sowie in Simbabwe, wo jedoch der Oberste Ge- Menschenrechtsverteidiger und sogar Tötun- richtshof im November befand, dass die Fest- gen verantwortlich. In Somalia führten islamisti- nahme und Inhaftierung von zwei Mitgliedern sche Gruppen auch Steinigungen und der Frauenrechtsorganisation Woman of Zim- Zwangsamputationen durch. In mehreren Län- babwe Arise (WOZA) rechtswidrig erfolgt sei dern der Sahel-Zone entführte Al-Qaida im is- und eine Verletzung ihrer Grundrechte dar- lamischen Maghreb (AQIM) Menschen und stelle. Das Gericht stellte weiter fest, dass der hielt sie als Geiseln; einige der Entführten wur- Staat seiner Verpflichtung nicht nachgekom- den getötet. men sei, die beiden Menschenrechtsverteidige- rinnen gegen Übergriffe zu schützen. In Bu- Flüchtlinge und Migranten rundi erhielten Menschenrechtsverteidiger Auch im Jahr 2010 wurden Migranten zu Op- Drohungen, und in der DR Kongo wurde der fern von Diskriminierung und anderen Men- prominente Menschenrechtler Floribert Che- schenrechtsverletzungen. Von September bis beya getötet. In Kenia stockten die Ermittlun- Ende Dezember schoben die angolanischen gen zur Ermordung der beiden Menschen- Sicherheitskräfte über 12000 Staatsangehörige rechtsverteidiger Oscar Kingara und Paul Oulu der DR Kongo in ihr Herkunftsland ab. Im Ver- im Jahr 2009. In Äthiopien trat 2010 das Gesetz lauf der Abschiebung sollen Dutzende von über gemeinnützige Organisationen und Ver- Frauen und auch einige Männer vergewaltigt bände in Kraft, das zivilgesellschaftlichen Orga- worden sein. Es wurden auch andere Übergriffe nisationen umfassende Kontrollen auferlegt gemeldet, und viele Abgeschobene kamen und die Menschenrechtsarbeit nachhaltig be- nackt und ohne Habe in ihrem Land an. In hindert. Mauretanien wurden Migranten, die zum In Angola, Benin, Kamerun, Swaziland und Großteil aus anderen westafrikanischen Län- Togo wurden friedliche Demonstrationen ver- dern kamen, willkürlich in Haft genommen, boten bzw. Demonstrierende verhaftet. um sie an der Weiterreise nach Europa zu hin- Einschüchterungen und willkürliche Festnah- dern. In verschiedenen Regionen Südafrikas men von Journalisten fanden in Burundi und kam es, obwohl die Behörden verstärkt auf Ge- im Tschad, in Côte d’Ivoire und der DR Kongo, waltakte reagierten, erneut zu Übergriffen ge- in Äquatorialguinea, Äthiopien, Gambia, gen Flüchtlinge und Migranten. Flüchtlinge aus Ghana und Madagaskar, in Namibia, Nigeria, dem benachbarten Simbabwe erhielten die

Afrika 23 Auf dem gesamten Kontinent mussten auch im Jahr 2010 Millionen von Menschen wegen bewaffneter Konflikte oder wegen der unsiche- ren Lage in ihrer Heimat als Flüchtlinge in einer anderen Region oder in einem anderen Land leben. Kenia hielt die Grenze zu Somalia weiter geschlossen und verhinderte damit, dass Menschen, die aus dem Nachbarland fliehen wollten, Hilfe und Schutz fanden.

Recht auf Wohnen – Zwangsräumungen In Afrika lebten nach wie vor Millionen von Menschen in Slums und informellen Siedlun- gen, ohne grundlegende öffentliche Versor- gungsleistungen wie sauberes Wasser, Ge- sundheitsdienste und Schulen. In vielen Län- dern ignorierten die Behörden ihr Elend und berücksichtigten diese Bevölkerungsgruppe bei der Entwicklungs- und Finanzplanung in kei- Somalische Flüchtlinge im Mai 2010 © UNHCR/R.Gangale ner Weise. Häufig war der fehlende Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen Möglichkeit, ihren Aufenthaltsstatus in Süd- auch Anlass zu Übergriffen etwa in Form von afrika zu legalisieren. sexueller Gewalt, zum Beispiel in den infor- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen In Uganda wurden im Juli etwa 1700 Ruan- mellen Siedlungen in der kenianischen Haupt- der, deren Asylanträge abgelehnt worden wa- stadt Nairobi. ren, zusammen mit einigen anerkannten In zahlreichen Ländern wie Angola, Ghana, 000835 Flüchtlingen unter Verstoß gegen das Völker- Kenia und Nigeria wurden viele Menschen recht nach Ruanda abgeschoben. Zehntau- durch Massenzwangsräumungen noch tiefer sende weitere ruandische Flüchtlinge muss- ins Elend gestürzt. Im Tschad sowie in Äqua- ten damit rechnen, bis Ende 2011 ihren Flücht- torialguinea, Kenia und Simbabwe waren Tau- lingsstatus zu verlieren und dann in ihr Her- sende weiter von rechtswidrigen Zwangsräu- kunftsland rückgeführt zu werden. Grund dafür mungen bedroht. Nach Zwangsräumungen er- war zum Teil der Druck der ruandischen Re- hielten die Betroffenen oft weder eine Ent- gierung auf die Nachbarstaaten. In Tansania schädigung noch eine andere Unterkunft und mussten Tausende von Flüchtlingen aus Bu- wurden so zu einem armseligen Leben ohne rundi weiter mit der Zwangsrückführung in ihr gesicherte Wohnsituation gezwungen. Herkunftsland rechnen. Zwei Eritreer, die im Jahr 2008 aus Deutschland nach Eritrea abge- Gesundheitsversorgung für Mütter schoben worden waren, erhielten nach der er- Beim Gesundheitsschutz für Mütter wurden in neuten Flucht nach Deutschland dort Flücht- Afrika Fortschritte erzielt. Burkina Faso kün- lingsstatus. Die beiden waren nach ihrer digte zwar an, alle finanziellen Hindernisse für Zwangsrückführung in Eritrea unter unmensch- die Inanspruchnahme ärztlicher Notversor- lichen Bedingungen festgehalten worden. In gung während Schwangerschaft und Entbin- Eritrea hatten die Sicherheitskräfte weiterhin dung zu beseitigen und problemlosen Zugang die Erlaubnis zum gezielten Todesschuss auf zur Familienberatung zu ermöglichen, ist dieser jeden, der versucht, die Grenze des Landes zu Verpflichtung aber bislang noch nicht nachge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht überqueren. kommen. In Sierra Leone wurde im April 2010

24 Die Menschenrechtssituation im Überblick ein kostenloser Gesundheitsdienst für brachten Vergewaltigungen Mädchen unter Schwangere und Kinder unter fünf Jahren ein- 16 Jahren die Opfer. In vielen Ländern hatten geführt, doch als immer mehr Frauen die Ein- Frauen und Mädchen, die sexuelle Übergriffe richtungen in Anspruch nehmen wollten, kam erlitten, keine Möglichkeit, sich an die Polizei es zu Engpässen bei der Versorgung mit Medi- oder die Justiz zu wenden. Sie wurden in kamenten und medizinischen Geräten. ihrem Umfeld geächtet und gedrängt, einer In vielen Ländern wird die Müttersterblichkeit außergerichtlichen Einigung zuzustimmen; auch durch andere Faktoren beeinflusst, die außerdem hatten sie hohe ärztliche Kosten zu dringend angegangen werden müssen. Dazu tragen. Auch der Anteil der Frauen, die an zählen die Diskriminierung von Frauen, HIV / AIDS erkrankten, war vor allem im süd- schädliche traditionelle Praktiken, fehlende Bil- lichen Afrika nach wie vor unverhältnismäßig dungsangebote im Bereich Sexualerziehung hoch. In vielen Ländern war die Praxis der Ge- und reproduktive Gesundheit sowie mangelnde nitalverstümmelung bei Frauen noch immer Rechenschaftsmechanismen. gang und gäbe, obwohl sie – wie in Tansania – Im Juli verpflichteten sich die afrikanischen per Gesetz verboten ist. Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltref- Auch Diskriminierung wegen der vermeint- fen der AU in Kampala zu einer ganzen Reihe lichen oder tatsächlichen sexuellen Orientie- von Maßnahmen, mit denen die Müttersterb- rung eines Menschen war noch immer weit ver- lichkeit verringert werden soll. Dazu gehörte breitet. In Kamerun wurden wegen gleichge- zum Beispiel, 15 % der öffentlichen Mittel im schlechtlicher sexueller Aktivitäten Strafverfol- Gesundheitsbereich für eine Kampagne zur Re- gungsmaßnahmen eingeleitet und Verdäch- duzierung der Müttersterblichkeit zu verwen- tigte misshandelt. In Malawi wurden zwei ho- den und die Verantwortlichen für politische und mosexuelle Männer wegen »unanständiger Finanzierungsentscheidungen verstärkt zur Praktiken« und »widernatürlicher strafbarer Rechenschaft zu ziehen. Die AU-Kommission Handlungen« zu 14 Jahren Haft mit Zwangs- wurde ersucht, eine Taskforce für die Gesund- arbeit verurteilt, wenige Wochen später aber heit von Müttern und Kindern einzurichten so- von Präsident Bingu wa Mutharika begnadigt. wie Fortschrittsberichte zu diesem Bereich er- Eine ugandische Zeitung veröffentlichte die stellen zu lassen und zu überprüfen. Namen und Fotos von mutmaßlichen Homo- sexuellen und entsprechende Texte, die zur Ge- Diskriminierung walt gegen diese Personen anstachelten. Die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Behörden prangerten das Vorgehen der Zei- Mädchen hatten auch im Berichtsjahr verhee- tung nicht öffentlich an, und ein gegen Homo- rende Auswirkungen auf das Leben vieler Be- sexuelle gerichteter Gesetzentwurf, der drakoni- troffener, beeinträchtigten ihre Chancen und sche Strafen vorsah, war noch immer im Par- beraubten sie ihrer Rechte. Im Norden des Su- lament anhängig. dan kam es auf der Grundlage des Systems In Mauretanien wurde die Sklaverei in der der öffentlichen Ordnung zur Schikanierung, Praxis fortgesetzt, obwohl sie seit August 2007 Verhaftung und Misshandlung von Frauen ein Straftatbestand ist. Die Polizei bemühte sich und Mädchen, deren Kleidung oder Benehmen nicht, die gesetzlichen Bestimmungen durch- als »anstößig« oder »unmoralisch« erachtet zusetzen, und acht engagierte Gegner der Skla- wurde. In Südafrika gab es im Laufe des Jahres verei wurden festgenommen und Berichten 2010 Zehntausende von polizeilichen Anzei- zufolge misshandelt; man warf ihnen vor, sol- gen wegen sexueller Übergriffe. In Kenia war che Fälle der Polizei zur Kenntnis gebracht zu einer Erhebung zufolge familiäre Gewalt weit haben. verbreitet, darunter auch Vergewaltigung in der In einigen Ländern gab es erneut Übergriffe Ehe, die in Kenia nicht als Straftat gilt. In Libe- gegen Menschen, die von Albinismus betrof- ria waren bei der Mehrheit aller zur Anzeige ge- fen sind. In Tansania blieb die Reaktion der Be-

Afrika 25 hörden auf solche Vorfälle unzureichend; we- der in früheren noch in den aktuellen Fälle wur- Amerika den gründliche Untersuchungen durchge- führt, und engagierte Bürger, die sich für die Rechte von Menschen mit Albinismus einsetz- »Wir haben schon viel zu viel Gewalt er- ten, wurden von den Behörden nicht ausrei- litten ... Wir kommen nicht als Bittstel- chend geschützt. ler, sondern fordern unser Recht: die Der UN-Sonderberichterstatter über die Situa- unverzügliche rechtliche Festlegung un- tion der Menschenrechte und Grundfreiheiten seres Landes, damit unser Volk wieder in der Angehörigen indigener Bevölkerungsgrup- Frieden, Glück und Würde leben kann.« pen äußerte sich bei seinem Besuch in der Republik Kongo besorgt über anhaltende Dis- Offener Brief des indigenen Volkes der Guarani-Kaiowá an kriminierungen. In Eritrea wurden auch 2010 den brasilianischen Präsidenten Luíz Inácio »Lula« da Silva, August 2010 Menschen aus religiösen Gründen verfolgt und inhaftiert, nur Angehörige registrierter Religi- onsgemeinschaften durften ihren Glauben In Nord-, Mittel- und Südamerika konnten in praktizieren. den vergangenen 50 Jahren viele Menschen- rechte gesetzlich verankert werden, wenngleich Eine Zeitenwende kündigt sich an diese in der Praxis nicht immer Beachtung Amnesty International feiert im Jahr 2011 den fanden. So waren 2010 nach wie vor Men- 50. Jahrestag ihrer Gründung. Seitdem Mitte schenrechtsverstöße zu beklagen, vor allem der 1960er-Jahre die ersten Amnesty-Berichte gegen besonders schutzbedürftige Gruppen erschienen, hat sich das Spektrum der darin der Gesellschaft, doch wurden zweifellos Fort- behandelten Menschenrechtsverletzungen schritte erzielt, wenn auch langsam und nicht 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen geografisch und thematisch erheblich verbrei- überall. Die Regierungen können zu Recht für tert. In den vergangenen fünf Jahrzehnten wur- sich in Anspruch nehmen, zu diesen Verände- den zahlreiche weitere Menschenrechtsorga- rungen beigetragen zu haben. Tatsächlich 000835 nisationen ins Leben gerufen, die sich zum Teil wurden die Fortschritte jedoch vor allem von an der Arbeitsweise von Amnesty International den Gruppen vorangetrieben, die am stärksten orientierten. In vielen afrikanischen Ländern von Menschenrechtsverstößen betroffen waren. gibt es heute eine lebhafte Zivilgesellschaft, Sie erhoben ihre Stimme und kämpften für die zwar oft noch unter Repression leidet, von einen Wandel, trotz eines hohen persönlichen den Mächtigen aber nicht mehr ignoriert wer- Risikos. Ihre Entschlossenheit und Beharrlich- den kann. Es gibt noch viel zu tun, aber ein keit zeigten bei Millionen Menschen Wirkung, Umdenken hat begonnen. so dass es für Staats- und Regierungschefs im- mer schwieriger wurde, das wachsende Ver- langen nach grundsätzlichen und unumkehr- baren Veränderungen zu ignorieren. Gleich zu Jahresbeginn wurden wir aber auf drastische Weise daran erinnert, wie angreif- bar diese hart erkämpften Rechte sind. Im Ja- nuar suchte ein verheerendes Erdbeben Haiti heim, in dessen Folge mehr als 230000 Men- schen starben und Millionen obdachlos wur- den. Ende 2010 waren noch immer mehr als 1 Mio. Menschen, deren Häuser durch die Ka- tastrophe zerstört worden waren, in provisori-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schen Zeltlagern untergebracht. Damit wurde

26 Die Menschenrechtssituation im Überblick ihnen ihr Recht auf angemessenen Wohnraum Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Me- vorenthalten, und sie sahen sich Übergriffen xiko und Venezuela Menschenrechtsverteidiger weitgehend schutzlos ausgesetzt. Der dramati- ermordet, bedroht, drangsaliert oder mit will- sche Anstieg von Vergewaltigungen stellte den kürlichen Gerichtsverfahren überzogen. In vie- Behörden ein vernichtendes Zeugnis aus – sie len Fällen gerieten sie ins Visier, weil ihre Tä- waren nicht in der Lage, für die Sicherheit der tigkeit die wirtschaftlichen und politischen Inte- in den Lagern lebenden Frauen und Mädchen ressen der Machthaber bedrohte. In Ländern zu sorgen. wie Kolumbien und Brasilien wurden zwar Haiti machte in eindringlicher Weise deutlich, einige Schutzmaßnahmen umgesetzt, um die was mit ganz normalen Menschen geschehen Risiken, denen Menschenrechtsverteidiger kann, wenn der politische Wille fehlt, dem ausgesetzt waren, zu begrenzen. In anderen Schutz ihrer Rechte Vorrang einzuräumen. In Ländern waren dagegen bis Ende 2010 keine Haiti zeigte sich aber auch eindrucksvoll, wie geeigneten Maßnahmen ergriffen worden, um basisdemokratische Organisationen, die an das Problem anzugehen. In Mexiko beispiels- vorderster Front für den Schutz der Menschen- weise, wo die Sorge um die Sicherheit von rechte kämpfen, nahezu Unmögliches leisten, Menschenrechtsverteidigern stieg, kamen die um Hoffnung und Würde zu erhalten. Dies be- Behörden bei der Umsetzung eines Schutz- wies z. B. eine Selbsthilfeorganisation von Ver- programms kaum voran, obwohl sie sich dazu gewaltigungsopfern (Komisyon Fanm Viktim bereits 2008 verpflichtet hatten. pou Viktim – KOFAVIV), die der wachsenden Zahl von Opfern sexueller Gewalt in den Lagern Indigene Völker Unterstützung anbot. Die meisten Frauen, die Die indigenen Völker Nord-, Mittel- und Süd- bei KOFAVIV mitarbeiteten, waren selbst Über- amerikas konnten sich in den vergangenen lebende sexueller Gewalt, viele von ihnen hat- Jahren besser Gehör verschaffen und organi- ten durch das Erdbeben alles verloren. Doch sierten sich zunehmend, um ihre Rechte zu trotz eigener persönlicher Tragödien übernah- verteidigen. Doch die Hinterlassenschaften der men sie die Aufgabe, den Überlebenden sexu- zahllosen Menschenrechtsverstöße, deren eller Gewalt medizinische, psychologische Opfer sie wurden, und die andauernde Straf- und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen, da freiheit für die Verantwortlichen trugen dazu der haitianische Staat, seiner Pflicht zur Hilfe bei, dass sie in der Region weiterhin unter Dis- nicht nachkam. kriminierung und Armut litten. Selbst in Zeiten relativer Ruhe und Stabilität Die Ausbreitung der Agrar- und Rohstoffin- sorgen Regierungen häufig nicht dafür, dass dustrien und riesige Entwicklungsvorhaben, Rechte tatsächlich respektiert werden – insbe- wie Staudamm- und Straßenbauprojekte auf sondere die Rechte derjenigen, die dem größ- dem traditionellen Siedlungsland der indige- ten Risiko von Verstößen ausgesetzt sind, wie in nen Bevölkerung, stellten eine erhebliche und Armut lebende Menschen, indigene Gemein- zunehmende Bedrohung dieser Völker dar. In schaften sowie Frauen und Mädchen. Dies ist Argentinien, Brasilien, Chile, Guatemala, Ko- vor allem dann der Fall, wenn mächtige wirt- lumbien, Panama, Paraguay und Peru wurden schaftliche Interessengruppen der Ansicht Angehörige indigener Völker, die nach Ansicht sind, die Anerkennung der Rechte armer und der Investoren ihren kommerziellen Interessen ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen stehe im Weg standen, bedroht, schikaniert, vertrie- ihren wirtschaftlichen Zielen im Weg. ben, verschleppt und ermordet, da der Drang nach Ausbeutung der Rohstoffe in ihren Gebie- Menschenrechtsverteidiger ten stärker wurde. In vielen Ländern des Kontinents war es weiter- Obwohl zahlreiche Staaten in der Region 2007 hin gefährlich, die Menschenrechte zu vertei- für die UN-Erklärung über die Rechte der indi- digen. So wurden u. a. in Brasilien, Ecuador, genen Völker gestimmt hatten, waren bis Ende

Amerika 27 2010 noch in keinem Land Gesetze erlassen sellschaftliche Randgruppen wie Angehörige worden, die sicherstellen, dass Entwicklungs- indigener Völker, Afro-Kolumbianer, Gemein- projekte, die indigene Gemeinschaften betref- schaften von Kleinbauern sowie in Armut le- fen, nur nach freier, rechtzeitiger und informier- bende städtische Stadtbewohner ins Visier. ter Zustimmung der Betroffenen umgesetzt Das Versprechen des neugewählten Präsiden- werden. ten Juan Manuel Santos Calderón, er werde Peru stand im Mai 2010 kurz davor, eine weg- den Menschenrechten und dem Kampf gegen weisende Gesetzgebung einzuführen, als der die Straflosigkeit Priorität einräumen, weckte Kongress ein Gesetz über das Recht indigener die Hoffnung, die Regierung würde politischen Völker auf Vorabkonsultation verabschiedete, Willen zeigen, um endlich etwas gegen die seit an dessen Ausarbeitung Vertreter indigener langem bestehende Krise der Menschenrechte Völker beteiligt waren, doch verweigerte Präsi- im Land zu unternehmen. Doch die fortgesetz- dent García dem Gesetz seine Zustimmung. ten Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger, Paraguay kam weiterhin zwei Entscheidungen engagierte Bürger und Sprecher bäuerlicher des Interamerikanischen Gerichtshofs für Men- und indigener Gemeinschaften, vor allem sol- schenrechte aus den Jahren 2005 und 2006 che, die sich für Landrechte einsetzten, mach- nicht nach, die den Staat verpflichteten, den ten das enorme Ausmaß des Problems deut- Yakye Axa und den Sawhoyamaxa ihr traditio- lich, das es zu bewältigen gilt. nelles Land zurückzugeben. Im August urteilte In mehreren Ländern, vor allem in der Anden- der Interamerikanische Gerichtshof für Men- region, fanden Massendemonstrationen statt, schenrechte in einem dritten Fall bezüglich der die sich gegen die Regierungspolitik und gegen Rechte indigener Völker, dass Paraguay die Gesetze in Bezug auf Bodenschätze, Land, Rechte der Xákmok Kásek verletzt habe. In Bra- Bildung und öffentliche Dienstleistungen rich- silien, wo das Recht der indigenen Völker auf teten. Im September schien Ecuador kurz vor 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ihr »traditionelles Siedlungsland« bereits seit einem Bürgerkrieg zu stehen, als Hunderte von 1988 in der Verfassung verankert ist, waren die Polizeibeamten auf die Straße gingen, um ge- Guarani-Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso gen eine von der Regierung geplante Änderung 000835 do Sul bei der Durchsetzung ihrer Landforde- ihrer Besoldung und Rentenansprüche zu rungen mit zahlreichen Hindernissen und lang- protestieren. Präsident Rafael Vicente Correa wierigen Verzögerungen konfrontiert. Wäh- Delgado, der während der Proteste in Be- rend die Gerichtsverfahren über ihre Forderun- drängnis geraten war, musste wegen eines Trä- gen festgefahren waren, wurden die Guarani- nengasangriffs kurzzeitig im Krankenhaus be- Kaiowá von bewaffneten Männern schikaniert handelt werden. und angegriffen, die lokale Farmer angeheuert hatten, um die indigenen Gruppen von ihrem Öffentliche Sicherheit Land zu vertreiben. Armut, Gewaltkriminalität und die Verbreitung von Kleinwaffen schufen den Nährboden für Konflikt Menschenrechtsverstöße. Bewohner armer In Kolumbien forderte der seit 45 Jahren anhal- städtischer Viertel waren – insbesondere in tende interne bewaffnete Konflikt weiterhin Teilen Mexikos, Zentralamerikas, Brasiliens und einen hohen Preis unter der Zivilbevölkerung, der Karibik – weiterhin einerseits der Gewalt die am meisten unter den Kampfhandlungen organisierter krimineller Banden und anderer- zu leiden hatte. Tausende von Menschen wur- seits Menschenrechtsverstößen durch die Si- den Opfer von Zwangsvertreibungen, wider- cherheitskräfte ausgesetzt. rechtlichen Tötungen, Entführungen oder des In vielen Fällen untergrub die allgegenwärtige »Verschwindenlassens« durch Guerillagrup- Korruption in staatlichen Institutionen deren pen, Sicherheitskräfte und Paramilitärs. Dabei Fähigkeit, angemessen auf das organisierte

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht nahmen die Konfliktparteien insbesondere ge- Verbrechen zu reagieren. Die Regierungen

28 Die Menschenrechtssituation im Überblick zeigten jedoch wenig Interesse, dieses seit lan- gem existierende systemimmanente Problem anzugehen. Stattdessen gingen sie zunehmend dazu über, das Militär gegen das organisierte Verbrechen und andere vermeintliche Bedro- hungen der Sicherheit einzusetzen. So hatte z. B. in Mexiko der Einsatz des Mili- tärs zur Bekämpfung des organisierten Ver- brechens zahlreiche schwerwiegende Men- schenrechtsverletzungen zur Folge, darunter rechtswidrige Tötungen, »Verschwindenlas- sen«, Folter und willkürliche Inhaftierungen. In Jamaika wurde im Mai nach einem Ausbruch von Bandenkriminalität in Teilen des Landes der Notstand ausgerufen. Während des Not- stands wurden mindestens 4000 Menschen festgenommen und 76 getötet, darunter drei Peruanerinen demonstrieren für Aufklärung über Angehörige der Sicherheitskräfte. Bei mehr als »Verschwundene« © Karin Orr/2010 Peace Fellow der Hälfte der Tötungen soll es sich um außer- gerichtliche Hinrichtungen gehandelt haben. antwortlichen für schwerwiegende Menschen- rechtsverletzungen während der früheren Mi- Antiterrormaßnahmen und litärregime zur Verantwortung zu ziehen. Menschenrechte Im April 2010 wurde in Argentinien der ehe- US-Präsident Barack Obama hielt sein Verspre- malige General und frühere Staatspräsident chen nicht ein, das Gefangenenlager Guantá- Reynaldo Bignone wegen Folter, Mord und namo Bay bis Januar 2010 zu schließen. Ende mehreren Entführungen schuldig gesprochen, 2010 waren noch immer 174 Personen in die- die begangen worden waren, als er von 1976 bis sem Gefängnis inhaftiert. Der bislang einzige 1978 Kommandant des berüchtigten Haftzen- Guantánamo-Häftling, den man zur strafrecht- trums Campo de Mayo war. Im Juli ergingen ge- lichen Verfolgung auf das US-amerikanische gen den früheren General Luciano Benjamín Festland verbracht hatte, wurde dort vor ein Menéndez und den ehemaligen Geheimdienst- Gericht der zivilen Justiz gestellt und schuldig chef der Polizei Roberto Albornoz lebenslange gesprochen. Zwei Guantánamo-Häftlinge wur- Haftstrafen wegen Menschenrechtsverletzun- den 2010 von einer Militärkommission verur- gen, die sie während des Militärregimes teilt, nachdem sie sich schuldig bekannt hat- (1976 – 83) in einem geheimen Haftzentrum in ten. Die im April erlassenen revidierten Bestim- der Provinz Tucumán verübt hatten. mungen für die Verfahren gegen Verdächtige Im Juli 2010 wurde der frühere Chef des be- im sogenannten Krieg gegen den Terror vor den rüchtigten chilenischen Geheimdienstes Di- Militärkommissionen gaben kaum Anlass zur rección de Inteligencia Nacional (DINA), Ma- Hoffnung, dass die US-Regierung substanzielle nuel Contreras, zu 17 Jahren Gefängnis verur- Reformen durchführen und die Menschen- teilt. Er war schuldig gesprochen worden, an rechte verteidigen würde. der im Jahr 1974 in Argentinien erfolgten Tö- tung von General Carlos Prats und dessen Frau Gerechtigkeit und Straflosigkeit beteiligt gewesen zu sein. General Prats war Es gab in mehreren lateinamerikanischen Län- Kabinettsmitglied der Regierung von Präsident dern, insbesondere im südlichsten Teil des Salvador Allende (1970 – 73). Kontinents, kontinuierliche und deutliche Fort- In einem im Oktober 2010 gefällten bahnbre- schritte bei den Bemühungen, einige der Ver- chenden Urteil erklärte der Oberste Gerichts-

Amerika 29 hof von Uruguay das im Jahr 1986 erlassene In einigen Ländern gerieten die Bemühun- Amnestiegesetz für verfassungswidrig. Das gen, Gesetze zur Bekämpfung von Straflosig- Urteil beschränkte sich jedoch auf das Verfah- keit einzuführen, ins Stocken, während in an- ren gegen den früheren Präsidenten Juan Ma- deren Ländern die in den vergangenen Jahren ría Bordaberry (1971 – 76) und wird deshalb erzielten Fortschritte wieder rückgängig ge- nicht zur Wiederaufnahme bereits eingestell- macht wurden. So entschied der chilenische ter Prozesse führen. Oberste Gerichtshof im April 2010, dass im Ebenfalls im Oktober wurden Angehörige der Falle des 1976 von Sicherheitskräften ermor- peruanischen Todesschwadron Colina und deten spanischen Diplomaten Carmelo Soria ehemalige hochrangige Funktionäre der Regie- Espinosa das Amnestiegesetz von 1978 An- rung unter Alberto Fujimori (1990 – 2000) we- wendung finden solle. Ebenfalls im April bestä- gen der Tötung von 15 Personen und dem »Ver- tigte das Oberste Bundesgericht Brasiliens die schwindenlassen« von zehn weiteren Perso- Rechtsauffassung, dass von Angehörigen des nen in den Jahren 1991 und 1992 verurteilt. Militärs begangene Verbrechen, wie z. B. au- In Kolumbien wurde im Juni der ehemalige ßergerichtliche Tötungen, Folter und Vergewal- Oberst Luís Alfonso Plazas Vega zu 30 Jahren tigung, politisch motiviert oder im Rahmen po- Freiheitsentzug verurteilt. Ihm wurde das »Ver- litischer Maßnahmen begangen worden seien schwindenlassen« von elf Menschen im No- und somit unter ein vom Militärregime im Jahr vember 1985 zur Last gelegt, als Militärkräfte 1979 erlassenes Amnestiegesetz fielen. Im No- den Justizpalast gestürmt hatten, in dem Mit- vember entschied der Interamerikanische Ge- glieder der Guerillagruppe M-19 Geiseln ge- richtshof für Menschenrechte jedoch, dass das nommen hatten. im Jahr 1979 erlassene Amnestiegesetz null Die Fortschritte bei der Bekämpfung der und nichtig sei, und erinnerte die brasiliani- Straflosigkeit wurden jedoch dadurch einge- schen Behörden an ihre Pflicht, die Täter vor 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen schränkt, dass militärische Institutionen die Gericht zu stellen. Währenddessen erklärte in Untersuchungen über Menschenrechtsverlet- Peru der Kongress das Gesetzesdekret 1097 zungen in vielen Fällen nicht unterstützten und für ungültig, das den Verantwortlichen für Men- 000835 manchmal sogar unverhohlen Widerstand da- schenrechtsverletzungen faktisch Straflosig- gegen leisteten. So hatten Beamte, die in Boli- keit gewährt hatte. Allerdings blieben zwei De- vien Fälle von »Verschwindenlassen« aus den krete weiterhin in Kraft, die es erlauben, Ange- Jahren 1980 und 1981 untersuchten, weiterhin hörige der Streitkräfte, denen Menschenrechts- Schwierigkeiten, Zugang zu militärischen Ar- verletzungen zur Last gelegt werden, vor Mili- chiven zu erhalten, obwohl der Oberste Ge- tärgerichte zu stellen. richtshof in zwei Entscheidungen die Freigabe In El Salvador unterzeichnete Präsident Carlos der Archive angeordnet hatte. Mauricio Funes Cartagena im Januar 2010 In Mexiko und Kolumbien beanspruchte das einen Erlass, mit dem eine neue interinstitutio- Militärgerichtssystem weiterhin die Zuständig- nelle Kommission zur Suche nach »ver- keit für Fälle mutmaßlicher Menschenrechts- schwundenen« Kindern ins Leben gerufen verletzungen, die von Angehörigen der Streit- wurde. Sie soll den Verbleib von Kindern auf- kräfte begangen wurden. Trotz eindeutiger klären, die während des internen bewaffneten Nachweise, dass Militärgerichte und militäri- Konflikts (1980 – 92) »verschwunden« waren. sche Ankläger nicht unabhängig und un- Ende 2010 hatte die neue Kommission ihre Ar- parteiisch handelten, enthielten neue Gesetze beit jedoch noch nicht aufgenommen, und in Kolumbien und Gesetzesvorschläge in das Schicksal hunderter »verschwundener« Mexiko keine ausreichenden Garantien dafür, Kinder war weiterhin ungeklärt. dass die Ahndung von Menschenrechtsverlet- In den USA wurden die Verantwortlichen für zungen der militärischen Gerichtsbarkeit ent- Verstöße gegen das Völkerrecht im Zuge des

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht zogen würden. »Kriegs gegen den Terror«, wie z. B. Folter und

30 Die Menschenrechtssituation im Überblick »Verschwindenlassen«, nicht zur Rechen- Massaker kämen einem Verbrechen gegen die schaft gezogen. Im November räumte der ehe- Menschlichkeit gleich und unterlägen deshalb malige Präsident George W. Bush ein, er habe nicht der Verjährung. Verhörtechniken wie (simuliertes Im Jahr 2010 ratifizierte St. Lucia als 113. Ertränken) während seiner Regierungszeit ge- Staat das Römische Statut des Internationalen nehmigt. Für die Menschenrechtsverletzungen, Strafgerichtshofs. Paraguay und Brasilien ratifi- die im Zusammenhang mit dem US-amerika- zierten das Internationale Übereinkommen nischen Programm für außerordentliche Über- zum Schutz aller Personen vor dem »Ver- stellungen und Geheimgefängnisse verübt schwindenlassen«. Keines der beiden Länder worden sind, wurde jedoch weiterhin niemand akzeptierte allerdings die Zuständigkeit des zur Rechenschaft gezogen noch wurden Ent- UN-Ausschusses über das »Verschwindenlas- schädigungen geleistet. Im November 2010 sen«, Aussagen von Opfern bzw. in deren Na- erklärte das US-Justizministerium ohne nä- men abgegebene Erklärungen entgegenzu- here Erläuterung, dass in Bezug auf die Ver- nehmen und zu prüfen. nichtung von 92 Videos im Jahr 2005 keine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet werde. Die Todesstrafe Aufnahmen enthielten Beweise für Foltertech- 2010 wurden in den USA 46 Gefangene hinge- niken, die 2002 gegen zwei Gefangenen ange- richtet, darunter eine Frau. Damit stieg die Ge- wandt worden waren, darunter auch water- samtzahl der seit Aufhebung des Moratoriums boarding. durch den Obersten Gerichtshof im Jahr 1976 vollstreckten Todesurteile auf 1234. Internationale Rechtsprechung In Guatemala verabschiedete der Kongress Im Dezember 2010 wurden 14 Personen von ein Gesetz, das die Vollstreckung der Todes- einem Gericht in Frankreich in Abwesenheit strafe wieder ermöglicht hätte – der Präsident zu Freiheitsstrafen zwischen 15 Jahren und le- legte jedoch sein Veto ein. Im Dezember benslänglich verurteilt. Es handelte sich dabei stimmte Guatemala für die Resolution der UN- um einen chilenischen Zivilisten, zwölf ehema- Generalversammlung, die zu einem weltwei- lige Angehörige des chilenischen Militärs, un- ten Hinrichtungsmoratorium aufrief. ter ihnen General Manuel Contreras, und einen Kuba wandelte im Dezember die Urteile ge- ehemaligen Angehörigen der argentinischen gen die letzten drei Gefangenen, die zum Tode Streitkräfte. Die 14 Männer wurden im Zusam- verurteilt worden waren, in Haftstrafen um. menhang mit dem »Verschwindenlassen« von In Bahamas, Guyana, Jamaika sowie Trinidad vier französischstämmigen Chilenen in den ers- und Tobago wurden Todesurteile verhängt, es ten Jahren der Militärregierung von Augusto fanden jedoch 2010 keine Hinrichtungen statt. Pinochet Ugarte in Chile (1973 – 90) verurteilt. Auf dem amerikanischen Kontinent nahmen Freie Meinungsäußerung Richter unter Bezug auf die internationale Der amerikanische Kontinent war für Medien- Menschenrechtsstandards Verfahren wegen schaffende weiterhin eine gefährliche Region. Menschenrechtsverletzungen wieder auf, die Nur aus Asien wurden 2010 mehr Morde an wegen des Ablaufs der Verjährungsfrist zuvor Journalisten gemeldet. Fast 400 Medienmitar- eingestellt worden waren. So entschied der beiter wurden bedroht oder angegriffen, min- Oberste Gerichtshof von Kolumbien im Mai destens 13 Journalisten wurden von Unbe- 2010, dass der frühere Kongressabgeordnete kannten getötet. Rund die Hälfte der Todesfälle César Pérez García im Zusammenhang mit entfielen auf Mexiko, gefolgt von Honduras, einem 1988 von Paramilitärs verübten Massa- Kolumbien und Brasilien. In vielen Fällen war ker in Segovia, bei dem mehr als 40 Kleinbau- davon auszugehen, dass die Journalisten er- ern getötet worden waren, strafrechtlich ver- mordet wurden, weil sie Korruptionsfälle aufge- folgt werden solle. Das Gericht argumentierte, deckt oder Verbindungen zwischen Staatsbe-

Amerika 31 diensteten und kriminellen Netzwerken enthüllt Goldmine Marlin 1 im Departamento San Mar- hatten. cos einzustellen, war die Mine zum Jahresende Eine beträchtliche Zahl von Fernsehstationen, noch immer in Betrieb. In Kanada traf die insbesondere in Venezuela und der Dominika- Börse von Toronto im Januar die Entscheidung, nischen Republik, wurden zur zeitweiligen den Handel mit Aktien der Copper Mesa Mi- Schließung gezwungen. Auch Radiostationen ning Corporation einzustellen. Die indigene Ge- waren von Schließungen betroffen. In der Do- meinschaft der Intang in Ecuador hatte gegen minikanischen Republik sahen sich vor den das Unternehmen Klage wegen Menschen- Parlamentswahlen im Mai mindestens sieben rechtsverletzungen erhoben. Im Mai wies ein Fernseh- und Radiostationen mit Sperrungen Gericht in Ontario die Klage ab. Ein Einspruch ihrer Übertragungswege konfrontiert oder wur- gegen diese Entscheidung war zum Jahres- den gezwungen, ihren Betrieb zeitweise einzu- ende noch vor dem Berufungsgericht Ontario stellen. Einigen Kanälen war es bis zum Jahres- anhängig. ende noch nicht gelungen, den Sendebetrieb 18 in Lateinamerika tätige UN-Behörden ver- wieder aufzunehmen. öffentlichten im Juli 2010 einen Bericht, wel- In Kuba kam es weiterhin zu willkürlichen che Fortschritte die einzelnen Staaten im Hin- Festnahmen von Journalisten, und alle Me- blick auf die Millenniums-Entwicklungsziele dien unterlagen weiterhin der staatlichen Kon- erreicht hatten. Der Bericht zeigte, dass die ge- trolle. ringsten Erfolge bei der angestrebten Reduzie- rung der Müttersterblichkeit zu verzeichnen Ungleichheit und Entwicklung waren. Zehntausende Frauen starben weiter- Argentinien, Brasilien, Mexiko und Venezuela hin an vermeidbaren Komplikationen während konnten bei der Armutsbekämpfung im Jahr der Schwangerschaft, und es herrschten nach 2010 Fortschritte erzielen. Trotz einiger Anzei- wie vor große Unterschiede beim Zugang zu 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen chen dafür, dass die Armut in Lateinamerika einer guten Gesundheitsversorgung. Der Be- und der Karibik langsam zurückging, litt ein richt führte dies auf die Diskriminierung von Fünftel der Bevölkerung in der Region noch Frauen und ihren niedrigen gesellschaftlichen 000835 immer unter extremer Armut, dazu zählte auch Status zurück. die große Mehrheit der indigenen Bevölke- rung. In Bezug auf die Einkommensverteilung Gewalt gegen Frauen und Mädchen blieb Lateinamerika auch 2010 die Weltregion und Verweigerung ihrer reproduktiven mit der größten Ungleichheit. Zwar gab es dies- Rechte bezüglich in vielen Ländern, insbesondere in Gewalttaten und sexuelle Gewalt gegen Frauen Venezuela, Verbesserungen. Viele der am we- und Mädchen waren weiterhin weit verbreitet. nigsten entwickelten Länder erzielten jedoch Den meisten Opfern wurde der Zugang zu Ge- keinerlei greifbare Fortschritte bei der Reduzie- rechtigkeit und Wiedergutmachung verwehrt. rung der Ungleichheit. Einige Staaten in der Region führten zwar Ge- Unter der in Armut lebenden Bevölkerung wa- setze ein, um die geschlechtsspezifische Ge- ren indigene Völker und Bevölkerungsgrup- walt zu bekämpfen, doch wurden diese in der pen afrikanischer Herkunft stark überrepräsen- Praxis kaum angewandt, und es kam nur sel- tiert. Die oft wiederholte, aber falsche Behaup- ten zu Ermittlungen und Strafverfahren. In den tung, die Rechte indigener Völker zu respektie- USA wurde ein neues Gesetz verabschiedet, ren, sei unvereinbar mit wirtschaftlichem das indigenen Frauen, die Opfer einer Verge- Wachstum und Entwicklung, musste als Recht- waltigung wurden, einen verbesserten Zugang fertigung für anhaltende Menschenrechtsver- zum Justizsystem versprach. Dagegen führte letzungen herhalten. Obwohl die Interamerika- ein mangelhaftes Justizwesen in Ländern wie nische Menschenrechtskommission Guate- Bolivien, Guatemala, Haiti und Nicaragua dazu,

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht mala aufgefordert hatte, die Arbeiten in der dass sich die Straflosigkeit für geschlechtsspe-

32 Die Menschenrechtssituation im Überblick zifische Gewalt weiter verfestigte und ein Klima geschaffen wurde, das zur einer Ausbreitung Asien und Pazifik der Gewalt beitrug. 2010 wurden in den Ländern Nord-, Mittel- und Südamerikas Tausende von Frauen ver- »Ich bin unschuldig und werde das be- gewaltigt und ermordet oder fielen dem »Ver- weisen. Ich werde wieder freikommen schwindenlassen« zum Opfer. Ein besonders und meine Arbeit für die Menschen- hohes Risiko bestand für Frauen in bestimmten rechte und das Recht auf Gesundheit Gebieten Guatemalas und Mexikos und für in- der Adivasi in Chhattisgarh wieder auf- digene Frauen in Kanada. Angesichts der Tatsa- nehmen, ungeachtet der Gefahren, che, dass zur Untersuchung und strafrecht- denen ich und andere Menschenrechts- lichen Verfolgung dieser Verbrechen keine aus- verteidiger ausgesetzt sind.« reichenden Mittel bereitstanden, stellte sich die Frage, ob die Staaten die Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger Dr. Binayak Sen im Gespräch mit Frauen tatsächlich bekämpfen wollten. Amnesty International am 24. Februar 2010 Viele Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt waren Mädchen unter 18 Jahren. Der UN-Aus- schuss für die Rechte des Kindes rief im Okto- In einer Region, in der fast zwei Drittel der Welt- ber Nicaragua dazu auf, umgehend Maßnah- bevölkerung beheimatet sind und die sich men zu ergreifen, um die sexuelle Gewalt gegen über ein Drittel der Welt erstreckt, beherrschten Kinder zu beseitigen, da immer mehr Beweise im Jahr 2010 einzelne prominente Menschen- dafür auftauchten, dass sexueller Missbrauch rechtsverteidiger wie Binayak Sen weiterhin die von Mädchen in Nicaragua weit verbreitet ist. Schlagzeilen und beeinflussten nationale und Das absolute Verbot von Schwangerschafts- geopolitische Ereignisse, weil sie den Mut auf- abbrüchen verweigerte Frauen und Mädchen brachten, die Machthaber mit der Wahrheit in Chile, El Salvador und Nicaragua weiterhin zu konfrontieren. Die Ereignisse offenbarten die ihr Recht auf sexuelle und reproduktive Ge- Schlüsselrolle mutiger Einzelpersonen, die sundheit. Aufgrund von Gesetzen, die Schwan- forderten, dass die Würde der Menschen ge- gerschaftsabbrüche kriminalisierten, waren achtet und ihnen Respekt gezollt wird. Sie alle Personen, die eine Abtreibung durchführ- machten aber auch deutlich, welch hohen Preis ten oder durchführen lassen wollten, dem Ri- diese Menschenrechtsverteidiger zu zahlen siko einer Inhaftierung ausgesetzt. Das galt haben, und unterstrichen die Notwendigkeit auch für Mädchen und Frauen, die infolge weltweiter Solidarität mit ihnen. einer Vergewaltigung schwanger geworden wa- 50 Jahre nachdem Amnesty International mit ren oder bei denen die Schwangerschaft zu le- dem Auftrag gegründet wurde, die Rechte von bensbedrohlichen Komplikationen führte. Menschen zu schützen, die nur deshalb festge- In anderen Ländern waren Schwanger- nommen wurden, weil sie offen ihre Meinung schaftsabbrüche zwar gesetzlich erlaubt, sie äußerten, reagierten Regierungen der asiatisch- wurden Frauen und Mädchen aber faktisch ver- pazifischen Region auf Kritiker immer noch re- wehrt, weil langwierige juristische Verfahren gelmäßig mit Einschüchterung, Inhaftierung, den Zugang zu einer sicheren Abtreibung fast Misshandlung und sogar mit deren Ermor- unmöglich machten. Das galt insbesondere dung. Die von den Regierungen ausgeübte Re- für Frauen und Mädchen, die nicht über die fi- pression unterschied nicht zwischen den nanziellen Mittel verfügten, um den Schwan- Menschen, die bürgerliche und politische gerschaftsabbruch in einer privaten Einrichtung Rechte einforderten, und denjenigen, deren vornehmen zu lassen. Beschwerden die Verletzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte zur Ursache hatten.

Asien und Pazifik 33 Das Jahr 2010 brachte aber auch gute Nach- schen Regierung als auch an den bewaffneten richten. Mitte November feierte man weltweit maoistischen Gruppen Kritik wegen der eska- zusammen mit den Menschen in Myanmar die lierten Gewalt in Zentralindien. Sein Gerichts- Freilassung von Daw Aung San Suu Kyi nach verfahren war politisch motiviert, wies schwere Verbüßung ihrer Strafe. Sie hatte 15 der letzten Verfahrens- und Beweismängel auf und wurde 21 Jahre entweder unter Hausarrest oder im von Beobachtern innerhalb und außerhalb In- Gefängnis verbracht. diens auf das Schärfste kritisiert. Trotzdem ver- Über viele Jahre hinweg unterschied sich urteilte ein Gericht im Bundesstaat Chhattis- Aung San Suu Kyi von allen anderen Friedens- garh Binayak Sen wegen Aufwiegelung zu nobelpreisträgern durch die Tatsache, dass sie einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Als recht- den Preis in Haft erhalten hatte. Im Dezember liche Grundlage diente dasselbe fragwürdige teilte sie diese unerwünschte Sonderstellung Gesetz, mit dem die britische Kolonialregierung für kurze Zeit mit dem chinesischen Schrift- auch Mahatma Gandhi verurteilt hatte. steller und Dissidenten Liu Xiaobo, der als Mit- Aung San Suu Kyi, Liu Xiaobo und Binayak verfasser der Charta 08, einem Manifest für Sen – sie alle sind zwar Symbolfiguren des Wi- politische Reformen und Demokratisierung in derstands gegen Unrecht und Demütigung, China, eine Gefängnisstrafe verbüßt. gleichzeitig aber auch Menschen, die die Ent- Die chinesische Regierung reagierte auf die behrungen der Haft deutlich zu spüren bekom- Preisverleihung an Liu Xiaobo mit dem – er- men. Sie mögen im Zentrum der internationa- folglosen – Versuch, die norwegische Regierung len Aufmerksamkeit stehen und sogar von ihr dazu zu bewegen, die Auszeichnung rückgän- profitieren, nichtsdestotrotz verstoßen die Be- gig zu machen. Als dies scheiterte, übte China hörden gegen ihre Rechte, und ihre Familien- auf mehrere Regierungen Druck aus oder ver- angehörigen und Mitstreiter werden Drohun- suchte, diese zu überreden, nicht an der Zere- gen und Schikanen ausgesetzt. Somit unter- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen monie der Preisverleihung teilzunehmen. scheidet sich ihre Lage nicht von der tausen- Letztendlich war der Festakt gut besucht. Doch der anderer Bürgerrechtler und Menschen- Liu Xiaobo musste im Gefängnis bleiben, seine rechtsverteidiger, die in der asiatisch-pazifi- 000835 Frau stand unter Hausarrest, und anderen schen Region ebenfalls unter Verfolgung leiden, Familienmitgliedern und befreundeten Men- ohne dass ihnen Medien und politische Ent- schenrechtsverteidigern untersagte man, nach scheidungsträger Beachtung schenken. Oslo zu reisen, um den Preis in Empfang zu nehmen oder an den Feierlichkeiten teilzuneh- Meinungsfreiheit men. Es war das erste Mal seit 1936, als die Schon ein flüchtiger Blick auf die Ereignisse des Naziregierung in Deutschland Carl von Os- Jahres 2010 zeigt, dass viele Journalisten und sietzky daran hinderte, an der Verleihung teil- Bürgerrechtler aus der asiatisch-pazifischen zunehmen, dass bei der Feierlichkeit weder der Region ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Preisträger noch ein Vertreter den Preis entge- Spiel gesetzt haben, um Regierungen und an- gennehmen konnte. Die Nominierung Liu Xiao- dere mächtige Akteure aufzufordern, ihrer bos und die gereizte Reaktion der chinesi- Pflicht nachzukommen, die Rechte und die schen Regierung warfen ein Schlaglicht auf die Würde aller Menschen zu respektieren. Viele, andauernden und sogar zunehmenden Versu- die es wagten, ihr Recht auf freie Meinungsäu- che Chinas der letzten drei Jahre, Regierungs- ßerung wahrzunehmen, mussten als Konse- kritiker zum Schweigen zu bringen. quenz die Verletzung ihrer bürgerlichen und Zum Jahresende verurteilte ein bundesstaat- politischen Rechte in Kauf nehmen. Parado- liches Gericht in Indien Binayak Sen zu lebens- xerweise waren es oft erst diese Verletzungen langer Haft. Binayak Sen, ein gewaltloser politi- der bürgerlichen und politischen Rechte, die scher Gefangener, Arzt und Menschenrechts- Schlagzeilen machten, und nicht die komple-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht verteidiger, übt seit langem sowohl an der indi- xen Ursachen, die den Anlass zu Beschwer-

34 Die Menschenrechtssituation im Überblick den und Kritik gegeben hatten. Häufig handelte haben, die massive internationale und regio- es sich dabei um eine Verletzung der wirt- nale Kritik zu beschwichtigen, indem sie Aung schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. San Suu Kyi nur eine Woche nach den Parla- Die meisten Regierungen der Region waren mentswahlen freiließ. Aber die anhaltende In- sich trotz politischer, religiöser, ethnischer und haftierung tausender Gefangener, von denen kultureller Unterschiede und ungeachtet der viele unter grauenvollen Bedingungen festge- Gründe für den Dissens einig in dem Bestre- halten werden, stand jedem Anspruch auf ben, Kritik zu unterbinden. Und sie begründe- wirkliche Zugeständnisse entgegen. Es ist seit ten diese Versuche routinemäßig auch überall langem bekannt, dass die Machthaber Myan- mit der »nationalen Sicherheit« oder der Not- mars etwa 2200 politische Oppositionelle inhaf- wendigkeit zur Aufrechterhaltung von Harmo- tiert halten, von denen viele die Ziele von Aung nie und Stabilität. San Suu Kyi und ihrer Partei, der Nationalen Die Regierung von Nordkorea, die mit schwe- Liga für Demokratie, unterstützen. Doch die ren wirtschaftlichen Problemen und zuneh- von Amnesty International im Jahr 2010 durch- menden politischen Spannungen mit ihren geführten Recherchen zeigten auch, wie My- Nachbarn konfontiert wurde, kontrollierte das anmars Militärherrscher auch regierungskriti- Nachrichtenwesen des Landes aufs Strengste. sche Meinungen unter den zahlreichen ethni- Vitit Muntarbhorn, UN-Sonderberichterstatter schen Minderheiten des Landes überwachten über die Menschenrechtssituation in der De- und bestraften. Diese Minderheitsgruppen mokratischen Volksrepublik Korea, beendete sind seit langem von der Machtteilhabe ausge- seine Amtszeit mit einer kategorischen Verurtei- schlossen und mussten zusehen, wie das tra- lung der weltweit einzigartigen Missachtung ditionell von ihnen bewohnte Land und die Er- fast aller international anerkannten Menschen- träge ihrer Arbeit unter Anwendung von Ge- rechte in diesem Land. Die Regierung igno- walt enteignet wurden. rierte die Rechte auf freie Meinungsäußerung Auch in den meisten anderen Ländern der und eine organisierte Zivilgesellschaft, und sie Region versuchten die Machthaber, Kritik zu verhängte selbst für den Versuch, Informatio- unterbinden, obwohl sich traditionelle und nen aus nicht zugelassenen Quellen, wie z. B. neue Formen der Meinungsäußerung ausbrei- über Kurzwellenradio, zu erhalten, schwere teten. Beispielsweise wurden in Vietnam mehr Strafen. als ein Dutzend Bürgerrechtler in unfairen Ge- Nur wenige Regierungen versuchten, ein der- richtsverfahren nur deshalb verurteilt, weil sie artiges Ausmaß an Kontrolle über den Mei- friedlich Kritik an der Regierungspolitik zum nungsaustausch ihrer Bürger sicherzustellen. Ausdruck gebracht hatten. Die meisten der Ver- Die Regierung in Myanmar unternahm sogar urteilten waren auf der Grundlage vager und den Versuch, ihr innerhalb und außerhalb des unzureichend definierter Gesetze über die »na- Landes angeschlagenes Ansehen zu verbes- tionale Sicherheit« angeklagt worden. sern, indem sie im November Parlamentswah- Chinas Regierung übte intensiven Druck auf len abhielt und uniformierte Militärherrscher einige ethnische Minderheitsgruppen aus, ins- durch zivile Machthaber ersetzte, wobei es sich besondere auf die Tibeter, aber auch auf die Ui- aber häufig um dieselben Personen handelte. guren, eine hauptsächlich muslimische Bevöl- Die Wahlen wurden weithin als problematisch kerungsgruppe aus der an Bodenschätzen rei- angesehen, da die Wähler keine Möglichkeit chen Region Xinjiang. Auch wenn seit den ge- hatten, vorab über die Zukunft des Landes zu waltsamen Ausschreitungen in Xinjiang mehr diskutieren, und weil viele, wenn nicht sogar als ein Jahr vergangen war, so verfolgten die die meisten, potenziell regimekritische Kandi- chinesischen Behörden auch weiterhin uiguri- daten daran gehindert wurden, sich zur Wahl sche Bürgerrechtler und machten diejenigen zu stellen. mundtot, die das Verhalten der Regierung kriti- Die Regierung von Myanmar mag versucht sierten. Sie rechtfertigten ihre repressiven Tak-

Asien und Pazifik 35 tiken, indem sie die Gefahr des »Spaltertums« dass sie eine Bedrohung der nationalen Si- und vage und ungerechtfertigte Bedrohungen cherheit darstellten oder in irgendeiner Form der nationalen Sicherheit heraufbeschworen. die Monarchie beleidigt und damit die harten Gleich, welcher ethnischen Gruppe sie ange- Bestimmungen des Lèse-Majesté-Gesetzes hörten: Kritiker, die die chinesische Regierung verletzt hätten. direkt herausforderten, wurden Opfer von Re- Indien hat sich lange Zeit seiner lebendigen pressionen. Diese Regierung erfüllte noch Medien und seiner gut funktionierenden nicht einmal die Kriterien, die sie selbst in ihrem Rechtsordnung gerühmt, die die Grundlage für zweijährigen Menschenrechts-Aktionsplan, den Anspruch des Landes waren, die größte der im Jahr 2010 auslief, aufgestellt hatte. Ob- Demokratie der Welt zu sein. Das Verfahren der wohl öffentliche Diskussionen sowohl durch indischen Regierung gegen Binayak Sen und traditionelle Medien wie Zeitungen als auch in die Anklagen gegen hunderte in der Unruhe- sozialen Internet-Netzwerken ständig zunah- region Jammu und Kaschmir inhaftierte Per- men, waren Stimmen, die eine repräsentativere sonen stützten sich jedoch auf unhaltbare und Regierung forderten, weiterhin großen Ein- grundlose Anschuldigungen aufgrund der Be- schränkungen unterworfen. Die chinesische drohung der nationalen Sicherheit. Als die Pro- Regierung zeigte damit, dass sie überaus teste gegen die in diesem Bundesstaat von der empfindlich reagiert, sobald Medien und Zivil- indischen Regierung ausgeübte »Herrschaft gesellschaft öffentlich Kritik äußern, und dass der harten Hand« immer stärker wurden, nah- sie große Angst davor hat, den Bürgern des men die indischen Behörden zahlreiche Ver- Landes eine größere Rolle in der Regierungs- dächtige fest und hielten viele von ihnen ohne führung zuzugestehen. ein ordnungsgemäßes rechtsstaatliches Verfah- In Thailand, einem Land, das eine offenere ren in Administrativhaft. Medienlandschaft als die meisten seiner Die Bürger mehrerer anderer südasiatischer 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Nachbarn in Südostasien aufweist, kam es an- Länder litten gleichfalls unter schwerwiegen- gesichts schwerer politischer Unruhen und den Einschränkungen ihres Rechts auf freie Gewalt auf den Straßen zu größeren Einschrän- Meinungsäußerung. In Sri Lanka hielten die 000835 kungen der freien Meinungsäußerung. Als in Auflagen, denen Journalisten und die Zivilge- Bangkok umfangreiche und teilweise gewalt- sellschaft unterworfen waren, nach der im Ja- same Proteste ausbrachen, rief die Regierung nuar erfolgten Wiederwahl von Präsident Ma- den Notstand aus und ging gegen Tausende hinda Rajapaksa an. Journalisten und Bürger- von Internetseiten vor. Dabei wurden zahllose rechtler, die seine Regierung kritisierten, be- Websites mit der Begründung geschlossen, richteten über Einschüchterungen und Bedro-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Gewaltsame Auseinandersetzung in Kaschmir im Juni 2010 © AP Photo/Dar Yasin

36 Die Menschenrechtssituation im Überblick hungen. Hinzu kamen mehrere Vorfälle, bei de- und extremer Armut litten, nahm durch diese nen der Regierung mutmaßlich nahestehende Katastrophe noch zu. Im nordwestlichen Pa- Kräfte Journalisten schikanierten, festnahmen kistan verstießen Armeeangehörige häufig ge- oder entführten. In gleicher Weise waren auch gen das Kriegsrecht und die Menschenrechte, afghanische Journalisten zunehmend Schika- indem sie willkürlich Zivilpersonen festnahmen nierungen und Angriffen durch staatliche und und Personen, die sie als Aufständische ver- nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. Die Über- dächtigten, außergerichtlich hinrichteten. Dem- griffe ereigneten sich insbesondere während gegenüber erlegten die pakistanischen Tali- der weithin diskreditierten Parlamentswahlen. ban und andere aufständische Gruppen der Zi- Aber zumindest in den von der Regierung kon- vilbevölkerung grausame Strafen auf, nahmen trollierten Gebieten von Afghanistan führten Zivilpersonen und zivile Einrichtungen wie Journalisten trotz Drangsalierungen und Fest- Schulen ins Visier und führten Selbstmordan- nahmen durch die Behörden mutig ihre Arbeit schläge in den größeren Städten durch, bei de- fort. Bedauerlicherweise unterbanden die Tali- nen Hunderte von Zivilpersonen starben oder ban und andere regierungsfeindliche Gruppen verletzt wurden. Überall in der Provinz Belut- in zunehmend größeren Teilen des Landes schistan wurden die von Kugeln durchsiebten jegliche kritische Debatte. Leichen vermisster belutschistanischer Bürger- In mehreren Fällen griffen die Regierungen in rechtler aufgefunden. Die Familienangehöri- der Region zwar nicht direkt in das Recht auf gen und Menschenrechtsverteidiger beschul- freie Meinungsäußerung ein, unternahmen je- digten Pakistans Sicherheitskräfte, für diese doch wenig, um Journalisten oder den Raum »Tötungs- und Entsorgungsmaßnahmen« ver- für den öffentlichen Diskurs zu schützen. Mehr antwortlich zu sein. Die Gräueltaten verstärk- als ein Jahr nach dem Massaker an 33 Jour- ten das schon bestehende Klima der Angst nalisten auf den Philippinen zogen sich die Ver- noch zusätzlich und lieferten einen weiteren handlungen gegen die mutmaßlichen Täter in Grund für die Beschwerden der Bevölkerung die Länge, während Zeugen über Bedrohungen von Belutschistan über die schlechte Regie- und Einschüchterungen berichteten. In Pakis- rungsführung und ihre Ausgrenzung. Die nur tan wurden 2010 insgesamt 19 Medienschaf- unvollständigen und spärlichen Berichte aus fende getötet. In den meisten Fällen konnte diesen konfliktreichen Gebieten ließen das nicht eindeutig bestimmt werden, wer die Täter enorme menschliche Leiden in dieser Provinz waren. Bei einem Teil dieser Anschläge rich- jedoch nur erahnen. tete sich der Verdacht von den pakistanischen In gleicher Weise minderten die von der Re- Taliban über radikale religiöse Gruppen bis auf gierung Indiens auferlegten Einschränkungen die am Rande der Legalität arbeitenden staat- und die allgemeine Unsicherheit die Möglich- lichen Geheimdienste. Die Regierung tat kaum keit zu einer umfassenden Berichterstattung etwas, um die Journalisten zu schützen oder über die von der bewaffneten maoistischen die Täter vor Gericht zu stellen. Doch trotz die- Aufstandsbewegung geschürte eskalierende ser Übergriffe berichteten zahlreiche pakistani- Krise in Zentral- und Nordostindien. Dadurch sche Journalisten ausführlich über die vielen war es aber auch unmöglich, die auslösenden Missstände im Land. Faktoren dieser Krise umfassend zu verstehen, Auch 2010 wurde für Pakistan ein Katastro- die Premierminister Manmohan Singh als In- phenjahr. Im Juli und August setzten die diens größtes Problem der inneren Sicherheit schwersten Überschwemmungen in der Ge- bezeichnet hatte. Eine gefährliche Mischung schichte des Landes fast ein Fünftel des aus Armut, Kasten- und ethnischer Diskriminie- Staatsgebiets unter Wasser, etwa 20 Mio. Men- rung, religiösem Dogma und unternehmeri- schen waren davon betroffen. Das Elend von scher Habgier schuf die Grundlage für eine Millionen von Pakistanern, die sowieso schon Krise, die die Sicherheitskräfte und die mit unter konfliktbezogener Gewalt, Vertreibung ihnen verbündeten paramilitärischen Gruppen

Asien und Pazifik 37 veranlassten, häufig ohne jeden Unterschied Ergebnis einer intensiven Kampagne der Adi- gegen militante Gruppierungen vorzugehen, vasi in enger Zusammenarbeit mit internatio- wobei die Zivilbevölkerung einen hohen Preis nalen Gruppen, darunter auch Amnesty Inter- zu zahlen hatte. national, die weltweit Druck auf Wirtschaftsun- ternehmen und in der Öffentlichkeit ausübten. Menschenrechtsverletzungen durch In London, wo Vedanta-Aktionäre im Juli 2010 Wirtschaftsunternehmen zusammentrafen, bedienten sich die Teilneh- Die durch Menschenrechtsverteidiger wie Bi- mer der Kampagne zum Beispiel des interna- nayak Sen geleistete Arbeit führte dazu, dass tionalen Rechts und prominenter Fürsprecher, sich die Aufmerksamkeit auf die in Zentralin- um ihr Anliegen in die Öffentlichkeit zu brin- dien und besonders dem Bundesstaat Chhat- gen. Sie bemalten sich sogar mit blauer Farbe, tisgarh vorherrschenden Probleme richtete. um damit auf den kürzlich gezeigten populä- Menschenrechtsaktivisten haben seit langem ren Science-Fiction-Film Avatar hinzuweisen. darauf hingewiesen, dass der Konflikt in Zen- Der Film handelt vom Kampf einer indigenen tralindien entstand, weil die Regierungspolitik Bevölkerung gegen Eindringlinge, die ihre Roh- die Armut der Region noch verstärkte und die stoffe ausbeuten wollen, und spiegelt damit Regierung nicht gegen das nach dem Giftgas- vordergründig die Situation in Orissa wider. unfall in Bhopal im Jahr 1984 von Union Car- bide an den Tag gelegte unangemessene un- Zugang zu Gesundheitsversorgung ternehmerische Verhalten eingeschritten war. und Müttersterblichkeit Hinzu kamen die in der jüngeren Vergangen- Die Kampagne für die Aufrechterhaltung der heit gestarteten Versuche, die wirtschaftliche Würde und die Verteidigung der Rechte der Entwicklung ohne ausreichende Konsultation Armen und ausgegrenzten Bevölkerungs- der Bewohner der Region voranzutreiben. schichten stieß in anderen Regionen weiterhin 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Die indische Regierung unternahm einen po- auf viele Schwierigkeiten. Lokale Gruppen in In- sitiven Schritt, als sie die Entwicklung eines donesien, die sich für die Bekämpfung der un- groß angelegten Bauxit-Abbauprojektes des in verhältnismäßig hohen Müttersterblichkeitsrate 000835 Großbritannien ansässigen Bergbaukonzerns im Land einsetzten, haben in der letzten Zeit Vedanta Resources und der staatseigenen ihre Anstrengungen verstärkt, um durch eine Orissa Mining Corporation stoppte. Dies ge- Reform der diskriminierenden Gesetzgebung schah, nachdem ein von der Regierung einge- und eine Veränderung der problematischen setzter Ausschuss festgestellt hatte, dass die Einstellungen der Gesellschaft den Trend um- beiden Unternehmen ihre Pläne in Angriff ge- zukehren. Letztendlich hatten die bestehende nommen hatten, ohne sicherzustellen, dass Gesetzgebung und die Einstellung der Gesell- die in der Region betroffenen Adivasi ihre freie, schaft zu dieser negativen Statistik geführt. Ob- vorherige und informierte Zustimmung ertei- wohl tausende indonesischer Frauen unnöti- len konnte. Für die indigene Bevölkerung ist gerweise bei Komplikationen in der Schwanger- das Gebiet des geplanten Bergbauvorhabens schaft und bei der Geburt sterben, hat es sich ein Ort höchster religiöser Bedeutung. Es han- als schwierig erwiesen, ausreichende öffent- delte sich bei dem Verbot des Projekts um die liche Unterstützung zu gewinnen, damit die erste Entscheidung dieser Art in Indien, und sie Regierung auf diese Situation aufmerksam wird weckte die Hoffnung, dass die indische Regie- und beschließt, das Problem anzugehen. Die rung den Adivasi und anderen Gruppen, die indonesische Regierung hat sich dennoch dazu unter institutionalisierter Armut und Ausgren- verpflichtet, die Lebensbedingungen der Be- zung litten, zukünftig größere Aufmerksamkeit völkerung des Landes und speziell der Frauen zukommen lassen könnte. und Mädchen zu verbessern. Die Zurücknahme der Entscheidung über die Es hat sich gezeigt, dass es viel schwieriger

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Durchführung des Vedanta-Projekts war das ist, für die Rechte der Bürger in Ländern zu

38 Die Menschenrechtssituation im Überblick kämpfen, deren Regierungen ihren Verpflich- Strafe zu leisten. Ihre Aufgabe beschränkte tungen in mehr oder minder großem Ausmaß sich darauf zu bescheinigen, dass die Prügel- schlichtweg nicht nachkommen. In Nordkorea strafenopfer in der Lage waren, die Schläge zu leiden Millionen von Menschen unter einem ertragen. Dies stellt eine klare Verletzung ärzt- Mangel an Nahrungsmitteln und fehlendem licher Ethik und der Pflicht des Arztes dar, Zugang zu Arzneien und Gesundheitsversor- Schaden von denen abzuwenden, die sich in gung. Die ungeheuerliche Misswirtschaft der seiner Obhut befinden. Regierung, verbunden mit der natürlich auf- Statt sofort zu handeln, um diese beschä- tretenden Dürre, hat zu einer extremen Knapp- mende Praxis zu beenden, versuchte die Re- heit geführt, so dass die Menschen in vielen gierung von Malaysia, eine interne Debatte über Fällen gezwungen waren, ihre Nahrung durch diese Thematik zu unterbinden. Sie ließ sogar nicht essbare Pflanzen zu ergänzen und sogar die Stellen, die sich auf die »Epidemie« der Prü- ohne elementare Gesundheitsversorgung aus- gelstrafe in Malaysia bezogen, in der dort ver- zukommen. Trotz dieser Schwierigkeiten hat kauften Auflage des internationalen Wochen- die nordkoreanische Regierung die Verteilung magazins Time schwärzen. internationaler Hilfsmittel eingeschränkt. Afghanistan litt noch immer unter einer der Internationale Gerichtsbarkeit höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt: Die Aufmerksamkeit der Medien und öffent- Eine von acht afghanischen Frauen starb auf- licher Druck sind nur zwei Komponenten, die grund schwangerschaftsbedingter Komplika- notwendig sind um sicherzustellen, dass Regie- tionen. Frühverheiratung, häufig im Alter unter rende empfänglich für die Einhaltung der 15 Jahren, sowie unterlassene medizinische Menschenrechte sind, und Rechenschaft able- Eingriffe, bevor ernsthafte Komplikationen ein- gen. Dass die Politik die Überwachung der traten, waren zwei Faktoren, die eine Verbes- Menschenrechtslage nur unter großen Ein- serung der Situation verhindert haben. schränkungen gestattete, zeigt, wie wichtig es Nur selten existieren derart extreme Situatio- ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber nen wie in Nordkorea und Afghanistan, aber wenn es keinen Mechanismus gibt, der diese die vorsätzliche Verletzung der internationalen Zeugenaussagen in einen Prozess münden Menschenrechte kann selbst in viel wohlha- lässt, dessen Ziel Gerechtigkeit ist, kommen benderen Nationen wie Malaysia geschehen, mächtige Personen allzu oft davon, ohne für wo die Regierung gegen das internationale Fol- ihre Verbrechen bestraft zu werden. Im Jahr terverbot verstieß, indem sie weiterhin Prügel- 2010 befand sich die Waage der Gerechtigkeit strafen bei tausenden Menschen erlaubte, die in der asiatisch-pazifischen Region eindeutig unter dem Vorwurf der Verletzung von Einwan- zugunsten der Täter im Ungleichgewicht. derungsbestimmungen und wegen kleinkrimi- Die Regierung von Sri Lanka versuchte im neller Aktivitäten festgenommen worden waren. Verlauf des Jahres 2010 zu vermeiden, Re- Nach Regierungsangaben wurden in Malaysia chenschaft für die Kriegsverbrechen und Men- während des vergangenen Jahrzehnts Tau- schenrechtsverletzungen ablegen zu müssen, sende von Menschen der Prügelstrafe unter- die den langandauernden Konflikt charakteri- zogen. Es handelt sich um eine Foltermethode, sierten, der mit der militärischen Niederlage die den Opfern extreme Schmerzen zufügt der bewaffneten Gruppe Liberation Tigers of Ta- und permanente Narbenbildung verursacht. Im mil Eelam – die selbst für zahlreiche Men- Februar 2010 wurden drei Frauen mit Stöcken schenrechtsverletzungen verantwortlich war – geschlagen, weil sie das religiöse Gesetz (Scha- beendet wurde. Der Sieg wurde auf Kosten der ria) verletzt haben sollen. Es war das erste Mal, Zivilbevölkerung errungen, Tausende wurden dass Frauen zu dieser Strafe verurteilt wurden. getötet, verwundet und gefangen genommen. Die Regierung von Malaysia warb sogar Ärzte Trotz einer den UN gegebenen Zusage, den Op- an, um Unterstützung beim Vollzug dieser fern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war

Asien und Pazifik 39 im Mandat der von der Regierung eingesetzten Versöhnungsausschuss von Timor-Leste im Untersuchungskommission (Lessons Learnt Jahr 2005 sowie timorische Opfer, nationale and Reconciliation Commission – LLRC) keiner- Menschenrechtsgruppen und Rechtsexperten lei Bezug auf die Rechenschaftspflicht enthal- der UN ausgesprochen hatten. ten. So schien die LLRC dazu bestimmt zu sein, Bisher wurde das Prinzip der internationalen das gleiche Schicksal wie die anderen wäh- Gerichtsbarkeit in der asiatisch-pazifischen rend der letzten 20 Jahre eingesetzten Gremien Region häufiger gebrochen als eingehalten. zur Aufarbeitung der Straflosigkeit zu erleiden, Aber im Jahr 2010 war in der Region die Vor- die letztlich erfolglos blieben und den Opfern stellung, dass auch mächtige Personen – sogar keine Gerechtigkeit brachten. Die Hoffnung Staatsoberhäupter – vor Gericht gestellt wer- auf Gerechtigkeit hat sich nunmehr auf ein Ex- den können und sollen, nicht mehr fremd. Dies pertengremium gerichtet, das den UN-Gene- zeigte sich darin, dass Regierungen, Unter- ralsekretär Ban Ki-moon dabei unterstützen nehmen und bewaffnete Gruppen alles Erdenk- soll, die Frage zu klären, ob ein weiterer inter- liche taten, um Lippenbekenntnisse abzule- nationaler Mechanismus zur Rechenschaftsle- gen, während sie sorgsam darauf achteten, gung notwendig ist. einer rechtlichen Verantwortlichkeit aus dem Die bereits bestehenden internationalen Me- Wege zu gehen. chanismen zur Rechenschaftslegung wiesen im Jahr 2010 eine gemischte Bilanz auf. In Das Herzstück im Kampf gegen Kambodscha wurde der berüchtigte Khmer- Menschenrechtsverletzungen Rouge-Gefängnisbeamte Kaing Guek Eav, auch Einige Menschenrechtsverteidiger in der asia- als »Duch« bekannt, im Juli wegen Verbre- tisch-pazifischen Region wie Aung San Suu chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsver- Kyi, Liu Xiaobo und Binayak Sen haben weltweit brechen zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Es Bekanntheit erlangt, und jeder von ihnen hat 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen handelte sich um die erste Verurteilung durch sein Ansehen genutzt, um – auch zum Preis die Außerordentlichen Kammern der Kambod- unfairer Bestrafung – eine Verbesserung der schanischen Gerichte (Extraordinary Chambers Menschenrechtslage in der asiatisch-pazifi- 000835 in the Courts of Cambodia – ECCC), das von schen Region zu erreichen. Den wichtigsten der UN unterstützte sogenannte Khmer-Rouge- Beitrag haben diese Menschenrechtsverteidi- Tribunal. Vier weitere Khmer-Rouge-Führer ger aber nicht durch ihren ikonenhaften Sta- befinden sich noch bis zur Durchführung der tus geleistet, sondern weil sie darauf hingewie- Anhörungen in Haft. Das ist zwar ein kleiner, sen haben, dass hunderten anderen mutigen allerdings bedeutsamer Schritt bei der Suche Kritikern und Menschenrechtsverteidiger, die nach Gerechtigkeit für die Opfer, die auf den weniger berühmt sind, dasselbe widerfahren sogenannten killing fields ihr Leben lassen ist wie ihnen. Letztendlich kommt es darauf an, mussten. Kambodschas Regierungschef Hun das Augenmerk auf die Menschenrechtsver- Sen rief das Khmer-Rouge-Tribunal öffentlich letzungen zu richten, die diese unbekannten dazu auf, seine Tätigkeit auf die strafrechtliche Personen erdulden mussten, denn – wie der Verfolgung dieser fünf Personen zu beschrän- Fall »Duch« und andere erfolgreiche internatio- ken. nale Strafverfahren zeigen – bedarf es nur In ähnlicher Weise erklärte der Präsident von eines einzigen Falls, eines individuellen Sach- Timor-Leste, José Ramos-Horta, gegenüber verhalts, um eine Verurteilung aufgrund der dem UN-Menschenrechtsrat, dass »wir zwi- Verletzung internationaler Menschenrechte si- schen Gemeinschaften, die sich seit langer cherzustellen. Deshalb bildete im Jahr 2010 Zeit feindlich gegenüberstehen, häufig Kom- wie schon in den vorhergehenden Jahren die promisse schließen müssen, wenn es um Ge- Arbeit eines jeden Menschenrechtsverteidi- rechtigkeit geht«. Diese Erklärung widersprach gers den Kern des weltweiten Kampfes für die

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht allen Empfehlungen, die der Wahrheits- und Menschenrechte, insbesondere wenn sich das Engagement gegen massive und systemati- 40 Die Menschenrechtssituation im Überblicksche Verletzungen in einer Region richtete, die die Heimat von fast zwei Dritteln der Weltbevöl- kerung ist und die sich über ein Drittel der Welt erstreckt. Recht auf freie Meinungsäußerung Europa und Obwohl sich die Länder Europas und Zentral- asiens gerne als leuchtendes Vorbild für das Zentralasien Recht auf freie Meinungsäußerung preisen, sah die Realität für viele, die Verstöße publik machten, abweichende Meinungen äußerten »Die große Lüge ist aufgedeckt worden. oder Regierungen und andere zur Rechen- Endlich kennen wir die Wahrheit.« schaft zogen, ganz anders aus. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungs- Tony Doherty, dessen Vater Paddy Doherty am Sonntag, freiheit standen 2010 weiterhin ebenso unter dem 30. Januar 1972, im nordirischen Derry getötet wurde, Druck wie diejenigen, die sie verteidigten. als Soldaten das Feuer auf eine Demonstration von Bürger- In der Türkei wurde zwar zunehmend offen rechtlern eröffneten. über frühere Tabuthemen diskutiert, doch zo- gen kritische Meinungsäußerungen in vielen Bei den Menschenrechtsthemen in Europa und Fällen strafrechtliche Verfolgung nach sich. Zentralasien spielte das gesamte Jahr über Das galt insbesondere für kritische Äußerungen das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit eine zu den Streitkräften, zur Lage der Armenier zentrale Rolle. Bemerkenswert war dabei die und der Kurden in der Türkei sowie zu laufen- Entschlossenheit der Opfer und ihrer Angehöri- den Strafverfahren. Um das Recht auf freie gen, dies durchzusetzen, wie lang und hart Meinungsäußerung zu unterdrücken, wurden der Kampf auch sein mochte. häufig verschiedene Artikel des Strafgesetz- Am 15. Juni 2010 versammelten sich Angehö- buchs herangezogen, aber auch Antiterrorge- rige von Opfern in einem öffentlichen Ge- setze, auf deren Grundlage Untersuchungs- bäude in Nordirland, um zum ersten Mal über haft angeordnet wurde und die hohe Gefäng- eine langwierige – und lang erwartete – Unter- nisstrafen vorsahen. Am häufigsten wurden suchung über jenen Tag informiert zu werden, politisch aktive Kurden, Journalisten und Men- an dem die britische Armee 13 Personen tö- schenrechtsverteidiger mit Strafverfahren tete und der als Bloody Sunday in die Ge- überzogen. Es wurden erneut willkürliche Maß- schichte eingegangen ist. Fast vier Jahrzehnte nahmen wie die Sperrung von Internetseiten lang hatten sie auf Gerechtigkeit gewartet, und und ein vorübergehendes Erscheinungsverbot nun brach sich ihre Freude umso ungestümer für Zeitungen verhängt. Menschen, die ihre Bahn. Die Untersuchungsergebnisse widerleg- Meinung öffentlich äußerten, mussten weiter- ten alle anderslautenden Behauptungen frü- hin mit der Androhung von Gewalt rechnen. herer Regierungsberichte und wiesen nach, In anderen Ländern wurde bedauerlicher- dass keiner der Getöteten und Verletzten eine weise noch immer in altbekannter Manier Bedrohung dargestellt, eine Schusswaffe getra- durchgegriffen. So unterdrückten die Behörden gen, eine Nagelbombe oder ein Molotow- Turkmenistans praktisch jegliche kritische Cocktail geworfen hatte. Alle Opfer wurden von Meinungsäußerung. Journalisten, die mit aus- jeglicher Mitverantwortung für den Schusswaf- ländischen Medien in Kontakt standen, wur- feneinsatz freigesprochen. Der Bericht bestä- den schikaniert und eingeschüchtert, unab- tigte auch, dass einige der Opfer auf der hängige Bürgerrechtler konnten nicht offen Flucht in den Rücken geschossen worden wa- agieren. Die Sorge um ihre Sicherheit erhöhte ren und dass viele der Soldaten offenkundig sich noch, nachdem der Präsident das Minis- unwahre Aussagen gemacht hatten. Als Reak- terium für Nationale Sicherheit aufgefordert tion auf den Bericht entschuldigte sich der bri- hatte, gegen Personen vorzugehen, die »unse- tische Premierminister im Namen der Regie- ren demokratischen Rechtsstaat diffamieren«. rung und des Landes für die Taten. In Usbekistan wurden Menschenrechtsvertei- diger und unabhängige Journalisten drangsa-

Europa und Zentralasien 41 liert, verprügelt, festgenommen und nach un- vorsätzlich falsche Anklage wegen »Organisa- fairen Verfahren inhaftiert. Ein ähnliches Mus- tion von Massenunruhen« erhoben worden. ter zeichnete sich in Aserbaidschan ab, wo Den Angeklagten, unter ihnen sechs Präsi- Verleumdungsgesetze aus dem Bürgerlichen dentschaftskandidaten der Opposition, Mitglie- Gesetzbuch und dem Strafrecht herangezo- der ihrer Wahlkampfteams und Journalisten, gen wurden, um Kritik zu unterdrücken, wäh- drohten Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. In Kir- rend in Serbien Menschenrechtsverteidiger gisistan war das politische Klima nach den ge- und Journalisten unvermindert Drohungen, waltsamen Ausschreitungen im Juni, bei denen Übergriffen und Hetzreden ausgesetzt waren. Hunderte von Menschen ums Leben kamen, In Russland verhielten sich die Behörden in von gegenseitigen Schuldzuweisungen und zu- Bezug auf die Meinungsfreiheit weiterhin wi- nehmend nationalistischen Tönen geprägt. dersprüchlich. Sie versprachen Respekt und Menschenrechtsverteidiger sahen sich ge- Schutz für Journalisten und Bürgerrechtler, zwungen, ihr Engagement zum Schutz ver- während sie gleichzeitig Hetzkampagnen gegen schiedener ethnischer Gemeinschaften zu prominente Regierungskritiker anzettelten rechtfertigen und wurden von den Behörden oder diesen zumindest nicht Einhalt geboten. behindert, als sie versuchten, die Ereignisse zu Die Situation für Menschenrechtsverteidiger dokumentieren. und NGOs blieb schwierig. Drohungen, Über- Auch für Frauen, die als Ausdruck ihrer reli- griffe und Drangsalierungen durch die Behör- giösen, kulturellen, politischen oder persön- den sowie öffentliche Angriffe auf ihre persön- lichen Identität oder ihres Glaubens eine voll- liche Integrität hielten an und sollten dazu die- ständige Gesichtsverschleierung tragen woll- nen, ihre Arbeit zu behindern und ihre Glaub- ten, verschlechterte sich 2010 die Situation. Ge- würdigkeit zu untergraben. Untersuchungen, setze, die verbieten, in der Öffentlichkeit Klei- die sich mit Angriffen und den Morden an pro- dung zu tragen, die das Gesicht verbergen soll, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen minenten Menschenrechtsverteidigern und wurden in den Parlamenten von Bosnien und Journalisten befassten, zeitigten nur dürftige Herzegowina und Italien diskutiert, von der Ergebnisse. Gegen zivilgesellschaftliches En- neuen Regierung der Niederlande geplant und 000835 gagement gingen die Behörden weiterhin rigo- im belgischen Parlament sowie in Frankreich ros vor. So wurden Demonstrationen verboten verabschiedet. Mehrere spanische Kommu- oder gewaltsam aufgelöst, und engagierte Bür- nen erließen ebenfalls Bestimmungen, die das ger wurden unter Bezug auf ein Gesetz zur Be- Tragen einer vollständigen Gesichtsverschleie- kämpfung des Extremismus strafrechtlich ver- rung in öffentlichen Gebäuden untersagen. In folgt. der Türkei gab es keine Fortschritte bei der In der Ukraine verschlechterte sich aufgrund Aufhebung rechtlicher Einschränkungen, die neuer besorgniserregender Entwicklungen die Frauen daran hinderten, an den Universitäten Lage der Menschenrechtsverteidiger: Sie wur- ein Kopftuch zu tragen, obwohl die Durchset- den tätlich angegriffen und von Polizeibeam- zung des Verbots im Lauf des Jahres zuneh- ten wegen ihrer legitimen Arbeit für die Men- mend lockerer gehandhabt wurde. schenrechte schikaniert. Die Zivilgesellschaft in Belarus war neuerlichen Attacken ausge- Flüchtlinge und Migranten setzt, die die leisen Anzeichen einer Öffnung Trotz der wirtschaftlichen Rezession blieb im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im De- Europa weiterhin ein Ziel für Menschen, die zember wieder verschwinden ließen. Nach Armut, Gewalt und Verfolgung entkommen den von Unregelmäßigkeiten überschatteten wollten. Zahlreiche Migranten und Asylsu- Wahlen löste die Bereitschaftspolizei eine chende bewegten sich auf Routen, die sich in- überwiegend friedliche Demonstration gewalt- folge staatlicher Bemühungen zur von sam auf. Ende 2010 war gegen 29 Personen im Neuankömmlingen – darunter Maßnahmen ge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Zusammenhang mit der Demonstration eine gen Bootsflüchtlinge, Rückübernahmeab-

42 Die Menschenrechtssituation im Überblick kommen mit Herkunfts- und Transitländern der Zugang zum Staatsgebiet und zum Asylver- und verschärfte Grenzkontrollen – herausge- fahren verwehrt, sie wurden widerrechtlich in bildet hatten. Auf den Hauptwegen der vergan- Gewahrsam genommen, erhielten nicht die er- genen Jahre, die von Westafrika und Libyen zu forderliche Anleitung und Unterstützung, um den Seegrenzen Spaniens, Italiens und Maltas ihre Ansprüche geltend machen zu können, geführt hatten, nahmen die Flüchtlingsströme wurden in die Armut getrieben und abgescho- 2010 spürbar ab. Der Schwerpunkt der Migra- ben, ehe über ihre Ansprüche befunden wer- tion in Richtung EU verlagerte sich stattdessen den konnte, und in Länder zurückgeschickt, an die Landgrenze zwischen der Türkei und in denen ihnen schwere Menschenrechtsverlet- Griechenland. zungen drohten. Die globale Wirtschaftskrise führte auch dazu, Es ließ sich die bedrückende Tendenz beob- dass Asylsuchende und Migranten leichter achten, dass Staaten bereit waren, Menschen Opfer von Menschenhändlern und Schmugg- in Länder abzuschieben, in denen ein akutes lerringen wurden. Andere wurden durch die Risiko von Verfolgung und schwerer Verletzun- Krise in den informellen Sektor abgedrängt und gen ihrer Rechte bestand. So schickten Bel- konnten ihre wirtschaftlichen und sozialen gien, Dänemark, Großbritannien, die Nieder- Rechte nur eingeschränkt wahrnehmen. In vie- lande, Norwegen und Schweden abgelehnte len Ländern Europas und Zentralasiens boten Asylsuchende trotz einer gegenteiligen Emp- die Behörden ausländischen Staatsangehöri- fehlung des UN-Hochkommissars für Flücht- gen auf ihrem Territorium, darunter auch linge (UNHCR) zurück in den Irak. EU-Mit- Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten, gliedstaaten und die Schweiz schoben auch keinen hinreichenden Schutz vor zunehmen- weiterhin Roma in den Kosovo ab, entgegen der Feindseligkeit und rassistisch motivierter der Empfehlung des Menschenrechtskommis- Gewalt. Einige Politiker und Regierungsver- sars des Europarats. Vielen der Zwangsrück- treter trugen selbst dazu bei, ein Klima von In- geführten wurden grundlegende Rechte ver- toleranz und Fremdenfeindlichkeit zu fördern, weigert, und sie waren von mehrfacher Diskri- indem sie unbegründete Verbindungen zwi- minierung bedroht, die einer Verfolgung gleich- schen Migrantenstatus und Kriminalität her- kam. Eine Reihe von EU-Ländern überstellte stellten. Asylsuchende unter der Dublin-II-Verordnung Die europäischen Staaten reagierten auf die nach Griechenland, obwohl das Land über Herausforderungen, die die starken und kom- kein funktionierendes Asylsystem verfügte. plexen Ströme von Migranten aus vielen ver- Italien und die Türkei schoben Menschen ab, schiedenen Regionen darstellten, typischer- ohne dass diese überhaupt Gelegenheit gehabt weise repressiv. Im Zusammenhang mit dem hätten, dort Zugang zu einem Asylverfahren Abfangen, Inhaftieren und Abschieben von zu erhalten. Kasachstan verstärkte seine Be- ausländischen Staatsbürgern, darunter auch mühungen, im Namen der nationalen Sicher- solchen, die ein Anrecht auf internationalen heit und der Terrorismusbekämpfung Asylsu- Schutz hatten, bildete sich ein einheitliches chende und Flüchtlinge nach China und Us- Muster von Menschenrechtsverletzungen he- bekistan abzuschieben. raus. Die Inhaftierung von Asylsuchenden und Positiv war zu verzeichnen, dass eine Reihe Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus europäischer Staaten, darunter Albanien, Bul- war ein weit verbreitetes Instrument zur Ab- garien, Deutschland, Georgien, Lettland, die schreckung und zur Kontrolle, anstatt nur als Schweiz, die Slowakei und Spanien, ehema- äußerstes legitimes Mittel zu dienen. lige Häftlinge aus dem US-amerikanischen Ge- Die Asylverfahren der europäischen und zen- fangenenlager Guantánamo Bay aufnahmen, tralasiatischen Staaten wurden den Schutzsu- die nicht in ihre Heimatländer zurückgeschickt chenden häufig nicht gerecht und verletzten werden konnten, da ihnen dort Folter und an- ihre Rechte. So wurde Asylsuchenden u. a. dere Misshandlungen drohten.

Europa und Zentralasien 43 In zahlreichen Ländern Europas und Zentral- asiens gab es weiterhin Hunderttausende von Menschen, die durch Konflikte infolge des Zu- sammenbruchs des ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion heimatlos geworden wa- ren. Sie konnten häufig aufgrund ihres recht- lichen Status nicht zurückkehren und konnten ihre Rechte, wie z. B. das Recht auf Grundei- gentum, nur eingeschränkt wahrnehmen.

Diskriminierung In vielen Ländern Europas und Zentralasiens nahmen Rassismus und Hetzreden im öffent- lichen Diskurs zu und drängten diejenigen noch weiter ins Abseits, die aufgrund von Ar- mut oder Diskriminierung ohnehin schon aus- gegrenzt waren. Eines der hervorstechenden Beispiele für sys- tematische Diskriminierung war der Umgang mit den Roma, die vom öffentlichen Leben weit- gehend ausgeschlossen blieben und oft im Fo- kus unverhohlener Feindseligkeit und fremden- Obdachlose Usbeken in Kirgisistan nach ethnischen Unruhen feindlicher politischer Äußerungen standen. © AP Photo/Sergei Grits Roma zählten nach wie vor zu den wenigen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Gruppen, über die offen rassistische Aussa- kozy, in der er Roma-Lager als Brutstätten der gen und Einstellungen nicht nur geduldet, son- Kriminalität bezeichnet hatte, eine (später um- dern weithin geteilt wurden. Roma-Familien formulierte, doch im Tenor gleichlautende) mi- 000835 hatten meist nur eingeschränkten Zugang zu nisterielle Anweisung, die Lager aufzulösen. Wohnraum, Bildung, Beschäftigung und Ge- Der Vorfall enthüllte die Spannungen, die aus sundheitsfürsorge. einer jahrzehntelangen Vernachlässigung der Viele Roma lebten weiterhin in informellen Situation der Roma in Europa erwachsen wa- Siedlungen oder Slums und verfügten nicht ren, und löste Appelle an die EU aus, sie möge einmal über ein Mindestmaß an Sicherheit auf- ihre Mitgliedstaaten dazu drängen, die Rechte grund des inoffiziellen Status der Siedlungen der Roma stärker zu respektieren. oder weil amtliche Dokumente mit entspre- Millionen von Roma in ganz Europa waren zu- chenden Regelungen zur Nutzung fehlten. In dem weiterhin durch niedrige Alphabetisie- Ländern wie Italien, Griechenland, Frankreich, rungsraten und eine schlechte oder lücken- Rumänien und Serbien waren Roma unver- hafte Schulbildung massiv benachteiligt. Bil- mindert rechtswidrigen Zwangsräumungen dung, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis ausgesetzt und wurden dadurch weiter in Ar- von Armut und Ausgrenzung geboten hätte, mut und Ausgrenzung getrieben, ohne Aus- wurde vielen Roma-Kindern verweigert, da sie sicht auf Entschädigung. In Italien waren man- u. a. in Griechenland, Kroatien, Rumänien, che Familien sogar mehrfach von Zwangsräu- der Slowakei, Tschechien und Ungarn nach wie mungen betroffen, die das Gemeinschaftsle- vor in schlechtere, von anderen Kindern ge- ben zerstörten, Probleme mit Arbeitsstellen ver- trennte Klassen oder Schulen geschickt wur- ursachten und einen geordneten Schulbesuch den. Vorurteile sowie räumliche und kulturelle der Kinder unmöglich machten. In Frankreich Isolation schränkten ihre Zukunftsaussichten

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht folgte auf eine Rede von Präsident Nicolas Sar- zusätzlich ein.

44 Die Menschenrechtssituation im Überblick In einer Reihe von Ländern förderten die Be- für die Rolle, die sie darin gespielt hatten. In hörden ein Klima der Intoleranz gegenüber Polen wurden die strafrechtlichen Ermittlungen Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgen- zur Beteiligung des Landes an diesem Pro- der-Personen. In Italien waren vor dem Hinter- gramm fortgesetzt, und im Juli wurde bestätigt, grund abfälliger Bemerkungen einiger Politiker dass von der CIA gecharterte Flugzeuge auf und Regierungsvertreter und einer erheb- einem Flughafen gelandet waren, der sich in lichen Zunahme von Intoleranz und Hassbe- der Nähe einer mutmaßlichen geheimen Haft- kundungen gegenüber sexuellen Minderhei- einrichtung in Stare Kiejkuty befindet. Im Sep- ten gewalttätige homophobe Übergriffe verbrei- tember bestätigte die Staatsanwaltschaft, dass tet. In der Türkei erklärte die Ministerin für sie Vorwürfen eines saudi-arabischen Staats- Frauen und Familie, Homosexualität sei eine bürgers nachgehe, er sei in einem geheimen Krankheit und müsse behandelt werden. Haftzentrum in Polen gefangen gehalten wor- In Litauen traten gesetzliche Bestimmungen den. Im Oktober wurde ihm der Status eines in Kraft, mit denen versucht werden sollte, jeg- »Opfers« zuerkannt. Es war das erste Mal, dass liche öffentliche Debatte über Homosexualität eine Behörde in einem europäischen Land oder den öffentlichen Ausdruck der Identität den Anspruch eines Opfers des Überstellungs- von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans- programms anerkannte. Es tauchten neue Be- gender-Personen zu unterbinden. Dennoch weise dafür auf, dass Rumänien an den Über- fand zum ersten Mal eine Pride Parade in Li- stellungsflügen und am geheimen Inhaftie- tauen statt, obwohl sich verschiedene Behör- rungsprogramm beteiligt war, als die polnische den darum bemüht hatten, die Veranstaltung Grenzschutzbehörde Informationen veröffent- zu verbieten. In anderen Ländern führten lichte, gemäß denen ein aus Polen kommendes diese Bemühungen bedauerlicherweise zum Flugzeug mit Passagieren an Bord nach Ru- Erfolg: Paraden sexueller Minderheiten in Be- mänien weitergeflogen sei. Die rumänische Re- larus, Moldau und Russland wurden untersagt gierung bestritt zwar weiterhin jegliche Beteili- oder verhindert. gung, was jedoch immer unglaubwürdiger Leider blockierten einige Mitgliedstaaten auch wurde. weiterhin eine neue EU-Richtlinie über ein Angesichts des zunehmenden Drucks kün- Diskriminierungsverbot, die lediglich eine Ge- digte Großbritannien eine Untersuchung der setzeslücke in den Schutzbestimmungen für Vorwürfe an, wonach staatliche Stellen an Personen schließen würde, die außerhalb des Überstellungen und geheimer Inhaftierung Arbeitsplatzes aufgrund von Behinderung, bzw. an Folter und anderen Misshandlungen Glauben, Religion, sexueller Orientierung und beteiligt waren, die an Häftlingen in anderen Alter diskriminiert werden. EU-Gesetze auf Ländern begangen wurden. Eine Delegation diesem Gebiet würden sich erheblich darauf des Europäischen Ausschusses zur Verhütung auswirken, wie in ganz Europa mit allen For- von Folter besuchte zwei geheime Hafteinrich- men der Diskriminierung umgegangen wird. tungen in Litauen. Dort waren strafrechtliche Ermittlungen zur Errichtung und zum Betrieb Antiterrormaßnahmen und Sicherheit der Gefängnisse eingeleitet worden, es wurde Im Hinblick auf das CIA-Programm für außeror- jedoch befürchtet, dass diese vorzeitig abge- dentliche Überstellungen und Geheimgefäng- brochen werden könnten. In Italien bestätigte nisse waren 2010 trotz fehlenden politischen ein Berufungsgericht die ersten und bisher ein- Willens und regelrechten Widerstands vonsei- zigen Urteile in Bezug auf Menschenrechts- ten mehrerer Regierungen einige kleine, aber verletzungen im Zusammenhang mit dem Pro- bedeutsame Schritte zu verzeichnen. Sie gin- gramm für außerordentliche Überstellungen gen in die Richtung, dass europäische Regie- und Geheimgefängnisse. 25 Personen – 22 CIA- rungen Informationen über ihre Beteiligung Agenten, ein Angehöriger der US-Streitkräfte preisgaben und Verantwortung übernahmen und zwei Mitarbeiter des italienischen Geheim-

Europa und Zentralasien 45 dienstes – waren ihrer Beteiligung an der Ent- nen kamen bei Angriffen bewaffneter Gruppen führung eines ägyptischen Staatsangehörigen ums Leben. auf offener Straße in Mailand für schuldig be- Bewaffnete Gruppen verursachten auch in funden worden. Anschließend hatte ihn die CIA anderen Teilen Europas und Zentralasiens Tod rechtswidrig von Italien nach Ägypten über- und Zerstörung, unter anderem in Griechen- stellt, wo er an einem geheimen Haftort dem land, Spanien und der Türkei. Im September Vernehmen nach gefoltert wurde. Da die italie- verkündete die baskische Separatistengruppe nische Regierung auf die staatliche Geheimhal- Euskadi Ta Askatasuna (ETA), dass sie keine tungspflicht pochte, wurden Anklagen gegen »bewaffneten Angriffe« mehr durchführen fünf hochrangige Beamte des italienischen Ge- werde. heimdienstes im Berufungsverfahren fallenge- lassen. Todesstrafe Wie in den Vorjahren wurden die Schlagwörter Aus Belarus, dem letzten Land in der Region, in »Sicherheit« und »staatliche Geheimhaltungs- dem noch Hinrichtungen stattfanden, kamen pflicht« allzu oft dafür benutzt, um Maßnahmen widersprüchliche Signale. Als anhaltend positi- und Vorgehensweisen voranzutreiben, die die ver Trend ließ sich verzeichnen, dass Regie- Menschenrechte eher untergruben als stärk- rungsvertreter sich bereit erklärten, beim ten. So beriefen sich Regierungen z. B. nach Thema Todesstrafe mit der internationalen Ge- wie vor auf sogenannte diplomatische Zusiche- meinschaft zusammenzuarbeiten und bei der rungen, die keine rechtlich bindende Ver- öffentlichen Meinungsbildung auf eine Ab- pflichtung darstellten, um ausländische Staats- schaffung der Todesstrafe hinzuwirken. Den- angehörige abzuschieben, die mutmaßlich an noch wurden im Rahmen eines äußerst un- terroristischen Handlungen beteiligt gewesen vollkommenen Strafjustizsystems, das seine sein sollen, anstatt die Betroffenen wegen der Verfahren auch weiterhin im Geheimen abwi- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ihnen vorgeworfenen Verbrechen strafrechtlich ckelte, drei Todesurteile gesprochen und zwei zu verfolgen. So schob etwa Großbritannien Personen hingerichtet. Weder die Verurteilten nach wie vor Personen, die nach Angaben der noch ihre Angehörigen waren vorher über den 000835 Behörden eine Gefahr für die »nationale Si- Hinrichtungstermin in Kenntnis gesetzt wor- cherheit« darstellten, in Länder ab, in denen den. Die Leichname wurden nicht an die Fami- ihnen Folter und andere Misshandlungen lien übergeben, und diese erfuhren nicht ein- drohten. mal, wo die Hingerichteten begraben waren. Die Türkei schlug mit Änderungen der Verfas- Die Todesurteile wurden vollstreckt, obwohl sung und der Antiterrorgesetze einen positiven der UN-Menschenrechtsausschuss um Ausset- Weg ein. Doch die Antiterrorgesetze bildeten zung gebeten hatte, um die Fälle der betroffe- nach wie vor die Basis für unfaire Gerichtsver- nen Männer untersuchen zu können. fahren. Diese Gesetze, auf deren Grundlage Untersuchungshaft angeordnet wurde und die Straflosigkeit hohe Gefängnisstrafen vorsehen, wurden auch nach bewaffneten Konflikten dazu herangezogen, das Recht auf freie Mei- Bei der Bekämpfung der Straflosigkeit im Zu- nungsäußerung einzuschränken. sammenhang mit Verbrechen, die in den Die Sicherheitslage in Russlands Nordkauka- 1990er Jahren während der Kriege auf dem Ge- susregion war weiterhin instabil. Von Gewalt biet des früheren Jugoslawien begangen wor- betroffen waren Tschetschenien, Inguschetien, den waren, wurden im Jahr 2010 gewisse Fort- Dagestan und benachbarte Regionen. Die Be- schritte erzielt, sowohl durch Verfahren vor hörden räumten öffentlich ein, dass ihre Maß- einheimischen Gerichten als auch durch Dis- nahmen zur Bekämpfung der bewaffneten kussionen auf internationaler Ebene. Kroatien Gewalt keine Wirkung zeigten. Zahlreiche Be- und Serbien unternahmen bemerkenswerte

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht amte mit Polizeibefugnissen sowie Zivilperso- Schritte, indem sich der kroatische Staatsprä-

46 Die Menschenrechtssituation im Überblick sident bei Opfern und Angehörigen entschul- Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht digte, und das serbische Parlament die im Juli begangen hatten. 1995 in Srebrenica verübten Verbrechen gegen die bosniakische (bosnisch-muslimische) Be- Folter und andere Misshandlungen völkerung verurteilte, ohne sie jedoch als Völ- Auch die Opfer von Folter und anderen Miss- kermord zu bezeichnen. handlungen wurden 2010 von der Justiz im Grundlegende Probleme blieben jedoch be- Stich gelassen, indem die Verantwortlichen stehen. Trotz der Haltung des kroatischen Prä- nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Dass sie sidenten fehlte es nach wie vor am politischen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, lag Willen, das Justizsystem zu reformieren und u. a. daran, dass Opfer häufig nicht direkt Zu- die Straflosigkeit zu bekämpfen, dies betraf gang zu einem Rechtsbeistand erhielten, dass auch die ethnisch begründete Parteilichkeit Staatsanwälte die Ermittlungen nicht zügig vo- bei der Strafverfolgung. Vorwürfe, die auf eine rantrieben, dass Opfer sich vor Vergeltung mutmaßliche Befehlsverantwortung mehrerer fürchteten, dass gegen schuldig gesprochene hochrangiger politischer und militärischer Füh- Polizeibeamte nur niedrige Strafen verhängt rungspersönlichkeiten für Kriegsverbrechen wurden und dass es an gut ausgestatteten hinwiesen, wurden nicht näher untersucht. In und unabhängigen Institutionen mangelte, die Bosnien und Herzegowina wurden 2010 die Beschwerden hätten überprüfen und schwe- Bemühungen, Kriegsverbrechen zu ahnden, res polizeiliches Fehlverhalten untersuchen weiterhin durch hochrangige Politiker unter- können. graben, die in öffentlichen Äußerungen das Allzu oft verschleierte verbales Entgegenkom- Justizsystem angriffen und Kriegsverbrechen men, dass sich in der Praxis nichts geändert leugneten, einschließlich des Völkermords von hatte. So versprachen z. B. die Regierungen Srebrenica im Juli 1995. Die Maßnahmen zur von Kasachstan und Usbekistan, sie würden Unterstützung und zum Schutz von Zeugen wa- eine »Null-Toleranz«-Politik verfolgen, und ver- ren in beiden Ländern unzureichend. Für die sicherten, Verstöße seien zurückgegangen. Opfer von Kriegsverbrechen und ihre Angehöri- Doch gab es unvermindert Berichte über Folte- gen stellte dies weiterhin eines der größten rungen und andere Misshandlungen in diesen Probleme dar, wenn sie Gerechtigkeit einfor- Ländern. Trotz des erklärten Wunschs nach dern wollten. Im Kosovo und in Serbien gab es einer Polizeireform führten in Russland Kor- kaum Fortschritte, um das Schicksal der seit ruption und Absprachen zwischen Polizei, Er- dem Krieg im Jahr 1999 vermissten Personen mittlungsbeamten und der Staatsanwaltschaft aufzuklären. Der Internationale Gerichtshof nach allgemeiner Einschätzung dazu, dass Er- für das ehemalige Jugoslawien drängte Ser- mittlungen nicht zum Ziel führten und Straf- bien, wirksamere Schritte zur Festnahme verfolgungsmaßnahmen behindert wurden. In- des früheren bosnisch-serbischen Generals haftierte berichteten häufig von widerrecht- Ratko Mladic´ und des früheren Anführers lichen Disziplinarstrafen und der Verweigerung der kroatischen Serben Goran Hadzˇic´ zu er- notwendiger medizinischer Versorgung. greifen. In einem richtungweisenden Urteil wurden in Keine der an dem bewaffneten Konflikt zwi- der Türkei 19 Staatsbedienstete, darunter schen Russland und Georgien im Jahr 2008 auch Polizeibeamte und Gefängnisaufseher, beteiligten Parteien führte umfassende Ermitt- wegen ihrer Beteiligung an den Folterungen lungen durch, obwohl ein Bericht der im Auf- verurteilt, die zum Tod des politisch engagierten trag der EU durchgeführten internationalen Bürgers Engin Çeber in Istanbul im Oktober Mission zur Untersuchung des Konflikts 2009 2008 geführt hatten. Vier der Angeklagten wur- bestätigt hatte, dass sowohl die georgischen als den 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt. Es auch die russischen und südossetischen war das erste Mal in der türkischen Rechtsge- Truppen Menschenrechtsverletzungen und schichte, dass Staatsbedienstete für einen To-

Europa und Zentralasien 47 desfall, der auf Folter zurückzuführen war, eine Gerechtigkeit und Straflosigkeit solche Strafe erhielten. Bedauerlicherweise In den Ländern Europas und Zentralasiens gab stand dies in starkem Kontrast zu anderen Fäl- es nach wie vor ein großes Bedürfnis nach len, in denen Staatsbediensteten Folterungen Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutma- vorgeworfen wurden und bei denen die straf- chung. Für manche erfüllte es sich – wenn rechtlichen Ermittlungen sowie die Verfolgung sich etwa der politische Willen dahingehend von Beamten mit Polizeibefugnissen unergiebig wandelte, die Vergangenheit aufzuarbeiten, blieben. oder auch durch Freunde, Verwandte und An- wälte, die sich standhaft weigerten, aufzuge- Gewalt gegen Frauen ben. Viele mussten lange warten, doch es In der gesamten Region war Gewalt gegen lohnte sich: so z. B. für die Familie von Himzo Frauen und Mädchen im familiären Umfeld Demir, der 1992 während der Jugoslawien- weiterhin in allen Altersgruppen und allen so- kriege entführt worden war und »ver- zialen Schichten weit verbreitet. Nur ein klei- schwand«. Im Oktober 2010 erhielten seine An- ner Teil der betroffenen Frauen erstattete wegen gehörigen endlich die Bestätigung, dass sich Misshandlungen Anzeige. Die meisten sahen seine sterblichen Überreste unter den unbe- davon ab, weil sie Angst vor Vergeltungsmaß- kannten Toten befanden, die in einem Mas- nahmen ihrer gewalttätigen Partner hatten sengrab in Visˇegrad gefunden worden waren. oder dachten, dadurch »Schande« über ihre Die Suche war vorüber, und sie konnten end- Familie zu bringen, oder weil sie keine finan- lich ihre Trauerfeier für Himzo Demir abhalten. zielle Absicherung hatten. Migrantinnen ohne Angesichts vieler ermutigender Geschichten regulären Aufenthaltsstatus schreckten be- wundert es umso mehr, wie viele Menschen sonders davor zurück, bei der Polizei Anzeige noch auf Gerechtigkeit warten müssen, weil zu erstatten, da sie befürchteten, abgescho- Staaten den Zugang zur Wahrheit blockieren, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ben zu werden, sollte entdeckt werden, dass sie die Justiz behindern und Wiedergutmachung keine Aufenthaltsgenehmigung besaßen. verweigern. Dies erstaunt besonders in einer Doch insbesondere die Tatsache, dass die Täter Region, die über Strukturen zum Schutz der 000835 in aller Regel straffrei blieben, vermittelte den Menschenrechte verfügt wie keine andere Frauen den Eindruck, dass eine Anzeige wenig weltweit. Sinn habe. Die europäischen Regierungen müssen end- Die Frauen, die dennoch Gerechtigkeit forder- lich begreifen, dass die von ihnen und ihren ten, wurden viel zu oft von der Justiz und von Verbündeten unternommen Versuche zu leug- unzureichenden und wenig einfühlsamen Un- nen und zu vertuschen nichts nützen. Sie wer- terstützungseinrichtungen im Stich gelassen. den letztlich nicht standhalten gegen die tapfe- So war in manchen Ländern, wie etwa Alba- ren Menschen, die mutig aufstehen – unge- nien, familiäre Gewalt kein eigener Straftatbe- achtet des persönlichen Preises, den sie dafür stand. In vielen Ländern gab es keine funktio- zahlen – und die Regierungen zur Rechen- nierende landesweite Vernetzung der zustän- schaft ziehen. digen Einrichtungen, und die Angebote zum Schutz von überlebenden Opfern von familiä- rer Gewalt, wie etwa Frauenhäuser oder sichere alternative Wohnmöglichkeiten, waren absolut kläglich. So gab es z. B. in ganz Armenien nur ein einziges Frauenhaus, das durch Spenden aus dem Ausland finanziert wurde. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

48 Die Menschenrechtssituation im Überblick rückte der Jemen nicht aufgrund dieser Ereig- Naher Osten nisse und der mit ihnen einhergehenden Men- schenrechtsverletzungen auf der politischen und Nordafrika Tagesordnung nach oben. Der Anlass war viel- mehr ein Ereignis, das am 25. Dezember 2009 Tausende von Kilometern entfernt, stattfand »Wir wollen beides: die Freiheit zu arbei- und bei dem ein Nigerianer, der dem Verneh- ten und die Freiheit zu reden. Aber ich men nach von Al-Qaida im Jemen ausgebildet bekam nichts als Schläge.« worden war, versucht haben soll, über der US- amerikanischen Stadt Detroit ein Passagierflug- So äußerte sich Walid Malahi gegenüber Mitarbeitern von zeug in die Luft zu sprengen. Durch diesen Amnesty International in Tunesien, nachdem er bei einer Vorfall rückte der Jemen – nur durch das Rote Protestaktion gegen die Regierung von der tunesischen Bereit- Meer vom konfliktreichen Somalia getrennt – schaftspolizei geschlagen wurde. sofort als mögliche Basis für Al-Qaida an der Südgrenze Saudi-Arabiens in den Mittelpunkt Zu Beginn des Jahres 2010 stand der Jemen des Interesses. Ausschlaggebend in diesem nach einem mutmaßlichen Terroranschlag im Zusammenhang waren vor allem Berichte, dass Mittelpunkt eines ungewohnten internationalen sich die Kräfte von Al-Qaida im Jemen und in Interesses. Zum Ende des Jahres waren viele Saudi-Arabien zu Al-Qaida auf der arabischen Augen auf die zu Tage tretende Macht des Vol- Halbinsel zusammengeschlossen hätten. kes in Tunesien gerichtet und auf die daraus Der Jemen, das ärmste Land der Region, litt resultierende Kettenreaktion in anderen Teilen bereits unter akuten sozialen, wirtschaftlichen der Region. In beiden Ländern gab es einen und politischen Problemen: eine überwiegend Selbstmord – im Jemen den eines mutmaßli- junge Bevölkerung, die sich mit wachsender chen Selbstmordattentäters, der ein interna- Armut und Arbeitslosigkeit konfrontiert sieht, tionales Passagierflugzeug in die Luft sprengen ein Land, dessen Erdöl- und Wasserreserven wollte, in Tunesien den eines jungen Mannes, zur Neige gehen, eine Regierung mit einem be- der sich aus Verzweiflung über fehlende Ar- reits seit 1978 amtierenden Präsidenten, der beitsmöglichkeiten und Perspektiven und immer weniger Toleranz gegenüber Anders- entmutigt von langer politischer Unterdrückung denkenden zeigt. In Verbindung mit dem Kon- selbst verbrannte. flikt in Sa’ada und dem zunehmend lauter wer- Diese Ereignisse bildeten nicht einfach nur denden Ruf nach Sezession im Süden deutete den Anfang und Schlusspunkt dieses Jahres, alles darauf hin, dass sich der Jemen erneut sondern zeigten die wichtigsten Entwicklungen zum Mittelpunkt des internationalen Interes- in den Staaten des Nahen Ostens und Nord- ses entwickeln könnte. Bedenken nahmen zu, afrikas auf: Die Sorge der jeweiligen Regierun- dass jede weitere Zuspitzung der Situation in gen um ihre politische Sicherheit war ver- einem so massiv bewaffneten und von Stam- knüpft mit dem Versäumnis, die individuelle Si- messtrukturen geprägten Land zu einem voll- cherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten. kommenen Zusammenbruch von Recht und Damit ging die Nichteinhaltung der Menschen- Ordnung führen könnte. rechte einher. Die Wahrung der Menschen- Dass dies in gewissem Maße längst der Fall rechte aber ist die Voraussetzung für die indivi- war, wurde bei einem Besuch des Landes duelle Sicherheit. durch eine Delegation von Amnesty Internatio- Im Januar wurde die verarmte Region Sa’ada nal im März deutlich. Sie erhielt Zugang zu im Norden des Jemen Schauplatz eines bluti- Überresten von Waffen, die bei einem Angriff gen Konflikts, während sich die Regierung im gegen ein mutmaßliches Lager von Al-Qaida Süden mit zunehmenden sezessionistischen im Dezember 2009 eingesetzt worden waren. Bestrebungen konfrontiert sah. Allerdings Bei diesem Angriff, der etwa eine Woche vor

Naher Osten und Nordafrika 49 dem Zwischenfall mit der Flugzeugbombe in Staat und seine Ressourcen zu sichern, und das Detroit stattgefunden hatte, wurden 41 jemeni- in vielen Fällen schon seit Jahrzehnten. Wie zu tische Zivilpersonen getötet, zum größten Teil erwarten, griff die Regierung unter Ben Ali an- Frauen und Kinder. Die Markierungen auf den gesichts der allgemeinen Proteste zu Gewalt Waffenfragmenten deuteten darauf hin, dass und ließ Demonstrierende wie schon 2009 in diese von einer Tomahawk-Rakete mit Streu- Gafsa niederschießen. Dieses Mal ließen sich bomben stammten und der Angriff demnach die Protestierenden jedoch nicht einschüchtern nicht von jemenitischen Sicherheitskräften, – im Gegenteil, sie versuchten noch entschlos- sondern von US-Streitkräften durchgeführt wor- sener, ihr Ziel zu erreichen und das Land von den sein musste, vermutlich von einem US- seinem Präsidenten Ben Ali zu befreien. Kriegsschiff vor der jemenitischen Küste. Doku- mente der US-Regierung sollten dies später Bewaffnete Konflikte und Unsicherheit bestätigen. Aufzeichnungen über ein Treffen Der medial kaum beachtete Sa’ada-Konflikt im zwischen dem jemenitischen Präsidenten und Jemen, bei dem saudi-arabische Kampfflug- einem führenden Vertreter der US-Regierung ist zeuge Städte und Dörfer unter schweren Be- zu entnehmen, dass der Präsident reuevoll ge- schuss nahmen und damit etwa 350000 Men- stand, sein eigenes Volk belogen zu haben, in- schen aus ihren Heimatorten vertrieben, wurde dem er ihm erklärte, dass jemenitische Streit- im Februar durch einen Waffenstillstand been- kräfte für den Angriff verantwortlich seien. det. Der Konflikt im Irak dagegen tobte weiter, Grund hierfür war der Versuch, die möglicher- als die Zahl der US-Streitkräfte reduziert weise politisch nachteilige Wahrheit zu vertu- wurde. Die USA übergaben die Kontrolle über schen, dass der Tod jemenitischer Zivilperso- Gefängnisse und tausende noch ohne Prozess nen direkt durch einen Angriff der US-Amerika- gebliebene Gefangene an die irakische Regie- ner verursacht worden war. rung. Die Übergabe erfolgte trotz fortlaufender 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen In Tunesien stellte die Tat des 24-jährigen Mo- Enthüllungen über den Einsatz von Geheimge- hamed Bouazizi, der sich am 17. Dezember fängnissen durch die irakische Regierung und 2010 selbst verbrannt hatte – zuvor hatte ihn ein den weit verbreiteten Einsatz von Folter durch 000835 Beamter in der Stadt Sidi Bouzid daran gehin- irakische Sicherheitskräfte. Die US-Regierung dert, Gemüse von einem Handkarren zu ver- zog es schlichtweg vor wegzuschauen, anstatt kaufen und ihn dabei Berichten zufolge ange- ihrer Verpflichtung zum Schutz von Häftlingen, griffen – einen einsamen Protestakt mit tödli- denen Folter droht, nachzukommen. Darüber chem Ausgang dar, der Tausenden von Tune- hinaus überließ sie etwa 3400 im Camp Ashraf siern und Hunderttausenden in Ägypten, Alge- nördlich von Bagdad lebende iranische Exilan- rien und anderen Ländern der Region erschüt- ten einem ungewissen und unsicheren Schick- terte. Er löste eine Welle von Protesten aus, die sal, als die US-Streitkräfte die Kontrolle über das sich im ganzen Land verbreitete. Die Tat von Lager an die irakischen Behörden übergaben. Mohamed Bouazizi war ein verzweifelter Aus- Bewaffnete Gruppen im Irak setzten auch druck der Frustration, die so viele seiner Gene- weiterhin unerbittlich Bomben ein, die Zivil- ration angesichts der menschenrechtsverach- personen töteten und verstümmelten. Schiiti- tenden Regierungen in den Ländern des Na- sche Pilger und Christen bildeten nach wie vor hen Ostens und Nordafrikas teilen, in denen die Zielscheibe bewaffneter sunnitischer Grup- praktisch die gesamte politische und wirt- pen, die ihre Stärke demonstrieren und wei- schaftliche Macht in den Händen weniger liegt – tere religiöse Spaltungen erreichen wollten. Sie Machthaber, die unverantwortlich, repressiv intensivierten ihre Angriffe in den Monaten und intolerant gegenüber abweichenden Mei- des politischen Schwebezustands, der auf das nungen sind und bereit, sich mithilfe brutaler, uneindeutige Ergebnis der irakischen Wahlen allmächtiger und allgegenwärtiger Sicherheits- im März folgte.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht kräfte und Geheimdienste ihre Macht über den Die irakische Regierung reagierte, indem sie

50 Die Menschenrechtssituation im Überblick willkürlich Verdächtige festnahm, diese fol- abhängig. Und nicht einmal das Ausmaß an zi- terte, um »Geständnisse« zu erzwingen, sie vor vilen Opfern, das israelische Streitkräfte verur- Gericht schleppte und eine große Anzahl von sacht hatten, wurde anerkannt. Die Hamas wie- ihnen nach äußerst unfairen Prozessen zum derum unternahm nicht die Andeutung einer Tode verurteilte. Entgegen der Behauptung, Untersuchung und behauptete entgegen der die Todesstrafe habe eine abschreckende Wir- Beweislage, sie habe nur auf militärische An- kung, kam es jedoch auch weiterhin zu An- lagen gezielt, als sie wahllos Raketen und an- schlägen durch Selbstmordattentäter. dere Waffen auf israelische Zivilgebiete abfeu- Ein weiterer regionaler Brennpunkt blieb der erte. Im März 2011 soll im UN-Menschen- fortdauernde Kampf zwischen Israelis und Pa- rechtsrat in der Angelegenheit entschieden lästinensern. Ungewöhnlicherweise fand hier- werden, ob den für die Verletzung der Men- bei eine Konfrontation auf hoher See statt, als schenrechte verantwortlichen Parteien noch israelische Streitkräfte im Mai eine aus sechs mehr Zeit eingeräumt werden soll, die Ansprü- Schiffen bestehende Flottille aufbrachten. Ziel che ihrer Opfer zu ignorieren, oder ob die An- der Flottille war es, die israelische Militärblo- gelegenheit an die internationale Gerichtsbar- ckade des Gazastreifens zu durchbrechen, keit übergeben wird. um den dort eingeschlossenen 1,5 Mio. Paläs- tinensern humanitäre Hilfsgüter zu überbrin- Unterdrückung gen. Neun Personen wurden getötet, als israeli- abweichender Meinungen sche Soldaten das türkische Schiff Mavi Mar- Das Recht auf freie Meinungsäußerung, ein mara enterten. Dies sorgte international für grundlegendes Recht an sich, das jedoch einen so empörten Aufschrei, dass Israel sich auch für den Zugang zu anderen Menschen- gezwungen sah, die Blockade des Gazastrei- rechten unerlässlich ist, wurde von Regierun- fens leicht zu lockern. Nach einer UN-Unter- gen in der gesamten Region beschnitten. Dies suchung handelte es sich bei mindestens galt auch für die damit eng verknüpften sechs der neun Todesfälle dem Anschein Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungs- nach um »außergerichtliche, summarische und freiheit. Staatliche Behörden behinderten die willkürliche Hinrichtungen« durch die israeli- Entwicklung von Menschenrechtsorganisatio- sche Armee. Das Ergebnis einer eigenen, Un- nen und eine lebendige Zivilgesellschaft und tersuchung vonseiten Israels, die nicht als un- versuchten oft, die öffentliche Äußerung abwei- abhängig bezeichnet werden kann, stand zum chender Meinungen zu verhindern. Jahresende noch aus. In Ländern wie dem Iran, Libyen, Saudi-Ara- Im Dezember 2010 jährte sich zum zweiten bien und Syrien begaben sich alle, die es wag- Mal der Beginn der Operation »Gegossenes ten, sich für mehr Freiheiten, gegen ihre Regie- Blei«, dem 22-tägigen Militärangriff Israels auf rung oder für die Verteidigung der Menschen- den Gazastreifen, bei dem fast 1400 Palästi- rechte auszusprechen, in Gefahr. In diesen und nenser ums Leben gekommen waren, darunter anderen Ländern waren die Mächte der Un- über 300 Kinder. 2009 hatte eine von Richter terdrückung – die allmächtige und nicht re- Richard Goldstone angeführte Untersuchungs- chenschaftspflichtige Geheimpolizei – nie weit kommission der Vereinten Nationen sowohl Is- entfernt. Regierungskritiker wurden bedroht rael als auch die palästinensische Seite Kriegs- und eingeschüchtert, festgenommen und in- verbrechen und möglicher Verbrechen gegen haftiert und manchmal gefoltert oder auf der die Menschlichkeit beschuldigt und Untersu- Grundlage konstruierter Anklagen verurteilt chungen sowie eine Übernahme der Verant- und ins Gefängnis gesteckt, um sie zum wortung gefordert. Ende 2010 warteten die Op- Schweigen zu bringen und eine Botschaft an fer jedoch immer noch auf Gerechtigkeit und all jene auszusenden, die die Kühnheit besitzen Entschädigung. Die Untersuchungen auf israe- könnten, laut ihre Meinung zu sagen. Im Iran lischer Seite waren mangelhaft und nicht un- wurden mehrere Aktivisten einer ethnischen

Naher Osten und Nordafrika 51 Minderheit nach einem Schnellverfahren ge- listen vor. Hier wie anderswo in der Region grif- hängt, als Vergeltung für einen bewaffneten An- fen die Behörden auf Verleumdungsklagen zu- schlag, der stattgefunden hatte, als sie sich rück, um die öffentliche Debatte zu unterdrü- bereits in Haft befanden. In Syrien scheint man cken und Journalisten davon abzuhalten, Fälle sich der dortigen Rechtsanwaltskammer be- von Menschenrechtsverletzungen oder Korrup- dient zu haben, um einen führenden Men- tion auf höchster Ebene offen zu legen. schenrechtsanwalt ins Visier zu nehmen und Allerdings zeigten die Proteste in Tunesien, ihm seine Zulassung als Anwalt zu entziehen, dass die Regierungen, die den Internetzugang nachdem dieser über Prozesse vor dem – für behinderten oder Mobilfunkverbindungen unfaire Verfahren bekannten – Obersten Staats- kappten, die Entwicklung längst nicht mehr sicherheitsgericht berichtet hatte. Im Westjor- aufhalten konnten. Immer mehr Aktivisten danland ging die von der Fatah geleitete Paläs- nutzten die sozialen Netzwerke im Internet, tinensische Autonomiebehörde hart gegen um den Behörden stets eine Nase voraus zu mutmaßliche Anhänger der Hamas vor, wäh- sein und erdrückende Beweise für Menschen- rend in Gaza die De-facto-Verwaltung der Ha- rechtsverletzungen zu veröffentlichen. Ein mas Anhänger der Fatah ins Visier nahm. Hart äußerst positives Zeichen 2010 war die Tat- gingen auch die marokkanischen Behörden sache, dass sich das Blatt im Kampf um die gegen die Befürworter der Unabhängigkeit der Kontrolle des Informationszugriffs schließlich seit 1975 unter marokkanischer Verwaltung ste- zugunsten der Bürgerrechtsaktivisten wendete. henden Westsahara sowie gegen sahrauische Menschenrechtsverteidiger vor. In Bahrain Folter, Misshandlung und Todesstrafe wurde eine führende Menschenrechtsorgani- Folter und andere Misshandlungen von Häftlin- sation faktisch unter die Kontrolle der Regie- gen blieben in der gesamten Region ein be- rung gestellt. Sie hatte sich zuvor offen über die ständiges Menschenrechtsproblem. Bei den 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen mutmaßliche Folter führender Angehörige der Opfern handelte es sich meist um Personen, schiitischen Bevölkerung geäußert, die im Au- die politischer Vergehen verdächtigt wurden. gust und September inhaftiert worden waren. Sie wurden häufig an geheimen Orten festge- 000835 halten, wo man sie verhörte und über Wochen Das Recht auf freie Meinungsäußerung oder noch länger ohne Kontakt zur Außenwelt und die Medien in Haft hielt. Polizeigewalt gegen Verdächtige Staatliche Behörden strebten 2010 weiterhin gewöhnlicher Straftaten war in Ägypten und danach, den freien Fluss von Informationen zu anderen Ländern weit verbreitet. Falls es über- kontrollieren und setzten dabei so vertraute wie haupt zu Prozessen kam, wurden internatio- abgegriffene Methoden ein. Sie sahen sich je- nale Standards für ein faires Verfahren regelmä- doch angesichts des Aufkommens und des Zu- ßig ignoriert, vor allem in Fällen, in denen es gangs zu sozialen Medien sowie einer Bevölke- um Andersdenkende oder Personen ging, die rung, die immer entschlossener war, sich Gehör sich klar gegen die Machthabenden geäußert zu verschaffen, zunehmend mit Problemen hatten. konfrontiert. In Ägypten, Syrien und anderen Im Iran fanden auch weiterhin »Schaupro- Ländern wurden Blogger festgenommen und zesse« gegen Personen statt, die gegen das of- inhaftiert. Im Iran, in Tunesien und weiteren fizielle Ergebnis der Präsidentschaftswahl von Ländern ließen Regierungen den Internetzu- 2009 protestiert hatten. Sie führten in mindes- gang blockieren und Mobilfunknetze unterbre- tens zwei Fällen zur Hinrichtung. In Saudi-Ara- chen, um Proteste zu unterbinden. Im Jemen bien wurden weiterhin Prozesse wegen sicher- wurde ein führender Journalist auf der Straße heitsrelevanter Anklagen unter Ausschluss der entführt und inhaftiert, und ein für Pressever- Öffentlichkeit und unter strengsten Sicher- gehen eingerichtetes Gericht ging gegen nicht heitsvorkehrungen geführt. In Ägypten mussten

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht regierungskonforme Herausgeber und Journa- politisch aktive Zivilpersonen und andere Ver-

52 Die Menschenrechtssituation im Überblick dächtige nach wie vor damit rechnen, auf An- gende Menschenrechtsverletzungen abzu- ordnung des Präsidenten vor ein Militär- oder wenden. Sondergericht gestellt zu werden. In Saudi-Arabien wurden mindestens 27 Ge- Der seit 30 Jahren andauernde Ausnahmezu- fangene exekutiert. Dies war im Vergleich zu stand in Ägypten wurde im Mai durch ein Par- den beiden Vorjahren eine deutlich geringere lament erneut verlängert. Auch die Regierun- Zahl und hoffentlich der Anfang einer langfris- gen in Algerien und Syrien hielten schon seit tigen positiven Entwicklung, für die es jedoch langem den Ausnahmezustand in ihren Län- keine Gewähr gibt. Zwar ließen kompromiss- dern aufrecht. Den Sicherheitskräften in den lose Regierungen in Ägypten, im Irak, in Libyen, drei Staaten wurden durch den Ausnahmezu- Syrien und im Jemen nach wie vor Todesur- stand außerordentliche Vollmachten zur Fest- teile vollstrecken, und die Hamas führte im Ga- nahme und Inhaftierung verliehen, die dazu zastreifen fünf Hinrichtungen durch, doch eingesetzt wurden, legitime politische Aktivitä- zeigte sich im Gegensatz dazu weltweit ein ten und die Inanspruchnahme von Menschen- deutlicher Trend zum Verzicht auf diese grau- rechten zu unterbinden. Einige Regierungen samste Form staatlicher Gewalt. Diese Entwick- hielten an der Todesstrafe fest und machten lung ist auch in den Ländern des Maghreb, in von dieser sowie anderen grausamen Bestra- Jordanien und Libanon sichtbar, in denen die fungen wie Zwangsamputationen und Prügel- Hinrichtungsmoratorien beibehalten wurden. strafen umfassenden Gebrauch. Angesichts der beiderseitigen Antipathie war es eine Ironie, Wirtschaftliche Probleme – dass die politischen Machthaber und Regie- Wohnen und Lebensgrundlage rungen der beiden Golf-Supermächte Iran und Die 1,5 Mio. Palästinenser, die im extrem dicht Saudi-Arabien sich in ihrem Festhalten an der besiedelten Gazastreifen leben, mussten ein Todesstrafe und anderen grausamen Bestra- weiteres Jahr extrem harte Bedingungen unter fungen so einig waren. Die Anwendung der To- einer israelischen Militärblockade ertragen. desstrafe wurde in beiden Staaten mit der Die Blockade stellte eine kollektive Bestrafung – Scharia, dem islamischen Recht, gerechtfer- und damit einen Verstoß gegen internationales tigt, aber auf eine Art und Weise eingesetzt, die Recht – dar, war die palästinensische Bevölke- häufig auf eher zynische und politische Moti- rung doch effektiv in der winzigen, vom Krieg vation schließen ließ. Dies galt vor allem für den verwüsteten Enklave eingesperrt. Zweimal gab Iran, wo die Behörden mehr Hinrichtungen Israel eine Lockerung der Blockade bekannt, vollstrecken ließen als in jedem anderen Land die jedoch kaum Erleichterungen brachte. Etwa außer China, und dies mit der offensichtlichen 80% der im Gazastreifen lebenden Menschen Absicht, Schrecken in der Bevölkerung zu ver- waren nach wie vor auf internationale humani- breiten. Etwa 470 Hinrichtungen wurden aus täre Hilfe und Nahrungsmittellieferungen an- dem Iran gemeldet, doch könnte die tatsächli- gewiesen, um zu überleben. che Zahl höher sein. Die internationale Empö- In anderen Teilen der Region nahm die Armut rung gegen die geplante Steinigung von Saki- durch die Folgen der weltweiten Rezession in neh Mohammadi Ashtiani war allerdings so zahlreichen Bevölkerungsgruppen drastisch groß, dass sie zum Ende 2010 noch am Leben zu. Weiter verschärft wurde diese Entwicklung war. Da verschiedene iranische Behörden je- durch das Fehlen einer Infrastruktur und ande- doch mit allen möglichen Mitteln versuchten, rer Entwicklungsmaßnahmen, durch die Kor- ihre Hinrichtung zu rechtfertigen, war ihre Zu- ruption unter Beamten und schlichte Misswirt- kunft ungewiss. Die Wut und Empörung, die ihr schaft. Dies äußerte sich in einer hohen Ar- Fall im Inland wie im Ausland hervorgerufen beitslosigkeit, vor allem unter jungen Men- hatte, waren deutliche Zeichen für den Einfluss, schen, was das Gefühl der Ausgrenzung ver- den die internationale öffentliche Meinung ha- stärkte und den Ruf nach Veränderungen laut ben kann, wenn es darum geht, schwerwie- werden ließ – den treibenden Kräften des tu-

Naher Osten und Nordafrika 53 nesischen Aufstands im Dezember. Nur allzu Viel zu häufig entgingen Männer, die die »Ehre« häufig waren es jene, die an den Rand der Ge- als mildernden Tatbestand anführten, jegli- sellschaft gedrängt wurden, die die volle Härte cher oder einer angemessenen Bestrafung für polizeilicher Gewalt oder offizieller Gleichgül- Gewalttaten, die sie gegen weibliche Familien- tigkeit zu spüren bekamen. angehörige begangen hatten. In Ägypten organisierten Arbeiter und andere Zwar waren nahezu alle Frauen dem Risiko auch weiterhin Demonstrationen, um gegen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, die steigenden Lebenshaltungskosten zu pro- doch war das Risiko für als Hausangestellte tä- testieren und bessere Löhne und Arbeitsbe- tige Migrantinnen besonders hoch. Die meis- dingungen zu fordern. Von den Millionen Men- ten dieser Frauen stammten aus armen Staaten schen des Landes, die in den sich ausbreiten- und Entwicklungsländern in Asien und Afrika den informellen Siedlungen (Slums) lebten, sa- und arbeiteten in den Golfstaaten sowie in Jor- hen sich Tausende in Kairo der Gefahr einer danien und im Libanon. Sie waren meist voll- rechtswidrigen Zwangsräumung ausgesetzt, kommen von den lokal geltenden arbeitsrecht- weil sie auf einem als »nicht sicher« deklarier- lichen Bestimmungen ausgeschlossen – so- tem Gelände lebten oder weil ihre »Baracken- fern es solche überhaupt gab – und als Auslän- siedlungen« für die Erschließung und Aufwer- derinnen, Migrantinnen und Frauen in dreifa- tung vorgesehen waren. Nur allzu häufig wur- cher Hinsicht gefährdet, was die Ausbeutung den die Betroffenen vorher nicht entspre- und den Missbrauch durch ihre Arbeitgeber chend konsultiert oder an offiziellen Entschei- anbetraf, auch durch sexuelle und andere For- dungen über ihre Umsiedlung beteiligt, und men von Gewalt. Zwei der erschütterndsten einige blieben obdachlos zurück. Diesen Men- Fälle, die 2010 ans Licht kamen, betrafen schen wurde von eben den Behörden, die da- Frauen, die als Hausangestellte in Saudi-Ara- für verantwortlich sind, ihre Menschenrechte bien beschäftigt waren: Eine aus Sri-Lanka 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen zu gewährleisten und zu respektieren, das Ge- stammende Frau berichtete, ihr Arbeitgeber fühl vermittelt, keinerlei Rechte zu haben. habe ihr über 20 Nägel in Hände, Bein und Kopf getrieben, nachdem sie sich über zu viel 000835 Diskriminierung Arbeit beklagt hatte; eine andere Frau aus Indo- 2010 gab es nur wenig Fortschritte hinsichtlich nesien wurde mit einer Schere im Gesicht ge- des Status von Frauen und Mädchen, die in schnitten, mit einem heißen Eisen verbrannt der gesamten Region nach wie vor Diskriminie- und so heftig geschlagen, dass sie in ein Kran- rung und Gewalt ausgesetzt waren, auch in kenhaus gebracht werden musste. der eigenen Familie. Männer blieben nach Fa- Migranten aus afrikanischen Ländern südlich milien- und Personenstandsrecht in Angele- der Sahara, die in Nordafrika auf der Suche genheiten wie Heirat, Scheidung, Sorgerechts- nach Arbeit waren oder versuchten, auf diesem und Erbschaftsfragen übergeordnet, während Wege in europäische Staaten zu gelangen, wa- Frauen strafrechtlich weiterhin ein untergeord- ren summarischen Festnahmen und Inhaftie- neter Status zugesprochen wurde. Darüber hi- rungen oder Abschiebungen ausgesetzt. Zu naus wurden Mädchen vor allem in eher tradi- den gefährdeten Personen gehörten Flüchtlinge tionell geprägten Gegenden jung verheiratet und Asylsuchende. In Ägypten schossen und Opfer von Zwangsheirat. Frauen, die gegen Grenzposten auch weiterhin auf Migranten, die die strengen Kleidungsvorschriften verstießen versuchten, über die Landesgrenze nach Is- oder von denen männliche Verwandte glaub- rael zu gelangen. Mindestens 30 Menschen ka- ten, dass sie ihren besonderen Vorstellungen men auf diese Weise ums Leben. In Libyen von »Familienehre« nicht entsprachen, riskier- wurden tausende Personen unter dem Ver- ten brutale Vergeltungsakte oder sogar die dacht, keinen regulären Aufenthaltsstatus zu Ermordung durch ihre Väter, Brüder, Ehe- besitzen – darunter auch Flüchtlinge und Asyl-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht männer oder andere männliche Verwandte. suchende – in vollkommen überfüllten und hy-

54 Die Menschenrechtssituation im Überblick gienisch bedenklichen Auffanglagern festgehal- Lebanon – STL), das unter der Federführung ten, wo sie ständigen Übergriffen ausgesetzt der UN nach der Ermordung des libanesi- waren, manchmal sogar in Form von Folter. schen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri 2005 Angehörige ethnischer und religiöser Minder- eingerichtet worden war, für ein politisches heiten waren ebenfalls Diskriminierung ausge- Gewitter, das den Fortbestand der Koalitionsre- setzt, so im Iran, oder das Ziel von Anschlägen gierung unter der Führung des Sohnes des bewaffneter Gruppen, wie im Irak. In Ägypten verstorbenen Ministerpräsidenten gefährdete. wurden koptische Christen angegriffen. Im Li- Die Spannungen nahmen zu, nachdem es Be- banon wurde palästinensischen Flüchtlingen richte gab, denen zufolge das STL die Absicht nach wie vor die Ausübung verschiedener Be- hatte, mehrere Mitglieder der Hisbollah, der rufe sowie der Zugang zu anderen grundle- stärksten politischen Kraft im Libanon und Part- genden Rechten verwehrt. In Syrien sahen sich ner der Koalitionsregierung, anzuklagen. Dies Kurden andauernder Diskriminierung ausge- führte dazu, dass die Hisbollah dem STL vor- setzt und wurden in der Ausübung ihrer Spra- warf, politische Zwecke zu verfolgen. Ende che und Traditionen eingeschränkt. Das Le- 2010 war die Faktenlage noch immer nicht ge- ben in der Region war schwer, und besonders klärt, doch ließ sich der Eindruck nicht vermei- schwer für Migranten, Flüchtlinge und Ange- den, dass das STL von Anfang an eine Übung in hörige von Minderheiten. selektiver Justiz gewesen war. Mandat und Zu- ständigkeitsbereich des STL waren beschränkt Aufarbeitung der Vergangenheit und deckten nur die Ermordung Hariris sowie Der langjährige Prozess für Wahrheit und Ver- einige damit in Zusammenhang stehende An- söhnung in Marokko und der Westsahara, der schläge ab. Keine der bisherigen libanesi- 2004 mit einigem Aufsehen gestartet worden schen Regierungen hat ernsthafte Schritte ein- war, blieb wegen der nach wie vor kaum fest- geleitet, um die Tausende von Fällen von »Ver- stellbaren Fortschritte enttäuschend. Von An- schwindenlassen«, Entführungen, Tötungen fang an waren bei diesem Prozess explizit alle und anderen Menschenrechtsverletzungen zu Überlegungen ausgespart worden, die schwe- untersuchen, die während des erbitterten ren Menschenrechtsverletzungen, die zwi- 15-jährigen Bürgerkriegs begangen wurden, schen 1956 und 1999 von staatlichen Kräften der 1990 zu Ende ging. Ebenso wenig wurde für begangen wurden, mit Hilfe der Justiz zu ahn- einen angemessenen Schutz von Massengrä- den. In der Praxis gelang es bei der bisherigen bern gesorgt, trotz der Bitten der immer älter Aufarbeitung nicht einmal, festzustellen, was werdenden Angehörigen der Tausenden von mit denen geschehen war, die Opfer des »Ver- Vermissten. Eine Aufarbeitung dieses Ver- schwindenlassens« oder anderer schwerer mächtnisses aus der dunkelsten Periode der Menschenrechtsverstöße geworden waren. Zu- jüngeren Geschichte des Libanons steht noch dem machten die marokkanischen Behörden aus. Um daran zu erinnern, versammelt sich keine Anstalten, weitreichende rechtliche und jeden Tag eine Gruppe Libanesen still in einem institutionelle Reformen umzusetzen. Diese Beiruter Park, in den Händen kostbare, aber hätten sich aus der Aufarbeitung ergeben und langsam vergilbende Fotos ihrer seit langem darauf abzielen sollen, die Sicherheitskräfte vermissten, aber nicht vergessenen geliebten mit Hilfe der Justiz zur Verantwortung zu ziehen Menschen. Sie wollen wissen, was aus ihnen und den Einsatz geheimer Haft und Folter wurde und wo sich ihre sterblichen Überreste gänzlich zu unterbinden. Das Versäumnis befinden. Ein Anblick, der ans Herz geht. Trau- wurde noch deutlicher, als 2010 neue Berichte rigerweise gab es auch nach 20 Jahren noch über die Folter von Strafverdächtigen durch keine entsprechende Forderung des UN-Si- Marokkos Geheimpolizei auftauchten. cherheitsrats oder nennenswerten internatio- Unterdessen sorgte die Arbeit des Sondertri- nalen Druck, um ihnen die Antwort zu geben, bunals für den Libanon (Special Tribunal for die ihnen zusteht.

Naher Osten und Nordafrika 55 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen 000835 S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

56 Die Menschenrechtssituation im Überblick Länderberichte

57 Aus Gründen der Kürze und Lesbarkeit verwenden wir im Amnesty International Report immer dann männliche Formen, wenn wir nicht sicher wissen, dass es sich um Frauen handelt. Wir möchten jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich bei Opfern, Tätern, Anwälten, Ärzten, Gefängnispersonal etc. um Männer oder Frauen handeln kann. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen 000835

QUELLEN Einwohner: UN Fund for Population Activities’ Democratic, Social and Economic Indicators (die Daten beziehen sich auf das Jahr 2010) Lebenserwartung: UN Development Programm’s Human Development Index (die Angaben zur Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt beziehen sich auf das Jahr 2010) Kindersterblichkeit (unter 5 Jahren): UN Fund for Population Activities’ Democratic, Social and Economic Indicators (die Schätzungen beziehen sich auf den Zeitraum 2005 – 10) Alphabetisierungsrate: UN Development Programm’s Human Development Index

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht (die Daten zur Alphabetisierungsrate beziehen sich auf den Zeitraum 2005 – 08)

58 tionalen Strafgerichtshof auf, Ermittlun- Afghanistan gen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuneh- Amtliche Bezeichnung: men. Die internationale Gemeinschaft Islamische Republik Afghanistan diskutierte vermehrt darüber, ihre mili- Regierungschef: Hamid Karzai tärische Präsenz in Afghanistan zu been- Todesstrafe: nicht abgeschafft den. In der afghanischen Bevölkerung Einwohner: 29,1 Mio. wurde zunehmend bezweifelt, dass es Lebenserwartung: 44,6 Jahre der Regierung und den internationalen Kindersterblichkeit (m/w): 233/ 238 pro 1000 Sicherheitskräften gelingen würde, die Lebendgeburten Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten und grundlegende Versorgungsleistun- Bewaffnete Auseinandersetzungen und gen sicherzustellen. In den meisten damit verbundene Menschenrechtsver- ländlichen Gebieten hatten die Men- letzungen nahmen im gesamten Land zu, schen nach wie vor praktisch keinen Zu- auch in den bislang als relativ sicher gang zu Gesundheitsversorgung, Bil- geltenden Gebieten im Norden und Wes- dungseinrichtungen und humanitären ten. Nach Angaben der beratenden Or- Hilfsleistungen. Dies betraf vor allem die ganisation Afghanistan NGO Security Regionen im Süden und Südosten des Office (ANSO) wurden 2010 2428 Zivil- Landes, die am stärksten von dem be- personen im Zuge des Konflikts getötet; waffneten Konflikt betroffen waren. für die meisten Fälle wurden die Taliban und andere bewaffnete oppositionelle Hintergrund Gruppen verantwortlich gemacht. Die Im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen Zahl der Zivilpersonen, die von Taliban vom 18. September wurden annähernd 6000 ermordet oder hingerichtet wurden, weil Beschwerden registriert. Dazu zählten Vorwürfe sie angeblich die Regierung »unter- über Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug, stützt« oder für die internationalen Angriffe auf Kandidaten sowie Einschüchterun- Streitkräfte »spioniert« hatten, nahm gen und Angriffe vonseiten der Taliban gegen- deutlich zu. Die zunehmende Gewalt über Wählern, Wahlhelfern und Kandidaten. der Aufständischen führte dazu, dass Im Nachgang zur Internationalen Afghanis- Menschenrechtsverstöße weit verbreitet tan-Konferenz in London am 28. Januar 2010 waren. Vor dem Hintergrund des eskalie- und der Nationalen Ratsversammlung (»Frie- renden Konflikts und in Anbetracht der dens-Jirga«) in Kabul vom 2. bis 4. Juni rich- Tatsache, dass es in Afghanistan kein tete Präsident Hamid Karzai im September funktionierendes Justizsystem gab, for- einen aus 68 Mitgliedern bestehenden Frie- derte Amnesty International den Interna- densrat ein, der Friedensverhandlungen mit den aufständischen Gruppen aufnehmen soll. Zu den Mitgliedern des Friedensrats zählten auch Personen, denen Menschenrechtsverlet- zungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Für das Gremium wurden nur zehn Frauen nominiert, obwohl auf nationaler wie in- ternationaler Ebene nachdrücklich gefordert worden war, dass Frauen in allen Verhand- lungsgremien und Diskussionsrunden ange- messen vertreten sein müssten. Zivilgesellschaftliche Gruppen, insbesondere

Afghanistan 59 Frauenorganisationen, Kriegsopfer und Perso- Selbstmordanschläge nen, die unter den Taliban gelitten hatten, for-  Am 18. Januar 2010 attackierten Selbstmor- derten die Regierung auf, sie solle sicherstel- dattentäter und bewaffnete Kämpfer der Tali- len, dass der Schutz und die Förderung der ban das Regierungsviertel in der Kabuler Innen- Menschenrechte nicht geopfert würden, um stadt. Neben wichtigen Regierungsgebäuden die Verhandlungen mit den Taliban und ande- griffen sie das Hotel Serena, ein Einkaufszen- ren aufständischen Gruppen zu erleichtern. trum und ein Kino an. Dabei wurden sieben Im Januar 2010 wurde das bereits im März Menschen getötet, darunter ein Kind, und min- 2007 vom Parlament verabschiedete Gesetz destens 35 Zivilpersonen verletzt. zur Stabilität und Versöhnung offiziell verkün-  Am 26. Februar 2010 griffen vier Selbstmord- det. Dem Gesetz zufolge genießen Personen, attentäter ein Hotel im Zentrum von Kabul an. die in den vergangenen 30 Jahren schwerwie- Bei dem Anschlag wurden mindestens 16 Men- gende Menschenrechtsverletzungen und schen getötet, zum Großteil medizinisches Kriegsverbrechen begangen haben, Immunität Personal aus dem Ausland, mehr als 50 Perso- vor strafrechtlicher Verfolgung. nen wurden verletzt. Zu dem Anschlag be- 9 Mio. Afghanen, d. h. mehr als ein Drittel der kannten sich die Taliban, die afghanische Re- Bevölkerung, lebten von weniger als 25 US- gierung machte jedoch die bewaffnete Gruppe Dollar im Monat, die notwendig waren, um die Lashkar-e-Taiba aus Pakistan für das Attentat Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nach Anga- verantwortlich. ben von UNICEF war die Müttersterblichkeit mit  Am 3. Mai 2010 griff ein Selbstmordkom- 1800 Todesfällen pro 100000 Lebendgeburten mando der Taliban Regierungsgebäude in der weiterhin die zweithöchste weltweit. Schätzun- Provinz Nimroz an. Dem Anschlag fielen 13 gen zufolge sterben pro Jahr mehr als 500000 Menschen zum Opfer, darunter die Provinz- Frauen bei oder unmittelbar nach einer Geburt. ratsabgeordnete Gul Makai Osmani. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Am 9. Juni 2010 verübte ein Selbstmordat- Menschenrechtsverstöße bewaffneter tentäter in der Provinz Kandahar im Süden des Landes einen Anschlag auf eine Hochzeitsfeier.

000835 Gruppen Die Taliban und andere bewaffnete Gruppen – Dabei wurden mindestens 40 Menschen getö- regierungsfeindliche, aber auch solche, die tet und mehr als 70 verletzt. Unter den Todes- angeblich die Regierung unterstützten – begin- opfern waren auch 14 Kinder. gen 2010 Menschenrechtsverstöße und schwerwiegende Verletzungen des humanitä- Entführungen ren Völkerrechts, indem sie gezielt Zivilperso-  Am 26. September 2010 entführten Taliban in nen ins Visier nahmen, sie entführten, wahllos der ostafghanischen Provinz Kunar die schot- angriffen und rechtswidrig töteten. Nach An- tische Entwicklungshelferin Linda Norgrove gaben von ANSO waren die Taliban und andere und ihre drei afghanischen Kollegen. Die drei bewaffnete oppositionelle Gruppen 2010 für afghanischen Mitarbeiter wurden am 3. Oktober 2027 Todesopfer verantwortlich, über ein Viertel freigelassen, Linda Norgrove wurde bei einem mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Zivilperso- fehlgeschlagenen Befreiungsversuch der US- nen, die von bewaffneten Gruppen ermordet Streitkräfte offenbar durch eine US-Granate und hingerichtet wurden, verdoppelte sich na- getötet. hezu. Unter den Opfern waren auch Kinder, die öffentlich hingerichtet wurden. Man warf den Widerrechtliche Tötungen Opfern vor, sie hätten die Regierung »unter-  Am 8. Juni 2010 erhängten Taliban in der stützt« oder für die internationalen Streitkräfte südlichen Provinz Helmand einen siebenjähri- »spioniert«. gen Jungen, weil er angeblich für die britischen Streitkräfte spioniert hatte.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht  Am 5. August 2010 wurden in der südlichen

60 Afghanistan Provinz Badakhshan zehn Mitglieder der Hilfs- Suche nach Taliban-Kämpfern in der Provinz organisation International Assistance Mission Nangahar. bei ihrer Rückkehr von einem medizinischen  Am 11. August 2010 wurden in der Provinz Einsatz getötet. Sowohl die Taliban als auch Mit- Wardak drei Brüder bei einem gemeinsamen glieder der bewaffneten Gruppe Hezb-e Islami nächtlichen Angriff von NATO- und US-Streit- bekannten sich zu dem Angriff und warfen den kräften getötet. Der Vorfall führte zu Protesten Opfern vor, missionarisch tätig gewesen zu gegen die US-Streitkräfte in der Gegend. Anga- sein. ben der Dorfbewohner zufolge waren die drei Brüder keine Aufständischen, sondern Zivil- Menschenrechtsverletzungen personen. afghanischer und internationaler Weder die afghanische Justiz noch die Regie- Streitkräfte rungen der Staaten, die ISAF-Kontingente Nach Angaben von ANSO wurden im Berichts- stellten, zeigten sich willens oder in der Lage, jahr 401 Zivilpersonen von afghanischen und die Verantwortlichkeiten zu klären und den internationalen Streitkräften getötet – 14% we- Opfern eine Entschädigung zukommen zu las- niger als 2009. Luftangriffe hatten nach wie sen. vor die schlimmsten Auswirkungen: Sie waren für 53% der zivilen Todesopfer verantwortlich, Recht auf freie Meinungsäußerung die den internationalen und afghanischen Trup- Auch 2010 waren afghanische Journalisten, die pen zugeschrieben wurden. 37% der Todes- sich kritisch äußerten, von Schikanen, Gewalt fälle ereigneten sich bei Einsätzen der Boden- und Zensur bedroht. Die Behörden, insbeson- truppen, einschließlich nächtlicher Angriffe. dere der Geheimdienst NDS (National Directo- Die Internationale Schutztruppe in Afghanis- rate of Security) nahmen Journalisten willkür- tan (International Security Assistance Force – lich in Haft. Die Generalstaatsanwaltschaft ISAF) gab im März und im August 2010 takti- schloss ohne rechtliche Grundlage Radiosen- sche Leitlinien heraus, um die Auswirkungen der und zensierte andere Medien. Als Begrün- der Kämpfe auf die Zivilbevölkerung zu vermin- dung wurde zumeist der vage und unklar defi- dern. Die Richtlinien vom März enthielten Re- nierte Vorwurf anti-islamischer Berichterstat- gelungen für nächtliche Razzien, die vom Au- tung angeführt. gust bezogen sich auf Luftangriffe und den Die Taliban und andere regierungsfeindliche wahllosen Beschuss bewohnter Gebiete. Kräfte nahmen weiterhin Journalisten ins Vi- Gleichwohl nahmen die nächtlichen Razzien sier und verhinderten nahezu jegliche Bericht- 2010 zu, vor allem in den östlichen und südli- erstattung aus Gebieten, die unter ihrer Kon- chen Landesteilen. Dabei kamen häufig Zivil- trolle standen. personen ums Leben.  Am 5. September 2010 wurde der Fernseh-  Am 21. Februar 2010 wurden im Grenzgebiet journalist und stellvertretende Vorsitzende der zwischen den beiden Provinzen Dai Kundi und afghanischen Journalistengewerkschaft (Af- Uruzgan 27 Zivilpersonen getötet und zwölf ver- ghanistan National Journalists Union), Sayed letzt, als die Besatzung zweier US-Militärhub- Hamed Noori, in Kabul ermordet. schrauber das Feuer auf mehrere zivile Fahr-  Am 18. September 2010, dem Tag der Parla- zeuge eröffnete, in denen fälschlicherweise mentswahl, wurde der Leiter des Radiosen- Aufständische vermutet wurden. ders Kapisa FM, Hojatullah Mujadadi, in einem  Am 23. Juli 2010 wurden bei einem NATO- Wahllokal in der Provinz Kapisa von Angehöri- Luftangriff in der Provinz Helmand 45 Zivilper- gen des NDS festgenommen. Seinen Angaben sonen getötet, darunter auch Kinder. zufolge wurde er sowohl vom Provinzgouver-  Am 4. August 2010 starben mehr als zwölf neur als auch von NDS-Mitarbeitern wegen sei- afghanische Zivilpersonen bei einer nächt- ner unabhängigen Berichterstattung über die lichen Razzia der US-Streitkräfte auf der Situation in der Provinz bedroht.

Afghanistan 61  Ende März 2010 wurde Kosuke Tsuneoka, ein  Am 9. August 2010 erschossen Taliban in der freiberuflich tätiger Journalist aus Japan, bei Provinz Badghis eine Frau, nachdem sie sie Recherchen in einer von den Taliban kontrol- zur Abtreibung gezwungen hatten weil sie Ehe- lierten Region im Norden des Landes entführt. bruch begangen haben soll. Am 7. September brachten ihn seine Entführer  Am 16. August 2010 wurde im Bezirk Imam in die japanische Botschaft. Er erklärte nach Sahib in der Provinz Kunduz ein Liebespaar seiner Freilassung, bei den Entführern habe es von Taliban zu Tode gesteinigt, weil es angeb- sich nicht um Taliban-Kämpfer gehandelt, lich durchgebrannt war und Ehebruch began- sondern um »eine korrupte bewaffnete Splitter- gen hatte. gruppe« mit Verbindungen zur afghanischen Afghanische Frauen und Politikerinnen, da- Regierung. runter auch Kandidatinnen für die Parla- mentswahlen, wurden zunehmend von den Ta- Religionsfreiheit liban und anderen bewaffneten Gruppen atta- Personen, die zu einer anderen Religion kon- ckiert. vertierten, wurden von der afghanischen Jus-  Im März 2010 wurde die Parlamentsabgeord- tiz verfolgt. Drei Afghanen, die zum Christen- nete Fawzia Kofi auf einer Reise von Jalalabad tum übergetreten waren, wurden vom NDS in- nach Kabul durch Schüsse Unbekannter ver- haftiert. NGOs mit religiösem Hintergrund letzt. mussten ihre Arbeit vorübergehend einstellen,  Im April 2010 wurde die Provinzratsabgeord- weil man ihnen vorwarf, sie würden missionie- nete Nadia Kayyani in Pul-e-Khumri, der ren. Hauptstadt der nordafghanischen Provinz  Im Oktober 2010 wurde Shoib Asadullah in- Baghlan, aus einem vorbeifahrenden Fahr- haftiert, weil er vom Islam zum Christentum zeug angeschossen und in kritischem Zustand übergetreten war. Ein Gericht erster Instanz in liegengelassen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Mazar-e-Sharif, einer Stadt im Norden des  In der Provinz Helmand wurden zwei afgha- Landes, drohte, ihn wegen »Apostasie« (Abfall nische Entwicklungshelferinnen erschossen, vom Glauben) hinrichten zu lassen, sollte er die aus dem Bezirk Garmsir zurückkamen, wo 000835 seinen Schritt nicht widerrufen. sie ein Projekt zur wirtschaftlichen Förderung von Frauen initiiert hatten. Die beiden wurden Gewalt gegen Frauen und Mädchen von einer Gruppe bewaffneter Männer ge- Frauen und Mädchen litten nach wie vor unter zwungen, aus dem Auto auszusteigen. Am Gewalt und Diskriminierung, die im ganzen nächsten Tag fand man ihre Leichen in der Land alltäglich waren und sowohl das häusliche Nähe des Ortes Garmsir, dem Zentrum des Be- Umfeld als auch den öffentlichen Raum betra- zirks. fen. Die Unabhängige Afghanische Menschen- rechtskommission (Afghanistan Independent Flüchtlinge und Binnenvertriebene Human Rights Commission) dokumentierte Nach Angaben des UN-Hochkommissars für 1891 Fälle von Gewalt gegen Frauen, die tat- Flüchtlinge (UNHCR) wurden 2010 mindes- sächliche Anzahl könnte jedoch höher liegen. tens 102658 Afghanen durch den bewaffneten  Im März 2010 wurde die 18-jährige Bibi Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu ver- Aysha in der südafghanischen Provinz Uruz- lassen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge stieg da- gan von ihrem Ehemann verstümmelt. Er mit auf 351907 an. schnitt ihr, offenbar auf Weisung eines Tali-  Zwischen Februar und Mai mussten nach ban-Kommandanten, der als »Richter« fun- einer militärischen Großoffensive der NATO im gierte, Nase und Ohren ab. Die Strafe wurde Distrikt Marjah in der Provinz Helmand etwa verhängt, weil die Frau vor Misshandlungen 26000 Menschen ihre Heimatorte verlassen. durch ihren Ehemann und dessen Familie ge-  Im September wurden, ebenfalls durch eine

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht flohen war. NATO-Offensive, mehr als 7000 Menschen aus

62 Afghanistan den Bezirken Zhari und Arghandab in der Pro- Todesstrafe vinz Kandahar vertrieben. Die Flüchtlinge er- 2010 wurden mindestens 100 Menschen zum hielten von keiner Seite angemessene humani- Tode verurteilt. Der Oberste Gerichtshof bestä- täre Hilfe. tigte diese Urteile. Die Entscheidung des Präsi- Laut UNHCR lebten 2,3 Mio. Afghanen nach denten über ihre Gnadengesuche stand noch wie vor als Flüchtlinge im Ausland, die meisten aus. Am 24. Oktober 2010 ordnete Präsident von ihnen in den Nachbarländern Iran und Pa- Karzai eine richterliche Überprüfung aller kistan. Wegen der kritischen Sicherheitslage Fälle an, in denen die Todesstrafe verhängt wor- und der mangelhaften Infrastruktur sowie feh- den war. lender Beschäftigungsmöglichkeiten und der schlechten Versorgungssituation vor allem im Amnesty International: Missionen und Berichte Bildungs- und Gesundheitsbereich wagten  Delegierte von Amnesty International besuchten Afghanistan 2010 nur wenige Menschen die Rückkehr in die im Februar und Juli.  Heimat. Die meisten Binnenflüchtlinge lebten Afghanistan: Human rights must be guaranteed during re- conciliation talks with the Taleban (ASA 11/003/2010) in informellen Siedlungen am Stadtrand ohne  Open letter to delegates of the International Conference on grundlegende Versorgungseinrichtungen und Afghanistan, Kabul, 20 July 2010 (ASA 11/009/2010) waren ständig von erneuter Vertreibung be-  Afghan civilians at risk during NATO offensive against Tale- droht. ban, 17 February 2010  Afghan women human rights defenders tell of intimidation Justiz und Sicherheitskräfte and attacks, 8 March 2010 Auch 2010 stand das offizielle Justizsystem nur  Afghanistan leak exposes NATO’s incoherent civilian casualty den wenigsten Bürgern offen. Weil sie Korrup- policy, 25 July 2010 tion, Ineffizienz und hohe Kosten befürchteten, griffen viele Menschen auf traditionelle Metho- den der Streitschlichtung zurück. Andere wandten sich auf der Suche nach »Gerechtig- keit« an die Taliban-Justiz, die ohne die grund- legendsten Garantien für ein rechtmäßiges Verfahren und Rechtsstaatlichkeit ausgeübt Ägypten wurde, grausame Strafen verhängte und Frauen durchweg diskriminierte. Amtliche Bezeichnung: Die Regierung begann damit, die Zahl der Arabische Republik Ägypten Polizisten von 96800 auf 109000 aufzusto- Staatsoberhaupt: Muhammad Hosni Mubarak cken, und ergriff Maßnahmen, um die Arbeit Regierungschef: Ahmed Nazif der Polizei auf lokaler Ebene zu verbessern. Todesstrafe: nicht abgeschafft Dennoch waren Vorwürfe weit verbreitet, die af- Einwohner: 84,5 Mio. ghanische Polizei sei an illegalen Aktivitäten Lebenserwartung: 70,5 Jahre beteiligt, wie z. B. Schmuggel, Entführungen Kindersterblichkeit (m/w): 42 / 39 pro 1000 und Erpressungen an Kontrollpunkten. Lebendgeburten In Ermangelung eines funktionierenden Jus- Alphabetisierungsrate: 66,4% tizsystems, das die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Obwohl ein Präsidialerlass vom Mai die Menschlichkeit aller beteiligten Konfliktpar- Anwendung der Notstandsgesetze be- teien hätte zur Verantwortung ziehen können, grenzt hatte, nutzten die Behörden die drängte Amnesty International bei der afghani- Gesetze weiterhin, um friedliche Kriti- schen Regierung darauf, den Internationalen ker und Oppositionelle sowie Personen, Strafgerichtshof einzuschalten, um entspre- die angeblich die Sicherheit gefährdet chenden Vorwürfen nachzugehen. hatten, ins Visier zu nehmen und zu ver-

Ägypten 63 haften. Einige der festgenommenen anderenorts an erschwinglichem und an- Menschen wurden ohne Anklage oder gemessenem Wohnraum mangelte. Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft Mindestens 30 Menschen, meist Migran- gehalten, gegen andere ergingen nach ten aus afrikanischen Staaten, wurden unfairen Prozessen vor Militärgerichten bei dem Versuch, die Grenze zu Israel zu Freiheitsstrafen. Journalisten und andere überschreiten, von Grenzposten er- Kritiker der Regierung waren weiterhin schossen. Gerichte verhängten gegen unter der Anklage der Verleumdung straf- mindestens 185 Menschen die Todes- rechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Die strafe, mindestens vier Personen wurden Rechte auf freie Meinungsäußerung, Ver- hingerichtet. einigungs- und Versammlungsfreiheit blieben stark eingeschränkt. Folter und Hintergrund andere Misshandlungen waren auch Im Februar befasste sich der UN-Menschen- 2010 an der Tagesordnung und wurden rechtsrat im Rahmen der Universellen Regel- meist nicht geahndet. Meldungen spra- mäßigen Überprüfung (UPR) mit der Lage der chen von mehreren Todesfällen aufgrund Menschenrechte in Ägypten. Die Regierung von Folter oder Misshandlungen durch akzeptierte viele der ausgesprochenen Empfeh- die Polizei. Hunderte Verwaltungshäft- lungen, lehnte jedoch andere ab. Ihre Zustim- linge kamen frei, Tausende andere blie- mung zu einem Besuch des UN-Sonderbericht- ben trotz gerichtlich verfügter Freilas- erstatters über Folter in Ägypten vertagte sie sung weiterhin in Haft, unter ihnen auf einen späteren Zeitpunkt. auch Langzeitgefangene. Über die Zahl Im Mai 2010 wurde der Notstand, der seit der inhaftierten Personen machten die 1981 ununterbrochen in Kraft ist, erneut um Behörden keine Angaben. Tausende Be- zwei Jahre verlängert. Ein Präsidialerlass aus 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen wohner von Elendsvierteln in Kairo, Port demselben Monat schränkte jedoch gleichzei- Said und Assuan wurden zum Verlassen tig die Anwendung der Notstandsgesetze auf Fälle im Zusammenhang mit »Terrorismus« 000835 ihrer Häuser gezwungen. Sie hatten in »nicht sicheren Stadtvierteln« unter ge- und Drogenhandel ein. fährlichen Bedingungen gelebt, weil es Im Januar kam es zu mehreren Demonstratio- nen von Arbeitnehmern gegen die steigenden Lebenshaltungskosten sowie für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Das Urteil eines Verwaltungsgerichts zur Einführung von Mindestlöhnen, die an die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten angepasst sind, wurde von den Behörden nicht umgesetzt. Politische Aktivisten, darunter Mitglieder der verbotenen Muslimbruderschaft und anderer oppositioneller Gruppierungen wie die Natio- nale Vereinigung für den Wandel (National As- sociation for Change), die Bewegung 6. April (6 April Movement) und die Ägyptische Bewe- gung für Wandel (Egyptian Movement for Change – Kefaya), demonstrierten gegen den Notstand und gegen Übergriffe durch die Poli- zei. Viele von ihnen wurden festgenommen, geschlagen, in abgelegene Gegenden gebracht

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht und dort ohne Mobiltelefone, Geld und

64 Ägypten Schuhe zurückgelassen. Es wurden noch wei- an, geschlagen, ausgepeitscht und mit Elek- tere Personen verhaftet und unter der Anklage troschocks gequält worden zu sein. Die Behör- der Körperverletzung an Polizeibeamten vor Ge- den verdächtigten den Syrer, einer »terroristi- richt gestellt und zu Freiheitsstrafen verurteilt. schen Gruppierung« anzugehören. Am 19. Mai Aus den Wahlen zur Shura (Oberhaus des kam er ohne Anklage frei und wurde in den Je- Parlaments) im Juni und zur Nationalver- men ausgewiesen. sammlung im November und Dezember 2010  Im April 2010 verurteilte das unter den Not- ging die regierende Nationale Demokratische standsgesetzen tätige Oberste Staatssicher- Partei (National Democratic Party) mit großer heitsgericht 26 vermeintliche Mitglieder der so- Mehrheit als Siegerin hervor. Die Wahlen wa- genannten Hisbollah-Zelle zu Freiheitsstrafen ren überschattet von schweren Vorwürfen über von sechs Monaten bis hin zu lebenslanger Betrug, Stimmenmanipulation und Gewaltan- Haft. Die Angeklagten wurden schuldig ge- wendung mit mindestens acht Toten. Die füh- sprochen, Anschläge auf touristische Einrich- renden Oppositionsparteien zogen ihre Kandi- tungen geplant zu haben, im Besitz von daturen zur Wahl der Nationalversammlung Sprengstoff gewesen zu sein und Informationen nach dem ersten Hauptwahlgang im Novem- an die Hisbollah im Libanon weitergegeben zu ber offiziell zurück. haben. Gegen vier der Angeklagten wurde in Mindestens 1200 Anhänger und Kandidaten Abwesenheit verhandelt. Die 22 Personen, die der Muslimbruderschaft wurden in Haft ge- vor Gericht erschienen, waren nach ihrer Fest- nommen. Die Gruppierung hatte im Oktober nahme in den Jahren 2008 und 2009 auf An- angekündigt, viele ihrer Unterstützer als Kan- weisung des Innenministers monatelang in didaten für die Wahlen aufstellen zu wollen. einer unbekannten Haftanstalt ohne Kontakt Den amtlichen Ergebnissen zufolge wurde zur Außenwelt festgehalten worden. Die Urteile keine dieser Personen gewählt. Somit war die ergingen auf der Grundlage von »Geständnis- Muslimbruderschaft nicht mehr im Unterhaus sen«, welche die Angeklagten mit dem Hinweis des Parlaments vertreten, wo sie zuvor die widerrufen hatten, dass sie ihnen unter Folter größte Oppositionsfraktion gestellt hatte. abgenötigt worden seien. Das Gericht ordnete keine angemessene Untersuchung der Folter- Antiterrormaßnahmen und Sicherheit vorwürfe an. Die Behörden nutzten ihre Befugnisse im Rah- men des Notstands aus, um Menschen fest- Haft ohne Anklage oder zunehmen, die sie sicherheitsrelevanter Strafta- Gerichtsverfahren – Verwaltungshaft ten verdächtigten. Die Gefangenen wurden oft Trotz des Präsidialerlasses vom Mai 2010, mit mehrere Wochen lang ohne Kontakt zur Außen- dem der Rückgriff auf die Notstandsgesetze welt in Haft gehalten. Viele von ihnen gaben eingeschränkt worden war, machten die Behör- an, von Angehörigen des Staatssicherheits- den nach wie vor Gebrauch von ihren erweiter- dienstes (State Security Investigations – SSI) ten Befugnissen. Sie inhaftierten Angehörige gefoltert oder anderweitig misshandelt worden der Opposition und setzten dem Recht auf zu sein, um »Geständnisse« zu erpressen, die freie Meinungsäußerung enge Grenzen. Die Be- sie später vor Gericht widerriefen. Weitere Per- hörden gaben die Freilassung von Hunderten sonen, gegen die der Verdacht bestand, die Si- von Verwaltungshäftlingen als Folge des Präsi- cherheit gefährdet zu haben, wurden abge- dialerlasses bekannt. Darunter sollen sich schoben. auch jene Gefangenen befunden haben, die im  Husam Radhwan al-Mar’i, ein Syrer mit Zusammenhang mit den Bombenanschlägen Wohnsitz im Jemen, war nach seiner Fest- im Jahr 2004 in Taba in Haft gesessen hatten. nahme auf dem Flughafen von Kairo im April Über die noch inhaftierten Personen stellten 2010 38Tage lang inhaftiert. Er wurde ohne die Behörden keine Informationen zur Verfü- Kontakt zur Außenwelt festgehalten und gab gung. Tausende Menschen blieben auch im

Ägypten 65 Jahr 2010 ohne Anklage oder Prozess in Haft, In einigen wenigen Fällen gingen die Behör- obwohl Gerichte ihre Freilassung angeordnet den strafrechtlich gegen Polizeibeamte vor, hatten. In derartigen Fällen erließ das Innen- denen Übergriffe angelastet worden waren. In ministerium neue Haftbefehle und untergrub der Regel handelte es sich dabei um Vorfälle, damit den Stellenwert gerichtlicher Kontrolle die zuvor ein breites öffentliches Echo gefun- und Aufsicht. den hatten. Die Angeklagten kamen meist mit  Mohammed Farouq El-Sayyed, ein schiiti- milden Strafen davon. scher Muslim, und sieben weitere Personen,  Der Arzt Taha Abdel Tawwab Mohamed gab die zusammen mit ihm festgenommen worden an, er sei am 7. März 2010 in Fayoum von An- waren, befanden sich ohne Anklage oder Ge- gehörigen des SSI nackt ausgezogen und ge- richtsverfahren im Damanhour-Gefängnis in schlagen worden. Er hatte zuvor öffentlich Verwaltungshaft, obwohl Gerichte ihre Freilas- seine Unterstützung für Mohamed el-Baradei, sung bereits mindestens sieben Mal angeord- den ehemaligen Leiter der Internationalen net hatten. Er und weitere elf Personen waren Atomenergiebehörde, kundgetan, den die Be- im April und Mai 2009 festgenommen worden. hörden als Regierungskritiker betrachten. Sie wurden verdächtigt, die Gründung einer Taha Abdel Tawwab Mohamed wurde am da- Organisation zur Verbreitung des schiitischen rauffolgenden Tag freigelassen. Sein Rechts- Islam geplant zu haben, die dem Islam und anwalt legte Beschwerde ein, die jedoch offen- der Gemeinschaft der sunnitischen Muslime bar nicht bearbeitet wurde. angeblich schaden sollte. Die Staatsanwalt- schaft entließ alle zwölf Angeklagten aus der Tod in Haft Haft. Sie wurden jedoch von Mitarbeitern des Mindestens vier Menschen starben Berichten Innenministeriums erneut festgenommen. Vier zufolge 2010 in der Haft an den Folgen von Personen kamen später wieder frei. Folter und anderen Misshandlungen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Khaled Said war am 6. Juni vor den Augen Folter und andere Misshandlungen von Zeugen in einem Internetcafé in Alexan- In den Polizeiwachen, Gefängnissen und Haft- dria von zwei Polizisten in Zivil tätlich angegrif- 000835 zentren des SSI kamen Folterungen und an- fen worden und daraufhin gestorben. Der Fall dere Misshandlungen von Strafgefangenen und löste öffentliche Empörung aus. Die beiden Be- Personen, die verdächtigt wurden, die Sicher- amten der Polizeiwache von Sidi Gaber wur- heit gefährdet zu haben, systematisch zur An- den wegen unrechtmäßiger Festnahme und wendung. Die meisten der dafür Verantwortli- wegen Folter angeklagt. Für den Tod von Kha- chen gingen straffrei aus. In einigen Fällen griff led Said wurden sie allerdings nicht direkt ver- die Polizei verdächtige Personen auf offener antwortlich gemacht. Ihr Gerichtsverfahren Straße an und zeigte sich unbeeindruckt von dauerte Ende 2010 noch an. An einigen Ver- möglichen Konsequenzen. Bei anderen Gele- handlungstagen waren Prozessbeobachter genheiten schüchterte die Polizei dem Verneh- von Amnesty International im Gerichtssaal an- men nach die Opfer mit Drohungen ein, um wesend. sie davon abzuhalten, Beschwerde gegen ihre  Im November beschuldigte die Familie des Behandlung einzulegen. Im April bewilligte 19-jährigen Ahmed Shaaban Beamte der Poli- das Innenministerium die Zahlung von insge- zeistation von Sidi Gaber, den jungen Mann zu samt 10 Mio. Ägyptischen Pfund (1,76 Mio. Tode gefoltert und anschließend seine Leiche US-Dollar) als Entschädigung für 840 Mitglieder in einen Kanal geworfen zu haben, um einen der islamistischen Gruppe Gamaa Islamiya, Selbstmord vorzutäuschen. Die Staatsanwalt- die Opfer von Folterungen geworden waren. Ge- schaft schloss die Akten wegen unzureichender gen die für Folterungen verantwortlichen Per- Beweise und aufgrund des Autopsieberichts, sonen sind jedoch augenscheinlich keine Maß- der bescheinigte, dass Ahmed Shaaban erstickt

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht nahmen ergriffen worden. war.

66 Ägypten Recht auf freie Meinungsäußerung Rechte auf Versammlungs- Die Behörden schränkten auch 2010 das Recht und Vereinigungsfreiheit auf freie Meinungsäußerung und die Arbeit Die Behörden behinderten weiterhin die Arbeit der Medien stark ein. Kritische politische Be- von politischen Parteien, NGOs, Berufsverbän- richte durften nicht erscheinen. Von den Par- den und Gewerkschaften mithilfe von gesetzli- lamentswahlen wurden Kandidaten ausge- chen Beschränkungen und anderen Kontroll- schlossen, weil sie Slogans benutzt hatten, maßnahmen. Manche Vereinigungen erhielten welche als religiös eingestuft worden waren. Re- keine offizielle Genehmigung. Die Muslimbru- gierungskritiker mussten mit strafrechtlicher derschaft blieb verboten, betätigte sich jedoch Verfolgung wegen Verleumdung rechnen. Un- in aller Öffentlichkeit weiter. Vor allem im Vor- abhängige Fernsehsender und -programme, feld der Wahlen unterbrach die Polizei Wahlver- die Kritik an den Behörden äußerten, wurden anstaltungen der Muslimbruderschaft und an- vorübergehend oder gänzlich abgeschaltet. derer Oppositionsparteien oder löste sie gewalt- Bücher und ausländische Zeitungen unterla- sam auf. Viele Mitglieder und Anhänger wur- gen der Zensur, wenn sie über Themen be- den festgenommen. richteten, die von den Behörden als politisch Die Behörden verweigerten der NGO One brisant oder als eine Gefahr für die nationale Homeland for Development and Freedom die Sicherheit angesehen wurden. Zulassung. Einige Hilfsorganisationen in Beni Im Oktober erteilte die Nationale Behörde zur Souef wurden beschuldigt, das restriktive Regulierung der Telekommunikation (National NGO-Gesetz unterlaufen zu haben. Sie sahen Telecommunications Regulatory Authority – sich gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. NTRA) allen Organisationen, die ihren Teilneh- Im März ließ die Regierung verlautbaren, dass mern Massennachrichten per SMS zukommen ein neuer Gesetzentwurf über NGOs das Ge- lassen, die Anweisung, eine Sendelizenz zu setz Nr. 84 aus dem Jahr 2002 ablösen werde. beantragen. Die Behörden betonten, dies sei Sollte der Entwurf in Kraft treten, wären wei- zur »besseren Regulierung« des Service not- tere Einschränkungen der Arbeit von NGOs die wendig. Die Aktion wurde jedoch von der brei- Folge. Sie sollen u. a. einer neuen Dachorgani- ten Öffentlichkeit dahingehend interpretiert, sation unterstellt werden, deren Mitglieder zum dass die Behörden die massenhafte Aussen- Teil vom Präsidenten ernannt werden. dung von Nachrichten durch Regierungskriti- ker im Vorfeld der Wahlen vom November ein- Diskriminierung von Frauen schränken wollten. Einen Tag vor den Wahlen und Mädchen erklärte ein Verwaltungsgericht die Anordnung Frauen waren weiterhin Diskriminierung, Ge- der NTRA für nichtig. walt und sexuellen Belästigungen ausgesetzt.  Gegen Hamdi Kandil, Sprecher der Gruppie- In den Armenvierteln wurden Frauen zudem rung Nationale Vereinigung für den Wandel, bei Umsiedlungen nach Zwangsräumungen die sich für Reformen der Verfassung und poli- diskriminiert. Wenn ihr Ehemann nicht zugegen tische Reformen einsetzt, wurde im Mai 2010 war, forderten die örtlichen Behörden von den Anklage wegen strafbarer Verleumdung erho- Frauen den Nachweis ihres Ehestands. An- ben. Er hatte in einem Artikel in der Tageszei- dernfalls waren sie von Obdachlosigkeit be- tung Al-Chorouk den Außenminister kritisiert. droht. Sein Fall wurde an den Strafgerichtshof in Gise Im Februar drängte der UN-Ausschuss zur verwiesen. Die Anklage lautete auf Beleidigung Beseitigung jeder Form von Diskriminierung und Verleumdung eines Staatsbeamten. Der der Frau (CEDAW-Ausschuss) in seinen Ab- Prozess begann im November. schlussbemerkungen die ägyptische Regie- rung, ihre Vorbehalte bezüglich der Artikel 2 und 16 der UN-Frauenrechtskonvention auf- zugeben, Frauen diskriminierende Gesetze zu

Ägypten 67 überprüfen und zu reformieren, das Be- Das Gouvernement Kairo teilte den Familien schwerdesystem zu stärken und allen Frauen mehr als 5000 Wohneinheiten zu, die sich je- effektiven Zugang zum Justizwesen zu ermög- doch zumeist weit entfernt von ihren Unter- lichen. Der Ausschuss forderte die Regierung haltsquellen und bezahlbaren Grundversor- zudem auf, in einem umfangreichen Geset- gungseinrichtungen befanden. Die Zwangs- zeswerk jegliche Form von Gewalt gegen räumungen wurden ohne vorherige Ankündi- Frauen unter Strafe zu stellen, beispielsweise gung und ohne Absprache mit den betroffe- häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe nen Gemeinden durchgeführt. Die Bewohner und Verbrechen, die im Namen der »Familien- erhielten zuvor keine schriftliche Benachrich- ehre« begangen werden. Die Regierung ließ tigung, obwohl die Grundstücke, auf denen sie Maßnahmen zur Umsetzung dieser Empfeh- siedelten, schon Monate vorher als »nicht si- lungen vermissen. cher« eingestuft worden waren. Viele Familien wussten nicht, ob man vorhatte, ihnen Ersatz- Recht auf Wohnen – wohnraum zur Verfügung zu stellen. Rechts- Zwangsräumungen widrige Zwangsräumungen fanden auch in Das Gerichtsverfahren gegen Beamte im Zu- den informellen Siedlungen Establ Antar und sammenhang mit dem Erdrutsch in al-Duway- Ezbet Khayrallah der Kairoer Altstadt statt. qah, einer informellen Siedlung in Kairo, ging Viele Familien wurden obdachlos. im September 2010 zu Ende. Der stellvertre- Die Behörden arbeiteten weiterhin an der tende Gouverneur von Kairo wurde freigespro- Umsetzung eines Entwicklungsplans der Re- chen. Sechs weitere Beamte erhielten eine gierung für einige der 404 als »nicht sicher« einjährige Haftstrafe wegen Fahrlässigkeit. Bei eingestuften Regionen mit schätzungsweise dem Erdrutsch waren mindestens 119 Men- 850000 Bewohnern. Diese wurden jedoch schen ums Leben gekommen, mehr als 50 hat- nicht ausreichend in die Planungen einbezo- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ten Verletzungen erlitten. gen. Offizielle Pläne, nach denen bis 2015 rund Die Bewohner vieler weiterer Gebiete, die offi- 33 »Hüttensiedlungen« im Großraum Kairo ziell als »nicht sicher« eingestuft werden, leb- geräumt werden sollen, umfassen auch die 000835 ten weiterhin unter hochgradig unzureichenden Stadtviertel Ezbet Abu Qarn, Ramlet Bulaq Bedingungen und waren von Bränden, Über- und Teile von Ezbet Khayrallah und Ezbet al- flutungen und anderen Gefahren bedroht. Haggana. Es ist zu erwarten, dass sich die Be-  Im Januar 2010 kamen bei einer Sturzflut wohner nur widerwillig in zwei weit entfernte mindestens sechs Menschen ums Leben. neue Städte umsiedeln lassen werden: in die Tausende von Bewohnern mussten ihre Häuser Stadt 6 October City im Südwesten von Gise auf der Sinai-Halbinsel und in Assuan verlas- und nach 15 May City südlich von Kairo. sen, darunter auch solche in »nicht sicheren« Stadtvierteln. Die Behörden stellten nur Migranten, Flüchtlinge schleppend und unzureichend Unterkünfte und Asylsuchende und Hilfen für die Betroffenen bereit. Grenzposten schossen weiterhin mit scharfer  Im August 2010 zerstörte ein Feuer etwa Munition auf Migranten, die versuchten, die 50 Hütten in der informellen Siedlung Zerzara Grenze von Ägypten nach Israel zu überqueren. in Port Said. Die Bewohner wurden obdachlos. Mindestens 30 Menschen kamen dabei Be- Die Behörden stellten ihnen weder Unter- richten zufolge ums Leben. Die Behörden leite- künfte noch Ersatzwohnraum zur Verfügung. ten keine Untersuchung der Umstände derar- In der großen informellen Siedlung in Mans- tiger Vorfälle tödlicher Gewaltanwendung ein. hiyet Nasser im Osten von Kairo lebten noch Andere Personen, welche die Grenze ohne immer bis zu 12000 Familien inmitten von lo- Genehmigung überqueren wollten, wurden ckeren Felsbrocken und Klippen, weil sie sich festgenommen und inhaftiert.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht anderswo keinen Wohnraum leisten konnten.  Im Juli 2010 hob ein Verwaltungsgericht die

68 Ägypten Abschiebungsbescheide des Innenministers  Egypt: Brutal police killing of young man must be investiga- gegen Mohamed Adam Abdallah Yahya und Is- ted, 14 June 2010 haq Fadlallah Ahmed Dafaallah auf. Die Asyl-  Egypt urged to protect slum-dwellers after rockslide official suchenden aus Darfur standen kurz vor ihrer acquitted, 22 September 2010  zwangsweisen Rückführung in den Sudan, wo Egypt must investigate torture allegations made by freed blogger, 18 November 2010 ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen gedroht hätten.

Todesstrafe Im Jahr 2010 wurden mindestens 185 Todesur- teile gefällt und mindestens vier Menschen hingerichtet. Albanien  Jihan Mohammed Ali und Atef Rohyum Abd El Al Rohyum wurden im März an zwei auf- Amtliche Bezeichnung: Republik Albanien einanderfolgenden Tagen durch den Strang hin- Staatsoberhaupt: Bamir Topi gerichtet. Sie waren für schuldig befunden wor- Regierungschef: Sali Berisha den, den Ehemann von Jihan Mohammed Ali Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft ermordet zu haben. Jihan Mohammed Ali hatte Einwohner: 3,2 Mio. im Gefängnis dem Vernehmen nach erklärt, Lebenserwartung: 76,9 Jahre dass sie allein für den Tod ihres Mannes verant- Kindersterblichkeit (m/w): 18 / 17 pro 1000 wortlich sei. Atef Rohyum Abd El Al Rohyum Lebendgeburten wurde hingerichtet, obwohl er Rechtsmittel ge- Alphabetisierungsrate: 99% gen das Todesurteil eingelegt hatte. Die Familien der beiden wurden von den bevorstehenden Familiäre Gewalt war nach wie vor weit Hinrichtungen nicht in Kenntnis gesetzt. verbreitet. Frauen und Mädchen wurden Im Dezember stimmte Ägypten als einer von weiterhin Opfer von Menschenhandel nur wenigen Staaten gegen ein weltweites Hin- zum Zweck der Zwangsprostitution. Es richtungsmoratorium, als eine entsprechende gingen Beschwerden über Misshandlun- Resolution in der UN-Generalversammlung gen durch Polizeibeamte ein. Die Haft- zur Abstimmung gebracht wurde. bedingungen in den Polizeistationen wa- ren häufig sehr schlecht, doch gab es 2010 Verbesserungen bei den Haftbedin- Amnesty International: Missionen und Berichte gungen und der Behandlung von Unter-  Delegationen von Amnesty International statteten Ägypten im Berichtsjahr mehrere Besuche ab. Sie führten dort Ermitt- suchungshäftlingen und Strafgefange- lungen durch und nahmen an Konferenzen und Workshops teil.  Egyptian authorities failing to protect religious minorities (MDE 12/001/ 2010)  Egypt: Sweeping reform needed to protect workers’ rights (MDE 12/020/ 2010)  Egypt: Threat of forcible eviction of Greater Cairo’s »shack« dwellers (MDE 12/031/2010)  Egypt: »Shouting slogans into the wind« – human rights concerns ahead of the parliamentary elections (MDE 12/032/ 2010)  Egypt: Release blogger prosecuted by military court, 5 March 2010  Egypt: Halt execution of man accused of murder, 11 March 2010

Albanien 69 nen. Waisen wurden aus staatlichen Rechtsbeihilfe. Dies hatte zur Folge, dass von Einrichtungen in die Obdachlosigkeit den Gerichten relativ wenig Schutzanordnun- entlassen, da man ihnen die vorrangige gen verhängt wurden. So erhielt beispiels- Berücksichtigung bei der Vergabe von weise das Bezirksgericht von Tirana im Be- Sozialwohnungen verweigerte, obwohl richtsjahr 538 Anträge von Betroffenen, in der ihnen dies nach albanischem Recht zu- Mehrzahl Frauen, stellte aber nur 129 Schutz- steht. anordnungen aus. Die Regierung begann mit der Registrierung Hintergrund von Fällen familiärer Gewalt, um entspre- Die politische Pattsituation nach der umstritte- chende politische Maßnahmen ergreifen zu nen Parlamentswahl im Juni 2009 dauerte an. können. Mitarbeiter im Gesundheitswesen Zwar beendete die wichtigste Oppositionspar- wurden geschult, um Opfer häuslicher Gewalt tei, die Sozialistische Partei (Partia Socialiste e zu erkennen und zu behandeln. Im Septem- Shqipërisë), im Mai ihren Parlamentsboykott, ber verabschiedete das Parlament Ergänzun- doch verließ sie wiederholt aus Protest das gen zu einem Gesetz von 2006 über Maßnah- Parlament. Die legislative Arbeit des Parla- men gegen Gewalt in der Familie. Dazu zählt ments einschließlich der Wahlreform verlief die Einrichtung einer Unterkunft für Opfer von schleppend. Zu den verabschiedeten Gesetzen häuslicher Gewalt. Außerdem sind Verfahren gehörten ein Antidiskriminierungsgesetz sowie für ein koordiniertes Vorgehen im Umgang mit ein Gesetz zum Schutz von Kinderrechten. Po- Fällen familiärer Gewalt, eine kostenlose litiker beschuldigten sich gegenseitig der Kor- Rechtshilfe bei Anträgen auf Schutzanord- ruption. In einigen Fällen wurden diesbezüglich nung sowie die Übernahme der Gerichtskosten Untersuchungen eingeleitet. Das Vertrauen durch den Täter vorgesehen. der Öffentlichkeit in die Justiz war weiterhin ge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ring. Im November 2010 kam die Europäische Menschenhandel Kommission zu dem Schluss, dass Albanien die Der Menschenhandel, insbesondere der Han- Kriterien für den Kandidatenstatus der EU-Mit- del mit Mädchen und jungen Frauen, die zur 000835 gliedschaft nicht erfüllt, und drängte auf weitere Prostitution gezwungen wurden, hielt 2010 an. Reformen.  Im Mai nahm wurden Kristaq Prifti und Ro- land Kuro festgenommen. Man warf ihnen vor, Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein 14-jähriges Mädchen nach Griechenland Familiäre Gewalt war weit verbreitet, doch gab verschleppt und dort fünf Jahre lang zur Pros- es Fortschritte bei der Gesetzgebung zur Be- titution gezwungen zu haben. kämpfung von Gewalt und bei deren Umset- Der im Juni veröffentlichte Bericht des US-Au- zung. Wenngleich viele Fälle häuslicher Ge- ßenministeriums zu Menschenhandel (US walt nach wie vor nicht angezeigt wurden, stieg State Department Trafficking in Persons Report die Zahl der gemeldeten Vorfälle. In den ersten 2010) erkannte die Bemühungen der albani- neun Monaten wurden 1423 Fälle zur Anzeige schen Behörden zur Bekämpfung des Men- gebracht, 433 mehr als im Vergleichszeitraum schenhandels an. Gleichzeitig forderte er, die 2009. Familiäre Gewalt war nach dem Strafge- bei verurteilten Menschenhändlern beschlag- setz kein spezifischer Straftatbestand und nahmten Mittel dafür einzusetzen, um den wurde im Allgemeinen nur auf Antrag des Op- Schutz und die Integration der Opfer zu finan- fers verfolgt bzw. dann, wenn die Tat zum Tod zieren. Er drängte auf Verbesserungen, um oder zu schweren Verletzungen führte. Opfer Kinder, die Opfer von Menschenhandel wur- suchten vermehrt Schutz durch Zivilverfahren, den, ausfindig zu machen und zu schützen, zogen jedoch häufig ihre Klage später zurück. und forderte außerdem die rigorose Verfolgung Die Gründe hierfür waren wirtschaftliche und von Polizeikräften, die sich am Menschenhan-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gesellschaftliche Zwänge sowie fehlende del beteiligen.

70 Albanien »Verschwindenlassen« Auslieferung. Nach seiner Abschiebung hob  Das Schicksal von Remzi Hoxha, einem das Hohe Gericht Albaniens die Entscheidung ethnischen Albaner aus Mazedonien, der des Berufungsgerichts auf. 1995 Opfer des »Verschwindenlassens« wurde, blieb weiterhin unaufgeklärt, obwohl das Ver- Folter und andere Misshandlungen fahren gegen Ilir Kumbaro, Arben Sefgjini und Es wurde nur selten Anklage wegen Folter erho- Avni Koldashi, drei ehemalige Beamte des ben, mit Ausnahme von Fällen, in denen Miss- staatlichen Geheimdienstes, in Tirana fortge- handlungen durch die Polizei zu schweren Ver- setzt wurde. Die Anklage wirft ihnen die Ent- letzungen oder zum Tod führten. Im Allgemei- führung und »Folterung mit gravierenden Fol- nen wurden Polizeibeamte wegen »Willkür- gen« von drei Männern vor, darunter Remzi akten« angeklagt, einem geringfügigeren De- Hoxha. Gegen Ilir Kumbaro wurde der Prozess likt, das meist mit einer Geldstrafe geahndet in Abwesenheit geführt. Er war 2008 in Groß- wurde. britannien verhaftet worden, wurde im Dezem-  Im April 2010 wurden auf Empfehlung der ber 2009 jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt, Ombudsperson Ermittlungen gegen zwei Poli- nachdem ein britisches Gericht seinem Rechts- zeibeamte in Tirana eingeleitet, die der Folter mittel gegen die Auslieferung nach Albanien verdächtigt wurden. Ihnen wurde vorgewor- mit der Begründung stattgegeben hatte, der fen, drei junge Männer während und nach ihrer Haftbefehl sei nicht mehr gültig. Im August Inhaftierung 2009 schwer geschlagen zu ha- 2010 wurde er in London auf Grundlage eines ben. Nach Abschluss der Ermittlungen im De- neuen Haftbefehls erneut festgenommen, zember wurden die beiden Polizisten der eine Woche später jedoch gegen Kaution freige- »Willkür im Dienst« angeklagt. lassen.  Im Oktober 2010 befand das Bezirksgericht Tirana den Polizeibeamten Vlash Ashiku für Antiterrormaßnahmen und Sicherheit schuldig, 2008 während seiner Dienstzeit To- Im Februar 2010 wurden drei Häftlinge aus mor Shehu mit der Faust ins Gesicht und auf Ägypten, Tunesien und Libyen aus dem US- den Kopf geschlagen zu haben. Er wurde we- Gefangenenlager Guantánamo nach Albanien gen »Willkürakten« zu einer geringen Geld- überstellt. Seit 2006 nahm Albanien elf ehe- strafe (15 US-Dollar) verurteilt. malige Guantánamo-Häftlinge auf, die nicht in Der Europäische Ausschuss zur Verhütung ihre Heimatländer zurückgeführt werden von Folter und unmenschlicher oder erniedri- konnten, da ihnen dort Verfolgung drohte. gender Behandlung oder Strafe (CPT) besuchte Albanien im Mai, um Maßnahmen zur Umset- Justizsystem zung seiner früheren Empfehlungen zu prüfen. Im November 2010 kritisierte die parlamentari- sche Versammlung des Europarats die Ent- Haftbedingungen scheidung der albanischen Behörden, Almir Trotz der Renovierung einiger Polizeistationen Rrapo, der die US-amerikanische und albani- waren die Haftbedingungen in vielen Polizei- sche Staatsbürgerschaft besitzt, aufgrund von stationen nach wie vor sehr hart. Häufig fehlte Anklagen einschließlich eines Tötungsdelikts es an separaten Räumlichkeiten zur Unter- an die USA auszuliefern. Mit dieser Entschei- bringung von Frauen und Kindern. Bei den dung wurde eine verbindliche Interimsmaß- Haftbedingungen in Gefängnissen und Unter- nahme des Europäischen Gerichtshofs für suchungsgefängnissen gab es 2010 einige Ver- Menschenrechte ignoriert, die seine Ausliefe- besserungen. So wurde mit dem Bau von zwei rung ausgesetzt hatte. Das Berufungsgericht neuen Untersuchungsgefängnissen begonnen, von Tirana entschied – ohne eine dauerhafte und in mindestens fünf Gefängnissen wurden Zusicherung der zuständigen US-Behörden, Bildungsprogramme gestartet. In sechs Haftan- ihn nicht zum Tode zu verurteilen – für seine stalten wurden spezielle Abteilungen für Häft-

Albanien 71 linge mit psychischen Erkrankungen oder Dro- genabhängigkeit eingerichtet. Algerien Das Problem der Überfüllung wurde durch die Entlassung von über 1000 Häftlingen auf Amtliche Bezeichnung: Bewährung gemildert. Es herrschten jedoch Demokratische Volksrepublik Algerien weiterhin große Probleme, die häufig mit dem Staatsoberhaupt: Abdelaziz Bouteflika baufälligen Zustand einiger Gefängnisgebäude Regierungschef: Ahmed Ouyahiya in Zusammenhang standen. Im April bezeich- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft nete die Ombudsperson die Haftbedingungen Einwohner: 35,4 Mio. in der Abteilung für weibliche Untersuchungs- Lebenserwartung: 72,9 Jahre gefangene im Gefängnis 313 als schlecht. Es Kindersterblichkeit (m/w): 35 / 31 pro 1000 wurden dort Feuchtigkeit, mangelhafte Hei- Lebendgeburten zungs- und Sanitäranlagen sowie Ungeziefer- Alphabetisierungsrate: 72,6% befall festgestellt. Menschenrechtsverteidiger und andere Recht auf angemessenen Wohnraum Kritiker der Regierung durften auch Nach albanischem Recht gehören obdachlose 2010 keine Versammlungen und De- registrierte Waisen bis zum Alter von 30 Jah- monstrationen abhalten. Personen, die ren zu den schutzbedürftigen Gruppen, die bei im Verdacht standen, die Sicherheit zu der Vergabe von Sozialwohnungen Vorrang ge- bedrohen, wurden festgenommen und nießen. Dieses Gesetz wurde jedoch nicht um- ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert. gesetzt. Viele von ihnen, darunter auch junge Frauen erhielten keine Wiedergutma- Menschen, die in staatlichen Fürsorgeheimen chung, wenn sie Opfer von sexueller Ge- aufgewachsen waren, aber keinen offiziellen walt geworden waren. Ausländische 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Waisenstatus hatten, mussten weiterhin in Staatsbürger wurden inhaftiert und aus- Schlafsälen aufgegebener, baufälliger Schü- gewiesen, ohne dass sie Gelegenheit lerwohnheime leben oder darum kämpfen, eine hatten, dies rechtlich anzufechten. 000835 einfache private Unterkunft mieten zu kön- Christen waren strafrechtlicher Verfol- nen. Das geforderte Einkommen, um am sozia- gung ausgesetzt, weil sie ihren Glauben len Wohnungsbauprogramm teilnehmen zu können und staatlich geförderte Hypotheken zu bekommen, war für diese Gruppe zu hoch an- gesetzt. Ein Projekt des sozialen Wohnungs- baus, das durch ein Darlehen der Entwick- lungsbank des Europarats gefördert wurde und den Bau von 1100 Mietwohnungen für ein- kommensschwache Familien vorsah, war Ende 2010 noch nicht abgeschlossen.

Amnesty International: Mission und Berichte  Eine Delegierte von Amnesty International besuchte Albanien im November.  Ending domestic violence in Albania: The next steps (EUR 11/001/ 2010)  In search of shelter: Leaving social care in Albania (EUR 11/004/ 2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

72 Algerien ohne Erlaubnis ausübten. Andere stan- Rechte auf freie Meinungsäußerung, den wegen Beleidigung des Islam vor Ge- Vereinigungs- und richt. Es fanden keine Hinrichtungen Versammlungsfreiheit statt, jedoch wurden Todesurteile gegen Die Behörden verboten einige Zusammen- 130 Personen verhängt. Die Behörden künfte und Demonstrationen von Menschen- unternahmen weiterhin nichts, um die rechtsverteidigern, Journalisten und Angehöri- vielen Fälle von »Verschwindenlassen« gen von »Verschwundenen«. und anderer schwerer Menschenrechts-  Im März 2010 untersagten die Behörden der verletzungen in der Vergangenheit zu Algerischen Liga für die Verteidigung der Men- untersuchen und die Verantwortlichen schenrechte (Ligue Algérienne pour la Défense vor Gericht zu stellen. des Droits de l’Homme – LADDH) den Zugang zum Tagungsort für ihre Jahresversammlung. Hintergrund Der Veranstaltungsort musste kurzfristig ver- Die Regierung hielt am Ausnahmezustand fest, legt werden. der bereits seit 1992 besteht.  Die Behörden verboten eine für den 3. Mai Es gab weiterhin politisch motivierte Gewaltta- 2010 in Algier geplante Protestkundgebung ten, bei denen mindestens 45 Zivilpersonen von Journalisten und anderen Personen, und etwa 100 Angehörige der Armee und der die sich für mehr Pressefreiheit einsetzten. Sicherheitskräfte ums Leben kamen. Sie star- Vier der Organisatoren kamen kurzzeitig in ben zumeist bei Bombenanschlägen bewaffne- Haft. ter Gruppen, insbesondere der Organisation  Ab August 2010 hinderten die Behörden die Al-Qaida im islamischen Maghreb. Mehr als Familienangehörigen der »Verschwundenen« 200 mutmaßliche Mitglieder bewaffneter isla- daran, vor dem Gebäude der Nationalen Kom- mistischer Gruppen sollen von den Sicherheits- mission für die Förderung und den Schutz der kräften bei Zusammenstößen oder bei Durch- Menschenrechte (Commission Nationale Con- suchungen getötet worden sein. Die genauen sultative pour la Protection des Droits de Umstände blieben häufig im Dunkeln, so dass l’Homme – CNCPPDH) Protestkundgebungen befürchtet wurde, in einigen Fällen könne es abzuhalten. Es gab keine offizielle Begrün- sich um außergerichtliche Hinrichtungen ge- dung für diese Maßnahme. Demonstrierende, handelt haben. die sich trotzdem einfanden, wurden von der Im Laufe des Jahres gab es immer wieder Polizei gewaltsam vertrieben. Streiks, Aufstände und Demonstrationen. Die Journalisten und Menschenrechtsverteidiger Menschen protestierten gegen Arbeitslosigkeit, wurden verleumdet und strafrechtlich verfolgt, Wohnungsnot und niedrige Löhne. Einige der weil sie Regierungsvertreter oder staatliche In- Demonstrierenden wurden festgenommen und stitutionen kritisiert oder Korruptionsvorwürfe strafrechtlich verfolgt. erhoben hatten. Die Regierung gab 2010 bekannt, sie habe  Der Chef der Tageszeitung Réflexion, Belha- sieben UN-Sonderberichterstatter nach Alge- mideche Belkacem, und zwei weitere Männer rien eingeladen. Die Einladungen bezogen sich wurden am 13. Mai 2010 zu einer sechsmonati- jedoch nicht auf den Sonderberichterstatter gen Haftstrafe verurteilt. Sie wurden für schul- über Folter und auch nicht auf die UN-Arbeits- dig befunden, den Bürgermeister von Ain-Bou- gruppe für das Verschwindenlassen, obwohl dinar beleidigt zu haben. Die Zeitung hatte im beide seit langem darum gebeten haben, das Juni 2009 einen Artikel veröffentlicht, in dem Land für Untersuchungen besuchen zu dür- sie dem Bürgermeister Korruption vorgewor- fen. fen hatte. Alle drei blieben auf freiem Fuß, wäh- rend sie auf die Entscheidung über die einge- legten Rechtsmittel warteten.  Der Journalist Djilali Hadjadj, der sich aktiv

Algerien 73 gegen die Korruption einsetzt, wurde am Tatverdächtige, denen Vergehen im Zusam- 5. September 2010 auf dem Flughafen von Con- menhang mit Terrorismus und Gefährdung stantine festgenommen. Man teilte ihm mit, er der Sicherheit vorgeworfen wurden, drohten sei zuvor in Abwesenheit wegen Fälschung ver- unfaire Gerichtsverfahren. Einige wurden auf- urteilt worden. Am 13. September fand eine grund von »Geständnissen« verurteilt, die mög- erneute Verhandlung gegen ihn in Algier statt. licherweise unter Folter und Nötigungen zu- Er erhielt eine sechsmonatige Haftstrafe auf stande gekommen waren. Dies betraf auch An- Bewährung und eine Geldbuße. Danach wurde geklagte, die von Militärgerichten zum Tode er freigelassen. verurteilt wurden. Einigen wurde der Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl verweigert. Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Andere blieben ohne Anklageerhebung oder Der militärische Geheimdienst (Département Gerichtsverfahren inhaftiert. du Renseignement et de la Sécurité – DRS)  Das Verfahren gegen Malik Medjnoun und verhaftete weiterhin Personen, die im Verdacht Abdelhakim Chenoui war bis Ende 2010 nicht standen, die Sicherheit zu bedrohen, und hielt wieder aufgenommen worden. Den beiden sie ohne Kontakt zur Außenwelt fest, in einigen Männern werden der Mord an dem berühm- Fällen länger als die gesetzliche Höchstdauer ten kabylischen Sänger Lounès Matoub 1998 von zwölf Tagen. In den geheimen Haftzentren zur Last gelegt sowie Vergehen im Zusammen- drohten den Gefangenen Folter und andere hang mit Terrorismus. Sie befinden sich seit Misshandlungen. Die Verantwortlichen für Fol- zehn Jahren ohne Gerichtsverfahren in Haft. ter und Misshandlungen wurden nach wie vor Nach ihrer Festnahme 1999 waren sie lange nicht strafrechtlich verfolgt. Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt gehalten und  Am 5. September 2010 wurde Salah Koulal in gefoltert worden. Baghtiya in der Provinz Boumerdes von Si-  Hasan Zumiri und Adil Hadi Bin Hamlili wur- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen cherheitskräften in Zivil festgenommen. Er den von den US-Behörden im Januar 2010 wurde 13 Tage lang in einem geheimen Haft- von Guantánamo Bay nach Algerien überstellt. zentrum in Blida in Gewahrsam gehalten. Ende Abdelaziz Naji folgte im Juli. Alle drei blieben 000835 2010 befand er sich im El-Harrach-Gefängnis auf freiem Fuß, während untersucht wurde, ob und wartete auf sein Verfahren. Man warf ihm man gegen sie Anklage wegen »Mitgliedschaft vor, terroristische Handlungen »verteidigt« zu in einer terroristischen Vereinigung im Aus- haben. land« erheben würde. Zwei weitere ehemalige  Mustapha Labsi wurde vom DRS zwölf Tage Guantánamo-Häftlinge, Mustafa Ahmed Ham- lang in Gewahrsam gehalten, nachdem er am lily und Abdul Rahman Houari, wurden von 19. April 2010 aus der Slowakei nach Algerien ähnlichen Anklagepunkten im Februar bzw. im abgeschoben worden war. Später wurde er in November freigesprochen. Ein ehemaliger Gu- das El-Harrach-Gefängnis verlegt. Ende des antánamo-Häftling, Bachir Ghalaab, wurde zu Jahres wartete er auf sein Gerichtsverfahren einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verur- wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen teilt. Vereinigung im Ausland«.  Im April traten Häftlinge, die im Verdacht Diskriminierung und Gewalt standen, die Sicherheit zu bedrohen, im El- gegen Frauen Harrach-Gefängnis in einen Hungerstreik. Sie Im November 2010 besuchte die UN-Sonder- protestierten gegen das Gefängnispersonal, berichterstatterin über Gewalt gegen Frauen dem sie Misshandlungen vorwarfen. Nach An- Algerien. Die Behörden bemühten sich zwar, gaben der Gefangenen wurden sie von Wär- eine landesweite Strategie zur Bekämpfung tern beleidigt, ins Gesicht geschlagen und ge- von Gewalt gegen Frauen umzusetzen, doch demütigt. Die Vorwürfe wurden nicht offiziell waren familiäre Gewalt und Vergewaltigung in

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht untersucht. der Ehe nach wie vor kein Straftatbestand. Zu-

74 Algerien dem wurden die Verantwortlichen für Gewalt füllbar. Da es keine Zeugenaussagen gebe, sei gegen Frauen nicht zur Rechenschaft gezogen. es nicht möglich, die Verantwortlichen zu  Im März und April 2010 gab es in zwei Wohn- identifizieren. gebieten der Stadt Hassi Messaoud (Wohnge- Im Juli forderte der UN-Menschenrechtsaus- biet 36 und 40) eine Serie von gewaltsamen schuss die Behörden auf, das »Verschwin- Überfällen auf alleinlebende Frauen. Gruppen den« von Douia Benaziza zu untersuchen und von Männern verschafften sich gewaltsam Zu- eine angemessene Wiedergutmachung an tritt zu den Wohnungen der Frauen, raubten ihre Familie zu leisten. Douia Benaziza war im sie aus und griffen sie tätlich an. Einige der Juni 1996 von Sicherheitskräften festgenom- Frauen wurden sexuell misshandelt. Nach Be- men worden. Nach Ansicht des Menschen- schwerden der Frauen wurden die betreffenden rechtsausschusses verletzten die Behörden Wohngebiete schärfer bewacht. Die mutmaßli- ihr Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person chen Täter wurden jedoch nicht strafrechtlich sowie ihr Recht, vor Folter und Misshandlun- verfolgt. gen geschützt zu werden.

»Verschwindenlassen« Religionsfreiheit Die Behörden haben noch immer keine Schritte Im Berichtsjahr gab es weiterhin Übergriffe auf zur Untersuchung und Klärung des Schicksals protestantische Kirchen. Christen und zum von Tausenden von Menschen eingeleitet, die Christentum konvertierte Personen wurden we- während des internen Konflikts in den 1990er- gen »unerlaubter Ausübung einer Religion« Jahren »verschwunden« sind. Es findet weiter- gemäß Erlass 06 – 03 strafrechtlich verfolgt. Die- hin die Charta für Frieden und Nationale Ver- ser Erlass regelt alle nicht islamischen Religio- söhnung (Gesetz 06 – 01) Anwendung. Sie si- nen. Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit, chert den Sicherheitskräften Straffreiheit zu, nennt jedoch den Islam als Staatsreligion. während öffentliche Kritik am Vorgehen der Si-  Eine protestantische Kirche in Tizi Ouzou cherheitskräfte strafbar ist. Außerdem sieht wurde im Januar 2010 verwüstet. Die Behör- die Charta vor, dass Mitglieder bewaffneter den ordneten keine Untersuchung des Falls an. Gruppen, die schwere Menschenrechtsverlet-  Im August 2010 begann in der Stadt Al-Ar- zungen begangen haben, begnadigt werden. ba’a Nath Irathen der Prozess gegen Mah- Im Oktober 2010 teilte ein hochrangiger Be- moud Yahou und drei Personen, die zum Chris- amter mit, seit 2005 seien 7500 »reumütige Ter- tentum übergetreten waren. Mahmoud Yahou roristen« begnadigt worden. Außerdem hätten hatte Anfang des Jahres in der Provinz Tizi 6240 Familien von »Verschwundenen« eine Ouzou eine protestantische Kirche errichtet. staatliche Entschädigungszahlung akzeptiert. Den Angeklagten wurde zur Last gelegt, den Er- Nur zwölf Familien, die »von NGOs und ande- lass 06 – 03 verletzt zu haben. Offensichtlich ren ausländischen Organisationen manipu- war das Gotteshaus nicht registriert worden, liert« worden seien, hätten die Entschädigung weil die Behörden sich geweigert hatten, wei- verweigert. Nach dem Gesetz 06 – 01 können tere protestantische Kirchen zu genehmigen. Angehörige Entschädigungszahlungen bean- Im Dezember wurden die vier Männer zu tragen, wenn sie bereit sind, für die »ver- Geld- und Gefängnisstrafen auf Bewährung schwundene« Person eine Sterbeurkunde aus- verurteilt. stellen zu lassen. Einige Personen wurden strafrechtlich ver- Die Familien der »Verschwundenen« setzten folgt, weil sie sich während des Ramadan ihre Demonstrationen in mehreren Städten nicht an das Fastengebot hielten. Dies ist fort, darunter auch in Algier, Constantine und laut Artikel 144, Abs. 2 des Strafgesetzbuchs Jijel. Im August 2010 bezeichnete der Leiter strafbar. Die Rechtsprechung war in diesen der CNCPPDH die Forderungen der Familien Fällen nicht einheitlich. Manchmal wurde die nach Wahrheit und Gerechtigkeit als nicht er- Klage fallengelassen, in anderen Fällen ver-

Algerien 75 hängten die Gerichte Haftstrafen und Geld- Amnesty International: Mission und Berichte bußen.  Amnesty International erhielt keine Erlaubnis für eine Reise  Am 5. Oktober 2010 sprach ein Gericht in Ain nach Algerien zu Recherchezwecken. Die Behörden teilten El-Hammam zwei zum Christentum überge- mit, die Organisation dürfe nur die von der Frente Polisario tretene Personen von allen Anklagepunkten verwalteten Sahraui-Flüchtlingslager in Tindouf besuchen, nicht aber den Rest des Landes. frei. Hocine Hocini und Salem Fellak waren  Algeria: Investigate and prosecute attacks against women strafrechtlich verfolgt worden, weil sie während (MDE 28/002/ 2010) des Ramadans tagsüber etwas gegessen hat-  Algeria: Release Malik Medjnoun (MDE 28/008/2010) ten.

Todesstrafe Algerien unterstützte die Resolution der UN-Ge- neralversammlung für ein weltweites Hinrich- tungsmoratorium. Seit 1993 gibt es in dem Land ein De-facto-Moratorium. Trotzdem wur- Angola den 2010 mehr als 130 Personen zum Tode ver- urteilt, viele davon in Abwesenheit. Die An- Amtliche Bezeichnung: Republik Angola klage lautete meist auf Vergehen im Zusam- Staatsoberhaupt: José Eduardo dos Santos menhang mit Terrorismus. Regierungschef: António Paulo Kassoma Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Rechte von Migranten Einwohner: 19 Mio. Tausende Algerier und Afrikaner aus Ländern Lebenserwartung: 48,1 Jahre südlich der Sahara versuchten nach wie vor, Kindersterblichkeit (m/w): 220 / 189 pro 1000 von Algerien aus Europa zu erreichen. Auch Lebendgeburten 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen eine Reform des Strafgesetzes aus dem Jahr Alphabetisierungsrate: 69,6% 2009, wonach die »illegale« Ausreise aus Alge- rien unter Strafe steht, konnte sie nicht davon Mehrere Personen wurden festgenom- 000835 abhalten. Einige kamen in der Wüste oder auf men und wegen Verbrechen gegen den See ums Leben, andere wurden von Grenz- Staat angeklagt. Einige blieben ohne schutzbeamten abgefangen. Gerichtsverfahren in Haft. Zwei gewalt- Nach Angaben der Polizei wurden im ersten Halbjahr 2010 allein 34 ausländische Staats- angehörige ausgewiesen und 5232 Personen aus dem Land abgeschoben. Nach dem Ge- setz 08 – 11, das die Einreise, den Aufenthalt und die Bewegungsfreiheit von Ausländern re- gelt, können Provinzgouverneure Personen ab- schieben lassen, die sich »illegal« im Land aufhalten bzw. »illegal« eingereist sind. Es gibt keine Möglichkeit, diese Anordnung rechtlich anzufechten. Im Mai äußerte der UN-Ausschuss für Ar- beitsmigranten Bedenken bezüglich eines Ge- setzes, das es den Behörden erlaubt, »illegale« Arbeitsmigranten auf unbestimmte Zeit zu in- haftieren. Auch hätten es die Behörden ver- säumt, Berichten über Massenausweisungen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht nachzugehen.

76 Angola lose politische Gefangene und mehrere gung an dem Anschlag beschuldigt. Im Jahres- Personen, bei denen es sich möglicher- verlauf verübte die FLEC in Cabinda weitere weise um gewaltlose politische Gefan- Angriffe. gene handelte, wurden für schuldig be- Im Januar 2010 verabschiedete die National- funden, Verbrechen gegen die Staats- versammlung eine neue Verfassung, nach sicherheit begangen zu haben. Auch welcher der Präsident nun von der Nationalver- 2010 wurden Menschen in Angola Opfer sammlung gewählt wird. Die Verfassung ge- von rechtswidrigen Zwangsräumungen. steht Staatspräsident José Eduardo dos Santos, Mehrere Demonstrationen wurden will- der seit mehr als 30 Jahren im Amt ist, zwei kürlich verboten. Die Polizei war nach weitere Amtszeiten von jeweils fünf Jahren zu. wie vor für Menschenrechtsverletzungen Außerdem wird durch die neue Verfassung der verantwortlich. Polizeibeamte wurden Posten des Ministerpräsidenten abgeschafft in mindestens einem Fall wegen außer- und durch den eines vom Staatspräsidenten gerichtlicher Hinrichtungen vor Gericht ernannten Vizepräsidenten ersetzt. gestellt. Obwohl Angola und die Demo- Im September forderte die angolanische An- kratische Republik Kongo (DR Kongo) waltsvereinigung das Verfassungsgericht auf, vereinbart hatten, Massenabschiebun- über die Rechtmäßigkeit von Artikel 26 des gen von Staatsbürgern des jeweils an- Staatssicherheitsgesetzes zu befinden. In dem deren Landes zu stoppen, setzte Angola Artikel heißt es, dass »sämtliche nicht im Ge- die Abschiebungen fort. Diese waren setz aufgeführte Handlungen strafbar sind, von Menschenrechtsverletzungen be- welche die Sicherheit des Staates gefährden gleitet. oder gefährden könnten«. Im November nahm die Nationalversammlung einen Entwurf Hintergrund für das Gesetz über Verbrechen gegen die Am 8. Januar 2010 wurde die Fußballnational- Staatssicherheit an. Der Gesetzentwurf hebt Ar- mannschaft Togos in Cabinda auf der Reise tikel 26 des derzeit geltenden Gesetzes auf, zur afrikanischen Fußballmeisterschaft (Africa- führt aber die Beleidigung der Republik, des Cup) überfallen. Die Meisterschaft wurde von Staatspräsidenten und der Staatsorgane als Angola ausgerichtet. Bei dem Überfall wurden neue Straftatbestände ein. zwei Menschen getötet und mehrere Personen Im Februar wurde die Lage der Menschen- verletzt. Die FLEC / PM, bei der es sich um einen rechte in Angola nach der Universellen Regel- Flügel der Front für die Befreiung des Staates mäßigen Überprüfung (UPR) des UN-Men- Cabinda (Frente para a Libertação do Estado de schenrechtsrats begutachtet. Im September Cabinda – FLEC) handelt, übernahm die Ver- legte Angola dem UN-Ausschuss für die Rechte antwortung für den Überfall. Dieser habe aber des Kindes seinen Bericht vor. nur den Angehörigen der angolanischen Streitkräfte gegolten, die das Team eskortiert Recht auf Wohnen – hatten. Meldungen zufolge soll sich wenige Zwangsräumungen Tage später eine weitere Gruppierung, die Im Oktober 2010 erneuerte Präsident dos San- FLEC-Fac, zu dem Überfall bekannt haben. tos das Versprechen der Regierung, im Rah- Zwei Männer, João António Puati und Daniel men des staatlichen Programms zum Bau von Simbai, wurden unter dem Verdacht verhaftet, Sozialwohnungen Familien in Angola dabei zu den Anschlag ausgeführt zu haben. João Antó- unterstützen, Wohnraum zu erhalten, und legte nio Puati wurde für schuldig befunden und zu im November ein Slumsanierungs-Projekt auf. 24 Jahren Gefängnis verurteilt, gegen Daniel Dessen ungeachtet wurden die rechtswidrigen Simbai erging ein Freispruch. In der Folge Zwangsräumungen in der Hauptstadt Luanda wurden mindestens weitere 14 Personen fest- fortgesetzt, und in der Provinz Huíla fanden genommen, jedoch nicht direkt der Beteili- ebenfalls groß angelegte Zwangsräumungen

Angola 77 statt. Auch in anderen Landesteilen war die Be- »Líro Boy« hatte man mehrfach in den Kopf völkerung von Vertreibungen bedroht. geschossen, und er war erkennbar gefoltert  Im März 2010 wurden entlang der Eisen- worden. So hatte man ihm u. a. Arme und bahnstrecke in Lubango, der Hauptstadt der Beine gebrochen. Im November gaben die Po- Provinz Huíla, mehr als 3000 Wohnungen abge- lizeibehörden bekannt, dass die für die Tötun- rissen, um Platz für die Modernisierung der gen Verantwortlichen inhaftiert worden seien. Strecke zu schaffen. Bei den Zwangsräumun- Weitere Einzelheiten wurden jedoch nicht be- gen kamen mindestens zwei Jungen ums Le- kannt. ben. Ein Junge wurde von herabstürzendem  Im Juli 2010 wurde der 19-jährige Valentino Schutt erschlagen, der zweite Junge starb of- Abel getötet, als ein Polizist in der Gegend fenbar an den Folgen der schlechten Lebens- Belo Horizonte der Gemeinde Kunhinga, Pro- bedingungen nach dem Abriss. Die Men- vinz Huambo, von seiner Schusswaffe Ge- schen, die mit Gewalt aus ihren Wohnungen brauch machte. Der Polizeibeamte war offenbar vertrieben worden waren, wurden nach Tcha- eingeschritten, um eine heftige Auseinander- vola, einem Vorort von Lubango, umgesiedelt. setzung zu beenden, und war geohrfeigt wor- Dort hatten sie weder Zugang zu sauberem den. Wie es hieß, soll er daraufhin wütend ge- Wasser noch zu elementaren Versorgungsleis- worden sein und wahllos um sich geschossen tungen und waren den Witterungsverhältnis- haben. Valentino Abel wurde von drei Schüs- sen schutzlos ausgeliefert. Den betroffenen Fa- sen in den Rumpf getroffen und starb. Der ört- milien wurden lediglich 600 Zelte zur Verfü- liche Polizeikommandeur erklärte, dass der gung gestellt. Zwar entschuldigte sich die Re- Polizeibeamte alkoholisiert gewesen und nach gierung der Provinz Huíla im April für den Ab- dem Vorfall geflüchtet sei. Man habe ihn je- riss der Wohnungen, doch gingen im August doch zwei Tage später verhaftet. Es gab aller- und im September aus Lubango weitere Mel- dings keine Informationen, ob ein Verfahren 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dungen über Zwangsräumungen ein. gegen ihn eingeleitet wurde.

000835 Ungesetzliche Tötungen Recht auf Versammlungsfreiheit Im März 2010 sprach das Provinzgericht Lu- Obwohl die neue Verfassung Bestimmungen anda sieben Polizeibeamte schuldig, im Juli enthält, nach denen in Angola friedliche De- 2008 acht Jugendliche in der Gegend Largo da monstrationen nicht genehmigt werden müs- Frescura, Provinz Luanda, ermordet zu haben. sen, wurde das Recht auf Demonstrationen in Sie wurden zu je 24 Jahren Gefängnis verurteilt. zahlreichen Fällen verweigert. Viele Polizeibeamte begingen jedoch weiterhin  Am 1. April 2010 informierte OMUNGA, eine Menschenrechtsverletzungen, ohne strafrecht- in Benguela tätige NGO, die Regierung der liche Konsequenzen befürchten zu müssen. gleichnamigen Provinz darüber, dass die Orga-  Im Mai 2010 fanden Familienangehörige die nisation am 10. April einen friedlichen Protest- Leichen von William Marques Luís »Líro Boy« marsch durchführen wolle. Die NGO wollte da- und Hamilton Pedro Luís »Kadú« im zentralen mit gegen die Zwangsräumungen in der Pro- Leichenschauhaus von Luanda. Polizeibe- vinz Huíla protestieren und ihre Solidarität mit amte hatten sie in ihrer Wohnung in Benfica, den Betroffenen kundtun. Ein ähnlicher, für einem Stadtteil von Luanda, ohne Haftbefehl März geplanter Marsch war nicht genehmigt festgenommen und anschließend außergericht- worden, weil angeblich nicht alle gesetzlichen lich hingerichtet. Berichten zufolge sollen die Erfordernisse erfüllt worden waren. Obwohl die Polizisten »Kadú« auf offener Straße geschla- Organisatoren sich an die gesetzlichen Vor- gen haben, bevor sie ihn zusammen mit »Líro schriften gehalten hatten, wurde der für April Boy« wegbrachten. »Kadú« hatte man in Kopf geplante Protestmarsch von der Provinzregie- und Unterleib geschossen; sein Leichnam rung Benguela wieder nicht genehmigt. Zur Be-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht wies außerdem Anzeichen von Schlägen auf. gründung hieß es, in der Provinz habe es

78 Angola keine Zwangsräumungen gegeben. Dennoch waltlose politische Gefangene. Im gleichen fand der Protest zum geplanten Termin statt Prozess waren zwei weitere Männer angeklagt, und verlief friedlich. die möglicherweise ebenfalls gewaltlose politi-  Im Mai 2010 verweigerte die Regierung der sche Gefangene sind. José Benjamin Fuca und Provinz Cabinda eine Demonstration gegen Belchior Lanso Tati wurden zu drei bzw. sechs die willkürliche Festnahme und Inhaftierung Jahren Gefängnis verurteilt. Die Polizei hatte die von Menschen im Zusammenhang mit dem vier Männer kurz nach dem Überfall im Januar Überfall auf das togoische Fußballteam, obwohl festgenommen. Sie hatten Dokumente über Ca- die Organisatoren alle gesetzlichen Anforde- binda bei sich und hatten kurz zuvor an einer rungen erfüllt hatten. Konferenz teilgenommen, auf der versucht wor- Der Präsident des Verfassungsgerichts er- den war, eine friedliche Lösung für die Situa- klärte im Juni, dass nach angolanischem tion zu finden. José Benjamin Fuca und Bel- Recht für Demonstrationen keine vorherige Ge- chior Lanso Tati sollen zugegeben haben, Mit- nehmigung der Verwaltungsbehörden nötig glieder der FLEC zu sein. Sie legten Rechtsmit- sei. Die Behörden verhinderten jedoch nach tel beim Obersten Gerichtshof und beim Ver- wie vor friedliche Proteste. fassungsgericht ein. Am 22. Dezember verfügte das Provinzgericht von Cabinda die bedin- Gewaltlose politische Gefangene gungslose Freilassung der vier Männer, weil das Von Januar bis April 2010 wurden in Cabinda Gesetz, auf dessen Grundlage sie für schuldig im Zusammenhang mit dem Überfall auf die befunden worden waren, aufgehoben worden togoische Fußballnationalmannschaft mindes- war. tens 14 Frauen und Männer festgenommen.  Die Polizei nahm weitere Mitglieder der Kom- Zwei Männer waren gewaltlose politische Ge- mission für ein juristisches soziologisches Ma- fangene; bei den übrigen könnte es sich eben- nifest des Protektorats Lunda Tchokwe (Co- falls um gewaltlose politische Gefangene ge- missão do Manifesto Jurídico Sociológico do handelt haben. Sieben der Festgenommenen Protectorado da Lunda Tchokwe) fest. Von Ja- wurden ohne Anklageerhebung aus der Haft nuar bis Oktober 2010 sollen in den Provinzen entlassen, gegen die anderen wurde Anklage Luanda und Lunda Norte mindestens 24 Kom- wegen Verbrechen gegen die Staatssicherheit missionsmitglieder festgenommen worden erhoben. Die Anklage gegen einen der Be- sein. Dem Vernehmen nach wurden 13 Mitglie- schuldigten wurde nach sieben Monaten Haft der nach unterschiedlich langer Untersu- fallengelassen; ein weiterer wurde freigespro- chungshaft ohne Anklageerhebung auf freien chen. Die fünf übrigen befand das Gericht für Fuß gesetzt. Drei Festgenommene, Sebastião schuldig, sie wurden jedoch später freigelas- Lumani, José Muteba und José António da Silva sen, nachdem Artikel 26 des Staatssicherheits- Malembela, wurden der Verbrechen gegen die gesetzes, auf dessen Grundlage der Schuld- Staatssicherheit vom Provinzgericht Lunda spruch erfolgt war, aufgehoben worden war. Norte für schuldig befunden und zu sechs, Auch in anderen Provinzen wurden Personen fünf bzw. vier Jahren Gefängnis verurteilt. Sie festgenommen, bei denen es sich möglicher- befanden sich Ende 2010 immer noch in Haft, weise um gewaltlose politische Gefangene obwohl das Gesetz, auf dessen Grundlage sie handelte. für schuldig befunden worden waren, nicht  Im August 2010 befand das Provinzgericht mehr in Kraft war. Domingos Manuel Muatoyo von Cabinda den Rechtsanwalt Francisco Lu- und Alberto Cabaza, die im Juli in Luanda fest- emba und den katholischen Pfarrer Raul Tati genommen worden waren, wurden beschul- für schuldig, Verbrechen gegen die Staatssi- digt, gegen die Regierung demonstriert zu cherheit begangen zu haben, und verurteilte sie haben, und waren Ende 2010 noch immer in zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Untersuchungshaft. Weitere sechs Personen Amnesty International betrachtet beide als ge- blieben ohne Anklageerhebung in Haft. Wieder

Angola 79 andere Kommissionsmitglieder, die bereits  Angolan activists jailed over attack on Togo football team, 2009 festgenommen worden waren, befanden 3 August 2010 sich noch immer ohne Gerichtsverfahren in  Angola: Benguela Provincial Authorities must not unreasona- Haft, obwohl das Gesetz, auf dessen Grundlage bly prevent peaceful demonstration (AFR 12/006/2010) die Anklage erfolgte, aufgehoben worden war.

Rechte von Migranten Obwohl Angola und die Demokratische Repu- blik Kongo (DR Kongo) vereinbart hatten, Mas- senabschiebungen von Staatsbürgern des je- weils anderen Landes zu stoppen, setzte An- Äquatorialguinea gola die Abschiebung von Staatsangehörigen aus der DR Kongo fort. Diese waren von Men- Amtliche Bezeichnung: Äquatorialguinea schenrechtsverletzungen begleitet, zu denen Staatsoberhaupt: auch die Anwendung sexueller Gewalt ge- Teodoro Obiang Nguema Mbasogo hörte. Das UN-Büro für die Koordinierung hu- Regierungschef: Ignacio Milám Tang manitärer Angelegenheiten (OCHA) berich- Todesstrafe: nicht abgeschafft tete, dass im Oktober mehr als 12000 Migran- Einwohner: 0,7 Mio. ten in die DR-Kongo-Provinzen Bandundu, Lebenserwartung: 51 Jahre Bas-Congo und Kasai abgeschoben worden Kindersterblichkeit (m/w): 177 / 160 pro 1000 waren. Nach Angaben des OCHA wurden bei Lebendgeburten der Abschiebung 99 Frauen und 15 Männer Alphabetisierungsrate: 93% vergewaltigt. Nach vorliegenden Informatio- nen soll eine Frau im Krankenhaus an den Fol- Im August 2010 verurteilte ein Militärge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gen einer Vergewaltigung gestorben sein. Zu richt vier Männer zum Tode, die von An- den Menschenrechtsverletzungen gehörten gehörigen der Sicherheitsdienste Äqua- auch Folterungen und andere Misshandlun- torialguineas aus Benin entführt worden 000835 gen. Viele Migranten kamen nackt und ohne ihr waren. Die Männer wurden sofort hinge- Hab und Gut in der DR Kongo an. Im Berichts- richtet. Dasselbe Gericht verurteilte zeitraum fanden weitere Abschiebungen statt. Soweit bekannt, sind weder die Menschen- rechtsverletzungen strafrechtlich aufgearbei- tet worden, die während der Abschiebungen 2010 begangen wurden, noch jene, die bei Ab- schiebungen in den Vorjahren verübt worden waren.

Amnesty International: Missionen und Berichte  Delegierte von Amnesty International durften seit mehr als zwei Jahren nicht mehr nach Angola einreisen. Die von Amnesty International im Oktober 2008 und im Oktober 2009 beantragten Visa waren Ende 2010 noch nicht erteilt worden. Amnesty International reichte im Oktober 2009 neue Anträge ein, um Ende November an der Konferenz der angolanischen Kirchen teilnehmen zu können. Diese Anträge waren jedoch zum Jahresende ebenfalls noch nicht genehmigt worden.  Angola: Death of Muatxihina Chamumbala in Conduege Prison and concern for the remaining 32 prisoners

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht (AFR 12/012/2010)

80 Äquatorialguinea zwei gewaltlose politische Gefangene zu der Erdölindustrie einzuführen. Bis zum langen Freiheitsstrafen, obwohl diese Jahresende hatte er nicht ein einziges Verspre- bereits von einem Zivilgericht freigespro- chen eingelöst. chen worden waren. Gewaltlose politi- Im Juli erklärte der Präsident Portugiesisch sche Gefangene wurden in Prozessen zur dritten Amtssprache des Landes, um die verurteilt, die nicht den internationalen Kandidatur Äquatorialguineas für eine Vollmit- Standards für ein faires Gerichtsverfah- gliedschaft in der Gemeinschaft der lusopho- ren entsprachen. Einige kamen nach nen Staaten (Comunidade dos Países de Lín- der Begnadigung durch den Präsidenten gua Portuguesa – CPLP) zu untermauern. Die jedoch wieder frei. Es gingen mehrere Gemeinschaft vertagte jedoch die Entschei- Berichte über politisch motivierte Fest- dung über die Kandidatur. nahmen und Schikanen gegen politi- Im August besuchte auf Einladung der Regie- sche Gegner ein. Häftlinge und andere rung die UN-Arbeitsgruppe über den Einsatz Menschen wurden von Soldaten und von Söldnern das Land. Der Besuch von Ge- Angehörigen anderer Sicherheitskräfte fängnissen wurde der Arbeitsgruppe aller- gefoltert, misshandelt und außerge- dings nicht gestattet. richtlich hingerichtet, ohne dass diese Im Oktober vertagte die UNESCO die Verlei- sich hierfür strafrechtlich verantworten hung des von Präsident Obiang gestifteten mussten. Das Recht auf freie Meinungs- UNESCO-Preises für Biowissenschaften auf un- äußerung und die Pressefreiheit waren bestimmte Zeit. Nach weltweiten Protesten auch 2010 eingeschränkt. von NGOs und Einzelpersonen war die Preisver- leihung bereits im März und im Juni verscho- Hintergrund ben worden. Im März 2010 nahm der UN-Menschenrechts- rat im Rahmen der Universellen Regelmäßi- Willkürliche Festnahmen gen Überprüfung (UPR) den Bericht Äquatori- und Inhaftierungen alguineas an. Die Regierung lehnte jedoch Trotz wiederholter Versprechungen, die Bemü- sämtliche Empfehlungen des Menschenrechts- hungen für die Achtung der Menschenrechte rats zur Abschaffung der Todesstrafe und der zu verstärken, nahmen die Behörden 2010 Ratifizierung des Römischen Statuts über den zahlreiche politische Gegner willkürlich fest Internationalen Strafgerichtshof ab. und inhaftierten sie. Die meisten wurden ohne Ebenfalls im März verwarf die Initiative zur Anklageerhebung wieder freigelassen, einige Verbesserung der Transparenz in der Rohstoff- jedoch befanden sich Ende des Jahres nach industrie (Extractive Industries Transparency wie vor in Haft. Initiative – EITI) die Kandidatur von Äquatorial- Der ehemalige gewaltlose politische Gefan- guinea. Die EITI ist eine freiwillige internationale gene und Spitzenpolitiker der oppositionellen Initiative für mehr Transparenz in der Erdöl-, Sozialdemokraten, Marcos Manuel Ndong, Erdgas- und Bergbauindustrie. Das Land hatte wurde im Oktober 2010 willkürlich festgenom- bestimmte Anforderungen nicht erfüllt, zu de- men. Er war telefonisch auf das Polizeipräsi- nen u. a. die Beteiligung unabhängiger zivilge- dium von Malabo geladen und wegen des Be- sellschaftlicher Gruppen an der Arbeit der EITI sitzes einer vertraulichen Aktennotiz festge- und die Vorlage eines Berichts über die Erdöl- nommen worden. Man hatte ihm dieses Doku- einnahmen gehörten. ment überlassen, und er hatte es seinen Unter- Im Juni sicherte Präsident Teodoro Obiang öf- lagen für einen Antrag auf Gründung einer fentlich zu, die Menschenrechtslage zu ver- Sparkasse beigefügt, um diesen zu fundieren. bessern, die Pressefreiheit auszuweiten, die Offenbar verstößt der Besitz eines vertrauli- Glaubwürdigkeit der Justiz zu gewährleisten chen Dokuments, das man von Dritten erhalten sowie Transparenz und Rechenschaftspflicht in hat, nicht gegen äquatorialguineisches Recht.

Äquatorialguinea 81 Marcos Manuel Ndong wurde zunächst zwei Todesstrafe Wochen lang im Polizeipräsidium von Malabo Die beiden ehemaligen Armeeoffiziere José festgehalten und dann in das Gefängnis Black Abeso Nsue und Manuel Ndong Anseme, der Beach in Malabo überstellt. Am 7. Dezember Grenzbeamte Jacinto Michá Obiang sowie der wurde er ohne Anklageerhebung und ohne Ver- Zivilist Alipio Ndong Asumu wurden am 21. Au- fahren entlassen. Ein zuvor von Ndongs Ehe- gust 2010 in Malabo hingerichtet, kaum eine frau am 14. Oktober gestellter Antrag auf Haft- Stunde, nachdem sie ein Militärgericht in prüfung war vom Gericht für Untersuchungen einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und erstinstanzliche Verfahren in Malabo igno- hatte. Die Militärrichter hatten sie des versuch- riert worden. ten Mordes an Präsident Obiang, des Verrats und des Terrorismus für schuldig befunden. Unfaire Gerichtsverfahren Der Prozess war unfair und außer Geständnis- Im März 2010 fand vor dem Berufungsgericht sen, die unter Folter erpresst worden waren, Malabo, einem erstinstanzlichen Gericht, ein gab es keine stichhaltigen Beweise zur Unter- unfairer Prozess gegen die gewaltlosen politi- mauerung der Anklage. Die vier Angeklagten schen Gefangenen Marcelino Nguema und waren nicht von einem Verteidiger betreut wor- Santiago Asumu, beide Mitglieder der opposi- den. Man hatte ihnen lediglich wenige Minuten tionellen Volksunion (Unión Popular – UP), so- vor Prozessbeginn zwei Offiziere beigeordnet, wie gegen sieben Nigerianer statt. Im Zusam- die über keinerlei juristische Ausbildung ver- menhang mit dem mutmaßlichen Angriff auf fügten. Durch die eilige Hinrichtung wurden sie den Präsidentenpalast im Februar 2009 wurde des Rechts auf ein Rechtsmittelverfahren ge- den Angeklagten – acht Männer und eine Frau gen die Verurteilung und der Möglichkeit eines – ein Mordversuch an Präsident Obiang zur Gnadengesuchs beraubt. Sie durften sich Last gelegt. Die Anklagen gegen acht weitere nicht einmal von ihren Familien verabschieden. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen UP-Mitglieder wurden bei Prozessbeginn fallen- Präsident Obiang rechtfertigte eine Woche spä- gelassen. Marcelino Nguema und Santiago ter die schnellen Hinrichtungen mit dem Argu- Asumu wurden im April freigesprochen. Die ment, die Männer hätten eine unmittelbare Be- 000835 sieben Nigerianer wurden jedoch zu jeweils drohung für sein Leben dargestellt. zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Nigeria- Die vier Männer waren im Januar von Ange- ner, bei denen es sich um Händler und Fi- hörigen der Sicherheitsdienste aus Benin ent- scher handelte, waren auf See festgenommen führt worden. Sie hatten dort einige Jahre lang worden. Man warf ihnen vor, sich an dem An- als Flüchtlinge gelebt. Man hatte sie ins Ge- griff auf den Präsidentenpalast beteiligt zu ha- fängnis Black Beach gebracht, wo sie bis zum ben. Beginn des Prozesses im August in geheimer Marcelino Nguema und Santiago Asumu blie- Haft gehalten wurden. Die Behörden Äquatori- ben trotz des Freispruchs im Gefängnis. Sie alguineas hatten sich geweigert, die Inhaftie- wurden in derselben Sache vor ein Militärge- rung der Männer offiziell einzuräumen. richt gestellt und zu 20 Jahren Gefängnis ver- urteilt. Im selben Prozess wurden vier weitere Folter und andere Misshandlungen Personen zum Tode verurteilt. Die sechs Ange- Obwohl Folter gesetzlich verboten ist, wurden klagten erfuhren erst von dem Prozess, als sie Häftlinge und andere Menschen vor allem in im Gerichtssaal eintrafen. Sie wurden weder Bata von Soldaten und Polizisten gefoltert und von einem Richter befragt noch formell ange- misshandelt, ohne dass diese sich hierfür klagt, stattdessen von hochrangigen Angehöri- strafrechtlich verantworten mussten. Mindes- gen der Sicherheitsdienste verhört, die sich tens zwei Menschen sollen an den Folgen von auch an der Folterung der sechs Männer be- Folter gestorben sein. Die vier aus Benin ver- teiligten. schleppten und später hingerichteten Männer

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht wurden während ihrer Haft mehrfach gefoltert.

82 Äquatorialguinea  Im Juli 2010 starb Manuel Napo Pelico in Ba- der Leichenhalle des Krankenhauses von Bata sakato de la Sagrada Familia auf der Insel ab und zwangen den diensthabenden Ange- Bioko. Soldaten hatten ihn in seinem Haus auf- stellten, den Toten ohne die üblichen Formali- gesucht und wollten ihn festnehmen, weil er täten anzunehmen. Dieser Vorfall wurde 2010 bei der gemeinschaftlichen Aufräumaktion im nicht untersucht. Ort nicht mitmachen wollte. Berichten zufolge sollen sie ihn mit Gewehrkolben auf den Kopf Recht auf freie Meinungsäußerung – geschlagen haben. Dann schleppten sie ihn Journalisten zur Kaserne, wo sie ihn bewusstlos und blutend Nach wie vor war die Pressefreiheit stark einge- liegen ließen. Als die Soldaten feststellten, schränkt. Die meisten Medien wurden vom dass er im Sterben lag, brachten sie ihn in sein Staat kontrolliert. Unabhängige Journalisten sa- Haus zurück, wo er kurz darauf starb. Bei hen sich weiterhin Repressalien ausgesetzt, Jahresende hatten weder Ermittlungen zur To- wurden entlassen oder festgenommen. desursache begonnen noch waren die Ver-  Der für Radio Bata tätige Journalist Pedro antwortlichen zur Rechenschaft gezogen wor- Luis Esono Edu wurde im Februar 2010 ohne den. Haftbefehl festgenommen, unmittelbar nach- dem er berichtet hatte, dass in einer Abfall- Gewaltlose politische Gefangene – grube am Rande von Bata sieben Tote gefun- Freilassungen den worden seien, wahrscheinlich Opfer von Marcelino Nguema, Santiago Asumu und sie- Menschenhandel. Er wurde drei Tage auf dem ben nigerianische Staatsangehörige wurden Polizeipräsidium von Bata in Gewahrsam ge- im Oktober 2010 im Zuge einer Begnadigung halten und dann ohne Anklageerhebung frei- durch den Staatspräsidenten aus Anlass des gelassen. Unabhängigkeitstags aus der Haft entlassen.  Im April 2010 wurde Samuel Obiang Mbani, Fünf weitere gewaltlose politische Gefangene, Korrespondent für die Nachrichtenagenturen die wegen eines angeblichen Überfalls auf der African Press Agency und Agence France Insel Corisco im Jahr 2004 langjährige Haft- Presse in Äquatorialguinea, auf dem Flugha- strafen absaßen, wurden im August freigelas- fen von Malabo festgenommen. Er hatte von sen. Amnesty International hatte keine ge- dort über die Ankunft der Staatsoberhäupter nauen Informationen über die Umstände ihrer der Zentralafrikanischen Wirtschafts- und Wäh- Freilassung. rungsgemeinschaft CEMAC berichten wollen. Der Journalist wurde fünf Stunden lang auf Ungesetzliche Tötungen dem Polizeipräsidium von Malabo festgehalten Meldungen zufolge sollen Soldaten und Ange- und dann auf freien Fuß gesetzt. hörige der Polizei im Berichtsjahr für unge- setzliche Tötungen verantwortlich gewesen Zwangsräumungen sein. Die Regierung kümmerte sich nach wie vor  Luís Ondo Mozuy wurde gemeinsam mit nicht um Entschädigungen oder die Bereitstel- einem Freund am 13. März 2010 in Ncolom- lung von Ersatzunterkünften für hunderte Fami- bong, einem Stadtteil von Bata, festgenommen. lien, die in den vergangenen Jahren mit Ge- Vorausgegangen war ein Streit mit einer walt aus ihren Wohnungen vertrieben worden Gruppe von Jugendlichen, die beim Eintreffen waren. Für die Einwohner von Bata bestand einer Militärpatrouille davonlief. Die beiden weiterhin die Gefahr der rechtswidrigen wurden auf das Polizeipräsidium von Bata ge- Zwangsräumung, um Platz für städtebauliche bracht. Während der Freund in eine Zelle ge- Projekte zu schaffen. sperrt wurde, brachten die Soldaten Luís Ondo aus dem Präsidium. Wenige Stunden später lieferten Soldaten die Leiche von Luís Ondo in

Äquatorialguinea 83 präsidentin Cristina Fernández eine Verfügung Argentinien zur Umsetzung des Gesetzes zur Vorbeugung und Bestrafung von Gewalt gegen Frauen, das Amtliche Bezeichnung: Argentinische Republik im Jahr 2009 verabschiedet worden war. Im De- Staats- und Regierungschefin: zember wurde nach einem Prozess nationaler Cristina Fernández de Kirchner Konsultation ein Nationaler Menschenrechts- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft plan veröffentlicht. Einwohner: 40,7 Mio. Lebenserwartung: 75,7 Jahre Sexuelle und reproduktive Rechte Kindersterblichkeit (m/w): 17 / 14 pro 1000 Der UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form Lebendgeburten von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und Alphabetisierungsrate: 97,7% der UN-Menschenrechtsausschuss riefen Ar- gentinien zu einer Reform des Gesetzes auf, Frauen und Mädchen, die infolge einer das Schwangerschaftsabbrüche in einigen Fäl- Vergewaltigung schwanger wurden, hat- len kriminalisiert. So führten Fehlinterpretatio- ten weiterhin große Schwierigkeiten, nen des Strafgesetzbuchs dazu, dass Opfer von legale Schwangerschaftsabbrüche vor- Vergewaltigungen, die schwanger geworden nehmen zu lassen. Die exzessive Gewalt- waren, große Schwierigkeiten hatten, einen le- anwendung durch die Polizei und inhu- galen Schwangerschaftsabbruch vornehmen mane Haftbedingungen in den Gefäng- zu lassen. Der Status des lange erwarteten Leit- nissen boten nach wie vor Anlass zu fadens zum Umgang mit nicht strafbaren Fäl- ernsthafter Besorgnis. Die Prozesse ge- len von Schwangerschaftsabbruch blieb unklar. gen diejenigen, die für Menschenrechts- Es gab Befürchtungen, dass es auch weiterhin verletzungen während der Militärdiktatur keine klaren institutionellen Richtlinien für 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen verantwortlich waren, wurden fortgesetzt. Schwangerschaftsabbrüche geben könnte.  Im März 2010 wurde zwei 15-jährigen Mäd- chen aus der südlichen Provinz Chubut, die

000835 Hintergrund Im Juni 2010 führte Argentinien als erstes Berichten zufolge von ihren Stiefvätern verge- lateinamerikanisches Land die gleichge- waltigt worden waren, ein legaler Schwanger- schlechtliche Ehe ein. Im Juli erließ Staats- schaftsabbruch untersagt. Die von zwei ver- schiedenen Richtern getroffenen Entschei- dungen führten zu Verzögerungen und gefähr- deten das Leben der Mädchen. Beide Urteile wurden später aufgehoben.

Folter und andere Misshandlungen Der UN-Menschenrechtsausschuss, der UN- Ausschuss für die Rechte des Kindes und die Interamerikanische Menschenrechtskommis- sion zeigten sich zutiefst besorgt angesichts von Berichten über Folter und andere Miss- handlungern in Gefängnissen und auf Polizei- revieren, insbesondere in den Provinzen Bue- nos Aires und Mendoza. Im Januar richtete das Parlament der Provinz Chaco ein Organ zur Verhinderung von Folter auf Provinzebene ein. Ein vergleichbarer Mechanismus auf nationaler

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Ebene, wie ihn das Fakultativprotokoll zum

84 Argentinien UN-Übereinkommen gegen Folter fordert, war ciano Benjamín Menéndez und der ehemalige bis Ende des Jahres 2010 noch nicht auf den Geheimdienstchef der Polizei von Tucumán, Weg gebracht worden. Roberto Albornoz, zu lebenslangen Haftstra- fen verurteilt. Man sprach sie wegen Men- Polizei und Sicherheitskräfte schenrechtsverletzungen für schuldig, die sie Es gab 2010 Berichte über exzessiven Gewalt- während der Militärdiktatur in einem geheimen einsatz durch die Sicherheitskräfte, der zu To- Haftzentrum in der Provinz Tucumán verübt ten und Verletzten führte. Bei zwei Vorfällen im hatten. Juni und im Oktober erschossen Polizeibe-  Im Dezember 2010 wurde Jorge Videla, der amte in der Provinz Río Negro zwei männliche De-facto-Staatspräsident Argentiniens von Jugendliche. 1976 bis 1981, wegen Folter sowie der Ermor-  Am 15. Februar löste die Polizei eine Kundge- dung von über 30 Gefangenen in Córdoba im bung von Bewohnern der Stadt Andalgalá in Jahr 1976 für schuldig befunden. Außer Jorge der Provinz Catamarca gewaltsam auf. Die Pro- Videla verurteilte das Gericht weitere 22 Ange- teste waren gegen den Tagebau in der Region hörige des Militärs und der Polizei wegen dieser gerichtet. Einige Stunden später versammelten Verbrechen. sich Tausende von Menschen auf dem Markt- platz des Ortes, um ihre Solidarität mit den Pro- Rechte indigener Völker testierenden zu bekunden. Die Sicherheits- Es gab weiterhin Grund zur Besorgnis, weil ein kräfte sollen die Demonstrierenden daraufhin im Jahr 2006 erlassenes nationales Not- wahllos mit Knüppeln geschlagen und Tränen- standsgesetz nicht umgesetzt wurde. Es sieht gasgranaten und Gummigeschosse abgefeuert vor, Räumungsbefehle und die Vertreibung in- haben. Einige der Protestierenden richteten digener Gemeinschaften von ihrem ange- während der Vorfälle Schäden am Rathaus an. stammten Land so lange auszusetzen, bis eine Mehrere Personen wurden festgenommen entsprechende landesweite Registrierung der und ungefähr 70 verletzt. Gebiete vorgenommen wurde.  Im November 2010 trieben 400 Polizeibe- Straflosigkeit amte Angehörige der indigenen Gemeinschaft Nach offiziellen Angaben waren bis zum der Toba Qom gewaltsam auseinander. Sie hat- Jahresende 110 Personen wegen ihrer Beteili- ten eine Straßensperre errichtet, um gegen gung an Menschenrechtsverletzungen wäh- den geplanten Bau eines Universitätsinstituts rend der Militärdiktatur (1976 – 83) verurteilt auf dem von ihnen besiedelten Land zu pro- worden. 820 weitere waren strafrechtlich ange- testieren. Die Polizei brannte zudem mehrere klagt, 13 Strafprozesse dauerten an. Zwar wur- provisorisch errichtete Unterkünfte der Toba den die Verantwortlichen für in der Vergangen- Qom nieder. Mindestens ein Polizeibeamter heit begangene Menschenrechtsverletzungen und ein Angehöriger der indigenen Gemein- verstärkt zur Rechenschaft gezogen, ein Be- schaft wurden getötet. richt des Obersten Gerichtshofs räumte aller- dings ein, dass es insbesondere bei Provinzge- Rechte auf Gesundheit, Land, richten zu Verzögerungen komme. gesunde Umwelt  Am 20. April 2010 wurde der ehemalige Ge- Ein Anfang 2010 veröffentlichter Bericht einer neral und frühere De-facto-Staatspräsident Ar- NGO stellte fest, dass es in der Region Chaco gentiniens, Reynaldo Bignone, wegen Folter, im Norden Argentiniens 120 Konflikte gab, die Mordes und mehreren Entführungen schuldig im Zusammenhang mit Landbesitz und Um- gesprochen, die begangen wurden, als er von weltproblemen standen. Von diesen Konflikten 1976 bis 1978 Kommandant des berüchtigten waren mehr als 500000 Menschen betroffen, Haftzentrums Campo de Mayo war. insbesondere Kleinbauern und Angehörige in-  Im Juli 2010 wurden der frühere General Lu- digener Gruppen.

Argentinien 85 Es mehrten sich die Anzeichen dafür, dass dards zurück. Nach wie vor wurde keine sich Chemikalien, die auf Soja- und Reisplan- echte zivile Alternative zum Militärdienst tagen in mehreren nördlichen Provinzen einge- angeboten. setzt wurden, negativ auf die Gesundheit aus- wirkten. Bis Jahresende war jedoch noch keine Tod in Gewahrsam systematische epidemiologische Studie veran- Nach ihrem Besuch in Armenien im September lasst worden, um die Schäden und das Ausmaß äußerte sich die UN-Arbeitsgruppe für willkür- des Problems zu untersuchen. liche Inhaftierungen besorgt über Misshandlun- gen und Prügel gegen Untersuchungsgefan- Internationale Justiz gene und Häftlinge. Auch beanstandete sie, Im September 2010 fasste der Oberste Ge- dass Untersuchungsgefangene unter Druck richtshof den einstimmigen Beschluss, Sergio gesetzt wurden, um ihnen Geständnisse abzu- Galvarino Apablaza Guerra nach Chile auszulie- pressen. fern, wo er im Zusammenhang mit der Ermor-  Im April 2010 starb Vahan Khalafjan in einem dung des Senators Jaime Guzmán und der Ent- Krankenhaus nur wenige Stunden nach seiner führung von Cristián Edwards im Jahr 1991 an- Inhaftierung wegen Diebstahlverdachts im Poli- geklagt war. Im Oktober stellte ein Bundesrich- zeirevier der Stadt Charentsavan. Die Behör- ter das Auslieferungsverfahren jedoch ein, den behaupteten, er habe sich selbst ersto- nachdem die Nationale Flüchtlingskommission chen, nachdem er von Polizeibeamten miss- dem Beschuldigten den Flüchtlingsstatus zu- handelt worden war. Die Selbstmordversion erkannt hatte. wurde indes von seiner Familie angefochten. Im November wurden zwei Polizeibeamte we- Amnesty International: Bericht gen Amtsmissbrauch verurteilt, der zu dem  Argentina: »Exigimos respeto«– los derechos de los pilagá Selbstmord geführt haben soll. Ein Beamter er- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen del Bañado la Estrella (AMR 13/ 001/ 2010) hielt eine achtjährige Freiheitsstrafe, sein Un- tergebener eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren. 000835

Straflosigkeit Bis Ende 2010 hatten noch immer keine unab- hängigen Ermittlungen in Bezug auf Vorwürfe Armenien wegen der exzessiven Verwendung von Gewalt gegenüber Zivilpersonen im Zuge der Proteste Amtliche Bezeichnung: Republik Armenien nach den Wahlen von 2008 stattgefunden. Nie- Staatsoberhaupt: Serge Sarkisjan mand war bezüglich der zehn Todesopfer, da- Regierungschef: Tigran Sarkisjan runter zwei Polizeibeamte, die während der ge- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 3,1 Mio. Lebenserwartung: 74,2 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 29 / 25 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99,5%

Auch 2010 herrschte Straflosigkeit für Personen, die Menschenrechtsverlet- zungen begangen hatten. Der Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt blieb

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht weiterhin hinter internationalen Stan-

86 Armenien waltsamen Demonstrationen umgekommen  Im Oktober 2010 kam die 20-jährige Zaruhi waren, zur Verantwortung gezogen worden. Die Petrosjan, ein Opfer anhaltender familiärer Ge- Familien von neun Opfern initiierten wegen walt, ums Leben, Berichten zufolge, nachdem des Versäumnisses, Ermittlungen hinsichtlich sie von ihrem Mann und ihrer Schwiegermut- der Todesfälle durchzuführen, ein Verfahren ter brutal verprügelt worden war. Laut ihrer gegen das Büro der Generalstaatsanwaltschaft. Schwester hatte sich Zaruhi Petrosjan zweimal Das Allgemeine Gericht wies ihre Beschwer- an die Polizei gewandt, um die Misshandlungen den ab, und seine Entscheidungen wurden so- anzuzeigen und Hilfe zu erbitten, jedoch wohl durch das Berufungsgericht als auch wurde ihr Fall angeblich als »unwichtig« und durch den Obersten Gerichtshof bestätigt. »irrelevant« abgetan. Nach breiter Berichter- stattung über den Fall nahmen die Behörden Recht auf freie Meinungsäußerung ihren Mann fest und legten ihm »absichtliche Im November 2010 wurde Nikol Paschinjan, ein schwere Gesundheitsschädigung« zur Last. Anhänger der Opposition und Chefredakteur der Zeitung Haykakan Zhamanak, Berichten Gewaltlose politische Gefangene zufolge von Unbekannten überfallen, während Ende 2010 verbüßten 73 Männer Haftstrafen, er sich zur Verbüßung einer revidierten Haft- weil sie sich aus Gewissensgründen geweigert strafe von drei Jahren und elf Monaten im Ge- hatten, Militärdienst zu leisten. Der alternativ fängnis befand. Ursprünglich hatte man ihn im zum Dienst an der Waffe angebotene Zivil- Januar unter der Anklage, im Jahr 2008 Mas- dienst stand nach wie vor unter Kontrolle des senunruhen organisiert zu haben, zu sieben Militärs. Im November verhandelte die Große Jahren Haft verurteilt. Aus der Haft heraus ver- Kammer des Europäischen Gerichtshofs für fasste er weiterhin Artikel für seine Zeitung. Menschenrechte über einen Einspruch, den Sein Anwalt berichtete, dass Nikol Paschinjan der Kriegsdienstverweigerer Vahan Bajatjan ge- bereits zuvor mit gewaltsamen Übergriffen be- gen die Entscheidung des Gerichtshofs im droht worden war, falls er nicht aufhöre, in sei- Jahr 2009 eingelegt hatte. Danach sei sein ner Zeitung die angeblichen korrupten Prakti- Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit ken im Strafvollzugssystem anzuprangern. nicht verletzt worden, als er 2002 wegen Kriegs- Nach dem Überfall wurde der Journalist in eine dienstverweigerung verurteilt worden war. andere Haftanstalt verlegt. 2009 erklärte der Gerichtshof, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissens- Gewalt gegen Frauen und Mädchen gründen durch keinen Artikel der Konvention Im März 2010 setzte die Regierung auf Anord- gewährleistet sei. In einer abweichenden Mei- nung des Ministerpräsidenten den ressort- nung gab eine Richterin des Gerichtshofs zu übergreifenden Staatlichen Ausschuss gegen Protokoll, das Urteil ignoriere die fast univer- geschlechtsspezifische Gewalt ein. Entgegen sell akzeptierte Rechtsauffassung, dass das einer Empfehlung des UN-Ausschusses zur Be- Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Ge- seitigung jeder Form von Diskriminierung der wissensgründen elementar für die Rechte auf Frau (CEDAW-Ausschuss) aus dem Jahr 2009 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit kam die Regierung indes weder damit voran, sei. Gesetze zu verabschieden, die sich speziell ge- gen Gewalt gegen Frauen richten, noch Schutzeinrichtungen bereitzustellen. Im Be- richtsjahr existierte lediglich eine von der NGO Women’s Rights Centre mithilfe ausländischer Spendengelder unterhaltene Notunterkunft für Opfer familiärer Gewalt.

Armenien 87 kaum Fortschritte zu verzeichnen. Etwa Aserbaidschan 600000 Menschen, die aufgrund des Konflikts zu Binnenflüchtlingen geworden waren, litten Amtliche Bezeichnung: Republik Aserbaidschan weiterhin unter diskriminierenden Meldebedin- Staatsoberhaupt: Ilham Älijew gungen und mangelhaften Wohnverhältnis- Regierungschef: Artur Rasizade sen. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 8,9 Mio. Recht auf freie Meinungsäußerung Lebenserwartung: 70,8 Jahre Drohungen, Schikanierungen und Akte der Ge- Kindersterblichkeit (m/w): 54 / 52 pro 1000 walt gegen Journalisten und zivilrechtliche Ak- Lebendgeburten tivisten blieben weiterhin ungeahndet und führ- Alphabetisierungsrate: 99,5% ten zu einer zunehmenden Selbstzensur. Straf- und zivilrechtliche Maßnahmen zur Ahn- Journalisten und zivilgesellschaftliche dung von Verleumdung wurden eingesetzt, Aktivisten waren auch im Jahr 2010 um Kritiker zum Schweigen zu bringen, und Schikanen ausgesetzt. Die Behörden ver- führten zu Gefängnisstrafen und hohen Geld- boten weiterhin Demonstrationen im bußen gegen Journalisten. Zentrum der Hauptstadt Baku. NGOs und Am 12. Februar stimmte das Parlament (Milli religiöse Organisationen sahen sich mit Mejlis) einem Verbot von Video-, Foto- oder Schwierigkeiten konfrontiert, wenn sie Sprachaufnahmen von Personen ohne deren ihre Registrierung beantragten. vorherige Zustimmung zu, von dem nur Poli- zeikräfte ausgenommen waren. Hintergrund Journalisten und zivilgesellschaftliche Aktivis- Die Organisation für Sicherheit und Zusam- ten waren häufig Gewalt ausgesetzt und wur- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen menarbeit in Europa (OSZE) beschrieb die den an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert, Parlamentswahlen vom 7. November 2010 als auch durch den exzessiven Einsatz von Gewalt »friedlich«, jedoch »nicht ausreichend, um durch Polizeibeamte. 000835 einen bedeutenden Fortschritt in der demokra-  Polizeibeamte nahmen sieben Journalisten tischen Entwicklung des Landes darzustel- fest, die über die Proteste vom 27. April 2010 len«. gegen die harte Linie der Regierung in Bezug Vor dem Hintergrund von Auseinanderset- auf die Versammlungs- und Meinungsfreiheit zungen entlang der Waffenstillstandslinie zwi- berichten wollten. Wie es hieß, zerstörten die schen Aserbaidschan und Armenien und einer Polizisten die Kameras von Mehman Husey- Erhöhung der Verteidigungsetats beider Län- nov von der Medienrechtsorganisation Institute der waren bei den Verhandlungen zur Beile- for Reporter Freedom and Safety (IRFS) und gung des Konflikts um Nagorny-Karabach un- von Afgan Mukhtarli von der Zeitung Yeni Mu- ter der Federführung des OSZE-Büros in Minsk savat. Nach vorliegenden Meldungen wurde Mehman Huseynov bei der Auflösung des Pro- testzugs außerdem am Bein verletzt. Während der Wahlen wurden einige Journa- listen mit Gewalt aus den Wahllokalen vertrie- ben und von der Polizei festgenommen. Sie hat- ten versucht, über Wahlmanipulationen wie die illegale Abgabe mehrerer Stimmen zu be- richten.  Am 18. November 2010 wurde Bakhtiyar Ha- jiyev, ein Aktivist und Parlamentskandidat, der

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Wahlmanipulationen aufgedeckt hatte, an der

88 Aserbaidschan Grenze zwischen Aserbaidschan und Geor- Meinungsäußerung und Versammlungsfrei- gien festgenommen und bis zu seiner Freilas- heit in Baku befunden hatten, und drängten sie sung eine Nacht in einem Rekrutierungszen- in Minibusse und Polizeiwagen. 40 von ihnen trum des Militärs festhalten. Ihm wurde mit der wurden an den Stadtrand transportiert und so- Zwangsverpflichtung für die Armee gedroht, fort auf freien Fuß gesetzt, während 30 andere obwohl er als immatrikulierter Student und Par- auf eine Polizeistation gebracht und erst nach lamentskandidat vom Militärdienst befreit war. fünf Stunden freigelassen wurden. Zehn der  Am 22. April 2010 entschied der Europäische Protestierenden beschuldigte man, sich der Gerichtshof für Menschenrechte, dass der Verhaftung widersetzt und gegen die öffentli- Zeitungsherausgeber und Journalist Eynulla che Ordnung verstoßen zu haben. Sie wurden Fatullayev zu Unrecht inhaftiert sei, und ord- erst am späten Abend freigelassen. Bereits am nete seine sofortige Freilassung an. Der Journa- 13. April hatte die Polizei eine ähnliche, von der list war wegen Verleumdung, Anstiftung zum oppositionellen Musavat-Partei (Gleichheits- Rassenhass, Terrorismus und Steuerhinterzie- partei) organisierte Protestaktion am selben Ort hung zu achteinhalb Jahren Gefängnis verur- auseinandergetrieben. Dabei hatte sie 47 Per- teilt worden. Fatullayev blieb in Haft und wurde sonen festgenommen und nach einigen Stun- am 6. Juli von einem Gericht in Baku wegen den wieder freigelassen. des Besitzes illegaler Drogen zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Am 11. November Recht auf Vereinigungsfreiheit hob der Oberste Gerichtshof die Anklagen Ver- Weiterhin wurden Gesetzeslücken im Hinblick leumdung, Anstiftung zum Rassenhass und auf die Genehmigung von NGOs dazu verwen- Terrorismus auf. Wegen des Vorwurfs des Dro- det, Organisationen an der gesetzlichen Regis- genbesitzes, der von den meisten für konstru- trierung zu hindern. Auch einigen religiösen iert gehalten wurde, blieb Eynulla Fatullayev je- Gemeinschaften wurde die Registrierung ver- doch weiter inhaftiert. weigert, oder sie hatten nach der Verschärfung  Zwei jugendliche Aktivisten und Blogger, Ad- des Gesetzes zur Religionsfreiheit im Jahr 2009, nan Hajizade und Emin Abdullayev (dessen nach der Gemeinschaften ohne Registrierung Name als Blogger Emin Milli lautet), die seit illegal sind, Schwierigkeiten, eine neue Zulas- dem 8. Juli 2009 aufgrund konstruierter Kla- sung zu erhalten. Einem im Juni vom Men- gen wegen »Rowdytums« festgehalten worden schenrechtskommissar des Europarats veröf- waren, wurden am 18. bzw. 19. November fentlichten Bericht zufolge konnten weniger 2010 unter Vorbehalt freigelassen. Sie hatten 16 als die Hälfte der 534 zuvor registrierten religiö- Monate ihrer 24- bzw. 30-monatigen Haftstra- sen Gemeinschaften eine erneute Registrie- fen verbüßt. Bis zum Jahresende waren ihre Ur- rung erwirken. teile noch nicht aufgehoben worden. Gewalt gegen Frauen Recht auf Versammlungsfreiheit Am 25. Mai 2010 verabschiedete das Parlament Demonstrationen waren in der Innenstadt von einen Gesetzentwurf, der familiäre Gewalt un- Baku auch weiterhin verboten. Im gesamten ter Strafe stellt und die Schaffung von Hilfszen- Berichtsjahr, insbesondere jedoch während des tren für Opfer von Gewalt vorsieht. Wahlkampfs, wurden oppositionelle Parteien daran gehindert, Kundgebungen oder Demons- Amnesty International: Berichte trationen abzuhalten, oder man wies ihnen für  Azerbaijan: Continuation of crackdown on dissent diese Zwecke ungeeignete Orte wie Baustellen (EUR 55/001/ 2010)  zu. Azerbaijani bloggers lose appeal against fabricated  Am 27. April 2010 nahmen Polizeibeamte charges, 10 March 2010  Imprisoned Azerbaijani journalist faces new jail term, etwa 80 Personen fest, die sich auf dem Weg 5 July 2010 zu einer Kundgebung für die Rechte auf freie

Aserbaidschan 89  Azerbaijan urged to release journalist after court revokes Einschüchterungen, Schikanen und Ein- charges, 12 November 2010 schränkungen der Vereinigungs- und  Azerbaijan urged to end harassment of activists, 19 Novem- der Versammlungsfreiheit. 2010 traten ber 2010 Gesetze in Kraft, die das Engagement für Menschenrechte stark beschneiden. Die Arbeit der unabhängigen Presse wurde erheblich eingeschränkt. Um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, drohten die Behörden flächendeckend damit, staatliche Ressourcen, Hilfsleis- Äthiopien tungen und berufliche Aufstiegschancen einzuschränken. Amtliche Bezeichnung: Demokratische Bundesrepublik Äthiopien Hintergrund Staatsoberhaupt: Girma Wolde-Giorgis Im Mai 2010 wurden das Parlament und der Regierungschef: Meles Zenawi Staatsrat gewählt. Die EPRDF und ein kleines Todesstrafe: nicht abgeschafft Parteienbündnis gewannen 99,6% der Abge- Einwohner: 85 Mio. ordnetensitze. Das Oppositionsbündnis Forum Lebenserwartung: 56,1 Jahre für Demokratischen Dialog in Äthiopien, Me- Kindersterblichkeit (m/w): 138 / 124 pro 1000 drek, warf der Regierung Wahlbetrug vor und Lebendgeburten forderte eine Wiederholung der Wahl. Die staat- Alphabetisierungsrate: 35,9% liche Wahlbehörde wies die Forderung zurück; eine vor dem Obersten Gerichtshof eingelegte Die regierende Revolutionäre Demokrati- Beschwerde wurde abgewiesen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sche Front des äthiopischen Volkes (Et- Im Abschlussbericht der EU-Wahlbeobach- hiopian People’s Revolutionary Democra- terkommission hieß es, die Wahlen hätten in- tic Front – EPRDF) ging aus den Parla- ternationalen Standards nicht entsprochen. In 000835 mentswahlen im Mai 2010 als Siegerin den Schlussfolgerungen wurde deutlich, dass hervor. Die Wahlen waren geprägt von es für die Parteien, die bei den Wahlen angetre- ten waren, keine Chancengleichheit gegeben hatte. Es war von Verletzungen der Meinungs-, der Versammlungs- und der Bewegungsfrei- heit die Rede, denen Mitglieder von Oppositi- onsparteien ausgesetzt waren. Weiter hieß es in dem Bericht, dass die Regierungspartei staatliche Mittel missbräuchlich eingesetzt habe und unabhängige Medien nicht über die Wahlen berichten konnten. Der äthiopische Ministerpräsident bezeichnete den Kommissi- onsbericht als »baren Unsinn«, und der Leiter der Wahlbeobachterkommission durfte nicht nach Äthiopien einreisen, um den Bericht dort vorzustellen. Äthiopien gehört zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Afrika. Die Regierung wurde von den UN dafür gelobt, dass ihr Vorhaben, die Armut bis 2015 um

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht 50% zu reduzieren, nach Plan verläuft. Die UN

90 Äthiopien stellten jedoch auch fest, dass die zuneh- bei sich gehabt. Wie es in Berichten hieß, wur- mende Ungleichheit in den Städten und den sie binnen einer Woche vor Gericht gestellt schlechte Bildungsstandards die Entwicklung und schuldig gesprochen. Am 23. und am behindern und dass Äthiopien in den Berei- 24. Mai wurden in der Region Oromia zwei Par- chen Gleichstellung der Frauen und Mütter- teimitglieder des Volkskongresses der Oromo sterblichkeit keine ausreichenden Fortschritte (Oromo People’s Congress – OPC) erschossen. mache. Die Opposition erklärte, dass die Regierung Protestaktionen verhindern wollte; demgegen- Gewalt und Unterdrückung im Vorfeld über erklärte die Regierung, dass die Männer der Wahlen versucht hätten, in ein Wahllokal einzudringen. Mitglieder von Oppositionsparteien wurden vor Medrek berichtete im Februar 2010, dass be- den Wahlen im Mai mehrfach gedrängt, aus waffnete Männer Mitglieder des Bündnisses ihren Parteien auszutreten. Dabei wurden daran gehindert hätten, sich als Kandidaten re- staatliche Ressourcen, Hilfeleistungen und gistrieren zu lassen. berufliche Aufstiegschancen als Druckmittel Mitglieder von Oppositionsparteien wurden eingesetzt. Bildungschancen, Arbeitsplätze in nach Angaben ihrer Parteien im Auftrag der der Verwaltung und Nahrungsmittelhilfe waren EPRDF im Vorfeld der Wahlen schikaniert, ver- häufig an eine Mitgliedschaft in der Regie- prügelt und inhaftiert. Berichten zufolge wur- rungspartei gebunden. Wähler in Addis Abeba den Hunderte von Menschen in der Region sollen unmittelbar vor den Wahlen mit dem Oromia willkürlich festgenommen, häufig mit Entzug von staatlicher Unterstützung bedroht der Begründung, dass sie Anhänger der Oro- worden sein, falls sie nicht für die EPRDF stim- mo-Befreiungsfront (Oromo Liberation Front – men würden. OLF), einer bewaffneten Gruppe, seien. Ange- Im Vorfeld der Wahlen kam es zu politisch hörige der ethnischen Gruppe der Oromo wur- motivierten Gewalttaten. den nach vorliegenden Informationen ohne Ge-  Aregawi Gebreyohannes, Kandidat der Partei richtsverfahren inhaftiert sowie gefoltert und Arena-Tigray, die dem Oppositionsbündnis getötet. Am 7. Februar berichtete Dr. Merera Medrek angehört, wurde in Tigray am 2. März Gudina, Vorsitzender des OPC und des Oppo- 2010 von sechs unbekannten Männern ersto- sitionsbündnisses Medrek, den Medien, dass in chen. Die Regierung wies Vorwürfe der Opposi- einem Zeitraum von nicht einmal fünf Mona- tion zurück, dass der Mord politisch motiviert ten mindestens 150 Funktionäre der Oromo- sei, und erklärte, es habe sich um einen »priva- Opposition festgenommen worden seien. ten Streit« in einer Bar gehandelt. Ein Mann wurde wegen seiner mutmaßlichen Mittäter- Recht auf freie Meinungsäußerung – schaft zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Journalisten Opposition bezeichnete den Prozess als »arran- Die unabhängige Presse des Landes konnte giert und inszeniert« und erklärte, Aregawi Ge- sich kaum betätigen. Journalisten arbeiteten breyohannes sei vor seiner Ermordung von Re- in einem Klima der Angst, weil sie Repressalien gierungsseite schikaniert worden. und strafrechtliche Verfolgung vonseiten des  Es gingen weitere Meldungen über ähnliche Staates befürchten mussten. Informationen Tötungen ein. So berichtete die Partei Oromo wurden von staatlichen Stellen wie der Radio- Federalist Congress, dass Biyansa Daba, ein und Fernsehbehörde ERTA und dem staatli- Parteimitglied, am 7. April 2010 wegen seiner chen Verlag Ethiopian Press streng kontrol- politischen Betätigung erschlagen worden sei. liert. Die Regierung gab im Mai bekannt, dass ein  Im Januar 2010 wurde Ezeden Muhammad, Polizist von zwei Oppositionsanhängern ersto- Verleger und Herausgeber von Hakima, der chen worden sei. Diese seien geständig gewe- größten islamischen Wochenzeitung Äthio- sen und hätten Mitgliedsausweise von Medrek piens, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil

Äthiopien 91 er 2008 mit einer Kolumne, in der er Kommen- mit Wählern, Kandidaten und Wahlbeobach- tare des Ministerpräsidenten kritisiert hatte, tern am Wahltag verboten. »Aufwiegelung« betrieben haben soll. Er kam Das Gesetz über Massenmedien und Infor- im September wieder frei. Am selben Tag mationsfreiheit (Mass Media and Freedom of wurde jedoch sein 17-jähriger Sohn Akram Eze- Information Proclamation) blieb in Kraft. Es den festgenommen. Dieser hatte während der räumte der Regierung unverhältnismäßige Be- Haft seines Vaters als Herausgeber der Zeitung fugnisse ein, um Gerichtsverfahren wegen Ver- fungiert. Er kam später wieder frei, und die leumdung anzustrengen, Geldstrafen zu ver- Vorwürfe gegen ihn wurden fallengelassen. hängen sowie Medien die Registrierung und Li-  Am 4. März 2010 meldete der Radiosender zenzen zu verweigern. Voice of America, dass seine amharischspra- chigen Sendungen gestört würden. Am 19.März Menschenrechtsverteidiger erklärte Ministerpräsident Zenawi, dass Voice Das 2009 verabschiedete Gesetz über gemein- of America »destabilisierende Propaganda« nützige Organisationen und Verbände trat in ausgestrahlt habe. Er verglich den Sender mit Kraft. Das Gesetz legt zivilgesellschaftlichen Or- Radio Mille Collines, dem ruandischen Radio- ganisationen umfassende Kontrollen auf. Ver- sender, der im Vorfeld und während des Völ- stöße gegen das Gesetz können mit strafrechtli- kermords in Ruanda von 1994 den Hass zwi- chen Maßnahmen, einschließlich Geld- und schen den Ethnien in Ruanda geschürt hatte. Haftstrafen, geahndet werden. Äthiopische  Woubshet Taye, Chefredakteur der Awramba NGOs, die zu den Themen Menschenrechte Times, legte seine Tätigkeit im Mai 2010 nie- und Demokratie arbeiten, dürfen nicht mehr als der, nachdem ihn die äthiopische Medienauf- 10% des Gesamtbudgets aus dem Ausland sichtsbehörde gewarnt hatte, dass man ihn erhalten, da sie sonst mit einem Betätigungs- »für alles Blutvergießen, zu dem es im Zusam- verbot belegt werden. Das Gesetz bewirkte, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen menhang mit den bevorstehen Wahlen kom- dass Menschenrechtsverteidiger Angst hatten, men könnte, zur Verantwortung ziehen werde«. sich zu engagieren, und führte zu Selbstzen- Die Warnung erfolgte, nachdem eine Woche sur. 000835 zuvor in der Awramba Times ein Artikel über Einige Organisationen verlagerten ihre Tätig- eine Demonstration für die Demokratie wäh- keitsfelder erheblich und stellten ihre Arbeit rend des Wahlkampfs im Jahr 2005 erschienen zum Thema Menschenrechte ein. Mehrere war. Menschenrechtsverteidiger flohen ins Aus- Im März 2010 setzte der Oberste Gerichtshof land, weil sie nach Inkrafttreten des Gesetzes die Geldstrafen wieder in Kraft, die 2007 ge- Repressalien seitens der Regierung befürchte- gen vier unabhängige Verlage im Zuge des har- ten. ten Vorgehens der Regierung gegen die Me- Eine kleine Zahl von Organisationen setzte dien nach den Wahlen 2005 verhängt worden ihre Arbeit in den Bereichen Menschenrechte waren. Der Staatspräsident hatte die Strafen und Demokratie fort, so u. a. der Äthiopische 2007 aufgehoben. Die Verleger waren nicht in Rat für Menschenrechte (Ethiopian Human der Lage, die erneut verhängten Geldstrafen Rights Council – EHRCO) und die Vereinigung aufzubringen. Die Regierung forderte daraufhin der Äthiopischen Rechtsanwältinnen (Ethio- das erstinstanzliche Strafgericht auf, die Ver- pian Women Lawyers Association – EWLA). mögenswerte der Verleger und ihrer Ehefrauen Durch die neuen Finanzierungsregeln waren einzufrieren. aber beide Organisationen gezwungen, die Zahl Der Staat zensierte Internetinhalte und blo- ihrer Mitarbeiter zu verringern und Büros zu ckierte einige Websites. Die staatliche Wahlbe- schließen. Ende 2010 hatte der EHRCO die Zahl hörde führte eine Presseregelung ein, welche seiner Büros von zwölf auf drei reduziert. Ob- die Tätigkeit von Journalisten während der wohl es dem EHRCO und der EWLA gelang, bei

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Wahlen einschränkte; u. a. waren Interviews der Behörde für zivilgesellschaftliche Organi-

92 Äthiopien sationen eine Neuregistrierung zu erwirken, nach ihrer Freilassung an den Folgen ihrer Be- wurden die Konten der beiden Organisationen handlung in Haft. Ende 2009 gesperrt. Die Sperrung bestand  Die gewaltlose politische Gefangene Birtukan Ende 2010 weiterhin. Mideksa, Vorsitzende der Oppositionspartei Union für Demokratie und Gerechtigkeit (Unity Terrorismusbekämpfung for Democracy and Justice Party), wurde im und Sicherheit Oktober freigelassen. Nach zwei Jahren Ge- Das Antiterrorgesetz, dessen Definition von fängnis war sie Dezember 2008 erneut festge- »Terrorakten« sehr unscharf gehalten ist und nommen worden und hatte sich seitdem in Haft nach dem die Ausübung der Rechte auf freie befunden. Meinungsäußerung und auf friedliche Ver- sammlungen mit Strafe belegt werden kann, Konflikte in den Regionen Somali blieb in Kraft. Durch die Gefahr, strafrechtlich und Oromia verfolgt zu werden, entstand ein Klima der Nach wie vor gab es vereinzelt Kämpfe zwi- Selbstzensur. Dies war auch bei Journalisten schen der OLF und der äthiopischen Armee. der Fall, die wegen Artikeln über Einzelperso- Äthiopische Flüchtlingskinder erzählten, dass nen oder Gruppen, die als »Terroristen« gel- sie von der OLF in Kenia zwangsrekrutiert und ten, strafrechtlich verfolgt werden können. zurück nach Äthiopien geschmuggelt worden seien, um dort als Träger und Köche zu die- Gewaltlose und andere politische nen. Gefangene In der Region Somali kam es auch 2010 im Zahlreiche politische Gefangene und mutmaßli- Zusammenhang mit dem seit vielen Jahren che gewaltlose politische Gefangene blieben schwelenden Konflikt zwischen der äthiopi- 2010 in Haft. schen Armee und der Ogaden-Befreiungsfront Nach wie vor nahm die Regierung Hunderte (Ogaden National Liberation Front – ONLF) zu von Angehörigen der Oromo unter dem Vor- Kämpfen. Am 4. Februar veröffentlichte die wurf fest, Anhänger der OLF zu sein. Diese An- ONLF eine Erklärung, in der sie die Afrikanische klagepunkte waren dem Anschein nach häufig Union aufforderte, Menschenrechtsverletzun- politisch motiviert. gen, insbesondere mutmaßliche Kriegsverbre-  Im März wurden 15 Oromo wegen der Mit- chen der äthiopischen Armee in der Region, gliedschaft in der OLF zu Strafen verurteilt, die zu untersuchen. Die Regierung ließ kaum aus- von zehn Jahren Gefängnis bis zur Todesstrafe ländische Journalisten und auch bestimmte reichten. Die 15 Frauen und Männer, die 2008 humanitäre Hilfsorganisationen nicht in die Re- mit anderen Oromo festgenommen worden wa- gion Somali. Die Region war überwiegend ren, kamen aus unterschiedlichen Berufen. nicht zugänglich. Ein Journalist des Radiosen- Viele hatten sich vor ihrer Festnahme und dem ders Voice of America wurde im Juni aus gemeinsamen Prozess gegen sie nicht einmal Äthiopien ausgewiesen, nachdem er über Zu- gekannt. Die übrigen gemeinsam mit ihnen sammenstöße zwischen der Armee und der Festgenommenen waren in der Zwischenzeit ONLF berichtete hatte. wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Berichten zufolge wurde am 12. Oktober 2010 Es wurde kritisiert, dass der Prozess nicht den zwischen einer abtrünnigen Gruppierung der internationalen Standards für faire Gerichtsver- ONLF und der Regierung ein Friedensabkom- fahren entsprach und im Vorfeld der Wahlen men unterzeichnet. Dem Vernehmen nach ist politisch motiviert war. Viele Festgenommene den Mitgliedern der Gruppierung Schutz vor gaben an, sie seien im Gewahrsam der Behör- Strafverfolgung garantiert worden, und die Re- den gefoltert worden. Zwei festgenommene gierung will Gefangene freilassen. Der Mehr- Männer, die vor dem Prozess aus der Haft frei- heitsflügel der ONLF soll das Abkommen als kamen, starben Berichten zufolge unmittelbar »irrelevant« bezeichnet haben.

Äthiopien 93 Im November gingen Berichte ein, nach Die Regierung setzte 2010 das Antidis- denen in der Ortschaft Degeh Bur mehr als kriminierungsgesetz wieder in Kraft, 100 Zivilpersonen festgenommen und in ein doch wurde der Schutz der Menschen- Militärgefängnis nach Jijiga gebracht wurden. rechte nur teilweise wiederhergestellt. Im Dezember sollen äthiopische Soldaten ein Der UN-Ausschuss für die Beseitigung Dorf in der Korahe-Zone niedergebrannt der Rassendiskriminierung kritisierte haben, wobei drei Zivilpersonen ums Leben ka- die Regierung wegen der fortwährenden men. Diskriminierung der indigenen Bevölke- rung und ihrer starken Benachteiligung. Todesstrafe Die Regierung stellte die Bearbeitung 2010 wurden zwar Todesurteile verhängt, doch von Asylanträgen afghanischer und sri- gingen keine Berichte über Hinrichtungen ein. lankischer Staatsbürger vorübergehend  Jemua Ruphael, ein ehemaliger Mitarbeiter ein, sie verpflichtete sich jedoch, eine der Regionalverwaltung, wurde im Juni wegen Reihe von Kindern und Familien aus Mordes und wegen der Unterstützung einer von den Hafteinrichtungen für Flüchtlinge zu Eritrea unterstützten bewaffneten Gruppe zum entlassen. Tode verurteilt.  Hassan Mohammed Mahmoud, ehemaliges Rechte der indigenen Bevölkerung Mitglied der bewaffneten, in der Region Somali Im Juni 2010 setzte die Regierung das Antidis- agierenden Gruppe Al-Itihad Al-Islamiya, wurde krimierungsgesetz (Racial Discrimination Act) im März für schuldig befunden, in den 1990er- wieder in Kraft, das 2007 in den Gemeinden der Jahren Terrorakte verübt zu haben. Gegen ihn indigenen Australier (Aborigines) im Northern erging ein Todesurteil. Territory aufgehoben worden war. Damals hatte die Regierung eine Reihe von Gegenmaßnah- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Amnesty International: Berichte men ergriffen, nachdem ein Bericht ein hohes  Ethiopia: Amnesty International calls on the Government of Maß von sexuellem Missbrauch in diesem Ethiopia not to execute Melaku Tefera (AFR 25/001/2010) Territorium festgestellt hatte. Diese Maßnah- 000835  Ethiopia releases opposition leader, 6 October 2010 men hatten diskriminierenden Charakter: So durften die Aborigines beispielsweise ihr Ein- kommen nicht mehr selbst verwalten. Durch die erneute Inkraftsetzung des Gesetzes wurde der Menschenrechtsschutz jedoch nur zum Teil wiederhergestellt. So wurden weder Maß- nahmen gegen die fortwährende Diskriminie- Australien rung ergriffen, noch wurde eine Wiedergut-

Amtliche Bezeichnung: Australien Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten durch die Generalgouverneurin Quentin Bryce Regierungschefin: Julia Gillard (löste im Juni Kevin Rudd im Amt ab) Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 21,5 Mio. Lebenserwartung: 81,9 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 Lebendgeburten S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

94 Australien machung für erlittene Schäden in Aussicht Gewalt gegen Frauen und Mädchen gestellt. Im September 2010 veröffentlichte die Regie- Im August erschien Australien vor dem UN- rung einen Entwurf für einen Nationalen Plan Ausschuss für die Beseitigung der Rassendis- zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und kriminierung. Zu den zentralen Anliegen des Kinder. Ausschusses zählte, dass die australische Ver- fassung keine Bestimmungen zum Schutz vor Rechtliche Entwicklungen Rassendiskriminierung enthält und dass der Im April wurden Gesetze verabschiedet, die Fol- Menschenrechtsschutz nicht vollständig wie- ter als eigenen Straftatbestand definieren und derhergestellt wurde. Gegenstand der Sitzung sicherstellen, dass die Todesstrafe nirgendwo in war auch der unverhältnismäßig hohe Anteil Australien wieder eingeführt werden kann. von indigenen Personen, die inhaftiert waren,  Im Oktober 2010 wurde ein junges Paar frei- und dass weiterhin indigene Häftlinge im Ge- gesprochen, das sich im Bundesstaat Queens- wahrsam starben. land vor Gericht verantworten musste, weil es selbst eine Abtreibung vorgenommen hatte. Flüchtlinge und Asylsuchende Das Verfahren war ein Indiz für die unterschied- Im April 2010 stellte die Regierung die Bearbei- liche Auslegung der Abtreibungsgesetze in tung von Asylanträgen sri-lankischer und af- den einzelnen Bundesstaaten. Es machte auch ghanischer Staatsbürger für drei bzw. für sechs deutlich, dass Abtreibung im Rahmen der Ge- Monate ein. sundheitsgesetzgebung geregelt werden sollte. Im Juni nahm sie das umstrittene Internie- Nach einer umfassenden öffentlichen Befra- rungslager Curtin wieder in Betrieb und inhaf- gung empfahl ein von der Regierung einge- tierte einige Familien in der abgelegenen Berg- setzter Ausschuss ein Menschenrechtsgesetz baustadt Leonora in Westaustralien. für Australien. Die Regierung griff diese Emp- Im September gab der Einwanderungsminis- fehlung jedoch nicht auf. ter Pläne bekannt, wonach 300 Asylsuchende auf einem Luftwaffenstützpunkt in der Stadt Weipa im äußersten Norden von Queensland inhaftiert werden sollen.  Drei sri-lankische Asylsuchende, die von Australien nach Sri Lanka abgeschoben wor- Bahamas den waren, wurden dort nach ihrer Rückkehr festgenommen und gefoltert. Amtliche Bezeichnung: Durch die Inhaftierung auf unbestimmte Zeit Commonwealth der Bahamas und die schlechten Bedingungen in einigen Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten Lagern drohte vielen inhaftierten Asylsuchen- durch Generalgouverneur Sir Arthur Alexander den die Gefahr, dass sie sich selbst verletzten Foulkes (löste im April Arthur D. Hanna im Amt oder psychisch erkrankten. ab) Im Oktober 2010 verpflichtete sich die Regie- Regierungschef: Hubert A. Ingraham rung, mehrere hundert Kinder und Familien Todesstrafe: nicht abgeschafft aus der für Asylbewerber obligatorischen Haft Einwohner: 0,3 Mio. zu entlassen. Die Regierung gab jedoch auch Lebenserwartung: 74,4 Jahre bekannt, es würden zwei neue Hafteinrichtun- Kindersterblichkeit (m/w): 14 / 12 pro 1000 gen für Flüchtlinge eingerichtet, um die Auf- Lebendgeburten nahmekapazitäten des Landes um 1200 Plätze zu erhöhen. Ein großer Teil davon ist für Kinder Der Umgang mit Migranten aus Haiti gab und Familien vorgesehen. Anlass zu Besorgnis. Mindestens fünf Personen wurden zum Tode verurteilt.

Bahamas 95 Gewalt gegen Frauen und Mädchen Der im Juli 2009 eingebrachte Entwurf zur Re- form des Gesetzes über Sexualverbrechen und familiäre Gewalt (Sexual Offences and Do- mestic Violence Act) aus dem Jahr 1991, das Vergewaltigung in der Ehe von der strafrechtli- chen Definition der Vergewaltigung ausnimmt, war bis Ende 2010 noch immer nicht im Parla- ment debattiert worden.

Todesstrafe Mindestens fünf Personen wurden 2010 zum Tode verurteilt. 13 zum Tode verurteilte Perso- nen warteten noch auf eine Überprüfung ihrer Urteile, nachdem der in Großbritannien ansäs- sige Rechtsausschuss des Kronrats (Judicial Committee of the Privy Council) im Jahr 2006 entschieden hatte, die bei Mord zwingend vor- Hinrichtungen fanden 2010 jedoch geschriebene Todesstrafe aufzuheben. nicht statt. Im Dezember 2010 stimmten die Bahamas gegen eine Resolution der UN-Generalver- Polizei und Sicherheitskräfte sammlung über ein weltweites Hinrichtungs- Die Mitglieder eines neuen Polizeikommissari- moratorium. ats für Beschwerden wurden ernannt. Es hat 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen das Mandat, Beschwerden über Verstöße durch Polizeibeamte zu überprüfen und un- parteiische Untersuchungen sicherzustellen. 000835 Das Kommissariat war eingerichtet worden, um das seit langer Zeit bestehende Problem der Straflosigkeit für zurückliegende polizeiliche Bahrain Misshandlungen in Angriff zu nehmen. Amtliche Bezeichnung: Königreich Bahrain Asylsuchende und Migranten Staatsoberhaupt: Nach dem Erdbeben in Haiti kündigten die Be- König Hamad bin Issa Al Khalifa hörden an, dass sie die Rückführung haitiani- Regierungschef: scher Migranten aussetzen würden. Kurze Zeit Scheich Khalifa bin Salman Al Khalifa später sollen Migranten aus Haiti, die auf den Todesstrafe: nicht abgeschafft Bahamas eingetroffen waren, jedoch der illega- Einwohner: 0,8 Mio. len Einreise beschuldigt und in ihre Heimat Lebenserwartung: 76 Jahre abgeschoben worden sein. Bis zum Ende 2010 Kindersterblichkeit (m/w): 13 / 13 pro 1000 wurden hunderte Haitianer von den Behörden Lebendgeburten der Bahamas zwangsweise rückgeführt. Alphabetisierungsrate: 90,8% Die Regierung unterließ es, einen Bericht der Migrationsbehörde zu veröffentlichen, der sich Im Jahr 2010 wurden zahlreiche Regie- mit Meldungen über die Misshandlung zahlrei- rungskritiker festgenommen. 25 füh- cher in der Haftanstalt Carmichael Road De- rende Mitglieder von Oppositionsgrup- tention Centre in Gewahrsam gehaltenen Mig- pierungen mussten sich vor Gericht ver-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ranten im Jahr 2009 befasste. antworten, zwei davon in Abwesenheit.

96 Bahrain Ihnen wurde ein Komplott zum Sturz ten die Demonstrierenden Straßenblockaden der Regierung zur Last gelegt. Die 23 an- aus brennenden Reifen und warfen selbst ge- wesenden Aktivisten hatten nach ihrer baute Benzinbomben auf Polizei und Sicher- Verhaftung zunächst keinen Zugang zu heitskräfte. Hunderte von Personen wurden einem Rechtsbeistand. Einige von vor allem im August und September während ihnen gaben an, gefoltert worden zu sein. Protestkundgebungen und Unruhen festge- Es gab weitere unfaire Gerichtsverfah- nommen. Darunter befanden sich auch füh- ren. Die Behörden schränkten das Recht rende Persönlichkeiten der schiitischen Oppo- auf freie Meinungsäußerung ein. Der sition. Die Schiiten stellen die Mehrheit der Be- Zugang zu einigen Internetseiten wurde völkerung Bahrains. Viele der Demonstrieren- gesperrt und der Versand von Rundbrie- den wurden ohne Haftbefehl festgenommen fen mit politischem Inhalt an die Öffent- und blieben anschließend bis zu zwei Wochen lichkeit unterbunden. Die Regierung ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft. enthob die Vorstandsmitglieder einer un- Unabhängige und schiitische Gruppierungen abhängigen Menschenrechtsorganisa- gewannen die Mehrzahl der Sitze bei den Par- tion ihres Amtes. Eine Person wurde hin- lamentswahlen im Oktober 2010. gerichtet. Unfaire Gerichtsverfahren, Folter Hintergrund und andere Misshandlungen Im April 2010 ernannte der König 23 Vorstands- Im Berichtsjahr begannen die Gerichtsverfah- mitglieder der im November 2009 eingerichte- ren gegen Personen, die sich an den Protesten ten Nationalen Menschenrechtsinstitution. Im im August und September beteiligt hatten. In September trat der Vorstandsvorsitzende je- einigen Verfahren wurden Vorwürfe wegen doch zurück. Zwischen ihm und den anderen Folter und anderer Verstöße laut. Zudem soll in Mitgliedern war es zu einer Auseinanderset- einigen Fällen Angeklagten der Zugang zu zung darüber gekommen, wie die Institution auf einem Rechtsbeistand verweigert worden sein. politisch motivierte Festnahmen reagieren  Am 28. Oktober 2010 begann vor dem Obe- sollte. ren Strafgerichtshof (High Criminal Court) in Im gesamten Berichtsjahr kam es in überwie- Manama das Verfahren gegen 25 prominente gend von Schiiten bewohnten Dörfern zu spo- Regierungskritiker, die meisten von ihnen mit radischen Protesten. Sie richteten sich gegen Verbindungen zu al-Haq, einer nicht erlaubten die Regierung und deren mutmaßliche Diskri- oppositionellen Gruppierung. Die Angeklagten minierung von Schiiten auf dem Wohnungs- wurden aufgrund der Antiterrorgesetze von und Arbeitsmarkt. In einigen Fällen errichte- 2006 u. a. beschuldigt, »eine rechtswidrige Or- ganisation gegründet und finanziert zu haben, mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen und die Verfassung außer Kraft zu setzen«. Gegen zwei der Angeklagten, die im Ausland leben, wurde in Abwesenheit verhandelt. Allen Angeklagten wurde zur Last gelegt, Proteste angefacht und öffentliche Unruhen angezettelt zu haben. Die Gefangenen befanden sich während der zwei Wochen vor ihrem Prozess in Haft ohne Kontakt zur Außenwelt. Einige von ihnen berichteten dem Staatsanwalt, dass sie von Beamten des nationalen Sicherheitsdienstes gefoltert und anderweitig misshandelt worden seien. Man habe sie gezwungen, »Geständnisse« zu un-

Bahrain 97 terzeichnen. Mehrere der Angeklagten wurden  Zwei Männer wurden im Jahr 2010 inhaftiert, medizinisch untersucht. Ein staatlicher Ge- weil man ihnen zur Last legte, im August einen richtsmediziner gab an, keine Anzeichen von Mordversuch an einem Zeitungsverleger verübt Folter festgestellt zu haben. Während der An- zu haben. Die beiden Männer sollen gefoltert fangsphase des Prozesses beschwerten sich worden sein, um detaillierte »Geständnisse« die Rechtsanwälte der Angeklagten darüber, von ihnen zu erpressen, die dem Gericht vor- dass sie nur eingeschränkten Zugang zu ihren gelegt wurden. Die Freilassung der Männer Mandanten hätten. Fast alle Angeklagten zo- erfolgte im Dezember, nachdem das Opfer er- gen ihre »Geständnisse« vor Gericht zurück klärt hatte, sie seien nicht die Angreifer ge- und gaben an, dass sie gefoltert und ander- wesen. weitig misshandelt worden seien. Es fand keine unabhängige Untersuchung der Folter- Anwendung unverhältnismäßiger vorwürfe statt, und nur zwei der Angeklagten Gewalt wurden von einem unabhängigen Arzt unter- Sicherheitskräfte sollen 2010 mehrfach mit sucht. Im Dezember legten die Verteidiger der scharfer Munition auf Demonstrierende und 23 Angeklagten ihre Mandate nieder, weil das andere Personen geschossen haben. Im Okto- Gericht ihre Anträge ignorierte. Die Angeklagten ber erklärte der Innenminister gegenüber lehnten die daraufhin ernannten Anwälte ab Amnesty International, dass die Sicherheits- und verweigerten die Zusammenarbeit mit kräfte alles versucht hätten, die Proteste und ihnen. Ende 2010 dauerte der Prozess noch die Ausschreitungen ohne Anwendung von un- an. verhältnismäßiger Gewalt zu unterbinden, und Weitere Gerichtsverfahren waren gegen Per- dass bei den Aktionen niemand verletzt worden sonen anhängig, denen Tötungen und das In- sei. Brand-Stecken von Autos und Reifen sowie  Im März wurden die Krankenpfleger Ibrahim 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen andere Sachbeschädigung während regie- al-Dumistani und Abdel-Aziz Nasheeb festge- rungskritischer Demonstrationen und Unruhen nommen. Sie hatten versucht, Hussain Ali al- in den Vorjahren zur Last gelegt wurden. Auch Sahlawi zu helfen, der offensichtlich von der 000835 in diesen Verfahren gaben einige der Angeklag- Polizei während der Auflösung einer Protest- ten an, gefoltert oder misshandelt worden zu kundgebung in Karzakan durch Schüsse ver- sein, um ein »Geständnis« zu erzwingen. letzt worden war. Dabei hatten Demonstrie-  Im März 2010 verurteilte das Oberste Beru- rende Reifen in Brand gesetzt. Der Verletzte fungsgericht 19 Männer zu einer dreijährigen gab an, er habe an den Protesten gar nicht teil- Haftstrafe. Sie waren für schuldig befunden genommen und sei von der Polizei vor seinem worden, im Jahr 2008 während einer Demons- Haus niedergeschossen worden. Die beiden tration gegen die Regierung in Karzakan einen Krankenpfleger wurden bezichtigt, bei einer Polizisten getötet zu haben. Im Oktober 2009 »Vertuschung« geholfen und »ihre medizini- waren die Angeklagten von einem erstinstanzli- schen Berufe missbraucht« zu haben. Sie ka- chen Gericht freigesprochen worden. Das Ge- men umgehend gegen Kaution frei. richt befand, dass es ausreichend Beweise gebe, dass die Angeklagten während ihrer Recht auf freie Meinungsäußerung Untersuchungshaft gefoltert worden seien, Die Regierung warnte Kritiker des Königshau- um »Geständnisse« zu erpressen. Dieses Er- ses und der Regierung vor strafrechtlicher Ver- mittlungsergebnis wurde vom Obersten Beru- folgung unter dem Presse- und Veröffentli- fungsgericht ignoriert. Den Foltervorwürfen chungsgesetz von 2002. Demnach riskieren der Männer ist bisher nicht nachgegangen Kritiker des Königs und Personen, die »zum worden. Hass gegen die Regierung aufwiegeln«, Ge- Es wurden noch weitere Fälle von Folterungen fängnisstrafen. Es gab jedoch keine Berichte

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gemeldet. über derartige strafrechtliche Verfolgungen.

98 Bahrain Die Regierung ging nach der Festnahme der daran gehindert, nach Saudi-Arabien auszu- 23 Oppositionsaktivisten weiterhin mit Härte reisen. Nach internationalen Protesten gegen gegen Andersdenkende vor. Am 28. August be- dieses Vorgehen konnte er seine Reise im Ok- rief sich der Staatsanwalt auf Artikel 246 des tober antreten. Strafgesetzes und verbot den Medien und wei- teren Institutionen die Veröffentlichung oder Rechte von Arbeitsmigranten Ausstrahlung von Einzelheiten über Festnah- Trotz der Neuregelung des Sponsorensystems men. Zuwiderhandlungen könnten mit Ge- (kafala) im Jahr 2009 wurden erneut ausländi- fängnisstrafen bis zu einem Jahr geahndet wer- sche Arbeitsmigranten, vor allem Hausange- den. Obwohl es keine Berichte über straf- stellte, ausgebeutet und misshandelt. Das rechtliche Verfolgungen gab, verbot die Regie- neue System erlaubt es ausländischen Arbeit- rung zahlreiche Publikationen und Blogs und nehmern, ihre Arbeitsstelle ohne Zustimmung sperrte den Zugang. Der Direktor der staatli- des bisherigen Arbeitgebers zu wechseln. Meh- chen Medienbehörde teilte im Oktober mit, reren Berichten zufolge konfiszierten Arbeitge- dass das Bahrain-Online-Forum gesperrt wor- ber die Pässe der Arbeitsmigranten, die sich so- den sei. Das Forum habe zu Hass und Gewalt mit keine andere Stelle suchen konnten. Eine angezettelt. Er sagte weiter, dass andere Inter- Reihe von Arbeitsmigranten hat sich offensicht- netseiten blockiert worden seien. Sie hätten, lich im Berichtsjahr das Leben genommen. so seine Angaben, Material veröffentlicht, dass Der Grund waren schlechte Lebens- und Ar- gegen bahrainische Gesetze verstoße. Rund- beitsbedingungen. Die bahrainische Gesetz- briefe politischer Vereinigungen seien ebenfalls gebung bietet nur wenig Schutz für ausländi- verboten worden. Laut Gesetz dürfen solche sche Hausangestellte. Beispielsweise fehlen Rundbriefe nur an Mitglieder verteilt werden. Bestimmungen über Mindestlöhne, Freizeit Die Dokumente seien jedoch öffentlich zu- und Erholungszeiten. gänglich gewesen. Todesstrafe Recht auf Vereinigungsfreiheit Gegen mindestens eine Person erging ein To- Im September 2010 löste die Regierung den desurteil, ein Mann wurde hingerichtet. Wie Vorstand der unabhängigen NGO Bahrain Hu- bereits in den vorangegangenen zehn Jahren man Rights Society auf und warf ihm »gesetzli- wurde die Todesstrafe nur gegen ausländische che und verwaltungstechnische Unregelmä- Staatsangehörige verhängt. ßigkeiten« vor. Außerdem habe die NGO mit  Im März 2010 wurde Russel Mezan, ein »illegalen Organisationen zusammengearbei- Staatsbürger Bangladeschs, wegen Mordes an tet«. Kurz zuvor hatte die NGO auf ihrer Inter- einem kuwaitischen Mann zum Tode verurteilt. netseite über die Foltervorwürfe der 23 festge- Im Oktober wurde das Urteil im Rechtsmittel- nommenen schiitischen Regierungskritiker be- verfahren bestätigt, und Ende des Berichtsjahrs richtet. Die Regierung setzte einen Interims- hielt auch das Kassationsgericht das Urteil verwalter ein. Somit ist die Unabhängigkeit der aufrecht. Organisation kaum noch gegeben.  Im Juli 2010 wurde Jassim Abdulmanan aus Mehrere Mitglieder von Menschenrechtsorga- Bangladesch hingerichtet. Er war 2007 wegen nisationen durften nicht ins Ausland reisen. Mordes an einem anderen Bangladescher im Die Regierung stritt allerdings ab, diese Perso- Jahr 2005 zum Tode verurteilt worden. nen mit einem Reiseverbot belegt zu haben. Im Dezember enthielt sich Bahrain der  Nabeel Rajab, der Direktor des im Jahr 2004 Stimme, als in der UN-Generalversammlung verbotenen Bahrain Centre for Human Rights, eine Resolution über ein weltweites Hinrich- wurde am 27. September 2010 an der Grenze tungsmoratorium zur Abstimmung anstand.

Bahrain 99 Amnesty International: Mission und Berichte nismäßiger Gewalt vor und verletzten da-  Eine Delegation von Amnesty International stattete Bahrain bei Hunderte von ihnen. Das Schnelle im Oktober einen Besuch ab. Sie machte sich ein Bild von Einsatzbataillon (RAB) und Polizeikräfte der Lage der Menschenrechte und traf zu Gesprächen mit der waren weiterhin an außergerichtlichen Regierung zusammen. Die Delegation beobachtete den ers- Hinrichtungen beteiligt. Mindestens ten Verhandlungstag des Prozesses gegen 23 schiitische Ak- sechs Gefangene starben dem Verneh- tivisten, die im August und September verhaftet worden waren. men nach in Polizeigewahrsam, nach-  Bahrain: Detained Shi’a Muslims at risk (MDE 11/005/ 2010) dem sie gefoltert worden waren. Neun  Bahrain: Fair trial and freedom of expression must be gua- Männer wurden hingerichtet und min- ranteed (MDE 11/009/ 2010) destens 32 Männer zum Tode verurteilt. Sechs Personen wurden wegen Kriegs- verbrechen inhaftiert. Die Regierung ge- währte den Angehörigen der indigenen Bevölkerungsgruppe der Jumma in den Chittagong Hill Tracts (CHT) keinen aus- reichenden Schutz gegen Angriffe durch Bangladesch bengalische Siedler.

Amtliche Bezeichnung: Hintergrund Volksrepublik Bangladesch Im Februar 2010 bestätigte der Oberste Ge- Staatsoberhaupt: Mohammad Zillur Rahman richtshof (Supreme Court) ein im Jahr 2005 Regierungschefin: Sheikh Hasina Wajed von einem Strafgericht der ersten Instanz (High Todesstrafe: nicht abgeschafft Court) erlassenes Urteil, mit dem die 5. Verfas- Einwohner: 164,4 Mio. sungsnovelle für gesetzeswidrig erklärt worden 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Lebenserwartung: 66,9 Jahre war. Die Verfassungsänderung hatte u. a. Im- Kindersterblichkeit (m/w): 58 / 56 pro 1000 munität vor strafrechtlicher Verfolgung bei Lebendgeburten Menschenrechtsverletzungen, die zwischen 000835 Alphabetisierungsrate: 55% August 1975 und April 1979 begangen worden waren, gewährt. Der Gerichtsentscheid schuf Angehörige des Schnellen Einsatzbatail- jedoch keinen neuen Handlungsspielraum für lons (Rapid Action Battalion – RAB) und die Untersuchung von während dieser Zeit be- andere Polizeibeamte nahmen bei De- gangenen Menschenrechtsverletzungen. monstrationen mehr als 500 Personen Im März ratifizierte Bangladesch das Römi- fest, viele davon willkürlich. Sie gingen sche Statut des Internationalen Strafgerichts- gegen Demonstrierende mit unverhält- hofs.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen Laut Angaben der Regierung stand 2010 Gewalt gegen Frauen an der Spitze aller Straftaten, die der Polizei während der ersten sechs Mo- nate des Jahres gemeldet wurden. Unter den insgesamt 7285 erstatteten Anzeigen ging es in 1586 Fällen um Vergewaltigung. Das Parla- ment verabschiedete im Oktober das Gesetz zur Verhinderung von und zum Schutz vor Ge- walt im häuslichen Umfeld. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

100 Bangladesch Willkürliche Festnahmen streikenden Textilarbeitern zusammenstieß, die und Inhaftierungen höhere Löhne forderten. Wegen der Angriffe Bei Studentenprotesten und Straßenkundge- wurde weder ein Angehöriger des RAB noch ein bungen, die teilweise gewalttätig verliefen, anderer Polizeibeamter zur Verantwortung ge- nahmen das Schnelle Einsatzbataillon (RAB) zogen. und andere Polizeibeamte mehr als 500 An- hänger der Opposition fest und inhaftierten sie Außergerichtliche Hinrichtungen für Zeiträume von einer Woche bis zu zwei Mo- Das Versprechen der Regierung, den außerge- naten. Viele der Festnahmen waren willkürlich. richtlichen Hinrichtungen ein Ende zu berei- Zahlreiche Gefangene wurden wegen gewalt- ten, wurde nicht eingehalten. Menschenrechts- tätiger strafbarer Aktivitäten angeklagt. Die rest- gruppen in Bangladesch schätzten die in den lichen Personen kamen ohne Anklageerhe- ersten zehn Monaten des Jahres von Angehöri- bung frei. gen des RAB und anderen Polizeibeamten ver-  Im Februar 2010 nahm die Polizei etwa 300 übten mutmaßlich außergerichtlichen Hinrich- Anhänger der Islami Chhatra Shibir, der Stu- tungen auf mehr als 60. dentenorganisation der oppositionellen Partei  Am 3. Mai 2010 beobachteten Zeugen, wie Jamaat-e-Islami, fest und inhaftierte sie bis zu Polizeibeamte im Dorf Kolabaria im Verwal- zwei Monate in Dhaka, Rajshahi, Chittagong tungsbezirk Kushtia den 32-jährigen Abdul und anderen Städten. Die Festnahmen folgten Alim festnahmen. Am nächsten Morgen fan- auf eine Welle gewalttätiger Ausschreitungen den Familienmitglieder heraus, dass er getötet von Studenten an den großen Universitäten. worden war. Ein Polizeibeamter behauptete, Vier Studenten starben bei Zusammenstößen dass Abdul Alim getötet worden sei, als er sich zwischen rivalisierenden Gruppen. Berichten seiner Festnahme widersetzte. Im Juli reichte zufolge waren auch zahlreiche Studenten mit die Familie bei einem Gericht in Kushtia Straf- Verbindungen zur Partei Awami-Liga an den anzeige ein und beschuldigte mehrere Be- Ausschreitungen beteiligt. Die Polizei nahm amte der widerrechtlichen Tötung von Abdul etwa ein Dutzend von ihnen fest. Alim. Auf Anordnung eines Gerichts unter-  Im Juni 2010 wurden während eines von der suchte die Polizei von Kushtia den Fall und oppositionellen Bangladesh Nationalist Party legte einen Bericht vor. Dieser bestätigte die (BNP) ausgerufenen Generalstreiks und unmit- vorherigen Schilderungen der Ereignisse durch telbar danach mehr als 200 Personen, unter die Polizei. Die Familie erhob vor Gericht Ein- ihnen 20 führende Mitglieder der Partei, festge- spruch gegen den Bericht. Eine Entscheidung nommen und für Zeiträume von einer Woche darüber war Ende des Jahres noch anhängig. bis zu fünf Wochen inhaftiert. Folter und andere Misshandlungen Exzessive Gewaltanwendung Meldungen zufolge führte die Folter von Gefan- Am 27. Juni 2010 wandten Angehörige des RAB genen, die sich im Gewahrsam der Polizei bei einer Durchsuchungsaktion im Haus von oder anderer Sicherheitskräfte befanden, 2010 Mirza Abbas, einem führenden BNP-Mitglied zum Tod von mindestens sechs Personen. und dem früheren Bürgermeister von Dhaka, Dem Vernehmen nach wurde gegen sechs Po- exzessive Gewalt an. Die RAB-Angehörigen grif- lizeibeamte wegen Folterung von Gefangenen fen die Menschen, die sich während des von ermittelt, doch wurde keiner von ihnen vor Ge- der Opposition ausgerufenen Generalstreiks richt gestellt. Über einen von einem Abgeord- friedlich im Haus versammelt hatten, an und neten im eigenen Namen und nicht als Mitglied schlugen und verletzten mindestens 20 Perso- seiner Partei vorgelegten Gesetzentwurf (pri- nen, in der Mehrzahl Frauen. vate member’s bill) zur Kriminalisierung von  Im Juni und August 2010 wurden zahlreiche Folter war vom Parlament noch keine Ent- Personen verletzt, als die Polizei mit hunderten scheidung getroffen worden.

Bangladesch 101  Mahmoodur Rahman, Herausgeber der Zei- Straftatverdächtiger benannt. Die Männer wa- tung Amar Desh, wurde am 2. Juni unter dem ren ursprünglich wegen nicht sachverwandter Vorwurf festgenommen, die Zeitung herauszu- Anschuldigungen in Haft genommen worden. geben, ohne eine gültige Lizenz zu besitzen. Er Das Gesetz über das Internationale Kriegsver- sagte vor einem Richter aus, dass ihn Polizeibe- brechertribunal (International Crimes [Tribunal] amte während des Gewahrsams brutal ge- Act) aus dem Jahr 1973 mit seiner im Jahr schlagen hätten. 2009 erfolgten Änderung, das als Grundlage für  Mindestens sechs Textilarbeiterinnen, die im die Durchführung der Prozesse diente, ent- August festgenommen worden waren – unter hielt keine adäquaten Sicherheitsklauseln für ihnen eine schwangere Frau –, wurden wäh- faire Verfahren. Das Gesetz verweigerte u. a. rend des Verhörs von Polizeibeamten geschla- das Recht auf Anfechtung der Zuständigkeit gen. Ihre Festnahme erfolgte nach einer Welle des Gerichts, das Recht auf Stellung einer Si- von Straßenkundgebungen von Beschäftigten cherheitsleistung und das Recht, die Unabhän- in der Textilindustrie, die höhere Löhne forder- gigkeit von Richtern in Frage zu stellen. ten. Rechte indigener Völker Todesstrafe Da die Regierung die Sicherheit der in den Chit- Im Januar 2010 wurden fünf Männer hingerich- tagong Hill Tracts (CHT) lebenden indigenen tet, die schuldig gesprochen worden waren, Bevölkerungsgruppe der Jumma nicht gewähr- im Jahr 1975 den Staatsgründer Sheikh Mujibur leistete, war diese Angriffen bengalischer Rahman getötet zu haben. Ihre unmittelbare Siedler ausgesetzt, die ihr Land in Besitz nah- Hinrichtung – weniger als 24 Stunden nach der men. Am 20. Februar 2010 starben mindes- rechtskräftigen Verurteilung – war ohne Bei- tens zwei Angehörige der Jumma, nachdem die spiel. Entgegen üblicher Praxis wies der Präsi- Armee, die in dem Gebiet mit einem großen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dent bereits vor dem abschließenden Urteil Aufgebot vertreten war, das Feuer auf hunderte des Gerichts Gnadengesuche für drei der Män- demonstrierende Jumma eröffnet hatte. Sie ner ab. Am 15. September wurden in drei ver- hatten gewaltlos Schutz eingefordert, nachdem 000835 schiedenen Gefängnissen vier weitere Männer bengalische Siedler am 19. Februar mindes- hingerichtet. tens 40 ihrer Häuser im Gebiet von Baghaich- hari im Verwaltungsbezirk Rangamati in Brand Internationales gesteckt hatten. Es gab keine Berichte darüber, Kriegsverbrechertribunal dass Ermittlungen aufgenommen worden wa- Im März 2010 setzte die Regierung das Interna- ren oder irgendjemand wegen der Angriffe und tionale Kriegsverbrechertribunal (International Tötungen strafrechtlich verfolgt wurde. Crimes Tribunal) ein, um diejenigen vor Gericht zu stellen, »die Verbrechen begangen haben, Amnesty International: Missionen und Berichte Straftätern geholfen haben und am Völkermord  Delegationen von Amnesty International besuchten Bangla- während des Befreiungskampfes beteiligt wa- desch in den Monaten Juni und September.  ren«. Zwischen August und November ordnete Bangladesh: Transparency needed over hasty executions and das Tribunal die Verhaftung von fünf rangho- safety of family members must be ensured (ASA 13/003/ 2010) hen Mitgliedern der Jamaat-e-Islami wegen  Bangladeshi security forces used excessive force during raid, Kriegsverbrechen an: Motiur Raman Nizami, 30 June 2010 Ali Ahsan Muhammed Mojahid, Muhammed Kamaruzzaman, Abdul Quader Molla und Del- war Hossain Sayeedi. Salauddin Quader Chowdhury, ein führendes BNP-Mitglied, das seit Mitte Dezember in Haft war, wurde später

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen als

102 Bangladesch ßung der Wahllokale am 19. Dezember löste die Belarus Bereitschaftspolizei eine überwiegend friedli- che Demonstration von Unterstützern der Op- Amtliche Bezeichnung: Republik Belarus position gewaltsam auf. Nach diesen Ereignis- Staatsoberhaupt: Alexander Lukaschenko sen ging man hart gegen Oppositionelle, Men- Regierungschef: Sergej Sidorsky schenrechtsverteidiger und Journalisten vor. Todesstrafe: nicht abgeschafft Die Behörden setzten sie willkürlichen Inhaftie- Einwohner: 9,6 Mio. rungen, Durchsuchungen, Drohungen und Lebenserwartung: 69,6 Jahre anderen Formen von Schikane aus. Kindersterblichkeit (m/w): 14 / 9 pro 1000 Lebendgeburten Todesstrafe Alphabetisierungsrate: 99,7% Regierungsvertreter erklärten sich 2010 bereit, beim Thema Todesstrafe mit der internationa- 2010 wurden drei Todesurteile verhängt len Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Im Fe- und zwei Menschen hingerichtet. Die bruar wurde eine parlamentarische Arbeits- Rechte auf freie Meinungsäußerung und gruppe zu diesem Thema eingerichtet. Im Sep- Versammlungsfreiheit waren drastisch tember räumte die Regierung gegenüber dem eingeschränkt. Friedliche Demonstrie- UN-Menschenrechtsrat ein, dass die Abschaf- rende wurden in Gewahrsam genommen fung der Todesstrafe notwendig sei. Sie er- und mit Geldstrafen belegt. Mutmaßli- klärte ihre Absicht, in der Öffentlichkeit auf eine che Fälle von Folter und Misshandlun- Abschaffung hinzuwirken und diesbezüglich gen wurden nicht zügig und unparteiisch auch künftig mit der internationalen Gemein- untersucht. Gewaltlosen politischen Ge- schaft zusammenzuarbeiten. Ungeachtet des- fangenen wurde der Zugang zu medizini- sen wurden weiterhin Todesurteile verhängt scher Versorgung und rechtlichem Bei- und vollstreckt. Im Dezember hat sich Belarus stand verwehrt. in der UN-Generalversammlung bei der Ab- stimmung über ein weltweites Hinrichtungs- Hintergrund moratorium der Stimme enthalten. Im Dezember 2010 wurde Präsident Luka-  Im März 2010 wurden Vasily Yuzepchuk und schenko mit 79,7% der Stimmen wiederge- Andrei Zhuk hingerichtet. Die zwei Männer wählt. Die Wahl entsprach nach Einschätzung waren im Juni bzw. im Juli 2009 zum Tode ver- internationaler Beobachter nicht den Stan- urteilt worden. Wie in allen Todesstrafenfällen dards der Organisation für Sicherheit und Zu- in Belarus wurden auch in diesen beiden Fällen sammenarbeit in Europa (OSZE). Bei Schlie- weder die Verurteilten noch ihre Angehörigen vorher über das Datum der Hinrichtung infor- miert. Andrei Zhuks Mutter erfuhr erst von der Hinrichtung ihres Sohnes, als sie am 19. März ein Lebensmittelpaket für ihn abgeben wollte. Die Todesurteile wurden vollstreckt, obwohl sich die beiden Männer an den UN-Men- schenrechtsausschuss gewandt hatten. Dieser hatte die belarussische Regierung am 12. Ok- tober 2009 gebeten, die Todesurteile nicht zu vollstrecken, bevor der Ausschuss die Fälle überprüft habe.  Oleg Grishkovtsov und Andrei Burdyko wur- den am 14. Mai 2010 vom Regionalgericht Hrodna wegen Mord, bewaffnetem Überfall,

Belarus 103 Brandstiftung, Entführung eines Minderjähri- tisch oder pornografisch eingestuft werden gen, Diebstahl und Raub zum Tode verurteilt. könnten oder gewalttätige und andere illegale Am 17. September wies der Oberste Gerichts- Handlungen fördern. Nach einer Studie im Auf- hof die von den beiden Männern eingelegten trag der OSZE führen diese Maßnahmen zu Rechtsmittel zurück. einer »unbegründeten Einschränkung des  Am 14. September 2010 wurde Ihar Myalik Rechts der Bürger auf den Erhalt und die Wei- vom Regionalgericht Mahilyou wegen mehre- tergabe von Informationen« und gewähren den rer Raubmorde an der Fernstraße von Mahilyou Behörden sehr weitreichende Befugnisse, um nach Homel zum Tode verurteilt. Ein zweiter den Zugang zu bestimmten Informationsquel- Angeklagter erhielt wegen derselben Straftat len zu beschränken. eine lebenslange Haftstrafe, ein dritter starb vor Abschluss des Verfahrens im Gefängnis. Recht auf Versammlungsfreiheit Durch das restriktive »Gesetz über Massenver- Recht auf freie Meinungsäußerung anstaltungen« waren die Rechte auf Mei- Im Mai äußerte sich die OSZE-Beauftragte für nungs- und Versammlungsfreiheit 2010 weiter- Medienfreiheit in einem Schreiben an die be- hin eingeschränkt. Dem Gesetz zufolge müs- larussische Regierung besorgt über den Druck sen öffentliche Veranstaltungen von den örtli- auf die unabhängigen Medien im Land. Die chen Behörden genehmigt werden. Sie müs- Einschüchterung von Journalisten habe eine sen mindestens 200 m von U-Bahnstationen »demoralisierende Wirkung« auf den ohnehin und Fußgängerüberwegen entfernt sein. Die nur schwach ausgeprägten investigativen Jour- Veranstalter müssen für die erforderlichen Si- nalismus in Belarus. cherheitsmaßnahmen, für Sanitäts- und Ret-  Am 3. September 2010 wurde Aleh Byabe- tungsdienste und für die Reinigung des Veran- nin, der Gründer und Herausgeber der inoffi- staltungsorts sorgen und die Kosten für diese 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ziellen Nachrichten-Website Charter 97, tot in Maßnahmen übernehmen. Diese Bestimmun- seiner Datscha aufgefunden; er hing mit einem gen führten dazu, dass zahlreiche Anträge ab- Strick um den Hals an einem Geländerpfosten. gelehnt wurden. 000835 Am Tag darauf wurden erste Ergebnisse der  Am 8. Mai verweigerte die Stadtverwaltung gerichtsmedizinischen Untersuchung bekannt- von Minsk den für 15. Mai geplanten »Slavic gegeben, denen zufolge es sich mit großer Pride« der Schwulen- und Lesbenbewegung Wahrscheinlichkeit um einen Selbstmord han- mit der Begründung, die vorgesehene Route delte. Kollegen und Angehörige stellten diese führe näher als 200 m an U-Bahnstationen und offizielle Version jedoch in Frage. Sie verwiesen Fußgängerüberwegen vorbei. Als sich eine auf zahlreiche Ungereimtheiten im Hinblick Gruppe von Demonstrierenden trotz des Ver- auf die Position des Leichnams und erinnerten bots am 15. Mai auf den Weg machte, wurden daran, dass Aleh Byabenin schon seit Länge- acht Männer und Frauen festgenommen und rem im Visier der Behörden stand. Außerdem über das Wochenende in Gewahrsam gehal- sei er kurz vor seinem Tod dem Wahlkampf- ten. Gegen fünf von ihnen wurden wegen der team des oppositionellen Präsidentschaftskan- Beteiligung an einer nicht genehmigten De- didaten Andrei Sannikau beigetreten. monstration Geldbußen verhängt. Am 1. Juli trat der Präsidialerlass Nr. 60 zur  Eine überwiegend friedliche Demonstration »Verbesserung des nationalen Internet-Seg- nach den Präsidentschaftswahlen am 19. De- ments« in Kraft. Er sieht vor, dass Unterneh- zember wurde von der Bereitschaftspolizei ge- men, die Internetdienste anbieten, die Identi- waltsam aufgelöst. Man legte mehr als 700 De- tät ihrer Kunden prüfen und den Behörden de- monstrierenden Ordnungswidrigkeiten zur Last ren Daten zur Verfügung stellen. Es wurden und nahm sie für zehn bis 15 Tage in Haft. Sie Maßnahmen eingeführt, die den Zugang zu In- wurden willkürlich inhaftiert, weil sie auf friedli-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht formationen einschränken, die als extremis- che Weise ihr Recht auf freie Meinungsäuße-

104 Belarus rung wahrgenommen hatten. Viele Demonstrie- Gewaltlose politische Gefangene rende wurden Opfer unverhältnismäßiger Ge- Im Zusammenhang mit den Demonstrationen waltanwendung durch die Polizei. am 19. Dezember 2010 waren Ende des Jah- res 29 Personen wegen »Organisation von Mas- Folter und andere Misshandlungen senunruhen« angeklagt worden, darunter Im August 2010 legte Belarus dem UN-Aus- sechs oppositionelle Präsidentschaftskandida- schuss gegen Folter seinen vierten regelmäßi- ten, Mitglieder ihrer Wahlkampfteams und gen Bericht vor. Der Bericht wies die Empfeh- Journalisten. Ihnen drohten Gefängnisstrafen lung des Ausschusses aus dem Jahr 2000 zu- von bis zu 15 Jahren. Viele von ihnen waren rück, den Tatbestand »Folter« gemäß der Defi- nur aufgrund der friedlichen Äußerung ihrer nition des UN-Übereinkommens gegen Folter Ansichten angeklagt worden, mindestens 16 ins Strafgesetzbuch des Landes aufzunehmen. waren gewaltlose politische Gefangene. Es hieß, alle Vorwürfe über Folterungen und  Andrei Sannikau, ein Präsidentschaftskandi- Misshandlungen würden von der Staatsanwalt- dat der Opposition, wurde während der De- schaft geprüft. Nach einem im Dezember von monstration am 19. Dezember festgenommen. Nichtregierungsorganisationen vorgelegten Er wurde von der Bereitschaftspolizei geschla- Schattenbericht hatten jedoch Anzeigen bei gen und trug Verletzungen an den Beinen da- der Staatsanwaltschaft nur selten Strafermitt- von. Als er zusammen mit seiner Frau, der lungen zur Folge. Demnach wurden allenfalls Journalistin Irina Chalip, ins Krankenhaus ge- oberflächliche Untersuchungen vorgenommen, fahren wurde, hielten Polizeibeamte das Fahr- die nicht über eine Vernehmung der beschul- zeug an und nahmen ihn in Gewahrsam. Am digten Polizeibeamten hinausgingen. 27. Dezember suchten Angehörige des Ju-  Am 18. Januar 2010 wies die Staatsanwalt- gendamtes ihren dreijährigen Sohn Danil auf schaft des Minsker Bezirks Sowjetski einen und informierten seine Großmutter, dass sie Antrag auf Eröffnung von Strafermittlungen zu das Sorgerecht für das Kind beantragen solle, den von Pavel Levshin erhobenen Foltervor- da er sonst in ein Kinderheim komme. Am würfen zurück. Levshin war am 9. Dezember 29. Dezember wurde Andrei Sannikau des 2009 in der Polizeiwache des Sowjetski-Be- Straftatbestands der Organisation von Mas- zirks unter Diebstahlverdacht festgenommen senunruhen angeklagt. Irina Chalip wurde an- worden. Seinen Angaben zufolge wurde er am schließend ebenfalls inhaftiert und angeklagt. 10. Dezember von 17 bis 20 Uhr von Polizeibe- Der Anwalt von Andrei Sannikau erhielt nur un- amten misshandelt und gefoltert. In der Straf- regelmäßig Zugang zu ihm und gab seiner anzeige, die er bei der Staatsanwaltschaft er- Sorge Ausdruck, dass die Verletzungen seines stattete, erklärte er, man habe ihm Handschel- Mandanten nicht angemessen medizinisch len angelegt, ihn auf den Bauch gelegt und ihm behandelt würden. Aufgrund dieser Äußerung Hände und Füße in einer als »Schwalbe« be- drohte man ihm mit Berufsverbot. zeichneten Position zusammengebunden. Die Der Militärdienst war weiterhin verpflichtend, Beamten hätten mit einem Gummiknüppel es gab jedoch Diskussionen hinsichtlich einer und mit vollen Plastikwasserflaschen auf ihn Gesetzesvorlage zur Einführung eines Ersatz- eingeschlagen. Außerdem hätten sie ihm eine dienstes. Zwei Kriegsdienstverweigerer aus Plastiktüte über den Kopf gezogen und dies Gewissensgründen wurden im Laufe des Jah- fünfmal wiederholt, so dass er beinahe erstickt res freigesprochen. wäre. Ein gerichtsmedizinischer Bericht bestä- tigte, dass seine Verletzungen mit den erhobe- Amnesty International: Mission nen Foltervorwürfen in Einklang standen. Der  Delegierte von Amnesty International besuchten Belarus Staatsanwalt zitierte jedoch den Polizeibericht im September. und befand, es seien keine Hinweise auf Folte- rungen festzustellen gewesen.

Belarus 105 ende waren 1203 Asylsuchende weiterhin vo- Belgien rübergehend in Hotels untergebracht, wo sie weder medizinische Versorgung noch Sozial- Amtliche Bezeichnung: Königreich Belgien oder Rechtshilfe erhielten. Die Regierung unter- Staatsoberhaupt: König Albert II. nahm im Jahresverlauf einige Maßnahmen Regierungschef: Yves Leterme wie die Schaffung mehrerer Notunterkünfte, (Übergangsregierung seit 26. April 2010) doch waren diese sowohl quantitativ als auch Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft qualitativ unzureichend. Einwohner: 10,7 Mio. Am 19. Januar entschied der Europäische Ge- Lebenserwartung: 80,3 Jahre richtshof für Menschenrechte im Fall Musk- Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 hadzhiyeva und andere gegen Belgien, dass Lebendgeburten Belgien mit der Inhaftierung von vier kleinen Kindern und ihrer Mutter im Hinblick auf die Nach wie vor herrschten unzulängliche vier Kinder gegen das Verbot von Folter und Aufnahmebedingungen für Asylsu- Misshandlung sowie gegen das Recht auf Frei- chende. Die Praxis, abgewiesene Asylsu- heit verstoßen habe. Sie waren über einen Mo- chende in den Irak abzuschieben, nat lang in einem geschlossenen Haftzentrum wurde fortgesetzt. Es gab auch weiterhin inhaftiert gewesen, bevor sie im Januar 2007 Vorwürfe über exzessive Gewaltanwen- nach Polen zurückgeschickt wurden. Seit dung durch die Polizei. Es wurden Be- Oktober 2009 werden Familien mit Kindern in denken geäußert, dass ein Gesetzent- sogenannten Wohneinheiten untergebracht wurf für ein Schleierverbot in der Öffent- und nicht länger in Hafteinrichtungen festge- lichkeit gegen das Recht auf freie Mei- halten. nungsäußerung und die Religionsfreiheit Belgien hielt 2010 an seiner Abschiebepolitik 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen verstoßen könnte. für den Irak fest, trotz der Richtlinien des UN- Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR), nach denen die Staaten aufgefordert sind, nie-

000835 Flüchtlinge und Asylsuchende Die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende manden in die Provinzen Ninewa (Mosul), Kir- waren unzulänglich. Lokalen NGOs zufolge kuk, Diyala, Salah al-Din und Bagdad oder an- versäumte es die für den Empfang von Asylsu- dere als besonders gefährlich geltende Gebiete chenden zuständige staatliche Behörde Feda- wie beispielsweise die Provinz Al Anbar abzu- sil zwischen Oktober 2009 und Dezember 2010, schieben. den insgesamt 7723 Asylsuchenden eine Un-  Im Oktober 2010 gelang es den Behörden, terkunft zur Verfügung zu stellen. Zum Jahres- Saber Mohammed, einen irakischen Asylsu- chenden, dazu zu zwingen, seinen Kampf ge- gen die Rückführung aufzugeben, und ihn in den Irak abzuschieben. Dies geschah, obwohl der belgische Generalkommissar für Flücht- linge und Staatenlose im September bestätigt hatte, dass Saber Mohammed bei einer Rück- kehr in den Irak dem Risiko von Folter und an- deren Misshandlungen ausgesetzt sei. Mo- hammed war 2005 in Belgien wegen Straftaten, die als terroristisch eingestuft wurden, zu einer Haftstrafe verurteilt und inhaftiert worden. Di- rekt im Anschluss an die von ihm verbüßte Ge- fängnisstrafe war er in Abschiebehaft genom-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht men worden, um in den Irak ausgewiesen zu

106 Belgien werden. Mit Ausnahme eines Zeitraums unter Diskriminierung Residenzpflicht blieb er bis zu seiner Auswei- Am 29. April 2010 stimmte das Abgeordneten- sung in Gewahrsam. Zu den Zwangsmethoden haus für ein Gesetz, das die teilweise oder voll- der belgischen Behörden gehörte die Andeu- ständige Bedeckung des Gesichts in der Öffent- tung, ihn fortgesetzt in Haft zu halten. Er wurde lichkeit durch Kleidung verbietet, die es un- bei seinem Eintreffen im Irak am 27. Oktober möglich macht, den Tragenden zu erkennen. inhaftiert und hatte bis zu seiner Freilassung Es gab Bedenken, dass ein generelles Verbot am 23. November keinen Kontakt zu seiner des Schleiers die Rechte der Frauen verletze, Familie oder einem Rechtsbeistand. die den Schleier als Ausdruck ihrer religiösen, kulturellen, politischen oder persönlichen Iden- Exzessive Gewaltanwendung tität oder Überzeugung tragen. Zum Jahres- Es gab Berichte über exzessive Gewaltanwen- ende lag der Gesetzentwurf noch dem Senat dung der Polizei bei mehreren Demonstratio- zur Prüfung vor. nen. Aussagen von Protestierenden zufolge hat die Polizei im September und Oktober in Brüssel nach zwei Demonstrationen exzessive Gewalt angewandt. Im Oktober begann der staatliche Polizeikontrolldienst mit einer Untersuchung der Vorwürfe. Benin  Bis Ende 2010 waren noch immer keine Er- mittlungen zu den Vorwürfen der exzessiven Amtliche Bezeichnung: Republik Benin Gewaltanwendung durch Ordnungskräfte ge- Staats- und Regierungschef: Thomas Boni Yayi gen Ebenizer Sontsa erfolgt. Sie sollen den ab- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft gewiesenen Asylbewerber aus Kamerun im Einwohner: 9,2 Mio. April 2008 bei dem Versuch, ihn nach Kame- Lebenserwartung: 62,3 Jahre run abzuschieben, misshandelt haben. Ebeni- Kindersterblichkeit (m/w): 123 / 118 pro 1000 zer Sontsa beging im Mai 2008 Selbstmord. Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 40,8% Internationale Gerichtsbarkeit Am 8. Dezember fällte das Brüsseler Zivilge- richt ein erstes Urteil im Prozess von neun Überlebenden des Völkermords in Ruanda ge- gen den belgischen Staat und drei belgische Soldaten. Das Gericht befand, dass der belgi- sche Staat für den Befehl zur sofortigen Rück- kehr belgischer Blauhelme 1994 aus Kigali ver- antwortlich sei. Die Blauhelme hatten etwa 2000 Menschen in einem Schulgebäude zu- rückgelassen, das sich zum Zeitpunkt ihres Rückzugs unter belgischer Kontrolle befand. Viele der Menschen wurden kurz nach dem Abzug der Blauhelme ermordet. Das Gericht kam weiterhin zu dem Urteil, dass die drei Sol- daten eigenverantwortlich gehandelt hätten, als sie dem Befehl Folge leisteten.

Benin 107 Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit waren 2010 eingeschränkt. Mindestens eine Person wurde zum Tode verurteilt. Die Bedingungen in den Gefängnissen waren nach wie vor sehr hart, da die Haftein- richtungen überfüllt waren.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit Im Oktober 2010 verbot das Innenministerium alle Demonstrationen, die Auskunft über den Verbleib von Pierre Urbain Dangnivo forderten. Der Beamte des Finanzministeriums war im August »verschwunden«. Mutmaßungen, wonach Regierungsvertreter an seinem »Ver- schwinden« beteiligt gewesen sein könnten, führten zu Protesten seitens der Presse, der Zivilgesellschaft und oppositioneller Parteien. Einer offiziellen Untersuchung gelang es bis zum Jahresende nicht, das Schicksal von Bolivien Pierre Urbain Dangnivo aufzuklären. Zahl- reiche zivilgesellschaftliche Gruppierungen, Amtliche Bezeichnung: darunter auch Gewerkschaften, kritisierten Plurinationaler Staat Bolivien 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen die Einschränkungen der Meinungs- und Ver- Staats- und Regierungschef: Evo Morales Ayma sammlungsfreiheit. Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten abgeschafft 000835 Todesstrafe Einwohner: 10 Mio. Im Mai 2010 wurde Susanne Lanmanchion von Lebenserwartung: 66,3 Jahre einem Gericht in Abomey wegen Mordes an Kindersterblichkeit (m/w): 65 / 56 pro 1000 ihrer Mutter in Abwesenheit zum Tode verur- Lebendgeburten teilt. Alphabetisierungsrate: 90,7%

Haftbedingungen Institutionelle Entwicklungen im Justiz- Die Gefängnisse waren nach wie vor überfüllt. wesen gaben Anlass zu ernsthafter Be- Im Gefängnis der Hauptstadt Cotonou waren sorgnis. Wichtige Verfahren für in der sechsmal so viele Menschen untergebracht wie Vergangenheit begangene Menschen- das Gefängnis eigentlich fassen kann. Die rechtsverletzungen und Untersuchungen Haftbedingungen waren dadurch sehr hart. hinsichtlich der mutmaßlichen Gewalt- Von den 2500 Inhaftierten befanden sich 80% anwendung durch Sicherheitskräfte und in Untersuchungshaft. Privatpersonen kamen nur langsam vo- ran. Im Dezember zog Präsident Evo Mo- rales Pläne zur Beendigung der Subven- tionen für Benzin und Diesel zurück, nachdem es wegen eines drastischen Preisanstiegs zu Massenprotesten ge- kommen war. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

108 Bolivien Hintergrund Ein im Februar verabschiedetes Gesetz er- Mangelnde Rücksprache und Übereinstim- mächtigte den Präsidenten, mittels Erlass mung bei politischen Reformen führten zu- Übergangsrichter für unbesetzte Mandate am nehmend zu politischen Spannungen. Einige Obersten Gerichtshof und am Verfassungsge- indigene Gruppen und Gewerkschaften initi- richt zu bestimmen. Diese vorübergehenden ierten Proteste: Im Mai rief der bolivianische Mandate wurden angesichts von Verzögerun- Gewerkschaftsverband (Central Obrera Boli- gen bei der Auswahl und Wahl neuer Richter viana) wegen der Lohn- und Rentenreformen verlängert. Mit Ende dieses Verfahrens sollte zum Streik auf. Im Juni startete der Verband die Amtszeit bereits an den Gerichten tätiger der indigenen Bevölkerung Boliviens (Confede- Richter, die durch frühere Regierungen er- ración de Pueblos Indígenas de Bolivia) einen nannt worden waren, auslaufen. Protestmarsch in der Stadt Trinidad im Departa- Übergangsrichter am Verfassungsgericht hat- mento Beni, um gegen Teile des vorgeschlage- ten die Anweisung, sich ausschließlich um die nen Autonomiegesetzes und mangelnde Fort- noch unbearbeiteten Klagen zu kümmern, die schritte bei der Landvergabe zu protestieren. vor Februar 2009 eingereicht worden waren. Im Juli konnte eine Lösung ausgehandelt wer- Dies hatte zur Folge, dass das Gericht seiner den. Im Juli und August kam es in Potosí nach verfassungsmäßigen Aufgabe der Kontrolle einem 19-tägigen Streik von Kleinbauernver- über die neue Gesetzgebung nicht nachkom- bänden, dem lokalen Bürgerkomitee und eini- men konnte. Es gab Bedenken hinsichtlich gen kommunalen Behörden zu Spannungen der Vereinbarkeit der neuen Gesetze mit inter- zwischen den kommunalen und nationalen nationalen Menschenrechtsstandards. Diese Behörden über Land-, Umwelt- und Infrastruk- Bedenken galten u. a. der Rückwirkung des turfragen. Antikorruptionsgesetzes, den im Antirassis- Hochrangige Regierungsbeamte stellten öf- musgesetz vorgesehenen schweren Strafen so- fentlich die Legitimität von NGOs und sozialen wie – im Rechtswesen – der Rolle des »Vertei- Bewegungen in Frage, die ihren Widerspruch digers der Prozessführung« (Defensor del Liti- zur Politik und Vorgehensweise der Regierung gante), dem eine Aufsichtsfunktion zukommt, geäußert hatten. der dabei aber von der Exekutive abhängig ist. Im Februar wurde die Lage der Menschen- rechte in Bolivien im Zuge der Universellen Polizei und Sicherheitskräfte Regelmäßigen Überprüfung durch den UN- Menschenrechtsverletzungen bei Sicherheits- Menschenrechtsrat bewertet. Eine Reihe von operationen und in Einrichtungen von Polizei Staaten äußerte Bedenken im Hinblick auf die und Militär erregten auch 2010 weiterhin Be- Bereiche Unabhängigkeit der Justiz, Straflo- sorgnis. sigkeit und Zugang zum Rechtssystem, Frauen-  Zwei Personen starben an den Folgen ihrer rechte sowie Diskriminierung aufgrund der se- Schusswunden, und mindestens 30 Personen xuellen Orientierung. wurden verletzt, als die Polizei Protestierende auseinanderzubringen versuchte, die in der Rechtliche, verfassungsrechtliche und Provinz Caranavi eine Straßensperre errichtet institutionelle Entwicklungen hatten. Die Protestierenden waren besorgt an- Sehr enge Fristen bei der Verabschiedung gesichts von Hinweisen, dass die Regierung ihr neuer Gesetze und mangelnde Verfahrens- Wahlversprechen, vor Ort eine Fabrik für die transparenz behinderten 2010 eine sinnvolle Verarbeitung von Zitrusfrüchten zu errichten, Diskussion der weitreichenden Reformen. brechen könne. Ein Bericht des Ombuds- Im Mai trat ein neuer Ombudsmann für Men- manns, der später von der Regierung angefoch- schenrechte sein Amt an, wobei es Bedenken ten wurde, kritisierte die unverhältnismäßige hinsichtlich der Objektivität der Kriterien in der und exzessive Anwendung von Gewalt, willkür- ersten Runde des Auswahlverfahrens gab. liche Festnahmen sowie unmenschliche und

Bolivien 109 erniedrigende Haftbedingungen. Diesbezügli- teil, dass Bolivien seiner Verantwortung für die che Untersuchungen waren zum Jahresende Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung noch nicht abgeschlossen. der Schuldigen für das »Verschwindenlassen«  Im September wurde ein Video von 2009 ver- des Aktivisten José Luis Ibsen Peña und sei- öffentlicht, das einen Wehrpflichtigen in Chal- nes Sohns Rainer Ibsen Cárdenas zwischen lapata im Departamento Oruro zeigt, der von 1971 und 1973 nicht nachgekommen war. Männern in Militäruniform wiederholt unter  Staatsanwälte, die im Rahmen ihrer Ermitt- Wasser getaucht wird. Das Video gab früheren lungen zu Fällen des »Verschwindenlassens« Vorwürfen hinsichtlich einer Überhandnahme zwischen 1980 und 1981 auf militärische Ar- der Gewalt innerhalb des Militärs neue Nah- chive zugreifen wollten, wurden weiterhin da- rung. Gegen vier Offiziere wurde zum Ende ran gehindert, obwohl es im April zwei Verfü- des Jahres von Amts wegen ermittelt. gungen des Obersten Gerichtshofs gegeben hatte, die Archive freizugeben. Ungesetzliche Tötungen  Bei den Strafprozessen zu den Ereignissen Im Laufe des Jahres wurden mehrere Fälle von vom »Schwarzen Oktober« 2003, bei denen »Lynchmorden« gemeldet. mindestens 67 Personen getötet und mehr als  Zwischen dem 23. Mai und dem 1. Juni 2010 400 bei Zusammenstößen zwischen den Si- wurden vier Polizeibeamte getötet, die zuvor cherheitskräften und Demonstrierenden ver- von Zivilpersonen in Saca Saca bei Uncía im letzt worden waren, kam es zu Verzögerungen. Departamento Oruro gefangen gehalten wor- Mangelnde Ressourcen führten dazu, dass den waren. Einer der Polizisten soll mehrere Zeugen und Opfer nicht vor Gericht erschei- Tage lang gefoltert worden sein, bevor er getö- nen konnten. tet wurde. Indigene Sprecher der Gemeinde be-  Der Prozess zum Massaker von Pando im schuldigten die Polizei der Tötung eines Taxi- Jahr 2008 zögerte sich immer wieder hinaus. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen fahrers sowie der Erpressung und lehnten die Der ehemalige Präfekt des Departamento, der Anwesenheit von Staatsanwälten zur Untersu- als geistiger Urheber der begangenen Men- chung des Vorfalls ab. Gegen sechs straftatver- schenrechtsverletzungen beschuldigt wurde, 000835 dächtige Personen wurde Ende des Jahres er- befand sich zum Jahresende in Vorbeugehaft. mittelt. NGOs zufolge wurden nur 218 der 6000 Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die nach Straflosigkeit einem Gesetz von 2004 um Entschädigung er- Auch 2010 gab es Verzögerungen bei der Straf- sucht hatten, entsprechende Leistungen ge- verfolgung von Personen, die unter den frühe- währt. ren Militärregierungen und seit der Wiederein- Nach Berichten von NGOs wurden 82% der setzung der Demokratie Menschenrechtsver- Fälle sexueller Gewalt, die im Verwaltungsbe- letzungen begangen hatten, sowie auch bei der zirk Quillacolla im Departamento Cochabamba Zahlung von Entschädigungen an die Opfer. vor Gericht gebracht worden waren, zwischen  Im August verurteilte der Oberste Gerichtshof 2008 und Mitte 2010 entweder verworfen oder Oscar Menacho Vaca und Justo Sarmiento blieben ohne rechtskräftiges Urteil. Alanez, zwei ehemalige Angehörige der Militär- regierung von Hugo Banzer (1971 – 78), zu 20 Müttersterblichkeit Jahren und einen weiteren Regierungsvertreter Zahlen einer landesweiten Umfrage zu Demo- zu 15 Jahren Haft. Sie waren der Beteiligung grafie und Gesundheit (Encuesta Nacional de am »Verschwindenlassen« von José Carlos Tru- Demografia y Salud) zufolge stieg die Mütter- jillo Oroza und José Luis Ibsen Peña 1972 bzw. sterblichkeit von 230 Toten pro 100000 Le- 1973 für schuldig befunden worden. bendgeburten im Jahr 2003 auf 310 Tote im  Im September kam der Interamerikanische Jahr 2008. Zwar wurde die der Zahlenermitt-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ur- lung zugrunde liegende Methodik angezweifelt,

110 Bolivien doch amtlichen Quellen zufolge wurde bei bei- führt, verlief aber weiterhin schleppend. den statistischen Erhebungen dasselbe Verfah- Zivilen Opfern von Kriegsverbrechen ren angewendet. blieb der Zugang zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung nach wie vor ver- Amnesty International: Mission sperrt.  Eine Delegation von Amnesty International besuchte Bolivien im Juni. Hintergrund Im Vorfeld der Parlamentswahlen, die im Okto- ber 2010 stattfanden, waren die Beziehungen zwischen den wichtigsten ethnischen Gruppen – bosnische Muslime (Bosniaken), Kroaten und Serben – unvermindert von nationalisti- schen Äußerungen geprägt. Die anhaltenden Bosnien und Forderungen hochrangiger Politiker des bos- nisch-serbischen Landesteils Republika Herzegowina Srpska nach einer Abspaltung von Bosnien und Herzegowina bedrohten die Stabilität des Amtliche Bezeichnung: Bosnien und Herzegowina Staates. Gelegentlich äußerten auch kroatische Staatsoberhaupt: Staatspräsidium mit Politiker den Vorschlag, eine kroatisch domi- turnusgemäß wechselndem Vorsitz, bestehend nierte Teilrepublik innerhalb von Bosnien und aus Zˇeljko Komsˇic´, Nebojsˇa Radmanovic´ und Herzegowina zu schaffen. Bakir Izetbegovic´ (löste im November Haris Im Juli, kurz vor dem 15. Jahrestag des Völ- Silajdzˇic´ im Amt ab) kermords von Srebrenica im Jahr 1995, gaben Regierungschef: Nikola Sˇpiric´ mehrere hochrangige Politiker der Republika Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Srpska Erklärungen ab, in denen sie diejeni- Einwohner: 3,8 Mio. gen verherrlichten, die dieses Verbrechen ver- Lebenserwartung: 75,5 Jahre übt hatten oder denen die Verantwortung da- Kindersterblichkeit (m/w): 17 / 12 pro 1000 für zur Last gelegt wurde, darunter auch Rado- Lebendgeburten van Karadzˇic´ . Einige der Politiker leugneten Alphabetisierungsrate: 97,6% die Tatsache, dass in Srebrenica ein Völker- mord stattgefunden hatte. Nationalistische Äußerungen waren weit Die am stärksten ethnisch ausgerichteten verbreitet. Die strafrechtliche Verfol- Parteien der bosnischen Serben und der Bos- gung von Kriegsverbrechen wurde fortge- niaken – das Bündnis Unabhängiger Sozialde- mokraten (Savez Nezavisnih Socijaldemokrata – SNSD) sowie die Partei der Demokratischen Aktion (Stranka Demokratske Akcije – SDA) – sicherten sich die meisten Sitze in den Be- schlussfassungsorganen des Landes. Bei den Wahlen trat jedoch auch eine nicht ethnisch ge- prägte Partei auf den Plan, die Sozialdemokra- tische Partei (Socijaldemokratska partija Bosne i Hercegovine – SDP). Sie gewann die Mehr- heit der Sitze im Parlament der Föderation Bos- nien und Herzegowina, dem überwiegend bosniakisch-kroatischen Landesteil. Die internationale Gemeinschaft hielt ihre Prä- senz in Bosnien und Herzegowina nach wie

Bosnien und Herzegowina 111 vor aufrecht. Das Amt des Hohen Repräsentan- aus. Eine 2008 verabschiedete Nationale Stra- ten wurde weiterhin von Valentin Inzko beklei- tegie zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, die det, der die nach dem Abkommen von Dayton diesem Rückstand abhelfen sollte, war noch 1995 geschaffene Zivilbehörde zur Umsetzung immer nicht umgesetzt worden. des Friedens leitete und außerdem als EU-Son- Zeugen erfuhren in Bosnien und Herzego- derbeauftragter für Bosnien und Herzegowina wina auch 2010 nicht genügend Schutz und fungierte. Unterstützung. Für die Opfer von Kriegsverbre- Die von der Europäischen Union angeführte chen und ihre Angehörigen stellte dies weiter- Friedenstruppe (EUFOR) blieb mit ungefähr hin eines der größten Probleme dar, wenn sie 1600 Soldaten ebenso im Land stationiert wie Gerechtigkeit einfordern wollten. eine Polizeimission mit knapp 300 Angehöri- Trotz gewisser Anstrengungen versäumten es gen. die Behörden, vielen Opfern von Kriegsverbre- Die Verhandlungen mit der EU im Hinblick auf chen Zugang zu Wiedergutmachungen zu ge- einen möglichen Beitritt wurden fortgesetzt. währen. Dazu zählten Opfer von sexueller Ge- Im Zuge dieses Prozesses wurde im Dezember walt, Angehörige von »Verschwundenen« und ein Abkommen zur Lockerung der Visums- Folteropfer. pflicht geschlossen. Danach benötigen die Bür- Hochrangige Politiker untergruben weiterhin ger von Bosnien und Herzegowina kein Visum die Bemühungen des Landes, Kriegsverbre- mehr, um in die 25 Länder des europäischen chen zu ahnden. In öffentlichen Äußerungen Schengen-Raums zu reisen. griffen sie das Justizsystem an und leugneten Im Januar übernahm Bosnien und Herzego- Kriegsverbrechen, einschließlich des Völker- wina für zwei Jahre einen Sitz als nicht ständi- mords von Srebrenica im Juli 1995. ges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Internationale Strafverfolgung von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Innerstaatliche Strafverfolgung von Kriegsverbrechen Kriegsverbrechen Ende 2010 waren sechs Verfahren wegen Die Verfolgung von Kriegsverbrechen vor ein- Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit 000835 heimischen Gerichten wurde fortgesetzt, sie Bosnien und Herzegowina vor dem Internatio- verlief jedoch schleppend. nalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugo- Die Kammer für Kriegsverbrechen am Staats- slawien (ICTY) anhängig. Zwei weitere Fälle be- gerichtshof spielte nach wie vor die zentrale fanden sich im Berufungsverfahren. Rolle bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen  Im Juni 2010 verurteilte die Verfahrenskam- in Bosnien und Herzegowina. Ende Septem- mer des Internationalen Strafgerichtshofs für ber waren vor der Kammer 50 Verfahren wegen das ehemalige Jugoslawien sieben frühere Kriegsverbrechen anhängig. Weitere 20 Fälle hochrangige bosnisch-serbische Militär- und wurden in der Föderation Bosnien und Herze- Polizeiangehörige. Die Anklagen bezogen sich gowina und 13 in der Republika Srpska ver- auf Kriegsverbrechen, die im Jahr 1995 in Sre- handelt. Im Brcˇ ko-Distrikt waren vier Fälle an- brenica und Zˇ epa verübt wurden. Vujadin Po- hängig. Die strafrechtliche Verfolgung von Ver- povic´ und Ljubisˇa Beara wurden des Völker- gewaltigung und anderen Kriegsverbrechen der mords sowie anderer Verbrechen für schuldig sexuellen Gewalt erfuhr nach wie vor nur ge- befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. ringe Beachtung. Seit der Einrichtung der Kam- Drago Nikolic´ wurde u. a. wegen Beihilfe zum mer für Kriegsverbrechen am Staatsgerichts- Völkermord, Vernichtung und Mord zu 35 Jah- hof von Bosnien und Herzegowina im Jahr 2005 ren Haft verurteilt. Ljubomir Borovc´ anin er- kamen diesbezüglich insgesamt weniger als hielt wegen Beihilfe zu Vernichtung, Mord, 20 Fälle zur Verhandlung. Verfolgung und Vertreibung eine Freiheitsstrafe Schätzungen gingen von bis zu 10000 unbe- von 17 Jahren. Radivoje Miletic´ wurde wegen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht arbeiteten Verfahren wegen Kriegsverbrechen Mordes, Verfolgung und Vertreibung zu 19 Jah-

112 Bosnien und Herzegowina ren Haft verurteilt. Milan Gvero erhielt eine kammer hatte ihn im September 2008 zu drei fünfjährige Haftstrafe wegen Verfolgung und Jahren Haft verurteilt. Am 16. April starb Ra- unmenschlicher Handlungen. Vinko Pandure- sim Delic´ , während er sich einstweilig auf vic´ wurde der Beihilfe zu Mord, Verfolgung freiem Fuß befand. Im Juni schloss die Beru- und unmenschlichen Handlungen für schul- fungskammer das Berufungsverfahren und er- dig befunden und zu 13 Jahren Gefängnis ver- klärte, das Urteil der Verfahrenskammer urteilt. könne als rechtskräftig gelten. Die Verfahrenskammer stellte fest, dass bei Manche Opfer und deren Angehörige wand- mehreren Hinrichtungen nach dem Fall Sre- ten sich an andere internationale Gerichte, um brenicas mindestens 5336 Personen getötet Gerechtigkeit einzufordern. wurden. Nach Ansicht des Gerichts könnte die  Am 28. Januar 2010 eröffnete das Berufungs- endgültige Zahl der Opfer jedoch bei bis zu gericht in Den Haag ein Zivilverfahren, das 7826 liegen. 6000 Angehörige der Opfer des Völkermords  Vor der Verfahrenskammer wurde weiterhin von Srebrenica (die »Mütter von Srebrenica«) gegen Radovan Karadzˇic´ verhandelt, der we- gegen die Niederlande und die UN angestrengt gen verschiedener Straftaten angeklagt ist. Zwei hatten. der Anklagepunkte stehen im Zusammenhang Die Hinterbliebenen forderten von den nie- mit Völkermord. Der erste betrifft Verbrechen, derländischen Behörden und den UN eine die zwischen 31. März und 31. Dezember 1992 Entschädigung, da diese es versäumt hätten, an verschiedenen Orten in Bosnien und Herze- sie und ihre Familien vor dem Völkermord zu gowina verübt wurden. Dazu zählen Morde, schützen, den Angehörige der bosnisch-serbi- Folterungen und Vertreibungen oder Deporta- schen Armee unter Führung von General tionen, deren Ziel es war, die bosnischen Kroa- Ratko Mladic´ im Juli 1995 in Srebrenica verübt ten und die bosnischen Muslime als ethnische hatten. In erster Instanz hatte das Bezirksge- oder religiöse Gruppen zu vernichten. Der richt in Den Haag im Juli 2008 erklärt, es sei für zweite Anklagepunkt betrifft die Tötung von Handlungen von UN-Personal nicht zuständig. mehr als 7000 Männern und Jungen im Juli Außerdem sprach das Gericht die niederländi- 1995 in Srebrenica. Dazu kommen fünf Ankla- sche Regierung von jeglicher Verantwortung gepunkte wegen Verbrechen gegen die frei. Menschlichkeit, darunter Verfolgung, Vernich- Am 30. März wies das Berufungsgericht in tung, Ermordung und Deportation von Nicht- Den Haag die Rechtsmittel in der Sache zu- serben. Vier weitere Anklagepunkte betreffen rück. Nach Ansicht der Richter genießen die Verstöße gegen das Kriegs- und Gewohnheits- UN absolute Immunität gegenüber strafrecht- recht, darunter Geiselnahme und Terror gegen licher Verfolgung. Auch sei das Gericht nicht die Zivilbevölkerung. befugt, über die Entschädigungsforderungen Radovan Karadzˇic´ wies bei der Verhandlung zu entscheiden. sämtliche Anklagepunkte zurück und erklärte, sowohl Sarajevo als auch Srebrenica seien Rechte von Frauen legitime militärische Angriffsziele gewe- Opfer von Kriegsverbrechen – sexuelle Gewalt sen. Obwohl das Ministerium für Menschenrechte  Im Januar 2010 begann das Berufungsver- und Flüchtlinge gewisse Anstrengungen un- fahren in der Sache gegen Rasim Delic´ . Er war ternahm, um entsprechende Gesetze und für schuldig befunden worden, nicht die nöti- Maßnahmen auf den Weg zu bringen, blieb gen und angemessenen Maßnahmen ergriffen den Überlebenden des Kriegsverbrechens der zu haben, um mehrere Fälle von grausamer Be- sexuellen Gewalt der Zugang zu wirtschaft- handlung durch die Mudschaheddin-Einheit lichen und sozialen Rechten weiterhin ver- der Armee von Bosnien und Herzegowina zu wehrt. verhindern oder zu bestrafen. Die Verfahrens- Viele der Frauen, die im Krieg vergewaltigt

Bosnien und Herzegowina 113 worden waren, lebten nach wie vor in Armut »Verschwindenlassen« und konnten keiner geregelten Arbeit nachge- Die Nachforschungen nach dem Verbleib von hen, da sie noch immer unter den physischen Personen, die während des Kriegs 1992 – 95 und psychischen Folgen ihrer Kriegserlebnisse dem »Verschwindenlassen« zum Opfer fielen, litten. kamen kaum voran. Die Verantwortlichen ge- Im Juli 2010 begann das Ministerium gemein- nossen in der Regel Straflosigkeit, da die Justiz sam mit dem UN-Bevölkerungsfonds und ver- nicht angemessen auf diese Fälle reagierte. schiedenen NGOs, eine staatliche Strategie be- Obwohl das Institut für vermisste Personen züglich einer Wiedergutmachung für die Über- (Institut za nestale osobe) auch weiterhin an lebenden zu entwickeln. Doch erhielt diese Ini- verschiedenen Orten Exhumierungen durch- tiative nicht die notwendige politische Unter- führte, konnte der Verbleib von 10000 bis stützung. 11500 Personen nach wie vor nicht geklärt wer- Angeboten zur psychologischen Betreuung den. der Überlebenden mangelte es an staatlicher Den staatlichen Behörden gelang es nicht, Unterstützung. Diese Dienste wurden daher eine Datenbank der vermissten Personen an- fast ausschließlich von NGOs geleistet und zulegen und einen Fonds zur Unterstützung der hatten oft nur eine begrenzte Reichweite. Viele Familien von Vermissten zu gründen. Beide Überlebende des Kriegsverbrechens der sexu- Maßnahmen waren im Gesetz über vermisste ellen Gewalt hatten keinen Zugang zum Ge- Personen vorgesehen, das 2004 verabschie- sundheitssystem. Auch bei den Sozialleistun- det worden war. gen für Kriegsopfer wurden sie im Vergleich zu Im Juni 2010 besuchte die UN-Arbeitsgruppe anderen Gruppen, wie etwa Kriegsveteranen, zum Schutz aller Personen vor dem Ver- diskriminiert. schwindenlassen Bosnien und Herzegowina Bei der Sitzung des UN-Ausschusses gegen und drängte die Behörden, das Gesetz von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Folter im November räumte die Regierung ein, 2004 vollständig umzusetzen. Sie zeigte sich dass landesweit lediglich 2000 überlebende außerdem besorgt darüber, dass zahlreiche Frauen des Kriegsverbrechens der sexuellen Urteile des Verfassungsgerichts von Bosnien 000835 Gewalt, die als zivile Kriegsopfer eingestuft wor- und Herzegowina, die Fälle von »Verschwin- den waren, Sozialleistungen bezogen. denlassen« betrafen, nicht umgesetzt wurden. Die Arbeitsgruppe empfahl den Behörden, für Recht auf freie Meinungsäußerung die Angehörigen der Opfer des »Verschwinden- Im August 2010 brachte die serbische Partei lassens« ein staatliches Entschädigungspro- SNSD im Gesamtparlament von Bosnien und gramm einzurichten. Dieses sollte Maßnahmen Herzegowina einen Gesetzentwurf ein, der vor- zur finanziellen Wiedergutmachung, Rücker- sieht, in der Öffentlichkeit das Tragen von Klei- stattung, Wiedereingliederung und Entschädi- dung zu verbieten, die eine Identifizierung der gung beinhalten sowie Garantien, um eine Person verhindert. Es wurde Kritik laut, dass Wiederholung solcher Vorkommnisse zu ver- das Gesetz im Falle einer Verabschiedung die hindern. Rechte von Frauen verletzen könnte, die einen vollständigen Gesichtsschleier tragen, um da- Diskriminierung mit ihre religiöse, kulturelle, politische oder Minderheiten persönliche Identität oder ihren Glauben zum Die Behörden versäumten es, das Urteil des Ausdruck zu bringen. Auch könnten dadurch Europäischen Gerichtshofs für Menschen- ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und rechte vom Dezember 2009 umzusetzen. Es Religionsausübung verletzt werden. betraf eine Klage von Dervo Sejdic´ , der der Ge- meinschaft der Roma angehört, und Jakob Finci, der jüdischer Herkunft ist. Die Kläger

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht hatten beanstandet, dass man ihnen das Recht

114 Bosnien und Herzegowina verweigert habe, für politische Ämter zu kandi- Sicherheit weiterhin in Gewahrsam, ohne dies dieren, weil sie keiner der großen ethnischen näher auszuführen. Im Falle einer Abschiebung Gruppen angehörten. Die derzeit geltenden drohten ihnen in ihren Herkunftsländern Fol- gesetzlichen Bestimmungen gestehen nur An- ter oder die Todesstrafe. gehörigen der »konstitutiven Nationen« (Bos- Die vier Männer hatten keine rechtliche niaken, Kroaten und Serben) das passive Wahl- Handhabe, um die gegen sie vorgebrachten recht zu. Das Gericht sah die Kläger durch die Beweise zu prüfen. Daher konnten sie die Ent- Verfassung und das Wahlrecht diskriminiert scheidungen über ihre Inhaftierung auch und forderte die Behörden auf, Abhilfe zu nicht wirksam vor den Gerichten in Bosnien schaffen. Politische Bestrebungen, die Verfas- und Herzegowina anfechten. sung und das Wahlrecht zu ändern sowie die Zwei der Inhaftierten klagten vor dem Euro- staatlichen Institutionen zu reformieren, schlu- päischen Gerichtshof für Menschenrechte ge- gen jedoch fehl. gen die Aberkennung ihrer Staatsbürgerschaft und ihre bevorstehende Abschiebung aus Roma Bosnien und Herzegowina. In beiden Fällen Im August 2010 äußerte sich der UN-Aus- ordnete der Gerichtshof eine zeitweise Ausset- schuss für die Beseitigung der Rassendiskri- zung der Abschiebemaßnahmen an. minierung besorgt über die Diskriminierung von Im November empfahl der UN-Ausschuss ge- Roma in Bezug auf angemessenen Wohn- gen Folter den Behörden u. a., zu gewährleis- raum, Gesundheitsfürsorge, Beschäftigung, so- ten, dass nationale Sicherheitserwägungen das ziale Sicherheit und Bildung. Der Ausschuss Prinzip des Non-Refoulement (Abschiebungs- empfahl den Behörden auch, dafür zu sorgen, verbot) nicht untergruben. Der Ausschuss dass alle Roma Ausweispapiere erhalten. drängte Bosnien und Herzegowina, sich an seine Verpflichtung zu halten, das Prinzip des Antiterrormaßnahmen und Sicherheit absoluten Folterverbots unter allen Umstän- Die Behörden von Bosnien und Herzegowina den zu respektieren. verletzten weiterhin die Rechte einiger Perso- nen, die sich während des Kriegs oder danach Amnesty International: Missionen und Berichte in Bosnien und Herzegowina niedergelassen  Delegierte von Amnesty International besuchten Bosnien und und anschließend die Staatsbürgerschaft des Herzegowina im März und im Dezember.  Landes erhalten hatten. Einigen von ihnen Bosnia and Herzegovina: Amnesty International calls for wurde die Staatsbürgerschaft von der staatli- justice and reparation for survivors of war crimes of sexual violence (EUR 63/002/2010) chen Kommission für die Revision von Ent-  Bosnia and Herzegovina: Briefing to the UN Committee scheidungen über die Einbürgerung ausländi- against Torture (EUR 63/005/ 2010) scher Staatsangehöriger wieder aberkannt.  Bosnia and Herzegovina must reject Burqa ban, 31 August Gegen die Betroffenen wurden Abschiebemaß- 2010 nahmen eingeleitet. Mehrere Personen wurden dauerhaft in der Hafteinrichtung der Einwanderungsbehörde in Lucavica festgehalten und warteten dort auf die Abschiebung in ihre jeweiligen Herkunftslän- der. Dazu zählten Imad al-Husein (seit Oktober 2008 inhaftiert), Ammar al-Hanchi (seit April 2009 inhaftiert), Fadil el-Hamdani (seit Juni 2009 inhaftiert) und Zijad al-Gertani (seit Mai 2009 inhaftiert). Den Männern war die Staats- bürgerschaft aberkannt worden, und die Be- hörden hielten sie aus Gründen der nationalen

Bosnien und Herzegowina 115 Menschen zu Tode kamen. Indigene Ge- Brasilien meinschaften, Quilombolas (Angehörige afrikanischstämmiger Gemeinschaften) Amtliche Bezeichnung: und landlose Arbeiter waren im Zusam- Föderative Republik Brasilien menhang mit Landstreitigkeiten Dro- Staats- und Regierungschef: hungen, Einschüchterungsversuchen Luiz Inácio (Lula) da Silva und Gewalt ausgesetzt. Menschen- Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten rechtsverteidiger waren nach wie vor ge- abgeschafft fährdet und hatten häufig Schwierigkei- Einwohner: 195,4 Mio. ten, staatlichen Schutz zu erwirken. Lebenserwartung: 72,9 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 33 / 25 pro 1000 Hintergrund Lebendgeburten Zum Ende der zweiten und letzten Amtszeit von Alphabetisierungsrate: 90% Präsident Luiz Inácio (Lula) da Silva konnte Brasilien Wirtschaftswachstum, politische Sta- Arme Gemeinden waren 2010 weiterhin bilität und ein hohes internationales Ansehen einer Reihe von Menschenrechtsverlet- verzeichnen. Große Fortschritte gab es bei der zungen ausgesetzt, zu denen Zwangsräu- Armutsbekämpfung, doch herrschte nach wie mungen und der fehlende Zugang zu vor eine enorme Ungleichheit im Land. Dilma Grundversorgungseinrichtungen gehör- Rousseff, die im Oktober die Präsidentschafts- ten. In einigen Städten sank die Zahl wahlen in der zweiten Runde gewann, ver- der Tötungsdelikte, doch verstärkten das sprach politische Kontinuität. Ihr Amtsantritt hohe Maß an Polizei- und Bandengewalt wurde auf Januar 2011 festgesetzt. Sie erklärte in den Favelas (Elendsvierteln) die Be- öffentliche Sicherheit, Gesundheit und die Be- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen nachteiligung. Folter, Überbelegung seitigung der Armut zu den vorrangigen The- und entwürdigende Haftbedingungen be- men ihrer Regierung. stimmten nach wie vor den Alltag in Ge- Im Mai 2010 genehmigte der Präsident eine 000835 fängnissen und Jugendstrafanstalten. geänderte Version des dritten Nationalen Pro- Mangels wirksamer Kontrollen kam es gramms für Menschenrechte (O terceiro Pro- dort zu Unruhen, bei denen zahlreiche grama Nacional de Direitos Humanos), trotz der Kritik, dass man Ausführungen zur Entkri- minalisierung der Abtreibung, zur Mediation bei Agrarkonflikten und Abschnitte, in denen es um die Verbrechen ging, die unter der Militär- regierung (1964 – 85) begangen worden waren, gestrichen hatte. Im Oktober entschied der Oberste Gerichtshof Brasiliens in einem Grundsatzurteil, die Er- mittlungen und das Gerichtsverfahren im Tö- tungsfall des ehemaligen Rechtsanwalts und Menschenrechtsaktivisten Manoel Mattos unter die Zuständigkeit der Bundesbehörden zu stellen. Es war das erste Mal, dass ein Fall unter die Bundesgerichtsbarkeit gestellt wurde, seit eine Verfassungsänderung von 2004 es ermög- licht, Fälle schwerer Menschenrechtsverlet- zungen auf Bundesebene zu verhandeln. Ma-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht noel Mattos hatte die Aktivitäten von Todes-

116 Brasilien schwadronen in der Grenzregion der Bundes- In Rio de Janeiro wurden in den Favelas wei- staaten Paraíba und Pernambuco aufgedeckt. tere Befriedungseinheiten der Polizei (Unida- Die Ermittlungen zu seinem Tod wurden durch des de Polícia Pacificadores) stationiert, was zu Drohungen gegen Zeugen behindert. einer Abnahme der Gewalt führte. Außerhalb Trotz des Widerstands von indigenen und an- dieser Projekte war Polizeigewalt, auch in Form deren ländlichen Gemeinschaften, Men- von Tötungen, jedoch nach wie vor weit ver- schenrechts- und Umweltschutzgruppen sowie breitet. Offiziellen Statistiken zufolge tötete die Bundesstaatsanwälten erteilte die brasiliani- Polizei im Berichtsjahr 855 Personen in Situa- sche Umweltbehörde im Februar eine umwelt- tionen, die als »Widerstand gegen die Staatsge- rechtliche Genehmigung für das umstrittene walt« bezeichnet wurden. Belo-Monte-Staudammprojekt am Rio Xingu im Im November 2010 startete die Polizei in Rio Bundesstaat Pará. Lokale NGOs erhoben den als Reaktion auf gewalttätige Aktionen von Einwand, dass das Staudammprojekt Tausende Banden, bei denen über 150 Fahrzeuge ange- von Familien heimatlos machen und weite zündet und Polizeiposten angegriffen worden Teile angestammter indigener Gebiete überflu- waren, massive Einsätze im gesamten Stadtge- ten könne. Im Oktober setzte die brasiliani- biet. In einer Woche wurden über 50 Men- sche Regierung ein positives Signal und veran- schen bei Auseinandersetzungen zwischen Po- lasste die Einrichtung eines sozioökonomi- lizei und Drogenbanden getötet. Die Polizei tö- schen Registers, in dem alle vom Staudamm- tete bei einem einzigen Einsatz im Stadtteil Ja- bau betroffenen Personen erfasst werden sol- carezinho sieben Personen. Im Viertel Vila len. Cruzeiro wurde ein 14-jähriges Mädchen zu Im Februar verabschiedete Brasilien eine Ver- Hause getötet, als es von einer verirrten Kugel fassungsänderung, die eine Ergänzung der getroffen wurde. Am Ende der gleichen Woche wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen starteten über 2600 Polizisten sowie Angehö- Rechte um das Recht auf Nahrung vorsieht. rige von Armee und Marine einen Großeinsatz Im November ratifizierte Brasilien das Interna- im Complexo do Alemão, einer Ansammlung tionale Übereinkommen zum Schutz aller Per- von Elendsvierteln im Norden der Stadt, wo die sonen vor dem Verschwindenlassen. Brasilien größte der rivalisierenden Drogenbanden von weigerte sich jedoch, die Zuständigkeit des Rio ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Der UN-Ausschusses über das Verschwindenlas- Siedlungskomplex wurde schnell eingenom- sen für die Entgegennahme von Beschwerden men und befand sich Ende des Jahres unter anzuerkennen, die von bzw. im Namen von Op- der Kontrolle der Armee, die bis zur möglichen fern oder Staaten vorgebracht werden, wenn Stationierung einer Befriedungseinheit der Poli- staatliche Behörden ihren Verpflichtungen zei vor Ort bleiben sollte. nicht nachgekommen sind. Milizen und Todesschwadronen Öffentliche Sicherheit Milizen (bewaffnete paramilitärische Gruppen) Gewalt seitens Krimineller sowie der Polizei beherrschten nach wie vor viele Gebiete von stellte in den größten Städten Brasiliens nach Rio de Janeiro. Die Empfehlungen des 2008 wie vor ein ernstes Problem dar. In einem Fort- eingerichteten parlamentarischen Untersu- schrittsbericht schrieb der UN-Sonderbericht- chungsausschusses zur Ermittlung gegen die erstatter über außergerichtliche, summarische Milizen waren zu einem großen Teil bis Ende oder willkürliche Hinrichtungen, dass es wei- 2010 noch nicht umgesetzt worden. terhin die Regel sei, »dass Bürger, vor allem Be-  Im September 2010 wurde Leandro Baring wohner der Favelas, der Gewalt von Banden, Rodrigues während einer Autofahrt erschos- Milizen und Polizei hilflos ausgeliefert« und sen. Ein Jahr zuvor war er Zeuge der Ermor- »außergerichtliche Tötungen nach wie vor weit dung seines Bruders Leonardo Baring Rodri- verbreitet« seien. gues geworden, der im Fall eines Massakers an

Brasilien 117 sieben Männern in der Favela Barbante 2008 menschlicher Behandlung ausgesetzt. Die Be- gegen die Milizen ausgesagt hatte. hörden hatten die Kontrolle über zahlreiche In zahlreichen Bundesstaaten waren weiter- Einrichtungen verloren, was zu einer Reihe hin Todesschwadronen aktiv, die häufig aus von Häftlingsaufständen und Tötungsdelikten Polizei- und Ordnungskräften außer Dienst be- führte. standen. Im August stellte ein Bericht des Rats  Im Oktober töteten rivalisierende Banden in für die Verteidigung der Menschenrechte (Con- zwei Haftanstalten im Bundesstaat Maranhão selho de Defesa dos Direitos da Pessoa Hu- 18 Gefangene, vier davon durch Enthauptung. mana), einer staatlichen Behörde zur Untersu- Die Ausschreitungen begannen, nachdem chung von Menschenrechtsverletzungen, fest, sich Gefangene über Überfüllung, die mangel- dass im Bundesstaat Ceará Todesschwadro- hafte Qualität des Essens und den fehlenden nen, die häufig von einheimischen Gewerbe- Zugang zu Wasser beschwert hatten. treibenden angeheuert werden, um Kleinkrimi- Im November schlossen die Behörden des nelle nach Diebstählen zu bedrohen, zu fol- Bundesstaates Espírito Santo nach Protesten tern und zu töten, ungestraft tätig sein konnten. der bundesstaatlichen Menschenrechtskom-  Mehr als 30 Obdachlose wurden in Maceió, mission und lokaler NGOs die Abteilung der der Hauptstadt des Bundesstaates Alagoas, Kriminalpolizei (Departamento de Polícia Judi- getötet, als eine Bürgerwehr versuchte, »die ciária) in Vila Velha, in der bis zu acht Mal Stadt zu säubern«, wie es Staatsanwälte von mehr Häftlinge untergebracht waren als vorge- Alagoas formulierten. Die Ermittlungen zu die- sehen. Darüber hinaus war es wiederholt zu sem Vorfall kamen nur langsam voran; im No- Foltervorwürfen gekommen. Der umstrittene vember waren erst vier der Fälle abgeschlossen Einsatz von Frachtcontainern zur Unterbrin- und an die Staatsanwaltschaft übergeben wor- gung von Häftlingen in einigen Einrichtungen den. wurde ebenfalls unterbunden. Dennoch wur- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen In São Paulo gab es eine Fülle von Tötungsde- den bei Kontrollen durch den nationalen Justiz- likten, bei denen über Verbindungen der Täter ausschuss (Conselho Nacional de Justiça) zu den Todesschwadronen der Polizei und kri- weiterhin Probleme festgestellt, darunter Über- 000835 minellen Banden gemutmaßt wurde. Offiziel- füllung und unzureichende hygienische Be- len Zahlen zufolge wurden zwischen Januar dingungen, insbesondere im Frauengefängnis und Ende September 240 Personen bei 68 Tucum. Vorfällen in der Hauptstadt und der Großregion Ende 2010 waren Vorschläge für ein Bundes- São Paulo getötet. gesetz zur Einführung präventiver Maßnah- men nach dem Fakultativprotokoll des UN- Folter und Haftbedingungen Übereinkommens gegen Folter, das 2007 von Folter war 2010 bei Inhaftierungen und in Poli- Brasilien ratifiziert wurde, weiterhin im Innen- zeizellen, Gefängnissen und Jugendgefäng- ministerium (Ministro da Casa Civil) anhängig. nissen weit verbreitet. Unterdessen wurden in den Bundesstaaten  Im April wurde ein Motorradkurier an einem Alagoas und Rio de Janeiro im Mai bzw. Juni Stützpunkt der Militärpolizei in São Paulo zu Gesetze zur Umsetzung des Fakultativproto- Tode gefoltert. Er starb, nachdem man ihm kolls verabschiedet. mehrfach ins Gesicht getreten hatte und er von einer Gruppe Polizeibeamter mit Stöcken Recht auf Wohnen und einer Kette geschlagen worden war. Zwölf In der ersten Jahreshälfte starben bei Über- Polizeibeamte wurden später im Zusammen- schwemmungen in den Bundesstaaten São hang mit dem Todesfall angeklagt. Paulo, Rio de Janeiro, Alagoas und Pernam- Die Gefängnisse waren nach wie vor in hohem buco Hunderte von Personen und Zehntau- Maße überbelegt, und die Insassen waren sende wurden obdachlos. Die Überschwem-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht zum Teil grausamer, erniedrigender und un- mungen förderten die Defizite im Bereich des

118 Brasilien Wohnungsbaus zutage sowie das Versäumnis Kenntnis gesetzt worden waren und es Bera- der Behörden, offensichtliche Risiken anzuge- tungsgespräche oder Verhandlungen mit ihnen hen. gegeben hatte. Den Bewohnern wurde mitge- Einige Gemeinden sahen sich im Zusammen- teilt, dass man sie entweder in Siedlungen in hang mit dem Bau der für die Fußballwelt- Cosmos, etwa 60 km entfernt am Stadtrand meisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele von Rio de Janeiro, oder in provisorischen Un- 2016 geplanten Infrastruktur von Zwangsräu- terkünften unterbringen werde und eine Ent- mungen bedroht. schädigung nicht geplant sei.  In der Gemeinde Niteroi im Bundesstaat Rio  Im Oktober 2010 besetzten 3000 Personen de Janeiro starben mehr als 100 Personen, als aus der Obdachlosenbewegung vier verlas- es in einem Teil der Favela Morro do Bumba zu sene Gebäude im Zentrum von São Paulo. Die einem Erdrutsch kam. Die Favela war auf einer Polizei sorgte zunächst dafür, dass weder Müllhalde errichtet worden. Trotz wiederholter Nahrungsmittel noch Wasser in die Gebäude Warnungen wegen hoher Toxizität und Instabi- gelangen konnten. Familien, die im November lität, auch in einer 2004 von der Bundesuniver- aus einem der Gebäude vertrieben worden wa- sität Fluminense durchgeführten Studie, wa- ren, richteten vor dem Rathaus ein Protest- ren keine Versuche unternommen worden, die camp ein. Am 22. November räumten Angehö- Risiken zu mindern oder Anwohner umzusie- rige der städtischen Ordnungskräfte während deln. Zum Jahresende waren Überlebende der eines Sturms das Lager mit Gewalt und setzten Überschwemmungen, darunter auch Bewoh- dabei Tränengas, Pfefferspray und Schlagstö- ner von Morro do Bumba, unter extrem frag- cke ein. Zehn Frauen und sieben Männer wur- würdigen Bedingungen in ehemaligen Militär- den verletzt. kasernen untergebracht. Sie teilten Amnesty In- ternational mit, dass die städtischen Behörden Rechte indigener Gruppen ihnen in den sechs Monaten nach dem Un- Indigene Gruppen, die um das ihnen nach der glück keine alternativen Unterkünfte angebo- Verfassung zustehende Recht auf ange- ten hätten und die ihnen gewährte Mietbeihilfe stammtes Land kämpften, waren 2010 weiter- nicht regelmäßig einginge und nicht ausrei- hin Opfer von Diskriminierung, Einschüchte- chend sei. rungsversuchen und Gewalt. Besonders ernst  Am 22. Oktober 2010 um 9 Uhr begannen war die Situation im Bundesstaat Mato Grosso Mitarbeiter der Gemeindebehörde mit Hilfe do Sul, wo Gemeinschaften der Guarani-Kaiowá schwer bewaffneter Zivil- und Militärpolizei da- der kontinuierlichen Verfolgung durch bewaff- mit, ein über 20 Jahre altes Geschäftsviertel in nete Wachleute ausgesetzt waren, die von an- Restinga im Stadtteil Recreio dos Bandeirantes sässigen Farmern angeheuert wurden. Trotz in Rio de Janeiro mit Bulldozern abreißen zu der Bemühungen der Bundesstaatsanwalt- lassen. Dabei wurden fünf Geschäfte zerstört. schaft, den Prozess zur Anerkennung der Die Arbeiten waren Teil des Ausbaus der Rechte indigener Gruppen auf angestammtes Schnellbusstrecke Transoeste. Zuvor waren die Land zu beschleunigen, gab es keine Fort- Bewohner, die man über den bevorstehenden schritte. Einsatz nicht informiert hatte, monatelang be- Die Guarani-Kaiowá-Gemeinschaften von droht worden. Y’poí, Ita’y Ka’aguyrusu und Kurusú Ambá im  Die Bewohner der Favela do Metrô in der Süden des Bundesstaates Mato Grosso do Sul Nähe des Maracanã-Stadions von Rio de wurden von bewaffneten Wachleuten bedroht Janeiro waren mehrfach von rechtswidriger und angegriffen. Im September starb ein drei- Zwangsräumung bedroht. Mitarbeiter der Ge- jähriger Junge aus der Gemeinschaft der Ku- meindebehörde besprühten zur Kennzeich- rusú Ambá nach wiederholten Anfällen von nung im Juni die Häuser, die abgerissen wer- Durchfall. In dieser Zeit war die Sicherheits- den sollten, ohne dass die Bewohner zuvor in lage in Region als so gefährlich eingestuft wor-

Brasilien 119 den, dass die Bundesgesundheitsbehörde die Menschenrechtsverteidiger Besuche eingestellt hatte. Zum Jahresende war die Anwendung des Na-  Im Oktober wurde José de Jesus Silva (be- tionalen Programms zum Schutz von Men- kannt als Zé da Gata), Sprecher der Pataxó schenrechtsverteidigern auf sechs Bundesstaa- Hã-Hã-Hãe im Süden des Bundesstaates Ba- ten ausgedehnt worden. In vielen Fällen hia, von einem Motorradfahrer erschossen. wurde jedoch kein wirksamer Schutz für Men- José de Jesus Silva hatte versucht, einer schenrechtsverteidiger bereitgestellt, da es an Gruppe von Indigenen, die angestammte indi- einer kontinuierlichen Ausstattung mit finan- gene Landgebiete besetzte, Vorräte zu bringen. ziellen Mitteln und an der Koordination zwi- Das Urteil zur Demarkierung des Landes der schen bundesstaatlichen und nationalen Be- Pataxó Hã-Hã-Hãe war seit 1983 vor dem hörden mangelte. Obersten Gerichtshof anhängig.  Im Mai 2010 wurde auf Josilmar Macário dos Santos geschossen, als er mit seinem Taxi im Landkonflikte Viertel Catumbi in Rio de Janeiro auf einer Landlose Arbeiter wurden weiterhin Opfer von Überführung unterwegs war. Zum selben Zeit- Bedrohungen und Gewalt, häufig durch be- punkt fand die Gerichtsverhandlung gegen vier waffnete Wachleute, die von Farmern angeheu- Polizeibeamte statt, die des Mordes an sechs ert worden waren. Nur in seltenen Fällen folg- jungen Männern beschuldigt wurden, darunter ten gründliche Ermittlungen. der Bruder von Josilmar Macário dos Santos,  In der Gemeinde São Vicente de Férrer im Josenildo dos Santos. Trotz seiner Aufnahme in Bundesstaat Maranhão bedrohten ansässige das nationale Schutzprogramm hatte Josilmar Farmer wiederholt die Gemeinschaft der Macário dos Santos keinen ausreichenden Charco, die sich für die Anerkennung ihres Schutz erhalten. Landes als Quilombola–Siedlung einsetzte. Am  Alexandre Anderson de Souza, Vorsitzen- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen 30. Oktober 2010 wurde ihr Sprecher Flaviano der der Fischereigewerkschaft Associação Pinto Neto durch sieben Schüsse in den Kopf dos Homens do Mar (AHOMAR) in Magé im getötet. Ein anderer Sprecher der Gemein- Bundesstaat Rio de Janeiro, sah sich im Zu- 000835 schaft, Manoel Santana Costa, wurde wieder- sammenhang mit seiner gewerkschaftlichen holt mit dem Tode bedroht, ebenso wie 20 an- Tätigkeit wiederholt Bedrohungen ausgesetzt. dere Angehörige der Gemeinschaft. Er hatte sich an Protesten gegen den Bau einer Gaspipeline in der Guanabara-Bucht Rechte von Arbeitern beteiligt, von der befürchtet wird, dass sie Im ganzen Land herrschten immer noch er- Umweltschäden verursachen könnte. In der niedrigende Arbeitsbedingungen. Im Mai be- Bucht fahren die ansässigen Fischer zum suchte die UN-Sonderberichterstatterin über Fang aus. die modernen Formen der Sklaverei Brasilien. Sie kam zu dem Schluss, dass Zwangsarbeit Straflosigkeit und »sklavenartige« Praktiken im Viehzucht- Brasilien war in Lateinamerika weiterhin das sektor am häufigsten anzutreffen seien, gefolgt Schlusslicht hinsichtlich eines adäquaten Um- von Zuckerrohrplantagen. Sie forderte die gangs mit den unter der Militärregierung be- Bundesbehörden nachdrücklich dazu auf, eine gangenen schweren Menschenrechtsverlet- Verfassungsänderung zu verabschieden, die zungen. Im April 2010 entschied der Oberste es möglich macht, Land zu enteignen, auf dem Gerichtshof gegen eine Eingabe, in der die Zwangsarbeit eingesetzt wird. Die Verfas- Auslegung des Amnestiegesetzes von 1979 an- sungsänderung, die 1999 vorgeschlagen gefochten wurde. Die aktuelle Auslegung wurde, war Ende 2010 noch im Kongress an- führte zur Straflosigkeit von Personen, denen hängig. schwere Menschenrechtsverletzungen wie

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Folter, Vergewaltigung und »Verschwindenlas-

120 Brasilien sen« während der Militärdiktatur in Brasilien (1964 – 85) zur Last gelegt werden.  Im November kam der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ur- teil, dass Brasilien für das »Verschwindenlas- sen« von 62 Guerillakämpfern im Bundesstaat Pará in den Jahren 1970 bis 1972 verantwort- lich sei. Das Gericht entschied, dass Brasilien das Recht auf Gerechtigkeit verletzt habe, weil die Ermittlungen in den Fällen unzureichend waren und Informationen zurückgehalten wur- den. Ferner befand es, dass das Amnestiege- setz von 1979 gegen die Verpflichtungen Brasi- liens gemäß internationalem Recht verstoße und nicht dazu benutzt werden dürfe, die Straf- verfolgung in Fällen schwerer Menschen- rechtsverletzungen zu behindern. Bulgarien Bis Ende 2010 hatte Präsident Lula da Silva noch nicht dafür gesorgt, dass ein Urteil des Amtliche Bezeichnung: Republik Bulgarien Interamerikanischen Gerichtshofs für Men- Staatsoberhaupt: Georgi Parwanow schenrechte von 2009, in dem die Zahlung Regierungschef: Bojko Borissow einer Entschädigung an die Familie des landlo- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft sen Arbeiters Sétimo Garibaldi angeordnet Einwohner: 7,5 Mio. worden war, vollständig umgesetzt wurde. Zeu- Lebenserwartung: 73,7 Jahre gen zufolge wurde Sétimo Garibaldi im No- Kindersterblichkeit (m/w): 17 / 13 pro 1000 vember 1998 auf dem Gelände der Fazenda Lebendgeburten São Francisco in Querência do Norte im Nord- Alphabetisierungsrate: 98,3% osten des Bundesstaates Paraná von ver- mummten Männern erschossen. Angehörige der Roma waren weiterhin in vielen Bereichen Diskriminierung aus- Amnesty International: Mission und Bericht gesetzt. Es kam nach wie vor zur Zerstö-  Eine Delegation von Amnesty International besuchte Brasi- rung von Roma-Unterkünften und zur lien im Oktober. Vertreibung von Familien. Die Studie  »We know our rights and we will fight for them«: Indigenous einer NGO ergab, dass in den Jahren rights in Brazil – the Guarani-Kaiowá (AMR 19 / 014/ 2010) 2000 bis 2010 Kinder in Fürsorgeein- richtungen aufgrund vermeidbarer Ur- sachen wie Hunger, Vernachlässigung oder Kälte gestorben waren.

Diskriminierung von Roma Die Diskriminierung von Angehörigen der Roma war auch 2010 stark verbreitet, und die gesetz- lichen Maßnahmen reichten nicht aus, um eth- nische Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen. Im April legte der Ministerrat dem Parlament einen Änderungsvorschlag für das Antidiskriminierungsgesetz vor. Darin war vor- gesehen, das Personal der Gleichstellungs-

Bulgarien 121 stelle, die für die Einhaltung des Gesetzes und tersuchungen zur exzessiven Gewaltanwen- die Prüfung individueller Beschwerden zu- dung durch die Polizei hinreichend waren. ständig ist, von neun Angestellten auf fünf zu reduzieren. NGOs äußerten die Sorge, dass Kinder in Fürsorgeeinrichtungen diese Maßnahme den Schutz vor Diskriminie-  Im September 2010 veröffentlichte die NGO rung ernsthaft gefährden würde. Bulgarisches Helsinki-Komitee (BHK) die Er-  Im März 2010 befand der Europäische Ge- gebnisse einer in Zusammenarbeit mit der richtshof für Menschenrechte, dass Bulgarien Staatsanwaltschaft entstandenen Untersu- das Diskriminierungsverbot und das Recht auf chung über Todesfälle von Kindern mit geisti- ein faires Gerichtsverfahren verletzt habe. Im gen Behinderungen in Heimen. Die Untersu- Jahr 2005 hatte ein Bezirksgericht gegen eine chung fand heraus, dass 238 Kinder in den Roma-Frau, die wegen Betrugs schuldig ge- Jahren 2000 – 10 in Fürsorgeeinrichtungen ge- sprochen worden war, eine Freiheitsstrafe ver- storben waren. Zu den Todesursachen, die im hängt, obwohl die Staatsanwaltschaft eine zur Rahmen der Untersuchung festgestellt wur- Bewährung ausgesetzte Strafe empfohlen den, zählten Hunger, Vernachlässigung, allge- hatte. Das Bezirksgericht hatte argumentiert, meiner körperlicher Verfall, Infektionen, Erfrie- dass eine Bewährungsstrafe insbesondere von ren, Lungenentzündung und Gewaltanwen- Angehörigen von Minderheitsgruppen nicht dung. Nach Angaben der NGO hätten mindes- als Strafe angesehen werde. Nach Ansicht des tens drei Viertel dieser Todesfälle vermieden Europäischen Gerichtshofs für Menschen- werden können; ein Großteil der Todesfälle sei rechte lag durch diese Argumentation eine un- zuvor noch nie untersucht worden. Nach der terschiedliche Behandlung aufgrund ethni- Veröffentlichung wurden dem Vernehmen scher Zugehörigkeit vor. nach in 166 Fällen strafrechtliche Ermittlungen  Nach der Zwangsräumung und der Demon- eingeleitet. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen tage der Unterkünfte von 200 Roma im Jahr 2009 ordnete die Stadtverwaltung von Burgas Exzessive Gewaltanwendung im Januar Berichten zufolge die Zerstörung Im Juli 2010 berichtete das BHK, dass die un- 000835 von 20 Unterkünften durch Räumfahrzeuge an. verhältnismäßige Anwendung von Gewalt und Der Bürgermeister wurde in den lokalen Me- der Einsatz von Schusswaffen durch Polizeibe- dien mit den Worten zitiert, dass die Stadtver- amte nach wie vor gängige Praxis seien und waltung »herumziehende Roma« nicht dulde weitgehend straflos blieben. und »ihnen klarzumachen« versuche, dass je-  Im Januar 2010 hob das Oberste Kassations- des Mal, wenn eine illegale Unterkunft gebaut gericht Gefängnisstrafen gegen fünf Polizeibe- worden sei, diese wieder beseitigt werde. amte auf. Die Polizisten waren ursprünglich zu  Im April 2010 wurde eine Roma-Siedlung im insgesamt 82 Jahren Freiheitsentzug verurteilt Stadtteil Vrubnitsa von Sofia bei einer Aktion worden, weil sie im Jahr 2005 Angel Dimitrov zerstört, die von der Stadtverwaltung als »Ope- erschlagen hatten. Das Gericht verwies den ration Frühlingsputz« bezeichnet wurde. Die Fall wegen angeblicher Verfahrensmängel und Aktion erfolgte Berichten zufolge, nachdem im insbesondere wegen der fehlenden Bestim- Januar Bewohner des Stadtteils in einer Ein- mung der Todesursache an das Militärberu- gabe die Räumung der Roma-Siedlung gefor- fungsgericht zurück. Im November entschied dert hatten. das Militärberufungsgericht, dass die Polizisten die Hälfte der ursprünglich verhängten Frei- Folter und andere Misshandlungen heitsstrafen verbüßen müssen. Es wurden schwerwiegende Bedenken in Be-  Im Juli 2010 stellte der Europäische Gerichts- zug auf die Behandlung von Kindern in Für- hof für Menschenrechte fest, dass Bulgarien sorgeeinrichtungen geäußert. Besorgnis gab es im Fall von Gancho Vachkov das Recht auf Le-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht auch im Hinblick darauf, ob die früheren Un- ben verletzt habe. Er war am 6. Juni 1999 bei

122 Bulgarien einer Verfolgungsjagd in der Hauptstadt Sofia Flüchtlinge, Asylsuchende von der Polizei durch einen Kopfschuss getö- und Migranten tet worden. Das Gericht vertrat die Auffassung, Nach Ansicht bulgarischer NGOs neigten die dass der Schusswaffengebrauch »nicht unbe- Behörden bei der Ausweisung ausländischer dingt notwendig« und die darauf folgende Un- Staatsangehöriger zu einer missbräuchlichen tersuchung nicht gründlich, unparteiisch und Anwendung von Macht. effektiv gewesen sei.  Im Februar 2010 stellte der Europäische Ge-  Im Oktober 2010 kam der Europäische Ge- richtshof für Menschenrechte fest, dass Bul- richtshof für Menschenrechte im Falle Ka- garien das Recht des pakistanischen Staatsbür- randja gegen Bulgarien zu dem Ergebnis, dass gers Ali Raza auf ein Familienleben und einen der Staat im Juni 1997 das Recht auf Leben wirksamen Rechtsbehelf verletzen würde, falls von Peter Karandja verletzt habe. Die bulgari- er nach Pakistan ausgewiesen werde. Ali sche Gesetzgebung erlaube die Benutzung Raza, der im Jahr 2000 eine Bulgarin geheiratet von Schusswaffen bei der Festnahme eines hatte, war zwischen 2005 und 2008 in einem Verdächtigen, unabhängig von der Schwere Haftzentrum untergebracht worden, wo er bis der mutmaßlich begangenen Straftat und der zu seiner Ausweisung bleiben sollte. In der davon für andere Menschen ausgehenden 2005 ausgestellten Abschiebeanordnung hieß Gefahr, der Schusswaffeneinsatz gegen Peter es, er stelle eine ernsthafte Gefahr für die na- Karandja, der seinen Tod zur Folge hatte, sei tionale Sicherheit dar, ohne dass dafür konkrete jedoch gesetzwidrig gewesen. Nach Ansicht Gründe genannt wurden. Obwohl das Gericht des Gerichts gab es Mängel in der Beweisauf- anerkannte, dass die Wahrung der Vertraulich- nahme, bei Zeugenaussagen und bei der Beur- keit von Informationen unabdingbar sein teilung der Tat. Auch habe der Staat die Fami- könne, wenn die nationale Sicherheit auf dem lienangehörigen des Opfers nicht über die Er- Spiel stehe, sei eine vollkommene Geheimhal- gebnisse der Untersuchung informiert. tung der Gründe für die juristische Entschei- dung vor der Öffentlichkeit nicht gerechtfer- Rassismus und Diskriminierung tigt. Da der einzige öffentlich bekannte Vorwurf Im Juni berichteten NGOs über einen Anstieg gegen Ali Raza die Information gewesen sei, der Angriffe rechtsextremistischer Gruppen »dass [er] in Menschenhandel verwickelt war«, und unzureichende Gegenmaßnahmen von Po- sei der Begriff der nationalen Sicherheit »über lizei und Regierung. In den Berichten war von seine eigentliche Bedeutung hinaus« erweitert Angriffen auf Roma, ausländische Staatsange- worden. Auch hätten die Behörden es ver- hörige, Muslime und sexuelle Minderheiten säumt, genauere Angaben über die angeblich die Rede. von ihm ausgehende Bedrohung zu machen.  Am 6. Juni 2010 wurden dem Vernehmen nach vier junge Männer in einer Straßenbahn Amnesty International: Bericht in Sofia verprügelt. Bei den Tätern handelte es  Europe: Stop forced evictions of Roma in Europe sich um etwa 20 maskierte Männer, die sich (EUR 01/005/ 2010) selbst als Neo-Nazis zu erkennen gegeben ha- ben sollen und mit Schlagringen und Messern bewaffnet waren. Die vier Männer wurden attackiert, als sie sich auf dem Weg zu einer Demonstration befanden, um vor dem Sonder- zentrum für die zeitweilige Unterbringung von Ausländern in Busmantsi gegen die Inhaftie- rung ausländischer Staatsbürger zu protestie- ren. Sechs der mutmaßlichen Täter wurden festgenommen.

Bulgarien 123 dougou, festgenommen. Er starb im Kranken- Burkina Faso haus an seinen Verletzungen, die ihm durch Schläge und schwere Misshandlungen zuge- Amtliche Bezeichnung: Burkina Faso fügt worden waren. In den darauffolgenden Ta- Staatsoberhaupt: Blaise Compaoré gen kam es in Gaoua zu gewalttätigen Protes- Regierungschef: Tertius Zongo ten gegen Folter in Gewahrsam, die von der Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Polizei niedergeschlagen wurden. Die Polizei Einwohner: 16,3 Mio. setzte scharfe Munition ein und tötete zwei Lebenserwartung: 53,7 Jahre Männer, Sié Bouré¨ıma Kambou und Etienne Kindersterblichkeit (m/w): 160 / 154 pro 1000 Da. Es wurden Ermittlungen eingeleitet, jedoch Lebendgeburten lagen zum Ende des Berichtsjahrs noch keine Alphabetisierungsrate: 28,7% Ergebnisse vor.

Ein Mann starb nach Misshandlungen Todesstrafe durch die Polizei, zwei weitere wurden Im Juni wurde Alaye Diakité von der Strafkam- bei anschließenden Protesten von Ange- mer des Berufungsgerichts in Bobo-Dioulasso hörigen der Sicherheitskräfte erschos- für den Mord an seinem Halbbruder zum Tode sen. Mindestens eine Person wurde zum verurteilt. Tode verurteilt. Trotz der Verpflichtung von offizieller Seite, die gesundheitliche Recht auf Gesundheit – Betreuung für Schwangere zu verbes- Müttersterblichkeit sern, blieb die Müttersterblichkeitsrate Im Februar 2010 verpflichtete sich Präsident hoch. Blaise Compaoré während eines Treffens mit dem kommissarischen Generalsekretär von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Tod in Gewahrsam und Amnesty International, alle finanziellen Hin- außergerichtliche Hinrichtungen dernisse für den Zugang zu Notfallgeburtshilfe Im Juni 2010 wurde der mutmaßliche Drogen- und Verhütungsmitteln im Rahmen einer Stra- 000835 händler Arnaud Somé von der Polizei in tegie zur Bekämpfung der Müttersterblichkeit Gaoua, 400 km nördlich der Hauptstadt Ouaga- zu beseitigen. Im April unterstützte Burkina Faso im UN- Menschenrechtsrat eine Resolution zur Müt- tersterblichkeit. Darin wurden die Berücksich- tigung der Menschenrechte im Sinne von Maßnahmen gegen vermeidbare Todesfälle von Schwangeren sowie mehr Engagement und politische Entschlossenheit gefordert. Trotz dieser Verpflichtungen waren Ende 2010 noch keine nennenswerten Maßnahmen er- griffen worden, um die gesundheitliche Ver- sorgung von Schwangeren zu verbessern. So mussten Frauen Gebühren zahlen, wenn sie ihr Kind in staatlichen Einrichtungen zur Welt brachten. Die Verfügbarkeit von Verhütungs- mitteln und Beratungsdiensten für die Familien- planung war nach wie vor gering. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

124 Burkina Faso Amnesty International: Mission und Berichte schränkt. Menschenrechtsverteidiger  Eine hochrangige Delegation von Amnesty International stat- und Journalisten waren zunehmend ge- tete Burkina Faso im Februar einen Besuch ab. fährdet. Richter wurden von der Staats-  Burkina Faso: Giving life, risking death (AFR 60/001/ 2010) macht unter Druck gesetzt. Die Zusiche-  Burkina Faso: President commits to lifting financial barriers rungen der Regierung, Folterungen, die to maternal health in a meeting with Amnesty International, der Geheimdienst begangen hatte, so- 12 February 2010  Burkina Faso: Briefing to the UN Committee on the Elimina- wie mutmaßliche außergerichtliche Hin- tion of Discrimination against Women (AFR 60/012/2010) richtungen durch Polizei und Armee zu untersuchen, schlugen sich nicht in kon- kreten Ergebnissen nieder. Nach wie vor gab es zahlreiche Fälle von Vergewalti- gung und anderen Formen sexueller Ge- walt gegen Frauen und Mädchen. Die Tä- Burundi ter wurden häufig nicht bestraft. Hintergrund Amtliche Bezeichnung: Republik Burundi In Burundi fanden von Mai bis September 2010 Staats- und Regierungschef: Pierre Nkurunziza Gemeinde-, Präsidentschafts- und Parla- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft mentswahlen statt. Vor, während und nach den Einwohner: 8,5 Mio. Wahlen schränkte die Regierung die Rechte Lebenserwartung: 51,4 Jahre auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungs- Kindersterblichkeit (m/w): 177/ 155 pro 1000 freiheit noch weiter ein. Lebendgeburten Bei den Gemeindewahlen im Mai erhielt der Alphabetisierungsrate: 65,9% regierende Nationale Rat für die Verteidigung der Demokratie – Kräfte zur Verteidigung der Die Rechte auf freie Meinungsäußerung Demokratie (Conseil National pour la Défense und Vereinigungsfreiheit wurden von de la Démocratie – Forces pour la Défense de la der Regierung während und nach den Démocratie – CNDD-FDD) 64% der Stimmen. Wahlen 2010 noch weiter einge- Internationale und nationale Wahlbeobachter stellten Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen fest, hatten jedoch den Eindruck, dass die Ur- nengänge im Großen und Ganzen frei und fair verliefen. Einige Wahlbeobachter berichteten von Einschüchterungsversuchen vor den Wahlen. Die Oppositionsparteien lehnten die Ergebnisse ab und sprachen von massivem Wahlbetrug. Anfang Juni zogen sie ihre Kandi- daten für die Präsidentschaftswahlen am 28. Juni 2010 zurück; Amtsinhaber Pierre Nku- runziza war damit der einzige Kandidat. Die meisten Oppositionsparteien boykottierten auch die Parlamentswahlen im Juli und be- günstigten damit den überwältigenden Sieg des CNDD-FDD. Nach dem Boykott der Präsidentenwahl durch die Opposition erließ die Regierung ein vorübergehendes Versammlungsverbot für die Oppositionsparteien. Der Wahlkampf wurde

Burundi 125 von politisch motivierter Gewalt überschattet. schläge, Brandanschläge auf Büros des CNDD- Es gab u. a. zahlreiche Granaten- und Brand- FDD und illegaler Waffenbesitz erhoben, an- anschläge, die sich hauptsächlich gegen den dere wurden wegen dieser Verbrechen formell CNDD-FDD richteten. angeklagt. Die UN-Mitarbeiter waren der An- Ab September 2010 nahmen Unsicherheit sicht, dass 62 der 242 Festnahmen politisch und Kriminalität in Gebieten zu, die früher motiviert sein könnten. Die Anklagepunkte Hochburgen der Nationalen Befreiungskräfte umfassten u. a. die Abhaltung illegaler Ver- (Forces Nationales de Libération – FNL) gewe- sammlungen, die Ermunterung der Bevölke- sen waren. Nach Ansicht der Regierung han- rung, nicht zur Wahl zu gehen, und in einem delte es sich bei den dort aktiven Gruppen um Fall die »Mitgliedschaft bei den FNL«. Einige »Gangster«; andere bewerteten dieses Phäno- Oppositionelle wurden vom Geheimdienst SNR men als mögliche Vorstufe einer neuen be- länger als die gesetzlich erlaubten zwei Wo- waffneten Opposition. chen in Gewahrsam gehalten, bevor sie dann Mehrere politisch motivierte Gewalttaten, die angeklagt wurden. Die meisten sind seither in den Wochen vor den Gemeindewahlen ver- auf freien Fuß gesetzt worden. übt worden waren, wurden von der Polizei nicht gründlich untersucht. Aussagen hochrangiger Außergerichtliche Hinrichtungen Regierungsvertreter, dass bestimmte Personen UN-Menschenrechtsbeobachter bestätigten angeklagt werden müssten, führten häufig Berichte, nach denen Polizei und Armee von nicht zu entsprechenden Maßnahmen der Jus- August bis Mitte Oktober 2010 in neun Fällen tiz. für außergerichtliche Hinrichtungen verant- Von Januar bis November kehrten insgesamt wortlich waren. Dazu gehörte auch der Fall von 4752 burundische Flüchtlinge in das Land zu- drei FNL-Mitgliedern, deren Leichen im Okto- rück. ber nur kurz nach der Entlassung der drei Män- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ner aus dem Gewahrsam der Polizei in Cibi- Vereinigungs- und toke im Ruzizi-Fluss gefunden wurden. Ende Oktober setzte die Regierung eine Kommission

000835 Versammlungsfreiheit Nachdem die Oppositionsparteien den Boykott zur Untersuchung der Berichte ein. der Präsidentschaftswahlen erklärt hatten, verhängte die Regierung am 8. Juni 2010 ein Folter und andere Misshandlungen Versammlungsverbot für die Opposition. Mit Ab Ende Juni, Anfang Juli griff der SNR auf alte dieser Maßnahme schränkte sie die Versamm- Folterpraktiken zurück, die in den vergange- lungsfreiheit unrechtmäßig ein. Auch als das nen Jahren nicht mehr angewendet worden wa- Verbot nach den Präsidentschaftswahlen be- ren. Aus Berichten ging hervor, dass der SNR reits wieder aufgehoben worden war, blieb es zwölf Männer, die im Zusammenhang mit Er- für die Oppositionsparteien schwierig, Ver- mittlungen der Regierung wegen Granatenan- sammlungen abzuhalten. schlägen verhaftet worden waren, körperlich Häuser und Büros von Oppositionsmitglie- und psychologisch folterte sowie auf andere dern wurden häufig ohne die notwendigen Be- Weise misshandelte. Um ihnen »Geständnisse« schlüsse oder auch nachts durchsucht. Beides abzupressen, wurden die Männer von SNR- ist nach dem burundischen Strafverfahrens- Angehörigen geohrfeigt, getreten, mit Schlag- recht verboten. stöcken geschlagen und, wie es hieß, mit dem UN-Menschenrechtsbeobachter dokumen- Tode bedroht. tierten, dass vom 1. Mai bis zum 20. Juli min- Nachdem die UN, das Diplomatische Corps destens 242 Menschen, überwiegend Mitglie- und Menschenrechtsorganisationen wegen der der Opposition, festgenommen wurden. dieser Fälle bei der Regierung vorstellig gewor- Gegen einige Personen wurden Vorwürfe wie den waren, wurde nur noch ein weiterer Fall

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Gefährdung der Staatssicherheit, Granatenan- von Folter gemeldet. Die Regierung sicherte

126 Burundi eine Untersuchung der Fälle zu, hatte aber waltschaft kritisiert, weil sie Spuren nicht Ende 2010 noch nichts dergleichen unternom- nachging, die darauf hindeuteten, dass mögli- men. Keiner der mutmaßlichen Täter wurde cherweise hochrangige Geheimdienstbeamte bis zum Abschluss von Ermittlungen vom und die Polizei in den Mord verwickelt sind. Das Dienst suspendiert. Verfahren wurde zweimal aufgeschoben und  Am 7. Juni 2010 befand das erstinstanzliche verlief schleppend. Strafgericht in Muramvya drei Polizeibeamte  Im März 2010 erklärten Pierre Claver Mbo- für schuldig, im Oktober 2007 in Rutegama nimpa, Vorsitzender der Organisation Häftlinge misshandelt zu haben, die sie für APRODH, die sich für den Schutz der Men- FNL-Mitglieder gehalten hatten. Die Behörden schenrechte und von inhaftierten Personen unternahmen jedoch nichts, um das Urteil zu einsetzt, und Gabriel Rufyiri, Vorsitzender von vollstrecken. Zwei der Verurteilten waren Ende OLUCOME, einer Organisation, die gegen Kor- des Jahres immer noch im Polizeidienst, der ruption und Misswirtschaft kämpft, dass sie dritte war wegen anderer Anklagepunkte 2009 überwacht würden. Sie wiesen darauf hin, ins Gefängnis gekommen. dass es Pläne geben könnte, sie umzubringen. Im Mai wurde Pierre Claver Mbonimpa von der Illegale Auslieferung Staatsanwaltschaft vorgeladen und über seine Der ruandische Oppositionspolitiker Déogratias Arbeit im Rahmen der Kampagne befragt, in Mushayidi wurde am 3. März 2010 in Burundi der Gerechtigkeit für Ernest Manirumva gefor- von burundischen Sicherheitskräften festge- dert wird. Im Oktober teilte ihm der Innenmi- nommen und zwei Tage später an Ruanda nister in einem privaten Gespräch mit, dass er überstellt. Seine Festnahme verstieß gegen for- aus dem Amt des Vorsitzenden von APRODH male Auslieferungsverfahren. entfernt werden könnte, sollte er weiterhin Übergriffe anprangern, die sich auf die Polizei Recht auf freie Meinungsäußerung beziehen. In einer zum Zeitpunkt des Ge- Menschenrechtsverteidiger sprächs stattfindenden Pressekonferenz Die Regierung diskutierte 2010 über das Forum wurde ihm von einem Polizeisprecher mit der für die Stärkung der Zivilgesellschaft (FORSC), Verhaftung gedroht. Der Anlass waren Einlas- dessen Rechtsstatus seit dem Widerruf der Zu- sungen von Mbonimpa über mutmaßliche au- lassung im Jahr 2009 ungeklärt war. Diese po- ßergerichtliche Hinrichtungen durch die Poli- sitive Entwicklung wurde jedoch dadurch über- zei. schattet, dass Menschenrechtsverteidiger von  Mitarbeiter von OLUCOME und ihre Familien der Justiz schikaniert und von Regierungsver- erhielten im Oktober und im November 2010 tretern mit Verhaftung oder dem Entzug der Morddrohungen. Zulassung für ihre Organisationen bedroht wur- den. Außerdem wurden sie intensiv von Perso- Journalisten nen beschattet und eingeschüchtert, die ver- Die unabhängigen Medien in Burundi waren mutlich dem Geheimdienst angehörten. Pro- nach wie vor sehr lebendig. Journalisten igno- minente, die Gerechtigkeit für den Tod von Er- rierten die Versuche, sie zum Schweigen zu nest Manirumva forderten, der gegen Korrup- bringen, und äußerten weiter Kritik an der Re- tion gekämpft hatte und 2009 ermordet worden gierung. Durch Schikanen der Justizbehörden war, waren gefährdet. Die Regierung wies und lange Untersuchungshaft schränkte die auch eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsor- Regierung die Redefreiheit stark ein. Einige ge- ganisation Human Rights Watch aus Burundi gen Journalisten geäußerte Morddrohungen aus. kamen offenbar von Staatsbediensteten.  Am 14. Juli 2010 begann der Prozess gegen  Im Juli 2010 wurde Jean Claude Kavumbagu, die Mörder von Ernest Manirumva. Aus den Herausgeber von Net Press, wegen eines Arti- Reihen der Zivilgesellschaft wurde die Staatsan- kels verhaftet, in dem die Frage aufgeworfen

Burundi 127 wurde, ob die burundischen Sicherheitskräfte Haftbedingungen in der Lage seien, Burundi vor einem Anschlag Die Gefängnisse waren überfüllt und schlecht der somalischen al-Shabab-Milizen zu schüt- ausgestattet. Obwohl Schritte zur Beschleuni- zen. Er wurde des Verrats angeklagt, was nach gung von Kautionsverhandlungen unternom- burundischem Recht nur möglich ist, wenn men wurden, nahm die Überfüllung in den sich das Land im Krieg befindet. Ende 2010 Haftanstalten nicht ab, weil die Gerichte nach befand er sich weiterhin in Haft. wie vor nicht genug Mitarbeiter hatten.  Journalisten des Senders Radio Publique Africaine erhielten 2010 Morddrohungen, ano- Übergangsjustiz nyme Anrufe und wurden u. a. von Personen In der Rede anlässlich seiner Amtseinführung schikaniert, bei denen es sich offenbar um verpflichtete sich Präsident Nkurunziza, die Staatsbedienstete handelte. Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungs- kommission weiter anzustreben. Im Novem- Politische Parteien ber 2010 nahm der Präsident den Bericht über François Nyamoya, Rechtsanwalt und Sprecher die landesweiten Konsultationen zum Thema der Bewegung für Solidarität und Demokratie Übergangsjustiz entgegen, die 2009 abgehalten (MSD), wurde aufgrund einer Anzeige des Lei- worden waren. Die Veröffentlichung des Be- ters des SNR, Adolphe Nshimirimana, wegen richts war eine Vorbedingung für die Schaffung Verleumdung verhaftet. François Nyamoya der Kommission und eines Sondergerichts- hatte Menschenrechtsverletzungen des SNR hofs im burundischen Justizsystem. Nach wie und der Polizei öffentlich kritisiert und die Ent- vor genossen diejenigen Straffreiheit, die in lassung von Adolphe Nshimirimana sowie des den Reihen der FNL, des CNDD-FDD und der stellvertretenden Polizeidirektors gefordert. früheren burundischen Armee in den vergan- Adolphe Nshimirimana warf François Nya- genen Jahren für Menschenrechtsverstöße ver- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen moya vor, er habe ihn als »Gangster« bezeich- antwortlich waren. net. François Nyamoya war im Mpimba-Ge- fängnis inhaftiert und wurde im Oktober unter

000835 Die unabhängige nationale Auflagen aus der Haft entlassen. Menschenrechtskommission Ende 2010 gab es noch immer keine unabhän- Justizwesen gige nationale Menschenrechtskommission. Richter gerieten unter Druck und wurden in die Das Parlament verabschiedete im Dezember Provinzen versetzt, wenn sie Entscheidungen ein Gesetz zur Einrichtung einer solchen Kom- trafen, die der Regierung nicht genehm waren. mission. Die Zustimmung des Präsidenten Präsident Nkurunziza hatte nach wie vor den stand am Jahresende noch aus. Vorsitz des Obersten Richterrats inne, der für Die UN verlängerten das Mandat des unab- die Ernennung, Beförderung und Zurückstu- hängigen UN-Experten für die Menschen- fung von Richtern zuständig ist. rechtslage in Burundi bis zur Einrichtung der  Im Juli 2010 entschied ein Richter, dass die Menschenrechtskommission, allerdings mit Beweise für eine Anklage gegen den Vorsit- Einschränkung seiner Berichterstattung. Der zenden von OLUCOME, Gabriel Rufyiri, nicht unabhängige Experte durfte im November in ausreichten. Der Leiter einer parastaatlichen das Land einreisen. Ein früherer Besuch war Organisation hatte eine Beschwerde einge- von der Regierung verhindert worden. reicht, OLUCOME habe ihn fälschlicherweise bezichtigt, einen Wagen, der dem Staat ge- Amnesty International: Mission und Berichte hörte, für den Wahlkampf für den CNDD-FDD  Delegierte von Amnesty International hielten sich im Oktober benutzt zu haben. Der Richter wurde am in Burundi auf.  nächsten Tag aufs Land versetzt. Burundi: Protect independent human rights reporting (AFR 16/001/2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

128 Burundi  Burundi: »A step backwards« – torture and other reichen Rettungsaktion alle befreit werden ill-treatment by Burundi’s National Intelligence Service konnten. Der Unfall lenkte die Aufmerksam- (AFR/16 / 002/ 2010) keit auf Sicherheitsfragen in der Bergbauindus-  Burundi: Demand release of online editor: Jean Claude Ka- trie. 83 Personen kamen im Dezember bei vumbagu (AFR 16/004/2010) einem Brand im überbelegten Gefängnis von  Burundi: Still no justice for Burundi massacre victims San Miguel ums Leben, was erneut ein (AFR 16/005/ 2010) Schlaglicht auf die entsetzlichen Haftbedingun-  Burundi: Ensure justice over activist’s killing, 8 April 2010  Burundi: Investigate those accused of torturing opposition gen in vielen Strafanstalten Chiles warf. politicians, 23 August 2010 Im Januar wurde das chilenische Museum der Erinnerung für die Öffentlichkeit zugäng- lich gemacht, das an die zwischen 1973 und 1990 verübten Menschenrechtsverletzungen gemahnen soll. Im Juli begannen die Vorarbei- ten zur Einrichtung eines staatlichen Men- schenrechtsinstituts, doch blieben Bedenken Chile bestehen, dass dessen Autonomie nicht durch die Verfassung gewährleistet sei. Amtliche Bezeichnung: Republik Chile Die Polizei räumte »Fehler« in ihrer Reaktion Staats- und Regierungschef: auf friedliche Studentenproteste im August in Sebastián Piñera Echeñique (löste im März Santiago ein, wo Tränengas und Wasserwerfer Michelle Bachelet Jeria im Amt ab) zum Einsatz kamen. Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten Die Änderung bestehender Gesetze, wonach abgeschafft vor Militärgerichten gegen Zivilisten verhandelt Einwohner: 17,1 Mio. werden darf, wurde im Oktober im Kongress de- Lebenserwartung: 78,8 Jahre battiert. Kindersterblichkeit (m/w): 10 / 8 pro 1000 Lebendgeburten Rechte indigener Völker Alphabetisierungsrate: 98,6% Im Juli 2010 begannen 23 inhaftierte Mapuche einen Hungerstreik, um damit u. a. die An- Indigene Völker kämpften weiterhin um wendung von Antiterrorgesetzen gegen sie so- die Anerkennung ihrer Rechte. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Perso- nen, die in der Vergangenheit Men- schenrechtsverletzungen begangen hat- ten, waren gewisse Fortschritte zu ver- zeichnen. Nach wie vor wurden die sexu- ellen und reproduktiven Rechte durch Gesetze eingeschränkt.

Hintergrund Ein verheerendes Erdbeben und eine Flutwelle forderten im Februar 2010 im Süden des Lan- des bis zu 500 Todesopfer und verursachten beträchtliche Schäden. Im August wurden beim Einsturz einer Kup- fer-Gold-Mine in der Atacama-Wüste 33 Berg- leute 700 m unter der Erdoberfläche einge- schlossen, die nach 69 Tagen in einer erfolg-

Chile 129 wie mutmaßliche Verletzungen der Rechts- Wahrheits- und Versöhnungskommission staatlichkeit anzuprangern. In der intensivsten (Rettig-Kommission) und der Nationalen Kom- Phase des Hungerstreiks nahmen 34 Häft- mission über politische Haft und Folter (Va- linge daran teil. Nach von Erzbischof Ricardo lech-Kommission) berücksichtigt worden wa- Ezzati vermittelten Verhandlungen zwischen ren. Opfer und deren Angehörige erhielten Vertretern der Inhaftierten und der Regierung sechs Monate Zeit, um ihre Fälle darzulegen, fand der Hungerstreik im Oktober ein Ende. In woraufhin die Kommission die Fälle begutach- einer von allen beteiligten Parteien unterzeich- ten und eine Liste derer aufstellen wird, die An- neten Vereinbarung wurde festgelegt, dass spruch auf die gleichen Leistungen haben, wie sämtliche nach den Antiterrorgesetzen verhan- sie im Rahmen der Rettig-Kommission und der delten Fälle auf Zivilstrafrecht übertragen wür- Valech-Kommission gewährt wurden. den, dass die Regierung Reformen des Militär- Im Juli präsentierten die katholische Kirche strafrechts vornehmen werde und dass in Be- und Vertreter evangelikaler Kirchen zwei Vor- zug auf die Forderungen der Mapuche weitere, schläge für die Gewährung von Begnadigun- im Einklang mit internationalen Menschen- gen, die mit den Feiern zum 200-jährigen Be- rechtsstandards stehende Maßnahmen umge- stehen Chiles zusammenfallen sollen. Staats- setzt würden. präsident Sebastián Piñera schloss Begnadi- Von August an protestierten indigene Grup- gungen bei Verbrechen gegen die Menschlich- pierungen auf Rapa Nui (Osterinsel) gegen keit aus und erklärte, dass über Gnadengesu- das anhaltende Versäumnis, ihnen traditionell che aus humanitären Gründen auf Einzelfallba- angestammtes Land zurückzugeben. Als Re- sis entschieden würde. aktion darauf richtete die Regierung im Sep- Opfergruppen legten weiterhin Fälle zur straf- tember Arbeitsgruppen ein, um über diese rechtlichen Verfolgung vor. Anliegen zu diskutieren. Doch äußerten viele  Im August 2010 reichte eine Gruppe ehema- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Angehörige der indigenen Gemeinschaften liger Rekruten 438 Klagen ein, in denen der Einwände gegen die Bedingungen der Diskus- Armee zwischen 1973 und 1990 verübte Men- sion. Im Dezember wurden bei gewaltsamen schenrechtsverletzungen gegenüber Rekruten 000835 Zusammenstößen zwischen Sicherheitsbeam- zur Last gelegt werden. ten und Angehörigen der indigenen Gemein-  Im Oktober 2010 erklärte eine Gruppierung, schaften, die Gebäude und Land besetzt hat- welche die Angehörigen der aus politischen ten, über 20 Personen verletzt. Gründen Hingerichteten vertritt, dass sie der Ein im Kongress eingebrachter Gesetzentwurf Justiz insgesamt 300 Fälle vorgelegt habe. bezüglich der verfassungsmäßigen Anerken-  Im April 2010 bestätigte der Oberste Ge- nung indigener Völker erhielt im September richtshof die Entscheidung im Fall von Car- Dringlichkeitsstatus, der im Oktober indes wie- melo Soria, einem 1976 von Sicherheitskräften der aufgehoben wurde. Bis Ende 2010 war der getöteten spanischen Diplomaten, die Anwen- Gesetzentwurf noch nicht debattiert worden. dung des Amnestiegesetzes zu ratifizieren.  Im Juli 2010 wurde Manuel Contreras, der Straflosigkeit frühere Chef des chilenischen Geheimdiens- Durch eine im Januar 2010 von der aus dem tes (Dirección de Inteligencia Nacional – DINA), Amt scheidenden Staatspräsidentin unter- wegen seiner Beteiligung an dem Mord an Ge- zeichnete Verordnung wurde eine Kommission neral Carlos Prats und dessen Frau Sofía Cuth- eingerichtet, die sich mit den Fällen von Per- bert in Buenos Aires, Argentinien, zu 17 Jah- sonen befassen soll, die zwischen 1973 und ren Haft verurteilt. 1990 politischer Haft, Folter oder dem »Ver- schwindenlassen« zum Opfer gefallen waren. Die Kommission soll sich mit den Fällen be-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schäftigen, die noch nicht von der Nationalen

130 Chile Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen China Im September 2010 wurde die Interamerikani- sche Menschenrechtskommission im Fall von Amtliche Bezeichnung: Volksrepublik China Karen Atala beim Interamerikanischen Ge- Staatsoberhaupt: Hu Jintao richtshof für Menschenrechte vorstellig. Karen Regierungschef: Wen Jiabao Atala, eine chilenischen Richterin, war aus Todesstrafe: nicht abgeschafft Gründen ihrer sexuellen Orientierung das Sor- Einwohner: 1,4 Mrd. gerecht für ihre drei Töchter entzogen worden. Lebenserwartung: 73,5 Jahre Die Kommission kam überdies zu dem Kindersterblichkeit (m/w): 25 / 35 pro 1000 Schluss, dass die chilenische Justiz das Kin- Lebendgeburten deswohl außer Acht gelassen habe, als sie das Alphabetisierungsrate: 93,7% (ohne Hongkong) Sorgerecht dem Vater der drei Mädchen zu- sprach. Die chinesische Regierung reagierte auf NGOs prangerten eine Kampagne an, mit der eine zunehmend wachsende Zivilgesell- im Oktober 2010 ein Filmfestival über sexuelle schaft mit der Inhaftierung und Straf- Vielfalt gestoppt werden sollte. In Flugblättern verfolgung von Menschen, die in friedli- und an die Veranstalter sowie Unterstützer des cher Weise ihre Meinung zum Ausdruck Festivals versandten Briefen wandten sich die brachten, vom Staat nicht zugelassenen Urheber der Kampagne gegen die »Propagie- Religionsgemeinschaften angehörten, für rung« homosexueller Beziehungen durch das demokratische Reformen und Men- Festival. schenrechte eintraten oder die Rechte ihrer Mitbürger verteidigen wollten. Die Sexuelle und reproduktive Rechte Internetseiten beliebter sozialer Medien Abtreibung blieb nach wie vor in allen Fällen waren nach wie vor aufgrund der staat- unter Strafe gestellt. Im Dezember 2010 wur- lichen Zensurmaßnahmen nicht zu- den dem Kongress zwei Gesetzentwürfe vorge- gänglich. Tibeter, Uiguren, Mongolen legt, die darauf abzielen, den Rahmen von und andere ethnische Minderheiten Strafmaßnahmen im Zusammenhang mit Ab- des Landes waren weiterhin Repressio- treibung einzugrenzen. nen vonseiten der Behörden ausgesetzt. Eine NGO berichtete über die von HIV-posi- Auf internationaler Bühne trat China tiven Frauen erlebte Diskriminierung in Bezug selbstbewusster und aggressiver auf, auf den Zugang zu Gesundheitsdiensten. Sie indem es Länder bestrafte, deren füh- stellte ebenso systematische Verletzungen von rende Politiker die Menschenrechts- deren Recht auf die Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht fest. Zudem registrierte sie eine Reihe von Fällen, wo unter Zwang oder Nötigung Sterilisierungen stattgefunden hat- ten.

Amnesty International: Bericht  Open Letter to President Piñera (AMR 22 / 003/ 2010)

China 131 lage Chinas öffentlich zur Sprache jährigen chinesischen politischen Aktivisten Liu brachten. Xiaobo und verschoben bilaterale Handelsge- spräche mit Norwegen auf unbestimmte Zeit. Hintergrund Ausländische Diplomaten berichteten, von chi- Im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaf- nesischer Seite unter Druck gesetzt worden zu ten konnte China 2010 sein relativ hohes Wirt- sein, an der Verleihungszeremonie am 10. De- schaftswachstum trotz der anhaltenden welt- zember 2010 in Oslo nicht teilzunehmen. weiten Rezession aufrechterhalten. Die Unzu- friedenheit und die Proteste im Lande nahmen Recht auf freie Meinungsäußerung jedoch an Heftigkeit zu. Sie waren auf eine Die Behörden hinderten Personen daran, poli- wachsende wirtschaftliche und soziale Kluft, tisch brisante Themen öffentlich anzuspre- eine weit verbreitete Korruption im Justizwe- chen oder darüber zu berichten, indem sie An- sen, Polizeiübergriffe und die Unterdrückung schuldigungen der Preisgabe von »Staatsge- der Religionsfreiheit und anderer Menschen- heimnissen«, des Separatismus (Nationalismus rechte zurückzuführen. Auch in den von Tibe- ethnischer Minderheiten), der Verleumdung tern und Uiguren bewohnten Landesteilen oder des Straftatbestands »Subversion« gegen hielten die Unruhen und Repressionsmaßnah- sie erhoben. Vage formulierte Bestimmungen men an. Trotz eines Anstiegs des Durch- dienten dazu, die Veröffentlichung politisch bri- schnittseinkommen hatten Millionen von Men- santen Materials zu kontrollieren oder zu un- schen keinen Zugang zu einer Gesundheits- terbinden. Dazu gehörten Verweise auf die De- versorgung. Wanderarbeiter wurden nach wie monstrationen auf dem Platz des Himmli- vor als Bürger zweiter Klasse behandelt, und schen Friedens von 1989 und Themen wie viele Familien konnten das Geld für die Schul- Menschenrechte, Demokratie, Falun Gong so- gebühren ihrer Kinder nicht aufbringen. wie die Anliegen von Tibetern und Uiguren. Die 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Die Behörden bekundeten erneut ihre Ab- staatliche Zensur stützte sich in großem Maße sicht, die Rechtsstaatlichkeit zu stärken. auf »Zurückhaltung im Vorfeld«, eine Form der Nichtsdestotrotz konnten jene, die als politische Selbstzensur, und die Internet-Firewall, mit 000835 Bedrohung des Regimes beziehungsweise der der unliebsame Inhalte von den Behörden ge- Interessen örtlicher Behördenvertreter angese- sperrt oder gefiltert wurden. hen wurden, weiterhin nicht damit rechnen, Die Änderung des Gesetzes über Staatsge- ihre Rechte geltend machen zu können. Die po- heimnisse, die im Oktober 2010 in Kraft trat, litische Einflussnahme auf die Justiz und die sieht eine neue Bestimmung vor, wonach Inter- Korruption in deren Reihen waren nach wie vor net- und andere Telekommunikationsunter- allseits zu beobachten. nehmen gemäß Artikel 28 zur Zusammenarbeit Die wachsende internationale wirtschaftliche bei Ermittlungen in Fällen der Offenlegung von und politische Bedeutung Chinas spiegelte Staatsgeheimnissen verpflichtet sind. Andern- sich darin wider, dass die Regierung des Lan- falls droht diesen Firmen ein Strafverfahren. des immer häufiger Staaten, die Kritik an der Die Behörden übten wie bisher eine strenge Menschenrechtslage in China übten, wirt- Kontrolle über die Nachrichtenberichterstat- schaftliche und politische Vergeltungsmaßnah- tung im Internet aus und erteilten entspre- men androhte. Viele Länder zeigten sich daher chende Lizenzen lediglich an große Internet- wenig geneigt, mangelnde Fortschritte Chinas seiten, die staatliche Unterstützung genossen. im Bereich der Menschenrechte öffentlich an- Viele Portale von sozialen Medien blieben ge- zusprechen. Bilaterale Kanäle, wie etwa ein sperrt, darunter Facebook, Twitter, YouTube Menschenrechtsdialog, erwiesen sich zudem und Flickr. als weitgehend wirkungslos. Die Behörden rea-  Am 5. Juli 2010 wurde Liu Xianbin, ein Mit- gierten verärgert auf die Nachricht von der Ver- glied der verbotenen Chinesischen Demokrati-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht leihung des Friedensnobelpreises an den lang- schen Partei, in dem Ort Suining der Provinz Si-

132 China chuan wegen »Anstiftung zur Untergrabung im April und Mai 2007 in der Stadt Urumqi der Staatsgewalt« festgenommen. Die Anklage zweimal mit einem Christen aus den USA ge- bezog sich auf seine Unterstützung von Men- sprochen hatte. schenrechtsverteidigern und Artikel, die er auf ausländischen Internetseiten veröffentlicht Falun Gong hatte. Die Behörden setzten 2010 ihre Kampagne zur  Der Uigure Gheyret Niyaz wurde im Juli 2010 »Umformung« von Falun-Gong-Anhängern wegen der »Weitergabe von Staatsgeheimnis- fort, die vorsah, dass in Haftanstalten und Un- sen« zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Be- tersuchungsgefängnissen inhaftierte Anhän- lastungsmaterial wurden u. a. von ihm ver- ger dieser Religionsgemeinschaft gezwungen fasste Essays über die wirtschaftliche und ge- werden, ihrem Glauben abzuschwören. Dieje- sellschaftliche Lage von Uiguren in China an- nigen unter ihnen, die sich weigerten, eine ent- geführt. Berichten zufolge hing seine Verurtei- sprechende Erklärung zu unterzeichnen und lung mit Aussagen gegenüber ausländischen daher als »widerspenstig« galten, wurden nach Medien zusammen, in denen er die Politik der gängiger Praxis so lange gefoltert, bis sie ein- Regierung der Autonomen Uigurischen Re- willigten. Viele von ihnen starben in der Haft gion Xinjiang (Sinkiang) kritisiert hatte. oder kurz nach ihrer Haftentlassung. Falun-Gong-Anhänger waren vor großen na- Religionsfreiheit tionalen Ereignissen erneut im Visier groß an- Der Staat wies 2010 alle Religionsgruppen an, gelegter Razzien. So wurden nach Angaben von sich behördlich registrieren zu lassen, und Falun Gong vor Beginn der Weltausstellung in wachte über die Ernennung von religiösen Shanghai 124 ihrer Anhänger inhaftiert und Funktionsträgern. Die Anhänger nicht regis- Dutzende von ihnen in Lager der Umerzie- trierter oder verbotener Religionsgemeinschaf- hung durch Arbeit gesteckt oder zu Gefängnis- ten mussten mit Drangsalierungen, Strafver- strafen verurteilt. Menschenrechtsanwälte wa- folgung, Gewahrsam und Gefängnisstrafen ren besonders gefährdet, von den Behörden rechnen, wobei einige der Gemeinschaften bestraft zu werden, wenn sie die Verteidigung von den Behörden als »ketzerische Sekten« von Falun-Gong-Anhängern übernahmen. Zu eingestuft wurden. Von den als illegal einge- den Sanktionen gegen sie gehörten der Entzug stuften Religionsgemeinschaften errichtete Kir- ihres Anwaltspatents, Drangsalierungen und chen oder Tempel konnten jederzeit abgeris- die Einleitung von Strafverfahren. sen werden. Über 40 katholische Bischöfe, die  Guo Xiaojun, ein früherer Universitätsdozent, den staatlich nicht zugelassenen »Hauskir- wurde im Januar 2010 als Falun-Gong-Anhän- chen« angehören, waren weiterhin in Haft, ger in Shanghai festgenommen und später der standen unter Hausarrest, hielten sich ver- »Untergrabung der Rechtsordnung mit Hilfe steckt oder waren verschollen. einer ketzerischen Organisation« angeklagt.  Im Dezember 2010 protestierten über 100 Man verurteilte ihn anschließend zu vier Jah- Studierende eines katholischen Priestersemi- ren Freiheitsentzug, weil er Falun-Gong-Mate- nars in der Provinz Hebei gegen die Ernennung rial verteilt haben soll. Guo Xiaojun wurde im eines nicht katholischen Beamten zum Schul- Gefängnis gefoltert und in Einzelhaft gehalten, leiter. Es war die erste Protestkundgebung die- so dass er schließlich ein Geständnis unter- ser Art seit dem Jahr 2000. schrieb, das später in einem Berufungsverfah-  Die gegen Alimjan Yimit verhängte 15-jährige ren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zur Freiheitsstrafe wurde im März 2010 vom Obe- Bestätigung seines Schuldspruchs diente. Er ren Volksgericht der Autonomen Uigurischen hatte zuvor bereits wegen seines Glaubens Region Xinjiang bestätigt. Alimjan Yimit war fünf Jahre im Gefängnis verbracht. wegen der »Weitergabe von Staatsgeheimnis-  Das städtische Justizamt von Peking entzog sen« in Haft genommen worden, nachdem er den beiden Anwälten Tang Jitian und Liu Wei

China 133 im April ihr Patent mit der Begründung, sie hät- räume hinweg sowie die Inhaftierung in »inof- ten »die Gerichtsordnung gestört und sich in fiziellen Hafteinrichtungen«, Zentren zur »Ge- das ordentliche Gerichtsverfahren einge- hirnwäsche«, psychiatrischen Kliniken und mischt«. Die Rechtsanwälte hatten im April nicht als solche gekennzeichneten »Hotels«. 2009 einen Falun-Gong-Anhänger in der Pro- Bezüglich einer Reform bzw. Abschaffung des vinz Sichuan vertreten. Systems der Administrativhaft ohne Anklageer- hebung oder Gerichtsverfahren, wie z. B. der Menschenrechtsverteidiger Umerziehung durch Arbeit, waren keine Fort- Zivilgesellschaftliche Strukturen breiteten sich schritte zu erkennen. Hunderttausende von weiter aus, und immer mehr nichtstaatliche Menschen waren nach wie vor in entsprechen- Organisationen wurden im ganzen Land tätig. den Einrichtungen inhaftiert. Die Behörden erließen indes weitere Restrik- tionen gegen solche Organisationen und gegen Folter und andere Misshandlungen Menschenrechtsverteidiger. Auf Druck der Folter und andere Misshandlungen in Haftein- Behörden kappte die Universität Peking im Mai richtungen waren weiterhin eine allseits gän- 2010 ihre Verbindungen mit vier zivilgesell- gige Praxis. Bei Amnesty International gingen schaftlichen Gruppen, darunter mit dem Zen- Berichte über Todesfälle in der Haft in einer trum für Frauenrechte und Rechtsberatung. ganzen Reihe staatlicher Einrichtungen ein-  Der prominente Menschenrechtsanwalt Gao schließlich Gefängnissen und Untersuchungs- Zhisheng war seit Februar 2009 »verschwun- gefängnissen der Polizei ein, von denen einige den«, nachdem ihn Vertreter des Amts für öf- auf Folter zurückzuführen waren. Im Juli 2010 fentliche Sicherheit in Gewahrsam genommen traten neue Bestimmungen in Kraft, um das hatten. Er tauchte im April kurz auf, ist aber Verbot der Verwendung illegaler mündlicher seitdem erneut verschollen. Geständnisse in Strafverfahren wie etwa von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Der am 9. September aus dem Gefängnis erzwungenen »Geständnissen« zu stärken. entlassene Chen Guangcheng und seine Ehe- Gleichwohl enthält die Strafprozessordnung des frau standen Ende 2010 weiterhin unter Haus- Landes bislang immer noch kein explizites 000835 arrest. Selbst für einen Arztbesuch durften sie Verbot der Verwendung von »Geständnissen« ihre Wohnung nicht verlassen. als Beweismittel vor Gericht, die durch Folter  Tian Xi, der 1996 im Alter von neun Jahren in- oder Misshandlungen zustande gekommen folge einer Bluttransfusion mit HIV sowie He- sind. patitis B und C infiziert worden war, musste sich am 21. September 2010 wegen »vorsätzlicher Todesstrafe Sachbeschädigung« vor Gericht verantworten. Die Statistiken über Todesurteile und Hinrich- Er hatte sich jahrelang darum bemüht, vom tungen waren 2010 weiterhin unter Ver- Krankenhaus eine Entschädigung für sich und schluss. Öffentlich zugängliche Informationen andere Infizierte zu erhalten. Bei einem Tref- weisen jedoch darauf hin, dass die Todesstrafe fen am 2. August im Krankenhaus verlor er die weiterhin in großem Umfang angewandt wurde Beherrschung und schmiss einige Gegen- und man Tausende nach unfairen Prozessen stände vom Schreibtisch herunter. Eine Geset- hingerichtet hatte. Eine Reihe von Fällen, in de- zeslücke ermöglichte es, seinen Prozess zu nen Unschuldige zum Tode verurteilt oder vertagen und ihn so ohne zeitliche Begrenzung exekutiert wurden, war Gegenstand heftiger öf- in Gewahrsam zu halten. fentlicher Debatten. Dadurch erhöhte sich der Druck auf die Regierung, sich dieses Missstan- Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren des anzunehmen. Die Anwendung rechtswidriger Formen der In- haftierung breitete sich aus, darunter Hausar-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht rest ohne Rechtsgrundlage über lange Zeit-

134 China Autonome Uigurische Region Januar teilweise wieder ermöglicht worden wa- Xinjiang ren, hat man über 100 Personen wegen der Die Behörden versäumten es, eine unabhän- »Verbreitung schädlicher Informationen« und gige Untersuchung der Ausschreitungen vom der »Beeinträchtigung der Einheit der Volks- Juli 2009 in der Stadt Urumqi sowie möglicher gruppen« durch die Versendung von SMS- Fälle des Missbrauchs staatlicher Gewalt Nachrichten festgenommen. Einige von ihnen durchzuführen. Es wurden weitere Personen, wurden in Strafhaft genommen. Die völlige Blo- die an den gewaltsamen Zusammenstößen ckade von Informationen und Kommunikati- beteiligt waren, in unfairen Gerichtsverfahren onswegen, die im Anschluss an die Unruhen verurteilt. Im März 2010 gab der Gouverneur vom Juli 2009 über die gesamte Autonome Ui- der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang, gurische Region Xinjiang verhängt worden war, Nur Bekri, bekannt, dass 97 Strafsachen, in wurde zwar im Mai nahezu vollständig wieder denen sich 198 Personen vor Gericht verant- aufgehoben, aber mehrere beliebte uigurische worten mussten, abgeschlossen seien. Aller- Internetseiten blieben gesperrt. dings wurden lediglich die Urteile in 26 Verfah- Auf einem im Mai abgehaltenen »zentralen ren, die 76 Personen betrafen, bekannt ge- Arbeitsforum« wurden ehrgeizige wirtschaftli- macht. Die Behörden rieten Menschenrechts- che und politische Pläne für die Region vorge- anwälten erneut dringend davon ab, sich die- stellt, in denen aber auf seit langem beste- ser Fälle anzunehmen, und im Januar gab das hende Anliegen der Uiguren, wie deren Besorg- Obere Gericht der Autonomen Region Xinjiang nis über die massive Diskriminierung auf dem »Stellungnahmen zur Anleitung« an die Ge- Arbeitsmarkt, nicht eingegangen wurde. Die richte heraus, in denen aufgeführt war, wie Behörden in Xinjiang trieben ihre Politik der derartige Gerichtsverfahren abzulaufen haben. »zweisprachigen Bildung« gegen alle Wider- Die Sicherheitsvorkehrungen in Xinjiang wur- stände voran, bei der in der Praxis Hochchine- den verschärft, u. a. durch eine am 1. Februar sisch als Unterrichtssprache gefördert und Ui- in Kraft getretene Neufassung der Umfassen- gurisch sowie andere Sprachen ethnischer den Regelung der gesellschaftlichen Ordnung. Minderheiten selbst in den Schulen für die Kin- Dies bestärkte die Behörden darin, gegen Straf- der ethnischer Minderheiten an den Rand ge- täter in der Region »hart durchzugreifen«, ins- drängt werden. besondere bei einer »Gefährdung der nationa-  Im Juli 2010 wurden Nureli, Dilixiati Perhati len Sicherheit«. Wie die Behörden bekannt ga- und Nijat Azat, die Betreiber einer uigurischen ben, wurden im Jahr 2010 insgesamt 376 sol- Internetseite, wegen der »Gefährdung der cher Fälle vor Gericht verhandelt, im Vergleich staatlichen Sicherheit« durch Veröffentlichun- zu 268 Fällen im Jahr 2008. gen in ihrem Portal zu drei, fünf bzw. zehn Jah- ren Freiheitsentzug verurteilt. Recht auf freie Meinungsäußerung  Am 1. April 2010 verhängte das Mittlere In der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang Volksgericht von Urumqi gegen die uigurische wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung Web-Administratorin Gulmira Imin wegen per Gesetz stark beschnitten, indem die aus »Separatismus, Weitergabe von Staatsgeheim- Sicht der Behörden missbräuchliche Nutzung nissen und Abhaltung einer illegalen Demons- des Internets und anderer Formen der digitalen tration« eine lebenslange Haftstrafe. Es wird Kommunikation unter Strafe gestellt wurden. angenommen, dass die Anklage mit ihren re- Zu den Rechtsübertretungen gehörten auch gelmäßigen Veröffentlichungen auf der Inter- vage formulierte Straftaten des »ethnischen netseite Salkin zusammenhing – eine der Web- Separatismus«, wie z. B. die »Anstiftung« zum sites, auf denen der Aufruf zu Protesten am Separatismus und die Verteilung von Material 5. Juli 2009 veröffentlicht worden war. und literarischen Werken mit »separatisti- schen« Inhalten. Nachdem SMS-Dienste im

China 135 Autonome Region Tibet Sonderverwaltungsregion Hongkong Die Behörden gingen weiterhin massiv gegen Die Regierung unterbreitete Vorschläge für eine lokale Proteste vor, die mit den Protesten vom Gesetzesänderung, die eine begrenzte Reform März 2008 in Zusammenhang standen. Füh- des Modus zur Wahl des Gesetzgebenden Ra- rende tibetische Intellektuelle gerieten zuneh- tes (LegCo) und zur Kür des Verwaltungschefs mend ins Visier der Behörden. So wurden meh- von Hongkong im Jahr 2012 vorsahen. Darauf- rere namhafte Personen aus Künstler-, Publi- hin wurden Forderungen nach schnellen Fort- zisten- und Kulturkreisen unter Angabe faden- schritten auf dem Weg zu einem allgemeinen scheiniger Gründe zu drakonischen Strafen Wahlrecht erhoben, wie es im Grundgesetz verurteilt. Die Weitergabe von Informationen von Hongkong festgeschrieben ist. Der Gesetz- über politisch brisante Themen an Ausländer gebende Rat nahm die Gesetzesänderungen zog schwere Strafen nach sich. Tausende tibe- im Juni erst in letzter Minute nach einem kon- tische Studierende demonstrierten gegen die troversen Kompromiss zwischen der Zentral- Politik der Behörden, Tibetisch als Hauptunter- regierung in Peking und der Demokratischen richtssprache in den Schulen durch Hochchi- Partei an. Demnach erhielten alle Wahlbe- nesisch zu ersetzen. Dies wurde von den Tibe- rechtigten eine zweite Stimme über einen aus tern gemeinhin als eine Bedrohung für die Be- Bezirksräten zusammengesetzten funktiona- wahrung ihrer eigenständigen Kultur angese- len Wahlkreis. hen. Die Behörden gingen gegen diese Pro- testkundgebungen zwar nicht vor, sie hielten je- Rechte auf freie Meinungsäußerung, doch an ihrer Sprachenpolitik fest. Die De- Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit monstrationen griffen im Oktober auf die Uni- Zu den Ausländern, denen die Einreise nach versität für nationale Minderheiten in Peking Hongkong im Berichtszeitraum verwehrt über, wo Hunderte von tibetischen Studieren- wurde, gehörten Chen Weiming, der Bildhauer 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen den gegen diese Politik protestierten. der Statue der Göttin der Demokratie für die Die Behörden schränkten 2010 das Recht auf Mahnwache in Hongkong zum Gedenken an Religionsfreiheit nach wie vor ein. Die offizielle die blutige Niederschlagung der Demokratie- 000835 Buddhistenvereinigung Chinas erließ Maßnah- bewegung am 4. Juni 1989 auf dem Pekinger men mit Wirkung vom 10. Januar, in denen die Tiananmen-Platz, sowie sechs Bühnentechni- Demokratischen Verwaltungsausschüsse der ker eines Tanzensembles von Falun Gong. Mönchs- und Nonnenklöster aufgefordert  Die Polizei setzte im Januar 2010 Pfefferspray wurden, zu überprüfen, ob die bei ihnen Be- ein, um Tausende von Demonstrierenden aus- schäftigten den politischen, fachlichen und einanderzutreiben, die das Gebäude des Ge- personalpolitischen Kriterien genügen. Da- setzgebenden Rats belagerten, als dort über durch stand den Behörden ein weiteres In- eine Eisenbahnverbindung mit der Provinz strument zur Verfügung, politisch »unzuverläs- Guangdong (Kanton) abgestimmt wurde, sige« religiöse Würdenträger zu entfernen. deren Kosten 66,9 Mrd. Hongkong-Dollar  Im Mai 2010 wurde gegen Tagyal, einen in (6,3 Mrd. Euro) betragen sollen. Die Teilneh- einem staatlichen Verlag beschäftigten tibeti- mer an der Protestkundgebung bemängelten schen Intellektuellen, Anklage wegen der »An- eine unzureichende Konsultation und Ent- stiftung zum Separatismus« erhoben, nach- schädigung der aufgrund des Projekts zum dem er Tibeter davor gewarnt hatte, Geldspen- Umzug gezwungenen Menschen. den für die Opfer des Erdbebens vom April in  Am 29. und 30. Mai 2010 nahm die Polizei 13 Yushu in der Provinz Qinghai korrupten Beam- Aktivisten fest und beschlagnahmte zweimal ten anzuvertrauen. Tagyal hat zudem ein Buch auf dem Times Square ausgestellte Statuen der über die tibetischen Proteste von 2008 heraus- Göttin der Demokratie. Als neue Taktik leiteten gebracht. Beamte des Gesundheitsamts Strafverfolgungs-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht maßnahmen ein, weil die Organisatoren der

136 China Demonstration vorab keine Genehmigung für Bearbeitung 6700 weiterer Fälle steht noch eine »Veranstaltung zur öffentlichen Unterhal- aus. tung« eingeholt hatten. Nach öffentlicher Kritik  Im November 2010 reichten drei vom UN- wurden die Statuen vor Beginn der Veranstal- Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) tung zum Gedenken an das Tiananmen-Massa- anerkannte Flüchtlinge und ein Mann, der seit ker, zu der zwischen 113000 und 150000 langem in Hongkong lebt und dessen Antrag Menschen erschienen, wieder ausgehändigt. unter Berufung auf Foltergefahr stattgegeben Mehrere politisch engagierte Bürger, die we- wurde, Verfassungsklage gegen Richtlinien gen Zusammenrottung oder tätlicher Angriffe ein, mit denen ihnen ein Rechtsstatus, Visa und auf Beamte während der Demonstration vor eine Arbeitserlaubnis in Hongkong verwehrt dem Verbindungsbüro der Zentralregierung werden. angeklagt worden waren, sprach man frei. Im August gaben die Polizeibehörden interne Richtlinien für die Anklageerhebung wegen tät- licher Angriffe auf Sicherheitsbeamte heraus, nachdem öffentliche Kritik an vermeintlich grundlosen Strafverfahren und voreingenom- menen Urteilssprüchen laut geworden war. Côte d’Ivoire

Diskriminierung Amtliche Bezeichnung: Republik Côte d’Ivoire Im April 2010 veröffentlichte die Regierung Ver- Staatsoberhaupt: Laurent Gbagbo waltungsrichtlinien zur Förderung der Rassen- (bis November 2010) gleichheit. Regierungschef: Guillaume Kigbafori Soro  Im Mai 2010 fällten die Geschworenen eines (bis November 2010) Untersuchungsgerichts einen Schuldspruch Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft wegen der ungesetzlichen Tötung des in Hong- Einwohner: 21,6 Mio. kong geborenen nepalesischen Obdachlosen Lebenserwartung: 58,4 Jahre Dil Bahadur Limbu, der im März 2009 von Kindersterblichkeit (m/w): 129 / 117 pro 1000 einem wegen einer Ruhestörung zu einem Lebendgeburten Hang in Kowloon gerufenen Polizisten erschos- Alphabetisierungsrate: 54,6% sen worden war. Vereinigungen ethnischer Minderheiten hatten die Einsetzung eines un- Nach den Präsidentschaftswahlen im abhängigen Untersuchungsausschusses ge- November 2010, die zu einer politi- fordert. Die Entscheidung über den Antrag der schen Pattsituation führten, verschärfte Witwe von Dil Bahadur Limbu auf eine richter- sich die Situation im Land dramatisch. liche Überprüfung stand zum Jahresende noch Es kam zu schwerwiegenden Menschen- aus. rechtsverletzungen, die zumeist von Si-  Im Oktober 2010 wurde das Rechtsmittel cherheitskräften verübt wurden, die auf- einer transsexuellen Frau, nach einem opera- seiten des bisherigen Präsidenten Lau- tiven Eingriff ihren Freund heiraten zu dürfen, rent Gbagbo standen. Zahlreiche Perso- abgewiesen. nen wurden getötet, inhaftiert, entführt oder fielen dem »Verschwindenlassen« Flüchtlinge und Asylssuchende zum Opfer. Tausende Menschen flohen In dem 2009 zum ersten Mal eingeführten Ver- in benachbarte Länder oder wurden zu fahren zur Prüfung der Anträge von Personen, Binnenflüchtlingen im eigenen Land. die ihre Ausweisung unter Verweis auf ein Angehörige der Neuen Kräfte (Forces Folterrisiko zu verhindern versuchen, wurden Nouvelles – FN), einem politischen in zehn Monaten 122 Fälle bearbeitet; die Bündnis bewaffneter Oppositionsgrup-

Côte d’Ivoire 137 pen, das seit September 2002 den Nor- Forderung Gbagbos jedoch ab und verlängerte den des Landes kontrolliert, begingen das Mandat der UNOCI um weitere sechs Mo- auch 2010 immer wieder Menschen- nate. Die französische Regierung erklärte eben- rechtsverstöße. Vor allem an Straßen- falls, dass ihre Licorne-Soldaten im Land blei- sperren kam es weiterhin häufig zu ben würden. Drangsalierungen und tätlichen Übergrif- Trotz verschiedener Vermittlungsversuche un- fen. ter Führung der AU und der ECOWAS war es bis Ende 2010 nicht gelungen, eine politische Hintergrund Lösung zu finden. Unterdessen wurden in Die seit 2005 immer wieder verschobenen Prä- dem Land die Grundnahrungsmittel knapp und sidentschaftswahlen fanden im November immer teurer. 2010 endlich statt, führten jedoch zu einer poli- Obwohl Tausende von Kämpfern der FN in die tischen Pattsituation. Sowohl der bisherige Armee integriert wurden, war die 2007 in Präsident Laurent Gbagbo als auch sein He- einem Friedensabkommen in Ouagadougou rausforderer Alassane Ouattara beanspruch- vereinbarte vollständige Entwaffnung der ten den Wahlsieg für sich und ernannten jeweils FN sowie regierungstreuer Milizen Ende 2010 eigene Kabinette. noch nicht abgeschlossen. Dadurch wurde die Die internationale Gemeinschaft, darunter politische Krise jedoch weiter angefacht, denn auch die Afrikanische Union (AU) und die beide Seiten bedienten sich ihrer bewaffneten Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Mitglieder, um politische Gegner einzuschüch- Staaten (ECOWAS), erkannten übereinstim- tern und zum Schweigen zu bringen. mend Alassane Ouattara als Wahlsieger an. Die EU und die USA verhängten Sanktionen gegen Polizei und Sicherheitskräfte Laurent Gbagbo sowie einige seiner engsten Die Sicherheitskräfte gingen das ganze Jahr 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Gefolgsleute. über mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Im Dezember forderte Gbagbo den Abzug der Protestkundgebungen vor und töteten dabei in Côte d’Ivoire stationierten UN-Friedenstrup- viele Menschen widerrechtlich. Sie waren 000835 pen (UNOCI) und der französischen Militärmis- auch für häufige Übergriffe verantwortlich, mit sion Licorne. Der UN-Sicherheitsrat lehnte die denen sie an Straßensperren und bei der Überprüfung von Ausweispapieren Geld er- pressten.  Im Februar 2010 unterdrückten die Sicher- heitskräfte mehrere Demonstrationen mit Ge- walt. Dies betraf insbesondere die Stadt Ga- gnoa, wo mindestens fünf Menschen erschos- sen wurden. Die Demonstrierenden hatten ge- gen die von Präsident Gbagbo verfügte Auflö- sung der Regierung und die Absetzung der Wahlkommission protestiert. Nach den umstrittenen Präsidentschaftswah- len verübten Sicherheitskräfte, die gegenüber Laurent Gbagbo loyal waren, außergerichtliche Hinrichtungen. Sie waren außerdem für will- kürliche Festnahmen und Fälle von »Ver- schwindenlassen« verantwortlich.  Am 1. Dezember 2010 waren Sicherheits- kräfte führend an einem Überfall auf die Büro-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht räume von Alassane Ouattaras Partei Vereini-

138 Côte d’Ivoire gung der Republikaner (Rassemblement des Gewalt und Straflosigkeit Républicains – RDR) in Abidjan beteiligt. Bei im Westen des Landes dem Angriff kamen mindestens vier Men- Die Bevölkerung im Westen des Landes wurde schen ums Leben, einige weitere wurden ver- das gesamte Jahr über Opfer tätlicher Angriffe letzt. und sexuellen Missbrauchs durch kriminelle  Am 16. Dezember 2010 töteten Sicherheits- Banden und Milizionäre, die der Partei von kräfte und Milizionäre, die aufseiten Laurent Präsident Gbagbo nahestanden. Weder die re- Gbagbos standen, bei Massenprotesten gegen gulären Sicherheitskräfte noch die FN, die die politische Krise in Abidjan mindestens beide jeweils einen Teil der Region kontrollier- zehn unbewaffnete Demonstrierende. Der Au- ten, boten Schutz gegen diese Angriffe. Beide towäscher Salami Ismaël, der sich in der Nähe Seiten griffen Menschen an Straßensperren tät- befand, aber gar nicht an der Demonstration lich an und erpressten Geld, ohne dafür auch teilnahm, wurde von zwei vermummten Män- nur ansatzweise zur Verantwortung gezogen zu nern in Militäruniformen erschossen. werden.  Am 18. Dezember 2010 wurden Brahima Ou- Nach den Wahlen im November gingen meh- attara und Abdoulaye Coulibaly, zwei Mitglie- rere Berichte ein, wonach es zu Zusammen- der der Organisation Bündnis für den Wandel stößen zwischen Anhängern der beiden Präsi- (Alliance pour le changement) in einem Stadt- dentschaftskandidaten kam. teil von Abidjan von Sicherheitskräften, die zu  Ein pensionierter Gendarm schoss im No- den Republikanischen Garden gehörten, fest- vember 2010 in der Stadt Sinfra auf eine genommen. Ihr Schicksal und ihr Aufenthalts- Gruppe mutmaßlicher Anhänger von Alassane ort waren Ende des Jahres weiterhin unbe- Ouattara. Diese gingen daraufhin zum Haus kannt. des Mannes und ermordeten seine Frau.

Menschenrechtsverstöße Recht auf freie Meinungsäußerung bewaffneter Gruppen Mehrere Journalisten sowie Tageszeitungen Kämpfer und Unterstützer der FN waren für und andere Medien waren 2010 Schikanen Menschenrechtsverstöße verantwortlich, da- und Drohungen durch die Behörden ausge- runter Folter und andere Misshandlungen, will- setzt. kürliche Festnahmen und Erpressungen gro-  Im Mai wurden der Chefredakteur der ßen Ausmaßes. Im Norden des Landes Tageszeitung L’Expression, Dembél Al Seni, herrschte ein Klima der Straflosigkeit, da es und ein Journalist der Zeitung in die Zentrale dort keine funktionierende Justiz gab. des Sicherheitsdienstes (Direction de la sur-  Im April 2010 wurde der Student Amani Wen- veillance du territoire) einbestellt. Sie wurden ceslas in Bouaké bei einem Schusswechsel dort stundenlang wegen ihrer Berichterstat- zwischen rivalisierenden FN-Flügeln von einer tung über Demonstrationen von Oppositionsan- verirrten Kugel tödlich getroffen. Bei dem Ge- hängern verhört, die im Februar in Gagnoa fecht kamen auch zwei bewaffnete FN-Kämpfer stattgefunden hatten. Die Zeitung hatte dem zu Tode. französischen Fernsehsender France 24 Vi- Nach den Präsidentschaftswahlen im Novem- deoaufnahmen zur Verfügung gestellt, auf de- ber bedrohten und schikanierten Angehörige nen das gewaltsame Vorgehen der Sicher- der FN Berichten zufolge im Westen des Lan- heitskräfte gegen die Demonstrierenden zu se- des, im Grenzgebiet zu Liberia, Menschen, die hen war. Der Sender war nach der Ausstrah- als Anhänger von Laurent Gbagbo galten. Tau- lung mit einem mehrtätigen Sendeverbot belegt sende flohen daraufhin nach Liberia. worden. Nach den Präsidentschaftswahlen durften einige Zeitungen, die Alassane Ouattara nahe- standen, im Dezember mehrere Tage lang nicht

Côte d’Ivoire 139 erscheinen. Ausländischen Medien, darunter  Côte d’Ivoire security forces urged to protect civilians as Radio France Internationale und France 24, tensions rise, 6 December 2010 wurde ebenfalls bis Ende 2010 die Ausstrah-  Côte d’Ivoire: Security forces kill at least nine unarmed lung ihrer Programme verboten. demonstrators, 16 December 2010  Cote d’Ivoire: Injured protesters denied medical care, Verantwortung für Giftmüllskandal 17 December 2010  Côte d’Ivoire: Defenceless people need urgent protection from Mehr als ein Jahr nach der außergerichtlichen escalating violence, 21 December 2010 Einigung zwischen dem Erdölkonzern Trafi-  Côte d’Ivoire: Human Rights Council special session misses gura und den Opfern des Giftmüllskandals in opportunity to protect Ivorian population, 24 December Côte d’Ivoire warteten Tausende noch immer 2010 auf Schadenersatzzahlungen. Im Januar ordnete ein ivorisches Berufungs- gericht an, die Schadenersatzzahlungen soll- ten an eine Gruppe namens Nationale Koordi- nation für die Opfer des Giftmüllskandals in Côte d’Ivoire (Coordination nationale des victi- Dänemark mes de déchets toxiques de Côte d’Ivoire – CNVDT-CI) überwiesen werden. Diese Gruppe Amtliche Bezeichnung: Königreich Dänemark erhob fälschlicherweise den Anspruch, sie Staatsoberhaupt: Königin Margrethe II. würde die 30000 Opfer vertreten, die an der au- Regierungschef: Lars Løkke Rasmussen ßergerichtlichen Einigung mit der Firma Trafi- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft gura in Großbritannien beteiligt waren. Einwohner: 5,5 Mio. Nach der Gerichtsentscheidung bezüglich Lebenserwartung: 78,7 Jahre der Überweisung des Geldes an die CNVDT-CI Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 6 pro 1000 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sahen die Rechtsanwälte der Kläger keine an- Lebendgeburten dere Möglichkeit, als sich mit dieser Gruppe über die Verteilung der Mittel zu verständigen. Die Antiterrorgesetzgebung gab weiter- 000835 Der anschließende gemeinsame Verteilungs- hin Anlass zu Besorgnis. Entgegen in- prozess war von zahlreichen Verzögerungen ternationalen Richtlinien schoben die und anhaltender Kritik an der Rolle der dänischen Behörden auch 2010 Men- CNVDT-CI geprägt. Bis Juli hatten ca. 23000 schen ab, u. a. in den Irak. Frauen wur- Betroffene Schadenersatzzahlungen erhalten. den in Gesetzgebung und Praxis nicht in Kurze Zeit später wurde der gemeinsame Ver- ausreichendem Maße vor Gewalt ge- teilungsprozess jedoch abgebrochen. Im Sep- schützt. tember nahm die CNVDT-CI die Verteilung der Mittel wieder auf, stellte sie später jedoch er- neut ein. Ende des Jahres warteten Tausende von Anspruchsberechtigten noch immer auf die Auszahlung des Schadenersatzes. Ange- sichts der mangelnden Transparenz im Ver- fahren und Vorwürfen bezüglich Veruntreuung gab es schwerwiegende Befürchtungen, was den Verbleib der noch nicht ausgezahlten Be- träge anging.

Amnesty International: Berichte  Côte d’Ivoire: Thousands still waiting to receive compensa-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht tion over toxic waste dumping (AFR 31/002/ 2010)

140 Dänemark Antiterrormaßnahmen und Sicherheit stellten keinen ausreichenden Schutz gegen Die Antiterrorgesetzgebung führte nach wie vor die Gefahr von Folter oder anderen Misshand- zu Beeinträchtigungen der Menschenrechte. lungen dar. Die Regierung legte Rechtsmittel Die Justiz kontrollierte den polizeilichen Zugriff gegen die Entscheidung ein. Ende 2010 war auf private und vertrauliche Daten nur unzu- das Verfahren noch nicht abgeschlossen. reichend. Dies betraf z. B. die Überwachung  Im Dezember 2010 entschied das Kopenha- von Telefongesprächen und Computerverbin- gener Stadtgericht, dass die Vorbeugehaft ge- dungen. Nach wie vor entsprachen Verfahren gen 250 Personen während der UN-Klimakon- zur Anfechtung von Ausweisungen oder Ab- ferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 schiebungen aus »Gründen der nationalen Si- rechtswidrig war. Zudem stellten die Umstände, cherheit« nicht den internationalen Standards unter denen die Festnahmen erfolgten, in 178 der Fairness. Fällen eine erniedrigende Behandlung dar und Im September veröffentlichte die Regierung somit einen Verstoß gegen Artikel 3 der Euro- einen Bericht über die Antiterrorgesetze, die päischen Menschenrechtskonvention. seit 2001 verabschiedet worden waren. Kritiker Minderjährige Untersuchungsgefangene wur- warfen dem Bericht mangelnde Gründlichkeit den nach wie vor in den gleichen Einrichtun- vor. Außerdem seien die Ansichten verschiede- gen inhaftiert wie erwachsene Häftlinge. ner Parteien nicht miteinbezogen worden. Der Bericht beruhte lediglich auf Aussagen des Ge- Flüchtlinge und Asylsuchende neralstaatsanwalts, der Polizei sowie des poli- Im Mai 2010 änderte die Regierung ihr Vorge- zeilichen Sicherheits- und Nachrichtendiens- hen bezüglich der Überstellung von Asylsu- tes. Er kam zu dem Schluss, dass die Auswei- chenden nach Griechenland gemäß der Dub- tung der Befugnisse des Sicherheits- und lin-II-Verordnung. Obwohl das derzeitige grie- Nachrichtendienstes zu einer besseren Prä- chische Asylverfahren unzureichende Schutz- vention gegen Terrorismus geführt habe. vorkehrungen aufweist, kündigte die dänische  Im Dezember 2010 hob das östliche Landge- Regierung an, sie werde künftig nicht mehr richt eine Ausweisungsanordnung gegen den warten bis Griechenland vor der Rückführung Tunesier Slim Chafra auf. Der tunesische explizit die Verantwortung für einen Fall über- Staatsbürger sollte ausgewiesen werden, weil nimmt. Der Europäische Gerichtshof für Men- er als Gefahr für die nationale Sicherheit be- schenrechte verhängte einstweilige Maßnah- trachtet wurde. Das Gericht befand jedoch, men, mit denen Überstellungen nach Grie- dass Slim Chafra den Ausweisungsbescheid chenland in mindestens 304 Fällen gestoppt nicht wirksam anfechten konnte, weil er vor- wurden. Ein Großteil der geplanten Rückfüh- nehmlich auf Geheimmaterial beruhte, das in rungen wurde dadurch verhindert. Der däni- nicht öffentlichen Verfahren präsentiert wor- sche Minister für Flüchtlinge, Zuwanderung den war, zu denen weder der Betroffene selbst und Integration erklärte die Überstellungen ge- noch seine Rechtsbeistände Zugang hatten. mäß der Dublin-II-Verordnung dennoch nicht Somit hatte Slim Chafra nach Einschätzung des für beendet. Bis Ende 2010 wurden 20 Perso- Gerichts keine faire bzw. angemessene Mög- nen unter Bezug auf die Verordnung nach lichkeit, sich zu verteidigen. Griechenland rückgeführt. Entgegen den Empfehlungen des UN-Hoch- Folter und andere Misshandlungen kommissars für Flüchtlinge (UNHCR) wurden  Im November 2010 entschied ein Regional- mindestens 62 Iraker nach Bagdad abge- gericht, dass der dänische Staatsbürger Niels schoben, obwohl ihnen dort Verfolgung und Holck nicht an Indien ausgeliefert werden schwerwiegende Übergriffe drohten. dürfe. Zur Begründung hieß es, die zwischen der dänischen und der indischen Regierung vereinbarten diplomatischen Zusicherungen

Dänemark 141 Gewalt gegen Frauen Frauen waren gegen sexuelle Gewalt nur unzu- Deutschland reichend gesetzlich geschützt. Eine von der Regierung 2009 eingesetzte Expertenkommis- Amtliche Bezeichnung: sion, die die bestehenden Gesetze zu Verge- Bundesrepublik Deutschland waltigung überprüfen sollte, hatte ihre Ergeb- Staatsoberhaupt: Christian Wulff nisse Ende 2010 noch nicht vorgelegt. Bislang (löste im Juli Horst Köhler im Amt ab) gilt etwa, dass die Bestrafung eines Täters ge- Regierungschefin: Angela Merkel mildert oder erlassen werden kann, wenn er Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft das Opfer nach der Vergewaltigung heiratet Einwohner: 82,1 Mio. oder eine registrierte Partnerschaft mit dem Lebenserwartung: 80,2 Jahre Opfer eingeht bzw. eine bestehende Ehe oder Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 5 pro 1000 registrierte Partnerschaft nach der Tat fort- Lebendgeburten führt. Im Durchschnitt kommt es nur in 20% aller Auf Misshandlungsvorwürfe gegen Poli- angezeigten Vergewaltigungen zu einer Verur- zeibeamte wurde nur unzureichend rea- teilung. Die meisten Verfahren werden von der giert. Einige Bundesländer schoben wei- Polizei oder Staatsanwaltschaft eingestellt und terhin Roma in den Kosovo ab, obwohl kommen nie zur Verhandlung, was dazu führt, diese des internationalen Schutzes be- dass zahlreiche Täter straffrei bleiben. durften.

Diskriminierung Internationale Untersuchungen Im August forderte der UN-Ausschuss für die Im Februar 2010 empfahl der UN-Sonderbe- Beseitigung der Rassendiskriminierung die richterstatter über zeitgenössische Formen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Regierung auf, für Roma und Fahrende adä- des Rassismus, der Rassendiskriminierung, quate Unterkünfte bereitzustellen, ihnen den der Fremdenfeindlichkeit und damit zusam- Zugang zu staatlichen Dienstleistungen zu er- menhängender Intoleranz, das Mandat der An- 000835 möglichen und einen effektiven Schutz gegen tidiskriminierungsstelle des Bundes zu stärken Diskriminierung und Hassverbrechen zu ge- und ihre Mittel zu erhöhen. Er empfahl u. a., währleisten. Rassismus als erschwerenden Umstand bei Außerdem befand der Ausschuss, dass die im der Strafzumessung in das Strafgesetzbuch Mai erfolgte Einführung eines neuen, auf aufzunehmen, die Entwicklung spezieller Fort- Punkten basierenden Systems für Personen, bildungen für Polizeibedienstete, Staatsanwälte die das Dauerwohnrecht beantragen, »be- und Richter, um Straftaten mit rassistischem schwerliche und strenge Anforderungen« stelle. Dadurch könnten möglicherweise Per- sonen aus besonders schutzbedürftigen Grup- pen in unfairer Weise ausgeschlossen werden.

Amnesty International: Berichte  Case closed: Rape and human rights in the Nordic countries – summary report (ACT 77/ 001/2010)  Dangerous deals: Europe’s reliance on ›diplomatic assuran- ces‹ against torture (EUR 01/012/2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

142 Deutschland Hintergrund zu erkennen, sowie die Einführung stanz, das 2008 abgeschlossen wurde, waren spezieller Maßnahmen, um eine angemes- schwerwiegende Mängel bezüglich der Gründ- sene Vertretung von Menschen mit Migrations- lichkeit der Ermittlungen in der Anfangsphase hintergrund in staatlichen Institutionen sicher- offen gelegt worden. zustellen.  Nach Angaben von Demonstrierenden setzte die Polizei am 30. September 2010 bei den Folter und andere Misshandlungen Protesten gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 Die mangelnde Bereitschaft der Behörden, Vor- unverhältnismäßige Gewalt ein. Am 27. Okto- würfe über Misshandlungen der Polizei ange- ber richtete der Landtag von Baden-Württem- messen zu untersuchen, aber auch unzurei- berg einen Untersuchungsausschuss zu die- chende Informationen über das Verfahren sem Polizeieinsatz ein. Die Staatsanwaltschaft beim Erstatten einer Strafanzeige und Schwie- nahm Ermittlungen auf, die Ende des Jahres rigkeiten bei der Identifizierung von Polizeibe- noch nicht abgeschlossen waren. amten waren möglicherweise Gründe dafür, warum in Fällen rechtswidriger Polizeigewalt Flüchtlinge und Asylbewerber Täter nicht zur Verantwortung gezogen wurden Einige Bundesländer schoben weiterhin Roma, und Opfer es schwer hatten, Gerechtigkeit Aschkali und Ägypter in den Kosovo ab, ob- und Wiedergutmachung zu erlangen. wohl ihnen dort bei ihrer Rückkehr Verfolgung Nach wie vor wurden Misshandlungsvorwürfe und Diskriminierung drohten und sie deshalb gegen Polizeibeamte erhoben. Es wurden nur begrenzt Zugang zu Bildung, Gesundheits- keine unabhängigen Untersuchungsmechanis- versorgung, Wohnraum und Sozialleistungen men eingerichtet, um Vorwürfe über von Poli- hatten. Allerdings erließ Nordrhein-Westfalen zeibeamten begangene Menschenrechtsverlet- am 21. September 2010 eine Verordnung, der- zungen zu untersuchen. Nur einige Bundes- zufolge einer Abschiebung von Roma, Aschkali länder boten auf ihren Internetseiten Informa- und Ägyptern in den Kosovo eine Einzelfall- tionen an, wie Bürger im Falle polizeilichen prüfung vorausgehen muss. Am 1. Dezember Fehlverhaltens Anzeige erstatten können. verfügte das Bundesland einen viermonatigen  Am 3. März 2010 stellte die Generalstaatsan- Abschiebestopp aufgrund der Witterungsbedin- waltschaft die Untersuchungen im Fall einer gungen im kosovarischen Winter. Fotojournalistin ein, die Vorwürfe über Miss- Obwohl es Griechenland an einem funktionie- handlungen durch Polizeibeamte während renden Asylverfahren mangelte, wurden im des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm erhoben Berichtsjahr 55 Asylbewerber unter der Dublin- hatte. In der Begründung hieß es, es sei un- II-Verordnung nach Griechenland überstellt. möglich gewesen, die Beamten mit ausreichen- In einigen Fällen setzte das Bundesverfas- der Sicherheit zu identifizieren. Berlin ist das sungsgericht Überstellungen im Verfahren des einzige Bundesland, in dem eine Kennzeich- einstweiligen Rechtsschutzes aus. nungspflicht von uniformierten Polizisten ein- Am 15. Juli 2010 informierte die Bundesregie- geführt wurde. Die Regelung soll im Januar rung den UN-Generalsekretär darüber, dass 2011 in Kraft treten. In allen anderen Bundes- Deutschland seine Vorbehalte gegenüber der ländern gab es bis Ende 2010 keine Kennzeich- UN-Kinderrechtskonvention zurücknehme, nungspflicht. erklärte aber, dass in diesem Zusammenhang  Der Bundesgerichtshof hob am 7. Januar keine Änderungen des deutschen Asylrechts 2010 im Fall von Oury Jalloh den Freispruch erforderlich seien. Somit galten 16- und 17-Jäh- eines Polizisten auf und ordnete eine Wieder- rige im Asylverfahren weiterhin als Erwach- aufnahme des Verfahrens an. Oury Jalloh war sene ohne den Beistand eines Vormunds. 2005 im Polizeigewahrsam in Dessau infolge  Khaled Kenjo, ein syrischer Kurde, der 2009 eines Brandes in seiner Zelle an einem Hitze- nach Syrien abgeschoben worden war, durfte schock gestorben. Im Verfahren der ersten In- im Juli 2010 nach Deutschland zurückkehren

Deutschland 143 und erhielt den Flüchtlingsstatus. Nach seiner Verwendung »diplomatischer Zusicherungen« Abschiebung war er in Syrien festgenommen das absolute Folterverbot untergrabe. Das Ver- und wegen des »Verbreitens von Falschmel- waltungsgericht hatte deshalb die Abschiebung dungen, die dem Ansehen des [syrischen] des Tunesiers untersagt. Staates schaden könnten«, zu einer kurzen  Am 16. September 2010 wurden ein staaten- Haftstrafe verurteilt worden. loser Palästinenser und ein syrischer Staats-  Die beiden eritreischen Staatsbürger Yonas bürger, die beide aus Guantánamo Bay entlas- Haile Mehari und Petros Aforki Mulugeta, die sen worden waren, in Hamburg bzw. Rhein- 2008 nach Eritrea abgeschoben worden waren, land-Pfalz aufgenommen. Der Bundesinnenmi- kehrten im April bzw. Juni 2010 nach Deutsch- nister kündigte an, dass darüber hinaus keine land zurück, nachdem ihnen 2009 in Abwesen- weiteren ehemaligen Häftlinge aus Guantá- heit der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden namo Bay in Deutschland Schutz erhalten war. würden. Am 7. Dezember wies das Kölner Verwal- Antiterrormaßnahmen und Sicherheit tungsgericht die Klage des deutschen Staats- Im Februar kam eine UN-Studie über geheime bürgers Khaled el-Masri ab. Er hatte die Bun- Inhaftierungen zu dem Schluss, dass desrepublik Deutschland aufgefordert, ihre Deutschland für die geheime Inhaftierung des ablehnende Haltung bezüglich der Ausliefe- deutsch-syrischen Staatsbürgers Mohammad rung von 13 US-amerikanischen Staatsbür- Zammar mitverantwortlich gewesen sei, der im gern zu überdenken. Die Männer werden ver- Dezember 2001 rechtswidrig nach Syrien dächtigt, ihn im Jahr 2004 rechtswidrig nach überstellt worden war. Ein parlamentarischer Afghanistan überstellt zu haben. In der Begrün- Untersuchungsausschuss von 2006 bis 2009 dung des Gerichts hieß es, die Regierung habe hatte Beweise dafür erbracht, dass deutsche rechtmäßig gehandelt, da sie die Interessen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Ermittler ihn im November 2002 in Syrien ver- Khaled el-Masris gegen sicherheitspolitische hört und den dortigen Behörden außerdem Fra- Erwägungen und außenpolitische Interessen gen für seine Vernehmung geschickt hatten. abwägen dürfe. Khaled el-Masri legte Rechts- 000835 Der Bericht des Untersuchungsausschusses mittel gegen die Entscheidung des Gerichts ein. vom Juni 2009 kam jedoch zu der abschlie- ßenden Einschätzung, dass die deutschen Be- Amnesty International: Berichte hörden nicht für Menschenrechtsverletzungen  Täter unbekannt. Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen in Zusammenhang mit diesem Fall mitverant- Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland wortlich gewesen seien. Die Behörden lehnten (EUR 23/002/ 2010)  es seitdem ab, eine neue Untersuchung über Open secret: Mounting evidence of Europe’s complicity in rendition and secret detention (EUR 01/023/ 2010) ihre Rolle bei den rechtswidrigen Gefangenen- überstellungen zu veranlassen. Die Regierung bestätigte, dass sie sich weiter- hin auf »diplomatische Zusicherungen« ver- lassen werde, da auf diese Weise angeblich die Gefahr von Folter und anderen Misshandlun- gen bei der Überstellung von Personen in ihr Ursprungsland verringert werde.  Im Mai 2010 bestätigte das Oberverwaltungs- gericht Nordrhein-Westfalen ein Urteil des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts von 2009. Die Richter hatten im Fall eines tunesischen Staatsbürgers, der terroristischer Aktivitäten

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht verdächtigt worden war, entschieden, dass die

144 Deutschland Polizei und Sicherheitskräfte Dominikanische Polizeistatistiken zufolge töteten Polizeibeamte zwischen Januar und September 2010 insge- Republik samt 167 Personen. Es gab Hinweise, dass viele dieser Tötungen widerrechtlich waren. Amtliche Bezeichnung: Dominikanische Republik  Am 27. Juni erschoss die Polizei in Santo Do- Staats- und Regierungschef: mingo den Studenten Abraham Ramos Morel. Leonel Fernández Reyna Eine Motorradpatrouille hatte ihn aufgefordert, Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft seinen Wagen anzuhalten. Obwohl er ihnen Einwohner: 10,2 Mio. signalisiert hatte, dass er etwas weiter an einer Lebenserwartung: 72,8 Jahre übersichtlicheren Stelle anhalten werde, eröff- Kindersterblichkeit (m/w): 37 / 29 pro 1000 neten sie das Feuer. Am Jahresende standen Lebendgeburten wegen dieses Vorfalls zwei Polizeibeamte vor Alphabetisierungsrate: 88,2% Gericht. Mehrfach wurde über Folter und andere Miss- Berichten zufolge verübte die Polizei handlungen bei Polizeiverhören berichtet. rechtswidrige Tötungen. Personen hai-  Im August wurde Juan Carlos Santiago von tianischer Herkunft waren weiterhin fest der Polizei festgenommen und über den Auf- verwurzelter Diskriminierung und sozia- enthaltsort seines wegen Mordverdachts ge- ler Ausgrenzung ausgesetzt. Gewalt ge- suchten Bruders befragt. Juan Carlos Santiago gen Frauen und Kinder war nach wie vor gab an, dass er geschlagen worden sei, wäh- weit verbreitet. rend er in Handschellen gefesselt in der Poli- zeizentrale von Santo Domingo verhört wurde. Hintergrund  Polizei und Justizbeamte waren nicht in der Am 26. Januar 2010 trat eine neue Verfassung Lage, den Aufenthaltsort von Juan Almonte in Kraft. Im April wurde die Situation der Men- Herrera ausfindig zu machen, der am 28. Sep- schenrechte in der Dominikanischen Republik tember 2009 von vier Männern entführt wor- im Rahmen der Universellen Regelmäßigen den war, die Augenzeugen als Polizeibeamte Überprüfung (UPR) durch die UN begutachtet. identifiziert hatten. Die dominikanischen Behörden verpflichteten sich, 74 der insgesamt 79 vom UN-Menschen- Diskriminierung von rechtsrat ausgesprochenen Empfehlungen zu Migranten aus Haiti und Dominikanern implementieren. Die Dominikanische Republik haitianischer Herkunft leistete wichtige Unterstützung bei den huma- Ein UN-Bericht über die menschliche Entwick- nitären Maßnahmen in Haiti, die nach dem Erd- lung stellte fest, dass die wirtschaftliche Situa- beben im Januar eingeleitet wurden. tion der meisten in der Dominikanischen Repu- blik lebenden Haitianer schlechter als die des ärmsten Fünftels der dominikanischen Bevöl- kerung war. Das Versagen der Regierung, eine adäquate gesetzliche Regelung über Migration umzusetzen, trug zur fortgesetzten Ausgren- zung und Schutzlosigkeit der haitianischen Migranten bei.

Zugang zur Staatsangehörigkeit Tausenden von Dominikanern haitianischer Herkunft wurde 2010 auf der Grundlage einer im März 2007 vom dominikanischen Wahlaus-

Dominikanische Republik 145 schuss erlassenen Direktive die Ausstellung Menschenhandel von Ausweispapieren verweigert. Damit wurden Nach dem Erdbeben in Haiti berichteten Men- den betroffenen Dominikanern haitianischer schenrechtsorganisationen über einen Anstieg Herkunft auch andere Rechte faktisch ver- der Anzahl haitianischer Kinder, die in die Do- wehrt, darunter die Rechte auf Bildung, Arbeit minikanische Republik gebracht wurden. und Staatsangehörigkeit. Die Behörden kündigten an, in Haina ein  Der seit 2007 von Altagracia Polis wiederholt Fachzentrum einzurichten, um den vom Men- gestellte Antrag auf einen Personalausweis schenhandel betroffenen Kindern Soforthilfe zu wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ihre leisten. Es gab jedoch keine Informationen Eltern Haitianer seien. Da sie somit keine gülti- über die Wirksamkeit der von den Behörden ge- gen Ausweispapiere vorweisen konnte, verlor troffenen Maßnahmen zur Zerstörung der sie ihre Arbeit, und es war ihr weder möglich, Netzwerke des Menschenhandels. ihre Schulbildung fortzusetzen noch die Geburt ihrer Tochter registrieren zu lassen. Altagracia Gewalt gegen Frauen und Mädchen Polis wurde in der Dominikanischen Republik Der Generalstaatsanwaltschaft zufolge stieg die geboren; ihre Brüder, die ihre Personaldoku- Zahl der von ihrem Partner oder früheren Part- mente vor dem Jahr 2007 beantragt hatten, er- ner getöteten Frauen zwischen Januar und Juli hielten dominikanische Ausweispapiere. 2010 um 20% gegenüber dem Vergleichszeit- Während der Universellen Regelmäßigen raum 2009 an. Überprüfung (UPR) hatte sich die Dominikani- Sexuelle Gewalt war nach wie vor weit verbrei- sche Republik dazu verpflichtet, umfassende tet. Mädchen waren dabei einem besonders Strategien zu ergreifen, um den Rassismus zu hohen Risiko ausgesetzt. bekämpfen. Dazu gehörten spezifische Maß- Laut Informationen von Frauenorganisationen nahmen zum Schutz von Personen haitiani- war das nationale Gesundheitssystem weitge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen scher Herkunft sowie zum Schutz der Rechte hend unfähig, den Opfern geschlechtsspezifi- von Migranten. Die Regierung lehnte jedoch scher Gewalt adäquate medizinische und psy- die Empfehlung ab, Maßnahmen zu ergreifen, chologische Hilfe zu gewähren. Das Gesund- 000835 die sicherstellen, dass Dominikanern haitiani- heitsministerium führte jedoch Richtlinien für scher Herkunft nicht die Staatsangehörigkeit die umfassende Versorgung von Opfern familiä- verweigert wird oder nicht willkürlich ihre Ge- rer und anderer geschlechtsspezifischer Ge- burtsurkunden und Ausweispapiere rückwir- walt gegen Frauen ein. kend für ungültig erklärt werden. Recht auf freie Meinungsäußerung Rechte der Migranten und Journalisten Nach dem Erdbeben in Haiti kündigten die do- Die Pressegewerkschaft des Landes (Sindicato minikanischen Behörden an, die Ausweisun- Nacional de Trabajadores de la Prensa – gen haitianischer Migranten ohne regulären SNTP) berichtete, dass während des Wahl- Aufenthaltsstatus auszusetzen. Nach Informa- kampfs aufgrund politischen Drucks mindes- tionen von Menschenrechtsorganisationen wur- tens sieben Fernsehkanäle zeitweilig geschlos- den die Ausweisungen jedoch im Juli 2010 sen bzw. deren Sendesignale blockiert worden wieder aufgenommen, obwohl es Forderungen seien. gab, sie nicht fortzusetzen, wenn dabei die Im November 2010 teilte die Gewerkschaft Achtung der Menschenwürde und die Sicher- ferner mit, dass während des Berichtsjahrs heit der Betroffenen nicht garantiert werden zahlreiche Journalisten und andere Medien- könnten. Dem Anschein nach waren die Aus- schaffende bedroht oder tätlich angegriffen weisungen in vielen Fällen willkürlich, und es worden seien. In den meisten Fällen wurden die bestand keine Möglichkeit, die Entscheidungen Täter nicht zur Verantwortung gezogen.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht anzufechten.

146 Dominikanische Republik Amnesty International: Mission und Berichte letzungen blieben unaufgeklärt. In Ar-  Delegierte von Amnesty International besuchten die Domini- mut lebende Frauen hatten nach wie vor kanische Republik im Oktober 2010. keinen Zugang zu einer guten und kul-  Dominican Republic: Protection urged after killings and turell angemessenen medizinischen Ver- threats (AMR 27 / 002/ 2010) sorgung.  One year on, Juan Almonte’s fate continues to be unknown: Possible enforced disappearance in the Dominican Repu- Hintergrund blic (AMR 27/ 003/ 2010) Es kam zu Massendemonstrationen, von denen viele auf die Initiative von Organisationen indi- gener Gemeinschaften zurückgingen. Sie pro- testierten gegen Maßnahmen der Regierung und die Gesetzgebung in den Bereichen natür- liche Ressourcen, Land, Bildung und öffentli- Ecuador che Dienstleistungen. Angeprangert wurde zu- dem das Fehlen transparenter Verfahren zur Amtliche Bezeichnung: Republik Ecuador Gewährleistung der Rechte der indigenen Be- Staats- und Regierungschef: völkerung auf die freie, vorherige und infor- Rafael Vicente Correa Delgado mierte Zustimmung bei Entwicklungsprojekten Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft bzw. Maßnahmen oder Gesetzen, die diese Einwohner: 13,8 Mio. betreffen. Lebenserwartung: 75,4 Jahre Im Februar 2010 zogen sich Organisationen Kindersterblichkeit (m/w): 29 / 22 pro 1000 indigener Gemeinschaften aus Gesprächen Lebendgeburten mit der Regierung über die Gesetzgebung zu Alphabetisierungsrate: 84,2% Bergbau, Wasser, Land, Bildung und Umwelt zurück, weil sie der Ansicht waren, dass die Re- Menschenrechtsverteidiger, darunter gierung nicht wirklich ernsthaft auf ihre Be- auch Sprecher indigener Gemeinschaf- denken einging. ten, wurden mit zweifelhaften Strafan- Im September demonstrierten Hunderte von zeigen konfrontiert. Von Sicherheits- Sicherheitskräften gegen Lohnkürzungen und kräften begangene Menschenrechtsver- Einsparungen von Zulagen. Die Regierung be- trachtete dies als Putschversuch. Mindestens acht Personen, darunter zwei Polizeibeamte, wurden während des Protests getötet und zahlreiche weitere verletzt, darunter auch der Präsident, der nach dem Einsatz von Tränen- gas ins Krankenhaus gebracht werden musste. Zum Jahresende wurde gegen mehrere Ange- hörige der Polizei wegen einer Reihe von Straf- taten ermittelt. Im Juni unterzeichnete Ecuador als erstes Land das Fakultativprotokoll des Internationa- len Pakts über wirtschaftliche, soziale und kul- turelle Rechte.

Menschenrechtsverteidiger Menschenrechtsverteidiger, darunter Sprecher indigener Gemeinschaften, wurden wegen Sa- botage und Terrorismus angeklagt, um ihren

Ecuador 147 Protest gegen Maßnahmen der Regierung zu Schutzmaßnahmen für Opfer und Zeugen so- unterdrücken. wie Verzögerungen und Korruption im Justiz-  Im Juni 2010 wurden Ermittlungen gegen system unaufgeklärt blieben. drei Vertreter indigener Gemeinschaften ein-  Zum Jahresende befanden sich 14 Angehö- geleitet. Marlon Santi, Präsident des Verbands rige der Polizei wegen Folterung von Fabricio der indigenen Bevölkerung von Ecuador (Con- Colón Pico Suárez, Jenny Karina Pico Suárez federación de Nacionalidades Indígenas del und Javier Universi Pico Suárez sowie des Ecuador), Delfin Tenesaca, Vorsitzender des »Verschwindenlassens« von Georgy Hernán Verbands der Kichwa (Confederación Kichwa Cedeño im September 2009 in Untersu- del Ecuador), und Marco Guatemal, Präsident chungshaft; gegen drei weitere wurde ermittelt. des Indigenen- und Kleinbauernverbands Im-  Die Fälle von Yandry Javier Vélez Moreira und babura (Federación Indígena y Campesina de Juan Miguel Vélez Cedeño, die im Dezember Imbabura), wurden wegen Terrorismus und Sa- 2008 gefoltert und anschließend getötet worden botage angeklagt. Die Untersuchung erfolgte waren, und ihrer Schwester Johanna Vélez im Zusammenhang mit ihrer Beteiligung an Moreira, die Berichten zufolge von Angehörigen einer Demonstration in Otavalo, wo sie gegen der GAO bedroht wurde, blieben weiterhin un- ihren Ausschluss vom Gipfel der Länder der Bo- geklärt. livianische Allianz für die Völker unseres Ame- Die Wahrheitskommission, die mit der Aufklä- rika (Alianza Bolivariana para los Pueblos de rung der zwischen 1984 und 2008 begange- Nuestra América) protestiert hatten, und dau- nen Menschenrechtsverletzungen beauftragt erte zum Jahresende noch an. war, legte im Juni 2010 ihren Abschlussbericht  Im Mai 2010 wurde Klage wegen Sabotage vor. Die Kommission dokumentierte 118 Fälle und Terrorismus gegen die Gemeindesprecher und 456 Opfer von willkürlicher Festnahme, Carlos Pérez und Federico Guzmán sowie drei Folter, sexueller Gewalt, »Verschwindenlassen« 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Bewohner von Victoria del Portete in der Pro- und Tötungen. Zumeist war die Polizei in diese vinz Azuay erhoben. Grundlage hierfür war ihre Fälle verwickelt. Die Regierung verpflichtete Beteiligung an einer Straßensperre, mit der sie sich, die Schuldigen vor Gericht zu bringen 000835 gegen einen Gesetzentwurf zur Wassernutzung und zwölf Sonderstaatsanwälte zur Untersu- protestiert hatten. Die Klagen wurden im Au- chung dieser Verbrechen zu berufen. Zum gust von den Gerichten zurückgewiesen. Jahresende wurde über einen Gesetzentwurf zur Gewährleistung des Rechts auf Entschädi- Straflosigkeit gungsleistungen für die Opfer dieser Verbre- Auch weiterhin gab es Meldungen über Men- chen diskutiert. schenrechtsverletzungen durch Angehörige der Gruppe der Nationalpolizei zur Bekämp- Rechte indigener Volksgruppen fung des organisierten Verbrechens (Grupo de Im September 2010 forderte der UN-Sonderbe- Apoyo Operacional – GAO). Die Gruppe wurde richterstatter über die Situation der Men- seit ihrer Gründung im Jahr 1996 mit etwa schenrechte und Grundfreiheiten der Angehöri- 20 Fällen von Folter und anderen Misshandlun- gen indigener Bevölkerungsgruppen die Re- gen sowie möglichen außergerichtlichen Hin- gierung auf, keine Konzessionen für den Abbau richtungen in Verbindung gebracht. natürlicher Ressourcen ohne die vorherige Im Juli 2010 äußerte der UN-Sonderberichter- umfassende und rechtmäßige Konsultierung statter über außergerichtliche, summarische und Beteiligung der betroffenen indigenen Ge- oder willkürliche Hinrichtungen Sorge, dass meinschaften zu erteilen. eine große Anzahl mutmaßlicher Tötungen, Im April stellte die Interamerikanische Men- darunter auch durch die Polizei, aufgrund man- schenrechtskommission beim Interamerikani- gelnder sorgfältiger und unabhängiger Ermitt- schen Gerichtshof für Menschenrechte einen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht lungen, unzureichender Unterstützungs- und Antrag im Fall von Angehörigen der Kichwa in

148 Ecuador der Gemeinde Sarayaku (Provinz Pastaza). Dabei ging es um die Erdölförderung auf Ge- El Salvador meindeland der Kichwa, die ohne vorherige Konsultierung der Kichwa erfolgt war, sowie Amtliche Bezeichnung: Republik El Salvador um Drohungen und Einschüchterungsversuche Staats- und Regierungschef: gegen Angehörige der Gemeinschaft. Carlos Mauricio Funes Cartagena Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten Recht auf Gesundheit abgeschafft Im Januar 2010 berichtete der UN-Ausschuss Einwohner: 6,2 Mio. für die Rechte des Kindes (CRC), dass es in Lebenserwartung: 72 Jahre zahlreichen in Armut lebenden Gemeinden Kindersterblichkeit (m/w): 29 / 23 pro 1000 noch immer an einer guten und kulturell ange- Lebendgeburten messenen medizinischen Versorgung fehlte, Alphabetisierungsrate: 84% trotz der Bemühungen, den Zugang auszu- bauen. Die Verantwortlichen für Menschen- rechtsverletzungen der Vergangenheit Sexuelle und reproduktive Rechte blieben auch 2010 straffrei, obwohl es Der CRC äußerte zudem seine Besorgnis ange- beim Vorgehen gegen die Straflosigkeit sichts des fehlenden Zugangs zu Informatio- einige positive Entwicklungen zu ver- nen über sexuelle Aufklärung und Gesundheit zeichnen gab. Die anhaltende Gewalt ge- und des Verbots von Notfallverhütungsmaß- gen Frauen und Mädchen gab weiterhin nahmen. Anlass zur Sorge, dies betraf auch die Verletzung ihrer sexuellen und reproduk- Mütter- und Kindersterblichkeit tiven Rechte. Die Regierung setzte die Bei der Reduzierung der Müttersterblichkeit Streitkräfte ein, um die zunehmende wurden nach offiziellen staatlichen Angaben Bandenkriminalität auf den Straßen und Fortschritte erzielt. Anderen Berichten zufolge Unruhen in Gefängnissen zu bekämpfen. konnte Ecuador auch Fortschritte bei der Re- Indigene Bevölkerungsgruppen forder- duzierung der Kindersterblichkeit erzielen. Sta- ten nach wie vor die Anerkennung ihrer tistiken zeigten jedoch auch weiterhin große Rechte in Gesetzgebung und Praxis. Unterschiede bei der Kindersterblichkeit in ländlichen und städtischen Gebieten sowie Hintergrund unter Kindern indigener Gemeinschaften. Das Land wurde von Bandenkriminalität und Unruhen in Gefängnissen erschüttert. Als Re- aktion auf das hohe Ausmaß an Gewalt forder- ten einige Mitglieder des Kongresses die Wie- dereinführung der Todesstrafe. Dies wurde von der Regierung jedoch zurückgewiesen.

El Salvador 149 Im Februar 2010 beurteilte der UN-Men- zwischen Januar und Oktober 477 Frauen und schenrechtsrat die Menschenrechtssituation Mädchen ermordet – 224 mehr als im Ver- in El Salvador im Rahmen der Universellen Re- gleichszeitraum 2008. Im November gingen gelmäßigen Überprüfung (UPR). El Salvador Tausende von Frauen und Mädchen auf die lud zu dieser Sitzung weitere Menschenrechts- Straße. Sie protestierten dagegen, dass die Ver- experten der UN und interamerikanischer In- antwortlichen für diese Verbrechen nicht zur stitutionen ein, was als positiver Schritt zu wer- Rechenschaft gezogen werden, und forderten ten ist. Der Menschenrechtsrat forderte El Sal- die Behörden auf, Maßnahmen zur Vermei- vador auf, die öffentliche Sicherheit zu verbes- dung und Bestrafung von Gewalt gegen Frauen sern, die Gewalt gegen Frauen zu beseitigen und Mädchen zu ergreifen. und sicherzustellen, dass die Opfer des inter- Im Oktober 2010 rief der UN-Menschen- nen bewaffneten Konflikts (1980 – 92) Gerech- rechtsausschuss El Salvador auf, Schritte ein- tigkeit und Wiedergutmachung erfahren. zuleiten, um Gewalt gegen Frauen und Mäd- chen zu verhindern und die Bestrafung der Straflosigkeit Verbrechen sicherzustellen. Der Ausschuss Im Januar 2010 unterzeichnete Präsident Fu- stellte zudem fest, dass das absolute Verbot nes einen Erlass, mit dem eine neue interins- von Schwangerschaftsabbrüchen – selbst nach titutionelle Kommission zur Suche nach »ver- einer Vergewaltigung oder wenn das Leben schwundenen« Kindern ins Leben gerufen der Schwangeren auf dem Spiel steht – gegen wurde (Comisión Interinstitucional de Bús- El Salvadors Pflicht verstößt, die Menschen- queda de Niños y Niñas Desaparecidos). Sie rechte von Frauen und Mädchen zu schützen. soll den Verbleib von Kindern aufklären, die während des internen bewaffneten Konflikts Rechte indigener Völker »verschwanden«. Mit dem Erlass reagierte die Die Regierung erfüllte ihr vor den Wahlen gege- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Regierung auf eine Verfügung des Interameri- benes Versprechen nicht, die Rechte der indi- kanischen Gerichtshofs für Menschenrechte genen Bevölkerungsgruppen gesetzlich zu ver- aus dem Jahr 2005, die sich auf den Fall der ankern. Ende 2010 hatte El Salvador die 000835 Schwestern Serrano Cruz bezog. Die beiden Rechte der indigenen Gruppen noch nicht in sieben und drei Jahre alten Mädchen waren die Verfassung aufgenommen und das Über- zuletzt 1982 gesehen worden, bevor sie vom Mi- einkommen über eingeborene und in Stämmen litär verschleppt wurden. Ende 2010 hatte die lebende Völker in unabhängigen Ländern der neue Kommission ihre Arbeit jedoch noch nicht Internationalen Arbeitsorganisation (ILO-Kon- aufgenommen, und das Schicksal von hun- vention 169) noch nicht unterzeichnet. derten »verschwundener« Kinder war weiterhin Im Juli gab das Sekretariat für Soziale Integra- ungeklärt. tion bekannt, dass mehrere Regierungsbehör- Das Amnestiegesetz aus dem Jahr 1993 blieb den eine Absichtserklärung unterzeichnet hät- in Kraft und verhinderte Bestrebungen, die ten, die einen besseren Schutz der Rechte in- Verantwortlichen für die Menschenrechtsverlet- digener Gruppen vorsieht. Indigene Gruppen zungen aus der Zeit des bewaffneten Konflikts würdigten die Erklärung als potenziell positiv, zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl die Regie- wiesen jedoch erneut darauf hin, dass es drin- rung öffentlich erklärte, sie wolle Schritte zur gend notwendig sei, ihre Rechte gesetzlich an- Abschaffung des Gesetzes unternehmen. zuerkennen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen Öffentliche Sicherheit Die Zahl der Frauen und Mädchen, die entführt Im Juni 2010 starben mindestens 16 Menschen und ermordet wurden, war hoch. Viele der Op- in San Salvador, als ihr Bus in Folge einer ge- fer wurden vergewaltigt und verstümmelt. Laut walttätigen Bandenauseinandersetzung in

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht einer Statistik der Nationalen Polizei wurden Brand gesetzt wurde. Als Reaktion auf die

150 El Salvador Bandenkriminalität sowie auf Unruhen, die serteure und Personen, die sich der Ein- im Juni in mehreren Hafteinrichtungen aus- berufung entzogen, wurden schikaniert, brachen, setzte die Regierung in einigen Ge- inhaftiert und misshandelt. Von den fängnissen und bestimmten Teilen San Salva- Sanktionen waren auch ihre Familien be- dors die Streitkräfte ein. troffen. Die Politik der gezielten Todes- Im September wurde die Mitgliedschaft in schüsse gegen jedwede Personen, die einer Bande zum Straftatbestand erklärt. Es versuchten, über die Grenze zu fliehen, gab ernste Bedenken hinsichtlich der Umset- wurde fortgesetzt. zung des Gesetzes. So wurde die Befürchtung laut, es könne dazu benutzt werden, um ehe- Hintergrund malige Bandenmitglieder, ihre Bewährungs- Präsident Isayas Afewerki und die regierende helfer oder Kontaktpersonen von aktiven Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit oder ehemaligen Bandenmitgliedern zu ver- (People’s Front for Democracy and Justice), die folgen. als einzige Partei zugelassen war, übten eine umfassende Kontrolle über den Staat aus, ohne die auf unbestimmte Zeit verschobenen Wah- len auch nur zu erwähnen. Es gab keine unab- hängige Judikative. Die eritreische Gesellschaft blieb in hohem Maße militarisiert. Alle Erwachsenen mussten Eritrea einen obligatorischen Militärdienst leisten, der häufig auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. Amtliche Bezeichnung: Staat Eritrea Die Kosten der massenhaften Einberufung Staats- und Regierungschef: Isayas Afewerki zum Militär trugen zur Lähmung der Volkswirt- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft schaft bei. Die Nahrungsmittelknappheit ver- Einwohner: 5,2 Mio. schärfte sich. Die UN schätzte, dass nicht we- Lebenserwartung: 60,4 Jahre niger als zwei Drittel der Eritreer unterernährt Kindersterblichkeit (m/w): 78 / 71 pro 1000 waren; die Regierung schränkte jedoch den Lebendgeburten Zugang zu Nahrungsmittelhilfe und humanitä- Alphabetisierungsrate: 65,3%

Auch 2010 waren weit verbreitete Men- schenrechtsverletzungen an der Tages- ordnung. Die Regierung schränkte die Rechte auf freie Meinungsäußerung und freie Religionsausübung massiv ein. Op- positionsparteien, unabhängiger Jour- nalismus, Organisationen der Zivilgesell- schaft und nicht anerkannte Religions- gemeinschaften waren verboten. Die Be- hörden bedienten sich willkürlicher Festnahmen, Haft und Folter, um die Op- position zu unterdrücken. Tausende po- litische Gefangene wurden unter schrecklichen Bedingungen in Gewahr- sam gehalten, viele davon in geheimen Hafteinrichtungen. Der Militärdienst war nach wie vor obligatorisch, und De-

Eritrea 151 rer Unterstützung ein. Dies geschah offen- den festgenommen, als sie heimlich in Privat- sichtlich, um die Bevölkerung zu kontrollieren häusern, bei Hochzeiten oder Begräbnissen und zu bestrafen sowie externen Einfluss zu ihren Glauben praktizierten. unterbinden. Bis zu 3000 Christen staatlich nicht anerkann- Viele zumeist junge Eritreer flohen aus dem ter kirchlicher Gruppen wurden im Jahr 2010 Land. Die Regierung verfolgte weiterhin eine in Gewahrsam gehalten, darunter 60 Zeugen Politik der gezielten Todesschüsse gegen dieje- Jehovas, die sich den vorliegenden Erkennt- nigen, die den Versuch unternahmen, die nissen zufolge im Mai in Haft befanden. Zu die- Grenzen zu überschreiten. sen gehörten Paulos Eyassu, Isaac Mogos und Mit der Begründung, dass Eritrea bewaffnete Negede Teklemariam, die seit 1994 ohne Ge- somalische Gruppen unterstütze und einen richtsverfahren gefangen gehalten wurden. Grenzkonflikt mit Dschibuti noch nicht gelöst Im Oktober gingen die Behörden Berichten habe, blieben die vom UN-Sicherheitsrat ver- zufolge in der Region Süd rigoros gegen evan- hängten Sanktionen in Kraft, darunter ein Waf- gelikale Christen, insbesondere die Full-Gospel- fenembargo. Kirche, vor. Bis zu 40 Männer und Frauen wur- Im ersten Halbjahr 2010 beließ Eritrea Trup- den festgenommen und ohne Kontakt zur Au- pen in dem umstrittenen Gebiet Ras Doumeira ßenwelt in Haft gehalten. Berichten zufolge und auf der Insel Doumeira in Dschibuti, ob- geschah dies auf Anordnung des Gouverneurs wohl eine Resolution des UN-Sicherheitsrats der Region Süd. Eritrea zum Rückzug aufgerufen hatte. Im Juni  Im Mai 2010 soll die 28-jährige Senait sagte Eritrea zu, seine Truppen zurückzuzie- Oqbazgi Habta im militärischen Ausbildungs- hen und den Streit mit Dschibuti mit Hilfe einer zentrum Sawa gestorben sein. Sie hatte etwa Schlichtung durch Katar zu lösen. zwei Jahre wegen Teilnahme an einer Bibel- Der Schiedsspruch der unabhängigen Grenz- studien-Gruppe in Haft verbracht, wurde in 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen kommission (Eritrea-Ethiopia Boundary Com- einem Frachtcontainer gefangen gehalten und mission) aus dem Jahr 2002, der den Rückzug erhielt keine Medikamente gegen Malaria und Eritreas aus dem Grenzort Badme verlangte, Anämie. 000835 wurde nicht erfüllt, und auch die von der Kom- mission für Entschädigungsansprüche Gewaltlose und andere politische (Claims Commission) im Jahr 2009 festgestell- Gefangene ten und von beiden Seiten geforderten Ent- Zahlreiche gewaltlose politische Gefangene und schädigungszahlungen wurden nicht geleistet. andere aus politischen Gründen Inhaftierte Die Regierung benutzte den Grenzkonflikt und befanden sich 2010 weiterhin ohne Anklage, einen möglicherweise drohenden zukünftigen Gerichtsverfahren und Zugang zu einem Konflikt als Vorwand, um die einschneidenden Rechtsbeistand auf unbestimmte Zeit in Haft. Beschränkungen der zivilen und politischen Unter ihnen waren mutmaßliche Regierungs- Rechte zu rechtfertigen. kritiker, politische Aktivisten, Journalisten, Menschen, die ihren Glauben praktizierten Religionsfreiheit oder die sich dem Militärdienst entzogen hat- Lediglich den Mitgliedern der staatlich aner- ten, Deserteure und abgelehnte Asylbewerber, kannten Religionsgemeinschaften – der eri- die nach Eritrea zurückgeführt worden waren. treisch-orthodoxen, der römisch-katholischen Viele von ihnen wurden über lange Zeiträume und der evangelisch-lutherischen Kirche – so- hinweg ohne Kontakt zur Außenwelt festgehal- wie Muslimen war es gestattet, ihre Religion ten, darunter auch politische Gefangene, die auszuüben. Mitglieder verbotener Minder- seit der von der Regierung im Jahr 2001 in heits-Glaubensrichtungen waren Schikanen, Gang gesetzten Verhaftungswelle inhaftiert Festnahmen, Haft ohne Kontakt zur Außen- waren. Über den Aufenthaltsort und den Ge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht welt und Folter ausgesetzt. Viele von ihnen wur- sundheitszustand der meisten war nichts be-

152 Eritrea kannt. Angehörige der Gefangenen, die sich pressalien wie Geld- und Gefängnisstrafen nach ihnen erkundigten, waren Repressalien ausgesetzt. ausgesetzt. Die im Jahr 2009 vom UN-Hochkommissar  Die Gruppe G-15, eine Gruppe von gewaltlo- für Flüchtlinge herausgegebenen Richtlinien, sen politischen Gefangenen, die seit 2001 in denen Staaten empfohlen wurde, abgelehnte ohne Anklagen oder Gerichtsverfahren inhaf- Asylbewerber aus Eritrea nicht nach Eritrea tiert waren, befand sich weiterhin in geheimer abzuschieben, blieben in Kraft. Nach offiziellen Haft. Auch im Jahr 2010 reagierte die Regie- Angaben lebten im Januar 2010 insgesamt rung nicht auf unbestätigte Berichte, nach de- 223562 eritreische Flüchtlinge und Asylsu- nen neun Mitglieder der Gruppe G-15 in der chende im Ausland. Haft gestorben sein sollen.  Im Juni wurden eritreische Gefangene im  Der gewaltlose politische Gefangene Dawit Haftzentrum Misratah in Libyen von Beamten Isaak, ein Journalist, der während der Verhaf- dazu gezwungen, sich fotografieren zu lassen tungswelle im Jahr 2001 festgenommen worden und von der Botschaft Eritreas zur Verfügung war, befand sich weiterhin in Gewahrsam, gestellte Lebenslauf-Formulare auszufüllen. dem Vernehmen nach im Gefängnis Eiraeiro.  Yonas Mehari und Petros Mulugeta kehrten Berichten zufolge litt er unter psychischen nach Deutschland zurück, wo ihnen im Jahr und physischen Gesundheitsproblemen. 2010 Asyl gewährt wurde. Die beiden Männer waren Asylsuchende, die 2008 von den deut- Recht auf freie Meinungsäußerung – schen Behörden nach Eritrea abgeschoben Journalisten worden waren. Nach ihrer Rückkehr nach Eri- Die Regierung unterwarf sämtliche Medien trea hatte man sie inhaftiert. Yonas Mehari einer strengen Kontrolle und reagierte feindse- wurde in einer überbelegten unterirdischen lig auf jedwede Äußerung, die sie als Kritik auf- Zelle und Petros Mulugeta in einem Frachtcon- fasste. Seit 2001 ist jede Form von unabhängi- tainer gefangen gehalten. Beide Männer er- gem Journalismus in Eritrea faktisch verboten. zählten von menschenunwürdigen Haftbedin- Zahlreiche Journalisten wurden nach wie vor gungen sowie Krankheiten, schweren psy- ohne Anklage oder Gerichtsverfahren sowie chischen Leiden und Todesfällen unter ihren ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Mitgefangenen. Die Regierung lehnte es in vielen Fällen ab, Auskunft über ihren Aufenthaltsort oder ihren Militärdienst Gesundheitszustand zu erteilen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung leistete  Im Mai 2010 wurde Yirgalem Fisseha Me- den obligatorischen Militärdienst, zu dem brahtu Meldungen zufolge in Einzelhaft im Ge- Männer und Frauen ab 18 Jahren verpflichtet fängnis von May Srwa untergebracht. Der Jour- waren. Die 18-monatige Grundausbildung nalist von Radio Bana war im Februar 2009 setzte sich aus einem sechsmonatigem Militär- festgenommen worden, als die Behörden den dienst und zwölf Monaten Einsatz im Dienst Sender schlossen. von Militär oder Regierung zusammen. Dieser Journalisten, die zur eritreischen Diaspora- schloss häufig Zwangsarbeit in staatlichen Gemeinde in den USA gehörten, berichteten Projekten ein. Die Männer und Frauen wurden von Überwachung durch die Regierung Eritreas bei Bauarbeiten für Regierungsprojekte, z. B. und Drangsalierungen durch in den USA le- im Straßenbau, eingesetzt und arbeiteten im öf- bende Unterstützer der eritreischen Regierung. fentlichen Dienst oder in Unternehmen, die dem Militär oder den Eliten der Regierungspar- Flüchtlinge und Asylsuchende tei gehören und von diesen geführt werden. Zahlreiche Eritreer flohen aus ihrem Land. Die Den Dienstleistenden wurden geringe Löhne Familien von Flüchtlingen waren wegen der gezahlt, die nicht zur Deckung der Grundbe- Flucht ihrer Verwandten schwerwiegenden Re- dürfnisse ihrer Familien ausreichten. Der natio-

Eritrea 153 nale Dienst kann auf unbestimmte Zeit verlän- gert werden; nach seiner Beendigung besteht eine Pflicht zum Reservedienst. Die Strafen für Desertation und Entziehung von der Einberufung waren drakonisch und schlossen Folter und Haft ohne Gerichtsverfah- ren ein.

Folter und andere Misshandlungen Der Einsatz von Folter in Haftanstalten war 2010 weit verbreitet. Häftlinge, unter ihnen gewalt- lose politische Gefangene, wurden oft gefoltert und oder auf andere Weise misshandelt. Be- richten zufolge waren die häufigsten Folterme- thoden Peitschenhiebe, Schläge und Fesse- lung über längere Zeit in schmerzhaften Stel- lungen. Fidschi Die Haftbedingungen waren extrem schlecht. Viele Gefangene wurden in überfüllten, unhy- Amtliche Bezeichnung: Republik Fidschi-Inseln gienischen und feuchten Zellen festgehalten. Staatsoberhaupt: Ratu Epeli Nailatikau Eine große Anzahl von Gefangenen war in un- Regierungschef: Josaia Voreqe Bainimarama terirdischen Zellen untergebracht. Andere wa- Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten ren in Frachtcontainern aus Metall einge- abgeschafft sperrt, von denen sich viele in Wüstenregionen Einwohner: 0,9 Mio. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen befanden, wo sie extremer Hitze ausgesetzt Lebenserwartung: 69,2 Jahre waren. Die Gefangenen erhielten weder ausrei- Kindersterblichkeit (m/w): 25 / 24 pro 1000 chende Nahrung noch sauberes Trinkwasser. Lebendgeburten 000835 Medizinische Betreuung war fast nicht erhält- lich. Die Verfassung des Landes war noch im- Mehrere gewaltlose politische Gefangene und mer außer Kraft gesetzt. Gestützt auf andere politische Gefangene sollen 2010 in die 2009 erlassenen Notstandsbestim- der Haft gestorben sein, doch wurden die meis- mungen (Public Emergency Regulati- ten der diesbezüglichen Berichte nicht von ons), verletzte die vom Militär geführte den Behörden bestätigt. Regierung weiterhin das Recht auf freie  Hana Hagos Asgedom, eine wegen ihrer Re- Meinungsäußerung und ging massiv ge- ligion seit fast vier Jahren inhaftierte Christin, gen Kritiker vor, dazu zählten auch An- starb im Januar. Dem Vernehmen nach war sie gehörige der methodistischen Kirche. mit einer Eisenstange geschlagen worden, weil Ein neues Gesetz schränkte die Freiheit sie die sexuellen Avancen eines Offiziers im Mi- der Medien erheblich ein. Menschen- litärlager Alla zurückgewiesen hatte. Kurze rechtsverteidiger wurden durch Ge- Zeit später starb sie an einem Herzinfarkt. richtsverfahren oder auf Grundlage der Notstandsbestimmungen eingeschüch- tert und verfolgt. Ein neuer Erlass zur Be- kämpfung der Gewalt gegen Frauen wurde von der Justiz und der Polizei noch nicht umgesetzt. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

154 Fidschi Recht auf freie Meinungsäußerung  Im Oktober 2010 wurde eine Fernsehjourna- Im Januar 2010 erklärte ein hochrangiger Ver- listin, die über die Festnahme und Inhaftierung treter der Armee, wer Kritik an der Regierung des früheren Premierministers Mahendra äußere, müsse mit Vergeltungsmaßnahmen Chaudhry berichtet hatte, festgenommen. Man des Militärs rechnen. Ebenfalls im Januar wur- drohte ihr, sie auf Grundlage der Notstands- den auf Geheiß des Regierungschefs in der bestimmungen strafrechtlich zu verfolgen. Hauptstadt Suva 20 Mitarbeiter der Stadtver- waltung auf unbestimmte Zeit suspendiert, weil Recht auf Vereinigungsfreiheit sie sich angeblich regierungskritisch in Web- Der Regierungschef verbot der methodisti- logs geäußert hatten. Die Behörden drohten schen Kirche erneut die Abhaltung ihrer jähr- ihnen, sie würden von den Sicherheitskräften lichen Kirchenkonferenz. Er beschuldigte verfolgt werden, sollten sie die Gerichte anru- einige Geistliche, sie hätten im Auftrag der fen. Eine neunmonatige Untersuchung der 2006 durch einen Putsch gestürzten Regierung Angelegenheit ergab keine Beweise gegen die das Militär ausspioniert. Beschuldigten. Sie blieben jedoch suspendiert Im Oktober wurden der ehemalige Premiermi- und hatten kaum Möglichkeiten, dagegen juris- nister Mahendra Chaudhry und fünf seiner tisch vorzugehen. Mitarbeiter in der Stadt Rakiraki festgenommen Ein Renten- und Ruhestandserlass, der im Ja- und mehr als 48 Stunden lang inhaftiert. Man nuar in Kraft trat, führte dazu, dass Dutzende warf ihnen vor, gegen die Notstandsbestim- Rentner und Pensionäre, die als regierungskri- mungen verstoßen zu haben, da sie an einem tisch galten, kein Altersruhegeld mehr erhiel- öffentlichen Treffen mit drei oder mehr Perso- ten. Im Mai hob die Regierung den Erlass je- nen teilgenommen hätten, für das keine be- doch wieder auf. hördliche Genehmigung vorlag. Im Juni wurde der Erlass zur Entwicklung der Medienindustrie (Media Industry Develop- Menschenrechtsverteidiger ment Decree) verabschiedet. Er sieht die Ein- Im Januar 2010 leitete die Unabhängige Anti- richtung einer speziellen Behörde vor, die si- korruptionskommission (Independent Com- cherstellen soll, dass in den Medien des Landes mission against Corruption) eine Untersuchung nichts veröffentlicht wird, was die öffentlichen gegen die bekannte Menschenrechtsanwältin Interessen bzw. die öffentliche Ordnung gefähr- Imrana Jalal und ihren Ehemann ein. Die bei- det. Die Behörde zur Entwicklung der Medien- den wurden wegen sieben geringfügiger Ver- industrie hat weitgehende Befugnisse. Sie rei- stöße gegen die Bestimmungen zur öffentlichen chen von Ermittlungen gegenüber Journalis- Gesundheit (in Hotels, Restaurants und Erfri- ten und Medienunternehmen bis hin zu Durch- schungsbars), gegen das Gesetz zur Lebens- suchungen und Beschlagnahmungen. Ein auf mittelsicherheit und gegen das Strafgesetz un- der Grundlage des Erlasses eingerichtetes Me- ter Anklage gestellt. Die Anklage war politisch diengericht entscheidet über alle von der Be- motiviert. hörde vorgelegten Beschwerden und kann Imrana Jalal hatte offen auf die Menschen- hohe Geldbußen und Haftstrafen verhängen. rechtsverletzungen hingewiesen, die das Mili- Trotz der sehr weitgehenden Strafbefugnisse ist tär begangen hatte, als es 2006 gegen die von das Gericht nicht an formale Beweislastrege- Laisenia Qarase geführte Regierung putschte. lungen gebunden. Im Juli befand ein Gericht, es habe ein Verstoß  Ein Journalist, der in einem Artikel behauptet gegen rechtsstaatliche Prinzipien vorgelegen, hatte, die Regierung habe den Polizeipräsi- und ließ alle Anklagen fallen. Der Ehemann von denten gegen seinen Wunsch entlassen, wurde Imrana Jalal wurde in einer anderen Angele- im August 2010 von den Sicherheitskräften genheit, die im Zusammenhang mit seiner festgenommen, verhört und durch Drohungen Beschäftigung in einem staatlichen Unterneh- gezwungen, seine Quelle preiszugeben. men stand, weiter juristisch verfolgt.

Fidschi 155  Im Januar 2010 wurde der Gewerkschafter Pramod Rae von Armeeoffizieren bedroht und eingeschüchtert. Sie wollten ihn daran hindern, an seinem Arbeitsplatz, der Bank of Baroda, einen Streik zu organisieren.  Im Februar 2010 drohte der Premierminister zwei Menschenrechtsverteidigern damit, sie in den Armeekasernen zu inhaftieren, weil sie sich im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) des Landes durch den UN-Menschenrechtsrat in Genf zum Justiz- system Fidschis geäußert hatten.  Ebenfalls im Februar wurde der Gewerk- schafter Attar Singh aus seinem Büro geholt und in die Armeekaserne von Suva gebracht. Dort wurde er bedroht, bevor man ihn wieder freiließ. Bereits 2007 war Attar Singh in dieser Finnland Kaserne inhaftiert, tätlich angegriffen und mit dem Tod bedroht worden. Amtliche Bezeichnung: Republik Finnland Staatsoberhaupt: Tarja Halonen Gewalt gegen Frauen und Mädchen Regierungschefin: Mari Kiviniemi Das Ausmaß der körperlichen und sexuellen (löste im Juni Matti Vanhanen im Amt ab) Gewalt gegen Frauen und Mädchen war wei- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft terhin hoch. Dies ging aus Medienberichten Einwohner: 5,3 Mio. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen und Angaben von Frauenorganisationen her- Lebenserwartung: 80,1 Jahre vor. Zwar verkündete die Regierung, der Erlass Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt aus Lebendgeburten 000835 dem Jahr 2009 sei in Kraft getreten, Menschen- rechtsverteidiger beklagten jedoch eine feh- Frauen wurden in Gesetzgebung und Pra- lende Umsetzung. Die betreffenden Stellen, da- xis nicht ausreichend vor Gewalt ge- runter auch die Polizei, würden die Bestim- schützt. Unbegleitete asylsuchende Kin- mungen des Erlasses nicht kennen und wüss- der wurden in Haft genommen. Kriegs- ten nicht, wie er anzuwenden sei. dienstverweigerer aus Gewissensgründen mussten Haftstrafen verbüßen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen Im Mai 2010 empfahl das Justizministerium eine Reform des Strafgesetzbuchs hinsichtlich Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. So wurde u. a. vorgeschlagen, Fälle, in denen das Opfer aufgrund einer Krankheit oder eines Rauschzustands nicht in der Lage ist, eindeu- tig in den Geschlechtsverkehr einzuwilligen, als Vergewaltigung einzustufen. Trotz dieser Emp- fehlungen wurde jedoch auch weiterhin zwi- schen verschiedenen Kategorien von Verge- waltigung unterschieden, je nach Ausmaß der

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht körperlichen Gewalt, die der Täter ausübt oder

156 Finnland androht. Außerdem wurden bei bestimmten Ta- fahrens wurden Vorwürfe erhoben, einige Zeu- ten sexueller Gewalt nur dann Ermittlungen genaussagen seien von den ruandischen Be- und eine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet, hörden durch Folter erzwungen worden. Um wenn das Opfer dies forderte. Der Schutz von einen fairen Prozess zu gewährleisten, ent- Frauen vor Vergewaltigung und anderen For- schied das Gericht, die Aussagen zweier Zeu- men sexueller Gewalt war damit weiterhin un- gen unberücksichtigt zu lassen, nachdem sich zureichend. herausgestellt hatte, dass diese wahrscheinlich Im August äußerte der UN-Ausschuss zur Be- durch Folter oder Misshandlung erpresst wor- seitigung jeder Form von Diskriminierung der den waren. Gegen das Urteil wurde ein Rechts- Frau (CEDAW-Ausschuss) seine Bedenken be- mittel eingelegt, und das Verfahren war Ende züglich Mediationsverfahren in Fällen familiä- 2010 noch nicht abgeschlossen. rer Gewalt. Er stellte fest, dass Frauen, die Op- fer von Gewalt wurden, durch solche Verfah- Kriegsdienstverweigerung ren möglicherweise erneut zum Opfer werden aus Gewissensgründen könnten. Außerdem seien die Auswirkungen Kriegsdienstverweigerer verbüßten nach wie vor von Mediation in Gerichtsverfahren zu familiä- Haftstrafen, weil sie den Zivildienst aufgrund rer Gewalt noch nicht ausreichend untersucht. seiner Länge und seines diskriminierenden Im September verabschiedete die Regierung Charakters abgelehnt hatten. Die Länge des den Nationalen Aktionsplan 2010 – 15 zur Be- Zivildienstes betrug weiterhin 362 Tage. Er war kämpfung der Gewalt gegen Frauen. Doch wur- damit mehr als doppelt so lang wie der Militär- den keine zusätzlichen staatlichen Mittel be- dienst, der in der Regel 180 Tage dauert. reitgestellt, so dass Befürchtungen laut wurden, die Ressourcen zur Umsetzung des Plans würden nicht ausreichen.

Flüchtlinge und Asylsuchende Das Asylrecht erlaubte 2010 weiterhin ein be- schleunigtes Asylverfahren und damit die Ab- Frankreich schiebung von Asylsuchenden, deren Rechts- mittel noch anhängig waren. Dies hatte zur Amtliche Bezeichnung: Französische Republik Folge, dass einigen Asylsuchenden ein gewähr- Staatsoberhaupt: Nicolas Sarkozy tes Rechtsmittel verweigert wurde. Regierungschef: François Fillon Die Gesetzeslage ließ auch weiterhin die In- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft haftierung unbegleiteter asylsuchender Kinder Einwohner: 62,6 Mio. zu. 2010 waren mindestens 17 Kinder – davon Lebenserwartung: 81,6 Jahre vier unbegleitet – inhaftiert. Da es an geeigne- Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 ten Einrichtungen mangelte, wurden einige Lebendgeburten Asylsuchende in unangemessenen Einrich- tungen inhaftiert, u. a. in Polizeistationen und Die Vorwürfe wegen polizeilicher Miss- Gefängnissen. handlungen rissen auch 2010 nicht ab, während die Ermittlungen in diesen Fäl- Internationale Strafgerichtsbarkeit len nur schleppende Fortschritte mach- Im Juni 2010 wurde François Bazaramba, ein in ten. Ein Gesetzentwurf über Migration Finnland lebender ruandischer Staatsbürger, und Asyl war unvereinbar mit dem vom Bezirksgericht in Itä-Uusimaa zu einer le- Recht, Asyl zu beantragen. Der Verfas- benslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er wurde sungsrat (Conseil constitutionnel) für schuldig befunden, 1994 in Ruanda Völker- stellte fest, dass die Bestimmungen über mord begangen zu haben. Während des Ver- Haft vor der Anklageerhebung für ge-

Frankreich 157 wöhnliche Straftaten verfassungswidrig Tod in Gewahrsam waren. Roma und Fahrende waren stig- Ermittlungen in Bezug auf Todesfälle in Ge- matisiert und wurden zu Opfern von wahrsam schienen 2010 weder unabhängig Zwangsräumungen und Vertreibungen. noch unparteiisch zu verlaufen und machten nur schleppende Fortschritte. Folter und andere Misshandlungen  Am 17. Mai forderte die Nationale Kommis- In seinen abschließenden Bemerkungen am sion für Ethik in Sicherheitsfragen (Commis- 14. Mai 2010 äußerte sich der UN-Ausschuss sion Nationale de Déontologie de la Sécurité – gegen Folter besorgt hinsichtlich der anhalten- CNDS) Disziplinarmaßnahmen gegen die Poli- den Beschwerden über Misshandlungen zeibeamten einzuleiten, die nach der Fest- durch französische Polizeibeamte und drängte nahme des 69-jährigen Algeriers Ali Ziri am die Behörden, schnelle, nachvollziehbare und 9. Juni 2009 in Argenteuil dem Vernehmen unabhängige Ermittlungen in Bezug auf solche nach unverhältnismäßige Gewalt gegen diesen Vorwürfe einzuleiten sowie angemessene Stra- angewandt hatten. Ali Ziri war mit seinem fen gegen die Täter zu verhängen. Freund Arezki Kerfali in dessen Auto unter-  Am 4. November stellte der Europäische Ge- wegs, als sie von der Polizei angehalten wur- richtshof für Menschenrechte fest, dass den. Arezki Kerfali sagte aus, die Polizisten Frankreich im Fall Darraj vs. Frankreich das in hätten sie geschlagen. Anschließend wurden der Europäischen Menschenrechtskonvention beide Männer in ein Krankenhaus gebracht, verankerte Verbot von Folter und anderen Miss- wo Ali Ziri verstarb. Arezki Kerfali wurde be- handlungen verletzt hatte. Im Juli 2001 war schuldigt, einen Polizeibeamten beleidigt zu Yassine Darraj, ein 16-jähriger französischer haben. Daraufhin setzte man für den 24. Juni Staatsbürger, zur Überprüfung seiner Identität eine Verhandlung an, die jedoch vertagt auf eine Polizeiwache gebracht worden. Dort wurde, da noch keine Entscheidung im Fall Ali 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen hatten Polizisten ihm Handschellen angelegt Ziri ergangen war. und Gewalt zugefügt, mit der Folge, dass er sich  Im Fall von Abou Bakari Tandia, der im Ja- einer Notoperation unterziehen musste und 21 nuar 2005 infolge von im Polizeigewahrsam er- 000835 Tage lang arbeitsunfähig war. Das Gericht ent- littenen Verletzungen ums Leben gekommen schied, dass die Strafe von 800 Euro wegen war, befragte der ermittelnde Richter im März »fahrlässiger Körperverletzung«, zu der die drei Rechtsmediziner. Sie hatten im Juli 2009 beiden Polizisten in einem Berufungsverfah- einen Bericht veröffentlicht, welcher der poli- ren verurteilt worden waren, unangemessen zeilichen Version der Ereignisse widersprach. war. Die Ärzte hatten festgestellt, dass es zwischen Abou Bakari Tandia und den an seiner Fest- nahme beteiligten Polizeibeamten zu einer Auseinandersetzung gekommen war. Diese Feststellung ließ die Behauptung der Polizis- ten, seine Verletzungen seien dadurch entstan- den, dass er sich selbst gegen die Wände sei- ner Zelle geworfen habe, noch fragwürdiger er- scheinen. Im November befragte der zustän- dige Richter die Polizeibeamten als Zeugen des Vorfalls.  Im September hob das Berufungsgericht Aix- en-Provence die Entscheidung der Ermitt- lungsrichter auf, die Ermittlungen gegen zwei Polizeibeamte einzustellen, welche der fahr-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht lässigen Tötung von Abdelhakim Ajimi verdäch-

158 Frankreich tigt werden. Abdelhakim Ajimi kam ums Le- hender Straftaten gegen fünf französische ben, nachdem er im Zuge seiner Festnahme im Staatsbürger an, die in Guantánamo Bay inhaf- Mai 2008 von der Polizei fixiert worden war. Im tiert und 2004 bzw. 2005 nach Frankreich April hatte die CNDS Disziplinarmaßnahmen überstellt worden waren. Im Februar 2009 hatte gegen die Polizeibeamten wegen unverhältnis- das Pariser Berufungsgericht eine Verurtei- mäßiger und unnötiger Gewaltanwendung lung des Pariser Strafgerichts wegen »kriminel- empfohlen. ler Vereinigung in Bezug auf ein terroristisches  Über ein Jahr nach Beginn der strafrechtli- Vorhaben« aufgehoben, weil das Strafgericht chen Ermittlungen wegen der »fahrlässigen widerrechtlich vom französischen Geheim- Tötung« von Mohamed Boukrourou waren die dienst beschaffte Informationen benutzt hatte, an seiner Festnahme beteiligten Polizisten die Verhören aus der Haftzeit der Männer in noch immer nicht vernommen worden, und es Guantánamo Bay entstammten. waren auch keine Disziplinarmaßnahmen ge- gen sie eingeleitet worden. Am 12. November Flüchtlinge und Asylsuchende 2009 hatten vier Polizeibeamte Mohamed Im Juli 2010 annullierte der Staatsrat (Conseil Boukrourou nach einer Auseinandersetzung in d’État), das oberste Verwaltungsgericht des der Apotheke in seinem Viertel festgenom- Landes, teilweise die Entscheidung der Be- men, ihm Handschellen angelegt und ihn auf- hörde für den Schutz von Flüchtlingen und gefordert, sie zu begleiten. Zeugen sagten aus, Staatenlosen (OFPRA), die bei der Überprüfung die Polizisten hätten ihn auf seine Weigerung von Asylanträgen 17 Länder als »sicher« ein- hin aus der Apotheke gezerrt und in ihren gestuft hatte. Von Asylsuchenden aus »siche- Transporter geworfen, wo er geschlagen und ren« Ländern eingereichte Asylanträge wer- getreten wurde. Kaum zwei Stunden später den anhand eines beschleunigten Verfahrens war er tot. Seinen Angehörigen zufolge, die den bearbeitet, dem zufolge Asylsuchende abge- Leichnam gesehen hatten, war sein Gesicht schoben werden können, ohne dass ihr Antrag bedeckt von Blutergüssen, die Lippe geplatzt geprüft wird. Der Staatsrat entschied, dass Ar- und eine Wange aufgerissen. Zwei rechtsme- menien, Madagaskar und die Türkei nicht die dizinische Gutachten, von denen eines im No- nötigen Menschenrechtskriterien erfüllten, um vember 2009 auf Anordnung der Staatsan- auf der Liste der »sicheren« Herkunftsländer zu waltschaft erstellt wurde und eines im Juni 2010 stehen, und erachtete Mali als sicher für Män- auf Betreiben seiner Angehörigen, registrier- ner, aber nicht für Frauen. ten Verletzungen an seinem Körper, die von Ein Gesetzentwurf über Migration und Asyl, Schlägen herrühren könnten, und gaben der seit September im Parlament debattiert Herzversagen als wahrscheinliche Todesursa- wurde, wäre unvereinbar mit internationalen che an. Beide Gutachter forderten weitere me- Menschenrechtsstandards. Unter dem Gesetz dizinische Untersuchungen, um die Umstände würden Gruppen von zehn oder mehr Migran- seines Todes aufzuklären, doch deren Ergeb- ten ohne regulären Aufenthaltsstatus, die in nisse waren bis Ende des Jahres noch nicht be- der Nähe der französischen Grenze abgefan- kanntgeworden. Die CNDS und die General- gen werden, in einer »Transitzone« zwischen inspektion der Nationalpolizei hatten ihrerseits dem Ort der Festnahme und der Grenze festge- im November 2009 bzw. im Dezember 2009 setzt. Ihre Anträge, das restliche Frankreich zu Ermittlungen eingeleitet, die jeweils noch an- betreten und dort Asyl zu beantragen, würden dauerten. überprüft werden. Sollten diese als »offen- sichtlich unbegründet« erachtet werden, wür- Guantánamo-Häftlinge den die Betroffenen in ihr Herkunftsland zu- Am 26. Februar 2010 ordnete das Kassations- rückgeführt und hätten nur 48 Stunden Zeit, gericht die Wiederaufnahme eines Verfahrens um die Entscheidung anzufechten. wegen mit Terrorismus in Zusammenhang ste-

Frankreich 159 Entwicklungen in Justiz, Verfassung Rassismus und Diskriminierung und Institutionen Roma und Fahrende wurden von Regierungs- Im Juni begann der Senat über den Gesetzent- vertretern stigmatisiert. Bei einem Ministertref- wurf zu Mandat und Befugnissen der neuen fen im Juli zur Diskussion über »die Probleme Institution des Hüters der Menschenrechte im Zusammenhang mit dem Verhalten gewis- (Défenseur des droits) zu beraten. Unter de- ser Roma und Fahrender« bezog sich Staats- ren Dach sollen die CNDS, die Ombudsperson präsident Nicolas Sarkozy auf von Roma be- für Kinder, die Nationale Ombudsperson, die wohnte »illegale Lager« als Brutstätten der Kri- Hohe Behörde zum Kampf gegen Diskriminie- minalität und forderte die Regierung auf, diese rung und für Gleichheit (Haute autorité de Lager binnen dreier Monate aufzulösen. Am lutte contre les discriminations et pour l’égalité) 5. August 2010 wies das Innenministerium die sowie das Amt des Generalkontrolleurs für Präfekten an, »illegale Lager« systematisch auf- Orte des Freiheitsentzugs (Contrôleur général zulösen, wobei den von Roma bewohnten La- des lieux de privation de liberté) zusammen- gern ausdrücklich Priorität eingeräumt wurde, gefasst werden. Es gab Befürchtungen, dass sowie für »die unverzügliche Abschiebung von dies zu einem Verlust der Fachkompetenz und Ausländern ohne regulären Aufenthaltsstatus« der Unabhängigkeit dieser Institutionen führen zu sorgen. Nach der Verbreitung durch die würde. Medien wurde die Anweisung zurückgezogen Am 30. Juli 2010 entschied das französische und am 13. September durch eine zweite er- Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel), setzt, die »alle illegalen Siedlungen, egal, wer dass das Gesetz über die Haft vor der Anklage- sie bewohnt«, einbezieht. Indes blieben Be- erhebung (garde à vue) verfassungswidrig ist, fürchtungen bestehen, dass Roma ausgegrenzt weil es den Inhaftierten nicht das Recht auf Ver- und zu Opfern von Zwangsräumungen und teidigung garantiert, wie etwa wirksamen Bei- Vertreibungen werden könnten. Im September 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen stand durch einen Anwalt sowie die Unterrich- legte die Regierung dem Parlament einen Ge- tung über das Recht zu schweigen. Das Ge- setzesvorschlag vor, mit dem die Ausweisung richt legte in seiner Entscheidung indes fest, von Ausländern erleichtert werden soll, einge- 000835 dass das Gesetz bis zum 1. Juli 2011 in Kraft schlossen auch EU-Bürger, die »ihr Recht auf bleiben solle. Noch strengere Bestimmungen, einen kurzen Aufenthalt missbrauchen«, in- anwendbar auf Personen, die verdächtigt wer- dem sie Frankreich immer wieder verlassen den, an terrorismusähnlichen Handlungen, und neu einreisen. schwerem organisiertem Verbrechen oder Im August äußerte sich der UN-Ausschuss für Drogenhandel beteiligt zu sein, wurden nicht die Beseitigung von Rassendiskriminierung vom Verfassungsgericht überprüft. (CERD) besorgt über diskriminierende politi- Ein späterer Vorschlag zur Veränderung des sche Reden. Er äußerte auch Besorgnis in Be- Systems der Haft vor der Anklageerhebung, zug auf die Zunahme rassistischer Gewalt ge- der nicht sämtliche menschenrechtlichen Be- gen Roma und die Schwierigkeiten, mit denen denken ausräumen konnte, wurde im Oktober Fahrende konfrontiert sind, wenn sie ihr Recht von der Regierung verabschiedet. Wenige Tage auf Freizügigkeit und ihr Wahlrecht ausüben später entschied das Kassationsgericht, dass wollen sowie hinsichtlich ihres Zugangs zu Bil- das gesamte System der Haft vor der Anklage- dung und angemessenem Wohnraum. erhebung ungesetzlich sei, einschließlich der Im Oktober entschied das Verfassungsge- Bestimmungen für Personen, die verdächtigt richt, dass ein im September vom Parlament werden, an terrorismusähnlichen Handlun- verabschiedetes Gesetz, welches in der Öffent- gen, schwerem organisiertem Verbrechen oder lichkeit das Tragen von Kleidung verbietet, die Drogenhandel beteiligt zu sein. das Gesicht verdeckt, die Persönlichkeitsrechte nicht unverhältnismäßig einschränkt. Dane-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ben stellte es indes auch fest, dass das Verbot

160 Frankreich nicht für öffentliche Gotteshäuser gelten im Gewahrsam gefoltert und auf andere könne. Das Gesetz gab Anlass zu Befürchtun- Weise misshandelt wurden. Es kam zu gen, dass das Verbot die Rechte auf freie Mei- einer zweiten Verhaftungswelle, die in nungsäußerung und Religion von Frauen verlet- einem Hochverratsprozess gegen acht zen könnte, die die Burka oder den Nikab als prominente Männer gipfelte. Die Ange- Ausdruck ihrer Identität oder ihres Glaubens klagten wurden in einem äußerst unfai- tragen wollen. ren Verfahren zum Tode verurteilt.

Amnesty International: Mission und Bericht Willkürliche Festnahmen und Haft  Vertreterinnen von Amnesty International besuchten Frank- Nach zahlreichen Festnahmen im November reich im September und Oktober. 2009 kam es im März 2010 zu einer erneuten  France: Briefing to the UN Committee against Torture, April Verhaftungswelle. Sie richtete sich gegen ehe- 2010 (EUR 21/002/2010) malige Regierungsbeamte, denen Hochverrat vorgeworfen wurde bzw. der Versuch, die Re- gierung zu destabilisieren. Insgesamt wurden mehrere hundert ehemalige Beamte, Armeeof- fiziere und Zivilpersonen festgenommen. Der Mehrheit der Inhaftierten wurden Besuche von Anwälten und Verwandten verweigert. Die Gambia Haftbedingungen waren so hart, dass sie grau- samer, unmenschlicher und erniedrigender Amtliche Bezeichnung: Republik Gambia Behandlung gleichkamen. Staats- und Regierungschef: Yahya Jammeh Die Polizei, der NIA und die Armee nahmen Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft nach wie vor Menschen willkürlich fest und in- Einwohner: 1,8 Mio. haftierten sie. Sie verstießen damit gegen gam- Lebenserwartung: 56,6 Jahre bisches Recht. Die Festgenommenen wurden Kindersterblichkeit (m/w): 123/ 109 pro 1000 in offiziellen Haftzentren wie dem Zentralge- Lebendgeburten fängnis Mile 2, der Zentrale des NIA und in Alphabetisierungsrate: 45,3% Hafteinrichtungen der Polizei festgehalten.

Die Regierung beschränkte weiterhin die politische Freiheit, unterdrückte das Recht auf freie Meinungsäußerung und verübte Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Angehörige des gambischen Geheimdienstes (National Intelligence Agency – NIA), der Armee, der Polizei und dubioser Milizen, die dem Präsidenten nahestanden und unter den Namen »Ninjas«, »Drug Boys« und »Jon- gleure« bekannt waren, nahmen ver- meintliche Regierungsgegner ohne recht- liche Grundlage fest und hielten sie in Haft. Dazu zählten Menschenrechtsver- teidiger, Journalisten und ehemalige Angehörige der Sicherheitsdienste. Es gingen Berichte ein, wonach Personen

Gambia 161 Diese waren überfüllt, und es herrschten un- vor dem Gerichtshof der Wirtschaftsgemein- hygienische Zustände. Sie wurden aber auch in schaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) die geheime Hafteinrichtungen gebracht, wie Ka- mündliche Verhandlung des Falls von Musa sernen, Lagerhäuser, geheime Trakte von Poli- Saidykhan statt, des ehemaligen Chefredak- zeiwachen und Polizeiwachen in entlegenen teurs der Zeitung The Independent. Die Zei- Gebieten. tung war bis zu ihrem Verbot im Jahr 2006 in der gambischen Hauptstadt Banjul erschie- Todesstrafe nen. Musa Saidykhan machte vor dem Ge- Ende 2010 sollen sich mindestens 20 Men- richtshof geltend, dass er gefoltert worden sei, schen in den Todeszellen befunden haben. Es nachdem Angehörige der staatlichen Sicher- gab keine Berichte über Hinrichtungen. Die heitsdienste 2006 in die Verlagsräume einge- letzte bekannte Hinrichtung fand in den drungen waren, die Zeitung geschlossen und 1980er-Jahren statt. Im Oktober wurde die die Mitarbeiter festgenommen hatten. Nach Strafe für Drogenbesitz verschärft. Für den seiner Freilassung war er nach Senegal geflüch- Besitz von mehr als 250 gr Kokain oder Heroin tet. 2009 hatte der Gerichtshof der ECOWAS droht jetzt die Todesstrafe. entschieden, den Fall trotz eines Einspruchs Acht der im März festgenommenen Männer der gambischen Regierung zu verhandeln. wurden im Juli wegen Hochverrats zum Tode  Der Journalist Chief Ebrima Manneh, der für verurteilt. Das Urteil erging nach einem Pro- den Daily Observer gearbeitet hatte und 2006 zess, der in keiner Weise fairen Standards festgenommen worden war, blieb trotz eines entsprach und in dessen Verlauf Angeklagte 2008 vom Gerichtshof der ECOWAS gefällten und Zeugen gefoltert wurden. Man warf den Urteils »verschwunden«. Der Gerichtshof hatte Männern vor, einen Putsch geplant und hierfür die Regierung Gambias angewiesen, Chief Waffen, Munition, Ausrüstung und Söldner Ebrima Manneh freizulassen und seiner Familie 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen aus Guinea beschafft zu haben. Bei den Verur- eine Entschädigung zu zahlen. Die Regierung teilten handelte es sich um den ehemaligen und die Polizei bestritten weiterhin, ihn in Ge- Oberbefehlshaber der Armee, Lang Tombong wahrsam zu halten. 000835 Tamba, den ehemaligen Chef des Geheim- dienstes, Lamin Bo Badjie, den ehemaligen Menschenrechtsverteidiger stellvertretenden Polizeichef, Modou Gaye, Es herrschte nach wie vor ein Klima der Angst, den Brigadegeneral Omar Bun Mbaye, den nachdem Präsident Yahya Jammeh im Jahr ehemaligen NIA-Agenten und späteren stell- 2009 Drohungen gegen Menschenrechtsvertei- vertretenden Botschafter von Gambia in Gui- diger geäußert hatte. nea-Bissau, Gibril Ngorr Secka, den ehemali-  Der nigerianische Staatsangehörige Edwin gen Kommandanten der Kanilai-Kaserne, Nebolisa Nwakaeme, Direktor der gambi- Oberstleutnant Kawsu Camara, sowie um die schen Menschrechtsorganisation Africa in De- Zivilisten Abdoulie Joof und Yousef Ezziden. mocracy and Good Governance, wurde am 22. Februar 2010 von der gambischen Einwan- Recht auf freie Meinungsäußerung derungsbehörde festgenommen, drei Tage Das Recht auf freie Meinungsäußerung blieb später freigelassen und am 1. März erneut fest- 2010 weiterhin stark eingeschränkt. Journalis- genommen. Im März klagte man ihn wegen ten waren Drohungen und Schikanen ausge- »Verbreitung von Falschinformationen« an und setzt, wenn sie Artikel schrieben, in denen die stellte ihn vor Gericht. Das im September ver- Behörden in ungünstigem Licht dargestellt wur- hängte Urteil lautete auf sechs Monate Gefäng- den, oder wenn man ihnen vorwarf, derartige nis mit Zwangsarbeit. Informationen an die Medien weitergegeben zu  Gambische Sicherheitskräfte nahmen am haben. 11. Oktober 2010 die beiden Menschenrechts-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht  In der nigerianischen Hauptstadt Abuja fand verteidigerinnen Dr. Isatou Touray und Amie

162 Gambia Bojang-Sissoho fest. Sie wurden wegen Dieb- Binnenvertriebenen war deren Situation stahls angeklagt und in das Zentralgefängnis jedoch weiterhin nicht zufriedenstellend. Mile 2 gebracht, das für seine harten Haftbe- dingungen und die Misshandlung von Gefange- Hintergrund nen bekannt ist. Die beiden Frauen arbeiten Die Kommunalwahlen im Mai 2010 wurden von für das Gambische Komitee gegen traditionelle internationalen Beobachtern zwar positiv be- Praktiken, die die Gesundheit von Frauen und wertet, gleichzeitig gingen jedoch Berichte ein, Kindern beeinträchtigen (Gambia Committee wonach einige Oppositionskandidaten schika- on Traditional Practices Affecting the Health of niert und eingeschüchtert worden waren. Im Women and Children). Die Organisation sah Oktober wurden Verfassungsänderungen be- sich in der Vergangenheit bereits mehrfach schlossen, die im Jahr 2013 in Kraft treten sol- Schikanen ausgesetzt. len. Sie sehen vor, die Machtbefugnisse des Präsidenten erheblich einzuschränken und die Amnesty International: Berichte Befugnisse des Ministerpräsidenten und der  Gambia: Human rights defender detained in Gambia Regierung auszuweiten. (AFR 27/002/ 2010) In und um Abchasien und Südossetien, jenen  Gambia: Amnesty international calls for investigation of hu- Regionen Georgiens, die sich 2008 nach dem man rights violations committed by security forces and for Krieg zwischen Russland und Georgien für un- freedom of expression to be guaranteed (AFR 27/003/ 2010) abhängig erklärt hatten, herrschte nach wie  Gambia: »Freedom Day« in The Gambia is a travesty vor eine angespannte Situation. Die im Rahmen (AFR 27/005/ 2010) des Waffenstillstandsabkommens vereinbar- ten Gespräche, die im selben Jahr in Genf be- gonnen hatten, wurden nicht weiter fortge- führt. Im Juni gab es Berichte über Schießereien, Tötungen und Brandstiftungen in der Region Gali in Abchasien. Zivilpersonen litten weiterhin Georgien unter Schikanen und der unsicheren Lage in der Region. Amtliche Bezeichnung: Georgien Staatsoberhaupt: Micheil Saakaschwili Nachwirkungen des bewaffneten Regierungschef: Nikolos Gilauri Konflikts Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Es gab 2010 keine nennenswerten Fortschritte Einwohner: 4,2 Mio. bei der Untersuchung der während des Kriegs Lebenserwartung: 72 Jahre im August 2008 und unmittelbar danach be- Kindersterblichkeit (m/w): 39 / 33 pro 1000 gangenen Verletzungen der international ver- Lebendgeburten brieften Menschenrechte und des humanitären Alphabetisierungsrate: 99,7%

Es bestand weiterhin Anlass zur Besorg- nis, weil die Untersuchungen der Ver- stöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die während des Kriegs zwischen Geor- gien und Russland im August 2008 und unmittelbar danach begangen wurden, nur schleppend vorankamen. Trotz eini- ger Fortschritte bei den Bemühungen um Unterbringung und Integration der

Georgien 163 Völkerrechts. Auch blieben die Verbrechen lang andauernder Haft nahmen in der zweiten weiterhin weitgehend ungeahndet. Im Septem- Jahreshälfte ab. ber stellte der Menschenrechtskommissar des Die Überwachungsmission der EU (EU Moni- Europarats fest, bei der Aufklärung des Schick- toring Mission) war die einzige verbliebene in- sals der seit dem Krieg vermissten Personen ternationale Überwachungsgruppe, die über hätten alle Seiten »schwerwiegende Fehler« ge- ein Mandat verfügte, das sich auf den Konflikt macht. Der Bericht kritisierte auch das offen- bezog. Die De-facto-Behörden verweigerten ihr sichtliche Versagen der georgischen Behörden, jedoch den Zugang zu Südossetien und Ab- das Schicksal von drei ossetischen Männern chasien. wirksam zu untersuchen, deren Spuren sich angeblich auf von Georgien kontrolliertem Ter- Binnenvertriebene ritorium im Oktober 2008 verloren. Die Regierung unternahm Schritte, um die Le-  Im März 2010 wurden sechs ossetische Män- bensbedingungen der Vertriebenen zu verbes- ner freigelassen, bei denen es sich um von sern, indem sie z. B. einige der ärmlichsten Un- den georgischen Behörden nach dem Krieg terkünfte renovierte und den Vertriebenen Ei- festgehaltene Gefangene handelte. Die De- gentumsrechte übertrug. Einige der instandge- facto-Behörden von Südossetien entließen im setzten Sammelunterkünfte und der neu er- Mai sechs Personen. Der Menschenrechts- richteten Siedlungen entsprachen jedoch nicht kommissar des Europarats forderte die Behör- den internationalen Standards für angemesse- den auf, auch die restlichen in der Stadt nes Wohnen, da sie nicht über ausreichende Zchinwali Inhaftierten freizulassen, die wäh- Wasserversorgung, sanitäre Grundversorgung rend und nach dem Konflikt in Südossetien und andere grundlegende Versorgungseinrich- festgenommen worden waren, da sich ihr Ge- tungen verfügten. Die Integration der Vertrie- sundheitszustand Berichten zufolge ver- benen kam nur langsam voran. Viele hatten 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen schlechtert hat. weiterhin Probleme bei der Arbeitssuche und  Am 26. Juli 2010 wurde Timur Tskhovrebov, beim Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Sozi- ein öffentlich bekannter Journalist und Vertre- alleistungen. 000835 ter der Zivilgesellschaft, in der südossetischen Zwischen Juni und August 2010 wurden rund Stadt Zchinwali von einer rund zehnköpfigen 500 Vertriebene in der georgischen Haupt- Gruppe angegriffen. Er trug eine Stichwunde stadt Tiflis Opfer rechtswidriger Zwangsräu- am Hals davon sowie einen gebrochenen Fin- mungen. Die Räumungen verstießen gegen ger und andere Verletzungen an Gesicht und internationale Standards, und in mehreren Fäl- Körper. Vier Tage zuvor hatte Boris Chochiev, len versorgten die Behörden die Betroffenen ein ranghoher Vertreter der De-facto-Behörden weder mit Ersatzunterkünften, noch gewährten von Südossetien, das Georgisch-Ossetische sie ihnen Entschädigungen. Im August ver- Bürgerforum (Georgian-Ossetian Civic Forum) fügte die Regierung, die Zwangsräumungen in den Niederlanden, an dessen Treffen Timur würden so lange ausgesetzt, bis neue Leitli- Tskhovrebov teilgenommen hatte, als verräte- nien in Bezug auf Wohnraum verabschiedet risch und schädlich für die Interessen Südos- worden seien. Die Leitlinien wurden im Okto- setiens verurteilt. Ende 2010 war noch keine ber fertiggestellt. gründliche Untersuchung des Angriffs einge- leitet worden. Polizei und Sicherheitskräfte  In Georgien und in Südossetien wurden wei- Im September gab der Europäische Ausschuss terhin Zivilpersonen wegen »illegaler Über- zur Verhinderung von Folter und unmenschli- querung« der administrativen Grenzlinie – der cher oder erniedrigender Behandlung oder De-facto-Grenze zwischen Georgien und Süd- Strafe bekannt, bei der Verhinderung von ossetien, die infolge des Kriegs entstanden war Misshandlungen durch die Polizei während der

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht – festgenommen und inhaftiert. Die Fälle von Untersuchungshaft seien gewisse Fortschritte

164 Georgien zu verzeichnen. Es gab jedoch weiterhin Be- Amnesty International: Missionen und Berichte denken hinsichtlich Misshandlungen während  Delegierte von Amnesty International besuchten Georgien der Festnahme und auf den Polizeirevieren. in den Monaten Mai und August.  Am 24. September 2010 wurde ein Gesetz In the waiting room: Internally displaced people in Georgia verabschiedet, das der Polizei neue Befug- (EUR 56/002/ 2010)  Georgia: Civil society activists at risk in South Ossetia nisse verlieh, um verdächtige Personen anzu- (EUR 56/004/ 2010) halten und zu durchsuchen. Mehrere georgi-  Thousands forcibly evicted in Georgia (EUR 56/005/ 2010) sche Menschenrechtsorganisationen äußerten  Adequate housing for internally displaced remains a concern Bedenken gegen das Gesetz, da es weder die (EUR 56/006/ 2010) genauen Umstände definiert, unter denen die Polizei diese Befugnisse nutzen kann, noch den Zeitraum, wie lange eine Person auf der Grundlage dieser Befugnisse festgehalten werden kann. Ermittlungen, die sich auf Vorfälle während Ghana Protestkundgebungen gegen den Präsidenten zwischen April und Juli 2009 bezogen, wurden Amtliche Bezeichnung: Republik Ghana nicht weitergeführt. Berichten zufolge waren Staats- und Regierungschef: die Demonstrierenden von der Polizei und un- John Evans Atta Mills bekannten maskierten Männern schikaniert, Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft eingeschüchtert und verprügelt worden. Einwohner: 24,3 Mio.  Die Regierung unternahm nichts, um gegen Lebenserwartung: 57,1 Jahre Polizeibeamte, die Berichten zufolge am 6. Mai Kindersterblichkeit (m/w): 119 / 115 pro 1000 2009 in rücksichtsloser Art und Weise Aufprall- Lebendgeburten geschosse auf Demonstranten abgefeuert und Alphabetisierungsrate: 65,8% dabei mehrere Menschen verletzt hatten, Er- mittlungen aufzunehmen und sie vor Gericht Die Bedrohung des Rechts auf freie Mei- zu stellen. nungsäußerung nahm im Jahr 2010 zu.  Die Einzelheiten einer internen Untersu- Tausende Menschen wurden Opfer chung des Innenministeriums in Bezug auf mutmaßlich exzessive Gewaltanwendung durch Polizeibeamte am 15. Juni 2009 wurden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Dabei ging es um die gewaltsame Auflösung einer friedlichen Demonstration vor dem Polizeipräsi- dium von Tiflis.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen In Tiflis und Gori wurden die ersten staatlich fi- nanzierten Zufluchtstätten für Opfer familiärer Gewalt eröffnet. Im März 2010 verabschiedete das Parlament das »Gesetz zur Gleichberech- tigung der Geschlechter«, um Diskriminierung in den Bereichen Erwerbsarbeit, Bildung, Ge- sundheit und Sozialsystem sowie in der Familie zu bekämpfen.

Ghana 165 rechtswidriger Zwangsräumungen oder Schrecken« beschuldigt. Eine Freilassung auf waren nach wie vor von Zwangsräumung Kaution lehnte das Bezirksgericht Accra ab, so bedroht. Die Justiz arbeitete auch wei- dass sie in Polizeigewahrsam bleiben musste. terhin nur langsam, und die Gefängnisse Der Gerichtshof für Menschenrechte in Accra waren überfüllt und schlecht ausgestat- gewährte im November schließlich ihre Freilas- tet. Gewalt gegen Frauen war nach wie sung gegen Kaution, und ihr Prozess wurde vor weit verbreitet. auf 2011 vertagt.

Hintergrund Polizei und Sicherheitskräfte Präsident Jahn Atta Mills rief im Januar 2010 Immer wieder wurden Personen länger als ge- einen Verfassungsprüfungsausschuss ins Le- setzlich zulässig in Polizeigewahrsam gehal- ben, um öffentliche Konsultationen zur Verfas- ten. Die Zellen waren überfüllt und in schlech- sung von 1992 durchzuführen. Im Laufe des tem hygienischem Zustand, und häufig waren Berichtsjahrs gingen über 60000 Eingaben aus Inhaftierte bei der Versorgung mit Nahrung und der Bevölkerung ein. Wasser auf Familienmitglieder angewiesen. Im Februar, März und April kamen bei gewalt-  Im Februar 2010 starben zwei Personen in tätigen Auseinandersetzungen zwischen ver- einer Polizeizelle in Ashiamang, einem Vorort schiedenen Gruppierungen innerhalb einer von Tema. In einer Zelle für 20 Personen waren ethnischen Gemeinschaft im Distrikt Bunkpu- 52 Personen untergebracht. rugu/Yunyoo in der Region Nord mindestens  Im September 2010 wurden in Tema mindes- fünf Personen ums Leben, und mehr als 300 tens zwei Personen getötet und 15 schwer ver- Häuser wurden niedergebrannt. Tausende letzt, als gemeinsame Einheiten von Militär und flüchteten aus ihren Behausungen, einige da- Polizei scharfe Munition, Gummigeschosse und von über die Grenze nach Togo. Bei erneuten Tränengas gegen Personen einsetzten, die ge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gewalttätigen Konflikten zwischen verschiede- gen die Zerstörung ihrer Ladenlokale protestier- nen Bevölkerungsgruppen in Bawku in der Re- ten. Es wurden keine Ermittlungen eingeleitet. gion Upper East des Landes wurden im Mai  Im Oktober 2010 brannten Militär und Polizei- 000835 mindestens fünf Personen getötet und mehrere kräfte im Dorf Nankpanduri in der Region Nord Häuser niedergebrannt. Die fortdauernde Ge- etwa 19 Häuser und Geschäfte nieder. Mehrere walt hinderte Einheimische daran, ihrer norma- Personen wurden durch Schüsse oder Schläge len Tätigkeit in Landwirtschaft und Handel der Sicherheitskräfte verletzt. Diese waren auf nachzugehen, was wiederum zu einer Nah- der Suche nach einem entflohenen Gefange- rungsmittelknappheit führte, so dass etwa nen, der zwei Polizisten getötet hatte. 2000 Familien auf Lebensmittelhilfe angewie- sen waren. Justizwesen Der Zugang zu rechtlichem Beistand war unzu- Recht auf freie Meinungsäußerung reichend, und einige Häftlinge mussten über Das Recht auf freie Meinungsäußerung war zehn Jahre auf ihren Prozess warten, auch 2010 zunehmend in Gefahr. Mindestens sechs wenn der Anteil von Untersuchungshäftlingen Personen wurden wegen der »Verbreitung von abzunehmen begann. Die Gefängnisse waren Angst und Schrecken« festgenommen, inhaf- überbelegt und unzureichend ausgestattet. tiert oder strafrechtlich verfolgt.  Im Oktober wurde Amina Mohammad festge- Todesstrafe nommen, nachdem sie in einem lokalen Ra- Im Berichtsjahr wurden 17 Personen zum Tod diosender in der Ortschaft Tema gesagt hatte, durch Erhängen verurteilt, alle wegen Mordes. dass es einen bewaffneten Überfall und eine Ende 2010 befanden sich insgesamt 123 Perso- Vergewaltigung in einem Bus gegeben habe. nen in den Todeszellen, darunter drei Frauen.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Sie wurde der »Verbreitung von Angst und Hinrichtungen fanden nicht statt.

166 Ghana Recht auf Wohnen rendes System für den Umgang mit Asyl- Tausende wurden mit Gewalt aus ihren Häu- suchenden. Die unzureichenden Haft- sern vertrieben. Zwangsräumungen erfolgten bedingungen in den Grenzkontrollstellen ohne entsprechende vorherige Rücksprache, sowie in den Hafteinrichtungen für Zu- Inkenntnissetzung, angemessene Entschädi- wanderer gaben unvermindert Anlass zu gung oder Bereitstellung von Ersatzunterkünf- Besorgnis. Es kam vermehrt zu gewalt- ten. Tausenden von Menschen drohte die tätigen rassistischen Übergriffen gegen rechtswidrige Zwangsräumung. Migranten und Asylsuchende.  Im Mai 2010 wurden fast 2000 Personen aus ihren Unterkünften im Slum Abinkyi in Kumasi Hintergrund vertrieben. Die Bewohner waren nur zwei Wo- Die schwere Finanzkrise Griechenlands hatte chen vorher informiert worden und erhielten zur Folge, dass das Land 2010 ein Rettungs- keine Ersatzunterkünfte oder Entschädigungen paket mit der EU, dem Internationalen Wäh- angeboten. rungsfonds und der Europäischen Zentral-  Im Juli 2010 wurden etliche Personen im bank vereinbaren musste. Im Mai verabschie- Slum Abuja in Accra Opfer von Zwangsräu- dete das Parlament einschneidende Haus- mungen. Die Bewohner waren erst zwei Tage haltskürzungen, die zu einer Reihe von Gewerk- zuvor darüber informiert worden, zudem wur- schaftsdemonstrationen vor und nach der Ver- den ihnen weder eine Entschädigung noch abschiedung führten. Bei einer Demonstration Ersatzunterkünfte angeboten. gegen die Sparmaßnahmen in Athen kamen am 5. Mai drei Bankangestellte ums Leben, Amnesty International: Mission und Bericht nachdem Unbekannte einen Brandsatz in die  Delegierte von Amnesty International besuchten Ghana Bank geworfen hatten. im November. Bewaffnete oppositionelle Gruppen verübten  Thousands facing forced eviction in Ghana weiterhin Bombenattentate. Im Juni kam bei (AFR 28/006/ 2010) der Explosion einer Paketbombe im Ministe- rium für Öffentliche Ordnung in Athen ein Se- kretär des Ministers ums Leben. Ebenfalls im Juni wurde ein griechischer Journalist in Athen von bewaffneten Angreifern getötet. Im November wurden mehrere Paketbomben, die an ausländische Botschaften in Griechen- Griechenland land, das Parlament, internationale Organisa- tionen sowie europäische Staats- und Regie- Amtliche Bezeichnung: Hellenische Republik Staatsoberhaupt: Karolos Papoulias Regierungschef: Giorgos Andrea Papandreou Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 11,2 Mio. Lebenserwartung: 79,7 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 97%

Die Berichte über exzessive Gewaltan- wendung und Misshandlungen durch Polizeibeamte rissen nicht ab. Griechen- land besaß weiterhin kein funktionie-

Griechenland 167 rungschefs gerichtet waren, von den Behör- dereinsatzkräfte im Zusammenhang mit der den entdeckt und unschädlich gemacht. Erschießung des 15-jährigen Alexis Gregoro- Im März trat ein neues Gesetz in Kraft, das es poulos im Dezember 2008 wegen vorsätzli- Kindern von Migranten ermöglichen würde, chen Totschlags schuldig gesprochen und zu die griechische Staatsangehörigkeit zu bekom- lebenslanger Haft verurteilt. Ein zweiter Beam- men, falls sie bestimmte Kriterien erfüllten. ter der Sondereinsatzkräfte wurde der Beteili- gung an vorsätzlichem Totschlag für schuldig Folter und andere Misshandlungen befunden und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Es gab Berichte über den willkürlichen und ex- Am Ende seines Besuchs im Oktober forderte zessiven Einsatz von Tränengas und anderen der UN-Sonderberichterstatter über Folter das Chemikalien sowie über exzessiven Gewaltein- Land auf, das Fakultativprotokoll zum UN-Über- satz gegen Protestierende bei Demonstratio- einkommen gegen Folter zu ratifizieren und nen. ein unabhängiges und wirksames Organ für Po-  Zu exzessiver Gewaltanwendung gegenüber lizeibeschwerden einzurichten. Im Dezember friedlichen Demonstrierenden kam es laut Be- sah ein Gesetzentwurf die Einrichtung einer richten bei den Gedenkmärschen zum zweiten Dienststelle vor, die sich mit Vorfällen willkürli- Jahrestag des Todes von Alexis Gregoropoulos chen Polizeiverhaltens befassen soll. Bedenken am 6. Dezember 2010. Dem Vernehmen nach hinsichtlich der Unabhängigkeit und der Wirk- musste sich eine Reihe von Demonstrierenden samkeit der vorgeschlagenen Dienststelle blie- im Krankenhaus behandeln lassen, darunter ben jedoch bestehen. etwa 45 Personen, die Kopfwunden und an- dere Verletzungen aufwiesen, sowie 30 weitere Flüchtlinge und Migranten Personen, die unter den Auswirkungen des Die Haftbedingungen in den Grenzkontrollstel- übermäßigen Einsatzes von Tränengas und len und in den Hafteinrichtungen für Zuwan- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen anderen Chemikalien litten. Berichten zufolge derer erfüllten 2010 weiterhin nicht die notwen- sollen Angehörige der Bereitschaftspolizei digen Standards. Zu den Mängeln zählten einen Bildjournalisten und einen Fotografen, Überbelegung, lange Haftzeiten in Einrichtun- 000835 die über die Ereignisse berichteten, geschlagen gen, die nicht für Daueraufenthalte angelegt und verletzt haben. waren, mangelnde Hygiene, fehlende Möglich- Die Berichte über Misshandlungen durch Be- keiten zur sportlichen Betätigung sowie unzu- amte mit Polizeibefugnissen rissen nicht ab, reichender oder eingeschränkter Zugang zu dazu zählten auch Misshandlungen von Perso- medizinischer Versorgung. nen, die besonders schutzbedürftigen Grup- Die Zahl der Migranten ohne regulären Auf- pen angehörten, wie etwa inhaftierte Asylsu- enthaltsstatus und der Asylsuchenden, die in chende und Migranten ohne regulären Auf- der Region Evros auf dem Landweg über die enthaltsstatus. türkisch-griechische Grenze kamen, stieg be-  Es gab Vorwürfe, mehrere Migranten ohne trächtlich an. Im Oktober forderte der UN- regulären Aufenthaltsstatus und Asylsu- Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) die chende, die am 16. August 2010 an der Grenz- griechische Regierung auf, umgehend Schritte kontrollstelle Soufli festgenommen worden wa- einzuleiten, um den humanitären Erfordernis- ren, seien schwer geschlagen worden. Die Fest- sen in der Region Evros gerecht zu werden. genommenen hatten sich über ihre schlech- Notwendig seien u. a. der Einsatz von ausrei- ten Haftbedingungen beklagt. Zwei Tage da- chend Personal sowie Sofortmaßnahmen, um nach sollen drei von ihnen verprügelt worden grundlegende Standards der Menschenwürde sein, nachdem die Inhaftierten am Tag nach in den Hafteinrichtungen zu gewährleisten. Es den ersten Misshandlungen in den Hunger- gab Anlass zur Sorge, dass die Europäische streik getreten waren. Agentur für die operative Zusammenarbeit an

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht  Im Oktober 2010 wurde ein Beamter der Son- den EU-Außengrenzen (FRONTEX) am 2. No-

168 Griechenland vember eine schnelle Eingreiftruppe für den Diskriminierung Grenzschutz in der Region stationierte. Es kam Berichten zufolge vermehrt zu gewalttä- Es gab in Griechenland weiterhin kein funktio- tigen rassistischen Übergriffen gegen Migran- nierendes System für den Umgang mit Asylsu- ten und Asylsuchende, vor allem in Athen. Im chenden. Ende 2010 wurden lange aufgescho- Athener Stadtviertel Agios Panteleimon soll die bene Reformen allmählich umgesetzt. Im Sep- Polizei die Opfer nicht vor solchen Übergriffen tember bezeichnete der UN-Hochkommissar geschützt haben. für Flüchtlinge die Situation Asylsuchender in Griechenland als »humanitäre Krise« und Roma drängte die griechischen Behörden, die Re- In einer im Mai veröffentlichten Stellungnahme form des Asylverfahrens voranzutreiben. Euro- beanstandete der Europäische Ausschuss für päische Staaten, die an der Dublin-II-Verord- Soziale Rechte, dass Griechenland Artikel 16 nung beteiligt waren, verschärften die humani- der Europäischen Sozialcharta verletzt habe, täre Krise in Griechenland noch weiter, indem nachdem er festgestellt hatte, dass eine be- sie unvermindert Asylsuchende dorthin ab- trächtliche Zahl von Roma-Familien weiterhin schoben. unter Bedingungen lebte, die nicht einmal Im November trat der vorläufige Präsidialer- den Mindeststandards entsprachen. Der Aus- lass über Asylentscheidungsverfahren (Präsi- schuss monierte auch, dass Roma nach wie vor dialerlass 114 / 2010) in Kraft. Damit konnten von Zwangsräumungen bedroht waren und Entscheidungen der ersten Instanz in Asylver- nicht in ausreichendem Maße Zugang zu fahren und anderen Verfahren über Ansprüche Rechtshilfe hatten. auf internationalen Schutz wieder angefochten  Im Fall Georgopoulos und andere gegen Grie- werden. Zugleich wurden vorläufige Bestim- chenland stellte der UN-Menschenrechtsaus- mungen über den Umgang mit dem enormen schuss im September fest, dass Griechenland Rückstau an anhängigen Asylanträgen erlas- gegen den Internationalen Pakt über bürgerli- sen, die sich dem Vernehmen nach auf fast che und politische Rechte verstoßen hatte. In 47000 belaufen sollen. Dem Erlass zufolge soll dem Fall ging es um den Abriss des Hauses die Polizei auch weiterhin für die erste Über- einer Roma-Familie im Jahr 2006 sowie die Ver- prüfung von Asylanträgen zuständig sein. Kos- hinderung eines Neubaus in der Roma-Sied- tenlose Rechtshilfe erhielten nach wie vor nur lung im Riganokampos-Viertel der Stadt Patras. Asylsuchende, die vor dem Staatsrat Rechts- NGOs äußerten sich besorgt über das Ver- mittel einlegten. säumnis der griechischen Behörden, das Ur- Im Dezember wurde dem Parlament ein Ge- teil des Europäischen Gerichtshofs für Men- setzentwurf zur Schaffung einer neuen Be- schenrechte im Fall Sampanis gegen Grie- hörde für Asylentscheidungsverfahren vorge- chenland aus dem Jahr 2008 umzusetzen. legt, der ausschließlich zivile Mitarbeiter ange- Dem Vernehmen nach blieben Roma-Kinder, hören sollen. Das Gesetz sah überdies die darunter auch die Kläger, weiterhin im Bil- Schaffung von Erstaufnahmezentren vor und dungssystem ausgegrenzt, und es wurden versuchte, die Rückführungsrichtlinie der EU in keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, um die griechisches Recht umzusetzen. Es gab u. a. Schulanmeldungen von Roma-Kindern zu er- Bedenken hinsichtlich der Höchstdauer der höhen oder dafür zu sorgen, dass sie vollstän- Abschiebehaft, die in dem Gesetzesentwurf dig ins Bildungssystem integriert wurden. vorgesehen war. In Athen traten mehrere Asylsuchende in den Haftbedingungen Hungerstreik, um gegen die langen Verzöge- Das ganze Jahr über trafen Berichte über rungen bei der Bearbeitung ihrer Asylanträge schlechte Haftbedingungen und Überbele- zu protestieren. gung in zahlreichen Gefängnissen ein. Im De- zember 2010 lehnten dem Vernehmen nach

Griechenland 169 ungefähr 8000 Gefangene in ganz Griechen- 2009, weitere Notunterkünfte für Frauen be- land Mahlzeiten ab, während etwa 1200 Inhaf- reitzustellen, die Opfer von Menschenhandel tierte in den Hungerstreik traten. Sie forderten oder familiärer Gewalt wurden, gab es dem u. a. bessere Haftbedingungen und Maßnah- Vernehmen nach nur zwei betriebsfähige staat- men gegen die Überbelegung. liche Frauenhäuser, die 38 Bewohnerinnen aufnehmen konnten. Gleichzeitig konnte auf- Kriegsdienstverweigerer aus grund mangelnder Finanzierung nur eine Gewissensgründen NGO-Einrichtung zum Schutz von Frauen, die Im September 2010 trat ein neues Gesetz über Opfer von Menschenhandel geworden waren, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus ihren Betrieb aufrechterhalten. Gewissensgründen in Kraft. Darin wurde die Dauer des Zivildiensts etwas verkürzt und die Arbeiternehmerrechte Reserveverpflichtung für Kriegsdienstverweige- Es gab weiterhin Bedenken, ob die strafrechtli- rer abgeschafft. Die maximale Länge des Zivil- chen Ermittlungen bezüglich des Angriffs auf diensts kam jedoch weiterhin einer Bestrafung Konstantina Kuneva sorgfältig genug gewesen gleich, da sie das Doppelte des normalen Mili- waren, und dem Verfahren drohte erneut die tärdiensts betrug. Auch die reduzierte Zivil- endgültige Einstellung. Ende 2010 ordnete der dienstdauer, die jeweils im Ermessen des Ver- Staatsanwalt an, die Ermittlungen hinsichtlich teidigungsministers liegt, wird von der großen des Angriffs würden mit Ermittlungen über die Mehrheit der Wehrpflichtigen wohl weiterhin Arbeitsbedingungen in Reinigungsfirmen ver- als strafend empfunden. bunden, was bedeutete, dass das Verfahren Es kam nach wie vor zur mehrfachen Strafver- weitergeführt würde. Die Gewerkschaftsführe- folgung von Kriegsdienstverweigerern aus Ge- rin Konstantina Kuneva hatte am 22. Dezember wissensgründen. 2008 schwere Verletzungen erlitten, als sie in 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Im Februar 2010 bestätigte das Militärische Athen von unbekannten Männern mit Schwe- Berufungsgericht in Athen die Verurteilung felsäure attackiert worden war. des Berufssoldaten Giorgos Monastiriotis we- 000835 gen Fahnenflucht durch das Marinegericht Pi- Amnesty International: Missionen und Berichte räus und verhängte eine fünfmonatige Haft-  Eine Delegierte von Amnesty International besuchte Grie- strafe auf Bewährung. Giorgos Monastiriotis chenland im April und im Oktober.  hatte sich im Jahr 2003 unter Berufung auf Ge- The Dublin II Trap: Transfers of asylum-seekers to Greece wissensgründe geweigert, seiner Einheit zu (EUR 25/001/ 2010)  Stop forced evictions of Roma in Europe (EUR 01/005/2010) folgen, als diese in den Irak-Krieg abkomman-  Greece: Irregular migrants and asylum seekers routinely de- diert wurde. tained in substandard conditions (EUR 25/002/2010) Menschenhandel Im August 2010 wurde das Gesetz 3875 / 2010 verabschiedet, das u. a. das UN-Palermo-Pro- tokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestra- fung des Menschenhandels aus dem Jahr 2000 umsetzen soll. Es enthielt positive Ergän- zungen, so sollen z. B. die Opfer von Men- schenhandel Schutz und Unterstützung erhal- ten, unabhängig davon, ob sie an der straf- rechtlichen Verfolgung der mutmaßlichen Men- schenhändler mitwirken, wenn sie zuvor be- stimmte Anforderungen erfüllt haben.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Trotz der Ankündigung der Regierung im Jahr

170 Griechenland ungerechtfertigt gewesen seien. Es wur- Großbritannien den weiterhin Abschiebungen in den Irak vorgenommen. Amtliche Bezeichnung: Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II. Folter und Misshandlungen Regierungschef: David Cameron Im Juli 2010 kündigte Premierminister David (löste im Mai Gordon Brown im Amt ab) Cameron an, man werde eine Kommission Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft einrichten, um die Beteiligung Großbritanniens Einwohner: 61,9 Mio. an der mutmaßlichen Misshandlung von Per- Lebenserwartung: 79,8 Jahre sonen zu untersuchen, die in anderen Ländern Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 6 pro 1000 im Zuge von Antiterrormaßnahmen durch An- Lebendgeburten gehörige ausländischer Geheimdienste inhaf- tiert worden waren. Das dreiköpfige Gremium Es wurde eine Untersuchung der Vor- unter der Leitung des Beauftragten für die würfe angekündigt, wonach Großbritan- Nachrichtendienste werde seine Arbeit 2011 nien an Folter und anderen Menschen- aufnehmen. Zivilgesellschaftliche Gruppen und rechtsverletzungen beteiligt war, die an Menschenrechtsorganisationen äußerten Häftlingen in anderen Ländern begangen Zweifel, ob die Untersuchungskommission mit wurden. Zentrale Befugnisse im Zusam- ausreichenden Befugnissen ausgestattet sei menhang mit der Terrorismusbekämp- und über die nötige Unabhängigkeit verfüge. fung wurden auf den Prüfstand gestellt. Zeitgleich veröffentlichte die Regierung Leitli- Die Regierung versuchte weiterhin, Men- nien für die Angehörigen der Geheimdienste schen auf der Grundlage »diplomati- bezüglich Festnahmen und Verhören von inhaf- scher Zusicherungen« in Länder abzu- tierten Personen im Ausland sowie zum Aus- schieben, in denen Folter üblich war. Es tausch von Informationen über die Inhaftierten traten weiterhin Vorwürfe über Men- zwischen den Geheimdiensten. Menschen- schenrechtsverstöße britischer Soldaten rechtsorganisationen erklärten, die Leitlinien im Irak zutage. Die Untersuchungskom- seien nicht mit internationalen Menschen- mission zu den Vorfällen in Nordirland rechtsstandards vereinbar. am 30. Januar 1972, als 13 Menschen Im Juli entschied der High Court of Justice, von britischen Soldaten erschossen wur- dass eine Reihe von Dokumenten im Zusam- den (Bloody Sunday), stellte in ihrem Ab- menhang mit der geheimen Inhaftierung von schlussbericht fest, dass die Schüsse britischen Staatsbürgern und in Großbritan- nien wohnhaften Personen durch US-amerika- nische und andere ausländische Geheim- dienste offengelegt werden müsse. Die Doku- mente, die bislang als geheim eingestuft wa- ren, enthielten weitere Beweise dafür, dass Großbritannien an Menschenrechtsverletzun- gen beteiligt war und dass dies selbst auf höchster Regierungsebene bekannt war. Im November erklärte der Justizminister, die Regierung habe sich mit 16 Guantánamo- Häftlingen (britischen Staatsangehörigen bzw. in Großbritannien wohnhaften Bürgern) auf einen finanziellen Ausgleich geeinigt. Die Be- troffenen hatten in einer Zivilklage Foltervor-

Großbritannien 171 würfe gegen die britischen Geheimdienste er- (control orders); das verdachtsunabhängige hoben. Einzelheiten des Vergleichs wurden Anhalten und Durchsuchen von Personen ge- nicht bekanntgegeben. mäß Absatz 44 des Antiterrorgesetzes; das  Am 10. Februar 2010 ordnete das Berufungs- Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung gericht für England und Wales (Court of Ap- (Regulation of Investigatory Powers Act 2000) peal) die Freigabe von sieben zuvor geheim ge- sowie den Zugang zu Kommunikationsdaten; haltenen Absätzen eines CIA-Berichts an, in die Abschiebungen auf der Grundlage »diplo- denen es um die Behandlung des Guantánamo- matischer Zusicherungen«; die Maßnahmen Häftlings ging. Die offenge- zum Umgang mit Organisationen, die Hass legten Passagen bestätigten, dass der britische oder Gewalt propagieren; und die Inhaftierung Geheimdienst von der Folter und Misshandlung von Terrorverdächtigen vor der Anklageerhe- Binyam Mohameds im US-amerikanischen bung. Gewahrsam Kenntnis hatte. Am 17. November  Im April 2010 erklärte die Regierung, dem al- erklärte die Staatsanwaltschaft (Crown Prosecu- gerischen Staatsangehörigen Lotfi Raissi stün- tion Service), es gebe keine hinreichenden Be- den Entschädigungsleistungen zu. Die Erklä- weise, um einen Angehörigen des britischen rung erfolgte acht Jahre nachdem ein Gericht Inlandsgeheimdienstes strafrechtlich zu verfol- zu dem Schluss gekommen war, für die gegen gen, der Binyam Mohamed am 17. Mai 2002 ihn erhobene Beschuldigung gebe es »keine in der Haft in Pakistan verhört hatte. Beweise«. Lotfi Raissi war fälschlicherweise Umfassendere Untersuchungen zu mutmaß- eine Beteiligung am Terrorangriff vom 11. Sep- lichen Straftaten von Angehörigen der briti- tember 2001 vorgeworfen worden. schen Sicherheitsdienste waren Ende 2010 noch nicht abgeschlossen. Dies betraf auch Überwachungsverfügungen den Fall von Shaker Aamer, der vor seiner Fest- 2010 traten gegen acht Personen, bei denen es 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen nahme viele Jahre in Großbritannien gelebt sich um britische Staatsbürger handelte, soge- hatte. Zum Jahresende war er noch immer nannte Überwachungsverfügungen in Kraft ohne Anklageerhebung in Guantánamo Bay (Stand 10. Dezember). Dieses Instrument war 000835 inhaftiert, obwohl die britischen Behörden öf- 2005 im Rahmen des Gesetzes zur Vorbeugung fentlich erklärt hatten, ihn wieder ins Land zu gegen den Terrorismus (Prevention of Terro- lassen. rism Act 2005) eingeführt worden. Es stattete die Regierungsmitglieder mit der Befugnis Rechtliche Entwicklungen aus, vorbehaltlich einer richterlichen Überprü- Am 12. Januar 2010 erklärte der Europäische fung Verfügungen zu erlassen, die die Bewe- Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Be- gungsfreiheit und Betätigungsmöglichkeiten fugnisse der Polizei gemäß Absatz 44 des Anti- terrorismusverdächtiger Personen erheblich terrorgesetzes aus dem Jahr 2000 (Terrorism einschränkten. Im März verlängerte das Parla- Act 2000) für rechtswidrig. Nach Ansicht des ment diese Maßnahme um ein weiteres Jahr. Gerichts verletzt die Befugnis, Personen ver-  Im Juni entschied das Oberste Berufungsge- dachtsunabhängig anzuhalten und zu durchsu- richt (Supreme Court) im Fall einer Person, die chen, das Recht auf Schutz der Privatsphäre. mit A. P. bezeichnet wurde, dass die gegen sie Die Regierung kündigte daraufhin an, es wür- verhängte Überwachungsverfügung gegen den keine Durchsuchungen mehr unter Be- das Recht auf Freiheit verstoße. Der Betref- zug auf diese Bestimmungen stattfinden. fende musste auf Grundlage einer Überwa- Im Juli kündigte das Innenministerium an, chungsverfügung in einer fast 200 Kilometer man werde sechs zentrale Befugnisse im Zu- vom Wohnort seiner Familie entfernten Stadt sammenhang mit der Terrorbekämpfung einer leben und unterlag einer täglichen Ausgangs- »unverzüglichen Überprüfung« unterziehen: sperre von 16 Stunden, was zu sozialer Isola-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht die sogenannten Überwachungsverfügungen tion führte.

172 Großbritannien  Im September stärkte der High Court in da ihnen bei ihrer Rückkehr Folter oder an- einem ähnlichen Fall die Bedeutung der Fami- dere Misshandlungen drohen könnten. Vertrau- lienrechte. Das Gericht entschied im Falle einer liche Zusicherungen stellten nach Ansicht der mit C. A. bezeichneten Person, der Zwangs- Berufungskommission keinen hinreichenden umzug in eine andere Stadt sei nicht gerecht- Schutz dar, um dieses Risiko zu mindern. fertigt, da damit sein Recht auf Familienleben  Der erste Fall, der sich auf eine von Äthiopien in unzulässiger Weise beeinträchtigt werde. und der britischen Regierung abgeschlossene  Am 26. Juli befand der High Court, dass die Absichtserklärung bezog, wurde zurückgewie- Regierung ihre Überwachungsverfügung ge- sen. Im September befand die SIAC, der äthio- gen eine als A. Y. bezeichnete Person mit den- pische Staatsbürger X. X. könne aufgrund der selben Dokumenten begründen könne, die Zusicherung der äthiopischen Regierung, bereits in einem erfolglosen Strafverfahren vor- man werde ihn human behandeln, in sein Hei- gebracht worden waren. matland abgeschoben werden. X. X. hatte ar- gumentiert, in Äthiopien drohe ihm Folter. Es Abschiebungen wurden Rechtsmittel gegen die Entscheidung Auch 2010 versuchten die Behörden, Perso- angekündigt. nen, die mutmaßlich eine Gefahr für die »na- tionale Sicherheit« darstellten, in Länder abzu- Justizsystem schieben, in denen ihnen Folter und andere Die Regierung unternahm weiterhin Anstren- Misshandlungen drohten. Im Mai erklärte die gungen, um eine stärkere Geheimhaltung in neue Regierung, sie werde die Praxis der »di- Gerichtsverfahren zu erreichen. Am 4. Mai plomatischen Zusicherungen« fortführen und 2010 entschied das Berufungsgericht, die Re- weiter ausbauen, da diese ausreichend seien, gierung dürfe sich in den Zivilklagen, die sechs um die Gefahr von Folter zu reduzieren. ehemalige Guantánamo-Häftlinge wegen mut- Die Verfahren zur Anfechtung solcher Ab- maßlicher Beteiligung britischer Staatsbediens- schiebungen vor der Berufungskommission teter an ihrer Folterung angestrengt hatten, für Einwanderungsfragen (Special Immigration nicht auf Geheimdokumente beziehen. Eine Appeals Commission – SIAC) erfüllten 2010 Vorgehensweise, bei der die britische Regie- weiterhin nicht die Standards für faire Verfah- rung ohne entsprechende gesetzliche Ermäch- ren – insbesondere deshalb nicht, weil sie sich tigung geheime Unterlagen in nichtöffentli- auf geheime Dokumente bezogen, in die weder chen Sitzungen vorlegen könne, stelle eine Ver- die Betroffenen noch ihre Rechtsbeistände letzung des Grundrechts auf ein faires Verfah- Einsicht erhielten. ren dar. Der Fall war Ende des Jahres noch vor  Obwohl die SIAC im Jahr 2007 festgestellt dem Obersten Berufungsgericht anhängig. hatte, dass der algerische Staatsangehörige Im Juli kündigte die Regierung an, sie wolle Mouloud Sihali keine Gefahr für die nationale Vorschläge zum Umgang mit Geheimdienst- Sicherheit darstelle, betrieb die Regierung wei- material in Gerichtsverfahren veröffentlichen. terhin seine Abschiebung nach Algerien. Im  Am 6. Oktober 2010 wurden die Ermittlungen März lehnte die SIAC seine Beschwerde gegen zum Fall Azelle Rodney aufgenommen, der am die Abschiebung mit der Begründung ab, die 30. April 2005 von Angehörigen der Londoner »diplomatischen Zusicherungen« Algeriens an Metropolitan Police erschossen worden war. die britische Regierung reichten aus, um even- Die Regierung hatte versucht, zentrale Beweis- tuelle Risiken bei seiner Ankunft im Heimat- stücke in diesem Fall als geheim zu klassifizie- land abzuwenden. Ende des Jahres war der Fall ren. Auch hatte sie im Zusammenhang mit zwei vor dem Berufungsgericht anhängig. Gesetzen den Vorschlag gemacht, bei Todes-  Im Mai entschied die SIAC, dass die Abschie- fällen mit mutmaßlicher Beteiligung von Staats- bung von zwei pakistanischen Staatsangehöri- bediensteten solle die Anhörung zur Feststel- gen nach Pakistan ausgesetzt werden müsse, lung der Todesursache unter Ausschluss der

Großbritannien 173 Öffentlichkeit stattfinden. Dies wurde vom Par- Im Dezember 2010 wies der High Court einen lament in beiden Fällen abgelehnt. Doch blie- gemeinsamen Antrag von 142 irakischen ben im Fall Azelle Rodney Befürchtungen be- Staatsbürgern zurück. Sie hatten eine umfas- stehen, die Öffentlichkeit könne von der Anhö- sende öffentliche Untersuchung aller mut- rung ausgeschlossen werden. maßlichen Fälle von Folter und anderen Miss-  Am 3. November 2010 erklärte die Leiterin handlungen in britischen Haft- und Verhör- des amtlichen Untersuchungsverfahrens zu zentren im Südirak zwischen März 2003 und den Terroranschlägen in London am 7. Juli Dezember 2008 gefordert. Das Gericht schloss 2005, sie sei nicht befugt, die Angehörigen der jedoch die Möglichkeit einer solchen Untersu- Opfer von der Anhörung auszuschließen, um so chung in Zukunft nicht aus. Es wurden die Vorlage geheimer Unterlagen zu ermögli- Rechtsmittel gegen die Entscheidung angekün- chen. Ein von der Regierung gegen die Ent- digt. scheidung eingelegtes Rechtsmittel wurde am 22. November abschlägig beschieden. Internationale Strafverfolgung Im November 2010 legte die Innenministerin Britische Streitkräfte im Irak dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der Im März stellte der EGMR fest, dass Großbritan- Maßnahmen enthielt, die es im Falle einer Ver- nien im Fall der beiden irakischen Staatsange- abschiedung Richtern erschweren würden, hörigen Faisal Attiyah Nassar Al-Saadoon und Haftbefehle gegen mutmaßliche Kriegsverbre- Khalaf Hussain Mufdhi gegen Artikel 3 der Eu- cher und Folterer auszustellen, die Großbritan- ropäischen Menschenrechtskonvention versto- nien besuchten. ßen hat. Die Iraker waren ungeachtet des be- gründeten Verdachts, dass ihnen in ihrem Her- Polizei und Sicherheitskräfte kunftsland Todesstrafe und Hinrichtung droh-  Im Juli 2010 erklärte die Staatsanwaltschaft, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ten, an die irakischen Behörden überstellt wor- im Zusammenhang mit dem Tod von Ian Tom- den. linson werde keine Anklage erhoben. Tomlinson Im März kündigte das Verteidigungsministe- war im April 2009 bei Demonstrationen aus 000835 rium die Einrichtung eines Gremiums an, um Anlass des G20-Gipfels in London gestorben, mutmaßliche Straftaten von britischen Soldaten kurz nachdem ihn ein Polizeibeamter mit im Zusammenhang mit der Misshandlung ira- einem Schlagstock angegriffen und zu Boden kischer Staatsbürger zu untersuchen (Iraq His- gestoßen hatte. Da sich die mit dem Fall be- toric Allegations Team). Die Untersuchung be- fassten Ärzte nicht auf die Todesursache eini- gann im November und soll voraussichtlich gen konnten, betrachtete die Staatsanwalt- zwei Jahre dauern. schaft die Aussicht auf eine Verurteilung des Im Juni stellte das Oberste Berufungsgericht betreffenden Polizisten als unrealistisch. fest, dass das Menschenrechtsgesetz von  Im August 2010 kündigte die Staatsanwalt- 1998 nicht auf Angehörige der britischen Streit- schaft an, gegen vier Beamte der Londoner kräfte während eines Auslandseinsatzes anzu- Metropolitan Police würde Anklage erhoben wenden sei. wegen Körperverletzung im Zusammenhang  Bei der Untersuchung zum Tod des iraki- mit der Festnahme von Babar Ahmad am 2. De- schen Zivilisten Baha Mousa wurde im Okto- zember 2003. ber 2010 die mündliche Anhörung abgeschlos- sen. Dabei ging es um die Umstände, unter Nordirland denen Baha Mousa im September 2003 in Im Februar 2010 wurde mitgeteilt, dass drei pa- einem von britischen Streitkräften geführten ramilitärische Gruppen ihre Waffen abgege- Haftlager ums Leben kam, nachdem britische ben hätten, darunter die Irish National Libera- Soldaten ihn 36 Stunden lang gefoltert hatten. tion Army. Doch ging von paramilitärischen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Der Abschlussbericht wurde für 2011 erwartet. Gruppen weiterhin Gewalt aus: So verübten re-

174 Großbritannien publikanische Splittergruppen schwere An- Beteiligung staatlicher Organe an seiner Er- griffe auf Angehörige der Sicherheitskräfte und mordung einzuleiten. andere Ziele. Im Mai kam es in zu einer Tötung, die einer loyalistischen Gruppe zuge- Flüchtlinge, Asylsuchende schrieben wurde. und Migranten Am 15. Juni 2010 veröffentlichte die Kommis- Im Juli 2010 befand das Oberste Berufungsge- sion zur Untersuchung des als Bloody Sunday richt, man könne von Asylsuchenden nicht in die Geschichte eingegangenen 30. Januar verlangen, ihre sexuelle Identität im Herkunfts- 1972 ihren Abschlussbericht. Damals waren land zu verbergen, um einer Verfolgung zu bei einer Demonstration in Nordirland 13 Bür- entgehen. Damit wurde ein Urteil des Beru- gerrechtler von britischen Soldaten erschos- fungsgerichts aufgehoben, das entschieden sen und ebenso viele verletzt worden. Die Kom- hatte, die Rückführung von Asylbewerbern, die mission gelangte zu dem Schluss, dass die sich auf ihr Recht auf sexuelle Identität berie- Getöteten und Verletzten in keiner Weise für die fen, sei zulässig, solange die Situation im Her- Schüsse mitverantwortlich gewesen seien. kunftsland »einigermaßen auszuhalten« sei. Von keinem sei eine tödliche Gefahr oder die Im August wandte sich das Berufungsgericht Gefahr einer schweren Verletzung ausgegan- an den Europäischen Gerichtshof mit der gen. Der Bericht bestätigte auch, dass einige Frage, ob die Rückführung von Asylsuchenden der Opfer auf der Flucht in den Rücken ge- nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II- schossen worden seien und dass zahlreiche Verordnung mit der Rechtslage bezüglich Soldaten den Vorfall wissentlich falsch darge- Flüchtlingen und Menschenrechten vereinbar stellt hätten. Das Vorgehen der britischen Sol- sei. Die britischen Behörden bestätigten im daten an diesem Tag sei ungerechtfertigt ge- September, bis zur Entscheidung des Ge- wesen. Als Reaktion auf den Bericht entschul- richtshofs würden alle Überstellungen nach digte sich der britische Premierminister im Na- Griechenland ausgesetzt. men der Regierung und des Landes für die Ta- Großbritannien schob entgegen der Empfeh- ten. lung des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge Im Dezember kündigte die nordirische Regie- (UNHCR) 2010 Personen in den Irak ab. rung an, sie wolle eine Untersuchungskom-  Am 12. Oktober 2010 starb der Angolaner mission zum Missbrauch von Kindern in Hei- Jimmy Mubenga bei dem Versuch, ihn in sein men in der Vergangenheit einrichten. Heimatland abzuschieben. Laut Zeugenaussa-  Im September 2010 wurde der Abschlussbe- gen wurde er vor dem Start des Flugzeugs von richt der Untersuchung zum Tod von Billy Bediensteten einer privaten Sicherheitsfirma so Wright vorgelegt, der 1997 im Maze-Gefängnis lange zu Boden gedrückt, bis er keine Luft vor zwei ebenfalls dort Inhaftierten erschossen mehr bekam. worden war. Die Untersuchungskommission Im Dezember bekräftigte der britische Vize- fand keinen Beweis für eine Beteiligung staat- premierminister die Absicht der Regierung, licher Organe an seinem Tod, sprach sich aber Kinder abgelehnter Asylbewerber in Zukunft für eine umfassende Reform des Strafvollzugs nicht mehr in Haftzentren unterzubringen. aus. Die Abschlussberichte zu den Morden an Das Vorgehen soll bis spätestens Mai 2011 ein- Robert Hamill und der Menschenrechtsanwäl- gestellt sein. tin Rosemary Nelson lagen Ende 2010 noch nicht vor. Gewalt gegen Frauen  Auch mehr als 20 Jahre nach dem gewaltsa- Anlass zur Besorgnis bot die Tatsache, dass das men Tod des bekannten Menschenrechtsan- Europäische Übereinkommen gegen Men- walts Patrick Finucane im Jahr 1989 hatte die schenhandel nur unzureichend umgesetzt Regierung ihre Zusage nicht eingelöst, eine wurde. Die britische Regierung hatte weder unabhängige Untersuchung zum Vorwurf der die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zum

Großbritannien 175 Schutz von Kindern getroffen, die Menschen- händlern zum Opfer gefallen waren, noch Be- Guatemala stimmungen zur eindeutigen Identifizierung der Opfer von Menschenhandel erlassen. Dies Amtliche Bezeichnung: Republik Guatemala führte dazu, dass Menschenrechte der Opfer Staats- und Regierungschef: verletzt und strafrechtliche Verfolgungen unter- Álvaro Colom Caballeros graben wurden. Todesstrafe: nicht abgeschafft Im Juli 2010 sagte die Innenministerin zu, ein Einwohner: 14,4 Mio. Pilotprojekt zur Unterstützung von Opfern fa- Lebenserwartung: 70,8 Jahre miliärer Gewalt, die als Migrantinnen aufgrund Kindersterblichkeit (m/w): 45 / 34 pro 1000 ihres unsicheren Aufenthaltsstatus keinen Zu- Lebendgeburten gang zu Leistungen der öffentlichen Hand ha- Alphabetisierungsrate: 73,8% ben, bis März 2011 zu verlängern. Gleichzeitig werde nach einer dauerhaften Lösung zu ihrem Gewalt gegen Frauen war nach wie vor Schutz gesucht. weit verbreitet. Den staatlichen Behör- Am 25. November 2010 veröffentlichte die Re- den gelang es nicht, die Rechte der gierung einen Nationalen Aktionsplan zur Um- indigenen Bevölkerungsgruppen zu setzung der Resolution 1325 des UN-Sicher- garantieren. Der Mehrheit der Opfer heitsrats über Frauen, Frieden und Sicherheit, des internen bewaffneten Konflikts die gewährleisten soll, dass beim Umgang mit (1960– 96) blieb Gerechtigkeit ver- Konflikten die Gleichberechtigung von Frauen wehrt. Menschenrechtsverteidiger wa- angemessen berücksichtigt wird. ren auch 2010 Einschüchterungen aus- gesetzt. Amnesty International: Missionen und Berichte 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Delegationen von Amnesty International nahmen das Hintergrund gesamte Jahr über an verschiedenen Gerichtsverfahren Von den häufig begangenen Gewaltverbrechen in England teil. waren 2010 fast alle Bevölkerungsgruppen be- 000835  Time for an inquiry into the UK’s role in human rights troffen. Im Juni wurden die Köpfe enthaupteter violations overseas since 11 September 2001 Personen auf dem Gelände des Kongressge- (EUR 45/ / 001/ 2010) bäudes und im Umkreis anderer Wahrzeichen  Submission to the UK Government Consultation on »A Bill of Rights for – Next Steps« der Hauptstadt aufgefunden. Sie waren dort (EUR 45/ / 002/ 2010) Berichten zufolge von Straßenbanden platziert  United Kingdom: Court of Appeal rules that secret procedures worden. violate fair trial rights in civil proceedings Im Oktober verabschiedete der Kongress ein (EUR 45/ / 003/ 2010) Gesetz, das die Vollstreckung der Todesstrafe  United Kingdom: Proposed torture inquiry must be indepen- wieder ermöglicht hätte. Der Präsident legte je- dent, impartial and thorough (EUR 45/ / 005/ 2010) doch sein Veto ein. Im Dezember stimmte  United Kingdom: Bloody Sunday inquiry vindicates the Guatemala für die Resolution der UN-General- innocence of victims (EUR 45/ / 008/ 2010)  United Kingdom: Disclosed documents further demonstrate urgent need for an effective inquiry into the UK’s role in the torture and ill-treatment of detainees held in overseas custody (EUR 45/ / 011/2010)  United Kingdom: Five years on: Time to end the control orders regime (EUR 45/ / 012/ 2010)  United Kingdom: Submission for the review of counter- terrorism and security powers (EUR 45/ /015/2010)  Open Secret: Mounting evidence of Europe’s complicity in rendition and secret detention (EUR 01/ / 023/ 2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

176 Guatemala versammlung für ein weltweites Hinrichtungs- lungsprojekten, die deren Leben und Lebens- moratorium. grundlagen beeinträchtigen könnten, sicherzu- Korruption war nach wie vor weit verbreitet. stellen. Die staatlichen Institutionen blieben anfällig Ebenfalls im Mai forderte die IACHR Guate- für die Beeinflussung durch das organisierte mala auf, die Arbeiten in der Goldmine Mar- Verbrechen. Im Juni trat Carlos Castresana, lin 1 im Departamento San Marcos einzustellen, der Leiter der UN-gestützten Internationalen die Wasserquellen zu entgiften, ein Programm Kommission zur Bekämpfung der Straflosig- zur Gesundheitsversorgung zu starten und das keit in Guatemala (Comisión Internacional Con- Leben und die physische Unversehrtheit von tra la Impunidad – CICIG) von seinem Amt zu- 18 Maya-Gemeinden sicherzustellen. Trotz der rück. Anlass war die Ernennung eines General- Zusage des Präsidenten, der Aufforderung staatsanwalts, dem Verbindungen zum organi- nachzukommen, war die Mine zum Jahresende sierten Verbrechen nachgesagt wurden. Drei noch immer in Betrieb. Tage später annullierte das Verfassungsgericht Im Juni kam der UN-Sonderberichterstatter das Auswahlverfahren. Bis zur Durchführung über die Situation der Menschenrechte und eines neuen Auswahlverfahrens wurde eine Grundfreiheiten der Angehörigen indigener Be- Generalstaatsanwältin auf Interimsbasis er- völkerungsgruppen zu dem Schluss, dass die nannt. fehlende Absprache mit den vom Bergbau be- troffenen Gemeinden sowie Unklarheiten über Gewalt gegen Frauen Landrechte die Hauptursachen der Konflikte Laut Angaben des Amts der Ombudsperson zwischen Bergbaugesellschaften und indige- für Menschenrechte wurden im Jahr 2010 nen Gemeinschaften seien. 565 Frauen getötet. Damit stieg die Gesamtzahl der seit 2004 getöteten Frauen auf mindestens Öffentliche Sicherheit 4400. Es handelte sich dabei zumeist um Ver- Gewaltkriminalität und Bandengewalt waren brechen, die in früheren Jahren begangen wor- nach wie vor weit verbreitet. Nach Angaben den waren. Im September 2010 nahmen die der Ombudsperson für Menschenrechte ver- Sondergerichte (Tribunales Especiales), die im loren im Laufe des Berichtsjahrs 5960 Perso- Rahmen des 2008 verabschiedeten Gesetzes nen infolge von Verbrechen ihr Leben. gegen den Femizid eingerichtet worden waren, Im August 2010 stellte die Staatsanwaltschaft, ihre Arbeit in Guatemala-Stadt auf. unterstützt von der CICIG, Haftbefehle gegen  Im Oktober 2010 entschied die Interamerika- 19 Personen aus, darunter ein ehemaliger In- nische Menschenrechtskommission (IACHR), nenminister und ein ehemaliger Polizeidirek- im Fall der im Jahr 2005 ermordeten 19-jähri- tor. Ihnen wird die Beteiligung an außergericht- gen Jurastudentin Claudina Velásquez eine lichen Hinrichtungen von Gefangenen in den Anhörung zu veranlassen. Fünf Jahre nach Jahren 2005 und 2006 zur Last gelegt. Bis zum ihrem Tod war noch niemand dafür zur Verant- Jahresende waren neun dieser Personen ver- wortung gezogen worden, und es gab weiter- haftet worden. Gegen vier Personen, die sich im hin Anlass zur Besorgnis hinsichtlich der Ausland aufhielten, wurden Auslieferungsan- Effektivität der Ermittlungen über die Todes- träge gestellt oder Gerichtsverfahren in die umstände. Wege geleitet.

Rechte der indigenen Bevölkerung Straflosigkeit Im Mai 2010 empfahl der UN-Ausschuss für die Die große Mehrheit der in die Tausende gehen- Beseitigung der Rassendiskriminierung eine den dokumentierten Fälle von Menschen- neue Gesetzgebung, um die freiwillige und in rechtsverletzungen, die während des bewaffne- Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zu- ten Konflikts 1960 – 96 begangen worden wa- stimmung der indigenen Völker zu Entwick- ren, blieb unaufgeklärt. Die vom Präsidenten im

Guatemala 177 Jahr 2008 gegebene Zusicherung, alle sich manipuliert, so dass sie vorübergehend die auf den Konflikt beziehenden militärischen Ar- Kontrolle über ihr Fahrzeug verlor. chive freizugeben und öffentlich zugänglich zu machen, wurde nicht eingehalten. Amnesty International: Mission  Im Verfahren gegen den ehemaligen Präsi-  Vertreter von Amnesty International besuchten Guatemala im denten General Ríos Montt und andere militä- Juli. rische und polizeiliche Führungskräfte der frü- hen 1980er-Jahre wegen schwerer Menschen- rechtsverletzungen wurden 2010 keine Fort- schritte erzielt, da das Verteidigungsministe- rium der Anordnung eines guatemaltekischen Gerichts zur Aushändigung von Dokumenten nicht nachkam. Guinea  Im Mai 2010 wurde Gilberto Jordán, der einem guatemaltekischen Sondereinsatzkom- Amtliche Bezeichnung: Republik Guinea mando als Soldat angehört hatte, in den USA Staatsoberhaupt: Alpha Condé festgenommen. Laut US-Justizministerium ge- (löste Sékouba Konaté im Dezember ab) stand er, an dem im Jahr 1982 verübten Massa- Regierungschef: Mohamed Sa¨ıd Fofana ker in der Ortschaft Dos Erres beteiligt gewe- (löste im Dezember Jean-Marie Doré ab, der im sen zu sein, bei dem 250 indigene Männer, Januar auf Kabiné Komara gefolgt war) Frauen und Kinder getötet worden waren. Er Todesstrafe: nicht abgeschafft sagte auch aus, dass er als Erstes ein Baby ge- Einwohner: 10,3 Mio. tötet habe, indem er es in den Dorfbrunnen Lebenserwartung: 58,9 Jahre warf. Im September wurde er zu zehn Jahren Kindersterblichkeit (m/w): 157 / 138 pro 1000 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Gefängnis verurteilt, weil er seine Beteiligung Lebendgeburten an dem Massaker in seinem Antrag auf Ertei- lung der US-amerikanischen Staatsbürger- Auch 2010 wurden den Sicherheitskräf- 000835 schaft verschwiegen hatte. ten Folter und andere Misshandlungen  Im Oktober 2010 wurden die ehemaligen Po- vorgeworfen. Zahlreiche Guineer wurden lizeibeamten Héctor Roderico Ramírez Ríos willkürlich festgenommen und inhaf- und Abraham Lancerio Gómez wegen des »Ver- tiert. Bei einigen handelte es sich um ge- schwindenlassens« des Gewerkschafters Fer- waltlose politische Gefangene. Nie- nando García im Jahr 1984 zu 40 Jahren Ge- mand wurde für die Verbrechen gegen fängnis verurteilt. die Menschlichkeit, die bei den Aus- schreitungen im September 2009 began- Menschenrechtsverteidiger gen worden waren, strafrechtlich be- 2010 dokumentierten Menschenrechtsorgani- langt. Im November 2010 brachen in sationen 305 gegen Menschenrechtsverteidi- Guinea im Zusammenhang mit den ger gerichtete Fälle von Einschüchterung, Dro- strittigen Wahlergebnissen gewaltsame hungen und Angriffen, darunter acht Tötun- Unruhen aus. gen. Für die Mehrzahl dieser und früher began- gener Verbrechen zogen die Behörden nie- Hintergrund manden zur Rechenschaft. Der im Dezember 2009 ernannte Übergangs- Mitarbeiter von UDEFEGUA, einer unabhängi- präsident Sékouba Konaté gewann die Unter- gen Menschenrechtsorganisation mit Sitz in stützung der internationalen Gemeinschaft. Guatemala-Stadt, waren Zielscheibe mehrerer Diese drängte die Behörden, Präsident- Angriffe, Einschüchterungen und Drohungen. schaftswahlen abzuhalten. Mit Jean-Marie Doré

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Im Februar wurde das Auto einer Mitarbeiterin wurde im Januar ein Zivilist in das Amt des Mi-

178 Guinea nisterpräsidenten berufen, und im Februar Verbrechen im Sinne des Völkerrechts wurde eine neue Regierung ernannt. Im Mai Die zur Untersuchung der Ereignisse vom trat durch einen Erlass des Präsidenten eine 28. September 2009 eingesetzte Nationale neue Verfassung in Kraft. Untersuchungskommission legte ihre Ergeb- Vor dem Hintergrund von Vorwürfen, mit de- nisse im Februar 2010 vor. Die Kommission nen die unabhängige Wahlkommission der räumte ein, dass die Demonstrierenden gewalt- Parteilichkeit beschuldigt wurde, kam es nach tätiger Unterdrückung durch Angehörige der dem ersten Wahlgang der Präsidentschafts- Sicherheitsorgane ausgeliefert gewesen seien, wahlen im Juni 2010 zu wachsenden politi- gaben aber der »erregten Menge« sowie der schen und ethnischen Spannungen. Der schlechten Ausrüstung und der schlechten Ko- zweite Wahlgang wurde dreimal verschoben ordination der Sicherheitsorgane eine Mit- und fand schließlich im November statt. Aus schuld an den Ereignissen. Die Kommission der Wahl ging der Oppositionsführer Alpha warf zivilgesellschaftlichen Organisationen vor, Condé als Sieger hervor. Der unterlegene Kan- dass die von ihnen verbreiteten »Zahlen über didat Cellou Dalein Diallo erklärte jedoch, die Tote, Vergewaltigungen und Fälle von ›Ver- Wahl sei manipuliert gewesen, und es kam schwindenlassen‹ weit hergeholt« seien. Zum zwischen seinen Anhängern und den Sicher- Thema sexuelle Gewalt stand in dem Bericht, heitskräften zu gewaltsamen Zusammenstö- dass kein Vergewaltigungsopfer vor der Kom- ßen. Am 17. November wurde der Notstand mission ausgesagt habe und sie daher ledig- ausgerufen, mit dem auch eine Ausgangs- lich auf ärztliche Unterlagen zurückgreifen sperre verhängt und den Sicherheitskräften be- konnte. Nach Ansicht der Kommission waren sondere Befugnisse gegeben wurden. der namentlich genannte Leutnant Aboubacar Im Oktober verlängerte die EU ihre Sanktio- »Toumba« Diakité, der mutmaßliche Täter des nen gegen Guinea, darunter ein Waffenem- Mordanschlags auf den damaligen Staatspräsi- bargo und ein Einreiseverbot für Personen, die denten Moussa Dadis Camara, und seine Ein- an der gewaltsamen Unterdrückung von De- heit von »Rotkappen« für die Gewalttaten ver- monstrationen im September 2009 beteiligt ge- antwortlich. Sie forderte, die Soldaten vor gui- wesen waren. neische Gerichte zu stellen. Die Kommission empfahl eine Generalamnestie für die Verfeh- lungen führender ehemaliger Oppositionspoliti- ker, die jetzt in der Regierung sind. Die Kommission erklärte, dass auch die politi- schen Kräfte eine Mitverantwortung für die Vorfälle trügen, weil sie sich geweigert hätten, die Demonstration abzusagen, nachdem sie von den Behörden verboten worden war. Weiter erklärte die Kommission, dass die Demonstrie- renden geraubt, geplündert sowie staatliches und privates Eigentum zerstört hätten. Im Februar erklärte die stellvertretende Anklä- gerin des Internationalen Strafgerichtshofs (In- ternational Criminal Court – ICC), dass diejeni- gen, die für die in Guinea verübten Verbre- chen verantwortlich waren, nicht straffrei da- vonkommen dürften. Die Täter müssten ent- weder von den guineischen Behörden oder vom ICC vor Gericht gestellt werden. Sie fügte hinzu, dass am 28. September 2009 und da-

Guinea 179 nach Verbrechen gegen die Menschlichkeit Straße oder in ihren Wohnungen geschlagen verübt worden seien und dass der ICC seine worden. Einige wurden in Gendarmeriezentra- Voruntersuchungen fortsetzen solle. len und Polizeirevieren geschlagen. Die Behörden taten nichts, um die Personen,  Im Oktober durchkämmten Sicherheitskräfte die für Menschenrechtsverletzungen verant- mehrere Stadtteile der Hauptstadt Conakry, wortlich waren, aus ihren Ämtern zu entfernen darunter Bambeto, Koza und Hamdallaye. Fünf oder strafrechtlich zu verfolgen. In der Regie- Menschen, unter ihnen Mamadou Adama rung, die im Februar ernannt worden war, be- Diallo, wurden geschlagen und auf das Polizei- fanden sich Mitglieder der Militärjunta, die revier gebracht. Sie wurden später ohne An- schon in der vorherigen Regierung gedient hat- klageerhebung aus dem Gewahrsam entlassen. ten. Zwei ehemalige Minister, die von der In-  Aliou Barry, Präsident der nationalen Men- ternationalen Untersuchungskommission der schenrechtskommission (Observatoire natio- UN namentlich mit den Unruhen im Septem- nal de la démocratie et des droits de l’homme), ber 2009 in Verbindung gebracht worden wa- wurde im Oktober geschlagen, als er ver- ren, wurden in das vom Präsidenten gebildete suchte, in Hamdallaye eine Gruppe von Men- Kabinett berufen. Die Untersuchungskommis- schen vor Übergriffen durch Angehörige der sion hatte dem UN-Generalsekretär ihren Be- Sicherheitskräfte zu schützen. Sein linker Arm richt im Dezember 2009 vorgelegt, dieser war wurde gebrochen. Er wurde in die Gendarme- Ende 2010 jedoch noch nicht veröffentlicht riezentrale gebracht und nach ein paar Stun- worden. den in Gewahrsam ohne Anklageerhebung freigelassen. Internationale Kontrolle Im Mai wurde die Lage der Menschenrechte in Willkürliche Festnahmen und Guinea nach dem Verfahren der Universellen Inhaftierungen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) des UN- Zahlreiche Personen wurden nach den beiden Menschenrechtsrats überprüft. Guinea nahm Runden der Präsidentschaftswahlen im Juni während des Prüfungsverfahrens mehr als 100 bzw. November 2010 festgenommen und in Ka- 000835 Empfehlungen an. Das Land sagte u. a. zu, sernen sowie auf Polizeirevieren inhaftiert. Un- sämtliche mutmaßlichen Verantwortlichen für ter den Festgenommenen waren auch gewalt- außergerichtliche Hinrichtungen, Folterungen, lose politische Gefangene. Den meisten wurde Misshandlungen, Vergewaltigungen und an- anwaltlicher Beistand verwehrt. Außerdem dere gravierende Menschenrechtsverletzun- durften viele Gefangene keinen Besuch von gen zur Rechenschaft zu ziehen; es wolle Familienangehörigen erhalten und nicht medi- außerdem dafür sorgen, dass die Opfer der- zinisch versorgt werden. Einige kamen nach artiger Menschenrechtsverletzungen voll und wenigen Tagen oder Wochen frei. ganz sowie die Hinterbliebenen der Todesop- fer angemessen entschädigt und schutzbedürf- Exzessive Gewaltanwendung tige Gruppen, vor allem Frauen, besser ge- Bei Protesten und politischen Versammlungen schützt werden. Guinea äußerte jedoch Vor- wendeten die Sicherheitskräfte gegen friedli- behalte in Bezug auf neun Empfehlungen, so che Teilnehmer exzessive Gewalt an. Mindes- u. a. die Empfehlung zur Abschaffung der tens zehn Personen wurden im November auf Todesstrafe. den Straßen getötet. Angehörige der Sicher- heitskräfte töteten sie mit Schüssen in den Folter und andere Misshandlungen Kopf, den Bauch und in den Brustkorb. Auch 2010 wurden den Sicherheitskräften Fol-  Im November 2010 erschoss ein Polizist in ter und andere Misshandlungen vorgeworfen. Conakry den 18 Jahre alten Mamadou Macka Die meisten willkürlich festgenommenen Men- Diallo, der dort studierte. Der 16-jährige Schüler

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schen waren bei ihrer Festnahme auf der Abdoulaye Ba wurde von einem Angehörigen

180 Guinea der Sicherheitskräfte beim Betreten seiner Wohnung in Koza, einem Stadtteil von Cona- Guinea-Bissau kry, erschossen. Der Hafenarbeiter Abdoulaye Boubacar Diallo wurde von einem Angehöri- Amtliche Bezeichnung: Republik Guinea-Bissau gen der Sicherheitskräfte erschossen, als er da- Staatsoberhaupt: Malam Bacai Sanhá vonrannte, nachdem er gesehen hatte, wie die Regierungschef: Carlos Gomes Júnior Ordnungshüter auf Menschen schossen. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft  Nach der Verschiebung der Stichwahl setz- Einwohner: 1,6 Mio. ten Sicherheitskräfte im September und im Lebenserwartung: 48,6 Jahre Oktober 2010 exzessive Gewalt ein, um De- Kindersterblichkeit (m/w): 207 / 186 pro 1000 monstrationen von Anhängern rivalisierender Lebendgeburten Parteien auseinanderzutreiben. Die Sicher- Alphabetisierungsrate: 51% heitskräfte schossen wahllos auf unbewaffnete Zivilpersonen, schlugen Demonstrierende und Aufgrund des anhaltenden Konflikts zwi- durchsuchten Wohnungen. Dabei wurden im schen dem Militär und der zivilen Füh- Oktober mehr als 60 Menschen verletzt, davon rung war die politische Situation des mindestens 15 durch Schüsse. Ibrahim Khalil Landes nach wie vor instabil. Auseinan- Bangourah starb an den Folgen seiner Verlet- dersetzungen innerhalb der zivilen Füh- zungen. rung und Konflikte in den Reihen der Streitkräfte verstärkten diese Instabilität Amnesty International: Berichte noch. Die Spannungen erhöhten sich  Guinea: »You did not want the military, so now we are going nach einer Militärrevolte im April 2010. to teach you a lesson« (AFR 29/001/2010) Angehörige der Streitkräfte waren für  Guinea: »They ripped off my clothes with their knives and left Menschenrechtsverletzungen wie Folter me completely naked« (AFR 29/002/2010) sowie willkürliche Festnahmen und In-  Guinea: Amnesty International defends Guinea research haftierungen verantwortlich. Niemand against French Government criticism (AFR 29/004/ 2010) wurde für die politischen Morde und  Guinea: Four soldiers released: Colonel Soryba Yansané, Lieutenant Colonel David Syllah, Commander Pathio Ban- Folterungen, die 2009 begangen worden gourah and Sergeant Moussa Sylla (AFR 29/008/ 2010) waren, strafrechtlich belangt.  Guinée: Les autorités doivent mettre un terme au règne de l’impunité – Déclaration commune, ACAT /Amnesty Interna- tional (AFR 29/011/ 2010)  Guinée-Conakry: La société civile guinéenne et internationale interpelle les acteurs de la crise et les appelle à la retenue: Communiqué de Presse Conjoint (AFR 29/012/2010)  Guinea: Reform of security forces must deliver justice for Bloody Monday massacre, 23 February 2010  Guinea security forces used excessive force in election pro- tests, 24 October 2010  Guinea authorities must stop arbitrary arrests and killings, 18 November 2010

Guinea-Bissau 181 Hintergrund rechtsrats vorgelegt. Die Regierung lehnte fünf Die Regierung unterzeichnete im Januar ein Empfehlungen ab, darunter solche, in denen es Abkommen mit den USA, das eine Zusam- um eine strafrechtliche Verfolgung der von der menarbeit zwischen einem Staatsanwalt aus Armee begangenen Menschenrechtsverletzun- den USA und dem Generalstaatsanwalt von gen ging. Die Regierung sagte u. a. zu, Genital- Guinea-Bissau vorsieht, um Drogenhandel und verstümmelung möglicherweise unter Strafe zu andere Verbrechen zu bekämpfen. Bis Ende stellen. Doch soll dies erst nach einer öffentli- 2010 hatten die USA jedoch noch keinen chen Aufklärungskampagne geschehen. Staatsanwalt entsandt. Die Nationalversammlung verabschiedete im Im Februar 2010 wurden der ehemalige Mi- Mai eine Reihe von Gesetzen. Dazu zählten nister für Fischerei und drei Ministerialbeamte Gesetze über die Nationalgarde, die Sicher- wegen Veruntreuung angeklagt. Das Verfahren heitspolizei und die Geheimdienste sowie Än- war Ende des Jahres noch nicht abgeschlos- derungen am Gesetz über die Streitkräfte. sen. Offenbar war die Nationalversammlung Im September zog die Europäische Union ihre nicht bereit, die parlamentarische Immunität Mission zur Unterstützung der Reform des Si- eines der Angeklagten aufzuheben. cherheitssektors in Guinea-Bissau ab. Die Ex- Im April 2010 setzte der stellvertretende Ge- perten hatten ihre Arbeit 2008 aufgenommen. neralstabschef António Indjai den General- Die EU begründete den Abzug mit der politi- stabschef Admiral Zamora Induta ab und nahm schen Instabilität des Landes und dem man- ihn fest. General António Indjai brachte vorü- gelnden Respekt für die Rechtsstaatlichkeit. bergehend auch den Regierungschef Carlos Im November ratifizierte Guinea-Bissau das Gomes Júnior in seine Gewalt und drohte mit Internationale Übereinkommen zur Beseiti- dessen Ermordung, falls die Demonstrieren- gung jeder Form von Rassendiskriminierung den, die zur Unterstützung des Ministerpräsi- und den Internationalen Pakt über bürgerliche 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen denten auf die Straße gegangen waren, ihre und politische Rechte. Die Übereinkommen Proteste fortsetzen würden. Gleichzeitig sollen am 1. Dezember 2010 bzw. am 1.Fe- stürmten Soldaten auf Geheiß des Generals das bruar 2011 in Kraft treten. 000835 UN-Hauptquartier in der Hauptstadt Bissau und »befreiten« den ehemaligen Marinechef Straflosigkeit Vizeadmiral Bubo Na Tchuto. Bubo Na Tchuto Die Ermittlungen bezüglich der im März und war 2008 nach einem Putschversuch, als des- Juni 2009 verübten politischen Morde kamen sen Anführer er galt, nach Gambia geflüchtet. nicht voran. Es fehlte offenbar an Mitteln, um Im Dezember 2009 war er jedoch freiwillig zu- Zeugen zu befragen, die sich außer Landes rückgekehrt und hatte in dem UN-Gebäude befanden. Angehörige der Streitkräfte verübten Zuflucht gesucht. Im Oktober wurde er erneut nach wie vor Menschenrechtsverletzungen, zum Oberbefehlshaber der Marine berufen. ohne dafür strafrechtliche Konsequenzen be- Im Juni setzte Präsident Malam Bacai Sanhá fürchten zu müssen. Admiral Zamora Induta als Generalstabschef der Streitkräfte ab und ersetzte ihn durch Gene- Willkürliche Festnahmen und Haft ral António Indjai. Die Ernennung von General Sechs Armeeangehörige, unter ihnen eine Indjai und die Wiedereinsetzung von Vizeadmi- Frau, die im Zusammenhang mit der Ermor- ral Bubo Na Tchuto als Marinechef stieß im In- dung des ehemaligen Generalstabschefs Gene- und Ausland auf heftige Kritik. ral Tagme Na Waie im März 2009 festgenom- Im Mai 2010 bewertete der UN-Menschen- men worden waren, hatten 20 Monate ohne rechtsrat im Rahmen der Universellen Regel- Kontakt zur Außenwelt und ohne Anklageer- mäßigen Überprüfung (UPR) die Lage der Men- hebung in Haft verbracht, bis sie im Dezember schenrechte in Guinea-Bissau. Im September 2010 freikamen. Bis Ende des Jahres war we-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht wurde der Abschlussbericht des Menschen- der Anklage gegen sie erhoben noch ein Ge-

182 Guinea-Bissau richtsverfahren eingeleitet worden. Nach vor- chen im April zu Tode geprügelt, weil es sich liegenden Informationen untersagte man ihnen, weigerte, einen wesentlich älteren Mann zu das Land zu verlassen. heiraten. Das Mädchen, das zunächst ausgeris- Im April 2010 nahm General António Indjai sen war, um der Heirat zu entgehen, wurde den Generalstabschef der Streitkräfte, Admiral von den Frauen des Dorfs während der Hoch- Zamora Induta, fest und beschuldigte ihn, am zeitsfeierlichkeiten getötet. Der Fall wurde Verschwindenlassen von Drogen beteiligt ge- zwar an die Generalstaatsanwaltschaft überge- wesen zu sein, die bei einer Razzia beschlag- ben, Festnahmen gab es jedoch keine. nahmt worden waren. Es gab jedoch auch Be-  Im März wurden Mitglieder der evangelikalen richte, wonach die Festnahme von Admiral Kirche in der Region Tombali von Dorfbewoh- Zamora Induta in Zusammenhang mit einer nern verprügelt, weil sie ca. 20 Mädchen zwi- Untersuchung stand, die dieser im März ver- schen 14 und 16 Jahren aufgenommen hat- anlasst hatte. Darin ging es um die Beteiligung ten, die weggelaufen waren, um der Zwangs- hochrangiger Armeeoffiziere an Drogenge- heirat mit älteren Männern zu entgehen. schäften. General António Indjai nahm auch  Im August wurden in einem anderen Dorf in den Chef des militärischen Geheimdienstes, der Region Tombali ein Mädchen und zwei Oberst Samba Djaló, fest. Der General warf Frauen der Familie von männlichen Verwand- ihm vor, die Arbeit politischer Parteien behin- ten geschlagen. Das Mädchen war einem älte- dert zu haben. Die beiden Festgenommenen ren Mann zur Ehe versprochen worden. Die bei- sollen während ihrer Haft in der Kaserne von den weiblichen Familienmitglieder hatten sich Mansôa gefoltert worden sein. Das Oberste jedoch der Eheschließung widersetzt mit der Militärgericht ordnete im September an, die Begründung, dass das Mädchen noch nicht Männer gegen Auflagen freizulassen. Sie ka- volljährig sei. Trotz einer Anzeige bei der Polizei men jedoch erst Mitte Dezember 2010 frei, wurden keine Ermittlungen aufgenommen. ohne dass Anklage gegen sie erhoben worden war. Weitere Ermittlungen waren anhängig. Amnesty International: Missionen  Delegierte von Amnesty International unternahmen im März Folter und andere Misshandlungen und im Oktober Recherchereisen nach Guinea-Bissau.  Im Juli 2010 starb Fernando Té in einem Krankenhaus, nachdem er wenige Tage zuvor in Bissau von Polizisten des fünften Polizeire- viers festgenommen und geschlagen worden war. Wie aus Berichten hervorging, wurde er nach einem Streit mit einem Ladenbesitzer festgenommen und auf die Polizeiwache ge- Guyana bracht. Dort wurde er geschlagen, bevor man ihn einige Stunden später ohne Anklage wieder Amtliche Bezeichnung: freiließ. Die beteiligten Polizeibeamten wurden Kooperative Republik Guyana zwei Tage nach seinem Tod inhaftiert. Bis Staats- und Regierungschef: Bharrat Jagdeo Jahresende waren sie offenbar jedoch weder Todesstrafe: nicht abgeschafft angeklagt noch vor Gericht gestellt worden. Einwohner: 0,8 Mio. Lebenserwartung: 67,9 Jahre Gewalt gegen Frauen und Mädchen Kindersterblichkeit (m/w): 66 / 47 pro 1000 Gewalt gegen Frauen und Mädchen war 2010 Lebendgeburten nach wie vor weit verbreitet, dazu zählten auch Zwangs- und Frühverheiratungen. Mindestens eine Person wurde im Jahr  In einem Dorf in der Region Tombali im Sü- 2010 von der Polizei unter Umständen den des Landes wurde ein 15-jähriges Mäd- erschossen, die auf eine widerrechtliche

Guyana 183 Tötung schließen lassen. Indigene zeichnete den Fall als »erledigt«. Die drei ange- Gruppen konnten ihre Landrechte weiter- klagten Beamten waren Ende 2010 noch aktiv hin nur eingeschränkt wahrnehmen. im Dienst. Mindestens eine Person wurde zum Tode verurteilt, Hinrichtungen fanden jedoch Widerrechtliche Tötungen nicht statt. Im Juni 2010 wurde der 16-jährige Kelvin Fraser in der Siedlung Patientia in der Region Esse- Hintergrund quibo Islands-West Demerara von Polizisten Im September 2010 bewertete die UN die tödlich verwundet. Berichten zufolge waren er Menschenrechtssituation in Guyana im Rah- und drei andere Jugendliche vor der Polizei ge- men der Universellen Regelmäßigen Überprü- flüchtet. Diese war Beschwerden nachgegan- fung (UPR). Die Behörden unterstützten gen, wonach die Jungen Mitschülerinnen der einige der Empfehlungen des UN-Menschen- Patentia Secondary School belästigt hatten. rechtsrats, zahlreiche andere lehnten sie je- Ein Beamter griff Kelvin Fraser auf und schoss doch ab. So wollten sie sich z. B. nicht ver- ihm, bei dem Versuch ihn festzunehmen, in pflichten, eine unabhängige Untersuchung die Brust. Die Untersuchung des Vorfalls dau- einzuleiten, um den Tod von mehr als 200 Per- erte zum Jahresende noch an. sonen aufzuklären, die zwischen 2002 und 2006 von sogenannten Todesschwadronen Rechte indigener Völker getötet worden sein sollen. Im September wurden die Mitglieder der neu geschaffenen Kommission indigener Völker Folter und andere Misshandlungen (Indigenous People’s Commission) berufen. Die Das Gerichtsverfahren gegen drei Polizeibe- Kommission ist in erster Linie dafür zuständig, amte, denen vorgeworfen wird, im Oktober die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen zu 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen 2009 drei Männer, darunter einen 15-jährigen fördern und zu schützen. Sie soll außerdem Jungen, auf einer Polizeistation in Leonora ge- wirtschafts- und bildungspolitische Empfehlun- foltert und misshandelt zu haben, verlief gen geben, um die Interessen dieser Gruppen 000835 schleppend. Eines der Opfer soll eine Ent- zu unterstützen. schädigungszahlung akzeptiert haben, und ein Die Landansprüche indigener Bevölkerungs- Familienangehöriger eines weiteren Opfers be- gruppen wurden weiterhin im Rahmen des Gesetzes Amerindian Act von 2006 geprüft. Nach Angaben der indigenen Gruppen führ- ten jedoch mangelhafte Demarkationsverfahren dazu, dass die Regierung indigene Landge- biete vereinnahmte. Außerdem sei die Demar- kation in einigen Gebieten ohne die freie, auf vorheriger Information basierende Zustimmung der Betroffenen erfolgt.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen Das Ausmaß an Gewalt gegen Frauen und Mäd- chen war 2010 unverändert hoch. Nach Anga- ben des UN-Entwicklungsfonds für Frauen (United Nations Development Fund for Wo- men – UNIFEM) wurde jede vierte Frau Opfer physischer Gewalt durch ihren Partner. Im April verabschiedete die Nationalver-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht sammlung das Gesetz zu Sexualverbrechen

184 Guyana (Sexual Offences Act). Darin wird Vergewalti- gung umfassender definiert als zuvor und Ver- Haiti gewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Das neue Gesetz wurde als wichtiger Schritt zur Amtliche Bezeichnung: Republik Haiti Bekämpfung sexueller Gewalt begrüßt. Staatsoberhaupt: René García Préval Eine Arbeitsgruppe, die gebildet wurde, um Regierungschef: Jean-Max Bellerive einen nationalen Plan zur Prävention von Se- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft xualdelikten zu entwickeln und seine Umset- Einwohner: 10,2 Mio. zung zu koordinieren, traf sich erstmals im Ok- Lebenserwartung: 61,7 Jahre tober. Kindersterblichkeit (m/w): 90 / 80 pro 1000 Lebendgeburten Rechte von Lesben, Schwulen, Alphabetisierungsrate: 61% Bisexuellen und Transgender-Personen Sex zwischen Männern blieb weiterhin strafbar Ein Erdbeben im Januar 2010 machte und konnte mit langen Haftstrafen geahndet fast 2 Mio. Menschen obdachlos und werden. Nach wie vor fanden veraltete Kolonial- löste eine beispiellose humanitäre Krise gesetze Anwendung, um Personen aufgrund aus. Ende des Jahres lebten noch im- ihrer sexuellen Identität zu diskriminieren. mer mehr als 1 Mio. Menschen in Notun- terkünften, in denen Frauen und Mäd- Recht auf Gesundheit chen vermehrt Opfer von Gewalt wurden. Die Stigmatisierung und Diskriminierung von Da es viele verwaiste und auf sich ge- Menschen mit HIV / AIDS erschwerte nach wie stellte Kinder gab, wurde befürchtet, vor eine erfolgreiche Behandlung. dass sie in die benachbarte Dominikani- sche Republik oder in andere Länder ver- Todesstrafe schleppt werden könnten. Staatliche In- Mindestens ein Mensch wurde zum Tode ver- stitutionen waren zerstört oder nur sehr urteilt. Über 30 Personen befanden sich Ende eingeschränkt funktionsfähig. Es gab 2010 in den Todeszellen. Es gab jedoch keine daher praktisch keinen Zugang zur Justiz Hinrichtungen. Die letzte Hinrichtung fand und keine Möglichkeit, Verstöße anzu- 1997 statt. zeigen. Die Polizei erschoss im Januar in Im Oktober wurde eine Reform des Straf- Les Cayes zwölf Gefangene, als diese gesetzes verabschiedet, mit der die zwingende versuchten, aus einem Gefängnis auszu- Anwendung der Todesstrafe bei Mord abge- brechen. schafft wurde. Ein Hinrichtungsmoratorium mit der Aussicht, die Todesstrafe ganz abzu- Hintergrund schaffen, lehnte die Regierung jedoch ab. Am 12. Januar 2010 zerstörte ein Erdbeben weite Teile der Hauptstadt Port-au-Prince so- wie Städte und entlegene Ortschaften im Sü-

Haiti 185 den des Landes. Durch das Erdbeben wurde ten der Regierungspartei und war damit nicht eine beispiellose humanitäre Krise ausgelöst. für die Stichwahl qualifiziert, die im Januar Schätzungen der Regierung zufolge starben 2011 stattfinden soll. mehr als 230000 Menschen; weitere 300000 wurden verletzt. Es gab schwere Schäden an Gewalt gegen Frauen und Mädchen öffentlichen Einrichtungen und Verwaltungsge- In den offiziellen und inoffiziellen Lagern waren bäuden. So wurden 15 der 17 Ministerien zer- Frauen und Mädchen in hohem Maße Gewalt stört sowie 1500 Schulen und 50 Krankenhäu- ausgesetzt. Da es an Sicherheitsvorkehrungen ser. Auch der Sitz der UN-Mission in Haiti und wirksamen Schutzmaßnahmen mangelte, wurde zerstört. Die internationale Gemein- liefen sie vermehrt Gefahr, Opfer von Vergewal- schaft und die humanitären Hilfsorganisatio- tigung oder anderen Formen sexueller Gewalt nen reagierten schnell und leisteten humani- zu werden. Anlass zur Sorge bot auch, dass die täre Nothilfe, die jedoch in einigen der am Täter nicht bestraft wurden. Nur wenige Fälle stärksten betroffenen Gebiete erst spät an- wurden untersucht oder strafrechtlich verfolgt. kam. Viele Opfer von Vergewaltigungen litten unter Im März trafen sich in New York mehr als 150 Angst, Diskriminierung und Geldmangel und Länder und internationale Organisationen zu zögerten deshalb, medizinische Hilfe in An- einer Geberkonferenz. Sie verpflichteten sich, spruch zu nehmen. Nach Angaben der Frauen- innerhalb von 18 Monaten 5,3 Mrd. US-Dollar rechtsorganisation Nationale Vereinigung zum für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Schutz haitianischer Frauen und Kinder (Asso- Die Beseitigung der Trümmer und der Bau von ciation Nationale de Protection des Femmes et provisorischen Unterkünften für die Erdbeben- Enfants Ha¨ıtiens – ANAFPEH), die sich um opfer kamen jedoch nur langsam voran. Ende Prostituierte in Port-au-Prince kümmert, stieg 2010 lebten noch immer mehr als 1 Mio. Men- seit dem Ausbruch der humanitären Krise die 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen schen in rund 1100 offiziellen und inoffiziellen Zahl der Mädchen, die als Prostituierte arbei- Lagern, die sich häufig in einem beklagenswer- teten. ten Zustand befanden. Im Oktober verur-  Eine Selbsthilfeorganisation von Vergewalti- 000835 sachte zudem ein Hurrikan neue Schäden an gungsopfern (Komisyon Fanm Viktim pou Vik- den Unterkünften in den Lagern. tim – KOFAVIV) dokumentierte mehr als 250 Im September brach in den Ortschaften am Fälle von sexueller Gewalt in 15 Lagern wäh- Fluss Artibonite eine Cholera-Epidemie aus, rend der ersten fünf Monate nach dem Erdbe- die schnell auf andere Landesteile übergriff. Die ben. Die Organisation berichtete außerdem, UN setzte eine unabhängige Expertengruppe dass Mädchen, die auf sich allein gestellt wa- ein, um die Ursache für den Ausbruch der Epi- ren, im Austausch gegen Lebensmittel oder demie zu finden. Bis Dezember wurden mehr die Aufnahme in ein Lager sexuell missbraucht als 100000 Cholerafälle gemeldet, die Zahl der wurden. Todesopfer betrug zu diesem Zeitpunkt mehr als 2400. Erdbebenopfer Am 28. November 2010 fand die erste Runde Ende 2010 lebten noch mehr als 1 Mio. Men- der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen schen in offiziellen und inoffiziellen Lagern, statt. Dabei kam es zu landesweiten Protesten. oftmals unter extrem schlechten Bedingungen. Die Demonstrierenden beklagten Unregelmä- Die große Mehrheit der Erdbebenopfer war ßigkeiten bei der Wahl und warfen dem Proviso- nicht angemessen untergebracht. Der Bau von rischen Wahlrat vor, die Auszählung manipu- provisorischen Unterkünften kam nur lang- liert zu haben. Nach der Bekanntgabe des vor- sam voran und wurde dadurch behindert, dass läufigen Wahlergebnisses zeigten sich natio- die Behörden keine geeigneten Grundstücke nale Wahlbeobachter besorgt. Demnach lag der zur Verfügung stellten. Es gab keine konkreten

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Kandidat Michel Martelly hinter dem Kandida- Informationen über Pläne und Maßnahmen

186 Haiti der Regierung zur längerfristigen Unterbrin- Februar auf freien Fuß gesetzt und durften das gung der Erdbebenopfer in angemessenen Land bis zum Abschluss der Ermittlungen ver- Unterkünften. lassen.

Zwangsräumungen Außergerichtliche Hinrichtungen Erdbebenopfer, die privates Land besetzten,  Am 19. Januar 2010 kam es im Gefängnis von wurden 2010 von den Grundstückseigentü- Les Cayes zu einem Aufstand und einem Aus- mern unter Einsatz von Gewalt gezwungen, das bruchsversuch. Zur Unterstützung des Gefäng- Land zu verlassen. In den meisten Fällen ge- nispersonals wurden Beamte der Nationalpoli- schah dies mit Unterstützung durch die Polizei zei gerufen. Die Operation endete mit der Tö- oder bewaffnete Männer. Im April kündigte die tung von zwölf unbewaffneten Häftlingen, 14 Regierung an, die Zwangsräumungen der Erd- weitere wurden verletzt. Eine von der Regierung bebenopfer würden für sechs Wochen ausge- und der UN eingesetzte Untersuchungskom- setzt, doch verfügte sie nicht über ausrei- mission soll zu dem Schluss gekommen sein, chende Kapazitäten, um diese Maßnahme dass die Mehrheit der Getöteten »summarisch auch durchzusetzen. hingerichtet« wurde und die Polizisten »vorsätz-  Im März zwangen Polizeibeamte fast 10000 lich und ungerechtfertigt« das Feuer eröffne- Erdbebenopfer, das Sylvio-Cator-Stadion zu ten. 14 Polizeibeamte und Angehörige des Ge- verlassen. Die Räumung erfolgte ohne Ge- fängnispersonals wurden bis zur Aufnahme richtsbeschluss, und die Erdbebenopfer wur- von Ermittlungen festgenommen. Bis zum den weder informiert noch bot man ihnen eine Jahresende gab es keine weiteren Informatio- alternative Unterkunft. Die Polizeibeamten nen zum Stand der Untersuchung. drangen nachts in das Stadion ein, rissen die Unterkünfte ein und vertrieben die Menschen Amnesty International: Missionen und Berichte von dem Gelände.  Vertreter von Amnesty International besuchten Haiti im März und Juni. Kinderrechte  Human rights must be at the core of relief efforts and the Der Kinderhandel bot weiterhin Anlass zu Be- reconstruction of Haiti (AMR 36 /001/ 2010)  Haiti: After the earthquake – initial mission findings sorgnis, und es gab vermehrt Anstrengungen, (AMR 36 /004/2010) ihn zu unterbinden. So wurde an den Grenz- übergängen zur Dominikanischen Republik eine Sondereinheit der haitianischen Polizei zum Schutz Minderjähriger (Brigade de Pro- tection des Mineurs) stationiert, die Kinderhan- del verhindern soll. Als weitere Maßnahme verstärkte die Regierung die Kontrolle von Adoptionsgesuchen aus dem Ausland. Honduras  Im Januar 2010 wurden 33 Kinder im Alter zwischen zwei Monaten und zwölf Jahren von Amtliche Bezeichnung: Republik Honduras den haitianischen Behörden an der Grenze auf- Staats- und Regierungschef: Porfirio Lobo Sosa gegriffen. Eine Gruppe von Missionaren hatte Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft versucht, die Kinder ohne Ausweispapiere in Einwohner: 7,6 Mio. die Dominikanische Republik zu schleusen. Lebenserwartung: 72,6 Jahre Die Missionare wurden wegen »Entführung von Kindersterblichkeit (m/w): 44 / 35 pro 1000 Minderjährigen« und »Bildung einer kriminel- Lebendgeburten len Vereinigung« angeklagt. Der Straftatbestand Alphabetisierungsrate: 83,6% Menschenhandel ist im Strafgesetzbuch Haitis nicht enthalten. Die zehn Missionare wurden im

Honduras 187 Das Recht auf freie Meinungsäußerung Guillermo López Lone – sowie der Ombuds- war Angriffen ausgesetzt. Die Schäden, mann Osmán Fajardo Morel willkürlich ihrer die der Menschenrechtsschutz und die Ämter enthoben, weil sie sich 2009 an friedli- Rechtsstaatlichkeit infolge des Staats- chen Demonstrationen gegen den Staatsstreich streichs 2009 erlitten hatten, waren beteiligt hatten. Bis zum Jahresende waren sie kaum behoben. Es herrschte 2010 wei- noch nicht wieder in ihre Ämter eingesetzt wor- terhin Straflosigkeit für die vom Militär den. Richter und Justizbeamte, die an De- und von Polizeibeamten begangenen monstrationen zur Unterstützung des Staats- Menschenrechtsverletzungen. Men- streichs teilgenommen hatten, behielten hin- schenrechtsverteidiger waren Ein- gegen ihre Posten. schüchterungen ausgesetzt. Im November 2010 wurde die Menschen- rechtslage in Honduras im Rahmen der Uni- Hintergrund versellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) Im Januar trat Porfirio Lobo Sosa von der Natio- durch den UN-Menschenrechtsrat begutach- nalen Partei (Partido Nacional) das Präsiden- tet. Die honduranischen Behörden sprachen tenamt an. Die neue Regierung geriet in Kritik, dabei eine offene Einladung an die UN und in- weil die Menschenrechtsverletzungen, die teramerikanische Menschenrechtsexperten während der De-facto-Regierung von Roberto aus, das Land zu besuchen. Micheletti Bain (Juni 2009 bis Januar 2010) Zum Jahresende war Honduras noch nicht begangen worden waren, ungesühnt blieben. wieder in die Organisation Amerikanischer Gegen Polizeibeamte und Angehörige des Mi- Staaten (OAS) aufgenommen worden, aus der litärs, die während dieses Zeitraums Hunderte das Land nach dem Staatsstreich im Juni von Protestierenden sowie unbeteiligte Pas- 2009 ausgeschlossen worden war. santen willkürlich festgenommen und misshan- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen delt hatten, wurde kaum ermittelt. Internationale Strafgerichtsbarkeit Im Laufe des Jahres wurden mehrfach Trup- Im November 2010 kündigte der Chefankläger pen in die Region Aguán entsandt. Dort war es des Internationalen Strafgerichtshofs an, er 000835 im Zuge von Landkonflikten zwischen Hunder- werde in Bezug auf Berichte über weit verbrei- ten von Kleinbauern auf der einen sowie Un- tete und systematische Menschenrechtsver- ternehmen und privaten Farmern auf der ande- letzungen während der Herrschaft der De- ren Seite zu gewalttätigen Auseinanderset- facto-Regierung Vorermittlungen einleiten. zungen gekommen. Es wurde befürchtet, dass das Militär dabei übermäßige Gewalt an- Menschenrechtsverteidiger wandte. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen  Im Mai 2010 bei wurden vier Richter – Tirza wurden 2010 aufgrund ihrer Arbeit bedroht del Carmen Flores Lanza, Ramón Enrique und schikaniert. Barrios, Luis Alonso Chévez de la Rocha und  Im Oktober wurde eine Rechtsanwältin der Vereinigung für eine gerechtere Gesellschaft (Asociación para una Sociedad más Justa – ASJ) von zwei unbekannten Männern gezwun- gen, in ein Taxi einzusteigen. Einer der Männer war bewaffnet und fragte sie über ihre Tätig- keit bei der ASJ aus. Als sie die Antwort verwei- gerte, sagte der eine Mann zu dem anderen: »Du weißt doch, dass wir dafür bezahlt wurden, sie umzubringen ... Wir müssen den Plan ausführen.« Eine halbe Stunde später befahlen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht sie ihr, aus dem Wagen zu steigen, und ließen

188 Honduras sie auf der Straße zurück. Ende 2010 war die Gewalt gegen Frauen und Mädchen polizeiliche Untersuchung des Vorfalls noch Nach Angaben der Ombudsstelle wurden zwi- nicht abgeschlossen. schen Januar und Oktober 2010 insgesamt 282 Frauen ermordet. Frauenrechtsorganisatio- Rechte auf freie Meinungsäußerung nen stellten die Zahl infrage und erklärten, die und Vereinigungsfreiheit tatsächliche Anzahl der getöteten Frauen liege  Mindestens zehn Journalisten wurden zwi- höher. schen Januar und Dezember 2010 in Hondu- Eine von der De-facto-Regierung erlassene ras ermordet. Im März wurden Joseph Hernán- Verfügung, die den Gebrauch von Notfallver- dez, David Meza Montesinos, Nahúm Pala- hütung (»Pille danach«) unter Strafe stellte, cios, José Bayardo Mairena und Manuel Juárez blieb weiterhin in Kraft. Und dies, obwohl das getötet. Zwischen April und August wurden Verbot negative Konsequenzen für Frauen und Jorge Alberto (Georgino) Orellana, Luis Antonio Mädchen hatte, deren Verhütungsmethoden Chévez, Luis Arturo Mondragón und Israel Ze- versagt hatten oder denen eine Schwanger- laya Díaz umgebracht. Und im Dezember war schaft drohte, weil sie Opfer sexueller Gewalt Henry Suazo Santos der zehnte hondurani- geworden waren. sche Journalist, der 2010 eines gewaltsamen Todes starb. Bis zum Jahresende war nie- Rechte von Lesben, Schwulen, mand für diese Verbrechen zur Verantwortung Bisexuellen und Transgender-Personen gezogen worden. Auch gab es kein ausrei- Homo- und Bisexuelle sowie Transgender- chend finanziertes und wirksames Programm Personen äußerten sich im Oktober gegenüber zum Schutz gefährdeter Journalisten. der Interamerikanischen Menschenrechtskom-  Im März 2010 wurde der 34-jährige Journalist mission besorgt darüber, dass sie weiterhin Nahúm Palacios Arteaga ermordet, als er bedroht und angegriffen wurden. Die Angriffe durch das Stadtviertel Los Pinos in Tocoa, einer wurden nur selten gründlich untersucht. Auch Stadt im Departamento Colón, nach Hause die Tatsache, dass diejenigen, die es wagten, fuhr. Nahúm Palacios Arteaga war Reporter, diese Verbrechen anzuzeigen, nicht ausrei- Nachrichtenchef des Fernsehsenders Canal 5 chend geschützt wurden, gab Anlass zur Sorge. in Aguán und Moderator einer Nachrichtensen-  Nohelia Flores Álvarez, eine Transgender- dung von Radio Tocoa. Zwei unbekannte Män- Frau, erstattete Anzeige gegen einen Polizis- ner fuhren seitlich an seinen Wagen heran ten, der sie im Dezember 2008 mit einer Stich- und schossen mit automatischen Waffen des waffe 17 Mal verletzt hatte, nachdem sie seine Typs AK47 rund 30 Mal auf ihn. Zwei Beifah- Forderung nach sexuellen Dienstleistungen zu- rer, die mit ihm im Auto saßen, wurden ver- rückgewiesen hatte. Während der Ermittlun- letzt. Nahúm Palacios zählte zu den prominen- gen und dem Prozess wurden Nohelia Flores testen öffentlichen Kritikern des Staats- Álvarez, Zeugen, Ermittler, Ankläger und Un- streichs. Im Juli 2009 hatte die Interamerikani- terstützer wiederholt schikaniert und bedroht. sche Menschenrechtskommission ihm ein Ihren Höhepunkt erreichten die Übergriffe im Recht auf Schutzmaßnahmen zugesprochen August, als ein Freund von ihr, mit dem sie zu und den honduranischen Staat ersucht, un- Fuß unterwegs war, getötet wurde. Der Angriff verzüglich Maßnahmen zu seinem Schutz zu galt eigentlich Nohelia Flores Álvarez. Im Sep- ergreifen. Der Journalist erhielt jedoch zu kei- tember wurde der Polizeibeamte der Messer- nem Zeitpunkt irgendwelche Schutzmaßnah- attacke für schuldig befunden und zu mindes- men. tens zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen des Mordes an ihrem Freund sowie den Ein- schüchterungen und Drohungen gegenüber Personen, die mit Nohelia Flores Álvarez in Verbindung standen, war bis Ende 2010 je-

Honduras 189 doch noch niemand zur Verantwortung gezo- ten von Adivasi (Angehörige indigener gen worden. Völker) und anderen gesellschaftlichen Randgruppen gegen Pläne, ihr Land Amnesty International: Berichte und ihre Bodenschätze ohne Rückspra-  Recommendations to the new Honduran government follo- che und ohne ihre Zustimmung in Be- wing the coup of June 2009 (AMR 37 / 003/ 2010) sitz zu nehmen, wurden Großprojekte  Honduras: Submission to the UN Universal Periodic Review, von Unternehmen eingestellt. Die mit November 2010 (AMR 37 / 005/ 2010) diesen Fällen befassten Menschen- rechtsverteidiger wurden von staat- lichen oder privaten Interessenvertretern mit politisch motivierten Anklagen über- zogen; einigen von ihnen legte man Aufwiegelung zur Last. Zwischen Juni und September wurden im Tal von Indien Kaschmir mehr als 100 Personen, darunter zahlreiche Jugendliche, bei Amtliche Bezeichnung: Republik Indien Protestkundgebungen getötet. Folter Staatsoberhaupt: Pratibha Patil und andere Misshandlungen, außer- Regierungschef: Manmohan Singh gerichtliche Hinrichtungen, Todesfälle Todesstrafe: nicht abgeschafft im Gewahrsam und Administrativhaft Einwohner: 1,2 Mrd. (ohne Anklage und Prozess) waren nach Lebenserwartung: 64,4 Jahre wie vor weit verbreitet. Die institutionel- Kindersterblichkeit (m/w): 77 / 86 pro 1000 len Mechanismen zum Schutz der Men- Lebendgeburten schenrechte und der Menschenrechts- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Alphabetisierungsrate: 62,8% verteidiger waren weitgehend wirkungs- los. Gerichtsverfahren, die sich mit Men- In den Bundesstaaten Chhattisgarh, 000835 schenrechtsverletzungen und Verstößen Jharkhand und Westbengalen eskalier- der Vergangenheit befassten, verhalfen ten die Auseinandersetzungen zwischen den Opfern oft nicht zu ihrem Recht. bewaffneten maoistischen Gruppen und Mindestens 105 Personen wurden 2010 Sicherheitskräften. Bombenanschläge in zum Tode verurteilt. Es fanden jedoch diesen Bundesstaaten sowie ethnisch im sechsten Jahr in Folge keine Hinrich- motivierte Anschläge in Assam und an- tungen statt. deren Bundesstaaten kosteten mehr als 350 Menschen das Leben. Nach Protes- Hintergrund Indiens schnelles wirtschaftliches Wachstum beschränkte sich auf die wichtigsten Städte und deren Umland. In den meisten ländlichen Gebieten herrschte hingegen weiterhin bittere Armut, die sich durch eine Krise der Landwirt- schaft und ein sinkendes Nahrungsmittelan- gebot für in Armut lebende Menschen noch verschärfte. Offiziellen Angaben zufolge lebten zwischen 30 und 50% der Bevölkerung in Ar- mut. Zu ihnen zählten auch Menschen in ländlichen Gebieten, denen an mindestens 100 Tagen im Jahr Arbeit zustand. Die Behörden

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht bezahlten ihnen dafür aber nach wie vor weni-

190 Indien ger als den gesetzlich vorgeschriebenen Min- besondere gegen Adivasi. Berichten zufolge destlohn. wurden sie Opfer von Tötungen und Entführun- Der Besuch von US-Präsident Barack Obama gen. Es gab weiterhin ungefähr 30000 Bin- im November 2010 unterstrich die wachsende nenflüchtlinge, die den Adivasi angehörten und Bedeutung des Landes auf internationaler allein im Bundesstaat Chhattisgarh vertrieben Ebene sowie in der Region. Allerdings stellte worden waren. 10000 von ihnen waren in La- Indien regelmäßig wirtschaftliche und strategi- gern untergebracht, 20000 lebten verstreut in sche Interessen in den Vordergrund, während den benachbarten Bundesstaaten Andhra Pra- menschenrechtliche Überlegungen vernach- desh und Orissa. lässigt wurden. So bezogen die indischen Be-  Im Mai 2010 wurden mindestens 144 Passa- hörden nicht gegen die schwerwiegenden Men- giere getötet und 200 weitere verletzt, als ein schenrechtsverletzungen Stellung, die staatli- Expresszug im Bezirk West-Medinipur (Bun- che Stellen im benachbarten Myanmar begin- desstaat Westbengalen) nach einer Explosion gen. Sie schwiegen auch angesichts von For- auf den Schienen entgleiste. In dem Gebiet derungen, die Regierung von Sri Lanka müsse kam es regelmäßig zu gewalttätigen Auseinan- wegen Menschenrechtsverletzungen in der dersetzungen zwischen bewaffneten Maoisten Endphase des Bürgerkriegs 2009 zur Verant- auf der einen Seite sowie der regierenden wortung gezogen werden. Kommunistischen Partei Indiens – Marxisten Die Beziehungen zwischen Indien und Pakis- (Communist Party of India-Marxist – CPI-M) tan waren 2010 weiterhin belastet, da sich Pa- und zentralstaatlichen paramilitärischen Ver- kistan noch immer weigerte, angemessen auf bänden auf der anderen Seite. Im August die Anschläge von Mumbai im November wurde Umakanta Mahato, ein Adivasi-Sprecher 2008 zu reagieren. Die Beziehungen zwischen des Volkskomitees gegen Polizeigewalt den beiden Ländern wurden auch dadurch (People’s Committee against Police Atrocities – getrübt, dass es im indisch verwalteten Teil PCPA), außergerichtlich hingerichtet. Er war Kaschmirs vermehrt zu Protesten kam, die einer derjenigen, gegen die im Zusammenhang Unabhängigkeit forderten. mit dem Anschlag auf den Zug Anklage erho- ben worden war. Die Tat ereignete sich nach Gewalttätige Auseinandersetzungen einer Welle politischer Gewalt, bei der drei An- Im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh hänger der CPI-M vom PCPA getötet worden wa- eskalierten die Kampfhandlungen zwischen ren. bewaffneten maoistischen Gruppen und Si-  Im September 2010 nahmen Sicherheits- cherheitskräften. Letztere wurden von der Mi- kräfte bei Militäroperationen in Chhattisgarh, liz Salwa Judum unterstützt, von der allgemein die sich gegen die Maoisten richteten, 40 Adi- angenommen wird, dass sie finanzielle Zu- vasi widerrechtlich fest, zogen sie nackt aus wendungen von staatlicher Seite erhält. Bei und folterten sie. Sie nahmen 17 weitere Perso- einer Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof nen fest, von denen zwei erst 16 Jahre alt wa- bezüglich Eingaben, die sich gegen die Straf- ren. Zwei Frauen, die der Gruppe angehörten, losigkeit richteten, erklärten die bundesstaat- wurden sexuell missbraucht. Obwohl erste Er- lichen Behörden im November, die Miliz sei mittlungen ergeben hatten, dass die Sicher- nicht mehr aktiv. Menschenrechtsorganisatio- heitskräfte für die Verstöße verantwortlich wa- nen erklärten hingegen, sie sei zu einer lokalen ren, unternahmen die Behörden nichts, um die »Friedenstruppe« umgebildet worden. Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. In den Adivasi-Gebieten der Bundesstaaten  Friedensaktivisten des Vanvasi Chetna Jharkhand und Westbengalen fanden ver- Ashram (VCA), einer im Geiste Gandhis arbei- gleichbare Auseinandersetzungen und Bom- tenden NGO, wurden gezwungen, ihre Arbeit in benanschläge statt. Beide Seiten gingen im- den Konfliktgebieten von Chhattishgarh einzu- mer wieder gezielt gegen Zivilpersonen vor, ins- stellen. Der Gründer des VCA, Himanshu Ku-

Indien 191 mar, konnte nicht nach Dantewada zurück- stellten Verstöße gegen die Rechte der Dongria kehren. Er war 2009 aus der Stadt geflohen, Kondh und anderer Adivasi-Gemeinschaften nachdem die Miliz Salwa Judum, die Polizei dar. des Bundesstaats und paramilitärische Trup-  Im Juni 2010 verurteilte ein Gericht in Bhopal pen ihn unablässig schikaniert und einge- acht indische Führungskräfte des US-ameri- schüchtert hatten. kanischen Chemieunternehmens Union Car-  Im September 2010 beschuldigte die Polizei bide zu zwei Jahren Gefängnis für ihre Rolle, von Chhattisgarh den Adivasi-Sprecher und die sie bei der Giftgaskatastrophe in Bhopal im gewaltlosen politischen Gefangenen Kartam Jahr 1984 gespielt hatten. Damals war aus Joga, dessen Eingabe gegen Straflosigkeit vor einem Leck Giftgas ausgeströmt, das dem Obersten Gericht verhandelt wurde, er 7000 – 10000 Menschen tötete. In den folgen- würde mit den bewaffneten Maoisten zusam- den zwei Jahrzehnten starben weitere 15000 menarbeiten. Menschen an den Spätfolgen des Unglücks.  Im Dezember 2010 sprach ein örtliches Ge- Im August nahm der Oberste Gerichtshof das richt in Chhattisgarh den Menschenrechtsver- Verfahren erneut auf, nachdem in der Öffent- teidiger, Arzt und gewaltlosen politischen Ge- lichkeit Unmut über das Strafmaß aufgekom- fangenen Binayak Sen der Zusammenarbeit men war, das als zu gering empfunden wurde. mit den Maoisten schuldig und verurteilte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Exzessive Gewaltanwendung Die Polizei setzte 2010 exzessive Gewalt ein, um Verantwortung von Unternehmen Proteste lokaler Gemeinschaften gegen Marginalisierte Bevölkerungsgruppen vor Ort, rechtswidrige Zwangsräumungen und die die von Bergbau-, Bewässerungs- und ande- Übernahme ihres Landes für Projekte von ren Unternehmensprojekten betroffen waren, Wirtschaftsunternehmen niederzuschlagen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen wurden von Behörden und Wirtschaftsunter- Auch schützte die Polizei Demonstrierende nehmen weder in angemessener Weise einbe- nicht gegen private Milizen, die dem Verneh- zogen noch wurden ihre Rechte geschützt. men nach mit den Regierungsparteien in Ver- 000835 Adivasi und andere gesellschaftliche Rand- bindung standen und Protestkundgebungen gruppen organisierten in mehreren Bundes- gewaltsam unterdrückten. Die Behörden leite- staaten Protestaktionen, weil ihr Land durch ten bei den meisten Vorfällen dieser Art keine Vorhaben von Wirtschaftsunternehmen be- unabhängigen und umgehenden Untersu- droht wurde und die Behörden ihre Ansprüche chungen ein. auf das Land, die durch die Verfassung und  Im Mai wurde der Adivasi-Sprecher Laxman Gesetze aus der jüngsten Vergangenheit garan- Jamuda getötet, als die Polizei auf Demons- tiert wurden, nicht respektierten. Einige dieser trierende schoss, die in Kalinganagar im Bun- Aktionen endeten erfolgreich. desstaat Orissa gegen die Übernahme von  Es war ein historischer Sieg für die Rechte Adivasi-Land für ein geplantes Stahlwerk des der Adivasi, als die indische Regierung Pläne Unternehmens Tata Steel protestierten. 19 zum Bauxitabbau in den Bergen von Niyamgiri Personen wurden verletzt, zehn erlitten Schuss- sowie die Erweiterung einer Aluminiumraffine- wunden. Rund 1000 Polizisten riegelten meh- rie im benachbarten Lanjigarh im Bundesstaat rere Dörfer ab, während 200 Angehörige einer Orissa ablehnte. Die Pläne waren von einem privaten Miliz gewaltsam dort eindrangen und Tochterunternehmen des in Großbritannien an- einige Häuser zerstörten. sässigen Bergbaukonzerns Vedanta Resour-  Im Mai wurden mindestens 20 Menschen ces und der staatseigenen Orissa Mining Cor- verletzt, als die Polizei Tränengas und Schlag- poration vorgelegt worden. Nach Ansicht der stöcke einsetzte, um etwa 1000 Bauern ausei- Behörden standen die beiden Projekte im Wi- nanderzutreiben, die im Bezirk Jagatsinghpur

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht derspruch zu Forst- und Umweltgesetzen und in Orissa gegen die Inbesitznahme ihres Acker-

192 Indien landes und ihres Gemeinschaftslandes protes- Bündnis lokaler Politiker, Unternehmer und tierten. Das südkoreanische Unternehmen Po- korrupter Beamter zur Wehr setzten. Im Okto- hong Steel Company (POSCO) wollte auf ihrem ber wurde ein weiterer Bauernführer, Pirthipal Land ein Stahlwerk errichten. Singh Alishar, von Angreifern erschossen. Er  Im Juli wurden zwei Fischer getötet, als die leitete eine Kampagne gegen Geldverleiher, die Polizei auf Teilnehmer einer Kundgebung Wucherzinsen verlangten. In beiden Fällen schoss, die gegen eine Landnahme durch die warfen die lokalen Gemeinschaften der Polizei Regierung für ein Wasserkraftwerk des Unter- vor, sie habe keine Ermittlungen eingeleitet nehmens Nagarjuna Construction Company in und nichts unternommen, um die Schuldigen Sompeta (Bundesstaat Andra Pradesh) pro- vor Gericht zu stellen. testierten. Fünf Personen erlitten Schussverlet-  Im Januar 2010 wurde Satish Shetty ermor- zungen, als die Polizei mit Unterstützung einer det, der unter Berufung auf das Recht auf In- privaten Miliz die Protestierenden aus zehn formation die illegale Inbesitznahme von Land Dörfern der Gegend auseinandertrieb. 350 in der Stadt Pune angeprangert hatte. Eine Personen wurden verletzt, darunter 60 Polizei- Aufforderung, seine Proteste einzustellen, hatte beamte. Einen Tag später zogen die Behörden er zuvor zurückgewiesen. eine zuvor ausgestellte Bescheinigung über die  Im Juli 2010 wurde Amit Jethwa, der sich ge- ökologische Unbedenklichkeit des Projekts gen illegale Bergbauaktivitäten im National- zurück. park Gir Forest im Bundesstaat Gujarat einge- Die anhaltenden Proteste zwangen die Behör- setzt hatte, vor dem Gebäudekomplex eines den dazu, die existierenden Gesetze zur Über- erstinstanzlichen Gerichts in Ahmedabad er- nahme von Land zu prüfen. Im September schossen. schlugen die Bundesbehörden ein neues Ge-  Personen, die sich gegen Menschenrechts- setz für den Rohstoffsektor vor, das Vorkehrun- verletzungen einsetzten, waren Schikanen, gen zur Gewinnbeteiligung lokaler Gemein- Einschüchterungen und Festnahmen auf schaften enthält. Der Entwurf sieht auch neue Grundlage falscher und politisch motivierter Rahmenrichtlinien bezüglich der freien, auf Anschuldigungen ausgesetzt. vorheriger Information begründeten Zustim-  Zwischen März und Juni 2010 nahm die Po- mung der Adivasi und Absprachen mit ande- lizei des Bundesstaats Gujarat 13 politisch en- ren marginalisierten Gemeinschaften vor. Dem gagierte Bürger fest, unter ihnen Avinash Kul- Parlament lagen Gesetzentwürfe vor, die Re- karni, der sich für Arbeitnehmerrechte von formen bei den Verfahren des Landerwerbs Adivasi einsetzte. Gegen die Festgenommenen umfassten sowie Maßnahmen bezüglich Um- wurde Anklage wegen Zusammenarbeit mit siedlung und Wiedereingliederung. bewaffneten maoistischen Gruppen erhoben.

Menschenrechtsverteidiger Straflosigkeit Personen, die die Landrechte der Adivasi und Es herrschte weiterhin überwiegend Straflosig- anderer gesellschaftlicher Randgruppen ver- keit für Menschenrechtsverletzungen. Trotz teidigten und die sich zum Schutz dieser anhaltender Proteste im Nordosten zeigten sich Rechte in einigen Fällen auf das gesetzlich ga- die Behörden nicht bereit, das Sonderermäch- rantierte Recht auf Information (Right to Infor- tigungsgesetz für die Streitkräfte von 1958 (Ar- mation Act) beriefen, waren weiterhin schwer- med Forces Special Powers Act) aufzuheben, wiegenden Bedrohungen und gewalttätigen das Straflosigkeit ermöglicht. Diejenigen, die für Übergriffen durch private Milizen ausgesetzt. das »Verschwindenlassen« von Personen, au-  Im Januar 2010 wurde Sadhu Singh Takhtu- ßergerichtliche Hinrichtungen und andere pura im Bezirk Amritsar im Bundesstaat Pun- Menschenrechtsverletzungen verantwortlich jab ermordet. Er war der Anführer von Bauern, waren, die zwischen 1984 und 1994 im Punjab die sich gegen Landaneignungen durch ein sowie zwischen 1998 und 2001 in Assam be-

Indien 193 gangen worden waren, entzogen sich weiterhin Jammu und Kaschmir der Justiz. Angehörige der Dalit-Gemeinschaf- Es herrschte weiterhin Straflosigkeit bezüglich ten (Kastenlose) waren in mehreren Bundes- Menschenrechtsverletzungen, die während staaten Übergriffen und Diskriminierung aus- des bewaffneten Konflikts in Kaschmir seit 1989 gesetzt. Die Behörden brachten die existieren- begangen wurden, darunter das »Verschwin- den Sondergesetze nicht zur Anwendung, die denlassen« von Tausenden von Menschen. Of- erlassen worden waren, um die Verantwortli- fizielle Untersuchungen, die sich auf einige chen für diese Gewalttaten strafrechtlich zu der Menschenrechtsverletzungen bezogen, verfolgen. machten geringe oder keine Fortschritte.  Zwischen Juni und September 2010 fanden Massaker von 1984 im Kaschmir-Tal Demonstrationen statt, die Im September 2010 ordnete der Oberste Ge- Unabhängigkeit forderten sowie eine Bestra- richtshof die Fortsetzung des Verfahrens ge- fung derjenigen, die für Menschenrechtsver- gen einen führenden Politiker der Kongresspar- letzungen in der Vergangenheit verantwortlich tei, Sajjan Kumar, an. Das Verfahren gegen ein waren. Angehörige der Polizei und der Sicher- weiteres ehemaliges Führungsmitglied der Kon- heitskräfte gaben Schüsse auf die Demonstrie- gresspartei, Jagdish Tytler, wurde im April von renden ab. Dabei wurden mehr als 100 Perso- einem Gericht in Neu-Delhi abgeschlossen. nen getötet, in der Mehrzahl Jugendliche. 800 Beiden Männern war vorgeworfen worden, sie weitere Personen wurden verletzt, unter ihnen hätten nach dem Mord an der damaligen Pre- auch Journalisten. Eine von den staatlichen Be- mierministerin Indira Gandhi 1984 ihre An- hörden eingeleitete Untersuchung bezog sich hänger aufgestachelt, das Massaker in Neu-De- nur auf 17 der 100 Todesfälle, obwohl Amnesty lhi zu verüben, bei dem Tausende von Sikhs International und andere Organisationen eine getötet wurden. unabhängige, unparteiische und gründliche 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Untersuchung aller Todesfälle gefordert hat- Ethnisch-religiöse Gewalt ten. Die Ermittlungen verliefen schleppend. In den Gerichtsverfahren gegen einige der Per- Die Behörden des Bundesstaats Jammu und 000835 sonen, denen die Verantwortung für die An- Kaschmir machten in zahlreichen Fällen Ge- griffe auf die muslimische Minderheit im Bun- brauch von der Administrativhaft: Von Januar desstaat Gujarat im Jahr 2002 zur Last gelegt bis September wurden 322 Personen festge- wurde, bei denen rund 2000 Menschen ums nommen. Nach den Demonstrationen ließen Leben kamen, waren kaum Fortschritte zu ver- die Behörden des Bundesstaats die beiden zeichnen. Die Verfahren wiesen schwerwie- Separatistenführer Shabir Shah und Moham- gende Defizite auf: So wurden Zeugen von mad Nayeem Khan frei. Sie folgten damit den den Behörden mit unverhohlener Feindseligkeit Empfehlungen einer von der indischen Regie- behandelt; zentrale Beweismittel, darunter of- rung ernannten Gruppe von Vermittlern, die fizielle Telefonmitschnitte, wurden nicht ausge- das Kaschmir-Tal besuchten, um einen Dialog wertet, und Beweismittel, die wichtige politi- zwischen den Konfliktparteien zu fördern. sche Führer mit den Gewalttaten in Zusam-  Der 14-jährige Mushtaq Ahmad Sheikh menhang brachten, wurden vernichtet. wurde im April 2010 in Srinigar festgenommen  Im Dezember 2010 wurden Teesta Setalvad, und beschuldigt, an gewalttätigen Protestaktio- die Leiterin des Zentrums für Gerechtigkeit nen teilgenommen zu haben. Er wurde in das und Frieden, sowie ein Team von Anwälten, das Gefängnis von Udhampur gebracht und später die Opfer der Anschläge verteidigte, von der in eine Haftanstalt in Jammu, wo er sich Ende Polizei des Bundesstaats Gujarat schikaniert. des Jahres noch immer befand. Man warf ihnen vor, Beweismittel zu erfinden. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

194 Indien Widerrechtliche Tötungen schlägen in Mumbai im November 2008 ver- Die Nationale Menschenrechtskommission schärft worden waren, dienten dazu, Verdäch- (National Human Rights Commission – NHRC) tige festzunehmen. Trotz anhaltender Proteste veröffentlichte Angaben zu Todesfällen, die sich wurde das Sonderermächtigungsgesetz für die zwischen 1993 und 2008 bei Zusammenstö- Streitkräfte nicht außer Kraft gesetzt, das es den ßen mit der Polizei ereignet hatten. Diesen An- Sicherheitskräften in bestimmten Gebieten gaben zufolge gab es insgesamt 2560 Todes- oder Bundesstaaten erlaubt, auch dann tödli- fälle, davon waren 1224 auf sogenannte vorge- che Schüsse abzugeben, wenn ihnen keine täuschte Zusammenstöße zurückzuführen, unmittelbare Gefahr droht. was nichts anderes hieß, als das es sich dabei um außergerichtliche Hinrichtungen handelte. Todesstrafe Bis zum Jahresende hatte die NHRC den Fa- Im Dezember 2010 stimmte Indien gegen eine milien von 16 Opfern Entschädigungen zuge- Resolution der UN-Generalversammlung, die sprochen. Die Verantwortlichen für die wider- zu einem weltweiten Hinrichtungsmoratorium rechtlichen Tötungen wurden nur in den sel- aufrief. Gegen 105 Personen ergingen Todes- tensten Fällen zur Rechenschaft gezogen, und urteile, darunter auch gegen Ajmal Kasab. Der die Verfahren in diesen Fällen kamen weiter- pakistanische Staatsbürger wurde wegen Be- hin nur langsam voran. teiligung an den Anschlägen in Mumbai 2008 –  Im Falle der Tötung von Sohrabuddin und als einziger überlebender Tatbeteiligter – zum seiner Frau Kausar Bi im Jahr 2005 sowie der Tode verurteilt. Im sechsten Jahr in Folge fan- späteren Tötung des Tatbeteiligten Tulsiram den jedoch keine Hinrichtungen statt, und die Prajapati, für die vermutlich die Polizei des Todesurteile gegen 13 Personen wurden in le- Bundesstaats Gujarat verantwortlich war, ord- benslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Ge- nete der Oberste Gerichtshof im Januar 2010 setzesänderungen weiteten die Todesstrafe auf neue Ermittlungen an. Das Gericht bewertete den Straftatbestand Entführung aus. Gemäß die Untersuchung der Polizei von Gujarat als einer neuen Gesetzgebung veröffentlichten 16 unbrauchbar und beauftragte die Zentrale Er- Bundesstaaten Daten über die Zahl der im To- mittlungsbehörde (Central Bureau of Investi- destrakt einsitzenden Personen. Mindestens gation) mit dem Fall. fünf Bundesstaaten lehnten die Veröffentli-  Im November 2010 setzte die Regierung des chung dieser Zahlen jedoch ab. Bundesstaats Gujarat eine neue Sonderkom- mission der Polizei ein, um die Tötung von Amnesty International: Missionen und Berichte Ishrat Jahan und drei weiteren Personen im  Delegationen von Amnesty International besuchten Indien Jahr 2004 durch die Polizei von Gujarat zu un- in den Monaten Februar, Mai/Juni sowie im Dezember.  tersuchen. Don’t mine us out of existence: Bauxite mine and refinery devastate lives in India (ASA 20/001/ 2010)  Willkürliche Festnahmen und India: Chhattisgarh authorities must immediately release witness to extrajudicial executions (ASA 20/002/ 2010) Inhaftierungen  India: Government of Manipur must release Irom Sharmila Mehr als 100 Personen wurden im Zusammen- Chanu (ASA 20/003/ 2010) hang mit Bombenanschlägen in mehreren  India’s relations with Myanmar fail to address human rights Bundesstaaten, darunter Delhi, Uttar Pradesh concerns in run up to elections (ASA 20/016/ 2010) und Rajasthan, ohne Anklage inhaftiert. Die  India: Urgent need for Government to act as death toll rises Zeiträume der Haft reichten dabei von einer in Kashmir (ASA 20/027/ 2010) Woche bis zu einem Monat. Sowohl muslimi-  India: Briefing on the Prevention of Torture Bill sche als auch hinduistische Organisationen sa- (ASA 20/030/ 2010) hen sich veranlasst, gegen Folter und andere Misshandlungen von Verdächtigen zu protestie- ren. Die Sicherheitsgesetze, die nach den An-

Indien 195 Die Müttersterblichkeitsrate war weiter- Indonesien hin eine der höchsten in der Region Ost- asien und Pazifik. Im Jahr 2010 erfolgte Amtliche Bezeichnung: Republik Indonesien keine Hinrichtung. Staats- und Regierungschef: Susilo Bambang Yudhoyono Folter und andere Misshandlungen Todesstrafe: nicht abgeschafft Gefangene erfuhren durch Sicherheitskräfte Einwohner: 232,5 Mio. Folterungen oder andere Misshandlungen. Lebenserwartung: 71,5 Jahre Opfer waren vor allem straftatverdächtige Per- Kindersterblichkeit (m/w): 37 / 27 pro 1000 sonen aus armen und marginalisierten Ge- Lebendgeburten meinschaften sowie Personen, die im Verdacht Alphabetisierungsrate: 92% standen, sich in den Provinzen Papua und Maluku an Aktivitäten für die Unabhängigkeit Die Sicherheitskräfte folterten Gefan- beteiligt zu haben. Die vorhandenen Mecha- gene oder misshandelten sie auf andere nismen der Rechenschaftslegung bei Übergrif- Weise. Sie gingen mit unverhältnismäßi- fen blieben unzureichend. ger Gewalt gegen Protestierende vor, in  Im Jahr 2010 tauchten zwei Videos auf, die einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Es Angehörige der Polizei und des Militärs zeig- waren keine angemessenen Mechanis- ten, wie sie Männer aus Papua folterten und auf men zur Rechenschaftslegung vorhan- andere Art misshandelten. Das erste Video den, die Gerechtigkeit gewährleisten zeigte Yawan Wayeni, einen politisch engagier- oder als effektive Abschreckung gegen ten Bürger aus Papua, kurze Zeit vor seinem polizeiliche Willkür wirken konnten. Das Tod im August 2009. Trotz schwerer Unterleibs- Strafjustizsystem war nach wie vor nicht verletzungen hatte ihm die Polizei, die ihn be- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dazu geeignet, gegen die anhaltende schuldigte, ein Aufständischer zu sein, medizi- Straflosigkeit bei aktuellen und zurück- nische Hilfe verweigert. Er war zuvor von An- liegenden Menschenrechtsverletzungen gehörigen der Mobilen Polizeibrigade in seinem 000835 vorzugehen. In Gebieten wie Papua und Haus auf der Insel Yapen in Papua festgenom- Maluku gab es massive Einschränkun- men worden. Das zweite Video, das im August gen des Rechts auf freie Meinungsäuße- ins Internet gestellt wurde, zeigte, wie Angehö- rung. Religiöse Minderheiten, Homo- rige des indonesischen Militärs Bürger aus Pa- und Bisexuelle sowie Transgender- pua traten und anderweitig körperlich miss- Personen waren gewalttätigen Übergrif- handelten und zwei von ihnen während des fen und Diskriminierung ausgesetzt. Verhörs folterten. Indonesische Beamte bestä- tigten die Echtheit beider Videos.  Der 52-jährige Yusuf Sapakoly starb an Nie- renversagen im Krankenhaus in Ambon in der Provinz Maluku, nachdem ihm die Gefängnis- leitung adäquate ärztliche Behandlung verwei- gert hatte. Der Vater von vier Kindern war im Jahr 2007 festgenommen worden, weil er eine Gruppe friedfertiger politisch engagierter Bür- ger unterstützt hatte, die die »Benang-Raja- Flagge«, ein Symbol der Unabhängigkeitsbewe- gung von Süd-Maluku, vor dem indonesi- schen Staatspräsidenten entrollt hatten. Ob- wohl Yusuf Sapakoly wegen Nierenschwäche

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht auf eine Dialyse angewiesen war, verweigerte

196 Indonesien ihm die Leitung des Nania-Gefängnisses fort- Jakarta, der sich für die Bekämpfung der Kor- dauernd die Behandlung. Er hatte zudem be- ruption einsetzte, von nicht identifizierten Per- richtet, dass er keine angemessene Behand- sonen schwer verprügelt, offensichtlich um lung seiner Rippenverletzungen erhalten habe, ihn auf diese Weise zum Schweigen zu brin- die ihm in der Haft zugefügt worden waren. gen. Im gleichen Monat wurde der Journalist Ardiansyah Matra, der über Korruption und ille- Exzessive Gewaltanwendung gale Abholzung in Papua berichtet hatte, in Bei Festnahmen und der Auflösung von De- der Provinz Papua tot aufgefunden. monstrationen ging 2010 die Polizei mit unver-  Mindestens 100 politisch engagierte Bürger hältnismäßiger Härte vor und tötete in einigen befanden sich im Gefängnis, weil sie in nach Fällen Menschen. Unabhängigkeit strebenden Gebieten wie Ma-  Im August eröffnete die Polizei in der Polizei- luku und Papua friedlich ihre Meinung zum station des Sektors Biau in der Provinz Zentral- Ausdruck gebracht hatten. Sulawesi das Feuer auf Demonstrierende. Da-  Der gewaltlose politische Gefangene Yusuk bei wurden sieben Personen getötet und 20 Pakage, der zu zehn Jahren Gefängnis verur- weitere verwundet. Als Reaktion auf den Tod teilt worden war, wurde im Juli 2010 nach dem von Kasmir Timumun im Polizeigewahrsam Erlass eines Präsidialdekrets auf freien Fuß ge- hatten Protestierende die Polizeistation überfal- setzt. Filep Karma, der zur gleichen Zeit festge- len, Polizeibeamte angegriffen und vor der Po- nommen und zu 15 Jahren Freiheitsentzug lizeistation geparkte Motorräder angezündet. verurteilt worden war, blieb jedoch inhaftiert. Während des Vorfalls wurden mehrere Polizei- Die beiden Männer waren im Jahr 2005 fest- beamte verletzt. Lokalen Quellen zufolge fand genommen worden, weil sie die »Morgen- man den 19-jährigen Kasmir Timumun am stern«-Flagge, ein Symbol der Unabhängigkeit 30. August erhängt in seiner Zelle auf. Er war in- Papuas, gehisst hatten. haftiert worden, weil er mit überhöhter Ge-  Im August 2010 wurden in der Provinz Ma- schwindigkeit gefahren sein und einen Polizei- luku 23 Männer wegen ihrer friedlichen politi- beamten verletzt haben soll. Die Polizei er- schen Aktivitäten festgenommen. Zum Jahres- klärte, dass er Selbstmord begangen habe, ende befanden sich noch 21 von ihnen in doch seine Familie behauptete, dass es Anzei- Haft. Sie waren der Rebellion angeklagt, mit der chen von Folter und anderen Misshandlungen eine Strafandrohung von lebenslanger Haft gebe, darunter Hämatome an einigen Körper- verbunden ist. teilen und an seinem Hals. Der Familie wurde der Einblick in den Autopsiebericht verwehrt. Diskriminierung Besorgnis wurde geäußert, dass die von der Religiöse Minderheiten und die Gruppen der Polizei durchgeführten Antiterroroperationen, Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgen- die zum Tod von mindestens 24 Tatverdächti- der-Personen (LGBT) waren gewalttätigen Über- gen geführt hatten, nicht den nationalen und griffen und Diskriminierung ausgesetzt. Die internationalen Standards zur Anwendung von Polizei ergriff nicht die erforderlichen Maßnah- Gewalt entsprachen. men, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Nach der Androhung gewaltsamer Repressa- Recht auf freie Meinungsäußerung lien durch radikale islamistische Gruppen Es gab weiterhin einige Fälle der Unterdrü- wurde eine regionale LGBT-Konferenz, die im ckung des Rechts auf freie Meinungsäuße- März in Surabaya stattfinden sollte, abgesagt. rung. So wurden Menschenrechtsverteidiger, Die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyyah Journalisten und andere engagierte Bürger wurde zur Zielscheibe für Übergriffe und Dis- eingeschüchtert, schikaniert und in einigen Fäl- kriminierung. Im August 2010 rief der Religions- len sogar getötet. minister zur Auflösung der Gemeinschaft auf.  Im Juli 2010 wurde Tama Satrya Langkun aus Etwa 90 Ahmadis, die im Jahr 2006 nach

Indonesien 197 Brandanschlägen aus ihren Häusern geflohen Mit 228 Todesfällen von Müttern bei 100000 waren, lebten weiterhin in Behelfsunterkünften Lebendgeburten war die Müttersterblichkeits- in Mataram in Lombok. Im Laufe des Jahres rate weiterhin eine der höchsten in der Region wurden mindestens 30 Kirchen angegriffen Ostasien/Pazifik. oder zur Schließung gezwungen. Im April be- stätigte das Verfassungsgericht gesetzliche Be- Hausangestellte stimmungen, die Blasphemie unter Strafe Schätzungsweise 2,6 Mio. Hausangestellte, in stellten. Zum Jahresende befanden sich min- der Mehrzahl Frauen und Mädchen, wurde destens 14 Personen unter der Anklage der der volle gesetzliche Schutz vorenthalten, den Blasphemie im Gefängnis. andere Arbeiter unter dem Arbeitsgesetz (Manpower Act) genossen. Die Kommission für Sexuelle und reproduktive Rechte Arbeit, Migration, Bevölkerungsangelegen- Gesetze, die sexuelle und reproduktive Rechte heiten und Gesundheit beriet über einen Ge- einschränkten, behinderten die Bemühungen setzentwurf zu Hausangestellten, doch war der Regierung zur Eindämmung der Mütter- das Gesetz bis Ende 2010 noch nicht verab- sterblichkeit. Darunter fielen Gesetze, die kli- schiedet worden. scheehafte Geschlechterrollen – besonders be-  Im Dezember 2009 wurde Lenny, ein 14 züglich Eheschließung und Schwangerschaft Jahre altes Mädchen aus Java, von einem Per- – unterstützten, wie auch Gesetze, die be- sonalvermittler betrogen. Anstatt sie als Haus- stimmte einvernehmliche sexuelle Praktiken angestellte in ein Beschäftigungsverhältnis zu sowie die Bereitstellung von Informationen über vermitteln, nahm er sie mit nach Hause und Sexualität und Fortpflanzung kriminalisierten. »verkaufte« sie für 100000 Indonesische Ru- Einige Gesetze und Bestimmungen verweiger- pien (11 US-Dollar) an ihre neuen Arbeitgeber. ten unverheirateten Frauen und Mädchen den Lenny wurde unter Drogen gesetzt und in das 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen uneingeschränkten Zugang zu gesundheitli- weit entfernte Gebiet Aceh gebracht. Sie chen Versorgungsleistungen für Schwangere musste dort ohne Entlohnung drei Monate und zur Verhütung. Es galt als illegal, wenn ver- lang Tag für Tag von 4 bis 23 Uhr arbeiten. Wäh- 000835 heiratete Frauen und Mädchen ohne Zustim- rend dieser Zeit musste sie vielfältige physi- mung des Ehemanns bestimmte Leistungen sche und psychische Misshandlungen erdul- der reproduktiven Medizin in Anspruch nah- den. Im Februar gelang Lenny schließlich die men. Schwangerschaftsabbrüche wurden ge- Flucht, und sie erstattete noch im selben Monat nerell als strafrechtliche Vergehen bewertet. Anzeige gegen ihre Arbeitgeber. Ende 2010 Ausgenommen waren Fälle, in denen die Ge- war das Verfahren noch nicht abgeschlossen. sundheit der Mutter oder des ungeborenen Kindes gefährdet war oder es sich um Opfer Straflosigkeit von Vergewaltigung handelte. Verantwortliche für schwere Menschenrechts- Viele Frauen und Mädchen waren dem Risiko verletzungen, die in der Vergangenheit in ungewollter Schwangerschaft und damit Aceh, Papua, Timor-Leste und andernorts be- schutzlos gesundheitlichen Problemen und gangen worden waren, blieben weiterhin straf- Verstößen gegen die Menschenrechte ausge- frei. Die Regierung trieb die Versöhnung mit Ti- setzt. Dazu zählten der Zwang, jung zu heira- mor-Leste weiter voran um den Preis, dass ten, oder die Schule vorzeitig verlassen zu Verbrechen, die während der indonesischen müssen. Einige riskierten Abtreibungen, die Besatzung von Timor-Leste (1975 – 99) began- häufig unter nicht sicheren Bedingungen gen worden waren, nicht geahndet wurden. Die durchgeführt wurden. meisten in der Vergangenheit an Menschen- Regierungsangaben zufolge waren 5 – 11% rechtsverteidigern verübten Menschenrechts- der Fälle von Müttersterblichkeit in Indonesien verletzungen, darunter Folter, Mord und »Ver-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht auf unsichere Abtreibungen zurückzuführen. schwindenlassen«, blieben unaufgeklärt, und

198 Indonesien die Täter wurden nicht zur Rechenschaft ge- zogen. Im September unterzeichnete die Regie- Irak rung das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwinden- Amtliche Bezeichnung: Republik Irak lassen (International Convention for the Pro- Staatsoberhaupt: Jalal Talabani tection of all Persons from Enforced Disappea- Regierungschef: Nuri al-Maliki rance). Todesstrafe: nicht abgeschafft  Im Jahr 2009 hatte das Parlament die Grün- Einwohner: 31,5 Mio. dung eines Ad-hoc-Menschenrechtsgerichts Lebenserwartung: 68,5 Jahre empfohlen, um diejenigen, die für das »Ver- Kindersterblichkeit (m/w): 43 / 38 pro 1000 schwindenlassen« von Personen in den Jah- Lebendgeburten ren 1997 – 98 verantwortlich waren, zu belan- Alphabetisierungsrate: 77,6% gen. Bis Ende 2010 hatte die Regierung je- doch nichts unternommen, um die Empfehlun- Bewaffnete Gruppen, die in Opposition gen umzusetzen. zur Regierung standen, verübten zahl-  Zwei Personen wurden wegen ihrer Beteili- reiche Selbstmordattentate und andere gung an der Ermordung des prominenten Anschläge, bei denen Hunderte von Zi- Menschenrechtsverteidigers vilpersonen ums Leben kamen. Milizen (bekannt als Munir) im Jahr 2004 für schuldig waren auch für gezielte Tötungen ver- befunden. Dennoch gab es glaubhafte Hin- antwortlich. Sowohl die irakischen Si- weise darauf, dass sich diejenigen, die die Er- cherheitskräfte als auch die US-Truppen mordung angeordnet hatten, noch immer auf begingen schwere Menschenrechtsver- freiem Fuß befanden. letzungen: Tausende von Personen wa- ren ohne Anklage oder Gerichtsverfahren Todesstrafe inhaftiert, viele von ihnen schon seit Es liegen keine Berichte über Hinrichtungen mehreren Jahren. Es gab jedoch auch vor. Gegen mindestens 120 Menschen waren Freilassungen. Mitte Juli wurden alle jedoch Todesurteile anhängig. Gefängnisse, die bis dahin unter der Kontrolle der US-Truppen gestanden Amnesty International: Missionen und Berichte hatten, mit den Inhaftierten an die iraki-  Delegierte von Amnesty International besuchten Indonesien schen Behörden übergeben. Lediglich in den Monaten Februar, März, Oktober und November. rund 200 Gefangene verblieben im Ge-  Displaced and forgotten: Ahmadiyya in Indonesia wahrsam der US-Streitkräfte im Irak. (ASA 21/006/ 2010)  Indonesia: Left without a choice – barriers to reproductive health (ASA 21/013/2010)

Irak 199 Folter und andere Misshandlungen an Gewahrsam der US-Streitkräfte, offenbar auf Gefangenen durch Angehörige der iraki- Wunsch der irakischen Behörden. Sie waren im schen Sicherheitskräfte waren an der Camp Cropper inhaftiert, das die irakische Re- Tagesordnung. Einige Inhaftierte wur- gierung im Juli in al-Karkh-Gefängnis umbe- den in geheimen Gefängnissen gefoltert, nannte. Die SOFA-Vereinbarung beinhaltete andere starben im Gewahrsam unter un- keine Klauseln zum Schutz der Menschen- geklärten Umständen. Die Gerichte ver- rechte, obwohl bekannt war, dass Angehörige hängten Todesurteile nach unfairen Ver- der irakischen Sicherheitskräfte Häftlinge folter- fahren. Mindestens 1300 Gefangene ten und misshandelten. befanden sich dem Vernehmen nach in Ein Großteil der Iraker lebte nach wie vor in den Todeszellen. Es gab eine bestätigte Armut. Wasserknappheit und Stromausfälle Hinrichtung, die tatsächliche Zahl der waren an der Tagesordnung. Die Arbeitslosen- Hinrichtungen dürfte jedoch wesentlich quote lag bei über 50%. Die weiterhin höchst höher liegen. Rund 3 Mio. Iraker lebten prekäre Sicherheitslage hielt ausländische Un- als Binnenvertriebene im Land oder als ternehmen davon ab, im Land zu investieren. Flüchtlinge im Ausland. Frauen waren In staatlichen Einrichtungen war Korruption nach wie vor Diskriminierungen und Ge- weit verbreitet. Im Juli stellte eine offizielle Fi- walt ausgesetzt. nanzprüfung der US-Regierung fest, dass das Pentagon die Verwendung von über 95% der Hintergrund für den Wiederaufbau des Irak zur Verfügung Die Parlamentswahlen im März 2010 führten zu gestellten 9,1 Mrd. US-Dollar nicht belegen einer politischen Pattsituation. Erst im Novem- kann. ber einigte man sich auf eine neue Regierung Im Februar 2010 bewertete der UN-Men- unter dem amtierenden Ministerpräsidenten schenrechtsrat im Rahmen der Universellen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Nuri al-Maliki. Während der Übergangszeit ver- Regelmäßigen Überprüfung (UPR) die Lage der übten bewaffnete Gruppen, die in Opposition Menschenrechte im Irak. zur Regierung standen, vermehrt Selbstmordat- Im August verabschiedete der UN-Sicher- 000835 tentate und andere Anschläge, bei denen heitsrat einstimmig die Resolution Nr. 1936, Hunderte von Zivilpersonen starben oder ver- wonach das Mandat der UN-Hilfsmission für letzt wurden. den Irak (United Nations Assistance Mission Mitte August zogen die USA ihre letzten Streit- for Iraq – UNAMI) für ein weiteres Jahr verlän- kräfte aus dem Irak ab. Rund 50000 US-Sol- gert wurde. daten blieben jedoch im Land stationiert; sie Im November 2010 unterzeichnete der Irak sollen laut Berichten als Unterstützer und das Internationale Übereinkommen zum Ausbilder dienen. Schutz aller Personen vor dem Verschwinden- Im Juli schlossen die US-Streitkräfte die Über- lassen, allerdings mit Vorbehalten bezüglich gabe von Gefangenen und Gefängnissen an individueller Entschädigungsansprüche. die irakische Regierung ab, wie dies in der 2008 zwischen der irakischen Regierung und den Übergriffe bewaffneter Gruppen USA abgeschlossenen Statusvereinbarung für Bewaffnete Gruppen, die die irakische Regie- die Streitkräfte (Status of Forces Agreement – rung und die Anwesenheit der US-Truppen im SOFA) vorgesehen war. Mehrere tausend Ge- Land bekämpften, begingen schwere Men- fangene wurden an die irakischen Behörden schenrechtsverstöße wie Entführungen, Folter überstellt. Etwa 200 Häftlinge, bei denen es und Mord. Sie waren für Selbstmordattentate sich überwiegend um Anführer bewaffneter auf belebten Plätzen sowie andere groß ange- Gruppen sowie um führende Mitglieder der legte willkürliche Angriffe auf Zivilpersonen ehemaligen regierenden Ba’ath-Partei zu Zei- verantwortlich, töteten aber auch gezielt Ein-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ten Saddam Husseins handelte, verblieben im zelpersonen. Viele Anschläge wurden von Al-

200 Irak Qaida im Irak und von verbündeten sunniti-  Am 31. Oktober 2010 verloren mehr als 40 schen bewaffneten Gruppen verübt. Zwei der Gläubige in einer katholischen Kirche in Bag- Anführer von Al-Qaida kamen im April bei dad ihr Leben. Zu dem Anschlag bekannte sich einer Razzia der irakischen und der US-Streit- die Gruppe Islamischer Staat Irak. Bei dem kräfte ums Leben. Angriff auf das Gotteshaus wurden zunächst Im Oktober 2010 gingen Berichte ein, wonach mehr als 100 Gläubige als Geiseln genommen. viele ehemalige Mitglieder der Awakening Nach einer dreistündigen Belagerung stürmten Councils zu Al-Qaida übergelaufen seien. Es irakische Sicherheitskräfte die Kirche. Die Gei- handelte sich dabei um sunnitische Milizen, selnehmer sollen die Gläubigen mit Granaten die von den US-Streitkräften rekrutiert worden getötet haben und durch Sprengstoffgürtel, waren, um Al-Qaida im Irak zu bekämpfen. die Selbstmordattentäter zündeten. Die Gründe für den Übertritt waren Drohungen, aber auch die Enttäuschung darüber, dass die Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren US-Streitkräfte sie ihrer Meinung nach im Stich Tausende Menschen blieben 2010 weiterhin gelassen hatten. ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaf- Auch schiitische Milizen, allen voran die Mit- tiert. Einige von ihnen wechselten vom Gewahr- glieder der Liga der Gerechten (Asa’ib Ahl al- sam der US-Streitkräfte in den Gewahrsam der Haq), einer Splittergruppe der Mahdi-Armee, irakischen Behörden, als Mitte Juli das letzte waren für schwere Menschenrechtsverstöße noch unter US-amerikanischer Verwaltung wie Entführungen und Morde verantwort- stehende Gefängnis Camp Cropper unter iraki- lich. sche Kontrolle gestellt wurde. Vielen Inhaftier- Viele Opfer der Anschläge waren Zivilisten, ten wurde der Zugang zu einem Rechtsbei- darunter Angehörige ethnischer und religiöser stand und zu ihren Familien verweigert. Einige Minderheiten, Beamte lokaler Behörden, Gefangene saßen in geheimen Gefängnissen in Rechtsanwälte und Richter, Journalisten und Haft, die dem Innen- und dem Verteidigungs- Mitglieder anderer Berufsgruppen. Unter den ministerium unterstanden. Folter und andere Todesopfern befanden sich auch Frauen und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Kinder. Die meisten der Inhaftierten waren Sunniten,  Am 25. Januar 2010 detonierten kurz nachei- die im Verdacht standen, sunnitische bewaff- nander drei Autobomben von Selbstmordat- nete Gruppen unterstützt zu haben. Viele der tentätern im Zentrum von Bagdad. Mindestens Häftlinge befanden sich bereits seit mehreren 41 Menschen starben, mehr als 75 Passanten Jahren im Gewahrsam. erlitten Verletzungen. Zu dem Anschlag be-  Der Polizeibeamte Qusay Abdel-Razaq Zabib kannte sich die Gruppe Islamischer Staat Irak, blieb nach wie vor ohne Anklage oder Ge- ein Ableger von Al-Qaida im Irak. richtsverfahren in Haft. Er war am 17. Juli 2008  Am 2. Februar 2010 zündete eine Frau inmit- an seinem Arbeitsplatz, einer Polizeiwache in ten schiitischer Pilger in Bagdad einen der Nähe von Tikrit, von US-Soldaten verhaftet Sprengstoffgürtel. Bei dem Anschlag kamen worden. Offenbar wurde er verdächtigt, be- mindestens 54 Menschen ums Leben, mehr waffnete Gruppen unterstützt zu haben. Seit- als 100 weitere wurden verletzt. dem wurde er in einer Reihe von US-geführten  Am 14. Mai 2010 wurden bei drei Selbst- Gefängnissen festgehalten, zuletzt in Camp Taji, mordanschlägen rund 25 Menschen getötet. das mit allen Gefangenen den irakischen Be- Die Zahl der Verletzten ging in die Hunderte. hörden überstellt wurde. Mitte November ver- Die Attentate ereigneten sich auf einem Fuß- legte man ihn aus dem Gefängnis in eine Poli- ballplatz in einem schiitischen Viertel von Tal- zeistation in Tikrit. Am 30. Dezember 2010 Afar, einer vor allem von Turkmenen bewohn- wurde er freigelassen. ten Stadt zwischen Mosul und der syrischen Grenze.

Irak 201 Folter und andere Misshandlungen mad Saleh al-Uqaibi starb am 12. oder 13.Fe- Folter und andere Misshandlungen von Gefan- bruar im Gefängnis am Muthanna-Flughafen. genen waren insbesondere in den vom Innen- Er war im September 2009 festgenommen und vom Verteidigungsministerium kontrollier- und Berichten zufolge während der Verhöre so ten Gefängnissen an der Tagesordnung. Zu schwer geschlagen worden, dass er Rippen- den Foltermethoden zählten Schläge mit Ka- brüche, eine Leberverletzung und innere Blu- beln und Schläuchen, das Aufhängen an Ar- tungen davontrug. Seine Leiche wurde einige men oder Beinen über lange Zeiträume, Elek- Wochen später seiner Familie übergeben. Die troschocks und das Brechen von Armen oder Sterbeurkunde gab Herzversagen als Todesur- Beinen. Häftlinge berichteten auch davon, ver- sache an. gewaltigt oder mit Vergewaltigung bedroht und  Zwei namentlich nicht bekannte Häftlinge ka- mit Plastiktüten fast erstickt worden zu sein. Die men am 27. März und am 12. April während Folter sollte die Gefangenen dazu bringen, In- ihrer Haft im US-geführten Camp Cropper ums formationen preiszugeben und »Geständnisse« Leben, noch bevor dieses Gefängnis an die abzulegen, um diese vor Gericht gegen sie ver- irakischen Behörden übergeben wurde. Die wenden zu können. Im Oktober veröffentlichte US-Streitkräfte im Irak kündigten in beiden Wikileaks geheime Dokumente der US-Streit- Fällen eine Autopsie an. Bis zum Jahresende kräfte im Irak, die deutlich machten, dass US- waren jedoch keine Informationen über die To- Soldaten ihren Vorgesetzten bis Ende 2009 desursache und die genauen Umstände des viele Male gemeldet hatten, es gebe Beweise Todes der beiden Häftlinge veröffentlicht wor- dafür, dass die irakischen Sicherheitskräfte den. Folter anwendeten. Diese Meldungen führten aber offenbar nicht zu einer Untersuchung der Gerichtsverfahren gegen ehemalige Vorfälle. Mitglieder der Ba’ath-Partei 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Im April 2010 gab es Berichte über die Ent- Das Oberste Irakische Strafgericht (Supreme deckung eines bisher unbekannten Haftzen- Iraqi Criminal Tribunal – SICT) setzte die straf- trums am ehemaligen Muthanna-Flughafen im rechtliche Verfolgung ehemaliger führender 000835 Zentrum von Bagdad. Dort wurden mehr als Mitglieder der Ba’ath-Partei und anderer Per- 400 Häftlinge festgehalten. Die meisten von sonen aus dem Umkreis des früheren Präsi- ihnen waren Sunniten, die Ende 2009 in Mo- denten Saddam Hussein fort, der 2003 ge- sul festgenommen worden waren. Fast alle stürzt worden war. Ihnen wurden Kriegsverbre- Häftlinge des geheimen Gefängnisses gaben chen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, Opfer von Folter geworden zu sein. Die Ein- und andere schwere Straftaten zur Last gelegt. richtung unterstand dem Vernehmen nach Die Prozesse entsprachen nicht den interna- dem Büro von Ministerpräsident Nuri al-Maliki. tionalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Die Regierung ließ etwa 95 Gefangene frei und Das SICT war nicht unabhängig, und dem Ver- verlegte die anderen Häftlinge in das al-Rusafa- nehmen nach sollen die Rechtsanwälte und Gefängnis in Bagdad. Obwohl die Behörden Richter von Politikern beeinflusst worden sein. bestritten, dass es sich um ein geheimes  Im Oktober 2010 ergingen Todesurteile gegen Haftzentrum handelte, wurde es dennoch ge- zwei ehemalige Minister, den 74-jährigen ehe- schlossen. Drei Offiziere der für das Gefängnis maligen Außenminister Tarik Aziz und gegen zuständigen Militäreinheit wurden verhaftet. den ehemaligen Innenminister Sadoun Shakir. Außerdem wurde Saddam Husseins Privatse- Tod im Gewahrsam kretär Abed Hamoud vom SICT zum Tode ver- Mehrere Häftlinge kamen 2010 im Gewahrsam urteilt. Sie waren für schuldig befunden wor- ums Leben, wahrscheinlich als Folge von Fol- den, an der Eliminierung religiöser schiitischer ter und anderen Misshandlungen. Parteien beteiligt gewesen zu sein.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht  Der ehemalige Armeeoffizier Riyadh Moham-

202 Irak Menschenrechtsverletzungen durch vor, wenn ein Mann seine Frau oder eine weib- Angehörige der US-Streitkräfte liche Verwandte tötet, die er auf frischer Tat Angehörige der US-Streitkräfte im Irak waren dabei ertappt, Ehebruch zu begehen. Das Ge- für schwere Menschenrechtsverletzungen ver- setz wurde bislang nicht geändert. antwortlich, darunter widerrechtliche Tötungen von Zivilpersonen. Flüchtlinge und Binnenvertriebene  Omar Abdullah und seine Frau kamen am Dem Vernehmen nach hielten sich 1,5 Mio. ira- 10. März ums Leben, als US-amerikansiche kische Flüchtlinge in Syrien, Jordanien, dem Truppen im Bagdader Stadtteil al-Iskan das Libanon, der Türkei und anderen Ländern der Feuer auf ihr Auto eröffneten. In einer Stel- Region auf. Weitere 1,5 Mio. Menschen lebten lungnahme der US-Streitkräfte soll davon die weiterhin als Binnenvertriebene im eigenen Rede gewesen sein, dass das Ehepaar bei Land, darunter rund 500000 Obdachlose, die einem gemeinsamen Einsatz mit irakischen Si- in Siedlungen oder Lagern unter äußerst cherheitskräften getötet wurde und es eine ge- schwierigen Bedingungen lebten. Tausende meinsame Untersuchung geben werde. Wei- von Binnenflüchtlingen kehrten an ihre Wohn- tere Einzelheiten wurden nicht bekannt. orte zurück in der Annahme, die Sicherheits- Wikileaks veröffentlichte Tausende von gehei- lage habe sich gebessert. Die Rückkehrer stan- men Akten. Sie belegten u. a., dass die US- den jedoch vor großen Problemen. Streitkräfte in den vergangenen Jahren viele ira- Mehrere europäische Staaten schoben abge- kische Zivilisten an Sicherheitskontrollpunkten lehnte Asylbewerber in den Irak ab und miss- erschossen. Entgegen allen Dementis versuch- achteten damit anderslautende Empfehlungen ten die US-amerikansichen Militärbehörden, des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge. das Ausmaß der zivilen Todesopfer während des Irakkonflikts zu dokumentieren. Jüngste Todesstrafe Schätzungen gehen für 2004 – 09 von insge- 2010 wurden mindestens 279 Menschen zum samt 66081 getöteten Zivilpersonen aus. Tode verurteilt, es war von mindestens 1300 Gefangenen in den Todeszellen die Rede. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen Behörden machten allerdings grundsätzlich Frauen waren das Ziel gewalttätiger Angriffe be- keine Angaben zur Todesstrafe. Eine Hinrich- waffneter Gruppen und erhielten Drohungen, tung wurde öffentlich bekannt, es ist jedoch wenn sie sich nicht an die strikten Bekleidungs- davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl vorschriften hielten. Sie wurden außerdem der Hinrichtungen erheblich höher liegen Opfer von familiärer Gewalt, da die irakischen dürfte. Gesetze diesbezüglich unzureichend waren Das Zentrale Irakische Strafgericht (Central und es in der Praxis an Schutzmöglichkeiten Criminal Court of Iraq) verhängte die meisten mangelte. Viele Frauen und Mädchen muss- Todesurteile gegen Angeklagte, die wegen be- ten sich schädlichen Praktiken fügen wie waffneter Anschläge schuldig gesprochen Zwangs- und Frühverheiratungen. worden waren. Die Prozesse genügten durch- Im Oktober 2010 gab das Ministerium für weg nicht den internationalen Standards für Menschenrechte bekannt, dass 2009 mindes- faire Gerichtsverfahren. Viele Angeklagte be- tens 84 Frauen sogenannten Tötungen aus schwerten sich, dass sie keinen Verteidiger Gründen der »Familienehre« zum Opfer gefal- ihrer Wahl benennen konnten und dass man len waren. Dabei waren die Tötungen von sie gezwungen habe, »Geständnisse« zu un- Frauen in der Region Kurdistan nicht mitge- terzeichnen, die während ihrer Untersuchungs- rechnet. Das Ministerium forderte erneut Ge- haft ohne Kontakt zur Außenwelt unter Folter setzesänderungen, insbesondere eine Reform und Einschüchterungen erzwungen worden von Artikel 409 des Strafgesetzbuchs. Er sieht seien. Auch der SICT sprach Todesurteile aus. eine Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis  Ali Hassan al-Majid, ein Cousin von Saddam

Irak 203 Hussein und ehemaliger leitender Beamter, folge der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) wurde am 25. Januar 2010 hingerichtet. Er war nahe, einer der Parteien der Regionalregie- zuvor vier Mal zum Tode verurteilt worden, zu- rung. Die Behörden nahmen elf Goran-Aktivis- letzt am 17. Januar. ten fest. Gegen die Personen, die die Ver- Im Dezember 2010 gehörte der Irak zu den sammlung gestört hatten, wurde nicht ermittelt. wenigen Staaten, die gegen die Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Recht auf freie Meinungsäußerung Hinrichtungsmoratorium stimmten. Mehrere unabhängige Journalisten wurden an- gegriffen. Region Kurdistan  Am 4. Mai 2010 wurde der Student und Jour- Das kurdische Autonomiegebiet im Norden des nalist Sardasht Osman in Erbil von unbekann- Irak blieb von der politisch motivierten Gewalt ten bewaffneten Männern entführt. Zwei Tage im Rest des Landes weitgehend verschont. Be- später fand man seine Leiche in Mosul in einer züglich der Menschenrechte war weiterhin eine Gegend, die nicht von der kurdischen Regional- allgemeine Verbesserung festzustellen, es gin- regierung verwaltet wird. Meldungen zufolge gen dennoch viele Berichte über Verstöße ein. hatte er zuvor anonyme Drohungen erhalten, Im Mai 2010 wurde ein Gesetz zur Schaffung weil er in Artikeln führende Politiker der Regio- einer Menschenrechtskommission für die Re- nalregierung kritisiert hatte. Eine von der Regio- gion Kurdistan verabschiedet. Im Juni verlän- nalregierung eingesetzte Untersuchungskom- gerte das Parlament von Kurdistan die Anwen- mission teilte jedoch am 15. September mit, dung des Antiterrorgesetzes aus dem Jahr 2006 Sardasht Osman sei von Ansar al-Islam, einer für weitere zwei Jahre. Im November folgte ein kurdischen sunnitischen bewaffneten Gruppe, Gesetz zur Einschränkung von Demonstratio- getötet worden. Die Behörden gaben an, einer nen. der mutmaßlichen Täter sei festgenommen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Aus Anlass des Opferfestes Eid al-Adha im worden. Sardasht Osmans Familie wies das November ordnete der Präsident der kurdi- Ergebnis der Untersuchung zurück. schen Regionalregierung eine Amnestie an. Be- 000835 richten zufolge sollen 207 Gefangene freige- Gewalt gegen Frauen kommen sein. Unter den Freigelassenen waren Frauen wurden weiterhin Opfer von Diskrimi- auch einige Personen, die Haftstrafen verbüß- nierung und Gewalt. Es gingen Berichte über ten, weil sie Verbrechen im Namen der »Fami- Tötungen von Frauen durch männliche Famili- lienehre« begangen hatten. Frauenrechtlerin- enmitglieder ein. Zahlreiche Frauen sollen in- nen kritisierten diese Freilassungen. folge von Verbrennungen gestorben sein, die sie sich selbst zugefügt hatten. Weibliche Ge- Gewalt gegen Oppositionelle nitalverstümmelung war dem Vernehmen nach Mitglieder und Anhänger oppositioneller politi- weit verbreitet. Offiziellen kurdischen Angaben scher Gruppen wurden bedroht, schikaniert, zufolge wurden im ersten Halbjahr 2010 min- angegriffen oder verhaftet. destens 671 Frauen Opfer »schwerer häusli-  Am 14. Februar 2010 griffen unbekannte be- cher Gewalt« und mindestens 63 Frauen wur- waffnete Männer das Büro der Islamischen den sexuell missbraucht. Union Kurdistans in Sulaimaniya an. Verletzt wurde jedoch niemand. Vier Tage später nah- Amnesty International: Missionen und Berichte men die Regierungsbehörden etliche Mitglieder  Delegierte von Amnesty International besuchten die Region der Islamischen Union in Dohuk fest. Kurdistan in den Monaten Mai und Juni. Sie machten sich  Am 16. Februar 2010 unterbrachen bewaff- ein Bild über die Lage der Menschenrechte und führten Ge- nete Männer in Sulaimaniya gewaltsam eine spräche mit der Regierung. Die Delegation wurde vom In- nenminister sowie anderen hochrangigen Vertretern empfan- Versammlung der Oppositionsgruppe Goran gen und konnte auch mit einigen Gefangenen sprechen. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht (Wandel). Die Angreifer standen Berichten zu-

204 Irak Reisen in andere Regionen des Irak wurden als zu unsicher tionen oder persischsprachigen Medien eingestuft. im Ausland zusammenarbeiten, drohten  Iraq: Civilians under fire (MDE 14/002/ 2010) Festnahme, Folter und Gefängnis. Re-  Iraq: Human rights briefing (MDE 14/004/ 2010) gierungskritiker, Frauenrechtlerinnen,  New order, same abuses: Unlawful detentions and torture in Personen, die sich für die Rechte von Iraq (MDE 14/006/2010) Minderheiten einsetzten, sowie andere Menschenrechtsverteidiger, Rechtsan- wälte, Journalisten und Studierende wur- den im Zuge von Massenverhaftungen oder anderweitig festgenommen und zu Hunderten inhaftiert. Folterungen und Iran andere Misshandlungen an Gefangenen waren an der Tagesordnung und blieben Amtliche Bezeichnung: Islamische Republik Iran straflos. Frauen wurden weiterhin durch Staatsoberhaupt: Ayatollah Sayed Ali Khamenei die Gesetzgebung und im Alltag diskri- Regierungschef: Mahmoud Ahmadinedschad miniert. Die Behörden räumten die Hin- Todesstrafe: nicht abgeschafft richtung von 252 Personen ein, es gab Einwohner: 75,1 Mio. jedoch glaubwürdige Berichte über mehr Lebenserwartung: 71,9 Jahre als 300 weitere Hinrichtungen. Die tat- Kindersterblichkeit (m/w): 33 / 35 pro 1000 sächliche Gesamtzahl könnte sogar noch Lebendgeburten höher gewesen sein. Unter den Hinge- Alphabetisierungsrate: 82,3% richteten war mindestens eine Person, die zur Tatzeit noch minderjährig war. Die Behörden hielten 2010 die drasti- Es wurden Todesurteile durch Steinigung schen Beschränkungen der Rechte auf verhängt. Soweit bekannt wurden je- freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- doch keine Steinigungen vollstreckt. Da- und Versammlungsfreiheit weiterhin gegen wurden Prügel- und Amputati- aufrecht. Iranische und internationale onsstrafen vermehrt ausgeführt. Medien unterlagen einer weitreichen- den Kontrolle, mit dem Ziel, iranischen Hintergrund Staatsbürgern den Kontakt zur übrigen Im Februar 2010 bewertete der UN-Menschen- Welt zu erschweren. Personen oder Grup- rechtsrat im Rahmen der Universellen Regel- pen, die den Anschein erweckten, als mäßigen Überprüfung (UPR) die Lage der Men- würden sie mit Menschenrechtsorganisa- schenrechte im Iran. Die Regierung akzep- tierte die allgemeinen Empfehlungen des Gre- miums, wies jedoch alle Empfehlungen zu- rück, die darauf abzielten, die Diskriminierung aufgrund von Religion und Geschlecht zu be- enden. Kritik an der Anwendung der Todes- strafe, insbesondere gegen jugendliche Straf- täter, lehnte die Regierung ebenso ab wie die Empfehlung, mit bestimmten UN-Menschen- rechtsorganen zusammenzuarbeiten. Im April wurde der Iran in die UN-Kommission für die Rechtsstellung der Frau gewählt. Im August zeigte sich der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung be- sorgt darüber, dass verschiedene Minderheiten

Iran 205 ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und Rechte auf freie Meinungsäußerung, kulturellen Rechte nur begrenzt ausüben konn- Vereinigungs- und ten, insbesondere bezüglich Wohnraum, Bil- Versammlungsfreiheit dung, Meinungsfreiheit, Religion, Gesundheit Die Regierung hielt an den 2009 verhängten und Beschäftigung. Im September betonte der drastischen Einschränkungen der Rechte auf UN-Generalsekretär in einem Bericht vor der freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und UN-Generalversammlung, im Iran gebe es be- Versammlungsfreiheit fest. Die Sicherheits- züglich der Menschenrechte viele Bereiche, die kräfte waren angewiesen, weitere öffentliche anhaltend Sorge bereiteten. Im Dezember ver- Protestkundgebungen mit Gewalt zu unterbin- abschiedete die UN-Generalversammlung eine den oder aufzulösen. Dutzende, wenn nicht Resolution, in der sie ihre Besorgnis über die Hunderte von Menschen, die 2009 im Zusam- Lage der Menschenrechte im Iran zum Aus- menhang mit den Massenprotesten festgenom- druck brachte und die Regierung aufforderte, men worden waren, blieben weiterhin inhaf- den Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu tiert. Die meisten von ihnen verbüßten Gefäng- setzen. nisstrafen, einige kamen frei. Zahlreiche wei- Dutzende, wenn nicht Hunderte von Iranern tere Personen wurden 2010 festgenommen. flohen weiterhin aus dem Land, da sie ange- Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi, sichts des hohen Maßes an Repression durch die bei den Präsidentschaftswahlen im Juni die Behörden um ihre Sicherheit fürchteten. 2009 gegen Präsident Ahmadinedschad kandi- Das iranische Programm zur Urananreiche- diert hatten, waren 2010 in ihrer Bewegungs- rung sorgte weiterhin für Spannungen auf in- freiheit noch immer stark eingeschränkt. Ge- ternationaler Ebene. Im Juni beschloss der UN- folgsleute der Regierung griffen sie und ihre Sicherheitsrat eine weitere Verschärfung der Familien tätlich an. Zeitungen durften weder wirtschaftlichen und politischen Sanktionen ge- über sie noch über den ehemaligen Präsiden- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gen das Land. Hintergrund waren Befürchtun- ten Mohammad Khatami berichten. Zwei große gen, der Iran könne Atomwaffen entwickeln. politische Oppositionsparteien wurden 2010 Im Jahr 2010 kamen viele Zivilpersonen bei verboten, andere blieben verboten. 000835 Bombenattentaten bewaffneter Gruppen ums Die Regierung »säuberte« die Universitäten Leben. So starben im Juli bei einem Anschlag von »weltlichen« Lehrkräften. Studierende, die auf eine Moschee in Zahedan 21 Menschen, an Protestkundgebungen auf dem Campus teil- darunter viele Gläubige. Hunderte wurden ver- genommen hatten, wurden vom Studium aus- letzt. Bei einem weiteren Anschlag in der Nähe geschlossen. einer Moschee in Chabahar wurden mindes- Die Behörden beschränkten weiterhin den tens 38 Menschen getötet und mehr als 50 Zugang zu Informationen, die von außen ka- Personen verletzt. Zu beiden Anschlägen be- men, z. B. über das Internet. Der Empfang in- kannte sich die Widerstandsbewegung des ternationaler Radio- und Fernsehsender Iranischen Volkes (People’s Resistance Move- wurde gestört. Im Januar verboten die Behör- ment of Iran – PRMI), eine auch unter dem den den iranischen Bürgern den Kontakt zu Namen Jondallah bekannte bewaffnete rund 60 Medien und Organisationen mit Sitz im Gruppe. Im September riss ein Sprengstoffan- Ausland. Wer trotzdem bereit war, sich gegen- schlag in Mahabad mindestens zehn Men- über den wenigen großen persischsprachigen schen in den Tod und verletzte mehr als 80 Medien zur Lage der Menschenrechte zu äu- Personen, darunter viele Kinder. Berichten zu- ßern, wurde von den Sicherheitskräften bedroht folge sollen iranische Sicherheitskräfte darauf- oder schikaniert. Viele Iraner gingen deshalb hin die Grenze zum Irak überquert und dort dazu über, ihre Meinungen über die sozialen mindestens 30 Personen getötet haben. Kurdi- Netzwerke im Internet zu verbreiten. sche Gruppen wiesen die Verantwortung für Die Behörden verboten Zeitungen und stu-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht den Anschlag zurück. dentische Publikationen. Journalisten, deren

206 Iran Berichterstattung angeblich »gegen das Sys- leidigung der Führung des Landes« und »Pro- tem« gerichtet war, wurden strafrechtlich ver- paganda gegen das System« zu drei Jahren folgt. Telefongespräche wurden routinemäßig Gefängnis verurteilt. abgehört, E-Mails und SMS-Mitteilungen ab-  Am 4. September 2010 wurde die Menschen- gefangen. Eine undurchsichtige »Cyberarmee«, rechtsanwältin Nasrin Sotoudeh festgenom- die Berichten zufolge mit den Revolutionären men. Ende des Jahres befand sie sich noch im- Garden in Verbindung stehen soll, organisierte mer in Haft. Man warf ihr Vergehen gegen die Angriffe auf vermeintlich regierungskritische nationale Sicherheit vor. Nasrin Sotoudeh hatte iranische und ausländische Internetseiten. An- sich in friedlicher Weise für die Menschen- dere Internetseiten wurden gefiltert, darunter rechte eingesetzt und ihre Mandanten vertei- auch solche, die in Bezug zu religiösen Füh- digt. rungspersönlichkeiten standen. Unfaire Gerichtsverfahren Willkürliche Festnahmen Das Strafjustizsystem wurde 2010 weiter ge- und Inhaftierungen schwächt. Es bot so gut wie keinen Schutz der Sicherheitsbeamte nahmen weiterhin willkür- Menschenrechte. Angeklagte, die aus politi- lich Regierungskritiker sowie Personen fest, schen Gründen vor Gericht standen, erhielten die aufgrund ihrer Meinung oder aufgrund ihres äußerst unfaire Verfahren. Die Anklagepunkte Lebensstils als Abweichler gegenüber den of- waren dabei häufig so vage formuliert, dass fiziell verordneten Werten galten. Dabei traten sich darin keine strafbaren Handlungen erken- die Beamten in aller Regel in Zivil auf, sie wie- nen ließen. Die Angeklagten hatten häufig kei- sen sich nicht aus und zeigten keinen Haftbe- nen Rechtsbeistand und wurden aufgrund von fehl vor. Zu den Festgenommenen zählten »Geständnissen« oder anderen Informationen Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Ge- verurteilt, die offenbar während der Untersu- werkschafter, Studierende und Oppositionelle. chungshaft unter Folter erpresst worden wa- Die Festgenommenen blieben oft über lange ren. Die Gerichte ließen diese »Geständnisse« Zeiträume inhaftiert. Man verweigerte ihnen als Beweismittel zu, ohne zu untersuchen, wie den Kontakt zu einem Rechtsbeistand und zu sie zustande gekommen waren. ihren Familien. Sie wurden gefoltert oder an-  Der Blogger Hossein Ronaghi-Maleki, der im derweitig misshandelt und erhielten keine me- Dezember 2009 festgenommen worden war, dizinische Behandlung. Einige wurden nach wurde zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. unfairen Gerichtsverfahren zu Freiheitsstrafen Die Anklage lautete auf Vergehen gegen die verurteilt. Andere, die in den vergangenen nationale Sicherheit. Als er sich darüber be- Jahren in unfairen Prozessen verurteilt worden klagte, dass man ihn gefoltert habe, sagte der waren, befanden sich noch immer im Gefäng- Richter, er habe »das verdient«. nis.  Im Februar 2010 stellte die UN-Arbeitsgruppe Folter und andere Misshandlungen für willkürliche Inhaftierungen fest, dass drei Folter und andere Misshandlungen waren 2010 US-amerikanische Bürger, die im Juli 2009 in der Untersuchungshaft nach wie vor weit beim Wandern in der Nähe der irakisch-irani- verbreitet. Den Übergriffen wurde dadurch Vor- schen Grenze festgenommen worden waren, schub geleistet, dass den Häftlingen regelmä- willkürlich inhaftiert seien. Im August befand ßig der Kontakt zu einem Rechtsanwalt verwei- die Arbeitsgruppe, dass auch Isa Saharkhiz gert wurde und die Verantwortlichen für die willkürlich inhaftiert sei, und forderte seine so- Menschenrechtsverletzungen straffrei blieben. fortige Freilassung. Der Journalist, der dem ira- Es gingen Berichte ein, dass Inhaftierte heftig nischen Komitee zum Schutz der Pressefrei- geschlagen wurden und dass sie mit dem Kopf heit angehört, war im Juli 2009 inhaftiert wor- in eine Toilette getaucht und gezwungen wur- den. Im September 2010 wurde er wegen »Be- den, menschliche Exkremente zu sich zu neh-

Iran 207 men. Es gab Berichte über Scheinhinrichtun- gerichtliche Untersuchungen eingeleitet. Sie gen und darüber, dass Inhaftierte in winzige, standen im Zusammenhang mit Misshandlun- überfüllte Verschläge gesperrt wurden. Die gen in einem Studentenwohnheim der Tehe- Foltermethoden umfassten weiterhin den Ent- raner Universität unmittelbar nach den Wahlen zug von Licht, Nahrung und Wasser sowie die im Jahr 2009. systematische Verweigerung von medizinischer Behandlung. In einem Fall wurde ein männli- Menschenrechtsverteidiger cher Gefangener dem Vernehmen nach verge- Menschenrechtsverteidiger, die sich für die waltigt, anderen Häftlingen wurde die Verge- Rechte von Frauen und ethnischen Minder- waltigung angedroht. heiten einsetzten und ein Ende von Steinigun-  Im August 2010 starb der kurdische Jugend- gen sowie von Hinrichtungen jugendlicher liche Gholam-Reza Bayat offenbar an inneren Straftäter forderten, waren das gesamte Jahr Blutungen, nachdem er im Gewahrsam in Ka- über schweren Menschenrechtsverletzungen myaran geschlagen worden war. ausgesetzt. Frauenrechtlerinnen, Rechtsan- Es drangen weitere Einzelheiten über Folte- wälte, Gewerkschafter, Menschen, die sich für rungen im Jahr 2009 ans Licht der Öffentlich- die Rechte ethnischer Minderheiten einsetzten, keit. Im Februar schilderte ein ehemaliges Mit- Studierende und andere Menschenrechtsakti- glied der freiwilligen paramilitärischen Basij- visten, die in den vergangenen Jahren in unfai- Milizen, wie zahlreiche Jungen in Shiraz nach ren Prozessen verurteilt worden waren, saßen einer Razzia in Frachtcontainer geworfen und noch immer im Gefängnis. Andere wurden will- systematisch vergewaltigt worden waren. Nach kürlich inhaftiert, schikaniert, strafrechtlich Beschwerden bei einem Anführer der Basij- verfolgt und in unfairen Gerichtsverfahren ver- Milizen wurden er und weitere Personen 100 urteilt. Einige waren gewaltlose politische Ge- Tage lang ohne Kontakt zu ihren Familien fest- fangene. Andere durften nicht mehr ins Aus- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gehalten und geschlagen. Den Angaben zu- land reisen. Unabhängige Gewerkschaften folge wurde er außerdem einer Scheinhinrich- blieben weiterhin verboten. tung unterzogen.  , ein Journalist, Autor und 000835 Leiter der verbotenen Vereinigung zur Verteidi- Straflosigkeit gung der Rechte von Gefangenen, war von De- Angehörige der Sicherheitskräfte verübten wei- zember 2009 bis Juni 2010 inhaftiert. Im De- terhin Menschenrechtsverletzungen und wur- zember 2010 trat er eine siebenjährige Frei- den dafür fast nie strafrechtlich verfolgt. heitsstrafe an. Er war wegen seines friedlichen Zwölf Männer, darunter elf Staatsbeamte, Einsatzes für die Menschenrechte und seiner wurden angeklagt, Gefangene im Kahrizak- journalistischen Arbeit strafrechtlich verfolgt Gefängnis schwer misshandelt zu haben, bevor worden. das Gefängnis im Juli 2009 geschlossen Die Behörden schikanierten Menschen- wurde. Die Beamten niedrigerer Dienstgrade rechtsorganisationen und nahmen einige ihrer wurden als Bauernopfer nur für einige der Mitglieder fest. Dies betraf u. a. die Organisatio- schwerwiegenden Übergriffe zur Rechenschaft nen Committee of Human Rights Reporters gezogen, die dort nach den Wahlen im Juni (CHRR) und Human Rights Activists in Iran 2009 verübt worden waren und die zum Tod (HRAI). von mehreren Häftlingen geführt hatten. Zwei  Shiva Nazar Ahari, die dem CHRR angehört, der zwölf Männer erhielten Todesurteile, wur- war im Dezember 2009 festgenommen wor- den aber dann von den Familien der Opfer be- den und kam im September 2010 gegen Kau- gnadigt, was nach iranischem Recht möglich tion frei. Unmittelbar danach wurde sie zu ist. Neun weitere Angeklagte erhielten Frei- einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. heitsstrafen. Mehr als die Hälfte der Strafe sollte sie in

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Gegen mindestens 50 Personen wurden 2010 einem entlegenen Gefängnis im innerirani-

208 Iran schen Exil verbringen. Sie legte Rechtsmittel liche Kleiderordnung hielten. Im September gegen das Urteil ein und blieb bis zu der Ent- wurden Berichte bekannt, wonach sich scheidung des Berufungsgerichts auf freiem die Zahl der Frauen, die ein Universitäts- Fuß. studium aufnehmen wollten, erheblich verrin- gert hat. Diskriminierung von Frauen Frauen waren nach wie vor Diskriminierung Diskriminierung von ethnischen ausgesetzt, sowohl durch die Gesetzgebung Minderheiten als auch im täglichen Leben. Frauenrechtlerin- Ethnische Minderheiten litten weiterhin unter nen wurden weiterhin Opfer gezielter staatli- systematischer Diskriminierung sowohl durch cher Unterdrückungsmaßnahmen. Das Parla- die Gesetzgebung als auch im Alltag. Dies be- ment diskutierte 2010 über einen Gesetzent- traf u. a. Angehörige der arabischen Gemein- wurf zum Schutz der Familie. Sollten die um- schaft der Ahwazi, Aserbaidschaner, Belut- strittenen Klauseln tatsächlich in Kraft treten, schen, Kurden und Turkmenen. Der Ge- würden die Rechte von Frauen noch weiter un- brauch ihrer jeweiligen Muttersprachen in tergraben. Personen, die sich mit der Kampa- Schulen und Regierungseinrichtungen blieb gne »Eine Million Unterschriften« für ein Ende untersagt. Diejenigen, die sich für ein stärkeres der rechtlichen Diskriminierung von Frauen politisches Mitspracherecht oder die Anerken- einsetzten, wurden weiterhin unter Druck ge- nung der wirtschaftlichen, sozialen und kultu- setzt. rellen Rechte der Minderheiten einsetzten,  Mahboubeh Karami, die an der Kampagne wurden systematisch bedroht, festgenommen »Eine Million Unterschriften« beteiligt war, und inhaftiert. wurde im März zum fünften Mal festgenommen  Im September 2010 wurden dem Vernehmen und blieb bis 18. August 2010 in Haft. Im Sep- nach vier Angehörige der Gemeinschaft der tember wurde sie wegen ihrer Mitgliedschaft Ahwazi, die seit Juni 2009 inhaftiert waren, zum bei HRAI, wegen »Propaganda gegen den Tode verurteilt. Sie waren u. a. wegen »Feind- Staat« und wegen »Verschwörung gegen den schaft gegen Gott und Verdorbenheit auf Er- Staat« zu vier Jahren Haft verurteilt. Bis zur den« angeklagt worden. Entscheidung des Berufungsgerichts blieb sie  Rund 20 aserbaidschanische Menschen- auf freiem Fuß. rechtsverteidiger, die im Mai festgenommen  Fatemeh Masjedi und Maryam Bigdeli drohte worden waren, kamen im November 2010 frei. Ende 2010 eine Haftstrafe von sechs Monaten, Die Festnahme erfolgte rund um den Jahres- nachdem ein Berufungsgericht die Schuldsprü- tag der Massenproteste von 2006. Diese hatten che gegen sie bestätigt hatte. Die beiden sich gegen eine Karikatur in einer staatlichen Frauen waren wegen Vorwürfen im Zusammen- Zeitung gerichtet, die von vielen Aserbaidscha- hang mit dem Sammeln von Unterschriften für nern als beleidigend empfunden worden war. die Kampagne »Eine Million Unterschriften« Der Schriftsteller Akbar Azad befand sich wei- schuldig gesprochen worden. terhin in Haft, weil seine Familie die hohe Kau- Im April forderte die Oberste Justizautorität tionssumme nicht aufbringen konnte. Ayatollah Sayed Ali Khamenei, man müsse der  Mohammad Saber Malek Raisi, ein 15-jähri- Durchsetzung der staatlich verordneten Beklei- ger belutschischer Jugendlicher aus Sarbaz, dungsvorschriften wieder mehr Aufmerksam- wurde einem Bericht von Juli zufolge seit Sep- keit schenken. Im Mai wurde unter Berufung tember 2009 ohne Anklage oder Gerichtsver- auf ein Gesetz aus dem Jahr 2005 eine fahren in Haft gehalten. Es wurde vermutet, »Keuschheits- und Sittsamkeitskampagne« dass mit seiner Inhaftierung Druck auf seinen gestartet. Die Kampagne zielte auf Frauen, die älteren Bruder ausgeübt werden sollte, sich sich in der Öffentlichkeit, wie z. B. auf dem den Behörden zu stellen. Im Dezember wur- Campus einer Universität, nicht an die staat- den elf belutschische Männer, die in unfairen

Iran 209 Prozessen verurteilt worden waren, in Zahe-  Im Mai 2010 wurden 24 Derwische zu Ge- dan hingerichtet. Es handelte sich dabei offen- fängnisstrafen, inneriranischem Exil und Aus- bar um eine Vergeltungsmaßnahme für einen peitschungen verurteilt. Sie hatten 2009 an Bombenanschlag der PRMI fünf Tage zuvor. einer Kundgebung in Gonabad im Nordosten  Kaveh Ghasemi Kermanshahi, ein kurdischer des Iran teilgenommen. Menschenrechtsverteidiger und Mitglied der  Der zum Christentum konvertierte Yousef Kampagne »Eine Million Unterschriften«, Naderkhani, ein Mitglied der Church of Iran wurde von Februar bis Mai 2010 im Gewahr- in Rasht, wurde im Oktober 2010 wegen sam gehalten, davon 80 Tage in Einzelhaft. Sein »Apostasie« (Abfall vom Glauben) zum Tode Verfahren begann im Oktober. Ihm wurden verurteilt. Vergehen im Zusammenhang mit der nationa- len Sicherheit zur Last gelegt. Grausame, unmenschliche und  Im Oktober wurde der Turkmene Arash Sag- erniedrigende Strafen har zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er Iranische Gerichte verhängten Prügel- und Am- hatte den Wahlkampf des Präsidentschaftskan- putationsstrafen, die auch vermehrt vollstreckt didaten Mir Hossein Mussawi unterstützt. Die wurden. Das genaue Ausmaß dieser Strafen Anklage lautete auf »Spionage für Turkmenis- blieb im Dunkeln. In Reden vor dem UN-Men- tan«. schenrechtsrat im April und Juni betonte der Generalsekretär der staatlichen iranischen Religionsfreiheit Menschenrechtsbehörde, Mohammad Javad Angehörige religiöser Minderheiten sahen sich Larijani, dass die Regierung diese Strafen auch 2010 Diskriminierung, Schikanen und nicht als Form der Folter betrachte. willkürlichen Festnahmen ausgesetzt. Zudem  Im April 2010 wurde der Journalist und Fil- wurde in einigen Fällen ihr Gemeindeeigen- memacher Mohammad Nourizad zu dreiein- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen tum beschädigt. Zu den Betroffenen zählten halb Jahren Haft und 50 Peitschenhieben ver- Personen, die vom Islam zum Christentum urteilt. Ihm wurde »Propaganda gegen das konvertiert waren, sunnitische Muslime, oppo- System« sowie »Beamtenbeleidigung« vorge- 000835 sitionelle schiitische Geistliche sowie die Ge- worfen. Im November sagte er, dass er und meinschaften der Ahl-e Haqq und der Der- weitere Personen gefoltert worden seien. Im De- wische. Anhänger der Baha’i-Glaubensge- zember trat er in einen Hungerstreik. meinschaft, denen weiterhin der Zugang zu weiterführenden Schulen verwehrt wurde, Todesstrafe mussten mit verstärkter Verfolgung rechnen. Die Behörden räumten die Hinrichtung von 252  Der oppositionelle schiitische Geistliche Aya- Menschen ein, darunter fünf Frauen und ein tollah Kazemeyni Boroujerdi, der 2007 in jugendlicher Straftäter. Es gab glaubwürdige einem unfairen Gerichtsverfahren verurteilt Berichte über mehr als 300 weitere Hinrich- worden war, befand sich weiterhin in Haft. Im tungen, die meisten davon im Vakilabad-Ge- Dezember 2010 wurden sieben seiner Anhän- fängnis von Maschad, die offiziell nicht zuge- ger inhaftiert. geben wurden. Mindestens 143 weitere jugend-  Sieben führende Mitglieder der Baha’i-Glau- liche Straftäter saßen Ende 2010 noch in den bensgemeinschaft, die 2008 festgenommen Todeszellen ein. Es ist davon auszugehen, dass worden waren, wurden im August 2010 nach die tatsächlichen Zahlen noch höher waren, grob unfairen Gerichtsverfahren der Spionage da die Berichterstattung über die Todesstrafe und der Propaganda gegen den Islam für schul- von den Behörden eingeschränkt wurde. dig befunden. Sie erhielten Freiheitsstrafen Es wurden Todesurteile verhängt wegen Dro- von 20 Jahren. Im September sollen die Urteile genschmuggel, bewaffnetem Raub, Mord, von einem Berufungsgericht auf zehn Jahre Spionage, politisch motivierter Gewalt und Se-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht verkürzt worden sein. xualstraftaten. Die Behörden benutzten die To-

210 Iran desstrafe und Hinrichtungen auch als politi- sches Instrument. Irland  Im Januar 2010 wurden zwei Männer – ohne vorherige Ankündigung – durch den Strang Amtliche Bezeichnung: Republik Irland hingerichtet. Sie waren im Zusammenhang mit Staatsoberhaupt: Mary McAleese den Protesten nach den Präsidentschaftswah- Regierungschef: Brian Cowen len wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft monarchistischen Organisation zum Tode ver- Einwohner: 4,6 Mio. urteilt worden. Lebenserwartung: 80,3 Jahre  Im Mai 2010 richteten die Behörden vier Kur- Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 6 pro 1000 den hin, die wegen mutmaßlicher Verbindun- Lebendgeburten gen zu kurdischen Oppositionsgruppen verur- teilt worden waren. Die Standards zum Schutz von Kindern Es gab keine Berichte über Steinigungen. vor Missbrauch waren ungenügend, so- Doch drohte mindestens 15 Gefangenen, in wohl in der Gesetzgebung als auch in der der Mehrzahl Frauen, weiterhin die Hinrichtung Praxis. Die Haftbedingungen in den Ge- durch Steinigung. fängnissen entsprachen nicht den not-  Der Fall von Sakineh Mohammadi Ashtiani, wendigen Anforderungen, und die psy- die 2006 zum Tod durch Steinigung verurteilt chiatrische Versorgung wies erhebliche worden war, wurde überprüft. Er erregte welt- Defizite auf. weite Aufmerksamkeit, nachdem es Anzei- chen dafür gab, dass sie hingerichtet werden Hintergrund würde. Personen, die sich für Sakineh Mo- Anfang 2010 besuchte der Ausschuss des Eu- hammadi Ashtiani einsetzten, wurden schika- roparats zur Verhütung von Folter das Land. niert und festgenommen. Im Zentrum standen dabei die Haftbedingun- Im Dezember 2010 wurden Änderungen des gen und der Umgang mit Patienten in psychi- Gesetzes zur Drogenbekämpfung bekanntge- atrischen Einrichtungen. Im Juli ratifizierte Ir- geben. Damit kann die Todesstrafe künftig auch land die Konvention des Europarats gegen für Straftaten im Zusammenhang mit syntheti- Menschenhandel. schen Drogen verhängt werden. Ebenfalls im Dezember gehörte der Iran zu den wenigen Kinderrechte Staaten, die gegen die Resolution der UN-Ge- Nachdem der Ausschuss zur Untersuchung neralversammlung für ein weltweites Hinrich- von Kindesmissbrauch im Jahr 2009 seinen tungsmoratorium stimmten. Bericht vorgelegt hatte, versprach die Regie-

Amnesty International: Missionen und Berichte  Die iranischen Behörden beantworteten keine Briefe von Amnesty International und verweigerten weiterhin den Zu- gang zum Land. Sie hindern die Organisation auf diese Weise daran, die Lage der Menschenrechte vor Ort zu untersu- chen. Das Einreiseverbot gilt seit 1979.  Iran: Amnesty International’s comments on the national re- port presented by the Islamic Republic of Iran for the Uni- versal Periodic Review (MDE 13/021/ 2010)  From protest to prison: Iran one year after the election (MDE 13/062/ 2010)  Sakineh Mohammadi Ashtiani: A life in the balance (MDE 13/089/ 2010)  Iran: Executions by stoning (MDE 13/095/2010)

Irland 211 rung eine Reihe von Maßnahmen, die aber Inspektors für Gefängnisse und Hafteinrich- bislang noch nicht ergriffen wurden. So präsen- tungen (Inspector of Prisons) zufolge waren die tierte sie keinen Entwurf, um den Kinder- Gefängnisse des Landes stark überbelegt. Im schutz auf eine gesetzliche Grundlage zu stel- Mountjoy-Gefängnis war Gewalt unter den Häft- len. lingen an der Tagesordnung. Als »unmensch- Im Februar legte der Allparteienausschuss lich und erniedrigend« stufte der Bericht die in des Parlaments zur Einbeziehung von Kinder- den Gefängnissen von Dublin (Mountjoy), rechten in die Verfassung einen Vorschlag für Cork und Limerick berüchtigte Praxis des soge- eine entsprechende Verfassungsänderung nannten slopping out ein, bei der die Gefange- vor. Doch kam die Regierung ihrer Zusage nicht nen mangels Toiletten ihre Notdurft in einem Ei- nach, noch im Jahr 2010 einen Termin für mer verrichten müssen. einen Volksentscheid zu nennen, der für die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung Flüchtlinge und Asylsuchende notwendig ist. Die gemeinnützige Organisation Free Legal Ad- Es bestanden Bedenken, ob die Untersu- vice Centres, die landesweit Rechtsberatung chungen des staatlichen Gesundheitsdienstes und rechtliche Unterstützung für bedürftige (Health Service Executive) zu Todesfällen von Menschen anbietet, veröffentlichte im Februar Kindern in staatlichen Einrichtungen ange- einen Bericht, in dem sie scharfe Kritik an den messen und die Berichterstattung transparent Lebensbedingungen von Asylsuchenden übte. gewesen seien. Im März richtete die Regie- Die Asylsuchenden werden während des Ver- rung ein unabhängiges Gremium ein, das die fahrens auf verschiedene Aufnahmeeinrich- Untersuchungen des Gesundheitsdienstes tungen im Land verteilt, in denen sie bleiben über Todesfälle in staatlichen Einrichtungen müssen, bis über ihren Asylantrag entschie- überprüfen soll. den worden ist. Dem Bericht zufolge bietet die- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ses System »kein Umfeld, in dem die grundle- Rechte von Lesben, Schwulen, gendsten Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Gesundheit, Nahrung, Wohnung

000835 Bisexuellen und Transgender-Personen Im Juli wurde ein Partnerschaftsgesetz verab- und Familienleben, gewährleistet sind«. schiedet, nach dessen Inkrafttreten im Jahr Angesichts der Bedenken hinsichtlich der 2011 auch die Registrierung gleichgeschlechtli- Asylverfahren in Griechenland hat das oberste cher Partnerschaften möglich ist. Allerdings Zivil- und Strafgericht (High Court) dem Euro- stellt es gleichgeschlechtliche Partnerschaften päischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob nicht der Ehe gleich und enthält auch keine Irland dazu verpflichtet sei, Asylanträge von umfassenden Regelungen für die rechtliche Si- über Griechenland eingereisten Personen zu tuation von Kindern gleichgeschlechtlicher bearbeiten. Ende des Jahres waren alle Über- Partner. stellungen nach Griechenland gemäß der Im Juni 2010 zog die Regierung ihre Berufung Dublin-II-Verordnung faktisch ausgesetzt. im langwierigen Verfahren von Lydia Foy zu- rück, die den offiziellen Geschlechtseintrag in Recht auf Gesundheitsversorgung ihrer Geburtsurkunde von männlich in weib- In dem im Juli veröffentlichten Jahresbericht lich ändern lassen wollte. Außerdem kündigte des Inspektors für psychiatrische Kliniken sie die Einführung neuer Bestimmungen zur wurden die Zustände in einigen geschlossenen Anerkennung von Transgender-Personen an. Einrichtungen als »völlig inakzeptabel und un- menschlich« bezeichnet. Außerdem würden Haftbedingungen sich die massiven Personalkürzungen negativ Die Haftbedingungen in irischen Gefängnissen auf die fortschrittlichen Ansätze im Rahmen der entsprachen nicht den geforderten Standards. gemeindebasierten psychiatrischen Versor-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Einem im Oktober veröffentlichten Bericht des gung auswirken und der »Rückkehr zu einer

212 Irland eher stationär orientierten psychiatrischen palästinensischen Bevölkerung in den Versorgung« Vorschub leisten. besetzten Gebieten fest. Die Blockade des Gazastreifens verschlimmerte die Frauenrechte humanitäre Krise und schnitt die ge- Im Dezember befand der Europäische Ge- samte Bevölkerung von 1,5 Mio. Men- richtshof für Menschenrechte in dem als »A, schen praktisch von der Außenwelt ab. B, C gegen Irland« bezeichneten Fall, dass Ir- Die israelischen Behörden verweigerten land im Fall der Klägerin C einen Verstoß ge- oder verzögerten die Anträge auf Ausrei- gen Artikel 8 der Europäischen Menschen- segenehmigung von Hunderten von Pa- rechtskonvention begangen habe, weil die lästinensern, die eine spezielle medizini- Frau keinen wirksamen Zugang zu einem Ver- sche Behandlung benötigten. Einige fahren hatte, in dem sie ihr in der Verfassung von ihnen starben, während sie darauf festgeschriebenes Recht auf einen legalen warteten, aus dem Gazastreifen ausrei- Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Ge- sen zu dürfen. Der Großteil der Einwoh- fahr für ihr Leben hätte geltend machen kön- ner des Gazastreifens war auf interna- nen. tionale Hilfslieferungen angewiesen, die jedoch durch die Blockade stark behin- dert wurden. Im Mai töteten israelische Streitkräfte in internationalen Gewäs- sern neun Männer an Bord einer kleinen Flotte mit Hilfsgütern, die versuchte, die Blockade zu durchbrechen. Im West- Israel und besetzte jordanland war die Bewegungsfreiheit der Palästinenser durch Hunderte von is- palästinensische raelischen Straßensperren und Kontroll- punkten erheblich eingeschränkt. Die Gebiete mehr als 700 km lange Mauer bzw. der Zaun, die bzw. den Israel zum Großteil Amtliche Bezeichnung: Staat Israel auf dem Gebiet des Westjordanlands Staatsoberhaupt: Schimon Peres weiterbaute, tat ein Übriges. Bei der Zer- Regierungschef: Benjamin Netanyahu störung palästinensischer Häuser, Zis- Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten ternen und anderer öffentlicher Einrich- abgeschafft tungen im Westjordanland durch israeli- Einwohner: 7,3 Mio. (Israel); 4,4 Mio. sche Sicherheitskräfte war 2010 eine (besetzte Gebiete) Lebenserwartung: 80,3 Jahre (Israel); 72,9 Jahre (besetzte Gebiete) Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 Lebendgeburten (Israel); 23 / 18 pro 1000 Lebendgeburten (besetzte Gebiete)

Der im Januar 2009 zwischen den israe- lischen Streitkräften und bewaffneten palästinensischen Gruppierungen verein- barte Waffenstillstand wurde 2010 weit- gehend eingehalten. Die israelische Ar- mee hielt an der drakonischen Ein- schränkung der Bewegungsfreiheit der

Israel und besetzte palästinensische Gebiete 213 deutliche Steigerung zu verzeichnen. Hintergrund Die Auswirkungen betrafen Tausende von Die Lage in der Grenzregion zwischen Israel Palästinensern. Im Süden Israels rissen und dem Libanon blieb angespannt. Am 3. Au- die Behörden Häuser in Beduinendörfern gust kam es zu einem Schusswechsel zwischen ab. Der befristete teilweise Baustopp is- israelischen und libanesischen Soldaten, bei raelischer Siedlungen auf illegal be- dem mindestens drei Soldaten und ein libane- schlagnahmten palästinensischen sischer Journalist starben. Grundstücken lief am 26. September Obwohl der Waffenstillstand zwischen den is- aus, und die Bauarbeiten wurden wieder raelischen Streitkräften und bewaffneten pa- aufgenommen. Israel führte noch immer lästinensischen Gruppierungen 2010 weitge- keine zufriedenstellenden Untersu- hend eingehalten wurde, feuerten Letztere im- chungen von mutmaßlichen Kriegsver- mer wieder wahllos Raketen und Mörsergrana- brechen und anderen schweren Verlet- ten auf Südisrael ab (siehe Länderbericht Pa- zungen des Völkerrechts während der lästinensische Gebiete). Die Zahl der Angriffe Operation »Gegossenes Blei« (Cast ging jedoch im Vergleich zu den Vorjahren zu- Lead) durch. Bei der 22-tägigen Offen- rück. Israelische Streitkräfte töteten mehrere sive in Gaza im Dezember 2008 und Ja- Palästinenser, die sie für Angriffe verantwort- nuar 2009 waren fast 1400 Palästinen- lich gemacht hatten. Am 31. August wurden ser ums Leben gekommen, darunter vier israelische Siedler im Westjordanland er- mehr als 300 Kinder. Israelische Solda- schossen. Zu der Tat bekannten sich die Izz-al- ten und Siedler, die sich schwerer Über- Din-al-Qassam-Brigaden, der bewaffnete Arm griffe gegen Palästinenser wie ungesetz- der Hamas, die seit ihrem Wahlsieg 2006 den licher Tötungen, Körperverletzung und Gazastreifen verwaltet. Zerstörung von palästinensischem Eigen- Im September 2010 lud die US-Regierung zu 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen tum schuldig gemacht hatten, gingen in Verhandlungen zwischen Israel und der Paläs- der Regel straflos aus. Unverhältnismä- tinensischen Autonomiebehörde (PA) ein, die Hamas war jedoch ausgeschlossen. Kurze Zeit 000835 ßige Anwendung von Gewalt durch die israelischen Sicherheitskräfte führte zum später wurden die Verhandlungen jedoch be- Tod von 25 Palästinensern, unter ihnen reits abgebrochen, als der zehnmonatige teil- sechs Kinder. Hunderte von Palästinen- weise Baustopp für israelische Siedlungen in sern wurden von den israelischen Streit- den besetzten palästinensischen Gebieten am kräften festgenommen und inhaftiert. 26. September auslief. Die Palästinensische Au- Mehr als 250 Gefangene befanden sich tonomiebehörde sagte daraufhin ihre Teil- ohne Anklageerhebung oder Gerichtsver- nahme an den Gesprächen ab. Der Baustopp fahren in Verwaltungshaft, einige von hatte keine Gültigkeit für Ost-Jerusalem und ihnen bereits seit mehr als zwei Jahren. Umgebung. Auch im Westjordanland waren Berichte von Folterungen und anderen »aus Sicherheitsgründen« geplante Bauvorha- Misshandlungen waren weiterhin an der ben und die Errichtung öffentlicher Gebäude Tagesordnung. Eine Untersuchung ent- unvermindert fortgeführt worden. sprechender Vorwürfe fand jedoch nur selten statt. Etwa 6000 Palästinenser Blockade des Gazastreifens – verbüßten Haftstrafen in israelischen Ge- humanitäre Krise fängnissen, zu denen sie nach vielfach Die seit Juni 2007 anhaltende Blockade des Ga- unfairen Prozessen von Militärgerichten zastreifens durch Israel brachte die Wirtschaft verurteilt worden waren. Gegen israeli- in dem Gebiet zum Erliegen und trieb die Be- sche Kriegsdienstverweigerer ergingen wohner noch tiefer in die Armut. Anhaltende erneut Freiheitsstrafen. Engpässe im Gesundheitswesen, bei der Was-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht serversorgung und Abwasserbeseitigung so-

214 Israel und besetzte palästinensische Gebiete wie Armut und Unterernährung machten rund ende noch nicht erfolgt. Nach Ansicht von 80% der Bewohner des Gazastreifens abhän- Amnesty International stellte die Blockade gig von humanitärer Hilfe aus dem Ausland, die eine Kollektivstrafe für die Bewohner des jedoch durch die Blockade des Gazastreifens Gazastreifens dar und verstieß damit gegen erheblich behindert wurde. Die gravierenden das humanitäre Völkerrecht. Die Organisation Engpässe führten zu Preiserhöhungen. Auch rief wiederholt zur Aufhebung der Blockade die meisten UN-Projekte zum Wiederaufbau auf. von Krankenhäusern und Schulen wurden da- durch verzögert. So mussten im September Einschränkungen im Westjordanland rund 40000 palästinensische Kinder abgewie- Hunderte von israelischen Militärkontrollpunk- sen werden, die die UN-Schulen besuchen ten und Straßensperren schränkten die Bewe- wollten. gungsfreiheit der Palästinenser im Westjordan- Nahezu die gesamte Bevölkerung des Gaza- land erheblich ein. Ihr Weg zur Arbeit, zu streifens war in der kleinen Enklave praktisch Schulen und Ausbildungsstätten sowie der Zu- eingeschlossen. Davon betroffen waren auch gang zu medizinischer Versorgung und ande- schwerkranke Personen, die dringend medizi- ren Einrichtungen waren weiterhin stark beein- nische Hilfe benötigten, die in den Kliniken des trächtigt oder vollkommen blockiert. Gazastreifens nicht verfügbar war. Studie- Ende 2010 waren etwa 60% des geplanten rende und Berufstätige, die im Ausland studie- mehr als 700 km langen Zauns bzw. der ren oder arbeiten wollten, konnten die Region Mauer fertiggestellt. Mehr als 85% der gesam- nicht verlassen. Nur wenige bekamen eine Aus- ten Anlage verlaufen auf palästinensischem reiseerlaubnis. Gebiet innerhalb des Westjordanlands. Der Im Mai stoppten die israelischen Streitkräfte Zaun/die Mauer verwehrte Tausenden von gewaltsam eine internationale Flotte mit Hilfs- Palästinensern den direkten Zugang zu ihren gütern, die versuchte, die Blockade zu durch- Feldern und Wasserstellen. Palästinenser aus brechen. Dabei wurden neun Menschen an dem Westjordanland konnten nur an drei von Bord der Schiffe getötet und mehr als 50 ver- 16 Kontrollpunkten am Zaun/an der Mauer letzt, einige davon schwer. Einige israelische nach Ost-Jerusalem gelangen und benötigten Soldaten erlitten Verletzungen. Es gab mehrere eine Einreisegenehmigung. Dies hatte insbe- Untersuchungen des Vorfalls, darunter zwei sondere für Patienten und medizinisches Per- der UN. Eine vom UN-Menschenrechtsrat ein- sonal der sechs palästinensischen Spezialkli- gesetzte Untersuchungskommission stellte im niken in Ost-Jerusalem oft schwerwiegende September fest, dass »die israelischen Soldaten Auswirkungen. auf breiter Front und in willkürlicher Art und Palästinenser erhielten weiterhin keinen Zu- Weise tödliche Gewalt einsetzten, die un- tritt zu ausgedehnten Landstrichen in der nötig viele Personen das Leben kostete und Nähe israelischer Siedlungen, die unter Verstoß schwere Verletzungen verursachte«. Einer von gegen das Völkerrecht errichtet worden waren der israelischen Regierung eingesetzten Un- und aufrechterhalten wurden. Die Zahl der is- tersuchungskommission mangelte es an Unab- raelischen Siedler im Westjordanland und in hängigkeit und Transparenz. Ost-Jerusalem war 2010 auf über 500000 Men- Nach internationaler Kritik an dem Angriff schen angestiegen. Palästinensern war es kündigte die Regierung eine teilweise Locke- nach wie vor untersagt, die rund 300 km »Um- rung der Blockade an. Diese Maßnahme war je- gehungsstraßen« der israelischen Siedler zu doch nicht ausreichend, um die Situation in benutzen. Immerhin verkürzte sich für viele Pa- Gaza spürbar zu verbessern. Bis 8. Dezember lästinenser die Reisezeit zwischen den meis- 2010 blieb der Export von Produkten aus Gaza ten Städten – vor allem im Norden – im Be- vollständig verboten. Eine angekündigte Locke- richtsjahr etwas, weil Israel einige Straßen- rung des Ausfuhrverbots war bis zum Jahres- sperren abbaute. Auch das Straßennetz für

Israel und besetzte palästinensische Gebiete 215 Autos mit palästinensischen Kennzeichen 2010 zerstörten die Streitkräfte die Häuser von wurde etwas verbessert. Trotzdem waren Rei- 100 Palästinensern, die Dorfschule und zwölf sen nach wie vor zeitraubend und beschwer- Gehege, in denen Tiere gehalten wurden. Am lich. 8. Dezember wurden zehn Häuser, 17 Ställe und die wiederaufgebaute Schule dem Erdbo- Recht auf Wohnen – den gleichgemacht. Im Jahr 2005 war die Ort- Zwangsräumungen schaft schon einmal zerstört worden. Die israe- Palästinenser, die im Westjordanland oder in lischen Behörden verweigerten den Dorfbe- Ost-Jerusalem lebten, waren mit so strengen wohnern seit den 1970er Jahren Baugenehmi- Einschränkungen beim Bau ihrer Häuser kon- gungen, während in unmittelbarer Nähe die frontiert, dass ihr Recht auf angemessenen israelischen Siedlungen Mekhora und Itamar Wohnraum verletzt wurde. Im Westjordanland gebaut wurden. und in Ost-Jerusalem fanden Zwangsräumun- Die Beduinenbevölkerung in der Negev- gen statt. Begründet wurden diese Maßnahmen Wüste im Süden Israels wurde verstärkt Opfer damit, dass die Häuser ohne Baugenehmi- von rechtswidrigen Zwangsräumungen und gung errichtet worden seien. Entsprechende Zerstörungen. Zahlreiche Dörfer, in denen Genehmigungen wurden den palästinensi- Zehntausende von Beduinen mit israelischer schen Bewohnern jedoch von den israelischen Staatsbürgerschaft leben, wurden von den is- Behörden weiterhin systematisch verweigert. raelischen Behörden nicht offiziell genehmigt. Im Normalfall rückten die Abrissfirmen zusam- Diesen Dörfern mangelt es an grundlegenden men mit Sicherheitskräften ohne Vorankündi- Versorgungseinrichtungen, und ihre Bewohner gung an und gaben den Familien nur wenig leben in ständiger Furcht vor der Zerstörung Zeit, ihre Habseligkeiten aus den Häusern zu ihrer Häuser und der Vertreibung von ihrem bergen. Das israelische Militärrecht, dem die Land. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Palästinenser im größten Teil des Westjordan-  Das »ungenehmigte« Dorf al-Araqib in der lands unterstehen, sieht keine Wiederansied- Negev-Wüste, in dem rund 250 Beduinen le- lung oder Entschädigung von Familien vor, de- ben, wurde zwischen dem 27. Juli und dem 000835 ren Häuser zwangsgeräumt wurden. Den Pa- 23. Dezember acht Mal von der israelischen lästinensern in Ost-Jerusalem erging es unter Landverwaltung und Polizeikräften zerstört. den zivilen israelischen Behörden kaum besser. Nach jeder Zerstörung errichteten die Bewoh- 2010 zerstörten die israelischen Behörden in ner erneut provisorische Unterkünfte. Ost-Jerusalem und im Westjordanland 431 Häuser und andere Bauwerke; dies bedeutete Anwendung einen Anstieg von 59% gegenüber dem Vorjahr. unverhältnismäßiger Gewalt Mindestens 594 Palästinenser – die Hälfte da- Israelische Streitkräfte gingen 2010 mit exzessi- von Kinder – wurden obdachlos, nachdem ihre ver Gewalt gegen palästinensische Zivilperso- Häuser auf Anordnung der israelischen Be- nen vor. Dies betraf friedliche Demonstrierende hörden dem Erdboden gleichgemacht worden im Westjordanland und im Gazastreifen, aber waren. Die Zerstörung von Zisternen, Brunnen auch Bauern, Fischer und andere, die in der und anderen Einrichtungen wirkte sich auf die von Israel deklarierten »Sperrzone« (exclusion Lebensgrundlagen von mehr als 14000 Paläs- zone) im Gazastreifen und vor der Küste des tinensern aus. Gazastreifens ihrer Arbeit nachgingen. Nach  In Khirbet Tana, einem Dorf im Westjordan- Angaben des UN-Amts für die Koordinierung land in der Nähe des Jordantals, zerstörten die humanitärer Angelegenheiten wurden im Be- israelischen Streitkräfte zwei Mal Häuser und richtsjahr in den besetzten palästinensischen andere Einrichtungen. Das Dorf liegt in einem Gebieten 33 palästinensische Zivilpersonen Gebiet, das die israelische Armee zur »militäri- von den israelischen Streitkräften getötet, da-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schen Sperrzone« erklärt hat. Am 10. Januar runter acht Kinder. Bei der gewaltsamen

216 Israel und besetzte palästinensische Gebiete Durchsetzung der 1500 m breiten »Sperrzone« gossenes Blei«. 617 der Getöteten, darunter innerhalb der Nord- und Ostgrenze des Gaza- 104 Kinder unter 18 Jahren, waren an keinerlei streifens und der Sperrzone vor der Küste tötete feindseligen Handlungen beteiligt, als sie ge- die israelische Armee 15 palästinensische Zi- tötet wurden. B’Tselem forderte eine Untersu- vilpersonen, darunter vier Kinder. Mehr als 100 chung von 288 Tötungsdelikten, die bei 148 Personen wurden dabei verletzt. Zwischenfällen, zumeist im Gazastreifen, be-  Zwei palästinensische Jugendliche starben, gangen worden waren. Ermittlungen wurden nachdem israelische Sicherheitskräfte am nur in 22 Fällen eingeleitet, die sich zumeist im 20. März nach einer Demonstration im Dorf Iraq Westjordanland ereignet hatten. B’Tselem be- Burin im Westjordanland mit scharfer Muni- richtete, dass nur vier Untersuchungen inner- tion auf sie geschossen hatten. Muhammed halb der ersten vier Wochen nach einer Tö- Qadus wurde in der Brust getroffen, Usaid Qa- tung aufgenommen worden seien. Zwei Ermitt- dus starb an einem Kopfschuss. Nach einer lungsverfahren wurden geschlossen, ohne Untersuchung des Vorfalls durch die israeli- dass die betreffenden Soldaten zur Rechen- sche Militärpolizei erhielten zwei hochrangige schaft gezogen worden wären. israelische Offiziere wegen der Tötungen einen Verweis. Operation »Gegossenes Blei«  Im September wurden drei palästinensische Es gab zwar Untersuchungen der israelischen Schäfer – der 91-jährige Ibrahim Abu Sa’id, Armee über einzelne Vorkommnisse, die Be- sein 16-jähriger Enkel Hosam Abu Sa’id und hörden versäumten es jedoch nach wie vor, un- der 17-jährige Isma’il Abu Oda – von israeli- abhängige Untersuchungen von mutmaßli- schen Panzergranaten getötet, während sie in chen Kriegsverbrechen und anderen schweren einer »Sperrzone« bei Beit Hanoun im Gaza- Verletzungen des Völkerrechts durch die is- streifen ihre Schafe weideten. Die Behörden raelischen Streitkräfte während der Operation räumten später ein, bei den drei Opfern habe »Gegossenes Blei« durchzuführen, die inter- es sich um Zivilpersonen und nicht, wie ur- nationalen Standards entsprachen. Die von den sprünglich verlautbart, um »Terroristen« ge- UN eingesetzte Untersuchungskommission handelt. Es wurde eine Untersuchung des Vor- unter Leitung von Richard Goldstone hatte falls angekündigt. Über die Ergebnisse war bis 2009 festgestellt, dass sowohl die israelischen Ende 2010 nichts bekannt. Streitkräfte als auch die bewaffneten palästi- nensischen Gruppierungen Kriegsverbrechen Straffreiheit und möglicherweise auch Verbrechen gegen Israelische Soldaten, Angehörige der Sicher- die Menschlichkeit begangen hatten. heitskräfte und israelische Siedler verübten Bis Ende 2010 waren nur drei israelische Sol- weiterhin schwere Menschenrechtsverstöße an daten im Zusammenhang mit der Operation Palästinensern, darunter ungesetzliche Tötun- »Gegossenes Blei« verurteilt worden. Zwei der gen. Sie wurden dafür in der Regel nicht be- Angeklagten waren für schuldig befunden straft. Siedler schossen auf Palästinenser und worden, »ohne Befugnis« gehandelt zu haben, zerstörten ihr Eigentum. Nur in extrem seltenen als sie den neunjährigen Palästinenser Majed Fällen wurden die Verantwortlichen für ihr Vor- R. als »menschliches Schutzschild« miss- gehen zur Rechenschaft gezogen. braucht hatten. Der Junge musste Taschen Ein ausführlicher Bericht über Straflosigkeit, öffnen, von denen die Soldaten annahmen, der von der israelischen Menschenrechtsorga- dass es sich um Sprengfallen handelte. Im No- nisation B’Tselem im Oktober veröffentlicht vember wurden sie degradiert und erhielten wurde, stellte fest, dass das israelische Militär eine dreimonatige Freiheitsstrafe, die auf Be- in den Jahren 2006 bis 2009 1510 Palästinen- währung ausgesetzt wurde. ser getötet hatte. Diese Zahl beinhaltete nicht Da beide Seiten keine angemessenen Unter- die Todesfälle während der Operation »Ge- suchungen durchführten, forderte Amnesty

Israel und besetzte palästinensische Gebiete 217 International, die internationale Gerichtsbarkeit Unfaire Gerichtsverfahren einzuschalten. In den besetzten Gebieten, in denen die israeli- Im Januar 2010 zahlte Israel 10,5 Mio. US- sche Militärjustiz für die Rechtsprechung zu- Dollar Schadenersatz an die UN. Die Zahlung ständig ist, wurden Palästinenser 2010 weiter- stand im Zusammenhang mit der Beschädi- hin in Gerichtsverfahren verurteilt, die in gung von UN-Gebäuden während der Opera- mehrfacher Hinsicht gegen ihr Recht auf ein tion »Gegossenes Blei«. Die Opfer der Angriffe faires Verfahren verstießen. Die Verhöre fan- und ihre Angehörigen erhielten hingegen kei- den ausschließlich ohne einen Rechtsbei- nerlei Entschädigungszahlungen. Die UN teil- stand statt. Zivilpersonen wurden vor Militär- ten mit, dass die Forderungen bezüglich der gerichte und nicht vor Gerichte der zivilen Justiz Operation damit abgegolten seien. Der Goldsto- gestellt. ne-Bericht hatte jedoch ausdrücklich empfoh- len, die UN solle sowohl für die getöteten UN- Folter und andere Misshandlungen Mitarbeiter und die Zivilpersonen, die bei An- Es gingen weiterhin zahlreiche Berichte über griffen auf UN-Einrichtungen ums Leben ka- Folterungen und Misshandlungen ein, die men, Entschädigungszahlungen fordern, als auch Kinder betrafen. Zu den am häufigsten auch für die zivilen Opfer anderer während der genannten Foltermethoden zählten Schläge, Operation verübter Angriffe. Drohungen gegenüber den Gefangenen oder ihren Familien, Schlafentzug und das Verhar- Justizsystem ren in schmerzhaften Positionen über längere Haft ohne Gerichtsverfahren Zeiträume hinweg. Von israelischen Militärge- Israel hielt am System der Verwaltungshaft fest, richten und Gerichten der zivilen Justiz wurden wonach Palästinenser über längere Zeiträume »Geständnisse« als Beweismittel zugelassen, hinweg ohne Anklageerhebung oder Gerichts- die offenbar unter Zwangsmaßnahmen erpresst 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen verfahren in Haft gehalten werden. Mindes- worden waren. tens 264 Palästinenser waren im Jahr 2010 auf-  Der 15-jährige Palästinenser A. M. aus dem grund von Verwaltungshaftanordnungen in- Dorf Beit Ummar in der Nähe von Hebron 000835 haftiert, einige von ihnen bereits seit mehr als wurde am 26. Mai 2010 festgenommen und im zwei Jahren. Haftzentrum Gush Etzion festgehalten. Wäh-  Moatasem Nazzal, ein 16-jähriger Schüler rend seines sechstägigen Verhörs wurde er of- aus dem Flüchtlingslager Qalandiya in der fenbar gefoltert und erst freigelassen, nach- Nähe von Ramallah, wurde am 20. März ohne dem er »gestanden« hatte, Steine geworfen zu Angabe von Gründen zuhause festgenom- haben. Er gab an, Sicherheitsbeamte hätten men. Während seines Verhörs war er mit Hand- ein Stromkabel an seinen Genitalien befestigt schellen gefesselt. Nachdem drei Mal in Folge und ihm Elektroschocks angedroht. Im August eine Verwaltungshaftanordnung gegen ihn er- legten eine palästinensische und eine israeli- gangen war, wurde er schließlich am 26. De- sche NGO bei der israelischen Polizei und bei zember freigelassen. der Armee Beschwerde wegen der mutmaßli- chen Folterung des 15-Jährigen ein. Die Poli- Haftbedingungen – Verbot von Familienbesuchen zeibeschwerde wurde wegen »unzureichender Etwa 680 palästinensische Gefangene durften Beweise« eingestellt. Die Armee war Ende nach wie vor keinen Familienbesuch erhalten, 2010 noch dabei, die Beschwerde zu prüfen. da es Palästinensern im Gazastreifen seit der Verhängung der Blockade untersagt ist, nach Rechte auf freie Meinungsäußerung Israel einzureisen, wo ihre Angehörigen gefan- und Vereinigungsfreiheit gen gehalten werden. Einige der Gefangenen Die Zahl der Festnahmen, Gerichtsverfahren blieben deshalb bereits im dritten Jahr in Folge und Inhaftierungen von Menschen, die sich

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ohne Familienbesuch. an gewaltfreien Demonstrationen gegen die

218 Israel und besetzte palästinensische Gebiete Mauer/den Zaun beteiligt hatten, stieg an. Die raels war drei Mal für insgesamt 64 Tage inhaf- Behörden beriefen sich dabei häufig auf die Mi- tiert, weil er sich geweigert hatte, in der israeli- litäranordnung 101, die Versammlungen von schen Armee zu dienen. Er lehnt Israels mili- mehr als zehn Personen »zu politischen Zwe- tärische Besatzung der palästinensischen Ge- cken oder zu Zwecken, die als politisch ausge- biete ab. legt werden könnten« untersagt. Solche Zu- sammenkünfte dürfen nur stattfinden, wenn Amnesty International: Missionen und Berichte sie im Vorfeld vom israelischen Militärkomman-  Delegierte von Amnesty International hielten sich im April danten genehmigt worden sind. und Mai in Israel und den besetzten palästinensischen Ge-  Im Oktober 2010 verurteilte ein israelisches bieten auf.  Israel and Occupied Palestinian Territories: As safe as hou- Militärgericht Abdallah Abu Rahma zu einem ses? Israel’s demolition of Palestinian homes Jahr Haft. Der Lehrer und Leiter des Volkskomi- (MDE 15/006/ 2010) tees gegen die Mauer im Dorf Bil’in im Westjor-  Israel/Occupied Palestinian Territories: Amnesty Internatio- danland (Popular Committee Against the Wall nal’s assessment of Israeli and Palestinian investigations in the West Bank Village of Bil’in) wurde schul- into Gaza conflict (MDE 15/022/2010) dig gesprochen, »eine nicht genehmigte De-  Israel/Occupied Palestinian Territories: Human Rights monstration organisiert und daran teilgenom- Council fails victims of Gaza conflict (MDE 15/023/2010) men zu haben«. Des Weiteren befand ihn das  Israel: End arbitrary restrictions on Vanunu Gericht der »Aufwiegelung« für schuldig. Vom (MDE 15/024/ 2010) Vorwurf des »Steinewerfens« und des »Waffen- besitzes« wurde Abdallah Abu Rahma freige- sprochen. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen.  Der ehemalige Nukleartechniker Mordechai Vanunu musste im Mai 2010 eine Gefängnis- strafe von drei Monaten antreten. Er war für Italien schuldig befunden worden, Kontakt zu einem ausländischen Staatsangehörigen aufgenom- Amtliche Bezeichnung: Italienische Republik men zu haben. Der gewaltlose politische Ge- Staatsoberhaupt: Giorgio Napolitano fangene wurde in Einzelhaft verlegt. Er hatte zu- Regierungschef: Silvio Berlusconi vor bereits 18 Jahre im Gefängnis verbracht, Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft weil er Einzelheiten über Israels Atompro- Einwohner: 60,1 Mio. gramm an eine britische Zeitung weitergege- Lebenserwartung: 81,4 Jahre ben hatte. Seit seiner Freilassung im Jahr 2004 Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 steht er unter Polizeiüberwachung aufgrund Lebendgeburten einer militärischen Anordnung, die alle sechs Alphabetisierungsrate: 98,8% Monate verlängert wird. Laut der Anordnung ist es ihm u. a. untersagt, Kontakt zu Auslän- Die Menschenrechte der Roma wurden dern aufzunehmen oder das Land zu verlas- weiterhin verletzt. Zwangsräumungen sen. Eine Klage zur Aufhebung der Beschrän- trugen dazu bei, Angehörige der Roma kungen wurde im Oktober vom Obersten Ge- noch stärker zu marginalisieren und in richtshof Israels zurückgewiesen. die Armut zu treiben. Abfällige und dis- kriminierende Bemerkungen italieni- Gewaltlose politische Gefangene – scher Politiker über Roma, Migranten Israelische Wehrdienstverweigerer und Angehörige sexueller Minderheiten Mindestens zwölf israelische Wehrdienstverwei- förderten ein Klima zunehmender Intole- gerer wurden im Jahr 2010 inhaftiert. ranz. 2010 waren erneut gewalttätige  Shir Regev aus dem Dorf Tuval im Norden Is- homophobe Übergriffe zu verzeichnen.

Italien 219 Asylsuchende, die sich um internationa- und sie zur Rückkehr nach Libyen oder in ein len Schutz bemühten, hatten kaum Zu- anderes außereuropäisches Land zu zwingen, gang zu einem wirksamen Verfahren. da dies einen Verstoß gegen den Grundsatz Nach wie vor trafen Berichte über Miss- des Non-Refoulement (Verbot der Rückführung handlungen von Häftlingen durch Be- von Personen in Länder, in denen ihnen dienstete der Strafverfolgungsbehörden schwere Menschenrechtsverletzungen drohen) ein. Es bestand auch weiterhin Anlass darstelle. zur Sorge, dass beim Verdacht der Miss- Am 25. Juni 2010 gelangte der Europäische handlung von Personen im Gewahrsam Ausschuss für Soziale Rechte zu dem Schluss, der Sicherheitskräfte und entsprechen- dass Italien Roma und Sinti diskriminiere, da den Todesfällen keine gründlichen Un- ihnen die Wahrnehmung mehrerer Rechte tersuchungen erfolgten. Italien weigerte verweigert werde, darunter die Rechte auf an- sich, Folter als eigenen Straftatbestand gemessenen Wohnraum und auf Schutz ge- in nationales Recht aufzunehmen. gen Armut und soziale Ausgrenzung. Im Februar bewertete der UN-Menschen- Internationale Beobachtung rechtsrat im Rahmen der Universellen Regel- Im März 2010 besuchte die UN-Hochkommis- mäßigen Überprüfung (UPR) die Menschen- sarin für Menschenrechte zum ersten Mal Ita- rechtslage in Italien. In ihrer Antwort im Mai lien. Sie äußerte u. a. Besorgnis darüber, dass wies die italienische Regierung zwölf der die italienischen Behörden Roma und Migran- 92 Empfehlungen zurück. Anlass zur Sorge ten vor allem als »Sicherheitsproblem« betrach- bot dabei vor allem die Tatsache, dass sich die teten, anstatt sich darum zu bemühen, sie in Regierung weigerte, den Straftatbestand Folter die Gesellschaft zu integrieren. in das italienische Recht aufzunehmen, und Im April veröffentlichte der Ausschuss des Eu- dass sie es ablehnte, den Straftatbestand »ille- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen roparats zur Verhütung von Folter Berichte gale Einwanderung« abzuschaffen. über zwei seiner regelmäßigen Besuche in Ita- lien, die im September 2008 und im Juli 2009

000835 Diskriminierung stattgefunden hatten. In den Berichten wurde Roma litten in den Bereichen Bildung, Wohnen, insbesondere kritisiert, dass Folter im italieni- Gesundheit und Beschäftigung weiter unter schen Strafgesetzbuch nicht als eigener Straf- Diskriminierung. Abfällige Bemerkungen eini- tatbestand behandelt wird, sowie die Überbe- ger Politiker und Behördenvertreter trugen zu legung der Strafvollzugsanstalten. Außerdem einem Klima der Intoleranz gegenüber Roma, verurteilte der Ausschuss die gängige Praxis, Migranten und Angehörigen sexueller Minder- Migranten bereits im Mittelmeer abzufangen heiten bei. Im August 2010 nahm die von der italieni- schen Polizei eingerichtete Beobachtungs- stelle zum Schutz vor Diskriminierung (Osser- vatorio per la Sicurezza contro gli Atti Discrimi- natori) ihre Arbeit auf. Durch diese Einrichtung soll es Opfern leichter gemacht werden, bei diskriminierenden Übergriffen Anzeige zu er- statten.

Zwangsräumungen von Roma Im ganzen Land kam es auch 2010 zu Zwangs- räumungen von Roma-Siedlungen. Manche Familien waren sogar mehrfach von Zwangs-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht räumungen betroffen, die das Gemeinschafts-

220 Italien leben unterbrachen, Probleme mit Arbeitsstel- Flüchtlinge und Asylsuchende len verursachten und einen geordneten Schul- Asylsuchenden und Migranten wurden nach besuch der Kinder unmöglich machten. wie vor ihre Rechte verweigert, insbesondere  Im Januar begann die Stadtverwaltung von das Recht auf Zugang zu einem fairen und zu- Rom mit der Umsetzung des »Nomaden- friedenstellenden Asylverfahren. Die Behör- Plans« (Piano Nomadi), nachdem die italieni- den versäumten es, diese Personengruppe aus- sche Regierung mit der Ausrufung des »No- reichend vor rassistisch motivierten Gewaltak- maden-Notstands« im Jahr 2008 den Präfekten ten zu schützen. Einige Politiker und Vertreter der italienischen Provinzen die Befugnis erteilt der Regierung stellten unbegründete Verbin- hatte, im Umgang mit Menschen, die als »No- dungen zwischen Migranten und Kriminalität maden« galten, von den üblichen gesetzlichen her und trugen auf diese Weise zu einem Bestimmungen abweichen zu dürfen. Der Plan Klima der Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit sah die Zwangsräumung Tausender Roma aus bei. ihren Unterkünften und ihre teilweise Neuan- Der UN-Hochkommisar für Flüchtlinge siedlung in neuen bzw. sanierten Lagern vor (UNHCR) und verschiedene NGOs äußerten und setzte die Politik der Segregation gegen- sich erneut besorgt über die Vereinbarungen über dieser Bevölkerungsgruppe fort. Verzö- zwischen Italien und Libyen sowie anderen gerungen beim Bau der neuen bzw. bei der Sa- Staaten zur Kontrolle der Flüchtlingsströme. nierung der alten Lager führten für viele Be- Aufgrund dieser Vereinbarungen wurde Hun- troffene zu einer Verschlechterung ihrer Le- derten von Asylsuchenden, darunter vielen Kin- bensbedingungen. Trotz gewisser Verbesse- dern, der Zugang zu Verfahren verwehrt, um rungen hielten die Behörden weiterhin nicht ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu ausreichend Rücksprache mit den betroffe- überprüfen. Die Zahl der in Italien gestellten nen Familien. Asylanträge ging weiterhin drastisch zurück.  In Mailand beharrte die Stadtverwaltung un-  Im Oktober 2010 wurden 68 aus Seenot ge- erbittlich auf Zwangsräumungen. Es gab je- rettete Flüchtlinge innerhalb von 48 Stunden doch keine Strategie, wie die Betroffenen alter- nach Ägypten zurückgeführt, anscheinend nativ untergebracht werden könnten. Einigen ohne dass man ihnen Gelegenheit gab, inter- Roma-Familien wurde im Vorfeld einer Zwangs- nationalen Schutz zu beantragen. Die 68 räumung eine Sozialwohnung zugewiesen. Die Flüchtlinge befanden sich in einem Boot mit Stadtverwaltung hatte die Vergabe von Woh- insgesamt 131 Passagieren, das unweit der sizi- nungen an Roma-Familien zunächst aus poli- lianischen Küste von den italienischen Behör- tischen Gründen abgelehnt. Im Dezember hielt den abgefangen worden war. In dem Boot sa- ein Gericht die Vergabe jedoch für rechtens ßen auch 44 Minderjährige. 19 Bootsinsassen und bezeichnete das Verhalten der Behörden wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einwande- als diskriminierend. Gegen das Urteil einge- rung inhaftiert. legte Rechtsmittel waren am Jahresende noch Im Januar 2010 kam es im süditalienischen anhängig. Rosarno zwei Tage lang zu gewaltsamen Aus- einandersetzungen zwischen afrikanischen Ar- Rechte von Lesben, Schwulen, beitsmigranten und Bewohnern des Orts so- Bisexuellen und Transgender-Personen wie der Polizei, die damit endeten, dass über Es gab weiterhin zahlreiche gewalttätige homo- 1000 Migranten, die zum Großteil einen lega- phobe Übergriffe. Aufgrund einer Gesetzeslü- len Aufenthaltsstatus besaßen, aus Rosarno flo- cke erhielten Personen, die wegen ihrer sexuel- hen bzw. von Polizei und Armee in Auffangla- len Orientierung und geschlechtlichen Identi- ger transportiert wurden. Die Ausschreitungen tät Opfer einer Straftat wurden, nicht denselben begannen, als einer der Saisonarbeiter auf Schutz wie die Opfer anderer Formen von Dis- dem Heimweg von der Arbeit auf den Feldern kriminierung. aus einem fahrenden Auto heraus angeschos-

Italien 221 sen wurde. Eine gerichtliche Untersuchung, die folgten, dass es bei der Beweisaufnahme und sich mit den Gründen für den Gewaltausbruch Beweissicherung an der gebotenen Sorgfalt befasste, führte im April dazu, dass mehr als 30 mangelte und dass die Täter daher meist nicht Personen (Italiener und Ausländer) wegen zur Verantwortung gezogen wurden. Um zu er- Ausbeutung und Versklavung von landwirt- reichen, dass eine gründliche Untersuchung schaftlichen Saisonarbeitern verhaftet wur- stattfand und die Täter vor Gericht gestellt wur- den. Die Untersuchung war Ende des Jahres den, waren wiederholte Eingaben der Opfer noch nicht abgeschlossen. und ihrer Familien bei den zuständigen Behör- den nötig. Antiterrormaßnahmen und Sicherheit  Das Berufungsverfahren gegen die vier Poli- Außerordentliche Überstellungen zeibeamten, die im Juli 2009 wegen der wider- Im Dezember 2010 bestätigte das Berufungsge- rechtlichen Tötung des 18-jährigen Federico Al- richt Mailand die Urteile, die 2009 gegen 25 drovandi zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt US-amerikanische und italienische Sicherheits- worden waren, war Ende 2010 noch anhängig. beamte wegen ihrer Beteiligung an der Ent- Federico Aldrovandi war im September 2005 führung von Abu Omar verhängt worden waren. in Ferrara bei einer Polizeikontrolle ums Leben Abu Omar war 2003 in Mailand auf offener gekommen. Im März 2010 wurden drei Polizei- Straße gekidnappt und von CIA-Agenten rechts- beamte unter dem Vorwurf, ihren Kollegen bei widrig von Italien nach Ägypten verbracht wor- der Fälschung und Beseitigung von Beweis- den, wo er an einem unbekannten Haftort gefol- mitteln geholfen zu haben, zu Freiheitsstrafen tert worden sein soll. Die Verurteilung der 23 von acht, zehn und zwölf Monaten verurteilt. US-amerikanischen Sicherheitsbeamten zu Im Oktober akzeptierten die Eltern von Federico Freiheitsstrafen von bis zu neun Jahren erging Aldrovandi eine Entschädigung in Höhe von in Abwesenheit. Das Gericht bestätigte auch die 2 Mio. Euro für den Tod ihres Sohns, mit der sie 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Einstellung des Verfahrens gegen fünf hoch- sich dazu verpflichteten, im laufenden Verfah- rangige Beamte des italienischen Geheim- ren keine weiteren Entschädigungsklagen ein- dienstes aus Gründen der Staatssicherheit. zubringen. 000835  Das Verfahren gegen einen Gefängniswärter Guantánamo Bay wegen unterlassener Hilfeleistung im Fall Aldo Die Strafverfahren gegen die beiden 2009 aus Bianzino war 2010 noch anhängig. Bianzino der Haft in Guantánamo Bay nach Italien war im Oktober 2007 in Perugia zwei Tage überstellten tunesischen Staatsbürger Adel Ben nach seiner Verhaftung gestorben. Ein Verfah- Mabrouk und Riadh Nasseri wegen terroristi- ren gegen unbekannt wegen Totschlags wurde scher Straftaten waren Ende 2010 noch nicht 2009 eingestellt. abgeschlossen. Es wurden Befürchtungen  Die Bemühungen um die Klärung der Todes- laut, die beiden Beschuldigten könnten nach umstände von Stefano Cucchi und die Ermitt- Tunesien abgeschoben werden, was einen lung der Verantwortlichen gingen 2010 weiter. Verstoß gegen den Grundsatz des Non-Refoule- Stefano Cucchi war im Oktober 2009 wenige ment darstellen würde. Tage nach seiner Verhaftung in der Häftlingsab- teilung des römischen Krankenhauses Sandro Todesfälle im Gewahrsam Pertini gestorben. Nach Ansicht seiner Angehö- Im Jahr 2010 trafen erneut Berichte über Miss- rigen war sein Tod auf Misshandlungen zu- handlungen von Häftlingen durch Bedienstete rückzuführen, die ihm vor der Einlieferung ins der Strafverfolgungsbehörden ein. Es gab wei- Krankenhaus zugefügt worden sein sollen. terhin Anlass zu der Befürchtung, dass die Er-  Im Dezember 2010 wurde im Fall von Giu- mittlungen über Misshandlungen und Todes- seppe Uva, der im Juni 2008 in einem Kran- fälle im Gewahrsam nicht mit der erforderli- kenhaus in Varese gestorben war, weil er an-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht chen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit er- geblich falsch behandelt worden war, ein Arzt

222 Italien wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Die Er- mittlungen zu den Misshandlungen, die Giu- Jamaika seppe Uva in den Stunden vor seinem Tod im Gewahrsam der Polizei erlitten haben soll, Amtliche Bezeichnung: Jamaika dauerten an. Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten durch Sir Patrick Linton Allen Folter und andere Misshandlungen Regierungschef: Bruce Golding Im März und im Mai 2010 verkündete das Be- Todesstrafe: nicht abgeschafft rufungsgericht Genua in zweiter Instanz seine Einwohner: 2,7 Mio. Urteile in den Verfahren wegen Misshandlung Lebenserwartung: 72,3 Jahre und Folterung von Demonstrierenden durch Kindersterblichkeit (m/w): 28 / 28 pro 1000 Polizeibeamte während des G8-Gipfels im Juli Lebendgeburten 2001. Ende 2010 bestand weiterhin die Mög- Alphabetisierungsrate: 85,9% lichkeit, beim Berufungsgericht Rechtsmittel einzulegen. In innerstädtischen Vierteln fielen Hun- Im März 2010 stellte das Gericht fest, dass die derte von Menschen kriminellen Ban- meisten Straftaten, die sich während des Ge- den zum Opfer oder wurden von der Poli- wahrsams in der Polizeikaserne Bolzaneto er- zei getötet. Während eines zweimonati- eignet hatten, darunter schwere Körperverlet- gen Ausnahmezustands gab es mindes- zung sowie willkürliche Durchsuchungen und tens 43 Berichte über außergerichtliche Leibesvisitationen, in der Zwischenzeit verjährt Tötungen. Kinder waren unter Bedingun- seien. Es verurteilte aber dennoch alle 42 Ange- gen inhaftiert, die gegen Menschen- klagten dazu, Schadenersatz an die Opfer zu rechtsstandards verstießen. Mindestens leisten. Gegen acht Angeklagte verhängte es vier Personen wurden zum Tode verur- zudem Haftstrafen von bis zu drei Jahren und teilt; Hinrichtungen fanden jedoch nicht zwei Monaten. statt. Im Mai befand dasselbe Gericht auch 25 der 28 Polizisten für schuldig, die in der Armando- Hintergrund Diaz-Schule Demonstrierende in ähnlicher In den marginalisierten Vierteln der Innenstädte Weise misshandelt hatten, und verhängte gab es nach wie vor sehr viele Morde. In der Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Unter den Regel standen sie im Zusammenhang mit Verurteilten waren auch einige hochrangige Gewaltanwendung durch Banden. Im Mai Polizeibeamte, die bei den Vorfällen zugegen wurde in Kingston und St. Andrew der Aus- waren. Viele Anklagepunkte wurden wegen nahmezustand verhängt. Die Maßnahme er- Verjährung fallengelassen. folgte nach einem Ausbruch von Gewalt, als Hätte Italien einen spezifischen Straftatbe- bewaffnete Anhänger von Christopher »Du- stand Folter ins Strafgesetz aufgenommen, dus« Coke gegen dessen Auslieferung an die wäre keine Verjährung eingetreten. USA wegen Drogendelikten protestierten. Der

Amnesty International: Missionen und Berichte  Delegierte von Amnesty International besuchten das Land im März und im Juli.  The wrong answer: Italy’s »Nomad Plan« violates the hou- sing rights of Roma in Rome (EUR 30/001/ 2010)  Dangerous Deals: Europe’s reliance on »diplomatic assuran- ces« against torture (EUR 01/012/2010)  Open secret: Mounting evidence of Europe’s complicity in rendition and secret detention (EUR 01/023/2010)

Jamaika 223 Ausnahmezustand wurde am 22. Juli 2010 auf- des Ausnahmezustands. Zum Jahresende gehoben. hatten die ballistischen Tests noch nicht begon- Am 23. Juli traten sechs Gesetze zur Bekämp- nen. Jamaikanische Menschenrechtsorgani- fung der Kriminalität in Kraft. Einige ihrer Be- sationen kritisierten die mangelnde Spurensi- stimmungen verstoßen gegen Menschen- cherung an den Tatorten und eine mangelnde rechtsprinzipien und -standards. Rechenschaftspflicht für den Gebrauch von Die Situation der Menschenrechte in Jamaika Schusswaffen durch Angehörige der Sicher- wurde im November im Rahmen der Univer- heitskräfte. sellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch Im August nahm die Unabhängige Untersu- die UN beurteilt. chungskommission (Independent Commis- sion of Investigations) offiziell ihre Tätigkeit auf. Polizei und Sicherheitskräfte Ihre Aufgabe ist es, Übergriffe durch die Si- Die Zahl der Personen, die Berichten zufolge cherheitskräfte zu untersuchen. Ende 2010 war durch Polizisten getötet wurden, erreichte 2010 sie jedoch noch damit beschäftigt, Personal einen neuen Rekord. Es gab Hinweise darauf, einzustellen und zu schulen. Sie beschränkte dass es sich in einigen Fällen möglicherweise sich deshalb hauptsächlich darauf, Untersu- um rechtswidrige Tötungen, einschließlich au- chungen der Sonderermittlungsabteilung der ßergerichtlicher Hinrichtungen, handelte. Polizei (Bureau of Special Investigations) zu Der UN-Sonderberichterstatter über Folter be- überwachen. richtete nach seinem Besuch in Jamaika im Februar, dass viele Inhaftierte von Polizisten ge- Justizsystem schlagen worden seien. Er empfahl Jamaika Obwohl die Regierung während der Universel- u. a., das UN-Übereinkommen gegen Folter zu len Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch ratifizieren. die UN zugesagt hatte, das Justizsystem zu re- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Während des Ausnahmezustands wurden formieren, gab es auch weiterhin Berichte mindestens 4000 Personen inhaftiert und 76 über beträchtliche Verzögerungen im Ablauf Personen getötet, darunter drei Angehörige der von Prozessen. Ende 2010 war das Büro des 000835 Sicherheitskräfte. Bei der Ombudsstelle (Of- Special Coroners, eines Beamten, der die Fälle fice of the Public Defender) gingen mindestens von Schusswaffengebrauch mit Todesfolge 43 Beschwerden wegen rechtswidriger Tötun- durch die Polizei untersuchen soll, noch immer gen ein. nicht eingerichtet.  Sheldon Davis, ein körperbehinderter Mann, wurde am 30. Mai 2010 in Tivoli Gardens getö- Kinderrechte tet. Nach Angaben seiner Mutter kamen etwa Der UN-Sonderberichterstatter über Folter 30 Polizeiangehörige in ihr Haus und began- stellte fest, dass Kinder im Polizeigewahrsam nen, ihren Sohn zu verhören. Sie beschuldigten und in einigen Justizvollzugsanstalten nach wie ihn, in Bandenkriminalität verwickelt zu sein. vor zusammen mit Erwachsenen festgehalten Er bestritt dies und wurde in Gewahrsam ge- wurden. Er merkte außerdem an, dass pflege- nommen. Einige Tage später fand seine Fami- und schutzbedürftige Kinder und Jugendliche lie heraus, dass er getötet worden war. Die Si- und solche mit Lernschwierigkeiten häufig ge- cherheitskräfte sagten aus, er sei getötet wor- meinsam mit Kindern und Jugendlichen un- den, nachdem er versucht habe, das Gewehr tergebracht waren, die mit dem Gesetz in Kon- eines Soldaten an sich zu reißen. Eine Unter- flikt geraten waren. suchung des Falls war Ende 2010 noch nicht Im März 2010 berichtete die Armadale- abgeschlossen. Untersuchungskommission, die die Um- Die Ombudsstelle veranlasste eine unabhän- stände des Todes von sieben Mädchen in der gige Untersuchung der Beschwerden über Armadale-Hafteinrichtung für Jugendliche

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht das Verhalten der Sicherheitskräfte während (Armadale Juvenile Correctional Centre) am

224 Jamaika 22. Mai 2009 untersucht hatte, dass die dort Todesstrafe angewandten Praktiken gegen die UN-Mindest- Mindestens vier Personen wurden zum Tode grundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit verurteilt, doch fanden keine Hinrichtungen verstießen. Die Regierung kündigte daraufhin statt. Sieben Menschen befanden sich Ende eine Reihe von Maßnahmen an. So würden 2010 im Todestrakt. u. a. Kinder in Untersuchungshaft und solche, Im September kündigte die Regierung an, sie die eine Strafe verbüßen, künftig getrennt. erwäge, dem Parlament eine revidierte Version Im Oktober informierte der Children’s Advocate der Charta der Grundrechte (Charter of Rights) darüber, dass sich noch immer mehr als zu unterbreiten. Die Gesetzesänderung würde 100 Kinder zusammen mit Erwachsenen im eine im Jahr 1993 vom Obersten Berufungsge- Polizeigewahrsam befänden. richt (Judicial Committee of the Privy Council) getroffene Entscheidung aufheben, wonach Gewalt gegen Frauen und Mädchen eine Hinrichtung nach fünf Jahren Aufenthalt Sexuelle Gewalt war nach wie vor weit verbrei- im Todestrakt eine inhumane und entwürdi- tet. Nach einer im September veröffentlichten gende Strafe darstellt. Polizeistatistik nahmen Berichte über sexuellen Missbrauch von Kindern im Vergleich zum Amnesty International: Berichte Vorjahr zu.  Jamaica: Submission to the UN Universal Periodic Review (AMR 38 /001/2010) Rechte von Lesben, Schwulen,  Jamaica violence investigation must be thorough, 26 May Bisexuellen und Transgender-Personen 2010 Bei den Organisationen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen (LGBT) gingen zahlreiche Berichte über homo- phobe Angriffe, Schikanen und Bedrohungen ein. Dazu zählten mindestens drei Fälle, in de- nen Lesben vergewaltigt wurden, um sie zu »korrigieren«. Japan  Am 3. September 2010 wurde eine Frau von einer Bande von sechs Männern vergewaltigt, Amtliche Bezeichnung: Japan die sie vorher verbal belästigt hatten. Als Folge Staatsoberhaupt: Kaiser Akihito der Vergewaltigung erlitt sie auch Genitalver- Regierungschef: Naoto Kan (löste im Juni stümmelungen. Hatoyama Yukio im Amt ab) Eine Umfrage unter elf Homo- und Bisexuel- Todesstrafe: nicht abgeschafft len sowie Transgender-Personen, die Opfer Einwohner: 127 Mio. von Gewalt geworden waren, ergab, dass nur Lebenserwartung: 83,2 Jahre eines der Opfer bei der Polizei Anzeige wegen Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 Vergewaltigung erstattet hatte. Die Anzeige lag Lebendgeburten zwei Jahre zurück, und die betroffene Frau wartete noch immer auf die Gerichtsverhand- Das Untersuchungshaftsystem (daiyo lung. Die anderen Opfer hatten die Straftaten kangoku) blieb weiterhin in Kraft und nicht angezeigt, da sie befürchteten, wegen begünstigte missbräuchliche Verhörme- ihrer sexuellen Orientierung kriminalisiert zu thoden. Die Bewegung, die sich um Ent- werden. schädigungen für die sogenannten Trost- frauen bemüht, machte spürbare Fort- schritte, da mehrere japanische Städte auf die Regierung einwirkten, Über- lebenden des »Trostfrauen«-Systems

Japan 225 Entschädigungen zu zahlen und sich Misshandlungen, die darauf abzielten, bei Ver- bei ihnen zu entschuldigen. Die Justiz- hören »Geständnisse« zu erzwingen. Das ministerin setzte im Juli 2010 eine Ar- daiyo kangoku-System gestattet der Polizei die beitsgruppe über die Todesstrafe ein; in- Inhaftierung Verdächtiger über einen Zeitraum des wurden im selben Monat zwei Per- von bis zu 23 Tagen. sonen hingerichtet. Flüchtlinge und Asyl-  Sugaya Toshikazu wurde im März 2010 nach suchende waren nach wie vor in Gefahr, über 17-jähriger Haft von der Mordanklage Opfer von Übergriffen zu werden. Ein freigesprochen. Man gewährte ihm eine Neu- Mann kam bei seiner Abschiebung ums verhandlung, nachdem sich erwiesen hatte, Leben, während zwei Personen in Zu- dass die DNA-Indizien in seinem ersten Verfah- wanderungsgewahrsam Selbstmord ver- ren fehlerhaft gewesen waren und sein »Ge- übten. ständnis« während der Untersuchungshaft erzwungen worden war. Hintergrund Der Oberste Gerichtshof verwarf eine Ent- Im Mai 2010 besuchte die UN-Hochkommissa- scheidung des Hohen Gerichts in Nagoya im rin für Menschenrechte Japan und forderte Fall von Okunishi Masaru und ordnete an, die Regierung auf, eine nationale Menschen- einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfah- rechtskommission einzurichten, die Todes- rens noch einmal zu überprüfen. Dies war das strafe abzuschaffen und die Frage nach Ent- erste Mal in 34 Jahren, dass der Oberste Ge- schädigungen für die sogenannten Trost- richtshof die Entscheidung eines untergeordne- frauen zu klären. Nachdem im Juni Hatoyama ten Gerichts in Bezug auf die Wiederauf- Yukio nach nur neunmonatiger Amtszeit als nahme des Verfahrens zugunsten eines zum Ministerpräsident zurückgetreten war, löste ihn Tode Verurteilten aufgehoben hat. In seinem Naoto Kan im Amt ab. Die Sozialdemokrati- ersten Verfahren hatte Okunishi Masaru ange- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sche Partei zog sich infolge der gescheiterten geben, man habe ihn zu einem »Geständnis« Verhandlungen über die Verlegung der US- gezwungen. Aus Mangel an Beweisen war er amerikanischen Luftwaffenbasis in Futenma in freigesprochen worden. Das Hohe Gericht Na- 000835 der Präfektur Okinawa aus der Regierungsko- goya hob anschließend seinen Freispruch auf alition zurück. Nach den Wahlen vom Juli verlor und verurteilte ihn 1969 zum Tod. die Regierungskoalition ihre Mehrheit im Oberhaus an die Liberaldemokratische Partei. Gewalt gegen Frauen und Mädchen Im Mai 2010 erklärte die UN-Sonderberichter- Justizsystem statterin über Gewalt gegen Frauen, dass Das Untersuchungshaftsystem (daiyo kangoku) überlebende Opfer von sexueller Gewalt »nicht ermöglichte weiterhin Folterungen und andere ohne eine offizielle Entschuldigung und die of- fizielle Anerkennung der Verantwortung des Staates eine finanzielle Entschädigung anneh- men wollen«. Sie beurteilte die Bewegung für die Entschädigung der sogenannten Trost- frauen als eine der am besten organisierten und am umfassendsten dokumentierten Gruppie- rungen. 21 kommunale Ratsversammlungen verabschiedeten Resolutionen, in denen sie sich zugunsten einer Entschuldigung und einer Entschädigung für überlebende Opfer des »Trostfrauen«-Systems aussprachen. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

226 Japan

• • • • Hurenkind: Verlag bitte einbringen! • • • • Todesstrafe ren Status außerhalb des Landes entschieden Im Juli 2010 wurden zwei Personen hingerich- worden war, indem es 27 Flüchtlinge aus My- tet, genau ein Jahr nach den letzten Hinrich- anmar akzeptierte, die zunächst in Thailand tungen. Mindestens 111 Gefangene, darunter Aufnahme gefunden hatten. mehrere psychisch Kranke, blieben unter be-  Im März 2010 kam der ghanaische Staatsan- sonders harten Haftbedingungen von der Voll- gehörige Abubakar Awudu Suraj ums Leben, streckung der Todesstrafe bedroht. Hinrich- als er von Mitarbeitern der japanischen Zuwan- tungen finden gewöhnlich heimlich und durch derungsbehörde zwecks Abschiebung in ein Erhängen statt. Die Häftlinge werden meist Flugzeug gebracht wurde. Bis Ende des Jahres erst wenige Stunden vor ihrer Hinrichtung oder waren die Ermittlungen in dem Fall abge- überhaupt nicht informiert. Angehörige wer- schlossen, Festnahmen hatten indes nicht den erst nach der Hinrichtung verständigt. stattgefunden. Im März 2010 verabschiedete das japanische  Zwei in der ostjapanischen Haftanstalt der Parlament ein Gesetz zur Abschaffung der ge- Einwanderungsbehörden inhaftierte Personen setzlich vorgeschriebenen Verjährungsfrist in verübten Selbstmord. Inhaftierte in der westli- Mordfällen, bei denen die Todesstrafe ver- chen und der östlichen Haftanstalt der Ein- hängt werden kann. Im Juli richtete die Justiz- wanderungsbehörden traten im Februar bzw. ministerin innerhalb des Ministeriums eine Ar- Mai 2010 in den Hungerstreik und forderten, beitsgruppe ein, die sich mit der Todesstrafe dass seit langem inhaftierte Personen sowie befassen sollte. Die Arbeitsgruppe hielt im Au- Minderjährige und Kranke aus der Haft entlas- gust, September und Oktober Sitzungen ab, sen und die Haftbedingungen, so auch der Zu- ohne Schlussfolgerungen zu veröffentlichen. gang zu medizinischer Versorgung, verbessert  Im November 2010 wurde im Bezirksgericht werden sollen. Yokohama die erste Todesstrafe wegen Mor- des unter dem saiban-in-System (Laienrichter- Amnesty International: Mission system) verhängt.  Delegierte von Amnesty International besuchten Japan im November. Flüchtlinge und Asylsuchende Die Bearbeitung von Anträgen auf Zuerken- nung des Flüchtlingsstatus unterlag unvermin- dert erheblichen Verzögerungen, wobei über manche Anträge erst nach bis zu zehn Jahren entschieden wurde. Anerkennungsverfahren für Asylsuchende fielen weiterhin nicht unter Jemen die Zuständigkeit richterlicher oder anderer un- abhängiger Kontrollinstanzen. Bis Dezember Amtliche Bezeichnung: Republik Jemen 2010 hatten schätzungsweise 1000 Personen Staatsoberhaupt: Ali Abdullah Saleh Asylanträge gestellt, während etwa 30 Perso- Regierungschef: Ali Mohammed Mujawar nen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden Todesstrafe: nicht abgeschafft war. Auf der Grundlage des Gesetzes zur Kon- Einwohner: 24,3 Mio. trolle der Zuwanderung und zur Anerkennung Lebenserwartung: 63,9 Jahre von Flüchtlingen wurden Migranten ohne regu- Kindersterblichkeit (m/w): 84 / 73 pro 1000 lären Aufenthaltsstatus sowie Asylsuchende, Lebendgeburten darunter auch Kinder, auf unbestimmte Zeit in Alphabetisierungsrate: 60,9% Gewahrsam genommen, ohne die Möglichkeit einer unabhängigen Überprüfung der Notwen- Die Menschenrechte wurden 2010 si- digkeit ihrer Inhaftierung. Japan nahm als ers- cherheitspolitischen Maßnahmen unter- tes asiatisches Land Flüchtlinge auf, über de- geordnet. Den Hintergrund hierfür bilde-

Jemen 227 ten die Aktivitäten von Al-Qaida, der be- mehrere Journalisten. Frauen wurden waffnete Konflikt in der Provinz Sa’da im nach wie vor Opfer von Diskriminierung Norden sowie die Proteste im Süden des und Gewalt. Die Behörden gewährten Landes. Tausende von Menschen wurden weiterhin vielen Flüchtlingen und Asylsu- festgenommen. Die meisten von ihnen chenden vom Horn von Afrika Zuflucht, kamen wenig später wieder frei. Einige doch unternahm die Regierung Schritte, blieben jedoch für längere Zeit in Ge- die darauf hinzielen, Somaliern künftig wahrsam, zum Teil ohne Kontakt zur nicht mehr automatisch Schutz zu ge- Außenwelt, oder wurden Opfer des »Ver- währen. Gegen mindestens 27 Men- schwindenlassens«. Gegen einige ergin- schen ergingen Todesurteile, mindestens gen nach unfairen Prozessen vor dem 53 Personen wurden hingerichtet. Sonderstrafgericht (Specialized Criminal Court – SCC) Freiheitsstrafen oder To- Hintergrund desurteile. Viele Gefangene gaben an, Die Regierung verlor faktisch die Kontrolle über gefoltert worden zu sein. Bevor der Kon- einige Provinzen. In einigen Gebieten blieb flikt in der Region Sa’da nach der sechs- das Entführungsrisiko sehr hoch. Zwei deut- ten Phase im Februar endete, flogen die sche Mädchen, die mit sieben weiteren aus- Streitkräfte – darunter auch die saudi- ländischen Staatsbürgern im Juni 2009 in der arabische Luftwaffe – schwere Bomben- Region Sa’da entführt worden waren, wurden angriffe. Dies führte zu Hunderten von im Mai 2010 von saudi-arabischen Streitkräften Toten, weiträumigen Verwüstungen so- befreit. Drei der neun Geiseln waren 2009 tot wie einer Massenflucht der Zivilbevölke- aufgefunden worden. Das Schicksal von drei rung. Als es im Südjemen erneut zu Pro- Deutschen und einem Briten blieb weiterhin testen kam, weil sich die Region von der ungeklärt. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen im Norden ansässigen Regierung be- Überall im Land fanden Massenproteste statt, nachteiligt fühlte, verschärften die Be- die gegen die sich verschlechternde wirt- schaftliche Lage und starke Preiserhöhungen 000835 hörden den Druck. Sicherheitskräfte gingen mit unverhältnismäßiger Gewalt bei Benzin, Strom, Wasser und Lebensmitteln gegen Demonstranten vor. Mehrere gerichtet waren. Menschen kamen bei gezielten Angriffen Eine am 21. Mai 2010 angekündigte General- ums Leben. Die Medien sahen sich mit amnestie des Präsidenten weckte die Hoff- repressiven Gesetzen und Maßnahmen nung, alle politischen Gefangenen, einschließ- konfrontiert. Unter den gewaltlosen lich der inhaftierten Journalisten, könnten frei- politischen Gefangenen befanden sich kommen. Die Regierung machte jedoch keine genauen Angaben dazu, wer unter die Amnes- tie fallen würde und wann die Freilassungen stattfänden. Ende Mai kamen im Zuge der Amnestie 117 Personen frei, die verdächtigt worden waren, am Konflikt in der Region Sa’da sowie an den Protesten im Süden des Landes teilgenommen zu haben. Vier Journalisten wurden ebenfalls aus der Haft entlassen. Ende 2010 befanden sich jedoch immer noch hun- derte weitere politische Gefangene im Gewahr- sam der Behörden. Neue Gesetze und Gesetzentwürfe untergru- ben den Schutz der Menschenrechte. Im Ja-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht nuar wurde das Gesetz gegen Geldwäsche und

228 Jemen Finanzierung des Terrorismus verabschiedet. Zahlreiche Personen mit vermeintlichen Ver- Es enthält eine sehr weit gefasste Definition des bindungen zu Al-Qaida oder anderen bewaff- Straftatbestands Finanzierung von Terroris- neten islamistischen Gruppierungen wurden mus. Rechtsanwälte sind verpflichtet, den Be- von den Sicherheitskräften getötet. In einigen hörden Auskunft über ihre Mandanten zu er- Fällen schien es, als sei erst gar nicht der Ver- teilen, wenn der Verdacht besteht, dass diese such unternommen worden, die Verdächtigen gegen das Gesetz verstoßen haben. Der Ent- festzunehmen. Soweit bekannt, gab es keine wurf für ein Antiterrorgesetz sieht keinen recht- gerichtlichen Ermittlungen, ob der Einsatz töd- lichen Schutz der Verdächtigen bei der Fest- licher Gewalt seitens der Sicherheitskräfte ge- nahme und während der Untersuchungshaft rechtfertigt und rechtmäßig war. Andere wur- vor. Außerdem soll die Zahl der Verbrechen den aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zu ausgeweitet werden, die mit der Todesstrafe ge- Al-Qaida festgenommen und auf verschiedene ahndet werden können. Sollte das Strafgesetz Weise misshandelt. Sie wurden über lange Zeit- gemäß den Vorschlägen geändert werden, räume ohne Anklage im Gewahrsam gehalten könnten auch jugendliche Straftäter zum Tode und wurden Opfer von Folter und »Verschwin- verurteilt werden. Dies würde eine Verletzung denlassen«. Gegen mehrere Angeklagte wur- des Völkerrechts bedeuten. Zwei Gesetzent- den nach grob unfairen Gerichtsverfahren vor würfe, die sich auf die Medien beziehen, dro- dem SCC Todesurteile oder lange Haftstrafen hen das Recht auf freie Meinungsäußerung verhängt. noch weiter einzuschränken.  Am 25. Mai 2010 kamen in Ma’rib bei einem Luftangriff der Sicherheitskräfte vier Men- Antiterrormaßnahmen und Sicherheit schen in einem Auto ums Leben. Unter den Op- Seit Jahresbeginn ging die Regierung vermehrt fern war Jaber al-Shabwani, der stellvertre- gegen die mutmaßliche Bedrohung durch Al- tende Gouverneur von Ma’rib, der dem Verneh- Qaida vor. Sie reagierte damit auf einen An- men nach zu einem Treffen mit Al-Qaida-Mit- schlagsversuch am 25. Dezember 2009, bei gliedern unterwegs war, die sich den Behörden dem ein Nigerianer, der von Al-Qaida im Jemen stellen wollten. Al-Shabwani wollte dabei als ausgebildet worden sein soll, versucht hatte, Vermittler agieren. Ende des Jahres war das Er- ein US-amerikanisches Passagierflugzeug in gebnis der Untersuchungen noch nicht veröf- die Luft zu sprengen. Bei den Antiterrormaß- fentlicht worden. nahmen arbeitete der Jemen eng mit den USA Im Anschluss an eine Untersuchung durch zusammen, dies betraf auch Luftangriffe und einen parlamentarischen Ausschuss räumte Durchsuchungen. die Regierung im März 2010 ein, dass ein Luft- Es gab weiterhin Angriffe durch bewaffnete angriff, der am 17. Dezember 2009 in der Re- Gruppen, dazu zählte auch Al-Qaida auf der gion Abyan 41 Männern, Frauen und Kindern Arabischen Halbinsel. Einige der Anschläge das Leben gekostet hatte, ein Irrtum gewesen richteten sich gegen die Sicherheitskräfte, an- sei. Entgegen der ursprünglichen Annahme dere nahmen ausländische Staatsangehörige gebe es keine Beweise für ein militärisches La- ins Visier oder führten zum Tod von Unbetei- ger in dieser Gegend. Fotografien, die offen- ligten. sichtlich nach dem Angriff aufgenommen wur-  Im April 2010 entging der britische Botschaf- den, legen nahe, dass bei der Aktion eine in ter in Sana’a nur knapp einem Bombenatten- den USA hergestellte Cruise Missile mit Streu- tat, zu dem sich Al-Qaida bekannte. bomben zum Einsatz kam. Soweit bekannt wer-  Im Juni 2010 kamen bei einem Anschlag auf den diese Raketen nur von den US-Streitkräf- ein Gebäude der Sicherheitskräfte in Aden ten eingesetzt. Die jemenitische Armee ist mili- drei Frauen, ein Kind und sieben Sicherheitsbe- tärisch eher nicht in der Lage, eine solche Ra- amte ums Leben. Die Regierung machte auch kete abzufeuern. Eine diplomatische Depe- für diesen Anschlag Al-Qaida verantwortlich. sche, die Anfang November von Wikileaks ver-

Jemen 229 breitet wurde, untermauerte die Bilder, die Im Juli kündigte die Regierung an, die von den Amnesty International Anfang des Jahres ver- Zerstörungen betroffenen Familien würden öffentlicht hatte. Entschädigungszahlungen erhalten. Im August unterzeichneten die Regierung und die Anhän- Der Konflikt in Sa’da ger von al-Huthi in Katar eine Friedensverein- Die von der Regierung im August 2009 gestar- barung, die einen politischen Dialog vorsieht. tete Militäroffensive unter dem Codenamen Hunderte mutmaßliche Rebellen und Anhän- »Verbrannte Erde« (Scorched Earth) endete am ger von al-Huthi wurden in den Hauptgefäng- 11. Februar 2010 mit einem Waffenstillstand. nissen von Sa’da und Sana’a sowie in weiteren Während der Offensive gingen Regierungstrup- Haftzentren in Gewahrsam gehalten. Einige pen mit ungekannter Härte gegen die Anhän- »verschwanden« nach ihrer Gefangennahme ger des 2004 getöteten schiitischen Zaidi-Geist- oder Verhaftung für mehrere Wochen oder lichen Hussain Badr al-Din al-Huthi vor. Die Monate. Berichten zufolge wurden viele von Gewalt eskalierte insbesondere, nachdem sich ihnen gefoltert oder anderweitig misshandelt. im November 2009 saudi-arabische Truppen Zwar kamen einige Anhänger von al-Muthi in den Konflikt eingeschaltet hatten. Wochen- im Mai aufgrund einer Präsidialamnestie frei, lang bombardierten die saudi-arabischen und die meisten waren Ende 2010 jedoch noch im- die jemenitischen Streitkräfte im Dezember mer in Haft, und es gab kaum Informationen 2009 und im Januar 2010 die Region Sa’da. über sie. Dabei kamen Hunderte von unbeteiligten Zivi- listen ums Leben. Viele Häuser, aber auch an- Unruhen im Süden dere zivile Bauwerke wie Moscheen und Schu- Während des Jahres 2010 gab es im Süden des len wurden ebenso schwer beschädigt wie In- Landes weiterhin überwiegend friedliche Mas- dustriebetriebe und Infrastruktur. Bei einigen senproteste, die von der Bewegung des Südens 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Angriffen lag der Verdacht nahe, dass sie ge- (Southern Movement) organisiert wurden. gen das Völkerrecht verstießen, weil sie ent- Rufe nach einer Abspaltung Südjemens wur- weder absichtlich auf Zivilisten und zivile Ziele den immer lauter. Die Regierungskräfte rea- 000835 gerichtet zu sein schienen oder weil es sich um gierten auf die Proteste mit unverhältnismäßiger wahllose und unverhältnismäßige Angriffe Gewalt, die in manchen Fällen zum Tod führte. handelte, bei denen die Gefahren für Zivilper- Sie warfen der Bewegung des Südens vor, mit sonen nur unzureichend oder gar nicht be- Al-Qaida in Verbindung zu stehen, und gingen dacht worden waren. Weder die saudi-arabi- teilweise gezielt gegen Einzelpersonen oder Be- sche noch die jemenitische Regierung gaben völkerungsgruppen vor. Bestimmte Gebiete irgendeine Erklärung dafür ab, warum es zu so waren vorübergehend von der Außenwelt abge- vielen Zwischenfällen dieser Art kam. Sie ga- schnitten, da die Regierung Kontrollpunkte er- ben auch nicht bekannt, ob und wenn ja, wel- richtete und das Mobilfunknetz abschaltete. che Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, Diese Maßnahmen führten zu Engpässen in um unbeteiligte Zivilpersonen zu schützen. der Lebensmittelversorgung. Mehrere Mitglie- Ende 2010 befanden sich nach Angaben der der Bewegung des Südens wurden mit des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge einem Reiseverbot belegt. (UNHCR) mehr als 350000 Einwohner der Re- Im Zuge von Verhaftungswellen wurden Hun- gion Sa’da auf der Flucht, manche von ihnen derte von Menschen festgenommen. Die bereits zum zweiten oder dritten Mal. Nur we- meisten von ihnen kamen nach kurzer Zeit wie- nige der Flüchtlinge kamen in eigens einge- der frei. Einige von ihnen wurden jedoch über richteten Lagern unter. Das Ausmaß der Zerstö- einen langen Zeitraum ohne Kontakt zur Au- rung sowie nicht detonierte Munition und ßenwelt in Haft gehalten oder nach unfairen Landminen erschwerten eine schnelle Rück- Gerichtsverfahren vor dem SCC zu Haftstrafen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht kehr der geflohenen Familien in ihre Heimat. verurteilt.

230 Jemen  Am 1. März 2010 wurde Ali al-Haddi, ein pro- dar Shayi’. Ihm und einem weiteren Gefange- minentes Mitglied der Bewegung des Südens, nen, Abdul Karim al-Shami, wird offenbar die in seinem Haus von Sicherheitskräften erschos- Mitgliedschaft bei Al-Qaida zur Last gelegt. sen. Diese hatten das Haus einige Stunden zu- Außerdem hätten sie mit Männern, nach de- vor gestürmt, seine Familie gefangen gehalten nen gefahndet wird, kommuniziert. und ihn ins Bein geschossen. Die Leiche von  Am 4. Januar 2010 begannen Angestellte Ali al-Haddi wies später Verstümmelungen auf, und Unterstützer der Tageszeitung al-Ayyam die offenbar von den Sicherheitskräften vor dem Verlagshaus einen Sitzstreik. Sie pro- stammten. Sie erschossen auch Ahmad Muh- testierten dagegen, dass die Zeitung seit acht sen Muhammad, einen Verwandten, der sich Monaten nicht mehr erscheinen durfte. Am gerade im Haus befand. 5. und 6. Januar wurde der 66-jährige Chefre-  Qassem Askar Jubran, ein ehemaliger jeme- dakteur der Zeitung, Hisham Bashraheel, fest- nitischer Diplomat und Anhänger der Bewe- genommen. Auch seine beiden Söhne Hani gung des Südens, kam im Juli 2010 frei. Er und Muhammad, die ebenfalls für al-Ayyam ar- hatte sich seit April 2009 im Gewahrsam be- beiten, wurden inhaftiert. Hisham Bashraheel funden und war allem Anschein nach ein ge- wurde zunächst ohne Kontakt zur Außenwelt in waltloser politischer Gefangener. Gewahrsam gehalten, dabei verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Er kam am Recht auf freie Meinungsäußerung 25. März gegen Kaution frei. Seine Söhne wur- Die Pressefreiheit wurde durch restriktive Pres- den am 9. Mai freigelassen. Den drei Männern segesetze und Übergriffe seitens der Sicher- droht noch immer eine Anklageerhebung. heitskräfte weiterhin stark eingeschränkt. Per- sonen, die mit den Medien in Verbindung Diskriminierung und Gewalt gegen standen, wurden schikaniert, strafrechtlich ver- Frauen und Mädchen folgt und inhaftiert. Manche von ihnen muss- Frauen und Mädchen wurden weiterhin sehr ten sich in unfairen Gerichtsverfahren vor dem stark diskriminiert, sowohl durch die Gesetze 2009 geschaffenen Pressegericht in Sana’a als auch im täglichen Leben. Vor allem in länd- verantworten. lichen Gegenden litten sie nach wie vor unter  Am 16. August 2010 wurde der freiberufliche Zwangs- und Frühverheiratungen. Ein Gesetz- Journalist Abdul Illah Haydar Shayi’ festge- entwurf zur Anhebung des Heiratsalters für nommen. Er hatte sich auf das Thema Antiter- Mädchen auf 17 Jahre, den das Parlament rormaßnahmen spezialisiert und in diesem 2009 verabschiedet hatte, war bis Ende 2010 Zusammenhang mutmaßliche Mitglieder von noch nicht in Kraft getreten. Es gab große De- Al-Qaida interviewt. Der Karikaturist Kamal monstrationen für und gegen die geplante Ge- Sharaf, der immer wieder die Korruption kriti- setzesreform. Die Regierung versprach, Pläne sierte, wurde einen Tag später inhaftiert. Beide auszuarbeiten, um Frauen stärker am politi- blieben bis zum 11. September ohne Kontakt schen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teil- zur Außenwelt im Gewahrsam. Abdul Illah haben zu lassen. Haydar Shayi’ wies Verletzungen an der Brust  Die zwölfjährige Ilham al-Ashi starb am sowie Blutergüsse am ganzen Körper auf und 9. April 2010, wenige Tage nach ihrer Hoch- verlor einen Zahn. Seinen Angaben nach waren zeit. Die Todesursache waren innere Blutun- dies die Folgen von Schlägen, die er nach sei- gen, die Berichten zufolge von einem gewalt- ner Festnahme erlitt. Am 22. September ord- samen sexuellen Übergriff ihres Ehemanns her- nete das SCC die Freilassung von Kamal Sha- rührten. raf an. Doch wurde der Beschluss zunächst ignoriert und Kamal Sharaf erst am 5. Oktober aus der Haft entlassen. Am selben Tag verlän- gerte das Gericht die Haft von Abdul Illah Hay-

Jemen 231 Müttersterblichkeit  Akram al-Samawy, der wegen Vergewaltigung Die Müttersterblichkeitsrate war im Jemen nach und Ermordung eines Mädchens zum Tode wie vor erheblich höher als in anderen Ländern verurteilt worden war, wurde am 5. Juli 2010 im der Region. Die Behörden arbeiteten weiter- Zentralgefängnis von Ta’izz hingerichtet. hin mit internationalen Hilfsorganisationen zu-  Im Juli 2010 bestätigte der Oberste Gerichts- sammen, um schwangeren Frauen vermehrt hof das Todesurteil gegen Abdul Aziz al-Obadi kostenlose medizinische Hilfe anzubieten. Für wegen Mordes. Ein erstinstanzliches Gericht Frauen in abgelegenen ländlichen Gegenden hatte die Zahlung von sogenanntem Blutgeld war der Zugang zur Gesundheitsfürsorge wei- (diya) verfügt, nachdem ein ärztliches Gutach- terhin schwierig. Viele konnten weder Schwan- ten den Angeklagten als »geisteskrank« be- gerschaftsuntersuchungen noch gynäkologi- zeichnet hatte. Ein Berufungsgericht hatte sche Hilfe im Notfall in Anspruch nehmen, weil diese Entscheidung im Juni 2009 aufgehoben die nächste Klinik zu weit entfernt war. und ein Todesurteil verhängt.

Flüchtlinge und Asylsuchende Amnesty International: Mission und Berichte Im Februar 2010 richteten die Behörden eine  Delegierte von Amnesty International besuchten das Land im Hauptabteilung für Flüchtlingsangelegenhei- März, um die Lage der Menschenrechte zu untersuchen. Da- ten ein. bei traf die Delegation auch die Ministerin für Menschen- Im Juni hielten sich nach Angaben des rechte und ihren Stellvertreter.  Yemen: Security and human rights – media briefing UNHCR mindestens 178000 afrikanische (MDE 31/004/ 2010) Flüchtlinge im Jemen auf, darunter 168000 aus  Yemen: Cracking down under pressure (MDE 31/010/2010) Somalia. Die jemenitischen Behörden unter-  Yemen: Security at what price? (MDE 31/011/2010) nahmen erste Schritte, die dazu führen sollen, dass Somalier künftig nicht mehr automatisch 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen als Flüchtlinge anerkannt werden.

000835 Folter und andere Misshandlungen Es gab weiterhin Berichte, wonach Häftlinge durch die Polizei und das Gefängnispersonal Jordanien gefoltert und misshandelt wurden, vor allem durch Beamte des Nationalen Sicherheits- Amtliche Bezeichnung: dienstes (National Security) und in den ersten Haschemitisches Königreich Jordanien Wochen nach der Festnahme. Zu den geschil- Staatsoberhaupt: König Abdullah II. derten Foltermethoden gehörten Schläge mit Regierungschef: Samir Rifai Stöcken oder Gewehrkolben, Fußtritte sowie Todesstrafe: nicht abgeschafft das Aufhängen an den Handgelenken über Einwohner: 6,5 Mio. einen längeren Zeitraum. Lebenserwartung: 72,4 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 24 / 19 pro 1000 Grausame, unmenschliche Lebendgeburten und erniedrigende Strafen Alphabetisierungsrate: 91,1% Bei Alkoholkonsum und Sexualdelikten fand weiterhin die Prügelstrafe Anwendung. Es trafen erneut Berichte über Folter und Misshandlungen ein. Mitglieder der Si- Todesstrafe cherheitskräfte genossen weiterhin Straf- 2010 ergingen gegen mindestens 27 Menschen freiheit. Prozesse vor dem Staatssicher- Todesurteile, mindestens 53 Personen wurden heitsgericht (State Security Court – SSC) hingerichtet, Hunderte saßen in den Todeszel- verstießen nach wie vor gegen interna-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht len. tionale Standards für faire Gerichtsver-

232 Jordanien fahren. Zahlreiche Personen wurden we- während die Wahlberechtigten in den Städten gen angeblicher Vergehen gegen die Si- mit ihrer überwiegend palästinensischstämmi- cherheit verhaftet, Tausende blieben gen Bevölkerung nicht angemessen gewichtet ohne Anklage oder die Aussicht auf ein seien. Die meisten Sitze des am 29. November Gerichtsverfahren in Haft. Die Rechte vereidigten neuen Parlaments gingen an Ange- auf freie Meinungsäußerung, Vereini- hörige von Familien, die dem König loyal ge- gungs- und Versammlungsfreiheit waren sonnen waren. weiterhin eingeschränkt. Die Behörden entzogen einigen Jordaniern palästinen- Folter und andere Misshandlungen sischer Herkunft willkürlich die Staats- Es trafen 2010 erneut Meldungen ein, dass bürgerschaft. Arbeitsmigrantinnen wa- Straftatverdächtige und aus Sicherheitsgrün- ren weiterhin von Ausbeutung und Miss- den inhaftierte Personen Opfer von Folterungen handlung betroffen. Frauen wurden und anderen Misshandlungen wurden. Die durch Gesetze und im täglichen Leben Behörden unterließen es, angemessene gesetz- diskriminiert. Trotz einer Gesetzesände- liche oder sonstige Schutzmaßnahmen gegen rung, die Frauen vor Gewalt schützen derartige Menschenrechtsverletzungen zu er- sollte, wurden Berichten zufolge min- greifen. destens 15 Frauen im Namen der »Fami- Im Mai bekräftigte der UN-Ausschuss gegen lienehre« getötet. Neun Menschen wur- Folter seine seit langem bestehende Sorge, den im Jahr 2010 zum Tode verurteilt, Jordanien würde Foltervorwürfen nicht nachge- Hinrichtungen fanden jedoch nicht hen, keinen angemessenen Schutz vor Folter statt. gewährleisten und die für Folter Verantwortli- chen nicht gemäß der Schwere ihrer Verbre- Hintergrund chen strafrechtlich belangen. Der Ausschuss Da es noch kein neues Parlament gab, erließ verwies auf »zahlreiche, anhaltende und die Regierung Übergangsgesetze. Der König glaubhafte Vorwürfe über weit verbreitete und hatte die Volksvertretung 2009 aufgelöst und für alltägliche Folterungen und Misshandlungen« den 9. November 2010 Neuwahlen angesetzt. durch den Allgemeinen Nachrichtendienst (Ge- Die Wahlen wurden von mehreren politischen neral Intelligence Department – GID) sowie in Parteien boykottiert, darunter auch von der den Haftanstalten der Kriminalpolizei. Die Re- stärksten Oppositionspartei, der Islamischen gierung reagierte nicht auf die Empfehlungen Aktionsfront. Diese bemängelte, dass das des Ausschusses. Wahlsystem nicht ausreichend repräsentativ  Die Anklage gegen einen Polizeibeamten im sei. Es bevorzuge die ländlichen Gegenden, Zusammenhang mit einer offensichtlich unge- setzlichen Tötung wurde fallengelassen, nach- dem die Familie des Opfers ihr Einverständnis gegeben hatte, den Fall nicht weiter zu verfol- gen. Fakhri Anani Kreishan war im November 2009 gestorben, nachdem er in Ma’an von Poli- zisten angegriffen worden war. Bei der Autop- sie wurde festgestellt, dass sein Tod durch eine Kopfverletzung verursacht wurde, die von einem harten Gegenstand herrührte. Der Poli- zist, der den Schlag ausgeführt haben soll, blieb weiterhin im Dienst.

Jordanien 233 Unfaire Gerichtsverfahren – des GID verbracht und war 2008 freigelassen Staatssicherheitsgericht worden. Zahlreiche Personen, denen Straftaten im Zu- sammenhang mit der Sicherheit zur Last ge- Rechte auf freie Meinungs- legt wurden, mussten sich in unfairen Prozes- äußerung, Vereinigungs- und sen vor dem Staatssicherheitsgericht (SCC) Versammlungsfreiheit verantworten. Im Oktober bekräftigte der UN- Journalisten und andere Personen, die sich re- Menschenrechtsausschuss gegenüber den gierungskritisch äußerten oder an friedlichen jordanischen Behörden seine Empfehlung, das Demonstrationen teilnahmen, wurden festge- Staatssicherheitsgericht abzuschaffen. nommen und einige von ihnen strafrechtlich  Im März 2010 ignorierte das SSC eine Ent- belangt. Die Zahl der Festnahmen stieg im Vor- scheidung des Kassationsgerichts aus dem feld der Parlamentswahlen vom November an. Jahr 2009, die lebenslangen Haftstrafen gegen Dutzende von Personen wurden vorüberge- acht Männer aufzuheben, die vom SSC wegen hend festgenommen, weil sie das Wahlsystem der Planung eines »Terroranschlags« im Jahr kritisiert hatten. 2004 verhängt worden waren. Die Entschei-  Muhammad al-Sneid, der sich für die Rechte dung des Kassationsgerichts stützte sich auf der Arbeitnehmerschaft einsetzte, wurde am die Tatsache, dass die »Geständnisse unter 10. Mai 2010 festgenommen und etwa zehn Nötigung erpresst« und damit »nicht verwert- Tage lang in Haft gehalten. Er hatte in Ma’daba bar« seien. Das SSC verwies den Fall zwecks an einer friedlichen Protestkundgebung teilge- neuer Ermittlungen zurück an die Staatsanwalt- nommen, die sich gegen die Entscheidung schaft. Die Männer blieben weiterhin in Haft. des Agrarministeriums richtete, ihn und andere Allem Anschein nach gab es keine offizielle Un- Angestellte des öffentlichen Dienstes zu ent- tersuchung zu den Vorwürfen, dass die »Ge- lassen. Im Juli verurteilte ihn das SSC zu drei 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ständnisse« unter Zwang zustande gekommen Monaten Haft, da er eine »nicht genehmigte waren. Versammlung« abgehalten habe. 000835 Haft ohne Gerichtsverfahren Diskriminierung Im ersten Halbjahr 2010 waren nach Angaben Die Behörden entzogen weiterhin Menschen des staatlichen Nationalen Menschenrechts- palästinensischer Herkunft willkürlich die jor- zentrums 6965 Menschen auf der Grundlage danische Staatsbürgerschaft. Hunderttausende des Gesetzes zur Verbrechensverhütung aus von Personen palästinensischer Herkunft sind dem Jahr 1954 inhaftiert. Dieses Gesetz gibt als jordanische Staatsbürger anerkannt. Denje- Provinzgouverneuren die Befugnis, Personen, nigen, denen die Staatsbürgerschaft aber- die einer Straftat verdächtig sind oder als »Ge- kannt wird, stehen kaum Wege offen, diese Ent- fahr für die Gesellschaft« angesehen werden, scheidung anzufechten. Sie sind praktisch auf unbestimmte Zeit und ohne Anklage zu in- staatenlos und haben keinen Zugang mehr zu haftieren. Einrichtungen des Gesundheits- oder Bil-  Isam al-Utaibi, auch bekannt unter dem Na- dungssystems. men Scheich Abu Muhammad al-Maqdisi, wurde mehr als zwei Monate lang ohne Ankla- Rechte von Arbeitsmigrantinnen geerhebung vom GID in Amman in Haft gehal- Die 2009 eingeführten Bestimmungen zum ten, bevor sein Prozess vor dem SSC begann Schutz von Migrantinnen, die als Hausange- und er in ein Gefängnis verlegt wurde. Er muss stellte beschäftigt sind, vor körperlicher und sich u. a. wegen »Rekrutierung von Mitgliedern seelischer Misshandlung am Arbeitsplatz für terroristische Organisationen« verantwor- wurden in der Praxis weitgehend missachtet. ten. Isam al-Utaibi hatte schon einmal drei TAMKEEN, eine Organisation, die Rechtsbera-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Jahre ohne Anklageerhebung im Gewahrsam tung für als Hausangestellte tätige Migrantin-

234 Jordanien nen anbietet, berichtete im Mai 2010, in den März teilte der Justizminister mit, dass der Tat- vorangegangenen zwölf Monaten seien 290 Be- bestand der Vergewaltigung womöglich nicht schwerden eingegangen. Die meisten hätten länger als Verbrechen gelte, das mit der To- sich darauf bezogen, dass Löhne nicht ausbe- desstrafe zu ahnden sei. Es fanden keine Hin- zahlt und Pässe beschlagnahmt worden seien. richtungen statt. Außerdem hätte es Klagen über die sehr harten Im Dezember enthielt sich Jordanien der Arbeitsbedingungen gegeben, die für »Gastar- Stimme, als die UN-Generalversammlung eine beiter« üblich waren. Resolution für ein weltweites Hinrichtungsmo- ratorium verabschiedete. Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen Frauen wurden weiterhin Opfer von Tötungen im Namen der »Familienehre«; 2010 wurden mindestens 15 Frauen getötet. Die Regierung führte einstweilige Änderungen des Strafge- setzes ein, die verhindern sollen, dass Männer, die für schuldig befunden wurden, weibliche Kambodscha Familienangehörige im Namen der »Familien- ehre« getötet zu haben, nur milde bestraft Amtliche Bezeichnung: Königreich Kambodscha werden. Dies betraf auch Paragraph 98, der Staatsoberhaupt: König Norodom Sihamoni eine Strafmilderung vorsieht, wenn die Tötung Regierungschef: Hun Sen in einem »Anfall von Wut« aufgrund eines Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft »rechtswidrigen oder andere Personen gefähr- Einwohner: 15,1 Mio. denden« Verhaltens des Opfers erfolgt ist. Das Lebenserwartung: 62,2 Jahre Kassationsgericht verwies jedoch zwei derar- Kindersterblichkeit (m/w): 92 / 85 pro 1000 tige Fälle an das Strafgericht zurück mit der Lebendgeburten Aufforderung, es solle prüfen, ob die Strafen Alphabetisierungsrate: 77% gemäß Paragraph 98 verkürzt werden könnten. Die einstweiligen Änderungen des Personen- Zu den gravierendsten Menschenrechts- standgesetzes gingen nicht konsequent genug verstößen zählten weiterhin rechtswid- gegen die Diskriminierung von Frauen vor. So rige Zwangsräumungen, Landraub und war u. a. keine rechtliche Gleichstellung von Landkonflikte. Es kam vermehrt zu Pro- Männern und Frauen bei der Aufteilung von ge- testkundgebungen der betroffenen Fami- meinsamem Kapital oder Eigentum im Schei- lien und Gemeinschaften. Engagierte dungsfall vorgesehen. Die Gesetzesänderungen Bürger und Menschenrechtsverteidiger, hoben das Mindestheiratsalter für Mädchen auf 18 Jahre an, ließen jedoch Ausnahmen zu, so dass in einigen Fällen sogar 15-jährige Mädchen heiraten dürfen.

Todesstrafe Amnesty International vorliegenden Informatio- nen zufolge wurden 2010 in Jordanien neun Todesurteile verhängt. Der Justizminister sprach jedoch von sechs Todesurteilen im Be- richtsjahr. Änderungen des Strafrechts führten dazu, dass sich die Zahl der Straftatbestände, auf die die Todesstrafe steht, reduzierte. Im

Kambodscha 235 die für das Recht auf angemessenen Rechtswidrige Zwangsräumungen Wohnraum eintraten, sahen sich mit ge- Im ganzen Land litten Tausende von Personen, richtlichen Klagen und Inhaftierungen darunter auch Angehörige indigener Bevölke- konfrontiert, die auf fadenscheinigen An- rungsgruppen, unter rechtswidrigen Zwangs- schuldigungen beruhten. Dem Justizwe- räumungen, Landraub und Landkonflikten. sen und den Gerichten mangelte es wei- Einige Fälle standen im Zusammenhang mit terhin an Unabhängigkeit. Sie wurden wirtschaftlichen Landkonzessionen, die mäch- eingesetzt, um die Rechte auf freie Mei- tigen Unternehmen und Einzelpersonen einge- nungsäußerung, Vereinigungs- und Ver- räumt worden waren. Immer mehr Menschen sammlungsfreiheit zu unterdrücken. und Gemeinden fanden sich zu Protesten zu- Journalisten, Gewerkschafter und Oppo- sammen und reichten bei den Behörden Peti- sitionspolitiker waren Angriffen ausge- tionen ein, um ihr Recht auf angemessenen setzt. Die Straflosigkeit für Menschen- Wohnraum zu verteidigen. rechtsverletzungen gab nach wie vor An- Im Mai 2010 bestätigten die Behörden einen lass zu größter Besorgnis. Kaing Guek Runderlass zu »Übergangssiedlungen auf wi- Eav (alias Duch) war der erste Ange- derrechtlich besetztem Land«. Er zielte darauf klagte, der von den Außerordentlichen ab, alteingesessene Gemeinschaften, die zum Kammern der Kambodschanischen Ge- Teil über rechtmäßige Besitztitel verfügen, aus richte (Extraordinary Chambers in the der Hauptstadt Phnom Penh und sonstigen Courts of Cambodia – ECCC) wegen Ver- städtischen Gebieten in andere Gegenden um- brechen gegen die Menschlichkeit wäh- zusiedeln. rend der Herrschaft der Roten Khmer für  Die rechtswidrige Zwangsräumung von schuldig befunden wurde. 20000 Menschen, die rund um den Boeung- Kak-See in Phnom Penh lebten, beschleunigte 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Hintergrund sich, als ein Privatunternehmen, das in die- Die Behörden akzeptierten alle 91 Empfehlun- sem Gebiet Bauprojekte durchführt, den See gen zur Verbesserung der Menschenrechts- mit Sand aufschüttete. Das durch die Auf- 000835 lage, die von UN-Mitgliedstaaten im Rahmen schüttung verdrängte Wasser überflutete Häu- der Universellen Regelmäßigen Überprüfung ser und zerstörte Besitztümer. Vertreter des (UPR) im März unterbreitet wurden. Dazu zähl- Unternehmens bedrohten und schikanierten ten Maßnahmen, um Straflosigkeit, rechtswid- die Bewohner in der Absicht, sie dazu zu zwin- rige Zwangsräumungen und unfreiwillige Um- gen, unzureichende Entschädigungen oder siedlungen zu bekämpfen sowie der Vorschlag Umsiedlungen zu akzeptieren, obwohl viele einer Justizreform. von ihnen über rechtmäßige Besitztitel nach Der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekre- dem Landgesetz von 2001 verfügten. Enga- tärs für Menschenrechte in Kambodscha legte gierte Bürger, die gegen die rechtswidrige bei seinem Besuch im Juni 2010 ein besonde- Zwangsräumung protestierten, wurden von res Augenmerk auf das Justizsystem. Er be- der Polizei schikaniert. fand, das Justizwesen sei nicht unabhängig  Die Polizei setzte unnötige Gewalt ein, darun- und überhaupt nicht dazu in der Lage, für Ge- ter Elektroschockwaffen, um eine friedliche rechtigkeit zu sorgen. Protestkundgebung aufzulösen, die Anwohner Ein neues Strafgesetzbuch, das im Dezember des Boeung-Kak-Sees aus Anlass eines Kam- in Kraft trat, enthielt umstrittene Bestimmun- bodscha-Besuchs des UN-Generalsekretärs gen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung veranstaltet hatten. Suong Sophorn wurde von einschränkten. der Polizei bewusstlos geschlagen und bis zur Abreise des UN-Generalsekretärs in Gewahr- sam gehalten. Er war bereits 2009 festgenom-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht men und mit einer Geldstrafe belegt worden,

236 Kambodscha weil er »Stoppt die Zwangsräumungen« auf vinz Siem Reap) gegen den Verlust von Acker- sein Haus geschrieben hatte. land protestiert hatten, wurden fortgeführt. Hunderte von Dorfbewohnern nahmen an den Internationales Recht Verhandlungen teil, um die Angeklagten zu  Im Juli 2010 fällten die ECCC ein historisches unterstützen, zu denen auch der buddhistische Urteil gegen Kaing Guek Eav (alias Duch). Auf- Mönch Luon Savath zählte. Er wurde von den grund seiner Beteiligung an Massenhinrichtun- Sicherheitskräften wegen seiner friedlichen Ak- gen, Folter und anderen Verbrechen während tivitäten schikaniert. Auch drohte man, ihn der Herrschaft der Roten Khmer erging gegen seines Priesteramts zu entheben. Luon Savath ihn ein Schuldspruch wegen Verbrechen ge- hatte dokumentiert, welche Folgen der gen die Menschlichkeit und schwerer Verlet- Schusswaffeneinsatz der Sicherheitskräfte ge- zungen der Genfer Konventionen. »Duch« war gen die Protestierenden aus Chikreng im März Kommandant des Sicherheitsgefängnisses 2009 gehabt hatte. S-21, in dem mindestens 14000 Menschen  Im Zusammenhang mit einem Landkonflikt gefoltert und getötet worden waren. Er wurde zu zwischen einem Zuckerunternehmen und den 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Durch die Bewohnern des Dorfes Bos im Distrikt Samrong Anrechnung der Zeit in Untersuchungshaft und (Provinz Oddar Meanchey) erging im Mai ein der Zeit, in der er ohne ausreichende Rechts- Urteil gegen Long Sarith und Long Chan Kiri. grundlage inhaftiert war, verringerte sich die Die beiden Sprecher der Dorfgemeinschaft Haftdauer um 16 Jahre. Sowohl die Staatsan- wurden wegen »Rodung von Staatswald« zu waltschaft als auch die Verteidigung legten zwei Jahren Haft verurteilt. Vier Tage nach Rechtsmittel gegen das Urteil ein. ihrer Festnahme im Oktober 2009 hatten Si-  Im September wurden Ieng Sary, Ieng Thirith, cherheitskräfte die Häuser von 100 Familien Khieu Samphan und Nuon Chea wegen Völ- des Dorfes zerstört. kermordes an Vietnamesen und Angehörigen der Cham, Verbrechen gegen die Menschlich- Rechte auf freie Meinungsäußerung keit, Kriegsverbrechen und anderen Verbre- und Vereinigungsfreiheit chen angeklagt. Die Gerichte wurden dazu benutzt, um die  Ministerpräsident Hun Sen verhinderte Fort- Rechte auf freie Meinungsäußerung und Ver- schritte in zwei weiteren Fällen, die sich auf einigungsfreiheit von Journalisten, Gewerk- fünf Personen bezogen, indem er erklärte, dass schaftsmitgliedern und oppositionellen Parla- er keine weiteren Strafverfolgungen dulden mentariern einzuschränken. werde.  Der Vorsitzende der größten Oppositionspar- tei, Sam Rainsy, wurde nach zwei Gerichtsver- Menschenrechtsverteidiger fahren im Januar und im September 2010 in Zahlreiche Personen wurden 2010 festgenom- Abwesenheit zu zwölf Jahren Haft verurteilt. men, weil sie das Recht auf Wohnen verteidigt Die Anklage war wegen Protesten in Zusam- und gegen Landraub und rechtswidrige menhang mit einem umstrittenen Gebiet an Zwangsräumungen protestiert hatten. Dut- der kambodschanisch-vietnamesischen zende Personen saßen Gefängnisstrafen ab, zu Grenze erhoben worden. Sam Rainsy lebte im denen sie in früheren Jahren verurteilt worden Exil. waren. Die meisten wurden aufgrund konstru-  Im September 2010 beteiligten sich rund ierter, unbegründeter oder fadenscheiniger 200000 Arbeiter an einem viertägigen landes- Vorwürfe angeklagt, wie Beschädigung von Pri- weiten Streik, um gegen die unzureichende Er- vateigentum, Aufwiegelung, Raub und Körper- höhung des Mindestlohns zu protestieren. Ge- verletzung. werkschaftsführern und aktiven Gewerk-  Die Verfahren gegen Dorfbewohner, die bei schaftsmitgliedern wurden rechtliche Konse- einem Landkonflikt im Distrikt Chikreng (Pro- quenzen angedroht, darunter Anklagen wegen

Kambodscha 237 »Aufwiegelung«. Die Eigentümer der betroffe- nen Unternehmen suspendierten Gewerk- Kamerun schaftsführer und entließen Arbeiter, die sich an den Protesten beteiligt hatten. Obwohl die Amtliche Bezeichnung: Republik Kamerun staatlichen Behörden eingriffen, waren bis De- Staatsoberhaupt: Paul Biya zember 370 Arbeiter und führende Gewerk- Regierungschef: Philémon Yang schaftsmitglieder noch nicht wieder eingestellt Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft worden. Ende 2010 waren noch mehrere Ge- Einwohner: 20 Mio. richtsverfahren anhängig. Lebenserwartung: 51,7 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 151 / 136 pro 1000 Gewalt gegen Frauen und Mädchen Lebendgeburten Es gab keine umfassenden und zuverlässigen Alphabetisierungsrate: 75,9% offiziellen Angaben über das Ausmaß von Ge- walt gegen Frauen und Mädchen, einschließ- Die Regierung schränkte auch 2010 die lich sexueller Gewalt. Ebenso fehlten Angaben Aktivitäten von Regierungsgegnern und über die Zahl der Strafverfahren gegen Tatver- Journalisten ein und unterdrückte nach dächtige. Aufgrund von Mängeln im Straf- wie vor das Recht auf freie Meinungsäu- rechtssystem und der weit verbreiteten Praxis ßerung. Ein Journalist starb in der Haft. außergerichtlicher Regelungen hatten die Op- Die Haftbedingungen waren weiterhin fer Schwierigkeiten, zu ihrem Recht zu kom- schlecht und häufig lebensbedrohlich. men. Ihre Traumatisierung wurde dadurch Personen, die gleichgeschlechtliche se- verstärkt, dass es kaum Einrichtungen gab, die xuelle Beziehungen unterhielten, muss- ihnen Hilfe und Unterstützung boten. ten Festnahmen und Gefängnisstrafen  Meas Veasna war dem Vernehmen nach im befürchten. Die Angehörigen der Sicher- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Juni 2009 von einem Mönch einer Pagode in heitskräfte, die im Februar 2008 an der Provinz Prey Veng vergewaltigt worden. Sie Menschenrechtsverletzungen beteiligt hatte nur wenige Wochen zuvor ein Kind zur gewesen waren, genossen weiterhin 000835 Welt gebracht. Obwohl sie das Verbrechen bei Straffreiheit. Mindestens 77 Gefangene der Polizei angezeigt und an einem Treffen mit befanden sich im Todestrakt. den Vorstehern der Pagode, der Polizei, örtli- chen Behördenvertretern sowie dem mutmaß- lichen Täter teilgenommen hatte, wurde keine strafrechtliche Verfolgung in die Wege geleitet. Stattdessen gab ihr ein Vertreter der Pagode 250 US-Dollar für medizinische Behandlung. Wegen des mit der Vergewaltigung verbunde- nen Stigmas lebte sie getrennt von ihrem Mann und ihren kleinen Kindern in einer ande- ren Stadt.

Amnesty International: Missionen und Bericht  Eine Delegation von Amnesty International besuchte Kam- bodscha im Februar und März.  Breaking the silence: Sexual violence in Cambodia (ASA 23/ /001/ 2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

238 Kamerun Hintergrund ren, blieben in Gewahrsam und warteten auf Im Vorfeld der für Ende 2011 vorgesehenen ihre Gerichtsverfahren unter der Anklage der Wahlen stiegen die Befürchtungen, dass nach Korruption. Viele von ihnen erklärten, dass der der 28-jährigen Regierungszeit von Präsident Anklage gegen sie politische Differenzen oder Paul Biya die Lage im Land instabil werden Neid zugrunde lägen. könnte. Oppositionsführer beschuldigten den  Zum Jahresende standen die Häftlinge Titus Präsidenten, die Befugnisse der als Election Edzoa und Thierry Atangana aufgrund neuer Cameroon (ELECAM) bekannten Wahlkommis- gegen sie erhobener Korruptionsvorwürfe vor sion zu untergraben. Das Parlament, das von Gericht. Zu diesem Zeitpunkt mussten sie der Regierungspartei Demokratische Versamm- noch knapp zwei Jahre einer 15-jährigen Ge- lung des Kamerunischen Volks (Rassemble- fängnisstrafe verbüßen, zu der sie im Jahr ment Démocratique du Peuple Camerounais – 1997 verurteilt worden waren. Ihr Verfahren im RDPC) dominiert wird, verabschiedete im März Jahr 1997 war unfair gewesen. Es wurde in den ein Gesetz, das der Regierung durch das Minis- frühen Morgenstunden ohne Beistand durch terium für Territoriale Verwaltung die Aufsicht einen Anwalt beendet und war offensichtlich über die Wahlvorbereitungen einräumt. Diese politisch motiviert. Titus Edzoa hatte sein Amt Aufgabe hatte vorher ELECAM übernommen. als höherer Regierungsbeamter niedergelegt, Im September bildete Präsident Biya seine um für das Amt des Präsidenten zu kandidie- Regierung um und wechselte höhere Beamte ren, und Thierry Atangana beschuldigte man, des nationalen Sicherheitsdienstes aus. sein Wahlkampfmanager gewesen zu sein. In der Region von Bakassi kam es 2010 wei- terhin zu bewaffneten Zusammenstößen. Recht auf freie Meinungsäußerung Nachdem bei Kampfhandlungen, die im Fe- Die Regierung versuchte, Kritiker ihrer Politik, bruar auf der Halbinsel Bakassi stattgefunden darunter Journalisten und Menschenrechts- hatten, 24 Zivilpersonen verletzt worden waren, verteidiger, zum Schweigen zu bringen. meldete die Regierung am 18. März, dass 19  Germain Cyrille Ngota, geschäftsführender Soldaten der militärischen Eliteeinheit Bataillon Direktor des Cameroon Express, starb im April d’Intervention Rapide (BIR) Delta wegen »Ak- 2010 in der Haft. Er war einer von drei Journa- ten der Brutalität gegenüber der Zivilbevölke- listen, die im März festgenommen worden wa- rung« schuldig gesprochen worden seien. Die ren. Berichten zufolge erhielt er während seiner Gewässer vor der Küste von Bakassi wurden Haft keinerlei medizinische Versorgung. Fami- unsicherer. So kaperte eine Gruppe, die sich lienangehörige erklärten, dass er gefoltert wor- African Marine Commando nannte, Boote, den sei. Eine von der Regierung durchgeführte nahm Seeleute als Geiseln oder tötete sie sogar. Untersuchung, deren Verfahren nicht öffentlich Im Mai begann eine kamerunisch-nigeriani- bekannt wurde, kam zu dem Schluss, dass sche Kommission mit der weiteren Demarka- sein Tod natürliche Ursachen gehabt habe. Die tion einer umstrittenen Grenzlinie entspre- Untersuchungsergebnisse wurden jedoch von chend der Entscheidung, die der Internatio- Journalisten und Menschenrechtsverteidigern nale Gerichtshof im Jahr 2002 getroffen hatte. angezweifelt. Robert Mintya, Direktor des Ma- Berichten zufolge plante die Regierung, im gazins Le Devoir, und Serge Sabouang, Direktor Rahmen einer Reform des Strafgesetzbuchs der zweimonatlich erscheinenden Publikation die weibliche Genialverstümmelung unter La Nation, die zusammen mit Germain Cyrille Strafe zu stellen. Ngota festgenommen worden waren, gaben an, gefoltert worden zu sein. Sie standen weiter- Korruptionsvorwürfe hin wegen Betrugs und der Benutzung ge- Zahlreiche ehemalige Regierungsbeamte und fälschter Dokumente unter Anklage. Robert Leiter von staatlichen Betrieben, von denen Mintya war im August von einem Mithäftling einige im Jahr 2010 festgenommen worden wa- angegriffen worden und musste deshalb für

Kamerun 239 mehrere Wochen ins Krankenhaus. Robert täten politischer Parteien und Gruppen der Zi- Mintya und Serge Sabouang wurden Berichten vilgesellschaft waren gleichermaßen von offi- zufolge auf Anordnung des Präsidenten Paul ziellen Sanktionen betroffen. Biya im November auf freien Fuß gesetzt, doch  Im November 2010 wurden sieben Gewerk- wurden die Anklagen gegen sie nicht fallenge- schaftsmitglieder nach einer vom Gewerk- lassen. schaftsbund des öffentlichen Dienstes (Cen-  Der Prozess gegen drei Journalisten und trale Syndicale du Secteur Public – CSP) orga- einen Hochschullehrer, die nach einer Fern- nisierten öffentlichen Demonstration, die vor sehdebatte im Jahr 2008 festgenommen wor- dem Amtssitz des Premierministers in den waren, begann im Januar, wurde jedoch Yaoundé stattfand, festgenommen. Unter ihnen im Jahr 2010 mindestens sechs Mal verscho- befanden sich der Präsident der CSP, Jean- ben. Alex Gustave Azebaze und Thierry Ngo- Marc Bikoko, und führende Mitglieder mehre- gang vom unabhängigen Fernsehkanal STV2, rer Gewerkschaften des Bildungssektors. Sie Anani Rabier Bindji vom Canal2 und der Uni- wurden wegen Straftaten im Zusammenhang versitätsdozent Aboya Manassé standen unter mit einer nicht genehmigten Demonstration der Anklage, im Rahmen einer Diskussion angeklagt. Zum Jahresende war ihr Verfahren über die Opération Epervier (Operation Sper- noch nicht abgeschlossen. ber), einer Initiative der Regierung gegen Kor-  Journalisten, die wegen des in der Haft zu ruption, vertrauliche Informationen an die Öf- Tode gekommenen Zeitungsherausgebers fentlichkeit gebracht zu haben. Germain Cyrille Ngota protestierten, wurden  Lewis Medjo, der Chefredakteur der Zeitung von der Polizei daran gehindert, am Welttag La Détente Libre, der im Januar 2009 zu einer der Pressefreiheit im Mai 2010 einen Sitzprotest Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt wor- durchzuführen. Einige gaben an, von der Poli- den war, kam im Juni 2010 frei. zei geschlagen worden zu sein. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Der frühere Bürgermeister Paul Eric Kingué und der Musiker Pierre Roger Lambo Sandjo Rechte von Lesben, Schwulen, verbüßten Gefängnisstrafen, zu denen sie we-

000835 Bisexuellen und Transgender-Personen gen Beteiligung an den Ausschreitungen im Nach dem Strafgesetzbuch sind gleichge- Februar 2008 verurteilt worden waren. Men- schlechtliche sexuelle Beziehungen ein straf- schenrechtsverteidiger in Kamerun blieben bares Delikt, und sogar die Nationale Men- bei ihrer Erklärung, dass Paul Eric Kingué fest- schenrechtskommission lehnt es ab, die genommen worden sei, weil er gegen die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und rechtswidrige Tötung von angeblichen Aufrüh- Transgender-Personen anzuerkennen und zu rern protestiert habe, und dass die Festnahme verteidigen. Im Jahr 2010 kam es weiterhin re- von Pierre Roger Lambo Sandjo erfolgte, weil er gelmäßig zu Festnahmen und strafrechtlicher ein Lied komponiert habe, das die Verfas- Verfolgung von Schwulen und zu Gerichtsver- sungsänderung kritisierte, die es Präsident Biya fahren gegen sie. Die Inhaftierten waren ge- ermöglichte, erneut für das Präsidentenamt zu waltlose politische Gefangene. kandidieren.  Fabien Mballa und Aboma Nkoa Emile wur- den am 24. März von Polizisten in Camp Yeyap Rechte auf Vereinigungs- und in Yaoundé, festgenommen. Sie wurden vom Versammlungsfreiheit Strafgericht der ersten Instanz von Yaoundé zu Die Regierung schränkte weiterhin die Aktivitä- einer Haftstrafe von fünf Monaten und Geld- ten des Nationalrats von Südkamerun (Sou- strafen verurteilt und im Gefängnis Kondengui thern Cameroons National Council – SCNC) ein, inhaftiert. einer gewaltfreien sezessionistischen Gruppie-  Roger Bruno Efaaba Efaaba und Marc Henri rung, deren Mitglieder Festnahmen und Inhaf- Bata, die im September unter dem Verdacht

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht tierungen ausgesetzt waren. Gewaltlose Aktivi- des Diebstahls festgenommen worden waren,

240 Kamerun danach aber gleichgeschlechtlicher sexueller worden waren, im Jahr 2008 Menschen- Handlungen beschuldigt wurden, unterzog rechtsverletzungen begangen zu haben, als man im Oktober unter Zwang medizinischen während der Proteste gegen Preiserhöhungen Analuntersuchungen. Es handelte sich dabei und eine Verfassungsänderung, welche die Be- um eine Form grausamer, unmenschlicher grenzung der Amtszeit des Präsidenten auf- und erniedrigender Behandlung. Zum Jahres- hob, mehr als 100 Personen getötet wurden. ende befanden sie sich weiter in Gewahrsam. Todesstrafe Haftbedingungen Mindestens 77 Gefangene befanden sich 2010 Gefängnisse und andere Haftzentren waren im in Todeszellen; seit 1997 gab es aber keine Jahr 2010 überfüllt und die Haftbedingungen Berichte über Hinrichtungen. Es herrschte Be- oft lebensbedrohlich. Medizinische Versorgung sorgnis darüber, dass ein im Mai erlassenes und Nahrungsmittel wurden häufig nicht oder Präsidialdekret zur Umwandlung von Todes- nur unzureichend zur Verfügung gestellt. Wie- strafen in lebenslange Haft nicht vollständig derholt kam es zu Unruhen und Fluchtversu- umgesetzt wurde. Die Gefangenen im Todes- chen; mehrere Gefangene wurden bei dem trakt erhielten keine Informationen darüber, Versuch zu fliehen getötet. Die Gefängniswär- warum ihre Urteile nicht umgewandelt wurden. ter waren schlecht ausgebildet und unzurei- chend ausgerüstet, außerdem war ihre Anzahl Amnesty International: Mission im Verhältnis zu der großen Zahl von Gefängnis-  Vertreter von Amnesty International besuchten Kamerun im insassen zu gering. August. Sie trafen dabei zum ersten Mal Regierungsbeamte Im Gefängnis Kondengui, das für 700 Insas- und führten Recherchen durch. sen gebaut worden war, saßen im August 3852 Häftlinge ein. Die Versorgung mit Nahrungsmit- teln, Wasser und Artikeln der medizinischen Versorgung war nicht ausreichend. In einem unter dem Namen Kosovo bekannten Trakt des Gefängnisses gab es für die Gefangenen nicht genug Platz, um im Liegen zu schlafen. Kanada In einem anderen Trakt waren psychisch kranke Gefangene untergebracht, die keinerlei Amtliche Bezeichnung: Kanada psychiatrische Versorgung erhielten. Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., Das New-Bell-Gefängnis in Douala, dessen vertreten durch Generalgouverneur General Unterbringungskapazität bei 700 Personen David Johnston (löste im Oktober Michaëlle Jean liegt, war im August mit 2453 Insassen belegt. im Amt ab) Viele der dortigen Insassen befanden sich in Regierungschef: Stephen Harper Untersuchungshaft und waren zusammen mit Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft verurteilten Strafgefangenen untergebracht. Einwohner: 33,9 Mio. Einige Gefangene wurden in Fußeisen gehalten. Lebenserwartung: 81 Jahre Laut Berichten starben im Gefängnis Maroua Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 6 pro 1000 Gefangene an den Folgen der sengenden Lebendgeburten Hitze und im Gefängnis Ngaoundere an der Cholera. Die Rechte der indigenen Bevölkerung Kanadas wurden nach wie vor systema- Straflosigkeit tisch verletzt. Es gab Befürchtungen, Regierungsbeamte bestätigten, dass keine dass ein neues Gesetzesvorhaben zu Maßnahmen gegen Angehörige der Sicher- einer längeren Inhaftierung von Asylsu- heitskräfte ergriffen wurden, die beschuldigt chenden führen könnte. Anlass zur

Kanada 241 Sorge gaben weiterhin Menschenrechts- Rechte indigener Völker verletzungen im Zusammenhang mit Im traditionellen Gebiet der Lubicon-Cree wur- Antiterror- und Sicherheitsmaßnahmen. den 2010 weiterhin Projekte zur Erdöl- und Erdgasförderung durchgeführt. Die Regierung Hintergrund der Provinz Alberta hatte die Genehmigung Ein Gesetzentwurf für eine nationale Woh- dazu erteilt, ohne die freie, auf vorheriger Infor- nungsstrategie, die mit internationalen Men- mation begründete Zustimmung der Lubicon- schenrechtsstandards im Einklang steht, war Cree einzuholen. Im September forderte der Ende 2010 noch nicht verabschiedet. UN-Sonderberichterstatter über die Situation Im Juni verabschiedete das Parlament ein Ge- der Menschenrechte und Grundfreiheiten der setz, das den Abschluss eines Freihandelsab- Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen kommens mit Kolumbien vorsieht. Es enthält al- erneut »entschiedene Maßnahmen« zum lerdings keine glaubwürdige und unabhängige Schutz der Rechte der Lubicon-Cree. Bewertung der Menschenrechtssituation. Im Es herrschte weiterhin Besorgnis darüber, Oktober wurden ein Gesetzentwurf zur Schaf- dass die unangemessene Gewaltanwendung fung nationaler Menschenrechtsstandards für der Polizei bei den Landprotesten in und um im Ausland tätige kanadische Unternehmen das Reservat der Tyendinaga Mohawk in Onta- und die entsprechenden Umsetzungsbestim- rio noch immer nicht untersucht wurde. Die mungen im Parlament (House of Commons) Umsetzung von Reformen, wie sie in dem Un- mit knapper Mehrheit abgelehnt. tersuchungsbericht zur Tötung eines unbewaff- Im Juni gründete sich eine landesweite Koali- neten indigenen Demonstranten (Ipperwash tion von NGOs unter dem Namen Voices/Voix. Inquiry Report) 2007 vorgeschlagen worden Mit dem Zusammenschluss reagierten die zivil- waren, verlief schleppend. gesellschaftlichen Organisationen auf die Kür- Vor dem kanadischen Gericht für Menschen- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen zung staatlicher Mittel und andere Maßnah- rechte (Canadian Human Rights Tribunal) men, die ihre Arbeit z. B. im Bereich Frauen- wurde die Anhörung zur finanziellen Benachtei- rechte und ihr Engagement für die Rechte der ligung der Angehörigen der First Nations fort- 000835 Palästinenser behinderten. gesetzt. Dabei geht es um den Vorwurf, die ka- nadische Regierung würde Gemeinden mit überwiegend indigener Bevölkerung wesentlich weniger Mittel zur Finanzierung sozialer Ein- richtungen für Kinder und Familien zur Verfü- gung stellen als anderen Gemeinden. Die Interamerikanische Menschenrechtskom- mission setzte die Prüfung einer Beschwerde der indigenen Gemeinschaft der Hul’qumi’num fort, in der es um die Verletzung der Land- rechte der indigenen Bevölkerung auf Vancou- ver Island in der Provinz British Columbia geht. Im November 2010 befürwortete Kanada die UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker. Die Organisationen der indigenen Bevöl- kerungsgruppen forderten die Regierung auf, die Erklärung in verbindlicher Weise umzuset- zen. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

242 Kanada Frauenrechte Flüchtlinge und Asylsuchende Als Gastgeber des G8-Gipfeltreffens im Juni Im Juni verabschiedete das Parlament ein Ge- 2010 kündigte die kanadische Regierung eine setz zur Reform des Flüchtlingswesens (Ba- weltweite Initiative an, um den Schutz der Ge- lanced Refugee Reform Act). Das Gesetz sieht sundheit von Kindern und Müttern zu verbes- ein Rechtsmittel für abgelehnte Asylantragstel- sern. Es gab eine Kontroverse darüber, dass die ler vor und enthält eine Liste von sicheren Her- Initiative nicht umfassend auf sexuelle und re- kunftsländern. Sie soll dazu dienen, das Ver- produktive Rechte einging. fahren in einigen Fällen zu beschleunigen. Im September kündigte die Provinzregierung Im Oktober legte die Regierung einen Entwurf von British Columbia an, sie wolle das Vorge- für ein Gesetz zur Bekämpfung des Men- hen der Polizei von Vancouver in den Fällen schenhandels vor, durch das die »illegale« Ein- »verschwundener« und ermordeter indigener reise von Flüchtlingen zur Straftat würde. Der Frauen untersuchen. Kritiker befürchteten, Gesetzentwurf sieht eine zwingende einjährige dass die Untersuchung nicht die Ursachen Haftstrafe ohne Möglichkeit der Haftprüfung analysieren werde, die dazu führen, dass diese vor. Frauen in besonderer Weise gefährdet sind. Die Bundesregierung hat es bislang versäumt, Polizei und Justiz gemeinsam mit indigenen Frauen einen natio- Im April 2010 wurden die Bestimmungen der nalen Aktionsplan zu erarbeiten, um die Gewalt Polizeieinheit Royal Canadian Mounted Police zu bekämpfen, der diese Frauen ausgesetzt zum Einsatz von Elektroimpulsgeräten (Con- sind. Obwohl die Regierung im Oktober ankün- ducted Energy Devices – CEDs) geändert. Sie digte, sie wolle Mittel bereitstellen, blieb der dürfen jetzt nur noch im Fall einer »akuten oder Schutz indigener Frauen weiterhin äußerst lü- unmittelbar drohenden Körperverletzung« ein- ckenhaft. gesetzt werden. Im Oktober veröffentlichte die Regierung Aron Firman kam im Juni durch eine Taser- einen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolu- Waffe zu Tode, mit der ihn Beamte der Pro- tionen des UN-Sicherheitsrats über Frauen, vinzpolizei von Ontario ruhig stellen wollten. Die Frieden und Sicherheit. im Oktober veröffentlichten nationalen Leitli- nien für den Einsatz von Elektroimpulswaffen Antiterrormaßnahmen und Sicherheit definieren keine Gefährdungsgrenze für die Im Januar 2010 befand der Oberste Gerichtshof Anwendung von Tasern. Kanadas, dass bei der Vernehmung des kana- Im Juni wurden in Toronto bei Protesten im dischen Staatsbürgers Omar Khadr durch Ver- Zusammenhang mit den G8- und G20-Gipfel- treter kanadischer Geheimdienste während treffen mehr als 1000 Personen festgenommen. seiner Haft in Guantánamo Bay in den Jahren Die Bundesregierung und die Provinzregie- 2003 und 2004 die Rechte des jungen Man- rung von Ontario wiesen Forderungen nach nes verletzt worden seien. Omar Khadr war als einer umfassenden öffentlichen Untersu- 15-Jähriger von den US-Streitkräften in Afgha- chung zurück. nistan festgenommen worden (siehe Länderbe- richt USA). Die Anhörungen im Beschwerdeausschuss der Militärpolizei zu den Vorwürfen, kanadi- sche Soldaten hätten in Afghanistan Kriegsge- fangene an die afghanischen Behörden über- stellt, obwohl dies für die Betroffenen ein ernst- haftes Folterrisiko bedeutete, waren Ende 2010 noch nicht abgeschlossen.

Kanada 243 Im Mai beschloss das Parlament eine Verfas- Kasachstan sungsänderung, die Präsident Nursultan Na- sarbajew zum »Führer der Nation« erklärte und Amtliche Bezeichnung: Republik Kasachstan ihm und seiner engeren Familie permanente Staatsoberhaupt: Nursultan Nasarbajew Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung ge- Regierungschef: Karim Massimow währte. Die Verfassungsänderung räumte ihm Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten gleichfalls das lebenslang geltende Recht ein, abgeschafft endgültige Entscheidungen über Angelegen- Einwohner: 15,8 Mio. heiten der Außen- und Sicherheitspolitik zu Lebenserwartung: 65,4 Jahre treffen. Entstellende Bilder des »Führers der Kindersterblichkeit (m/w): 34 / 26 pro 1000 Nation« und Verfälschungen seiner Biografie Lebendgeburten wurden zu Straftaten erklärt. Im September Alphabetisierungsrate: 99,7% deutete Staatspräsident Nasarbajew an, dass er im Jahr 2012 für eine neue Amtsperiode kan- Es gab nach wie vor zahlreiche Berichte didieren werde. über Folter und andere Misshandlungen, obwohl die Regierung zugesichert hatte, Folter und andere Misshandlungen mit einer »Null-Toleranz-Politik« dage- Die Behörden führten eine Reihe von Maßnah- gen vorgehen zu wollen. Derartige Men- men ein, die darauf abzielten, Folter zu verhin- schenrechtsverletzungen blieben weiter- dern. Dazu gehörten ein erleichterter Zugang hin straflos. Die Behörden verstärkten unabhängiger öffentlicher Beobachter zu ihre Anstrengungen, um im Rahmen von Hafteinrichtungen und eine öffentliche Ver- Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der pflichtung, gegenüber Folter eine »Null-Tole- nationalen Sicherheit und zum Kampf ranz-Politik« walten zu lassen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gegen den Terrorismus Asylsuchende Im Februar 2010 wurde Kasachstans Men- und Flüchtlinge zwangsweise nach schenrechtslage im Rahmen der Universellen China und Usbekistan zurückzuführen. Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch die 000835 UN begutachtet. In ihrem Bericht wiederholte Hintergrund die Regierungsdelegation, dass sich die kasa- Im Januar 2010 übernahm Kasachstan den chischen Behörden zu einer »Null-Toleranz- Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zu- Politik« gegenüber Folter verpflichtet hätten sammenarbeit in Europa (OSZE) und erklärte und dass sie »nicht rasten werden, bis die Fol- Antiterror- und Sicherheitsmaßnahmen in ter voll und ganz ausgemerzt ist«. Europa und Zentralasien zu vorrangigen Auf- Im Februar verschob die Regierung die Ein- gaben der OSZE. Dem Thema Menschen- richtung des Nationalen Präventionsmecha- rechte wurde in der Agenda des OSZE-Präsi- nismus, eines unabhängigen Überwachungs- diums kein wichtiger Platz eingeräumt. mechanismus für Haftanstalten, um drei Jahre. Die Behörden fuhren jedoch damit fort, im Einklang mit den ihnen nach dem Fakulta- tivprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter obliegenden Pflichten in enger Zusam- menarbeit mit nationalen und internationalen NGOs und zwischenstaatlichen Organisatio- nen einen rechtlichen Rahmen für den Natio- nalen Präventionsmechanismus zu entwi- ckeln. Im April erklärte die Generalstaatsanwalt-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schaft gegenüber Amnesty International, dass

244 Kasachstan Mitgliedern unabhängiger öffentlicher Überwa- heitsbeamte als unbegründet zurück. Es han- chungskommissionen der Zugang zu Einrich- delte sich dabei um Fälle, die von Amnesty In- tungen für Untersuchungshäftlinge des In- ternational, anderen Menschenrechtsorgani- landsgeheimdienstes (National Security Ser- sationen und dem UN-Sonderberichterstatter vice – NSS) in bislang nie dagewesenem Aus- über Folter und andere grausame, unmensch- maß gewährt worden sei. Vier Besuche hätten liche oder erniedrigende Behandlung oder im Jahr 2009 und acht im Jahr 2010 stattgefun- Strafe aufgegriffen worden waren. den.  Im April 2010 erhob Alexander Gerasimov vor Trotz dieser Maßnahmen berichteten Perso- dem UN-Ausschuss gegen Folter die erste in- nen, die sich im Polizeigewahrsam befanden, dividuelle Klage gegen Kasachstan seit der im dass sie sowohl vor als auch nach der formalen Jahr 2008 erfolgten Ratifizierung des Fakulta- Registrierung ihrer Haft in einer Polizeistation tivprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen häufig Folter und anderen Misshandlungen Folter durch Kasachstan. Alexander Gerasi- ausgesetzt waren. Polizeibeamte verstießen oft mov gab an, dass ihn im Jahr 2007 mindestens gegen das Strafvollzugsgesetz, das eine Regis- fünf Polizeibeamte gefoltert hätten. Die Polizei- trierung von Gefangenen binnen drei Stunden beamten setzten seinen Angaben zufolge die nach ihrer Inhaftierung vorsieht. dry submarino genannte Foltertechnik ein: Sie Im Oktober kritisierte der UN-Sonderbericht- banden seine Hände hinter dem Rücken zu- erstatter über Folter und andere grausame, sammen, stießen ihn mit dem Kopf nach un- unmenschliche oder erniedrigende Behand- ten auf den Boden, stülpten eine Plastiktüte lung oder Strafe Kasachstan, weil das Land über seinen Kopf und hielten ihn in dieser Po- das volle Ausmaß der Folter und anderer Miss- sition, während ein Beamter wiederholt ein Knie handlungen in seinem Haft- und Gefängnis- in seinen Rücken rammte. Die Beamten trak- system weiterhin verberge. tierten auch seine Nieren mit schweren Schlä- gen und drohten ihm sexuelle Gewalt an. Auf- Straflosigkeit grund seiner Verletzungen wurde er 13 Tage im Die Situation der Straffreiheit für Verantwortli- Krankenhaus behandelt und verbrachte we- che von Menschenrechtsverletzungen wurde gen eines posttraumatischen Belastungssyn- auch 2010 nicht grundlegend in Frage gestellt. droms mehr als einen Monat in intensiver psy- Die Behörden kamen ihrer Aufgabe nicht chiatrischer Behandlung. In seiner vor dem nach, die Verpflichtungen, die Kasachstan Ausschuss erhobenen Klage gab Alexander nach dem UN-Übereinkommen gegen Folter Gerasimov an, dass sein Fall nicht gründlich übernommen hatte, vollständig und in wirksa- und unabhängig untersucht worden und nie- mer Weise zu erfüllen. Die Behörden setzten mand für die Verletzungen seiner Menschen- auch die Empfehlungen des UN-Ausschusses rechte zur Verantwortung gezogen worden sei. gegen Folter und anderer UN-Fachaus- schüsse und -Sonderverfahren nicht um – vor Flüchtlinge und Asylsuchende allem nicht in Bezug auf eine rechtzeitige, Ein neues Flüchtlingsgesetz, das am 1. Januar gründliche, unabhängige und unparteiische 2010 in Kraft trat, nahm gewisse Kategorien Aufnahme von Untersuchungen bei Verdacht von Asylsuchenden von der Möglichkeit aus, in auf Folter oder andere Misshandlungen. Kasachstan den Flüchtlingsstatus zu erhalten. Im April informierte die Generalstaatsanwalt- Zu diesen Kategorien zählten Menschen, die in schaft Amnesty International darüber, dass im ihren Herkunftsländern beschuldigt wurden, Jahr 2009 lediglich zwei Foltervorwürfe gegen Mitglieder illegaler, nicht genehmigter oder ver- Sicherheitsbeamte bestätigt und Strafverfah- botener politischer oder religiöser Parteien ren gegen sie eingeleitet worden seien. Sie wies oder Bewegungen zu sein. In der Praxis betraf jedoch alle anderen von mehreren Personen dieser Ausschluss vor allem Muslime aus Us- vorgebrachten Foltervorwürfe gegen Sicher- bekistan, die ihren Glauben in nicht vom Staat

Kasachstan 245 kontrollierten Moscheen praktizierten oder die Am 8. September wurde einem der Männer, tatsächlich oder vermutlich in Usbekistan ver- Nigmatulla Nabiev, für ein Jahr Asyl gewährt. botenen islamistischen Parteien oder islami- Am 13. September verkündete der stellvertre- schen Bewegungen angehörten und aus dem tende Staatsanwalt von Almaty, dass die Gene- Land geflohen waren, weil sie wegen ihrer ralstaatsanwaltschaft entschieden habe, die Glaubensüberzeugung Verfolgung befürchte- übrigen 29 Männer an Usbekistan auszulie- ten. Der Ausschluss betraf auch Personen ui- fern. Dem Vernehmen nach wurden mindes- gurischer Herkunft aus der Autonomen Uiguri- tens zwei der 29 Männer im September an Us- schen Region Xinjiang in China, die beschul- bekistan ausgeliefert, obwohl über die gegen digt oder verdächtigt wurden, Mitglieder sepa- ihre Festnahme und die Auslieferungsbe- ratistischer Bewegungen oder Parteien zu sein. schlüsse eingelegten Rechtsmittel noch nicht Der neu geschaffene staatliche Migrations- entschieden worden war. Bis zum Jahresende ausschuss, der dem Arbeitsministerium unter- wurde die Mehrzahl der Einsprüche der 29 steht, begann damit, alle Fälle jener Personen Männer ablehnend beschieden. Mindestens zu überprüfen, denen der UN-Hochkommis- zwei andere usbekische Asylsuchende wurden sar für Flüchtlinge (UNHCR) vor der Gründung im Oktober und November an Usbekistan aus- des Ausschusses den Flüchtlingsstatus zuer- geliefert. kannt hatte. Er widerrief den Flüchtlingsstatus vieler Personen aus Usbekistan und China, Amnesty International: Berichte von denen die meisten auf eine Neuansiedlung  Uzbekistani asylum-seekers at risk of extradition from in einem Drittland warteten. Ukraine and Kazakhstan (EUR 04/002/ 2010)  Eine zunehmende Anzahl dieser Menschen Kazakhstan: No effective safeguards against torture wie auch andere Asylsuchende aus Usbekis- (EUR 57/001/ 2010) tan und China wurden von der Polizei oder Be- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen amten des Inlandsgeheimdienstes NSS zur Kontrolle ihrer Ausweispapiere angehalten und willkürlich entweder für kurze Zeit in Einrich- 000835 tungen für Untersuchungshaft oder ohne zeitli- che Begrenzung in Haftanstalten des NSS bis zur zwangsweisen Rückführung in ihre Her- Katar kunftsländer festgehalten. Sie hatten keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Rechtsan- Amtliche Bezeichnung: Staat Katar wälten, zum UNHCR und zu ihren Familien. Staatsoberhaupt: Viele beklagten sich über Folter und andere Scheich Hamad bin Khalifa al-Thani Misshandlungen im Gewahrsam. Regierungschef:  Im Juni 2010 nahmen NSS-Mitarbeiter 30 us- Scheich Hamad bin Jassim bin Jabr al-Thani bekische Flüchtlinge und Asylsuchende in der Todesstrafe: nicht abgeschafft Stadt Almaty fest, um sie nach Usbekistan ab- Einwohner: 1,5 Mio. zuschieben. Alle 30 Männer waren aus Usbe- Lebenserwartung: 76 Jahre kistan geflohen, weil sie dort verbotenen religiö- Kindersterblichkeit (m/w): 10 / 10 pro 1000 sen Gruppen angehörten und deshalb be- Lebendgeburten fürchteten, verfolgt zu werden. Den Frauen der Alphabetisierungsrate: 93,1% Festgenommenen wurde erklärt, ihre Ehe- männer würden wegen Mitgliedschaft in illega- Frauen waren 2010 weiterhin Diskrimi- len religiösen und extremistischen Organisa- nierung und Gewalt ausgesetzt. Auslän- tionen und unter dem Vorwurf, die staatliche dische Arbeitsmigranten wurden ausge- Ordnung umstürzen zu wollen, an Usbekistan beutet und misshandelt und genossen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ausgeliefert. keinen ausreichenden rechtlichen

246 Katar Schutz. Etwa 100 Menschen blieb die Recht auf freie Meinungsäußerung Staatsbürgerschaft willkürlich vorenthal- Mindestens sechs ausländische Staatsbürger ten. Gerichte ordneten auch weiterhin wurden 2010 wegen Blasphemie verurteilt. Auspeitschungen an. Nach wie vor ergin- Vier von ihnen erhielten die Höchststrafe von gen Todesurteile, Hinrichtungen fanden sieben Jahren Haft. So verurteilte ein erstin- jedoch nicht statt. stanzliches Gericht in Doha im Juli 2010 einen libanesischen Staatsbürger zu sieben Jahren Hintergrund Haft wegen Blasphemie. Er soll »blasphemi- Im Juni 2010 wurde zum ersten Mal in der Ge- sche Worte« geäußert haben, als er auf einer schichte Katars eine Frau zur Richterin er- Bahre zu einem Krankenwagen getragen nannt. Sie wurde an ein erstinstanzliches Ge- wurde. Es ist nicht bekannt, ob der Betref- richt berufen. fende und die übrigen Ausländer ihre Haftstrafe Ebenfalls im Juni beurteilte der UN-Men- antreten mussten. schenrechtsrat im Rahmen der Universellen Mindestens 90 Personen, vor allem ausländi- Regelmäßigen Überprüfung (UPR) die Lage der sche Staatsbürger, wurden wegen »unerlaub- Menschenrechte in Katar. Das Land wurde ter sexueller Beziehungen« schuldig gespro- dringend aufgefordert, seine Verpflichtungen chen. Sie wurden entweder ausgewiesen oder zur Umsetzung der Menschenrechte zu erfül- zu Haftstrafen mit anschließender Ausweisung len. Insbesondere soll es die Gesetze reformie- verurteilt. Zwei Männer wurden der Homose- ren oder abschaffen, die Frauen diskriminie- xualität für schuldig befunden, die Strafen ge- ren. Im Mai wurde Katar als Mitglied des UN- gen zwei weitere Männer wegen derselben Menschenrechtsrats wiedergewählt. »Straftat« wurden bestätigt. Das Strafgesetz wurde im Juni dahingehend Der Entwurf für ein neues Pressegesetz, wel- reformiert, dass Folter und Einschüchterung ches das Gesetz Nr. 8 von 1979 ersetzen soll, nun klarer definiert sind. In Fällen, in denen wurde vom Kabinett gebilligt. Ende 2010 war es Folter zum Tod führt, ist jedoch als mögliche jedoch noch nicht in Kraft getreten. Strafe weiterhin die Todesstrafe vorgesehen. Rechte von Arbeitsmigranten Diskriminierung und Gewalt Ausländische Arbeitsmigranten, die mehr als gegen Frauen 80% der Bevölkerung Katars stellen, wurden Frauen wurden auch weiterhin durch Gesetze trotz der jüngsten Änderungen der Arbeitsge- sowie im täglichen Leben diskriminiert. Es gab setze weiterhin von ihren Arbeitgebern miss- für sie auch keinen wirksamen Schutz gegen fa- handelt und ausgebeutet. Im November 2010 miliäre Gewalt. kündigte der Ministerpräsident an, man werde das kafala-System einer Überprüfung unterzie- hen und gegebenenfalls ändern. Dieses Sys- tem regelt das Verhältnis zwischen Arbeitsmig- ranten und Arbeitgebern.

Diskriminierung – Recht auf Staatsbürgerschaft Die Regierung verweigerte nach wie vor etwa 100 Menschen die katarische Staatsbürger- schaft. Davon betroffen waren vor allem Ange- hörige der al-Murra-Ethnie, denen ein ge- scheiterter Putschversuch im Jahr 1996 zur Last gelegt wird. Für die Betroffenen bedeu- tete dies, dass sie von Arbeitsplätzen, der So-

Katar 247 zialversicherung und vom Gesundheitssystem mindestens sieben, die 2001 wegen ihrer Betei- ausgeschlossen waren oder nicht nach Katar ligung am Putschversuch im Jahr 1996 zum einreisen durften. Es gab keine rechtliche Tode verurteilt worden waren. Es gab keine Be- Handhabe gegen diese Maßnahme. richte über Hinrichtungen. Im Dezember gehörte Katar zu den wenigen Recht auf Freizügigkeit Staaten, die gegen die Resolution der UN-Ge-  Als Rashid al-Amoodi am 4. Juli 2009 von neralversammlung für ein weltweites Hinrich- Doha nach Dubai (Vereinigte Arabische Emi- tungsmoratorium stimmten. rate) reisen wollte, wurde ihm mitgeteilt, er dürfe das Land nicht verlassen. Das Reisever- bot war Ende 2010 noch immer in Kraft. Er wurde von den Behörden weder offiziell über die Maßnahme informiert, noch konnte er Schritte unternehmen, um sie rechtlich anzu- Kenia fechten. Die Regierung nannte auch keine Gründe für das Reiseverbot. Amtliche Bezeichnung: Republik Kenia Staatsoberhaupt: Mwai Kibaki Haft ohne Anklage oder Regierungschef: Raile Odinga Gerichtsverfahren Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Mutmaßliche Straftäter wurden Berichten zu- Einwohner: 40,9 Mio. folge 2010 ohne Anklageerhebung oder Ge- Lebenserwartung: 55,6 Jahre richtsverfahren in Haft gehalten. Kindersterblichkeit (m/w): 112 / 95 pro 1000  Der britische Staatsbürger Mohamed Farouk Lebendgeburten El Mahdy war am 15. Oktober 2009 festge- Alphabetisierungsrate: 86,5% 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen nommen worden. Er blieb bis zum 14. Septem- ber 2010 ohne Anklageerhebung oder Ge- In Kenia wurde 2010 eine neue Verfas- richtsverfahren in Haft, bevor er gegen Kaution sung angenommen. Das Land verfügt 000835 freikam. Seine Festnahme stand im Zusam- damit über eine umfassendere Rechts- menhang damit, dass ein Kunde seines frühe- grundlage für den Schutz und die Um- ren Arbeitgebers angeblich einen Kredit nicht zurückzahlen konnte.

Grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen Mindestens 21 Personen, zumeist ausländische Staatsbürger, wurden wegen Vergehen im Zu- sammenhang mit »unerlaubten sexuellen Be- ziehungen« oder Alkoholkonsum zu 30 bis 100 Peitschenhieben verurteilt. Diese Strafen werden nur an Muslimen mit gutem Gesund- heitszustand vollzogen. Es ist nicht bekannt, ob die Urteile vollstreckt wurden.

Todesstrafe Gegen mindestens drei Personen wurden die Todesurteile vom Berufungsgericht bestätigt. Mindestens 17 Personen sollen sich Ende 2010

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht in den Todeszellen befunden haben, darunter

248 Kenia setzung der Menschenrechte. Die neue dienstete ein. Die Verfahren waren Ende 2010 Verfassung bot auch die Möglichkeit, noch nicht abgeschlossen. Wie in der neuen längst überfällige Reformen in Politik, Verfassung vorgesehen, wurde ein Minister, ge- Justiz und anderen Bereichen in die gen den ein Korruptionsverfahren anhängig Wege zu leiten. Die Regierung verab- war, vorläufig seines Amtes enthoben. schiedete eine Reihe von Gesetzen zur Umsetzung der Verfassungsbestimmun- Straflosigkeit gen. Es wurden jedoch keine Maßnah- 2010 wurden keine Maßnahmen ergriffen, um men ergriffen, um diejenigen zur Re- jene zur Rechenschaft zu ziehen, die für Men- chenschaft zu ziehen, die für Men- schenrechtsverletzungen im Rahmen der ge- schenrechtsverletzungen verantwortlich walttätigen Ausschreitungen nach den Wahlen waren. Dies galt auch für die Menschen- im Dezember 2007 verantwortlich waren. Bei rechtsverletzungen im Rahmen der ge- einem Teil der Übergriffe handelte es sich walttätigen Ausschreitungen nach den möglicherweise um Verbrechen gegen die Wahlen im Dezember 2007 und für die Menschlichkeit. Ein von einem einzelnen Ab- weit verbreitete Gewalt gegen Frauen. geordneten eingebrachter Gesetzentwurf, der die Einrichtung eines Sondergerichts zur Er- Hintergrund mittlung und Verfolgung derartiger Verbrechen Bei einem Referendum am 4. August 2010 vorsah, wurde im Parlament verschleppt. sprach sich eine klare Mehrheit von rund zwei  Bei den Ermittlungen zur Tötung der Men- Dritteln der kenianischen Bevölkerung für die schenrechtsverteidiger Oscar Kingara und Annahme der neuen Verfassung aus. Diese Paul Oulu waren 2010 keine Fortschritte zu ver- trat am 27. August in Kraft. zeichnen. Die beiden Männer waren 2009 ge- Die Kampagnen im Vorfeld des Verfassungs- tötet worden. referendums sowie die Abstimmung selbst  Ende 2010 waren die Mörder von Francis verliefen weitgehend friedlich. Es gab jedoch Kainda Nyaruri noch nicht zur Rechenschaft vereinzelt Berichte über gewaltsame Ausei- gezogen worden. Der freiberufliche Journalist nandersetzungen. So wurden im Juni drei Gra- war 2009 ermordet worden. natenanschläge auf Gegner der neuen Verfas- sung verübt, die sich zu einer Kundgebung im Polizei und Sicherheitskräfte Uhuru-Park in der Hauptstadt Nairobi versam- Nach Angaben der Regierung befanden sich melt hatten. Durch die Explosionen und die da- 2010 drei Gesetzentwürfe zur Polizeireform durch ausgelöste Panik wurden sechs Men- kurz vor dem Abschluss. Es handelte sich um schen getötet und mehr als 100 verletzt. Die Re- ein Gesetz zur Einrichtung eines unabhängi- gierung kündigte eine Untersuchung der An- gen Überwachungsgremiums für die Polizei, schläge an. Bei Jahresende lag jedoch noch um ein Polizeigesetz, das die Aufgaben der keine Information zum Stand der Ermittlungen Polizei neu regeln soll, sowie um ein Gesetz zur vor. Einrichtung einer Kommission für den Polizei- Drei Parlamentsabgeordnete und ein politi- dienst. Die Gesetzentwürfe waren Ende des scher Aktivist wurden im Juni festgenommen. Jahres noch nicht im Parlament eingebracht Die Anklage warf ihnen Äußerungen im Vorfeld worden. des Referendums vor, wonach bestimmte Polizei und Sicherheitskräfte begingen wider- Gruppen ihre Wohnorte verlassen müssten, rechtliche Tötungen und andere Menschen- sollte die neue Verfassung angenommen wer- rechtsverletzungen. Im März berichteten Au- den. Der Prozess war Ende 2010 noch nicht ab- genzeugen, dass eine Gruppe von Polizisten geschlossen. bei einem Einsatz in Kawangware, einer in- Die staatliche Antikorruptionsbehörde reichte formellen Siedlung in Nairobi, sieben Männer Klagen gegen mehrere hochrangige Staatsbe- erschossen habe. Laut Auskunft der Polizisten

Kenia 249 handelte es sich bei den Männern um Mitglie- den war, um die gewalttätigen Ausschreitun- der einer kriminellen Bande. Nach Aussagen gen nach den Wahlen zu untersuchen, nahm von Zeugen waren sie jedoch Taxifahrer. Der ihre Arbeit auf. Ende 2010 war sie damit be- Prozess gegen die sieben Polizeibeamten, schäftigt, landesweit Aussagen möglicher Zeu- die sich wegen der Tötung der Männer ver- gen aufzunehmen. Die Arbeit der Kommission antworten mussten, war Ende 2010 noch an- wurde jedoch durch Zweifel an der Glaubwür- hängig. digkeit des Vorsitzenden und durch fehlende Kein Polizist oder Angehöriger der Sicher- Finanzmittel behindert. Im April trat der stell- heitskräfte wurde wegen ungesetzlicher Tö- vertretende Kommissionsvorsitzende zurück. tungen oder anderer in jüngster Zeit begange- Als Begründung nannte er Vorwürfe, denen zu- ner Menschenrechtsverletzungen vor Gericht folge der Vorsitzende selbst an Menschen- gestellt. rechtsverletzungen und anderen Geschehnis- sen beteiligt gewesen sein soll, die Gegen- Internationale Strafgerichtsbarkeit stand der Untersuchungen der TJRC werden Im März beschloss der Internationale Strafge- könnten. Nachdem acht der neun Kommissi- richtshof (International Criminal Court – ICC), onsmitglieder im April einen entsprechenden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Antrag gestellt hatten, erteilte der Präsident möglicherweise während der Ausschreitungen des Obersten Gerichtshofs im Oktober einem nach den Wahlen 2007 / 08 begangen wurden, Gericht den Auftrag, in der Sache zu ermitteln. zu untersuchen. Der Chefankläger des ICC for- Im November legte der Vorsitzende der TJRC derte das Gericht im Dezember auf, für sechs sein Amt für die Dauer der gerichtlichen Er- Personen, denen Verbrechen gegen die mittlungen nieder. Der Bericht soll binnen Menschlichkeit in diesem Zusammenhang zur sechs Monaten vorliegen. Last gelegt werden, Vorladungen auszustellen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Das kenianische Parlament verabschiedete in- Zeugenschutz des im Dezember 2010 einen Antrag, in dem Im Juni 2010 trat ein Gesetz zur Reform des die Regierung aufgefordert wurde, den Rück- Zeugenschutzes in Kraft. Die Definition, wer 000835 zug aus dem Römischen Statut des ICC vor- als schutzbedürftiger Zeuge gilt, ist darin weiter zubereiten und das Gesetz über internationale gefasst als bisher. Außerdem sieht das Gesetz Straftaten, welches das Römische Statut in die Einrichtung einer unabhängigen Zeugen- kenianisches Recht umsetzt, aufzuheben. schutzbehörde vor. Eine Reaktion der Regierung auf den Parla- Berichten zufolge lebten bis zu 22 Zeugen, mentsbeschluss stand zum Jahresende die 2008 vor einer staatlichen Kommission noch aus. Aussagen zu den Ausschreitungen nach den Obwohl Kenia verpflichtet ist, Personen, ge- Wahlen gemacht hatten, in Angst. Dabei han- gen die Haftbefehle des ICC vorliegen, zu ver- delte es sich um Personen, die auch bei den haften und an das Gericht zu überstellen, emp- Prozessen vor dem ICC oder vor anderen Ge- fing die Regierung im August zur Feier der richten als Zeugen geladen werden könnten. neuen Verfassung den sudanesischen Staats- Eine unbekannte Zahl von Zeugen flüchtete präsidenten Omar al-Bashir, gegen den der außer Landes, nachdem sie bedroht worden ICC im März 2009 und im Juli 2010 Haftbefehle waren. ausgestellt hatte. Gewalt gegen Frauen und Mädchen Kommission für Wahrheit, Gewalt gegen Frauen und Mädchen war 2010 Gerechtigkeit und Versöhnung im ganzen Land nach wie vor an der Tagesord- Die Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit nung, dazu zählte auch sexuelle Gewalt. und Versöhnung (Truth Justice and Reconci- Laut einer offiziellen demographischen Erhe-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht liation Commission – TJRC), die eingesetzt wor- bung zum Thema Gesundheit im Zeitraum

250 Kenia 2008 – 09 war Gewalt in der Ehe weit verbreitet. kommen, ihr Hab und Gut und ihre sozialen Dies betraf insbesondere Vergewaltigung in Netzwerke verlieren würden. der Ehe, die in Kenia nicht strafbar ist. Die Stu- Im Juli walzten Bulldozer der Stadtverwaltung die stellte außerdem fest, dass in einigen eth- von Nairobi im Stadtteil Kabete ca. 100 Woh- nischen Gruppen Mädchen noch immer Opfer nungen und 470 Marktstände nieder. Die Be- von Genitalverstümmelung werden. Die meis- troffenen waren vorher nicht offiziell über das ten Fälle sexueller und anderer geschlechts- Vorhaben informiert worden. Die angespannte spezifischer Gewalt gelangten jedoch nicht zur Lage in dem Stadtteil führte zu tagelangen Zu- Anzeige, da die Opfer befürchten mussten, so- sammenstößen zwischen wütenden Bewoh- zial stigmatisiert zu werden. nern und bewaffneten Polizeikräften. Ein Im Juli 2010 verabschiedete das Parlament 74-jähriger Mann, der sich darüber beschweren ein Gesetz gegen Menschenhandel, das auch wollte, dass die Polizei eine Frau geschlagen Kinderhandel unter Strafe stellt. Der Präsident hatte, wurde von Polizisten aus nächster Nähe unterzeichnete das Gesetz im Oktober. erschossen. Ende 2010 war der Polizeibeamte, der den Schuss abgegeben hatte, noch nicht Recht auf Wohnen zur Rechenschaft gezogen worden. Durch die Die Regierung versäumte es, die geltenden Ge- rechtswidrigen Zwangsräumungen wurden setze und Mindeststandards in Bezug auf sa- Hunderte von Menschen, vor allem Frauen nitäre Anlagen in Slums und informellen Sied- und Kinder, obdachlos. Viele von ihnen schlie- lungen umzusetzen. Millionen Menschen hat- fen unter freiem Himmel, ohne Decken oder ten keinen Zugang zu Toiletten oder zu privaten warme Kleidung, und hatten kein Geld, um sich Waschgelegenheiten. Die Tatsache, dass es Lebensmittel und andere lebenswichtige keine sanitären Anlagen in unmittelbarer Nähe Dinge zu kaufen. der Wohnungen gab und dass die Polizei in Die Regierung kündigte mehrfach an, die den Slums und Siedlungen kaum präsent Umsiedlung von Tausenden von Menschen war, bedeutete für Frauen, dass sie vor allem aus dem Mau-Wald fortsetzen zu wollen. Hun- nachts Gefahr liefen, Opfer sexueller Gewalt zu derte von Familien, die 2009 aus dem Waldge- werden. biet umgesiedelt worden waren, befanden sich nach wie vor in provisorischen Lagern, die we- Zwangsräumungen der über angemessene Notunterkünfte noch Im März 2010 teilte die staatliche Eisenbahnge- über andere Versorgungseinrichtungen ver- sellschaft mit, mehr als 50000 Menschen, die fügten. in der Nähe von Bahngleisen lebten, müssten Ende 2010 hatte die Regierung ihr Verspre- ihre Häuser binnen 30 Tagen verlassen, sonst chen aus dem Jahr 2006, nationale Richtlinien drohe ihnen die Zwangsräumung. Zur Begrün- für Räumungen zu erarbeiten, noch immer dung verwies die Eisenbahngesellschaft auf nicht erfüllt. ein Modernisierungsprojekt. Bis Ende des Jah- res waren zwar keine Räumungen erfolgt, die Binnenflüchtlinge Eisenbahngesellschaft hatte ihre Drohung aber Tausende Menschen, die aufgrund der Aus- auch nicht offiziell zurückgenommen. Die schreitungen nach den Wahlen vertrieben überwiegende Zahl der Betroffenen lebte und worden waren, konnten noch immer nicht an arbeitete seit Jahren in diesen Gebieten. Eine ihren alten Wohnort zurückkehren. Bis Sep- Räumungsfrist von 30 Tagen war deshalb völlig tember hatte die Regierung lediglich für einige unzumutbar. Es wurde kein umfassender Plan hundert Haushalte Land zur Verfügung ge- für eine Umsiedlung oder Entschädigung der stellt, um sich neu anzusiedeln. Infolge der Betroffenen vorgelegt. Außerdem traf die Re- Zwangsräumungen im Mau-Wald waren rund gierung keine Vorkehrungen für diejenigen, die 30000 Menschen in einem Dutzend provisori- infolge des Projekts ihre Wohnungen, ihr Ein- scher Lager untergebracht.

Kenia 251 Flüchtlinge und Asylsuchende Todesstrafe Die Grenze zwischen Kenia und Somalia war Nach wie vor verhängten Gerichte Todesurteile. nach wie vor geschlossen. Die kenianische Es gingen jedoch 2010 keine Berichte über Regierung, der UN-Hochkommissar für Flücht- Hinrichtungen ein. Die Todesstrafe wurde auch linge (UNHCR) und andere Organisationen in der neuen Verfassung beibehalten. konnten daher nur eingeschränkt auf die Be- Im Juli erklärte Kenias höchster Gerichtshof dürfnisse von Asylsuchenden und Flüchtlin- (Court of Appeal) die zwingende Anwendung gen aus Somalia eingehen (siehe Länderbericht der Todesstrafe bei Mord für verfassungswidrig, Somalia). Die kenianischen Behörden ver- da dies »nicht mit den Bestimmungen der Ver- suchten weiterhin, somalische Asylsuchende fassung über den Schutz vor unmenschlicher an der Einreise nach Kenia zu hindern, und oder erniedrigender Strafe oder Behandlung schoben einige, denen es gelungen war, die und den Bestimmungen über ein faires Ge- Grenze zu überqueren, wieder nach Somalia richtsverfahren vereinbar« sei. Das Gericht ab. stellte ausdrücklich fest, dass die genannten Die drei Flüchtlingslager bei Dadaab im Osten Gründe, warum eine zwingende Anwendung Kenias waren völlig überfüllt. Tausenden so- der Todesstrafe bei Mord abzulehnen sei, mög- malischen Flüchtlingen dort fehlte es an Unter- licherweise auch für andere Kapitalverbre- künften, Wasser, sanitären Anlagen und ande- chen wie Hochverrat, Raub und versuchten ren notwendigen Einrichtungen. Die Regierung Raub gelten könnten. Allerdings hielt das Ge- erklärte sich bereit, eines der Lager auszuwei- richt die Todesstrafe an sich für verfassungsge- ten und ein viertes einzurichten. mäß. Die kenianischen Behörden bestritten nach wie vor, im Jahr 2009 zur Unterstützung der Amnesty International: Missionen und Berichte Übergangsregierung von Somalia in Flücht-  Delegierte von Amnesty International hielten sich im Februar, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lingslagern Menschen zwangsrekrutiert zu ha- März, Juni, Juli, August, November und Dezember in Kenia ben. Einige der in den Lagern von Dadaab re- auf.  krutierten Soldaten waren unter 18 Jahre alt. Insecurity and indignity: Women’s experiences in the slums 000835 of Nairobi, Kenya (AFR 32/002/ 2010)  Unrechtmäßige Überstellung Kenya: More than 50000 face forced eviction (AFR 32/004/2010) von Straftatverdächtigen  Risking rape to reach a toilet: Women’s experiences in the Zwischen Juli und September 2010 wurden bis slums of Nairobi, Kenya (AFR 32/006/2010) zu zwölf Personen, die im Verdacht standen,  Kenya: New Constitution offers a basis for better protection an Bombenanschlägen in der ugandischen and fulfillment of human rights but measures to end impu- Hauptstadt Kampala beteiligt gewesen zu nity still needed (AFR 32/011/ 2010) sein, festgenommen. Sie wurden unter Umge-  Kenya: Important judgment highlights unfairness and cruelty hung der üblichen rechtlichen Verfahren von of the death penalty in the country (AFR 32/012/ 2010)  Kenia nach Uganda überstellt. Die Ausliefe- From life without peace to peace without life: The treatment of Somali refugees and asylum-seekers in Kenya rungsverfahren zwischen den beiden Staaten (AFR 32/015/2010) setzen wechselseitige Haftbefehle und gericht-  Kenyan investigations into alleged police killings must be liche Anhörungen voraus. Die kenianischen impartial, 12 March 2010 Behörden missachteten auch Anträge auf ge- richtliche Haftprüfung, die einige der unrecht- mäßig nach Uganda überstellten Verdächtigen gestellt hatten. Sie wurden dort wegen Terro- rismus und Mordes angeklagt (siehe Länderbe- richt Uganda). S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

252 Kenia zwischen den Bevölkerungsgruppen Kirgisistan schwierig. Mindestens 271 Personen, zum Großteil Usbeken, wurden unter Amtliche Bezeichnung: Kirgisische Republik dem Vorwurf der Beteiligung an den Staatsoberhaupt: Rosa Otunbajewa (löste im Juli Übergriffen im Juni in Untersuchungs- Kurmanbek Bakijew im Amt ab, der im April haft genommen. Menschenrechtsvertei- zurückgetreten war) diger, Vertreter zivilgesellschaftlicher Regierungschef: Almasbek Atambajew (löste im Organisationen und Rechtsanwälte wur- Dezember die Übergangsregierungschefin Rosa den mit Schlägen misshandelt und fest- Otunbajewa ab, die das Amt seit dem Rücktritt genommen, einige von ihnen wurden un- von Danijar Usenow im April innehatte) ter dem Vorwurf, eine schwere Straftat Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft begangen zu haben, in Haft gehalten und Einwohner: 5,6 Mio. gefoltert, um ein »Geständnis« zu er- Lebenserwartung: 68,4 Jahre zwingen. Kindersterblichkeit (m/w): 49 / 42 pro 1000 Lebendgeburten Hintergrund Alphabetisierungsrate: 99,3% Anfang April eskalierten die Spannungen zwi- schen der Regierung von Präsident Kurman- Im Juni 2010 forderten vier Tage an- bek Bakijew und der Opposition. Am 7. April haltende gewalttätige Auseinanderset- kam es in der Hauptstadt Bischkek zu ge- zungen zwischen Angehörigen der kirgi- walttätigen Auseinandersetzungen zwischen sischen und der usbekischen Bevölke- Sicherheitskräften und Demonstrierenden. rungsgruppe Hunderte von Todesopfern 87 bewaffnete und unbewaffnete Menschen, und zwangen Tausende von Menschen darunter auch Polizisten, kamen dabei zu zur Flucht aus ihren Wohnorten. Die Be- Tode, hunderte weitere wurden verletzt. Kurz mühungen zur Wiederherstellung der danach löste die Opposition das Parlament Ordnung in der Region wurden durch Be- und das Verfassungsgericht auf und bildete un- richte über gravierende Menschen- ter Führung von Rosa Otunbajewa eine Über- rechtsverletzungen wie exzessive Gewalt- gangsregierung. Am 15. April trat Präsident anwendung der Sicherheitskräfte, will- Bakijew zurück und verließ das Land. In den kürliche Festnahmen sowie Folterungen nachfolgenden Wochen gingen aufgebrachte und andere Misshandlungen während Kirgisen im ganzen Land gewalttätig gegen der Verbringung in eine Hafteinrichtung kurdische, meschetisch-türkische und russi- und während des Aufenthalts im Ge- sche Dörfer vor, töteten viele Bewohner, plün- wahrsam in Frage gestellt. Die Wahrheit derten ihre Häuser und zerstörten ihr Eigentum über die Ereignisse zu ermitteln, war oder vernichteten ihr Vieh. Im Mai kam es in wegen der offensichtlichen Vorurteile der Stadt Dschalalabat zu gewalttätigen Ausei- nandersetzungen zwischen den meist kirgisi- schen Anhängern von Präsident Bakijew und Angehörigen der usbekischen Minderheit, bei denen mindestens fünf Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden. Am 10. Juni 2010 kam es in der Stadt Osch zu Zusammenstößen zwischen Banden kirgisi- scher und usbekischer Jugendlicher, die rasch eskalierten. Innerhalb der nächsten vier Tage waren in den Regionen Osch und Dschalalabat zahlreiche Brandschatzungen, Plünderungen

Kirgisistan 253 und gewalttätige Übergriffe zu verzeichnen, bis tie und die Begrenzung der Amtszeit des Prä- hin zu Tötungen und sexuellen Gewaltakten. sidenten auf sechs Jahre vorsieht; Rosa Otun- Besonders davon betroffen waren die Gebiete, bajewa wurde bis zum Dezember 2011 als in denen vor allem Usbeken leben. In vorläufi- Präsidentin bestätigt. Nach den Parlaments- gen amtlichen Statistiken vom Oktober war von wahlen am 10. Oktober zogen fünf Parteien 408 Todesopfern die Rede, doch die tatsächli- wieder ins Parlament ein. Doch der erste Ver- che Zahl, die am Jahresende noch nicht vorlag, such, eine Koalitionsregierung zu bilden, dürfte höher liegen. Mindestens 1900 Men- scheiterte im November. Erst Ende Dezember schen trugen schwere Verletzungen davon. Auf kam es schließlich zur Bildung einer Koaliti- die Ausschreitungen folgten mit harter Hand onsregierung. durchgeführte Operationen der Sicherheits- kräfte sowie Ermittlungen und Strafverfol- Folter und andere Misshandlungen gungsmaßnahmen, die nach Ansicht der Bevöl- Nach den gewalttätigen Ausschreitungen im kerung große Mängel aufwiesen und durch Juni trafen zahlreiche Berichte über Folterun- ethnische Parteilichkeit gekennzeichnet waren. gen und andere Misshandlungen ein. Schläge Aus Satellitenfotos geht hervor, dass allein in schienen bei den Strafverfolgungsbehörden der Stadt Osch 1807 Gebäude völlig zerstört nach wie vor zur Routine zu gehören: bei der wurden. Etwa 400000 Menschen, Kirgisen wie Festnahme, während der Verbringung in die Usbeken, mussten aus ihren Häusern fliehen. Hafteinrichtung, beim ersten Verhör und in der Bis zu 100000 Vertriebene, vor allem usbeki- Untersuchungshaft. Berichten zufolge gingen sche Frauen und Kinder sowie ältere Men- die Sicherheitskräfte bei Razzien auf der Suche schen, flohen über die Grenze nach Usbekis- nach Waffen und Tatverdächtigen mit exzessi- tan. Fast alle kehrten jedoch bis Ende Juni zu- ver Gewaltanwendung vor. Es gab ernste Be- rück. Tausende lebten weiter als Binnenvertrie- fürchtungen, dass die Strafermittlungen und 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen bene im Land. Sie waren unter meist völlig un- die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden zureichenden Bedingungen bei Verwandten gezielt gegen Usbeken und deren Wohnbe- oder in Gastfamilien untergekommen bzw. in zirke gerichtet waren, während mutmaßliche 000835 öffentlichen Gebäuden oder Zeltlagern unterge- kirgisische Täter weitgehend unbehelligt blie- bracht. ben. Im Zuge der Razzien wurden Hunderte Der Verlauf der Ausschreitungen im Juni und von Männern, zum Großteil Usbeken, willkür- die Gründe dafür wurden von den verschiede- lich in Gewahrsam genommen und während nen ethnischen Gruppen sehr unterschiedlich der Haft gefoltert oder auf andere Weise miss- dargestellt. Es gab mehrere unabhängige Be- handelt. Im August soll Präsidentin Otunbajewa richte über die Beteiligung kirgisischer Staats- gesagt haben, sie wisse, dass die Sicherheits- bediensteter und Angehöriger der Sicherheits- kräfte bei den Vorfällen im Juni und danach kräfte an den Übergriffen. Menschenrechtsverletzungen begangen hät- Die Behörden erkannten an, dass eine unab- ten, doch im Süden des Landes sei die Strafver- hängige Untersuchung der Ereignisse vom folgung weitgehend ihrer Kontrolle entzogen. Juni unerlässlich war, und beauftragten damit  Am Morgen des 21. Juni 2010 drangen Ange- eine nationale und eine internationale Kom- hörige der Sicherheitskräfte in das usbekische mission. Darüber hinaus kündigte der kirgisi- Dorf Nariman (Provinz Osch) ein. Bei Haus- sche Ombudsmann an, er werde eigene Er- durchsuchungen schlugen sie Berichten zu- mittlungen durchführen. Bis zum Jahresende folge mit Gewehrkolben auf die Bewohner ein lag noch von keinem dieser Organe ein Bericht und vernichteten ihre persönlichen Doku- vor. mente. Laut einem Sprecher des Innenministe- Bei einem Referendum am 27. Juni 2010 riums sollten bei der Operation die von den wurde eine neue Verfassung gebilligt, die die Bewohnern errichteten Barrikaden abgebaut,

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Einführung einer parlamentarischen Demokra- verdächtigte Personen festgenommen und

254 Kirgisistan Waffen beschlagnahmt werden. Ein Mann Vorwürfe über erzwungene »Geständnisse« wurde Berichten zufolge angeschossen und und ordnete auch keine Untersuchung dazu starb auf dem Weg ins Krankenhaus; ein zwei- an. Die Verteidiger konnten keine Zeugen be- ter wurde zu Tode geprügelt, viele andere tru- nennen, und sie wurden immer wieder von gen Verletzungen davon. Mehrere Männer wur- den Angehörigen und Kollegen des ermordeten den inhaftiert. Polizisten bedroht. Das Berufungsgericht be- stätigte die in erster Instanz verhängten Urteile. Unfaire Gerichtsverfahren Das Rechtsmittelverfahren vor dem Obersten Die Verfahren vor den kirgisischen Gerichten Gerichtshof war am Jahresende noch nicht ab- entsprachen 2010 noch immer nicht den inter- geschlossen. Als Leiter der NGO Vozdukh nationalen Standards. (Luft) hatte Azimzhan Askarov seit vielen Jah- In unfairen Verfahren wurden im Zusammen- ren zu Fällen von Folter in der Region gearbei- hang mit den Unruhen im Juni mindestens 24 tet. lebenslange und sechs Freiheitsstrafen zwi-  Im November begann in Bischkek das Ver- schen 15 und 25 Jahren wegen Mordes und fahren gegen den ehemaligen Präsidenten Ba- massiver Störung der öffentlichen Ordnung ver- kijew, einige seiner Angehörigen und Vetreter hängt. Vorwürfe über erzwungene »Geständ- seiner Regierung sowie gegen Angehörige der nisse« wurden nicht untersucht, Zeugen der Eliteeinheit Alfa wegen Vergehen im Zusam- Verteidigung nicht vernommen und die Anwäl- menhang mit den gewalttätigen Übergriffen im tinnen bedroht und körperlich attackiert. April. Gegen Präsident Bakijew wurde in Abwe-  Während des Verfahrens gegen den promi- senheit wegen Erteilung der Genehmigung zur nenten Menschenrechtsverteidiger Azimzhan Anwendung von Gewalt verhandelt. Den Ange- Askarov und sieben Mitangeklagte, denen man hörigen von Alfa wurde zur Last gelegt, dass vorwarf, sie hätten bei den Übergriffen in Ba- sie die Anweisung zur Abgabe gezielter Todes- zar-Korgan einen kirgisischen Polizisten ermor- schüsse ausgeführt hatten. Während des det, wurden Askarovs Anwälte und seine Fa- Massenverfahrens, das in einem überdachten milie bereits im Gerichtssaal und erneut nach Stadion in Bischkek durchgeführt wurde, Ende der Verhandlung bedroht und angegrif- überzogen die Angehörigen der Getöteten die fen. Die Gerichtsangestellten und auch der russischen Angeklagten und Anwälte mit ras- Richter sollen nur sporadisch eingegriffen ha- sistischen Beschimpfungen und drohten ihnen, ben, um die Gewalt zu unterbinden und die sie umzubringen, wenn sie das Land nicht ver- Ordnung wiederherzustellen. Die Verteidigung ließen. Als am 30. November vor dem Stadion hatte nicht die Möglichkeit, Zeugen zu befra- ein kleiner Sprengsatz explodierte, wurde das gen, Anträge zu stellen oder eigene Zeugen zu Verfahren vertagt. benennen, weil die Behörden nicht für deren Sicherheit garantieren konnten. Als die An- Straflosigkeit wälte erklärten, dass sie unter diesen Umstän- Im November 2010 äußerte Präsidentin Otun- den ihre Mandanten nicht verteidigen könn- bajewa gegenüber der Staatsanwaltschaft ihre ten, drohte ihnen der Richter mit dem Entzug Besorgnis über die große Zahl von Beschwer- ihrer Anwaltszulassung. Die Angeklagten er- den über Folter und Misshandlungen durch klärten sich für unschuldig, sie seien zur Ab- die Sicherheitskräfte, die im Zusammenhang gabe eines »Geständnisses« gezwungen wor- mit den Vorfällen im Juni bei ihr eingegangen den. Das Gericht untersuchte diese Angaben seien. Offenbar sei hier nicht gründlich ermittelt nicht und verurteilte fünf Angeklagte, darunter worden. Bis Ende Dezember scheinen keine auch Azimzhan Askarov, zu lebenslanger Haft. Strafverfolgungsmaßnahmen wegen des Ver- Das Regionalgericht von Dschalalabat, vor dachts auf Misshandlungen im Gewahrsam dem das Berufungsverfahren stattfand, prüfte der Polizei eingeleitet worden zu sein. Der stell- keinen der von den Angeklagten erhobenen vertretende Staatsanwalt für die Region Osch

Kirgisistan 255 erklärte, seine Dienststelle habe nur einige we- sche Tatverdächtige wegen einer schweren nige Beschwerden über die Folterung von Straftat im Zusammenhang mit den gewalttäti- Häftlingen erhalten. Diese Aussage steht in gen Ausschreitungen im Juni. Die Staatsan- starkem Widerspruch zu den Vorwürfen von waltschaft Dschalalabat erklärte, man habe in Menschenrechtsorganisationen und Verteidi- diesem Zusammenhang gegen 88 Personen gern, dass viele usbekische Häftlinge geschla- Anklage erhoben, darunter 26 Kirgisen. gen und misshandelt worden seien. Nach amtlichen Angaben wurden wegen der Der erste stellvertretende Innenminister er- Vorfälle im Juni insgesamt 271 Personen ver- klärte im September, es habe vereinzelte Fälle haftet (Stand 10. November). Wie Menschen- der Folterung und Misshandlung von Usbeken rechtsverteidiger und Anwälte erklärten, wa- gegeben, die wegen einer Straftat als Tatver- ren die meisten Festgenommenen Usbeken. dächtige in Haft gehalten wurden. In den gra- vierendsten Fällen habe sein Ministerium die Unterdrückung Einleitung von Ermittlungen angeordnet, die er abweichender Meinungen zum Teil selbst geleitet habe. So habe er auch Im April 2010 hob die Übergangsregierung das Azimzhan Askarov vernommen, der die direkte von der Regierung des abgesetzten Präsiden- Frage nach Folterung oder Misshandlung ten Bakijew gegen mehrere ausländische Men- durch Polizeibeamte klar verneint habe. Abge- schenrechtsverteidiger verhängte Einreisever- sehen von dieser kurzen Vernehmung in Ge- bot auf. genwart örtlicher Polizeibeamter wurde bislang In einem von ethnischen Spannungen und keine weitere Untersuchung zu den von Aska- wachsendem Nationalismus geprägten Klima rovs Anwalt wiederholt erhobenen Foltervorwür- gerieten Menschenrechtsverteidiger, die sich fen eingeleitet, obwohl die Verletzungen Aska- für den Schutz verschiedener ethnischer rovs im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sogar Gruppen einsetzten, unter immer größeren Er- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen durch Fotos belegt waren. klärungsdruck. Wer die Ereignisse vom Juni dokumentieren wollte, geriet ins Visier der Be- hörden, die versuchten, diese Männer und

000835 Ethnische Vorurteile Es gab die Befürchtung, dass das Verhalten der Frauen bei ihrer Arbeit zu behindern und ihr Behörden nach den Ereignissen im Juni von Material zu beschlagnahmen. Vor allem usbe- ethnischen Vorurteilen bestimmt war. Gruppen kische Menschenrechtsverteidiger und Rechts- von kirgisischen Zivilpersonen, oft Frauen, gin- anwälte mussten gewalttätige Übergriffe be- gen vor Polizeiwachen bzw. vor der Staatsan- fürchten. Sie erhielten Drohungen, wurden ver- waltschaft aggressiv gegen die Angehörigen prügelt und in einigen Fällen auch verhaftet, usbekischer Opfer oder Häftlinge vor und hiel- gefoltert und in unfairen Gerichtsverfahren zu ten sie so wirksam davon ab, Anzeige wegen lebenslanger Haft verurteilt. Auch Anwälte kir- Folterung zu erstatten. Gruppen von kirgisi- gisischer oder anderer ethnischer Herkunft, die schen Frauen attackierten in Gerichtsgebäu- usbekische Angeklagte verteidigten, gerieten den und Polizeiwachen auch Anwälte kirgisi- zunehmend unter Druck, erhielten Drohungen scher, usbekischer und russischer Herkunft, und wurden von kirgisischen Zivilisten ange- meist in Anwesenheit von Polizisten, die aber griffen. nicht eingriffen. Berichten zufolge wurde bis  Der Rechtsanwalt Tair Asanov, der vor dem zum Ende des Jahres keine Untersuchung zu Gericht der Stadt Osch eine Untersuchung der derartigen Vorfällen eingeleitet. Misshandlung seines Mandanten und neun  Am 5. November 2010 verurteilte ein Gericht weiterer Männer durch Polizeibeamte bean- in Dschalalabat zwei Kirgisen wegen der Er- tragt hatte, wurde während der Verhandlung im mordung dreier usbekischer Zivilpersonen am Gerichtssaal tätlich angegriffen. Sein Mandant 13. Juni zu Gefängnisstrafen von 25 bzw. 20 war mehrerer Straftaten angeklagt, von der Mit-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Jahren. Das war das erste Urteil gegen kirgisi- täterschaft an der Ermordung des Polizeichefs

256 Kirgisistan des Bezirks Kara Suu und seines Fahrers bis trat, erklärte, dass er den Menschenrech- hin zur Beteiligung an gewalttätigen Aus- ten und dem Kampf gegen die Straflo- schreitungen. Nachdem Tair Asanov eine Un- sigkeit Priorität einräumen werde. In tersuchung der Misshandlungsvorwürfe gefor- deutlichem Gegensatz zur Vorgängerre- dert hatte, gingen einige im Gerichtssaal anwe- gierung nahm er eine weniger feindselige sende Angehörige des ermordeten Polizei- Haltung gegenüber Menschenrechtsver- chefs gewaltsam gegen ihn vor. Als er nach teidigern ein. Die neue Regierung unter- Ende der Verhandlung den Saal verließ, folg- breitete einen Gesetzentwurf über Ent- ten ihm seine Angreifer und attackierten ihn er- schädigungen für Opfer und über Land- neut. Polizeibeamte sahen, wie auf ihn einge- rückgabe, mit der sie beabsichtigte, den schlagen wurde, griffen aber nicht ein. von Menschenrechtsverletzungen Betrof- fenen zu helfen. Opfer- und Menschen- Amnesty International: Mission und Bericht rechtsorganisationen äußerten jedoch  Delegierte von Amnesty International besuchten im Septem- Vorbehalte gegen das Gesetz. Men- ber Kirgisistan. schenrechtsverteidiger und Sprecher von  Partial truth and selective justice – The aftermath of the June Gruppierungen, die sich für soziale Be- 2010 violence in Kyrgyzstan (EUR 58/022/ 2010) lange einsetzen, wurden weiterhin be- droht und ermordet. Einem besonders hohen Risiko waren diejenigen ausge- setzt, die für die Rückgabe von Land eintraten, das sich während des Konflikts hauptsächlich paramilitärische Grup- pen widerrechtlich angeeignet hatten. Kolumbien Menschenrechtsverteidiger, Richter, Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Zeugen Amtliche Bezeichnung: Republik Kolumbien sowie Opfer und deren Familien, die in Staats- und Regierungschef: Juan Manuel Santos Strafsachen involviert waren, in denen es Calderón (löste im August Álvaro Uribe Vélez im um Menschenrechte ging, wurden Amt ab) gleichfalls bedroht und ermordet. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 46,3 Mio. Lebenserwartung: 73,4 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 30 / 22 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 93,4%

Die Zivilbevölkerung, insbesondere in ländlichen und armen städtischen Ge- meinden, trug weiterhin die Hauptlast des anhaltenden bewaffneten Konflikts. Guerillagruppen, Paramilitärs und die Si- cherheitskräfte waren für schwerwie- gende und weit verbreitete Menschen- rechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter Kriegsverbrechen, verantwortlich. Präsident Juan Manuel Santos Calde- rón, der im August 2010 sein Amt an-

Kolumbien 257 Hintergrund Aktivisten Gespräche mit der Regierung über Im Februar 2010 blockte das Verfassungsge- Landrechtsfragen zu führen. richt einen Entwurf für ein Referendum, das  Am 17. Juli 2010 wurde Jair Murillo in der Präsident Álvaro Uribe eine dritte Amtszeit in Stadt Buenaventura erschossen. Er hatte die Folge ermöglicht hätte. Teilnahme von vertriebenen Afro-Kolumbianern Die Regierung von Präsident Uribe hatte eine an einem für den folgenden Tag geplanten De- Kampagne zur Diskreditierung des Obersten monstrationsmarsch in Bogotá koordiniert. Die Gerichtshofs geführt. Grund dafür waren u. a. Organisation, der Jair Murillo angehörte, die die Ermittlungen des Gerichtshofs zu Verbin- Fundación Integral Pacífico Nariñense (FIPAN), dungen zwischen Mitgliedern des Kongresses – war am 14. Mai zusammen mit anderen Orga- unter ihnen auch der Cousin des Präsidenten, nisationen, die sich für die Rechte afro-kolum- Mario Uribe – und paramilitärischen Gruppen. bianischer Gemeinschaften einsetzen, in einer Die Beziehungen zum Gerichtshof schienen Morddrohung von Paramilitärs genannt worden. sich jedoch unter der Regierung von Präsident Mehr als 280000 Personen waren im Jahr Santos wieder zu verbessern. 2010 Opfer von Vertreibung; 2009 lag die An- Im September erlitt die wichtigste Guerilla- zahl bei 286000. Insgesamt sind in den vergan- gruppe, die Revolutionären Streitkräfte von genen 25 Jahren 3 – 5 Mio. Menschen aus Kolumbien (Fuerzas Armadas Revolucionarias ihren Heimatorten vertrieben worden. de Colombia – FARC), einen weiteren ernsten Im November äußerte sich der Ombudsmann Rückschlag, als die Sicherheitskräfte während für Menschenrechte (Defensor del Pueblo) be- eines Militäreinsatzes ein bekanntes führen- sorgt über den Anstieg der Massaker im Jahr des Mitglied der FARC, Víctor Julio Suárez Ro- 2010. Als Hauptverantwortliche für diese Mas- jas, alias »Mono Jojoy«, töteten. saker galten Paramilitärs und Drogenhändler. Am 19. Oktober 2010 nahm der Kongress das Bei mehreren Bombenexplosionen in städti- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Internationale Übereinkommen zum Schutz al- schen Gebieten, von denen die Regierung ler Personen vor dem Verschwindenlassen an. einige den FARC zuschrieb, wurden Zivilperso- nen getötet und verwundet. 000835 Interner bewaffneter Konflikt  Am 24. März 2010 explodierte eine Auto- Die Konfliktparteien machten auch 2010 keinen bombe in der Nähe des Büros des General- Unterschied zwischen Zivilpersonen und staatsanwalts in Buenaventura. Dabei wurden Kombattanten. Dies führte zu Vertreibungen, mindestens neun Personen getötet und zahl- ungesetzlichen Tötungen, Entführungen und reiche weitere verletzt. zum »Verschwindenlassen« von Personen. In- digene Bevölkerungsgruppen, Afro-Kolumbia- Straflosigkeit ner und Kleinbauerngruppen sowie deren Spre- Im Jahr 2010 wurden mehrere bedeutende Ur- cher waren nach wie vor direkte Angriffsziele teile in Strafverfahren gefällt, bei denen es um der Konfliktparteien. Angaben der Nationalen Menschenrechtsverletzungen ging. Organisation der indigenen Bevölkerung von  Am 10. September wurden sechs Armeesol- Kolumbien (Organización Nacional Indígena de daten wegen der im Dezember 2008 erfolgten Colombia – ONIC) zufolge wurden im Jahr Tötung von Edwin Legarda, dem Ehemann der 2010 mehr als 122 Angehörige indigener Bevöl- Indigenensprecherin Aída Quilcué, zu jeweils kerungsgruppen getötet. 40 Jahren Haft verurteilt.  Am 28. September 2010 wurden die Indige-  Am 8. Juni verurteilte ein Gericht Oberst nensprecherin María Elena Galíndez und der a.D. Luís Alfonso Plazas Vega zu 30 Jahren Indigenensprecher Ramiro Inampués im Ver- Freiheitsentzug. Ihm wurde das »Verschwin- waltungsbezirk Guachucal des Departamen- denlassen« von elf Menschen im November tos Nariño tot aufgefunden. Sie hatten beab- 1985 zur Last gelegt, nachdem Militärkräfte den

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht sichtigt, zusammen mit anderen indigenen Justizpalast gestürmt hatten, in dem Mitglie-

258 Kolumbien der der Guerillagruppe M-19 Geiseln genom- Standards hinsichtlich der Rechte von Opfern men hatten. Luis Alfonso Plazas legte gegen auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergut- das Urteil Rechtsmittel ein. Die Vorsitzende machung, auch wenn im Laufe dieses Prozes- Richterin erhielt nach dem Urteilsspruch Dro- ses wenigstens teilweise die Wahrheit über hungen und verließ das Land. Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt Die meisten Verursacher von Menschen- wurde. Durch diesen Prozess, der im Jahr rechtsverletzungen entzogen sich jedoch wei- 2005 begonnen hatte, qualifizierten sich etwa terhin ihrer strafrechtlichen Verfolgung. Der 10% der mehr als 30000 angeblich demobili- Kampf gegen die Straflosigkeit wurde durch sierten Paramilitärs für eine Reduzierung ihrer die Bedrohung und Ermordung von Personen, Gefängnisstrafen, nachdem sie ihre Waffen die an Menschenrechtsverfahren beteiligt wa- niedergelegt, Menschenrechtsverletzungen ge- ren, unterlaufen. standen und unrechtmäßig angeeignetes Land zurückgegeben hatten. Den anderen Landrechte wurde eine De-facto-Amnestie gewährt. Im Präsident Juan Manuel Santos Calderón er- November lehnte das Verfassungsgericht je- klärte, dass es während seiner Präsidentschaft doch ein im Jahr 2009 verabschiedetes Gesetz eine vorrangige Aufgabe sein werde, einen Teil ab, das derartige Amnestien für 19000 dieser der mehr als 6 Mio. ha Land, die während des Paramilitärs bestätigt hätte, weil es gegen die Konflikts rechtswidrig den dort siedelnden Rechte auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wie- Menschen weggenommen worden waren, an dergutmachung verstoße. Im Dezember ver- die Kleinbauern, indigenen Bevölkerungsgrup- abschiedete der Kongress dagegen ein Gesetz, pen und afro-kolumbianischen Gemeinschaf- das diesen Paramilitärs eine De-facto-Amnes- ten zurückzugeben. Im Oktober kündigte die tie gewährt, wenn sie eine Vereinbarung über Regierung an, dass sie bis April 2012 insge- einen Beitrag zur historischen Wahrheit und samt 312000 ha Land an ungefähr 130000 ver- Wiedergutmachung unterzeichnen. triebene Familien und insgesamt 2 Mio. ha bis Im Juni 2010 verurteilte ein für den Prozess zum Ende ihrer vierjährigen Amtszeit zurück- für Gerechtigkeit und Frieden zuständiger geben werde. Zunehmende Drohungen und die Richter zwei Paramilitärs wegen Menschen- Ermordung von Sprechern vertriebener Ge- rechtsverletzungen zu jeweils acht Jahren Ge- meinschaften und Personen, die die Rückgabe fängnis. Ein dritter Paramilitär erhielt im De- ihres angestammten Landes forderten, ließen zember die gleiche Strafe. Dies waren die ein- jedoch befürchten, dass hierdurch diese Be- zigen Urteile, die bis zum Jahresende im Rah- mühungen untergraben werden könnten. men des Prozesses für Gerechtigkeit und Frie-  Am 19. September 2010 wurde Hernando Pé- den gefällt worden sind. rez, ein Sprecher der Opfervereinigung für die Im Februar lehnte der Oberste Gerichtshof es Rückgabe von Land und Eigentum (Asociación ab, weitere Auslieferungen von Paramilitärs an de Víctimas para la Restitución de Tierras y die USA zu autorisieren, da er besorgt darüber Bienes), im Verwaltungsbezirk Necoclí im De- war, dass die meisten der führenden Paramili- partamento Antioquia ermordet. Einige Stun- tärs, die im Jahr 2008 wegen Drogendelikten an den zuvor hatte er an einer offiziellen Zeremo- die USA ausgeliefert worden waren, nicht mit nie in Nueva Colonia in Antioquia teilgenom- dem kolumbianischen Justizsystem bei dessen men, bei der zahlreichen Kleinbauernfamilien, Untersuchungen von Menschenrechtsverlet- die durch Paramilitärs vertrieben worden wa- zungen zusammenarbeiteten. ren, ihr Land zurückgegeben wurde. Außergerichtliche Hinrichtungen Prozess für Gerechtigkeit und Frieden durch die Sicherheitskräfte Der Prozess für Gerechtigkeit und Frieden er- Auch 2010 wurden außergerichtliche Hinrich- füllte 2010 weiterhin nicht die internationalen tungen in Kolumbien dokumentiert, wenn

Kolumbien 259 auch in geringerer Zahl als in den Vorjahren.  Am 13. August 2010 wurde der Leichnam von Die von der Generalstaatsanwaltschaft aufge- Norma Irene Pérez, einer der Organisatorin- nommene strafrechtliche Untersuchung von nen der oben erwähnten öffentlichen Ver- mehr als 2300 solcher seit 1985 verübten Tö- sammlung, mit Schusswunden in La Maca- tungen zeigte jedoch weiterhin nur geringe Fort- rena aufgefunden. schritte. Besorgnis bestand darüber, dass die im Jahr 2010 verfügte vorläufige Freilassung Skandal um Verbindungen von zahlreichen Armeesoldaten, die sich we- zwischen Politik und Paramilitärs gen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an staatli- Der Oberste Gerichtshof verzeichnete weiterhin chen Morden in Untersuchungshaft befan- Fortschritte bei der Untersuchung illegaler den, die strafrechtlichen Ermittlungen in sol- Verbindungen zwischen Politikern und parami- chen Fällen untergraben könnte. litärischen Gruppen. Gegen zahlreiche frühere Die Militärgerichtsbarkeit beanspruchte wei- Kongressmitglieder wurde ermittelt. Viele von terhin Zuständigkeit in einigen Fällen, in de- ihnen wurden für schuldig befunden und in nen Militärangehörigen Menschenrechtsverlet- Haft genommen. zungen vorgeworfen wurden. Viele dieser Fälle Am 4. März 2010 gab der Oberste Gerichtshof wurden eingestellt, ohne dass ein ernsthafter eine Erklärung ab, in der er darauf hinwies, Versuch unternommen worden war, die Schul- dass die Ermordung von Vertretern der Justiz digen zur Verantwortung zu ziehen. Ein im Au- die Rechtsstaatlichkeit gefährde. Die Erklä- gust angenommenes neues militärisches rung wurde abgegeben, nachdem mehrere Strafgesetzbuch gab keine klare Antwort auf die Richter, die mit der Untersuchung des Skan- Frage, ob außergerichtliche Hinrichtungen dals befasst waren, angegeben hatten, Mord- und Vergewaltigung von der militärischen Juris- drohungen erhalten zu haben. diktion auszuschließen sind. Im September schloss der Generalstaatsan- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Im September 2010 veröffentlichte die Vertre- walt die Senatorin Piedad Córdoba für 18 tung der UN-Hochkommissarin für Men- Jahre von der Ausübung eines öffentlichen schenrechte in Kolumbien einen Bericht, in Amts aus. Er begründete die Entscheidung 000835 dem die Existenz von mindestens 446 nicht damit, dass die Senatorin bei den Gesprächen identifizierten Leichnamen auf einem Friedhof mit den FARC, die das Ziel hatten, die Freilas- in der Nähe eines Stützpunktes der Armee in sung von Geiseln zu erwirken, ihre Aufgabe als La Macarena im Departamento Meta bestätigt Mediatorin überschritten habe, da sie der wurde. Die UN forderte eine umfassende Un- Guerillagruppe politische Ratschläge erteilt tersuchung, um festzustellen, wie viele Perso- habe. Piedad Córdoba leugnete alle Anschul- nen Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen digungen. waren. Am 22. Juli hatten NGOs in einer öffent- lichen Versammlung berichtet, dass es nicht Ziviler Geheimdienst identifizierte Leichname auf dem Friedhof La Im Januar 2010 klagte die Generalstaatsanwalt- Macarena gebe. Drei Tage später sagte Präsi- schaft sieben höhere Angehörige des zivilen dent Uribe über diese NGOs: »Terrorismus (...), Geheimdienstes (Departamento Administrativo während er durch einige seiner Sprecher Frie- de Seguridad – DAS) wegen illegaler Telefon- den vorschlägt, kommen andere seiner Spre- überwachung und Mitgliedschaft in paramilitä- cher hierher nach La Macarena, um heraus- rischen Gruppen an und setzte die Ermittlun- zufinden, wie die Streitkräfte diskreditiert und gen gegen mehrere ehemalige DAS-Direktoren der Verletzung von Menschenrechten bezich- und Regierungsbeamte fort. Im Jahr 2009 hat- tigt werden können.« ten die Medien enthüllt, dass der zivile Geheim- Einige Personen, die an der Aufdeckung au- dienst DAS, der dem Präsidenten direkt unter- ßergerichtlicher Hinrichtungen beteiligt waren, stellt ist, seit langer Zeit in großem Stil an einer

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht erhielten Drohungen oder wurden ermordet. illegalen Kampagne »schmutziger Tricks« ge-

260 Kolumbien gen Menschenrechtsverteidiger, Politiker, Rich- ver Robinson Muñoz – außerhalb der Stadt Pu- ter und Journalisten beteiligt war. erto Asís im Departamento Putumayo von Un- Im Oktober begann der Kongress mit einer bekannten erschossen. Am 20. August wurde Untersuchung der Rolle, die der frühere Präsi- ein dritter Mann, Norbey Álvarez Vargas, in- dent Uribe in diesem Skandal gespielt hatte. nerhalb der Stadt von Bewaffneten getötet. Die Kurz zuvor hatte die Generalstaatsanwalt- Namen der drei Männer standen an oberster schaft Disziplinarmaßnahmen gegen mehrere Stelle auf einer Todesliste von 65 jungen Män- öffentliche Bedienstete wegen ihrer Beteili- nern aus Puerto Asís, die vermutlich paramili- gung an diesem Skandal angekündigt. Unter tärische Gruppen ins Internet gestellt hatten. ihnen befanden sich drei ehemalige DAS-Di- Am 20. August war eine weitere Liste in Um- rektoren sowie Präsident Uribes Generalstabs- lauf, die die Namen von 31 ortsansässigen jun- chef Bernardo Moreno. gen Frauen enthielt. Im Oktober bzw. Dezember wurden zwei hö- here DAS-Angehörige, Jorge Alberto Lagos Guerillagruppen und Fernando Tabares, wegen ihrer Beteiligung Sowohl die FARC als auch die kleinere Natio- an Verbrechen im Zusammenhang mit DAS- nale Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Aktivitäten zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Nacional – ELN) begingen schwerwiegende Im November beantragte María Pilar Hurtado, Menschenrechtsverstöße und Verstöße gegen eine ehemalige DAS-Direktorin, gegen die er- das humanitäre Völkerrecht. Dazu zählten un- mittelt wurde, in Panama Asyl. Ihr Antrag wurde gesetzliche Tötungen, Geiselnahmen und die positiv beschieden. Das gab zu erhöhter Be- Rekrutierung von Kindern. sorgnis Anlass, dass die strafrechtlichen Unter- Insbesondere die FARC war für wahllose An- suchungen gegen höhere DAS- und Regie- griffe verantwortlich, bei denen durch den Ein- rungsbeamte zum Stillstand kommen könnten. satz von Sprengkörpern niedriger Genauigkeit hauptsächlich Zivilpersonen gefährdet waren. Paramilitärische Gruppen Nach Angaben der Regierung sind im Be- Paramilitärs fuhren damit fort, Zivilpersonen zu richtsjahr 35 Angehörige der Sicherheitskräfte ermorden, Menschenrechtsverteidiger sowie und eine Zivilperson durch Antipersonenmi- Sprecher von Gruppierungen, die sich für so- nen, die hauptsächlich von den FARC einge- ziale Belange einsetzen, zu bedrohen, Kinder setzt wurden, getötet und 363 Personen verletzt zu rekrutieren und Akte »sozialer Säuberung« worden. durchzuführen. Diese paramilitärischen Grup- Nach offiziellen Angaben gab es im Jahr 2010 pierungen dehnten sich weiter aus und wurden insgesamt 282 Entführungen; 2009 waren es organisatorisch komplexer. In vielen Teilen des 213. Die meisten Entführungen wurden krimi- Landes existierten weiterhin geheime Abspra- nellen Banden angelastet. Für den Großteil chen mit den Sicherheitskräften. der Entführungen, die im Zusammenhang mit  Am 4. September 2010 wurden die Kleinbau- dem internen bewaffneten Konflikt standen, ern Luis Alberto Cortés Mesa, José Wilmer waren jedoch Guerillagruppen verantwortlich. Mesa Mesa und Ilfo Boanerge Klinger Rivera País Libre, die wichtigste NGO, die Entfüh- von Mitgliedern der paramilitärischen Gruppe rungsopfer unterstützt, kritisierte jedoch die für Schwarze Adler (Aguilas Negras) angehalten, die Aufstellung der Entführungsstatistiken zu- als sie entlang des Flusses Telembí im Bezirk ständige Regierungsbehörde Fondelibertad, da Barbacoas im Departamento Nariño nach diese angegeben hatte, dass sich im Februar Hause gingen. Am 5. September wurden die nur 79 Personen in Geiselhaft befunden hätten. zerstückelten Leichen der drei Männer aufge-  Am 9. Juli 2010 entführte die ELN die Mitar- funden, die auch Folterspuren aufwiesen. beiterinnen der NGO Fundación Progresar,  Am 15. August 2010 wurden zwei junge Män- Lizbeth Jaime, Mónica Duarte und Nohora ner – Diego Ferney Jaramillo Corredor und Sil- Guerrero, sowie María Angélica González vom

Kolumbien 261 Büro des Vizepräsidenten. Sie wurden am Gewalt gegen Frauen und Mädchen 22. Juli wieder auf freien Fuß gesetzt. Alle Konfliktparteien waren für Fälle sexuellen Die FARC ließ mehrere Soldaten und Polizei- Missbrauchs von Frauen und andere Formen beamte frei, die sich in ihrem Gewahrsam be- geschlechtsspezifischer Gewalt verantwortlich. funden hatten.  Im November 2010 wurde ein Armeeleutnant im Zusammenhang mit der Ermordung von Menschenrechtsverteidiger zwei neun bzw. sechs Jahre alten Brüdern so- und andere Aktivisten wie der Vergewaltigung und Tötung ihrer Menschenrechtsverteidiger, Gewerkschafter 14-jährigen Schwester in Tame im Departa- und Sprecher von Gruppierungen, die sich für mento Arauca festgenommen. Die drei Kinder soziale Belange einsetzen, waren weiterhin Dro- waren am 14. Oktober »verschwunden«. hungen und Tötungen ausgesetzt. Verantwort- Frauenrechtlerinnen, die vertriebene Frauen lich dafür waren hauptsächlich paramilitärische unterstützten, wurden 2010 bedroht und er- Gruppen. Im Jahr 2010 wurden mindestens mordet. 14 Menschenrechtsverteidiger getötet. Nach  Am 5. November drangen Bewaffnete in das Angaben des nationalen Gewerkschaftsschu- Haus von Elizabeth Silva Aguilar, Präsidentin lungszentrums wurden 51 Gewerkschaftsmit- der Vereinigung der Obdachlosen und Vertrie- glieder ermordet. benen Personen von Bucaramanga (Asocia-  Am 10. Oktober 2010 schickte der paramilitä- ción de Destechados y Desplazados de Bucara- rische Zentrale Block der Schwarzen Adler manga), ein und töteten sie. Wahrheit und Tod (Bloque Central de las Agui-  Die NGO Corporación Sisma Mujer erhielt am las Negras Verdad y Muerte) per E-Mail Mord- 27. Januar per E-Mail eine Morddrohung vom drohungen an 20 Einzelpersonen und 69 Men- paramilitärischen Zentralen Block der Schwar- schenrechts- und soziale Organisationen. Die zen Adler Wahrheit und Tod. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen meisten davon setzten sich für die Entschädi- gung der Opfer von Menschenrechtsverlet- US-amerikanische Hilfe zungen sowie die Rückgabe beschlagnahmten Im Jahr 2010 stellten die USA Kolumbien 667 000835 Landes ein. Mio. US-Dollar militärische und nicht militäri-  Am 17. Juni 2010 erschossen in Barrancaber- sche Finanzhilfe zur Verfügung. In diesem Be- meja im Departamento Santander Männer auf trag waren 508,2 Mio. US-Dollar aus den Mit- einem Motorrad Nelson Camacho González, teln des Gesetzes über die Mittelbereitstellung Mitglied der Erdölarbeitergewerkschaft Unión an ausländische Staaten (State and Foreign Sindical Obrera (USO). Die Tötung erfolgte nach Operations Funding Bill) enthalten. Hiervon wa- einer Morddrohung, die am 26. Mai vom para- ren 256 Mio. US-Dollar für die Sicherheits- militärischen Gemeinsamen Kommando der kräfte vorgesehen, davon wiederum 100 Mio. Säuberung (Comando Conjunto de Limpieza) US-Dollar für die Streitkräfte. Die Auszahlung an 17 NGOs, Gewerkschaften, Kleinbauernor- von 30% dieser 100 Mio. US-Dollar wurde mit ganisationen und Binnenvertriebene reprä- der Auflage verbunden, dass die kolumbiani- sentierende Gruppen verschickt worden war, schen Behörden bestimmte Bedingungen zur die in Barrancabermeja und Umgebung arbei- Einhaltung der Menschenrechte erfüllten. Im teten. September stellten US-amerikanische Behör- Menschenrechtsverteidiger und andere enga- den fest, dass die kolumbianische Regierung gierte Bürger, die beschuldigt wurden, mit beträchtliche Fortschritte bei der Verbesserung Guerillagruppen in Verbindung zu stehen, der Menschenrechtslage im Land gemacht mussten weiterhin strafrechtliche Verfolgung habe, und gaben rund 30 Mio. US-Dollar Mili- fürchten. Die Vorwürfe gegen sie basierten häu- tärhilfe frei, die in den Vorjahren wegen Be- fig nur auf Aussagen von Informanten. denken hinsichtlich der Menschenrechtssitua-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht tion einbehalten worden waren.

262 Kolumbien Im August entschied das kolumbianische Ver- protect the human rights of all Colombians? (AMR fassungsgericht, dass der im Jahr 2009 unter- 23 / 013/ 2010) zeichnete Vertrag, der dem US-Militär gestattet,  Colombia: Seeking Justice – the mothers of Soacha (AMR sieben kolumbianische Militärbasen zu benut- 23 / 002/ 2010) zen, erst erfüllt werden könne, wenn er dem Kongress vorgelegen habe, von diesem gebil- ligt und danach auch vom Verfassungsgericht bestätigt worden sei.

Internationale Überprüfung Kongo Der im März veröffentlichte Kolumbien-Bericht des Büros der UN-Hochkommissarin für Men- (Demokratische schenrechte stellte fest, dass im Jahr 2010 die hauptsächliche Aufgabe darin bestehe, Fort- Republik) schritte bei der effektiven Implementierung der UN-Empfehlungen einschließlich der »vom Amtliche Bezeichnung: Hochkommissariat formulierten, aber bisher Demokratische Republik Kongo noch nicht umgesetzten Empfehlungen« zu Staatsoberhaupt: Joseph Kabila erzielen. Regierungschef: Adolphe Muzito Im Oktober verlängerte die Regierung das Todesstrafe: nicht abgeschafft Mandat des Büros der UN-Hochkommissarin Einwohner: 67,8 Mio. für Menschenrechte in Kolumbien um weitere Lebenserwartung: 48 Jahre drei Jahre. Kindersterblichkeit (m/w): 209 / 187 pro 1000 Mehrere UN-Sonderberichterstatter – dar- Lebendgeburten unter der Sonderberichterstatter über außer- Alphabetisierungsrate: 66,6% gerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, der Sonderberichterstatter Im Osten der Demokratischen Republik über die Situation der Menschenrechte und Kongo (DR Kongo) waren Zivilpersonen Grundfreiheiten der Angehörigen indigener das ganze Jahr über schwerwiegenden Bevölkerungsgruppen und der Sonderbericht- Menschenrechtsverletzungen durch Re- erstatter über die Unabhängigkeit von Rich- tern und Anwälten – legten dem UN-Men- schenrechtsrat Berichte über Kolumbien vor. Auch der UN-Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, der UN-Aus- schuss für die Rechte des Kindes und der UN-Menschenrechtsausschuss überprüften Kolumbien. Der Unabhängige UN-Experte für Minderheitsfragen besuchte Kolumbien im Februar.

Amnesty International: Missionen und Berichte  Delegierte von Amnesty International besuchten Kolumbien in den Monaten April, Juli und September.  The struggle for survival and dignity: Human rights abuses against Indigenous Peoples in Colombia (AMR 23 / 001/ 2010)  Open letter to Presidential Candidates: What will you do to

Kongo (Demokratische Republik) 263 gierungstruppen und bewaffnete Grup- Alliés (MLIA) die Hauptstadt der Provinz Equa- pen ausgesetzt. Im April belagerte eine teur, Mbandaka, an und kontrollierte zwei bewaffnete Gruppe die Stadt Mbandaka. Tage lang Teile der Stadt. Kongolesische Sicher- Bei den zweitägigen Kämpfen zur Rück- heitskräfte, die daraufhin eingesetzt wurden, eroberung der Stadt sollen Soldaten sollen Zivilpersonen getötet, vergewaltigt und Zivilpersonen außergerichtlich hinge- willkürlich festgenommen haben. richtet, vergewaltigt und willkürlich fest- Bei Menschenrechtsverletzungen war weiter- genommen haben. Ausländische und hin Straffreiheit die Regel. Personen, von de- kongolesische bewaffnete Gruppen ver- nen bekannt war, dass sie für Verbrechen nach übten Menschenrechtsverstöße. Dazu dem Völkerrecht verantwortlich waren, wur- zählte u. a. die massenhafte Vergewalti- den weder ihres Amtes enthoben noch zur Ver- gung von mehr als 300 Frauen, Män- antwortung gezogen. Im März kündigte der nern und Kindern in der Provinz Nord- Präsident an, die UN-Friedensmission MONUC kivu im Juli und August. Die Sicher- müsse das Land bis Juni 2011 verlassen. Im heitskräfte waren ebenfalls für politisch Zuge eines mit der Regierung ausgehandelten motivierte Menschenrechtsverletzungen Kompromisses wurde die Mission am 1. Juli verantwortlich. Im Juni wurde der promi- 2010 in UN-Stabilisierungsmission in der DR nente Menschenrechtsverteidiger Flori- Kongo (MONUSCU) umbenannt. Das Mandat bert Chebeya getötet. der MONUSCU wurde bis mindestens Juni 2011 verlängert, und die Regierung willigte ein, dass Hintergrund die UN-Truppen erst abgezogen würden, wenn Die nationale Armee (Forces Armées de la Ré- sich die Sicherheitslage nachweislich verbes- publique Démocratique du Congo – FARDC) sert habe. führte im Osten und Norden des Landes meh- Im September ratifizierte die DR Kongo das 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen rere militärische Operationen gegen bewaff- Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen nete Gruppen durch. Im Januar begann die gegen Folter, das verlangt, nationalen und UN- Operation Amani Leo, die sich gegen die Beobachtern Zugang zu Haftzentren zu ge- 000835 Demokratischen Kräfte für die Befreiung Ruan- währen. Während der Universellen Regelmäßi- das (Forces Démocratiques de Libération du gen Überprüfung (UPR) durch den UN-Men- Rwanda – FDLR) richtete und das Gebiet der schenrechtsrat im März lehnte die Regierung Provinzen Nord- und Südkivu betraf. Soldaten jedoch die Empfehlung ab, UN-Beobachtern der FARDC verpflichteten dem Vernehmen den Zugang zu Haftzentren zu gewähren. Darin nach Zivilpersonen zu Zwangsarbeit, nahmen eingeschlossen waren auch die Haftzentren sie willkürlich fest und konfiszierten Eigentum des Nationalen Geheimdienstes (Agence Natio- und Viehbestände. Die UN-Friedensmission in nale de Renseignements) und der National- der DR Kongo (MONUC) leistete eine gewisse garde (Garde Républicaine). Unterstützung, was die Planung und Logistik Während einer Regierungsumbildung im der Operation Amani Leo betraf. Weitere militä- März 2010 wurde das Amt des Ministers für rische Offensiven der Streitkräfte richteten Menschenrechte gestrichen und die Verantwor- sich gegen die Widerstandsarmee des Herrn tung für die Förderung der Menschenrechte (Lord’s Resistance Army – LRA) in der Provinz dem Justizministerium übertragen. Im April Orientale sowie gegen die Allied Democratic schuf die Regierung ein Kontaktkomitee für Forces/National Army for the Liberation of Menschenrechte (Entité de Liaison des Droits Uganda (ADF / NALU) in der Region Grand Nord de l’Homme), um die Kommunikation zwi- der Provinz Nordkivu. Dabei kam es zu Vertrei- schen Menschenrechtsorganisationen und bungen der Zivilbevölkerung. staatlichen Behörden zu verbessern. Am 4. April 2010 griff die bewaffnete Gruppe Im Dezember kündigten Vertreter der Opposi-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Mouvement de Libération Indépendante des tion an, bei den Präsidentschaftswahlen im

264 Kongo (Demokratische Republik) Jahr 2011 zu kandidieren. Parallel zu dieser An- Widerrechtliche Tötungen kündigung kam es zu Vorfällen, bei denen die Bewaffnete Gruppen und Angehörige der Ar- Rechte von Journalisten und Oppositionspar- mee begingen Hunderte von widerrechtlichen teien auf freie Meinungsäußerung und auf Ver- Tötungen von Zivilisten. Sie waren auch für tät- sammlungsfreiheit verletzt wurden. liche Angriffe auf Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen verantwortlich. Wenn sich Menschenrechtsverstöße Zivilpersonen gegen Diebstahl, Zwangsarbeit bewaffneter Gruppen oder andere Verstöße der bewaffneten Kräfte Im Februar und März 2010 verschärfte die LRA zur Wehr setzten, wurden sie häufig Opfer wi- ihre Angriffe auf Zivilpersonen. Außerdem ent- derrechtlicher Tötungen oder sonstiger Gewalt- führte die LRA Zivilisten und zwang sie zur Be- akte. teiligung am bewaffneten Kampf. Berichten  Im Februar 2010 verschleppten die FDLR Be- zufolge wurden zwischen dem 22. und 26.Fe- richten zufolge im Verwaltungsbezirk Mwenga bruar im Distrikt Bas Uélé der Provinz Orien- in der Provinz Südkivu 15 Frauen und töteten tale 80 Menschen von der LRA getötet. Durch fünf von ihnen. die Angriffe der LRA wurden in den Distrikten  Mindestens 20 Personen, die in den Militär- Haut Uélé und Bas Uélé bis Juli über 300000 gefängnissen von Mbandaka, der Hauptstadt Menschen vertrieben. der Provinz Equateur, inhaftiert waren, wurden Für die Zivilbevölkerung in den Kivu-Provin- dem Vernehmen nach in der Nacht vom 4. auf zen und in der Provinz Maniema stellten die den 5. April 2010 von Soldaten der FARDC hin- FDLR eine ständige Bedrohung dar. Die bewaff- gerichtet. nete Gruppe war für ungesetzliche Tötungen,  Am 21. Mai 2010 soll in Kalehe in der Provinz Entführungen, Plünderungen und das Nieder- Südkivu eine Frau von einem Soldaten der brennen von Häusern verantwortlich. Eine FARDC erschossen worden sein, weil sie sich Kampfeinheit der FDLR im Verwaltungsbezirk geweigert hatte, militärische Versorgungsgüter Walikale in der Provinz Nordkivu verbündete zu transportieren. sich mit der bewaffneten Gruppe Mai-Mai  Berichten zufolge töteten am 1. Juli 2010 zwei Sheka und beging eine Vielzahl von Verstößen Soldaten der FARDC in einem Dorf im Verwal- in diesem Gebiet. Der Verwaltungsbezirk Sha- tungsbezirk Walungu in der Provinz Südkivu bunda in Südkivu wurde regelmäßig von den einen Mann und vergewaltigten seine zwölf- FDLR angegriffen. Im Mai wurden 40 Dorfbe- jährige Tochter. Ein weiterer Mann, der den wohner verschleppt. beiden zu Hilfe kommen wollte, wurde eben- Darüber hinaus waren weitere lokale bewaff- falls getötet; zwei Frauen, die zum selben nete Gruppen aktiv, darunter die Mai-Mai, die Haushalt gehörten, erlitten Misshandlungen. Alliance Pour le Congo Libre et Souverain Außerdem kam es zur Plünderung mehrerer (APCLS) in Masisi, die Coalition des Patriotes Häuser. Résistants Congolais (PARECO) in Nordkivu, die Forces Républicaines Fédéralistes (FRF) in Sexuelle Gewalt Fizi in Südkivu, die Front de Résistance Patrio- Vergewaltigungen und andere Formen sexueller tique d’Ituri (FRPI) und die Front Populaire Gewalt waren 2010 an der Tagesordnung. Sie pour la Justice au Congo (FPJC). Im August und wurden sowohl von den Sicherheitskräften der im Oktober griffen bewaffnete Gruppen Stütz- Regierung, darunter auch Angehörigen der punkte der MONUSCO in der Provinz Nordkivu Nationalpolizei, als auch von Mitgliedern be- an. Auch Mitarbeiter humanitärer Hilfsorgani- waffneter Gruppen begangen. Die Überleben- sationen wurden mehrfach angegriffen und den der Vergewaltigungen hatten kaum Zugang entführt. zu medizinischer Behandlung. Ihre Situation wurde noch dadurch verschlimmert, dass die Täter straffrei blieben. Angehörige der Sicher-

Kongo (Demokratische Republik) 265 heitskräfte, die sich sexueller Gewalt schuldig (2005) des UN-Sicherheitsrats gefordert wor- gemacht hatten, wurden häufig von ihren Vor- den war. gesetzten gedeckt. Oft verhalf ihnen auch das Gefängnispersonal zur Flucht. Binnenvertriebene und Flüchtlinge  Zwischen dem 30. Juli und dem 2. August Im August 2010 war die Zahl der Binnenvertrie- verübte eine Koalition aus FDLR, Mai-Mai und benen auf fast 2 Mio. Menschen angewach- FARDC-Deserteuren eine Reihe von Angriffen sen. Die meisten von ihnen befanden sich in auf 13 Dörfer im Verwaltungsbezirk Walikale in den Provinzen Nord- und Südkivu sowie in der der Provinz Nordkivu. Dabei wurden mehr als Provinz Orientale. Sowohl in den Lagern als 300 Frauen, Männer und Kinder vergewaltigt. auch in den Gemeinden, die sie aufgenom- Bei den Angriffen wurden die Dorfbewohner men hatten, lebten die Vertriebenen unter mi- eingekesselt, die Straßen blockiert und die serablen Lebensbedingungen und waren in Kommunikation unterbrochen. Die Angreifer besonderem Maße Angriffen bewaffneter Grup- plünderten systematisch Häuser und verge- pen ausgesetzt. waltigten alle, die versuchten, zu fliehen oder Nach dem Angriff auf die Stadt Mbandaka im sich zu verstecken. April stieg die Zahl der Menschen, die in die  Bei bewaffneten Auseinandersetzungen in benachbarte Republik Kongo geflohen waren, Mbandaka in der Provinz Equateur wurden im auf mehr als 114000; weitere 18000 Flücht- April innerhalb von einer Woche 16 Fälle von linge befanden sich in der Zentralafrikanischen Vergewaltigung durch Regierungstruppen ge- Republik. Rund 33000 Menschen wurden in- meldet, darunter ein Fall von Gruppenvergewal- nerhalb der Provinz Equateur vertrieben. In der tigung durch Beamte der Nationalpolizei. Provinz Orientale führten die Angriffe der LRA  Am 6. August vergewaltigten Soldaten der im Dezember 2009 und in den Monaten Fe- FARDC Berichten zufolge zehn Frauen in Kata- bruar und März 2010 zur Vertreibung von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lukulu im Verwaltungsbezirk Fizi in der Provinz mehr als 300000 Menschen. Südkivu. Dabei handelte es sich offensichtlich Zwischen September und November wurden um eine Vergeltungsaktion für einen Angriff der mehr als 6000 kongolesische Staatsbürger aus 000835 Mai-Mai. Angola abgeschoben. Mitarbeiter von Hilfsorga- nisationen berichteten, mehr als 100 von Kindersoldaten ihnen hätten angegeben, sie seien in Angola Im Osten des Landes rekrutierten bewaffnete vergewaltigt worden (siehe Länderbericht An- Gruppen weiterhin Kinder und setzten sie gola). bei Kämpfen ein. Die LRA und die FDLR ver- schleppten Kinder, die als Kämpfer, Haus- Folter und andere Misshandlungen sklaven und Sexsklaven dienen mussten. Sowohl bewaffnete Gruppen als auch die Si- Auch in der FARDC taten viele Kinder Dienst. cherheitskräfte der Regierung verübten Folter Einige von ihnen waren ehemalige Mitglieder und andere Misshandlungen. bewaffneter Gruppen, die während der Integra-  Berichten zufolge folterten Soldaten der tion in die FARDC im März 2009 nicht identifi- FARDC am 20. August 2010 in Kasando in der ziert worden waren. Bei anderen handelte es Provinz Nordkivu fünf Personen, darunter zwei sich um neue Rekruten. Obwohl die FARDC Kinder, die nach einem Angriff auf den MO- seit 2004 offiziell keine Kinder mehr rekrutierte, NUSCO-Stützpunkt in Kirumba festgenommen wurde das 2009 verabschiedete Kinderschutz- worden waren. Sie erhielten jeweils zwischen gesetz kaum angewandt. Die Regierung hatte 40 und 120 Peitschenhiebe, und einigen von auch keine Aktionspläne zur Entlassung der ihnen wurden die Füße und Hände verbrannt Kinder aus der Armee und zu ihrer Wiederein- und verstümmelt. Anschließend wurden sie an gliederung in das zivile Leben erstellt, wie dies den Militärstaatsanwalt in Goma überstellt.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht in den Resolutionen 1539 (2004) und 1612

266 Kongo (Demokratische Republik) Todesstrafe Haftbedingungen Militärgerichte verurteilten 2010 zahlreiche Die Gefängnisse verfügten nicht über die not- Menschen zum Tode, darunter auch Zivilisten. wendigen Mittel, um den internationalen Min- Meldungen über Hinrichtungen lagen nicht vor. deststandards zu entsprechen. Die Gefangenen Am 25. November wies die Nationalversamm- hatten noch nicht einmal Anspruch auf we- lung den Vorschlag zurück, über einen Gesetz- nigstens eine Mahlzeit pro Tag und keinen aus- entwurf zur Abschaffung der Todesstrafe zu reichenden Zugang zu medizinischer Betreu- debattieren. ung. Zahlreiche Personen starben aufgrund der schlechten Bedingungen während ihrer Haft. Justizverwaltung Noch mehr Gefangene starben bei Kranken- Im ganzen Land waren die Gerichte durch Res- hausaufenthalten, da sie häufig erst viel zu sourcenmangel und politische Einmischung spät in eine Klinik verlegt wurden. Die Gefäng- gelähmt. Dies führte dazu, dass Richter in Kis- niseinrichtungen waren baufällig, weshalb angani und Kasai Oriental im März ihre Arbeit eine getrennte Unterbringung von Männern niederlegten. Die Gerichte wurden mit Fällen und Frauen sowie von Untersuchungshäftlin- überhäuft, so dass sich die Dauer der Unter- gen und Strafgefangenen nicht möglich war. Es suchungshaft sehr lange hinzog. Die Prozesse gab Berichte über Vergewaltigungen in Ge- entsprachen nicht den Standards für faire Ver- fängnissen und im Polizeigewahrsam. fahren, die Urteile wurden nur selten voll- streckt, und Opfer erhielten nur in wenigen Menschenrechtsverteidiger Fällen Entschädigungen. Die Militärbehörden Menschenrechtsverteidiger wurden 2010 von und die Regierung nahmen Einfluss auf die Sicherheitskräften der Regierung und bewaff- Fälle, die vor den Militär- und Zivilgerichten ver- neten Gruppen angegriffen, verschleppt, mit handelt wurden. Befehlshaber vor Ort ignorier- Mord bedroht oder in anderer Weise einge- ten die von Militärstaatsanwälten ausgestellten schüchtert. Viele Menschenrechtsverteidiger in Haftbefehle gegen Angehörige ihrer Einheiten der Provinz Nordkivu, die Befehlshaber der und blockierten damit die Arbeit der Militärjus- Armee wegen Misshandlungen kritisiert hatten, tiz. waren gezwungen, unterzutauchen oder aus Entgegen den internationalen Standards für dem Gebiet zu fliehen. Andere wurden zur Ziel- faire Verfahren wurden zahlreiche Zivilperso- scheibe, weil sie sich für einzelne Menschen- nen vor Militärgerichte gestellt. Im Oktober be- rechtsfälle eingesetzt hatten. Der nationale Ge- gann die Nationalversammlung mit der De- heimdienst, der keiner unabhängigen Aufsicht batte über einen Gesetzentwurf zur Umsetzung oder Kontrolle durch die Justiz unterstand, ver- des Römischen Statuts des Internationalen letzte das Recht auf freie Meinungsäußerung Strafgerichtshofs. Dies würde bedeuten, dass von Menschenrechtsverteidigern und Journa- Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die listen. Menschlichkeit künftig vor Zivilgerichten ver-  Am 2. Juni 2010 wurde der prominente Men- handelt werden. schenrechtsverteidiger Floribert Chebeya in Am 12. August besetzte eine aus ehemaligen Kinshasa tot in seinem Wagen aufgefunden. Er Mitgliedern bewaffneter Gruppen bestehende und sein Fahrer waren einen Tag zuvor bereits FARDC-Kompanie das Büro des Militärstaats- vermisst worden, nachdem sie den Generalin- anwalts in Goma. Es gelang ihr, einen Befehls- spekteur der Polizei auf dessen Aufforderung haber freizupressen, der inhaftiert worden war, hin getroffen hatten. Der Fahrer blieb weiterhin weil er sich im Juli geweigert hatte, seine Trup- vermisst. Acht Polizeibeamte wurden wegen pen in das Gebiet von Walikale zu verlegen. Es Mordes angeklagt, und im November began- handelte sich um das Gebiet, in dem wenige nen die Prozesse gegen sie. Der Generalin- Wochen später Massenvergewaltigungen durch spekteur der Polizei wurde suspendiert, jedoch bewaffnete Gruppen stattfanden. nicht angeklagt.

Kongo (Demokratische Republik) 267 Recht auf freie Meinungsäußerung ber 2010, dass das Verfahren fortgesetzt wer- Im ganzen Land wurden zahlreiche Journalis- den könne. ten bedroht, willkürlich festgenommen, straf-  Am 11. Oktober 2010 verhafteten die franzö- rechtlich verfolgt, eingeschüchtert, von staatli- sischen Behörden den Sekretär der FDLR, chen Behörden aufgefordert, nicht über be- Callixte Mbarushimana, gegen den der Interna- stimmte Sachverhalte zu berichten und in eini- tionale Strafgerichtshof einen Haftbefehl erlas- gen Fällen wegen ihrer journalistischen Arbeit sen hatte. Er hatte in Frankreich als Flüchtling ermordet. Die Sendungen von Radio France In- gelebt. ternational wurden wieder aufgenommen,  Im Oktober 2010 bestätigte der Justizminister nachdem sie von der Regierung ein Jahr lang der DR Kongo die Weigerung der Regierung, gesperrt worden waren. Die Regierung hatte Bosco Ntaganda an den Internationalen Straf- die internationale Berichterstattung über militä- gerichtshof zu überstellen. Das Gericht hatte rische Operationen verboten. 2006 einen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt,  Am 5. April 2010 wurde der Kameramann Pa- weil er Kindersoldaten rekrutiert und bei tient Chebeya vor seinem Haus in Beni in der Kampfhandlungen eingesetzt haben soll. Provinz Nordkivu von bewaffneten Männern ge-  Das Verfahren gegen den ehemaligen Vize- tötet. präsidenten der DR Kongo, Jean-Pierre Bemba, begann schließlich am 22. November Internationale Rechtsprechung 2010, nachdem es zunächst von zahlreichen Am 1. Oktober 2010 stellte die UN eine Daten- Anträgen der Verteidigung verzögert wurde, die erhebung vor, die die schwerwiegendsten Ver- die Zuständigkeit des Internationalen Straf- letzungen der Menschenrechte und des huma- gerichtshofs bestritten. Jean-Pierre Bemba war nitären Völkerrechts, die zwischen März 1993 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Juni 2003 in der DR Kongo verübt worden angeklagt, die in der Zentralafrikanischen Re- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen waren, dokumentierte. Bei Tausenden von Op- publik begangen wurden. fern und bei Menschenrechtsverteidigern weckte der Bericht Hoffnung auf Gerechtigkeit Amnesty International: Missionen und Berichte 000835 bezüglich der Verbrechen im Sinne des Völker-  Delegierte von Amnesty International besuchten das Land im rechts und des nationalen Rechts. Der Bericht August und im Dezember.  war zwar nach kongolesischem Recht nicht bin- Human rights defenders under attack in the Democratic Re- dend, doch erhöhte sich dadurch die Ver- public of the Congo (AFR 62/001/ 2010)  Democratic Republic of the Congo: Walikale mass rape, pro- pflichtung der Regierung, die Menschenrechts- tection and justice for civilians (AFR 62/011/ 2010) verletzungen zu untersuchen, die Täter zur  UN troops must remain in the DR KONGO (PRE 01/ 074/ 2010) Verantwortung zu ziehen und sicherzustellen,  Democratic Republic of the Congo must investigate activist’s dass die Opfer eine angemessene Entschädi- death, 2 June 2010 gung erhielten.  Human rights activists targeted in the Democratic Republic  Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in of the Congo, 29 June 2010 Den Haag wurde das Verfahren gegen Thomas  Justice urged for murder of human rights defender in the De- Lubanga fortgesetzt. Ihm wird vorgeworfen, mocratic Republic of the Congo, 30 July 2010  Kinder unter 15 Jahren für die bewaffnete Action needed to investigate decade of crimes in the Demo- Gruppe Union des Patriotes Congolais (UPC) in cratic Republic of the Congo, 1 October 2010  Open Letter to His Excellency President Joseph Kabila – com- Ituri rekrutiert zu haben. Im Juli drohte die Ein- mission of inquiry on the death of Floribert Chebeya Bahi- stellung des Verfahrens, da sich die Staatsan- zire (AFR 62/007/2010) waltschaft weigerte, einer Entscheidung der Richter nachzukommen, die Identität soge- nannter Zeugenvermittler gegenüber der Ver- teidigung zu offenbaren. Eine Berufungskam-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht mer des Strafgerichtshofs entschied im Okto-

268 Kongo (Demokratische Republik) CNR) umgewandelt hatte, kandidierte im Juli Kongo (Republik) 2010 bei einer Nachwahl in der Region Pool für einen Sitz im Parlament. Aus der Nachwahl Amtliche Bezeichnung: Republik Kongo ging die Kandidatin der Regierungskoalition als Staats- und Regierungschef: Siegerin hervor. Denis Sassou-Nguesso Im Oktober vereinbarten die EU und die Re- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft publik Kongo ein Projekt zur Räumung von Mi- Einwohner: 3,8 Mio. nen und anderen Explosivstoffen in der Umge- Lebenserwartung: 53,9 Jahre bung des internationalen Flughafens von Kindersterblichkeit (m/w): 135/ 122 pro 1000 Brazzaville. Im Dezember wurde mit Frankreich Lebendgeburten ein Abkommen über die Unterstützung einer regionalen Heeresschule und des medizini- Es gingen Berichte ein, denen zufolge schen Dienstes für die kongolesischen Streit- Angehörige der Sicherheitsdienste in kräfte geschlossen. Hafteinrichtungen, darunter das Zentral- Die Regierung gab im Oktober bekannt, dass gefängnis in der Hauptstadt Brazzaville, sie Soldaten, Gendarmen und Polizeikräfte in inhaftierte Personen folterten und miss- die Region Pool entsende, um dort Recht und handelten. Drei Asylsuchende aus der Ordnung wiederherzustellen. In der Region Demokratischen Republik Kongo (DR hatten 1998 – 2003 kriegerische Auseinander- Kongo) wurden seit nunmehr sechs Jah- setzungen stattgefunden. Die CNR-Spitze kriti- ren ohne Anklage und Gerichtsverfahren sierte, dass sie im Zusammenhang mit der Ent- in Militärgewahrsam gehalten. sendung nicht konsultiert worden sei. Der UN-Sonderberichterstatter über die Situa- Hintergrund tion der Menschenrechte und Grundfreiheiten Frédéric Bintsamou, Anführer der früheren be- der Angehörigen indigener Bevölkerungsgrup- waffneten Gruppe Nationaler Widerstandsrat pen hielt sich im November zu einem Besuch (Conseil national de la résistance), die sich in im Land auf. Er stellte mit Besorgnis fest, dass die politische Partei Nationaler Rat der Repu- indigene Völker diskriminiert wurden, es für blikaner (Conseil national des républicains – sie keine sozialen Leistungen und keine ge- sundheitliche Versorgung gab und dass sie unter Bedingungen arbeiteten, die der Leibei- genschaft gleichkamen. Ende Dezember ver- abschiedete die Nationalversammlung ein Ge- setz zum Schutz einer indigenen Gruppe, die im Land Pygmäen genannt wird. Durch das Gesetz sollen die Rechte der Pygmäen besser geschützt und gefördert werden und der indi- genen Gruppe Mittel für ihre sozialökonomi- sche Entwicklung zur Verfügung gestellt wer- den. Staatspräsident Denis Sassou-Nguesso amnestierte den früheren Präsidenten Pascal Lissouba, der 2001 wegen Verrats und Korrup- tion zu 30 Jahren Haft mit Zwangsarbeit verur- teilt worden war. Lissouba war 1997 durch eine von Denis Sassou-Nguesso angeführte be- waffnete Gruppe gestürzt worden und lebt seit- her im Exil.

Kongo (Republik) 269 Im November 2010 urteilte das französische Folter und andere Misshandlungen Kassationsgericht, dass die Korruptionsklage Es gingen 2010 Berichte ein, denen zufolge An- der französischen Sektion von Transparency In- gehörige der Sicherheitsdienste in Hafteinrich- ternational gegen den Staatspräsidenten der tungen, darunter das Zentralgefängnis in der Republik Kongo, den Staatspräsidenten von Hauptstadt Brazzaville, inhaftierte Personen Äquatorialguinea und den ehemaligen Staats- folterten und misshandelten. präsidenten von Gabun vor Gerichten in Frank-  Ferdinand Mbourangon starb im September, reich verhandelt werden kann. Transparency nachdem er im Zentralgefängnis in Brazzaville International wollte von der französischen Justiz von Polizisten verprügelt worden war. Er hatte wissen, unter welchen Umständen die drei sich an einem Protest gegen die Gefängnislei- Präsidenten Immobilienvermögen in Frankreich tung beteiligt, weil diese einem Mithäftling die erworben hatten. Teilnahme an der Beerdigung seines Kindes Ende Dezember sprach das Berufungsgericht verboten hatte. Ferdinand Mbourangon wurde in Brazzaville den ehemaligen Armeeoberst zwar zur Behandlung in ein Militärkranken- Ferdinand Mbahou von dem Vorwurf der Ge- haus gebracht, aber die Gefängnisleitung igno- fährdung der Staatssicherheit frei. Er war im rierte den Rat eines Arztes, ihn im Kranken- Juli 2009 im Zusammenhang mit aufrühreri- haus zu lassen. Bei einer Autopsie stellte sich schen Reden festgenommen worden, die er in heraus, dass er innere Blutungen erlitten Frankreich gehalten haben soll. Im Januar 2010 hatte. Ob die Behörden im Zusammenhang mit war er vorläufig aus der Haft entlassen wor- seinem Tod etwas unternahmen, blieb unklar. den.  Als der pensionierte Polizeibeamte André Ba- kekolo sich auf dem Polizeirevier von Ouenze »Verschwindenlassen« in Brazzaville beschwerte, dass Polizeibeamte Im November 2010 zog die Republik Kongo ihm Besitzgegenstände weggenommen hät- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen eine Klage gegen Frankreich zurück, die sie ten, wurde er brutal verprügelt. Die Polizisten 2002 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in hatten seinen Sohn gesucht, der in einen Ver- Den Haag eingereicht hatte. Die Regierung kehrsunfall verwickelt war. Nachdem André Ba- 000835 hatte damals den IGH ersucht, das Verfahren kekolo sich bei den Behörden beschwert gegen Präsident Sassou-Nguesso und andere hatte, soll der Revierleiter vom Dienst suspen- hochrangige Amtsträger der Regierung der Re- diert worden sein. publik Kongo zu annullieren. Sie waren be- schuldigt worden, für das Schicksal von über Flüchtlinge und Asylsuchende 350 Flüchtlingen verantwortlich zu sein, die im Drei Asylsuchende aus der Demokratischen Mai 1999 nach ihrer Rückkehr aus der DR Republik Kongo (DR Kongo) wurden seit nun- Kongo Opfer des »Verschwindenlassens« ge- mehr sechs Jahren ohne Anklage und Gerichts- worden waren. Im Jahr 2005 hatte ein kongole- verfahren im Gewahrsam des Militärs gehal- sisches Gericht die Auffassung vertreten, dass ten. Germain Ndabamenya Etikilome, Médard zwar der Staat für zahlreiche Fälle des »Ver- Mabwaka Egbonde und Bosch Ndala Umba schwindenlassens« verantwortlich sei, hatte waren 2004 in Brazzaville festgenommen wor- jedoch alle angeklagten Angehörigen der Si- den. Die Behörden machten nach wie vor cherheitsdienste und Regierungsvertreter frei- keine Angaben darüber, warum die drei Män- gesprochen. Ende 2010 war nach wie vor nicht ner festgehalten wurden. untersucht worden, wer die Verantwortlichen Im Juni 2010 unterzeichneten die Regierun- waren, die das »Verschwindenlassen« angeord- gen der Republik Kongo und der DR Kongo so- net, ausgeführt oder gebilligt hatten. wie der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) ein Abkommen über die Rückfüh- rung der rund 150000 Menschen, die 2009 aus

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht der DR Kongo geflüchtet waren. Es war nicht

270 Kongo (Republik) klar, ob die Vereinbarung Bestimmungen ent- verrichten und waren miserablen Haftbe- hielt, nach denen Flüchtlingen, die Angst vor dingungen ausgesetzt. Das Zusammen- einer Rückkehr in die DR Kongo hatten, in der wirken von Misswirtschaft, unfähiger Ver- Republik Kongo weiterhin Schutz gewährt wer- waltung, widrigen Wetterverhältnissen den würde. Die Regierung der DR Kongo for- und nachlassender internationaler Hilfe derte die Auslieferung mutmaßlicher Anführer führte dazu, dass Millionen von Men- einer bewaffneten Gruppe, die beschuldigt wur- schen keinen ausreichenden Zugang zu den, für Gewalttaten im Nordwesten der DR Nahrungsmitteln hatten. Auch grundle- Kongo verantwortlich zu sein und die in der Re- gende Arzneimittel waren für Millionen publik Kongo inhaftiert waren. Die Ausliefe- von Menschen völlig unerreichbar. Tau- rung hatte bis Jahresende noch nicht stattge- sende von Menschen gingen über die funden. Grenze nach China, auf der Suche nach Bei einem Besuch seines ruandischen Amts- Lebensmitteln und in der Hoffnung, dort kollegen Paul Kagame im November 2010 er- ein Auskommen zu finden. Viele von klärte Präsident Sassou-Nguesso, dass die un- ihnen wurden von den chinesischen Be- gefähr 8000 ruandischen Flüchtlinge nur noch hörden festgenommen und gegen ihren bis Ende 2011 im Land bleiben könnten. Willen nach Nordkorea zurückgebracht, wo ihnen Haft und Verhöre unter Folter drohten.

Hintergrund Es gab Anzeichen für einen sich anbahnenden Führungswechsel in Nordkorea: Kim Jong-un, Korea (Nord) der dritte Sohn von Kim Jong-il, wurde im Sep- tember zum Vier-Sterne-General befördert, Amtliche Bezeichnung: was Anlass zu der Vermutung gab, dass er der Demokratische Volksrepublik Korea designierte Nachfolger ist. Staatsoberhaupt: Kim Jong-il Auf der koreanischen Halbinsel erhöhten sich Regierungschef: Choe Yong-rim (löste im Juni die Spannungen, nachdem Nordkorea im No- Kim Yong-il ab) vember die Insel Yeonpyeong unweit der unter Todesstrafe: nicht abgeschafft dem Namen »nördliche Demarkationslinie« Einwohner: 23,9 Mio. bekannten umstrittenen Seegrenze bombar- Lebenserwartung: 67,7 Jahre dierte. Dabei kamen zwei südkoreanische Ma- Kindersterblichkeit (m/w): 63 / 63 pro 1000 rinesoldaten und zwei Zivilisten ums Leben. Sie Lebendgeburten

Menschenrechtsverletzungen waren 2010 nach wie vor weit verbreitet. Dazu zählten massive Beschränkungen der Rechte auf Vereinigungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Freizügigkeit so- wie willkürliche Inhaftierungen, Folte- rungen und andere Misshandlungen, die zum Tod führten, sowie Hinrichtungen. Kritik in jeglicher Form wurde von den Behörden brutal unterdrückt, und die Medien unterlagen einer strengen Kon- trolle. Häftlinge mussten Zwangsarbeit

Korea (Nord) 271 waren die ersten zivilen Todesopfer infolge mi- Haftbedingungen litärischer Kampfhandlungen an der innerko- Die Regierung unterhielt 2010 mindestens reanischen Grenze seit dem Koreakrieg sechs Hafteinrichtungen, in denen sich Tau- 1950 – 53. Zuvor hatte Südkorea im März Nord- sende von politischen Gefangenen befanden. korea bezichtigt, das südkoreanische Marine- Menschen wurden willkürlich inhaftiert oder schiff »Cheonan« versenkt und den Tod von 46 auf unbestimmte Zeit ohne Anklage oder Pro- Besatzungsmitgliedern verschuldet zu haben. zess in Gewahrsam gehalten. Die Häftlinge Der Chefankläger des Internationalen Strafge- waren schwerwiegenden, systematischen und richtshofs, Luis Moreno-Ocampo, gab im De- anhaltenden Verletzungen ihrer Menschen- zember bekannt, er habe eine Voruntersu- rechte ausgesetzt, darunter außergerichtliche chung in Bezug auf mögliche von Nordkorea Hinrichtungen, Folter und andere Misshand- verübte Kriegsverbrechen im Zusammenhang lungen sowie Zwangsarbeit. Folter war offenbar mit den jüngsten militärischen Zusammenstö- in den Straflagern weit verbreitet. Viele Inhaf- ßen mit Südkorea eingeleitet. tierte starben aufgrund der schweren und oft- mals gefährlichen körperlichen Zwangsarbeit, Nahrungskrise, Unterernährung die mit wenigen Pausen, unzureichender Ver- und Gesundheit sorgung mit Essen und mangelhafter medizi- Im Juli berichtete Amnesty International darü- nischer Betreuung einherging. Zahlreiche Häft- ber, welche katastrophalen Folgen die verspä- linge wurden wegen geringfügiger Vergehen teten und unzureichenden Maßnahmen der exekutiert, während ihre Mithäftlinge gezwun- Regierung zur Bekämpfung der anhaltenden gen wurden, den Hinrichtungen beizuwoh- Nahrungsmittelkrise für die Gesundheit der Be- nen. völkerung hatten. Amnesty International for-  Dem Vernehmen nach war der 84-jährige derte die Regierung auf, internationale humani- ehemalige Kriegsgefangene Jeong Sang-un, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen täre Hilfe anzufordern und eine effektive Ver- der im Koreakrieg 1950 – 53 auf der Seite Süd- teilung der Hilfsgüter nicht zu behindern. Ge- koreas gekämpft hatte, im Februar in einem berländer wurden nachdrücklich gebeten, Straflager für politische Häftlinge in Nordkorea 000835 über die UN Hilfe anzubieten, und zwar nicht interniert. Er war zuvor von den chinesischen nach politischen Erwägungen, sondern gemäß Behörden nach Nordkorea abgeschoben wor- den Bedürfnissen der notleidenden Men- den. Jeong Sang-un gehörte offenbar zu den schen. Tausenden von Menschen, die auf der Suche Nach Angaben von UNICEF kamen in Nord- nach Lebensmitteln die Grenze nach China korea bislang jedes Jahr etwa 40000 Kinder überschritten. Kurz nach seinem Eintreffen dort unter fünf Jahren hinzu, die an »akuter Unter- wurde er von den Behörden der nordchinesi- ernährung« litten; etwa 25000 von ihnen be- schen Provinz Jilin festgenommen und bis zu durften einer Krankenhausbehandlung. Eine seiner Zwangsrückführung nach Nordkorea von der Regierung mit Unterstützung der UN im Februar in Gewahrsam gehalten. Zum Zeit- durchgeführte Erhebung ergab, dass etwa ein punkt seiner Rückkehr war er sehr ge- Drittel der Bevölkerung unter Kleinwuchs litt, schwächt und musste beim Gehen gestützt d. h. eine unterdurchschnittliche Körpergröße werden. Jeong Sang-un wurde nicht vor Ge- aufwies. In einigen Landesteilen lag der Anteil richt gestellt, sondern direkt in ein Straflager für sogar bei 45%. politische Gefangene (Kwanliso) im Kreis UN-Generalsekretär Ban Ki-moon äußerte im Yodok, ˘ Provinz Süd-Hamkyung, gebracht. Oktober die Besorgnis, dass der »akute Bedarf  Robert Park, ein 28-jähriger Missionar und an humanitären Hilfsleistungen« von mindes- Menschenrechtsverteidiger aus den USA, tens 3,5 Mio. Frauen und Kindern in Nordko- wurde im Februar nach 43 Tagen Gewahrsam rea angesichts der Nahrungsmittelknappheit in einer Haftanstalt in Pjöngjang freigelassen.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht noch weiter steigen könnte. Er war am 25. Dezember 2009 festgenommen

272 Korea (Nord) worden, als er offenbar mit der Absicht nach Todesstrafe Nordkorea eingereist war, auf das Schicksal der In Nordkorea fanden 2010 weiterhin Hinrich- politischen Gefangenen im Land aufmerksam tungen statt, teilweise in der Öffentlichkeit und zu machen. teilweise geheim. Berichten zufolge wurden  Nach einem Besuch des früheren US-Prä- mindestens 60 Menschen öffentlich hinge- sidenten Jimmy Carter wurde im August richtet. der 31-jährige US-amerikanische Staatsange-  Chong, ein Arbeiter in einem Rüstungsbe- hörige Aijalon Gomes freigelassen, ein Freund trieb, wurde Angaben zufolge Ende Januar in von Robert Park. Er war im Januar illegal in der Stadt Hamhung an der Ostküste öffentlich das Land gelangt und daraufhin zu acht Jah- hingerichtet. Ihm war zur Last gelegt worden, ren verschärfter Zwangsarbeit und einer Geld- einem Freund, der einige Jahre zuvor nach strafe von rund 600000 US-Dollar verurteilt Südkorea geflohen war, über ein illegales chi- worden. nesisches Mobiltelefon den Preis von Reis und andere Informationen über die Lebensbedin- Rechte auf freie Meinungsäußerung, gungen in Nordkorea mitgeteilt zu haben. Vereinigungsfreiheit und Freizügigkeit Ungeachtet der Tatsache, dass die Rechte auf Internationale Kontrollgremien freie Meinungsäußerung und Versammlungs- Im März 2010 reagierte Nordkorea auf den Be- freiheit von der Verfassung garantiert wurden, richt des UN-Menschenrechtsrats, der auf die schränkten die Behörden diese Rechte massiv Universelle Regelmäßige Überprüfung (UPR) ein. Kritik an der Regierung und ihren Führern des Landes 2009 zurückging. In der Reaktion war streng verboten und zog die Festnahme hieß es jedoch nur, man habe die darin enthal- und Inhaftierung in einem Straflager nach sich. tenen Empfehlungen »zur Kenntnis genom- Der Vertrieb aller Radios und Fernsehgeräte men«. Nordkorea war damit das erste Land, erfolgte allein über den Staat, und es war Bür- das sich weigerte, auch nur eine einzige der gern unter Strafe verboten, technische Ände- Empfehlungen ausdrücklich zu akzeptieren, rungen daran vorzunehmen, um ausländische die sich aus dem UN-Überprüfungsverfahren Sender zu empfangen. Personen, die man ergaben. Dies stand im Widerspruch zu dem beim Empfang ausländischer Sender ertappte, zuvor gegebenen Versprechen der Regierung, wurden in Haft genommen und zu langen Ge- mit den UN in diesem Prozess zusammenzuar- fängnisstrafen verurteilt. beiten. Im Juni wurde der Indonesier Marzuki Der nordkoreanischen Bevölkerung waren Darusman zum neuen UN-Sonderberichterstat- Reisebeschränkungen auferlegt, die sowohl ter für die Menschenrechtslage in der Demo- das Inland als auch das Ausland betrafen. Tau- kratischen Volksrepublik Korea ernannt. sende von Nordkoreanern, die auf der Suche nach Lebensmitteln und Beschäftigungsmög- Amnesty International: Bericht lichkeiten nach China geflohen waren, wurden  The crumbling state of health care in North Korea von den chinesischen Behörden zwangsweise (ASA 24/001/ 2010) in ihr Heimatland zurückgeführt. Nach ihrer Rückkehr wurden sie in der Regel geschlagen und in Hafteinrichtungen eingewiesen. Perso- nen, die verdächtigt wurden, Kontakte zu süd- koreanischen NGOs zu unterhalten oder nach Südkorea flüchten zu wollen, mussten mit noch härteren Strafen rechnen.

Korea (Nord) 273 Nordkorea). Die Nationale Menschenrechts- Korea (Süd) kommission von Korea wurde beschuldigt, un- ter ihrer gegenwärtigen Führung Unabhängig- Amtliche Bezeichnung: Republik Korea keit und Autorität zu verlieren, nachdem sie in Staatsoberhaupt: Lee Myung-bak mehreren wichtigen Menschenrechtsangele- Regierungschef: Kim Hwang-sik (löste im Oktober genheiten weder Stellung bezogen hatte noch Yoon Jeung-hyun im Amt ab, der im August in Aktion getreten war. Mitglieder der Kommis- Chung Un-chan im Amt gefolgt war) sion und Experten traten von ihren Ämtern zu- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft rück, und die Neuernennungen schienen po- Einwohner: 48,5 Mio. litisch motiviert zu sein. Lebenserwartung: 79,8 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 6 pro 1000 Rechte auf freie Meinungsäußerung Lebendgeburten und Vereinigungsfreiheit Vage formulierte Bestimmungen des Gesetzes Die Regierung benutzte zunehmend vage über die Nationale Sicherheit aus dem Jahr formulierte Gesetze über nationale Si- 1948 (National Security Law – NSL), das zuletzt cherheit, Verleumdung und andere Straf- 1997 abgeändert worden war, wurden zuneh- tatbestände, um ihre Kritiker zu schika- mend dazu benutzt, Dissidenten zum Schwei- nieren und zu unterdrücken. Im Februar gen zu bringen und willkürlich Personen straf- 2010 entschied das Verfassungsgericht, rechtlich zu verfolgen, die friedlich ihre Rechte dass die Todesstrafe nicht gegen die Ver- auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit aus- fassung verstoße. Im Oktober und No- übten. Angaben der Nationalen Polizeibehörde vember führte das Verfassungsgericht zufolge waren im August auf der Grundlage Anhörungen zu den Fragen durch, ob des NSL 106 Personen angeklagt und 13 inhaf- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Einschränkungen der Arbeitsplatzmobili- tiert. Ende 2010 waren mindestens sieben Per- tät von Arbeitsmigranten und die Einbe- sonen in Haft, weil sie friedlich ihr Recht auf rufung zum Militär ohne die Möglichkeit Meinungsfreiheit ausgeübt hatten. Die Behör- 000835 einer Verweigerung aus Gewissensgrün- den benutzten weiterhin Artikel 7 des NSL (»Lo- den Verletzungen der Grundrechte dar- ben von oder Sympathisieren mit staatsfeindli- stellten. chen Gruppen«), um Publikationen oder die Verteilung von Material zu unterbinden, das Hintergrund sie als »Nordkorea begünstigend« beurteilten. Die Spannungen zwischen Süd- und Nordkorea  Im Juni 2010 nahm die Staatsanwaltschaft verschärften sich durch mehrere Zwischen- Ermittlungen gegen Mitarbeiter der NGO fälle im Gelben Meer (siehe Länderbericht People’s Solidarity for Participatory Democracy (PSPD) auf. Sie waren der strafbaren Diffamie- rung, der »Behinderung der Durchführung ho- heitlicher Aufgaben« und des Verstoßes gegen Artikel 7 des NSL angeklagt worden. Die An- klage hing mit einem Brief zusammen, den die PSPD an den UN-Sicherheitsrat geschrieben hatte. In diesem Brief äußerte die NGO Zweifel am Untersuchungsbericht Südkoreas über die im März erfolgte Versenkung des Marineboots Cheonan (siehe Länderbericht Nordkorea).  Im September 2010 entschied das Zentrale Bezirksgericht von Seoul zugunsten des Ange-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht klagten Park Won-soon. Der Geheimdienst Na-

274 Korea (Süd) tional Intelligence Service (NIS) hatte den Bür- Recht auf Versammlungsfreiheit gerrechtler und Direktor des Hope-Instituts im Die Behörden schränkten weiterhin das Recht Jahr 2009 auf 176000 US-Dollar Schadener- auf friedliche Demonstrationen ein. Ein am satz verklagt, da er den »Staat« verleumdet 1. Oktober 2010 im Vorfeld des G-20-Gipfels er- habe, als er in einem Interview erklärte, dass lassenes neues Gesetz verbot Demonstratio- der Geheimdienst auf Wirtschaftsunternehmen nen in »Sicherheits- und Schutzbereichen«. Druck ausübe, damit sie zivilgesellschaftliche Bereitschaftspolizei, zumeist wehrdienst- Gruppen nicht unterstützten. pflichtige Soldaten, wurden in großer Zahl vor  Im Dezember 2010 forderte die Staatsanwalt- Beginn des Gipfels zum Einsatz gebracht. Um schaft auf der Grundlage des NSL eine Ge- eine gegen den G-20-Gipfel stattfindende De- fängnisstrafe von sieben Jahren für Professor monstration unter Kontrolle zu halten, wurde Oh Se-chul von der Gruppe der Sozialistischen am 7. November Pfefferspray eingesetzt, das Arbeiterliga (Socialist Workers League of Ko- bei Hautkontakt ein schmerzhaftes Brennen rea). Im August 2008 waren er und sechs Mit- verursacht. glieder der Gruppe wegen Verstoßes gegen Ar-  Im November 2010 wurden sechs philippini- tikel 7 des NSL angeklagt worden. Versuche, sche Aktivisten und eine Aktivistin, die nach die sieben Personen im Jahr 2008 auf der Seoul reisen wollten, um an den Vorbereitungen Grundlage des NSL zu inhaftieren, waren zwei- der Nichtregierungsorganisationen für den mal vom Zentralen Bezirksgericht Seoul verhin- G-20-Gipfel teilzunehmen, daran gehindert, dert worden. nach Südkorea einzureisen, und unter An-  Im Dezember 2010 sprach das Zentrale Be- wendung von Gewalt in ihr Heimatland zurück- zirksgericht Seoul vier Produzenten und einen geschickt. Während sie auf dem Internationa- Redakteur der Radio- und Fernsehanstalt len Flughafen Incheon festgehalten wurden, er- Munwha Broadcasting Corporation (MBC) frei. klärten ihnen Einwanderungsbeamte, dass sie Sie waren beschuldigt worden, den früheren auf der Schwarzen Liste der Regierung stün- Landwirtschaftsminister und Unterhändler bei den. den Verhandlungen über Rindfleischimporte  Im November 2010 forderte die Staatsanwalt- aus den USA verleumdet zu haben. Im Juni schaft, Park Rae-gun zu fünf Jahren und vier 2009 hatte die Staatsanwaltschaft die MBC-Mit- Monaten Gefängnis und Lee Jong-hoe zu vier arbeiter beschuldigt, in einem Beitrag der in- Jahren Gefängnis wegen »Durchführung eines vestigativen Dokumentarserie PD Notebook, illegalen Protests« und »Behinderung des Ver- der im April 2008 gesendet worden war, Fak- kehrs« zu verurteilen. Auf den Protestveran- ten verfälscht, Aussagen vorsätzlich falsch staltungen war Gerechtigkeit für die bei einem übersetzt und die Gefahren durch Rindfleisch- Polizeieinsatz im Januar 2009 getöteten Men- importe aus den USA übertrieben zu haben. Die schen gefordert worden. Bei diesem Einsatz Regierung hatte dem Sender vorgeworfen, da- war die Polizei gegen Mieter vorgegangen, die mit die Proteste gegen die Rindfleischimporte auf einem Hausdach im Stadtteil Yongsan in aus den USA ausgelöst zu haben. Die Staats- Seoul gegen die Zwangsräumung ihrer Woh- anwaltschaft legte gegen das Urteil Rechtsmit- nungen protestiert hatten. tel ein, und das Verfahren war vor dem Obers- Das Verfahren, das im Dezember stattfinden ten Gerichtshof anhängig. Bereits im Januar sollte, wurde auf Januar 2011 verschoben. hatte das gleiche Gericht die fünf MBC-Mitar- beiter freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft Wehrdienstverweigerer hatte auch damals dagegen Einspruch erho- aus Gewissensgründen ben. Im November 2010 fanden vor dem Verfas- sungsgericht Anhörungen über die Frage statt, ob es eine Verletzung der Grundrechte dar- stelle, gegen Personen Strafen zu verhängen,

Korea (Süd) 275 die aus Gewissensgründen den Wehrdienst oder die Reservistenausbildung verweigern. Kroatien Das Gericht beriet auch darüber, ob die feh- lende Option, Ersatzdienst zu leisten, das Recht Amtliche Bezeichnung: Republik Kroatien der Wehrdienstverweigerer auf Gewissensfrei- Staatsoberhaupt: Ivo Josipovic´ (löste im Februar heit verletze. Ende November befanden sich Stjepan Mesic´ im Amt ab) 965 Personen, die aus Gewissensgründen den Regierungschefin: Jadranka Kosor Militärdienst verweigert hatten, in Haft. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 4,4 Mio. Rechte von Migranten Lebenserwartung: 76,7 Jahre Im Oktober 2010 beriet das Verfassungsgericht Kindersterblichkeit (m/w): 8 / 7 pro 1000 über die Frage, ob es mit der Verfassung ver- Lebendgeburten einbar sei, gemäß den Bestimmungen des Sys- Alphabetisierungsrate: 98,7% tems der Arbeitsgenehmigungen (Employ- ment Permit System – EPS) eine Frist für den Trotz internationalen Drucks kam die Arbeitsplatzwechsel von Arbeitsmigranten zu strafrechtliche Verfolgung der während setzen. Das EPS bestimmt, dass Migranten des Kriegs von 1991 bis 1995 begange- nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses nen Verbrechen nur schleppend voran. innerhalb von drei Monaten einen neuen Ar- Viele der mutmaßlich von Angehörigen beitsplatz finden müssen, da sie sonst ihr Auf- der kroatischen Armee und der Polizei enthaltsrecht verlieren. Tausende von Arbeits- begangenen Verbrechen blieben unge- migranten wurden des Landes verwiesen. ahndet. Der Präsident unternahm ge-  Im November 2010 starb Trinh Cong Quan, wisse politische Schritte zur Vergangen- ein 35-jähriger Arbeitsmigrant aus Vietnam, heitsbewältigung. Doch mangelte es an 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen der keine Ausweispapiere hatte. Beim Versuch, gezielten Maßnahmen seitens der Regie- Beamten der Einwanderungsbehörde zu ent- rung und der Justizbehörden, um kommen, war er vom Gebäude der Fabrik ge- Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Ange- 000835 sprungen, in der er gearbeitet hatte. Die Ein- hörige der Roma, kroatische Serben so- wanderungsbehörde hatte ohne Genehmigung wie Lesben, Schwule, Bisexuelle und des Arbeitgebers eine Razzia in der Fabrik Transgender-Personen wurden weiterhin durchgeführt. Die Durchsuchung war Teil einer Opfer von Diskriminierung. Aktion der Regierung gegen Arbeiter, die keine gültigen Dokumente besaßen. Trinh Cong Quan hinterließ eine Frau und ein Kind in Südkorea.

Todesstrafe Im Februar 2010 urteilte das Verfassungsge- richt mit fünf zu vier Stimmen, dass die Todes- strafe »die Würde und den Wert des Men- schen«, die durch die Verfassung geschützt sind, nicht verletzt. Drei Gesetzentwürfe zur Ab- schaffung der Todesstrafe waren im Parlament anhängig. Einer davon war im Jahr 2010 vorge- legt worden. Todesurteile wurden verhängt, jedoch keine Hinrichtungen vollzogen. In den Gefängnissen saßen 63 zum Tode verurteilte Personen ein; drei von ihnen hatten Rechtsmit-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht tel gegen die Urteile eingelegt.

276 Kroatien Hintergrund richtungen und Mitarbeiter, um Zeugen Bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU wa- Schutz gewähren zu können. ren 2010 Fortschritte zu verzeichnen, so dass Eine 2003 verabschiedete Gesetzgebung, die einige Verhandlungskapitel erfolgreich abge- dazu dienen sollte, Hindernisse bei der straf- schlossen werden konnten. Im Juni begannen rechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen die Verhandlungen zu den Kapiteln Justiz und zu beseitigen, wurde größtenteils nicht umge- Grundrechte. Dabei legte die EU bestimmte setzt. Es fehlte weithin an politischem Willen, Kriterien fest. Justizreformen anzugehen und die Straflosig- Der Chefankläger des Internationalen Straf- keit zu bekämpfen. gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien Die Behörden ließen den Opfern von Kriegs- stellte in seinem Bericht für den UN-Sicher- verbrechen und ihren Familien keine Entschä- heitsrat im Dezember fest, dass Kroatien die digungen zukommen. noch ausstehenden Militärdokumente über die  Im Juli 2010 bestätigte der Oberste Gerichts- »Operation Sturm« nach wie vor nicht ausge- hof den Schuldspruch gegen Branimir Glavasˇ händigt habe. Dabei handelte es sich um eine und fünf weitere Männer, die 2009 vom Be- umfangreiche Militäroperation der kroatischen zirksgericht Zagreb wegen Verbrechen verur- Armee im Jahr 1995. teilt worden waren, die sie während des Kriegs an kroatischen Serben in Osijek begangen Innerstaatliche Strafverfolgung von hatten. Der Oberste Gerichtshof reduzierte je- Kriegsverbrechen doch das Strafmaß, da er in starkem Maße mil- Die strafrechtliche Verfolgung der während des dernde Umstände berücksichtigte. Einige die- Kriegs 1991 – 95 begangenen Verbrechen kam ser mildernden Umstände, wie z. B. die Zuge- weiterhin nur schleppend voran. hörigkeit der Angeklagten zur kroatischen Ar- Die kroatische Justiz war nach wie vor kaum mee, verstießen gegen international aner- in der Lage, die Kriegsverbrechen zu verfol- kannte Standards. Glavasˇ, der im Besitz eines gen. Im Durchschnitt wurden jährlich weniger bosnischen Reisepasses war, war im Mai 2009 als 18 Fälle abgeschlossen. In Hunderten von nach Bosnien und Herzegowina geflüchtet. Das Fällen, insbesondere solchen, bei denen die im Juli gefällte Urteil des Obersten Gerichts- Opfer kroatische Serben und die mutmaßli- hofs von Kroatien wurde im September durch chen Verantwortlichen Angehörige der kroati- den Staatsgerichtshof von Bosnien und Herze- schen Armee und Polizei waren, wurden keine gowina bestätigt. Branimir Glavasˇ wurde da- Ermittlungen eingeleitet. raufhin am 28. September verhaftet. Im Okto- Die zuständigen Gerichte wandten in diesen ber leitete die kroatische Behörde zur Bekämp- Fällen auch weiterhin das Strafgesetzbuch von fung von Korruption und organisierter Krimi- 1993 an, das nicht den internationalen Stan- nalität Ermittlungen gegen fünf Männer ein, von dards entsprach. Darin wurden grundlegende denen einer dem kroatischen Parlament ange- strafrechtliche Sachverhalte, wie das Prinzip hörte. Die Gruppe soll im Juni und Juli versucht der Befehlsverantwortung, sexuelle Gewalt als haben, Personen anzuwerben, um die für den Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen Fall Branimir Glavasˇ zuständigen Richter zu be- die Menschlichkeit, nicht präzise definiert. stechen und auf diese Weise ein milderes Ur- Die Anwendung des Strafgesetzbuchs führte teil zu erwirken. dazu, dass zahlreiche Verbrechen straffrei  Im März 2010 bestätigte der Oberste Ge- blieben. richtshof Kroatiens die Urteile gegen Mirko Vor Gericht kam es nach wie vor zur Ein- Norac und Rahim Ademi. Norac war 2008 vom schüchterung von Zeugen. Die Maßnahmen, Bezirksgericht Zagreb für schuldig befunden um Opfer und Zeugen zu unterstützen und zu worden, während Ademi freigesprochen wor- schützen, waren weiterhin unzureichend. Nur den war. Die Anklage gegen die beiden Män- vier Gerichte verfügten über die nötigen Ein- ner hatte auf Kriegsverbrechen einschließlich

Kroatien 277 Mord gelautet, auf unmenschliche Behand- nen in Zagreb und Pakracˇ ka Poljana während lung, Plünderung und mutwillige Zerstörung des Kriegs 1991 – 95. von Eigentum. Die Verbrechen waren im Zuge von Militäroperationen im Jahr 1993 gegen Internationale Strafverfolgung kroatisch-serbische Zivilisten und Kriegsge- von Kriegsverbrechen fangene verübt worden. In seinem Urteil redu- Vor dem Internationalen Strafgerichtshof für zierte der Oberste Gerichtshof die gegen Mirko das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Norac verhängte Freiheitsstrafe von sieben auf Haag waren Verfahren anhängig, in denen es sechs Jahre unter Berücksichtigung mildern- um Verbrechen gegen das Völkerrecht ging, der Umstände. Viele der mildernden Umstände die während des Kriegs 1991 – 95 auf kroati- verstießen gegen internationales Recht. So schem Territorium begangen worden waren. wurde u. a. angeführt, die Verbrechen seien im  Im Verfahren gegen die drei pensionierten Rahmen einer rechtmäßigen Militäraktion der kroatischen Armeegeneräle Ante Gotovina, kroatischen Armee verübt worden, und Norac Ivan Cˇ ermak und Mladen Markacˇ hielten der habe sich am Kampf für die Unabhängigkeit Chefankläger des ICTY und die Verteidiger zwi- beteiligt. schen Juli und September ihre Schlussplädoy- Im Juni 2010 forderte der Menschenrechts- ers. Den Angeklagten wurden Verbrechen ge- kommissar des Europarats die kroatischen gen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Behörden auf, effektive Maßnahmen zu ergrei- Kriegs- und Gewohnheitsrecht in neun Punk- fen, um sicherzustellen, dass die strafrechtli- ten zur Last gelegt. Die Verbrechen waren wäh- che Verfolgung von Kriegsverbrechen auf un- rend der »Operation Sturm« 1995 verübt wor- parteiische Weise erfolge. Die Fälle müssten den und hatten sich gegen die serbische Bevöl- unabhängig von der ethnischen Herkunft oder kerung in 14 Gemeinden im Süden Kroatiens dem sonstigen Hintergrund der mutmaßlichen gerichtet. Die Urteilsverkündung wird für 2011 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Täter sowie in Übereinstimmung mit dem allge- erwartet. meinen Diskriminierungsverbot verfolgt wer- Umstritten war weiterhin die Bereitschaft den. Der Dienst in der kroatischen Armee oder Kroatiens, mit dem Chefankläger des ICTY zu 000835 bei der Polizei dürfe im Falle schwerer Men- kooperieren. Die Verfahrenskammer des Straf- schenrechtsverletzungen nicht als mildernder gerichtshofs betonte im Juli, dass die kroati- Umstand gewertet werden. schen Behörden zur Kooperation verpflichtet Im November stellte die Europäische Kom- seien. Sie wies jedoch einen Antrag des Chef- mission in ihrem Fortschrittsbericht zu Kroa- anklägers ab, der eine gerichtliche Anordnung tien fest, dass die Straflosigkeit für Kriegsver- zur Herausgabe von Beweismaterial durch die brechen nach wie vor ein Problem darstelle, Behörden gefordert hatte. Die Strafkammer be- insbesondere für solche, in denen die Opfer gründete dies damit, dass die Art des Verfah- ethnische Serben und die mutmaßlichen Ver- rens es ihr unmöglich mache zu beurteilen, ob antwortlichen Angehörige der kroatischen Ar- die Behörden in der Lage seien, der Anord- mee waren. nung gegebenenfalls Folge zu leisten. Außer-  Am 10. Dezember 2010 wurde Tomislav Mer- dem sah die Strafkammer davon ab zu ent- cˇ ep in Zagreb verhaftet. In einem tags zuvor scheiden, ob die gesuchten Dokumente über- von Amnesty International veröffentlichten Be- haupt existierten. richt war er, neben anderen hochrangigen  Die Verhandlung gegen Vojislav Sˇ esˇelj, dem Personen, als einer derjenigen genannt worden, Verbrechen in Bosnien und Herzegowina, die mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen Kroatien und Serbien (Vojvodina) zur Last ge- hatten. Die Ermittlungen gegen Tomislav Mer- legt werden, wurde 2010 fortgesetzt. Die An- cˇ ep betrafen u. a. seine mutmaßliche Befehls- klageschrift umfasste Verbrechen gegen die verantwortung für die widerrechtliche Tötung Menschlichkeit, darunter Verfolgung aus poli-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht und das »Verschwindenlassen« von 43 Perso- tischen, rassischen oder religiösen Gründen,

278 Kroatien Deportation und unmenschliche Handlungen. Die Protestkundgebung war von der Bürger- Außerdem wurden ihm Verstöße gegen das initiative »Der Stadt ihr Recht« (Pravo na Grad) Kriegs- und Gewohnheitsrecht zur Last gelegt, organisiert worden und galt dem Schutz der wie Mord, Folter, grausame Behandlung, die Varsˇavska Straße im historischen Teil Zagrebs. willkürliche Zerstörung von Dörfern oder Der Straße drohte durch den Bau einer Zu- durch militärische Erfordernisse nicht gerecht- fahrtsrampe für ein Einkaufszentrum die teil- fertigte Verwüstung, die Zerstörung oder vor- weise Zerstörung. So sollten der Baumaß- sätzliche Beschädigung von Einrichtungen, die nahme mehrere Bäume zum Opfer fallen und der Religion oder der Erziehung gewidmet ein Teil der Fußgängerzone in privates Zufahrts- sind, sowie die Plünderung öffentlichen oder gelände umgewandelt werden. privaten Eigentums.  Das Verfahren gegen Momcˇ ilo Perisˇic´ , der Diskriminierung u. a. wegen des Bombardements von Zagreb im Ethnische Minderheiten Mai 1995 angeklagt war, wurde vor dem ICTY Angehörige der Roma wurden im Hinblick auf fortgesetzt. Die Verfahrenskammer gab im No- ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte wei- vember 2010 dem Antrag des Chefanklägers terhin diskriminiert, dies galt u. a. für das Bil- statt, neue Beweismittel in dem Fall vorzulegen. dungssystem sowie für den Arbeits- und Woh-  Der Prozess gegen Jovica Stanisˇic´ und nungsmarkt. Die von den Behörden zur Abhilfe Franko Simatovic´ dauerte an. Die beiden Män- ergriffenen Maßnahmen blieben unzurei- ner waren u. a. wegen Verfolgung aus rassi- chend. schen und religiösen Gründen, Mord, Depor- Im März 2010 verkündete die Große Kammer tation und unmenschlichen Handlungen an der des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- nicht serbischen Bevölkerung in den von Ser- rechte ihr Urteil im Fall Orsˇusˇ und andere ge- ben kontrollierten Gebieten Kroatiens während gen Kroatien. Nach Ansicht des Gerichts er- des Kriegs 1991 – 95 angeklagt. Im Oktober füllte die Unterbringung von 14 Roma-Schul- wurde in dem Fall neues Beweismaterial vorge- kindern in separaten Klassen im Jahr 2002 auf legt. Im Laufe des Jahres wurden die Verhand- Grundlage ihrer Kroatischkenntnisse den Tat- lungstermine aufgrund des schlechten Ge- bestand ethnisch motivierter Diskriminierung. sundheitszustands von Jovica Stanisˇic´ von der Die Große Kammer kam zu dem Schluss, Verfahrenskammer wiederholt verlegt. Weitere dass die Tests, aufgrund derer die Zuweisung Verzögerungen entstanden durch den Tod des der Kinder in reine Roma-Klassen erfolgte, führenden Rechtsbeistands von Franko Simato- nicht ihre Sprachkenntnisse bewerteten, wie vic´ im Jahr 2009. dies die Regierung behauptet hatte, sondern  Im Dezember 2010 revidierte die Berufungs- nur ihren allgemeinen psychischen und kör- kammer des ICTY das Urteil gegen Veselin perlichen Zustand. Für Kinder, die den reinen Sˇ ljivancˇ anin, der im November 1991 wegen Bei- Roma-Klassen zugewiesen worden waren, gab hilfe zum Mord an 194 Kriegsgefangenen nach es keine Maßnahmen, um ihre angeblich man- dem Sturz von Vukovar schuldig befunden gelhaften Kroatischkenntnisse zu verbessern. worden war, und verkürzte das Strafmaß von Dementsprechend wurde auch nicht festge- 17 auf zehn Jahre Haft. stellt, ob sie Fortschritte beim Spracherwerb machten. Der Lehrplan für die reinen Roma- Versammlungsfreiheit Klassen war stark reduziert. Er umfasste 30% Bezüglich des Rechts auf Versammlungsfrei- weniger Stoff als der Lehrplan der übrigen Klas- heit gab es Anlass zur Besorgnis, nachdem sen. am 15. Juli 2010 in Zagreb mindestens 140 Per- Im Juni 2010 berichtete der Menschenrechts- sonen, die an einer friedlichen Demonstration kommissar des Europarats, dass in einigen teilgenommen hatten, festgenommen und Schulen des Landes auch weiterhin eine »De- kurzzeitig inhaftiert worden waren. facto-Segregation« bestehe.

Kroatien 279 Im Juli besuchte die UN-Sonderberichterstat- terin über das Recht auf angemessenes Woh- Kuba nen Kroatien und kam zu dem Schluss, dass die aktuelle Wohnungssituation stark von den Amtliche Bezeichnung: Republik Kuba Folgen des bewaffneten Konflikts und dem Staats- und Regierungschef: Raúl Castro Ruz Wechsel vom sozialen Wohnungsbau zur Pri- Todesstrafe: nicht abgeschafft vatwirtschaft geprägt sei. Dies wirke sich vor Einwohner: 11,2 Mio. allem auf schutzbedürftige Bevölkerungs- Lebenserwartung: 79 Jahre gruppen wie Roma und kroatische Serben Kindersterblichkeit (m/w): 9 / 6 pro 1000 nachteilig aus. Die Sonderberichterstatterin Lebendgeburten äußerte sich besorgt über die Lebensbedingun- Alphabetisierungsrate: 99,8% gen in Roma-Siedlungen und machte darauf aufmerksam, dass sich über 70000 kroatische Im Jahr 2010 kamen 43 gewaltlose poli- Serben noch immer als Flüchtlinge in Nach- tische Gefangene frei. Die Rechte auf barländern aufhielten, davon mindestens freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- 60000 in Serbien. und Versammlungsfreiheit wurden nach wie vor beschnitten, und zahlreiche Kriti- Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ker der Einparteienherrschaft wurden Transgender-Personen drangsaliert. Das US-amerikanische Em- Am 19. Juni fand in Zagreb eine Gay Pride Pa- bargo gegen Kuba war weiterhin in Kraft. rade statt. Die etwa 500 Teilnehmenden erhiel- ten Polizeischutz, und es wurden keine größe- Hintergrund ren Zwischenfälle gemeldet. Im Anschluss an Der gewaltlose politische Gefangene Orlando die Demonstration wurden zwei Teilnehmer je- Zapata Tamayo starb am 23. Februar 2010 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen doch von einer Gruppe junger Männer tätlich nach einem längeren Hungerstreik. Er zählte zu angegriffen. Es wurde eine Untersuchung ein- den 75 Personen, die im März 2003 im Rah- geleitet, um die Täter zu ermitteln. Diese hatte men einer Verhaftungswelle von den Behörden 000835 aber Ende 2010 noch zu keinem Ergebnis ge- festgenommen worden waren, und verbüßte führt. zum Zeitpunkt seines Todes eine 36-jährige Ge- fängnisstrafe. Einige Monate später, in der Zeit Amnesty International: Missionen und Berichte von Juli bis Dezember, entließ die kubanische  Delegierte von Amnesty International besuchten Kroatien im Regierung 41 gewaltlose politische Gefangene Januar, März/April und Dezember. aus der Haft. Der Freilassung gingen Gesprä-  Croatia: Briefing to the United Nations Committee against che mit der katholischen Kirche und eine Torture (EUR 64/001/2010) Übereinkunft mit der spanischen Regierung vo-  Briefing to the European Commission and member states of raus. Mit Ausnahme einer Person verließen the European Union (EU) on the progress made by the Repu- blic of Croatia in prosecution of war crimes alle Freigelassenen gemeinsam mit ihren Fami- (EUR 64/002/ 2010) lien das Land.  Behind a wall of silence: Prosecution of war crimes in Croatia (EUR 64/003/ 2010)  Croatia: Authorities must guarantee freedom of assembly (EUR 64/004/ 2010)  Croatian war crimes suspect arrested, 10 December 2010 S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

280 Kuba Der Rat der EU beschloss im Oktober für ein genden Tag freigelassen, unmittelbar darauf weiteres Jahr seine gemeinsame Position zu aber wieder in Gewahrsam genommen. Nach- Kuba beizubehalten, der gemäß die kubani- dem er eine Woche lang in einer Polizeiwache sche Regierung aufgefordert ist, die Men- inhaftiert war, wurde er in das Hochsicher- schenrechte stärker zu achten. heitsgefängnis Valle Grande in einem Außen- Der Besuch des UN-Sonderberichterstatters bezirk Havannas gebracht. Am 14. Mai entließ über Folter wurde im Jahr 2010 mindestens man ihn aus der Haft und drohte ihm, Anklage zweimal verschoben. Die kubanischen Behör- wegen »Missachtung der Behörden« und den hatten ihn 2009 eingeladen, das Land zu »Aggression« gegen ihn zu erheben. Beamte besuchen. des Staatssicherheitsdienstes forderten ihn Kuba hatte bis Jahresende weder den Inter- zudem auf, seine Tätigkeit als Reporter einzu- nationalen Pakt über bürgerliche und politi- stellen. sche Rechte noch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gewaltlose politische Gefangene Rechte ratifiziert, obwohl die Regierung dies bei Elf gewaltlose politische Gefangene aus den einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrats im Reihen der 75 Männer, die im März 2003 fest- Februar 2009 zugesagt hatte. genommen worden waren, befanden sich Ende Raúl Castro kündigte im Oktober an, dass im 2010 noch immer in Haft. April 2011 ein Parteitag der Kommunistischen  Darsi Ferrer, der im Juli 2009 festgenommen Partei Kubas abgehalten werde. Der letzte hatte worden war, wurde schließlich am 22. Juni vor 1997 stattgefunden. Gericht gestellt. Man befand ihn für schuldig, »illegal erworbene Güter« erhalten und einen Recht auf freie Meinungsäußerung »Staatsbeamten tätlich angegriffen oder einge- Sämtliche Medien unterlagen weiterhin staatli- schüchtert« zu haben. Er wurde zu einer ein- cher Kontrolle, wodurch die Kubaner keinen jährigen Gefängnisstrafe und drei Monaten »Ar- freien Zugang zu unabhängigen Informations- beit mit Strafcharakter« außerhalb des Ge- quellen hatten. Die Inhalte von Internetseiten fängnisses verurteilt. Er kam umgehend frei, da und der Zugang zum Internet wurden nach wie er bereits fast ein Jahr im Gefängnis verbracht vor überwacht und gelegentlich gesperrt. Un- hatte. Amnesty International betrachtete Darsi abhängige Journalisten waren unvermindert Ferrer als gewaltlosen politischen Gefange- Einschüchterungen und Drangsalierungen nen, der allein wegen politisch motivierter An- vonseiten der Polizei und Beamten des Staats- klagen inhaftiert war, die als Vergeltungsmaß- sicherheitsdienstes ausgesetzt. Viele von nahme für sein Engagement als Menschen- ihnen wurden festgenommen und gefangen ge- rechtler erhoben worden waren. halten, um sie dann einige Tage oder Wochen später ohne Anklage oder Prozess wieder auf Willkürliche Inhaftierung freien Fuß zu setzen. Viele der Inhaftierten be- Es wurden weiterhin Dissidenten willkürlich in richteten, man habe sie unter Druck gesetzt, Gewahrsam genommen, um sie daran zu hin- sich künftig nicht mehr an oppositionellen Ak- dern, ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung tivitäten, wie z. B. regierungskritischen De- sowie Vereinigungs- und Versammlungsfrei- monstrationen oder der Weitergabe von Be- heit wahrzunehmen. richten an ausländische Medien, zu beteiligen.  Am 15. Februar 2010 wurden Rolando Rodrí-  Calixto Ramón Martínez, ein Journalist der guez Lobaina, José Cano Fuentes und weitere unabhängigen Nachrichtenagentur Hablemos Mitglieder der Östlichen Demokratischen Alli- Press wurde am 23. April 2010 festgenommen, anz (Alianza Democrática Oriental) von Beam- als er über eine private Veranstaltung in Ha- ten des Staatssicherheitsdienstes in Guantá- vanna zu Ehren von Orlando Zapata Tamayo namo festgenommen. Man hielt sie in Haft, berichten wollte. Der Reporter wurde am fol- damit sie nicht an den Jubiläumsfeierlichkeiten

Kuba 281 der Allianz teilnehmen konnten. Vier Tage spä- test im Juli, nachdem die kubanische Regie- ter kamen sie ohne Anklageerhebung wieder rung die Freilassung gewaltloser politischer Ge- frei. fangener angekündigt hatte.  Beamte des Staatssicherheitsdienstes nah- men am 12. August 2010 Néstor Rodríguez Lo- US-amerikanisches Embargo baina, seinen Bruder Rolando und drei weitere Das US-amerikanische Embargo beeinträch- Mitglieder der Organisation Jugend für Demo- tigte nach wie vor die wirtschaftliche, gesell- kratie (Jóvenes por la Democracia) im Haus von schaftliche und kulturelle Entwicklung des ku- Néstor Rodríguez Lobaina in dem Ort Baracoa, banischen Volkes, dies galt vor allem für be- Provinz Guantánamo, fest. Die fünf Männer hat- sonders hilfsbedürftige Gruppen. ten dagegen protestiert, dass zwei weitere Mit- Laut dem UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) glieder ihrer Organisation festgenommen wor- konnten Kinder und Jugendliche mit Kno- den waren. Während die beiden zuerst Inhaf- chenkrebs und Patienten mit Netzhautkrebs tierten am 16. August ohne Anklageerhebung nicht behandelt werden, da die entsprechen- freikamen, mussten Néstor Rodríguez Lobaina den Präparate mit US-amerikanischen Paten- und die vier anderen bis zu ihrer Freilassung ten vertrieben wurden. Das Embargo wirkte fast drei Wochen in Haft verbringen. Man sich auch nachteilig auf die Beschaffung antire- drohte ihnen, sie wegen »Störung der öffentli- troviraler Medikamente zur Behandlung von chen Ordnung« anzuklagen, bis zum Jahres- Kindern aus, die mit HIV infiziert bzw. an AIDS ende war jedoch keine Anklage gegen die fünf erkrankt waren. Nach den Bestimmungen des Männer erhoben worden. Embargos dürfen mit US-amerikanischen Pa- tenten hergestellte medizinische Geräte und Todesstrafe Arzneimittel nicht an die kubanische Regierung Das Oberste Volksgericht wandelte im Dezem- verkauft werden. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ber 2010 die Todesurteile gegen die beiden US-Präsident Barack Obama verlängerte im salvadorianischen Staatsbürger Raúl Ernesto September die wirtschaftlichen und finanziel- Cruz León und Otto René Rodríguez Llerena in len Sanktionen gegen Kuba, die im Gesetz über 000835 jeweils 30-jährige Haftstrafen um. Das Todesur- den Handel mit dem Feind (Trading with the teil, das 1996 gegen den Kubaner Humberto Enemy Act) vorgesehen sind. Zuvor hatte er im Eladio Real Suárez wegen der Tötung eines Po- August im Rahmen der Politik »Von Mensch lizeibeamten im Jahr 1994 verhängt worden zu Mensch« (People to People) die Reisebe- war, wurde am 28. Dezember ebenfalls in eine schränkungen für wissenschaftliche, religiöse 30-jährige Freiheitsstrafe umgewandelt. Somit und kulturelle Gruppen gelockert. Zum 19. Mal befand sich Ende 2010 kein Gefangener im To- in Folge verabschiedete die UN-Generalver- destrakt. sammlung mit überwältigender Mehrheit eine Resolution, in der ein Ende des US-amerikani- Recht auf Freizügigkeit schen Embargos gegen Kuba gefordert wurde  Der Psychologe, unabhängige Journalist und (187 Ja-Stimmen/ 2 Nein-Stimmen). politische Dissident Guillermo Fariñas durfte im Dezember nicht nach Straßburg reisen, um Amnesty International: Mission und Bericht den vom Europäischen Parlament verliehenen  Amnesty International hat seit 1990 keine Erlaubnis der ku- Sacharow-Preis für geistige Freiheit 2010 entge- banischen Behörden erhalten, das Land zu besuchen.  genzunehmen. Er war seit 2002 der dritte ku- Restrictions on freedom of expression in Cuba (AMR banische Regimekritiker, der diesen Men- 25 /005/2010) schenrechtspreis erhielt und den die kubani- schen Behörden an der Ausreise hinderten. Guillermo Fariñas trat für mehr als vier Monate

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht in den Hungerstreik. Er beendete seinen Pro-

282 Kuba tierte die Regierung 114 Empfehlungen des Kuwait Gremiums, darunter die Aufforderung, die Ar- beitsbedingungen für ausländische Arbeitsmig- Amtliche Bezeichnung: Staat Kuwait ranten zu verbessern. 25 Empfehlungen wur- Staatsoberhaupt: den zurückgewiesen, darunter auch ein Hin- Scheich Sabah al-Ahmad al-Jaber al-Sabah richtungsmoratorium. Regierungschef: Scheich Nasser Mohammad al-Ahmad al-Sabah Rechte auf freie Meinungsäußerung Todesstrafe: nicht abgeschafft und Versammlungsfreiheit Einwohner: 3,1 Mio. Zwei Kritiker des Ministerpräsidenten wurden Lebenserwartung: 77,9 Jahre weiterhin schikaniert und strafrechtlich ver- Kindersterblichkeit (m/w): 11 / 9 pro 1000 folgt. Lebendgeburten  Muhammad Abd al-Qader al-Jasem, ein Alphabetisierungsrate: 94,5% Journalist und Kritiker des Ministerpräsiden- ten, wurde am 11. Mai 2010 festgenommen. Kritiker des Ministerpräsidenten wurden Ihm wurde vorgeworfen, mit Artikeln in seinem schikaniert und verfolgt. Ausländische Weblog den Status des Emirs, des Staatsober- Arbeitsmigranten wurden von ihren Ar- haupts von Kuwait, unterminiert zu haben. Am beitgebern ausgebeutet und misshan- 28. Juni wurde er gegen Kaution auf freien Fuß delt. Tausenden von staatenlosen Bidun gesetzt. Am 22. November verurteilte ihn ein mit Wohnsitz in Kuwait blieb die Staats- Strafgericht zu einer Haftstrafe von einem Jahr, angehörigkeit verwehrt und damit auch die er sofort antreten musste. Er legte Rechts- der Zugang zum Gesundheits- und mittel gegen das Urteil ein. Außerdem waren Schulsystem sowie zu anderen Bürger- noch weitere Klagen seitens des kuwaitischen rechten. Mindestens drei Menschen Ministerpräsidenten gegen ihn anhängig. wurden zum Tode verurteilt. Hinrichtun-  Khaled al-Fadala, der Generalsekretär der gen fanden aber nach vorliegenden In- Nationalen Demokratischen Allianz (National formationen 2010 nicht statt. Democratic Alliance), einem Zusammen- schluss liberaler politischer Organisationen, Hintergrund wurde am 30. Juni zu drei Monaten Haft und Im Mai 2010 beurteilte der UN-Menschen- einer Geldstrafe verurteilt. Er wurde für schul- rechtsrat im Rahmen der Universellen Regel- dig befunden, in einer Rede, in der er Korrup- mäßigen Überprüfung (UPR) die Lage der Men- tion in Kuwait kritisiert hatte, den Ministerprä- schenrechte in Kuwait. Im September akzep- sidenten beleidigt zu haben. Er trat seine Haft- strafe am 2. Juli an, kam jedoch 10 Tage später frei. Ein Kassationsgericht hatte verfahrens- rechtliche Unregelmäßigkeiten festgestellt und ein Wiederaufnahmeverfahren angeordnet.  Am 9. April 2010 wurden 33 ägyptische Staatsbürger festgenommen, die sich in einem Restaurant in Kuwait getroffen hatten, um einen möglichen Kandidaten für die ägyptischen Präsidentschaftswahlen 2011 zu unterstützen. 25 von ihnen wurden umgehend ausgewie- sen, die anderen acht wurden nach vorliegen- den Informationen freigelassen.  Am 8. Dezember 2010 löste die Polizei unter Einsatz von Gewalt eine öffentliche Versamm-

Kuwait 283 lung im Haus des Parlamentsabgeordneten Ja- auf den Weg. Danach können Frauen die ma’an al-Harbash auf. Dabei soll sie mehrere staatlichen Unterstützungszahlungen bekom- Mitglieder des Parlaments und weitere Perso- men, wenn ihre Ehemänner keine erhalten. nen tätlich angegriffen haben, die daraufhin Außerdem können Frauen im Staatsdienst be- im Krankenhaus behandelt werden mussten. zahlten Mutterschutzurlaub in Anspruch neh- Einer von ihnen, der Menschenrechtsverteidi- men. ger Dr. Obaid al-Wasmi, erstattete am folgenden  Im April 2010 untersagte ein Gericht die Be- Tag Anzeige gegen den Innenminister und die rufung von Frauen als Staatsanwältinnen. Es Polizisten, die ihn seinen Angaben zufolge an- wies eine Klage der Juristin Shurouk al-Faila- gegriffen hatten. Zwei Tage später wurde er kawi ab, die sich gegen den Vorsitzenden des festgenommen. Am 20. Dezember erschien er Obersten Justizrats (Supreme Judicial Council) vor dem Strafgericht und musste sich in sechs richtete. Die Juristin hatte sich dort um eine Anklagepunkten verantworten, darunter Ver- Stelle als Staatsanwältin beworben. Gegen das breitung von Falschinformationen im Ausland Urteil wurden Rechtsmittel eingelegt. und Beleidigung des Emirs. Diskriminierung – die Bidun Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Im November kündigte die Regierung einen Die beiden kuwaitischen Staatsbürger Fawzi al- umfassenden Plan zur Lösung des Problems Odah und Faiz al-Kandari wurden 2010 von der staatenlosen Bidun an. Demnach könnte den US-amerikanischen Behörden nach wie ein Teil von ihnen die kuwaitische Staatsbür- vor in Guantánamo Bay auf Kuba in Haft ge- gerschaft erhalten, mehr als die Hälfte würde halten. Im September wies eine US-amerikani- jedoch staatenlos bleiben. Tausenden von Bi- sche Richterin einen Antrag auf Haftprüfung dun, die seit vielen Jahren in Kuwait leben, ab. Damit kann Faiz al-Kandari auf unbe- wurde die Staatsbürgerschaft bislang stets 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen stimmte Zeit in Haft gehalten werden. verweigert. Sie sind staatenlos und haben im Im April wies die kuwaitische Regierung Auf- Gegensatz zu kuwaitischen Staatsbürgern kei- forderungen der US-Behörden zurück, die nen Zugang zum Gesundheits- und Bildungs- 000835 Pässe der beiden ehemaligen Guantánamo- system, zum Arbeitsmarkt und zu anderen so- Häftlinge Khalid al-Mutairi und Fouad al-Rabia zialen Einrichtungen. einzuziehen und ihnen weitere Beschränkun- gen aufzuerlegen. Rechte von Arbeitsmigranten Im Mai 2010 sprach ein Strafgericht acht Ausländische Arbeitsmigranten genossen nach Männer frei, denen vorgeworfen wurde, Mit- wie vor keinen angemessenen Schutz, weder glieder einer Al-Qaida-Zelle zu sein und An- in der Gesetzgebung noch in der Praxis. Sie wa- schläge auf einen US-Stützpunkt in Kuwait ge- ren weiterhin Ausbeutung und Misshandlun- plant zu haben. Die Freisprüche wurden am gen durch ihre Arbeitgeber ausgesetzt. Berich- 28. Oktober von einem Berufungsgericht be- ten zufolge gab es unter den Arbeitsmigranten stätigt. Im Dezember 2009 hatte ein Gericht eine hohe Selbstmordrate. anerkannt, dass die Beschuldigten während Am 20. Februar 2010 trat ein neues Arbeitsge- ihrer Untersuchungshaft misshandelt worden setz in Kraft, das sich hauptsächlich auf die waren. Soweit bekannt, wurden gegen die Privatwirtschaft bezieht. Es verbietet die Be- mutmaßlichen Verantwortlichen für diese Miss- schäftigung von Minderjährigen unter 15 Jah- handlungen keine Verfahren eingeleitet. ren. Außerdem sieht es die Einrichtung einer Behörde vor, um die Anwerbung und Beschäf- Frauenrechte tigung von ausländischen Arbeitsmigranten zu Frauen wurden auch weiterhin durch Gesetze überwachen. sowie im täglichen Leben diskriminiert. Die

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Regierung brachte allerdings ein neues Gesetz

284 Kuwait Todesstrafe gen. Politische und gewaltlose politische Mindestens zwei Männer und eine Frau wurden Gefangene blieben in Haft. Mindestens wegen Mordes zum Tode verurteilt. Ein Todes- vier Männer wurden trotz eines De-facto- urteil wurde Berichten zufolge nach einer Revi- Hinrichtungsmoratoriums wegen Dro- sion umgewandelt. Es lagen keine Berichte genhandels zum Tode verurteilt. Offi- über Hinrichtungen vor. zielle Statistiken über Todesurteile blie-  Im Januar 2010 bestätigte ein Kassationsge- ben unter Verschluss. richt das Todesurteil gegen eine philippinische Hausangestellte. Jakatia Pawa war 2008 wegen Hintergrund Mordes an der 22-jährigen Tochter ihres Ar- Laos lehnte die im Mai 2010 im Rahmen der beitgebers zum Tode verurteilt worden. Universellen Regelmäßigen Überprüfung Im Dezember gehörte Kuwait zu der Minder- (UPR) von der damit befassten UN-Arbeits- heit der Staaten, die gegen ein weltweites Hin- gruppe abgegebene Empfehlung ab, die To- richtungsmoratorium stimmten, als die UN-Ge- desstrafe abzuschaffen. Im September unter- neralversammlung eine entsprechende Reso- zeichnete Laos das UN-Übereinkommen ge- lution zur Abstimmung brachte. gen Folter und andere grausame, unmenschli- che oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Im November fand in der Hauptstadt Vientiane das erste Treffen der Vertragsstaaten des Übereinkommens über Streumunition statt. Bei der im Dezember erfolgten Abstimmung der UN-Generalversammlung über eine Resolu- Laos tion, die zu einem weltweiten Hinrichtungsmo- ratorium aufrief, enthielt sich Laos der Stimme. Amtliche Bezeichnung: Das INGO-Netzwerk, eine Gruppe internatio- Demokratische Volksrepublik Laos naler Nichtregierungsorganisationen, brachte Staatsoberhaupt: Choummaly Sayasone seine Besorgnis über die negativen Auswirkun- Regierungschef: Thongsing Thammavong (löste gen eines schnellen Anstiegs ausländischer im Dezember Bouasone Bouphavanh im Amt ab) Investitionsprojekte im Land, etwa im Bereich Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Bergbau und Wasserkraftwerke, zum Aus- Einwohner: 6,4 Mio. druck. Das Netzwerk hob gleichfalls die Not- Lebenserwartung: 65,9 Jahre wendigkeit hervor, Probleme der sozialen Ent- Kindersterblichkeit (m/w): 68 / 61 pro 1000 wicklung, der Einkommensunterschiede und Lebendgeburten des Zugangs zu Gesundheitsversorgung und Alphabetisierungsrate: 72,7% Bildungsmöglichkeiten in Angriff zu nehmen.

Die Behörden des Landes verweigerten unabhängigen Beobachtern den unein- geschränkten Zugang zu mehr als 4500 Asylsuchenden und Flüchtlingen der aus Laos stammenden ethnischen Min- derheit der Hmong, die im Jahr 2009 gegen ihren Willen von Thailand nach Laos zurückgeführt und dort auf ausge- wählten Gebieten angesiedelt worden waren. Die Rechte auf freie Meinungs- äußerung, Versammlungs- und Vereini- gungsfreiheit unterlagen Einschränkun-

Laos 285 Der größte Teil der Gerichtsverfahren hatte kennung von Land und dem Fehlen sozialer Landkonflikte zum Gegenstand. Die Behörden und wirtschaftlicher Unterstützung an die Be- führten Lücken in Gesetzen und Verordnungen, hörden hatten wenden wollen, herrschte wei- Voreingenommenheit der Richter und einen terhin Ungewissheit. Mangel an Transparenz im Justiz- und Polizei-  Auch über Thao Moua und Pa Fue Khang, wesen als erschwerende Faktoren an. zwei Hmong, die im Jahr 2003 festgenommen und nach einem politisch motivierten unfairen Flüchtlinge und Asylsuchende Verfahren zu zwölf bzw. 15 Jahren Freiheits- Laos verweigerte 2010 unabhängigen Beobach- entzug verurteilt worden waren, lagen keine tern den uneingeschränkten Zugang zu Wie- neuen Informationen vor. Ihr letzter bekannter deransiedlungsgebieten in Phonkham in der Aufenthaltsort war das Samkhe-Gefängnis in Provinz Borikhamsay sowie Phalak und Nong- Vientiane. san in der Provinz Vientiane. Dadurch wurde eine realistische Beurteilung der Situation von Religionsfreiheit etwa 4500 Hmong erschwert, die im Dezember In den Provinzen wurden gelegentlich Christen 2009 gegen ihren Willen von Thailand nach schikaniert, um sie dazu zu bringen, ihrem Laos zurückgeführt worden waren. Im abgele- Glauben abzuschwören. genen Neuansiedlungsgebiet von Phonkham  Im Januar 2010 zwangen Polizisten und lo- lebten etwa 3500 Rückkehrer, darunter mehr kale Beamte im Dorf Katin in der Provinz Sara- als 1000 Kleinkinder. Bis Juni gab es dort keine van zahlreiche Christen mit Waffengewalt, Stromversorgung, und es standen keine ausrei- einen Gottesdienst zu verlassen. Als die Chris- chenden Einrichtungen zur Gesundheitsver- ten sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwö- sorgung und Bildung zur Verfügung. Trotz offi- ren, zwang man sie, das Dorf zu Fuß zu verlas- zieller Zusagen erhielten die Bewohner weder sen. Mehrere Kilometer außerhalb der Ortschaft 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Ausweispapiere noch Reisedokumente. ließ man sie ohne ihre Habe am Straßenrand Die Behörden betrachteten alle Rückkehrer zurück. als »illegale Migranten«. 000835

Politische und gewaltlose politische Gefangene Es gab auch 2010 keine Klarheit über Schicksal und Verbleib von politischen und gewaltlosen politischen Gefangenen. Libanon  Die Behörden lehnten eine Empfehlung der im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Amtliche Bezeichnung: Libanesische Republik Überprüfung (UPR) geschaffenen Arbeits- Staatsoberhaupt: Michel Suleiman gruppe ab, die gewaltlosen politischen Gefan- Regierungschef: Saad Hariri genen Bouavanh Chanhmanivong, Seng-Aloun Todesstrafe: nicht abgeschafft Phengphanh und Thongpaseuth Keuakoun Einwohner: 4,3 Mio. freizulassen. Die Männer waren im Oktober Lebenserwartung: 72,4 Jahre 1999 bei dem Versuch, eine friedliche Protest- Kindersterblichkeit (m/w): 31 / 21 pro 1000 kundgebung durchzuführen, festgenommen Lebendgeburten worden. Obwohl sie ihre zehnjährige Gefäng- Alphabetisierungsrate: 89,6% nisstrafe abgesessen hatten, befanden sie sich weiterhin in Haft. Palästinensische Flüchtlinge litten wei-  Über Schicksal und Verbleib von neun Perso- terhin unter Diskriminierung und hatten nen, die im November 2009 festgenommen keinen angemessenen Zugang zum Ar-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht worden waren, weil sie sich wegen der Aber- beitsmarkt, zum Gesundheitssystem, zu

286 Libanon Bildung und Wohnraum. Mindestens 23 früher erhobenen Vorwürfen nicht nachgegan- anerkannte irakische Flüchtlinge wur- gen, was dazu geführt habe, dass vier ehema- den Berichten zufolge ausgewiesen. lige Führungskräfte der libanesischen Sicher- Zahlreiche weitere Flüchtlinge und Asyl- heits- und Geheimdienste seit fast vier Jahren suchende waren offenbar willkürlich in- ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaf- haftiert. Mindestens 19 Personen wur- tiert seien. Im September 2010 erklärte Minis- den nach unfairen Gerichtsverfahren der terpräsident Saad Hariri, es sei ein Fehler ge- Kollaboration mit Israel oder der Spio- wesen, der syrischen Regierung die Ermordung nage für das Land schuldig gesprochen, seines Vaters anzulasten. gegen zwölf von ihnen erging dem Ver- Unter den 16 Menschen, die durch politisch nehmen nach die Todesstrafe. Es trafen motivierte Gewalt ums Leben kamen oder von erneut Berichte über Folterungen von den Sicherheitskräften getötet wurden, befan- Häftlingen ein. Diskriminierung und den sich mindestens sieben Zivilpersonen. Bei Missbrauch von Arbeitsmigranten blie- einem Vorfall, bei dem möglicherweise unange- ben an der Tagesordnung. Die Behörden messene Gewalt angewandt wurde, erschoss leiteten 2010 nur wenige Schritte ein, die Grenzpolizei im November in der Nähe des um das Schicksal mehrerer tausend Dorfs Wadi Khaled im Norden Libanons zwei Menschen aufzuklären, die während des Zivilpersonen. Berichten zufolge waren die bei- Bürgerkriegs 1975 – 90 dem »Verschwin- den auf einem Motorrad unterwegs und hatten denlassen« zum Opfer gefallen waren. nicht angehalten. Zwei weitere Zivilpersonen wurden von der Grenzpolizei während einer Hintergrund Protestkundgebung gegen die Tötungen er- Die Spannungen im Land und innerhalb der schossen. fragilen Regierung der nationalen Einheit nah- Es gab weiterhin starke Spannungen an der men zu. Dazu trugen Berichte bei, denen zu- Grenze zu Israel im Süden des Landes. folge Mitglieder der Hisbollah vor dem Sonder- Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe gerichtshof für den Libanon (Special Tribunal drangen wiederholt in den libanesischen Luft- for Lebanon – STL) angeklagt werden würden, raum ein. Israelische Streitkräfte hielten weiter- an der Ermordung des ehemaligen Ministerprä- hin Teile des Dorfs Ghajar besetzt. Im August sidenten Rafiq Hariri im Jahr 2005 beteiligt ge- 2010 kamen mindestens zwei libanesische Sol- wesen zu sein. Die Hisbollah rief zu einem Boy- daten, ein libanesischer Journalist und ein is- kott des STL auf und warf dem Gericht vor, po- raelischer Soldat bei einem grenzüberschrei- litisch beeinflusst zu sein. Auch sei das Gericht tenden Zusammenstoß ums Leben. Mindestens zwei Menschen verloren durch is- raelische Streubomben und Landminen ihr Leben, andere wurden verletzt. Die Munition war nach den Kampfhandlungen der vorher- gehenden Jahre im Süden Libanons verblie- ben. Das parlamentarische Menschenrechtsaus- schuss des Libanon arbeitete weiter an einem Entwurf für einen nationalen Aktionsplan für Menschenrechte. Im November befasste sich der UN-Men- schenrechtsrat im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) mit der Lage der Menschenrechte im Libanon. Das Land erklärte sich bereit, alle notwendigen Schritte

Libanon 287 einzuleiten, um Folter und grausame, un- anschlag auf einen Bus in ’Ayn ’Alaq beteiligt menschliche oder erniedrigende Behandlung gewesen zu sein, bei dem drei Menschen ums zu unterbinden. Leben gekommen waren. Kamal al-Na’san und Mustafa Sayw waren Anfang 2007 festgenom- Unfaire Gerichtsverfahren men und anschließend beim Nachrichten- Mindestens 20 Menschen wurden wegen Ver- dienst des Inneren Sicherheitsdienstes (Inter- stößen gegen die Sicherheit vor Gericht ge- nal Security Forces – ISF) in Beirut neun bzw. stellt. Ihre Prozesse entsprachen nicht den 26 Monate in Einzelhaft gehalten worden. Dort Grundsätzen der Fairness. wurden sie dem Vernehmen nach gefoltert und Mehr als 120 Personen, die im Verdacht stan- anderweitig misshandelt. Kamal al-Na’san zog den, mit der bewaffneten Gruppe Fatah al-Is- vor Gericht einen Teil seines »Geständnisses« lam in Verbindung zu stehen, warteten weiter- mit der Begründung zurück, man habe ihn zu hin auf ihren Prozess vor dem Justizrat (Judi- der Aussage gezwungen. Soweit bekannt, wur- cial Council). Sie waren seit 2007 ohne Ankla- den die Foltervorwürfe nicht untersucht. geerhebung inhaftiert. Berichten zufolge wur- den die meisten von ihnen gefoltert. Dem Jus- Folter und andere Misshandlungen tizrat mangelt es nach allgemeiner Einschät- Auch 2010 trafen Berichte über Folter und an- zung an Unabhängigkeit. Gegen seine Urteile dere Misshandlungen von Gefangenen ein. Es können keine Rechtsmittel eingelegt werden. wurde nur wenig getan, um diesen Missstän- Dies gilt auch für Todesurteile. Die Beschuldig- den Einhalt zu gebieten. Die Behörden stimm- ten müssen häufig lange Zeit auf ihr Verfahren ten allerdings einem Besuch des UN-Unteraus- warten, ohne offiziell angeklagt zu sein. schusses zur Verhütung von Folter im Mai zu. Zahlreiche Personen wurden festgenommen, Im November kündigten sie an, künftig alle For- weil man sie verdächtigte, mit Israel zu kolla- men von Folter und Misshandlung unter Strafe 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen borieren oder für Israel zu spionieren. Mindes- zu stellen. Trotzdem befanden sich weiterhin tens 19 von ihnen wurden nach unfairen Pro- Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt in zessen vor Militärgerichten zu Haftstrafen oder Haft. Foltervorwürfe wurden nicht untersucht, 000835 zum Tode verurteilt. Verfahren vor Militärge- und »Geständnisse«, die dem Vernehmen richten sind unfair, weil es sich bei den Richtern nach unter Zwang zustande gekommen waren, überwiegend um aktive Angehörige der Streit- wurden noch immer von Gerichten als Be- kräfte handelt. Außerdem dürfen Zivilisten nicht weismittel zugelassen. Die Regierung blieb ein der Militärjustiz unterstellt werden. weiteres Jahr ihren ersten Bericht zum UN-  Gegen den palästinensischen Flüchtling Ma- Übereinkommen gegen Folter und andere her Sukkar und zehn weitere Angeklagte be- grausame, unmenschliche oder erniedrigende gann 2010 ein Prozess vor einem Militärgericht. Behandlung oder Strafe schuldig. Der Libanon Die Anklage lautete auf Gefährdung der Si- hatte die Konvention im Jahr 2000 ratifiziert. cherheit, u. a. durch »Gründung einer bewaff- Noch immer wurde auch keine unabhängige neten Bande mit dem Ziel, Straftaten gegen Kommission zur Inspektion von Haftzentren Menschen und Eigentum zu begehen«. Nach geschaffen, wie sie im Fakultativprotokoll zum Angaben des Angeklagten war er im April wäh- Übereinkommen gegen Folter verlangt wird. rend seiner Untersuchungshaft ohne Kontakt Der Libanon ist seit 2008 Vertragsstaat des Pro- zur Außenwelt unter Folter gezwungen wor- tokolls. den, ein »Geständnis« zu unterzeichnen. Die-  Mohammad Osman Zayat wurde dem Ver- sem Vorwurf wurde nicht nachgegangen. nehmen nach am 24. Juni 2010 bei seiner  Der Prozess gegen Kamal al-Na’san, Mustafa Festnahme durch ISF-Beamte in Zivil brutal Sayw und weitere Angeklagte vor dem Justiz- geschlagen. Während seiner Haft beim Nach- rat wurde 2010 fortgesetzt. Ihnen wurde zur richtendienst des ISF in Beirut musste er mehr-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Last gelegt, im Jahr 2007 an einem Bomben- mals in schmerzhaften Positionen stehend

288 Libanon verharren, wurde geschlagen und mit Elektro- seelische Misshandlungen geschützt. Im Juni schocks an empfindlichen Teilen seines Kör- wurde von einem seltenen strafrechtlichen Ver- pers gequält. Daraufhin unterzeichnete er »Ge- fahren berichtet. Eine Libanesin erhielt eine ständnisse«, die während seiner Gerichtsver- einmonatige Haftstrafe sowie eine Geldbuße, handlung voraussichtlich gegen ihn verwendet weil sie eine Frau aus Sri Lanka, die bei ihr als werden. Hausangestellte arbeitete, geschlagen und misshandelt hatte. Diskriminierung – Palästinensische Flüchtlinge Flüchtlinge und Asylsuchende Im August 2010 wurden zwei Änderungen zu Zahlreiche Flüchtlinge und Asylsuchende, den Arbeits- und Sozialversicherungsgesetzen meist Iraker und Sudanesen, blieben trotz verabschiedet, die aber keinen nennenswerten Freispruchs oder ungeachtet des Ablaufs ihrer Abbau der diskriminierenden Gesetze und Be- Haftstrafen, die wegen illegaler Einreise in den stimmungen gegen die rund 300000 palästi- Libanon gegen sie verhängt worden waren, in nensischen Flüchtlinge im Libanon beinhalte- staatlichem Gewahrsam. Viele der Gefange- ten. Ihnen wurden nach wie vor Grundrechte nen wurden unter harten Bedingungen in einer vorenthalten, wie z. B. das Recht, Wohneigen- unterirdischen Hafteinrichtung im Beiruter tum zu erben. Auch der Zugang zu rund 20 Be- Stadtteil ’Adliyeh festgehalten. Man stellte sie rufen wurde ihnen weiterhin verwehrt. Eine vor die Wahl, entweder auf unbegrenzte Zeit Gesetzesänderung schaffte die Gebühren ab, dort zu verbleiben oder »freiwillig« in ihre Hei- die palästinensische Flüchtlinge für Arbeitsge- matländer zurückzukehren. Mindestens 23 nehmigungen bezahlen mussten. Bei der Ertei- anerkannte irakische Flüchtlinge wurden Be- lung der Arbeitsgenehmigungen gab es je- richten zufolge unter Verstoß gegen das Völ- doch noch immer verwaltungstechnische und kerrecht des Landes verwiesen. andere Probleme, so dass kaum neue Geneh-  Am 10. November 2010 wurde der irakische migungen erteilt wurden. Die zweite Gesetzes- Flüchtling Alaa al-Sayad aus der Hafteinrich- änderung ebnete Palästinensern den Weg zur tung in ’Adliyeh abgeholt. Dem Vernehmen Altersversorgung, doch waren die Leistungen nach wurde er brutal geschlagen, als Sicher- an einen Arbeitgeberfonds geknüpft, den es heitskräfte ihn zwangen, ein Flugzeug zu be- erst noch zu schaffen galt. Der Zugang zur steigen, das ihn gegen seinen Willen in den Krankenversicherung oder anderen Leistun- Irak zurückbrachte. gen blieb Palästinensern weiterhin verwehrt. Rund 20000 palästinensische Flüchtlinge, die im Jahr 2007 während der 15 Wochen an- Diskriminierung und Gewalt dauernden Kampfhandlungen zwischen der li- gegen Frauen banesischen Armee und Fatah al-Islam ge- Im Mai 2010 hob das Berufungsgericht das Ur- zwungen waren, das Gebiet des Flüchtlingsla- teil eines untergeordneten Gerichts auf, das gers Nahr al-Bared zu verlassen, waren auf- Frauen das Recht zuerkannt hatte, ihre Staats- grund der Zerstörungen und der Verzögerun- bürgerschaft auf ihre Kinder zu übertragen. gen beim Wiederaufbau noch immer Vertrie- Frau Samira Soueidan war dieses Recht im Juni bene. Ungefähr 11000 Menschen war es mög- 2009 zugesprochen worden, doch hatte der lich gewesen, in die nähere Umgebung des Justizminister Berufung gegen das Urteil einge- Flüchtlingslagers zurückzukehren. legt. Nach libanesischem Recht kann die Staatsbürgerschaft nur durch den Vater des »Verschwindenlassen« Kindes weitergegeben werden. und Entführungen Weibliche ausländische Hausangestellte wa- Die Regierung unternahm kaum etwas, um das ren weiterhin weder gegen Ausbeutung am Ar- Schicksal Tausender aufzuklären, die wäh- beitsplatz noch gegen körperliche, sexuelle und rend des Bürgerkriegs 1975 – 90 dem »Ver-

Libanon 289 schwindenlassen« zum Opfer gefallen waren. Amnesty International: Mission Daran änderten auch die fortgesetzten Kampa-  Eine Delegation von Amnesty International stattete dem Li- gnen der Familienangehörigen der »Ver- banon im Oktober einen Besuch ab, um sich ein Bild von der schwundenen« nichts, die sich bemühten, die Menschenrechtssituation zu machen. Wahrheit ans Licht zu bringen. Allerdings blie- ben führende Regierungsmitglieder dem Arabi- schen Gipfeltreffen im März in Libyen fern. Sie protestierten damit gegen den libyschen Staats- chef Mu’ammar al-Gaddafi, der an der Entfüh- rung und dem »Verschwinden« des schiiti- schen Imams Musa al-Sadr und zwei seiner Liberia Begleiter im Jahr 1978 beteiligt gewesen sein soll. Amtliche Bezeichnung: Republik Liberia Der Ministerrat stellte einem Gericht für eine Staats- und Regierungschefin: Anhörung einen kurzen Bericht über Massen- Ellen Johnson-Sirleaf gräber zur Verfügung. Der Prozess war von zwei Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft NGOs angestrengt worden, die im Namen von Einwohner: 4,1 Mio. Familienangehörigen »verschwundener« oder Lebenserwartung: 59,1 Jahre verschleppter Personen auftraten, und betraf Kindersterblichkeit (m/w): 144 / 136 pro 1000 drei Massengräber, die in einem offiziellen Be- Lebendgeburten richt aus dem Jahr 2000 erwähnt worden wa- Alphabetisierungsrate: 58,1% ren. Die Angehörigen hatten die Hoffnung, die Gräber könnten geschützt und die Leichen Obwohl die Bemühungen der Regierung identifiziert werden. zur Verbesserung der Menschenrechts- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lage auf institutioneller Ebene 2010 ge- Todesstrafe wisse Fortschritte machten, war die Zahl Gegen mindestens zwölf Menschen wurde Be- der Gewaltverbrechen – einschließlich 000835 richten zufolge die Todesstrafe verhängt, fünf Vergewaltigungen und anderer Formen von ihnen wurden in Abwesenheit zum Tode sexueller Gewalt, denen Frauen und verurteilt. Alle waren der Kollaboration mit Is- rael oder der Spionage für das Land schuldig gesprochen worden. Im Juni erklärte Präsi- dent Suleiman, er sei gewillt, Hinrichtungsbe- fehle gegen zum Tode verurteilte »Agenten Is- raels« zu unterzeichnen. Zahlreiche Gefangene saßen weiterhin in den Todeszellen, es fanden jedoch 2010 keine Hinrichtungen statt. Der Li- banon hielt somit an einem Hinrichtungsmo- ratorium fest, das seit 2004 in Kraft ist.  Am 18. Februar 2010 wurde Mahmoud Rafeh wegen »Kollaboration und feindlicher Spio- nage« von einem Militärgericht zum Tode verur- teilt. Er gab an, unter Folter zu einem »Ge- ständnis« gezwungen worden zu sein. Das Ge- richt ordnete jedoch keine Untersuchung die- ser Vorwürfe an. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

290 Liberia Mädchen ausgeliefert waren – unverän- setzentwürfen über die Reform des Mediensek- dert hoch. Auch die Situation im Straf- tors stockte nach wie vor. Die Arbeit von Jour- justizsystem war nach wie vor besorg- nalisten wurde durch tätliche Einschüchterun- niserregend: Der Polizei wurden Ineffi- gen, abschreckende Klagen und die Einmi- zienz, Brutalität und Korruption vorge- schung der Behörden behindert. worfen; Verzögerungen bei den Gerichts- Die Regierung ergriff Maßnahmen zum Wie- verfahren führten dazu, dass die Ge- deraufbau der institutionellen Ebene, um Fra- fängnisse mit inhaftierten Personen gen des Menschenrechtsschutzes behandeln überfüllt waren, die nicht vor Gericht zu können. So setzte sie eine Arbeitsgruppe gestellt wurden. Nach erheblichen Verzö- für die Überarbeitung der Verfassung, eine Jus- gerungen wurde die unabhängige natio- tizreformkommission und eine Landkommis- nale Menschenrechtskommission gebil- sion ein. Im Kampf gegen Vergewaltigungen det. Im September bestätigte der libe- und andere Formen sexueller Gewalt gegen rianische Senat die Ernennung der Kom- Frauen und Mädchen machte die Regierung missionsmitglieder. auf institutioneller Ebene Fortschritte. Ihre Ver- besserungsbemühungen im Bereich der Justiz- Hintergrund verwaltung zeitigten ebenfalls Fortschritte. Es herrschte 2010 weiterhin völlige Straffreiheit für die Täter, die im jüngsten Bürgerkrieg Ver- Straflosigkeit brechen gegen die Menschlichkeit begangen Verbrechen während des Bürgerkriegs hatten. Die hohe Arbeitslosigkeit, von der nicht Die Bemühungen, Menschen vor Gericht zu zuletzt auch ehemalige Kämpfer betroffen wa- bringen, die für gravierende Menschenrechts- ren, stellte weiterhin eine Bedrohung von Si- verletzungen während der bewaffneten Kon- cherheit und Frieden dar. Die Krisen in den flikte von 1989 bis 1996 sowie von 1999 bis Nachbarstaaten Guinea und Côte d’Ivoire 2003 verantwortlich waren, kamen kaum voran. schürten die Angst vor einer Destabilisierung Li- Die Empfehlung der Wahrheits- und Versöh- berias, zumal für Flüchtlinge, Waffen und nungskommission (Truth and Reconciliation Kämpfer die Grenzen nahezu offen waren. Fast Commission – TRC), einen Sondergerichtshof 30000 ivorische Flüchtlinge kamen gegen einzurichten, vor dem sich Menschen verant- Ende des Jahres nach Liberia. Nach wie vor gab worten sollen, die Verbrechen im Sinne des es zahlreiche Fälle, in denen der Mob oder Völkerrechts begangen haben, wurde nicht um- Bürgerwehren zu Selbstjustiz griffen. Auch die gesetzt. Dies galt auch für die meisten Emp- nach wie vor zahlreichen Landkonflikte wur- fehlungen, welche die TRC zu den Themen Jus- den mit Gewalt ausgetragen. Gewaltverbre- tizreform, institutionelle Reformen, Rechen- chen, sexuelle und häusliche Gewalt, Kindes- schaftspflicht und Entschädigungszahlungen missbrauch, Genitalverstümmelungen sowie vorgelegt hatte. schlimmste Formen von Kinderarbeit waren Im April 2010 erklärte der Justizminister öf- an der Tagesordnung. Wegen der weltweiten fentlich, dass er daran interessiert sei, die Wirtschaftskrise und der Abwertung des libe- Frauen und Männer vor Gericht zu stellen, auf rianischen Dollars waren Lebensmittel teuer, deren Konto die schlimmsten Verbrechen im Hunger war weit verbreitet und die Ernäh- Bürgerkrieg gingen. Es wurde ein Ausschuss rungslage besorgniserregend. Die bittere Armut zur Überprüfung des im Dezember 2009 vor- der Bevölkerung tat ein Übriges, um diese Si- gestellten Berichts der TRC eingesetzt, dem tuation zu verschlimmern. auch der Justizminister angehörte. Der Aus- Das Informationsfreiheitsgesetz brachte mehr schuss soll ein beratendes Votum abgeben, ob Pressefreiheit. Allerdings blieben einige Ein- eine strafrechtliche Verfolgung aufgenommen schränkungen bestehen. Die Behandlung von werden soll. Es wurden keine Einzelpersonen drei 2007 ins Parlament eingebrachten Ge- nach liberianischem Recht belangt. Frühere

Liberia 291 Warlords, die im Bericht der TRC namentlich neller Handlungen nur zögerlich tätig. Die Zu- genannt wurden, hatten Sitze im Senat inne stände in den Haftzellen der Polizei waren ent- und bekleideten auch andere Machtpositionen. setzlich. Jugendliche waren routinemäßig mit Der Prozess gegen den ehemaligen liberiani- Erwachsenen in einer Zelle untergebracht. In- schen Staatspräsidenten Charles Taylor vor haftierte waren häufig Opfer von Übergriffen dem Sondergerichtshof für Sierra Leone (Spe- durch Polizei und Mithäftlinge. cial Court for Sierra Leone) im niederländi- Die Justizbehörden waren oftmals nicht in der schen Den Haag wurde 2010 fortgesetzt. Taylor Lage, faire Prozesse und ordnungsgemäße musste sich für Kriegsverbrechen verantwor- Verfahren durchzuführen. Lange Untersu- ten, aber nur im Zusammenhang mit seiner chungshaft über den gesetzlich erlaubten mutmaßlichen Verwicklung in den Bürgerkrieg Zeitraum hinaus war an der Tagesordnung. Un- in Sierra Leone. Er war wegen Verbrechen im gefähr 92% der Gefängnisinsassen waren Un- Sinne des Völkerrechts angeklagt, die er in Li- tersuchungshäftlinge. Die Justiz litt nicht nur beria begangen hatte. unter Korruption und Ineffizienz, sondern auch daran, dass es zu wenig Transportmög- Menschenrechtsverletzungen lichkeiten, Gerichtsgebäude, Rechtsanwälte in der jüngsten Vergangenheit und qualifizierte Richter gab. Die Straflosigkeit für diejenigen, die für Men- Die Bedingungen in den 14 Gefängnissen des schenrechtsverletzungen verantwortlich sind, Landes waren hart. Die Gefängnisse waren mit die nach dem Bürgerkrieg begangen wurden, zu wenig Personal ausgestattet und überfüllt; war 2010 nach wie vor ein ernstes Problem. es gab weder ausreichend Nahrung noch ge- Senatoren, stellvertretende Minister, Polizisten, nug Wasser. Die hygienischen Zustände und Geheimdienstagenten und Beamte der liberia- die medizinische Versorgung waren schlecht. nischen Nationalpolizei wurden verdächtigt, Wegen der unzureichenden Sicherheit kam es 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sich an Prügelaktionen, Plünderungen, will- zu Ausbrüchen von Häftlingen und zügelloser kürlichen Festnahmen, Entführungen, Schieße- Gewalt der Insassen untereinander, so u. a. zu reien, Ritualmorden und anderen Übergriffen Schlägereien und Vergewaltigungen. Die 000835 beteiligt bzw. diese angeordnet zu haben. Die Hälfte der Häftlinge in Liberia befand sich im meisten dieser Vorfälle wurden nicht unter- Zentralgefängnis der Hauptstadt Monrovia. sucht, und die mutmaßlichen Täter mussten Hier saßen üblicherweise 800 bis 1000 Frauen sich nicht vor der Justiz verantworten. und Männer ein – viermal so viele wie eigent- lich vorgesehen. Untersuchungshäftlinge wur- Justizsystem den häufig mit verurteilten Straftätern zusam- Es gab zwar Bemühungen, den Schutz der mengelegt. Menschenrechte in der Strafjustiz institutionell Traditionelle Gerichte in Liberias parallelem zu stärken und etwas gegen die Qualifikations- traditionellem Justizsystem agierten unter probleme und die knappen Ressourcen zu Missachtung von Standards für ordnungsge- tun, dennoch blieben große Herausforderun- mäße Verfahren, der Gleichbehandlung von gen bestehen. Polizei, Gerichte und Justizvoll- Frauen und Männern sowie der Gewaltentei- zug waren überfordert, korrupt und übergriffig. lung. Nach wie vor gab es sogenannte Gottes- Wie es in Berichten hieß, nahmen Beamte mit urteile, bei denen Schuld oder Unschuld der Polizeibefugnissen Menschen widerrechtlich angeklagten Person willkürlich bestimmt wird. fest, inhaftierten sie und wandten Folter und Dies kann für die Betroffenen bedeuten, dass andere Misshandlungen an, u. a. bei Versu- sie gefoltert werden, und hat auch schon zu chen, Menschen auf der Straße Geld abzupres- einigen Todesfällen geführt. sen. Viele Beamte der liberianischen Polizei waren schlecht ausgerüstet, schlecht bezahlt,

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht korrupt und wurden bei der Verfolgung krimi-

292 Liberia Todesstrafe stand, weil die Kapazitäten der geburtshilfli- Liberia machte 2010 keine Anstalten, die To- chen Notfallversorgung nicht ausreichten und desstrafe abzuschaffen, die 2008 wieder ein- die Überweisungssysteme nicht funktionierten geführt worden war. Das stellte einen Verstoß sowie Schwangere an Mangelernährung litten gegen das 2. Fakultativprotokoll zum Interna- und die Zahl der Schwangerschaften bei Mäd- tionalen Pakt über bürgerliche und politische chen im Teenageralter extrem hoch war. Rechte dar, dem das Land 2005 beigetreten war. 2010 wurden mehrere Frauen und Männer Kinderrechte zum Tode verurteilt. Ausbeutung und sexueller Missbrauch von Kin- dern waren immer noch weit verbreitet. Geni- Frauenrechte talverstümmelungen wurden in ganz Liberia, Vergewaltigungen und andere Formen sexueller vor allem aber auf dem Land, praktiziert. Nach Gewalt gehörten 2010 weiterhin zu den häu- liberianischem Recht ist die Genitalverstümme- figsten Verbrechen. Dies galt auch für familiäre lung nicht ausdrücklich verboten. Gewalt sowie für Zwangs- und Frühehen. Die Vor allem in der Hauptstadt Monrovia lebten überwiegende Mehrheit der gemeldeten Verge- viele Kinder auf den Straßen, unter ihnen ehe- waltigungsopfer waren Mädchen unter 16 Jah- malige Kindersoldaten und unbegleitete min- ren. Es wurde jedoch eine hohe Dunkelziffer derjährige Binnenvertriebene. Für die Waisen- vermutet, da überlebende Vergewaltigungsop- häuser war es äußerst schwierig, dafür zu sor- fer von ihren Familien und Mitmenschen stig- gen, dass den Kindern elementare sanitäre matisiert und abgelehnt werden. Anlagen zur Verfügung standen, dass sie ange- Bis März 2010 hatte das Sonderdezernat für messen medizinisch betreut und kindgerecht sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt ernährt wurden. Viele Waisen lebten jedoch (Sexual and Gender Based Violent Crimes außerhalb dieser Einrichtungen. Unit), das vom Justizministerium im Februar Laut Gesetz ist die Beschäftigung von Kindern 2009 eingesetzt worden war, sieben Verfahren unter 16 Jahren während der Schulzeit verbo- abgeschlossen, von denen vier mit einem ten. Kinderarbeit – einschließlich ihrer Schuldspruch endeten. Die Fälle wurden vor schlimmsten Ausprägungen – ist dennoch dem Criminal Court E verhandelt. Diese Straf- weit verbreitet. So verrichteten Kinder auch kammer war nach den Bestimmungen des Ge- 2010 gefährliche Arbeiten in den Diamanten- setzes gegen geschlechtsspezifische und se- minen, arbeiteten in den Steinbrüchen für die xuelle Gewalt von 2008 eingesetzt worden. Sie Bauindustrie und waren Opfer von Kinder- befasst sich mit geschlechtsspezifischen Ge- prostitution und Kinderhandel. Die Kommission waltverbrechen und ist das einzige Gericht, das gegen Kinderarbeit, die im Arbeitsministerium in erster Instanz für sexuelle Gewalt zuständig für die Umsetzung von Gesetzen und Maßnah- ist. men gegen Kinderarbeit zuständig ist, agierte Dank der Bemühungen von Staatspräsidentin im Großen und Ganzen hilflos. Ellen Johnson-Sirleaf um ein ausgewogeneres Weil es keine funktionierende Jugendge- Geschlechterverhältnis in den Ministerien, dem richtsbarkeit gab, wurde mit Kindern und Ju- Obersten Gerichtshof und in den Kommunal- gendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt ge- verwaltungen nahm die Teilhabe von Frauen an rieten, nicht angemessen umgegangen. der Politik und am öffentlichen Leben zu. Liberia hatte nach wie vor eine der höchsten Wiederansiedlung und Landkonflikte Müttersterblichkeitsraten der Welt, obwohl die Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebe- Regierung Anstrengungen unternahm, diesen nen, die in einer geeigneten Form wieder an- Zustand zu ändern. Noch immer starben viele gesiedelt werden mussten, war hoch. Von 2004 Frauen vor allem, weil ein akuter Mangel an bis Ende 2010 kehrten von insgesamt 233264 ausgebildeten medizinischen Fachkräften be- registrierten liberianischen Flüchtlingen mehr

Liberia 293 als 168000 Menschen in ihre Heimat zurück. Amnesty International: Missionen und Berichte Nichtoffizielle Rückkehrer wurden nicht ge-  Delegierte von Amnesty International hielten sich im April zählt. Die Ankunft von rund 30000 Flüchtlin- und von Oktober bis November in Liberia auf.  gen aus Côte d’Ivoire führte zu einer Krise, da Liberia: Submission to the UN Universal Periodic Review, No- ohnehin schon strapazierte und verarmte Ge- vember 2010 (AFR 34/001/ 2010)  Liberia: President should act on rights commission – delays meinden dadurch zusätzlich unter Druck gerie- are impeding efforts to promote and protect human rights ten. Aufgrund des stark begrenzten Zugangs (AFR 34/002/2010) zu Nahrung, Wasser, Schutz, Arbeit, Bildung oder dringend benötigter medizinischer Ver- sorgung befanden sich ivorische und andere Flüchtlinge oftmals in ernsten Notlagen. Viele ehemalige liberianische Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehrten, standen vor dem Nichts. Eine Grundversorgung etwa in den Libyen Bereichen Gesundheit und Bildung gab es für sie nicht. Obendrein waren die Aussichten auf Amtliche Bezeichnung: Sozialistische eine Arbeit äußerst gering, und die Rückkeh- Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija rer hatten kein Land, keine Unterkunft und Staatsoberhaupt: Mu’ammar al-Gaddafi keine Wasserversorgung. Einige zurückge- Regierungschef: al-Baghdadi Ali al-Mahmudi kehrte Flüchtlinge wurden Binnenvertriebene, Todesstrafe: nicht abgeschafft weil sich andere ihr Eigentum angeeignet hat- Einwohner: 6,5 Mio. ten. Zwischen den heimkehrenden Landeigen- Lebenserwartung: 74,5 Jahre tümern, die vor dem Krieg geflüchtet waren, Kindersterblichkeit (m/w): 20 / 19 pro 1000 und den Binnenvertriebenen, die deren Land Lebendgeburten 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen übernommen hatten, kam es häufig zu gewalt- Alphabetisierungsrate: 88,4% tätigen Auseinandersetzungen. Diese Konflikte wurden oft durch unklare Besitztitel und Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, 000835 durch die Untätigkeit der Regierung in diesem Vereinigungs- und Versammlungsfrei- Bereich verschärft. Streitigkeiten um Grund heit blieben 2010 stark eingeschränkt. und Boden verschärften die Spannungen zwi- schen den ethnischen Gruppen, den Krahn und den Sarpo, den Krahn und den Gio, den Mandingo und den Gio/Mano sowie zwischen den Kissi und den Gbandi.

Gewalt zwischen den Ethnien und religiöse Gewalt Obwohl die christliche Mehrheit und die musli- mische Minderheit in Liberia gut miteinander auskommen, gab es 2010 gewisse Spannun- gen, in deren Rahmen gelegentlich Kirchen und Moscheen von rivalisierenden Ethnien und Konfessionen angezündet, geplündert und be- schädigt wurden. In einigen Fällen wurden aber auch Menschen getötet. Im Februar kam es in Voinjama und Konia, Bezirk Lofa, zu einem be- sonders schweren Fall von ethnisch und reli-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht giös motivierter Gewalt.

294 Libyen Die Behörden unterdrückten jegliche fortgesetzt. Nach einem Besuch von EU-Kom- abweichende politische Meinung. Hun- missaren im Oktober einigten sich die EU und derte von Gefangenen waren aus Sicher- Libyen auf ein beiderseitiges Kooperationsab- heitsgründen weiterhin willkürlich inhaf- kommen zur Einwanderungskontrolle. tiert. Dazu gehörten auch Personen, die Die Schweizer Geschäftsleute Rachid Ham- von Gerichten freigesprochen worden wa- dani und Max Göldi kamen in Februar bzw. im ren oder ihre Strafe bereits verbüßt hat- Juni frei und durften Libyen verlassen. Die bei- ten. Es gab jedoch auch Berichte über den Männer waren aus politischen Gründen Freilassungen. Ausländische Staatsan- inhaftiert und mit einem Ausreiseverbot belegt gehörige, die im Verdacht standen, ille- worden. Hintergrund waren diplomatische gal eingereist zu sein, waren von unbe- Streitigkeiten zwischen Libyen und der grenzter Haft und Misshandlungen be- Schweiz, nachdem ein Sohn des libyschen troffen. Unter ihnen waren auch Flücht- Staatsoberhaupts Mu’ammar al-Gaddafi 2008 linge und Asylsuchende. Berichten zu- in Genf verhaftet worden war. folge gab es mindestens 18 Hinrichtun- Im Dezember kündigte die Gaddafi-Stiftung gen. Die Regierung gab weiterhin keine für Entwicklung unter dem Vorsitz von Saif al- Einzelheiten über die Untersuchung der Islam al-Gaddafi, einem Sohn des libyschen Todesfälle im Abu Salim-Gefängnis im Staatsoberhaupts, an, sich nicht mehr mit Jahr 1996 bekannt. Sicherheitskräfte Menschenrechtsanliegen zu befassen. sollen damals Hunderte von Gefangenen getötet haben. Die Opfer von schweren Unterdrückung Andersdenkender Menschenrechtsverletzungen aus den Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Verei- 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren nigungs- und Versammlungsfreiheit waren wurden weiterhin nicht rehabilitiert. weiterhin stark eingeschränkt. Regierungskriti- kern drohten Inhaftierung und Strafverfol- Hintergrund gung. Gewaltfrei vorgebrachte abweichende Im Mai 2010 wurde Libyen in den UN-Men- Meinungen konnten nach dem Strafgesetz- schenrechtsrat gewählt und im November in buch sowie dem Gesetz Nr. 71 aus dem Jahr den Verwaltungsrat der neuen UN-Organisation 1972 verfolgt werden. Für Aktivitäten, die zur Gleichstellung der Geschlechter und För- nichts anderes sind als die friedliche Ausübung derung von Frauen (kurz: UN-Frauen). Im No- der Rechte auf Meinungsfreiheit und Ver- vember beurteilte der Menschenrechtsrat Li- sammlungsfreiheit, sind darin harte Strafen vor- byen im Rahmen der Universellen Regelmäßi- gesehen, bis hin zur Todesstrafe. Einige Ge- gen Überprüfung (UPR) und empfahl, die To- fangene kamen frei. desstrafe für »Vergehen« im Zusammenhang  Am 8. März 2010 wurde Abdelnasser al-Rab- mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung basi vorzeitig aus der Haft entlassen. Er war abzuschaffen. Die Regierung wies die Empfeh- seit Januar 2003 inhaftiert und sollte eine lung zurück. Sie weigerte sich außerdem, die 15-jährige Haftstrafe wegen »Untergrabung Namen der Gefangenen zu nennen, die im Abu des Ansehens des Revolutionsführers« verbü- Salim-Gefängnis in Tripolis ums Leben gekom- ßen. Anlass war eine E-Mail an die Zeitung men waren. Der geplante Besuch der UN-Ar- Arab Times, in der er sich kritisch über das liby- beitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen in sche Staatsoberhaupt geäußert hatte. Libyen fand nicht statt. Die Regierung lehnte  Am 14. April 2010 kam Jamal el-Haji aus der auch eine Anfrage des UN-Sonderberichter- Haft frei, nachdem ihn das Staatssicherheits- statters über Folter ab, der Libyen besuchen gericht (State Security Court – SSC) von der An- wollte. klage freigesprochen hatte, die Justizbehör- Die Verhandlungen zwischen der EU und Li- den beleidigt zu haben. Er war im Dezember byen über ein Rahmenabkommen wurden 2009 inhaftiert worden, nachdem er offiziell

Libyen 295 Beschwerde wegen Misshandlungen während bekannt, sie werde ihre Büros in Libyen seiner Haft von Februar 2007 bis März 2009 aufgrund von »Sicherheitsbedenken« schlie- eingelegt hatte. ßen. Die Medien waren weiterhin starken Ein- schränkungen unterworfen und wurden weit- Antiterrormaßnahmen und Sicherheit gehend vom Staat kontrolliert. Lediglich private Im Januar 2010 teilte der Sekretär des Allgemei- Tageszeitungen, die Saif al-Islam al-Gaddafi nen Volkskomitees für Justiz dem Allgemeinen nahestehen, äußerten leichte Kritik an Korrup- Volkskongress mit, dass mehr als 300 Personen tion und Misswirtschaft. weiterhin ohne rechtliche Grundlage inhaftiert Am 21. Januar 2010 gaben die privaten Tages- seien. Mu’ammar al-Gaddafi bezeichnete die zeitungen Oea und Cyrene bekannt, dass sie Häftlinge daraufhin als »Terroristen«, die man nur noch online erscheinen würden. Oea be- nicht aus der Haft entlassen werde. Im Rahmen richtete später, das Verbot der Printversion sei einer »Versöhnung« zwischen dem Staat und darauf zurückzuführen, »dass sich eine Ge- den aus Sicherheitsgründen Inhaftierten wur- schichte als richtig herausstellte«. Nachdem den jedoch zwei Monate später mehr als 200 die wöchentliche Beilage von Oea ab Juli wieder Personen freigelassen. Darunter sollen auch 80 in Druck gehen konnte, wurde die Publikation Gefangene gewesen sein, die von Gerichten im November vom Sekretär des Allgemeinen freigesprochen worden waren oder ihre Haft- Volkskongresses (dem Ministerpräsidenten) strafe verbüßt hatten. Am 31. August wurde 37 erneut verboten. Die Zeitung hatte zuvor einen weitere Häftlinge freigelassen, darunter auch Kommentar veröffentlicht, in dem der Regie- Mitglieder der Libyschen Islamischen Kampf- rung Unfähigkeit und Korruption vorgeworfen gruppe (Libyan Islamic Fighting Group – LIFG) wurde. sowie Abu Sufian Ibrahim Ahmed Hamuda,  Am 16. Februar 2010 verhafteten die Sicher- ein ehemaliger Guantánamo-Häftling, der 2007 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen heitskräfte vier Mitarbeiter des Radiopro- von den US-Behörden nach Libyen überstellt gramms Good Evening Benghazi, nachdem die worden war. Die Regierung versprach finan- Sendung einen Tag zuvor abgesetzt worden zielle Entschädigungen für alle, die unrecht- 000835 war. Muftah al-Kibaili, Suleiman al-Kibaili, Kha- mäßig im Gefängnis eingesessen hätten, bot led Ali und Ahmed Al-Maksabi wurden einen aber sonst keine Wiedergutmachung an. Tag später wieder freigelassen. Das Programm  Im August 2010 ließen die Behörden Mah- war bekannt dafür, über »sensible« politische moud Mohamed Aboushima frei. Er hatte über Themen zu berichten. fünf Jahre im Gewahrsam verbracht, obwohl er Im September gaben die Behörden bekannt, im Juli 2007 vom Obersten Gerichtshof von dass Vereinigungen, die nicht im Einklang mit der Anklage der Mitgliedschaft in der LIFG frei- dem Gesetz Nr. 19 aus dem Jahr 1369 (nach is- gesprochen worden war. lamischem Kalender) stünden, aufgelöst wür- Mehr als 200 Menschen waren weiterhin will- den. Das Gesetz gibt den Behörden weitrei- kürlich inhaftiert, darunter auch mutmaßliche chende Befugnisse, was die Gründung, Aktivi- Mitglieder von bewaffneten islamistischen täten und Auflösung aller Vereinigungen be- Gruppen sowie Personen, denen »Verbrechen trifft. gegen den Staat« zur Last gelegt wurden. Einige  Am 6. November 2010 wurden 22 Journalis- der Gefangenen waren von Gerichten freige- ten der Libyschen Presseagentur (Libya Press sprochen worden oder hatten ihre Haftstrafen Agency) verhaftet, die Saif al-Islam al-Gaddafi bereits verbüßt. Andere waren in unfairen Ge- nahesteht. Kurz zuvor war die wöchentliche richtsverfahren zu Gefängnisstrafen verurteilt Beilage von Oea verboten worden. Nachdem worden. das libysche Staatsoberhaupt interveniert  Mahmud Hamed Matar verbüßte weiterhin hatte, wurden sie umgehend freigelassen. eine lebenslange Haftstrafe, die in einem un-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Im Dezember gab die Libysche Presseagentur fairen Gerichtsverfahren gegen ihn verhängt

296 Libyen worden war. Bevor er im Februar 2002 vor Ge- heute nicht aufgeklärt worden. Die beiden richt gestellt wurde, hatte er bereits zwölf Jahre sind prominente Mitglieder der Nationalen im Gewahrsam verbracht. Ihm wurden Verge- Front zur Rettung Libyens (National Front for hen gegen die Sicherheit zur Last gelegt. Ob- the Salvation of Libya), einer verbotenen oppo- wohl er Zivilist ist, wurde ihm vor einem Militär- sitionellen Vereinigung. Sie sollen von ägypti- gericht der Prozess gemacht. schen Sicherheitskräften in Kairo festgenom-  Jalal al-Din Uthman Bashir blieb 2010 weiter- men und im März 1990 an die libyschen Be- hin im Abu-Salim-Gefängnis inhaftiert. Er war hörden überstellt worden sein. im September 1995 verhaftet und bis zu seinem Prozess 1999 ohne Kontakt zur Außenwelt ge- Flüchtlinge, Asylsuchende halten worden. Der Volksgerichtshof befand ihn und Migranten für schuldig, die LIFG unterstützt zu haben, Im Juni 2010 wurde das Gesetz Nr. 19 gegen il- und verhängte eine lebenslange Haftstrafe. legale Migration verabschiedet. Das Gesetz er- Nach der Abschaffung des für seine unfairen laubt die unbegrenzte Inhaftierung und an- Verfahren bekannten Volksgerichtshofs ging schließende Ausweisung von Personen, die als der Fall in die Revision. Die Haftstrafe von Jalal »illegale Migranten« gelten. Die Betroffenen al-Din Uthman Bashir wurde auf zehn Jahre können diese Maßnahmen nicht juristisch an- verkürzt. 2010 saß er bereits seit 15 Jahren im fechten. Gefängnis. Am 8. Juni gab der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) bekannt, die libysche Straflosigkeit Regierung habe angeordnet, dass sein Amt die Die Regierung gab keine Einzelheiten über die Arbeit in Libyen einstellen müsse. Später offizielle Untersuchung bekannt, die sich an- konnten die Mitarbeiter des UNHCR ihre Arbeit geblich mit den Todesfällen im Abu-Salim-Ge- teilweise wieder aufnehmen. Es wurde ihnen fängnis im Jahr 1996 befassen soll. Berichten jedoch nicht erlaubt, neue Fälle von Flüchtlin- zufolge wurden damals bis zu 1200 Häftlinge gen aufzunehmen oder die Abschiebezentren von Sicherheitskräften getötet. In Benghazi zu besuchen. übten die Behörden weiterhin Druck auf die Fa- Tausende von Migranten ohne regulären Auf- milien der Opfer aus. Man forderte sie auf, fi- enthaltsstatus, darunter auch Flüchtlinge und nanzielle Entschädigungen anzunehmen und Asylsuchende, wurden bis Juni in völlig über- dafür auf die Wahrheitsfindung und das Einle- füllten Haftzentren festgehalten. Dann entlie- gen von Rechtsmitteln zu verzichten. Im Okto- ßen die Behörden über 4000 Personen und ge- ber setzte das Organisationskomitee der Fami- währten ihnen eine auf drei Monate begrenzte lien der Opfer in Benghazi die wöchentlichen Aufenthaltsgenehmigung. Protestkundgebungen aus, nachdem Mitglie- Mutmaßliche »illegale Migranten« wurden in der der Organisation von den Sicherheitsbehör- der Haft regelmäßig beschimpft, geschlagen den bedroht worden waren. Die Drohungen oder anderweitig misshandelt. In einigen Fällen richteten sich gegen Leib und Leben, sie betra- reichte dies bis zu Folter. Anfang Juli kündigte fen aber auch die Wohnungen oder soziale das libysche Staatsoberhaupt an, man werde und wirtschaftliche Belange. Vorwürfe untersuchen, wonach etwa 200 Eri- Die Behörden unternahmen nichts, um treer am 30. Juni von Sicherheitsbeamten im schwerwiegende Menschenrechtsverletzun- Misratah-Haftzentrum während ihrer Zwangs- gen in der Vergangenheit zu untersuchen. Die überstellung in das Al-Birak-Haftzentrum ge- Verantwortlichen wurden nicht zur Rechen- schlagen worden seien. Ende 2010 waren schaft gezogen. noch keine Ergebnisse der Untersuchung be-  Das »Verschwinden« von Jaballah Hamed kanntgegeben worden. Matar (dem Bruder von Mahmud Hamed Ma- tar) und von Ezzat Youssef al-Maqrif ist bis

Libyen 297 Diskriminierung von Frauen  »Libya of tomorrow«: What hope for human rights? Frauen waren vor dem Gesetz und im täglichen (MDE 19/007/ 2010) Leben weiterhin Diskriminierungen ausge-  Seeking safety, finding fear: Refugees, asylum-seekers and setzt. Vor allem in Bezug auf Eheschließung, migrants in Libya and Malta (REG 01/ 004/2010) Scheidung und Erbrecht waren Frauen noch immer schlechter gestellt als Männer. Die Poly- gamie blieb für Männer erlaubt. Im Januar 2010 trat ein neues Gesetz zur Staatsbürgerschaft in Kraft. Es erlaubt liby- schen Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind, die libysche Staatsbürgerschaft auf ihre Kinder zu übertragen. Dies war libyschen Män- Litauen nern, die mit Ausländerinnen verheiratet sind, bereits zuvor möglich. Amtliche Bezeichnung: Republik Litauen Staatsoberhaupt: Dalia Grybauskaite˙ Diskriminierung Regierungschef: Andrius Kubilius der Tabu-Gemeinschaft Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Angehörige der Tabu-Gemeinschaft im Südos- Einwohner: 3,3 Mio. ten Libyens wurden diskriminiert. Die Behör- Lebenserwartung: 72,1 Jahre den verweigerten ihnen die Ausstellung von Kindersterblichkeit (m/w): 14 / 9 pro 1000 Reisepässen, Geburtsurkunden und anderen Lebendgeburten persönlichen Dokumenten. In der Stadt Kufra Alphabetisierungsrate: 99,7% weigerten sich Schulen, Tabu-Kinder aufzu- nehmen. Neu eingeführte gesetzliche Bestimmun- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Die Vertreibungen von Angehörigen der Tabu- gen diskriminierten Homosexuelle. Eine Gemeinschaft in Kufra dauerten bis Anfang strafrechtliche Untersuchung der Ver- April 2010 an. Die Familien der Opfer berichte- strickung von Geheimdienstbeamten in 000835 ten, dass die Betroffenen nicht über die Maß- das CIA-Programm für außerordentliche nahme informiert worden seien. Auch habe Überstellungen und Geheimgefängnisse man ihnen keine Ersatzunterkünfte angeboten. (CIA Rendition and Secret Detention Programme) drohte eingestellt zu wer- Todesstrafe den. Mindestens 18 Gefangene wurden Berichten zufolge 2010 hingerichtet, darunter viele aus- ländische Staatsangehörige. Im Mai berichtete eine Tageszeitung, die Saif al-Islam al-Gaddafi nahesteht, dass sich mehr als 200 Gefangene in den Todeszellen befänden. Im Dezember gehörte Libyen zu den wenigen Staaten, die gegen die Resolution der UN-Ge- neralversammlung für ein weltweites Hinrich- tungsmoratorium stimmten.

Amnesty International: Mission und Berichte  Die Behörden luden Amnesty International offiziell zu einem Besuch in Libyen ein, nachdem die Organisation im Juni einen Bericht über das Land veröffentlicht hatte. Doch wurde

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht 2010 keine Einreiseerlaubnis erteilt.

298 Litauen Antiterrormaßnahmen und Sicherheit fentlichen Orten, die für Kinder zugänglich Gemäß den Empfehlungen einer parlamentari- sind, ist durch dieses Gesetz untersagt. schen Untersuchungskommission aus dem Die erste in Litauen stattfindende Schwulen- Jahr 2009 begann die Staatsanwaltschaft 2010 und Lesbenparade Baltic Pride March fand mit Ermittlungen wegen des Machtmiss- am 8. Mai 2010 in Vilnius statt, nachdem einige brauchs von Geheimdienstbeamten im Zusam- Behörden vergeblich versucht hatten, sie zu menhang mit der Einrichtung geheimer Haft- verbieten. Im Oktober verwarf das Parlament zentren, die im Rahmen des CIA-Programms den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Immu- für außerordentliche Überstellungen und ge- nität von zwei seiner Mitglieder aufzuheben, die heime Haftanstalten genutzt wurden. Der parla- während der Parade angeblich gewalttätig ge- mentarische Untersuchungsausschuss war in worden seien. seinem Bericht zu dem Schluss gekommen, Änderungen der Verwaltungsordnung, die dass sich Geheimgefängnisse auf litauischem Geldstrafen für die »Förderung homosexueller Hoheitsgebiet befunden hatten. Beziehungen« vorsehen, waren bis Jahresende Im Februar bestätigte eine UN-Studie über die vom Parlament noch nicht angenommen wor- Praktiken der geheimen Haft, dass im Rah- den. men des CIA-Programms Flugzeuge auf li- tauischem Boden gelandet waren. Für einige Amnesty International: Mission und Berichte dieser Flüge existierten fiktive Flugpläne der  Eine Delegation von Amnesty International besuchte Litauen CIA. im November.  Im Juni inspizierte der Europäische Aus- Open Secret: Mounting evidence of Europe’s complicity in schuss zur Verhütung von Folter und un- rendition and secret detention (EUR 01/023/2010)  Lithuania: Amnesty International condemns MPs’ call to use menschlicher oder erniedrigender Behandlung recently adopted homophobic legislation to ban the Baltic oder Strafe (CPT) die ehemaligen CIA-Haftzen- Pride (EUR 53/002/2010) tren.  Lithuania: Baltic Pride is under threat! (EUR 53/004/ 2010) Im November kam die Sorge auf, dass die Un-  Lithuania: New move towards penalizing homosexuality tersuchung der Staatsanwaltschaft über ge- (EUR 53/008/ 2010) heime Hafteinrichtungen vorzeitig eingestellt werden könnte.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen Im Februar 2010 informierten die Behörden den Europarat darüber, dass Litauen nicht be- absichtige, das Protokoll Nr. 12 der Europäi- Madagaskar schen Menschenrechtskonvention zu unter- zeichnen. Dieses Protokoll schützt vor Diskrimi- Amtliche Bezeichnung: Republik Madagaskar nierung in Bezug auf alle Menschenrechte. Staatsoberhaupt: Im März traten die Änderungen des Gesetzes Andry Nirina Rajoelina (interimistisch) zum Schutz Minderjähriger vor dem schädli- Regierungschef: Camille Albert Vital (amtierend) chen Einfluss von öffentlichem Informations- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft material in Kraft. Das neue Gesetz betrachtet Einwohner: 20,1 Mio. die Verbreitung jedweder Information, die »fa- Lebenserwartung: 61,2 Jahre miliäre Werte verunglimpft« oder zu Ehen er- Kindersterblichkeit (m/w): 105 / 95 pro 1000 mutigt, die nicht zwischen Mann und Frau ge- Lebendgeburten schlossen werden, als schädlich für Kinder. Alphabetisierungsrate: 70,7% Die Verbreitung derartiger Informationen an öf-

Madagaskar 299 Die Sicherheitskräfte nahmen Menschen hörige der Sicherheitskräfte getötet. Nach ohne rechtliche Grundlage fest und in- dem Vorfall wurden einige hochrangige Offi- haftierten sie, gingen mit exzessiver Ge- ziere und mindestens 22 Gendarmen verhaf- walt gegen Demonstrierende vor und tet. Am 17. November 2010, dem Tag der Volks- griffen Journalisten sowie führende Mit- abstimmung über eine neue Verfassung, kam glieder der Opposition tätlich an. Für es zu einer Meuterei. Eine Gruppe von Offizie- derartige Menschenrechtsverletzungen ren erklärte, man habe einen »Rat für das wurden sie nur in Einzelfällen zur Re- Wohl des Volkes« gebildet. Die Offiziere erga- chenschaft gezogen. Politischen Gegnern ben sich später der Übergangsregierung. der Regierung wurde in unfairen Ge- Im Oktober kam es an verschiedenen Orten, richtsverfahren der Prozess gemacht. so auch im Außenministerium, zu Explosio- nen. Hintergrund Im März 2010 wurde eine nationale Wahlkom- Die politische Lage blieb instabil; es gelang der mission gebildet. Im November wurde die internationalen Gemeinschaft nicht, eine Lö- neue Verfassung in einer Volksabstimmung an- sung der politischen Krise, die im Dezember genommen, und im Dezember fanden Kom- 2008 begonnen hatte, herbeizuführen. Ent- munalwahlen statt. Die Präsidentschaftswahlen sprechende Verhandlungen in der südafrikani- wurden für 2011 anberaumt. Während der schen Hauptstadt Pretoria scheiterten im Mai. Wahlen wurden sämtliche Demonstrationen Madagaskars Mitgliedschaft in regionalen und von den Behörden verboten. internationalen Organisationen blieb ausge- setzt. Exzessiver Gewalteinsatz Andry Nirina Rajoelina, Staatspräsident und und widerrechtliche Tötungen Präsident der als Hohe Übergangsbehörde Die Sicherheitskräfte lösten genehmigte, von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen (Haute Autorité de la Transition) bezeichneten der Opposition organisierte Demonstrationen Übergangsregierung, entließ mehrere Minis- gewaltsam auf. Dabei gab es Tote und Verletzte. ter. Die Spannungen innerhalb der Armee hiel- Die Verantwortlichen genossen Straffreiheit. 000835 ten an. Bei Gefechten in der Garnison Fort Du-  Im April 2010 wurde an der Antananarivo chesne wurden im Mai mindestens vier Ange- University, Provinz Antsiranana, mindestens ein Student während einer Demonstration von einem Angehörigen der Sicherheitsorgane er- schossen. Eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls fand nicht statt.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen Politische Gegner der Übergangsregierung und Anhänger des ehemaligen Präsidenten Marc Ravalomanana wurden von den Sicherheits- kräften willkürlich festgenommen und inhaf- tiert. Einige Männer und Frauen, die bereits 2009 festgenommen worden waren, befanden sich 2010 noch immer in Haft. Mindestens 18 Häftlinge begannen einen Hungerstreik.  Der frühere Leiter der Sicherheitsabteilung am Verfassungsgericht von Madagaskar, Rali- tera Andriamalala Andrianandraina, war nach

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht wie vor im Antanimora-Gefängnis inhaftiert. Er

300 Madagaskar war im April 2009 festgenommen worden. Im dem Radiosender der reformierten protestan- August verurteilte ihn ein Strafgericht in Anta- tischen Kirche in Madagaskar, wurden im Mai nanarivo zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewäh- 2010 festgenommen und inhaftiert. Der Sen- rung. Ihm wurde u. a. zur Last gelegt, die der wurde vom Kommunikationsministerium staatliche Sicherheit gefährdet zu haben. Er geschlossen. Die Angestellten konnten das wurde jedoch nicht auf freien Fuß gesetzt, da Gefängnis im September gegen Auflagen ver- die Behörden ihm vorwarfen, an der Ermor- lassen. Der Sender hingegen war Ende des dung einer Buchhändlerin in Ambohijavoto im Jahres weiterhin verboten. April 2009 beteiligt gewesen zu sein. Da sich sein Gesundheitszustand im Gefängnis ver- Unfaire Gerichtsverfahren schlechterte, wurde er Mitte Januar 2010 in ein Im Juni 2010 begann der Prozess gegen die An- Krankenhaus eingeliefert. Ein Termin für den geklagten, denen die widerrechtliche Tötung Beginn des neuen Prozesses gegen ihn war bis von Demonstrierenden am 7. Februar 2009 in Jahresende noch nicht festgesetzt worden. der Nähe des Ambohitsorohitra-Palasts, dem  Im Mai 2010 nahmen Mitarbeiter der Über- Amtssitz des Präsidenten, vorgeworfen wurde. gangsregierung die beiden Oppositionsmitglie- Mindestens 19 Menschen wurden zu Gefäng- der Ambroise Ravonison und Harison Razafin- nisstrafen verurteilt. Der Prozess entsprach drakoto während deren Teilnahme an einer nicht den internationalen Standards für faire Radiosendung in Antananarivo fest und schlu- Gerichtsverfahren. Einigen Angeklagten wurde gen sie. Ambroise Ravonison wurde der Belei- das Recht auf Haftprüfung, das Recht auf eine digung des Präsidenten der Übergangsregie- faire Anhörung und das Recht, sich selbst zu rung beschuldigt. Er war zwei Wochen im An- verteidigen oder sich von einem Anwalt vertei- tanimora-Gefängnis inhaftiert und wurde dann digen zu lassen, verweigert. zu einer Bewährungsstrafe von acht Monaten  Am 28. August 2010 verurteilte ein Gericht in verurteilt. Harison Razafindrakoto kam frei. Antananarivo den ehemaligen Staatspräsiden-  Am 8. Oktober 2010 wurde Jaky Ernest Rabe- ten Marc Ravalomanana sowie acht weitere haja, einer der Anführer eines Richterstreiks, Männer wegen ihrer mutmaßlichen Beteili- der im Oktober stattfand, festgenommen und gung an den widerrechtlichen Tötungen vom gezwungen, in ein Fahrzeug der Sicherheits- 7. Februar 2009 in Antananarivo zu lebenslan- kräfte einzusteigen. Er wurde später am Stadt- ger Zwangsarbeit. Gegen Marc Ravalomanana, rand von Antananarivo freigelassen. der an dem Prozess nicht teilnahm, wurde ein Haftbefehl erlassen. Mitglieder der madagassi- Recht auf freie Meinungsäußerung – schen Anwaltsvereinigung kritisierten das Ver- Journalisten fahren. Nach wie vor waren Journalisten Schikanen und Einschüchterungen ausgesetzt. Private Amnesty International: Berichte Medien und Medien, denen Verbindungen zur  Madagascar: Urgent need for Justice – human rights viola- Opposition unterstellt wurden, standen im Vi- tions during the political crisis (AFR35/001/2010)  sier der Behörden. Mindestens drei Radiosen- Madagascar: Amnesty International urges release of political der wurden verboten. prisoners – investigation into excessive use of force against demonstrators and freedom of the media  Am 6. Oktober 2010 schlossen Beamte des (AFR 35/ /003/ 2010) Kommunikationsministeriums den Radiosen- der Fototra. Der Sender gehörte der Vorsitzen- den der Grünen Partei, Saraha Georget Rabe- harisoa, die erst vor Kurzem bekanntgegeben hatte, dass sie für das Präsidentschaftsamt kandidieren wolle.  Zehn Angestellte von Radio Fahazavàna,

Madagaskar 301 hatte, waren bis zu 1,1 Mio. Menschen auf Malawi Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Amtliche Bezeichnung: Republik Malawi Haftbedingungen Staats- und Regierungschef: Bingu wa Mutharika Die Haftanstalten waren überbelegt. Die Kapa- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft zitäten waren auf 6000 Häftlinge ausgelegt, Einwohner: 15,7 Mio. tatsächlich saßen in den malawischen Haftan- Lebenserwartung: 54,6 Jahre stalten aber 13000 Häftlinge ein. Die Überbe- Kindersterblichkeit (m/w): 125 / 117 pro 1000 legung wurde zusätzlich durch lange Untersu- Lebendgeburten chungshaftzeiten verschärft. Bei ungefähr Alphabetisierungsrate: 72,8% 20% der Gefängnisinsassen handelte es sich um Untersuchungshäftlinge. Überbelegung, Ein homosexuelles Paar wurde zu einer schlechte Ernährung, schlechte hygienische Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt, Zustände und mangelhafte medizinische Ver- dann aber begnadigt. Die Gefängnisse sorgungseinrichtungen führten zur Verbreitung waren überfüllt und schlecht ausge- ansteckender Krankheiten, darunter Tuberku- stattet. lose und Masern. Viele Häftlinge mussten von ihren Familien oder von gemeinnützigen Orga- Hintergrund nisationen zusätzlich mit Lebensmitteln ver- Der UN-Menschenrechtsrat befasste sich im sorgt werden. Rahmen der Universellen Regelmäßigen  Im Juni 2010 wurden Häftlinge im Chichiri- Überprüfung (UPR) mit der Lage der Men- Gefängnis in überfüllte Gemeinschaftszellen schenrechte in Malawi. Während der Über- eingeschlossen, in denen die Luftzufuhr kaum prüfung erklärten Vertreter der Regierung, dass ausreichte und sie nur im Sitzen schlafen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen eine unabhängige Beschwerdekommission konnten. Bis zu 200 Häftlinge mussten sich eingerichtet worden sei, die Fälle von Polizei- eine Toilette teilen. Ein Häftling, Alex Mkula, gewalt untersuchen soll. war bereits seit neun Jahren ohne Gerichts- 000835 Obwohl es in den vergangenen fünf Jahren verfahren inhaftiert. Er wurde später gegen bei der Maisproduktion Überschüsse gegeben Kaution freigelassen. Die Frauenabteilung des Chichiri-Gefängnisses war fast genauso stark überbelegt. Acht der 55 Frauen hatten Babys. Malawi erklärte während der UPR, die gesetz- liche Untersuchungshaft sei abgeschafft wor- den, um eine Überfüllung der Gefängnisse zu vermeiden.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen Am 18. Mai 2010 wurden die beiden gewaltlo- sen politischen Gefangenen Steven Monjeza und Tiwonge Chimbalanga »unanständiger Praktiken« und »widernatürlicher strafbarer Handlungen« für schuldig befunden. Sie hatten im Dezember 2009 ihre Verlobung gefeiert. Beide wurden zu 14 Jahren Haft mit Zwangsar- beit verurteilt. Nach dem Besuch von UN-Ge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht neralsekretär Ban Ki-moon in Malawi wurden

302 Malawi die beiden Männer von Präsident Mutharika am 29. Mai begnadigt. Tiwonge Chimbalanga Malaysia tauchte jedoch unter, weil er von Hass moti- vierte Übergriffe befürchtete. Amtliche Bezeichnung: Malawi erklärte im Rahmen der UPR, dass Persekutuan Tanah Malaysia nicht beabsichtigt sei, Homosexualität zu lega- Staatsoberhaupt: König Tuanku Mizan Zainal lisieren. Abidin ibni al-Marhum Regierungschef: Najib Tun Razak Recht auf freie Meinungsäußerung – Todesstrafe: nicht abgeschafft Journalisten Einwohner: 27,9 Mio. Im Februar 2010 äußerte der malawische Jour- Lebenserwartung: 74,7 Jahre nalistenverband Besorgnis über eine Regie- Kindersterblichkeit (m/w): 12 / 10 pro 1000 rungsverordnung, in der Beamten nahegelegt Lebendgeburten wurde, keine Werbung in Zeitungen zu schal- Alphabetisierungsrate: 92,1% ten, die im Verlag Nation Publications Limited erscheinen. Der Verlag gibt u. a. The Nation, Die Regierung beschränkte das Recht auf Weekend Nation und Nation on Sunday freie Meinungsäußerung für Publikatio- heraus. Diese hatten Artikel veröffentlicht, die nen im Internet und für Printmedien. Auf als Kritik an der Regierung gewertet wurden. Grundlage des mittlerweile seit 50 Jah- ren bestehenden Gesetzes zur Inneren Verfahren gegen ehemaligen Sicherheit (Internal Security Act – ISA) Oppositionspolitiker kam es zu Inhaftierungen ohne Anklage Vor dem Oberen Gericht (High Court) in Blan- oder Prozess. Flüchtlinge, Migranten tyre wurde das seit Langem geführte Verfahren und malaysische Staatsangehörige wur- gegen den ehemaligen Präsidenten Bakili Mu- den zu Stockschlägen verurteilt, u. a. luzi fortgesetzt. Es verzögerte sich jedoch we- wegen Verstößen gegen die Einwande- gen der gesundheitlichen Probleme des Ange- rungsgesetze. Erstmals wurde bei drei klagten. Bakili Muluzi war mehrfach unter Frauen nach islamischem Recht (Scha- dem Vorwurf der Korruption verhaftet worden. ria) die Strafe der Erteilung von Stock- Er ist jedoch der Auffassung, dass die ihm zur schlägen vollstreckt. Im Mai wurde Ma- Last gelegten Anklagepunkte politisch motiviert laysia in den UN-Menschenrechtsrat ge- sind. wählt.

Amnesty International: Mission  Eine Delegation von Amnesty International besuchte das Land im Juni.

Malaysia 303 Hintergrund dia von 1998 (Communication and Multimedia Ministerpräsident Najib Tun Razak, der 2007 im Act) angeklagt. Man warf ihm unzulässigen Ge- Amt Abdullah Badawi gefolgt war, sollte bis brauch des Internets durch die Veröffentli- März 2013 Parlamentswahlen anberaumen. chung falscher oder anstößiger Inhalte in bös- Das Verfahren gegen Oppositionsführer Anwar williger Absicht vor. Im Falle einer Verurteilung Ibrahim wurde 2010 fortgesetzt. Gegen ihn drohten ihm ein Jahr Gefängnis und eine Geld- wurde bereits zum zweiten Mal innerhalb von strafe von 50000 malaysischen Ringgit (15500 zwölf Jahren eine politisch motivierte Klage we- US-Dollar). gen homosexueller Handlungen erhoben. Im  Die Behörden zwangen einen chinesisch- Falle einer Verurteilung drohten ihm eine Ge- sprachigen Radiosender, den Moderator Ja- fängnisstrafe und ein fünfjähriges politisches maluddin Ibrahim zu entlassen, weil dieser in Betätigungsverbot. Bei der Vorstellung eines seiner Sendung die staatliche Praxis der posi- neuen Wirtschaftsplans für die kommenden tiven Diskriminierung kritisiert hatte. In einem Jahre forderte Ministerpräsident Najib Tun Ra- Schreiben der malaysischen Kommission für zak im März eine Reform der bislang prakti- Kommunikation und Multimedia an die Rund- zierten positiven Diskriminierung. Sie sieht eine funkstation vom August hieß es Berichten zu- Bevorzugung von Malaien und Angehörigen folge, die Sendung habe die nationale Sicher- indigener Gruppen aus Ostmalaysia (Bumipu- heit gefährdet und das Verhältnis zwischen teras) gegenüber anderen Gruppen vor. den verschiedenen ethnischen Gruppen beein- trächtigt. Recht auf freie Meinungsäußerung  Die Polizei nahm im September 2010 den po- Die Behörden schränkten das Recht auf freie litischen Karikaturisten Zunar fest und be- Meinungsäußerung dadurch ein, dass Publi- schlagnahmte Exemplare seines Buchs kationen eine staatliche Genehmigung vorwei- Cartoon-o-phobia, das kurz darauf erscheinen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sen mussten. Außerdem erhielten Personen, sollte. Er wurde auf der Grundlage des Sedition die sich kritisch über die Regierung äußerten, Act angeklagt und musste eine Freiheitsstrafe Strafen aufgrund des Gesetzes gegen staats- von bis zu drei Jahren befürchten. Im Juni hatte 000835 gefährdende Aktivitäten (Sedition Act). das Innenministerium unter Berufung auf das  Im Juni 2010 stoppte das Innenministerium Presse- und Publikationsgesetz von 1984 (Prin- das Erscheinen der Zeitung Suara Keadilan, ting Press and Publications Act) drei seiner indem die erforderliche Publikationslizenz nicht früheren Bücher und Hefte mit Karikaturen we- verlängert wurde. Die Zeitung wird von der gen ihres »schädlichen Einflusses auf die öf- wichtigsten Oppositionspartei, der Gerechtig- fentliche Ordnung« verboten. Sollten sie ge- keitspartei des Volkes (Parti Keadilan Rakyat), druckt oder vertrieben werden, drohten laut herausgegeben. Im Juli schränkte die Regie- Gesetz bis zu drei Jahre Haft oder Geldstrafen rung den Vertrieb von Harakah ein, einer wei- bis zu 20000 malaysischen Ringgit (6200 US- teren Oppositionszeitung, die von der Islami- Dollar). Zunar wurde gegen Kaution freigelas- schen Partei Malaysias (Parti Islam Se-Malay- sen. sia) publiziert wird.  Der Internet-Blogger Irwan Abdul Rahman, Willkürliche Festnahmen auch unter dem Namen Hassan Skodeng be- und Inhaftierungen kannt, wurde im August 2010 festgenommen,  Im Januar 2010 stürmte die Polizei eine pri- nachdem er eine Satire über den Präsidenten vate Koranschule in der Nähe von Kuala Lum- des größten Energiekonzerns von Malaysia ver- pur und nahm 50 Personen auf der Grundlage öffentlicht hatte, in der dieser eine Energie- des ISA fest. Die meisten von ihnen kamen spar-Kampagne kritisiert. Irwan Abdul Rahman kurze Zeit später wieder frei. Mehrere ausländi- wurde gegen Kaution freigelassen und nach sche Staatsangehörige wurden von der Regie-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht dem Gesetz über Kommunikation und Multime- rung im Schnellverfahren in Länder wie Syrien

304 Malaysia abgeschoben, wo ihnen wegen mutmaßlicher tung Lenggeng traten im Juni 2010 rund 500 Beteiligung an politischen islamischen Grup- Asylsuchende aus Myanmar in den Hunger- pen Folter drohte. streik.  Im August 2010 nahm die Polizei bei friedli-  Im Oktober 2010 wurden Berichten zufolge chen Protesten aus Anlass des 50-jährigen sieben Beamte der Einwanderungsbehörde Bestehens des ISA in der Stadt Petaling Jaya 30 und zwei ausländische Staatsangehörige wegen von etwa 300 Demonstrierenden fest. Alle In- mutmaßlicher Beteiligung an Menschenhan- haftierten wurden im Anschluss freigelassen. del festgenommen. Es wurden jedoch keine Das malaysische Recht schränkt öffentliche Strafverfahren gegen sie eingeleitet, sie blie- Proteste und die Versammlungsfreiheit sehr ben vielmehr nach den Bestimmungen des ISA stark ein, indem öffentliche Versammlungen ohne Prozess in Haft. von Gruppen, die mehr als fünf Personen um- fassen, nur mit Genehmigung abgehalten wer- Grausame, unmenschliche den dürfen. und erniedrigende Strafen  Im Juli 2010 wurde Mohamad Fadzullah Bin  Die Behörden ließen regelmäßig Prügelstra- Abdul Razak, ein 28-jähriger malaysischer fen für eine Vielzahl von Vergehen vollstre- Staatsangehöriger, bei seiner Rückkehr aus cken, darunter auch für Verstöße gegen die Ein- Thailand auf der Grundlage des ISA festge- wanderungsgesetze. Die Prügelstrafe war für nommen. Die Regierung beschuldigte ihn, mehr als 60 Straftaten vorgesehen. Unzählige einem internationalen Terrornetzwerk anzuge- Arbeitsmigranten wurden innerhalb von nur hören. Die Behörden ordneten eine zweijährige einer Woche nach Indonesien abgeschoben, Haft nach dem ISA an, das eine unbegrenzte nachdem sie wegen Verstößen gegen die Ein- Haft ohne Anklage oder Prozess erlaubt. wanderungsgesetze Stockschläge erhalten hat- ten. Flüchtlinge und Migranten  Im Februar 2010 wurde erstmals in der Ge- Nach Ansicht der UN-Arbeitsgruppe für willkür- schichte Malaysias die Prügelstrafe an drei liche Inhaftierungen, das Land im Juni be- Frauen vollstreckt. Die muslimischen Frauen suchte, wurden Flüchtlinge in Malaysia »syste- waren in der Nähe von Kuala Lumpur nach is- matisch« inhaftiert. Arbeitsmigranten drohte lamischem Recht (Scharia) wegen außereheli- eine Inhaftierung wegen Verstößen gegen die chem Geschlechtsverkehr schuldig gespro- Einwanderungsgesetze. Außerdem waren sie chen worden und erhielten Stockschläge. Im häufig ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen April wurde die Strafe gegen Kartika Sari Dewi ausgesetzt. Shukarno umgewandelt, die 2009 als erste Frau  Im August 2010 kündigte die Regierung an, zu einer Prügelstrafe verurteilt worden war. das Freiwilligenkorps RELA (Ikatan Relawan Statt der im Urteil geforderten sechs Stock- Rakyat) nahezu zu verdoppeln. Das mit Polizei- schläge konnte sie Sozialstunden ableisten. befugnissen ausgestattete Korps wurde einge- setzt, um Arbeitsmigranten und Flüchtlinge zu Todesstrafe inhaftieren, die gegen die Einwanderungsge- Laut Berichten der staatlichen Nachrichten- setze verstoßen hatten. RELA-Angehörige er- agentur Bernama und weiterer malaysischer pressten von den Flüchtlingen und Migranten Medien verurteilten Gerichte mindestens 114 häufig Geld und schlugen sie in einigen Fällen Menschen zum »Aufhängen am Halse, bis der auch. Die Regierung setzte das Freiwilligen- Tod eintritt«. Die Behörden gaben jedoch keine korps erneut in Hafteinrichtungen ein, nach- Zahlen über die im Jahr 2010 vollstreckten To- dem es 2009 von dort abgezogen worden war. desurteile bekannt.  Die Bedingungen in den Hafteinrichtungen Mehr als die Hälfte der bekanntgewordenen waren nach wie vor schlecht. Aus Protest ge- Todesurteile wurde gegen Personen verhängt, gen ständigen Wassermangel in der Einrich- denen der Besitz von illegalen Drogen über

Malaysia 305 einer bestimmten Menge nachgewiesen wor- nale Juristenkommission (International den war. In diesen Fällen lautet die Anklage auf Commission of Jurists) besuchte die Ma- Drogenhandel, ein Straftatbestand, der in Ma- lediven im September, um über die Re- laysia zwingend mit der Todesstrafe geahndet form des Justizsystems zu beraten. wird. Auf der Grundlage des Drogengesetzes wurde die Schuld der Angeklagten angenom- Hintergrund men, sofern sie ihre Unschuld nicht beweisen Die vom Präsidenten eingesetzte Regierung konnten, was einen Verstoß gegen internatio- warf der Opposition vor, ihre Mehrheit im Par- nale Standards für ein faires Gerichtsverfahren lament dazu zu benutzen, die Bemühungen darstellt. der Regierung zur Verbesserung öffentlicher Zwei Drittel der zum Tode verurteilten Perso- Dienstleistungen zu blockieren. Die Opposition nen kamen aus anderen ASEAN-Staaten: sie- berief sich darauf, lediglich ihre in der Verfas- ben aus Indonesien und jeweils drei aus Myan- sung festgelegten parlamentarischen Rechte mar, Singapur und Thailand sowie zwei von auszuüben, um die Rechenschaftspflicht der den Philippinen. Regierung zu gewährleisten. Im Juni traten an- gesichts der verfahrenen Lage mehrere Minis- Amnesty International: Missionen und Berichte ter des Kabinetts zurück, wurden später jedoch  Eine Delegation von Amnesty International besuchte Malay- wieder ins Amt berufen. Der Präsident setzte sia von März bis April sowie von November bis Dezember. zwölf Minister erneut ein, doch das Parlament  Trapped: The exploitation of migrant workers in Malaysia lehnte sieben von ihnen ab, darunter den Au- (ASA 28/002/ 2010) ßenminister und führenden Menschenrechts-  A blow to humanity: Torture by judicial caning in Malaysia verteidiger Dr. Ahmed Shaheed. (ASA 28/013/ 2010) Die ungelösten Differenzen zwischen Regie- rung und Opposition führten zu Protesten. Da- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen bei kam es Mitte Juli zu Zusammenstößen zwi- schen Anhängern der Regierungspartei und der Opposition. Auf beiden Seiten wurden etwa 000835 ein Dutzend Personen verletzt, darunter auch Malediven Polizeikräfte. Ende Juli erklärten sich beide Sei- ten bereit, die Unterstützung von internationa- Amtliche Bezeichnung: Republik Malediven len Institutionen anzunehmen. So bemühte Staats- und Regierungschef: Mohamed Nasheed sich u. a. ein Vertreter des US-Außenministeri- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft ums, den Dialog wiederherzustellen. Die ge- Einwohner: 0,3 Mio. walttätigen Unruhen ließen nach, als im Au- Lebenserwartung: 72,3 Jahre gust alle Parteien im Parlament übereinkamen, Kindersterblichkeit (m/w): 31 / 26 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 98,4%

Der politische Konflikt zwischen dem Präsidenten und der oppositionellen Parlamentsmehrheit wuchs sich im Juni 2010 zu einer Krise aus, und mindes- tens vier Parlamentsmitglieder wurden inhaftiert. Nach intensiven Verhandlun- gen genehmigte das Parlament im Au- gust die Einrichtung eines ständigen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Obersten Gerichtshofs. Die Internatio-

306 Malediven einen ständigen Obersten Gerichtshof für die und einen Gesetzentwurf zur Beweisermittlung Malediven einzurichten. Der Oberste Gerichts- (Evidence Bill) weiterhin anhängig seien. hof war seit 2008 auf Interimsbasis tätig. Im Zuge der Universellen Regelmäßigen Amnesty International: Berichte Überprüfung (UPR) der Malediven durch die  Release of Maldives opposition leader is chance for political UN im November 2010 forderten mehr als zehn resolution (ASA 29/001/ 2010)  Staaten die Regierung auf, Maßnahmen für die Suggested recommendations to States considered in the Gleichberechtigung von Frauen und Männern ninth round of the Universal Periodic Review, November 2010 (IOR 41/023/ 2010) zu ergreifen. Der Anstieg des Meeresspiegels stellte auch weiterhin eine Gefahr für das Land dar.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen Mindestens vier Abgeordnete des Parlaments Mali wurden im Juli 2010 bis zu neun Tage in Haft genommen. Drei davon gehörten der Opposi- Amtliche Bezeichnung: Republik Mali tion an. Sie behaupteten, die Regierung habe Staatsoberhaupt: Amadou Toumani Touré sie inhaftiert, um sie dazu zu zwingen, ihrem Regierungschef: Modibo Sidibé politischen Programm zuzustimmen. Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft  Der oppositionelle Parlamentsabgeordnete Einwohner: 13,3 Mio. Abdullah Yameen wurde am 15. Juli von den Lebenserwartung: 49,2 Jahre nationalen Sicherheitskräften (Maldives Natio- Kindersterblichkeit (m/w): 193 / 188 pro 1000 nal Defence Force) in Haft genommen. Die Lebendgeburten Behörden versäumten es, einer gerichtlichen Alphabetisierungsrate: 26,2% Verfügung Folge zu leisten und ihn vor Gericht zu bringen oder ihn wegen einer eindeutigen Das Netzwerk Al-Qaida im islamischen Straftat anzuklagen. Stattdessen wurde be- Maghreb (AQIM) hielt in Nord-Mali eine hauptet, man habe ihn inhaftiert, um ihn vor Reihe von Geiseln fest. AQIM tötete einer aufgebrachten Menge zu schützen. Laut Abdullah Yameen handelte es sich bei der Men- schenmenge, die am 14. Juli sein Haus ange- griffen hatte, jedoch um Anhänger der Regie- rung. Er wurde am 23. Juli freigelassen.

Justizwesen Grundlegende Mängel im Strafrechtssystem führten 2010 zu unfairen Prozessen. So exis- tiert im maledivischen Recht keine einheitliche Definition für eine Straftat, und zahlreiche Richter besitzen keine formelle juristische Aus- bildung. Im Rahmen des Partnerschaftspro- gramms mit der Regierung besuchte die inter- nationale Juristenkommission im September die Malediven. Sie merkte an, dass Reform- maßnahmen im Hinblick auf einen Gesetzent- wurf zur Rechtsprechung (Judicature Bill), das Strafgesetzbuch, eine Strafprozessordnung

Mali 307 einige von ihnen, ließ andere hingegen von AQIM getötet. Einige Tage zuvor war ein frei. Bei den Gesetzesinitiativen, mit de- Versuch der mauretanischen Armee, ihn mit nen die rechtliche Gleichstellung von französischer Unterstützung zu befreien, ge- Frauen und die Abschaffung der Todes- scheitert. strafe angestrebt wurden, waren keine  Im August wurden in Kidal zwei malische Fortschritte zu verzeichnen. 13 Men- Staatsbürger von AQIM entführt. Einer der schen wurden zum Tode verurteilt, Hin- Männer, ein Angehöriger der Sicherheitskräfte, richtungen haben 2010 allem Anschein kam nach einigen Tagen wieder frei. Sidi Mo- nach aber nicht stattgefunden. hamed Ag Chérif, der auch unter dem Namen Merzuk bekannt war und für das Zollamt ar- Hintergrund beitete, wurde zwei Tage nach seiner Entfüh- Im Verlauf des Jahres 2010 kam es in einigen rung getötet. afrikanischen Ländern südlich der Sahara, so  Im September wurden sieben Personen, da- auch in Mali, zu verstärkten Aktivitäten von runter Staatsangehörige aus Frankreich, Togo AQIM. Im September wurden zwei malische und Madagaskar, die für die französischen Fir- Zivilpersonen bei der Bombardierung von men AREVA und Satom arbeiteten, in Arlit im AQIM-Stellungen durch die mauretanische Norden des Niger entführt und von AQIM in Luftwaffe getötet, wofür sich Mauretanien bei Nord-Mali festgehalten. AQIM forderte für ihre Mali entschuldigte. Im Oktober forderte Präsi- Freilassung später ein hohes Lösegeld sowie die dent Amadou Toumani Touré eine stärkere Zu- Aufhebung eines französischen Gesetzes sammenarbeit der Saharastaaten im Kampf (Verschleierungsverbot). gegen AQIM. Der Entwurf eines Familienstandsgesetzes, Todesstrafe das Frauen die gleichen Rechte wie Männern Hinsichtlich der Abschaffung der Todesstrafe 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gewährt und 2009 für starke Kontroversen waren 2010 keine Fortschritte zu verzeichnen. sorgte, wurde in Unterausschüssen der Natio- Die Entscheidung über einen von der Regie- nalversammlung erneut diskutiert. Eine Abstim- rung 2007 eingebrachten Gesetzentwurf zur 000835 mung zu dem Entwurf hatte bis Ende 2010 Abschaffung der Todesstrafe wurde von der Na- noch nicht stattgefunden. tionalversammlung vertagt. Im Berichtszeit- raum ergingen 13 Todesurteile, Hinrichtungen Misshandlungen wurden jedoch nicht gemeldet. durch bewaffnete Gruppen  Im Mai 2010 wurden die Brüder Siaka und Sieben Geiseln, die von AQIM in Mauretanien Kassoum Diallo vom Assisengericht Bamako und Niger entführt und in Mali gefangen ge- wegen Mordes zum Tode verurteilt. halten worden waren, kamen 2010 frei.  AQIM drohte mit der Ermordung von Pierre Amnesty International: Bericht Camatte, eines im November 2009 entführten  Mali – Mauritania – Niger: Amnesty International calls for Franzosen, falls vier in Mali gefangen gehaltene the release of all hostages held by Al Qa’ida in the Islamic Al-Qaida-Mitglieder nicht freigelassen würden. Maghreb (AFR 05/004/ 2010) Die vier Häftlinge, die nach Angaben der Behör- den ihre Gefängnisstrafe abgesessen hatten, wurden im Februar freigelassen. Etwa zum sel- ben Zeitpunkt wurde auch Pierre Camatte von Al-Qaida auf freien Fuß gesetzt.  Der Franzose Michel Germaneau, Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der im April im nörd- lichen Niger entführt und in den Norden

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Malis verschleppt worden war, wurde im Juli

308 Mali dies konnten die Behörden keinen Zugang zu Malta einem fairen und zufriedenstellenden Asylver- fahren gewährleisten. Amtliche Bezeichnung: Republik Malta  Am 17. Juli 2010 wurden 55 aus Libyen kom- Staatsoberhaupt: George Abela mende somalische Staatsangehörige auf See Regierungschef: Lawrence Gonzi von einem maltesischen Militärschiff abgefan- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft gen. 28 von ihnen wurden an Bord genommen Einwohner: 0,4 Mio. und nach Malta gebracht und erhielten schließ- Lebenserwartung: 80 Jahre lich Asyl. Die restlichen 27 bestiegen im Glau- Kindersterblichkeit (m/w): 7 / 7 pro 1000 ben, man werde sie nach Italien bringen, ein Lebendgeburten anderes Schiff, das sie jedoch nach Libyen zu- Alphabetisierungsrate: 92,4% rückführte. Dem Vernehmen nach wurden sie Tage oder Wochen ohne Zugang zu einem Die Behörden gewährten einer Gruppe Asylverfahren in Gewahrsam gehalten und blie- somalischer Staatsangehöriger, die auf ben in Gefahr, nach Somalia abgeschoben zu See gerettet wurden, keinen internatio- werden, wo sie möglicherweise von Verfolgung nalen Schutz. Migranten und Asylsu- bedroht waren. Sämtliche Männer wurden Be- chende wurden regelmäßig inhaftiert. richten zufolge mit Stöcken geschlagen und Rechtsmittel für die Anfechtung abge- manche von ihnen bei Vernehmungen mit lehnter Asylanträge blieben weiterhin un- Elektroschocks gefoltert. zureichend. Abtreibung war nach wie Malta behielt sein System der zwangsläufigen vor unter allen Umständen strafbar. Inhaftierung all jener Asylsuchenden, Flücht- linge und Migranten bei, denen angelastet wird, Flüchtlinge und Asylsuchende widerrechtlich auf die Insel eingereist bzw. Die Behörden verwehrten auf See geretteten dort geblieben zu sein. Personen internationalen Schutz und verstie-  Im Juli 2010 entschied der Europäische Ge- ßen damit gegen ihre Verpflichtung, Personen richtshof für Menschenrechte im Fall Louled nicht in Länder zurückzuführen, wo ihnen Fol- Massoud gegen Malta, dass Malta das Recht ter oder andere Misshandlungen drohen. Über- auf Freiheit verletzt habe, da die Justiz des Landes dem Kläger keinen effektiven und zügi- gen Rechtsschutz für die Anfechtung der Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung gewährt habe. Im Januar 2010 veröffentlichte die UN-Ar- beitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen nach ihrem im Jahr 2009 erfolgten Besuch einen Bericht über Malta. Sie wiederholte da- rin ihre Kritik an dem System der zwangsläufi- gen Inhaftierung von Migranten ohne regulä- ren Aufenthaltsstatus und von Asylsuchenden, dem Fehlen einer klar festgelegten zeitlichen Begrenzung für die Inhaftierung nach malte- sischem Recht sowie echter und effektiver Rechtsmittel, um die Inhaftierung anzufechten. Weiterhin blieben Besorgnisse hinsichtlich des Rechts abgewiesener Asylsuchender be- stehen, gegen abschlägige Entscheidungen ef- fektiv Einspruch einzulegen. Die Gründe dafür

Malta 309 sind in der fehlenden Unabhängigkeit der Be- rufungsstelle für Migranten, der begrenzten Fachkompetenz ihrer Mitglieder sowie in der Tatsache zu sehen, dass sie ihre Sitzungen hinter verschlossenen Türen abhielt. Die Bedingungen in Haftanstalten und offe- nen Lagern sowie die Unterstützung für Perso- nen, die besonders schutzbedürftigen Gruppen angehörten, darunter auch Personen mit psy- chischen Krankheiten, blieben schlecht, ob- wohl sich die Regierung verpflichtet hatte, die Lebensbedingungen zu verbessern und mehr Sozialarbeiter einzustellen.

Rechte von Frauen – sexuelle und reproduktive Rechte Im November 2010 verabschiedete der UN- Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) seine abschließenden Bemerkungen über Malta. Der CEDAW-Ausschuss kritisierte das Marokko und völlige Verbot und die Kriminalisierung von Ab- treibungen und drängte Malta, für Fälle von me- Westsahara dizinisch indizierten Abtreibungen sowie 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dann, wenn eine Schwangerschaft Folge von Amtliche Bezeichnung: Königreich Marokko Vergewaltigung oder Inzest ist, Ausnahmen Staatsoberhaupt: König Mohammed VI. zuzulassen. Der Ausschuss äußerte sich auch Regierungschef: Abbas El Fassi 000835 besorgt über die Häufigkeit von Gewalt gegen Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Frauen. Einwohner: 32,4 Mio. Lebenserwartung: 71,8 Jahre Amnesty International: Mission und Bericht Kindersterblichkeit (m/w): 43 / 29 pro 1000  Delegierte von Amnesty International besuchten Malta im Lebendgeburten September. Alphabetisierungsrate: 56,4%  Seeking safety, finding fear: Refugees, asylum-seekers and migrants in Libya and Malta (REG 01 /004/2010) Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfrei- heit blieben auch 2010 vor allem im Hin- blick auf politisch brisante Themen wie den Status der Westsahara stark einge- schränkt. Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Mitglieder der nicht zu- gelassenen politischen Organisation Al- Adl wal-Ihsan sowie sahrauische Aktivis- ten wurden schikaniert und aus politi- schen Beweggründen strafrechtlich ver- folgt. Zahlreiche Personen befanden sich wegen angeblicher Vergehen gegen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht die Sicherheit im Gefängnis. Einige

310 Marokko und Westsahara Häftlinge saßen ohne Kontakt zur Außen- Viele der Demonstrierenden wurden geschla- welt ein und wurden Berichten zufolge gen, ihre Habe wurde vernichtet. Wenig später gefoltert oder anderweitig misshandelt. kam es in Laayoune zu gewalttätigen Aus- Sicherheitskräfte vertrieben gewaltsam schreitungen mit Verletzten und Schäden an Tausende von Sahrauis aus einem Lager, Privateigentum. Insgesamt 13 Personen, da- nachdem sie dort für eine Verbesserung runter elf Angehörige der Sicherheitskräfte, ka- ihrer Situation demonstriert hatten. Bei men bei den Vorfällen ums Leben. Die Behör- den Zusammenstößen kam es zu Toten den nahmen rund 200 Menschen fest, von de- und Verletzten. Ausländische Staatsan- nen viele gefoltert oder misshandelt wurden. gehörige wurden verhaftet und im Mindestens 145 Personen mussten sich wegen Schnellverfahren des Landes verwiesen. Störung der öffentlichen Ordnung und anderer Im Jahr 2010 ergingen Todesurteile, es Vergehen vor Gericht verantworten. 20 Zivilper- gab jedoch keine Hinrichtungen. Die für sonen wurden an ein Militärgericht in der schwere Menschenrechtsverletzungen Hauptstadt Rabat überstellt. Verantwortlichen blieben weiterhin straf- Im Juli 2010 bestätigte das Berufungsgericht frei. Die vor langer Zeit angekündigten in Salé die Schuldsprüche in der sogenannten Reformen des Justizwesens und der Ver- Affaire Belliraj, reduzierte aber einige der Haft- fassung des Landes kamen nur schlep- strafen. Dieser hochpolitische Fall war von Fol- pend voran. tervorwürfen und Verfahrensfehlern begleitet.

Hintergrund Übergangsjustiz Die Verhandlungen zwischen Marokko und der Der Beirat für Menschenrechte, der die Einhal- Frente Polisario um den Status der Westsa- tung der Empfehlungen der Marokkanischen hara stagnierten weiterhin. Marokko hatte das Wahrheits- und Versöhnungskommission (In- Gebiet 1975 annektiert. Die Frente Polisario stance Equité et Réconciliation – IER) überwa- fordert einen unabhängigen Staat und hat eine chen soll, veröffentlichte im Januar 2010 einen selbsternannte Exilregierung gebildet. Der UN- Bericht über die Entwicklungen nach Ab- Sicherheitsrat verlängerte im April das Mandat schluss der Arbeiten der Kommission im Jahr der UN-Mission für einen Volksentscheid in 2005. Die Kommission hatte die Aufgabe, Fäl- der Westsahara. Das Mandat enthält keine Be- len von »Verschwindenlassen« und anderen stimmungen zur Beobachtung der Menschen- schweren Menschenrechtsverletzungen rechtslage. nachzugehen, die in der Zeit von 1956 bis 1999 Im Oktober und Dezember 2010 stattete der begangen worden waren. Eine vollständige Persönliche Gesandte des UN-Generalsekre- Liste von Fällen von »Verschwindenlassen« so- tärs für die Westsahara Marokko einen Besuch wie nähere Informationen zu Einzelschicksa- ab und initiierte anschließend informelle Ge- len oder die Ankündigung von weiteren Unter- spräche zwischen Marokko, der Frente Polisa- suchungen blieb der Bericht jedoch schuldig. rio und den Regierungen von Algerien und Eine Liste mit den Namen von 938 »Ver- Mauretanien. schwundenen« und anderen Opfern von Men- Ebenfalls im Oktober errichteten Tausende schenrechtsverletzungen wurde am 14. Dezem- von Sahrauis ein Lager in Gdim Izik, einige Ki- ber nachgereicht und als Anhang des Berichts lometer außerhalb von Laayoune. Sie wollten veröffentlicht. Wenn überhaupt, waren nur we- damit gegen ihre offensichtliche Ausgrenzung nige und vage Informationen zu den einzelnen und die unzureichenden Arbeits- und Wohnbe- Fällen enthalten. Sechs anhängige Fälle wur- dingungen protestieren. Am 8. November ris- den aufgeführt und an die Ermittlungsbehör- sen Sicherheitskräfte das Lager ab und vertrie- den weitergeleitet. Opfer und Überlebende hat- ben gewaltsam mehrere tausend Sahrauis. ten immer noch keinen effektiven Zugang zu Daraufhin brachen im Lager Unruhen aus. Rechtsmitteln, und die Verantwortlichen für

Marokko und Westsahara 311 schwere Menschenrechtsverletzungen waren  Kaddour Terhzaz, ein 73-jähriger pensionier- bis Ende des Jahres nicht zur Rechenschaft ge- ter hoher Militärangehöriger, saß weiterhin im zogen worden. Salé-Gefängnis in Einzelhaft ein. Er verbüßt we- Bis Ende 2010 hatten die Behörden noch im- gen »Weitergabe von militärischen Geheimnis- mer keine konkreten Schritte eingeleitet, um sen« eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Der die Empfehlungen der Wahrheits- und Versöh- Offizier hatte in einem Brief an den König eine nungskommission bezüglich einer Reform des bessere Versorgung von ehemaligen Piloten der Justizsystems und der staatlichen Institutionen Luftwaffe gefordert, die früher von der Frente umzusetzen. Dazu zählt auch die Reform des Polisario gefangen gehalten worden waren. In Gerichtswesens und der Sicherheitskräfte. Die dem Brief hatte er zugleich Kritik an der Füh- EU stellte der Regierung 20 Mio. Euro für die rung der marokkanischen Streitkräfte geäußert. Durchführung von Gesetzesreformen zur Verfü- Die Angriffe gegen unabhängige Medien in gung. Weitere 8 Mio. Euro waren dazu be- Marokko setzten sich fort. Im Juli 2010 ließ der stimmt, die schweren Menschenrechtsverlet- Kommunikationsminister verkünden, dass alle zungen der Jahre 1956 bis 1999 zu dokumen- Fernsehstationen eine offizielle Genehmigung tieren und die Erinnerung daran wachzuhalten. beantragen müssten, bevor sie außerhalb der Hauptstadt tätig werden. Diese Vorschrift Recht auf freie Meinungsäußerung wurde augenscheinlich erlassen, um das Recht Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und auf freie Meinungsäußerung weiter einzu- andere Personen wurden bestraft, weil sie sich schränken und die Medien davon abzuhalten, zu Themen geäußert hatten, die von den Behör- über Demonstrationen für eine bessere soziale den als politisch brisant eingestuft wurden. Versorgung der Bevölkerung zu berichten. Darunter fallen die Berichterstattung über die Im Juli 2010 war die unabhängige Wochenzei- Monarchie und Kritik an Staatsbeamten und tung Nichane gezwungen, ihr Erscheinen ein- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen staatlichen Einrichtungen. zustellen, weil offenbar die Einnahmen stark  Der Journalist Taoufik Bouachrine, Heraus- zurückgegangen waren. Nachdem die Zeitung geber der Tageszeitung Akhbar al-Youm Al- im Jahr 2009 eine Meinungsumfrage über den 000835 Maghribya, erhielt am 10. Juni 2010 eine sechs- König veröffentlicht hatte, wurde sie Opfer monatige Freiheitsstrafe sowie eine Geldbuße, eines Anzeigenboykotts. nachdem er von einem erstinstanzlichen Ge- Im Oktober 2010 schloss das Kommunikati- richt in Rabat des Betrugs für schuldig befun- onsministerium vorübergehend das Büro von den worden war. Er legte Rechtsmittel gegen Al Jazeera in Rabat. Dem Sender wurde vorge- das Urteil ein. Im Jahr 2009 war er von der An- worfen, er beschädige »das Ansehen Marok- klage freigesprochen worden. Die Staatsanwalt- kos und dessen wichtigste Interessen, vor allem schaft hat den Fall jedoch neu aufgerollt, mög- die territoriale Integrität« in Bezug auf den Sta- licherweise aus politischen Gründen. Taoufik tus der Westsahara. Bouachrine hat in seinen Veröffentlichungen Im November hinderten die Behörden dem Kritik an der Monarchie und an der Regierung Vernehmen nach mehrere marokkanische und geübt. ausländische Journalisten an einer Reise nach  Der Menschenrechtsverteidiger und Journa- Laayoune, wo sie über die Ereignisse im Zu- list Chekib El-Khiari verbüßte 2010 weiterhin sammenhang mit der gewaltsamen Vertreibung eine dreijährige Haftstrafe, zu der er im Juni protestierender Sahrauis berichten wollten. 2009 wegen Untergrabung und Verunglimp- fung öffentlicher Einrichtungen verurteilt wor- Unterdrückung Andersdenkender – den war. Zuvor hatte Chekib El-Khiari hoch- sahrauische Aktivisten rangigen Beamten öffentlich vorgeworfen, in Die Behörden beschränkten auch 2010 die Drogenhandel und Korruption verwickelt zu friedliche Ausübung der Rechte von Sahrauis

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht sein. auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs-

312 Marokko und Westsahara und Versammlungsfreiheit im Zusammen- gade der Justizpolizei nach ihrer Verhaftung hang mit dem Ruf nach Selbstbestimmung der am 28. Juni drei Tage lang gefoltert und ander- Menschen auf dem Gebiet der Westsahara. weitig misshandelt. Mindestens fünf der sie- Sahrauische Menschenrechtsverteidiger und ben Gefangenen berichteten, vergewaltigt wor- Aktivisten waren Schikanen ausgesetzt. Sie den zu sein. Eine Untersuchung dieser Vor- wurden bedroht, von den Sicherheitskräften würfe scheint von den Behörden nicht eingelei- überwacht oder aus politischen Gründen straf- tet worden zu sein. Die sieben Männer waren rechtlich verfolgt. Sahrauischen Menschen- über die gesetzlich zulässige Frist hinaus ohne rechtsorganisationen blieb eine offizielle Ge- Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten wor- nehmigung verwehrt. den. Sie gaben an, während ihrer Gefangen-  Ahmed Alansari, Brahim Dahane und Ali Sa- schaft gezwungen worden zu sein, belastende lem Tamek saßen weiterhin in Haft. Vier an- Aussagen zu unterzeichnen, die durch Folter dere Sahrauis, die zusammen mit ihnen im Ok- zustande gekommen waren. Ihnen wurde zur tober 2009 festgenommen worden waren, ka- Last gelegt, ein ehemaliges Mitglied von Al-Adl men hingegen bis zu ihrer Gerichtsverhandlung wal-Ihsan tätlich angegriffen und entführt zu frei. Die sieben Aktivisten waren bei ihrer haben. Am 21. Dezember wurden alle Ange- Rückkehr aus Algerien verhaftet worden, nach- klagten freigesprochen und aus der Haft ent- dem sie die von der Frente Polisario verwalte- lassen. Das ehemalige Al-Adl wal-Ihsan-Mit- ten Flüchtlingslager in Tindouf besucht hatten. glied legte Rechtsmittel gegen die Freisprüche Die Anklage lautete auf »Untergrabung der ein. Staatssicherheit«. Ihr Fall sollte zunächst vor  Fodail Aberkane ist dem Vernehmen nach dem ständigen Militärgericht gehört werden, am 18. September an inneren Blutungen ge- wurde dann aber an ein reguläres Gericht zu- storben. Er war auf der Polizeiwache von Salé rückverwiesen. Das Verfahren vor einem Ge- von einer Gruppe von sieben oder acht Polizei- richt in Casablanca begann am 15. Oktober und beamten verprügelt worden. Seine Familie dauerte Ende 2010 noch an. reichte Klage ein. Daraufhin eingeleitete Un- tersuchungen endeten mit der Verhaftung von Folter und andere Misshandlungen mehreren Polizisten, die für die Tat verantwort- Im Jahr 2010 trafen neue Meldungen über Fol- lich sein sollen. terungen und andere Misshandlungen ein, die vor allem von Angehörigen des Geheimdienstes Antiterrormaßnahmen und Sicherheit (Direction de la Surveillance du Territoire – Die Behörden gaben bekannt, dass mehrere DST) und in einigen Fällen von der Nationalen »Terrornetzwerke« enttarnt und zahlreiche Brigade der Justizpolizei (Brigade Nationale Verdächtige inhaftiert worden seien. Die Gefan- de la Police Judiciaire) begangen wurden. Die genen wurden oft über die gesetzlich erlaub- Verantwortlichen für die Übergriffe gingen ten zwölf Tage hinaus in einem inoffiziellen meist straffrei aus. Zu den am häufigsten be- Haftzentrum, vermutlich in Témara, ohne richteten Foltermethoden zählten Schläge, Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Dort sollen Elektroschocks und die Drohung mit Vergewal- sie gefoltert und anderweitig misshandelt wor- tigung. Unter den Opfern befanden sich Straf- den sein. gefangene sowie Personen, die wegen Versto-  Nach seiner Verhaftung am 28. März 2010 in ßes gegen die Sicherheit vom DST inhaftiert Casablanca wurde Youssef al-Taba’i Berichten worden waren. zufolge in einer extrem kalten Zelle im Haftzen-  Mohamed Sleimani, Abdalla Balla, Bouali trum von Témara festgehalten und geschla- M’naouar, Hicham el-Hawari, Izaddine Slei- gen. Er wurde am Schlafen gehindert und blieb mani, Hicham Sabbah und Tarek Mahla, Mit- ohne Nahrung. Während seiner mehr als drei- glieder von Al-Adl wal-Ihsan, wurden Berich- wöchigen Haft wurde er immer wieder mit eis- ten zufolge von Beamten der Nationalen Bri- kaltem Wasser übergossen. Youssef al-Taba’i

Marokko und Westsahara 313 wurden Straftaten im Zusammenhang mit Ter- Recht auf Religionsfreiheit rorismus zur Last gelegt. Im Jahr 2010 wiesen die Behörden 130 auslän- Terroristischer Straftaten angeklagte Perso- dische Christen im Schnellverfahren aus Ma- nen mussten sich in Gerichtsverfahren verant- rokko aus, darunter Lehrer und Mitarbeiter von worten, die internationalen Standards für faire Hilfsorganisationen. Sie sollen missioniert ha- Prozesse zuwiderliefen. Gegen mehrere Ange- ben, wurden aber nicht angeklagt. Das Missio- klagte ergingen Urteile aufgrund von »Geständ- nieren ist laut Paragraph 220 des marokkani- nissen«, die offensichtlich unter Nötigung zu- schen Strafgesetzbuchs strafbar. stande gekommen waren. Die Gerichte leiteten keine zufriedenstellenden Untersuchungen Todesstrafe entsprechender Vorwürfe ein. Gegen mindestens vier Personen ergingen Gefangene, die unter der Anklage terroristi- 2010 Todesurteile. Die Regierung hielt jedoch scher Straftaten auf ihren Prozess warteten, an einem De-facto-Moratorium für Hinrichtun- traten in einen Hungerstreik, um gegen Folte- gen fest, das seit 1993 in Kraft ist. rungen und harte Haftbedingungen zu protes- Im Dezember 2010 enthielt sich Marokko der tieren. Hungerstreiks gab es auch unter Häftlin- Stimme, als in der UN-Generalversammlung gen, die Freiheitsstrafen verbüßten. Dazu zähl- eine Resolution für ein weltweites Hinrichtungs- ten Islamisten, die im Zusammenhang mit dem moratorium zur Abstimmung gelangte. Bombenanschlag im Jahr 2003 in Casablanca verurteilt worden waren. Die Regierung unter- Polisario-Flüchtlingslager nahm keinerlei Schritte, um den Schutz von Angehörige der Frente Polisario nahmen am Gefangenen, die wegen Straftaten im Zusam- 21. September 2010 den ehemaligen Polizei- menhang mit der Sicherheit inhaftiert waren, beamten Mostafa Salma Sidi Mouloud fest, weil vor Folterungen oder anderen Misshandlungen er öffentlich seine Unterstützung für die von 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen zu gewährleisten. Ebenso wenig leitete sie der Regierung favorisierte Lösung der Autono- Maßnahmen zur Untersuchung von Foltervor- mie der Westsahara unter marokkanischer würfen ein. Verwaltung bekundet hatte. Er wurde am 000835 Schlagbaum der Grenze zu den von der Frente Rechte von Migranten Polisario verwalteten Tidouf-Lagern in der Re- Im August und September 2010 gingen die Be- gion Mhiriz festgenommen. Nach internatio- hörden hart gegen Migranten vor, die mutmaß- nalen Protesten teilte die Frente Polisario lich ohne offizielle Genehmigung nach Marokko schließlich am 6. Oktober mit, Mostafa Salma eingereist waren oder dort lebten. 600 bis 700 Sidi Mouloud sei freigelassen worden. Tatsäch- Personen wurden in Oujda, Rabat, Tanger und lich blieb er jedoch in Haft. Der Kontakt zu sei- anderen Städten festgenommen, darunter ner Familie war ihm bis zum 1. Dezember un- auch Kinder. Während mehrerer Razzien setz- tersagt. An diesem Tag wurde er dem UN- ten die Behörden schweres Räumgerät ein, Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) in um die Siedlungen der Migranten dem Erdbo- Mauretanien überstellt. den gleichzumachen. Dem Vernehmen nach Seitens der Frente Polisario wurde offenbar schlugen Angehörige der Sicherheitskräfte bei nichts gegen die Straffreiheit von Personen dieser Aktion auf Menschen ein. Die festge- unternommen, denen Menschenrechtsver- nommenen Migranten wurden in der Wüste im stöße in den 1970er- und 1980er-Jahren in den Grenzgebiet zu Algerien ohne ausreichende Flüchtlingslagern zur Last gelegt werden. Nahrungs- und Wasservorräte ausgesetzt. Sie hatten keine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit Amnesty International: Mission und Berichte dieses Vorgehens prüfen zu lassen.  Im November stattete eine Delegation von Amnesty Interna- tional Marokko und der Westsahara einen Besuch ab, um

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht die Menschenrechtssituation nach den Vorfällen in dem Pro-

314 Marokko und Westsahara testlager und in Laayoune zu untersuchen. Die Delegation überschreitend aktiv waren, zu koordinieren. wurde von Regierungsmitgliedern empfangen. Nachdem der mauretanische Verfassungsrat,  Morocco/Western Sahara: Broken promises – the Equity der über die Einhaltung der Verfassung wacht, and Reconciliation Commission and its follow-up das im Januar erlassene Antiterrorgesetz für (MDE 29/001/ 2010) verfassungswidrig erklärt hatte, verabschiedete  Marocco/Western Sahara: Rights trampled – protests, das Land im Juli ein neues Gesetz. Das neue violence and repression in Western Sahara Antiterrorgesetz gab den Sicherheitsorganen (MDE 29/019/ 2010) mehr Befugnisse im Kampf gegen AQIM. Der ehemalige Kommissar für Menschen- rechte, Lemine Ould Dadde, der im Rang eines Ministers gestanden hatte, wurde im Sep- tember verhaftet und wegen Unterschlagung angeklagt. Mauretanien Im Mai wurde Mauretanien in den UN-Men- schenrechtsrat gewählt, der im November die Amtliche Bezeichnung: Lage der Menschenrechte im Land im Rahmen Islamische Republik Mauretanien der Universellen Regelmäßigen Überprüfung Staatsoberhaupt: (UPR) begutachtete. General Mohamed Ould Abdel Aziz Regierungschef: Moulaye Ould Mohamed Laghdaf Willkürliche Festnahmen und Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Inhaftierungen Einwohner: 3,4 Mio.  Im Mai 2010 wurden in der Provinz Tevragh Lebenserwartung: 57,3 Jahre Zeina, Region Nouakchott, mindestens 50 La- Kindersterblichkeit (m/w): 128/ 112 pro 1000 gerarbeiter, die eine Lohnerhöhung gefordert Lebendgeburten hatten, willkürlich festgenommen. 40 kamen Alphabetisierungsrate: 56,8% nach mehr als sieben Tagen aus der Haft wie- der frei, die anderen blieben jedoch mehr als Folter und andere Misshandlungen waren 14 Tage inhaftiert. Mohamed Abdallaye Ould weit verbreitet und die Haftbedingun- Diaby und Bounah Ould Alayah wurden erst gen in den Gefängnissen des Landes auch im Jahr 2010 hart. Zahlreiche Per- sonen wurden willkürlich festgenommen und tage- bzw. wochenlang inhaftiert. Viele Menschen, die verdächtigt wurden, Mitglieder bewaffneter Gruppen zu sein, waren über lange Zeiträume inhaf- tiert, ohne dass man sie vor Gericht stellte. Die Sklaverei bestand in der Pra- xis fort. Mindestens 16 Männer wurden zum Tode verurteilt.

Hintergrund Die zunehmenden Aktivitäten der Organisation Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM), die u. a. Geiseln nahm und bewaffnete Überfälle verübte, führten dazu, dass Mauretanien und seine Nachbarländer übereinkamen, ihr Vorge- hen gegen bewaffnete Gruppen, die grenz-

Mauretanien 315 nach über 18 Tagen im Gewahrsam der Behör- richtsverfahren in Gewahrsam. Viele Gefan- den ohne Anklage oder Gerichtsverfahren frei- gene, unter ihnen diejenigen, die man be- gelassen. schuldigte, zu AQIM zu gehören, wurden länger  Nachdem er bereits mehr als drei Jahre im als die gesetzlich erlaubten 15 Tage ohne Mög- Gefängnis gesessen hatte, wurde der Tunesier lichkeit des Kontakts zur Außenwelt in Haft ge- Abdelkerim Verag El Baraoui im Oktober in halten. Sicherheitskräfte und Gefängnisaufse- einem Prozess von dem Vorwurf der Mitglied- her verboten Angehörigen, Gefangene zu besu- schaft in einer verbotenen Bewegung frei- chen. gesprochen und aus der Haft entlassen. Im  Der im Mai 2010 in Nouakchott festgenom- selben Prozess wurden drei weitere Personen mene tunesische Staatsangehörige Malick zum Tode verurteilt, andere erhielten Frei- Kraina wurde erst nach mehr als 26 Tagen in heitsstrafen. Unmittelbar nach seiner Freilas- Haft ohne Kontakt zur Außenwelt der Mitglied- sung nahm die Geheimpolizei Abdelkerim schaft bei AQIM angeklagt. Verag El Baraoui widerrechtlich fest. Die Straf-  Mohamed Lemine Ag Maleck, Student der verfolgungsbehörden erklärten seinen Ver- Geschichte aus Mali, wurde im Juli 2010 in der teidigern, dass ihnen von einer Festnahme Stadt Oualata festgenommen. Er wurde mehr nichts bekannt sei. Berichten zufolge soll Ab- als 20 Tage auf der Polizeiwache festgehalten; delkerim Verag El Baraoui in den Senegal ge- erst dann klagte man ihn wegen der Weitergabe bracht worden sein. von Informationen an das Ausland an. Die An- klage stützte sich darauf, dass er ein GPS-Gerät Antiterrormaßnahmen und Sicherheit und eine Kamera bei sich führte. Der Student  Im Februar 2010 wurden bei einer Militärope- sagte, er mache mit dieser Ausrüstung Fotos ration in Lemzeirib, 650 km östlich von Zoué- und erarbeite Routen für einen Reiseveran- rate, an der Grenze zu Mali, zwei Malier getötet. stalter. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Min- destens 20 malische Staatsangehörige wurden Folter und andere Misshandlungen festgenommen und länger als sechs Monate Polizeibeamte, Militärangehörige und Gefäng- 000835 ohne Anklageerhebung oder ein Gerichtsver- nisaufseher setzten Folterungen und andere fahren in Gewahrsam gehalten. Die maureta- Misshandlungen gegen Männer und Frauen nischen Behörden beschuldigten die beiden ein, die aus politischen Gründen oder weil Getöteten, zu einer Bande von Drogen- man sie einer Straftat verdächtigte, festgenom- schmugglern aus dem Umfeld von AQIM zu ge- men worden waren. Die Opfer wurden übli- hören. Im September kamen bei einem Angriff cherweise sofort nach ihrer Festnahme in Haft- der mauretanischen Luftwaffe auf einen Stütz- einrichtungen, u. a. der ersten Polizeibrigade punkt von AQIM in der Gegend von Tom- und der Gendarmerie, gefoltert. bouctou zwei Zivilpersonen aus Mali ums Le- Die mauretanischen Behörden erklärten in- ben. Mauretanien entschuldigte sich dafür of- des, dass Folter nicht mehr praktiziert werde. fiziell bei Mali. Diese Aussage stand im Widerspruch zu Aussa- Im gesamten Berichtsjahr wurden mehr als gen von Menschen, die angaben, dass sie im zehn Menschen, darunter auch Staatsangehö- Berichtsjahr gefoltert bzw. misshandelt wurden. rige der Nachbarländer, festgenommen und Diese Angaben kamen u. a. von Personen, die der Verbindung zu Al-Qaida oder anderen be- in den Gefängnissen von Dar Na¨ım und Nouad- waffneten Gruppen beschuldigt. Andere Perso- hibou sowie dem Zentralgefängnis in Nouak- nen kamen im Rahmen von Antiterrormaß- chott inhaftiert waren. In einem Prozess, der im nahmen in Haft. Einige wurden der direkten Juli und im August stattfand, gaben die Ange- bzw. indirekten Beteiligung an Terrorakten ver- klagten an, sie seien gefoltert worden. Eine Un- dächtigt. Mehrere Personen befanden sich tersuchung der Vorwürfe lehnte der Richter je-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht während des gesamten Jahres 2010 ohne Ge- doch ab.

316 Mauretanien  Aus Berichten ging hervor, dass die meisten – Rechte von Migranten wahrscheinlich alle – der 20 oder mehr Malier, Mehr als 250 Menschen wurden willkürlich die im Februar in Lemzeirib festgenommen festgenommen, weil man sie verdächtigte, von worden waren, von Armeeangehörigen gefol- Mauretanien aus nach Europa gelangen zu tert wurden. Soldaten verletzten einige Opfer wollen. Sie wurden tagelang in einem Haftzen- bei der Festnahme mit Messern, anderen füg- trum in Nouadhibou festgehalten. Die fest- ten sie mit Zigaretten Brandwunden zu. genommenen Personen kamen überwiegend aus den Staaten südlich der Sahara, vor allem Todesfälle in Gewahrsam aus Mali, Senegal und Guinea. Trotz der Zu- 2010 starben allein im Gefängnis von Dar Na¨ım sage, man wolle die Hafteinrichtung sanieren, mindestens zwölf Gefangene an den Folgen unternahmen die Behörden nichts, um die von Unterernährung und fehlender medizini- harten Haftbedingungen dort zu verbessern. scher Versorgung. Von einer Untersuchung der Todesfälle wurde nichts bekannt. Sklaverei  Im Laufe des Berichtsjahrs wurde bekannt, Obwohl die Sklaverei bereits 1981 abgeschafft dass der senegalesische Staatsangehörige worden war und seit August 2007 als Straftat- Ousseyni Wellé 2009 im Gefängnis von Dar bestand gilt, bestand sie in der Praxis auch Na¨ım gestorben war, vermutlich an den Folgen 2010 fort. Bisher gab es keine gerichtlichen von Folterungen. Er war 2008 zum Tode verur- Verfahren gegen Sklavenbesitzer. teilt worden. Über eine Untersuchung des Mit Hilfe der Organisation S. O. S. Esclaves Falls wurde nichts bekannt. und der Initiative für die Wiederbelebung der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in Haftbedingungen Mauretanien (L’Initiative pour la Résurgence Nach wie vor wurden Hunderte in überfüllten du Mouvement Abolitionniste en Mauritanie – Gefängnissen festgehalten, in denen es kaum IRA Mauritanie) konnten 2010 zwei Familien sanitäre Einrichtungen gab. Die medizinische aus der Sklaverei befreit werden. Betreuung war nicht adäquat und das Essen  Wie andere Familienmitglieder war auch von schlechter Qualität. Die Bedingungen, die Moulkheir Mint Yarba als Sklavin geboren wor- in einigen Gefängnissen herrschten, kamen den. Sie wurde im Februar mit ihren vier Kin- grausamer, unmenschlicher oder erniedrigen- dern befreit. Sie war im Dezember 2007 schon der Behandlung gleich. einmal befreit worden, zwei Monate später je- In den Gefängnissen von Nouadhibou und doch von einem anderen Sklavenbesitzer wie- Dar Na¨ım bei Nouakchott waren die Inhaftier- der gefangen genommen worden. Während ten bei drückender Hitze zusammengepfercht ihrer Versklavung war sie bisweilen geschlagen und durften die Zellen nur selten verlassen worden und hatte nichts zu essen bekommen. oder frische Luft atmen. In dem für 350 Häft-  Aichetou Mint M’Bareck war Sklavin seit ihrer linge ausgelegten Gefängnis von Dar Na¨ım sa- Geburt im Jahr 1975. Im Oktober gelang ihr ßen mehr als 1000 Menschen ein. und ihren sieben Kindern die Flucht aus der Vollzugsbeamte bestätigten Amnesty Interna- Gefangenschaft. Während ihrer Versklavung tional, dass die Gefängnisse von Dar Na¨ım und war sie von ihren Kindern getrennt gewesen, Nouadhibou nicht internationalen Standards war geschlagen worden, und ihre Kinder hat- entsprachen. Sie thematisierten ausdrücklich ten keine Schule besuchen dürfen. die schlechte medizinische Versorgung, die sa- nitären Probleme, die Feuchtigkeit und die Menschenrechtsverteidiger schlechte Belüftung in den Zellen. Mehrere Menschenrechtler kamen 2010 in Haft, und einer von ihnen wurde sowohl bei der Festnahme als auch auf der Polizeiwache in Nouakchott geschlagen.

Mauretanien 317  Acht Aktivisten, die sich gegen Sklaverei en- gagieren, wurden im Dezember in Nouakchott Mazedonien festgenommen und inhaftiert, weil sie den Fall von zwei jungen Mädchen aufgegriffen hatten, Amtliche Bezeichnung: Ehemalige jugoslawische die ihrer Einschätzung nach als Sklavinnen ge- Republik Mazedonien halten wurden. Bei den Aktivisten handelt es Staatsoberhaupt: Gjorgje Ivanov sich um Mitglieder der Initiative pour la Résur- Regierungschef: Nikola Gruevski gence du Mouvement Abolitionniste en Mauri- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft tanie, einer Organisation, die die Behörden Einwohner: 2 Mio. nicht anerkannten, obwohl sie schon mehr- Lebenserwartung: 74,5 Jahre fach ihre Registrierung beantragt hatte. Die Kindersterblichkeit (m/w): 17 / 16 pro 1000 acht Aktivisten wurden angeklagt, Polizisten Lebendgeburten tätlich angegriffen und die öffentliche Ordnung Alphabetisierungsrate: 97% gefährdet zu haben. Amnesty International be- trachtete die Inhaftierten als gewaltlose politi- Es gab nur wenige Fortschritte bei der sche Gefangene. strafrechtlichen Verfolgung von Kriegs- verbrechen. Die Antidiskriminierungsge- Todesstrafe setze entsprachen nicht internationalen Zwar hat es seit 1987 keine Hinrichtungen mehr Standards. Die Pressefreiheit wurde wei- gegeben, doch wurden 2010 sehr viel mehr ter eingeschränkt. Todesurteile von Gerichten verhängt. Gerichte in Nouadhibou und Nouakchott verurteilten Hintergrund mindestens 16 Männer zum Tode, obwohl in Die Streitigkeiten mit Griechenland über den den Prozessen geltend gemacht wurde, dass Namen »Mazedonien« beherrschten nach wie 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen einige Angeklagte gefoltert worden waren. Die vor die internationalen Beziehungen und die In- Gerichte unternahmen nichts, um diese Vor- nenpolitik. Im November 2010 kritisierte die würfe zu untersuchen. Drei Männer, darunter Europäische Kommission Mazedoniens un- 000835 Sidi Ould Sidna, der schon im Mai wegen Mor- gleichmäßige Fortschritte im Hinblick auf den des zum Tode verurteilt worden war, wurden im EU-Beitritt und äußerte vor allem Bedenken Oktober unter der Anklage der Mitgliedschaft über die Unabhängigkeit der Justiz und die in einer verbotenen Organisation erneut zum Freiheit der Medien. Dennoch empfahl die Eu- Tode verurteilt. ropäische Kommission, die Beitrittsgespräche zu beginnen, sobald die Frage des Landesna- Amnesty International: Missionen und Berichte mens geklärt sei.  Delegierte von Amnesty International hielten sich im Septem- ber und Oktober in Mauretanien auf.  Mauritania: Submission to the UN Universal Periodic Review, November 2010 (AFR 38/001/ 2010)  Mauritania: The Human Rights Council cannot ignore the systematic use of torture (AFR 38/003/2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

318 Mazedonien Die Beziehungen zwischen der mazedoni- hiti, im Mai in der Haftanstalt Izdrovo Selbst- schen Mehrheitsregierung und den politi- mord beging. Die mazedonischen Straßenar- schen Parteien der ethnischen albanischen Be- beiter waren dem Vernehmen nach im August völkerung verschlechterten sich, auch inner- 2001 von der ethnisch albanischen nationalen halb der Regierungskoalition. Streitigkeiten ent- Befreiungsarmee UÇK entführt und anschlie- zündeten sich an der strafrechtlichen Verfol- ßend misshandelt, sexuell missbraucht und mit gung von Kriegsverbrechen, der für 2011 ge- dem Tode bedroht worden, bevor sie wieder planten Volkszählung, die den ethnischen Al- freikamen. banern zufolge diskriminierend wäre, sowie den Der Regierung zufolge wurde in den anderen Ausgaben der Regierung für Denkmäler zur drei Fällen ermittelt, doch waren keine weite- mazedonischen Geschichte. ren Fortschritte zu verzeichnen. Parteien der ethnisch albanischen Bevölkerungsgruppe Justiz traten dafür ein, die Anklagen unter dem Die von der Europäischen Kommission gefor- Amnestiegesetz von 2002 fallenzulassen. derten Reformen bezogen sich teilweise auf Dieses Gesetz gewährt am Konflikt von 2001 Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der beteiligten Personen Straffreiheit, außer in Fäl- Justiz. Im November zeigte sich die Kommis- len, die der Zuständigkeit des ICTY unterliegen. sion weiterhin besorgt über die Einmischung Da die Fälle zwar vom ICTY untersucht, aber der Exekutive und die vom Justizministerium nicht dort verhandelt wurden, vertraten die Par- ausgeübte politische Kontrolle. Dem Büro des teien den Standpunkt, dass das Amnestiege- Ombudsmanns zufolge bezogen sich 20% der setz gelten solle. im Jahr 2009 eingegangenen Beschwerden auf Das »Verschwindenlassen« von sechs ethni- die Justizbehörden. schen Albanern sowie die Entführung von 13 ethnischen Mazedoniern und einem Bulgaren Kriegsverbrechen im Jahr 2001 blieben weiterhin ungeahndet. Im Mai 2010 bestätigte die Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs für das Folter und andere Misshandlungen ehemalige Jugoslawien (International Criminal Im März 2010 berichtete das mazedonische Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY) das Helsinki-Komitee, dass gravierende Mängel in 2008 erfolgte Urteil gegen Johan Tarcˇ ulovski, psychiatrischen Krankenhäusern häufig Verlet- der wegen seiner Beteiligung an Kriegsverbre- zungen der Patientenrechte gleichkamen. Der chen durch die mazedonische Polizei in Ljubo- Ombudsmann bezeichnete die Lebensbedin- ten während des Konflikts von 2001 zu zwölf gungen im September als »katastrophal«. Im Jahren Haft verurteilt worden war. Rechtsmittel September besuchte der Europäische Aus- gegen den Freispruch des früheren mazedoni- schuss zur Verhütung von Folter und un- schen Innenministers Ljube Bosˇkoski wurden menschlicher oder erniedrigender Behandlung abgelehnt. oder Strafe (CPT) Einrichtungen, in denen  Hinsichtlich der vier vom ICTY im Februar Menschen in Gewahrsam gehalten werden, da- 2008 an Mazedonien zurückverwiesenen Fälle runter Obdachlosenheime und psychiatrische von Kriegsverbrechen waren 2010 nur geringe Krankenhäuser. Fortschritte zu verzeichnen. Das im Septem- Berichte über Misshandlungen durch Polizei- ber 2008 eröffnete Verfahren im Fall der Stra- angehörige rissen nicht ab. ßenarbeiter der Baufirma Mavrovo wurde  Roma sprachen von exzessiver Gewaltan- mehrfach vertagt, u. a. im Februar, als den An- wendung, als 200 Angehörige der Bereit- geklagten keine Unterlagen in albanischer schaftspolizei im April 2010 die Schließung Sprache zur Verfügung gestellt wurden. Im April eines inoffiziellen Marktes im Skopjer Vorort begann das Strafverfahren gegen elf der 23 Sˇ uto Orizari betrieben. Zu den Verletzten zähl- Angeklagten, von denen einer, Sulejman Rus- ten dem Vernehmen nach 17 Polizeibeamte

Mazedonien 319 und – dem Bürgermeister zufolge – über 40 Diskriminierung Roma. NGOs berichteten indes, dass die Im April 2010 verabschiedete das Parlament ein Roma aus Angst vor Repressalien keine Be- Antidiskriminierungsgesetz, das hinter den schwerde erhoben hätten. Interne Ermittlun- Standards der EU zurückblieb, u. a. durch das gen kamen zu dem Schluss, dass die Polizei Versäumnis, Homo- und Bisexuelle sowie »im Rahmen ihrer Befugnisse gehandelt Transgender-Personen vor Diskriminierung zu hatte«. schützen.  Die Regierung stimmte einer einvernehmli- chen Regelung mit Jasmina Sulja zu, nach- Roma dem diese sich an den Europäischen Gerichts- Im Juni 2010 äußerte sich der UN-Ausschuss hof für Menschenrechte gewandt hatte. Sie er- für die Rechte des Kindes besorgt darüber, klärte, dass ihr ein effektiver Rechtsbehelf ver- dass Roma- und Flüchtlingskinder nach wie vor weigert geblieben sei, nachdem es die Behör- ohne Registrierung und Ausweispapiere blie- den versäumt hatten, in Bezug auf den Tod ben, und beanstandete die Diskriminierung von ihres Lebensgefährten Sabri Asani zu ermit- Kindern aus Minderheitengruppen, vor allem teln. Der ethnische Albaner war gestorben, Roma, darunter auch Straßenkinder und Kinder nachdem er im Januar 2000 Berichten zufolge mit Behinderungen. Im März berichtete das im Polizeigewahrsam verprügelt worden war. Büro des Ombudsmanns, dass Roma-Kinder in Schulen für Kinder mit geistiger Behinderung Antiterrormaßnahmen und Sicherheit überrepräsentiert waren.  Veranlasst durch einen Antrag von Khaled el- Das Versäumnis Mazedoniens, staatliche Ak- Masri sandte der Europäische Gerichtshof für tionspläne für das »Jahrzehnt für die Integra- Menschenrechte eine Mitteilung an die maze- tion der Roma« zu finanzieren und umzuset- donischen Behörden, da diese an dessen im zen, darunter auch eine Strategie zur Verbes- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Jahr 2003 in Skopje erfolgter Entführung mit serung des Status von Roma-Frauen, wurde im anschließender 23-tägiger Inhaftierung und Juni von der Europäischen Kommission gegen Misshandlung mitgewirkt hätten. Nach seiner Rassismus und Intoleranz kritisiert. 000835 Inhaftierung wurde Khaled el-Masri den US- Der UN-Entwicklungsfond für Frauen (UNI- Behörden überstellt und nach Afghanistan ge- FEM) veröffentlichte im Januar 2010 von Ro- flogen, wo er dem Vernehmen nach Folter und ma-Frauen gesammelte Daten, in denen die anderen Misshandlungen ausgesetzt war. unverhältnismäßig hohen Barrieren dokumen- tiert sind, denen sie bei der Anzeige von fami- Recht auf freie Meinungsäußerung liärer Gewalt gegenüberstehen. Im Februar Investigative Journalisten sprachen von Behin- enthüllte ein zweiter Bericht, dass 75% aller derung ihrer Arbeit durch die Regierung, u. a. Roma-Frauen Diskriminierung durch Staats- durch Morddrohungen, Einschüchterungen beamte erfahren, wenn sie sich an öffentliche und von Regierungsbeamten angestrengte Stellen wenden. Verleumdungsklagen. Etwa 320000 Personen, darunter auch Roma,  Im Februar 2010 wurden drei Studierende lebten 2010 nach wie vor in informellen Sied- freigesprochen, die angeklagt waren, im Rah- lungen, viele davon ohne Trinkwasser oder Ka- men einer Demonstration im März 2009 gegen nalisation. ein Bauvorhaben der Regierung nicht die öf-  Eine im April aus dem Skopjer Stadtteil Aero- fentliche Sicherheit gewährleistet zu haben. Die drom vertriebene Roma-Familie wurde dem Polizei hatte es indes versäumt, sie vor Über- Vernehmen nach im Mai von der Polizei ge- griffen von Gegendemonstranten zu schützen. schlagen, als sie versuchte, ihre Unterkunft an derselben Stelle wiederaufzubauen. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

320 Mazedonien Flüchtlinge und Asylsuchende Etwa 1542 aus dem Kosovo geflohene Roma Mexiko und Aschkali blieben in Mazedonien. Nur we- nige erhielten Asyl; die Mehrheit wurde in ein Amtliche Bezeichnung: lokales Integrationsprogramm unter der Ägide Vereinigte Mexikanische Staaten des Ministeriums für Arbeit und Soziales einge- Staats- und Regierungschef: gliedert. In den Monaten März, April und Ok- Felipe Calderón Hinojosa tober protestierten Roma beim Büro des UN- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) da- Einwohner: 110,6 Mio. gegen, dass ihnen das Ministerium ihre monat- Lebenserwartung: 76,7 Jahre liche Unterstützung nicht ausgezahlt habe Kindersterblichkeit (m/w): 22 / 18 pro 1000 und sie infolgedessen weder Mieten noch Lebendgeburten Strom- und Gasrechnungen bezahlen konn- Alphabetisierungsrate: 92,9% ten, wodurch dem Vernehmen nach mehrere Familien obdachlos geworden waren. Das Kriminelle Banden entführten und töte- Büro des UNHCR leistete finanzielle Überbrü- ten 2010 Tausende von Menschen. Poli- ckungshilfe, um die Lücke zwischen den Aus- zisten und Angehörige der Streitkräfte, zahlungen zu schließen. die zur Bekämpfung der Banden ein- Nach der Liberalisierung der Visa-Bestim- gesetzt worden waren, machten sich mungen in der EU reisten ethnische Albaner schwerer Menschenrechtsverletzungen und Roma aus dem Norden des Landes in EU- schuldig. Im Justizsystem und bei den Mitgliedstaaten, offenbar um dort Asyl zu be- Überwachungsmechanismen gab es antragen. Über 400 von ihnen wurden im März weiterhin schwere Mängel, und Straf- gemeinsam als Gruppe von Belgien nach Ma- losigkeit nach Menschenrechtsverlet- zedonien abgeschoben. Im Oktober soll die EU- zungen war die Regel. Mehrere Men- Innenkommissarin damit gedroht haben, die schenrechtsverteidiger und Journalisten Visa-Vereinbarung zurückzunehmen. wurden schikaniert, bedroht und ermor- det. Das Versprechen, Maßnahmen zum Frauenrechte Schutz vor Übergriffen zu treffen und ein Nach der Einführung kostenloser Rechtshilfe geregeltes Verfahren für die Untersu- im Dezember 2009 bemühten sich Frauenor- ganisationen darum, von familiärer Gewalt be- troffenen Frauen rechtliche Unterstützung an- zubieten. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes registrierte eine hohe Quote von Schwangerschaften und Abtreibungen bei min- derjährigen Mädchen aus Roma-Gemein- schaften und anderen Minderheitengruppen sowie einen Mangel an Fürsorge für die repro- duktive Gesundheit in ländlichen Gebieten.

Amnesty International: Berichte  Former Yugoslav Republic of Macedonia: Amnesty Internatio- nal’s follow-up information to the concluding observations of the Committee against Torture (EUR 65/002/2010)  Europe: Open secret – mounting evidence of Europe’s com- plicity in rendition and secret detention (EUR 01/023/2010)

Mexiko 321 chung derartiger Vorfälle einzuführen, lizeibeamte kamen durch Gewalt von Banden wurde nicht gehalten. Migranten ohne ums Leben. Die Polizei wurde verdächtigt, weit- regulären Aufenthaltstatus wurden häu- reichende Verbindungen zu kriminellen Ban- fig Opfer von Verschleppung, Vergewal- den zu unterhalten. Bei gewalttätigen Ausei- tigung und Mord. Die Massentötung von nandersetzungen wurden Passanten und an- 72 Migranten offenbarte das Ausmaß dere unbeteiligte Bürger getötet, was tausende derartiger Verbrechen und zeigte, wie Menschen zur Flucht veranlasste. Die Gewalt systematisch bei ihrer Durchführung griff auf andere Regionen des Landes über. Nur vorgegangen wird. Die gesetzlichen Maß- in wenigen Fällen wurden die für die Morde nahmen reichten nicht aus, um die weit Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt. verbreitete Gewalt gegen Frauen zu ver- Die US-Regierung stellte im Rahmen der Mé- hindern und die Täter zu bestrafen. Der rida-Initiative weiterhin Finanzmittel für die Si- Oberste Gerichtshof (Suprema Corte de cherheit und andere Zwecke zur Verfügung. Die Justicia de la Nación) fällte mehrere Mérida-Initiative ist ein über drei Jahre laufen- Grundsatzurteile in Menschenrechtsfäl- des regionales Abkommen über Zusammenar- len. Der Interamerikanische Gerichtshof beit und Sicherheit. Das US-Außenministe- für Menschenrechte verurteilte Mexiko rium empfahl dem US-Kongress jedoch, die wegen grober Menschenrechtsverlet- Bewilligung der Auszahlung eines kleinen Teils zungen, die von Angehörigen des Militärs der Finanzmittel zurückzuhalten, da die mexi- begangen worden waren. Es gab keine kanische Regierung Auflagen zur Wahrung Fortschritte bei der Beendigung der der Menschenrechte nicht erfüllt habe. Straflosigkeit für die während Mexikos Ende 2010 waren beim mexikanischen Kon- »schmutzigem Krieg« (1964– 82) ver- gress noch immer eine Reihe von Rechtsrefor- übten Menschenrechtsverletzungen. men anhängig. Sie betrafen die verfassungsmä- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Viele indigene Gemeinschaften hatten ßige Anerkennung internationaler Menschen- weiterhin nur begrenzten Zugang zu rechtsabkommen, die Nationale Menschen- rechtskommission (Comisión Nacional de 000835 Grundversorgungseinrichtungen. Fünf gewaltlose politische Gefangene wurden Derechos Humanos – CNDH), das Strafrechts- auf freien Fuß gesetzt. system, Polizeiaufgaben, die nationale Sicher- heit, die Rolle des Militärs beim Gesetzesvollzug Hintergrund sowie die Militärgerichtsbarkeit. Das Büro der Die Medien registrierten mehr als 11000 von UN-Hochkommissarin für Menschenrechte gab Banden verübte Mordfälle, den Großteil davon einen Bericht über die Situation der Men- in den nördlichen Bundesstaaten. Die meisten schenrechtsverteidiger heraus. Der Oberste Ge- von ihnen standen in Zusammenhang mit richtshof wies Klagen gegen die in Mexiko- Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartel- Stadt eingeführte gleichgeschlechtliche Ehe so- len und anderen kriminellen Banden, zu einer wie die Adoption durch gleichgeschlechtliche unbekannten Anzahl von Tötungen kam es Paare ab. aber auch bei Zusammenstößen von Drogen- kartellen und anderen kriminellen Banden mit Polizei und Sicherheitskräfte der Polizei oder Sicherheitskräften. In Ciudad Militär Juárez wurden fast 3000 Menschen ermordet; Es gab weiterhin Berichte über widerrechtliche bei einem Teil der Opfer handelte es sich um Tötungen, das »Verschwindenlassen« von Jugendliche, die bei Massentötungen ums Le- Personen, Folter und willkürliche Festnahmen ben kamen. Bei Übergriffen auf Rehabilitie- durch Angehörige des Militärs. Die CNDH er- rungszentren für Drogenabhängige in mehre- hielt Beschwerden über vom Militär begangene ren Bundesstaaten kamen zahlreiche Patien- Menschenrechtsverstöße und berichtete im

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ten zu Tode. Mehr als 50 Soldaten und 600 Po- November 2010 über laufende Ermittlungen zu

322 Mexiko mehr als 100 Beschwerden über widerrechtli- Polizeikräfte che Tötungen durch Militärangehörige in den Nach wie vor trafen Berichte über willkürliche vorangegangenen 18 Monaten. Inhaftierungen, Folter, exzessive Anwendung Die Militärgerichtsbarkeit beanspruchte in von Gewalt und das »Verschwindenlassen« von solchen Fällen weiterhin die Zuständigkeit, Personen durch Polizeikräfte des Bundes, der während die zivilen Justizbehörden die Unter- Bundesstaaten und der Kommunen ein. Versu- suchung dieser Fälle ablehnten. Es gab im che, das Polizeiwesen zu reformieren, blieben Jahr 2010 nur wenige Informationen über Fort- erfolglos, weil es nicht gelang, glaubwürdige schritte bei strafrechtlichen Verfolgungen Aufsichts- und Kontrollinstanzen und effi- durch Militärgerichte, und eine Verurteilung ziente strafrechtliche Verfahren zur Untersu- eines aktiven Militärangehörigen wegen Men- chung von Menschenrechtsverletzungen ein- schenrechtsverletzungen wurde nicht bekannt. zuführen. Vorschläge der Regierung für eine begrenzte  Im Mai 2010 wurden sechs kommunale Poli- Reformierung der Militärgerichtsbarkeit reich- zeibeamte in Cárdenas im Bundesstaat Ta- ten nicht aus, um zu gewährleisten, dass Men- basco von Mitarbeitern der Abteilung für das or- schenrechtsverletzungen künftig aus dem ganisierte Verbrechen (Subprocuraduríade In- Zuständigkeitsbereich des Militärs ausge- vestigación Especializada en Delincuencia Or- schlossen sind. ganizada – SIEDO) der Generalstaatsanwalt-  Am 19. März 2010 wurden Javier Francisco schaft der Republik (Procuraduría General de la Arredondo und Jorge Antonio Mercado República) festgenommen. Dem Vernehmen Alonso, zwei Studenten einer privaten Universi- nach wurden sie während des Verhörs mit Plas- tät in Monterrey (Instituto Tecnológico y de tiktüten fast erstickt, mit Elektroschocks trak- Estudios Superiores de Monterrey – ITESM), ge- tiert und geschlagen. Zum Jahresende lagen tötet, als das Militär das Feuer auf mutmaßli- keine Informationen über Ermittlungen wegen che Mitglieder einer kriminellen Bande eröff- des Vorwurfs der Folter vor. nete. Eine Untersuchung des Vorfalls durch die CNDH ergab, dass das Militär den getöteten Rechte von Migranten Studenten Schusswaffen untergeschoben und Zehntausende von Migranten ohne regulären Beweise am Tatort vernichtet hatte, um die Op- Aufenthaltsstatus, die auf dem Weg in die USA fer als Mitglieder einer kriminellen Bande be- waren, wurden bei ihrer Reise durch Mexiko schuldigen zu können. Bis zum Jahresende la- von kriminellen Banden verschleppt, verge- gen keine Berichte über weitere Fortschritte waltigt und ermordet. Häufig wurden diese Ver- bei den Ermittlungen vor. brechen mit dem Wissen, der Komplizen-  Am 3. April 2010 wurden die fünf und neun schaft oder dem stillschweigenden Einver- Jahre alten Brüder Bryan und Martín Almanza ständnis der Bundes-, Bundesstaats- und von der Armee erschossen, als sie den Aus- Kommunalpolizei begangen. Die Verantwortli- sagen von Augenzeugen zufolge zusammen chen für diese Verbrechen wurden selten zur mit ihrer Familie im Auto im Bundesstaat Rechenschaft gezogen. Die Ernennung eines Tamaulipas unterwegs waren. Sowohl die mili- Sonderstaatsanwalts im Bundesstaat Chiapas tärischen als auch die zivilen Behörden bestrit- war eine der wenigen erfolgreichen Initiativen, ten, dass das Militär für diesen Vorfall Verant- um die gegen Migranten verübten Straftaten wortung trage. Die CNDH wies allerdings nach, zu untersuchen. Die Regierung kündigte eine dass die Tatorte verändert und Beweise außer verbesserte Koordination zwischen bundes- Acht gelassen worden waren. Die Ermittlungen und bundesstaatlichen Institutionen an, um lagen zum Jahresende weiterhin im Zustän- das Problem anzugehen. Die Migrationsge- digkeitsbereich des Militärs, und Informationen setzgebung wurde in einigen Punkten refor- über Fortschritte bei den Ermittlungen waren miert, um es Migranten ohne regulären Auf- nicht verfügbar. enthaltsstatus zu ermöglichen, Strafanzeige zu

Mexiko 323 stellen und im Notfall medizinische Versor- Erklärungen ab, die die Legitimität einiger gung zu erhalten. Menschenrechtsverteidiger in Zweifel zogen.  Im August 2010 wurden 72 überwiegend zen- Die offiziellen Maßnahmen zum Schutz von tralamerikanische Migranten von einer krimi- Menschenrechtsverteidigern wurden häufig nellen Bande im Bundesstaat Tamaulipas er- mangelhaft angewandt. Ein spezielles Schutz- mordet. Später kam es im Zusammenhang mit programm sowie ein neues Verfahren für die den Morden zur Festnahme von acht Personen. Untersuchung von Angriffen gegen Men- Angestellte und freiwillige Helfer in kirchli- schenrechtsverteidiger waren Ende 2010 noch chen Zufluchtsstätten, die Migranten humani- nicht umgesetzt worden. täre Hilfe leisteten, wurden eingeschüchtert  Im August 2010 wurde der für die Rechte der und bedroht. indigenen Bevölkerung eintretende gewaltlose politische Gefangene Raúl Hernández nach Recht auf freie Meinungsäußerung – einer intensiven nationalen und internationa- Journalisten len Kampagne freigesprochen und aus dem Journalisten und Medienunternehmen waren Gefängnis im Bundesstaat Guerrero entlas- auch 2010 Drohungen und Angriffen ausge- sen. Er hatte mehr als zwei Jahre wegen kon- setzt. Mindestens sechs Journalisten wurden struierter Mordanklagen im Gefängnis ver- ermordet. Kriminelle Banden nahmen insbe- bracht. Nach seiner Freilassung wurden er und sondere Journalisten ins Visier, die über Verbre- andere Mitglieder der Organisation des indige- chen berichteten. In einigen Bundesstaaten nen Volkes Me’phaa (Organización del Pueblo unterwarfen sich die Medien einer Selbstzensur Indígena Me’phaa – OPIM) bedroht und einge- und vermieden die Berichterstattung über sol- schüchtert. che Ereignisse. Die Generalstaatsanwaltschaft  Im April 2010 wurden Alberta Cariño und der bekundete erneut ihre Bereitschaft, Straftaten finnische Staatsangehörige Jyri Antero Jaak- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gegen Journalisten und andere Medienschaf- kola von Männern erschossen, die der Vereini- fende zu untersuchen, die Mehrzahl der Taten gung für sozialen Wohlstand der Region Triqui blieb aber unaufgeklärt. Die Regierung be- (Unión de Bienestar Social de la Región Triqui – 000835 schloss zwar ein Programm zum Schutz von UBISORT) angehörten; diese hatte Verbindun- Journalisten, doch bis Jahresende war es noch gen zu der bis zu den Wahlen 2010 im Amt nicht umgesetzt worden. befindlichen Regierung des Bundesstaats  Im Juni wurde ein Journalistenehepaar – Oaxaca. Die beiden Menschenrechtsverteidiger Juan Francisco Rodríguez Ríos und María El- hatten sich an einem humanitären Konvoi be- vira Hernández Galeana – in Coyuca de Benítez teiligt, der Nahrungsmittel, Trinkwasser und im Bundesstaat Guerrero erschossen. Juan medizinisches Material zur indigenen Gemein- Francisco Rodríguez Ríos war ein Gewerk- schaft der Triqui von San Juan Copala brachte, schaftsvertreter und hatte dazu aufgerufen, die von UBISORT und einer anderen bewaffne- die Straflosigkeit für die Verantwortlichen der ten Gruppe belagert wurde. Die für die Erschie- Angriffe auf Journalisten zu beenden. Bis ßung Verantwortlichen waren Ende des Jahres Ende 2010 lagen keine Informationen über noch auf freiem Fuß. Fortschritte bei der Untersuchung der Morde vor. Unfaire Gerichtsverfahren Das Strafrechtssystem wurde in vielen Punkten Menschenrechtsverteidiger den internationalen Standards für faire Ge- In vielen Teilen des Landes wurden Menschen- richtsverfahren nicht gerecht. Es ließ Raum für rechtsverteidiger angegriffen und schikaniert. politisch motivierte Strafverfolgung, anfecht- Obwohl die Regierung zugesichert hatte, ihre bare Urteile und eine häufige Anwendung der Arbeit zu respektieren und ihre Sicherheit zu inoffiziellen Untersuchungshaft (arraigo). In

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht garantieren, gaben einige Regierungsbeamte einigen Fällen, in denen durch nationale und

324 Mexiko internationale Aufmerksamkeit Ungerechtig- zu schützen oder sicherzustellen, dass die keiten ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerieten, Täter zur Verantwortung gezogen wurden. führten Rechtsmittel des Bundes zu Freilas- Entgegen entsprechenden Anordnungen des sungen. Diejenigen, die sich des Missbrauchs Interamerikanischen Gerichtshof für Men- des Strafrechtssystems schuldig gemacht hat- schenrechte aus dem Jahr 2009 unternahm die ten, wurden jedoch nicht zur Verantwortung ge- Regierung weder ausreichende Schritte, um zogen. die Folterung und Ermordung von drei Frauen  Im Juni 2010 ordnete der Oberste Gerichts- in Ciudad Juárez im Jahr 2001 (»Baumwoll- hof die Entlassung von zwölf Aktivisten der feld-Fall«) zu untersuchen und die Täter zur Volksfront zur Verteidigung des Landeigentums Verantwortung zu ziehen, noch um die nach (Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra) in wie vor übliche Praxis der Gewaltanwendung San Salvador Atenco im Bundesstaat México gegen Frauen und ihre Diskriminierung in an, nachdem er zu dem Schluss gekommen der Stadt zu bekämpfen. Fast 300 Frauen wur- war, dass für eine Verurteilung wegen Entfüh- den während des Jahres 2010 ermordet. Die rung keine ausreichenden Gründe vorlägen. Leichen von mindestens 30 Opfern wiesen Ver- In mehr als 200 Fällen kam es bei Polizeiaktio- letzungen auf, die darauf hindeuteten, dass nen, die zu Festnahmen führten, zu Folterun- sie sexuelle Gewalt und Folter erlitten hatten. gen und Misshandlungen, darunter sexuellem Nur wenige Täter wurden zur Verantwortung Missbrauch von Frauen. Kein Beamter wurde gezogen. Im Dezember erschoss ein Unbe- im Zusammenhang mit diesen Taten zur Ver- kannter Marisela Escobedo vor dem Gouver- antwortung gezogen. neurspalast der Stadt Chihuahua, als sie an  Die gewaltlosen politischen Gefangenen Sara einer Demonstration teilnahm, um Gerechtig- López, Joaquín Aguilar und Guadalupe Borja keit für die Ermordung ihrer Tochter 2008 in wurden im Juni 2010 auf Kaution freigelassen, Ciudad Juárez zu fordern. nachdem ein Bundesberufungsgericht den Beim Obersten Gerichtshof war Ende 2010 Umfang der Anklage reduziert hatte. Sie wur- noch eine Verfassungsklage anhängig, die die den im Dezember auf der Grundlage eines Verfassungsmäßigkeit der in 17 Bundesstaaten minderschweren Tatvorwurfs verurteilt, jedoch eingeführten Verfassungsänderung betraf, mit nicht inhaftiert. Eine Entscheidung über einge- der das Recht auf Leben vom Augenblick der legte Rechtsmittel war bei Jahresende noch an- Befruchtung an garantiert wird. In einem an- hängig. Die drei kommunalen Sprecher waren deren Fall entschied der Oberste Gerichtshof, im Juli 2009 festgenommen und unter der fal- die Regierungen der Bundesstaaten seien schen Beschuldigung angeklagt worden, sie verpflichtet sicherzustellen, dass die Versor- hätten während Protestkundgebungen gegen gung von Frauen, die Opfer von Vergewalti- hohe Stromrechnungen im Verwaltungsbezirk gungen geworden waren, im Einklang mit der Candelaria (Bundesstaat Campeche) Beamte nationalen Direktive für medizinisches Fach- entführt. personal stehe, wozu auch die »Pille danach« gehöre. Gewalt gegen Frauen und Mädchen – sexuelle und reproduktive Rechte Rechte indigener Völker Gewalt gegen Frauen war nach wie vor weit Angehörige indigener Gemeinschaften hatten verbreitet. Im Jahr 2010 wurden Hunderte von nach wie vor keinen gleichberechtigten Zu- Frauen zu Hause und außerhalb ihres Hauses gang zu Justiz, Gesundheit, Bildung und ande- getötet. Gesetzliche Maßnahmen, die in den ren Rechten und Dienstleistungen. Die Regie- vergangenen Jahren zur Verbesserung des rungsbehörden versäumten es, die indigenen Schutzes von Frauen eingeführt worden wa- Gemeinschaften wirksam bei der Verbesse- ren, wurden in der Praxis häufig nicht ange- rung sowohl des Schutzes ihrer Rechte wie wandt bzw. waren nicht dazu geeignet, Frauen auch des Zugangs zu öffentlichen Dienstleis-

Mexiko 325 tungen zu unterstützen. Obwohl die Regierung durch Mexiko überprüft hatte, übermittelte er zugesichert hatte, die Müttersterblichkeit zu der mexikanischen Regierung eine Reihe von senken, trug unzureichende medizinische Ver- Empfehlungen. sorgung weiterhin zu einer überproportional Neben den Besuchen des UN-Sonderbericht- hohen Müttersterblichkeit unter indigenen erstatters über das Recht auf Bildung und des Frauen in den südlichen Bundesstaaten bei. UN-Sonderberichterstatters über die Unabhän-  Im April 2010 wurden die gewaltlosen politi- gigkeit der Richter und Anwälte fand ein ge- schen Gefangenen Alberta Alcántara und Te- meinsamer Besuch der Sonderbeauftragten resa González aus dem Gefängnis entlassen, der UN und der Organisation Amerikanischer nachdem der Oberste Gerichtshof entschie- Staaten (OAS) für den Schutz der Meinungsfrei- den hatte, dass für ihre Verurteilung keine hin- heit statt. Im Mai wurde die Regierung dazu reichenden Gründe vorlägen. Die beiden indi- gedrängt, einen Bericht des UN-Unteraus- genen Frauen, die aus Santiago Mexquititlán im schusses zur Verhütung von Folter zu veröf- Bundesstaat Querétaro stammten, hatten un- fentlichen. ter der falschen Beschuldigung, sie hätten Be- amte der Bundespolizei entführt, drei Jahre im Amnesty International: Missionen und Berichte Gefängnis zugebracht.  Delegierte von Amnesty International besuchten Mexiko im  Die lokale Regierung hinderte bewaffnete Jahr 2010 dreimal.  Gruppen nicht daran, San Juan Copala in der Standing up for Justice and Dignity: Human rights defenders indigenen Region Triqui im Bundesstaat Oa- in Mexico (AMR 41 /032/2009)  Invisible victims – Migrants on the move in Mexico xaca zu belagern. Als Folge hatten Teile der (AMR 41/ 014/ 2010) Gemeinschaft mehrere Monate lang keinen Zu-  Memorandum to the Government of Mexico and the Congress gang zu medizinischer Grundversorgung, of the Union: Reforms to respect and ensure international Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Bildung.

2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen human rights law and restrict military jurisdiction (AMR41/ 070/ 2010) Internationale Rechtsprechung  The invisibles – a film (amnesty.org/en/theinvisibles) Der Interamerikanische Gerichtshof für Men- 000835 schenrechte verurteilte Mexiko wegen schwe- rer Menschenrechtsverletzungen in den Fällen von Inés Fernández und Valentina Rosendo sowie Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera. Die beiden indigenen Frauen waren 2002 von Soldaten vergewaltigt und die beiden Umwelt- Moldau aktivisten 1999 von Polizisten des Bundes- staats Guerrero gefoltert, inhaftiert und an- Amtliche Bezeichnung: Republik Moldau schließend wegen falscher strafrechtlicher An- Staatsoberhaupt: Mihai Ghimpu (amtierend) klagen verurteilt worden. Das Gericht forderte Regierungschef: Vladimir Filat Mexiko auf, seine Verantwortung zu akzep- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft tieren, den Frauen Entschädigungen zu zahlen Einwohner: 3,6 Mio. und eine effiziente Ermittlung der Zivilbehör- Lebenserwartung: 68,9 Jahre den gegen die Täter zu gewährleisten. Die Re- Kindersterblichkeit (m/w): 26 / 21 pro 1000 gierung Mexikos versprach, die Anordnungen Lebendgeburten zu befolgen, doch waren zum Jahresende diese Alphabetisierungsrate: 98,3% sowie zwei weitere Urteile aus dem Jahr 2009 größtenteils noch nicht umgesetzt worden. Folter und andere Misshandlungen in Nachdem der UN-Menschenrechtsaus- Polizeigewahrsam waren nach wie vor schuss die Einhaltung des Internationalen an der Tagesordnung. Die Behörden lei-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Pakts über bürgerliche und politische Rechte teten keine zügigen und unparteiischen

326 Moldau Ermittlungen zu den entsprechenden fangenen besteht darin, die Zuständigkeiten für Vorwürfen ein. Der Anwendung der Fol- die Ermittlung sowie für die Haft auf voneinan- ter beschuldigte Polizeibeamte gingen in der unabhängige Behörden zu verteilen. einigen Fällen straffrei aus. Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender- Straflosigkeit Personen wurde erneut das Demonstra- Im November 2010 gab das Büro der General- tionsrecht verweigert. In der selbster- staatsanwaltschaft bekannt, dass das System nannten Republik Transnistrien ent- aus Sonderermittlern zur Untersuchung von sprachen die Gerichtsverfahren nicht den Foltervorwürfen, das seit 2007 in Ba˘ lt¸i, Cahul internationalen Standards der Fairness. und Chis¸ina˘ u existiert, auf das gesamte Land ausgedehnt werde soll. Das Problem der Straf- Folter und andere Misshandlungen losigkeit für Folter und andere Misshandlungen Im März 2010 veröffentlichte der UN-Aus- bestand jedoch fort. Die Behörden unterließen schuss gegen Folter seine Schlussbetrachtun- es, zügige, gründliche und unabhängige Ermitt- gen zum zweiten periodischen Bericht der mol- lungen in Bezug auf Foltervorwürfe einzulei- dauischen Regierung über die innerstaatliche ten. Zeugen gerieten dadurch in Gefahr, dass Umsetzung des Übereinkommens gegen Folter. Polizeibeamte, gegen die wegen Folter oder Der Ausschuss äußerte sich besorgt ange- anderer Misshandlungen ermittelt wurde, wäh- sichts »zahlreicher und übereinstimmender rend der Ermittlungen im aktiven Dienst ver- Beschwerden über den verbreiteten Einsatz blieben. In manchen Fällen wurden die betrof- von Folter und anderen Misshandlungen in Po- fenen Polizisten überhaupt nicht belangt. lizeigewahrsam«. Er forderte die Behörden  Ende 2010 befanden sich zwei Polizeibe- auf, sich öffentlich und unmissverständlich ge- amte, die im November 2007 zu sechs Jahren gen Folter auszusprechen. Überdies bean- Haft verurteilt worden waren, weil sie Viorica standete der Ausschuss, dass Einrichtungen Plate gefoltert hatten, nach wie vor auf freiem für die vorübergehende Unterbringung von Fuß. Die beiden Polizisten lebten unbehelligt in Untersuchungsgefangenen in Isolationshaft Moldau und hatten ihre Strafe bis Ende 2010 nach wie vor der Polizei unterstanden, obwohl noch nicht angetreten. Im Februar 2008 hatte bereits der Aktionsplan für die Republik Moldau Amnesty International von Viorica Plate erfah- aus dem Jahr 2005 den Bau neuer Haftein- ren, dass sie und ihr Anwalt von den Polizeibe- richtungen und die Übertragung der Leitung amten, die sie im Mai 2007 gefoltert hatten, dieser Einrichtungen an das Justizministerium drangsaliert worden waren. Im März 2008 hatte vorsah. Ein wichtiger Schutzmechanismus ge- das Büro der Generalstaatsanwaltschaft gen Folter und andere Misshandlungen an Ge- Amnesty International mitgeteilt, dass die Poli- zeibeamten nicht hätten inhaftiert werden können, da sie Rechtsmittel gegen ihre Verur- teilung eingelegt hatten. Im September wies der Oberste Gerichtshof die Rechtsmittel zu- rück. Aufgrund der hohen Anzahl von Festnahmen während und nach den gewalttätigen De- monstrationen gegen die Ergebnisse der Parla- mentswahlen vom April 2009 waren die Ver- fahren gegen Polizisten, denen die Staatsan- waltschaft Folter und andere Misshandlungen zur Last legte, Ende 2010 noch nicht abge- schlossen. Rechtsanwälte und NGOs spra- chen von Verzögerungen und dem Zurückhal-

Moldau 327 ten von Beweismitteln seitens der Behörden. bannen. Aus Protest gegen diese Entscheidung Im August erklärten Mitglieder der Nationalen lehnten es die Organisatoren ab, die Demons- Kommission, die im Oktober 2009 eingesetzt tration auf dem amtlich zugewiesenen Gelände worden war, um die Vorgänge zu untersuchen, zu veranstalten. Als Reaktion auf zahlreiche dass das Innenministerium von eigenen Mitar- Eingaben seitens religiöser Gemeinschaften beitern während der Demonstrationen gefilmte und anderer gegen die rechtliche Gleichstel- Videobeweise zurückgehalten habe. Dies kam lung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ans Licht, als die Generalstaatsanwaltschaft ein Transgender-Personen eintretender Gruppie- Video zeigte, das ihren Angaben zufolge von rungen beantragte die Stadtverwaltung von Chi- Angehörigen des Innenministeriums aufge- s¸ina˘ u ein Verbot der Parade. Die von diesen nommen und der Kommission zuvor nicht zu- Gruppierungen organisierte Gegendemonstra- gänglich gemacht worden war. tion durfte am selben Tag im Stadtzentrum  Ermittlungen wegen der Schläge, die Polizis- stattfinden. ten während der Proteste im April 2009 Da- mian Hîncu versetzt hatten, wurden im Mai Internationale Justiz 2010 mit der Begründung ausgesetzt, dass Am 12. Oktober 2010 ratifizierte Moldau das Damian Hîncu die Polizisten nicht identifizieren Römische Statut des Internationalen Straf- könne, da sie ihn während des Vorfalls ge- gerichtshofs, das am 1. Januar 2011 in Kraft zwungen hätten, mit dem Gesicht auf dem Bo- treten soll. den zu liegen. Kurz nach dieser Entscheidung wurden Aufzeichnungen aus einer Videoüber- Unfaire Gerichtsverfahren wachungsanlage bekannt, auf denen zu er- Moldauische Republik Dnjestr kennen war, wie Damian Hîncu von einer Per-  Ernest Vardanean, ein in Transnistrien tätiger son verprügelt wurde, die dem Polizeichef von Journalist, wurde am 7. April 2010 unter der 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Chis¸ina˘ u auffallend ähnlich sah. Gegen den Po- Anklage des »Verrats in Form von Spionage« lizeichef wurde ein neues Verfahren eingelei- vor seinem Haus in Tiraspol in der selbster- tet. Später trat er von seinem Posten zurück. nannten Moldauischen Republik Dnjestr fest- 000835 genommen. Für diesen Tatbestand ist eine Rechte von Lesben, Schwulen, Haftstrafe von zwölf bis 20 Jahren vorgesehen. Bisexuellen und Transgender-Personen Am 11. Mai, noch vor Verhandlungsbeginn, Am 28. April 2010 entschied das Berufungsge- strahlte der größte transnistrische Fernsehsen- richt Chis¸ina˘ u, dass eine für den 2. Mai im der ein Video aus, in dem der amtierende Mi- Stadtzentrum geplante Parade für die rechtli- nister für Staatssicherheit erklärte, dass Ernest che Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bi- Vardanean des ihm zur Last gelegten Verbre- sexuellen und Transgender-Personen aufgrund chens für schuldig befunden worden sei. Ernest von »Sicherheitsbedenken und Sorge um die Vardanean erschien auch selbst in dem Video. öffentliche Moral« in ein abgeschiedenes Stadt- Dem Anschein nach bestätigte er die Behaup- viertel verlegt werden solle. Die Organisation tungen des Ministers und brachte sein Bedau- Information Centre GenderDoc-M hatte im ern über den »schrecklichen Fehler« zum Aus- März bei der Stadtverwaltung von Chis¸ina˘ u be- druck. Das Video wurde anschließend ins In- antragt, eine Demonstration auf dem Platz der ternet gestellt. Ernest Vardanean hatte in den Großen Nationalversammlung im Stadtzen- 42 Tagen zwischen seiner Festnahme und der trum abhalten zu dürfen, zu der ungefähr 50 Ausstrahlung des Videos fast keinen Kontakt Teilnehmer erwartet wurden. Die Organisation zur Außenwelt gehabt. Dem Vernehmen nach erhielt keine Antwort auf ihren Antrag, stattdes- befand er sich Ende 2010 in der Zentrale des sen sandte die Stadtverwaltung von Chis¸ina˘ u Staatlichen Sicherheitsdiensts in Tiraspol in ein Ersuchen an das Berufungsgericht Chis¸i- Untersuchungshaft.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht na˘ u, die Parade aus dem Stadtzentrum zu ver-

328 Moldau im Jahr 2009 eingesetzt worden, um Vorwürfe Mongolei zu untersuchen, wonach Beamte mit Polizeibe- fugnissen für Folter und andere Misshandlun- Amtliche Bezeichnung: Mongolei gen, unfaire Prozesse sowie rechtswidrige Fest- Staatsoberhaupt: Tsachiagiin Elbegdordsch nahmen während des Aufruhrs vom 1. Juli Regierungschef: Süchbaataryn Batbold 2008 verantwortlich gewesen sein sollen. Im Todesstrafe: nicht abgeschafft Jahr 2010 kam es zu keinem weiteren Treffen Einwohner: 2,7 Mio. der Arbeitsgruppe. Lebenserwartung: 67,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 49 / 40 pro 1000 Straflosigkeit Lebendgeburten Beschwerden gegen Angehörige der Sicher- Alphabetisierungsrate: 97,3% heitskräfte zogen nur selten strafrechtliche Er- mittlungen nach sich. Die Regierung gab be- Im Januar 2010 verkündete der Präsi- kannt, dass der Staatsanwaltschaft 108 Klagen dent ein Hinrichtungsmoratorium. Be- wegen Folter oder anderer Misshandlungen amte mit Polizeibefugnissen begingen vorlägen und in 38 dieser Fälle Ermittlungen nach wie vor Menschenrechtsverletzun- aufgenommen worden seien. Die Behörden un- gen, ohne dafür strafrechtlich zur Verant- ternahmen nichts, um Angriffe gegen Lesben, wortung gezogen zu werden. Straffrei- Schwule, Bisexuelle und Transgender-Perso- heit für Folter und andere Misshandlun- nen zu verhindern oder zu untersuchen und gen blieb weit verbreitet. die Täter zu bestrafen. Zwei Jahre nach dem Aufruhr von 2008 bestä- Hintergrund tigte die Staatsanwaltschaft, dass sie kein Straf- Im November wurde die Menschenrechtssitua- verfahren gegen die vier hochrangigen Polizei- tion in der Mongolei im Rahmen der Universel- beamten und zehn Polizisten einfacher Dienst- len Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch ränge einleiten werde, die beschuldigt worden die UN begutachtet. Der UN-Ausschuss gegen waren, die Anwendung scharfer Munition auto- Folter überprüfte die Lage in der Mongolei zum risiert bzw. scharfe Munition eingesetzt und da- ersten Mal, seitdem das Land im Jahr 2000 bei vier Personen getötet zu haben. Diese Ent- das UN-Übereinkommen gegen Folter ratifiziert scheidung widersprach den menschenrechtli- hatte. chen Verpflichtungen der Mongolei sicherzu- Die Arbeitsgruppe des parlamentarischen stellen, dass willkürlicher oder exzessiver Ein- Unterausschusses für Menschenrechte satz von Gewalt, einschließlich Gewaltanwen- konnte keine Fortschritte verzeichnen. Sie war dung mit tödlichem Ausgang, als Straftat geahn- det wird.  Im Oktober 2010 wurde Bat Khurts, Leiter des Nationalen Sicherheitsrats der Mongolei, auf dem Londoner Flughafen Heathrow aufgrund eines europäischen Haftbefehls festgenom- men. Gegen ihn war im Zusammenhang mit der in Frankreich erfolgten Entführung des mon- golischen Staatsbürgers Enkhbat Damiran ge- fahndet worden. Enkhbat Damiran war 2003 verschleppt und über Deutschland in die Mon- golei gebracht worden, wo man ihn gefoltert hatte. Bat Khurts wurde in Großbritannien in- haftiert und wartete auf seine Auslieferung nach Deutschland. Nachdem seine Festnahme

Mongolei 329 bekanntgeworden war, sollen Sympathisanten einrichtungen wie angemessenem Wohnraum, von Bat Khurts Vergeltungsmaßnahmen gegen Infrastruktur, Sanitäreinrichtungen und Ab- den Bruder von Enkhbat Damiran ergriffen wasserentsorgung. Luft- und Bodenverschmut- und Journalisten bedroht haben, die über den zung, die durch das Heizen mit kohlebetriebe- Vorfall berichtet hatten. nen Öfen und unzureichenden Dienstleistun- gen etwa im Bereich der Abfallbeseitigung ver- Todesstrafe ursacht wurden, trugen zu ernsthaften gesund- Am 14. Januar 2010 verkündete der Präsident heitlichen Risiken bei und führte beispiels- ein Hinrichtungsmoratorium. Es sah die Um- weise zu Erkrankungen der Atemwege und zu wandlung von Todesurteilen gegen Personen, Hepatitis. die ein Gnadengesuch einreichen, in eine 30-jährige Gefängnisstrafe vor. Informationen Rechtliche Entwicklungen über die Anwendung der Todesstrafe blieben Im Juli 2010 ratifizierte die Mongolei als zweiter Staatsgeheimnis. Ein Gesetzentwurf zur Ratifi- Staat das Fakultativprotokoll zum Internationa- zierung des 2. Fakultativprotokolls zum Inter- len Pakt über wirtschaftliche, soziale und kultu- nationalen Pakt über bürgerliche und politische relle Rechte. Rechte, das die Abschaffung der Todesstrafe zum Ziel hat, wurde dem Parlament im Oktober Amnesty International: Berichte vorgelegt. Im Dezember stimmte die Mongolei  Mongolia: Submission to the UN Universal Periodic Review, in der UN-Generalversammlung für eine Reso- November – December 2010 (ASA 30/001/2010)  lution, mit der ein weltweites Hinrichtungsmo- Mongolia: Submission to the UN Human Rights Committee for ratorium gefordert wurde. the Pre-Sessional Meeting of the Country Report Taskforce (ASA 30/007/ 2010)  Folter und andere Misshandlungen Mongolia: Briefing to the UN Committee against Torture 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen (ASA 30/007/ 2010) Die Sonderermittlungseinheit, die damit beauf- tragt war, Beschwerden gegen Staatsbeamte zu untersuchen, war weder mit ausreichendem 000835 Personal noch genügend finanziellen Mitteln ausgestattet, um ihr Mandat erfüllen zu kön- nen. Im November drängte der UN-Ausschuss Montenegro gegen Folter und andere grausame, unmensch- liche oder erniedrigende Behandlung oder Amtliche Bezeichnung: Republik Montenegro Strafe die Behörden, das Strafgesetzbuch mit Staatsoberhaupt: Filip Vujanovic´ internationalen Standards in Einklang zu brin- Regierungschef: Igor Luksˇic´ gen. Der UN-Ausschuss forderte die Einfüh- (löste im Dezember Milo -Dukanovic´ im Amt ab) rung einer systematischen Video- und Audio- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft überwachung aller Verhöre an Orten, an denen Einwohner: 0,6 Mio. die Anwendung von Folter und anderen Miss- Lebenserwartung: 74,6 Jahre handlungen wahrscheinlich ist. Er drängte die Kindersterblichkeit (m/w): 11 / 9 pro 1000 Behörden außerdem sicherzustellen, dass in Lebendgeburten Fällen von Folter gegen die mutmaßlichen Täter ermittelt wird und bei sich erhärtenden Ver- Die strafrechtliche Verfolgung von dachtsmomenten strafrechtliche Schritte einge- Kriegsverbrechen wurde 2010 fortge- leitet werden. setzt. Journalisten und einige NGOs wa- ren von Einschüchterungen betroffen. Recht auf angemessenes Wohnen Angehörigen der Roma wurden weiterhin Die Bewohner informeller Siedlungen litten un- soziale und wirtschaftliche Rechte vor-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ter fehlendem Zugang zu Grundversorgungs- enthalten.

330 Montenegro Hintergrund damaligen Behörden der bosnischen Serben Im Dezember 2010 wurde Montenegro der Sta- überstellt worden. Im November gestatteten die tus eines offiziellen EU-Beitrittskandidaten Behörden dem früheren Präsidenten Momir verliehen, obwohl die Europäische Kommission Bulatovic´ , sich bei einer Vernehmung als Zeuge im November betont hatte, es bestehe weiter- in diesem Fall auch zu Staatsgeheimnissen hin die Notwendigkeit, das organisierte Verbre- äußern zu dürfen. chen zu bekämpfen, die Situation der Vertrie-  Gegen sechs frühere Soldaten der Jugoslawi- benen zu verbessern und das Recht auf freie schen Volksarmee ergingen im Mai 2010 Ur- Meinungsäußerung zu gewährleisten. Eben- teile wegen Kriegsverbrechen. Sie wurden für falls im Dezember trat Ministerpräsident Milo schuldig befunden, 1992 im Lager Morinj bei -Dukanovic´ zurück. Er hatte das Land seit 1992 Kotor 169 kroatische Kriegsgefangene und Zivi- als Ministerpräsident bzw. Präsident regiert, mit listen gefoltert und in unmenschlicher Weise Ausnahme der Zeit zwischen Ende 2006 und behandelt zu haben. Sie erhielten weniger als Anfang 2008. die gesetzlich vorgeschriebene Mindeststrafe von fünf Jahren Haft. Zur Begründung hieß es, Internationale Strafgerichtsbarkeit dass sie noch nie zuvor einer Straftat für schul- Die Prozesse wegen Kriegsverbrechen gegen dig befunden worden seien. Militärangehörige oder Polizeibeamte niedri-  Im Juni 2010 begannen die Verfahren gegen ger Ränge wurden 2010 fortgesetzt, während sieben frühere Soldaten der Jugoslawischen gegen hochrangige Vertreter von Armee und Armee (Nachfolgerin der Jugoslawischen Polizei nur selten Anklage erhoben wurde. Im Volksarmee) wegen Verbrechen gegen die Rahmen eines im Oktober mit Serbien ge- Menschlichkeit an bosnischen Zivilpersonen schlossenen Auslieferungsabkommens wurden 1992 / 93 in Bukovica. Im Zusammenhang da- elf von Montenegro gesuchte Personen in Ser- mit hatte ein Gericht im April Sˇ aban und Arifa bien festgenommen, darunter fünf Männer, die Rizvanovic´ in einem zivilrechtlichen Verfahren im Verdacht standen, in der kroatischen Stadt je 10000 Euro Entschädigung zugesprochen für Dubrovnik Kriegsverbrechen verübt zu haben. Folterungen, die Reservisten der Jugoslawi-  Das Verfahren gegen neun ehemalige Regie- schen Armee 1993 an ihnen verübt hatten. rungsvertreter und hochrangige Polizeibeamte wegen des »Verschwindenlassens« bosnischer Folter und andere Misshandlungen Flüchtlinge wurde fortgesetzt, wobei gegen Im Einklang mit dem Zusatzprotokoll zum UN- fünf von ihnen in Abwesenheit verhandelt Übereinkommen gegen Folter wurde als staat- wurde. Die mindestens 79 Flüchtlinge aus liches Organ zur Prävention eine Ombudsstelle Bosnien und Herzegowina waren 1992 an die eingerichtet. Sie ist befugt, ohne vorherige An- kündigung Hafteinrichtungen zu besuchen. Im März berichtete der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter über seinen Besuch im Jahr 2008 und forderte wirksamere Ermitt- lungen im Fall von Misshandlungsvorwürfen. Im Oktober gab die NGO Jugendinitiative für Menschenrechte bekannt, dass das Innen- ministerium mittlerweile schneller auf Meldun- gen der Organisation über Vorfälle reagiere und dass einige Polizeibeamte in der Folge diszip- linarisch belangt oder unter Anklage gestellt worden seien.  Im Januar 2010 erhoben die im Gefängnis von Spuzˇ einsitzenden Häftlinge Dalibor Nikezic´

Montenegro 331 und Igor Milic´ erneut Beschwerde gegen Voll- Angehörigen der Roma wurden nach wie vor zugsbeamte. Ihren Angaben zufolge wurden sie soziale und wirtschaftliche Rechte vorenthal- misshandelt, bedroht und unter Druck gesetzt, ten. Da angemessene Unterkünfte fehlten, leb- eine bereits zuvor eingereichte Klage zurückzu- ten viele von ihnen unter prekären Bedingun- ziehen. Ihre erste Klage war im Februar von der gen. Generalstaatsanwältin abgewiesen worden. Ob-  Im Oktober kamen zwei Roma-Mädchen in wohl eine Videoaufzeichnung aus einer Über- einer provisorischen Siedlung auf einer Müll- wachungskamera der Haftanstalt vorlag, die kippe bei Lovanja ums Leben, als ihr aus Dach- zeigte, wie die Männer aus ihren Zellen gezerrt pappe gebautes Haus Feuer fing. und geschlagen wurden, sah sie keine Grund- lage für strafrechtliche Maßnahmen. Flüchtlinge und Asylsuchende Es befanden sich weiterhin mehr als 24000 Recht auf freie Meinungsäußerung Vertriebene in Montenegro, darunter 3192 Journalisten und einige NGOs waren nach wie Roma und Aschkali sowie Ägypter aus dem Ko- vor Drohungen und Einschüchterungsversu- sovo. Neue Gesetze und niedrigere Gebühren chen ausgesetzt. Regierungsvertreter strengten ermöglichten es einigen Flüchtlingen und Ver- Verleumdungsklagen gegen Journalisten an, triebenen, eine dauerhafte oder zeitlich befris- die zu hohen Geldstrafen führten. In einigen tete Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Fällen lagen diese sogar über der gesetzlichen Bis Dezember 2010 hatten lediglich 880 Per- Höchstgrenze von 14000 Euro. Nach Ansicht sonen eine dauerhafte und 40 eine befristete von NGOs und Journalisten schränkten die im Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Diese ge- Juni 2010 eingebrachten Ergänzungen zum Ge- ringe Anzahl zeigte, dass es nach wie vor setz über die Informationsfreiheit sowohl das schwierig war, die erforderlichen Dokumente Recht auf freie Meinungsäußerung als auch zu erhalten. Vertriebene aus dem Kosovo fürch- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen den Zugang zu Informationen ein. Im Oktober teten, dorthin abgeschoben zu werden, nach- lehnte es die Generalstaatsanwältin ab, die dem die städtischen Behörden von Podgorica Menschenrechtsorganisation Human Rights erklärt hatten, das Lager Konik, in dem sie seit 000835 Action über den Fortgang von 14 strafrechtli- 1999 gelebt hatten, werde aufgelöst. chen Verfahren zu informieren, nach denen die Organisation sich erkundigt hatte. Dazu zählten auch die Morddrohungen aus dem Jahr 2007 gegen Aleksandar Zekovic´ , ein Mit- glied des Komitees zur Kontrolle der Polizei durch die Bürger.

Diskriminierung Mosambik Im Juli wurde ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet, das auch Klauseln zum Schutz Amtliche Bezeichnung: Republik Mosambik von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans- Staatsoberhaupt: Armando Guebuza gender-Personen enthält, obwohl der Minister Regierungschef: Aires Bonifacio Baptista Ali für Menschenrechte und Minderheiten wäh- (löste Luisa Días Diogo im Januar im Amt ab) rend der Parlamentsdebatte homophobe Äu- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft ßerungen machte. Das Gesetz war Ende 2010 Einwohner: 23,4 Mio. noch nicht in Kraft getreten, da eine Ergän- Lebenserwartung: 48,4 Jahre zung des Gesetzes über die Ombudsstelle, die Kindersterblichkeit (m/w): 162 / 144 pro 1000 dieser die Befugnis verleihen soll, Beschwer- Lebendgeburten den über Diskriminierung entgegenzunehmen, Alphabetisierungsrate: 54%

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht noch nicht verabschiedet war.

332 Mosambik Die Polizei war für Menschenrechtsver- die Flucht aus einem Gefängnis in Nampula. letzungen verantwortlich, dazu zählten Im Zusammenhang mit dem Gefängnisaus- außergerichtliche Hinrichtungen und bruch in Maputo wurden sieben Aufseher fest- willkürliche Festnahmen. Bei Protesten genommen. wurden 14 Menschen getötet und über Hunderte von Migranten ohne regulären Auf- 400 verletzt, weil die Polizei scharfe enthaltsstatus wurden festgenommen, darun- Munition einsetzte. Es gingen Berichte ter auch Flüchtlinge. Die meisten von ihnen ver- über Folter und andere Misshandlungen suchten dem Vernehmen nach, auf inoffiziel- in Gefängnissen ein. lem Wege nach Südafrika zu gelangen. Im Juni ertranken neun Menschen, als vor der Küste Hintergrund der Provinz Cabo Delgado ein Boot sank, auf Präsident Armando Guebuza wurde im Januar dem sich zahlreiche Migranten ohne regulä- 2010 für eine zweite Amtszeit vereidigt. Im ren Aufenthaltsstatus befanden. Mehr als 40 gleichen Monat ernannte er Aires Bonifacio Personen wurden vermisst. Baptista Ali zum neuen Ministerpräsidenten, Die Regierung gab im Oktober bekannt, sie der damit Luisa Días Diogo ablöste. sei entschlossen, den Strafvollzug zu reformie- Mindestens zehn Menschen wurden im Be- ren. Dabei wolle sie insbesondere der Überfül- richtsjahr Opfer von Lynchmorden durch ihre lung der Haftanstalten entgegentreten. Es be- Mitbürger. Zahlreiche weitere Personen wurden gann eine Debatte über einen Gesetzentwurf, bei versuchten Lynchmorden schwer verletzt. der Alternativen zu Gefängnisstrafen vorsieht. Die meisten Vorfälle dieser Art ereigneten sich Im Oktober wurde der Innenminister aus sei- in der Provinz Sofala. nem Amt entlassen und zum Landwirtschafts- Es gab eine Reihe von Gefängnisausbrüchen. minister ernannt. Die Maßnahme erfolgte, Im Januar 2010 flüchteten 51 Häftlinge aus nachdem die Polizei bei Protesten in den Pro- einem Gefängnis in Nampula. Sieben von ihnen vinzen Maputo und Manica scharfe Munition wurden wieder gefasst. Im März entkamen eingesetzt hatte, um Menschenmengen zu drei Häftlinge aus dem Hochsicherheitsgefäng- kontrollieren, und dabei 14 Menschen getötet nis der mosambikanischen Hauptstadt Ma- hatte. puto. Im Oktober gelang weiteren 17 Häftlingen Im November ratifizierte Mosambik das UN- Übereinkommen über die Rechte von Men- schen mit Behinderungen und das dazugehö- rige Fakultativprotokoll.

Polizei Angehörige der Polizei wurden wegen kriminel- ler Handlungen verurteilt, dazu zählten Über- fälle, Raub, Erpressung und Mord. Es gab einige Vorfälle, bei denen Polizisten von Straf- tatverdächtigen getötet oder schwer verletzt wurden. In manchen Fällen war dies offenbar auf Verbindungen zwischen Polizeibeamten und kriminellen Banden zurückzuführen.

Exzessive Gewaltanwendung Die Polizei ging 2010 bei Demonstrationen und bei der Festnahme von Straftatverdächtigen weiterhin mit unverhältnismäßiger Gewalt vor.  Im Mai wurde in der Stadt Matola die Leiche

Mosambik 333 von Agostinho Chaúque nahe dem Haus sei- deshalb festgenommen, weil er eine Demons- ner Familie gefunden. Die Behörden hatten ihn tration organisieren wollte. Bereits vier Tage vor zuvor als »Staatsfeind Nummer eins« bezeich- seiner Festnahme waren Angehörige der net. Der Polizei zufolge war er bei einem schnellen Eingreiftruppe vor seinem Haus pos- Schusswechsel in Maputo getötet worden. tiert worden. Seine Festnahme erfolgte durch  Im September kam es in den Provinzen Ma- Angehörige der Polizei für öffentliche Ordnung puto und Manica zu Protesten gegen Preiser- und der schnellen Eingreiftruppe. Zur Begrün- höhungen bei Brot und Grundnahrungsmitteln. dung hieß es offenbar, er habe einer Vorladung Dabei zündeten die Demonstrierenden auch nicht Folge geleistet. Berichten zufolge war ihm Autoreifen an und errichteten Straßensperren. die Vorladung jedoch nicht persönlich zugestellt Die Polizei schoss mit scharfer Munition in die worden. Es wurde Anklage wegen Ungehor- Menschenmenge und tötete 14 Menschen, sams gegenüber der Obrigkeit gegen ihn erho- mehr als 400 Personen wurden verletzt. Von- ben. Am 30. August sprach ihn ein Gericht in seiten der Polizei hieß es, man habe scharfe Machava, einem Stadtteil von Maputo, frei. Munition eingesetzt, weil die Gummige- schosse ausgegangen seien. Mehr als 140 Folter und andere Misshandlungen Menschen wurden wegen Anstiftung zur Ge- Es gingen Berichte über die grausame, un- walt festgenommen. Die Anklagen gegen die menschliche und erniedrigende Behandlung meisten von ihnen wurden später von Gerich- von Gefangenen ein. Als die Justizministerin im ten aus Mangel an Beweisen fallengelassen. April das Hochsicherheitsgefängnis von Ma- Ende 2010 waren zwar einige Strafverfahren puto besuchte, berichteten mindestens sieben im Zusammenhang mit den Demonstrationen Häftlinge, dass sie von Gefängnisaufsehern anhängig, doch betraf keines davon den geschlagen, getreten, ausgepeitscht und gefes- Schusswaffeneinsatz der Polizei. Auch musste selt worden seien. Ein Mann gab an, die Auf- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sich bislang niemand wegen eines vergleich- seher hätten Mithäftlingen erlaubt, ihn zu baren Schusswaffeneinsatzes bei Demonstra- schlagen und sich dann daran beteiligt. Fünf tionen im Jahr 2008 verantworten, der eben- der Häftlinge waren offenbar aus disziplinari- 000835 falls zu Toten geführt hatte. schen Gründen misshandelt worden, weil sie  Im September erschossen Polizisten in Ma- Mobiltelefone besaßen. Ein weiterer wurde puto einen Mann, dessen Name mit Walter misshandelt, weil er zu spät in seine Zelle zu- M. K. angegeben wurde. Die Polizei teilte mit, rückgekommen war, während einer der Häft- der Mann habe ein Gewehr gezogen und das linge nicht wusste, was der Grund für seine Feuer eröffnet, als Polizisten ihn aufgefordert Misshandlung war. Der Gefängnisdirektor und hätten, seinen Ausweis zu zeigen. Laut Polizei mehrere Aufseher wurden vom Dienst sus- wurde Walter M. K. wegen der Ermordung von pendiert. Bis Ende 2010 lagen jedoch keine In- zwei Polizeibeamten und einem bewaffneten formationen vor, dass gegen sie Strafverfahren Überfall auf eine Bank gesucht. Soweit be- eingeleitet worden wären. kannt, zog der Todesfall keine Untersuchung oder Ermittlungen nach sich. Amnesty International: Bericht  Mozambique: Submission to the UN Universal Periodic Willkürliche Festnahmen und Haft Review, January 2011 (AFR 41/002/ 2010) Außer den Massenverhaftungen nach den Pro- testen im September gab es weitere Berichte über willkürliche Festnahmen und Inhaftierun- gen durch die Polizei.  Am 10. August 2010 wurde Hermínio dos Santos, der Vorsitzende des Mosambikani-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schen Forums für Kriegsveteranen, offenbar

334 Mosambik Wahlbetrug weit verbreitet. Der Wahlprozess Myanmar war so gestaltet, dass der Machterhalt der Mili- tärs gesichert blieb. Viele hochrangige Offi- Amtliche Bezeichnung: Union Myanmar ziere legten im Vorfeld die Uniform ab, um als Staatsoberhaupt: Senior General Than Shwe Zivilisten kandidieren und Ämter in der neuen Regierungschef: General Thein Sein Regierung übernehmen zu können. Eine von Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft der Regierung finanzierte Partei soll die Wah- Einwohner: 50,5 Mio. len mit überwältigender Mehrheit gewonnen Lebenserwartung: 62,7 Jahre haben. Kindersterblichkeit (m/w): 120/ 102 pro 1000 Die Nationale Liga für Demokratie (National Lebendgeburten League for Democracy – NLD), die unter Füh- Alphabetisierungsrate: 91,9% rung von Aung San Suu Kyi die letzten Wahlen im Jahr 1990 gewonnen hatte, boykottierte die Die Parlamentswahlen im November fan- Wahl. Eine Woche nach der Wahl ließ die Regie- den vor dem Hintergrund rigider Ein- rung Aung San Suu Kyi nach siebeneinhalb schränkungen der Rechte auf Meinungs-, Jahren Hausarrest frei. Versammlungs- und Vereinigungsfrei- Bewaffnete Gruppen ethnischer Minderhei- heit statt. Regierungskritiker und enga- ten, die zuvor einem Waffenstillstand zuge- gierte Angehörige ethnischer Minder- stimmt hatten, wurden von der Regierung den heiten wurden wegen ihrer politischen gesamten August über unter Druck gesetzt, Aktivitäten festgenommen. In den Ge- sie sollten sich den staatlichen Grenzschutz- fängnissen des Landes saßen noch im- truppen anschließen. Vor und nach den Wah- mer ungefähr 2200 politische Gefan- len kam es immer wieder zu Kampfhandlun- gene, viele von ihnen litten unter einem gen, die dazu führten, dass Menschen ihre schlechten Gesundheitszustand. Um Wohnorte verlassen mussten und im eigenen staatliche bzw. staatlich unterstützte Land oder im benachbarten Thailand Zuflucht Entwicklungs- und Baumaßnahmen suchten. umzusetzen, wurden die Bewohner von Im gesamten Berichtsjahr wurden vermehrt Dörfern oder sogar ganzer Landstriche Stimmen laut, die eine internationale Unter- vertrieben bzw. zwangsumgesiedelt. suchungskommission forderten, um Vorwürfen über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen Hintergrund die Menschlichkeit in Myanmar nachzugehen. Im November 2010 fanden erstmals seit 20 Jah- ren wieder Parlamentswahlen statt. Berichten Menschenrechtsverletzungen zufolge waren dabei Unregelmäßigkeiten und bei den Wahlen Die im März 2010 verabschiedeten Wahlgesetze und die nachfolgenden Umsetzungsbestim- mungen verstießen gegen die Rechte auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und auf Vereinigungsfreiheit. Vielen Einzelpersonen und Gruppen wurde das Wahlrecht entzogen oder die Teilnahme an der Wahl auf andere Weise verwehrt. So war es z. B. Aung San Suu Kyi und allen anderen politischen Gefangenen untersagt, sich einer politischen Partei anzu- schließen, ihre Stimme abzugeben oder die Wahlen anzufechten. Wahlkampfreden, die in den staatlichen Medien gesendet wurden, durf-

Myanmar 335 ten weder Kritik an der Regierung enthalten Taktik häufig angewandt, um Dorfbewohnern noch auf Probleme des Landes Bezug nehmen. eine Zugehörigkeit zur bewaffneten Opposition Vor und nach den Wahlen wurden mehrere zu unterstellen und sie dann zu töten. Personen festgenommen, die sich dazu äußer-  Im September wurden im Unionsstaat Rak- ten oder die Regierung kritisierten. hine elf Personen zu Freiheitsstrafen von drei  Am 27. September 2010 wurde der im Januar bis neun Jahren verurteilt. Ihnen wurde u. a. festgenommene Mönch Ashin Okkanta, der vorgeworfen, sie stünden mit der verbotenen zur ethnischen Minderheit der Mon gehört, zu Jugendorganisation All Arakan Students’ and 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er hatte Youths’ Congress in Verbindung. gegen die Wahlen Stellung bezogen und auf  Im September nahmen die Sicherheitskräfte Flugblättern die Freilassung aller politischen den Mönch und Kulturhistoriker U Pyinnya Gefangenen gefordert. Sara aus dem Unionsstaat Rakhine fest. Er  In der zweiten Septemberhälfte 2010 wurden wurde u. a. wegen Besitzes obszönen Materi- in Yangon (Rangun) elf Studierende von den als, Verunglimpfung der Religion, Vertrauens- Sicherheitskräften festgenommen, weil sie in bruchs sowie unerlaubten Besitzes von Flugblättern zum Wahlboykott aufgerufen hat- Fremdwährung zu acht Jahren und drei Mo- ten. Sechs von ihnen befanden sich Ende des naten Gefängnis verurteilt. Jahres noch in Haft.  Im Oktober wurde der Herausgeber der Zei- tung Kantarawaddy News Journal, Nyi Nyi Unterdrückung Tun, der von der Bevölkerungsmehrheit der Bir- ethnischer Minderheiten manen und der ethnischen Minderheit der Die Regierung ging 2010 weiterhin mit repressi- Mon abstammt, zu 13 Jahren Haft verurteilt. ven Mitteln gegen Angehörige ethnischer Min- Ihm wurden u. a. Kontaktaufnahme zu einer derheiten vor, die friedlich gegen die Wahlen Exil-Nachrichtenagentur und Nutzung elektro- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen oder gegen die umweltschädlichen Auswir- nischer Medien ohne staatliche Genehmigung kungen von Entwicklungs- und Infrastruktur- zur Last gelegt. Das Gericht tagte unter Aus- projekten protestierten. Außerdem wurden schluss der Öffentlichkeit im Insein-Gefängnis 000835 Angehörige ethnischer Minderheiten von den in Yangon. Behörden verfolgt, weil sie bewaffnete Grup- pen unterstützten oder im Verdacht standen, Politische Gefangene dies zu tun. Die Zahl der politischen Gefangenen in Myan-  Im April wurden im Dorf Pa Laai, das zur mar wurde 2010 auf 2200 geschätzt. Aufgrund Stadt Nam-Zarng im Unionsstaat Shan gehört, der Tatsache, dass viele Inhaftierte, die ethni- zwei Männer von Soldaten festgenommen. schen Minderheiten angehörten, nicht einmal Sie warfen ihnen vor, bewaffnete Shan-Rebel- namentlich bekannt waren, dürfte die tatsächli- len unterstützt zu haben. Die Soldaten prügel- che Zahl der politischen Gefangenen wesent- ten einen der beiden Männer zu Tode, was lich höher gelegen haben. Die meisten von mit dem zweiten Mann geschah, ist nicht be- ihnen waren gewaltlose politische Gefangene. kannt. Im Berichtsjahr wurden mindestens 64 poli-  Im Juni konnte der 40-jährige Zaw Wine Sol- tisch engagierte Personen zu Freiheitsstrafen daten entkommen, die ihm befohlen hatten, in verurteilt – darunter einige der 49, die im Jahr das Dorf Par Pra im Unionsstaat Kayin zu ge- 2010 festgenommen worden waren –, 38 wur- hen, um dort Informationen über die Nationale den in andere Gefängnisse verlegt, bisweilen in Befreiungsarmee der Karen (Karen National entlegene Teile des Landes. Wie auch in den Liberation Army – KNLA) einzuholen. Er wurde Vorjahren trafen Berichte über Folter und an- außerdem aufgefordert, eine KNLA-Uniform an- dere Misshandlungen während der Unter- zuziehen und sich darin fotografieren lassen. suchungshaft und der Strafhaft ein.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht In der Vergangenheit hatten Soldaten diese 38 politische Gefangene wurden 2010 freige-

336 Myanmar lassen. Dazu zählten der NLD-Sprecher U Win fig jede ärztliche Behandlung verweigert Htein, der erst zwei Monate nach Ablauf seiner wurde. Dies galt z. B. für eine Gruppe von Poli- Gefängnisstrafe entlassen wurde, und der stell- tikern, die der ethnischen Minderheit der vertretende Parteivorsitzende U Tin Oo, dessen Shan angehörten. Die gewaltlosen politischen Hausarrest nach sieben Jahren aufgehoben Gefangenen waren 2005 wegen ihrer Kritik am wurde. Am 13. November wurde Aung San Suu verfassunggebenden Nationalkonvent zu Frei- Kyi nach Ablauf ihrer Strafe ohne Auflagen aus heitsstrafen verurteilt worden und erhielten dem Hausarrest entlassen. Myint Maung und keine medizinische Versorgung: Thura Aung, die seit 2008 bzw. 2009 im Ge-  Der 67-jährige Vorsitzende der Liga der Shan- fängnis saßen, weil sie Bauern geholfen hatten, Nationalitäten für Demokratie (Shan Nationa- Klagen gegen die illegale Beschlagnahmung lities League for Democracy – SNLD), Khun ihres Landes einzureichen, wurden im August Htun Oo, verbüßte im Gefängnis von Putao 2010 freigelassen, nachdem ihr Strafmaß im eine Haftstrafe von 93 Jahren und litt unter Dia- Berufungsverfahren reduziert worden war. betes. Zu den gewaltlosen politischen Gefangenen,  Der 66-jährige SNLD-Sekretär Sai Hla Aung, die 2010 weiterhin im Gefängnis saßen, zähl- der im Gefängnis von Kyaukhphyu eine Frei- ten u. a.: heitsstrafe von 79 Jahren verbüßte, litt an einer  Der ehemalige Studentenführer und langjäh- Hautkrankheit. rige politische Aktivist , der we-  Der 74-jährige General Hso Ten verbüßte im gen der Organisation einer Demonstration im Gefängnis von Sittwe eine Haftstrafe von 106 Jahr 2007 zu einer Freiheitsstrafe von 65 Jah- Jahren. Im August wurde er innerhalb von einer ren verurteilt worden war, saß weiter in Einzel- Woche in drei verschiedene Gefängnisse ver- haft. Er hatte bereits während eines früheren legt und verrenkte sich während des Trans- 16-jährigen Gefängnisaufenthalts von 1988 bis ports, den er in Fesseln zurücklegen musste, 2004 lange Zeit in Einzelhaft verbracht. seinen Arm. Er litt an Herzschwäche, grauem  Naw Ohn Hla Hla, Cho Cho Lwin, Cho Cho Star und Diabetes. Aye und San San Myint wurden im Februar zu  Der 44-jährige Mya Aye, der im Gefängnis zwei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit verur- von Taunggyi einsaß, litt an Angina pectoris, teilt, weil sie in der Shwedagon-Pagode in Yan- Bluthochdruck und Magenbeschwerden. gon wöchentliche Gebete für die Freilassung von Aung San Suu Kyi und anderen politi- Vertreibungen schen Gefangenen abgehalten hatten. Auch 2010 vertrieb die Armee in den von ethni-  Der 28-jährige Journalist Ngwe Soe Lin, der schen Minderheiten besiedelten Gebieten die für die im Ausland ansässige Rundfunk- und Bewohner ganzer Dörfer aus ihren Häusern Fernsehstation Demokratische Stimme Burmas und erhöhte damit die Zahl der etwa 500000 (Democratic Voice of Burma) tätig war, wurde Binnenflüchtlinge im Land noch weiter. im Januar zu 13 Jahren Haft verurteilt, weil er  Nachdem die Armee im nördlichen Unions- ohne Genehmigung Filmaufnahmen gemacht staat Kayin einen Militärstützpunkt errichtet hatte. hatte, durchsuchte sie zehn Dörfer und tötete Auch 2010 trafen viele Berichte ein, dass Ge- dabei vier Einwohner. Mindestens 1000 Men- fangene nur unzureichend medizinisch be- schen mussten ihre Häuser verlassen. handelt wurden oder dass ihnen eine ärztliche  Mitte Februar brannten Regierungstruppen Versorgung gänzlich verweigert wurde. Viele im Verwaltungsbezirk Bago Dutzende von Haftanstalten verfügten diesbezüglich über kei- Häusern und ein Krankenhaus nieder. Rund nerlei Ausstattung. Viele politische Gefangene 2000 Dorfbewohner mussten fliehen. befanden sich in einem schlechten gesundheit-  Im Juli waren etwa 500 Bewohner des zur lichen Zustand. Dies betraf vor allem Gefan- Stadt Hpapun gehörenden Dorfs Dutado (Uni- gene in entlegenen Haftanstalten, da dort häu- onsstaat Kayin) zur Flucht gezwungen. Das

Myanmar 337 Dorf geriet bei einem Angriff der Regierungs- Internationale Beobachtung truppen, der sich offenbar gegen die KNLA rich- Im Februar 2010 hielt sich der UN-Sonderbe- tete, unter Granatbeschuss. Anschließend be- richterstatter über die Menschenrechtssitua- setzten die Soldaten den Ort und brannten etwa tion in Myanmar für fünf Tage im Land auf. Es 70 Wohnhäuser, die Dorfschule und eine Kir- war der dritte Besuch seit seinem Amtsantritt che nieder. im Jahr 2008. In seinem Bericht, den er dem  Im November kam es in der Stadt Myawaddy UN-Menschenrechtsrat in Genf im März vor- zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwi- legte, betonte er, die Menschenrechtsverletzun- schen der Armee und einer von der regierungs- gen seien auf die staatliche Politik zurückzu- treuen Democratic Karen Buddhist Army ab- führen, die »Behörden auf allen Ebenen von gespalteten Fraktion. Die Kämpfe sowie Angriffe Exekutive, Militär und Justiz« einbeziehe. Er der Armee auf andere bewaffnete Gruppen wies darauf hin, dass einige der Menschen- ethnischer Minderheiten in der Nähe des Drei- rechtsverletzungen völkerrechtlich möglicher- Pagoden-Passes führten dazu, dass mehr als weise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit 20000 Menschen vorübergehend nach Thai- oder als Kriegsverbrechen gelten könnten, land flohen, weitere Tausende suchten inner- und sprach sich für die Einrichtung einer UN- halb von Myanmar Zuflucht. Untersuchungskommission aus. Im März ver- abschiedete der UN-Menschenrechtsrat die Menschenrechtsverletzungen Resolution 13 / 25 zu Myanmar und forderte bei Bauprojekten die Regierung auf, freie und transparente Wah- Die Armee war für Menschenrechtsverletzun- len sicherzustellen und alle gewaltlosen politi- gen verantwortlich, die im Zusammenhang mit schen Gefangenen freizulassen. Ende 2010 Projekten zur Erschließung der Erdöl-, Erdgas- hatten sich 14 Länder der Forderung des Son- und Erzvorkommen des Landes sowie mit derberichterstatters nach einer Untersu- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dem Bau von Wasserkraftwerken standen. chungskommission angeschlossen: Austra- Dazu zählten die Beschlagnahme von Land lien, Estland, Frankreich, Griechenland, Groß- und die Rekrutierung zur Zwangsarbeit sowie britannien, Irland, Kanada, Litauen, Neusee- 000835 Misshandlungen und Tötungen. Die Behörden land, die Niederlande, Slowakei, Tschechien, gingen weiterhin gezielt gegen Dorfbewohner Ungarn und die USA. Im Juli wurde dem Son- vor, die sie verdächtigten, den Projekten kri- derberichterstatter ein Visum für seinen vierten tisch oder ablehnend gegenüberzustehen. Besuch in Myanmar verweigert.  Ende Mai bzw. Anfang Juni begannen die Be- Als Reaktion auf die Verkündung der neuen hörden im Zuge des Irrawaddy-Myitsone-Stau- Wahlgesetze schrieb der UN-Generalsekretär dammprojekts mit der Zwangsumsiedlung im März einen Brief an Senior General Than mehrerer Ortschaften im Unionsstaat Kachin. Shwe und drängte darauf, alle politischen Ge-  Im Unionsstaat Rakhine beschlagnahmten fangenen vor den Wahlen freizulassen. die Behörden Land ohne jede Entschädigung Im April 2010 verlängerte die EU ihre Sanktio- und begannen mit dem Bau der Shwe-Pipeline nen gegen Myanmar um ein weiteres Jahr. zum Transport von Erdöl und Erdgas. Dorfbe- Im Mai verlängerten die USA ebenfalls ihre wohner wurden zwangsweise umgesiedelt. Sanktionen und erneuerten im Juli ihr Import-  Armeeeinheiten, die im Verwaltungsbezirk verbot für Erzeugnisse aus Myanmar. Die US- Tanintharyi und im Unionsstaat Kayin für die Regierung verteidigte jedoch gleichzeitig ihre Sicherheit der Erdgas-Pipelines Yadana, Yeta- Politik des »konstruktiven Engagements« ge- gun und Kanbauk-Myaing Kalay sorgen soll- genüber den myanmarischen Behörden. ten, zwangen Zivilpersonen zum Bau von Ka- Im Mai befand die UN-Arbeitsgruppe für will- sernen, Straßen und anderen Projekten. Sie kürliche Inhaftierungen, dass die Haft von waren für mindestens zwei außergerichtliche Aung San Suu Kyi willkürlich sei und gegen die

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Hinrichtungen verantwortlich. Artikel 9, 10, 19 und 20 der Allgemeinen Erklä-

338 Myanmar rung der Menschenrechte verstoße. Die ge- Amnesty International: Berichte nannten Artikel enthalten das Verbot willkürli-  Myanmar: End repression of ethnic minorities cher Inhaftierung sowie die Rechte auf ein fai- (ASA 16/003/ 2010)  res und öffentliches Verfahren, auf freie Mei- Myanmar’s 2010 elections: A human rights perspective nungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit. (ASA 16/007/ 2010)  Myanmar elections will test ASEAN’s credibility Im September veröffentlichte der UN-Gene- (ASA 16/010/ 2010) ralsekretär seinen Bericht über die Menschen-  India’s relations with Myanmar fail to address human rights rechtslage in Myanmar. Er äußerte ernste Be- concerns in run up to elections (ASA 20/016/ 2010) sorgnis in Bezug auf die fortwährende Inhaf-  Myanmar opposition must be free to fight elections, 10 March tierung politischer Gefangener und forderte 2010 einen glaubwürdigen Wahlprozess, der eine  ASEAN leaders should act over Myanmar’s appalling rights umfassende Beteiligung ermögliche. Der Son- record, 6 April 2010 derberater des UN-Generalsekretärs für My-  Myanmar: Political prisoners must be freed, 26 September anmar durfte das Land nach den Wahlen Ende 2010  November besuchen. Er empfahl, auch dieje- Myanmar government attacks on freedom compromise elections, 5 November 2010 nigen in den politischen Übergangsprozess ein-  Myanmar should free all prisoners of conscience following zubeziehen, die nicht an den Wahlen teilge- Aung San Suu Kyi release, 13 November 2010 nommen hatten oder nicht teilnehmen konn- ten, und forderte erneut die Freilassung aller politischen Gefangenen. Die im Laufe des Jahres veröffentlichten Stel- lungnahmen des Verbands der Südostasiati- schen Staaten (ASEAN) zu den Wahlen und zu den Menschenrechten in Myanmar waren ver- Namibia halten. Sie beschränkten sich auf die Forde- rung nach einem glaubwürdigen, allen offen Amtliche Bezeichnung: Republik Namibia stehenden, »freien und fairen« Wahlprozess. In Staats- und Regierungschef: einer gemeinsamen Erklärung der EU und der Hifikepunye Pohamba ASEAN-Staaten vom Mai hieß es allerdings, die Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft rechtzeitige Freilassung von Gefangenen Einwohner: 2,2 Mio. würde dazu beitragen, mehr Menschen am Lebenserwartung: 62,1 Jahre Wahlprozess zu beteiligen und einen friedli- Kindersterblichkeit (m/w): 58 / 45 pro 1000 chen politischen Übergang unterstützen. Diese Lebendgeburten Aussage wurde auf dem 8. ASEM-Gipfel im Alphabetisierungsrate: 88,2% Oktober 2010 in der Erklärung des Vorsitzenden wiederholt. Der langwierige Hochverratsprozess ge- Im Dezember verabschiedete die UN-Gene- gen die Caprivi-Häftlinge ging 2010 ins ralversammlung ihre 20. Resolution zu Myan- elfte Jahr. Mit dem Tod eines weiteren mar und äußerte darin in deutlichen Worten ihr Häftlings stieg die Zahl der in Gewahr- Bedauern, dass die Wahlen nicht frei, fair, sam verstorbenen Caprivi-Gefangenen transparent und unter Beteiligung der gesam- auf 21. Menschenrechtsverteidiger, ten Bevölkerung abgehalten worden seien. Die Journalisten und NGOs, die sich kritisch Resolution forderte die Einbeziehung aller poli- über die Regierung und die Regierungs- tischen Kräfte in der Nachwahlphase und die partei South West Africa People’s Organi- Freilassung aller gewaltlosen politischen Gefan- sation (SWAPO) äußerten, wurden von genen. Regierungsvertretern und SWAPO-Anhän- gern ins Visier genommen.

Namibia 339 Hintergrund Recht auf freie Meinungsäußerung Oppositionsparteien ersuchten das Strafgericht Medienunternehmen und Journalisten, die sich der ersten Instanz, die Ergebnisse der Wahlen kritisch über die Regierung und Mitglieder der zur Nationalversammlung vom November 2009 herrschenden SWAPO-Partei äußerten, wurden für ungültig zu erklären. von Regierungsvertretern und Parteianhän- gern ins Visier genommen. Ebenfalls im Kreuz- Caprivi-Prozess feuer standen Menschenrechtsverteidiger und Das Caprivi-Verfahren wegen Hochverrats, das Organisationen, die Kritik an der Regierung üb- bisher größte und längste Strafverfahren in der ten. Die Regierung hielt 2010 ein im Jahr 2000 Geschichte Namibias, wurde 2010 fortgesetzt. ausgesprochenes Verbot aufrecht, das Ministe- Den Angeklagten wurde zur Last gelegt, 1999 rien die Schaltung von Anzeigen in der Tages- an Angriffen der Befreiungsarmee von Caprivi zeitung The Namibian untersagt. Dem unab- (Caprivi Liberation Army) in der Region Caprivi hängigen Organ wird eine kritische Haltung zu beteiligt gewesen zu sein. Zu Beginn des Pro- Regierung und SWAPO nachgesagt. zesses im Oktober 2003 waren insgesamt 132  Am 8. Januar 2010 wurde der freie Journalist Männer angeklagt. 21 von ihnen waren bis John Grobler von vier Männern angegriffen. Ende 2010 in Gewahrsam gestorben, darunter Grund hierfür soll ein im September 2009 im The auch Ritual Mukungu Matengu, der am 28. Mai Namibian erschienener Artikel gewesen sein, in verstarb. dem er auf die fehlende Transparenz bei einem Saviour Ndala Tutalife, Postrick Mwinga und Geschäftsabschluss hinwies, an dem promi- Britian Simisho Lielezo, drei Caprivi-Häftlinge, nente Mitglieder der SWAPO beteiligt waren. die den Innenminister und den Verteidigungs-  Im Januar 2010 wiesen ranghohe Regierungs- minister auf Schadenersatz für erlittene Folter beamte die Konrad-Adenauer-Stiftung an, das verklagt hatten, wurden vom Strafgericht der Land zu verlassen, weil sie berichtet hatte, dass 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ersten Instanz abgewiesen. Die Urteilsverkün- die Wahlen 2009 relativ frei, aber nicht fair ab- dung im Fall von Britian Simisho Lielezo fand im gelaufen seien. Außerdem habe sie Treffen mit Januar, die im Fall von Saviour Ndala Tutalife oppositionellen Parteien organisiert. 000835 und Postrick Mwinga im Juli statt.  Am 28. Oktober 2010 entschied der National- rat – das namibische Parlament – über das Vorgehen gegen Phil ya Nangoloh zu beraten, der in Namibia die Menschenrechtsorganisa- tion Namibian Rights and Responsibilities Inc leitet, ehemals National Society for Human Rights. Phil ya Nangoloh hatte in einer Erklä- rung den ehemaligen Präsidenten Sam Nu- joma der Anstiftung zur Gewalt bezichtigt. Der Nationalrat forderte die Justiz- und Strafvoll- zugsbehörden auf, gegen Phil ya Nangoloh vor- zugehen. Dieser erhielt Morddrohungen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen Im Verlauf des Jahres gab es immer wieder Be- richte über Vergewaltigungen, Vergewalti- gungsversuche und Tötungen von Frauen.  Die 17-jährige Schülerin Magdalena Stoffels wurde im Juli 2010 in Windhoek vergewaltigt und getötet. Ein Verdächtiger wurde festgenom-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht men und in Gewahrsam gehalten.

340 Namibia Hintergrund Gemäß dem Friedensabkommen von 2006 wurde die verfassunggebende Versammlung mit dem Entwurf einer neuen Verfassung beauf- tragt, um die Menschenrechtsproblematik an- zugehen, die den politischen Konflikt Nepals prägt. Die Amtszeit der verfassunggebenden Versammlung lief jedoch zum 28. Mai aus, ohne dass ein Entwurf fertiggestellt wurde. Trotz mehrerer Wahlen konnte kein neuer ne- palesischer Regierungschef gewählt werden, und das Land wurde von der Übergangsregie- rung unter Ministerpräsident Madhav Kumar Nepal Nepal regiert. Im Rahmen des Gesetzes zur öf- fentlichen Sicherheit (Public Security Act) in- Amtliche Bezeichnung: haftierte die Polizei mehrere Personen, darun- Demokratische Bundesrepublik Nepal ter auch friedliche tibetische Demonstranten, Staatsoberhaupt: Ram Baran Yadav ohne offizielles Verfahren. Regierungschef: Madhav Kumar Nepal (seit Juni Übergangsministerpräsident) Justiz in der Übergangsphase Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Ein Gesetzentwurf zur Einrichtung einer durch Einwohner: 29,9 Mio. das Friedensabkommen geforderten Wahr- Lebenserwartung: 67,5 Jahre heits- und Versöhnungskommission (Truth and Kindersterblichkeit (m/w): 52 / 55 pro 1000 Reconciliation Commission – TRC) wurde Lebendgeburten nach langen Verzögerungen im April in das Par- Alphabetisierungsrate: 57,9% lament eingebracht, jedoch nicht ratifiziert. Der Entwurf hatte beträchtliche Mängel, dazu Nepal machte 2010 nur wenig Fort- zählten u. a. die fehlende Unabhängigkeit der schritte bei der Aufhebung der Straffrei- vorgesehenen Kommission von politischer Ein- heit, der Verfolgung vergangener Men- flussnahme sowie das Vorhaben, ihr die Be- schenrechtsverletzungen und der Ge- fugnis zu erteilen, eine Amnestie für Verant- währleistung der Einhaltung der Men- wortliche schwerer Menschenrechtsverletzun- schenrechte. Maßnahmen zur Ahndung gen zu empfehlen. von Verstößen gegen die Menschen- rechte wurden von Beamten aktiv be- »Verschwindenlassen« hindert. Außerdem setzten die Politiker Ein Gesetzentwurf, der das »Verschwindenlas- im Rahmen des Friedensprozesses ein- sen« unter Strafe stellt und die Einrichtung gegangene Verpflichtungen in der Praxis einer entsprechenden Untersuchungskommis- nicht um. Folter und andere Formen der sion vorsieht, war noch anhängig. Er beinhal- Misshandlung in Polizeigewahrsam wa- tete Änderungsvorschläge zu einigen schweren ren nach wie vor weit verbreitet. Diskri- Mängeln früherer Entwürfe. Zu den Vorschlä- minierung aufgrund der ethnischen, reli- gen gehörte, »Verschwindenlassen« künftig in giösen und geschlechtlichen Zugehörig- bestimmten Fällen als Verbrechen gegen die keit blieb meist ungeahndet. Frauen und Menschlichkeit zu werten und zu gewährleis- Mädchen waren nach wie vor Opfer von ten, dass die Strafen in einem angemessenen Gewalt. Verhältnis zur extremen Schwere der Straftaten stehen. Die Familien verschwundener Perso- nen waren jedoch mit dem Entwurf nicht ein-

Nepal 341 verstanden und bemängelten, dass er ohne hen. Mitte Juli wurde er im Rahmen einer inter- angemessene Beratung ausgearbeitet worden nen Untersuchung der nepalesischen Armee sei. der Vergehen für »nicht schuldig« befunden.  Im Juli 2010 wurden Anwälte und Menschen- rechtsverteidiger, die mit der Untersuchung Exzessive Gewaltanwendung des Falls von Arjun Bahadur Lama befasst wa- Es gab Berichte über den Einsatz exzessiver ren, von Anhängern der Maoisten bedroht, Gewalt durch Polizei- und Militärangehörige nachdem einem Verdächtigen in dem Fall von sowie bei inszenierten »Zusammenstößen« ver- der US-amerikanischen Botschaft ein Visum übte Tötungen von Personen, die verdächtigt verweigert worden war. Der Lehrer Arjun Baha- wurden, Verbindungen zu bewaffneten Grup- dur Lama war während des bewaffneten Kon- pen zu unterhalten. flikts von Maoisten entführt und getötet worden.  Am 13. Juni 2010 wurde der 20-jährige Ad-  Im September 2010 exhumierte ein Team der vesh Kumar Mandal aus Janakpur von der Po- nepalesischen Menschenrechtskommission lizei erschossen. Er soll Mitglied der in der Te- (National Human Rights Commission – NHRC), rai-Region operierenden bewaffneten Grup- darunter ausländische Gerichtsmediziner und pierung Janatantrik Terai Mukti Morcha (JTMM) UN-Beobachter, die Überreste von vier Leich- gewesen sein. namen. Man ging davon aus, dass es sich da- bei um eine Gruppe von Männern handelte, die Folter und andere Misshandlungen im Oktober 2003 in Janakpur von Sicherheits- Es kam auch weiterhin zu Folter und anderen kräften entführt worden war. Eine eindeutige Misshandlungen von Häftlingen durch die Po- Identifizierung der sterblichen Überreste lizei. Die nationalen Gesetze zum Schutz gegen stand noch aus. Trotz der Exhumierung kamen Folter reichten nicht an internationale Stan- die Ermittlungen nur langsam voran, und es dards heran und wurden nach wie vor nicht an- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gab keine Festnahmen. gemessen umgesetzt.  Am 25. Mai 2010 starb der wegen Diebstahls verhaftete 46-jährige Sanu Sunar, ein Angehö-

000835 Straflosigkeit Die Verantwortlichen für Menschenrechtsver- riger der Dalit, an den Verletzungen, die er im letzungen, die während des politischen Kon- Polizeigewahrsam auf der Polizeistation von flikts, der durch das Friedensabkommen 2006 Kalimati erlitten hatte. Der NHRC zufolge starb beendet worden war, begangen worden wa- Sanu Sunar an den Folgen von Polizeifolter. ren, blieben weiterhin straffrei. Die Behörden Die Kommission empfahl ein gerichtliches Vor- setzten gerichtlich erlassene Haftbefehle ge- gehen. Am 24. Juni ordnete das Bezirksge- gen Militärangehörige, denen Menschenrechts- richt von Kathmandu die Inhaftierung von drei verletzungen zur Last gelegt werden, nicht Polizisten an, die der Misshandlung von Sanu um. Die Polizei weigerte sich in diesen Fällen, Sunar verdächtigt wurden. Die Ermittlungen Strafanzeigen entgegenzunehmen oder Nach- machten jedoch nur wenig Fortschritte. forschungen anzustellen.  Trotz einer gerichtlichen Verfügung verwei- Misshandlungen gerte die nepalesische Armee die Überstellung durch bewaffnete Gruppen von Major Niranjan Basnet. Der Major, der 2004 Über 100 bewaffnete Gruppen, die hauptsäch- die 15-jährige Maina Sunuwar gefoltert und er- lich in der Terai-Region von Nepal operieren, mordet haben soll, wurde im Dezember 2009 begingen 2010 weiterhin Menschenrechtsver- von einer UN-Mission abgezogen und in sein stöße wie Entführungen, Übergriffe und Tö- Heimatland zurückbeordert. Die Armee über- tungen. Einige Gruppen handelten aus erkenn- gab ihn bei seiner Rückkehr nicht der Polizei baren politischen oder religiösen Motiven, und forderte das Verteidigungsministerium in während es sich bei anderen um kriminelle

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht einem Schreiben auf, die Anklage zurückzuzie- Banden handelte.

342 Nepal  Angehörige von JTMM-Rajan Mukti schossen Fällen von häuslicher und sexueller Ge- am 28. Oktober in Janakinagar auf Lal Kishor walt. Jha, als der 50-jährige Mitarbeiter der Schulbe-  Anfang 2010 hinderten Männer aus einem hörde des Bezirks Mahottari sein Haus verließ, Dorf im Bezirk Siraha, in dem es zu einer Ver- und verletzten ihn dabei tödlich. Er wurde we- gewaltigung gekommen war, Angehörige des gen seiner mutmaßlichen Beteiligung an dem Rehabilitationszentrums für Frauen (Women’s Verkauf von Guthi-Land (Land, das als religiöse Rehabilitation Centre) daran, Zeuginnen zu Stiftung vergeben wird) und finanzieller Unre- ihrer Aussage bei Gericht zu begleiten. Der gelmäßigkeiten in der Schulbehörde mit zwei Angeklagte wurde für nicht schuldig befunden. Kugeln von hinten niedergestreckt. Junge nepalesische Frauen suchten im Aus- land nach einer Möglichkeit, ihre wirtschaftli- Diskriminierung che Situation zu verbessern. Eine unzurei- Dalits, indigene Gruppen, Behinderte sowie re- chende Gesetzgebung und mangelhafte Um- ligiöse und sexuelle Minderheiten wurden trotz setzung bestehender Gesetze sowie Korruption der rechtlichen Anerkennung ihrer Gleichbe- trugen zur Ausbeutung dieser Frauen bei. rechtigung sozial ausgegrenzt. Bemühungen, die geschlechtliche Diskriminierung auf gesetz- licher Ebene zu bekämpfen, hatten kaum Er- folg angesichts der fortdauernden Diskriminie- rung von Frauen im öffentlichen und privaten Bereich. Frauen, insbesondere Angehörige der Dalit, sahen sich bei der Wahrnehmung ihrer Neuseeland Rechte in Bezug auf den Zugang zu juristischen Einrichtungen, Land- und Vermögensbesitz, Amtliche Bezeichnung: Neuseeland Erbschaften, Einkommens- und Beschäfti- Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten gungsbedingungen und politischer Mitwir- durch Generalgouverneur Anand Satyanand kung mit Hindernissen konfrontiert. Regierungschef: John Key  Leichte Fortschritte konnten 2010 im Um- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft gang der Gerichte mit der Kastendiskriminie- Einwohner: 4,3 Mio. rung verzeichnet werden. Im August bestätigte Lebenserwartung: 80,6 Jahre das Berufungsgericht von Kanchanpur die Ge- Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 richtsurteile (eines vom Januar, das andere vom Lebendgeburten März) gegen zwei Männer, die verurteilt wor- den waren, weil sie Dalits aufgrund von deren Die Eigentumsrechte der indigenen Völ- Kastenzugehörigkeit angegriffen hatten. ker wurden durch das Gesetz über Mee- res- und Küstenregionen anerkannt. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen neuseeländische Menschenrechtskom- Nepals Bestrebungen, »Gewalt gegen Frauen mission forderte eine Reform des Ein- 2010 zu beenden«, hatten nur wenig sichtba- wanderungsgesetzes, weil durch ein ren Erfolg. In der ersten Jahreshälfte wurden neues System zur Überprüfung von Rei- der Polizei allein im Kathmandu-Tal 300 Fälle senden Asylsuchenden die Gefahr familiärer Gewalt gemeldet. Viele weitere blie- droht, in ihren Herkunftsländern verfolgt ben im Dunkeln. Der Hexerei beschuldigte zu werden. Frauen – meist arm, isoliert oder Angehörige der Dalit – wurden von der lokalen Bevölke- Rechte indigener Völker rung angegriffen und gefoltert. Mängel in der Im April 2010 erklärte die Regierung, sie unter- Gesetzgebung und eine unzureichende Poli- stütze die UN-Erklärung über die Rechte der zeiarbeit erschwerten die Strafverfolgung in indigenen Völker.

Neuseeland 343 Mit der Einbringung der Gesetzesvorlage über seeland zu verwehren. Dies könnte Asylsu- Meeres- und Küstenregionen (Takutai Moana) chende in Gefahr bringen, denen in ihren Her- im September 2010 sollte das Gesetz über Küs- kunftsländern Folter oder andere schwere tengewässer und Meeresboden von 2004 hin- Menschenrechtsverletzungen drohen. Über- fällig werden, das die Eigentumsrechte der dies verweigerte das Gesetz Asylbewerbern Ansprüche der Maori benachteiligt hatte. Der eine richterliche Überprüfung dieser Entschei- Gesetzentwurf war Ende 2010 noch im Parla- dung. ment anhängig. Rechtliche Entwicklungen Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Das Einwanderungsgesetz von 2009 erlaubt In Bezug auf Gefangene, die von Angehörigen Schulen Kinder zu betreuen, die sich ohne der Afghan Crisis Response Unit festgenom- Aufenthaltsstatus in Neuseeland befinden. men wurden, mit der die neuseeländische Spe- Damit werden die Vorbehalte des Landes ge- zialeinheit New Zealand Special Air Service gen die UN-Kinderrechtskonvention teilweise zusammengearbeitet hat, bestätigte der Vertei- zurückgenommen. digungsminister im August, dass sie an den Die Regierung lehnte es weiterhin ab, dem afghanischen Inlandsgeheimdienst überstellt Grundrechtskatalog New Zealand Bill of worden seien, wo ihnen Gefahr drohte, gefol- Rights Act (BORA) von 1990 einen gesetzlich tert oder in anderer Weise misshandelt zu wer- geschützten Status zu verleihen. Deshalb den. konnten Gesetze beschlossen werden, die möglicherweise im Widerspruch dazu stehen. Flüchtlinge und Asylsuchende Im Mai forderte die neuseeländische Men- Polizei und Sicherheitskräfte schenrechtskommission, das 2009 in Kraft ge-  Im März 2010 stellte ein Gericht der ersten In- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen tretene Einwanderungsgesetz zu überarbeiten. stanz fest, dass die Polizei in Whakatane einen Laut dem Gesetz konnte die Inhaftierung von Inhaftierten exzessiver Gewalt ausgesetzt hatte. Flüchtlingen und Asylsuchenden ohne richterli- Der Gefangene war über sieben Stunden lang 000835 che Anordnung auf bis zu 96 Stunden ausge- in einer Zelle festgehalten und wiederholt mit dehnt werden. Außerdem wurde die Inhaftie- Pfefferspray besprüht sowie mit einem Stock rung von Kindern und Jugendlichen nicht aus- geschlagen worden. drücklich ausgeschlossen. Das Gesetz sah ein  Die Ermittlungen gegen drei Polizeibeamte, System zur Überprüfung von Reisenden vor. die im Verdacht standen, Inhaftierte misshan- Es ermächtigte den Leiter der Zuwanderungs- delt zu haben, waren Ende 2010 noch nicht ab- behörde, einer Person ohne Angabe von Grün- geschlossen. den das Besteigen eines Flugzeugs nach Neu-  Im Oktober 2010 wurden zwei Polizeibeamte aus Manukau verurteilt, weil sie außerhalb ih- rer Dienstzeit eine Gruppe von Studierenden at- tackiert hatten. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

344 Neuseeland des Internationalen Strafgerichtshofs ratifi- Nicaragua ziert. Nach Monaten des Tumults im Obersten Ge- Amtliche Bezeichnung: Republik Nicaragua richtshof wuchs die Besorgnis über die Unab- Staats- und Regierungschef: hängigkeit der Justiz. Die Krise begann im Ja- Daniel Ortega Saavedra nuar 2010, als Präsident Ortega eine Anord- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft nung erließ, mit der die Amtszeit von acht der Einwohner: 5,8 Mio. 16 Richterinnen und Richter, die der opposi- Lebenserwartung: 73,8 Jahre tionellen Konstitutionellen Liberalen Partei Kindersterblichkeit (m/w): 29 / 22 pro 1000 (Partido Liberal Constitucionalista – PLC) an- Lebendgeburten gehörten, de facto beendet wurde. Im Juli er- Alphabetisierungsrate: 78% klärte ein vom Obersten Gerichtshof erlasse- nes Urteil diese Anordnung für rechtmäßig und Vergewaltigung und sexueller Miss- verbindlich. Im September entschied der neue brauch waren nach wie vor weit verbrei- Oberste Gerichtshof, dass die Begrenzung der tet; mehr als zwei Drittel der zwischen Amtszeit des Präsidenten auf zwei nicht aufei- Januar und September 2010 gemelde- nanderfolgende Perioden ungültig sei. Dieses ten Fälle betrafen Mädchen unter 17 Urteil wurde von weiten Kreisen als Wegberei- Jahren. Das Verbot aller Arten von ter für die Wiederwahl des aktuellen Präsiden- Schwangerschaftsabbrüchen blieb in ten Daniel Ortega gewertet, der bereits Kraft. Die Unabhängigkeit der Justiz 1985 – 90 Präsident war. wurde in Zweifel gezogen. Gewalt gegen Frauen und Mädchen Hintergrund Vergewaltigung und sexueller Missbrauch wa- Nach den Überflutungen im August und Sep- ren nach wie vor weit verbreitet. Laut den Sta- tember und dem darauf folgenden Ausbruch tistiken des Polizeikommissariats für Frauen der Leptospirose, der zahlreiche Menschen und Mädchen (Comisaría de la Mujer y la Ni- zum Opfer fielen, wurde der Gesundheitsnot- ñez) betrafen von den zwischen Januar und Au- stand ausgerufen. gust 2010 gemeldeten Vergewaltigungen zwei Eine neue Ombudsfrau für sexuelle Viel- Drittel Mädchen unter 17 Jahren. Die offiziellen falt wurde ernannt. Das Amt war ausdrück- Bemühungen zur Bekämpfung der sexuellen lich zum Schutz der Rechte von Lesben, Gewalt gegen Frauen und Mädchen blieben Schwulen, Bisexuellen und Transgender- wirkungslos. Die Regierung unternahm nichts Personen geschaffen worden. Im Mai ratifizierte zur Aufstellung eines weitreichenden Aktions- Nicaragua das ILO-Übereinkommen Nr. 169 plans zur Beseitigung der sexuellen Gewalt, über eingeborene und in Stämmen lebende zum Opferschutz oder zur Sicherstellung des Völker. Bis zum Jahresende hatte das Land Zugangs der Opfer zu umfassender psychoso- aber noch immer nicht das Römische Statut zialer Betreuung als Voraussetzung für ihren Gesundungsprozess. Im Oktober ersuchte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes Nica- ragua, dringend erforderliche Maßnahmen zur Beseitigung der sexuellen Gewalt gegen Kinder zu ergreifen.  Im April 2010 wurde die 13 Jahre alte Lucía von einem Nachbarn entführt und sexuell missbraucht. Sie wurde erst im Juli aufgefun- den, und es wurde vermutet, dass sich ihre Auffindung wegen der zu geringen Ressourcen

Nicaragua 345 und Kapazitäten der Polizei verzögert hatte. chere und legale Möglichkeiten zum Schwan- Nachdem Lucía nach Hause zurückgekehrt gerschaftsabbruch geboten werden, wenn ihr war, blieb der Entführer in Freiheit. Das Mäd- Leben oder ihre Gesundheit in Gefahr sind. chen und ihr Vormund berichteten der Polizei, Diese Option solle auch Opfern einer Verge- dass sie von ihm eingeschüchtert und bedroht waltigung, die schwanger geworden sind, ein- worden sei. Bis zum Jahresende war niemand geräumt werden. wegen der Entführung und des sexuellen Trotz der Dringlichkeit der Situation und ent- Missbrauchs zur Verantwortung gezogen wor- gegen seiner Zusage vom Mai 2009 traf der den, und Lucía hatte keinen ausreichenden Oberste Gerichtshof 2010 keine Entscheidung Schutz erhalten. über ein eingelegtes Rechtsmittel, in dem die Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Verbots Sexuelle und reproduktive Rechte aller Arten von Schwangerschaftsabbrüchen Das Verbot aller Arten von Schwangerschafts- in Frage gestellt wurde. abbrüchen blieb bestehen. Das Gesetz gestat- tete keine Ausnahmen, und Frauen und Mäd- Amnesty International: Mission und Berichte chen, die aufgrund einer Vergewaltigung  Delegierte von Amnesty International besuchten Nicaragua schwanger geworden oder deren Leben oder im März.  Gesundheit durch das Fortbestehen einer Amnesty International Briefing on Nicaragua to the United Schwangerschaft gefährdet waren, wurde das Nations Committee on the Rights of the Child (AMR 43 /004/2010) Recht verweigert, Einrichtungen aufzusuchen,  Listen to their voices and act: Stop rape and sexual abuse of die sichere und legale Schwangerschaftsabbrü- girls in Nicaragua (AMR 43 / 008/ 2010) che durchführen. Jedweder Schwanger- schaftsabbruch wurde nach wie vor als Straftat gewertet, und jede Person, die nach der Mög- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs suchte oder einer Person bei der Suche half, riskierte strafrechtliche Verfolgung. 000835 Niederlande Im Februar wurde die Lage der Menschen- rechte in Nicaragua im Rahmen der Regelmä- Amtliche Bezeichnung: ßigen Universellen Überprüfung (UPR) durch Königreich der Niederlande die UN beurteilt. Zwölf Mitgliedstaaten emp- Staatsoberhaupt: fahlen die Aufhebung des Verbots von Schwan- Königin Beatrix Wilhelmina Armgard gerschaftsabbrüchen. Im September ersuchte Regierungschef: Mark Rutte (löste im Oktober der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes Jan Peter Balkenende im Amt ab) den Staat Nicaragua, den Schwangerschafts- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft abbruch zu entkriminalisieren. Dies war der Einwohner: 16,7 Mio. fünfte UN-Expertenausschuss, der empfahl, Lebenserwartung: 80,3 Jahre die Gesetze zum vollständigen Verbot des Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 Schwangerschaftsabbruchs zu reformieren Lebendgeburten und damit diese schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte von Frauen und Mäd- Entgegen den Richtlinien des UN-Hoch- chen zu beenden. kommissars für Flüchtlinge (UNHCR) Am Lateinamerikanischen und Karibischen wurden irakische Staatsangehörige in Tag für die Entkriminalisierung des Schwan- den Irak abgeschoben. Die Einführung gerschaftsabbruchs im September forderten neuer schnellerer Asylverfahren und die Menschenrechtsaktivisten, unter ihnen auch Inhaftierung von Asylsuchenden und Gesundheitsexperten, Präsident Ortega auf, zu Migranten ohne regulären Aufenthalts-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gewährleisten, dass Frauen und Mädchen si- status gab Anlass zu Besorgnis.

346 Niederlande Diskriminierung gefochten haben, wurde die Zwangsrückfüh- Ausgelöst durch Kritik vonseiten internationaler rung einer Reihe irakischer Staatsangehöriger sowie nationaler Menschenrechtsgremien und ausgesetzt. -organisationen legte die Interimsregierung Am 24. November 2010 verkündete die Regie- dem Parlament im September 2010 einen Ak- rung, dass die Rückführungen wieder aufge- tionsplan zur Bekämpfung von Diskriminierung nommen würden. vor. Es wurde allerdings bemängelt, dass der Im Oktober erklärte die Regierung, dass auf- Plan Maßnahmen vermissen ließ, um angemes- grund der Sicherheitslage in Mogadischu sen gegen diskriminierende Strategien und Rückführungen von aus Mogadischu stam- Praktiken wie die Erstellung von Personenprofi- menden Personen nach Somalia vorüberge- len durch die Polizei anhand ethnischer Krite- hend ausgesetzt worden seien. Rückführungen rien vorgehen zu können. von Menschen aus anderen Landesteilen So- In ihrer Koalitionsvereinbarung kündigte die malias nach Mogadischu waren indes nach wie neue Regierung ein Gesetzesvorhaben an, mit vor geplant. dem verboten werden soll, in der Öffentlichkeit Trotz eines nicht funktionierenden Asylsys- Kleidung zu tragen, die das Gesicht verhüllt. tems und gravierender Bedenken gegen die Es gab Bedenken, dass ein solches Verbot die Haftbedingungen in Griechenland wurden auf Rechte auf freie Meinungsäußerung und Reli- der Grundlage der Dublin-II-Verordnung wei- gionsausübung von Frauen verletzen würde, terhin Asylsuchende dorthin verbracht. Im Ok- die die Burka oder den Nikab als Ausdruck tober 2010 verkündete der Justizminister in- ihrer Identität oder ihres Glaubens tragen wol- des, dass Überstellungen von Personen, deren len. Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Eu- Flüchtlinge, Asylsuchende ropäischen Union anhängig seien, vorüberge- und Migranten hend ausgesetzt würden. Mindestens 75 irakische Staatsangehörige wur- Ab dem 1. Juli 2010 wurden die meisten Asyl- den unter Verstoß gegen Richtlinien des UN- anträge in einem neuen achttägigen Asylver- Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) fahren abgewickelt, wobei in manchen Fällen nach Bagdad abgeschoben. Nach einem eine Verlängerung auf 14 Tage möglich war. Es Schreiben des Europäischen Gerichtshofs für gab Bedenken, dass dieses Verfahren Asylsu- Menschenrechte vom 22. Oktober, in dem die chende daran hindern könnte, ihre Ansprüche Behörden aufgefordert wurden, bis auf Weite- zu untermauern, und zur Ablehnung begründe- res keine irakischen Staatsangehörigen nach ter Ansprüche auf Schutz führen könnte. Bagdad abzuschieben, die ihre Ausweisung an- Laut Angaben der Regierung wurden in den ersten sechs Monaten des Berichtsjahrs 3980 Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus und Asylsuchende in Verwaltungshaft genom- men. Sie wurden in Hafteinrichtungen für Zu- wanderer festgehalten und wie Untersu- chungsgefangene behandelt. Nur selten kamen Alternativen zur Inhaftierung zum Einsatz. Im März äußerte sich der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) besorgt über die Praxis, Familien mit Kindern sowie unbegleitete Kinder, die Asyl beantragen wollten, bei ihrer Ankunft in den Niederlanden zu inhaftieren.

Niederlande 347 Amnesty International: Berichte wurden Mamadou Tandja und andere po-  Netherlands: Stop forcible returns to Iraq litische und militärische Führungsper- (EUR 35/001/ 2010) sonen ohne Anklage oder Verfahren fest-  European states must stop forced returns to Iraq gesetzt. Mehrere ausländische Personen (EUR 01/028/ 2010) wurden von Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) als Geiseln genommen, eines der Opfer kam Berichten zufolge in der Geiselhaft um.

Hintergrund Im Februar 2010 stürzte das Militär den Präsi- Niger denten Mamadou Tandja, setzte die Verfas- sung außer Kraft und löste alle staatlichen Insti- Amtliche Bezeichnung: Republik Niger tutionen auf. Der Oberste Rat zur Wiederher- Staatsoberhaupt: Major Salou Djibo (löste im stellung der Demokratie (Conseil Suprême pour Februar Mamadou Tandja im Amt ab) la Restauration de la Démocratie – CSRD) er- Regierungschef: Mahamadou Danda (löste im nannte Major Salou Djibo zum neuen Staats- Februar Ali Badjo Gamatié im Amt ab) und Regierungschef. Die Militärführung ver- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft sprach eine neue Verfassung und eine rasche Einwohner: 15,9 Mio. Rückkehr zur Demokratie. Lebenserwartung: 52,5 Jahre Im Mai wurde ein neues Wahlgesetz verkün- Kindersterblichkeit (m/w): 171 / 173 pro 1000 det, im Oktober unterzeichneten der CSRD, Lebendgeburten die Regierung des Niger, das Übergangsparla- Alphabetisierungsrate: 28,7% ment, die wichtigsten politischen Parteien und 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Gruppen Bis zum Sturz von Präsident Mamadou in Rom ein nationales Abkommen für ein Tandja im Februar 2010 waren Men- Übergangsbündnis. Im selben Monat wurden 000835 schenrechtsaktivisten weiter im Visier auch eine neue Verfassung verabschiedet und der Behörden. Nach dem Militärputsch Parlamentswahlen für Januar 2011 festgesetzt. Im März überfielen AQIM-Mitglieder einen mi- litärischen Vorposten im Westen des Landes und töteten mindestens fünf Soldaten. Infolge von Ernteausfällen und hohen Lebens- mittelpreisen war über die Hälfte der Bevölke- rung von einer schweren Nahrungsmittelkrise betroffen. Die Situation verschlimmerte sich, als im August heftige Regenfälle einsetzten und weite Gebiete überfluteten.

Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren Nach dem Militärputsch wurden mehrere poli- tische Führungspersonen festgesetzt. Die meisten wurden einige Tage später wieder frei- gelassen, einige blieben jedoch ohne Anklage- erhebung oder Verfahren weiter in Haft.  Im Februar 2010 wurden der gestürzte Präsi- dent Mamadou Tandja und der Innenminister

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Albadé Abouba unter Hausarrest gestellt. Ende

348 Niger 2010 saßen sie noch immer in der Hauptstadt derte die Freilassung mehrerer AQIM-Mitglie- Niamey fest, ohne dass es zu einem juristi- der, die in Nachbarländern inhaftiert waren. Im schen Verfahren gekommen wäre. Im Novem- Juli gab AQIM den Tod von Germaneau be- ber ordnete der Gerichtshof der Westafrikani- kannt, einige Tage, nachdem eine Befreiungs- schen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) an, operation mauretanischer und französischer dass die Militärmachthaber den ehemaligen Soldaten in Mali fehlgeschlagen war. Präsidenten Tandja freizulassen habe.  Im September entführte AQIM in der Stadt  Im Oktober 2010 wurde Oberst Abdoulaye Arlit im Norden des Niger sieben Menschen Badié, der Stellvertreter von Major Djibo, zu- (fünf Franzosen, einen Togoer und einen Mada- sammen mit drei weiteren wichtigen Militärs gassen). Zwei der Entführten arbeiteten für ein festgenommen und der Verschwörung zur De- französisches Unternehmen, das Uranabbau stabilisierung des Regimes beschuldigt. Die vier betreibt. Die Geiseln sollen in den Nordwesten Männer wurden im Hauptquartier der Natio- von Mali verschleppt worden sein. Berichten nalgendarmerie in Niamey inhaftiert; bis zum zufolge stellte AQIM im Oktober die folgenden Ende des Berichtsjahrs war noch keine An- Forderungen: Aufhebung des Burka-Verbots in klage erhoben worden. Frankreich, Freilassung von Mitgliedern der Organisation und ein Lösegeld in Höhe von Menschenrechtsverteidiger 7 Mio. Euro. Zu Beginn des Jahres 2010 standen Menschen- rechtsverteidiger erneut im Visier der Behör- Todesstrafe den. Nachdem im Mai 2010 insgesamt 18 Afrikaner,  Im Januar wurde der Vorsitzende der Trans- darunter drei nigrische Staatsangehörige, in parenz-Initiative Gemeinsame Front zur Ret- Libyen hingerichtet worden waren, traf sich Ma- tung der Demokratie (Front Uni pour la Sauve- jor Salou Djibo mit Libyens Staatschef Mu’am- garde des Acquis Démocratiques – FUSAD), mar al-Gaddafi und vereinbarte mit ihm, dass Marou Amadou, wegen »regionalistischer Pro- Libyen keine Staatsangehörigen des Niger paganda« zu drei Monaten Haft auf Bewäh- mehr hinrichten werde. Bei diesem Treffen rung verurteilt, nachdem er zu Protesten gegen wurde ebenfalls vereinbart, die in Libyen ge- die Regierung von Mamadou Tandja aufgeru- gen 22 nigrische Staatsbürger verhängte Todes- fen hatte. Im Jahr 2009 hatte Marou Amadou strafe in lebenslange Haftstrafen umzuwan- schon einmal einen Monat lang im Gefängnis deln und die Betroffenen nach Niger zu über- gesessen. stellen, damit sie die Haftstrafen dort abbüßen  Im Februar wurde der Vorsitzende der Natio- können. nalen Bewegung zur Rettung der Demokratie (Mouvement nigérien pour la Sauvegarde des Amnesty International: Berichte Acquis Démocratiques – MOSADEM), Abdoul-  Niger: Submission to the UN Universal Periodic Review, Aziz Ladan, der »gemeinschaftlichen Verleum- January 2011 (AFR 43/001/ 2010)  dung« angeklagt, weil er die offizielle Regie- Mali-Mauritania-Niger: Amnesty International calls for the rungspolitik kritisiert hatte. Nach dem Sturz von release of all hostages held by Al Qa’ida in the Islamic Maghreb (AFR 05/004/ 2010) Präsident Tandja wurde die Anklage fallenge-  Niger: Une opportunité historique pour abolir la peine de mort lassen. (AFR 43/002/ 2010) Geiselnahmen Mehrere Ausländer wurden 2010 von AQIM in Geiselhaft genommen.  Im April entführte AQIM den 78-jährigen Franzosen Michel Germaneau, der bei einem humanitären Einsatz im Niger tätig war, und for-

Niger 349 Lage im Nigerdelta verschlechterte sich Nigeria im Berichtsjahr weiter. Menschen- rechtsverteidiger und Journalisten wur- Amtliche Bezeichnung: Bundesrepublik Nigeria den weiterhin eingeschüchtert und Staats- und Regierungschef: Goodluck Jonathan schikaniert. Gewalt gegen Frauen war (löste Umaru Musa Yar’Adua im Mai im Amt ab) nach wie vor weit verbreitet. Die Regie- Todesstrafe: nicht abgeschafft rung ergriff keine Maßnahmen, um die Bevölkerung: 158 Mio. Rechte von Kindern zu schützen. Auch Lebenserwartung: 48,4 Jahre 2010 wurden Menschen überall in Nige- Kindersterblichkeit (m/w): 190 / 184 pro 1000 ria Opfer rechtswidriger Zwangsräu- Lebendgeburten mungen. Alphabetisierungsrate: 74,8% Hintergrund Die Polizei war auch 2010 für Menschen- Staatspräsident Umaru Musa Yar’Adua starb rechtsverletzungen verantwortlich, da- nach langer Krankheit im Mai 2010. Sein runter widerrechtliche Tötungen, Folte- Nachfolger wurde der bisherige Vizepräsident rungen und andere Misshandlungen so- Goodluck Jonathan, der die Amtsgeschäfte wie Fälle von »Verschwindenlassen«. Der bereits seit Februar geführt hatte. Justiz fehlte es an den erforderlichen Der Leiter der Unabhängigen Nationalen Mitteln, Verfahrensverzögerungen waren Wahlkommission (Independent National an der Tagesordnung. Die Gefängnisse Electoral Commission) wurde im April seines waren überfüllt. Bei den meisten Gefan- Amtes enthoben. Im Juni übernahm sein genen handelte es sich um Untersu- Nachfolger die Kommissionsleitung. Die zu- chungshäftlinge, von denen einige schon nächst für Januar 2011 anberaumten Wahlen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen seit Jahren auf ihren Prozess warteten. wurden auf April 2011 verschoben. Ungefähr 920 Personen saßen in den To- Im Zusammenhang mit den Wahlen 2011 deszellen ein. Viele waren in unfairen kam es flächendeckend zu politisch motivier- 000835 Verfahren verurteilt worden. Es wurden ten Gewalttaten, bei denen zahlreiche Personen keine Hinrichtungen gemeldet. Die ums Leben kamen. Unter den Getöteten wa- ren Kandidaten sowie Angehörige und Anhän- ger von Kandidaten. Am 31. Dezember 2010 wurden bei einer Bombenexplosion in der Sani-Abacha- Kaserne mindestens 13 Menschen in den Tod gerissen und viele weitere verletzt.

Bundesstaat Plateau Vom 17. bis zum 20. Januar 2010 kamen bei re- ligiöser und ethnisch motivierter Gewalt in Jos, der Hauptstadt des Bundesstaates Plateau, und in den umliegenden Orten mehr als 300 Menschen ums Leben. Mehr als 10000 Men- schen wurden vertrieben, Tausende von Ge- schäften und Wohnungen zerstört. Bei Aus- schreitungen in den Ortschaften Dogo Na- hawa, Zot und Ratsat am 7. März töteten be- waffnete Unbekannte mehr als 200 Männer,

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Frauen und Kinder. Häuser und die persönliche

350 Nigeria Habe der Überfallenen gingen in Flammen zisten töteten. Bei dem Überfall einer Gruppe auf, Tausende wurden vertrieben. von Boko-Haram-Mitgliedern auf das Bundes- Am 24. Dezember explodierten in der Stadt gefängnis in Bauchi wurden mehr als 700 Jos und den umliegenden Orten mindestens Häftlinge, darunter ca. 123 Sektenmitglieder, drei Bomben. Dabei wurden mehr als 80 Men- befreit. schen in den Tod gerissen und zahlreiche wei-  Eine Kommission, die zur Untersuchung der tere verletzt. Die Bombenexplosionen lösten in Gewalttaten von Boko Haram eingesetzt wor- Jos und Umgebung weitere Ausschreitungen den war, bei denen im Juli 2009 mehr als 700 aus, bei denen dutzende Personen ums Leben Menschen getötet worden waren, veröffent- kamen. Zahlreiche Personen wurden verletzt lichte ihre Ergebnisse im Jahr 2010 ebenfalls und Gebäude in Brand gesteckt. nicht. Im April wies das erstinstanzliche Straf- Eine im Februar 2010 eingesetzte präsidiale gericht des Bundesstaates Borno die Polizei im Beratungskommission zur Untersuchung der Fall Alhaji Baba Fugu zur Zahlung einer Ent- Ausschreitungen übergab im August Präsident schädigung an. Alhaji Baba Fugu war während Jonathan ihren Bericht. Der Präsident sicherte der Auseinandersetzungen zwischen den Si- zu, die Empfehlungen der Kommission umzu- cherheitskräften und der Boko-Haram-Sekte setzen. Der Öffentlichkeit wurde der Bericht 2009 im Polizeigewahrsam außergerichtlich jedoch nicht zugänglich gemacht. Auch die Er- hingerichtet worden. Das von der Polizei ange- gebnisse von Untersuchungen der Gewaltaus- strengte Rechtsmittelverfahren war Ende 2010 brüche von 2008 waren Ende des Jahres noch noch anhängig. immer unter Verschluss. Bundesstaat Abia Boko Haram Im Bundesstaat Abia entführten kriminelle Ban- Mutmaßliche Mitglieder der sogenannten Boko- den Dutzende von Menschen, darunter auch Haram-Sekte ermordeten zwischen Juli und Kinder, um Lösegelder zu erpressen. Manch- Dezember 2010 im Bundesstaat Borno mehr mal ging es dabei um Summen von lediglich als 30 Menschen. Die Gewalt richtete sich 10000 Naira (ca. 65 US-Dollar). Nach Angaben häufig gegen die Polizei. Bei Angriffen mutmaß- des nigerianischen Ärzteverbandes wurden licher Boko-Haram-Mitglieder auf zwei Kir- auch 21 Ärzte und Ärztinnen entführt. Am chen in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundes- 29. September wurde die Armee in den Bun- staates Borno, wurden am 24. Dezember desstaat entsandt. Die Sondereinheit Joint Mili- sechs Menschen getötet. tary Task Force (JTF), die aus Soldaten des Im Oktober wurden Hunderte von Soldaten in Heeres, der Marine, der Luftwaffe und aus mo- den Bundesstaat Borno entsandt. Ein Polizei- bilen Einsatzkommandos der Polizei besteht, sprecher gab am 22. November bekannt, dass erklärte am 12. Oktober, dass sie 172 mutmaß- die Polizei in den vorangegangenen Wochen liche Mitglieder von Entführerbanden bei be- mehr als 170 Männer und Frauen festgenom- waffneten Auseinandersetzungen getötet und men habe. Viele wurden in die nigerianische 237 festgenommen habe. Nach Schätzungen Hauptstadt Abuja überstellt. Die meisten Fest- von NGOs dürften im Bundesstaat Abia im Jahr genommenen waren Ende 2010 noch nicht 2010 hunderte Menschen von den Sicher- dem Richter vorgeführt worden, sondern befan- heitskräften getötet worden sein. den sich noch immer in Polizeihaft. Am 31. Dezember gab die Polizei die Fest- Widerrechtliche Tötungen nahme von 92 weiteren mutmaßlichen Boko- und »Verschwindenlassen« Haram-Mitgliedern bekannt. Im Februar forderten hochrangige Regierungs- Mutmaßliche Mitglieder der Sekte verübten vertreter eine Reform der Polizeikräfte und auch Angriffe in den Bundesstaaten Bauchi eine Verbesserung des Beschwerdesystems. und Yobe, bei denen sie mindestens fünf Poli- Konkrete Maßnahmen blieben jedoch aus.

Nigeria 351 In den Reihen der Polizeikräfte war es nach Folter und andere Misshandlungen wie vor üblich, Menschenrechte und Kriterien Straftatverdächtige wurden von der Polizei re- für ordnungsgemäße Verfahren zu missachten. gelmäßig gefoltert, auch wenn es sich um Kin- Im Jahr 2010 tötete die Polizei Hunderte von der handelte. Im März nahm der damalige Ge- Männern und Frauen. Viele wurden vor oder neralstaatsanwalt und Bundesjustizminister während ihrer Festnahme in den Straßen oder den Entwurf der nationalen Antifolterstrategie an Kontrollpunkten oder auch anschließend im offiziell an. Weitere Maßnahmen wurden aller- Gewahrsam der Polizei getötet. Viele Men- dings nicht ergriffen. schen »verschwanden« nach ihrer Festnahme. Festgenommene Personen wurden regelmä- Bei einem großen Teil der widerrechtlichen Tö- ßig von der Polizei über den gesetzlich erlaub- tungen handelte es sich offenbar um außerge- ten Zeitraum von 48 Stunden hinaus, häufig richtliche Hinrichtungen. In solchen Fällen über Wochen und sogar über Monate in Ge- werden die Täter meist nicht strafrechtlich be- wahrsam gehalten, bevor man sie einem Rich- langt. Im Mai gab die Menschenrechtsorgani- ter vorführte. sation LEDAP (Legal Defence and Assistance  Shete Obusoh und Chijioke Olemeforo wur- Project) bekannt, dass ihren Schätzungen zu- den am 4. Oktober 2010 von Polizeibeamten folge im Jahr 2009 mindestens 1049 Menschen des Sonderdezernats für Raubüberfälle festge- von der Polizei getötet worden seien. nommen. Erst nach 17 Tagen in Polizeigewahr-  Im Januar erschossen Polizisten an einem sam führte man sie einem Richter vor und ver- Kontrollpunkt in Ilorin (Bundesstaat Kwara) legte sie am 21. Oktober in ein Gefängnis. Nach eine stillende Mutter und ihr acht Monate altes Angaben der beiden Männer wurden sie in der Baby. Vier Polizeibeamte wurden verhaftet. Polizeiwache an der Decke aufgehängt und mit  Im April schoss die Polizei in Ajegunle (Bun- Gewehrkolben und Macheten geschlagen. desstaat Lagos) auf Demonstrierende und tö- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen tete dabei vier Menschen. Die Opfer hatten sich Justizsystem an einer Protestaktion für Charles Okafor be- Von den ca. 48000 Menschen, die in den Ge- teiligt. Er war bei einer Razzia in einem öffentli- fängnissen einsaßen, waren 70% Untersu- 000835 chen Zentrum, wo er sich die Übertragung chungshäftlinge. Viele Gefangene warteten eines Fußballspiels anschaute, von Polizisten schon seit Jahren unter unerträglichen Bedin- geschlagen worden und anschließend gestor- gungen auf ihren Prozess. Nur wenige konnten ben. sich einen Anwalt leisten, und die staatlich ge-  Im Juni wurde Polizeikommissar Boniface förderte Rechtshilfeeinrichtung Legal Aid Coun- Ukwa an einem Kontrollpunkt in Enugu von cil beschäftigte nur 122 Anwälte, die für das Polizisten erschossen. Er war nicht im Dienst ganze Land zuständig waren. und trug keine Uniform. Die Polizei behaup- Ende 2010 stand ein Großteil der Gesetzent- tete nach dem Vorfall, dass er bei einem würfe für eine Justizreform noch immer zur Schusswechsel mit Entführern getötet worden Beratung in der Nationalversammlung an. Bei sei. der Beratung eines Gesetzentwurfs zur Stär- In einigen Fällen wurde die Polizei angewie- kung der Rolle der nationalen Menschenrechts- sen, Entschädigungen zu zahlen, so z. B. für kommission waren gewisse Fortschritte zu ver- die dreijährige Kausarat Saliu, die im April 2009 zeichnen. Am Jahresende lag der Entwurf aller- an einem Kontrollpunkt in Lagos von Polizisten dings noch immer nicht dem Präsidenten vor, erschossen wurde, die den Reisebus, in dem der dem Gesetz zustimmen muss. sie und ihre Eltern unterwegs waren, angehal- Verfahrensverzögerungen waren 2010 bei den ten hatten. Gerichten nach wie vor an der Tagesordnung.  Im August wies das erstinstanzliche Bundes- strafgericht in Port Harcourt die Polizei an,

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Chika Ibweku vorzuführen mit der Begründung,

352 Nigeria dass seine Inhaftierung ohne Anklageerhe- Nach bewaffneten Auseinandersetzungen bung oder Kaution ungesetzlich sei. Bis zur zwischen der JTF und einer bewaffneten Ausfertigung des Beschlusses und der Zustel- Gruppe im Bundesstaat Delta machte die JTF lung an die darin namentlich genannten Polizei- den in der Nähe gelegenen Ort Ayokoromo beamten vergingen drei Monate. Das Institut dem Erdboden gleich. Mindestens 120 Häuser für Menschenrechte der nigerianischen An- wurden niedergebrannt. Nach Angaben der waltsvereinigung hatte die gerichtliche Haft- JTF wurden neun Dorfbewohner getötet. Dorfäl- prüfung schon im Mai 2009 beantragt. teste und NGOs sprachen jedoch von 51 To- ten, darunter auch Frauen und Kinder. Todesstrafe Im Januar 2010 kündigte die Bewegung für Ungefähr 920 Gefangene saßen 2010 in den To- die Befreiung des Nigerdeltas (Movement for deszellen ein. Unter ihnen waren acht Frauen, the Emancipation of the Niger Delta – MEND) zehn Häftlinge, die über 70 Jahre alt waren, ihre seit Oktober 2009 bestehende Waffen- und mehr als 20, die zum Tatzeitpunkt noch ruhe auf. Eine Bombenexplosion in Warri (Bun- keine 18 Jahre alt waren. Es wurden keine Hin- desstaat Delta) forderte im März mindestens richtungen gemeldet. Viele Todestraktinsas- ein Todesopfer. Im Oktober wurden die Feiern sen waren in äußerst unfairen Verfahren zum zum Unabhängigkeitstag von der Explosion Tode verurteilt worden oder hatten bis zum dreier Autobomben überschattet, durch die Prozessbeginn schon mehr als zehn Jahre im zwölf Menschen getötet wurden. Die MEND Gefängnis zugebracht. bekannte sich zu den Anschlägen. Nach mehreren Treffen des Staatsrats (Coun-  Im Januar wurden in Escravos (Bundesstaat cil of State) und des Nationalen Wirtschafts- Delta) zwei Mitarbeiter einer Fabrik des Unter- rats (National Economic Council) im April und nehmens Chevron erschossen. Angehörige der im Juni 2010, die unter dem Vorsitz des Präsi- JTF, die die Fabrik, in der Dieselkraftstoff aus denten bzw. des Vizepräsidenten stattfanden, Erdgas hergestellt wird, bewachten, wurden erklärten die Gouverneure der Bundesstaaten, beschuldigt, im Vorbeifahren das Feuer auf dass sie die Fälle sämtlicher Häftlinge in den die Arbeiter eröffnet zu haben, als diese das Todeszellen überprüfen und Anweisungen zur Werk verließen. Chevron zahlte den Familien Vollstreckung der Todesurteile unterzeichnen der Getöteten eine Entschädigung, lehnte je- wollten, um so die Überfüllung in den Gefäng- doch jegliche Verantwortung für den Vorfall nissen zu verringern. ab. Die in der Region allgegenwärtige Umweltver- Menschenrechtsverletzungen schmutzung durch die Erdölindustrie hatte im Nigerdelta nach wie vor gravierende Auswirkungen auf das Die Sicherheitslage, die durch eine vom Präsi- Leben der Menschen im Nigerdelta. Die Ge- denten im Jahr 2009 zugesicherte Amnestie setze und Vorschriften zum Schutz der Umwelt für Angehörige bewaffneter Gruppen zunächst wurden 2010 kaum angewendet. Die Regie- besser geworden war, hatte sich Ende 2010 rungsbehörden, die für die Umsetzung von wieder verschlechtert. Bewaffnete Gruppen Umweltbestimmungen zuständig waren, ar- und kriminelle Banden entführten Dutzende beiteten nicht effizient und waren in einigen von Arbeitern der Erdölgesellschaften samt Fällen durch Interessenkonflikte einge- ihren Angehörigen, darunter auch Kinder, und schränkt. Häufig hatte die Bevölkerung des Ni- griffen Erdölanlagen an. Die Sicherheitskräfte gerdelta keinen Zugang zu den wesentlichen verübten im Nigerdelta nach wie vor regelmä- Informationen über die Auswirkungen der Erd- ßig Menschenrechtsverletzungen. Dazu zählten ölindustrie auf ihr Leben. außergerichtliche Hinrichtungen, Folterungen  Am 1. Mai 2010 erreichte Rohöl, das aus der und andere Misshandlungen sowie die Zerstö- Rohrleitung einer Erdölplattform im von Exxon- rung von Häusern. Mobil betriebenen Ölfeld Qua Iboe ausgetreten

Nigeria 353 war, die Küste des Verwaltungsbezirks Ibeno Recht auf freie Meinungsäußerung im Bundesstaat Akwa Ibom. Menschenrechtsverteidiger und Journalisten wurden weiterhin eingeschüchtert und schika- Gewalt gegen Frauen niert. Mehrere Medienschaffende und Perso- Gewalt gegen Frauen war 2010 nach wie vor nen, die sich für die Menschenrechte enga- weit verbreitet. Frauen erlitten sowohl familiäre gierten, sollen von der Polizei und Sicherheits- Gewalt als auch Vergewaltigungen und sexuelle kräften bedroht und geschlagen worden sein, Übergriffe durch Staatsbedienstete und an- und mindestens zwei Personen kamen unter dere Personen. Die Behörden unterließen es ungeklärten Umständen ums Leben. Noch durchgängig, ihrer Verpflichtung zur Vorbeu- immer stand in der Nationalversammlung der gung und Ahndung sexueller Gewalt nachzu- Entwurf für ein Gesetz zur Informationsfreiheit kommen. Dies betraf sowohl Täter aus dem zur Beratung an. Der Entwurf war der National- Kreis der Staatsbediensteten als auch Täter aus versammlung 1999 schon einmal vorgelegt anderen Bereichen und trug dazu bei, dass worden. sich eine Kultur der Straflosigkeit verfestigte.  Im März 2010 untersagte das Scharia-Gericht  Im Februar wurden Maryam Mohammed von Magajin Gari im Bundesstaat Kaduna der Bello und Halima Abdu dem Richter vorge- Menschenrechtsgruppe Civil Rights Congress, führt und anschließend in ein Gefängnis ge- ein Online-Forum weiter zu betreiben, in dem bracht. Zuvor waren sie ein Jahr in Maiduguri über das vor zehn Jahren gegen Mallam Bello in Polizeihaft gewesen und dort, wie sie erklär- Jangebe ergangene Scharia-Urteil diskutiert ten, mehrfach vergewaltigt worden. Beide wurde. Infolge des Urteils war ihm wegen eines Frauen waren schwanger geworden, während mutmaßlichen Kuhdiebstahls die rechte Hand sie sich in Polizeihaft befanden. Im Oktober abgetrennt worden. kamen sie gegen Kaution frei.  Am 24. April 2010 wurde Edo Sule Ugbagwu, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Gerichtsreporter bei der Tageszeitung The Na- Kinderrechte tion, in Lagos von Unbekannten erschossen. Das Kinderschutzgesetz war Ende 2010 in zwölf Ende 2010 waren die für seine Ermordung Ver- 000835 der 36 Bundesstaaten noch immer nicht ange- antwortlichen noch nicht zur Rechenschaft ge- nommen worden. In den Hafteinrichtungen der zogen worden. Polizei und in den Gefängnissen waren Kinder  Unbekannte Täter erschossen am 29. De- üblicherweise mit Erwachsenen in einer Zelle zember 2010 den Menschenrechtsverteidiger untergebracht. Von den drei Jugendhaftan- Chidi Nwosu in seinem Haus im Bundesstaat stalten, die es in Nigeria gibt, war nur eine in Abia. Er war Vorsitzender der Stiftung für Men- Betrieb. Diese war überfüllt; in der für 200 Ju- schenrechte, Gerechtigkeit und Frieden (Hu- gendliche konzipierten Einrichtung befanden man Rights, Justice and Peace Foundation) sich ca. 600 Insassen. und für seinen Kampf gegen Korruption und Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es Menschenrechtsverstöße bekannt. landesweit über 1 Mio. Straßenkinder gab, wa- ren die Vorkehrungen der Regierung für ob- Zwangsräumungen dachlose und schutzbedürftige Kinder völlig Auch 2010 wurden Menschen überall in Nigeria unzureichend. Opfer von rechtswidrigen Zwangsräumungen. Die gewaltsamen Zusammenstöße vom Im Vorfeld gab es keine Beratungsgespräche, 29. Dezember 2009 in Bauchi, an denen die und die Betroffenen erhielten weder rechtzei- islamische Sekte Kala-Kato beteiligt war und bei tig und in angemessener Form Informationen, denen mindestens 38 Menschen, darunter 22 noch bot man ihnen Entschädigungen oder Kinder, zu Tode gekommen waren, wurden im Ersatzunterkünfte an. In Port Harcourt (Bun- Berichtsjahr nicht untersucht. Viele Opfer sol- desstaat Rivers) waren nach wie vor mehr als

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht len von der Polizei erschossen worden sein. 200000 Menschen von Zwangsräumungen be-

354 Nigeria droht, weil die Regierung des Bundesstaates Rivers die Hafenviertel der Stadt abreißen Norwegen wollte.  Am 23. Dezember kam ein Mann ums Leben, Amtliche Bezeichnung: Königreich Norwegen als Polizisten bei einer Zwangsräumung im Staatsoberhaupt: König Harald V. Stadtviertel Makoko von Lagos das Feuer eröff- Regierungschef: Jens Stoltenberg neten. Mehrere Personen wurden verletzt. Die Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Polizei begleitete die Kick Against Indiscipline Einwohner: 4,9 Mio. Brigade (KAI), eine Spezialeinheit des Um- Lebenserwartung: 81 Jahre weltministeriums, die Gebäude in der Gegend Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 abreißen sollte. Für die Bewohner von Makoko Lebendgeburten war dies bereits die zweite Zwangsräumung. Die KAI hatte bereits im April mehrere hundert Asylsuchende wurden auf der Grundlage Menschen mit Gewalt aus ihren Wohnungen der Dublin-II-Verordnung zwangsweise vertrieben. nach Griechenland zurückgeführt. Dane- ben gab es auch Abschiebungen in den Amnesty International: Missionen und Berichte Irak. Der Schutz für weibliche Opfer se-  Delegierte von Amnesty International hielten sich in den Mo- xueller Gewalt war unzureichend. naten März, April und Oktober in Nigeria auf.  Nigeria: Provisions of the ›Prevention of Terrorism Bill 2009‹ Flüchtlinge, Migranten are incompatible with Nigeria’s human rights obligations: und Asylsuchende Briefing to the National Assembly (AFR 44/005/2010) Trotz schwerwiegender Bedenken wegen unzu-  Nigeria: Amnesty International, Human Rights Watch and Ni- reichender Asylverfahren und schlechter Haft- gerian civil society groups call on state governments not to resume the execution of prisoners (AFR 44/010/ 2010) bedingungen in Griechenland wurden bis  Nigeria: ›Just move them‹ – forced evictions in Port Harcourt zum 30. September 2010 insgesamt 277 Asyl- (AFR 44/017/ 2010) suchende auf der Grundlage der Dublin-II-Ver-  Nigeria: 50 Years of Independence: Making human ordnung von Norwegen nach Griechenland rights a reality (AFR 44/ / 021/2010) überstellt. Im Oktober setzten die Migrationsbe-  Nigeria: Port Harcourt demolitions: Excessive use of force hörden die nach dieser Verordnung durchge- against demonstrators (AFR 44/022/ 2010) führten Rückführungen nach Griechenland aus  Nigeria: Police must immediately account for disappeared und begannen damit, diese Asylanträge in- detainee (AFR 44/029/ 2010) haltlich zu überprüfen.  Nigeria: Activists assaulted and illegally detained by Nige- Im Widerspruch zu den Richtlinien des UN- rian police, 8 April 2010  Nigeria: Amnesty International condemns ban on internet de- Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) bate, 21 April 2010  Nigeria: Governor ›threatens to execute inmates‹ to ease pri- son congestion, 21 April 2010

Norwegen 355 wurden 140 Iraker – u. a. in gemeinsam mit an- Internationale Strafgerichtsbarkeit deren europäischen Staaten organisierten Im März 2010 sprach das Borgarting-Beru- Charterflügen – von Norwegen in den Irak abge- fungsgericht in Oslo den eingebürgerten nor- schoben. wegischen Staatsbürger Mirsad Repak, der in Im Oktober forderte das Justizministerium einer kroatischen paramilitärischen Einheit ak- NGOs dazu auf, sich an der Ausarbeitung tiv gewesen war, schuldig, 1992 während des eines Vorschlags zur Asylpolitik zu beteiligen, Krieges in Bosnien und Herzegowina im Haft- um die Lage von Asyl suchenden Kindern zu lager Dretelj Kriegsverbrechen und Verbrechen verbessern. Im gleichen Monat gab der Justiz- gegen die Menschlichkeit begangen zu ha- minister Pläne zur Verbesserung des Asylver- ben. Im Dezember verwarf das Oberste Gericht fahrens und der Aufnahmebedingungen für das Urteil des Berufungsgerichts mit der Be- Asyl suchende Familien mit Kindern bekannt. gründung, dass diese Verbrechen zu dem Im Dezember kündigte die zentrale Regierungs- Zeitpunkt, zu dem sie begangen wurden, nicht behörde für Migration die Schließung von bis Bestandteil des norwegischen Strafgesetz- zu 292 Plätzen für Asyl suchende Kinder in buchs gewesen seien. Die Entscheidung des mehreren Aufnahmezentren an. Obersten Gerichts über den Anklagepunkt Im April unterzeichnete die Regierung mit af- »Freiheitsberaubung« soll im Jahr 2011 erfol- ghanischen Behörden und dem UNHCR eine gen. Drei-Parteien-Vereinbarung über die Rückkehr von Asylsuchenden nach Afghanistan. Die Rechtliche, verfassungsmäßige und Vereinbarung enthielt auch Pläne für ein Auf- institutionelle Entwicklungen nahmezentrum für Asyl suchende Kinder, Bis Ende 2010 hatte Norwegen das Fakultativ- die nach Afghanistan zurückgeführt worden protokoll zum Internationalen Pakt über wirt- waren. schaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Im August 2010 wurde Abd al-Karim Hus- noch nicht unterzeichnet. Norwegen schob sein, ein syrischer Kurde, dessen Asylantrag auch weiterhin die Ratifizierung des Fakultativ- abgelehnt worden war, nach Syrien abgescho- protokolls zum Übereinkommen gegen Folter 000835 ben, wo man ihn 15 Tage lang ohne Kontakt auf. zur Außenwelt in Haft hielt. Seinen Angaben zu- folge wurde er während dieser Zeit gefoltert. Er Amnesty International: Berichte kam ohne Anklage frei und flüchtete danach  Case closed: Rape and human rights in the Nordic countries aus Syrien. – summary report (ACT 77/ 001/2010)  European states must stop forced returns to Iraq Gewalt gegen Frauen (EUR 01/028/ 2010) Der Schutz für Opfer von Vergewaltigungen und anderer sexueller Gewaltanwendung sowie ihr Zugang zur Justiz blieben in Gesetz und Praxis unzureichend. Die Definition von Vergewalti- gung im Allgemeinen Bürgerlichen Strafgesetz- buch verknüpfte weiterhin den Tatbestand der Vergewaltigung mit dem Gebrauch oder der An- drohung von physischer Gewalt durch den Tä- ter. Die Strafverfolgungs- und Verurteilungs- quote in Fällen von Vergewaltigung war weiter- hin niedrig, und es gab keine offiziellen Statisti- ken über Vergewaltigungen. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

356 Norwegen Recht auf freie Meinungsäußerung Oman Die Regierung schränkte das Recht auf freie Meinungsäußerung weiterhin stark ein. Meh- Amtliche Bezeichnung: Sultanat Oman rere Blogger gerieten offenbar ins Visier der Be- Staats- und Regierungschef: hörden, nachdem sie Kritik an der Regierung Sultan Qaboos bin Said geäußert hatten. Im Januar 2010 wurden je- Todesstrafe: nicht abgeschafft doch die Ermittlungen gegen A’sim al-Sheedi Einwohner: 2,9 Mio. auf unbestimmte Zeit eingestellt. Dem Journa- Lebenserwartung: 76,1 Jahre listen war Verleumdung zur Last gelegt wor- Kindersterblichkeit (m/w): 14 / 13 pro 1000 den, nachdem er im Dezember 2009 einen Ar- Lebendgeburten tikel über angebliche Korruption bei der Polizei Alphabetisierungsrate: 86,7% veröffentlicht hatte.  Der Rechtsanwalt und Blogger Abdul Khaleq Mehrere Blogger, welche die Regierung al-Mamari wurde im September bewusstlos in kritisiert hatten, wurden angegriffen seinem Haus in Muscat aufgefunden. Man oder inhaftiert. Der Staatssicherheitsge- hatte ihn dem Vernehmen nach so schwer ver- richtshof wurde abgeschafft, und ein prügelt, dass er aufgrund seiner Verletzungen neues Gesetz gegen die Finanzierung von tagelang nicht mehr sprechen konnte. Der An- Terrorismus trat in Kraft. Es gab weder griff fand einen Tag nach seiner Kritik an den Berichte über Todesurteile noch über geplanten Ausgaben der Regierung für den Hinrichtungen. omanischen Nationalfeiertag statt. Es gab keine Hinweise darauf, dass eine offizielle Hintergrund Untersuchung des Falls eingeleitet worden Im Januar 2010 ernannte der Sultan die 14 Mit- wäre. glieder des Nationalen Menschenrechtskomi-  Der Blogger Abdullah al-Aisari wurde um den tees, das durch ein königliches Dekret im Jahr 17. November 2010 festgenommen und Be- 2008 geschaffen worden war. Das Komitee ist richten zufolge in Haft ohne Kontakt zur Außen- dem Majlis al-Dawla, dem Oberhaus des Parla- welt gehalten. Er hatte in seinem Weblog die ments, angegliedert, jedoch bevollmächtigt, Absicht der Regierung kritisiert, das Datum des unabhängig zu arbeiten. islamischen Opferfestes (Eid al-Adha) zu än- Im Dezember enthielt sich Oman der Stimme, dern, um es dem von den saudi-arabischen Be- als die UN-Generalversammlung eine Resolu- hörden festgelegten Zeitpunkt anzupassen. tion für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium Das Fest fällt in die Zeit der heiligen Pilgerfahrt zur Abstimmung brachte. der Muslime nach Mekka. Der Blogger wurde ohne Anklageerhebung am 24. November aus der Haft entlassen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Das Gesetz gegen Geldwäsche und Finanzie- rung von Terrorismus trat im Juni in Kraft. Die Formulierung des Strafbestands der Finanzie- rung von Terrorismus ist sehr vage gefasst. Da- nach ist sowohl die Finanzierung von »Terroris- mus, terroristischen Verbrechen oder terroris- tischen Organisationen« strafbar als auch die »Anzettelung zu jeglichen Aktionen, die im Rahmen aller relevanten Verträge und Konven- tionen, die Oman unterzeichnet hat, als Straf-

Oman 357 tat gelten«. Diese Verträge oder Konventionen Im Jahr 2010 wurden erneut Vorwürfe werden jedoch nicht näher bezeichnet. Wei- über Misshandlungen durch Polizeibe- terhin schreibt das Gesetz Rechtsanwälten vor, amte bekannt, darunter Vorwürfe über den Behörden Auskünfte über ihre Klienten zu rassistisch motivierte Übergriffe. Auf erteilen, sofern sie vermuten, dass die Klienten der Grundlage der Dublin-II-Verordnung gegen das Gesetz verstoßen haben. Dies stellt führten die österreichischen Behörden eine Verletzung der anwaltlichen Schweige- Asylsuchende zwangsweise nach Grie- pflicht dar. chenland zurück.

Diskriminierung ethnischer Gruppen Rassismus Mindestens fünf Angehörige der ethnischen 2010 trafen weitere Meldungen über rassistisch Gruppen Aal Tawayya und Aal Khalifayan litten motivierte Übergriffe gegen ausländische 2010 weiterhin unter wirtschaftlicher und sozia- Staatsbürger und Angehörige ethnischer Min- ler Benachteiligung, nachdem das Innenmi- derheiten ein. Strukturellen Defiziten im Straf- nisterium 2006 beschlossen hatte, die Namen rechtssystem im Umgang mit Diskriminierung der beiden Ethnien in »Awlad Tawayya« und wurde nicht die nötige Aufmerksamkeit gewid- »Awlad Khalifayn« zu ändern und sie der met. Vorwürfe über rassistisch motivierte Miss- Hauptgruppe der al-Harithi zuzuordnen. In handlungen und unverhältnismäßige Anwen- der Praxis bedeutet dies, dass die beiden ethni- dung von Gewalt wurden weder unverzüglich schen Gruppen nun einen niedrigeren Status noch umfassend untersucht. Auch fehlte es – nämlich den von akhdam (Dienern) – gegen- weiterhin an einem umfassenden und einheitli- über der Hauptgruppe einnehmen. Die Regie- chen System der Erfassung rassistisch moti- rung ließ verlauten, dass der Beschwerde der vierter Straftaten. beiden Ethnien Rechnung getragen worden 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sei. Einige Angehörige beider Gruppen haben Folter und andere Misshandlungen Berichten zufolge jedoch weiterhin Probleme Im Mai 2010 zeigte sich der UN-Ausschuss ge- bei der Verlängerung ihrer Personalausweise, gen Folter erneut besorgt über das Fehlen 000835 die notwendig sind, um ein Geschäft zu eröff- eines Tatbestands der Folter im österrei- nen, Reisedokumente zu beantragen und An- chischen Strafgesetzbuch, das hohe Ausmaß gelegenheiten wie Scheidungen oder Erb- an Straflosigkeit bei Übergriffen durch Polizei- schaften zu regeln. beamte und die geringen Strafen, die die Ge- richte bei Fällen von Folter oder anderen Miss- handlungen verhängen.  Der Europäische Gerichtshof für Menschen-

Österreich

Amtliche Bezeichnung: Republik Österreich Staatsoberhaupt: Heinz Fischer Regierungschef: Werner Faymann Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 8,4 Mio. Lebenserwartung: 80,4 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 Lebendgeburten S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

358 Österreich

• • • • Hurenkind: Verlag bitte einbringen! • • • • rechte hat die Untersuchung einer Be-  Am 19. Juli 2010 starb der afghanische Asyl- schwerde des gambischen Staatsangehörigen bewerber Reza H., der nach eigenen Angaben Bakary J. eingeleitet. In der Beschwerde 16 Jahre alt war, während seiner anhängigen macht Bakary J. geltend, dass eine Ausweisung Überstellung nach Schweden an den Folgen aus Österreich eine Verletzung seines Rechts eines Selbstmordversuchs in einer Schubhaft- auf Familienleben und auf Schutz vor Miss- zelle des Polizeianhaltezentrums Hernals in handlung zur Folge hätte. Bakary J. war im Wien. Bei seiner Befragung durch das Bundes- Jahr 2006 nach einem erfolglosen Abschiebe- asylamt im Mai hatte er wiederholt erklärt, in versuch von vier Polizeibeamten gefoltert wor- einer Aufenthaltseinrichtung für Asylsuchende den und hat bis Ende 2010 noch immer keine in Schweden, wo er zuvor einen Asylantrag ge- Wiedergutmachung erhalten. Die Polizisten stellt hatte, vergewaltigt worden zu sein. Den- waren im August 2006 zu Bewährungsstrafen noch wurde er ohne die Bereitstellung psycho- von unter einem Jahr verurteilt worden. logischer Beratung in Schubhaft genommen.  Im November 2010 wurde am Landesgericht Die österreichische Volksanwaltschaft und das für Strafsachen Wien das Verfahren gegen Innenministerium haben Untersuchungen ein- einen Polizeibeamten wegen schwerer Körper- geleitet. verletzung fortgesetzt. Der US-Amerikaner Mike B., ein afroamerikanischer Lehrer, war am Amnesty International: Bericht 11. Februar 2009 in einer Wiener U–Bahnsta-  Austria: Submission to the UN Universal Periodic Review, tion von einem Polizeibeamten in Zivil verletzt January 2011 (EUR 13/002/ 2010) worden.

Polizei und Sicherheitskräfte Im November 2010 wurde vor dem Landesge- richt für Strafsachen Wien der Prozess gegen Personen eröffnet, denen vorgeworfen wird, am 13. Januar 2009 den tschetschenischen Pakistan Flüchtling Umar Israilov ermordet zu haben. Das Verfahren zur Feststellung, ob die Polizei- Amtliche Bezeichnung: behörden es versäumt hatten, Israilov auf Ersu- Islamische Republik Pakistan chen seines Anwalts hin Polizeischutz zu ge- Staatsoberhaupt: Asif Ali Zardari währen, war noch vor dem Unabhängigen Ver- Regierungschef: Yousuf Raza Gilani waltungssenat anhängig. Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 184,8 Mio. Rechte von Migranten und Lebenserwartung: 67,2 Jahre Asylsuchenden Kindersterblichkeit (m/w): 85 / 94 pro 1000 Auf der Grundlage der Dublin-II-Verordnung Lebendgeburten überstellte Österreich auch weiterhin Asylsu- Alphabetisierungsrate: 53,7% chende nach Griechenland, obwohl dort kein funktionierendes Asylsystem existiert. Einige Verheerende Überschwemmungen mach- Rückführungen wurden vom Europäischen Ge- ten Millionen von Pakistanis zu Binnen- richtshof für Menschenrechte durch einstwei- flüchtlingen, die Unterkünfte, Lebens- lige Maßnahmen unterbunden. Im November mittel und ärztliche Hilfe benötigten. 2010 forderte der Gerichtshof die österrei- Aufständische Gruppen im Nordwesten chische Regierung in einem Schreiben auf, des Landes und in der Provinz Belut- Rückführungen nach Griechenland auszuset- schistan waren für widerrechtliche Tö- zen. Die Regierung beschloss jedoch, ihre Pra- tungen und grausame Bestrafungen von xis der Einzelfallprüfung beizubehalten. Zivilpersonen verantwortlich. Sie verüb-

Pakistan 359 ten außerdem Selbstmordattentate in Mehr als 20 Mio. Menschen waren direkt da- den wichtigsten Städten, die zu Hunder- von betroffen. Für diejenigen, die aufgrund der ten von Toten und Verletzten führten. bewaffneten Auseinandersetzungen bereits zu Die bewaffneten Auseinandersetzungen Binnenflüchtlingen geworden waren, wurde die im Nordwesten des Landes zwangen desolate Lage durch die akute humanitäre mehr als 2 Mio. Menschen dazu, ihre Krise weiter verschärft. 2009 hatte die pakista- Wohnorte zu verlassen. Es gab weiterhin nische Armee die Taliban aus dem Swat-Tal zahlreiche Berichte über Folterungen (Provinz Khyber Pakhtunkhwa, ehemals Nord- und Todesfälle im Gewahrsam sowie westliche Grenzprovinz) und aus dem Stam- über Morde im Namen der »Familien- mesgebiet Süd-Waziristan vertrieben. 2010 ge- ehre« und Fälle häuslicher Gewalt, ob- lang ihr dies auch in den Stammesgebieten wohl die Regierung neue internationale Bajaur und Orakzai. Trotz des militärischen Er- Verpflichtungen zum Schutz von Men- folgs versäumten es die Armee und die Zivil- schenrechten einging. Angehörige der verwaltung, die Ursachen des Konflikts zu be- Armee waren für die willkürliche Verhaf- heben. Sie taten nichts gegen die gravierende tung von Zivilpersonen und in einigen Unterentwicklung in diesen Gebieten, sorgten Fällen auch für ihre außergerichtliche nicht für einen Wiederaufbau der grundlegen- Hinrichtung verantwortlich. Es gab neue den Infrastruktur, wie z. B. Schulen, und boten Fälle von »Verschwundenen«, insbeson- lokalen Geschäftsinhabern keine Unterstüt- dere in Belutschistan, wo auch zahlrei- zung an. Die humanitäre Hilfe für die vertriebe- che Leichen von Opfern des »Ver- nen Menschen war unzureichend. Humanitä- schwindenlassens« entdeckt wurden. ren Organisationen und unabhängigen Beob- Viele Fälle von »Verschwundenen« aus achtern war es untersagt, in den Konfliktgebie- der Vergangenheit blieben weiterhin un- ten wirksam tätig zu werden. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen geklärt. Gewalttätige Angriffe auf Ange- Mit 118 Drohnenangriffen auf mutmaßliche hörige religiöser Minderheiten nahmen Al-Qaida- und Taliban-Stellungen in der pakis- tanischen Grenzregion verdoppelten die USA 000835 zu. Die Regierung ergriff keine Maßnah- men, um diese Übergriffe zu verhindern diese Form des Raketenbeschusses im Jahr oder die Täter zu bestrafen. Trotz eines 2010 nahezu und schürten dadurch die Res- weiterhin bestehenden informellen Hin- sentiments in der Bevölkerung. richtungsmoratoriums wurden 2010 Am 24. März 2010 ratifizierte Pakistan den In- mehr als 300 Todesurteile verhängt. ternationalen Pakt über bürgerliche und politi- sche Rechte und das Übereinkommen gegen Hintergrund Folter und andere grausame, unmenschliche Fast 2000 Menschen kamen bei Überschwem- oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, al- mungen ums Leben, die im Juli 2010 im Nord- lerdings mit erheblichen Vorbehalten. Es wur- westen des Landes ihren Ausgang nahmen. den keine Schritte unternommen, um diese in- ternationalen Verpflichtungen in nationales Recht umzusetzen. Im April wurde die 18. Verfassungsänderung verabschiedet. Nach der Reform ist der Präsi- dent künftig nicht mehr befugt, das Parlament aufzulösen. Außerdem wurde ein Recht der Bürger auf Informationsfreiheit eingeführt. Die Verfassungsänderung stärkte zudem die Auto- nomie der Provinzen. Sie sind nun auch ver- pflichtet, einen kostenlosen Schulbesuch für

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht alle Kinder zu gewährleisten.

360 Pakistan Im Oktober wurde mit Asma Jahangir zum belutschischen Stadt Khuzdar von Angehörigen ersten Mal eine Frau zur Präsidentin der An- der paramilitärischen Einheit Frontier Corps waltskammer des Obersten Gerichtshofs ge- festgenommen worden. wählt.  Am 23. September 2010 wurde Faqir Mo- hammad Baloch, ein Mitglied der Organisation Menschenrechtsverletzungen Stimme für die Vermissten Belutschistans durch Sicherheitskräfte (Voice for Baloch Missing Persons) entführt. Das Vorgehen der Armee gegen die Aufständi- Seine Leiche, die am 21. Oktober im Bezirk schen im Nordwesten Pakistans kostete Hun- Mastung gefunden wurde, wies eine Schuss- derte von Zivilpersonen das Leben. Dutzende verletzung und Anzeichen von Folter auf. mutmaßlicher Rebellen wurden von Angehöri-  Am 5. September 2010 wurde in Mastung die gen der Stammesmilizen (Lashkars) getötet, die verstümmelte Leiche des 38-jährigen Anwalts von der Armee finanziert, aber weder ange- Zaman Marri gefunden, der zuletzt am 19. Au- messen ausgebildet noch überwacht wurden. gust in Quetta gesehen worden war. Er hatte  Am 8. März 2010 setzten Angehörige einer seinen Cousin Ali Ahmed Marri anwaltlich ver- Stammesmiliz 130 Häuser von mutmaßlichen treten, der am 7. April von Männern in Zivil ab- Taliban-Kämpfern im Stammesgebiet Bajaur in geholt worden war. Die Leiche seines Cousins Brand. wurde am 11. September in derselben Gegend gefunden. Außergerichtliche Hinrichtungen Angehörige der Sicherheitskräfte töteten Be- Menschenrechtsverstöße richten zufolge im Nordwesten und in der Pro- bewaffneter Gruppen vinz Belutschistan mutmaßliche Mitglieder be- Bewaffnete Gruppen im Nordwesten des Lan- waffneter Gruppen. Sie wurden dafür in der des waren 2010 für grausame und unmensch- Regel nicht zur Rechenschaft gezogen. Nach liche Strafen verantwortlich, sie verübten An- Angaben der NGO Human Rights Commission griffe auf die Zivilbevölkerung und zerstörten of Pakistan (HRCP) wurden nach dem Ende des Schulen und andere öffentliche Gebäude. Militäreinsatzes im Swat-Tal im Juli 2009 bis  Am 19. Februar amputierten die pakistani- zum Mai 2010 insgesamt 282 Leichen mutmaß- schen Taliban in Dabori im Stammesgebiet licher Aufständischer gefunden. Die Bevölke- Orakzai fünf Männern, denen sie Diebstahl vor- rung vor Ort machte Sicherheitskräfte für die warfen, öffentlich die Hände. Tötungen verantwortlich. Mehrere engagierte  Im Mai wurde in Miramshah im Stammesge- Bürger, die sich gegen das »Verschwindenlas- biet Nord-Waziristan ein Mann von den Tali- sen« in Belutschistan einsetzten, »verschwan- ban öffentlich hingerichtet, dem die Ermordung den« und wurden getötet. seiner beiden Brüder zur Last gelegt wurde.  Am 14. Juli 2010 wurde der Anwalt am Obers- Das »Urteil« erging gesetzwidrig in einer impro- ten Gerichtshof und frühere Senator Habib Ja- visierten Gerichtsverhandlung. lil Baloch in Quetta, der Hauptstadt der Provinz  Ende Oktober wurden in Mamozai im Stam- Belutschistan, erschossen. Die Verantwortung mesgebiet Orakzai 65 mutmaßliche Drogen- für das Attentat übernahm die sogenannte Be- dealer von den Taliban ausgepeitscht. waffnete Verteidigungsgruppe von Belutschis- Aufständische bewaffnete Gruppen verübten tan (Baloch Musallah Difah Tanzeem), die mut- 2010 Selbstmordanschläge und gezielte An- maßlich von den pakistanischen Sicherheits- griffe, die zu Tausenden von Toten und Verletz- kräften finanziert wird. ten in der Zivilbevölkerung führten.  Ende Oktober wurden die beiden 14-jährigen  Bei einem Selbstmordattentat in der Stadt Jungen Mohammad Khan Zohaib und Abdul Kohat (Provinz Khyber Pakhtunkhwa) starben Majeed erschossen aufgefunden. Berichten zu- am 17. April 41 Binnenflüchtlinge. Sie hatten folge waren sie im Oktober bzw. im Juli in der Schlange gestanden, um Hilfsgüter zu erhalten.

Pakistan 361  Am 20. Mai befestigten Taliban in Nord-Wazi- gangen zu haben, auf einer Polizeiwache in ristan Sprengsätze an den Körpern zweier Chiniot (Provinz Punjab) von mehreren Beam- Männer, denen sie vorwarfen, Informationen an ten zu Boden gedrückt und ausgepeitscht. die USA weitergegeben zu haben. Die Be- Nachdem die mit einem Mobiltelefon aufge- schuldigten wurden in aller Öffentlichkeit in die nommene Szene von einem landesweiten Fern- Luft gesprengt. sehsender ausgestrahlt worden war, wurden  Am 14. August wurden im Bezirk Quetta 17 fünf Polizeibeamte festgenommen. Am Jahres- Männer aus Punjab getötet. Die sogenannte ende waren die Fälle noch anhängig. Befreiungsarmee Belutschistans (Balochistan  Am 15. August 2010 wurden der 17-jährige Liberation Army) übernahm die Verantwortung Hafiz Mohammad Mughees Sajjad und sein für den Anschlag und bezeichnete ihn als Ver- 15-jähriger Bruder Mohammad Muneeb Sajjad geltungsmaßnahme für die Entführung und in Sialkot (Provinz Punjab) vom Mob zu Tode Ermordung von Menschen aus Belutschistan. geprügelt. Die Menge bezichtigte die Jugendli-  Am 2. Oktober wurde der Arzt und liberale Is- chen eines Raubüberfalls. Von dem Vorfall lamgelehrte Mohammad Farooq Khan ge- wurden Filmaufnahmen gemacht. Eine gericht- meinsam mit seinem Kollegen in der Stadt Mar- liche Untersuchung ergab, dass die beiden dan (Provinz Khyber Pakhtunkhwa) erschos- Jugendlichen unschuldig waren und dass Poli- sen. Zu dem Attentat bekannten sich die Tali- zeibeamte, die vor Ort waren, nichts unter- ban. Mohammad Farooq Khan hatte öffentlich nommen hatten, um die Lynchmorde zu verhin- erklärt, Selbstmordattentate seien unislamisch. dern.

Willkürliche Festnahmen und Haft »Verschwindenlassen« Nach Angaben der HRCP befanden sich infolge Im März 2010 begann eine vom Obersten Ge- der militärischen Einsätze und Razzien im richtshof eingesetzte dreiköpfige Untersu- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Swat-Tal nach wie vor zwischen 1000 und 2600 chungskommission damit, Fälle von »Ver- Personen im Gewahrsam der Armee, darunter schwindenlassen« zu überprüfen. Die Kom- auch Kinder von mutmaßlichen Aufständi- mission sollte u. a. Zeugenaussagen Freigelas- 000835 schen. sener dokumentieren und die Rolle der Ge-  Ein lokaler Stammesrat (Jirga) forderte die im heimdienste untersuchen. Am 31. Dezember Swat-Tal ansässigen Familien von Taliban- legte die Kommission der Regierung ihre ab- Kämpfern auf, ihre Angehörigen bis spätestens schließenden Ergebnisse und Empfehlungen 20. Mai 2010 an die Sicherheitskräfte zu über- zur Prüfung vor. Der Bericht wurde nicht zur geben, ansonsten würde die ganze Familie aus- Veröffentlichung freigegeben. gewiesen. In der Folge wurden 130 Familien- Hunderte von Menschen »verschwanden« mitglieder mutmaßlicher Taliban-Kämpfer in 2010 offenbar nach ihrer Festnahme durch einem von der Armee bewachten Lager in der Angehörige der Geheimdienste oder der Ar- Nähe von Palai in »Schutzhaft« genommen. mee. Die meisten Fälle ereigneten sich in Be- lutschistan. An den Provinzgerichten waren Folter und andere Misshandlungen Hunderte von Anträgen auf Haftprüfung an- Inhaftierte im Polizeigewahrsam waren weiter- hängig, die Geheimdienste weigerten sich je- hin von Folter und anderen Misshandlungen doch, gerichtlichen Anordnungen Folge zu bedroht. Die Polizei ergriff nicht die notwendi- leisten. Auf die Familien der »Verschwunde- gen Maßnahmen, um Unbeteiligte vor Gewalt- nen« wurde Druck ausgeübt, nicht öffentlich ausbrüchen zu schützen, sondern schien in über das Schicksal ihrer vermissten Angehöri- manchen Fällen die Täter sogar zu unterstüt- gen zu sprechen. zen.  Der Aufenthaltsort zweier Mitglieder der Na-  Am 1. März 2010 wurden zwei Männer, die tionalen Bewegung Belutschistans, Mahboob

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht im Verdacht standen, einen Raubüberfall be- Ali Wadela und Mir Bohair Bangulzai, war Ende

362 Pakistan 2010 weiterhin unbekannt. Mir Bohair Bangul- gang zum Online-Nachrichtendienst Baloch zai war am 1. April in Quetta von Polizisten aus Hal wegen Veröffentlichung »anti-pakistani- seinem Auto gezerrt worden. Mahboob Ali Wa- schen« Materials. Auf der Internetseite befan- dela wurde am 2. April in Karachi, der Haupt- den sich Informationen zu Menschenrechts- stadt der Provinz Sindh, festgenommen. Be- verletzungen, darunter Fälle von »Verschwin- amte der Polizeistation Maripur holten ihn im denlassen«. Stadtviertel Yousuf Goth aus einem Bus. In  Am 18. November 2010 wurden in der Stadt beiden Fällen weigerte sich die Polizei, eine Ver- Turbat in Belutschistan die Leiche des 24-jäh- misstenanzeige aufzunehmen. rigen Abdul Hameed Hayatan sowie die von Ha- mid Ismail gefunden. Abdul Hameed Hayatan Recht auf freie Meinungsäußerung war als Journalist für die Zeitungen Daily Kara- Journalisten wurden Opfer von Schikanen, chi und Tawar tätig. Die beiden Männer waren Misshandlungen und Tötungen. Für die Taten am 25. Oktober an einem Kontrollpunkt der Si- waren sowohl Angehörige staatlicher Organe cherheitskräfte nahe der Stadt Gwadar festge- verantwortlich als auch Mitglieder bewaffneter nommen und danach nicht mehr gesehen wor- Gruppen, die in Opposition zur Regierung stan- den. Ihre Leichen wiesen Folterspuren auf, den. Von staatlicher Seite wurden Journalisten daneben lag ein Zettel, auf dem stand: nicht gegen Anschläge bewaffneter Gruppen »Geschenk für das Volk der Belutschen zum geschützt. Im Berichtsjahr wurden 19 Medien- Opferfest«. schaffende ermordet. Damit war Pakistan nach Angaben der Journalistenvereinigung Pakis- Diskriminierung religiöser tan Federal Union of Journalists und der inter- Minderheiten nationalen NGO Committee to Protect Journa- Der Staat kam weiterhin nicht seiner Pflicht lists 2010 das gefährlichste Land für Journalis- nach, Diskriminierung, Schikanen und Gewalt ten. Die Behörden sperrten einige Nachrich- gegen religiöse Minderheiten zu verhindern tendienste im Internet. bzw. strafrechtlich zu verfolgen. Die Übergriffe  Umar Cheema, ein Journalist der Zeitung richteten sich zunehmend auch gegen mode- The News, wurde seinen Angaben zufolge am rate Sunniten. Angehörige der Ahmadiyya-Ge- 4. September 2010 gekidnappt und mehrere meinschaft, Schiiten und Christen wurden bei Stunden lang festgehalten. Man brachte ihn offensichtlich religiös motivierten Ausschrei- mit verbundenen Augen in einen Außenbezirk tungen getötet. Sektiererische Gruppen, die der Hauptstadt Islamabad, dort wurde er dem Vernehmen nach mit den Taliban in Ver- nackt ausgezogen, an den Füßen aufgehängt, bindung standen, attackierten Schiiten, Ahma- geschlagen und gewarnt, sich kritisch über die dis und Sufis, ohne dafür strafrechtlich zur Regierung zu äußern. Premierminister Gilani Verantwortung gezogen zu werden. Die ordnete eine richterliche Untersuchung an, Blasphemie-Gesetze dienten weiterhin als und das Strafgericht Lahore übernahm den Vorwand, um gegen Ahmadis und Christen vor- Fall. Ende 2010 war jedoch noch niemand zur zugehen, aber auch gegen Schiiten und Sun- Rechenschaft gezogen worden. niten.  Am 13. September 2010 wurde der 50-jährige  Am 28. Mai 2010 kamen bei Anschlägen auf Misri Khan Orakzai, Korrespondent für die Zei- zwei Moscheen in Lahore 93 Angehörige der tung Daily Ausaf in Hangu (Provinz Khyber Ahmadiyya-Gemeinschaft ums Leben, 150 wur- Pakhtunkhwa), von unbekannten Männern er- den verletzt. Nach Drohungen bewaffneter schossen. Er hatte zuvor bereits mehrfach Gruppen hatte sich die Gemeinschaft zuvor an Morddrohungen von Aufständischen erhal- die Provinzregierung gewandt und um ver- ten. stärkte Sicherheitsmaßnahmen gebeten. Die  Am 8. November 2010 sperrte die pakistani- Bitte wurde jedoch ignoriert. Am 31. Mai sche Behörde für Telekommunikation den Zu- stürmten Bewaffnete das Krankenhaus, in dem

Pakistan 363 verletzte Opfer der Attentate behandelt wur- Morddrohungen erhielten die beiden Brüder den, und töteten sechs weitere Menschen, da- von der Polizei keinen angemessenen Schutz. runter Angehörige des Klinikpersonals.  Am 11. November wurde in Lahore der  Bei einem Selbstmordanschlag am 1. Juli 22-jährige Imran Latif erschossen, kurz nach 2010 auf den Sufi-Schrein Data Darbar, einer seiner Haftentlassung gegen Kaution am 3. No- bekannten Pilgerstätte in Lahore, wurden 42 vember. Nach Ansicht des Gerichts gab es Menschen getötet und 175 verletzt. kaum Beweise, um die fünf Jahre zuvor erho-  Am 1. September 2010 forderte ein Selbst- bene Anklage wegen Blasphemie zu unter- mordanschlag auf eine Prozession von Schi- mauern. iten in Lahore mindestens 54 Todesopfer, etwa 280 Personen wurden verletzt. Gewalt gegen Frauen und Mädchen  In Quetta kamen am 3. September 2010 min- Auch 2010 wurden geschlechtsspezifische destens 65 Schiiten bei einem Selbstmordat- Straftaten wie Vergewaltigungen, Zwangsver- tentat ums Leben, weitere 150 wurden verletzt. heiratungen, Morde im Namen der »Familien- Zu dem Anschlag bekannten sich die Ta- ehre«, Säureanschläge und andere Formen liban. häuslicher Gewalt selten geahndet, da die Poli- Die Blasphemie-Gesetze wurden weiterhin zei entsprechende Anzeigen nur widerstre- missbräuchlich verwendet. Mindestens 67 An- bend aufnahm und untersuchte. Nach Infor- gehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft, 17 mationen der Frauenorganisation Madadgaar Christen, acht Muslime und sechs Hindus stan- wurden im Berichtsjahr 1195 Frauen ermordet den 2010 wegen Blasphemie unter Anklage. (Stand Ende November); 98 von ihnen waren Mehrere Verfahren wurden eingestellt, nach- zuvor vergewaltigt worden. Den Angaben von dem nach Angaben der NGO Commission for Madadgaar zufolge wurden insgesamt 321 Justice and Peace gegen Personen zweifelhafte Frauen Opfer von Vergewaltigungen, 194 wur- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Anschuldigungen erhoben worden waren und den Opfer von Gruppenvergewaltigungen. die Behörden unsachgemäß ermittelt hatten. Am 22. Dezember befand ein Scharia-Ge-  Am 8. November wurde die 45-jährige Chris- richt, einige Bestimmungen des Gesetzes zum 000835 tin Aasia Bibi wegen Blasphemie angeklagt Schutz der Frauen von 2006 müssten geändert und in einem unfairen Gerichtsverfahren zum werden. Die Richter sprachen sich für die Wie- Tode verurteilt. Die Mutter von fünf Kindern dereinsetzung bestimmter Passagen der Hu- war mit Frauen in ihrem Dorf in Streit geraten, dood-Gesetze von 1979 aus, die Frauen in ex- nachdem diese von ihr geholtes Trinkwasser tremer Weise diskriminierten. als »unrein« bezeichnet hatten. Aasia Bibi war  Am 29. April wurde in dem Ort Kalat in Belut- zwar von der Polizei zunächst vor dem Mob schistan ein Säureattentat auf drei Schwestern geschützt, am 19. Juni 2009 dann aber festge- verübt. Die 20-jährige Fatima, die 14-jährige Sa- nommen worden. Ende 2010 war der Fall noch keena und die achtjährige Saima wurden of- vor einem Berufungsgericht anhängig. fenbar deshalb angegriffen, weil sie das Haus Die Behörden versäumten es 2010 in mehre- ohne männlichen Begleiter verlassen hatten. ren Fällen, Menschen zu schützen, gegen die der Vorwurf der Blasphemie erhoben worden Todesstrafe war und die deshalb zur Zielscheibe von An- Das seit Ende 2008 geltende De-facto-Hinrich- griffen wurden. tungsmoratorium bestand auch 2010 weiter.  Am 19. Juli wurden der 32-jährige christliche Dennoch wurden im Berichtsjahr 356 Todesur- Pastor Rashid Emanuel und sein 27-jähriger teile ausgesprochen, zumeist wegen Mordes. Bruder Sajid Emanuel in der Stadt Faisalabad Unter den Verurteilten befand sich auch ein vor dem Gerichtsgebäude erschossen, nach- Minderjähriger. Laut Angaben der NGO Hu- dem gegen sie Anklage wegen Blasphemie er- man Rights Commission of Pakistan saßen wei-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht hoben worden war. Trotz ernstzunehmender terhin 8000 Menschen im Todestrakt ein.

364 Pakistan Amnesty International: Missionen und Bericht beiden Landesteilen kam es zu Folter  Im Juni besuchten zwei Delegierte von Amnesty International und anderen Misshandlungen von Gefan- Pakistan. Berater von Amnesty International hielten sich genen. Die Verantwortlichen blieben das ganze Jahr über im Land auf. faktisch straffrei. Sowohl die PA als auch  ›As if hell fell on me‹: The human rights crisis in northwest die De-facto-Verwaltung im Gazastrei- Pakistan (ASA 33/004/2010) fen schränkten die Rechte auf freie Mei- nungsäußerung und Vereinigungsfrei- heit empfindlich ein. In Gaza ergingen mindestens elf Todesurteile, fünf Men- schen wurden hingerichtet. Es waren die ersten Hinrichtungen seit 2005. Die hu- manitäre Krise der 1,5 Mio. Bewohner Palästinensische des Gazastreifens verschärfte sich, da Israel seine Militärblockade des Territori- Gebiete ums fortsetzte. Darüber hinaus blieben die von anderen Staaten gegen die De- Amtliche Bezeichnung: Palästinensische Gebiete facto-Verwaltung der Hamas verhängten Präsident der Autonomiebehörde: Sanktionen auch im Jahr 2010 in Kraft. Mahmoud Abbas Regierungschef: Salam Fayyad Hintergrund Todesstrafe: nicht abgeschafft Israel hielt weiterhin das Westjordanland, Ost- Einwohner: 4,4 Mio. Jerusalem und den Gazastreifen besetzt. Lebenserwartung: 73,9 Jahre Doch gab es zwei verschiedene palästinensi- Kindersterblichkeit (m/w): 23 / 18 pro 1000 sche Verwaltungen mit eingeschränkten Be- Lebendgeburten fugnissen: Während das Westjordanland von Alphabetisierungsrate: 94,1% einer Übergangsregierung unter Salam Fayyad regiert wurde, stand der Gazastreifen de facto Sicherheitskräfte der von der Fatah do- unter der Verwaltung der Hamas unter Isma’il minierten Palästinensischen Autono- Haniyeh, dem ehemaligen Ministerpräsidenten miebehörde (PA) nahmen im Westjordan- der PA. Es kam immer wieder zu Spannungen land willkürlich Anhänger der Hamas zwischen Fatah und Hamas. fest. Umgekehrt inhaftierte die De-facto- Die Hamas und die ihr nahestehenden be- Verwaltung der Hamas im Gazastreifen waffneten Gruppen hielten sich 2010 weitge- Personen, die der Fatah nahestanden. In hend an den informell mit Israel vereinbarten Waffenstillstand, der seit Januar 2009 in Kraft ist. Andere palästinensische Gruppierungen feuerten jedoch sporadisch Raketen und Mör- sergranaten von Gaza nach Südisrael ab. Die PA wurde von immer mehr Staaten als einziger Repräsentant der Palästinenser aner- kannt und nahm im September auf Initiative der US-Regierung an neuen Verhandlungen über eine politische Einigung mit Israel teil. Die Ge- spräche scheiterten, als Israel sich weigerte, einen befristeten Baustopp israelischer Sied- lungen im Westjordanland mit Ausnahme von Ost-Jerusalem zu verlängern. Die Hamas war von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Palästinensische Gebiete 365 Israel behielt die Kontrolle über die Grenzen 2009 hatte die UN-Untersuchungskommis- und den Luftraum des Gazastreifens und sion in einem Bericht sowohl Israel als auch der schränkte die Bewegungsfreiheit der Bevölke- PA empfohlen, innerhalb von sechs Monaten rung im Westjordanland erheblich ein. Die an- die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen wäh- dauernde israelische Militärblockade des Gaza- rend des Konflikts strafrechtlich zu verfolgen streifens wirkte sich verheerend auf die Le- und zur Rechenschaft zu ziehen. Die De-facto- bensbedingungen der Bewohner aus und ver- Verwaltung der Hamas legte den UN im Fe- schärfte die humanitäre Krise. Etwa 80% der bruar 2010 einen Bericht vor, in dem bestritten Bevölkerung des Gazastreifens waren auf Hilfs- wurde, dass palästinensische bewaffnete lieferungen von internationalen Organisatio- Gruppierungen auf Zivilpersonen geschossen nen angewiesen. Der Personenverkehr zwi- hätten. Ein von der Hamas berufener Aus- schen Israel und dem Gazastreifen wurde von schuss veröffentlichte im Juli seinen Bericht. den Behörden strikt kontrolliert und einge- Demnach lägen keine »glaubwürdigen Aussa- schränkt. Dies galt auch für schwerkranke gen« vor, die es rechtfertigten, Einzelpersonen Menschen, die spezielle medizinische Hilfe be- wegen vorsätzlicher Gefährdung von israeli- nötigten, die in den Kliniken des Gazastreifens schen Zivilpersonen zu belangen. nicht verfügbar war. Israel verhängte weiterhin Die Hamas erlaubte dem im Juni 2006 gefan- ein Einfuhrverbot für viele Waren, versprach gen genommenen israelischen Soldaten Gilad jedoch im Juni und im Dezember 2010 eine Shalit weiterhin keinen Zugang zum Internatio- »Lockerung« dieser Maßnahme. Die Auswir- nalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und kungen des Importstopps auf die gesicherte untersagte Familienbesuche. Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur im Ga- Willkürliche Festnahmen zastreifen waren beträchtlich. Die Blockade und Inhaftierungen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen kam einer Art Kollektivstrafe für die Bevölke- Sicherheitskräfte der PA im Westjordanland in- rung gleich und stellte eine Verletzung des haftierten willkürlich mutmaßliche Anhänger humanitären Völkerrechts dar. In den unter- von Hamas. Umgekehrt verhafteten Sicher- 000835 irdischen Tunneln, durch die Güter des täg- heitskräfte der Hamas im Gazastreifen Perso- lichen Bedarfs von Ägypten in den Gazastreifen nen mit mutmaßlichen Verbindungen zur Fa- geschmuggelt werden, kamen infolge von tah. In beiden Gebieten räumten die Behör- Angriffen durch die israelische Luftwaffe, Ein- den den Sicherheitskräften weitreichende Be- stürzen und anderen Unfällen etwa 46 Paläs- fugnisse ein. Verdächtige konnten in rechts- tinenser ums Leben, 89 weitere wurden ver- widriger Weise willkürlich festgenommen und letzt. inhaftiert werden. Folter und andere Miss- Mehrere lateinamerikanische Staaten erkann- handlungen blieben straflos. Die Unabhängige ten Palästina offiziell als unabhängigen Staat Kommission für Menschenrechte (Indepen- auf der Basis der Grenzen von 1967 an. dent Commission for Human Rights – ICHR) er- Die De-facto-Verwaltung der Hamas leitete hielt Berichten zufolge mehr als 1400 Be- keine unabhängigen oder unparteilichen Un- schwerden wegen willkürlicher Festnahmen im tersuchungen der Vorwürfe von Kriegsverbre- Westjordanland und mehr als 300 im Gaza- chen und möglichen Verbrechen gegen die streifen. Menschlichkeit ein, um das Vorgehen des mili- tärischen Flügels der Hamas sowie von paläs- Folter und andere Misshandlungen tinensischen bewaffneten Gruppierungen wäh- Sicherheitskräfte und Polizeibeamte folterten rend der Operation »Gegossenes Blei« (Cast und misshandelten Berichten zufolge Gefan- Lead) zu klären. Diese 22 Tage andauernde Mi- gene. Dazu zählten sowohl Angehörige der Si- litäroffensive der israelischen Streitkräfte hatte cherheitskräfte der PA und der Geheimdienste

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht am 18. Januar 2009 geendet. Im September im Westjordanland als auch Angehörige der in-

366 Palästinensische Gebiete ternen Sicherheitsbehörde im Gazastreifen. 2010, nachdem sie kurz zuvor von Polizeibe- Neue Einzelheiten über Fälle aus dem Jahr amten in Gaza auf den Rücken geschlagen und 2009 kamen ans Licht. Bei der ICHR gingen in anderer Weise angegriffen worden war. Drei mehr als 150 Beschwerden wegen Folter und ihrer erwachsenen Söhne erhielten Prügel und anderer Misshandlungen durch die PA im zwei von ihnen wurden festgenommen, weil Westjordanland ein sowie mehr als 200 Klagen man sie verdächtigte, der Fatah nahezustehen. wegen Übergriffen der Hamas im Gazastrei- fen. Die Verantwortlichen für Folter und andere Justizwesen Misshandlungen mussten in beiden Gebieten Im Westjordanland hielten sich die Sicherheits- meist nicht mit Bestrafung rechnen. In einem behörden weiterhin nicht an zahlreiche Ge- der seltenen Strafverfahren wurden im Jahr richtsbeschlüsse zur Freilassung von Gefange- 2010 fünf Angehörige des Geheimdienstes der nen. Die PA untersagte ehemaligen Mitarbei- PA vor Gericht gestellt. Ihnen wurde zur Last tern der Justizbehörden und der Sicherheits- gelegt, am Tod im Gewahrsam von Haitham kräfte weiterhin, für die De-facto-Verwaltung Amr im Juni 2009 beteiligt gewesen zu sein. der Hamas im Gazastreifen zu arbeiten. Die Ha- Ein Militärgericht sprach die Angeklagten je- mas beschäftigte im Gazastreifen auch im doch frei. Jahr 2010 Ersatz-Staatsanwälte und Richter, die  Mohammed Baraka Abdel-Aziz Abu-Moailek häufig keine entsprechende Ausbildung und wurde Berichten zufolge von Beamten der in- Qualifikation für diese Aufgaben hatten und an ternen Sicherheitsbehörde im Gazastreifen ge- deren Unabhängigkeit Zweifel bestanden. foltert. Nach seiner Festnahme im April 2009 wegen mutmaßlicher »Zusammenarbeit« mit Todesstrafe Israel war er mehr als 50 Tage lang ohne Kon- Militär- und Strafgerichte im Gazastreifen verur- takt zur Außenwelt gehalten worden. Er gab teilten 2010 mindestens elf Menschen zum später an, er sei mit Elektroschocks gequält Tode. Es wurden fünf Männer nach Gerichts- und auf die Fußsohlen geschlagen worden (fa- verfahren hingerichtet, die nicht den interna- laqa). Man habe ihn mit Zigaretten verbrannt tionalen Standards für faire Gerichtsverfahren und ihm mit dem Tode gedroht, um ihn zu entsprachen: Im April wurden zwei Männer einem »Geständnis« zu zwingen. Ende 2010 hingerichtet, die man der »Zusammenarbeit« war das Verfahren noch nicht abgeschlossen, mit Israel für schuldig befunden hatte. Im Mai und er befand sich noch in Haft. wurden drei Männer wegen Mordes hingerich-  Der Mechaniker Ahmed Salhab wurde nach tet. seiner Festnahme durch Sicherheitsbeamte der PA im September dem Vernehmen nach ge- Rechte auf freie Meinungsäußerung foltert. Ihm wurde offenbar vorgeworfen, mit und Versammlungsfreiheit der Hamas in Verbindung zu stehen. Er berich- Sowohl die PA im Westjordanland als auch die tete, er sei straff gefesselt worden und habe in De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastrei- schmerzhaften Stellungen über längere Zeit- fen schränkten 2010 das Recht auf freie Be- räume hinweg verharren müssen. Dadurch richterstattung stark ein. Journalisten, Blogger verschlimmerte sich eine schwere Rückenver- und andere Regierungskritiker wurden schika- letzung, die er bei einer früheren Folterung niert und strafrechtlich verfolgt. durch Sicherheitsbeamte der PA erlitten hatte.  Der Blogger Walid al-Husayin wurde am Im Oktober 2010 kam er ohne Anklageerhe- 31. Oktober vom Allgemeinen Geheimdienst in bung frei. Qalqilya im Westjordanland festgenommen. Er Von einem Todesfall im Gewahrsam nach wurde verdächtigt, in seinem Weblog atheis- einem gewaltsamen Übergriff durch die Polizei tische Kommentare veröffentlicht und den Is- wurde aus dem Gazastreifen berichtet. lam und andere Religionen kritisiert zu haben.  Nazira Jaddou’a al-Sweirki starb am 1. Januar Ende 2010 saß er noch immer in Haft.

Palästinensische Gebiete 367  Im Februar verhafteten Behörden der Hamas Front for the Liberation of Palestine – PFLP) im Gazastreifen den britischen Journalisten feuerten willkürlich Raketen und Mörsergrana- Paul Martin. Er hatte versucht, einem Mann zu ten auf Südisrael ab. Bei den Angriffen kam helfen, der wegen »Zusammenarbeit« mit Is- am 18. März 2010 ein Zivilist ums Leben. Es rael angeklagt worden war. Zunächst wurde handelte sich um einen Arbeitsmigranten aus Paul Martin der Spionage für Israel beschul- Thailand. Die Übergriffe waren für viele Men- digt, kam aber nach 25 Tagen Haft ohne An- schen lebensbedrohlich. Im Vergleich zu den klage wieder frei. Vorjahren ging die Zahl der abgefeuerten Rake- Sowohl die Behörden der PA als auch die der ten erheblich zurück. Die israelische Armee Hamas unterdrückten das Recht auf Vereini- startete ihrerseits Angriffe auf die mutmaßli- gungsfreiheit. So konnte die islamistische Orga- chen Verantwortlichen. nisation Hizb ut-Tahrir keine Zusammenkünfte Im Mai und Juni setzten unbekannte bewaff- abhalten. Friedliche Kundgebungen wurden nete palästinensische Männer eine Einrich- mit Gewalt aufgelöst, die Arbeit von politischen tung in Gaza in Brand, die von der United Nati- Parteien und NGOs blieb eingeschränkt. ons Relief and Works Agency for Palestinian  Am 25. August 2010 lösten Sicherheitskräfte Refugees in the Near East (UNRWA) im Rah- der PA gewaltsam eine friedliche Kundgebung men von Sommercamps für Kinder genutzt in Ramallah auf. Die Demonstrierenden hatten wurde. gegen die Absicht der PA protestiert, sich an Am 31. August 2010 kamen vier israelische neuen Friedensgesprächen mit Israel zu betei- Staatsbürger, darunter eine schwangere Frau, ligen. Journalisten, Fotografen und Beobach- in der Nähe der israelischen Siedlung Kiryat ter von Menschenrechtsorganisationen wurden Arba im Westjordanland ums Leben. Zu dieser ebenfalls angegriffen. Zeit begannen gerade die von den USA initiier-  Die NGO South Society for Women’s Health, ten Verhandlungen zwischen der PA und Is- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen die Frauen in Rafah Beratung zur Familienpla- rael. Am darauffolgenden Tag erlitten zwei Is- nung anbietet, wurde Berichten zufolge von raelis in der Nähe der Siedlung Kochav Hasha- den Hamas-Behörden gezwungen, ihre char Schussverletzungen. Die Izz al-Din al-Qas- 000835 Räume ab dem 31. Mai 2010 für drei Wochen sam-Brigaden, der militärische Arm der Ha- zu schließen. Danach durfte die Organisation mas, übernahmen für beide Anschläge die Ver- ihre Arbeit wieder aufnehmen, allerdings nur antwortung. unter Aufsicht des Innenministeriums. Zwei weitere NGOs für Frauen in Rafah wurden Amnesty International: Missionen und Berichte ebenfalls am 31. Mai geschlossen.  Delegierte von Amnesty International statteten dem Westjor-  Die NGO Sharek Youth Forum, die vom UN- danland im April und Mai Besuche ab.  Entwicklungsprogramm finanzielle Unterstüt- Palestinian Authority: Hamas fails to mount credible investi- zung erhält und sowohl im Westjordanland als gations into Gaza conflict violations (MDE 21/001/ 2010)  Hamas must prevent further attacks on Israeli civilians auch im Gazastreifen tätig ist, musste ihre Ar- (MDE 21/002/ 2010) beit in Gaza am 30. November auf Anordnung  Israel/Occupied Palestinian Territories: Amnesty Internatio- der Behörden vorübergehend einstellen. Die nal’s assessment of Israeli and Palestinian investigations NGO war von den Hamas-Behörden zuvor mo- into Gaza conflict (MDE 15/022/ 2010) natelang schikaniert worden. Ende 2010 wa-  Israel/Occupied Palestinian Territories: Human Rights ren die Büros der Organisation im Gazastreifen Council fails victims of Gaza conflict (MDE 15/023/ 2010) noch immer geschlossen.

Übergriffe durch bewaffnete Gruppen Bewaffnete palästinensische Gruppen mit Ver- bindungen zur Fatah, Islamic Jihad und der

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular

368 Palästinensische Gebiete Polizei und Protestierenden. Dabei wurden Panama vier Protestierende getötet und hunderte ver- letzt. Amtliche Bezeichnung: Republik Panama Eine auf Präsidialerlass eingerichtete Sonder- Staats- und Regierungschef: kommission zur Untersuchung dieser Vorfälle Ricardo Martinelli Berrocal kam im Oktober zu dem Schluss, dass über 56 Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Polizeibeamte und 700 Protestierende verletzt Einwohner: 3,5 Mio. wurden; 55 davon erlitten dauerhafte Schäden Lebenserwartung: 76 Jahre an den Augen aufgrund des Tränengaseinsat- Kindersterblichkeit (m/w): 27 / 20 pro 1000 zes durch die Polizei. Des Weiteren hieß es, Lebendgeburten dass von den vier Personen, die bei den Pro- Alphabetisierungsrate: 93,5% testen getötet wurden, zwei an Schussverlet- zungen und zwei an Verletzungen infolge des Besorgnis herrschte angesichts der Ge- Einsatzes von Tränengas gestorben seien. Die walt an Frauen sowie der Diskriminie- Kommission empfahl, die UN-Grundprinzipien rung von indigenen Gruppen und Afro- für die Anwendung von Gewalt und den Ge- Panamaern. Vier Personen starben bei brauch von Schusswaffen durch Beamte mit Zusammenstößen zwischen Protestieren- Polizeibefugnissen in staatliche Richtlinien auf- den und der Polizei. zunehmen. Außerdem legte sie den Behörden nahe, die Klagen wegen »Verbrechen gegen die Hintergrund innere Sicherheit des Staates«, die gegen etwa Der Status der Menschenrechte in Panama 350 Protestierende erhoben worden waren, fal- wurde im November im Rahmen der Univer- lenzulassen, während für Gewalttaten keine sellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) be- Straflosigkeit bestehen sollte. Zum Jahresende wertet. Anlass zur Sorge gaben vor allem die war es im Zusammenhang mit dem Tod der Gewalt an Frauen und die Einschränkungen vier Protestierenden noch zu keiner Anklage ge- des Rechts auf freie Meinungsäußerung. kommen.

Recht auf Versammlungsfreiheit Gewalt gegen Frauen und Mädchen Im Juli 2010 kam es in der Provinz Bocas del Im Februar begrüßte der UN-Ausschuss zur Toro zu Protesten gegen Vorschläge für Ände- Beseitigung jeder Form von Diskriminierung rungen an den Arbeitsgesetzen. Diese wurden der Frau (CEDAW-Ausschuss) einen seit 2004 als gewerkschaftsfeindlich eingestuft und bestehenden Regierungsplan zur Bekämp- führten zu einer Verschärfung der Spannungen fung der Gewalt gegen Frauen sowie einige Ge- zwischen Arbeitern und dem wichtigsten Ar- setzesänderungen hinsichtlich des Schutzes beitgeber, einer Bananengesellschaft. Der etwa von Opfern familiärer Gewalt. Allerdings äußerte zwei Wochen dauernde Protest endete in ge- der Ausschuss seine Besorgnis angesichts der waltsamen Auseinandersetzungen zwischen hohen Verbreitung von Gewalt gegen Frauen und des Fehlens angemessener Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen für Opfer sowie fehlender Sensibilisierungskampagnen. Laut einem Regierungsbericht, der dem Ausschuss vorlag, wurden bei der Sonderstaatsanwalt- schaft von Panama-Stadt zwischen 2005 und 2009 insgesamt 17067 Strafanzeigen wegen Gewalt an Frauen und 1198 wegen Gewalt an Mädchen registriert.

Panama 369 Rechte indigener Gruppen greifende Maßnahmen zur Unterbin- Im Mai 2010 brachte der UN-Ausschuss für die dung derartiger Praktiken vermissen. Beseitigung der Rassendiskriminierung seine Folter und Misshandlungen an Unter- Besorgnis über die andauernde Rassendiskri- suchungshäftlingen und Strafgefange- minierung, Marginalisierung, Verarmung und nen waren ebenfalls an der Tagesord- Ungeschütztheit von Afro-Panamaern und indi- nung. Polizisten schlugen Häftlinge oft genen Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck. mit Gewehrkolben und Buschmessern; Der Ausschuss forderte u. a. angemessene außerdem vergewaltigten sie inhaftierte Maßnahmen zur Gewährleistung der freien, Frauen oder missbrauchten sie sexuell. vorherigen und informierten Zustimmung indi- gener Gemeinschaften, die von Entwicklungs- Gewalt gegen Frauen und Mädchen projekten betroffen sind, eine Beendigung von Gewalt gegen Frauen war nach wie vor weit ver- Vertreibungen dieser Gemeinschaften und die breitet und hielt aufgrund des niedrigen ge- Einführung von Gesetzen gegen Rassendiskri- sellschaftlichen Status von Frauen und der tra- minierung. ditionellen Praxis der Polygamie und des  Im Juni 2010 reichten die Naso, eine aus Brautpreises unvermindert an. Es herrschte ein rund 4500 Personen bestehende indigene Klima des Schweigens und der Straflosigkeit Gruppe in der Provinz Bocas del Toro, bei der vor. Frauen hatten Angst, bei den Behörden Interamerikanischen Kommission für Men- Meldung über sexuelle und physische Gewalt- schenrechte eine Beschwerde ein, in der es anwendung zu machen. u. a. hieß, der Staat habe ihnen keine ange- Im April 2010 berichtete eine Klinik in Lae, messene Anerkennung gewährt und Viehzüch- dass sie monatlich zwischen 200 und 300 ter unterstützt, die 2009 bei andauernden neue Patienten – zumeist Frauen – aufnehme, Landstreitigkeiten Vertreibungen durchgeführt die vergewaltigt, geschlagen oder mit Messern 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen hätten. angegriffen worden seien. Im Mai besuchte der UN-Sonderberichterstat- ter über Folter das Land. Er stellte fest, dass 000835 Frauen einem hohen Risiko ausgesetzt waren, im privaten und öffentlichen Bereich Über- griffe zu erleiden. Während der Festnahme und Papua-Neuguinea im Gewahrsam kam es zu Folterungen, Miss- handlungen und sexuellem Missbrauch von Amtliche Bezeichnung: Frauen durch Polizeibeamte. Es hatte den An- Unabhängiger Staat Papua-Neuguinea schein, als würde die Polizei Frauen oft wegen Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten durch Generalgouverneur Paulias Matane Regierungschef: Sam Abal (ab Dezember geschäftsführend für Michael Somare) Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 6,9 Mio. Lebenserwartung: 61,6 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 70 / 68 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 59,6%

Gewalt gegen Frauen und Tötungen we- gen angeblicher Hexerei blieben 2010

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht weit verbreitet. Die Regierung ließ durch-

370 Papua-Neuguinea geringfügiger Vergehen festnehmen, um sie sen oder ihre Sehnen mit Äxten und Busch- sexuell missbrauchen zu können. Die Polizei messern durchtrennt. Die Polizei bestrafte In- bestrafte in Gewahrsam genommene Frauen, haftierte oft mit Schlägen; viele Jugendliche indem sie sie in mit Männern belegte Zellen wurden zusammen mit Erwachsenen in Ge- sperrte oder ihnen dies androhte. In solchen wahrsam gehalten. Zellen wurden Frauen häufig Opfer von Grup-  In der Nordprovinz schoss ein Polizist im penvergewaltigungen. September 2010 einem mutmaßlichen Dieb, Im Juli gab der UN-Ausschuss zur Beseiti- den er festgenommen hatte, ins Bein und ließ gung jeder Form von Diskriminierung der Frau ihn blutend zurück. Ein anderer Polizist half während der Überprüfung der von Papua-Neu- dem Verletzten später, in ein Krankenhaus zu guinea eingegangenen Verpflichtungen seiner gelangen. tiefen Besorgnis über die im familiären und öf-  Im Oktober 2010 tötete ein alkoholisierter fentlichen Bereich fortbestehende sexuelle Polizist einen 15-jährigen Jungen, der in einer Gewalt und das Fehlen von Daten über ihre Er- Polizeizelle festgehalten wurde, aus nächster scheinungsformen, ihr Ausmaß und ihre Ursa- Nähe mit einem gezielten Schuss. chen Ausdruck. Eine Regierungsvertreterin si-  Im November 2010 erschossen Wärter fünf cherte dem Ausschuss zu, dass die Regierung Häftlinge, die aus dem Gefängnis zu fliehen Gesetze zum Schutz gegen häusliche Gewalt versuchten. Fünf weitere Gefangene wurden erarbeiten werde. durch Schüsse verletzt.

Tötungen wegen angeblicher Hexerei  Nachdem eine Mutter von vier Kindern im September 2010 in den Western Highlands der »Hexerei« beschuldigt worden war, wurde sie gefesselt, verhört, gefoltert und bei leben- digem Leib verbrannt. Ihr Ehemann und ihre Kinder suchten bei Verwandten Unterkunft, da sie Angst hatten, nach Hause zurückzukeh- Paraguay ren.  Im Oktober 2010 wurden in der Provinz Amtliche Bezeichnung: Republik Paraguay Chimbu vier der »Hexerei« beschuldigte Per- Staats- und Regierungschef: sonen, darunter ein älteres Ehepaar, gefoltert Fernando Lugo Méndez und in einen Fluss mit starker Strömung ge- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft worfen. Einwohner: 6,5 Mio. Lebenserwartung: 72,3 Jahre Folter und andere Misshandlungen Kindersterblichkeit (m/w): 44 / 32 pro 1000 Im Februar 2010 weigerte sich die Polizei, An- Lebendgeburten schuldigungen zu überprüfen, denen zufolge Alphabetisierungsrate: 94,6% Angehörige der mobilen Einsatzgruppe der Po- lizei Personen, die nahe der Porgera-Mine leb- Indigenen Gemeinschaften wurde weiter- ten, geschlagen und vertrieben hatten. hin ihr Besitzrecht auf ihr angestamm- Im Mai stellte der UN-Sonderberichterstatter tes Land verwehrt. Es gingen Berichte über Folter fest, dass Folter und andere Miss- ein, wonach Angehörige sozialer Be- handlungen in Gefängnissen und Polizeistatio- wegungen und Sprecher von Kleinbauern nen verbreitet waren. Inhaftierte, die zu fliehen von Polizeikräften gefoltert und in ande- versuchten, wurden oft brutal mit Buschmes- rer Weise misshandelt wurden. Die sern und Gewehrkolben geschlagen. Einige Zunahme von Angriffen auf Menschen- von ihnen wurden aus nächster Nähe erschos- rechtsverteidiger bot Anlass zur Sorge.

Paraguay 371 Hintergrund vorangetrieben wurde. Darin war eine Stär- Das gesamte Jahr 2010 über gab es Berichte kung der Rechte indigener Bevölkerungsgrup- über gewaltsame Vorkommnisse, darunter pen vorgesehen, Maßnahmen zum Schutz Entführungen und ungesetzliche Tötungen. An ihres traditionellen Landes wurden als ein poli- einigen Vorfällen soll die bewaffnete oppositio- tisches »Schlüsselprogramm« bezeichnet. nelle Gruppe Armee des paraguayischen Vol- Aus den in dem Vorschlag aufgeführten Zahlen kes (Ejército del Pueblo Paraguayo – EPP) be- ging hervor, dass indigene Gemeinschaften teiligt gewesen sein. Als Reaktion darauf wurde seit 2008 lediglich Besitzrechte über 26119 ha im April ein 30-tägiger Ausnahmezustand Land erhalten hatten, damit gab es insgesamt über knapp die Hälfte des Landes verhängt. Rechtsansprüche auf 55970 ha Land. Ziel der NGOs kritisierten die unklare Definition von Behörden war es, bis zum Jahr 2013 die Be- »Terrorismus« im neuen Antiterrorgesetz, das sitzansprüche auf über 279850 ha indigenen während des Ausnahmezustands eingeführt Landes anzuerkennen. wurde. Im Juni 2010 richtete das Gesundheitsminis- Im August ratifizierte Paraguay das Internatio- terium eine neue Abteilung für die Gesundheit nale Übereinkommen zum Schutz aller Perso- der indigenen Bevölkerung ein. Als ersten wich- nen vor dem Verschwindenlassen. Im März tigen Schritt sorgte die Abteilung dafür, dass äußerte sich der UN-Sonderberichterstatter die ethnische Zugehörigkeit in alle im Gesund- über das Recht auf Bildung besorgt über die heitswesen verwendeten Formulare Eingang mangelnde Qualität der Bildung, fehlende fand, um die Umsetzung und Effektivität von Ressourcen und eine unzureichende Infra- Maßnahmen diesbezüglich überprüfen zu struktur. Er bemängelte außerdem, dass die können. ländliche Bevölkerung Paraguays in der Praxis Durch die Verkündung des Urteils im Fall Xák- so gut wie keinen Zugang zu höherer Bildung mok Kásek durch den Interamerikanischen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen habe. Gerichtshof für Menschenrechte im August wurde Paraguay als bislang einziger Staat im Zuständigkeitsbereich des Gerichts zum dritten

000835 Rechte indigener Völker Im Februar 2010 wurde ein Vorschlag für Maß- Mal wegen der Verletzung der Menschen- nahmen zur sozialen Entwicklung veröffent- rechte indigener Völker verurteilt. licht, der von den Ministern des Sozialkabinetts  Bezüglich der Landansprüche der Yakye Axa und Sawhoyamaxa gab es trotz der Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs für Men- schenrechte aus den Jahren 2005 und 2006 noch keine Entscheidung. Ein Vorschlag, der Gemeinschaft der Yakye Axa anderes Land zu- zuteilen als das, was sie ursprünglich eingefor- dert hatten, wurde nach Verfahrensverzöge- rungen abgelehnt. Im September 2010 began- nen direkte Verhandlungen zwischen hoch- rangigen Regierungsvertretern und den derzei- tigen Besitzern des von den beiden Gemein- schaften beanspruchten Landes.  Während die Sonderberichterstatterin für in- digene Völker der Interamerikanischen Kom- mission für Menschenrechte im September das Gebiet von Puerto Colón besuchte, erhielten zwei Vertreter der Gemeinschaft der Kelyenma-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gategma Morddrohungen.

372 Paraguay  Eine wissenschaftliche Expedition, die vom ner, die daraufhin Vorwürfe wegen exzessiver Naturhistorischen Museum in London ge- Gewaltanwendung und Misshandlung erhoben. meinsam mit einer paraguayischen Umwelt- Es gab Bedenken, da die Untersuchung die- NGO und dem Umweltministerium, jedoch ser Vorwürfe äußerst schleppend verlief. ohne vorherige Abstimmung mit indigenen Führern und Vertretern, organisiert worden Sexuelle und reproduktive Rechte war, wurde im November abgesagt. Zuvor wa- In September 2010 veröffentlichte das Bil- ren Bedenken laut geworden, die Expedition dungsministerium einen Leitfaden zur Sexual- könne schädliche und irreversible Auswirkun- aufklärung, der in Zusammenarbeit mit ver- gen auf die Lebensweise der Ayoreo haben, schiedenen Ministerien, zivilgesellschaftlichen die bislang abgeschieden leben. Gruppen und UN-Organisationen entwickelt  Die Ermittlungen bezüglich des mutmaßli- worden war. Durch den Leitfaden sollen Auf- chen Versprühens giftiger Chemikalien aus klärungsprogramme in Übereinstimmung der Luft in Itakyry im Jahr 2009 hatten bis Ende mit internationalen Standards in Bezug auf 2010 noch zu keinen Ergebnissen geführt. sexuelle und reproduktive Rechte gebracht werden. Auch soll er dazu beitragen, weit ver- Polizei, Sicherheitskräfte breitete Probleme wie sexuellen Missbrauch und Justizwesen und Gewalt zu bekämpfen. Es herrschte erhebliche Besorgnis im Hinblick auf Folter und andere Misshandlungen, exzes- Gewalt gegen Frauen und Kinder sive Gewaltanwendung und Verfahrensmängel Im September 2010 wurde im Staatsgefängnis bei Razzien und Festnahmen durch die Poli- Tacumbú ein Kinderpornografie-Ring aufge- zei. Dies betraf insbesondere Sicherheitsein- deckt. Nur wenige Tage zuvor hatte der UN-Un- sätze im Zusammenhang mit der EPP und die terausschuss zur Verhütung von Folter und anschließenden Gerichtsverfahren. NGOs äu- anderer grausamer, unmenschlicher oder er- ßerten in einer nichtöffentlichen Anhörung vor niedrigender Behandlung oder Strafe das Ge- der Interamerikanischen Kommission für Men- fängnis besucht, um sich von der Umsetzung schenrechte im Oktober ihre Bedenken in der 2009 von ihm gemachten Empfehlungen Bezug auf zwölf beispielhafte Fälle, die auch die zu überzeugen. Es hieß, Gefangene hätten Gewaltanwendung durch Privatpersonen be- junge Mädchen ins Gefängnis eingeladen und trafen. sie zu sexuellen Handlungen gezwungen, die Als im April 2010 der Ausnahmezustand ver- gefilmt wurden; später hätten sie die Filme hängt wurde, hieß es zur Begründung, verkauft. Einige Gefängnisbedienstete, darunter »schwere innere Unruhen, verursacht durch der Gefängnisdirektor und im Gefängnis tätige kriminelle Gruppen, die in der Gegend operie- Pfarrer, sollen in den Missbrauchsfall verwickelt ren«, stellten »eine unmittelbare Gefahr für das gewesen sein. Die Ermittlungen dauerten an, normale Funktionieren der rechtsstaatlichen bis zum Ende des Berichtsjahrs hatte die Organe« dar. Das entsprechende Gesetz wies Staatsanwaltschaft noch keine Ergebnisse ver- jedoch zahlreiche Mängel auf, so enthielt es öffentlicht. z. B. keine klaren Angaben darüber, welche Rechte dadurch eingeschränkt würden. Menschenrechtsverteidiger  Im Juni 2010 wurden Meldungen zufolge bei Das gesamte Jahr 2010 über gab es Aussagen, einem Zusammenstoß mit mutmaßlichen Mit- die darauf hindeuteten, dass die legitimen gliedern der EPP in Kuruzú de Hierro (Bezirk Aufgaben und Rechte von Menschenrechtsver- Horqueta) zwei Polizeibeamte getötet. Kurz teidigern immer weniger respektiert wurden. nach dem Vorfall stürmte ein Sonderkom- So stellten Regierungsvertreter die Rolle von mando der Polizei (Fuerza Operativa de la Po- Menschenrechtsverteidigern und anderen Or- licía Especializada) die Häuser einiger Anwoh- ganisationen in Frage, die Verstöße untersuch-

Paraguay 373 ten, die im Rahmen von Sicherheitseinsätzen Behörden versäumten es, den Opfern begangen wurden. Dies trug zu einer weit ver- von Bagua aus dem Jahr 2009 Gerechtig- breiteten falschen Darstellung der Aufgabe keit zuteilwerden zu lassen. Straflosig- und Arbeit von Menschenrechtsverteidigern keit für vergangene Menschenrechtsver- bei, wie sie in den Medien vorherrschte. letzungen war weiterhin vorherrschend Im Dezember fand in den Büros der NGO Ini- – trotz einiger Fortschritte, ihr entgegen- ciativa Amotocodie eine Razzia statt, wenige zuwirken. Frauen, darunter vor allem Wochen nachdem die NGO eine nationale und Frauen aus indigenen Gemeinschaften internationale Kampagne gestartet hatte, um und mit niedrigen Einkommen, wurden eine wissenschaftliche Expedition in ein Gebiet nach wie vor ihre sexuellen und repro- zu stoppen, in dem indigene Gruppen bislang duktiven Rechte verweigert. abgeschieden lebten. In dem Durchsuchungs- befehl und bei seiner Umsetzung durch die Hintergrund Ermittler wurden viele Verfahrensgarantien ver- Es gab landesweite Proteste gegen die Folgen letzt, so wurden u. a. Dokumente konfisziert, großer Entwicklungsprojekte für Gesellschaft die keinen Bezug zur Anklage hatten. Es und Umwelt. So wurde im Juli 2010 gegen das schien, als handele es sich um eine Vergel- Auslaufen von Erdöl in den Marañón-Fluss im tungsmaßnahme, weil die Organisation sich ge- peruanischen Amazonasgebiet protestiert und gen die Expedition gewandt hatte. gegen die Entsorgung von Giftmüll im Escale- ra-Fluss in der Provinz Huancavelica. Außer- Amnesty International: Mission und Bericht dem gab es im September Demonstrationen  Eine Delegierte von Amnesty International besuchte Para- aufgrund von Befürchtungen, der Bau eines guay im November. Staudamms könnte die Wasserrechte der Be-  Paraguay: Submission to the UN Universal Periodic Review, völkerung in der Provinz Espinar in Cusco be- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen July 2010 (AMR 45 / 003/ 2010) einträchtigen. Daraufhin erließ Präsident Alán García Pérez eine Rechtsverordnung, die den Einsatz des Militärs bei zivilen Protesten er- 000835 laubt. Dies gab Anlass zur Sorge über eine mög- liche Zunahme von Fällen exzessiver Gewalt- anwendung durch Sicherheitskräfte. Peru

Amtliche Bezeichnung: Republik Peru Staats- und Regierungschef: Alán García Pérez Todesstrafe: für gewöhnliche Straftaten abgeschafft Einwohner: 29,5 Mio. Lebenserwartung: 73,7 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 38 / 27 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 89,6%

Indigenen Gruppen wurde auch 2010 ihr Recht auf die freie, vorherige und nach umfassender Aufklärung erfolgte Zustim- mung zu Entwicklungsprojekten verwei-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gert, von denen sie betroffen waren. Die

374 Peru Es gab Berichte über gewaltsame Zusam-  Zwei ausländische Priester waren aufgrund menstöße der bewaffneten Oppositionsgruppe ihres Einsatzes für die Rechte indigener Ge- Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) mit Mi- meinschaften bei Großprojekten von der Aus- litär und Polizei in der Andenregion. weisung bedroht. Einer von ihnen, Pater Bar- tolini, dem die Gefährdung der öffentlichen Si- Rechte indigener Völker cherheit zur Last gelegt worden war, wurde im Im Juni 2010 verweigerte Präsident García Dezember 2010 freigesprochen. Im selben Ver- seine Zustimmung zum Gesetz über das fahren wurden fünf Indigenen- und Gemein- Recht auf Vorabkonsultation der Indigenen- desprecher zu Haftstrafen von je vier Jahren auf und Urvölker (Ley del Derecho a la Consulta Bewährung verurteilt. Allem Anschein nach Previa a los Pueblos Indígenas u Originarios). waren die gegen sie erhobenen Klagen ein Ver- Dieser gesetzliche Meilenstein wurde unter such, ihren Einsatz für die Menschenrechte zu Beteiligung der indigenen Gemeinschaften aus- behindern. Berufungsverfahren gegen die Ur- gearbeitet und im Mai vom Kongress verab- teile waren zum Ende des Jahres noch anhän- schiedet. Außerdem versäumten es die Behör- gig. den, einem Urteil des Verfassungsgerichts vom Juni nachzukommen und einen zuverläs- Gewerkschafter sigen Rahmen zu schaffen, der die Konsultie- Die Gewerkschafter Pedro Condori Laurente rung der von Entwicklungsprojekten betroffe- und Claudio Boza Huanhayo wurden im Juli nen indigenen Volksgruppen nach ILO-Über- 2010 nach sieben Monaten unter Vorbehalt aus einkommen 169 gewährleistet. Etwa 20 neue der Haft entlassen. Die gegen sie erhobenen Konzessionen wurden ohne freie, vorherige Vorwürfe, während eines Bergarbeiterstreiks im und nach umfassender Aufklärung erfolgte Zu- Jahr 2008 in der Provinz Huarochiri einen Poli- stimmung der betroffenen Gemeinschaften an zisten getötet zu haben, entbehrten scheinbar Erdölgesellschaften ausgegeben. jeglicher Grundlage. Ein Berufungsverfahren gegen die Freilassung war zum Jahresende Straflosigkeit noch anhängig. Hunderte von Personen, die 2009 bei Ausei- nandersetzungen anlässlich einer Straßenblo- Exzessive Gewaltanwendung ckade in Bagua in der Amazonasregion verletzt Im April 2010 wurden fünf Protestierende in worden waren, warteten 2010 ebenso wie die Chala in der Provinz Caravelí (Departamento Familien der 33 dort getöteten Personen, unter Arequipa) getötet, als die Polizei versuchte, eine ihnen 23 Polizeibeamte, weiter auf Gerechtig- Demonstration gegen gesetzliche Einschrän- keit. Gegen 109 Zivilpersonen, überwiegend kungen inoffizieller Bergbautätigkeiten unter Angehörige indigener Gruppen, und mindes- ihre Kontrolle zu bringen. Gegen den Einsatz- tens 18 Polizeibeamte wurde Anklage erhoben. leiter der Polizei wurde Anzeige erstattet. Zum Jahresende hatten die Richter noch nicht darüber entschieden, ob die Beweislage für die Sexuelle und reproduktive Rechte Eröffnung von Verfahren gegen die Beamten Frauen, darunter vor allem Angehörige indige- ausreichend sei. ner Gemeinschaften und solche mit niedrigen  Der Indigenensprecher Segundo Alberto Pi- Einkommen, wurden nach wie vor ihre sexuel- zango Chota, der sich für die Proteste in Ba- len und reproduktiven Rechte verweigert. gua vor Gericht verantworten sollte, wurde im Zwar wurde das 2009 ergangene Urteil des Mai bei seiner Rückkehr aus dem Exil inhaf- Verfassungsgerichts, nach dem der Staat die tiert und später auf Kaution wieder freigelassen. »Pille danach« nicht verteilen darf, vom Ge- Ende 2010 waren die Anklagen gegen ihn und sundheitsministerium angefochten, die Vertei- drei weitere Sprecher sowie eine Sprecherin lung der Pille jedoch nicht wieder aufgenom- indigener Organisationen noch anhängig. men. Die Behörden versäumten die Heraus-

Peru 375 gabe eines Protokolls zur Erläuterung einer Ab- die formelle Übereignung von Land an Familien treibung aus therapeutischen Gründen an An- und Opfer, der die Regierung 2003 vor der In- gehörige der Gesundheitsberufe. Diese ist legal, teramerikanischen Menschenrechtskommis- wenn eine Gefährdung für das Leben oder die sion zugestimmt hatte. Im Januar bestätigte Gesundheit der Frau besteht. der Oberste Gerichtshof die 2009 gegen den Die Interamerikanische Menschenrechts- ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori ver- kommission verurteilte das Versäumnis des hängte Strafe. Im Oktober wurden Angehörige Staates, gemäß einer Vereinbarung von 2003 der Todesschwadron Colina und hochrangige Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutma- Regierungsbeamte unter Alberto Fujimori ver- chung für über 2000 Frauen zu gewährleisten, urteilt. Sie trugen die Verantwortung für die die unter der Regierung des ehemaligen Präsi- Tötung von 15 Personen im Jahr 1991 sowie für denten Alberto Fujimori (1990 – 2000) zwangs- das »Verschwindenlassen« von neun Dorfbe- sterilisiert worden waren. wohnern in der Provinz Santa (Region Ancash) und von Pedro Yauri in der Provinz Huaura Müttersterblichkeit (Region Lima) 1992. Tausende weiterer Fälle Das staatliche Institut für Statistik meldete eine blieben jedoch ungeklärt. signifikante Abnahme der Müttersterblichkeit,  Im November 2010 begann das Verfahren ge- die zuvor zu den höchsten in der Region gehört gen die Soldaten, denen die Tötung von 69 hatte. Es gab jedoch Befürchtungen, dass die Frauen, Männern und Kindern in der Gemeinde Sterblichkeitsrate in ländlichen Gebieten nicht Accomarca (Provinz Vilcashuamán) zur Last abgenommen habe. Offiziellen Zahlen zufolge gelegt wird. Auf dem Gelände der Cabitos- gab es auch keine Verbesserung der Situation Kaserne in der Provinz Huamanga wurde ein von Frauen in ländlichen Gebieten, die von neues Grab entdeckt. Am Ort des Massakers, fehlenden Transportmöglichkeiten zu weit ent- bei dem Weihnachten 1984 insgesamt 25 An- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen fernt liegenden medizinischen Einrichtungen gehörige der indigenen Gemeinschaft der Putka betroffen waren. in der Provinz Huanta umgekommen waren, wurde mit der Exhumierung der Massengräber 000835 Straflosigkeit begonnen. Im September 2010 wurde eine Reihe von Rechtsverordnungen erlassen, die die in den Haftbedingungen vergangenen zehn Jahren erzielten Fortschritte Das in 4600 m Höhe gelegene Gefängnis von bei der Bekämpfung der Straflosigkeit effektiv Challapalca in der Provinz Puno, das zwischen zunichtemachten. Der Kongress stimmte für 2005 und 2007 geschlossen gewesen war, blieb die Aufhebung der Rechtsverordnung 1097, weiter in Betrieb. Trotz der Zusicherung der Be- die den Verantwortlichen vergangener Men- hörden, die Haftanstalt zu schließen, befanden schenrechtsverletzungen de facto Amnestie sich im Oktober 2010 dort noch 131 Personen in gewährte. Zwei weitere Verordnungen, nach Haft. Durch die Unzugänglichkeit des Gefäng- denen Angehörige der Streitkräfte vor Militär- nisses wird das Recht der Häftlinge auf den Be- gerichten für Menschenrechtsverletzungen zur such von Anwälten und Ärzten eingeschränkt. Verantwortung gezogen werden können, blie- ben jedoch in Kraft. Amnesty International: Mission und Bericht Sieben Jahre nach Abschluss des Berichts  Im Oktober besuchte eine Delegation von Amnesty Internatio- der Wahrheits- und Versöhnungskommission nal unter der Leitung des Generalsekretärs Peru, um sich kam der Prozess zur Gewährleistung von Wahr- mit offiziellen Vertretern der Ministerien für Gesundheit, Jus- heit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung tiz und auswärtige Angelegenheiten und Kongressabgeord- neten zu treffen. trotz einiger Fortschritte nur langsam voran.  Bagua: Consultation promised but justice not delivered  Einzelne Entschädigungen standen Ende (AMR 46/ 010/ 2010)

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht 2010 noch aus. Dazu gehörte beispielsweise

376 Peru den. Zwei Jahre nach Beendigung des in- Philippinen ternen bewaffneten Konflikts lebten Be- richten zufolge in Mindanao noch Zehn- Amtliche Bezeichnung: Republik der Philippinen tausende außerhalb ihrer Heimatorte. Staats- und Regierungschef: Die tatsächliche Anzahl der noch nicht Benigno S. Aquino III. (löste im Juni Gloria zurückgekehrten Binnenvertriebenen Macapagal-Arroyo im Amt ab) war allerdings nicht bekannt. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 93,6 Mio. Hintergrund Lebenserwartung: 72,3 Jahre Im Mai 2010 fanden nationale und im Oktober Kindersterblichkeit (m/w): 32 / 21 pro 1000 lokale Wahlen statt. Beide wurden von poli- Lebendgeburten tisch motivierten Morden beeinträchtigt. Im Mai Alphabetisierungsrate: 93,6% wurde Benigno Aquino III., der Sohn der ehe- maligen Präsidentin Corazon Aquino und des Mehr als 200 Fälle des »Verschwinden- ermordeten Senators Benigno Aquino Jr., zum lassens« von Personen sowie mindes- Präsidenten gewählt. tens 305 Fälle außergerichticher Hin- Die Wiederaufnahme der Friedensgespräche richtungen (einige Schätzungen bezif- zwischen der Regierung und der Islamischen fern diese Hinrichtungen sogar auf Befreiungsfront der Moro (Moro Islamic Libera- 1200), die im letzten Jahrzehnt doku- tion Front – MILF) verzögerte sich weiter. Im mentiert worden waren, blieben unaufge- Juli benannte die Regierung jedoch ihre Ver- klärt. Nur wenige der für diese Verbre- handlungskommission. Im September erklärte chen verantwortlichen Personen wurden die MILF, dass sie bereit sei, Friedensgespräche vor Gericht gestellt. Private bewaffnete zu beginnen, und benannte ihre Verhand- Gruppen operierten weiterhin im ganzen lungsführer. Land, obwohl sich die Regierung dazu Friedensgespräche zwischen der Regierung verpflichtet hatte, sie aufzulösen und zu und der kommunistischen Neuen Volksarmee entwaffnen. Der vorherigen Regierung (New People’s Army – NPA) erwiesen sich je- gelang es trotz der bis 2010 gesetzten doch weiterhin als schwer realisierbar. Frist nicht, die kommunistische Auf- standsbewegung zu »zerschlagen«. So Rechtswidrige Tötungen kündigte die neue Aquino-Regierung im Während der in den Monaten Mai und Oktober August an, dass die Operationen zur Auf- 2010 durchgeführten Wahlen stieg die Anzahl standsbekämpfung ausgeweitet wür- politischer Morde an. Anhänger politischer Par- teien waren Einschüchterung und Gewalttätig- keiten ausgesetzt. Dazu gehörten Granatenan- griffe. Hunderte Fälle außergerichtlicher Hinrichtun- gen und des »Verschwindenlassens«, die im letzten Jahrzehnt dokumentiert worden waren, blieben unaufgeklärt, und die Täter wurden nicht vor Gericht gestellt. Nur eine verschwin- dend geringe Anzahl der Familien der Opfer erhielt Entschädigungszahlungen. Während des Berichtsjahrs wurden mindestens 38 mut- maßlich politisch motivierte Morde gemeldet.  Dem Vernehmen nach wurden im Jahr 2010 mindestens sechs Journalisten getötet. Inner-

Philippinen 377 halb einer Woche im Juni wurden die Rund- meen erklärte gegenüber den Medien, dass lo- funkreporter Desiderio Camangyan aus Mati kale Beamte diese Gruppen von Freiwilligen City in den Südphilippinen und Joselito Agustín und Hilfseinheiten als Privatarmeen nutzten. aus Laoag City in den Nordphilippinen sowie Im November 2010 sagte der Präsident zu, die der Zeitungsjournalist Nestor Bedolido aus Di- ermittelten privaten bewaffneten Gruppen auf- gos City in den Südphilippinen erschossen. zulösen und zu entwaffnen. Er lehnte es jedoch Nach beträchtlichen Verzögerungen begann ab, auch die CVOs, CAFGUs und die PAUs auf- im September das Verfahren gegen die mut- zulösen, und vertrat die Meinung, dass sie statt- maßlichen Verantwortlichen des Massakers von dessen professionalisiert werden müssten. Die Maguindanao. Bei dem Massaker, das im No- Streitkräfte erklärten, dass es notwendig sei, die vember 2009 im Vorfeld der für 2010 angesetz- Anzahl der CAFGUs zu erhöhen. Nach dem ten Wahlen verübt worden war, wurden 57 Massaker von Maguindanao hatte die Polizei Personen getötet, darunter 32 Journalisten. bekanntgegeben, dass sie die Rekrutierung Mindestens 83 Tatverdächtige wurden festge- von Mitgliedern für die Polizei-Hilfseinheiten nommen und angeklagt, darunter mindestens suspendiert habe. 16 Polizisten und Mitglieder der politisch ein- Im Februar 2010 vermeldete die Menschen- flussreichen Familie Ampatuan. 113 weitere rechtskommission der Philippinen, dass sie Tatverdächtige blieben auf freiem Fuß. seit dem Jahr 2001 insgesamt 777 Fälle außer-  Suwaid Upham, der vermutlich einer der gerichtlicher Hinrichtungen und 251 Fälle von Schützen des Massakers war, erklärte sich im »Verschwindenlassen« registriert habe. Im Sep- März 2010 dazu bereit, vor Gericht als mögli- tember dokumentierte die Menschenrechts- cher Zeuge auszusagen. Im Juni wurde er je- gruppe Karapatan im gleichen Zeitraum 1206 doch erschossen. Dem Vernehmen nach hatte außergerichtliche Hinrichtungen und 206 Op- er vergeblich versucht, in das Zeugenschutz- fer von »Verschwindenlassen«. Ein von der US- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen programm aufgenommen zu werden. Im Zu- Behörde für Internationale Entwicklung (Uni- sammenhang mit seiner Ermordung wurden ted States Agency for International Develop- zwei Tatverdächtige festgenommen. ment – USAID) und der NGO Asia Foundation 000835 Die nationale Polizei (Philippine National Po- in Auftrag gegebener Bericht, der im Septem- lice – PNP) meldete, dass im Februar 117 pri- ber veröffentlicht wurde, dokumentierte vate bewaffnete Gruppen existierten. Im Mai 305 Fälle außergerichtlicher Hinrichtungen berichtete die Unabhängige Kommission ge- zwischen 2001 und 2010 mit insgesamt gen Privatarmeen (Independent Commission 390 Opfern. Der gleiche Bericht konstatierte, Against Private Armies – ICAPA), dass es min- dass lediglich 1% der gemeldeten Fälle eine destens 72 aktive Privatarmeen im Land gäbe Verurteilung zur Folge gehabt habe und dass und dass weitere 35 bereits durch die Polizei Angehörige der Streitkräfte in 20% der Fälle und das Militär aufgelöst worden seien. verwickelt gewesen seien. Viele Mitglieder der von der Regierung aufge- Es kam weiterhin zu Tötungen von Zivilperso- stellten bewaffneten »Kampfkraftmultiplikato- nen, da der Aufstandsbekämpfungsplan des ren« (force multipliers), zu denen die Zivilen Militärs keinen Unterschied zwischen Zivilper- Freiwilligen-Organisationen (Civilian Volunteer sonen und NPA-Angehörigen machte. In eini- Organizations – CVOs), die Polizei-Hilfseinhei- gen Fällen behaupteten Polizei oder Militär, ten (Police Auxiliary Units – PAUs) und die ört- dass die Todesfälle Folge »legitimer Kampf- lichen Einheiten der Bewaffneten Bürgerweh- handlungen« gewesen seien. ren (Citizens’ Armed Forces Geographical  Im November 2010 wurden der Botaniker Units – CAFGUs) gehörten, waren gleichzeitig Leonardo Co und zwei andere Mitglieder sei- Mitglieder von privaten bewaffneten Gruppen. nes Teams in der Provinz Leyte in den Zentral- Ein ehemaliger Armeegeneral und Mitglied der philippinen erschossen, als sie dort Samen ge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Unabhängigen Kommission gegen Privatar- fährdeter einheimischer Baumarten sammel-

378 Philippinen ten. Militärangehörige gaben an, dass sie ins klärte, dass die Soldaten die Männer gefesselt Kreuzfeuer zwischen der Armee und der NPA und mindestens einen von ihnen verschleppt geraten seien. Ein überlebendes Mitglied des hätten. Drei Angehörige der Gemeinschaft, die Botanikerteams dementierte diese Behauptung der linksgerichteten Partei Indigener Völker jedoch. (Indigenous Peoples’ Party) angehört haben sollen, wurden im Juli von Unbekannten er- Folter und andere Misshandlungen mordet. Im August 2010 strahlten philippinische Me- Einem Medienbericht zufolge reaktivierte die dien ein Video aus, das einen Polizisten in Zi- Armee im September während ihres Kampf- vilkleidung in einer Polizeistation in Manila einsatzes gegen die NPA die Bürgerwehr Alsa zeigte, als er Darius Evangelista folterte, der of- Lumad (Erhebt Euch, indigene Völker). Laut fensichtlich wegen des Verdachts, einen ge- diesem Bericht war zudem die Ausrüstung indi- ringfügigen Diebstahl begangen zu haben, gener Bevölkerungsgruppen mit Waffen Teil festgenommen worden war. Uniformierte Poli- der Operationen der Regierung zur Bekämp- zeibeamte schauten dabei zu. Das Filmmate- fung der NPA. rial zeigte den Verdächtigen nackt. Er wurde mit einer an seinen Geschlechtsteilen befestigten Sexuelle und reproduktive Rechte Schnur gezogen und mit einem Seil ausge- Im September 2010 verkündete der Präsident, peitscht. Das Video veranlasste die Behörden, dass »die Regierung verpflichtet ist, jeden alle elf an dem Vorfall beteiligten Polizeibeam- über seine Pflichten und Wahlmöglichkeiten zu ten vom Dienst zu suspendieren. Darius Evan- informieren« und kündigte an, dass die Be- gelista war im März von Polizisten festgenom- hörden in Armut lebenden Paaren auf Anfrage men und seitdem nicht mehr gesehen wor- Verhütungsmittel zur Verfügung stellen wer- den. In den Polizeiprotokollen gab es keinen den. Die einflussreiche katholische Kirche Eintrag über seine Festnahme. Die Ehefrau lehnte diesen Schritt entschieden ab. von Darius Evangelista legte eine offizielle Be- Im August gab das Center for Reproductive schwerde gegen neun Polizeibeamte ein und Rights einen Bericht heraus, laut dem pro Jahr erklärte, dass dieser Fall eine Verletzung des mehr als 560000 Frauen ihre Schwangerschaft Antifoltergesetzes von 2009 darstelle. abbrechen und jedes Jahr ungefähr 1000 von  Im Januar 2010 wurde Meldungen zufolge ihnen nach heimlichen illegalen Abtreibungen der 40-jährige Ambrosio Derejeno ver- sterben. schleppt. Ein Familienmitglied sah ihn zuletzt im Gewahrsam von CAFGU-Mitgliedern in der Amnesty International: Missionen Provinz Samar. Er war gefesselt und umringt  Eine Delegation von Amnesty International besuchte die Phi- von Männern in Tarnuniformen, die ihre Ge- lippinen in den Monaten Januar und November/Dezember. wehre auf ihn gerichtet hielten. Nach dem An- tifoltergesetz von 2009 ist der Gebrauch von Schusswaffen zur Bedrohung einer gefesselten Person als Folter zu betrachten. Im Dezember 2010 unterzeichnete der Präsi- dent die Umsetzungsbestimmungen und Richtlinien für das Antifoltergesetz.

Rechte indigener Völker Berichten zufolge wurden im Juni Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Dumagat aus der Provinz Rizal vom Militär aus ihren Häusern vertrieben. Ein Mitglied der Gemeinschaft er-

Philippinen 379 kommen waren, fanden im Juni und Juli Prä- Polen sidentschaftswahlen in zwei Runden statt. Aus den Wahlen ging Bronisław Komorowski als Amtliche Bezeichnung: Republik Polen Sieger hervor, der schon als Übergangspräsi- Staatsoberhaupt: Bronisław Komorowski dent gedient hatte. Er wurde am 6. August als (löste im August Lech Kaczyn´ ski im Amt ab) neuer Präsident vereidigt. Regierungschef: Donald Tusk Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Einwohner: 38 Mio. Die Generalstaatsanwaltschaft setzte ihre straf- Lebenserwartung: 76 Jahre rechtliche Untersuchung der Beteiligung Po- Kindersterblichkeit (m/w): 9 / 7 pro 1000 lens am CIA-Programm für außerordentliche Lebendgeburten Überstellungen und Geheimgefängnisse fort. Alphabetisierungsrate: 99,5% Die polnische Flugsicherungsbehörde veröf- fentlichte im Dezember 2009 Informationen, Als erstes europäisches Land erkannte aus denen sich ergab, dass die im Rahmen des Polen im Oktober 2010 Ansprüche eines CIA-Programms erfolgten Flüge nach Polen Mannes an, der Opfer einer außeror- hauptsächlich auf dem Flughafen Szymany lan- dentlichen Überstellung geworden war. deten, der in der Nähe eines mutmaßlichen Einem saudi-arabischen Staatsbürger, Geheimgefängnisses in Stare Kiejkuty liegt. der Berichten zufolge in einer geheimen Dokumente, die im Juli von der polnischen Haftanstalt in Polen gefangen gehalten Grenzschutzbehörde veröffentlicht wurden, worden war, wurde der Status eines bestätigten, dass im Rahmen des CIA-Pro- »Opfers« zuerkannt. Der UN-Sonderbe- gramms zwischen Dezember 2002 und Sep- richterstatter über das Recht eines jeden tember 2003 sieben Flugzeuge auf dem Flug- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen auf das für ihn erreichbare Höchstmaß hafen Szymany gelandet waren. Außer der an körperlicher und geistiger Gesundheit Flugzeugbesatzung waren bei der Landung stellte fest, dass aufgrund der restrikti- und/oder beim Abflug auch Passagiere an 000835 ven Gesetzgebung unsichere und illegale Bord. Schwangerschaftsabbrüche zunahmen.  Im September 2010 bestätigte die Staatsan- waltschaft, dass sie der Angabe des derzeit in Hintergrund Guantánamo inhaftierten saudi-arabischen Nachdem Präsident Lech Kaczyn´ ski und an- Staatsbürgers Abd al-Rahim al-Nashiri nach- dere hochrangige Staatsvertreter bei einem gehe, er sei in einem geheimen Haftzentrum in Flugzeugabsturz im April 2010 ums Leben ge- Polen gefangen gehalten worden. Im Oktober wurde ihm der Status eines »Opfers« zuer- kannt. Es war das erste Mal, dass in einem eu- ropäischen Land der Anspruch eines Opfers des Überstellungsprogramms anerkannt wurde.  Im Dezember 2010 legten internationale Rechtsanwälte in Zusammenarbeit mit den NGOs Reprieve und Interights eine Beschwerde im Namen von ein. Gegen- stand der Beschwerde waren Verbrechen, die während seiner CIA-Haft in Polen an ihm ver- übt worden sein sollen. Außerdem wurde bean- tragt, Abu Zubaydah offiziell als Opfer von Fol-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ter und widerrechtlicher Inhaftierung anzuer-

380 Polen kennen. Nachdem Abd al-Rahim al-Nashiri chen und umzusetzen, sondern dass die Zu- und Abu Zubaydah der Status eines »Opfers« ständigkeit dafür der Ombudsperson übertra- zuerkannt worden war, erhielten sie und ihre gen wurde. Rechtsanwälte Einsicht in die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft. Auch wurde ihnen er- Sexuelle und reproduktive Rechte laubt, sich an den Ermittlungen zu beteiligen. Der UN-Sonderberichterstatter über das Recht Im Oktober forderte der UN-Menschenrechts- auf Gesundheit betonte im Mai 2010, dass das ausschuss die polnischen Behörden auf si- Familienplanungsgesetz, das die Anerkennung cherzustellen, dass die Untersuchung der mut- wirtschaftlicher und sozialer Gründe für einen maßlichen Beteiligung von Staatsbediensteten legalen Schwangerschaftsabbruch aufgehoben an Überstellungen und Geheimgefängnissen hatte, dazu geführt habe, dass unsichere und mit uneingeschränkten Ermittlungsbefugnis- illegale Schwangerschaftsabbrüche zunahmen. sen erfolge. So müsse sie Zeugen benennen Im Oktober äußerte sich der UN-Menschen- und die Herausgabe von Dokumenten anord- rechtsausschuss besorgt darüber, dass vielen nen können. Frauen der Zugang zu Dienstleistungen der  Am 17. September 2010 nahm die Polizei in reproduktiven Gesundheit verweigert werde, Warschau die tschetschenische Führungsper- darunter auch legale Schwangerschafts- sönlichkeit Achmed Zakajew aufgrund eines abbrüche. von den russischen Behörden ausgestellten Nach Ansicht von Menschenrechtsbeobach- internationalen Haftbefehls fest. Nach der Fest- tern war der Zugang zu reproduktiven Rechten nahme von Akhmed Zakayev forderte Russ- auch durch eine in dem Gesetz enthaltene Wi- land seine Auslieferung wegen mutmaßlicher derspruchsklausel behindert, die es dem me- Beteiligung an terroristischen Aktivitäten. Am dizinischen Personal erlaubte, bestimmte Be- 18. September ordnete das Warschauer Be- handlungen aus Gewissensgründen abzuleh- zirksgericht seine Freilassung an unter Hin- nen. Laut einem Bericht, den der Ausschuss für weis darauf, dass ihm in Großbritannien Asyl Soziales, Gesundheit und Familie der Parla- gewährt worden sei. Der Bezirksstaatsanwalt mentarischen Versammlung des Europarats im legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel September verabschiedete, gab es in den Ein- ein. Im Oktober bestätigte ein Berufungs- richtungen des polnischen Gesundheitswesen gericht die Entscheidung über die Freilassung. keine offizielle Regelung hinsichtlich der Ver- Akhmed Zakayev kehrte nach Großbritannien weigerung von Behandlungen aus Gewissens- zurück. Am 23. Dezember stellte das Bezirks- gründen. Im Bericht wurde die Befürchtung gericht in Warschau das Auslieferungsverfah- geäußert, die Klausel könnte von Krankenhaus- ren mit der Begründung ein, Akhmed Zakayev verwaltungen missbraucht werden, die häufig befinde sich nicht mehr in Polen. einem ungeschriebenen Gesetz folgten und be- stimmte Eingriffe verboten, darunter Schwan- Diskriminierung gerschaftsabbrüche. Nach mehrjährigen Vorarbeiten verabschiedete  Der Fall einer schwangeren Frau, die an einer das Parlament im Dezember 2010 ein Antidis- Blutvergiftung gestorben war, nachdem man kriminierungsgesetz. NGOs kritisierten jedoch ihr in mehreren Krankenhäusern diagnostische seinen begrenzten Anwendungsbereich, da es Untersuchungen und Behandlungen verwei- kein Verbot enthält, Personen aufgrund ihres gert hatte, um das Leben des Fötus nicht zu ge- Geschlechts oder ihrer politischen Überzeu- fährden, war 2010 noch vor dem Europäi- gung zu diskriminieren oder deshalb, weil sie schen Gerichtshof für Menschenrechte anhän- nicht verheiratet sind. Die Organisationen gig. zeigten sich auch besorgt darüber, dass kein neues unabhängiges Organ geschaffen wurde, um die neue Gesetzgebung zu überwa-

Polen 381 Exzessive Gewaltanwendung als Kriminelle bezeichnet. Mehrere polnische Im Oktober zeigte sich der UN-Menschen- NGOs protestierten gegen die Schließung mit- rechtsausschuss besorgt über Berichte, wo- ten im Schuljahr. Die Flüchtlinge mussten sich nach Polizeibeamte exzessive Gewalt angewen- nach der Schließung entweder um Mietwoh- det hatten. Er wies auch darauf hin, dass Vor- nungen bemühen oder freie Plätze in anderen fälle von Gewaltanwendung durch die Polizei Flüchtlingsheimen finden. nicht immer angezeigt würden, da die Opfer eine strafrechtliche Verfolgung befürchteten. Rechte von Lesben, Schwulen,  Am 23. Mai 2010 schoss ein Polizeibeamter Bisexuellen und Transgender-Personen auf einem Markt im Warschauer Vorort Praga Im Oktober 2010 stellte der UN-Menschen- auf einen 36-jährigen nigerianischen Händler, rechtsausschuss fest, dass Hassbekundun- der an Ort und Stelle starb. Der Vorfall ereig- gen und Intoleranz gegenüber Lesben, Schwu- nete sich während eines Polizeieinsatzes, bei len, Bisexuellen und Transgender–Personen dem Berichten zufolge die Lizenzen der deutlich zugenommen hatten. Markthändler überprüft werden sollten. Die Ge- neralstaatsanwaltschaft nahm am 24. Mai zwei Amnesty International: Bericht Ermittlungsverfahren auf: wegen unverhältnis-  Open secret: Mounting evidence of Europe’s complicity in mäßiger Gewaltanwendung durch einen rendition and secret detention (EUR 01/023/ 2010) Staatsbediensteten in Verbindung mit Körper- verletzung, die zum Tod führte, sowie wegen Angriffs auf einen Beamten.  Robert Biedrón, ein Sprecher der Kampagne gegen Homophobie (Kampania Przeciw Ho- mofobii), wurde am 11. November 2010 von der 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Polizei festgenommen und dem Vernehmen Portugal nach geschlagen. Der Vorfall ereignete sich nach einer antifaschistischen Demonstration, Amtliche Bezeichnung: Portugiesische Republik 000835 die sich gegen einen Aufmarsch rechtsextre- Staatsoberhaupt: Aníbal António Cavaco Silva mistischer Gruppen in Warschau richtete. Ro- Regierungschef: bert Biedrón erhob Klage wegen exzessiven Ge- José Sócrates Carvalho Pinto de Sousa walteinsatzes durch die Polizei, der dazu Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft führte, dass er eine Rückenverletzung, Prellun- Einwohner: 10,7 Mio. gen und Schürfungen davontrug. Robert Bie- Lebenserwartung: 79,1 Jahre drón wurde 20 Stunden lang in Gewahrsam ge- Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 halten. Er gab an, man habe ihm den Kontakt Lebendgeburten zu seiner Familie und zu seinem Rechtsanwalt Alphabetisierungsrate: 94,6% verweigert. Die Polizei warf ihm Berichten zu- folge vor, er habe einen Beamten angegriffen. Vorwürfe wegen Misshandlungen durch Beamte mit Polizeibefugnissen wurden Flüchtlinge und Asylsuchende nach wie vor nicht zügig, gründlich und Im November 2010 wurde das Flüchtlingsheim unparteiisch untersucht. Meldungen der Stadt Łomz˙a geschlossen. Die Schließung über familiäre Gewalt gingen leicht zu- erfolgte nach einer Kampagne eines Parla- rück. In Beja lebende Roma-Familien mentsabgeordneten und nachdem sich 800 hatten keinen Zugang zu angemessenem Bürger einer entsprechenden Petition ange- Wohnraum. schlossen hatten. Im Zuge der Kampagne wurden die überwiegend aus Tschetschenien

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht stammenden Flüchtlinge von einigen Medien

382 Portugal Folter und andere Misshandlungen dung ein, woraufhin das Tribunal da Relação, Bei der Annahme des Abschlussberichts der ein Lissaboner Berufungsgericht der zweiten Universellen Regelmäßigen Überprüfung Instanz, im November 2005 anordnete, den Fall (UPR) durch den UN-Menschenrechtsrat ver- zur Verhandlung zu bringen. pflichtete sich Portugal, seine Anstrengungen zu verstärken, um bei Vorwürfen wegen Miss- Gewalt gegen Frauen und Mädchen handlungen oder exzessiver Gewaltanwen- Im April 2010 wurden neue gesetzliche Rege- dung durch Polizeibeamte zügige, gründliche lungen verabschiedet, um Frauen und Mäd- und unparteiische Ermittlungen zu gewähr- chen vor familiärer Gewalt zu schützen. Darin leisten. In mindestens zwei Fällen gab es bei sind Bestimmungen enthalten, die den Opfern den Ermittlungen hinsichtlich solcher Vor- ein Recht auf Information, Schutz, Unterkunft würfe jedoch selbst mehrere Jahre nach den sowie finanzielle und andere Hilfen garantie- betreffenden Vorfällen nur geringe oder gar ren. Im Vergleich zum Vorjahr nahmen die Be- keine Fortschritte. richte über Fälle familiäre Gewalt geringfügig  Über die von Leonor Cipriano eingelegten ab. Bei der Portugiesischen Vereinigung für Op- Rechtsmittel gegen ein Urteil des Strafgerichts ferhilfe (Associação Portuguesa de Apoio à Ví- Faro vom 22. Mai 2009 war 2010 noch nicht tima – APAV) gingen 2010 insgesamt 15236 Be- entschieden. Das Gericht hatte drei Polizeibe- schwerden wegen Gewalt in der Familie ein, amte, die an Ciprianos Festnahme im Jahr 2004 verglichen mit 15904 im Jahr 2009. Die NGO beteiligt waren, freigesprochen. Die Richter União de Mulheres Alternativa e Resposta re- hatten zwar anerkannt, dass sie in Polizeige- gistrierte jedoch 43 Morde an Frauen im Jahr wahrsam gefoltert worden war, hielten es je- 2010, während es im Vorjahr 29 waren. doch für unmöglich festzustellen, wer dafür verantwortlich war. Recht auf Wohnen  Im Verfahren gegen drei Angehörige der Jus-  In der Stadt Beja lebten nach wie vor etwa 50 tizpolizei, denen vorgeworfen wird, im März Roma-Familien im Viertel Quinta das Pedrei- 2000 Virgolino Borges in Polizeigewahrsam ge- ras, wohin sie 2006 nach ihrer Vertreibung aus foltert zu haben, wurden Verhandlungen an- dem Viertel Bairro da Esperança umgesiedelt gesetzt, die dann auf das Jahresende vertagt worden waren. Immer wieder wurden Befürch- wurden. Die Ermittlungen waren 2005 von der tungen laut, dass die Häuser in Quinta das Pe- Generalstaatsanwaltschaft mit der Begründung dreiras die Mindestanforderungen in Bezug auf eingestellt worden, dass Virgolino Borges sich Gesundheit, Hygiene und Sicherheit nicht er- die Verletzungen selbst zugefügt haben könnte. füllten. Er legte Rechtsmittel gegen diese Entschei- Am 29. April 2010 reichte das Europäische Zentrum für Roma-Rechte beim Europäischen Ausschuss für Soziale Rechte Klage ein und machte geltend, dass Portugal das Recht auf Wohnraum der in Quinta das Pedreiras leben- den Roma verletzt habe.

Portugal 383 entsprechende Land wurde ihr von den städti- Puerto Rico schen Behörden von Toa Baja im Austausch für ein Stück Land gegeben, das den Bewohnern Amtliche Bezeichnung: Freistaat Puerto Rico von Dr. Eduardo Ibarra, dem Präsidenten des Staatsoberhaupt: Barack H. Obama Chirurgenkollegs (Colegio de Médicos Ciruja- Regierungschef: Luis Fortuño nos), als Schenkung überlassen worden war. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Zum Jahresende lag gegen die Gemeinde je- Einwohner: 4 Mio. doch weiterhin ein bis zum 31. Dezember be- Lebenserwartung: 79 Jahre fristeter offizieller Räumungsbefehl vor, und Kindersterblichkeit (m/w): 9 / 8 pro 1000 sie hatten keinen ständigen Zugang zur Wasser- Lebendgeburten und Stromversorgung. Amnesty International forderte die Bundesbehörden auf, die Räu- Berichten zufolge misshandelten Polizei- mungsfrist in das Jahr 2011 hinein zu verlän- kräfte Studierende bei einer Demonstra- gern, um der Gemeinschaft ausreichend Zeit zu tion. Die Lebensbedingungen von Be- geben, auf dem neuen Land angemessene wohnern einer informellen Siedlung, für Unterkünfte zu errichten und den lokalen Be- die ein Räumungsbefehl der Regierung hörden die Möglichkeit einzuräumen, auf dem vorlag, gaben Anlass zur Besorgnis. Gelände für angemessene Versorgung mit Was- ser, sanitären Anlagen und, wo vorhanden, Exzessive Gewaltanwendung Strom zu sorgen. Im Mai 2010 gab es während eines zweimonati- gen Streiks von Studierenden in San Juan Mel- Amnesty International: Berichte dungen zu einer Reihe von Fällen exzessiver  Puerto Rico: Amnesty International calls for police restraint Gewaltanwendung durch Beamte der puerto- as student strike continues (AMR 47 / 001/ 2010) 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  ricanischen Polizei. Zu diesen Vorfällen gehörte Puerto Rico: Amnesty International calls for eviction notice der wahllose Einsatz von Schlagstöcken und for residents of Villas del Sol to be extended into 2011 (AMR 51/ 108/ 2010) Pfefferspray gegen gewaltfrei Protestierende auf 000835 einer Demonstration am 20. Mai beim Shera- ton-Hotel. In Videos ist zu sehen, wie Polizisten bei der Demonstration einen Taser (Elektro- schockwaffe) gegen einen Studenten einset- zen, während dieser von drei Polizeibeamten am Boden festgehalten wird. Ruanda Recht auf Wohnen Im November 2010 unterzeichnete die Ge- Amtliche Bezeichnung: Republik Ruanda meinde Villas de Sol in Toa Baja eine Vereinba- Staatsoberhaupt: Paul Kagame rung zur Gründung einer Landkooperative. Das Regierungschef: Bernard Makuza Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 10,3 Mio. Lebenserwartung: 51,1 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 167 / 143 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 70,3%

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im August 2010 schränkten die Behör-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht den die Rechte auf freie Meinungsäuße-

384 Ruanda rung und Vereinigungsfreiheit ein. Die afrika. Einige hochrangige Armeeoffiziere wur- Regierung verbot kritische Medien, und den festgenommen und ohne Kontakt zur Au- Herausgeber sahen sich zur Flucht aus ßenwelt in Haft gehalten. Andere flüchteten in Ruanda gezwungen. Menschenrechtsver- Nachbarländer. teidiger wurden eingeschüchtert. Es fan- Zwischen der Regierung und den Anhängern den keine gründlichen Untersuchungen von Laurent Nkunda, dem ehemaligen Anfüh- von Tötungsdelikten statt. Hochrangige rer der kongolesischen bewaffneten Gruppe Armeeoffiziere wurden inhaftiert, ohne Congrès National pour la Défense du Peuple dass man sie vor Gericht stellte. Im Jus- (CNDP), nahmen die Spannungen zu. Der im tizwesen gab es zwar einige Verbesserun- Januar 2009 inhaftierte Laurent Nkunda stand gen, dem standen jedoch Gesetze ge- in Ruanda weiterhin ohne Anklage oder Ge- genüber, die kritische Äußerungen unter richtsverfahren unter Hausarrest. Strafe stellten. Kein Land lieferte an Ru- Nach mehreren Granatenanschlägen wurden anda Personen aus, die im Verdacht stan- die Sicherheitsmaßnahmen in der Hauptstadt den, Völkermord begangen zu haben. Kigali verstärkt. Ruanda reagierte ablehnend auf eine UN-Da- Hintergrund tenerhebung über Menschenrechtsverletzun- Vor den Präsidentschaftswahlen im August gen in der Demokratischen Republik Kongo von wurden die Meinungs- und Vereinigungsfrei- 1993 bis 2003 und lenkte damit die Aufmerk- heit in starkem Maße unterdrückt und neu ge- samkeit auf frühere Verstöße der Ruandischen gründete Oppositionsparteien auf diese Weise Patriotischen Armee, die straffrei geblieben daran gehindert, eigene Kandidaten aufzustel- waren. len. Bei den Wahlen wurde Präsident Paul Ka- Internationale Geberländer zeigten sich ange- game mit 93% der Stimmen im Amt bestätigt. sichts der sich verschlechternden Menschen- In der Regierungspartei Ruandische Patrioti- rechtslage zunehmend besorgt. Frankreich, sche Front (Rwandan Patriotic Front – RPF) Spanien und die USA sowie Vertreter der EU kam es zunehmend zu Flügelkämpfen. Der und der UN verliehen ihrer Sorge vor den Wah- ehemalige Stabschef der ruandischen Armee, len öffentlich Ausdruck. Faustin Kayumba Nyamwasa, floh nach Süd- Recht auf freie Meinungsäußerung Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde 2010 noch stärker eingeschränkt als in den Vorjahren. Die Regierungspartei RPF reagierte im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen zuneh- mend gereizt auf Kritik.

Gesetze über »Völkermordideologie« und »Sektierertum« Die Behörden wandten nach wie vor sehr allge- mein und unklar formulierte Gesetze über »Völkermordideologie« und »Sektierertum« missbräuchlich an. Die Gesetze untersagen Hetzreden, stellen aber auch legitime Kritik an der Regierung unter Strafe. Im April teilte die Regierung mit, dass das Ge- setz über »Völkermordideologie« überarbeitet werde, und machte Andeutungen, dass mög- licherweise auch das Gesetz über »Sektierer-

Ruanda 385 tum« überprüft werde. Doch machte die Regie- schlags auf den früheren Stabschef der ruandi- rung weiterhin von beiden Gesetzen Gebrauch schen Armee, Faustin Kayumba Nyamwasa, und gab nicht an, für wann die Überarbeitung recherchiert, der wenige Tage zuvor im südafri- geplant sei. kanischen Johannesburg durch Schüsse  Der Vorsitzende der Oppositionspartei PS-Im- schwer verletzt worden war. In der Zeitung berakuri, Bernard Ntaganda, wurde im Juni Umuvugizi, für die er arbeitete, war zudem ein 2010 festgenommen und befand sich im De- Artikel erschienen, in dem die Vermutung geäu- zember noch immer in Haft. Ihm wurde u. a. ßert wurde, der ruandische Geheimdienst vorgeworfen, er habe mit kritischen Äußerun- könne an dem Anschlag auf Nyamwasa betei- gen über die Regierungspolitik ethnische Spal- ligt gewesen sein. Im Oktober wurden zwei tung betrieben. Männer wegen der Ermordung von Jean-Léo-  Im April und im Oktober 2010 wurde Victoire nard Rugambage schuldig gesprochen und zu Ingabire Umuhoza, die Vorsitzende der Partei lebenslanger Haft verurteilt. Die Verurteilten FDU-Inkingi, festgenommen. Die Oppositions- machten geltend, Jean-Léonard Rugambage partei bemühte sich um eine offizielle Zulas- habe während des Völkermords 1994 einen An- sung. Victoire Ingabire wurde u. a. Verbreitung gehörigen aus der Familie eines der Verurteil- von »Völkermordideologie« vorgeworfen. Die ten getötet. In Gacaca-Verfahren war er jedoch Anklagepunkte beruhten zum Teil auf ihrer öf- zuvor freigesprochen worden. fentlich geäußerten Forderung, die von der  Der Herausgeber der Zeitung Umuvugizi, RPF begangenen Kriegsverbrechen strafrecht- Jean-Bosco Gasasira, und der Herausgeber lich zu verfolgen. der Zeitung Umuseso, Didas Gasana, flüchte- ten im April bzw. im Mai 2010 aus Ruanda. Journalisten Beide hatten zuvor Drohungen erhalten. Medien, die Kritik an der Regierung übten, wur- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen den verboten. Die Regierung bediente sich da- Menschenrechtsverteidiger bei ordnungsrechtlicher Zwangsmaßnahmen, Menschenrechtsverteidiger erhielten erneut restriktiver Gesetze und Verleumdungsklagen. Drohungen, u. a. von Regierungsvertretern. 000835 Ab Juli 2010 setzte die Regierung Teile des Sie wandten auch weiterhin Selbstzensur an, 2009 verabschiedeten Mediengesetzes um, in um Konfrontationen mit den Behörden zu ver- dem u. a. der Straftatbestand Verleumdung ent- meiden. halten ist. Einige der führenden Herausgeber Die ruandische Regierung wies einen Mitar- und Journalisten flüchteten aus Ruanda, nach- beiter der Menschenrechtsorganisation Hu- dem sie bedroht und drangsaliert worden wa- man Rights Watch aus. Andere internationale ren. NGOs berichteten, dass ihre Tätigkeit immer  Der ruandische Medienrat (Media High stärker eingeschränkt werde. Hochrangige Re- Council), eine der Regierungspartei naheste- gierungsvertreter griffen in ihren Reden hende Regulierungsbehörde, belegte die Zei- Amnesty International und andere internatio- tungen Umuseso und Umuvugizi von April bis nale Menschenrechtsorganisationen an. Oktober mit einem Erscheinungsverbot. Es Auf einer Sitzung der Afrikanischen Kommis- handelte sich dabei um zwei Zeitungen priva- sion für Menschenrechte und Rechte der Völ- ter Eigentümer, die in der Sprache Kinyarwanda ker, die im Mai stattfand, kritisierte ein Vertreter erschienen. Zur Begründung hieß es, die Zei- der ruandischen Regierung ruandische Men- tungen hätten den Präsidenten beleidigt und schenrechtsorganisationen. Probleme in der Armee verursacht.  Der für die Zeitung Umuvugizi tätige Journa- Recht auf Vereinigungsfreiheit list Jean-Léonard Rugambage wurde am Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit ver- 24. Juni 2010 vor seinem Haus in Kigali er- hinderten die Teilnahme neu gegründeter Op-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schossen. Er hatte die Umstände eines An- positionsparteien an den Präsidentschaftswah-

386 Ruanda len. Die FDU-Inkingi und die Demokratische Die Frist, um Verfahren wegen Völkermord vor Grüne Partei erhielten keine Sicherheitsfrei- den Gacaca-Gerichten abzuschließen, wurde gabe für Versammlungen, die für eine Zulas- im September auf unbestimmte Zeit verlängert. sung erforderlich waren. Die PS-Imberakuri, die als einzige neue Partei eine Zulassung erhielt, »Verschwindenlassen« war von Abweichlern unterwandert und ent- Von März bis Mai »verschwanden« mindestens schied, bei den Wahlen nicht anzutreten. vier Männer. Einige von ihnen standen dem Oppositionspolitiker wurden schikaniert und CNDP-Flügel von Laurent Nkunda nahe oder bedroht. Untersuchungen der Drohungen hatten in der Vergangenheit Verbindungen zu blieben oberflächlich und zogen keine straf- bewaffneten Gruppen in der Demokratischen rechtlichen Konsequenzen nach sich. Republik Kongo. Ihr Verbleib war Ende 2010 weiterhin unbekannt. Bei mindestens einem Gewaltlose politische Gefangene von ihnen, Robert Ndengeye Urayeneza, Charles Ntakirutinka, ein ehemaliger Minister wurde vermutet, dass er Opfer des »Verschwin- der Regierung, saß im Zentralgefängnis von denlassens« geworden war und von der ruan- Kigali weiterhin eine zehnjährige Haftstrafe ab, dischen Armee in Gewahrsam gehalten wurde. die 2012 endet. Er war in einem unfairen Pro- zess für schuldig befunden worden, weil er zu Misshandlungen durch die Polizei »zivilem Ungehorsam« aufgerufen und mit Einige Parteimitglieder der PS-Imberakuri und »kriminellen Elementen« zusammengearbeitet der FDU-Inkingi, die im Juni und im Juli 2010 haben soll. festgenommen worden waren, wurden von Poli- zisten misshandelt. Sie erhielten Schläge und Justizwesen wurden an Mithäftlinge gefesselt, selbst wenn Das Personal der Zeugenschutzstellen wurde sie zur Toilette gingen. geschult und verbesserte die Aktenführung. Angesichts der eingeschränkten Meinungsfrei- Militärjustiz heit aufgrund der Gesetze über »Völkermord- Mehrere hochrangige Armeeoffiziere wurden ideologie« und »Sektierertum« gab es weiterhin festgenommen und ohne Anklageerhebung in Bedenken hinsichtlich der Aussagebereit- Gewahrsam gehalten. Sie durften keinen schaft von Zeugen. Rechtsbeistand in Anspruch nehmen und Im Oktober 2010 wurde ein Gesetz zur »le- standen monatelang unter Hausarrest oder be- benslangen Haftstrafe mit Sonderbedingun- fanden sich ohne Kontakt zur Außenwelt in Mi- gen« verkündet, die die Todesstrafe ersetzen litärgewahrsam. soll. Das Gesetz sieht vor, Gefangene bis zu 20  Der jüngere Bruder von Faustin Kayumba Jahre lang in Einzelzellen zu inhaftieren, was für Nyamwasa, Oberstleutnant Rugigana Ngabo, Häftlinge, deren Angehörige sie nicht besu- wurde im August 2010 unter dem Vorwurf fest- chen können oder wollen, anhaltende Isolati- genommen, die Sicherheit Ruandas zu ge- onshaft bedeuten könnte. Auch dürfen die Be- fährden. Er befand sich ohne Anklageerhebung troffenen nur in Gegenwart von Wachpersonal und ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft. mit ihrem Anwalt reden, wodurch ihr Recht auf Verteidigung bei Rechtsmittelverfahren ein- Internationale Rechtsprechung geschränkt ist und sie möglicherweise davon Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda abgehalten werden, Übergriffe anzuzeigen. Da Das Mandat des Internationalen Strafgerichts- Ruanda nicht die erforderlichen Kapazitäten hof für Ruanda (International Criminal Tribu- besaß, um Straftäter in Einzelzellen zu inhaftie- nal for Rwanda – ICTR) für die Bearbeitung aller ren, wurde die Strafe nicht angewandt. Verfahren der ersten Instanz wurde bis Ende Die Überfüllung der Haftanstalten stellte auch 2011 verlängert. Die Rechtsmittelverfahren sol- weiterhin ein Problem dar. len bis Ende 2012 abgeschlossen sein. Zehn

Ruanda 387 verdächtige Personen, gegen die der Gerichts- Straflosigkeit bei Verbrechen hof Haftbefehle erlassen hatte, befanden sich im Sinne des Völkerrechts weiterhin auf freiem Fuß. Der Ankläger des  Ein spanischer Ermittlungsrichter forderte ICTR beantragte im November erneut, Fälle an von Südafrika die Auslieferung von Faustin die ruandische Justiz zu übertragen. Ähnliche Kayumba Nyamwasa, der im Februar 2010 Anträge waren in der Vergangenheit von den aus Ruanda dorthin geflüchtet war. Gegen Verfahrenskammern abgelehnt worden, da die ihn war 2008 in Spanien Anklage erhoben wor- Angeklagten ihrer Ansicht nach in Ruanda den wegen Kriegsverbrechen und Verbre- nicht mit einem fairen Verfahren rechnen konn- chen gegen die Menschlichkeit, die 1994 be- ten. gangen wurden, sowie wegen der Ermordung von drei spanischen Entwicklungshelfern in Im Ausland lebende Völkermordverdächtige Ruanda im Jahr 1997. Auch Ruanda ver- In Belgien, Finnland, den Niederlanden, in langte seine Auslieferung, weil man ihm vor- der Schweiz, in Spanien und in den USA fan- warf, die Staatssicherheit gefährdet zu ha- den Verfahren gegen Personen statt, die ver- ben. Ende des Berichtsjahrs hatte Südafrika dächtigt wurden, am Völkermord beteiligt ge- noch auf keinen der Auslieferungsanträge wesen zu sein. Schweden hatte 2009 in einem reagiert. Fall der Auslieferung zugestimmt, doch war  Im September 2010 untersuchten französi- der Fall noch beim Europäischen Gerichtshof sche Richter in Ruanda den Abschuss eines für Menschenrechte anhängig. Kein Land lie- Flugzeugs im April 1994, der zum Tod des da- ferte des Völkermords verdächtigte Personen maligen ruandischen Präsidenten Juvénal Ha- an Ruanda aus, da zu befürchten war, dass byarimana geführt und den Völkermord ausge- die Verfahren dort nicht die Standards der Fair- löst hatte. Es war das erste Mal, dass sich ness erfüllen würden. Richter aus Frankreich im Rahmen ihrer Ermitt- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lungen in Ruanda aufhielten. Französische Internationaler Strafgerichtshof Richter hoben die internationalen Haftbefehle Am Oktober 2010 wurde Callixte Mbarushi- auf, die im November 2006 gegen neun Füh- 000835 mana, der Sekretär der bewaffneten Gruppe rungsmitglieder der RPF ausgestellt worden wa- Demokratische Kräfte für die Befreiung Ruan- ren. Sie sollen für den Abschuss des Flug- das (Forces Démocratiques de Libération du zeugs verantwortlich sein, bei dem auch franzö- Rwanda – FDLR), in Frankreich verhaftet. Der sische Staatsbürger ums Leben kamen. Statt- Internationale Strafgerichtshof in Den Haag dessen wurden gegen einige von ihnen Ermitt- hatte einen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt lungen eingeleitet. wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen ge- gen die Menschlichkeit, die 2009 im Osten der Unzureichende Strafverfolgung Demokratischen Republik Kongo begangen Im Vorfeld der Wahlen verübte Tötungsdelikte wurden. Frankreich hatte ihm 2003 den Flücht- wurden von den ruandischen Behörden nicht lingsstatus gewährt, und die französischen gründlich untersucht und strafrechtlich ver- Strafverfolgungsbehörden hatten es abgelehnt, folgt. zuvor erhobenen Vorwürfen nachzugehen, er  Der stellvertretende Vorsitzende der opposi- sei am Völkermord in Ruanda beteiligt gewe- tionellen Demokratischen Grünen Partei, An- sen. Im November ordnete ein Berufungsge- dré Kagwa Rwisereka, wurde am 14. Juli 2010 richt in Paris die Überstellung von Callixte Mba- in der Stadt Butare tot aufgefunden. Er war rushimana an den Internationalen Strafge- aus der RPF ausgetreten, um die Demokrati- richtshof an. sche Grüne Partei zu gründen, und hatte sich in den Wochen vor seiner Ermordung bezüglich seiner Sicherheit besorgt gezeigt. Die Polizei

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht nahm Ermittlungen auf, die Staatsanwaltschaft

388 Ruanda erklärte jedoch, dass die Beweise für eine An-  Safer to stay silent: The chilling effect of Rwanda’s laws on klage nicht ausreichten. »genocide ideology« and »sectarianism«  Denis Ntare Semadwinga wurde am 20. Juni (AFR 47/ /005/ 2010)  in seiner Wohnung in der Stadt Gisenyi ersto- Rwanda: Pre-election attacks on Rwandan politicians and chen. Vor seiner Ermordung war er von ruandi- journalists condemned, 4 August 2010  Rwanda: Opposition leader must receive fair trial (PRE schen Sicherheitsdiensten über sein Verhält- 01 / 139/ 2010) nis zu Laurent Nkunda verhört worden.  Rwanda: Intimidation of opposition parties must end (PRE 01 / 058/ 2010) Flüchtlinge und Asylsuchende Die Regierung übte auf Nachbarländer Druck aus, um die Rückführung von Flüchtlingen nach Ruanda zu erreichen. Der UN-Hochkom- missar für Flüchtlinge (UNHCR) gab bekannt, dass ruandischen Flüchtlingen, die sich im Rumänien Gebiet der Afrikanischen Großen Seen auf- hielten, Ende Dezember 2011 möglicher- Amtliche Bezeichnung: Rumänien weise der Flüchtlingsstatus aberkannt werde. Staatsoberhaupt: Traian Ba˘sescu Dies werde jedoch nur geschehen, wenn ge- Regierungschef: Emil Boc wisse messbare Fortschritte zu verzeichnen Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft wären. Einwohner: 21,2 Mio. Am 14. und 15. Juli 2010 wurden im Rahmen Lebenserwartung: 73,2 Jahre einer gemeinsamen Operation ugandischer Kindersterblichkeit (m/w): 20 / 15 pro 1000 und ruandischer Behörden ungefähr 1700 ab- Lebendgeburten gelehnte Asylbewerber und einige Flüchtlinge aus den im Südwesten von Uganda gelegenen Angehörige der Roma wurden nach wie Lagern Nakivale und Kyaka II gegen ihren Wil- vor Opfer ethnischer Stereotypisierung len repatriiert. Die Operation verstieß gegen das und Diskriminierung, was ihren Zugang internationale Flüchtlingsrecht und den inter- zum Bildungssystem, zu Wohnraum und nationalen Menschenrechtsschutz. Die betrof- zu Arbeitsplätzen betraf. Hochrangige fenen ruandischen Staatsbürger, darunter Regierungsvertreter machten offenbar einige anerkannte Flüchtlinge, wurden mit vor- rassistische und diskriminierende Be- gehaltener Waffe dazu gezwungen, Lastwagen merkungen über Roma, was NGOs zu zu besteigen. Dabei wurden mehrere Personen weiteren Protesten veranlasste. Der Euro- verletzt, darunter auch schwangere Frauen. päische Gerichtshof für Menschen- Mindestens ein Mann starb, nachdem er von einem Lkw gesprungen war.

Amnesty International: Missionen und Berichte  Delegierte von Amnesty International besuchten Ruanda im März und im September.  Rwanda: Politician charged, was not ill-treated (AFR 47/ / 002/ 2010)  Rwanda: End human rights clampdown before presidential elections (AFR 47/ / 003/ 2010)  Investigate murder of Rwandan journalist, Jean Léonard Ru- gambage (AFR 47/ /004/2010)  Completing the work of the International Criminal Tribunals for the former Yugoslavia and Rwanda (REG 01/005/2010)

Rumänien 389 rechte stellte fest, dass Rumänien gegen dungen zwischen Kriminalität und der Roma- das Verbot von Folter und anderen Miss- Gemeinschaft« und verwies auf eine »natürli- handlungen verstoßen hat. Trotz neuer che« Straffälligkeitsquote unter Angehörigen Beweise für die Verstrickung Rumä- der Roma. Auch der Präsident bezeichnete niens in das CIA-Programm für außeror- Roma bei seinem Besuch in Slowenien im No- dentliche Überstellungen und Geheim- vember als »Delinquenten« und sagte, sie seien gefängnisse bestritt die Regierung nach »schwer zu integrieren« und »arbeitsunwillig«. wie vor jegliche Beteiligung daran. Im Dezember 2010 brachte die Regierung eine Gesetzesvorlage ins Parlament ein, die vorsah, Hintergrund die offizielle Bezeichnung für die Minderheit der Am 19. Mai 2010 beteiligten sich etwa 40000 Roma in »T¸ igan« (Zigeuner) abzuändern. Menschen an der wohl größten Demonstration NGOs protestierten und verwiesen darauf, dass seit dem Sturz von Nicolae Ceaus¸escu im Jahr diese Bezeichnung negativ besetzt sei und die 1989. Neben Mitarbeitern des öffentlichen Gemeinschaft der Roma stigmatisiere. Dienstes, darunter Lehrer und Angestellte des Im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft ergab Gesundheitswesens, protestierten auch Rent- eine Meinungsumfrage des Rumänischen In- ner und Mütter gegen Sparmaßnahmen, auf die stituts für Evaluierung und Strategie zur Wahr- sich die Regierung, der Internationale Wäh- nehmung der Roma in der Öffentlichkeit im rungsfonds und die EU geeinigt hatten, um der Oktober, dass 67% der Rumänen in ihrer Fami- Wirtschaftskrise zu begegnen. Das Sparpro- lie kein Mitglied der Roma-Gemeinschaft ak- gramm sah vor, die Gehälter im öffentlichen zeptieren würden. Dienst um 25% zu kürzen, die Renten um Im August brachte der UN-Ausschuss für die 15 % zu senken, Vergünstigungen für Familien Beseitigung der Rassendiskriminierung seine abzubauen und Sozialleistungen zu reduzie- Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass Ange- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ren. Im Juli wurden mehrere Behörden, die mit hörige der Roma in Bezug auf ihren Zugang zu der Förderung von Chancengleichheit und guter Bildung, Wohnraum, Gesundheitsversor- dem Schutz gegen Diskriminierung betraut wa- gung und Arbeitsplätzen nach wie vor Opfer 000835 ren, von der Regierung verkleinert oder ganz rassistischer Stereotypisierung und Diskriminie- aufgelöst. Im August warnte der UN-Ausschuss rung wurden. Der Ausschuss kritisierte, dass für die Beseitigung der Rassendiskriminierung Rumänien es versäumt habe, die notwendigen davor, dass sich die Sparmaßnahmen negativ Gesetze zu erlassen, um frühere Verpflichtun- auf die Lage der schutzbedürftigsten Bevölke- gen im Hinblick auf die Situation der Roma in rungsgruppen auswirken könnten, und forderte der Praxis umzusetzen. Die NGO Decade Maßnahmen, um diese Gruppen vor den Aus- Watch kam im April zu der Einschätzung, dass wirkungen der Krise zu schützen. diese Untätigkeit auf fehlenden politischen Ein nicht genehmigter Protest von Polizeibe- Willen zurückzuführen sei. Die NGO Agent¸ia de amten gegen Gehaltskürzungen führte im Dezvoltare Comunitara˘ I˘mpreuna˘ hatte im Fe- September 2010 zum Rücktritt des Innenminis- bruar berichtet, dass die Umsetzung der natio- ters. Im Oktober überstand die Regierung zum nalen Roma-Strategie unzureichend sei, weil zweiten Mal innerhalb von vier Monaten ein die Finanzierung von Maßnahmen auf regiona- Misstrauensvotum. ler Ebene nicht gesichert sei. Außerdem gebe es keine Kriterien, anhand derer die beteiligten Diskriminierung von Angehörigen Organe überwacht werden könnten. der Roma Trotz Protesten von NGOs wurden Roma weiter- Recht auf Bildung hin Opfer negativer ethnischer Stereotypisie- Als Reaktion auf Beschwerden über die Aus- rung, auch in Äußerungen hochrangiger Politi- grenzung von Roma-Kindern in Schulen gab

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ker. So sprach der Außenminister von »Verbin- das Bildungsministerium im März 2010 eine in-

390 Rumänien terne Richtlinie heraus. Die für Schulauf- Nach Angaben lokaler NGOs hatten einige Fa- sichtsämter, Kindergärten, Schulleiter und Leh- milien bereits im Februar Räumungsbescheide rer bestimmte Richtlinie enthielt eine Reihe erhalten, aufgrund der Wetterbedingungen von Vorschriften, um die Ausgrenzung von Ro- hatte die Zwangsräumung jedoch nicht stattge- ma-Schülern im Bildungssystem zu verhin- funden. Dem Vernehmen nach war beabsich- dern und zu beseitigen. tigt, Einzelpersonen und Familien, die nicht aus  Im Mai 2010 bestätigte das Berufungsgericht Baia Mare stammten, an ihre ursprünglichen der Stadt Craiova die Entscheidung eines un- Wohnorte zurückzuschicken. tergeordneten Gerichts, das festgestellt hatte,  Am 17. Dezember 2010 wurden in der Stadt dass eine Roma-Schülerin von ihrer Lehrerin Cluj 56 Roma-Familien aus der Coastei Straße diskriminiert worden war. Das Berufungsgericht vertrieben. Ungefähr 40 Familien wurden in erhöhte das ihr zugesprochene Schmerzens- Wohneinheiten untergebracht, die nicht den geld von 360 auf 10000 Euro. Die Lehrerin hatte Kriterien für angemessenen Wohnraum ent- im Jahr 2007 eine Teilnahme des Mädchens sprachen. Die übrigen Familien wurden durch am Schulunterricht abgelehnt. Nachdem die die Zwangsräumung obdachlos. lokale Schulaufsicht eingegriffen hatte und lokale Medien öffentlichen Druck erzeugt hat- Folter und andere Misshandlungen ten, konnte das Mädchen einige Wochen spä- Obwohl das Strafgesetzbuch im Mai geändert ter wieder die Schule besuchen. worden war, herrschte weiterhin Besorgnis be- züglich der Umsetzung des Verbots von Folter Recht auf angemessenes Wohnen und anderen Misshandlungen, insbesondere Im August forderte der UN-Ausschuss für die deshalb, weil das Strafgesetzbuch kein Verbot Beseitigung der Rassendiskriminierung Ru- enthielt, Beweismittel zu verwenden, die unter mänien auf, Roma den Zugang zu Wohnraum Anwendung von Folter oder anderen Misshand- zu erleichtern und rechtswidrige Enteignun- lungen zustande gekommen waren. gen sowie Zwangsräumungen ohne angebote- Im August bemängelte der UN-Ausschuss für nen Ersatzwohnraum zu unterlassen. die Beseitigung der Rassendiskriminierung  Ungefähr 75 Roma, darunter Familien mit exzessive Gewaltanwendung und andere Miss- Kindern, die im Jahr 2004 von den Behörden handlungen durch Polizeikräfte gegenüber der Stadt Miercurea Ciuc zwangsumgesiedelt Minderheiten, insbesondere Roma. Lokale worden waren, lebten 2010 noch immer in NGOs äußerten ebenfalls Besorgnis, da nach mobilen Wohncontainern aus Metall in der wie vor Berichte über Folter und andere Miss- Nähe einer Kläranlage in einem Außenbezirk handlungen in der Haft eingingen und in eini- der Stadt. Die Container waren überbelegt und gen Fällen weiterhin ein Klima der Straflosigkeit die sanitären Anlagen vollkommen unzuläng- herrschte. lich, da nur vier Toilettenhäuschen für die  Im Juli 2010 urteilte der Europäische Ge- gesamte Gemeinschaft zur Verfügung stan- richtshof für Menschenrechte, dass Rumä- den. Obwohl die Stadtverwaltung einst versi- nien im Fall von Dragos¸ Ciupercescu, vertreten chert hatte, die Unterbringung in den Con- durch das Rumänische Helsinki-Komitee, ge- tainern sei nur eine Übergangslösung, hatten gen das Verbot von Folter und anderen Miss- die Behörden zum Jahresende noch immer handlungen verstoßen habe. Dragos¸ Ciuper- keine angemessene Alternative zur Verfügung cescu war im Jahr 2003 in der Untersuchungs- gestellt. haft Leibesvisitationen unterzogen worden, die  Am 10. Juni 2010 kündigte der Stellvertre- maskierte Gefängniswärter vornahmen. Er war tende Bürgermeister der Stadt Baia Mare an, zusammen mit 19 weiteren Gefangenen in man plane eine Zwangsräumung von ungefähr einer Neun-Bett-Zelle inhaftiert, in der jedem 200 Roma-Familien aus dem Stadtviertel Häftling nur 0,75 m² Raum zur Verfügung Craica und die Zerstörung ihrer Unterkünfte. stand.

Rumänien 391  Im Juni 2010 urteilte der Europäische Ge-  Romania: Stop forced eviction of Romani settlement in richtshof für Menschenrechte, dass Rumä- Craica, Baia Mare (EUR 39/002/2010) nien gegen das Folterverbot verstoßen habe.  Romania: Roma in Miercurea Ciuc continue to suffer viola- Außerdem habe das Land einen Todesfall tions of their right to adequate housing EUR (39/ 005/ 2010)  nicht wirksam untersucht und damit das Recht Open secret: Mounting evidence of Europe’s complicity in rendition and secret detention (EUR 01/023/ 2010) auf einen Rechtsbehelf verletzt. In dem Fall ging es um Gabriel Carabulea, einen Ange- hörigen der Roma, der im Mai 1996 im Polizei- gewahrsam gestorben war. Eine Untersuchung des Militärstaatsanwalts hatte 1998 festge- stellt, Gabriel Carabulea sei an einer Herz- erkrankung gestorben. Der Europäische Russland Gerichtshof kam jedoch zu dem Ergebnis, dass sein Tod durch Gewaltanwendung ver- Amtliche Bezeichnung: Russische Föderation ursacht wurde, die er nach seiner Festnahme Staatsoberhaupt: Dmitri Medwedew erlitten hatte. Außerdem deutete die Art der Regierungschef: Wladimir Putin Verletzungen nach Ansicht des Gerichts darauf Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft hin, dass sie ihm vorsätzlich zugefügt worden Einwohner: 140,4 Mio. seien. Lebenserwartung: 67,2 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 18 / 14 pro 1000 Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Lebendgeburten Im Februar 2010 kam eine UN-Studie über ge- Alphabetisierungsrate: 99,5% heime Inhaftierungen zu dem Schluss, dass ein Flugzeug, das im Rahmen des CIA-Pro- Menschenrechtsverteidiger und unab- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gramms für außerordentliche Überstellungen hängige Journalisten wurden weiterhin eingesetzt wurde, am 22. September 2003 von bedroht, schikaniert und tätlich angegrif- Polen nach Rumänien geflogen war. Die rumä- fen. Untersuchungen dieser Fälle liefer- 000835 nischen Behörden räumten daraufhin ein, ten kaum konkrete Ergebnisse. Die mehrere von der CIA gemietete Flugzeuge Rechte auf Versammlungsfreiheit und seien in Rumänien zwischengelandet. Sie be- freie Meinungsäußerung wurden nach stritten jedoch, dass diese Flugzeuge Gefan- wie vor beeinträchtigt. So wurden De- gene transportiert hätten oder dass in Rumä- monstrationen verboten oder gewaltsam nien eine geheime Haftanstalt existiert habe. aufgelöst und zahlreiche Personen auf Im Juli 2010 veröffentlichte die polnische der Grundlage des Gesetzes zur Bekämp- Grenzschutzbehörde Informationen über den fung von Extremismus strafrechtlich am 22. September 2003 durchgeführten Flug, verfolgt. Die Sicherheitslage im Nordkau- wonach in Polen Passagiere aufgenommen kasus war noch immer instabil. Es gab wurden, bevor das Flugzeug nach Rumänien in dieser Region weiterhin Angriffe be- flog. Die rumänische Regierung bestritt jedoch waffneter Gruppen und eine hohe Zahl weiterhin jegliche Beteiligung am CIA-Pro- von Menschenrechtsverletzungen wie gramm für außerordentliche Überstellungen und Geheimgefängnisse.

Amnesty International: Missionen und Berichte  Delegierte von Amnesty International besuchten Rumänien in den Monaten August und Dezember.  Treated like waste: Roma homes destroyed, and health at risk, in Romania (EUR 39/001/2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

392 Russland Tötungen, Folterungen und Fälle von Die Menschenrechtsverletzungen, die Ange- »Verschwindenlassen«. Aus ganz Russ- hörige der russischen Streitkräfte während des land wurden 2010 zahlreiche Fälle von bewaffneten Konflikts mit Georgien im August Folter und anderen Misshandlungen 2008 begangen hatten, wurden von den russi- durch Angehörige der Strafverfolgungs- schen Behörden nicht näher untersucht. Russ- behörden gemeldet. land und die De-facto-Behörden Südossetiens kooperierten weder bei den Untersuchungen Hintergrund des Europarats zum Schicksal vermisster Per- Ende 2010 schien es, als habe Russland die sonen, noch gewährten sie der Überwachungs- Wirtschaftskrise ohne größere soziale, wirt- mission der Europäischen Union (EU Monito- schaftliche und politische Unruhen überstan- ring Mission) Zugang zu den Konfliktgebieten in den. In den Beziehungen zu einer Reihe von Südossetien. Nachbarstaaten sowie zu westlichen Ländern waren Verbesserungen zu verzeichnen. Folter und andere Misshandlungen Die russische Regierung versicherte, sie Es gab eine anhaltend hohe Zahl von Berichten werde sich weiterhin um die Modernisierung über Folter und andere Misshandlungen des Landes bemühen, u. a. um mehr Rechts- durch Angehörige der Strafverfolgungsbehör- staatlichkeit und um eine Justizreform. Es gab den, die offenbar häufig dazu dienten, »Ge- jedoch Befürchtungen, dass diese Vorhaben ständnisse« oder Geld zu erpressen. Korruption durch die weit verbreitete Korruption und die sowie Absprachen zwischen Polizei, Ermitt- mangelhafte Gewaltenteilung behindert werden lungsbeamten und der Staatsanwaltschaft führ- könnten. ten nach allgemeiner Einschätzung dazu, dass Im Berichtsjahr gab es im ganzen Land zahl- Ermittlungen nicht zum Ziel führten und Straf- reiche Aktionen verschiedener gesellschaftli- verfolgungsmaßnahmen behindert wurden. cher Bewegungen, die – häufig auf lokaler Häftlinge berichteten häufig von Disziplinarstra- Ebene – gegen Verletzungen der bürgerlichen fen, die ohne rechtliche Grundlage verhängt und politischen Rechte protestierten, sich für würden, und dass ihnen dringend benötigte Umweltanliegen einsetzten oder auf drän- medizinische Versorgung verweigert werde. gende soziale Probleme aufmerksam machten.  Am Abend des 31. August 2010 hielten Poli- Die Proteste in Moskau, St. Petersburg und zeibeamte in dem Dorf Kstovo (Region Nischni anderen Orten verliefen meist friedlich. Einige Nowgorod) den 17-jährigen Nikita Kaftasyev nicht genehmigte Demonstrationen wurden al- und einen Freund auf der Straße an. Nach An- lerdings von der Polizei mit exzessiver Gewalt- gaben von Kaftasyev wurden er und sein anwendung aufgelöst. Freund von den Polizisten geschlagen. Die Be- Es herrschte Besorgnis über die politisch sehr amten hielten die beiden über Nacht in der Po- einseitige Berichterstattung der Rundfunk- lizeistation fest und schlugen sie dort weiter. und Fernsehstationen sowie der Printmedien. Nikita Kaftasyev erlitt schwere Verletzungen an In den elektronischen Medien herrschte dage- den Genitalien. Den Angaben zufolge brach- gen mehr Pluralismus. Digitale Videos und so- ten Beamte ihn am nächsten Morgen nach ziale Netzwerke im Internet wurden kreativ Hause und drängten seine Mutter zur Unter- eingesetzt, um Informationen über Menschen- zeichnung einer Erklärung, mit der sie versi- rechtsverletzungen zu verbreiten und zum ge- cherte, dass sie keine Beschwerden gegen die sellschaftlichen Engagement aufzurufen. Die Polizei erheben werde. staatlichen Medien, vor allem das Fernsehen, wurden häufig dafür missbraucht, Oppositions- Justizsystem politiker, führende Vertreter benachbarter Die russische Regierung betrachtete eine Re- Staaten und zivilgesellschaftliche Aktivisten zu form des Justizwesens weiterhin als vorrangig. diskreditieren. Die eingeleiteten Reformen blieben jedoch

Russland 393 bisher Stückwerk und konnten nur sehr be- wurde, verstärkten sich die Bedenken hin- grenzt zur Beseitigung der grundlegenden sichtlich der Unabhängigkeit der Richter und strukturellen Mängel beitragen, die vor allem Staatsanwälte. Die Anklage erschien politisch auf die verbreitete Korruption und die politische motiviert. Am 30. Dezember 2010 wurden Einflussnahme auf die Justiz zurückzuführen die beiden Männer zu jeweils insgesamt 14 Jah- waren. ren Haft verurteilt. Das Urteil erging nach Nachdem es von allen Seiten, selbst vonsei- einem unfairen Prozess, der von zahlreichen ten der Strafverfolgungsbehörden, Kritik an Verfahrensfehlern gekennzeichnet war. So Polizeiübergriffen gegeben hatte, legte die Re- wurden u. a. Zeugen schikaniert und wich- gierung einen Entwurf für ein neues Polizeige- tige Zeugen der Verteidigung vom Gericht setz vor. Menschenrechtsorganisationen be- nicht zugelassen. Unter Berücksichtigung mängelten, der Vorschlag enthalte keine wirk- der bereits in Haft verbrachten Zeit müssten samen Mechanismen, um Polizeibeamte für die beiden Männer 2017 wieder freikom- Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen men. zur Verantwortung zu ziehen. Um die Unabhängigkeit der Strafermittlungen Recht auf Versammlungsfreiheit zu verbessern, kündigte die russische Regie- Auch im Jahr 2010 gingen die Sicherheitskräfte rung im September 2010 an, das Ermittlungsko- hart gegen Gruppen gesellschaftlich engagier- mitee bei der Staatsanwaltschaft werde ab ter Bürger vor, insbesondere wenn sie kontro- 2011 als unabhängiges Ermittlungsorgan agie- verse Themen ansprachen, die Öffentlichkeit ren und der Kontrolle der Generalstaatsan- für ihr Anliegen gewinnen konnten oder finan- waltschaft entzogen. Es sei künftig direkt dem zielle Unterstützung aus dem Ausland erhiel- Präsidenten verantwortlich. Das Komitee war ten. Die Organisatoren von Aktionen wurden oft 2007 geschaffen worden, um eine Trennung von der Polizei und von Mitgliedern regie- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen zwischen Ermittlungs- und Anklagefunktion si- rungsfreundlicher Gruppen eingeschüchtert cherzustellen. und schikaniert. In Moskau und St. Petersburg Nachdem es mehrere Todesfälle im Gewahr- wurden mehrere friedliche Demonstrationen 000835 sam der Sicherheitskräfte gegeben hatte, die gewaltsam aufgelöst. Dutzende von Demons- auf unzureichende ärztliche Versorgung zu- trierenden wurden von der Polizei für mehrere rückzuführen gewesen waren und große Be- Stunden in Gewahrsam genommen und einige sorgnis ausgelöst hatten, wurde das Gesetz zu mehreren Tagen Haft verurteilt, nur weil sie zum Vollzug der Untersuchungshaft geändert. ihr Recht auf Versammlungsfreiheit ausgeübt Bei Wirtschaftsstraftaten wurde die Anordnung hatten. von Untersuchungshaft eingeschränkt und Im Oktober 2010 wurde den Aktivisten der Hausarrest als Strafe eingeführt. Im Fall des An- Bewegung »Strategie 31« endlich ermöglicht, walts Sergej Magnitsky, der im November auf dem Triumphalnaja-Platz in der Haupt- 2009 im Gewahrsam der Sicherheitskräfte zu stadt Moskau eine friedliche Demonstration Tode gekommen war, gelangte die General- für das Recht auf Versammlungsfreiheit staatsanwaltschaft zu dem Schluss, dass sein in Russland zu veranstalten. Die Bewegung Tod auf mangelnde ärztliche Behandlung zu- hatte seit Mai 2009 schon mindestens zehn rückzuführen sei. Eine Anklage wurde jedoch Mal eine Versammlung auf diesem Platz an- nicht erhoben. gemeldet, die jedes Mal abgelehnt worden Während des zweiten Verfahrens gegen den war. früheren Mehrheitsaktionär des Erdölkonzerns Nach breiten öffentlichen Protesten wurden YUKOS, Michail Chodorkowski, und seinen zwar die Arbeiten für den geplanten Bau einer ehemaligen Geschäftspartner Platon Lebe- Schnellstraße durch den Chimki-Wald bei Mos- dew, in dem ihnen u. a. die Unterschlagung kau vorübergehend eingestellt, nicht aber die

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht von Erdöl im YUKOS-Konzern zur Last gelegt Einschüchterungsmaßnahmen und Schikanen

394 Russland gegen die Organisatoren der Proteste. Im No- Unpräzise Formulierungen im Gesetz zur Be- vember schlugen Unbekannte Konstantin Feti- kämpfung von Extremismus führten immer sow, der friedlich gegen das Autobahn-Projekt wieder zur Einschränkung der Meinungsfrei- protestiert hatte, brutal zusammen und verletz- heit. ten ihn lebensgefährlich.  Im Januar 2010 bestätigte der Oberste Ge- Im Oktober 2010 erklärte ein Gericht in St. Pe- richtshof von Tatarstan das Urteil gegen Irek tersburg in einem aufsehenerregenden Urteil Murtazin, den ehemaligen Pressesprecher des das Verbot einer Parade von Homosexuellen Präsidenten von Tatarstan. Er war 2009 wegen durch den Stadtrat für rechtswidrig. Noch im Verleumdung der Regierung zu 18 Monaten selben Monat entschied der Europäische Ge- Haft in einer offenen Strafkolonie verurteilt richtshof für Menschenrechte (EGMR), die worden, weil er in einem Buch die Behörden Moskauer Stadtverwaltung habe mit dem Ver- von Tatarstan kritisiert hatte. bot der Paraden in den Jahren 2006, 2007  Im Juli 2010 wurden Andrej Yerofev und Yuri und 2008 gegen das Recht auf friedliche Ver- Samudurov wegen »Anstiftung zum Hass ge- sammlung verstoßen und die Organisatoren gen die orthodoxe Kirche« schuldig gesprochen wegen ihrer sexuellen Orientierung diskrimi- und zu Geldstrafen verurteilt. Sie hatten 2007 niert. eine Ausstellung mit dem Titel »Verbotene Kunst 2006« organisiert, bei der zeitgenössi- Recht auf freie Meinungsäußerung sche Kunstwerke gezeigt wurden, die wegen Journalisten, Umweltaktivisten, Oppositionelle ihres umstrittenen Inhalts aus anderen Aus- und Menschenrechtsverteidiger waren Schi- stellungen und Museen entfernt worden waren. kanen, Einschüchterungsversuchen und kör-  Gegen Ende des Jahres 2010 wurde in der perlichen Übergriffen ausgesetzt. Die Äuße- Republik Altai ein Zeuge Jehovas wegen »An- rungen der Behörden zum Thema Meinungs- stiftung zu religiösem Hass« vor Gericht gestellt, freiheit waren nach wie vor widersprüchlich. weil er Flugblätter seiner Religionsgemein- Zwar versprachen sie, die Tätigkeit von Journa- schaft verteilt hatte. listen und zivilgesellschaftlichen Gruppen stärker zu respektieren und für ihren Schutz zu Menschenrechtsverteidiger sorgen, starteten zugleich aber Verleum- Für Menschenrechtsverteidiger und unabhän- dungskampagnen gegen prominente Regie- gige NGOs war die Situation weiterhin schwie- rungskritiker oder taten zumindest nichts, um rig. Auch 2010 waren sie Drohungen, körperli- solche Kampagnen zu unterbinden. chen Übergriffen und bürokratischen Schika-  Im November 2010 wurde der Journalist Oleg nen ausgesetzt. Außerdem wurden engagierte Kaschin in Moskau Opfer eines brutalen Über- Bürger nach wie vor durch öffentliche Äuße- falls. Der Vorfall löste breite Entrüstung aus und rungen angegriffen, in denen ihr Charakter und veranlasste Präsident Medwedew zu dem Ver- ihre Integrität in Frage gestellt wurden. Ziel der sprechen, man werde ihn gründlich untersu- Angriffe war es, ihre Arbeit zu behindern und chen. ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit zu Die Untersuchungen von Überfällen sowie diskreditieren. von Morden an bekannten Menschenrechts-  Im April erklärte das Ermittlungskomitee bei verteidigern und Journalisten führten bislang der Staatsanwaltschaft, die Mörder der tsche- kaum zu Ergebnissen. Im Zusammenhang mit tschenischen Menschenrechtsverteidigerin der Ermordung der Journalistin und Menschen- Natalja Estemirowa, die am 15. Juli 2009 er- rechtsverteidigerin Anna Politkowskaja im Ok- schossen worden war, seien nunmehr identi- tober 2006 verdächtigte das Ermittlungskomi- fiziert worden. An der Erklärung, es seien Mit- tee bei der Staatsanwaltschaft nach wie vor die glieder einer bewaffneten Gruppe gewesen, Männer, die bereits wegen Mangels an Bewei- wurden erhebliche Zweifel angemeldet. sen freigesprochen worden waren.  Im Mai wurde der Menschenrechtsverteidi-

Russland 395 ger Aleksei Sokolov wegen Diebstahls und der Unsichere Lage im Nordkaukasus Beteiligung an einem Raubüberfall zu fünf Jah- Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war wei- ren Freiheitsentzug verurteilt. Berichten zu- ter instabil. Die Gewalt beschränkte sich auch folge war das Verfahren gegen ihn unfair. Im 2010 nicht auf Tschetschenien, sondern betraf August wurde das Strafmaß auf drei Jahre ver- auf die angrenzenden Regionen Dagestan, kürzt. Zur Verbüßung der Strafe verlegte man Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Nord- Aleksei Sokolov aus seiner Heimatregion ossetien. Die Behörden räumten öffentlich ein, Swerdlowsk nach Sibirien in die Region Krasno- dass ihre Maßnahmen zur Bekämpfung der jarsk. Auf der Fahrt dorthin soll er geschlagen bewaffneten Gewalt keine Wirkung zeigten. und misshandelt worden sein. Seine Freunde Zahlreiche Angehörige der Strafverfolgungs- und Kollegen vermuteten, dass die Anklage organe wurden Opfer von Überfällen bewaff- gegen ihn konstruiert wurde, um ihn davon ab- neter Gruppen, die außerdem Selbstmord- zuhalten, sich für den Schutz von Häftlingen attentate ausführten, die sich wahllos gegen einzusetzen. die Zivilbevölkerung richteten. Im September  Im September begann das Strafverfahren ge- kamen Berichten zufolge in Wladikawkas in gen den Leiter des Menschenrechtszentrums der Republik Nordossetien-Alanien durch eine Memorial, Oleg Orlow. Gegen ihn war aufgrund Autobombe mindestens 17 Menschen zu von Bemerkungen zur Verantwortung des Tode, mehr als 100 wurden verletzt. tschetschenischen Präsidenten für die Ermor- Im gesamten Nordkaukasus sollen Beamte dung von Natalja Estemirowa im Juli 2009 An- mit Polizeibefugnissen an Menschenrechts- klage wegen Verleumdung erhoben worden. verletzungen beteiligt gewesen sein. Es wurden ihnen widerrechtliche Inhaftierungen und Fol- Rassismus ter vorgeworfen sowie in einigen Fällen auch die Rassistisch motivierte Gewalt war auch 2010 ein außergerichtliche Hinrichtung mutmaßlicher 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ernstes Problem. Nach vorläufigen Daten der Mitglieder bewaffneter Gruppen. Da es keine NGO Sowa-Zentrum für Information und Ana- wirksamen Untersuchungen dieser Men- lyse forderte sie im Berichtsjahr 37 Todesopfer. schenrechtsverletzungen gab, wurden die Täter 000835 Im April wurde der Moskauer Richter Eduard auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Jour- Tschuwaschow, der mehrere rassistisch moti- nalisten und Menschenrechtsverteidiger, die vierte Gewalttäter zu langen Gefängnisstrafen darüber berichteten, wurden häufig einge- verurteilt hatte, vor seiner Haustür erschos- schüchtert und schikaniert. sen. Berichten zufolge waren die Täter Mitglie- Im Juni befasste sich die parlamentarische der einer extremistischen Gruppe. Im Oktober Versammlung des Europarats mit der Wirk- wurde der 22-jährige Vasilii Krivets wegen der samkeit von rechtlichen Schritten gegen Men- Ermordung von 15 Personen nicht-slawischen schenrechtsverletzungen im Nordkaukasus. Aussehens zu einer lebenslangen Gefängnis- Die Versammlung forderte die russischen Be- strafe verurteilt. Die Untersuchungshaft der hörden auf, die Entscheidungen des EGMR beiden Personen, die nach der Ermordung umzusetzen und den Kampf gegen Terrorismus des Rechtsanwalts Stanislaw Markelow und und bewaffnete Gruppen nicht mit rechtswid- der Journalistin Anastasia Baburowa im Januar rigen Mitteln zu führen. 2009 noch im gleichen Jahr als Tatverdächtige festgenommen worden waren, wurde bis Ende Tschetschenien 2010 verlängert. Sie sollen einer rechtsextre- Die Angehörigen mutmaßlicher bewaffneter men Gruppe angehören und Stanislaw Marke- Kämpfer erklärten, sie seien noch immer Re- low ermordet haben, weil er die Familie eines pressalien seitens der Staatsorgane ausgesetzt. antifaschistischen Aktivisten vertreten hatte. Journalisten und zivilgesellschaftliche Organi- sationen wurden von den Behörden streng

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht überwacht und eingeschüchtert. Regierungs-

396 Russland vertreter verweigerten die Zusammenarbeit mit Opfer von Schikanen und körperlichen Atta- den Ermittlungsorganen und behinderten so cken. die Untersuchung von Foltervorwürfen, wider-  Im Juni wurde die Anwältin Sapiyat Magome- rechtlichen Inhaftierungen und Fällen von dova Berichten zufolge auf der Polizeiwache »Verschwindenlassen«. von Chassawjurt von Polizeibeamten geschla-  Im Februar 2010 ermordeten Berichten zu- gen, als sie dort einen Mandanten besuchen folge Angehörige der Strafverfolgungsorgane wollte. Später wurde ein Strafverfahren wegen mindestens vier tschetschenische Zivilperso- Beamtenbeleidigung gegen sie eingeleitet. nen, die an der Grenze zwischen Tschetsche-  Im Juli wurde eine weitere Anwältin, Dzhami- nien und Inguschetien wilden Knoblauch lya Tagirova, Berichten zufolge in der Polizei- pflückten. Die Behörden behaupteten, im station der Hauptstadt Machatschkala von Zuge einer Operation in einem abgeriegelten einem Beamten körperlich attackiert, als sie Gebiet seien bewaffnete Kämpfer getötet wor- die fehlerhafte Darstellung der Angaben ihres den. Doch die Überlebenden aus der Gruppe Mandanten im Protokoll monierte. der Knoblauchsammler stellten die Ereignisse Zwei weitere Anwältinnen aus Dagestan sollen anders dar. Mindestens ein Opfer wurde mit ebenfalls bei der Wahrnehmung ihrer berufli- einem Messer getötet, andere wurden aus chen Aufgaben von Beamten mit Polizeibefug- kürzester Entfernung erschossen. nissen angegriffen worden sein.  Im April 2010 kam Islam Umarpashaev aus  Am 3. Juni wurde Rasil Mamedrizaev vom Grosny wieder frei, nachdem er vier Monate Obersten Gerichtshof von Dagestan wegen zuvor vermutlich von Angehörigen der Sicher- des Mordes an Farid Babajew, dem regionalen heitskräfte entführt worden war. Er war seit De- Vorsitzenden der liberalen Jabloko-Partei, zu zember 2009 an einem unbekannten Ort, an einer 15-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Fa- einen Heizkörper angekettet, festgehalten rid Babajew hatte auf zahlreiche Menschen- worden. Eine Straftat wurde ihm nicht zur Last rechtsverletzungen in Dagestan hingewiesen gelegt. Seine Angehörigen reichten wegen sei- und für die Wahlen zum russischen Parlament ner rechtswidrigen Inhaftierung Beschwerden kandidiert. Er war im November 2007 vor seiner bei der Staatsanwaltschaft und vor dem EGMR Wohnung in Machatschkala niedergeschos- ein. Auf Islam Umarpashaev, der nach seiner sen worden. Freilassung untertauchte, und auf seine Fami-  Im Juli verhafteten Polizisten den 14-jährigen lie wurde starker Druck ausgeübt, damit sie ihre Makhmud Akhmedov. Seinen Angaben zu- Beschwerden zurückzog. folge wurde er über Nacht im Polizeigewahrsam Es war eine zunehmende Einschränkung des festgehalten und dort gefoltert und misshan- Rechts auf freie Meinungsäußerung für tsche- delt. Er sollte gestehen, dass er einen elektri- tschenische Frauen festzustellen. Mehreren schen Bohrer gestohlen habe. In diesem Fall Berichten zufolge wurden Frauen, offenbar wurde ein Strafverfahren eröffnet, und im De- weil sie kein Kopftuch trugen, mit Paintball- zember wurden vier Polizeibeamte unter An- Waffen beschossen. klage gestellt.

Dagestan Inguschetien Nach offiziellen Angaben stieg die Zahl der Obwohl sich der Präsident von Inguschetien Überfälle auf Polizisten und Regierungsvertre- um einen Dialog mit unabhängigen Men- ter im Jahr 2010 um 20%. Russische Men- schenrechtsorganisationen bemühte, kam es schenrechtsorganisationen berichteten, die immer wieder zu schweren Menschenrechts- Zahl der willkürlichen Inhaftierungen und der verletzungen. Journalisten und Menschen- Fälle von »Verschwindenlassen« habe zuge- rechtsverteidiger mussten auch 2010 weiter nommen. Rechtsanwälte, Journalisten und mit Drohungen und körperlichen Angriffen Menschenrechtsverteidiger wurden vermehrt rechnen.

Russland 397  Im Juni wurden die beiden Brüder Beslan und Adam Tsechoev im Haus ihrer Familie von Salomonen einer Gruppe maskierter Polizeibeamter festge- nommen und zur Bezirkspolizeiwache der Amtliche Bezeichnung: Salomonen Stadt Malgobek gebracht. Dort hielt man sie Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten sechs Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt durch Generalgouverneur Sir Frank Kabui fest und misshandelte sie. Beslan Tsechoev be- Regierungschef: Danny Philip (löste im August fand sich Ende 2010 noch immer in Haft. Ob- Derek Sikua im Amt ab) wohl das Ausmaß seiner Verletzungen, u. a. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft durch den Menschenrechtsbeauftragten der Einwohner: 0,5 Mio. Republik Inguschetien, gut dokumentiert Lebenserwartung: 67 Jahre wurde, weigerte sich die Staatsanwaltschaft, Kindersterblichkeit (m/w): 56 / 57 pro 1000 Ermittlungen einzuleiten. Lebendgeburten  Im Juli sollen Mustafa Mutsolgov und Vakha Alphabetisierungsrate: 76,6% Sapraliev bei einer Autofahrt Opfer einer au- ßergerichtlichen Hinrichtung durch Beamte mit Gewalt gegen Frauen und Mädchen war Polizeibefugnissen geworden sein. Die Beam- auch im Jahr 2010 weit verbreitet. Die ten sollen sie aus dem Wagen geholt und ihnen Maßnahmen, mit denen die Regierung Handschellen angelegt haben, ehe sie die bei- dieses Problem zu bekämpfen ver- den Männer aus kürzester Entfernung erschos- suchte, zeigten wenig Wirkung. In den sen. Im August sollen maskierte Beamte den informellen Siedlungen der Hauptstadt Vater von Mustafa Mutsolgov, Alikhan Mutsol- Honiara lebten noch immer viele Men- gov, mit Schlägen misshandelt und Mustafas schen ohne Zugang zu sauberem Trink- 15-jährigen Bruder Magomed entführt haben. wasser und sanitären Einrichtungen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Durch Folter und Misshandlung sollte der Junge zu der Erklärung gezwungen werden, Gewalt gegen Frauen und Mädchen dass sein älterer Bruder in illegale Aktivitäten Auch 2010 kam es zu tätlichen Angriffen 000835 verwickelt gewesen sei. Die Familie hatte Ende gegen Frauen bis hin zu Tötungen; die Täter des Jahres von der Staatsanwaltschaft noch mussten nach wie vor nicht mit Bestrafung keine Bestätigung erhalten, dass Ermittlungen rechnen. Überlebende berichteten nach sol- zu ihren Beschwerden eingeleitet wurden. chen Übergriffen, die öffentliche Rechtshilfe- stelle (Public Solicitors Office) hätte die Vertre- Amnesty International: Mission und Bericht tung vor Gericht zum Erwirken einer einstweili-  Eine Delegation von Amnesty International besuchte gen Verfügung gegen den Täter verweigert, im November Inguschetien.  Russian Federation: Briefing to the UN Committee on the Elimination of Discrimination against Women (EUR 46/022/ 2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

398 Salomonen wenn keine sichtbaren Verletzungen vorhanden nen. Manchen Familien blieb kaum eine an- gewesen wären. dere Möglichkeit, als verschmutztes Flusswas- Im März wurde in der Westprovinz eine Frau ser zum Waschen, Baden und Trinken zu ver- von ihrem Lebensgefährten getötet. Eine an- wenden. In anderen Siedlungen an der Peri- dere Frau, die von ihrem Mann geschlagen und pherie von Honiara mussten sich in der Regel mit einem Messer attackiert worden war und fünf bis sechs Haushalte eine oft sehr unhy- noch sichtbare Verletzungen aufwies, berich- gienische Toilette teilen. tete wenige Tage später bei einer Veranstal- tung zum Internationalen Tag der Frau von ihrer Todesstrafe Misshandlung. Sie war die erste Überlebende Im Dezember 2010 enthielten sich die Salomo- eines solchen Übergriffs, die öffentlich darüber nen bei der Abstimmung über ein weltweites sprach, und trug so, insbesondere bei den Be- Hinrichtungsmoratorium in der UN-Generalver- hörden, zur Sensibilisierung für das Thema bei. sammlung der Stimme, obwohl das Land die Gleichfalls im März brachte die Regierung ein Todesstrafe für alle Straftaten abgeschafft hat. nationales Maßnahmenbündel zur Gleichstel- lungspolitik auf den Weg, mit Plänen zur Be- Amnesty International: Mission kämpfung der geschlechtsspezifischen Ge-  Im August besuchte ein Delegierter von Amnesty Internatio- walt. Sie umfassten die Überprüfung aller Ge- nal das Land. setze zum Themenbereich Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die Erweiterung der Ka- pazitäten der Polizei, um in Fällen von familiä- rer Gewalt Ermittlungen durchführen und die Strafverfolgung der Täter sicherstellen zu kön- nen, sowie den Ausbau der Unterstützungsan- gebote für die Überlebenden solcher Gewalt- Saudi-Arabien akte in Form von Beratungsdiensten und von Frauenhäusern, in denen sie Zuflucht finden. Amtliche Bezeichnung: Königreich Saudi-Arabien Darüber hinaus richtete die Regierung eine Ar- Staats- und Regierungschef: beitsgruppe zur Prüfung rechtlicher Reformen König Abdullah Bin Abdul Aziz al-Saud ein, mit deren Hilfe die Gewalt gegen Frauen Todesstrafe: nicht abgeschafft besser bekämpft werden kann. Einwohner: 26,2 Mio.  Im August 2010 wurde im Zentrum von Ho- Lebenserwartung: 73,3 Jahre niara eine Frau von ihrem Lebensgefährten at- Kindersterblichkeit (m/w): 26 / 17 pro 1000 tackiert; die am Tatort anwesenden Polizisten Lebendgeburten hielten den Täter nicht von seinem gewalttäti- Alphabetisierungsrate: 85,5% gen Vorgehen ab und nahmen ihn auch nicht fest. Die Behörden inhaftierten 2010 mehr als 100 Personen unter Berufung auf Si- Recht auf Wohnen – fehlender Zugang cherheitsbelange. Tausende Menschen, zu Wasser und sanitären Einrichtungen die in den vergangenen Jahren aus Si- In Honiara lebten weiter Tausende von Men- cherheitsgründen festgenommen worden schen in informellen Siedlungen ohne Zugang waren, befanden sich noch immer in zu sauberem Trinkwasser und sanitären Ein- Haft, unter ihnen auch gewaltlose politi- richtungen. sche Gefangene. Ihre Rechtslage und In den Siedlungen Kobito 1, 2, 3 und 4 muss- ihre Haftbedingungen blieben im Dun- ten viele Familien einen Fußmarsch von über keln. Mindestens zwei Häftlinge starben 1 km zurücklegen, um Trinkwasser aus der öf- in Gewahrsam, möglicherweise infolge fentlichen Wasserleitung entnehmen zu kön- von Folter. Es kamen neue Informatio-

Saudi-Arabien 399 nen über Foltermethoden und andere teme anderer Länder in sich vereine. Dazu ge- Misshandlungen gegen Häftlinge, die höre, dass es einen wirksamen rechtlichen aus Gründen der Sicherheit inhaftiert Rahmen für die Terrorismusbekämpfung waren, ans Licht. Gerichte verhängten biete. Auch solle es Rechtsanwältinnen erlau- erneut grausame, unmenschliche und ben, Klientinnen im Zusammenhang mit erniedrigende Strafen, die auch ausge- häuslichen Streitigkeiten vor Gericht zu vertre- führt wurden, vor allem Auspeitschun- ten. Bis zum Jahresende waren die Einzelhei- gen. Frauen und Mädchen litten weiter- ten des neuen Justizsystems jedoch noch weit- hin unter Diskriminierung und Gewalt. gehend unebkannt. Der Hohe Rat der Religi- Einige dieser Fälle fanden ein großes onsgelehrten erließ eine fatwa (Nr. 239 vom Medienecho. Sowohl Christen als auch 12. April 2010), die die »Finanzierung von Ter- Muslime wurden wegen der Ausübung rorismus« unter Strafe stellte. Damit liegt es im ihres Glaubens festgenommen. Saudi- Ermessen der Richter, für dieses Vergehen arabische Streitkräfte, die in den Kon- jedwede Strafe zu verhängen, auch die Todes- flikt im Norden des Jemen eingriffen, strafe. führten Angriffe aus, die willkürlich und Im Mai ordnete der König die Bildung eines unangemessen erschienen. Sie führten Ausschusses an, der die Anwendung des isla- zu Toten und Verletzten in der Zivilbe- mischen Rechts (Scharia) vereinheitlichen und völkerung und verstießen damit gegen Körperstrafen einschränken soll. Es wurde das humanitäre Völkerrecht. Ausländi- eine Begrenzung der Zahl der Peitschenhiebe sche Arbeitskräfte waren Ausbeutung auf maximal 100 erwartet. Dies würde ein und Misshandlungen durch ihre Arbeit- Ende der Entscheidungsfreiheit von Richtern geber ausgesetzt. Die Behörden verletz- bedeuten, die in manchen Fällen Zehntau- ten die Rechte von Flüchtlingen und sende von Peitschenhieben als Strafe verhängt 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Asylsuchenden. Mindestens 27 Gefan- hatten. Ende 2010 war die Reform noch nicht gene wurden hingerichtet und damit er- eingeführt worden.

000835 heblich weniger als in den beiden Jahren zuvor. Antiterrormaßnahmen und Sicherheit Die Behörden nahmen 2010 mehr als 100 Per- Hintergrund sonen unter Berufung auf Sicherheitsbelange Im Februar 2010 erklärte der Justizminister, fest. Tausende Menschen, die bereits in den Saudi-Arabien habe die Absicht, ein Justizsys- vergangenen Jahren inhaftiert worden waren, tem aufzubauen, dass das Beste der Justizsys- blieben unter geheimgehaltenen Umständen im Gefängnis.  Im März gaben die Behörden bekannt, man habe im Zusammenhang mit Verstößen gegen die Sicherheit in den vergangenen Monaten 113 Verdächtige festgenommen: 58 saudi-ara- bische Staatsbürger, 52 jemenitische Staats- bürger und jeweils eine Person aus Somalia, Bangladesch und Eritrea. Unter den 58 Perso- nen aus Saudi-Arabien befand sich auch eine Frau namens Haylah al-Qassir, die dem Verneh- men nach im Februar in Buraidah festgenom- men worden war. Den Angaben der Behörden zufolge hatten die 113 Personen drei bewaff- nete Terrorzellen gegründet und planten An-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schläge. Sie wurden nach Behördenangaben

400 Saudi-Arabien enttarnt, nachdem Sicherheitskräfte im Oktober Oktober in einem Gefängnis in Jeddah eröff- 2009 in der Provinz Jizan zwei mutmaßliche net. Unter ihnen befanden sich sieben Perso- Al-Qaida-Mitglieder erschossen hatten. Weitere nen, die sich friedlich für politische Reformen Einzelheiten wurden nicht mitgeteilt. eingesetzt hatten und seit Februar 2007 inhaf-  Der ägyptische Staatsbürger Dr. Ahmad Ab- tiert waren. Das Gerichtsverfahren fand unter bas Ahmad Muhammad blieb weiterhin im al- Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die Be- Hair-Gefängnis in Riad inhaftiert. Seine Rechts- hörden gaben keine Einzelheiten über die An- lage war nach wie vor unklar. Er war kurz nach klagepunkte bekannt. Die Angeklagten hatten einem Selbstmordattentat festgenommen wor- keinen Zugang zu Rechtsbeiständen. den, bei dem im Mai 2003 in Riad 35 Men-  Sulaiman al-Rashudi, ein über 70 Jahre alter schen ums Leben kamen. Berichten zufolge ehemaliger Richter, war einer der 16 Ange- war er von Ägypten nach Saudi-Arabien ge- klagten, denen im Oktober der Prozess ge- reist, um in einer Gesundheitseinrichtung zu ar- macht wurde. Er war am 2. Februar 2007 in beiten. Jeddah zusammen mit anderen Reformern Mindestens zwölf Verdächtige, die in den ver- festgenommen worden. Im August 2009 hat- gangenen Jahren festgenommen worden wa- ten sich Menschenrechtsaktivisten an ein Be- ren, kamen im Juli 2010 frei. Offenbar gingen schwerdegericht gewandt, um eine Aufforde- die Behörden davon aus, dass sie keine Ge- rung an das Innenministerium zu erwirken, ihn fahr mehr darstellten, nachdem sie an einem freizulassen. Das Innenministerium erklärte »Rehabilitationsprogramm« teilgenommen jedoch, das Beschwerdegericht sei für den Fall hatten. Zehn weitere Personen, bei denen es Sulaiman al-Rashudi nicht zuständig, da be- sich dem Vernehmen nach um ehemalige Ge- reits Klage gegen ihn erhoben und sein Fall fangene aus Guantánamo Bay handelte, die an das Sonderstrafgericht (Special Criminal von den US-Behörden nach Saudi-Arabien Court – SCC) überstellt worden sei. überstellt worden waren, erhielten im März Frei- heitsstrafen zwischen drei und 13 Jahren auf Religionsfreiheit Bewährung. Zudem durften sie Saudi-Arabien Zahlreiche Muslime und Christen wurden 2010 fünf Jahre lang nicht verlassen. Über die ge- im Zusammenhang mit ihrem Glauben und gen sie erhobenen Anklagen und die Gerichts- dessen Ausübung festgenommen. Schiitische verfahren wurden keine Einzelheiten bekannt. Muslime gerieten ins Visier der Behörden, weil Ungefähr 15 saudi-arabische Staatsbürger be- sie gemeinschaftlich gebetet und religiöse Fest- fanden sich weiterhin im US-Gefangenenlager tage der Schiiten gefeiert hatten. Außerdem Guantánamo Bay. wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten beim Bau Im Juni 2010 teilte der stellvertretende Innen- von schiitischen Moscheen und Religions- minister der Tageszeitung Okaz mit, dass eine schulen gegen Auflagen verstoßen. große Anzahl von Gefangenen vor Gericht ge-  Turki Haydar Muhammad al-Ali und fünf wei- stellt werde und jeder von ihnen »bekomme, tere Personen, die meisten von ihnen Studen- was er verdiene«, ohne dies näher zu erläutern. ten, wurden im Januar festgenommen, nach- Im September kursierten Presseberichte, wo- dem an Ashura, einem der höchsten schiiti- nach für Verbrechen, die mit der Todesstrafe schen Gedenktage, Plakate eines schiitischen geahndet werden können, künftig Gerichte zu- religiösen Zentrums (al-Husseiniya) aufge- ständig seien, denen drei Richter angehören, hängt worden waren. Sie wurden ohne Ankla- während Gerichte mit nur einem Richter an- geerhebung oder Gerichtsverfahren im al- dere Straftaten behandeln würden. Den Presse- Ihsa-Gefängnis inhaftiert, wo sie sich dem Ver- berichten zufolge sollten die neuen Gerichte nehmen nach auch Ende 2010 noch befan- zunächst in Jeddah ihre Arbeit aufnehmen und den. später nach Riad wechseln. Das erste Ge-  Der Menschenrechtler und sunnitische Mus- richtsverfahren gegen 16 Personen wurde im lim Makhlaf Daham al-Shammari wurde am

Saudi-Arabien 401 15. Juni festgenommen, nachdem er einen kri- 2007 und 2008 wegen mutmaßlicher Verge- tischen Artikel veröffentlicht hatte. Er schrieb hen gegen die Sicherheit im Ulaysha-Gefängnis darin, dass die sunnitischen Religionsgelehrten in Riad inhaftiert war, berichtete Amnesty In- Vorurteile gegenüber den Mitgliedern der schi- ternational, er habe nach seiner Inhaftierung 27 itischen Glaubensgemeinschaft und deren Tage lang in Hand- und Fußschellen aushar- Glauben hegten. Ende 2010 war er noch im- ren müssen, bevor man ihm die Fesseln abge- mer im Hauptgefängnis von Dammam inhaf- nommen und ihm erstmals erlaubt habe, sich tiert, und das Beschwerdegericht hatte sich zu duschen. Er sagte, er sei mehr als einen Mo- noch nicht mit einem Rechtsmittel befasst, das nat lang jede Nacht verhört worden. Dies sei gegen seine willkürliche Inhaftierung eingelegt ein übliches Verfahren bei Gefangenen, die aus worden war. Gründen der Sicherheit inhaftiert seien.  Im Oktober nahm die Religionspolizei bei einer Razzia in Riad zwölf philippinische Grausame, unmenschliche Staatsbürger und einen katholischen Geistli- und erniedrigende Strafen chen fest, weil sie einen geheimen Gottes- Körperstrafen, vor allem Auspeitschungen, dienst abgehalten hatten. Dem Vernehmen wurden 2010 regelmäßig von Gerichten als nach legte man ihnen »Missionieren« zur Last. Haupt- oder Zusatzstrafen verhängt und auch Sie kamen einen Tag später gegen Kaution wie- vollstreckt. der frei.  Im Januar verurteilte ein Gericht in Jubail eine 13-jährige Schülerin zu 90 Peitschenhie- Folter und andere Misshandlungen ben, die ihr vor den Augen ihrer Mitschülerin- Die Behörden hielten Informationen über Ge- nen verabreicht werden sollten. Sie war für fangene sowie über deren Haftbedingungen schuldig befunden worden, eine Lehrerin ange- und Behandlung streng geheim. Dennoch griffen zu haben. Zudem verurteilte das Ge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen wurde bekannt, dass 2010 mindestens zwei richt sie zu zwei Monaten Freiheitsentzug. Wei- Menschen im Gewahrsam ums Leben kamen, tere Einzelheiten wurden nicht bekannt. So möglicherweise als Folge von Folter oder ande- blieb auch unklar, ob die Auspeitschung voll- 000835 ren Misshandlungen. streckt wurde oder nicht.  Der Jordanier Dr. Muhammad Amin al-  Im November wurde ein Mann Berichten zu- Namrat starb im Januar 2010 im Gefängnis folge von einem Gericht in Jeddah zu 500 Peit- des Geheimdienstes in der Provinz Asir. Der schenhieben und fünf Jahren Haft wegen Ho- Arabischlehrer war Berichten zufolge 2007 zu mosexualität und anderer Vergehen verurteilt. zwei Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er seine Schüler aufgefordert hatte, gegen die Frauenrechte US-Streitkräfte im Irak die Waffen zu ergreifen. Frauen litten auch weiterhin unter Diskriminie- Allem Anschein nach war er auch nach Ablauf rung sowohl vor dem Gesetz als auch im tägli- seiner Strafe weiter inhaftiert geblieben. Es gab chen Leben. Sie waren im häuslichen Umfeld, keine Hinweise darauf, dass seine Todesum- aber auch darüber hinaus Gewalt ausgesetzt. stände von den Behörden untersucht worden Rechtlich hatten Frauen nach wie vor nicht wären. denselben Status wie Männer. Regelungen zur  Mohammed Farhan starb im September männlichen Vormundschaft sorgten dafür, dass während seiner Haft in einer Polizeistation in sie sich in Bezug auf Heirat, Scheidung, Sor- Jubail. In einem ärztlichen Gutachten war dem gerecht und Bewegungsfreiheit Männern unter- Vernehmen nach von Würgemalen am Hals zuordnen hatten. Damit wurde auch häusli- des Toten die Rede. Soweit bekannt, war der To- cher Gewalt Vorschub geleistet, die zudem oft desfall bis Ende 2010 nicht untersucht wor- straffrei blieb. den.  Der Fall eines zwölfjährigen Mädchens, das

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Ein ehemaliger Häftling, der in den Jahren von seinem Vater aus finanziellen Gründen mit

402 Saudi-Arabien einem 80-jährigen Mann zwangsverheiratet Nägel und eine Nadel gefunden. Sie hatte als worden war, ging sowohl in Saudi-Arabien als Hausangestellte in Saudi-Arabien gearbeitet auch international durch die Presse. Saudi-ara- und sagte, ihr Arbeitgeber habe ihr die Metall- bische Menschenrechtler brachten den Fall gegenstände in ihre Hände, in ihr Bein und in an die Öffentlichkeit und setzten sich mit juris- die Stirn getrieben, nachdem sie sich über zu tischen Mitteln für eine Auflösung der Ehe ein. viel Arbeit beschwert hatte. Es gab keine Be- Sie erreichten, dass das Mädchen im Februar richte darüber, dass die saudi-arabischen Be- 2010 geschieden wurde. hörden den Fall untersucht hätten.  Im Februar 2010 hob der Oberste Justizrat  Die indonesische Hausangestellte Sumiati ein Urteil eines untergeordneten Gerichts aus Binti Salan Mustapa musste nach Misshand- dem Jahr 2006 auf, wonach das Ehepaar Fa- lungen durch ihre Arbeitgeber in ein Kranken- tima al-Azzaz und Mansur al-Taimani gegen haus in Medina eingeliefert werden. Berichten seinen Willen geschieden werden sollte. Der zufolge wurden ihr mit einer Schere Schnitt- Fall war von Fatima al-Azzaz’ Bruder vor Ge- wunden im Gesicht zugefügt, außerdem richt gebracht worden, weil sein Schwager einer wurde sie mit einem Bügeleisen verbrannt und Gruppe mit einem niedrigeren sozialen Status verprügelt. Die indonesische Hausangestellte angehörte. Damit wurde angeblich das Gesetz Kikim Komalasari wurde tot aufgefunden. Ihr der Gleichheit verletzt, demzufolge Ehepartner verstümmelter Körper lag in einem Müllcontai- den gleichen sozialen Status haben müssen, da ner in Abha. Die saudi-arabischen und die in- die Ehe sonst ungültig sei. donesischen Behörden gaben an, den beiden Im November wurde Saudi-Arabien in den Fällen nachzugehen. Verwaltungsrat der neu geschaffenen UN-Or- ganisation zur Gleichstellung der Geschlechter Luftangriffe im nördlichen Jemen und Förderung von Frauen (kurz UN-Frauen), Im November 2009 griffen saudi-arabische gewählt. Streitkräfte im Jemen in den Konflikt zwischen der jemenitischen Regierung und Anhängern Rechte von Arbeitsmigranten des schiitischen Geistlichen al-Huthi in der Das kafala-System, das die Arbeitsbedingun- Region Sa’da im Norden des Landes ein (siehe gen ausländischer Staatsbürger regelt, sorgte Länderbericht Jemen). Saudi-arabische Trup- 2010 weiterhin dafür, dass Arbeitsmigranten pen lieferten sich Kämpfe mit bewaffneten An- Gefahr liefen, von privaten und staatlichen Ar- hängern al-Huthis und flogen Luftangriffe ge- beitgebern ausgebeutet und missbraucht zu gen Städte und Dörfer in der Region Sa’da. werden. Gleichzeitig hatten sie so gut wie Einige dieser Angriffe waren dem Vernehmen keine Handhabe, um Entschädigungen einzu- nach willkürlich und unangemessen. Sie führ- fordern. Zu den üblichen Verstößen zählten ten zu Toten und Verletzten in der Zivilbevölke- lange Arbeitszeiten und die Verweigerung der rung und verstießen damit gegen das humani- Lohnauszahlung. Andere Arbeitsmigranten er- täre Völkerrecht. Die Angriffe wurden beendet, hielten keine Erlaubnis, nach Ablauf der Ver- als die jemenitische Regierung und die Anhän- träge in ihre Heimatländer zurückzukehren, ger al-Huthis im Februar einen Waffenstill- oder waren Gewalt ausgesetzt. Dies galt insbe- stand vereinbarten. sondere für weibliche Hausangestellte.  Yahya Mokhtar, ein sudanesischer Arzt, Flüchtlinge und Asylsuchende durfte im Mai endlich in den Sudan ausreisen. Im Juni und Juli 2010 schickten die Behörden Er saß seit 2008 mit seiner Familie in Saudi- rund 2000 Personen aus Somalia zwangs- Arabien fest, weil sein ehemaliger Arbeitgeber weise in ihr Heimatland zurück, obwohl dort ihm nicht erlaubte, das Land zu verlassen. weiterhin ein bewaffneter Konflikt herrschte  Im Körper von L.P. Ariyawathie wurden nach und der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge ihrer Rückkehr nach Sri Lanka im August 24 (UNHCR) sich gegen die Rückführung ausge-

Saudi-Arabien 403 sprochen hatte. Die meisten der Ausgewiese- nen waren Frauen.  In der Nähe der Stadt Jizan mussten 28 eri- treische Staatsbürger weiterhin in einem Lager ausharren. Dort lebten sie vermutlich schon seit dem Jahr 2005.

Todesstrafe Die Zahl der erfassten Hinrichtungen war im zweiten Jahr in Folge rückläufig. 2010 wurden mindestens 27 Menschen hingerichtet. Dies bedeutete einen erheblichen Rückgang ge- genüber den Hinrichtungen, die für das Jahr 2009 (69 Hinrichtungen) und für das Jahr 2008 (102 Hinrichtungen) erfasst worden wa- ren. Sechs der 2010 hingerichteten Gefange- nen waren ausländische Staatsbürger. Schweden In den Gefängnissen befanden sich mindes- tens 140 zum Tode verurteilte Häftlinge, da- Amtliche Bezeichnung: Königreich Schweden runter einige, die keine Gewaltverbrechen be- Staatsoberhaupt: König Carl XVI. Gustaf gangen hatten, sondern denen man »Aposta- Regierungschef: Fredrik Reinfeldt sie« (Abfall vom Glauben) oder »Hexerei« vor- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft geworfen hatte. Einwohner: 9,3 Mio.  Gegen den Libanesen Ali Hussain Sibat und Lebenserwartung: 81,3 Jahre 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gegen den Sudanesen Abdul Hamid bin Hus- Kindersterblichkeit (m/w): 4 / 4 pro 1000 sain bin Moustafa al-Fakki ergingen in getrenn- Lebendgeburten ten Gerichtsverfahren Todesurteile wegen 000835 »Hexerei«. Beide Gerichtsverfahren waren un- Die schwedischen Behörden wiesen im fair. Sie fanden unter Ausschluss der Öffent- Jahr 2010 eine große Anzahl von Asyl- lichkeit statt, und die Angeklagten hatten kei- anträgen als »offensichtlich unbegrün- nen Zugang zu Rechtsbeiständen. det« zurück. Die auf diese Fälle ange- Im Dezember gehörte Saudi-Arabien zu den wandten beschleunigten Asylverfahren wenigen Staaten, die gegen die Resolution der entsprachen nicht internationalen Stan- UN-Generalversammlung für ein weltweites dards für den Schutz von Flüchtlingen. Hinrichtungsmoratorium stimmten. Es fanden Abschiebungen in den Irak und nach Eritrea statt. Nach wie vor gab es Bedenken bezüglich der Gründlich- keit polizeilicher Ermittlungen in Verge- waltigungsfällen.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten Trotz gegenteiliger Empfehlungen des UN- Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) gab es 2010 weiterhin Abschiebungen nach Eri- trea und in den Irak. Im März entschied das Obere Migrations-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gericht, dass Personen, die inhaftiert waren,

404 Schweden während sie auf ihre Überstellung in ein ande- Frühphase der strafrechtlichen Ermittlungen res EU-Mitgliedsland nach der Dublin-II-Ver- eingestellt wurden. Nach wie vor wurde bemän- ordnung warteten, das Recht auf juristischen gelt, dass die Ermittlungen in Vergewalti- Beistand hatten, um ihre Inhaftierung anzu- gungsfällen unzureichend waren und die Poli- fechten. zei weder kriminaltechnische Beweise effektiv Im November kündigte die Schwedische Mi- nutzte noch geeignete rechtsmedizinische Gut- grationskommission an, keine Asylbewerber achten anforderte. mehr im Rahmen der Dublin-II-Verordnung Im Mai ratifizierte Schweden die Konvention nach Griechenland zu überstellen, nachdem des Europarats gegen Menschenhandel. ernste Bedenken bezüglich der Unzulänglich- keit des Asylverfahrens sowie der Haftbedin- Folter und andere Misshandlungen gungen in Griechenland laut geworden waren. Schweden erklärte, sich auch in Zukunft auf Auf Grundlage eines Gerichtsentscheids vom »diplomatische Zusicherungen« stützen zu Dezember wurde außerdem beschlossen, die wollen, um die Ausweisung von Personen in Asylansprüche der Betroffenen in Schweden Länder zu erleichtern, in denen ihnen Folter zu prüfen. oder andere Misshandlungen drohen könnten. Anders als in den Vorjahren betrachteten die Die Behörden versäumten es auch weiterhin, schwedischen Behörden eine große Anzahl Folter als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch von Asylanträgen als »offensichtlich unbe- aufzunehmen. gründet«, wobei der Migrationskommission  Ahmed Agiza blieb nach einem unfairen Ver- zufolge die meisten Antragsteller Roma aus fahren vor einem Militärgericht weiterhin in Serbien und dem Kosovo waren. Das auf diese Ägypten in Haft, was Anlass zu anhaltender Be- Fälle angewandte beschleunigte Asylverfahren sorgnis über seinen sich verschlechternden entsprach nicht internationalen Standards für Gesundheitszustand gab. Schweden unterließ den Flüchtlingsschutz. Den Antragstellern es auch 2010, hinsichtlich der Überstellung wurde weder ein umfassendes Gespräch über von Ahmed Agiza und Mohammed El Zari in ihren Asylantrag gewährt, noch erhielten sie einem von der CIA gemieteten Flugzeug von Zugang zu Rechtshilfe. Überdies konnten Schweden nach Ägypten im Dezember 2001 Personen, deren Anträge abgelehnt worden umfassend zu ermitteln. In ägyptischer Haft waren, in ihre Herkunftsländer oder in einen wurden die beiden Männer dem Vernehmen Drittstaat abgeschoben werden, auch wenn nach gefoltert und misshandelt. Obwohl sie über ihren Einspruch gegen die vorläufige Ab- beide eine finanzielle Entschädigung erhalten lehnung ihres Antrags noch nicht entschieden haben, hat ihnen Schweden keine umfas- war. sende und effektive Wiedergutmachung ge- währt. Gewalt gegen Frauen  Zwei weitere Untersuchungen in Bezug auf Im Oktober 2010 veröffentlichte die Kommis- den Tod von Johan Liljeqvist, einem 24-jähri- sion für Sexualstraftaten ihren Abschlussbe- gen Mann, der im April 2008 nach seiner Fest- richt über Umsetzung, Effizienz und Wirksam- nahme durch die Polizei in Göteborg ums Le- keit des Gesetzes über Sexualstraftaten von ben gekommen war, wurden im März bzw. im 2005. Die Kommission empfahl Veränderungen November eingestellt, obwohl medizinische der gesetzlichen Bestimmungen, um einen Gutachten darauf hinwiesen, dass sein Tod besseren Schutz der persönlichen sexuellen In- »mit dem Eingreifen der Polizei zusammen- tegrität und Autonomie jedes Menschen zu hing«. gewährleisten. Infolge des Liljeqvist-Falls wurde im Dezem- Die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen, ber ein Bericht veröffentlicht, der sich mit den die zu einer Verurteilung führten, blieb niedrig, polizeilichen Ermittlungen bei Todesfällen in wobei die meisten Verfahren bereits in der Polizeigewahrsam befasste. Darin wurden die

Schweden 405 Unzulänglichkeit der polizeilichen Ermittlungen Rechtliche und institutionelle in solchen Fällen scharf kritisiert und sofortige Entwicklungen Verbesserungen hinsichtlich ihrer Unabhängig- Im September 2010 richtete der Bundesrat ein keit, Unparteilichkeit und Gründlichkeit emp- Schweizer Kompetenzzentrum für Menschen- fohlen. rechte als Menschenrechtsinstitution ein, die 2011 ihre Tätigkeit aufnehmen soll. Men- Amnesty International: Berichte schenrechtsorganisationen begrüßten die Ini-  Case closed: Rape and human rights in the Nordic countries tiative, äußerten allerdings Bedenken ange- – summary Report (ACT 77 /001/2010) sichts der fehlenden Unabhängigkeit der Insti-  European states must stop forced returns to Iraq tution, mangelnder Ressourcen und ihrer ein- (EUR 01/028/ 2010) geschränkten Bedeutung für die Kantonsbe-  Europe: Open Secret: Mounting evidence of Europe’s compli- hörden. city in rendition and secret detention (EUR 01/023/ 2010) Am 28. November wurde in einer als »Aus- schaffungsinitiative« bekannten Volksabstim- mung entschieden, die Verfassung so zu än- dern, dass sie die automatische Ausschaffung (Abschiebung) ausländischer Staatsangehöri- ger erlaubt, die wegen bestimmter Straftaten Schweiz verurteilt wurden. 52,9% der Stimmberechtig- ten stimmten für die Verfassungsänderung. Amtliche Bezeichnung: Eine Umsetzung derartiger Abschiebungen, Schweizerische Eidgenossenschaft ohne den betroffenen Personen die Möglich- Bundespräsidentin: Doris Leuthard keit zu gewähren, Rechtsmittel einzulegen, Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft stellt einen Verstoß gegen die völkerrechtli- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Einwohner: 7,6 Mio. chen Verpflichtungen der Schweiz dar. Lebenserwartung: 82,2 Jahre Am 10. Dezember beschloss die Schweiz, das Kindersterblichkeit (m/w): 6 / 5 pro 1000 Internationale Übereinkommen zum Schutz 000835 Lebendgeburten aller Personen vor dem Verschwindenlassen zu unterzeichnen. Es wurde eine nationale Menschen- rechtsinstitution eingerichtet und eine Flüchtlinge, Asylsuchende und nationale Kommission zur Verhütung von Migranten Folter ernannt, die Orte des Freiheits- Ab Februar 2010 setzte das Bundesverwal- entzugs besucht. In einer Volksabstim- tungsgericht die Überstellung von mehreren mung wurde eine Verfassungsänderung beschlossen, nach der ausländische Staatsangehörige, die wegen bestimm- ter Straftaten verurteilt werden, unmit- telbar in ihre Heimatländer ausgewie- sen werden müssen. Das Strafrecht ent- hielt auch weiterhin keine nach interna- tionalem Recht anerkannte Definition von Folter. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

406 Schweiz Asylsuchenden nach Griechenland im Rahmen Polizei und Sicherheitskräfte der Dublin-II-Verordnung aus. Es wollte sich in Im Mai äußerte der UN-Ausschuss gegen Folter einem Grundsatzurteil zur Frage der Zulässig- Besorgnis angesichts von Meldungen über ex- keit dieser Überstellungen nach Griechenland zessive Gewaltanwendung der Polizei bei Ver- äußern. Das Bundesamt für Migration führte nehmungen, insbesondere bei Verhören aus- dessen ungeachtet im Jahresverlauf insge- ländischer Staatsangehöriger meist afrikani- samt 50 Asylsuchende nach Griechenland scher Herkunft. Der Ausschuss betonte noch zurück. einmal die Notwendigkeit zur Einrichtung eines Im Mai äußerte der UN-Ausschuss gegen Fol- unabhängigen Mechanismus für die Untersu- ter seine Besorgnis darüber, dass das Schwei- chung derartiger Beschwerden in den einzel- zer Bundesgesetz über die Ausländerinnen und nen Kantonen. Ausländer gegen die Prinzipien des Non-Re-  Der UN-Ausschuss gegen Folter forderte die foulement (Abschiebungsverbot) verstoßen Schweiz auf, eine unabhängige und unpar- könne. Das Gesetz erlaubt die automatische teiische Untersuchung des Todes von Joseph Ausweisung ausländischer Staatsangehöriger, Ndukaku Chiakwa einzuleiten, einem nigeria- die als Sicherheitsbedrohung gelten, ohne nischen Staatsbürger, der bei einer versuchten dass die Betroffenen Rechtsmittel einlegen Massenabschiebung im März am Züricher können. Der Ausschuss forderte eine Ände- Flughafen ums Leben gekommen war. Augen- rung der Rechtsvorschriften. zeugen zufolge waren die von der Abschie-  Im Juli 2010 urteilte der Europäische Ge- bung betroffenen Personen durch Plastikhand- richtshof für Menschenrechte, dass die schellen und -fußfesseln sowie Riemen an Schweiz das Recht zweier asylsuchender Knien, Hüfte und Armen gefesselt. Zusätzlich Frauen aus Äthiopien auf ein Privat- und Fami- wurde ihnen ein beengender Helm aufgesetzt. lienleben verletzt habe. Die beiden Frauen Die strafrechtlichen Ermittlungen hatten bis mussten fünf Jahre in Zentren für Asylsu- Ende 2010 noch zu keinen definitiven Ergeb- chende anderer Kantone verbringen als ihre nissen geführt. Ehemänner, während sie auf ihre Rückfüh- rung nach Äthiopien warteten. Guantánamo-Häftlinge Im November äußerte der UN-Ausschuss für Im Januar und März 2010 bestätigte der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Schweizer Bundesrat das Eintreffen ehemali- seine Besorgnis angesichts unzureichender ger Häftlinge aus dem US-Gefangenenlager Gu- Einrichtungen für die Aufnahme von Asylsu- antánamo. Ein usbekischer Mann und zwei chenden. Dazu gehörte auch die Unterbrin- der Ethnie der Uiguren angehörende Männer gung in unterirdischen Zivilschutzanlagen für aus China wurden im Kanton Genf bzw. Jura unbestimmte Zeit. aufgenommen. Bis Ende 2010 hatten die Behörden kein end- Folter und andere Misshandlungen gültiges Urteil über die im Jahr 2008 an die Am 1. Januar 2010 wurde die nationale Kom- Schweiz gerichteten Asylanträge von drei Häft- mission zur Verhütung von Folter ernannt. Sie lingen des US-Gefangenenlagers Guantánamo begann mit der Kontrolle von Hafteinrichtungen gefällt. Im November hob das Bundesverwal- und Gruppenausschaffungen. tungsgericht ein Urteil des Bundesamts für Im Mai merkte der UN-Ausschuss gegen Fol- Migration im Fall eines der Häftlinge mit der Be- ter an, dass nach nationalem Strafrecht zwar gründung auf, die Sicherheitsprüfung sei ohne einige der Folter gleichkommende Taten einen die Berücksichtigung von öffentlich zugängli- Straftatbestand darstellten, es jedoch an einer chen Dokumenten aus den USA und ohne Be- Definition von Folter fehle, die mit dem Völker- fragung des Antragstellers erfolgt. recht konform sei.

Schweiz 407 Gewalt gegen Frauen wahrsam, was von der Justiz stillschwei- Der UN-Ausschuss gegen Folter und der UN- gend gebilligt wurde und in mindestens Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kul- einem Fall zum Tod eines Inhaftierten turelle Rechte empfahlen der Schweiz im Mai führte. Trotz wiederholter Versprechen bzw. November 2010, Maßnahmen gegen die der Regierung ließ der Prozessbeginn Straflosigkeit in Fällen familiärer Gewalt zu er- gegen den ehemaligen tschadischen greifen. Unter anderem wurde empfohlen: Staatspräsidenten Hissène Habré auch familiäre Gewalt zu einem eigenen Straftat- 2010 auf sich warten. bestand zu machen; sicherzustellen, dass Überlebende Klage erheben können, ohne Hintergrund Angst vor Vergeltung haben zu müssen; Be- Der Konflikt zwischen der Armee und der Be- schuldigungen nachzugehen und die Täter wegung der Demokratischen Kräfte von Casa- strafrechtlich zu belangen. Beide Ausschüsse mance (Mouvement des Forces Démocratiques sprachen sich für eine Änderung der Auslän- de la Casamance – MFDC) verschärfte sich. dergesetzgebung in den Punkten aus, die Nachdem der MFDC immer wieder militärische dazu führen, dass Migrantinnen, die Opfer fa- und zivile Ziele angegriffen hatte, beschoss die miliärer Gewalt geworden sind, aus Angst um Armee im März Stellungen des MFDC in Dörfern ihre Aufenthaltsgenehmigung in ihren Bezie- nahe Ziguinchor, der Hauptstadt der Region hungen bleiben. Casamance. Obwohl sich die Situation in der Folge verschärfte und das Friedensabkommen Amnesty International: Bericht von 2004 damit weiter untergraben wurde, ga-  Switzerland: The »Deportation Initiative« cannot override in- ben beide Parteien offizielle Stellungnahmen ternational human rights obligations (EUR 43/002/2010) ab, dass sie weiterhin zu Gesprächen bereit seien. Ende des Jahres hatten diese aber noch 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen nicht begonnen. In der senegalesischen Hauptstadt Dakar gin- gen im Juli und August Zehntausende von 000835 Menschen aus Protest gegen die ständigen Senegal Stromausfälle auf die Straße.

Amtliche Bezeichnung: Republik Senegal Staatsoberhaupt: Abdoulaye Wade Regierungschef: Souleymane Ndéné Ndiaye Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 12,9 Mio. Lebenserwartung: 56,2 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 125 / 114 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 41,9%

In der ersten Jahreshälfte gab es ver- mehrt Zusammenstöße zwischen der se- negalesischen Armee und einer bewaff- neten Gruppe im Süden der Region Ca- samance. Dabei wurden Zivilpersonen verschleppt und getötet. Die Polizei fol-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht terte regelmäßig Menschen in ihrem Ge-

408 Senegal Festnahmen von Anführern bewaffneter der Polizeiwache mit Gewehrkolben schlugen. Gruppen Am Tag darauf teilten Polizeibeamte seiner Die Armee nahm mehrere Anführer der MFDC Familie mit, er sei an den Folgen eines Anfalls vorübergehend fest. Einige von ihnen sollen oder einer Krankheit gestorben. Eine Autopsie misshandelt worden sein. ergab, dass er Gesichtsverletzungen und Rip-  Im März 2010 wurden Bourama Sambou und penbrüche erlitten hatte. Es wurde eine Unter- Boubacar Coly, zwei Anführer des militäri- suchung eingeleitet, deren Ergebnisse bis schen Flügels des MFDC, in der Ortschaft Be- Jahresende noch nicht veröffentlicht worden laye festgenommen. Sie wurden vier Tage lang waren. ohne Anklageerhebung auf der Gendarmerie von Ziguinchor in Gewahrsam gehalten und Straflosigkeit Berichten zufolge misshandelt. Trotz offizieller Zusicherungen genossen die  Im Mai 2010 wurden vier Anführer des MFDC, meisten Beamten, die für Folterungen und an- Mamadou Teuw Sambou, Pape Tamsir Badji, dere Verbrechen im Sinne des Völkerrechts ver- Joseph Diatta und Ansoumana Diédhiou, in Da- antwortlich waren, nach wie vor Straffreiheit. kar festgenommen, nachdem sie von Gambia Folter wurde von der Justiz stillschweigend ge- überstellt worden waren, wo sie vier Jahre im billigt. So weigerten sich z. B. Staatsanwälte, Gefängnis gesessen hatten. Nach zwei Wo- Foltervorwürfe zu untersuchen. Richter ver- chen Haft wurden sie ohne Anklageerhebung urteilten Angeklagte auf der Grundlage von entlassen. »Informationen«, die unter Folter erpresst wurden. Menschenrechtsverstöße bewaffneter Der Straflosigkeit wurde dadurch Vorschub Gruppen geleistet, dass rechtliche Verfahren gegen An- Mehrere Zivilisten wurden entführt, darunter gehörige der Sicherheitsorgane nur mit Geneh- auch Mädchen. Berichten zufolge wurden migung der zuständigen Minister eingeleitet einige von ihnen von MFDC-Mitgliedern sexuell werden konnten. Bei Polizeibeamten war die missbraucht. Außerdem töteten mutmaßliche Genehmigung des Innenministers, bei Gen- MFDC-Mitglieder willkürlich Soldaten. darmen und Militärangehörigen die des Vertei-  Der ehemalige Unteroffizier Didier Coly digungsministers erforderlich. wurde im Januar 2010 von mutmaßlichen Außerdem war Ende 2010 noch immer kein MFDC-Mitgliedern in der Ortschaft Bourafaye Nationaler Inspektor für Haftzentren ernannt Bainouk erschossen, weil die MFDC-Mitglieder worden, obwohl ein Gesetz diesen Posten 2009 ihn offenbar für einen Informanten der Armee geschaffen hatte. Dies wäre jedoch eine ent- gehalten hatten. scheidende Maßnahme, um Folter in der Haft  Im September 2010 verschleppten MFDC- zu verhindern. Kämpfer vier Mädchen aus dem Dorf Waniak. Sie wurden einige Tage später freigelassen. Be- Internationale Rechtsprechung – richten zufolge waren die Mädchen sexuell Hissène Habré missbraucht worden. Zehn Jahre, nachdem Opfer des ehemaligen tschadischen Staatspräsidenten Hissène Ha- Folter und andere Misshandlungen bré bei der senegalesischen Justiz Klage gegen Straftatverdächtige wurden von der Polizei re- ihn eingereicht hatten, war das Strafverfahren gelmäßig gefoltert. noch immer nicht eröffnet. Die Behörden be-  Im Juli 2010 wurde der 29-jährige Abdoulaye haupteten weiterhin, das Problem sei rein fi- Wade Yinghou festgenommen, als er in einem nanzieller Natur und die internationale Gemein- Vorort der Hauptstadt Dakar hinter einer De- schaft solle hierfür eine Lösung finden. monstration herging. Zeugen beobachteten, Nach einer gemeinsamen Initiative der Afrika- wie Polizisten ihn bei der Festnahme und auf nischen Union und der EU wurde im Juli ein

Senegal 409 runder Tisch angekündigt, um die Finanzierung des Prozesses gegen Hissène Habré endgültig zu klären. Der runde Tisch fand im November statt. Bei dem Treffen versprachen afrikani- sche und europäische Geberländer, sich an den Kosten des Prozesses zu beteiligen. Doch obwohl einer Delegation von Amnesty Interna- tional im Oktober in Dakar versichert wurde, die Eröffnung des Strafverfahrens stehe unmit- telbar bevor, waren bis Ende 2010 keine Fort- schritte zu verzeichnen. Hissène Habré und seine Anwälte bestritten weiterhin die Zuständigkeit der senegalesi- schen Justiz. Im Mai erklärte der Gerichtshof der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikani- scher Staaten (ECOWAS) die von Hissène Habré Serbien 2009 eingereichte Beschwerde gegen Senegal für zulässig. In der Beschwerde hieß es, die (einschließlich Kosovo) strafrechtliche Verfolgung verletze den in der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Amtliche Bezeichnung: Republik Serbien Rechte der Völker festgeschriebenen Grund- Staatsoberhaupt: Boris Tadic´ satz, dass Strafgesetze nicht rückwirkend ange- Regierungschef: Mirko Cvetkovic´ wandt werden dürfen, selbst wenn es sich bei Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft den zur Last gelegten Verbrechen zum Tatzeit- Einwohner: 9,9 Mio. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen punkt um Verstöße gegen das Völkerrecht Lebenserwartung: 74,4 Jahre handelt. Im November urteilte der Gerichtshof Kindersterblichkeit (m/w): 15 / 13 pro 1000 der ECOWAS, dass Senegal Hissène Habré nur Lebendgeburten 000835 dann vor Gericht stellen könne, wenn dafür eine spezielle oder eine Ad-hoc-Gerichtsbarkeit ge- Die Strafverfolgung von Kriegsverbre- schaffen werde. chen in Serbien ging 2010 weiter. Bei den Ermittlungen zum Verbleib der seit Amnesty International: Mission und Bericht dem Krieg von 1999 vermissten Perso-  Im September besuchte eine Delegation von Amnesty Inter- nen gab es jedoch kaum Fortschritte. national das Land, um einen Bericht über Straflosigkeit Minderheiten wurden sowohl in Serbien vorzustellen und Gespräche mit den Behörden zu führen. als auch im Kosovo weiterhin diskrimi-  Senegal: Land of impunity (AFR 49/001/ 2010) niert. Im Norden des Kosovo kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. EU-Staaten schoben Roma in den Kosovo ab.

Hintergrund Im Juli veröffentlichte der Internationale Ge- richtshof (IGH) ein Rechtsgutachten, wonach die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 nicht gegen internationales Recht verstieß. Im September verabschiedete die UN-Generalver-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht sammlung eine Resolution zum Kosovo, die

410 Serbien (einschließlich Kosovo) eine Wiederaufnahme der Gespräche zwischen lassen« von mehr als 800 ethnischen Albanern Serbien und Kosovo unter Vermittlung der EU zur Folge gehabt hatten. Auch soll er ein Kom- vorsah. plott angeführt haben, um ihre Leichname ver- Im November kam Serbien der EU-Mitglied- schwinden zu lassen, indem sie zur erneuten schaft einen weiteren Schritt näher, als die Eu- Bestattung nach Serbien transportiert wurden. ropäische Kommission der Regierung einen Ebenfalls im Juli ordnete die Berufungskam- Fragebogen zusandte, um zu prüfen, ob Ser- mer des Internationalen Strafgerichtshofs die bien die Voraussetzungen für den EU-Kandida- teilweise Wiederaufnahme des Verfahrens ge- tenstatus erfülle. Die diesbezüglichen Fort- gen Ramush Haradinaj, den ehemaligen Kom- schritte wurden nach wie vor davon abhängig mandeur der Befreiungsarmee des Kosovo gemacht, dass Serbien weiterhin mit dem In- (UÇK) und späteren Premierminister des Ko- ternationalen Strafgerichtshof für das ehema- sovo, sowie zwei weitere Befehlshaber der UÇK lige Jugoslawien zusammenarbeiten würde. an. Die Berufungskammer begründete ihre Im November forderte der Chefankläger des In- Entscheidung mit dem Ausmaß der Bedro- ternationalen Strafgerichtshofs Serbien auf, hung, das die Zeugeneinschüchterung für die sich aktiver für die Verhaftung des ehemaligen Integrität des Verfahrens dargestellt habe. Die Generals der bosnischen Serben, Ratko Mla- Beschuldigten waren im Jahr 2008 von dem dic´ , und des ehemaligen Anführers der kroati- Vorwurf freigesprochen worden, 1998 mit einer schen Serben, Goran Hadzˇic´ einzusetzen. kriminellen Organisation die Verfolgung und Entführung von Zivilisten betrieben zu haben, Internationale Gerichtsbarkeit die der Kollaboration mit serbischen Truppen Im März 2010 verabschiedete das serbische verdächtigt wurden. In der revidierten Anklage- Parlament mit knapper Mehrheit die soge- schrift vom November standen Anschuldigun- nannte Srebrenica-Resolution, in der die Ver- gen wegen der Ermordung von Serben, Roma brechen verurteilt werden, die im Juli 1995 an und Aschkali im Mittelpunkt. der bosniakischen (bosnisch-muslimischen) Im Juli lehnte ein britisches Gericht ein Aus- Bevölkerung von Srebrenica begangen wur- lieferungsgesuch Serbiens wegen Mangels an den. Die Resolution enthielt auch eine Ent- Beweisen ab. Serbien hatte die Auslieferung schuldigung gegenüber den Familien der Op- des ehemaligen Mitglieds des bosnischen fer, bezeichnete den Vorfall jedoch nicht als Völ- Staatspräsidiums Ejup Ganic´ verlangt. Er war in kermord, wie dies der IGH 2007 in seinem Ur- London festgenommen worden, nachdem die teil im Prozess Bosnien und Herzegowina ge- Beschuldigung erhoben worden war, er sei an gen Serbien gefordert hatte. einem Angriff auf eine Kolonne der jugoslawi- Nachdem Kroatien 2008 Klage gegen Serbien schen Armee im Mai 1992 in Sarajevo beteiligt erhoben hatte, reichte Serbien im Januar beim gewesen. IGH eine Gegenklage ein und beschuldigte Kroatien, für Völkermord an kroatischen Ser- Serbien ben verantwortlich zu sein. Innerstaatliche Verfolgung von Kriegsverbrechen Vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Die Sonderkammer für Kriegsverbrechen am das ehemalige Jugoslawien wurden im Juli Bezirksgericht Belgrad setzte 2010 Verfahren 2010 die Schlussplädoyers im Verfahren gegen fort, die aus den Kriegen in Bosnien und Herze- den ehemaligen stellvertretenden Innenminis- gowina, Kroatien und im Kosovo herrührten. ter Vlastimir -Dord¯evic´ gehalten, der wegen Ver-  Der Prozess gegen Mitglieder der ethnisch al- brechen gegen die Menschlichkeit und banischen Gnjilane-Gruppe wurde fortgesetzt. Kriegsverbrechen im Kosovo angeklagt war. Er Ihnen wurde Freiheitsberaubung sowie die Fol- wurde für Verbrechen verantwortlich gemacht, ter und Misshandlung (einschließlich Verge- die zur Deportation von 800000 albanischen Zi- waltigung) von 153 Zivilpersonen im Jahr 1999 vilpersonen geführt und das »Verschwinden- vorgeworfen sowie die Ermordung von min-

Serbien (einschließlich Kosovo) 411 destens 80 von ihnen. Gegen acht Angeklagte Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen wurde in Abwesenheit verhandelt. und Transgender-Personen  Im September wurden neun Angehörige der Im Oktober fand in Belgrad zum ersten Mal seit paramilitärischen Einheit »Schakale« wegen 2001 wieder eine Gay Pride Parade statt. Über Kriegsverbrechen angeklagt. Sie wurden be- 5000 Polizeibeamte wurden abgestellt, um die schuldigt, am 14. Mai 1999 im Dorf Cusˇka/ 1000 Teilnehmenden gegen etwa 6500 Gegen- Çyshk in Pec´ /Peja im Kosovo mindestens 43 demonstranten zu schützen. Bei Angriffen der ethnisch albanische Zivilisten getötet zu ha- Gegendemonstranten auf die Polizei wurden ben. etwa 124 Beamte verletzt. Die Gegendemons-  Im Oktober meldeten die Regierungskom- tranten griffen auch Büros politischer Parteien missionen für vermisste Personen von Serbien an und verursachten Schäden in Höhe von sowie von Bosnien und Herzegowina, dass die über 1 Mio. Euro. 249 Gegendemonstranten sterblichen Überreste von etwa 97 Personen, wurden festgenommen, 131 wurden zur weite- in der Mehrzahl bosnische Muslime, am Ufer ren Vernehmung inhaftiert, nachdem die zu- des Peruc´ ac-Sees exhumiert worden seien. lässige Haftdauer durch eine rasche Ergänzung Unter ihnen sollen sich auch die sterblichen des Strafgesetzes von acht auf 30 Tage verlän- Überreste sechs ethnischer Albaner befinden, gert worden war. Im Dezember wurde gegen 83 die 1999 in -Dakovica/Gjakovë von serbischen Personen wegen Anstiftung zur Gewalt An- Streitkräften entführt worden waren. klage erhoben. Im Zusammenhang mit Angrif- fen auf Aktivisten vor und nach der Demons- Folter und andere Misshandlungen tration gab es keine Festnahmen. Im November äußerte sich die Europäische Kommission besorgt über die andauernde Diskriminierung Straflosigkeit bei Folter und anderen Misshand- Das Parlament besetzte die im Antidiskriminie- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lungen. Serbien hatte weder einen nationalen rungsgesetz von 2009 vorgesehene Position Mechanismus zur Prävention eingerichtet, wie eines Beauftragten für Chancengleichheit. ihn das Fakultativprotokoll zum UN-Überein- Nach kontroversen Debatten wurde im Mai 000835 kommen gegen Folter vorsieht, noch eine eine von der Regierungspartei favorisierte An- Durchführungsbestimmung von 2009 zur in- wältin gewählt. Bis Ende 2010 gingen bei der ternen Aufsicht von Haftanstalten verabschie- Beauftragten für Chancengleichheit etwa 119 det. Beschwerden über Diskriminierung ein.  Der Staatsanwalt von Pozˇarevac wies eine Beschwerde von »J.D.« zurück, der angab, Zwangsräumungen am 18. Mai im Gefängnis Zabela von fünf Ge- In ganz Belgrad kam es 2010 weiterhin zu fängniswärtern gefoltert worden zu sein. Der rechtswidrigen Zwangsräumungen informeller Vorfall war von Überwachungskameras aufge- Siedlungen von Roma. Weitere Roma-Gemein- zeichnet worden. schaften waren von Zwangsräumungen be-  Fünf Mitarbeiter des Gefängnisses von Les- droht, darunter die Roma-Siedlung Belvil, de- kovac, die im November 2009 festgenommen ren Infrastruktur mit Mitteln europäischer Fi- worden waren, weil sie im Verdacht standen, nanzinstitutionen ausgebaut werden sollte. Häftlinge misshandelt und gefoltert zu haben,  Im April wurden 38 Roma-Familien, die in kehrten 2010 an ihren Arbeitsplatz zurück. einer informellen Siedlung in der Gemeinde  Da die Staatsanwaltschaft nichts unternahm, Cˇ ukarica lebten, Opfer einer Zwangsräumung. reichte das Komitee für Menschenrechte in Die Mehrzahl von ihnen wurde nach Südser- Leskovac im November beim Verfassungsge- bien zurückgeschickt, wo sie ursprünglich her- richt eine Klage im Namen von »D.B.« ein, der kamen. den Gefängniswärtern vorwarf, ihm den Arm  Im Oktober wurden 36 Roma, darunter 17

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gebrochen zu haben. Kinder, aus der Vojvodjanska Straße 25 in Bel-

412 Serbien (einschließlich Kosovo) grad vertrieben. Fünf Familien wurden an- tober stürzte die Regierung über ein Misstrau- schließend in Containern untergebracht, die ensvotum des Parlaments. Im Dezember ge- nicht den internationalen Standards für ange- wann die Demokratische Partei Kosovos (Partia messenes Wohnen entsprachen. Demokratike e Kosovës – PDK) die von Vor- würfen des Wahlbetrugs überschatteten Parla- Flüchtlinge und Migranten mentswahlen, allerdings ohne eine ausrei- Nach der Liberalisierung der Visa-Vorschriften chende Mehrheit für eine Regierungsbildung zu durch die EU reisten Roma, ethnische Albaner haben. aus Südserbien sowie ethnische Albaner aus Im November äußerte sich die Europäische dem Kosovo, die illegal in den Besitz serbi- Kommission besorgt über Korruption und or- scher Meldebescheinigungen gelangt waren, in ganisierte Kriminalität. Sorgen bereiteten ihr EU-Mitgliedstaaten ein und suchten dort Be- auch das schwache Justizsystem im Kosovo richten zufolge nach internationalem Schutz. sowie die fehlende Pressefreiheit. Viele von ihnen wurden in Schnellverfahren Im Dezember wurde in einem Bericht an den rückgeführt. Im Oktober verstärkte die serbi- Europarat der Vorwurf erhoben, Premierminis- sche Regierung auf Drängen der EU die ter Hashim Thaçi sowie weitere Mitglieder der Grenzkontrollen. Unter denen, die das Land UÇK seien 1999 an der Entführung, Folter, verließen, befanden sich auch Roma-Fami- Misshandlung und Ermordung serbischer und lien, denen die Zwangsräumung aus einer Sied- albanischer Zivilisten beteiligt gewesen, die in lung in Vidikovac drohte. Gefangenenlager nach Albanien gebracht wur- den. In einem dieser Lager sollen Häftlinge er- Menschenrechtsverteidiger mordet und ihre Organe zum Zweck des Organ- Menschenrechtsverteidiger und Journalisten handels entnommen worden sein. waren weiterhin Drohungen, tätlichen Angrif- fen und Hassbekundungen ausgesetzt. Die Be- Justizsystem hörden unternahmen nichts gegen Morddro- Nach Angaben der EU-geführten Rechtsstaats- hungen, die im April gegen Marko Karadzˇic´ , mission im Kosovo (EULEX) war das Justizsys- den damaligen Staatssekretär für Menschen- tem 2010 weiterhin schwach und stand unter rechte und Minderheiten, gerichtet wurden. politischer Einflussnahme. Richter und Zeu-  Im Juli wurde Teofil Pancˇ ic´ , ein Journalist des gen erhielten Drohungen, Schutzmaßnahmen wöchentlichen Magazins Vreme, von zwei fanden jedoch nur selten Anwendung. Männern mit Metallstangen angegriffen. Die Die EULEX-Mission nahm das Verfahren ge- beiden Männer wurden später inhaftiert. gen Albin Kurti, den Leiter der NGO Vetëven- dosje! (Selbstbestimmung!) wieder auf, das Gewalt gegen Frauen und Mädchen 2008 von der UN-Übergangsverwaltung im Das 2009 verabschiedete Gesetz über häusli- Kosovo (UNMIK) eingestellt worden war. Albin che Gewalt und die Strategie zur Gleichstel- Kurti wurde im Juni schuldig gesprochen, bei lung der Geschlechter wurden nicht vollständig einer Demonstration am 10. Februar 2007 umgesetzt, so dass Frauen und Kinder dem Staatsbedienstete behindert zu haben. Er Risiko familiärer Gewalt ausgesetzt waren. wurde zu neun Monaten Haft verurteilt, jedoch unmittelbar danach auf freien Fuß gesetzt. Kosovo Weitere Anklagepunkte gegen ihn wurden fal- Im September 2010 trat Präsident Sejdiu zu- lengelassen. rück, nachdem das Verfassungsgericht ent- schieden hatte, dass seine Position als Partei- Strafverfolgung von Kriegsverbrechen chef der Demokratischen Liga des Kosovo Im Mai gab die EULEX bekannt, dass in nur 60 (Lidhja Demokratike e Kosovës – LDK) mit sei- der insgesamt 900 von der UNMIK übernom- nem öffentlichen Amt unvereinbar sei. Im Ok- menen Fälle von Kriegsverbrechen ermittelt

Serbien (einschließlich Kosovo) 413 werde. Im Fall der Entführung von Nichtalba- werden. Etwa drei Leichen, die zunächst falsch nern im Juni 1999 wurden die Ermittlungen an identifiziert worden waren, wurden von der In- die lokale Sonderstaatsanwaltschaft überge- ternationalen Kommission für vermisste Perso- ben, da die EULEX diesen Fall nicht als Kriegs- nen neu identifiziert. verbrechen einstufte.  Aufgrund der Zeugenaussage von Nazim Folter und andere Misshandlungen Bllaca, der 2009 festgenommen worden war, Im Juni 2010 besuchte der Ausschuss des Eu- erfolgten im Januar und Juli weitere Festnah- roparats zur Verhütung von Folter Haftanstal- men. Bllaca behauptete, er sei im Auftrag des ten im Kosovo. Ebenfalls im Juni wurden bei kosovarischen Geheimdiensts zwischen 1999 einem Polizeieinsatz zur Festnahme von Albin und 2003 an 17 Fällen von Mord und versuch- Kurti (siehe oben) mehrere Aktivisten der NGO tem Mord beteiligt gewesen. Vetëvendosje! misshandelt, so dass einige von  Im Mai wurde der frühere UÇK-Kommandeur ihnen ins Krankenhaus gebracht werden muss- Sabit Geçi festgenommen. Er stand im Ver- ten. Das Rehabilitationszentrum für Folterop- dacht, 1999 in der Region Drenica an Kriegsver- fer teilte mit, es gebe einige Verbesserungen bei brechen beteiligt gewesen zu sein. Medienbe- den Haftbedingungen, verwies aber auch auf richten zufolge soll er auch an der Folter von Berichte von Häftlingen, wonach Korruption ethnischen Albanern und Kosovo-Serben in beim Gefängnispersonal häufig zu unfairen einer Haftanstalt in Kukës in Albanien beteiligt Strafmaßnahmen führe. gewesen sein.  Der im Juli von Norwegen ausgelieferte Koso- Gewalt zwischen ethnischen Gruppen vo-Serbe Vukmir Cvetkovic´ wurde im Novem- Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwi- ber vom Gericht in Pecˇ /Peja wegen Kriegsver- schen Kosovo-Serben und ethnischen Alba- brechen schuldig gesprochen. Er wurde zu nern in den serbisch dominierten Gemeinden 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sieben Jahren Haft verurteilt, weil er ethnische im Norden dauerten im Jahr 2010 an und wur- Albaner aus ihren Häusern in Klina/Klinë ver- den häufig durch politische Entwicklungen ge- trieben hatte. schürt. 000835 Im Mai setzte die Polizei des Kosovo Tränen- »Verschwindenlassen« gas ein, um Serben und Albaner während Ein Gesetzentwurf zu vermissten Personen einer Protestaktion auseinanderzutreiben. Die enthielt keinerlei Bestimmungen zur Wieder- Proteste ethnischer Albaner richteten sich ge- gutmachung, so waren z. B. für die Angehö- gen die Teilnahme der Kosovo-Serben an den rigen »verschwundener« Personen keine Ent- serbischen Kommunalwahlen. Am 2. Juli pro- schädigungsansprüche vorgesehen. 1822 Per- testierten 1500 Serben gegen die Eröffnung sonen wurden zum Jahresende noch ver- eines Einwohnermeldeamts in Bosnjacˇ ka Ma- misst. hala, einem ethnisch gemischten Gebiet im Im August übergab die EULEX ihre Verantwor- Norden der Stadt Mitrovica/Mitrovicë. Dabei tung für das Büro für vermisste Personen und wurde ein bosnischer Kinderarzt von einem Forensik (Office of Missing Persons and Foren- Sprengkörper getötet, elf serbische Protestie- sics – OMPF) an das Justizministerium des Ko- rende wurden verletzt. Am 5. Juli wurde ein Ko- sovo. Im September inspizierten das OMPF und sovo-Serbe, der dem Parlament des Kosovo die serbische Kommission für vermisste Per- angehört, vor seinem Haus im Norden von Mit- sonen mutmaßliche Massengräber im serbi- rovica/Mitrovicë durch Schüsse in beide schen Rudnica und in Belac´ evac im Kosovo. Beine verletzt. Im Laufe des Berichtsjahrs exhumierte das Nach dem Urteil des IGH zur Unabhängig- OMPF die sterblichen Überreste von 34 Perso- keitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 nah- nen. Des Weiteren konnten 57 identifiziert und men die Spannungen zu. Im September forder-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht 103 zur Bestattung an ihre Familien überführt ten ethnische Albaner im Norden von Mitrovi-

414 Serbien (einschließlich Kosovo) ca/Mitrovicë zusätzlichen Polizeischutz, nach- litten. Ihre Drittklage gegen die UN war seit Fe- dem es mehrere Granatenangriffe gegeben bruar 2006 anhängig. hatte und am 7. September Hakif Mehmeti ge- Vor dem Ausschuss waren noch Beschwer- tötet worden war. Drei Tage später wurde ein den anhängig, die der UNMIK vorwarfen, sie Polizeibeamter festgenommen, der den Koso- habe Entführungsfälle von Serben nach dem vo-Serben angehörte. Am 12. September wur- Krieg nicht untersucht. den Soldaten der Kosovo-Truppe (KFOR) und Polizisten der EULEX eingesetzt, als es zwi- Diskriminierung schen Albanern und Serben nach einem Bas- Angehörige nicht albanischer Minderheiten wa- ketballspiel, bei dem die Türkei gegen Serbien ren weiterhin Diskriminierung ausgesetzt. gewonnen hatte, zu Auseinandersetzungen Auch die Diskriminierung von Frauen war weit kam. Die Zusammenstöße ereigneten sich in verbreitet, Gleiches galt für Lesben, Schwule, Mitrovica/Mitrovicë auf der Brücke über den Bisexuelle und Transgender-Personen. Ange- Fluss Ibar, der den serbischen und den alba- hörige der Roma, Aschkali und Ägypter wur- nischen Teil der Stadt trennt. Dabei erlitten zwei den in mehrfacher Hinsicht diskriminiert. Sie KFOR-Angehörige, ein Polizeibeamter und hatten nur eingeschränkt Zugang zu Bildung, fünf Zivilisten Verletzungen. Ebenfalls im Sep- Gesundheitsversorgung und Beschäftigung. tember wurde ein ethnisch albanischer Bä- Auch ihr Recht auf angemessenen Wohnraum cker in Zvecˇ an dreimal tätlich angegriffen und konnten sie nur selten in Anspruch nehmen. sein Laden durch einen Sprengkörper beschä- Viele hatten weiterhin keine Ausweisdoku- digt. mente, die jedoch die Voraussetzung bildeten, um einen Wohnsitz anmelden und grundle- Verantwortlichkeit gende Versorgungseinrichtungen nutzen zu der internationalen Gemeinschaft können. Die Beschwerden der Familien von Mon Balaj  Im Oktober 2010 wurde das mit Blei ver- und Arben Xheladini, die am 10. Dezember seuchte Lager in Cˇ esmin Lug geschlossen. 2007 bei einer Demonstration von der rumäni- Einige der Roma, Aschkali und Ägypter aus schen Polizei getötet worden waren, sowie die dem Lager wurden in ein Roma-Viertel im Sü- Beschwerden von Zenel Zeneli und Mustafë den von Mitrovica/Mitrovicë umgesiedelt. Im Nerjovaj, die damals schwer verletzt worden November begannen NGOs mit der medizini- waren, wurden im März vom Beratenden Men- schen Behandlung von Bleivergiftungen gemäß schenrechtsausschuss der UNMIK als unzu- den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisa- lässig erklärt. Der Ausschuss bezog sich dabei tion. auf eine Verwaltungsvorschrift der UNMIK aus dem Jahr 2009. Danach hatten Anträge von Flüchtlinge und Migranten Klägern als unzulässig zu gelten, denen be- Roma, Aschkali und Ägypter wurden aus der reits im Rahmen einer Drittklage gegen die UN EU und der Schweiz in den Kosovo abgescho- eine finanzielle Entschädigung angeboten ben, obwohl eine überarbeitete Rückführungs- worden war. und Reintegrationsstrategie, die das Innenmi- Mit derselben Begründung erklärte der Bera- nisterium im April veröffentlicht hatte, noch tende Menschenrechtsausschuss auch eine nicht vollständig umgesetzt worden war. Vielen Beschwerde von 143 Roma- und Aschkali-Bin- der Rückkehrer wurden grundlegende Rechte nenflüchtlingen als unzulässig. Sie hatten verweigert, und sie sahen sich einer mehrfa- Klage erhoben, weil sie in den von der UNMIK chen Diskriminierung ausgesetzt, die an Verfol- geführten Lagern nördlich von Mitrovica/Mit- gung grenzte. Diejenigen, die keine Ausweis- rovicë, in denen sie seit 1999 lebten, aufgrund dokumente hatten, waren faktisch staatenlos. von Bodenverseuchung unter Bleivergiftun- Berichten zufolge wurden Roma im Oktober gen und anderen gesundheitlichen Problemen bei dem Versuch, nach Suvi do/Suhadol zu-

Serbien (einschließlich Kosovo) 415 rückzukehren, von Albanern bedroht und un- ter Verweis auf Sicherheitsgründe an ihrer Sierra Leone Rückkehr gehindert. Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Amtliche Bezeichnung: Republik Sierra Leone Flüchtlinge (UNHCR) kehrten im Jahr 2010 Staats- und Regierungschef: Ernest Bai Koroma insgesamt 2253 Angehörige von Minderheiten Todesstrafe: nicht abgeschafft freiwillig in den Kosovo zurück. 48 Kosovo-Al- Einwohner: 5,8 Mio. baner, 77 Kosovo-Serben und 386 Roma, Asch- Lebenserwartung: 48,2 Jahre kali und Ägypter, die nach Einschätzung des Kindersterblichkeit (m/w): 160 / 136 pro 1000 UNHCR weiter internationalen Schutz benötig- Lebendgeburten ten, waren hingegen aus Westeuropa abge- Alphabetisierungsrate: 39,8% schoben worden. Die Regierung setzte den Wiederaufbau Gewalt gegen Frauen der im Bürgerkrieg zerstörten Institutio- In Fällen häuslicher Gewalt konnten Schutzan- nen und Infrastruktur fort. Dabei galt ihr ordnungen keinen angemessenen Schutz bie- besonderes Augenmerk der Entwicklung ten oder wurden nicht erlassen. Verstöße gegen und der Grundversorgung der Bevölke- die Anordnungen wurden nur selten straf- rung in den Bereichen Gesundheit und rechtlich verfolgt. Bildung. Als Maßnahme gegen die hohe Die NGO Medica Kosova bemühte sich um Müttersterblichkeit führte die Regie- eine Ergänzung des Gesetzes über zivile rung eine kostenlose Gesundheitsversor- Kriegsopfer. Sie wollte damit erreichen, dass gung für Schwangere, stillende Mütter Frauen, die im Krieg vergewaltigt worden wa- und Kinder unter fünf Jahren ein. Ob- ren, den Status eines zivilen Kriegsopfers erhal- wohl in mancher Hinsicht Fortschritte 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ten und damit auch Entschädigungsansprü- zu verzeichnen waren, wurden in Sierra che geltend machen können. Leone nach wie vor viele soziale und wirtschaftliche Rechte verletzt, was mit 000835 Amnesty International: Missionen und Berichte der Armut im Land zusammenhing.  Delegierte von Amnesty International besuchten den Kosovo Weitere gravierende Probleme waren die im Mai/Juni und Serbien im Juni und Oktober.  Serbia: Stop forced evictions of Roma in Serbia (EUR 70/007/ 2010)  Not welcome anywhere: Stop the forced return of Roma to Kosovo (EUR 70/011/ 2010)  Serbia: Briefing to the UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination (EUR 70/016/ 2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

416 Sierra Leone zahlreichen Fälle sexueller und ge- der Ernennung der Vorsitzenden Richter an schlechtsspezifischer Gewalt; die Verlet- örtlichen Gerichten, von beschränkten Kapazi- zung der Rechte von Kindern; die Straf- täten sowie Korruption. Diese Faktoren behin- losigkeit für Verbrechen gegen die derten den Zugang der Bevölkerung zu den Menschlichkeit, die in der Vergangen- Justizbehörden unmittelbar. heit verübt worden waren; die Mängel Obwohl sich die Haftbedingungen in mancher des Justizsystems; die Nichtumsetzung Hinsicht besserten, waren die Gefängnisse wichtiger Empfehlungen der Wahrheits- überbelegt, und die medizinische Verpflegung und Versöhnungskommission (Truth and sowie die Versorgung mit Nahrungsmitteln wa- Reconciliation Commission); die grassie- ren unzureichend. Viele Häftlinge befanden rende Korruption und die drohende Ge- sich lange in Untersuchungshaft, Jugendliche fahr ethnischer Gewalt. saßen mit Erwachsenen in einer Zelle ein. We- gen dieser und anderer Probleme war es in Si- Hintergrund erra Leone nach wie vor gefährlich – und in eini- Sierra Leone arbeitete weiterhin an der Bewälti- gen Fällen sogar tödlich –, im Gefängnis zu gung der Folgen des elfjährigen Bürgerkriegs landen. Häufig waren die Haftbedingungen so (1991 – 2002). Dieser hatte zum Zusammen- hart, dass sie grausamer, unmenschlicher und bruch von Wirtschaft und Infrastruktur sowie erniedrigender Behandlung oder Strafe gleich- zu Massenvertreibungen geführt. Außerdem kamen. waren im Bürgerkrieg Gräueltaten verübt wor- den, darunter sexuelle Versklavung, Zwangsre- Polizei und Sicherheitskräfte krutierung von Kindersoldaten und Verstüm- In den Reihen der Polizei waren brutales Vorge- melungen. In rechtlicher Hinsicht gab es Fort- hen, Korruption, exzessiver Gewalteinsatz, schritte bei der Anwendung neuer Gesetze, schlechte Zustände in den Haftzellen der Poli- wie dem Gesetz zur Regelung der Wahl und Ab- zei und unrechtmäßig lange Inhaftierung ohne wahl von traditionellen Führern (Chieftaincy Anklageerhebung an der Tagesordnung. Die Act), dem Kinderschutzgesetz, dem Gesetz ge- Polizei war auch häufig nicht in der Lage, gen familiäre Gewalt und dem Gesetz über die Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Bei Ri- Registrierung von Eheschließungen und Ehe- tualmorden führte sie keine effektiven Ermitt- scheidungen nach traditionellem Ritus. lungen durch; bei sexueller und geschlechtsbe- Im Oktober 2010 ratifizierte Sierra Leone das zogener Gewalt wurde sie nur in wenigen Fäl- Übereinkommen über die Rechte von Men- len aktiv. schen mit Behinderungen.  Im Februar 2010 wurde die Polizei eingesetzt, Obwohl es der Antikorruptionskommission um von Schülern verursachte Unruhen im Na- durch ihre Arbeit gelang, eine Reihe von Fäl- tionalstadion zu unterdrücken. Dabei wurden len erfolgreich vor Gericht zu bringen, blieb Kor- viele Kinder verletzt. Einige waren erst sechs ruption ein hartnäckiges Problem. Jahre alt.  Kein Polizist wurde 2010 für die außergericht- Justizsystem lichen Hinrichtungen in Lungi im September Das Justizsystem hatte nach wie vor enorme 2009 zur Rechenschaft gezogen. Polizisten hat- Herausforderungen zu bewältigen. Gesetzre- ten damals drei Personen erschossen und formen kamen nur langsam voran. Das galt mindestens 13 weitere Menschen verletzt. auch für die Überarbeitung der Verfassung. Die Strafjustiz war nach wie vor gezeichnet Recht auf freie Meinungsäußerung – von dem gravierenden Mangel an Richtern, Journalisten von langwierigen Verfahren, überlasteten Die Medien konnten seit Ende des Bürgerkriegs Staatsanwälten, zu geringen Kapazitäten im zwar freier arbeiten, doch die Regierung Bereich der Strafverfolgung, Verzögerungen bei schaffte die Bestimmungen des Gesetzes über

Sierra Leone 417 öffentliche Ordnung von 1965 über staatsge- abgestimmt waren. Straßenkinder waren vielfäl- fährdende Verleumdung, die eine unbillige tigen Übergriffen ausgeliefert; es gab für sie Einschränkung des Rechts auf freie Mei- nur wenig bzw. keinen Schutz. nungsäußerung darstellten, nicht ab. Der Oberste Gerichtshof hatte im November 2009 Gewalt gegen Frauen und Mädchen eine Beschwerde abgewiesen, mit welcher Familiäre Gewalt blieb weit verbreitet. Nur we- der Journalistenverband von Sierra Leone die nige Fälle wurden bei den Behörden ange- Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes angefoch- zeigt. Typisch für die Mehrzahl dieser Fälle wa- ten hatte. Präsident Ernest Bai Koroma hatte ren oberflächliche Ermittlungen, eine geringe 2009 zugesichert, dass die Regierung das Zahl von Anklageerhebungen, außergerichtli- Gesetz auf den Prüfstand stellen werde, che Einigungen und die Einmischung von tra- aber im Jahr 2010 waren keine Bestrebungen ditionellen Führern. Bis Ende 2010 war lediglich für eine entsprechende Gesetzreform zu ein einziger Fall nach den Bestimmungen des verzeichnen. Gesetzes gegen familiäre Gewalt von 2007 straf- Journalisten äußerten Bedenken, dass einige rechtlich verfolgt worden. Folgende Faktoren der Bestimmungen des 2009 verabschiedeten trugen dazu bei, dass die Straflosigkeit weiter Sierra Leone Broadcasting Corporation Act die bestand und der Staat passiv blieb: Frauen sa- Unabhängigkeit der Rundfunkanstalt gefähr- hen oftmals keine Möglichkeit, sich an die Poli- den könnten. zei zu wenden, Ärzte nahmen maßlos über- höhte Honorare, und es wurde Druck auf die Kinderrechte Frauen ausgeübt, sich außergerichtlich mit Kinder waren in vielen Bereichen gravierenden den Tätern zu einigen. Verletzungen ihrer Rechte ausgeliefert. Die Nach wie vor gab es diskriminierende traditio- Regierung unternahm weder etwas, um die Be- nelle Praktiken. Dazu gehörten auch Genital- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen achtung der nationalen Gesetze durchzuset- verstümmelung sowie Zwangs- und Frühverhei- zen noch um den Verpflichtungen aus interna- ratungen. NGOs konnten im Kampf gegen die tionalen Verträgen zum Schutz von Kindern Genitalverstümmelung von Mädchen zwar 000835 und zur Garantie von Kinderrechten nachzu- einige Erfolge verzeichnen, Schätzungen zu- kommen. folge liegt aber die Prävalenz der Beschneidun- Tausende Kinder waren in Diamantenminen gen immer noch bei ca. 90%. Nach dem Kin- und in anderen äußerst gefährlichen Berei- derschutzgesetz und dem Gesetz über die Re- chen den schlimmsten Formen von Kinderar- gistrierung von Eheschließungen und Ehe- beit ausgesetzt. Die Grundrechte von mehre- scheidungen nach traditionellem Ritus, die ren tausend Kindern, die in den Bergwerken beide 2007 in Kraft getreten waren, dürfen von Sierra Leone arbeiten, wurden auch 2010 Mädchen erst mit 18 Jahren heiraten. Beide in eklatanter Weise missachtet. Ihnen wurden Gesetze wurden jedoch weitgehend ignoriert. Bildung, Gesundheitsfürsorge sowie ein Min- Häufig wurden Mädchen schon im Alter von destschutz versagt, und sie mussten äußerst zehn Jahren verheiratet. strapaziöse und gefährliche Arbeit verrichten. Nach wie vor wurden Mädchen von engen Einige Kinder starben in einstürzenden Gruben Verwandten, Lehrern und Angehörigen der Si- oder bei Unfällen in Bergwerken. Andere wur- cherheitsorgane vergewaltigt, wurden im ju- den durch die schwere körperliche Arbeit und gendlichen Alter schwanger und waren auch durch Krankheiten für ihr ganzes Leben ge- weiterhin Opfer von Kinderhandel, sexueller zeichnet. Ausbeutung und geschlechtsbezogener Dis- Es gab nur wenige Programme der Regierung, kriminierung im Bildungsbereich. die auf die spezifischen Bedürfnisse von Kin- dern und Jugendlichen – Waisen, unbegleitete

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Vertriebene und ehemalige Kindersoldaten –

418 Sierra Leone Müttersterblichkeit 2003 in Liberia ermordet, und Johnny Paul Ko- Präsident Koroma führte am 27. April 2010 eine roma war nach wie vor flüchtig. kostenlose Gesundheitsversorgung für Die wenigen Verfahren vor dem SCSL trugen Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter dazu bei, einen Teil der Wahrheit über die fünf Jahren ein. Das neue Programm zur Ab- Gräueltaten ans Licht zu bringen, die seit 1996 schaffung von Gebühren für die Gesundheits- im Bürgerkrieg verübt worden waren. Die Ur- fürsorge soll 90 Mio. US-Dollar kosten. Es teile gegen die Anführer der Revolutionären wurde davon ausgegangen, dass allein im Be- Einheitsfront (RUF), Issa Sesay, Morris Kallon richtsjahr 230000 Schwangere und rund und Augustine Gbao, waren die ersten Schuld- 1 Mio. Kinder unter fünf Jahren Anspruch auf sprüche wegen Angriffen auf UN-Friedenssol- Aufnahme in das Programm hatten. Sämtliche daten, die als Verstöße gegen humanitäres Völ- medizinische Behandlungen für Mütter und kerrecht geahndet wurden, sowie gegen Kinder sollen – ebenso wie die Medikamente – Zwangsverheiratungen als unmenschliche kostenlos sein. So soll ein Minimum an notwen- Handlung, womit diese als Verbrechen gegen diger medizinischer Versorgung sichergestellt die Menschlichkeit gelten. werden. In einem Land mit einer der höchsten Der SCSL zog jedoch weniger als ein Dutzend Mütter- und Kindersterblichkeitsraten der Welt derer zu Rechenschaft, die für hunderttau- bedeutet ein derartiges Programm einen Quan- sende Verbrechen im Sinne des Völkerrechts tensprung. Die Einführung des Programms er- verantwortlich waren, so dass die meisten Tä- folgte jedoch übereilt und war schlecht geplant. ter straffrei blieben. Das Friedensabkommen Die Anforderungs- und Verteilungssysteme von Lomé 1999 sieht eine Amnestie für dieje- waren mangelhaft, zudem gab es so gut wie nigen vor, die für Verbrechen im Sinne des Völ- keine Kontroll- und Rechenschaftsmechanis- kerrechts, die in Sierra Leone begangen wur- men, so dass viele Frauen und Kinder immer den, verantwortlich sind. Die Amnestie steht noch einige oder alle Medikamente bezahlen der Ahndung solcher Verbrechen vor dem mussten. SCSL nicht im Wege, verhinderte jedoch weiter- Gegen viele Probleme, die Einfluss auf die hin die Aufklärung und strafrechtliche Verfol- Müttersterblichkeit haben, wurde nichts un- gung der im Bürgerkrieg begangenen Verbre- ternommen. Dazu gehörten u. a. risikoreiche chen vor den nationalen Gerichten. Schwangerschaftsabbrüche, Genitalverstüm- Der SCSL wurde nach wie vor kritisiert. Die melung, Frühehen sowie fehlende Bildungsan- Kritik bezog sich auf die Distanz des Sonder- gebote für Sexualerziehung und reproduktive gerichtshofs zur Öffentlichkeit, das Kostenma- Gesundheit. nagement, schleppende Verfahren, die selek- tive Rechtsprechung, unzureichende Nachfol- Internationale Rechtsprechung geprogramme für den Wiederaufbau des na- Der Prozess gegen den ehemaligen liberiani- tionalen Justizsystems und die Stärkung der In- schen Staatspräsidenten Charles Taylor vor stitutionen vor Ort sowie das Versäumnis, Ak- dem Sondergerichtshof für Sierra Leone (Spe- teure aus der Wirtschaft wie Diamantenhändler cial Court for Sierra Leone – SCSL) wurde 2010 zur Rechenschaft zu ziehen. Der SCSL arbei- in Den Haag fortgesetzt. tete 2010 an einem Verfahren, seine Archive zu- Der SCSL hat seit 2002 acht Männer zu Ge- gänglich zu machen. Dabei wurden Bedenken fängnisstrafen verurteilt. Es handelt sich um laut, dass dieses Verfahren allzu restriktiv ge- die Angeklagten Moinina Fofana, Allieu Kon- handhabt werden könnte und dass Staatsan- dewa, Issa Sesay, Morris Kallon, Augustine wälte die Archive möglicherweise nicht für die Gbao, Alex Brima, Ibrahim Kamara und Santi- strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbre- gie Kanu. Sam Hinga Norman starb 2007 chern in anderen Justizsystemen, z. B. in Libe- eines natürlichen Todes. Foday Sankoh war ria, nutzen könnten. schon 2003 gestorben. Sam Bockarie wurde

Sierra Leone 419 Politisch motivierte Gewalt rekrutierte eine Reihe von ehemaligen Milizio- 2010 erhöhte sich die Gefahr, dass zwischen nären – von denen sich einige an brutalen Anhängern der Volkspartei von Sierra Leone Überfällen auf politische Gegner beteiligt hatten (Sierra Leone People’s Party – SLPP) und dem – für die Operational Support Division, eine Allgemeinen Volkskongress (All People’s Con- Sondereinheit der Polizei. Befürchtungen nah- gress – APC) Gewalt ausbrechen könnte. Grund men zu, dass ein Festhalten an dieser Verfah- dafür waren die für 2012 angesetzten Wahlen. rensweise dazu führen könnte, dass auch die Die Gewalttaten und Menschenrechtsverstöße, Opposition ähnliche Rekrutierungen unter zu denen es bei den vorherigen Wahlen im Tausenden von umgesiedelten ehemaligen Jahr 2007 und nach dem Sieg des APC gekom- Kämpfern vornehmen könnte. Dies wäre mit- men war, waren noch immer nicht strafrecht- tel- und langfristig eine große Gefahr für die Si- lich aufgearbeitet oder geahndet worden, ob- cherheit des Landes. schon eine Untersuchungskommission festge- stellt hatte, dass Übergriffe stattgefunden hat- Todesstrafe ten. Zwischen jugendlichen Anhängern der Sierra Leone überarbeitete 2010 seine Verfas- SLPP, der Volksbewegung für den Demokrati- sung. Allem Anschein nach wurde die Todes- schen Wandel (People’s Movement for Demo- strafe auch in dem jüngsten Verfassungsent- cratic Change) und dem APC kam es im gesam- wurf beibehalten. Das Strafgericht von Ke- ten Verlauf des Jahres 2009 und Mitte 2010 zu nema verhängte im November wieder ein To- gewaltsamen Zusammenstößen. desurteil. Ein Angehöriger des Militärs war im Die Initiative der Regierung, im Berichtsjahr August 2009 von einem Kriegsgericht wegen eine Kommission zur Untersuchung der Er- Mordes zum Tod durch Erschießen verurteilt mordung von 26 Menschen einzurichten, die worden. Der Präsident hatte das Todesurteil bis 1992 wahrscheinlich auf Geheiß der damali- zum Jahresende noch nicht unterzeichnet. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gen Regierung außergerichtlich hingerichtet Zehn Männer und drei Frauen saßen weiter in worden waren, verschärfte die Diskrepanzen Todeszellen ein. zwischen den unterschiedlichen politischen La- 000835 gern und Ethnien. Die allmähliche Auswechs- Amnesty International: Missionen und Berichte lung von etwa 200 hochrangigen Mitarbeitern  Delegierte von Amnesty International besuchten Sierra Leone der Regierung aus den Provinzen im Süden im April und im Oktober.  und im Osten des Landes durch APC-Anhänger, Sierra Leone: Government launches free maternal health care die überwiegend aus dem Norden kamen, tat (AFR 51/003/2010)  UN Secretary-General Ban Ki-moon must encourage the go- ein Übriges, um die Diskrepanzen zu schüren. vernment of Sierra Leone to do better on maternal mortality Die wichtigsten politischen Parteien griffen im (AFR 51/004/2010) Wahlkampf regionale und ethnisch geprägte  Sierra Leone: Inquest or commission of inquiry into 1992 ex- Standpunkte auf. Sierra Leone erlebte somit tra-judicial executions must form part of a comprehensive 2010 das Wiederaufleben einer Identitätspolitik plan to end impunity (AFR 51/007/ 2010) und die Verschärfung ethnischer und partei- politischer Spaltungen entlang den Konflikt- linien des APC und der SLPP. Vermeintliche ethnisch und politisch moti- vierte Vorurteile bei der Polizei und den Streit- kräften trugen ebenfalls dazu bei, Misstrauen und Ablehnung zu verstärken. Die Unabhän- gigkeit der Streitkräfte wurde angezweifelt, und es gingen Berichte über Spannungen unter den Soldaten ein. Außerdem stellte der regie-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht rende APC sogenannte Jugendführer auf und

420 Sierra Leone ihnen mussten ihre erneute Vertreibung Simbabwe befürchten.

Amtliche Bezeichnung: Republik Simbabwe Hintergrund Staatsoberhaupt: Robert Mugabe Spannungen innerhalb der Einheitsregierung Regierungschef: Morgan Tsvangirai blockierten auch weiterhin die Umsetzung eini- Todesstrafe: nicht abgeschafft ger Teile des Umfassenden Politischen Abkom- Einwohner: 12,6 Mio. mens (Global Political Agreement – GPA), das Lebenserwartung: 47 Jahre im September 2008 unter Mitwirkung der Ent- Kindersterblichkeit (m/w): 100/ 88 pro 1000 wicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika Lebendgeburten (Southern Africa Development Community – Alphabetisierungsrate: 91,4% SADC) geschlossen worden war. Bei dem SADC- Gipfel in Namibia im August 2010 wurde im Im Jahr 2010 wurden erneut Menschen- Rahmen eines gesonderten Treffens versucht, rechtsverteidiger und Journalisten, die die festgefahrene Situation innerhalb der Ein- sich für Menschenrechtsbelange einsetz- heitsregierung zu überwinden. Obwohl das von ten, von der Polizei willkürlich festge- der SADC ins Leben gerufene südafrikanische nommen und inhaftiert. Die Restriktio- Vermittlerteam Simbabwe mehrfach besuchte, nen gegen die Medien wurden leicht ge- konnten kaum Fortschritte erzielt werden. lockert. Das Parlament beriet über eine Präsident Robert Mugabe verstieß mit mehre- Gesetzesvorlage zur Reform des repres- ren unilateralen Beschlüssen gegen die Be- siven Gesetzes über Ordnung und Sicher- stimmungen des GPA-Abkommens und der heit (Public Order and Security Act – Verfassung, in denen für bestimmte Amts- POSA). Homo- und Bisexuelle sowie handlungen eine Absprache mit Ministerpräsi- Transgender-Personen waren von Verfol- dent Morgan Tsvangirai vorgesehen ist. Im gung bedroht. Die Opfer der 2005 durch- März legte er Zuständigkeiten von Ministerien geführten rechtswidrigen Zwangsräu- fest, dabei erhielten einige Minister, die den mungen lebten nach wie vor unter er- beiden Fraktionen der Bewegung für den De- bärmlichen Bedingungen; einige von mokratischen Wandel (Movement for Demo- cratic Change – MDC) verbunden sind, keinen spezifischen Aufgabenbereich. Bei der Wie- derbestellung von zehn Provinzgouverneuren im Oktober setzte er sich über eine Vereinba- rung zur Teilung der Macht hinweg und berief ausschließlich Mitglieder seiner eigenen Partei Zimbabwe African National Union-Patriotic Front (ZANU-PF) ins Amt. In ähnlicher Weise verfuhr er bei der Wiederbestellung von Bot- schaftern und der Ernennung von Richtern. Auch weigerte er sich nach wie vor, Roy Bennett als Stellvertretenden Landwirtschaftsminister zu vereidigen, der zum MDC-Flügel unter Lei- tung von Ministerpräsident Tsvangirai gehört. Die ZANU-PF beschloss, in der Einheitsregie- rung so lange keine weiteren Kompromisse einzugehen, bis die von der EU und den USA verhängten Sanktionen aufgehoben würden. Auf dem SADC-Gipfel im August wurde verein-

Simbabwe 421 bart, sich in dieser Frage mit der internationa- tens 186 Mitglieder der Frauenrechtsorganisa- len Gemeinschaft ins Benehmen zu setzen. tion Women of Zimbabwe Arise (WOZA) und Im März 2010 wurden die Mitglieder der Men- ihrer Untergruppierung für Männer Men of schenrechtskommission, der Medienkommis- Zimbabwe Arise (MOZA) wurden im Berichts- sion und der Wahlkommission ernannt; die jahr festgenommen. Menschenrechtskommission hatte jedoch bis  Am 25. Januar 2010 wurden 22 Mitglieder zum Ende des Berichtsjahrs ihre Tätigkeit noch von WOZA / MOZA in Bulawayo festgenommen, nicht aufgenommen. die an einem friedlichen Protestmarsch zur Es wurden öffentliche Konsultationen zur Er- Übergabe eines Berichts über die Bildungssi- arbeitung einer neuen Verfassung eingeleitet; tuation teilgenommen hatten. Sie wurden unter einige entsprechende Treffen wurden jedoch Einsatz von Schlagstöcken zu einem Polizeige- nach Gewalttätigkeiten, die zumeist von Un- bäude gebracht und später ohne Anklage wie- terstützern der ZANU-PF ausgingen, abgesagt. der auf freien Fuß gesetzt. Im September gab es in der Hauptstadt Ha-  Am 24. Februar 2010 musste Gertrude Ham- rare bei einer solchen öffentlichen Konsultation, bira, die Generalsekretärin der Gewerkschaft die von mutmaßlichen Anhängern der ZA- der Landwirtschafts- und Plantagenarbeiter NU-PF gewaltsam gestört wurde, mindestens (General Agricultural and Plantation Workers ein Todesopfer. Bei der Reform des Sicher- Union of Zimbabwe – GAPWUZ), untertauchen heitssektors wurden keine Fortschritte erzielt. und später das Land verlassen, nachdem Die Wirtschaft zeigte erste Anzeichen einer Er- sechs Angehörige einer Ermittlungseinheit der holung, dennoch lag die offizielle Arbeitslosen- Polizei auf der Suche nach ihr die Gewerk- rate nach wie vor bei über 80%. Etwa 1,5 Mio. schaftsbüros in Harare durchsucht hatten. Fünf Menschen waren auf Nahrungsmittelhilfen Tage zuvor war Gertrude Hambira in die Poli- angewiesen. zeistation in Harare zu einem Treffen mit 17 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Nachdem Präsident Mugabe, Ministerpräsi- hochrangigen Angehörigen der Polizei, der Ar- dent Tsvangirai und der Vermittler der SADC, mee und des Geheimdienstes vorgeladen wor- der südafrikanische Präsident Jacob Zuma, für den. Zusammen mit zwei weiteren Gewerk- 000835 2011 Wahlen in Aussicht gestellt hatten, ver- schaftern wurde sie zu einem Bericht und schärften sich die Spannungen in Simbabwe. einem Video der GAPWUZ befragt, die auf die In den ländlichen Gebieten soll es verstärkt zu Not der Landarbeiter und die anhaltende Ge- Schikanen und Einschüchterungsversuchen walt auf den Farmen aufmerksam machten. gegen mutmaßliche Gegner der ZANU-PF ge- Gertrude Hambira wurde eine Gefängnisstrafe kommen sein. Berichten zufolge unterstützten angedroht. Ende 2010 war sie noch nicht nach Angehörige der Sicherheitskräfte, die in die Simbabwe zurückgekehrt. politischen Unruhen im Jahr 2008 verwickelt  Okay Machisa, Leiter der Menschenrechtsor- gewesen waren, die ZANU-PF beim Neuauf- ganisation Zimbabwe Human Rights Associa- bau ihrer Strukturen. tion (ZimRights), verließ vorübergehend das Land, nachdem er am 23. März 2010 von der Menschenrechtsverteidiger Polizei inhaftiert worden war, weil er an einer Auch 2010 wurden Menschenrechtsverteidiger Fotoausstellung über die politische Gewalt im und Journalisten, die sich für die Menschen- Jahr 2008 mitgewirkt hatte. Die Polizei be- rechte einsetzten, von der Polizei willkürlich schlagnahmte mindestens 65 Fotografien der festgenommen und inhaftiert. Dies galt insbe- Ausstellung und gab sie erst nach einer Anord- sondere für Personen, die sich aktiv an der Er- nung des Oberen Gerichts an ZimRights zu- arbeitung der neuen Verfassung beteiligten rück. Trotz dieser gerichtlichen Anordnung wur- oder die darauf drängten, die Verantwortlichen den weitere Ausstellungen in den Städten für Menschenrechtsverletzungen der Vergan- Masvingo, Gweru und Chinhoyi von der Polizei

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht genheit zur Rechenschaft zu ziehen. Mindes- unterbunden. In Masvingo wurde der regio-

422 Simbabwe nale Vorsitzende von ZimRights, Joel Hita, über den Mitglieder des Independent Constitution Nacht festgehalten und erst gegen Kaution Monitoring Project Godfrey Nyarota und Tapiwa wieder freigelassen. Mavherevhedze zusammen mit ihrem Fahrer  Am 26. März 2010 wurde der in Bulawayo le- Cornelius Chengu festgenommen. Man bezich- bende Künstler Owen Maseko festgenommen, tigte sie, den Journalistenberuf ohne Akkredi- nachdem er seine Gemälde über die in den tierung ausgeübt zu haben, ließ sie aber später 1980er-Jahren verübten Massaker in der west- gegen Kaution wieder frei. Am nächsten Tag lichen Provinz Matabeleland ausgestellt hatte. wurde der Provinzkoordinator der Organisation, Nach den Bestimmungen des Gesetzes über Enddy Ziyera, ohne Angabe von Gründen Ordnung und Sicherheit wurden ihm »Unter- mehrere Stunden festgehalten, nachdem er grabung der Autorität des Präsidenten«, »Auf- den drei Inhaftierten Nahrungsmittel gebracht stachelung zu öffentlicher Gewalt« und »Belei- hatte. digung von Menschen einer bestimmten Eth-  Am 27. Juni 2010 wurden Paul Nechishanu, nie, Rasse oder Religion« zur Last gelegt. Drei Artwel Katandika und Shingairayi Garira, Tage später kam Owen Maseko gegen Kaution ebenfalls Unterstützer des Independent Consti- wieder frei. tution Monitoring Project, von Anhängern der  Am 15. April 2010 wurden die vier WOZA- ZANU-PF auf eine Farm im Distrikt Makonde Frauenrechtlerinnen Jenni Williams, Mago- (Provinz Mashonaland West) verschleppt und donga Mahlangu, Clara Manjengwa und Celina mit Holzstöcken geschlagen. Shingairayi Garira Madukani in Harare während einer friedlichen erlitt eine Verletzung des Trommelfells, Paul Demonstration gegen die steigenden Strom- Nechishanu und Artwel Katandika trugen Kopf- preise von der Polizei festgenommen. Zusam- verletzungen davon. men mit 61 weiteren Frauen wurden sie festge-  Am 20. September 2010 löste die Polizei in setzt und erst wieder freigelassen, als die Harare eine friedliche Demonstration auf und Staatsanwaltschaft die Anklageerhebung ver- nahm 83 Mitglieder von WOZA / MOZA fest. Sie weigerte. gehörten zu einer Gruppe von ca. 600 WOZA /  Farai Maguwu, der Leiter des Forschungs- MOZA-Mitgliedern, die an einem Protestmarsch und Entwicklungszentrums (Centre for Re- zum Parlament teilgenommen hatten, um ge- search and Development – CRD) mit Sitz in der gen Polizeiübergriffe und mangelnde Sicherheit Provinzhauptstadt Mutare, wurde am 3. Juni in ihren Gemeinden zu protestieren. Als die 2010 festgenommen, weil er Informationen Polizei einige Demonstrierende festnahm, be- über Menschenrechtsverletzungen weiterge- gaben sich zahlreiche andere aus Solidarität geben hatte, die von Angehörigen der Sicher- freiwillig in Polizeigewahrsam. Alle wurden zur heitskräfte in den Diamantenfeldern von Ma- Polizeizentrale von Harare gebracht. Dort range begangen worden waren. Seine Fest- mussten sie zwei Tage unter erbärmlichen Um- nahme, bei der Berichten zufolge Mitarbeiter ständen zubringen, ehe sie wegen »Erregung des staatlichen Sicherheitsdienstes zugegen öffentlichen Ärgernisses« angeklagt und gegen waren, erfolgte unmittelbar nach einem Tref- Kaution freigelassen wurden. Am gleichen Tag fen mit Abbey Chikane, dem südafrikanischen wurde auch die nationale Koordinatorin von Beobachter des Kimberly-Prozesses, der den WOZA, Jenni Williams, inhaftiert und mehrere Handel mit sogenannten Blutdiamanten unter- Stunden im Gebäude des Strafgerichts von Ha- binden soll. Farai Maguwu wurde die »Veröf- rare festgehalten, weil sie unter den freigelas- fentlichung oder Weitergabe falscher, staatsge- senen Aktivistinnen und Aktivisten nachgefragt fährdender Informationen« zur Last gelegt. Er hatte, wer medizinische Hilfe brauche. Jenni blieb bis zum 12. Juli in Untersuchungshaft. Williams wurde der »Agitation im Gerichtsge- Am 21. Oktober ließ die Staatsanwaltschaft die bäude« bezichtigt und erst wieder freigelas- Anklage gegen ihn fallen. sen, nachdem sie unter Protest eine Verwar-  Am 24. Juni 2010 wurden in Mutare die bei- nung unterschrieben hatte.

Simbabwe 423  Im Oktober 2010 versuchte die Polizei, einen schränkt und neue Rechenschaftspflichten Altfall gegen 14 WOZA-Aktivistinnen wieder für Polizeibedienstete eingeführt, die dann dem aufzurollen, die im Mai 2008 festgenommen Innenminister und den Veranstaltern von worden waren, als sie in der sambischen Bot- Kundgebungen und Versammlungen alle Fälle schaft in Harare eine Petition überreichen woll- von Gewaltanwendung melden müssten. ten. Allerdings erhielt nur eine der 14 Aktivis- tinnen, Clara Manjengwa, eine Vorladung. Als Rechte von Lesben, Schwulen, sie am 21. Oktober vor Gericht erschien, hatte Bisexuellen und Transgender-Personen man dort keine Unterlagen zu ihrem Fall, der im  Am 21. Mai 2010 durchsuchten Polizeibe- Übrigen auch nicht im Gerichtsregister ver- amte die Büroräume der Schwulen- und Les- zeichnet war. Es gab keinen Termineintrag, benorganisation Gays and Lesbians of Zim- keine Zeugen, nicht einmal die Polizei er- babwe (GALZ) in Harare und nahmen die bei- schien. Der Ermittlungsrichter ließ die ganze den Angestellten Ellen Chademana und Igna- Angelegenheit fallen. tius Mhambi wegen des Besitzes verbotener Materialien fest. Nach sechs Tagen Polizeige- Rechte auf freie Meinungs- wahrsam kamen sie gegen Kaution wieder frei. äußerung, Vereinigungs- und Beide wurden freigesprochen, Ignatius Mhambi Versammlungsfreiheit im Juli und Ellen Chademana im Dezember. Am 26. November 2010 entschied das Oberste Gericht, die Festnahme und Inhaftierung der Rechtswidrige Zwangsräumungen beiden führenden WOZA-Frauenrechtlerinnen Im Mai 2010 jährte sich zum fünften Mal der Jenni Williams und Magodonga Mahlangu Beginn der als Operation Murambatsvina nach einer friedlichen Demonstration im Jahr (Wiederherstellung der Ordnung) bekanntge- 2008 sei unrechtmäßig gewesen und habe wordenen massenhaften Zwangsräumungen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ihre Rechte und Grundfreiheiten verletzt. Das Noch immer hatte die Regierung die überleben- Gericht vertrat außerdem die Auffassung, dass den Opfer nicht entschädigt, die unter er- der Staat die beiden Menschenrechtsverteidi- bärmlichen Bedingungen auf den Landparzel- 000835 gerinnen nicht ausreichend vor Misshandlung len hausen mussten, die ihnen von der Regie- geschützt habe. rung im Rahmen des Programms zur Errich- Bei der Reform der Medien wurden gewisse tung von Unterkünften, genannt Operation Fortschritte erzielt; so wurde z. B. das Staats- Garikai/Hlalani Kuhle, zugeteilt worden waren. monopol für Tageszeitungen aufgehoben. Im Die meisten Betroffenen lebten 2010 noch im- Mai vergab die Medienkommission Lizenzen mer in den Behelfsunterkünften, die ihnen an vier Tageszeitungen, darunter auch an die verschiedene Hilfsorganisationen zur Verfü- Daily News, die 2002 verboten worden war. gung gestellt hatten. Oft war kein Zugang zu Bei der Zulassung von Privatsendern waren sauberem Wasser oder Sanitäranlagen, zu Ge- hingegen keine Fortschritte zu verzeichnen. sundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen Im Februar und im Oktober 2010 wurde ein oder Arbeitsmöglichkeiten vorhanden. Die Antrag auf Änderung des Gesetzes über Ord- meisten Opfer der Operation Murambatsvina nung und Sicherheit im Parlament diskutiert. hatten im Zuge der Zwangsräumungen, von de- Der im November 2009 vom Abgeordneten In- nen 700000 Menschen unmittelbar betroffen nocent Gonese (MDC-T) eingebrachte Antrag waren, auch ihre Lebensgrundlage verloren. zielte auf die Änderung von Bestimmungen  In Hopley, einer der im Rahmen der Opera- ab, mit denen die Vereinigungs- und Versamm- tion Garikai gebauten behelfsmäßigen Sied- lungsfreiheit beschnitten wird. Im Fall der Ver- lungen in Harare, führten erbärmliche Lebens- abschiedung des Änderungsantrags im Parla- bedingungen und fehlender Zugang zu grund- ment würden die Befugnisse der Polizei, will- legenden Versorgungsleistungen zu verstärkten

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht kürlich Demonstrationen zu verbieten, einge- Gesundheitsrisiken für Schwangere und Neu-

424 Simbabwe geborene. Die überlebenden Opfer berichteten ungeachtet einer schriftlichen Zusicherung des von einer sehr hohen Sterberate unter Neuge- Bürgermeisters von Harare im Dezember borenen, die u. a. auf die mangelnde medizini- 2009 erfolgt, dass eine solche Maßnahme nicht sche Versorgung der Mütter und Säuglinge, ergriffen werde. Der Bürgermeister erklärte unerschwingliche Gebühren und fehlende später, er habe mit den Zwangsräumungen Möglichkeiten für den Transport schwangerer nichts zu tun gehabt. Frauen während der Geburtswehen zurückzu- führen sei. Amnesty International: Missionen und Berichte Zudem mussten die Opfer der Operation Mu-  In den Monaten März, Mai und Juni sowie November und De- rambatsvina weitere Zwangsräumungen der zember besuchten Delegationen von Amnesty International Behörden befürchten. das Land. Im Mai trafen Vertreter von Amnesty International  Im Juni hängte das Ministerium für Kommu- mit Ministerpräsident Morgan Tsvangirai, dem Minister für Wohnungsbau und Soziales, Fidelis Mhashu, und dem Minis- nalverwaltung, Stadt- und Landentwicklung ter für Bildung, Sport und Kultur, David Coltart, zusammen. schriftliche Bekanntmachungen in der Siedlung Im November und Dezember hatten Delegierte der Organisa- Hatcliffe Extension in Harare auf, in der die 3000 tion Unterredungen mit der Stellvertretenden Ministerpräsi- Mieter und ihre Angehörigen, insgesamt zwi- dentin Thokozani Khupe, dem Minister für Gesundheit und schen 15000 und 20000 Menschen, aufgefor- Kinderfürsorge, Henry Madzorera, und dem Bürgermeister dert wurden, bis zum 30. September die Gebüh- von Harare, Muchadeyi Masunda. ren für eine Verlängerung der Mietverträge zu  Submission for consideration by the Constitutional Parlia- bezahlen, ansonsten würden ihre Wohnstätten mentary Committee on the death penalty provisions in the zwangsgeräumt. Die meisten Familien konnten Constitution (AFR 46/016/ 2010)  die Gebühren für die Verlängerung nicht auf- No chance to live – newborn deaths at Hopley, Harare Zimbabwe (AFR 46/018/2010) bringen. Nach massiven Protesten von Amnesty  Zimbabwe must release 83 activists detained at peaceful International und simbabwischen Menschen- demonstration, 19 September 2010 rechtsorganisationen zog die Regierung die  Zimbabwe: Stop harassing opponents of former government, Androhung der Zwangsräumung zurück. Die 10 May 2010 Organisationen unterstützten auch einige der  Submission for consideration by the Constitutional Parlia- Betroffenen dabei, Klage einzureichen. mentary Committee recommending the inclusion of econo-  Am 25. August wurden rund 250 Menschen mic, social and cultural rights in the Constitution aus einer informellen Siedlung in Harares (AFR 46/022/ 2010) wohlhabendem Stadtteil Gunhill von der Polizei ohne vorherige Ankündigung vertrieben. Ge- gen Mitternacht erschienen bewaffnete Polizis- ten mit Hunden und befahlen den Einwoh- nern, die Siedlung zu verlassen. Opfer berichte- ten, dass ihnen nur etwa zehn Minuten Zeit gewährt worden sei, um ihre Habe aus den Singapur Wohnhütten zu holen, bevor die Behausungen in Brand gesetzt wurden. Einige Bewohner ka- Amtliche Bezeichnung: Republik Singapur men der Aufforderung nicht schnell genug Staatsoberhaupt: Sellapan Rama Nathan nach, so dass ihr Besitz verbrannte. 55 Men- Regierungschef: Lee Hsien Loong schen wurden festgenommen, darunter auch Todesstrafe: nicht abgeschafft fünf Kinder, und in die Polizeizentrale von Ha- Einwohner: 4,8 Mio. rare gebracht. Dort mussten sie mehrere Stun- Lebenserwartung: 80,7 Jahre den ausharren, ehe sie auf Intervention von Kindersterblichkeit (m/w): 4 / 4 pro 1000 Rechtsanwälten wieder freigelassen wurden. Lebendgeburten Für das Vorgehen der Polizei wurde keine Be- Alphabetisierungsrate: 94,5% gründung gegeben. Die Zwangsräumung war

Singapur 425 Regierungskritiker und Menschenrechts- Asien hohe Positionen bekleiden, die Namen verteidiger wurden auch im Jahr 2010 des früheren Premierministers Lee Kuan Yew strafrechtlich belangt, wenn sie ihr Recht und des derzeitigen Amtsinhabers Lee Hsien auf freie Meinungsäußerung ausübten. Loong aufgeführt. Die Medien waren durch rigide Zensurge-  Im Juli 2010 nahm die Polizei den britischen setze und Strafverfahren gegen Verlags- Journalisten Alan Shadrake fest, nachdem er häuser unvermindert strenger Kontrolle ein Buch über Hinrichtungen in Singapur veröf- ausgesetzt. Willkürliche Inhaftierungen, fentlicht hatte. Im Zusammenhang mit Aussa- gerichtlich angeordnete Stockschläge gen in seinem Buch, die mutmaßlich die Unab- und die Todesstrafe kamen auch weiter- hängigkeit der Justiz infrage stellten, lastete hin zum Einsatz. man ihm Missachtung des Gerichts an. Er wurde im November schuldig gesprochen und Rechte auf freie Meinungsäußerung zu sechs Wochen Haft sowie einer Geldstrafe und Versammlungsfreiheit von 20000 Singapur-Dollar (ca. 11000 Euro) Chee Soon Juan, der Generalsekretär der Op- verurteilt. positionspartei Singapore Democratic Party (SDP), war nach Verleumdungsklagen gegen- Haft ohne Gerichtsverfahren wärtiger und früherer Minister nach wie vor Eine unbekannte Zahl mutmaßlicher Islamisten zahlungsunfähig und konnte sich daher weder blieb auf Grundlage des Gesetzes zur inneren um ein öffentliches Amt bewerben noch Sin- Sicherheit (ISA), das Inhaftierungen ohne Pro- gapur verlassen. Ihm und seinen Parteifreun- zess gestattet, in Haft. Eine weitere Festnahme den drohten wegen öffentlicher Reden ohne wurde bekannt. Sieben Personen, die bis zu Genehmigung und wegen Abhaltens nicht ge- neun Jahre lang gefangen gehalten worden nehmigter Versammlungen Geldstrafen und waren, kamen 2010 frei. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen möglicherweise auch Haftstrafen. Über Rechts- mittel gegen ihre Schuldsprüche war noch Todesstrafe nicht entschieden; bis Jahresende blieben sie Mindestens acht Personen wurden 2010 zum 000835 gegen Kaution auf freiem Fuß. Tode verurteilt. Die Regierung veröffentlichte  Im März 2010 entschuldigte sich die Tages- keine offiziellen Angaben über Hinrichtungen. zeitung International Herald Tribune und  Zehntausende Malaysier setzten sich dafür zahlte Geldstrafen aufgrund einer Verleum- ein, das gegen den Malaysier Yong Vui Kong dungsklage, die im Zusammenhang mit einem verhängte Todesurteil in eine Haftstrafe umzu- Artikel über politische Dynastien stand. Darin wandeln. Die malaysische Regierung wandte waren in einer langen Liste von Familien, die in sich in der Angelegenheit an die singapuri- schen Behörden. Yong Vui Kong war 2009 we- gen Drogenhandels zum Tode verurteilt wor- den, eines Verbrechens, das in Singapur zwin- gend die Todesstrafe nach sich zieht. Yong Vui Kongs Anwalt legte mit der Begründung, dass die zwingende Verhängung der Todesstrafe ver- fassungswidrig sei, Rechtsmittel ein. Das Be- rufungsgericht wies den Antrag zurück. Yong Vui Kongs Anwalt reichte überdies ein Gesuch für eine gerichtliche Überprüfung des Begnadi- gungsverfahrens ein. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

426 Singapur Folter und andere Misshandlungen Die Prügelstrafe in Form von Stockschlägen Slowakei wurde für etwa 30 Straftatbestände verhängt, darunter Vandalismus und Verstöße gegen die Amtliche Bezeichnung: Slowakische Republik Einwanderungsbestimmungen. Staatsoberhaupt: Ivan Gasˇparovicˇ  Im April 2010 wurde ein Mann aus Kamerun Regierungschefin: Iveta Radicˇová mit Stockschlägen bestraft, weil er trotz Ablauf (löste im Juli Robert Fico im Amt ab) seines Visums im Land geblieben war. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft  Im Juni 2010 wurde ein Schweizer mit Stock- Einwohner: 5,4 Mio. schlägen bestraft, weil er ein Zugabteil ver- Lebenserwartung: 75,1 Jahre wüstet hatte. Kindersterblichkeit (m/w): 9 / 8 pro 1000 Lebendgeburten Internationale Kontrolle Der UN-Sonderberichterstatter über zeitgenös- Zwar wurden Zusagen zur Beseitigung sische Formen des Rassismus, der Rassendis- der beim Zugang zur Bildung bestehen- kriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und da- den Ungleichbehandlung aufgrund eth- mit zusammenhängender Intoleranz besuchte nischer Herkunft gemacht, doch waren Singapur im April. Er empfahl u. a. schnelles Angehörige der Gemeinschaft der Roma Handeln zum Schutz von Arbeitsmigranten weiterhin Diskriminierungen im Schul- sowie Schritte zur Schaffung eines rechtlichen system, im Wohnungswesen und in der und institutionellen Regelwerks im Kampf ge- Gesundheitsversorgung ausgesetzt. Die gen den Rassismus. Er erklärte, es sei an der Slowakei ignorierte ein Urteil des Euro- Zeit, den Bürgern Singapurs zu gestatten, ihre päischen Gerichtshofs für Menschen- Ansichten über ethnische Zugehörigkeiten mit- rechte und schob einen Asylbewerber einander zu teilen und gemeinsam Lösungen nach Algerien ab. zu erarbeiten. Hintergrund Gewaltlose politische Gefangene Im Juli 2010 kam eine Mitte-rechts-Koalition an 2010 machten zum ersten Mal mehrere frühere die Regierung. Das im August verabschiedete gewaltlose politische Gefangene ihre Erfahrun- Regierungsprogramm enthielt die Verpflich- gen publik, unter ihnen auch Teo Soh Lung, die tung, Maßnahmen zur Beseitigung der Un- ein Buch über ihre Haftzeiten geschrieben gleichbehandlung aufgrund ethnischer Her- hat. Sie war auf Grundlage des Gesetzes zur in- kunft umzusetzen. neren Sicherheit 1987 und erneut 1990 inhaf- tiert worden.

Slowakei 427 Diskriminierung – Roma von Presˇov im Jahr 2008 erlassenen Anord- Die Diskriminierung der Roma setzte sich 2010 nung ein, die ihrer Ansicht nach gegen das An- auf mehreren Ebenen fort. Berichten zufolge tidiskriminierungsgesetz verstieß. Durch die vermeldete das Innenministerium, dass es an Anordnung waren Einzugsgebiete für die sie- einem System zur Datenerfassung der von Be- ben Grundschulen der Stadt festgelegt wor- wohnern von Roma-Siedlungen begangenen den. Die NGO behauptete, dass die Kommunal- Straftaten arbeite. Im September erklärte der verwaltung Straßen und in einigen Fällen so- Minister, dass »die Kommunen, die in der Nähe gar Hausnummern so zugeordnet habe, dass von abgesonderten Siedlungen liegen, zu den Straßen, in denen überwiegend oder aus- Gebieten gehören, die stärker von Kriminalität schließlich Roma wohnten, in das Einzugsge- betroffen sind«. biet einer einzigen Schule fielen, womit diese Im Oktober entschied das Regionalgericht in Schule nach und nach zu einer ausschließlich Kosˇice, dass Roma aufgrund ihrer ethnischen von Roma-Kindern besuchten Schule gewor- Herkunft diskriminiert würden, wenn sie daran den sei. gehindert werden, eines der Cafés in der Stadt Michalovce zu betreten. Dies war eines der ers- Recht auf Wohnen ten Urteile dieser Art. Das Gericht lehnte es je- Mehrere Kommunen trafen entweder die Ent- doch ab, den Opfern irgendeine Entschädigung scheidung oder begannen damit, Mauern zu zuzusprechen. errichten, um die Wohngebiete der Roma von den nicht von Roma bewohnten Teilen der Recht auf Bildung Städte oder Dörfer abzutrennen. Im März 2010 veröffentlichte der UN-Aus-  Nachdem im Jahr 2009 im Dorf Ostrovany schuss für die Beseitigung der Rassendiskri- eine Mauer errichtet worden war, die eine Ro- minierung seine Schlussbemerkungen über ma-Siedlung vom Rest des Dorfs abtrennte, er- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen den von der Slowakei vorgelegten Staatenbe- klärte das Slowakische Nationale Zentrum für richt. Der Ausschuss wiederholte dabei seine Menschenrechte, dass die Errichtung der Bedenken hinsichtlich der faktischen Un- Mauer an sich zwar keine diskriminierende 000835 gleichbehandlung von Roma-Kindern im Bil- Aktion sei, dass die Kommune jedoch ihre Ver- dungssystem. Der Ausschuss forderte die Slo- pflichtung zur Verhinderung von Diskriminie- wakei nachdrücklich dazu auf, diese Benach- rung nicht ausreichend erfüllt habe. Das Zen- teiligung zu beenden und zu verhindern sowie trum betonte auch, dass die Errichtung von dabei auch die eng damit verbundene Diskrimi- Mauern soziale Trennung bedeute. nierung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche  Im August 2010 stellte die Stadtverwaltung zu berücksichtigen. von Michalovce eine Mauer fertig, um eine Ro- Im August gestand die neue Regierung ein, ma-Siedlung und ein Wohngebiet von nicht der dass die im Bildungssektor existierende ethni- Volksgruppe der Roma angehörenden Ein- sche Segregation ein systemisches Problem sei. wohnern abzutrennen. Die Bewohner der Ro- Im September bestritt das Erziehungsministe- ma-Siedlung bezeichneten die Absperrung als rium hingegen, dass die Ungleichbehandlung »Berliner Mauer« und brachten ihren Unmut von Roma-Kindern ein ernstes Problem dar- über die Trennung zum Ausdruck. Im Septem- stelle, und behauptete, dass es nur einige we- ber erklärte der Bürgerbeauftragte der Slowakei nige Beschwerden gegen diese Form der Dis- (Verejny´ ochranca práv), dass durch den Mau- kriminierung gegeben habe. erbau keine grundlegenden Rechte und Frei-  Im November 2010 reichte die nichtstaatliche heiten verletzt worden seien. Beratungsstelle für Bürger- und Menschen-  Im September 2010 errichtete die Stadtver- rechte (Poradnˇ a pre obcˇianske a l’udské práva) waltung von Presˇov eine Mauer, die das Wohn- bei der regionalen Staatsanwaltschaft Klage gebiet, in dem überwiegend Roma lebten, von

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht bezüglich einer von der Kommunalverwaltung den anderen Stadtteilen abtrennte. Dem Ver-

428 Slowakei nehmen nach erklärte der Bürgermeister von haben sollen. Alle beschuldigten Polizeibeam- Presˇov, dass dies die Reaktion der Kommune ten bekannten sich dem Vernehmen nach auf Beschwerden über Vandalismus sei. Das nicht schuldig und verweigerten ihre Aussage Slowakische Nationale Zentrum für Men- bei der Gerichtsverhandlung. Drei von ihnen schenrechte äußerte die Ansicht, dass der Bau versahen weiterhin ihren Dienst bei der Polizei. der Mauer die existierende Ungleichheit be- stätige. Antiterrormaßnahmen und Sicherheit  Ungefähr 90 Roma-Familien, die in dem etwa Die Behörden lieferten einen Mann an ein Land 20 km nördlich von Bratislava gelegenen Dorf aus, in dem dieser dem Risiko von Folter und Plavecky´ Sˇ tvrtok lebten, waren in Gefahr, ge- anderen Misshandlungen ausgesetzt sein waltsam aus ihren Häusern vertrieben zu wer- könnte. den. Seit Januar hatte die Kommunalverwal-  Im April 2010 lieferte das Innenministerium tung 18 Familien Räumungsbescheide zuge- den Asylsuchenden Mustafa Labsi an Algerien stellt, in denen diese aufgefordert wurden, ihre aus, obwohl das Verfassungsgericht im Jahr Unterkünfte selbst abzureißen. In der Begrün- 2008 aus humanitären Gründen – insbeson- dung hieß es, dass die Familien keine Doku- dere wegen der Gefahr der Folter – entschie- mente vorgelegt hätten, die den Nachweis er- den hatte, einen Auslieferungsversuch zu brachten, dass die Häuser in Übereinstimmung stoppen. Algerien hatte die Auslieferung von mit den gesetzlichen Vorschriften errichtet Mustafa Labsi im Jahr 2007 beantragt, nach- worden seien. dem es ihn im Jahr 2005 in Abwesenheit wegen terroristischer Straftaten verurteilt und im Jahr Zwangssterilisierung von Roma-Frauen 2008 mit lebenslanger Haft bestraft hatte. Der Im März 2010 forderte der UN-Ausschuss für Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beseitigung der Rassendiskriminierung hatte im August 2008 ebenfalls Übergangsmaß- die Behörden nachdrücklich dazu auf, klare nahmen angeordnet und die Behörden aufge- Richtlinien aufzustellen, die gewährleisten, fordert, ihn nicht auszuliefern, bis eine Ent- dass Patienten ausreichend informiert sind, be- scheidung über die von ihm gegen den Asyl- vor sie ihre Zustimmung zur Sterilisation ertei- Ablehnungsbescheid eingelegten Rechtsmittel len. Gleichfalls sei sicherzustellen, dass sowohl getroffen worden sei. Mustafa Labsi wurde im Ärzte als auch Roma-Frauen mit diesen Richt- April ausgeliefert; er hatte sich seit 2007 in Haft linien vertraut sind. Vor dem Europäischen Ge- befunden. Im Oktober urteilte das Verfas- richtshof für Menschenrechte waren fünf sungsgericht, dass seine Inhaftierung seine Rechtsfälle anhängig, die mutmaßliche Rechte auf Freiheit und Sicherheit verletzt Zwangssterilisierungen von Roma-Frauen be- habe. Am Jahresende befand er sich im Ge- trafen. In zwei Fällen erklärte das Gericht die fängnis El Harrach in Algerien und wartete auf Beschwerden für zulässig. sein Verfahren unter der Anklage, einer »terro- ristischen Gruppe im Ausland« anzugehören. Folter und andere Misshandlungen Im November fand vor dem Bezirksgericht in Flüchtlinge und Asylsuchende – Kosˇice die erste Verhandlung im Prozess we- Guantánamo-Häftlinge gen der Misshandlung von sechs Roma-Jungen Die Regierung erklärte sich dazu bereit, drei durch die Polizei im April 2009 statt. Der Ge- Männer aufzunehmen, die sich früher im US- neralstaatsanwalt klagte zehn Polizeibeamte Gewahrsam in Guantánamo Bay befunden hat- des Machtmissbrauchs in Verbindung mit ras- ten. Sie wurden am 5. Januar 2010 in die Slo- sistischen Beweggründen an. Vier der beschul- wakei überstellt. Nach ihrer Ankunft wurden die digten Polizeibeamten wurden wegen man- drei Männer in der Einrichtung für illegale Mig- gelnder Sorgfaltspflicht angeklagt, da sie dem ranten von Medved’ov inhaftiert. Im Juni und Übergriff beigewohnt, aber nicht eingegriffen Juli führten sie einen Hungerstreik durch, um

Slowakei 429 gegen ihre Inhaftierung und die schlechten Le-  Steps to end segregation in education: Briefing to the bensbedingungen zu protestieren. Im Juli government of Slovakia (EUR 72/009/2010) stellte die Regierung den drei Männern Aufent-  Romani children continue to be trapped in separate and un- haltsgenehmigungen für fünf Jahre aus. equal education, despite judgments by the European Court of Human Rights (EUR 01/029/ 2010) Recht auf Gesundheit – reproduktive Rechte Angaben der Slowakischen Vereinigung für Fa- milienplanung (Spolocˇnost’ pre plánované ro- dicˇovstvo) zufolge missbrauchten Kranken- hausleitungen häufig das Recht auf eine Ab- lehnung des Schwangerschaftsabbruchs aus Gewissensgründen. So soll nur eines der fünf Slowenien öffentlichen Krankenhäuser in Bratislava auf Beschluss seiner Leitung Schwangerschafts- Amtliche Bezeichnung: Republik Slowenien abbrüche durchgeführt haben. Trotz entspre- Staatsoberhaupt: Danilo Türk chender Empfehlungen des UN-Ausschuss Regierungschef: Borut Pahor zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft der Frau (CEDAW-Ausschuss) aus dem Jahr Einwohner: 2 Mio. 2008 haben die Behörden bislang keine Be- Lebenserwartung: 78,8 Jahre stimmungen für Fälle erlassen, in denen Kran- Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 kenhäuser aus Gewissensgründen die Durch- Lebendgeburten führung bestimmter Behandlungen ablehnen. Alphabetisierungsrate: 99,7% 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Rechte von Lesben, Schwulen, Bemühungen der Behörden, die Rechte Bisexuellen und Transgender-Personen jener Personen wiederherzustellen, de- Die Organisatoren von »Bratislava Pride«, des ren Namen 1992 gesetzwidrig aus dem 000835 am 22. Mai durchgeführten ersten Umzugs Einwohnerregister gestrichen worden von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans- waren (sogenannte ausgelöschte Per- gender-Personen in der Slowakei, mussten die sonen), kamen nur schleppend voran. Route ändern, nachdem die Polizei angekün- Auch erhielten die Betroffenen keinerlei digt hatte, dass sie nicht in der Lage sein Entschädigung. Angehörige der Gemein- werde, die Teilnehmer vor Angriffen durch schaft der Roma sahen sich weiterhin Gegendemonstranten zu schützen. Berichten Diskriminierung ausgesetzt. zufolge kam es bei dem Straßenumzug zu Ge- walt und Einschüchterungen, da es den Be- hörden nicht gelang, für ausreichende Sicher- heit zu sorgen. Nach Angaben der Organisa- toren wurden mindestens zwei Männer, die die Regenbogenfahne trugen, vor Beginn der Veranstaltung von Gegendemonstranten ver- letzt.

Amnesty International: Missionen und Berichte  Vertreter von Amnesty International besuchten in den Mona- ten März, April und September die Slowakei.  Unlock their future: End the segregation of Romani children in Slovakia’s schools (EUR 72/004/2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

430 Slowenien Diskriminierung Roma Sogenannte ausgelöschte Personen Viele Roma litten unter schlechten Wohnver- Die Behörden unterließen es erneut, die Rechte hältnissen, gekennzeichnet durch unzurei- früherer ständiger Einwohner Sloweniens zu chenden Zugang zu Wasser, sanitären Einrich- gewährleisten, welche ursprünglich aus ande- tungen und Stromversorgung. Sehr häufig wa- ren jugoslawischen Teilrepubliken stammen. ren Roma-Siedlungen isoliert und abgelegen. Den Betroffenen war 1992 unter Verstoß gegen Roma-Familien erhielten keinen Zugang zu geltende Gesetze das Dauerwohnrecht entzo- Sozialwohnungsprogrammen und wurden dis- gen worden, was zu Verletzungen ihrer wirt- kriminiert, wenn sie Wohneigentum erwerben schaftlichen und sozialen Rechte geführt wollten. Verbale und körperliche Einschüchte- hatte. Überdies waren einige von ihnen des rungen sowie Aufstachelung zum Hass gegen Landes verwiesen worden. Roma waren verbreitet und wurden von den zu- Am 8. März 2010 verabschiedete die National- ständigen Behörden weitgehend ignoriert. versammlung ein Gesetz, das darauf abzielt, Rechtsmittel zur Anfechtung der diskriminie- den sogenannten gelöschten Personen rück- renden Praktiken waren unzureichend und wirkend das Dauerwohnrecht zuzusprechen. häufig nicht verfügbar. Die Parlamentsdebatte sowie der öffentliche Im Mai 2010 stellte die UN-Expertin zum Men- Diskurs vor der Verabschiedung des Gesetzes schenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung waren von fremdenfeindlichen Äußerungen bei ihrem Besuch in Slowenien fest, dass min- mehrerer Abgeordneter überschattet. destens 21 Roma-Siedlungen keinen Zugang Am 12. März beantragten die Parteien des zu Wasser hatten. Sie warnte vor den katastro- rechten Spektrums im Parlament, ein Refe- phalen Folgen für diese Gemeinschaften und rendum zu den neuen Gesetzen abzuhalten. drängte die Behörden, umgehend Abhilfemaß- Der Antrag wurde im Juni vom Verfassungsge- nahmen zu ergreifen. richt abgelehnt. In ähnlicher Weise drängte der UN-Aus- Im Juli entschied der Europäische Gerichts- schuss für die Beseitigung der Rassendiskri- hof für Menschenrechte, dass die Behörden minierung im August die Behörden, gegen die das Recht auf Privat- und Familienleben von Diskriminierung von Roma in verschiedenen acht Klägern verletzt hätten, denen 1992 das Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vorzu- Dauerwohnrecht entzogen worden war. Der Ge- gehen, u. a. in den Bereichen Bildung, Wohn- richtshof sah auch eine Verletzung des Rechts raum, Gesundheit und Arbeit. Der Ausschuss auf wirksamen Rechtsschutz als gegeben an, legte den Behörden überdies nahe, Maßnah- da die Behörden zwei in den Jahren 1999 und men zu ergreifen, um der Segregation von Ro- 2003 ergangene Entscheidungen des Verfas- ma-Kindern im Schulsystem ein Ende zu be- sungsgerichts in Bezug auf die Rechte der so- reiten. genannten gelöschten Personen nicht umge- setzt hatten. Amnesty International: Mission Im August empfahl der UN-Ausschuss für die  Delegierte von Amnesty International besuchten Slowenien Beseitigung der Rassendiskriminierung im November. (CERD) den Behörden u. a., allen Personen, die vom Entzug ihres Dauerwohnrechts betroffen waren, umfassende Wiedergutmachung zu ge- währleisten, einschließlich finanzieller Ent- schädigung, Wiedereingliederung und der Ga- rantie, vergleichbare Maßnahmen in Zukunft zu unterlassen.

Slowenien 431 Gruppen und die unsichere Lage trugen Somalia dazu bei, dass es für Hilfsorganisatio- nen noch schwieriger wurde, die Zivilbe- Amtliche Bezeichnung: Republik Somalia völkerung und Binnenvertriebenen zu Präsident der föderalen Übergangsregierung: versorgen. Mitarbeiter humanitärer Hilfs- Sheikh Sharif Ahmed organisationen, Journalisten und soma- Ministerpräsident der föderalen lische Menschenrechtsverteidiger liefen Übergangsregierung: Mohamed Abdullahi auch 2010 Gefahr, entführt oder getötet Mohamed »Farmajo« (löste Omar Abdirashid Ali zu werden. Bewaffnete Gruppen kontrol- Sharmarke im November im Amt ab) lierten den größten Teil von Süd- und Präsident der Republik Somaliland: Zentralsomalia und waren dort für die Ahmed Mahamoud Silanyo (löste Dahir Riyale steigende Zahl widerrechtlicher Tötun- Kahin im Juli im Amt ab) gen sowie für Folter und Zwangsrekrutie- Todesstrafe: nicht abgeschafft rungen verantwortlich. Die Übergangs- Einwohner: 9,4 Mio. regierung (TFG) kontrollierte nur einen Lebenserwartung: 50,4 Jahre Teil der somalischen Hauptstadt Moga- Kindersterblichkeit (m/w): 186 / 174 pro 1000 dischu. Ein funktionierendes Justizsys- Lebendgeburten tem gab es nicht. Auch 2010 wurden gravierende Menschenrechtsverletzun- Im Süden und im Zentrum des Landes gen einschließlich Kriegsverbrechen hielten 2010 die bewaffneten Auseinan- nicht bestraft. In der halbautonomen Re- dersetzungen zwischen islamistischen gion Puntland kam es zu Auseinander- Gruppen und regierungstreuen Einhei- setzungen mit einer bewaffneten ten an. Durch wahllose Anschläge und Gruppe. In Somaliland wurde nach den 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen die überall herrschende Gewalt wurden Präsidentschaftswahlen eine neue Regie- im Jahresverlauf Tausende von Zivilper- rung gebildet. sonen verletzt und getötet sowie min- 000835 destens 300000 Menschen aus ihren Hintergrund Wohnorten vertrieben. Bewaffnete Die TFG versuchte ihre Kontrolle über Mogadi- schu auszuweiten und sich gegen die ständi- gen Angriffe der bewaffneten islamistischen Gruppen al-Shabab und Hizbul Islam, aber auch gegen Widersacher in den eigenen Rei- hen durchzusetzen. Am 15. März 2010 unter- zeichnete die TFG ein Rahmenabkommen mit der bewaffneten Sufi-Gruppe Ahlu Sunna Wal Jamaa (ASWJ), in dem formell ein Militärbünd- nis vereinbart und die Kontrolle der Gruppe über Teile von Zentralsomalia anerkannt wurde. Später kündigte die ASWJ die Zusammenar- beit jedoch mit der Begründung auf, dass die TFG das Abkommen nicht umgesetzt habe. Im Mai zeichneten sich Spannungen zwischen dem Präsidenten und dem Ministerpräsiden- ten der TFG ab. Letzterer trat schließlich im September zurück. Am 1. November über- nahm Mohamed Abdullahi Mohamed »Far-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht majo« das Amt des Ministerpräsidenten. Im

432 Somalia Juli wurden Konsultationen über einen Verfas- senz in Somalia verstärken werden. Der UN-Ge- sungsentwurf aufgenommen. neralsekretär und der Unabhängige UN-Ex- Die al-Shabab-Milizen übernahmen die Ver- perte für die Menschrechtssituation in Somalia antwortung für Selbstmordanschläge, so auch gingen in ihren Berichten auf Menschen- für den Anschlag auf das Hotel Muna, der im rechtsverstöße im Land ein. Diese waren im August 2010 33 Todesopfer forderte. Die September auch Thema einer Sondersitzung Gruppe bekannte sich außerdem zu Bomben- des UN-Menschenrechtsrats. Trotz nachhalti- anschlägen, die im Juli die ugandische Haupt- ger Appelle, Verbrechen gegen das Völker- stadt Kampala erschüttert hatten (siehe Län- recht strafrechtlich zu ahnden, waren bis Ende derbericht Uganda). Sie erklärte, es handele 2010 keine Untersuchungen derartiger Straf- sich um eine Vergeltungsmaßnahme für das taten eingeleitet worden. Vorgehen der Friedensmission der Afrikani- Im Indischen Ozean nahmen Schiffskaperun- schen Union in Somalia (AMISOM), das Opfer gen und Geiselnahmen von Seeleuten durch unter der Zivilbevölkerung gefordert hatte. Piraten zu. Im Kampf gegen die Piraten vor der Die aus ugandischen und burundischen Sol- somalischen Küste koordinierte die internatio- daten bestehende AMISOM, die den Auftrag nale Gemeinschaft weiterhin militärische Reak- hatte, die Institutionen der TFG zu schützen, er- tionen und sondierte rechtliche Optionen. höhte ihre Truppenstärke auf 8000 Mann. Da- Meldungen zufolge hat die Regierung von Punt- mit reagierte sie u. a. auf die Anschläge in Kam- land im Juli ein Gesetz zur Bekämpfung des pala. Die AMISOM wies Vorwürfe zurück, de- Terrorismus angenommen. nen zufolge ihre Soldaten auf die Angriffe be- waffneter Gruppen in Mogadischu mit wahllos Wahllose Angriffe abgefeuerten Schüssen und Artilleriebeschuss Alle Konfliktparteien setzten in Gegenden, in reagiert und dadurch Zivilpersonen getötet ha- denen Zivilpersonen lebten oder sich häufig ben sollen. Die AMISOM entschuldigte sich je- aufhielten, Mörser und schwere Waffen ein. Da- doch für die Tötung zweier Zivilpersonen am durch wurden Tausende von Menschen ver- 23. November in Mogadischu. Sie erklärte, dass letzt oder getötet. In Mogadischu verübten be- der Vorfall Gegenstand von Ermittlungen sei waffnete Gruppen aus Wohngebieten heraus und sich die beteiligten Soldaten in Haft befän- Anschläge. Berichten zufolge reagierten sowohl den. Am 22. Dezember erhöhte der UN-Si- die TFG als auch die AMISOM auf diese An- cherheitsrat die Truppenstärke der AMISOM griffe mit wahllosem Schusswaffeneinsatz. Vom von 8000 auf 12000 Mann. 4. Januar bis zum 19. November 2010 wurden Die Sicherheitskräfte der TFG wurden trotz in zwei Krankenhäusern in Mogadischu 4030 Bedenken hinsichtlich ihrer fehlenden Re- Menschen mit kriegsbedingten Verletzungen chenschaftspflicht auch 2010 international un- aufgenommen; 18 % der Verletzten waren Kin- terstützt. Die EU begann im Mai in Uganda mit der unter fünf Jahren. Aus den Patientenakten der Ausbildung von 1000 TFG-Soldaten. Die eines dritten Krankenhauses ergab sich, dass UN-Beobachtergruppe für Somalia wies da- von Januar bis Juni fast die Hälfte der Patien- rauf hin, dass ständig gegen das für Somalia ten wegen kriegsbedingter Verletzungen be- geltende Waffenembargo der UN verstoßen handelt worden war. Bei 38% dieser Patienten werde. Im Zusammenhang mit Somalia ver- handelte es sich um Frauen und um Kinder hängte der UN-Sicherheitsrat im April gegen unter 14 Jahren. neun Einzelpersonen und Einrichtungen Reise-  Bei Kämpfen zwischen bewaffneten Gruppen verbote sowie ein gezieltes Waffenembargo einerseits und Soldaten der TFG und der AMI- und ließ das Vermögen der Betroffenen sper- SOM andererseits wurden am 29. Januar 2010 ren. 19 Zivilisten getötet und mindestens 100 ver- Der neue UN-Sonderbeauftragte für Somalia letzt. Ein von der Organisation Ärzte ohne Gren- gab im August bekannt, dass die UN ihre Prä- zen unterstütztes Krankenhaus nahm vom

Somalia 433 29. Januar bis zum 2. Februar 89 Menschen Viele suchten im Afgoye-Korridor außerhalb auf, die durch Artilleriebeschuss verletzt wor- Mogadischus Zuflucht, wo sich bereits rund den waren. Unter ihnen waren 52 Frauen und 410000 Vertriebene aufhielten, für die es kaum Kinder. bzw. keine humanitären Hilfeleistungen gab.  Nach Angaben von Rettungsdiensten forder- In Berichten hieß es, dass seit September im ten die Kämpfe in Mogadischu im Juli 2010 Afgoye-Korridor tausende Binnenflüchtlinge rund 170 Tote und 700 Verletzte. Vom 18. bis mit Gewalt umgesiedelt worden seien, nach- zum 21. Juli wurden Berichten zufolge bei Ar- dem Geschäftsleute dort Grundstücke gekauft tilleriegefechten zwischen bewaffneten islamis- hätten. tischen Gruppen einerseits und Soldaten der Die Behörden von Puntland siedelten am 19. TFG und der AMISOM andererseits in mehreren und 20. Juli 2010 rund 900 intern Vertriebene, Stadtvierteln von Mogadischu – u. a. in Hamar die überwiegend aus Süd- und Zentralsomalia Weyne und auf dem Markt in Bakara – mehr als stammten, in die Region Galgadud um. 50 Menschen, darunter zehn Kinder, getötet Viele Zivilpersonen suchten auch 2010 in und zahlreiche weitere verletzt. Nachbarländern Zuflucht. Ungeachtet der Ge-  Eine von den al-Shabab-Milizen im Fasten- fahrenlage im Land schoben Kenia, Saudi-Ara- monat Ramadan eingeleitete Offensive gegen bien und europäische Staaten wie die Nieder- die TFG und die AMISOM führte in Mogadischu lande, Schweden und Großbritannien Somalier Ende August und Anfang September zu nach Süd- und Zentralsomalia ab. Im Oktober schweren Kämpfen. Während der Kampfhand- wurden bei Kämpfen zwischen Verbündeten lungen wurden nach UN-Angaben rund 230 der TFG und den al-Shabab-Milizen in Belet Zivilpersonen getötet und 400 verletzt. Am Hawo an der Grenze zu Kenia rund 60000 24. August drangen zwei Selbstmordattentäter Menschen vertrieben. Am 1. und am 2. No- in Uniformen der Regierungstruppen in das Ho- vember wurden 8000 Zivilpersonen, die nach 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen tel Muna in dem von der TFG kontrollierten Teil Kenia in der Nähe der Stadt Mandera geflüch- von Mogadischu ein. Sie rissen mindestens 33 tet waren, von den kenianischen Behörden an- Menschen mit in den Tod, darunter Mitarbei- gewiesen, nach Somalia zurückzukehren. Am 000835 ter des Hotels, Gäste, Parlamentsabgeordnete 4. November wurden sie von der kenianischen und Sicherheitskräfte der TFG. Polizei tiefer ins somalische Inland getrieben.

Binnenvertriebene Behinderung humanitärer Hilfe Anhaltende Kämpfe, die unsichere Lage und Rund 2 Mio. Menschen waren Ende 2010 trotz Armut führten dazu, dass im Jahr 2010 rund guter Ernten wegen der kriegerischen Ausei- 300000 Menschen ihre Wohnorte verlassen nandersetzungen und der Vertreibungen auf mussten. Nach Angaben des UN-Hochkom- humanitäre Hilfeleistungen angewiesen. Die missars für Flüchtlinge (UNHCR) gab es Ende Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen wurde 2010 in Somalia rund 1,5 Mio. Binnenvertrie- durch Kämpfe, die prekäre Sicherheitslage so- bene. wie Entführungen und Tötungen von Mitarbei- Im Januar wurden in der Stadt Dhusamareb tern erschwert. Ein weiteres Problem war, dass in Zentralsomalia sowie in Beletweyne in der Hilfsorganisationen nur einschränkt Zugang zu Provinz Hiran durch die Kämpfe der Milizen al- den auf Unterstützung angewiesenen Men- Shabab und Hizbul Islam-Milizen gegen die schen erhielten. Mindestens zwei Mitarbeiter Gruppe Ahlu Sunna Waal Jamaa zehntausende humanitärer Hilfsorganisationen wurden getö- Menschen vertrieben. tet. Die UN-Überwachungsgruppe für das Waf- Infolge der Offensive der al-Shabab-Milizen fenembargo gegen Somalia erklärte im März, während des islamischen Fastenmonats Ra- dass ein großer Teil der Hilfsgüter des Welter- madan wurden in Mogadischu innerhalb von nährungsprogramms WFP von Vertragsfirmen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht zwei Wochen 23000 Menschen vertrieben. und bewaffneten Gruppen in andere Kanäle ge-

434 Somalia leitet werde. Der UN-Sicherheitsrat forderte Recht auf freie Meinungsäußerung den UN-Koordinator der humanitären Hilfe für Journalisten und Organisationen der Zivilgesell- Somalia auf, alle 120 Tage über den Stand der schaft wurden in Somalia auch im Jahr 2010 Dinge zu berichten. von bewaffneten Gruppen eingeschüchtert. Die  Wegen der zunehmend unsicheren Lage und Gefahr für Leib und Leben veranlasste viele der wachsenden Bedrohung durch bewaff- somalische Aktivisten zur Flucht ins Ausland. nete Gruppen stellte das WFP im Januar seine Auch Radiosender gerieten ins Visier bewaff- Arbeit in Südsomalia ein. Am 28. Februar 2010 neter Gruppen, die ihnen verboten, über be- verboten die al-Shabab-Milizen dem WFP, sich stimmte Themen zu berichten. Mindestens in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu drei Journalisten fielen 2010 Anschlägen zum betätigen, da die Verteilung von Nahrungsmit- Opfer. Ausländische Beobachter besuchten teln die örtlichen Bauern schädige und das lediglich die Stützpunkte der AMISOM in Moga- WFP politische Interessen verfolge. Das Verbot, dischu im Süden des Landes. Die Regierung das Ende 2010 noch in Kraft war, gefährdete von Puntland schränkte die Berichterstattung bis zu 1 Mio. Bedürftige, die in Südsomalia auf über den Konflikt mit einer regionalen Miliz Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren, ob- ein. wohl es in einigen Regionen ausreichende Re-  Am 21. Februar wurde Ali Yusuf Adan, Kor- genfälle und gute Ernten gegeben hatte. respondent der Zeitung Somaliweyn, in der  Am 15. Januar 2010 wurde Nur Hassan Bare Stadt Wanleweyn von al-Shabab-Milizen ent- »Boolis«, ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation führt. Seine Entführung stand offenbar mit SAACID, die in Mogadischu ein Ernährungspro- einem Bericht in Zusammenhang, in dem es jekt durchführte, zusammen mit vier weiteren hieß, dass die Gruppe in der Gegend einen Männern von al-Shabab-Milizen entführt. Am Mann getötet habe. Am 2. März wurde Ali Yusuf nächsten Tag fand man ihn mit gefesselten Adan unverletzt freigelassen. Händen tot auf. Die anderen vier Männer wur-  Am 4. Mai wurde der Journalist Nur Moha- den wenige Tage später freigelassen, unter med Abkey, der für den TFG-Sender Radio ihnen ein weiterer Mitarbeiter von SAACID, der Mogadishu arbeitete, im Süden von Mogadi- dem Vernehmen nach gefoltert worden war. schu verschleppt und mit einem Kopfschuss  Am 29. Juni wurde das Keysaney-Kranken- getötet. Seine Leiche wurde in einer Gasse ab- haus im Norden von Mogadischu von einer gelegt und soll Folterspuren aufgewiesen ha- Granate getroffen. Dabei kam ein Patient ums ben. Kollegen des Journalisten von Radio Mo- Leben. Trotz eindringlicher Appelle des Inter- gadishu erhielten einen Anruf, in dem mut- nationalen Komitees vom Roten Kreuz an die maßliche al-Shabab-Mitglieder die Verantwor- Konfliktparteien, keine medizinischen Einrich- tung für die Tötung des Journalisten übernah- tungen unter Beschuss zu nehmen, wurde das men. Krankenhaus in den darauffolgenden Tagen  Am 3. April forderte die bewaffnete Gruppe von zwei weiteren Granaten getroffen. Hizbul Islam Radiosender auf, die Ausstrah-  Im August 2010 verboten die al-Shabab-Mili- lung von Musik binnen zehn Tagen einzustel- zen drei humanitären Hilfsorganisationen, len, da dies dem Islam widerspreche. Am sich in von der Miliz kontrollierten Gebieten zu 9. April verboten die al-Shabab-Milizen den betätigen. Zur Begründung hieß es, die Orga- Sendern BBC und Voice of America, in von nisationen verbreiteten das Christentum. Im ihnen kontrollierten Gebieten Sendungen aus- September weiteten die al-Shabab-Milizen das zustrahlen. Außerdem beschlagnahmten sie Verbot auf drei weitere Hilfsorganisationen aus, die Satellitenschüsseln und UKW-Sendemasten denen sie vorwarfen, Verbindungen zu den der BBC. USA zu unterhalten.  Am 13. August wurde Abdifatah Jama, stell- vertretender Direktor des Radiosenders Hor- seed FM, in Puntland zu sechs Jahren Gefäng-

Somalia 435 nis verurteilt. Hintergrund der gegen ihn erho- fentlich hin, indem sie sie u. a. zu Tode steinig- benen Anklagen war ein Interview mit Sheikh ten, und nahmen öffentliche Zwangsamputa- Mohamed Said Atom, dem Anführer einer be- tionen sowie Auspeitschungen vor. Des Weite- waffneten Gruppe in Puntland. Meldungen zu- ren setzten sie restriktive Bekleidungsvor- folge wurde Abdifatah Jama auf der Grundlage schriften durch. Frauen, die keinen Hidschab von Puntlands neuem Antiterrorgesetz einen (Ganzkörperschleier) trugen, wurden ausge- Tag nach seiner Verhaftung vor Gericht gestellt peitscht. Männer durften nur knöchellange Ho- und für schuldig befunden. Nach dem Prozess sen tragen. drohte der Informationsminister Journalisten  Meldungen zufolge wurde im Januar 2010 Strafen an, falls sie Interviews mit den Angehö- ein der Vergewaltigung beschuldigter Mann rigen der Gruppe von Sheikh Mohamed Said von al-Shabab-Angehörigen in der Stadt Ba- Atom führen sollten. Nachdem Abdifatah Jama rawe, Region Lower Shabelle, gesteinigt. gegen seine Verurteilung Rechtsmittel einge-  Im April 2010 wurden in Mogadischu die Lei- legt hatte, wurde er vom Präsidenten von Punt- chen von fünf enthaupteten Männern gefun- land begnadigt und im November aus dem den. Es hieß, den Männern sei von al-Shabab- Gefängnis entlassen. Angehörigen der Kopf abgetrennt worden, weil sie beim Bau eines neuen Parlamentsgebäudes Kindersoldaten mitgearbeitet hatten. Bewaffnete islamistische Gruppierungen, vor  Berichten zufolge trennten al-Shabab-Ange- allem die al-Shabab-Milizen, rekrutierten im- hörige im Juli 2010 in Balad, einer Stadt nörd- mer mehr Jungen – darunter erst Neunjährige – lich von Mogadischu, zwei Männern die Hände und junge Männer unter Zwang für ihre Ein- ab, weil diese gestohlen haben sollen. heiten. In Berichten hieß es, dass auch Mäd-  Am 27. Oktober 2010 sollen al-Shabab-Mili- chen rekrutiert worden seien, um für al-Sha- zen in Beletweyne zwei offenbar der Spionage 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen bab-Milizionäre zu kochen und zu putzen. beschuldigte junge Frauen vor den Augen der Einige Mädchen sollen gezwungen worden Öffentlichkeit erschossen haben. Kurz zuvor sein, Milizionäre zu heiraten. war es in der Stadt zu Kämpfen zwischen al- 000835 Im Juni 2010 wies der Präsident der TFG den Shabab-Milizen und Verbündeten der TFG ge- Oberbefehlshaber der Armee an, Medienbe- kommen. richten nachzugehen, denen zufolge in den Reihen der Streitkräfte der TFG Kindersolda- Somaliland ten eingesetzt werden. Die Untersuchungser- Am 26. Juni 2010 fanden in der Republik Soma- gebnisse waren bis Jahresende noch nicht zu- liland Präsidentschaftswahlen statt. Der Oppo- gänglich gemacht worden. Der neue Minister- sitionspolitiker Ahmed Mahamoud Silanyo präsident der TFG sicherte der UN-Sonderbe- wurde im Juli zum neuen Präsidenten ausge- auftragten für Kinder und bewaffnete Konflikte rufen. Nach Angaben von unabhängigen Beob- zu, sich für einen Aktionsplan zur Beendigung achtern verlief die Wahl im Großen und Gan- der Rekrutierung und des Einsatzes von Kinder- zen frei, fair und friedlich. Organisationen, die soldaten einzusetzen. sich für die Freiheit der Medien einsetzen, be- richteten allerdings, dass einige Journalisten im Menschenrechtsverstöße Vorfeld des Urnengangs an ihrer Arbeit gehin- bewaffneter Gruppierungen dert worden waren. Bewaffnete islamistische Gruppen waren nach In den Regionen Sool und Sanaag flackerten wie vor für ungesetzliche Tötungen und Folte- im Grenzgebiet zu Puntland Spannungen auf. rungen von Menschen verantwortlich, denen Puntland erhebt Anspruch auf die beiden Re- sie vorwarfen, zu spionieren oder sich ihrer gionen. Ab Mai kam es zwischen einer neuen Auslegung des islamischen Rechts nicht zu bewaffneten Gruppe und den Sicherheitskräf-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht beugen. Die Gruppen richteten Menschen öf- ten von Somaliland zu Kampfhandlungen.

436 Somalia Durch die Kämpfe sollen mehrere tausend Menschen vertrieben worden sein. Spanien Auch im Jahr 2010 lebten in Somaliland Ver- triebene aus dem Süden und dem Zentrum Amtliche Bezeichnung: Königreich Spanien von Somalia nach wie vor unter prekären Be- Staatsoberhaupt: König Juan Carlos I. dingungen. Regierungschef: José Luis Rodríguez Zapatero Minderheiten wurden weiterhin diskriminiert. Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft  Einheimische griffen im September zwei Einwohner: 45,3 Mio. Frauen an, die zu einem Clan der Minderheit Lebenserwartung: 81,3 Jahre der Gaboye gehörten und von einem Gericht in Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 5 pro 1000 Aynabo in der Provinz Saraar freigesprochen Lebendgeburten worden waren. Die beiden Frauen wurden zu Alphabetisierungsrate: 97,6% ihrem eigenen Schutz ins Gefängnis gebracht. Dort sollen sie aber auch von Mitgefangenen Auch 2010 gab es Berichte über Folter tätlich angegriffen worden sein. Die Frauen und andere Misshandlungen durch Si- wurden schließlich freigelassen. cherheitskräfte. Die Ermittlungen in Be- zug auf solche Vorwürfe waren nach wie Todesstrafe vor unzureichend. Spanien lehnte es Im Dezember 2010 ließ die TFG zum ersten Mal trotz wiederholter Empfehlungen von- seit 2007 einen Menschen hinrichten. In Punt- seiten internationaler Menschenrechtsin- land wurden mindestens sechs Menschen zum stitutionen ab, die Haft ohne Kontakt Tode verurteilt, mindestens sieben sollen hin- zur Außenwelt abzuschaffen. Ein Terro- gerichtet worden sein. In Somaliland ergingen rismusverdächtiger wurde nach Ma- Berichten zufolge zwei Todesurteile. rokko ausgeliefert, obwohl er dort Gefahr  Am 7. Dezember wurde Nur Ahmed Shire von lief, zum Opfer von Folter und einem un- Soldaten der TFG in Hamar Weyne, einem fairen Gerichtsverfahren zu werden. Die Stadtteil von Mogadischu, hingerichtet. Dem bewaffnete baskische Gruppe Euskadi Vernehmen nach war der ehemalige TFG-Sol- Ta Askatasuna (ETA) verkündete einen dat der Tötung eines Kameraden für schuldig Waffenstillstand. Ehemalige Häftlinge befunden worden. aus Guantánamo Bay erhielten interna- tionalen Schutz. Die Berichte über Ge- Amnesty International: Berichte walt gegen Frauen und Mädchen nahmen  Somalia: International military and policing assistance zu. Ein Ermittlungsrichter wurde von should be reviewed (AFR 52/001/ 2010) seinem Amt suspendiert, weil er Ermitt-  No end in sight: The ongoing suffering of Somalia’s civilians (AFR 52/ / 003/ 2010)  Hard news: Journalists’ lives in danger in Somalia (AFR 52/ / 009/ 2010)  Amnesty International’s human rights concerns in southern and central Somalia (AFR 52/ / 013/2010)  From life without peace to peace without life: The treatment of Somali refugees and asylum-seekers in Kenya (AFR 32/ / 015/ 2010)

Spanien 437 lungen in Bezug auf internationale Ver- mittlungsgericht Nr. 23 in Madrid (Juzgado de brechen eingeleitet hatte, die während Instrucción No. 23 de Madrid) dazu bereit, sei- des Spanischen Bürgerkriegs und des nen Foltervorwürfen nachzugehen, stellte je- Franco-Regimes verübt worden waren. doch im April die Ermittlungen wieder ein. Mo- hammed Fahsi hatte angegeben, nach seiner Folter und andere Misshandlungen Festnahme durch die Guardia Civil im Januar Auch 2010 trafen immer wieder Beschwerden 2006 in Haft ohne Kontakt zur Außenwelt gefol- über Folter und andere Misshandlungen tert worden zu sein. Seine Beschwerde wurde durch Sicherheitskräfte ein. Es wurden keine zunächst vom Staatsanwalt und dem Ermitt- Maßnahmen ergriffen, um Daten über Fälle zu lungsrichter abgewiesen. Das Ermittlungsge- erheben und zu veröffentlichen, bei denen es richt wandte ein, dass die Anzeige mehr als drei zu Verletzungen der Menschenrechte von Per- Jahre nach den Ereignissen erfolgt sei und sonen in Polizeigewahrsam gekommen sein Mohammed Fahsi dem Rechtsmediziner erklärt könnte, wie es der von der Regierung 2008 habe, er sei »normal« behandelt worden. Über verabschiedete Aktionsplan für Menschen- die Rechtsmittel gegen die Entscheidung des rechte eigentlich vorsah. Gerichts war bis Ende 2010 noch nicht befun- Die Reform des Strafgesetzbuchs im Juni ließ den worden. Im Januar war Mohammed Fahsi eine Änderung der Definition von Folter ver- wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen missen, obwohl der UN-Ausschuss gegen Fol- Organisation zu sieben Jahren Haft verurteilt ter empfohlen hatte, diese mit internationalen worden, nachdem er bereits vier Jahre in Un- Menschenrechtsstandards in Einklang zu brin- tersuchungshaft verbracht hatte. Er hatte dann gen. Das Strafgesetzbuch unterscheidet nach vor dem Obersten Gerichtshof Rechtsmittel wie vor zwischen »schwerwiegenden« Verstö- gegen diese Entscheidung eingelegt und wurde ßen gegen den Paragraphen über das Folter- bis zur Urteilsverkündung auf freien Fuß ge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen verbot sowie solchen, »die dies nicht sind«. setzt.  Das Gerichtsverfahren gegen zwei Polizeibe-  Am 25. Juni 2010 wies das Ermittlungsgericht amte, denen vorgeworfen wird, den nigeriani- Nr. 1 in Madrid die Beschwerde ab, die María 000835 schen Staatsbürger Osamuyia Akpitaye bei sei- Mercedes Alcocer wegen Folter, Körperverlet- ner Abschiebung aus Spanien im Juni 2007 zung und massiver Bedrohung durch Angehö- getötet zu haben, wurde auf den 16. und rige der Guardia Civil erhoben hatte, nachdem 17. März 2011 festgesetzt. sie vom 10. bis zum 13. Dezember 2008 ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten worden Antiterrormaßnahmen und Sicherheit war. Ein rechtsmedizinischer Befund vom Nach wie vor hielten die Behörden Personen, 12. Dezember 2008 dokumentierte Blutergüsse die terroristischer Aktivitäten verdächtigt wur- und Spuren von Tritten und Schlägen. In sei- den, ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft. Ver- ner Entscheidung, die Ermittlungen einzustel- dächtige können bis zu 13 Tage lang festgehal- len, erklärte das Gericht indes, dass keiner der ten werden und dürfen in diesem Zeitraum kei- rechtsmedizinischen Befunde irgendein äuße- nen eigenen Anwalt beauftragen oder sich un- res Zeichen von Gewalt gegen María Merce- ter vier Augen mit ihrem Pflichtverteidiger bera- des Alcocer belege, und unterstellte, dass der ten, auch haben sie weder Zugang zu einem einzige Zweck der Anzeige der sei, die Ange- Arzt ihrer Wahl, noch können sie Angehörige hörigen der Guardia Civil zu identifizieren, die über ihren Verbleib informieren. Im Mai lehnte an ihrer Festnahme beteiligt waren. Über ihren die Regierung die Empfehlung im Rahmen der Einspruch gegen die Entscheidung war bis Universellen Regelmäßigen Überprüfung Ende des Jahres noch nicht entschieden wor- (UPR) ab, diese Form der Haft abzuschaffen. den. Im Mai war María Mercedes Alcocer we-  Nach einer förmlichen Beschwerde von Mo- gen Unterstützung einer bewaffneten Grup-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht hammed Fahsis Anwalt erklärte sich das Er- pierung vor dem spanischen Strafgerichtshof

438 Spanien (Audiencia Nacional) angeklagt worden. Das Menschenrechtsverstöße durch Urteil war bis Jahresende noch nicht verkündet bewaffnete Gruppen worden. Im März 2010 wurde ein französischer Polizei-  Am 28. September befand der Europäische beamter bei einem Schusswechsel in Damma- Gerichtshof für Menschenrechte, dass Spa- rie-lès-Lys in der Nähe von Paris von Mitglie- nien gegen das Verbot von Folter und anderen dern der bewaffneten baskischen Gruppe ETA Misshandlungen verstoßen habe. Die Behör- erschossen. Am 5. September gab die ETA be- den hatten es versäumt, den Foltervorwürfen kannt, keine weiteren »bewaffneten Angriffe« von Mikel San Argimiro Isasa nachzugehen, mehr durchführen zu wollen. die dieser erhoben hatte, nachdem er im Mai 2002 fünf Tage in der Generaldirektion der Flüchtlinge und Migranten Guardia Civil (Dirección General de la Guardia Nach Angaben des Innenministeriums kamen Civil) in Madrid in Haft ohne Kontakt zur Au- 3632 Migranten ohne regulären Aufenthalts- ßenwelt verbracht hatte. status über die spanische Küste ins Land. Dies  Am 30. Dezember 2010 befand das Strafge- waren 50% weniger als 2009 und die nied- richt von Guipúzcoa (Audiencia de Guipúz- rigste Anzahl seit zehn Jahren. Der Rückgang coa) vier Angehörige der Guardia Civil der Folter beruhte zum Teil auf der fortgesetzten Praxis, an Igor Portu und Mattin Sarasola im Gewahr- Migranten und Asylsuchende auf See abzufan- sam der Polizei am Morgen des 6. Januar 2008 gen, sowie auf mit Herkunfts- und Transitlän- für schuldig. Das Gericht entschied, die Tat- dern geschlossenen Rückübernahmeabkom- sache, dass die beiden Männer wegen Mitglied- men. schaft in der ETA verurteilt worden waren und Im September wies die Regierung die Emp- schwere terroristische Straftaten verübt hatten, fehlung der Arbeitsgruppe des Verfahrens der mache ihre Angaben nicht unglaubwürdig. Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) Ihre Vorwürfe über Misshandlungen während zurück, die Internationale Konvention zum der darauf folgenden Inhaftierung und des Schutz der Rechte aller Wanderarbeiter und Transports wurden hingegen aus Mangel an ihrer Familienangehörigen zu unterzeichnen Beweisen zurückgewiesen. Die elf anderen und anschließend zu ratifizieren. unter Anklage gestellten Angehörigen der Guar- dia Civil wurden freigesprochen. Guantánamo-Häftlinge Im Februar 2010 bestätigte der damalige Au- Abschiebung ßenminister Spaniens die Bereitschaft, fünf  Am 14. Dezember 2010 schoben die spani- ehemaligen Guantánamo-Häftlingen internatio- schen Behörden den wegen Straftaten im Zu- nalen Schutz zu gewähren. Daraufhin trafen sammenhang mit Terrorismus beschuldigten am 24. Februar ein palästinensischer, am 4. Mai Ali Aarrass, der die marokkanische und die ein jemenitischer und am 21. Juli ein afghani- belgische Staatsbürgerschaft besitzt, nach Ma- scher Staatsangehöriger in Spanien ein, die rokko ab. Damit verstießen die spanischen Be- sich alle zuvor im Gefangenenlager Guantá- hörden gegen vom UN-Menschenrechtsaus- namo Bay in US-amerikanischer Haft befunden schuss angeordnete Interimsmaßnahmen, mit hatten. denen das Land aufgefordert wurde, dem Aus- lieferungsgesuch Marokkos nicht nachzukom- Menschenhandel men, ehe der Ausschuss im Fall von Ali Aarrass Im Juni 2010 änderte die Regierung die Defini- eine Entscheidung getroffen hat. tion von Menschenhandel im Strafgesetzbuch und brachte sie damit in Einklang mit dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämp- fung des Menschenhandels. Es gab jedoch Be- denken, dass das Recht auf eine Erholungs-

Spanien 439 und Besinnungsphase für ausländische Staats- Migrantinnen ohne regulären Aufenthaltssta- angehörige ohne regulären Aufenthaltsstatus, tus, die Opfer häuslicher oder geschlechts- die mutmaßlich von Menschenhandel betroffen spezifischer Gewalt wurden, schreckten nach sind, in der Praxis nicht immer respektiert wie vor davor zurück, bei der Polizei Anzeige wurde. Im Ausländergesetz ist für diese Phase, zu erstatten, da dies das Risiko barg, anschlie- in der Abschiebungsmaßnahmen ausgesetzt ßend abgeschoben zu werden. Das Auslän- werden sollten, ein Zeitraum von mindestens dergesetz war im Dezember 2009 dahingehend 30 Tagen vorgesehen. Bis zum Ende des Be- geändert worden, dass ein Abschiebungsver- richtsjahrs hatte man indes noch keine Maß- fahren eingeleitet wird, wenn Migrantinnen nahmen ergriffen, um die zuständigen Behör- ohne regulären Aufenthaltsstatus wegen ge- den darüber zu instruieren, wie man im Ein- schlechtsspezifischer Gewalt Anzeige er- klang mit dem Übereinkommen Opfer von statten. Menschenhandel identifizieren kann. Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt sahen  Am 17. März 2010 wurde die im zweiten Mo- sich nach wie vor mit zahlreichen Hindernis- nat schwangere nigerianische Staatsangehö- sen konfrontiert, wenn sie versuchten, faire und rige Gladys John trotz Bedenken des Amts des zeitnahe Entschädigung zu erhalten. UN-Hochkommissars für Flüchtlinge  Zehn Jahre nach den Ereignissen erhielt As- (UNHCR), dass sie von Menschenhandel be- censión Anguita im Juli von ihrem Ex-Ehe- troffen sein könnte, nach Nigeria abgescho- mann eine Entschädigung für die gravierenden ben. Am 10. März hatte das Zentrale Verwal- körperlichen und seelischen Beeinträchtigun- tungsgericht Nr. 6 in Madrid (Juzgado Central gen, die sie davontrug, als er 15 Mal auf sie ein- de lo Contencioso-Administrativo No. 6 de Ma- stach. Sie wurde arbeitsunfähig, litt an post- drid) ihren Asylantrag abgelehnt und ihr den traumatischer Belastungsstörung und musste Status als Opfer von Menschenhandel verwei- von einer monatlichen Unterstützung für Be- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gert. hinderte leben.

000835 Rechte von Kindern Rassismus und Diskriminierung Die Beschwerden wegen Körperstrafen, Isola- Die Behörden versäumten es, Diskriminierung tion, missbräuchlicher Verschreibung von Me- gegen Ausländer zu bekämpfen und das dikamenten sowie unzulänglicher Gesundheits- Recht auf freie Meinungsäußerung und Religi- fürsorge in Einrichtungen für Minderjährige onsfreiheit zu unterstützen. mit Verhaltensauffälligkeiten oder sozialen Pro-  Im Januar 2010 gestattete ein von der Gene- blemen rissen 2010 nicht ab. Im September raldirektion der Polizei und der Guardia Civil äußerte sich der UN-Ausschuss für die Rechte herausgegebenes Rundschreiben die vorbeu- des Kindes besorgt darüber, dass diese Ein- gende Inhaftierung ausländischer Staatsange- richtungen eine Form der Freiheitsberaubung höriger, die bei Personenkontrollen keine Iden- darstellen könnten. Der Ausschuss empfahl titätsnachweise vorlegen können. Polizeige- Spanien, in allen autonomen Regionen für Ge- werkschaften äußerten die Besorgnis, dass dies setze und Verwaltungsrichtlinien zu sorgen, zu gesetzwidrigen Festnahmen führen könne, die mit dem Übereinkommen über die Rechte und forderten die sofortige Rücknahme des des Kindes vollständig in Einklang stehen. Rundschreibens.  Im Mai 2010 begrüßte die Regierung die Gewalt gegen Frauen Empfehlungen der Arbeitsgruppe des UPR- Nach Angaben des Ministeriums für Gesund- Verfahrens, Zahlen über rassistisch begründete heit, Soziales und Gleichberechtigung stieg Straftaten zu erheben und zu veröffentlichen die Zahl der von ihren Partnern oder früheren sowie einen nationalen Aktionsplan gegen Ras- Partnern getöteten Frauen 2010 auf 73, von sismus und Fremdenfeindlichkeit zu entwi-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht denen 27 Migrantinnen waren. ckeln. Bis Ende des Jahres hatte man indes

440 Spanien keine weiteren Schritte unternommen. Die ziehen. Ende 2010 war es jedoch weiterhin in Klausel aus dem Menschenrechtsplan von Kraft. 2008, wonach eine nationale Strategie gegen Rassismus verankert werden sollte, war noch Internationale Strafverfolgung immer nicht umgesetzt worden. Im September und im November 2010 stellte  Mehrere Stadtverwaltungen verabschiedeten der spanische Strafgerichtshof die Ermittlun- Bestimmungen, die eine vollständige Ver- gen in Bezug auf in Myanmar und Tibet verübte schleierung des Gesichts in öffentlichen Ge- Verbrechen ein. Die Entscheidungen fielen bäuden verbieten. Der Senat befürwortete im nach einer Einschränkung der universellen Ge- Juni 2010 einen Antrag, mit dem die Regierung richtsbarkeit durch einen Zusatz zum Ge- aufgefordert wurde, die vollständige Gesichts- richtsverfassungsgesetz im Oktober 2009. Seit verschleierung »in öffentlichen Räumen und der Zusatz in Kraft ist, konnten inländische bei öffentlichen Veranstaltungen« zu verbie- Gerichte nur noch in Fällen ermitteln, in denen ten. Es wurden Bedenken laut, dass ein umfas- entweder die Opfer spanische Staatsbürger sendes Verbot die Rechte auf freie Meinungs- waren, sich der mutmaßliche Täter in Spanien äußerung und Religionsfreiheit von Frauen ver- aufhielt oder ein »relevanter Bezug« zu Spa- letzen würde, die als Ausdruck ihrer Identität nien bestand und nur dann, wenn nicht bereits oder ihres Glaubens eine vollständige Gesichts- in einem anderen Land oder von einem inter- verschleierung tragen wollen. nationalen Gerichtshof wirksame Ermittlungen oder eine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet »Verschwindenlassen« worden waren. Obwohl im Juni 2010 Änderungen des Strafge-  Im September forderte die Regierung von setzbuchs vorgenommen wurden, versäumte Südafrika die Überstellung von Faustin Kay- es die Regierung, eine Definition für Straftaten umba Nyamwasa, dem Stabschef der ruandi- nach internationalem Recht aufzunehmen, schen Armee. Der spanische Strafgerichtshof wie etwa »Verschwindenlassen« und außerge- hatte ihn 2008 wegen Völkermordes und Ver- richtliche Hinrichtungen. brechen gegen die Menschlichkeit in Ruanda  Im April beschuldigte der Oberste Gerichts- unter Anklage gestellt. hof den Ermittlungsrichter Baltasar Garzón, gegen das Amnestiegesetz von 1977 verstoßen Amnesty International: Berichte zu haben. Baltasar Garzón hatte die ersten Er-  Dangerous deals: Diplomatic assurances in Europe mittlungen überhaupt in Bezug auf während (EUR 01/012/ 2010)  des Spanischen Bürgerkriegs und des Franco- Spain: Follow-up information to the Concluding Observations Regimes verübte Verbrechen eingeleitet, bei of the Committee against Torture (EUR 41/003/2010) denen es um das »Verschwindenlassen« von über 114000 Personen zwischen 1936 und 1951 geht. Anschließend suspendierte ihn im Mai der Generalrat der rechtsprechenden Ge- walt (Consejo General del Poder Judicial) für die Dauer seines Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof von seinem Amt als Richter. Amnestiegesetze und Verjährungsfristen für Fälle von »Verschwindenlassen«, Folter oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind mit dem Völkerrecht unvereinbar, und so hatte der UN-Menschenrechtsausschuss 2008 Spanien aufgefordert, eine Aufhebung des Amnestiegesetzes von 1977 in Erwägung zu

Spanien 441 hielt er dafür eine Gefängnisstrafe von 30 Mo- Sri Lanka naten. Gegen Sarath Fonseka wurde auch ein Strafantrag gestellt, u. a. warf man ihm vor, in Amtliche Bezeichnung: Demokratische einer lokalen Zeitung gegen den Verteidi- Sozialistische Republik Sri Lanka gungsminister die falsche Anschuldigung vor- Staatsoberhaupt: Mahinda Rajapaksa gebracht zu haben, dass dieser im Mai 2009 Regierungschef: D. M. Jayaratne (löste im April die Tötung von LTTE-Mitgliedern, die sich den Ratnasiri Wickremanayake im Amt ab) Streitkräften ergeben hatten, angeordnet Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft habe. Nach den Wahlen gingen die Behörden Einwohner: 20,4 Mio. gegen Journalisten und Gewerkschafter vor, Lebenserwartung: 74,4 Jahre die unter Verdacht standen, die Opposition zu Kindersterblichkeit (m/w): 21 / 18 pro 1000 unterstützen. Lebendgeburten Im März kündigte UN-Generalsekretär Ban Alphabetisierungsrate: 90,6% Ki-moon Pläne an, ein Expertengremium ein- zurichten, das ihn in Fragen der Verantwortlich- Die Regierung Sri Lankas unternahm keit bezüglich Menschenrechtsverletzungen nichts, um das Problem der Straflosig- in Sri Lanka beraten sollte. Präsident Rajapaksa keit für in der Vergangenheit begangene protestierte gegen diese Ankündigung und Menschenrechtsverletzungen in wirksa- setzte eine eigene Ad-hoc-Untersuchungskom- mer Weise anzugehen und ließ weiterhin mission zur Auswertung gewonnener Erkennt- Menschen »verschwinden«, foltern oder nisse und zur Versöhnung (Lessons Learnt and misshandeln. Die Behörden ordneten Reconciliation Commission – LLRC) ein, um gravierende Einschränkungen der das Scheitern des im Jahr 2002 abgeschlosse- Rechte auf freie Meinungsäußerung, Ver- nen Waffenstillstands zu untersuchen. Die 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sammlungs- und Vereinigungsfreiheit Vorgaben der Ad-hoc-Kommission enthielten an. Tausende tamilischer Bürger, die ver- jedoch keinen Verweis auf das Ziel, die Verant- dächtigt wurden, Verbindungen zu den wortlichen für Verletzungen der Menschen- 000835 Befreiungstigern von Tamil Eelam (Libe- rechte oder des humanitären Völkerrechts zu ration Tigers of Tamil Eelam – LTTE) zu ermitteln. Im August verlor Sri Lanka seinen haben, wurden weiterhin ohne Anklage in Präferenzzugang zum EU-Markt, da es eine Gewahrsam gehalten. Beide Parteien Reihe von Bedingungen nicht erfüllt hatte, die des Konflikts, der im Mai 2009 geendet von der Europäischen Kommission festgesetzt hatte, wurden beschuldigt, Kriegsver- worden waren, um die Mängel bei der Umset- brechen begangen zu haben. Amnesty zung von drei UN-Menschenrechtskonventio- International rief zu einer unabhängigen nen zu beseitigen. internationalen Untersuchung auf.

Hintergrund Im Januar 2010 wurde Präsident Mahinda Ra- japaksa bei den seit 26 Jahren zum ersten Mal in Friedenszeiten stattfindenden Wahlen für eine zweite Amtsperiode gewählt. Sein wich- tigster Gegenkandidat, der frühere General- stabschef Sarath Fonseka, wurde nach den Wahlen festgenommen und beschuldigt, gegen das Verbot, im aktiven Militärdienst politisch tätig zu sein, verstoßen und in korrupter Weise

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Waffen beschafft zu haben. Im September er-

442 Sri Lanka Mit dem Ergebnis der Parlamentswahlen vom tausend lebten noch bei Gastfamilien und April 2010, der darauffolgenden Kabinettsbil- 1400 Personen noch in Übergangsunterkünf- dung und der Verabschiedung neuer Gesetze ten. wurde der Macht- und Einflussbereich der en- geren Rajapaksa-Familie konsolidiert. Die Fa- Menschenrechtsverletzungen milie übte die Kontrolle über fünf Schlüssel- durch mit der Regierung verbündete ministerien und mehr als 90 staatliche Institu- bewaffnete Gruppen tionen aus. Im September hob eine Verfas- Mit der Regierung verbündete bewaffnete sungsänderung die Beschränkung der Amtszeit Gruppen von Tamilen waren nach wie vor in des Präsidenten auf zwei Amtsperioden auf Sri Lanka aktiv und begingen weiterhin Men- und räumte dem Präsidenten die direkte Kon- schenrechtsverletzungen und -verstöße wie trolle über die Ernennung von Personen für Angriffe auf Kritiker, Geiselnahmen mit Löse- Institutionen ein, die wichtig für den Menschen- geldforderungen, »Verschwindenlassen« von rechtsschutz sind. Dazu gehörten die Natio- Personen und Tötungen. nale Polizeikommission, die Menschenrechts-  Im März 2010 beschuldigte der ehemalige kommission und die Justizbehördenkommis- Parlamentsabgeordnete Suresh Premachan- sion. dran Mitglieder der Eelam People’s Democratic Die Behörden verweigerten Menschenrechts- Party (EPDP) in Jaffna, den 17-jährigen Thiru- organisationen und anderen unabhängigen chelvam Kapilthev ermordet zu haben. Suresh Beobachtern weiterhin, das Land zu Recher- Premachandran erklärte, dass die Polizei Aus- chezwecken zu besuchen. Im Oktober 2010 sagen von Freunden des Opfers ignoriert habe, lehnten Amnesty International, Human Rights die die EPDP mit dem Mord in Verbindung Watch und die Internationale Krisengruppe brachten, und dass sie wegen der bevorstehen- (International Crisis Group) eine Einladung ab, den Parlamentswahlen die Mörder decke. vor der staatlichen Untersuchungskommis- sion LLRC auszusagen. Sie wiesen auf die »Verschwindenlassen« schweren Mängel der Kommission hin, zu de- Aus vielen Teilen des Landes, insbesondere aus nen das unzureichende Mandat der Kommis- dem Norden und Osten Sri Lankas sowie aus sion, ungenügende Garantien für deren Unab- Colombo, gingen 2010 Meldungen über das hängigkeit und ein nicht vorhandener Zeugen- »Verschwindenlassen« von Personen und Ent- schutz zählten. führungen gegen Lösegeldforderungen durch Angehörige der Sicherheitskräfte ein. Das Binnenvertriebene Schicksal von Hunderten von LTTE-Mitgliedern, Ungefähr 20000 der insgesamt 300000 Men- die dem Vernehmen nach »verschwanden«, schen, die im Jahr 2009 durch den bewaffne- nachdem sie sich 2009 der Armee ergeben hat- ten Konflikt aus ihren Wohnorten vertrieben ten, blieb ungeklärt. worden waren, befanden sich 2010 noch im-  Eine Augenzeugin, die im August vor der mer in von der Regierung verwalteten Flücht- LLRC aussagte, berichtete den Kommissions- lingslagern im Norden des Landes. Der Zu- mitgliedern, dass sich ihre Familie, darunter stand der Unterkünfte und Gesundheitseinrich- zwei Kinder, im Mai 2009 in der Region von tungen verschlechterte sich immer mehr. Das Vadduvaikkal der Armee ergeben habe. Sie Verteidigungsministerium Sri Lankas kontrol- habe beobachtet, wie die Personen, die sich lierte weiterhin sowohl den Zugang humanitä- ergeben hatten, in 16 Bussen auf der Straße rer Hilfsorganisationen zu diesen Lagern als nach Mullaitivu abtransportiert worden seien. auch zu Orten der Wiederansiedlung. Viele Fa- Sie sagte ferner aus, dass sie in Haftzentren milien, die die Lager verlassen hatten, fanden und Gefängnissen nach ihren Verwandten keine feste Bleibe und waren weiterhin auf Le- gesucht, sie aber nicht gefunden habe. Zwei bensmittelhilfe angewiesen. Mehrere Zehn- Priester, die ihre Familie darin bestärkt hatten,

Sri Lanka 443 sich zu ergeben, wurden gleichfalls ver- PTA und der Notstandsbestimmungen ohne misst. Anklageerhebung in Polizeigewahrsam und in Gefängnissen im Süden Sri Lankas. Einige Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen wurden schon seit Jahren gefangen gehalten. Die Regierung stützte sich weiterhin auf das An- Die meisten Gefangenen waren Tamilen, doch titerrorgesetz (Prevention of Terrorism Act – gab es auch einige Singhalesen unter ihnen. PTA) und Notstandsbestimmungen, die den  Im Oktober erklärte ein Rechtsanwalt, der Behörden umfangreiche Vollmachten zur vier singhalesische Männer vertrat, die der Festnahme und Inhaftierung verdächtiger Per- Unterstützung der LTTE beschuldigt wurden, sonen einräumten und die geltenden verfah- dass seine Mandanten seit fast drei Jahren renstechnischen Schutzmaßnahmen gegen ohne Anklage inhaftiert seien. Die Männer ge- willkürliche Festnahme und Inhaftierung um- hörten zu 25 Gewerkschaftern und Journalis- gingen. Im April forderte Amnesty International ten, die im Februar 2007 entführt worden waren das neue Parlament Sri Lankas auf, den seit und später im Gewahrsam der Abteilung für 1971 fast ununterbrochen geltenden Ausnah- Terrorismusermittlungen (Terrorism Investiga- mezustand aufzuheben und das PTA und an- tion Division – TID) der Polizei aufgefunden dere damit verbundene Sicherheitsgesetze und wurden. 21 von ihnen wurden schließlich von -verordnungen außer Kraft zu setzen. Im Mai den Gerichten ohne Anklageerhebung auf hoben die Behörden einige der Notstandsver- freien Fuß gesetzt. ordnungen, die die Rechte auf freie Meinungs- äußerung und Vereinigungsfreiheit einge- Folter und andere Misshandlungen schränkt hatten, auf. Sie lockerten zudem die Polizei und Armeeangehörige folterten weiter- Bestimmung, dass die Polizei von Hausbesit- hin Gefangene oder misshandelten sie ander- zern einfordern konnte, die Namen der Be- weitig. Unter den Opfern waren sowohl Tamilen, 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen wohner ihres Hauses zu melden. Andere Ge- die verdächtigt wurden, Verbindungen zur setze, die ähnliche Vorschriften enthielten, LTTE zu haben, als auch Personen, die »ge- blieben jedoch weiterhin in Kraft. wöhnlicher« Straftaten bezichtigt wurden. 000835 Tausende von Personen, die verdächtigt wur- Mehrere Menschen starben im Gewahrsam, den, Verbindungen zur LTTE zu haben, wur- nachdem sie von der Polizei gefoltert worden den ohne Anklage und Prozess festgenommen, waren. um sie zu »rehabilitieren« oder Ermittlungen  In einer auf Video aufgenommenen Zeugen- gegen sie einzuleiten. Ca. 6000 von mehr als aussage, die die srilankische NGO Janasansa- 11000 Personen, die im Jahr 2009 willkürlich daya zur Verfügung gestellt hatte, sagte Sama- zur »Rehabilitation« festgenommen worden wa- rasinghe Pushpakumara aus, dass er am ren, befanden sich noch immer in Haftlagern 10. November 2010 festgenommen und von der ohne Zugang zu Rechtsanwälten, Gerichten Polizei von Beruwala gefoltert worden sei, nach- oder zum Internationalen Komitee vom Roten dem ihn ein Polizeibeamter vorgeblich als Fah- Kreuz (IKRK). Vielen von ihnen war es jedoch rer einstellen wollte und ihn danach wegen möglich, im Laufe des Jahres Kontakt zu ihren Diebstahls festnahm. Samarasinghe Pushpaku- Familien aufzunehmen. Es gab auch Hinweise mara erklärte, dass er tätlich angegriffen, ihm auf geheime Haftzentren im Norden des Lan- eine Anklage wegen Besitzes von Drogen oder des. Beamte erklärten, dass die Behörden ge- Bomben angedroht und ihm gesagt worden sei, gen 700 bis 800 separat untergebrachte Ge- dass er getötet werden könnte. Bevor ihn die fangene, die als zum »harten Kern« gehörende Polizei ohne Anklage, jedoch mit der Aufforde- LTTE-Mitglieder eingestuft worden waren, Er- rung, über seine Behandlung Stillschweigen zu mittlungen mit der Möglichkeit strafrechtlicher bewahren, wieder auf freien Fuß setzte, war er Verfolgung durchführten. Hunderte weiterer zwei Tage lang mit verbundenen Augen und

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Personen befanden sich auf der Grundlage des ans Bett gefesselt gefangen gehalten worden.

444 Sri Lanka Außergerichtliche Hinrichtungen nigen, mit den Kommissionsmitgliedern zu Es gab weiterhin Berichte über die Tötung mut- sprechen. Berichten zufolge wurden Zeugen maßlicher Straftäter durch die Polizei bei of- fotografiert und bedroht. Der von der Kommis- fensichtlich inszenierten »Schusswechseln« sion vorgelegte Zwischenbericht enthielt Emp- oder »Fluchtversuchen«. Die Schilderungen fehlungen, um die Rechte von Gefangenen si- der Fälle durch die Polizei wiesen häufig auffal- cherzustellen und andere öffentliche Miss- lende Ähnlichkeiten auf. stände in Angriff zu nehmen. Die Notwendig-  Die NGO Asian Human Rights Commission keit, die Verantwortlichen für die in der Ver- berichtete über drei Todesfälle in Gewahrsam gangenheit begangenen Menschenrechtsver- im September 2010. Bei den Toten handelte es letzungen zu ermitteln, blieb jedoch unbe- sich um Suresh Kumar aus Matale, Ranmu- rücksichtigt. kage Ajith Prasanna aus Embilipitiya und Personen, die verdächtigt wurden, Men- Dhammala Arachchige Lakshman aus Han- schenrechtsverletzungen begangen zu haben, wella. In jedem einzelnen dieser Fälle gab die bekleideten weiterhin hohe Regierungsämter. Polizei an, dass das jeweilige Opfer aus der Po- Im November untersuchte die Regierung Vor- lizeiwache gebracht worden sei, um ein Waffen- würfe, dass die LTTE gefangene Soldaten getö- versteck zu identifizieren, und während des tet habe, als die Armee nach Kilinochchi vor- Versuchs, bei der Gelegenheit zu fliehen, er- rückte. Sie wies jedoch weiterhin Behauptun- schossen worden sei. gen zurück, dass ihre eigenen Sicherheitskräfte Zivilpersonen und gefangene Kämpfer wäh- Straflosigkeit rend des bewaffneten Konflikts getötet hätten. Die Untersuchungen von Menschenrechtsver- letzungen, die vom Militär, der Polizei und an- Menschenrechtsverteidiger deren staatlichen Stellen und Einzelpersonen Menschenrechtsverteidiger wurden 2010 wei- begangen worden waren, brachten keine er- terhin willkürlich festgenommen, entführt, an- sichtlichen Fortschritte. Gerichtsverfahren wur- gegriffen und bedroht. den nicht fortgesetzt. Militärische und zivile  Pattani Razeek, Leiter der srilankischen NGO Behördenvertreter wiesen Behauptungen zu- Community Trust Fund (CTF), wurde seit dem rück, denen zufolge die srilankischen Streit- 11. Februar vermisst, nachdem er die Stadt Po- kräfte in der Schlussphase des bewaffneten lonnaruwa verlassen hatte, um in die im Osten Konflikts, der im Mai 2009 beendet worden gelegene Stadt Valaichchenai zu fahren. Seine war, das humanitäre Völkerrecht verletzt hätten. Familie erstattete Anzeige bei der örtlichen Po- Sie gaben wiederholt öffentliche Erklärungen lizeistation in der Stadt Puttalam, wo er lebte, ab, in denen sie versicherten, dass es »keine und meldete sein »Verschwinden« auch der Opfer unter der Zivilbevölkerung« gegeben Menschenrechtskommission von Sri Lanka. habe. Dennoch konnte sein Verbleib nicht ermittelt In einem vergeblichen Versuch, UN-General- werden. Ein Straftatverdächtiger mit mutmaßli- sekretär Ban Ki-moon zur Abberufung seines chen Verbindungen zu politischen Kreisen, Expertengremiums zu bewegen, führte Minister der Lösegeldforderungen erhoben haben soll, Wimal Weerawansa am 6. Juli 2010 eine De- blieb auf freiem Fuß. monstration an, die zu einer temporären Schlie- ßung der UN-Vertretung in Colombo führte. Journalisten Hunderte von Menschen, die Informationen Journalisten wurden sowohl von Personen, die über ihre nach der Festnahme durch die Ar- der Regierung unterstanden, als auch von Mit- mee vermissten Verwandten suchten, bemüh- gliedern bewaffneter Gruppen, die mit der Re- ten sich darum, vor der LLRC auszusagen, die gierung verbündet waren, tätlich angegriffen, ab August im Norden und Osten Sri Lankas An- entführt, eingeschüchtert, schikaniert oder ge- hörungen durchführte. Es gelang aber nur we- tötet. Die Behörden unternahmen jedoch

Sri Lanka 445 kaum Anstrengungen, um die Angriffe zu un- tionellen Praktiken, die ihre Rechte ver- tersuchen oder die Täter zur Verantwortung zu letzten. Die Meldungen über schwere ziehen. Fälle von Gewaltanwendung gegen lesbi-  Prageeth Eknaligoda, ein offener Kritiker der sche Frauen, die wegen ihrer sexuellen Regierung, wurde seit dem 24. Januar 2010 Orientierung ins Visier genommen wur- vermisst. Er hatte über die für den 26. Januar den, hielten an. Zwar gab es für HIV-po- anberaumten Präsidentschaftswahlen berich- sitive Menschen einige Verbesserungen tet und eine Analyse fertiggestellt, die den Op- beim Zugang zu den Gesundheitsdiens- positionskandidaten Sarath Fonseka als Favo- ten, doch stellte dabei die Armut insbe- riten bei den Wahlen einstufte. Die Polizei er- sondere in den ländlichen Gebieten wei- klärte, dass die Ermittlungen keine Anhalts- terhin ein wesentliches Hindernis dar. punkte über seinen Verbleib oder die Um- Massive Gewaltausbrüche führten dazu, stände seines »Verschwindens« erbracht hät- dass Flüchtlinge und Migranten weiter ten. Die Entscheidung über einen von seiner unter Diskriminierung und Vertreibung Familie beim Obersten Gerichtshof Colombo litten. Menschenrechtsverteidiger waren eingereichten Antrag auf Haftprüfung wurde in ihrer Arbeit nach wie vor Bedrohun- wiederholt verschoben. gen ausgesetzt.  Im Mai 2010 kündigte Sri Lankas Außenmi- nister an, dass die Regierung J. S. Tissainaya- Hintergrund gam begnadigen werde. Er war der erste auf der Die politischen Spannungen hinsichtlich der Grundlage des Gesetzes zur Verhinderung von Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und ange- Terrorismus in Sri Lanka verurteilte Journalist. messener Lösungswege aus der Armut, Un- Er wurde nach Einlegung von Rechtsmitteln gleichheit und Arbeitslosigkeit hielten im Jahr im Januar auf Kaution aus der Haft entlassen. 2010 an. Es kam in diesem Zusammenhang zu 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Im Juni verließ er Sri Lanka. langfristigen Streiks der Angestellten im öffent- lichen Dienst und zahlreichen Protesten bei in Armut lebenden städtischen Gemeinschaften. 000835 Im April benannte Präsident Jacob Zuma einen 20-köpfigen nationalen Planungsausschuss Südafrika

Amtliche Bezeichnung: Republik Südafrika Staats- und Regierungschef: Jacob G. Zuma Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 50,5 Mio. Lebenserwartung: 52 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 79 / 64 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 89%

Es wurde über Fälle von Folter und au- ßergerichtlichen Hinrichtungen durch Polizeikräfte berichtet. Nach wie vor wur- den zahlreiche Gewaltverbrechen an Frauen und Mädchen verübt, und es gab

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Anzeichen für eine Zunahme von tradi-

446 Südafrika (National Planning Commission) unter dem tigung im Gewahrsam sowie die obligatorische Vorsitz des ehemaligen Finanzministers Trevor Berichterstattung durch die Polizei bei Kennt- Manuel zur Erarbeitung eines nationalen Ent- nis dieser Verstöße aufzunehmen. Ihre Empfeh- wicklungsplans und einer längerfristigen Per- lungen wurden in einen abgeänderten Gesetz- spektive für das Land. Das hohe Maß an Armut entwurf aufgenommen. und Ungleichheit bei den Einkommen sowie Trotz fortgesetzter Bemühungen der Südafri- die anhaltend schlechtere Stellung von Frauen kanischen Menschenrechtskommission und bestimmten ethnischen Gruppen wurden (South African Human Rights Commission) und in dem im September abgegebenen Bericht zu anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen den Millenniums-Entwicklungszielen einge- wurde das Fakultativprotokoll zum UN-Überein- räumt. Im Oktober starteten Gewerkschaften kommen gegen Folter von Südafrika nicht rati- zusammen mit zivilgesellschaftlichen Organi- fiziert. Eine neue Version des Gesetzentwurfs, sationen eine Kampagne für eine Wirtschafts- der Folter zu einem Straftatbestand macht, politik, die soziale Gerechtigkeit und den war zwecks Kommentierung im Umlauf, bis Schutz sozioökonomischer Rechte fördert. zum Jahresende jedoch noch nicht dem Par- lament vorgelegt worden. Folter und andere Misshandlungen  Im Mai 2010 wurde der Polizeibeamte Vinod Es gab Berichte über Fälle von Folter und an- Maharaj von Angehörigen der Polizeieinheit dere Misshandlungen an mutmaßlichen Straf- zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität tätern im Gewahrsam der Polizei. Zu den nach- und der Sonderpolizeieinheit The Hawks fest- weislich angewandten Methoden gehörten genommen und dem Vernehmen nach gefol- schwere Prügel, Elektroschocks und Ersti- tert. Berichten zufolge musste er Elektro- ckungsfolter, während das Opfer gefesselt schocks, Prügel, das Ziehen eines Fingernagels oder sein Kopf mit einer Kapuze verhüllt war, und Erstickungsfolter erdulden. Vier Tage sowie Todesdrohungen. Die Unabhängige Po- nach seiner Festnahme wurde er unter der An- lizeiaufsichtsbehörde (Independent Complaints klage von Waffendelikten und Mord vor Ge- Directorate – ICD) berichtete, dass sie zwi- richt gestellt. Das Gericht wies die Polizei an, schen April 2009 und März 2010 fünf direkte seine ärztliche Versorgung sicherzustellen, Strafanzeigen wegen Folter und 920 Anzeigen doch diese wurde ihm verweigert. Vier Tage wegen tätlicher Angriffe mit dem Vorsatz, später lieferte man ihn zu einer Notoperation schwere Körperverletzungen zu verursachen, in ein Krankenhaus ein. Zum Jahresende be- erhalten habe. Wegen Hinweisen auf Folter fand er sich in Untersuchungshaft; der Termin wurden einige dieser angezeigten Fälle unter- für das Verfahren stand noch nicht fest. sucht. Sieben der 294 Todesfälle, die sich im  Im Juni 2010 hörte ein Rechtsanwalt, der sich Polizeigewahrsam ereignet hatten, waren auf mit einem Mandanten in der Polizeistation im Folter zurückzuführen, 90 andere hingen mit Township Protea in Soweto beriet, aus einem »im Gewahrsam erlittenen Verletzungen« zu- angrenzenden Dienstzimmer Schreie. Dort sammen. Die ICD untersuchte auch 24 Strafan- wurde offensichtlich ein Mann Stromschlägen zeigen wegen Vergewaltigungen durch Polizei- ausgesetzt. Als der Anwalt den Versuch unter- beamte. nahm, einige Polizeibeamte zu überreden, da- Ein Gesetzentwurf, der der ICD eine von der gegen einzuschreiten, wurde er beleidigt, mit Polizeigesetzgebung unabhängige gesetzliche Gewaltanwendung bedroht und aufgefordert, Grundlage geben sollte, lag dem Parlament die Polizeistation zu verlassen. Rechtsanwäl- Ende 2010 noch zur Beratung vor. Im August ten gelang es später, den Mann, der gefoltert forderten zivilgesellschaftliche Organisationen worden war, sowie einen zweiten Gefangenen, in parlamentarischen Anhörungen, in das Ge- der ebenfalls tätlich angegriffen worden war, setz klare Verpflichtungen zur Untersuchung ausfindig zu machen. Beide befanden sich von Anzeigen wegen Folterung und Vergewal- unter Polizeibewachung im Leratong-Kranken-

Südafrika 447 haus. Den Rechtsanwälten wurde der Zugang nach wie vor ein großes Problem; 19 von 239 zu ihnen verwehrt. Vier Tage später holten An- Gefängnissen waren zu mehr als 200% ihrer gehörige der Polizeieinheit zur Bekämpfung Kapazität belegt, und die Haftbedingungen der organisierten Kriminalität die beiden Män- wurden als »schockierend menschenunwür- ner aus dem Krankenhaus. Dem Vernehmen dig« beschrieben. nach wurden beide erneut gefoltert, ehe man sie aufgrund von Anklagen wegen Raubüber- Außergerichtliche Hinrichtungen falls und Tötungsdelikten in Untersuchungshaft Im September 2010 stimmte das Kabinett nahm. Einer der beiden wurde später freige- einem Gesetzentwurf zur Änderung von Para- lassen. graph 49 des Gesetzes über Strafverfahren (Cri-  Drei als illegale Migranten verdächtigte Per- minal Procedures Act) zu, der die Anwendung sonen wurden in der Nähe der Grenze zu Le- von Zwangsmaßnahmen während der Fest- sotho festgenommen und in der Polizeistation nahme regelt. Die Änderungsvorschläge im Ladybrand tätlich angegriffen. Am 14. Juni Gesetzentwurf riefen in der Öffentlichkeit Be- 2010 bemerkte ihr Rechtsanwalt, dass sie Wun- fürchtungen hervor, dass sie den zur Fest- den im Gesicht und Blut auf der Kleidung hat- nahme befugten Personen erlauben würden, ten und einer der Gefangenen dringender me- mit tödlicher Gewalt gegen einen Verdächtigen dizinischer Versorgung bedurfte. Am darauf- vorzugehen, der sich seiner Festnahme wider- folgenden Tag genehmigten Beamte der Ein- setzt oder zu fliehen versucht, wenn sie der wanderungsbehörde ihre Freilassung. Als der Ansicht sind, dass durch die verzögerte Fest- Anwalt und einer der Gefangenen versuchten, nahme ein hohes Risiko für »zukünftige To- Anzeige wegen Körperverletzung durch die desfälle« bestehe. Die vorgesehenen gesetzli- Polizei zu erstatten, wurden sie von einem Poli- chen Bestimmungen würden sowohl Normal- zeibeamten auf der Polizeistation beleidigt, ge- bürgern als auch Polizeibeamten die Anwen- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen stoßen und mit Gewaltanwendung bedroht. Als dung tödlicher Gewalt auch in Situationen er- der Rechtsanwalt den Versuch unternahm, lauben, in denen nach internationalen Men- das Formular für einen gerichtsmedizinischen schenrechtsstandards Gewaltanwendung mit 000835 Bericht zu erhalten, soll derselbe Polizeibe- Todesfolge nicht zulässig ist. amte ihm gegenüber mehrmals tätlich gewor- Im November meldete die ICD, dass die To- den sein und ihn gezwungen haben, die Poli- desfälle im Polizeigewahrsam bzw. »infolge zeistation zu verlassen. Nach einer zügigen Un- polizeilicher Maßnahmen« zwischen April 2009 tersuchung der Anschuldigungen durch die und März 2010 um 6% auf 860 zurückgegan- ICD beschloss der Leiter der Staatsanwaltschaft gen seien. In der Provinz KwaZulu-Natal wurde im September, zwei Polizeibeamte wegen tätli- jedoch im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg chen Angriffs strafrechtlich zu verfolgen. von 258 auf 270 Todesfälle verzeichnet. General  Nach Ermittlungen durch die ICD und einer Bheki Cele, Präsident der Nationalen Polizei, Anhörung im Rahmen eines polizeilichen Dis- erklärte im Oktober gegenüber dem Parlament, ziplinarverfahrens wurde der Chef der Polizei- dass die Gründe für die Zunahme der von der station Sasolburg aus dem Dienst entlassen, Polizei abgegebenen tödlichen Schüsse in den weil er am 5. Februar in seinem Büro eine Prak- Gefahren, denen die Beamten ausgesetzt tikantin vergewaltigt haben soll. Sein Strafpro- seien, sowie ihrer mangelnden Erfahrung lägen. zess war Ende 2010 noch nicht abgeschlossen. Die Aufsichtsbehörde für den Strafvollzug (Ju- Gewalt gegen Frauen und Mädchen dicial Inspectorate for Correctional Services) Die weiterhin eingetroffenen Berichte über das erhielt zwischen April 2009 und März 2010 hohe Ausmaß an Gewalt gegen Frauen und mehr als 2000 Beschwerden von Häftlingen Mädchen gaben landesweit Anlass zur Besorg- wegen Körperverletzung durch das Wachperso- nis. Zwischen April 2009 und März 2010 wur-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht nal. Die Überbelegung der Gefängnisse war den der Polizei mehr als 63500 Fälle von an

448 Südafrika Frauen und Kindern begangenen Sexualdelik- gen der Rechte auf Gleichheit, Würde und In- ten, einschließlich Vergewaltigung, gemeldet. timsphäre sowie der Rechte des Kindes. In dem Bericht eines parlamentarischen Aus- Einige dieser Veranstaltungen waren von tradi- schusses, der im Februar dem Parlament vor- tionellen Führern, die in der Provinz KwaZulu- gestellt wurde, werden grundlegende Änderun- Natal Regierungsgehälter beziehen, finanziell gen des Gesetzes gegen häusliche Gewalt unterstützt worden. (Domestic Violence Act – DVA) sowie der Richt- Im März 2010 entschied das Gleichstellungs- linien und der Praxis bei Polizei, Justiz und so- gericht (Equality Court) in Johannesburg in zialen Trägern empfohlen. Die Empfehlungen der von der NGO Sonke Gender Justice erhobe- waren ein Ergebnis der ausgedehnten Anhö- nen Klage, dass der Vorsitzende des Jugend- rungen zivilgesellschaftlicher Organisationen zu verbands des Afrikanischen Nationalkongres- Mängeln bei der Umsetzung von gesetzlichen ses (African National Congress – ANC), Julius Vorgaben, durch die viele Betroffene keinen Zu- Malema, das Recht der Frauen auf Würde ver- gang zu wirksamen Abhilfemaßnahmen hat- letzt habe. Seine auf einer Versammlung geäu- ten. Im November berichtete die ICD dem Par- ßerten Kommentare über Frauen, die eine Ver- lament, dass nur ein Viertel der von ihr im ver- gewaltigung zur Anzeige bringen, seien als gangenen Jahr inspizierten 522 Polizeistationen Hassrede zu werten. Das Gericht ordnete an, den ihnen nach dem Gesetz gegen häusliche dass sich Julius Malema öffentlich entschuldi- Gewalt obliegenden Pflichten in vollem Umfang gen und ein Bußgeld an eine Organisation zah- nachgekommen seien. Fehlendes Verständnis len solle, die Opfer geschlechtsspezifischer der Polizei für die Anforderungen des Gesetzes, Gewalt betreut. Dies tat er nicht und beantragte mangelnde Bereitschaft zur Disziplinierung stattdessen im Oktober Urlaub, um gegen das derjenigen, die das Gesetz nicht anwandten, Urteil Rechtsmittel einlegen zu können. und das Versäumnis, Gewalttäter festzuneh- Das Parlament beriet über einen Gesetzent- men, waren dem ICD-Bericht zufolge die wurf zur Bekämpfung des Menschenhandels. Hauptprobleme. Das Gesetz wurde bis zum Ende des Jahres Entführungen und Zwangsverheiratungen von nicht verabschiedet. Mädchen, die mit der traditionellen Praxis Ukuthwala (Zwangsverheiratung minderjähri- Rechte von Lesben, Schwulen, ger Mädchen gegen Zahlung von sogenann- Bisexuellen und Transgender-Personen tem Brautgeld) zusammenhingen, nahmen of- Es gab weiterhin Meldungen über Fälle schwe- fenbar zu, insbesondere in ländlichen Gebie- rer Gewaltanwendung gegen lesbische Frauen ten der Östlichen Kap-Provinz. oder Frauen, die für Lesben gehalten wurden.  Im August 2010 lehnte ein Amtsgericht in Wil- Bis Ende 2010 war nicht entschieden worden, lowvale in der Östlichen Kap-Provinz die For- ob die vorgeschlagene Gesetzgebung zur Krimi- derung eines Ehemanns nach Rückkehr seiner nalisierung von Hassverbrechen die Opfer, die 17-jährigen Ehefrau oder Rückgabe des Braut- aufgrund ihrer sexuellen Orientierung angegrif- preises (lobola) ab. Die junge Frau, die von der fen wurden, einschloss, wie es zivilgesell- Frauenrechtsorganisation Women’s Legal schaftliche Gruppen empfohlen hatten. Im De- Centre rechtlich vertreten wurde, war 14 Jahre zember unterstützte Südafrika die Wiederein- alt, als sie entsprechend einem alten Brauch führung einer zuvor gestrichenen Passage in verheiratet wurde. eine UN-Resolution, die Staaten dazu aufrief, Nach groß angelegten Veranstaltungen zur die Tötung von Angehörigen von Minderheiten- Durchführung von »Jungfräulichkeitstests« gruppen zu ächten. Durch die Änderung wer- (virginity testing) verurteilten die Kommission den auch Tötungen aufgrund der »sexuellen für Geschlechtergleichheit (Commission for Orientierung« geächtet. Gender Equality) und einige zivilgesellschaftli- che Organisationen diese Tests als Verletzun-

Südafrika 449 Recht auf Gesundheit – Flüchtlinge und Migranten Menschen mit HIV/AIDS Flüchtlinge und Migranten litten auch 2010 un- Nach Schätzungen des UN-Programms zu ter Verstößen gegen das Recht auf Leben und HIV / AIDS (UNAIDS) waren 5,7 Mio. Menschen körperliche Unversehrtheit. In den ersten sechs in Südafrika HIV-positiv. Bis Ende 2010 hatte Monaten des Berichtsjahrs wurden in fünf sich die Zahl der AIDS-Patienten, die eine an- Provinzen mindestens 14 Fälle von gewalttäti- tiretrovirale Therapie (ART) erhielten, laut Anga- gen Angriffen und Geschäftsplünderungen re- ben der Weltgesundheitsorganisation auf über gistriert, die sich vorzugsweise gegen somali- 971500 erhöht. Mehr als ein Drittel lebte in der sche und äthiopische Staatsbürger richteten. von der Epidemie am stärksten betroffenen In etlichen Gebieten, darunter in Siyathem- Provinz KwaZulu-Natal. Die höchste HIV-Präva- ba/Balfour, Sasolburg und Middelburg, fan- lenz war in dieser Provinz bei schwangeren den umfangreiche Vertreibungen nichtsüdafri- Frauen festgestellt worden. Im März verab- kanischer Staatsangehöriger statt. Der Polizei- schiedete die Regierung neue HIV-Behand- schutz erfolgte häufig nicht rechtzeitig oder war lungsrichtlinien, die eine frühzeitige Behand- unzureichend, und die Opfer hatten Schwie- lung von schwangeren Frauen und Personen rigkeiten, zu ihrem Recht zu kommen und Ent- vorsehen, die sowohl mit HIV als auch mit Tu- schädigung zu erhalten. In einigen Gebieten berkulose infiziert sind. Der Zugang zu einer der Provinz Gauteng verhinderte die Zusam- Behandlung verbesserte sich in etlichen Provin- menarbeit zwischen höheren Polizeibeamten zen, nachdem das Gesundheitsministerium in und Beobachtern des UN-Hochkommissars für Zusammenarbeit mit NGOs und Gebern die Ka- Flüchtlinge (UNHCR) und zivilgesellschaftli- pazität von Kliniken außerhalb von Kranken- chen Organisationen eine Eskalation der Ge- häusern gestärkt hatte, um eine umfassende walt. Behandlung und Versorgung zu gewährleis- Im Mai wurde Migranten und Flüchtlingen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen ten. Armut, unzureichende tägliche Nahrungs- schriftlich und mündlich Gewalt angedroht, aufnahme, unzuverlässige und kostspielige sollten sie bis zum Ende der Fußballweltmeis- Transportsysteme und der Mangel an medizini- terschaft 2010 nicht ihre Geschäfte schließen 000835 schem Personal in den ländlichen Gebieten und das Land verlassen. Im Juni wurde ein In- waren jedoch weiterhin die größten Hemmnisse terministerieller Ausschuss (Inter-Ministerial bei der Inanspruchnahme medizinischer Ver- Committee – IMC) ins Leben gerufen, um die sorgung. staatliche Reaktion auf die Vorfälle von Gewalt Im März startete die Regierung eine Kampa- zu koordinieren. Obwohl nach dem 11. Juli eine gne, um die Anzahl freiwilliger HIV-Tests zu er- größere Anzahl von Sicherheitskräften einge- höhen, und in KwaZulu-Natal förderte sie die setzt wurde, ereigneten sich in den Provinzen männliche Beschneidung, um die HIV-Präva- Westkap und Gauteng (darunter in Philippi lenz zu reduzieren. Beide Programme wurden East, Khayelitsha, Wallacedene und Kya Sands) wegen der Überbetonung numerischer Ziele mindestens 15 Angriffe auf Eigentum und kritisiert. In einigen Fällen waren die Betroffe- Menschen – Hunderte wurden dabei vertrie- nen vor der Einwilligung nicht umfassend in- ben. Mitglieder des IMC stritten öffentlich ab, formiert und beraten worden. Dem südafrikani- dass die Vorfälle einen ausländerfeindlichen schen AIDS-Rat (South African National AIDS Hintergrund gehabt hätten; im September be- Council) wurde mangelnde Führungsstärke bei stätigte der Vizeminister für Soziale Entwicklung der Überwachung der Umsetzung des natio- jedoch, dass Flüchtlinge und Migranten Opfer nalen strategischen Plans zu HIV und AIDS vor- von »Hassverbrechen« geworden seien. geworfen. Im November verpflichtete das Urteil eines Strafgerichts der ersten Instanz die Banken dazu, die Personaldokumente von Flüchtlingen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht und Asylsuchenden zu akzeptieren, um ihnen

450 Südafrika die Eröffnung von Bankkonten zu ermöglichen. Gemeinde in der Provinz Limpopo, die von Dieser Schritt wurde von den Organisationen, Bergbauaktivitäten und der Unterdrückung die sich für die Respektierung der Rechte von ihrer Proteste durch die Polizei betroffen wa- Flüchtlingen einsetzen, begrüßt. ren, beim Oberen Gericht eine Überprüfung In mindestens zwei der von der Menschen- des Pachtvertrags mit der Bergbaugesell- rechtsorganisation Rechtsanwälte für die schaft Anglo-Platinum. Die Antragsteller hofften Menschenrechte (Lawyers for Human Rights) auf ein Urteil, das feststellen würde, dass der vertretenen Fälle ordneten die Gerichte die Vertrag ohne vorherige umfassende Information Freilassung von Bürgern aus Simbabwe und und Berücksichtigung des Rechts der Ge- Somalia an, deren Inhaftierung widerrechtlich meinschaft auf eine gerechte und angemes- war und die dem Risiko der Abschiebung aus- sene Entschädigung geschlossen wurde. Das gesetzt waren. Das im September angekün- Gericht hatte sich bis Ende 2010 noch nicht mit digte Vorhaben des Innenministeriums (Minis- dem Fall befasst. try of Home Affairs), den Rechtsstatus tausen-  Im August 2010 nahmen Angehörige der der in Südafrika lebender Simbabwer zu regeln Hawks rechtswidrig den investigativen Journa- und ihr Abschiebungsmoratorium aufzuhe- listen Mzilikazi wa Afrika der Sunday Times fest, ben, weckte Befürchtungen über zukünftige allem Anschein nach, weil er über ein mut- Massenabschiebungen, da die Anträge inner- maßliches Mordkommando berichtet hatte, das halb eines vorgegebenen Zeitraums eingegan- Verbindungen zu hochrangigen Mitgliedern gen und bearbeitet sein mussten. Im Dezem- der Provinzregierung von Mpumalanga unter- ber erklärte der Minister, dass Simbabwer, die hielt. Sie beschlagnahmten sein Notebook, bis zum 31. Dezember eine Aufenthaltsgeneh- hielten ihn 24 Stunden lang an verschiedenen migung beantragen würden, keine Abschie- Orten in Haft und gewährten ihm erst dann bung zu befürchten hätten. Laut offiziellen An- Zugang zu seinem Anwalt. Nach Eingang eines gaben gingen bis zu diesem Stichtag über Dringlichkeitsantrags ordnete das Hohe Ge- 250000 Anträge ein. Sicherheitspersonal richt von Pretoria seine sofortige Freilassung an. wandte Berichten zufolge exzessive Gewalt ge- Der Vorfall ereignete sich zu einer Zeit, als der gen Simbabwer an, die vor der Dienststelle des ANC und die ihm angehörende Regierung ver- Innenministeriums in Kapstadt darauf warteten, stärkten Druck ausübten, um die Medien und ihre Anträge zu stellen. das Recht auf freie Meinungsäußerung mit Hilfe eines geplanten Mediengerichts (Media Ap- Menschenrechtsverteidiger peals Tribunal) und eines drakonischen Geset- Das Verfahren gegen zwölf Anhänger der Bewe- zes zum Schutz von Informationen stärker zu gung für das Recht auf angemessenen Wohn- kontrollieren. Um dieser Entwicklung etwas ent- raum Abahlali baseMjondolo, die unter der An- gegenzusetzen, riefen zivilgesellschaftliche klage standen, für die im September 2009 in Organisationen die Kampagne Right2Know einer informellen Siedlung in der Kennedy Road für das Recht auf Information ins Leben. in der Nähe von Durban ausgebrochenen ge- walttätigen Ausschreitungen verantwortlich zu Amnesty International: Missionen und Berichte sein, begann im November. Eine Kronzeugin,  Delegierte von Amnesty International besuchten Südafrika die ihre frühere bei der Polizei gemachte Aus- in den Monaten März, August und November.  sage mit der Begründung widerrief, sie sei er- South Africa: Police negligence in xenophobic attack zwungen worden, erhielt Morddrohungen, (AFR 53/003/ 2010)  South Africa: Grave concern at continuing violence against nachdem die Medien einige Tage zuvor ihren refugees and migrants (AFR 53/004/ 2010) Namen veröffentlicht hatten. Das Verfahren  Human rights concerns in South Africa during the World Cup wurde auf Mai 2011 vertagt. Alle Angeklagten (AFR 53/007/ 2010) wurden gegen Kaution freigelassen.  Im Januar 2010 beantragten Einwohner einer

Südafrika 451 gend vom Geheimdienst (National Intel- Sudan ligence and Security Service – NISS) be- gangen wurden, blieben weiterhin straf- Amtliche Bezeichnung: Republik Sudan frei. Vermeintliche Kritiker der Regie- Staats- und Regierungschef: rung, die ihre Rechte auf freie Meinungs- Omar Hassan Ahmed al-Bashir äußerung sowie Vereinigungs- und Ver- Todesstrafe: nicht abgeschafft sammlungsfreiheit wahrnehmen wollten, Einwohner: 43,2 Mio. wurden festgenommen, gefoltert oder in Lebenserwartung: 58,9 Jahre anderer Weise misshandelt und straf- Kindersterblichkeit (m/w): 117 / 104 pro 1000 rechtlich verfolgt. Es wurden Todesur- Lebendgeburten teile verhängt, teilweise auch gegen Ju- Alphabetisierungsrate: 69,3% gendliche. Im Norden des Landes wur- den Frauen, junge Mädchen und Männer In Darfur und im Südsudan litten Hun- wegen ihrer »Kleidung« oder ihres »Be- derttausende von Zivilpersonen weiter- nehmens« festgenommen und öffentlich hin unter den Auswirkungen des bewaff- ausgepeitscht. neten Konflikts und unter dem einge- schränkten Zugang zu humanitärer Hilfe. Hintergrund Der Konflikt in Darfur verschärfte sich Im April 2010 fanden Präsidentschafts- und weiter. Angriffe auf Dörfer führten dazu, Parlamentswahlen statt, bei denen Präsident dass sich die Zahl der Vertriebenen al-Bashir wiedergewählt wurde. Die Wahlen noch um mehrere tausend Menschen er- wurden von Berichten über Betrug und Mani- höhte. In den Lagern der Vertriebenen pulation begleitet. Die Angst vor Wahlfälschung und in deren näherer Umgebung war se- hatte die wichtigsten Oppositionsparteien 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen xuelle Gewalt gegen Frauen nach wie vor dazu bewogen, nicht an den Wahlen teilzuneh- an der Tagesordnung. Entführungen so- men. wie Angriffe auf Konvois mit humanitä- Die Vorbereitungen des für den 9. Januar 000835 ren Hilfslieferungen nahmen zu. Men- 2011 angesetzten Referendums über die Un- schenrechtsverletzungen, die überwie- abhängigkeit des Südsudan waren durch Aus- einandersetzungen zwischen der Nationalen Kongresspartei (National Congress Party – NCP) und der Sudanesischen Volksbefrei- ungsbewegung (Sudan People’s Liberation Mo- vement – SPLM) gekennzeichnet. Zu den strit- tigen Punkten zählten u. a. die Wählerregistrie- rung und der Grenzverlauf, insbesondere in der erdölreichen Region von Abyei, die neben den Regionen Blue Nile und Süd-Kordofan zu den drei sogenannten Übergangszonen (transi- tional areas) zählt. Die Regierung und eine Reihe bewaffneter Gruppen aus Darfur nahmen ihre Gespräche zur Vorbereitung von Friedensverhandlungen in Doha (Katar) wieder auf. Die Treffen fanden unter der Schirmherrschaft eines gemeinsa- men Vermittlungsteams der Afrikanischen Union (AU) und der UN sowie der Regierung

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht von Katar statt. Am 23. Februar unterzeichne-

452 Sudan ten die Regierung und die bewaffnete Oppositi- der sich der JEM angeschlossen hatte, vor dem onsgruppe Bewegung für Gerechtigkeit und ICC. Die Anhörung zur Bestätigung der gegen Gleichberechtigung (Justice and Equality Mo- sie erhobenen Anklagen fand am 8. Dezember vement – JEM) ein Rahmenabkommen zur statt. Beendigung des Konflikts in Darfur, das einem Am 12. Juli stellte der ICC einen weiteren Haft- im Jahr 2009 abgeschlossenen Abkommen befehl gegen Präsident al-Bashir wegen Völ- ähnelte. kermordes aus. Die Vorverfahrenskammer be- Am 1. Oktober 2010 erneuerte der UN-Men- fand, es lägen ausreichende Gründe für den schenrechtsrat das Mandat des Unabhängi- Verdacht vor, dass Präsident al-Bashir für drei gen Experten für die Menschenrechtssituation Fälle von Völkermord verantwortlich sei – an im Sudan. den ethnischen Gruppen der Fur, der Massalit Im Oktober besuchte eine Delegation des UN- und der Zaghawa. Sicherheitsrats den Sudan im Zusammenhang Die Versammlung der AU bestätigte im Juli er- mit den Vorbereitungen für das Referendum. neut ihre Entscheidung, im Zusammenhang Im Dezember fand in Kuwait eine Internatio- mit der Festnahme und Auslieferung von Präsi- nale Geber- und Investorenkonferenz für den dent al-Bashir nicht mit dem ICC zusammen- Ostsudan statt. Der Ostsudan litt weiter unter zuarbeiten. Die Versammlung ersuchte die Mit- Ausgrenzung, einer starken Verbreitung von gliedstaaten der AU, dieser Entscheidung zu Waffen und einer unsicheren Lage. Zudem folgen. Präsident al-Bashir besuchte im Juli strömten jeden Monat Hunderte von Flüchtlin- und im August den Tschad und Kenia, die gen aus den benachbarten Ländern Eritrea, beide Vertragsstaaten des Römischen Statuts Äthiopien und Somalia in diesen Landesteil. des Internationalen Strafgerichtshofs sind. Die sudanesische Regierung kooperierte nicht Internationale Rechtsprechung mit dem ICC. Die drei Personen, gegen die das Am 8. Februar 2010 entschied der Internatio- Gericht Haftbefehle erlassen hatte – Präsident nale Strafgerichtshof (International Criminal al-Bashir, Ahmed Haroun (seit Mai 2009 Gou- Court – ICC), die Anklage gegen Bahar Idriss verneur des Bundesstaates Süd-Kordofan) und Abu Garda, den Anführer der in Darfur behei- Ali Kushayb (ehemaliger Anführer der Miliz mateten bewaffneten Gruppe Vereinigte Wider- Janjaweed) – blieben auch im Sudan von straf- standsfront (United Resistance Front), nicht rechtlicher Verfolgung verschont. zu bestätigen. Bahar Idriss Abu Garda war we- gen Kriegsverbrechen in drei Fällen, die wäh- Bewaffneter Konflikt – Darfur rend eines Angriffs auf Angehörige der Frie- Als im Februar 2010 in Doha die Aussichten für densmission der Afrikanischen Union im Su- ein Friedensabkommen zwischen der Regie- dan (African Union Mission in Sudan – AMIS) rung und mehreren bewaffneten Gruppen aus im Dorf Haskanita im Jahr 2007 begangen Darfur erörtert wurden, startete die Regierung worden waren, vorgeladen worden und am eine Militäraktion in Darfur. Bewaffnete Ausei- 18. Mai 2009 freiwillig vor dem ICC erschienen. nandersetzungen zwischen Regierungstrup- Am 23. April 2010 wies die Vorverfahrenskam- pen und der Abdel-Wahid-Fraktion der SLA, vor mer den Einspruch des ICC-Anklägers zurück allem im Gebiet von Jebel Marra in Westdarfur, und lehnte es erneut ab, die Anklage zu bestä- führten zwischen Februar und Juni zur Vertrei- tigen. bung von schätzungsweise 100000 Men- Am 17. Juni erschienen Abdallah Banda Ab- schen. Der gemeinsamen Friedenstruppe von baker Nourein, Oberbefehlshaber der kollekti- UN und AU in Darfur (Joint UN-AU Mission in ven Führung der JEM, sowie Saleh Mohammed Darfur – UNAMID) und humanitären Organisa- Jerbo Jamus, ehemaliger Generalstabschef tionen wurde mehrere Monate lang der Zu- der Sudanesischen Befreiungsarmee – Fraktion gang zum Gebiet Jebel Marra verwehrt. Bewaff- Unity (Sudan Liberation Army – SLA-Unity), nete Auseinandersetzungen zwischen ver-

Sudan 453 schiedenen ethnischen Gruppen eskalierten die der Regierung vorwarfen, sie versuche, die gleichfalls und wurden durch Zwistigkeiten in- Lager aufzulösen und die Menschen zur Rück- nerhalb der bewaffneten Gruppen noch ver- kehr in ihre Dörfer zu zwingen, während sie schärft. Der Kampf zwischen den ethnischen gleichzeitig eine militärische Lösung des Kon- Gruppen und die Zusammenstöße zwischen flikts verfolge. Regierungstruppen mit der Abdel-Wahid-  Im Juli 2010 nahmen die Polizei und der Ge- Fraktion der SLA sowie der JEM hatten Hun- heimdienst NISS etliche Personen im Lager derte von zivilen Opfern zur Folge. Kalma fest. Berichten zufolge wurden mindes- Aufgrund des in Doha unterzeichneten Rah- tens zwei von ihnen gefoltert und befanden menabkommen, das einen Gefangenenaus- sich am Jahresende noch immer ohne Ankla- tausch beinhaltete, setzte die Regierung im Fe- geerhebung und ohne Kontakt zur Außenwelt bruar 57 inhaftierte mutmaßliche JEM-Ange- in Haft. Nach diesen Festnahmen suchten hörige auf freien Fuß. 50 von ihnen waren nach sechs weitere Lagerbewohner, darunter eine dem Angriff der JEM auf Khartum im Mai 2008 Frau, Zuflucht in einem Gemeindezentrum der von Antiterrorsondergerichten zum Tode ver- UNAMID. Obwohl die Regierung der UNAMID urteilt worden. dem Vernehmen nach für die fünf Männer Haft- Die Regierungen des Sudan und des Tschad befehle zustellte, weigerte sich die Friedens- bildeten eine gemeinsame Grenzpatrouille. mission, die Gesuchten ohne Garantien für ihre Die tschadische Regierung verweigerte dem Sicherheit, darunter auch den Verzicht auf Anführer der hauptsächlich im Osten des Folter und Todesstrafe, auszuliefern. Tschad ansässigen JEM, Khalil Ibrahim, den  Vier Binnenflüchtlinge aus dem Lager Abus- Zutritt auf tschadisches Territorium. Während hok in Norddarfur, die im August 2009 auf der Khalil Ibrahim Zuflucht in Libyen suchte, rückte Grundlage des Gesetzes über Notstand und Öf- die JEM wieder in Darfur ein. Die Vereinbarung fentliche Sicherheit (Emergency and Public 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen zwischen der JEM und der Regierung des Su- Safety Act) von 1997 festgenommen worden dan wurde gebrochen. Die Folge waren militä- waren, blieben ohne Anklageerhebung inhaf- rische Auseinandersetzungen, auch im Gebiet tiert. 13 Vertriebene wurden festgenommen, 000835 von Jebel Moon. nachdem im Lager ein Scheich ermordet wor- Im Lager Kalma in Süddarfur forderten be- den war. Sieben von ihnen kamen im Februar waffnete Auseinandersetzungen zwischen Be- und zwei weitere im September frei. Obwohl fürwortern und Gegnern des Friedensprozesses die Anklagen gegen alle Personen nach ersten von Doha im Juli zahlreiche Todesopfer unter Ermittlungen fallengelassen worden waren, den Lagerbewohnern und veranlassten die wurden sie ins Shalla-Gefängnis überstellt und Hälfte von ihnen, das Lager zu verlassen. Die ohne Kontakt zu ihren Familien oder einem Regierung verweigerte den Bewohnern wo- Anwalt inhaftiert. Norddarfur befindet sich seit chenlang den Zugang zu humanitärer Hilfe. 2006 im Ausnahmezustand. Dadurch ver- Menschen, die dem Lager den Rücken gekehrt fügen der Gouverneur des Bundesstaates und hatten, waren für die humanitären Hilfsorgani- andere Beamte über außerordentliche Macht- sationen nur schwer erreichbar. befugnisse zur Festnahme und Inhaftierung Im September verabschiedete die Regierung von Menschen ohne Anklageerhebung. eine neue Strategie für Darfur, um den Konflikt  Am 1. Dezember 2010 fand in der Universität unter Kontrolle zu bringen. Danach soll die Zalingei in Westdarfur eine Veranstaltung zum »freiwillige« Rückkehr der Binnenvertriebenen Doha-Friedensprozess für die Zivilgesellschaft zu ihren Herkunftsorten gefördert werden und statt. Daran nahmen auch der Vermittler von die bisherige Nothilfe zunehmend durch Ent- Katar sowie Djibril Bassolé teil, der Leiter des wicklungsaktivitäten ersetzt werden. Die neue gemeinsamen Vermittlungsteams von AU und Strategie wurde von mehreren bewaffneten UN. Außerhalb des Veranstaltungsortes kam es

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Gruppen und politischen Parteien abgelehnt, zu Zusammenstößen zwischen Studierenden,

454 Sudan die Rechenschaft für die in Darfur begangenen chenden Machtbefugnisse des Geheimdienstes Verbrechen einforderten, und solchen, die die NISS, der Personen festnehmen und für einen Regierungspartei NCP unterstützten. Nachdem Zeitraum von bis zu viereinhalb Monaten ohne die Delegation abgereist war, eröffnete der Ge- richterliche Überprüfung inhaftieren kann. heimdienst NISS das Feuer auf die Demonstrie- Der Geheimdienst NISS setzte seine Praxis renden. Zwei Männer, darunter ein Student, fort, politisch aktive Bürger und Menschen- wurden getötet und mindestens neun Personen rechtsverteidiger festzunehmen und zu inhaf- verletzt. tieren, jeglichen Kontakt der Häftlinge zur Au- ßenwelt zu unterbinden, die Gefangenen zu fol- Bewaffneter Konflikt – Südsudan tern und zu misshandeln und sie wegen der Die Bevölkerung im Südsudan und in den drei friedlichen Ausübung ihrer Rechte auf freie Übergangsgebieten (transitional areas) war Meinungsäußerung sowie auf Versammlungs- weiterhin von Auseinandersetzungen zwischen und Vereinigungsfreiheit strafrechtlich zu ver- verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgrup- folgen. Mitarbeiter des Geheimdienstes muss- pen über Vieh, Land und natürliche Ressour- ten weder strafrechtliche Schritte noch Diszipli- cen betroffen, obwohl das Ausmaß der Gewalt narmaßnahmen wegen der Verletzung von im Laufe des Jahres abnahm. Die weite Verbrei- Menschenrechten befürchten. tung von Kleinwaffen sowie Menschenrechts- Aufgrund dieser Praktiken flohen Menschen- verstöße, die von verschiedenen Gruppen be- rechtsverteidiger weiterhin aus dem Land oder gangen wurden, u. a. von Soldaten der Suda- schränkten ihre Aktivitäten ein, sofern sie sich nesischen Volksbefreiungsarmee (Sudan im Sudan aufhielten. People’s Liberation Army – SPLA), zogen die  Mohammed Moussa Abdallah Bahr El Din, Bevölkerung und die Mitarbeiter der humanitä- ein Student der Fakultät für Erziehungswissen- ren Hilfsorganisationen weiterhin in Mitleiden- schaften der Universität Khartum, wurde am schaft. 10. Februar 2010 von NISS-Agenten festge- Dennoch kehrten Zehntausende von Binnen- nommen. Einen Tag später fand man seinen vertriebenen und Flüchtlingen aus dem nörd- Leichnam in Khartum mit Folterspuren. Be- lichen Landesteil und aus den Nachbarstaaten, richten zufolge wies der Tote Schnittverletzun- hauptsächlich aus Uganda, in den Südsudan gen und Brandwunden an Händen und Füßen zurück. auf. Eine Obduktion bestätigte die Folterspuren. Die Widerstandsarmee des Herrn (Lord’s Re- Es fand keine unabhängige Untersuchung der sistance Army – LRA) griff Dörfer im Südsudan Todesumstände statt. an. Nach Angaben des UN-Hochkommissars  Zwischen dem 30. Oktober und dem 3. No- für Flüchtlinge (UNHCR) verließen bis August vember 2010 nahm der Geheimdienst 13 Per- 25000 Menschen aus Furcht vor Angriffen der sonen in Khartum fest, darunter einen Rechts- LRA ihre Häuser im Bundesstaat West-Äqua- anwalt, einen Journalisten und einige politisch toria. Die zunehmenden Angriffe der LRA führ- aktive Jugendliche. Im Dezember erhielten Fa- ten auch dazu, dass die Bewohner ihre Felder milienangehörige der Inhaftierten die Erlaub- nur unregelmäßig bestellen konnten, was eine nis, einige von ihnen im Gefängnis zu besu- unsichere Versorgung mit Nahrungsmitteln chen. Die Gefangenen hatten jedoch noch im- nach sich zog. mer keinen Zugang zu Rechtsanwälten. Sie stammten alle aus Darfur. Willkürliche Festnahmen, Folter und andere Misshandlungen Recht auf freie Meinungsäußerung Im Februar 2010 trat ein neues Gesetz über die Zwischen Mai und August 2010 nahm der Ge- nationale Sicherheit (National Security Act) in heimdienst NISS im Norden des Landes die Kraft, das im Dezember 2009 verabschiedet Zensur von Presseerzeugnissen vor der Druck- worden war. Das Gesetz bestätigte die weitrei- legung wieder auf und schloss eine Reihe von

Sudan 455 Zeitungen. Einige Zeitungen konnten während schungen. Es wurden weitere einengende Vor- der gesamten Zeit, in der die Zensur ausgeübt schriften für das Verhalten in der Öffentlichkeit wurde, nicht in den Druck gehen. Journalisten eingeführt. Die Polizei für öffentliche Ordnung wurden wegen ihrer Arbeit festgenommen. bildete dem Vernehmen nach Ausschüsse, die Im Südsudan litten Journalisten ebenfalls un- Kriterien festlegen sollten, wann Menschen ter Schikanen und willkürlichen Festnahmen, wegen »anstößigem« Benehmen oder Kleidung insbesondere, wenn sie über die Wahlen be- festzunehmen seien. richteten. Sicherheitskräfte und Soldaten der Vor den Wahlen im April bekräftigte Präsident SPLA nahmen weiterhin Journalisten, Wahlbe- al-Bashir, dass er am System der öffentlichen obachter und Mitglieder der Opposition fest Ordnung festhalten werde, also dem System und gingen mit Gewalt gegen sie vor. Auch aus Gesetzen und Strukturen, das Festnah- Wahlberechtigte wurden im südlichen Lan- men und Auspeitschungen im Nordsudan er- desteil bei den Wahlen schikaniert und einge- möglicht. Frauen wurden von der Polizei für öf- schüchtert. fentliche Ordnung nach wie vor erpresst und  Die der Oppositionspartei Popular Congress bei der Festnahme sowie in der Haft sexuell Party nahestehende Zeitung Rai Al Shaab belästigt. Dabei nahm die Polizei insbesondere wurde im Mai geschlossen, fünf Mitarbeiter Frauen ins Visier, die sozial schwachen Grup- wurden festgenommen. Im Juli verurteilte pen angehörten, wie Frauen die in Armut leben, man Abuzar Al Amin, den stellvertretenden Binnenvertriebene oder Angehörige der in Chefredakteur, zu fünf Jahren Gefängnis, Khartum lebenden eritreischen und äthiopi- während einer der Herausgeber der Zeitung, schen Gemeinschaften. Ashraf Abdelaziz, sowie der Leiter der Politik-  Über den Einspruch der Journalistin Lubna redaktion, Al Tahir Abu Jawhara, zweijährige Hussein hatte das Verfassungsgericht Ende Freiheitsstrafen erhielten. Dem Vernehmen 2010 noch nicht entschieden. Lubna Hussein 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen nach wurden die Journalisten in der Haft gefol- war im September 2009 wegen des Tragens tert oder in anderer Weise misshandelt. von Hosen verurteilt worden. Sie hatte das Sys-  Am 23. April wurde der Moderator der Radio- tem der öffentlichen Ordnung herausgefor- 000835 station Bentiu FM, Bonifacio Taban Kuich, im dert, indem sie ihren Fall vor ein Gericht der or- Krankenhaus von Bentiu von Sicherheitskräften dentlichen Gerichtsbarkeit brachte. festgenommen. Er hatte über eine Protest-  Im August 2010 nahm die Polizei für öffentli- kundgebung gegen die Ergebnisse der Kom- che Ordnung in Khartum 19 junge Männer munalwahlen im Bundesstaat Unity berichtet, fest, weil sie Frauenkleidung trugen und ge- bei der die Polizei in die Menge geschossen, schminkt waren. Den Männern wurde der Zu- zwei Personen getötet und vier weitere verletzt gang zu einem Anwalt verweigert. Berichten zu- haben soll. Bonifacio Taban Kuich wurde dem folge verabreichte man ihnen in Anwesenheit Vernehmen nach geschlagen und über seine von rund 200 Zuschauern 30 Peitschenhiebe. Arbeit verhört. Am 6. Mai kam er ohne Anklage-  Am 14. Dezember 2010 versammelten sich erhebung frei. zahlreiche Demonstrierende in Khartum und forderten eine Untersuchung der öffentlichen Grausame, unmenschliche Auspeitschung einer Frau durch zwei Angehö- und erniedrigende Strafen rige der Polizei für öffentliche Ordnung im Bei- Die Polizei für öffentliche Ordnung (Public Or- sein eines Richters. Die Auspeitschung war der Police) inhaftierte im Norden des Landes gefilmt worden und hatte große Verbreitung ge- weiterhin Frauen, Mädchen und Männer wegen funden. Der Geheimdienst NISS nahm mehr ihrer Kleidung oder ihres Benehmens, wenn als 60 Männer und Frauen fest und hielt sie bis sie diese als »anstößig« oder »unmoralisch« er- zum Abend in Gewahrsam. Viele Frauen wur- achteten. Die Gerichte verurteilten im Laufe den während ihrer Festnahme geschlagen.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht des Jahres zahlreiche Personen zu Auspeit-

456 Sudan Todesstrafe lah Abdallah Daoud noch im Kindesalter war, Gerichte im Nord- und Südsudan sprachen doch eine zweite, vom Gericht anerkannte Un- 2010 weiterhin Todesurteile aus; hiervon wa- tersuchung kam zu dem Ergebnis, er sei über ren auch Jugendliche betroffen. Obwohl nach 18 Jahre alt. der Unterzeichnung des Rahmenabkommens für Friedensverhandlungen zwischen der JEM Amnesty International: Berichte und der Regierung im Februar in Doha 50  Sudan: Briefing to international election observers Männer freigelassen wurden, blieben 55 wei- (AFR 54/009/ 2010)  tere Männer in Haft. Sie warteten auf die Ent- Agents of fear: The National Security Service in Sudan scheidung über die Rechtsmittel, die sie gegen (AFR 54/010/ 2010)  Sudan: Doctors detained, risk of torture (AFR 54/020/2010) ihre Todesurteile eingelegt hatten. Unter den  Sudan: Three journalists sentenced, one acquitted 55 männlichen Gefangenen sollen sich acht (AFR 54/025/ 2010) Kinder befinden. Obwohl die Regierung zusi-  The chains remain: Restrictions on freedom of expression cherte, dass diese nicht hingerichtet würden, in Sudan (AFR 54/028/ 2010) waren ihre Urteile bis zum Jahresende nicht  Sudan: Activists held incommunicado in Sudan umgewandelt worden. (AFR 54/036/ 2010) Am 14. Januar wurden sechs Männer wegen der Ermordung von 13 Polizisten bei Zusam- menstößen im südlich von Khartum gelegenen Vertriebenenlager Soba Aradi hingerichtet. Zu dem Gewaltausbruch war es gekommen, nach- dem die Sicherheitskräfte im Mai 2005 ver- sucht hatten, die Bewohner gewaltsam zur Swasiland Räumung des Lagers zu zwingen. Den sechs Männern wurde erst fünf Monate nach ihrer Amtliche Bezeichnung: Königreich Swasiland Festnahme der Kontakt zu einem Rechtsan- Staatsoberhaupt: König Mswati III. walt erlaubt. Berichten zufolge wurden alle ge- Regierungschef: Barnabas Sibusiso Dlamini foltert, damit sie ein »Geständnis« ablegten. Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Trotz der Hinweise auf Folter bestätigte das Ver- Einwohner: 1,2 Mio. fassungsgericht die Todesurteile. Lebenserwartung: 47 Jahre  Am 21. Oktober 2010 verurteilte ein Sonder- Kindersterblichkeit (m/w): 111 / 92 pro 1000 gericht in Darfur zehn Männer zum Tode. Vier Lebendgeburten davon hatten dem Vernehmen nach noch nicht Alphabetisierungsrate: 86,5% das 18. Lebensjahr erreicht: Idriss Adam Ab- baker, Abdallah Abdallah Daoud, Ibrahim Sha- Menschenrechtsverteidiger und politisch reef Youssif und Abdelrazig Daoud Abdessed. engagierte Bürger wurden Opfer von Sie wurden wegen ihrer Beteiligung an einem willkürlichen Festnahmen, Misshandlun- Überfall auf einen von der Regierung eskor- gen und Schikanen. Vage formulierte tierten Konvoi in Süddarfur verurteilt. Der Pro- Bestimmungen in den Antiterrorgesetzen zess gegen die Männer entsprach nicht den wurden benutzt, um politische Gegner internationalen Standards für faire Verfahren. zu inhaftieren und unter Anklage zu stel- Nur zwei der Personen, von denen angenom- len. Es gab Berichte über Folter und den men wurde, dass sie noch Kinder waren, wur- ungerechtfertigten Einsatz von tödlicher den medizinisch untersucht, um ihr Alter fest- Gewalt. Der Ministerpräsident schien zustellen. Die Untersuchung bestätigte, dass die Anwendung von Folter öffentlich zu Idriss Adam Abbaker noch ein Kind war. Seine rechtfertigen. Diskriminierende Gesetze Strafe wurde umgewandelt. Eine erste medizini- in Bezug auf Frauenrechte blieben in sche Untersuchung ergab, dass auch Abdal- Kraft. Über 41 % der Frauen, die präna-

Swasiland 457 tale Kliniken aufsuchten, waren HIV- Überwachung von Kommunikationskanälen positiv. In ländlichen Gebieten war der und Zusammenkünften. Mehrere geplante Pro- Zugang zu Therapien gegen AIDS durch testaktionen und Gewerkschaftsdemonstratio- Armut sowie einen Mangel an Medika- nen wurden im Lauf des Jahres verhindert, je- menten und Ärzten erschwert. doch konnte im November eine große, ge- werkschaftlich angeführte Protestveranstaltung Hintergrund ohne Zwischenfälle stattfinden. Die Regierung klammerte 2010 nach wie vor  Im Juni und Juli 2010 führten bewaffnete Po- Fragen der Regierungsführung von ihrem Dia- lizeieinheiten im Rahmen von Ermittlungen log mit der Gewerkschaftsbewegung und der wegen mehrerer Anschläge mit Molotowcock- Zivilgesellschaft aus. Eine Delegation der In- tails Razzien in den Häusern zahlreicher pro- ternationalen Arbeitsorganisation (ILO) be- minenter Menschenrechtsverteidiger, Gewerk- suchte im Oktober das Land, um Beschwer- schafter und politisch engagierter Personen den über Einschränkungen des Rechts auf Ver- durch. Manche dieser Durchsuchungen, vor al- einigungsfreiheit nachzugehen. lem solche in den Wohnungen politisch aktiver Die Wirtschaft Swasilands befand sich im Menschen, fanden ohne richterliche Anord- Berichtszeitraum weiterhin in einer Phase der nung statt. Einige Betroffene wurden auf Poli- Rezession. Die Einkünfte aus der Zollunion des zeiwachen verbracht und nach ihren Aktivitäten südlichen Afrika sanken um 62%, während zu- befragt. Mindestens zwei von ihnen berichte- gleich Arbeitslosigkeit und Armut anstiegen. ten, mit Schlägen gefoltert und fast zum Ersti- Die durchschnittliche Lebenserwartung nahm cken gebracht worden zu sein. aufgrund der Doppelepidemie von HIV und  Im Bestreben, geplante Protestmärsche zu Tuberkulose weiter ab. verhindern, löste die Polizei am 6. September 2010 eine friedliche Zusammenkunft von Bür- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Unterdrückung gern in der Stadt Manzini auf. Die Beamten abweichender Meinungen nahmen widerrechtlich über 50 Personen fest, Zivilgesellschaftlich engagierte Bürger und poli- darunter auch Menschenrechtsverteidiger 000835 tisch aktive Personen berichteten von Miss- und Vertreter ausländischer Gewerkschaften. handlungen, Hausdurchsuchungen sowie der Überdies beschlagnahmte die Polizei Kamera- ausrüstungen, bedrohte und inhaftierte einen Journalisten und ging tätlich gegen einen zweiten vor. Nach ihrer Freilassung bzw. Aus- weisung gaben einige Journalisten an, im Zuge ihrer Festnahme körperlich angegriffen worden zu sein. Die von den swasiländischen Gewerkschaften und der Kampagne für Demo- kratie in Swasiland (Swaziland Democracy Campaign) organisierten Protestmärsche setz- ten sich am 7. und 8. September unter massi- ver Präsenz von Polizei und Militär fort. Am 8. September 2010 erklärte der Minister- präsident auf einer Pressekonferenz, dass Fol- ter als eine Form der Strafe gegen »sich einmi- schende Ausländer« und Oppositionelle zu betrachten sei. Aus seinem Büro kam später keine klare Zurücknahme seiner weithin be- kanntgewordenen Äußerungen. S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

458 Swasiland Antiterrormaßnahmen und Sicherheit überstellen, da er fürchtete, gefoltert zu wer- Die Behörden benutzten nach wie vor die weit den. Am 4. Mai fand man Sipho Jele in seiner gefassten Bestimmungen des Gesetzes zur Zelle erhängt auf. In einem ungewöhnlichen Terrorbekämpfung (Suppression of Terrorism Schritt ordnete der Ministerpräsident eine Un- Act – STA), um politisch aktive Personen zu in- tersuchung seines Todes an. In einer öffentli- haftieren und unter Anklage zu stellen. Das STA chen Gerichtsverhandlung wurden mehrere wurde auch als Grundlage für Durchsu- Zeugen gehört. Bis Ende 2010 hatte die zu- chungsbefehle und andere Maßnahmen zur ständige Rechtsmedizinerin dem Ministerpräsi- Einschüchterung von Menschenrechtsvertei- denten noch keine Untersuchungsergebnisse digern, Gewerkschaftern und Medienschaffen- übermittelt. Sipho Jele war 2005 schon einmal den herangezogen. festgenommen und dem Vernehmen nach ge-  Im Juni 2010 wurden Zonke Dlamini und foltert worden. Anschließend hatte man ihn des Bhekumusa Dlamini, zwei Mitglieder einer un- Verrats angeklagt, jedoch kein Gerichtsverfah- ter dem STA verbotenen Organisation, im Zuge ren gegen ihn eröffnet. polizeilicher Ermittlungen zur Aufklärung von Anschlägen mit Benzinbomben unabhängig Recht auf freie Meinungsäußerung voneinander festgenommen. Gegen die bei- Das Recht auf freie Meinungsäußerung war den Männer erging Anklage wegen Verstoßes nach wie vor durch die geltenden Medienge- gegen das STA. Nach einer Anhörung vor setze und die weit gefassten Bestimmungen einem Gericht der ersten Instanz wurde ihr An- des STA eingeschränkt. Darüber hinaus wur- trag auf Freilassung gegen Kaution abgelehnt. den Journalisten und Herausgeber von Regie- Das Gericht wurde davon in Kenntnis gesetzt, rungsbeamten bedroht und dadurch in ihrer dass die beiden Männer nach ihrer Fest- Arbeit behindert. nahme im Gewahrsam der Polizei fast zum Er-  Im März 2010 begann unter der Anklage der sticken gebracht und anderen Misshandlun- »Missachtung des Gerichts« ein Prozess ge- gen ausgesetzt worden waren. Zonke Dlamini gen Bheki Makhubu, Herausgeber der unab- erklärte außerdem, dass ihm das Geständnis, hängigen Zeitung The Nation. Die Anklage das zur Festnahme von Bhekumusa Dlamini stützte sich auf zwei Artikel, in denen er sich geführt hatte, unter Nötigung abgepresst wor- besorgt über die Rechtsstaatlichkeit in Swasi- den sei. Der Prozess gegen die beiden Männer land geäußert hatte. In der Sache selbst war bis dauerte Ende des Berichtsjahrs noch an. Ende des Jahres noch nicht verhandelt wor- den. Tod in Haft  Einige Tage, nachdem er bei einer Demons- Exzessive Gewaltanwendung tration zum 1. Mai 2010 festgenommen wor- Nach wie vor trafen Berichte über den Einsatz den war, kam der politische Aktivist Sipho Jele tödlicher Gewalt durch Polizeikräfte und an- im Untersuchungsgefängnis von Sidwashini dere mit der Durchsetzung des Rechts betraute ums Leben. Am 3. Mai war er vor einem Gericht Personen ein. Vorliegende Indizien deuteten in der ersten Instanz wegen Verstoßes gegen das den bekanntgewordenen Fällen darauf hin, STA angeklagt worden, offenbar weil er einen dass die Opfer keine anderen Leben gefährdet Mitgliedsausweis einer unter dem STA verbo- hatten, als sie erschossen wurden. Im Januar tenen Organisation bei sich hatte und ein äußerte sich Reverend David Matse, der da- T-Shirt mit einem Aufdruck der Organisation malige Vorsitzende der Kommission für Men- trug. Sipho Jele wurde weder von einem schenrechte und öffentliche Verwaltung, be- Rechtsbeistand vertreten, noch gab es eine sorgt darüber, dass Polizei und Militär anschei- Mitschrift der Gerichtsverhandlungen. Später nend eine »Strategie des gezielten Todes- wurde bekannt, dass er das Gericht gebeten schusses« verfolgten und damit gegen das hatte, ihn nicht erneut in Polizeigewahrsam zu Recht auf Leben verstießen.

Swasiland 459  Am 3. Januar 2010 wurde Sicelo Mamba er- Parlament ein Jahr Zeit, um die Klausel abzu- schossen, dem Vernehmen nach von Sicher- ändern. heitsleuten, die ein Farm- und Wildtierreservat Im Oktober wurde eine Gesetzesvorlage über bewachten. Er wurde von drei Schüssen aus Sexualstraftaten und Gewalt in der Familie zu einer Schnellfeuerwaffe getroffen, davon zwei- einer ausführlichen Debatte ins Parlament ein- mal in den Kopf. Die Sicherheitsleute und ihr gebracht, mehr als fünf Jahre, nachdem sie Arbeitgeber, ein bekannter Farmer, schienen verfasst worden war. Das Gesetz war bis Ende zu glauben, dass ihnen nach dem Wildgesetz 2010 noch nicht verabschiedet worden. von 1997 Immunität vor Strafverfolgung zu- steht. Bis Ende des Berichtsjahrs waren noch Armut, HIV keine offiziellen Ermittlungen eingeleitet wor- und das Recht auf Gesundheit den. Nach wie vor wies Swasiland unter Erwachse-  Am 14. Februar 2010 wurde Sifiso Nhalabatsi nen zwischen 15 und 49 Jahren eine der Berichten zufolge von der Polizei angeschos- höchsten HIV-Raten der Welt auf. Frauen blie- sen, als er sich bereits mit angelegten Hand- ben weiterhin in unverhältnismäßig hohem schellen in Gewahrsam befand. Man hatte ihn Maße von der Epidemie betroffen, die Mehrzahl aus einer Zelle der Polizeiwache Mbabane ge- der Neuinfektionen entfiel nach wie vor auf holt und in den Wald von Thembelihle ge- Frauen. Im November gab der Gesundheitsmi- bracht, wo er verhört, dem Vernehmen nach nister bekannt, dass es bei schwangeren tätlich angegriffen und angeschossen wurde. Frauen, die pränatale Kliniken aufgesucht hat- Er musste im Krankenhaus wegen Schussver- ten, einen leichten Rückgang der HIV-Infektio- letzungen im Schulterbereich behandelt wer- nen auf 41,1% gegeben habe. Regierungsver- den. Die Polizei erklärte öffentlich, man habe treter erklärten im Oktober gegenüber den UN, ihn »ins Gesäß geschossen, als er versuchte, dass Frauen 90% der gesamten Fürsorge für 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen aus der Haft zu fliehen«. Menschen mit AIDS-bedingten Erkrankungen leisteten. Etwas über 50% der Menschen, die einer an-

000835 Rechte von Frauen Die Fertigstellung von Gesetzentwürfen zur tiretroviralen Therapie bedurften, erhielten rechtlichen Gleichstellung von Frauen verzö- 2010 eine Behandlung. Zugang zu und Einhal- gerte sich weiterhin, obwohl Swasiland in sei- tung der Therapie waren nach wie vor durch nem Bericht des Jahres 2010 über die Millen- einen Mangel an medizinischem Personal und niums-Entwicklungsziele eingeräumt hatte, Medikamenten behindert. Eine sozioökonomi- dass weitere Verzögerungen zur Verschärfung sche Barriere stellten dabei öffentliche Ver- der Armut von Frauen führen würden. Im sel- kehrsmittel dar, die für Patienten in ländlichen ben Bericht wurde bestätigt, dass die Fort- Gegenden unbezahlbar waren. Verbesserte Be- dauer und das Ausmaß geschlechtsbedingter handlungsergebnisse lieferte indes Berichten Gewalt ein »erhebliches Problem« darstellten. zufolge ein Projekt zur Kapazitätserweiterung Im August verabschiedete die Regierung eine von Kliniken in Shishelweni, der ärmsten Re- Vorlage zur staatlichen Gleichstellungspolitik. gion des Landes. Das Projekt wird von der Or- Im Mai hob der Oberste Gerichtshof aus for- ganisation Ärzte ohne Grenzen und dem Ge- malen Gründen eine Entscheidung der Vorin- sundheitsministerium gemeinsam betrieben. stanz auf, die einigen verheirateten Frauen das Recht auf Immobilienbesitz zugestanden Recht auf Bildung hatte. Indes waren sich die Richter darin einig, Im März 2010 entschied der Oberste Gerichts- dass die fragliche Klausel des Grundbuchge- hof, dass das Recht auf kostenlose Grund- setzes (Deeds Registry Act) von 1968, die den schulbildung kein Grundrecht sei. Trotz einer Frauen dieses Recht absprach, verfassungs- Entscheidung der Vorinstanz, die eine solche

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht widrig sei. Der Oberste Gerichtshof gab dem Verpflichtung als Teil der Verfassung bekräftigt

460 Swasiland hatte, erklärte der Oberste Gerichtshof, dass das Problem eine Frage der Verfügbarkeit von Ressourcen sei, »nicht des pedantischen Be- stehens auf der genau zutreffenden Auslegung von Absatz 29(6) der Verfassung von Swasi- land«. Der Einspruch war vom Staatlichen Ver- band ehemaliger Bergarbeiter Swasilands er- hoben worden, nachdem ihr Antrag, den Ge- richtsentscheid aus dem Jahr 2009 umzuset- zen, im Januar 2010 abgelehnt worden war.

Todesstrafe Obwohl die Verfassung von 2006 die Anwen- dung der Todesstrafe erlaubt, haben seit 1983 keine Hinrichtungen mehr stattgefunden. Im Jahr 2010 wurden auch keine neuen Todesur- Syrien teile verhängt. Zwei Personen blieben allerdings vom Vollzug der Todesstrafe bedroht. Als Re- Amtliche Bezeichnung: Arabische Republik Syrien aktion auf mehrere Gewaltverbrechen wurde in Staatsoberhaupt: Bashar al-Assad der Öffentlichkeit der Ruf nach Wiederauf- Regierungschef: Muhammad Naji al-Otri nahme von Hinrichtungen laut. Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 22,5 Mio. Amnesty International: Missionen und Berichte Lebenserwartung: 74,6 Jahre  Delegierte von Amnesty International besuchten Swasiland Kindersterblichkeit (m/w): 21 / 16 pro 1000 im März und im August. Lebendgeburten  Swaziland: Amnesty International urges the government to Alphabetisierungsrate: 83,6% ensure an effective and impartial inquiry into the death in custody of Sipho Jele (AFR 55/001/2010) Die Regierung duldete weiterhin keiner-  Swaziland: Activists at risk in Swazi police crackdown lei abweichende Meinungen. Regie- (AFR 55/002/ 2010)  Swaziland: Security forces commit human rights violations rungskritikern und Menschenrechtsver- against human rights defenders and demonstrators teidigern drohten Festnahmen und (AFR 55/004/ 2010) Haftstrafen nach unfairen Gerichtsver-  Swaziland: Too late, too little: The failure of law reform for fahren sowie Reiseverbote ins Ausland. women in Swaziland (AFR 55/007/2010) Unter den Inhaftierten befanden sich  Swaziland: Arrests of human rights activists in Swaziland auch gewaltlose politische Gefangene. condemned, 6 September 2010 Menschenrechtsorganisationen und op- positionelle politische Parteien beka- men keine Zulassungen. Folter und an- dere Misshandlungen durch die Polizei und Sicherheitskräfte waren weiterhin an der Tagesordnung und wurden straf- rechtlich nicht geahndet. Es gab mindes- tens acht ungeklärte Todesfälle in Ge- wahrsam. Die Regierung unterließ es, das Schicksal von 49 Gefangenen auf- zuklären, die seit einem gewaltsamen Vorfall im Sednaya-Militärgefängnis im Jahr 2008 vermisst werden. Der Verbleib

Syrien 461 von Tausenden von Menschen, die in nahme stand im Zusammenhang mit Ermittlun- den vergangenen Jahren Opfer des »Ver- gen zur Ermordung des ehemaligen libanesi- schwindenlassens« wurden, blieb wei- schen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri im Jahr terhin im Dunkeln. Frauen waren nach 2005. Die vier Männer waren von den libane- wie vor von Diskriminierung und ge- sischen Behörden im Jahr 2009 freigelassen schlechtsspezifischer Gewalt betroffen. worden, nachdem der Staatsanwalt des Son- Mindestens 22 Personen, überwiegend dergerichtshofs für den Libanon (Special Tribu- Frauen, wurden Opfer von Tötungen aus nal for Lebanon – STL) bestätigt hatte, dass Gründen der »Familienehre«. Den Ange- das Gericht gegen die Beschuldigten nicht in- hörigen der kurdischen Minderheit wurde nerhalb der gesetzlich zulässigen Frist An- weiterhin der gleichberechtigte Zugang klage erheben könne. zu ihren wirtschaftlichen, sozialen und Ein neues Gesetz, das offenbar eine ver- kulturellen Rechten versagt. Mindes- schärfte Kontrolle der Internet-Medien vorsah, tens 17 Menschen wurden 2010 hinge- befand sich dem Vernehmen nach in der Bera- richtet, darunter eine Frau, die dem Ver- tung. nehmen nach Opfer physischer Gewalt und sexuellen Missbrauchs geworden Unterdrückung Andersdenkender war. Der Ausnahmezustand gab den Sicherheits- kräften weiterhin die Befugnis, friedlich geäu- Hintergrund ßerte Kritik zu bestrafen oder zu unterdrücken. Der Ausnahmezustand, der in Syrien seit 1963 Die Maßnahmen betrafen u. a. politische Akti- ununterbrochen in Kraft ist, wurde auch 2010 visten, Menschenrechtsverteidiger, Blogger nicht aufgehoben. Er verleiht den Behörden und Angehörige der kurdischen Minderheit. weitreichende Befugnisse, Personen festzu- Regierungskritiker wurden willkürlich festge- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen nehmen und zu inhaftieren. nommen und über lange Zeiträume hinweg Im Januar wurde ein fortschrittliches Gesetz ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert. verabschiedet, das Menschenhandel verbietet Andere wurden nach unfairen Prozessen vor 000835 und unter Strafe stellt. dem Obersten Staatssicherheitsgerichtshof Im Juli untersagte das Ministerium für höhere (Supreme State Security Court – SSSC) oder Bildung Frauen das Tragen des Nikab vor Militär- und Strafgerichten zu Haftstrafen (Schleier, der das Gesicht vollständig verhüllt) verurteilt. Menschenrechtsorganisationen an Universitäten. durften sich im Land nicht betätigen. Rechtsan- Im September drückte der UN-Sonderbe- wälte, die sich dennoch in solchen Organisa- richterstatter über das Recht auf Nahrung tionen engagierten, wurden häufig Opfer von seine Sorge darüber aus, dass geschätzt 2 – 3 disziplinarischen Maßnahmen durch die staat- Mio. Menschen in Syrien in »extremer Armut« lich kontrollierte Rechtsanwaltskammer. Hun- leben. Er rief die Regierung auf, eine umfas- derte vermeintliche Dissidenten, darunter sende nationale Strategie zu entwickeln, um ehemalige politische Gefangene und ihre Ange- das Recht auf angemessene Nahrung zu ge- hörigen, durften keine Reisen ins Ausland un- währleisten. ternehmen, einigen wurde eine Anstellung im Im Oktober ergingen Haftbefehle gegen 33 Li- öffentlichen Dienst untersagt. banesen und Angehörige anderer Staaten. Der  Der bekannte Menschenrechtsanwalt Muh- Vorgang erfolgte als Reaktion auf ein Verfahren, annad al-Hassani wurde im Juni 2010 zu einer das von Jamil al-Sayyed angestrengt worden dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Der Strafge- war, einem von vier führenden libanesischen richtshof von Damaskus sprach ihn wegen Staatsbediensteten, die sich im Libanon mehr »Schwächung des Nationalgefühls« und Ver- als drei Jahre lang ohne Anklage oder Gerichts- breitung von »falschen Informationen« schul-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht verfahren in Haft befunden hatten. Ihre Fest- dig. Al-Hassani hatte im Internet Berichte über

462 Syrien unfaire Gerichtsverfahren vor dem SSSC veröf- narverfahren eröffnet. Ihm wurde zur Last ge- fentlicht. Er blieb im Adra-Gefängnis in der legt, sich bei RASED engagiert zu haben. Nähe von Damaskus inhaftiert. Im Oktober Außerdem hatte er in Artikeln im Internet den wurde er von einem Strafgefangenen tätlich an- Ausnahmezustand kritisiert. Ihm drohte ein gegriffen, der in seine Zelle verlegt worden war. Berufsverbot als Rechtsanwalt.  Der 79-jährige Haytham al-Maleh, ein Men-  Suhair Atassi, die Präsidentin der nicht zuge- schenrechtsanwalt und Regierungskritiker, lassenen pro-demokratischen Diskussions- wurde im Juli 2010 wegen »Schwächung des gruppe Jamal Atassi Forum, durfte keine Rei- Nationalgefühls« und Verbreitung von »fal- sen ins Ausland unternehmen. Außer ihr wa- schen Informationen« zu drei Jahren Freiheits- ren mindestens sechs weitere Menschen- entzug verurteilt. Er hatte im September 2009 rechtsverteidiger und politische Aktivisten von in einem Telefoninterview mit einem europäi- Reiseverboten betroffen. schen Satelliten-Fernsehsender kritische An- merkungen gemacht. Haytham al-Maleh war Antiterrormaßnahmen und Sicherheit im Adra-Gefängnis inhaftiert, was Anlass zur Personen, die im Verdacht standen, Islamisten Sorge über seinen Gesundheitszustand gab. Er oder Anhänger der in Syrien nicht zugelasse- litt an Diabetes und anderen Beschwerden. nen Muslimbruderschaft zu sein, waren von  Drei führende Mitglieder der nicht zugelasse- willkürlichen Festnahmen, langer Haft, Folter nen kurdischen Yekiti-Partei waren weiterhin im und anderen Misshandlungen sowie von unfai- Adra-Gefängnis ohne Kontakt zur Außenwelt in- ren Gerichtsverfahren – meist vor dem SSSC – haftiert und mussten sich vor dem SSSC verant- bedroht. Dieses Gericht verhängt nur selten worten. Hassan Saleh, Ma’rouf Mulla Ahmed Haftstrafen von unter fünf Jahren. Gegen An- und Muhammad Ahmed Mustafa wurde vorge- geklagte, die der Mitgliedschaft in der Muslim- worfen, »die Abspaltung eines Teils des syri- bruderschaft für schuldig befunden wurden, schen Staatsgebiets angestrebt zu haben« und erging die Todesstrafe, die jedoch umgehend in »einer politischen oder sozialen internationalen eine zwölfjährige Freiheitsstrafe umgewandelt Organisation beigetreten zu sein«. Sollten die wurde. Hunderte von Gefangenen, die wegen Männer schuldig gesprochen werden, drohen Islamismus verurteilt worden waren, saßen ihnen hohe Gefängnisstrafen. Die Festnahmen unter sehr harten Bedingungen im Sednaya- erfolgten unmittelbar nach einer Konferenz der Militärgefängnis in Haft. Yekiti-Partei im Dezember 2009, auf der die In-  Das Schicksal und der Aufenthaltsort von Na- haftierten angeblich die Autonomie der kurdi- bil Khilioui blieben weiterhin im Dunkeln. Der schen Gebiete in Syrien gefordert hatten. mutmaßliche Islamist war im August 2008  Die Schriftstellerin Raghdah Sa’id Hassan vom Militärgeheimdienst festgenommen wor- wurde im Februar 2010 festgenommen, blieb den und gilt als Opfer des »Verschwinden- drei Monate ohne Kontakt zur Außenwelt inhaf- lassens«. tiert und wurde anschließend wegen »Schwä-  Usra al-Hassani wurde am 2. Januar 2010 chung des Nationalgefühls« und Verbreitung festgenommen und war monatelang ohne von »falschen Informationen« angeklagt. Ende Kontakt zur Außenwelt inhaftiert. Ende 2010 be- des Berichtsjahrs befand sie sich noch immer fand sie sich noch immer ohne Anklageerhe- im Frauengefängnis von Douma, und ihr Fall bung im Adra-Gefängnis. Sie war vor Juli 2009 wurde vor einem Militärstrafgericht verhandelt. bereits fast ein Jahr lang ohne Kontakt zur Au-  Gegen den Rechtsanwalt Radeef Mustafa, ßenwelt inhaftiert gewesen, nachdem sie zu eine führende Persönlichkeit des nicht zuge- einer internationalen Organisation Kontakt lassenen Kurdischen Komitees für Menschen- aufgenommen hatte, von der sie Einzelheiten rechte in Syrien (Kurdish Committee for Hu- über die Inhaftierung ihres Ehemanns durch man Rights in Syria – RASED), wurde von der die US-Behörden in Guantánamo Bay in Erfah- syrischen Rechtsanwaltskammer ein Diszipli- rung bringen wollte.

Syrien 463  Ziad Ramadan, ein ehemaliger Arbeitskollege stifteten oder sie stillschweigend billigten. eines Straftatverdächtigen, dem die Beteili- Außerdem bemängelte der Ausschuss den »ge- gung am Attentat auf den ehemaligen libanesi- wissermaßen dauerhaften« Status der Not- schen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri im standsgesetze, der »die Aussetzung von Grund- Jahr 2005 zur Last gelegt wurde, blieb weiterhin rechten und -freiheiten erlaubt«. Die syrische ohne Anklageerhebung inhaftiert, obwohl der Regierung nahm zu den Vorwürfen keine Stel- Sondergerichtshof für den Libanon den syri- lung. Bis Ende 2010 hatte sie auch noch keine schen Behörden bereits mitgeteilt hatte, dass der zahlreichen Empfehlungen des Ausschus- kein Grund für seine Inhaftierung bestehe. Ziad ses umgesetzt. Ramadan war im Juli 2005 inhaftiert worden und wurde unter sehr harten Bedingungen im Todesfälle in Haft Haftzentrum der Palästinensischen Abteilung Es gab Meldungen über acht ungeklärte Todes- des Militärgeheimdienstes (Palestine Branch of fälle in Haft, die möglicherweise die Folge von Military Intelligence) in Damaskus festgehal- Folter waren. Soweit bekannt, untersuchten die ten. Behörden keinen dieser Fälle.  Jalal al-Koubaisi starb im Gewahrsam der Folter und andere Misshandlungen Strafsicherheitsbehörde, wenige Tage nach Folter und andere Misshandlungen waren 2010 seiner Festnahme am 27. Mai 2010. Er soll Pas- auf Polizeiwachen und in den Haftzentren des santen dazu aufgefordert haben, in einem be- Staatssicherheitsdienstes weiterhin an der Ta- stimmten Geschäft einzukaufen. Jalal al-Kou- gesordnung und wurden nicht geahndet. Be- baisi wurde ohne Kontakt zur Außenwelt fest- richten zufolge wurden vermeintliche Islamis- gehalten. Am 1. Juni forderten die Behörden ten und Angehörige der kurdischen Minder- seine Familie auf, seine Leiche in einem Kran- heit besonders schwer misshandelt. Der SSSC kenhaus abzuholen. Die Leiche wies Bluter- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen und andere Gerichte verurteilten nach wie vor güsse und andere Spuren von mutmaßlicher Angeklagte auf der Grundlage von »Geständ- Folter auf. Eine offizielle Untersuchung des Falls nissen«, die offensichtlich unter Folterungen fand allem Anschein nach nicht statt. 000835 oder anderweitigen Zwangsmaßnahmen zu- stande gekommen waren. Straflosigkeit  Der syrische Kurde Abdelbaqi Khalaf, der Die Behörden machten keine Anstalten, das sich aktiv für die Demokratie im Land einge- Schicksal tausender Menschen – meist Isla- setzt hatte und im September 2008 festgenom- misten – aufzuklären, die in den späten 1970er- men worden war, wurde Berichten zufolge und Anfang der 1980er-Jahre dem »Ver- acht Tage lang mit Handschellen an eine Wand schwindenlassen« zum Opfer gefallen waren. gefesselt. Während seiner mehr als einjähri- Viele von ihnen waren im Libanon von syri- gen Haft ohne Kontakt zur Außenwelt wurde er schen Streitkräften oder pro-syrischen libanesi- gefoltert und anderweitig misshandelt. Im Au- schen und palästinensischen Milizen ver- gust 2010 soll er unter Folter dazu gezwungen schleppt worden. Diese übergaben die Gefan- worden sein, den Mord an zwei Angehörigen genen dann den syrischen Streitkräften, ehe der Sicherheitskräfte zu »gestehen«. Abdelbaqi diese sich im April 2005 aus dem Libanon zu- Khalaf war im Adra-Gefängnis inhaftiert. rückzogen. Die Behörden gaben auch weiter- Im Mai 2010 zeigte sich der UN-Ausschuss hin nicht bekannt, was sich im Sednaya-Militär- gegen Folter besorgt über »zahlreiche, anhal- gefängnis im Juli 2008 ereignete, als dem Ver- tende und übereinstimmende« Berichte über nehmen nach 17 Gefangene und fünf weitere Folterungen durch Angehörige der Strafermitt- Personen ums Leben kamen. Über die Situa- lungs- und Strafvollzugsbehörden. Der Aus- tion von 49 Gefangenen, die sich zu der fragli- schuss stellte fest, dass die Verantwortlichen chen Zeit in der Haftanstalt befanden, gab es

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht vor allem in Haftanstalten zu diesen Taten an- seither weder Informationen noch konnte Kon-

464 Syrien takt zu ihnen aufgenommen werden. Im Mai Diskriminierung der kurdischen 2010 rief der UN-Ausschuss gegen Folter die Minderheit Regierung dringend auf, eine unabhängige Angehörige der kurdischen Minderheit, die bis Untersuchung einzuleiten und »die Familien zu 10% der Gesamtbevölkerung Syriens stellt dieser Gefangenen in Kenntnis zu setzen, ob und vor allem im Nordosten des Landes ansäs- ihre Angehörigen noch leben und sich im Ge- sig ist, litten weiterhin unter Diskriminierungen fängnis befinden«. aufgrund ihrer Identität. Die Einschränkungen  Der gewaltlose politische Gefangene Nizar betrafen auch den Gebrauch der kurdischen Ristnawi, der zu den 49 Sednaya-Häftlingen Sprache und kulturelle Aktivitäten. Zehntau- zählt, deren Schicksal ungewiss ist, hätte am sende syrische Kurden waren nach wie vor 18. April 2009 nach Ablauf seiner vierjährigen praktisch staatenlos und konnten ihre sozialen Haftstrafe freigelassen werden sollen. Im März und wirtschaftlichen Rechte nicht gleichbe- 2009 hatte die UN-Arbeitsgruppe für willkürli- rechtigt ausüben. che Inhaftierungen Nizar Ristnawis Haft für will-  Luqman Ibrahim Hussein und drei weitere kürlich erklärt und die Regierung aufgefordert, Personen kamen für 39 Tage in Haft, weil sie »die notwendigen Schritte einzuleiten, um die offenbar am 10. September in Amudah an einer Mängel dieser Situation zu beseitigen«. Schweigeminute teilgenommen hatten. Der Protest richtete sich gegen das Gesetzesdekret Diskriminierung und Gewalt gegen 49 aus dem Jahr 2008, das die Wohn- und Ei- Frauen und Mädchen gentumsrechte in Grenzgebieten weiter ein- Frauen waren in Gesetzgebung und Praxis Dis- schränkt. Von dem Dekret waren auch die vor- kriminierung ausgesetzt, und es gab ein hohes wiegend von Kurden bewohnten nordöstlichen Maß an Gewalt gegen Frauen, vor allem im fa- Grenzregionen betroffen. Die vier Personen miliären Bereich. Die Gesetzgebung wies kamen gegen Kaution frei und wurden am Frauen einen niedrigeren Status im Vergleich 9. November zu einer einmonatigen Haftstrafe zu Männern zu, dies zeigte sich vor allem im verurteilt. Sie mussten diese jedoch nicht antre- Personenstandsgesetz, das Eheschließungen, ten, da sie bereits über einen Monat lang in- Scheidungen, das Erbrecht sowie andere haftiert gewesen waren. Rechtsbereiche regelt. Auch gesellschaftliche Traditionen sorgten für eine Verfestigung der Flüchtlinge und Asylsuchende Diskriminierung von Frauen. Es hielten sich noch immer Hunderttausende Frauen und Mädchen waren nur unzurei- von Flüchtlingen aus dem Irak in Syrien auf. chend vor häuslicher Gewalt geschützt. Das Sie hatten zwar Zugang zum Bildungs- und Ge- Strafgesetz sah mildere Strafen für Mord und sundheitssystem, das Recht auf Arbeit blieb andere Gewaltverbrechen an Frauen vor, ihnen jedoch weiterhin versagt. wenn sie aus Gründen der »Familienehre« be- Am 1. Februar 2010 schlossen die Behörden gangen wurden. Mindestens 16 Frauen, zwei und UN-Organisationen endgültig das abgele- Männer und vier Kinder unter 18 Jahren fielen gene Lager in al-Tanf in der Grenzregion zwi- dem Vernehmen nach Tötungen im Namen schen Irak und Syrien. Dort waren palästinen- der »Familienehre« zum Opfer. Eine im Novem- sische Flüchtlinge, die zuvor lange Zeit im Irak ber veröffentlichte gemeinsame Studie der Re- gelebt hatten, untergebracht worden. Von den gierung und des UN-Bevölkerungsfonds stellte 1300 palästinensischen Flüchtlingen, die sich fest, dass jede dritte Frau in Syrien Opfer von zu verschiedenen Zeiten in dem Lager befan- familiärer Gewalt wird. Die Regierung plante den, wurden ca. 1000 in Drittländer umgesie- nach vorliegenden Meldungen die Einrichtung delt. Die übrigen Flüchtlinge wurden vorüber- einer nationalen Behörde zum Schutz der Fa- gehend in das Lager al-Hol im Nordosten von milie und eine nationale Überwachungsstelle Syrien gebracht. gegen häusliche Gewalt.

Syrien 465 Todesstrafe eingeschränkt. Die Behörden versäum- Im Jahr 2010 ergingen weiterhin Todesurteile, ten es, Gewalt gegen Frauen wirksam zu und mindestens 17 Menschen wurden hinge- verhindern, strafrechtlich zu verfolgen richtet. Die genaue Zahl der Hinrichtungen und die überlebenden Opfer zu schützen. könnte wesentlich höher liegen, weil die Be- hörden nur selten Einzelheiten bekanntgeben. Folter und andere Misshandlungen  Eliaza al-Saleh, Ahmed al-Abbas und Mazen Immer wieder trafen Berichte über Folter und Bassouni wurden am 4. November hingerich- andere Misshandlungen durch Beamte mit tet. Sie waren des Mordes am Ehemann von Polizeibefugnissen ein. Die weit verbreitete Po- Eliaza al-Saleh für schuldig befunden worden. lizeipraxis, Festgenommene vor der offiziellen Offenbar wurde weder im Haupt- noch im Be- Eröffnung des Strafverfahrens ohne Kontakt zur rufungsverfahren berücksichtigt, dass Eliaza Außenwelt in Haft zu halten, erhöhte das Ri- al-Saleh jahrelang unter Gewalt und sexuellem siko für Folter und andere Misshandlungen. Missbrauch durch ihren Ehemann gelitten Nach wie vor wurden unter Zwang erpresste hatte. Ihre Familie erfuhr erst drei Tage nach »Geständnisse« vor Gericht als Beweismittel ihrer Hinrichtung von ihrem Tod. verwendet. Die Opfer zeigten Misshandlungen Im Dezember gehörte Syrien zu den wenigen durch Polizeibeamte aus Angst vor Repressa- Staaten, die gegen die Resolution der UN-Ge- lien nur in seltenen Fällen an, so dass weitge- neralversammlung für ein weltweites Hinrich- hende Straflosigkeit herrschte. Tadschikische tungsmoratorium stimmten. Menschenrechtsgruppen, Anwälte und Rich- ter forderten die Regierung auf, eine präzise Amnesty International: Mission und Bericht und mit internationalen Standards überein-  Eine Delegation von Amnesty International besuchte Syrien stimmende Definition von Folter in die allge- im Juni, um Recherchen in Bezug auf die Frauenrechte meine Gesetzgebung aufzunehmen. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen durchzuführen. Die Delegation wurde vom stellvertretenden  Am 26. Februar 2010 wurde der kirgisische Minister für Soziale Wohlfahrt empfangen. Menschenrechtsverteidiger Nematillo Botako-  »Your son is not here«, Disappearances from Syria’s Sayd- zuev in der tadschikischen Hauptstadt Du- 000835 naya Military Prison (MDE 24/ /012/2010) schanbe von der Polizei festgenommen, nach- dem er das Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) aufgesucht hatte, um dort die Anerkennung als Flüchtling zu beantra- gen. Die kirgisischen Behörden suchten ihn wegen der mutmaßlichen Teilnahme an einer Tadschikistan Demonstration in der Stadt Nookat im Jahr 2008. Er wurde fast einen Monat lang auf dem Amtliche Bezeichnung: Republik Tadschikistan Gelände des Nationalen Sicherheitsausschus- Staatsoberhaupt: Emomalii Rachmon ses ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehal- Regierungschef: Akil Akilow Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 7,1 Mio. Lebenserwartung: 67,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 83 / 74 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99,7%

Folter und andere Misshandlungen waren weiterhin an der Tagesordnung. Das

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Recht auf freie Meinungsäußerung blieb

466 Tadschikistan ten und dem Vernehmen nach gefoltert. Auch position verübten Anschlag im Bezirk Rasht ka- soll ihm die erforderliche medizinische Be- men 28 Soldaten der Regierungstruppen ums handlung verweigert worden sein. Am 22. Mai Leben. Im September und im Oktober sollen die wurde er nach Kirgisistan überstellt und von Webseiten lokaler Nachrichtenagenturen und einem Gericht in der Stadt Osch auf freien Fuß ein Weblog der Opposition auf Veranlassung gesetzt. der Behörden gesperrt worden sein. Medien-  Ilhom Ismonov wurde am 3. November 2010 unternehmen, die sich in Verbindung mit den in Chudschand in der Region Sughd wegen Ereignissen von Rasht kritisch über die Regie- »Bildung einer kriminellen Organisation« fest- rung geäußert hatten, wurden dem Vernehmen genommen. Eine richterliche Anhörung er- nach mit Steuerprüfungen überzogen. folgte erst neun Tage später, am 12. November, obwohl die Strafprozessordnung des Landes Gewalt gegen Frauen vorsieht, dass Inhaftierte spätestens 72 Stun- Gewalt gegen Frauen blieb auch weiterhin ein den nach ihrer Festnahme einem Richter vor- gravierendes Problem. Ein Drittel bis die Hälfte geführt werden müssen, der über die weitere aller Frauen in Tadschikistan werden in ihrem Haft entscheidet. Außerdem wurde ihm der Leben Opfer körperlicher, seelischer oder se- Zugang zu seiner Anwältin verweigert, bis er vor xueller Gewalt durch Ehemänner oder andere Gericht stand. Berichten zufolge sagte er dem Familienmitglieder. Trotz erster Schritte seitens Richter, man habe ihm Elektroschocks verab- der Regierung zur Bekämpfung der Gewalt ge- reicht und ihm kochend heißes Wasser über gen Frauen, wie z. B. der Einrichtung von fünf den Körper gegossen, während er in der Abtei- Polizeiwachen mit speziell ausgebildeten Be- lung für den Kampf gegen das organisierte amten, blieb Tadschikistan hinter seinen inter- Verbrechen (6. Abteilung) des Innenministeri- nationalen Verpflichtungen zurück, Frauen vor ums in Chudschand festgehalten wurde. Der Gewalt in der Familie zu schützen. Nach wie Richter ging offenbar nicht auf die Foltervor- vor hatten Frauen nur sehr begrenzten Zugang würfe ein. Im Dezember teilte die Staatsan- zum Justizsystem. Da Polizei und Justiz ent- waltschaft der Region Sughd Ilhom Ismonovs sprechenden Vorwürfen nicht in angemessener Ehefrau und seiner Anwältin mit, eine Über- Weise nachgingen, kamen zahlreiche Fälle prüfung des Falls habe ergeben, dass die Fol- erst gar nicht zur Anzeige. Der Schutz der über- tervorwürfe unzutreffend seien. Er sei auch lebenden Opfer familiärer Gewalt war eben- weder rechtswidrig inhaftiert gewesen, noch falls mangelhaft. So fehlte es beispielsweise an habe er Probleme gehabt, Kontakt zu einem Frauenhäusern sowie an angemessenem und Rechtsbeistand aufzunehmen. Es wurden sicherem Ersatzwohnraum. Auch gab es nach keine Einzelheiten darüber bekannt, auf wel- wie vor kein funktionierendes landesweites che Weise die Vorwürfe überprüft worden wa- Netzwerk aus Gesundheitsdiensten, Zentren ren. für Krisenintervention und Rechtshilfe sowie Polizeibehörden und anderen Einrichtungen, Recht auf freie Meinungsäußerung um Opfern familiärer Gewalt zu helfen. Ein Ge- Tadschikische und internationale Menschen- setzentwurf zum »sozialen und rechtlichen rechtsgruppen berichteten, dass unabhängige Schutz vor familiärer Gewalt«, der bereits seit Medienunternehmen und Journalisten 2010 Jahren in Vorbereitung ist, wurde dem Parla- nach wie vor Strafrechts- und Zivilverfahren ment noch immer nicht vorgelegt. ausgesetzt waren, wenn sie die Regierung kriti- sierten. Der Druck auf die Medien stieg vor al- Amnesty International: Mission lem im Vorfeld der Parlamentswahlen im Fe-  Delegierte von Amnesty International besuchten Tadschikis- bruar sowie nach einem Attentat im Septem- tan im März. ber. Bei dem von mutmaßlichen militanten Isla- misten und ehemaligen Militärführern der Op-

Tadschikistan 467 gericht des Landes wies am 28. Mai eine Be- Taiwan schwerde zurück, mit der ein Hinrichtungs- stopp für 44 im Todestrakt einsitzende Häft- Amtliche Bezeichnung: Republik China linge, darunter auch die vier im April Exekutier- Staatsoberhaupt: Ma Ying-jeou ten, erwirkt werden sollte. Im Berichtsjahr er- Regierungschef: Wu Den-yih gingen vier weitere Todesurteile, so dass es in Todesstrafe: nicht abgeschafft den Gefängnissen Taiwans zum Jahresende mehr als 70 zum Tode verurteilte Gefangene Zum ersten Mal seit fünf Jahren wurden gab. Im Oktober empfahl ein im Justizministe- 2010 wieder Menschen in Taiwan hinge- rium eingesetztes Expertengremium die Ab- richtet. Die Behörden lösten ihr Verspre- schaffung der Todesstrafe. chen nicht ein, ein Gesetz abzuändern, welches das Recht auf Versammlungs- Recht auf freie Meinungsäußerung freiheit regelt. Ein das Justizwesen be- Im September 2010 hob das Bezirksgericht von treffender Korruptionsskandal löste For- Taipeh die Strafverfolgung von zwei Wissen- derungen nach einer Justizreform aus. schaftlern und Wortführern von Menschen- Die Rechte von Arbeitsmigranten wurden rechtsorganisationen auf. Lin Chia-fan und nach wie vor in vielfacher Weise verletzt. Lee Ming-tsung war zur Last gelegt worden, im Jahr 2008 Demonstrationen ohne Genehmi- Hintergrund gungen angeführt zu haben. Das Gericht ließ im Die Regierung setzte ihre Überprüfung aller Ge- Fall von Lee Ming-tsung die verfassungsrecht- setze, Bestimmungen und Verwaltungsmaß- liche Prüfung von mehreren Artikeln des Geset- nahmen im Hinblick auf deren Übereinstim- zes über Versammlungen und Aufmärsche in mung mit dem Internationalen Pakt über bür- Bezug auf mögliche Verstöße gegen die Rechte 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen gerliche Rechte sowie dem Internationalen Pakt der Bürger auf Versammlungsfreiheit und Re- über wirtschaftliche, soziale und kulturelle defreiheit zu. Im November kam es zu Studen- Rechte fort. Politisch engagierte Bürger waren tenprotesten, weil die Regierung bislang keine 000835 skeptisch, ob die Angleichung an die UN- Änderungen an diesem Gesetz, wie 2009 ver- Rechtsnormen wie vorgesehen bis Ende 2011 sprochen, vorgenommen hat. So sollte u. a. abgeschlossen sein könne. die Vorschrift abgeschafft werden, dass De- monstrationen vorab von der Polizei geneh- Todesstrafe migt werden müssen. Im April 2010 wurden vier Personen hingerich- tet, dies war das erste Mal seit 2005, dass To- Justizwesen desurteile vollstreckt wurden. Das Verfassungs- Der Präsident des Justiz-Yuan trat im Juli 2010 nach einem Skandal großen Ausmaßes, in den hochrangige Richter verwickelt waren, zurück. Daraufhin wurden Forderungen nach einer Überprüfung der Richter laut. Der Entwurf eines Richtergesetzes, über den seit über 20 Jahren beraten wird, ist schließlich im Legisla- tiv-Yuan prioritär behandelt worden.

Rechte von Migranten Die Rechte von Arbeitsmigranten wurden in Tai- wan in vielfacher Weise verletzt, darunter das Recht, den Arbeitsplatz zu wechseln und Ge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht werkschaften zu gründen. Harte und diskrimi-

468 Taiwan nierende Arbeitsbedingungen sowie maßlos schritt (Chama Cha Demokrasia na Maendeleo) überhöhte Vermittlungsgebühren waren ein und Mitglieder der Partei machten Unregel- Grund dafür, dass ein Großteil der Arbeitsmig- mäßigkeiten bei der Abstimmung geltend und ranten ihren ursprünglichen Arbeitgeber ver- zweifelten das Ergebnis der Präsidentenwahl ließ und dadurch keine Papiere besaß. Hausbe- sowie einige Ergebnisse der Parlamentswahlen dienstete wurden nicht durch das Gesetz über an. Arbeitsstandards geschützt, weshalb vor allem Im Juli wurde in Sansibar die Bildung einer sie unter sexueller Belästigung, unzureichend nationalen Regierung der Einheit durch ein vergüteten Überstunden und schlechten Referendum bestätigt. Das Referendum zielte Wohnbedingungen zu leiden hatten. darauf ab, die bisherigen politischen Mei- nungsverschiedenheiten zwischen der regie- renden Partei der Revolution (Chama Cha Ma- pinduzi) und der oppositionellen Vereinigten Bürgerfront (Civic United Front) beizulegen. Die Differenzen hatten in Sansibar zu gewalttä- tigen Auseinandersetzungen zwischen den Tansania Anhängern der beiden Parteien geführt. Die Parlamentswahlen und das Referendum Amtliche Bezeichnung: in Sansibar verliefen hingegen weitgehend Vereinigte Republik Tansania friedlich. Verzögerungen bei der Bekanntgabe Staatsoberhaupt: Jakaya Kikwete der Wahlergebnisse führten jedoch in einigen Regierungschef: Mizengo Peter Pinda Gebieten zu Spannungen und Protesten. Präsident der Regionalregierung Sansibar: Ali Mohamed Shein (löste im November Amani Recht auf freie Meinungsäußerung Abeid Karume im Amt ab) Im Vorfeld der Parlamentswahlen drohte die Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Regierung damit, die beiden Wochenzeitun- Einwohner: 45 Mio. gen Mwananchi und MwanaHALISI mit einem Lebenserwartung: 56,9 Jahre Erscheinungsverbot zu belegen oder ihnen die Kindersterblichkeit (m/w): 112/ 100 pro 1000 Zulassung zu entziehen. Regierungsvertreter Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 72,6%

Die Regierung höhlte mit ihrem Handeln das Recht auf freie Meinungsäußerung aus. Angehörige der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden, die Men- schenrechtsverletzungen begangen ha- ben sollen, wurden nicht vor Gericht ge- bracht. Personen, die sexueller und an- derer Formen geschlechtsspezifischer Gewalt beschuldigt wurden, gingen ebenfalls weiterhin straffrei aus.

Hintergrund Präsident Kikwete wurde bei den Wahlen Ende Oktober 2010 für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Sein größter Herausforderer Willibrod Slaa von der Partei für Demokratie und Fort-

Tansania 469 behaupteten in Briefen an die Zeitungen, wurden meist nicht zur Rechenschaft gezo- diese würden Material in der Absicht veröffent- gen. lichen, im Land »Chaos zu verbreiten und den Trotz eines gesetzlichen Verbots blieb die Frieden zu stören«. In den Schreiben wurden weibliche Genitalverstümmelung in einigen jedoch keine konkreten Beispiele für die von Regionen wie Dodoma in Zentraltansania gän- der Regierung als beleidigend empfundenen gige Praxis. Nach Angaben der vor Ort tätigen Artikel angeführt. Bis Ende des Berichtsjahrs regierungsunabhängigen Menschenrechtsor- war keiner der Zeitungen von der Regierung ein ganisation Legal and Human Rights Centre Erscheinungsverbot erteilt oder die Zulassung wurde die Umsetzung des Verbots der Genital- entzogen worden. verstümmelung durch die weit verbreitete Un- Einige Journalisten klagten 2010 über Ein- kenntnis des Gesetzes, das Festhalten an alten schüchterungsversuche und Schikanen durch Sitten und Gebräuchen sowie das mangelnde Regierungsangehörige und Staatsbedienstete, Vertrauen der Öffentlichkeit in die Strafverfol- weil sie deren Verhalten oder die Politik und gungsbehörden erschwert. Vorgehensweise der Regierung kritisiert hatten. Anschläge auf Menschen mit Straflosigkeit Albinismus Die Regierung leitete keine Untersuchungen Im Jahr 2010 gab es keine Meldungen über zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzun- Fälle, in denen Menschen mit Albinismus we- gen ein, die von Angehörigen der Polizei und gen ihrer Körperteile getötet wurden. Allerdings privaten Wachkräften im Juli 2009 in Loliondo kam es wohl zu acht Mordversuchen, darunter im Bezirk Ngorongoro im Norden Tansanias be- zwei Verstümmelungen. Einige Menschen- gangen worden sein sollen. Berichten zufolge rechtsverteidiger, die sich für die Rechte von waren in dem fraglichen Monat eine unbe- Menschen mit Albinismus einsetzen, berichte- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen kannte Anzahl Frauen von Angehörigen der ten von Drohungen und Einschüchterungsver- Polizei und Wachmännern vergewaltigt sowie suchen durch Personen, die der Menschen- Familien voneinander getrennt und bis zu rechtsverletzungen gegen Menschen mit Albi- 000835 3000 Mitglieder einer Gemeinschaft von Mas- nismus verdächtigt wurden. sai-Hirten vertrieben worden. Die Übergriffe Die Ermittlungen der Polizei im Falle von Men- sollen im Rahmen eines Einsatzes stattgefun- schenrechtsverletzungen an Menschen mit Al- den haben, mit dem diese Menschen aus binismus kamen nur schleppend voran. Auch ihren Behausungen und von ihrem Weideland wurde nur wenig unternommen, um der Bedro- entfernt werden sollten, vorgeblich, um ein hung von Menschenrechtsverteidigern entge- Wildreservat zu schützen. genzuwirken. Insgesamt ergriff die Regierung Während des gesamten Jahres 2010 gab es keine hinreichenden Maßnahmen, um Angriffe aus verschiedenen Landesteilen im Kontext auf Menschen mit Albinismus zu verhindern. von Sicherheitsoperationen Meldungen über ungesetzliche Tötungen sowie Folterungen Flüchtlinge und Migranten und Misshandlungen durch die Polizei und an- Im November lebten fast 38000 Flüchtlinge aus dere Ordnungskräfte. Keine dieser Meldungen Burundi weiter im Flüchtlingslager Mtabila in zog Untersuchungen nach sich, ebenso wenig Westtansania, obwohl die Regierung das Lager wurden die für Übergriffe mutmaßlich Verant- offiziell für geschlossen erklärt hatte. Bemü- wortlichen vor Gericht gestellt. hungen der Behörden zur Unterstützung der freiwilligen Rückführung hatten zur Folge, Gewalt gegen Frauen dass ab Januar 2009 etwa 6500 burundische Sexuelle und andere Formen geschlechtsspezi- Flüchtlinge aus dem Lager in ihr Heimatland fischer Gewalt, vor allem Gewalt in der Familie, zurückkehrten. Die betroffenen Flüchtlinge be-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht waren nach wie vor weit verbreitet. Die Täter gründeten ihre Angst vor einer Rückkehr mit

470 Tansania möglichen Landkonflikten in Burundi und Be- Das Recht auf freie Meinungsäußerung fürchtungen angesichts der 2010 stattfinden- war nach wie vor stark eingeschränkt. den Wahlen in ihrem Land. Einige äußerten be- Die staatliche Zensur von Internetseiten, gründete Befürchtungen dafür, dass sie nach Radio- und Fernsehprogrammen sowie ihrer Rückkehr in ihrem Heimatland Verfolgung Printmedien wurde weiter verschärft. Der erleiden würden. Es existierten keine Verfah- Süden des Landes war aufgrund eines ren, um die Möglichkeit der Rückführung von internen bewaffneten Konflikts weiterhin Flüchtlingen individuell zu prüfen. von Gewalt erschüttert: Während die Si- cherheitskräfte verdächtige Personen fol- Haftbedingungen terten oder in anderer Weise misshandel- Es gingen Berichte über Überbelegung und un- ten, griffen Angehörige bewaffneter mus- hygienische Verhältnisse in einer Reihe von limischer Gruppen Zivilpersonen an, ins- Haftanstalten ein. In einigen Gefängnissen wa- besondere Lehrer. Die Sicherheitskräfte ren doppelt so viele Häftlinge untergebracht setzten bei regierungsfeindlichen Pro- wie vorgesehen. Des Weiteren lagen Meldun- testkundgebungen in Bangkok und meh- gen vor, wonach Kinder zusammen mit er- reren anderen Provinzen exzessive Ge- wachsenen Insassen inhaftiert waren. walt ein. In einigen Fällen kam es zu ge- walttätigen Ausschreitungen seitens der Todesstrafe Demonstrierenden. Hunderte von Perso- Die Gerichte verhängten 2010 nach wie vor To- nen wurden festgenommen. In Bangkok desurteile, und die Regierung unternahm war fast acht Monate lang eine Notver- keine offiziellen Schritte zur Abschaffung der ordnung in Kraft. Sie enthielt zahlreiche Todesstrafe. Eine 2008 von drei einheimischen Bestimmungen, die gegen internationale zivilgesellschaftlichen Organisationen einge- Menschenrechtsabkommen und -stan- reichte Beschwerde, in der die Verfassungs- dards verstießen. Aus Myanmar stam- mäßigkeit der Todesstrafe angefochten wurde, mende Arbeitsmigranten ohne regulären war noch beim Oberen Gericht anhängig. Aufenthaltsstatus waren zahlreichen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt Amnesty International: Mission und wurden gemeinsam mit Flüchtlingen  Ein Delegierter von Amnesty International besuchte das tan- in ihr Herkunftsland abgeschoben. sanische Festland im November. Hintergrund Eine politische Krise polarisierte die thailändi- sche Gesellschaft mittlerweile das fünfte Jahr in Folge. Sie spitzte sich noch zu, als ein Gericht Thailand

Amtliche Bezeichnung: Königreich Thailand Staatsoberhaupt: König Bhumibol Adulyadej Regierungschef: Abhisit Vejjajiva Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 68,1 Mio. Lebenserwartung: 69,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 13 / 8 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 93,5%

Thailand 471 in Bangkok Ende Februar 2010 den 2006 13. Mai von einem Scharfschützen tödlich ge- durch einen Staatsstreich abgesetzten und im troffen. Einige der Demonstrierenden sowie of- selbst gewählten Exil lebenden ehemaligen fenbar mit ihnen verbündete Personen verfüg- Ministerpräsidenten Thaksin Shinawatra in Ab- ten ebenfalls über Schusswaffen und griffen wesenheit der Korruption schuldig sprach. damit Sicherheitskräfte an. Infolge der Pro- Von Mitte März bis Ende Mai organisierte die teste ließ die Regierung über 450 Personen fest- teilweise mit Thaksin Shinawatra verbündete nehmen. Ende 2010 waren rund 180 von Vereinigte Front für Demokratie gegen Diktatur ihnen noch inhaftiert oder befanden sich gegen (United Front for Democracy against Dictator- Kaution bis zum Prozessbeginn auf freiem ship – UDD) Protestkundgebungen gegen die Fuß. Gegen einige wurde Anklage wegen Terro- Regierung. Die zunehmend gewalttätigeren rismus erhoben. Proteste kosteten mehr als 90 Menschen das Leben, mindestens 2000 weitere wurden ver- Recht auf freie Meinungsäußerung letzt. 37 Gebäude in Bangkok wurden niederge- Die Regierung schränkte das Recht auf freie brannt. Im März wandte die Regierung das Meinungsäußerung rigoros ein, insbesondere Gesetz über die innere Sicherheit und im April auf der Grundlage der Notverordnung, des Ge- die Notverordnung an. Letztere wurde in setzes über Computerdelikte von 2007 sowie Bangkok und drei weiteren Provinzen erst kurz des Lèse-Majesté-Gesetzes, das jedwede Äu- vor Jahresende wieder aufgehoben. Nach ßerung oder Handlung verbietet, die geeignet dem Gewaltausbruch schuf die Regierung sein könnte, die königliche Familie zu verleum- mehrere Organe für staatliche Reformen und den, zu beleidigen oder zu bedrohen. setzte eine Wahrheits- und Versöhnungskom-  Im Oktober 2010 wurde Amornwan Charoen- mission ein. kij in der Provinz Ayutthaya festgenommen, Der interne bewaffnete Konflikt im Süden des weil sie Flip-Flops verkauft hatte, auf denen das 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Landes dauerte an. Seit 2004 waren ihm 4500 Gesicht des Ministerpräsidenten aufgedruckt Menschen zum Opfer gefallen. Im November war; der daneben stehende Spruch bezog sich 2010 erlebte Thailand den größten Massenzu- auf die 91 Toten, die bei den Protesten im Mai 000835 strom von Flüchtlingen seit 25 Jahren, als min- ums Leben gekommen waren. Die Festnahme destens 20000 Menschen aus Myanmar auf erfolgte auf der Grundlage der Notverordnung, der Flucht vor Kampfhandlungen in ihrem Land obwohl die Verordnung in dieser Provinz gar die Grenze überquerten. nicht galt. Die Notverordnung übertrug der neu geschaf- Politisch motivierte Gewalt fenen Notstandsbehörde (Center for the Reso- Vom 10. April bis zum 19. Mai 2010 wurden in lution of the Emergency Situation – CRES) die Bangkok und anderen Orten bei zum Teil ge- Befugnis, Internetseiten, Radio- und Fernseh- walttätigen Protestkundgebungen gegen die programme sowie gedruckte Publikationen Regierung 74 Demonstrierende bzw. unbetei- ohne gerichtliche Anordnung zu zensieren. ligte Passanten, elf Angehörige der Sicherheits- Während der letzten drei Maiwochen, als die kräfte, vier Sanitäter und zwei Journalisten ge- Gewalt bei den regierungsfeindlichen Protes- tötet. Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessi- ten ihren Höhepunkt erreichte, wurden nach ver Gewalt gegen die Proteste vor. Mehrere un- Angaben der CRES jeweils 770, 1150 bzw. bewaffnete Zivilpersonen und Schaulustige ka- 1900 Internetseiten zensiert. Das Ministerium men durch Schusswaffeneinsatz ums Leben für Information und Kommunikationstechnolo- und dadurch, dass Zonen bestimmt wurden, in gie gab im Juni bekannt, es habe den Zugang denen uneingeschränkt mit scharfer Munition zu 43908 Internetseiten in Thailand gesperrt, geschossen wurde. Generalmajor Khattiya da diese gegen das Lèse-Majesté-Gesetz und Sawasdipol, ein Anführer der militanten Ge- die nationale Sicherheit verstoßen hätten.

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht genwehr der Demonstrierenden, wurde am Es wurden mindestens fünf Verfahren auf der

472 Thailand Grundlage des Gesetzes über Computerde- ging. Sie mussten in ihr Herkunftsland zurück- likte eingeleitet, wegen Inhalten, die entweder kehren, um an dem Verfahren teilnehmen zu als Beleidigung der Monarchie und/oder als können. Private Vermittler verlangten horrende Bedrohung der nationalen Sicherheit angese- Gebühren, und die von dem Verfahren Betrof- hen wurden. Damit erhöhte sich die Gesamt- fenen wurden nur unzureichend informiert. Der zahl der Verfahren seit Einführung des Gesetzes Überprüfungsprozess schloss etwa 1,4 Mio. im Jahr 2007 auf 15. weitere Arbeitsmigranten aus, die sich nicht bis  Am 29. April 2010 wurde der Geschäftsmann zum 28. Februar bei den Einwanderungsbe- Wipas Raksakulthai festgenommen, weil er hörden gemeldet hatten. über das soziale Netzwerk Facebook im Inter- Unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen net einen Beitrag weitergeleitet hatte, der an- Status sahen sich ausländische Staatsbürger, geblich gegen das Lèse-Majesté-Gesetz ver- vor allem solche aus asiatischen Ländern, wei- stieß. Eine Freilassung des gewaltlosen politi- terhin mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. schen Gefangenen gegen Kaution wurde abge- Dies betraf den Zugang zu Arbeitsplätzen, Ent- lehnt. Zum Jahresende befand er sich noch in schädigungen für Arbeitsunfälle und die Re- Gewahrsam und wartete auf den Prozessbe- gistrierung bei Berufsunfähigkeit. Sie waren in ginn. ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und  Am 24. September 2010 wurde Chiranuch mussten gefährliche und gesundheitsschädli- Premchaiporn, die Herausgeberin der Inter- che Arbeitsbedingungen erdulden. Fälle von netzeitung Prachatai, festgenommen. Man mutmaßlicher Erpressung, Folter oder anderen legte ihr zur Last, in der Online-Publikation Formen von Gewalt gegen Arbeitsmigranten seien Kommentare veröffentlicht worden, die durch Arbeitgeber und Beamte – insbesondere das Lèse-Majesté-Gesetz verletzten. Sie wurde Polizeibeamte – wurden entweder nicht unter- gegen Kaution freigelassen. Ende 2010 wartete sucht oder nicht strafrechtlich verfolgt. sie auf die Weiterleitung des Falls an die Nachdem Anfang November bei einer Mas- Staatsanwaltschaft. senflucht mindestens 20000 Personen von Myanmar nach Thailand gekommen waren, er- Flüchtlinge und Migranten klärten sich viele bereit, freiwillig zurückzu- Arbeitsmigranten aus Myanmar, die sich nicht kehren. Andere wurden jedoch zur Rückkehr bis spätestens 28. Februar 2010 hatten regis- gezwungen oder daran gehindert, die Grenze trieren lassen, wurden nach Myanmar abge- nach Thailand zu überqueren. Das galt auch schoben. Sie wurden dabei Opfer von Men- für kleinere Gruppen von Flüchtlingen, die das schenhandel und Erpressung. Zu den Tätern gesamte Jahr über auf der Flucht vor sporadi- zählten sowohl thailändische Beamte als auch schen Kampfhandlungen nach Thailand ka- eine von der Regierung Myanmars unterstützte men. Miliz, die aus Angehörigen einer ethnischen  Im Dorf Waw Lay im Verwaltungsbezirk Phop Minderheit bestand. Im November verletzte Phra (Provinz Tak) schoben die thailändischen Thailand den Grundsatz des Non-Refoule- Behörden am 10. November 2010 etwa 2500 ment (Abschiebungsverbot), als zahlreiche Flüchtlinge nach Myanmar ab. Am 17. Novem- Flüchtlinge, die vor den Kampfhandlungen in ber wurden etwa 650 weitere Flüchtlinge Myanmar geflohen waren, gezwungen wurden, zwangsweise in das Nachbarland rückgeführt, wieder in ihr Herkunftsland zurückzukehren, am 8. Dezember mindestens 360 und am wo ihnen schwere Menschenrechtsverstöße 25. Dezember weitere 166. drohten. Ein von der Regierung eingeleiteter Prozess mit dem Ziel, den Aufenthaltsstatus Interner bewaffneter Konflikt von mehr als 1,4 Mio. registrierten Arbeitsmig- Im Verlauf des internen bewaffneten Konflikts in ranten zu überprüfen, löste Besorgnis aus, was den hauptsächlich von Muslimen besiedelten die Sicherheit der Migranten aus Myanmar an- südlichen Provinzen Thailands wurde die Not-

Thailand 473 verordnung zum 21. Mal seit Juli 2005 verlän- verurteilt worden. Am 13. Januar kündigte der gert, und alle Konfliktparteien begingen weiter- Innenminister eine Kampagne zur Ausweitung hin Menschenrechtsverletzungen. Lediglich in der Todesstrafe für Drogendelikte auf der einem Bezirk wurde die Notverordnung Ende Grundlage von drei existierenden Gesetzen Dezember 2010 aufgehoben. Die Sicherheits- an. Diese Entwicklung stand im Widerspruch kräfte folterten nach wie vor Verdächtige; dies zum Zweiten Nationalen Menschenrechtsplan führte zu mehreren Todesfällen im Gewahr- 2009 – 13, der eine Absichtserklärung zur Ab- sam. Bewaffnete Gruppen nahmen weiterhin schaffung der Todesstrafe in Thailand enthielt. sowohl buddhistische als auch muslimische Nach den gewaltsamen Auseinandersetzun- Zivilpersonen ins Visier und griffen sie willkür- gen zwischen regierungsfeindlichen Demons- lich an, insbesondere während des Fastenmo- trierenden und Sicherheitskräften erklärte die nats Ramadan. Die Angriffe auf Lehrer und Regierung im April und im Mai, einige der Schulen erreichten im Oktober ein solches Festgenommenen würden wegen Terrorismus Ausmaß, dass fast alle Schulen im Süden eine angeklagt, was mit der Todesstrafe geahndet Woche lang geschlossen blieben. Am sechs- werden könne. ten Jahrestag des Vorfalls von Tak Bai (Provinz Die im Todestrakt Inhaftierten wurden weiter- Narathiwat), bei dem 2004 insgesamt 85 Men- hin direkt nach ihrer Ankunft im Gefängnis in schen ums Leben gekommen waren, fanden 14 Fußeisen gelegt, obwohl eine (in der Zwischen- koordinierte Bombenanschläge statt, bei de- zeit angefochtene) Gerichtsentscheidung dies nen zwei Menschen getötet und 74 weitere ver- 2009 als »illegal« bezeichnet hatte. Die Wahr- letzt wurden. 2009 war entschieden worden, heits- und Versöhnungskommission empfahl die an den Tötungen im Jahr 2004 beteiligten im Juli, diese Praxis sofort zu beenden. Sicherheitskräfte nicht strafrechtlich zu verfol- Im Dezember 2010 enthielt sich Thailand bei gen. der Abstimmung über eine Resolution der UN- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Die Regierung erließ Gesetze, um das von Zi- Generalversammlung für ein weltweites Hin- vilpersonen geleitete Verwaltungszentrum der richtungsmoratorium. Bei den Abstimmungen südlichen Grenzprovinzen zu ermächtigen, un- in den Jahren 2007 bis 2009 hatte Thailand 000835 abhängig vom Militär zu agieren und dem Mi- noch gegen die Resolution gestimmt. nisterpräsidenten direkt Bericht zu erstatten, doch galt für die Sicherheitskräfte weiterhin Amnesty International: Berichte Straflosigkeit.  Reverse backward slide in freedom of expression  Im August 2010 ließ die Polizei alle Anklage- (ASA 39/001/ 2010)  punkte gegen einen ehemaligen paramilitäri- Accountability must prevail in political crisis schen Forstbeamten fallen, der an einem Über- (ASA 39/003/ 2010)  Open Letter: Call for an independent and impartial fall auf die Al-Furqan-Moschee im Jahr 2009 investigation (ASA 39/004/2010) beteiligt gewesen sein soll, bei dem zehn Mus-  Demand the release of online news editor: lime getötet worden waren. Im siebten Jahr in Chiranuch Premchaiporn (ASA 39/005/ 2010) Folge wurde kein Beamter wegen Menschen-  Military must halt reckless use of lethal force, rechtsverletzungen im Süden strafrechtlich 17 May 2010 verfolgt und verurteilt.

Todesstrafe Es gingen 2010 keine Berichte über Hinrichtun- gen ein. Im August belief sich die Zahl der zum Tode verurteilten Personen auf 708. Die Urteile gegen sie standen entweder zur Revi- sion an oder waren bereits bestätigt. 339 von

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ihnen waren wegen Drogendelikten zum Tode

474 Thailand Polizei und Sicherheitskräfte Timor-Leste Die Nationalpolizei (Policia Nacional de Timor- Leste) übernahm zunehmend Verantwortung Amtliche Bezeichnung: für zentrale polizeiliche Aufgabenbereiche. Demokratische Republik Timor-Leste Auch bei der Entwicklung interner Disziplinar- Staatsoberhaupt: José Manuel Ramos-Horta mechanismen waren Fortschritte zu verzeich- Regierungschef: Kay Rala Xanana Gusmão nen. Dennoch trafen auch 2010 Berichte über Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Menschenrechtsverletzungen durch Angehö- Einwohner: 1,2 Mio. rige von Polizei und Militär ein, darunter Folter Lebenserwartung: 62,1 Jahre und exzessive Gewaltanwendung. In mindes- Kindersterblichkeit (m/w): 92 / 91 pro 1000 tens 59 Fällen richteten sich die Vorwürfe ge- Lebendgeburten gen die Nationalpolizei, in weiteren 13 Fällen gegen Angehörige des Militärs. Die Verantwortlichen für die schweren Menschenrechtsverletzungen während Justizsystem der indonesischen Besatzung 1975 –99 Das Justizsystem war 2010 nach wie vor wurden weiterhin nicht zur Rechen- schwach und kaum in der Lage, die Verant- schaft gezogen. Gegen Polizei- und wortlichen für Verstöße zur Rechenschaft zu Militärangehörige wurden Vorwürfe er- ziehen. Bei dem Versuch, gegen diejenigen hoben, für Misshandlungen und Fälle vorzugehen, die für die Gewaltausbrüche im exzessiver Gewaltanwendung verant- Jahr 2006 verantwortlich waren, als etwa ein wortlich zu sein. Obwohl 2010 ein Drittel der Soldaten des Landes aus der Armee Gesetz gegen familiäre Gewalt ver- entlassen worden war, gab es weiterhin kaum abschiedet wurde, war Gewalt gegen Fortschritte. Frauen und Mädchen nach wie vor Im März 2010 wurden 24 Personen schuldig weit verbreitet. gesprochen, an den Attentatsversuchen auf Staatspräsident Ramos-Horta und Ministerprä- Hintergrund sident Gusmão im Februar 2008 beteiligt ge- Im Februar 2010 beschloss der UN-Sicher- wesen zu sein. Im August begnadigte der Präsi- heitsrat, das Mandat der UN-Mission in Timor- dent jedoch 23 von ihnen, darunter auch den Leste (UNMIT) um ein weiteres Jahr zu ver- Anführer der Aufständischen, Leutnant Gastão längern. Salsinha. Zivilgesellschaftliche Organisationen äußerten die Sorge, dass durch die Begnadi- gungen die Glaubwürdigkeit des Justizsys- tems in Frage gestellt werden könnte.  Am 26. März 2010 wurde Domingos Noronha (alias Mau Buti), ein ehemaliges Mitglied der Mahidi-Milizen, wegen schwerer Verbrechen, die er 1999 begangen hatte, zu 16 Jahren Haft verurteilt. Das Gericht befand ihn dreier Morde für schuldig.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen Im Mai wurde ein Gesetz gegen häusliche Ge- walt verabschiedet, das Regierung, Polizei und Gesellschaft einen Rahmen bieten soll, um auf Gewalt in der Familie zu reagieren. In dem Ge- setz wurde der Begriff häusliche Gewalt so weit

Timor-Leste 475 definiert, dass damit außer körperlicher und suchung der schweren Menschenrechtsver- sexueller Gewalt auch psychische und wirt- letzungen, die im Jahr 1999 begangen wurden, schaftliche Gewalt gemeint ist. Es sieht außer- setzte seine Arbeit 2010 weiter fort. dem eine Reihe von Hilfen für die Opfer vor. Trotzdem wurden viele Fälle häuslicher Gewalt Amnesty International: Bericht nach wie vor mit traditionellen Rechtsverfahren  Timor-Leste: International Criminal Court – Justice in the geregelt, bei denen das Opfer keine umfas- shadow (ASA 57/001/ 2010) sende Wiedergutmachung erhält. Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt war nach wie vor hoch.

Straflosigkeit Im Januar 2010 unterzeichneten die Ombuds- stelle für Menschenrechte und Gerechtigkeit Togo von Timor-Leste und die Nationale Menschen- rechtskommission von Indonesien eine Ver- Amtliche Bezeichnung: Republik Togo einbarung zur Umsetzung der Empfehlungen Staatsoberhaupt: Faure Gnassingbé der von beiden Ländern gemeinsam einge- Regierungschef: Gilbert Fossoun Houngbo richteten bilateralen Kommission für Wahrheit Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft und Freundschaft (Comissão de Verdade e Einwohner: 6,8 Mio. Amizade – CVA) und der timoresischen Kom- Lebenserwartung: 63,3 Jahre mission für Wahrheit und Versöhnung (Co- Kindersterblichkeit (m/w): 105 / 91 pro 1000 missão de Acolhimento, Verdade e Reconcilia- Lebendgeburten cão de Timor-Leste – CAVR). Der Inhalt der Alphabetisierungsrate: 64,9% 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Vereinbarung wurde nicht veröffentlicht. Anfang Juli wurden der Öffentlichkeit zwei Ge- Nach den Präsidentschaftswahlen im setzentwürfe zur Begutachtung vorgelegt. Sie März setzten die Sicherheitskräfte zur 000835 sehen die Einrichtung eines Nationalen Pro- Unterdrückung friedlicher Demonstratio- gramms zur Wiedergutmachung und ein »In- nen Gewalt ein. Auch die Pressefreiheit stitut des Gedenkens« vor, das die Empfehlun- gen von CVA und CAVR umsetzen soll. Ur- sprünglich war für Ende September eine Parla- mentsdebatte über die beiden Gesetzentwürfe vorgesehen, sie wurde dann aber auf Februar 2011 verschoben. Bei der Aufarbeitung der schweren Men- schenrechtsverletzungen, die während der in- donesischen Besatzung in Timor-Leste began- gen worden waren, darunter Verbrechen ge- gen die Menschlichkeit, wurden kaum Fort- schritte erzielt. Präsident Ramos-Horta wies die Forderung nationaler und internationaler NGOs nach Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit zurück. Er sagte aber auch, dass er sich nicht widersetzen würde, sollte der UN-Sicherheitsrat ein solches Tribunal einset-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht zen wollen. Das UN-Ermittlungsteam zur Unter-

476 Togo wurde untergraben, da Journalisten bei Versammlungsfreiheit der Wahrnehmung ihrer Arbeit tätlich und exzessive Gewaltanwendung angegriffen wurden. Trotz der Tätigkeit Nach den Wahlen organisierte die Opposition der Kommission für Wahrheit, Gerech- aus Protest gegen die Ergebnisse wöchentli- tigkeit und Versöhnung (Truth, Justice che friedliche Versammlungen. Die Sicherheits- and Reconciliation Commission – TJRC) kräfte trieben die Teilnehmenden mehrfach blieb Straflosigkeit an der Tagesordnung. mit Tränengas auseinander und gingen wieder- holt mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen sie Hintergrund vor. Im März 2010 gewann der Amtsinhaber Faure  Im April lösten Polizisten ein Treffen des op- Gnassingbé die Präsidentschaftswahlen, die positionellen Dachverbands Front Républicain von Vorwürfen der Opposition über Wahlbetrug pour l’Alternance et le Changement (FRAC) auf begleitet waren. Im Mai entschied sich die füh- und nahmen über 70 Personen für mehrere rende Oppositionspartei Union des Forces pour Stunden in Haft. Einige von ihnen gaben an, ge- le Changement (UFC) zur Regierungsbeteili- schlagen worden zu sein. gung. Dieser Schritt führte im Oktober zu einer  Im Juni wurde eine Demonstration gegen Spaltung der UFC und zur Neugründung der steigende Kraftstoffpreise gewaltsam unter- Partei Alliance Nationale pour le Changement drückt. Dabei gab es mindestens einen Toten: (ANC). Komassi Koami Dodoè wurde von einem Mili- tärangehörigen in der Gegend um Agoè er- Gewaltlose politische Gefangene schossen. Zwei Personen wurden schwer ver- und politische Gefangene letzt. Die Behörden leiteten eine Untersuchung Mehrere politische Aktivisten wurden festge- des Vorfalls ein, bis Ende des Jahres waren je- nommen, wegen Verstoßes gegen die Sicher- doch noch keine Ergebnisse bekanntgegeben heit angeklagt und wochen- oder monatelang worden. inhaftiert.  Die Sicherheitskräfte griffen im Oktober das  Im März 2010 wurden zwei Mitglieder der Haus des führenden Oppositionellen Jean- UFC, Augustin Glokpon und Jacob Benissan, Pierre Fabre an. Sie umstellten die gesamte festgenommen, als sie Material für den Wahl- Umgebung, warfen Tränengasgranaten und kampf in die Stadt Vogan brachten. Die Polizei prügelten auf Demonstrierende ein. hielt sie eine Woche lang auf der Wache in der  Im November lösten die Sicherheitskräfte Hauptstadt Lomé fest. Die beiden Männer eine Demonstration auf, die verschiedene wurden wegen des »Versuchs der Untergra- Menschenrechtsorganisationen veranstaltet bung der Staatssicherheit« angeklagt und an- hatten, um gegen die wiederholten Verstöße schließend in ein Gefängnis in Kara gebracht. gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit zu Die beiden gewaltlosen politischen Gefange- protestieren. Dabei wurden mehrere Personen nen kamen am 31. März vorläufig aus der Haft von den Sicherheitskräften verletzt. frei.  Im März 2010 wurden Fulbert Attisso, Guil- Recht auf freie Meinungsäußerung laume Coco, Yaovi Abobi und Eric Solewassi, Die Visumsanträge einiger Journalisten, die für Mitglieder der politischen Bewegung Mouve- internationale Medien arbeiten und über die ment Citoyen pour l’Alternance (MCA), in Wahlen berichten wollten, wurden abgelehnt. Lomé verhaftet und des »Versuchs der Unter-  Im August 2010 griffen Polizisten Didier Ag- grabung der Staatssicherheit« angeklagt. Im bedivlo an. Der auch unter dem Namen Didier September kamen sie vorläufig wieder frei. Ledoux bekannte Journalist war für die Tages- zeitung Liberté tätig, als er das Gericht in Lomé fotografierte.  Im November 2010 wurde der Kameramann

Togo 477 Tony Sodji von Polizisten verletzt, die Zivilklei- Dutzende Personen wurden im Jahr 2010 dung trugen. Sie feuerten aus kurzer Entfer- von Polizeikräften getötet, davon einige nung eine Tränengasgranate auf ihn ab, wäh- unter Umständen, die darauf schließen rend er Demonstrierende filmte. Bereits im lassen, dass die Tötungen ungesetzlich September hatten Polizisten ihm Stichwunden waren. Mindestens 40 Häftlinge befan- zugefügt, als er über Demonstrationen berich- den sich im Todestrakt, Hinrichtungen tete. fanden jedoch nicht statt.

Straflosigkeit Hintergrund Im August 2010 öffnete die TJRC im ganzen Im April 2010 rief Premierminister Patrick Man- Land lokale Außenstellen, um Zeugenaussa- ning vorgezogene Parlamentswahlen aus, 30 gen zu erfassen. Die TJRC war im Jahr 2009 von Monate vor dem eigentlichen Termin. Seine Re- der Regierung eingesetzt worden, um Men- gierung sah sich mit Korruptionsvorwürfen schenrechtsverletzungen aufzuklären, die zwi- konfrontiert und verlor kurz darauf ein Miss- schen 1958 und 2005 in Togo begangen wor- trauensvotum. Wahlsieger wurde das Fünf- den waren. Bis Ende 2010 haben mehr als 5800 Parteien-Bündnis Partnerschaft des Volks Personen vor der TJRC ausgesagt. Bei der (People’s Partnership) mit einem politischen Mehrzahl der Fälle handelte es sich um Men- Programm, das Verbrechensbekämpfung, schenrechtsverletzungen aus den 1960er- bis mehr Transparenz, Armutsbekämpfung und 1980er-Jahren. Opfer früherer Menschen- die Förderung sozialer Gerechtigkeit in den Mit- rechtsverletzungen erhielten keinerlei Ent- telpunkt rückte. Die neue Premierministerin schädigungen. Kamla Persad-Bissessar versprach, die Bevöl- Bei der Untersuchung von 72 Beschwerden kerung an einer Verfassungsreform zu beteili- von Opfern politischer Unterdrückung im Jahr gen. Vor dem Hintergrund von 472 Tötungsde- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen 2005 wurden keine Fortschritte erzielt. likten, die der Polizei gemeldet wurden, spielte das Thema öffentliche Sicherheit in der Politik Amnesty International: Bericht eine zentrale Rolle. 000835  Togo: Political activists arrested, risk torture (AFR 57/001/2010) Polizei und Sicherheitskräfte Dutzende Personen wurden von Polizeikräften getötet. In einigen Fällen, in denen die Polizei angab, in Notwehr gehandelt zu haben, lagen Zeugenaussagen vor, die im Widerspruch dazu standen. Trinidad und Tobago  Am 3. Januar 2010 rief Tristan Cobbler seine Mutter an, um ihr zu sagen, dass ihm Polizis- Amtliche Bezeichnung: ten ins Bein geschossen hätten und er sich in Republik Trinidad und Tobago der Mentor Alley (in Laventille) im Gebüsch Staatsoberhaupt: George Maxwell Richards Regierungschefin: Kamla Persad-Bissessar (löste im Mai Patrick Manning im Amt ab) Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 1,3 Mio. Lebenserwartung: 69,9 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 37 / 28 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 98,7% S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

478 Trinidad und Tobago versteckt habe. Tristan Cobblers Mutter gab an, »sich an die Rechtsstaatlichkeit halten und das sie habe ihren Sohn dann sagen hören:»Oh Gesetz von Trinidad und Tobago anwenden«. Gott, ich kann mich nicht bewegen. Nicht Sie erklärte jedoch auch, dass die neue Regie- schießen.« Sie fand ihren Sohn tot an der rung über eine Gesetzesreform nachdenke, Stelle, die er genannt hatte. Die Autopsie ergab, um die zwingende Anwendung der Todesstrafe dass er an den Folgen mehrerer Schusswun- bei Mord abzuschaffen. den an Beinen, Hals, Rücken und Brust gestor- ben war. Laut Polizei wurde neben der Leiche eine Schusswaffe gefunden.  Bianca Charles wurde am 16. Juli 2010 in Morvant durch eine verirrte Polizeikugel getö- tet. Die Polizeistreife gab an, sie habe Verdäch- tige verfolgt und diese hätten das Feuer eröff- Tschad net. Daraufhin hätten sie zurückgeschossen. Dabei habe eine Kugel die vor ihrem Restau- Amtliche Bezeichnung: Republik Tschad rant stehende Bianca Charles getroffen. Der Staatsoberhaupt: Idriss Déby Itno Ehemann von Bianca Charles, der Zeuge des Regierungschef: Emmanuel Djelassem Nadingar Vorfalls war, sagte jedoch aus, die Verdächtigen (löste Youssouf Saleh Abbas im März im Amt ab) hätten nicht auf die Polizei geschossen. Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 11,5 Mio. Gewalt gegen Frauen und Mädchen Lebenserwartung: 49,2 Jahre Polizeistatistiken zufolge wurden zwischen Ja- Kindersterblichkeit (m/w): 220 / 201 pro 1000 nuar und September 2010 insgesamt 482 Ver- Lebendgeburten gewaltigungen, Inzestfälle und andere Sexual- Alphabetisierungsrate: 32,7% delikte gemeldet. Im vergleichbaren Vorjahres- zeitraum waren es 491. Frauenorganisationen Trotz der Normalisierung der Beziehun- sprachen jedoch von einer hohen Dunkelziffer. gen zum benachbarten Sudan und ver- Die Straftaten würden oft nicht angezeigt, weil einbarter Friedensabkommen mit den die Polizei im Umgang mit Fällen von Gewalt Anführern einiger bewaffneter Gruppen gegen Frauen nicht ausreichend geschult sei. Der rechtliche Schutz von Opfern sexueller Ge- walt war weiterhin ungenügend. Nur in seltenen Fällen kam es zu einer Verurteilung der Täter. Eine 2009 formulierte nationale Richtlinie zu Gender- und Entwicklungsfragen, die eine Reihe politischer Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt umfasste, war Ende 2010 noch nicht verabschiedet.

Todesstrafe Mindestens 40 Menschen saßen im Todestrakt, Hinrichtungen fanden jedoch 2010 nicht statt. Einige Minister der neuen Regierung spra- chen sich dafür aus, als Abschreckungsmaß- nahme gegen Verbrechen wieder Hinrichtun- gen zu vollstrecken. Die neue Premierministe- rin sagte, die Hinrichtung durch den Strang sei »geltendes Recht«. Ihre Regierung würde

Tschad 479 blieb die politische Lage im Tschad auch ten und bewaffneter Gruppen auf. Im Mai 2010 angespannt. Es kam zu Zusam- wurde Khalil Ibrahim, Anführer der sudanesi- menstößen zwischen ethnischen Grup- schen bewaffneten Gruppe Bewegung für pen. Die für Menschenrechtsverletzun- Gleichheit und Gerechtigkeit (Justice and gen Verantwortlichen agierten in einem Equality Movement), an der Einreise in den Klima der Straflosigkeit. Zivilpersonen Tschad gehindert, obwohl die Bewegung dort und Mitarbeiter humanitärer Hilfsorgani- seit Jahren Stützpunkte hatte. Im Juli reiste der sationen wurden verschleppt und er- sudanesische Staatspräsident Omar al-Bashir mordet. Frauen und Mädchen waren Ver- zu Gesprächen in den Tschad, obwohl gegen gewaltigungen und anderen Formen von ihn ein Haftbefehl des Internationalen Strafge- Gewalt ausgesetzt. Kinder wurden als richtshofs vorlag. Präsident al-Bashir forderte Soldaten rekrutiert oder entführt, um Timane Erdimi, Mahamat Nouri und Adouma Lösegeld zu erpressen. Menschenrechts- Hassaballah – alle drei Anführer tschadischer verteidiger und Journalisten wurden bewaffneter Gruppen – auf, den Sudan zu ver- weiterhin eingeschüchtert und schika- lassen. niert. Auch 2010 fanden Zwangsräu- Im Mai 2010 begann die Wählerregistrierung. mungen statt. Die UN-Mission in der Im Oktober gab Präsident Idriss Déby die Ver- Zentralafrikanischen Republik und im schiebung der ursprünglich für November ge- Tschad (MINURCAT) wurde am 31. De- planten Parlaments- und Kommunalwahlen zember abgezogen. bekannt, die nun 2011 zusammen mit der Prä- sidentschaftswahl stattfinden sollen. Hintergrund Im Zusammenhang mit den Gewalttaten vom Die Regierung forderte den UN-Sicherheitsrat Februar 2008 in der Hauptstadt N’Djamena im Januar 2010 zum Abzug der MINURCAT waren die meisten Empfehlungen einer zur Un- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen auf. Zu diesem Zeitpunkt waren die vereinbar- tersuchung der Ereignisse eingesetzten Kom- ten Parameter für die Bestimmung des Erfolgs mission bis Ende 2010 immer noch nicht umge- der Mission noch nicht erreicht worden. Auf setzt worden. Während der Kämpfe waren gra- 000835 Druck des Tschad beschloss der UN-Sicher- vierende Menschenrechtsverletzungen began- heitsrat im Mai den Abzug der Mission bis zum gen worden. Dazu gehörte auch das »Ver- 31. Dezember 2010. Die tschadische Regie- schwindenlassen« des Oppositionsführers Ibni rung erklärte, dass sie die Verantwortung für Oumar Mahamat Saleh. den Schutz der Zivilbevölkerung auf ihrem Starke Regenfälle und Überschwemmungen Staatsgebiet voll und ganz übernehmen werde. in vielen Landesteilen zwangen mindestens Im Oktober stellte der Tschad einen Schutz- 150000 Menschen dazu, ihre Häuser zu verlas- plan vor, für den das Land finanzielle Unterstüt- sen. Im Süden des Landes hielten sich weiter- zung beantragte. Kernstück des Plans war die hin rund 68000 Flüchtlinge aus der Zentralafri- Sicherheitspolizei (Détachement Integré de Se- kanischen Republik auf. curité – DIS). Die tschadischen Behörden veranstalteten im Am 15. Januar 2010 unterzeichneten der März 2010 mit Unterstützung der MINURCAT Tschad und der Sudan einen Vertrag zur Nor- eine Konferenz zum Thema Menschenrechte. malisierung der Beziehungen zwischen den Die meisten inländischen Menschenrechtsor- beiden Staaten. Er sah u. a. vor, bewaffnete ganisationen lehnten jedoch ihre Teilnahme ab. Gruppen des jeweiligen Nachbarstaats des Im Juni berief die Regierung eine regionale Landes zu verweisen. Im April wurde die seit Konferenz über die Beendigung des Einsatzes 2003 geschlossene Grenze zwischen dem und der Rekrutierung von Kindersoldaten ein. Tschad und dem Sudan wieder geöffnet. Im März stellten beide Länder eine binationale

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Truppe zur Bekämpfung krimineller Aktivitä-

480 Tschad Situation im Osten schen Gruppe der Zaghawa an und war zum Die Sicherheitslage im Osten des Landes war Tatzeitpunkt Leiter des militärischen Geheim- weiterhin angespannt. Noch immer lebten dienstes in der Region Dar Tama. Die Leib- dort über 262000 Flüchtlinge aus der sudane- wächter von Oberst Sossal reagierten auf den sischen Region Darfur. Sie waren auf zwölf Anschlag mit der Tötung von Oberst Dongui. Flüchtlingslager verteilt. Es gab außerdem min- Eine Reihe weiterer Personen wurde verletzt. destens 180000 Binnenflüchtlinge, die sich in Mehrere Personen wurden nach diesem Vor- 38 Lagern für Vertriebene aufhielten. Nach fall verhaftet, darunter zwei Angehörige der Ar- Kämpfen in Darfur suchten im Mai weitere mee aus der Gruppe der Tama. 5000 Menschen Zuflucht im Tschad. Nach An- Es wurde befürchtet, dass der vollständige gaben der UN kehrten 48000 Vertriebene, die Abzug der MINURCAT eine weitere Ver- hauptsächlich aus den Regionen Ouaddai und schlechterung der Menschenrechtslage und Dar Sila stammten, in ihre Heimatdörfer zu- der humanitären Situation zur Folge haben rück. Wegen der unsicheren Lage, der Verbrei- könnte. Die tschadischen Behörden verzöger- tung von Kleinwaffen und der fehlenden ten die Umsetzung von Plänen, die dem UN- Grundversorgung in ihrer Heimat mit Wasser, Sicherheitsrat im Oktober vorgelegt worden wa- medizinischer Fürsorge und Bildung zögerten ren. die meisten Vertriebenen allerdings mit der Rückkehr. Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen Nach wie vor fanden Menschenrechtsver- und krimineller Banden stöße statt. Frauen und Mädchen erlitten Ver- Im Osten des Landes verübten kriminelle Ban- gewaltigungen und andere Formen von Gewalt. den und bewaffnete Gruppen vor allem von Kinder wurden als Soldaten rekrutiert, Mitar- Mai bis Juli schwere Angriffe und Überfälle auf beiter humanitärer Hilfsorganisationen ver- Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen. schleppt und Zivilpersonen getötet. Auch die Es gingen zahlreiche Berichte über Entführun- Kämpfe zwischen der tschadischen Nationalar- gen von Mitarbeitern humanitärer Hilfsorgani- mee (Armée Nationale Tchadienne – ANT) sationen sowie über Autodiebstähle und Raub- und bewaffneten Gruppen hielten an. Im April überfälle ein. brachen zwischen der ANT und der oppositio-  Der für das Internationale Komitee vom Roten nellen Volksfront für die Nationale Wiederge- Kreuz (IKRK) tätige Agrarwissenschaftler Lau- burt (Front Populaire pour la Renaissance Na- rent Maurice wurde im Februar 2010 freigelas- tionale – FPRN) bei Tissi und For Djahaname an sen. Er war von Bewaffneten entführt worden der Grenze zu Darfur Kämpfe aus. und hatte sich 89 Tage in deren Gewalt befun- Zwischen den verschiedenen ethnischen den. Gruppen im Tschad herrschten große Span-  Am 6. Juni 2010 wurden in Abeché drei Mit- nungen. arbeiter der Hilfsorganisation Oxfam entführt.  Nach Kämpfen zwischen Angehörigen der Zwei wurden noch am selben Tag wieder freige- ethnischen Gruppen der Arab und der Dadjo lassen, der dritte kam jedoch erst am 15. Juni wurde in Goz Beida ein Mann getötet. Im Zu- frei. Nach Angaben der Behörden wurde er von sammenhang mit dem Vorfall wurde eine Per- der tschadisch-sudanesischen Truppe in son festgenommen. Sarne im Osten des Landes befreit. Die Behör-  Die Zunahme ethnisch motivierter Gewalt den erklärten außerdem, dass man die für die zwischen den Zaghawa, denen Präsident Entführung Verantwortlichen verhaftet habe. Déby angehört, und den Tama bot Anlass zu Ende 2010 hatte aber noch kein Prozess ge- großer Sorge. Am 21. Oktober 2010 wurde der gen sie begonnen. Befehlshaber der Region, Oberst Ismael Maha-  Am 10. Juli 2010 stahlen sechs Bewaffnete in mat Sossal, ein Tama, von Oberst Dongui er- der Nähe der Ortschaft Boulala einen Wagen schossen. Oberst Dongui gehörte der ethni- des französischen Roten Kreuzes. Dabei ver-

Tschad 481 schleppten sie auch den Fahrer und seinen ben. Bis Ende 2010 hatten die Armee und die Kollegen, ließen beide aber später in der Nähe genannten bewaffneten Gruppen nicht ein- von Moussoro wieder frei. mal 10% der Kindersoldaten aus ihren Reihen entlassen. Gewalt gegen Frauen und Mädchen Die tschadischen Sicherheitskräfte bedienten Frauen und Mädchen erlitten nach wie vor Ver- sich Kindern aus Orten im Osten des Landes, gewaltigungen und andere Formen von Ge- aus Flüchtlingslagern und Lagern für Vertrie- walt. Bei den Tätern handelte es sich um Perso- bene. Im Berichtsjahr waren einige hochran- nen aus ihrem Umfeld, um Angehörige be- gige Offiziere der ANT in die Rekrutierung von waffneter Gruppen und um Mitglieder der Si- Kindern verwickelt. cherheitskräfte. In den meisten der dokumen-  Nach der Unterzeichnung eines Friedensab- tierten Fälle waren die Opfer Kinder; die mut- kommens zwischen der Regierung und der maßlichen Täter blieben unbehelligt. Bewegung für Demokratie und Gerechtigkeit im  Mehrere Männer vergewaltigten am 16. Juli Tschad (Mouvement pour la Démocratie et la 2010 zwei 13-jährige Flüchtlingsmädchen in Justice au Tchad – MDJT) im April 2010 ließ die der Nähe des Flüchtlingslagers Farchana. Die MDJT im August 58 Kinder frei, unter ihnen Mädchen hatten das Lager verlassen, um zehn Mädchen. Brennholz zu sammeln. Die tschadische Gen-  Im Zusammenhang mit Veranstaltungen darmerie und die DIS sollen Ermittlungen auf- einer bewaffneten Gruppe aus dem Sudan im genommen haben. Flüchtlingslager Goz Amir, durch die Kinder an-  Am 6. September 2010 wurde ein 14-jähriges geworben werden sollten, wurden im Septem- Flüchtlingsmädchen aus dem Lager Am Na- ber elf Personen von der Sicherheitspolizei ver- bak in der Ortschaft Shandi von einem Viehhir- haftet. Später stellte sich heraus, dass die fest- ten aus der Gegend vergewaltigt. Dieser zahlte genommenen Personen regelmäßig derartige 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dem Dorfvorsteher eine Entschädigung mit su- Veranstaltungen durchführten. danesischem Geld und verließ dann die Ge- gend. Bei einem anschließenden Streit um die Ungesetzliche Tötungen 000835 Kamele, die er zurückgelassen hatte, wurde Sowohl Angehörige der Sicherheitskräfte als ein Mann getötet. auch bewaffnete Gruppen aus dem Sudan  Nach UN-Angaben haben Armeesoldaten und dem Tschad waren für ungesetzliche Tö- von Februar bis April 2010 in mindestens elf tungen verantwortlich. Die Tötungen wurden Fällen Gewalt gegen Frauen angewandt. Ob- vor dem Hintergrund der anhaltend prekären wohl hochrangige Offiziere Berichten zufolge Sicherheitslage begangen und blieben für die erklärt haben, dass sie angemessene Straf- Täter ohne strafrechtliche Konsequenzen. maßnahmen ergreifen würden, war Ende 2010  Am 19. Oktober 2010 wurde der zu den Tama unklar, ob überhaupt etwas gegen die mut- gehörende Bauer Defa Adoum wegen des Ver- maßlichen Täter unternommen worden dachts auf Schusswaffenbesitz von Oberst Don- ist. gui, einem Angehörigen der Zaghawa und Lei- ter des militärischen Geheimdienstes (siehe Kindersoldaten oben), festgenommen. Wie es in Berichten Es wurden weiterhin Kinder als Soldaten re- hieß, soll der Bauer zu Tode gefoltert worden krutiert, sowohl von der Armee als auch von sein. bewaffneten Gruppen. Die dafür Verantwortli- chen genossen völlige Straffreiheit. Nach UN- Willkürliche Festnahmen Angaben aus dem Jahr 2007 könnten zwi- und Inhaftierungen schen 7000 und 10000 Kinder in den Reihen Nach wie vor nahmen die Behörden Menschen bewaffneter Gruppen aus dem Tschad und willkürlich fest und hielten sie ohne Anklage in

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht dem Sudan sowie der Armee gekämpft ha- Haft. Menschen waren in geheimen Einrichtun-

482 Tschad gen wie der Hafteinrichtung der Stadt Koro Ungefähr 10000 Menschen waren von rechts- Toro inhaftiert, in denen Besuche verboten widrigen Zwangsräumungen bedroht. Gesprä- waren. che mit ihnen fanden nicht statt, und es wur- den ihnen auch keine Ersatzunterkünfte ange- Recht auf freie Meinungsäußerung – boten. Ende 2010 hatten die Zwangsräumun- Journalisten gen noch nicht stattgefunden. Journalisten waren auch 2010 Einschüchterun-  Am 19. Juli 2010 kamen bei einem Polizeiein- gen und Schikanen durch Regierungsvertreter satz zur Räumung von Gebäuden in der Stadt- ausgesetzt. mitte von N’Djamena mindestens drei Men- Der vom Präsidenten während des Notstands schen ums Leben. Die Gebäude, in denen An- im Februar und März 2008 verfügte Erlass gehörige der Sicherheitsdienste lebten, gehör- Nr. 5 wurde aufgehoben. Im August nahm die ten der Regierung. Regierung ein neues Mediengesetz an. Das neue Gesetz sieht Gefängnisstrafen von einem Kinderrechte – Entführungen bis zwei Jahren, Geldstrafen und Publikations- Viele Kinder im Alter von zum Teil erst zehn Jah- verbote bis zu drei Monaten für Journalisten ren wurden entführt, um mit ihnen Lösegeld vor, »die rassistisch, ethnisch oder religiös mo- zu erpressen. Einige ließen die Entführer wieder tivierten Hass schüren und Gewalt billigen«. frei, nachdem ihre Familien ein hohes Löse-  Am 18. Oktober drohte Ministerpräsident Em- geld gezahlt hatten. Das Schicksal anderer Kin- manuel Nadingar der Zeitung Ndjamena Bi- der war Ende 2010 unbekannt. Hebdo mit der Schließung, weil darin ein Artikel  Am 23. September wurden im Departement erschienen war, in dem der Tschad mit dem Léré Lake mindestens fünf kleine Jungen von Sudan verglichen wurde. Nach einer Presse- Bewaffneten aus ihren Wohnungen ver- konferenz, die der Ministerpräsident in dem schleppt. Die Entführer verlangten Lösegeld. Zusammenhang abgehalten hatte, fürchteten  Ende Oktober entführten in Bodoro, 3 km vor Journalisten der Zeitung um ihre Sicherheit. der Grenze zu Kamerun, elf bewaffnete Män- ner drei kleine Jungen. Der ältere Bruder eines Zwangsräumungen der Jungen wurde getötet, als er während des In mehreren Stadtteilen von N’Djamena wurden Überfalls andere Ortsbewohner alarmierte. Die Hunderte von Menschen unter Anwendung Entführer ließen die Kinder nach drei Tagen von Gewalt vertrieben. Ihre Häuser wurden frei. abgerissen. Im Vorfeld der Zwangsräumungen gab es weder ordnungsgemäße Verfahren Todesstrafe noch vorherige Informationen oder Gespräche Am 27. Juli 2010 wurde Guidaoussou Tordinan mit den Betroffenen. Die meisten Familien, von einem Strafgericht in N’Djamena schuldig die ihre Wohnungen durch die im Februar gesprochen, im November 2009 seine Frau ge- 2008 begonnenen rechtswidrigen Zwangs- tötet und seine Schwiegermutter verletzt zu räumungen verloren hatten, erhielten weder haben. Das Gericht verurteilte den Angeklagten Ersatzunterkünfte noch Entschädigungen. zum Tod. Über die Anwendung der Todes- Einige haben zwar Prozesse gegen die Regie- strafe und die Anzahl der Menschen im Todes- rung gewonnen, doch sind die Entscheidun- trakt lagen Amnesty International keine Zahlen gen der Gerichte überwiegend missachtet vor. worden.  Im Mai 2010 forderten die Behörden die Be- Amnesty International: Missionen und Berichte wohner von Ambatta, einem Stadtviertel von  Delegierte von Amnesty International hielten sich in den N’Djamena, auf, ihre Wohnungen nach Ende Monaten März, Mai, Juni und September im Tschad auf.  der Regenzeit Mitte Oktober zu verlassen, da Chad: UN Security Council must work to ensure further dort moderne Häuser gebaut werden sollten. extension of UN mission mandate (AFR 20/004/ 2010)

Tschad 483  Chad: »We too deserve protection« – human rights challen- Hintergrund ges as UN mission withdraws (AFR 20/009/ 2010) Nach den Parlamentswahlen im Mai 2010 er-  Chad: 10,000 at imminent risk of forced eviction nannte der Präsident im Juli eine neue Mitte- (AFR 20/011/2010) rechts-Koalitionsregierung. Im September ent-  Still in need of safety: The internally displaced in eastern ließ die Regierung den staatlichen Menschen- Chad (AFR 20/012/ 2010) rechtsbeauftragten; bis zum Jahresende wurde kein Nachfolger eingesetzt. Im Oktober traten zwei hochrangige Beamte des Bildungsministeriums, die für die Integra- tion von Roma-Kindern in den Regelunterricht verantwortlich waren, aus Protest gegen das Tschechien Versäumnis der neuen Regierung, der Gleich- behandlung von Roma-Kindern im Bildungs- Amtliche Bezeichnung: Tschechische Republik system Vorrang einzuräumen, von ihren Äm- Staatsoberhaupt: Václav Klaus tern zurück. Regierungschef: Petr Necˇas (löste Jan Fischer im Das Oberste Verwaltungsgericht ordnete die Juli im Amt ab) Auflösung der Arbeiterpartei (Deˇlnická strana) Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft an, weil ihr Programm zu nationalem, rassi- Einwohner: 10,4 Mio. schem, ethnischem und gesellschaftlichem Lebenserwartung: 76,9 Jahre Hass aufrief und die Partei eine Bedrohung der Kindersterblichkeit (m/w): 5 / 4 pro 1000 Demokratie darstellte. Lebendgeburten Diskriminierung – Roma Es liefen mehrere Gerichtsverfahren in Roma waren in der Öffentlichkeit unverhohle- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Fällen von Gewalttaten gegen Angehö- ner Feindseligkeit ausgesetzt, und es gab rige der Volksgruppe der Roma. Einige mehrere anhängige Verfahren wegen Angriffen Täter wurden zu hohen Strafen verur- auf Angehörige dieser Volksgruppe. Die Diskri- 000835 teilt. Die Regierung unternahm nach wie minierung von Roma dauerte an und manifes- vor nichts, um die Ausgrenzung von Ro- tierte sich u. a. in der Ungleichbehandlung in ma-Kindern im Bildungssystem zu besei- Schulen und auf dem Wohnungsmarkt. tigen. Es wurden Bedenken wegen Än- derungen des Gesetzes zur Behandlung Gewalttaten von Migranten angemeldet.  Am 14. März 2010 wurden Molotow-Cocktails in das Haus einer Roma-Familie in der Sied- lung Bedrˇisˇka in der Stadt Ostrava geworfen. Im November erhob der Staatsanwalt Anklage wegen versuchten Mordes gegen eine Nachba- rin der Familie sowie deren halbwüchsigen Sohn. Nach polizeilichen Ermittlungen wurden rassistische Beweggründe für das Verbrechen ausgeschlossen, und man kam zu dem Schluss, dass der Anschlag das Ergebnis eines Streits zwischen Nachbarn gewesen sei. Im Dezember verhängte das Regionalgericht von Ostrava Bewährungsstrafen gegen die Tä- ter.  Am 20. Oktober 2010 sprach das Regionalge-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht richt in Ostrava vier Männer des versuchten

484 Tschechien Totschlags und der Sachbeschädigung bei wehrt« werde. Der Bürgerbeauftragte stellte einem im April 2009 im Ort Vítkov gegen eine gleichfalls fest, dass es diskriminierend sei, Roma-Familie verübten Brandanschlag schul- wenn ein Drittel der Kinder, bei denen eine geis- dig. Das Gericht war der Auffassung, dass das tige Behinderung diagnostiziert würde, Roma Verbrechen vorsätzlich begangen wurde und seien. rassistisch motiviert war. Drei der Täter wur- Die Regierung verabschiedete im März einen den zu jeweils 22 Jahren und der vierte Täter zu Nationalen Aktionsplan für integrative Bildung 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Alle vier legten (Národní akcˇní plán inkluzívního vzdeˇlávání). gegen das Urteil Rechtsmittel ein. Der Anschlag Darin waren aber weder Maßnahmen zur Be- hatte die Wohnung einer Roma-Familie zer- seitigung der Diskriminierung auf der Grund- stört. Ein zweijähriges Mädchen hatte dabei lage ethnischer Herkunft noch ein konkreter Brandverletzungen an über 80 Prozent ihres Zeitplan für die Aufhebung der Trennung in Körpers erlitten und war für drei Monate in ein tschechischen Schulen vorgesehen. Der neu künstliches Koma versetzt worden. ernannte Minister für Bildung verschob die  Das Verfahren gegen acht Tatverdächtige, die Umsetzung des Aktionsplans und lehnte auch beschuldigt wurden, Angriffe auf Roma im Änderungen von zwei ministeriellen Verordnun- Dorf Havírˇov verübt zu haben, war 2010 anhän- gen ab, die darauf abzielten, einige der diskri- gig. Bei einem dieser im November 2008 ver- minierenden Hemmnisse zu beseitigen, die es übten Überfälle griff eine Gruppe mutmaßlicher Roma-Kindern verwehrten, Regelschulen zu Neonazis mehrere Personen an und verletzte besuchen. einen Mann. Nach seinem Besuch des Landes im Novem- ber erklärte der Menschenrechtskommissar Bildung des Europarats in seiner Stellungnahme, dass Im Jahr 2010 wurden Roma-Kinder weiterhin in »sich in der Tschechischen Republik vor Ort Schulen für Kinder mit »leichten geistigen Be- praktisch nichts geändert hat, seitdem der Eu- hinderungen« sowie in nur für Roma bestimm- ropäische Gerichtshof (...) vor drei Jahren ten Schulen und Klassen unterrichtet. Drei festgestellt hatte, dass das Land Roma-Kinder Jahre nach dem Urteil des Europäischen Ge- diskriminierte, indem es sie in Schulen für Kin- richtshofs für Menschenrechte, mit dem das der mit geistigen Behinderungen unterrichten Verbot separater und minderwertiger Bildung ließ«. Im Zuge seiner am 2. Dezember durch- für Roma bestätigt worden war, hatte die Re- geführten Überprüfung der Umsetzung der gierung noch immer nichts unternommen, um vom Menschenrechtskommissar empfohle- diese Diskriminierung innerhalb des Bildungs- nen Maßnahmen forderte das Ministerkomitee systems des Landes zu beseitigen. des Europarats die Regierung auf, den Akti- Die tschechische Schulaufsichtsbehörde onsplan unverzüglich umzusetzen und sich mit stellte im März fest, dass 35% aller Kinder, für der Situation von Kindern zu befassen, die in die die Diagnose »leichte geistige Behinde- für sie nicht geeignete Schulen eingewiesen rung« gestellt worden war, der Volksgruppe worden seien. der Roma angehörten. In einigen Regionen be- trug der Anteil sogar mehr als 50%. Wohnen In Reaktion auf den Bericht der Schulauf- Im September 2010 stellte der Bürgerbeauf- sichtsbehörde erklärte der Bürgerbeauftragte tragte fest, dass die Verwaltungsbehörde des (Verˇejny´ ochránce práv) im April, dass »die von Bezirks Vítkovice in Ostrava in Fällen, in denen Psychologen der Schulberatungszentren bei Roma einen Antrag auf die Erteilung einer un- Roma-Kindern angewandte Begutachtungsme- befristeten Aufenthaltserlaubnis gestellt hatten, thode zu ihrer Ausgrenzung aus dem Regelun- in erheblichem Maße gegen Rechtsvorschrif- terricht« führe, »wodurch ihnen der Zugang zu ten verstieß. Er verwies darauf, dass der Tatbe- hochwertigen Bildungsmöglichkeiten ver- stand der Diskriminierung erfüllt sein könne,

Tschechien 485 wenn bei der Wohnsitzregistrierung Roma zu- ten Roma-Frauen eine Entschädigung von sätzliche administrative Anforderungen ge- 200000 Tschechischen Kronen (rund stellt werden, z. B. mit einem Beamten der Ein- 8300 Euro) zu. wohnermeldebehörde ein persönliches Ge- spräch führen müssen. Die nichtstaatliche Or- Rechte von Flüchtlingen und Migranten ganisation Z§vu˚le práva, die die Antragsteller Das Parlament beschloss im Dezember 2010 der Roma vertrat, hatte diesen Sachverhalt dem eine Änderung des Gesetzes über das Aufent- Büro des Bürgerbeauftragten mitgeteilt und haltsrecht von Ausländern. Das neue Gesetz, im Jahr 2009 auch selbst eine Zivilklage gegen mit dem die Höchstdauer der Haft für Verstöße die Praxis der Verwaltungsbehörde erhoben. gegen Einwanderungsbestimmungen von Der Zivilprozess war bei Jahresende noch an- sechs auf 18 Monate erhöht wurde, gab An- hängig. lass zur Sorge.  Der Fall der im Jahr 2006 erfolgten Vertrei- bung von Roma aus der Stadt Vsetín wurde im Amnesty International: Mission und Berichte Oktober 2010 vom Berufungsgericht an das Re-  Vertreter von Amnesty International besuchten die Tsche- gionalgericht von Ostrava zurückverwiesen, da chische Republik im Januar.  das Regionalgericht einen großen Teil der von Czech Republic: Four convicted of racially motivated attacks den Klägern vorgelegten Beweismittel nicht in Vítkov (EUR 71/007/ 2010)  Romani children continue to be trapped in separate and un- berücksichtigt hatte. Der Bürgerbeauftragte equal education, despite judgments by the European Court hatte im Jahr 2007 erklärt, dass die Vertrei- of Human Rights (EUR 01/029/ 2010) bung eine schwere Verletzung des Rechts der Einwohner auf Menschenwürde und den Schutz des Privat- und Familienlebens dar- stelle. Einige Familien gaben an, dass ihnen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Obdachlosigkeit angedroht worden sei, falls sie der Ausweisung nicht zustimmen würden. Einige der Zwangsräumungen wurden in der 000835 Tunesien Nacht durchgeführt, und die ersatzweise zur Verfügung gestellten Unterkünfte waren Be- Amtliche Bezeichnung: Tunesische Republik richten zufolge nicht angemessen. Staatsoberhaupt: Zine el-Abidine Ben Ali Regierungschef: Mohamed Ghannouchi Zwangssterilisierung von Roma-Frauen Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Obwohl die Regierung ihr Bedauern über in der Einwohner: 10,4 Mio. Vergangenheit durchgeführte Zwangssterili- Lebenserwartung: 74,3 Jahre sierungen ausdrückte, unternahm sie nichts, Kindersterblichkeit (m/w): 24 / 21 pro 1000 um Gesetzesänderungen umzusetzen, die si- Lebendgeburten cherstellten, dass Sterilisierungen nur freiwillig, Alphabetisierungsrate: 78% nach vorab erteilter und informierter Zustim- mung erfolgten. Im Oktober 2010 empfahl der Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form Vereinigungs- und Versammlungsfrei- von Diskriminierung der Frau (CEDAW-Aus- heit blieben auch 2010 stark einge- schuss) der Regierung, im Falle von Zwangs- schränkt. Regierungskritiker wurden sterilisierungen die in den Bestimmungen über weiterhin schikaniert, bedroht und inhaf- die Verjährungsfristen enthaltene Dreijahres- tiert. Auch ehemalige politische Gefan- frist für die Geltendmachung von Entschädi- gene wurden drangsaliert, eingeschüch- gungsforderungen zu überprüfen. tert und unterlagen Beschränkungen.  Im Januar 2010 erkannte das Strafgericht der Es gab Berichte über Folterungen und

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ersten Instanz in Prag zwei zwangssterilisier- Misshandlungen auf Polizeiwachen und

486 Tunesien in Gefängnissen. Angeklagte, die auf komme. Das neue Gesetz sollte anscheinend Grundlage der Antiterrorgesetzgebung die Lobbyarbeit gegenüber anderen Staaten schuldig gesprochen wurden, erhielten und internationalen Institutionen zugunsten der nach unfairen Gerichtsverfahren hohe Menschenrechte in Tunesien unter Strafe stel- Haftstrafen. Es wurden erneut Todesur- len und abschreckend wirken. teile verhängt. Ein Hinrichtungsmorato- Im Juni veröffentlichte der UN-Ausschuss für rium hatte jedoch weiterhin Bestand. die Rechte des Kindes seine Stellungnahme zu Kinderrechten in Tunesien. Er legte der Re- Hintergrund gierung nachdrücklich nahe, ein Verbot von Im Juni 2010 wurde Paragraph 61 Abs. 2 des Körperstrafen gegen Kinder in das Strafgesetz- Strafgesetzbuchs geändert und ein neuer buch aufzunehmen. Diese sind in der Familie Straftatbestand geschaffen. Demzufolge kann sowie in Kinder- und Jugendeinrichtungen jede Person, die »direkt oder indirekt Kontakt noch immer erlaubt. zu Agenten eines ausländischen Staates, einer ausländischen Institution oder Organisation Proteste gegen die Regierung mit dem Ziel aufnimmt, die vitalen Interessen Nach der Selbsttötung des 24-jährigen Sidi Tunesiens und die Sicherheit der Wirtschaft Bouzid, der sich aus Verzweiflung verbrannt des Landes zu beschädigen«, mit Freiheitsent- hatte, weil ein örtlicher Behördenvertreter ihm zug von bis zu 20 Jahren bestraft werden. untersagt hatte, Gemüse zu verkaufen, und Einen Monat vor der Gesetzesänderung hatten ihn tätlich angegriffen haben soll, brachen Pro- sich tunesische Menschenrechtsverteidiger teste gegen die Regierung aus. Die Sicher- mit Vertretern der EU und Parlamentsabgeord- heitskräfte gingen mit unverhältnismäßiger Ge- neten aus Spanien und Belgien getroffen. Sie walt – u. a. mit scharfer Munition – gegen die hatten dringend darum gebeten, die EU möge in der Mehrzahl friedlichen Demonstrierenden im Rahmen der Verhandlungen mit Tunesien vor. Dabei kamen mindestens zwei Menschen über einen »fortgeschrittenen Status« in den ums Leben. Zahlreiche weitere wurden durch Beziehungen Druck auf die tunesische Regie- scharfe Munition, Gummigeschosse, Tränen- rung ausüben, damit diese ihren Verpflichtun- gas und Schläge verletzt. Ende 2010 dauerten gen bezüglich der Menschenrechte nach- die Proteste noch an und hatten auf das ge- samte Land übergegriffen.  Am 24. Dezember 2010 erschossen Angehö- rige der Sicherheitskräfte während einer De- monstration in Manzel Bouzayane, einer klei- nen Stadt in der Provinz Sidi Bouzid, die bei- den Männer Mohamed Ammari und Chaouki Belhoussine El Hadri.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit Die Behörden übten nach wie vor eine strenge Kontrolle über alle Medien und das Internet aus. Personen, die offen Kritik an der Regierung übten oder Menschenrechtsverletzungen an- prangerten, wurden weiterhin schikaniert, ver- stärkt überwacht, ungerechtfertigt strafrecht- lich verfolgt oder tätlich angegriffen. Unabhän- gige Menschenrechtsorganisationen konnten nur mit Mühe öffentliche Versammlungen ab-

Tunesien 487 halten oder Räumlichkeiten für ihre Treffen polizeilichen Überwachung einher sowie mit anmieten. Ihre Zusammenkünfte standen häu- Auflagen, was die Ausübung ihrer Bürgerrechte fig unter rigoroser Überwachung durch die Si- betraf. Einige von ihnen wurden erneut festge- cherheitskräfte. nommen und ins Gefängnis gebracht, weil sie  Der Journalist Fahem Boukadous und der er- ihre friedlichen politischen Aktivitäten wieder werbslose Akademiker Hassan Ben Abdallah aufgenommen oder die Regierung öffentlich verbüßten beide eine vierjährige Haftstrafe im kritisiert hatten. Manchen blieb der Zugang zu Gafsa-Gefängnis. Ihnen war zur Last gelegt notwendiger medizinischer Behandlung ver- worden, im Jahr 2008 an Demonstrationen ge- wehrt. Gegen die meisten wurden Beschrän- gen Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshal- kungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit in- tungskosten in der Provinz Gafsa im Südwesten nerhalb von Tunesien verhängt, auch Reise- Tunesiens teilgenommen zu haben. Fahem pässe wurden ihnen verweigert. Viele ehema- Boukadous war außerdem wegen »Verbreitung lige politische Gefangene konnten aufgrund von Informationen zur Störung der öffentli- der Verfügungen weder eine bezahlte Arbeit chen Ordnung« für schuldig befunden worden, aufnehmen noch ein normales Leben führen. weil er in einem privaten Fernsehsender über  Sadok Chourou kam am 30. Oktober 2010 die Unruhen berichtet hatte. Beide Männer wa- aus dem Nadhour-Gefängnis frei. Im Jahr ren in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt 2008 war er schon einmal unter Vorbehalt ent- worden. Zunächst hatte man sie in einem Pro- lassen worden. Kurz nach seiner damaligen zess in Abwesenheit verurteilt. Nachdem sie Freilassung hatte er dem Satelliten-Fernseh- Ende 2009 eine Wiederaufnahme des Verfah- sender al-Hiwar (Dialog) und anderen Inter- rens beantragt hatten, standen sie im Januar netmedien im November 2008 Interviews gege- und März 2010 erneut vor Gericht. Von Oktober ben. Daraufhin wurde seine Haftentlassung bis November trat Fahem Boukadous 39 Tage revidiert, und er musste zudem ein weiteres 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen lang in den Hungerstreik, um gegen seine In- Jahr im Gefängnis verbringen. Bei seiner Frei- haftierung und die schlechten Haftbedingun- lassung sagten ihm Beamte, er solle sich nicht gen zu protestieren. Er beendete seine Aktion, mehr journalistisch oder politisch betätigen. 000835 als die Behörden Maßnahmen ergriffen, um Ein offizielles Betätigungsverbot wurde aller- seine Haftbedingungen zu verbessern. dings nicht ausgesprochen.  Im März 2010 hinderten die Behörden meh-  Abdellatif Bouhajila wurde weiterhin ein Rei- rere Journalisten und Menschenrechtsvertei- sepass verweigert, den er benötigte, um für diger daran, an einer Pressekonferenz in Tunis eine dringend notwendige medizinische Be- teilzunehmen, auf der die Internationale Verei- handlung ins Ausland reisen zu können. Er nigung zum Schutz von politischen Gefangenen war 2007 unter Auflagen aus der Haft entlassen (International Association for the Support of worden. 2001 hatte man ihn wegen Mitglied- Political Prisoners) und die Menschenrechtsor- schaft in der islamistischen Gruppe al-Ansar ganisation Human Rights Watch ihre jeweili- (Die Partisanen) zu 17 Jahren Freiheitsstrafe gen Berichte über Schikanen gegen ehemalige verurteilt. Berichten zufolge war seine Gesund- politische Gefangene in Tunesien vorstellen heit nach Misshandlungen im Gefängnis und wollten. mehreren Hungerstreiks stark angegriffen.

Schikanen gegen ehemalige Menschenrechtsverteidiger politische Gefangene Menschenrechtsverteidiger wurden auch im Zahlreiche ehemalige politische Gefangene wa- Jahr 2010 von den Behörden schikaniert. Sie ren 2010 weiterhin von »Überwachungsverfü- standen unter ständiger strenger Überwa- gungen« betroffen, die sie verpflichteten, sich chung. Ihre Internetzugänge und Telefonlei- häufig auf Polizeiwachen zu melden. In der tungen wurden gestört oder gekappt. Bisweilen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Regel ging dies auch mit einer umfassenden wurden sie gewaltsam daran gehindert, an

488 Tunesien Treffen oder Versammlungen zu Menschen- hielten ihn anschließend sieben Stunden lang rechtsfragen teilzunehmen. Einige von ihnen auf einer Polizeiwache fest. Bei seiner Freilas- wurden tätlich angegriffen. Die meisten unab- sung wies Zouheir Makhlouf Blutergüsse und hängigen Menschenrechtsorganisationen er- eine gebrochene Nase auf. Im Dezember wurde hielten auch 2010 keine Zulassung. Im Februar er erneut von einem mutmaßlichen Polizisten forderte die UN-Sonderbeauftragte des Gene- in Zivil geschlagen, als er sein Haus verließ, um ralsekretärs für die Lage von Menschenrechts- über die Unruhen in der Region Sidi Bouzid zu verteidigern die tunesischen Behörden auf, berichten. ihre psychologische und physische »Ein- schüchterungskampagne« gegen Menschen- Antiterrormaßnahmen und Sicherheit rechtsverteidiger sofort einzustellen. Personen, denen man Vergehen im Zusam-  Der 78-jährige Ali Ben Salem wurde von den menhang mit der Sicherheit zur Last legte, Behörden 2010 weiterhin wegen seiner Men- wurden inhaftiert und vor Gericht gestellt. schenrechtsarbeit schikaniert und einge- Einige von ihnen waren zuvor aus anderen schüchtert. Er ist Gründungsmitglied von Staaten nach Tunesien abgeschoben worden. mehreren Menschenrechtsorganisationen, wie Berichten zufolge wurden seit 2003 rund 2000 z. B. dem Nationalrat für Freiheiten in Tune- Personen wegen Verstößen gegen das Antiter- sien (Conseil National pour les Libertés en Tuni- rorgesetz verurteilt. Viele von ihnen in Abwe- sie) und der Vereinigung gegen Folter in Tune- senheit und nach Prozessen, die nicht den in- sien (Association de Lutte contre la Torture en ternationalen Standards für faire Gerichtsver- Tunisie). Sein Haus in Bizerta beherbergt auch fahren entsprachen. Angeklagte gaben an, man das Regionalbüro der Tunesischen Menschen- habe sie während ihrer Untersuchungshaft rechtsliga (Ligue Tunisienne pour les Droits de ohne Kontakt zur Außenwelt unter Folterungen l’Homme). Beamte des Staatssicherheitsdiens- und Nötigungen gezwungen, »Geständnisse« tes waren ununterbrochen vor seinem Haus zu unterschreiben. Diese »Geständnisse« wur- postiert, seine Telefonleitungen und seine Inter- den später vor Gericht als Beweismittel zuge- netverbindung wurden gekappt. Ali Ben Sa- lassen, ohne dass den Foltervorwürfen ange- lem befand sich unter ständiger Überwachung messen nachgegangen worden wäre. und wurde gewaltsam daran gehindert, an Der UN-Sonderberichterstatter über die För- Versammlungen von Menschenrechtsverteidi- derung und den Schutz der Menschenrechte gern teilzunehmen. Die Behörden verweiger- und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des ten ihm nach wie vor eine Karte, die eine kos- Terrorismus kritisierte bei seinem Tunesienbe- tenlose Gesundheitsversorgung ermöglichen such im Januar das Antiterrorgesetz von 2003. würde, sowie einen Reisepass. Somit konnte er Er forderte die Regierung nachdrücklich dazu für seine schweren Rücken- und Herzbe- auf, die viel zu weit gefasste Definition von »Ter- schwerden keine medizinische Hilfe in An- rorismus« zu ändern und die Anwendung des spruch nehmen. Gesetzes so zu begrenzen, dass es nicht länger  Der Menschenrechtsverteidiger und Journa- Personen treffe, die zuvor in unrechtmäßiger list Zouheir Makhlouf kam im Februar 2010 Weise des »Terrorismus« für schuldig befunden frei. Er war im Oktober 2009 festgenommen worden waren. worden und im Zusammenhang mit einem  Seifallah Ben Hassine befand sich 2010 wei- Dokumentarfilm über Umweltverschmutzung terhin im Mornaguia-Gefängnis in der Nähe im Industriegebiet der Stadt Nabeul im Nord- von Tunis in Isolationshaft. Er wurde seit 2007 osten Tunesiens verurteilt worden. Im April in Isolation gehalten, obwohl das tunesische suchten ihn acht Polizeibeamte auf und teilten Recht dies nur für zehn Tage erlaubt. Seifallah ihm mit, er stünde unter Arrest. Als er den Haft- Ben Hassine war 2003 auf der Grundlage des befehl sehen wollte, verprügelten sie ihn vor Antiterrorgesetzes und des Militärstrafgesetz- den Augen seiner Frau und seiner Kinder und buchs verurteilt worden. Er musste sich in

Tunesien 489 sechs gesonderten Gerichtsverfahren verant- dass unabhängige Frauenorganisationen von worten, von denen vier vor dem Militärgericht politischen Prozessen ausgeschlossen seien von Tunis stattfanden. Die sechs Schuldsprü- und keine staatliche Förderung erhielten. che brachten ihm insgesamt 68 Jahre Haft ein, die er nacheinander abbüßen muss. Er war Todesstrafe während einer Reise in die Türkei festgenom- Gegen mindestens 22 Personen ergingen 2010 men worden und wurde dort, seinen Angaben Todesurteile, Hinrichtungen fanden jedoch zufolge, einen Monat lang ohne Kontakt zur nicht statt. Die Regierung hält seit 1991 ein De- Außenwelt in Haft gehalten und gefoltert, ehe facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht. man ihn nach Tunesien abschob. Den 136 in den Todeszellen einsitzenden Ge- fangenen, darunter vier Frauen, blieb jeglicher Frauenrechte Kontakt mit ihren Familien oder ihren Rechts- Die Behörden stellten Tunesien weiterhin als anwälten untersagt. einen Staat dar, der Frauenrechte fördert und schützt. Journalistinnen, die Kritik an der Re- Amnesty International: Berichte gierung übten, sowie Menschenrechtsverteidi-  Freed but not free: Tunisia’s former political prisoners gerinnen wurden jedoch schikaniert und waren (MDE 30/003/ 2010)  verunglimpfenden Schmutzkampagnen in Independent voices stifled in Tunisia (MDE 30/008/2010) den staatlich kontrollierten Medien ausgesetzt.  Faten Hamdi, eine Reporterin von Radio Ka- lima, einem Sender, der in Tunesien keine Sendeerlaubnis hat, wurde im Februar 2010 in Tunis von zwei Polizeibeamten in Zivil ange- griffen. Die Beamten versuchten Faten Hamdi 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen in ein Auto zu zerren und schlugen sie ins Ge- Türkei sicht, ehe ihr die Flucht gelang. Unter den ihres Amtes enthobenen Füh- Amtliche Bezeichnung: Republik Türkei 000835 rungspersönlichkeiten der tunesischen Rich- Staatsoberhaupt: Abdullah Gül tervereinigung (Association de Juges en Tuni- Regierungschef: Recep Tayyip Erdo˘gan sie) befanden sich auch mehrere Richterin- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft nen. Sie hatten sich für die Unabhängigkeit des Einwohner: 75,7 Mio. Gerichtswesens ausgesprochen und wurden Lebenserwartung: 72,2 Jahre dafür fortgesetzt schikaniert. Kindersterblichkeit (m/w): 36 / 27 pro 1000  Die Richterin Kalthoum Kennou wurde gegen Lebendgeburten ihren Willen von Kairouan nach Tozeur ver- Alphabetisierungsrate: 88,7% setzt, obwohl sie in ihre Heimatstadt Tunis hatte zurückkehren wollen. Vielen Richterinnen Die 2010 umgesetzten Änderungen der wurde ohne voherige Mitteilung das Gehalt ge- Verfassung und des Antiterrorgesetzes kürzt, und sie wurden bei Beförderungen waren ein Schritt hin zum Schutz der übergangen. Menschenrechte, der notwendige Im Oktober äußerte sich der UN-Ausschuss grundlegende Wandel wurde damit je- zur Beseitigung jeder Form von Diskriminie- doch nicht vollzogen. Nach wie vor fan- rung der Frau (CEDAW-Ausschuss) in einer Stel- den Strafverfahren statt, mit denen das lungnahme zu Frauenrechten in Tunesien be- Recht auf freie Meinungsäußerung ver- sorgt angesichts von Hinweisen, wonach Mit- letzt wurde. Vorschläge zur Einrichtung glieder von NGOs und Menschenrechtsvertei- unabhängiger Mechanismen zur Wah- digerinnen »willkürlich festgenommen und rung der Menschenrechte wurden nicht

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht schikaniert« würden. Kritisiert wurde auch, umgesetzt. Es trafen weiterhin Berichte

490 Türkei über Folter und andere Misshandlungen Obwohl die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) im ein. Ermittlungen und Strafverfahren Verlauf des Jahres wiederholt ihre Bereitschaft gegen Beamte mit Polizeibefugnissen in zur Einhaltung eines Waffenstillstands erklärte, solchen Fällen waren noch immer inef- kam es immer wieder zu Zusammenstößen fektiv. Auch im Berichtsjahr fanden auf mit den Streitkräften der Türkei. Im November der Grundlage der Antiterrorgesetze soll ein Gespräch zwischen Regierungsvertre- zahlreiche unfaire Gerichtsverfahren tern und dem inhaftierten PKK-Anführer Abdul- statt. Bombenanschläge forderten To- lah Öcalan stattgefunden haben. desopfer unter der Zivilbevölkerung. Die Im Oktober 2010 begann in Diyarbakır der Rechte von Kriegsdienstverweigerern, Prozess gegen 152 Kommunalpolitiker und von Homosexuellen und anderen sexuel- engagierte Bürger wegen Mitgliedschaft im Ver- len Minderheiten sowie von Flüchtlin- band der kurdischen Gemeinschaften (Kür- gen und Asylsuchenden waren nach wie distan Topluluklar Birli˘gi), dem Verbindungen vor gesetzlich nicht abgesichert. Beim zur PKK nachgesagt werden. 104 der Ange- Schutz der Frauen vor Gewalt wurden mi- klagten hatten zuvor in Untersuchungshaft ge- nimale Fortschritte erzielt. sessen. Es wurde die Besorgnis geäußert, dass sich die gegen die Angeklagten vorge- Hintergrund brachten Beweise vor allem auf ihre Teil- Vorgeschlagene Verfassungsänderungen wur- nahme an Sitzungen und Demonstrationen und den 2010 im Mai vom Parlament und im Sep- auf von ihnen veröffentlichte Presseerklärun- tember von den Wählern per Referendum mit gen stützten. einer Zustimmungsrate von fast 60% ange- Der Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder nommen. Die Änderungen betrafen u. a. die der Organisation Ergenekon, eines ultra-natio- Zusammensetzung des Verfassungsgerichts nalistischen Netzwerks mit Verbindungen zu und der obersten unabhängigen Justizauf- staatlichen Einrichtungen, wurde im Jahr 2010 sichtsbehörde, des Hohen Rats der Richter fortgesetzt. Die Ermittlungen zur Klärung der und Staatsanwälte. Sie sahen Einschränkungen Verantwortung der Verdächtigten für Men- der Rechte der Militärgerichte (nunmehr kön- schenrechtsverletzungen kamen nur schlep- nen hohe Militärangehörige auch vor Gerichten pend voran. der zivilen Justiz angeklagt werden), die Ein- Das Kopftuchverbot für Studentinnen an tür- richtung der Stelle einer Ombudsperson und kischen Universitäten war nach wie vor in ein Maßnahmenbündel zur aktiven Bekämp- Kraft, allerdings wurde die Durchsetzung im fung der Diskriminierung vor. Berichtsjahr etwas gelockert. Im Mai befasste sich der UN-Menschen- rechtsrat im Rahmen seiner Universellen Re- gelmäßigen Überprüfung (UPR) mit der Frage, inwieweit die Türkei ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte nachgekom- men war. Die Regierung erklärte sich bereit, zahlreiche Empfehlungen des Abschlussbe- richts umzusetzen, wies jedoch dezidiert alle Forderungen nach verstärkter Anerkennung der Rechte von Minderheiten und nach Ände- rung bzw. Abschaffung derjenigen Artikel des Strafgesetzbuchs zurück, die das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden.

Türkei 491 Recht auf freie Meinungsäußerung scher Staatsbürger kurdischer Herkunft geäu- Über manche Themen, die zuvor noch mit ßert hatte. einem Tabu belegt waren, konnte offener ge-  Im November 2010 wurden im Zuge einer sprochen werden. Dennoch wurden nach ver- Polizeiaktion zahlreiche Mitglieder der parami- schiedenen Artikeln des Strafgesetzes Men- litärischen Untergrundorganisation Türkische schen dafür belangt, dass sie Kritik an den Rachebrigaden (Türk I˙ntikam Tugayı) festge- Streitkräften, an der Situation der Armenier nommen. Die Organisation hatte sich zu Dro- und Kurden in der Türkei sowie an laufenden hungen und Gewalttaten gegen Menschen- Strafverfahren geäußert hatten. Auch die Ge- rechtsverteidiger und andere engagierte Bürger setze zur Terrorbekämpfung, auf deren Grund- bekannt. lage Untersuchungshaft angeordnet wurde  Im September 2010 beschied der Europäi- und die hohe Gefängnisstrafen vorsahen, wur- sche Gerichtshof für Menschenrechte im Fall den herangezogen, um das Recht auf freie Hrant Dink, dass die türkischen Behörden Meinungsäußerung einzuschränken. Am häu- keine angemessenen Vorkehrungen zum figsten wurden politisch aktive Bürger, Journa- Schutz des bekannten Journalisten und Men- listen und Menschenrechtsverteidiger kurdi- schenrechtsverteidigers getroffen hatten. Sie scher Herkunft mit Strafverfahren überzogen. hatten weder auf Informationen reagiert, um Auch 2010 wurden erneut willkürliche Maßnah- seine Ermordung im Januar 2007 zu verhin- men wie die Sperrung von Internetseiten und dern, noch hatten sie nach der Tat für eine an- ein vorübergehendes Erscheinungsverbot für gemessene Untersuchung gesorgt. Insbeson- Zeitungen verhängt. Nach wie vor mussten dere monierte der Gerichtshof das Versäumnis Menschen, die ihre Meinung öffentlich äußer- der Behörden, die Rolle der Geheimdienste zu ten, mit der Androhung von Gewalt rechnen. untersuchen. Darüber hinaus befand er, dass  Im April 2010 wurde der Journalist Veysi Sa- die Türkei mit den Verfahren, die nach Artikel 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen rısözen für einen Artikel in der Zeitung Gün- 301 des Strafgesetzes gegen Hrant Dink geführt dem nach Paragraph 7 Abs. 2 des Antiterrorge- worden waren, sein Recht auf freie Meinungs- setzes (»Propaganda für eine illegale Organi- äußerung verletzt hatte. 000835 sation«) zu einer 15-monatigen Haftstrafe ver- urteilt. Ende 2010 waren sein Fall und drei wei- Folter und andere Misshandlungen tere, gleich gelagerte Verfahren noch vor dem Es wurden weiterhin Vorwürfe über Folter und Obersten Berufungsgericht anhängig. andere Misshandlungen nicht nur in Polizeige-  Journalisten der Tageszeitung Taraf mussten wahrsam und während des Transfers ins Ge- wegen ihrer Artikel auch im Berichtsjahr mit fängnis bekannt, auch außerhalb der Haftein- Drohungen und Einschüchterungen rechnen. richtungen kam es zu Übergriffen, beispiels- Im November 2010 genehmigte das Justizmi- weise gegen Demonstrierende. Im November nisterium die Eröffnung einer Untersuchung legte der UN-Ausschuss gegen Folter den türki- gegen Rasim Ozan Kütahyalı nach Artikel 301 schen Behörden eine Reihe von Empfehlun- des Strafgesetzes (»Herabwürdigung des Tür- gen vor, um den »zahlreichen, anhaltenden kentums«), weil er sich in einigen Beiträgen und übereinstimmenden Vorwürfen über Fol- kritisch zur Politik der türkischen Streitkräfte ter« zu begegnen, über die sich der Ausschuss geäußert hatte. Im gleichen Monat wurden auf bei der Prüfung des Berichts der Türkei sehr der Website der Volksverteidigungskräfte besorgt geäußert hatte. (HPG), dem bewaffneten Arm der PKK, Dro-  Im Januar 2010 starb Murat Konus¸, nachdem hungen gegen Orhan Miroglu ˘ veröffentlicht. Ge- ihn die Polizei in Istanbul unter dem Verdacht gen ihn lief zudem ein Verfahren nach Artikel des schweren Diebstahls in Gewahrsam ge- 216 des Strafgesetzbuchs (»Schüren von Feind- nommen hatte. Auf Videofilmen war zu sehen, schaft oder Hass in der Bevölkerung«), weil er wie er die Polizeiwache bei guter Gesundheit

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht sich 2009 in einem Artikel zur Situation türki- betrat und drei Stunden später hinausgetra-

492 Türkei gen wurde. Der offizielle Autopsiebericht be- ten wegen der vorsätzlichen Tötung des nige- nannte verschiedene Verletzungen und gab rianischen Asylsuchenden Festus Okey, der im als Todesursache Hirnblutung an. Im Mai wur- Jahr 2007 in Polizeigewahrsam ums Leben ge- den sieben Polizeibeamte der Herbeiführung kommen war, gab es keine Fortschritte. Nach seines Todes durch Folter angeklagt. Das Ver- fehlerhaften Ermittlungen geriet das Strafver- fahren war Ende des Jahres noch nicht abge- fahren aufgrund von Meinungsverschiedenhei- schlossen. ten über die Identität des Opfers ins Stocken.  Im Juni 2010 wurden in einem aufsehenerre- Im November wies der Vorsitzende Richter eine genden Urteil 19 Staatsbedienstete, darunter Eingabe von Mitgliedern des Solidaritätsnetzes Polizeibeamte und Angehörige des Gefängnis- Migration (Göçmen Dayanıs¸ma Anngı) ˘ zurück personals, wegen Mitwirkung an der Folterung und erstattete gegen sie Strafanzeige mit der und Tötung des politischen Aktivisten Engin Çe- Begründung, die Eingabe erfülle den Tatbe- ber verurteilt, der im Oktober 2008 in Istanbul stand der Verleumdung. in der Untersuchungshaft ums Leben gekom-  Im Juni 2010 entschied der Staatsanwalt, der men war. Drei Angehörige des Wachpersonals zu ermitteln hatte, unter welchen Umständen und ein Gefängnisleiter erhielten eine lebens- Resul I˙lçin im Oktober 2009 in der südöstlichen lange Haftstrafe. Die Ermittlungen und der ProvinzSırnak ¸ ums Leben gekommen war, Prozess unterschieden sich in diesem Fall er- keine Anklage gegen staatliche Bedienstete zu heblich von anderen Verfahren zu Foltervor- erheben. Er gründete seine Entscheidung auf würfen gegen staatliche Bedienstete. Das den offiziellen Autopsiebericht, demzufolge Re- Oberste Berufungsgericht hatte die Urteile sul I˙lçins Tod auf eine Herzschwäche zurück- Ende des Berichtsjahrs noch nicht bestätigt. zuführen sei, obwohl in dem Bericht auch schwere Verletzungen am Kopf und anderen Straflosigkeit Körperteilen angeführt wurden. Im Juli wies das Ermittlungen zur Aufklärung von Menschen- örtliche Verwaltungsgericht eine Beschwerde rechtsverletzungen durch staatliche Bediens- gegen die Einstellung des Verfahrens ab. tete waren in der Regel fehlerhaft. Wurden Strafverfahren eingeleitet, waren sie fast im- Haftbedingungen mer von Verzögerungen begleitet und wenig ef- Auch 2010 gab es zahlreiche Vorwürfe über fektiv. Dass Beweismaterial in der Obhut der Misshandlungen an Untersuchungshäftlingen Behörden verloren ging und Menschen, die Fol- unmittelbar nach ihrer Überstellung ins Ge- tervorwürfe erhoben hatten, häufig mit Gegen- fängnis. Eine angemessene Gesundheitsver- klagen überzogen wurden, trug ebenfalls zu sorgung sowie das Recht auf Kontakt zu ande- einem anhaltenden Klima der Straflosigkeit ren Insassen wurde Häftlingen in willkürlicher bei. Die von der Regierung angekündigten un- Weise verweigert. abhängigen Mechanismen zur Wahrung der  Im Juli 2010 starb der an Leukämie erkrankte Menschenrechte wurden nicht eingerichtet. So Abdullah Akçay im Gefängnis; zuvor waren erfolgte z. B. bei der Erarbeitung des Gesetz- mehrere Gesuche abgelehnt worden, ihn aus entwurfs zur Schaffung einer nationalen Ein- gesundheitlichen Gründen zu verlegen. Die richtung für Menschenrechte (Türkiye I˙nsan Gesuche hatten sich auf medizinische Gutach- Hakları Kurumu), deren Aufgabe im Schutz ten gegründet, denen zufolge im Gefängnis der Menschenrechte und in der Vorbeugung keine wirksame Behandlung seiner Krankheit von Übergriffen bestehen soll, keine angemes- möglich war. sene Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Auch  Im Juli 2010 veröffentlichte der Europäische fehlten in dem Gesetzentwurf Bestimmungen Ausschuss zur Verhütung von Folter und un- zur Wahrung der Unabhängigkeit dieser Insti- menschlicher oder erniedrigender Behandlung tution. oder Strafe (CPT) einen Bericht über seinen  Im Strafverfahren gegen einen Polizeibeam- Besuch vom Januar bei PKK-Anführer Abdullah

Türkei 493 Öcalan im Hochsicherheitsgefängnis auf der  Im Juli 2010 wurden vier politische Aktivisten Insel I˙mralı. Zu einigen Aspekten seiner Haftbe- auf dem Weg zum Tatort eines Anschlags auf dingungen stellte der Ausschuss Verbesserun- eine Erdöl-Pipeline getötet, als das Fahrzeug, gen fest. Insbesondere wurde die Verlegung mit dem sie unterwegs waren, auf eine Mine von fünf weiteren Gefangenen auf die Insel I˙m- fuhr. Eine Erklärung der PKK deutete darauf ralı begrüßt, wodurch seine zehnjährige Isolati- hin, dass Mitglieder der Organisation die Mine onshaft beendet wurde. Ein Bericht des Aus- gelegt hatten. schusses über den Besuch weiterer Haftein-  Im September 2010 starben neun Menschen, richtungen im Jahr 2009 war noch nicht veröf- als ein Minibus auf einer gesperrten Straße fentlicht worden, weil die Regierung ihre Zu- zum Dorf Geçitli/Peyanis in der südöstlichen stimmung hierfür noch nicht erteilt hatte. Provinz Hakkari über eine Mine fuhr. Keine Gruppe bekannte sich zu dem Anschlag. Au- Unfaire Gerichtsverfahren genzeugen berichteten, am Tatort seien zwei Auch 2010 fanden auf der Grundlage der Anti- Militärtaschen und Munition sichergestellt wor- terrorgesetze unfaire Gerichtsverfahren statt. den. In diesen Fällen ordneten die Justizbehörden nach wie vor übermäßig lang andauernde Un- Arbeitnehmerrechte tersuchungshaft an, ohne Alternativen in Be- Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des tracht zu ziehen. Den Verteidigern standen Landes wurde langjährigen Forderungen der keine wirksamen Mittel zur Verfügung, um die Gewerkschaften entsprochen, den zentralen Rechtmäßigkeit einer solchen Inhaftierung an- Taksim-Platz in Istanbul für die Kundgebun- zufechten. gen am 1. Mai freizugeben. Im Gegensatz zu Im Juli wurde mit wichtigen Gesetzesände- den vergangenen Jahren verliefen die De- rungen der Strafverfolgung von Kindern nach monstrationen friedlich. Mit Verfassungsände- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen den Antiterrorgesetzen wegen der bloßen Teil- rungen wurde das Recht auf Aushandlung von nahme an Demonstrationen ein Ende bereitet. Tarifverträgen für Angestellte im öffentlichen Erwachsene konnten hingegen weiter nach die- Sektor gewährt; das Streikverbot für Beschäf- 000835 sen unfairen Bestimmungen angeklagt wer- tigte des öffentlichen Dienstes blieb jedoch den; auch gab es keine Änderungen an den va- bestehen. Damit verstieß die Türkei gegen gen und sehr breit gefassten Definitionen ter- Konventionen der Internationalen Arbeitsorga- roristischer Straftaten. nisation (ILO), zu deren Vertragsstaaten sie ge-  Im August 2010 wurde Erdogan ˘ Akhanlı auf hört. der Grundlage der Antiterrorgesetze in Unter- suchungshaft genommen. Die Anklage stützte Kinderrechte sich vor allem auf die später zurückgezogene Nach der Änderung verschiedener gesetzlicher Aussage eines Zeugen, der erklärte, seine An- Bestimmungen (siehe oben Unfaire Gerichts- gaben seien unter Folter erzwungen worden. verfahren) wurden die meisten Kinder und Ju- Das Gericht gab den Ersuchen von Akhanlıs gendlichen freigelassen, gegen die allein we- Anwälten auf Freilassung wegen der Schwere gen der Teilnahme an Demonstrationen Straf- der vorliegenden Beweise nicht statt. Im De- verfolgungsmaßnahmen ergriffen worden wa- zember wurde er aus der Untersuchungshaft ren. Einige Mängel des Jugendstrafrechts, wie entlassen. Das Verfahren war am Ende des Jah- z. B. das Fehlen gesonderter Jugendgerichte res noch nicht abgeschlossen. in manchen Provinzen, bestanden jedoch wei- ter. Auch wurden weder Schritte zur Untersu- Menschenrechtsverstöße bewaffneter chung der weit verbreiteten Misshandlungsvor- Gruppen würfe noch zur Rehabilitierung von Kindern Auch im Berichtsjahr wurden Zivilisten durch unternommen, die unverhältnismäßig lange in

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Bombenanschläge getötet oder verletzt. Haft gehalten worden waren.

494 Türkei Gewaltlose politische Gefangene – gen des Asylgesetzes konsultiert; entspre- Kriegsdienstverweigerer chende Gesetzentwürfe waren bis Ende des Das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes Jahres jedoch nicht veröffentlicht worden. aus Gewissensgründen war im türkischen Recht noch immer nicht vorgesehen. Zahlrei- Rechte von Lesben, Schwulen, che Kriegsdienstverweigerer wurden mehr- Bisexuellen und Transgender-Personen mals strafrechtlich belangt, weil sie sich immer Bei den Verfassungsänderungen zum Schutz wieder weigerten, den Militärdienst anzutre- vor Diskriminierung wurden die Aspekte sexu- ten. Auch wer ihr Anliegen in der Öffentlichkeit elle Orientierung und Geschlechtsidentität nicht unterstützte, musste mit strafrechtlichen Kon- berücksichtigt. Die Diskriminierung sexueller sequenzen rechnen. Minderheiten wurde 2010 de jure und de facto  Im Juni 2010 wurde der Kriegsdienstverwei- fortgesetzt. gerer Enver Aydemir nach sechs Monaten Mi-  Im März erklärte die Ministerin für Frauen- litärhaft freigelassen. Wegen seiner Verweige- und Familienangelegenheiten, dass Homose- rung des Militärdienstes waren am Ende des xualität eine behandlungsbedürftige Krankheit Berichtsjahrs noch mehrere Verfahren vor dem darstelle. Die Regierung distanzierte sich nicht Obersten Militärberufungsgericht anhängig. von dieser Äußerung, und es gab auch keine of- Im selben Monat wurden Halil Savda und drei fizielle Entschuldigung. weitere Menschenrechtsverteidiger, die an  Im April gewann die Organisation »Schwarz- einer Demonstration zur Unterstützung von En- Rosa Dreieck« (Türk aile yapısına ve ahlaka ver Aydemir teilgenommen hatten, nach Para- aykırı), die sich für die Rechte sexueller Min- graph 318 des Strafgesetzes wegen »Entfrem- derheiten einsetzt, einen Prozess, mit dem der dung der Bevölkerung vom Militärdienst« ver- Gouverneur von Izmir die Organisation mit der urteilt. Dieser Fall war ebenfalls noch vor dem Begründung hatte verbieten lassen wollen, Obersten Militärberufungsgericht anhängig. dass das Statut der Organisation »die morali- Auch über eine Klage von Enver Aydemir wegen schen Werte der Türkei und die Familienstruk- Misshandlung in der Militärhaft war am Ende turen« verletze. des Jahres noch nicht entschieden worden.  Im Mai erhoben fünf Transgender-Frauen,  Im August wurde I˙nan Süver wegen Verwei- alle Mitglieder der NGO Pembe Hayat, die sich gerung des Militärdienstes festgenommen. Im für die Rechte sexueller Minderheiten enga- Dezember hatte er seine Haftzeit verbüßt, giert, Klage gegen Polizeibeamte, die in An- durfte aber wegen früherer Verurteilungen das kara ihr Auto angehalten und sie schikaniert Gefängnis nicht verlassen. Ende 2010 war das hatten. Die Polizeibeamten erhoben Gegen- gegen ihn eingeleitete Verfahren wegen »Ur- klage mit der Begründung, die vier hätten sich laubsüberschreitung« noch nicht abgeschlos- der Festnahme widersetzt. Gegen die Trans- sen. gender-Frauen wurde ein Strafverfahren einge- leitet, aber in der ersten mündlichen Anhö- Flüchtlinge und Asylsuchende rung erfolgten Freisprüche. Gegen die Polizis- Auch 2010 wurde Personen der Zugang zum ten wurde kein Verfahren eröffnet. Asylverfahren willkürlich verweigert, was zu Zwangsrückführungen in Länder führte, in de- Gewalt gegen Frauen und Mädchen nen die Betroffenen vor Verfolgung nicht si- Der Nationale Aktionsplan 2007 – 2010 der tür- cher waren. Die Bestimmungen zur Inhaftie- kischen Regierung zur Bekämpfung familiärer rung von Migranten, die der Europäische Ge- Gewalt brachte keine nennenswerten Erfolge. richtshof für Menschenrechte im Jahr 2009 für Das lag u. a. an mangelnder Koordinierung, unrechtmäßig befunden hatte, galten auch im unzureichenden Mitteln und dem Fehlen mess- Berichtsjahr weiter. Zivilgesellschaftliche Orga- barer Ziele. Die Anzahl der Unterkünfte für die nisationen wurden zu drei neuen Bestimmun- Opfer häuslicher Gewalt blieb auch 2010 weit

Türkei 495 unter den gesetzlichen Vorgaben. Offiziellen eingeschränkt. Zahlreiche nach unfai- Angaben zufolge existierten im Berichtsjahr ren Gerichtsverfahren zu Freiheitsstrafen landesweit insgesamt 57 solcher Einrichtun- verurteilte Personen blieben in Haft, gen, acht mehr als im Vorjahr. Im Juli legte der viele von ihnen ohne Kontakt zur Außen- UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form welt. Mindestens acht Militärdienstver- von Diskriminierung der Frau (CEDAW-Aus- weigerer verbüßten Gefängnisstrafen. schuss) eine Reihe von Empfehlungen vor, da- runter den Vorschlag, ein umfassendes Gesetz Unterdrückung abweichender zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen zu Meinungen erlassen. Die Behörden ließen abweichende Meinungen auch 2010 nicht zu. Journalisten mit Kontak- Amnesty International: Missionen und Berichte ten zu Vertretern ausländischer Medien, in de-  Delegierte von Amnesty International besuchten im Januar, nen Kritik an der Regierung geübt wurde, wa- Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, September, Oktober und ren Schikanen und Einschüchterungen ausge- Dezember die Türkei, u. a. zur Beobachtung von Gerichtsver- setzt. Unabhängige Bürgerrechtler konnten fahren. sich in Turkmenistan nicht offen politisch betä-  Turkey: Activist group will not be closed for ›violating Turkish tigen. Befürchtungen um die Sicherheit An- moral values‹ (EUR 44/009/ 2010) dersdenkender nahmen weiter zu, nachdem  Turkey: Conscientious objection is a human right not a perso- nality disorder (EUR 44/013/ 2010) Präsident Gurbanguly Berdimuhammedow im  Turkey: All children have rights: End unfair prosecutions of September 2010 das Ministerium für Nationale children under anti-terrorism legislation in Turkey Sicherheit (MNS) aufgefordert hatte, gegen (EUR 44/011/ 2010) Personen vorzugehen, die laut der Website der  Turkey: Peaceful protesters convicted for ›alienating the pu- Regierung »unseren demokratischen säkula- blic from military service‹ in Turkey (EUR 44/016/2010) ren Rechtsstaat diffamieren sowie Einheit und 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen  Turkey: Attack on minibus condemned (EUR 44/021/2010) Solidarität unserer Gesellschaft zerstören wol-  Turkey: Briefing to the Committee against Torture len«. (EUR 44/023/ 2010)  Die mit der NGO Turkmenistan Helsinki 000835  Turkey: UN Committee calls on government to act against Foundation in Verbindung stehenden gewalt- torture and impunity (EUR 44/025/ 2010) losen politischen Gefangenen Annakurban Amanklychev und Sapardurdy Khadzhiev ver- büßten weiterhin Haftstrafen wegen »illegalen Erwerbs, Besitzes oder Verkaufs von Munition oder Schusswaffen«. Die Strafen waren 2006 Turkmenistan nach einem unfairen Verfahren gegen sie ver- hängt worden. Die UN-Arbeitsgruppe für will- Amtliche Bezeichnung: Turkmenistan kürliche Inhaftierungen prüfte den Fall und Staats- und Regierungschef: Gurbanguly kam im August zu Schluss, dass die beiden Berdimuhammedow Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 5,2 Mio. Lebenserwartung: 65,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 72 / 56 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99,5%

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Vereinigungs-, Religions- und

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Bewegungsfreiheit waren nach wie vor

496 Turkmenistan Männer willkürlich inhaftiert wurden, um sie die Beweise gegen ihn gefälscht waren. Dem für die Wahrnehmung ihrer Rechte auf freie Vernehmen nach ordnete das Gericht an, den Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit Geistlichen wegen Drogenabhängigkeit, die sowie ihre Menschenrechtsaktivitäten zu be- seine Anhänger bestritten, einer Zwangsbe- strafen. Die Arbeitsgruppe erklärte, dass man handlung zu unterziehen. den beiden Angeklagten kein faires Gerichts- Die Weigerung, den Militärdienst abzuleisten, verfahren gewährt hatte, und forderte die Be- wurde nach wie vor strafrechtlich geahndet. hörden auf, die Männer umgehend freizulassen Mindestens acht Zeugen Jehovas verbüßten und ihnen eine angemessene finanzielle Ent- wegen Wehrdienstverweigerung Haftstrafen, schädigung zu zahlen. während drei weitere auf Bewährung freika-  Im September 2010 sendete der Satelliten- men. Fernsehsender K+, der in Zentralasien emp-  Dovleet Byashimov wurde im August 2010 fangen wird, ein Interview mit Farid Tukhbatul- festgenommen und wegen seiner auf Gewis- lin, dem im Exil lebenden Direktor der Turkme- sensgründen beruhenden Weigerung, Militär- nischen Initiative für Menschenrechte (Turk- dienst zu leisten, vom Stadtgericht Türkmena- men Initiative for Human Rights – TIHR). Da- bat zu 18 Monaten Haft verurteilt. Nach seiner mit erhielten die Menschen in Turkmenistan die Festnahme soll er ohne Kontakt zur Außenwelt seltene Gelegenheit, von einer regierungsun- inhaftiert und brutal verprügelt worden sein. abhängigen Quelle über die Menschenrechtssi- tuation in ihrem Land informiert zu werden. »Verschwindenlassen« Später wurde die TIHR-Website durch einen Die Behörden hielten nach wie vor Informatio- Angriff anonymer Hacker lahmgelegt, bis die nen über den Verbleib zahlreicher Personen Organisation ihre Website von einem Moskauer zurück, die im Zusammenhang mit dem angeb- Server auf einen Server in einem anderen lichen Mordanschlag vom November 2002 auf Land verlegte. Im Oktober wurden Farid den früheren Präsidenten Saparmurad Nijasow Tukhbatullin glaubwürdige Informationen zu- festgenommen und verurteilt worden waren. gespielt, wonach Beamte des MNS darüber ge- Aufforderungen an die Behörden, Angaben sprochen hatten, ihn möglichst spurlos »heim- über die in Gewahrsam Verstorbenen zu ma- lich zu beseitigen«. chen, blieben unbeantwortet.

Religionsfreiheit und Recht auf Bewegungsfreiheit Wehrdienstverweigerung Personen, die abweichende Meinungen vertra- Religiöse Aktivitäten wurden streng kontrolliert. ten, sowie Anhänger bestimmter Glaubens- In einem Bericht an den UN-Menschenrechts- richtungen wurden auf Grundlage einer ausschuss erklärte Turkmenistan im Januar, »schwarzen Liste« in vielen Fällen daran ge- dass die »Tätigkeit nicht registrierter religiöser hindert, ins Ausland zu reisen. Organisationen verboten ist«. Vielen religiösen Von Juli 2010 an hinderten Staatsbedienstete Minderheiten blieb die Registrierung nach wie zahlreiche Personen mit doppelter Staatsbür- vor verwehrt, häufig ohne jede Begründung. gerschaft an der Ausreise aus Turkmenistan, Das Fehlen der Registrierung ließ diese Grup- wenn sie nicht einen ihrer zwei Pässe abgaben pierungen immer wieder zu Opfern von Razzien und – falls sie ihre turkmenische Staatsbürger- und anderen Schikanen vonseiten der Behör- schaft behalten wollten – ein Ausreisevisum den werden. beantragten. Der Versuch, Menschen ohne kor-  Im Oktober 2010 wurde der protestantische rektes juristisches Verfahren und ohne die Pastor Ilmurad Nurliev wegen »Betrugs« zu Möglichkeit, Rechtsmittel vor einem unabhän- vier Jahren Haft verurteilt. Seine Anhänger gigen Gericht einzulegen, die Staatsbürger- glauben, dass er wegen seiner religiösen Akti- schaft abzuerkennen, könnte eine Verletzung vitäten ins Visier der Behörden geraten ist und des Menschenrechts bedeuten, nicht willkür-

Turkmenistan 497 lich seiner Staatsbürgerschaft beraubt zu wer- zifische Gewalt war in Uganda weit ver- den. breitet und blieb ungestraft. Lesben, Propiska – das System, den ständigen Wohn- Schwule, Bisexuelle und Transgender- ort zu registrieren – schränkte nach wie vor Personen waren weiterhin Diskriminie- das Recht der Menschen auf Bewegungsfrei- rung und Gewalt ausgesetzt. heit innerhalb Turkmenistans ein und beein- trächtigte den Zugang zu Wohnraum, einem Ar- Hintergrund beitsplatz, Sozialleistungen, Gesundheitsfür- Im Oktober 2010 gab die Wahlkommission acht sorge und Bildung. Die Drohung, eine Propiska Kandidaten – darunter der amtierende Staats- abzuerkennen, wurde von Polizei und Sicher- präsident Yoweri Museveni – grünes Licht für heitsdiensten dazu benutzt, Menschen daran ihre Bewerbung um das Präsidentenamt bei zu hindern, sich über Misshandlungen durch den für Februar 2011 angesetzten Wahlen. die Polizei zu beschweren. Hartnäckige Zweifel an der Neutralität der Wahlkommission und Kritik an der mangelnden Amnesty International: Berichte Transparenz des Verfahrens zur Wählerregis-  Turkmenistan: Severe restrictions on freedom of movement trierung schürten Ängste vor Gewalt im Zusam- remain (EUR 61/002/ 2010) menhang mit den Wahlen.  Turkmenistan: Activist at serious risk of harm Ein Korruptionsprozess, in dem sich ein ehe- (EUR 61/003/ 2010) maliger Gesundheitsminister, seine beiden früheren Stellvertreter sowie eine Regierungs- beamtin wegen Unterschlagung und Amts- missbrauch verantworten mussten, wurde fort- gesetzt. Die Anklagepunkte standen im Zu- sammenhang mit der Verwaltung des Globalen 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Fonds für die Bekämpfung von HIV / AIDS, Tu- Uganda berkulose und Malaria. In einem Schreiben an die UN wies Uganda 000835 Amtliche Bezeichnung: Republik Uganda im September die Schlussfolgerungen eines Staats- und Regierungschef: UN-Berichts zurück, in dem die gravierendsten Yoweri Kaguta Museveni Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 33,8 Mio. Lebenserwartung: 54,1 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 129 / 116 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 74,6%

Beamte mit Polizeibefugnissen wurden für Menschenrechtsverletzungen, da- runter ungesetzliche Tötungen und Folte- rungen, nicht zur Rechenschaft gezo- gen. Gewalt und Menschenrechtsver- stöße, zu denen es im Vorfeld der für Anfang 2011 anberaumten Wahlen kam, gaben Anlass zur Sorge. Neue Gesetze und Gesetzentwürfe bedrohten die Rechte auf freie Meinungsäußerung und

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Versammlungsfreiheit. Geschlechtsspe-

498 Uganda Menschenrechtsverletzungen und Verstöße fentliche Versammlungen und Medienauftritte gegen das humanitäre Völkerrecht aufgeführt von ihnen behinderten oder im Vorfeld absag- waren, die reguläre Streitkräfte und bewaff- ten, vor allem wenn es sich um Radiotalkshows nete Gruppen von März 1993 bis Juni 2003 in handelte. Der Oppositionsführer Olara Otunnu der Demokratischen Republik Kongo (DR musste sich vor einem Strafgericht wegen Kongo) begangen hatten. In diesem Zusam- »Sektierertums« verantworten, weil er in Dis- menhang war auch die ugandische Armee kussionen den Standpunkt vertreten hatte, ausdrücklich genannt worden. Die Regierung dass die Regierung möglicherweise eine Mit- machte keine Anstalten, Vorwürfe über die von schuld an den Menschenrechtsverstößen den Streitkräften begangenen Menschen- treffe, die während des Krieges in Norduganda rechtsverletzungen und Verbrechen zu unter- begangen worden waren. suchen. Die Regierung legte den Entwurf eines Geset- zes über die Aufrechterhaltung der öffentli- Menschenrechtsverstöße chen Ordnung vor. Würde der Entwurf Rechts- während des Wahlkampfs kraft erlangen, hätte er erhebliche Einschrän- Während des gesamten Jahres wurden zahlrei- kungen der Rechte auf die Abhaltung friedli- che Fälle von Gewalt und Menschenrechtsver- cher Versammlungen und auf freie Meinungs- stößen verzeichnet, die im Zusammenhang mit äußerung zur Folge. Der Entwurf war Ende 2010 den anberaumten Wahlen standen. Diese Vor- noch nicht im Parlament eingebracht worden. fälle wurden nicht untersucht und die mutmaß- lichen Täter nicht vor Gericht gebracht. Ungesetzliche Tötungen, Folter  Im Januar 2010 nahm die Polizei 35 Frauen und andere Misshandlungen fest, die dem parteiübergreifenden Oppositi- In der im Nordosten des Landes gelegenen Re- onsbündnis Inter-Party Cooperation angehör- gion Karamoja wurden Berichten zufolge im ten. Die Frauen hatten eine Protestaktion ge- Jahresverlauf zahlreiche Menschen unter um- gen die Wahlkommission veranstaltet und ihr strittenen Umständen von Soldaten getötet, Parteilichkeit vorgeworfen. Sie erklärten spä- die bei Sicherheits- und Entwaffnungsoperatio- ter, dass sie von der Polizei misshandelt worden nen eingesetzt waren. Gegen Angehörige der seien. U.a. hätten sie sich entkleiden und die Streitkräfte wurde zudem der Vorwurf erhoben, Nacht zusammen mit Männern in den Haftzel- bei diesen Einsätzen Folterungen und andere len der Polizei verbringen müssen. Überdies Misshandlungen begangen zu haben. Die Re- sei die Polizei mit exzessiver Gewalt gegen sie gierung führte keine glaubwürdigen Untersu- vorgegangen. Die Frauen wurden anschlie- chungen der mutmaßlichen Menschenrechts- ßend wegen Abhaltung einer nicht genehmig- verletzungen durch. Ebenso wenig wurden die ten Versammlung angeklagt. dafür Verantwortlichen vor Gericht gebracht.  Im Juni 2010 sprengten die Polizei und eine Die ugandische Menschenrechtskommission mit Stöcken bewaffnete Gruppe von Männern, berichtete im Oktober, dass Folterungen und die in Kampala als die »Kiboko-Truppe« be- Misshandlungen durch Polizisten, andere Be- kannt war, eine Versammlung des Oppositi- amte mit Polizeibefugnissen und durch Ange- onsführers Kizza Besigye. Funktionäre und An- hörige der Streitkräfte nach wie vor weit verbrei- hänger der Partei Besigyes – aber auch er tet waren. selbst – wurden geschlagen. Die Regierung ver- Viele Verdächtige, die im Zusammenhang mit sprach zwar, den Vorfall zu untersuchen, In- den Bombenanschlägen vom Juli in Kampala formationen über den Stand einer solchen Un- (siehe unten) festgenommen worden waren, tersuchung gab es bis Ende 2010 jedoch gaben an, von Polizisten gefoltert und miss- nicht. handelt worden zu sein. Prominente Oppositionsführer mussten erle- ben, dass Polizei und Regierungsvertreter öf-

Uganda 499 Gewalt gegen Frauen und Mädchen LRA) gelitten. In der Zentralafrikanischen Repu- Nach der Aussprache über den Länderbericht blik, der Demokratischen Republik Kongo und aus Uganda kam der UN-Ausschuss zur Be- dem Sudan waren LRA-Angehörige nach wie seitigung jeder Form von Diskriminierung der vor für Menschenrechtsverstöße verantwort- Frau (CEDAW-Ausschuss) zu dem Schluss, lich, darunter ungesetzliche Tötungen und Ent- dass Vergewaltigungen und andere Formen se- führungen. xueller Gewalt nach wie vor weit verbreitet wa- ren. Der Ausschuss stellte ein hohes Ausmaß Internationale Rechtsprechung an sexueller Gewalt gegen Frauen und Mäd- Im Juni trat das Gesetz über Verbrechen im chen fest. Frauen, die Opfer von Vergewaltigun- Sinne des Völkerrechts von 2010 in Kraft, mit gen und anderen Formen von sexueller und dem das Römische Statut des Internationalen geschlechtsspezifischer Gewalt geworden wa- Strafgerichtshofs (International Criminal Court ren, sahen sich nach wie vor wirtschaftlichen – ICC) in ugandisches Recht übernommen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten gegen- wurde. über, wenn sie rechtliche Schritte einleiten Die Haftbefehle, die der ICC im Jahr 2005 ge- wollten. Dazu zählten Diskriminierung durch gen den LRA-Anführer Joseph Kony und drei Regierungsvertreter sowie die Kosten für straf- weitere LRA-Befehlshaber ausgestellt hatte, rechtliche Verfahren. blieben in Kraft. Die Männer waren jedoch Im April stimmte der Präsident dem Gesetz weiterhin flüchtig. gegen häusliche Gewalt zu. Durch das Gesetz wurde familiäre Gewalt unter Strafe gestellt. Bombenanschläge Dessen ungeachtet blieben derartige Formen Bei Bombenanschlägen von unbekannten Tä- der Gewalt an der Tagesordnung. Die für Über- tern wurden in Kampala im Juli 2010 mindes- griffe Verantwortlichen kamen meist straffrei tens 76 Menschen getötet und Hunderte ver- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen davon. letzt. Nach Ermittlungen wurde gegen 17 Män- Im Juli 2010 ratifizierte Uganda das Protokoll ner Anklage wegen Terrorismus und Mordes er- der Afrikanischen Charta über die Rechte der hoben. Bei den Männern handelte es sich ne- 000835 Frau in Afrika. ben anderen um ugandische, kenianische und somalische Staatsangehörige (siehe Länder- Prozess gegen Kizza Besigye bericht Somalia). Der Prozess gegen sie begann Im Oktober 2010 entschied das Verfassungsge- im November und war Ende 2010 noch nicht richt, dass die Anklage gegen Kizza Besigye abgeschlossen. und andere wegen Hochverrats und Mordes Unter Missachtung der in beiden Staaten be- verfassungswidrig sei. Das Gericht begründete stehenden rechtlichen Verfahren wurden bis seine Entscheidung vor allem damit, dass der zu zwölf straftatverdächtige Personen von Kenia Staat das Recht auf einen fairen Prozess miss- nach Uganda überstellt (siehe Länderbericht achtet habe. Das Gericht bezog sich auf einen Kenia). Vorfall im Jahr 2007, als Angehörige der Si-  Im September 2010 wurde Al-Amin Kimathi, cherheitsdienste die Angeklagten im Gebäude Direktor der kenianischen NGO Muslimisches des High Court erneut festnahmen, obwohl sie Forum für Menschenrechte (Muslim Human durch einen Gerichtsbeschluss gegen Kaution Rights Forum), zusammen mit dem keniani- auf freien Fuß gesetzt worden waren. schen Rechtsanwalt Mbugua Mureithi in Uganda festgenommen. Die beiden Männer Bewaffneter Konflikt waren von Kenia nach Uganda gereist, um das Die Lage in Norduganda war 2010 relativ ruhig. Gerichtsverfahren gegen sechs Kenianer zu Der Landesteil hatte lange unter dem Konflikt beobachten, die im Zusammenhang mit den zwischen der Regierung und der Widerstands- Bombenanschlägen in Kampala des Terroris-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht armee des Herrn (Lord’s Resistance Army – mus angeklagt waren. Mbugua Mureithi wurde

500 Uganda drei Tage ohne Kontakt zur Außenwelt inhaf- zwei Flüchtlingslagern in Uganda gegen ihren tiert und anschließend nach Kenia abgescho- Willen repatriiert. Als einige Asylsuchende zu ben. Al-Amin Kimathi befand sich sechs Tage fliehen versuchten, feuerten Polizeibeamte ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft und wurde Schüsse in die Luft ab. Dadurch lösten sie eine im Zusammenhang mit den Bombenanschlä- Panik aus, bei der es Berichten zufolge Ver- gen vom Juli in Kampala des Terrorismus und letzte gab und Kinder von ihren Eltern getrennt des Mordes angeklagt. Die Behörden Ugan- wurden. Die meisten betroffenen Flüchtlinge das gaben keine Einzelheiten über die gegen kritisierten, dass sie keine Chance auf eine faire ihn erhobenen Vorwürfe bekannt. Offenbar und zufriedenstellende Bearbeitung ihrer An- war er einzig und allein deshalb festgenommen träge auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus und angeklagt worden, weil er seiner legitimen erhalten hätten. Mindestens ein Mann starb, Arbeit nachging. Ende 2010 befand er sich wei- nachdem er von einem Lkw gesprungen war. terhin in Haft. Mehr als 20 Menschen wurden im Zuge der Operation verletzt. Recht auf freie Meinungsäußerung Es gingen Meldungen ein, denen zufolge Im September trat das Kommunikationsüber- Flüchtlinge, die in Lagern oder in den Städten wachungsgesetz von 2010 in Kraft. Das Gesetz lebten, willkürlich festgenommen, unrechtmä- räumt der Regierung einen großen Handlungs- ßig inhaftiert sowie gefoltert oder misshandelt spielraum bei der Überwachung sämtlicher wurden. Die für solche Übergriffe Verantwortli- Kommunikationsformen ein. Es enthält keine chen – in der Regel Polizisten oder andere Be- geeigneten Schutzbestimmungen und gefähr- amte mit Polizeibefugnissen – kamen meist det das Recht auf freie Meinungsäußerung. straffrei davon. Die Regierung legte einen Entwurf für die No- Die Behörden drohten mit der Abschiebung vellierung des Presse- und Journalistengeset- von mindestens drei somalischen Asylsuchen- zes vor. Sollte der Entwurf Gesetz werden, den nach Süd- und Zentralsomalia, obwohl ihre würde dadurch das Recht auf freie Meinungs- Sicherheit dort gefährdet war. äußerung erheblich eingeschränkt, weil die Be- hörden dann die Genehmigung von Medienli- Diskriminierung von Homosexuellen, zenzen mit vagen Begründungen wie der »Ge- Bisexuellen und Transgender-Personen fährdung der nationalen Sicherheit« ablehnen Ein gegen Homosexualität gerichteter Gesetz- könnten. Der Entwurf war Ende 2010 noch nicht entwurf aus dem Jahr 2009, der im Fall seiner ins Parlament eingebracht worden. Verabschiedung eine noch stärkere Kriminali- Zahlreiche Journalisten waren vor Strafgerich- sierung von Homo- und Bisexuellen sowie ten angeklagt, weil ihre Beiträge und das von Transgender-Personen zur Folge haben würde, ihnen verwendete Material kritische Äußerun- stand weiterhin im Parlament zur Beratung an. gen über Politik und Handeln der Regierung Die ugandische Zeitschrift The Rolling Stone enthielten. veröffentlichte in ihren Ausgaben vom Oktober Im September erklärte das Verfassungsge- und November Artikel als Aufmacher, in denen richt den im Strafgesetzbuch aufgeführten Tat- Personen namentlich aufgeführt wurden, die bestand der Staatsgefährdung für verfassungs- nach Auffassung des Blattes homosexuell wa- widrig. Das Gericht stützte sich auf Artikel 29 ren. In einem Artikel waren die Worte »Hängt der Verfassung, der die Meinungsfreiheit garan- sie auf« zu lesen. Die Artikel enthielten Namen, tiert. Fotos und in einigen Fällen auch die Anschrif- ten und andere detaillierte Angaben über die Flüchtlinge und Asylsuchende Betroffenen. Zu den dort aufgeführten Perso- Im Juli 2010 wurden im Rahmen einer gemein- nen zählten engagierte Bürger und Menschen- samen Operation der Behörden von Ruanda rechtsverteidiger. Zahlreiche in der Zeitschrift und Uganda ungefähr 1700 Asylbewerber aus genannte Personen berichteten, dass sie von

Uganda 501 ihnen bekannten Personen drangsaliert und bedroht würden. Einige reichten im November Ukraine beim Oberen Gericht Zivilklage gegen die He- rausgeber ein, die sie damit begründeten, dass Amtliche Bezeichnung: Ukraine ihre Rechte auf Leben, Würde und auf den Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch (löste im Schutz ihrer Privatsphäre verletzt worden seien. Februar Wiktor Juschtschenko im Amt ab) Eine Entscheidung des Gerichts war Ende Regierungschef: Mykola Asarow (löste im März 2010 noch nicht ergangen. Die Behörden kriti- Juljia Tymoschenko im Amt ab) sierten weder die Veröffentlichung der Namen Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft noch ergriffen sie Maßnahmen, um die Men- Einwohner: 45,4 Mio. schen zu schützen, die durch die Artikel von Lebenserwartung: 68,6 Jahre Gewalt bedroht waren. Kindersterblichkeit (m/w): 18 / 13 pro 1000 Menschen, die zu einer sexuellen Minderheit Lebendgeburten gehören oder sich für die Rechte von Homose- Alphabetisierungsrate: 99,7% xuellen, Bisexuellen und Transgender-Perso- nen einsetzen, wurden nach wie vor von der Es gab 2010 Meldungen über Folter und Polizei und anderen Sicherheitskräften willkür- andere Misshandlungen in Gefängnis- lich festgenommen, ohne Rechtsgrundlage in- sen und in Polizeigewahrsam. Häftlinge haftiert sowie gefoltert oder auf andere Weise und Tatverdächtige erhielten keine aus- misshandelt. reichende medizinische Versorgung. Menschenrechtsverteidiger wurden an- Todesstrafe gegriffen und von Beamten mit Polizei- Gerichte der zivilen und der Militärjustiz ver- befugnissen drangsaliert. Flüchtlinge hängten nach wie vor Todesurteile. Es fanden und Asylsuchende waren von Zwangs- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen jedoch 2010 keine Hinrichtungen statt. rückführungen und anderen Menschen- rechtsverletzungen bedroht. Die Polizei Amnesty International: Missionen und Berichte diskriminierte ethnische Minderheiten. 000835  Delegierte von Amnesty International hielten sich im April, Friedliche Demonstrierende wurden Op- Juni, August, September, November und Dezember in fer von Festnahmen und Gewalt. Uganda auf. Sie führten dort Recherchen und andere Aktivi- täten durch. Im November besuchte eine hochrangige Dele- Folter und andere Misshandlungen gation unter der Leitung von Generalsekretär Salil Shetty das Im Berichtsjahr gab es erneut Meldungen über Land. Folter und andere Misshandlungen in Polizei-  »I can’t afford justice«: Violence against women in Uganda continues unchecked and unpunished (AFR 59/001/ 2010) gewahrsam. Im März wurde die Abteilung für  Proposed Ugandan media law threatens the right to freedom of expression (AFR 59/006/ 2010)  Uganda: Proposed law on the regulation of public meetings by the police threatens human rights (AFR 59/008/2010)  Uganda: Failure to investigate alleged human rights viola- tions in Karamoja region guarantees impunity (AFR 59/013/2010)  Uganda: Amnesty International Memorandum on the Regula- tion of Interception of Communications Act, 2010 (AFR 59/016/2010)  Uganda forcibly returns 1700 Rwandan asylum-seekers, 6 July 2010  Deadly Uganda blasts condemned, 2 July 2010 S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

502 Ukraine Menschenrechte des Innenministeriums, die haus, weil man ihm zuvor die notwendige me- für die Überwachung der Polizeihaft zuständig dizinische Versorgung verweigert hatte. Tamaz war, geschlossen und durch eine kleinere Ab- Kardava, ein georgischer Staatsangehöriger, teilung ohne Kontrollauftrag ersetzt. der vor dem Konflikt in Abchasien geflüchtet Am 1. Juli 2010 kam der Europäische Ge- war, litt bereits an Hepatitis C, als er im August richtshof für Menschenrechte zu dem Urteil, 2008 in der Ukraine festgenommen wurde. Be- dass einige Häftlinge Opfer von Folter und an- richten zufolge wurde er auf der Polizeiwache deren Misshandlungen geworden seien. Die des Kiewer Bezirks Shevchenkovskiy gefoltert, Häftlinge waren im Gefängnis Zamkova in der um ihn zu dem »Geständnis« zu zwingen, Region Khmelnitskiy bei zwei Vorfällen in den einen Einbruchdiebstahl begangen zu haben. Jahren 2001 und 2002 geschlagen worden. Die Medizinische Gutachten bestätigten, dass er Schläge wurden während einer Fortbildung für brutal geschlagen und mit einem Polizeiknüp- die schnelle Eingreiftruppe erteilt, eine Spezial- pel vergewaltigt worden war. In den letzten bei- einheit von Gefängniswärtern, die bei Unru- den Monaten seiner Untersuchungshaft hatte hen in Haftanstalten zum Einsatz kommt. man ihm jegliche medizinische Behandlung  Am 1. Juli 2010 wurden Häftlinge im Unter- für seine Krankheit verweigert, und sein Ge- suchungsgefängnis Nr. 1 von Winnyzja dem sundheitszustand hatte sich dramatisch ver- Vernehmen nach von Angehörigen der schnel- schlechtert. Am 30. März lag er sechs Stunden len Eingreiftruppe misshandelt, weil sie gegen lang auf einer Bahre auf dem Boden eines Ge- die Misshandlung einer Gruppe von Gefange- richtssaals im Gericht von Shevchenkovskiy in nen am Vortag protestiert hatten. Angehörige Kiew. Der Antrag seines Anwalts, ihn sofort ins der Häftlinge erstatteten über die Vorfälle an Krankenhaus bringen zu lassen, wurde vom diesen beiden Tagen Bericht. Demnach sollte Richter zurückgewiesen. am 30. Juni eine Gruppe von 15 Gefangenen vor Gericht erscheinen. Die Polizeibeamten, Menschenrechtsverteidiger die sie dorthin brachten, wiesen einen der Häft- Die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern linge an, sich nackt auszuziehen. Als dieser und NGOs wurde durch Gerichtsentscheidun- sich weigerte, seine Unterhose auszuziehen, gen und tätliche Übergriffe behindert. Mindes- wurde er geschlagen und mit Handschellen tens drei Menschenrechtsverteidiger waren an die Wand gefesselt. Andere Gefangene wur- wegen ihres rechtmäßigen Engagements für die den ebenfalls geschlagen. Als der Polizeikon- Menschenrechte Angriffen ausgesetzt. voi am nächsten Tag eintraf, um die Gefange-  Im Mai 2010 wurde Andrei Fedosov, der Vor- nen zum Gericht zu bringen, weigerten sich sitzende der Organisation Uzer, die sich für die diese, ihre Zellen zu verlassen, aus Protest ge- Rechte geistig behinderter Menschen einsetzt, gen die Ereignisse am Vortag. Die Gefängnis- von unbekannten Männern angegriffen. Er aufsicht rief daraufhin die schnelle Eingreif- war zuvor bereits telefonisch bedroht worden. truppe zu Hilfe, die wahllos auf Gefangene ein- Die Polizei weigerte sich jedoch, seine Anzeige geschlagen haben soll. aufzunehmen und wurde nicht tätig. Im Juli wurde er im Zusammenhang mit einer Straf- Tod in Gewahrsam tat, die er zehn Jahre zuvor, im Alter von 15 Jah- Im Januar 2010 erklärte der stellvertretende Lei- ren begangen haben soll, einen Tag lang in ter der Strafvollzugsbehörde, dass die medizi- Haft genommen. Am 20. September wurde die nische Versorgung in den Gefängnissen unzu- Klage gegen ihn fallengelassen, da sich nach- reichend sei. Häftlingen war es nicht erlaubt, weisen ließ, dass er zum fraglichen Zeitpunkt in das Gefängnis zu verlassen, um sich außerhalb einer geschlossenen Kinderklinik war und so- der Haftanstalt medizinisch behandeln zu las- mit nicht als Täter in Frage kam. sen.  Am 29. Oktober 2010 ordnete ein Gericht in  Tamaz Kardava starb am 7. April im Kranken- Winnyzja an, dass sich der Gewerkschafter

Ukraine 503 Andrei Bondarenko einer psychiatrischen hanov, Utkir Akramov und Zikrillo Kholikov – in Zwangsuntersuchung zu unterziehen habe. Haft auf ihre Auslieferung nach Usbekistan. Ein Rechtsmittel gegen das Urteil wurde im No- Den vier Männern wurde dort u. a. Zugehörig- vember abgelehnt. Andrei Bondarenko hatte keit zu einer illegalen religiösen oder extremis- bisher nicht unter psychischen Erkrankungen tischen Organisation, Verbreitung von Materia- gelitten und bereits drei psychiatrische Unter- lien, die die öffentliche Sicherheit und Ord- suchungen absolviert, die letzte davon im Okto- nung gefährden, sowie versuchter Angriff auf ber, um seine Gesundheit nachzuweisen. Die die Verfassungsordnung zur Last gelegt. Sie Staatsanwaltschaft begründete eine erneute waren bei einer Rückkehr dem Risiko von Folter Untersuchung u. a. mit einem »übermäßigen und anderen Misshandlungen ausgesetzt. Im Bewusstsein für seine eigenen Rechte und die Juli forderte der Europäische Gerichtshof für Rechte anderer und seiner unkontrollierbaren Menschenrechte die Regierung offiziell auf, Bereitschaft, diese Rechte auf unrealistische die Asylsuchenden nicht nach Usbekistan ab- Weise zu verteidigen«. Andrei Bondarenko zuschieben, bis ihr Fall genau untersucht wor- hatte sich für die Rechte der Saisonarbeiter in den sei. Er zog diese Forderung jedoch nach den Zuckerrübenfabriken im Bezirk Winnyzja Zusagen zurück, dass die Männer erst dann eingesetzt und dabei Korruption in den Füh- abgeschoben würden, wenn alle Mittel des rungsetagen aufgedeckt. Asylverfahrens ausgeschöpft seien.

Flüchtlinge, Asylsuchende Rassismus und Migranten Die Polizei nahm weiterhin Menschen wegen Asylsuchende wurden in der Ukraine weiterhin ihrer Hautfarbe fest und inhaftierte sie. Opfer von willkürlichen Inhaftierungen, Ras-  Am 29. Januar 2010 forderten drei Polizeibe- sismus und Erpressung durch die Polizei. Sie amte in Zivil die beiden Somalier Ismail Abdi 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen liefen außerdem Gefahr, in Länder zurückge- Ahmed und Ibrahim Muhammad Abdi vor führt zu werden, in denen ihnen schwere Men- ihrem Wohngebäude auf, ihre Papiere zu zei- schenrechtsverletzungen drohten. Da es kein gen. Die Polizeibeamten sollen sich dann mit 000835 angemessenes Asylverfahren gab, genossen sie Gewalt Zugriff zu ihrer Wohnung verschafft, keinen ausreichenden Schutz. diese ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht Im Januar 2010 trat das Rückübernahmeab- und einen der Bewohner mit der Faust ge- kommen für Angehörige von Drittstaaten zwi- schlagen haben. Dann entnahmen sie der Ta- schen der EU und der Ukraine in Kraft. Nach sche einer Jeanshose, die Ibrahim Muham- diesem Abkommen können EU-Staaten Mig- mad Abdi gehörte, 250 US-Dollar. Während des ranten ohne regulären Aufenthaltsstatus in die gesamten Vorfalls wurden die Somalier von Ukraine zurückführen, sofern sie über die den Polizisten als »Piraten« bezeichnet. Am Ukraine in die EU eingereist sind. Der Interna- 13. Februar erschienen zwei der Polizeibeam- tionalen Organisation für Migration zufolge wur- ten erneut vor der Wohnung und forderten die den zwischen Januar und Juli 590 Personen im somalischen Bewohner auf, ihre öffentliche Rahmen des Rückübernahmeabkommens zu- Aussage zu der Durchsuchung zurückzuziehen rückgeführt. Es lagen Berichte vor, dass Mig- und sich dabei filmen zu lassen. Die Somalier ranten in der Abschiebehaft geschlagen oder weigerten sich jedoch, die Tür zu öffnen, und anderweitig misshandelt wurden. Zudem sollen die Beamten zogen nach einigen Stunden wie- sich unter den zurückgeführten Personen auch der ab. Asylsuchende befunden haben, obwohl das Rückübernahmeabkommen nur für »Personen Recht auf Versammlungsfreiheit mit rechtswidrigem Aufenthalt« gilt.  Im Mai und Juni 2010 wurden friedlich De-  Ende 2010 warteten vier Asylsuchende aus monstrierende, die gegen das illegale Fällen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Usbekistan – Umid Khamroev, Kosim Dadak- von Bäumen in der Stadt Charkiw protestierten,

504 Ukraine von Angehörigen der sogenannten Stadtwa- che (privaten Sicherheitskräften im Dienst der Ungarn Stadtverwaltung) geschlagen. Einigen wurde später die medizinische Versorgung verweigert, Amtliche Bezeichnung: Republik Ungarn so auch Liubov Melnik, die nach Schlägen der Staatsoberhaupt: Pál Schmitt »Stadtwächter« ins Krankenhaus gebracht wer- (löste im August László Sólyom im Amt ab) den musste. Dem Vernehmen nach hatten An- Regierungschef: Viktor Orbán gehörige der Stadtwache sie aufgefordert, sie (löste im Mai Gordon Bajnai im Amt ab) solle verschweigen, dass sie geschlagen wor- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft den sei, und als Grund für ihre Verletzungen Einwohner: 10 Mio. angeben, sie sei gestürzt. Als sie dies ab- Lebenserwartung: 73,9 Jahre lehnte, wurde sie vom Krankenhaus darüber in- Kindersterblichkeit (m/w): 9 / 8 pro 1000 formiert, dass man keine freien Betten habe Lebendgeburten und sie entlassen müsse. Anschließend weiger- Alphabetisierungsrate: 99% ten sich drei weitere Krankenhäuser in Char- kiw, sie zu behandeln. Am 2. Juni wurden De- Roma-Gemeinschaften waren 2010 monstrierende, die sich auf den Bäumen be- unvermindert gewalttätigen Angriffen fanden, verletzt, als Holzfäller damit begannen, und Diskriminierung ausgesetzt und die Bäume abzusägen. lebten in einem Klima der Angst. Die Nach Berichten von Demonstrierenden stan- Polizei schloss die Ermittlungen in Be- den Polizisten untätig daneben, als die »Stadt- zug auf eine Serie von Angriffen auf wächter« Protestierende und Journalisten ver- Roma in den Jahren 2008 und 2009 prügelten. Am 28. Mai wurden zwischen zehn ab, gegen vier Verdächtige wurde An- und zwölf Personen für etwa acht Stunden von klage erhoben. Internationale Organe zur der Polizei inhaftiert, bevor sie dem Haftrichter Überwachung der Menschenrechtssi- vorgeführt wurden. Andrei Yevarnitsky und De- tuation äußerten sich besorgt über nis Chernega wurden am 9. Juni wegen »bös- strukturelle Defizite der ungarischen williger Weigerung, einem Polizeibeamten Folge Strafjustiz im Umgang mit Hassverbre- zu leisten« zu 15 Tagen Haft verurteilt. Aus Vi- chen. Roma-Kinder wurden in der deomaterial zu den Ereignissen ging jedoch Grundschule in separaten Klassen unter- hervor, dass die beiden Demonstranten den richtet. Beamten friedlich gefolgt waren.

Amnesty International: Missionen und Bericht  Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im Januar, April und November.  »Put deeds before words«: Deliver human rights for Ukraine (EUR 50/ /004/2010)

Ungarn 505 Hintergrund Mann wurde Anklage wegen Beihilfe zu vor- Die Koalition aus dem Bund Junger Demokra- sätzlichem mehrfachem Mord erhoben. ten (Fidesz) und der Christlich-Demokrati- Im September äußerte sich der Beratungs- schen Volkspartei (KDNP) gewann die Parla- ausschuss des Europarats für das Rahmen- mentswahlen im April 2010 mit einer überzeu- übereinkommen zum Schutz nationaler Min- genden Mehrheit. Die rechtsextreme Partei Be- derheiten besorgt über gewalttätige Angriffe wegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) auf Roma. Nach Ansicht des Ausschusses konnte zum ersten Mal ins Parlament einzie- herrschte trotz der Festnahme der mutmaßli- hen. chen Täter nach wie vor ein »Klima der Angst«. Mitglieder der verbotenen Ungarischen Garde Besorgt zeigte sich das Gremium außerdem (Magyar Gárda) setzten Berichten zufolge ihre darüber, dass »Intoleranz und Vorurteile gegen- Aktivitäten unter anderem Namen fort, und über Roma durch Äußerungen gewisser Politi- zwar als Neue Ungarische Garde. Im Septem- ker der extremen Rechten angefacht werden«. ber erhob die Staatsanwaltschaft Anklage ge- Ungarischen NGOs zufolge wurden derartige gen drei ihrer Anführer wegen Aufwiegelung Äußerungen von der Regierung nur halbherzig gegen den Erlass einer Behörde und Miss- verurteilt. brauch des Rechts auf Versammlungsfreiheit. Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Oktober lehnten die öffentlich-rechtlichen Hörfunk- Rassismus und Fernsehsender es ab, einen parteipoliti- Nach einer Reihe gewalttätiger Angriffe auf Ro- schen Werbespot von Jobbik zu senden, in ma-Gemeinschaften, bei denen 2008 und dem von sogenannter Zigeunerkriminalität die 2009 sechs Menschen ums Leben gekommen Rede war und der einen Zusammenhang zwi- waren, meldeten ungarische NGOs erneut schen Kriminalität und ethnischer Zugehörig- Übergriffe gegen Roma. Sie kritisierten außer- keit herstellte. Der staatliche Wahlausschuss 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dem, dass es innerhalb des Strafjustizsystems entschied, beide Medien hätten den für eine an Verfahren mangele, um wirksam gegen Wahl unerlässlichen Grundsatz der Gleichbe- Hassverbrechen vorzugehen (siehe unten). Im rechtigung aller Parteien verletzt, und der Wer- 000835 Juni stellte die Organisation für Sicherheit und bespot habe im Einklang gestanden mit den Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fest, es Bestimmungen zur Meinungsfreiheit. Im Sep- drohe vermehrt die Gefahr, dass Roma zu tember bestätigte der Oberste Gerichtshof »Sündenböcken« abgestempelt und für die diese Entscheidung. sozioökonomischen Probleme des Landes ver- antwortlich gemacht würden, da viele von Justizwesen ihnen auf staatliche Unterstützung angewiesen Internationale und nationale NGOs sowie inter- seien. nationale Überwachungsorgane für Men-  Im Juni 2010 schloss die Polizei die Ermitt- schenrechte monierten 2010 strukturelle Defi- lungen in Bezug auf eine Serie gewalttätiger zite der ungarischen Strafjustiz im Umgang Angriffe auf Roma in den Jahren 2008 und mit Hassverbrechen. Zu diesen Defiziten zähl- 2009 ab. Sie kam zu dem Schluss, dass vier ten die mangelnde Kompetenz, Hassverbre- Verdächtige wegen mehrerer, aufeinander ab- chen zu erkennen und aufzuklären, das Fehlen gestimmter Morde unter Anklage gestellt wer- von Fortbildungen und Richtlinien zu Hassver- den sollten. Im September legte die Staatsan- brechen für Polizisten und Ermittler, die man- waltschaft des Komitats Pest die Anklage- gelnde Unterstützung für die Opfer dieser Ver- schrift vor. Drei Männer wurden wegen mehrfa- brechen und das Fehlen wirksamer Maßnah- chen Mordes aus »niedrigen Beweggründen« men, um den Charakter und das Ausmaß des angeklagt, da das Strafgesetzbuch für rassis- Problems festzustellen. Letzteres beruhte zum tisch motivierte Straftaten keinen eigenen Teil auf einer mangelhaften Datenlage, die es

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Straftatbestand vorsieht. Gegen den vierten den Behörden erschwerte, Entwicklungen zu

506 Ungarn erkennen und mit entsprechenden Maßnah- ren als Sanktionen u. a. Geldstrafen, Vertrei- men darauf zu reagieren. bungen und Inhaftierungen vorgesehen. Ihrer Es gab mehrere dokumentierte Fälle, die zeig- Ansicht nach bestand die Gefahr, dass der Ge- ten, dass die Strafverfolgungsbehörden rassis- setzentwurf eine Kriminalisierung von Armut tische Hintergründe von Straftaten oft nicht er- darstellen könne. kannten. In ihrem Bericht anlässlich der Uni- versellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) Recht auf freie Meinungsäußerung durch den UN-Menschenrechtsrat äußerten Trotz Protesten verabschiedete das Parlament sich ungarische NGOs im November auch be- im September und im Dezember 2010 zwei sorgt über die Tendenz, Straftaten als »ge- neue Mediengesetze. Die neue Gesetzgebung wöhnliche« Straftaten einzustufen und ein ras- stieß wegen ihrer möglichen Auswirkungen so- sistisches Motiv nicht als erschwerenden Tat- wohl bei ungarischen NGOs und Medien auf bestand zu werten. Infolgedessen waren in Un- Kritik als auch bei der internationalen Gemein- garn keine verlässlichen Statistiken über die schaft. Kritisiert wurden u. a. Beschränkungen tatsächliche Zahl rassistisch motivierter Strafta- in Bezug auf die Inhalte der Medien, das Feh- ten öffentlich zugänglich. Dem Vernehmen len eindeutiger Richtlinien für Journalisten und nach wurde Hass als erschwerender Tatbe- Herausgeber sowie die erheblichen Machtbe- stand auch bei Straftaten ignoriert, die sich ge- fugnisse eines neuen Kontrollorgans – alles gen sexuelle Minderheiten oder Menschen jüdi- Maßnahmen, die eine unfaire Beschneidung schen Glaubens richteten. des Rechts auf freie Meinungsäußerung be- fürchten ließen. Die neu gegründete Nationale Diskriminierung von Roma Medien- und Kommunikationsbehörde Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte (NMHH) kann hohe Geldstrafen gegen Rund- sich besorgt über die Diskriminierung von funk- und Fernsehsender verhängen, wenn Roma im Hinblick auf Bildung, Wohnraum, Ge- diese Inhalte verbreiten, die nach Auffassung sundheitsfürsorge und politische Teilhabe. Er der Behörde dem »öffentlichen Interesse«, der kritisierte auch, dass es keine Regelungen »allgemeinen Moral« und der »nationalen Si- gebe, um Datensammlungen nach ethnischer cherheit« entgegenstehen. Auch für »unausge- Zugehörigkeit aufzuschlüsseln. wogene« Berichterstattung können Geldstra-  Der Oberste Gerichtshof gewährte erstmals fen verhängt werden. Opfern der Ausgrenzung von Roma in den Schulen eine Entschädigung. Das Gericht ent- Rechte von Lesben, Schwulen, schied im Juni 2010, dass fünf Roma-Kinder Bisexuellen und Transgender-Personen während ihrer Grundschulzeit in der Stadt Mis- Die Organisatoren der Pride Parade von Les- kolc ausgegrenzt worden seien. Nach Ansicht ben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender- des Gerichts stand den Opfern eine Entschädi- Personen in Budapest berichteten, dass die Po- gung zu, da Ausgrenzung aufgrund ethnischer lizei sich zunächst geweigert habe, zum Zugehörigkeit einer Ungleichbehandlung Schutz der Demonstration am 16. Juli Polizei- gleichkomme, die gesetzlich verboten sei. kordons einzusetzen. Berichten zufolge wur- den zwei Personen nach ihrer Teilnahme an der Recht auf Wohnen Parade verprügelt. Ein Gesetzentwurf zu Verfahren bei Baumaß- nahmen, den der Innenminister im September Amnesty International: Missionen und Bericht ins Parlament einbrachte, enthielt eine Klausel,  Delegierte von Amnesty International besuchten Ungarn im die es lokalen Behörden gestatten würde, ge- Januar, Februar, März und November.  wisse Verhaltensweisen an öffentlichen Orten Violent attacks against Roma in Hungary: Time to investigate zu verbieten, u. a. das Schlafen im Freien. racial motivation (EUR 27/001/ 2010) Laut NGOs, die mit Obdachlosen arbeiten, wa-

Ungarn 507 rungsgesetz) im Fall des ehemaligen Präsi- Uruguay denten Juan María Bordaberry (1972 – 76) ein- stimmig für verfassungswidrig, so dass der Amtliche Bezeichnung: Prozess gegen ihn fortgesetzt werden konnte. Republik Östlich des Uruguay Juan María Bordaberry war des zehnfachen Staats- und Regierungschef: José Mujica Cordano Mordes angeklagt. Es handelte sich um die (löste im März Tabaré Vázquez Rosas im Amt ab) zweite wegweisende Entscheidung des Ge- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft richts zum Strafverjährungsgesetz, das die Einwohner: 3,4 Mio. strafrechtliche Verfolgung von Polizei- und Mi- Lebenserwartung: 76,7 Jahre litärangehörigen für unter der Militärregierung Kindersterblichkeit (m/w): 18 / 15 pro 1000 begangene Verbrechen verhindert. Da das Ur- Lebendgeburten teil jedoch nur für den verhandelten Fall gilt, Alphabetisierungsrate: 98,2% bietet es keine rechtliche Handhabe für die Wiederaufnahme bereits archivierter Fälle. Im Es wurden im Jahr 2010 einige positive Oktober legten Kongressabgeordnete einen Schritte unternommen, um den Kreis- Gesetzentwurf vor, mit dem drei Artikel des lauf der Straflosigkeit für Menschen- Strafverjährungsgesetzes für null und nichtig rechtsverletzungen zu durchbrechen, erklärt werden sollen. Die Abgeordnetenkam- die zwischen 1973 und 1985 während mer stimmte dem Entwurf zu, im Senat war der fast zwölf Jahre amtierenden Mili- das Gesetzgebungsverfahren bei Jahresende tär- und Zivilregierung begangen wurden. noch anhängig.  Im November 2010 räumte Uruguay vor dem Hintergrund Interamerikanischen Gerichtshof für Men- Im März 2010 trat Präsident José Mujica Cor- schenrechte ein, gegen die Menschenrechte 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dano sein Amt an. von María Claudia García Iruretagoyena de Gelman verstoßen zu haben. Die Frau war 1976 Opfer des »Verschwindenlassens« geworden.

000835 Straflosigkeit Im Oktober 2010 erklärte der Oberste Gerichts- Ihre Tochter María Macarena Gelman García hof das Gesetz über die Verjährung des staat- war in der Haft geboren und von einer anderen lichen Strafverfolgungsanspruchs (Strafverjäh- Familie aufgezogen worden. Der Fall ist noch vor dem Interamerikanischen Gerichtshof an- hängig.  General Miguel Ángel Dalmao und der Oberst außer Dienst José Chialanza wurden im Zu- sammenhang mit der Folter und dem Tod in Haft von Nibia Sabalsagaray vorläufig in Haft genommen. Der Vorfall reicht in das Jahr 1974 zurück.

Haftbedingungen Im März 2010 legte der UN-Sonderbericht- erstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behand- lung oder Strafe einen Bericht über seinen Be- such im Jahr 2009 in Uruguay vor. Er rief die Regierung u. a. zu grundlegenden Reformen im Bereich der Strafjustiz und des Strafvollzugs

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht auf, einschließlich der Schließung von Gefäng-

508 Uruguay nissen, in denen grausame und unmenschliche Haftbedingungen herrschen. Seine Forderun- gen bezogen sich insbesondere auf den Ge- brauch kleiner Metallkäfige (Las Latas) im Ge- fängnis Libertad, in die Insassen gesperrt wur- den. Eine weitere Forderung galt der Schlie- ßung der Trakte 2 – 4 des Gefängnisses COM- CAR. Bedenken hinsichtlich der Überbelegung von Haftanstalten nahmen zu, nachdem bei einem Feuer im Gefängnis Rocha im Juli 2010 zwölf Insassen ums Leben gekommen waren. Einige Tage später wurde ein Notstandsgesetz für Ge- Usbekistan fängnisse (Ley de Emergencia Carcelaria) ver- abschiedet, das eine Erhöhung der Mittel für Amtliche Bezeichnung: Republik Usbekistan den Bau und die Modernisierung von Haftan- Staatsoberhaupt: Islam Karimow stalten vorsieht. Das Gesetz erlaubt in Ausnah- Regierungschef: Shavkat Mirziyoyev mefällen auch die vorübergehende Unterbrin- Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft gung von Häftlingen in Militäreinrichtungen. Einwohner: 27,8 Mio. Lebenserwartung: 68,2 Jahre Gewalt gegen Frauen Kindersterblichkeit (m/w): 63 / 53 pro 1000 Nach Angaben von Frauenorganisationen wur- Lebendgeburten den in den ersten zehn Monaten des Berichts- Alphabetisierungsrate: 99,3% jahrs 26 Frauen getötet. Die Maßnahmen des Staates gegen Gewalt an Frauen blieben unzu- Es trafen unvermindert Berichte über reichend. Der UN-Sonderberichterstatter über Folter und andere Misshandlungen ein. Folter und andere grausame, unmenschliche Zahlreiche Mitglieder islamischer Min- oder erniedrigende Behandlung oder Strafe derheitengruppen erhielten nach unfai- machte darauf aufmerksam, dass die Umset- ren Verfahren lange Haftstrafen. Men- zung des Nationalen Aktionsplans zur Bekämp- schenrechtsverteidiger wurden weiter- fung häuslicher Gewalt (Plan Nacional de Lu- hin nach unfairen Gerichtsverfahren in- cha contra la Violencia Doméstica) nach wie vor haftiert. Die Behörden wiesen alle inter- ausstand. nationalen Forderungen nach einer unab- hängigen internationalen Untersuchung Sexuelle und reproduktive Rechte der massenhaften Tötung von Demons- Im September 2010 stimmte der Präsident trierenden im Jahr 2005 vehement zu- einem Erlass zur Implementierung eines Ge- rück. setzes zum Schutz sexueller und reproduktiver Rechte aus dem Jahr 2008 zu. Der Erlass ver- Folter und andere Misshandlungen pflichtete Anbieter medizinischer Leistungen, Obwohl die Behörden beteuerten, die Folterpra- Frauen und Teenager in Fragen sexueller und xis habe deutlich abgenommen, gingen 2010 reproduktiver Gesundheit zu beraten. Außer- unvermindert Berichte über Folter und andere dem sieht er vor, dass Verhütungsmittel kos- Misshandlungen von Festgenommenen und tenlos zur Verfügung gestellt werden müssen. Gefangenen ein. In den meisten Fällen führten die Behörden keine unverzüglichen, gründli- chen und unparteiischen Untersuchungen der Foltervorwürfe durch. Mehrere tausend Menschen, die wegen Ver-

Usbekistan 509 bindungen zu in Usbekistan verbotenen isla- rungsnahen Imams und eines hochrangigen mistischen Parteien oder islamischen Bewe- Polizeibeamten im Juli 2009 beteiligt gewesen gungen verurteilt worden waren, aber auch zu sein. Die Behörden machten die verbote- Regierungskritiker und Oppositionspolitiker ver- nen islamischen Bewegungen Islamic Move- büßten weiterhin lange Freiheitsstrafen unter ment of Uzbekistan (IMU) und Islamic Jihad Bedingungen, die grausamer, unmenschlicher Union (IJU) sowie die nicht zugelassene isla- und erniedrigender Behandlung entsprachen. mistische Partei der Befreiung (Hizb-ut-Tahrir) Usbekistan verweigerte dem UN-Sonderbe- für die Anschläge und Tötungen verantwortlich. richterstatter über Folter und andere grau- Unter den zahlreichen Personen, die unter same, unmenschliche oder erniedrigende Be- dem Verdacht festgenommen worden waren, handlung oder Strafe trotz erneuter Anfragen Mitglieder oder Sympathisanten der IMU, der weiterhin einen Besuch des Landes. IJU oder der Hizb-ut-Tahrir zu sein, waren sol-  Im Juni 2010 ließen die Behörden den Oppo- che, die behördlich nicht zugelassene Mo- sitionspolitiker Sanzhar Umarov aus humani- scheen besucht hatten, von unabhängigen tären Gründen frei und gestatteten ihm die Aus- Imamen unterwiesen worden waren, ins Aus- reise zu seiner in den USA lebenden Familie. land gereist waren oder verdächtigt wurden, Sanzhar Umarov war 2006 wegen Betrugs und verbotenen islamischen Organisationen an- Unterschlagung angeklagt und in einem unfai- zugehören. Viele sollen über lange Zeit ohne ren Verfahren zu acht Jahren Gefängnis verur- Anklageerhebung und Gerichtsverfahren in teilt worden. Nach Ansicht seiner Anhänger Gewahrsam gehalten worden sein. Es gab Be- waren die Anklagen politisch motiviert. Im Sep- richte über Folter und unfaire Gerichtsverfah- tember beschrieb er in der New York Times, ren. wie er monatelang in Einzelhaft in kleinen Straf-  Im April 2010 verurteilte ein Gericht in der zellen aus Beton eingesperrt war, in denen es Stadt Dzhizzakh 25 Männer im Zusammen- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen keine Heizung und nur wenig Tageslicht gab. hang mit den Anschlägen im Jahr 2009 zu Frei- Außerdem berichtete er über Schläge durch heitsstrafen zwischen zwei und zehn Jahren. Gefängniswärter und Mithäftlinge und dass ihm Alle wurden wegen versuchtem Umsturz der 000835 medizinische Behandlung verwehrt worden verfassungsmäßigen Ordnung und religiösem sei. Extremismus verurteilt. Mindestens zwölf der  Der Europäische Gerichtshof für Menschen- Männer gaben vor Gericht an, ihre »Geständ- rechte entschied am 10. Juni 2010 im Fall Ga- nisse« seien unter Folter erpresst worden. Der rayev gegen Aserbaidschan, dass eine Ausliefe- Richter ordnete zunächst eine Untersuchung rung Shaig Garayevs von Aserbaidschan nach der Vorwürfe an, erklärte später jedoch, sie Usbekistan gegen das Folterverbot gemäß der seien gegenstandslos. Unabhängige Beob- Europäischen Menschenrechtskonvention achter berichteten, die Männer hätten zugege- verstoßen würde. Das Gericht stellte fest, dass ben, an gemeinsamen Gebeten und sportli- »jeder Straftatverdächtige, der [in Usbekistan] chen Aktivitäten teilgenommen zu haben, sie in Gewahrsam gehalten wird, einem hohen Ri- hätten jedoch bestritten, einer Gruppe ange- siko ausgesetzt ist, Folter oder inhumaner und hört zu haben, die das Ziel verfolgte, die verfas- erniedrigender Behandlung unterzogen zu wer- sungsmäßige Ordnung zu stürzen. den«.  Im April 2010 wurden Zulkhumor Khamda- mova, ihre Schwester Mekhriniso Khamda- Antiterrormaßnahmen und Sicherheit mova und ihre Verwandte Shakhlo Pakhmatova Im Januar 2010 begannen nichtöffentliche Ver- wegen versuchtem Umsturz der verfassungs- fahren gegen fast 70 Angeklagte, denen vorge- mäßigen Ordnung und Gefährdung der öffentli- worfen wurde, an Anschlägen im Ferghana-Tal chen Ordnung vom Regionalen Strafgericht und in der Hauptstadt Taschkent im Mai und Kashkadaria zu Gefängnisstrafen zwischen

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht August 2009 sowie an der Tötung eines regie- sechseinhalb und sieben Jahren verurteilt. Sie

510 Usbekistan gehörten zu einer Gruppe von mehr als 30 für die Sicherheitskräfte arbeiteten, geschla- Frauen, die bei Antiterrormaßnahmen in der gen worden seien. Stadt Karshi im November 2009 von Sicher-  Im Januar wurde die bekannte usbekische heitskräften festgenommen worden waren. Es Dokumentarfotografin Umida Ahmedova zu wurde vermutet, dass sie religiöse Unterwei- einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, sungen durch Zulkhumor Khamdamova in da sie durch ihre Fotografien und Videopro- einer der örtlichen Moscheen besucht hatten. jekte, die Armut und die Benachteiligung von Die Behörden beschuldigten Zulkhumor Frauen in Usbekistan dokumentierten, die Khamdamova, eine illegale religiöse Gruppe or- Würde usbekischer Bürger verletzt und dem ganisiert zu haben, was ihre Anhängerinnen Ansehen des Landes geschadet habe. Der bestritten. Nach Angaben von Menschen- Vorsitzende Richter amnestierte sie jedoch, rechtsverteidigern wurden die Frauen im Ge- und sie durfte den Gerichtssaal verlassen. Ihre wahrsam misshandelt, Polizeibeamte sollen sie gegen das Urteil eingelegten Rechtsmittel wur- nackt ausgezogen und ihnen Vergewaltigung den im Mai abgewiesen. angedroht haben.  Im Oktober verurteilten Gerichte in Taschkent  Dilorom Abdukadirova, die nach der gewalt- zwei unabhängige Journalisten, die für auslän- samen Niederschlagung der Demonstrationen dische Medien tätig waren, wegen krimineller in Andischan 2005 aus Usbekistan geflohen Verleumdung zu hohen Geldstrafen. Vladimir war, wurde nach ihrer Rückkehr im Januar Berezovski, Korrespondent der russischen Zei- 2010 vier Tage lang in Gewahrsam gehalten, ob- tung Parlamentskaja Gazeta, wurde beschul- wohl ihr die Behörden zugesichert hatten, digt, auf der unabhängigen Internetseite Ves- dass keine Anklage gegen sie erhoben werden ti.uz 16 Artikel verleumderischen Inhalts publi- würde. Im März wurde sie erneut festgenom- ziert zu haben, mit denen das usbekische Volk men und zwei Wochen lang ohne Kontakt zu in die Irre geführt werden sollte und die zu Pa- einem Rechtsbeistand oder ihrer Familie in nik hätten führen können. Die Artikel befassten Polizeigewahrsam gehalten. Am 30. April wurde sich mit der islamischen Bewegung IMU und sie mit Bezug auf ihre Teilnahme an den De- mit Arbeitsmigration. Sie waren nicht von Vladi- monstrationen in Andischan wegen verfas- mir Berezovski verfasst, sondern von russi- sungsfeindlicher Aktivitäten schuldig gespro- schen Nachrichtenagenturen übernommen chen, außerdem erging ein Schuldspruch we- worden. Abdumalik Boboev, ein Korrespon- gen illegaler Ausreise und Wiedereinreise dent des vom US-Kongress finanzierten Radio- nach Usbekistan. Nach einem unfairen Verfah- senders Voice of America, wurde ebenfalls zu ren erhielt sie eine Freiheitsstrafe von zehn einer hohen Geldstrafe verurteilt. Nach Ansicht Jahren und zwei Monaten. Familienangehörige des Gerichts verunglimpften seine Artikel und berichteten, sie sei abgemagert zum Prozess Radiobeiträge die Justiz und die Sicherheits- erschienen und habe Blutergüsse im Gesicht kräfte. Er hatte über Einschränkungen des gehabt. Rechts auf freie Meinungsäußerung und will- kürliche Festnahmen von Journalisten und Recht auf freie Meinungsäußerung Menschenrechtsverteidigern sowie unfaire Ver- Menschenrechtsverteidiger und unabhängige fahren gegen sie berichtet. Beide Journalisten Journalisten waren 2010 Schikanen, Schlä- legten Rechtsmittel gegen ihre Urteile ein, die gen, Festnahmen und unfairen Gerichtsverfah- jedoch abgewiesen wurden. ren ausgesetzt. Menschenrechtsaktivisten  Im Dezember ließen die Behörden den Men- und Journalisten wurden zu Polizeiverhören schenrechtsverteidiger Fakhad Mukhtarov un- vorgeladen, unter Hausarrest gestellt und re- ter Auflagen frei, nachdem er elf Monate seiner gelmäßig von Beamten in Uniform oder in Zivil fünfjährigen Freiheitsstrafe wegen Beste- beschattet. Andere berichteten, dass sie von chung und Betrugs verbüßt hatte. Mindestens Polizeibeamten oder Personen, die vermutlich elf weitere Menschenrechtsverteidiger befan-

Usbekistan 511 den sich 2010 weiterhin in Haft. Gegen einige den nicht zugelassenen Moscheen praktizier- von ihnen wurden neue Anklagen erhoben, ten. weil sie angeblich gegen Gefängnisbestimmun-  Personen, die verdächtigt wurden, Anhänger gen verstoßen hatten. In unfairen, geheimen des türkischen muslimischen Theologen Said Verfahren erhielten sie mehrjährige zusätz- Nursi zu sein, wurden in einer Reihe von Ge- liche Haftstrafen. Mindestens drei weitere richtsverfahren verurteilt, die 2009 begonnen Menschenrechtsverteidiger wurden zu langjäh- hatten und 2010 fortgesetzt wurden. Zu den An- rigen Freiheitsstrafen verurteilt, nachdem of- klagepunkten gegen sie zählten Mitgliedschaft fenbar fingierte Anklagen gegen sie erhoben in bzw. Gründung einer illegalen religiösen ex- worden waren, um sie für ihre Tätigkeit zu tremistischen Organisation sowie Veröffentli- bestrafen. chung oder Verbreitung von gegen die gesell-  Im Januar 2010 wurde der Menschenrechts- schaftliche Ordnung gerichtetem Material. Bis verteidiger Gaibullo Dzhalilov wegen versuch- Dezember 2010 waren mindestens 114 Männer ten Umsturzes der verfassungsmäßigen Ord- in unfairen Verfahren zu Freiheitsstrafen zwi- nung und Mitgliedschaft in einer verbotenen schen sechs und zwölf Jahren verurteilt wor- religiösen Organisation zu neun Jahren Gefäng- den. Dem Vernehmen nach gründeten einige nis verurteilt. Er hatte als Mitglied der nicht zu- der Urteile auf »Geständnissen«, die während gelassenen unabhängigen Menschenrechtsge- der Untersuchungshaft unter Folter erpresst sellschaft von Usbekistan die Festnahmen von worden waren. Zeugen der Verteidigung und Mitgliedern bzw. mutmaßlichen Mitgliedern in Sachverständige wurden nicht gehört, in eini- Usbekistan verbotener islamischer Bewegun- gen Fällen wurde der Zugang zu den Gerichts- gen sowie die Verfahren gegen sie beobachtet verhandlungen verwehrt, während andere und Vorwürfe wegen Folter und anderen Miss- Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit handlungen erhoben. Gaibullo Dzhalilov gab stattfanden. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen an, man habe ihm mit Zwangsmaßnahmen das »Geständnis« abgepresst, Mitglied der Flüchtlinge und Asylsuchende Hizb-ut-Tahir zu sein. Ein Rechtsmittel gegen Die Behörden gewährten Zehntausenden von 000835 das Urteil wurde im März abgewiesen. Im Au- ethnischen Usbeken, die im Juni vor einem gust wurden neue Anklagen gegen ihn vorge- Gewaltausbruch im benachbarten Süd-Kirgisis- bracht, die nach Angaben der Staatsanwalt- tan geflohen waren, vorübergehend Zuflucht. schaft auf neuen Aussagen von Augenzeugen Nothilfeteams des UN-Hochkommissars für beruhten. Diese wollen ihn auf religiösen Ver- Flüchtlinge (UNHCR) durften nach Usbekistan sammlungen gesehen haben, bei denen DVDs einreisen und die Flüchtlingslager besuchen – mit extremistischem religiösem Inhalt gezeigt es war dies das erste Mal, seit die Behörden wurden. Nach einem nichtöffentlichen Pro- den UNHCR 2006 des Landes verwiesen hat- zess vor dem Regionalen Strafgericht Kashka- ten. Die Sicherheitskräfte schränkten die Frei- daria wurde er zu weiteren vier Jahren Gefäng- zügigkeit der Flüchtlinge und ihren Kontakt mit nis verurteilt, ohne dass ein Belastungszeuge der Außenwelt stark ein, dies betraf auch Ver- vernommen worden wäre. letzte und Patienten in Krankenhäusern. Ende Juni kehrten alle Flüchtlinge, bis auf einige Recht auf Religionsfreiheit Tausend, wieder nach Kirgisistan zurück. Es Die Regierung übte weiterhin eine strikte wurden jedoch Befürchtungen laut, dass ihre Kontrolle über religiöse Gemeinschaften aus Rückkehr nicht auf einer freien Entscheidung und schränkte damit ihr Recht auf Religions- beruhte und dass sowohl die kirgisischen als freiheit ein. Am stärksten waren davon Mit- auch die usbekischen Behörden Druck auf sie glieder nicht genehmigter Gruppen betroffen, ausgeübt hatten. wie evangelikale christliche Gemeinden und

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Muslime, die ihren Glauben in von den Behör-

512 Usbekistan Internationale Kontrollgremien vor. Eine Prüfung der Berichte durch den UN- Fünf Jahre nachdem Sicherheitskräfte am Ausschuss für die Rechte des Kindes stand bei 13. Mai 2005 in Andischan hunderte überwie- Jahresende noch aus. Bis Ende 2010 hatte der gend friedlicher Demonstranten getötet hatten, Vatikan jedoch weder den seit 1997 ausstehen- wiesen die Behörden weiterhin alle Forderun- den zweiten regelmäßigen Bericht zur UN-Kin- gen nach einer unabhängigen internationalen derrechtskonvention noch den seit 2003 fälli- Untersuchung zurück. Dass die EU ihre Sank- gen ersten Bericht zum UN-Übereinkommen tionen aufhob, wurde als Beweis dafür gewer- gegen Folter und andere grausame, unmensch- tet, dass die Angelegenheit als abgeschlossen liche oder erniedrigende Behandlung oder betrachtet wird. Strafe vorgelegt. Bei einer Sitzung des UN-Menschenrechts- ausschusses im März, bei der die Umsetzung Kinderrechte – Reaktion auf sexuellen des Internationalen Pakts über bürgerliche und Missbrauch an Kindern politische Rechte in Usbekistan überprüft In mehreren Ländern traten 2010 in zunehmen- wurde, bestritt die usbekische Delegation, dass dem Maße Beweise über jahrzehntelangen Menschenrechtsverteidiger festgenommen und weit verbreiteten sexuellen Missbrauch an und strafrechtlich verfolgt worden seien. Die Kindern durch Angehörige des Klerus ans Ta- Delegation bestand darauf, dass »Feinde« Us- geslicht. Auch das anhaltende Versagen der ka- bekistans einen »Krieg der Informationen« ge- tholischen Kirche im ordnungsgemäßen Um- gen das Land führten, außerdem würden in- gang mit diesen Verbrechen war Gegenstand ternationale NGOs dafür bezahlt, Diffamierun- der Berichterstattung. So unterließ es die Kir- gen und Falschinformationen zu verbreiten. che in einigen Fällen, Tatverdächtige bis zum Abschluss sachdienlicher Ermittlungen von Amnesty International: Berichte ihren Ämtern zu suspendieren, mit den Justiz-  Uzbekistan: Submission to the Human Rights Committee- behörden bei der strafrechtlichen Verfolgung Update May 2009 – January 2010 (EUR 62/001/2010) der Täter zu kooperieren und sicherzustellen,  Uzbekistan: A briefing on current human rights concerns, dass die Opfer in angemessener Weise ent- May 2010 (EUR 62/003/ 2010) schädigt werden. Bei Besuchen in Ländern wie Irland, Malta und Großbritannien, aus denen über Miss- brauch berichtet worden war, erkannte Papst Benedikt XVI. sexuelle Übergriffe an und drückte sein Bedauern darüber aus. Er betonte, Vatikanstadt dass »gerechte Strafen« verhängt werden soll- ten, um den weiteren Umgang der Täter mit Amtliche Bezeichnung: Staat Vatikanstadt jungen Menschen auszuschließen. Darüber Staats- und Regierungschef: Papst Benedikt XVI. hinaus wies der Papst auf die Notwendigkeit Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft hin, die Ausbildung und Auswahl von Priester- kandidaten zu verbessern, um Missbrauch vor- Der Vatikan kam 2010 seinen internatio- zubeugen. nalen Verpflichtungen zum Schutz von Im März 2010 räumte der Papst in einem Hir- Kindern nicht in vollem Umfang nach. tenbrief an die Katholiken in Irland ein, dass »eine unangebrachte Sorge um den Ruf der Internationale Überwachung Kirche und die Vermeidung von Skandalen der Menschenrechtssituation zum Versagen in der Anwendung bestehender Im Mai legte der Vatikan seine ersten Berichte kanonischer Strafen und im Schutz der Würde über die Umsetzung der Zusatzprotokolle zum jeder Person geführt« habe. Er ermahnte die Bi- Übereinkommen über die Rechte des Kindes schöfe zur vollständigen Umsetzung der Nor-

Vatikanstadt 513 men des Kirchenrechts im Umgang mit Fällen Fortschritte im Kampf gegen die Gewalt- von Kindesmissbrauch und rief sie auf, »weiter anwendung gegenüber Frauen. mit den staatlichen Behörden in ihrem Zustän- digkeitsbereich zusammenzuarbeiten«. Hintergrund Im Mai 2010 wurden Änderungen der kir- Bei den im September 2010 durchgeführten chenrechtlichen »Normen über schwerwie- Parlamentswahlen verlor die Regierungspartei gende Straftaten« (Normae de gravioribus de- ihre Zweidrittelmehrheit. lictis) verkündet: Erwerb, Besitz und Weiter- Das ganze Jahr über fanden Demonstrationen gabe von Kinderpornographie sowie der Miss- statt, deren Auslöser in den meisten Fällen brauch von geistig behinderten Menschen Unzufriedenheit mit Arbeitnehmerrechten und wurden zu »Straftatbeständen« erklärt. Höchst- öffentlichen Dienstleistungen waren. strafen dafür sind Amtsenthebung und Zu- Im Januar stellte die Regierung den Sendebe- rückversetzung in den Laienstand. Während trieb von sechs Fernsehkanälen ein. Die Maß- des laufenden Verfahrens muss Vertraulich- nahme weckte die Besorgnis, dass damit das keit gewahrt werden. Recht auf freie Meinungsäußerung einge- Im November unternahmen Vertreter des Va- schränkt werden sollte. Fünf der Kanäle konn- tikans eine »apostolische Reise« nach Irland, ten ihren Sendebetrieb wieder aufnehmen. um »die Wirksamkeit der Verfahren, mit denen Über den Einspruch des sechsten Kanals, auf Fälle von Missbrauch reagiert, und die Art RCTV International, war zum Jahresende noch und Weise, in der Opfern beigestanden wird« nicht entschieden worden. zu prüfen. Die Ergebnisse dieses Besuchs sol- len 2011 veröffentlicht werden. Menschenrechtsverteidiger Menschenrechtsverteidiger waren nach wie vor Angriffen und Bedrohungen ausgesetzt, ohne 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen dass die dafür Verantwortlichen zur Rechen- schaft gezogen wurden.  Im Mai 2010 verfolgten zwei nicht identifi- 000835 zierte Männer in einem Wagen ohne Kennzei- Venezuela chen Rocío San Miguel, die Präsidentin der zi- vilgesellschaftlichen Organisation Bürgerkon- Amtliche Bezeichnung: Bolivarische Republik Venezuela Staats- und Regierungschef: Hugo Chávez Frías Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 29 Mio. Lebenserwartung: 74,2 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 24 / 19 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 95,2%

Gegen Personen, die in Opposition zur Politik der Regierung standen, wurden politisch motivierte Anklagen erhoben. Menschenrechtsverteidiger waren An- griffen und Einschüchterungen ausge- setzt. Berichte über von Sicherheits- kräften begangene Menschenrechtsver-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht letzungen trafen ein. Es gab nur geringe

514 Venezuela trolle (Control Ciudadano), nachdem sie öffent- betriebenen Eisenerzmine CVG Ferrominera lich Militärangehörige kritisiert hatte. Später Orinoco im Bundesstaat Bolívar vertritt. Er wurde sie darüber informiert, dass es einen Ver- wurde nach seiner Teilnahme an einem Streik such gegeben habe, einen Haftbefehl gegen wegen Anstiftung zu einer Straftat, Behinde- sie zu erwirken. rung von Arbeitnehmern bei der freien Aus-  Im Juli 2010 wurde Víctor Martínez auf der übung ihrer Arbeit sowie unerlaubten Betre- Straße von einem nicht identifizierten Mann tens einer Sicherheitszone angeklagt. Er befand geschlagen. Víctor Martínez war gerade dabei, sich länger als ein Jahr in Untersuchungshaft, Flugblätter zu verteilen, in denen er die Polizei und die gegen ihn erhobenen Anklagen schie- beschuldigte, in den Mord an seinem Sohn Mi- nen unverhältnismäßig zu sein. jail Martínez im Jahr 2009 verwickelt gewesen zu sein. Bis zum Jahresende war niemand für Gewalt gegen Frauen und Mädchen die Tötung von Mijail Martínez noch für den Geschlechtsspezifische Verbrechen gaben wei- tätlichen Angriff auf seinen Vater zur Verantwor- terhin Anlass zur Sorge. Im Oktober kündigte tung gezogen worden. der Generalstaatsanwalt die Einrichtung weite- rer Büros der Staatsanwaltschaft an, um ge- Recht auf freie Meinungsäußerung gen diese Verbrechen vorzugehen. Zwischen Personen, die sich kritisch über die Politik der Januar und August erhielt die Staatsanwalt- Regierung äußerten, wurden mit politisch mo- schaft mehr als 65000 Beschwerden wegen ge- tivierten Anklagen strafrechtlich verfolgt. Es schlechtsspezifischer Gewalt. hatte den Anschein, dass dies ein Versuch  Sechs Jahre nach der Entführung, Vergewal- war, sie zum Schweigen zu bringen. tigung und Folterung von Alexandra Hidalgo  Im März 2010 wurden Oswaldo Álvarez Paz, durch fünf Männer waren nur zwei von ihnen Mitglied einer Oppositionspartei und ehemali- strafrechtlich verfolgt worden. Obwohl die Be- ger Gouverneur des Bundesstaates Zulia, Guil- hörden zugesagt hatten, das Notwendige zu lermo Zuloaga, Eigentümer der Fernsehstation tun, um die Verantwortlichen zur Rechen- Globovisión, und Wilmer Azuaje, ein Oppositi- schaft zu ziehen, wurden im Jahr 2010 keine onskandidat für das Amt des Gouverneurs des Fortschritte in diesem Rechtsfall erzielt. Bundesstaates Barinas, auf der Grundlage fa-  Im April 2010 wurde Jennifer Carolina Viera in denscheiniger Anklagen für mehrere Tage Valencia von ihrem Ehemann niedergestochen. festgenommen. Einige dieser Beschuldigungen Er war im März in Mérida festgenommen wor- lauteten: Aufwiegelung, Verbreitung falscher den, nachdem Jennifer Viera ins Krankenhaus Informationen, Beleidigung eines Regierungs- eingeliefert worden war. Er kam jedoch gegen beamten und Schlagen einer Polizeibeamtin. Kaution und mit der gerichtlichen Anordnung, Am Jahresende waren die Anklagen noch an- sich seiner Frau nicht zu nähern, wieder frei. hängig.  Richard Blanco, Präfekt von Caracas, wurde Polizei und Sicherheitskräfte im April 2010 nach einem Gefängnisaufenthalt Die öffentliche Sicherheit war weiterhin äußerst von vier Monaten freigelassen, doch galten wei- besorgniserregend. Nach den letzten vom In- terhin die gegen ihn erhobenen unbegründe- stitut für Nationale Statistik veröffentlichten ten Anklagen wegen Anstiftung zur Gewalt und Zahlen wurden im Jahr 2009 landesweit mehr Verletzung eines Polizeibeamten während als 21000 Personen ermordet. Behauptungen einer Demonstration gegen ein Bildungsgesetz wurden vorgebracht, dass die Polizei in Morde im Jahr 2009. und das »Verschwindenlassen« von Personen  Im November 2010 begann das Verfahren ge- verwickelt gewesen sei. gen den Gewerkschafter Rubén González, den  Im September 2010 wurde Wilmer José Flo- Generalsekretär der Gewerkschaft Sintraferro- res Barrios als sechstes Mitglied der Familie minera, die die Arbeitnehmer in der vom Staat Barrios getötet. Die Tat geschah unter Umstän-

Venezuela 515 den, die Anlass zu der Vermutung geben, dass wundete zur Folge hatte, und nach im Novem- dabei Angehörige der Polizei des Bundesstaa- ber eingetroffenen Berichten über gewaltsame tes Aragua involviert waren. Bis Jahresende Auseinandersetzungen zwischen Insassen im hatten die Behörden Venezuelas weder Maß- Gefängnis Uribana im Bundesstaat Lara wie- nahmen zum Schutz der Familie ergriffen derholte die Kommission ihre Besorgnis über noch eine effektive Untersuchung dieser Straf- die Haftbedingungen. taten angeordnet.  Im März 2010 sahen Augenzeugen, wie drei Arbeiter – Gabriel Antonio Ramírez, José Leo- nardo Ramírez und Nedfrank Xavier Cona – in der Stadt Barcelona im Bundesstaat Anzoáte- gui von einer Gruppe von 17 bis 20 Polizeibe- amten in ein Auto ohne Kennzeichen ge- Vereinigte pfercht wurden. Zum Jahresende war der Ver- bleib der Männer noch unbekannt. Sechs Po- Arabische Emirate lizeibeamte befanden sich Ende 2010 in Zu- sammenhang mit dem Vorfall inhaftiert, ein Amtliche Bezeichnung: höherrangiger Polizeibeamter blieb auf freiem Vereinigte Arabische Emirate Fuß. Staatsoberhaupt: Scheich Khalifa bin Zayed al-Nahyan Unabhängigkeit der Justiz Regierungschef: Die Richterin María Lourdes Afiuni Mora ver- Scheich Mohammed bin Rashid al-Maktoum blieb 2010 im Gefängnis und wartete auf ihr Todesstrafe: nicht abgeschafft Verfahren. Sie war im Dezember 2009 auf der Einwohner: 4,7 Mio. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Basis unbegründeter Anklagen festgenom- Lebenserwartung: 77,7 Jahre men worden. Drei UN-Sonderberichterstatter Kindersterblichkeit (m/w): 10 / 12 pro 1000 bezeichneten ihre Inhaftierung als einen Lebendgeburten 000835 Schlag gegen die Unabhängigkeit von Richtern Alphabetisierungsrate: 90% und Rechtsanwälten in Venezuela und forder- ten ihre sofortige und bedingungslose Freilas- Arbeitsmigranten hatten weiterhin kei- sung. Richterin Afiuni wurde von Gefängnisin- nen Zugang zu grundlegenden Rechten, sassen bedroht, von denen einige nach Prozes- wurden ausgebeutet und misshandelt. sen verurteilt worden waren, bei denen sie den Frauen sahen sich nach wie vor Diskri- Vorsitz geführt hatte. Sie berichtete auch, dass minierung vor dem Gesetz und im täg- ihr eine angemessene medizinische Versor- gung verweigert worden sei.

Haftbedingungen Im November 2010 zeigte sich die Interameri- kanische Menschenrechtskommission be- sorgt über die Zahl von Todesfällen und Verlet- zungen in den Gefängnissen Venezuelas. Nach Angaben venezolanischer Menschen- rechtsorganisationen wurden zwischen Januar und November 352 Todesfälle und 736 Verlet- zungen gemeldet. Nach einem Aufruhr im März im Gefängnis

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht Yare I in Caracas, der zahlreiche Tote und Ver-

516 Vereinigte Arabische Emirate lichen Leben ausgesetzt. Gegen min- Frauen entgegenzuwirken. Der CEDAW-Aus- destens 28 Menschen ergingen Todesur- schuss stellte fest, dass es noch kein Gesetz teile, soweit bekannt, fanden jedoch gebe, das Gewalt gegen Frauen strafbar ma- keine Hinrichtungen statt. che. Es müsse eine unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution geschaffen wer- Hintergrund den, die internationalen Standards entspricht Nach seinem Besuch in den Vereinigten Arabi- und sich ausdrücklich für die Gleichstellung schen Emiraten (VAE) im Oktober 2009 appel- der Geschlechter einsetzt. lierte der UN-Sonderberichterstatter über zeit- Im Oktober bestätigte der Oberste Gerichtshof genössische Formen des Rassismus, der Ras- das Recht eines Ehemanns, seine Frau und sendiskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit seine Kinder »zu züchtigen«, vorausgesetzt, und damit zusammenhängender Intoleranz im dass keine sichtbaren Spuren zurückbleiben. März 2010 an die Regierung, es Personen, die Damit wird familiäre Gewalt quasi legalisiert. lange Zeit in den VAE ansässig waren, zu er- Das Urteil legte fest, dass sich die Züchtigung möglichen, die Staatsbürgerschaft zu beantra- innerhalb der Bestimmungen der islamischen gen. Außerdem müsse eine tragfähige Lösung Gesetzgebung bewegen müsse. für die in den VAE lebenden Staatenlosen ge- funden werden. Diese sollten Zugang zum Ge- Rechte von Arbeitsmigranten sundheits- und Bildungssystem, zu sozialen Ausländische Arbeitsmigranten benötigen in Einrichtungen sowie zum Arbeitsmarkt be- den VAE einen einheimischen Sponsor. Vor al- kommen. Er forderte die Regierung weiterhin lem solche aus den armen Entwicklungslän- auf, gesetzliche und andere notwendige dern, die bei Baufirmen angestellt sind oder Schritte zu unternehmen, damit Arbeitsmigran- als Hausangestellte arbeiten, blieben weiterhin ten vor Ausbeutung geschützt werden. im Rahmen dieses oft kritisierten Sponsoren- Im April ging die Polizei in Sharjah Berichten systems an ihre Arbeitgeber gebunden und lie- zufolge von Tür zu Tür, um unverheiratet zu- fen Gefahr, ausgebeutet und missbraucht zu sammenlebende Paare aufzuspüren. Berichten werden. Die Regierung unternahm keine wir- zufolge wurde mindestens ein Paar festge- kungsvollen Schritte, um diesen Missstand zu nommen. mindern. Einige große ausländische Investoren Im August beschloss der Oberste Gerichtshof, verlangten aber als Bestandteil der Verträge dass in Streitfällen um das Sorgerecht das mit ortsansässigen Arbeitgebern bessere Ar- Wohl des Kindes oberste Priorität habe. beitsbedingungen. Im Oktober ließ die Regierung verlautbaren, dass die Schadenersatzzahlungen für Staats- Folter und Misshandlungen bürger aus Bangladesch, die in der Vergangen-  Im Januar 2010 sprach ein Gericht in Abu heit als Kinderjockeys bei Kamelrennen in den Dhabi Scheich Issa bin Zayed al-Nahyan vom VAE eingesetzt worden waren, abgeschlossen Vorwurf frei, einen afghanischen Händler, mit seien. dem er in einem geschäftlichen Streit lag, im Jahr 2004 angegriffen und vergewaltigt zu ha- Frauenrechte ben. Das Gericht entschied, dass er unter dem Frauen sahen sich 2010 weiterhin Diskriminie- Einfluss von Drogen gehandelt habe, die ihm rung vor dem Gesetz und im täglichen Leben von Mitarbeitern verabreicht worden seien. ausgesetzt. Diese hätten geplant, die Tat zu filmen und ihn Im Februar forderte der UN-Ausschuss zur anschließend zu erpressen. Beseitigung jeder Form der Diskriminierung  Im April 2010 gaben 17 Inder, die im März der Frau (CEDAW-Ausschuss) die Regierung von einem erstinstanzlichen Gericht in Sharjah auf, umfangreiche Schritte zu unternehmen, zum Tode verurteilt worden waren, zu Protokoll, um familiärer und anderer Gewalt gegen dass sie nach ihrer Festnahme im Januar

Vereinigte Arabische Emirate 517 2009 misshandelt worden seien. Es gibt keinen zige Gefangene, den man von Guantá- Hinweis darauf, ob diesen Vorwürfen nachge- namo auf das US-amerikanische Fest- gangen worden ist. land verlegt hatte, wurde dort vor ein Zi- vilgericht gestellt und schuldig gespro- Todesstrafe chen. Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Mindestens 28 Personen wurden von erstin- Bagram in Afghanistan wurden weiter- stanzlichen Gerichten zum Tode verurteilt, da- hin Hunderte von Gefangenen festgehal- runter auch die 17 indischen Staatsbürger, die ten. Die US-Behörden blockierten alle ihr Urteil im März 2010 erhielten. Urteile von Versuche, Verbrechen gegen das Völker- erstinstanzlichen Gerichten werden zunächst recht zu ahnden, die im Rahmen des an ein Berufungsgericht und danach an den Programms der geheimen Inhaftierung Obersten Gerichtshof verwiesen. Es gab keine und Überstellung an Inhaftierten be- Berichte über Hinrichtungen. gangen wurden. Im Dezember enthielten sich die VAE der Stimme, als die UN-Generalversammlung eine Internationale Kontrolle Resolution für ein weltweites Hinrichtungs- Im November 2010 wurde die Menschen- moratorium zur Abstimmung brachte. rechtslage in den USA im Rahmen der Univer- sellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch den UN-Menschenrechtsrat in Genf bewertet. Die US-amerikanische Delegation erklärte, man werde eine »sorgfältige ressortübergreifende Prüfung« der 228 Empfehlungen des Men- schenrechtsrats vornehmen, und kündigte Vereinigte Staaten eine offizielle Antwort für März 2011 an. 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen von Amerika Haftlager in Guantánamo Bay Am 22. Januar 2010, nach Ablauf der von Prä- 000835 Amtliche Bezeichnung: sident Barack Obama zugesicherten einjähri- Vereinigte Staaten von Amerika gen Frist für die Schließung des Haftlagers Gu- Staats- und Regierungschef: Barack H. Obama antánamo, wurden dort noch immer 198 Män- Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 317,6 Mio. Lebenserwartung: 79,6 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 7 / 8 pro 1000 Lebendgeburten

Im Jahr 2010 wurden 46 Menschen hin- gerichtet. Es trafen weiterhin Berichte über exzessive Gewaltanwendung und unzumutbare Haftbedingungen ein. Da Präsident Barack Obama seine Zusage, das Militärgefängnis auf dem Marine- stützpunkt Guantánamo Bay binnen eines Jahres schließen zu lassen, nicht einhielt, waren dort nach wie vor zahlrei- che Menschen unbefristet inhaftiert. In einigen Fällen fanden Verfahren vor Mili-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht tärkommissionen statt. Der bislang ein-

518 Vereinigte Staaten von Amerika ner festgehalten, etwa die Hälfte davon jemeni- Verdächtige selbst nach einem Freispruch tische Staatsangehörige. Ende 2010 waren in durch die Militärkommission weiter unbefristet Guantánamo noch 174 Männer inhaftiert. Drei in Gewahrsam zu halten. von ihnen waren von Militärkommissionen in 2010 wurden zwei Guantánamo-Häftlinge von Prozessen verurteilt worden, die nicht den inter- einer Militärkommission für schuldig befun- nationalen Standards für faire Verfahren ent- den. Damit erhöhte sich die Gesamtzahl der seit sprachen. 2001 von einem Militärtribunal verurteilten Am 5. Januar gab das Weiße Haus bekannt, Personen auf fünf. Davon hatten drei ihre man werde die Überstellung jemenitischer Schuld eingeräumt. Im Juli bekannte sich der Häftlinge von Guantánamo in den Jemen aus- sudanesische Staatsbürger Ibrahim al-Qosi der setzen. Die Entscheidung fiel nach einem ver- Unterstützung des Terrorismus für schuldig suchten Bombenanschlag auf eine Passagier- und wurde einen Monat später zu 14 Jahren maschine im Landeanflug auf Detroit. Der Haft verurteilt. Im Oktober bekannte sich der mutmaßliche Täter soll Verbindungen zu mili- kanadische Staatsbürger Omar Khadr, der im tanten Kräften im Jemen gehabt haben. Die Juli 2002 im Alter von 15 Jahren in Afghanis- Überstellungen blieben während des gesamten tan in US-Militärgewahrsam genommen worden Berichtsjahrs ausgesetzt. war, in fünf Anklagepunkten wegen »Kriegs- Die von US-Präsident Barack Obama durch verbrechen« für schuldig. Die Spruchkammer eine Anordnung vom 22. Januar 2009 ins Le- eines Militärtribunals verurteilte ihn zu einer ben gerufene Guantánamo Review Task Force Haftstrafe von 40 Jahren, doch gemäß einer Ab- legte am 22. Januar 2010 den geforderten res- sprache zwischen Anklage und Verteidigung sortübergreifenden Abschlussbericht über die muss er davon nur acht Jahre verbüßen. Die Fälle von 240 Guantánamo-Häftlingen vor. Das kanadischen und die US-amerikanischen Be- Gremium gelangte zu dem Schluss, dass 48 hörden verständigten sich darauf, Omar Khadr Häftlinge weder freigelassen noch in den USA ein Jahr in den USA im Gewahrsam zu halten vor Gericht gestellt werden könnten. Weitere 36 und ihn dann zur Verbüßung der Reststrafe Gefangene sollten vor ein Bundesgericht oder nach Kanada zu überstellen. eine Militärkommission gestellt werden und 126 , , sollten »vorbehaltlich angemessener Sicher- Ramzi bin al-Shibh, Ali Abd al-Aziz und Mus- heitsmaßnahmen« in ihre Heimat oder in Dritt- tafa al Hawsawi, denen eine Beteiligung an den länder überstellt werden. Zu den Letztgenann- Anschlägen vom 11. September 2001 vorge- ten zählten 29 jemenitische Staatsbürger. Für worfen wird, waren Ende 2010 noch immer in weitere 30 Jemeniten wurde eine Art Siche- Guantánamo inhaftiert, obwohl Justizminister rungshaft (conditional detention) empfohlen, Eric Holder im November 2009 angekündigt bis sich »die Sicherheitslage im Jemen ver- hatte, sie vor ein Zivilgericht in New York zu bessert« habe bzw. bis »ein angemessenes Re- stellen. Die fünf Häftlinge waren vor ihrer Verle- habilitierungsprogramm eingerichtet« sei oder gung nach Guantánamo bereits bis zu vier »eine angemessene Aufnahmeoption in einen Jahre in geheimen CIA-Gefängnissen in Ge- Drittstaat« vorliege. wahrsam gehalten worden. 2008 war vor einer Militärkommission Anklage gegen sie erhoben Verfahren gegen worden. Guantánamo-Häftlingen Bis Ende 2010 war kein weiterer Guantána- Im April 2010 veröffentlichte das Verteidigungs- mo-Häftling zur strafrechtlichen Verfolgung ministerium die Bestimmungen für die Verfah- vor einem Zivilgericht auf das US-amerikani- ren vor den Militärkommissionen. In dem sche Festland überstellt worden. Die bislang neuen Handbuch wurde bestätigt, dass sich einzige Überstellung aus Guantánamo erfolgte die derzeitige US-Regierung – ebenso wie die 2009 und betraf den tansanischen Staatsan- Vorgängerregierung – das Recht vorbehält, gehörigen . Er wurde im No-

Vereinigte Staaten von Amerika 519 vember 2010 von einem US-Bundesgericht in hob das Berufungsgericht die Entscheidung New York schuldig befunden, 1998 an zwei eines Bundesbezirksrichters aus dem Jahr Bombenanschlägen auf US-amerikanische 2009 auf, der drei Bagram-Häftlingen, die Botschaften in Kenia und Tansania beteiligt ge- keine afghanischen Staatsbürger waren und wesen zu sein. Im Vorverfahren hatte der auch nicht in Afghanistan festgenommen wor- Richter im Mai und im Juli mehrere Anträge der den waren, das Recht zugesprochen hatte, ihre Verteidigung abgelehnt, die Klage gegen Ghai- Haft vor Gericht anzufechten. Nachdem das lani fallenzulassen, weil er vor seiner Verbrin- Berufungsgericht im Juli 2010 eine Überprü- gung nach Guantánamo im Jahr 2006 in ge- fung seines eigenen Beschlusses ablehnte, heimer CIA-Haft gefoltert bzw. weil ihm wäh- wandten sich die Rechtsanwälte der Gefange- rend der fünfjährigen Haftzeit im Gewahrsam nen erneut an das Bundesbezirksgericht. der CIA und anschließend im Militärgewahrsam Ende 2010 war das Verfahren noch anhängig. das Recht auf ein zügiges Verfahren verwei- Im Juni äußerten sich Amnesty International gert worden sei, bevor er schließlich nach New und andere Organisationen in einem Schrei- York überstellt wurde. Die Verkündung des ben an den US-Verteidigungsminister besorgt Strafmaßes war für Januar 2011 vorgesehen. über Vorwürfe, wonach Häftlinge in einer Durchgangsstation des Luftwaffenstützpunkts US-Haftlager in Afghanistan Bagram Opfer von Folter oder anderen Miss- Hunderte von Gefangenen wurden 2010 auf handlungen wurden. In Berichten war von lang dem Gelände des US-Militärstützpunkts Ba- andauernder Isolationshaft und Schlafentzug gram im neu errichteten Haftzentrum Detention die Rede, auch sollen die Häftlinge extremen Facility in Parwan (DFIP) festgehalten, das seit Temperaturen ausgesetzt worden sein. Ende 2009 das bisherige Gefangenenlager Ba- gram Theater Internment Facility ersetzt. Im Straflosigkeit 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen September befanden sich dort etwa 900 Men- Die unter der Präsidentschaft von George schen, zumeist afghanische Staatsangehörige, W. Bush begangenen Menschenrechtsverlet- die von den Koalitionsstreitkräften im südlichen zungen und Verstöße gegen das Völkerrecht 000835 und östlichen Teil des Landes in Gewahrsam wurden auch 2010 nicht geahndet. Dazu zähl- genommen worden waren. Nach Angaben der ten Folter und das »Verschwindenlassen« von US-Behörden war geplant, das DFIP an die af- Personen im Rahmen des Programms der ge- ghanischen Behörden »zur Inhaftierung von heimen Inhaftierung und Überstellung von Strafgefangenen und Verurteilten« zu überge- einem Staat in den anderen, unter Umgehung ben. Die »Übergangsmaßnahmen« sollten im der vorgeschriebenen juristischen und verwal- Januar 2011 beginnen. Das US-Verteidigungs- tungstechnischen Verfahren. ministerium teilte im Oktober mit, die Länge der In seinen im November veröffentlichten Me- Übergangsphase hänge u. a. von den »opera- moiren und einem vorab publizierten Interview tiven Rahmenbedingungen« und den Kapazitä- räumte George W. Bush ein, er habe die »ver- ten der afghanischen Justiz ab. Entscheidend schärften Verhörtechniken« der CIA, die bei sei auch, ob die afghanische Regierung umfas- Gefangenen in geheimen Haftzentren zum Ein- send geschult und ausgestattet sei, um ihre satz kamen, persönlich genehmigt. Zu diesen Verpflichtungen bezüglich Strafverfolgung und Verhörtechniken habe auch waterboarding (si- Inhaftierung gemäß nationalem und interna- muliertes Ertränken) gehört. tionalem Recht zu erfüllen. Am 9. November 2010 erklärte das Justizmi- In den USA war nach wie vor juristisch um- nisterium ohne nähere Erläuterungen, dass in stritten, ob den Häftlingen in Bagram ein Zu- Bezug auf die Vernichtung von Videoaufzeich- gang zu den US-amerikanischen Zivilgerichten nungen durch CIA-Mitarbeiter im Jahr 2005 gewährt werden sollte, um die Rechtmäßigkeit keine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht ihrer Inhaftierung überprüfen zu lassen. Im Mai werde. Die Aufnahmen dokumentierten die

520 Vereinigte Staaten von Amerika Vernehmungen der Gefangenen Abu Zubaydah Bedienstete über die Folterung und Misshand- und Abd al-Nashiri an einem geheimen Haf- lung von Gefangenen durch irakische Sicher- tort im Jahr 2002. Die 92 gelöschten Bänder heitskräfte wussten (siehe Länderberichte Af- enthielten Beweise für die Anwendung der ghanistan, Irak und Jemen). »verschärften Verhörtechniken« bei den beiden Gefangenen, darunter auch das berüchtigte Exzessive Gewaltanwendung waterboarding. Mindestens 55 Menschen starben 2010 nach Im August 2009 hatte Justizminister Holder Polizeieinsätzen mit Taser-Waffen. Damit stieg angekündigt, zu einigen Aspekten bestimmter die Zahl der seit 2001 durch Elektroschockwaf- Verhörtechniken, die im Rahmen des gehei- fen getöteten Menschen auf mindestens 450. men Inhaftierungsprogramms gegenüber eini- Die meisten Opfer waren unbewaffnet und stell- gen Gefangenen angewendet worden waren, ten zum Zeitpunkt des Angriffs offenbar keine würden »vorbereitende Ermittlungen« stattfin- ernste Bedrohung dar. In einigen Situationen den. Diese waren Ende 2010 offensichtlich wurde sogar wiederholt mit der Taser-Waffe noch nicht abgeschlossen. gefeuert. Aufgrund dieser Fälle bestand weiter- Am 8. September 2010 bestätigte das elfköp- hin Sorge bezüglich der Sicherheit und des fige Berufungsgericht für den 9. Bundesbezirk angemessenen Einsatzes dieser Waffen. mit knapper Mehrheit die Anwendung des State Nachdem zwei mexikanische Staatsbürger Secrets Privilege durch die US-Regierung, wo- bei Einsätzen der US-Grenzschutzpolizei zu nach diese in Gerichtsverfahren den Aus- Tode kamen, wurde die Forderung erhoben, die schluss bestimmter Beweismittel verlangen Vorgehensweisen der Zoll- und Grenzschutz- kann, wenn deren Veröffentlichung die natio- behörde zu überprüfen. nale Sicherheit gefährden könnte. Das Gericht  Im Mai 2010 starb der 32-jährige Anastacio wies damit eine Klage des in Großbritannien le- Hernández infolge eines akuten Atemstill- benden Binyam Mohamed, des italienischen stands. Berichten zufolge schlugen ihn US- Staatsbürgers Abou Elkassim Britel, des ägypti- Grenzschutzbeamte mit Stöcken und feuerten schen Staatsbürgers Ahmed Agiza, des jeme- mit einer Taser-Waffe, als sie versuchten, ihn nitischen Staatsbürgers Muhammad Faraj Ah- nach Mexiko abzuschieben. med Bashmilah und des in Großbritannien le-  Im Juni 2010 starb der 15-jährige Sergio Her- benden irakischen Staatsbürgers Bisher al- nández Güereca an einem Kopfschuss durch Rawi ab. Die fünf Männer hatten den Vorwurf einen US-Grenzschutzbeamten. Laut einer erhoben, sie seien im Rahmen des von der CIA Pressemeldung des FBI hatte der Beamte das ausgeführten geheimen Inhaftierungs- und Feuer eröffnet, als er von einer Gruppe Jugend- Überstellungsprogramms Opfer des »Ver- licher umringt wurde, die Steine nach ihm schwindenlassens« und der Folter bzw. grau- warfen. Auf Videoaufnahmen war jedoch zu se- samer, unmenschlicher oder erniedrigender hen, dass der Junge zurück nach Mexiko Behandlung durch Vertreter von US-Behörden rannte, als der Beamte mehrmals über die sowie anderer Staaten geworden. Die sechs Grenze hinweg feuerte und ihn aus einiger Richter, die das Mehrheitsvotum abgegeben Entfernung erschoss. Die Ermittlungen der US- hatten, verwiesen die Beschwerdeführer auf die Behörden waren Ende 2010 noch nicht abge- Möglichkeit einer »außergerichtlichen Klä- schlossen. rung«. Ihrer Ansicht nach könnten die US-Re- Im Juli wurde gegen sechs Polizisten aus New gierung oder der Kongress entsprechende Orleans im Zusammenhang mit einem bewaff- Maßnahmen ergreifen. neten Polizeieinsatz gegen unbewaffnete Zivilis- Nachdem die Organisation Wikileaks im Okto- ten Anklage erhoben. Bei dem Einsatz auf der ber Dokumente mit neuen Beweisen veröf- Danziger Bridge in den Tagen nach dem Hurri- fentlichte, wurden Forderungen laut, es müsse kan Katrina im Jahr 2005 waren ein 17-Jähri- untersucht werden, was US-amerikanische ger und ein geistig behinderter Mann erschos-

Vereinigte Staaten von Amerika 521 sen worden. Die Anklageerhebung ging auf Er- Unfaire Gerichtsverfahren mittlungen des FBI zurück und umfasste u. a. Im Fall von Gerardo Hernández, einem der fünf die Punkte Verletzung der Bürgerrechte und Männer, die 2001 in Miami wegen Bildung Verschwörung zur Vertuschung des Vorfalls. eines Agentennetzwerks für Kuba verurteilt worden waren, wurde im Juni 2010 erneut Be- Haftbedingungen rufung eingelegt. Dies geschah u. a. aufgrund Es gab 2010 zahlreiche Beschwerden über un- von Hinweisen, die US-Regierung habe Jour- menschliche Bedingungen, denen Gefangene nalisten bestochen, zum Zeitpunkt des Verfah- in lang andauernder Isolationshaft in Hochsi- rens Artikel zu veröffentlichen, in denen Vorur- cherheitsgefängnissen unterworfen waren. Die teile gegen die Angeklagten verbreitet wurden. Beschwerden betrafen auch die sogenannten Auf diese Weise sei ihr Recht auf ein ord- administrativen Sondermaßnahmen (Special nungsgemäßes Verfahren unterminiert worden. Administrative Measures), durch die u. a. die Im Oktober übermittelte Amnesty International Kommunikation der Gefangenen unterbunden dem Justizminister einen Bericht, in dem die bzw. rigoros begrenzt wurde. Organisation ihre Besorgnis im Hinblick auf  Der Student Syed Fahad Hashmi saß bis zur diesen Fall zum Ausdruck brachte. Eröffnung seines Prozesses über drei Jahre lang in der Bundeshaftanstalt Metropolitan Cor- Gewalt gegen Frauen rectional Center in New York in Isolationshaft. Im Juli 2010 verabschiedete der Kongress ein Er verbrachte 23 – 24 Stunden täglich in einer Gesetz (Tribal Law and Order Act), das den kleinen Zelle mit nur wenig Tageslicht, hatte Zugang indigener Frauen zum Justizsystem keinen Freigang und nur sehr begrenzten Kon- verbessern soll, wenn sie Opfer einer Verge- takt zu seinen Familienangehörigen. Im April waltigung wurden. Das neue Gesetz sieht eine bekannte er sich in einem Punkt der Anklage, bessere Zusammenarbeit zwischen den ver- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen der Unterstützung von Al-Qaida, für schuldig. schiedenen Behörden auf staatlicher, bundes- Seine Anwälte hatten sich vergeblich um Haft- staatlicher und lokaler Ebene bei der Ermitt- erleichterung während der Untersuchungshaft lung dieser Straftaten vor. Außerdem wurden 000835 bemüht und dabei auf die Auswirkungen auf Schritte eingeleitet, um die Eigenverantwor- seine Gesundheit und seine Verteidigungsfä- tung der indigenen Behörden und den Einsatz higkeit verwiesen. Im Juni wurde er zu einer von Ressourcen zur Bekämpfung von Strafta- 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. ten in den indianischen Gebieten zu stärken.  Die beiden ehemaligen Mitglieder der radika- Die Einführung des Gesetzes war eine Reak- len afroamerikanischen Black Panther Party tion auf einen Bericht, den indigene Organisa- Albert Woodfox und Herman Wallace befanden tionen und Amnesty International 2007 veröf- sich nach wie vor in einem Gefängnis im Bun- fentlicht hatten. Darin war das unverhältnismä- desstaat Louisiana in Isolationshaft. Die beiden ßig hohe Ausmaß an sexueller Gewalt gegen Männer sind dort bereits seit über 35 Jahren in indigene Frauen und die weit verbreitete Straf- kärglich eingerichteten Einzelzellen inhaftiert losigkeit der Täter aufgezeigt worden. und haben keinen Zugang zu Beschäftigungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen. Diese Haftbe- Recht auf Gesundheit – dingungen waren ihnen ursprünglich auferlegt Müttersterblichkeit worden, weil sie an der Ermordung eines Ge- Auch 2010 starben noch immer Hunderte von fängniswärters im Jahr 1972 beteiligt gewesen Frauen an vermeidbaren Komplikationen wäh- sein sollen. Eingaben der Gefangenen, in de- rend einer Schwangerschaft. Der Zugang zu nen sie mangelnde Fairness in dem Mordpro- qualitativ hochwertiger medizinischer Versor- zess sowie grausame Haftbedingungen beklag- gung hing häufig von Faktoren wie ethnischer ten, waren Ende 2010 noch vor den Bundes- Zugehörigkeit bzw. Herkunftsland, Wohnort

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht gerichten anhängig. und Einkommen der Frauen ab. Die nationalen

522 Vereinigte Staaten von Amerika Behörden und die Regierungen der Bundes- Aufenthaltsstatus nachweisen können, an die staaten wurden aufgefordert, alle notwendigen Einwanderungsbehörden überstellen. Nach Schritte zu ergreifen, um die Müttersterblich- einer Klageerhebung vor einem Bundesgericht keit zu senken und die Ungleichheiten zu be- wurden zentrale Bestimmungen des Gesetzes seitigen. zunächst wieder ausgesetzt. Im März 2010 wurde ein Gesetz verabschie- Zahlreiche Migranten aus Mexiko und Zen- det, mit dem mehr als 30 Mio. Menschen ohne tralamerika starben 2010 bei dem Versuch, Krankenversicherung bis zum Jahr 2014 in das durch die Wüstenregionen im Süden der USA il- Gesundheitssystem einbezogen werden sol- legal einzureisen, aufgrund von Hitze, Kälte len. Am Ende des Jahres waren vor den Gerich- und Erschöpfung. ten zahlreiche Klagen gegen das neue Gesetz anhängig. Todesstrafe Im Jahr 2010 wurden in den USA 46 Gefangene Kinderrechte hingerichtet, darunter eine Frau. 44 von ihnen Am 17. Mai 2010 entschied der Oberste Ge- wurde eine Giftspritze verabreicht, ein Verurteil- richtshof, der lebenslange Freiheitsentzug ter starb auf dem elektrischen Stuhl, ein weite- ohne Möglichkeit der Freilassung auf Bewäh- rer wurde von einem Hinrichtungskommando rung für jugendliche Straftäter, die kein Tö- erschossen. Damit stieg die Gesamtzahl der tungsdelikt begangen haben, verstoße gegen seit Aufhebung des Moratoriums durch den das verfassungsrechtliche Verbot »grausamer Obersten Gerichtshof im Jahr 1976 vollstreck- und ungewöhnlicher« Strafen. In ihrer Begrün- ten Hinrichtungen auf 1234. dung verwies die Richtermehrheit darauf, dass  Am 15. Juni wurde David Powell für einen Jugendliche in keinem anderen Land lebens- mehr als 30 Jahre zurückliegenden Mord an lang inhaftiert würden, wenn durch sie nie- einem Polizeibeamten hingerichtet, obwohl al- mand zu Tode gekommen sei. Außerdem ver- les dafür sprach, dass er keine weiteren Ge- biete Artikel 37(a) der UN-Kinderrechtskon- walttaten mehr begehen und für die Gesell- vention bei Straftaten, die vor Vollendung des schaft keine Bedrohung mehr darstellen 18. Lebensjahrs begangen wurden, die Ver- würde. Powell hatte mehr als die Hälfte seines hängung der Todesstrafe oder lebenslanger Lebens im Todestrakt verbracht. Freiheitsstrafen ohne die Möglichkeit vorzeiti-  Am 9. September wurde in Alabama der geis- ger Entlassung. tig behinderte Holly Wood hingerichtet. Sein Am 14. Oktober forderte der UN-Ausschuss unerfahrener Verteidiger hatte dem Gericht für die Rechte des Kindes die USA auf, die Kin- keine Beweise für die Behinderung seines derrechtskonvention zu ratifizieren. Die USA Mandanten vorgelegt. und Somalia sind die einzigen Länder, die dies  Am 27. September wurde Brandon Rhode in bislang noch nicht getan haben. Georgia hingerichtet. Er hatte sich sechs Tage zuvor mit einer Rasierklinge schwere Schnitt- Rechte von Migranten verletzungen an Hals und Armen zugefügt. Amnesty International und andere Menschen- Nach seiner Wiederbelebung im Krankenhaus rechtsorganisationen äußerten Kritik an dem wurde er mit der Giftspritze für ein Verbrechen weitgefassten Einwanderungsgesetz, das im hingerichtet, das er im Alter von 18 Jahren be- April im Bundesstaat Arizona verabschiedet gangen hatte. wurde. Die Organisationen befürchteten, mit  Am 26. Oktober wurde Jeffrey Landrigan in dem neuen Gesetz werde die verstärkte poli- Arizona hingerichtet, obwohl sich im Laufe der zeiliche Kontrolle nach Herkunft und äußerli- Jahre 13 Bundesrichter dafür ausgesprochen chen Merkmalen (racial profiling) befördert. hatten, ihm eine Anhörung zuzugestehen, um Nach dem neuen Gesetz muss die Polizei von den Vorwurf zu prüfen, er sei bei seinem Pro- Arizona alle Menschen, die nicht sofort ihren zess im Jahr 1990 ungenügend vertreten wor-

Vereinigte Staaten von Amerika 523 den. Die Hinrichtung war zunächst aufgescho- ben worden, weil sich die Behörden geweigert Vietnam hatten, genaue Angaben über die Herkunft des Injektionsgifts zu machen, das aufgrund eines Amtliche Bezeichnung: Versorgungsengpasses aus Übersee importiert Sozialistische Republik Vietnam worden war. Nachdem der Oberste Gerichts- Staatsoberhaupt: Nguyen Minh Triet hof mit einer Stimmenmehrheit von 5: 4 den Regierungschef: Nguyen Tan Dung Hinrichtungsaufschub aufgehoben hatte, Todesstrafe: nicht abgeschafft wurde das Urteil vollstreckt. Einwohner: 89 Mio. Vier Männer und eine Frau wurden 2010 kurz Lebenserwartung: 74,9 Jahre vor der Hinrichtung begnadigt. Kindersterblichkeit (m/w): 27 / 20 pro 1000 Im Oktober wurde in Texas Anthony Graves 16 Lebendgeburten Jahre nach seiner Verurteilung aus dem To- Alphabetisierungsrate: 92,5% destrakt entlassen. Ein Bundesgericht hatte 2006 ein neues Verfahren angeordnet. Doch Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, im Oktober wurde die Anklage fallengelassen, Vereinigungs- und Versammlungsfrei- weil die Staatsanwaltschaft keine hinreichen- heit unterlagen 2010 weiterhin erhebli- den Beweise für seine Verwicklung in die 1992 chen Einschränkungen. Es wurden neue verübten Morde fand. Mit Graves stieg die Zahl Bestimmungen zur Überwachung des In- der Menschen, die seit 1973 den Todestrakt als ternets eingeführt. Die brutale Unter- Unschuldige verlassen konnten, auf 138. drückung von friedlichen Dissidenten und für die Menschenrechte engagier- Amnesty International: Missionen und Berichte ten Personen hielt an. Die Behörden grif-  Delegierte von Amnesty International besuchten die USA im fen zunehmend auf die Anklage des Ver- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Oktober und November und nahmen als Beobachter an Pro- suchs zum »Umsturz« der staatlichen zessen vor den Militärkommissionen und am Verfahren gegen Ordnung zurück, wenn sie gegen friedli- Omar Khadr teil. che Dissidenten vorgingen. Gegen ge- 000835  USA: Still failing human rights in the name of global »war« waltlose politische Gefangene ergingen (AMR 51/ 006/2010) nach unfairen Verfahren lange Haftstra-  Deadly delivery: The maternal health care crisis in the USA (AMR 51/ 007/2010) fen. Einige Dissidenten wurden festge-  USA: Submission to the UN Universal Periodic Review, Novem- nommen und mussten lange Zeit in Un- ber 2010 (AMR 51 / 027/ 2010) tersuchungshaft verbringen, andere  USA: Model criminal justice? Death by prosecutorial miscon- wurden unter Hausarrest gestellt. Mit- duct and a »stacked« jury (AMR 51 /030/2010) glieder einiger religiöser Gruppen wur-  USA: Double standards or international standards? Crucial den schikaniert und misshandelt. Gegen decision on 9 /11 trial forum »weeks« away (AMR 51 / 034/ 2010)  USA: Normalizing delay, perpetuating injustice, undermining the »rules of the road« (AMR 51 / 053/ 2010)  USA: Secrecy blocks accountability, again – federal court dis- misses »rendition« lawsuit; points to avenues for non-ju- dicial remedy (AMR 51 /081/ 2010)  USA: Death penalty, still a part of the »American experi- ment«, still wrong (AMR 51 / 089/ 2010)  USA: The case of the Cuban Five (AMR 51 /093/2010)  Another door closes on accountability. US Justice Department says no prosecutions for CIA destruction of interrogation ta- pes (AMR 51 /104/2010) S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

524 Vietnam mindestens 34 Personen ergingen To- Mindestens 30 gewaltlose politische Gefan- desurteile, Informationen über die An- gene blieben 2010 inhaftiert, darunter Mitglie- wendung der Todesstrafe wurden jedoch der und Unterstützer verbotener politischer geheim gehalten. Parteien, unabhängige Gewerkschafter, Blog- ger, Geschäftsleute, Journalisten und Schrift- Hintergrund steller. Acht weitere Aktivisten wurden im Be- Vietnam übernahm den Vorsitz im Verband richtszeitraum festgenommen und in Untersu- Südostasiatischer Staaten (ASEAN) und war chungshaft gehalten. Andere Dissidenten wur- im Jahr 2010 Gastgeber einer Reihe von regio- den nach ihrer Freilassung unter Hausarrest nalen und internationalen Treffen. gestellt, darunter der gewaltlose politische Ge- Aus Anlass des Nationalfeiertags wurden fangene Le Thi Cong Nhan. 2010 mehr als 17000 Gefangene im Rahmen  Fünf Mitglieder von Viet Tan, einer vietname- einer Amnestie auf freien Fuß gesetzt. Unter sischen Gruppe, die zu Demokratie und politi- ihnen befanden sich jedoch keine gewaltlosen schen Reformen aufruft, wurden festgenom- politischen Gefangenen. men. Die Gruppe hat ihren Sitz im Ausland, In den Monaten Juli und August besuchten unterhält jedoch in Vietnam ein Netzwerk. Drei die unabhängigen UN-Expertinnen für Min- Mitglieder der Gruppe hatten sich Berichten derheitenfragen und für Fragen der Menschen- zufolge für die Landrechte von Kleinbauern ein- rechte und extremer Armut auf Einladung der gesetzt. Der Mathematikdozent Pham Minh Behörden das Land. Hoang hatte gegen den Bauxitabbau im Zentra- len Hochland protestiert, und Hong Vo, die die Rechte auf freie Meinungs- australische Staatsbürgerschaft besitzt, hatte äußerung, Vereinigungs- und an einer friedlichen Protestaktion gegen China Versammlungsfreiheit teilgenommen. Hong Vo wurde wegen »Terro- Strenge Einschränkungen der Rechte von Kriti- rismus« angeklagt und zehn Tage nach ihrer kern oder Gegnern der Regierungspolitik auf Festnahme des Landes verwiesen. freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und  Im Oktober 2010 wurden die unabhängigen Versammlungsfreiheit blieben bestehen. Die Gewerkschafter Do Thi Minh Hanh, Nguyen Bestimmungen des Abschnitts über nationale Hoang Quoc Hung und Doan Huy Chuong auf Sicherheit im Strafgesetzbuch von 1999, da- der Grundlage von Paragraph 89 des Strafge- runter der Paragraph 79 (»Durchführung von setzbuchs (»Störung der nationalen Sicher- Aktivitäten, die den Umsturz der Regierung heit«) angeklagt und vor Gericht gestellt, weil des Volkes zum Ziel haben«), wurden dazu be- sie regierungskritische Flugblätter verteilt und nutzt, Menschen strafrechtlich zu belangen, zu einer Streikaktion in einer Fabrik aufgeru- die friedlich von der offiziellen Politik abwei- fen hatten. Sie erhielten Gefängnisstrafen zwi- chende Meinungen zu politischen und sozia- schen sieben und neun Jahren. len Problemen äußerten. Im April wurden neue Bestimmungen zur Überwachung des Inter- Unfaire Gerichtsverfahren nets eingeführt, die Internetcafés in der Haupt- Bis Ende 2010 verurteilten Gerichte in einer stadt Hanoi betrafen. Dadurch kam es zu wei- Reihe von Verfahren gegen Dissidenten, die teren Einschränkungen des Rechts auf freie im Oktober 2009 begonnen hatten, mindestens Meinungsäußerung und des freien Zugangs 22 für Demokratie und Menschenrechte ein- zu Informationen. Vietnamesischsprachige In- tretende Personen. Es handelte sich aus- ternetblogs und Webseiten von Dissidenten nahmslos um gewaltlose politische Gefan- waren verbreitet Hacking-Angriffen ausgesetzt, gene. Die Gerichtsverfahren entsprachen nicht die nach Ansicht der Internetunternehmen den internationalen Standards für faire Pro- Google und McAfee politisch motiviert gewesen zesse und missachteten grundlegende Rechte sein könnten. wie die auf Unschuldsvermutung und auf Ver-

Vietnam 525 teidigung. Genehmigungen zur Prozessbeob- weiterhin Drangsalierungen und Einschrän- achtung wurden Familienmitgliedern, Journa- kungen ihrer Bewegungsfreiheit ausgesetzt. listen und Diplomaten – wie schon in den Jah- Der Oberste Patriarch Thich Quang Do blieb ren zuvor – entweder nicht erteilt, oder sie 2010 de facto unter Hausarrest. Im Mai und Au- wurden willkürlich eingeschränkt. gust setzten örtliche Behörden und die Polizei  Im Januar verurteilte der Volksgerichtshof unnötige Gewalt gegen Mitglieder der UBCV ein, von Ho-Chi-Minh-Stadt vier Dissidenten nach als diese versuchten, in der Giac-Minh-Pa- einem nur eintägigen Verfahren zu Freiheits- gode in der Provinz Quang Nam-Da Nang spe- strafen zwischen fünf und 16 Jahren. Es han- zielle Gebetsrituale abzuhalten. delte sich um den Rechtsanwalt Le Cong Dinh, Die Streitigkeiten zwischen lokalen Behörden den Geschäftsmann Le Thang Long, den und der katholischen Kirche über Landeigen- Computeringenieur und Blogger Nguyen Tien tum hielten an. Im Mai setzten Hunderte von Trung und den Geschäftsmann Tran Huynh Polizisten Schlagstöcke und Elektroschock- Duy Thuc. Sie wurden wegen »Aktivitäten, die waffen gegen Katholiken der Pfarrgemeinde den Umsturz der Regierung des Volkes zum Con Dau ein. Die Katholiken hatten versucht, Ziel hatten« verurteilt. Die Richter berieten sich eine Frau auf einem Friedhof zu beerdigen, der 15 Minuten lang, bevor sie mit einem Urteil zu- auf einem von den Behörden für Entwick- rückkehrten, dessen Verlesung 45 Minuten lungsprojekte bestimmten Grundstück lag. dauerte. Dies lässt vermuten, dass das Urteil Zahlreiche Menschen wurden verletzt und im Vorfeld vorbereitet worden war. Einige Fami- etwa 60 vorübergehend inhaftiert. Gegen zwei lienmitglieder und Journalisten verfolgten das Personen wurden im Oktober Freiheitsstrafen Verfahren in einem angrenzenden Raum per Vi- von neun bzw. zwölf Monaten verhängt. Neun deoübertragung, anderen wurde jedoch der Angeklagte erhielten wegen Störung der öf- Zutritt verwehrt. Die Urteile gegen drei der Dis- fentlichen Ordnung Strafen ohne Freiheitsent- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen sidenten wurden im Mai im Berufungsverfah- zug. Etwa 40 Mitglieder der Kirchengemeinde ren bestätigt; das Strafmaß gegen Le Thanh flüchteten nach Thailand, um dort Asyl zu be- Long wurde von fünf auf dreieinhalb Jahre re- antragen. 000835 duziert.  Im Februar wurde die Romanautorin und Todesstrafe Journalistin Tran Khai Thanh Thuy vom Volks- Die Nationalversammlung stimmte im Mai 2010 gerichtshof der Provinz Dong Da verurteilt. für eine Änderung der Hinrichtungsmethode. Nachdem die Polizei sie im Oktober 2009 da- Anstelle eines Exekutionskommandos soll in ran gehindert hatte, in eine andere Stadt zu rei- Zukunft die Giftspritze eingesetzt werden, die sen, um dort einem Prozess gegen Dissiden- nach Ansicht der Nationalversammlung gerin- ten beizuwohnen, wurde sie einige Stunden geren Schmerz verursacht, weniger kostet und später von einem Schlägertrupp misshandelt den psychologischen Druck auf die Vollstre- und anschließend festgenommen. In einer of- ckungsbeamten verringert. Die Änderung soll fensichtlich vorsätzlichen Verfälschung des im Juli 2011 wirksam werden. Medienberichten Vorfalls wurde sie des tätlichen Angriffs ange- zufolge wurden 2010 mindestens 34 Personen klagt und nach einer weniger als einen Tag zum Tode verurteilt. In den Medien gab es dauernden Gerichtsverhandlung zu einer drei- keine Berichte über Hinrichtungen. Offizielle einhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Statistiken über die Todesstrafe wurden jedoch nicht veröffentlicht. Diskriminierung religiöser Minderheiten In einigen Provinzen waren Mitglieder der Ver- einigten Buddhistischen Kirche von Vietnam

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht (Unified Buddhist Church of Viet Nam – UBCV)

526 Vietnam Hintergrund Zentralafrikanische Die für April und Oktober angesetzten Wahlen wurden auf Januar 2011 verschoben. Die un- Republik abhängige Wahlkommission gab im Oktober 2010 bekannt, dass das Wählerverzeichnis er- Amtliche Bezeichnung: folgreich fertiggestellt worden sei. In einigen Zentralafrikanische Republik Landesteilen wurden jedoch Mitarbeiter der Staatsoberhaupt: François Bozizé Wahlkommission von bewaffneten Gruppen Regierungschef: Faustin Archange Touadéra verschleppt und als Geiseln genommen. Füh- Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft rende Mitglieder von Oppositionsparteien – Einwohner: 4,5 Mio. darunter der Vorsitzende der Bewegung für Lebenserwartung: 47,7 Jahre die Befreiung des zentralafrikanischen Volkes Kindersterblichkeit (m/w): 196/ 163 pro 1000 (Mouvement pour la Libération du Peuple Lebendgeburten Centrafricain) – waren Repressalien ausgesetzt Alphabetisierungsrate: 54,6% und durften nicht ins Ausland reisen. Eine Be- gründung gab es von offizieller Seite nicht. Die Regierung der Zentralafrikanischen Die Regierung kontrollierte 2010 nur noch Republik (ZAR) hatte die Kontrolle über etwa ein Drittel des Landes. Es gab bereits große Landesteile verloren. Die Über- mindestens 200000 Binnenvertriebene. Durch griffe bewaffneter Gruppen auf die Zivil- den wieder aufflackernden Konflikt mussten bevölkerung nahmen zu. Es herrschte ein erneut tausende Menschen vor den Angriffen Klima völliger Straflosigkeit, in dem so- bewaffneter Gruppen flüchten. Rund 200000 wohl bewaffnete Gruppen als auch Ange- Zentralafrikaner lebten als Flüchtlinge in Nach- hörige der Sicherheitskräfte Menschen- barstaaten. rechtsverstöße begingen. Vor dem Inter- Der Nordwesten des Landes befand sich de nationalen Strafgerichtshof (Internatio- facto unter der Kontrolle der Volksarmee für nal Criminal Court – ICC) begann der Pro- die Wiederherstellung der Demokratie (Armée zess gegen Jean-Pierre Bemba. Der He- Populaire pour la Restauration de la Démocra- xerei beschuldigte Menschen wurden ge- tie – APRD). Diese bewaffnete Gruppe hatte foltert und ermordet. zwar ein Friedensabkommen mit der Regie- rung unterzeichnet, ihre Waffen jedoch nicht abgegeben. Im Südosten häuften sich brutale Übergriffe der ugandischen Rebellengruppe Widerstandsarmee des Herrn (Lord’s Resis- tance Army – LRA). Im Oktober gab die Afrikanische Union (AU) die Bildung einer Militärallianz mit Einheiten aus der ZAR, der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo), dem Sudan und Uganda zur Bekämpfung der LRA bekannt. Diese hatte sich nach ihrer Vertreibung aus dem Norden Ugandas in die ZAR, die DR Kongo und nach Südsudan zurückgezogen. Im Mai unterzeichnete US-Präsident Barack Obama ein Gesetz zur Unterstützung der ZAR und anderer Staaten in der Region bei der Be- kämpfung der LRA. Im Juni besuchten Ange- hörige von Spezialeinheiten der US-Streitkräfte

Zentralafrikanische Republik 527 den Südosten des Landes, um den Unterstüt- nen von Häusern, Scheunen und Geschäften. zungsbedarf der Regierung im Kampf gegen die Durch die allgemein kritische Sicherheitslage LRA festzustellen. Im November legte Präsi- war es für Menschenrechtsgruppen und hu- dent Obama dem US-Kongress ein Strategiepa- manitäre Hilfsorganisationen äußerst schwierig, pier über die Unterstützung der Entwaffnung die genaue Zahl der Opfer und die Identität der LRA vor. der Täter zu bestimmen. Auf Druck des Tschad beschloss der UN-Si- Die APRD stellte im Norden des Landes Stra- cherheitsrat im Mai das Mandat der UN-Mis- ßensperren auf, an denen sie »Steuern« er- sion im Tschad und in der ZAR (MINURCAT) zu presste. beenden. Der Abzug der aus 4375 Friedens-  Nach Angaben des politischen Führers der soldaten bestehenden Mission aus den beiden APRD, Jean-Jacques Demafouth, war der Vor- Ländern sollte in mehreren Etappen erfolgen sitzende des Nationalen Verbands der Vieh- und bis zum Jahresende 2010 abgeschlossen züchter in der ZAR, Souleymane Garga, im sein. April 2009 von einem Anführer der APRD bzw. Die von der Wirtschaftsgemeinschaft Zentral- auf dessen Anweisung in der Stadt Paoua ge- afrikanischer Staaten (ECCAS) unterstützte, tötet worden. Berichten zufolge hat die APRD 500 Soldaten starke Mission für die Friedens- 2010 der Familie von Souleymane Garga eine konsolidierung in Zentralafrika blieb hingegen Entschädigung gezahlt. Die Familie soll die Ent- im Land. schuldigung der APRD angenommen haben. Die ugandischen Streitkräfte waren weiterhin Die LRA verübte in der ZAR Hunderte von mit mehreren tausend Soldaten im Osten der Übergriffen. Sie entführte Menschen, darunter ZAR aktiv. auch Mädchen, plünderte, raubte und ermor- dete Hunderte von Zivilpersonen. Internationale Rechtsprechung  Am 4. Juli 2010 führte die LRA einen Überfall 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Vor dem ICC in Den Haag begann der Prozess auf den Ort Mada-Bazouma in der Nähe der gegen den ehemaligen Vizepräsidenten der Stadt Bangassou aus. Dabei wurden Berichten DR Kongo, Jean-Pierre Bemba. Die Berufungs- zufolge zwei Männer und zwei Frauen ver- 000835 kammer des ICC hatte im Oktober einen An- stümmelt. Sieben Menschen, unter ihnen ein trag seiner Verteidiger auf Klageabweisung ab- 14-jähriges Mädchen, wurden entführt. Eine gelehnt. Damit war das letzte Hindernis für nur 15 km entfernt stationierte Militäreinheit traf einen Prozessbeginn aus dem Weg geräumt. erst am nächsten Tag am Ort des Geschehens Nach Angaben des ICC muss sich Jean-Pierre ein. Bemba in zwei Fällen wegen Verbrechen gegen  Nach Angaben eines Sprechers des UN- die Menschlichkeit und in drei Fällen wegen Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) Kriegsverbrechen verantworten. Er ist ange- überfielen LRA-Rebellen am 10. Oktober 2010 klagt, in den Jahren 2002 und 2003 in der ZAR die Stadt Birao im Norden. Die Rebellen ver- Milizen befehligt zu haben, die Zivilpersonen schleppten Mädchen, plünderten und setzten systematisch vergewaltigten und ermordeten. Geschäfte in Brand. Nach weiteren Angaben des UNHCR-Sprechers hatte die LRA bis dahin Menschenrechtsverstöße im Jahr 2010 bereits 240 brutale Überfälle ver- bewaffneter Gruppierungen übt und dabei mindestens 344 Menschen getö- Bewaffnete Gruppen verwundeten und töteten tet. Zivilpersonen in den von Kampfhandlungen Die Sammlungsbewegung der Patrioten für betroffenen Landesteilen, ohne dass die Ver- Gerechtigkeit und Frieden (Convention des antwortlichen dafür bestraft wurden. Zu den Patriotes pour la Justice et la Paix – CPJP), eine häufig berichteten Übergriffen zählten auch der bewaffneten Gruppen, die das Friedens- Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen, abkommen mit der Regierung nicht unterzeich-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht aber auch Plünderungen und das Niederbren- net hatten, war im Nordosten der ZAR für Ver-

528 Zentralafrikanische Republik gewaltigungen, Tötungen, Plünderungen und Gewaltlose politische Gefangene Erpressungen verantwortlich. Personen, die als Kritiker der Regierung galten,  Am 30. Oktober 2010 entführten Angehörige Verbindungen zu Regierungskritikern hatten der CPJP 21 Mitarbeiter der Wahlkommission, oder mit ihnen verwandt waren, wurden unter die die Wählerlisten für die Ende Oktober anbe- falschen Anklagen ins Gefängnis gesteckt. raumten Wahlen aktualisierten. Wie es hieß,  Im Juni 2010 wurden elf Menschen festge- wurden sie kurz vor Erreichen der Stadt Birao nommen, weil sie Verbindungen zu einem gefangen genommen. Ihre Unterlagen wurden Rechtsanwalt und einem Geschäftsmann hat- vernichtet. ten, die von den Behörden per Haftbefehl ge- Die ugandischen Streitkräfte waren weiterhin sucht wurden. Symphorien Balemby, Präsident im Osten der ZAR präsent. Sie sollen im Ja- der Anwaltsvereinigung in der ZAR, und der nuar nördlich der Stadt Djema den stellvertre- Geschäftsmann Jean-Daniel Ndengou flohen tenden Kommandeur der LRA, Bok Abudema, ins Ausland, nachdem sie öffentlich beschul- erschossen haben. Im Oktober erschoss ein digt worden waren, in der Hauptstadt Bangui ugandischer Soldat einen jungen Mann aus am 9. Juni einen privat betriebenen Super- der ZAR und verwundete dessen Vater. markt in Brand gesetzt zu haben. Unter den elf Festgenommenen waren u. a. Albertine Ka- Polizei und Sicherheitskräfte layen Balemby, Ehefrau und Sekretärin von Regierungstruppen zeichneten in den Landes- Symphorien Balemby, sowie Gabin Ndengou, teilen, die von Kämpfen gegen bewaffnete der Bruder von Jean-Daniel Ndengou und Fah- Gruppen betroffen waren, für widerrechtliche rer für die Weltgesundheitsorganisation Tötungen und andere schwere Menschen- (WHO). Berichten zufolge wurde gegen die in- rechtsverletzungen verantwortlich. Des Weite- haftierten Frauen und Männer Anklage wegen ren war die Regierung für willkürliche Inhaftie- Brandstiftung, Aufwiegelung zum Hass und Bil- rungen, Fälle von »Verschwindenlassen« sowie dung einer kriminellen Vereinigung erhoben. Folterungen und andere Misshandlungen ver- Amnesty International betrachtete sie jedoch antwortlich. als gewaltlose politische Gefangene, gegen die  Im März wurden zwei Schwestern von Has- wegen ihrer Verbindungen zu den beiden Män- san Ousman, dem ehemaligen Anführer der nern falsche Anklagen erhoben wurden. Rebellenbewegung Nationale Bewegung zur  Der Menschenrechtsverteidiger Lewis-Alexis Rettung des Vaterlandes (Mouvement national Mbolinani, Koordinator der NGO Jeunesse du salut de la patrie), festgenommen. Sie hatten unie pour la protection de l’environnement et le nach Informationen über ihren Bruder ge- développement communautaire, die sich für forscht, der seit Dezember 2009 »verschwun- Umweltschutz und Entwicklung engagiert, war den« ist. Hassan Ousman war der Vorsitzende bis Ende März 2010 ohne Gerichtsverfahren des Unterausschusses für Sicherheit und inhaftiert. Er war im Dezember 2009 von Beam- Streitkräfte des Begleitausschusses für den ten der Ermittlungsabteilung der Kriminalpoli- Nationalen Dialog. Die beiden Schwestern wur- zei (Section Recherche et Investigation) festge- den der Spionage und Kollaboration mit einer nommen und fälschlicherweise der Kollabora- ausländischen Macht angeklagt. tion mit der LRA beschuldigt worden. Er wurde  Im Januar 2010 wurde Charles Massi, ehe- im April vorläufig auf freien Fuß gesetzt und maliger Minister und Anführer der CPJP, Opfer gab nach seiner Freilassung an, dass er in der des »Verschwindenlassens«. Er soll von Regie- Haft gefoltert worden sei. Im Oktober erklärte rungstruppen zu Tode gefoltert worden sein. der Staatsanwalt des zuständigen erstinstanzli- Angehörige der Sicherheitskräfte des Tschad chen Gerichts in Bangui, dass sich Lewis-Ale- hatten ihn an die Behörden der ZAR ausgelie- xis Mbolinani nicht vor Gericht verantworten fert. müsse.

Zentralafrikanische Republik 529 Folter und Ermordung Menschenhandel stellte fest, dass Zy- wegen angeblicher Hexerei pern gegen die Rechte auf Leben und Der Hexerei verdächtigte Frauen und Männer auf Schutz vor Zwangsarbeit verstoßen wurden häufig gefoltert oder auf andere Weise hat. misshandelt und in einigen Fällen sogar umge- bracht. Regierung und Sicherheitsdienste dul- Hintergrund deten die Anschuldigungen und die Misshand- Führende Vertreter der griechischen und der lungen stillschweigend und unternahmen türkischen Zyprer setzten ihre Verhandlungen nichts, um die Opfer zu schützen oder die für 2010 fort. Zu den Diskussionspunkten zählten Übergriffe Verantwortlichen zur Rechenschaft Staatsführung und Machtverteilung, Themen, zu ziehen. die im Zusammenhang mit der EU und der  Betty Kimbembe, die 35 Jahre alte Mutter Wirtschaft standen, sowie Eigentumsfragen. eines vier Monate alten Babys, und zwei Män- Im November willigten beide Seiten ein, die ner wurden im April 2010 von Soldaten und Kontakte zu intensivieren. Der UN-Ausschuss einem Sohn des Staatspräsidenten brutal zu- für in Zypern vermisste Personen setzte seine sammengeschlagen, nachdem der Präsiden- Arbeit fort. Bis Ende Dezember hatte man die tensohn sie der Hexerei beschuldigt hatte. sterblichen Überreste von insgesamt 767 Per- sonen exhumiert. Im Laufe des Jahres wurden Todesstrafe mehrere rassistisch motivierte Übergriffe ge- Das Strafgericht in Bangui verurteilte 14 Men- meldet. schen in Abwesenheit zum Tode. Es gingen keine weiteren Meldungen über Todesurteile Flüchtlinge und Asylsuchende oder Hinrichtungen ein. Ende Mai 2010 kampierten etwa 250 syrische Kurden vor dem sogenannten EU-Haus in Ni- 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen Amnesty International: Mission kosia, um gegen die Ablehnung ihrer Asylan-  Delegierte von Amnesty International hielten sich im Juli träge durch die Regierung zu protestieren und im Land auf. ein Aufenthaltsrecht zu erreichen. Am 11. Juni 000835 wurden dem Vernehmen nach 143 der Protes- tierenden, darunter auch Kinder, bei einem frühmorgendlichen Polizeieinsatz festgenom- men. Einige von ihnen kamen unverzüglich wieder frei, 23 sollen aber noch am selben Tag nach Syrien abgeschoben worden sein. Am Zypern 14. Juni verfügte der Europäische Gerichtshof

Amtliche Bezeichnung: Republik Zypern Staats- und Regierungschef: Dimitris Christofias Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 0,9 Mio. Lebenserwartung: 80 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 7 / 6 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 97,8%

Mehrere abgelehnte Asylsuchende wur- den nach Syrien abgeschoben. Ein weg-

S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht weisendes Urteil im Zusammenhang mit

530 Zypern für Menschenrechte einstweilige Maßnahmen festgenommen haben, aber keinen der De- und forderte Zypern auf, die Abschiebung der monstrierenden. 44 noch inhaftierten Personen auszusetzen. Sieben der Inhaftierten kamen daraufhin frei, Menschenhandel entweder weil über ihre Asylanträge noch nicht  In einem wegweisenden Urteil zum Tod von entschieden war oder weil sie staatenlos wa- Oxana Rantseva, einem Opfer von Menschen- ren. Berichten zufolge wurden 32 der verbliebe- handel, stellte der Europäische Gerichtshof für nen Inhaftierten zwangsweise nach Syrien zu- Menschenrechte im Januar 2010 fest, dass rückgeführt, nachdem der Europäische Ge- Zypern durch sein Versäumnis, effektive Ermitt- richtshof für Menschenrechte die einstweili- lungen durchzuführen, das Recht auf Leben gen Maßnahmen in ihren Fällen im September verletzt habe. Das Gericht lastete Zypern über- aufgehoben hatte. Die übrigen fünf blieben dies an, gegen das Verbot von Sklaverei und weiterhin in Zypern in Haft. 17 der abgeschobe- Zwangsarbeit verstoßen zu haben, da die Be- nen Personen wurden Berichten zufolge bei hörden es unterlassen hätten, angemessene oder nach ihrer Ankunft in Syrien festgenom- Strukturen zur Bekämpfung von Menschen- men und inhaftiert. handel aufzubauen, und die Polizei keine Maßnahmen ergriffen habe, um Oxana Rant- Polizei seva vor Menschenhandel zu schützen. Oxana  Im November 2010 wurden Besucher des Rantseva war im März 2001 in Limassol unter antirassistischen Rainbow-Festivals in Lar- verdächtigen Umständen durch einen Sturz naka Meldungen zufolge von Personen ange- zu Tode gekommen, als sie versuchte, aus einer griffen, die an einer gegen Migranten gerichte- Wohnung im fünften Stock zu fliehen, die ten Demonstration teilnahmen, die am selben einem Angestellten ihres früheren Arbeitgebers Tag und am selben Ort stattfand. Das Verhal- gehörte. ten der Polizei im Zusammenhang mit diesen Ereignissen gab Anlass zu Besorgnis. Es gab Rechte von Lesben, Schwulen, auch Vorwürfe, die Polizei sei mit exzessiver Ge- Bisexuellen und Transgender-Personen walt gegen die Besucher des Rainbow-Festi- Im März 2010 empfahl die Behörde gegen Ras- vals vorgegangen, um den migrantenfeindli- sismus und Diskriminierung die gesetzliche chen Demonstrierenden den Weg frei zu ma- Anerkennung von Lebensgemeinschaften chen. Die Polizei soll sechs Festivalbesucher gleichgeschlechtlicher Paare.

Zypern 531 2. Korrekturgang 31.3.11 & Bosse Clausen 000835 S. Fischer VerlagS. Fischer 240.142 Amnesty International 2011 Jahresbericht

532 Zypern