Geschichten, Die Zählen
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01 mittwoch, 26. mai 2021 taz literataz Geschichten, die zählen Eine Studie über den Vater von Marcel Proust Seite 2 eine schwierige Ankunft in der weißen Mehrheitsgesellschaft Seite 3 eine Frauenfreundschaft in Zeiten rechter Gewalt Seite 6 Gedichte voller subversiver Komik Seite 7 ein Gespräch über weibliche Selbstunterwerfung Seite 9 eine Studie über Antisemitismus Seite 11 eine provokante Infragestellung von #MeToo-Gewissheiten Seite 12 und andere interessante Neuerscheinungen aus den Bereichen Belletristik und Sachbuch Foto: Samuel Aranda/Panos Bücher von Lothar Müller | Brandon Taylor | Lisa Krusche | Julia Phillips | Shida Bazyar | Kerstin Hensel | Nastassja Martin | Michael Zichy | Jonas Lüscher | Manon Garcia | Benno Gammerl | Peter Longerich | Mary Gaitskill Anzeige »Glasklar,analytisch,faktenstark. Undmotivierend, denn die Zukunftist noch veränderbar.Für uns, für die Kinder von heute –und ihreEnkel.« Dr.Eckart vonHirschhausen DasRezept gegen Klima-Ignoranz Klappenbroschur DerKlimawandel wirdDeutschland schon bis 2050 €(D) 18,– Verfügbar auch als tiefgreifend verändern. Wasgenauuns erwartet, E-Book beschreibt dieses Buch auf der Basis neuester www.kiwi-verlag.de Forschungserkenntnisse. 02 literataz mittwoch, 26. mai 2021 taz editorial Unter der Seele und Hygiene Oberfläche Marcel Prousts Vater war der „Schöpfer der internationalen Hygiene“. Was das für das Fin Über diese literataz, Pandemien, de Siècle und die Literatur bedeutete, zeigt ein ganz wunderbares Buch über die Prousts Normalisierungen und nötige Differenzierungen Von Tania Martini as ging jetzt doch schnell. Noch An- lichen Selbstbeobachtung dient fang dieses Jahres generierte allein m Paris des Jahres 1830 mag (wie heute vielleicht der Nar- schon die Beobachtung, Rassismus man ähnlich gefühlt ha- zissmus). Bereits die Zeitgenos- D und identitätspolitische Fragen seien ben wie im Paris des Jahres sen brachten die Neurasthe- die großen Trendthemen im literarischen Be- 2020. Eine neue Pandemie nie in Verbindung mit dem be- reich, einige Aufmerksamkeit. Inzwischen sind hatte die Stadt erreicht. Aus schleunigten (Großstadt-)Leben, wir weiter. Und zwar keineswegs, weil bereits Indien war sie über russi- der Verschiebung von Klassen- der ablösende nächste große Trend anstünde. Ische Truppen nach Westeuropa schranken oder der Elektrifizie- Sondern weil das Pauschale nicht mehr passt. gelangt und hatte sich zu einem rung gar. Sharon Dodua Otoos weite historische Bö- internationalen Problem entwi- Das Fin de Siècle jedenfalls ist gen in „Adas Raum“ sind etwas anderes als die ckelt. Der Zusammenhang ihrer die Zeit, in dem die psychischen identitätspolitische Diskursaufhellung Mithu Ausbreitung mit den Dynami- Innenwelten wie nie zuvor in Sanyals in „Identitti“, sind etwas anderes als die ken der Globalisierung war be- den Blick genommen werden. hingejazzten Frauenporträts Bernardine Eva- reits damals den Menschen be- Ist es nur ein Zufall, dass Mar- ristos in „Mädchen, Frau etc.“ – um nur einige wusst und damals kollidierten cel Proust mit seiner Recherche Neuerscheinungen zu nennen, die zuletzt breit wie heute präventive Quaran- einen introspektiven Roman wahrgenommen wurden. Literaturkritisch tänemaßnahmen mit ökono- geschrieben hat? Wer über die geht es da längst nicht mehr um Einteilungen mischen Interessen. psychischen Innenwelten spre- und Rubrizierungen, sondern um Differenzie- Die Cholerapandemie kam in chen möchte, kommt nicht um- rung, auch innerhalb der sogenannten postmi- mehreren Wellen und wurde im hin, sich mit Jean-Martin Char- grantischen Literatur. 19. Jahrhundert zum Katalysator cot zu beschäftigen, dem Leiter Diese Bewegung setzt sich mit den Roma- für vieles Neue – von der Bakte- der mythologisierten psychiat- nen des US-amerikanischen Erzählers Bran- riologie bis hin zum Städtebau rischen Klinik Salpetrière. Char- don Taylor (S. 3) und der deutschen Autorin und der Sozialpolitik. Mit der cot erforschte mittels der Hyp- Shida Bazyar (S. 6) auch in dieser Literaturbei- Ausbreitung der Cholera ent- nose die Hysterie. Auch Sig- lage fort, die die taz zu einem ungewöhnlichen stand auch die internationale mund Freud besuchte Charcots Zeitpunkt herausbringt – nicht wie üblich im Gesundheitsdiplomatie; in ihr Vorlesungen und entwickelte März zur üblicherweise dann stattfindenden spielte Adrien Proust eine zen- aus den Einsichten, die er dort Leipziger Buchmesse, sondern im Mai, an ei- trale Rolle. in die Hysterie bekam, seine nem Punkt also, an dem man dank fallender Proust war als Arzt Chef der Neurosenlehre. Müller zeigt Inzidenzen und steigender Impfkontingente öffentlichen Hygiene der Drit- eindrücklich, wie in Charcots wieder auf gesellschaftliche Normalisierung Der Arzt ten Französischen Republik berühmter „Leçon du mardi“ in der Pandemie hoffen darf. Adrien Proust (1870–1940) und ein Pionier der Klinik, Salon und Literatur sich Normalisierung – was auch immer dieser Be- (1834–1903) Epidemiologie, der mit Robert verbanden, sei es in der Zuhö- Foto: Balfore griff meint. Wurden doch alle bisherigen Kri- Koch die Anlage von Quarantä- rerschaft oder weil „die Medizi- Archive/Alamy/ sen stets zum Beschleuniger für das bereits un- nestationen diskutierte. Zu sei- ner der Salpetrière in den Figu- mauritius ter der Oberfläche schlummernde Neue. Das images nem Tod im Jahr 1903 würdigte ren des Theaters und der Litera- lehrt uns auch ein Blick zurück in die Zeit der ihn die Zeitung Le Figaro auf tur Verwandte ihrer Patienten“ großen Cholerapandemie, in der die öffentli- Seite eins als „Schöpfer der in- steckungen von Mensch zu der Recherche wieder: die „lite- fanden. Von Menschen mit che Hygiene erfunden wurde und eine funda- ternationalen Hygiene“. In Ver- Mensch sich ausbreitete, war rarisch ergiebigste ist, dass es „zwei Ichs“ oder einem „dop- mentale Umwälzung aller Lebensbereiche und gessenheit geriet er außerhalb damals durchaus noch umstrit- den Schlaf gefährdet“ – weil der pelten Bewusstsein“ war die der Idee von Bevölkerung und Politik generell der Medizingeschichte dennoch ten und Gegenstand internatio- Schlaf selbst „eine der Großfigu- Rede, auch Adrien Proust hatte mit sich brachte. Lothar Müller erzählt in sei- – ganz anders freilich sein Sohn naler Kontroversen, die Proust ren“ des Romans ist. Patient:innen, die er so charak- nem wunderbaren Porträt Adrien und Marcel Marcel Proust, der mit „À la re- maßgeblich mitbestimmte. Am interessantesten ist Mül- terisierte. Aus dem Kreis um Prousts davon (S. 2). cherche du temps perdu“, kurz Vor allem die Pilgerfahr- lers Buch jedoch, wo er eine Charcot gibt es etliche Verbin- Dass ein normales Leben für Juden und Jü- Recherche genannt, den wohl ten nach Mekka beschäftigten Ebene tiefer bohrt und die Frage dungen zu Adrien und Marcel dinnen in Deutschland noch immer nicht mög- wichtigsten französischen Ro- Proust als Ansteckungsrisiko nach den in beider Werke ent- Proust. lich ist, dürfte in den letzten zwei Wochen, an- man des 20. Jahrhunderts ver- und machten die Regulierung haltenen Formen des Wissens Im Salon der Daudets je- gesichts des tobenden antisemitischen Mobs fasst hat. der Schiffspassagen durch den aufgreift – wozu die „enzyklo- doch, wo Marcel Proust ver- auf den Straßen und vor den Synagogen, ein Nun könnte man die Biogra- 1869 fertiggestellten Suezkanal pädischen Ambitionen“ in der kehrt, regt sich Widerstand ge- paar Menschen mehr klar geworden sein. We- fie des Vaters schreiben oder zu einem zentralen Punkt seiner Recherche ebenso zählen wie gen die enorme Macht Charcots niger sichtbar, aber auch gefährlich ist der leise im Leben und Werk des einen Pandemiebekämpfung. Freilich die noch junge öffentliche Hy- und der Ärzte im Allgemeinen. Antisemitismus, der aus der Mitte der Gesell- Proust die Spuren des anderen waren seine Forschungsreisen giene (hygiène publique) in der Der viel gelesene Romanautor schaft nie verschwunden ist. Immer wieder zei- suchen, aber der Literaturkriti- wie seine Stellung in der Drit- Medizin, die mit ihrem Ensem- Alphonse Daudet veröffent- gen unterschiedliche Studien, dass jeder Vierte ker Lothar Müller hat mit sei- ten Republik als solche untrenn- ble von Regeln wie eine „Alles- licht 1894 als ehemaliger Pati- in Deutschland antisemitisch eingestellt ist. Da nem Buch „Adrien Proust und bar mit den französischen Ko- fresserin“ über alle Lebensberei- ent Charcots in der Rubrik „Er- hilft es auch nicht, zwischen Israelkritik und sein Sohn Marcel“ etwas viel lonialinteressen verbunden. che sich ausdehnt. innerungen von Zeitgenossen“ Antisemitismus zu trennen. Tun die Antisemi- Interessanteres getan. Müller Wie der Präsident der Dritten Denn, wie man an dieser des Figaro eine literarische Re- ten nämlich auch nicht. Peter Longerichs ful- hatte die berauschend gute Idee, Republik, Félix Faure, sah auch Stelle hinzufügen kann: Die „öf- portage, die zeigt, wie die Pati- minante Untersuchung über deutschen Anti- Vater und Sohn als Beobachter Proust sich im Dienst der „zivili- fentliche Hygiene“ hatte zwar ei- enten der Salpetrière den Ärz- semitismus zeigt erschreckende Kontinuitä- ihrer erkrankten Gegenwart zu satorischen Macht“ Frankreichs. nen Vorläufer in der Individu- ten ausgeliefert sind. ten in unterschiedlichen Zeitumständen (S. 11). porträtieren. Herausgekommen Müller zeigt, wie Adrien Proust alhygiene, wie sie zur Zeit der Obzwar es im Hintergrund Lothar Müller: Dirk Knipphals, Tania Martini ist ein luzider Streifzug durch in seinen zahllosen Schriften Aufklärung thematisiert wor- auch um das spektakuläre Schei- „Adrien Proust zwei ganz unterschiedliche