Aus Freude am Lesen

1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1 229.09.109.09.10 07:5107:51 in den späten 80er Jahren: besucht eine Mäd- chenschule für palästinensische Waisenkinder. Die Kinder wachsen in einem Umfeld aus Gewalt und Unzufriedenheit auf. Seit der israe lischen Staatsgründung 1948 fühlt sich die palästinensische Bevölkerung in unterdrückt. Als Miral sich in einen Jungen verliebt, der überzeugt ist, den Konflikt zwischen den beiden Völkern nur gewaltsam lösen zu kön- nen, gerät das Mädchen auf einen gefähr lichen Weg. Doch langsam wächst in Miral die Gewissheit, dass nur Liebe die Welt verändern kann. Der Roman beginnt mit einem biographischen Teil über das Leben Hind Husseinis (1916–1994), Gründerin des Jerusale- mer Waisenhauses Dar Al Tifel für palästinensische Kinder.

Rula Jebreal ist palästinensi- sche Israelin, sie wurde 1973 in geboren. Ab ihrem fünf-

© Nina Subin © Nina ten Lebensjahr besuchte sie die Dar-Al-Tifel-Schule. Jebreal stu- dierte später an der Universität von Bologna und arbeitete als Journalistin bei verschiedenen italienischen Medien. Ihr Roman »Miral«, der zunächst in Italien erschien, trägt autobiographische Züge. Der Stoff wurde von , dem oscarprämierten Regisseur von »Schmetterling und Taucherglocke«, entdeckt, seine Verfilmung von »Miral« ist jetzt in den deutschen Kinos zu sehen.

1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 2 229.09.109.09.10 07:5107:51 Rula Jebreal Miral Ein Land. Drei Frauen Ein gemeinsamer Traum

Roman

Aus dem Englischen von Leon Mengden

1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 3 229.09.109.09.10 07:5107:51 Die italienische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »La strada dei fiori di Miral« bei Rizzoli, Mailand. Die in Zusammenarbeit mit der Autorin überarbeitete amerikanische Ausgabe, auf der die vorliegende deutsche Ausgabe basiert, erschien 2010 unter dem Titel »Miral« bei Penguin, New York.

Mix Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen kontrollierten Herkünften www.fsc.org Zert.-Nr. GFA-COC-001223 © 1996 Forest Stewardship Council Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier Ensolux cream liefert Stora Enso, Finnland.

1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2010 Copyright © 2004, 2010 by Rula Jebreal Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: plainpicture / Readymade-Image / Philippe Levy Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Einband: CPI – Clausen & Bosse, Leck SL · Herstellung: SK Printed in Germany isbn 978-3-442-74148-9

www.btb-verlag.de

1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 4 229.09.109.09.10 07:5107:51 Für Julian

1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 5 229.09.109.09.10 07:5107:51 1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 6 229.09.109.09.10 07:5107:51 erster teil Hind

1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 7 229.09.109.09.10 07:5107:51 1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 8 229.09.109.09.10 07:5107:51 1

Am 13. September 1994 wurde das arabische Wohnviertel Je- rusalems bei Tagesanbruch von einer Hiobsbotschaft erschüt- tert, denn die Kunde vom Tode Hind Husseinis verbreitete sich bereits von Haus zu Haus, noch ehe Radio Jerusalem die Nachricht gesendet hatte. An diesem Morgen verlagerte sich das Getöse, das normalerweise die Vorbereitungen für das tägliche Markttreiben auf den Souks begleitete, von den schmalen Gassen und Durchgängen der Altstadt zur Saladin Street, durch die der Trauerzug kommen würde. Viele Laden- besitzer behielten ihre Rollläden geschlossen und standen mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihren Geschäften. Das übliche Feilschen verstummte, sowie man erfuhr, dass der Sarg soeben aus dem am Fuße des Ölbergs mit Blick auf die Altstadt gelegenen Waisenhaus namens Dar Al Tifel getra- gen wurde. Das war Hind Husseinis Wirkungsstätte gewesen, der sie fast ihr ganzes Leben gewidmet hatte. Seit der Grün- dung im Jahre 1948 hatte diese Institution als Hoffnungsträger für die Zukunft Palästinas gegolten. In den überwiegend von Arabern bewohnten Vierteln wurde an den Fenstern allenthalben die palästinensische Flagge gehisst, und diejenigen Anwohner, die nicht auf die Straße hinuntergegangen waren, standen auf ihren Balko- nen und warfen Hände voll Salz, Reis oder Blumen, während alles zu Ehren der Frau applaudierte, die ein so mutiges und

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 9 229.09.109.09.10 07:5107:51 dennoch demütiges Leben geführt hatte. Selbst den Männern standen Tränen in den Augen. Ein Gefühl tiefer Bestürzung senkte sich über die Stadt, denn man war sich darin einig, dass Jerusalem eine seiner angesehensten Einwohnerinnen verloren hatte. So manchem kam es vor, als hätte sich eines der Tore der Stadt mit einem Male für immer geschlossen.

Hind Husseini war 1916 während der osmanischen Herr- schaft in der Heiligen Stadt geboren worden und hatte ihre ersten beiden Lebensjahre in Istanbul verbracht, wo ihr Vater Richter gewesen war. Ein paar Monate vor der Auflösung des Reiches in der Folge seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg kehrte die Familie nach dem Tod des Vaters nach Jerusalem zurück. Zu dieser Zeit befand sich Palästina gerade im Über- gang von der türkischen Herrschaft zu seinem Nachkriegssta- tus unter britischem Mandat, das bis zur Gründung des Staa- tes Israel im Jahre 1948 andauern sollte. Hind, ihre Mutter und ihre fünf Brüder bezogen ein Haus im armenischen Viertel, das sich bereits seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Husseini befand. Ihre Mutter und ihr Vater hatten nach der Hochzeit in dem geräumigen Gebäude mit seinen fünf Zimmern gewohnt, und das Wohnzimmer war immer noch mit den bunten Teppichen und gestickten Kissen geschmückt, die Hinds Mutter seinerzeit in ihrem für die Näharbeiten seiner Frauen berühmten Heimatdorf hatte anfertigen lassen. In der Mitte des Raumes thronte eine Was- serpfeife auf einem für arabische Länder typischen Tisch: einem großen Silbertablett auf einem Gestell aus dunklem Holz. Nach dem Umzug nach Jerusalem hatte Hinds Mutter die Verwaltung der Ländereien im Außenbezirk Sheikh Jarrah und der dazugehörigen Tiere, die sie mit dem Land von ih-

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1010 229.09.109.09.10 07:5107:51 rem Ehemann und seiner Familie geerbt hatte, übernommen. Jeden Morgen begab sie sich früh dorthin, um die zahlrei- chen Arbeitskräfte zu überwachen. Ihr ständiger Begleiter auf diesen täglichen Exkursionen war ihr ältester Sohn Ke- mal, den sie mit den Aufgaben der familieneigenen Landwirt- schaft vertraut machen wollte, damit er sie eines Tages über- nehmen konnte. Am frühen Nachmittag pflegten Mutter und Sohn schließlich nach Jerusalem zurückzukehren, wobei sie am Hauptwohnsitz der Sippe, dem ein kurzes Stück jenseits der Stadtmauer gelegenen Haus von Hinds Großvater, einen Zwischenhalt einlegten. Dort spielte Hind bis zur Abend- dämmerung mit ihren Brüdern und Kusinen, dann kehrten sie alle gemeinsam nach Hause zurück. Erkundigten sich An- gehörige bei Hinds Mutter nach dem Grund für diese tägliche Odyssee, antwortete sie stets ohne Zögern: »Mein Ehemann hat gewusst, dass wir in unser Haus in Jerusalem zurückkeh- ren würden, falls ihm je etwas zustieße. Wenn sein Geist des Nachts kommt, um nach uns zu suchen, wird er so immer wissen, wo wir zu finden sind.« Hinds Mutter hatte diesen Mann fast ihr ganzes Leben lang geliebt, nachdem sie ihn gemäß einer zwischen den beiden Familien getroffenen Ehevereinbarung bereits im Alter von vierzehn Jahren geheiratet hatte. Da sie von vornehmer Ge- burt war und ihr Ehemann aus einer Sippe stammte, die die höchsten zivilen und religiösen Ämter für sich beanspruchte, vom Gouverneur über den Bürgermeister bis zum Mufti, ge- riet die Hochzeitsfeier zum prächtigen Spektakel. Die Braut erschien, gefolgt von ihrer ganzen Familie, auf einem weißen Pferd, einem arabischen Vollblut. Als Mitgift brachte sie drei Grundstücke und zwei Häuser in die Ehe ein, während ihr der Bräutigam gemäß alter arabischer Sitte eine mit Kupfer be- schlagene, mit rotem Samt ausgekleidete und bis zum Über-

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1111 229.09.109.09.10 07:5107:51 laufen mit eigens für diesen Anlass gefertigtem Schmuck – Armreifen, Halsketten, Ohr- und Fingerringe – gefüllte Truhe schenkte. Allerdings legte Hinds Mutter ihren Goldschmuck nur selten an, denn sie erachtete das Zurschaustellen von Reichtum als vulgär. Die Hochzeitszeremonie fand im Haus der Familie des Bräutigams statt. Dort hatten die Frauen mit Kardamom und Zimt gewürztes, gebratenes Hammelfleisch, Basmatireis mit Pinienkernen und Rosinen, gekochten Kürbis und gekochte Möhren, Lauch in Zwiebeln und Muskat sowie Joghurt zum Dippen und diverse Schalen mit gemischten Früchten vorbereitet. Gegen Abend wurde dann auch getanzt, und die Hochzeitsfeier dauerte bis weit nach Mitternacht. An- schließend begleiteten die beiden Elternpaare der Frischver- mählten Braut und Bräutigam zu ihrem neuen Wohnsitz im armenischen Viertel, wo die Verwandten dann vor dem Haus warteten, bis die Hügel von Jerusalem sich im ersten Licht der Morgendämmerung rosig färbten. Dann erschien der Bräuti- gam, um den Beweis dafür vorzulegen, dass die Ehe vollzo- gen worden war. Im Jerusalem von Hinds Kindheit herrschte noch eine relative Ruhe. Obwohl sie Muslimin war, hatte sie jeden Weih- nachtsabend im American Colony Hotel verbracht, das ein- mal der Palast des türkischen Paschas gewesen war. Bertha Spafford, eine reiche, exzentrische Amerikanerin, gab dort zu jedem Weihnachtsfest eine Party für die Kinder des Viertels. Dort wurde mit Brot und Rosinen gefüllter Truthahn serviert, auf den noch ein üppiger Nachtisch und schließlich die Ver- teilung der Geschenke folgten. In der Hotelhalle stand immer ein Tannenbaum, ein Geschenk von Hinds Mutter. Sie hatte ihn mit Hilfe ihrer Söhne persönlich auf ihrem eigenen An- wesen ausgegraben. Am Ende der Feier begleiteten die Kin- der Bertha dann nach draußen, um zuzusehen, wie der Baum

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1212 229.09.109.09.10 07:5107:51 auf dem Hotelgelände eingepflanzt wurde, denn, wie Bertha ihren kleinen Gästen einzuschärfen pflegte, »die ganze Weih- nachtsparty hätte keinem guten Zweck gedient, wenn wir den Baum sterben ließen«. Zum Abschluss wurden dann noch Weihnachtslieder auf Arabisch gesungen, und danach be- suchten die Christen unter den Gästen die Christmette in der Grabeskirche. Bertha und Hinds Mutter hatten gemeinsam eine Kranken- station für die Kleinbauern gestiftet, die auf ihren Ländereien arbeiteten. Als man eines Tages ein ausgesetztes Neugebore- nes vor der Tür des Spitals fand, nahmen die beiden Frauen das Baby sofort unter ihre Fittiche und päppelten es mit Un- terstützung eines Arztes, der ehrenamtlich Dienst in dem Krankenhaus tat, ein paar Tage lang auf, bis sie eine Bauern- familie fanden, die bereit war, das Kind zu adoptieren. Hind und ihre Brüder genossen eine vorzügliche Ausbil- dung. Ihre Mutter erwartete von ihnen, dass sie mindestens einige Stunden des Tages mit Lesen verbrachten. Unter den dafür ausgewählten Büchern gab es auch ein paar Romane in englischer Sprache, die die Mutter mit Berthas Hilfe aufge- trieben hatte. Hinds Mutter bestand ganz besonders darauf, dass ihrer Tochter Bildung zuteil wurde, denn sie war der fes- ten Überzeugung, dass dies die gesellschaftliche Stellung einer Frau verbesserte. Also wurde Hind auf das Frauencollege von Jerusalem geschickt, während ihre Brüder gemeinsam mit den anderen jungen Männern aus den vornehmsten Familien der palästinensischen Bourgeoisie, etwa den Nashashibis und Dijanis, auf renommierte Universitäten in Damaskus oder Kairo geschickt wurden, um dort ihr Studium zu absolvieren. Hind wurde das Privileg zuteil, ihre Kindheit und Jugend in einer der faszinierendsten Städte der Welt zu verbringen. Obwohl manche der kommenden Katastrophen sich bereits

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1313 229.09.109.09.10 07:5107:51 abzeichneten, war Jerusalem damals noch ein Ort, wo Kin- der in Frieden aufwachsen konnten. Hinds Mutter hätte ihre Tochter gerne in großem Stil mit einem ihrer Cousins verhei- ratet, doch Hind bestand darauf, ihr Studium in Damaskus fortzusetzen. 1936 machte dann der arabische Aufstand gegen das britische Protektorat sowohl die Pläne der Mutter als auch die Träume der Tochter zunichte.

Den beiden Frauen, die Hind Husseinis Leichnam wuschen, bevor er in ein Tuch gewickelt wurde – damit die Verstorbene makellos rein vor Gott erscheinen konnte, wie es der Koran vorschreibt –, kamen Hinds Züge so friedlich und gelassen vor wie zu ihren Lebzeiten, unberührt von den quälenden Schmerzen, die sie in den letzten Stunden ihres Lebens heim- gesucht hatten. Sie war am Morgen zuvor schweißgebadet aufgewacht, und obwohl sie sich bemühte, sich das Leid, das ihre Krankheit ihr verursachte, nicht anmerken zu lassen, entschied ihre Stell- vertreterin Miriam, sie in das Krankenhaus bringen zu lassen, in dem die Ärzte, die sie zu Hause betreuten, arbeiteten. Hind ließ sich dazu überreden, bestand aber darauf, auf dem Weg dorthin noch beim Kinderheim Dar Al Tifel vorbeizufahren. Sie wollte einen letzten Blick auf ihre Schule werfen. Zu dieser Zeit des Jahres zierten den Garten nicht mehr die prächtigen Blüten, von denen zu Sommeranfang ein so kräftiger Duft ausging, dass man ihn noch in den umliegen- den Gassen und Hinterhöfen wahrnahm. Für Hind hatte die- ser Duft stets ihre glücklichsten Erinnerungen begleitet, sie an die Zeit der Blüte erinnert, wenn das Sonnenlicht mit sol- cher Intensität auf die Hügel von Jerusalem herunterbrennt, dass die Häuser mit dem Himmel zu verschmelzen scheinen. Hind wusste noch zu gut, was für ein öder Ort es ohne

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1414 229.09.109.09.10 07:5107:51 den Rosengarten, die Oliven- und Zitronenbäume, die Ma- gnolien, die Feigen, den kleinen Weinstock, den Zimtbaum und die Hennasträucher gewesen war, bevor die Schule ge- baut wurde – ohne die Minze, ohne den Salbei, ohne den wil- den Rosmarin. Und ohne den kleinen Springbrunnen, den sie in einer Ecke des Gartens hatte aufstellen lassen – eine Nach- bildung des Brunnens, den ihre Familie ihr Eigen nannte, als sie noch im armenischen Viertel wohnten. Sie musste daran denken, wie dieser Ort einmal gewesen war, ohne Düfte, ohne bunte Farben, ohne das Gelächter kleiner Mädchen, die un- beschwert von den Tragödien, die sich außerhalb der Schul- mauer zutrugen, auf dem Spielplatz einem Ball nachliefen. Miriam, die stellvertretende Schulleiterin, eine robuste Frau von imposanter Statur – breitschultrig und beinahe einen Me- ter achtzig groß –, richtete Hind auf dem Rücksitz des Autos auf. Ihr Körper war von ihrer Krankheit ausgezehrt, stark ab- gemagert, und auch ihre Stimme war sehr schwach geworden. »Als du damals nach Dar Al Tifel gekommen bist, war ich die- jenige, die dich in meine Arme geschlossen hat«, sagte Hind zu Miriam, und ihre Augen lächelten dabei, wie sie es immer taten. Im Alter von eineinhalb Jahren hatte Miriam ihre El- tern verloren; ihr Vater, ein Fedajin, ein arabischer Freischär- ler, war im Kampf gefallen und ihre Mutter bei einem Atten- tat aus dem Hinterhalt ums Leben gekommen. Der Imam der Moschee in ihrem Heimatdorf hatte sie in das Kinderheim gebracht. Sie war unterernährt und zeigte Symptome einer Lungenentzündung. Hind nahm sie bei sich auf und übergab sie der Obhut der Schulärztin, ihrer Kusine Amim. So wuchs Miriam innerhalb der Mauern von Dar Al Tifel auf und be- schloss, auch nach ihrem Schulabschluss zu bleiben. Sie hing an Hind wie ein Kind an seiner Mutter, und während der lan- gen Monate von Hinds Krankheit hatte Miriam sie mit liebe-

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1515 229.09.109.09.10 07:5107:51 voller Hingabe gepflegt, sie auf dem Schulgelände je nach Be- darf jeden Tag mehrere Stunden im Rollstuhl umhergefahren und sie in ihren starken Armen getragen. Als der Wagen, der Hind ins Krankenhaus brachte, am Schultor vorbeifuhr, sah Miriam, wie Hind einen letzten, flüchtigen Blick auf den Ölberg warf, dessen Bäume von den ersten Herbstbrisen geschüttelt wurden, so dass sie silbrig schimmerten. Hind sah ihr Jerusalem nun mit anderen Augen, verwur- zelt in mit dem Blut Unschuldiger getränkter Erde, untermi- niert von Tunneln, die man unter den Synagogen, den Kryp- ten, den geheimen Durchgängen gegraben hatte. Gleichzeitig jedoch hatte Jerusalem mit seinen in den Himmel weisen- den Minaretten und Türmen auch nach den Sternen gegrif- fen, und vielleicht, dachte Hind, spiegelte dieser Widerspruch auch die Geschichte dieses gepeinigten Landes wider, das tra- gische Schicksal, das diese Stadt dazu geführt hatte, sowohl das Königreich des Himmels als auch das der Hölle zu re- präsentieren. Als der Wagen die Altstadt hinter sich zurück- ließ, war sie vom abstrahlenden Licht der Häuser – die man allen Widrigkeiten zum Trotz aus schneeweißem Stein gebaut hatte, als wolle man damit Frieden und Hoffnung symbolisie- ren – einen Augenblick geblendet gewesen. Da dachte Hind zurück an die schwierigsten Momente ih- res Lebens, in denen stets auch ihrem Volk die schwersten Prüfungen auferlegt worden waren: der Massenmord von Deir Jassin im April 1948, bei dem durch die Hände zionisti- scher Untergrundorganisationen über 250 Zivilisten den Tod gefunden hatten und der Auslöser für den Palästinakrieg ge- wesen war, dann der so genannte Schwarze September, als im September 1970 nach einem palästinensischen Umsturzver- such in Jordanien massiv Militär gegen Flüchtlingslager ein-

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1616 229.09.109.09.10 07:5107:51 gesetzt worden war, in der Folge der Ausbruch des Libanon- krieges und die im September 1982 von christlichen Milizen mit ausdrücklicher Duldung der israelischen Armee began- genen Massaker von Sabra und Schatila an den Bewohnern der Beiruter Flüchtlingslager. Jeder dieser Schicksalsmomente hatte auf seine Weise eine Demütigung bedeutet, war wie das wiederholte Erscheinen eines Menetekels gewesen, das dem palästinensischen Volk seinen Untergang weissagte. Während sie aus dem Autofenster schaute, sinnierte Hind darüber, dass die Jerusalemer Palästinenser eigentlich ge- zwungen waren, an zwei Fronten zu kämpfen, an einer in- neren und an einer äußeren: zuerst einmal gegen sich selbst, um zu vermeiden, sich in einer sinnlosen Spirale der Gewalt zu verfangen, die doch gewiss nur zu ihrem Scheitern füh- ren würde, und dann auch noch gegen skrupellose politische Kräfte, die sich nicht zu schade waren, ihre palästinische Hei- mat auf einem Silbertablett anzubieten, als wäre sie ein belie- biger ersetzbarer Gebrauchsgegenstand. Sie dachte zurück an das erste Aufbegehren der Palästinen- ser gegen die israelische Besetzung ihrer Gebiete, die erste Intifada, an ihre Bemühungen, die Schülerinnen von Dar Al Tifel damals von den gewalttätigen Kundgebungen fernzuhal- ten, und wie es ihr so gelungen war, ein paar Leben zu retten. Manche gut betuchten Palästinenser hatten in der Hoffnung, sich woanders ein neues Leben aufbauen zu können, das Land bereits verlassen. Sie hingegen hatte sich entschlossen zu blei- ben und etwas für ihr Volk zu tun. Das war mehr als eine Ge- wissensentscheidung gewesen; es war ihre Bestimmung, der sie sich ohne zu zaudern gefügt hatte. In ihrem Vokabular be- saß das Wort »Privileg« eine besondere Bedeutung: Ein Pri- vileg zu besitzen bedeutete, in der Lage zu sein, anderen zu helfen. Obwohl sie nie geheiratet hatte, war sie, wie sie ihren

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1717 229.09.109.09.10 07:5107:51 Schützlingen gegenüber häufig im Scherz bemerkte, doch »in ganz Jerusalem die Frau mit den meisten Töchtern«. Was wird jetzt aus alledem werden?, fragte sie sich, als der Wagen vor dem Krankenhaus hielt.

1948, im Alter von dreißig Jahren, war Hind eine elegante, weltoffene junge Frau. Ein Dichter hatte sie sogar mit Jeru- salem verglichen und als »die Braut der arabischen Welt« be- zeichnet. Nach Abschluss ihres Studiums hatte Hind an der Musli- mischen Mädchenschule der Stadt unterrichtet und später dann gemeinsam mit einigen Kollegen eine Organisation ins Leben gerufen, die sich dem Kampf gegen den Analphabe- tismus verschrieb. Als eines der aktivsten Mitglieder dieser Gruppe war sie kreuz und quer durch Palästina gereist und hatte sich dafür eingesetzt, dass selbst in den entlegensten Dörfern Schulen eröffnet wurden. Mit einem großen Schul- bus besuchte sie Flüchtlingslager und kam stets mit einem ganzen Haufen Kinder zurück, deren Mütter nicht in der Lage waren, ihren Sprösslingen eine Schulbildung angedeihen zu lassen, und sich mehr als glücklich schätzten, sie Hind anzu- vertrauen. Damals war Hind fest davon überzeugt, dass die Lösung des Dilemmas der Palästinenser von der kulturellen Emanzipation ihrer Kinder abhänge. Besagte Organisation veröffentlichte auch ein Mitteilungsblatt, dessen Ziel es war, andere auf ihr Engagement für die unterprivilegierten Kinder aufmerksam zu machen. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Welt end- lich wieder Frieden gefunden zu haben schien, begann für Palästina der Abstieg in einen Albtraum. Es war, als würden brennende Fragen, für die man woanders keine Lösung fand, mit einem Male als tödlicher Feuerstoß mitten im Land ex-

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1818 229.09.109.09.10 07:5107:51 plodieren. Die Mauern der Altstadt, seit ewigen Zeiten Garant für die Unversehrtheit ihrer Bewohner, konnten ihnen dies- mal keinen Schutz bieten, denn der Aggressor war bereits mitten unter ihnen. Ihr ganzes Leben lang war Hind der Überzeugung gewe- sen, dass religiöse Fragen nicht die einzige und nicht einmal die wichtigste Ursache für den israelisch-palästinensischen Konflikt darstellten, sondern dass die Gründe dafür auf der politischen Ebene zu suchen waren. Doch ihre Stimme war nur ein Flüstern im Vergleich zu dem unaufhörlichen Lärm der Waffen, die im Namen einer eigentlich doch der Gewalt- losigkeit verpflichteten Religion Tod und Verderben verbrei- teten. Es begann ein regelrechter Exodus des arabischen Bürger- tums von Jerusalem. Viele Familien beabsichtigten heimzu- kehren, sobald die Kämpfe beendet wären, und auch Hinds Kolleginnen und Kollegen versicherten ihr, dass sie die ge- meinsame Arbeit schon sehr bald wieder aufnehmen wür- den. Doch die Mehrzahl von ihnen kam nie nach Jerusalem zurück; sie blieben in Amman, Damaskus oder Kairo und lebten dort ihr Leben. Zur gleichen Zeit setzte die israelische Armee ihren Vormarsch fort, und die Altstadt füllte sich all- mählich mit Flüchtlingen aus den Dörfern, denen keine an- dere Wahl geblieben war, als in die Stadt überzusiedeln und dort irgendwie auszuharren. Hind war das einzige Mitglied ihrer Organisation gewesen, das sich entschlossen hatte, in Jerusalem zu bleiben. Ihre ein- zige Vorsichtsmaßnahme bestand darin, dass sie für ein paar Monate aus ihrem Haus im armenischen Viertel im südwest- lichen Teil der Altstadt auszog, als die Gefahr, dass es von den Israelis unter Beschuss genommen würde, besonders groß war.

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 1919 229.09.109.09.10 07:5107:51 Inzwischen waren sämtliche Männer in den Krieg gezogen, und die Frauen gingen nun an ihrer Stelle zur Arbeit. Da die Schulen, die sie hätten besuchen müssen, geschlossen blieben und es keine Erwachsenen gab, die ein Auge auf sie gehabt hätten, trieben sich die meisten Kinder den ganzen Tag lang auf der Straße herum. Das brachte Hind auf den Gedanken, im Herzen der Altstadt einen kleinen Kindergarten zu eröff- nen. Dieser bestand aus zwei schlicht eingerichteten Räumen, einem mit einem Dutzend Betten und einem mit mehreren Stühlen und kleinen Tischen. Als sich die Kampfhandlungen jedoch schon bald darauf bis ins Stadtzentrum erstreckten und den Kindern den Zugang zum Kindergarten abschnitten, blieb Hind nichts anderes übrig, als ihn wieder zu schließen.

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Als ihr am 9. April 1948 eine Feuerpause die Möglichkeit dazu gab, kehrte Hind Husseini nach Jerusalem zurück. Der Gou- verneur hatte sie zu einer Besprechung über die Notsituation der palästinensischen Flüchtlinge eingeladen. Die junge Frau betrat die Altstadt durch das Herodestor und durchschritt die engen Gassen. Dabei fielen ihr die wenigen verstreuten Verkaufsstände auf, die an die Stelle der normalerweise von Leben nur so wimmelnden Souks mit ihrem überreichen Angebot an Obst, Gemüse und Gewürzen und ihrem über- wältigenden Duft von Minze, Kreuzkümmel und Kardamom getreten waren. Einen Monat vor der Gründung des Staates Israel war die

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 2020 229.09.109.09.10 07:5107:51 Stadt von einer beklemmenden Atmosphäre durchdrungen. In den jüdischen Vierteln fanden Begrüßungen auf der Straße nur noch mit gesenkter Stimme statt, und die Passanten ver- mieden es, einander in die Augen zu sehen. In den überwie- gend von Arabern bewohnten Stadtteilen, wo der Ruf des Muezzins sich inzwischen nach einem langgezogenen Klage- gesang anhörte statt nach der üblichen, vitalen Aufforderung zum Gebet, war die Verunsicherung noch deutlicher spürbar. Auf dem Weg zur Grabeskirche traf Hind auf eine Gruppe von ungefähr fünfzig zerlumpten Straßenkindern. Manche hockten aneinander gelehnt auf der Bordsteinkante, andere standen bewegungslos am Straßenrand herum, als würden sie auf jemanden warten. Im Näherkommen fiel Hind auf, dass die kleinsten dieser Kinder barfuß waren. Viele von ihnen hatten Tränenspuren in ihren schmutzigen Gesichtern, und auch ihre Haare sahen aus wie lange nicht mehr gewaschen. Hind verlangte von dem ältesten der Mädchen eine Erklärung dafür. Das Mädchen, es musste ungefähr zwölf Jahre alt sein, trug eine zerrissene Hose und ein Hemd mit abgetrennten Ärmeln. »Wo sind eure Eltern?«, erkundigte sich Hind. »Und was tut ihr hier mitten auf der Straße?« »Man hat uns hier ausgesetzt«, erwiderte das Mädchen und konnte kaum die Tränen zurückhalten. Hind hockte sich neben sie auf die Bordsteinkante. »Wie heißt du?« »Zeina«, antwortete das Mädchen schluchzend. Zeina berichtete Hind, dass sie die ganze Nacht in ihrem Dorf, Deir Jassin, Gewehrfeuer gehört und gesehen habe, wie Gebäude in Brand gerieten – unter anderem ihr Elternhaus. Sie hatte nach ihren Eltern gesucht, nach ihnen gerufen, aber immer nur Schüsse gehört und sich schließlich versteckt. Im

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 2121 229.09.109.09.10 07:5107:51 Morgengrauen hätten bewaffnete Männer sie plötzlich aus ihrem Versteck gezerrt und sie auf den Dorfplatz gebracht. Dort wären auch schon andere Kinder zusammengetrieben gewesen, allerdings keine, die sie aus der Schule kannte. Mit diesen Kindern wurde sie auf einen Lastwagen verladen, und nachdem sie ein Stück gefahren waren, hätten die bewaffne- ten Männer sie allesamt ohne ein Wort nahe dem Tor zur Alt- stadt abgeladen. »Warte hier auf mich, Zeina«, hatte Hind gesagt und ihr das Haar aus der Stirn gestrichen. »Ich muss nur kurz mit jemandem sprechen, und dann bin ich gleich zurück.«

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Anwar al-Khatib, der von der jordanischen Verwaltung ein- gesetzte Gouverneur von Jerusalem, war Hind Husseini noch nie begegnet, aber er wusste von ihren Bemühungen um die verlorenen Kinder Palästinas. Sowie er sie an jenem April- morgen den Besprechungsraum seines Amtssitzes betreten sah, erkannte er an ihr die charakteristische Entschlossenheit der Husseinis. Hind bat augenblicklich ums Wort. »Verzeihen Sie, aber bevor Sie die Versammlung einberufen, möchte ich Ihnen über eine Gruppe von etwa fünfzig Kindern berichten, die ich nur ein kleines Stück von hier entfernt getroffen habe. Sie sind offenbar Überlebende eines Massakers.« »In Deir Jassin«, erwiderte der Mutasarrif, der ungefähr eine Stunde zuvor von dem Zwischenfall unterrichtet worden war.

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 2222 229.09.109.09.10 07:5107:51 »Sie sind schmutzig, hungrig, und sie haben Angst«, sagte Hind. »Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen ihnen auf der Stelle helfen.« Dann erzählte sie noch, was sie von Zeina gehört hatte. Hinter seinem schweren, mit vergilbenden Papieren be- deckten Schreibtisch kraulte sich der Gouverneur den Bart, während er Hind lauschte. Sein Blick blieb dabei auf einen Stich geheftet, der Jerusalem am Ende des 19. Jahrhunderts zeigte. Es schien fast so, als suche er darin zu ergründen, wo und wann bloß dieser Konflikt ausgelöst worden war, der nun all das Verderben, das in der tiefsten Bauchhöhle der Stadt ge- lauert hatte, ans Licht brachte. Als Hind geendet hatte, erklärte der Gouverneur ihr, dass er das Problem in seiner Gesamtheit betrachten müsse und sich daher momentan außerstande sehe, sich um die Bedürf- nisse speziell dieser Kinder zu kümmern. »Wir haben so viele Flüchtlinge, dass wir gar nicht wissen, wie wir ihnen allen hel- fen sollen.« Hind erhob sich und ging zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal zu dem Gouverneur um und erklärte mit ruhi- ger, fester Stimme: »Ich verstehe. Lassen Sie sich nur nicht aufhalten. Ich für mein Teil werde sehen, was ich für diese Kinder tun kann.« Anwar al-Khatib war tief beeindruckt von der Entschlos- senheit der jungen Frau.

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1162_74148_Jebreal_Miral.indd62_74148_Jebreal_Miral.indd 2323 229.09.109.09.10 07:5107:51 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Rula Jebreal Miral Ein Land. Drei Frauen. Ein gemeinsamer Traum

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 352 Seiten, 11,8 x 18,7 cm ISBN: 978-3-442-74148-9

btb

Erscheinungstermin: November 2010

1948, als Jerusalem von einer Welle von Gewalt erschüttert wird, findet eine junge arabische Frau 55 Waisenkinder und stellt sich der größten Herausforderung ihres Lebens: Die Geschicke dieser Kinder zu lenken. Fortan widmet sie ihr Leben diesen Kindern, sie lässt ihnen Liebe und Erziehung angedeihen und gründet das Dar El-Tifel Waisenhaus. Als die Jahre verstreichen und der Konflikt zwischen der palästinensischen und der israelischen Bevölkerung andauert, muss Hind Husseini erkennen, dass sich einige der älteren Mädchen an dem gewaltsamen Kampf für ein unabhängiges Palästina beteiligen – darunter auch eine ihrer klügsten Schülerinnen, Miral, deren Mutter auf tragische Weise ums Leben kam, als sie erst fünf war. Verzweifelt versucht Hind, Miral aus der Spirale der Gewalt zu retten. Doch ist es vielleicht schon zu spät?