Hessische Landeszentrale für politische Bildung

Blickpunkt Hessen

Axel Ulrich Renate Knigge-Tesche

Der „20. Juli 1944“ und Hessen

Ein Rückblick nach 70 Jahren

Nr. 18 / 2014 Der „20. Juli 1944“ und Hessen Ein Rückblick nach 70 Jahren Dr. Axel Ulrich, Jahrgang 1951, Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Demo- kratiegeschichte, NS-Zeit sowie antinazistischer Widerstand in Hessen und Rheinland- Pfalz. Für die entsprechende Gedenk- und Erinnerungsarbeit der Landeshauptstadt Wiesbaden zuständiger Mitarbeiter des dortigen Kulturamtes – Stadtarchiv seit 1991. Renate Knigge-Tesche M.A., Jahrgang 1947, Politikwissenschaftlerin mit den Schwer- punkten NS-Zeit, Regionale Zeitgeschichte, Biographieforschung. Referatsleiterin in der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung von 1974 bis 2012. Heute frei- berufl ich tätig. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der HLZ dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung.

Blickpunkt Hessen In dieser Reihe werden gesellschaftspolitische Themen als Kurzinformationen aufgegriffen. Zur Themenpalette gehören Portraits bedeutender hessischer Persönlichkeiten, hessische Geschichte sowie die Entwicklung von Politik und Kultur. Die Schriftenreihe „Blickpunkt Hessen“ erscheint als Eigenpublikation der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Taunusstraße 4–6, 65183 Wiesbaden

Herausgeberin: Angelika Röming Gestaltung: G·S Grafi k & Satz, Wiesbaden, www.dr-g-schmidt.de Druck: dinges und frick GmbH, 65199 Wiesbaden Erscheinungsdatum: Juli 2014 Aufl age: 4.000 ISSN: 1612-0825 ISBN: 978-3-943192-19-3

Abbildungen auf dem Titel: Ludwig Beck, Wilhelm Leuschner, Hermann Kaiser, Ludwig Schwamb (im Uhrzeiger- sinn) – die vier wichtigsten Akteure des „20. Juli“-Widerstandes aus Hessen. Sie alle wurden Opfer des NS-Regimes.

Nachweis der Abbildungen im Heft: Adolf-Reichwein-Archiv , Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Bonn, Archiv des Landtags Rheinland-Pfalz, Gedenkstätte deutscher Widerstand Berlin, Landesarchiv Speyer, NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz/Gedenkstätte KZ Osthofen, Privat, Stadtarchiv Oppenheim, Stadtarchiv Wiesbaden. Der „20. Juli 1944“ und Hessen Ein Rückblick nach 70 Jahren

Am 20. Juli 1944 wurde in Hitlers Krieg. Hitler, von dem zehn Jahre Hauptquartier „Wolfschanze“ nahe zuvor nach von Hindenburgs Tod dem ostpreußischen Rastenburg1 die Reichspräsidentschaft mit ein Sprengsatz zur Explosion ge- dem Amt des Reichskanzlers ver- bracht. Es war beabsichtigt, hier- schmolzen worden war, hat fort- mit zuvörderst den Despoten wie an die Reichswehr ebenso wie auch einige seiner Gefolgsleute aus die Beamtenschaft nur noch auf dem Weg zu räumen, um sodann sich persönlich vereidigen lassen. koordinierte Aktionen militärischer Damit hatte er seinen totalitären und ziviler Widerstandskräfte zur Be- „Führerstaat“ im Prinzip zur Gänze seitigung seiner Diktatur auszulösen. verwirklicht. Die in den Traditionen Diese hatte den größten Teil Europas des Kaiserreichs fest verwurzelte, mit massenhafter Verfolgung, gegenüber der Weimarer Demo- Entrechtung und Vertreibung kratie folglich meist reserviert bis überzogen, mit Krieg, Deportationen feindlich eingestellte Reichswehr- und Völkermorden2 sowie mit vieler- führung hatte dementsprechend lei anderen Verbrechen. Aber erst keineswegs die frühesten Kritiker zehn Monate später konnte jene des NS-Staates hervorgebracht. fürchterliche Terrorherrschaft durch Vielmehr war ihr Hitlers Miss- die Armeen der Alliierten nieder- achtung des Versailler Vertrags gerungen werden. Über vierzig An- mit seinen drastischen Rüstungs- schläge waren von oppositionellen beschränkungen sehr zupass ge- Gruppen und Einzelpersonen auf kommen. Auch haben viele Militärs Hitler geplant worden, indes nicht ihren „Führereid“ späterhin als immer zur Ausführung gelangt3, höchst willkommene Ausfl ucht be- seitdem dieser am 30. Januar 1933 nutzt, wenn sie um Unterstützung durch den greisen Reichspräsidenten von Umsturzaktivitäten gebeten Paul von Hindenburg zum Kanzler worden sind. Im März 1935 war die des damaligen Deutschen Reichs Reichswehr im Übrigen in Wehr- ernannt worden war. Aber nicht macht umbenannt und die all- ein einziges Mal hat die national- gemeine Wehrpfl icht wieder ein- sozialistische Gewaltherrschaft hier- geführt worden.4 durch ernsthaft in Gefahr gebracht Das zielstrebige Zusteuern auf werden können. einen Krieg hat eigentlich jedem, der zu jener Zeit militärische Ver- antwortung trug, bewusst sein Die Lage an den Fronten müssen. Warnungen vor einem im Sommer 1944 erneuten Waffengang nach der Katastrophe der Jahre 1914 bis Fünf Jahre fast führte das „Groß- 1918 gab es unter ranghohen deutsche Reich“ damals bereits Militärs durchaus, spätestens nach-

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 1 dem Hitler am 5. November 1937 war die Kriegswende unver- seine Kriegsabsichten den Ober- kennbar markiert. Im Mai jenes befehlshabern von Heer, Marine Jahres hatten die Briten und die und Luftwaffe sowie dem Außen- Amerikaner dann die deutschen und dem Kriegsminister kundgetan und die mit diesen verbündeten hatte. Aber die seltenen Versuche, italienischen Truppen in Nordafrika den „Führer“ womöglich wieder um- bezwungen. Am 11. Juni 1943 ist zustimmen, die stets mit noch un- die kombinierte Bomber-Offensive genügender Schlagkraft der Wehr- auf das deutsche Reichsgebiet an- macht und fehlenden Ressourcen gelaufen mit Präzisionsangriffen begründet wurden, sind von Hitler der US Army Air Forces tagsüber allesamt unwirsch abgetan und und Flächenbombardements der mit Entlassungen, Umbesetzungen britischen Luftwaffe des Nachts. Im sowie weiterem Säbelrasseln Monat darauf sind die Alliierten auf quittiert worden. Im Februar 1938 Sizilien gelandet, Ende Juli 1943 ist übernahm Hitler überdies den Hitlers italienischer Verbündeter Oberbefehl über die gesamte Wehr- Benito Mussolini gestürzt worden. macht.5 Politische Argumente oder In der Atlantikschlacht zeigten gar eine offene Aufl ehnung gegen sich die deutschen U-Boote zu- den Diktator und sein Regime waren nehmend unterlegen. Und am 6. für die überwiegende Mehrzahl des Juni 1944 hatten die Westalliierten militärischen Führungspersonals zu- in der Normandie mit der Invasion mindest bis zum Beginn des Zweiten begonnen, während die Sowjets Weltkriegs völlig unbekannte Denk- schon bald mit großer Wucht ihre und Handlungsmuster. Sommeroffensiven gegen das Die Ereignisse hatten weiter- deutsche Ostheer führten, mit denen sie weit nach Westen vor- hin ihren unheilvollen Verlauf ge- 6 nommen. Im Sommer 1944 war frei- zustoßen vermochten. Allen, die lich die Zeit der „Blitzsiege“, die Hitlers Wahnvorstellung vom „End- mit der raschen Niederwerfung sieg“ nicht erlegen waren, ist in Polens 1939 begonnen und bei jenem Sommer 1944 klar gewesen, großen Teilen der deutschen Be- dass dieser Krieg für Deutschland völkerung wie auch des Militärs nicht mehr zu gewinnen war. für eine länger anhaltende Kriegs- euphorie und Hitler-Hörigkeit gesorgt hatte, defi nitiv vorbei. Ludwig Beck und der Immer unverkennbarer hatte militärische Widerstand sich der Zweite Weltkrieg als er- barmungslos grausamer, rassistisch Ludwig Beck7, 1880 im heute zu motivierter Eroberungs-, Raub- Wiesbaden gehörenden Biebrich und Vernichtungsfeldzug gerade am Rhein geboren, im Ersten Welt- auch gegen die Zivilbevölkerung krieg als Generalstabsoffi zier an der überfallenen Länder erwiesen. der Westfront eingesetzt und seit Durch den Ausgang der Schlacht Oktober 1933 faktisch General- um Stalingrad Anfang 1943 mit stabschef des Heeres, hatte dem mehr als 700.000 Gefallenen auf Nationalsozialismus anfangs durch- beiden Seiten, die meisten davon aus wohlwollend gegenüber- Rotarmisten, und an die 100.000 gestanden. Er hatte sogar gehofft, deutschen Kriegsgefangenen Hitler werde der Reichswehr wieder

2 Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen kommandierenden Generale des Heeres herbeizuführen, um dem Diktator vielleicht auf diese Weise Einhalt zu gebieten.8 Doch musste er erkennen, dass seine wohl- durchdachten Einschätzungen in der Generalität keinerlei Widerhall fanden bzw. dass auch dort zumeist aus Opportunismus dem Schweigen der Vorzug gegeben wurde. Bald darauf reichte er daher sein Rück- trittsgesuch ein. Ihm selbst mangelte es an der erforderlichen Befehls- gewalt, und in seinem zögerlichen Vorgesetzten Generaloberst Walther von Brauchitsch, erst seit Februar Ludwig Beck. jenes Jahres Oberbefehlshaber des Heeres in der Nachfolge des zu jener autonomen Position ver- von Hitler abgesetzten General- helfen, die ihr bis 1918 vermeint- obersten Werner Freiherr von lich zu Eigen gewesen war. Des- Fritsch, hatte er mitnichten einen halb hatte er sich mit Verve für Verbündeten gefunden. Und doch dessen zielstrebig betriebene wurden dann schon 1938/39 von Wiederaufrüstung ins Zeug ge- einigen militärischen und mit diesen legt, worin Beck sich durchaus kooperierenden zivilen Regime- nicht von anderen Offi zieren unter- gegnern erste konkrete Staats- schieden hat, die sich später wie streichpläne entwickelt. Diese sind er im antinazistischen Widerstand allerdings durchweg durch die engagierten. Seit Hitlers Kriegs- seinerzeitigen außenpolitischen ankündigung im November 1937 Erfolge Hitlers hinfällig geworden, hatte der General immer wieder so z.B. durch die problemlose Ein- versucht, den „Führer“ von einem verleibung des Sudetenlandes als neuerlichen Waffengang abzu- Resultat des Münchner Abkommens halten, wenigstens solange die zwischen Frankreich, Großbritan- Armee hierfür noch nicht aus- nien, Italien und Deutschland im reichend gerüstet sei. Außerdem Herbst 1938 sowie durch den Ein- hatte er wiederholt die Beratungs- marsch der auch in den kompetenz militärischer Fach- tschechoslowakischen Reststaat und leute geltend gemacht. Aber jedes dessen Zerschlagung im März des Beharren auf politische Mitent- Folgejahres, was vom Westen ohne scheidung und Mitverantwortung adäquate Reaktion hingenommen der Generalität ist vom Tyrannen worden ist.9 brüsk zurückgewiesen worden. Die Ausdehnung des rassistischen So versuchte Ludwig Beck – der „Arier-Paragraphen“ auf das nebenbei bemerkt Hitlers Kriegs- Offi zierskorps ab 1934, die fort- absichten lange Zeit überhaupt schreitende Entwicklung der SS zu nicht durchschaut hatte – im einer effektiv armierten und optimal Sommer 1938 erst noch eine ausgebildeten Truppe neben der kollektive Befehlsverweigerung der Wehrmacht sowie obendrein noch

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 3 die fortwährende Diffamierung des schon einer genügend großen An- Heeres als „weltanschaulich un- zahl umsturzgewillter Befehls- zuverlässig“ durch die NS-Ideo- haber bedurft haben, die mit ihren logen hatten Beck und manch Einheiten an möglichst vielen andere Militärs traditionellen Zu- militärisch relevanten Orten und schnitts mehr und mehr in kritische keineswegs nur in der Reichshaupt- Distanz zu den vielen verwerfl ichen stadt Berlin hätten bereitstehen Zielen und Praktiken des „Dritten müssen. Aber gerade an solch Reiches“ rücken lassen.10 Etlichen mutigen Militärs mit Zugriff auf jüngeren Offi zieren, denen die lang- schlagkräftige Truppenkontingente jährige Erfahrung des mit seiner mangelte es immerzu, wie nicht nur Demission noch zum General- Generaloberst a. D. Beck oft genug obersten beförderten Beck fehlte, enttäuscht feststellen musste. Die darunter Claus Graf Schenk von ohnehin äußerst wenigen zum Mit- Stauffenberg, der sich schließlich tun bereiten befehlshabenden zum Attentat auf Hitler und zugleich Generale wurden dann im Ver- zur militärischen Leitung des daran lauf des sich immer mehr aus- gekoppelten Umsturzunternehmens weitenden und zunehmend brutaler bereit erklärte, sind alsbald eben- werdenden Krieges auch noch an falls die Augen geöffnet worden. die Fronten abkommandiert, was Bewirkt haben dies die reichs- alle Umsturzvorhaben immer wieder weiten Pogrome gegen die Juden eklatant behindert bzw. letztlich im November 1938 bzw. einige Zeit auch vereitelt hat. darauf die Massaker, die an jener Die Vielzahl der diversen auf Minderheit und an der sonstigen einen Sturz des NS-Regimes hin- Zivilbevölkerung während der Feld- arbeitenden Gruppen, der züge gegen Polen, auf dem Balkan Protagonisten des Widerstandes sowie gegen die Sowjetunion von oder auch nur sämtliche Attentats- den so genannten Einsatzgruppen versuche zu beschreiben, die unter- verübt worden sind, zum Teil in Ko- 11 schiedlichen Vorgehensweisen hier- operation mit der Wehrmacht. bei und die divergierenden Vor- Unterdessen hatte sich das NS- stellungen der Regimegegner von Regime von Jahr zu Jahr weiter einem Deutschland nach Hitler stabilisiert. Insbesondere mit nachzuzeichnen sowie ihre infolge der Geheimen Staatspolizei (Ge- der konspirativen, ergo lebens- stapo) und dem Sicherheitsdienst gefährlichen Bedingungen doch des Reichsführers SS (SD) standen recht mühsame Verständigung Überwachungsinstrumentarien zur auf gemeinsame Grundpositionen Verfügung, die jedes kritische Wort zu erläutern, das alles würde den oder gar widerständiges Handeln Rahmen dieses Heftes sprengen.12 höchst riskant machten. Dies war zu- Ludwig Beck jedenfalls knüpfte fort- dem einem ausgeprägten Spitzel- während in viele Richtungen des unwesen bzw. Denunziantentum ge- militärischen wie des zivilen Wider- schuldet, während gerade auch der standes neue konspirative Kontakte. öffentliche Dienst und die Wehr- Dabei verstand er es, beharr- macht in immer stärkerem Maße lich zwischen den verschiedenen, nazifi ziert wurden. Für eine erfolg- keineswegs spannungsfreien reiche Aktion gegen die Willkür- Positionen zu vermitteln. Hierdurch herrschaft würde es hingegen gelang es, die Fronde nicht nur zu-

4 Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen sammenzuhalten, sondern sie auch des Allgemeinen Heeresamtes zu stabilisieren. Deshalb war Beck beim Oberkommando des Heeres geradezu prädestiniert für die Auf- (OKH) und ebenfalls zum engsten gabe des Chefkoordinators der Ver- Verschwörerkreis zählend, in seine schwörung, in die er Ende März neue Funktion gewechselt. Er ge- 1942 auch eingewilligt hat.13 hörte damit zu den wenigen zum Attentat bereiten Hitler-Gegnern, bei denen überhaupt eine Chance Was geschah bestand, dass sie in eines der aufs Strengste bewachten „Führerhaupt- am 20. Juli 1944? quartiere“ zum Rapport befohlen würden bzw. dass sie womöglich Am Morgen jenes heißen Sommer- bei anderer Gelegenheit nahe tages traf sich Oberst Claus Graf 14 genug an den Gewaltherrscher Schenk von Stauffenberg , Stabs- herankommen könnten. Mehrmals chef bei Generaloberst Friedrich waren insbesondere bereits 1943 Fromm, dem Chef der Heeres- und auch 1944 andere Widerstands- rüstung und Befehlshaber des kämpfer und dann zudem Schenk Ersatzheeres, mit seinem Freund von Stauffenberg selbst noch im und Adjutanten Oberleutnant allerletzten Moment durch missliche Werner von Haeften15 auf dem Umstände an der Durchführung Flugplatz Rangsdorf südlich von von Anschlägen auf den Diktator Berlin zum Flug nach Rastenburg.16 gehindert worden.18 An jenem Erst kurz zuvor war Schenk von Donnerstagmittag nun sollte der Stauffenberg aus dem Stab von neue Stabschef Fromms Hitler aber- General Friedrich Olbricht17, Chef mals Bericht erstatten, nämlich über

Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Werner von Haeften.

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 5 den Einsatz von „Sperrdivisionen“ linge. Dabei sollte das Ersatz- zur Abriegelung Ostpreußens heer vorübergehend die Macht gegen die vorwärts drängende Rote im Staate übernehmen. Sämtliche Armee. Jene günstige Gelegenheit Regierungs- und sonstigen zivilen galt es, unter keinen Umständen un- Dienstgebäude hätten besetzt genutzt verstreichen zu lassen. werden sollen, desgleichen die Rundfunksender, die Telefon- und Graf Schenk von Stauffenberg Telegraphenämter und alle weiteren hatte 1943 in Tunesien durch Jagd- Schlüsselstellungen. Außerdem bomberbeschuss sein linkes Auge, wären die NS-Funktionsträger mög- die rechte Hand und zwei Finger lichst rasch und vollzählig zu in- der linken Hand verloren, war also haftieren gewesen. Die vollziehende bei der von ihm eigentlich be- Gewalt, d.h. die Kontrolle über alle absichtigten Aktivierung zweier staatlichen Leitungsfunktionen in einer Aktentasche mitgeführter wäre in den Wehrkreisen dem- Sprengsätze kurz vor jener „Führer- entsprechend auf die dortigen lagebesprechung“ auf die Unter- territorialen Befehlshaber über- stützung Werner von Haeftens gegangen. Diese sollten unterstützt zwingend angewiesen. Die Zeit werden von bereits Monate zuvor drängte. Dann wurden die beiden durch die Anführer des mittler- Offi ziere auch noch gestört, sodass weile ungemein weit verzweigten sie lediglich eine einzige Spreng- militärisch-zivilen Widerstandsnetz- ladung scharf machen konnten. werks bestimmte „Verbindungs- Nachdem der Oberst schließlich offi ziere“ und dazu noch durch seine Tasche unter den großen diese und die Befehlshaber be- Kartentisch im Lagezimmer ge- ratende „Politische Beauftragte“. schoben hatte, verließ er dieses so- Letzteren hätte die Bearbeitung gleich wieder unter dem Vorwand, aller aus dem militärischen Aus- telefonieren zu müssen. Aus einiger nahmezustand resultierenden Entfernung konnte er sodann die politischen Fragen obliegen und ziemlich starke Detonation be- bis auf Weiteres die Funktion von obachten, weshalb er den Anschlag Verwaltungschefs bzw. von Ober- für geglückt hielt und mit von präsidenten der ihnen anvertrauten Haeften auf der Stelle den Rückfl ug Gebiete zukommen sollen. nach Berlin antrat. Dort landeten sie gegen 15 Uhr. In der Reichshauptstadt wurde Das Scheitern Schenk von Stauffenberg dringend des Umsturzversuchs erwartet, sollte doch sofort nach der Meldung vom Tod Hitlers Inzwischen war in der Befehls- die Operation „Walküre“ aus- zentrale der Verschwörer in der gelöst werden. Dies war ein von Berliner Bendlerstraße, Dienst- den Verschwörern für ihr Vor- sitz des Allgemeinen Heeresamtes haben umgearbeiteter Plan zur und des Befehlshabers des Ersatz- Mobilisierung des Ersatzheeres heeres, durchgesickert, dass Hitler zwecks Niederschlagung innerer den Anschlag nur leicht verletzt Unruhen, etwa von Aufständen der überlebt hatte. Fromm, der um die Kriegsgefangenen und Zwangs- Umsturzabsichten zwar gewusst, arbeitskräfte oder der KZ-Häft- sich einer aktiven Mitwirkung aber

6 Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen verweigert hatte, wurde deshalb führten. Neben der Doppelfunktion von den Aufständischen kurzerhand Schenk von Stauffenbergs – Aus- festgesetzt. Sodann betraute Beck führung des Attentats und an- Generaloberst Erich Hoepner19 mit schließend Gesamtleitung der Er- der Befehlsgewalt über das Ersatz- hebung in Berlin – waren dies bei- heer und drängte seine Konfi denten spielsweise die nicht gelungene zugleich auf plangemäßes Vor- nachrichtentechnische Isolierung gehen, nämlich so, als sei Hitler der der Befehlszentralen des Regimes, Explosion doch erlegen. Alsbald die fehlende Übernahme der Rund- traten aber die gravierenden funkeinrichtungen und dergleichen organisatorischen Schwächen sowie die nicht erfolgte Verhaftung des Umsturzunternehmens deut- aller regimetreuen Entscheidungs- lich zutage, die letzten Endes auch träger. Und obendrein noch wirkte zu dessen alsbaldigem Scheitern sich die weiterhin doch sehr zöger-

Fernschreiben von Generaloberst Erich Hoepner an den Wehrkreis XII Wiesbaden zur Heranziehung des „Politischen Beauftragten“, des „Unterbeauf- tragten“ sowie des „Verbindungs- offi ziers“ (20. Juli 1944).

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 7 liche Haltung vieler involvierter Umsturzvorhabens vorgegangen Offi ziere in der Reichshauptstadt worden. wie in den meisten Wehrkreisen auf Noch während die Befehle der Auf- die ganze Operation fatal aus. Die seit etwa 18 Uhr durchgegebene ständischen an die Wehrkreise Rundfunkmeldung, Hitler habe den abgesetzt wurden, hat Hitler die Anschlag überlebt, sorgte dann sofortige Niederwerfung des dafür, dass die immerhin mancher- Putsches befohlen. Im so genannten orts bereits angelaufenen, gegen ließ der inzwischen das Regime gerichteten Militär- wieder befreite Generaloberst aktionen abrupt abgebrochen Fromm die Verschwörer verhaften wurden. Lediglich in Wien, Prag und und gegen sie ein „standgericht- vor allem Paris war wenigstens zeit- liches Urteil“ wegen „Hoch- und weilig recht resolut im Sinne des Landesverrats“ ergehen. Kurz nach

Auszug aus dem Fernschreiben der Verschwörer an die Wehrkreise, u.a. zur Bestellung der „Politischen Beauf- tragten“ (20. Juli 1944).

8 Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen Mitternacht waren Olbricht, von Haeften, Schenk von Stauffenberg und Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim20 liquidiert, während Beck schon kurz zuvor nach seiner ihm zwar zugestandenen, indes ver- geblichen Selbsttötung erschossen worden war. Gegen ein Uhr nachts – also schon am 21. Juli – hielt der Diktator dann seine berüchtigte Rundfunkrede, mit der erstmals die Propagandamär von einer nur „ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unver- nünftiger, verbrecherisch-dummer Offi ziere“ verbreitet wurde, welche ein Komplott zu seiner Beseitigung geschmiedet hätten und „die jetzt unbarmherzig ausgerottet“ werden würden.21 Den Funktionsträgern des Regimes war natürlich völlig klar, dass dieses schwerlich von nur einigen wenigen Offi zieren hätte aus den Angeln ge- hoben werden können. Noch in der- . selben Nacht kam es in Berlin und überall im Reich zu den ersten Ver- haftungen. Die im Reichssicher- heitshauptamt umgehend gebildete „Sonderkommission 20. Juli“ nahm binnen kurzem mindestens 600 Personen fest, großenteils Militärs, aber auch zahlreiche Zivilisten. Vielerorts kam es wie auch in der Reichshauptstadt zu standrecht- lichen Erschießungen. Etliche Fest- genommene wurden während der Verhöre umgebracht, und manch andere begingen Selbstmord, um zu keinem Verrat gezwungen werden zu können. Die Zahl all dieser Opfer der Erhebung wird sich kaum mehr ermitteln lassen. Über 50 Strafprozesse wurden in der Folge vor dem „Volksgerichts- hof“ verhandelt, die zu mehr als 110 Todesurteilen führten. Über nicht wenige dieser Verfahren wurde Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim. in der Presse aber gar nicht be-

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 9 richtet, um nur nicht die Lüge von Seit Hitlers Machtantritt schon der angeblich so winzigen Gruppe haben die Nazis ihre politischen von in jenen Umsturzversuch in- Gegner unerbittlich verfolgt. volvierten NS-Gegnern ins Wanken Sie wurden in Folterkellern, Ge- zu bringen.22 Dabei war damals tat- fängnissen und Zuchthäusern sächlich nur die Spitze eines Eis- drangsaliert sowie in den unver- bergs sichtbar geworden, während züglich errichteten Konzentrations- die zahlreichen seit geraumer Zeit lagern. Viele von ihnen sind dort im ganzen Land bestehenden, ermordet worden oder haben personell erstaunlich ausgeprägten auf andere Weise ihr Leben militärischen und zivilen Wider- lassen müssen, nachdem sie vor- standsstrukturen bis zuletzt nur dem auf unterschiedlichste Weise partiell oder vielfach überhaupt als Gestalter der ersten Demo- nicht enttarnt worden sind. kratie auf deutschem Boden ge- wirkt hatten. Gerade während der Zerfallsjahre der Weimarer Der zivile Widerstand Republik waren sie nie müde ge- worden, vor dem immer bedroh- hatte auch in Hessen licher heraufziehenden NS-Faschis- schon früh begonnen mus zu warnen und sich den braunen Horden couragiert ent- Mitte 1939 bereits hatte einer gegenzustemmen.24 Nach der Zer- seiner Freunde Schenk von schlagung der Gewerkschaften Stauffenberg gefragt, ob man denn und dem Verbot bzw. der Selbst- nicht damit beginnen müsse, „im aufl ösung der demokratischen Heer Zellen für den Widerstand Parteien begann für deren bisherige gegen das Regime zu bilden“. Der Repräsentanten zumeist eine viele Graf hatte darauf erwidert, dies Jahre anhaltende Verfolgungs- „wäre wohl in der Arbeiterschaft zeit, unter der in der Regel auch möglich, in deren altem Stamm die ihre Familienangehörigen schwer Ablehnung des Regimes verwurzelt zu leiden hatten. Berufsverbote, sei“, während „den Offi zieren“ da- polizeiliche Überwachung, Haus- gegen „vor lauter Aussicht auf suchungen, Vorladungen, Verhöre, Beförderung die Augen noch Folterungen und fortwährende In- nicht aufgegangen“ seien.23 Der haftierungen, das war seit Anfang politisch-gewerkschaftliche Wider- 1933 die bittere Lebenswirklich- stand hatte sich tatsächlich noch keit aller antinazistisch stabil Ge- viel früher und dann sogar auf bliebenen. Dennoch bildeten diese immer breiterer Basis formiert, Kreise unerschrockener Demo- wobei ihm allerdings von An- kraten beständige Keimzellen des fang an durch fortwährende Ver- antinazistischen Widerstandes – und haftungsschläge schwer zugesetzt zwar überall in Deutschland und 25 worden ist. Und schließlich haben damit auch in Hessen. auch noch die andauernden Ein- Einer der herausragenden berufungen zur Wehrmacht Köpfe der demokratisch aus- gleichermaßen dazu geführt, dass gerichteten antinazistischen ständig konspirative Verbindungen Widerstandsbewegung war der abgerissen sind und mühsam aufs bedeutende Gewerkschafts- Neue geknüpft werden mussten. führer Wilhelm Leuschner, der

10 Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen denunziatorischer Bericht, der von einer illegalen Betriebszeitung der Wiesbadener Kommunisten ver- öffentlicht worden war. Leuschners erste kurzzeitige Inhaftierung erfolgte freilich im Zuge der Zer- schlagung der Gewerkschaften An- fang Mai 1933 in Berlin, wohin er inzwischen seinen Wohnsitz ver- legt hatte. Durch seine mit ihm in Plötzensee einsitzenden Bundes- vorstandskollegen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) ist er damals insgeheim zu ihrem künftigen Anführer bestimmt worden. Während der Konferenz der Inter- nationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes in Genf im Monat darauf verweigerte Leuschner sich sodann mutig der ihm von den Nazis eigentlich zugedachten Rolle eines Leumundszeugen für deren neu Wilhelm Leuschner. geschaffene Zwangsorganisation „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF).27 seit 1928 im damaligen Volks- staat Hessen als Innenminister ge- wirkt hatte.26 Die Konfrontation mit der NSDAP, aber auch mit den Kommunisten hatte der Sozial- demokrat nie gescheut, da es galt, die junge Republik gegen jene er- bitterten Feinde zu verteidigen. Zwei Monate nach Hitlers Macht- übernahme von seinem Ministeramt zurückgetreten, hatte er zu dieser Zeit schon damit begonnen, mit etlichen altgedienten Mitstreitern eine erste Widerstandsstruktur zu schaffen. Diese konnte zunächst insbesondere im Rhein-Main-Ge- biet gut vorangetrieben werden, wo sich für ein Vierteljahrhundert das Zentrum seiner Aktivitäten be- funden hatte. Doch bereits nach kurzer Zeit kamen die NS-Verfolger auf die Spur jenes konspirativen, im Kern sozialdemokratischen „Pionier- systems“. Auslöser hierfür war ein Dr. Carlo Mierendorff.

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 11 Dies brachte ihm ein ganzes langes Hierfür müssten allerdings bei- Jahr Haft ein, u.a. im Emsland-KZ zeiten überall in Deutschland auch Börgermoor bei Papenburg. Hier politisch erfahrene Menschen aus traf er seinen ehemaligen Presse- unterschiedlichen, demokratisch sprecher und Vertrauten aus Darm- gesinnten Gruppierungen zur Ver- städter Tagen Dr. Carlo Mierendorff fügung stehen, um in unmittel- wieder, der sich ebenfalls früh dem barer Folge eines Militärschlages Widerstand angeschlossen hatte die führenden Positionen in den und deshalb schon im KZ Osthofen diversen Zivilverwaltungen wie auch bei Worms geschunden worden war. in der DAF zu übernehmen und Ende des Jahres wurden die beiden sodann an der zügigen Rückkehr Freunde in das KZ Lichtenburg im zur Demokratie mitzuwirken. An Kreis Torgau überführt. Während der Knüpfung eines solchen zivilen Leuschner im Juni 1934 end- Widerstandsnetzwerks arbeitete lich wieder freikam, musste Dr. Leuschner von Berlin aus seit Mitte Mierendorff noch bis zum Februar 1934 unentwegt. 28 1938 als Häftling weiter darben, so Einer seiner verlässlichsten dortigen auch im KZ Buchenwald und zu- Freunde war der christliche Gewerk- letzt im Hausgefängnis der Gestapo- schaftsführer Jakob Kaiser.29 Mit ihm Zentrale in Berlin. hatte er sich sogar schon im Jahr zuvor auf einen unnachgiebigen antinazistischen Widerstand und zu- Die Anfänge des gleich die Schaffung einer einheit- reichsweiten Wider- lichen deutschen Gewerkschafts- bewegung verständigt. Deren bis- standsnetzwerks herige Aufsplitterung in eine Viel- um Wilhelm Leuschner zahl politisch und weltanschau- lich unterschiedlicher Richtungs- Unverzüglich hatte der soeben aus der Haft entlassene Gewerkschafter seine Widerstandsarbeit wieder auf- genommen. Deutschland war längst in einen Polizeistaat, in ein einziges Zuchthaus verwandelt worden, in dem jede oppositionelle Regung brutal unterdrückt wurde. Ange- sichts der zahllosen inzwischen verhafteten NS-Gegner, viele darunter aus seiner eigenen sozial- demokratisch-gewerkschaftlichen Freundesschar, war Leuschner völlig klar, dass nur mit äußerster Vor- sicht gegen das NS-Regime agiert werden durfte. Und er wusste auch: Dieses würde schwerlich durch Streiks oder ähnliche Aktionen aus der Arbeiterschaft, sondern einzig und allein durch einen militärischen Umsturz zu Fall zu bringen sein. Jakob Kaiser.

12 Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen verbände sowie dazu noch in zahl- Husemann in Bochum sowie die reiche Klein- und Kleinstgewerk- beiden späteren DGB-Vorsitzenden schaften für mitunter sehr spezielle Hans Böckler in Köln und Willi Berufe sollte endlich überwunden Richter31 aus Hessen. Letzterer ver- werden, da diese sich spätestens suchte sich damals in der Reichs- 1933 als so außerordentlich nach- hauptstadt mit dem Verkauf künst- teilig für sie alle erwiesen hatte. licher Blumen über Wasser zu Auch mit Hermann Schlimme, zu- halten. Ab Frühjahr 1935 wieder letzt Sekretär beim Bundesvor- wohnhaft in am Main, stand des ADGB, und mit dessen wurde der einstige Vorsitzende und vormaligem Jugendsekretär Walter zugleich Gewerkschaftssekretär Maschke ist Leuschner in Berlin des Darmstädter ADGB hier regel- alsbald wieder in Kontakt ge- mäßig von Leuschner konspirativ treten. Im Herbst 1934, so geht aus kontaktiert, wie auch er diesen kurz nach dem Krieg verfassten aus demselben Grund gelegent- Berichten Maschkes hervor30, ist lich in Berlin aufsuchte. Richter ist dann mit diversen weiteren, vor- von seinem langjährigen Freund dem führenden Gewerkschafts- später dann die Zuständigkeit für funktionären sozialdemokratischer die gesamten hessischen Regionen Prägung aus allen möglichen Ver- im Rahmen seines reichsweiten bänden und Bezirken in ganz Vertrauensleutenetzwerks über- Deutschland Verbindung auf- tragen worden. Früh bestanden genommen worden, damit diese konspirative Verbindungen genau- ihre wichtigsten Vertrauten recht- so zu Vertretern der Buchdrucker, zeitig darauf vorbereiteten, alles Er- der Bekleidungsarbeiter, der Eisen- forderliche zu veranlassen, um nach bahner, der Nahrungsmittelarbeiter einem Umsturz möglichst rasch die usw., während ansonsten die von gewerkschaftliche Reorganisation in Berlin aus realisierten Verbindungen Angriff nehmen zu können. bis nach Stuttgart und Nürnberg Zu den von Maschke in diesem Zu- reichten, nach , Stettin und sammenhang im Auftrag Leusch- Königsberg, Leipzig, Breslau, Jena ners aufgesuchten Funktionären und natürlich in die Städte und Ge- gehörten u.a. Heinrich Schliestedt, meinden der ganzen Rhein-Main- vormals Sekretär beim Haupt- Region. vorstand des Deutschen Metall- arbeiter-Verbandes, sowie dessen langjähriger Vorsitzender Alwin Erfordernis strikter Brandes, desgleichen der ehe- konspirativer Tarnung malige Vorsitzende des Deutschen Baugewerksbundes Nikolaus Jakob Kaiser sowie dessen lang- Bernhard, der frühere Vorstands- jährige Vertraute und spätere Ehe- sekretär des Allgemeinen freien frau Dr. Elfriede Nebgen ver- Angestellten-Bundes Bernhard band eine enge Freundschaft mit Göring, des Weiteren Albin Karl Leuschner und seiner Familie. Man aus Hannover, bis 1933 stellver- besuchte sich regelmäßig und tretender Vorsitzender des Ver- tauschte sich aus. Kaiser wusste bandes der Fabrikarbeiter Deutsch- seine eigenen konspirativen An- lands, der einstige Vorsitzende strengungen geschickt zu ver- des Bergarbeiter-Verbandes Fritz schleiern, indem er sich ab Ende

Blickpunkt Hessen – Der „20. Juli 1944“ und Hessen 13 1933 ganz offi ziell um die Durch- für eine außerordentlich weit setzung der sozialen Belange der gehende Dezentralisierung und rund 600 von den Nazis entlassenen Enthierarchisierung jener sich Beschäftigten der Christlichen Ge- nun sukzessive formierenden werkschaften einschließlich ihrer konspirativen Struktur, die somit Rentner kümmerte, wobei er sich auf der Gestapo nur geringfügige An- umfangreiche Personaldaten stützen griffsfl ächen bot.33 Als einstigem durfte.32 Leuschner versuchte es ihm hessischen Polizeiminister war alsbald nachzutun und sich der ver- Leuschner das ganze Repertoire sorgungsrechtlichen Betreuung der der Tarnung natürlich wohlvertraut, vormals über 6.000 Funktionäre und was er sich nun höchst routiniert Beschäftigten des ADGB mitsamt für seine Arbeit gegen das „Dritte den einstigen Redakteuren seiner Reich“ zunutze machte. Presseorgane anzunehmen. So er- langte auch er Zugriff auf ein reich- haltiges Adressenmaterial, das von Ausweitung der zivilen eminenter Wichtigkeit war für die Operationsbasis und Organisierung des Widerstandes reichsweit. Durch den Erwerb eines frühe Fühlungnahmen kleinen Fabrikationsbetriebes für mit Militärs Aluminiumprodukte, Bierzapf- anlagen und dergleichen vermochte Mit Unterstützung einiger aus- Leuschner seinen konspirativen ländischer bzw. internationaler Ge- Aktionsradius seit 1936 zügig werkschaftsorganisationen, durch weiter auszudehnen. Akquisitions- befreundete Arbeiterparteien aus reisen quer durch Deutschland mit mehreren europäischen Staaten turnusmäßigen Besuchen in Kassel, sowie seitens deutscher Gewerk- Marburg, sowie Frankfurt schafter und Sozialdemokraten im am Main dienten sowohl dem Ab- Exil konnte allmählich ein im ganzen satz seiner Produkte als auch Reichsgebiet weit verzweigtes Netz- der Tarnung der illegalen Arbeit. werk sozialdemokratisch-gewerk- Patente zur Aluminiumveredlung schaftlicher Vertrauensleute ge- waren später sogar von wehrwirt- schaffen werden. Dieses vermochte schaftlichem Interesse und er- man ebenso wie das von Jakob öffneten schließlich selbst den Zu- Kaiser und seinen Vertrauten ge- gang zu militärischen Kreisen, ohne knüpfte, wesentlich kleinere Wider- dass Leuschner hierdurch in Ver- standsgefl echt christlicher Gewerk- dacht geriet. schafter mit den Jahren immer Gleichwohl galt es vor den nimmer- mehr zu vergrößern. Leuschner, müden NS-Fahndern auf der Kaiser und ihre Mitstreiter sorgten Hut zu sein und ständig die aller- dabei seit etwa Mitte der 1930er- größte Vorsicht walten zu lassen. Jahre ständig für die Einbindung So legte er z. B. seinen Mit- noch weiterer Regimegegner nicht- streitern mit Nachdruck den Ver- kommunistischer Ausrichtung. Hier- zicht auf jedwede Verbreitung anti- zu gehörten etwa Max Habermann nazistischen Schriftmaterials nahe, von der ehemaligen Führungsriege da dies immer wieder zu regel- des Deutschnationalen Handlungs- rechten Verhaftungsserien ge- gehilfen-Verbandes, der Rechts- führt hat. Obendrein sorgte er