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Musikstunde mit Wolfgang Sandberger Musikalische Reisen durch Norddeutschland, Teil 2: „Der König der Königinnen“ Norddeutsche Orgelreise mit Arp Schnitger

Ist die Orgel die Königin unter den Instrumenten, dann war er ein König der Königinnen: Arp Schnitger. Der Tischlersohn aus der Wesermarsch schuf in seiner Karriere über 100 neue Orgeln in Norddeutschland und den Niederlanden, einzelne Exporte gingen sogar nach England, Russland, Spanien, Portugal und nach Brasilien. Die norddeutsche Orgel a la Schnitger war also ein Export- Schlager, doch die schönsten erhaltenen Instrumente sind immer noch in Norddeutschland zu bewundern: an der Nordseeküste in Norden oder Cappel, an der Elbe in oder Steinkirchen und natürlich in . Auf den Spuren Arp Schnitgers pilgern wir heute durch Norddeutschand und die erste Station heißt: Stade an der Elbmündung, dort wo der Schnitger-Freund Vinzent Lübeck jahrelang die erste große Meisterorgel Schnitgers „tractierte“:

Musik 1 CD 1 Track 1 5.53’’ Vincent Lübeck Praeludium in C Claudia Heberlein-Johnson, St. Cosmae und Damiani Stade MDG 1124-2

Claudia Heberlein-Johnson spielte an der Arp-Schnitger Orgel der Cosmae- Kirche in Stade das Praeludium in C-dur von Vincent Lübeck. In Schmalenfledt, in der heute zu gehörenden Wesermarsch also, ist Arp Schnitger geboren: 1648, in diesem großen Friedensjahr, in dem der Westfälische Friede dem Dreißig Jährigen Krieg ein Ende setzen sollte. Nachdem der junge Arp bei seinem Vater das Tischlerhandwerk erlernt hatte, trat er zur speziellen Ausbildung im Orgelbau in die Werkstatt seines Vetters ein. Berendt Hus war ein angesehener Meister, seine Orgelwerkstatt in Glückstadt versprach eine solide Ausbildung. Den größten praktischen Nutzen wird der junge Schnitger in dieser Gesellenzeit von dem Orgelprojekt in Stade gehabt haben – in jenem Ort an der Elbe, der damals das schwedische Verwaltungszentrum war für das Gebiet zwischen Elbe und Weser. Bis heute gehört die Kirche St. Cosmae mit ihrem wuchtigen Vierungsturm unter barocker Haube zum Wahrzeichen der Stadt. Berendt Hus war mit dem Bau der Orgel betraut gewesen, doch als der starb, wurde der junge Arp Schnitger aufgefordert, die vertraglich geregelten Orgelarbeiten abzuschließen. Dazu gehörte auch die Werkstattleitung an der neuen Wilhaldi-Orgel in Stade. Recht früh also hatte Schnitger auf eigenen Füßen zu stehen. Was ihm zu seiner Meisterschaft noch fehlte, lernte er durch eigenes Studium der älteren Orgeln von Scherer, Fritzsche oder Stellwagen und natürlich durch den 3

Meinungsaustausch mit den damals führenden Organisten wie Dietrich Buxtehude, Vincent Lübeck, Christian Flor oder Andreas Werkmeister. Die Orgel in St. Cosmae war also das erste große Meisterwerk des jungen Schnitger, eine Orgel in typisch norddeutschem Werkaufbau mit räumlich und zugleich klanglich getrennten Rückpositiv, Hauptwerk, Brustpositiv, Oberwerk und Pedal. Schnitger hatte dieses mehrchörige Werkprinzip von seinen Vorgängern übernommen und zu einer unübertroffenen Ökonomie der Disposition und der räumlichen Anlage entwickelt. Optisch gekrönt hat er seine erste große Orgel in Stade mit barocken Figuren: Auf dem Hauptwerk thronen in feiner Schnitzarbeit die drei Kardinal-Tugenden „Glaube, Liebe, Hoffnung“, auf dem Rückpositiv dominiert König David mit der Harfe, von Engeln begleitet. Erneut zum Klingen bringt diese Orgel in Stade jetzt Jacques van Oortmerssen mit dem Schlussteil aus dem Magnificat im II. Ton von Matthias Weckmann:

Musik 2 Track 16 1.24’’ Matthias Weckmann Magnificat II Toni Jacques van Oortmerssen, St. Cosmae Stade Denon C 37-7492

Jacques van Oortmerssen spielte an der Schnitger-Orgel der St. Cosmae-Kirche in Stade das Magnificat im zweiten Ton von Matthias Weckmann. Hatte Schnitger eine Orgel fertiggestellt, dann folgte die Abnahme durch einen angesehnen Organisten – die Orgel in St. Cosmae in Stade etwa prüfte Christian Flor, Organist in Lüneburg. Er dürfte nicht viel anders als Johann Sebastian geprüft haben. Dessen Biograph Forkel überliefert, Bach habe zunächst alle klingenden Stimmen gezogen und das volle Werk dann so vollstimmig als möglich gespielt. „Hiebei pflegte er im Scherze zu sagen, er müsse vor allem wissen, ob das Werk auch eine gute Lunge habe“. Die Orgel in St. Cosmae hatte eine gute Lunge. Nach einer Prüfung folgte dann die Orgelweihe und die entsprechenden Predigten verraten viel davon, was der Bau einer Orgel damals bedeutete. Nach Michael Prätorius war die Orgel d a s Instrument aller Instrumente und dieses Bild wird in vielen Predigten aufgegriffen: die Orgel als Königin oder Herz aller Instrumente, als Sonne, die die Vokal- und Instrumentalmusik erleuchtet, oder als Hand, die aller Musik aufhilft. Ein Bild, das ebenfalls auf Praetorius zurückgeht, hat die Prediger besonders inspiriert: das Bild von der Orgel als einem menschlichen Körper, einem lebendigen Organismus. So heißt es in einer Predigt eines gewissen Johann Konrad Saher konkret: „Unser Leib ist das Corpus solcher Orgel, unser Mund an derselbigen die Pfeiffe, unsere Zunge in der Pfeiffe das Labial oder Zünglein, der Athem und Wind, so darinnen geblasen, ist unser Gemüth, die Bälge, dadurch solcher Wind getrieben, sind das Wort Gottes, die Claviatur und das Pedal ist unser Herz, die Register sind unseres Herzens Affekte und Begierden. Sehet, was für ein Complet-Werk ist dies!“ 4

„Complet-Werke“, das waren gerade Schnitgers Orgeln, mit ihrem faszinierenden Klang. Die Eleganz der Ansprache der einzelnen Pfeifen, das harmonische Verhältnis von Grund- und Obertönigkeit, die gute Mischung von Principalen und Zungen sowie die ganz eigenen Charaktere der Flöten verbinden sich stets zu einer fulminanten Klangfülle. Der Klang der vollen Orgel, des Plenums, war jedenfalls kräftiger, durchdringender und tragender als bei seinen Vorgängern. Das gilt auch für die Schnitger-Orgel in Steinkirchen vor den Toren Hamburgs – hier zu hören mit dem großen Praeludium in e-moll von , dem Stadtorganisten in Husum. Es spielt Eberhard Lauer.

Musik 3 Track 6 8.32’’ Nicolaus Bruhns Praeludium in e Eberhard Lauer, Schnitger-Orgel St. Nicolai Steinkirchen Ambitus 97900 LC 8808

Absage Dass da ein junger, ehrgeiziger Orgelbaumeister sein Können demonstrierte, blieb im weiteren Umkreis von Stade niemandem verborgen. Auch in Hamburg wurde man auf Schnitger aufmerksam. Für die Klosterkirche St. Johannis baute der aufstrebende Meister anno 1680 in nur einem halben Jahr ein fabelhaftes Instrument – heute indes steht es in der Marsch, genauer: in Cappel zwischen der Weser- und der Elbmündung gelegen. Wie das Instrument dorthin gelangte, ist schnell erzählt: 1810, während der napoleonischen Besetzung, geriet die altehrwürdige Kirche von Cappel in Brand. Ausgerechnet der Organist von St. Peter und Paul hatte die Katastrophe durch eine Unachtsamkeit heraufbeschworen. Nach dem Wiederaufbau der Kirche waren die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde – wie sich denken lässt – erschöpft. Statt eines kostspieligen Orgel-Neubaus erwarb man nun ein zum Kauf angebotenes altes Instrument, eben das Schnitger-Instrument aus der Johannes-Klosterkirche in Hamburg, die zu Napoleons Zeiten lediglich als Magazin diente – was brauchte man da noch eine Orgel. Die Gemeinde in Cappel konnte damals indes kaum ahnen, dass sie mit dieser Notlösung aus heutiger Sicht ein fulminantes Geschäft machte. Nach einem langen Dornröschenschlaf gehört die Schnitger-Orgel in Cappel heute nämlich zu den wertvollsten historischen Orgeln überhaupt. Und das hat einen besonderen Grund: Die Prospektpfeifen, die Schnitger aus Zinn fertigte, sind immer noch erhalten und bilden den einzigen vollständigen Zinn- Prosepkt einer deutschen Schnitger-Orgel. Die wertvollen Zinnpfeifen, die sich durch die Oxydation heute sehr dunkel von den Goldverzierungen absetzen, hatten im Laufe der Geschichte mehrfach Glück: Im Ersten Weltkrieg etwa entgingen sie der Beschlagnahme für Kriegszwecke. Fast alle anderen Schnitger-Pfeifen wurden 1917 eingeschmolzen. Aus welchen Gründen auch immer: Cappel wurde verschont. Diese Schnitger-Orgel ist damit das am vollständigsten erhaltene zweimanualige Werk in Norddeutschland. Und hier ist 5 es zu hören: im folgenden Praeambulum in E-dur von Vincent Lübeck werden vor allem die verschiedenen Plenum-Klänge eindrucksvoll nebeneinandergestellt:

Musik 4 CD 1 Track 1 6.57’’ Vincent Lübeck Praeambulum in E Elizabeth Harrison, St. Peter und Paul, Cappel Musikproduktion DGG 1124-2

Absage Mit diesem Instrument begründete Arp Schnitger 1680 seinen Ruf in Hamburg. Der ideenreiche und innovative Jungmeister hatte schnell volle Auftragsbücher. In den folgenden Jahren baute er in der Elbmetropole mehrere prachtvolle Orgeln. Schnitgers Glanzstück war dabei das viermanualige Instrument für die St. Nikolai-Kirche, das heute nicht mehr erhalten ist, da es Mitte des 19. Jahrhunderts dem großen Brand in Hamburg zum Opfer fiel. Einst aber war dieses Werk eine der größten Orgeln in ganz Nordeuropa. Die 67 Register mit über 4000 Pfeifen erregten im In- und Ausland Aufsehen und zogen schon damals zahlreiche Organisten an. Zum Beispiel: Dietrich Buxtehude aus Lübeck. Im Mai 1687 machte sich der Lübecker Marienorganist auf den Weg, um den Orgelbauer in Hamburg zu treffen und die fast fertige Orgel der Nikolai- Kirche selbst zu hören und zu spielen. Dass diese Dienst-Reise nach Hamburg ein unbedingtes Muss war, davon hatte Buxtehude sogar seinen Kirchenvorstand in Lübeck überzeugen können: Neben den Reisekosten spendierte der auch gleich noch einen Viertelliter französischen Rotwein zu jeder anstehenden Mahlzeit. Nach vier Tagen kehrte Buxtehude wieder nach Lübeck zurück und am Schreibtisch im Werkhaus der Marienkirche schrieb er nun folgendes ins Wochenbuch: „Mit consens meiner Hochgeehrten Herren Vorsteher bin ich am vergangenen Montag nach Hamburg gefahren, um daselbst, wegen unserer beiden Orgeln, so eine Haupt-Renovation höchst bedürfen, mit dem Orgelmacher Arp Schnitger zu reden, auch zugleich seine in St. Nikolai ganz neu gemachte große Orgel zu besehen und zu hören. Welches Werk mit gutem Success und männiglichen Vergnügen verfertiget worden“ – soweit Buxtehude. Doch so spendabel der Vorstand in Sachen Wein auch gewesen sein mag: Es dauerte immerhin noch zwei Jahre, bis Buxtehude Schnitger nach Lübeck bringen konnte. Erneut unterrichtet uns darüber der Eintrag ins Wochenbuch der Marienkirche: „Mit Consens meiner Hochgeehrten Herrn Vorsteher habe ich dem Hamburgischen Orgelmacher Arp Schnitger geschrieben, um unsere Große Orgel zu besichtigen, welcher auch herübergekommen, um die märklichsten Mängel und Deffekte zu observieren und darauff den Herrn Vorstehern die Relation daran schriftlich zu übergeben. Für solche Mühe und Reise ist ihm bezahlt worden: 8 Reichthaler, das sind 24 Mark lübisch.“ Doch Buxtehudes Traum von einer Schnitger-Orgel 6 in St. Marien zerplatzte. Schnitger war bereits mit anderen Projekten beschäftigt, etwa mit dem Neubau in der Ludgeri-Kirche in Norden in Ostfriesland und an dieser großen viermanualigen Orgel spielt jetzt die F-dur-Toccata von Dietrich Buxtehude.

Musik 5 Track 15 5.15’’ Dietrich Buxtehude Toccata in F Harald Vogel, St. Ludgeri in Norden DGG 3268, LC 6768

Absage Abgenommen wurde die Orgel in Norden einst von Hermann Schmit aus Aurich, dessen Gutachten voll des Lobes war: „Die Arbeit ist durch und durch mit großem Fleiß verfertiget, so dass man in diesem Lande perfecte und künstlich gemachte Arbeit wenig finden wird, welches dem Herrn Orgelmacher rühmlich nachsagen muß“. In der Tat musste man sich schon etwas umsehen, um Vergleichbares in Norddeutschland zu hören. In Hamburg immerhin wurde Schnitger noch einmal von sich selbst übertroffen: Mit der Orgel in der St. Jacobi-Kirche. Gegen das Votum des Organisten von St. Katharinen, Johann Adam Reincken, den man seinerzeit als Sachverständigen herangezogen hatte, hatte diese Orgel sogar einen Principal 32' im Pedal erhalten. Sie ist damit die größte erhaltene Orgel Schnitgers. Auch dieses Instrument hat natürlich viele Musiker angezogen. Dass sich auch ein Tastenvirtuose wie für diese faszinierende Schnitger-Orgel interessierte, überrascht kaum. Und so findet sich auch sein Name in den Hamburger Kirchenakten vom November 1720 unter den Bewerbern um die Organistenstelle an St. Jacobi, die durch den Tod Heinrich Frieses frei geworden war. Bis heute ranken sich um diese Bewerbung viele, viele Legenden, doch sicher ist nur folgendes: Insgesamt wurden acht Bewerber zum Probespiel bestellt, darunter auch Bach, der aber schon im Vorfeld seine Kandidatur wieder zurückzog – aus welchen Gründen auch immer. Damit war der sicher prominenteste Kandidat aus dem Rennen und der Weg frei für einen mittelmäßigen Organisten namens Heitmann, der in gut hanseatischer Tradition des Ämterkaufs als Einstand immerhin 4000 Mark in die Kirchenkasse zahlte. So ganz geheuer war den Hamburgern diese „Schmiergeldaffäre“ dann aber doch nicht. Immerhin erinnerte sich der Hamburger Musikgelehrte sehr viel später noch an diesen Vorfall und die vergebliche Bewerbung eines "gewissen Virtuosen". Genüßlich zitierte er aus der damaligen Weihnachtspredigt des Hamburger Hauptpastors und Kantatendichters Erdmann Neumeister, der von der Kanzel herunter rief: "Ich glaube ganz gewiß, wenn auch einer von den Bethlehemitischen Engeln vom Himmel käme, der göttlich spielte, und wollte Organist zu St. Jacobi werden, hätte aber kein Geld, so möge er nur wieder davon fliegen". - Bach flog 7 wieder davon und den Hamburgern blieb nur die Erinnerung an die Musik, die Bach auf dieser Orgel traktierte.

Musik 6 Track 9 5.50’’ Johann Sebastian Bach Fuge D-dur aus BWV 532 Rudolf Kelber, Orgel St. Jacobi, Hamburg Edition Jacobi RP 14020

Absage. In der Hauptkirche St. Jacobi steht also die letzte der großen hanseatischen Barockorgeln, die Schnitger 1693 fertiggestellt hat. Vor gut 10 Jahren, am Ostersonntag 1993 wurde die von Jürgen Arend restaurierte Schnitger-Orgel in Hamburg wieder eingeweiht. Ihre 60-stimmige Disposition erklang damals erstmals wieder in der "authentischen" Konzeption – gespielt von Rudolf Kelber. Das Faszinosum Schnitger-Orgel ist damit freilich keineswegs am Ende. In Lübeck etwa hat man längst eine Vision: den Nachbau der im Bombengewitter 1942 untergegangenen Schnitger/Hantelmann-Orgel im Dom. Doch zugleich wurden Zweifel laut: Kann, darf und sollte man in einem inzwischen mehrfach veränderten Raum ein dort vor 300 Jahren errichtetes Instrument heute wieder detailgetreu nachbauen? Um diese Frage zu erörtern initiierte die Musikhochschule Lübeck und die Nordelbische Evangelisch- lutherische Kirche im Frühjahr 2001 ein großen Internationales Symposion - mit Denkmalpflegern, Architekten, Musikern, Musikwissenschaftlern und Orgelbauern. Die Positionen schienen zunächst unversöhnlich zu sein: Die Musiker plädierten für eine Rekonstruktion, die Denkmalpfleger witterten eine reaktionäres Projekt als Antwort auf die wahrzunehmende Krise der Moderne. Doch der Dialog ist in Gang gekommen.

Johann Sebastian Bach 4’00 Toccata für Orgel d-moll (dorisch), BWV 538 Ton Koopman (Arp-Schnitger-Orgel) LC-06019 : TELDEC CLASSICS 017369-2