BlaubartAuf den Spuren eines literarischen Serientäters

20. Juni – 7. September 2008 Museum Strauhof Literaturausstellungen Er liebte mehr als irgend einer, BlaubartAuf den Spuren eines literarischen Serientäters denn seine Sehnsucht war ein Meer. Er liebte viele – aber keiner gab er die ganze Seele her. Es war einmal das Märchen vom Blaubart. Die Ausstellung zeigt, wie sich die Sicht Der tötet alle seine Ehefrauen, weil auf Blaubart und seine letzte Frau – wer ist sie seinem Verbot zuwiderhandeln, ein Täter? wer ist Opfer? – in über 300 Jahren bestimmtes Zimmer zu betreten. Nur gewandelt hat und wie sie vom jeweiligen Und sah er sich im Lustgeniessen, seiner letzten Frau gelingt es, sich vor ihm Stand des Geschlechterkonflikts abhängt. zu retten. Am Ende ist es der Frauen­ Sie macht auch deutlich, dass die Männer mörder selbst, der sterben muss. die Deutungsmacht über den Blaubart- nach dem sein Blut verzweifelnd schrie, Das Märchen ist das literarische Werk Stoff verloren haben. Seit der zweiten des französischen Schriftstellers Charles Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählen in eine Frau hinüberfliessen – Perrault, der es 1697 in Paris veröffentlich­ vermehrt Frauen ihre Version der Ge- te. Seitdem sind unzählige Bearbeitungen schichte. Und weil der Streit um die Rolle erschlug er sie. von „Blaubart“ in allen Gattungen (Mär- der Frau in der Gesellschaft noch nicht Reinhard Koester: Ritter Blaubart, 1911 chen, Erzählungen, Romane, Dramen, entschieden ist, lebt das Blaubart-Märchen Opern, Illustrationen) entstanden. Zu den weiter. bekanntesten Bearbeitungen zählen das Märchen von Ludwig Bechstein, die Oper von Béla Bartók nach Béla Balázs, das Reinhard Koester (1885-1956) war Puppenspiel von Georg Trakl, das Tanz- Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift theaterstück von Pina Bausch, die Erzäh- „Simplicissimus“, Rundfunk- und lung von Max Frisch. Als Subtext lauert Drehbuchautor wie auch Übersetzer. der Blaubart-Stoff im „Todesarten“-Projekt Er schrieb eines der seltenen Gedichte von Ingeborg Bachmann, und in den über Blaubart, das 1911 in der Zeit- 1990er Jahren haben Autorinnen wie schrift „Pan“ veröffentlicht wurde. Karin Struck, Undine Gruenter oder Damals herrschte in der deutsch- Dea Loher sich damit auseinandergesetzt. sprachigen Literatur eine regelrechte Blaubart-Konjunktur. Viele dieser Be­ arbeitungen brachten die Bedrohung zum Ausdruck, als welche die weibliche Sexualität um 1900 empfunden wurde, so auch Koesters „Ritter Blaubart“.   > 1 Am Anfang war das Märchen von Perrault

Charles Perrault: Blaubart – Schlüsselszenen

1 Vorstellung des Blaubart 2 Brautwerbung und Hochzeit Blaubart betrat die literarische Bühne mit „La Barbe-Bleue“ verkörpert die Idealform der 1697 in Paris veröffentlichten Mär- des Märchentypus vom vielfachen Frauen- Es war einmal ein Mann, der hatte schöne Eine seiner Nachbarinnen, eine Dame von chensammlung „Histoires ou Contes du mörder in Verbindung mit der verbotenen Häuser in der Stadt und auf dem Lande, Stand, hatte zwei wunderschöne Töchter. temps passé“. Dabei handelte es sich nicht Kammer und der glücklichen Rettung der Tafelgeschirr von Gold und Silber, kostbare Er hielt bei ihr um eine von beiden an und um die schriftliche Überlieferung münd- letzten Ehefrau. Welche Vorbilder Perrault Möbel und Kutschen, die ganz und gar überliess ihr die Wahl derjenigen, welche sie licher Volkserzählungen, sondern um das neben mündlichen Märchenvorlagen für vergoldet waren. Aber unglücklicherweise ihm geben wollte. Aber alle beide wollten ihn literarische Werk eines Autors, des Franzo- seinen „Blaubart“ herangezogen hat, ist hatte dieser Mann einen blauen Bart; das durchaus nicht und schoben ihn sich gegen­ sen , auf der Grundlage ungewiss. Auffallend ist die inhaltliche machte ihn so hässlich und abschreckend, dass seitig zu, da sie sich nicht entschliessen volkstümlicher Märchenstoffe und -motive. Nähe zu einer Legende aus dem 6. Jahr- alle Frauen und Mädchen vor ihm flohen. konnten, einen Mann zu nehmen, der einen Die Märchen sind kunstvoll schlicht, zum hundert, in der ein bretonischer Adeliger blauen Bart hatte. Was sie ausserdem abstiess Teil auch witzig erzählt, von feiner Ironie seinen Ehefrauen öffentlich die Kehle war, dass er schon mehrere Frauen geheiratet durchdrungen und enden jeweils mit einer durchschneidet, sobald er sie geschwängert hatte und dass man nicht wusste, was aus zwiespältigen Moral. Perrault schuf so u. a. hat. Als historisches Vorbild wird immer diesen Frauen geworden war. die „Prototypen“ von „Aschenbrödel“, wieder Gilles de Rais angeführt – der Um Bekanntschaft zu schliessen, führte „Dornröschen“ und „Blaubart“, die bis Kampfgefährte von Jeanne d’Arc soll Blaubart sie mit ihrer Mutter und drei oder heute in der Literatur und den Künsten reihenweise Kinder entführt und getötet vier ihrer besten Freundinnen sowie einigen lebendig sind, aber auch massgeblich auf haben – oder Heinrich VIII. – der englische jungen Leuten aus der Nachbarschaft auf die volkstümliche mündliche Erzähltradi- König trennte sich von zwei seiner sechs eines seiner Landhäuser, wo man volle acht tion zurückgewirkt haben. Frauen durch Scheidung, von zwei anderen Tage verweilte. Da gab es nichts als Spazier­ durch Hinrichtung. gänge, Jagdausflüge und Angelpartien, Bälle, Festessen und Nachtmähler: man schlief kaum und brachte die ganze Nacht damit hin, einander Streiche zu spielen; kurz, alles liess sich so gut an, dass die Jüngere allmählich fand, der Herr des Hauses habe gar keinen so blauen Bart mehr und sei ein höchst ehren­ werter Mann. Sobald man in die Stadt zurückgekehrt war, wurde die Ehe geschlossen.

  > 1 Am Anfang war das Märchen von Perrault

3 Verbot, die Kammer zu betreten 4 Eintritt in die verbotene Kammer 5 Entdeckung und Bestrafung 6 Aufschub

„Hier“, sagte er zu ihr, „sind die Schlüssel zu Aber die Versuchung war so stark, dass sie ihr „Warum ist Blut an diesem Schlüssel?“ Als sie allein war, rief sie ihre Schwester und den beiden grossen Möbelspeichern; hier ist nicht zu widerstehen vermochte: sie nahm „Davon weiss ich nichts“, antwortete die sagte zu ihr: „Liebe Schwester Anne“, denn so der Schlüssel für das Tafelgeschirr von Gold also den kleinen Schlüssel und öffnete zitternd arme Frau bleicher als der Tod. hiess sie, „ich bitte dich, steig oben auf den und Silber, das nicht alle Tage im Gebrauch die Tür zur Kammer. Anfänglich sah sie „Ihr wisst davon nichts?“, erwiderte Turm hinauf und schau, ob nicht meine ist; hier ist der Schlüssel zu meinen eisernen nichts, weil die Fensterläden geschlossen Blaubart, „aber ich, ich weiss es wohl. Brüder kommen; sie haben mir versprochen, Truhen, in denen mein Gold und Silber waren. Nach einigen Augenblicken begann sie Ihr habt in die Kammer hinein gewollt? mich heute zu besuchen; und wenn du sie steckt; dieser ist für die Schatullen, die meine zu erkennen, dass der Fussboden ganz mit Nun gut, Madame! Ihr werdet dort hinein siehst, so winke ihnen, sich zu beeilen.“ Juwelen enthalten; und das ist der Haupt­ geronnenem Blut bedeckt war, und dass sich kommen und Euren Platz einnehmen Die Schwester Anne stieg oben auf den Turm schlüssel zu allen Zimmern. Was nun diesen in diesem Blut die Körper mehrerer toter, bei den Damen, die Ihr dort gesehen habt.“ hinauf, und die arme, jammervolle Frau rief kleinen Schlüssel angeht, so ist es der Schlüssel längs der Mauer aufgehängter Frauen Sie warf sich ihrem Ehemann zu Füssen, ihr von Zeit zu Zeit zu: „Anne, meine zur Kammer am Ende des langen Ganges im spiegelten: das waren alle die Frauen, die weinte und bat mit allen Zeichen einer Schwester Anne, siehst du nichts kommen?“ unteren Stockwerk: öffnet alles, geht überall Blaubart geheiratet und eine nach der aufrichtigen Reue um Verzeihung dafür, Und die Schwester antwortete: „Ich sehe hin; doch was diese kleine Kammer anbe­ anderen umgebracht hatte. Sie glaubte vor dass sie nicht gehorsam gewesen sei. Sie nichts als die Sonne, die stäubt, und das Gras, langt, so verbiete ich Euch, dort einzutreten, Furcht zu vergehen, und der Schlüssel zur hätte einen Stein erweichen können, schön das grünt.“ und ich verbiete es Euch so sehr, dass Ihr, Kammer, den sie eben aus dem Schloss und jammervoll wie sie war; aber Blaubart Unterdessen schrie Blaubart mit einem wenn es Euch ankommen sollte, sie zu öffnen, gezogen hatte, fiel ihr aus der Hand. hatte eine Herz, das war härter als Stein. grossen Hirschfänger in der Hand aus alles von meinem Zorn zu erwarten habt.“ „Es gilt zu sterben, Madame“, sagte er, Leibeskräften nach seiner Frau: „Komm „und das sofort.“ rasch herunter oder ich komme hinauf!“ „Noch einen Augenblick“, antwortete seine Frau; und dann rief sie: „Anne, Schwester Anne, siehst du nichts kommen?“ Und die Schwester antwortete: „Ich sehe nichts als die Sonne, die stäubt, und das Gras, das grünt.“

  > 1 Am Anfang war das Märchen von Perrault

7 Rettung Moral Andere Moral

„Komm endlich rasch herunter“, schrie In diesem Augenblick schlug man so heftig an Die Neugier, trotz all ihrer Reize, Wenn man auch noch so wenig Blaubart, „oder ich komme hinauf!“ die Tür, dass Blaubart kurz innehielt. Man kostet oft reichlich Reue; Scharfsinn hätte, „Ich gehe schon“, antwortet die Frau; und öffnete, und sogleich sah man zwei Reiter Jeden Tag sieht man tausend Beispiele und verstände kaum das dann rief sie: „Anne, Schwester Anne, siehst hereinkommen, die mit dem Degen in der dafür geschehen. Zauberbuch der Welt, du nichts kommen?“ Faust geradewegs auf Blaubart zustürzten. Das ist, wenn es den Frauen auch gefällt, man sähe rasch, „Ich sehe“, erwiderte die Schwester, „eine Er erkannte, dass es die Brüder seiner Frau ein ziemlich flüchtiges Vergnügen, dass diese Geschichte ein Märchen aus grosse Staubwolke, die von dieser Seite waren, Dragoner der eine, Musketier der sobald man ihm nachgibt, vergangener Zeit ist. herkommt.“ andere, und floh sogleich, um sich zu retten schwindet es schon, Es gibt keine so schrecklichen Gatten mehr, „Sind das meine Brüder?“ Aber die Brüder folgten ihm auf dem Fuss, so und immer kostet es zu viel. und keinen, „Ach nein, Schwester, es ist eine Herde dass sie ihn einholten, ehe er die Freitreppe der das Unmögliche verlangt, Schafe.“ gewinnen konnten. Sie stiessen ihm ihre wenn er unzufrieden oder eifersüchtig ist. Degen durch den Leib und liessen ihn tot Bei seiner Frau sieht man ihn liegen. […] Schmeichelreden führen, Es fand sich, dass Blaubart keine Erben hatte und welche Farbe sein Bart auch haben mag, und dass seine Frau folglich Herrin seines man kann kaum erkennen, gesamten Vermögens blieb. wer von beiden der Herr ist.

„La Barbe-Bleue“, conte de Perrault. kolorierte Holzstiche Imagerie d’Epinal, Mitte 19. Jh.

  > 2 Perraults „Blaubart“ und der Geschlechterstreit

„Die Frauen haben durchaus nicht unrecht, wenn sie die Regeln von sich weisen, die in der Die literarischen Salons Welt eingeführt sind, haben sie doch die Männer ohne sie gemacht. Es ist ganz klar, dass im Zeitalter Ludwigs XIV. Kabale und Streit zwischen ihnen und uns besteht.“ Michel de Montaigne (1533 – 1592) Eine Gegenöffentlichkeit zum absolutisti- schen Hof Ludwigs XIV. in Versailles bildeten die weiblich dominierten litera- Perraults Märchen sind im französischen Ludwig XIV., rischen Salons in Paris. In ungezwungener Adel und Grossbürgertum des Zeitalters der Sonnenkönig Atmosphäre trafen hier über Standesgren- Ludwigs XIV. angesiedelt, und hier sind zen hinweg die besten Köpfe von Adel und ihre Themen auch kulturgeschichtlich Das Zeitalter König Ludwigs XIV. von „Wenn wir unser Herz verlieren, müssen wir Bürgertum, aus Wissenschaft und Litera- verankert. Frankreich (1638 – 1715) stellt einen Herr unseres Geistes bleiben; wir müssen die tur zusammen. Lebhafte intellektuelle „Blaubart“ erzählt von einem Mann, der Höhepunkt des Absolutismus dar, der Zärtlichkeiten des Liebhabers von den Debatten entschädigten sie für ihre sich anmasst, über Leben und Tod seiner uneingeschränkten Herrschaft eines Entscheidungen des Souveräns trennen; und politische Ohnmacht. Gleichzeitig waren Ehefrau zu bestimmen, und von ihrem einzelnen Fürsten. Sonnengleich bildete er die Schönheit, die uns Vergnügen bereitet, die Salons eine literarische Probebühne, erfolgreichen Widerstand dagegen. das Zentrum von Staat und Gesellschaft, darf niemals die Freiheit besitzen, über etwa für die Gattung Märchen. Dahinter steht als Thema die männliche daher sein Beiname „Sonnenkönig“. unsere Staatsgeschäfte zu sprechen und auch Der emanzipatorische Charakter der Dominanz in Familie, Gesellschaft und Frauen spielten eine grosse Rolle im nicht über die Personen, die uns dabei zu literarischen Salons ging jedoch noch Staat, das Patriarchat. Diese Ordnung wird Leben Ludwigs. Seine Mutter Anna von Diensten sind.“ weiter: Gebildete Frauen der Oberschicht durch die Handlung des Märchens nicht Österreich übernahm für den noch minder­ Ludwig XIV.: Mémoires, 1667 standen als Gastgeberinnen (die ihre Gäste grundlegend in Frage gestellt. Die Frau jährigen König die Regentschaft und auch vom Bett aus empfingen) und als erscheint auch nicht als unschuldiges herrschte acht Jahre lang über Frankreich. Besucherinnen im Mittelpunkt. Durch den Opfer, sondern vielmehr als bestechlich Ludwig war zweimal verheiratet, hatte vier geistigen Austausch in den Salons erreichte durch die Aussicht auf wirtschaftliche offizielle Mätressen und ungezählte der Umgang der Geschlechter einen neuen Sicherheit und ein Leben in Luxus. Geliebte. Als herausragende Persönlichkeit Grad an Kultiviertheit. Diese Tatsache, die Obwohl Blaubart am Ende bestraft wird, gilt seine vierte Mätresse und zweite schriftstellerische Ambition der Salonièren ist die Darstellung des Geschlechterver- Ehefrau, Madame de Maintenon (1635– und die zunehmend – auch von Männern – hältnisses also ambivalent. Sie entspricht 1719). Sie wirkte darauf hin, dass im Leben vorgebrachte Forderung nach mehr und der Ambivalenz, mit der die kulturtra- des Königs und bei Hof statt Leichtsinn besserer Bildung für Frauen, sorgten für gende adelige und grossbürgerliche und Vergnügungssucht mehr Ernsthaftig- eine neue Runde im Geschlechterstreit, der Oberschicht im Zeitalter Ludwigs XIV. keit herrschte. Mit ihr pflegte er einen ewigen Debatte über die Gleichberechti- den Fragen des Patriarchats und der umfassenden Austausch. In politischen gung der Frau. Gleichberechtigung der Frau gegenüber- Fragen übte sie Zurückhaltung und machte stand. ihren Einfluss im Hintergrund geltend, denn die Politik war so etwas wie die verbotene Kammer Ludwigs:

10 11 > 2 Perraults „Blaubart“ und der Geschlechterstreit

Charles Perrault

Charles Perrault (1628 – 1703), Sohn einer Perrault und die zeitgenössischen Die Märchenmode am Ende des Exponate grossbürgerlichen Pariser Familie, Jurist Debatten 17. Jahrhunderts und Schriftsteller, stand der Welt des Histoires ou Contes du temps passé. Avec des Moralitez. Hofes ebenso nahe wie jener der Salons. Perraults „Blaubart“ steht im Fadenkreuz In den literarischen Salons ging Ende des Paris 1697. Von 1663 bis 1683 war er der engste von zwei Debatten, die das intellektuelle 17. Jahrhunderts die Märchenmode um. Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart Mitarbeiter von Colbert, dem wichtigsten Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts Das kulturell übersättigte Publikum liess Minister Ludwigs XIV. Zunächst wachte bewegten. Die „Querelle des Femmes“ – der sich durch das Wunderbare der Erzäh- Die Märchensammlung mit „Blaubart“ erschien er als Sekretär der „Petite Académie“ über seit der Antike regelmässig aufkeimende lungen gern noch einmal als Kind anspre- anonym, die Vorrede war unterschrieben von Pierre das Bild des Königs in der Öffentlichkeit. Streit um die Gleichberechtigung der chen, entlasten und unterhalten. Die Darmancour, einem Sohn von Charles Perrault. Letzterer vermied es, als Urheber identifiziert zu Frau – war bereits 1617 durch Jacques literarisch nicht anerkannte und vernach- Später kontrollierte er die königlichen werden, weil Märchen bei den Literaturrichtern keine Bauten und war so unmittelbar am Ausbau Oliviers „Alphabet der Unvollkommenheit lässigte Gattung entwickelte sich zu einer Anerkennung fanden. Erst als die Sammlung sich des Louvre und von Versailles beteiligt. und Boshaftigkeit der Frauen“ neu aufge- Domäne der Frauen. Für einen Modernen zum Bestseller entwickelte, gab Perrault sich zu Nach Colberts Tod wurde er entlassen. flammt und wurde im Lauf des Jahrhun- wie Perrault war das Märchen auch erkennen. Fortan widmete sich der Witwer – seine 25 derts immer wieder angefacht, so auch geeignet, einmal mehr die Konkurrenz­ Berühmt wurden Perraults Märchen unter der Inschrift auf dem Frontispiz, „Märchen meiner Jahre jüngere Frau war wenige Jahre zuvor durch Komödien Molières. fähigkeit der zeitgenössischen mit der Grossmutter Gans“, was so viel heisst wie Märchen gestorben – der Erziehung seiner noch Seit 1687 stritten in der „Querelle des antiken Literatur zu belegen. aus alter Vorzeit. Das Frontispiz zeigt eine bäuerliche minderjährigen Kinder. Anciens et des Modernes“ die Traditiona- Die Märchen Perraults und seiner weib- Erzählerin mit Spinnrocken an einem Kaminfeuer Gleichzeitig meldete sich das Mitglied der listen unter ihrem Wortführer Nicolas lichen Kolleginnen, von denen Marie- und ihre kindlichen Zuhörer aus dem Adel oder Académie Française (seit 1671) in der Boileau und die Fortschrittlichen mit Catherine d’Aulnoy die bedeutendste Bürgertum. Die Darstellung ist eine Fiktion: Literatur zurück. 1687 pries er in dem Charles Perrault an der Spitze über den war, unterscheiden sich erheblich und in Das Erzählen von Märchen war keineswegs dem einfachen Volk vorbehalten, Zuhörer waren keines- Rang der antiken und der zeitgenössischen paradoxer Weise: Seine sind moralisierend, Versgedicht „Das Zeitalter Ludwigs XIV.“ wegs nur Kinder. Mit Märchen unterhielt man sich die kulturelle Überlegenheit seiner Epoche Kultur. rational und realistisch. Die weiblichen in den allerhöchsten Kreisen. über die klassische Antike und löste einen Parteigänger Perraults waren auch die Hauptfiguren erscheinen nicht selten als langwierigen, heftigen Literaturstreit aus. Salonièren und Schriftstellerinnen, denn fehlerhaft, z. B. wenn es darum geht, das Seine bis heute anhaltende, weit verbreitete nur die moderne Auffassung war offen für bürgerliche Ideal der Hausfrau zu erfüllen. Les Contes des fées. Par Madame D**. Wirkung verdankt Perrault jedoch seinen die kulturelle Teilhabe der Frauen. Die Märchen der Frauen dagegen werden Tome Premier. Märchen. Zwangsläufig richtete Boileau einen seiner von Feen dominiert, weiblichen mit Macht Paris 1698. Angriffe gegen das weibliche Geschlecht. und Wissen ausgestatteten Zauberwesen, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart

Perrault wies den Angriff nur halbherzig daher auch die Bezeichnung Feenmärchen. Der Gegensatz zwischen den Märchen von Charles zurück, ein Bekenntnis zur Gleichberechti- In den idealisierenden Darstellungen Perrault und Marie-Catherine d’Aulnoy zeigt sich gung der Frau legte er nicht ab. Vielmehr erscheinen die Protagonistinnen als von bereits an der Gestaltung der Frontispize deutlich. liess er ein Frauenideal durchblicken, dem, häuslichen Pflichten befreite Heldinnen in Dort wird ein bürgerliches Rollenideal verkörpert, wie in „Blaubart“ und auch an anderer Stel- luxuriösem und mondänem Umfeld. hier ein weiblicher Bildungsanspruch. Dort erzählt eine bäuerliche Frau am Spinnrocken vor dem le, mehr die gefügige bürgerliche Hausfrau Heute, nach einer langen europäischen Kaminfeuer, hier trägt eine vornehm gekleidete Frau als die selbstbewusste gebildete Ober- Blütezeit sind die Feenmärchen der Frauen aus einem Buch vor. schichtdame entsprach. nahezu vergessen, während Perraults „Contes“ als Weltliteratur gelten. 12 13 > 3 Blaubart wird populär

„Das Märchen enthält in seiner Schlussszene das Hinreissendste an dramatischer Spannung, was die gesamte Märchenwelt zu bieten hat.“ Ernst Tegethoff, Literaturwissenschaftler, über „Blaubart“, 1923

Was hat die Blaubart-Geschichte, dass sie „Wer von unsern Lesern hat nicht in seiner „Ich war nun aber in dieser Zeit einmal „[…] da ich mich entsinnen musste, dass diese seit 1697 unaufhörlich dazu herausfordert, Kindheit mit unendlichem Behagen und bestimmt, der Mährchenwelt zu verfallen, Oper [‚Raoul Barbe-Bleue‘ von André sich mit ihr zu beschäftigen und ihr immer Entsetzen das berühmte Märchen von Barbe- denn ein Ungefähr, ich weiss selbst nicht mehr Erneste Modeste Grétry] das erste Stück war, neue Bearbeitungen und Lesarten hinzu- Bleue erzählen hören?“ welches, spielte die unvergleichlichen ‚Contes welches ich […] als fünfjähriger Knabe sah zufügen? August Wilhelm Schlegel, 1797 de ma mère L’oie‘ mir in die Hände. Das und wovon ich noch die wunderlichen ersten Das Erfolgsgeheimnis des Blaubart-Stoffes unscheinbarste Büchlein von der Welt, ein Eindrücke bewahrte. Meine frühesten liegt wesentlich in seinem ewig aktuellen Duodez auf grauem Löschpapier, die Kindererinnerungen lebten dadurch auf und Thema begründet, dem Geschlechterkon- „Rotte jemand das Märchen des König holprichste deutsche Übersetzung kolonnen­ ich gedachte dessen, dass es die Arie des flikt. Ein weiterer Grund für seine Beliebt- Blaubart und der Xanthippe aus, er hat die artig neben dem französischen Originale, so Ritters Blaubart ‚Ha! Du Falsche! Die Türe heit ist seine Anpassungsfähigkeit an Amme und die Fibel gegen sich; seine Müh ist schlecht als möglich abgedruckt, und jedem offen!‘ gewesen war, welche ich, einen selbst historische und gesellschaftliche Verhält- verloren.“ Mährchen ein ganz kleiner Kupferstich, eine verfertigten Papierhelm auf dem Kopfe, zur nisse. Zu der faszinierenden Anziehungs- Johann Gottfried Herder, 1802 Hauptscene aus demselben darstellend, Belustigung des ganzen Hauses oft mit kraft und Wirkung tragen aber auch seine beigegeben. Welch ein Fund war das! Kein grosser Emphase vorgetragen hatte.“ dramatische Spannung bei, seine Bildhaf- eifriger Philologe kann über die seltenste und Richard Wagner, um 1865 tigkeit und Theatralität wie auch seine „Abends zu Madame Schopenhauer, Goethe prachtvollste Ausgabe eines alten Klassikers Qualität als Schauer- und Sensationsge- sehr lustig und spasshaft über Blaubarts grössere Freude empfinden, als ich über diesen schichte. Märchen.“ Schatz. Das waren ganz andere Mährchen , Johann Peter Eckermann: als die im Magazin des enfants, und wie Gespräche mit Goethe, 1809 erzählt! Von Blaubart, der auf einem der Kupferchen abgebildet ist, wie er seine arme Frau, die er bei ihren Locken gepackt hält, mit einem Säbel, zweimal so lang als er selbst, enthaupten will, wandte ich mit Grausen mich ab, aber […]“ Johanna Schopenhauer, 1839

14 15 > 3 Blaubart wird populär

Die Verbreitung der Blaubart-Geschichte Exponate „Blaubart“ in Massenauflage in den deutschsprachigen Ländern Friedrich Wilhelm Gotter: Blaubart. Bechsteins „Blaubart“ ist in einem unbestimmten Im 19. Jahrhundert erhielt die Verbreitung Perraults „Blaubart“ gelangte im 18. Jahr- Romanze. mittelalterlich-feudalen Milieu ohne Bezug zur der „Blaubart“-Geschichte grossen Auf- In: Carl Redlich (Hrsg.): Göttinger Musenalmanach Gegenwart angesiedelt. Seine Tendenz, die Frau als hundert nach Deutschland, Österreich und auf das Jahr 1772. Nachdruck. Stuttgart 1897. moralisch schwach, Blaubart als strengen, aber trieb durch das Medium Bild. Dabei in die Schweiz. Erzieher und Gesellschaf- Universität Zürich, Deutsches Seminar liebenden Familienpatriarchen darzustellen, ist spielten die Illustrationen von Künstlern ter aus Frankreich machten die hiesige jedoch der Geschlechterkonzeption des 19. Jahr­ wie Ludwig Richter oder Gustave Doré Oberschicht damit bekannt. Während die Bei der balladenhaften Romanze von Friedrich hunderts verpflichtet. Ihr entspricht auch, dass eine wichtige Rolle. Eine unvergleichlich erste englische Übersetzung bereits 1729 Wilhelm Gotter (1746 – 1797) handelt es sich um die Bechsteins „Blaubart“ seinen Ehefrauen die Köpfe höhere Breitenwirkung hatten jedoch die erste bekannte literarische Bearbeitung von Perraults abtrennt, das heisst den Körperteil, in dem Denken erschien, lag die erste bekannte deutsch- lithografierten Bilderbögen, die um 1800 „Blaubart“ in der deutschsprachigen Literatur. In den und Wissen verortet sind. sprachige erst 1770 vor. Grund dafür war, 36 vierzeiligen Strophen wird die Geschichte durch aufkamen. Sie wurden in rund 300 Manu- dass die kulturell gebildete Oberschicht eine leichte und unterhaltsame Erzählweise fakturen in ganz Europa – Zentren waren mühelos Französisch las und keine Über- entschärft. Gotter, einer der meistgespielten, auch im E. Marlitt: Blaubart. das französische Epinal, das elsässische setzung benötigte. Ausland beachteten deutschsprachigen Bühnenau- Fortsetzungsroman. Schluss. Wissembourg und das deutsche Neurup- Um 1800 war die Blaubart-Geschichte toren der 1770/80er Jahre, war in einer angesehenen In: Die Gartenlaube 1866, No. 31 u. 32. pin – in riesigen Auflagen gedruckt und Familie im thüringischen Gotha aufgewachsen. Bei Zentralbibliothek Zürich schon einem breiteren Publikum vertraut. seiner Erziehung durch Privatlehrer hatte die zunächst handkoloriert. Die Vorläufer der Dazu dürfte auch die Oper „Raoul Barbe- französische Literatur eine grosse Rolle gespielt. Eugenie Marlitt (1825 – 1887), eine thüringische Comics waren beliebt als belehrender und Bleue“ des französischen Komponisten Kaufmannstochter, ehemalige Opernsängerin und unterhaltender Bild- und Lesestoff und André Ernest Modeste Grétry (1741 – 1813) Gesellschafterin einer Fürstin, verdoppelte zwischen stiegen, auch in ihrer Weiterentwicklung beigetragen haben. Seine Bearbeitung war Ludwig Bechstein: 1866 und 1876 mit ihren sentimentalen Unter­ zu Ausschneidebögen für Papiertheater Das Märchen vom Ritter Blaubart. haltungsromanen die Auflage des Familienblattes 1789 in Paris uraufgeführt und danach in und Sammelbilder, zum Massenmedium In: ders.: Ludwig Bechstein’s Märchenbuch. „Die Gartenlaube“, einer Unterhaltungszeitschrift ganz Europa gespielt worden, so auch 1809 Mit 187 Holzschnitten nach Zeichnungen von für die bürgerliche Mittelschicht. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. an dem von Johann Wolfgang von Goethe Ludwig Richter. 2. illustrierte Ausgabe. ihrer bemerkenswerten Karriere legte sie die erste Von Anfang an wurden mit den Bilder­ geleiteten Weimarer Hoftheater. Leipzig 1857. bekannte Blaubart-Bearbeitung einer Frau in der bögen Märchen verbreitet. „Aschenbrödel“ Zentralbibliothek Zürich deutschsprachigen Literatur vor. und „Blaubart“ sollen beim Publikum Marlitts „Blaubart“ setzt die Kenntnis der Blaubart- besonders gefragt gewesen sein. Einem Massenpublikum wurde „Blaubart“ mit dem Geschichte bereits voraus. Denn ein junges Mädchen 1845 veröffentlichten „Deutschen Märchenbuch“ von wird von einem Mann angezogen, den verschiedene Ludwig Bechstein (1801 – 1860) bekannt. Die Samm- äussere Anzeichen ihr als Blaubart erscheinen lassen. lung des in Meiningen tätigen Archivars, Bibliothe- Die Verdachtsmomente werden in detektivischer kars und Schriftstellers, dessen Vater ein franzö- Manier ausgeräumt und am Ende steht der Liebe sischer Emigrant gewesen war, übertraf die Wirkung nichts mehr im Wege. Untergründig handelt der der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm Text von der Angst eines an der Schwelle zur Frau bei weitem. Dass sie ab 1853 mit Illustrationen des stehenden Mädchens vor der ersten sexuellen romantischen Malers und Zeichners Ludwig Richter Begegnung mit einem Mann. (1803 – 1884) erschien, trieb die Auflagenzahl weiter in die Höhe.

16 17 > 4 Blaubart meets Femme fatale

„Nicht nur der erste Koitus mit dem Weib ist tabu, sondern der Sexualverkehr überhaupt, Herbert Eulenberg: beinahe könnte man sagen, das Weib sei im Ganzen tabu. […] Vielleicht ist diese Scheu darin Blaubart als Desperado begründet, dass das Weib anders ist als der Mann, ewig unverständlich und geheimnisvoll, fremdartig und darum feindselig erscheint. Der Mann fürchtet, vom Weibe geschwächt, mit „Also ein Jack the ripper aus Seelengier? […] dessen Weiblichkeit angesteckt zu werden und sich dann untüchtig zu zeigen.“ So krank scheint der Sagenblaubart bei Sigmund Freud: Das Tabu der Virginität, 1917 Eulenberg; dieser wird sein psychologischer Bearbeiter; Begründer, Überbrücker, innerer Beleuchter. Er malt ihn mit Zügen des einsam Die Epoche um 1900 war von einem tiefen Träume auf der Couch Exponat Niederschwebenden; Blaubart möchte sich Krisenbewusstsein geprägt. Die Auswir- (aber mit einer neuen Frau) ‚verkriechen’.“ kungen der Industriegesellschaft auf alle Das junge Medium Film entdeckte die Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Alfred Kerr, 1907 Lebensbereiche (Rationalisierung, Techni- dramatische Qualität der Blaubart- Eine prinzipielle Untersuchung. 3. Aufl. Wien u. Leipzig 1904. sierung, Urbanisierung) stellten herge- Geschichte umgehend für sich. Bis 1914 ETH-Bibliothek Zürich, Bibliothek Eugen Bircher Der heute nahezu vergessene Rheinländer brachte Gewissheiten ebenso in Frage wie entstanden zahlreiche Blaubart-Filme. Herbert Eulenberg (1876 – 1949) war in die Rationalisierung selbst der dunklen, Den Auftakt machte der französische Das Buch des österreichischen Philosophen Otto den 1920er Jahren einer der meistgespielten verborgenen Seiten des Menschen in neuen Filmpionier Georges Méliès (1861 – 1938). Weininger (1880-1903) ist ein Dokument der aus der deutschen Dramatiker. Seine frühen neuro- Wissenschaftsdisziplinen (Kriminalanthro- Er zeigte in einer Szene Blaubarts letzte Angst vor der Frau resultierenden Frauenfeindlich- mantischen Stücke, darunter auch „Ritter keit um 1900. Es traf den Nerv der Zeit und erlebte pologie, Psychoanalyse, Sexualwissen- Frau von Alpträumen geplagt auf einer Blaubart“ (Druck 1905, Uraufführung bereits im Jahr nach seiner Erstveröffentlichung die schaft). Besonders von Verunsicherung Couch liegend – und schlug damit – bewusst dritte Auflage. 1906), waren gegen den herrschenden erfasst erschien das männliche Geschlecht, oder unbewusst – eine Brücke zur damals Weininger entwickelte darin die Lehre von den Naturalismus gerichtet. Sie stellen nicht dessen dominante Rolle nicht mehr ebenfalls jungen Wissenschaftsdisziplin einander entgegengesetzten Geschlechtstypen des die zeitgenössische Wirklichkeit dar, unangefochten war, sei es in Familie und der Psychoanalyse, deren Symbol die Männlichen und des Weiblichen. Sein Urteil über sondern historische und märchenhafte Beruf, sei es angesichts der widersprüch- Couch ist. den Typ W war vernichtend. Die Frau verkörpere Stoffe. Figuren und Sprache sind nicht weder eine vollentwickelte Bewusstseinsstufe noch lichen Folgen des Fortschritts. Erst kurz zuvor hatte der österreichische eine ebensolche Seele. Da der Sexualverkehr sachlich-nüchtern, sondern überschwäng- Das verunsicherte männliche Selbstbe- Nervenarzt Sigmund Freud (1856 – 1939) unmoralisch sei, die Frau aber nach nichts anderem lich-subjektiv. wusstsein um 1900 fand seinen Ausdruck in die Grundlagen für die psychoanalytisch- strebe, sei sie das unmoralische Element schlechthin. Eulenbergs Blaubart ist von tiefem Lebens- einer kollektiven Phantasie: dem vor allem therapeutische Behandlungsmethode in In der Verweigerung des Geschlechtsaktes sah der überdruss ergriffen. In Don Juan-hafter in der bildenden Kunst und in der Literatur „Die Traumdeutung“ (1900) veröffentlicht. Autor den einzigen möglichen Ausweg, das Manier sucht er Erlösung in immer neuen Aussterben der Menschheit dabei bewusst in Kauf weitverbreiteten Weiblichkeitsbild der Dem Ruhebett, ursprünglich ein Möbel- Eheversprechen. Doch Liebesgefühl und nehmend. Femme fatale, der dämonischen Verführe- stück aus der bürgerlichen Wohnung, sexueller Rausch weichen bald wieder rin. Gleichzeitig lässt sich eine auffallende kommt in der Analysesituation zentrale der alten Einsamkeit und Verzweiflung – Konjunktur des Blaubart-Stoffes diagnosti- Bedeutung zu. Durch die liegende Position und die Frau muss sterben. zieren. Blaubart verkörpert hier die moder- soll die wichtigste psychoanalytische Eulenberg gibt als Gründe für die seelische ne brüchige Männerfigur. Die Motive Aktivität gefördert werden, die freie Zerrüttung Blaubarts die fehlende Anlei- seines Handelns werden nun aufgedeckt Assoziation zur Aufdeckung unbewusster tung zum Leben durch die Eltern wie auch und gedeutet. Die letzte Frau trägt Züge psychischer Prozesse und verdrängter den Ehebruch seiner ersten Frau mit der Femme fatale. Von ihr erhofft Blaubart Inhalte. seinem besten Freund an und deutet die sich Erlösung, von ihr fühlt er sich aber Figur damit psychologisch. auch bedroht. 18 19 > 4 Blaubart meets Femme fatale

Oskar Kokoschka: Georg Trakl: Alfred Döblin: Die Femme fatale Vom „Weibe“ befreit Blutbrautnacht Blaubart als Schimmelreiter als männliche Projektion

KRIEGER UND WEIBER Der österreichische Frühexpressionist Die Erzählung „Der Ritter Blaubart“ des Die dämonische Verführerin, eine zu Wir haben den Schlüssel verloren – wir Georg Trakl (1887 – 1914) war von seiner deutschen Arztes und Schriftstellers Alfred unmässiger Liebe fähige Frau mit grosser finden ihn – Hast du ihn? sahst du ihn – wir elsässischen Erzieherin mit der franzö- Döblin (1878 – 1957) ist ironisch und leise, Anziehungskraft, die einen Mann erotisch sind nicht schuldig. Wir kennen euch nicht – sischen Sprache und Literatur vertraut märchenhaft und verrätselt. an sich bindet, ihn sich und die Welt Was wissen wir von euch! Der Streit ist gemacht worden. Er war beeinflusst von Der Schiffskapitän Paolo di Selvi hat durch vergessen lässt und ins Unheil stürzt, ist unverständlich und dauert eine Ewigkeit. Maeterlinck, dessen „Quinze chansons“ ein mysteriöses Erlebnis in der Heide seine ein gängiges Motiv der Literaturge­ (1900) mit dem Gesang der Frauen aus Vitalität verloren. Er lässt sich nieder und schichte. Das Schauspiel „Mörder Hoffnung der „Ariane et Barbe-Bleue“ er u. a. kannte, heiratet hintereinander drei Frauen, die alle Im Fin de Siècle (1880 – 1914) erscheint die Frauen“ (Uraufführung 1909, Druck 1910) aber auch von Kokoschka, dessen sterben. Dann taucht Miss Ilsebill auf und dämonische Verführerin zunehmend als des österreichischen Malers und Schrift- „Mörder Hoffnung der Frauen“ er bei der zieht ohne Trauschein bei ihm ein, um ihn Femme fatale, eine Phlegmatikerin, deren stellers Oskar Kokoschka (1886 – 1980) ist Uraufführung in Wien gesehen haben soll. zu retten. Denn di Selvi soll in der Heide sexuelle Triebhaftigkeit unheilbringend keine eigentliche Blaubart-Geschichte, In dem 1910 niedergeschriebenen seine Seele einem Wesen verkauft haben, und zerstörerisch für die Männer ist, aber vielmehr hat Kleists „Penthesilea“ Pate Fragment „Blaubart. Ein Puppenspiel“ das in den Klippen haust und alle paar auch für sie selbst. Das aggressive und gestanden. Es weist aber verschiedene ist der 15jährigen Elisabeth vorbestimmt, Jahre einen Menschen braucht. Ilsebill animalische Weiblichkeitsbild ist eine Blaubart-Motive auf, mit denen der Autor dass sie in der Hochzeitsnacht durch bringt das Opfer und di Selvi findet seine Projektion des verunsicherten männlichen frei umgeht. Ihm liegt u. a. die unter­ Blaubarts Hand stirbt. Nur dadurch, dass Kraft wieder. Subjekts, das um seine überlegene Stellung gründige Gleichsetzung von Blaubarts ver- er das noch jungfräuliche Mädchen tötet, Schon weil sie den Namen der eigen­ fürchtet. Es wird um 1900 geradezu botener Kammer mit der Sexualität des kann sich der zerquälte Mann vor dessen sinnigen Ilsebill aus dem Märchen vom zwanghaft verbreitet, vor allem in der Mannes zugrunde. Geschlechtlichkeit schützen. Dabei Fischer und seiner Frau trägt, ist die letzte bildenden Kunst und auf der Bühne, Ein Krieger mit einem weissen, „blauge- fürchtet er weniger die eigene Hingabe als Frau als selbstbewusste und selbständige personifiziert u. a. in den biblischen panzerten“ Gesicht trifft auf eine Kriege- den Betrug mit einem anderen Mann. Frau gekennzeichnet. Döblin verleiht ihr Figuren Judith und Salomé oder der rin. Sie führen einen Liebeskampf und Trakl zeigt Elisabeth so, dass Blaubarts auch andere moderne Züge – und lässt sie mythischen Sphinx. Zum Prototyp der fügen sich tödliche Wunden zu, aber nur Furcht begründet erscheint und sie kein am Ende doch das traditionelle weibliche Femme fatale wird Frank Wedekinds sie stirbt daran. Für den geistig geprägten unschuldiges Opfer ist. Rollenbild als Opfer erfüllen. (1864 – 1918) „Lulu“. Mann bedeutet der Tod der Frau die Döblins Blaubart di Selvi sprengt als Befreiung von ihrem Geschlechtstrieb, der unheimlicher Reiter über das Land, wie in ihn mit sich fortzureissen drohte – hier wird Theodor Storms Novelle „Der Schimmel- der Einfluss von Otto Weininger deutlich. reiter“. Auch für das Motiv, dass der vom „Mörder Hoffnung der Frauen“ gilt als Schimmelreiter gebaute Deich eines Wegbereiter des literarischen Expressionis- tierischen oder menschlichen Opfers be- mus. Der kurze Text ist unzusammen­ darf, findet sich bei Döblin eine Parallele. hängend und vieldeutig. Ihm stehen Bild und Licht, Pantomime und Ton als gleich- berechtigte Elemente zur Seite.

20 21 > 4 Blaubart meets Femme fatale

Maurice Maeterlinck: Béla Balázs: Der Blaubart der Frauen Die Frau als Hoffnungsträgerin Blaubart auf Ungarisch

ARIANE Der aus einer ungarisch-deutschen Familie Belá Balázs schloss sein Blaubart-Stück Frauen erfuhren nicht nur in den meisten Zunächst heisst es ungehorsam sein. stammende Schriftsteller, Filmästhetiker 1911 ab. Noch im selben Jahr entstand die Texten der Blaubart-Konjunktur um 1900 Das ist die erste Pflicht, wenn die Ordnung und -macher Béla Balázs (1884 – 1949) stark von der ungarischen Volksmusik und eine Marginalisierung als Figuren, sie bedrohlich ist und sich nicht rechtfertigt. wurde durch Maeterlincks „Ariane et von der Suitenform geprägte, klangmale- traten auch als Autorinnen von Blaubart- Barbe-Bleue“ zu seinem Mysterienspiel rische Oper seines Landmannes Béla Geschichten praktisch nicht in Erschei- Der belgische Schriftsteller Maurice „Herzog Blaubarts Burg“ angeregt. Anders Bartók (1881 – 1945). Bis zur Uraufführung nung. Die mangelnde Präsenz von Frauen Maeterlinck (1862 – 1949), ein Hauptver- als bei Maeterlinck steht in dem auf am Königlichen Opernhaus in Budapest bezieht sich nicht nur auf Bearbeitungen treter des Symbolismus, plante sein Stück Ungarisch geschriebenen Stück Blaubart vergingen jedoch noch einmal sieben Jahre. der Blaubart-Geschichten, sondern spiegelt „Ariane et Barbe-Bleue“ von vorneherein als tragischer Held im Fokus. Die Meta- deren Situation im Kunst- und Literaturbe- als Libretto für eine Oper. pher für dessen Seele, die Burg, ist Titelfi- trieb um 1900 allgemein wieder. Die 1907 uraufgeführte Vertonung durch gur und Schauplatz des Stückes. Aus dem Umfeld der deutschsprachigen den Komponisten Paul Dukas (1865 – 1935) Seine letzte Frau Judith will Blaubart künstlerischen Avantgarde um 1900 sind gilt als bedeutendstes Werk der franzö- liebend aus seinem Seelenbunker befreien. nicht mehr als zwei kurze Texte überliefert, sischen Moderne neben Debussys Es entbrennt ein Kampf zwischen ihm und von denen der eine nur unter Vorbehalt der „Pelléas et Mélisande“, ebenfalls nach ihr – dass sie den Namen einer Femme Malerin und Illustratorin Anna Costenoble Maeterlinck. fatale trägt, hat darauf schon hingedeutet – (1863 – 1930) zugeschrieben wird und der In Maeterlincks Version befreit Blaubarts um den Zugang zu den Kammern seiner andere unter dem bis heute nicht identifi- jüngste Frau Ariane ihre fünf noch Burg, der die Unversöhnlichkeit der zierten Pseudonym El Hor erschien. lebenden Vorgängerinnen aus einem Geschlechter aufs Neue bestätigt. Der unkomplizierte Zugang zum Blaubart- Verliess. Doch während Ariane Blaubarts Am Ende wird sie zum letzten noch Thema fällt in beiden Texten auf, ironisch- Burg selbstbewusst wieder den Rücken fehlenden Stück in der Galerie seiner nüchtern bei Costenoble, heiter-leicht bei kehrt, verzichten diese auf eine Rettung Frauen und damit in seiner Burg. Dadurch El Hor. Diese räumt der letzten Frau ein, und bleiben bei ihrem Peiniger. Blaubart wird seine Tragik zementiert, jede Ver­ was ihr von den männlichen Autoren der spielt praktisch keine Rolle in dem Drama. änderung ausgeschlossen. Zeit vewehrt wurde: Zwar erleidet sie das Der Konflikt ereignet sich zwischen seinen Die Blaubart-Geste des Archivierens, das Schicksal ihrer Vorgängerinnen und passiv ihr Schicksal erduldenden ersten museale Aufbewahren der Frauenleichen, kommt zu Tode, doch hat ihre „unbeküm- Frauen und der aktiven, lebensstarken wird bei Balázs noch einmal besonders merte freche, lachende Liebe“ Blaubart Ariane. deutlich: So wie das Sammeln von Dingen unheilbar infiziert. „Ariane et Barbe-Bleue“ gilt als Wende in den Tod vergessen machen soll, so rebel- Maeterlincks Werk, vom handlungsarmen liert Blaubart durch das Einfrieren der Pessimismus zu einem kraftvollen Opti- jugendlichen Gestalt von Judith und ihrer mismus. drei Vorgängerinnen gegen die Vergäng- lichkeit.

22 23 > 4 Blaubart meets Femme fatale > 5 Schichtwechsel

El Hor: Ritter Blaubart „Es war Schichtwechsel, und jetzt konnte sie die Welt übernehmen, ihren Gefährten benennen, die Rechte und Pflichten festsetzen, die alten Bilder ungültig machen und das erste neue Sie ritten im Regen den Schlossberg hinan. Nach drei Tagen starb sie. Ein Knecht brachte entwerfen.“ Sie sass vor ihm auf seinem roten Sattel und dem Ritter einen Fetzen von ihrem Hemde, Ingeborg Bachmann: Ein Schritt nach Gomorrha, 1961 sah neugierig auf seine müden Hände, die so darauf war mit Blut geschrieben: „Ich liebe zerbrechlich und böse aussahen. Sie sah auf dich, mein lieber Herr.“ seinen Bart, aus dem die Regentropfen, heiss Da spürte er, dass alle Mauern und Winkel Immer mehr Frauen werden im Lauf des „Ich glaube, dass es den Blaubart gibt“ von seinem Atem, auf sie herunterfielen. von ihrer Liebe durchsickert waren. Er 20. Jahrhunderts, insbesondere seit den Ingeborg Bachmann: Sein Bart war spitz zugeschnitten und so rannte hinaus, aber sie klebte an seinen 1960er Jahren künstlerisch tätig. Und Das Buch Franza, Textstufe II, Jordanische Zeit glatt und glänzend wie ein schwarzes Händen, an seinem Bart, auf seinem Mund. immer mehr von ihnen nehmen sich des Pantherfell, mit einem stahlblauen Schimmer Sie hing in seinen Kleidern, sie presste sich Blaubart-Stoffes an. In ihren Versionen Das bedeutendste Beispiel für die weibliche darauf. Sie sah auf seinen lässigen Mund. um seinen Hals, sie klomm mit ihm über die rücken meist die weiblichen Protagonistin- Umdeutung des Blaubart-Stoffes in der Sie sah in seine Augen, in denen sie hilflose Felsen und durch dornige Büsche, überallhin nen in den Mittelpunkt. Frauen werden jüngeren deutschsprachigen Literatur stellt und verrückte Fragen auffand. folgte ihm ihre unbekümmerte freche, also im doppelten Sinn Subjekt der das Prosawerk von Ingeborg Bachmann Sie sagte: „Herr, warum hast du mich mit lachende Liebe. Blaubart-Geschichte und lösen damit – dar. dir genommen?“ Bei Nacht kehrte er zurück und legte Feuer ganz im Sinn des gesellschaftspolitischen Die österreichische Schriftstellerin „Weil du mir gefällst.“ an sein Schloss. Dann ging er hinauf in den Diskurses der Zeit – das emanzipatorische Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) lebte „Wirst du mich töten?“ dunklen Saal, schloss die Türen und wartete. Potential des Märchens ein. Als Künstle- ein für Frauen ihrer Generation noch „Ja.“ rinnen schaffen sie ihre jeweils eigene In: Saturn. Eine Monatsschrift. ungewöhnliches weibliches Rollenmodell, „Warum tötest du die Frauen?“ 3.1913, H. 7, S. 201-203. Version der Geschichte, als Figuren indem sie ihren Lebensunterhalt selbst „Frag nicht.“ reklamieren sie eine weibliche Weltsicht. verdiente und unverheiratet blieb. „Wann wirst du mich töten?“ Um im Bild des Märchens zu bleiben: Ungewöhnlich war ebenfalls, dass sie im „Fürchtest du dich?“ Frauen verharren nicht länger leblos in „Fast jeder Mann hat, wie Blaubart, seine männlich dominierten Literaturbetrieb „Nein – ich liebe dich dafür.“ Blaubarts Kammer, vielmehr steigen sie auf Blutkammer mit zerstückelten Frauen­ der Nachkriegszeit zu den erfolgreichsten Er war eine Weile still, dann sagte er mit den Turm, um sich zu befreien. existenzen aus seiner Vergangenheit. Nur Autorinnen und Autoren überhaupt bösem Lächeln: Charakteristisch für viele Blaubart- dass die moderne Frau dies schon voraussetzt. gehörte. „Ich werde dich nicht töten.“ Versionen von Frauen ist, dass das Wort Und auch deshalb hat sie keine Gelegenheit, In ihrem Prosawerk setzte Bachmann sich „Herr, du bist grausam! Darf ich deine „Blaubart“ gar nicht auftaucht, weder im im ersten Entsetzen das goldene Schlüsselchen immer wieder mit weiblichen Rollen­ Hände küssen?“ Titel noch im Text, und der Blaubart-Stoff zu dieser Vergangenheit mit dem Blut ihrer modellen und dem Geschlechterverhältnis „Nein.“ nur fragmentarisch aufscheint. Vorgängerinnen zu beflecken, weil der Mann auseinander. Ihre Darstellungen stehen „Deinen Mantel?“ entweder den Schlüssel selber in der Tasche meist unter negativen Vorzeichen. Ins­ „Nein.“ behält – oder seinen Ruhm darein setzt, die besondere das „Todesarten“-Projekt ist Da lachte sie und fing mit der hohlen Hand Tür möglichst weit offen zu lassen.“ durchdrungen vom Thema der Vernichtung das Regenwasser auf, das aus seinem Bart Anna Costenoble (?) in: Penthesilea. der Frau durch ihren Lebenspartner und tropfte und trank es. – Ein Frauenbrevier. Für männerfeindliche Stunden, die patriarchale Gesellschaft überhaupt. Als sie im Schloss ankamen, liess er sie in den 1907 Der Blaubart-Stoff taucht dabei an vielen Turm werfen. Stellen als Chiffre auf.

24 25 > 5 Schichtwechsel

Das „Todesarten“-Projekt Blaubart im Prosawerk von Ingeborg Bachmann Die erste öffentliche Lesung Ingeborg Bachmanns aus dem noch im Entstehen 1. Textbeispiel 2. Textbeispiel begriffenen, unvollendet gebliebenen „Das „Sie konnte nichts mehr sehen; schwer und „Die Kammer ist gross und dunkel, nein, ein noch einmal zu sehen, und ihm das Eine zu Buch Franza“ (Fragment, 1978) fand am müd hingen ihre Augenlider herab. Sie sah Saal ist es, mit schmutzigen Wänden, es sagen. Mein Vater, sage ich ihm, der nicht 9.1.1966 im Theater am Hechtplatz in nicht Mara und das Zimmer, in dem sie war, könnte im Hohenstaufenschloss in Apulien mehr da ist, ich hätte dich nicht verraten, ich Zürich statt. Der Roman war ein Teil des sondern ihr letztes geheimes Zimmer, das sie sein. Denn es gibt keine Fenster und keine hätte es niemand gesagt. Man wehrt sich hier so genannten „Todesarten“-Projektes, an jetzt abschliessen musste. In diesem Zimmer Türen. Mein Vater hat mich eingeschlossen, nicht.“ dem Bachmann von 1962/63 bis zu ihrem wehte es, das Lilienbanner, da waren die und ich will ihn fragen, was er vorhat mit Tod 1973 arbeitete. Wände weiss, und aufgepflanzt war dieses mir, aber es fehlt mir wieder der Mut, ihn zu aus: Ingeborg Bachmann: Malina. Das „Todesarten“-Projekt ist der Versuch, Banner. Tot war der Mann Franz und tot fragen, und ich schaue mich noch einmal um, Roman. die nicht offensichtlichen, sondern unter- war der Mann Milan, tot ein Luis, tot alle denn eine Tür muss es geben, eine einzige Frankfurt a. M. 1971. gründigen Verbrechen, die sich tagtäglich sieben, die sie über sich atmen gespürt hatte. Tür, damit ich ins Freie kann, aber ich Hervorhebungen im Text von Ingeborg Bachmann in einer Gesellschaft ereignen, literarisch Sie hatten ausgeatmet, die ihre Lippen begreife schon, da gibt es nichts, keine durch Susanne Feldmann darzustellen. Es ist geprägt von der gesucht hatten und in ihren Körper eingezo­ Öffnung, jetzt keine Öffnungen mehr, denn Überzeugung, dass die Grausamkeit nicht gen waren. Tot waren sie, und alle ge­ an allen sind schwarze Schläuche angebracht, mit dem Ende des Nationalsozialismus aus schenkten Blumen raschelten dürr in den angeklebt rings um die Mauern, wie riesige der Welt verschwunden ist und dass die gefalteten Händen; sie waren zurückgegeben. angesetzte Blutegel, die etwas aus den meisten Menschen nicht sterben, sondern Mara würde nicht erfahren, nie erfahren Wänden heraussaugen wollen. Warum habe ermordet werden. dürfen, was ein Zimmer mit Toten war und ich die Schläuche nicht schon früher bemerkt, Konkret stehen Frauenfiguren im Mittel- unter welchen Zeichen sie getötet worden denn sie müssen von Anfang an da gewesen punkt, denen von ihren Männern und der waren. In diesem Zimmer ging sie allein um, sein! Ich war so blind im Halbdunkel und bin Gesellschaft nicht nachweisbare psychische geisterte um ihre Geister. Sie liebte ihre Toten die Wände entlanggetappt, um meinen Vater Verletzungen mit Todesfolge zugefügt und kam sie heimlich wiedersehen. Im Gebälk nicht aus den Augen zu verlieren, um die Tür werden. In „Das Buch Franza“ erhält die knisterte es, die Zimmerdecke drohte einzu­ zu finden mit ihm, aber nun finde ich ihn und Zerstörung der Frau durch den Mann eine stürzen im heulenden Morgenwind, der das sage: Die Tür, zeig mir die Tür. Mein Vater zusätzliche politische Dimension, wenn sie Dach zerzauste. Den Schlüssel zu dem nimmt ruhig einen ersten Schlauch von der mit der Unterdrückung der Kolonialvölker Zimmer, das wusste sie noch, trug sie unter Wand ab, ich sehe ein rundes Loch, durch das durch die „Weissen“ gleichgesetzt wird. dem Hemd … Sie träumte, aber sie schlief es hereinbläst, und ich ducke mich, mein Vater noch nicht.“ geht weiter, nimmt einen Schlauch nach dem anderen ab; und eh ich schreien kann, atme aus: Ingeborg Bachmann: ich schon das Gas ein, immer mehr Gas. Ich Ein Schritt nach Gomorrha. In: dies.: Das dreissigste Jahr. bin in der Gaskammer, das ist sie, die grösste Erzählungen. Gaskammer der Welt, und ich bin allein München 1961. darin. Man wehrt sich nicht im Gas. Mein Vater ist verschwunden, er hat gewusst, wo Hervorhebungen im Text von Ingeborg Bachmann durch Susanne Feldmann die Türe ist und hat sie mir nicht gezeigt, und während ich sterbe, stirbt mein Wunsch, ihn 26 27 > 5 Schichtwechsel

„unser Verhalten oder unsere Sehn - sucht oder unsere Unfähigkeit“ Auf den Spuren von Ingeborg Bachmann Pina Bausch in einem Interview über ihre Themen, 1979 und Pina Bausch?

3. Textbeispiel Von nachhaltiger Wirkung auf die „Blaubart, hätte ich immer gesagt, ist nicht Auf Ingeborg Bachmann und Pina Bausch „Erst jetzt habe ich mich nach den anderen Blaubart-Rezeption vor allem von Frauen, mein Thema, auch nicht, wenn andere folgte eine verstärkte Beschäftigung mit Frauen gefragt, und warum die alle lautlos aber auch von Männern war das 1977 in darüber schreiben, bis der Hanser Verlag dem Blaubart-Stoff durch jüngere Künstle- verschwunden sind, warum die eine nicht Wuppertal uraufgeführte Tanzstück ‚Blaubärtchen’ geplant und mich gefragt hat, rinnen. Stellvertretend seien hier die mehr aus dem Haus geht, warum die andere „Blaubart – Beim Anhören einer Tonband- ob ich was beizutragen hätte. Ja, habe ich westdeutschen Autorinnen Karin Struck, den Gashahn aufgedreht hat, und jetzt bin aufnahme von Béla Bartóks Oper ‚Herzog gesagt, und nur darum, weil ich zum Undine Gruenter, Dea Loher und Judith ich die dritte, mit diesem Namen, die dritte Blaubarts Burg’“ der deutschen Choreo­ zweitenmal Pina Bauschs ‚Blaubart’ gesehen Kuckart angeführt. Ob und inwieweit die gewesen, verbesserte sie sich, gewesen. Es ist, grafin Pina Bausch (*1940). hatte. Für mich war das, auch mit Bartóks Schriftstellerin und die Choreografin diese als ob über der ganzen Zeit, die im Dunkeln Für das Werk von Pina Bausch bedeutete Musik, ein verblüffender Zugang, der mich Beschäftigung konkret beeinflusst haben, gelegen ist, ein Scheinwerfer anginge, alles „Blaubart“ die endgültige Abkehr vom sehr überzeugt und lange beschäftigt hat. lässt sich schwer ausmachen. Es gibt liegt da, nackt, grässlich, unübersehbar, nicht durchchoreografierten klassischen Tanz­ Darum scheint es mir zwar überraschend, lediglich Anhaltspunkte. Darüber hinaus zu übersehende Indizien, und wie bereitwil­ abend zum bruchstückhaften, handlungs- aber durchaus sinnvoll, dass Sie auch andere hat jede Autorin sich die Blaubart-Ge- lig habe ich geglaubt, sie seien dumm, losen, schauspielnahen Tanztheater mit von meinen Texten in den Zusammenhang schichte auf ihre eigene Weise angeeignet. verständnislos, defekt gewesen, nichtswür­ seinen untänzerischen, der alltäglichen stellen.“ Allen gemeinsam ist, dass die Ehe nicht dige Kreaturen, die sich mit einem Abgang Körpersprache abgeschauten Bewegungen. mehr zwangsläufig den Resonanzboden für ins Schweigen selbst bestraften für ihr Gleichzeitig fuhr Pina Bausch mit der Antwort der Schweizer Schriftstellerin Hanna das Thema Geschlechterverhältnis liefert. Scheitern an einer höheren Moral, einem Untersuchung ihres Hauptthemas fort, des Johansen (*1939) auf die Frage, was sie von dem Es geht vielmehr meist um „Beziehungen“, Eindruck hält, dass Blaubart nicht nur in ihrer Massstab, den ich zu dem meinen machen „Mann-und-Frau-Themas“. Ihre unsenti- Erzählung „Der Wüstling“, sondern auch in anderen freizügigere, kurzfristigere, unverbind- wollte. […] mentale Sicht auf die Sehnsucht nach ihrer Werke umgeht, 6.3.2008 lichere Partnerschaften, die Frauen und Was andre Mädchen auch wollen, ich muss Liebe, die Unfähigkeit zur Verständigung Männer ohne ideelle oder materielle wohl getrieben gewesen sein, ins letzte oder die uneingelöste Gleichberechtigung Ansprüche aneinander eingehen, deren Zimmer zu schauen, die Blaubartehe, auf das in Paarbeziehungen im Zusammenwirken Verheissungen aber auf schmerzliche Weise letzte Zimmer neugierig, auf geheimnisvolle mit ihrer neuartigen Ästhetik löste beim unerfüllt bleiben. Weise und zu geheimnisvollen Zwecken Publikum heftige, sowohl zustimmende als getötet zu werden und mich todzurätseln an auch ablehnende Reaktionen aus. der einzigen Figur, die für mich nicht Karin Struck durchschaubar war.“ Mit ihrem radikal subjektiven Schreiben aus: Ingeborg Bachmann: repräsentiert Karin Struck (1947 – 2006) Das Buch Franza. die weibliche Bekenntnisliteratur der Hauptfassung. Jordanische Zeit, Textstufe IV.1. 1970/80er Jahre. Ihre Texte sind gekenn- In: dies.: „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. zeichnet durch die Überschneidung von Unter Leitung von Robert Pichl hrsg. v. Monika Autor- und Erzählerfigur, das heisst durch Albrecht und Dirk Göttsche. München 1995. eine geringe literarische Distanz zum Hervorhebungen im Text von Ingeborg Bachmann Dargestellten. Ausufernde Gedanken­ durch Susanne Feldmann ströme haben Formlosigkeit zur Folge, das 28 29 hingebungsvolle Leiden an der gesellschaft­ > 5 Schichtwechsel

lichen Wirklichkeit steht einem analy- Undine Gruenter Grausamkeit bezichtigt, arbeitet mit der Die Münchener Uraufführung erinnerte tischen Zugriff im Wege. Gerade durch Herrschaft der Grausamkeit. Keine Gebete, nicht ohne Grund an Pina Bauschs Der Blaubart-Bezug in dem Künstlerroman diese vermeintlichen Schwächen hat Karin keine Reden vom Guten im Menschen tun Tanztheater, denn die Regiearbeit von „Vertreibung aus dem Labyrinth“ (1992) Strucks Literatur jedoch eine faszinierende not, sondern das nachdrückliche Aufzeigen, Andreas Kriegenburg ist stark davon von Undine Gruenter (1952 – 2002) ist Wirkung entwickelt. Aufzeichnen von Grausamkeit.“ beeinflusst. Als erstes Stück von ihr hat er zuerst nur ein äusserlicher: Der Schriftstel- Vor dieser Folie arbeitete Karin Struck sich Januar 1990 – August 1990 im DDR-Fernsehen „Blaubart“ gesehen. ler Blok hat nichts ausser einem Theater- in ihren späten Veröffentlichungen regel- stück über Blaubart veröffentlicht. Auf den „Die Haltung, die Heinrich beim Anpro­ recht an Blaubart und der Schriftstellerin Undine Gruenter: zweiten Blick offenbart er jedoch auch Der Autor als Souffleur. bieren der Schuhe einnimmt – kniend vor der Ingeborg Bachmann ab, angefangen mit blaubarthafte Züge. Er lebt mit drei Journal 1986 – 1992. Kundin, einen unausgesprochenen Heirats­ dem Roman „Blaubarts Schatten“ (1991). Frauen, seiner Ehefrau Franziska, seiner Frankfurt a. M. 1995. antrag nahe legend –, und die Geste, mit der Darin erzählt die Schriftstellerin Lily Geliebten Fanny, einer Künstlerin, und Hervorhebungen von Undine Gruenter er den anzuprobierenden Schuh aus der Bitter vom Trauma der Abtreibung ihres dem Au pair-Mädchen Fernanda, nach Schachtel nimmt, dem Seidenpapier sanft dritten Kindes. Für sie ist die Abtreibung dem er sich sehnt. Er beobachtet die entwindet, ihn auf seiner Handfläche einmal Ausdruck einer blaubartisierten Welt, in Frauen wie ein Voyeur und vertraut seine Dea Loher um sich selbst kreisen lässt, um ihn schliess­ der das patriarchale Prinzip im Privaten Beobachtungen Notizbüchern an. Dass er lich, mit dem Absatz nach vorne der vor ihm wie im Öffentlichen durch „Gehirnwäsche“ Die Dramatikerin Dea Loher (*1964) quasi in ihre Haut schlüpft, um ihr Leben Sitzenden anzubieten, die Öffnung des durchgesetzt wird, sei es beim Inzest durch verbindet eine langjährige Arbeits­ aufzuzeichnen, befreit ihn von seiner Schuhs bereits fürsorglich mit drei Fingern den Vater, sei es bei der Abtreibung durch beziehung mit dem Regisseur Andreas eigenen Biografie. der anderen Hand aufhaltend, wo nötig den Kindsvater, in der kommunistischen Kriegenburg (*1964). 1997 wurde in dieser Bemerkenswert ist der Roman auch weitend, so dass sie sich wie von selbst dar- Partei oder bei der Schwangerschaftsbera- Konstellation „Blaubart – Hoffnung der deshalb, weil er auf dem Höhepunkt der so und aufzutun scheint, ein bequemes Schlupf­ tung. Frauen“ (Hörspiel, Ursendung 2001) am genannten Frauenliteratur und der feminis- loch, in das der Fuss der Kundin nur hinein­ Bayerischen Staatsschauspiel München „In jedem dieser eigenen Bücher gibt es einen tischen Literaturtheorie aus der Perspektive zugleiten die Musse haben muss, um von nun uraufgeführt. Anders als üblich begannen Bezug zu einem Dichter, ein unterirdisches des Mannes erzählt und die Perspektive der an beschwerdelos leicht dahinzuschweben, die Proben nicht mit dem fertigen Text von unendliches Gespräch mit den lebendigen drei Frauen durch seine vermittelt wird. diese seine Haltung erinnert die Frauen Dea Loher. Vielmehr wurde das Stück von toten und den lebenden Dichtern und notgedrungen an das Märchen vom lange zu „Erinnerungen, Ängste, Traumata. Dazu: in Autorin, Regisseur und Ensemble auf den Künstlern […] in ‚Blaubarts Schatten‘ das Unrecht verkannten Aschenputtel, dem end­ der alltäglichen Grausamkeit, die stattfindet, Proben entwickelt. Grimmsche und bretonische Blaubartmärchen lich der Ritter den richtigen Schuh anpasst – aber unter einem Kodex von Ideologie Blaubart ist in dem Stück ein Damen- und Max Frisch […] und in ‚Ingeborg B. – Wer denkt schon in dieser Situation daran, geleugnet, umgedeutet, verborgen wird, eine schuhverkäufer mit Vornamen Heinrich Duell mit dem Spiegelbild‘ ist ein ganzes dass es vor der Erfüllung heissen muss Wahrheit des menschlichen Zusammenlebens und einfachem Gemüt. Mit der gleichen Roman-Tagebuch poetische Auseinander­ Ruckedigu aufzudecken, die enthüllt werden muss, um zuvorkommenden Haltung, mit der er setzung mit einer einzigen Dichterin, mit ruckedigu durch blosse Beschreibung anzuklagen, aber kniend den Damen die Schuhe anprobiert, Ingeborg Bachmann.“ Blut ist im Schuh“ vor allem zu verstehen: die zugedeckte ermordet er todessehnsüchtige Frauen. Karin Struck: Schmerzens- und Leidensgeschichte, zuge­ Dass jede auf eine andere Art stirbt, spielt Dea Loher: „Dichter der Wandlungen – deckt unter der Decke der Konformität, der möglicherweise auf Ingeborg Bachmanns Blaubart – Hoffnung der Frauen. vom Abenteuer, Hermann Hesses Prosa zu lesen“. Konvention, unter der Fassade. Wer als „Todesarten“-Projekt an. In: dies.: Manhattan Medea. Vortrag auf dem Internationalen Hermann-Hesse- Künstler und als Person Angst hat vor der Am Ende wird er von einer Frau getötet, Blaubart – Hoffnung der Frauen. Kolloquium, 2002. Zwei Stücke. Erzählung der Grausamkeit, wer sie die sich schützen will vor seiner softiehaft- Frankfurt a. M. 1999. verschweigt und ihre Aufzeichner selbst der angelernten Liebe „über die Massen“. 30 31 > 5 Schichtwechsel

Judith Kuckart

Judith Kuckart (*1959) sah als junge Frau SUSANNE FELDMANN SUSANNE FELDMANN Eigenheit auch immer geheimnisvollen Leben die Tanztheaterstücke von Pina Bausch Wie oft haben Sie Pina Bauschs „Blaubart“ Wie haben Sie die Inszenierung erlebt? dahinter, das man nicht betreten darf, wenn und leitete von 1985 bis 1998 das gesehen? Was hat sie in Ihnen ausgelöst? man durch den fremden Flur in sein eigenes, TanzTheater Skoronel. Ihr Schreiben ist aber doch fremdes Zimmer geht, die Tür von der Ästhetik des Tanztheaters geprägt. JUDITH KUCKART JUDITH KUCKART zumacht und auch sein Geheimnis hat. Es deutet an und umkreist, vor allem, Gesehen habe ich die Aufführung wohl sechs Ja, Blaubart war für mich das Theater­ Hotelleben und Blaubartleben gehören für wenn es darum geht, „was das ist zwischen oder sieben Mal mit meiner damals besten ereignis an der Schnittstelle zum Erwachsen­ mich zusammen. Männern und Frauen“. Das Unausge­ Freundin, die nichts mit Tanz am Hut hatte, werden. Der Glaube an die Schönheit sprochene in ihren Texten entspricht aber gern am Abend mit Bus und Schwebe­ vergeht mit ihrer Darstellung, wenn sie so SUSANNE FELDMANN dem Unausgesprochenen zwischen den bahn nach Wuppertal fuhr. Es war von „schön“ und gelungen ist wie bei P. B. Wie kam es zu dieser Beschäftigung Geschlechtern. Es bewahrt das Geheimnis Schwelm aus gesehen das Abenteuer um Was ich sah, war wie ein Echo aus der mit Blaubart? Hat dafür Pina Bauschs und bekennt sich zur Unüberwindlichkeit die Ecke. Zukunft. Ich verliess gerade das Elternhaus, „Blaubart“ noch eine Rolle gespielt? des Alleinseins in der Welt, trotz Paar­ die Kindheit, das erste, behütete Jugendsein. JUDITH KUCKART beziehungen. SUSANNE FELDMANN Mit Blaubart wurde mir der Weg in die Nein, nicht mehr. Und als ich mich be- In diesem Kontext sind auch die Erzäh- Können Sie sich an die Reaktion des Zukunft klar, und auch, was das sein könnte ­schäftigt hatte, fiel mir auf: Ja, doch. Aber das lungen „Nadine aus Rostock“ und Publikums erinnern? zwischen Männern und Frauen. wusste ich erst im Nachhinein. Pina Bauschs „Die Blumengiesserin“ (beide 2003) Als ich Blaubart gesehen hatte, wusste ich JUDITH KUCKART Inszenierung hat mehr für mein Leben eine angesiedelt, die mit dem Blaubart-Stoff wie ein Zugvogel, der noch nie nach Süden Die meisten Zuschauer haben zu Anfang die Rolle gespielt und damit als Nebenwirkung umgehen. In „Nadine aus Rostock“ heiratet geflogen war, wo Süden ist. Aufführung türenschlagend verlassen. An auch für meine Theaterarbeit. Das liegt vor ein Lehrer mehrmals „nur um zu heiraten“, irgendeinem Abend waren meine Freundin allem an dem düster gesungenen Satz bis er die Liebe seines Lebens trifft – SUSANNE FELDMANN und ich mit ein paar Leuten von der Folk­ „Judith, Judith frag´ nicht weiter“. Ich fühlte die zwölfjährige Titelfigur. Nun zu Ihrer Beschäftigung mit wangschule die einzigen, die bis zu Ende mich wohl angesprochen. Meine Antwort In „Die Blumengiesserin“ bricht die „Blaubart“. Da wären die Erzählungen noch im Theater waren. Wir waren vielleicht fand ich zwanzig Jahre später mit dem Satz Titelfigur einen Rollschrank auf, der voll „Nadine aus Rostock“ und vor allem 20. Vielleicht waren wir auch nur 12. „Wer erzählt, hat eine Frage“. ist mit säuberlich beschrifteten und „Die Blumengiesserin“, aber auch das Die meisten Zuschauer mochten weder die Theaterstück „Blaubart wartet“, das im geordneten Fotos von Frauen. Der Mann, Interview mit Judith Kuckart Aufführung noch die Meisterin. Einige der die Fotos gemacht hat, überrascht sie Kontext der Erzählungen entstanden ist per E-Mail, 11.1.2008 setzten das Gerücht in Umlauf, Frau Bausch vor dem geöffneten Schrank, und sie wird und das Sie selbst 2002 in einem Berliner rieche schrecklich nach Schweiss. Damals sein nächstes Modell. Hotel inszeniert haben. hatte ich noch nicht „Dialektik der Auf­ In „Blaubart wartet“ (Uraufführung 2002) Warum in einem Hotel? klärung“ gelesen und wusste noch nichts entwickelte Judith Kuckart die Blaubart- von der dort beschriebenen Idiosynkrasie. JUDITH KUCKART Motive aus den Erzählungen „Nadine aus Das Fremde riecht immer schlecht für Weil ich eine für ein Stück ausgerichtete Rostock“ und „Die Blumengiesserin“ biedere Nasen. Bühne, Kostüme und Lichtstände und den weiter und lässt fünf Frauen erzählen, die ganzen Theatertheaterkram leid war und sich einem emotional ebenso undurch­ weil es inhaltlich passte: Lauter verschlossene schaubaren wie unzugänglichen und daher Zimmer mit einem eigenen, in seiner unheimlichen Mann gegenüber sehen. 32 33 > 6 Blaubart füttert Schwäne am Zürichsee

„(Über Liebe, als Beziehung zwischen den Geschlechtern, gebe es nichts Neues mehr zu „Blaubart“ und „der ganz normale, kaputte Mann berichten, das habe die Literatur dargestellt in allen Varianten ein für allemal, das sei für die das Werk von Max Frisch unserer Tage“ Literatur, sofern sie diesen Namen verdient, kein Thema mehr – solche Verlautbarungen sind zu lesen; sie verkennen, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sich ändert, Die „Blaubart“-Erzählung knüpft nicht nur Die Darstellung des „ganz normalen, dass andere Liebesgeschichten stattfinden werden.)“ nahtlos an das leitmotivische Bewusstsein kaputten Mannes unserer Tage“ in Max Max Frisch: Montauk, 1975 einer existenziellen Schuld im Werk von Frischs „Blaubart“ war kein literarisches Max Frisch an, sondern auch an den Einzelphänomen. Dem verunsicherten In Max Frischs (1911 – 1991) Erzählung Max Frischs „Blaubart“ und ebenfalls leitmotivischen Zusammenhang Mann begegnet man nach 1968 sowohl in „Blaubart“ (1982) ist der Name der Titel­ der Fall Keller von Identitätsproblematik und Geschlech- anderen Blaubart-Texten von Männern als figur zur Schlagzeile auf einer Boulevard- terverhältnis. Frisch verhandelt einmal auch in der Literatur von männlichen zeitung und zu einem Kosewort ver­ Dramaturgie und Form für seine mehr die Ratlosigkeit, mit der der Mann Autoren überhaupt. Diese sind Ausdruck kommen. Der, der damit gemeint ist, ist „Blaubart“-Erzählung lieferte Max Frisch vor der Frau steht und die Unmöglichkeit der radikalen gesellschaftlichen Verände- kein gewohnheitsmässiger Frauenmörder das Gerichtsverfahren gegen den wegen ihres Zusammenlebens. Dabei geht es ein- rung, die sich in der Nachkriegszeit und und unheimlicher Aussenseiter mehr, Mordes an seiner Ehefrau angeklagten, mal mehr auch darum, dass die materielle besonders nach 1968 Bahn brach. Die sondern „der ganz normale, kaputte Mann aber aus Mangel an Beweisen freige­ Funktion der Ehe und damit die männliche Männer sahen sich nicht nur durch die unserer Tage“ (Hartwig Suhrbier), ein sprochenen Winterthurer Goldschmied Rolle des Versorgers und die weibliche als Neue Frauenbewegung in ihrer traditio- Durchschnittsmann, der sich mit der Heinz Keller. Frisch besuchte den Prozess, Hausfrau ohne berufliche Ambition durch nellen Rolle im Geschlechterverhältnis in Auflösung der Institution Ehe und einem der im Januar und Februar 1980 vor einem die gesellschaftliche Entwicklung zur Frage gestellt, sondern durch die anti­ grundlegenden Wandel der Paarbeziehung Zürcher Geschworenengericht stattfand. Disposition stehen. autoritäre, emanzipatorische Bewegung konfrontiert sieht. Seinen Äusserungen zum Fall Keller wie Als eine Art Gegenstück zu „Blaubart“ überhaupt als die Protagonisten der Der Umkehrung der Figur entspricht die auch zu seinem „Blaubart“ ist zu entneh- kann die sieben Jahre zuvor veröffentlichte westlichen Gesellschaft und Zivilisation. Dramaturgie von Max Frischs „Blaubart“. men, dass ihn neben der Erprobung neuer Erzählung „Montauk“ angesehen werden. Unter den zahlreichen Autoren sind zu Die Erzählung ist ein Gerichtsdrama. Die Erzählweisen weniger das Verbrechen Hier wie da legt sich ein Ich-Erzähler, der nennen Janosch (1972), Dieter Hildebrandt Erwartung, dass sie mit der detektivischen selbst interessierte, als vielmehr die Frage, an der Schwelle zum Alter steht, Rechen- (1977), Peter Rühmkorf (1982), Philip Entlarvung von Dr. Felix Schaad als von welchem moralischen Standpunkt aus schaft ab. Vor dem Hintergrund einer Roth, auf dessen Roman „My life as a man“ Frauenmörder endet, unterläuft der Autor. ein Urteil über Schuld und Unschuld Liebesaffäre lässt er die wichtigsten (1974) der Ich-Erzähler in Frischs Vielmehr beginnt sie mit seinem recht­ gesprochen werden kann. Paarbeziehungen in seinem Leben Revue „Montauk“ mehrfach Bezug nimmt, mässigen Freispruch. Der löst bei dem passieren und fragt sich, welche Schuld er Donald Barthelme (1987), der mit Frisch Internisten ein „inneres Gerichtsverfahren“ an ihrem jeweiligen Scheitern hatte. befreundet war, oder Günter Kunert aus, in dem er selbst seine Unschuld in (1988), der Frisch ausführlich zu seinem Frage stellt. Fast 300 Jahre nach Perrault Blaubart interviewt hatte. legt Blaubart sich selbst Rechenschaft ab.

34 35 > 7 Happy End für Blaubart?

Heiner Müller François Chalet: Installation „Barbe bleue“ Wo Blaubart noch umgeht Selbstkritik 2 zerbrochner Schlüssel. Animation: François Chalet Eine unsystematische, unvollständige und subjektive Auswahl von Blaubart-Versionen Musik: Mathias Vetter Installation im Rahmen der Performance 1704-1717 1874 1925 „Der Aufstand brach am 23. Oktober 1956 „Serial Killers“, 2005 Les Mille et une Nuit (Erzäh- Walter Crane: The Ring Wilmer Lardner: aus, doch er begann schon am 6. Oktober mit Koproduktion des Maison des Arts de Créteil, lungen, F; älteste Übersetzung Picture Book (Druckgrafik, UK) Bluebeard (Kurzgeschichte, USA) der feierlichen Beisetzung von Rajk und Le Manège de Maubeuge und Lille 2004, von “Tausendundeine Nacht”, seinen Genossen, wo 200 000 Menschen den European Capital of Culture Übereinstimmungen der Rahmen­ 1885 1925 Ermordeten die letzte Ehre erwiesen, aber erzählung mit Blaubart-Stoff) Eugène Bossard: Marga Passon: Blaubart Gilles de Rais, maréchal de (Unterhaltungsroman, DE) vor allem für den Sturz eines mörderischen François Chalet (*1970), Schweizer Grafik- 1779 France, dit Barbe-Bleue (Studie, F) designer und Illustrator, VJ (Videojockey) Regimes demonstrierten. Nur Vereinzelte Friedrich II., König von Preussen: 1933 erinnerten sich noch an den Stalinisten Rajk, und Dozent für Animatics Realisation, Das Buch Blaubart 1888 Friedrich Glauser: wie das einer der Demonstranten tat, der vor Animation & Storyboard an der Berliner (antiklerikale Satire, DE; in Rose Terry Cooke: Bluebeard’s Der alte Zauberer (Erzählung, sich hin flüsterte: Hätte er das erlebt, er Technischen Kunsthochschule, wurde 1998 französischer Sprache) Closet (Lyrik, USA) CH; erste Studer-Geschichte) würde in die Menge schiessen lassen …“ bekannt mit einer Werbekampagne für MTV-Alarm. Darauf folgten zahlreiche 1797 1896 1933 (Hodos, „Schauprozesse“, S. 250) Ludwig Tieck: Der Blaubart; Marius Petipa: Sinjaja Boroda/ Albert J. Welti: Blaubart Projekte, darunter ein Werbespot für die Die sieben Weiber des Blaubart Barbe-bleue (Choreografie, RUS) (Drama, CH; 1937 Uraufführung expo.02, ein Videospiel für einen japani­ (Drama; Prosa, DE) am Schauspielhaus Zürich) Blaubarts verbotne Tür Verbotner Traum schen Autohersteller (2003) oder die 1907 Die toten Frauen im zertanzten Raum Installation „D-Days“ im Centre Pompidou 1841/42 Anatol France: Les sept femmes 1934 Das Blut vom Schlüssel wäscht in Paris (2005). Eugène Sue: L’aventurier ou la de Barbe-Bleue (Prosa, F) Agatha Christie: Philomel Barbe-Bleue (Roman, F) Cottage (Erzählung, UK) kein Regen ab François Chalet arbeitet auf der Grundlage Den Tod auf deiner Netzhaut deckt 1907 der Vektorgrafik und bezeichnet sich selbst 1847 Barbe-Bleue 1938 kein Grab als Geschichtenerzähler. Die Geschichten, Charlotte Brontë: (Film, F; Regie: Brüder Pathé) Blaubarts achte Frau (Film, USA; Kein Engel sprengt mit Flügeln die er mit seinen minimalistischen Figuren Jane Eyre (Roman, UK) Regie: Ernst Lubitsch, Drehbuch deinen Raum auf humorvolle Weise erzählt, sind „usually 1911 nach dem gleichnamigen Die toten Frauen essen deinen Traum funny … or heartbreaking“, wie er selbst sagt. 1862 Karl Schossleitner: Theaterstück von André Savoir Alphonse Daudet: Les huit Prinz Blaubart (Erzählung, A) (F, 1921) u. a. von Billy Wilder, Der letzte Beischlaf ist das Standgericht 2005 beteiligte Chalet sich mit dem Im Jahr der Wolfsmilch siehst du pendues de Barbe-Bleue Musik u. a. von Friedrich französischen Designer Patrick Jouin und (parodistisches Drama, F) 1915 Holländer, mit Gary Cooper als dein Gesicht dem chinesischen Multimediakünstler Du Karl Hans Strobl: Blaubart u. Claudette Colbert als In: Neue Rundschau 101.1990, H.2. S. 104. Zhenju an der Performance „Serial Killers“. 1863 Madame Blaubart seine achte Frau) Er wählte, wie auch Jouin, Blaubart als Friedrich Wilhelm Hackländer: (Unterhaltungsroman, DE) Der Blaubart 1940 Thema für seinen Beitrag. Der Reiz seiner (Unterhaltungsroman, DE) 1917 Sylvia Townsend Warner: Blaubart-Erzählung liegt darin, dass sie Marianne Mewis: Blaubart Bluebeard’s Daughter formal, d. h. was Ästhetik, Medium und 1866 (Unterhaltungsroman, DE) (Kurzgeschichte, USA) Technik betrifft, fortschrittlich und Jacques Offenbach: Barbe-Bleue zukunftsweisend ist, inhaltlich dagegen auf (Opéra bouffe, F; Uraufführung, 1921 1946 eine altmodische Weise sentimental, so als Libretto von Henri Meilhac u. Klaus Mann: Ritter Blaubart A Modern Bluebeard Ludovic Halévy) (Drama, DE) (Film, MEX; Regie: Jaime habe die Moderne der ewigen Sehnsucht Salvador, mit Buster Keaton) nach Liebe nichts anhaben können. 36 37 Impressum

Ausstellungskuratorin: Susanne Feldmann

1948 1972 1984 Sekundärliteratur Szenografie: Ngo Van Dá Blaubart (Film, DE/F/HU; Franz Hummel: (Film, USA; Regie: Fritz Lang) Regie: Edward Dmytryk u. Blaubart (Kammeroper, DE) Mererid Puw Davies: Luciano Sacripanti, Musik: Ennio The tale of Bluebeard in German literature Grafik: 1951 Morricone, mit Richard Burton 1987 from the eighteenth century to the present. d signsolution, Blaubart (Film, F/DE/CH; als Blaubart) Margaret Atwood: Blaubarts Ei Oxford 2001. Katharina Gassmann, Markus Galizinski Regie: Christian-Jaque, (Erzählung, CAN) mit Hans Albers als Blaubart) 1973 Casie Hermansson: Digitale Bildbearbeitung: Gerhard Rühm: 1987 Reading feminist intertextuality through Peter Hunkeler vor 1956 Blaubart von der Krummen Donald Barthelme: Bluebeard stories. Sylvia Plath: Lanke (Hörspiel, DE) Bluebeard (Kurzgeschichte, USA) Lewiston 2001. Bauten: Bluebeard Immobilienbewirtschaftung der Stadt Zürich (Gedicht, UK; Druck 1981) 1976 1987 Mario Jacoby, Verena Kast u. Ingrid Riedel: Hortense Dufour: Kurt Vonnegut: Das Böse im Märchen. Lichtgestaltung: 1956 La dernière femme de Barbe- Bluebeard (Roman, USA) Fellbach 1978. Mati AG Stanley Ellin: Bleue (Roman, F) The orderly world of Mr. Appleby 1988 Beat Mazenauer u. Severin Perrig: Audio- und Videostationen: (Erzählung, USA) 1976 Günter Kunert: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Klangbild GmbH Susy Langhans-Maync: Der verschlossene Raum Archäologie der Märchen. 1956 Blaubart Contre Coeur (Erzählung, DE) Leipzig 1995. Sprecherin und Sprecher der Tonaufnahmen: Georg Kreisler: (Roman, CH; in Berner Dialekt) Graziella Rossi, Helmut Vogel Biddlah Buh (Moritat, A) 1992 Blaubarts Geheimnis. 1977 Javier Marías: Märchen u. Erzählungen, Gedichte u. Stücke. Leitung Aufbauteam Strauhof: 1958 Dieter Hildebrandt: Blaubart – Corazón tan blanco Hrsg. u. eingeleitet v. Hartwig Suhrbier. Adrian Buchser H. C. Artmann: Mitte 40 (Roman, DE) (Roman, ESP) Köln 1984. blauboad 1, blauboad 2 Ausstellungsbüro: (Gedichte, A) 1979 1993 Monika Szczepaniak: Małgorzata Peschler Angela Carter: The Bloody The Piano (Film, AUS/NZ/F; Männer in Blau. 1958 Chamber (Erzählung, UK) Regie: Jane Campion) Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. Produktionsleitung Strauhof: Unica Zürn: Köln u. a. 2005. Roman Hess Das Haus der Krankheiten 1979 1997 (Notizen u. Zeichnungen, DE; Otschen Sinjaja Boroda Oswald Egger: Maria Tatar: Text zur Wegleitung: Druck 1986) (Trickfilm, RUS; Regie: Blaubarts Treue (Lyrik, A) Secrets Beyond The Door. Susanne Feldmann Wladimir Samsonow) The story of Bluebeard and his wives. 1967 1998 Princeton 2004. Grafik zur Wegleitung: Mike Blaubart (Fernsehfilm, DE; 1982 Judith Sarah Fricke: d signsolution, Katharina Gassmann Buch u. Regie: Gerd Winkler) Georges Brassens: Blaubart (Erzählung, CH) Hans-Jörg Uther: La visite (Chanson, F) Der Frauenmörder Blaubart Das Ausstellungsteam und das Museum Strauhof 1972 2005 und seine Artverwandten. danken allen, die das Zustandekommen der Janosch erzählt Grimms Märchen 1983 Fritz Rudolf Fries: In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde Ausstellung mit Rat und Tat unterstützt haben. (Erzählung, DE) Peter Rühmkorf: Blaubarts Besitz (Roman, DE) 84.1988. S. 35-54. Besonders erwähnt seien an dieser Stelle Michael Blaubarts letzte Reise Hiltbrunner und Hartwig Suhrbier. (Erzählung, DE) 2008 Jürgen Wertheimer: Felicitas Hoppe: Don Juan und Blaubart. Mein Blaubartzimmer Erotische Serientäter in der Literatur. (Essay, DE) München 1999. 38 39 20. Juni bis 7. September 2008 Di – Fr 12 – 18 Uhr / Sa – So 10 – 18 Uhr Montag geschlossen Eintritt: CHF 10 / 8 (erm.) Führungen jeden Samstag um 16 Uhr

Museum Strauhof Literaturausstellungen Augustinergasse 9, 8001 Zürich 044 412 31 39, www.strauhof.ch (Verwaltung: Präsidialdepartement der Stadt Zürich, Stadthaus, 044 412 31 30)