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Year: 2018

Blaubart - Parodien eines Potentaten

Hiltbrunner, Michael

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-169980 Dissertation Published Version

Originally published at: Hiltbrunner, Michael. Blaubart - Parodien eines Potentaten. 2018, University of Zurich, Faculty of Arts. Michael Hiltbrunner Blaubart Parodien eines Potentaten

Jonas Verlag

Harm-Peer Zimmermann (Hg.)

Blaubart – Parodien eines Potentaten

von Michael Hiltbrunner Zürcher Schriften zur Erzählforschung und Narratologie (ZSEN)

Band 4

Herausgegeben von Harm-Peer Zimmermann und Simone Stiefbold

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2015 auf Antrag der Promotionskommission Herr Prof. Dr. Alfred C. Messerli (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Herr Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann als Dissertation angenommen.

Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.

© Jonas Verlag als Imprint von arts + science weimar GmbH, Kromsdorf 2018

www.asw-verlage.de

Covergestaltung: Franziska Stubenrauch Reihenlayout: Satzzentrale GbR. Marburg Satz: Sebastian Preiß, arts + science weimar Druck in der Bundesrepublik Deutschland Lektorat: Manuel Bonik

ISBN 978-3-89445-547-7

© Abbildungen: Morgan Library, New York; Bibliothèque nationale de France, Paris; Archives Jean Painlevé, Paris; Bibliothèque Cantonale et Universitaire, Lausanne; Archiv des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region, Köln; Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf; Sammlung Michael Hiltbrunner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Inhalt

Einleitung ...... 9

Stand der Forschung ...... 13

Kulturwissenschaftliche Erzählforschung ...... 13 Kulturanalyse ...... 13 Relevanz der Kulturanalyse ...... 16 Politische Aspekte der Kulturanalyse ...... 18 Intermediale Erzählforschung ...... 20 Dialogizität ...... 23 Transtextualität als Transposition ...... 24 Lesarten und Leerstellen ...... 26 Märchen in der Erzählforschung ...... 29 Oralität und Neuschreibung von Märchen ...... 32 Schlussfolgerung ...... 34

Forschung zu Blaubart ...... 37 Romanistik ...... 37 Erzählforschung, Volkskunde ...... 38 Germanistik ...... 39 Anglistik ...... 40 Andere Disziplinen ...... 41 Fazit ...... 42

Stoffgeschichte von Blaubart ...... 45 La Barbe bleüe, Perrault, 1697 ...... 46 Pantomime, Satire, Arabeske ...... 52 Komische Oper, Musikkomödie ...... 56 Grimms Blaubart vs. Mr. Fox ...... 59 Falscher Verdacht ...... 61 Blaubart als Hochstapler ...... 62 Gilles de Rais ...... 65 Blaubarts Frau ...... 67 Tragischer Geschlechterkampf ...... 69 Weiblicher Blaubart ...... 74 Künstler vs. Durchschnittstyp ...... 77 Fazit ...... 80 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 ...... 82 Zum Vorgehen ...... 82

Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus ...... 86 René Bertrand – Künstler, Erfinder, Filmanimator ...... 86 Jean Painlevé – Dokumentarfilmer mit politischem Engagement ...... 90 Planung und Produktion von Barbe Bleue ...... 95 Bertrands Kurzfilm Barbe Bleue von 1938 ...... 103 Aufführung und Rezeption des Films ...... 107 Artauds «Théâtre de la cruauté» ...... 113 Barbe Bleue – Grausamkeit und politische Brisanz ...... 116 Fazit ...... 119

Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek ...... 121 Hans Natonek ...... 121 Der Roman Blaubarts letzte Liebe, 1938–1944 ...... 124 Figuren und Motive des Romans...... 128 Geschlechterbeziehungen vs. Politik ...... 134 Gilles de Rais als französischer Antiheld ...... 139 Fazit ...... 152

Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz ...... 155 Einleitung ...... 155 Die Radiooper Barbe-Bleue von Binet 1940 ...... 161 Die Radiooper Barbe-Bleue von Ibert 1943 ...... 163 Das Verhältnis der Schwestern ...... 165 Das Lachen der Melpomène ...... 166 «Geistige Landesverteidigung» und künstlerische Ansprüche ...... 169 Fazit ...... 174

Heiselers christliche Vision des Verzeihens ...... 177 Unterlagen zu Heiselers Schauspiel ...... 177 Bernt von Heiseler und Erwin te Reh ...... 179 Entstehung des Dramas ...... 182 Die Kölner Stadtfeier und die evangelische Kirche nach dem Krieg ...... 184 Heiselers Schauspiel Das Haus der Angst von 1950 ...... 187 Rezeption des Stücks ...... 191 Stoff, dramatische Form und inhaltliche Absichten ...... 193 Verbrechen, Gewalt und Erinnerungskultur in Das Haus der Angst ...... 199 Fazit ...... 202 Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung ...... 206 Christian-Jaque als Regisseur zwischen Vichy und «Libération» ...... 206 Der Spielfilm Barbe-Bleue von Christian-Jaque von 1951 ...... 208 Aufführung und Rezeption des Spielfilms ...... 211 Die deutschsprachige Version im Vergleich ...... 214 Juliette ou la clef des songes von Marcel Carné...... 217 Erinnerungsarbeit bei Carné und Christian-Jaque ...... 222 Fazit ...... 226

Fünf Adaptionen im Vergleich ...... 228

Anhang ...... 232 Unveröffentlicht ...... 232 Primärquellen ...... 233 Sekundärliteratur ...... 241 Dank ...... 260 Abbildungen ...... 262

9

Einleitung

Die Erzählung Blaubart, erstmals 1697 als Mär- – die gleiche Geschichte kann in eine andere Er- chen von erschienen, gilt als zählung gehüllt werden. Die Liste zeigt, wie sich besonders ambivalent, dies auch durch Wei- verschiedene Traditionen der Weiterschreibung terschreibungen und Neuinszenierungen von entwickelten, die teilweise kaum mehr etwas mit- Jacques Offenbach, Béla Bartók, Ernst Lubitsch, einander verbindet. Darauf basierend beginnt die Pina Bausch, Angela Carter, Max Frisch oder Studie mit einem Überblick zur Rezeption der Margaret Atwood. Die Figur Blaubart wurde da- Erzählung. Darin zeigt sich, dass Blaubart im bei zu einer Metapher für Gewalt im Beziehungs- 18. und 19. Jahrhundert meist als Komödie auf- leben, für den seriellen Frauenmord, für vergan- geführt, erzählt und gezeichnet wurde. Es gab ei- gene und nicht aufgearbeitete belastende Taten. nige Weiterschreibungen als moralische Märchen, Ein Aufsatz zur Blaubart-Verfilmung von Georges doch auch bei diesen waren komische Adaptionen Méliès (1904) bot den Einstieg in die vorliegende zahlreich. Recherche.1 Um 1900 gab es einen grundlegenden Wech- Die Basis für diese Studie bildet eine Liste: sel:Blaubart wurde neu als tragische Erzählung Um den Blaubart-Stoff von seiner Entstehung interpretiert und auch als Mythos verstanden. bis in die Gegenwart verfolgen zu können, wur- Speziell im deutschen Sprachraum zeigt sich ein de ein möglichst vollständiges Verzeichnis aller Interesse und ein Wandel in der Rezeption und Versionen von Blaubart angelegt, frei nach dem Weiterschreibung, eine Abwendung von Blaubart pataphysischen Motto: «la science est une ques- als Kindermärchen, Komödie und Volkserzählung tion administrative.»2 Die Suche nach allen Ad- und eine Hinwendung zu mythischen und tragi- aptionen der Erzählung in allen erreichbaren schen Auslegungen, zur Analyse der Frauenrollen Epochen, Medien, Genres und Sprachen brachte und der psychologischen Betrachtungsweise. Im rund 1200 Versionen zusammen. Der Prozess der französischen Sprachraum seinerseits gibt es um Adaption ist zuweilen überraschend: Die gleiche 1880 gleichsam als Auftakt zu dieser ernsten, Erzählung kann eine andere Geschichte erzählen tragischen Auseinandersetzung ein erstarkendes Interesse an der historischen Figur Gilles de Rais 1 Vgl. Hiltbrunner 2009a. als einem Massenmörder, Sexualtäter und Ket- 2 Vgl. Michael Hiltbrunner: Blaubart-Verzeichnis, rund 1200 Versionen und Sekundärliteratur zu Erzählung zer, der dabei auch mit der Erzählfigur Blaubart Blaubart (1697), meist in deutscher, französischer und zusammengebracht wurde. Diese Veränderung englischer Sprache. Zürich, 2006–2014. Die Versionen der Lesart von Blaubart als «tragic turn» zu einer sind unterteilt in die Bereiche Bühne, Film, Animation, tragischen und teilweise grausamen Erzählung, Literatur, Hörbuch, Illustration, Bildergeschichte, Bilden- bei welcher das Beziehungsleben im Mittelpunkt de Kunst, Musik und Wissenschaft. Dazu gehört eine Sammlung mit fast 400 Blaubart-Versionen, Publikatio- steht, erklärt auch die Weiterschreibungen im nen, Schallplatten, CDs, DVDs, VHS. Die Mehrzahl der 20. Jahrhundert. Versionen richtet sich an ein erwachsenes Publikum. 10 Blaubart – Parodien eines Potentaten

Bei der Auswertung dieser Stoffgeschichte kam im Mittelpunkt, es zählt aber ihre kulturelle Kon- es zu einer überraschenden Beobachtung, wie sie notation. Dies gilt auch für die Genrekritik, die Charles S. Peirce als Abduktion definiert: Ab« - hier ebenfalls kulturwissenschaftlich eingesetzt duktion ist jene Art von Argument, die von einer wird. Dennoch geht es hier um Erzählforschung. überraschenden Erfahrung ausgeht, das heißt von Es ist das Neu-Erzählen, welches aufgedeckt wer- einer Erfahrung, die einer aktiven oder passiven den soll. Überzeugung zuwiderläuft.»3 Im deutschen und Gerade bei Blaubart ist sogar der mündliche französischen Sprachraum zeigt sich nämlich in Ursprung des Märchens nicht erwiesen, die erste der Zeit um den Zweiten Weltkrieg plötzlich eine bekannte Version wurde von Perrault veröffent- starke Abnahme von Neuschreibungen der Erzäh- licht. Die traditionelle Idee vom Märchen mit lung und bei den verbleibenden eine eigentlich mündlichem Ursprung steht hier deshalb nicht anachronistische Entwicklung, indem die im 19. im Mittelpunkt – verglichen werden die Versio- Jahrhundert gängige Lesart von Blaubart als Ko- nen anhand ihrer Manifestationen: sie wurden mödienstoff und die Bloßstellung des Protzver- aufgeschrieben, erwähnt, aufgenommen. Bei haltens von Herrscherfiguren wieder aufgegriffen Blaubart ebenfalls bemerkenswert ist die Autor- wurde. Obwohl Blaubart ab 1900 meist als tra- schaft: Angeführt als Autor bei der Erstausgabe gische und mythische Erzählung weitergeschrie- von La Barbe bleüe (1697) wird Pierre Perrault, ben wird, gibt es also um 1940 eine Häufung von erst später wird sein Vater Charles Perrault als Ur- komischen Interpretationen. Während im angel- heber genannt.5 Da diese Frage hier nicht beant- sächsischen einzelne Adaptionen komisch sind, wortet werden kann, Pierre Perrault aber genauso gilt das für Adaptionen im deutschen und fran- sehr wie sein Vater ein Anrecht darauf hat, ge- zösischen Sprachraum fast immer. Diese Abwei- nannt zu werden (und da er sehr jung starb, hatte chung von der sonst meist tragischen Rezeption er kaum die Möglichkeit, es einzufordern), wird seit 1900 wurde so bisher nicht besprochen, und in dieser Studie Perrault als Autor genannt – ohne es gibt auf den ersten Blick keine sinnvolle Erklä- Vorname. rung für diese abweichende Gruppe. Das Denken in großen Linien hatte zu den Ich schloss aus dem Umstand, dass es sich bekannten Auslassungen geführt, entsprechend «um eine Frage handelt, die man mit gutem Ge- geht es hier um Abweichungen im Kleinen, um wissen stellen kann», wie Peirce schreibt und wei- das Aufzeigen von Mikromomenten, die etwa ter ausführt: «Dies bezeichnet man als das Aufstel- Roland Barthes als Punktum bezeichnet. Carlo len einer erklärenden Hypothese.»4 Diese erklärende Ginzberg, ein Vertreter der Mikrogeschichte, be- Hypothese aufzustellen, bedeutete aber ziemlich nutzt den Begriff der Spurensicherung und er- viel Arbeit. Die Gruppe der Adaptionen, die hier läutert ihn anhand von Sigmund Freud, Sherlock im Mittelpunkt stehen, waren in der (klassischen) Holmes und Giovanni Morelli.6 So wird hier eine philologischen Erzählforschung von minderer Be- auffällige Nebensache, ein kurzes Moment einer deutung, sie sind keine oralen Zeugnisse, sondern besprochenen Adaption, eingehend analysiert in unterschiedlichen Genres und Medien ange- und verglichen. Zusammen mit dem übersicht- siedelt. Es gibt zwar Hinweise auf das Märchen- lichen Studium der gesamten Adaption und de- hafte, doch genauso sind die Adaptionen anderen ren Kontext soll eine vertiefte Aussage möglich Genres verwandt, wodurch sie nur teilweise den werden, die Schlüsse auf das Gesamte zulässt. philologischen Erzähltypen entsprechen. Statt Die Vorgehensweise orientiert sich an Ginzburgs einer philologischen Erzählforschung braucht es Ansatz, von einem kleinen Detail auf das Ganze hier also eine (postklassische) kulturwissenschaft- zu schließen, was in mikro-historischen Studien liche Erzählforschung. Die Erzählung steht zwar ebenso verfolgt wird. Dies auch im Sinne der Para- 3 Peirce 1983, S. 95. 5 Perrault 1697. 4 Ebd., S. 96. 6 Vgl. Ginzburg 1983. Einleitung 11 logie nach Jean-François Lyotard, dem Erarbeiten nicht, sondern sie weckt durch ihre Ambivalenz von anderem Wissen, von Kompetenz in einem jeweils neu das moralische Nachdenken über Pro- bestimmten Bereich, die dann in Austausch mit bleme des Zusammenlebens. der Wissenschaft gebracht werden kann.7 Die Erforschung von Blaubart hat den Wan- Die Verengung der Lesart von Blaubart um del vom Komischen zum Tragischen zwar be- 1940 bildet die Basis für die vorliegende Studie, in achtet, aber durch die Konzentration auf Fragen welcher aus den wenigen aufgefundenen deutsch- des Märchens und später der Geschlechter nicht und französischsprachigen Adaptionen fünf Bei- sonderlich vertieft. Entsprechend spielen dabei spiele vertieft betrachtet und verglichen werden. komische Adaptionen, wie die Bühnenstücke Es sind dies ein Knetfigurenfilm von René Ber- von André Grétry (1789) und George Colman trand (1938), ein Roman von Hans Natonek the Younger (1798), der Roman von Eugène Sue (1938–1944 verfasst), eine Radiooper von Jacques (1842) oder die erwähnte Oper von Offenbach, Ibert (1943), ein Schauspiel von Bernt von Heise- die eigentlich die zeitgenössische Rezeption do- ler (1950) und ein Spielfilm von Christian-Jaque minierten, darin keine zentrale Rolle. Märchen- (1951). Bei diesen Adaptionen sind Andeutungen forschende wie Jack Zipes oder Maria Tatar, die auf politische Konflikte in dem zu dieser Zeit oder durchaus auf die gesellschaftliche und soziale kurz zuvor von totalitären Regimes dominierten Relevanz von Erzählungen Rücksicht nehmen, Europa nicht klar benannt, aber doch – so wird fokussieren in ihren Analysen zu Blaubart, basie- hier behauptet – Teil der Erzählung. Durch eine rend auf psychoanalytischen und feministischen Vertiefung der Auseinandersetzung sollen diese Herangehensweisen, auf geschlechtliche und so- politischen Allusionen detailliert freigelegt und mit eher persönliche Probleme. In der vorliegen- vergleichbar gemacht werden. Blaubart, anfangs den Studie zeigt sich nun Blaubart weniger als des 20. Jahrhundert noch allgemein als komische Erzählung von Macht und Gewalt, Fantasie und Figur der Oper von Offenbach (1866) bekannt, Abhängigkeit in der Mann-Frau-Beziehung, son- lieferte offenbar eine ideale Vorlage für die Ausei- dern als Anspielung auf Herrschende und Unter- nandersetzung mit der extremen Ungerechtigkeit drückte im politischen Sinn. und den Verbrechen, die besonders während des Es lohnt sich also ein antizyklischer Ansatz, Nationalsozialismus und allgemein im Zweiten um solche Abweichungen ausfindig zu machen Weltkrieg begangen wurden. und nicht nur mehrheitlichen Auslegungen zu Bei den besprochenen Adaptionen wird folgen. Trotz dem Detailreichtum dieser Studie also ein politischer Subtext vermutet. Die Blau- endet sie nicht in der «antiquarischen Historie», bart-Komödie hatte männliche Machtanmassung wie Friedrich Nietzsche die Geschichtsschreibung aufs Korn genommen, und erstaunlich klar ist des 19. Jahrhunderts kritisiert, sondern provoziert in den hier besprochenen Adaptionen der Bezug einen neuen Blick auf geläufige Lesarten.8 Durch auf Diktatoren, Gewaltherrscher, Gewalttäter. die Betrachtung von fünf meist unbekannten Ad- Die scheinbar anachronistischen Adaptionen der aptionen der Blaubart-Erzählung ergibt sich eine Zeit um 1940 aus deutschem und französischem Auseinandersetzung mit der Situation des Zwei- Sprachraum haben also durchaus zeitgemäße Aus- ten Weltkriegs, dem damaligen Europa des Tota- sagekraft. Wie die Analyse zeigt, kann eine Erzäh- litarismus und der Judenverfolgung, der Shoa. Es lung wie Blaubart dabei gegensätzliche Aussagen zeigt sich hier auch, dass Erzählungen – als Oper, vertreten. Sie kann sowohl als Entschuldigung für Theater, Roman, Film oder Kinderbuch – durch- die Menschheitsverbrechen im Zweiten Weltkrieg aus etwas über die Gesellschaft und ihre Ideolo- als auch für deren Anprangerung herangezogen gien aussagen. werden. Trotzdem nivelliert dies die Erzählung

7 Vgl. Lyotard 2009. 8 Vgl. Nietzsche 1981. 12 Blaubart – Parodien eines Potentaten

Ein kritischer und gesellschaftsbezogener Blick auf populäres Erzählen bildete eine Kernkompetenz der 1968 gegründeten und 2006 dem jetzigen Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich angegliederten Abteilung für Europäische Volkslite- ratur. Max Lüthi (1909–1991) als Gründer lei- tete die Abteilung bis 1978 und Rudolf Schenda (1930–2000) als sein Nachfolger bis 1995; sie bei- de prägten die internationale Forschung zu Mär- chen beziehungsweise zu populärer Literatur je auf ihre Weise. Die Analyse populärer Literaturen und Medien bildet weiterhin einen Schwerpunkt des Instituts. Ausgehend von der herkömmlichen Erzählforschung sind eine Vielzahl von Ansätzen möglich – in den Gründungsjahren war dies etwa das Studium von literarischen Formaten, die in der Germanistik nicht anerkannt waren, später wurde der Fokus auf Texte ohne Autoren, Erzäh- lungen in verschiedenen Medien und auf andere populäre Formate gelegt. Die Märchenforschung arbeitet durch diese Umstellung von «Volk» auf «Pop» nicht nur mit ganz anderem und aktuellem Material, sondern auch mit den entsprechenden genrekritischen, intertextuellen und sozialhistori- schen Ansätzen. Stand der Forschung 13

Stand der Forschung

Eine Erzählung entwickelt mündlich, als Text, Erzählforschung und der Genrekritik zusammen- Film, Bild, Ton oder Aufführung je andere Eigen- bringt. So soll sich zeigen, inwiefern sich eine schaften. Der Vergleich der verschiedenen Versio- eigentliche Komparastitik der verschiedenen For- nen soll die jeweiligen künstlerischen Qualitäten mate, Genres, Medien und Sprachen entwickeln und Absichten, aber auch zeitgeschichtliche Ideen lässt, die für die hier vorliegende Studie sinnvoll sichtbar machen. Um dies zu ermöglichen, soll ist. hier nicht nur der Forschungsstand aufgezeigt, sondern auch das Potential einer kulturwissen- schaftlichen Erzählforschung skizziert werden. Im Kulturanalyse Abschnitt zum Stand der Forschung zu Blaubart wird dann auch sichtbar, wie sich die Erzählfor- Die heutige Kulturwissenschaft beruft sich unter schung jeweils an breiteren gesellschaftlichen Fra- anderen auf Moritz Lazarus (1824–1903), einem gen orientiert und von diesen leiten lässt. Begründer der damaligen Völkerpsychologie.9 Für Lazarus können die Ideen der Menschen über die kulturellen und geistigen Tätigkeiten erkannt wer- Kulturwissenschaftliche den, wie er 1856 in Das Leben der Seele schreibt: Erzählforschung Das Wesen des menschlichen Geistes offenbart sich in seiner Thätigkeit; Inhalt und Ziel derselben ist Statt durch einen einzelnen Text definiert sich die Entwickelung mannigfach gearteter Idealität, eine wiederholt adaptierte Erzählung erst zusam- d.h. die Erkenntniß von Ideen und ihre Verwirk- men mit ihrer Rezeption in einer Vielzahl von lichung. […] Das Weltbild, das im Geiste entsteht, Texten, Bildern, Tönen und Ereignissen. Die je- ist kein passives Spiegelbild, sondern das Erzeugniß weiligen Autoren nutzen dazu unterschiedliche andauernder und aufsteigender schöpferischer Thä- Schreibweisen, Darstellungsarten und Medien. tigkeit.10 Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen haben zur Erforschung dieser Sachverhalte teilweise wi- Dieses dauernd in Veränderung begriffene Bild dersprüchliche Lösungen anzubieten. Es drängt der Ideen der Menschen zeigt sich in immer wie- sich auf, diese Positionen für die Analyse frucht- der anderen Formen. Dies gilt insbesondere für bar zu machen, ohne sie gegeneinander auszuspie- die Kunst, welche sich in Disziplinen und Genres len. aufteilt und oft über ästhetische, also formale Kri- Im Folgenden wird nun ein Vorgehen vor- terien differenziert. Die Form allein sagt nichts geschlagen, welches ausgehend von der Kultur- über den Inhalt aus, wie Lazarus betont: wissenschaft, mögliche Ansätze zur Analyse von 9 Zu Kulturwissenschaft vgl. Böhme u.a. 2000. Erzählungen in der Literaturwissenschaft, der 10 Lazarus 1876–1882, S. 95. 14 Stand der Forschung

Die Form empfängt nicht ihre ästhetische Bedeu- in der Kultur selbst, wie Cassirer ausführt: «Der tung oder ihren idealen Werth durch den Inhalt, Mythos, die Sprache, die Religion, die Dichtung: dessen Form sie ist, noch auch durch die Beziehung das sind die Objekte, die der menschlichen Er- derselben auf den Inhalt. Noch weniger aber besteht kenntnis wahrhaft angemessen sind.»15 Deren der ästhetische Werth der Form darin, daß diese den Funktionen sollen nun mittels symbolischer Vorzug hat, den Inhalt auf eine vollkommene Art Formen nicht von ihrem Gegenstand, sondern auszudrücken oder darzustellen, oder daß der Inhalt von der Funktion her bestimmt werden. Cassi- seine höchste reale, inhaltliche Geltung und Wirk- rer schreibt dazu: «Es handelt sich darum, den samkeit in dieser Form findet.11 symbolischen Ausdruck, d.h. den Ausdruck eines ‹Geistigen› durch sinnliche ‹Zeichen› und ‹Bilder›, Man muss den Inhalt an diesem selbst bestim- in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen».16 men. Damit widerlegt Lazarus Ideen zur «Ideali- Kulturelle Praktiken wie Mythos, Sprache, tät der Form» und kommt zu einer dritten Inkon- Religion und Dichtung werden laut Cassirer stanten, nämlich die des Forschers selber, welcher durch das Denken vereinheitlicht und reflektiert: ein Kunstwerk analysiert und mit seinem Urteil «An die Stelle der unbestimmten Vielheit der my- versieht: thischen Erklärungsversuche […] tritt die Vorstel- lung von der durchgängigen Einheit des Seins, der auch die psychologische Analyse dessen, was wirk- eine ebensolche Einheit des Grundes entsprechen lich in unserem Gemüthe bei dem Anblicke einer muss. Diese Einheit ist nur dem reinen Denken solchen Wohlgestalt vorgeht, aus welchen Elemen- zugänglich.»17 Dabei ist der Verlust des Ursprungs ten sich das Urtheil oder Gefühl des Wohlgefallens dem Denken eingeschrieben: zusammensetzt, bleibt nothwendig zuletzt auf das eigene Innere des Forschers beschränkt.12 Die bunten und vielfältigen Schöpfungen der my- thenbildenden Phantasie werden jetzt der Kritik des Bei Lazarus offenbart sich das Wesen des mensch- Denkens unterworfen und damit entwurzelt. Aber lichen Geistes also über dessen Tätigkeit – die an diese kritische Aufgabe schliesst sich die neue po- nicht auf eine Form festgelegt ist und in der sitive Aufgabe. Das Denken muss, aus eigener Kraft Wahrnehmung immer subjektiv bleibt. Somit ist und aus eigener Verantwortung, wieder aufbauen, die Kultur wie ihre Erforschung dauerndem Wan- was es zerstört hat.18 del ausgesetzt. Eine Methode zur Analyse der Kultur entwi- Symbole, also sinnliche Zeichen und Bilder, er- ckelte Ernst Cassirer in seiner 1929 abgeschlos- möglichen Cassirer, Kultur zu vergleichen und zu senen Philosophie der symbolischen Formen, bei denken und somit zu rationalisieren. Zwei Aspekte welcher der Symbolgehalt als Sinngeber des kul- ragen bei ihm laut Naumann als richtungsweisend turellen Schaffens im Zentrum steht.13 Zentral hervor: Erstens spielt bei Cassirer das Prinzip der beim Nachdenken über kulturelle Formen ist für Reihung eine zentrale Rolle, nämlich als Moment Cassirer, dass diese mitreflektiert werden, wie Bar- des Übergangs: «Die Anordnung in Reihen, mit- bara Naumann erläutert: «Sprache und Kunst sind hin eine differentielle Bestimmung der Relation in dieser Philosophie nicht nur Gegenstand der aber markiert den Übergang von der Empirie zur Erkenntnis, sondern selbstbezügliches Organon Organisation und symbolischen Darstellung des einer Kritik der Kultur in symbolischer Form.»14 Wissens.»19 Zweitens bedarf Kultur bei Cassirer Die «vollkommene Erkenntnis» findet sich dabei 15 Cassirer 2011, S. 12. 11 Ebd., S. 99. 16 Cassirer 1983, S. 174. 12 Ebd., S. 100. 17 Cassirer 2011, S. 5. 13 Vgl. Cassirer 2010. 18 Ebd., S. 5f. 14 Naumann 1996, S. 162. 19 Naumann 1996, S. 165. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 15 der Pluralität, welche erst im «Wechselverkehr», des Selbstgenügens.24 Als zweites nennt Bachtin also im Dialog zwischen und mit dem Ensemble (b) die Analyse der «außerästhetischen materiellen symbolischer Formen vollzogen werden kann. Bei Gegebenheit des Werks».25 Dafür der Rationalisierung der Kultur behilft man sich so zum einen mit der Aufreihung von Vergleich- muß die ästhetische Analyse sich dem Kunstwerk barem, also Ähnlichem und zum anderen mit in seiner primären, rein gnoseologischen Gegeben- dem ständigen Aufrechterhalten eines Dialogs, heit zuwenden und seinen Aufbau unabhängig vom bei dem sowohl Forschungsgegenstand wie For- ästhetischen Objekt verstehen: der Ästhetiker muß scher diskutiert werden. zum Geometriker, Physiker, Anatomen, Physiolo- Systematik ist unabdingbar für eine solche Art gen, Linguisten werden, wie dies in gewissem Grade der Kulturanalyse, wie Michail Bachtin sie 1924 auch der Künstler muß.26 anhand der Literatur beschreibt: Dieses außerästhetische Erkenntnisintereresse Nur in seiner konkreten Systematik, das heißt in könnte rückblickend um Fragen der Kulturan- seiner unmittelbaren Bezogenheit und Orientiert- thropologie, der Soziologie, der Politik, der Psy- heit auf die Einheit der Kultur ist ein Phänomen chologie ergänzt werden – gleich wie die Kunst nicht mehr ein bloßes Faktum, sondern erlangt es sich ebenfalls in diese Gebiete vorwagt. Drittens Bedeutung, Sinn, wird es gleichsam zu einer Mo- soll bei einem Phänomen (c) die «teleologisch nade, die in sich alles widerspiegelt und in allem verstandene kompositorische Organisation des widerspiegelt wird.20 Materials» erfasst werden.27 Solche komposito- rischen Fragestellungen betreffen das Werk als Diese Monade als sinnstiftende (kleinste) unteil- organisiertes Material, seine Funktionalität, sein bare Einheit bildet bei Bachtin ein zentrales Ele- Zielgerichtetsein. So sieht Bachtin den Roman ment. Seine Systematik zeigt einen Weg, der sich als eine rein kompositorische Form der Organi- am Werk und seiner Rezeption orientiert: «Das sation von Wortmassen, auch das Drama wertet Objekt der ästhetischen Analyse ist also der Inhalt er kompositorisch, das Tragische oder Komische der auf das Werk gerichteten ästhetischen Tätigkeit am Drama hingegen als architektonische Form (Rezeption)»; und er schlägt dafür ein Vorgehen der Vollendung.28 auf drei Stufen vor:21 Während das Gnoseologische (b) und das Als erstes geht es (a) um einen Fokus auf das Kompositorische (c) eher die Form betreffen, und «ästhetische Objekt»: «Das ästhetische Objekt in so bei einem künstlerischen Phänomen leichter zu seiner rein künstlerischen Eigenart und Struktur zu verstehen sind, wirft das Primäre, das Architekto- verstehen, die wir im weiteren die Architektonik nische (a) am meisten Fragen auf, führt aber auch des ästhetischen Objektes nennen werden, ist die am ehesten an den Charakter und den Inhalt der erste Aufgabe der ästhetischen Analyse.»22 Diese Kunst heran: Architektonik, oder den Gesamtbau des ästheti- schen Objekts umschreibt er auch als «Eigenart Architektonische Formen sind Formen des seeli- des rein ästhetischen Zusammenhangs seiner Mo- schen und körperlichen Wertes des Menschen in mente».23 Solche architektonischen Aspekte sind der Ästhetik, Formen der Natur wie seiner Umwelt, beispielsweise die ästhetische Individualität, die Formen des Ereignisses in seinem sozialen und his- Individualität des Autors als Schöpfer, die Form torischen Aspekt und dem des persönlichen Lebens

20 Bachtin 1979a, S. 111f. 24 Ebd., S. 106. 21 Ebd., S. 104. 25 Ebd., S. 105. 22 Ebd. 26 Ebd., S. 104. 23 Ebd., S. 137. 27 Ebd., S. 105. 28 Vgl. ebd., S. 106. 16 Stand der Forschung

u. a. m.; sie alle sind Errungenschaften, Verwirkli- differ ences.»33 Dabei geht es durchaus um gesell- chungen, sie dienen keinem Zweck und genügen schaftliche Realitäten und nicht nur um in sich sich selbst: dies sind die Formen des ästhetischen geschlossene Ideenwelten, denn: «Fiction is a Seins in seiner Eigenart.29 stylization of reality.»34

So wird auch klar, warum in der ästhetischen Ana- lyse bei Bachtin die Rezeption eine zentrale Rolle Relevanz der Kulturanalyse spielt, gar das eigentliche «Objekt» dieser Analyse ist und wiederum den Wandel zum Bestandteil Die vorangegangene Beschreibung deutet eine der Analyse erklärt. über die Wissenschaft hinausgehende Relevanz Der Grundsatz der Kulturanalyse liegt im Of- der Kulturanalyse an. Cassirer etwa sieht in dieser fenlegen des impliziten Sinns, den der jeweilige Analyse einen fortschreitenden Emanzipations- Autor verfolgte, den der Rezipient wahrnimmt, prozess der Menschheit: «Die Bewusstwerdung eines Sinns, der sich in der Wahrnehmung än- ist der Anfang und das Ende, ist das A und O dern kann. Geprägt wird dieser Sinn in der Kul- der Freiheit, die dem Menschen vergönnt ist; das turanalyse von den beiden Polen «Begehren» und Erkennen und Anerkennen der Notwendigkeit ist «Einsicht», wie Theo de Boer 1999 beschreibt: der eigentliche Befreiungsprozess, den der ‹Geist› «Usually all attention is focused on the central gegenüber der ‹Natur› zu vollbringen hat.»35 Es piece – analysis in the narrower sense – but this is sind für ihn Werke der Kultur, die das Dauer- flanked by two side panels: desire and insight. It hafteste der Menschheit bilden: «diese Werke is these that determine the sense of cultural analy- der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, sis.»30 Das Gegensatzpaar lässt sich auch mit den der Religion werden zu den ‹Monumenten›, zu Begriffen «Leidenschaft» und «Vernunft» greifen, den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der die für de Boer bei der Kulturanalyse zusammen- Menschheit.»36 gehören: «Passion and reason are not opponents Insbesondere für die Kunst bestätigt dies Ju- […]; they come into ‹contact› with each other in rij M. Lotman und ergänzt: «Die Kunst schafft poetry, […] that is, in a work of culture. It is in prinzipiell eine neue Ebene der Wirklichkeit, die culture that desire tries to appropriate reality.»31 sich durch eine sprunghafte Steigerung von Frei- In diesem Sinne versteht de Boer auch die Rolle heit auszeichnet. Auch jenen Sphären wird Frei- der Psychoanalyse für das Verstehen von Kultur, heit verliehen, die in der Realität nicht darüber nämlich nicht als Therapieform, was sie in erster verfügen.»37 Laut Lotman verleiht dies der Kunst Linie ist, sondern als «analysis of the way in which eine besondere gesellschaftliche Aufgabe: «Die the subject enters the culture, and of the subject’s Kunst befindet sich gerade dank der größeren attitude towards culture».32 Freiheit gewissermaßen außerhalb der Moral. Sie Dem Ziel, «Sinn» und «Haltung» zu erken- macht nicht nur das Verbotene, sondern auch das nen, muss sich Kulturanalyse stellen – mit dem Unmögliche möglich.»38 Was bei Cassirer «Be- Anspruch auf Exaktheit und auf Tiefe der Er- wusstwerdung», ist bei Lotman die Beobachtung: kenntnis, wie de Boer ausführt: «Cultural ana- «die Wahrnehmung dieser Freiheit präsupponiert lysis is the analysis and interpretation of indi- einen Beobachter, der aus der Realität heraus ei- vidual entities and the exploration of particular nen Blick auf die Kunst wirft. Daher impliziert contexts. […] What cultural analysis can teach us is to think more precisely, that is, to see the 33 Ebd., S. 271. 34 Ebd., S. 272. 29 Ebd., S. 107. 35 Cassirer 2011, S. 27. 30 De Boer 1999, S. 269. 36 Ebd., S. 131. 31 Ebd., S. 270. 37 Lotman 2010a, S. 190. 32 Ebd., S. 273. 38 Ebd., S. 190. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 17 der Bereich der Kunst immer ein Gefühl der Ver- dies von der Herstellerseite ebenso wie von der fremdung.»39 Betrachterseite aus.»43 Wie beobachten wir also Die Wichtigkeit der Beobachtung hat Niklas Kunstwerke? Luhmann meint: «Auf Formen ach- Luhmann in seiner Systemtheorie beschrieben. ten.»44 Oder ausführlicher: «Die Herstellung eines Da sowohl der Forscher wie das erforschte Feld Kunstwerks hat, unter diesen historisch-gesell- jeweils in einem operativ geschlossenen System schaftlichen Bedingungen, den Sinn, spezifische agieren, die wiederum strukturell gekoppelt sind, Formen für ein Beobachten von Beobachtungen ist die Beobachtung ein wichtiges, nach Luhmann in die Welt zu setzen.»45 sogar das letztliche Werkzeug zum Erkennen der Während Lazarus dazu anhielt, sich nicht von Herstellung von Realität, wie er 1992 in Beobach- der Form täuschen zu lassen, betont Luhmann das tungen der Moderne schreibt: Beobachten der spezifischen Form eines Kunst- werks und deren Separierung von den gewählten Es bleibt deshalb, will man feststellen, was der Fall Medien: «Sie enthalten geringe Information, weil ist, nur die Möglichkeit, sich an den operativen die Information, die das Kunstwerk auszeichnet, Vollzug von Beobachtungen zu halten, das heißt: erst durch Formbildung gewonnen werden soll.»46 Beobachter zu beobachten im Hinblick darauf, wel- Es ist die Wahrnehmung selbst, die bei Luhmann che Unterscheidungen sie benutzen und welche Sei- das zentrale Thema der Kunst bildet, sie sucht ein te ihrer Unterscheidungen sie markieren, um dort «irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und (und nicht auf der anderen Seite) weitere Opera- Kommunikation», und somit die «Provokation tionen anzusetzen. Das, was als Realität konstruiert einer Sinnsuche».47 wird, ist letztlich also nur durch die Beobachtbar- In der Kunst ist die Formbildung bei ihm keit von Beobachtungen garantiert.40 nämlich einer Besonderheit ausgesetzt, die für sie prägend wirkt: «Die Formbildung in der Kunst Während man beim Beobachten erster Ordnung unternimmt besondere Anstrengungen […] als danach fragt, was geschieht, möchte man mit dem nicht-nützlich zu erscheinen. Damit lenkt das Beobachten zweiter Ordnung wissen, wie etwas Kunstwerk die Aufmerksamkeit des Beobachtens geschieht. Darin liegt ihre besondere Qualität, auf die Unwahrscheinlichkeit seiner Entstehung.»48 wie Luhmann 1997 in Die Kunst der Gesellschaft Das Gute an dieser eigentlich schwierigen Voraus- ausführt: «Die Beobachtung zweiter Ordnung setzung ist, dass der Betrachter vom Werk selber verändert alles. Sie verwandelt auch das, was die davon weggeleitet wird, was der Künstler gemacht Beobachtung erster Ordnung beobachtet. Sie mo- hat, und hingeleitet darauf, wie etwas gemeint ist. dalisiert alles, was gegeben zu sein scheint, und Und mit diesem «wie» lassen sich die einzelnen verleiht ihm die Form der Kontingenz, des Auch- Inhalte und Themen erfassen, die Lazarus als im anders-möglich-Seins.»41 Wandel begriffene beschrieben hat und die für Die Kunst spielt im kulturellen System eine Cassirer die oben genannten «Erinnerungs- und besondere Rolle, sie hat für Luhmann die Funk- Gedächtniszeichen der Menschheit» bilden. tion «etwas prinzipiell Inkommunikables, näm- Diese erst mal historische Analyse der Kultur lich Wahrnehmung in den Kommunikationszu- verändert in ihren Analysen der Vergangenheit sammenhang der Gesellschaft einzubeziehen.»42 auch den Blick auf die Zukunft, wie Lotman fest- Oder: «Was das Kunstwerk garantieren kann, ist hält: «So wie Prognosen der Zukunft immer zu das laufende Beobachten von Beobachtungen, also das Beobachten zweiter Ordnung – und 43 Ebd., S. 89. 44 Ebd., S. 112. 39 Ebd., S. 190f. 45 Ebd., S. 115. 40 Luhmann 2006, S. 45. 46 Ebd., S. 170. 41 Luhmann 1997, S. 112. 47 Luhmann 1997, S. 42, S. 45. 42 Ebd., S. 227. 48 Ebd., S. 204. 18 Stand der Forschung einem kulturellen Universum gehören, kommt Die Cultural Studies, in den 1950er Jahren in auch keine Kultur ohne ‹Prognosen der Vergan- Großbritannien entstanden, haben laut Marchart genheit› aus.»49 Man gewinnt auch einen neuen zu einer eigentlichen politischen Wende inner- Blick auf die Gegenwart, wie Mieke Bal 1980 in halb der Kulturwissenschaft geführt, welche zahl- ihrer Narratology schreibt: «cultural analysis seeks reiche neue Fragestellungen auslöste: to understand the past as part of the present, as what we have around us».50 Entsprechend braucht All die Cultural-Studies-typischen Fragen nach die Kulturanalyse, um ihrer gesellschaftlichen Re- Macht, Unterordnung und Widerstand, nach levanz gerecht werden zu können, eine verständli- Hegemonie und Subalternität oder nach der dis- che und wieder auf die Gesellschaft rückführbare kursiven Produktion und Reproduktion sozialer Sprache, «a discourse that makes each interpreta- Identitäten […] ergeben sich nahtlos aus diesem tion expressible, accessible, communicable aesthe- Grundinteresse an einer politischen Analyse von tic and political criticism», wie es Bal als Aufgabe Kultur und einer das Kulturelle berücksichtigenden für die aktuelle Kulturanalyse formuliert.51 Analyse von Politik.54

Kulturanalyse bildet so auch einen Akt der Eman- Politische Aspekte der Kulturanalyse zipation und mündet stets in Gesellschaftsanalyse – das magische Dreieck bei Fragestellungen der Das Einbetten in die Gesellschaft gibt der Kul- Cultural Studies bildet sich nach Marchart aus turanalyse, und damit auch der Erzählforschung den drei Teilen «Kultur», «Macht» und «Identi- eine politische Dimension. Oder in den Worten tät».55 von Bal: «A more open academic and education- Die Rolle der Kultur rückte auch Antonio al policy can make room to include the views of Gramsci in den Mittelpunkt seiner von Karl those who respond to art from a less dominating Marx ausgehenden Auseinandersetzung mit der social position.»52 Dieses Wissen «um die politi- Hegemonie, wie Marchart schreibt: «Gramscis sche Bedeutung von Kultur und die kulturelle Be- Leistung besteht in der Ausarbeitung einer weit- deutung von Politik» wird, wie Oliver Marchart gehend nicht-deterministischen und nicht-öko- in Cultural Studies (2008) postuliert, noch zu nomistischen politischen Theorie, die das Feld selten «in Theoriebau und Forschungspraxis» der der Kultur als wesentlichen Austragungsort politi- Kulturwissenschaft konkretisiert: scher Kämpfe um Hegemonie konzipiert.»56 Dies entsprach den Cultural Studies, und Raymond Genau das versuchen aber die Cultural Studies Williams schreibt 1958: «General change, when seit fünf Jahrzehnten, indem sie die politische Be- it has worked itself clear, drives us back on our deutung des Kulturellen auf ihre konzeptuellen, general designs, which we have to learn to look methodischen, theoretischen und philosophischen at again, and as a whole. The working-out of the Grundlagen hin befragen. […] In dieser Verschrän- idea of culture is a slow reach again for control.»57 kung des Kulturellen mit dem Politischen besteht Bei Gramsci bildet die Übernahme der kul- jedenfalls die Spezifik der Cultural-Studies-Perspek- turellen Hegemonie die Voraussetzung, Berechti- tive.53 gung und Ermöglichung einer politischen Macht-

49 Lotman 2010a, S. 375. 54 Ebd., S. 25. 50 Bal 2009, S. 1. 55 Vgl. ebd., S. 33. 51 Ebd., S. X. 56 Marchart 2008, S. 76. 52 Ebd., S. 17. 57 Williams 1968, S. 285. Eine vertiefte Gramsci-Rezeption 53 Marchart 2008, S. 24f. in den Cultural Studies setzt erst in den 1970er Jahren ein, hat von da an großes Gewicht, vgl. Marchart 2008, S. 82. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 19

übernahme. Die Vormachtstellung drückt sich partikulare Denkweise, bei welcher erst durch die am klarsten in einem dauernden Fortschreiten der ideologische Kritik an allen Standpunkten eine Ausweitung ökonomisch-produktiver Tätigkeits- Totalität erreicht werden könne: gebiete aus. Dabei besteht Macht für Gramsci in einer doppelten Herrschaftsfunktion – der Herr- Totalität bedeutet eine Partikularsichten in sich auf- schaft und der geistigen und moralischen Führung. nehmende, diese immer wieder sprengende Inten- Wenn die herrschende Gruppierung auf dieser tion auf das Ganze, die sich schrittweise im natür- Basis eine ideologische Vormachtstellung aufbau- lichen Prozess des Erkennens erweitert und als Ziel en kann, bildet sie die von Gramsci so genannte nicht einen zeitlos geltenden Abschluss, sondern «fortschrittliche Klasse» und zieht Intellektuelle eine für uns mögliche maximale Erweiterung der aller Gruppierungen an. Schafft dies die herr- Sicht ersehnt.59 schende Gruppierung nicht, fangen die Intellek- tuellen an, sich von ihr zu distanzieren, es kommt Diese Einsicht der Unausweichbarkeit der Ideolo- zu Spannungen, einem Kräftemessen und Aus- gie führt bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe einanderdriften, wie Gramsci um 1930 als Häft- in den Worten Marcharts zu einem eigentlichen ling in einem Artikel zur politischen Geschichte «Konzept des Antagonismus», bei welchem das Süditaliens in einem seiner später veröffentlichten vereinheitlichende Element «das durch die Äquiva- Gefängnishefte schreibt: lenzkette negierte» ist.60 Marchart beschreibt dieses Konzept anhand der Artikulation von Kolonisier- Sobald die herrschende soziale Gruppe ihre Funk- ten: «Obwohl die Identität der Kolonisierten – wie tion erschöpft hat, neigt der ideologische Block zum jede Identität – aus Differenzen konstruiert ist, Zerfall, und dann kann an die Stelle der «Sponta- haben diese Differenzen etwas gemeinsam. Sie alle neität» der «Zwang» in immer weniger maskierten gehören zur Identität der Kolonisierten und bilden und indirekten Formen treten, bis es schließlich zu eine Äquivalenzkette.»61 Diese diskursiven Formatio- regelrechten Polizeimethoden und Staatsstreichen nen liegen «quer zu jeder topografischen System- kommt.58 oder Ebenenunterscheidung».62 Und wie Mouffe 1999 feststellt: «Was tatsächlich als Identität einer In einem solchen Fall geht es darum, die Kräfte Gruppe bezeichnet wird, ist eines der Hauptfelder, zu bündeln und Macht nicht nur zu enthüllen, auf dem Hegemonie ausgeübt wird.»63 Kultur wird sondern sie mit dem Ziel einer Revolution zu be- so konzipiert als Terrain sozialer Bedeutungspro- kämpfen. duktion, oder, in anderen Worten, von Signifika- Karl Mannheim hingegen setzt sich in Ideo- tion.64 logie und Utopie (1929) damit auseinander, was In der kulturellen Dimension kann nämlich passiert, wenn ideologiekritische Instrumentarien ein «common framework» entdeckt werden, wie allgemein zur Verfügung stehen. In der herkömm- Stuart Hall 1958 feststellt: «if our experience is a lichen Kritik hatte ein partikularer Ideologiebe- totality, then a common framework of values, ac- griff nur Teile der gegnerischen Behauptungen als cessible to the political and the creative intellectu- ideologische diskreditiert, doch der im Marxismus al alike, can be discovered.»65 Dies regt zu großer in seiner Konsequenz ausgearbeitete totale Ideo- Offenheit gegenüber den kulturellen Artefakten logiebegriff würde die gesamte Weltanschauung einschließlich der kategorialen Apparatur in Frage 59 Mannheim 1995, S. 92f. stellen. Statt einer zu etablierenden Hegemonie 60 Marchart 2008, S. 185; vgl. auch Laclau 1997. will Mannheim eine dialektische Auseinander- 61 Marchart 2008, S. 185. 62 Ebd., S. 183f. setzung der Standpunkte und behauptet eine 63 Mouffe 1999, S. 50. 64 Vgl. Marchart 2008, S. 219. 58 Gramsci 1991, S. 80. 65 Hall 1958, S. 87. 20 Stand der Forschung an, wie Williams anhand der Veränderungen im Art, die Strukturen der Literatur gegenüber ande- Bereich der «mass-communication» illustriert: ren Formen des kulturellen Wissens abzugrenzen, lassen sich nicht auf dem Boden von Einzelphilolo- In sum, these changes have given us more and nor- gien lösen.»67 Es brauche stattdessen ästhetiktheo- mally cheaper books, magazines, and newspapers; retische, kulturwissenschaftliche Forschungskon- more bills and posters; broadcasting and television zepte. Eine Voraussetzung für ein solches Vorgehen programmes; various kinds of film. It would be bietet die Kultursemiotik, wie sie etwa von Roland difficult, I think, to express a simple and definite Barthes oder Umberto Eco entwickelt wurde.68 judgement of value about all these very varied prod- Denn, wie Böhme und Scherpe schreiben: «Spra- ucts, yet they are all things that need to be valued.66 che, Medien, Metaphern, Symbolisierungen aller Art, selbst Institutionen werden als unterschied- Wie später bei Luhmann ist es bei Williams nicht liche, konfligierende wie systematisch ausdifferen- Veränderung an sich, die zur Debatte steht, son- zierte, machtgestützte wie subversive Codierungen dern wie diese geschieht. ausgelegt», die sie in der Kultursemiotik als kons- Die ständigen Veränderungen aller Art in titutiv für die gesellschaftlichen Wirklichkeiten se- einzelnen Bereichen der Gesellschaft betreffen hen.69 Einen besonderen Fokus legen Böhme und auch die Gesellschaft als Ganzes, und eine Beob- Scherpe auf den Begriff der Medien: «Die Medien achtung dieser Veränderungen ermöglicht Wis- […] erweisen sich dabei als zentral, da sie die kul- sen über und Einfluss auf die Gesellschaft. Ein turelle Semantik von Gesellschaften sowohl einen- Wissen zu Fragen der Politik, der Ideologie, der gen wie distribuieren.»70 Indem hier Medien und Identitätsbildung und der kulturellen Hegemonie Genres nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch hilft, die Differenzen im Bereich des Kulturellen Gegenstand der Analyse sind, liegt es nahe, die festzustellen und auch für gesellschaftliche Frage- Analyse intermedial anzulegen. stellungen zu öffnen. Die Schwierigkeit liegt dar- Der Begriff «Intermedialität» ist dabei weit in, inwiefern das grundsätzlich subjektiv gespräg- aufzufassen. So wird er etwa bei Marina Grisha- te Denken über ästhetische Objekte auf solche kova und Marie-Laure Ryan definiert als «medial Probleme hin überprüft werden kann, und dabei equivalent of intertextuality», bei welcher es um die primäre inhaltliche Analyse und deren strikte «any kind of relation between different media» Orientierung am beobachteten Phänomen selbst geht.71 Ebenfalls auf den Begriff der Intermedia- im Mittelpunkt zu halten. Das Kunstwerk kann lität baut Werner Wolf seine Erzähltheorie, aus- zwar das Politische in seiner Komposition und gehend von einer sehr ähnlichen Problemlage wie Gnoseologie behaupten, doch im Gesamtbau, in vorliegender Studie (sogar in der Stoffwahl!): seiner Architektonik, wie Bachtin es nennt, dreht sich ein Kunstwerk um Formen des ästhetischen Dieselben Geschichten können in unterschied- Seins. lichen Medien, Textsorten und Gattungen in Er- scheinung treten, und deren Inhalte sind daher an sich ebenso mental-abstrakt wie das formale Sche- Intermediale Erzählforschung ma des Narrativen. So könnte z.B. die Geschichte Blaubarts theoretisch nicht nur als verbales, buch- Eine kulturwissenschaftlich orientierte Literatur- vermitteltes Märchen, sondern ebenso als Drama, analyse kann nicht auf wissenschaftliche Einzelfä- Comic Strip, Bildsequenz oder Film realisiert und cher zählen. So legen Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe nahe, für übergreifende Studien diesen 67 Böhme und Scherpe 1996, S. 11. 68 Vgl. etwa Barthes 1988 oder Eco 1972. Rahmen zu verlassen: «Probleme typologischer 69 Böhme und Scherpe 1996, S. 15f. 70 Ebd., S. 16. 66 Williams 1968, S. 290. 71 Grishakova und Ryan 2010, S. 3. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 21

umgekehrt auch aus solchen verschiedenen Kon- A narrative text is a text in which an agent or subject kretisierungen als gemeinsame oder zumindest wie- conveys to an addressee («tell» the reader) a story dererkennbar ähnliche histoire-Ebene rekonstruiert in a particular medium, such as language, imagery, werden.72 sound, buildings, or a combination thereof. A story is the content of that text, and produces a particular Für diese intermediale Erzähltheorie wählt Wolf manifestation, inflection, and «colouring» of a fa- drei Vermittlungebenen, nämlich (a) die Ebe- bula; the fabula is presented in a certain manner. ne der Medien, sei es mit einer Erzählinstanz in A fabula is a series of logically and chronologically mündlicher oder schriftlicher Kommunikation, related events that are caused or experienced by ac- oder ohne Erzählinstanz, wie im Theater, in bild- tors.77 lichen Medien oder im Film.73 Und folgt dabei wohl der schon bei Platon beschriebenen Unter- Oder kürzer, Bal: «If one regards the text primar- scheidung in diegetisches und mimetisches Erzäh- ily as the product of the use of a medium, and len (in «Erzählen» des Autors und «Nachahmen» the fabula primarily as the product of imagina- des Schauspielers).74 Weiter unterscheidet Wolf tion, the story could be regarded as the result of (b) die Ebene der Gattungen und Textsorten und an ordering.»78 (c) die Ebene der Präsentations- und Diskursmo- di. Er erwähnt auch nicht-erzählende, zum Bei- Récit – Erzählen – Storytelling spiel musikalische Teile einer Erzählung, wie die Genette Bal Ouvertüre oder allgemein Ornamentales. Ein Geschichte Gesamtheit ordering – wesentliches Element seiner Analyse bilden die / histoire / der erzählten content and «Narreme», wie er Faktoren benennt, die Narra- story Ereignisse colouring tivität evozieren oder vermitteln, und die er in qualitative, inhaltliche und syntaktische Narreme Erzählung Diskurs der use of a aufteilt.75 / discours erzählten Er- medium – tell Einen Ausgangspunkt für diese und andere Er- / narrative eignisse the reader a zähltheorien bildet die strukturalistisch geprägte text story Erzählanalyse von Gérard Genette. Fundamental ist etwa die im Discours du récit (1972) vorgenom- Narration realer oder imagination – mene Unterscheidung zwischen (a) «Geschichte» / narration fiktiver Akt related events («histoire»), (b) «Erzählung» («discours») und (c) / fabula caused by «Narration» («narration»), wie es Genette wieder- actors um im Nouveau discours du récit (1983) zusam- menfasst; die Erzählung («récit») teilt sich so auf in Aspekte der Geschichte, also die Gesamtheit der Eine weitere Innovation bei Genette bildet der erzählten Ereignisse, der Erzählung selber, also des Aspekt der «Fokalisierung», des gewählten Blick- schriftlichen oder mündlichen Diskurses, der von winkels in einer Erzählung. Als «klassisch» gilt den Ereignissen erzählt, und der Narration, also für Genette eine unfokalisierte Erzählung, die er des realen oder fiktiven Akts, der diesen Diskurs Nullfokalisierung nennt.79 Je nachdem, aus wel- hervorbringt.76 Darauf stützt sich auch Bal in chem Blickwinkel der Rezipient eine Erzählung ihrer Narratologie: wahrnimmt, unterscheidet Genette dabei etwa eine interne Fokalisierung, eine variable Fokali- 72 Wolf 2002, S. 39. sierung, multiple Fokalisierung oder sogar eine 73 Ebd., S. 43f. 74 Vgl. Antor 2001, S. 113. 77 Bal 2009, S. 5. 75 Wolf 2002, S. 44. 78 Ebd., S. 75. 76 Genette 2010b, S. 181. 79 Genette 2010a, S. 121. 22 Stand der Forschung externe Fokalisierung (wenn nämlich der Kontext können. Einen Überblick über solche Ansätze in einer Erzählung den Blickwinkel steuert).80 der Erzähltheorie liefern wiederum Nünning und Die dritte grundsätzliche Innovation ist die- Nünning.83 Grundsätzlich sind diese Forschungs- jenige der Intertextualität, bei Genette später ansätze sehr viel offener, als ein reiner Fokus auf «Transtextualität» genannt. In Palimpseste (1982) den Text und seine Analyse erlauben würde. Laut unterscheidet er fünf Typen von Transtextualität: Bal gehen sie über die Narratologie hinaus und schließen ästhetische wie politische Kritik ein, wo- 1. die Intertextualität, also die Kopräsenz zweier für es «more theory, beyond narratology» braucht, Texte (von Zitat bis Plagiat); nämlich «a theory that accounts for the functions 2. den Paratext, also Beitexte wie Waschzettel oder and positions of texts of different backgrounds, Vorworte; genres, and historical periods».84 Entsprechend 3. die Metatextualität, in Kommentaren oder als offen definiert Bal die Narratologie:Narratology « stillschweigender Hintergrund; is the ensemble of theories of narratives, narrative 4. die Hypertextualität, also Transformation, texts, images, spectacles, events; cultural artifacts Nachahmung oder Umerzählung eines Textes; that ‹tell a story›.»85 5. den Architext, wie er abstrakt und implizit die Nünning und Nünning fassen solche Ansät- Lesart prägt, etwa in Untertiteln, und somit ze der Erzähltheorie in Bezug auf David Herman beispielsweise auf die Gattungszuordnung ver- unter postclassical zusammen und stellen diese weist.81 Forschungsansätze den strukturalistischen Erzähl- theorien gegenüber. Sie schließen daraus, dass die Einen Überblick zum aktuellen Stand der Nar- postklassischen Ansätze, durch ihre Fokussierung ratologie bieten Ansgar Nünning und Vera Nün- auf Kontext, Dynamik oder Ganzheitlichkeit, ei- ning (2002); in ihren Worten ist vielen neuen ner generellen Gefahr von Oberflächlichkeit und (also nach Genette verfassten) Ansätzen der Er- Zerfahrenheit unterliegen.86 Dennoch prägen sol- zähltheorie gemeinsam, dass sie sich «von den che postklassischen Ansätze die Forschung und Prämissen der strukturalistischen Narratologie» sind auch für die vorliegende Studie unerlässlich von Genette gelöst haben: – wichtig ist nur, den grundsätzlichen Anspruch auf eine Analyse der Erzählung selber nicht zu Viele der neuen Ansätze reimportieren in das einst- vernachlässigen. mals so klar definierte Feld der Narratologie genau Eine vielleicht zu banale Differenzierung, um jene Kategorien, die dieses um Exaktheit so bemüh- sie zu erwähnen, ist diejenige der Sprache, wie te Paradigma präziser Wissenschaftlichkeit zuvor Genette schreibt: «Die literarische Schöpfung ist bewußt ausgeblendet hatte: die Dimensionen der zumindest teilweise immer untrennbar mit der Geschichte und der historischen Variabilität von Er- Sprache verknüpft, in der sie erfolgt.»87 Diese Dif- zählformen, der Ästhetik, der Ethik, der Ideologie, ferenzierung hat nämlich auch Konsequenzen für der Interpretation und schließlich die soziokulturel- die Forschung selbst, macht die Benutzung von le Dimension, die solche Kategorien wie race, class Übersetzungen grundsätzlich erklärungsbedürftig und gender umfasst.82 und bedingt immer auch eine Kenntnis des Textes in der vom Autor gewählten Sprache, falls nicht Für diese typischen Fragestellungen der Cultu- nur die weitere Rezeption thematisiert wird. ral Studies braucht es entsprechende Werkzeu- ge, um eine transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Komparatistik entwickeln zu 83 Vgl. Nünning und Nünning 2002b, S. 8. 84 Bal 2009, S. X 80 Ebd. 85 Ebd., S. 3. 81 Genette 1993, S. 9. 86 Nünning und Nünning 2002a, S. 24. 82 Nünning und Nünning 2002a, S. 20. 87 Genette 1993, S. 291. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 23

Wagnis, ein Risiko, wie Jacques Derrida 1963 Dialogizität schreibt: «[Die Schrift] weiß nicht, wohin sie führt, keine Vorsicht behütet sie vor jenem wesentlichen Die Analyse von Text bedingt einerseits ein Er- Sturz auf den Sinn hin, den sie konstituiert und der kennen feiner Differenzen und andererseits eine im vorhinein ihre Zukunft ist.»92 Ein formal orien- Offenheit für eine übergreifende Verortung des tierter Strukturalismus genügt Derrida dabei nicht Textes. Die Qualität der Erforschung von Litera- als Werkzeug, sondern lenkt möglicherweise vom tur, bei der ein Forscher wie auch ein anderer Leser Sinn ab: «Die berechtigte Absicht verfolgend, die sich möglichst dem Text annähern wollen, ohne innere Wahrheit und den inneren Sinn des Werks aber mit ihm verschmelzen zu können, beschreibt vor einem Historismus, Biographismus oder Psy- Bachtin 1940. Die Distanz ermöglicht eine immer chologismus (der übrigens hinter dem Ausdruck weiterführende Auseinandersetzung. Zu Einsicht ‹geistige Welt› lauert) zu schützen, riskiert man es gelangt der Forschende, indem er den Text mit [im Strukturalismus], die innere Geschichtlichkeit dem jeweiligen Kontext konfrontiert, denn: «Der des Werks selbst, in seinem Verhältnis zu einem Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen nicht nur psychologischen oder geistigen Ur- Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt die- sprung, zu übersehen.»93 Genau diese innere Wahr- ses Kontaktes von Texten erstrahlt jenes Licht, das heit, die innere Geschichtlichkeit des Werks, wird nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jewei- im dialogischen immer weiter gehenden Verstehen ligen Text am Dialog teilnehmen lässt.»88 In dieser bei Bachtin gesucht. Dialogizität «gibt es einen inneren Kern, den man Diesen Dialog, an dem die Forschung teilhat, nicht aufzehren, nicht verbrauchen kann (hier wird beschreibt auch Lotman bei seinen Betrachtungen immer Distanz gewahrt)», und: «Das Kriterium ist zur Rolle der Geschichtswissenschaft im System hier nicht die Genauigkeit der Erkenntnis, sondern der Kultur: die Tiefe des Eindringens.»89 Einerseits liegt die Ge- nauigkeit der Literaturwissenschaft in dieser Tiefe Die Wechselbeziehung zwischen dem kulturellen und andererseits in der «Überwindung der Fremd- Gedächtnis und seiner Selbstreflexion basiert auf heit des Fremden ohne seine Verwandlung in rein einem ständigen Dialog: Texte aus chronologisch Eigenes».90 In der dialogischen Bewegung des Ver- früheren Schichten werden in die Kultur hinein- stehens werden ausgehend vom vorliegenden Text getragen, sie wirken mit deren aktuellen Mechanis- rückblickend die vergangenen Kontexte betrachtet men zusammen und generieren ein Bild der histo- und in einer Vorwegnahme darauf der künftige rischen Vergangenheit, das von der Kultur in die Kontext geschaffen: «Der vorgenommene Kontext Vergangenheit projiziert wird und von dort aus als der Zukunft ist die Empfindung, dass ich einen gleichberechtigter Dialogpartner auf die Gegenwart neuen Schritt mache.»91 Adaptionen sind dadurch einwirkt.94 für das vertiefte Lesen einer Ursprungserzählung unverzichtbar, und definieren ihre Geschichtlich- Die Dialogizität erschöpft sich nicht in der Aktu- keit. Dies zeigt sich sowohl in den Adaptionen wie alisierung von Vergangenheit, sondern respektiert in der sonstigen Rezeption einer Erzählung, die auf das analysierte Phänomen ebenfalls als Aktant. Wie ihre Weise ebenfalls eine Weiterschreibung dar- Bal schreibt, soll man niemals «theoretisieren», son- stellt. dern «dem Objekt stets die Möglichkeit geben», Durch die Dialogizität kann der Sinn nicht «Widerworte zu geben».95 Forschende vertrauen so umrissen werden, sondern ist für den Autor ein

88 Bachtin 1979b, S. 353. 92 Derrida 1976a, S. 23. 89 Ebd., S. 350. 93 Ebd., S. 27. 90 Ebd., S. 351. 94 Lotman 2010b, S. 375. 91 Ebd., S. 352. 95 Bal 2006, S. 18. 24 Stand der Forschung grundsätzlich dem Text und beachten, inwiefern er ihren eigenen Interpretationen widerspricht. Transtextualität als Transposition Da sich die Dialogizität als fundamental für die Kulturanalyse zeigt, also eine Pluralität der benutz- Zu den oben erwähnten Formen der Transtextua- ten Quellen und Ideenwelten überhaupt die Basis lität fügt Genette die «Transposition» hinzu, die für die Kulturanalyse bilden, stellt sich die Frage, für ihn als Form der ernsten Transformation «die inwiefern man einer Beliebigkeit entgegenhalten wichtigste unter sämtlichen hypertextuellen Prak- kann. Eine Denkhilfe in der Form der Dualität bie- tiken» ist.98 Diese Art von Weitererzählen enthält tet dabei das von Cassirer beschriebene Werkzeug am stärksten auch ein Widerwort des neuen Au- der «Reihung», bei der Gleiches aneinandergereiht tors: wird und so feine Differenzen erkennbar macht. Reihen sind jedoch heikel, laut Bachtin: Die thematisch untreue Weiterführung übersteigt die Kategorie der ernsten Imitation und wechselt in Die Geschichte kennt keine isolierten Reihen: eine die der Transposition über und sogar in eine sehr isolierte Reihe ist als solche statisch, ein Wechsel starke und mitunter sehr aggressive Variante der von Momenten in einer solchen Reihe kann entwe- Transposition, nämlich in die thematische Korrek- der nur aus einer systematischen Gliederung oder tur oder gar in die Widerlegung.99 aus einer mechanischen Anordnung der Reihen be- stehen, keineswegs aus einem historischen Prozeß; Dadurch zeigt sich für Genette die Persönlich- erst die Feststellung der Wechselwirkung und wech- keit des Autors am klarsten, wird ein neuer Inhalt selseitigen Bedingtheit der jeweiligen Reihe mit den erzählt, widersprechen sich benutzte und neue anderen eröffnet den historischen Zugang.96 Erzählung und ermöglichen so Mehrdeutigkeit. Diese Praktiken sind «unweigerlich die interessan- Dennoch haben sich Reihungen durchgesetzt, testen und gelungendsten, da sich ein halbwegs auch in der postmodernen Wissenschaft, die laut begabter Künstler, mag seine Ehrfurcht gegenüber Jean-François Lyotard (1979) «nicht Bekanntes, einem großen Vorgänger noch so groß sein, sich sondern Unbekanntes» hervorbringt und dabei selbst selbstverständlich nicht mit einer so sub- auf Paralogie, also gleichsam einem gleichzeitigen alternen Aufgabe wie der bloßen Weiterführung Verfolgen ähnlicher Ziele in anderen Worten, setzt: begnügen kann».100 «sie legt ein Legitimationsmodell nahe, das keines- Auf einer dialogischen Analyse basiert auch wegs das der besten Performanz ist, sondern der die Semiotik als Semanalyse, als Theorie der Ent- als Paralogie verstandenen Differenz.»97 Statt einer stehung von Bedeutungen bei Julia Kristeva. Bei «großen Erzählung» finden sich durch die Paralogie ihrem 1974 erschienenen Buch La révolution du der «kleinen Erzählungen» der jeweiligen forschen- langage poétique kommt ebenfalls der Transposi- den Individuen überraschende Legitimationen, da tion eine zentrale Bedeutung zu, als «Transforma- sie sich nicht auf einen zentralen Apparat stützen. tion der thetischen Setzung: die Zerstörung der Solche fragmentarischen und vorläufigen Wissens- früheren und die Bildung einer neuen».101 Die modelle bedingen nicht nur ein dialogisches Er- Transposition ist entsprechend mehr als nur eine kennen von Gegensätzlichkeiten, sondern auch thematische Korrektur oder eine Widerlegung, von feinen Unterschieden, die sich erst durch eine sondern bringt die Erzählung in einen grundsätz- Aufreihung von Ähnlichem zu erkennen geben. lich neuen Zusammenhang, «zum Beispiel ein Dies ist auch für die vorliegende Studie, in welcher zahlreiche, teilweise nicht kongruente Ansätze ver- 98 Genette 1993, S. 287. 99 Ebd., S. 269. wendet werden, unabdingbar. 100 Ebd., S. 270f. 96 Bachtin 1979, S. 109. 101 Kristeva 1978, S. 69. Thetik: Wissenschaft der Thesen 97 Lyotard 2009, S. 142. oder dogmatischen Lehren. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 25

Übergang von der Erzählung zum Text».102 Bei ei- an der schon existierenden Poesie, sogar an der ner so stark verändernden Adaption zeigt sich das besten Poesie, um so im Raum der Sprache ein für Kristeva Zentrale der Sinngebung als «jenes eigenes und einzigartiges Werk schaffen zu kön- unaufhaltbare Funktionieren der Triebe auf die nen: «Yet a poet’s stance, his Word, his imagi- Sprache zu, in ihr und durch sie hindurch».103 Die native identity, his whole being, must be unique semiotische, zeichenhafte Lesart von Trieben und to him.»111 Nur ein «misreading» der Vorgänger ihren Artikulationen unterscheidet sie dabei von erlaubt das Schreiben eines eigenes Werks, es ist der Bedeutung, also von der bedeutenden Lesart, nämlich grundsätzlich «a misreading of the prior die immer eine Setzung ist.104 poet, an act of creative correction that is actually and Wie eine Analyse in diesem Fall von statten necessarily a misinterpretation».112 Entsprechend geht, ist im besten Fall «weder Wahn noch Rea- definiert Bloom ein Gedicht als mis« translation lismus, vielmehr Wahrung von ‹Rausch› und ‹Lo- of its precursors».113 So kann sich ein Poet den gik›», was eine Dialektik, eine signifikante Praxis, nötigen «imaginative space» verschaffen – und es die Kristeva Prozess nennt, voraussetzt.105 Lesen zwingt zu einem Kampf, nämlich «the artist’s fight heißt dann nicht mehr «lexikalisch-syntaktisch-se- against art» – und damit verbunden auch «the mantische Entzifferungsarbeit leisten», sondern artist’s antithetical battle against nature».114 Das «die Genese [der] Texte nachvollziehen».106 Dieser Antithetische, definiert bei Bloom als «juxtaposi- Prozess führt immer weiter: «Die Praxis des Pro- tion of contrasting ideas in balanced or parallel zesses geht mit Aufräumung einher, die vor nichts structures, phrases, words», steht im Zentrum haltmacht. Sie zerstört jede Konstanz, erzeugt eine seiner Theorie und soll auch für den «crit ic» den andere, die sie ebenfalls zerstört.»107 Diese Trans- Leitfaden bilden.115 Doch: «few readers are as anti- formation der thetischen Setzung nennt Kristeva thetical as their poets, those liberating gods whose Transposition und als Übergang von einem Zei- nostalgia is more pungent than their divinity».116 chensystem in ein anderes auch Intertextualität Die Vergötterung des Gegenstandes befördert («inter-textualité»).108 Diese Intertextualität ist eine Stagnation, dies gilt auch für die Kulturge- nicht statisch, sondern zeichnet den Prozess der schichte: «This god is cultural history, the dead Zerstörung und Neubildung im Text nach. Bei poets, the embarrassments of a tradition grown Kristeva ist dieser «heterogene Prozeß» eine Pra- too wealthy to read anything more.»117 Die Tra- xis des Strukturierens und Destrukturierens, ein dition, die Kontinuität, sie sind für den Poeten «Vorstoß hin zu den subjektiven und gesellschaft- ein Hindernis in seinem Schaffen, da er ja Neu- lichen Grenzen» und nur unter dieser Vorausset- es schaffen will, und so ist der moderne Poet ein zung «Lusterleben und Revolution».109 eigentlicher Satan, ohne dass die Kritiker es er- Die bei Kristeva als «Revolution» positiv bewer- kennen wollen: «It is sad to observe most modern tet und bei Genette als spannend beschriebenene critics observing Satan, because they never do Transposition wird bei Harold Bloom zum Kern observe him.»118 Die Voreingenommenheit und seines «antithetical practical criticism», wie er es Linientreue der Kritik verhindert einen klaren in The Anxiety of Influence (1973) beschreibt.110 Blick auf das, was verglichen werden könnte, was Wer Poesie schaffen will, orientiert sich dafür die «imaginative identity» der Poeten ausmacht,

102 Ebd. 111 Ebd., S. 71. 103 Ebd., S. 31. 112 Ebd., S. 30. 104 Vgl. ebd., S. 53. 113 Ebd., S. 71. 105 Ebd., S. 91. 114 Ebd., S. 5, S. 9. 106 Ebd., S. 111. 115 Ebd., S. 65. 107 Ebd. 116 Ebd., S. 117. 108 Vgl. ebd., S. 69. 117 Ebd., S. 23. 109 Ebd., S. 31. 118 Ebd. 110 Bloom 1973, S. 13. 26 Stand der Forschung nämlich die Werke selbst. Hinderlich ist dabei ein Lebenspraxis an die Kunst wie auch der Umschlag ausgedehntes Quellenstudium (worin aber gerade ästhetischer Erfahrung in ein präformierendes Welt- Bloom ein Meister ist): «Source study is wholly verständnis vollzieht.122 irrelevant here; we are dealing with primal words, but antithetical meanings, and an ephebe’s best Ein solches «objektivierbares Bezugssystem» ist misinterpretations may be well of poems he has für Jauß wichtig, um die Analyse der literarischen never read.»119 Ein weiteres Problem sind Sche- Erfahrung des Lesers dem «drohenden Psycholo- matisierung und Reduktion eines Gegenstandes: gismus» zu entziehen.123 Jauß will gleichsam eine «The issue is reduction and how best to avoid Rezeption «rekonstruieren».124 Problematisch dar- it.»120 Für Bloom kann eigentlich auch Analyse an ist sicher, dass somit eine Rezeption gleichsam der Poesie nur wieder Poesie sein – entsprechend simuliert wird. empfiehlt er die antithetischen Strategien auch Statt einer Rekonstruktion bedarf es einer der Wissenschaft. Lesart, die Unverständliches als solches heraus- So kann kein Werk von sich behaupten, das arbeitet und nicht überdeckt. Denn, wie Roland erste zu sein, denn, wie Genette Jean Giraudoux Barthes beschreibt, bildet sich zwischen Werk und paraphrasiert: «Das Plagiat ist die Grundlage aller seiner Rezeption immer eine Bruchstelle: «Da Literaturen, mit Ausnahme der ersten, und die sind zwei Kontinente: auf der einen Seite die Welt kennen wir nicht.»121 mit ihrem Gewimmel von politischen, gesell- schaftlichen, ökonomischen, ideologischen Fak- ten, auf der anderen Seite das Werk, das scheinbar Lesarten und Leerstellen für sich allein steht und immer vieldeutig ist, da es mehrere Interpretationen gleichzeitig zuläßt.»125 Grundsätzlich ist die hier betriebene Forschung Gegenwart und Vergangenheit, Lebenswelt und gleichsam eine hermeneutische – als Forschung Werk – beide Seiten ändern sich durch die Be- an einem bestimmten Text oder Bild, an dessen trachtung. Für Bal etwa ist bei der Kulturanalyse Inhalt und Bedeutung. Die Hermeneutik als ein doppeltes Aufdecken («double exposure») pro- Wissenschaft der «richtigen» Auslegung hilft den grammatisch.126 Der Diskurs selbst bildet wieder Blick auf den Inhalt und dessen Form zu lenken eine Erzählung, die sich zwischen «thing» und und bedingt die inhaltliche Beschränkung auf «statement» mischt: einen Stoff. So definiert Hans Robert Jauß, dass durch die Interpretation Werke beschrieben wer- In the space between thing and statement, narrative den können, wenn jeweils «das Bezugssystem der is one of the discourses that tends to creep in. Narra- Erwartungen ermittelt ist, die das Verständnis der tive is the discourse of affirmation and myth, of sto- einstigen wie der jetzigen Leser im aktiven Prozeß rytelling and fiction, of seduction and willing suspen- des Verstehens orientieren», und schließt daraus: sion of disbelief. The very fact of exposing the object – presenting it while informing about it – impels the [Die Abhandlung] postuliert, daß eine derart im subject to connect the «present» of the objects to the Prozeß der Rezeption fundierte Literaturgeschichte «past» of their making, functioning, and meaning.127 die gesellschaftlichen und kommunikativen Funk- tionen der Literatur einbegreifen muß und darum auch erfassen kann, weil der Erwartungshorizont 122 Jauß 1970, S. 9. Zur Dekonstruktion vgl. Abschnitt des Publikums als diejenige Instanz zu verstehen «Kurzgeschichte, Märchen, Metapher». 123 Ebd., S. 173. ist, vor der sich die Artikulation von Fragen der 124 Ebd., S. 183. 119 Ebd., S. 70. 125 Barthes 1969, S. 12. 120 Ebd., S. 94. 126 Bal 2009, S. 4. 121 Genette 1993, S. 510. 127 Ebd., S. 9. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 27

Es braucht eine Analyse, welche gleichzeitig re- Die Information wirkt dabei als größte Konkur- konstruierend und dekonstruierend funktioniert, renz der Erzählung, sie ist im Augenblick am inte- wie de Boer schreibt: «Culture in this sense [of ressantesten, wenn sie neu ist. «Anders die Erzäh- «bonae litterae»] is the subject of hermeneutics lung; sie verausgabt sich nicht. Sie bewahrt ihre and semiotics. […] We can distinguish between Kraft gesammelt und ist noch nach langer Zeit semiotics and hermeneutics, in the manner of der Entfaltung fähig», wie Benjamin ausführt.132 Ricœur, as structural analysis and situational Dabei nimmt mit der Selbstverständlichkeit des interpretation.»128 Ein zentrales Moment dieser Erzählers im Übergehen von Lücken laut Benja- Konfrontation von Verstehen und Interpretation min das Interesse an seiner Erzählung zu: findet sich in den Leerstellen der Werke, den Lü- cken des Erzählens. Diese spielen entsprechend Und je natürlicher dem Erzählenden der Verzicht eine zentrale Rolle im gewählten Vorgehen. auf psychologische Schattierung vonstatten geht, Im Film sind solche Leerstellen selbstverständ- desto größer wird ihre Anwartschaft auf einen Platz lich, die Szenen und Sequenzen werden durch den im Gedächtnis des Hörenden, desto vollkommener Betrachter assoziativ zusammengefügt. Béla Balázs bilden sie sich seiner eigenen Erfahrung an, desto schreibt 1930: «Im Film genügt auch die bedeu- lieber wird er sie schließlich [...] weitererzählen.133 tungsvollste Einstellung nicht, um dem Bild seine ganze Bedeutung zu geben. Diese wird letzten En- Die Erzählung will richtig und gewissenhaft wie- des von der Position des Bildes zwischen den an- dererzählt werden, denn an ihr haftet «die Spur deren Bildern entschieden», denn die Bilder sind des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an «gleichsam mit einer Bedeutungstendenz geladen, der Tonschale».134 Als «Chronist»135 gibt der Er- die sich im Augenblick ihrer Berührung mit dem zählende seiner Erzählung Eigenschaften, die sie andern Bild auslöst».129 Aber auch bei einer Erzäh- mündlich erzählt wie auch als Kurzgeschichte lung sind die Leerstellen wichtig. Luhmann weist oder Novelle behält. Dabei zeigen die Erzähler darauf hin, wie Roman Ingarden 1931 «auf die eine Ausrichtung auf einen praktischen Nutzen, ‹Unbestimmtheitsstellen› in literarischen Kunst- was sich für Benjamin in der «wahren Erzählung» werken» hinweist, «die eine eigenständige ‹Kon- auch zeigt: «Sie führt, offen oder versteckt, ihren kretisierung› durch den Leser voraussetzen und Nutzen mit sich.»136 Dieser kann sehr profan erforderlich machen».130 Bei solchen Leerstellen in sein: «Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral der Erzählung wird auf Erklärungen verzichtet, wie bestehen, ein andermal in einer praktischen An- Walter Benjamin 1936 ausführt: weisung, ein drittes in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel.»137 Durch die Leerstellen und Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, Lücken behält die Erzählung aber ihre Ambigui- eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Er- tät. Mit jeder Neuerzählung kommt es zu Kon- klärungen freizuhalten. [...] Das Außerordentliche, kretisierungen, die solche Ambiguitäten auflö- das Wunderbare wird mit der größten Genauigkeit sen wollen. Dies ist unvermeidlich, wie Genette erzählt, der psychologische Zusammenhang des Ge- festhält: «Beigesteuert werden muß das, was uns schehens aber wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es der ‹Lakonismus› der ursprünglichen Fassung in ist ihm freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, ihrer Verschwiegenheit, die sie mit den großen wie er sie versteht, und damit erreicht das Erzähl- archaischen Texten, Mythen oder Epen teilt, am te eine Schwingungsbreite, die der Information fehlt.131 132 Ebd. 133 Ebd., S. 134. 128 Boer 1999, S. 269. 134 Ebd., S. 135. 129 Balázs 2001, S. 42. 135 Vgl. ebd., S. 139. 130 Luhmann 1997, S. 127, besonders auch Fußnote 47. 136 Ebd., S. 130. 131 Benjamin 2002, S. 133. 137 Ebd. 28 Stand der Forschung meisten vorenthielt: natürlich das ‹Warum›, die Textes unterbrechen.»141 Auf Isers Thematisie- psychologische Motivation.»138 rung der Leerstelle in der Literatur, «die an die Die literarische Forschung als besondere Form Einbildungskraft des Lesers appelliert, Lücken der Neuerzählung fundiert einen Vergleich unter- im Sinngefüge durch Erinnerungen an Vorgän- schiedlicher Texte auf verbindlichen Referenzen giges kombinatorisch zu ergänzen», bezieht sich und begrenzt die Analyse im Idealfall auf das im Jahr 2000 auch Peter Matussek.142 Wichtig vorhandene Material. Doch, wie oben diskutiert, ist Matussek dabei, dass Leerstellen nicht einfach zeichnet sie Wandel aus (Lazarus), eine Dialo- zum Umschreiben und Füllen einladen, denn er gizität in der Berührung von Text und Kontext stellt bei der vermeintlich spontanen literarischen (Bachtin), und darin ein Sturz auf den Sinn zu Form des Dialogs fest: (Derrida), eine Spannung zwischen Rausch und Logik (Kristeva). Sowohl das Zulassen von Wi- Sobald man es unternimmt, den Dialog interagie- derworten im Text (Bal) ist Teil dieser Analyse, rend umzuschreiben, wird man feststellen, dass wie ein antithetical criticism (Bloom). Die Lücken er gar kein Gespräch war, sondern ein schriftlich im Text regen nicht nur die Leser an, auf ihnen komponiertes Gefüge von Fragen und Antworten, beruht auch die Forschung, wie Derrida 1966 die gemeinsam teilhaben an einer wohlkalkulierten ausführt: Dynamik, die zerstört wird, sobald man von der Dramaturgie abweicht.143 Man kann das Zentrum nicht bestimmen und die Totalisierung nicht ausschöpfen, weil das Zeichen, Ohne die absichtlich fehlenden Erklärungen im welches das Zentrum ersetzt, es supplementiert, in Text zu liefern, soll die Analyse die Erfahrung seiner Abwesenheit seinen Platz hält, – weil dieses einer Erzählung aufzeigen und das Ansetzen der Zeichen sich als Supplement noch hinzufügt. Die Neuschreibungen an immer wieder neuen Punk- Bewegung des Bezeichnens fügt etwas hinzu, so dass ten mit der Faszination am noch nicht Erklärten. immer ein Mehr vorhanden ist; diese Zutat aber Viele der Neuschreibungen, die solche Leerstellen bleibt flottierend, weil sie die Funktion der Stellver- im Original besetzen, füllen diese nicht auf, son- tretung, der Supplementierung eines Mangels auf dern erweitern die Erzählung als Ganzes, bringen Seiten des Signifikats erfüllt.139 sie so zu weiterer Entfaltung. Ohne die Vielzahl von Interpretationen, wie sie nun bekannt sind, Auf diesem Mangel an Sinn, auf dieser Supple- würde das Original anders wahrgenommen, das mentierung basiert überhaupt Derridas Theorie Unverkennbare erhält das Original gerade durch der Dekonstruktion. die Neuinterpretationen. Unterschiedliche Les- Es ist ja nicht so, dass die Leerstellen nicht arten sind für die Beurteilung einer wiederholt mit Absicht gesetzt wurden. Wie Wolfgang Iser erzählten Geschichte wie Blaubart unverzichtbar. 1976 beschreibt, bezeichnen sie «weniger eine Be- Überhaupt zeigt sich so wichtiges Potential des stimmungslücke des intentionalen Gegenstandes Erzählens an sich, was sich für Benjamin gerade in bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr der Gattung des Märchens gut zeigen lässt: «Der die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstel- erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Mär- le im Text durch die Vorstellung des Lesers».140 chen.»144 Es ist das Märchen, welches auf befrei- Solche Leerstellen können eigentlich einfach ende Weise von übermenschlichen Nöten erzählt: bestimmt werden, denn: «Immer dort, wo Text- «Der befreiende Zauber, über den das Märchen segmente unvermittelt aneinander stoßen, sitzen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Na- Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des 141 Ebd., S. 302. 138 Genette 1993, S. 369. 142 Matussek 2000, S. 194. 139 Derrida 1976b, S. 437. 143 Ebd., S. 198. 140 Iser 1976, S. 284. 144 Benjamin 2002, S. 144. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 29 tur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre 2004 aktualisiert wurde.149 Für diesen Index hat Komplizität mit dem befreiten Menschen.»145 Es sich die Abkürzung ATU (für Aarne/Thompson/ soll sich im Folgenden zeigen, inwiefern die Mär- Uther) eingebürgert. Er gibt einen breiten Über- chenforschung solche analytischen Ansätze entwi- blick über die Stoffe folkloristischen Erzählens, ckelt hat, die hier für eine kulturwissenschaftlich strukturiert nach Motiven und Handlungen, an ausgerichtete Erzählforschung nutzbar gemacht welchem sich ebenfalls die Enzyklopädie des Mär- werden können. chens orientiert, die im Jahr 2015 abgeschlossen wurde.150 Steht die Idee «Märchen» im Vordergrund, Märchen in der Erzählforschung konzentriert sich die Analyse auf den Plot. Eine Bestimmung der Form, eine Morphologie des Das Märchen als literarische Gattung lässt sich Märchens erarbeitete Wladimir Propp ab den seit dem 17. Jahrhundert verfolgen, wo in Frank- 1920er Jahren, basierend auf der Linguistik von reich der Begriffconte de fées kreiert und in den Ferdinand de Saussure.151 Nach Propp hat Wis- französischen Märchensalons benutzt wurde und senschaft streng deduktiv vom Quellenmaterial dadurch das moderne heute bekannte Feenmär- ausgehend zu arbeiten. Erscheinungen und Ge- chen entstand.146 Die Märchen wurden über die genstände können bei ihm entweder aufgrund Landesgrenzen weitergereicht und umgeschrie- ihrer Zusammensetzung und Struktur oder auf ben. Als conte de fées, seit den Brüdern Grimm als der Basis jener Prozesse und Veränderungen Märchen oder im Englischen als fairy tale ist die untersucht werden, denen sie unterworfen sind. Gattung in den verschiedenen Ländern auch mit Eine gemeinsame Größe bildet dabei die Funk- anderen Erwartungen verbunden, die sich offen- tion von Handlungen und Aktionen. Bei seiner sichtlich nach der Bekanntmachung und Fest- Untersuchung russischer Zaubermärchen waren schreibung nicht mehr ändern lassen.147 dies die Handlungen der zentralen Figuren, wie Die international vergleichend arbeitende er 1969 ausführt: «Unter Funktion wird hier eine Märchenforschung musste oft auf die bei Mär- Aktion einer handelnden Person verstanden, die chen nur selten genannten Autoren verzichten unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang und orientierte sich deshalb am Inhalt der Tex- der Handlung definiert wird.»152 Propp konnte te. Federführend im 19. Jahrhundert blieb die für sämtliche untersuchten Märchen ein gemein- mit der ersten Ausgabe ihrer Märchenanthologie sames Grundprinzip feststellen und somit eine (1812 und 1815) bekannt gewordene Forschung allgemeine Funktionsanalyse entwickeln. Für sei- der Brüder Grimm, deren Vorgehen danach in ne Analyse waren die grundlegenden Schritte eine verschiedensten Ländern weitergeführt wurde.148 Zergliederung des Textes in aufeinander folgende Im 20. Jahrhundert wurden anhand dieser Sam- Handlungen (Komprimierung) und danach die melbestände verschiedene Klassifikationssysteme Verallgemeinerung der Erzählung (Funktionsbe- entwickelt. Einen Index nach Märchentypen als stimmung). Bei den von Propp analysierten Mär- systematische Klassifikation aller bekannten Mär- chen konnten die handelnden Personen und die chen startete Antti Aarne 1910, der von Stith Funktionen ihrer Handlungen durch Abstraktion Thompson fortgesetzt und von Hans-Jörg Uther auf eine gewisse Zahl beschränkt werden. Eine Einbettung des Märchens in weitere 145 Ebd., S. 145. «einfache Formen» erarbeitete André Jolles in 146 Zum deutschen Begriff Märchen vgl. Grätz 1988; zum einer 1930 veröffentlichten Studie, in welcher er Begriff Kunstmärchen vgl. Klotz 2002. 147 Für einen Überblick zur Märchenforschung und deren 149 Vgl. Aarne 1910; Uther 2004b. Geschichte vgl. Pöge-Alder 2011; Bottigheimer 2009. 150 Vgl. Ranke u.a. 1977–2015. 148 Zur Sammlung der Brüder Grimm vgl. Grimm 151 Vgl. Propp 1972; vgl. weiter: Saussure 2002, S. 15–88. 1994/2002. 152 Propp 1972, S. 27. 30 Stand der Forschung

Formen analysierte, «die weder von der Stilistik, derer Versionen erforscht.156 Westenholz beach- noch von der Rhetorik, noch von der Poetik, ja, tet diverse Genres wie Volksbücher, Novellen, vielleicht nicht einmal von der ‹Schrift› erfaßt Balladen, dramatische Gedichte, Komödien und werden», die also «obwohl sie zur Kunst gehören, Märchen. Obschon viele Versionen der als letzte nicht eigentlich zum Kunstwerk werden».153 Er Erzählung im Decamerone (1353/1370) von Gio- teilte sie in neun Gruppen ein, nämlich in Legen- vanni Boccaccio veröffentlichtenGriseldis dem de, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memora- Märchen zugeordnet werden (auch Perrault hat- bilie, Märchen und Witz, und setzte für jede Gat- te 1691 eine Version veröffentlich), gilt in seiner tung auch je eine spezifische Funktion fest, wie Studie das Märchen nur als ein Genre unter ande- Dan Ben-Amos beschreibt: ren.157 Schriftliche Quellen sind es, bei denen er den Ursprung einer Erzählung sucht, ansonsten The holy is expressed in the legend; the family, in lässt er die Herkunft als eine unbekannte offen. the Sage; the nature of the creation of the universe, Für ihn ist Griseldis auch ein klar internationales in myth; the inquisitive spirit, in the riddle. Experi- Phänomen, dessen Weiterschreibung durch das ence is represented in the proverb; morality, in the Weiterreichen von Text verfolgt werden kann. So- Kasus; factuality, in the Memorabile; naïve morality, wohl Griselidis (sic!) wie La Barbe bleüe von Per- in the Märchen; and the comic, in jokes.154 rault bezeichnet Westenholz als Novellen, spezifi- ziert aber die Bedeutung der von ihm genannten Mit dem Fokus auf die Gattungsforschung gelang Genres nicht.158 der Studie von Jolles auch eine Überwindung des Der Kanon der Erzählforschung konzentrierte Grabens zwischen volksliterarischer Forschung sich Mitte des 20. Jahrhunderts meist auf Mär- und Philologie. chensammlungen und deren Klassifikation. Der Wegen dieses Grabens wurden zuvor philo- Übergang zu einer dezidiert literarischen und logische Studien, die solche elementare Erzähl- anthropologischen Erforschung populären Er- formen analysierten, in der Erzählforschung nur zählens wird hier am Aufkommen der Genrekritik selten kanonisiert. Erwähnen könnte man etwa Ende der 1960er Jahre festgemacht. Im Unter- Gaston Paris, der für die Romanistik eine ver- schied zur Gattungsforschung in der Philologie,159 gleichende Vorgehensweise etablierte, so in der wo unterschiedliche Literaturgattungen auf ihr Studie La vie de Saint Alexis von 1872, in welcher Kunstwollen untersucht werden, hilft die Gen- er zusammen mit Léopold Pannier unterschied- rekritik, die verschiedenen Genres des Erzählens liche Versionen der Legende des Heiligen Alexis in ihren jeweiligen (gesellschaftlichen, medialen, verglich: «Par un rare bonheur, ce poème nous est historischen) Zusammenhängen zu verstehen. In parvenu sous quatre formes qui correspondent à den Folklore Studies nahm die Genrekritik einen quatre moments bien distincts de notre histoire lit- kompletten Perspektivwechsel vor, wie Linda téraire.»155 Neben dem Text aus dem 11. Jahrhun- Dégh 1971 schreibt: «The definition of folklore dert sind dies mehrere rajeunissements aus dem […] is much a harder task than what folklorists 12., 13. und 14. Jahrhundert. have hitherto attempted. The term ‹folk› has to be Eine auch sprachübergreifende vergleichende reformulated and our attitude radically changed literarische Studie bietet die 1888 von Friedrich toward ‹oral transmission› in view of the prolifera- Paul von Westenholz veröffentlichte Dissertati- tion of mass media.»160 Dan Ben-Amos seinerseits on Die Griseldis-Sage in der Literaturgeschichte, in welcher er die Sage von Griseldis als Geschichte 156 Vgl. Westenholz 1888. 157 Vgl. Boccaccio 1952; Perrault 1991. 158 Zu Blaubart äußert er sich nicht vertieft, publiziert aber 153 Vgl. Jolles 1958. dazu ein Lustspiel; vgl. Westenholz 1895. 154 Ben-Amos 1976, S. XXIIII 159 Vgl. Wilpert 2001. 155 Paris und Pannier 1872, S. VI. 160 Dégh 1971. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 31 macht die Gattungen zum eigentlichen Funda- Diese Erweiterung der Erzählforschung auf ver- ment der Folklore Studies. Gattungen werden, schiedene Gattungen führte in den USA zu einer wie er 1976 schreibt, Neuausrichtung und Erstarkung der Erforschung alltäglichen Erzählens. In Europa hingegen kon- a) als classificatory categories genutzt, wie im Mo- zentrierte sich die Erneuerung der Erzählfor- tiv-Index von Aarne, Thompson und Uther, schung stärker auf sozialwissenschaftliche Fragen. b) als permanent form, welche sich in verschiede- So analysierte Marc Sorianos in seiner Studie Les nen Zeiten und Kulturen erhält, contes de Perrault von 1968 die contes von Perrault c) als evolving form, die als field of meaning in ver- aus einer literaturanalytischen und literaturhis- schiedenen Formen auftreten können, torischen Perspektive, und beachtete dabei die d) als forms of discourse. historischen Umstände, die Relevanz dieser contes und die Umstände am Hof von Louis XIV, ohne «In this view each genre has its own rhetorical fea- nationalistische oder urzeitliche Begründungen tures, vocabulary, disposition towards reality, use zu bemühen.163 Wegweisend war auch Hermann of descriptive language, types of characters, and Bausinger, der 1959 die «Strukturen alltäglichen symbolic meanings – all of which mark it as a dis- Erzählens» untersuchte, und mit ihm Rudolf tinct form of discourse within oral tradition.»161 Schenda, welcher in Volk ohne Buch von 1970 Die Genrekritik, bei welcher orale Erzählfor- eine eigentliche «Sozialgeschichte massenhaft ver- men in verschiedenen Genres und Medien ana- breiteter Literatur» vorlegte.164 lysiert und Modelle zu deren allgemeinen struk- Eine literarisch ausgerichtete Analyse, basie- turellen und funktionalen Beschaffenheit skizziert rend auf kulturanthropologischer Erforschung werden, leistet insbesondere eine ethnologische oralen Erzählens, bildet das Fundament, auf Arbeit. Es zeigt sich, dass orale Erzählformen nur welches heute Forscher ihre Studien zu Märchen bedingt mit einem festgelegten Text zu tun haben, bauen. Selbstverständlich vergleichen sie Adap- sondern der Text eine mögliche Erzählform unter tionen in verschiedenen Sprachen, mündlicher vielen anderen ist, bei welchem die erzählende wie schriftlicher Herkunft, verschiedener Epo- Person, die Zuhörer und deren Lebensbedingun- chen und in verschiedenen Gattungen und Me- gen von großer Wichtigkeit sind. Die künstleri- dien und leiten daraus aktuelle und sozialkritische schen Gattungen teilt Roger D. Abrahams für die Thesen ab. So konnten amerikanische Forscher, anthropologische Forschung in meist der Germanistik, wie Jack Zipes mit den MonografienBreaking the Magic Spell (1979) und a) conversational genres (wie jargon, slang, aber Fairy Tales and the Art of Subversion (1983), Maria auch proverbs, superstitions), Tatar mit The Hard Facts of the Grimms’ Fairy Tales b) play genres (wie riddling, joking aber auch spec- (1987) oder Ruth B. Bottigheimer mit Grimms’ tator sports bis zu festival activities), Bad Girls & Bold Boys (1987), die in den 1980er c) fictive genres (wie cante fables, dann auch epic Jahren mit dezidiert politischen und sozialen Fra- und ballad), gestellungen gerade auch die Märchen der Brüder d) static genres (wie folk painting) ein. Grimm neu interpretierten, generell das Interesse an Märchen in ein neues Licht rücken.165 Die Abfolge zeigt einen Verlauf von total interper- Aktuell sind gerade auch ältere oder weniger sonal involvement in der Konversation bis zu total bekannte Märchen im Fokus des Interesses, wie removal in «statischen» Gattungen.162 das Pentamerone von Giambattista Basile aus Ne-

163 Vgl. Soriano 1980. 161 Ben-Amos 1976, S. XXX. 164 Vgl. Bausinger 1958 und 1977; Schenda 1970. 162 Vgl. Abrahams 1976, besonders S. 207f. 165 Vgl. Zipes 2002 und 2006a; Bottigheimer 1987; Tatar 2003. 32 Stand der Forschung apel um 1630, oder die mehrheitlich von Frauen ihre Auflösung in der Lebenswelt zu fiktionalem verfassten Märchen aus der Zeit von Louis XIV Stoff werden konnten und dadurch in der Lebens- um 1700, als Perrault einer der wenigen männ- welt selbst gar nicht mehr nachgewiesen werden lichen Märchenautoren war. Lewis C. Seifert können: zeigt etwa, dass die Märchen den Autorinnen in besonderer Weise Darstellungen geschlechtlicher Das Märchen überliefert nicht nur Reste und und sexueller Visionen erlaubten, und: «[they] re- Bruchstücke vergangener Bräuche und Vorstellun- veal as do few other sources […] both dominant gen, sondern das Rest-Werden dieser Reste, das ideologies of sexuality and gender in late seven- Bruchstück-Werden dieser Bruchstücke ist Voraus- teenth-century France, as well as rival ideologies setzung, Bahn und Substanz seiner Entstehung.171 that resist and define them».166 Unterschiedliche Wertsetzungen in oralen und schriftlichen Tradie- Die Mündlichkeit kann im Märchen nicht nach- rungen französischer Märchen untersucht Cathe- gewiesen werden, aber genau so schwierig ist es, rine Velay-Vallantin, besonders im Hinblick auf das Genre des Märchens auf seine Schriftlichkeit Problematiken von Macht und Geschlecht.167 zu reduzieren. Für Walter J. Ong leben wir mit Oder es sind neue Bearbeitungen und Adapti- «secondary orality», da unsere Gesellschaft durch- onen von Märchen außerhalb des Kanons, wie setzt ist von «telephone, radio, television, and other etwa Märchen im Fernsehen, welche Christoph electronic devices that depend for their existence Schmitt in einer Langzeitstudie in Deutschland and functioning on writing and print» und eine verfolgte.168 Dabei bezieht sich die Erzählfor- orale Tradition sich diesem Einfluss nicht entzie- schung auch auf den Kanon volkskundlicher hen kann.172 Der Begriff «oral literature» ist für ihn Medienforschung, wie er im deutschsprachigen ein «strictly preposterous term», da sich damit nur Raum seit den 1970er Jahren entstanden ist.169 unser Versagen im Umgang mit der Oralität man- Die Erzählforschung hat sich somit von einer ifestiere: «it reveals our inability to represent to our ursprungsorientierten Phänomenologie zu einer own minds a heritage of verbally organized mate- modernen Kulturwissenschaft entwickelt.170 rials except as some variant of writing, even when Im Folgenden sollen der für das Märchen be- they have nothing to do with writing at all.»173 Für sonders wichtige Aspekt der Neuschreibung und ihn wird orale Kultur von Erzählern geprägt, etwa die Rolle der Oralität in den meist nicht mündlich von den Liedern der Barden, und diese Kultur des rezipierten Märchenadaptionen vertieft werden. performativen Erzählens unterscheidet sich sehr stark von Literatur: «In fact, an oral culture has no experience of a lengthy, epic-size or novel-size cli- Oralität und Neuschreibung von Märchen mactic linear plot.»174 Wir sprechen also hier immer von einer schrift- Dem Märchen als Genre ist die Auseinanderset- lichen Kultur, auch wenn sie mündlich basiert ist. zung um Mündlichkeit und Schriftlichkeit gleich- Trotzdem trägt das Märchen als Genre Qualitäten sam eingeschrieben. So problematisiert Winfried oralen Erzählens in sich, was auch dessen Ana- Menninghaus, dass die offenbar im Märchen ent- lyse prägt. In der Neuerzählung eines Märchens haltenen Bräuche und Vorstellungen erst durch beispielsweise wird die Vorlage meist offengelegt. Dadurch wird auch die widersprechende Weiter- 166 Vgl. Seifert 1996, hier S. 3. schreibung einer Vorlage, die oben beschriebene 167 Vgl. Velay-Vallantin 1992a und 1992b. Transposition, im Gegensatz zu anderer Literatur 168 Vgl. Schmitt 1993 und 2010. 169 Zu volkskundlicher Medienforschung vgl. Bechdolf 171 Menninghaus 1995, S. 207. 2001. 172 Ong 1982, S. 11. 170 Vgl. etwa Brednich 2009, darin insbesondere der Bei- 173 Ebd. trag von Ingo Schneider, S. 3–13. 174 Ebd., S. 143. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 33 nicht unbedingt als problematisch, sondern als In den Worten von Genette haben wir im ers- produktiv wahrgenommen, wie etwa Bottigheimer ten Fall zwar dieselbe Geschichte, also die gleiche betont: Für sie erzählt jede Generation dieselbe Ge- Gesamtheit der Ereignisse, sie wird aber in neue schichte wieder neu und stülpt so die «alten Klei- Erzählungen (Versionen) gepackt und variiert. Im der» gleichsam neuen Themen über. Diese Erzäh- zweiten Fall haben wir grundsätzlich verschiedene lungen, die zwar im Titel oder Plot ihre Referenz Geschichten, bei denen sich aber über die Nar- offenlegen, halten aber durch die Umkehrung der ration, also die erzählten Ereignisse, frappierende Ideen einen großen Teil der narrativen Vorbilder Ähnlichkeiten zeigen. verdeckt. Deren Aufdeckung ist Aufgabe der Ana- Notwendig für eine solche Art der Märchen- lyse, um die Differenzen zwischen den verschiede- analyse sind Werkzeuge, die alle drei Bestandteile nen Geschichten, die unter dem gleichen Titel fun- des Erzählens gleichsam berücksichtigen. Bot- gieren, aufzuzeigen. Bottigheimer schreibt 2006 tigheimer sieht die Intentionen einer bestimmten im Abschnitt «One plot, three tales, three different Epoche besonders in der Neubenutzung und stories» über die Erzählung von Cinderella: Neubewertung bestehender Motive: «tale com- parison can be taken a step further to show how Basile’s Pentamerone and Perrault’s Contes both re- broader literary themes – for instance the heroin’s tain the same or very similar constituents to tell a position in fairy tales – vary according to the place Cinderella story, but motivations and outcomes occupied by standard motifs in a set of closely re- differ profoundly from the Grimm’s version, illus- lated tales.»178 Bottigheimer schlägt für eine sol- trating quite neatly how contemporary mores, au- che Analyse fünf Ebenen der Recherche vor: dience expectations, narrative voice, and authorial intentions color tale elements.175 1) historical, zu «authorship, whose pen may write, pseudonym», Es kann aber auch das Gegenteil eintreffen, dass 2) narrative: «who is condemned to silence in the nämlich verschiedene Erzählungen genutzt wer- text, who is speaking», den, um dieselbe Geschichte zu erzählen, wie 3) textual, zu «direct, indirect speech» oder zu «si- dies etwa Alfred Messerli anhand von Analogien lencing a character in a third level», zwischen oberflächlich nicht vergleichbaren Er- 4) lexical: «which verbs are used to introduce zählungen zeigt, bei welchen die gemeinsame speech, mark as important or illicit», Narration als «Schlüssel, als Erklärung und Deu- 5) editorial, mit «comments by the author in the tung in einem» funktioniert.176 Beides sind für text, or besides the text».179 ihn Möglichkeiten einer intertextuellen, oder wie man für die vorliegende Studie anpassen könnte, Dazu gehören auch genrekritische Fragestellun- intermedialen Vorgehensweise: gen, wie die literaturwissenschaftlichen Forschun- gen von Max Lüthi, die er etwa in der Studie Das In der ersten Bewegung wird die Latenz des Aus- Volksmärchen als Dichtung von 1975 zu einer gangstextes erzählend in neuen Versionen entfaltet eigentlichen Phänomenologie des märchenhaften und manifest, so dass diese jenen zu erhellen ver- Erzählens entwickelte: suchen. In der zweiten Bewegung ist es die neue Erzählung, die durch den «alten» Ausgangstext erst Sublimation, Flächenhaftigkeit, Eindimensionalität verständlich wird.177 (Jenseitiges nicht als eine andere Dimension emp- funden), Linienstil, Isolation, Nebeneinander und Nacheinander, abstrakter Stil erzeugen optische 175 Bottigheimer 2006, S. 35; vgl. auch Bottigheimer 1987, S. 35–39. Klarheit – blinde und stumpfe Motive, ungeklärte 176 Messerli 2009, S. 301. 178 Bottigheimer 2006, S. 36. 177 Ebd. 179 Ebd., S. 52. 34 Stand der Forschung

Zusammenhänge, unerklärte Wirkkräfte bilden das images, and motifs in tale variants produces change Gegengewicht, und die Isolationstendenz, die einer- in meaning, often profound, which can turn a tale seits die Klarheit der Figur und der Handlungslinie on its head; furthermore, such reorderings may tell erzeugt, ist gleichzeitig für das Zustandekommen us something about the society that produced a par- jenes Unerklärten mitverantwortlich.180 ticular variant.183

Lüthi kann zeigen, wie die «optische Klarheit» Auch ohne dass in einer Erzählung auf die Ge- eine Qualität des Märchens bildet und das «Un- sellschaft Bezug genommen wird, kann durch die erklärte», dem im Märchen, stärker als den oben Veränderung des Setzens von Sinn, von Rahmun- diskutierten Lücken, in literarischen Texten als gen, durch ihr «reordering» sowohl die Geschich- «Isolationstendenz» eine Schlüsselfunktion zu- te wie die sie hervorbringende Gesellschaft neu kommt: «Weil sie Figuren, Abläufe und Episoden verstanden werden. Wichtig ist, dass Forschende rein heraushebt, läßt sie vieles im Dunkel, das diese Möglichkeit der Neusetzung auch auf die Licht gibt auch dem Schatten und damit dem eigene Forschung und Weiterschreibung beziehen Geheimnis sein Recht.»181 und den dadurch hergestellten Bezug zur Gegen- Bottigheimer stützt sich auf die Arbeiten von wart aufzeigen. Lüthi und dessen erwähnte These von der Flach- heit der Märchen, um eine komparatistische Ar- beit zu ermöglichen und nicht den Intentionen Schlussfolgerung eines einzelnen Autors ausgeliefert zu sein, son- dern einen Erzählinhalt herauszudestillieren, wel- Die Kultur teilt sich in zahlreiche Praktiken auf, cher erst bei einem breiteren Vergleich sichtbar eine davon ist die Kunst, die sich wiederum in wird: verschiedene Künste, Gattungen und Formate aufteilt und in ganz unterschiedlichen Medien Max Lüthi early pointed out that European fairy umgesetzt wird. Die Schwierigkeit besteht darin, and folk tales – their characters, situations, and ep- Aussagen machen zu können, die den betroffenen isodes – typically appear before us sublimated and Künsten, Gattungen, Formaten und den verwen- emptied of meaning. This condition makes them deten Medien auch gerecht werden – auch sol- susceptible to «filling» and coloring by interpreters chen, die (noch) gar nicht kanonisiert sind. […]. To avoid this as far as possible I have tried to Die Schwierigkeit, dazu eine Aussage zu ma- consider the events, motifs, and themes of several chen, die allen Künsten gerecht wird, zeigt ein tales together as a corrective for what be mistakenly Blick auf das Theater. So schreibt Helmuth Pless- concluded from an individual tale.182 ner im Aufsatz Zur Anthropologie des Schauspielers (1948): «Der Schauspieler stellt Menschen dar. Jedoch können durch die Analyse einer einzelnen Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends Adaption die Absichten einzelner Autoren genau- sonst wird uns das gezeigt.»184 Der Mensch ist er gezeigt werden. Ihre jeweilige Umnutzung be- dem anderen unmittelbar gegenübergesetzt. Eine stehender Motive und Handlungsstränge zeigt ein Analyse des Theaters kann eigentlich nur unter «interplay between culture and narrative»: dieser Voraussetzung geschehen – eine Bedin- gung, die für Theatergeschichte kaum einlösbar In this light the simple narrative of folk and fairy ist. Dies vergleicht Plessner mit anderen Künsten: tales can be seen to make sense within the society «Dichtung und bildende Kunst verkörpern ‹auf that tells – or publishes them. Reordering symbols, Umwegen› und ‹im Abstand›, in Wort, Farbe und

180 Lüthi 1975, S. 56. 183 Ebd. 181 Ebd. 184 Plessner 2003b, S. 403. 182 Bottigheimer 2006, S. 167. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung 35

Form, nicht in Menschen selber.»185 Der ange- brachte Umweg, Abstand, oder die Unmittelbar- keit sind bei einer Analyse eigentlich zu beachten, aber selten einlösbar. Mit dem Wissen um die Unmöglichkeit einer gültigen Antwort wollen wir aber doch Symbo- le, Funktionen, Motive, Handlungen und Leer- stellen lesen, um uns dem analysierten Werk im jeweiligen künstlerischen Format und Genre, in seiner Bedingtheit im kulturellen Kanon und der medialen Umsetzung zu nähern. So soll eine Vergleichbarkeit, also eine Intermedialität, ge- währleistet werden, ohne die Polyphonie, also die Mehrstimmigkeit dieser Erzählungen zu reduzie- ren.

185 Ebd. 36

Abb. 1: Blue Beard, Illustration von Charles Robinson in Fairy Tales by Charles Perrault (1913) Stand der Forschung 37

Forschung zu Blaubart einem Kapitel zu Barbe-bleue.188 Während Avoi- ne die Erzählungen literarisch wertet und bei Bar- be-bleue etwa die Neugierde der Frau positiv er- Früh diskutiert wurde die Erzählung Blaubart in wähnt, worauf im Abschnitt zu Blaubarts Frau im Frankreich in Studien zu den contes de fées und Kapitel zur Stoffgeschichte hier noch eingegangen Charles Perrault und zu Gilles de Rais. Eine zen- wird, betont Saintyves die mythischen Ursprün- trale Rolle spielt die Märchenforschung, gerade ge und Qualitäten. Bahnbrechend in der Erfor- auch die Typologisierung von Aarne/Thompson/ schung der französischen «mode de conte de fées» Uther (ATU) und die Auslegung der Erzählung um 1700 war eine Studie von Mary Elizabeth Sto- als Mythos. Studien zu Blaubart im deutschen rer (1928); sie beschreibt die Zeit zwischen 1690 Sprachraum waren früh davon geprägt, die angel- und 1705 als erste wichtige Phase der contes de sächsische Germanistik brachte zusätzliche kom- fées und geht auf die zahlreichen Autorinnen und paratistische und geschlechterkritische Ansätze wenigen Autoren ein.189 ein. In der Anglistik hingegen war die erst später Ein handschriftliches Exemplar mit fünf der einsetzende Forschung zu Blaubart von Anfang an sieben Märchen von Perrault wurde 1953 gefun- literarisch-feministisch geprägt, und in jüngeren den und 1956 von Jacques Barchilon als Faksimi- Studien auch von postmodernen und transmedia- le veröffentlicht, eingeführt von einem separaten len Ansätzen. Weitere Auseinandersetzung gibt es Band mit Erläuterungen zu Entstehung, Her- in der Forschung zu Musik, Tanz, Film und ins- kunft und Autorschaft dieser Märchen.190 Eine besondere zur Psychologie. Ausgabe der Werke von Perrault publizierte 1958 Marc Soriano, 1966 erschien von Gilbert Rouger erstmals eine kritische Ausgabe.191 1968 veröf- Romanistik fentliche Soriano die historisch-kritisch angelegte Studie Contes de Perrault – culture savante et tradi- In Frankreich gehört Blaubart seit 1697 zu den be- tions populaires, in welcher er die contes sowohl ge- kannten Märchen, und deren Erforschung kennt sellschaftlich in der Zeit von Louis XIV, familiär ebenfalls eine lange Tradition. Schon 1785–1789 bei den Perraults und psychologisch ausleuchtete erschien die 41-bändige Märchensammlung Ca- und dabei auch die Biografie von Pierre Perrault binet des fées von Charles-Joseph de Mayer mit Darmancour erstmals genauer aufarbeitete.192 Der einem «court discours préliminaire, et une centai- historisch-kritischen Linie von Soriano folgten ne de notices biographiques […] sur les conteurs etwa Philip Lewis, welcher in Seeing Through the français ayant écrit dans le genre féerique», wie Mother Goose Tales (1996) das restliche Werk von Jacques Barchilon 1975 in Le conte merveilleux Perrault mit den contes vergleicht, und Jean-Pierre français de 1690 à 1790 beschreibt.186 Bei Mayer Mothe, welcher in seiner Studie Du sang et du sexe wird Charles Perrault, die ihm zugeschriebene Er- dans les contes de Perrault (1999) einzelne Stellen zählung La Barbe bleüe und sein weiteres Werk im Werk nach psychologischen Anhaltspunkten erwähnt. Charles Walckenaer vertieft die Ausei- auf biografische Momente im Leben der Perraults nandersetzung 1826 in seiner Lettre sur les contes ausleuchtet.193 Ute Heidmann ihrerseits zeigt in de fées attribués à Perrault durch Quellenstudium ihren Recherchen, wie sehr die contes von Perrault und fügt sie in seine (romantische) These vom fol- und insbesondere La Barbe bleüe in einem «dialo- kloristischen Ursprung der Märchen ein.187 Zu den Märchen von Perrault erschienen 188 Vgl. Avoine 1890; Saintyves 1987, S. 301–331. weiter um 1890 eine Studie von Paul Avoine 189 Vgl. Storer 1972. 190 Vgl. Perrault 1956. und 1923 eine von Pierre Saintyves, beide mit 191 Vgl. Perrault 1958 und 1966. 186 Barchilon 1975, S. XIV; vgl. Mayer 1785–1789. 192 Vgl. Soriano 1980. 187 Vgl. Walckenaer 1826. 193 Vgl. Lewis 1996; Mothe 1999. 38 Stand der Forschung gisme intertextuel complexe et multiple» mit Tex- Ein Herzstück der folkloristischen Erzählfor- ten der Antike und der Neuzeit verknüpft sind.194 schung bildet der erwähnte Index von Erzähl- Forschungen zu Blaubart in Frankreich haben typen nach Aarne. In Aarnes erster Ausgabe des oft den 1404 geborenen und 1440 hingerichteten Index mit dem Titel Verzeichnis der Märchentypen Gilles de Rais zum Thema, worauf später noch (1910) fehlt Blaubart gänzlich. Aus den Kinder- eingegangen wird und was hier nur kurz anskiz- und Hausmärchen der Brüder Grimm finden sich ziert sei.195 Eine breitere Auseinandersetzung mit die Märchen Fitchers Vogel als ein Zaubermärchen Gilles als Blaubart wurde wohl durch die 1885 mit der Nr. 311 und Der Räuberbräutigam als no- erschienene Monografie von Eugène Bossard aus- vellenartiges Märchen mit der Nr. 955.200 Später gelöst, in welcher er in einem Kapitel auch die wurde Blaubart hinzugefügt, und zwar bei der Nr. Zusammenhänge zwischen Blaubart und Gilles 312, die Aarne 1910 mit Unholdstöter und sein erläutert.196 Um 1900 findet sich eine Reihe von Hund betitelt hatte, mit der kurzen Erklärung: Forschungen zu Gilles und Massenmord und ein «der Bruder rettet die Schwester», verknüpft mit internationales Interesse an Blaubart, dies meist der Nr. 311 und dem Zusatztitel Drei Schwestern mit einer mythisch-historischen Gewichtung. aus dem Berge werden aus der Gewalt des Unhol- Weiterhin bildet Blaubart in der kulturgeschicht- des gerettet.201 In der von Uther betreuten letzten lichen Auseinandersetzung von Georges Bataille Ausgabe des jetzt The Types of International Folk- (1959) oder dem historischen Abriss von Philippe tales genannten Index heißt dieselbe Gruppe nun Reliquet (1982) eine wichtige Referenz.197 Eine aber Maiden-Killer (), mit der Nummer Neuübersetzung der Dokumente aus dem Latei- ATU 312, und der Untergruppe ATU 312A für nischen und Französischen ins Englische erstellte The Rescued Girl bzw. ATU 312C für The Rescued Reginald Hyatte in Laughter of the Devil (1984).198 Bride.202 Der Erzähltypen-Index hat sich zwar allge- mein durchgesetzt und erlaubt einen Vergleich Erzählforschung, Volkskunde nach Motiven bei unterschiedlichen Erzählungen, doch ist die Idee «Folktale» fest mit einer Annah- Die systematische Arbeit der Brüder Grimm me oralen Ursprungs verknüpft. Dies zeigt sich wurde für den Märchenbegriff prägend. Die Er- gerade in der systematischen Arbeit von Aarne, zählung Blaubart ist zwar in deren Anthologie etwa bei seinem Vorgehen in seiner ersten Publi- Kinder- und Hausmärchen nur in der ersten Aus- kation Vergleichende Märchenforschungen (1908), gabe von 1812 enthalten, doch scheint dies nach wo er beim Vergleich von drei Märchen jeweils der Publikation von Perrault erneut die Idee von «volkstümliche varianten», «urform des volkstüm- Blaubart als einem Märchen gefestigt zu haben.199 lichen märchens», «weitere volkstümliche varian- In Märchensammlungen wurde Blaubart darauf ten», «ältere buchvarianten und ihr verhältnis zu wiederholt abgedruckt und als solches etwa ab dem volkstümlichen varianten» und «heimat und 1880 genauer erforscht – als «Volksmärchen» ver- verbreitung des märchens» unterscheidet – von schiedener europäischer Nationen und Regionen. künstlerischen Märchenerzählungen finden bloß literarische und auch da nur «ältere buchvarian- 194 Vgl. Heidmann 2008, S. 161. 203 195 Zu Gilles de Rais vgl. in vorliegender Studie die entspre- ten» Eingang in die Analyse. Diese Konzentra- chenden Abschnitte in den Kapiteln «Perraults La Barbe tion auf mündlich basiert anerkannte Märchen bleüe und Weiterschreibungen» und «Intimer vs. politi- hat sich in diesem Index bisher so gehalten. Trotz scher ‹Blaubart› bei Natonek». der Zurückhaltung bei Grimm und Aarne gehört 196 Vgl. Bossard 1885; zu Gilles und Blaubart vgl. ebd. S. 371–414. 200 Vgl. Aarne 1910, S. 13, S. 41. 197 Vgl. Bataille 2000; Reliquet 1990. 201 Ebd., S. 13. 198 Vgl. Hyatte 1984. 202 Vgl. Uther 2004a. 199 Vgl. Brüder Grimm 1994/2002. 203 Aarne 1908, S. XVIII. Forschung zu Blaubart 39

Blaubart Mitte des 20. Jahrhunderts fest zum rische und literaturwissenschaftlich-komparatis- Bestand der Märchenforschung, sowohl in fran- tische Fragen überkreuzen, so dass die Idee von zösischen, deutschen wie englischen Übersichts- Märchen und oraler Tradition wieder zurück in bänden. die Literaturforschung führt. Eine kategorische Einordnung von Blaubart in der Märchenforschung nimmt Uther (1988) vor, was er unter dem Lemma «Mädchenmörder» in Germanistik der Enzyklopädie des Märchens (1996) vertieft.204 Auf die orale Tradition fokussiert Catherine Der Germanist Emil Heckmann publizierte 1930 Velay-Vallantin, welche Blaubart in ihrer Studie eine Studie, welche auf die Erkenntnisse der da- L’histoire des contes (1992) erörtert.205 Mit Blau- maligen Märchenforschung aufbaute und gleich- barts «female helper», die erst nach Perrault in zeitig Adaptionen aus Literatur und Bühne zu be- bestimmten Versionen eine wichtige Rolle spielt, rücksichtigen suchte.211 Erst ab den 1980er Jahren beschäftigen sich Daniela Hempen (1997) und vollzog sich in der US-amerikanischen Germanis- Rose Lovell-Smith (2002).206 Lovell-Smith kon- tik die weiter oben erwähnte Neuausrichtung auf statiert in einem weiteren Aufsatz zu «Feminism gesellschaftliche und politische Fragestellungen. and Bluebeard» grundsätzlich: «[W]omen have Es war Maria Tatar, welche in ihrer Monografie no doubt that this story is about a woman».207 von 1987 Blaubart diskutierte, der Erzählung in Das Weitererzählen als kreativen Umgang mit Secrets Beyond the Door (2004) eine Monografie dem Problem des literarischen Einflusses in der widmete und der Frage nach weiblicher Eman- postmodernen Literatur erörtert Stephen Benson zipation in dieser Erzählung in einem Aufsatz im Bezug auf Blaubart in einem Kapitel der Stu- (2009) weiter nachging.212 Zipes lieferte in Beau- die Cycles of Influence (2003).208 ties, Beasts and Enchantments neue Übersetzungen In Überblicksdarstellungen und Sammlungen von Blaubart-Versionen und thematisierte seiner- zu Blaubart bleibt die Auffassung von Blaubart als seits beispielsweise in einem Kapitel der Mono- einem Märchen klar im Vordergrund. Möglicher- grafie Why Fairy Tales Stick (2006) die Analyse weise nach dem Vorbild von Jack Zipes und seiner von männlicher Macht und deren Missbrauch in Monografie zu Rotkäppchen (1982) stellte Hart- Blaubart.213 wig Suhrbier die Anthologie Blaubarts Geheimnis In den 1990er Jahren wurden auch in der (1984) zusammen, mit einer Einführung, die bis deutschen Germanistik komparatistische Studien heute einen wertvollen Überblick liefert.209 Eine zum Thema publiziert. Winfried Menninghaus sehr umfangreiche Anthologie findet sich in Blue- erörterte in Lob des Unsinns (1995) die beiden beard (2011) von Heidi Anne Heiner mit zahlrei- Blaubart-Adaptionen von Ludwig Tieck im Ver- chen «tales from around the world» und weiteren gleich zur Philosophie von Immanuel Kant.214 literarischen und dramatischen Adaptionen.210 Da Jürgen Wertheimer stellte in Don Juan und Blau- in den Anthologien von Suhrbier und Heiner so- bart (1999) diese beiden Figuren einander gegen- wohl alte Adaptionen aus Märchensammlungen über, was Barbara Agnese (2007) in einem Ver- wie auch aktuelle und künstlerische Adaptionen gleich von Erzählungen von Ingeborg Bachmann enthalten sind, zeigt sich, wie sich erzählforsche- und Elfriede Jelinek vertiefte.215 Die britische Germanistin Mererid Puw Davies 204 Vgl. Uther 1996. forschte wiederholt zu Blaubart in der deutschen 205 Vgl. Velay-Vallantin 1992b, S. 43–93. 206 Vgl. Hempen 1997; Lovell-Smith 2002. 211 Vgl. Heckmann 1930. 207 Lovell-Smith 1999, S. 45. 212 Vgl. Tatar 2003, S. 156–178; Tatar 2004 und 2009. 208 Vgl. Benson 2003, S. 198–246. 213 Zipes 1989 und 2006b, S. 154–193. 209 Vgl. Zipes 1985; Suhrbier 1987. 214 Vgl. Menninghaus 1995. 210 Vgl. Heiner 2011. 215 Vgl. Wertheimer 1999; Agnese 2007. 40 Stand der Forschung

Literatur, und beschreibt diese in ihrer Monografie Politics» (1974) oder als Erzählung des Matriar- The Tale of Bluebeard in German Literature (2001) chats bei Juliet McMaster (1976).223 Onleys Text als Seismograph der Geschlechterbeziehungen rekurriert auf Margaret Atwood, welche 1971 den und des Zivilisationsprozesses.216 Dezidiert ko- Gedichtband Power Politics und später verschie- mische Versionen von Blaubart in der deutschen dene an Blaubart orientierte Erzählungen pub- Literatur diskutiert sie darauf in einem Aufsatz lizierte.224 Als stark an Blaubart interessierte Au- von 2002.217 Ebenfalls wiederholt zu Blaubart, torin gilt auch Angela Carter, deren Roman The besonders zu Fragen der Männlichkeit, forschte Magic Toyshop (1967) und verschiedene weitere die polnische Germanistin Monika Szczepaniak, Erzählungen im Zusammenhang mit Blaubart mit einem Überblick in ihrer monografischen diskutiert wurden, etwa in einer von Danielle M. Studie Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Roemer und Cristina Bacchilega herausgegebenen Literatur (2005).218 Vergleiche von Blaubart mit Anthologie (1998).225 Atwood und Carter gelten der Erscheinung der Hysterie im 19. Jahrhundert als zentrale Inspiratorinnen einer feministischen (2001) und mit der Figur des Pygmalion (2013) Auseinandersetzung mit Blaubart im angelsächsi- publizierte Annette Keck.219 schen Sprachraum. Als wichtiger Subtext im Roman Jane Eyre von Charlotte Brontë wird Blaubart auch in der Anglistik monografischen StudieThe Madwoman in the Attic (1979) von Sandra Gilbert und Susan Gu- Für die Anglistik wurde Blaubart ab den 1970er bar genannt.226 Den Vergleich von Blaubart und Jahren zum Forschungsgegenstand, als erstes in Jane Eyre vertieft Heta Pyrhönen in ihrer mono- feministischer Forschung zu Erzählungen wie die grafischen StudieBluebeard Gothic (2010).227 Ins- als «Modern Gothic» bezeichnete Rebecca (1938) besondere als Erzählung männlicher Fantasien von Daphne du Maurier. So nimmt Joanna Russ erscheint Blaubart bei Marina Warner in der Mär- 1973 einen typisierenden Vergleich vor, der ver- chenstudie From the Beast to the Blonde (1994).228 schiedene Aspekte der Blaubart-Erzählung be- Die erste monografische Studie zu Blaubart, wel- rücksichtigt, ohne diese explizit zu erwähnen.220 che einer feministischen Perspektive folgt, publi- Später beschreibt Anne Williams in der Studie Art zierte 2001 Casie E. Hermansson in Reading Fe- of Darkness (1995) den Blaubart-Plot als «männ- minist Intertextuality Through Bluebeard Stories.229 liches» Prinzip in der englischen Gothic literature, Hermansson forschte daraufhin wiederholt zur dem sie den «weiblichen» Psyche-Plot gegenüber- angelsächsischen Rezeptionsgeschichte von Blau- stellt: «In the Male Gothic a man, the hero/villa- bart, was sie detailliert in der Studie Bluebeard – A in, is revealed as a beast; in the Female plot, the Reader’s Guide to the English Tradition (2009) aus- apparent beast is transformed into a man.»221 Da- führt, wobei sie auch auf die Rolle von Blaubart in bei untersuchte Williams auch die Rezeption von der englischen und amerikanischen Komödie und Blaubart in der Gothic Novel.222 Pantomime eingeht.230 Mit dieser Bezugnahme auf die Gothic Novel ist Das postmoderne Märchen und in einem Ka- Blaubart ein Thema in feministisch orientierten pitel auch die Rezeption und Rolle von Blaubart Aufsätzen von Gloria Onley mit Blick auf «Power 223 Vgl. Onley 1974; McMaster 1976. 216 Davies 2001. 224 Vgl. Atwood 1971 und 1983. 217 Davies 2002. 225 Vgl. Carter 1967; Roemer und Bacchilega 2001. 218 Szczepaniak 2005. 226 Vgl. Gilbert und Gubar 1979. 219 Vgl. Keck 2001 und 2013. 227 Vgl. Pyrhönen 2010. 220 Vgl. Russ 1973. 228 Vgl. Warner 1994, S. 241–271. 221 Vgl. Williams 1995, S. 241. 229 Vgl. Hermansson 2001. 222 Vgl. ebd., S. 38–47. 230 Vgl. Hermansson 2009. Forschung zu Blaubart 41 untersuchte 1997 Cristina Bacchilega in ihrer Kunstgeschichte kommend, gingen auch Griselda monografischen StudiePostmodern Fairy Tales.231 Pollock und Victoria Anderson in ihrem Tagungs- Diesem Ansatz folgt Verena-Susanna Nungesser, reader Bluebeard’s Legacy (2009) transdisziplinär welche wiederholt zu Blaubart aus postmoderner und kulturwissenschaftlich vor und vereinen da- Perspektive forschte und dies in der monografi- rin Aufsätze zu Oper, Musik, Film und Literatur schen Studie Verfolgte Unschuld und Serienmörder – die Herangehensweise zeigt sich beispielhaft in (2012) vertieft.232 Ebenfalls mit postmodernem Andersons Aufsatz zu Bartóks Oper.236 Pollock Ansatz erforschte Shuli Barzilai wiederholt Blau- und Anderson stützen ihr Vorgehen auf die cul- bart-Motive in der Literatur, etwa in der Mono- tural analysis von Mieke Bal, und ihre Idee der grafie Tales of Bluebeard and his wives from late «travelling concepts», wie Pollock in ihrem Vor- antiquity to postmodern times (2009) anhand von wort betont: Beispielen von der Antike bis in die Gegenwart.233 Bal turned the focus from our accumulating theo- retical resources to the work – the practice of inter- Andere Disziplinen pretation – we do on cultural practices, informed […] by the concepts generated within those theo- Grundsätzlich kann man sagen, dass sich in der ries that now travel across disciplines, creating an jüngeren Literatur- und Erzählforschung eine extended field of contemporary cultural thinking.237 stärkere Offenheit gegenüber nichtliterarischen Erzählformen abzeichnet, wie etwa zu Film, dar- Bei einem solchen Zusammentreffen von For- stellender Kunst, Musik oder bildender Kunst. schungsdisziplinen werden entsprechend nicht Zwar gibt es die weiter oben erwähnten älteren nur die Themen, sondern auch die auf sie ange- Studien, wie diejenige von Westenholz zur Grisel- wandten Theorien reflektiert. dis-Sage von 1888, in welcher verschiedene Gen- Grundsätzlich kulturwissenschaftliche Sicht- res gleichwertig verglichen werden, oder die Blau- weisen gibt es auch schon in früheren For- bart-Studie von Heckmann von 1930, in welcher schungen zu Blaubart, wie etwa eine feminis- auch den «künstlerischen und wissenschaftlichen tisch-kulturgeschichtliche in einem Aufsatz von Bearbeitungen des Blaubartstoffes» ein Kapitel Annemarie Dross (1980).238 Nungesser, in ihrer gewidmet wird; 234 systematisch wird diese Per- oben erwähnten ebenfalls intermedial angelegten spektive in der Erzählforschung aber erst seit den Studie zu Blaubart, versucht ihren genre- und 1980er Jahren angewandt. Es war Zipes, der diese medienübergreifenden Zugang neu zu definieren Sichtweise 1982 für die Rezeptionsgeschichte des und möchte die Analyse weniger gesellschaftskri- Märchens vom Rotkäppchen als intermediale Ge- tisch-politisch und dafür stärker intertextuell und nealogie breiter bekannt machte, und Suhrbier, transmedial fundieren. der dieses Vorgehen 1984 auf Blaubart anwandte. Natürlich gibt es auch Studien aus einzelnen Dem folgen auch Beat Mazenauer und Seve- weiteren Disziplinen. Der Musikwissenschaftler rin Perrig in ihrer Märchenstudie Wie Dornrös- Carl S. Leafstedt untersuchte in seiner Monogra- chen seine Unschuld gewann (1995), wie später fie Inside Bluebeard’s Castle (1999) die Oper von ebenfalls Wertheimer, Tatar und natürlich Zipes Béla Bartók.239 Zu erwähnen ist auch die Mono- verschiedene Genres der «Weiterschreibung» die- grafieFeminine Endings (1991) von Susan McCla- ser Erzählung gleichwertig diskutieren.235 Aus der ry, welche, wie Williams im Bereich der Gothic

231 Vgl. Bacchilega 1997, S. 103–138. 236 Vgl. Anderson 2009. 232 Vgl. Nungesser 2012. 237 Pollock 2009, S. XV. 233 Vgl. Barzilai 2009. 238 Vgl. Dross 1980. 234 Heckmann 1930, S. 7. 239 Vgl. Leafstedt 1999. 235 Vgl. Mazenauer und Perrig 1995, S. 109–138. 42 Stand der Forschung literature in der Musik, auf Blaubart nicht als Ge- schichte referiert, sondern diese Erzählung als ein Fazit Prinzip verwendet, um die Präsenz der Frau bei der Komposition und Vorführung von Musik als Zwar gibt es schon um 1790 erste Texte zu Mär- einen Eindringling zu umschreiben, als «material chen, in denen auch Perrault als Autor von La girl in Bluebeard’s castle».240 Barbe bleüe erwähnt wird, auch ist Blaubart 1812 Die Blaubart-Thematik als Dreieck aus Sexuali- in der ersten Ausgabe der Märchenanthologie der tät, Neugierde und Hierarchie ist in der Psycholo- Brüder Grimm enthalten, doch eine breitere Re- gie beliebt, wie dies etwa die Monografie Blaubart zeption der Erzählung setzt erst ab 1885 mit Boss- von Helmut Barz (1987) oder ein Kapitel in The ards historisch angelegter Studie zu Gilles de Rais Uses of Enchantment (1976) von Bruno Bettelheim ein. Seitdem wird Blaubart als Mythos, Märchen, zeigen, wobei gerade letztere Publikation als weite- aber auch als Erzählung, Oper oder Spielfilm breit rer wichtiger Auslöser für das oft angelsächsische beachtet. Während germanistische Ansätze der Interesse gerade auch an deutschen Märchen ab Märchenforschung folgten, öffnete Soriano 1968 den 1970er Jahren gilt.241 Aus spezifisch jungia- im französischen Sprachraum mit seiner Studie nischer Perspektive erörtern Verena Kast in einem zu den contes von Perrault die Forschung zu Blau- Aufsatz von 1978 und Mathias Jung in Blaubart bart für eine gleichermaßen hermeneutische wie – Die Befreiung der Weiblichkeit (2002) Motive dekonstruktive Lesart und für sozialkritische wie aus der Blaubart-Erzählung.242 Aus einer breiteren psychologische Fragestellungen. In den 1970er Sicht der Psychoanalyse setzt sich Carl-Heinz Mal- Jahren wurde diese an gesellschaftlicher Relevanz let in seiner Studie Kopf ab! (1985) mit Gewalt im orientierte Kritik durch eine feministisch ausge- Märchen auseinander, in welcher er auch Blaubart richtete Anglistik und durch psychologische Stu- ein Kapitel widmet, und spezifisch mit dem Phä- dien weiter verstärkt. nomen von Bosheit und Hass Jean-Albert Mey- Ebenfalls in der Erzählforschung gab es mit nard in Le complexe de Barbe-Bleue (2006).243 Zu der Genrekritik in dieser Zeit eine Neuorientie- erwähnen ist auch die den weiblichen Charakter rung, an der sich ab den 1980er Jahren besonders erforschende MonografieWomen Who Run With amerikanische Germanisten wie Tatar oder Zi- the Wolves (1992) von Clarissa Pinkola Estés, in pes orientierten, welche ihrerseits für die Blau- welcher «Blaubart» als allgemeines Sinnbild für die bart-Anthologien von Suhrbier (1984) und später Konfrontation mit zerstörerischen Kräften inter- Heiner (2011) vorbildlich wurden. In den 1990er pretiert wird, welcher die Frau durch Einsicht in Jahren orientierte sich die Romanistik dann eher die Abgründe ihrer Seele gewahr wird.244 Es zeigt weiterhin an der Motivforschung, die deutsch- sich, dass die psychologische Auseinandersetzung sprachige Germanistik stärker komparatistisch-li- mit Blaubart in der Rezeption eine wichtige Rolle teraturwissenschaftlich, und die Anglistik weitete spielt, doch entfernt sich diese oft von der Erzäh- tendenziell die feministische Perspektive postmo- lung selbst und operiert mit allgemeinen Motiven dern aus. und Symbolen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Studien in den verschiedenen Disziplinen viel zur analytischen Perspektive auf Märchen und zu de- ren Präsenz in der Forschung beigetragen haben. 240 Susan McClary 1991, S. 3. Eine für verschiedene Genres und Medien offene 241 Vgl. Barz 1987; Bettelheim 1976, S. 299–303. 242 Vgl. Kast 1978; Jung 2002. Erforschung von Märchen hat sich etabliert, und 243 Vgl. Mallet 1985, S. 189–212; Meynard 2006. gerade Blaubart erfuhr eine hohe Präsenz im wis- 244 Vgl. Estés 1992. senschaftlichen Diskurs, dies besonders im eng- Forschung zu Blaubart 43 lischsprachigen Raum. Dabei dominiert eine Per- spektive, die auf Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern oder individuell interessierte psychologische Lesarten fokusiert. Offensicht- lich sind deutschsprachige Adaptionen ein bevor- zugtes Terrain der Blaubart-Forschung, und die Erzählung wird trotz der französischen Herkunft stark mit dem deutschen Sprachraum in Verbin- dung gebracht. Ein Rückblick auf die Forschung zu Blau- bart zeugt aber auch von der Schwierigkeit über bestimmte Grenzen hinaus zu forschen. So wird beispielsweise vermutlich rein wegen Sprachpro- blemen in anderen als französischen Texten meist nicht diskutiert, inwiefern Perrault Darmancour als legitimer Autor bezeichnet werden sollte. Die Grenzen zwischen den Disziplinen, anhand derer das Kapitel aufgeteilt wurde, sind zwar noch exis- tent, gehen aber oft in einer multidisziplinären Forschung auf. Jedoch werden gerade in solchen Ansätzen Genre- und Mediengrenzen stärker sichtbar; das Erzählen in der Oper, im Spielfilm, im Hörspiel und anderen Medien folgt eben je- weils anderen Bedingungen. Eine besondere Herausforderung stellt bei Blaubart die Zuordnung zum Genre des Mär- chens dar. Komparatistische Forschung im Be- reich Märchen sieht sich mit religiösen, symbo- listischen, tiefenpsychologischen, ja sogar ethno-, sozial- und geschlechterhistorischen Behauptun- gen konfrontiert, die auch stoffbedingt sind und denen deshalb nicht ausgewichen werden kann. Die Spezifität von Blaubart als grundsätzlich harmloser, unverdächtiger und sehr populärer Stoff nährt sich von solchen Bezügen. Es stellt eine besondere Herausforderung dar, diese oft impliziten Lesarten mitzudenken, und doch die eigentlichen Manifestationen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu rücken. 44

Abb. 2: Boulotte und Blaubart in Blaubart von Jacques Offenbach, Regie Walter Felsenstein, Komische Oper Berlin 1963. Foto: Willy Saeger Stand der Forschung 45

Stoffgeschichte von Blaubart Dabei interessiert der Stoff als einer, der veröffent- licht wurde. Die Frage der Schöpfung wird nicht Das folgende Kapitel gibt einen Einblick in die geklärt, auch nicht die Frage nach einem mögli- Erzählung La Barbe bleüe, wie sie Perrault publi- chen mündlichen Primat bei der Überlieferung ziert hat, und danach einen Überblick zur deren von Märchen, sondern es wird komparatistische Weiterschreibung. Der Überblick zu Versionen und quellenkritische Arbeit geleistet. Die gewähl- von Blaubart in verschiedenen künstlerischen ten Versionen gehören zu verschiedenen Genres Disziplinen, Medien, Epochen, Ländern und und künstlerischen Disziplinen, unterschiedli- Sprachregionen zeichnet nach, wie diese Erzäh- chen Epochen und Sprachen. Im jeweiligen Um- lung neu und weitergeschrieben wurde, eine große feld benutzten die Autoren unterschiedliche Stra- Bandbreite an Lesarten entwickelte und so ganz tegien der Öffentlichmachung. Auch wählten sie unterschiedliche gesellschaftliche Fragestellungen verschiedene Arten von Autorschaft und rückten berühren konnte. Die Abschnitte zu den Weiter- sich selber unterschiedlich ins Licht – indem sie schreibungen vertiefen in thematischer Reihen- anonym blieben, ein Pseudonym wählten oder im folge politische, orientalistische, humoristische Gegenteil ihre Autorschaft besonders betonten. und national angepasste Varianten, zeigen wie Im Mittelpunkt steht die inhaltliche Debatte «Blaubart» zu einer Metapher des Serienmörders zur Erzählung; formale und technische Aspekte wurde, wie die Erzählung im deutschen und fran- werden beachtet, wenn sie für die Rezeption einer zösischen Kontext umgenutzt wurde, wie die Bio- bestimmten Version von Wichtigkeit sind. Nicht grafie von Gilles de Rais sich mit der Erzählung eine vollständige Genealogie oder eine quantita- vermischte, wie Blaubart zu einer Leidensfigur tive Analyse der Erzählung stehen hier zur Dis- der Männlichkeit wurde, zu einer Beziehungsko- kussion, sondern es wird an Fallbeispielen aus der mödie, zu einer Detektivgeschichte, und endlich, großen Fülle von existierenden Blaubart-Erzäh- wie Blaubart als Beziehungsgeschichte privatisiert lungen gezeigt, wie in den verschiedenen Epo- und als Problem für jeden Mann und jede Frau chen unterschiedliche Genres, Medien, aber auch gelesen werden konnte. Inhalte und Ideen dominierten. Wichtig beim Den Ausgangspunkt bildet die Erzählung La quellenkritischen Vorgehen ist die Begrenzung Barbe bleüe von 1697, die als erste Version dieser auf Adaptionen, die eindeutige Blaubart-Referen- Erzählung gilt. Sie wird meist Charles Perrault zu- zen enthalten. geschrieben, es zeigt sich aber im folgenden Ab- Erzählungen, die zwar von Blaubart Hand- schnitt, dass richtigerweise (auch) sein Sohn Pierre lungsstränge oder Motive enthalten, aber nicht Perrault Darmancour als Autor genannt werden als Blaubart-Versionen inszeniert oder wahrge- sollte. Von dieser Erzählung gehen alle Weiter- nommen werden, stehen nicht im Mittelpunkt, entwicklungen von Blaubart aus – so verschieden, können aber als richtungsweisende Vorlage, Scha- ja gegensätzlich diese sein mögen. Die Mehrdeu- blone oder Motiv erwähnt werden. So ist auch die tigkeit und Ambivalenz in Perraults Erzählung Abgrenzung zu ähnlichen anderen Geschichten macht dies möglich, sie hält den Neuinterpreta- klar: Blaubart ist kein Lustmörder, keine Schwar- tionen stand, die die Neuschreibungen mit sich ze Witwe, kein Kindermörder, kein Menschen- bringen. Die Adaptionen enthalten jeweils neu- fresser, kein genialer Serienmörder, kein Hecken- artige oder noch unerklärte Aspekte von Blaubart, schütze, keine Gottesanbeterin, kein Don Juan. es werden einzelne Motive, Handlungen, Figuren Seine Frau ist keine Judith, keine Ariane, keine anders gewertet, hinzugenommen oder weggelas- Lulu, keine Detektivin. Aber all diese Aspekte sen, und es zeigen sich neue Ideen und Lesarten. können in den besprochenen Versionen vorkom- Einige dieser Versionen wurden selbst wiederholt men und diese entsprechend prägen. zur Vorlage für Weiterschreibungen und prägten so selbst die Erzählung Blaubart. 46 Stand der Forschung

1697 als «P. Darmancour» genannte Pierre Per- La Barbe bleüe, Perrault, 1697 rault Darmancour (1678–1700) war das jüngste Kind von Charles Perrault. Er erhielt seinen Bein- Das Manuskript, in welchem La Barbe bleüe und amen («d’Armancour») mit dem Kauf eines Land- vier weitere illustrierte Erzählungen enthalten guts durch seinen Vater, wie Soriano beschreibt: sind, ist auf 1695 datiert.245 Publiziert wurde die «Charles Perrault retrouve au manoir son troisiè- Erzählung La Barbe bleüe 1697 im Namen von me fils, Pierre, pour lequel il envisage d’acheter Pierre Perrault Darmancour mit sieben contes in un domaine. C’est en effet l’usage, dans les fa- Histoires ou Contes du temps passé.246 milles bourgeoises, que l’aîné garde le patronyme, Synopsis: In La Barbe bleüe will ein wohlha- le cadet prenant un nom de terre.»248 Schon bald bender Mann mit einem erschreckenden blauen nachdem die Histoires ou Contes du temps passé Bart eine der Töchter einer «Dame de qualité» der erschienen waren, tötete Perrault Darmancour Nachbarschaft heiraten. Er überlässt ihr die Wahl, einen Nachbarsjungen im Duell, was Charles welche der beiden sie ihm geben wolle. Schließ- Perrault zu hohen Zahlungen an dessen Mutter lich willigt eine der Töchter ein. Er erlaubt ihr verpflichtete. 1700 trat Perrault Darmancour als nach der Hochzeit alles zu tun, was ihr beliebt, Leutnant im Regiment des Dauphin eine Militär- doch darf sie nicht die Tür zu einer bestimmten karriere an, wurde aber noch im selben Jahr bei Kammer öffnen. Dies tut sie in seiner Abwesen- einem Gefecht getötet. heit dennoch. In der Kammer sieht sie mehrere Charles Perrault (1628–1703), der Vater von Körper von toten Frauen – seiner Frauen –, und Perrault Darmancour, wurde 1628 als jüngster der Schlüssel fällt ihr aus der Hand und auf den von vier Brüdern in Paris in eine wohlhabende Boden, wo er mit Blut befleckt wird. Dieses Blut und jansenistisch-christlich orientierte Familie ge- lässt sich nicht mehr abwischen, der Schlüssel boren. Er machte im Staatsdienst Karriere, war ab ist «fée», verzaubert. Ihr Ehemann entdeckt den 1667 «contrôleur général des bâtiments et jardins, Ungehorsam und will sie töten. In ihrer Verzweif- arts et manufactures de France» und gehörte lung bittet sie um eine Frist zu beten und bittet 1671 bis 1680 auch der Académie française an.249 stattdessen ihre (plötzlich anwesende) Schwester, Nach dem Tod seines Schirmherrn Jean-Bap- ihre Brüder zu rufen: «Anne, ma sœur Anne, ne tiste Colbert 1683 wurde Perrault abrupt seiner vois-tu rien venir?», und Anne antwortet: «Je ne Ämter enthoben. Zuvor hatten er und (die erst vois rien que le soleil qui poudroie, et l’herbe 19-jährige) Marie Guichon 1672 geheiratet und qui verdoie.»247 Sie hört also gleichsam «das Gras zusammen vier Kinder gezeugt, sie verstarb 1678. wachsen». Endlich sieht sie die Brüder doch, die Nach seinem Austritt aus dem Staatsdienst 1683 in letzter Minute das Haus von «La Barbe bleüe» kümmerte sich Charles Perrault persönlich um stürmen und ihn töten. Sie stellen fest, dass Bar- die Ausbildung seiner drei Söhne und arbeitete be bleüe keine Erben hat, und so erbt seine Wit- daneben als Autor. Er verstarb wenige Jahre nach we die ganzen Güter und heiratet einen anderen seinem Sohn Perrault Darmancour. Mann. In der Hochblüte der contes um 1700 wurden Der im Manuskript von 1695 mit «P. P.» als sie am königlichen Hof in Versailles in verschie- Autor angedeutete und in der Erstausgabe von denen Salons erzählt, in denen auch Charles Per- rault verkehrte.250 Die erwähnte Studie von Seifert 245 Vgl. Perrault 1956. zeigt, wie diese Mode den Autorinnen erlaubte, 246 Vgl. Perrault 1697 und 1929. In der vorangehenden der sonst restriktiv patriarchalen Literatur eine Grafik stehen über der Abbildung mit vier Leuten und einer Katze oberhalb im Bild die gerahmten Worte «Contes de ma mere l’oye», was oft auch als Titel ver- 248 Soriano 1991, S. 22. wendet wird. 249 Collinet 1981, S. 10. 247 Perrault 1697, S. 75. 250 Vgl. Storer 1972; Dammann 1979. Stoffgeschichte von Blaubart 47 weibliche Sicht entgegenzustellen.251 So wurden statten ging, versucht Jean-Pierre Collinet zu be- von Marie-Jeanne L’Héritier de Villandon, Ma- schreiben: rie-Catherine d’Aulnoy und anderen Autorinnen bald Bände mit Märchenerzählungen veröffent- Charles Perrault […] a commencé par les conter à licht. Im Sinn einer künstlerischen Verfeinerung ses enfants. Ils ont ensuite servi de thème à Pierre wurden diese «Contes naïfs», wie L’Héritier sie qui les a recueillis et couchés sur le papier […]. nennt, oft in Reimform erzählt und stark ausge- L’idée germe alors d’une publication, sous le nom schmückt. 252 du fils, à partir de son travail, mais non sans une Im Gegensatz dazu sind Perraults Histoires ou révision du père. Le texte que nous connaissons […] Contes du temps passé von 1697 in einer schlichter résulterait donc d’une souple collaboration.256 und weniger distinguiert wirkenden Prosaform gehalten, und es ist die Kürze und allgemeine Die Anthologie wird so als Kollaboration von Verständlichkeit, welche möglicherweise einen Vater und Sohn dargestellt. In der Ausgabe von wichtigen Grund für ihre nachhaltige Verbreitung 1697 erklärt Perrault Darmancour sein Interesse bildete. Zu dieser Zeit galt diese Sprachwahl als für die Märchen, die er einer Nichte von Louis ungewöhnlich und wird schon 1696 von L’Héri- XIV widmet: «On ne trouvera pas étrange qu’un tier, welche offenbar das Manuskript von 1695 Enfant ait pris plaisir à composer les contes de ce schon kannte, als Vorbild gepriesen. Sie widmet Recüeil».257 Er erklärt, dass diese Publikation der die erste Erzählung Marmoisan, ou l’innocente contes nicht «blamable» sei, denn: tromperie der Schwester von Perrault Darman- cour und hofft, dass «cette Fable est digne d’estre Ils renferment tous une Morale trés – sensée, & qui placée dans son agreable recueil de Contes».253 se decouvre plus ou moins, selon le degré de péné- So erzählt sie ihre nouvelle ebenfalls in Prosa und tration de ceux qui les lisent; d’ailleurs comme rien fügt, wie Perrault, eine moralité in Versform an. ne marque tant la vaste estenduë d’un esprit, que de Die Ausführungen von L’Héritier gelten auch als pouvoir s’élever en même temps aux plus grandes Zeugnis dafür, dass Charles Perrault in seinem choses, & s’abaisser aux plus petites258 Unterricht Märchenstoffe benutzt hatte, wie sie in ihrer Beschreibung seiner «belle éducation» er- Am Ende der Ausgabe wird durch den «Privilè- wähnt: «on tomba sur les contes naïfs qu’un de ses ge du roi» vom 26. Oktober 1696 die Ausgabe jeunes élèves a mis depuis peu sur le papier avec des «Sieur P. Darmancour» gebilligt und dessen tant d’agrément.»254 Die contes wurden aber auch Druck im Verlag von Barbin am 11. Januar 1697 bei den Perraults nicht einfach wiedergegeben, bestätigt.259 Da dies die einzige Publikation von sondern ebenfalls modelliert. Laut Soriano be- Perrault Darmancour bleiben sollte, wurde zwar stand Charles Perrault beispielsweise «sur l’aspect das Bändchen selber berühmt, seinem jung ver- moral et religieux des contes» und wollte so die storbener Autor blieb aber die Anerkennung ver- Märchen aus dem volkstümlichen Rahmen lösen: sagt. Auch wenn der Anteil von Charles Perrault «Il est amené à opposer les contes païens – jugés an der Autorschaft der contes kein geringer sein immoraux et incompréhensibles – à ceux de notre dürfte, ist doch anzunehmen, dass es ihm ein terroir, présentés comme moraux et religieux.»255 wichtiges Anliegen war, seinen Sohn durch das Wie die Niederschrift der Histoires ou Contes Märchenbändchen als belesenen und interessier- du temps passé innerhalb der Familie Perrault von ten jungen Mann in die intellektuellen Kreise, zu- mindest diejenigen der Märchensalons, einzufüh- 251 Vgl. Seifert 1996. 252 L’Héritier de Villandon 1696b, S. 4. 256 Collinet 1981, S. 29. 253 Ebd., S. 5f. 257 Perrault 1697, Epitre, o.S. 254 Ebd., S. 3f. 258 Ebd. 255 Soriano 1991, S. 27, S. 33. 259 Ebd., Extrait du Privilége du Roy, o.S. 48 Stand der Forschung ren – Perrault Darmancour musste also zumindest Charles Perrault alleine veröffentlichte verschiede- eloquent über seine contes berichtet haben kön- ne contes en vers, dies waren etwa 1691 La marqui- nen. So fragt Soriano schon für das Manuskript se de Sallusses ou la patience de Griselidis, 1693 Les von 1695, welches Perrault Darmancour «Made- Souhaits ridicules und 1694 Peau d’Âne.265 Mär- moiselle» widmete und so an Élisabeth Charlotte chen in Prosaform veröffentlichte er unter seinem d’Orléans adressierte, eine Nichte von Louis XIV, Namen keine. Zu Lebzeiten war er berühmt für die nur zwei Jahre älter als er war: «La jeune prin- seine Streitschriften und Gedichte. So galt er cesse va-t-elle se laisser convaincre et choisir Pierre als bekennender Befürworter der Moderne und comme secrétaire?» 260 hatte am Hof öffentlich die Taten des Sonnen- Der ersten Ausgabe bei Barbin folgte im glei- königs Louis XIV als gleichwertig mit dem Kos- chen Jahr eine zweite mit leichten Korrekturen mos der Antike bezeichnet und somit gleichsam und Nachdrucke in Holland, zwei noch 1697 eine Entthronung der Antike verlangt, was eine und einer 1698, wie Mary Elizabeth Storer 1928 «Querelle des anciens et des modernes» auslös- schreibt.261 1707 und 1724 wurden sie wieder te.266 Der Streit war in Frankreich angesichts der gedruckt, in letzterer Ausgabe erscheint erstmals naturwissenschaftlichen Entdeckungen und der Charles Perrault als Autor, oder, wie Soriano durch René Descartes und Blaise Pascal herbeige- präzisiert, er wird neben Perrault Darmancour führten Wende im 17. Jahrhundert aufgeflammt genannt.262 Robert Sambers eigentlich exakte und spaltete schließlich die namhaftesten Geister Übersetzung ins Englische von 1729 richtete sich der Epoche in zwei Lager, in die Anhänger einer nach dieser Ausgabe von 1724, nannte nur noch «antiken» und die Anhänger einer «modernen» Charles Perrault als Autor und festigte diese Auf- kulturellen Dominanz. Perraults Haltung lässt fassung im englischen Sprachraum. Soriano führt sich laut Soriano jansenistisch-christlich begrün- diese Entwicklung detailliert aus, fügt aber noch den: «le christianisme représente un progrès déci- eine Wendung hinzu: «Les contes attribués à Per- sif; enseigner et diffuser les errements antiques, rault sont une adaptation, c’est-à-dire une élabora- c’est affaiblir la religion et finalement menacer tion savante de contes de voie orale, je crois l’avoir la cohésion de l’Etat.»267 Soriano erwähnt auch, montré ou avoir essayé de le montrer.»263 Collinet dass Perraults Einsatz für die Moderne in den folgt Sorianos Beweisführung der Autorschaft «Querelles des anciens et des modernes» mögli- von Perrault Darmancour, übernimmt aber auch cherweise durch die Märchenmode gestärkt wur- die Idee der Autorschaft durch den Volksmund: de: «Elle lui fournit un nouvel argument contre «il entre dans l’essence du conte de n’appartenir les épopées antiques, rapsodies de contes à dormir en propre à personne».264 Gilbert Rouger, Roger debout.»268 Philip Lewis wiederum sieht in Per- Zuber oder Jacques Barchilon übernehmen weder raults literarischen Arbeit vor allem eine «practice die eine noch die andere Schlussfolgerung, son- of compromise formation» und dadurch eine Do- dern weisen weiterhin auf den Vater als rechtmä- mestizierung des zeitgenössischen literarischen ßigen Autor hin. Durch die hier nicht abschlie- Schaffens: «Through this practice, Perrault dome- ßend klärbare Verteilung der Autorschaft auf den sticates – mutes, recuperates, reappropriates – the «Volksmund», Vater oder Sohn Perrault, werden original, radical, rigorous concepts he encounters der Einfachheit halber Vater und Sohn gemein- sam als Autoren genannt, mit dem Kürzel «Per- rault». 265 Hierbei folge ich Soriano 1980, S. 494f.; darin sind auch die Erzählungen von Charles Perrault: Griselidis, S. 191– 260 Soriano 1991, S. 24. 217; Les Souhaits ridicules, S. 237–241; Peau d’Âne, 261 Vgl. Storer 1972, S. 93. S. 221–236. 262 Vgl. ebd., S. 93, S. 96; Soriano 1980, S. 35. 266 Vgl. Perrault 1688. 263 Soriano 1980, S. XIV. 267 Soriano 1991, S. 33. 264 Collinet 1981, S. 30. 268 Ebd., S. 22. Stoffgeschichte von Blaubart 49 in other writers of his century».269 Lewis sieht Per- wählte Genre wird erst in einer zweiten Morali- rault nämlich als «the veritable founder of modern tät, die im Manuskript noch nicht vorhanden ist, French literary history».270 verwirrend-zweideutig ins Spiel gebracht: «On In der Nachwelt gilt Charles Perrault als der voit bien-tost que cette histoire / Est un conte du berühmte Autor der contes de fées von 1697. Seine temps passé».272 Da La Barbe bleüe sich somit als postume Verschiebung von einem politischen zu «histoire» wie als «conte» lesen lässt, wird es hier einem Märchenautor ist eindrücklich. Man kann schlicht als Erzählung eingeordnet. sich rückblickend fragen, ob mit dieser Verschie- Viele Aspekte von La Barbe bleüe faszinieren, bung eine Entschärfung von Perrault als poli- beschäftigen und verstören: Da ist die zwiespäl- tisch-kulturellem Autor des «guten Geschmacks» tige Rolle der zwei Ehen der Heldin. Es ist ihre und moralischem Verfechter von kulturellen Ehe mit Blaubart, die das Grauen einleitet und Wertfragen einherging. Die contes de fées, die ja die die Unterdrückungsmechanismen und die da- zumindest bezüglich der Autorschaft als weniger rin nicht geahndeten Verbrechen zeigt. Die zweite «wichtig» behandelt wurden, galten möglicher- Ehe am Ende der Erzählung lenkt eigentlich vom weise auch inhaltlich als weniger gewichtig. Auf Grauen ab, erinnert aber gerade dadurch wieder jeden Fall verschob sich der Ruf von Perrault in daran. Die fatalen gegenseitigen Phantasien schei- einer Weise, die er bestimmt nicht beabsichtigt nen unlösbar: Sein Verdacht auf ihre Untreue und hatte. Dennoch entsprachen die contes seiner ihre Neugierde auf sein Geheimnis. Typisch wirkt Überzeugung und seiner nicht nur christlichen, auch die Konstellation, dass sich ein älterer ver- sondern auch seiner patriotischen Haltung für ein mögender und bärtiger Mann eine junge und gut- prosperierendes und sich modernisierendes abso- aussehende ärmere Frau sucht, – sein Bart macht lutistisches Frankreich. ihn dabei gleichzeitig auffällig und weist auf eine Anders als bei den sonst damals publizierten Abweichung von der Norm hin. Symbolhaft wirkt contes wird in Histoires ou Contes du temps passé der Schlüssel und schrecklich die dadurch geöff- nicht nur auf die Reimform, sondern auch auf nete Kammer mit den geschlossenen Fensterläden jegliche Sentimentalität verzichtet. Perrault er- und den darin enthaltenen Leichen. Gleichzeitig zählt kurz und verständlich, mit einem lakoni- erzählt Perrault La Barbe bleüe in einem unter- schen und bisweilen etwas grob-ironischen Un- haltsamen, verspielt-ironischen Ton und gespickt terton. Die Erzählungen sind mit reflektierendem mit modischen Hinweisen, etwa auf die schönen und eigenwilligem Humor versehen, wie Volker Gobelins, und untermalt seine Geschichte mit Klotz betont: zweideutiger Moral und Schauereffekten. La Barbe bleüe entspricht dem königlichen Perrault erzählt zwar das gleiche Geschehen, aber Programm. So war es am Hof von Louis XIV etwa doch auf eine ganz andere Art: indem er die wun- ab 1680 allgemein verpönt, Bärte zu tragen. Der derbaren Verhältnisse nicht selbstverständlich, son- Bart wurde als rückständig eingestuft, à la mode dern verwundert aufnimmt und weiterreicht. Im war das bartfreie Gesicht, so wird es auf jeden Ton gedämpfter Belustigung, verspielter Altklug- Fall in der von Johann Samuel Ersch und Johann heit und merklich scheinnaivem Interesses an der Gottfried Gruber herausgegebenen Allgemeinen Naivität.271 Enzyklopädie der Wissenschaften und der Künste (1818–1889) beschrieben: Im Gegensatz zum Manuskript von 1695 ist La Barbe bleüe in der Erstausgabe von 1697 als ein- Unter Ludwig XIV. gegen das J. 1680 verschwand zige Erzählung nicht als conte untertitelt. Das ge- endlich der Bart ganz aus dem Gebiet der Mode,

269 Lewis 1996, S. 1. und so auch, mit Einführung der französ. Mode 270 Ebd. 271 Klotz 2002, S. 73. 272 Perrault 1697, S. 82. 50 Stand der Forschung

und Sitte, fast in ganz Europa, und man duldete, ches im Hintergrund zu sehen ist und durchaus außer dem willkürlich getragenen Backenbarte, seit einem städtischen «Hôtel» mit mehreren Hausflü- jener Zeit, nur noch an Soldaten und Bedienten geln entsprechen könnte. Etwas Anderes sagt aber (Kutschern, Reitknechten und Schweizern) einen die rechte Hälfte der Abbildung, auf welcher zwei mäßigen Knebelbart.273 Reiter über eine runtergelassene Zugbrücke durch das Tor einer Burg preschen, auf deren Turm Sœur Nicht nur sein Bart wirkt unmodisch, auch seine Anne zu erkennen ist.276 Den Brüdern der beiden Ansichten erscheinen veraltet. So beschreibt ihn Frauen wurde die Türe geöffnet («on ouvrit»), sie Jürgen Wertheimer 1999 in Don Juan und Blau- können geradewegs auf Barbe bleüe zustürmen bart gewissermaßen als Vertreter einer überholten und ihn töten. Der Text unterscheidet sich so vom Zeit: Bild, mehr noch, das Bild suggeriert eine Lesart, in welcher Barbe bleüe sich als Burgherren zeigt, Es ist, als ob hier nicht nur zwei Welten, sondern wie er im Text so gar nicht beschrieben wird. auch zwei völlig unterschiedliche Zeitschichten auf- Schon in der Version von 1695 findet sich die- einanderträfen. Die Frau, das Opfer, erscheint zeit- se Abbildung, mit dem Unterschied, dass Barbe genössisch, während der Täter, Conquistador und bleüe dort nicht so alt und rückständig aussieht, Raubritter in einem, den Typus einer atavistischen wie 1697, sondern durchaus attraktiv und zeitge- Herrschaftsform verkörpert.274 mäß.277 Als Burgherr wäre Barbe bleüe nun doch eher adelig, und, wenn seine Nachbarin ebenfalls Ausgerechnet zwei Soldaten, die vermutlich im in einem vergleichbaren Haus wohnt, wohl auch Dienst des Königs sind, ein Dragoner (Reitsol- sie. In jedem Fall spielt sich die Geschichte im dat auf leichterem Pferd) und ein Musketier (mit großbürgerlichen Milieu ab, wenn der Adel, wie einer Muskete bewaffneter Fußsoldat), töten «La er in Versailles gepflegt wurde, zu dieser Kategorie Barbe bleüe». Sie stürmen sein Haus und setzen gezählt werden soll. eine neue Weltanschauung durch. Zwar war Ver- Das Handeln von Barbe bleüe erscheint me- sailles königlich, doch innerhalb dieser Grenzen chanisch und gleichzeitig dämonisch und mons- entwickelte sich im Kontrast zum mittelalterli- trös. Er scheint keinerlei Vertrauen zu haben und chen Adel ein neuzeitliches Bürgertum. In dieser sich trotzdem einem Glauben zu unterwerfen und Lesart ermöglicht am Ende der Erzählung der Ideale zu verteidigen. Auch inszeniert er sich als Sieg der königlichen Soldaten eine abschließende der letzte Überlebende seiner Art. Seiner redu- Heirat aus (bürgerlicher) Liebe statt aus (mittel- zierten Macht ist er sich offenbar bewusst und er alterlichem) Ständezwang. weiß, dass sein Einfluss nicht über die Türe seines Weder bei Barbe bleüe noch bei der Mutter Stadthauses (oder seiner Schlossmauern) hinaus- seiner letzten Frau wird deren Stand festgelegt, geht. So nimmt er die Exekutionen im Hof sei- er gilt als «homme qui avoit de belles maisons à nes Hauses vor. Er vernichtet die Leichen nicht, la Ville & à la Campagne» und sie als «Dame de sondern versteckt sie in einer Kammer. Hätte er qualité», was bei beiden eher eine kulturell-ma- reguläre Macht, würde er vielleicht die Hinrich- terielle Distinguiertheit vermuten lässt als adeli- tungen auf dem Dorfplatz vollziehen und würde ges Blut.275 Die Abbildung am Textbeginn bleibt dann an die bei Michel Foucault beschriebene ebenfalls vage, der linke Teil der Abbildung be- performativ-öffentliche Hinrichtungspraxis im stärkt die Beschreibung im Text: Barbe bleüe ist Ancien Régime erinnern.278 Blaubart hinterfragt gerade dabei, die Hinrichtung seiner Frau vorzu- sein Tun nie, sondern scheint fest von seiner Vor- nehmen, vermutlich im Hof seines Hauses, wel- gehensweise überzeugt zu sein und sagt seiner

273 Ersch und Gruber 1969–1992, S. 437. 276 Vgl. ebd., S. 57. 274 Wertheimer 1999, S. 141. 277 Perrault 1956, Band 2, o.S. 275 Perrault 1697, S. 57f. 278 Vgl. Foucault 1977, besonders S. 9–14. Stoffgeschichte von Blaubart 51

Ehefrau: «Il faut mourir, Madame, luy dit il, & Mit dem Hinweis auf die Fatalität des Heiratens toute à l’heure.»279 spricht Perrault einen wunden Punkt an. Die Ehe Das Verhalten von Barbe bleüe unterscheidet wird in La Barbe bleüe gleichsam als erzieherisches sich in mehrfacher Hinsicht von der bis im 18. Gefängnis dargestellt. So passt die Erzählung Jahrhundert gängigen «peinlichen Strafe». Er ist doch nicht gänzlich in den durchorganisierten weder König noch Richter, hat nicht das Recht, Staat absolutistischer Prägung, sie lässt in beson- das Maß der Strafe festzulegen und die Bestrafung derem Maße Widersprüche zu, die nicht Nach- auszuführen. Er zieht kein Gericht heran, um sein lässigkeit, sondern viel eher ironische Absicht er- Tun zu rechtfertigen, auch keinen Vertreter der kennen lassen. Dadurch gibt La Barbe bleüe auch Kirche. Innerhalb der Grenzen seiner Mauern ist den Blick frei auf Unordnung und Unsinnigkeit. er der Regent, aber nur scheinbar. Möglicherwei- Insbesondere der Schluss der Erzählung fällt dies- se ist er sich der Probleme bewusst, die bei der bezüglich auf, an welchem nicht die männliche im Ancien Régime üblichen Zurschaustellung der Gewalt gerügt, sondern in der moralité unverhofft Hinrichtung für ihn entstehen könnten. In der suggeriert wird, die Frau habe durch ihre weib- Scheinhaftigkeit seiner Macht liegt sein Fehler liche Neugier sündig und damit selbstverschuldet und die Rechtfertigung der Brüder der Ehefrau seine Reaktion provoziert: für ihre Selbstjustiz. Diese Tatsachen geben dem Handlungsverlauf in La Barbe bleüe ein akzen- La curiosité malgré tous ses attraits, tuiert modernes Gepräge. Er sieht sich als Voll- Couste souvent bien des regrets; strecker seiner Taten, nicht aber als schuldig eines On en voit tous les jours mille exemples paroistre, Verbrechens. Aus der Sicht der Rechtssprechung C’est n’endeplaise au sexe, un plaisir bien leger, ist er ein Serienmörder, Täter, Krimineller. Viel- Dés qu’on le prend il cesse d’estre, leicht würde seine noch vorhandene Macht die Et toûjours il coustre trop cher.280 Verurteilung durch ein reguläres Gericht verhin- dern, doch er wird vor Ort hingerichtet, ohne sich Dieses Fazit ist nicht sinnstiftend, sondern lässt verteidigen zu können. etliche Denkebenen und Betrachtungsweisen Ihm gegenüber stehen nicht nur die zwei Brü- zu. Für Menninghaus sind die Unstimmigkeiten der, sondern auch die beiden Schwestern. Sie sind offensichtlich, die Funktionen der Sinnstiftung in La Barbe bleüe Teil einer von Frauen geprägten oder einer praktischen Lehre gehen bei der mo- Welt. So sind nämlich Frauen, mit den Schwes- ralité verloren: tern und ihrer Mutter, den zahlreichen Freundin- nen und Nachbarinnen und den Getöteten im Die moralité wird zur moralité von der Überflüssig- Kabinett durchaus in der Mehrzahl. Die Szenerie keit des récit, der keine relevante Lehre mehr trans- ist von Frauen dominiert, die sich von materiellen portiert. Die Lehre entleert den Text, dessen Sinn und oberflächlichen Interessen leiten lassen. Ih- sie etablieren soll. Das – hier vollends ironische – nen gegenüber steht ein Einzelgänger, der seinen Supplement der Erzählung supplementiert nicht Extremismus sogar über seinen Besitz stellt, der das Fehlen eines durchgängigen Sinnzusammen- sie fasziniert, vor dem sie sich fürchten, und der hangs, sondern arbeitet mit an dessen Entzug und mehrere von ihnen heiratet und tötet. Erst den Fragmentierung.281 beiden anderen Männern gelingt es, ihn zu töten, so seine faszinierende Bedrohung zu brechen und Anstatt den vielleicht verborgenen oder mangeln- der letzten Ehefrau das materielle Glück und eine den Sinn zu erbringen, entziehen die «tückischen zweite Ehe zu bringen. Supplemente» den «fehlenden Sinn vollends».282

279 Perrault 1697, S. 72f. 280 Ebd., S. 81. 281 Menninghaus 1995, S. 91. 282 Ebd., S. 119. 52 Stand der Forschung

Vor diesem Hintergrund verändert sich auch der eben auf grausame Weise reflektiert werden. Dies Blick auf das «cabinet au bout de la grande gallerie entspricht der intertextuellen Spiegelung, wie sie de l’appartement bas».283 In der Kammer finden Hermansson als generelle Qualität von La Barbe sich keine Spiegel «où l’on se voyoit depuis les bleüe beschreibt: «Its particular doubled structure pieds jusqu’à la teste», sondern «sang caillé», wel- and Bluebeard’s embedded serial murders indi- ches den ganzen Boden bedeckt, «dans lequel se cates a generic predisposition to narrative self-re- miroient les corps de plusieurs femmes mortes».284 flexivity even within the tale, suggesting another Diese toten Frauen erscheinen als das Einzige, an possible reason for its popularity as an intertextual dem Barbe bleüe selbst «Hand anlegte», und die mirror.»286 dadurch, im Gegensatz zu seinem Besitz in den Es stellt sich nun die Frage, ab wann die ab anderen Zimmern, keine Bewunderung, sondern 1697 breit publizierte Erzählung La Barbe bleüe unermessliche Angst auslösen. Nach den Spiegeln, sich verselbständigte, eine eigenständige Rezep- von denen sich die «voisines & les bonnes amies» tion generieren konnte, und wie sich diese in gro- blenden lassen («Elles ne cessoient d’exagerer & ben Zügen bis in die Gegenwart entwickelte. d’envier le bonheur de leur amie»), hält das Blut am Boden der Frau in der Kammer gleichsam den Spiegel vor, konfrontiert sie nicht nur mit der Pantomime, Satire, Arabeske grausamen Wahrheit ihrer Ehe, sondern auch mit einer vernichtenden Zukunftsaussicht.285 Die erste überlieferte Aufführung von Blaubart Abgesondert von der lärmigen Zerstreuung findet sich in der PantomimeLa Barbebleüe von der einen Frauen in den angesammelten Gütern Adrien-Joseph le Valois d’Orville (ca. 1715– von Barbe bleüe entdeckt die Heldin die anderen 1780), 1746 in Paris aufgeführt, mit Arlequin als Frauen im cabinet getötet, zum Schweigen ge- chef de mariniers (Leiter der Seeleute), Barbebleüe, bracht, in einer Reihe aufgehängt, als zynisches einer féés (sic!), zwei mariniers und zwei mariniè- Memento mori. Man kommt nicht umhin, den res (je zwei Schiffer und zwei Schifferinnen), vier Moment im Kabinett als grausamen Kommen- villageoises (Dorfbewohnern), einem notaire und tar zu lesen. Man möchte sogar behaupten, dass weiteren Schiffern und Dorfleuten.287 Die Adapti- sich der Autor als Vernichter der contes als Gen- on wirkt bereits klassisch, so dass nicht erstaunen re zu erkennen gibt. Perraults Auftritt in diesem würde, fänden sich noch frühere Aufführungen. Genre, welches besonders von Frauen erzählt und In Paris wurden darauf 1779 und 1780 weitere, diskutiert wurde, erscheint wie ein brutales Über- anonym verfasste Pantomimen mit Blaubart ge- trumpfen aller anderen, welche Märchen erzählen. zeigt.288 Eine erste dramatische Aufführung in Die Lust auf Spannung, Schauer, authentische Versen gab es offenbar 1766 in Paris, gefolgt 1782 Märchen und lebensechte Anekdoten aus dem von einer Aufführung von François-Martin Poul- familiären Umfeld wird hier durch aggressives tier d’Elmotte (1753–1826) am Hof des Schlosses Übermaß zum Schweigen gebracht. Die Frauen in Lunéville (FR).289 In der Pantomime und im in den Salons fanden sich in Perraults Erzählung in der Kammer getötet und ordentlich aufgereiht 286 Hermansson 2009, S. XVIII. 287 Vgl. Valois d’Orville 1746 (Manuskript); Uraufführung: – der durcheinanderwirbelnde und plauderhafte Paris, Théâtre de l’Opéra-Comique, 3. Juli 1746; er- Kontrollverlust des oralen Erzählguts sieht sich wähnt in Broadbent 1964, S. 204. abgestraft. Vielleicht ist deshalb La Barbe bleüe 288 Vgl. Chaouche 2013, L’Ambigu-comique 1779 (Manu- als einzige Erzählung der Anthologie von Perrault skript); (o.A.): Barbe bleue. Pantomime. Uraufführung: nicht mit contes untertitelt, weil in ihr die contes Paris, Théâtre des Elèves pour la danse de l’Opéra, 1. Januar 1780. 283 Perrault 1697, S. 62. 289 Vgl. Chaouche 2013; Delautel 1766 (Manuskript); Fran- 284 Ebd., S. 65–68. çois-Martin Poultier d’Elmotte: La Barbe-bleue. Urauf- 285 Ebd., S. 63, S. 65. führung: Cour à Lunéville, 1782. Stoffgeschichte von Blaubart 53

Abb. 3: Perrault: La Barbe bleüe, erste Seite im Manuskript von 1695. © Morgan Library, New York 54 Stand der Forschung

Abb. 4: Perrault: La Barbe bleüe, erste Seite in Histoires ou contes du temps passé (1697). © Bibliothèque na- tionale de France, Paris Stoffgeschichte von Blaubart 55

Theater als comédie-tragédie oder farce fand Blau- angesiedelt wird.295 Im selben Jahr publizierte bart in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Tieck auch den parodistischen Roman Die sieben so einen Platz im französischen Bühnenrepertoire, Weiber des Blaubart (1797), in welchem er seiner- und findet sich darauf auch im deutsch- und eng- seits die Durchdringung des Literaturbetriebs mit lischsprachigen Raum. Sinn und Moral kritisierte – und so eine eigen- Nachdem Perraults La Barbe bleüe 1729 auf ständige und doch arabeske Sekundärerzählung Englisch übersetzt wurde, findet sich Blaubart generiert, die vorgibt, den Grund für das Drama erstmals 1791 als eigenständige Pantomime, in von Tieck und die Erzählung Blaubart aufdecken Bluebeard, or, the Flight of Harlequin, uraufgeführt zu wollen.296 Ein Nachweis, dass diese oder an- am Theatre-Royal Covent Garden in London.290 dere dramatische Fassungen auf deutschsprachi- Laut Hermansson war die Pantomime ziemlich gen Bühnen aufgeführt wurden, fehlen für diese populär, und es traten darin Figuren wie Blue Zeit. Auffällig ist: Sie alle gehören zu komischen Beard, Harlequin, Haggard und Clown auf, aber Genres. es kamen auch neue Charaktere wie McCarney, Komische Bearbeitungen von Blaubart finden Bounce oder Swagger und sogar «hellish legions» sich ab dieser Zeit auch in burlesken Kasperl- dazu; orientalisierende Aspekte, die später die an- stücken, so in Blaubart (1859) von Franz Pocci, gelsächsische Rezeption dominieren, fehlten noch einem «furchtbaren Spektakelstück aus dem fins- ganz.291 teren Mittelalter», in welchem dem Kasperl die Als erste deutsche Übersetzung von Perraults Rolle zufällt, der Frau das Öffnen der Türe nahe- La Barbe bleüe gilt nach Hans-Jörg Uther eine an- zulegen.297 Pocci hatte zum Thema auch eine Er- onym redigierte zweisprachige Ausgabe der Mär- zählung und 1852 einen Bilderbogen geschaffen, chen von Perrault von 1761.292 Zuvor nahm die wie um 1868 auch Otto Brausewetter, der die weit bekanntere Übersetzung im ersten Band der Geschichte auf einem rund 40 x 30 Zentimeter Blauen Bibliothek aller Nationen von 1790 diesen großen Blatt kurz und prägnant in Bild und Text Rang ein.293 Als erste deutschsprachige Adaption wiedergibt.298 Mehrere Bilderbogen (um 1850 der Erzählung gilt ein Gedicht, nämlich die sati- bis 1900) publizierte die Imagerie Pellerin, etwa rische Romanze Blaubart von Friedrich Wilhelm mit der Histoire de la Barbe Bleue, der Nouvelle Gotter, 1772 im Göttinger Musenalmanach ver- Barbe-Bleue, als «Alphabet des enfants sages» und öffentlicht, und 1787 die deutsche Übersetzung der Histoire de Madame Barbe-Bleue.299 Ebenfalls der 1779 auf Französisch nur unter Freunden ver- in dieser Zeit entstand die Mode der Laterna Ma- öffentlichten SatireApostolische und theologische gica, bei der Blaubart meist in neun bis zwölf zu Kommentare über die heilige(n) Prophezeiungen projizierenden Glasbildern und einem Begleittext von St. N.N., Verfasser des Blaubart’s des preußi- erzählt wird.300 schen Königs Friedrich der Große, der darin die Die Satire wurde in Erzählungen weiterhin katholische Kirche kritisierte.294 Sie nähern sich gepflegt, etwa von William Makepeace Thacke- der Erzählung von Perrault beide über die Ironie. ray in Bluebeard’s Ghost (1843) oder in Barbazure Wenige Jahre später veröffentliche Ludwig Tieck (1847), in welchen Fatima nach dem Tod von Mr. das Drama Ritter Blaubart (1797), in welchem die Bluebeard zu Captain Blackbeard bzw. Romane Handlung der Erzählung dramatisch überspitzt und in einer mittelalterlich-deutschen Umgebung 295 Vgl. Tieck 1797a; in überarbeiteter Version publiziert in Tieck 1911. 290 Vgl. Reeve 1791; Uraufführung: London, Theatre-Royal 296 Vgl. Tieck 1797b; Hiltbrunner 2007. Covent Garden, 21. Dezember 1791. 297 Vgl. Pocci 1907. 291 Hermansson 2009, S. 57. 298 Vgl. Pocci 1989; Otto Brausewetter 1974. 292 Vgl. Perrault 1761; Uther 1993, S. 133. 299 Vgl. Imagerie Pellerin ca. 1850, ebd. ca. 1870, ebd. ca. 293 Vgl. Perrault 1790. 1880, ebd. ca. 1900. 294 Vgl. Gotter 1772; Friedrich der Große 1987. 300 Vgl. etwa Milikin & Lawley 1872; Indcol ca. 1920. 56 Stand der Forschung de Clos-Vougeot findet.301 Ebenfalls satirisch Bragaglia ist Blaubart ein werwolfartiges Unge- schreibt Alexander von Ungern-Sternberg seine tüm, konterkariert vom kleinen und ungeschick- Version von Blaubart (1850), in welcher Blau- ten Totò.309 Hans Carl Artmann publizierte 1956 bart als «der vollkommenste Kavalier» alle acht die zwei moritatenhaften Gedichte blauboad 1 Töchter eines Barons heiratet, zuletzt Suse, sie ist und 2 im Wiener Dialekt.310 «etwas konfuse».302 Sie alle haben in der verbote- Auch in neueren Adaptionen gibt es Parodien, nen Kammer sprechende Gegenstände gefunden, etwa in Bluebeard (1970) von Charles Ludlam.311 welche sich als falsche Haare, falsche Zähne und In dieser Groteske hat es Baron Khanazar von sogar falscher blauer Bart von Blaubart erweisen. Bluebeard auf einer Insel im Meer nicht geschafft, Da Suse das Glöckchen einer Fee dabeihat, kann ein drittes und perfektes Geschlecht zu kreieren. ihr Vater alarmiert werden, welcher mit Verwand- Und seine Frauen, die seine Versuchsobjekte sind, ten Blaubart richtet. rächen sich zusammen mit Bluebeards Helfer. Eine Parodie auf Richard Wagner und Blau- «Blaubart selbst ist dagegen zum missglückten Ex- bart verfasste Kate Douglas Wiggin in Bluebeard periment geworden», wie Nungesser feststellt.312 (1914), in welchem sie vorgab, eine scheinbar Auch als Kindergeschichte wird Blaubart weiter- frisch entdeckte Blaubart-Oper von Richard Wa- hin auf den Kopf gestellt, so etwa bei Roser Cap- gner erstmals vorzustellen, «dealing in the most devila und Mercè Company in Las Tres Mellizas unique and climacteric manner with feminism, tri- y los Cuentos Clasicos Barba Azul (1990).313 Die al marriage, bigamy and poligamy».303 Besonders Hexe Camonilla schickt die drei kleinen Schwes- das Element des «feminism» ist bemerkenswert, tern in die Burg von Blaubart. Dort beobachten so schreibt sie dann auch: «although women still sie seine Drohung gegenüber seiner Frau und be- have a strange and persistent fancy for marriage, treten mit ihr die verbotene Kammer, wo Blaubart they might sometimes avoid it if they realized that sie alle töten will. Doch da sie frech und selbstbe- a violent death were the price.»304 Als Episode mit wusst sind, kommt ihnen in der Not in den Sinn, Cartoon von Milt Gross findet sich Blaubart in dass dies alles Fiktion ist, und sie imaginieren sich Nize Baby (1926), mit jiddischem Akzent zwi- eine sie rettende Flucht. schen dem Füttern eines Babys in einem armen New Yorker Mehrfamilienhaus erzählt.305 Die ers- te bekannte, noch stark am Stil der Bilderbogen Komische Oper, Musikkomödie und der Erzählung von Perrault orientierte bande dessinée stammt von Gaston Niezab (1937).306 Als Gegenstand des Kunstgesangs findet sich Der erste bekannte Animationsfilm findet sich im Blaubart zum ersten Mal in der komischen Oper unten besprochenen Knetfigurenfilm von René Raoul Barbe Bleue von André Grétry, welche am Bertrand (1938), in welchem Blaubart sarkastisch 2. März 1789, rund drei Monate vor der französi- brutal dargestellt wird.307 Ein erster animierter schen Revolution, in Paris uraufgeführt wurde.314 Cartoon findet sich inBye, Bye Bluebeard (1949) Ihrem sentimentalen Inhalt zum Trotz wurde sie von Arthur Davis.308 In der Spielfilmkomödie Le zu einem wichtigen politischen Stoff der Revoluti- sei mogli di Barbablù (1950) von Carlo Ludovica onszeit. Das Libretto für diese «Comédie en prose

301 Vgl. Thackeray 1991; Thackeray 1903. et en trois actes» schrieb Michel-Jean Sedaine, der 302 Vgl. Ungern-Sternberg 1986. 303 Wiggin 1914, S. I. 309 Vgl. Bragaglia 2003. 304 Ebd., S. 8. 310 Vgl. Artmann 1958. 305 Vgl. Gross 1926. 311 Vgl. Ludlam 1989. 306 Vgl. Niezab 1937. 312 Nungesser 2012, S. 180. 307 Vgl. Bertrand 2005 und Kapitel «Bertrands und Painle- 313 Vgl. Capdevilla und Company 1990. vés Kampf gegen den Nationalsozialismus». 314 Vgl. Grétry 1789; Uraufführung: Paris, Comédiens Ita- 308 Vgl. Davis 1949. liens ordinaires du Roi, 2. März 1789. Stoffgeschichte von Blaubart 57 mit Grétry wiederholt zusammenarbeitete. In die- teiner unter dem Titel Die Braut in der Klemme in ser Oper wird die adelige Dame Isaure von ihren Wien aufgeführt.319 Bei Kringsteiner ist Blaubart Brüdern an Raoul Barbe-Bleue verschachert und ein «reicher Fasszieher» namens Pariserl, welcher so zu seiner vierten Frau. Der sie liebende Vergy Annamiedl, eine «Obstlerin vom Burgthor» hei- kann verkleidet als Frau in die Burg gelangen und ratet, und die Befreiung gelingt ihrem Liebhaber sie befreien. Er schafft es aber nicht, Raoul zu be- Hansel, «als dickes Hendelweib» verkleidet.320 siegen, der erst durch Hilfe Dritter getötet wird. Kurz darauf wurde in Wien 1804 auch Raoul der Isaure lässt sich von diesem Mangel an «Mannhaf- Blaubart zum ersten Mal gezeigt.321 tigkeit» nicht beirren, und sie können heiraten. George Colman the Younger siedelte die Über den Erfolg der Oper bei ihrer Urauffüh- Handlung der Oper von Grétry in seiner 1798 rung liegen keine Angaben vor, sie gilt aber nicht in London uraufgeführten Musik-Komödie Blue als Meisterwerk von Grétry.315 Trotz dem schein- Beard, or Female Curiosity! im Orient an.322 Es war bar ernsthaften Verlauf steht die Oper in der Tra- Michael Kelly, der Komponist des Musiktheaters, dition der Pantomime, wie etwa das cross-dressing der Grétrys Oper 1790 in Paris gesehen hatte und von Vergy zeigt. Raoul ist ein Tyrann und ihn um- sie später Colman zur Umsetzung empfahl, wie zubringen ein revolutionärer Akt – so wurde diese Barry Sutcliffe beschreibt.323 Der heroische Selim Oper zu einem Sinnbild der bürgerlichen Revo- befreit darin seine Geliebte Fatima aus der Burg lution. Die Auflösung von Blaubarts Macht wird des tyrannischen Mörders Pascha Abomelique. darin als erreichbar dargestellt, während Perrault Diese «grand dramatic romance» wurde zu einem sich eher zweideutig über solche Möglichkeiten großen Erfolg, und dadurch im 19. Jahrhundert ausgedrückt hatte. Die Oper wurde ein interna- Orientale zur dominierenden Charakterisierung tionaler Erfolg, wie die Rezeption im deutschen von Blaubart im angelsächsischen Sprachraum, und englischen Sprachraum zeigt. «turning Bluebeard definitively into the stereoty- In Hamburg gab es von Heinrich Schmieder pe of an oriental stage tyrant», wie Hermansson bald eine erste Übersetzung von Raoul Barbe Bleue schreibt: «This figure is the most enduringly -po (möglicherweise schon 1790, offiziell 1802) und pular English Bluebeard».324 Der Geschlechter- Nachdrucke von Partitur und Libretto (mögli- tausch, wie er in dieser Adaption gezeigt wurde cherweise schon 1792; hier 1795), dies zuerst im und in der Pantomime sehr verbreitet war (und damals dänischen und zensurfreien Altona (heute ist), wurde daraufhin bei Blaubart-Adaptionen in ein Stadtteil von Hamburg).316 Hans Hirschstein anderen Genres ebenfalls angewendet, wie Her- stellt fest, dass durch die Zensur im Deutschen mansson schreibt: «The same trend of cross-dres- Reich die Publikationstätigkeit stark erschwert sed casting continues in the amateur and home war: «So besteht denn die dichterische Ausbeute entertainments, with much being made of Sister der deutschen Revolutionsliteratur bis zum Jahre Anne’s ‹maidenly coyness› for instance.»325 1830 in einigen wenigen, unbedeutenden Dra- 319 Vgl. Kringsteiner 1807; Uraufführung: Wien, Leopold- 317 men und Romanen». Dennoch kam diese ko- städter Theater, 7. November 1804. Leider kann hier mische Oper 1801 als Raoul der Blaubart in Ber- nicht überprüft werden, ob sich Kringsteiner bei seinem lin zur Aufführung.318 Darauf wurde sie 1804 als Stück nicht direkt auf Grétry, sondern auf eine deutsche Posse im Wiener Dialekt von Ferdinand Krings- Vorlage bezieht, etwa auf die Posse Braut und Bräuti- gam in der Klemme, Bornschein 1802. 320 Kringsteiner 1807, S. 14f. 315 Vgl. Lessens 2007, S. 182. 321 Vgl. Grétry 1804; Uraufführung: Wien, Theater an der 316 Vgl. Grétry 1790; Grétry und Schmieder 1802; Grétry Wien, 18. Dezember 1804. 1795. 322 Vgl. Colman the Younger 1983; Uraufführung: London, 317 Hirschstein 1912, S. 26. Theatre Royal, Drury Lane, 1798. 318 André Grétry: Raoul der Blaubart. Uraufführung: Ber- 323 Sutcliffe 1983, S. 39. lin, Königliche Schauspiele, 23. März 1801; erwähnt in: 324 Hermansson 2009, S. 66. Lange und Steinbeck 2013. 325 Ebd., S. 96. 58 Stand der Forschung

Als Laiendrama für Kinder ist auch Blue Beard britannien wurde das Stück von Colman nicht (1860) von Eliza Keating gefasst, benannt als nur oft gespielt und kopiert, sondern auch persif- «Extravaganza» (ein reich ausgestattetes Unterhal- liert, so etwa 1839 von James Robinson Planché tungsstück) und «Charade» (eine als Worträtsel in seiner «Extravaganza» Blue Beard, wo er dem verpackte Pantomime).326 Entsprechend werden Unterhaltungstück eine in der Zeit von Gilles de in den ersten beiden Szenen die Wörter «Blue» Rais spielende groteske Übertreibung gegenüber und «Beard» thematisiert und in der dritten Szene setzte und damit eine Kritik am wohligen Gruseln die beiden Wörter zusammen, welche «a complete an den Untaten des Orients.332 Die Ehefrau findet rendition of the Bluebeard story, using Colman beim Öffnen des ihr verbotenen «Blue Room» 19 and Kelly’s template» enthält, wie Hermansson Frauen, die ihre Köpfe in den Händen halten und beschreibt.327 Keating bringt auch Neuerungen dazu ein Nonsense-Stück singen. ein, etwa indem der Geist einer der Ehefrauen Wichtig für die allgemeine Verbreitung im an- Fatima warnt und sie zur Flucht bewegt.328 Das gelsächsischen Raum war laut Hermansson aber Stück von Keating entpuppt sich sogar als erste doch die Druckpresse: «Bluebeard came to prom- bekannte Adaption der Erzählung Blaubart von inence through the eighteenth century initially einer Frau, der weitere Bühnenstücke für Kinder in the form of reprints and pirated knockoffs of folgten, die sich in ihren komischen Effekten aber Mother Goose [= fairy] tales, quickly breaking out nicht unbedingt als proto-feministisch erweisen. into chapbook form.»333 Literarische Adaptionen So empfiehlt etwa Sarah Annie Frost (1869) zur von Blaubart im angelsächsischen Raum finden Darstellung der Kammer mit den Leichen: «This sich somit zuerst in meist anonym verfassten, oft scene is much more effective if part of the back- an Kinder gerichteten illustrierten Chapbooks, ground is curtained off with several thicknesses of also Groschenheften, in den USA etwa in A New blue gauze behind which stand grouped the five History of Blue Beard (1800) von «Gaffer Black murdered wives, with white faces and bloody gar- Beard» oder in Großbritannien in Blue Beard, or, ments.»329 The fatal effects of curiosity and disobedience (1808), Im französischen Sprachraum ließ man sich um nur zwei Beispiele zu nennen.334 Da sie meist von der angelsächsichen Orientalisierung nicht die orientalisierende Lesart von Blaubart über- beeindrucken. Sogar in der wohl auf Colman nahmen, wurde Fatima als Name für die letzte gemünzten satirischen «Imitation burlesque» Ehefrau und das orientalistische Setting in sehr Mahomet Barbe-Bleue, ou La Terreur des Ottoma- vielen Blaubart-Versionen in Großbritannien und nes von Maurice Ourry und Jean-Toussaint Mer- den USA verwendet. Kinderbücher zeigten die- le von 1811 ist Barbe-Bleue bezeichnenderweise se orientalistischen Klischees teilweise bis in die kein Orientale, obwohl er Mahomet heißt, son- 1930er Jahre; bekannt sind etwa die Illustrationen dern dieser «perfide époux vint de France s’étab- (1910) von Edmund Dulac.335 Wenn die Zahl an lir en Turquie».330 Der in der Türkei wohnhafte Bühnenpräsentationen, Chapbooks und anderen Franzose bleibt am Ende sogar bei seiner letzten Veröffentlichungen als Indiz genommen werden Frau, und: «C’est un barbare: mais au fond, / soll, machte die Orientalisierung von Blaubart die C’est le meilleur homme du monde.»331 In Groß- Geschichte während dem 19. Jahrhundert beson- ders in Großbritannien äußerst populär. 326 Vgl. Keating 1860. 327 Hermansson 2009, S. 106. 328 Vgl. ebd., S. 106. 332 Vgl. Planché 1839; Uraufführung: London, Royal Olym- 329 Sarah Annie Frost: Bluebeard. Tableau vivant (1869); pic Theatre, 2. Januar 1839. hier in: Chapman 1996, S. 9. 333 Hermansson 2009, S. 69. 330 Ourry und Merle 1811, S. 3; Uraufführung: Paris, Théâ- 334 Vgl. Gaffer Black Beard 1800 und o.A. 1808; beides er- tre des Variétés, 1811. wähnt in Hermansson 2009. 331 Ebd., S. 32. 335 Vgl. Quiller-Couch und Dulac 1910, S. 35, S. 41, S. 45. Stoffgeschichte von Blaubart 59

gleich vier, die an Blaubart erinnern, nämlich Das Grimms Blaubart vs. Mr. Fox Mordschloss (Nr. 9), Der Räuberbräutigam (Nr. 40), Fitchers Vogel (Nr. 46) und Blaubart (Nr. 62) In Märchenfassungen von Blaubart erscheint das selbst.338 Der Protagonist in diesen Märchen ist Komische, Ironische, Satirische, welches bei Per- ein meist im Wald wohnender abgeschiedener rault anklingt, in einem ernsten Ton und erinnert Mädchenmörder, Räuber oder Zauberer, wo- an einen Tatsachenbericht. Die Warnung und er- bei in Der Räuberbräutigam und Fitchers Vogel mahnende Moral und der Einsatz des Volksmär- abweichend von Blaubart die Frau absichtlich chens als Genre werden ohne ironische Brechung nachforscht, ob ihr (zukünftiger) Gatte verbre- gelesen. Blaubart, der bis dahin als zwar gefähr- cherisch ist, und dies auch als Heldentat gewür- liche, aber im Grundzug lächerliche und im- digt wird. In Fitchers Vogel beispielsweise heiraten potente Figur beschrieben wird, entwickelt sich drei Schwestern eine nach der anderen den selben durch diese Verschiebung zu einem ernsthaften Mann. Erst die jüngste verdächtigt ihn und kann und moralischen Helden, einer Art Abraham des ihn überlisten, erweckt die anderen wieder zum Märchens, also jemand, der auf Befehl von Gott Leben und bringt sie nach Hause zurück, worauf das ihm Liebste opfern soll. Die möglicherweise ihre Brüder den verbrecherischen Ehemann töten. ersten nicht-komischen Versionen von Blaubart Auch andere in dieser Zeit publizierte Erzählun- publizierten dann auch 1812 die Brüder Grimm. gen weisen Parallen zu den Räuberberichten auf, Um 1800 spielten Märchen im deutschspra- etwa die Ballade Ulrich und Aennchen von Achim chigen Raum eine wichtige Rolle, wie Manfred von Arnim und Clemens Brentano, die in der Grätz in Märchen der Aufklärung (1988) be- Sammlung Des Knaben Wunderhorn von 1806 schreibt.336 Das Deutsche Reich war von Frank- erschien, oder E.T.A. Hoffmanns NovelleIgnaz reich besetzt und wurde in der Folge aufgelöst. Denner, publiziert 1817 im ersten Teil der Samm- Auch die Brüder Grimm waren von der Besetz ung lung Nachtstücke.339 Bei den Grimms wurde die betroffen: «Between 1806 and 1813 both bro thers Anzahl dieser Märchen später in der insgesamt chafed under the constraints of immediate and in- über 200 Märchen umfassenden Sammlung auf escapable French rule», wie Bottigheimer in ihrer zwei reduziert (Fitchers Vogel und Der Räuber- erwähnten Studie Grimms’ Bad Girls & Bold Boys bräutigam), Blaubart und Das Mordschloss wurden beschreibt, «and during this period they began to gestrichen.340 Möglicherweise war die Präsenz der collect the tales that formed the basis of their pio- komischen Varianten von Blaubart zu dominant, neering volume».337 In der gleichen Zeit verbreite- zu leicht, zu französisch wirkte die Erzählung – ten sich Berichte über den Räuber Schinderhan- doch die Grimms hatten mit ihrer Umkehrung nes, der als antifranzösische und antisemitische einen Trend gesetzt, der sich in den Märchen- Legendenfigur stilisiert wurde. Diese Berichte sammlungen verschiedener Länder verbreitete. erinnern in Handlung und Motiven so sehr an Die beiden in der Sammlung verbliebenen Mädchenräuber-Balladen und an Blaubart, dass Märchen Fitchers Vogel und Der Räuberbräuti- die damals aktiven Räuberbanden im Rheingebiet gam werden in Forschungen zu Blaubart oft zum möglicherweise einen Hintergrund für mehrere Märchen der Brüder Grimm und andere Erzäh- 338 Vgl. Brüder Grimm 1812; auch in Brüder Grimm 1994/2002; als da wären: Das Mordschloss, Band 1, lungen bildeten. S. 477–479; Der Räuberbräutigam, Band 1, S. 219– Die Ausgabe von 1812 der von Jacob und 223; Fitchers Vogel, Band 1, S. 235–239, Blaubart, Wilhelm Grimm veröffentlichtenKinder- und Band 2, S. 465–468. Hausmärchen enthält 86 Märchen, darunter 339 Vgl. Ulrich und Aennchen (Herders Volkslieder I. 79; I 274); in: Arnim und Brentano 1806, S. 249–251; Hoff- 336 Vgl. Grätz 1988. mann 2009. 337 Vgl. Bottigheimer 1987, S. 4. 340 Vgl. Brüder Grimm 1994/2002. 60 Stand der Forschung

«Blaubart-Typus» gezählt.341 Dies kann zu der ir- Hempen dann diese Märchen vereinfachend der rigen Annahme führen, sie seien Adaptionen der Blaubart-Gruppe zu.345 Schwierig wird diese Ver- Erzählung von Perrault. Da aber in diesen die mischung, wenn das emanzipatorische Potential Nachforschung der Ehefrau nicht als Fehlgriff von Blaubart selbst betont werden soll und die durch Neugierde erklärt wird, sondern als eine Mr. Fox-Versionen gleichsam als progressive Wei- notwendige und geplante Aufdeckung eines ver- terschreibungen von Blaubart inszeniert werden. muteten Verbrechens, entsprechen sie eher einer Ein Beispiel für die Unschärfe, die bei einer Detektivgeschichte, wo die Frau oder ein mit ihr solchen Vermischung von Erzähltypen entstehen arbeitender Detektiv die Verbrechen ihres Ehe- kann, zeigt die Auseinandersetzung mit Elisabeth mannes aufdecken. Monika Szczepaniak liest den Gaskells Erzählung The Grey Woman von 1861.346 Blaubart der Grimms sogar als anti-feministisches In dieser wird die unglückliche Heirat von Anna Märchen: «Eine Selbstdefinition der Frau wider Scherer mit Monsieur de la Tourelle erzählt und ihr das patriarchale Wertgefüge wird [...] nicht ein- Leidensweg auf der Flucht vor ihm. Dabei benutzt mal ansatzweise versucht», dagegen handelt es Gaskell das Motiv der abgehackten Hand eines Op- sich für sie bei Fitchers Vogel um einen «ausgespro- fers, wie es auch im Märchen Mr. Fox vorkommt. chen feministischen Märchentext».342 Einen Bezug zu Blaubart stellt sie aber in keiner Ein weiteres Märchen, welches der «feminis- Weise her, auf diese Erzählung hatte sie sich in der tischen» Auslegung folgt, wäre demnach Mr. Fox. 1860 im Cornhill Magazine publizierten Erzählung Es folgt der Legend of Britomartis, die in Edmund Curious, if True bezogen, in welcher sie Blaubart, Spensers lyrischer Erzählsammlung The Faerie wie damals in England verbreitet, als humoristische Qveene von 1590 enthalten ist, und enthält auch Figur einsetzt.347 Ein Vergleich mit Blaubart kann einzelne Zitate daraus.343 In der heute bekannten hier also nicht weiterhelfen, konzentriert sich der Version von Mr. Fox, wie sie etwa James Orchard Vergleich aber auf den Bezug zu Mr. Fox, werden Halliwell 1849 in Popular Rhymes and Nursery die geschlechterkritischen Qualitäten von Mr. Fox Tales veröffentlicht hat, besucht Lady Mary den wie von The Grey Woman sichtbar. zukünftigen Gatten Mr. Fox vor ihrer Hochzeit Teile des Plots von Mr. Fox benutzte auch in seinem Schloss. 344 Dabei beobachtet sie, wie er Charles Dickens in Captain Murderer, einer Er- eine andere Frau umbringt. Sie schafft es, eine der zählung, die er 1860 in der Kolumne The Un- Frau abgehackte Hand mit sich zu nehmen, und commercial Traveller in All the Year Round ver- zeigt diese am Tag ihrer Hochzeit den versammel- öffentlichte.348 Er spitzte die Handlung insofern ten Gästen als handfesten Beweis seiner Bösartig- zu, dass alle drei Schwestern sterben müssen, und keit, worauf Mr. Fox von den Hochzeitsgästen die letzte vor ihrem eigenen Tod nur durch die getötet wird. Mr. Fox wird dabei zu einem eigent- Einnahme einer großen Menge Gift den sie ver- lichen Prototyp emanzipatorischen Aufbegehrens. speisenden Captain Murderer töten kann. Durch Die Studien, in denen dieses oder ähnliche Mär- groteske Überspitzung greift so seine Erzählung chen aus feministischer Perspektive erörtert wer- wieder einen humoristischen Ton auf und setzt den, sind zahlreich. Im erwähnten Aufsatz zu Der einen Bezug zu Blaubart, den er auch explizit er- Räuberbräutigam und Das Mörderschloss ordnet wähnt.

341 In der Klassifizierung der gebräuchlichenTypes of Inter- 345 Vgl. Hempen 1997, S. 45. national Folktales tragen die Märchen aber verschie- 346 Vgl. Gaskell 2000b; Hiltbrunner 2009b. dene Nummern: Fitchers Vogel, ATU 311; Der Räuber- 347 Vgl. Gaskell 2000a. bräutigam, ATU 955; Blaubart, ATU 312; vgl. Uther 348 Vgl. Dickens 2000, hier S. 173–175. 2004a. 342 Szczepaniak 2005, S. 360. 343 Vgl. Spenser 2007. 344 Halliwell 1849. Stoffgeschichte von Blaubart 61

Kammer findet und ihrer Familie schreibt, sie Falscher Verdacht dürfe diese nicht betreten.353 Besorgt über die un- klare Information reisen ihre Mutter und danach Das Changieren von Blaubart zwischen einer auch Elises Schwester Sophie an, letztere mit dem komischen und einer tragischen Erzählung zeigt festen Vorsatz, den vermeintlichen Blaubart zu sich auch in Adaptionen, in denen jemand zu Un- bekämpfen. Doch in der Kammer wurde nur das recht als Blaubart verdächtigt wird. In der Büh- Kinderschlafzimmer für den gemeinsamen Nach- nenkomödie Monsieur Barbe bleue ou le Cabinet wuchs hergerichtet. Mererid Puw Davies zählt mystérieux von Henri Dupin (1791–1887) und diese in realistischem Ton gehaltene Erzählung Antoine-François Varner (1789–1854), welche zwar zu den komischen Varianten von Blaubart, 1823 in Paris uraufgeführt wurde, stellt sich her- sie wirkt aber eher erbaulich-moralisierend.354 Für aus, dass der zukünftige Ehemann zu Unrecht als Annette Keck schreibt Hackländer «in der Verbin- «Blaubart» verdächtigt wurde, und die Ehe kann dung von Weiblichkeit und Literatur die Hysteri- danach glücklich vollzogen werden.349 Als Stück ka [d.i. Elise] zur Leer- und Lehrfigur aus, um sie von Louis Angely (1787–1835) kam es 1825 in mit einer mörderischen Realitäts-Kur ihrer weib- Berlin zur Aufführung.350 Die Idee des falschen lichen Bestimmung, d.h. Ehefrau und Mutter zu Verdachts findet sich seither in ganz unterschied- sein, wieder zuzuführen.»355 Keck vergleicht diese lichen Blaubart-Adaptionen. Im Mittelpunkt Erzählung von Hackländer mit einer weiteren von steht dabei die Mann-Frau-Beziehung. Eugenie John Marlitt und ordnet sie beide dem Der Kritik am falschen Verdacht, die Dupin sogenannten bürgerlichen Realismus zu. und Vamer in ihrer Bühnenkomödie noch «gut- Die Erzählung von Marlitt erschien 1866 in väterlich» in einer glücklichen Ehe enden lassen, der Zeitschrift Gartenlaube unter dem Titel Blau- setzt Eugène Sue in seinem 1842 veröffentlich- bart.356 Darin besucht Lilli ihre Tante, die in einer ten humoristischen Roman Le Morne-au-Diable Erbfeindschaft mit ihrem Nachbarn steckt, und eine Kritik an gesellschaftlichen Setzungen ent- über den erzählt wird, er halte eine Frau gefan- gegen, indem er nicht nur den falschen Verdacht gen. Er ist jedoch ein ehrenwerter Mann und fin- des Blaubarts auf eine Frau (hier Angèle) lenkt, det sogar mit Lilli zusammen. Diese Erzählung sondern auch den an ihr interessierten Abenteu- bricht ganz mit der komischen Tradition. Davies rer Croustillac scheitern lässt.351 Erst als invalider schreibt: «It is a story about psychology rather Kriegsveteran darf er mit Angèle, ihrem Mann than about physical force, and as such marks the und ihren Kindern auf ihrem Bauernhof ein moment at which ‹Blaubart› becomes a distinctly «glückliches» Alter verbringen. Bühnenfassungen modern narrative.»357 Marlitt gelingt ein Spiel des nach dem Roman von Sue zeigten Philippe Jo- Symbolischen, der Spiegelung von Bedeutungen: seph Simon alias Lockroy 1843 in Paris und Tho- Blaubart hat hier keinen blauen Bart, jedoch die mas H. Higgie 1847 in London.352 Tante eine Tendenz zum Bartwuchs; Lillis Neugier Von Friedrich Wilhelm Hackländer folgt 1863 hilft, die Erbfeindschaft aufzulösen, was aber zu die Erzählung Der Blaubart, in welcher Elise einen einer Rückkehr des Unheimlichen führt und das Fabrikdirektor heiratet, bei ihm eine versteckte glückliche Ende mit Schwermut überschattet. An Marlitt schließt Hedwig Courths-Mahler an, wie- 349 Vgl. Dupin und Vamer 1823; Uraufführung: Paris, Varié- derum eine Bestseller-Autorin. In ihrem Roman tés, 27. November 1823. Die verschleierte Frau (1927) ist Astrid Holm in 350 Vgl. Angely 1828; Uraufführung: Berlin, Königstädti- sches Theater, 21. September 1825. 353 Vgl. Hackländer 1863. 351 Vgl. Sue 1842; zu Sue vgl. Hiltbrunner 2009a. 354 Davies 2002, S. 329. 352 Vgl. Lockroy 1843; Uraufführung: Paris, Théâtre du 355 Keck 2013, S. 78. Vaudeville, 20. Juli 1843; vgl. Higgie 1847; Urauffüh- 356 Vgl. Marlitt 1866. rung: London, Queen’s Theatre, 24. Mai 1847. 357 Davies 2001, S. 132. 62 Stand der Forschung den Schlossherr Harald Rodeck verliebt.358 Dieser gewöhnlich in der Rezeption der Erzählung ist, wird Blaubart genannt, doch ist seine vermeint- dass Blaubart sich nicht an seinen Ehefrauen ver- lich geplagte Ehefrau nur seine kranke Schwester. geht, sondern an den Verehrern seiner einzigen So können Astrid und Harald am Ende heiraten. Frau, die offenbar trotz seiner versuchten Morde Wiederum einen vermeintlich weiblichen gerne bei ihm bleibt. Blaubart beschreibt die «Posse» von Eduard Lin- Ebenfalls 1852 wurde Les sept femmes de Bar- derer, Madame Blaubart (1900).359 Diese mu- be-bleue eines nicht bekannten Autors mit dem sikalische Komödie spielt in der Wohnung des Pseudonym Hariadan Barberousse in Paris als Apothekers Krämer in Berlin, welcher endlich «Légende Tragi-comique», frei nach der Oper und geheiratet hat. Doch seine Frau stellt sich als teilweise mit der Musik von André Grétry, urauf- mehrfache Witwe heraus, was ihn um sein Leben geführt.364 Darin heiratet Isaure den Barbe-Bleue fürchten lässt: «Du hattest bereits vier Männer Raoul, Vergy kommt wie bei Grétry verkleidet als vor mir – sie starben Dir alle hintereinander – das Frau zu ihr, und sie entdecken Raouls Kammer ist Pech in der Liebe – was kannst du dafür?»360 mit toten Frauen. Als Raoul die beiden dabei Für Krämer arbeitet sein Gehilfe Pille, auch als stellt, sprechen die toten Frauen zu ihm – wie bei «medicinische Probiermamsell», und mimt im der erwähnten Version von Planché (1839) mit Stück den Possenreißer. Da die Köchin den Apo- ihren Köpfen unter den Armen. Als Überraschung theker ebenfalls verehrt, hat sie die neue Frau an- erwachen die Frauen wirklich wieder zu Leben: geschwärzt, welche sich am Ende als herzensgut «Elles s’avancent d’un pas solennel, arrachent le zeigt, und der Apotheker schämt sich für seine coutelas des mains de Raoul qui tire son épée, Panik: «Herrgott, war ich ein Rhinoceros!», und mais la lame se change en plume.»365 So kann Ver- er freut sich über den glücklichen Ausgang.361 gy den Blaubart mit seinem Degen töten. Viel bekannter ist die 1866 in Paris uraufge- führte «Opéra bouffe»Barbe-Bleue von Jacques Blaubart als Hochstapler Offenbach, für welche Henri Meilhac (1831– 1897) und Ludovic Halévy (1834–1908) das Eine weitere komische Lesart entlarvt Blaubart als Libretto verfassten.366 Darin ist Barbe-Bleue, wie Hochstapler – er möchte zwar seine Frauen um- bei Grétry, ebenfalls ein Despot, der seine Frauen bringen, schafft es aber nicht. Die erste bekannte umzubringen versucht – hier in Konkurrenz zum Version findet sich wieder in einer Komödie, der ebenfalls verbrecherischen König Bobèche. Und «Comédie-vaudeville» M. Barbe-Bleue von Jean die Ehefrauen können als vermeintlich Getötete François Alfred Bayard, 1852 in Paris uraufge- lebend dem Verlies entsteigen, wo sie der Alchi- führt, in welcher Marguerite von Männern um- mist Popolani «nur» eingesperrt hatte – ebenso worben wird.362 Ihr Ehemann, Herr des Schlosses leben die Nebenbuhler von Bobèche, die dieser Manneville, in dem das Stück spielt, tötet aus hatte töten wollen. Bei Offenbach kommt es am Eifersucht sieben Nebenbuhler. Doch am Ende Ende (gleichsam die Inszenierungen von Bayard kommt heraus, dass sie nicht tot sind, und Mar- und Barberousse vereinend) zu einer fulminan- guerite versöhnt sich mit ihm. Das Stück wurde ten Gruppenhochzeit der wieder auferstandenen noch im selben Jahr auf Deutsch übersetzt.363 Un- weiblichen wie männlichen «Leichen». Auch seine letzte Frau Boulotte versöhnt sich mit Bar- 358 Vgl. Courths-Mahler 1927. be-Bleue. Der Tyrann kann zwar entmachtet wer- 359 Vgl. Linderer 1900. 360 Ebd., S. 21. 364 Vgl. Barberousse 1852; Uraufführung: Paris, Théâtre du 361 Ebd., S. 24. Palais-Royal, 1. Mai 1852. 362 Bayard 1852a; Uraufführung: Paris, Théâtre du Gymna- 365 Ebd., S. 4. se, 13. Januar 1852. 366 Vgl. Meilhac und Halévy 1866; Uraufführung: Paris, 363 Vgl. Bayard 1852b. Théâtre des Variétés, 5. Februar 1866. Stoffgeschichte von Blaubart 63 den, wird aber nicht mehr umgebracht, sondern nahme veröffentlicht wurde.369 Die Ostberliner in die Gemeinschaft integriert. So wirkt das Ende Inszenierung von Walter Felsenstein von 1963, unheimlich und es bleibt nach dem Lachen ein zehn Jahre darauf für das DDR-Fernsehen ver- mulmiges Gefühl. filmt, erlangte ihrerseits internationale Bekannt- Die Aufführung von Offenbach verband heit.370 Im Film zeigt sich, wie aufmüpfig die schwungvolle, eingängige Musik mit einer meist Oper von Felsenstein ist, in welcher Boulotte die satirisch-hintergründigen Handlung und Anspie- Versöhnung mit Blaubart erst ablehnt und nur lungen auf Sitten, Personen und Ereignisse im da- einwilligt, als die anderen ihr sagen, dass sie nur maligen Frankreich. Für Siegfried Kracauer the- «Operette spielen».371 Felsenstein beschreibt im matisiert Barbe-Bleue mit schwarzem Humor die Vorwort zur publizierten Libretto-Übersetzung damalige heuchlerische Situation unter Napoléon diesen Eingriff: «Hier hatte Offenbach, den Wir- III. Es werden darin die kommenden politischen kungsmöglichkeiten und dem Geschmack seiner Veränderungen und die schon in der Luft hän- Epoche entsprechend, eine offensichtlich allzu gende Katastrophe vorweggenommen, die ihren unkomplizierte Lösung vorgesehen, deren Bei- Höhepunkt im Französisch-Preußischen Krieg behaltung die Bedeutsamkeit des Vorausgegan- von 1870/71 finden sollte, wie Kracauer 1937 be- genen gemindert hätte.»372 Statt einem erneuten schreibt: unheimlichen Zusammenkommen steht somit bei Felsenstein ein ironisch überzogenes operet- Gerade dieses Gaukelspiel aber, dieser jähe Um- tenhaftes Happy End im Vordergrund. schlag von Szenen der Todesfurcht in ausgelassene Ebenfalls als lächerlichen Herrscher zeichnet Lustigkeit antwortete dem Verlangen des Publi- Friedrich Paul von Westenholz (1859–1919, Ver- kums, sich über die schreckliche Katastrophe hin- fasser der erwähnten Studie zur Griseldis-Sage), wegzusetzen, die es vorausahnte. [...] Die Operette den Blaubart in seinem «Lustspiel» Blaubart von gewährte – ein weiterer Grund ihres Erfolges – dem 1895.373 Darin verkleidet sich nämlich der franzö- demokratischen Lebensgefühl breiten Raum.367 sische Kaiser Napoléon I an einem Ball selbst als Blaubart und wird in diesem Aufzug von der Ba- In der von Kracauer beschriebenen politischen ronin Léonie Lefèvre unhöflich zurückgewiesen. Lesart karikiert die opéra bouffe sogar den fran- Da sie jedoch dringend auf seine Gunst angewie- zösischen Kaiser Napoléon III und seinen Kon- sen ist und für ihren Neffen Armand ein Kapi- kurrenten Otto von Bismarck, den damaligen tänspatent erhalten möchte, schafft sie es, trotz Ministerpräsidenten des Königreichs Preußen. des Zorns des Kaisers, selbstbewusst ihre Iden- Dementsprechend publizierte die Satire-Zeit- tität als Täterin zu kaschieren und ihn mit List schrift Le Charivari im März 1866 kurz nach der und Charisma für ihren Neffen zu gewinnen. Die Premiere von Barbe-Bleue eine Karikatur von Ho- scheinbar nicht an Blaubart orientierte Geschich- noré Daumier, in welcher Bismarck als (lächerli- te erinnert wiederholt an La Barbe bleüe von Per- cher) Blaubart dargestellt wird.368 rault, so das Kapitänspapier an den Erwerb von Die opéra bouffe von Offenbach wurde bald Ritterpatenten für die Brüder der Frau von Barbe darauf in verschiedenen europäischen Ländern bleüe. und den USA aufgeführt. Auch in Deutschland blieb ihre Bekanntheit weiter bestehen, etwa in den 1920er Jahren durch die Auftritte von Karl 369 Vgl. Kraus 1923; Slezak 2010; Uraufführung: Berlin, Kraus und in Berlin als Inszenierung mit dem Metropol-Theater, 1. Juni 1929. Sänger Leo Slezak, von der auch ein Lied als Auf- 370 Vgl. Offenbach 1964; Uraufführung: Berlin, Komische Oper, 24. September 1963 (Regie: Walter Felsenstein). 367 Kracauer 1994, S. 258. 371 Felsenstein 2008, min. 135:21. 368 Vgl. Suhrbier 1987, S. 53; Erstabdruck in Le Charivari 372 Offenbach 1964, o.S. am 13. März 1866. 373 Vgl. Westenholz 1895. 64 Stand der Forschung

Das Lustspiel von Westenholz spielt in der Zeit vor detailreich nachgemalten gotischen Burganlage, die Napoléons desaströsem Russland-Feldzug ab Juni ebenfalls an Offenbach erinnert. Dennoch ist an- 1812, welcher am Anfang des Niedergangs seines zunehmen, dass die eigentlichen Innovationen von Regimes stand. Dies hilft Westenholz, ein von Ver- Offenbach, wie der Alchimist Popolani, König Bo- ehrung freies Bild von Napoléon zu zeigen: Wenn bèche und die von ihm vermeintlich getöteten Ne- der Neffe vom leicht lächerlich gezeichneten impe- benbuhler, oder die Zigeunerszene, wo die Frauen rialistischen Herrscher das Kapitänspatent erhalten und Nebenbuhler verkleidet die beiden Hochstapler haben wird, ist die große Zeit von Napoléon schon stellen, in diesem Film nicht vorkommen. Sondern vorbei. Der Diktator erscheint als jähzornige Figur es ist anzunehmen, dass die Brüder Lumière sich an der Selbstüberschätzung. Der Herrscher, der eigent- Perrault oder, wie die holzschnittartig zusammen- lich seinen immerzu möglichen Sturz bedenken gekürzte Handlung anzeigt, möglicherweise an den sollte, ergibt sich hier in unbedeutenden Possen und Bilderbogen von Épinal orientierten. Kaum von Of- macht Konversationen eines Maskenballs zu zentra- fenbach inspiriert erscheint die rund sieben-minüti- len Direktiven seiner Innenpolitik. Zentral in die- ge Verfilmung Barbe Bleue (1907) der Frères Pathé, sem Stück erscheint auch die Baronin, welche mit den bekannten französischen Filmproduzenten um verbaler Strategie den über sie gebietenden Herr- 1900.377 In einem erstaunlich realistischen Set ver- scher austrickst. Diese Selbstermächtigung, welche läuft die Handlung wie bei Perrault und zeigt teil- schon bei der Erzählung von Perrault auf einer Lüge weise groteske Gewaltszenen. basiert, wo sich die Frau wünscht, zu Gott zu beten, Diese Pluralität macht auch deutlich, warum und stattdessen ihre Schwester auf dem Turm an- der erste bekannte komische Opernfilm zu Blau- ruft, ist auch hier der Schlüssel zum Erfolg. Westen- bart, nämlich Bertrands unten noch zu besprechen- holz zeichnet den Diktator als Figur, die zwar nicht de Knetfiguren-Animation von 1938, sich zwar an unsympathisch ist, den Leser aber an Offenbachs Offenbach orientierte, doch die für den Film kom- lächerlichen Barbe-Bleue erinnert, der von einer ponierte opéra bouffe die Erzählung im Sinn der starken Frau zurechtgewiesen wird. um 1930 aktuellen musikalischen Sprache frisch Es ist die opéra bouffe von Offenbach, die in den interpretierte.378 Eine ähnliche Art des musikali- komischen Künsten die Figur von Blaubart nachhal- schen Ausdrucks wie bei Bertrand findet sich in der tig geprägt hat. Dies zeigt auch der rund neun-minü- ebenfalls später noch zu diskutierenden komischen tige Film Barbe-Bleue (1901) von Georges Méliès.374 Radiooper Barbe-Bleue (1943) von Jacques Ibert.379 In diesem kommen Elemente des Märchenfilms, der Iberts Umgang mit der opéra bouffe von Offenbach Kasperliade, Bezüge auf Offenbach und auf die da- ist spielerisch, so kommen die ehemaligen Frauen maligen Frauenrechtlerinnen, die sogenannten Blau- nur noch zu Besuch, und Blaubart bleibt bartlos bei strümpfe, zusammen.375 Der Bezug auf Offenbach seiner letzten Frau Melpomène. Dieses Spiel zwi- scheint in der Charakterisierung von Barbe-Bleue, schen den Blaubart-Ideen von Perrault und Offen- der Bühnenaustattung, dem Handlungsverlauf und bach findet sich akzentuiert auch im später noch be- besonders dem Wiederauftauchen der vermeintlich sprochenen Spielfilm Blaubart / Barbe-Bleue (1951) toten Frauen am Ende prägend gewesen zu sein. von Christian-Jaque, der zwar das Ende von Offen- Dieser Bezug zeigt sich auch in der ersten Verfil- bach wieder aufgreift, Perrault selber aber auch eine mung von Blaubart, dem nur einminütigen Streifen Rolle zuteilt – als Hofschreiber.380 Barbe-Bleue (1898) der Frères Lumière.376 Das er- haltene Still aus dem Film zeigt einen ausstaffierten 377 Vgl. Pathé 1907. Barbe-Bleue à la Offenbach, den die Brüder und die 378 Vgl. Bertrand 2005; Kapitel «Bertrands und Painlevés Schwester am Töten seiner Frau hindern, in einer Kampf gegen den Nationalsozialismus». 379 Vgl. Ibert 1943b; Kapitel «Ibert und die ‹geistige Lan- 374 Vgl. Méliès 2001. desverteidigung› der Schweiz». 375 Vgl. Hiltbrunner 2009b. 380 Vgl. Christian-Jaque 1989; Christian-Jaque 1996, Kapi- 376 Vgl. Lumière 1898. tel «Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung». Stoffgeschichte von Blaubart 65

profane Massenspiel Mystère du Siege d’Orleans Gilles de Rais mit über 500 Teilnehmenden finanziert hatte. Nach dem Prozess wurde er zwar hingerichtet, Blaubart als Serienmörder gilt als stehende Me- aber danach nicht verbrannt (wie mit einem Ket- tapher. Ein in Wien archivierter Text (vermutlich zer sonst verfahren wurde), sondern (dank seinem von 1825) und ein Report aus New York von Geständnis) in Ehren im örtlichen Karmeliter- 1835 sind frühe Beispiele, in denen Serienmör- kloster begraben. Gilles wurde nämlich durch- der als Blaubart bezeichnet werden, ohne dass die aus Verehrung zuteil, so hatte er schon sehr jung Erzählung von Perrault eine Rolle spielt.381 Dies als königlicher Begleiter an der Seite von Jeanne gilt auch für einige «Blaubart»-Krimierzählun- d’Arc gekämpft, wofür er auch zum königlichen gen wie Bluebeard’s Vestibule (1908) von Edgar Marschall ernannt wurde. Franklin.382 Der Übername Blaubart wird auch Die umfassende Wiederentdeckung von für Serienmörder benutzt, die wirklich existiert Jeanne wie Gilles fand im 19. Jahrhundert statt haben, wie etwa den Franzosen Henri Landru, und festigte die Wertung der beiden historischen auf welchen sich sowohl Charles Chaplin in sei- Figuren als Gegensatzpaar – neben der heilig nem SpielfilmMonsieur Verdoux (1947), W. Lee gesprochenen Jeanne wurde Gilles zum «An- Wilder in Bluebeard’s 10 Honeymoons (1960) und ti-Heiligen».385 Schon Hippolyte Bonnellier the- Claude Chabrol in Landru (1962) beziehen.383 matisierte das Leben von Gilles und seiner Frau Der berühmteste als Mörder Verurteilte, der und seine Verbrechen im historischen Roman Blaubart genannt wird, ist wohl Gilles de Rais Raiz (1834).386 Als Mitkämpfer von Jeanne wurde (1404–1440).384 Obwohl die historische Figur Gilles 1841 von Jules Michelet in der Histoire de Gilles und die Erzählfigur Blaubart quellenkri- France genannt, wo er den Zusammenhang mit tisch nicht direkt verbunden werden können, ha- Blaubart erwähnte und zu erklären versuchte.387 ben sie sich gegenseitig viel ihrer Bekanntheit zu Armand Guéraud veröffentlichte darauf 1855 verdanken. Der französische Marschall und Baron einen Essay, in welchem er jegliche Übereinstim- Gilles wurde 1440 im bretonischen Nantes wegen mung der beiden ausschloss.388 Dennoch wählte Morden, Sodomie, Dämonenbeschwörungen, Émilie Carpentier für ihren Kinderroman Mé- Ketzerei und Verletzung der kirchlichen Immuni- moire de Barbe-Bleue (1865) Gilles als bösartige tät angeklagt, legte in einem Inquisitionsprozess Verkörperung von Blaubart.389 Grundlegend für ein umfassendes Geständnis ab und wurde für die weitere Bekanntheit war Bossards erwähnte schuldig befunden. Am grausamsten im Prozess auf einen Vergleich von Gilles und Blaubart set- war der Befund, dass Gilles offenbar mehr als zende Studie von 1885, welche später zusammen hundert Knaben verschiedenen Alters getötet und mit anderen hier genannten Texten noch bespro- sich an ihnen vergangen hatte. Für seine Familie, chen wird.390 Schon 1886 veröffentlichte Charles besonders seinen Bruder René de la Suze, seine Lemire zu Gilles Barbe bleue, ein «Spectacle ihn überlebende Frau Catherine de Thouars und lyrique rimé avec ballets».391 ihre gemeinsame Tochter und spätere Erbin Marie de Rais war aber einschneidender, dass Gilles sich 385 Zur Rezeption von Jeanne d’Arc vgl. Winock 1992. in dieser Zeit großer Verschwendung hingegeben 386 Vgl. Bonnelier 1834. hatte und neben einer Kirche mit Knabenchor 387 Michelet 1978; zu Barbe-Bleue vgl. Band 6, S. 218. auch Passionsspiele und um 1430 in Orleans das 388 Vgl. Guéraud 1855. 389 Vgl. Carpentier 1865. 381 Vgl. o.A. 1825; Fay 1835. 390 Vgl. Bossard 1885; Kapitel «Intimer vs. politischer Blau- 382 Vgl. Franklin 1908. bart bei Natonek», Abschnitt «Gilles de Rais als franzö- 383 Vgl. Chaplin 2003; Wilder 1960; Chabrol 2001. sischer Antiheld» (darin auch Ausführungen zu Huys- 384 Zur Biografie von Gilles de Rais vgl. Reliquet 1990 oder mans, Reinach, Huidobro, Natonek). Hyatte 1984. 391 Vgl. Lemire 1886. 66 Stand der Forschung

Auf Bossard bezieht sich auch Joris-Karl Huysm- Frédéric Henri Bernelle (1911) und Émile Gabo- ans in seinem Roman Là-bas (1891), in welchem ry (1925) auch psychopathologisch erklärten und sich der Protagonist an der Faszination für die erhärteten.398 So wurde Gilles von einem «schlech- grauenhaften Gilles angeschuldeten Verbrechen ten Beispiel», «Satanisten», «Psychopathen» und ergötzt.392 Dieser schon damals international «Magier» zu einer Verkörperung für Verbrechen, rezipierte Roman änderte die Wahrnehmung die alles Denkbare überschreiten. Davon geht auch von Blaubart grundsätzlich, wie Leafstedt auch Aleister Crowley in seiner «Banned Lecture» schreibt: «Versions for children continued to be (1930) zu Gilles aus und sieht in ihm einen Expo- written and produced on stage, but for many au- nenten des Satanismus.399 thors after Huysmans, the landscape was forever Trotzdem blieben verschiedene Autoren von changed by revelations of the historic Bluebeard’s seiner Unschuld überzeugt, wie Hans Natonek in ferocious cruelty.»393 Im angelsächsischen Raum seinem zwischen 1938 und 1944 verfassten Ro- publizierte Thomas Wilson wenige Jahre später man Blaubarts letzte Liebe (1988), in welchem die (1897) eine Studie zu Gilles und Blaubart und Geschichte aus der Sicht von Gilles geschildert Ernest Alfred Vizetelly untersuchte in Bluebeard wird.400 Auch im historischen Roman La griffe de (1902), seinem «Account of Comorre the Cursed Barbe-Bleue (2004) von Isabelle Papieau wird er and Gilles de Rais», ebenfalls mögliche Verbin- als Opfer beschrieben, doch in der übrigen Litera- dungen zur Erzählung von Perrault.394 Im deut- tur gilt seine Schuld als erwiesen. Gilles wurde zu schen Sprachraum schrieb 1903 Franz Blei einen einer beliebten Figur des Bösen, so auch im Co- Essay, in welchem er die Morde als gottschauende mic Jhen – Barbe-Bleue (1984) von Jacques Mar- Seligkeit von Gilles fantastisch ausmalt und Carl tin und Jean Pleyers, in welchem der wandernde Felix von Schlichtegroll verfasste 1908 eine Stu- Baumeister Jhen sich mit dem mächtigen Gilles die, die, wohl inspiriert von Huysmans, brutale anlegt und seine Kindsmorde öffentlich macht.401 Hinrichtungsszenen detailliert darstellt; am Bu- Im Kapitel zu Hans Natonek wird sein Ro- chende finden sich dann auch passende Inserate man genauer besprochen, der Diskussion um eine für Publikationen vom Verlag zu Sacher-Masoch, mögliche Unschuld nachgegangen und werden Flagellantismus und Marquis de Sade.395 die erwähnten Texte von Huysmans, Reinach und Der jüdische Altphilologe Salomon Reinach Huidobro näher erläutert.402 stellte 1902 in einem Leserbrief und 1904 in einem Aufsatz den Inquisitionsprozess und die Verurteilung von Gilles grundsätzlich in Frage.396 Blaubarts Frau Dieser Unschuldsvermutung schlossen sich zwar verschiedene Autoren an, konnten aber die popu- Mit einer Vertiefung der Charaktere in der Erzäh- läre Tendenz der Stilisierung von Gilles zum Sinn- lung Blaubart, gerade in der Auseinandersetzung bild für das unerklärlich Böse nicht aufhalten. Das mit Gilles, stellt sich auch die Frage nach der Wei- Verlangen nach einem Teufel, für welches Gilles terschreibung und genaueren Charakterisierung hinhalten musste, thematisiert Vicente Huidobro von Blaubarts Frau. Zum einen wird ihre immer in seinem Drama Gilles de Raiz (1932).397 In der stärker werdende Abhängigkeit von ihrem meist übrigen Rezeption blieb Gilles schuldig, was etwa psychologisch unterdrückerisch agierenden Ehe-

392 Vgl. Huysmans 1966. 398 Vgl. Bernelle 1910; Gabory 1925. 393 Leafstedt 1999, S. 168. 399 Vgl. Crowley 2013. 394 Vgl. Wilson 1897; Vizetelly 1902. 400 Vgl. Natonek 1988. 395 Vgl. Blei 1997; Schlichtegroll 1908. 401 Vgl. Martin und Pleyers 1984. 396 Vgl. Reinach 1912; zum Leserbrief von Reinach vgl. 402 Vgl. Kapitel «Intimer vs. politischer Blaubart bei Nato- ebd. S. 289f. nek», Abschnitt «Gilles de Rais als französischer Anti- 397 Vgl. Huidobro 1988. held». Stoffgeschichte von Blaubart 67 mann beschrieben, zum anderen ihr detektivi- im später noch besprochenen Drama von Mau- scher Wille nach Aufdeckung der Wahrheit und rice Maeterlinck, die Ausweglosigkeit für die Frau dem Finden von Worten zur Beschreibung ihrer sichtbar, sie kann nur ihren eigenen Untergang Situation. wählen oder alleine von Blaubart weggehen. An- In einer «Romance» von François Auguste ders als bei Maeterlinck, wo sich Ariane von Blau- Paradis de Moncrif (1687–1770) von 1751 fin- bart lösen kann und weggeht, stehen bei Erzäh- det sich die Frau isoliert und eingesperrt, von lungen in der Adolphe-Konstellation Schicksale der Eifersucht ihres Gatten bedrängt, der auch von Frauen, die unlösbar und daran leidend mit das gemeinsame Kind aus Eifersucht tötet.403 Als ihren Partnern verstrickt sind. Bei Karin Struck, der Bruder der Frau zu Besuch kommt, versucht im Roman Blaubarts Schatten (1991) wird das sie ihn daran zu hindern, sich an ihrem Gatten Leiden der Frau besonders auf den Druck bezo- zu rächen: «Mon frère, hélas! c’est toujours mon gen, das gemeinsame Kind abtreiben zu müssen, Époux», ihr Bruder lässt sich aber nicht zurückhal- so dass Blaubarts Mord eigentlich am ungebore- ten, und richtet ihn mit dem Schwert: «Le Comte nen Kind geschieht.410 Im Kriminalroman Blau- expire, et ce cœur sans pitié / Meurt honoré des barts Handy (2001) von Katrin Kremmler wird pleurs de sa moitié.»404 Die Parallelen zu Blaubart beschrieben, wie bei einem lesbischen Paar das sind erkennbar, wie Velay-Vallantin bemerkt, zei- Mobiltelefon als Kontrollgerät funktioniert, bei gen sie «une imbrication très nette de ses épisodes welchem der in der Beziehung dominierende avec ceux du conte».405 Als Mirakelgeschichte aus Blaubart-Typ das Betreten der verbotenen Kam- dem selben Jahr 1751, aber ohne Bezug zu Blau- mer bei Anrufen im falschen Moment sieht: «‹Ich bart, findet sich eine ähnliche Erzählung auch bei habe keine Geheimnisse vor dir, du darfst schalten Benedicto Sigl (1698–1764).406 Das Kind spricht und walten› sagt der Blaubart, ‹nur ruf mich nicht hier selber zum Vater, als dieser sein Stilet der auf meinem Handy an, wenn ich gerade meine schwangeren Mutter durch den Bauch sticht, und Privatangelegenheiten regle, von denen du nichts beide sind danach, «durch die mächtige Hülff und wissen sollst.›»411 Bei Kremmler manifestiert sich Fürbitt des Heil. Antonij» wieder «in bester Ge- dieses Verhalten im Schlagen der Partnerin, diese sundheit».407 kann aus der Gewaltspirale nicht ausbrechen. Als Topos ohne sichtbaren Bezug zu Blau- Diese Abhängigkeit der Frau ist einigermaßen bart finden sich die totale Abhängigkeit der Frau überraschend und im Text von Perrault nicht vor- von ihrem Mann und ihr Zugrundegehen in der gezeichnet. Dort ist ihre Neugierde im Gegenteil Beziehung auch in Benjamin Constants Roman auffällig und wird nicht nur bei Perrault speziell Adolphe (1816).408 Mit der Geschichte von Blau- erwähnt, sondern auch in vielen Komödien the- bart in Verbindung gebracht wird diese Konstel- matisiert. Diese Neugierde von Blaubarts Frau lation, in der die Frau zugrunde geht, erst in Das ist nicht nur negativ, sondern wird schon in ei- Buch Franza (1965/66), einem postum veröffent- ner Studie (ca. 1890) von Paul Avoine durchaus lichten Roman von Ingeborg Bachmann.409 positiv gelesen: «L’instinct de la curiosité est re- Die neu erkannte Dominanz des Mannes, marquable chez la femme qui, d’ailleurs, possède seine tragische Unbesiegbarkeit, lenkt den Blick au plus haut degré l’art de flairer et de découvrir auf das Schicksal der Frau. In ihrer Ehe wird, wie l’inconnu.»412 Avoine würdigt ihr Vorgehen und liest das Ende der Geschichte als Sieg der Hoff- 403 Vgl. Paradis de Moncrif 1992. nung: «Le dénouement de l’action nous apprend 404 Velay-Vallantin 1992b, S. 56. aussi qu’il ne faut jamais désespérer, même au plus 405 Ebd., S. 51. fort de nos angoisses, et que la fortune qui nous 406 Vgl. Sigl 1758; Jäggi 2014 (E-Mail). 407 Sigl 1758, S. 50. 410 Vgl. Struck 1991. 408 Vgl. Constant 1955. 411 Kremmler 2001, S. 198. 409 Bachmann 2004. 412 Avoine 1890, S. 128. 68 Stand der Forschung arrive, après une longue période d’épreuves et de die sich alle auf Blaubart beziehen.418 In Spielfil- misères, doit être employée à faire le bien.»413 Die men wie Suspicion (1941) von Alfred Hitchcock Frau wird so zu einer eigentlichen Identifikations- oder Caught (1949) von Max Ophüls, die eben- figur: «la femme de Barbe-Bleue n’est autre qu’une falls eine investigative Frau und einen Mann als personnification de l’humanité souffrante».414 «stranger» zeigen, gibt es keinen konkreten Bezug Der von Avoine erkannte «esprit d’investigati- zu Blaubart, Tatar hat aber Parallelen zur Erzäh- on»415 wird im 20. Jahrhundert zu einem wichti- lung herausgearbeitet.419 Dennoch spielt in diesen gen Bestandteil der Blaubart-Weiterschreibungen. Adaptionen eher die Orientierung an Mr. Fox eine So verdrängt die investigative Absicht der Frau in Rolle, wo die Nachforschungen der Frau eindeu- der Kurzgeschichte Philomel Cottage (1934) von tiger gewürdigt werden. Agatha Christie die bei Perrault gehegten Zweifel. Die Mr. Fox-Konstellation findet sich auch Darin heiratet Alix einen Mann namens Gerald, in der viel älteren Erzählung L’adroite Princes- nachdem Dick nie genug Interesse an ihr gezeigt se ou les Aventures de Finette (1694), einem con- hatte. Ihre Frage nach Geralds Vergangenheit te von Marie-Jeanne L’Héritier de Villandon.420 bezeichnet dieser als «Bluebeard’s business», ihre Darin werden Finette und ihre Schwestern von Nachforschung in seinen Schubladen zeigt, dass ihrem Vater zu ihrem Schutz in einen Turm ge- er, der von ihrem alten Verehrer Dick als «perfect sperrt, doch der bösartige Riche-Cautèle lockt die stranger» bezeichnet wurde, ein gesuchter Seri- Schwestern aus dem Turm und Finette schafft es enmörder ist. 416 Sie schafft es, Gerald mit einer danach, den Verführer zu töten, worauf der gern- erfundenen Geschichte davon zu überzeugen, gesehene Bel-à-voir sie heiraten möchte. Für Da- dass sie ihn vergiftet hat, worauf er an Herzver- vies sind die Ähnlichkeiten zu Blaubart auffällig: sagen stirbt. Verschiedene Motive aus Blaubart, «In each case there is a powerful, wicked suitor; a die verbotene Kammer (hier als Schublade), die (possibly sexualized) prohibition; and the last in- Anrufung ihrer Brüder (hier der alte Verehrer tended female victim of a series triumphs over a Dick) und das Hinauszögern ihrer Hinrichtung male villain, breaking a cycle of violence.»421 Die- (hier mit dem Erzählen einer Geschichte) treffen se Mr. Fox-Konstellation ist also nicht nur älter auf eine selbstbewusste Frau, wie sie aus Mr. Fox als Blaubart, sondern fand neben L’Héritier auch bekannt ist, und so ist nicht verwunderlich, dass früh weitere Autorinnen. Sowohl in der erwähn- eigentlich sie selbst es ist, die ihren Mann besiegt ten Kurzgeschichte The Grey Woman (1860) von hat. Unter dem Titel Love From a Stranger wurde Gaskell als auch in Erzählungen wie Mysteries of die Erzählung 1936 als Theaterstück aufgeführt Udolpho (1794) von Ann Radcliffe oderRebecca und danach zwei Mal verfilmt.417 (1938) von Daphne du Maurier finden sich ähn- Das Moment des klaren Beweises gegen den liche Konstellationen.422 Im Spielfilm The Piano Ehemann und seine darauffolgende Überführung (1993) von Jane Campion wird Ada, der Ehefrau findet sich auch im RomanBluebeard’s Seventh von Stewart, wie bei Mr. Fox, ein Finger abge- Wife (1936) von Cornell Woolrich und in den hackt. Indem aber als Mise-en-abyme, also als Spielfilmen Bluebeard (1944) von Edgar Ulmer Erzählung in der Erzählung, Blaubart von Laien und (1948) von Fritz Lang, aufgeführt wird, werden die beiden Erzählungen wieder aufeinander bezogen.423 413 Ebd., S. 188. 414 Ebd., S. 131. 415 Ebd., S. 128. 416 Vgl. Christie 2003, S. 46, S. 49, S. 52. 418 Vgl. Woolrich 1952; Ulmer 1944; Lang 1948. 417 Agatha Christie: Love from a Stranger. Regie: Frank 419 Vgl. Hitchcock 1941; Ophüls 1949; Tatar 2004. Vosper. Uraufführung: London, New Theatre, 31. März 420 Vgl. L’Héritier de Villandon 1696a. 1936. 421 Davies 2001, S. 72. 422 Vgl. Gaskell 2000; Radcliffe 2001. 423 Vgl. Campion 1993. Stoffgeschichte von Blaubart 69

Anders verläuft Jane Eyre (1847) von Charlotte Sängerin fragt: «Are you the right man for me? Brontë, in welcher die Protagonistin die ihr vor- Are you safe? Are you my friend?», oder von Com- enthaltene Zone nicht betritt und so ihr männli- bustible Edison in Bluebeard (1996), in welchem ches Gegenüber zur Läuterung bewegt, so dass sie die Sängerin ahnt, dass ihre Faszination für Blau- und Rochester am Ende heiraten können.424 Da bart verletzend sein wird, und von den Would- aber Brontë dieses Frauenschicksal in so bewegen- be-Goods in Bluebeard (2004), wo der tragische de Worte kleiden konnte, und dabei auch Roches- Moment beschrieben wird, in dem die Frau von ters Frau, welche auf dem Dachboden eingesperrt den vergangenen Beziehungen ihres Partners ein- ist, in die Erzählung einbringt, wurde ihr Roman geholt wird.429 trotz fehlendem Aufbegehren der Protagonistin zu einem wichtigen Beispiel feministischer Lite- ratur. Für Nungesser stehen die Erzählungen von Tragischer Geschlechterkampf Radcliffe, Brontë und Du Maurier «für drei Pha- sen der Female Gothic Fiction, die auf den ‹Blau- Um 1900 wird die Erzählung Blaubart zu einem bart›-Stoff rekurrieren».425 Synonym für den Geschlechterkampf, bei wel- Dieser Konstellation folgt auch Angela Car- chem die Frau sich nicht befreien kann und der ter in ihrer Kurzgeschichte The Bloody Chamber Mann als leidender Täter dasteht. Schon zuvor (1979), in welcher ein 17-jähriges Mädchen einen wird Blaubart als kräftige und beeindruckende Fi- Marquis heiratet, aus Einsamkeit die ihr verbo- gur dargestellt. In den Illustrationen von Gustave tene Kammer aufsucht, darin drei tote Frauen Doré (1861) trägt er bedrohliche Gesichtszüge, findet und mit Hilfe des Klavierstimmers und muskulös und kantig wirkt er bei Walter Crane ihrer Mutter den Täter beseitigen kann.426 Sogar (1875).430 Fantastisch und elegant dürfte er in in Bluebeard’s Egg (1983) von Margaret Atwood Cиняя борода (Sinjaja Boroda, Russ. für Blaubart) zögert die Frau nicht, als sie bemerkt, wie ihr Part- aufgetreten sein, einer ballet-féerie, die 1896 von ner Ed ihrer Freundin Marylynn Avancen macht, Marius Petipa in Moskau uraufgeführt wurde.431 sondern versucht mit allen Mitteln sein Hinterge- Bald führen sein Charisma und seine Macht sogar hen aufzudecken.427 Die Künstlerin Cindy Sher- dazu, dass ihn seine Ehefrauen nicht mehr verlas- man ihrerseits wählte für eine Bilderstrecke mit sen wollen oder können, wie die oben erläuterte inszenierten Wachsfiguren 1992 das Märchen Fit- Konstellation der weiblichen Selbstzerstörung, cher’s Bird, welches ebenfalls dem Typus von Mr. die weiter oben Adolphe-Konstellation genannt Fox entspricht.428 wurde, gezeigt hat. Steht die Protagonistin im Mittelpunkt, Der tragische Zustand zeigt sich auch in Mau- scheint ein Abweichen vom Blaubart-Plot unver- rice Maeterlincks Drama Ariane et Barbe-Bleue ou meidlich, was hier an zwei Extremen aufgezeigt La délivrance inutile, welches 1899 in der Wiener wurde; entweder unterwirft sich die Frau dem Rundschau vorab in Deutscher Übersetzung und Mann bis zur Selbstzerstörung oder sie ist von erst 1901 auf Französisch veröffentlicht wur- Anfang an bereit, gegen ihn Nachforschungen de.432 Darin steht Ariane als selbständige Frau aufzunehmen. Offengelassen wird dies aber in im Mittelpunkt. Sie heiratet Blaubart mit dem neuerer Popmusik, wo Blaubart gleich mehrere Male thematisiert wurde, so von den Cocteau 429 Vgl. Cocteau Twins 1993; Combustible Edison 1996; Twins im Lied Bluebeard (1993), in welchem die Would-be-Goods 2004. 430 Vgl. Perrault und Doré 1861; Crane 1875. 424 Vgl. Brontë 2006. 431 Marius Petipa: Cиняя борода (Sinjaja Boroda). Bar- 425 Nungesser 2012, S. 136. be-bleue. Ballet-féerie. Partitur: Petr Schenk; Urauffüh- 426 Vgl. Carter 1981. rung: Sankt Petersburg, Mariinskowo Teatr, 20. Dezem- 427 Vgl. Atwood 1983. ber 1896. 428 Vgl. Sherman 1992. 432 Vgl. Maeterlinck 1970 und 1901. 70 Stand der Forschung festen Vorsatz, seine anderen Frauen zu befreien, gezeichneten Beziehung zwischen Blaubart und welche bei ihm in Gefangenschaft leben. Als sie seinen Frauen. Der schon immer sichtbare Schre- es aber schafft, die Tür in die Freiheit zu öffnen, cken der Verbrechen an den Frauen wird aus der wollen die Frauen nicht hinaustreten, und Aria- Komödie gelöst und in eine Tragödie überführt. ne geht alleine wieder weg. Sie kann die anderen, So setzte sich mit Maeterlinck Blaubart auch die gefangen im Keller ihres «tragischen Helden» im Drama als tragischer Stoff durch, welcher im leben, nicht befreien. Schon 1899 wurde in ei- 20. Jahrhundert nach und nach die zuvor domi- ner anonym gehaltenen Zuschrift an die Wiener nierende grotesk-komische Wahrnehmung ver- Rundschau der emanzipatorische Charakter die- drängt. ses Dramas beschrieben: «Das Weib ist geknech- Bald nach der Wiener Veröffentlichung des tet – Das Weib soll Freiheit haben – Aber wie? Dramas von Maeterlinck wurde 1900, im Text Gibt es nicht Viele, die in einem Kerker, den der datiert auf den 4. November 1899, in Prag die Mann bewacht, lieber leben, als in – Freiheit?»433 lyrisch-experimentelle Erzählung Paní modrovous- Der «aus dem Manuscript übersetzte» Vorabdruck ka (Ungarisch für Fräulein Blaubart) von Ema- des Dramas in dieser «Zeitschrift für Cultur und nuel Lehšerad publiziert.437 Der für seine tsche- Kunst» vom 15. Juli 1899 kam überraschend, chischen Übersetzungen von Maeterlinck und stand am Anfang einer weiteren Auseinanderset- anderen französischen Autoren bekannte Autor zung mit Blaubart im deutschsprachigen Raum in gehörte zum Prager Umfeld der literarischen Dé- dieser Zeit und löste ein, was schon 1891 in der cadence.438 In der Erzählung wird in kurzen Ab- «Kindertragödie» Frühlings Erwachen von Frank schnitten beschrieben, wie Helena Holmova mit Wedekind postuliert wurde: «Es liegt etwas Tragi- Gustav Berg ein Verhältnis anfängt, bei dem er ihr sches in der Rolle des Blaubart. Ich glaube, seine völlig ausgeliefert ist: «Gustav liebte sie blind, er gemordeten Frauen insgesamt litten nicht so viel hatte keine Ahnung, er glaubte alles, was sie ihm wie er beim Erwürgen jeder einzelnen.»434 Dass sagte. Er war völlig unfähig ihre Fallen zu durch- die Frau den Blaubart erlösen soll, imaginiert schauen.»439 Sie verlässt ihn darauf für einen an- auch Henri de Régnier in der Kurzgeschichte Le deren Mann, sehnt sich aber am Ende nach dem sixième marriage de Barbe-Bleue (1892).435 Ihn von ihr verlassenen Gustav. Lehšerad verzichtet «erlöst» eine nackte Schäferin, weil Blaubart seine auf humoristische und kriminalistische Elemente. anderen Frauen jeweils wegen ihren schönen Klei- Er konzentriert sich auf das Innenleben der Fi- dern ermordet hatte. guren, auf ihre Gedanken, Gefühle und Seelen- In Ariane et Barbe-Bleue verbindet Maeter- zustände und schafft so eine moderne Erzählung linck die sensitiv-geistige Weltsicht, bei der die im Sinne der Décadence. Eingeführt wird sie mit Seele im Mittelpunkt steht und sich mystisch wie einem Vorwort von Jiří Karásek, auch er ein Ver- symbolistisch orientiert, gezielt mit emanzipato- treter der Prager Décadence, in welchem er die rischen Anliegen. Dieser Einsatz für Gerechtig- Bedeutung der Erzählung als «Tragedie duše» keit steht symptomatisch für Maeterlincks Idee (Seelentragödie) anhand der «Problematik des von einem erwarteten «Erwachen der Seele», wie psychologischen Sadismus, personifiziert durch er später einen Essay nennt.436 Im Wunsch nach Helena», näher ausführt: «Die Freude am Quä- Veränderung fester Verhaltensmuster sucht er in len ist notwendiger Bestandteil für alle Freuden Ariane et Barbe-Bleue das Blaubart-Phänomen zu der Liebe. […] Fräulein Blaubart ist in der Tat brechen und muss so in den Kern der Erzählung nur ein Kapitel einer größeren Tragödie der Ge- vordringen, der von Abhängigkeitsverhältnissen 437 Vgl. Lehšerad 1900. 433 Wiener Rundschau 1970. 438 Für die Angaben zu Lehšerad danke ich Helena Capko- 434 Wedekind 2000, S. 39. va; vgl. weiter Památník národního písemnictví 2008. 435 Vgl. Régnier 1892. 439 Lehšerad 1900, Abschnitt I, übersetzt mit Hilfe von He- 436 Vgl. Maeterlinck 1919. lena Capkova. Stoffgeschichte von Blaubart 71 schlechter.»440 Die bei Maeterlinck schon als stark mon, und zum anderen, in der Gestalt des Ritters gezeichnete Frau übernimmt bei Lehšerad die Blaubart, den Hilferufen von Anne und dem Tod Führung und wird selbst zum Blaubart. Sie tötet Blaubarts durch die Brüder, eine «gewöhnliche den zu ihr in Abhängigkeit stehenden Mann nicht Mordsgeschichte», welche den Lustmord the- physisch, sondern stößt ihn durch ihre Trennung matisiert, wie die oben erwähnte Ballade Ulrich zurück. Für Karásek macht dies keinen Unter- und Aennchen.444 Wie zu dieser Zeit in der volks- schied: «es ist ohne jegliche Wichtigkeit, ob Herr kundlichen Märchenforschung aktuell, sucht Gustav Berg noch die Waffe genommen und ob Kretschmer in einem möglichst großen Fundus er seine physische Präsenz auch zerstört hätte. Er an «Volkserzählungen» nach einer mythologisch hatte schon seine ‹tantalische Strafe› […] erhal- aufgeladenen Ursprungserzählung. So erreicht ten.»441 Lehšerads Weiterschreibung von Blaubart er eine Reduktion von Blaubart auf einen bluti- zeigt möglicherweise auch, dass er vielleicht Mae- gen Kampf zwischen Ehegatten, was er auch mit terlincks Charakterisierung von Ariane und Blau- brutalen Beschreibungen des Leichen-Verzehrens bart als Rollentausch interpretierte, in welchem und des Verstückelns und Aufhängens der Frauen der Mann der dominanten Frau ausgeliefert ist. illustriert, und fixiert sie als Erzählung über den Das Drama von Maeterlinck selber wurde von Kampf in der Ehe, bei welchem der Mann seine Paul Dukas für die Oper Ariane et Barbe-Bleue Übermacht zu beweisen sucht. Von einer franzö- benutzt, welche 1907 in Paris uraufgeführt wur- sischen Erzählung wird Blaubart zu einem Stoff, de.442 In der Musik von Dukas bestätigt sich der «so allgemein menschlich» ist, dass er sich die tragische Darstellung von Maeterlinck. Von nicht «local fixieren» lässt.445 Indem Kretschmer Ernsthaftigkeit und wagnerischem Pathos durch- das «Blaubartmärchen» «in ganz Europa verbrei- drungen, getragen von der ergreifenden Melodie tet» sieht, kann der Stoff stärker für den deutsch- des Gesangs der «cinq filles d’Orlamonde» im sprachigen Raum vereinnahmt und sowohl von zweiten Akt, schrieb Dukas eine spannungsvolle der Erzählung von Perrault als auch von der Le- Musik, die keinen Moment mehr an Offenbach gende um Gilles gelöst werden.446 und die übrige komische Tradition denken lässt. Die weitere Entwicklung zu einer mythisier- Offensichtlich inspiriert von der ernsthaft tragi- ten Erzählung des Geschlechterkampfs stand im schen Auslegung des Blaubart-Stoffes hielt Paul Geist der Zeit. So lancierte 1903 der Wiener Kretschmer am 13. November 1900 vor der Otto Weininger einen Angriff auf «die Frau» an Anthropologischen Gesellschaft in Wien einen sich und bekämpfte in seiner Studie Geschlecht Vortrag zu Blaubart, welchen er 1901 veröffent- und Charakter das «Weib» in der «Menschheit».447 lichte.443 Darin bestreitet er die von Bossard in Der Mord an der Frau wurde dabei im Kampf der Frankreich verteidigte Verknüpfung von Blaubart Geschlechter als für den Mann unvermeidlich be- mit Gilles, und stellt viel mehr den Ursprung der schrieben. Dies zeigt sich auch in Herbert Eulen- Erzählung in unterschiedlichen Sagen, Legenden bergs TheaterstückRitter Blaubart (1905).448 Der und Balladen fest. Kretschmer meint, dass bei Protagonist wird als attraktiver, aber jähzorniger Blaubart zwei unterschiedliche Erzähltypen zu- Frauenmörder beschrieben, welcher erst getötet sammen kommen, zum einen, angezeigt durch werden kann, als sein Diener seine Burg anzündet die Gehorsamsprobe, ein (altgriechischer) «My- und der Vater und ein Bruder der beiden Schwes- thus» eines leichenverzehrenden Unterweltsdä- tern, deren Tod er zusammen mit fünf anderen verantwortet, ihn stellen können. Dieser Blaubart 440 Jiří Karásek, in ebd., o.S. 441 Ebd. 444 Ebd., S. 69. 442 Paul Dukas: Ariane et Barbe-bleue. Conte musical en 445 Ebd. trois actes. Libretto: Maurice Maeterlinck; Urauffüh- 446 Ebd. rung: Paris, Opéra Comique, Salle Favart, 10. Mai 1907. 447 Vgl. Weininger 1903. 443 Vgl. Kretschmer 1901. 448 Vgl. Eulenberg 1905. 72 Stand der Forschung sieht sich als radikales Beispiel eines allgemeinen gebliebenen Puppenspiel Blaubart (1910) von Phänomens: «Wie viele Mörder sitzen in der Ehe, Georg Trakl.455 Die sexuell aufgeladene Hinrich- ohne Blut an den Händen zu haben.»449 1920 tung der mädchenhaft schwachen Ehefrau wirkt wurde der Text gekürzt in der gleichnamigen durch die Brutalität des überstarken Mannes wie Oper von Ernst Nikolaus von Reznicek vertont.450 eine Karikatur auf die misogynen Blaubart-Tex- Eulenbergs Drama steht am Anfang einer te dieser Zeit. Schoßleitner bleibt in einem Essay Reihe von Blaubart-Texten im deutschsprachigen (1912) in der Zeitschrift Brenner bei der Idee, dass Raum, in denen ein Mann als tragischer Held «männliche Probleme, Probleme des Mannes» im Verbrechen an Frauen begeht. Beim Vergleich Mittelpunkt stehen sollen, und kritisiert entspre- von Eulenbergs Text und anderen Blaubart-Tex- chend Maeterlinck, bei welchem Blaubart kaum ten von Karl Schoßleitner, El Hor, Alfred Döblin, zu Wort kommt: «[Maeterlinck] wollte anschei- Georg Trakl, Georg Kaiser und Paul Wiegler von nend nur die Voraussetzung eines Blaubart-Dra- 1905 bis 1913 stellt Davies fest: «these texts are mas benützen, um daranschließend ein Problem remarkable, since they are unprecedented in the der Frauen zu entwickeln.»456 merciless, consistent savagery which they direct at Einen differenzierteren Blick versuchte Béla women.»451 So befürwortet Wiegler in einer Kri- Balázs in seinem erstmals in der Kulturzeitschrift tik zu den Blaubart-Adaptionen von Offenbach, Szinjaték veröffentlichten TheaterstückA Kéks- Dukas und France in der Literaturzeitschrift Die zakállú herceg vára (Ungarisch für Herzog Blau- neue Rundschau (1909) die Gewalttätigkeit von barts Burg, 1910) einzunehmen.457 In diesem Blaubart.452 Er sieht sich dabei mit seinen Lan- 1913 als Kammerspiel gezeigten und 1918 mit desgenossen im Bunde, denn «[die Deutschen] der Musik von Béla Bartók als Oper aufgeführ- wollten ihn als Mörder. Sie ließen dem Stoff seine ten Drama weiß Blaubarts Frau Judith von seinen Konturen und das Barbarische», im Gegensatz zu Verbrechen, als sie zu ihm geht.458 Sie will, wie den französischen Versionen (besonders im Bezug bei Maeterlinck, Licht in die dunkle Burg brin- auf Maeterlinck), wo dem «bretonischen Ritter» gen. Doch bei Balázs erscheint die Burg selbst als durch «Empfindsamkeit» gesühnt wird.453 Aktant, und Judith stellt fest, dass die Mauern Dieser Kampf der Geschlechter findet sich «weinen», «seufzen» und «bluten».459 Blaubart lei- auch in Oskar Kokoschkas im Sommer 1909 det unter seiner Burg, denn eigentlich sind es die in der zweiten Wiener Kunstschau aufgeführtem Mauern, welche die Frauen in sich einschließen, Drama Mörder, Hoffnung der Frauen.454 Das 1910 so auch Judith. Von Blaubart mit Schmuck be- in der Zeitschrift Der Sturm veröffentlichte Frei- deckt, erstarrt sie neben den anderen Frauen und lichtspiel zeigt einen von tribalistischer Ästhetik er verschwindet in «ewiger Dunkelheit». An das inspirierten Kampf zwischen «Mann» und «Frau», Stück von Eulenberg erinnert die Frau von Blau- bei welchem die Frau am Ende zwar unterlie- bart bei Balázs nicht nur durch den Namen Judith, gt, doch auch der siegreich-zerstörerische Mann sondern, in den Worten von Davies, «she also durch die Flammen dem Leben entsteigt. Über- gives up a life of respectability and carefully sanc- haupt nicht ausgeglichen, sondern ins Groteske tioned relationships, controlled by male relatives, überspitzt wirken die Verhältnisse im Fragment when she runs away from her ‹family›, ‹brother› and ‹intended bridegroom› for unconditional 449 Ebd., S. 110. 450 Vgl. Reznicek1920; Uraufführung: Darmstadt, Landes- theater, 29. Januar 1920. 451 Davies 2009, S. 32. 455 Vgl. Trakl 1939. 452 Vgl. Wiegler 1909. 456 Schoßleitner 1912, S. 522. 453 Wiegler 1909; hier in: Davies 2001, S. 167. 457 Vgl. Bartók 1987. 454 Kokoschka 1973; Uraufführung: Wien, Wiener Kunst- 458 Vgl. ebd.; Uraufführung: Budapest, Magyar Királyi Ope- schau, 1909. raház (Budapest Opera), 24. Mai 1918. 459 Bartók 1987, S. 148–151. Stoffgeschichte von Blaubart 73 love of a mysteriously fascinating Bluebeard.»460 Kraft und muss aus einem Übermaß an Gefühlen Auch Maeterlinck erscheint als Referenz, jedoch seine Geliebten töten: für Leafstedt weniger Ariane et Barbe-Bleue sel- ber, als Maeterlincks symbolistische Dramen der Die Glieder, die ihn unersättlich einklammerten, 1890er Jahre: «The one-act format of these plays, die wohlriechende Haut, die funkelnden Zähne, combined with their dreamlike atmosphere and die Haare, die seine Wange streichelten, die Flam- virtual lack of action, shows them to be the true me des Mundes – er musste das alles haben, mit stylistic predecessors of Bluebeard’s Castle».461 seinen Küssen in sich saugen, mit den Armen in Das bei Maeterlinck zentrale psychologi- sich hineindrücken, jedes Glied, jedes Atom – ohne sche Element wird bei Balázs stärker vertieft, Ende.464 die Handlung ganz auf Blaubart und seine letzte Frau beschränkt, mit der Musik von Bartók auf Um nicht mehr morden zu müssen, ergreift er vor eine eine einzige langsam sich windende Steige- seiner letzten Geliebten die Flucht, sondert sich rung, ein verführerisches, trauriges, von Klagen auf einer von Leprakranken bewohnten Insel ab durchzogenes und doch erotisches sich Annä- und nimmt sich das Leben. hern, welches sich am Ende in Erstarren und Ver- In der Weiterschreibung um 1900, besonders schwinden auflöst. Die für ein Abendprogramm im deutschsprachigen Raum, wird Blaubart als zu kurze Oper enthält, da es keine eigentlichen psychologisches Drama und Tragödie der Ge- Bewegungen oder Handlungen gibt, auch keine schlechter gleichsam mythisiert. Neben der Frau- Höhepunkte oder Verschnaufpausen, sondern sie enfeindlichkeit zeigt sich auch der Wunsch nach dreht sich gleich einer Schraube langsam ein, bis deutscher Selbstbehauptung. So hatte sich das sie sich ganz versenkt. Entsprechend erscheinen Deutsche Reich nach der Wiedergründung durch weder Blaubart noch seine Frau allein als Täter Bismarck zu einer prosperierenden Nation entwi- oder Opfer, sondern verstricken sich in die schick- ckelt. Gleichzeitig, wie George L. Mosse in sei- salshafte Verknüpfung, die für beide das Ende be- ner historischen Studie The Image of Man (1996) deutet. Bartóks wegweisende Oper ist in so un- beschreibt, geriet das moderne Stereotyp der terschiedlichen Arbeiten präsent wie in George Männlichkeit, welches um 1900 etwa durch eine Steiners kulturkritischem Buchessay Bluebeard’s «griechischen» Physis, einen «stählernen» Charak- Castle (1971) oder als Musikschallplatte in Pina ter und den Nationalismus als Grundgedanken Bauschs geschlechterkritischem Tanzstück Blau- charakterisiert wurde, in eine Krise, etwa durch bart (1977).462 die Emanzipation der Frau, der Homosexuellen Ein Beispiel für einen Blaubart als «Über- und der Juden, was das männliche Stereotyp zu- mensch», gibt es im Roman Blaubart (1925) von sätzlich festigte.465 Für Klaus Theweleit, in seiner Marga Passon, welcher von Sir Hugh handelt, Untersuchung zu «Gesetzen und Strukturen des Kind einer Asiatin und eines Engländers.463 Als ‹Organismus Mann›», zeigen um 1920 entstan- Erwachsener ist er von übergroßer Statur und dene autobiografische Schriften und Romane deutscher Freikorpssoldaten besonders eines: die 460 Davies 2009, S. 48. «Geschichte des männlichen/europäischen Ich 461 Leafstedt 1999, S. 38. gegen die Frau».466 Auch die diskutierten Autoren 462 Vgl. Steiner 1971; Pina Bausch: Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper «Her- von Blaubart-Texten suchten eine Bestätigung für zog Blaubarts Burg»; Uraufführung: Wuppertal, Opern- einen Kampf um eine Männlichkeit, die sich mit haus, 8. Januar 1977. Gewalt von der Frau als Objekt der Begierde lösen 463 Vgl. Passon 1925. muss, wie Davies beschreibt; «and this means that

464 Ebd., S. 66f. 465 Vgl. Mosse 1996. 466 Theweleit 2002, S. 483 und Klappentext. 74 Stand der Forschung the writers had an urgent interest in promoting «Todeslyrik» läuft der Terror auf Doras Tod hin- their ideas by appealing to such powerful, albeit aus, ohne eine Handlung zu erzählen: fallacious notions as national authenticity, histo- rical truth, and original meaning.»467 ‹Blaubart› ist hier ein Angstsyndrom der Patientin Diese Konstellation, in welcher Blaubart als Dora, hervorgerufen durch Sigmund Freud, dessen vermeintlich göttlich gelenkter leidender Tä- Psychoanalyse damals auf einen durchschnittlichen ter dargestellt wird, zeigt sich auch in Heiselers Verstand gewirkt haben muss wie Geisterbeschwö- Schauspiel Das Haus der Angst oder der goldene rung. […] Blaubart ist außerdem ein Synomym für Schlüssel (1950), welches unten noch bespro- das männliche Eindringen in die Frau, in die Ge- chen wird; Blaubarts letzte Frau überlebt und samtheit der Frau.473 verzeiht ihm seine vorhergehenden Morde.468 Blaubart als enttäuschter, unzufriedener oder wü- In der Animation Barbe-Bleue (2004) von Fran- tender Mann findet sich auch bei Eddy Mitchell çois Chalet wird die Idee der Erlösung des Man- im Rock’n’Roll-Song Barbe Bleue (1965). Jeder nes durch das Töten der Frau ikonografisch zuge- «richtige» Mann sei ein Blaubart: «Notre Amour spitzt: Das rote Kleid der Frau bildet ein genaues ne tourne pas rond / Non, non, non, J’ai eu tort Gegenüber zu seinem blauen Bart, die beide gleich de t’aimer / Maintenant tout est raté / Je n’peux groß als Dreiecke dargestellt werden, und so kann pas supporter / Que Barbe Bleue soit lésé / Bar- ihr Rot ihn von seinem Blau erlösen.474 be Bleue voulait t’aimer / Tant pis pour toi c’est raté.»469 Ohne direkten Bezug auf Blaubart spit- zen dies die Ramones im Punk-Song You Should Weiblicher Blaubart Never Have Opened That Door (1977) auf einen unzufriedenenen Mann mit einer bösen Seite zu: Zwar war durch die Travestie der Geschlechter- «You don’t know what I can do with this axe chop wechsel bei Blaubart verbreitet, trotzdem blieb off your head so you better relax.»470 Blaubart in der früheren Rezeption meist ein Im musikalischen Trickfilm Очень синяя борода Mann. Der möglicherweise erste weibliche Blau- (Otschen sinjaja boroda, Russ. für Sehr blauer bart findet sich 1842 in Sues weiter oben er- Bart, 1979) von Vladimir Samsonov kann der wähntem Roman Le Morne-au-Diable. Jedoch Blaubart sein Leiden gegenüber einem Detektiv ist die Blaubärtin nur eine vermeintliche, sie hat so glaubhaft verteidigen, dass diesem danach bei sich den Ruf zur Abschreckung zugelegt. Ein ers- einem Gespräch mit seiner Lebenspartnerin eben- ter wirklich weiblicher Blaubart findet sich im falls ein blauer Bart wächst.471 Ein Gegenstück «Lustspiel» Blaubart (1861) von Roderich Bene- zu Samsonovs Leichtfüßigkeit bildet die in abs- dix, jedoch kein wirklich verbrecherischer.475 So trakten Bildern gehaltene Oper Blaubart (1984) lockt die Protagonistin Rosamunde drei Männer von Franz Hummel.472 Blaubarts Frau wird hier in eine Neugierde-Falle, in welche eigentlich ein als die Dora aus Sigmund Freuds «Fall Dora» be- Mann ihre Freundin locken wollte. Sie stellt fest, schrieben und steht ihrem Vater, «Herrn K.» und dass die Männer ebenfalls neugierig sind. Damit «Sigmund» gegenüber. Orientiert an Georg Trakls erscheint diese Komödie für ihre Zeit einzigartig,

467 Davies 2001, S. 170. wie Davies ausführt: 468 Vgl. Heiseler 1951; Uraufführung: Köln, Aula der Uni- versität Köln, 22. Juli 1950; vgl. Kapitel «Heiselers christ- 473 Hummel 1984b, S. 3. liche Vision des Verzeihens». 474 Vgl. François Chalet: Barbe-Bleue. (Animation et musi- 469 Mitchell 1965. que). Musik von Matthias Vetter; Uraufführung: Mau- 470 Ramones 1977. beuge/Lille (France), Le Manège de Maubeuge, 2004. 471 Vgl. Samsonov 1979. 475 Vgl. Benedix 1861. 472 Vgl. Hummel 1984a; Uraufführung: Frankfurt am Main, Theater am Turm, 13. Oktober 1984. Stoffgeschichte von Blaubart 75

The comedy certainly derives from such conven- lix wohnen, bis die Scheidung eingereicht sei. Sie tional business as intrigue and multiple entrances bittet ihn dafür, seine Liebhaberinnen während and exits; but from a feminist point of view too it dieser Zeit nicht zu sehen. Während ihres Aufent- has a more utopian aspect, suggesting liberation for halts verliebt sich Felix wirklich in Lilly, und es women from subordinate gender roles, the possi- kommt heraus, dass Paul und Lilly die Geschichte bility of successful solidarity between women, and erfunden hatten. Lilly, eine Verwandte von Pauls a lack of closure – and thus, of foregone conclu- Frau, hatte sich in den Frauenhelden verliebt und sions.476 wollte ihn für sich gewinnen, was am Ende auch gelingt. In der Operette von Ábrahám hingegen Als Frau ist Blaubart bei Benedix nicht böse, son- bleiben Albert und Stefan, wie die beiden Freunde dern an einem humorvoll-moralischen Exempel nun heißen, ohne die Frauen zurück. zum Problem der Neugierde bei Eheleuten in- Das Stück von Drégely wurde 1923 von Ave- teressiert. Mit diesem nicht-bösen weiblichen ry Hopwood umgearbeitet und in der «Come- Blaubart kommt nun ein weiteres Potential von dy» Little Miss Bluebeard mit Musik von George Blaubart zur Entfaltung: die Logik des Bezie- Gershwin in New York gezeigt.479 Darin pflegt die hungslebens, in welchem die Neugierde auf mög- Französin Colette den im Krieg verletzten Kom- liche Geheimnisse des anderen und insbesondere ponisten Larry im Feldspital, nachdem ihm sein seine Treue getestet werden will. Nachdem also Freund Bob das Leben gerettet hat. Larry, der in verschiedenen Bühnenkomödien Blaubart als verschiedene Liebhaberinnen hatte, nennt Lilly Beziehungsstück zugespitzt wurde, steht in Max einen Blaubart, weil er und Paul gleichzeitig sie zu Bernsteins Ritter Blaubart (1886) der Blaubart für begehren scheinen, sie sich aber scheinbar beide den mehrfach geschiedenen Kurt von Osten.477 Optionen offenhält. Doch sie täuscht ihre Blau- Dieser und sein Bruder Karl liefern sich mit Leo- bart-Rolle nur vor, um ihm den Spiegel vorzuhal- nore und ihrer Freundin Paula eine Verwechs- ten, und meint, als er ihr sagt, dass er nie wirklich lungskomödie, an deren Ende zwei glückliche in seine Geliebten verliebt war: «Oh, yes, I’m the Paare stehen – Blaubart wird zur Ehescheidungs- same with the men.»480 Colette schafft es, Larrys komödie. Verhalten zu persiflieren und provoziert ihn als Ein Spiel mit den Blaubart-Zuschreibungen «great, big, strong, beautiful, temporary husband auf beiden Seiten findet sich auch in Gábor Dré- Larry!» – als sie für einen Moment traurig wird, gelys Lustspiel Der Gatte des Fräuleins (1915), meint sie nur: «I’m just a poor, lonely, unmarried 1928 von Pál Ábrahám in Az utolsó Verebély lány girl with two husbands.»481 Schließlich finden (Ungarisch für Der Gatte des Fräuleins) als Ope- die beiden zueinander, und sie kann ihre Liebe rette aufgeführt.478 Im Stück von Drégely besucht eingestehen. Frank Tuttle verfilmte den Stoff in Paul seinen alten Freund Felix Tanner, einen poli- den USA gleich zweimal, 1925 im Stummfilm tischen Abgeordneten, mit dem er in besonderer Miss Bluebeard und 1930 im TonfilmHer Wed- Freundschaft verbunden ist, und gibt vor, dass die ding Night.482 Bei Drégely, Ábrahám, Hopwood ihn begleitende Lilly und er geheiratet hätten, ob- und Tuttle zeigt sich das Blaubärtige in den gelo- wohl er schon Frau und Kind hat. Er habe sich ckerten Sitten, in denen eine Beziehung nur noch dabei als Felix ausgegeben, weshalb sie nun ei- temporär eingegangen wird, anstatt sich fest zu gentlich die Frau von Felix sei. Sie soll nun bei Fe- vermählen; ein Verhalten, zu welchem sich hier beide Geschlechter hingezogen fühlen. 476 Davies 2002. S. 343. 477 Vgl. Bernstein 1886. 479 Vgl. Hopwood 1923; Uraufführung: New York, Lyceum 478 Vgl. Drégely 1916; Uraufführung: Wien, Deutsches Theatre, 1923. Volkstheater, 23. Dezember 1915; vgl. Ábrahám 1930; 480 Ebd., S. 31. Uraufführung als Az utolsó Verebély lány: Budapest, Fő- 481 Ebd., S. 33f. városi Operettszínház, 13. Oktober 1928. 482 Vgl. Tuttle 1925 und 1930. 76 Stand der Forschung

Eine ähnliche Karriere durchlief Alfred Savoirs Eine Kriminalerzählung mit verbrecherischer 1921 in Paris uraufgeführte Bühnenkomödie La Blaubärtin wurde in Ein weiblicher Blaubart huitième femme de Barbe-Bleue, in welchem sich (1903) unter dem nicht eruierbaren Autorenna- ein Pärchen ähnlicher Konstellation gegenüber- men «H. de Vermont» publiziert.486 Darin sucht steht.483 Noch im selben Jahr in New York insze- eine Frau, die sich als Millionärin ausgibt, mit- niert, drehte Sam Wood damit 1923 den Stumm- tels einer Annonce einen Ehemann. Nachdem der film Bluebeard’s Eighth Wife, der aber der Zensur Bewerber sich finanziell ruiniert, um bei ihr gut zum Opfer fiel und erst in der Ton-Verfilmung dazustehen, und sie doch nicht zusammenkom- von Ernst Lubitsch von 1938 einem breiteren men, wird aufgedeckt, dass sie schon über zehn Publikum bekannt wurde.484 Darin schafft es die Männer betrogen hat. Vor Gericht, wo sie Violet- Französin Nicole, den mehrfach geschiedenen te Chervort genannt wird, wird sie mit ihren ehe- Geschäftsmann Michael zu bezähmen, wobei sie maligen Männern konfrontiert, welche, ebenfalls in diesem «Kampf der Geschlechter» zu harten als Schelme enttarnt, vom Gerichtssaal ausgelacht Mitteln greifen musste. Mit seiner humorvollen werden. Diese «schöne Engländerin» entweicht Kritik an Zweierbeziehung und Psychoanalyse zusammen mit dem Richter und einem Wärter schuf Lubitsch einen eigentlichen Filmklassiker und entgeht so ihrer Verurteilung, womit Ver- der Beziehungskomödie. mont die Erzählung offen enden lässt. Die möglicherweise erste Version von Blau- Nicht als Hohn über betrogene Hochstapler, bart, in welcher die Frau sowohl die Rolle von sondern als Warnung vor einer weiblichen Ehe- Blaubart, als auch seine verbrecherischen Seiten schwindlerin mit mörderischen Absichten for- übernimmt, findet sich in der Pantomime Bar- mulierte Karl Hans Strobl den Roman Madame be-bleuette (1889) von Raoul de Najac mit Mu- Blaubart (1915), verfilmt von Conrad Wiene sik von Francis Thomé.485 Darin nimmt Pierrot, (1931).487 Der Abenteurer Ruprecht von Boschau der fünfte Ehemann von Colombine, die Position lernt darin die schöne Witwe Helmina von Dank- von Blaubarts Frau ein. Er ist neugierig und ent- wardt kennen. Sie heiraten und leben mit ihren wendet seiner Frau die Schlüssel, woraufhin sie zwei Töchtern aus früherer Ehe auf ihrem Schloss ihn köpft. Trotz der Gefahr will Pierrots Freund Vorderschluder. Nach anfänglich intensiver Nähe Arlequin sie heiraten, da er sie liebt. Colombine entfernen sie sich immer stärker voneinander. willigt ein, und das Publikum ahnt sein Schick- Sie ist zwar in ihn verliebt, steht aber unter dem sal. Weniger eindeutig ist der Verlauf in Linderers Druck von professionellen Eheschwindlern aus oben erwähnter Posse Madame Blaubart von Wien. Durch sie ist Helmina zu diesem Anwe- 1900, in welchem sich am Ende der Verdacht auf sen gekommen, und im Bund mit ihnen hat sie mörderische Absichten der Frau als falsch heraus- für Geld schon drei Ehemänner getötet – Rup- stellt – ohne aufzuklären, ob und warum die Frau recht wäre als nächstes dran. Stattdessen muss schon vierfache Witwe ist. Eine tragisch konno- sie fliehen, verführt dabei den Schriftsteller Fritz, tierte Erzählung eines weiblichen Blaubarts findet welcher aber auf ihrer gemeinsamen Flucht um- sich in der weiter oben erwähnten, ebenfalls 1900 kommt. Da dessen Frau Hedwig die Jugendliebe veröffentlichten Erzählung von Lehšerad, in wel- von Ruprecht war, finden die zwei zusammen cher ein Mann sich einer Frau bis zur Selbstauf- und werden am Romanende das Liebespaar auf gabe ausliefert. Schloss Vorderschluder. Helmina und ihre Helfer hingegen sehen auf einem Dampfer in die USA ihrer Verhaftung entgegen. 483 Vgl. Savoir 1921; Uraufführung: Paris, Théâtre Mathu- Die Spannung in Madame Blaubart wird rins, 14. Januar 1921. 484 Vgl. Wood 1923; Lubitsch 1938. durch die Faszination, Erotik und Ausstrahlung 485 Vgl. Najac 1890; Uraufführung: Paris, Hôtel Continen- 486 Vgl. Vermont 1903. tal, 28. Februar 1889. 487 Vgl. Strobl 1925; Wiene 1931. Stoffgeschichte von Blaubart 77 von Helmina bestimmt. Diese Frau, welche es ge- schafft hat, ein Schloss zu besitzen und mehrere Künstler vs. Durchschnittstyp Männer zu heiraten, wird als durch und durch böse beschrieben, der Mann hingegen als un- Nachdem Blaubart bei Perrault vermögend und zweifelhaft und ideal. Die revisionistische und scheinbar ein «fort honneste homme» ist, entwi- patriarchale Ordnung kehrt ein, als der Mann ckelt er sich schon vor 1800 zum grausamen Des- das Schloss unter seine Macht bringt und zur auf pot oder zum orientalisierten Tyrann. In Krings- den Rollstuhl angewiesenen Hedwig findet. Der teiners erwähnter Mundartkomödie Die Braut in weibliche Blaubart zeigt sich so als Spielart der der Klemme von 1804 ist Blaubart ausnahmswei- Femme fatale, des männerverzehrenden Vamps, se ein gewöhnlicher Fasszieher, also ein Verlader der dämonischen Verführerin, gerne mit Insek- von Fässern, welcher eine Obsthändlerin heiratet. ten verglichen wie der Gottesanbeterin oder der Sonst ist Blaubart im 19. Jahrhundert meist Ade- Schwarzen Witwe. liger oder sogar König, und spielt die Adaption Trotzdem hat sich der weibliche Blaubart als in einem bürgerlichen Milieu, entpuppt sich der außergewöhnliche Spielart erhalten, etwa in Le vermeintliche Blaubart meist als fälschlicherweise retour de Barbe-Bleue (1990) von Paul Guth, in verdächtigt. Ein «gewöhnliches» und bürgerliches welchem eine bärtige Frau durch ihre Isoliertheit Milieu wird aber nach dem «tragic turn» um 1900 zur Serienmörderin wird, im erwähnten Lesben- zu einem zentralen Bezugspunkt der Neuschrei- krimi Blaubarts Handy (2001) von Karin Kremm- bungen. ler oder im KunstfilmBluebeard (2007) von Alice Bemerkenswerterweise ist in dieser Zeit ein Anderson, in welchem sich eine gutaussehende weiblicher Blaubart in Linderers erwähnter Pos- Frau mit blauem Bartflaum in einen Mann ver- se Madame Blaubart von 1900 als erste(r) aus liebt, welcher sich nicht von seiner Mutter lösen einem Umfeld ohne besonderen Stand. Hier hat- kann.488 te die Frau des Apothekers Krämer zwar mehrere Außer in den beiden Versionen von Guth Nachnamen von ihren verflossenen Gatten erhal- und Anderson hat keine der Frauen, welche als ten und wohnte vor Berlin in kleinen deutschen Blaubart bezeichnet werden, einen körperlichen Landstädten, doch ist weder ihr Vorname noch Makel, also einen blauen Bart. Sie alle werden ihr Mädchenname bekannt. Es ist deshalb ver- als attraktiv und – vielleicht ist das ihr «Makel» ständlich, dass ihr neuer Gatte sich verunsichern – selbständige Personen beschrieben. Während die lässt und seine Köchin sagt, dass er «eine Frem- Frau bei Sue, Benedix, Najac, Lehšerad und Ver- de» geheiratet habe.490 Zwar wird ihr familiärer mont die Oberhand behält und ein Mann an ihrer Hintergrund nicht gelüftet, doch die zahlreichen Seite bleibt, sieht sie bei Strobl zum ersten Mal gemeinsamen Bekannten geben ihm am Ende ihrer Bestrafung entgegen. Doppelbödig wird das genügend Sicherheit. Vergleicht man diese Posse Spiel, wenn Frau wie Mann vermeintlich blaubär- mit anderen Erzählungen zu «weiblichen Blaubär- tig sind, was Drégely durch die feste Bindung der ten», war der Verdacht wohl naheliegend, denn beiden aufzulösen sucht. Die Gegenseitigkeit der eine fremde Frau ohne Namen stellt sich bei den Dominanz, und somit eigentlich auch die Mög- erwähnten Versionen von Vermont und Strobl als lichkeit eines weiblichen Blaubarts hatte wohl Eheschwindlerin heraus. schon Perrault angedeutet, als er in der zweiten Danach ist es ein Apotheker oder Chemiker Moral von La Barbe bleüe den heutigen Ehegatten selbst, welcher zum Blaubart wird. In der Kri- beschrieb: «Prés de sa femme on le voit filer doux; minalerzählung In Blaubarts Kammer (1903) der / Et de quelque couleur que sa barbe puisse estre, nicht eruierbaren Autorin B. Rubiner lebt eine / On a peine à juger qui des deux est le maistre.»489 Frau beim Chemiker Warburg, die er als Waise 488 Vgl. Guth 1990; Kremmler 2001; Anderson 2007. 489 Perrault 1697, S. 82. 490 Linderer 1900, S. 6. 78 Stand der Forschung adoptiert hatte.491 Da er ein verschlossenes Privat- ihn seine siebte Frau, mit der er noch vor der laboratorium unterhält, fällt ein Verdacht des Ver- Anklageerhebung zusammenkam, nach der Ge- brechens auf ihn. Doch es ist sein Assistent Kel- richtsverhandlung verlassen – wegen einem an- ling, welcher verräterische Absichten hegt und die deren Mann. Dea Loher ihrerseits beschreibt den chemische Innovation seines Arbeitgebers, welche Protagonisten in Blaubart – Hoffnung der Frauen «ein ganz neuer Explosivstoff» werden soll, ent- (1997) als Damenschuhverkäufer im Einzelhan- wenden will.492 Emilie, wie die Frau heißt, kann del.496 Sein Verhältnis gegenüber Frauen, von sich von dem sie begehrenden Kelling lösen und denen er mehrere umbringt, verdichtet sich beim öffnet ihr Herz stattdessen ganz ihrem unbeschol- Anprobieren der Schuhe: tenen Adoptivvater: «‹Mein Vater … mein Freund … mein Geliebter!› tönte es leise in sein Ohr.»493 Die Haltung, die Heinrich beim Anprobieren der Auch die Erzählung Ritter Blaubart (1911) von Schuhe einnimmt – kniend vor der Kundin, einen August Trinius spielt in einer ähnlichen Umge- unausgesprochenen Heiratsantrag nahelegend –, bung.494 Blaubart ist darin ein Kleinstadt-Apothe- und die Geste, mit der er den anzuprobierenden ker, den eine frische Berlinerin aus der Einsamkeit Schuh aus der Schachtel nimmt, […] diese seine seiner Laborkammer erlöst. Haltung also erinnerte die Frauen notgedrungen Nachdem die fremde Frau als Eheschwind- an das Märchen vom lange zu Unrecht verkannten lerin dem Ideal des Blaubart-Typus entsprochen Aschenputtel, dem endlich der Ritter den richtigen hatte, werden im 20. Jahrhundert nach und nach Schuh anpaßt.497 männliche Blaubärte vorgestellt, die von der Cha- rakteristik des Adeligen, des Königlichen oder Im Gegensatz zu Frisch strahlt dieser Blaubart ganz generell des Besonderen abweichen und eher trotz seiner Misogynität Faszination aus, man einem beherrschten, unauffälligen, zurückhal- kann die Anziehung nachvollziehen, die er auf tenden Typ entsprechen. Die erwähnten Krimi- seine Opfer ausübt. nalerzählungen von Agatha Christie (1934) und Eine besondere Rolle bei bürgerlichen, also Cornell Woolrich (1936) und der ebenfalls schon nicht adeligen Blaubärten spielt der Künstler. erwähnte Spielfilm von Fritz Lang (1948) spielen Ein frühes Beispiel findet sich in der Kurzge- in der damaligen Gegenwart, einer modernen sich schichte Ein harmloser Blaubart von Leopold von entfremdenden Gesellschaft. Entscheidet die Frau Sacher-Masoch, veröffentlicht 1873 als eine von selbst, wen sie heiraten will, und heiratet sie so mehreren «kleinen Geschichten aus der Büh- jemanden, den sie nicht kennt, geht sie das grau- nenwelt».498 Der vermeintliche Blaubart namens same Risiko ein, an einen Mörder zu geraten. Strahl ist ein Schauspieler am Hoftheater, welcher Nicht böse, sondern bemitleidenswert ist der nichts von der Ehe hält und deshalb jeweils die Blaubart, genannt Felix Schaade, Arzt für Innere für den König nicht mehr interessanten Mätres- Medizin, im Roman Blaubart (1982) von Max sen heiratet, die als Schauspielerinnen an diesem Frisch.495 Schaade wird angeklagt, seine sechste Theater arbeiten. Die letzte dieser Frauen heißt Frau Rosalinde umgebracht zu haben. Er wird Benjowski: «Fräulein Benjowski rauchte, ritt, zwar freigesprochen, zerbricht aber am Gefühl, schoß, jagte, sie hatte stets ein halbes Dutzend der Durchleuchtung seines Lebens nicht mehr Anbeter auf einmal, betrog und misshandelte alle ausweichen zu können, und fährt am Ende mit und wurde infolge dessen von allen angebetet.»499 dem Wagen gegen einen Baum. Ebenfalls hat Sie bleibt Strahl treu, obwohl er sehr gerne wieder

491 Vgl. Rubiner 1903. 496 Vgl. Loher 1999; Uraufführung: München, Bayerisches 492 Ebd., S. 99. Staatsschauspiel, 1997. 493 Ebd., S. 108. 497 Ebd., S. 71f. 494 Vgl. Trinius 1911. 498 Vgl. Sacher-Masoch 1877. 495 Frisch 1982. 499 Ebd., S. 90. Stoffgeschichte von Blaubart 79 eine andere Frau hätte, doch «der König scheint macht Karriere, heiratet Beth, hat daneben aber keine Lust mehr zu haben, für ihn den Brautwer- immer Affären. Er entdeckt in New York seine sa- ber zu machen.»500 Dieser Blaubart ist also nur ein distische Ader und hält sich neben seiner Ehefrau vermeintlicher, der der Bühnenwelt entspricht, und seiner Karriere als Cartoonist eine Geliebte wie Sacher-Masoch sie charakterisiert, «jener namens Justine, die sich ihm ganz hingibt, ihm Welt, wo Alles Schein, Alles trügerisch ist, wo es Modell steht und von ihm zu Tode gequält wird. nichts Echtes gibt».501 Zugespitzt findet sich diese Konstellation des ster- Einen von Blaubart inspirierten Künstler gibt benden Modells im SpielfilmBluebeard (1944) es in Chevalier Blaubarts Liebesgarten (1910) von von Edgar Ulmer.506 Ein Maler in Paris tötet darin Joseph August Lux.502 Der Protagonist Felician Frauen, nachdem sie ihm Modell gestanden sind. wandelt auf den Spuren von Chevalier Blaubart Da er eigentlich als Puppenspieler arbeitet, möch- in dessen Anwesen, findet die Gräber der sieben te er nicht mehr tötend malen, doch ein beson- Frauen, die Blaubart liebte, und ist dadurch zu ders lukratives Angebot macht ihn rückfällig, und künstlerischer Arbeit inspiriert. Blaubart wird er kann seiner Verhaftung nur durch Selbstmord hier zum Vorbild eines Erotikers – eines Verehrers entgehen. Ein literarisches Vorbild solch todbrin- von Sexualität ohne Zeugung von Leben. Eine gender Maler findet sich in der Kurzgeschichte Denkhilfe für solches Verhalten findet sich in der Oval Portrait (1842/1845) von Edgar Allan Poe, Metapher der «Junggesellenmaschine», wie sie in welcher ein Maler sich leidenschaftlich seinem Marcel Duchamp in seinem zentralen Werk The Werk widmet und in dem Moment, wo er ganz Bride Stripped Bare by her Bachelors, Even («Das damit zufrieden ist, feststellen muss, dass sein große Glas», 1915–1923) verwendet hat und die Modell gestorben ist.507 Eberhard Roters in seiner Studie fabricatio nihili In aktuelleren Versionen findet sich der Blau- (1990) als «Allegorie der fruchtlosen Betriebsam- bart wie bei Perrault auch als Sammler, der seine keit» und als «Selbstbefriedigungsmühle» bezeich- Frauen wie Trophäen aufbewahrt, oder sie gar ein- nete.503 Diese Junggesellenmaschine spiegelt sich friert, wie im schmuddeligen Erotikthriller Blau- in Blaubarts verbotener Kammer, und sie ist auch bart (1972) von Edward Dmytryk und Luciano in der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhun- Sacripanti mit der suggestiven Musik von Ennio derts oftmals todbringend. Roters Fazit aus den Morricone.508 Im Roman Bluebeard (1987) von Zerstückelungen von Frauenkörpern in Kunst- Kurt Vonnegut ist der Bezug zu Blaubart eher eine werken des Expressionismus, Dadaismus und Allusion, der Künstler Rabo Karabekian versteckt Surrealismus ist ernüchternd, aber erhellend: «Die in einer geheimen Kammer sein zentrales photo- Opferung der Braut ist der verzweifelte Versuch realistisches Werk Now It’s The Women’s Turn, für einer imaginativ-rituellen Beschwörung. Das Er- welches er die Leinwände seiner sonst abstrakt-ex- eignis, das herbeigeschworen wird, ist die Wieder- pressionistischen Werke verwendete, auf welchen kunft der Anima.»504 die Farbe nicht gehalten hatten.509 Ebenfalls eine Einen Künstler als sich isolierenden Sexual- Allusion auf Blaubart findet sich beim Künstler straftäter wird im Roman Life & Loves of a Mo- Robin Page, welcher unter dem Namen Bluebeard dern Mister Bluebeard (1948) von Ward Greene auftritt und sich auf Arbeiten wie Bluebeard Eats beschrieben, erstmals erschienen als Ride the Little Artists for Breakfast (1989) als blaubärtigen Nightmare (1930).505 Der Protagonist Jake Perry Riesen, der kleine Menschen verzehrt, darstellt.510

500 Ebd., S. 91. 501 Ebd., S. 2. 506 Vgl. Ulmer 1944. 502 Vgl. Lux 1910. 507 Vgl. Poe 1943. 503 Roters 1990, S. 132. 508 Vgl. Dmytryk und Sacripanti 1972. 504 Ebd., S. 140. 509 Vgl. Vonnegut 1987. 505 Vgl. Greene 1948. 510 Vgl. Page 1989. 80 Stand der Forschung

niert die Zahl sieben – manchmal mit, manchmal Fazit ohne die letzte Frau. Die Örtlichkeit, bei Perrault am Anfang ein Stadthaus, welches am Ende den- Es konnte gezeigt werden, wie die Erzählung noch einer Festung gleicht, wird meist als Burg Blaubart in der frühen Rezeption politisch inter- beschrieben, welche zuerst in Frankreich und seit pretiert und in einem orientalistischen Umfeld Colmans Ansiedlung im Orient an unterschied- angesiedelt wurde. Zu dieser Zeit galt Blaubart lichen Orten platziert ist. Das Ende der Geschich- gemeinhin als Komödie. Humoristische Aspekte te, am Anfang ein glückliches mit Blaubarts Tod blieben offensichtlich bis weit in das 19. Jahrhun- und einer neuen Ehe, wird ab dem 19. Jahrhun- dert überwiegend, sind aber heute in der Minder- dert teilweise durch ein Weiterleben von Blaubart heit. Eine erste Distanzierung von der Komik bil- abgelöst, sei es, da er fälschlicherweise verdächtigt dete die Definition als (unironisches) Märchen zu wurde, oder weil es der Frau nicht gelingt, sich aus Beginn des 19. Jahrhunderts. Die komischen Ver- ihrer Abhängigkeit zu lösen. sionen entwickelten sich in dieser Zeit weiter zu Nebst diesen einfachen Verschiebungen zeigen Grotesken, in welchen sich der Plot umkehrt und sich auch grundsätzliche Fragen und Probleme in der Ehemann sich unschuldig als Blaubart Ver- der Stoffgeschichte von Blaubart. Schon bei der dächtigter herausstellt, – der Fokus verschob sich Erzählung von 1697 stellt sich die Frage nach der weg von einer Parodie politischer Potentaten und Autorschaft zwischen Pierre Darmancour Perrault hin zu einer Thematisierung der Mann-Frau-Be- und Charles Perrault, die bei verschiedenen ande- ziehung. In einer weiteren Plotumkehrung, bei ren Versionen ebenfalls zur Debatte steht. Eben- der die Frau absichtlich dem Verdacht nachgeht falls schon bei Perrault zeigt sich das Problem der und den Täter überführt, wurde Blaubart zu einer Zweideutigkeit des Verhaltens der Figuren, des Detektivgeschichte. Um 1900 setzte eine My- Erzählverlaufs, des Endes und des moralischen thisierung ein und konzentrierte sich die Neue- Impetus des Autors. In der Weiterschreibung blei- rung der Erzählung auf den Geschlechterkampf, ben solche Ambivalenzen erhalten und führen zu bei welchem der Mann als leidender Täter nicht unterschiedlichen Definitionen des Kanons von besiegbar und die Frau ihn zu brauchen scheint. Blaubart und zu miteinander konkurrierenden Ebenfalls wurde Blaubart zu einer Metapher für Lesarten. Die Verschiebungen werden jeweils den Serienmörder schlechthin und mit Gilles de verstärkt durch den Beginn einer neuen Epoche, Rais als historischem Vorbild zum Legendenstoff. die Übersetzung in eine andere Sprache oder die In anderen Adaptionen bleibt die Frau in einer Wahl eines neuen künstlerischen Genres. Auch gefährlichen Abhängigkeit zu ihrem Peiniger ge- verstärkt sich so der Streit um die Zuordnung der fangen. Es zeigt sich hier immer stärker eine ge- Erzählung Blaubart an sich – und sei es nur als schlechterkritische Lesart, bei der die Problematik Novelle, Märchen oder Mythos. der Erzählung als archetypische Konstellation der Was die Blaubart-Versionen alle eint, ist die Mann-Frau-Beziehung gedeutet wird. Bindung zwischen Mann und Frau, die oft pro- In der Weiterschreibung der Erzählung von blematisch ist. Die beiden Geschlechter ziehen Perrault wandelte sich auch die Erzählung selbst: sich an, lieben sich, brauchen sich, tun einander Schon früh änderte sich die Charakterisierung Gewalt an, die sich bis zur Tötung steigern kann. von Blaubart und er erhielt einen Namen (z.B. Dies hat zu einer eigentlichen Privatisierung der Raoul). Auch seine Frau erhielt nach ihrer Na- Erzählung geführt, Blaubart steht in dieser Les- menlosigkeit bei Perrault einen Namen (z.B. Fati- art in erster Linie für persönliche Probleme, für ma). Sogar die Vorgängerinnen erhielten Namen Gewalt in der Beziehung, in der Ehe, Probleme, und varierten in ihrer Anzahl: Ist es bei Perrault welche erst in zweiter Linie politisch ausgelegt die unbestimmte Zahl «mehrere», schwankt ihre werden. Das Beziehungsleben kann aber auch als Anzahl danach zwischen vier und 28, dabei domi- Metapher für die politische Bindung zwischen Stoffgeschichte von Blaubart 81

Unterdrücker und Unterdrücktem gelesen wer- den und für die Darstellung von Gewalt im poli- tischen Leben, was in vielen älteren Adaptionen Gegenstand der Parodie ist. In der Gegenwart hingegen scheint Blau- bart keine primär politische Bedeutung mehr zu haben, sondern wurde zu einem privaten, meist kleinbürgerlichen Problem. Die nun im Folgen- den diskutierten Versionen behaupten aber genau das Gegenteil: dass Blaubart trotz dem märchen- haften Gewand eine politische Erzählung ist und eine Kritik an Zuständen übt, die über das Private hinausgehen. 82 Blaubart – Parodien eines Potentaten

BARBE-BLEUE UND BLAUBART UM 1940

Zum Vorgehen deutschen Sprachgebiet stammen und sie unter- schiedliche Genre und Medien benutzt haben. In der vorliegenden Studie zeigt sich ein Blaubart, Das gewählte Konvolut ist also zeitlich und ört- welcher politische Gewalt ausübt. Im Überblick lich eng, sprachlich und medial-generisch jedoch zur Forschung und Entwicklungsgeschichte von breiter gefasst. Blaubart zeigte sich, dass politische Aspekte der Den Anfang macht die Animation Barbe Darstellung von Gewalt zwar in vielen Versionen Bleue von René Bertrand von 1938. Groteske Ge- präsent sind, um 1900 aber eine Fokussierung walt und originalgetreue Nacherzählung prallen auf die Auseinandersetzung zwischen Mann und in dem mit Plastilinfiguren animierten Kurzfilm Frau stattfindet. Die hier besprochenen Adaptio- aufeinander. Anfangs in Paris und später in den nen zeigen also eine untypische Perspektive, die USA schrieb Hans Natonek von 1938 bis 1944 Blaubart als politischen Herrscher, als König, als die zweite hier besprochene Adaption – den Ro- Unterdrücker des Volkes zeigt. Dies kam so zwar man Blaubarts letzte Liebe, in welcher Gilles de bei Perrault nicht vor, spielte aber in der frühen Rais als unschuldig Hingerichteter beschrieben Rezeption eine zentrale Rolle. wird. Die dritte besprochene Adaption ist die ko- Es stellt sich die Frage, ob das Komische in den mische Radiooper Barbe-Bleue von Jacques Ibert «politischen» Versionen nach dem Paradigmen- bei Radio Lausanne von 1943, in der eine auf sich wechsel nur noch eine anachronistische Aussage allein gestellte Ehefrau ihren vermeintlich verbre- zulässt, oder ob in ihnen aktuelle und kritische cherischen Ehemann zur Vernunft bringen kann. Beiträge zum Zeitgeschehen formuliert werden Als viertes diskutiert wird das Laienspiel Das können. Auch stellt sich die Frage, welche Rolle Haus der Angst von Bernt von Heiseler, welches die Wiederkunft des Komischen hier spielt. Da- 1950 als Beitrag der Evangelischen Jugend zur ran soll sich zeigen, inwiefern mit Blaubart auch 1900-Jahr-Feier der Stadt Köln aufgeführt wurde im 20. Jahrhundert neben den «historischen» und – eine Auseinandersetzung mit christlichen Wer- «mythischen» Fragen zur Politik Stellung genom- ten, mit Blaubart und seiner Frau in den Haupt- men und Machtanmaßung und -missbrauch kri- rollen. Als fünftes folgt die Spielfilmkomödie tisiert werden konnte. Barbe-Bleue von Christian-Jaque von 1951, ein Diese Anomalie der Weiterschreibung zeigte Versionenfilm mit Blaubart in deutschsprachiger sich besonders bei Blaubart-Adaptionen im deut- Version, bei welcher Blaubart wie bei Ibert als schen und französischen Sprachraum um den Hochstapler entlarvt wird. Zweiten Weltkrieg. Sie haben, bedingt durch die Während Bertrand mit dem Knetfiguren-Mär- prekäre politische Lage, meist einen politischen chenfilm die Zensur umgehen und eine Orgie der Subtext – in komischen wie tragischen Versio- Gewalt auf die Leinwand bringen konnte, wurden nen. Im nationalsozialistischen Deutschen Reich die beiden Radioopern von Lausanne während jener Zeit hingegen fehlen Adaptionen von Blau- der Kriegszeit im militärisch gelenkten Radio der bart eigentlich gänzlich. Von den vorgefundenen Schweiz ausgestrahlt. Der Roman von Natonek, neun Neuschreibungen werden hier beispielhaft in welchem ein von der Kirchenjustiz verfolg- fünf besprochen. 511 Durch die Wahl ergab sich, ter Mann beschrieben wird, konnte erst postum dass je etwa zur Hälfte aus dem französischen und veröffentlicht werden. Heiseler wählte den Blau-

511 Die weiteren vier Versionen sind: Dubu 1945; Geyer bart-Stoff als entschuldigende Erklärung für die 1939; Albert J. Welti: Blaubart. Uraufführung: Zürich, begangenen Verbrechen des Dritten Reichs. In Schauspielhaus, 28. Januar 1933; Miollis 1940 (Skript). Frankreich hingegen nutzte der Regisseur Chris- Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 83 tian-Jaque, welcher im Gegensatz zu Ibert, Bert- 1. Beziehung zur Originalerzählung: Die Adaptio- rand und Painlevé mit den deutschen Besetzern nen stehen in einer bestimmten Beziehung zu Per- kollaboriert hatte, den bekannten Stoff als ver- raults Original, aber auch zu anderen Adaptionen söhnlich-kommunikative Brücke zum Publikum, dieser Erzählung. Die intertextuellen Beziehungen inszeniert dabei humorvoll ein friedliches Ende der erörterten Adaptionen, als Parodie, Karikatur und blendet einen tiefergreifenden Bezug zum oder Korrektur der Vorgängertexte, sind zu klären. Krieg aus. Möglicherweise finden sich auch Hinweise auf den Die Beispiele zeigen, wie mit unterschiedli- Grund der Stoffwahl. Wichtig ist außerdem der chen Herangehensweisen Blaubart vor dem Hin- Aspekt der Einordnung als Märchen – bei Perrault tergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs bildet die Behauptung, dass es sich hier um (k)ein neu erzählt wurde. Es zeigt sich, dass in diesen Märchen handelt, eine offene Frage. Es ist zu zei- Adaptionen nicht nur politische, sondern auch gen, ob und wie bei den Adaptionen die ungeklärte komische, mythische und historische Referenzen Frage des Märchens bei La Barbe bleüe von Perrault verhandelt werden. Blaubart wurde in ihnen so- diskutiert wird und wie in ihnen selber mit Mär- wohl für antifaschistische, patriotische, revisionis- chenhaftem umgegangen wird. tische, chauvinistische wie linksbürgerlich-ermah- 2. Figuren und ihre Rollen: Es ist zu fragen, nende Positionen genutzt. ob dieselben Figuren vorkommen, und inwiefern In den jeweiligen Kapiteln wird anfangs das diese verglichen werden können: die Frau von Werk beschrieben und werden biografische Hin- Blaubart und ihre Rolle, Blaubart selber und die weise zum Autor und anderen Beteiligten er- Herkunft seines Namens. Wenn es andere Figuren läutert. Ebenso werden die künstlerische und sind, ist nachzufragen, ob diese von anderen Blau- strukturelle Bedingtheit und Absicht des Werkes, bart-Adaptionen übernommen oder neu gesetzt die Situation und Möglichkeiten des gewählten wurden, und inwiefern sie sich auf die Figuren in Genres, die Realisation, Aufführung oder Verbrei- der Erzählung von Perrault beziehen. tung und die Rezeption des Werkes nachgezeich- 3. Magische Elemente und Symbole: In der Er- net. Ein bestimmtes Indiz wird dann in einem zählung von Perrault spielt das magische Element Exkurs genauer erörtert, es sind in dieser Studie des verzauberten Schlüssels eine wichtige Rolle im ersten Kapitel bei Bertrand auffällig grausame – es ist zu fragen, welche magischen Elemente Momente, bei Ibert ein verstörendes Lachen, bei in den Adaptionen vorkommen und welche Be- Natonek die empathische Auseinandersetzung deutungen sie annehmen. Dabei kann vorkom- mit dem vermeintlichen Verbrecher, bei Heiseler men, dass auch Wunder entmystifiziert werden, die Präsenz biblischer Verweise und Ideen, und und die Adaption absichtlich möglichst wenig bei Christian-Jaque eine auffällig problemlose wunderbare Elemente enthält – doch es werden Aussöhnung. Diese Exkurse helfen, die Adaptio- vielleicht nicht alle Möglichkeiten des Wunder- nen in ihrem jeweiligen Zusammenhang besser zu baren widerlegt, oder sie werden an neuer Stelle verstehen. platziert. Die Erzählung enthält viele realistische Die Besprechung der Adaptionen folgt einem Elemente (Möbel, Geschäftsreise), die wenigen Raster von vergleichbaren Elementen. Das grund- Symbole wie das Blau des Bartes, der Schlüssel sätzlich verbindende Element der hier bespro- oder die verbotene Kammer fallen dadurch um chenen fünf Adaptionen der Erzählung ist die so mehr auf. Diese Symbole sind in einer persön- Benutzung des gleichen Stoffs aus der Erzählung lich-psychologischen Lesart zentral. Da nun auch La Barbe bleüe von Perrault. Danach ergeben sich politisch-gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt folgende in zehn Punkte gegliederte Ansatzpunk- werden, stellt sich zum einen die Frage, wie zum te für die Analyse: einen die gegebenen Symbole eingesetzt oder va- riert werden, und zum anderen, ob und wie neue Symbole dazukommen. 84 Blaubart – Parodien eines Potentaten

4. Neue oder vernachlässigte Elemente: Es gibt ser Epoche bekannt waren. Möglicherweise dient in jeder Neuschreibung auch nicht Vergleichba- eine bestimmte ästhetische oder künstlerische res, seien es neue Erzählstränge, (die erwähnten) Theorie oder Idee als Referenzpunkt, es kann sich neuen Figuren oder Symbole. Es ist festzustellen, aber auch eine bestimmte mediale oder Marktsi- welche inhaltlichen Veränderungen dadurch er- tuation bestimmend auswirken. reicht werden. Man kann sich fragen, aus wel- 7. Gesellschaftliche Dimension: Die Erzählung chem Zusammenhang diese Hinzufügungen von Perrault weist Bezüge zu zeitgenössischen ge- kommen, ob sie sich eher auf andere Blaubart-Ad- sellschaftlichen Problemen auf und kann teilweise aptionen beziehen oder auf andere Erzählungen auch als Provokation oder (ironischer) Kommen- und Phänomene. Es kann aber auch sein, dass tar gelesen werden. Thematisiert werden verschie- eine neuartige Interpretation aus einer Auslassung dene Machtverhältnisse – seien sie nun politisch, im Originaltext resultiert. im Bezug auf Barbe bleüe und seine Rolle als 5. Formale und inhaltliche Grenzübertretun- bärtiger Nichtadeliger, oder geschlechtlich, in der gen: Es zeigt sich, dass die Produzenten von neuen Beziehung von Barbe bleüe und seiner Frau. Es Blaubart-Versionen ihre Ideen oft in anderen Me- ist zu schauen, inwiefern diese Bezüge übernom- dien finden. Blaubart als Orientale entstand am men und der neuen Situation um 1940 angepasst Theater und wurde zur beliebten Kinderbuch-Il- wurden. Es ist auch möglich, dass die Adaption in lustration, Bartóks Oper war vermutlich auch einer besonderen Beziehung zu einer politischen von der deutschen expressionistischen Literatur oder gesellschaftlichen Strömung oder Idee steht. beeinflusst, und Tieck wurde zu seinen Blau- Das Zwischenmenschliche ist bei Perrault eine bart-Werken möglicherweise durch die Oper von Auseinandersetzung, die zwischen Drohung und Grétry inspiriert. Welches Medium und welche Neugierde, Unterwerfung und Selbstanmaßung künstlerische Disziplin dabei besonders wichtig schwankt, und es stellt sich die Frage, wie diese sind, wird in dieser Studie nicht beantwortet, es Konstellationen in den hier besprochenen Adap- ist aber zu beachten, welche Kunstform in einer tionen umgesetzt werden. bestimmten Epoche tonangebend ist. Dabei zeigt 8. Ambivalenz als Qualität: Das Interesse an sich, dass Blaubart neben seinem Erfolg als Er- Blaubart liegt in der Zweideutigkeit und der Im- zählung auch auf der Bühne als Musiktheater, moralität des Helden. Nur dadurch konnte diese Pantomime, Ballett und Oper Erfolge feierte. Mit immer auch misogyne Erzählung zu einem Ob- Blaubart wurden auch wiederholt neue Medien jekt feministischer Märchenforschung werden. bespielt – es zeigt sich etwa in der großen Präsenz Dieser Fokus machte auch die Vernachlässigung der Erzählung im frühen Film, sowohl bei Méliès, von Versionen nötig, die darin nicht interessant den Lumières wie auch bei Pathé. erscheinen. Um das (ambivalente) Potential der 6. Genres und Medien: Die Übersetzung in Erzählung erkennen zu können, ist aber das Auf- andere Genres und Medien bildet ebenfalls eine fächern der ganzen Vielfalt wichtig, und die Be- Neuerung. Da keine der hier besprochenen Ad- urteilung der Bedeutung von Blaubart-Versionen aptionen das gleiche Genre wie Perrault wählt in ihrer jeweiligen kulturellen, historischen und und sie untereinander auch alle verschieden sind, gesellschaftlichen Umgebung. Durch den Blick können sie nur indirekt, über die Bedeutung der auf die prägnantesten Ausformulierungen der gewählten Genres und das künstlerische Bemü- Varianten von Blaubart werden zeitgenössische hen der involvierten Autoren miteinander vergli- Bedeutungen für den heutigen Blick wieder nutz- chen werden. Jedes Genre, jedes Medium hat im bar gemacht. Durch eine Einbettung in gesell- Moment seiner Wahl eine bestimmte Funktion, schaftliche Diskussionen und durch Hinweise auf einen bestimmten Vorteil. Das besprochene Werk psychologische, Gender- und politische Aspekte wiederum lässt sich im Gesamtwerk des Autors kann erläutert werden, wie die Blaubart-Erzäh- und zu anderen Werken positionieren, die in die- lung für eine Vielzahl von Themen einstehen Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 85 kann. Die Ambiguität dieses Protagonisten und in der Forschung zu Blaubart erst seit kurzem be- dieser Erzählung hilft, Gefühle, Ideen und The- rücksichtigt. men zu illustrieren, die nur schwer in Worte ge- 10. Sich konkurrierende Lesarten und Kanon: fasst werden können. Die Frage stellt sich, wie der heute bekannte 9. Autorschaft und Würdigung: Die Problema- Kanon geformt wurde. Prägend war sicher die tik der Autorschaft blieb nach Perrault Darman- Setzung von Blaubart als unironisches Märchen cour und seinem Vater bestehen. So erfand Tieck (bei Grimm) und als europäischer Mythos (bei für seine zwei Versionen je ein anderes Pseudo- Kretschmer), wodurch die Erzählung etwa zu nym, viele Neuschreibungen und Übersetzungen einem Symbol für den Geschlechterkampf wer- wurden anonym veröffentlicht, und bei anderen den konnte. Dabei hat sich die Idee durchgesetzt, steht «nach Perrault» als einzige Autorenangabe. dass Blaubart für geschlechtliche Auseinanderset- Im populären Erzählen werden die Autoren häu- zungen steht, wie sie sich in Bartóks Oper und in fig nicht genannt – zugespitzt zeigt sich dies in Lubitschs Spielfilm auf ambivalente Weise zeigen. der Anekdote oder dem Witz. Indem Blaubart Entsprechend wurde Blaubart im 20. Jahrhundert in immer wieder neuen Künsten, Genres und als Metapher für einen männlichen Sexualver- Medien erzählt wurde, entwickelte sich die folk- brecher kanonisiert, mit dem auch leidenschaft- loristische Vergangenheit offensichtlich zu einer liche Sammler oder Künstler assoziiert werden spielerischen Behauptung. Für die Forschung ist können. Wird dieser Kanon aufgebrochen, ergibt wichtig, zum einen nichtgenannte Autoren zu das durch die Stoffgeschichte aufgezeigte Wissen eruieren, zum anderen Versionen ohne bekann- zu Blaubart einen neuen Blick auf die Kultur- te Autoren zu berücksichtigen, wie anonyme geschichte – die erwähnten Versionen transpor- Neu-Editionen oder Übersetzungen, Christmas tieren Ideen und Ideologien mit einzigartigen Pantomimes, Einblattdrucke, Laterna Magica, Einblicken in politische, ethnische, sexuelle und Fernsehserien oder Werbespots. Ein weiteres Pro- intime Debatten der letzten 300 Jahre. Wenn ein blem bildet das der Würdigung: Heute bekannte neuer Schwerpunkt festgesetzt wurde – wie die Adaptionen mussten sich einen Platz erst erobern. Neuschreibung als politische Umsturzgeschichte, Als Theaterstück von Balázs, mit musikalischer als Ehe-Problematisierung, als Übertritt in das Ir- Beteiligung von Bartók, war A Kékszakállú herceg rationale, als psychoanalytischer Blick in die See- vára ein Misserfolg; als Oper wurde sie zwar in len-Kammer oder als erotische Metapher – füh- Frankfurt am Main 1922 aufgeführt, doch kriegs- ren die jeweiligen Sub-Erzählungen oft ein langes bedingt erlangte sie ihre internationale Berühmt- Eigenleben, und es kommt zu Verwirrungen, wer heit erst in der Nachkriegszeit mit Aufführungen Blaubart wirklich sei. Die Versionen verhalten auf Englisch und Französisch. Das Puppenspiel- sich in einer bestimmten Weise zum namens- fragment von Trakl wurde erst nach seinem Tod gebenden Vorbild und beinhalten zwangsläufig 1939 veröffentlicht und möglicherweise erst 1984 immer auch einen Aspekt der Dekonstruktion. in Venedig uraufgeführt – seit der Inszenierung Wenn versucht wird, Blaubart besser zu verstehen am Burgtheater in Wien 1991 wird es nun wie- und in einer konkreteren Situation zu erzählen, derholt gespielt und besprochen. Wood hatte wird die Handlung oft näher gezogen und in der Bluebeard’s Eighth Wife zwar schon 1923 verfilmt, Gegenwart oder in der Umgebung platziert. Die doch der Film wurde verboten und erst durch Handlung kann aber auch weiter weggeschoben Neuverfilmung von Lubitsch 1938 weltweit be- werden, sei es örtlich in den Orient oder zeitlich kannt. Eine Ausnahme bildet die opéra bouffe von in das Mittelalter. In vielen Versionen wird ver- Offenbach; sie war schon bei der Premiere ein sucht, die Erzählung zu verändern, etwa indem Erfolg und wird noch heute gespielt. Anderer- Blaubarts Frau die Hauptrolle übernimmt oder seits gerieten die erfolgreichen Aufführungen von sie selber zum Blaubart wird. Grétry und Colman in Vergessenheit und werden 86 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Bertrands und Painlevés Bertrand wurde in Paris als Sohn des Künstlers Georges-Jules Bertrand geboren und studierte Kampf gegen den dort an der École des beaux-arts, wie Pascal Vi- Nationalsozialismus menet beschreibt.513 In La Gerbe (1939) geht der Autor auf die familiäre Situation ein: «René Bert- rand n’est pas le premier venu. Plusieurs membres 1938 zeigte der als Wissenschafts- und Dokumen- de sa famille ont connu une belle notoriété dans tarfilmer bekannte Jean Painlevé in Paris den von le domaine de la science et des arts», und meint zu ihm produzierten AnimationsfilmBarbe Bleue. Bertrands Studium: «Lui-même, sculpteur éméri- In der folgenden Recherche wird gezeigt, wie der te, a fait d’excellentes études aux Beaux-Arts.»514 Regisseur René Bertrand diese 13-minütige «féerie Bertrand selber gibt in einem Brief (1939) an en sculpture animée» von 1934 bis 1937 realisierte Painlevé seine Profession genauer an: «Etant des- und dabei der dafür komponierten opéra bouffe von sinateur illustrateur, ma spécialité consistait en Maurice Jaubert mit einem Libretto von Jean Vin- dessins scientifiques: Sciences naturelles, Zoo- cent-Bréchignac folgte. Der mit Plastilinfiguren logie, Botanique, Géologie etc.»515 Nach seinem animierte Kurzfilm fällt durch seine satten Farben Studium wechselte Bertrand das Metier und ent- und seine Lebendigkeit auf, aber auch durch die wickelte ein Flugzeug, einen Eindecker mit tun- Gewalttätigkeit, besonders im Kampf von Bar- nelförmigem Rumpf, mit welchem er sich 1909 be Bleue gegen die Sarazenen. Die Mischung aus an einem Flugwettbewerb in Monaco einschrieb, Kindlichkeit und Brutalität erzeugt eine unterhalt- bei dem er aber dann doch nicht mitflog.516 Laut same und verstörende Erfahrung. Ausgehend von Brigitte Berg, Leiterin des Archivs von Jean Pain- diesen Momenten wird hier diskutiert, inwiefern levé und Verwalterin seines Nachlasses, gelang Antonin Artauds Ideen zu einem «Theater der Bertrand 1910 erstmals ein Flug, er verunfallte Grausamkeit» Bertrand erlaubten, die Grausam- aber darauf, so dass er von einer weiteren Ent- keit faschistischer Regimes und besonders des Na- wicklung seines Fluggeräts absah.517 Die Flug- tionalsozialismus in Europa jener Zeit aufzuzeigen. zeugbegeisterung entsprach damals einer großen Mode, besonders nachdem die Gebrüder Wright 1903 den ersten motorisierten Flug absolvierten René Bertrand – Künstler, Erfinder, Filmanimator 513 Vimenet 2007, S. 237. Die Idee für den Film Barbe Bleue entstand 1934 514 G. Ardève: Barbe-Bleue; in: La Gerbe (Nr. 23, 10 Juin durch Animationsexperimente von René Bert- 1939), o.S.; hier in: Archives Jean Painlevé: Pressespie- gel. rand (1883–1963), welcher zwischen Juni 1935 515 René Bertrand, Dessinateur, Brief an Jean Painlevé, 2. und Ende 1938 auch die Regie geführt und die Oktober 1939, [1 Seite]; hier in: Archives Jean Painlevé: Animation und die Montage des Films umgesetzt Korrespondenz. hat.512 Die zahlreiche Lücken aufweisende Biogra- 516 Vgl. Bruun 2010. fie von Bertrand wird im Folgenden anhand ver- 517 Berg 1997, S. 15. Laut Berg entwickelte Bertrand das Fluggerät zusammen mit «M. Nadal». Die Website schiedener Quellen rekonstruiert – dies auch, um des Smithsonian National Air and Space Museum in die Besonderheiten seines Films anhand seiner Washington DC (USA) erwähnt drei Flugzeugmodelle Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Domänen von Bertrand; vgl. Smithsonian National Air and Space wie der Malerei, dem wissenschaftlichen Zeich- Museum 2010. Eine Abbildung von Bertrands Einde- nen, dem Bau von Flugzeugen und elektronischen cker Modell UNIC No. 1 R.B., datiert auf März 1910, findet sich bei Almond 1997, S. 167. Auf der Website Instrumenten besser zu verstehen. von Getty Images Inc. aus Seattle WA (USA) findet sich noch eine zweite Fotografie desselben Modells, datiert 512 Zu René Bertrand vgl. Vimenet 2007; Berg 1997. auf den 23. März 1909; vgl. Getty Images 2010. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 87 und 1909 der Atlantik zum ersten Mal mit einem culaire d’un diamètre de 30 cm environ, au sein Flugzeug überquert wurde.518 duquel un cadran rotatif sillonné par un petit Größere Bekanntheit als Ingenieur erhielt bras peût créer artificiellement une gamme sonore Bertrand in den 1920er Jahren mit dem von ihm équivalant à sept octaves.»520 Mit diesem äußerlich entwickelten Dynaphon, ein dem Theremin oder einem Radiogerät gleichenden Röhrenverstärker- den ähnlichen elektronischen instrument konnte ein vielfältiger Klang produ- Instrument.519 Das am 28. Februar 1928 als «ap- ziert und der Klang verschiedener Instrumente pareil de musique à ondes électriques» zum Patent imitiert werden.521 Im Juni 1928 beschreibt An- angemeldete Dynaphon wird von Pascal Vimenet dré Cœuroy das Dynaphon als «radio-elektrische folgendermaßen beschrieben: «appareil portatif, Bertrand-Orgel» und führt 1932 die spezifischen monophonique, sans clavier, de forme semi-cir- Vorteile des Instruments weiter aus:

518 Zur Geschichte der Luftfahrt vgl. Mackworth-Praed 520 République Française 1983, S. 23; Vimenet 2007, 1990. S. 238. 519 Zum Dynaphon vgl. Van Duren 1983; République Fran- 521 Abbildungen zum Dynaphon finden sich bei Foster Van çaise 1983. Duren 1983, S. 26f.

Abb. 5–8: René Bertrand: Barbe Bleue (1938), Filmstills von oben links in Leserichtung. © Archives Jean Painlevé, Paris 88 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Un des progrès réalisés par le Dynaphone sur les Foster Van Duren am 4. Juni 1928 das Ballet appareils précédents résidait dans sa possibilité de Roses de métal von in Paris ge- produire autre chose qu’une monodie, une suite de zeigt, ein später nicht mehr aufgeführtes und notes en chapelet: en effet il donnait à volonté, en vermutlich nicht erhaltenes Werk.526 même temps que la note de base, son octave et sa Für Bertrand und sein Dynaphon interessier- quinte. […] Un autre caractère du Dynaphone était te sich besonders der Komponist Edgar Varèse, de viser beaucoup moins à imiter des timbres déjà der dieses Instrument gegenüber den anderen connus […] qu’il imitait d’ailleurs fort bien, qu’à elektronischen Instrumenten dieser Zeit bevor- créer un timbre nouveau et enrichir la palette or- zugte, wie Duchesneau schreibt: «Tatsächlich chestrale.522 scheint sich Varèse weniger für Theremin als für die Arbeit des Franzosen René Bertrand interes- Nachdem Lew Termen (oder Leon Theremin) siert zu haben, den er seit 1913 kannte und mit sein erstmal 1921 in Russland vorgeführtes Ät- dem er 1924 und 1927 Kontakt aufgenommen herophon, später als Theremin bekannt, inter- hatte.»527 Im Herbst 1928 fuhr Varèse laut Peter national auf Demonstrationsreisen bekannt ge- Manning aus den USA nach Paris, «to ascertain macht hatte, wurden in verschiedenen Ländern from Bertrand what potentially useful technical ähnliche Instrumente entwickelt; bekannt sind developments had taken place in his absence».528 etwa die Ondes Martenot (1928) aus Frank- Varèse wurde zu einem aktiven Fürsprecher von reich oder das deutsche Trautonium (1930).523 Bertrands Projekt, das er in seine Idee für ein In die gleiche Richtung wie die Elektrifizierung musikalisches Laboratorium integrieren wollte. der Musik, neben dem Radio, zielten laut Mi- Er bewarb sich bei den Bell Laboratories und der chel Duchesneau auch musikalische Experimen- John Simon Guggenheim Memorial Foundation te wie das Ballet mécanique (1924) von Georges um Unterstützung, hatte aber keinen Erfolg. Antheil, welches Musik unter anderem für elek- Im Gegensatz zu Varèse scheint Bertrand sei- trische Klingeln, eine Sirene, Flugzeugpropeller ne musikalische Karriere nicht weiter verfolgt zu und selbstspielende Klaviere enthält: «Die Ur- haben und stellte die Arbeit am Dynaphon ein. aufführung desBallet mécanique von Antheil Bertrand war danach als Bildhauer, Modellbauer am 19. Juni 1926 war gleichsam das Vorspiel zu und, laut Brigitte Berg, als Bühnendekorateur bei Theremins KonzertvortragLa musique des ondes Film und Theater aktiv.529 Hamery beschreibt, éthérées vom 8. Dezember 1927.»524 Es entstan- dass er beim Bau eines großen kegelförmigen den zahlreiche Kompositionen für Theremin Models der «spirale de l’évolution» für die Éx- und Ondes Martenot. position internationale des arts et techniques dans Bertrands Dynaphon blieb weniger bekannt, la vie moderne von 1937 in Paris im Team von wurde aber laut GloryLynn Foster Van Duren als Jean Painlevé arbeitete.530 Doch auch als Künst- «L’orchestre radio-électrique de René Bertrand» ler war er aktiv. So schreibt Vimenet, dass Ber- am 25. April 1928 in der Salle Pleyel in Paris trand schon 1914 im Salon des beaux-arts sein zum ersten Mal präsentiert, unter anderem mit der Uraufführung der Komposition Variations 526 Ebd., S. 13, S. 17; vgl. weiter Duchesneau 2006, S. 186. Die Uraufführung der Ondes Martenot fand laut Jean caractéristiques pour 5 dynaphones von Ernest Laurendeau in Paris am 3. Mai 1928 statt, und am 23. 525 Fromaigeat. Im kleineren Rahmen wurde laut Dezember 1928 wurde zum ersten Mal eine Kompositi- on für das Instrument aufgeführt, Poème symphonique 522 André Cœuroy; hier in: Foster Van Duren 1983, S. 1; pour solo d’ondes musicales et orchestre von Dimitri Duchesneau 2006, S. 185f. Levidis; vgl. Laurendeau 1990, S. 69, S. 75. 523 Zur frühen Geschichte elektronischer Instrumente vgl. 527 Duchesneau 2006, S. 185. Manning 2004. 528 Manning 2004, S. 9. 524 Duchesneau 2006, S. 186. 529 Berg 2009 (Interview), S. 2. 525 Foster Van Duren 1983, S. 8. 530 Hamery 2008, S. 115. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 89

Werk Nono et Gaby gezeigt habe und Bertrand von Hunger und Arbeitslosigkeit.535 Es war also selber schreibt in einem Brief (ca. 1940) an Pain- eine wichtige Chance für Bertrand, dass er 1942 levé, dass er ein Aquarell an den französischen Chefanimator beim KurzfilmCallisto, la petite Staat verkauft habe.531 Nicht bei jedem Hinweis nymphe de Diane von André-Édouard Marty wur- ist aber klar, ob es sich immer um den gleichen de, welcher am 10. April 1943 in die Kinos kam. René Bertrand handelt.532 Dieser von Vichy finanzierte und von Jean de Ca- Im Jahre 1934 führte eine Demonstration vaignac produzierte Animationsfilm zeigte zwar von filmisch animierten Skulpturen zu einer wei- «la volonté affichée de créer un art français» und teren Betätigung, die für Bertrand in den nächs- konnte auch problemlos veröffentlicht werden, ten Jahren zentral sein sollte. Von 1934 bis 1938 doch der 1942 von Vichy begründete Animati- arbeitete er nämlich am hier besprochenen Film onsfilmpreis Émile-Cohl wurde ihm dennoch ver- Barbe Bleue – zuerst als Regisseur und Animator, weigert, angeblich wegen «gaucherie et maladres- später bei der Organisation der Filmentwicklung. ses dans la décomposition des mouvements», wie Bertrand wurde durch dieses Projekt zu einem Sébastien Roffat einen damaligen Zeitungsartikel «sculpteur humoristique», wie ihn Madeleine zitiert.536 Im Nachhinein wurde der Film zwar als Epron 1936 in einem Artikel zu Barbe Bleue be- pétainistisches Machwerk beurteilt, doch Jacques schreibt.533 Er arbeitete zu dieser Zeit zusammen Kermabon zeigt, dass die ästhetischen und inhalt- mit Achilles-Pierre Dufour, dem Erfinder des lichen Eigenheiten – Callisto küsst und liebt eine Doppelbelichtungsverfahren Simplifilm, auch bei Hirschkuh, danach badet sie nackt und wird von anderen Filmen von Painlevé mit, so an den mit Diane verführt – dem Film eine eigene, nicht zum Filmtricks und Modellen angereicherten Informa- nationalsozialistischen Regime passende Note ge- tionsfilmen für den Palais de la Découverte der ben.537 So gibt die wiederholt erotische Handlung Éxposition Internationale von 1937, wie er selber dem Film ein dezent pansexuelles Gepräge. An- 1939 erwähnt.534 Während der Besetzung war ders als die damalige Kritik behauptet hat, wirken Bertrand offenbar zeitweise nicht in Paris, sondern Bild und Ton in Callisto, la petite nymphe de Di- schreibt in Briefen 1939 aus Ermont (bei Paris) ane nur wenig holprig, sondern im Ganzen von und 1940 aus Rochegude (in Südfrankreich bei Bertrand elegant animiert, und der Film erinnert Avignon) über seine isolierte Situation, geprägt dabei an viel spätere japanische Animes etwa von Hayao Miyazaki und Isao Takahati. 531 Vimenet 2007, S. 237. Bertrand schreibt: «Il y a plus Nach dem Krieg arbeitete Bertrand wieder d’un mois que j’ai envoyé à Paris mon aquarelle de mit Dufour und Painlevé zusammen und erstellte nu acheté par l’Etat et je n’en ai encore reçu aucune Plastilinfiguren für Dufours FilmNotre planète la nouvelle.»; aus: René Bertrand, Brief an Jean Painlevé, 22. November [1940?], [2 Seiten], hier S. 1; in: Archives 535 1939 schreibt Bertrand: «Actuellement sans travail Jean Painlevé: Korrespondenz. par l’arrêt des maisons d’Edition, ayant deux enfants, 532 Die Angaben zu Bertrand sind teilweise widersprüch- je cherche tous les moyens possibles pour subvenir à lich. Möglicherweise handelt es sich um den gleichen l’entretient de ma famille. Surtout n’ayant aucun droit René Bertrand, welcher in Noyon (Oise) nördlich von au chômage ni bénéficiaire de l’office de placement de Paris geboren wurde und 1927 und 1928 im Salon ma localité.» [Dieser Brief wirkt widersprüchlich, so sind des Indépendants Landschaftsbilder ausstellte, und es beim Filmdreh 1936 drei Kinder, weiter ist nicht be- um denselben, welcher um 1930 in Frankreich in den kannt, dass Bertrand bei Verlagen arbeitete – außerdem «Verreries d’Art Lorrain» oder in der angeschlossenen ist erstaunlich, dass er Barbe Bleue nicht erwähnt]; ebd. «Verrerie de Belle Étoile» in Croismaire Vasen dekorierte 1940 schreibt Bertrand: «Vous ne pouvez vous imaginez und signierte; vgl. Hartmann 1997. combien votre mandat a été le sauveur. Nous n’avions 533 Madeleine Epron: Barbe-Bleue. Jean Painlevé réalise un plus que deux jours de pain et ail [?] allait falloir tirer à la Petit Film en Couleur; in: La Cinématographie française courte paille.» René Bertrand, 14. Juli [1940], [1 Seite], (25. Juli 1936); hier in: Archives Jean Painlevé: Presse- S. 1; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. spiegel. 536 Roffat 2007, S. 300. 534 Bertrand 1939 (wie Fußnote 515), S. 1. 537 Kermabon 2007, S. 104. 90 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 terre von 1946. Im Katalog von La Cinématogra- Côtes-d’Armor wohnten.543 Painlevé verbrachte phie française von 1947 wird Bertrand weiter als von da an viel Zeit im «Ty an dioul» oder «Mai- Regisseur des von Panthéon produzierten Kurz- son du diable» genannten Haus von Genevièves films Six si petits erwähnt, einer «journée avec les Eltern nahe der Küste in Port Blanc bei Penvénan. enfants».538 Ebenfalls 1947 war Bertrand einer der Nach dem Studium wurde Painlevé für kurze Zeit Animateure des kurzen musikalischen Zeichen- Autorennfahrer. Er verkehrte mit surrealistischen trickfilms Querelle de cœurs von Marcel-Évelyn Künstlern und schrieb 1924 für die einzige Aus- Floris.539 Danach scheinen sich die Spuren zu gabe der Zeitschrift Surréalisme, in welcher der verlieren, nicht nur von seiner filmerischen Tätig- Schriftsteller Ivan Goll ein Manifest für den sur- keit, sondern auch im Kontakt mit Jean Painlevé, realistischen Film veröffentlichte. In diesem Ma- nachdem er sich 1954 ein letztes Mal nach Barbe nifest behauptet Goll, dass die besondere Qualität Bleue erkundigt.540 des surrealistischen Films in seiner Intensivierung von reellen Ereignissen liege, in dem er diese in einen Zustand versetze, der «plus direct, plus in- Jean Painlevé – Dokumentarfilmer mit tense, plus absolu» sei.544 Goll nennt den nicht politischem Engagement die Realität abbildenden Film imaginär, verurteilt diesen als «impur» und bezeichnet Szenario, De- Jean Painlevé (1902–1989) wurde in Paris gebo- kor und Schauspieler als unwichtig, da der Regis- ren, wo er auch den größten Teil seines Lebens seur nur ein «intermédiaire entre la nature et l’ap- verbrachte.541 Sein Vater Paul Painlevé war ein pareil» sei.545 Statt Träume und das Unbewusste bekannter Mathematiker und Professor am Con- als Gegenstand des Surrealismus, wie bei André servatoire Nationale des Arts et Métiers (CNAM) Breton, sind es bei dem dazu in Opposition ste- in Paris, langjähriger Minister der französischen henden Surrealismus von Goll Bilder der wirkli- Regierung und dabei während zwei kurzen Etap- chen Welt, welche von der surrealistischen Kunst pen auch französischer Premierminister. Pauls nur verstärkt werden müssen. Frau starb nach der Geburt von Jean, ihrem einzi- Es war Mitte der 1920er Jahre, als Painlevé gen gemeinsamen Kind, und so wuchs dieser mit anfing, sich aktiv für Film zu interessieren. So einer Erzieherin auf. Bei seinem Studium an der spielte er 1925 neben Michel Simon im unvoll- Pariser Universität Sorbonne, welches er in Phy- endeten SpielfilmL’inconnu des six jours von René sik, Chemie und Biologie abschloss, lernte Painle- Sti mit, wo er in Kontakt mit dem Kameramann vé die Kommilitonin Geneviève Hamon kennen, André Raymond kam, welcher ihn zu einer Aus- seine Mitarbeiterin bei Filmprojekten und zu- einandersetzung mit dem Wissenschaftsfilmer künftige Lebenspartnerin.542 Geneviève Hamon Jean Commandon anregte. Von Goll, mit dem war die Tochter von Augustin und Henriette Ha- Painlevé nicht nur die Begeisterung für Bilder der mon, welche als aktives Anarchistenpaar im klei- Wirklichkeit teilte, verfilmte er 1927 das Drama nen Ort Penvénan im bretonischen Departement Mathusalem ou l’Éternel Bourgeois (1927), bei dem unter anderem er selber und Antonin Artaud mit- spielten. Ebenfalls 1927 realisierte Painlevé erste 538 Vgl. Hamery 2008, S. 116, Fußnote 19. 539 Vgl. Kermabon 2007, S. 207. 540 Vgl. René Bertrand, Brief an Jean Painlevé, 1954; in: Ar- 543 Augustin Hamon war Soziologe, Gründer der anarchis- chives Jean Painlevé: Korrespondenz. tischen Zeitschrift L’Humanité nouvelle (1897) und de- 541 Zu Jean Painlevé vgl. Hamery 2008 und Berg 2000. ren Herausgeber bis 1903, Sekretär der Freimaurer der 542 Geneviève Hamon, laut der Stadtverwaltung von Pen- Bretagne und zusammen mit seiner Frau Übersetzer der vénan geboren am 16. Juni 1905 in Camlez (FR), ge- Werke von Bernard Shaw, vgl. Internationaal Institut storben am 28. Februar 1987 in Penvénan (FR), Tocher voor Sociale Geschiedenis 2009. von Augustin und Henriette (geborene Rynenbroeck) 544 Goll 1991, S. 44. Hamon; vgl. Mairie de Penvénan 2010 (Telefonat). 545 Ebd. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 91

Wissenschaftsfilme, so etwa L’œuf d’épinoche, eine die Produktion (außer bei L’hippocampe) lag bei wissenschaftliche Beobachtung und Darstellung Painlevé selber, beziehungsweise bei seiner 1930 eines Eisprungs, den er 1929 an einer Sitzung der gegründeten Firma La Cinégraphie Documentaire, französischen Académie des sciences in Paris prä- die später in Les Documents Cinématographiques sentieren konnte.546 Auch fing er an, Stummfilme umgenannt wurde und noch heute das Erbe von mit Meerestierdokumentationen zu realisieren, Painlevé verwaltet. Filme für Schulungszwecke, die er ab 1928 in Pariser Kinos als Programmer- oft von Dufour realisiert, produzierte Painlevé gänzung und in französischen Ciné-Clubs zeigte. ab 1935 mit dem Institut de cinématographie Im Keller des Hauses von Genevièves Eltern rich- scientifique als Leiter des Centre du Cinéma im tete er ein Studio ein und machte zahlreiche Film- selben Conservatoire Nationale des Arts et Mé- aufnahmen an der bretonischen Küste und im tiers (CNAM), wo sein Vater als Professor gelehrt biologischen Labor von Roscoff, dessen Leiter für hatte. Film er später wurde. Um 1930 traf er den Regis- Eine stilistische Spezifik und die grundlegen- seur Jean Vigo, mit dem er und Hamon Freund- den Aspekte der Arbeit von Painlevé zeigen sich schaft schlossen, und für den er unter dem Titel besonders in den Publikumsfilmen: die Idee der Café du bon accueil auch ein Szenario für einen «Provokation» (etwa durch Darstellung von Ge- Spielfilm schrieb, vor dessen Verwirklichung Vigo walt und Sexualität), der «Information» (durch aber 1933 starb. die sachliche Darstellung des Verhaltens der tieri- Painlevés erster großer Erfolg war der Tierfilm schen Protagonisten) und der «Poesie» (durch Ge- L’hippocampe (1934), welcher von der damaligen staltung der Bilder, des Bildflusses, der Erzählung Firma Pathé vertrieben wurde und Painlevé sogar und der Musik), um die drei von Roxane Hamery zur Gründung der Bijouterie-Marke L’hippocampe genannten Charakteristika zu verwenden.547 anregte (mit dem Kürzel JHP – Jean Hippocampe Das Werk von Painlevé lässt sich in drei Pha- Painlevé). Zur Förderung des Wissenschaftsfilms sen gliedern: In den frühen Arbeiten erreicht gründete er 1930 das Institut de cinématographie das Auge der Kamera laut Olivier Poupion und scientifique, in welchem er auch nach dem Zweiten Dominique Choupaut durch Vergrößerung und Weltkrieg international aktiv blieb, und war 1933 Akzentuierung («grossissement» und «éclairages») Mitbegründer der Association pour la documenta- eine Schärfung des ästhetischen Blicks für die tion photographique et cinématographique dans les sciences, welche bis zum Zweiten Weltkrieg jähr- 547 Hamery 2005, min. 7:50–8:05. Eine Aufteilung des lich einen Kongress abhielt. Bei den Publikums- Werks von Painlevé nach Zielgruppen ist ebenfalls filmen arbeitete Painlevé zwar für den Vertrieb aufschlussreich: Der Wissenschaftsfilm als Argumenta- einzelner Filme mit Partnern zusammen, doch tionsinstrument ist mit möglichst wenigen filmischen Hilfsmitteln angereichert – die festgehaltenen Vorgän- ge sollen möglichst unverfälscht wiedergeben werden. 546 Die Präsentation mit Film Le développement de l’Épi- Der Informationsfilm zu Schulungszwecken oder für noche (Gasterosteus aculeatus L.) analysé par la chro- Ausstellungen enthält gesprochene Narration und zu nophotographie. Contractions protoplasmiques et Erklärungszwecken oft Diagramme und andere Anima- circulation embryonnaire zeigten Jean Painlevé, Paul tionen. In diesen Filmen finden sich zahlreiche Kulissen, Wintrebert und Yung-Ko-Ching am 22. Juli 1929; vgl. um eine didaktische Argumentation zu unterstützen. Académie des sciences 1929, S. 208–210; zum Jahr der Als Autor am stärksten in Erscheinung tritt Painlevé bei Realisation des Films vgl. Hamery 2008, S. 277. Weite- den Publikumsfilmen, welche am Anfang im Kino (als re Präsentationen vor der Académie des sciences hielt Vorprogramm oder bei Kurzfilmscreenings), bei Festi- Painlevé mit Maurice Parat: Constitution du cytoplasme vals und später im Fernsehen und bei Kunstausstellun- d’une cellule glandulaire am 15. September 1924; vgl. gen gezeigt wurden. Seine filmische Tätigkeit weitete Académie des sciences 1924, S. 543; und Sur l’exacte Painlevé aber stetig aus; so gibt es von ihm auch In- concordance des caractères du vacuome et de l’appa- formationsfilme für Gymnastikkurse, Dokumentationen reil de Golgi classique am 30. März 1925; vgl. Acadé- über Künstler, Wissenschaftler und die französische mie des sciences 1925, S. 1134. Wirtschaft. 92 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 poetischen und eigenartigen Facetten der Unter- Diese Fragen werden anhand der Beobachtung wasserwelt: «Il y a là une qualité plastique, une von Krabben, Seesternen und Tintenfischen auf- cruauté objective, une puissance d’insolite qui geworfen. Mit Ton, Zwischentiteln und mehr- marquent le spectateur, révélant chez lui une part schichtigen Erzählungen werden die Filme zu de l’invisible, proche de l’inconscient.»548 Damit kleinen Spielfilmen mit tierischen Darstellern, in folgte Painlevé möglicherweise Golls Manifest denen der Regisseur sich neben dem wissensver- von 1924, in welchem dieser schreibt: «[Le film] mittelnden Aspekt wiederholt Anspielungen auf est l’ennemi du théâtre, il est frère de la pein- politische und gesellschaftliche Fragen erlaubt. ture.»549 In diese Zeit fielen auch die wichtigen Es folgte eine dritte, von Poupion und Chou- technischen Innovationen, für die sich Painlevé paut nicht erwähnte Phase, in der Painlevé und einsetzte. So schreiben Poupion und Choupaut, Hamon oft zusammen Regie führten, wie bei wie Painlevé filmtechnische Neuerungen, wie die Comment naissent les méduses (1960) oder Les «association de la camera au microscope, emploi amours de la pieuvre (1967). In diesen gelehrigen, de l’ultra-microscope et du contraste de phase, aber humorvollen Filmen finden sich Brutalität contraction et dilatation de l’échelle des temps, und Lust – sei es am Essen oder an der Liebe – in exploration des effets lumineux et thermiques (in- einem Gleichgewicht, und die liebevoll produ- fra-rouge, ultra-violet), souplesse et fiabilité des zierten Filme wirken gleichzeitig anachronistisch nouveaux appareils cinématographiques» nutzte in ihrer an das Frühwerk anlehnenden Erzählwei- und entwickelte, und es war unter seiner Leitung, se und avantgardistisch in der Bildwahl und der als das Institut de Cinématographiques Scientifi- futuristischen Musik. ques des CNAM Filmapparate zur Ermöglichung Zwar sind die allerersten Publikumsfilme ohne komplexer Aufnahmen konstruierte: «automatis- Tonspur, doch sie wurden teilweise später nach- mes à vitesse variable, éclairage non-échauffant vertont. Die Tonspur teilt sich der Erzähler mit des surfaces réduites, enregistrement des bruits du einem oft außerordentlichen Soundtrack, in wel- cœur, prises des vues en couleur».550 chem die poetischen und erzählerischen Absichten Schon bald zeichnete sich eine zweite Phase von Painlevé weitergeführt werden: «[Painlevé] at- ab, die sich besonders in den ersten Nachkriegs- tend de la musique un élément de contrepoint, de jahren akzentuierte. Die Filme betonen weniger double-voix, d’addition au film».552 So arbeitete das Ästhetische, sondern werden zu «tableaux de er schon früh mit Komponisten wie Maurice Jau- mœurs animales d’une humanité sans concession bert, und später mit Pierre Conté où l’humour le disputera souvent à la terreur». und Pierre Henry zusammen. In anderen Filmen Diese Dokumentarfilme sind zwar verspielt, doch benutzt er fremde Schallplattenaufnahmen zur sie führen die Prekarität der Existenz an sich vor Vertonung, wie die US-amerikanische Jazzmu- Augen: sik der Stücke Black and Tan Fantasy (1927) und Echoes of the Jungle (1931) von Duke Ellington in L’enfer qui se révèle à nous est atroce, implacable: il Le Vampire (1945): y a dans cette lutte pour la vie un mécanisme aveug- le et paisiblement délirant qui débouche, de ma- Il y avait de la provocation sans doute à utiliser une nière inévitable et angoissante, sur cette question: musique à l’époque extrêmement vivante, présente, Pourquoi l’univers est-il le lieu d’une apocalypse qui et à l’appliquer à un monde aussi sanguinaire; ces se confond avec la nécessité même de vivre?551 montages, réalisés à partir d’œuvres de musiciens noirs américains faisaient surgir, en une sorte de «résonnance», la douleur, la révolte, la frénésie, l’an- 548 Poupion und Choupaut 1984, S. 5. 549 Goll 1991, S. 44. 550 Poupion und Choupaut 1984, S. 4. 551 Ebd., S. 6. 552 Ebd., S. 9. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 93

goisse, l’imploration … toutes significations qui, au seinem Sohn – welcher sie durch anarchistische sortir de la guerre, choquaient le public.553 Ideen ergänzte.557 Nicht nur die Erfahrung, sondern auch die In seltenen Fällen verzichtete Painlevé sogar auf erstklassigen Kontakte seines Vaters waren wich- eine gesprochene Erzählung und überließ die tig, welcher beispielsweise, wie Berg im Inter- Narration ganz dem Zusammenspiel von Bild view erwähnte, mit Sophie Szeps-Clemenceau und Ton, wie in Crabes et crevettes (1930) mit der eine langjährige Affäre hatte.558 Diese war die Musik von und in Transition Schwester von Berta Zuckerkandl-Szeps, Leite- de phase dans les cristaux liquides (1978), in wel- rin eines damals international wichtigen Salons chem er gleichsam halluzinierende Bilder aus der in Wien, was den Painlevés Zugang zu österrei- Forschung einer Musik von François de Roubaix chischen Kunstkreisen ermöglichte. Jean Painlevé gegenüberstellte.554 lernte etwa den aus Riga (Lettland) stammenden Als Filmemacher vertrat Painlevé wie sein Fotografen Philippe Halsman (eigentlich Filips Freund Vigo die Meinung, dass dem Kino in poli- Halsmans) kennen, für dessen Schutz vor den tischen und sozialen Veränderungen eine wichtige Nationalsozialisten er sich später einsetzte. 1930 Rolle zukommt. Die Künste waren für sie nicht setzte sich Painlevé auch für Sergej Eisenstein ein, unpolitisch und wertfrei, sondern im Gegenteil ermöglichte dessen Reise nach Frankreich und die von politischer und sozialer Relevanz. Dieser ideo- Ausstrahlung seines damals im Westen zensierten logiekritische Blick wurde durch die Erfahrungen Spielfilms Броненосец Потёмкин (Bronenosetsch seines Vaters zur eigentlichen Aufforderung zum Potemkin, Russ. für Panzerkeuzer Potemkin, Handeln. So galt sein Vater als antiklerikal, hatte 1925). 1934 war er Mitbegründer des Front com- sich für den zu Unrecht verurteilten französischen mun, den er aber bald wieder verließ, und reiste Hauptmann Alfred Dreyfus eingesetzt, war seit im Rahmen der Untersuchungskomission des Co- 1904 in der Liga der Menschenrechte und blieb mité Mondial contre la Guerre et le Fascisme nach seinen politischen Idealen während seiner Kar- Österreich, um Vorwürfe zu überprüfen, ob die riere treu, wie Anne-Laure Anizan schreibt: «Sa dortigen Behörden sich etwa die Bombardierung carrière est d’abord celle d’un parlementaire répu- von Arbeitervierteln zuschulden kommen ließen, blicain socialiste fidèle au programme sur lequel il und 1936 für eine Untersuchung von Vorwürfen s’est engagé en 1910».555 Dabei blieb er national wegen der Haftbedingungen der oft jüdischen ausgerichtet: «Républicain et socialiste réformiste politischen Gefangenen im Gefängnis von Bereza suivant […] Paul Painlevé est également un par- Kartuska im damaligen Polen (heute Biarosa oder tisan de la défense nationale.»556 Diese Mischung Бярóза, Weißrussland). aus republikanischem Sozialismus und franzö- Nach erstem Zögern trat Painlevé 1936 dem sischem Patriotismus fand sich später auch bei Front populaire du travail, de la liberté, de la paix (FP) bei, der 1935 am französischen Nationalfei- 553 Ebd. Zu Duke Ellington vgl. Duke Ellington Society ertag gegründeten parteiübergreifenden Vereini- 2009. gung zum Kampf gegen den Faschismus, welche 554 Mit Pierre Conté, welcher die von Painlevé und Hamon von 1936 bis 1938 in Frankreich die Regierungs- realisierten Meerestierdokumentationen Comment naissent les méduses (1960) und Histoire de crevettes mehrheit bildete. Im Front populaire war er in (1964) vertonte, ging die Zusammenarbeit weiter. Pain- der Abteilung Ciné-Liberté aktiv, deren Präsident levé verfilmte von ihm auch Tanzchoreografien, etwa in der Filmemacher Jean Renoir war. Ab 1939 führte Jeux d’enfants (1948) und Quelques danses pour «Ca- Painlevé das Sekretariat der neugegründeten Amis lendal» de Mistral (1960), und widmete der von Conté de la République Française und half aus national- entwickelten Tanznotation den InformationsfilmL’écri- ture du mouvement (1947). sozialistischen Ländern geflohenen jüdischen 555 Anizan 2005, S. 58. 557 Zu Painlevés anarchistischen Ideen vgl. Marinone 2009. 556 Ebd., S. 61. 558 Vgl. Berg 2009 (Interview). 94 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Künstlern, die nötigen Papiere zum sicheren Auf- sich besonders im Filmbereich, wie Jean-Pierre enthalt in Frankreich zu besorgen, dies auch für Bertin-Maghit schreibt: den erwähnten Fotografen Halsman und die aus Wien stammende Tierfotografin Ylla (eigentlich A partir d’août 1944, deux idéologies divisent le ci- Camilla Koffler), die aber wegen der Verschärfung néma. De Gaulle entend que l’épuration, nécessaire, der Lage beide noch 1939 in die USA emigrier- reste modérée. Il ne faut pas offrir aux Américains le ten. spectacle d’un peuple qui se déchire, mais au cont- Bei Kriegsausbruch trat Painlevé 1939 in die raire, celui d’un pays qui panse ses blessures dans la französische Armee ein und wurde nach dem dignité et qui retrouve son union pour faire face à la Waffenstillstand 1940 wieder aus dem Dienst reconstruction économique. Le CLCF et les syndi- entlassen. Da er durch seine Aktivitäten gegen cats de la Fédération CGT, veulent, eux, épurer.563 den Nationalsozialismus schon vor der deutschen Besetzung abgehört und polizeilich überwacht Es war das Ziel von Painlevé und des CLCF, das wurde, musste er während der Besetzung in den von der Vichy-Regierung eingeführte Comité Süden Frankreichs fliehen, wo er untertauchte.559 d’organisation de l’industrie cinématographique Seine Erzieherin, die bei ihm noch immer als (COIC) abzuschaffen und Exponenten dieser Ära, Haushälterin tätig war, wurde laut Berg während wie den Funktionär Pierre-Henri Teitgen, auszu- der Besetzung von deutschen Truppen verhaftet schalten. Die Regierung de Gaulle beließ aber und hingerichtet.560 In der Résistance aktiv, wur- Teitgen auf seinem Posten, obwohl er als aktiver de Painlevé vom Comité de Libération du Cinéma Kollaborateur verurteilt wurde. Auch die Gewerk- Français (CLCF) zum Direktor des daraus ent- schaften richteten sich in diesem Konflikt gegen stehenden Generalverbandes der Filmbranche, die durch den CLCF und Painlevé geforderte so- Cinéma Français, bestimmt. Unter der Leitung genannte «Épuration» und bevorzugten die Poli- von Painlevé wurde die Befreiung von Paris ge- tik von de Gaulle. So stimmten sie der Absetzung filmt und am 29. August 1944 im Pariser Kino Painlevés am 16. Mai 1945 vorbehaltlos zu, und Normandie unter dem Titel La Libération de Paris der von der Fraktion de Gaulle schon 1944 ein- gezeigt.561 Diese Sendung bildete eine Vorstufe gesetzte Stellvertreter Pierre Riedinger übernahm zur späteren französischen Nachrichtensendung seinen Posten, wie Bertin-Maghit schreibt: «La Actualités Françaises, welche in den Nachkriegs- profession n’est pas dupe. Charles Chezeau, secré- jahren jeweils in französischen Kinos vorgeführt taire général du syndicat des travailleurs du film, wurde. Die erste Folge unter dem Titel France présente le changement ministériel comme con- Libre Actualités stand ebenfalls noch unter der firmation d’un état de fait. Pour lui, Pierre Rie- Leitung von Painlevé und kam am 8. September dinger a toujours été le véritable directeur général 1944 in die Kinos.562 du cinema!»564 In seiner Funktion als Leiter von Cinéma Seine Stellung als hoher Funktionär verlor française wurde Painlevé stark behindert, denn Painlevé, er wurde aber noch im selben Jahr zum die innere Zerrissenheit der aus der Résistance Leiter der Fédération Française des Ciné-Clubs er- gespeisten Machtelite nach der Befreiung zeigte nannt. Auch nahm er seine filmische Tätigkeit wieder auf, galt als Doyen im Dokumentarfilm, 559 Zur Überwachung von Painlevé vgl. Bertin-Maghit Wissenschaftsfilm und Tierfilm in Europa, und 1989, S. 244. trat 1948 in Frankreich wie in England in den 560 Laut Berg hieß die Erzieherin Laurentine Faure, und ihr ersten wissenschaftlichen Sendungen im noch Tod wurde von einem anderen Lagerinsassen in Ravens- jungen Fernsehen auf. Obwohl die Rezeption sei- brück bestätigt. Painlevé kam darauf für den Unterhalt ihres Sohnes auf; vgl. Berg 2009 (Interview). ner Filme ab den 1960er Jahren geringer wurde, 561 Vgl. Poupion und Choupaut 1984, S. 25. 563 Bertin-Maghit 1989, S. 240. 562 Vgl. ebd. 564 Ebd., S. 254. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 95 produzierte er neben zahlreichen Wissenschafts- vés Arbeit einzigartig als Produktion eines Ani- filmen auch weiterhin Publikumsfilme, wobei er mationsfilms und als Verfilmung einer Erzäh- beim letzten, Les Pigeons du square (1982), zum lung. Painlevé identifizierte sich stark mit dieser ersten Mal auch selber vor die Kamera tritt und in Produktion und investierte dafür viel Zeit. Es einem inszenierten Treffen mit Kindern im Park scheint, dass er sich erhoffte, eher mit Barbe Bleue Wissenswertes über Tauben erzählt. als mit den Dokumentarfilmen vermehrt in Kinos präsent sein zu können, und sich so für ihn die Möglichkeit ergab, seinem Interesse für fiktiona- Planung und Produktion von Barbe Bleue len Film nachzugehen, welches nach den Arbeiten mit Sti, Goll und Vigo in den Hintergrund ge- Neben den Wissenschafts-, Lehr- und Doku- treten war. mentarfilmen für ein allgemeines Publikum war Es ist zu vermuten, dass Painlevé den Film die Knetfigurenanimation Barbe Bleue in Painle- Barbe Bleue gänzlich mit seinem privaten Geld

Abb. 9: René Bertrand und seine Kinder mit Jean Painlevé (rechts) im Filmset von Barbe Bleue (1938). © Archives Jean Painlevé, Paris 96 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 finanzierte und diese Unternehmung auch von bis 1940 noch wesentlich gestiegen sein. Diese seiner Dokumentarfilmfirma Cinégraphie -Do Kosten holte Painlevé nicht heraus, und dennoch cumentaire trennte, mit welcher er Dokumen- stürzte er sich nach dem Krieg für die Zeit seines tarfilme produzierte. Möglich war die äußerst Lebens nicht umsetzbare Wiederherstellung des aufwändige Produktion von Barbe Bleue durch Films in weitere Unkosten. den Erfolg von L’hippocampe, den zusätzlichen Der erste Schritt zur Realisation des Films Erträgen aus dem Schmuckgeschäft und mögli- nach der Begegnung mit Bertrand 1934 war die cherweise durch eine kleine Erbschaft des 1933 Entwicklung einer Spezialkamera, wofür Painle- verstorbenen Vaters.565 Painlevé bezahlte sowohl vé mit dem Kameramann Raymond zusammen- den Librettisten als auch den Komponisten und arbeitete, um die Animation mit Gasparcolor während drei Jahren die Unterhaltskosten für den filmen zu können (das Geschehen wurde in den Regisseur und Animator Bertrand und seine drei drei Grundfarben je separat abgefilmt, und da- Kinder. Die Arbeit als Produzent umfasste bei nach von Gasparcolor in London auf einer Ab- Barbe Bleue auch die Pressearbeit, die endgültige spielkopie vereint). Gleichzeitig entwickelte Bert- Realisation und die Organisation von Vorführun- rand seine Idee einer Adaption der Erzählung La gen. Möglicherweise hatten sich die Aufgaben, die Barbe bleüe von Perrault anfangs 1935 zu einem Painlevé übernahm, nach und nach angehäuft, Storyboard, worauf Jean Vincent-Bréchignac den wie beim DokumentarfilmOstende, reine des pla- Dialog verfasste.568 Vincent-Bréchignac (1901– ges (1931) von Henri Storck, wo Painlevé zuerst 1969?) war ein Übersetzer, Filmkritiker und Au- Jaubert als Filmmusikkomponisten vermittelte, tor,569 der während des Zweiten Weltkriegs die dann mit der Firma Cinégraphie Documentaire Station Radio Alger leitete und danach Leiter der die Kosten für die Tonaufnahmen übernahm, den französischen Radiostation Paris Inter wurde (spä- Text für die Off-Stimme verfasste und sogar im ter als France Inter bekannt).570 Film selber sprach.566 Das Libretto für Barbe Bleue lieferte Vin- So ging Painlevés Engagement auch bei Barbe cent-Bréchignac offensichtlich im Frühjahr 1935. Bleue über die reine Produktion hinaus. Die zahl- Der Text orientiert sich zwar an Perrault, ist aber reichen Interviews und Studiobesichtigungen, zu denen Painlevé einlud, und seine Anwesenheit 568 Zum Dialog von Vincent-Bréchignac vgl. Léo Sauvage: Sculptures animées. Barbe-bleue va-t-il détrôner Mi- bei den Screenings zeigen, dass er inhaltlich stark ckey?; in: La Lumière (Janvier 1938 [eigentlich 1939]); an diesem Film beteiligt war. Die Kosten werden hier in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. schon in einem Artikel von Anfang 1937 auf 569 Die Hinweise zu Jean (eigentlich Jean-Paul) Vincent-Bré- rund 100 000 Francs geschätzt, damals ein ho- chignac setzen sich aus Hinweisen verschiedener Quel- her Betrag.567 Sie dürften durch die zahlreichen len zusammen. In Artikeln zu Painlevé wird er statt Jean Vincent-Bréchignac meist Jean-Vincent Bréchignac ge- Überarbeitungen und Schwierigkeiten von 1938 nannt, ziemlich sicher handelt es sich dabei um dieselbe Person. Zu seinen Kritiken für die Kinozeitschrift Pour 565 Laut Berg hatte die wohlhabende Familie seiner Mut- vous vgl. Calenge und Calenge 2009; 1930 wurde in ter ihn und seinen Vater enterbt; vgl. Berg 2009 (Inter- der Zeitschrift T.S.F. Programme angekündigt, dass Jean view). Painlevé mit dem Verfassen von Filmkritiken beautragt 566 Zu Ostende, reine des plages von Henri Storck vgl. Ha- wurde, er wurde aber fast sofort von Vincent-Bréchig- mery 2008, S. 110f, S. 277. nac abgelöst; vgl. T.S. F. Programme 1930, S. 17; vgl. 567 Jany Casanova: Jean Painlevé va tourner «Barbe-Bleue» auch Todd 2007, S. 121, Fußnote 10. Als Übersetzer avec des statuettes animées par le sculpteur René Bert- arbeitete Vincent-Bréchignac in der Filmuntertitelung; rand; in: Paris-Soir, 15. Februar 1937 [oder 13. Januar vgl. Hamery 2008, S. 118, Fußnote 24. 1937]; hier in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel; vgl. 570 Vgl. Brot 2007, S. 111. Der letzte Hinweis auf Vin- weiter die undatierte Kostenauflistung: «En résumé, le cent-Bréchignac findet sich am 29. Januar 1968, er prix du film est par le Gaspard-Color ainsi que le prix wird als Produzent der Radiosendung Le livre de chevet des copies: 100‘000.–»; hier in: Archives Jean Painlevé: de Pierre Mac Orlan bei France Culture genannt; vgl. Unterlagen. Héron 2010. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 97 auf poetische Einblicke reduziert, in welchen Die «petit opéra cinégraphique d’après le conte Schlüsselmomente der Erzählung hervorgehoben de Perrault» für Barbe Bleue komponierte Jaubert und die Worte doppelsinnig im Raum stehen ge- im Juni 1935 und spielte die französische Version lassen werden. Im Libretto können drei Teile unter- noch im selben Sommer auf Schallplatten ein.573 schieden werden: Ein erster auf dem Schloss bei der François Porcile nennt den Animationsfilm eine Mutter der zukünftigen Ehefrau von Barbe Bleue, für diese Zeit einzigartige «véritable opéra mi- ein zweiter mit einem Einblick in das Leben auf niature».574 Das Storyboard von Bertrand sah dem Schloss von Barbe Bleue und seiner Frau nach eine opéra bouffe vor, ließ Jaubert aber sonst freie deren Hochzeit, und ein dritter nach seiner Rück- Hand («carte blanche pour un opéra bouffe»).575 kehr und ihrer Rettung durch ihre Geschwister. Offenbar fand die erste Aufnahme am 20. Juli Die drei Teile werden durch den Text kaum erzäh- 1935 statt (die sich im Nachhinein als Versuchs- lerisch verbunden, sondern es sind die Bilder, die aufnahme entpuppte) und am 11. Juli 1938 (ab- Animation und die Musik, durch welche der Er- gemischt am 15. und 21. Juli 1938) wurde die zählfluss nachträglich generiert wird. Musik mit allen Geräuschen im Studio von Pathé Mit der Idee einer Animation durch Bertrand Cinéma in Paris noch einmal aufgenommen.576 und dem Text von Vincent-Bréchignac wandte sich Nach der Komposition für Barbe Bleue schrieb Painlevé an Maurice Jaubert (1900–1940), welcher Jaubert 1939 für Painlevé, kurz vor seinem Auf- seit 1929 Leiter der Abteilung für Musik bei der gebot in die Armee, noch die Filmkomposition französischen Filmproduktionsfirma Pathé war.571 für den von der Regierung in Auftrag gegebenen Er gilt als wichtiger Komponist für den engagierten Informationsfilm Solutions françaises (Erstauffüh- französischen Film des poetischen und sozialkriti- rung 1945), und starb nur kurz danach als Soldat schen Realismus für die Zeit von 1930 bis 1940, für im Kampf gegen die Deutschen. den etwa Vigo oder Renoir einstehen. Für Painlevé Filmmusik, Programmmusik für Film ge- arrangierte und dirigierte Jaubert 1929 zusammen nannt, wurde durch die Etablierung des Tonfilms mit Roland Manuel Kompositionen von Domeni- um 1927 neben Radio und Bühne zu einer wich- co Scarlatti für Caprelles et Pantopodes (1930) und tigen Einnahmequelle für Komponisten.577 Dari- 1931 alleine Kompositionen von Frédéric Chopin us Milhaud, Jacques Ibert oder Arthur Honegger für die nachträgliche Vertonung von Hyas et Steno- wurden sowohl über ihre eigenständigen Werke rinques, crustacés marins (1929), von Vincenzo Bel- als auch für ihre Filmmusik bekannt, Maurice Jau- lini für Le Bernard l’hermite, crustacé marin (1929) bert oder Joseph Kosma sogar fast ausschließlich und von Maurice Delannoy, der für Crabes et cre- über sie. Es ist auffällig, dass besonders Kompo- vettes (1930) eigens Musik schrieb.572 nisten der Gruppe oder aus dem Umfeld von sich für eine innovative Filmmusik einsetzten und diese nicht auf eine einfallslose Untermalung 571 Zu Maurice Jaubert vgl. Porcile 1971. Jaubert schrieb reduziert sehen wollten. Diese 1920 um den Autor auch selber Filmmusik, etwa für Alberto Cavalcanti bei Jean Cocteau formierte Gruppe, zu welcher Geor- Le petit chaperon rouge (1930), für Vigo bei Zéro de ges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius conduite (1932) und L’Atalante (1934), und für Marcel Milhaud, und Germaine Taille- Carné bei Drôle de drame (1937) und Le jour se lève (1939). ferre gehörten, orientierte sich dabei an Erik Sa- 572 Zu den Filmangaben vgl. Hamery 2008, S. 269–283. In dieser Zeit war Jaubert laut Porcile noch ziemlich unbe- 573 Vgl. Jaubert 1935 (Manuskript) kannt: «À l’époque, il n’a pas encore acquis la notoriété 574 Porcile 2007, S. 95. que lui vaudront, à partir de 1937, les films de Duvivier 575 Painlevé 1991, S. 16. et de Carné […]. Ses superbes partitions pour les films 576 Porcile 2007, S. 98. de Jean Vigo sont interdites d’écran […]. Seule la valse 577 Zur Geschichte der Filmmusik vgl. Cooke 2008 und de Quatorze Juillet [1933] de René Clair […] lui a assuré Wierzbicki 2009; zur Lage in Frankreich vgl. Mouëllic un succès durable.» (Porcile 2007, S. 95f). 2003. 98 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 tie, welcher besonders mit seiner Komposition für Gerade bei Jauberts Musik wird von Jean Roy die das mit Cocteau produzierte Ballet Parade (1917) «droiture et pureté» hervorgehoben und ihre «ef- den Wert von Gebrauchsmusik entdecken half.578 ficacité, clarté, économie instrumentale» gelobt. Generell definierten sich Les Six weniger über ihr Im Vordergrund steht bei ihr für Roy nicht die ästhetisches Programm als über ihre Auffassung der Innovation, sondern die Funktionalität: Rolle von Musik. Diese sollte kein selbstgefälliges und aufmerksamskeitsheischendes «l’art pour l’art» Et c’est pourquoi, si elle innove peu, se souciant bilden, wie die verschachtelten und komplexen simplement d’accomplir sa mission parmi les hom- Werke der Neoromantik, des Impressionismus und mes, ayant d’abord pour raison d’être l’efficacité des Symbolismus in der Tradition von Wagner, für (et ce fut, en d’autres siècles, une règle d’or qui n’a die in Frankreich etwa Debussy einstand, sondern point nui à la survie des œuvres conçues dans cette als Kommunikationsmittel einfach zugänglich und perspective) elle conserve néanmoins un accent ir- auf ihre Weise als «nützlich» empfunden werden remplaçable.581 können; die Musik sollte im jeweiligen Kontext «effizient» genutzt und entsprechend gespielt und Bei Jauberts Barbe Bleue zeigt sich dies in einer schnel- rezipiert werden können.579 len und pausenlosen Abfolge von musikalischen Der Komponist als Genie rückt durch diesen Sujets und Bestandteilen von Liedern. In den zahl- «Funktionalismus» in den Hintergrund, stattdes- reichen kurzen Episoden sind drei Lieder erkennbar, sen tritt die Musik als Kommunikationsmittel her- die den Teilen von Vincent-Bréchignac entsprechen. vor und in einen Dialog mit dem vertonten Film, Es sind dies ein erstes mit dem Refrainteil «Barbe Bühnenwerk oder Hörspiel. Auch bei den Kompo- Bleue – moustachu hideux», dann ein zweites mit sitionen für musikalische Aufführungen wird we- «Vive la joie – joie de rire et de vivre» und ein drittes, niger Wert auf avantgardistische Ästhetik gelegt als laut Porcile «un réjouissant trio vocal dans le plus pur auf die jeweilige Situation und das entsprechende style ‹bel canto›», mit dem Refrain «Madame, il faut Hörerlebnis. Bei vielen dieser Kompositionen zeigt descendre – Madame, il faut mourir».582 Die Lieder sich dies in einem eklektischen, teilweise hekti- werden wiederholt durch Spannungsmusik unter- schen Musikverlauf, in klanglichen Experimenten brochen. Durch die ideelle scheint sich auch eine und dem Überschreiten herkömmlicher Konven- stilistische Nähe zu ergeben; so erinnert diese «opéra tionen, etwa durch Sprechen und Rufen in Opern bouffe» stellenweise an Iberts Oper Angélique (1927) oder, berühmterweise bei Honegger, der Verwen- und seine unten diskutierte Radiooper Barbe-Bleue dung eines Lokomotivgeräusches als musikalisches (1943). Gerade bei den Szenen zu Barbe-Bleue Motiv. Die Ideale von Cocteau und Satie zu dieser wählten beide ähnliche Stile in denselben Szenen Zeit und ihre «principes de netteté, de simplicité, (Marschmusik, romantisches Lied), ohne dass aber voire de crudité» sollten über die Arbeiten von Les eine direkte Referenz erkennbar wäre. Bei Jauberts Six auch für andere Komponisten wegweisend wer- Musik für Barbe Bleue steht nicht eine musikalisch den.580 zusammenhängende Komposition im Mittelpunkt, sondern es wird eine Abfolge von Kurzstücken kre- 578 Zur Gruppe Les Six vgl. Roy 1994. iert, welche sich laut Vimenet besonders an der Oper 579 Damit bewegten sich Les Six im einem ähnlichen Feld wie etwa Kurt Weill und Paul Hindemith, deren kom- Barbe Bleue von Offenbach orientieren und seinem 583 positorische Innovationen vor dem Hintergrund von «univers coloré et baroque». In ihnen zeigt sich, Ferrucio Busoni und seiner Schrift Entwurf einer neuen was Vimenet auch für die Worte von Vincent-Bré- Ästhetik der Tonkunst entstanden, in welcher zur Er- chignac feststellt: möglichung einer freieren Komposition die «Programm- musik» gleichwertig neben die «Absolute Musik» ge- 581 Roy 1962, S. 267f. stellt und gleichzeitig beide als «einseitig und begrenzt» 582 Vincent-Bréchignac 2005, S. 8, S. 10, S. 12; Porcile qualifiziert werden; vgl. Busoni 1983, S. 55. 2007, S. 99. 580 Tchamkerten 2005, S. 45. 583 Vimenet 1997, S. 12. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 99

fidèles au déroulement du conte, elles [les paroles Bewegungen durch Beachtung der chronofoto- de Vincent-Bréchignac] sont en même temps par- grafischen Studien von Étienne-Jules Marey, wie odie de la structure des opéras – notamment par le Painlevé 1938 schreibt: «René Bertrand a utilisé raccourssiment de la durée habituelle qu’impose le sa complète connaissance de la décomposition des court métrage à l’opéra. C’est une caricature d’opé- mouvements, aidé notamment par les documents ra, qui en respecte toutes les règles essentielles.584 qu’il possède de Marey, pour obtenir une grande exactitude – dont il pourra se passer s’il le juge Am erzählerischen Fluss der Musik orientiert sich utile: qui peut le plus, peut le moins.»588 Weite- die Animation teilweise auf den Ton exakt, sie re Entwicklungen steuerte Bertrand laut Painlevé bildete für Bertrand die konkrete Arbeitsvorlage: selber bei, so etwa die aufwändige Mehrfachbe- «c’est en synchronisme avec les vibrations visibles lichtung für bessere Bewegungen: «Il découvrit sur la bande son que Bertrand décrivait et créait qu’en prenant trois gestes successifs sur une seule les scènes successives».585 Die filmische Anima- image, on obtenait une souplesse extraordinaire tion im Takt einer vorgegebenen Musik ist kom- du geste.»589 plex und aufwändig und zog sich bei Barbe Bleue Neben den Figuren formte das Team um Bert- über drei Jahre hin. Nach den freien Versuchen rand auch die Bühnenelemente, wie die Stadtan- von 1934 baute Bertrand für die Animation von sicht, Bäume oder Tiere – zu einem großen Teil Barbe Bleue an der Rue Denfer-Rochereau (Mont- aus Plastilin, genauer aus «Plasta scolaire», wie auf parnasse) in Paris ein kleines Studio auf.586 Da der Lieferscheinen erwähnt wird, heute bekannt als Bau der Spezialkamera sich in die Länge zog, ver- «pâte à modeler scolaire».590 Perspektivische Tricks zögerte sich der Drehstart. Laut Sauvage konnte in Größe und Anordnung ermöglichten neben der Dreh am 18. Juni 1936 endlich beginnen, an der Dreidimensionalität der Figuren eine zusätz- welchem die ganze Familie Bertrand beteiligt war, liche Erzeugung von Bildtiefe, wie Painlevé 1938 wie Painlevé schreibt: schreibt: «la souplesse et le fini de la perspective lui ont permis de dresser en quelques mètres des A l’aide de plastelline armée de métal, le sculpteur décors qui, sinon, auraient nécessité de très gros René Bertrand aidé de ses enfants, six, sept et huit emplacements, notamment pour les scènes de tra- ans, dont les petits doigts faisaient merveille, mo- velling.»591 Dies wird durch die noch erhaltenen delait chaque personnage entre chaque prise de vue Plastilin-Figuren bestätigt: So ist die erhaltene Fi- d’une image – et parfois, comme dans le mariage gur von Barbe Bleue etwa 30 cm hoch, die Figu- de Barbe Bleue, il y en avait une multitude […] la ren der Volksgruppe aber nur je etwa 3 cm.592 Das première moitié est-elle un peu arthritique alors que Metallgestell der Figur von Barbe Bleue enthält la suite est magnifiquement animée...587 weiters verschiedene Gelenke zur Vereinfachung der Bewegungen. Außerdem nutzte Bertrand die Die teilweise Holprigkeit des Resultats darf nicht Dehnbarkeit von Plastilin zur Erzeugung von darüber hinwegtäuschen, dass im Film zahlrei- Effekten, etwa beim Abtrennen eines Kopfs, wo che bildtechnische und filmische Innovationen sich der Hals ausdehnt, bevor er sich vom Rumpf enthalten sind, wie die natürliche Wirkung der trennt, was laut Painlevé auch neue Effekte zuließ:

588 Painlevé 1938, S. 14. 584 Ebd. 589 Painlevé 1991, S. 16. 585 Painlevé 1991, S. 16. 590 Vgl. Lieferscheine der Firma Couleurs Bourgeois, Paris, 586 Die Ortsangabe findet sich bei Jean Laury: Une formule an René Bertrand, Paris, vom 12. Mai 1937 und 2. Juni neuve de dessin animé. Des artisans enfantins sculptent 1937 für «Plasta scolaire» und «Plasta Nr. 2»; in: Archi- un conte bleu; in: Le Figaro, Le Cinéma (3. Juli 1936); ves Jean Painlevé: Unterlagen. hier in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. 591 Painlevé 1938, S. 14. 587 Painlevé 1991, S. 16. Für Datum Drehstart vgl. Sauvage 592 Die Figuren befinden sich im Archiv Jean Painlevé bei 1939 (wie Fußnote 568). Les Documents Cinématographiques, Paris. 100 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

«lorsqu’on arrache la tête d’un guerrier, on voit mit dem ZeichentrickfilmFantasmagorie (1908), la plasteline qui se décolle, le cou qui devient de der mit Le Tout Petit Faust (1910) auch schon eine plus en plus mince jusqu’à ce que la tête cède; cela Oper als Puppenanimation realisierte, in Russland faisait un ‹truc› absolument nouveau.»593 Ladislas Starewitch (eigentlich Władysław Stare- Eine besondere Schwierigkeit lag im Licht, be- wicz) mit der Puppenanimation Lucanus Cervus sonders wegen der Erzeugung von Schatten: «les (übersetzt «Hirschkäfer», 1910) und in den USA ombres des édifices ou des personnages doivent Winsor McCay mit dem ZeichentrickfilmLittle être équilibrées suivant les règles de la technique de Nemo (1911).597 Auf McCay folgten in den USA prise de vue normale en couleurs. On n’a pas craint um 1915 erste Zeichentrickfilmstudios, die sich d’ailleurs de grouper des teintes heurtées ou des auf Cartoons spezialisierten, etwa Walt Disney und grandes différences d’éclairage dans de nombreuses der Zeichner Ub Iwerks mit den Märchen-Anima- scènes.»594 Dabei stellte die Versorgung mit Elektri- tionen Laugh-O-Grams (1919–1922) und Mickey zität eine besondere Herausforderung dar: Mouse, deren dritte Folge Steamboat Willie (1928) als erste vertont war. Spätestens mit seinem ersten le secteur électrique ayant varié; d’où un contrôle du Langtrickfilm Snow White and the Seven Dwarfs voltage (en marchant au-dessous du voltage mini- (1937) wurde Disney zum internationalen Führer mum donné par le secteur) afin qu’il soit identique im wachsenden Markt des Trickfilms. au moment de chaque prise de vue: la vérification Die Trickfilmarbeit in Europa hingegen er- des lux fournis par chaque source de lumière em- scheint um 1935 als Spezialität obsessiver Ein- ployée permet d’assurer leur constance ou leur com- zelkämpfer, die in kleinen Ateliers eher experi- pensation.595 mentelle Œuvres produzierten. Diese Trickfilmer schufen eine Vielzahl an eigenständigen und Painlevé betont weiter, dass in diesem Trickfilm teilweise profitablen Kurz- und Langfilmen mit im Gegensatz zur herkömmlichen Trickfilmpro- animierten Zeichnungen und Puppen, deren Pro- duktion für alle Szenen neue Figuren und Dekors duktion erst durch den Zweiten Weltkrieg fast zur hergestellt wurden und durch die genau studier- Gänze aufgerieben wurde. In Deutschland reali- ten Bewegungsabläufe jede Szene ganz durchge- sierte Lotte Reiniger mit Die Abenteuer des Prinz führt werden musste, ohne einzelne Teile davon Achmed (1926) einen ersten Animationslangfilm. wiederverwerten zu können. In den Niederlanden baute der Ungarn-Flüchtling Verständlicher wird die Situation bei einem George Pál 1934 ein Trickfilmstudio auf, welches Blick auf das Genre Trickfilm. Die Geschichte des er mit animierten Werbefilmen finanzierte, und Trickfilms beginnt mit Bildanimationen beispiels- realisierte daneben erste Folgen der später als Pup- weise von Émile Reynaud am Ende des 19. Jahr- petoons bekannt gewordenen Puppenanimationen hunderts sogar schon vor den ersten eigentlichen wie Sleeping Beauty (1935). Er führte seine Arbeit Filmen, und im frühen Film um 1900 finden sich ab 1940 in den USA fort, wo er auch zu einem dann auch einzelne Trickfilmsequenzen, in den bekannten Spielfilmregisseur wurde. Wichtig für USA etwa bei Thomas Edison (vom Zeichner J. den europäischen Animationsfilm, auch für Pál, Stuart Blackton) und in Frankreich bei Georges war die Farbfilmtechnologie von Gasparcolor. Die Méliès.596 Als Vorreiter des Animationsfilms als Firma der aus Ungarn geflüchteten Brüder Gaspar Genre gelten aber in Frankreich dann Émile Cohl bildete von 1934 bis 1938 ein eigentliches Zen- trum des (farbigen) Animationsfilms in Europa, 593 Painlevé 1967, S. 88. bis sie wegen den Kriegserfolgen der Deutschen 594 Painlevé 1938, S. 15. zur Auswanderung in die USA gedrängt wurden. 595 Ebd. 596 Zur Geschichte des Trickfilms vgl. Beck 2004; zur Situ- Die erste Animation mit Gasparcolor-Farbfilm ation in Frankreich vgl. Kermabon 2007 und Neupert 597 Zu Le Tout Petit Faust von Cohl vgl. Vimenet 1997, 2011. S. 12. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 101 war der Werbespot Muratti greift ein (1934) von Painlevé später behauptete, aber durch den fast Oskar Fischinger, welcher auch die experimentelle durchgehenden Einsatz von Plastilin, auch für Animation Komposition in blau (1935) und weite- das Dekor, doch einen Meilenstein.601 Vimenet re Werbefilme realisierte, bevor er ebenfalls in die bezeichnet ihn dann auch als ersten nicht nach- USA emigrierte. kolorierten Knetfigurenfilm in Farbe.602 Breiter Zahlreich waren auch Experimente mit Knet- bekannt wurde laut Michael Frierson in den USA figuren, wofür laut Michael Frierson das durch die «clay animation» erst durch den Kurzfilm William Harbutt in den 1890er Jahren entwickel- Closed Mondays (1974) von Bob Gardiner und te, heute im englischen Sprachgebrauch allgemein Will Vinton, letzterer realisierte auch den Knetfi- verwendete Plasticine das ideale Material lieferte gurenlangspielfilm The Adventures of Mark Twain (im Gegensatz zu anderen Modelliermassen, (1985).603 Heute bekannt sind Knetfigurenfilme welche weniger gut knetbar waren).598 Als frühe hauptsächlich durch die britische Produktions- Beispiele von Knetfigurenkurzfilmen erwähnt Vi- firma Aardman Animation, die die Fernsehfigur menet etwa die US-amerikanischen Fun in a Ba- Morph (1976) und den von Nick Park realisier- kery Shop (1902) von Ed Porter und The Sculptor’s ten A Grand Day Out (1989) produzierten, wo Nightmare (1908) von Billy Bitzer oder den in die Figuren Wallace und Gromit zum ersten Mal Frankreich realisierten Sculpteur moderne (1908) vorkommen. Eine neue Knetfigurenanimation von Segundo de Chomon.599 Ein wichtiger Vorteil von Barbe Bleue gibt es vom belgischen Atelier der «sculpture animée» gegenüber der gezeichne- Zorobabel (2000).604 ten Animation war deren Bildtiefe, wie Georges Painlevé war ein Bewunderer des frühen Film- Sadoul 1939 schreibt: schaffens, etwa von Méliès, und auch von Trickfil- men, und betont in seinem Artikel von 1938 dabei Le principal défaut des dessins animés […] c’est en inbesondere die Rolle der europäischen Animation: effet qu’ils sontplats . Le relief leur manque, et si l’on fait évoluer ses personnages sur des paysages en soulignons que les admirables réalisations de Max relief, les silhouettes animées gardent un manque FLEISHER ou de Walt DISNEY ne doivent pas d’épaisseur véritablement gênant. La sculpture an- nous faire oublier les techniques différentes qui per- imée, par contre, offre d’immenses possibilités tech- mirent le Prince Ahmad, les films de STAREVITCH, niques, et sans doute se révélera-t-elle plus économi- ou Gulliver ou encore Le Vieux Château, non plus que que, plus rapide que le dessin animé.600 les œuvres capitales, tout en étant moins populaires que les Silly Symphonies, La Nuit sur le Mont-Chau- Beim AnimationsfilmНовый Гулливер (Novji ve d’ALEXEIEFF, les réalisations de BARTOSH, de Gulliver, Russ. für Der neue Gulliver, 1935) von PAL, les dessins animés d’OPPIN et de GROS.605 Alexander Ptushko handelt es sich möglicherwei- se überhaupt um den ersten längeren Knetfigu- 601 Painlevé 1991, S. 16. renfilm. Damit bildeteBarbe Bleue zwar nicht den 602 Vgl. Vimenet 1997, S. 13. «premier et seul film de sculpture animée», wie 603 Vgl. Frierson 1994, S. 132–149. 604 Vgl. Atelier Collectif Zorobabel 2000. 598 Zur Geschichte der Knetfigurenanimation vgl. Frierson 605 Painlevé 1938, S. 15. Zur Erläuterung: Die Brüder Flei- 1994; zu Plasticine vgl. ebd., S. 32–39. Die von Bert- scher veröffentlichten Trickfilme mit Figuren wie Betty rand verwendete Plasta scolaire der Firma Couleurs Boop (ab 1930) und Popeye (ab 1934). Bei Vieux Châ- Bourgeois entsprach vermutlich dem Plasticine, im Fran- teaux handelt es sich möglicherweise um einen Film von zösischen spricht man allgemein von «pâte à modeler Eugène Deslaw (1927). Une nuit sur le mont chauve scolaire», im Deutschen von «Knetmasse» oder «Plasti- (1933) ist von Alexander Alexeieff und Claire Parker. Bert- lin». hold Bartosch arbeitete in Berlin mit Lotte Reiniger und 599 Vgl. Vimenet 1997, S. 12f. realisierte in Frankreich Filme wie L’Idée (eigentlich L’Jdée, 600 Georges Sadoul: Barbe-Bleue; in: Regards (16.2.1939), 1932). Anthony Gross und Hector Hoppin realisierten Fil- S. 18; hier in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. me wie Joie de vivre (1934). 102 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Vimenet weist bei Barbe Bleue besonders auf die des enregistrements image par image, ce qui conve- Übereinstimmungen mit dem erwähnten Der nait parfaitement pour Barbe Bleue.610 neue Gulliver von Ptushko hin, «notamment un travail sur le décor, proche d’esprit, et une atten- Béla und Imre Gaspar führten ab 1934 in Bel- tion à la choréographie».606 Auffällig ist auch die gien ein Labor und lieferten den Film über die Nähe zu den Filmen von Starewitch, welcher 1918 Filmentwicklungsfirma N.V. Gevaert Photo Pro- wegen der Revolution aus Russland nach Frank- ducten (N.V. oder «naamloze vennootschap» ist reich geflohen war.607 So verwendeten Starewitch das niederländische Äquivalent zur deutschen und seine mitarbeitende Tochter für den Kurzfilm Aktiengesellschaft) aus, nachdem sie Deutschland La création du monde (1933) Puppen, deren Ge- hatten verlassen müssen, wo sie ihr System ent- sichtsausdrücke mit formbarer Masse «propre à wickelt und noch 1934 mit der Hilfe von Oskar être modelée» verändert werden konnten: Fischinger zu einem voll einsetzbaren Verfahren ausgebaut hatten.611 Weiter bauten sie auch ein Nous travaillons alors à la confection des décors et Labor in London auf, wohin die Negative für Bar- des marionettes. Les uns et les autres sont d’abord be Bleue vom Oktober 1936 bis am 31. Dezember l’objet d’esquisses et de maquettes. Chaque mari- 1937 geliefert wurden, wie die noch erhaltenen onette demande des soins particuliers. Elle est en Transport- und Zollscheine belegen.612 Am 14. général constituée par une armature solide – de Januar 1938 schickte Gasparcolor eine Kiste mit métal ou de bois – revêtue d’une matière plastique Film und am 19. Januar zwei Kopien von Barbe et pourvue de charnières et d’articulations.608 Bleue, ziemlich sicher auf 35-mm-Film, nach Pa- ris.613 Diese konnten dann für die Uraufführung Dieser Bezug passt zu Painlevés Einordnung von der ersten Version des Films am 25. Januar 1938 Barbe Bleue zu einem «genre différent du dessin verwendet werden. animé», welches er «comme technique, et comme Zusammenfassend zeigt sich in diesem Kapi- musique, et comme synthèse colorée, et comme tel, dass der KnetfigurenkurzfilmBarbe Bleue für esprit» von der Cartoon-Industrie unterschieden Painlevé als Produzenten eine Neuausrichtung sehen wollte: «C’eût été d’ailleurs parfaitement darstellte und für Bertrand als Regisseur über- inutile de tenter d’imiter le genre ‹dessin animé haupt den Beginn seiner Filmkarriere. Der Film américain› où la perfection a été atteinte».609 entpuppte sich schon bald nach dem Treffen Wichtig für Painlevé war, dass der Film so echt von Bertrand und Painlevé und nach Bertrands wie möglich wirkte. Entsprechend hatte ihn 1934 die Animation von Figuren nach den Chronofo- 610 Painlevé 1991, S. 16. tografien von Marey so begeistert und zur Ver- 611 Zu Gasparcolor vgl. Cornwell-Clyne 1951 und Moritz 2009. Zu Gevaert vgl. Kapitel «Christian-Jaque und wendung von Gasparcolor-Farbfilm bewogen. die Nachkriegsversöhnung»; Christian-Jaques Film Bar- Gasparcolor-Farbfilm war um 1935 farblich be-Bleue / Blaubart wurde auf Gevacolor-Farbfilm ge- unübertreffbar und schien für Barbe Bleue sehr dreht. geeignet, wie Painlevé schreibt: 612 Vgl. 12 Transportscheine Paris–London der Firma Mi- chaux & Guérin in Paris zwischen dem 2.10.1936 und dem 31.12.1937; 8 Zollscheine aus Newhaven Sussex Les frères Gaspar, réfugiés hongrois, avaient créé oder Croydon Airport für René Bertrand zur Einfuhr von cette extraordinaire pellicule couleur, ininflamma- Film aus Paris vom 5.10.1936 bis 23.12.1937; alles in: ble, irrétrécissable, aux magnifiques couleurs sat- Archives Jean Painlevé: Unterlagen. urées, permanentes, mais utilisable seulement pour 613 Vgl. Transportscheine Paris–London vom 31.12.1937 und London–Paris vom 14.1.1938 der Firma Michaux 606 Vimenet 1997, S. 13. & Guérin in Paris; Aktennotiz vom 19.1.1938 zur Liefe- 607 Zu Ladislas Starewitch vgl. Béatrice und Martin 2003. rung von zwei Kopien von Barbe Bleue von Gasparcolor 608 Starewitch 2003, S. 397. London; alles in: Archives Jean Painlevé: Unterlagen. 609 Painlevé 1938, S. 14. Gasparcolor arbeitete ziemlich sicher mit 35-mm-Film. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 103

Storyboard von Anfang 1935 als ambitionier- wohl um die im Januar 1938 uraufgeführte Versi- tes Projekt: Im Frühjahr 1935 kam das Libretto on mit der neuen Tonspur vom Juli 1938 handelt. von Vincent-Bréchignac dazu, im Juni 1935 die Der Film beginnt mit einem Prolog, in wel- Partitur von Jaubert und im Juli 1935 die Ton- chem sich ein aufgeschlagenes Buch bei der Nen- aufnahme – gerade Jaubert galt als aufstrebender nung von Barbe Bleue in eine Büste desselben ver- Künstler mit progressiven Kompositionsideen. wandelt, welcher den Prolog mit lautem Lachen Gleichzeitig wurde eine Spezialkamera für das beschließt.618 Dazu wird ein erstes Lied gesungen, Gasparcolor-Farbfilmverfahren gebaut und ein bei dem sich im Refrain «Seigneur Barbe Bleue» Miniatur-Filmstudio eingerichtet, so dass im Juni auf «moustachu hideux» reimt.619 Danach folgt 1936 der Dreh beginnen konnte. Mit den Knet- die Handlung in vier Szenen. figuren aus Plasta scolaire, perspektivischen und In der ersten Szene kündigt sich Barbe Bleue animatorischen Tricks konnte dank dem Farb- in einem Schloss an, wo eine Frau mit ihren zwei film eine große «Echtheit» und filmische Stärke Töchtern residiert. Er möchte wieder heiraten erreicht und so die europäische Puppenfilmtradi- und schickt deshalb eine Schriftrolle: tion von Starewitch oder Ptushko weitergeführt werden. Die Tonaufnahmen vom 1935 und die Mes six femmes sont mortes / et mon castel est morne Filmaufnahmen von 1936 und 1937 wurden of- Les deux filles sont belles / et leur fraicheur est vaine fenbar bis Ende Dezember 1937 nach London J’arrive pour choisir / la plus belle des deux an Gasparcolor geliefert, worauf diese im Januar Tel est mon bon plaisir / le saigneur [sic!] Barbe 1938 die entwickelten Kopien schickten, und eine Bleue620 erste Vorführung des Films stattfinden konnte. Barbe Bleue zeigt seinen Reichtum, die eine Tochter gibt ihr Einverständnis – und schon läu- Bertrands Kurzfilm Barbe Bleue von 1938 ten die Hochzeitsglocken, und das Paar verlässt gemeinsam die Kirche. Die Burgen der Frau und Zugänglich ist der Film Barbe Bleue auf einer von Barbe Bleue befinden sich beide in kleinen DVD mit Filmen von Jean Painlevé aus dem Jahr Städten und sind wie die gesamte Handlung im 1996.614 Der Film wird im Vorspann als «réali- Mittelalter angesiedelt. Entsprechend sind die Fi- sation de Jean-Louis, Nicole, Michèle, Germai- guren gekleidet, opulent und im höfischen Stil, ne Bertrand et de René Bertrand» angekündigt, Barbe Bleue als Ritter, die Frauen mit hohen wobei René Bertrand als leitender Regisseur be- Hüten und langen Gewändern, die Knappen in sonders hervorgehoben wird.615 Die ihm Assis- Schnabelschuhen. tierenden waren seine Frau Germaine und ihre In der zweiten Szene singt die neue Ehefrau gemeinsamen Kinder Jean-Louis, Nicole und von Barbe Bleue auf einer Schaukel unter einem Michèle, manchmal noch sein Neffe Gilles Mar- Baum neben dem Schloss ein Lied, zusammen garitis.616 Für Porcile ist Barbe Bleue deshalb eine mit mehreren Troubadouren, die sie mit Gitarre extreme Auslegung eines «film familial».617 In der und Gesang begleiten, mit dem Refrain «vive la 1996 restaurierten Fassung gibt es einen zusätzli- joie, joie de vivre».621 In der Burg daneben betätigt chen Vorspann mit den Unterstützern der Restau- sich (im Parallelschnitt) ihr Ehemann im Schwert- rierung, in welchem Jean Painlevé genannt wird, kampf und tötet oder verstümmelt nacheinander Bertrand als Regisseur hingegen nicht. Danach alle drei gegen ihn antretenden Gesellen und im beginnt der eigentliche Film, bei welchem es sich 618 Zum Film Barbe Bleue vgl. ebd.; Hamery 2008, S. 116– 614 Vgl. Bertrand 2005. 120. 615 Ebd., min. 0:27–0:33. 619 Bertrand 2005, min. 0:39–1:04. 616 Vgl. Painlevé 1967, S. 88. 620 Ebd., min. 1:04–1:35. 617 Porcile 2007, S. 95. 621 Ebd., min. 3:48–5:47. 104 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Schwung auch gleich den Botschafter, der ihm faut descendre».624 Er will seine Ehefrau auf das eine Kriegserklärung der Sarazenen überreicht. Schafott bringen, doch im letzten Moment kom- Als er in der dritten Szene in den Krieg zieht, men die Brüder und töten ihn mit einem lauten übergibt Barbe Bleue seiner Frau die Schlüssel zu Ausruf: «Ha!» Im Epilog steht eine Variante der seinen Räumen und verbietet ihr das Betreten der ersten Moralität von Perrault: «La curiosité / mal- verbotenen Kammer. Die in der Burg Zurück- gré tous ses attraits, / coûte souvent / bien des bleibenden entdecken seine Reichtümer, während regrets», worauf die Knetfiguren wieder im Buch auf dem Feld (wieder im Parallelschnitt) äußerst verschwinden.625 gewalttätige Kämpfe stattfinden. So sieht man Obwohl durch die Nennung eines Teils der durchstoßene Köpfe und Körper, abgetrennte Moralität von Perrault im Abspann des Films sich bewegende Gliedmaßen und ein Pferd, wel- eine originalgetreue Verfilmung vermutet werden ches einem gegnerischen Kämpfer den Kopf vom könnte, zeigt schon ein Blick auf die Figuren be- Körper reißt. Die Darstellung von Kämpfen und deutende Unterschiede. Der Protagonist Barbe Kriegsgewalt ist frappant und bei Perrault so nicht Bleue ist ein wüster, blutrünstiger und ruchloser vorgesehen. Für Porcile bildet dies sogar den Mo- Haudegen, ein «Barbar», wie ihn die grausamsten ment, in welchem der Film die für ihn erstaun- Fiktionen ausmalen. Die bei Perrault beschriebe- lichste Dimension annimmt: nen Gewalttaten werden originalgetreu wieder- geben, und es kommt eine neue Art von Gewalt Et c’est ici que le film prend sa dimension la plus noch hinzu. Es ist Barbe Bleues Krieg, sei es trai- saisissante: exprimer par le simple truchement de nierend im Schwertkampf mit seinen Gesellen figurines sommairement modelées dans le genre oder im Kampf gegen die Sarazenen, welcher zu «art brut» l’horreur de la guerre. Rarement, avec des einer Orgie der Gewalt ausartet. Da die Chris- moyens aussi «primitifs», le cinéma aura illustré avec tenheit gegen die Sarazenen, also den Orient, autant d’évidence le terme «boucherie».622 nach Jerusalem in die Kreuzzüge zog, kann dieser Kampf von Barbe Bleue auch als sein Beitrag im Parallel dazu hat die Ehefrau die verbotene Kam- Kampf gegen diese «Feinde der Christenheit» ge- mer geöffnet, sechs an den Haaren aufgehängte deutet werden. So erklärt sich etwa die frenetische Leichen entdeckt, und der Schlüssel fällt in das Freude nach Barbe Bleues Rückkehr und die all- Blut – hier stimmt der Film mit Darstellungs- gemeine Billigung seines gleichsam barbarischen weisen anderer bekannter Blaubart-Adaptionen Verhaltens. überein. Das gewalttätige Verhalten von Barbe Bleue In der vierten Szene kommt Barbe Bleue zu- wird im Film sarkastisch und ohne Zurückhal- rück und wird in der Stadt von einer Volksmasse tung zur Schau gestellt. Die hinzugefügte Gewalt empfangen. Darauf verlangt er von seiner Frau entsprach Bertrands Absicht, welcher dem Film die Schlüssel. Der kleinste Schlüssel ist blutbe- «quelques notes dures et peut-être même brutales» fleckt und verhext, wie Perrault schon schreibt: beifügen wollte, wie er im Interview 1938 sagt.626 «la clef estoit Fée, & il n’y avoit pas moyen de la Barbe Bleue verhält sich schon bei der Brautwer- nettoyer tout-à-fait».623 Und wie bei Perrault will bung aggressiv, und hält diese Aggressivität bis zu Barbe Bleue den Tod seiner Frau – sie hingegen seinem Tod bei. Dennoch wird er von seinen Un- wünscht sich ein Gebet. In einem sich steigern- tertanen gefeiert, die eigentlich in Gefahr laufen, den Lied der Ehefrau, ihrer auf dem Turm Aus- achtlos von ihm zerdrückt zu werden. Diese Figur schau haltenden Schwester Anne und dem im hat sich entfernt von dem Geschäftsmann bei Per- Hof wartenden Barbe Bleue, singt letzterer jeweils rault, welcher die Gerüchte über ihn zu zerstreuen im Refrain «Madame, il faut mourir, Madame, il 624 Bertrand 2005, min. 9:48–11:45. 622 Porcile 2007, S. 98. 625 Ebd., min. 12:00–12:18. 623 Perrault 1697, S. 69. 626 René Bertrand; hier in: Hamery 2008, S. 118. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 105 sucht, die beiden umworbenen Töchter und ihre cœurs / S’insinue une étrange douceur».627 Sie Mutter auf Landpartien einlädt, scheinheilig auf ist geradezu berauscht: «Le jour, les fleurs, l’azur Geschäftsreise geht und erst, wenn seine neue Ge- m’enivrent», und froh, ihren Gatten für diesen mahlin seine Kammer betreten hat, sein Schwert Moment vergessen zu können: «Oh! Qu’il est zückt und seine bösartige Seite zeigt. Bei Bertrand doux / D’oublier mon doux époux / D’oublier erscheint er als unveränderlich böse Figur, ohne la barbe à poux».628 Mit den Troubadouren singt menschliche Züge. sie im Chor den Refrain «Vive la joie, joie de rire Die letzte Ehefrau von Barbe Bleue hingegen et de vivre» und die Troubadouren wiederholen überrascht bei Bertrand durch ihre während dem alleine «Joie de vivre», während die Kamera im- Film sich verändernde Charakterisierung. An- mer wieder einen Rosenbusch zeigt.629 Darauf fangs scheint sie der Vorlage von Perrault zu ent- fragt die Frau die Troubadouren: «Ah! Dites, di- sprechen, da sie und ihre Schwester als schöne tes, dites-moi / Est-ce enfin l’appel de l’amour?», stille Frauen, die sich dem Gesang hingeben oder und die Troubadouren antworten zum Bild einer gesittet schweigen, gezeigt werden. Die erste Sze- einzelnen Rose: «C’est l’amour que disent les ro- ne mit der Brautwerbung zeigt auf den zweiten ses / Tout bas, entre autres choses».630 Als sie das Blick schon einen am Ende als bedeutsam sich Geheimnis dieser «anderen Sachen» wissen will, herausstellenden Unterschied: Die eine Schwester meinen die Troubadouren nur: «Venez cueillir lehnt zwar wie bei Perrault seinen Antrag ab, doch une rose», was die Frau wiederum emotional zu die andere nimmt den Antrag sofort an und muss berühren scheint, denn sie antwortet: «Ah! Quel nicht erst davon überzeugt werden. Die Plat- étrange et délicieux émoi!»631 zierung der Mutter in der Bildmitte führt dem In dieser Umgebung spricht sie gegenüber Brautwerber die Hierarchie dieser Familie vor, die den Troubadouren offen über ihre Gefühle. An- wie bei Perrault nur aus Frauen besteht. Nur die wesend in diesem Moment «seltsamer Sanftheit» Mutter blickt den Werber an, ihre beiden Töch- sind auch die Rosen, der Baum mit der Schaukel ter wenden ihm den Rücken zu. Das Verhalten und, wie sie ergänzt, «l’azur» – das helle klare Blau der drei Frauen erscheint als eingespielt, sie haben des Himmels. Ihr Lied vermittelt das Fehlen der ihre Entscheidungen offenbar im Vorfeld schon Liebe, eine Abneigung gegen den Bart ihres Man- getroffen. Barbe Bleue, der nur den Rücken seiner nes und eine «seltsame Spannung», welche sich zukünftigen Gattin zu sehen bekommt, scheint zu einer «seltsamen und köstlichen Aufregung» gewillt zu sein, eine Frau zu heiraten, deren Ge- steigert, einer Aufregung um eine geheimnisvol- sicht er möglicherweise gar nicht kennt. Diese le «andere Sache», welche ihr verborgen ist. Die Unvorsichtigkeit begeht er bei Perrault nicht, wo Troubadouren erscheinen neben ihrem Gitarren- die vor der Hochzeit gemeinsam verbrachte Zeit spiel zuerst als nachdoppelnder und kommentie- ihm ebenfalls die Gelegenheit gibt, die drei Frau- render Chor, an die sie sich aber nach dem Ref- en besser kennen zu lernen. rain überraschenderweise direkt wendet und von Die Haltung von Barbe Bleues letzter Ehe- ihnen mehr über den «Ruf der Liebe» erfahren frau zu ihrer Ehe zeigt sich im Film erst nach der möchte. Dabei entpuppen sich die Troubadoure Hochzeit. Während er sich im Schwertkampf auf als Wissende, die uns nicht einweihen. dem Burghof vergnügt, sitzt sie neben der Burg Die gepflückte Rose, wie sie auch in der Er- auf einer Schaukel und singt begleitet von Trou- zählung La Belle et la bête (1740) von Gabriel- badouren ihr Lied. Im Takt der Schaukel bewegen le-Suzanne Barbot Gallon (bekannt als Mme de sich die Troubadouren und eine Schar dabeiste- hender Jagdhunde. Sie scheint offensichtlich er- 627 Bertrand 2005, min. 3:48–4:12. 628 Ebd., min. 4:14–4:24. freut über ihren Zeitvertreib: «Quel émoi! Quel 629 Ebd., min. 4:33–4:40. délice / L’espace est mon complice / Et dans nos 630 Ebd., min. 4:43–5:07. 631 Ebd., min. 5:07–5:30. 106 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Villeneuve) vorkommt, wird dadurch zu einem par le conte […], par sa rigidité, son érection per- symbolhaft verrätselten Botschaftsträger. In La manente».635 Belle et la bête stiehlt der Vater eine Rose für seine Aus dem Verlust der Singularität des Schlüs- Tochter, was von Bruno Bettelheim psychologisch sels zieht Vimenet die Schlussfolgerung, dass in als Zeichen ihrer inzestuösen Liebe gedeutet wird: dieser Adaption kein großes Gewicht auf «les sens «His doing so symbolizes both his love for her and allégoriques ou métaphoriques du conte» gesetzt also an anticipation of her losing her maidenhood, werde.636 Die Übertragungen von Eigenschaften as the broken flower – particularly the broken rose des Schlüssels – als Moment des Wunderhaften – is a symbol for the loss of virginity.»632 Auch bei und als Symbol der Männlichkeit – auf die Rose Blaubart gibt es offenbar eine Andeutung der Ent- und den Bart zeigen, dass hier eher eine Verschie- jungferung – den in der verbotenen Kammer mit bung als ein Nichtsetzen von symbolischem Ge- Blut befleckten Schlüssel deutet Bettelheim näm- halt stattfindet. Die Frau von Barbe Bleue scheint lich als sexuelle Untreue der Frau. Ob man der wahrgemacht zu haben, was ihr die Troubadoure Argumentation von Bettelheim folgt oder nicht, in der Gartenszene geraten haben, und hat die so hilft doch die Rose der Frau in dieser Szene, Rose gepflückt. Falls dem so ist, vereinigt die nun eine geheimnisvolle und möglicherweise eroti- blaue Rose von einer weiblichen Seite die beiden sche «andere Sache» zu entdecken, die auch das symbolischen Ebenen, die vorher im Schlüssel auf Geheimnis in der verbotenen Kammer in einem der männlichen Seite zusammengehörten – die anderen Licht erscheinen lässt. Die Troubadouren Sexualität und das Wunderhafte. In dieser Lesart eröffnen ihr ein eigenes, weiteres Geheimnis, was wird die blaue Rose zu einem Symbol für eine durchaus märchenhaft als feenhafter Segen gedeu- utopisch-unerreichbare weibliche Sexualität, die tet werden kann. Der Schlüssel teilt sich so die sich der zerstörerisch-nichtrealisierbaren männ- symbolische Präsenz mit dem Bart und der Rose. lichen Sexualität des blauen Barts entgegensetzt Bei Bertrand taucht in der letzten Szene, und auf diese Weise sogar die verbotene Kammer nach dem Tod von Barbe Bleue hinter der Frau zu antizipieren vermag. Die Frau verzichtet hier und ihren zwei Brüdern wieder eine Rose auf, die auf eine erneute Heirat, die bei Perrault mit ei- aber im Gegensatz zu den rosafarbenen und roten nem «fort honneste homme» stattfindet und so Rosen der Gartenszene blau gefärbt ist. So steht den Zweifel nährt, ob sich damit nicht möglicher- bei Bertrand dem blauen Bart eine blaue Rose weise die Geschichte wiederholen wird, wie etwa entgegen, allgemein ein Symbol für das Unmög- Davies festhält: «The second marriage may in fact liche und Unerreichbare.633 Bis heute ist es ohne be as identical with the first, as the repetition of den Einsatz von Gentechnologie unmöglich, eine ‹honnêteté› implies.»637 Bei Bertrand wird ein par- blaue Rose zu züchten. Im stärksten Gegensatz alleler Verdacht durch die Umverteilung der Sym- steht die blaue Rose im Film von Bertrand zum bolik des blauen Barts auf die blaue Rose geweckt. blauen Bart des nun toten Barbe Bleue, ein Zei- Barbe Bleue und seine Frau werden als Ge- chen für das an sich «menschlich Unmögliche», gensatzpaar gezeichnet. Dennoch bleibt der Film und laut Ad de Vries auch für «destructiveness ambivalent, der Blick des Zuschauers ist von den and cruelty».634 Dieser Bart wird im Film ins Zen- Schrecken Barbe Bleues gefesselt. In der Schluss- trum gerückt, wie Vimenet betont: «notamment szene schließlich steht die Frau zwischen ihren par sa couleur vraiment bleue, très kitsch, tran- beiden Brüdern – beides Soldaten in Kriegsrüs- chante, peut-être plus glaciale que celle suggérée tung. Diese Ambivalenz zeigt sich besonders in den wiederholten Parallelschnitten, durch 632 Bettelheim 1976, S. 306. welche die Frau nicht nur von ihrem Ehemann 633 Zur Symbolik der Rose vgl. De Vries 2004, S. 476–478. Laut De Vries ist sie in der Heraldik ein Zeichen für Treue 635 Vimenet 1997, S. 14. bis in den Tod. 636 Ebd., S. 13f. 634 Ebd., S. 477. 637 Davies 2001, S. 55; vgl. Perrault 1697, S. 61, S. 80. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 107 kontrastiert, sondern auch mit ihm in Beziehung ändert – sie erscheint von der Neugierde, vor der gebracht wird. In der zweiten Szene finden sich im Epilog gewarnt wird, gar nicht mehr betroffen, erste Parallelschnitte, die einen starken Kontrast da sie zwar Blaubarts Geheimnis mit Schrecken kreieren: Während sie im Garten singt, vergnügt entdeckt, doch selber auch ihr eigenes pflegt. sich Barbe Bleue grölend und tötend im Burghof. Durch die intime Szene mit dem Rosenlied und Trotzdem spannt sich durch die Gegenüberstel- durch die Parallelschnitte mit Szenen ihres Ehe- lung kein Gegensatz der beiden Figuren auf, son- mannes und der blauen Rose am Ende, werden dern man fragt sich, warum dieser Tyrann seine bei Barbe Bleue und seinem blauen Bart und der Frau so singen lässt und warum sie bei diesem Ehefrau mit ihrer blauen Rose auch parallele Ei- Mörder verbleibt, da sie sich frei im Garten außer- genschaften denkbar. Dennoch rückt der Fokus halb der Mauern befindet. Die Parallelschnitte in dieser Erzählung weg von der Neugierde der Frau der dritten Szene – die Entdeckung der Schätze und hin zur Grausamkeit ihres Ehemannes. und am Ende der Leichen in seiner Burg, und die sich entwickelnde Schlacht auf dem Feld mit Bar- be Bleues Sieg – zeigen eine sich an den Reichtü- Aufführung und Rezeption des Films mern ergötzende Gemeinschaft, die nichts in Fra- ge stellt. Sowohl Barbe Bleue, als auch seine Frau Eine Vorpremiere von Barbe Bleue fand laut der und die anderen Anwesenden scheinen nicht aus Zeitung Heures de Paris am 25. Januar 1938 statt, Drang nach Gerechtigkeit, sondern aus Selbst- und die Zeitschrift La Cinématographie françai- nutz zu handeln. So verbleibt die Frau inaktiv, se nennt das Cinéma des Champs-Élysées am als sie die verbotene Kammer entdeckt und der gleichnamigen Boulevard in Paris als Veranstal- Zuschauer problemlos die Verbindung der häusli- tungsort.638 Da der Film erst im Februar 1938 chen Verbrechen von Barbe Bleue zu seinem Ver- der Zensur unterbreitet wurde, war diese Auf- halten gegenüber seinen Feinden herstellen kann, führung wohl für geladene Gäste (wie Presse oder und ruft erst in der letzten Szene ihre Schwester mögliche Distributoren) reserviert.639 Laut Pierre um Hilfe. Die Parallelschnitte lassen sich auch so Michaux hielt Painlevé eine Einführung, in wel- lesen, dass es sich bei der Hinrichtung von Barbe cher er Méliès und Cohl erwähnte: Bleue hier, wie bei Perrault, weniger um einen Akt der Gerechtigkeit handelt, sondern um den Sieg D’abord, en quelques mots, il a rappelé et salué la in einem Kampf um Macht, den die Frau für sich mémoire de Méliès: «l’homme qui a animé le spec- entscheiden kann. tacle cinématographique dans le monde entier» et Als vollwertiges filmisches Werk beginntBar - celle de Cohl, «qui meurt au moment où un comité be Bleue von Bertrand mit einem Vorspann, da- s’apprêtait à honorer et aussi à aider cet homme ab- nach wird im Prolog der Protagonist Barbe Bleue andonné...». Il restera, a-t-il dit, à apporter à leurs gezeigt. Die Handlung in vier Szenen gibt in Grundzügen die Erzählung von Perrault wieder, 638 Paul Vinson: Le premier film de sculptures animées en mit der Brautwerbung und der Heirat, mit dem couleurs; in: Heures de Paris, janvier 1938; P[ierre] Mi- Aufenthalt im Anwesen von Barbe Bleue, mit der chaux: Jean Painlevé présente son film de «Sculptures animées»: Barbe-Bleue; in: La Cinématographie Fran- Abwesenheit des Ehemannes und der Entdeckung çaise 21 (6. Mai [eigentlich 6. Januar] 1938); beides in: der verbotenen Kammer, und schließlich mit der Archives Jean Painlevé: Pressespiegel; vgl. weiter: Quit- Rettung durch die Geschwister von Barbe Bleues tung «pour location salle» für das «cinéma des champs Ehefrau. Es zeigen sich durch die offensichtliche Elysées» vom Dienstag 23. Januar 1938; in: Archives Grausamkeit von Barbe Bleue und die Darstel- Jean Painlevé: Unterlagen. 639 Société des auteurs, compositeurs et éditeurs de mu- lung einer Schlacht gegen die Sarazenen neue, sique, Brief an Jean Painlevé vom 27. April 1938; in: nicht von Perrault vorgegebene Schwerpunkte. Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. Zur Zensur in Auch die Charakterisierung der Frau wurde ver- Frankreich vgl. Douin 1998, S. 184–190. 108 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

noms la gloire qu’ils n’ont pas connue de leurs vi- auf Englisch (laut Painlevé als «version américai- vant!640 ne»645) aufnehmen, wovon wieder Gasparcolor Abspielkopien herstellen sollte. Im Anschluss an Barbe Bleue wurden noch zwei Zusammen mit Jaubert nahm Painlevé wie weitere Filme gezeigt, wie Michaux schreibt: erwähnt am 11. Juli die Musik und die restli- chen Geräusche des Films neu auf. Gasparcolor La séance était complétée par La Quatrième Dimen- in London erhielten die Aufnahmen bald darauf, sion, film de MM. Painlevé et Dufour, pour le Palais doch die Auslieferung verzögerte sich wiederholt, de la Découverte, et par une courte bande éducative so dass an der Filmbiennale Esposizione Interna- muette, en Gasparcolor, des mêmes auteurs, sur La zionale d’arte cinematografica Venezia im Oktober Formation du Massif des Alpes, qui relate, en quel- noch einmal die Kopie vom Januar gezeigt wer- ques minutes, les phénomènes géologiques qui ont den musste. Erst am 10. Dezember 1938 bestätigt modelé cette fraction de l’écorce terrestre en 250 Painlevé den Erhalt einer französischen Kopie von millions d’années.641 Gasparcolor, und am 18. Januar 1939 denjenigen einer weiteren französischen und einer englischen Am 5. März 1938 wurde der Film der Leserschaft Kopie.646 Darauf entschieden die Gebrüder Gas- der Zeitschrift Les Amis de 1914 vorgeführt.642 par noch 1939 die Flucht in die USA und schlos- Painlevé war offensichtlich unzufrieden mit dem sen in Großbritannien ihre letzte europäische Ton («le son est mauvais», schreibt er in einem Niederlassung, was ein Erstellen von verbesser- Brief) und so zögerte er Angebote für den Ver- ten oder neuen Kopien verhinderte. In den USA trieb hinaus – etwa am 15. Februar von Poste Pa- konnte sich Gasparcolor gegen andere Farbfilm- risien, am 31. März von Tobis Film in Berlin und verfahren (wie Technicolor ab 1932 bzw. 1934, am 7. Juni von Ciné Propagande in Paris.643 Dabei Agfacolor ab 1936, Ansco Color ab 1938, Koda- war die Distribution äußerst wichtig für den Film, color ab 1941 etc.) nicht mehr durchsetzen und wie Painlevé 1938 schreibt: «Les courts métrages sie bauten deshalb kein neues Filmlabor mehr auf. européens ne peuvent s’amortir dans un seul Offensichtlich kam es am 26. Januar 1939 zu pays. Il faut donc une distribution générale. On einer Vorpremiere der überarbeiteten Version von se trouve immédiatement en concurrence avec les Barbe Bleue und am 29. Januar zur ersten Vorpre- grands producteurs.»644 Dafür wollte er erst den miere und vermutlich einzigen Aufführung von Ton noch einmal auf Französisch und neu auch

640 Michaux 1938 (wie Fußnote 638), o.S. Zur Erläuterung: 645 Jean Painlevé, Brief an Paramount Studios, 10. Juni 1938; Cohl und Méliès starben beide Anfang 1938. Méliès in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. Painlevé war ab 1896 einer der Mitgegründer des französischen schreibt darin: «Nous comptons faire une version françai- Filmschaffens, auch er verfilmte Barbe-Bleue (1901); se et une version américaine.» vgl. Hiltbrunner 2009a. 646 Durchschlagskopie von Briefen von Jean Painlevé an 641 Michaux 1938 (wie Fußnote 638), o.S. Gasparcolor London, 10. Dezember 1938 und 18. Ja- 642 Einladung Filmvorführung, in: Les Amis de 1914 2 (Nr. nuar 1939; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. 144, 2 Mars 1938); hier in: Archives Jean Painlevé: Pres- sespiegel. 643 Jean Painlevé, Brief an Paramount Studios. Paris, 10. Juni 1938; Poste Parisien, Paris, Brief an Jean Painlevé, 15. Februar 1938; Tobis Film Berlin, Brief an Jean Painle- vé, Paris, 31.3.1938; Mme. Brézillon, Ciné Propagande Paris, Brief an Jean Painlevé, 7. Juni 1938; alles in: Archi- ves Jean Painlevé: Korrespondenz. 644 Painlevé 1938, S. 14. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 109

Blue Beard, «version américaine».647 Ciné-liberté sischen Staates das Angebot zurück.650 Im Mai interessierte sich für den Vertrieb des französi- oder Juni wurde der Film laut Ardève im «Ma- schen Barbe Bleue und Ciné-liberté wie Fox Film rignan» aufgeführt, möglicherweise ist damit das zeigten Interesse für den Vertrieb des englischen heutige Cinéma Gaumont Champs-Élysées Ma- Blue Beard, doch Fox Film schien noch einmal rignan in Paris gemeint – falls diese Aufführung eine neue Tonaufnahme gewünscht zu haben, wie öffentlich war, würde es sich hier um die offizielle Painlevé am 20. März an Jaubert schreibt: Uraufführung handeln.651 Erst während Painlevés Kriegsdienst fand sich On est venu de chez Fox qui désire la copie anglaise mit Robert de Nesle ein Distributor für Barbe de Barbe Bleue en communication pour nous dire, Bleue, welcher den Film vermutlich am 16. Ok- au cas ou le film plairait, on envisagerait la sonori- tober 1939 noch einmal intern vorführte und im sation avec chanteurs anglais à Londres, les paroles November und Dezember an das Kino Ciné-Jour- étant incompréhensibles dans la version anglaise nal in Lyon zur Vorführung vermietete.652 Der actuelle.648 Film sollte darauf noch einen Vorspann erhalten, «sous-titres en muet à incorporer au début», der Am 31. März bot Painlevé in einem Inserat in La das Geschehen zusammenfassen würde, wie Nesle Cinématographie française die französische Version am 18. Oktober brieflich insistiert.653 Dafür fin- zur Aufführung in Kinos an, am 5. April offerierte det sich auch ein «bon pour la commande» vom ihm Imre Hajdu die Distribution für Südamerika 23. Oktober, mit dem Text des Vorspanns:654 und am 2. Mai interessierte sich das Office Ciné- matographique Lausanne für den Film.649 Dieser BARBE-BLEUE, légende du 12ème Siècle war für die Weltausstellung in New York zwischen Le Seigneur Barbe-Bleue, 6 fois veuf, se marie une April und Oktober 1939 vorgesehen, doch am 4. 7ème fois. Sa femme s’ennuie au milieu de ses pag- Mai zog das zuständige Departement des franzö- es pendant qu’il s’escrime avec ses maîtres d’armes, lorsque les Sarrazins lui déclarent la guerre. Bar- 647 Am 20. Januar sagen Ciné-liberté Paris in einem Brief der be-Bleue part en confiant à sa femme les clés du Visionierung des Films am «jeudi prochain», also am 26. chateau dont l’une ouvre une porte interdite sous Januar 1939, zu; vgl. Ciné-liberté Paris, Brief an Jean Pain- peine de mort. levé, 20. Januar 1939; in: Archives Jean Painlevé: Korres- pondenz. In den Unterlagen von Painlevé findet sich eine Pendant que son seigneur combat victorieusement, Notiz vom 26. Januar 1939 zu einer Präsentation von Madame Barbe-Bleue visite des salles pleines de Barbe Bleue «version américaine» mit einer Gästeliste; außerdem findet sich eine Rechnung von Filmax für die 650 Centre national d’expansion du tourisme du therma- Projektion von Barbe Bleue, auf Französisch und Englisch lisme et du climatisme, Brief an Jean Painlevé, 4. Mai vom 26. Januar 1939; die Schreibweise für die englische 1939; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. Version orientiert sich an einem dem französischen «bon 651 Ardève nennt bloß ein Kino Marignan als Aufführungs- pour la commande du sous-titre» vom 23. Oktober 1939 ort; vgl. Ardève 1939 (wie Fußnote 514), o.S. beiliegenden Text Legend of the 13th Century über den 652 Robert de Nesle, Brief an Jean Painlevé, 15. Oktober «Terrible Squire Blue Beard»; alles in: Archives Jean Pain- 1939; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz; vgl. levé: Unterlagen. weitere Filmolaque, Rechnung an Robert de Nesle, 16. 648 Ciné-liberté Paris, Briefe an Jean Painlevé, 20. Januar Oktober 1939 und Robert de Nesle, Rechnung an das 1939 und 30. Januar 1939; Jean Painlevé, Durchschlag Kino Ciné-Journal in Lyon für Nov.-Dez. 1939; beides in: Brief an Maurice Jaubert, 20. März 1939; alles in: Archi- Archives Jean Painlevé: Unterlagen. ves Jean Painlevé: Korrespondenz. 653 Robert de Nesle, Brief an Jean Painlevé, 18. Oktober 649 Vgl. La Cinématographie française (Nr. 1965, 31. März 1939; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. 1939), o.S; in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel; 654 [o.A.]: Barbe-Bleue, légende du 12ème Siècle. Bon pour vgl. weiter Imre Hajdu, Brief an Jean Painlevé, 5. April la commande du sous-titre suivant en deux exemplai- 1939 und Office Cinématographique Lausanne, Brief res. Typoskript Durchschlagskopie, von Hand: éclair Ti- an Jean Painlevé, 2. Mai 1939; beides in: Archives Jean rage, 12 rue Failles. 23. Oktober 1939; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. Painlevé: Unterlagen. 110 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

merveilles. Poussée par la curiosité, elle ouvre la hinterlegten sie die Bänder für Barbe Bleue beim porte interdite et trouve les cadavres des 6 premières englischen Zoll, wo sie 1942 durch die Kriegs- femmes de Barbe-Bleue. De frayeur, elle laisse erklärung des besetzten Frankreichs an England tomber la clé dans du sang dont elle ne peut effacer als Feindmaterial konfisziert wurden. So war es la tache. A son retour, Barbe-Bleue veut exécuter sa Painlevé unmöglich, Einblick in die Bänder zu er- femme mais celle-ci est sauvé par sa sœur Anne et halten, da er für die Materialeinsicht und -heraus- ses deux frères. lösung das gesamte Material hätte bezahlen müs- sen.658 Nachdem er es doch schaffte, in den ersten Diese Erläuterung schien Nesle nötig, um den Nachkriegsjahren erste Pakete mit Negativen und Film einem breiten Publikum verständlich zu Tonrollen zu erhalten, welche er auch entwickeln machen. Die Rechnung für die Ausführung von ließ, war er mit den Resultaten so unzufrieden, «2 titres positifs images» wird erst am 29. Febru- dass er sie nicht veröffentlichte. Zeitlebens sah ar 1940 an Painlevé geschickt, erhalten ist dieser er es keine Version des Films in annähernd guter Vorspann nicht.655 Qualität. In den 1970er Jahren wurde laut Porcile Am 11. April 1940 sollte Barbe Bleue end- zwar noch einmal Filmmaterial von Barbe Bleue lich regulär im Kino gezeigt werden, nämlich im gefunden, doch laut Berg war sie es selber, die spä- Vorprogramm zur Premiere des SpielfilmsLe Pré- ter in den Archiven des CNC brauchbare Negative sident Haudecœur von Jean Dréville.656 Möglicher- gefunden habe, die das Archiv selber nicht hatte weise kam dabei der neue Vorspann zur Urauffüh- finden können.659 Basierend auf diesem Material rung. Offenbar lief der Film mit Erfolg an, denn gibt es seit 1996 die auf DVD veröffentlichte Ver- am 12. April schreibt Painlevé an Gasparcolor, sion in meist guter Qualität, mit, wie oben auf- dass er dringend sechs Abzüge des Films brauche: gezeigt werden konnte, einer 1938 fertiggestellten «j’aurai besoin d’une demi-douzaine de copies de Animation und dem 1939 aufgenommenen Ton, Barbe Bleue en Gaspar Color et cela, d’une maniè- jedoch ohne den 1940 hinzugefügten Vorspann. re urgente, car je risque de perdre les clients en les Von der englischen Version existiert laut Berg nur faisant trop attendre.»657 Wahrscheinlich erhielt noch eine Schallplattenaufnahme in nicht mehr Painlevé diese Kopien nicht mehr, auch brach die brauchbarer Tonqualität.660 Arbeit am Projekt bis zum Kriegsende wohl ganz Die Berichterstattung über Barbe Bleue fing ab. dank Painlevés Kontakten schon 1936 an. Sonika In der Nachkriegszeit versuchte Painlevé wie- Bo, welche auch die Direktorin des Kinderclubs der an die Filmrollen heranzukommen. Doch die Cendrillon im französischen Ciné-club war, lobt wiederholte Flucht der Brüder Gaspar erschwerte in der Cadet-Revue vom 1. Juni 1936 den Film die Aufarbeitung des Erbes von Gasparcolor. So (obwohl der Dreh erst am 18. Juni begann):

655 Durchschlag eines «bon pour la commande du sous-tit- «Quand vous verrez Barbe Bleue – vous convien- re suivant deux exemplaires», 23. Oktober 1939; Eclair, drez que je n’exagère pas en qualifiant ce film de Epinay-sur-Seine, Rechnung/Lieferschein an das Institut ‹petite merveille›.»661 Am 3. Juli schreibt Jean Lau- Cinéma Scientifique, Paris, 29. Februar 1940; beides in: ry eine Vorankündigung im Figaro mit zwei Ab- Archives Jean Painlevé: Unterlagen. bildungen, eine davon zeigt die drei Kinder bei 656 Vgl. Hamery 2008, S. 120. Ausgeschnittenes Inserat: «Aujourd’hui, Paramount: Un film étonnant, Harry Baur 658 Vgl. Painlevé 1991, S. 16. dans Le Président Haudecœur de Roger Ferdinand, 659 Vgl. Berg 2009 (Interview). mise en scène de Jean Dréville […] et Barbe-Bleue de 660 Die Schallplattenaufnahme befindet sich im Archiv Jean Jean Painlevé. Distribué par les films Marcel-Pagnol»; Painlevé bei Les Documents Cinématographiques, Pa- enthalten in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. Zur ris. Laut Berg wäre zu überprüfen, ob die Aufnahme Uraufführung von Le Président Haudecœur, vgl. Biblio- durch ein spezielles Abspielverfahren noch zugänglich thèque nationale de France 2009. gemacht werden könnte; vgl. ebd. 657 Jean Painlevé, Brief an Gasparcolor London, 12. April 661 Sonika Bo: [o.T.]; in: Cadet-Revue (1. Juni 1936), in: Ar- 1940; in: Archives Jean Painlevé: Korrespondenz. chives Jean Painlevé: Pressespiegel. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 111 der Arbeit, eine weitere Bertrand und das Studio, über diesen Film.665 Painlevé selber veröffentlichte zu welchem Laury meint: «décors minuscules, im März 1938 einen Artikel in La Revue du ciné- mais aux étonnantes profondeurs», und auch be- ma éducateur, wo er auf zwei Seiten die techni- schreibt, dass er einer Visionierung der tragischen schen und inhaltlichen Besonderheiten des Films Szene von Barbe Bleue beigewohnt habe.662 Made- erläutert.666 leine Epron beschreibt in ihrer Ankündigung für Nachdem Michaux im März 1938 eine Re- La Cinématographie Française vom 25. Juli die zension des Films in der Revue Musicale des Films technischen Innovationen des Films und wie die veröffentlicht hatte, verfasste er im Herbst 1938 Szenen dreifach für die Farbaufnahme und noch für die Filmbiennale in Venedig lobende Beschrei- einmal auf Schwarz-Weiß-Film aufgenommen bungen in Le Cahier und La Cinématographie worden waren.663 française, wobei er die Musik von Jaubert beson- Die Vorpremiere im Januar 1938 rief reges ders erwähnt: Pressecho hervor, im Journal de la Femme steht: «Le spectateur s’est-il rendu compte du travail et Certains passages [de la musique] sont hautement de l’effort accomplis? De la belle réalisation fran- savoureux, par l’accord de la musique et de l’image; çaise qu’est Barbe Bleue? Les applaudissements et la poésie de cette charmante composition: le som- unanimes de la salle nous ont heureusement meil de Barbe Bleue, l’attaque des guerriers mau- convaincu de celà»; in der Zeitung La Républi- res, la sérénade à la princesse est saisissante», und que schreibt Annette Sauger: «J’ai retrouvé Bar- schließt: «Barbe Bleue est une œuvre véritablement be-Bleue, ses femmes, ses palais, ses soldats tels originale.667 que je les avais laissés, brillants et attachants. Ils vont enchanter des milliers des spectateurs»; auch Nach Venedig folgten im November 1938 weitere Radio-Liberté ist euphorisch: «il faudrait vous ci- Erwähnungen in Plaisir de France und der Film- ter chaque minute qui apporte avec elle une joie zeitschrift Pour vous, in letzterer steht: «Originali- et un étonnement nouveau»; der Artikel in L’ Évê- té, fantaisie, poésie sont les trois signes de gloire nement ist noch begeisterter: «Quand Barbe Bleue de cette surprenante petite merveille» – in der- s’inscrira sur les écrans, ne manquez pas de vous selben Zeitschrift war Barbe Bleue im Dezember presser pour connaître ce petit chef d’œuvre.»664 1938 in einem Artikel zum Puppenfilmschaffen Léo Sauvage titelt seinen Artikel in La Lumière: «Barbe-bleue va-t-il détrôner Mickey?»; weiter berichteten im Januar die tschechoslowakische Zeitschrift Svet v obrazech im Juli die deutsche 665 Sauvage 1939 (wie Fußnote 568), o.S.; vgl. I. Sramkova: Volks-Illustrierte und im September die englische Pohadka o Modrovousovi; in: Svet v obrazech [Obra- Sight & Sound in illustrierten Artikeln ausführlich zava Revue] (Recnik 1938, Cislo 27, [Januar 1938]), [o.S.]; Yvonne S.: Das Märchen vom Blaubart; in: VJ. 662 Laury 1936 (wie Fußnote 586), o.S. Es könnte sich um Die Volks-Illustrierte (Nr. 30, 27. Juli 1938), o.S.; Patricia die Szene handeln, wo Barbe-Bleue seine Frau hin- Hutchins: A Clay Blue Beard. A new French puppet film; zurichten versucht, vermutlich sah Laury die Szene in in: Sight & Sound 7 (Nr. 26, September 1938), S. 74f; Schwarzweiß gefilmt. hier alles in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. 663 Vgl. Epron 1936 (wie Fußnote 533). 666 Vgl. Painlevé 1938. 664 F. Reyna in Le Journal de la Femme ([1938?]); hier in: 667 Vgl. Pierre Michaux in Revue Musicale (März 1938); in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel; die weiteren Zita- Archives Jean Painlevé: Pressezitate; [Pierre Michaux]: te sind aus Archives Jean Painlevé: Pressezitate; als da Barbe Bleue (M. Jean Painlevé); in: La Cinématographie wären: Annette Sauger in La République, Januar 1938; française, Selection française de Venise 1938, Oktober Laroche in Radio-Liberté, 18. März 1938; Marcelle F. de 1938, S. 44; vgl. weiter Pierre Michaux: [Biennale de Joannis: Champs-Élysées. Barbe Bleue de Jean Painlevé; Venice]; in: Le Cahier, September/Oktober 1938; beide in: L’Évênement, Januar 1938. in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. 112 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 promiment und illustriert neben Filmen von Sta- un cheval galopant, de grandeur nature, reconstitué rewitch und Ptushko vertreten.668 de façon surprenante. Une apparition soudaine de Zu den Vorpremieren im Januar 1939 in Paris Barbe-Bleue aracha des cris d’admiration. Madame findet sich kein großes Pressecho, dennoch war Barbe-Bleue à sa Balançoire, la scène du Mariage, Barbe Bleue weiterhin präsent. So erschien im Ja- les défilés, les scènes de Batailles pleines d’effets à nuar in Instruire et Plaire ein Artikel zum Trick- léger retardement causèrent la surprise et la stupe- filmschaffen, wo Painlevé mehr Abbildungen als faction.671 die Cartoons aus den USA erhielt, und im Feb- ruar wurde der Film in Regards besprochen, wo Ardève erwähnt als inhaltliche Eigenheit des er, zwar grundsätzlich positiv, doch auch kritisch Films «l’association de l’arbitraire et du réel, de la beurteilt wurde: psychologie et de l’humour» und findet in dieser Märchenverfilmung tiefe menschliche Ideen: Le Barbe Bleue de Painlevé n’est pas une œuvre par- faite. Les mouvements de ses statues mouvantes re- On discordera un peu plus un jour les paroles des stent encore trop saccadés, l’action est trop rapide, visages et les gestes, de la stabilité du monde. On les gags ne sont pas assez appuyés, la sonorisation est constituera les principes de l’art sonore en insérant assez discutable. Mais ces imperfections sont peu de ce désaccordage dans les relations de la musique et choses à côté de l’immense intelligence qui s’y dé- des éclairages. Pour peu alors, que l’on mette quel- ploie, des possibilités techniques qui y sont à chaque que idée profondément humaine à la base de ces pas ouvertes.669 programmes, de tels films si courts auront une por- tée immense.672 Möglicherweise dank der englischen Version wur- de der Film ebenfalls anfangs 1939 auch in einer Die hinzugefügten Erzählstränge und die Gewalt- dänischen und einer schwedischen Zeitschrift und darstellung, die mit Bestimmtheit beim Publikum in einer Filmbeilage der Basler National-Zeitung zu Diskussionen führten, bilden für Ardève also rezensiert.670 Die Wochenzeitung La Vie Ouvrière äußerst positive Elemente dieses Films. Mögli- widmete Barbe Bleue im März und April 1939 in cherweise ist es ebenfalls die Aufführung im Ma- neun Ausgaben eine fortgeführte Bildstrecke mit rignan, für welche Jacques Audiberti 1941 rück- Synopsis, und Ardève in einer ausführlichen Be- blickend den Film in der Zeitschrift Comœdia als sprechung für La Gerbe im Juni 1939 erwähnte modellhaften französischen Film lobte: «Le dessin Zuschauerreaktionen des nun vermutlich in einer animé, lui, parfait comme un mécanisme cérébral, guten Kopie gezeigten Films: rejoint ici bien l’emballement du rêve, la vitesse de la vie.»673 Le public de la salle Marignan vécut plusieurs fois Der Film Barbe Bleue von Bertrand wurde des sensations inouïes. […] On vit, par exemple, also zwar schon während des Drehs und der ers- ten Vorpremiere am 25. Januar 1938 breit rezen- 668 Vgl. Baylac: (o.T.); in: Plaisir de France (November 1938); siert, die reguläre Vorpremiere mit verbessertem [o.A.], in: Pour vous (Nr. 517, 12. November 1938); bei- Ton wurde aber kaum noch beachtet. Ein Vertrieb de in: Archives Jean Painlevé: Pressezitate; Nino Frank: […]cier, en Étoffe. Charlie McCarty et Mortimer; in: fand sich erst nach Kriegsausbruch im Oktober Pour vous (12. Oktober 1938), S. 9; hier in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel. 671 Vgl. [o.A.]: Barbe-Bleue; in: La Vie Ouvrière (Nr. 1030; 669 Henri Tracol: Aieux et Descendants de Mickey. Du 2. März, 9. März, 16. März, 23. März, 30. März, 6. Ap- Phenakisticope aux Sculptures animées; in: Instruire ril, 12. April, 20. April und 27. April 1939); in: Archives et Plaire 1 (Nr. 3, Januar 1939), S. 22–24; in: Archives Jean Painlevé: Pressespiegel; Ardève 1939 (wie Fußnote Jean Painlevé: Pressespiegel; Sadoul 1939 (wie Fußnote 514). 600), S. 18. 672 Ebd. 670 Vgl. Archives Jean Painlevé: Pressezitate. 673 Audiberti 1996, S. 52f. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 113

1939, und so fanden öffentliche Vorführungen 1929 an verschiedenen Pariser Theatern in meh- des Films wohl erst Ende 1939 in Lyon und im reren experimentellen Stücken gezeigt. Daraufhin April 1940 in Paris statt. Painlevés Engagement distanzierte sich Artaud von diesem Konzept und als Produzent und das ausgelöste Presseecho zei- fing an, dasjenige eines «Théâtre de la cruauté» gen, dass er keine Anstrengungen scheute, dem zu entwickeln, mit einem ersten Manifest in der Film eine hohe Präsenz zukommen zu lassen. Zeitschrift Nouvelle Revue Française (1932). Darin Dasselbe gilt auch für die mit weiterem Aufwand beschreibt Artaud das Konzept des Theaters der hergestellte englische Version, welche nie zur öf- Grausamkeit als «anarchische Zerstörung», durch fentlichen Aufführung gelangte und jetzt als ver- welche der Mensch wieder auf sich zurückgeführt schollen gilt. Auch zeigen die Rezensionen, dass werde: dieser Film sofort einen Platz im zeitgenössischen Trickfilmschaffen erhielt. Erst durch den kriegs- Weder Humor, noch Poesie, noch Imagination be- bedingten Verlust ging er vergessen, so dass sei- sagen das geringste, es sei denn durch eine anarchi- ne Restaurierung und Neuveröffentlichung 1996 sche Zerstörung, die einen gewaltigen Schwarm von eine wahre Entdeckung darstellt. Formen erzeugt, welche das ganze Schauspiel aus- machen werden; auf organische Weise wird es ihnen nicht gelingen, den Menschen und seine Vorstellun- Artauds «Théâtre de la cruauté» gen über die Realität und seinen poetischen Platz in der Realität in Frage zu stellen.676 Auffallend bei Bertrands Barbe Bleue ist die darin gezeigte Brutalität, die für damalige Verhältnisse Artaud will über den «nervlichen Magnetismus» ungewöhnlich offen und grotesk dargestellt wird. des Körpers dem Theater seine «nackte», seine Diese Brutalität war für den Regisseur mitunter «reale» Sprache und somit unbeschränkte organi- ein Grund, der ihn zur Wahl des Blaubart-Stoffs sche Kraft zurückgeben.677 Was er schon in frühe- angeregt hatte: ren Texten verfolgte, verdichtet sich hier in den Schlüsselwörtern Doppelgänger («double») und Sans doute ai-je été frappé par le fait que c’est bien Grausamkeit («cruauté»). Dabei geht es, in den l’histoire la plus effroyable qui puisse exister et que Worten von Évelyne Grossman, vor allem darum, c’est aussi l’une des premières qu’on raconte à tous gegen das «théâtre psychologique, la tyrannie du les enfants. J’y ai vu également la possibilité d’in- texte, la séparation du spectateur et du spectacle» clure, dans un sujet traité en opéra-bouffe, quelques anzutreten, um wieder «les sources magiques d’un notes dures et peut-être même brutales.674 théâtre sacré, celui de l’utilisation poétique, musi- cale et plastique de l’espace, celui de la physique Painlevé seinerseits galt als großer Fan der Arbei- du geste absolu» zu finden.678 Der Körper, genau- ten von Antonin Artaud – was an dieser Stelle er «la chair», das lebendige Fleisch mit seiner «im- nun für eine neue Perspektive auf Barbe Bleue ge- pulsivité de la matière nerveuse», soll bei Artaud nutzt wird. laut Grossman durch den Schauspieler verkörpert Antonin Artaud gilt als Verfechter der Wich- und so die menschliche Existenz in ihrer Heftig- tigkeit von Darstellung von Grausamkeit im The- keit und alle Spannungen von Materie und Geist, ater.675 An pataphysischen Ideen orientiert, hatte Seele und Körper aufgezeigt werden.679 So kann er das Konzept eines «Théâtre de l’absurde» und laut Artaud die menschliche Existenz in ihrer mit dem Projekt Théâtre Alfred Jarry von 1927 bis Spannweite thematisiert werden: «Wenn das The-

674 René Bertrand im Interview mit Léo Sauvage; in: Léo 676 Artaud 1983, S. 98. Sauvage 1939 (wie Fußnote 568), o.S.; vgl. auch Ha- 677 Ebd., S. 99. mery 2008, S. 119. 678 Grossman 2007, S. 502. 675 Zu Artaud vgl. Grossman 2007. 679 Ebd., S. 503. 114 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 ater seine Notwendigkeit wiederfinden will, muß Und deshalb sind alle großen Mythen schwarz, es uns all das zurückgeben, was in der Liebe, im deshalb sind alle die großartigen Fabeln, die den Verbrechen, im Krieg oder in der Ausgelassenheit Menschen berichten von der ersten Trennung der zu finden ist.»680 Geschlechter und dem ersten Gemetzel von We- Durch die Darstellung der Grausamkeit und senheiten, die in der Schöpfung auftauchen, nur Rohheit, zu der Menschen fähig sind und die im in einer Atmosphäre von Gemetzel, Folterung und Begriff «Grausamkeit» als Kraft dieser Zeichen vergossenem Blut vorstellbar. Wie die Pest ist das zwischen Körper und Diskurs kulminieren, ver- Theater ein Abbild dieses Gemetzels, dieser uner- einigt Artaud in seinem Theater die Gegensätze läßlichen Trennung. Es löst Konflikte, es macht «corps» und «discours» zu einem «discorps».681 Kräfte frei, es bringt Möglichkeiten zur Auslösung, Wenn einzelne Glieder und Körperteile sich und wenn diese Möglichkeiten und diese Kräfte, die scheinbar vom Körper lösen, die Körperteile mit- Mächte schwarz sind, so ist das nicht die Schuld der einander und gegeneinander agieren, wird es für Pest oder des Theaters, sondern des Lebens.684 die Zuschauer zu einem «perpétuel jeu de miro- ir où les membres humains semblent se renvoy- Die Verantwortung für die Zuspitzung des Thea- er des échos, des musiques…»682 Dabei soll die ters zu einem Theater der Grausamkeit ist also der Trennung zwischen Zuschauer und Schauspieler Grausamkeit des menschlichen Lebens geschul- aufgelöst, und die Effekte sollen durch die Auf- det. Dabei ist das Theater von Artaud nicht nur führung von Ritualen, starken szenischen Kont- durch Destruktion geprägt, sondern auch durch rasten, unerwarteten Klängen und Lichtinszenie- Harmonie. Das orientalische Theater und insbe- rung verstärkt werden. Im Gegensatz zum Pathos sondere der Tanz aus Borneo gelten ihm als Bei- und Ernst des erzählerischen Theaters will er Hu- spiele kraftvollen Bühnenspiels und als Vorbilder mor und Poesie in den Vordergrund rücken: «der für das Theater der Grausamkeit. Die Gegensätz- Humor mit seiner Anarchie, die Poesie mit ihrer lichkeit des gezeigten Körpers zwischen Anmut Symbolik und ihren Bildern geben gleichsam eine und Entstellung findet Artaud (wie vor ihm Jo- erste Ahnung von Mitteln zur Kanalisierung der ris-Karl Huysmans) auch bei alten Meistern wie Versuchung dieser Ideen.»683 Bosch und Grünewald. Zwar veröffentlichte Artaud dazu noch wei- Mit Pierre Klossowski, dem Bruder des tere Texte, doch erst 1938 wurden die von 1931 Künstlers Klossowski, plante Artaud bis 1935 verfassten Vorträge, Notizen, Briefe, 1934 die erste Aufführung nach diesen Ideen mit Manifeste und Artikel zum «théâtre de la cruauté» dem Stück Le Château de Valmore, einer Adaption zusammengefasst in der Monografie Le théâtre et der Erzählung Eugénie de Franval von Marquis de son double publiziert. In einem dieser Texte erläu- Sade (publiziert 1799 in Les Crimes de l’amour). tert er auch die Idee des «Doppelgängers», dem Nachdem diese Aufführung aber scheiterte, kam anderen Schlüsselwort in seinem Konzept. Einen nur das Stück Cenci (mit einem Bühnenbild von «Doppelgänger» des Theaters bildet für ihn die Balthus Klossowski, 1935) im Rahmen des Pro- Pest, da sie bei den Betroffenen einen schreck- jekts Théâtre de la cruauté zur Aufführung, wel- lichen Wechsel und eine Katastrophe ausgelöst ches in einem finanziellen Misserfolg endete und hat, welche ihre Lebenseinstellung teilweise voll- Artaud zum Abbruch des Projekts bewegte. kommen veränderte. Die Pest schließt sich damit Painlevé arbeitete mit Artaud schon 1927, bei den «großen Mythen» an, die für ihn ebenfalls der Verfilmung von Golls StückMathusalem ou «schwarz» sind: l’Éternel Bourgeois, bei welchem Painlevé und Ar- taud Rollen spielten und Painlevé Regie führte. 680 Artaud 1983, S. 90. 681 Grossman 2007, S. 503. Während dem Dreh kam es zu einem Vorfall: Der 682 Ebd., S. 537. 683 Artaud 1983, S. 96 684 Ebd., S. 33 Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 115 wohl drogensüchtige Artaud entwendete mögli- ten in den zahlreichen Texten zu Gilles. Es war cherweise Painlevé das Geld für die Mitarbeiter also vermutlich die Geschichte von Gilles, welche und die Studiomiete für einen Drehtag, wie Pain- dem Programm eines Theaters der Grausamkeit levé später in einem Interview sagte – trotzdem entsprach, für welches Artaud auch Erzählungen sollte Painlevé Artauds Bewunderer bleiben: «I von Sade zur Inszenierung vorschlug. continued to admire him and attend his perfor- Dennoch finden sich wiederholt Parallelen mances. He was amazing.»685 Es ist zu vermuten, zwischen dem Film Barbe Bleue von Bertrand dass Painlevé sowohl die Produktionen des Théât- und dem Théâtre de la cruauté. So wählte Vin- re Alfred Jarry (1927–1929), das vieldiskutierte cent-Bréchignac wie beschrieben eine auf Bildern Manifest (1932) und die einzige Produktion des und Momenten aufbauende lyrische Sprache, Théâtre de la cruauté (1935) kannte. Da beim wie sie auch Artaud fordert: «Es geht nicht um ab 1934 konzipierten Barbe Bleue ebenfalls die die Unterdrückung des artikulierten Wortes, son- Darstellung von Grausamkeit eine zentrale Rol- dern darum, den Wörtern etwa die Bedeutung zu le einnimmt, kann die Frage gestellt werden, ob geben, die sie im Traum haben.»688 Doch Artaud und wie in diesem Film Aspekte des Konzepts des will eine gefühlsvolle Ausdruckweise, durch die Théâtre de la cruauté aufgegriffen wurden. Dabei das Wort verändert und geformt wird, und geht ist wichtig festzuhalten, dass sich im Film keine somit viel weiter, als Film mit opernhaftem Ge- eindeutige Referenz auf Artauds Manifest findet. sang: Bei Artaud hingegen findet sich ein Verweis auf Barbe-Bleue; so fordert er in seinem Manifest eine Indem sie den abendländischen Gebrauch des Wor- Inszenierung «ohne Rücksicht auf den Text» der tes aufgibt, macht sie Wörter zu Zauberformeln. «Geschichte vom Blaubart, nach den Quellen re- Sie weitet die Stimme. Sie gebraucht stimmliche konstruiert und mit einer neuen Auffassung der Schwingungen und Eigenschaften. Sie läßt Rhyth- Erotik und der Grausamkeit», neben Aufführun- men rasend auf der Stelle treten. Sie stampft Laute gen von Sade und anderen Stoffen.686 Weiter for- ein. Sie zielt darauf ab, die Sensibilität zu steigern, dert er die Inszenierung von Sagen und deren «me- zu betäuben, zu bestricken, abzuschalten.689 taphysischen Ideen» auf der Bühne «auf konkrete und aktuelle Weise», um deren Potential wieder Wieder den Vorgaben von Artaud könnte die freizulegen: «deren Entsetzlichkeit und Wucht» energische Komposition von Mauriac und die veranschaulichen für ihn «ihren Ursprung und In- Bildsprache von Bertrand entsprechen: «Schreie, halt in wesentlichen Grundzügen zur Genüge».687 Klagen, Erscheinungen, Überraschungen, […] Eine einfache Umsetzung der Ideen von Artaud die nach bestimmten rituellen Modellen zuge- findet sich aber nicht beiBarbe Bleue, sondern es schnittene magische Schönheit der Kostüme, […] ist zu vermuten, dass Artaud im Sinn von Huys- seltene Musiknoten, Farben der Gegenstände, mans und Bataille mit Blaubart eigentlich Gilles körperlicher Rhythmus der Bewegungen, […] de Rais bezeichnete, und nicht die Erzählung von mehrere Meter hohe Puppen, unvorhergesehene Perrault. Deshalb findet sich wohl auch der Hin- Lichtwechsel» – solcherart sieht Artaud das Spek- weis auf die «Quellen» («les archives»). Ebenfalls takel des Théâtre de la cruauté.690 Dem entspre- fand sich in der damaligen Zeit eine solche neu- chen bei Bertrand auch die schnellen Schnitte artige Idee zur Erotik und Grausamkeit am ehes- und Parallelerzählungen, denn Artaud wollte eine Inszenierung mit «mehreren gleichzeitigen Hand- 685 Hélène Hazéra und Dominique Leglu: Jean Painlevé lungen» und «mehreren Phasen ein und derselben reveals the invisible; in: Libération 15 (16. November Handlung», in denen «die handelnden Personen, 1986); aus dem Französischen von Jeanine Herman; hier in: Bellows u.a. 2000, S. 174. 688 Ebd., S. 100. 686 Artaud 1983, S. 106f. 689 Ebd., S. 97. 687 Ebd., S. 99. 690 Ebd., S. 99f. 116 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 wie in Schwärmen aneinandergedrängt, alle An- als unschuldig verurteilt gilt. Da Bertrands Film stürme von Situationen aushalten werden».691 So zahlreiche Parallelen zum Manifest von Artaud wollte er den Zuschauer gleichsam einkreisen und aufweist, könnte man den Einsatz der Erzählung mit allen Fasern dem Spektakel aussetzen. von Perrault also gleichsam als ein produktives Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Missverständnis deuten. Da sich Bertrand direkt offene Darstellung von Grausamkeit beiBarbe auf Perrault bezieht, muss er die Erzählung an sich Bleue rückblickend als Besonderheit dieses Films nicht verändern und kann bei der Szene mit den erscheint, da ja schon Bertrand selber erwähnte, toten Frauen und der Androhung der Hinrich- dass die harten und brutalen Seiten der Erzählung tung der Frau herkömmliche Darstellungen aus einen wichtigen Grund für seine Stoffwahl dar- der Stoffgeschichte von Blaubart übernehmen. Es stellten. Da Painlevé als Produzent des Films das ist allein in der Charakterisierung von Blaubart Werk von Artaud kannte und sogar mit ihm ge- und seinen Kämpfen, wo die Grausamkeit unge- arbeitet hatte, liegt ein Bezug zu Artaud bei Barbe wöhnlich, komisch, überspitzt und im Sinn von Bleue auf der Hand. Dabei zeigt sich, dass sich im Artaud dargestellt wird, und so der Geschichte Film zwar verschiedene Übereinstimmungen mit eine neue Bedeutung gibt. den Forderungen von Artaud finden, aber kein Durch die Kriegserklärung der Sarazenen an klarer Verweis darauf. Artaud selbst wollte mit Barbe Bleue erhält der Animationsfilm eine wei- seinem Manifest das Theater als Disziplin stärken tere politische Konnotation. Barbe Bleue wird so- und richtete sich darin gegen das Kino, welches mit gleichsam zum Kreuzritter. Damit stellt sich er als überstarke Konkurrenz sah, doch es ist der diese Adaption auch der, besonders im englischen Film von Bertrand, welcher nun als ein frühes Sprachraum gängigen, Orientialisierung von Beispiel einer Anwendung von Ideen des Théâtre Blaubart entgegen. Bei Bertrand steht nämlich de la cruauté gesehen werden kann. das Verbrecherische nicht auf der Seite der (orien- talischen) Sarazenen, sondern in der (okzidenta- Barbe Bleue – Grausamkeit und politische lischen) christlichen Tradition von Barbe Bleue. Brisanz Das brutalste und unmenschlichste Monster im Film ist Barbe Bleue selber, und die einzige Mög- Artaud forderte eine Inszenierung von Bar- lichkeit für seine Liquidation liegt in der Zeit ver- be-Bleues Geschichte, Painlevé als Verehrer von zögernden Lüge seiner Frau und der Hilfe ihrer Artaud produzierte eine Barbe-Bleue-Animation – Brüder. Wie bei Perrault, dessen Moral im Epi- eine einleuchtende Übereinstimmung. Da Artaud log ebenfalls ambivalent ist, wirft der Epilog auch aber mit Barbe-Bleue vermutlich Gilles bezeich- hier die Frage auf: Wessen Neugierde wird in der nete, weist es gleichzeitig auf eine einschneidende Moral des Films angegriffen?692 Differenz hin. Die größte Gefahr für Menschenrechte ging Vor dem Hintergrund von Painlevés patrio- um 1935 vom Totalitarismus aus, und da Frank- tischer, links-republikanischer, aber auch anar- reich zu dieser Zeit demokratisch regiert wurde, chistischer und antiklerikaler Haltung wird klar, bildete der Aufstieg des Faschismus in Italien, dass er Gilles wohl nicht als grausamen Mörder, Spanien, Portugal und besonders des Nationalso- sondern viel eher als möglicherweise unschuldig 692 Zur Moralität bei Perrault steht bei Davies: «The very verurteiltes Opfer der kirchlichen Inquisition fact that the moralité [in Perrault] does not explicitly sah. Es ist naheliegend, dass Painlevé das Urteil associate women and curiosity, while the conte does, dieses Inquisitionsprozesses abgelehnt und dem might be a warning against understanding the moralité Regisseur eine Ausrichtung nach der These von as a simple indictment of feminine curiosity. What if this moral were in fact not directed at the woman at all, but Reinach nahegelegt hätte, nach welcher Gilles at Bluebeard? After all, the description of vicious and inappropriate curiosity neatly fits his behaviour.» Davies 691 Ebd., S. 104. 2001, S. 46. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 117 zialismus im damaligen Deutschen Reich eine di- wird, stehen die Sarazenen gleichsam für die Aus- rekte Gefahr für Frankreich. Im Deutschen Reich geschlossenen dieses Kontinents, seien es nun Im- wurde schon ab 1933 von den Nationalsozialisten migranten oder Bewohner anderer Kontinente, vorsätzlicher Mord, Hetze und die Außerkraftset- besonders auch der Kolonien. Es kann auch als zung von Grundrechten zur Durchsetzung ihrer vorsichtige Anspielung auf die ebenfalls semi- Macht genutzt. Diese Radikalisierung führte zu tischen Juden gedeutet werden, die ja von den stärkeren Ausfälligkeiten auch in den Nachbar- Nationalsozialisten schon bei ihrer Machtüber- ländern. Wie erwähnt, reiste Painlevé 1934 nach nahme 1933 als größter Feind dargestellt wurden. Österreich und 1935 nach Polen, um Anschuldi- Die vernichtende Aggression von Barbe Bleue – gungen zu Angriffen gegen Arbeiter und Juden in seinem eigenen Städtchen vom Volk gefeiert – nachzugehen, auch wusste er aus der politischen würde sie alle treffen, seine Frau wie seine Feinde. Erfahrung seines Vaters, dass im Speziellen Adolf Obwohl diese Adaption vordergründig den Hitler eine unmittelbare Gefahr für die Demokra- Wandel nicht zu vollziehen scheint, den diese Er- tie und für Frankreich darstellte. zählung zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch- Rückblickend kritisiert Painlevé besonders machte, nämlich eine Verschiebung des Fokus die Sozialdemokratie: «Dans tous les pays que je von Blaubart weg zu seiner Ehefrau, erfüllt sie connais: France, Belgique, Allemagne, Autriche, doch eine von Davies als zentral beschriebene Les- Italie, Pologne et où j’ai vu la social-démocratie au art des modernen Blaubarts: pouvoir, celle-ci a fait le lit du fascisme.»693 Zwar sieht Painlevé die gesamte Epoche durch Rück- Bluebeard, as it emerges at the beginning of mo- gratlosigkeit gekennzeichnet, doch es ist die Sozi- dernity, also breaks taboos on expressing profound aldemokratie, deren Führer als «jouisseurs au petit doubts about the apparently rational, nominally pied» mit dem Hinweis auf den durch ihre Politik masculine subject of Western civilization and the erreichten Wohlstand ihre Wähler zu überzeugen processes which produce it: in short, with the pro- suchten und nicht durch ihre politische Glaub- jects of modernity and civilization themselves, by würdigkeit. In dem von ihm produzierten Film revealing their deeply irrational and dangerous si- wollte Painlevé möglicherweise die Unvereinbar- des.694 keit humanistischer, republikanischer und demo- kratischer Werte mit der faschistischen Ideologie Davies, die sich dabei auf Norbert Elias und sei- aufzeigen: Die Unmenschlichkeit und Verbrechen ne Theorie des Zivilisationsprozesses beruft, sieht von Barbe Bleue schließen jegliche Option eines in Blaubart eine Erzählung, die diese irrationalen «Zusammenlebens» aus, nur ein Kampf mit al- und gefährlichen Seiten sichtbar macht. So stellt len Mitteln, der auch Lüge und Intrige mitein- sie in der deutschen Rezeptionsgeschichte beim schließt, hilft der Frau zu überleben – eine Allianz Verhalten von Blaubarts Frau einen Übergang von mit Barbe Bleue ist ausgeschlossen. einem «Fremdzwang», wo die Frau von Blaubart Vor diesem politischen Hintergrund gemahnt mit Drohungen seiner Norm unterworfen wird, Barbe Bleue in Bertrands Film an die aggressive, zu einem «Selbstzwang» fest, wo sich die Frau dem Faschismus entsprechende Vernichtungspo- selber der von ihrem Ehemann vorgegebenen litik – ein französisch-demokratisches Publikum Ordnung unterwerfen will.695 Blaubart wird so zu würde sich mit der von ihm verfolgten Ehefrau einer «personification of a Symbolic Order or an solidarisieren, und ebenso mit den bekämpften internalized, psychological principle.»696 Bei Bert- Sarazenen. Wenn nun, diese Lesart zuspitzend, rand stimmt Barbe Bleue mit dieser Darstellung Barbe Bleues Frau als Allegorie für Frankreich oder für andere Nationen Europas interpretiert 694 Davies 2001, S. 57. 695 Vgl. ebd., S. 48. 693 Painlevé 1991, S. 10. 696 Ebd., S. 233; vgl. auch Elias 1939. 118 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 des «violent, phallocentric, and absolutely ubiqui- tiert das Publikum eher als eine Vergewaltigung). tous Symbolic Order» überein.697 Dies entspricht dem kritischen Ton in der schon Mit der Durchsetzung des «Selbstzwangs» erwähnten SpielfilmkömodieMonsieur Verdoux setzt sich Blaubart als Siegesfigur durch, die Frau (1947) von Chaplin, wo der Protagonist festhält, muss gegen ihn scheitern. Dabei findet sich bei dass die von ihm gemordeten Frauen in keinem Blaubart ein utopisches Moment, nämlich das der Verhältnis zu den jüngsten Kriegsgreueln stehen Selbstbefreiung der Frau, als sie sich zum Hilfe- würden.701 Bei Claude Chabrols Spielfilmkomö- schrei durchringt und ihre Schwester Anne drei die Landru (1962) wird dieser Aspekt zu einem Mal anruft. Tatar schreibt dazu: «Those words zentralen Motiv, der Film beginnt und endet mit work magic, for the triple relaying of the ques- Szenen aus dem Ersten Weltkrieg, die so mit den tion leads not only to the triple scanning of the Frauenmorden des Protagonisten kontrastieren.702 horizon but also to the materialization of the Es ist gut möglich, dass Artaud diese Filme brothers, who are sent a signal to hurry and who für ihre Darstellungen von Grausamkeit geschätzt appear in the nick of time to rescue her sister.»698 hätte, und dabei besonders den energetisch-rhyth- So lautet die für Tatar zentrale Einsicht aus die- mischen Barbe Bleue von Bertrand, doch der darin ser Rettungsszene: «you have the power, through enthaltene moralische Aspekt entspricht in keiner words, to summon help.»699 Die Erzählung selber Weise dem Ansinnen von Artaud. Bei ihm lässt entwickelt das gesellschaftlich-emanzipatorische sich nämlich durchwegs eine Fetischisierung der Potential noch klarer, wenn die Protagonistin die Grausamkeit feststellen, indem er sie in seinem Missstände erzählen kann, wie dies oft in einer Theater ganz in den Mittelpunkt rückt. So konn- Myse-en-abyme umgesetzt wird: «storytelling can te er zum Vorbild etwa für die Wiener Aktionisten become a kind of double performative event, both werden, deren Blut-Orgien ebenfalls keine expli- enacting an event and precipitating action that zite Kritik an politischen Zuständen verfolgten. will change its terms.»700 Bei Bertrand kann Barbe Das spritzende Blut, der zuckende Körper – sie Bleues Frau ihre Sichtweise im Lied mit den Trou- werden bei Artaud zu einem para-religiösen Ri- badouren formulieren, und die Rose so zu einer tual, der Mörder selber zu einem mystifizierten Art Gegensymbol zum Bart ihres Mannes werden, Objekt. Die Darstellung von Grausamkeit übt als Bruchstelle in seiner symbolischen Ordnung. auf den Zuschauer eine Anziehungskraft aus. Ber- Nicht nur die Rolle von Barbe Bleues Frau trand agiert seinerseits in Barbe Bleue geschickt wird ergänzt, sondern auch die ihres Mannes. zwischen zwei Bildwelten, wenn er auf der einen Bertrand zeigt eine Gegenüberstellung von der Seite die Greuel des Kampfs und des Krieges in schon bei Perrault angelegten häuslichen Gewalt bunten Farben und schnellem Rhythmus spek- von Blaubart gegen seine Frau mit der neu hin- takulär umsetzt und als Gegensatz eine höfische zugefügten militärischen Gewalt im Krieg gegen Gesellschaft bei Gesang und artiger Bewunderung die Sarazenen, womit sich die Frage aufdrängt, von Reichtum zeigt. Indem Bertrand aber auf eine welche Art von Gewalt wir als Zuschauer stärker «Orientalisierung» der Gewalt verzichtet und die akzeptieren gelernt haben und an welcher Gewalt Sarazenen im Gegenteil als deren Opfer darstellt, wir uns stärker stoßen. Der sich durchsetzende schafft er eine Distanzierung – in den eigenen «Selbstzwang» von Elias ist zwar bei häuslicher Reihen möchte man keinen Gewalttäter wie Bar- Gewalt besonders ausgeprägt, nicht aber bei de- be Bleue haben. ren Darstellung – bei Kriegsszenen ist es genau Der Film von Bertrand wirkt dadurch überra- umgekehrt (eine Mordszene auf der Bühne akzep- schend: Aus einer farbenfrohen, mit Hilfe seiner Kinder erarbeiteten Knetfigurenanimation aus 697 Davies 2001, S. 233. 698 Tatar 2009, S. 27. dem klassischen Märchenschatz, mit lebhafter 699 Ebd. 701 Vgl. Chaplin 2003. 700 Ebd., S. 28. 702 Vgl. Chabrol 2001. Bertrands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus 119

Musik und quirligem Handlungsverlauf, entwi- Kostümtheaters gehalten. Der Aufwand für Parti- ckelt sich ein Aufruf zur Sichtbarmachung poli- tur, Komposition, Animation, Filmentwicklung, tischer Gewaltverhältnisse. Artauds Konzept eines Produktion und Postproduktion war immens und Theaters der Grausamkeit ermöglichte Bertrand, macht aus diesem Kurzfilm ein dichtes Gesamt- die Grausamkeit totalitärer Regimes, besonders kunstwerk. Die Direktheit der filmischen Sprache des Nationalsozialismus aufzuzeigen. Aus dem ist zwar kinderfreundlich, doch die gezeigte Grau- Zusammenspiel von Kindlichkeit und Grausam- samkeit ist nur schwer mit der kindlichen Welt keit ergibt sich ein unterhaltsames, aber verstö- vereinbar – hier ergibt sich eine klare formale rendes Erlebnis. Da der Film von Painlevé selbst Grenzübertretung. produziert wurde, hatten er und Bertrand in Zu- Dieser Trickfilm, diese Knetfigurenanimation sammenarbeit mit Vincent-Bréchignac und Jau- ist also auch ein Kurz-, Opern-, Kinder-, Mär- bert größtmögliche künstlerische Freiheit. Durch chen-, Farb- und Tonfilm. Damals auf 35-mm- die Wahl des Genres «Märchenanimation für Kin- Film im Vorprogramm eines Langspielfilms im der» entgingen sie erfolgreich auch der staatlichen Kino gezeigt, lief er wohl nie in einem Kinder- Zensur, nur der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs programm. Finanziert wurde er privat von Jean konnte eine größere Bekanntheit dieses Films ver- Painlevé, welcher gehofft hatte, mit dieser Unter- hindern. nehmung einen Impuls ins Trickfilmgeschäft zu liefern und selber darin Fuß zu fassen. Der Film von Bertrand war keineswegs nur künstlerisch Fazit oder finanziell ehrgeizig, sondern auch politisch. Er positionierte sich politisch links, kommunis- Bertrand orientiert sich stark an Perrault, inklu- tisch, anti-nazistisch und europakritisch. Die sive des Spruchs von Sœur Anne auf dem Turm, Geschichte steht hier für die französische Sache übernimmt alle Figuren und sogar einen Teil der – wollen wir etwas als deutsch erkennen, ist es der Moralität. Die Charakterisierung von Barbe Bleue grausame Barbe Bleue. Es ist ein konfrontativer wird verändert, er ist eindeutiger grausam; neu Film, wie er zu dieser Zeit bei Blaubart-Adaptio- dazu kommen die Sarazenen als Feinde und der nen sonst nicht bekannt war und bis heute kaum Krieg gegen sie. Barbe Bleue ist bei Bertrand ge- eine Entsprechung findet. Blaubart eignet sich ja walttätig, wird aber auch bewundert und ist popu- als ambivalente Figur eigentlich kaum für solche lär. Magisch ist weiterhin der Schlüssel, von dem Eindeutigkeiten. Die Klarheit der Botschaft im sich das Blut nicht abwischen lässt, ergänzt durch Film verhindert die bei der Erzählung als Qualität eine blaue Rose, welche gleichsam zum Symbol hervorgehobene Ambiguität, jedoch ist das Zei- für Barbe Bleues Frau und vielleicht zu ihrem Ta- gen von Grausamkeit und die hohe Geschwindig- lisman wird. Weggelassen aus Perraults Version keit des Films wieder untypisch. Gewalt wird hier wurden die zweite Moral und die Brautwerbung zwar anhand des Zeigens von Gewalt kritisiert mit den Tagen auf dem Land (die Schwestern ent- und nicht, wie bei Artaud, verherrlicht, dennoch scheiden sich sofort). Die Grausamkeit von Barbe hat das Grausame hier auch etwas Reizvolles. Bleue zeigt sich besonders im Vergleich mit Ar- Bertrands Film tritt als seriöse Produktion taud und der Diskussion um Gilles’ Schuld. Auf- auf, die Beteiligten werden genannt und gewür- fällig an Bertrands Film ist auch das Zusammen- digt, mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen. spiel von Musik und Bewegung. Damit wird eine So werden zum einen weder das Orchester noch eindrückliche Direktheit, gewaltige Nähe, Unver- die wichtigsten Gesangsstimmen genannt (Barbe mitteltheit und expressive Qualität entwickelt. Bleue, seine Frau, Sœur Anne), obwohl es sich Stilistisch bleibt in diesem Film vieles in der Welt hier um einen Opernfilm handelt. Im Archiv fin- des Fin de siècle und ist wie die Blaubart-Filme det sich nur der Hinweis, dass Painlevé die ver- von Méliès, Pathé und den Lumières im Stil des wendeten Aufnahmen im Studio von Pathé Ciné- 120 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 ma in Paris machen ließ, wo auch die Geräusche beigemischt wurden. Da Jaubert die Abteilung Musik von Pathé leitete, ist davon auszugehen, dass Mitglieder dieses Orchesters die Musik ein- spielten und von dort auch der Sänger und die Sängerin kamen. Der Film Barbe Bleue versuchte als Märchen- film für Kinder Bekanntheit zu erlangen. Anfangs funktionierte diese Strategie: Die Presse griff das Thema dankbar auf, und Painlevé erreichte mit dem Film mehr Rezensionen in der Presse als mit seinen eigenen, dokumentarischen – nur leider, bevor der Film überhaupt gezeigt werden konnte. Das Genre Animationsfilm war erst im Entstehen, das Sub-Genre Knetfigurenanimation noch fast unbekannt – mit Barbe Bleue gelang ihm darin eine Überraschung. Den Film selbst sah dann fast niemand mehr. Bertrand arbeitete weiterhin im Bereich Animationsfilm, doch diese Branche brach in Europa während des Zweiten Weltkrieges wohl fast völlig ein: Die Studios und Filmentwickler emigrierten, auch Gelder waren kriegshalber kaum mehr vorhanden. Heute sind Trickfilm und Knetfigurenanimation wieder fest in der europäischen Filmbranche verankert, doch der Film von Bertrand konnte, weil er verschol- len war, seinen Platz erst in jüngster Zeit wieder einnehmen, dank der Neuedition auf DVD mit Filmen von Painlevé. Durch die Verspätung der Rezeption wird die Eigenheit dieses Films für Kinder erst im Nach- hinein sichtbar: Gewalt ist hier omnipräsent, wo- bei häusliche und kriegerische Gewalt einander gegenübergestellt werden (wie bei den Filmen von Chaplin und Chabrol). Indem Bertrand Barbe Bleue märchenhaft fantastisch inszeniert, hebt sich diese Oper von den um 1930 bekann- ten Blaubart-Opern von Offenbach, Dukas und Bartók ab und lässt sich eher mit dem Kurzfilm von Méliès vergleichen (ohne aber dessen Humor mit dem lustigen Teufel und dem feministischen Protest am Ende aufzugreifen). Verkürzt könnte man sagen: Das Genrespiel bei Bertrands Barbe Bleue ist dasjenige eines Märchens, welches auf die Schrecken des Krieges konkret Bezug nimmt. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 121

Intimer vs. politischer der örtlichen Lutherkirche taufen, um wenig spä- ter Gertrud Hüther zu heiraten, eine Schuhver- Blaubart bei Natonek käuferin aus Halle. Sie hatten zwei gemeinsame Kinder, Wolfgang (*1919) und Susanne (*1924). Vermutlich im Jahr 1926 wurde er Ressortleiter In diesem Kapitel wird nachgezeichnet, wie der des Feuilletons und stellvertretender Chefredak- vorher in Leipzig aktive Schriftsteller Hans Nato- teur der Neuen Leipziger Zeitung, 1928 erhielt er nek auf der Flucht 1938 in Paris mit Recherchen die deutsche Staatsangehörigkeit. Als Journalist zu Gilles de Rais und Blaubart anfing. Den Ro- hatte Natonek Erfolg, wie Böttger schreibt: «Mit man Blaubart, Marschall von Frankreich schrieb er Talent, Fleiß und Hingabe schrieb er sich nach um 1941 in New York und beendete ihn 1944 in und nach in die vordere Reihe der Feuilletonisten Tucson (Arizona). Publiziert wurde er 1988 pos- der Weimarer Republik.»706 Dank seiner Festan- tum als Blaubarts letzte Liebe. In diesem sieht sich stellung hatte er laut Böttger sein eigenes Arbeits- der Protagonist zwar schuldig als Blaubart, der zimmer in der Redaktion und «Macht über die seine Frauen verließ und ihnen noch immer nach- Einstellung von Mitarbeitern und die Vergabe hängt, jedoch als unschuldig der ihm angelasteten von Honoraraufträgen an junge unbekannte Au- Morde an Kindern und anderer schwerer Verge- toren».707 Zu seinen Entdeckungen gehörten etwa hen. Natoneks Auseinandersetzung mit Blaubart Lene Voigt und Erich Kästner. Auch war er selber und Gilles findet hier vor dem Hintergrund der literarisch aktiv und veröffentlichte ab 1927 regel- damals virulenten Diskussion um die Schuld von mäßig Romane: «Kritik und Publikum nahmen Gilles statt und wird im Vergleich mit Beiträgen die Bücher wohlwollend auf, das republikweite von Eugène Bossard, Joris-Karl Huysmans, Salo- Feuilleton steigerte sich in seinem Lob, freund- mon Reinach und Vicente Huidobro diskutiert. liche Ermunterung erfolgte von Joseph Roth, Ste- fan Zweig, Thomas Mann und anderen.»708 Mit der Machtübernahme der National- Hans Natonek sozialisten 1933 wurde diese seine Existenz zer- stört, was er als konvertierter Jude laut Böttger so Der Schriftsteller Hans Natonek (1892–1963) nicht erwartet hatte: «Wie viele andere Liberale war ein bekannter Feuilletonist der Weimarer und Republikaner hat auch Hans Natonek die Republik. 703 Sein Großvater war Rabbi und gab vom NS-Regime ausgehenden Gefahren nicht später in Budapest die Zeitschrift Der Jude heraus. klar erkannt.»709 Dazu kam, dass er mit Erica Der Vater von Hans Natonek war Direktor der Wassermann, Volontärin bei der Neuen Leipziger Reederei Triester Lloyd in Prag und bezeichnete Zeitung, eine Affäre anfing. Im April 1933 erhielt sich offenbar als konfessionslos. Hans Natonek er Schreibverbot, floh mit seiner Geliebten ins selber ging nach der Schule in Prag nach Wien Tessin, von wo ihn seine Frau zurückholte. Was- und Berlin und arbeitete ab 1913 als Journalist sermann fuhr ohne ihn nach Paris, doch im Jahr und ab 1914 als Volontär der Saale-Zeitung im darauf kamen sie wieder zusammen, heirateten, bayrischen Bad Kissingen.704 Nachdem er im und Natonek wohnte mit ihr bei ihren Eltern in Sommer 1914 kriegsbegeistert war, richtete er Hamburg, die auch für die Kinder von Natonek sich schon 1916 gegen den Krieg und wich da- in Leipzig finanziell aufkamen. Sein Verbleiben nach laut Steffi Böttger nicht mehr von der Posi- in Deutschland bedeutete für ihn und die Seinen tion des liberalen Pazifismus ab.705 1918 zog Na- eine große Gefahr, wie Böttger ausführt: tonek nach Leipzig, konvertierte und ließ sich in 706 Ebd., S. 363. 703 Zu Hans Natonek vgl. Böttger 2008 und 2006. 707 Ebd., S. 363f. 704 Böttger 2008, S. 8. 708 Böttger 2008, S. 10. 705 Böttger 2006, S. 360. 709 Böttger 2006, S. 366. 122 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Gekündigt, der Publikationsmöglichkeiten beraubt Nach der Kriegserklärung von Deutschland an und als Jude gefährdet – eigentlich mehr als genug Frankreich am 1. September 1939 entkam er nur Gründe, schleunigst das Land zu verlassen. Aber knapp der Gestapo, welche fünf Koffer mit sei- Natonek zögerte fast zwei Jahre lang. So schnell nem literarischen Schaffen beschlagnahmte, und wollte er nicht die Familie aufgeben, die Wohnung, erreichte über Orléans, Bayonne, Lourdes, Tou- die Bibliothek, die über 5000 Bände umfaßte. Sein lon und Marseille im August 1940 Lissabon: «Mit Zögern sollte ihn und seine Geliebte Erika in große der Hilfe Thomas Manns und Varian Frys, eines Gefahr bringen, seine Frau jedoch beinahe in den Amerikaners, der sich unermüdlich und oft am Wahnsinn treiben.710 Rande der Ausweisung operierend für die Rettung deutscher Emigranten einsetzte, kam er am 20. Erst 1935 floh er mit Erica nach Prag, wo er als Januar 1941 an Bord der Manhattan, 48jährig, in freier Journalist zu überleben versuchte. Doch New York an.»714 seine geschiedene und dem Nationalsozialismus Natonek hatte fast kein Geld und kaum Be- beigetretene Ehefrau zeigte ihn beim Reichsver- ziehungen in den USA, er lebte isoliert, arbeitete band Deutscher Schriftsteller an, worauf er der in verschiedensten Berufen und schrieb daneben Publikationsmöglichkeit in Deutschland ganz an seinem Blaubart-Roman, dessen Recherchen beraubt wurde. Durch die Anzeige wurde Nato- er in Paris angefangen hatte. Barthold Fles, den nek die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, Natonek in New York kennenlernte, meinte über und auch seinen Kindern und seiner ehemaligen diesen: «Er war ein unpraktischer Mensch. Er Frau, wie Böttger schreibt: «Dies bedeutete: keine war versessen in seine schriftstellerische Arbeit staatlichen Zuwendungen.»711 Es kam zu einem und redete über nichts Anderes. Er redete über Zusammenbruch der Mutter, die Kinder mussten seine Jeanne d’Arc.»715 Fles war es, der ihn laut aus Geldmangel die Schule verlassen und kamen Böttger zum autobiografischen Buch In Search in ein Pflegeheim. Für Gertrud lag der Grund of Myself von 1943 anregte, in Böttgers Worten der Misere in Natoneks Untreue, wie Böttger eine «Selbstabrechnung», in welcher Natonek schreibt: «Gertrud Natonek hat ihrem Mann nie «die ersten Monate nach seiner Ankunft, erste verziehen, daß er sie und die Kinder wegen einer Eindrücke von New York und die Möglichkei- wesentlich jüngeren Frau in dieser politisch dra- ten, seinen Beruf [als Schriftsteller] auszuüben», matischen Situation verließ.»712 Natonek trennte schilderte.716 Mit Anne Grünwald, die Natonek sich 1938 von Wassermann, sie floh nach Lon- ebenfalls in New York kennen lernte, begann eine don und er nach Paris: «Er schloß sich dem Kreis Freundschaft. Ihr folgte er 1944 bei ihrem Um- um seinen Freund und Kollegen Joseph Roth an zug in die Wüstenstadt Tucson (Arizona), wohin und fand sein Thema für journalistische Arbeiten: sie aus Gesundheitsgründen mit ihrem Mann Exil. Arbeiten erschienen in der Neuen Weltbühne, zog, und Natonek und sie heirateten dort 1949 in der Neuen Zürcher Zeitung, der Basler National- nach dem Tod ihres Ehemannes. Sie unternah- zeitung, dem Neuen Tagebuch.»713 Eindrücke aus men 1957 eine längere Reise nach Europa, wo der Zeit der Trennung und Flucht von 1933 bis er seine Kinder wiedertraf, von denen Wolfgang, zu seinem Aufenthalt in Prag beschreibt Natonek 1948 als politischer Aktivist von den sowjetischen auch im 1935/36 verfassten autobiographisch Militärbehörden in der DDR verhaftet und erst geprägten Roman Die Straße des Verrats, welcher 1956 freigekommen, in die BRD gegangen war. 1982 von Wolfgang U. Schütte postum in der In der Korrespondenz, die die beiden seit 1946 DDR veröffentlicht wurde. geführt hatten, machte Hans Natonek aus seiner Abneigung gegen die DDR keinen Hehl: «[E] 710 Böttger 2008, S. 13. 711 Böttger 2006, S. 368. 714 Ebd. 712 Böttger 2008, S. 18. 715 Barthold Fles; hier in: Serke 1987, S. 124. 713 Böttger 2006, S. 368. 716 Böttger 2006, S. 372. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 123 s versteht sich von selbst, daß mir als Ausland- unter dem Titel Der Mann ohne Schatten 1958 deutschem und Anti-Kommunist die Wiederver- in der BRD neu aufgelegt, doch Natonek galt in einigung Deutschlands sehr am Herzen liegt.»717 West- wie Ostdeutschland eigentlich als vergesse- Hans Natonek erkrankte 1958 an Leukämie und ner Autor. So blieb In Search of Myself von 1943 starb 1963 in Tucson. Zeit seines Lebens sein einziges in den USA ver- Im Zentrum des Werks von Natonek steht öffentlichtes Buch, sein fiktionales Werk fand kei- sicher seine journalistische Tätigkeit, wie Böttger nen Verleger mehr, wie Serke festhält: «Von seinen ausführt: in Amerika geschriebenen Romanen erschien kein einziger.»720 Es finden sich zahlreiche Manuskrip- Hans Natonek hat – nach vorläufigen Recherchen te in seinem Nachlass, davon ist Thomas and The- – zwischen 1913 und 1941, von seinen publizisti- resa von 1944/45 laut Serke Natoneks erstes ame- schen Anfängen bis zur Ankunft im amerikanischen rikanisch geschriebenes Buch, und im Index von Exil, weit mehr als 2000 Artikel in Zeitungen und Natoneks Nachlass werden weitere Manuskripte Zeitschriften in Leipzig, Berlin, Halle, Wien, Prag für novels wie Destination Unknown (um 1945), und Paris veröffentlicht; eine systematische Durch- Footprints in the Desert (um 1943), Fraulein Thea sicht der zeitgenössischen Presse würde sicherlich (mit Charles G. Finney, 1945), Legacy of Lazarus noch mehrere Hundert weiterer Texte ans Tageslicht (um 1963) und zahlreiche Gedichte aufgelistet.721 bringen.718 Die fünf von der Gestapo beschlagnahmten Koffer mit einem Teil von Natoneks Nachlass Während seiner Zeit bei der Neuen Leipziger Zei- von 1921 bis 1940 blieben in der DDR, wurden tung begann Natonek auch eine literarische Kar- nach Moskau und danach in das damalige Staats- riere. Er veröffentlichte die Romane Der Mann, archiv Potsdam transferiert und finden sich heute der nie genug hat (1929) und Geld regiert die Welt im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde.722 «Der oder Die Abenteuer des Gewissens (1930). 1931 er- Schriftsteller, dessen Adresse der DDR bekannt hielt Natonek den Dichter-Preis der Stadt Leipzig war, erhielt das Raubgut nicht zurück», resümiert und veröffentlichte 1932 den wegen einer Persön- Serke lakonisch.723 Darin fand Schütte auch das lichkeitsklage bald wieder zurückgezogenen Ro- Manuskript von Die Straße des Verrats und die man Kinder einer Stadt. Für Jürgen Serke ist dieses anderen Texte, die er 1982 zusammen mit einem 1987 von ihm bei Zsolnay neu aufgelegte Werk als ausführlichen Nachwort veröffentlicht hat. Den Journalisten-Roman ein Schlüsselwerk: «Es wurde restlichen Nachlass, der teilweise von Insekten ein Epochenroman, in dem sichtbar wird, wie mit zerfressen war, übergab Natoneks in Tucson le- dem Ersten Weltkrieg eine Wertewelt verscherbelt bende Witwe 1981 der German and Jewish Intel- wurde, so daß die größere Katastrophe sich als lectual Émigré Collection an der State University folgerichtig abzeichnet.»719 Während seiner Flucht of New York in Albany. Wieder einer breiteren durch Europa schrieb Natonek mit Der Schlemihl Öffentlichkeit bekannt wurde Natonek dank (1935 in Amsterdam erschienen) einen Roman zu den Nachforschungen des deutschen Publizisten Adelbert von Chamisso und dessen Roman Peter Jürgen Serke. Er erforschte ab den 1970er Jahren Schlemihls wundersame Geschichte (1814). Nato- zahlreiche Schriftsteller, welche im Nationalsozia- nek verarbeitete darin seine unmittelbare Exil- lismus verboten wurden, zum ersten Mal in der erfahrung, wie zuvor in Die Straße des Verrats sein Studie Die verbrannten Dichter (1977). Natonek Erleben der Flucht. Zwar wurde Der Schlemihl widmete Serke in seiner Studie Böhmische Dörfer (1987) ein Kapitel und veröffentlichte die Roma- 717 Hans Natonek, Brief an Wolfgang Natonek, 1956; hier in: Natonek und Natonek 2008, S. 136–138, hier 720 Ebd., S. 87. S. 137. 721 Vgl. ebd., S. 106; Myrth 1989. 718 Böttger 2006, S. 359. 722 Vgl. Böttger 2008, S. 21. 719 Serke 1987, S. 108. 723 Serke 1987, S. 88. 124 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 ne Kinder einer Stadt und Blaubarts letzte Liebe nischen Nachlass stützte, sieht die erste Zeit in wieder. Serkes Sammlung befindet sich im Kunst- Tucson, also 1944, als Ende der Arbeit am Ro- museum Solingen (DE). man.727 Die Biografie von Natonek zeugt vom Getrie- Die Handlung beginnt auf Schloss Chantocé, bensein durch die politische Situation wie durch wo der weiter oben beschriebene Edelmann Gilles sein Verhältnis zu Frauen und von seinem Festhal- de Rais von der frisch zur Befreiung Frankreichs ten an seiner Liebe zu seinen Kindern, seiner Hei- aufgebrochenen Jeanne d’Arc einen Aufruf zu mat, seinem Beruf und seinem Schreiben. Dabei den Waffen erhält.728 Gilles ist zwar «der endlosen wurde er oft mit Unverständnis konfrontiert als Fehden überdrüssig», doch die direkte Sprache jemand, der sich abschottete und nicht die Zei- ihres Briefes löst in ihm den Drang aus, mit ihr chen der Zeit zu lesen und danach zu handeln ver- gegen die Engländer anzutreten und «Frankreich stand. Selbst darunter leidend, versuchte Natonek zu retten».729 Im Prolog des Romans sagt sie: mit seiner schriftstellerischen Arbeit seine Erfah- rungen mitzuteilen und konnte so Wichtiges über Lasset alles liegen, Eure Reichtümer und Eure eitle seine Zeit berichten. Dies zeigt auch sein postum Prunksucht, Eure Lüste und Eure Laster, und bege- veröffentlichter RomanBlaubarts letzte Liebe. bet Euch unverzüglich nach Chinon […]. Wenn Ihr meinem Rufe folget, lieber Ritter, ist Euch die ewige Seligkeit gewiß. Wenn Ihr jedoch beharrt in Eurer Der Roman Blaubarts letzte Liebe, Selbstsucht, Gilles de Rais, werdet Ihr ein schlim- 1938–1944 mes Ende nehmen, und Euer Name wird verworfen sein und ein Grauen für alle Zeiten.730 Als Natonek im Januar 1941 New York erreich- te, hatte er neben wenigen Habseligkeiten und Als ihm der Bote ausrichtet, dass die Leute die- Manuskripten immer noch Unterlagen zu seiner se junge Frau einen Engel nennen, hingegen «die Arbeit an Blaubart bei sich, wie er sich später er- burgundischen Spitzel am Hof» verbreiteten, die innert: «In meiner abgenutzten Aktentasche be- «Jungfrau sei von Dämonen besessen», da ist Gil- fand sich das kaum noch entzifferbare Fragment les überzeugt: «Engel und Dämonen – wozu noch einer Novelle Blaubarts letzte Liebe.»724 Das The- länger in den verbotenen Scharteken der Magie ma hatte er 1938 während seines Pariser Exils für lesen! Hier war ein Mirakel oder Magie», und sich entdeckt und mit Recherchen begonnen, die Gilles «ließ alles liegen, wie es geschrieben stand, laut Serke in einem Konzept mündeten, welches und er folgte dem Ruf, um der Verdammnis zu in den ihm in Paris geraubten Koffern verblieb.725 entgehen».731 Natonek arbeitete gleich nach seiner Ankunft Im zweiten Kapitel wird Jeanne d’Arc vorge- weiter und forschte insbesondere über Gilles de stellt, das Bauernmädchen, welches Charles, den Rais. Er unterbrach die Arbeit für die Publikation französischen Dauphin (Thronfolger), zum König von In Search of Myself, beendete aber die Manu- von Frankreich erhoben sehen will. Dieser zögert: skripte laut dem Nachlassregister auf Deutsch als «Er hatte den Kampf hingeworfen wie ein abge- Blaubart, Marschall von Frankreich um 1941 und tragenes Gewand; er wollte von Sieg und Freiheit auf Englisch als Bluebeard, Marshall of France um nichts mehr sehen und hören und war im Begrif- 1943, also noch während seines Aufenthalts in New York.726 Serke aber, der sich für die postume 727 Serke 1988, S. 397. Veröffentlichung des Romans 1988 alsBlaubarts 728 Zur Biografie von Gilles de Rais vgl. Kapitel «PerraultsLa letzte Liebe auf das Typoskript aus dem amerika- Barbe bleüe und Weiterschreibungen», Abschnitt «Gil- les de Rais». 724 Hans Natonek; hier in: Serke 1988, S. 385. 729 Natonek 1988, S. 11, S. 13. 725 Vgl. Serke 1987, S. 116. 730 Ebd., S. 9. 726 Vgl. Myrth 1989. 731 Ebd., S. 17f. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 125 fe, seinen sogenannten Hof aufzulösen und sich So etwa Piere Cauchon, Bischof von Beauvais, ins Privatleben zurückzuziehen, möglichst weit denn dieser «vertrat die französische Partei der weg, im Ausland.»732 Durch einen Trick, der als Unterwerfung und der Zusammenarbeit mit «Wunder» ausgelegt wird, gewinnt sie den Dau- der fremden Regierung. Wenn Frankreich sieg- phin für sich, und er stattet sie als Kämpferin aus: te, das wußte Cauchon, war er verloren. Darum «Sie wählte einen feinmaschigen Schuppenpanzer, mußte Jeanne, der verkörperte Angriffsgeist, ver- Beinschienen, Lederwämse in allen Farben, und nichtet werden.»739 In Paris wird dies vorbereitet, Brustschilde, reich ornamentiert.»733 Darauf trifft wie Cauchon sagt: «Meine Dominikaner sind Gilles ein, der den Dauphin verachtet, und sie tre- schon an der Arbeit, und die Pariser Universität ten mit einem kleinen Trupp, sie als «chef de gu- behandelt Material, das ausreichend ist, einen erre» und Gilles als ihr Begleiter, zur Rückerobe- Scheiterhaufen anzuzünden.»740 Die Drohung der rung Frankreichs aus der englischen Besetzung Inquisition schüchtert Charles ein: «Erst war ich an.734 Gilles vergöttert Jeanne – er ist unsterblich jahrelang der ‹Provinzkönig von Bourges›, und in sie verliebt: «Sein Pferd drängte sich so dicht an jetzt bin ich der Ketzerkönig von Reims!»741 Er ist das ihre, daß seine und Jeannes Beinschienen leise deshalb offen für Sabotage gegen Jeanne, wie sie aneinanderklirrten. […] Die Luft um sie war voll ihm sein Minister La Tremoille vorschlägt, und vertrauter Zärtlichkeit. […] Jede Sekunde einer bei welcher der verliebte Gilles eine wichtige Rolle Liebe müßte so sein wie diese, unvergänglich, un- spielen würde: «Damit Jeanne strategisch strauch- verlierbar.»735 Gemeinsam nehmen sie an der Krö- le, müsse man ihr vor Paris ein Bein stellen, die nung des Königs Charles VII in der Kathedrale Sache lau führen, hinziehen. Er meinte, ohne es der zurückeroberten Stadt Reims teil. zu sagen: den Feldzug sabotieren. Damit Jeanne Die Krönung verläuft nicht ohne Schatten, menschlich strauchle, dafür scheine ihm Mar- denn «den Dauphin quälten dunkle Vorgefühle; schall de Rais wie geschaffen.»742 er hatte Angst, der Prophetin könnte etwas zusto- Paris wird zur unüberwindbaren Hürde für ßen».736 Jeanne ist zwar begeistert von der Krö- Jeannes Befreiungsfeldzug. Schon die Begrüßung nung und der Idee, dass Frankreich wieder ihren durch die Stadt ist unmenschlich brutal und König hat, und: «Es sah aus, als vergieße sie Freu- muss Jeanne zermürben: «Auf hohen Stangen dentränen. Aber sie weinte bitterlich, denn ihre aufgespießt, blickten Dutzende blutiger Köp- Mission war erfüllt und beendet, genau nach der fe zwischen den Zinnen auf sie herab» – es sind Verkündigung des Himmels, und nun war es still dies wegen Verrats an der Besatzungsmacht und in ihr, und sie hörte keine Stimmen mehr.»737 Die- der Treue zu Frankreich Hingerichtete.743 Auch se Stimmen hatten sie durch den gesamten Feld- Gilles hat starke Zweifel, er fragt Jeanne: «Und zug geführt, hatten ihre Taktik undurchschaubar wenn Paris widersteht? Wenn du, anders als du und ihr Heer somit furchterregend gemacht, doch es meinst, umkehren mußt?» – worauf sie erwi- nun schwiegen sie: «Das bedeutete ein tiefes Er- dert: «Was auch geschieht, verlaß mich nicht, Gil- schrecken und eine große Verlassenheit besonde- les.»744 Gilles nimmt dies sehr persönlich, indem rer Art.»738 Reims wird so zum Wendepunkt für er Jeanne anbietet, mit ihm auf seine Burg Chan- Jeanne, der neue König zögert und distanziert tocé zu gehen und sich mit ihm zu vermählen. sich von ihr, die Gegenseite hingegen rüstet auf. Gar nicht begeistert erwidert sie: «Wie kann ich Euch heiraten, Herr Gilles, da Ihr doch schon ver- 732 Ebd., S. 21. 733 Ebd., S. 23. 739 Ebd., S. 64. 734 Ebd., S. 34. 740 Ebd. 735 Ebd., S. 47. 741 Ebd., S. 67. 736 Ebd., S. 41. 742 Ebd., S. 69. 737 Ebd., S. 59. 743 Ebd., S. 80. 738 Ebd., S. 61. 744 Ebd., S. 82. 126 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 heiratet seid! Oder seid Ihr es nicht mehr?», und stieg Reims auf, Jeanne, in flutendem Weiß, stand fügt «beinahe inquisitorisch» an: «Wo ist Eure neben ihm und flüsterte: ‹Betest du, Gilles?›»753 Frau, Gilles?»745 Für sie verkörpert dieser Antrag Dazu kommt, dass Jeanne gefangen genommen «die Stimme des Versuchers» und führt zu einer wird, so dass Gilles zu Charles VII reitet, um sich inneren Distanzierung von ihrem Marschall.746 für ihre Befreiung einzusetzen. Jeanne ist sicher Wirklich kommt es zur militärischen Niederlage. verwahrt: «[A]ls Angeklagte der Kirche gehört Jeanne wird verletzt, ihr Beschützer Gilles rettet Jeanne in ein kirchliches Gefängnis; aber sie ist sie und kümmert sich um ihre Wunde, kann da- in der weltlichen Gewalt der Engländer, in einem bei seine Leidenschaft nicht mehr zurückhalten dunklen Turm, in Rouen» – der Versuch, sie zu und «bebend taumelte sein Mund auf die Wun- befreien, misslingt kläglich.754 de und küßte sie».747 Er versucht zwar, den Aus- Gilles versucht durch Alchimie an neuen rutscher herunterzuspielen, insistiert aber darauf, Reichtum zu kommen, um ein schlagkräftiges Jeanne heiraten zu wollen: «Mit jedem Wort ver- Heer zur Befreiung Jeannes finanzieren zu kön- strickte er sich mehr, mit jedem Schritt sank er nen. Dazu muss er sich von Gott lösen, mit dem tiefer. Er fühlte es und konnte es nicht ändern. Es Teufel in einen Bund treten, und erhält als Boten tat ihm weh, wie er Jeanne in die Enge trieb.»748 der Hölle den weltgewandten Alchimisten Fran- So findet Jeanne aber endlich zu ihren inneren cesco Prelati, den ihm sein Hausprediger Eustache Stimmen zurück, und vernimmt: «Jeanne, fürchte Blanchet in Italien auftreibt. Gilles ist nicht mit dich nicht und geh … geh ganz allein deinen Weg realistischen Ideen beizukommen, und so wählt zu Ende, ich werde bei dir sein. Du wirst nach Prelati zur Sicherung seiner persönlichen Berei- Compiègne gehen».749 Sie weiß nun, dass «die cherung die absolute Vermessenheit: «Er mußte Heerscharen des Himmels» hinter ihr stehen, und ihm eine Jeanne schaffen. Da es die nicht sein diese stärker sind «als die Legionen der Hölle, die konnte, die in diesem Augenblick vielleicht schon Gilles aufzubieten versprach».750 Sie muss Gilles brannte, mußte es eine andere sein, die er diesem verstoßen und sagt ihm an Ende: «Du bist ein seltsamen Liebhaber unterschob.»755 In der fland- verworfener Mensch, Gilles» – was ihn «wie ein rischen Stadt Armentières findet Prelati eine Frau, Schlag» trifft.751 deren Ähnlichkeit mit der berühmten Gefange- Im zweiten Buch wird beschrieben, wie Gilles nen sich schon herumgesprochen hat. Die eben- alleine auf sein Schloss zurückkehrt, wo sein eher falls Jeanne Genannte ist bereit, ihre neue Rolle zu zweifelhafter intimer Hausstab auf ihn wartet: lernen und sich damit zu identifizieren – verführt «Die Mehrzahl hatte ihre Gesichter auf herzlichen vom Wunsch, im Haus des großen Herrn eintre- Willkomm blank geputzt, und ihre verdächti- ten zu können – und absolviert bereitwillig das gen Physiognomien versuchten vor Loyalität zu harte Training zum Einstudieren ihrer Rolle. leuchten.»752 Zurückgezogen, verliebt in Jeanne Gilles ist so tief in seine Zerrissenheit gesun- und erschüttert von den Ereignissen, versucht er ken, dass er die neue Jeanne als Jeanne d’Arc ak- das Erlebte zu vergessen und sich neuem Rausch zeptiert, und sie lässt sich in seiner Burg nieder. hinzugeben: «Musik war gut für solchen Durst. Überglücklich genießt Gilles die Liebe zur end- Aber aus den lang entbehrten Tönen der Orgel lich für ihn bereiten Jeanne, sie heiraten, und die Botschaft der Hinrichtung der richtigen Jeanne 745 Ebd., S. 82f. hält er für eine Lüge. Als er darauf eine weitere 746 Ebd., S. 84. Erbschaft antritt, organisiert er zum Gedenken an 747 Ebd., S. 109. die Erfolge von ihm und Jeanne in Orléans ein 748 Ebd., S. 114. imposantes Mysterienspiel, wo er die Ereignisse in 749 Ebd., S. 116. 750 Ebd., S. 117. 753 Ebd., S. 125. 751 Ebd., S. 118. 754 Ebd., S. 164. 752 Ebd., S. 124. 755 Ebd., S. 183. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 127

Reims inszenieren lässt, mit sich und der (neuen) Durch den Tod seiner Geliebten wird Gilles end- Jeanne in den Hauptrollen. Heimlich huldigen gültig von der Hoffnung verlassen: «Er war vier- ehemalige Soldaten von Jeanne der echten, hin- unddreißig Jahre alt, ein vergessener Marschall, gerichteten. Das Mysterienspiel ist zu vermessen, ein bankrotter Mysterienspieler, ein ruinierter wie sein Hausprediger feststellt: «Gilles hat mehr Verschwender – er hatte das Kostbarste vergeudet, als die Craon-Erbschaft durch Gurgeln und Bäu- die Frau seines Lebens, die der Unerreichbaren che gejagt, in künstlichen Bränden und Schlach- nachgeformt war.»760 Er sieht keinen Ausweg mehr ten verpulvert und in wahnwitzigen Kostümver- aus dem Teufelsbund, opfert diesem das Herz und brauch verschneidert. Aber Orléans hat ihn fertig andere Körperteile seines liebsten Sängerknaben gemacht.» An diese Vermessenheit schließt Prela- Cölestin, welcher unverhofft an einer Krankheit ti an, um Gilles in die Knie zu zwingen: «Gilles stirbt, und setzt sich gleichzeitig zur Wehr für sein sollte erfahren, daß man für Jeanne heimlich eine gepfändetes Gut. Da der Pfänder aber ein Priester Totenmesse gelesen hatte … Auch auf der Seite ist und Gilles ihn in dessen Kapelle verprügelt, ‹des Gemüts› mußte jetzt der Bankrott über ihn hat der Bischof Malestroit endlich einen triftigen hereinbrechen.»756 Grund zur Einvernahme. Prelatis Konfrontation führt Gilles seine eige- Statt zu einer tadelnden Ermahnung, wie ne Zerrissenheit vor Augen, er zieht sich zurück, in einem solchen Fall für einen Adeligen seines huldigt selber heimlich der richtigen Jeanne, und Ranges üblich, sollte diese Einvernahme zur so- setzt so seine neue Jeanne unter Druck: «Die Luft fortigen Einkerkerung führen. Ein perfekt durch- von Chantocé war schwer von Geheimnissen orchestrierter Gerichtsprozess mit Maître Blouyn und Zauberei, von Bedeutung und Unwirklich- als Vertreter der Inquisition und eine dreifache keit und Weihrauch; sie ertrug es nicht mehr.»757 gerichtliche Absicherung sollten eine sichere und Und so bricht es endlich aus ihr heraus: «Ich war unausweichliche Hinrichtung von Gilles bewir- niemals in Châlons, ich war nie in Reims, nie vor ken. Mit der Eröffnung der Anklage begreift Gil- Paris, nie in Compiègne, nie in Rouen. Ich bin les das schiere Ausmaß dieser Inszenierung: nicht, was du aus mir gemacht hast! Ich will nicht mehr!»758 Prelati seinerseits sucht einen Inquisi- Wie eine Sintflut rauschten und schwollen die tionsprozess gegen Gilles anzustiften, liefert dem neunundvierzig Artikel der Anklage in Gilles’ Oh- Bischof Malestroit die nötigen Beweise, welcher ren; sie zerstörten gleichsam sein Gehör, so daß er sehr am Vermögen von Gilles interessiert ist. Als Einzelheiten nicht mehr erfassen konnte. Er erfaßte Prelati hört, wie Jeanne und ein Sänger von Gilles nur das unlösbare Durcheinander und das gräßliche zu fliehen versuchen, zögert er nicht: Gewebe von Imagination und Wirklichkeit.761

Er eilte durch den Korridor bis an das Fenster, an Es werden ihm unter anderem zahlreiche Morde, dem das Seil vorbeilief, beugte sich vor und zog sein Sodomie und Häresie vorgeworfen, eine ausweg- Dolchmesser. Es paßt mir gar nicht, dachte er, und lose Situation in einem Inquisitionsprozess. Als sein Messer sägte an dem zähen Strick, daß mein Gilles seine hoffnungslose Lage und gleichzeitig Lockvogel [Rossignol] so davonfliegt … Er weiß das große Interesse der Öffentlichkeit erkennt, be- zu viel; und es paßt mir sehr, daß Jeanne Chantocé schließt er, diese Bühne auf seine Weise zu nutzen: nicht lebend verläßt.759 Eine Raserei des Bekennens und ein verzweifelter Größenwahn überkamen ihn wie ein Rausch. Er wußte, daß er verloren war, ob er «leugnete» oder 756 Ebd., S. 239. 757 Ebd., S. 256. «gestand», und daß ihm die Folter nur erspart blieb, 758 Ebd., S. 273. 760 Ebd., S. 296. 759 Ebd., S. 292. 761 Ebd., S. 229f. 128 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

wenn er sein Geständnis mit den Aussagen der Ge- tes Publikum. Das Leben von Gilles sieht sehr marterten [seinen Vertrauten] in Übereinstimmung anders aus als in den Biografien, da Gilles keine brachte. Um aber diese vom Gericht angestrebte Zeit damit verbringt, die danach vor Gericht ge- Übereinstimmung zu verwirren und zu zerstören, standenen Greueltaten zu begehen, sondern lie- wollte er sie wie im großen Maßstab übertrump- ber Zeit mit seiner neuen Ehefrau verbringt. Der fen.762 Roman erzählt so zum einen die Geschichte eines gescheiterten Liebeslebens – der missratenen Ehe Der Prozess wird so zu seinem letzten großen Auf- von Gilles mit seiner Frau, seiner zurückgewiese- tritt. Nur seinem Priester gegenüber, der ihm die nen Liebe zu Jeanne und seiner Ehe mit Jeanne Beichte abnimmt, ist er ehrlich: «So gewiß ich aus Armentières. Es ist aber auch ein Kommentar bin, ein großer Sünder zu sein, dem jede Strafe zum besetzten Frankreich, wo die Macht die Un- recht ist, so gewiß bin ich auch, keinen der hun- freiheit aus Profitgründen hinnimmt und sich mit dert Morde begangen zu haben, die man mir an- den Besatzern arrangiert. lastet.»763 Es gelingt Gilles sogar, bei seiner Hin- Wichtig im Roman ist die Rolle der von Gilles richtung seinen zwei Mitverurteilten zuzurufen: umkreisten Jeanne d’Arc. Sie wird als verantwor- «Und seid gewiß, noch heute werdet ihr mit mir tungsvoll und zielstrebig dargestellt, glaubt an das vor Gottes Thron stehen.»764 Die an der Hinrich- Wunder ihrer Bestimmung und weiß dies schon tung in Nantes zahlreich anwesende Bevölkerung zu Beginn ihres Feldzugs selbstbewusst einzu- ist darauf von seiner Unschuld überzeugt, und be- setzen, wie die Szene mit dem Dauphin Charles teiligt sich feierlich an der Beerdigungsprozession. zeigt, wo sie den leicht zu Erkennenden inmitten seines Hofstabs auswählt: «Um die Menschen zu überzeugen, mußte das echte Wunder ein biß- Figuren und Motive des Romans chen mogeln. Und dennoch lag in diesem kleinen Trick ein Wunder, eines der größten, verborgen: Bei einem Vergleich der Erzählung von Natonek die Erweckung eines erledigten, beinahe leben- mit historischen Quellen zeigen sich zahlreiche dig verwesten Menschen.»765 Diese wundersame nicht verbürgte Handlungsstränge, die sich aber Kraft erhält durch Gilles’ militärische Unterstüt- immer an historischen Fakten orientieren. Die zung ihre Schlagkraft, Jeanne wird zur «Jungfrau, Charakterisierung der im Roman zentralen Figu- die sich mit Engeln unterhält und mit Blaubart ren erscheint bei Natonek fein und differenziert verbündet ist».766 Gilles akzeptiert trotz seiner ausgearbeitet, auch sucht er die für die Handlung kriegstaktischen Klarheit gegenüber Jeanne die wichtigen Motive auf tatsächliche Begebenheiten allgemeine volkstümliche Mystifizerung, in die er zu stützen. sich distanzlos selber einfügt: Das Leben von Gilles wird bei Natonek stark mit dem von Jeanne verschränkt. Gilles erscheint Gilles hatte heimlich eine besondere Vorstellung, nicht nur als ihr historisch verbürgter Heerfüh- ein persönliches, ein gefährliches Wunschbild von rer, sondern auch als ihr Verehrer. Er geht dabei Jeanne: Sie möge der ihm gesandte Engel sein … so weit, dass er eine sie nachahmende Frau hei- Man flüsterte scheu, sie sei doppelter Natur, irdi- ratet, und dabei übergeht, dass Jeanne selber in schen und himmlischen Wesens, so eine Frau war der Zwischenzeit eingesperrt und hingerichtet ihm noch nie begegnet. Alle, die er bisher gefunden wird. Die feierliche Beerdigungsprozession nach und verloren hatte, ohne sie zu vermissen, waren Gilles’ Hinrichtung wird allgemein überliefert, mittelmäßig gewesen; diese hier war außerordent- neu ist hier ein von Gilles’ Unschuld überzeug-

762 Ebd., S. 346. 763 Ebd., S. 352. 765 Ebd., S. 22. 764 Ebd., S. 372. 766 Ebd., S. 32. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 129

lich und einzigartig, die vollkommene Partnerin, Imagination mit ihm durch und bemächtigten wie für ihn geschaffen.767 sich der Wirklichkeit.»773 Dieser Charakterzug von Gilles zeigt sich auch in seiner Liebe zum Doch Jeanne widersetzt sich dezidiert den An- Schauspiel, gerade bei dem von ihm inszenierten näherungsversuchen von Gilles, und als er ihr Mysterienspiel in Orléans, bei dem er einen gro- gesteht, wie sehr er sie begehrt, wendet sie sich ßen Teil seines Vermögens einsetzt und welches ihrer Eingebung folgend von ihm ab. Es ist diese Natonek als Wendepunkt für das Schicksal von Klarheit und Unbeirrbarkeit, durch die ihre Wun- Gilles wählt. derkraft nach ihrer endgültigen Niederlage, Ge- Für das Verbrecherische, den ihm angelasteten fangennahme und Hinrichtung überdauern wird, Massenmord, wofür Gilles noch heute bekannt – wie Gilles vor seiner Hinrichtung sagt: «Jeanne ist, sieht Natonek kein echtes Indiz. In der trotz- wirkt Wunder, als wäre sie noch unter uns. Die- dem erfolgten Verurteilung von Gilles sieht er in se Nachwirkung ist das eigentliche Wunder ihres erster Linie die Manifestierung eines gesellschaft- Geistes. Man wird sich immer wieder auf Jeanne lichen Bedürfnisses: «Die Zeit brauchte eine Figur besinnen müssen, wenn Frankreich seine Freiheit wie ihn, um alles Grausige und Geheimnisvolle nicht verlieren will.»768 So wird Jeanne in den Au- auf ihr abzuladen.»774 Dabei zeigt sich für Serke gen von Gilles «eines Tages auch für die Kirche, eine wichtige Parallele von Gilles und Jeanne: «Bei die sie verurteilt hat, eine Heilige sein».769 Seine Natonek wird Gilles ebenso das Opfer der Bos- eigene Rolle sieht er als diejenige des Un-Heili- heit einer Gesellschaft, die die reine Leidenschaft gen, des Bösewichts, denn: «ich sterbe mit einer nicht erträgt, wie Johanna, der Gilles gefolgt war, Lüge».770 der er zum Siege verholfen und die er verlassen Jeanne warnt Gilles vor solchen Schwächen: hatte.»775 Dieses Ausleben einer «reinen Leiden- «Du hast ein weiches Herz, Gilles, hüte dich da- schaft» ist für Serke auch der eigentliche Grund vor, es ist die Weichheit eines Schwammes, der zur späteren Heiligsprechung oder Verleumdung sich mit dem Bösen vollsaugt, anstatt es abzuweh- der beiden Protagonisten. ren.»771 In der auktorialen Erzählstimme wird das Anders als in den Biografien zu Gilles, wo Phänomen «Gilles» allgemeiner gefasst: «Er war Catherine meist nur vage und als Teil ihrer Fa- bedeutender, stolzer, vermessener, reicher und milie gezeigt wird, erhält sie bei Natonek scharfe sündiger als seine Zeitgenossen.»772 Diese Mi- Konturen und eine wichtige Rolle für den Nie- schung aus Bedeutsamkeit, Stolz, Vermessenheit, dergang von Gilles. Catherine de Thouars, die Reichtum und Sündigkeit führt in seiner Bezie- Ehefrau von Gilles, ist durch eine Raubehe mit hung zu Jeanne zu einer Kollision ihrer jeweiligen ihm zusammengekommen. Nach dem Raub, Vorstellungen. Gilles muss die von ihnen gelebte an dem er beteiligt gewesen ist, sieht Gilles sei- Illusion zerstören, da er Jeanne auch körperlich ne Frau zu ersten Mal: «er liebte sie nicht; seine begehrt. Nach Ablehnung durch Jeanne steigert Frau sah ihn an, sie fürchtete sich vor ihm, und sich seine Vorstellungskraft zum Traumwandle- sie waren verheiratet.»776 Dennoch fällt Gilles die rischen, und so nimmt das Imaginäre in seinem Aufgabe zu, «die Ehe in jedem Sinne zu vollziehen Leben überhand, was sich besonders in seiner von und dem vereinten Besitz einen Erben zu geben. Natonek so genannten «Bekenntnisorgie» zeigt: Dies geschah – ein Gewaltstreich, der alles Voran- «Wie immer in seinem Leben gingen Spiel und gegangene krönte.»777 Danach lässt er sie in einer seiner Burgen zurück, und «es war so aussichts- 767 Ebd., S. 34. 768 Ebd., S. 367. 773 Ebd., S. 349. 769 Ebd., S. 354. 774 Natonek 1988, S. 88. 770 Ebd. 775 Serke 1987, S. 119. 771 Ebd., S. 53. 776 Natonek 1988, S. 93. 772 Ebd., S. 88. 777 Ebd., S. 94. 130 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 los, auf Gilles zu warten, daß sie es vorzog, ihn zu Züge. Die Jeanne von Chantocé – das Strenge war hassen».778 Catherine wird als missbrauchte und geschmolzen. Etwas Zärtliches und Weiches war in verstoßene Frau zu einer «Penelope des Hasses»: ihrem Gesicht … etwas Unfertiges, das sich der For- «Sie führte mit Wollust das Konto seiner Schuld mung darbot.783 und seiner Verschuldung, sie rechnete mit Wu- cherzinsen […] Sie hielt die Abrechnung in der Doch Gilles ist willig, sich der Täuschung hin- Hand».779 Sie kann dadurch nicht berücksichti- zugeben: «Er versuchte, sich das Bild der Jeanne, gen, dass Gilles selber diese Ehe auch nicht woll- die er vor zwei Jahren verloren hatte, vor Augen te, und die Trennung für beide das am wenigsten zu rufen, um zu vergleichen; aber es gelang ihm Schlimme sein könnte. Ihr erstes Vorgehen gegen nicht, und die Gegenwärtige machte die Vergan- ihren Ehemann betrifft seinen verschwenderi- gene auf eine verwirrende Art zu einem Schatten. schen Umgang mit den Geldern und Gütern, die Sie war es – und sie war doch anders.»784 Sie wird er zum Teil aus ihrer Familie geerbt hat. Sie zeigt vom Gedanken verfolgt, dass Gilles in ihr die an- ihn bei König Charles VII an und erreicht, dass dere Jeanne sieht, und sich dies nie ändern ließe, Gilles in Frankreich keine Güter mehr veräußern doch sie kann sich aus ihrer Rolle nicht mehr lö- kann. Der zweite Schlag ist ihr Verzicht auf ein sen: «Etwas zerrte an Jeanne: Mach ein Ende da- Erscheinen vor dem Inqusitionsgericht in Nantes, mit, sag ihm alles … Aber sie konnte nicht.»785 Es was als Beweis dienen würde, dass sie nicht von bleibt ihm nichts Anderes übrig, als auf dem ein- Gilles umgebracht wurde. Doch er weiß: «Katha- geschlagenen Weg weiterzugehen, und sie geben rina würde lieber sterben, um mich zu belasten, sich ganz ihrer Liebe hin, an die sie beide glau- als für mich zeugen. Sie wird nie erscheinen.»780 ben müssen, aber nicht mehr können. Erst in der Die zweite Frau von Gilles, Jeanne aus Ar- vollkommenen Aussichtslosigkeit bricht es aus ihr mentières, entspricht in keiner Weise den beiden hervor: «Ich bin nicht, was du aus mir gemacht anderen Frauen Jeanne und Catherine, sondern hast! Ich will nicht mehr! Ich will nicht!! Ich bin erscheint als naive junge Frau, die ohne Hinter- nicht die Jeanne aus Domrémy, ich bin die Jeanne fragen die Rolle von Jeanne spielen lernt: «Jeanne, aus Armentières!»786 Die anfängliche Naivität be- die zweite, willig und gelehrig, lebte mit äußers- zahlt Jeanne auf der Flucht mit ihrem Leben. ter Anspannung dem Kommenden entgegen. Ihr Die Gilles umgebenden Männerfiguren sind war nicht, als ob sie eine Rolle lernte oder eine meist unehrlich und bereichern sich an ihm, wie Täuschung einstudierte, sondern als hätte sie eine Eustache Blanchet oder Roger de Briqueville an wirkliche Aufgabe zu erfüllen.»781 Sie gerät von seinem Hof, König Charles VII von Frankreich, der Realität ab, und lässt sich in ihr neues Leben Herzog Jean V der Bretagne und der Bischof Jean mit Gilles gleiten: «Ihr war zumute, als schritte sie Malestroit – ehrliche Figuren wie der greise jü- in einen Traum hinein, der so schön war, wie sie dische Alchimist Elias, der Priester Jean Jouve- ihn nie zu träumen gewagt hätte.»782 Gilles fallen nal oder der Henker Geoffroy Therage können bei dem von Prelati inszenierten Zusammenkom- den Lauf der Dinge nicht beeinflussen, stehen men die Unterschiede zwischen ihr und der ersten Gilles aber auf ihre Weise bei. Anführend beim Jeanne auf: Komplott gegen Gilles ist Prelati: Er bringt Gil- les die zweite Jeanne, überzeugt Malestroit von Sie war es – und sie war doch anders. Die Jeanne der Notwendigkeit einer Hinrichtung durch die von Orléans, die Jeanne von Paris hatte strengere Inquisition, organisiert Morde zum Beweis, tö- tet die zweite Jeanne und den Sänger Rossignol 778 Ebd., S. 143f. 779 Ebd., S. 144. 783 Ebd., S. 197. 780 Ebd., S. 334. 784 Ebd. 781 Ebd., S. 193. 785 Ebd., S. 223. 782 Ebd., S. 194. 786 Ebd., S. 273. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 131 und stiftet Gilles zum Kindsmord an: «Ihr betet wird er durch sein Ausleben der «reinen Leiden- zu Gott. Ihr zweifelt an Satans Macht. Seid ge- schaft», wie Serke es nennt, zu einer extrem am- warnt, Ihr werdet es Euch mit beiden verderben. bivalenten Figur – gleichzeitig «gut» durch seine Ohne das Opfer kein Gold: Augen, Hände, Herz Ehrlichkeit und «böse» durch die Verstrickungen, eines Kindes. Leistung gegen Leistung. Das ist die er sich gerade seinen Frauen gegenüber hin- sein letztes Wort!»787 Im Roman gelingt es Gilles gibt. Dieses Leben in einem Spannungsverhältnis wie erwähnt, diese Körperteile zu besorgen, ohne – gerade in seiner offenen Selbstkritik – unter- dafür seinen unverhofft verstorbenen Lieblings- scheidet ihn schließlich nicht mehr von heutigen buben Cölestin töten zu müssen. Dies weiß aber (selbstkritischen) Männern. Prelati nicht, und glaubt selber, dass Gilles nun Mit dieser sich selbst gegenüber kritischen ein Mörder ist – seine Beweise überzeugen danach Haltung übersteigt Gilles die Möglichkeiten der auch das Gericht. Prelati geht instinktiv vor und damaligen Moral; dies zeigt die Begegnung mit wählt für sich die Rolle des advocatus diaboli. Gil- dem Priester, welcher ihm eigentlich die letzte les durchschaut ihn zu spät und kann sich nicht Beichte abnehmen sollte: «Jouvenal brach plötz- wehren, da er Prelati mit dem Teufel im Bunde lich in Schluchzen aus. ‹Ich fühle nicht die Kraft, glaubt und in ihm deshalb den Stärkeren sieht. mein Bruder, dich zu absolvieren. Du bist Gott Bei den von Natonek beschriebenen Figuren näher als ich. Bete für mich …›»790 Der Priester lässt sich immer wieder eine eigentümlich be- überwindet in den folgenden Konsultationen sei- schränkte Weltsicht feststellen – dies gilt für Gil- ne Rolle und lässt ein andersartiges Gespräch zu: les, Jeanne, aber auch für Prelati und die zweite «Aus dem liturgischen Vorgang der Beichte war Jeanne. Sie scheinen in ihren Rollen gleichsam eine lebendige Zwiesprache geworden, ein religiö- zu verharren. Wenn Gilles eine Wandlung durch- ses Kolloquium, platonisch und augustinisch.»791 macht vom heldenhaften Kämpfer zum verzwei- Gilles weiß, dass er im Herzen «gut» ist, immer felten Satanssucher, bleibt er doch ein Gefangener «gut» war, was ihn immer mit Gott verband, er seiner Rolle und seiner Zeit, frei von Ablenkun- weiß aber auch, dass er mit einer Lüge stirbt, gen und verborgenen Impulsen. Diese Klarheit der Lüge um seine nicht begangenen Morde. Er lässt eine starke Polarisierung zu, was bei Gilles beschließt deshalb, seiner Hinrichtung ein ver- in einem Seilziehen zwischen guten und bösen stecktes Geständnis einfließen zu lassen. Endlich Kräften kulminiert. Dabei verstrickt er sich nach träumt es ihm, dass er die Himmelspforte durch- dem Eklat mit Jeanne durch seine Kooperation schreiten kann: «Du hast eine Heilige als Fürspre- mit Prelati, dem Akzeptieren der Ehe mit Jeanne cherin. […] Weil du Gott gesucht hast, selbst im und seiner Suche nach Satan immer weiter in Abgrund des Bösen, darfst du hinauf.»792 dieses Spannungsverhältnis: «Er war ein Sünder, Der historisch verbürgte Kontakt von Gilles das bedeutete, daß er das Falsche tat, wiewohl er mit Jeanne wird bei Natonek facettenreich ausge- das Rechte mächtig in sich fühlte. Und er litt die baut. So ist die Affäre zwischen Gilles und Jeanne Qualen des wissenden Sünders.»788 Gilles setzt nicht verbürgt, Gilles’ erneuter Einsatz für Jeanne sich diesen Kräften aus: «Ich bin neugierig auf die ebenfalls nicht und auch nicht seine Heirat mit Freuden, die im Bösen verborgen sind, verborgen einer zweiten Jeanne auf seiner Burg. Für die fik- sein müssen, denn sonst geschähe nicht so viel Bö- tive Heirat mit der zweiten Jeanne orientiert sich ses in der Welt; ich will wissen, wie es meiner See- Natonek wieder an einem historischen Hinweis. le frommt. Ich will untersuchen, wer mehr Macht Gilles besaß offenbar in seiner Bibliothek eine auf Erden hat: Gott oder Satan.»789 Im Gegensatz Ausgabe der Metamorphosen des Ovid, und Na- zu Jeanne, die sich auf die Seite des Guten schlägt,

787 Ebd., S. 266. 790 Ebd., S. 357. 788 Ebd., S. 288. 791 Ebd., S. 360. 789 Ebd., S. 299. 792 Ebd., S. 364. 132 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 tonek bezieht dessen Erzählung von Pygmalion Ein Gericht genügt nicht für Gilles de Rais. Ein auf die Situation von Gilles: Phantasie-Mensch wie er war am besten mit sei- nen eigenen Methoden zu schlagen. Dem Bischof Es war die merkwürdige Geschichte von Pygma- schwebte ein Schauspiel vor, unentrinnbar wie lion, dem König von Cypern und begabten Künst- der letzte Akt einer griechischen Tragödie. Und er ler, der, enttäuscht von allen Frauen, sich in eine machte sich an die Ausarbeitung seiner Vision vom von ihm modellierte Marmor-Jungfrau verliebt und dreifachen Gericht.796 fortan keine wirkliche Frau mehr lieben kann. Gil- les war bestürzt, betroffen gewissermaßen, wie von Gilles reagiert auf seine Weise auf die für ihn töd- einer Spiegelung.793 liche Provokation und meint, als er das Ausmaß der Verschwörung erkennt: Das Frauentöten bei Blaubart wird mit dem Frau- enbeleben bei Pygmalion verschränkt, sie zeigen «Ich will euch zufriedenstellen, Ihr Herren …» Gilles die beiden Seiten seines verbrecherischen Das klang doppeldeutig, es war nicht zu unterschei- und frauenfeindlichen Handelns. Eine Gegen- den, ob Demut oder Hochmut aus ihm sprach. «Ihr überstellung der Erzählung von Pygmalion und sollt hören, was Ihr hören wollt …» Blaubart stellt Annette Keck auch in den kurz Eine Raserei des Bekennens und ein verzweifelter erwähnten Blaubart-Erzählungen von Hacklän- Größenwahn überkamen ihn wie ein Rausch.797 der und Marlitt fest, die beide «gegen die Blau- bart-Figur im Sinne eines falschen Kunstverständ- Diese beiden Sätze, die sich in den historischen nisses anschreiben und dagegen pygmalionische Protokollen finden, sind auch in früheren Texten, Belebungsfiguren setzen».794 Blaubart steht bei in denen die Unschuld von Gilles behauptet wird, diesen Erzählungen in den Worten von Keck für zentral. Da er offenbar sein Geständnis gewissen- die «mortifizierende Kunst bzw. Künstlichkeit», haft abgelegt hatte, waren die beiden Sätze sogar ausgewiesen als «Phantasma eines weiblichen und für Bossard auffällig. hysterischen Gemüts» mit Pygmalion als Kor- Zum Entschluss, den der Vernichtung preis- rektiv, um «das Leben, in Gestalt sexueller Pro- gegebenen Körper selber als Waffe einzusetzen, kreation», einzuhauchen.795 Analog zur Kritik von kommt eine subversive Lust der Selbstdarstellung, Keck ist Pygmalion bei Natonek keine Alternative und der Wille, am Ende ohne Lüge, also reinen zu Blaubart, sondern illustriert für ihn ein zweites Herzens sterben zu können: «Er wollte seinen Extrem im selben Problemfeld: er will seine Part- Leuten Lebwohl sagen. Und er vertraute diesem nerin nicht vernichten, sie aber nach den eigenen Lebwohl ein verstecktes Bekenntnis an.»798 So auf Wünschen formen. jeden Fall interpretiert Natonek den dritten in den Eine andere Gewichtung als in den histori- Protokollen verbürgten Satz von Gilles, welcher schen Fakten erhält auch der Inquisitionsprozess. der Nachwelt Kopfzerbrechen bereitete: «Und So ist der leitende Anwesende der kirchlichen seid gewiß, noch heute werdet ihr mit mir vor Inquisition, Maître Blouyn, zwar wahrhaftig von Gottes Thron stehen.»799 Es ist für Natonek pure der Echtheit des Prozesses überzeugt, doch bei Absicht, dass Gilles seine Worte an denen von Je- Natonek ist es Bischof Malestroit, welcher den sus von Nazareth wie auch an Jeanne orientiert Prozess als Schauspiel perfekt und lückenlos in- – er will seine Unschuld erkennbar machen.800 szeniert: Gleichzeitig darf er den Schuldspruch nicht wi-

793 Ebd., S. 242. 796 Natonek 1988, S. 319. 794 Keck 2013, S. 78. Zu den Erzählungen vgl. Kapitel «Per- 797 Ebd., S. 346. raults La Barbe bleüe und Weiterschreibungen», Ab- 798 Ebd., S. 372. schnitt «Falscher Verdacht». 799 Ebd. 795 Keck 2013, S. 78. 800 Vgl. Luther 1983, Newes Testament, Lucas 23.43. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 133 derrufen, sonst wäre die Hinrichtung gestoppt Wunschmagie, an die sie glaubten, und er akzep- worden, also verdeckt er seine Botschaft: «Sein tierte sie, er spielte mit ihr, halb ängstlich und Vorhaben war komplizierter; es lag im Zweideu- halb verwegen, auch er ein Kind seiner Zeit, also tigen, im Unterirdischen verborgen. Nicht durch ein gläubiges Märchen-Kind.»805 Entsprechend Leugnen konnte er das Urteil erschüttern, etwas märchenhaft richtet Gilles sein Leben und seine Anderes schwebte ihm vor: dieses Gericht zu ver- Burg ein, in welcher er sich (bei Natonek) fantas- wirren, bloßzustellen und die Volksmeinung auf- tische Illusionsräume hat einbauen lassen. zuwühlen.»801 Die anwesenden Volkmassen ver- Gilles weist darauf hin, dass er kein Zaube- stehen seine Botschaft: «Sie schrien und weinten; rer ist: «Bitte, glaub nicht, daß ich ein Hexer bin, sie fühlten sich durchschaut und beschämt. […] Jeanne, wiewohl die Leute flüstern, ich sei einer; Rufe stiegen aus dem Tumult: ‹Wir haben dir ich kann nicht zaubern, so gerne ich möchte.»806 nichts zu verzeihen!› – ‹Verzeih du uns, und bitte Die eigentliche Zauberei liegt für ihn anders- für uns!› – ‹Er ist unschuldig!› Viele knieten nie- wo, nämlich in der Kreation von Realität durch der wie bei einer religiösen Feier.»802 So wird Gil- das Erzählen: «Die Leute in meinem Land, in les bei Natonek zu einem Beispiel, wie die totale der Bretagne, sind alte Geschichtenerzähler und Beherrschung eines Diskurses unter Preisgebung Geisterseher. Sie können zaubern, Jeanne, wie du, des eigenen Lebens umgangen und die öffentliche sie verzaubern die Wirklichkeit.»807 Gilles macht Meinung für sich gewonnen werden kann – was auch einen Unterschied zwischen dem göttlichen zur Zeit des nationalsozialistischen Terrors oft als Mirakel und der menschgemachten Magie, als er der letzte Ausweg galt. den Betrug Prelatis zu erkennen beginnt, kann Natonek lässt dem Irrationalen genügend sich aber gegen die von ihm mitgetragene Fan- Raum. So gilt die an Gott ausgerichtete Realität tasie nicht wehren. Prelati missbraucht die Mög- des mittelalterlichen Menschen, diese andere Art, lichkeiten der Imagination, die sich ihm bei Gilles Wahrheit zu erkennen, auch für Gilles: «Gilles in grenzenloser Radikalität und Klarheit anbieten: hatte nie ohne Religion gelebt, sie war mit der «[Gilles] hat die außerordentliche Anlage, an Din- Taufe in ihn eingegangen, und seitdem hatte er ge zu glauben, die nicht sind, wenn ihn schon ein die Luft des katholischen Glaubens geatmet […]. Nichts wie die Seele so zu erschüttern vermag.»808 Es gab kein Leben und Denken, keinen Krieg, Der Gottlose trifft hier auf den Wundergläubigen. keinen Staat, keine Gerichtsbarkeit außerhalb Es zeigt sich am Ende, dass das «Märchen-Kind» dieses Glaubens.»803 Zum christlichen Glauben Gilles zwar hingerichtet wird, aber doch die Her- kommt ein weiterer für das Mittelalter wichti- zen der Menschen gewinnt, und so unter höchs- ger hinzu – der Wunderglaube. Dieser spielt im tem Opfer die Wirklichkeit «verzaubern» kann. Feldzug Jeannes eine wichtige Rolle, in dem ihre Den Bezug zu Blaubart stellt schon der Titel Verbundenheit mit Gott und die so möglichen her, und damit, wenn auch nicht eindeutig, zu Wunder beim Angriff auf Paris als letzte Hoff- der als Märchen bekannten Erzählung von Per- nung verbleiben: «Der ganze Angriff kam den ge- rault. Im Roman wird, gleichsam im Anschluss lernten Soldaten so kindlich und lächerlich vor, an die These von Bossard, Gilles mit Blaubart daß er schon ans Wunderbare grenzte, und das verglichen: «etwas Stolzes und Fernes in seinen Wunderbare erwarteten sie denn auch.»804 Auch Zügen und dem schattenhaften, blauschwarzen Gilles glaubt an das Übernatürliche, wurde selber Strich des Bärtchens um Lippe und Kinn».809 At- im Glauben erzogen, besondere Kräfte zu haben: mosphärisch wird auch die Blaubart-Oper von «Die Erwachsenen suggerierten ihm geradezu die 805 Ebd., S. 91f. 801 Natonek 1988, S. 374. 806 Ebd., S. 212. 802 Ebd., S. 377. 807 Ebd., S. 87. 803 Ebd., S. 342. 808 Ebd., S. 184. 804 Ebd., S. 99. 809 Ebd., S. 27. 134 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Bartók evoziert, als am Ende des Romans Gilles Jahrhunderts vollzogene Verschiebung von einer im Kerker steckt: «Gilles […] zwängte sich in reellen zu einer metaphorischen Lesart der Morde einen entlegenen Winkel der felsigen Wand, die von Barbe-Bleue als seelisches Drama, dessen Ge- feucht war, als schwitzte sie Blut und weinte Trä- heimnisse im Herzen aufbewahrt werden. nen.»810 Das Märchen von Blaubart selber erzählt Jeanne und Gilles zeigen sich bei Natonek als dann Berthe, die Mutter der zweiten Jeanne aus introvertierte und doch äußerst auftrittsorientier- Armentières. Blaubart sei in der Tat Gilles: «Eine te Charaktere, denen der Wunderglaube, den sie jede will er heiraten, und dann, nachher, läßt er durchaus abstrahieren können, ihre eigene Art sie eins – zwei – drei verschwinden.»811 In Berthes von Bodenhaftung gibt. Ihnen gegenüber stehen Geschichte vom Blaubart öffnet ein goldener bei Jeanne ihre Saboteure und Hinrichter und Schlüssel der Frau das ihr verbotene Gemach – bei Gilles seine erste Ehefrau und an seinem Hof hier auf der Burg Chantocé –, und Jeanne ist die lebende Betrüger wie Prelati. Die beiden Prota- Frau, die den Blaubart besiegen kann: «Da zog gonisten leben dadurch in einer von Imagination Gilles in den Krieg, mit Jeanne, dem Engel. Und durchzogenen Welt, die durch die Polarität von er begehrte auch den Engel […]. Aber die Jung- Gut und Böse bestimmt ist. Beide werden durch frau widerstand, und da war Blaubart geschla- die Inquisition hingerichtet, einem wichtigen, gen.»812 heute als Unrechtsinstrument gesehenen Macht- Zwar glaubt Berthes Tochter Jeanne, welche mittel der katholischen Kirche. Die Imagination, die zweite Frau von Gilles wird, erst nicht, dass bei Jeanne ihre inneren Stimmen und bei Gilles dieser der Blaubart sei, doch der Verdacht erhär- sein Glaube an die Macht des Erzählens, werden tet sich, als Gilles sie auf Chantocé alleine lässt, so bestraft. ihr seine Schlüssel gibt, und sie bittet, den golde- nen nicht zu benützen: «Aber die Schlüssel, wie verhext von Gilles, ließen sie nicht mehr los.»813 Geschlechterbeziehungen vs. Politik Sie will, schon fast wie Blaubarts Frau, in das Geheimnis eindringen: «Als sie aber vor der Türe Wie in der Weiterschreibung von Blaubart ab stand, packte sie ein unerklärliches Grauen, und Ende des 19. Jahrhundert bildet auch in der Er- sie machte kehrt, rannte davon und hatte nicht zählung von Natonek die Geschlechterbeziehung eher Ruhe, als bis sie den Schlüsselbund unter ein zentrales Motiv. Die Ehe von Gilles wird Gilles’ Kissen verwahrt hatte».814 Später spinnt schon während seiner Kindheit bestimmt, zwei- sie den Gedanken auf ihre Weise weiter, als sie mal verstirbt die ihm Versprochene vorzeitig, der sich im Stillen fragt: «Es gibt einen Raum in mei- dritte Versuch bildet die Raubehe mit Catherine. nem Herzen, Gilles, den du nicht betreten darfst! In einer nie gekannten Weise zu einer Frau hinge- Würde deine Liebe diese Probe bestehen?»815 Er zogen fühlt er sich erst, als er mit Jeanne ausreitet. besteht diese Probe nicht, sondern treibt seine Gilles weiß, dass er die Freundschaft mit Jeanne zweite Frau in den Tod und lässt so die Warnung durch seine Liebesgeständnisse zerstört, doch er von Jeannes Mutter zur grausamen Wahrheit wer- «konnte es nicht ändern».816 Er wird danach bei den. Indem Jeanne sich die verbotene Kammer als Natonek immer dieser Liebe nachtrauern, obwohl Raum in ihrem Herzen vorstellt, zeigt sich bei ihr sein Begehren darin keinerlei Platz hatte. die in der Rezeption zu Barbe-Bleue Ende des 19. Nach dem Scheitern seiner Beziehung zu Catherine und Jeanne kommt Gilles mit Jeanne 810 Ebd., S. 343. aus Armentières zusammen, und sie wird für 811 Ebd., S. 140. ihn als Nachbildung von Jeanne die Frau seines 812 Ebd., S. 141. 813 Ebd., S. 254. Lebens. Die von Prelati Instruierte nimmt das 814 Ebd., S. 255. 815 Ebd., S. 257. 816 Ebd., S. 114. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 135 fatale Konstrukt als echte Aufgabe wahr und ist die leisen Stimmen des Innern, die in der Stille zu trotz der schwierigen Aufgabe glücklich. Gilles, flüstern begannen: Öffne die Türe und laß Jeanne dessen ungestillte Bedürfnisse endlich befriedigt gehen: Du hast sie verloren. […] Das Tor blieb ver- werden, und die Frau, für welche die Belastung schlossen.»821 Sie ihrerseits muss feststellen, dass sie dieser Illusion unerträglich wird, – an dieser Stelle für Gilles eine Projektionsfigur seiner Rettung war wählt Natonek, wie an einigen Stellen im Buch, und für sie selber nichts übrigbleibt: «Ich möchte eine dezidiert moderne Sprache: «Wird das nun nur wissen, dachte Jeanne, ob es auch Männer gibt, immer so sein, dachte Jeanne, daß er mich mit die sich nicht an einen hängen, um gerettet oder der anderen vergleicht, in mir die Vorgängerin ‹erlöst› zu werden, sondern die sagen: ‹Sorge dich sucht, die ich vorzustellen habe, mit ihr schlafen nicht, ich rette dich.›»822 geht und mit ihr aufsteht?»817 Dennoch erträgt sie Gilles ist beherrscht vom Verlangen nach die Spannung, und sie geben sich ihrer Liebe hin, Jeanne, dieser Frau, von der man gleichzeitig sagt, und dies noch mehr, als ein Bote die Hinrichtung sie sei ein Engel und im Bund mit Dämonen, bei von Jeanne in Rouen verkündet hat: «Die Erschei- der Mirakel und Magie möglich sind, die sich in nung des Mannes aus Rouen war versunken und Männerkleidern zeigte, was damals als Todsünde vergessen. Sie sprachen nicht mehr von ihm, sie galt, dennoch mit höchsten Würdeträgern ver- liebten einander um so mehr.»818 Die Liebe von kehrte und bei alldem eine einfache Landfrau Gilles ist stark, wenn die Illusion bewahrt wird, blieb. Deshalb kann er Catherine nicht lieben, die und er ist dafür bereit, sie als Jeanne d’Arc zu ak- ein Leben in Normalität anstrebt, und auch nicht zeptieren. Jeanne aus Armentières, die für ihn eine Rolle Auch die Liebe von Jeanne ist stark, sie spielt nachahmt. Jeanne bleibt für ihn das vollkommene ihm gleichzeitig ihre Liebe als die andere vor, und Objekt der Begierde – auch vollkommen unnah- verliebt sich selber in ihn, wissend, nie so lieben bar. Für Serke strahlen Gilles wie Jeanne eine ei- zu können, wie diejenige in der Illusion. Denn ihr gentümliche Erotik aus: «Johanna wird als Hexe, Vorbild ist durch die Verklärung zur Übergröße Gilles als Lustmörder verbrannt. Die himmlische angewachsen: «[Jeanne aus Armentières] mußte Lust wird bestraft und die irdische gleichermaßen. sich strecken, um an solchen Liebesglauben her- Radikale Erotik, ein Traum, der geträumt und anzureichen und es mit dem Bild der Vorgängerin doch von den meisten geopfert wird.»823 In dieser aufzunehmen.»819 Trotzdem folgt sie ihrem Verlan- «radikalen Erotik», sei sie mystisch oder körper- gen und thematisiert sogar ihre Rolle: «Und wenn lich orientiert, sieht Serke eine Wahrheit aufglän- ich nicht Jeanne wäre, ich wäre Jeanne geworden zen, die den Vernichtungstrieb der anderen pro- für dich …» – «So liebst du mich?» – «So liebe voziert: «Wer es aber wagt, diese Wahrheit ganz ich dich.»820 Beide fallen tief, als Jeanne ihre Rolle zu leben, der wird von den Zukurzgekommenen aufgibt, und es ist vernichtend für sie, da er nicht verleumdet und geopfert, damit dokumentiert die erhoffte Größe zeigen kann, sondern sich ab- werden kann, daß das Erreichbare unerreichbar grenzt und einschließt. Ihn überfordert, dass diese bleibt. Die radikale Wirklichkeit der Geopferten Frau für ihn mit einer Lüge gelebt und dafür Über- darf nur leben in der Legende.»824 menschliches geleistet hat, und dass sie, genau wie Der biografische Bezug bildet einen Streit- er bei Jeanne, ihr Geständnis brauchte, um ihrem punkt, bei Natonek wie bei Huysmans. Da vie- Begehren folgen zu können. Gilles erträgt es nicht, le Spuren zu Natonek durch die Flucht und den nach Jeanne ein zweites Mal die Frau seiner Träu- Krieg beseitigt wurden, liegt es nahe, seine Bio- me gehen zu lassen: «Er hatte ein feines Gehör für grafie über seine Belletristik zu bereichern, da sich

817 Ebd., S. 203. 821 Ebd., S. 288. 818 Ebd., S. 224. 822 Ebd., S. 290. 819 Ebd., S. 225. 823 Serke 1987, S. 119. 820 Ebd., S. 237. 824 Ebd. 136 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 dort am ehesten Bezüge zu seinem Leben finden. An Blaubart interessierte Natonek nicht der ver- Doch liegt die Gefahr nahe, die Biografie des Au- meintliche Mörder: tors über fiktive Elemente aus dem künstlerischen Werk zu verfälschen. Für Serke geht «wieder ein- Mass murder does not arouse my interest. The mal der private Liebeskonflikt Natoneks» in den monstrous individual may have pathological signi- Roman ein, was so gleichsam einer «Liebeserklä- ficance but he lacks human validity. In my opinion, rung an Erica Wassermann gleichkommt, einer Landru, the most modern of the famous Blue beards, Bewahrung seines Bildes von ihr in der Dich- is a lonely and repulsive phenomenon. I could not, tung».825 Diese bei ihrem Zusammenkommen erst as Huysmans did, discover material for a book in 17-jährige Geliebte war eine Aktivistin, in Naton- Gilles de Rais the sexual-satanist, but I thought the- eks Augen sicher eine Heldin, eine Frau, die sich re might be a book in de Rais the religious sinner, mit ganzer Kraft dem Unrecht entgegenstemmte, the dupe of his own fantasy.830 wie Serke schreibt: «Erica Wassermann hatte sich den helfenden Engländern zur Verfügung gestellt Für Serke ist Natonek in seinem Verhältnis zu und arbeitete nun von Prag aus für das British Frauen ebenfalls ein solcher «dupe of his own Comitee for Refugees from Czechoslovakia und dem fantasy»: «das Imaginierte zog ihn hinter sich her. Fonds von News Chronicle.»826 Im Interview mit Die Frau als Erlösung, als Erlöserin.»831 So ent- Serke erzählte Wassermann im hohen Alter: «Wir deckt Serke Natoneks Verhältnis zu Frauen, sei- haben viele herausbekommen nach England», ne «Liebesgeschichten, die alle in der Zerstörung doch: «Hans hat sich nicht beteiligt. Hans saß ab- endeten», als sein «persönliches Thema» in dessen seits und schrieb.»827 Werk. 832 Wassermann wird von Serke als die größte Bei sich selber akzeptierte Natonek laut Serke Liebe in Natoneks Leben beschrieben, und «dann diese Flucht in die Imagination keineswegs: «Hans wird er ihr nachtrauern in fast allen Büchern, Natonek war ein schwacher Mann. Und er war die er noch schreibt».828 Die erste Frau dagegen ein unerbittlicher Beobachter dieser Schwäche. entspricht in dieser Lesart Natoneks erster Frau So unerbittlich, daß er sich selbst als Schwäch- Gertrud, die ihrem Mann nie verzeihen konnte, ling sah.»833 Aus der Position des Schwächlings, dass er sie und die Kinder für die jugendliche Ge- des unbedingt Schwächeren, setzte Natonek sich liebte verließ. Natonek selber identifizierte sich ein für Gerechtigkeit, wie der Protagonist in Die offensichtlich mit Gilles, oder zumindest mit dem Straße des Verrats verlangt: «So wach und geschärft Blaubart, als den er sich selber sah: muß das Gewissen sein […], daß man auf jedes Unrecht in der Welt so reagiert, als bedrohe es ei- Die Frauen, die wir liebten, sind unsere Zeugen. nen persönlich mit der Vernichtung. Denn alles Eine ist da, Kronzeugin, Belastungszeugin… Sie ist Unrecht hängt unfaßbar zusammen.»834 Neben die Frau, die in der Geschichte nicht vorkommt, der Selbstkritik beschreibt Natonek an dieser Stel- aber aus meinem Leben nicht wegzudenken ist. Ich le auch die Absicht, «den Frauen, die man verließ, habe ihre große Liebe vergeudet und aufgezehrt. Sie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und sie ge- ist die Frau, an der ich zum «Blaubart» wurde…829 gen sich selbst zu verteidigen, wenn sie ihr Herz ins Unrecht setzten».835 In diesem Roman schlägt 825 Ebd., S. 121. sich die Ehefrau des jüdischen Protagonisten wie 826 Ebd., S. 116. 827 Erica Wassermann, im Interview mit Jürgen Serke, in 830 Hans Natonek; hier in: Serke 1987, S. 121. ebd. 831 Ebd., S. 98. 828 Ebd., S. 112. 832 Serke 1988, S. 394. 829 Hans Natonek: In Search of Myself. Translated by Bart- 833 Serke 1987, S. 87 hold Fles. Edited by Sugden Tilley. New York: G. P. Put- 834 Natonek 1982, S. 286. nam’s Sons, 1943; hier in: Serke 1988, S. 391. 835 Ebd., S. 269. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 137 bei Natonek auf die Seite der Nazis und bedroht ka Szczepaniak: «Man könnte daraus schließen, ihn mit der Einlieferung ins Konzentrationslager. dass Frisch hier auf die repressive Sexualmoral Dies ist in keinem Fall gerecht, doch ihr ging es der westlichen Kultur anspielt, aber nicht nur um etwas Anderes: «Sie faßte den Prozeß, die das. […] Blaubarts neurotisch-aggressive Ver- Liebe sogar – denn der Prozeß ging um die Liebe haltensweisen sind Reaktionen auf seine [Blau- –, als einen Machtkampf auf. Und das war ihre barts] Schwierigkeiten, kulturellen Mustern der Schuld und ihr Verhängnis.»836 männlichen Sexualität zu entsprechen.»839 Zur In Die Straße des Verrats sieht sich der Prot- Bewältigung dieser Schwierigkeit verstrickt sich agonist Peter Nyman als der eigentlich Schuldi- der Mann in ein Rollenspiel. Zwar hilft ihm das ge. Erst am Ende emanzipiert er sich von seiner Spiel mit der Imagination, seine Situation zu be- ersten Frau und fängt mit Ruth ein neues Leben wältigen, doch sieht er sich damit konfrontiert, an. Im Gegensatz zur fiktiven Figur Peter, der mit gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden – seine Ruth ein Kind zeugt und die beiden Kinder aus Arztpraxis kann er nach dem Prozess nicht mehr der ersten Ehe zu ihnen nach Prag kommen lässt, weiterführen. Das Nachdenken über Vorurteile ist Natonek selber bald wieder von Wassermann ist für Hermansson der Schlüssel zum Verständ- geschieden und zieht alleine nach Paris. Nachdem nis von Frischs Roman: «It is the presuppositional der dort begonnene Blaubart-Roman kaum bio- projections of the otherwise terse sentential con- grafische Bezüge zulässt, erweist sich, wie Serke structions that draw attention to presupposition beschreibt, das Verhältnis des Protagonisten zu as a mode of reading.»840 Dies zeigt laut Hermans- Frauen, seine Schuldigkeit an ihnen, als autobi- son schon der Titel: «Frisch’s novel begins with ografisch interpretierbares Element. Der Protago- the specter of presupposition raised through the nist ist der Angeklagte, belastet vor Gericht von title: Bluebeard.»841 seiner Ehefrau und vor sich selber durch den Tod Anders als bei Frisch ist die Rolle der Öffent- seiner zweiten Frau: «ein tiefes Schuldgefühl ver- lichkeit bei Natonek nicht nur negativ besetzt, bot ihm zu behaupten: Ich bin unschuldig! Er war Gilles pflegt bis am Ende seine Auftritte und sucht es nicht, er war schuldig an vielen Frauen. Als ob die Meinung der Menge für sich zu entscheiden. man Frauen töten müßte, um sie auf dem Gewis- Im Roman gelingt ihm, die Anwesenden von sen zu haben.»837 Es sind nicht Morde an seinen seiner Unschuld zu überzeugen und seinem Tod Frauen, durch die sich dieser «Blaubart» Schuld etwas Heroisches zu verleihen. So kann er die ge- auflädt, sondern dadurch, dass er die große Liebe gen ihn gerichtete Stimmung beim Inquisitions- dieser Frau «vergeudet und aufgezehrt» hat. prozess, wo «die beiden Gerichte und die Schar Der sich selbst als schuldig sehende Mann, der klagenden Eltern» den «ekstatischen Ruf» der vor Gericht seine Unschuld zu behaupten aufnahmen und flehentlich schrien: «Gestehe, nicht imstande ist, da er sich selber als Schuldigen bekenne!», wieder zu seinen Gunsten wenden.842 im Verhältnis zu seinen Frauen sieht, wird auch Gilles liebt den großen Auftritt, wie etwa das von bei Max Frisch zum zentralen Thema, in seinem ihm inszenierte Mysterienspiel in Orléans gezeigt letzten Roman Blaubart von 1982. In diesem ist hatte. Bei Frisch hingegen ist die Aburteilung es Felix Schaad, angeklagt des Mordes an seiner durch die Gesellschaft definitiv, das Bild des Pro- Ex-Frau, welchem zwar das Nichtbegehen seiner tagonisten Schaad von sich selbst ist keineswegs Tat nachgewiesen werden kann, der aber von sich heroisch, und er verzichtet am Ende, als er seinen selber sagt: «Ich bin nicht unschuldig […]. Nur Selbstmordversuch überlebt, darauf, seine Augen bin ich nicht der Täter.»838 Aus diesem Gefühl zu öffnen – sein Lebenswillen scheint gebrochen. des Mannes «schuldig» zu sein, schließt Moni- 839 Szczepaniak 2005, S. 266. 836 Ebd., S. 264. 840 Hermansson 2001, S. 254. 837 Natonek 1988, S. 86. 841 Ebd., S. 251. 838 Frisch 1982, S. 73f. 842 Natonek 1988, S. 338. 138 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Bei Natonek kommt zu dieser persönlichen Aus- schen Grandseigneurs Gilles de Rais» und die Ju- einandersetzung mit Blaubart und Gilles eine wei- gend Frankreichs; die Universitätsmitglieder und tere auf den ersten Blick gegensätzliche dazu: die die «geistigen Wortführer» der sich Unterwerfen- Kritik an der politischen Situation im Europa des den benennt er dagegen in negativer Weise. Ge- Totalitarismus und insbesondere in Frankreich gen diese Übermacht sind «unbeugsame Patrioten um 1940, als er selber in Paris wohnte. So ant- in Paris», die Natonek vor allem «im armen Volk» wortete er in einer New Yorker Radiosendung, die sieht, machtlos: «sie litten und wurden grausam im Buch Schriftsteller im Exil (1944) wiedergeben verfolgt, und nicht zum geringsten von dem nie- wird, er spreche von einem «scheinbar entlegenen derträchtigen Eifer der eigenen Landsleute».847 Thema, da der Roman im 15. Jahrhundert spielt. Der Anführer der «Kollaborateure» ist bei Es ist aber in Wirklichkeit dasselbe Frankreich der Natonek Messire Piere Cauchon, der Bischof tiefsten Niederlage von 1940.»843 Jeanne war ei- von Beauvais: «Er vertrat die französische Partei ner passiven bis anbiedernden Haltung gegenüber der Unterwerfung und der Zusammenarbeit mit den Besetzern geopfert worden. Diesen Verrat der fremden Regierung. Wenn Frankreich sieg- an der Unabhängigkeit klagt Natonek laut Ser- te, das wußte Cauchon, war er verloren. Darum ke auch 1940 wieder an: «Einen vergleichbaren mußte Jeanne, der verkörperte Angriffsgeist, ver- Verrat sah Natonek in der Appeasement-Politik nichtet werden.»848 Die Allgemeinheit fügt sich Frankreichs, besonders in jener Regierung, die dem Schicksal, und die führenden Kräfte befür- Hitler den Franzosen nach seinem Sieg gestattete worten die Besetzung. Gerade die Akademiker und die sich in Vichy etabliert.»844 Für Natonek machen sich dabei stark schuldig: «Die Seele der war dieses von ihm durchlittene Frankreich «a Pariser war von den Sorbonne-Größen gedrillt, bureaucratic booby-hatch in which the attendants beherrscht von diesen Vögten der Scholastik, die were illegitimate descendants of the Marquis de dafür bezahlt wurden.»849 Die von Natonek ge- Sade».845 wählte Sprache ist hier wiederum kaum verhüllt Dabei erzählt Natonek in Blaubarts letzte Lie- modern, als er diese Seite «die Partei der Angst be durchaus auch von Strategien des Widerstands, und Niederlage, die Friedenspartei» nennt.850 der sich in einem Guerilla-Kampf aller Mittel be- Da es nicht angeht, dass eine einfache Frau dient, wie etwa dem Streuen von Gerüchten: aus dem Volk sich über die Autoritäten erhebt, stellt sich die Inquisition, das von der Kirche als Alle Geschichten, die von Jeanne und Gilles um- unfehlbar und göttlich gesehene Gericht, in den liefen und mit Absicht propagiert wurden, wurden Dienst der «Kollaborateure» und verfolgt Jeanne. in dieses Getümmel eingebracht. Seine Banner Die Kirche hat guten Grund dazu, denn die Akti- waren Feldzeichen eines Geisterkampfes, an dem vitäten von Jeanne werden bei Natonek als Teil ei- die himmlichen Heerscharen oder die Dämonen ner «Erschütterung der einzigen, der katholischen der Hölle teilnahmen, und diesen neuen, geistigen Autorität» beschrieben, «gegen die sich etwas Waffen waren die britischen Soldaten nicht gewach- Neues rebellisch erhob, in Böhmen die Hussiten sen.846 und in der gesamten christlichen Welt ein neues Gewissen, das Erwachen der Person, die sich den Die patriotischen Aktivisten werden von Natonek Machthabern der irdischen Kirche entzog».851 in schillernden Worten beschrieben, es sind dies Nach Jeanne macht die Inquisition auch Gilles die «kleine Hexe mit ihrer Leibgarde der jeunesse den Prozess. Es liegt auf der Hand, dass er sich auf royale – darunter die dunkle Gestalt des bretoni- 847 Ebd., S. 75. 843 Hans Natonek; hier in: Lindt 1944, S. 87. 848 Ebd., S. 64. 844 Serke 1988, S. 392. 849 Ebd., S. 79. 845 Hans Natonek; hier in: Lindt 1944, S. 70. 850 Ebd., S. 75. 846 Natonek 1988, S. 32. 851 Ebd., S. 148. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 139

Jeanne beruft, als Malestroit ihn fragt, ob er Engel historischen Forschungen beurlaubt, ging er 1884 gesehen habe: «Ja, ich sah Jeanne, die Jungfrau, sie nach Paris, wo er zwei Doktorarbeiten schrieb. war ein Engel in menschlicher Gestalt.»852 Dabei Die eine Dissertation, 1885 an der Universität attestiert Natonek dem Inquisitor selber durchaus Poitiers auf Lateinisch veröffentlicht, beinhaltet echten Glauben: «Das Gesicht des Klerikers war eine Abhandlung über die Gegensätze zwischen überströmt von Tränen und leuchtete in echter zwei grundlegenden spätmittelalterlichen Texten, Verklärung. Er suchte das Geheimnis von Gilles’ der Studie Anticlaudianus (um 1200) von Alanus Seele, auschließlich das; dort war die feine Verzah- ab Insulis (Alain de Lille) und der Dichtung La nung von Schuld und Unschuld, von Böse und Divina Commedia (um 1320) von Dante Alighie- Gut zu suchen […].»853 Durch seine Aufrichtig- ri. Ebenfalls 1885 veröffentlichte er an der Uni- keit gegenüber dem Beichtvater erhebt sich Gilles versität Poitiers mit der Studie zu Gilles auf Fran- (wie zuvor Jeanne) über die Kirche: «Indem Gilles zösisch seine andere Dissertation. beichtete, machte er sein Gewissen zum obersten Bossard widmete die Studie zu Gilles dem Bi- Richter und setzte sich über die Kirche hinweg schof des örtlichen Bistums Angers, Charles Émi- mit Gott in Verbindung, und das war schiere Ket- le Freppel, mit einer «hommage de reconnaissance zerei, eine von der heimlichen, gefährlichen Art, et de filiale affection». Freppel war wie Bossard als wie sie jetzt im Aufkommen war.»854 Für Jeanne Polemiker bekannt und kämpfte in der Cham- und später Gilles ist es nicht die Bindung an die bre des députés im Parlament der Dritten fran- Kirche, welche den Weg zu Gott zeigt, sondern zösischen Republik von 1880–1891 als Vertreter die Bindung an das Gewissen, wie Serke feststellt: der Royalisten für die Interessen der katholischen «Im Elend der von Gott gelösten Bindung zeigt Kirche.857 Als grundsätzliche Motivation für die Natonek jenen Weg auf, der von der Bindung an Studie zu Gilles nannte Bossard die historische das Gewissen wieder zu Gott führen kann.»855 Wichtigkeit der Bekanntmachung der Doku- mente: «Énumérer ces documents, c’est en faire connaître assez bien l’importance historique.»858 Gilles de Rais als französischer Antiheld Bossard zitiert darin zum ersten Mal aus der neu entdeckten Cartulaire des Sires de Rais, in welcher Bei seinen Recherchen, die er 1938 in Paris be- die künstlerischen und literarischen Aktivitäten gonnen hatte, konnte sich Natonek auf zahlreiche von Gilles und seine immensen Ausgaben fest- Unterlagen stützen. Bossards Studie von 1885, gehalten werden. Auch zitiert er aus dem Procès Huysmans Roman von 1891 und Reinachs Veto eclésiastique und dem Procès civil gegen Gilles und von 1904 hatten zu breiter Bekanntheit von Gil- aus der Mémoire des héritiers de Gilles de Rais, in les und Blaubart geführt, die auch 1932 mit dem welchem dessen Besitztümer aufgelistet werden. Drama von Huidobro und nach Natonek mit der Bossard konnte sich somit erstklassige Akten be- Publikation von Bataille 1959 noch größer wurde. schaffen. Zusätzlich nennt er mündliche Quellen, Der Autor der Studie zu Gilles von 1885, der in denen Gilles als Barbe-Bleue auftritt, besonders französische Abt Eugène Bossard (1853–1905), eine ältere Frau, welche Bossard auf dem Gelän- war ein katholischer Polemiker und Militärhisto- de einer Burg von Gilles traf. Auch zitiert Boss- riker der Vendée.856 Ab 1878 diente er als Priester ard aus dem Text des Mysterienspiels zum Leben im Erzbistum Rennes in der Bretagne. Für seine von Jeanne d’Arc, dem anonym verfassten Mystère du siège d’Orléans (um 1435), welches von Gil- 852 Ebd., S. 331. les produziert wurde, und der darin seine eigene 853 Ebd., S. 332. Rolle vermutlich selber spielte. Bossards Studie 854 Ebd., S. 355. 855 Serke 1987, S. 121. ist ausführlich und vielseitig: In den 15 Kapiteln 856 Zu Bossard vgl. Lycée Privée Sainte Marie de Cholet 857 Zu Freppel vgl. Cloître 1990. 2009. 858 Bossard 1885, S. vii. 140 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 werden die Jugend von Gilles, seine militärische werden sein Geiz, seine Freude an der Hinrich- Karriere an der Seite von Jeanne, sein Privatleben, tung von Gilles und seine zweifelhaften Motive sein Interesse am Theater, an der Alchimie und für den Prozess kritisiert: «les craintes personelles, der Magie erläutert, es werden seine Verbrechen la cupidité ou la vengeance ont agi plus puissa- nachgezeichnet, der Prozess und die Hinrichtung ment sur Jean V que l’amour de la justice».862 Den und das Nachleben in der Öffentlichkeit und in Absichten von Jean V habe sich Malestroit erst ge- der Familie beschrieben, besonders auch die Tra- fügt, nachdem er die Unwiderlegbarkeit der Be- dierung von Gilles als Barbe-Bleue. weise gegen Gilles eingesehen hatte. Als treibende Kraft hinter dem Prozess gegen Bossard betont, dass die von ihm zitierten Gilles wird Jean Malestroit, Bischof von Nantes Protokolle, von vier Schreibern aufwändig und beschrieben, ein naher Verwandter, Kanzler und ausführlich verfasst, auf eine äußert gewissenhaft hoher Berater des Herzogs der Bretagne, welcher geführte Gerichtsverhandlung verweisen: im Frühjahr 1440 in geheimer Aktion Beweise gegen Gilles sammelte und die Verhaftung auslös- il y a dans le récit des crimes et des débats tant te. Bossard beschreibt, wie ernsthaft und rastlos de marques de sincérité; les faits ont été mis dans Malestroit im Fall Gilles agierte: une telle lumière, exposés aux yeux d’une foule si nombreuse; le caractère des personnes mêlées aux le juge siége presque tous les jours à son tribunal, et, procédures est si respectable; la famille de l’accusé sans se laisser plus toucher par les menaces que par était si intéressée à ne pas laisser triompher le men- les larmes du coupable, il déchire impitoyablement songe, que l’on ne peut pas plus douter de la véraci- le voile épais qui recouvre huit années de crimes, té des scribes que de l’authenticité de leur œuvre. sans vouloir s’arrêter jusqu’à ce qu’il n’ait rempli Rien, dans toutes les formes requises par le droit et tout son devoir et vengé Dieu, la foi, la nature, la la jurisprudence alors en vigueur, n’a manqué à ce faiblesse.859 procès.863

Malestroit wird von Bossard durchgehend von An den Taktiken der Inquisition äußert Bossard Kritik verschont, ebenso die anderen Beteiligten keine Kritik, und weder die Aussagen der Ver- der Kirche. So lobt er ausdrücklich den Bruder bündeten von Gilles, noch die Protokolle, die Ge- Jean Blouyn vom Orden der Frères-Prêcheurs, richtsakten der Inquisition oder die erzwungenen seit 1426 vom französischen Oberinquisitor Geständnisse werden genauer auf ihren Aussage- Guillaume Mérici zum Vize-Inquisitor für Stadt wert als Zeugnisse untersucht, sondern die Inqui- und Bistum Nantes ernannt: «[Blouyn] remplis- sition wird im Gegenteil sogar gelobt. So wird in sait les devoirs de sa charge avec une modération, Gilles laut Bossard erst durch den Druck des In- une fermeté, une droiture et un jugement dignes quisitionsgerichts eine Hinwendung zu Gott aus- de tout éloge et appréciés de tout le monde.»860 gelöst: «Pour le maréchal, n’ayant plus d’espoir du Auch Pierre de l’Hospital, der Präsident der Bre- côté des hommes, son cœur, peu à peu touché par tagne, welcher neben vier Bischöfen und anderen le repentir, se retourna tout entier vers Dieu», und Kirchenvertretern ein Hauptbeisitzer der Ver- seine Seele kann sich in den Himmel erheben: handlung war, findet positive Erwähnung. Diese Leute hätten sich am Ende ehrlich gefreut, mit Des émotions profondes, qu’il n’a jamais ressenties, einer «bien douce jouissance […] d’avoir fait son même au milieu des tourments du remords, le se- devoir, protégé les faibles, vengé la vertu et l’inno- couent violemment et le tirent de cette torpeur mo- cence».861 Nur beim Herzog der Bretagne, Jean V, rale où il s’est engourdi: comme une fleur, appesan-

859 Ebd., S. 249. tie par la boue, se relève peu à peu sous la pluie du 860 Ebd., S. 250. 862 Ebd., S. 312. 861 Ebd., S. 308f. 863 Ebd., S. 254. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 141

ciel, cette âme lourdement abaissée vers la terre, la- cateurs des démons, pour arriver à leurs fins dé- vée par ses larmes, se releva lentement vers Dieu; et, testables, employaient le meurtre et offraient des si souillée qu’elle avait été par la fange, quelque cho- victimes humaines.»868 Auch bewies die Kirche se de sa beauté originelle reparut dans ses traits.864 für Bossard durch das Vorgehen gegen Gilles die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz: Die Hinrichtung von Gilles wird so zum konse- quenten Beschluss eines verantwortungsvollen En s’attaquant résolument à l’un des premiers per- weltlichen Gerichts und erlaubt Bossard den Hin- sonnages de la Bretagne et de la France, l’Église affir- weis auf die sinnvolle Einrichtung der Todesstrafe: mait sa puissance sur tous ses sujets indistinctement «si la peine de mort n’avait pas existé dans la soci- […] et montrait que, dans une justice égale pour été, c’est pour de semblables crimes qu’on l’aurait tous […], tous les hommes étaient soumis à ses lois, inventée».865 et l’autorité grandissait d’autant dans l’esprit des Dass die Familie von Gilles und der franzö- peuples.869 sische König Charles VII eine Rehabilitation anstrebten, und dass die Mémoire des héritiers de Der historische Prozess gegen Gilles als Erfolg für Gilles de Rais die Verbrechen nicht erwähnten, die Kirche und Sieg der Gerechtigkeit gemahnt hinterlässt bei Bossard zwar Fragezeichen, doch so an die Notwendigkeit des Kampfes inklusive die Protokolle und die mündliche Überlieferung Inquisition und Todesstrafe gegen die Häresie im der Verbrechen beweisen für ihn dessen Schuld 19. Jahrhundert. genügend. Der Prozess gegen Gilles sieht er vor Die mündliche Überlieferung in der Ven- allem als beispielhaften Erfolg im Kampf gegen dée und anderen Gegenden bildet für Bossard die Häresie. Die Inquisition nennt er als wichtige den zentralen Beweis für die Richtigkeit des er- Waffe, wie sie auch gegen den als häretisch verur- zwungenen Geständnisses von Gilles, es ist für teilten Templerorden angewandt wurde. Mit dem ihn «clair que ce fait est entièrement certain».870 Templerorden wird Gilles dann auch verglichen: Beispielhaft schildert er eine Begegnung mit einer «Gilles conduisit [l’enfant] dans l’église […], il lui Frau aus der Gegend von Machecoul, wo Gilles fit jurer sur le Christ de ne jamais dévoiler à per- gewohnt hatte, welche auf dem Gelände der Burg sonne les secrets qu’il pourrait lui confier à l’ave- von Tiffauges einer Gruppe von Touristen die Ge- nir: serments maudits, qui rappellent ceux dont schichte von Barbe-Bleue erzählte. Von Bossard les Templiers, dit-on, voilaient leurs infamies».866 und seinen Kollegen befragt, wird sie durch ihre Nach den Schlägen gegen die Templer und dem Standhaftigkeit zu einer wichtigen Zeugin: Prozess gegen Gilles war ein solcher Erfolg in der Zeit um 1880 im Kampf gegen den Okkultismus Cette femme vit encore; elle est née dans l’enceinte zum großen Bedauern von Bossard nicht mehr de la forteresse, où sa famille habita depuis trois siè- möglich: «Depuis le jour, où, justement préoc- cles […]. Pour la faire parler, nous avions interrogé cupé de leurs excès, l’Église s’arma de toutes ses la narratrice sur Barbe-Bleue avec cet air d’incrédu- foudres pour les frapper, pareille victoire n’avait lité savante et dédaigneuse, qui juge les choses de si pas encore été remportée sur les sorciers et les sec- haut et qui choque si vivement les gens convaincus. tateurs des sciences occultes.»867 Dabei zeigte der Mais rien n’avait pu ébranler sa croyance.871 Prozess gegen Gilles für Bossard klar die Ruch- losigkeit der Häretiker: «il est malheuresement Für die narratrice ist klar, dass das Schloss Bar- acquis à l’histoire, par ce document, que les évo- be-Bleue gehörte und er zahlreiche Kinder getötet

864 Ebd., S. 299. 868 Ebd., S. 335. 865 Ebd., S. 310. 869 Ebd. 866 Ebd., S. 200. 870 Ebd., S. 387. 867 Ebd., S. 334. 871 Ebd., S. 402. 142 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 hatte, sie kann sogar die verbotene Kammer von einer naturalistischen schriftstellerischen Phase Barbe-Bleue in der Ruine zeigen. Die zahlreichen galt der Roman À rebours (1884) als Meilenstein Zeugnisse einer lückenlosen mündlichen Tradie- der Décadence. Der hier besprochene spätere Ro- rung der Verbrechen von Gilles durch Bewohner man Là-bas wurde ab dem 17. Februar 1891 in der durch den Terror von Gilles betroffenen Re- der Zeitschrift L’Écho de Paris als Fortsetzungsro- gionen seit der Zeit des Geschehens um 1440 be- man veröffentlicht und in der Ankündigung der eindruckt Bossard. Für ihn beweist es nicht nur Zeitung als akurate Studie zum Satanismus ange- die Schuldigkeit von Gilles, sondern auch den Ur- priesen: «Là-bas […] est la première étude qui ait sprung der Erzählung von Barbe-Bleue, lange vor été faite d’après nature et d’après des documents der Niederschreibung durch Perrault: «Complain- authentiques, sur le satanisme contemporain. te et légende, naïfs récits du foyer, dans toute la […] Si étranges que puissent sembler ces récits, Haute-Bretagne, la Vendée, le Poitou et l’Anjou, M. Huysmans en garantit l’absolue véracité.»877 tout s’accorde merveilleusement à designer Gilles Offensichtlich wählte Huysmans diesen Vorab- de Rais comme le vrai Barbe-Bleue.»872 Dabei sind druck aus Geldgründen und schien über die Zei- es in erster Linie die oralen Traditionen, die Zeug- tung (und wohl auch diese Ankündigung) nicht niskraft haben: glücklich; das Buch erschien darauf am 13. April 1891.878 [ce sont] surtout les traditions orales, qui, seules, Die Erzählung fängt mit einer Diskussion doivent faire définitevement foi dans ses matières, zwischen dem Protagonisten Durtal und seinem nous affirment, par un témoignage unanime, uni- Freund des Hermies an, in welcher sie die zeit- versel et constant, que le véritable Barbe-Bleue est le genössischen literarischen Tendenzen kritisieren. héros de ce livre, Gilles de Rais, égorgeur de femmes Sie lehnen insbesondere den Naturalismus ab, et d’enfants, jugé pour ces crimes et brûlé à Nantes.873 und des Hermies propagiert stattdessen: «il serait nécessaire […] de faire, en un mot, un naturalis- Nur das Extreme dieser Verbrechen könne erklä- me spiritualiste».879 Obwohl Huysmans zu dieser ren, dass die Bevölkerung diese Erzählung weiter Zeit selber als dekadenter Literat galt, wird auch tradierte: «La bête d’extermination a laissé de telles diese Tendenz abgelehnt: «le clan décadent […] traces de son passage parmi ces populations! Quelle rejette les cadres, les alentours, les corps mêmes, épouvante mortelle avait traversé tous les cœurs!»874 et divague, sous prétexte de causette d’âme, dans Die Studie von Bossard bildete den histori- l’inintelligible charabia des télégrammes.»880 Um schen Angelpunkt im Roman Là-bas (1891) von der Zuordnung einer literarischen Richtung zu Huysmans, in welchem zu Bossard steht: «C’est entgehen, entscheidet sich Durtal für das Konzept même l’ouvrage le plus savant et le plus complet einer historischen Studie: que l’on ait écrit sur le maréchal.»875 Joris-Karl Huysmans (1848–1907) war ein französischer L’histoire supplanta chez lui le roman dont l’affab- Schriftsteller und Kunstkritiker, arbeitete als Be- ulation, ficelée dans des chapitres, empaquetée à la amter im Innenministerium der französischen Re- grosse, forcément banale et convenue, le blessait. Et gierung in Paris und wurde später für eine Weile cependant, l’histoire ne semblait être qu’un pis-aller, zu einem Laienbruder der Benediktiner.876 Nach car il ne croyait pas à la réalité de cette science; les

872 Ebd., S. 393. 877 Anonym; hier in: Bonnet 2004, S. 163. 873 Ebd., S. 383f. 878 Ebd., S. 164. 874 Ebd., S. 401. 879 Huysmans 1966, S. 8; vgl. Bonnet 2004, S. 50–64. 875 Huysmans 1966, S. 165. 880 Huysmans 1966, S. 9. Man kann sich fragen, ob Huys- 876 Zu Huysmans vgl. Brunel und Guyaux 1985, beson- mans auch seinen eigenen Schreibstil dem «spiritualis- ders die Repères chrolonologiques von Pierre Cogny, tischen Naturalismus» zuordnen würde, da seine Kritik S. 18–24. genau dies thematisiert. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 143

événements, se disait-il, ne sont pour un homme de Schriften, wobei ihn besonders der mystische Na- talent qu’un tremplin d’idées et de style.881 turalismus im Katholizismus des Mittelalters inte- ressiert. Sein Freund des Hermies wiederum steht Die vordringlichen Fragen, für die bei Là-bas der in der Diskussion für den Manichäismus ein: Gerichtsfall von Gilles herangezogen wird, sind für Durtal und des Hermies spiritueller Art. Le fait est que si j’étais certain de quelque chose, je Der Roman wird strukturiert durch wieder- pencherais assez volontiers vers le manichéisme, dit holte Nachtessen bei Freunden von des Hermies, des Hermies; c’est une des plus anciennes et c’est nämlich Carhaix, dem Glöckner der Pariser Kir- la plus simple des religions, celle, dans tous les cas, che Saint-Sulpice, und seiner Frau, begleitet von qui explique le mieux l’abominable margouillis du angeregten Diskussionen um Spiritismus und Sa- temps présent.884 tanismus. Gleichzeitig fängt Durtal mit der Frau des katholischen Historikers Chantelouve eine ge- Wie im manichäischen Denken der Gegensätze heime Affäre an und erhält durch sie den Zugang muss Durtal bis ganz nach unten – là-bas – stei- zu einer schwarzen Messe, bei welcher sie ihn gen, um danach das Höchste erfahren zu können. zum dämonisch inspirierten Geschlechtsverkehr So wie Huysmans laut der Studie von Jacqueline verführen will. Da er nun die Messe gesehen hat, Kelen durch den Anblick der Kreuzigung auf den ihre Dienste also nicht mehr braucht und ihr Ver- Gemälden zum Isenheimer Altar (um 1510) von halten ihn abstößt, löst er seine Verbindung mit Mathias Grünewald durch «la révélation de la ter- ihr auf. Obwohl des Hermies mit dem Ehepaar reur et du sacré, des deux abîmes […] unis par la Chantelouve befreundet ist, tadelt er Durtal nicht Croix» bewegt wurde.885 Für Kelen liegt darin der und bleibt auch sonst im Roman eine vielwissen- Grund, weshalb Durtal an einer schwarzen Mes- de, tadellose Figur, über die der Leser im Dunkeln se teilnehmen und sich der Verführung aussetzen gelassen wird. wollte. Vom abtrünnigen Kanonikus Docre ge- Im Gegensatz zur beklemmenden Affäre mit halten, wurde die von Durtal besuchte Messe mit Hyacinthe Chantelouve erlebt Durtal die Recher- zahlreichen Satanistinnen und einigen Satanisten chen zu Gilles als ergreifend und erlösend: zu einer gotteslästerlichen Sex-Orgie. Für Gilles Bonnet treffen in seiner Erläuterung die zentralen Le jour où Durtal s’était plongé dans l’effrayante et Themen von Là-bas in dieser Szene zusammen: délicieuse fin du Moyen Age, il s’était senti renaî- «Manichéisme, sadisme et carnaval se rencontrent tre. Il commença de vivre dans le pacifiant mépris en effet à ce point précis du texte en tant que pen- des alentours, s’organisa une existence […] dans le sées binaires du pouvoir et de l’autoritée fondées château de Tiffauges près de Barbe-Bleue et il vécut sur le recours commun à l’inversion comme profa- en parfait accord, presque en coquetterie, avec ce nation des textes et des paroles sacrés.»886 Der kar- monstre.882 nevalistische Aspekt ist für Bonnet dabei beson- ders hervorzuheben, was sich etwa an der Rolle Dabei kokettiert Durtal keineswegs mit dem von Docre zeigt: «Plus qu’un carnaval proprement «mysticisme exalté», den er Gilles unterstellt, son- 884 Ebd., S. 57. Der Manichäismus ist eine antike Offen- dern sieht ihn als Beispiel für die Irrlehre des Sa- barungsreligion wie Christentum und Islam, welche tanismus: «Messe sacrilège, maléfices et succubat, als synkretistische Religion der Gegensätze (von Licht c’est la véridique quintessence du satanisme!»883 und Dunkelheit, oder Gut und Böse) vom Iraner Mani Durtal selber orientiert sich bei seiner spirituel- (216–277 n.Chr.) gelehrt wurde, und bis im 4. Jahrhun- len Suche an zahlreichen religiösen und okkulten dert auch in Europa und bis im 15. Jahrhundert in Asien wichtig war; vgl. Asmussen und Böhlig 1995. 881 Ebd., S. 19f. 885 Kelen 1985, S. 218. Der Isenheimer Altar befindet sich 882 Ebd., S. 19. heute im Musée d’Unterlinden in Colmar, Frankreich. 883 Ebd., S. 66. 886 Bonnet 2004, S. 80. 144 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 dit, la messe noire se donne à lire comme une dé- plus propre!»889 Durch die Aussagen Durtals stellt gradation burlesque précise, avatar de cette Fête sich die Frage, ob diese Lesart auch dem Konzept des Fous que le Moyen Âge célébrait en élisant un von Là-bas entspricht und somit Huysmans selber abbé ou un évêque des Fous, rôle que semble bien als Befürworter der Inquisition sichtbar macht. tenir ici Docre.»887 Der Glöckner Carhaix auf jeden Fall plädiert für Dieser Vergleich des mittelalterlichen Évêque deren Wiedereinführung: «Je songe à une chose, des Fous und dem Zeremonienleiter Docre darf moi, jeta Carhaix […]. Je songe à l’Inquisition; nicht darüber hinwegtäuschen, dass Huysmans elle avait décidément sa raison d’être, car elle durchaus ernste Absichten hegte, wenn er anhand seule pourrait atteindre ce prêtre déchu [Docre] zahlreicher Beispiele im Frankreich seiner Zeit ak- qu’a balayé l’Eglise.» 890 Er wird dabei von des tive satanistische und sonstwie häretische Spiritu- Hermies unterstützt, der meint, man habe «bien alisten erwähnt, und sich die Figuren im Roman exagéré la férocité des inquisiteurs».891 Nicht nur die selben Fragen wie Bossard nach der Gefähr- beweisen die angeblichen Kindermorde von Gil- lichkeit dieser von der Kirche abtrünnigen und les die Gefährlichkeit satanistischer Tendenzen in gegen sie gerichteten Gläubigen stellen. Da der Frankreich um 1890, sondern sie erhärten auch mittelalterliche Gilles eine Unmenge an Morden die Notwendigkeit einer Wiedereinführung der gestand und von der Kirche per Inquisition er- Inquisition. Anders als Bossard, der sich mit der folgreich hingerichtet werden konnte, wird er bei Aufarbeitung des Falles Gilles begnügte, nennt Huysmans zum Sinnbild des auch im 19. Jahr- Huysmans in seinem Roman Vergehen der Sa- hundert aktuellen Satanismus. Für Durtal ist es tanisten in Frankreich im 19. Jahrhundert und vom «mysticisme exalté» zum Satanismus nur ein verschont auch die katholische Kirche selber Schritt, der sich bei Jeanne d’Arc als extreme Hin- nicht. Indem er sich selber als ungläubigen Skep- gabe zum Glauben an Gott und später bei Gilles tiker bezeichnet, entzieht er sich als Autor einer an seiner Unterwerfung an den Teufel äußerte: «si ideologischen Einordnung. Im Bezug auf die von l’on considère qu’elle attisa une âme sans mesu- ihm genannten Verbrechen von Gilles akzeptiert re, prête à tout, aussi bien à des orgies de sainteté Huysmans aber keinerlei Relativismus, wie auch qu’à des outrances de crimes».888 So spreizten die sein späterer Aufsatz zu Gilles von 1899 bestä- Extreme manichäischen Denkens sich bis ins Ver- tigt, wo Huysmans auf Knochenfunde in einer brecherische auf. Burg von Gilles hinweist: «Aujourd’hui encore, Durtal sieht sich selber nicht als ein dem les traces de ces assassinats persistent. En 1889, Glauben zugeneigter Mensch, doch die Berichte à Tiffauges, un médecin découvrit une oubliette, und Erlebnisse über den zeitgenössischen Sata- et il en ramena des masses de têtes et d’os!»892 Die nismus beweisen ihm, dass die Anschuldigungen Übereinstimmungen der Aussagen in Là-bas mit gegen Gilles stimmen müssen. Ohne beantworten der Studie von Bossard sind so zahlreich, dass sich zu können, ob es das Übernatürliche, den Teu- der Roman als Fortsetzung katholischer Polemik fel und dämonische Kräfte gibt, lässt sich Durtal in der Literatur verstehen lässt. Im Gegensatz zu von seinem eigenen Empfinden leiten. Er kann als Bossard wurde aber die «manichäisch» inspirier- Autor selber entscheiden, ob er etwa der dämo- te Erforschung der beiden Abgründe «terreur» nischen Sexualität bei Menschen, dem Sukkubat, und «sacré» für Huysmans teilweise selber zum in seinem Werk zu Existenz verhelfen will: «Peuh! Problem. So konnte 1898 nur knapp verhindert fit Durtal qui était arrivé devant sa porte.Puis- werden, dass sein späterer Roman La Cathédrale que tout est soutenable et que rien n’est certain, bei der Veröffentlichung auf den päpstlichen In- va pour le succubat! Au fond c’est plus littéraire et 889 Ebd., S. 139. 890 Ebd., S. 136. 887 Ebd. 891 Ebd. 888 Huysmans 1966, S. 50. 892 Huysmans 2007, S. 25. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 145 dex verbotener Schriften gesetzt wurde, und die nämlich mit den kulinarischen Beschreibungen Studie Le Satanisme et la Magie (1895) von Jules im Buch: Im Hause Carhaix werden Geschmack Bois, für die Huysmans das Vorwort schrieb, wur- und Finesse der Mahlzeiten detailliert erläutert, de 1896 vom Vatikan verboten. Huysmans wird das Essen in den Cafés von Paris hingegen wird auch rückblickend als Autor dargestellt, welcher mehrmals als unappetitlich beschrieben, das sein Werk untrennbar nah an sein Leben band, so Fleisch ist «molle et froide» und die Backpflaume etwa 1963 von Henry Brandreth: «It is doubtful «sentait le moisi».895 Die Wahrheit ist also in Là- whether any other writer has so fully, so pitiless- bas auch eine Frage des Geschmacks, die Wahr- ly and, one might almost say, so disingenuously, heit muss dort sein, wo man sich wohl fühlt und bared his life at all stages to any who might care wo man gerne isst. to read him.»893 Dies hat dazu geführt, dass sein In der Argumentation zu Gilles hingegen, bei Werk möglicherweise weniger literarisch, als viel- der sich Durtal sehr wohl fühlt, folgt Huysmans mehr biografisch und zeitgeschichtlich gelesen wiederholt und ohne Kritik der Studie von Boss- wurde. Dabei zeigt sich gerade in Là-bas ein star- ard. Sogar den Vergleich mit Blaubart greift er ker Wille zur gleichzeitigen Ausprägung sowohl auf, wenn er von den für Durtal inspirierenden literarischer Form wie persönlich engagiertem Reisen in die Vendée schreibt: «il constatait com- Inhalt, bei denen zahlreiche Recherchen und bio- bien la légende de Barbe-Bleue était restée vivace, grafische Eindrücke zu einem literarischen Werk dans ce pays isolé en Vendée, sur les confins bre- verdichtet werden. tons.»896 Die Verbindungen zwischen Imagination In Là-bas ist letzten Endes die Schuld von Gil- und Wahrheit bilden für Durtal eine wichtige les für Durtal nicht beweisbar, weshalb er die Po- Quelle der Inspiration. Fasziniert von der Figur sitionen mit seinem Geschmacksurteil vergleicht Gilles und getrieben von der Einsicht, dass es kei- und er ein klar negatives Gefühl, in diesem Fall ne historischen Tatsachen gibt, erfindet er auch Verbitterung, bei der «école de la réhabilitation», eine für ihn neue Art der Todsünde, das sexuelle bei den an Aufklärung und Behebung falscher Vergehen an der eigenen literarischen Kreation, Behauptungen interessierten Autoren, empfindet. den «Pygmalionismus»: «Imaginez, en effet, un Eine solche «Verwässerung» der histoire von Gilles artiste tombant amoureux de son enfant, de son lehnt er ab: œuvre, d’une Hérodiade, d’une Judith, d’une Hé- lène, d’une Jeanne d’Arc, qu’il aurait ou décrite ou [il était] bien certain de ne pas sombrer avec son livre peinte, et l’évoquant et finissant par la posséder en sur Gilles de Rais dans la monomanie de ces affamés songe!»897 Gilles wird zur Schöpfung von Durtal, de la bienséance, de ces enragés de l’honnêteté. Pas ist diesem ausgeliefert, wird von ihm noch ein- plus qu’un autre, avec ses idées sur l’histoire, il ne mal schuldig gesprochen und erneut zum Urheber pouvait prétendre à peindre un Barbe-Bleue exact, maßloser Greueltaten ernannt. mais il était sûr au moins de ne pas l’édulcorer, de Die erste Publikation, in welcher die Thesen ne pas l’amollir dans des bains de langue tiède, de ne von Bossard nicht übernommen, sondern in Fra- pas en faire ce médiocre dans le bien ou dans le mal ge gestellt wurden, war der erwähnte Aufsatz von qui plaît aux foules.894 Reinach, den dieser 1904 in der Revue de l’Univer- sité de Bruxelles erstmals veröffentlichte. Salomon In diesem grundsätzlich ästhetisch orientierten Reinach (1858–1932) entstammte einer jüdi- Urteil zeigt sich eine weitere Besonderheit der schen Bankiersfamilie, war Altphilologe, Direktor Argumentation von Durtal, welcher wiederholt des Musée des antiquités nationales in Saint-Ger- seinen persönlichen Geschmack zum Richtungs- main-en-Laye und Professor an der von ihm mit- geber seiner Meinung erklärt. Es korrespondiert 895 Ebd., S. 141. 893 Brandreth 1963, S. X. 896 Ebd., S. 105. 894 Huysmans 1966, S. 22. 897 Ebd., S. 168. 146 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 begründeten École du Louvre in Paris.898 Er setzte Die finanzielle Not trieb Gilles laut Reinach dazu sich für jüdische Belange ein, war Vizepräsident an, verstärkt auf die Alchimie zu setzen, um auf der Alliance Israélite Universelle, Mitbegründer diesem Weg wieder zu Geld zu kommen. Sein Be- der Jewish Colonization Association und Mitglied rater Francesco Prelati verlangte zuerst von Gilles der Société des Études Juives. seine Unterschrift mit eigenem Blut zu schrei- Bei seinem Essay benutzt Reinach zwar diesel- ben, später auch Teile einer Kinderleiche. Nach- ben Quellen wie Bossard, hat aber eine grundsätz- dem auch dies nichts nützte, begrub Prelati die lich andere Sicht darauf. Der Kerngedanke seiner Leichenreste in gesegneter Erde. Wie weit Gilles Quellenkritik im Fall Gilles ist die Unschuldsver- und Prelati dabei gingen, ist nicht klar, wird aber mutung. Reinach stellt fest, dass die Zusammen- durch das erzwungene Geständnis für Reinach setzung des Gerichts, die Zeugen, die erzwunge- auch nicht klarer. Diese Experimente waren es nen Geständnisse und der Einsatz der kirchlichen aber, auf die sich Anklage stützen konnte und Inquisition rückblickend allesamt unzulänglich die weiteren Gerüchten Anschub gaben. Laut sind, und dass die Beschuldigungen den Mustern Reinach glaubten auch Jean V und Malestroit an von Hetze entsprechen. Gilles wandte sich zwar Alchimie und sahen sich wegen der Experimente an den König und das Parlament von Frankreich, von Gilles und Prelati großem Druck ausgesetzt, doch dies wurde in keiner Weise wahrgenommen. Gilles vor einem möglichen Erfolg außer Gefecht Ein Interesse an einer Hinrichtung von Gilles hat- zu setzen: «Il fallut le faire condamner à une pei- ten laut Reinach besonders Jean V, der Herzog der ne qui entraînât sa déchéance et justifiât la confi- Bretagne, und Malestroit, der Kanzler der Breta- scation de tous ses biens.»900 Dies war nur durch gne und Bischof von Nantes. Sie beide hätten aus den Einsatz eines Inquisitionsgerichts möglich. der finanziellen Notlage von Gilles Profit geschla- Gleichzeitig musste ihm aber auch ein weltliches gen, da er an sie Güter zu einem sehr niedrigen Verbrechen angelastet werden können, denn nur Preis verpfändet oder verkauft hatte: so konnte die Allgemeinheit von ihrer Bewunde- rung für Gilles abgebracht werden: la nécessité le contraignit à aliéner plusieurs de ses domaines, à un prix fort inférieur à leur valeur Il fallait d’abord changer ces sentiments en horreur réelle; mais, du moins pour quelques-unes de ses et en haine, alléguer des crimes de droit commun, plus belles terres, il se réserva le droit de les rach- puis accuser Gilles d’hérésie et enfin le livrer au bras eter au même prix pendant six ans. De la sorte, les séculier sans amis ni défenseurs, ployant sous le far- acquéreurs des biens de Rais étaient intéressés à sa deau des plus terribles accusations.901 ruine totale, car c’était pour eux le seul espoir de garder des propriétés acquises à vil prix.899 Auch garantierte erst die Verurteilung vor einem weltlichen Gericht, dass Gilles eine tödliche Strafe Als der im Beisein von Gilles gekrönte französi- erhielt. sche König Charles VII auf Wunsch der Frau von Im Juli 1440 nahmen Soldaten von Gilles Gilles ein Verbot erließ, weitere Güter von Gilles einen Priester während der Messe fest, und Gilles zu erwerben, weigerte sich Jean V, dieses in der versuchte, ein an einen Strohmann des Herzogs Bretagne anzuwenden, verlieh im Gegenteil Gil- der Bretagne verkauftes Schloss mit Waffengewalt les laut Reinach einen «titre de lieutenant-général zurückzuholen. Diese beiden im Verhältnis lapi- du duché du Bretagne» und erwarb in der Folge daren Ereignisse gaben für Malestroit den Anstoß, noch weitere Güter von ihm, die der jüngere Bru- das von Bossard beschriebene «dossier secret» zu der von Gilles, René de la Suze, mit Waffengewalt Gilles anzufangen, infolgedessen er Zeugen und vergeblich wieder zurückzuholen versuchte. Anklagepunkte sammelte. Am 13. September 898 Zu Reinach vgl. Dictionary of Art Historians 2008. 900 Ebd., S. 272. 899 Reinach 1912, S. 269. 901 Ebd. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 147

1440 forderte er Gilles auf, sich bei ihm einzufin- Gilles ein Komplize seiner Verbrechen hätte sein den und eröffnete ihm die Anklagepunkte. Zwei müssen, blieb er ein Freund der Familie. Freunde von Gilles, Gilles de Sillé und Roger de Reinach vergleicht den Prozess gegen Gilles Briqueville, ergriffen die Flucht, doch Gilles war wie Bossard mit den Prozessen gegen den Temp- sich sicher, diese Anklage zurückweisen zu kön- lerorden um 1300. Der amerikanische Historiker nen, und ging am 19. September zu Malestroit. Charles Lea hingegen hatte 1888 festgestellt, dass Dort empfing ihn die größtmögliche Maschinerie bei den Klageschriften gegen Mitglieder der Tem- an Anschuldigung und Rechtsabwicklung und pler an verschiedenen Orten fast der gleiche Text führte dazu, dass Gilles am 25. Oktober 1440 von verwendet wurde, diese also einem Plot entspra- Pierre de l’Hôpital als Inquisitor und vom Bischof chen, welcher danach wiederholt wurde.904 Dar- Malestroit wegen «apostasie hérétique et d’invoca- an knüpfte Lea seine These an, dass die Klagen tion des démons» und vom Bischof alleine wegen gegen die Templer Betrug sind. Weiter als Betrug «crimes contre la nature, de sacrilège et de violati- beanstandete er die oft bei den Templerprozessen on des immunités de l’Eglise» verurteilt wurde.902 angewandte Formulierung eines Geständnisses Das anschließend tagende Gericht von Nantes «de leur franche volonté, sans torture ni questi- verurteilte ihn «indûment et sans cause» zum Tod on aucune», welches trotzdem Gewalt und Folter durch Hängen und Verbrennen. Zwei Kompli- miteinschließen konnte. Reinach übernimmt die zen wurden ebenfalls hingerichtet und Prelati zu These von Lea auch für den Prozess gegen Gil- «prison perpétuelle» verurteilt; dieser konnte aber les und erhärtet den Verdacht, dass bei diesem entkommen und war danach bei René d’Anjou, zwar sichere, aber vorgefertigte und deshalb nicht der zu dieser Zeit seine Königskrone von Neapel glaubwürdige Muster verwendet wurden. Reinach verlor, weiterhin alchimistisch tätig. Erst wegen schließt: «je soutiens que les témoignages des ac- eines anderen Verbrechens wurde er 1446 hinge- cusateurs de Rais sont inexistants, parce qu’il est richtet. impossible de nier qu’ils ont été fabriqués et im- Eine «abjuration des erreurs» wäre die Grund- posés par la corruption ou la violence.» Und er voraussetzung für eine Auflösung der Exkommu- fügt hinzu: nikation eines Häretikers. Doch Reinach schreibt: «On ne demanda aucune abjuration à Gilles, par- J’ajoute que les crimes les plus hideux qui sont ce que ses juges savaient qu’il n’était pas héreti- spécifiés dans ces témoignages, viols ou meurtres que et qu’ils en voulaient exclusivemenent à ses d’enfants, sont ceux mêmes dont les païens accu- biens.»903 So durfte Gilles ohne abzuschwören ei- saient les chrétiens schismatiques, dont on accusa nen Geistlichen zur letzten Beichte sehen, erhielt les Vaudois, les Fraticelli, les sorcières, les Juifs, dont ein festliches Begräbnis und ein Grab in der Kar- les Chinois accusent encore les Européens. Ces ac- meliterkirche in Nantes, neben anderen berühm- cusations-là appartiennent à l’éternel arsenal de la ten Personen der Bretagne. Die Familie von Gilles malignité humaine, spéculant sur la crédulité et la strengte sowohl eine Revision des Prozesses beim sottise.905 König Charles VII an, wie auch die Rückgabe der vom Herzog der Bretagne konfiszierten Güter. Keine Beweisstücke konnten gefunden werden, Vermutlich aus politischen Gründen wurde der kein Kadaver, kein Kleidungsstück. Auch konnten heikle Prozess von Gilles nicht wieder aufgerollt, die Eltern nicht bezeugen, dass Gilles hinter dem und die Familie konnte nur teilweise eine Rückga- Verschwinden ihrer Kinder steckt; sie beklagten be der Güter erreichen. Obwohl Briqueville, der in erster Linie ihre verschwundenen Kinder und wie Sillé vor dem Prozess floh, als Vertrauter von einige von ihnen verdächtigten die vermeintliche

904 Vgl. Lea 1888–90; 1902 von Salomon Reinach ins Fran- 902 Ebd., S. 283. zösische übersetzt. 903 Ebd., S. 284. 905 Reinach 1912, S. 280. 148 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Entführerin la Meffraye, denn: «sur son visage entsprechen also nicht unbedingt der Faktenlage, tombait d’ordinaire un long voile d’étamine éga- sondern produzieren bei einer ungefilterten Tra- lement noir».906 Reinach liest daraus: «Qui ne voit dierung in erster Linie dessen Mystifizierung. que c’est là un type de folklore, une ogresse, un Der Artikel von Reinach bewirkte eine Tei- bogey femelle et que Gilles de Rais, s’il avait eu lung der Meinung. Einige Autoren orientierten besoin d’enfants à violer, eût été mal avisé d’en sich weiterhin an Bossard und Huysmans. Doch confier le recrutement à une vieille sorcière qui Anatole France beschrieb 1909 in einem humo- leur faisait peur!»907 Da auch kein entkommenes ristischen Essay Barbe-Bleue als reale Person, Kind aussagen konnte, bleiben nur noch die Zeu- welche eigentlich «gut und unglücklich» gewesen gen aus der Gefolgschaft von Gilles, von denen sei, doch «sein Andenken» unterlag «schändlichen Prelati, Blanchet, Poitou und Griart zu einem Ge- Verleumdungen» – seine eigene Haltung lässt ständnis gezwungen werden konnten: France offen.909 Für den jüdischen Autor Georg Brandes ist Gilles in einem Essay von 1913 ein [Ce temoins sont] ni les chapelains de Gilles, ni «großangelegter, heldenmütiger Mann, tapfe- ses chanoines, ni ses écuyers, ni ses acteurs, ni ses rer, feiner gebildet und prunkliebender als seine hommes d’armes, ni le seigneur de Gautelon qui vi- Zeitgenossen, der treue Kampfgenosse der Jeanne vait dans son intimité, ni le prieur de Chémeré qui d’Arc, den ihr Schicksal ereilte, der abergläubisch l’aimait. Ce sont des aventuriers obscurs, des gens und unschuldig war wie sie».910 Auch Fernand qu’on accusa des mêmes crimes, qui s’en accusasent Fleuret beschreibt Gilles als Opfer der Inquisiti- eux-mêmes, qu’on a jetés en prison, qu’on a tor- on und kritisiert in seinem 1921 veröffentlichten turés, qui ont dit ce qu’on a voulu leur faire dire.908 Essay offen die Haltung des Abts Bossard: «[le] dessein de l’abbé Bossard n’était autre que de Die Vergleiche mit dem Templerorden und Jeanne prévenir toute tentative privée de réhabilitation. d’Arc zeigen die Probleme, die eine Neubewer- Enlever Gilles après Jeanne à la sacro-sainte In- tung der Affäre Gilles mit sich führt. Die Brisanz quisition, quel coup porté au prestige historique des Themas wird noch klarer, wenn wir Gilles de l’Eglise!»911 Für Fleuret ist es auch der Neid mit Alfred Dreyfus vergleichen. Die Affäre um auf den Pomp von Gilles, welcher damals Jean V den 1894 von einem Militärgericht wegen Spio- und Malestroit zu ihrem Coup angeregt haben nage zu lebenslanger Haft verurteilten jüdischen könnte. Der Einbezug der Erzählung Blaubart in Hauptmann der französischen Armee war 1904 die Studie ist für Fleuret ein weiteres Zeichen der noch sehr aktuell. Zwar wurde nach dem Wahl- Schwäche in der Argumentation von Bossard: sieg der Linken von 1902 ein Revisionsverfahren angestrebt, dieses wurde aber erst 1905 angeord- L’abbé Bossard, secrètement convaincu de l’irregu- net und führte 1906 zum Freispruch von Dreyfus larité de la procédure, de l’invraisemblance de l’ac- und seiner Rehabilitation. Dadurch erklärt sich cusation, et de la faiblesse de ses propres arguments der engagierte, zuweilen vorwurfsvolle Ton, mit consacre la dernière partie de sa thèse à l’étude de la dem sich Reinach für Gilles einsetzt. Ob Reinach légende de Barbe-Bleue, dont il veut que Gilles ait mit seiner These recht hat, lässt sich hier nicht été «l’objet et la matière première».912 belegen. Der grundsätzliche Beitrag von Reinach ist die Skepsis gegenüber den Gerichtsakten zum Fall Gilles, welche nach dem Prozess auch ver- vielfältigt und veröffentlicht wurden. Die unge- 909 France 1981, S. 167. heuerlichen Verbrechen, die man Gilles anlastet, 910 Brandes 1919, S. 190. 911 Fleuret 1933, S. 12; beim 1921 als eigene Ausgabe pu- 906 Ebd., S. 281. blizerten Texte nannte sich Fleuret «Docteur Ludovico 907 Ebd. Hernandez». 908 Ebd. 912 Ebd., S. 82. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 149

Diese von Bossard und Reinach ausgelöste Dis- crimes en fleur... Toi, Seigneur, nourri de l’haleine kussion um die Schuld von Gilles wurde von de dix mille volcans, tu seras le bijou qui resplendira Huidobro künstlerisch resümiert. Der chilenische la nuit de ma mort. Je voudrais fuir et tu m’attires, Schriftsteller Vicente Huidobro (1893–1948), tu me chasses et je te supplie. Quel mystère dort au der in Madrid 1921 die Avantgardezeitschrift fond de nos corps?916 Creación – Revista Internacional de Arte gegründet hatte und zum Begründer der literarischen Bewe- Diese «mystère au fond de nos corps» bildet den gung des Creacionismo wurde, eckte politisch wie Grund für die übernatürliche Macht von Gilles, literarisch an. Marie-Claire Zimmermann hält er löst eine irrationale Faszination und Verführ- 1988 fest: «Vicente Huidobro était avant tout barkeit aus. So sagt die für ihn arbeitende Hexe: un non-conformiste, un iconoclaste, en quête de «Il est l’Alchimiste, il est l’Astrologue, il est l’En- conventions à détruire et à recréer.»913 Um 1925 chanteur, il est le Sorcier. Ses yeux sont pleints de bis 1926 verfasste Huidobro laut Zimmermann signes insondables, il est le pouvoir et sa présence das französische Stück Gilles de Raiz, welches pénètre en nous comme une griffe.»917 Diese Fas- 1932 veröffentlicht und 1933 ausschnittweise in zination führt zu einer reichen Legendenbildung, Paris aufgeführt wurde. Darin lassen der Autor die Gilles selber fördert. So meint er angesichts und der Protagonist die Frage offen, ob Gilles die der Anschuldigungen eines Bauern und zweier ihm angeschuldigten Verbrechen begangen hat; Bäuerinnen gegen ihn nur: «Tout cela est bon dieser ruft seinen Richtern entgegen: pour la légende.»918 Die Aufgabe, die Huidobro sich stellt, ist es, diese Legende zu entwirren, de- Je reconnais tout ce que vous voudrez et je ne me ren irrationale Seiten aufzuzeigen, und die wirk- repens de rien de ce que j’ai fait, je le ferais encore. liche Sprengkraft der Figur Gilles zu entdecken. Ha! Ha! Ha! j’ai assassiné des femmes et des enfants, In dieser Absicht der Demystifizierung tau- je les ai dépecés, je leur ai déchiré le ventre avec mes chen im Stück auch Referenzen auf Barbe-Bleue ongles, je leur ai arraché le cœur et l’ai offert en ho- auf, die eine Rekonstruktion von Barbe-Bleue als locauste aux démons. […] J’ai fait tout ce que vous «Urbild» des Mythos Gilles ermöglichen. Huido- désirez et même davantage, si cela peut vous faire bro lehnt sich gegen alle als wahr akzeptierten ge- plaisir. Ajoutez! Ajoutez! mes épaules sont solides.914 sellschaftlichen Setzungen auf und setzt sie laut Zimmermann einer grundsätzlichen Demystifi- Hochmütig akzeptiert er alle Anschuldigungen, zierung aus: «La démythification […] porte sur «sans que le public puisse savoir si cela fut vrai les pratiques extérieures de la foi chrétienne, sur ou si les mots inventent librement l’horreur», wie les rites de la magie noire […] et s’attaque à des Zimmermann erläutert.915 Bei Huidobro ist Gil- croyances, à des postulats théologiques».919 Für les ein Mann großer Anziehungskraft und Faszi- Huidobro steht nicht die Frage der Schuld von nation für die Frauen. Eine davon, die er verlassen Gilles zur Debatte, sondern welche irrationalen hat, ist von ihm gleichsam besessen und ruft ihn «Wahrheiten» die Gesellschaft kreiert. Wie der in seiner Abwesenheit an: Mensch sich Gott konstruiert, so konstruiert er sich auch den Teufel. Oh, Seigneur Gilles de Raiz! Oh! Grand Seigneur! Die Verunsicherung, die Huidobro durch Tu es la vie et la mort, tu es l’absolu au delà de seine absichtlichen Fehl-Konstruktionen auslöst, l’absolu... tu es l’angoisse de l’inaccessible, toi, Sei- führt an die Frage heran, wie es dazu kommen gneur, vêtu de poèmes et d’étoiles de louanges, les konnte, dass Gilles zur Zielscheibe derartiger An- lèvres gonflées de délices et entouré d’une auréole de 916 Huidobro 1988, S. 53f. 913 Zimmermann 1988, S. 27. 917 Ebd., S. 64. 914 Huidobro 1988, S. 261. 918 Ebd., S. 125. 915 Zimmermann 1988, S. 17. 919 Zimmermann 1988, S. 19f. 150 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 schuldigungen wurde. Bei Huidobro empfindet sprechung von Gilles bildete den Stand des Gilles für seine Frauen eine maßlose Liebe, die Wissens, als Natonek 1938/39 in Paris zu Gilles von ihnen laut Zimmermann auch erwidert wird: und Jeanne recherchierte. Wie Huidobro inte- ressiert ihn die Entstehung und Bedingung die- Le Gilles de Raiz inventé par Vicente Huidobro est ser Fiktionalisierung, wie bei Huidobro steht bei un homme qui se définit avant tout par un amour ihm Gilles’ Beziehung zu Frauen im Mittelpunkt. démesuré pour les femmes […] Gilles voue un culte Doch Natonek wollte nicht das Resultat, also den à l’amour parce que celui-ci est source de sensations sich selber als diable Bezichtigenden erforschen, sublimes, parce qu’il métamorphose tout l’être, sondern erzählt im Roman Blaubarts letzte Lie- corps et esprit, instaurant un état inconnu où s’al- be die Geschichte des Mannes, der sich in diese lient joie et angoisse, livrant passage à un Moi nou- Fiktion verstrickt und daran stirbt. Die Unschuld veau, soudain possédé d’un heureux délire ou d’une an den grauenhaften Morden ist für Natonek des- bienfaisante folie.920 halb nicht nur mehr eine Vermutung, sondern (wie bei Reinach) Gewissheit. Es ist diese «amour démesuré», die ihn zum Hexer In der «seriösen» Geschichtsschreibung und in werden lässt, die Legendenbildung auslöst und am den meisten Essays der Nachkriegszeit gilt jedoch Ende sein Verderben bestimmt. Im Epilog disku- die Unschuldsvermutung für Gilles als wider- tieren Figuren wie der unter seinem Pseudonym legt, und er wird in den meisten aktuellen Pub- Docteur Hernandez figurierende Fleuret, Huys- likationen, wie etwa bei Michel Hérubel (1982), mans, France und der Marquis de Sade den Fall Philippe Reliquet (1982) oder bei Jacques Heers gemeinsam mit Gilles. Die ebenfalls anwesende (1994) für schuldig erklärt. Hérubel zum Beispiel Figur «Moi» besteht darauf, dass Gilles ein diable ist überzeugt, dass Reinach angesichts von nach ist, als literarische Figur des faszinierend Bösen. seinem Aufsatz verfassten Studien seine Meinung Die «âme sans mésure» bei Huysmans entwi- ändern würde: ckelt Huidobro weiter als «amour sans mésure», nur spielt die Fiktionalisierung eine ganz andere Les travaux de Freud, les études sur le sadisme, de Rolle. Während bei Huysmans die Fiktion, in Krafft-Ebing, les perversions, de D.J. West, ou les diesem Fall die Legende oder das Märchen, den névroses, du Dr Edmund Bergler, entre autres, sont wahren bösartigen Charakter von Gilles hervor- apparus après la mort de Salomon Reinach. Il n’est hebt, sagt diese bei Huidobro nichts über Gilles, pas douteux qu’à la lecture de ces ouvrages, il eût sondern alles über die Menschen, die solches glau- révisé radicalement son jugement. Il se serait attaché ben. Huidobro spezifiziert so den von Reinach à cerner cet univers crépusculaire qui allait devenir beschriebenen Prozess der Diffamierung gegen au long de sa vie un sépulcre ardent.921 Gilles mit dem «éternel arsenal de la malignité humaine, spéculant sur la crédulité et la sottise», Gilles fungiert heute weiterhin in diversen Stu- als einen allgemeinen Mechanismus, mit dem die dien und bei künstlerischen Arbeiten, wie Huido- Gesellschaft sich einen Teufel schafft. Huysmans bro es aufzeigte, als Projektionsfläche zahlreicher selber erscheint als Betreiber dieser hetzerischen Hypothesen und Formulierungen des faszinie- Fiktion, deren Mechanismus Huidobro freilegen rend Bösen. will, auch wenn Huidobro Huysmans nicht direkt Kirchenkritisch ist die weiter oben erwähnte kritisiert. Studie Le procès de Gilles de Rais von Georges Ba- Diese von Bossard ausgelöste und von taille von 1959, in welcher er zusammen mit Pi- Huysmans, Reinach, Fleuret und Huidobro berei- erre Klossowski alle Prozessakten zum Fall Gilles cherte Diskussion zu einer möglichen Schuldig-

920 Ebd., S. 14. 921 Hérubel 1982, S. 195f. Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 151 herausgibt und mit einem Essay kommentiert.922 chen Ethik eine völlig andere Tragweite: Dem Trotz seiner satanistischen Handlungen sei Gilles Verbrecher wird verziehen, weil seine Bluttat der zeitlebens nie von seinem katholischen Glauben Gemeinde die Kraft der Seele offenbarte, er somit abgewichen. Konträr zur verbreiteten Stilisierung der christlichen Gemeinde etwas «Wunderbares» als belesener Adeliger charakterisiert Bataille ihn zukommen ließ. «Heilige» und «Anti-Heilige» lie- als dumm, kindlich und anarchisch. Wesentlich gen sehr nahe beieinander – eine Feststellung, die für Bataille ist, dass Gilles schon als 22-jähriger auch Natonek macht, als er die Taten und Hin- den Krieg für seine Zwecke missbraucht habe, richtungen von Jeanne und Gilles und ihre gegen- da er bei seinen Aktionen, und auch bei seiner sätzlichen Rollen für die Nachwelt beschreibt. Unterstützung von Jeanne, sich an Plünderungen Bataille spricht nicht von «gewöhnlichen» und anderen Untaten beteiligt habe. Bataille fol- Verbrechen, wo das Verbrechen aus einem erklär- gert daraus, dass die Kindermorde einen Ersatz baren Grund ausgeübt wurde, sondern er zielt auf für die ihm später verweigerte Kriegsbeteiligung das Unerklärbare, «hier sind wir bei den Antipo- darstellten. Bei Bataille wird der Antiheld Gilles den der Vernunft».924 Dieses «heilige Ungeheuer» zur Personifizierung der Selbstüberschätzung («monstre sacré»), wie Bataille ihn nennt, erhielt des Westens und des Christentums und den in einen Übernamen: «die Armen früher gaben ihm ihren Namen begangenen Verbrechen. Wichtig – einfacher – den Namen Blaubart.»925 Gerade ist nicht nur, dass er die Beschönigungen von zur Beschreibung der Verbrechen der National- Bossard von 1885 aufhebt, sondern auch, dass er sozialisten ist das Übertreten alles Rationalen ein die Schuld von Gilles mit der christlichen Moral vielbenutzter Topos. An diesen Topos schließt zusammenbringt. Für Bataille zeigt der Rückzug Bataille mit seiner Interpretation von Gilles/ der Exkommunikation von Gilles und die Er- Barbe-Bleue an und steht damit konträr zu der möglichung eines würdigen Begräbnisses in der von Hannah Arendt anhand des Nationalsozialis- Kirche Notre-Dame-du-Carmel in Nantes nach mus postulierten «Banalität des Bösen».926 Bataille dem vollständigen Geständnis von Gilles, dass umgeht einen solchen Vergleich, indem er keinen die katholische Kirche die Verbrechen von Gilles direkten Bezug zu den Verbrechen der Nazis her- nicht verurteilte, sondern die von ihm verbreitete stellt, – und in der Tat können die rauschhaften Gewalt für sie eine Notwendigkeit darstellte: und exzessiven Verbrechen von Gilles nicht mit dem systematischen Vorgehen totalitärer Staaten Das Christentum, so scheint mir, fordert nicht die verglichen werden. Herrschaft der Vernunft. Vielleicht will es auch Auch wenn viele Fragen offenbleiben müs- keine Welt, in der Gewalt ausgeschlossen wäre: Es sen, zeigt der Exkurs zu Gilles, dass seit der Ver- rechnet mit der Gewalt. Was diese Religion sucht, öffentlichung der Studie von Bossard 1885 eine ist Seelenstärke, ohne die Gewalt nicht ertragen vielstimmige Debatte zum Verlauf der Ereignisse werden könnte.923 um Gilles stattgefunden hat. Der schon damals bekannte Roman von Huysmans von 1891 führte In der Beschreibung von Bataille erhält das Dik- schnell zu einer Internationalisierung der Debat- tum vom Verzeihen der Sünden in der christli- te, doch es war Reinach, der 1904 die Unschuld von Gilles behauptete und die zeitgenössische Bri- 922 Das ist derselbe Pierre Klossowski, welcher 1934 mit sanz dieser Diskussion im Vergleich mit Dreyfus Antonin Artaud eine Aufführung nach den Ideen des Théâtre de la cruauté geplant hatte; vgl. Kapitel «Bert- 924 Ebd., S. 14 rands und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialis- 925 Ebd., S. 15. mus», Abschnitt «Artauds ‹Théatre de la cruauté›». 926 Zu Hannah Arendt und der «Banalität des Bösen» vgl. 923 Bataille 2000, S. 13. Sein Grab wurde um 1790 mit der Kapitel «Heiselers christliche Vision des Verzeihens», Schliessung der Kirche Notre-Dame-du-Carmel nach Abschnitt «Verbrechen, Gewalt und Erinnerungskultur der französischen Revolution 1789 aufgehoben. in Das Haus der Angst». 152 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 offenlegte. Dies führte zu einer Polarisierung, die auf der Flucht aus der Burg, als unbeabsichtigte sich im Drama von Huidobro von 1932 zu ent- Folge ihres Beziehungsdramas. Außer der drit- laden suchte. Es war auch die Ausgangslage für ten werden alle in den historischen Berichten zu Natonek, der sich wie Reinach, Fleuret und Bran- Gilles erwähnt. Natonek distanziert sich in seiner des von der Unschuld von Gilles überzeugen ließ. Erzählung vom Wunderglauben, baut aber auf Es ist einigermaßen erstaunlich, dass Gilles nach manichäische Gegensätze, etwa zwischen Engel dem Zweiten Weltkrieg plötzlich wieder fast all- und Dämon, göttlicher Magie und götzenhaftem gemein und widerspruchslos schuldig gesprochen Zauber, die den Figuren bei der Orientierung wurde. helfen und ihnen ein mittelalterliches Gepräge geben. In dieser naiven Spiritualität folgen Gilles und Jeanne d’Arc nicht den klerikalen Hierar- Fazit chien, sondern, wie bei präreformatorischen Be- strebungen, etwa von Jan Hus, der individuellen Im Roman von Natonek werden die historischen Erfahrung von Gott. Angaben zu Gilles de Rais neu bewertet, die um- Der Ton ist bei Natonek durchwegs realistisch strittene Verbindung mit Blaubart wird zu einem gehalten, außer in der «Flächenhaftigkeit» einiger zentralen Element: Sie zeigt, dass Gilles kein Charaktere, wie Gilles selber, welche, wohl um Kindermörder, sondern ein gescheiterter Liebha- dem Mittelalter zu entsprechen, ein sehr wun- ber ist. Blaubart wird modern gelesen, ist keine derhaftes Weltverständnis haben. Märchenhaft Komödie um Machtgeprotze und kein ironisches ist nur die Geschichte von Blaubart, die Jeanne Märchen, sondern eine tragische Erzählung der d’Armentier von ihrer Mutter als Warnung vor Geschlechterbeziehung. In der Verbindung von Gilles erzählt und zu grausamer Wahrheit wird. Gilles und Blaubart ist diese Lesart ungewöhn- Die Erzählung Blaubart wird nur andeutungs- lich, sowohl für die Geschichte von Gilles wie für weise eingeführt. Mit Jeanne d’Armentier gibt es diejenige von Blaubart. Das zeigt insbesondere eine «letzte» Ehefrau, deren Mutter ebenfalls eine der Exkurs zu Gilles und seiner Rezeption anfangs Rolle spielt. Diese ist es nämlich, die ihrer Tochter des 20. Jahrhunderts. Indem Natonek Gilles nicht die Geschichte von Blaubart als Mise-en-abyme als Sexualmörder sieht, grenzt er sich ab von ob- erzählt und so vor ihm warnt (im Gegensatz zu sessiv-fetischistisch gewaltverherrlichenden Publi- Perrault, wo die Mutter ihre Tochter mit Barbe kationen, die im Gefolge von Bossard und Huys- bleüe verkuppelt). Eigentlich Blaubart-haft sind mans in verschiedenen Ländern erschienen. Da bei Natonek die Frauenbeziehungen des Protago- er gleichzeitig Gilles doch als Blaubart darstellt, nisten, wie sie in den tragischen Adaptionen seit konstruiert er auf den ersten Blick einen Wider- Maeterlinck im Zentrum stehen. sinn, den er auflöst, indem Blaubart eben ein ge- Reinach vergleicht Gilles mit den Templern, scheiterter Liebhaber ist. Diese Problematisierung welche von der Inquisition verfolgt wurden – der heterosexuellen Beziehung aus männlicher Natonek legt die Spur zu frühreformatorischen Sicht gab es zu dieser Zeit in der Blaubart-Rezep- Loslösungsbestrebungen von der katholischen tion nur in Ehescheidungskomödien und wurde Kirche. Für die Kirche lag möglicherweise darin in ernsthafter Form erst in Max Frischs Roman der Grund, warum sie die Verfolgung von Gilles Blaubart wieder aufgegriffen. befürwortete: Gilles galt als Querdenker, der sich Gilles wird als Blaubart bezeichnet, weil seine selber eine Kirche hielt, – die Kirche wollte aber Frauen verschwinden. Die erste Frau, Catherine ihre Autorität bewahren. Beide Autoren vermuten de Thouars, hat er auf einer Burg zurückgelassen, bei dieser Anklage gegen Gilles seine Unschuld, die zweite, von ihm verehrte, Jeanne d’Arc, stirbt beide beziehen sich dabei auch auf zeitgenössische auf dem Scheiterhaufen, ohne dass sie zusammen- Ereignisse, Reinach auf Dreyfus und Natonek auf kamen, und die dritte, Jeanne d’Armentier, stirbt seine eigene Verfolgung als Jude und die Situation Intimer vs. politischer Blaubart bei Natonek 153 im besetzten Frankreich um 1940. Reinach und wäre im deutschen Sprachraum einmalig gewe- Natonek sehen in Gilles, der sich mit Alchimie sen. Gilles ist nicht nur unschuldig, er wird auch auseinandersetzte und so einen idealen Hexer zum Protagonisten eines Flüchtlingsromans, eines abgab, den Prototyp des nicht in das christliche Zeugnisses gesellschaftlicher Ausgrenzung und Gesellschaftsbild passenden Außenseiters. Es ist eines sehr persönlichen Geständnisses gescheiter- auffällig, dass meist jüdische Autoren (Reinach, ter Liebe, mit anderen Worten: zu einem starken Brandes, Natonek) Gilles als unschuldig beschrei- Sympathieträger. Dieser historische Roman, die- ben – sie hatten schon vor der Shoah die Erfah- ser Flüchtlingsroman, diese Beziehungsgeschich- rung gemacht, dass die Ausgrenzung aus der Ge- te wurde von Natonek auf eigene Faust während sellschaft durch üble Nachrede tödlich sein kann. der Flucht und im Asyl realisiert, und erreicht so Während Reinach wissenschaftlich arbeite- eine Authentizität, die der in diesem Roman ge- te, schrieb Natonek einen Roman. So konnte er wählten Sprache entspricht. Dieser Roman, so die überhaupt Gilles als Spieler seiner Fantasien und, Schlussfolgerung aus der hier erfolgten Auseinan- in den Worten von Serke, als Sinnbild radikaler dersetzung, spricht für den Schutz von Minder- Erotik beschreiben. Eros ist hier über die Sexua- heiten, wie auch von abweichenden Liebesvor- lität hinaus ein Begriff der Hingabe und der Lei- stellungen, somit auch für Menschenrechte und denschaft. Gilles wird bei Bataille zum irrational anderen Rechtsschutz, gegen Totalitarismus und handelnden Mörder, während er bei Natonek ein für einen bürgerlich geprägten Liberalismus. unschuldig Verfolgter ist. Natonek benutzt das Die Zwiespältigkeit wird in Blaubarts letzte Motiv der künstlichen Schöpfung durch Pigma- Liebe als Qualität sichtbar: Indem Natonek gleich- lion, wie schon in Là-bas von Huysmans das Phä- zeitig die Unschuld von Gilles behauptet und nomen des Pigmalionismus eine wichtige Rolle ihm die Schuld des Scheiterns an seinen Frauen spielt. Für Huysmans ist das eine sexuelle Perver- unterstellt, haben wir ein wahrlich ambivalentes sion, bei welcher ein Autor sich in die von ihm Werk vor uns: Weder ist ganz glaubwürdig, dass er selber geschaffene Figur verliebt. Natonek sieht wirklich kein Massenmörder war, noch, dass er im Pigmalion als Kontrast zum tötenden Blaubart. Kern ein gescheiterter Liebhaber ist. Damit wird Das bei Natonek beschriebene Seilziehen zwi- ein anderes Thema angesprochen: Wenn Natonek schen guten und bösen Kräften lässt sich wieder recht hat mit seiner Interpretation und er selber mit dem in Là-bas diskutierten Manichäismus in ein gescheiterter Liebhaber war, sah er sich doch Verbindung bringen, ja, der Roman von Natonek als jemand, dem unterstellt wird, ein Massen- erhält so noch klarere Tiefenschärfe: Jeanne und mörder zu sein? Die Verfolgung als Jude musste Gilles als Gegensatzpaar sehen sich auf beiden sich auf jeden Fall genau so anfühlen, nämlich, Seiten dem Kampf dieser Kräfte ausgesetzt. Ent- für sein normales menschliches Streben in Be- sprechend wird sie, weil sie auf ihrer Wahrheit be- ruf und Leben mit monströsen Anschuldigungen harrt, zum Sinnbild des Guten, zur Heiligen, und konfrontiert, in den Tod getrieben zu werden. So er, weil er auf seiner Lüge beharrt, zum Sinnbild ergibt sich hier unverhofft ein indirekter Bericht des Bösen. eines Zeitzeugen der Judenverfolgung im Zweiten Es handelt sich hier um einen historischen Weltkrieg. Roman. Natonek schrieb zeitgemäß und arbeite- Gewürdigt werden konnte dieser Bericht te die Faktenlage sorgfältig auf. Da außer Georg nicht. Natonek galt bis in die 1990er Jahre als Brandes 1913 niemand auf Deutsch die Un- vergessener Autor, da er von den Nazis verfolgt schuldsvermutung von Reinach aufgriff, hätte und sein Werk zensuriert worden war. Zwischen Natonek bei damaliger Veröffentlichung eine den Weltkriegen Feuilletonist und Schriftsteller in neue Sichtweise auf die Figur Gilles im deutschen angesehener Stellung, konnte er seine Karriere in Sprachraum vertreten und somit eine besondere den USA nicht mehr fortsetzen. Nur das autobio- Übersetzungsleistung erbracht; dieser Blaubart grafische ZeugnisIn Search of Myself wurde 1943 154 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 publiziert, von weiteren in den USA verfassten Romanen keiner mehr. So auch nicht Blaubarts letzte Liebe, 1988 postum von Jürgen Serke her- ausgegeben, der in der Forschung oder im Feuille- ton nicht groß rezipiert wurde. Der Roman erfüllt nur teilweise die rückblickenden Erwartungen an ein Kriegszeugnis, welches die unfassbaren Greuel des Krieges einer heutigen Vorstellung gemäß be- schreiben würde. Ein in Mittelalter angesiedelter Roman, welcher historische Tatsachen fiktional weiterspinnt, scheint im Rückblick unpassend. Das ist jedoch die Strategie von Natonek, die er wiederholt angewendet hat und die den Roman interessant macht. Er schafft eine Uneindeutig- keit, die die Leser zwingt, vorgefertigte Meinun- gen abzulegen, einen Bösewicht als gescheiterten Liebhaber kennenzulernen und mit ihm zu lei- den, wenn er hingerichtet wird. Natoneks Strate- gie wäre wohl auch bei einer Veröffentlichung in der Nachkriegszeit zum Scheitern verurteilt gewe- sen; sein Roman hätte ein ähnliches Schicksal wie den hier (im Kapitel zu Christian-Jaque) disku- tierten Film Juliette ou la clef des songes von Mar- cel Carné treffen können: Das Publikum wollte sich nach dem Krieg nicht mit diesem befassen, nicht mit unschuldig Verfolgten und auch nicht mit ihren intimen Problemen. Damit haben wir einen unpassenden Roman vor uns, der bis in die Gegenwart nicht mehr wirklich an den Bestsel- ler-Gedanken anknüpfen kann, dem Natonek als Autor ziemlich sicher gefolgt war. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 155

Ibert und die «Geistige Lan- de Malacca (1937) von Marc Allégret und (uner- wähnt) in De Mayerling à Sarajévo (1940) von Max desverteidung» der Schweiz Ophüls. Auch war er an verschiedenen Theatern engagiert und schrieb erste dramatische Texte. In Paris kündigte er schon 1922 die politische Farce Bei Radio-Lausanne wurde 1943 die komische Claquefesse et Tétalangue an, sie wurde aber erst Radiooper Barbe-Bleue von Jacques Ibert gesen- 1928 in Genf aufgeführt.930 det. Ebenfalls unter dem Titel Barbe-Bleue wur- Der Kriegsbeginn beendete die international de 1940 von Jean Binet eine Radiooperette aus- ausgerichtete Schauspielerkarriere von Aguet, und gestrahlt, von der nur Fragmente erhalten sind. während er im Ersten Weltkrieg für Frankreich als Für beide Produktionen schrieb William Aguet Soldat gedient hatte, wanderte er 1939 in die West- das Libretto, beide gelten gleichsam als verges- schweiz aus, wo er sich auf die Arbeit als szenischer sen.927 Anhand eines Schlüsselmoments in Iberts Autor konzentrierte. Das Schweizer Radio verfügte Radiooper, dem überraschenden Gelächter von in dieser Zeit über beträchtliche Gelder, da dem Barbe-Bleues Ehefrau in der ihr verbotenen Kam- Radio ein hoher nationaler und erzieherischer Wert mer, lassen sich emanzipatorische Ideen zu Ge- zugeschrieben wurde, wie Jacques Tchamkerten schlechterrollen feststellen. Basierend auf dieser schreibt: «Considéré comme un puissant moyen primären Analyse wird eine sekundäre Auslegung d’éducation, d’information et de divertissement, [la entwickelt, in welcher das hermetisch fiktionale radio en Suisse] bénéficie de ressources financières Hörspiel der damaligen politischen Situation ge- – d’origine publique ou privée – considérables.»931 genübergestellt wird. Dabei zeigt es eine erstaun- Noch im selben Jahr erhielt Aguet eine Stelle bei liche Sensibilität für die Fragen und Bedingungen Radio-Lausanne, wie Tchamkerten weiter ausführt: künstlerischen Schaffens in der Schweiz während «il est engagé par Marcel Bezançon, le directeur de des Zweiten Weltkriegs.928 Radio-Lausanne, désireux de réunir de véritables talents afin de professionnaliser son studio et d’en faire, en ces temps difficiles, un outil efficace pour Einleitung le soutien moral de la population.»932 Aguet verfass- te mehrere komische «pièces en un acte», die auf Der Autor der Libretti zu diesen beiden Stücken, Lausanner Bühnen und am Radio aufgeführt wer- William-Edouard Aguet (1892–1965), wurde in den, unter anderem Les Petits Plats dans les Grands Paris geboren, wo er bis zum Zweiten Weltkrieg (1940). Beim Radio wurde er bald bekannt, wurde lebte.929 Seine Familie stammte aus Lutry bei Genf, in der Programmzeitschrift Le Radio wiederholt wodurch Aguet vermutlich französisch-schweize- abgebildet und enthusiastisch beschrieben, und er rischer Doppelbürger war. Während seiner Pariser verfasste bis zu seinem Lebensende über hundert Zeit bildete er sich bei Charles Dullin zum Schau- Hörspiele für Radio-Lausanne. In diesen arbeitete spieler aus. Bald trat er in Nebenrollen in Spielfil- er auch mit zahlreichen Komponisten zusammen: men auf, etwa in Le tournoi dans la cité (1928) und «Il écrira par la suite de nombreuses pièces, opé- La Marseillaise (1938) von Jean Renoir, in La dame ras ou opérettes radiophoniques en compagnie des musiciens suisses, tels que Jean Binet, Hans Haug, 927 Studien zu den Radioopern Barbe-Bleue von Ibert und Pierre Wissmer ou Julien-François Zbinden, et col- Binet finden sich nach derzeitiger Erkenntnis keine. Die laborera également avec Henri Sauguet et Jacques Forschung im Bereich Radio wird durch die erst fast in- Ibert», wie Tchamkerten ausführt.933 existenten und ab den 1930er Jahren sehr lückenhaften Tonaufnahmen zusätzlich erschwert. 930 Aguet 2005, S. 31f. 928 Eine gekürzte Fassung dieses Kapitels wurde als Aufsatz 931 Tchamkerten 2005, S. 170. publiziert; vgl. Hiltbrunner 2013. 932 Ebd., S. 171. 929 Zu William Aguet vgl. Aguet 2005; Tchamkerten 2005. 933 Ebd. 156 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Abb. 10: Jacques Ibert: Barbe-Bleue (1943), Ankündigung in Le Radio, 10. Oktober 1943 Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 157

Aguets Stücke berühren zahlreiche Themen, so marché aux puces.»937 Radio Suisse Romande, das beschreibt er in Christophe Colomb, dem 1940 die Bestände von Radio-Lausanne verwaltet, hat von Radio-Lausanne erstmals ausgestrahlten «jeu offenbar vieles weggegeben, wie er weiter schreibt: radiophonique» mit der Musik von Arthur Ho- «pour ce que j’en sais la Radio s’est débarrassée negger, die Sorgen und Zweifel des Entdeckers, voici une dizaine d’années de la majeure partie des und im späteren Stück Le Récit de Noé von 1962 anciens textes qu’elle avait archivé …».938 In der mit der Musik von Jean-Jacques Grünenwald Bibliothèque Cantonale in Lausanne befindet sich schreibt er die Bibelgeschichte humoristisch um ein kleiner Teil des Nachlasses von Aguet, nicht und setzt sich gegen Rassismus ein. Besonderen jedoch die Bestände von Radio-Lausanne.939 Die Erfolg hatte er auch mit der Hörspielserie Eusta- prekäre Lage der Nachlassverwaltung des national che et le bourdon Bzz (1943) mit der Musik von bedeutenden Radioautors Aguet entspricht einem Jean Daetwyler.934 Diese Serie und andere Stücke häufigen Problem in der frühen Geschichte des mit Texten von Aguet wurden noch während der Radios. Besatzung auch in der Sendung Banc d’Essai im Radio-Lausanne gilt als Pionierinstitution staatlichen französischen Radio ausgestrahlt, wo des Radios in der Schweiz. In Lausanne wurde der emigrierte Aguet und seine Stücke keinen zur Unterstützung des Flughafenbetriebs am 14. Anlass zur Zensur zu geben schienen.935 In der Oktober 1922 die erste reguläre Funkstation der Schweiz erhielt Aguet sehr bald nach seiner An- Schweiz in Betrieb genommen, von welcher ab kunft auch patriotische Aufgaben und verfasste dem 26. Februar 1923 die private Gesellschaft schon 1940 für die 1.-August-Feier mit Jean Binet Utilitas für Radioempfänger sendete und somit eine «évocation radiophonique de la Suisse». Das auch das erste Radioprogramm in der Schweiz Stück erscheint als künstlerisch umgesetzte Pro- anbot.940 Im April 1923 folgten die unabhängige klamation und Beschreibung der nationalen Stär- Radioselbstbau-Zeitschrift Radio-Suisse und die ke in einer modernen literarischen Umsetzung Programmzeitschrift Le Radio. Im Juli 1923 wur- und wurde zur 650-Jahr-Feier der Eidgenossen- de auch in Genf über den Flughafenfunk ein Ra- schaft 1941 noch einmal aufgeführt. dioprogramm gestartet, in der deutschen Schweiz Nach der ausgesprochenen Beliebtheit wäh- hingegen konnte wegen Konzessionsproblemen rend der Kriegszeit und der allgemeinen Be- erst 1924 der Sendebetrieb aufgenommen wer- kanntheit in den Nachkriegsjahren gilt Aguet den. In der Folge wurde das Programm von Utili- mittlerweile als vergessen, wie Joël Aguet im tas unter Radio-Lausanne staatlich weitergeführt. Theaterlexikon der Schweizfeststellt, und so gibt Erst nachdem in allen Sprachregionen und grö- es zu William Aguet auch kaum weitere Literatur. ßeren Orten der Schweiz Radiostationen in Be- In Filmverzeichnissen wird teilweise sogar ange- trieb genommen worden waren, wurde 1931 die geben, er sei 1946 verstorben, und seine Tätig- Schweizerische Rundspruchgesellschaft SRG ge- keiten in der Schweiz nach der Schauspielerkar- gründet, als Dachgesellschaft für Rundfunk und riere werden nicht erwähnt.936 So weiß auch Joël Fernsehen in der Schweiz, welche in dieser Zeit Aguet, der William Aguet als bedeutenden Autor rein öffentlich-rechtlich organisiert waren. 1931 für das Radio einschätzt, nichts über den Verbleib wurden auch der Landessender Beromünster und von dessen Radio-Nachlass, sondern vermutet auf 1933 die Landessender in Sottens und Monte Anfrage, dass vieles davon nicht erhalten sei, und Ceneri eröffnet. Nach Kriegsausbruch am 2. Sep- er originale Radiohörspieltexte von Aguet in der tember 1939 wurde der Rundfunk dem Bundes- Romandie sogar auf dem Flohmarkt gefunden habe: «Il m’est arrivé d’en retrouver un ou deux au 937 Aguet 2008, S. 1. 938 Ebd. 934 Vgl. Aguet 2008 (E-Mail). 939 Vgl. Fonds William Aguet (Archivalien). 935 Vgl. Eck 1990. 940 Zu den Anfängen des Radios in der Schweiz vgl. Schade 936 Vgl. International Movie Database 2014. 2000. 158 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 rat und der Armee unterstellt und so «zum Träger werk bei der Entwicklung der Radiooper und des der Geistigen Landesverteidigung» der Schweiz Radiohörspiels, deren enge Verknüpfungen etwa erklärt.941 Zwischen den Radiostationen entwi- Hermann Naber beschreibt.945 Als erste für das ckelte sich eine Koordination für die Zusammen- Genre künstlerisch maßgebend beschreibt Dirk stellung eines nationalen Programms, wie Marc Hühner die 1933 von Werner Egk ausgestrahlte Reymond schreibt: Radiooper Columbus:

So war zum Beispiel das Radiostudio Genf, da es Werner Egks 1932 im Auftrag des Bayrischen über das Orchestre de la Suisse romande verfügte, Rundfunks geschriebener und 1933 urgesendeter für die «ernste» Musik zuständig, ferner für die Columbus stellt die erste großangelegte und künst- Berichterstattung über die internationale Politik, lerisch anspruchsvolle Funkoper dar. In drei Teilen insbesondere die Tätigkeit des Völkerbundes. Das beschreibt Egk, der sein Libretto selbst dichtete, Radiostudio Lausanne hingegen übernahm die lite- Columbus’ Durchsetzung seines Planes und Auf- rarischen und volkstümlichen Sendungen.942 bruch aus Spanien, dann die Überfahrt und An- kunft in Amerika und schließlich den Umschlag des Der Kriegsausbruch führte zu einer Aufwertung Ruhmes in Schmähung und Reue wegen der Grau- des Programms, welches vorher kaum radio- samkeit der goldgierigen Eroberer.946 eigene künstlerische Produktionen enthielt, und Radio-Lausanne sendete ab dieser Zeit regel- Ob sich Aguet und Honegger davon für das mu- mäßig qualitativ anspruchsvolle Hörspiele und sikalische Radiospiel Christophe Colomb (1940) Radioopern, vieles davon Eigenkreationen. Die inspirieren ließen, kann hier nicht ausgeführt Forschung zu den Sendungen der Pionierzeit werden. Auf jeden Fall hatte die Radiooper von des Radios wird zum einen durch die erst ab den Egk Erfolg, und der Ausstrahlung im Radio folgte 1930er Jahren und erst nur lückenhaft existieren- 1934 eine konzertante und 1942 eine szenische den Tonaufnahmen erschwert, zum anderen legt Aufführung. In Deutschland selber blieb sie zu die Forschung bisher den Schwerpunkt eher auf dieser Zeit einmalig, wie Hühner schreibt: «Alle technische und politisch-militärische als auf in- übrigen im Dritten Reich entstandenen Funk- haltlich-künstlerische Fragestellungen. opern enthalten sich jeden Realitätsbezugs und Die Radiooper, auch Funkoper genannt, ist verarbeiten auf unterhaltsame Weise […] Mär- eine besondere Form des Hörspiels und hatte eine chen oder literarische Vorlagen.»947 In der da- Blütezeit in Deutschland in der frühen Nach- maligen Tschechoslowakei erhielt etwa Bohuslav kriegszeit, als viele andere Spielstätten zerstört Martinů Aufträge für Radioopern, 1935 wurden waren.943 Die Radiooper wird ausschließlich für Hlas lesa (auf Deutsch bekannt als Die Stimme des das Radio produziert und ist somit eine Oper Waldes) und Veselohra na moste (auf Französisch ohne Bühne. Da es sich um ein Hörspiel handelt, bekannt als La comédie sur le pont) ausgestrahlt. enthält die Radiooper oft gesprochenen Text und Heinrich Sutermeister schrieb die 1936 uraufge- erinnert so an das Melodram. Eine frühe musi- führte Radiooper Die schwarze Spinne für Radio kalische Hörspielarbeit, die mit dem Format der Bern, die 1949 umgearbeitet zu einer Bühnenfas- Radiooper experimentierte, ist die 1929 uraufge- sung in St. Gallen neu aufgeführt wurde. führte Kantate Der Lindberghflug (später Der Oze- Bei Radio-Lausanne finden sich in den Pro- anflug) von Bertolt Brecht, Kurt Weill und Paul grammzeitschriften besonders nach Ausbruch Hindemith.944 Diese Kantate gilt als Schlüssel- des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1939 Hin-

941 Vgl. Reymond 2000, S. 93. 942 Ebd., S. 93f. 945 Vgl. Naber 2005. 943 Zur Radiooper vgl. Hühner 1989; Goslich 1959. 946 Hühner 1989, S. 33. 944 Zum frühen Hörspiel vgl. Knilli 1961. 947 Ebd., S. 35. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 159

Abb. 11: Jean Binet: Barbe-Bleue (1940), Ankündigung in Le Radio, 27. September 1940 160 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 weise auf literarisch-künstlerische Radioarbeit.948 jahr und Sommer mit 32 bis 45 Musikern nur für Nach Einspielungen existierender Hörspiele, etwa das Radio und im Winter während der Haupt- von Georges Simenon und Blaise Cendrars Ende saison mit 84 Musikern auch offene Konzerte. 1939, begann bei Radio-Lausanne ab 1940 eine Durch die Inauguration eines neuen Aufnahme- kontinuierliche Eigenproduktion, wie ein Blick studios mit einer Orgel, dem Maison de la Radio in das damalige Radioprogramm zeigt und von in La Sallaz bei Lausanne am 2. März 1935, geriet Tchamkerten bestätigt wird: die Zusammenarbeit in eine Krise.951 Das Genfer Radio-Orchester sollte dafür nach Lausanne um- Rapidement apparaît une nouvelle forme d’ex- ziehen, was dem OSR einen Großteil seiner Res- pression faisant un large usage des effets sonores et sourcen und fast die Hälfte der Musiker zu ent- des infinies possibilités offertes par le microphone. ziehen drohte und eine temporäre Auflösung des D’innombrables «jeux radiophoniques» voient le OSR bewirkte. Trotzdem hielt Ansermet die Kon- jour mêlant parole et musique, cette dernière se sub- zerttätigkeit aufrecht, setzte auf eine Zusammen- stituant généralement au décor et ayant la charge de arbeit mit Radio-Genève und gründete temporär suggérer l’élément visuel absent.949 von 1935 bis 1938 die Association de l’Orchestre roman. Schon 1936 schlug er eine Fusion der bei- Daraus lässt sich schließen, dass Radio-Lausanne den Radio-Orchester in Genf und Lausanne vor, erst durch die kriegsbedingte Neuformulierung der die 1938 angenommen und durch den Bau eines Aufgabe des Radios für die nationale Verteidigung Studios für ein neues Radio-Orchester in Genf den Auftrag zur Produktion von Unterhaltungs- bekräftigt wurde. In Lausanne wehrte man sich stücken mit literarischem Wert erhielt. Die Band- vergeblich gegen die «Übernahme» des eigenen breite reichte in dieser Zeit von kleineren «jeux», Orchesters, und erst der Erfolg der Fusion konn- «pièces» und Operetten bis zu eigentlichen «opéras te den Konflikt schlichten. In der Tat spielten radiophoniques». Als der zentrale Spezialist dieser danach eigentlich weiterhin Musiker des OSR neuen Kunst, der «l’art radiophonique» in der fran- die Lausanner Produktionen ein, und das in der zösischen Schweiz, galt laut Tchamkerten Aguet.950 Programmzeitschrift 1943 bei Iberts Barbe-Bleue Die beiden von Aguet getexteten Blau- genannte Orchestre de la Radio Suisse Romande bart-Opern von Binet und Ibert wurden vom Or- war eigentlich zu diesem Zeitpunkt schon aufge- chestre de la Radio Suisse Romande eingespielt, löst.952 hinter welchem sich das weltbekannte Orchestre Wie in der Einleitung dargestellt, entwickel- de la Suisse Romande (OSR) verbarg. Dieses te sich in Lausanne ab 1939 am Radio eine rege 1918 von Ernest Ansermet gegründete Orches- künstlerische Tätigkeit entwickelte, an welcher ter mit Sitz in Genf konnte ab 1926 beim noch Aguet und sein Werk wichtigen Anteil hatten. sehr jungen Radio-Lausanne Konzerte ausstrah- Diese zu jener Zeit vielleicht wichtigste Produk- len, eine für beide Seiten wichtige und lukrative tionsstätte von Radioopern und anderen musi- Kooperation. Diese Zusammenarbeit wurde 1932 kalischen Erzählformaten im Radio konnten sich mit einer Vereinbarung gefestigt, welche die Fi- dabei auch auf das schon damals international be- nanzierung des OSR während der Wirtschafts- kannte OSR stützen. krise sicherte. Für das OSR war in dieser Zeit Im Folgenden werden nun die Radiooperette die Kooperation mit den Radiostationen äußerst von Binet von 1940, die Radiooper von Ibert von wichtig, sowohl die Besetzung des Orchesters wie 1943 und von letzterer auch inhaltliche Aspekte die Arbeitstätigkeit richteten sich ganz nach dem erläutert und ein möglicher zeitgenössischer poli- Kalender des Radios, es spielte jeweils im Früh- tischer Bezug hergestellt.

948 Vgl. Le Radio 1939. 951 Zum «guerre des orchestres» vgl. Tappolet 1979, S. 20– 949 Tchamkerten 2005, S. 170f. 26. 950 Ebd., S. 171. 952 Vgl. Le Radio 1943. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 161

ge) Partiturmanuskript zeigt. 955 Möglicherweise Die Radiooper Barbe-Bleue von Binet wurde die Produktion direkt übertragen und nur 1940 der erhaltene Ausschnitt auf Band aufgenommen. Barbe-Bleue (Paul Pasquier) steht hier zwei Brü- Der Komponist der Radiooperette Barbe-Bleue dern, ihren beiden Schwestern Aglaé (Jane Savig- von 1940, Jean Binet (1893–1960), hatte in ny) und Anne (Camille Foumier) und zwei Com- Genf, Paris und New York studiert, gründete dort mères gegenüber. Bei den Commères könnte es 1919 mit Ernest Bloch die erste Schule für die sich um einfache Ammen handeln, man bezeich- von Émile Jaques-Dalcroze entwickelte Musikleh- net damit aber auch die Animatrices einer Revue. re mit rhythmischer Gymnastik und nahm 1920 Da der Sprechtext und die Singstellen von Bar- an der Gründung des von Ernest Bloch geleiteten be-Bleue, der Brüder und der beiden Commères Cleveland Institut for Music in Ohio teil, wo ers- fehlen, lässt sich die Handlung nur mutmaßen. te Werke von ihm aufgeführt wurden. 1923 zog In den erhaltenen Manuskriptteilen fängt er nach Brüssel, wo er die Dalcroze-Methode an die Operette mit einer instrumentalen Ouver- der Reformschule École Decroly lehrte. Ab 1929 ture (Teil 1) an. Danach singen die Schwestern wohnte er im schweizerischen Trélex (Canton de in einem Duett (Teil 2) vom Verdacht, dass Bar- Vaud), arbeitete als freier Komponist und wurde be-Bleue schon sechs Frauen hatte, und sind sich zu einer wichtigen Figur im Westschweizer Mu- im Refrain einig, dass sie sich keinen solchen Ehe- sikschaffen der 1930er bis 1960er Jahre.953 Binets mann wünschen: Sinfonien wurden von Ansermet mit dem OSR uraufgeführt, er erhielt große Kompositionsauf- ce que nous voulons, c’est un gentil petit mari, tout träge aus der französischen wie der deutschen joli joli joli, Schweiz, war in der Leitung der Association orné d’une barbichette, blonde, rouss’ ou bien Suisse des Musiciens (Schweizer Tonkünstlerver- brunette, ein ASM/STV) und Leiter der staatlichen Suisa un gentil petit mari, tout joli joli joli, Stiftung für Musik, der Gesellschaft für Verwer- sans passé mystérieux aux six femmes, c’est odieux 956 tungsrechte von Schweizer Musikern. Zusammen mit Aguet verfasste er für Radio-Lausanne neben Zwar fehlt die entsprechende Textstelle, doch of- Barbe-Bleue noch fünf weitere «contes musicaux» fenbar lässt sich Aglaé von Barbe-Bleue trotzdem und die beiden «opéras bouffes»Monsieur du zur Ehe überzeugen, denn sie singt im nächsten Mollet und Cendrillon, ein noch nicht erforschtes Chanson (Teil 3) alleine: «le bleu c’est le beau ver- Konvolut an Märchenbearbeitungen für das Ra- be aimer […], le bleu c’est bien la vie à deux […], dio. le bleu c’est l’espoir d’être heureux».957 Nach der Von Binets «féerie radiophonique» Bar- Hochzeit setzt die kurze noch existierende Auf- be-Bleue, welche von Radio-Lausanne produziert nahme von Radio-Lausanne ein. Die Erzählerin und am 29. September 1940 von 20.00–20.40 beschreibt, wie sich die Frau von Barbe-Bleue in Uhr über den Nationalsender in Sottens ausge- der Kammer mit den getöteten Frauen befindet, strahlt wurde, sind von den vierzig Minuten nur gelähmt vor Schreck aufrafft und in ihre Zimmer knapp zwei Minuten erhalten.954 Es handelt sich zurückzieht. Dort versucht sie, wie bei Perrault, um eine Produktion für sechs Singstimmen und den blutbefleckten Schlüssel zu reinigen, und ein achtköpfiges Kammerorchester (Querflöte, singt wieder ein Chanson alleine (Teil 4): «je frot- Klarinette, Trompete, Schlagzeug, Klavier, Violi- te la clé de cette horrible porte, la tache disparaît, ne, und Violoncello), wie das (unvollständi-

955 Vgl. Binet 1940b (Manuskript). 953 Zu Binet vgl. Schuh u.a. 1964, S. 49–51; Zuber 2005. 956 Ebd., Teil 2. 954 Vgl. Binet 1940a (Tonaufnahme). 957 Ebd., Teil 3. 162 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 mon Dieu merci, elle reparaît, tout est fini!»958 Chanson in besonderer Weise Genugtuung ge- Danach fehlen zwei Abschnitte der Partitur (Teil zeigt, dass dem Barbe Bleue die Augen für immer 5 und 6), von denen der erste wohl gestrichen geschlossen werden konnten: «Que l’histoire de ce wurde (Notiz: «non exécuté»). Im nächsten erhal- fripon / Aux maris serve de leçon / Conseillant à tenen Abschnitt (Teil 7) sind die Schwestern wie- tout garçon / Plus douce mesure!»962 Die Moral, der zusammen und stellen im Chanson fest, dass eine Warnung an die Ehemänner, verlangt von ih- Anne schon als kleines Kind immer alles wusste, nen mehr Maßhalten. Es ist zu vermuten, dass bei Aglaé hingegen immer sehr unwissend war. Nach Binet in ähnlicher Weise die Erleichterung über einer weiteren Lücke (Teil 8), singen sie gemein- den bestandenen Schrecken geäußert wurde. sam ihr Chanson finale(Teil 9): «maintenant soy- Die erhaltene Aufnahme von Binet zeigt ein ons heureux, tout se termine pour le mieux».959 In Lied im Stil der Unterhaltungsmusik der 1940er diesem letzten Chanson ist nicht, wie bei Perrault, Jahre, und auch die weiteren Chansons haben ein- die Frau von Barbe-Bleue mit ihren Brüdern ver- fache und repetitive Texte mit kabarettistischem einigt und bald danach mit einem neuen Ehe- Witz. Statt um eine Radiooper handelt es sich also mann, sondern Aglaé ist wieder zusammen mit viel mehr um eine Radiooperette. Die Operette als ihrer Schwester Anne – ohne die Brüder und die unterhaltendes Singspiel orientiert sich stilistisch Commères. an der Oper, verzichtet aber auf narrative Komple- Durch die Duette wird der Austausch und xität und funktioniert vielmehr als musikalische das Zusammensein von Anne und Aglaé stärker Revue. Es ist zu vermuten, dass diese «féerie radio- betont als bei Perrault, und es ist der Alleingang phonique» als ganzes einer Operette entsprechend von Aglaé, der sie zu Barbe-Bleue und in Lebens- effektvoll inszeniert wurde; mit dem mysteriösen gefahr bringt. Dass ein ganzes Chanson dem Ver- Gerücht am Anfang, der naiv-glücklichen Ver- hältnis der beiden Schwestern gewidmet wird liebtheit von Aglaé, dem spannungsvollen Öffnen und sie alleine das Ende bestreiten, ist sehr un- der verbotenen Kammer, dem Schrecken darin, gewöhnlich und vielleicht sogar einzigartig in der der bittenden Unterwerfung von Aglaé und dem Stoffgeschichte von Blaubart. Anne, welche sich glücklichen Ende mit der Wiedervereinigung der schon bei Perrault nicht auf eine Hochzeit mit beiden Schwestern. So stand wohl weniger die Barbe-Bleue einlässt, nennt hier einen Grund für Logik der Handlung als die Komik der einzelnen ihre Weigerung: «je savais tout».960 Aglaé hingegen Chansons im Vordergrund. Mit der Betonung des ist durch ihre Unwissenheit offen für die Braut- Privaten und Intimen fokusiert diese Operette auf werbung von Barbe-Bleue. Es braucht das Wis- Aglaé und ihre Wünsche. Dabei wird der ideale sen ihrer Schwester und die Solidarität der beiden Mann verniedlicht als «gentil petit mari» darge- Brüder, um sie aus der Not zu retten. stellt, und die Szene der Schlüsselreinigung wird Um zu sehen, wie das Ende möglicherweise durch das wiederholte «je frotte, je frotte, je frot- angelegt war, lohnt sich ein Vergleich mit dem te» der Frau sexuell konnotierbar und Barbe-Bleue Kinderhörspiel Barbe-Bleue von Marie-Antoi- somit zum Inbegriff einer nicht zu befriedigenden nette de Miollis, welches schon am 16. Mai 1940 unheimlichen Männlichkeit. Eine solche sexuelle am französischen Radio als Folge der «Emission Lesart der traditionell gesellschaftlich gelesenen de Tante Marinette» ausgestrahlt wurde.961 Der (Im-)Potenz von Blaubart würde auch dem sons- Text orientiert sich zwar genauer an Perrault als tigen Wandel der Rezeption dieser Erzählung seit die Operette von Binet, dennoch wird im letzten Beginn des 20. Jahrhunderts entsprechen. In Binets «féerie radiophonique» von 1940 958 Ebd., Teil 4, entspricht der erhaltenen Aufnahme; vgl. finden die beiden Schwestern am Ende wieder Binet 1940a (Tonaufnahme). 959 Binet 1940b (Manuskript), Teil 9. zusammen, und erst ihr Zusammenhalt gibt ih- 960 Ebd. 961 Vgl. Miollis 1940. 962 Ebd., S. 29f. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 163 nen die nötige Stärke zum Überleben. Die eine komponierte Ibert noch zwei weitere Radioopern von ihnen ist gegen den «Feind» durch ihr Wissen für Radio-Lausanne: im Dezember 1947 Don gewappnet, die andere fühlt sich durch ihr Un- Quichotte de la Manche mit dem OSR unter der wissen von ihm angezogen. Barbe-Bleue symbo- Leitung von Ansermet und im November 1954 lisiert einen starken und unheimlichen Aggressor, Les aventures de Brrô et Tiss. welcher an der Vernichtung der beiden Schwes- Iberts Radiooper Barbe-Bleue wurde am 5. Juli tern interessiert ist. Da sie durch ihre Uneinigkeit 1943 von Radio-Lausanne aufgenommen, am 10. geschwächt sind, gelingt ihm das auch fast. Ein Oktober 1943 von 20.00–21.00 Uhr in Lausanne Vergleich mit der ebenfalls von Aguet getexteten über den Nationalsender in Sottens und am 14. Radiooper Barbe-Bleue mit der Musik von Ibert August 1945 in Frankreich ausgestrahlt.965 Die zeigt, dass die Situation bei dieser gleich um- Aufnahme dauert 58 Minuten und ist, wie auch gekehrt ist, dort ist es die wissende der beiden die Partitur (mit den Teilen A bis X), vollständig Schwestern, die den Barbe-Bleue zu heiraten be- erhalten, nur das Libretto von Aguet existiert schließt und dadurch ihre unwissende Schwester nicht mehr.966 In der Ironie und im Plot orientiert schützen will. sich die Radiooper sowohl an der gleichnamigen «opéra bouffe» von Jacques Offenbach von 1866 wie an der Erzählung von Perrault. Die mit Or- Die Radiooper Barbe-Bleue von Ibert chester und Orgel instrumentierte Produktion ist 1943 größer angelegt als diejenige von 1940 und ent- hält neben fünf Hauptgesangsstimmen noch wei- Jacques Ibert (1890–1962) war ein bekann- tere Rollen und einen Chor. ter Komponist im Paris der 1920er und 1930er Die Handlung ist in einer ländlichen Umge- Jahre.963 Er studierte vor dem Ersten Weltkrieg bung in der Vergangenheit angesiedelt. Der Pro- zusammen mit Arthur Honegger und Darius tagonist Gaston (Henri Francis), ein ängstlicher Milhaud am bei André und unter einem entstellenden Bart leidender Gédalge.964 Mit Honegger pflegte Ibert eine lange Mann, wird allgemein nur «Barbe Moche» ge- Freundschaft, und er arbeitete mehrmals mit ihm nannt und trotz seines Reichtums ausgelacht, so zusammen. 1937 wurde Ibert zum Direktor der etwa im Wirtshaus (vom Chœur des Buveurs, Teil Académie de France in der in Rom E der Partitur). Selber lacht er aber nie, wie im ernannt. Die Regierung Vichy enthob ihn 1940 ersten Lied, dem Chanson à deux (Teil B) betont seiner Ämter und verbot seine Musik, worauf wird. Er ist ohne festen Wohnsitz mit seinem per- Ibert im Süden Frankreichs blieb. Schon 1941 sönlichen Barbier Brillantin (gesprochene Rolle: wurden zwar die Anschuldigungen zurückgezo- Paul Pasquier, gesungene Rolle: Frank Guibat) gen, doch ganz rehabilitiert wurde er nicht. Ab und seinem Sekretär, dem Mönch Frère Âne (ge- September 1942 hielt er sich im schweizerischen sprochene Rolle: Max Lerel, gesungene Rolle: Burgdorf auf und ab April 1943 im französischen Hugues Cuenod), unterwegs. Gaston hat sich Saint-Gervais, wo er Barbe-Bleue komponierte testamentarisch dazu verpflichtet, den Bart nur und bei Radio-Lausanne auch deren Einspielung abzuschneiden, wenn er eine Frau trifft, die sich dirigierte. Nach dem Ende der Besatzung wurde nicht über diesen lustig macht. Frère Âne wid- er 1944 rehabilitiert und seine Musik auch in met deshalb dem Barbe Moche ein Gebet (Teil F, Frankreich wieder gespielt. Iberts Werk ist nicht Prière de Frère Âne): politisch ausgerichtet, sondern umfasst ein brei- tes Spektrum von musikalischen Arbeiten, oft für

Bühne, Radio und Film. Mit Texten von Aguet 965 Für Angaben zur Ausstrahlung vgl. Ibert 1943b; Le Ra- 963 Zu Ibert vgl. Sadie 2001; Laederich 1998. dio 1943, S. 1289, S. 1296; Laederich 1998, S. 189. 964 Tchamkerten 2005, S. 17f. 966 Vgl. Ibert 1943b und 1943a. 164 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Mon Dieu, rendez à mon Sire, mon maître, sur- Zwar erscheint der Gatte im Lied vor der Ver- nommé Barbe Moche wandlung in einen Ehemann als «homme subtil» La paix de l’âme et du menton […] (Kavalier) und so gänzlich gegensätzlich zu Per- Mon Dieu, même moche, qu’il décoche une femme, raults Barbe bleüe, doch indem das Lied mit dem Une dame sans opinion quant à sa barbe967 Wort «péril» (Gefahr) aufhört, wird der bekannte Blaubart-Plot heraufbeschwört. Nachdem ihrer- Brillantin seinerseits hat die Idee, den Bart in seits Virginie, wie von ihrer Mutter befohlen, ein einer dämonischen Séance blau einzufärben, und selbstgesticktes Taschentuch präsentiert hat, will erhofft sich dadurch eine Wandlung in Gastons Barbe-Bleue die Schwestern das Los ziehen lassen, Haltung. was Melpomène dank einem Trick für sich ent- In der Tat wirkt Gaston durch Brillantins Ein- scheidet und so zur Frau von Barbe-Bleue wird. griff schön, stark und gefährlich. Die Verdeckung Eine Weile nach der pompösen Hochzeit be- seiner Hässlichkeit löst bei ihm ein ungeahntes gibt sich Barbe-Bleue auf seine Reise. Er über- Selbstbewusstsein aus und verändert sein Leben gibt ihr sieben Schlüssel, von denen der letzte zu völlig. Er nennt sich nun Barbe-Bleue und jagt einer «chambre secrète» führt, die zu öffnen er den Menschen Angst ein. Er verheiratet sich, doch ihr streng verbietet (Teil N, Évocation des clés). In seine Ehefrauen verschwinden wiederholt, und es seiner Abwesenheit öffnet sie genau diese verbo- verbreiten sich Gerüchte über deren Verbleiben tene Kammer, findet darin aber nur nach Naphta- (Teil I, Scène devant le château). Wieder alleine, lin (also nach Mottenkugeln) riechende Kleider interessiert sich Barbe-Bleue für die beiden Töch- mit den Abreisedaten ihrer Vorgängerinnen und ter Virginie und Melpomène der Gräfin Comtesse bricht in Lachen aus (Teil R, Souterrain). Bar- de Léchiboisé. Die eine von ihnen, Melpomène be-Bleue ist kein Mörder, sondern ein Sammler (Marisa Morel), die wegen familiärer Geldknapp- von Reliquien seiner Frauen. Als Barbe-Bleue ihre heit bei einem Onkel in Spanien (in einem Tat entdeckt, will er sie in der Wut töten, doch Dorf namens Campo-Basso) aufgezogen wurde, als sie ihn mit Wasser bespritzt, entfärbt sich der spricht nun akzentuiert mit stark gerolltem «R». Bart, und er fällt gleichsam aus seiner Rolle. Wie- Sie möchte Barbe-Bleue heiraten, um ihre ängst- der schüchtern und unsicher gibt er zu, dass ihre liche Schwester Virginie vor diesem Schicksal zu Vorgängerinnen ebenfalls die blaue Färbung ent- bewahren. Um ihn zu überzeugen, singt sie das deckt hatten, sie ihn deshalb verließen, und er ih- Lied Mon bien-aimé siffle si bien (Teil L, Chanson nen ein Reisegeld je in ein anderes Land bezahlt de Melpomène), in welchem sie beschreibt, wie ihr hatte, damit ihre Trennung ein Geheimnis bleibe. Brautwerber ihren Vater durch das Nachahmen Überraschend kommt es nun zum gegenseitigen von Vogelstimmen täuscht und so ungestört mit Liebesgeständnis, Melpomène mag diesen «hom- ihr Zeit verbringen kann. Im Lied wird er nach me qui ne soit point comme les autres»969 und ak- einer Weile unverhofft zum Ehemann: «mon ché- zeptiert ihn auch als Barbe Moche. Auch kommen ri au château / S’est-il transformé en époux», und in diesem Moment ihre ganze Familie und alle sie rät den Frauen am Ende des Lieds: seine ehemaligen Frauen mit ihren neuen Gatten zu Besuch. Melpomène singt das Lied Mesdemoiselles je pensais épouser un fier à bras (Teil U, 2˚ Chanson Ayez toujours comme galant, un homme subtil de Melpomène): Il vous fera deux doigts de cour Sans jamais vous mettre en péril968 Je pensais épouser un fier à bras Un baron abracadabra Qui m’aurait donné le grand frisson 967 Ibert 1943b, min. 10:30–11:20. 968 Ibert 1947, S. 4. 969 Ibert 1943b, min. 35:10–35:15. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 165

Garantie sur blason vue-Lieder der damaligen Zeit komponiert hat- Eh bien! que voulez-vous? te, an der eklektischen Ästhetik der Les Six, und C’est un doux macht dadurch auch eine stilistische Verwandt- Qui n’a rien d’un casse-cou schaft mit der Musik von Jaubert für Bertrands Il est toujours mon époux oben besprochenen Barbe Bleue hörbar. Wenn C’est un homme vraiment doux970 man sich vorstellt, dass dieses musikalische Hör- spiel damals nur einmal im Radio zu hören war, Am Ende gibt Melpomène bekannt, dass der Bart wurde das Publikum doch ziemlich gefordert: Ei- ihres Mannes nun «à l’américaine» geschnitten, niges an der Erzählung ist neu, sowohl bei den dass heißt gänzlich und glatt abrasiert wird – Gas- Figuren, wie auch bei der Konstellation und den ton selber sagt dazu nichts. Handlungen; rastlos und verspielt, verwirrlich Die Schlussszene bei Ibert erinnert wiederholt und burlesk schreitet die Handlung voran. an die Oper von Offenbach, wo die ehemaligen Frauen ebenfalls erscheinen und neue Ehemänner erhalten und die letzte Frau, Boulotte, bei ihrem Das Verhältnis der Schwestern Barbe-Bleue bleiben will. Auch die Charakte- risierung Gastons als sensiblen und schwachen Auffällig ist das Verhältnis der Schwestern: Nicht Mannes, der über keine feste Autorität verfügt, so dominant wie bei Binets Radiooperette, ist es sondern einen falschen Eindruck verbreitet, um in der komischen Radiooper von Ibert doch auch Autorität zu behaupten, entspricht der «opéra sehr wichtig. Lässt sich bei Binet die jüngere von bouffe» von 1866. Anders als bei Offenbach gibt Barbe-Bleue überzeugen, will bei Ibert eigentlich Gaston aber keine Frauenmorde in Auftrag, die keine der beiden zu ihm. Virginie, die jüngere dann nicht ausgeführt werden, sondern lässt sich Schwester, fürchtet sich bei Ibert vor Barbe-Bleue bloß die «Anfärbung» falscher charakterlicher und sagt offen, dass sie ihn auf keinen Fall hei- Eigenschaften und die Bedrohung seiner letzten raten will. Melpomène benutzt einen Trick, um Frau zuschulden kommen. Die Frauen wollen ihn selber Barbe-Bleue heiraten zu können, den sie ohne seinen blauen Bart jeweils von sich aus ver- als Gefahr einschätzt, und so ihre Schwester zu lassen. Ähnliches lässt sich auch der Barbe-Bleue schützen. Sie wird als dominierend und besitzer- im gleichnamigen Film von Christian-Jaque von greifend dargestellt und bezeichnet sich selber als 1951 zuschulden kommen, welcher für die Erhal- «bouillonnante» («brodelnd»), ihre Schwester hin- tung seines Rufs ebenfalls fast zum Mörder wird. gegen als «molle» («weichlich»). Melpomène sieht Obwohl Christian-Jaque Ibert nicht erwähnt, sich also als extravertierte und heißblütige, viel- scheint er doch dessen Neuerung zu übernehmen, leicht auch cholerische Frau, und traut sich sogar lässt aber, wieder näher bei Offenbach, die Frau- zu, den vermeintlich gefährlichen Barbe-Bleue zu en in Barbe-Bleues Keller als Gefangene leben. besiegen. Dabei kann sie nicht auf die Hilfe ihrer Anders als bei Offenbach vor ihm und Chris- ängstlichen Schwester zählen, die sich gleichsam tian-Jaque danach, lässt bei Ibert die letzte Frau hinter dem Rock ihrer Mutter versteckt, sondern Melpomène den Bart ihres Mannes, sein äußeres steht alleine dem Trio Brillantin/Âne/Gaston Zeichen der Männlichkeit, am Ende ganz abra- gegenüber. So rettet sie nicht nur ihre Schwester, sieren. sondern beschert sich selber auch das (fragwürdi- Die Musik von Ibert vereinigt Elemente der ge) Eheglück mit einem «homme doux», den sie unterhaltenden wie der ernsten Musik. Bei Ibert eigenhändig bezähmt hat. orientiert sich die Musik stärker als bei Binet, Die Beziehung der Schwestern bei Perrault der 1940 im Stile populärer Operetten- oder Re- wird bei Ibert entsprechend zum Gegenstand der Persiflage. So gibt es, anlehnend an die Sœur 970 Ibert 1947, S. 5–7. Anne bei Perrault, den Frère Âne, welcher bei 166 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 jeder Gelegenheit zu heulen anfängt.971 Die be- nicht in der Katastrophe, wir vermeiden es, besänf- rühmte Stelle wiederum, als die Ehefrau ihre tigen das drohende Schicksal. Die Erschütterung Schwester nach den Brüdern fragt, und diese mit des Lachens birgt den Triumph über das Entkom- dem berühmten Spruch «je ne voy que le Soleil men.974 qui poudroye & l’herbe qui verdoye» antwortet, 972 wird hier verdreht eingesetzt: Als Barbe-Bleue Genau diesen «Taumel am Rande des Katastro- den Frère Âne nach Brillantin fragt, welcher neue phischen» erlebt Melpomène beim Öffnen der blaue Farbe für seinen Bart bringen sollte, gibt Türe. Es wendet sich nach einem kurzen Moment Frère Âne eben diesen Spruch von Sœur Anne zur in Erleichterung, wie sie Sigmund Freud als Be- Antwort, worauf Barbe-Bleue ruft: «quelle répon- hauptung des Ichs gegen innere und äußere Er- se stupide!»973 wartungen für das Lachen als grundlegend be- schrieben hat: «Wir sind aber enttäuscht im Sinne der Erleichterung, und der überflüssig gewordene Das Lachen der Melpomène Erwartungsaufwand wird durch Lachen abge- führt.»975 Da Melpomène nach dem «Taumel» Lachen und Weinen spielen wichtige Rollen in und der «Erleichterung» noch weiter lacht, stellt dieser Radiooper. Anfangs verlachen die Gäste sich die Frage, ob es sich nur um ein Lachen oder den Barbe Moche, was Frère Âne zu Tränen rührt. doch um ein Verlachen handelt, wie Kamper und Als Frère Âne immer wieder weint, sogar vor der Wulf aufteilen: «Stellt das Lachen einen Angriff Hochzeit mit Melpomène, zeigt sich, dass er of- auf die soziale Ordnung dar, festigt das Verlachen fensichtlich übersensibel ist. Melpomène behaup- die sozialen und kulturellen Hierarchien. Die tet dagegen durch ihr Lachen eine unerwartete oben Stehenden verlachen die unten; sie erhöhen Stärke, die sich als erstes in der verbotenen Kam- sich auf Kosten der Erniedrigten.» 976 mer zeigt. Als sie die Türe zur Kammer öffnet, Melpomène selber ist sich möglicherweise hört man nach dem Quietschen der Türe nichts dieser Möglichkeit eines Machtwechsels durchaus außer Melpomènes langanhaltendem Lachen. bewusst. Für Hélène Cixous, in ihrem Aufsatz Le Dies ist verwirrend, da dem Zuhörer erst nach rire de la méduse von 1975, ist es nämlich genau und nach klar wird, was es zu bedeuten hat, dass die «brodelnde Frau» («femme bouillonante»), sich nämlich in der Kammer keine Leichen, son- welche ihre eigene Macht zu bezähmen sucht: dern nur Kleider finden. «Welch brodelnde und grenzenlose Frau hat sich Das Lachen von Melpomène enthält so noch nicht ihrer Kraft geschämt, in ihre Naivität ver- immer die Einzelteile, die Dietmar Kamper und sunken wie sie es war, vom großen elterlich-ehe- Christoph Wulf für das Lachen an sich als konsti- lich-phallozentrischen Griff in Obskurantismus tuierend bezeichnen: und Selbstverachtung festgehalten?»977 Melpomè- ne legt nach dem Erlebnis in der Kammer die- Im Lachen wird der Schrecken in Lust gewandelt; se Scham ab und übernimmt selbstbewusst und doch bleibt die Erinnerung an das Entsetzen und ohne Zögern das Sagen im Hause Blaubart. Für seine Vorahnung. Es gibt einen Taumel am Rande Cixous wird diese Entfaltung der Macht einer des Katastrophischen. Solange wir lachen, sind wir Frau nicht von einem (männlichen) Streben nach Titel oder Herrschaft gesteuert, sondern von 971 Jean Cocteau verwendete «Frère Âne» schon 1920 zur ihrem Wunsch, in der Gesellschaft eine Rolle als Bezeichnung einer stark begriffsstutzigen Person: «Les «Gebende» einnehmen zu können: critiques nous demandent des œuvres. Je leur demande des oreilles. Âne, mon frère âne, ne vois-tu rien venir?»; 974 Kamper und Wulf 1986, S. 8. hier in: Roy 1994, S. 12. 975 Freud 2009, S. 222. 972 Perrault 1697, S. 75. 976 Kamper und Wulf 1986, S. 8f. 973 Ibert 1943b, min. 45:10–45:40. 977 Cixous 2013, S. 40. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 167

Im Unterschied zum Mann, dem so viel liegt an pessimistisches Lachen als Explosion des «Semi- seinem Titel und seinen Wertpapieren, an seiner otischen im Symbolischen», wie Sigrid Weigel Börse, an Haupt, Krone und allem was mit seinem es rückblickend beschreibt: «Das Lachen wäre Oberhauptsein zusammenhängt, lacht die Frau nur demnach eine lustvolle und lustige Variante einer über die Angst enthauptet (oder kastriert) zu wer- solchen Praxis, für welche Frauen zum größten den, und sie wagt sich ohne das männliche Zittern Teil die Voraussetzungen fehlen, obschon es sich ins Anonymat vor, mit dem sie zu verschmelzen doch aus einer ihnen zugeschriebenen Energie weiß ohne zu vergehen: weil sie gebend ist.978 speist.»985 Weigel stellt deshalb fest:

Während Cixous ein spezifisch weibliches Lachen In der Geschichte sind die Frauen denn auch eher bezeichnet, bei der das männliche Unvermögen in der Rolle der Verlachten als der Lachenden vorzu- des Gebärens eine Rolle spielt, stellt Georges Ba- finden; eher sind sie Objekt von Spott, Witzen, Zo- taille im Aufsatz Méthode de méditation von 1947 ten und Gelächter, als daß sie selbst etwas zu lachen einer durch Lachen in Frage gestellten «Herr- hätten. Obwohl es andererseits nicht Weniges gäbe, schaft» die geschlechtsneutrale «Souveränität» was ihnen lächerlich vorkommen könnte im Ange- entgegen. Ausgehend von Friedrich Nietzsches sicht des herrschenden Männlichkeitswahns und all Ausspruch «Und falsch heiße uns jede Wahrheit, seiner Rituale.986 bei der es nicht Ein Gelächter gab!» 979 aus Also sprach Zarathustra, beschreibt Bataille das Geläch- Einleuchtend, dass Cixous diese Situation in ter als Akt der Umwälzung und, was ein Gelächter ihr Gegenteil verkehren wollte, allerdings findet offenbart, als «Wesen der Dinge».980 Das Lachen Weigel das spezifisch weibliche Lachen, wo die gehört für ihn zu den «offensichtlich souveränen Frau das männliche Machtbild durchbricht, in Verhaltensweisen», doch Souveränität bedeutet ganz anderen Situationen: «In literarischen Tex- bei ihm nicht Machtausübung: «Die Souveränität ten und theoretischen Überlegungen von Frauen, ist Revolte, sie ist nicht Ausübung der Macht.»981 die daran arbeiten, die Opferposition zu durch- Denn wer befehle, binde auch sich selber: «Der brechen, steht das Lachen immer in der Nähe des Herr, der befiehlt, ist seinen eigenen Befehlen un- Schreckens, der Hysterie oder der Selbstaufgabe.» terworfen.»982 987 Als Beispiel nennt sie eine Szene in Ingeborg Julia Kristeva stuft das umwälzende Lachen Bachmanns Romanfragment Der Fall Franza. bei Nietzsche für eine Frau als nicht nutzbar ein In dieser Szene zwischen Meeresküste und Wüs- und schreibt 1974 im Erfahrungsbericht Des Chi- te glaubt Franza in einem vom Meer herange- noises: «Nietzsche könnte keine Frau sein. Eine schwemmten schwarzen Strunk ihren Vater und Frau hat nichts zu lachen, wenn die symbolische Gott zu erkennen und bricht in Lachen aus, als Ordnung zusammenbricht.» 983 Zwar proklamiert sie den erkannten Strunk zurück ins Meer schiebt: sie zur Ermöglichung des Eindringens des «zer- «sie lachte und lachte und lachte – und in ihr La- störerischen, gewaltsamen, befreienden Triebs»984 chen, die Einfallstelle für die Dekomposition: wer in ihrer (weiter oben erwähnten) ebenfalls 1974 bin ich, woher komme ich, was ist mit mir, was veröffentlichten StudieLa révolution du langage habe ich zu suchen in dieser Wüste, trat, ja trat poétique ebenfalls das Lachen, doch ist dieses ein nicht, da ja nichts eintreten kann, da trat etwas sie nieder.»988 An dieser «zerbrochenen Gottesvor- 978 Ebd., S. 54. stellung» zerbricht am Ende auch Franza selber. 979 Nietzsche 2005, S. 264. 980 Bataille 1999, S. 252. 981 Ebd., S. 258, S. 262. 985 Weigel 1995, S. 171. 982 Ebd., S. 250. 986 Ebd., S. 172. 983 Kristeva 1982, S. 257. 987 Ebd., S. 174. 984 Kristeva 1978, S. 218. 988 Bachmann 2004, S. 116. 168 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Der Vorgang der Demaskierung beim Lachen ist unvereinbar ist) auslöst. Die (verdrängt) anwesende für Jacques Lacan bemerkenswert, wie er im Se- Liebe wird ihr bewusst. Die Frau wird frech gegen- minar zu «Les formations de l’inconscient» aus- über ihrem Mann und möchte gleichzeitig zu ihm führt: «Das Lachen rührt in Wirklichkeit an alles, finden. Das Lachen macht den Bruch in der Sig- was Imitation, Verdopplung, Doppelgängertum, nifikantenkette deutlich und öffnet die bei Bach- Maske ist, und wenn wir genauer schauen, geht mann als «Einfallstelle für die Dekomposition» es nicht nur um Maske, sondern um Demaskie- bezeichnete Lücke. Für Kristeva, die dabei Lacan rung, und dies Momenten gemäß, die verdienen, folgt, wird ein solcher «Triebeinbruch in die Ord- daß man sich damit beschäftigt.» 989 So will die nung des Signifikanten» im Phantasma artikuliert, duale Beziehung immer auch ein imaginäres durch welche sich die erotische Bindung an das Gegenüber konstruieren, gerade da der Andere Objekt wieder löst und sich stattdessen als Todes- (das Gegenüber) immer auch monströs für das trieb enthüllt: Selbst ist. Denn das Bild des Anderen ist bei La- can tiefgehend mit dieser Spannung verbunden, das Phantasma […] zerrüttet die Ordnung und ver- «die stets durch das Objekt evoziert wird, dem die schiebt die Metonymie des Begehrens, die auf den Aufmerksamkeit gilt, was dazu führt, daß es in Ort des Anderen wirkt, hin zu einem Lusterleben, eine gewisse, von Begehren oder Feindschaft kon- das die Besetzung des Objekts rückgängig macht notierte Distanz versetzt wird».990 Lacan bezieht und sich wieder dem autoerotischen Körper zu- sich dabei auf jene Ambiguität, «die die eigent- wendet, während die sprachliche Abwehr auf diese liche Grundlage für die Bildung des Ichs darstellt Weise die Ambiguität der Sprache enthüllt – den ihr und deretwegen seine Einheit außerhalb seiner zugrunde liegenden Todestrieb.992 selbst ist, daß sie sich über das Verhältnis zu sei- nem Nebenmenschen aufrichtet (s’érige), und daß Das Lachen von Melpomène, als Lachen einer sie zu dieser Einheit aus Abwehr findet, welche Frau mit befreienden machtergreifenden Quali- die seines Seins als narzißtisches Sein ist».991 An täten, kann also durch den Anblick, der die sym- dieser Stelle ist für ihn das Phänomen des Lachens bolische Ordnung zerstört, auch auf sie selber zer- anzusiedeln, und darin kommen jene Spannungs- störende Auswirkung haben und ist bei Ibert auch abfälle zustande, die schon Freud beschrieben hat. hörbar ambivalent. Auch wenn die Umkehrung Bei Iberts Melpomène wäre es entsprechend der Hierarchien dauerhaft sein kann, ist doch das Über-Ich (nach Freud der «gestrenge Herr» in nicht klar, ob die Neuordnung dieser Beziehung ihr), welches ihrem Ich (den eigenen Bedürfnissen) diese weiterhin ermöglicht. Die Verschiebung des in dieser Ehe eine Haltung ohne Liebe und gegen Kräfteverhältnisses in dieser Adaption zeigt sich Barbe-Bleue diktiert. Das lückenlos konstruierte auch an komischen Eingriffen an Perraults Vorla- Bild, die «Signifikantenkette», wie Lacan sie nennt, ge: Zum einen entdeckt Barbe-Bleue ihr Betreten wird durch die Entdeckung des Geheimnisses in der Kammer nicht am blutbefleckten Schlüssel, der Kammer von Barbe-Bleue zerstört. Zwar will sondern an dem ihr anhaftenden Naphtalingeruch Melpomène mit dem Lachen Barbe-Bleue entspre- – dass er diesen erkennt, verrät sein Interesse am chend erniedrigen und zurechtweisen, doch gleich- Aufbewahren von Kleidern und somit an (weib- zeitig zerstört die Leere in der Kammer auch ihre lich konnotierter) Haushaltsarbeit. Zum anderen Taktik, da ihr Lachen ein wildes Ausbrechen des ruft sie darauf: «Tenez, les voici vos clés, et pas la Ich aus der selbst auferlegten Rolle (der insgehei- moindre tache de sang sur la petite! Hahaha! Moi men Ablehnung von Barbe-Bleue) und ein freies qui vous prenais pour un homme terrible – ah, Losgehen der Liebe zur Sehnsucht (was für Lacan vous m’avez bien trompé!»993 Sie zeigt ihm mit

989 Lacan 2006, S. 152. ihrem Lachen, dass sie ihn nun dominiert und er 990 Ebd., S. 153. 992 Kristeva 1978, S. 58f. 991 Ebd. 993 Ibert 1943b, min. 46:15–46:30. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 169 seinerseits «nichts zu Lachen» hat. Barbe-Bleue fällt dadurch aus seiner Rolle und findet wieder «Geistige Landesverteidigung» und zu seiner vorherigen Rolle als Gaston zurück. So künstlerische Ansprüche benutzt sie ihr Lachen, welches anfangs aus ihr herausbricht, um ihren Mann zu erniedrigen und Grundsätzlich finden sich in der «féerie radiopho- zurechtzuweisen. nique» von Binet wie in der «opéra bouffe» von Dabei erinnert Melpomène wiederholt an Ibert keine konkreten Hinweise auf die politischen die standfeste und draufgängerische Boulotte Verhältnisse dieser Zeit. Die folgenden Ausfüh- bei Offenbach. Beide sind auf dem Land aufge- rungen stützen sich somit gänzlich auf indirekte wachsen, beide wollen Barbe-Bleue heiraten und Hinweise. Hinsichtlich der besonderen Situa- beide mogeln, wenn das Los gezogen wird. Auch tion während des Zweiten Weltkriegs, mit dem haben beide einen Plan, wie sie Barbe-Bleue das Schweizer Rundfunk als «Träger der Geistigen Handwerk legen könnten. Anders als bei Offen- Landesverteidigung», ist diese Perspektive aber bach freut sich aber am Ende der Ehemann von durchaus plausibel, und die künstlerischen Wer- Melpomène, dass sie, welche den Mann am An- ke dieser Zeit sind ohne den politischen Kontext fang scheinbar ohne Liebe geheiratet hat, schließ- der Herstellungsbedingungen nur bedingt inter- lich bei ihm bleiben will. Dass sie ihn trotzdem pretierbar.995 liebt und ihn deshalb «bezwingt» (ihn zu seinem Die schweizerische Geistige Landesverteidi- Glück zwingt), erinnert an die Komödie La hui- gung, rückblickend oft als Faktor der «Anpassung» tième femme de Barbe-Bleue von Alfred Savoir bezeichnet, als verantwortlich «für die Abweisung von 1921, welche 1938 von Ernst Lubitsch ver- von Flüchtlingen» und «in der Nachkriegszeit für filmt wurde.994 Darin heiratet Monna den mehr- einen selbstgerechten politischen Immobilismus», mals geschiedenen John Brown, der jeweils seine wird von Josef Mooser für die Zeit der 1930er Frauen mit Abfindungen sitzen lässt. Monna aber Jahre so definiert: dreht den Spieß um, erzwingt selber die Schei- dung und will eine besonders hohe Abfindung. Mit diesem Schlagwort verbindet sich die Erfahrung Auf diese Art gebrochen, wird John «sanft» und und Erinnerung der kritischen Lage des Landes in zu einer Wiederverheiratung bereit. Offenbach, der Zeit der beiden Weltkriege und insbesondere Savoir wie Ibert zeigen ein selbstbewusstes und das Kollektiverlebnis der Selbstbehauptung gegen sicheres Auftreten von Blaubarts letzter Ehefrau, das nationalsozialistische Deutschland, das seit und alle enden mit einer Wiedervereinigung des 1933 von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung Paares. Alle drei Protagonistinnen wünschen sich als existentielle Bedrohung empfunden wurde.996 einen «zahmen» Ehemann, doch Melpomène findet den bedrohlichen Barbe-Bleue nicht nur Zwar stellt auch Mooser in der Geistigen Lan- «angsterregend», sondern auch «anziehend». desverteidung autoritäre und neukonservative In Iberts «opéra bouffe» von 1943 bezwingt eine Züge fest, betont aber deren «liberale und linke auf sich allein gestellte Melpomène ihren bedroh- Varianten», die ihre Verankerung in der liberalen lich auftretenden Ehemann Barbe-Bleue und Tradition der Schweiz als «Willensnation» hätten führt ihn wieder zu seiner Identität als Gaston. und ihre Orte etwa in Zeitungen wie der Neuen Die übrigen Beteiligten setzen auf den autoritären Zürcher Zeitung und den Basler Nachrichten oder Gestus ihres Ehemannes und helfen ihr nicht. Der Institutionen wie dem Zürcher Schauspielhaus vermeintliche Blaubart will sie zwar zuerst töten, und in der Arbeiterbewegung gefunden hätten.997 fügt sich dann aber in seine Rolle als bartloser 995 Zum Radio während der Kriegszeit vgl. Reymond 2000, Gaston. S. 93. 996 Mooser 1997, S. 686f. 994 Vgl. Savoir 1921. 997 Ebd., S. 700. 170 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Auch bei Claude Hauser und Jakob Tanner steht ponisten wie Arthur Hoérée, Maurice Jaubert, der Begriff «für eine merkwürdige Mischung aus Roland-Manuel, Robert Siohan, Manuel Rosen- einer konservativen Nationalideologie und einem thal, Germaine Tailleferre, Marcel Landowski breiten, auch von progressiven Ideen getragenen und Marcel Delannoy auch am «grand spectacle Integrationswillen».998 collectif» unter dem Titel Liberté teil, welches von In Frankreich führte besonders die Macht- der sozialistischen Kulturgruppe «Mai 36» am 2. übernahme der Nationalsozialisten in Deutsch- Mai 1936 im Théâtre des Champs-Elysées durch- land 1933 zu einer Politisierung auch der geführt wurde.1001 Die Politisierung der Kunst künstlerischen Avantgarde und zu einer linken führte auch zu einem ästhetischen Umdenken. Kooperation. Unter Federführung der Parti com- Mitunter änderten die erwähnten Komponis- muniste français (PCF) konnten breitere, eher ten ihren Stil und komponierten betont weni- bürgerliche Kreise für politische Basisarbeit ge- ger komplex, wobei es dabei teilweise Überein- wonnen werden, die sich ab 1935 im Front Popu- stimmungen mit den Idealen von Satie, Cocteau laire (FP) organisierten, einer parteiübergreifen- und der Groupe des Six um 1920 gab. Die große den Koalition linker und nationaler Kräfte. Mit Anzahl beteiligter Komponisten und ihre Bereit- einer Politik der «main tendue», die auch Katho- schaft, gleichzeitig an sozialistischen wie an natio- liken einschloss und mit der die PCF voranging, nalen Ereignissen mitzuarbeiten, weist auch auf sollten breite Schichten überzeugt werden, und eine große Bandbreite an Ideologien und Welt- so wurde auch der 14. Juli, der französische Na- anschauungen hin. Entsprechend unterschied- tionalfeiertag, zu einem «symbole à reconquérir», lich wurden diese Komponisten behandelt, als ab wie Christopher Moore schreibt: «Le processus se 1937 der FP wieder an Einfluss verlor und Frank- mit en marche en 1935, quand le Front Populaire reich schließlich von Deutschland besetzt wurde; délivra son serment fondateur durant les énormes während das Werk von Ibert unter Vichy verbo- manifestations du 14 juillet.»999 ten wurde, führten etwa Tailleferre und Delannoy Eine der angeschlossenen Gruppierungen war weiterhin staatliche Kompositionsaufträge aus.1002 die Fédération musicale populaire (FMP). Die In der Schweiz fand die als Geistige Landes- FMP wurde «l’une des plus importantes orga- verteidigung beschriebene ideologische Neu- nisations musicales françaises à la fin des années orientierung angesichts der faschistischen und 1930» und ihre Aufgabenstellung entsprach ziem- andersweitig totalitären Erfolge in Europa im lich genau den Ideen des FP, wobei sie sich um das Anschluss an die Aktivitäten des FP und des Mit- Gebiet der Musik kümmerte, wie Moore weiter te-Links-Schulterschlusses in Frankreich statt. schreibt: «La FMP encourageait l’interprétation Zwar wurde die Arbeiterbewegung in dieses du répertoire classique et moderne par des musi- «Modell einer einträchtigen Schweiz» integriert, ciens amateurs, surtout par ceux issus de la classe wie Hauser und Tanner schreiben, jedoch war ouvrière.»1000 Die FMP war Teil des «Maison de dieses sehr eng gefasst: «Die helvetische Selbst- la culture» in Paris, von welchem verschiedene darstellung wird durch ein reaktionäres Denken Komponisten angefragt wurden, eine Musik für charakterisiert, das die menschenrechtlichen Er- den Nationalfeiertag 1936 zu schreiben, nament- rungenschaften der Französischen Revolution ab- lich dessen Präsident und die Mit- lehnt und den Staatssinn aus einem autoritären glieder Georges Auric, Arthur Honegger, Jacques Glauben und einer mythologischen Gründungs- Ibert, Charles Koechlin, Daniel Lazarus und legende schöpft.»1003 Darius Milhaud. Von diesen nahmen Honegger, Eine zentrale Schrift zur Festlegung der Geis- Ibert, Lazarus und Milhaud mit weiteren Kom- tigen Landesverteidigung in der Schweiz war die

998 Hauser und Tanner 2010, S. 14. 1001 Tchamkerten 2005, S. 155f. 999 Moore 2006, S. 366. 1002 Vgl. Rioux 1990. 1000 Ebd., S. 371. 1003 Hauser und Tanner 2010, S. 14. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 171

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversamm- Esprit veröffentlichten offenen Brief an Denis de lung über die Organisation und die Aufgaben der Rougemont formuliert hatte. Für Ramuz gilt da- schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwer- rin die Schweiz als «pays de montagnes» und hat bung vom 9. Dezember 1938.1004 In dieser wird die Doppelfunktion einer «mère des fleuves» und eine Strategie zur Geistigen Landesverteidigung «gardienne des cols».1011 Ansonsten aber, und hier aufgezeigt, die alle Bereiche des kulturellen und widerspricht er der bundesrätlichen Botschaft, gilt geistigen Lebens berühren sollte, auch wird da- ihm die Schweiz als Land der Kantone, und er ad- rin die Gründung der Kulturstiftung Pro Hel- ressiert an Rougemont: «nous ne sommes pas ‹Su- vetia als «Arbeitsgemeinschaft für schweizerische isses›, mais Neuchâtelois comme vous, ou Vaudois Kulturwahrung und Kulturwerbung» bekannt comme moi, ou Valaisan ou Zurichois».1012 Aus gegeben.1005 Für die Geistige Landesverteidigung einem konservativ motivierten extremen Födera- wird die Rolle des Radios besonders betont: «Im lismus lehnt er laut Félicie Reymond die Geistige Lauf des letzten Jahrzehntes hat sich das Radio Landesverteidigung als «culture politisée» ab, wie zum wichtigsten und machtvollsten Kultur- und auch den ideologisierten entmenschlichten Indi- Propagandawerkzeug ausgewachsen.»1006 Mit vidualismus: Stolz werde die drei Landessender erwähnt: «Je- der dieser drei Sender [in Beromünster, Sottens Les principes de cet engagement [de Ramuz] sont und Monte Ceneri] verbreitet die Leistungen de combattre le «désordre établi» du capitalisme und Ideale seines eigenen Sprachgebietes und ambiant en encourageant le développement de la vereinigt sie harmonisch mit den allen drei Lan- personne harmonieuse, vivante synthèse du matériel desteilen gemeinsamen Idealen.»1007 Als die drei et du spirituel, contre l’individu déshumanisé de «Konstanten, die bleibenden Linien» der Schweiz toutes les idéologies du XXe siècle.1013 werden in der Botschaft genannt: «Zugehörigkeit unseres Landes zu drei großen geistigen Lebens- Im Gegensatz zur deutschsprachigen Schweiz ga- räumen des Abendlandes», weiter «Bündische ben frankophone Komponisten wie Arthur Ho- Gemeinschaft, Eigenart und Eigenwert der eidge- negger mit dem für die Schweizerische Landes- nössischen Demokratie» und «Ehrfurcht vor der ausstellung in Zürich 1939 komponierten Stück Würde und Freiheit des Menschen».1008 Besonders Niclas von der Flüe und Aguet und Binet mit betont wird, dass der «schweizerische Staatsgedan- ihren Arbeiten für Radio-Lausanne dem Patriotis- ke» nicht «aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch» mus ein durchaus kritisches Gepräge. Es wurde geboren sei, sondern «aus dem Geist».1009 Als Ur- möglicherweise generell bei Radio-Lausanne ein sprung und Orientierungspunkt der Schweiz wird eher kritischer Kurs vertreten. So betonte Claude das Gotthardmassiv genannt, von welchem Flüsse Schubiger, der Chefredakteur der Lausanner Pro- in alle drei großen Sprachregionen der Schweiz grammzeitschrift Le Radio, in seiner 1940 als Dis- fließen: «Der Berg der Mitte trennt und verbindet sertation veröffentlichten StudieLe Rôle social de diese drei geistigen Lebensräume.»1010 la Radiodiffusion, dass das Schweizer Radio «son Mit den Bergen als zentralem Ort scheint in attachement à la paix, son horreur de la brute, son der Botschaft auf Ideen zurückgegriffen zu werden, amour de la liberté» proklamieren solle, alles Wer- die Charles Ferdinand Ramuz 1937 in seinem in te, mit denen die Schweiz in Europa laut Schubi- ger zu dieser Zeit alleine stand: 1004 Vgl. Baumann und Bovet 1938. 1005 Ebd., S. 1021. 1006 Ebd., S. 1005. 1007 Ebd. 1011 Charles Ferdinand Ramuz; hier in: Reymond 1986, 1008 Ebd., S. 998. S. 168. 1009 Ebd., S. 999. 1012 Ebd., S. 167. 1010 Ebd., S. 998. 1013 Ebd., S. 165. 172 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Il faut qu’elle use du privilège de ses trois langues Wie das Kino müsse nun auch das Radio seine pour proclamer à la face de l’univers tout entier eigene Form finden: «La radio, pas plus que le qu’elle croit à la nécessité du réarmement moral de cinéma, ne pourra se soustraire longtemps encore tous les peuples, sans distinction de nationalités, de au devoir impérieux de faire non plus œuvre d’im- races et de religions. […] Peut-être seule en Europe, itation servile, mais œuvre de création propre.»1017 notre radiodiffusion est-elle à même d’organiser So könne das Radio «une atmosphère intellectu- une véritable croisade en faveur du réveil de la con- elle» kreieren, «où s’épanouira librement et forte- science humaine, garante de la paix.1014 ment la vie morale et matérielle des individus».1018 Dabei spielt das Radio für Schubiger immer auch In dieser bereits im Mai 1940 fertiggestellten Dis- eine politische Rolle von nationaler Wichtigkeit: sertation Schubigers zeigt sich, dass die ideologi- sche Vereinnahmung des Radios durch totalitäre Quelle que soit son organisation, la radiodiffusion Regimes kein neues Thema war und die «croisa- joue toujours, dans le cadre de l’Etat, un rôle natio- de en faveur du réveil de la conscience humai- nal. Celui-ci domine même tous les autres rôles que ne» auch in der Schweiz schon vor Kriegsbeginn peut assumer la radio. La moindre parole prononcée vorbereitet worden war. Indem Alfred W. Glogg, au microphone ne peut-elle avoir des répercussions der damalige Chef der Schweizerischen Rund- profondes, aussi bien à l’intérieur qu’à l’extérieur spruch-Gesellschaft (SRG), ein Vorwort schreibt, du pays? Les émissions musicales elles-mêmes ne wird klar, dass Schubigers Haltung von der SRG sont-elles pas jugées hors du territoire d’où elles allgemein gebilligt wurde. Nach Ausführungen émanent?1019 zur politischen Wichtigkeit des Radios und des- sen Missbrauch in totalitären Staaten, aber auch Indem bei Schubiger sogar Musiksendungen dessen Beitrag zum kulturellen Leben, propagiert politisch gewertet werden, formuliert er beson- Schubiger die Entwicklung von eigenen Forma- dere und umstrittene Herausforderungen an die ten von und für das Radio. Wichtig sei, dass die Kunst. Sendungen nicht «moutonnières et stériles» blei- Im Hörspiel Premier Août 1941, mit Musik ben würden und das Radio nicht auf ein «instru- von Binet und Text von Aguet, werden dieselben ment de lutte politique» reduziert würde, sondern Qualitäten der Schweiz genannt: «O Suisse, tu es anfange, mit einem «œuvre de création propre» le seul pays au monde d’où l’on puisse crier: Li- seine eigene Form zu finden.1015 Dazu müsse das berté et où l’écho réponde en quatre langues!»1020 Radio eigene Formate entwickeln, eigene Formen Aguet war es aber wie Schubiger auch ein Anlie- des Theaters, der Musik und der Literatur, auch gen, die Radiofiktion als «œuvre de création pro- eigene Formate des Journals, der Reportage: pre» künstlerisch weiter zu entwickeln. So experi- mentierte er gezielt mit der Form des Hörspiels, Ce n’est pas, comme on le pense souvent, une utopie indem er in seinen Stücken dramatische wie que de rêver pour la radio d’un destin nouveau, basé komische Aspekte benutzte, belehrende Dialoge sur un théâtre conçu pour elle – et rien que pour und Rezitationen einbaute und für die Kompo- elle – sur une musique et une littérature écrites en sition sowohl Proklamationen, Chöre wie auch vue du micro exclusivement, sur une formule de ra- Instrumentalmusik vorsah. Gleichzeitig benutzte diojournal et de radioreportage entièrement libérée er ein breit verständliches und zeitgemäßes aber des contingences auxquelles est soumise la presse nicht regional behaftetes Französisch. War bei imprimée.1016 Premier Août 1941 dessen Funktion im damali-

1017 Ebd. 1014 Schubiger 1940, S. 15. 1018 Ebd., S. 133. 1015 Ebd., S. 132. 1019 Ebd., S. 57. 1016 Ebd. 1020 Aguet 1943, S. 86. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 173 gen kulturellen «Wettrüsten» der demokratischen aventures qui sont parfois extrêmement menaçan- Schweiz offensichtlich, waren für Aguet aber auch tes, extrêmement mystérieuses et traitées avec une dezidiert künstlerisch-philosophische Fragen aus- poésie et avec un goût de la fantaisie» vertonte, schlaggebend. So antwortet er im unveröffentlich- sagt Ibert, wie auch er für das Radio seinen Kom- ten Typoskript Trois petits dialogues sur la forme positionsstil weiterentwickelte: radiophonique, als ihm Pierre-Jean Laspeyres die Frage «Que sera donc la poésie des ondes?» stellt: musicalement l’ouvrage cherche avant tout à sat- isfaire les exigences qui sont grandes de la Radio- La dame du téléphone, la pierre du puits, cela c’est diffusion, […] il faut que le musicien se plie à une de la poésie; il n’y a aucune différence entre la mu- certaine discipline et ne développe pas inconsidéré- sique et le silence: c’est une question de degré, non ment sa musique qui alourdirait et qui empêcherait d’espèce. […] Mon oreille seule ne peut créer cette la ligne générale de se continuer. C’est donc par poésie. C’est mon cœur qui la guide, mais ce sera conséquent une série de petites pièces courtes qui la machine qui élaborera la poésie même. Car, – ne joignent les épisodes, qui quelquefois même les le saviez-vous pas? – la machine elle aussi possède développent et, à la manière des cartons animés ou un cœur, que guide le mien, et sans quoi le mien de tableaux sonores, donnent […] l’histoire qui se demeure stérile et muet.1021 déroule […].1024

In diesem Sinn ist es das System Radio, mit den Um den medialen Bedingungen des Radios zu Aufnahmestudios, seiner Diffusion und den Ra- entsprechen und das Erzählen der Abenteuer mu- diogeräten, welches zusammen mit dem Künstler sikalisch zu verstärken, schlägt Ibert kurze Stücke die Poesie dieser Kunst generiert. vor, die die Episoden begleiten, entwickeln oder Die Erforschung dieser «poésie des ondes» in der Art von «cartons animés» oder «tableaux und seine fiktionale Arbeit gaben Aguet eine be- sonores» überhaupt erst kreieren. Dies beeinflusst sondere Freiheit, die er in anderen Radioforma- den Charakter der Musik, wie Ibert weiter aus- ten nicht gehabt hätte. Er selber nennt die Ra- führt: diofiktion eine «nouvelle forme littéraire», eine «architecture inédite des mots» und eine «création Je précise que cette musique est avant tout d’un de silence qui donne au verbe une forme nouvel- caractère, je ne dirais pas enfantin, mais d’un car- le».1022 All das sollte Imagination und Offenheit actère plutôt léger, même dans l’émotion. L’émotion für das Utopische ermöglichen: «C’est – ce devrait peut être profonde, mais ce n’est jamais une émo- être – le royaume de l’imagination, un domaine tion wagnérienne par exemple, c’est un autre genre; qui échappe à tout contrôle et crée pour chaque quoiqu’il y ait des passages qui soient extrêmement individu son propre univers. Ce domaine, hélas! violents et d’autres passages qui sont satiriques, qui à l’expérience, relève un peu de l’utopie.»1023 Die sont gais, tristes, mélancoliques. Enfin, cette mu- von Aguet wiederholt gewählten Märchenstoffe sique est une musique de divertissement avant tout, – allein mit Binet produzierte er sieben auf Mär- et dans un style plutôt léger.”1025 chen basierende musikalische Hörspiele – boten ihm hierzu neben der Komödie die größtmögli- Diese leichte Art von Musik, die von berührten che Ausdrucksfreiheit. Emotionen wie «violent», «satirique», «gais» bis Zur «scène radiophonique» Brrô et Tiss (1954), zu «triste» und «mélancolique» schwenken kann die Ibert wiederum für Radio-Lausanne und zu ei- und dabei jegliches Pathos vermeidet, erinnert an nem Text von Aguet komponierte und dabei «des den Eklektizismus der Groupe des Six. Obwohl

1021 Aguet und Laspeyres (Manuskript), S. 8. Brrô et Tiss vermutlich ein Stück für Kinder war, 1022 Ebd. 1024 Laederich 1998, S. 223f. 1023 William Aguet; hier in: Tchamkerten 2005, S. 171. 1025 Ebd. 174 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 galten die Aussagen wohl auch für Barbe-Bleue verstehen. So manifestiert sich ein für diese Zeit von 1943. Auch da komponierte Ibert Musik in erstaunlich klarer Anspruch auf Veränderung von kleinen Episoden. Geschlechterrollen und -hierarchien. Frère Âne Bei Binet erscheint Barbe-Bleue als ein gefähr- erscheint als übersensibler Mann, der wiederholt licher Aggressor, welcher auch seine letzte Ehefrau weint, und doch muss nicht er sein Verhalten än- verführen will, und nur durch ihren Alleingang dern, sondern der überkontrollierte Barbe-Bleue. lässt sich diese verführen. Sie muss erst wieder Lachen und Verlachen helfen Melpomène dabei, mit ihrer Schwester zusammenfinden, um ihn zu ihren Ehemann zu seiner Rolle als Gaston zurück- besiegen. Dies könnte man als Allegorie auf die zuführen. Dabei muss sie sich, um ihre Faszinati- deutschsprachige Schweiz deuten, die sich an- on für Barbe-Bleue ausleben zu können, sich ihm fangs für das Dritte Reich begeisterte, vom Ag- nicht unterwerfen, sondern sich als gleichberech- gressor verführen ließ, und erst nach Entdeckung tigte Partnerin etablieren. So gelingt es, Lachen dessen verbrecherischer Seiten mit der Geistigen und Weinen als «echte Grundmöglichkeiten des Landesverteidigung den nationalen Zusammen- allgemein Menschlichen» einzusetzen, wie Hel- halt suchte. mut Plessner deren Potential umschreibt.1027 Bei Ibert hingegen bleibt Melpomène isoliert und auf sich selber gestellt. Sie steht einer Über- macht von Gaston/Âne/Brillantin gegenüber. Fazit Trotzdem hat sie den Mut, sich mit diesen allen einzulassen, indem sie Barbe-Bleue heiratet und Die Radiooper von Ibert orientiert sich in erster so ihre Schwester schützen kann. Allegorisch ge- Linie an Perrault. Der Adaption von Offenbach lesen könnte Melpomène als Helvetia die Schweiz wiederum entsprechen etwa die Charakterisierung an sich verkörpern, die sich exponieren und so- von Melpomène oder die Rückkehr der ehemali- wohl mit den Allierten wie mit den Deutschen gen Ehefrauen von Barbe-Bleue, ebenso wird bei paktieren und sich auch Anfeindungen von all Ibert das Genre einer opéra bouffe gewählt. Neu diesen aussetzen musste. Das Lachen bei der Auf- ist bei Ibert, dass Barbe-Bleue von einem Geist- deckung der verbrecherischen Legende bleibt in lichen begleitet wird, dem Frêre Âne. Barbe-Bleue dieser Lesart ambivalent. Es enthält den Wunsch, ist hier ein sensibler und zweifelnder Mann, der den großen Druck abzuschütteln, um gegen- sich den Bart als Drohkulisse und Zeichen seiner über dem endlich geschwächten Feind souverän Virilität blau einfärbt. Seine letzte Frau Melpo- auftreten zu können. Die Gefahr, dass durch die mène ist selbstbewusst und übernimmt am Ende Entmystifizierung die eigene Rolle ebenfalls in die Führung im Haus. Ihre Schwester kommt nur Frage gestellt würde, wie ihr Lachen weiter oben am Anfang des Stücks vor, Brüder werden keine interpretiert wurde, rückt auch die Mystifizierung erwähnt. Trotzdem ist Barbe-Bleue nicht verbre- der damaligen Schweiz in ein kritisches Licht und cherisch gesinnt: Seine ehemaligen Frauen hat er deutet die laut Mooser erst ab den 1960er Jahren entschädigt, und sie besuchen ihn am Ende ohne diskutierten «marginalisierten oder verdrängten Anschuldigungen. Die von Perrault verwendeten dunklen Seiten» der Schweiz im Zweiten Welt- Symbole und unrealistischen Elemente werden krieg an.1026 bei Ibert ironisiert oder persifliert. So ist der Bart Die überraschenden Perspektiven, die sich nur blau eingefärbt, die Frauen werden nur per durch einen allegorischen Vergleich mit der poli- Scheidung zum Verschwinden gebracht, in der tischen Situation auf die Radiooper von Ibert er- verbotenen Kammer gibt es Mottenkugeln, damit geben, sind vor dem Hintergrund der primär im die Kostüme der Frauen erhalten bleiben, aus der Stück erkennbaren gesellschaftlichen Themen zu Sœur Anne wird Frère Âne, auf ihren Spruch gibt

1026 Mooser 1997, S. 686. 1027 Plessner 2003a, S. 211. Ibert und die «Geistige Landesverteidung» der Schweiz 175 es eine dumme Antwort und am Schlüssel klebt heute erhalten, damals ausgestrahlt vom öffent- kein Blut. Barbe-Bleues letzte Frau übertrumpft lich-rechtlichen Radio in der Westschweiz und ihren Gemahl, dessen Bart sie nun glatt abrasie- nach Kriegsende auch in Frankreich. Die Gelder ren lässt. Barbe-Bleue ist bei Ibert neu eine Art für diese Produktion waren wohl beträchtlich Wandervogel, der sich erst niederlässt, als er den und nur durch die stark aufgestockten Mittel des Bart blau eingefärbt bekommt, womit sich sein Lausanner Radiosenders möglich, welcher dafür Charakter radikal verändert. Zwar ironisiert, wer- Aufgaben der Geistigen Landesverteidigung über- den von Perrault aber nur wenige Elemente weg- nommen hatte und direkt dem Militär unterstellt gelassen, wie etwa die Figuren der Brüder oder am war. Die Radiooper diente somit nicht nur äs- Ende die Moralität. thetischen Zielen oder Bildungsidealen, sondern Die Innovation bei Ibert konzentriert sich durchaus auch militärischen Absichten. Mit der besonders auch auf die Entwicklung des Genres Geistigen Landesverteidigung identifizierten sich selbst: Erste Radioopern gab es zwar schon in den Ibert und Aguet wohl aus einer politisch linken 1920er Jahren, das Genre war aber erst in der Warte, als Verteidigung der Schweiz als einer Wil- Nachkriegszeit stilbildend. Dass solche Werke in lensnation, mit vier Sprachen, vier Kulturen; einer Lausanne schon während der Kriegsjahre konti- föderalistischen Demokratie, die ihre Minderhei- nuierlich entwickelt wurden, überrascht. Auch ist ten schützt. Mit der Indienstnahme ihres Stücks spannend zu sehen, dass die Eigenart, nämlich die durch die Geistige Landesverteidigung agierten «soziale Rolle» des Radios und ihre Entwicklung die Autoren auf heiklem Terrain, sie nutzten als Kunstform, trotz der militärischen Anforde- Gelder und Infrastruktur, die ohne militärische rungen der Geistigen Landesverteidigung, hier Unterstützung nicht vorhanden gewesen wären. produktiv zusammentrafen. Ein wichtiger Mo- Dabei erreichte insbesondere Aguet unter diesen tor dieser Innovation war die Arbeit von William Bedingungen mit seinen zahlreichen Arbeiten Aguet, und es ist tragisch zu sehen, wie wenig künstlerische Errungenschaften und entwickelte er dafür rückblickend gewürdigt wurde. Schon das Radiospiel, die Radiooper oder das musikali- damals aber war die Verbreitung war wohl auf sche Hörspiel zu einer genuinen Kunstform. Ent- den französischen Sprachraum begrenzt, in der sprechend sind die Ambivalenzen anzusiedeln: deutschen Schweiz wurden diese Hörspiele offen- Die starke Frau als Allegorie der Nation erlaubt bar nicht wahrgenommen, die entsprechenden es ihm, sie auch als gesellschaftlich emanzipiert Publikationen nicht übersetzt. Da das Hörspiel darzustellen. Gleichzeitig wird so die Kritik am gerade im kriegsversehrten Westdeutschland und totalitären Machthaber zur Kritik am häuslichen Österreich der Nachkriegszeit sehr wichtig war, Macho, welcher seine Sensibilität kaschieren will. richtet sich der Fokus normalerweise auf dieses Und doch geht die Erzählung hier zweischneidig und lässt die Lausanner Entwicklungen aus. Wie aus: Der Mann wirkt bei Ibert kraft- und aussage- die Gruppe Les Six folgten auch Aguet, Ibert und los, indem seine Ehefrau ihr weiteres Zusammen- Binet einer moderaten Entwicklung der künstle- sein diktiert. Motivierender und positiver (aber rischen Sprache – die Hörspiele sollten innovativ, eben auch eindeutiger) ist das Ende in Binets Ver- aber verständlich sein. Ideen von sprachlicher und sion des gleichen Senders von 1940, wo die bei- musikalischer Abstraktion oder technologischer den Schwestern den Gegner überwinden können Innovation durch Elektronik oder Studio-Experi- und wieder zusammenfinden. mente, wie sie beispielsweise bei der Musique con- Ibert und Aguet – beide werden als Kompo- crète nach dem Krieg entwickelt wurden, stehen nisten genannt, beide wurden damals gewürdigt. nicht im Vordergrund. Ibert ist noch heute ein Begriff,Barbe-Bleue wird Ibert komponierte eine komische Radiooper, als ein Werk von ihm genannt, ist aber nicht mehr ein Radio-Hörspiel, in seinen Worten eine opé- greifbar, außer in der unveröffentlichten Original- ra bouffa radiophonique, aufgezeichnet und bis aufnahme der Sendung von 1943. Aguet hingegen 176 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 verlor nach großer Prominenz während und nach – mit politisch auslegbaren Allegorien, mit sexuell dem Zweiten Weltkrieg immer mehr an Bekannt- konnotierbaren Metaphern und dem Propagieren heit und ist heute fast vergessen. Bei Barbe-Bleue einer selbstbewussten Frau. Gleichzeitig vermei- setzte der Textautor Aguet auf die Popularität des det er konfrontative Aussagen, die für diese oft Stoffes, sei es als Erzählung von Perrault oder als avantgardistisch orientierten Blaubart-Weiter- opéra bouffe von Offenbach. Die Versionen von schreibungen prägend waren. Einer Fetischisie- Binet wie Ibert sollten einem breiten Publikum rung von Blaubarts Gewalttätigkeit wird entge- gefallen: Binets Musik wirkt zeitgemäß und po- gengetreten – es findet sich eine klare Abgrenzung pulär; Iberts Version klingt eher eklektisch-hek- zum tragischen Mitgefühl bei Bartók oder Dukas tisch, was dieser vermutlich durch seine Reputati- und auch zu der verehrenden Verklärung im deut- on als international bekannter Komponist wieder schen Expressionismus, etwa bei Eulenberg oder wettmachen konnte; Aguets Sprache ist in beiden Döblin. Blaubart wird lächerlich gemacht, damit Versionen verständlich und kultiviert. Es handelt die Hierarchie korrigiert wird und die schuldfreie sich also um solides Radioprogramm, mit ange- Frau das Sagen erhält. messenem und doch forderndem Anspruch. Das Die Oper, auch als opéra bouffe von Offen- operettenhafte, burleske Spiel bei Binet erlaubte bach, galt wohl als elitäres Vergnügen, entspre- die Emanzipation der Rollen der beiden Schwes- chend wichtig war die formale Orientierung am tern, eine neuartige und auch überraschende Wei- Märchen, was aber im Stück inhaltlich nicht ein- terschreibung der Vorlagen, was die Zuhörer wohl gelöst wird. Wir hören keine Märchenerzählung, amüsierte. Bei Ibert ist die Erzählung ziemlich keine Geschichte für Kinder, sondern eine Komö- intensiv, sehr schnell und enthält mehrere Neu- die für Erwachsene. heiten, eine zentrale mit der lachenden Ehefrau in der verbotenen Kammer, wie der Exkurs zum Lachen der Frau zeigt. Da auch der Ausgang nicht eindeutig positiv ausfällt, ist gut möglich, dass diese Interpretation der Erzählung eine kritische Rezeption provozieren wollte. Dies liegt in der besten Tradition der Opern von Offenbach, und so kann man davon ausgehen, dass Iberts Radio- oper ein Erfolg war, auch weil sie in Frankreich erneut gesendet wurde. Bei Iberts Version von Barbe-Bleue handelt es sich um eine komische Bearbeitung nach Perrault in der Tradition von Offenbach, die Beziehungs- fragen mit politischen Fragen spiegelt. Durch die positive Frauenrolle werden die modernen tragi- schen Blaubart-Adaptionen berücksichtigt; Aguet nimmt so auf die tragische Wende und Dominanz der Geschlechterfrage in der Blaubart-Rezeption Bezug. Mit dieser Auslegung von Perraults Erzäh- lung in Offenbachscher Tradition wird der Kult einer inszenierten harten Männlichkeit abgelehnt und werden in beiden Hörspielen die Protagonis- tinnen Anne und Melpomène als treibende Kraft einer positiven Veränderung verstehbar. Dabei reizt Aguet in beiden Libretti subtil Grenzen aus Heiselers christliche Vision des Verzeihens 177

Heiselers christliche Vision Interview mit dem Autoren feststellte.1031 Von den Aufführungen haben sich nur zwei Fotogra- des Verzeihens fien aus zeitgenössischen Rezensionen erhalten, andere Aufzeichnungen konnten nicht gefunden werden. Zum Anlass der 1900-Jahr-Feier der Stadt Köln Das Schauspiel wurde in den Tageszeitungen fand 1950 eine Internationale Jugendwoche statt, Kölnische Rundschau und Kölner Stadt-Anzeiger in deren Rahmen am 22. Juli von der Gruppe vor den Auftritten angekündigt und danach re- «Der Quell – Bühne für christliche Kunst» um zensiert. Außerdem veröffentlichte Eva Wunder- den evangelischen Pfarrer Erwin te Reh das mu- lich Rezensionen im evangelischen Umfeld, eine sikalische Schauspiel Das Haus der Angst oder Der davon 1951 in der germanistischen Zeitschrift goldene Schlüssel von Bernt von Heiseler aufge- The German Quarterly.1032 Dank der Verfügbar- führt wurde. Regie führte Heinrich Minden, die keit von The German Quarterly auf jstor.org, einem Musik schrieb Jürg Baur. Mit Schauspielern, Lai- online Archiv für Forschungszeitschriften, wurde enschauspielern, dem Kölner Konzertorchester, der Autor überhaupt auf dieses Schauspiel auf- der Singgemeinde Bergisch Gladbach und rund merksam. 70 Jugendlichen war das in der Aula der Universi- Aktuelle Forschungsliteratur zu diesem Stück tät Köln aufgeführte Stück groß angelegt. Im Ver- gibt es keine, weder in der Germanistik noch in gleich mit christlich-politischen Positionierungen der Forschung zu Blaubart. Auch Hartwig Suhr- im Umfeld des Stücks und anhand der zeigenös- biers Überblick von 1983 oder bei Mererid Puw sischen Rezeption wird sichtbar, inwiefern diese Davies und Monika Szczepaniak in ihren Studien Aufführung eine Entschuldigung für die Verbre- zu Blaubart in der deutschsprachigen Literatur chen nationalsozialistischer Täter bereitzuhalten von 2001 und 2005 erwähnen Heiseler nicht. So- suchte. mit muss für die vorliegende Analyse des Schau- spiels zu einem großen Teil auf primäre Quellen zurückgegriffen werden: zum einen auf die drei Unterlagen zu Heiselers Schauspiel Varianten des Dramas von Heiseler, zum anderen auf die Partitur und die Aussagen von Baur im Für Das Haus der Angst oder Der goldene Schlüssel persönlichen Gespräch. Zahlreiche Hinweise zu verfasste Bernt von Heiseler für die Aufführung inhaltlichen und stilistischen Fragen finden sich von 1950 ein Textbuch, welches im Archiv des in Artikeln von Bernt von Heiseler, die er oft in Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region Kleindrucken veröffentlichte und von denen sich erhalten ist.1028 Er publizierte 1951 eine leicht viele im Literaturarchiv Marbach finden. überarbeitete Version des Dramas in der Antholo- Die biografischen Angaben setzen sich eben- gie Schauspiele, welches er wiederum leicht über- falls aus verschiedenen Quellen zusammen, zu arbeitet auch in der Anthologie Bühnenstücke von Heiseler gibt es ergänzende Artikel von Galina Po- 1968 abdruckte.1029 Die Musik von Jürg Baur ist tapova (2005, 2014) und Renate Kirsch (2008), nie publiziert worden, auch nicht in Auszügen, die auf Aspekte von Heiselers Leben und Werk das Manuskript befindet sich in Baurs Nachlass eingehen.1033 Weiters herangezogen werden Ar- im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf.1030 Die tikel zu Heiseler aus der zeitgenössischen Presse. Partitur umfasst neben dem Orchester und dem Die Recherche-Situation bei Jürg Baur ist grund- Chor auch mehrere Solostimmen und war eigent- sätzlich besser, da es zu ihm aktuelle Publikatio- lich Baurs «erster Opernversuch», wie er 2009 im nen und ein Werkverzeichnis gibt, und er selber

1028 Vgl. Heiseler 1950 (Manuskript). 1031 Jürg Baur 2009 (Interview), S. 2. 1029 Vgl. Heiseler 1951 und 1968. 1032 Vgl. Wunderlich 1950 und 1951. 1030 Vgl. Baur 1950 (Manuskript). 1033 Vgl. Potapova 2005 und 2014; Kirsch 2008. 178 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Abb. 12: Bernt von Heiseler: Das Haus der Angst oder Der goldene Schlüssel (1950), Einladung. © Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Heiselers christliche Vision des Verzeihens 179 im Interview mit dem Autor noch Hinweise gab. Kunst», mit dem Das Haus der Angst und weitere Zum Initiator des Projekts, Pfarrer Erwin te Reh, Stücke aufgeführt wurden. Im Herbst 1950 grün- verfasste der ebenfalls in der Diakonie Köln täti- dete te Reh die Stiftung «Coenaculum – Christus ge Günter Wolf eine Biografie, die aber nie ver- lädt ein!» und kaufte Land, wie sich seine Frau öffentlicht wurde und sich nun als Typoskript Magdalene te Reh später erinnerte: «Weil im- von 1998 im Archiv der Evangelischen Kirche mer mehr Flüchtlinge aus dem Osten kommen, im Rheinland in Düsseldorf befindet.1034 Weite- kauft der Verein […] im Auftrag des Evangeli- re Angaben fanden sich in einer Werbebroschüre schen Stadtkirchenverbandes Köln Weideland in des Diakoniewerk Coenaculum Michaelshoven, Rodenkirchen, das nur für diakonische Zwecke und der nachfolgende Leiter der Diakonie Köln, bebaut werden darf.»1038 In rascher Folge wur- Volker Cepl, stand dem Autor für ein Telefonge- de in der von ihnen Michaelshoven benannten spräch zur Verfügung.1035 Siedlung vor allem für die Jugendhilfe gebaut, bis Mit diesen Angaben soll ermöglicht werden, 1965 waren dies über zehn große Gebäude und dass die vorliegende Analyse nicht nur den Text zwei Kirchen. Der Komplex mit Wohn- und Pfle- des Schauspiels berücksichtigt, sondern auch die gegebäuden wurde später zu einem sozialen Un- restlichen Teile der Inszenierung: die Musik, den ternehmen für verschiedene betreuungsbedürftige Gesang, das Schauspiel, die Bühne, das Licht – Menschen erweitert, und bietet heute Altenpflege, und vor allem die Intention, die die Initianten berufliche Rehabilitation, Jugendhilfe und Woh- des Stücks verfolgten, und welche Rolle es für die nungslosenhilfe an. Kurz vor der Eingemeindung evangelische Kirche oder die Stadt Köln spielte. von 1975 wurde te Reh 1974 zum Ehrenbürger Dies soll helfen, die mannigfache Verwicklung der Gemeinde Rodenkirchen ernannt, ging 1981 dieser Inszenierung von Blaubart mit Fragen und in Rente und verstarb 1991.1039 Problemen der Gesellschaft um 1950 aufzuzeigen. Die besondere Affinität des Ehepaars te Reh zum Namen Michael – sie tauften neben der Kir- che auch ihr erstes von fünf eigenen Kindern so – Bernt von Heiseler und Erwin te Reh hatte möglicherweise mit dem Gewicht, die die li- turgische Bewegung der Michaelsbruderschaft in Das Stück geht auf eine Initiative des evangeli- ihrem Leben spielte, zu tun. Laut seinem Nachfol- schen Pfarrers Erwin te Reh (1911–1991) zu- ger Volker Cepl war te Reh langjähriges Mitglied rück.1036 Te Reh, im Wuppertaler Vorort Langer- dieser Bruderschaft, deren Einsatz für die Liturgie feld aufgewachsen, studierte an der Universität seiner lutheranischen Vergangenheit entsprach, Bonn, wo er 1939 seine Dissertation zu Karl Jas- nach welcher «immer eine Kerze auf dem Altar» pers’ Existenzphilosophie (1938) veröffentlichte.1037 zu brennen hatte, wie Cepl ausführt.1040 Obwohl Von 1941 bis 1945 diente er als Wehrmachts- in Wuppertal aufgewachsen, war te Reh offen- pfarrer und arbeitete danach als Hilfsprediger in bar «aus dem Osten stammend», wie im Kölner Cochem bei Düsseldorf, bis er Mitte 1949 zum Stadt-Anzeiger vom 19. Juli 1950 steht.1041 Indem Leiter des Kreispfarramtes für Diakonie (damals die mehrheitlich reformiert-evangelische Kirche Evangelisches Jugendpfarramt) in Köln und so- Köln einen lutheranisch-evangelischen Pfarrer mit zum Pfarrer des karitativen Bereichs ernannt 1038 Magdalene te Reh; hier in: Diakoniewerk Coenaculum wurde. Schon anfangs 1950 gründete er die The- 2000, S. 15. atergruppe «Der Quell – Bühne für christliche 1039 Zur Ehrenbürgerschaft vgl. Archive in Nordrhein-West- falen 2009. 1034 Vgl. Wolf 1998 (Manuskript). 1040 Volker Cepl übernahm von te Reh 1971 die Leitung der 1035 Vgl. Cepl 2009 (Telefonat). Diakonie in Köln und war mit ihm lange befreundet; 1036 Zu Erwin te Reh vgl. Wolf 1998 (Manuskript); Rosen- vgl. Cepl 2009 (Telefonat). Zur Michaelsbruderschaft kranz 1958, S. 402; Diakoniewerk Coenaculum 2000. vgl. Thönissen 2007. 1037 Vgl. Te Reh 1939. 1041 Vgl. «Bier» 1950b. 180 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 mit «Ost-Vergangenheit» für den diakonischen Glaubensgemeinschaft bestand, welche nach dem Bereich einstellte, folgte sie einem damals aktuel- Zweiten Weltkrieg besonders in Deutschland zu len Bedürfnis. Nach dem Krieg flohen sehr viele einem Orientierungspunkt für die Ausrichtung Deutsche aus den ehemals deutschen Ostgebieten der evangelischen Kirche wurde.1046 In Michaels- und Ostsiedler aus anderen Staaten in das verblei- hoven wurden die eine Kirche und deren Fenster bende Deutschland – auch nach Köln. Die Mehr- von Taizé-Brüdern gestaltet.1047 heit dieser Flüchtlinge bestand aus Lutheranern, Schon vor der Gründung von Michaelshoven welche innerhalb der unierten evangelischen Kir- wandte sich der frisch eingestellte Pfarrer te Reh che ihre eigenen Traditionen beizuhalten such- an den ebenfalls lutheranischen Autor Heiseler ten.1042 Sie trafen im überwiegend katholischen mit der Idee eines Theaterstücks für die Kölner Köln auf eine protestantische Kirche, in welcher Stadtfeier. Der Schriftsteller Bernt von Heise- die evangelischen und lutherischen Minderheiten ler (1907–1969) wurde in Brannenburg am Inn schon länger koexistierten. Auch war die evangeli- (Bayern) geboren und lebte bis zu seinem Tod sche Landeskirche selbständig und basisdemokra- in dem von seinem Vater vererbten Bauernhaus tisch organisiert, während die Kirche in den preu- Vorderleiten außerhalb der Gemeinde Brannen- ßischen Ostprovinzen und Ostsiedlungen vom burg.1048 Sein Vater Henry von Heiseler stamm- Staat geleitet wurden und deren Pfarrer Staatsbe- te aus einer russischen Adelsfamilie deutscher amte waren – an der Spitze dieser Ordnung stand Sprache und lernte um 1900 bei einem Weiter- nicht die Gemeinde, sondern – in preußischer bildungsaufenthalt als Versicherungskaufmann in Tradition – der Kaiser. So kam es in der Nach- München seine zukünftige Ehefrau, die Bankiers- kriegszeit teilweise zu Versuchen, sich innerhalb tochter Emy Thieme, und auch die Dichter Hugo der protestantischen Kirche gesondert uniert-lu- von Hofmannstahl und Stefan George kennen. therisch zu organisieren.1043 In der Folge gab Henry das Versicherungswesen In den ersten Jahren war Michaelshoven laut auf, zog mit seiner Frau nach Brannenburg, wo Cepl auf die neue lutheranische Gemeinde aus- Bernt zur Welt kam, und arbeitete als Schriftstel- gerichtet und pflegte auch die lutheranische Li- ler im Umfeld von «Meister» George und seinem turgie. Laut Margarete te Reh hörte aber «mit Dichterkreis. Die zum Saal umgebaute Tenne des dem Bau der Mauer durch Deutschland» von Hauses der Familie Heiseler wurde zu «einem 1961 der «Zustrom von Osten her auf».1044 So Treff- und Anziehungspunkt musisch und litera- setzte sich in Michaelshoven ab den 1960er Jah- risch interessierter Menschen», wie Renate Kirsch ren eine ökumenische Haltung durch, die auch schreibt.1049 Bernt blieb Zeit seines Lebens seinem aktiv umgesetzt wurde. Etwa ergaben sich über Vater sehr verbunden, dessen Werk er zu veröf- griechische Gastarbeiter feste Kontakte zur grie- fentlichen und popularisieren suchte. Auch war chisch-orthodoxen Kirche, deren erstes Bistum in das Leben im Haus Vorderleiten von russischer Europa außerhalb von Griechenland 1965 in Mi- Kultur geprägt. chaelshoven gegründet wurde, auch wurde 1967 Wie sein Vater wurde Bernt von Heiseler für Juden das «Haus Israel» eröffnet.1045 Wichtiger Schriftsteller, heiratete als lutheranischer Adeliger Impuls dafür war ein aktiver Austausch mit der 1940 die Katholikin Gertrud Gräfin Rességuier christlichen Bewegung im französischen Taizé, de Miremont und leistete danach Kriegsdienst. wo unter der Leitung des evangelischen Pfarrers Anfangs begeistert vom Nationalsozialismus und Roger Schutz eine interkonfessionelle männliche schon 1933 in der Partei und in der SA, ent-

1042 Zur Situation der Ostflüchtlinge und ihrem Glauben vgl. 1046 Zu Roger Schutz und Taizé vgl. Stökl 1975. Maser 1999. 1047 Diakoniewerk Coenaculum 2000, S. 17f. 1043 Vgl. ebd., S. 669. 1048 Zu Bernt und Henry von Heiseler vgl. Kirsch 2008; Hei- 1044 Diakoniewerk Coenaculum 2000, S. 15. seler 1967a und 1971. 1045 Vgl. ebd., S. 5–7. 1049 Kirsch 2008, S. 44. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 181 schied er sich offenbar danach für die «innere Pedro Calderón de la Barca (Uraufführung 1936), Emigration», also die unausgesprochene Distan- danach schrieb er mehrere epische Tragödien und zierung vom Nationalsozialismus, und versuch- die zwei Dramen Der Bettler unter der Treppe (Ur- te sein Missbehagen schon während des Krieges aufführung 1943) und das hier besprochene Haus literarisch zu formulieren.1050 Doch das Regime der Angst. In den beiden Dramen benutzt er zwar war ihm wohl gesinnt, er selber relativierte 1967 einen epischen Ton, stellt aber Fragen des häus- seinen vermeintlichen Widerstand und meinte, lichen Vertrauens in den Mittelpunkt. Nach der er sei in seiner schriftstellerischen Arbeit eigent- Aufführung von Haus der Angst arbeitete er wie- lich «nicht behindert worden».1051 Seine Über- der mit Jugendlichen und realisierte am Theater setzung eines Stücks von Caldéron wurde 1944 der Jugend in München um 1960 drei komische im Residenztheater in München aufgeführt, und Stücke. die Reichsstelle in Berlin erteilte noch 1945 den In Heiselers Schriften der Nachkriegszeit bil- Bescheid, dass es «im kulturellen Interesse» liege, den die Auseinandersetzung mit den durch den wenn die Arbeit an der Oper Des Königs Schatten Nationalsozialismus begangenen Verbrechen nach einem Text von Heiseler «möglichst unge- und der nationale Neubeginn nach dem Krieg hindert zu Ende geführt» werde.1052 Es zeichnet zentrale Themen. In seinem Roman Versöhnung sich so das Bild eines vielleicht zurückhaltenden, (1953) und anderen Texten sucht er zwischen aber keineswegs verfemten Autoren, der bis zum dem «Deutschtum» und den von Deutschland be- Fall der Nationalsozialisten vom Regime gefördert gangenen Verbrechen eine christliche Versöhnung wurde. zu erreichen.1053 Zwar erhielt er damit in kirch- Als Autor verfasste Heiseler Arbeiten über lichen, konservativen und rechten Kreisen Lob, andere Dichter, wie Stefan George (1936) und doch sonst war Heiseler zunehmend isoliert, wie Heinrich von Kleist (1939), edierte Werke seines die Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises der Vaters Henry von Heiseler (1938), von Alexan- Deutschland-Stiftung von 1967 zeigte, welche der Sergejewitsch Puschkin (1940) und Johann zu einem eigentlichen Skandal geriet. Die Stif- Wolfgang von Goethe (1949) und schrieb in tung sollte «totalitären, rechts- und linksradikalen den 1950er Jahren einleitende Worte für Neu- Kräften und Erscheinungen im politischen, kul- editionen von Joseph von Eichendorff, Adalbert turellen und geistigen Raum der Bundesrepublik» Stifter, Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike. entgegentreten, wie in der Einladung stand.1054 Daneben schrieb er Essays und hielt Vorträge und Dies bekräftigend, ereignete sich beim Festakt Predigten, die er teilweise in Kleinschriften ver- laut Hermann Glaser ein «Massenaufmarsch von öffentlichte. Zentral in Heiselers Werk sind seine Bundestagsabgeordneten, Landtagsabgeordneten, Dramen. Sie wurden großenteils in der Antho- von Präsidenten, Ministern».1055 Doch offenbar logie Bühnenstücke (1968–1970) veröffentlicht. entstammten die Initianten des Konrad-Ade- Das erste von Heiseler aufgeführte Stück ist ein nauer-Preises dem Umfeld der «wohl weder fort- christliches Lustspiel, Das laute Geheimnis nach schrittlich noch demokratisch denkenden und noch nicht einmal konservativen» Deutschen Na- 1050 Zur «Inneren Migration» vgl. Schnell 1998, darin be- tional-Zeitung und Soldatenzeitung, in welcher sonders S. 120–147. Laut Potapova findet sich die In- formation zum SA-Beitritt von Heiseler im Bundesarchiv Heiseler den Artikel Nach dem Nationalismus der in den Materialien des ehemaligen Berlin Document Nationalmasochismus (1964) veröffentlicht hat- Center (BDC, Reichskartei NSDAP) und in Bernt von Hei- te.1056 selers Unterlagen in den Akten der Reichsschrifttums- kammer; vgl. Potapova 2014, S. 65, Fußnote 20. 1051 Heiseler 1967a, S. 33. 1053 Vgl. Heiseler 1953. 1052 Reichsstelle; hier in: Potapova 2014, S. 72. Zur Auf- 1054 Deutschland-Stiftung 1967, S. 2303. führung in München 1944 vgl. Verlag C. Bertelsmann 1055 Glaser 1967, S. 2301. (Archivalien). 1056 Vgl. Tribüne 1967. 182 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Der nach 1945 sonst meist nur in kirchlichen der Stadt Köln liege, zu denen auch die im Ju- Kreisen diskutierte Heiseler wurde zur Preis- gendring zusammengeschlossene Jugend an der verleihung in einem Artikel der Zeitschrift Der Internationalen Jugendwoche «einen tätigen Anteil Spiegel von 1968 als «rechter Barde» beschrieben, liefern wollte», aber «über die Art ihrer Mitwir- welcher dem rechtsradikalen «Bund Heimattreuer kung» nicht «recht klar» gewesen sei: «Da nahm Jugend» (BHJ), der offen mit nationalsozialisti- sich der evangelische, früher der Jugendbewegung scher Ideologie hausiere und das «Land jenseits angehörende Pfarrer Dr. te Reh der ratlosen Ju- von Oder und Neiße sowie das Sudetenland» von gend an, setzte sich mit Bernt von Heiseler in Ver- «fremder Verwaltung» befreien wolle, ein Gedicht bindung und erfuhr, daß der Dichter tatsächlich verfasst habe mit der Schlusszeile «Es nachtet. Un- ein geeignetes Stück in Arbeit habe. Aus jenem sere Fackel brennt.»1057 Die Zeitung Die Zeit hielt Besuch wurde ein fester Auftrag.»1059 nach dem Tod von Heiseler 1969 ihren Nachruf Im Mittelpunkt stand die Zusammenarbeit sehr kurz und negativ. Er habe «nationale und mit den Jugendlichen aus dem Jugendring: «Die christliche Gedanken zu amalgieren» gesucht, was tatenfreudige Jugend wollte zunächst alle Rollen ihn für den Nationalsozialismus empfänglich ge- selbst bestreiten – aber da lag die Gefahr nahe, macht habe: daß die Unzulänglichkeit im Schauspielerischen der Wirkung des Stückes Abbruch tue.»1060 Also Diese Mischung prädestinierte ihn zu einem Par- sorgte der Pfarrer, der die Produktion im Hinter- teigänger des Hitlerismus; obwohl er sich von grund leitete, für eine Professionalisierung: Er diesem später enttäuscht zurückzog, brachte ihn stellte für die Regie Heinrich Minden, für die keine Erfahrung zu einer grundlegenden Revision Musik Jürg Baur und als Chor die Singgemein- seiner Überzeugungen. Noch 1967, als ihm der schaft Bergisch Gladbach ein und übertrug die Konrad-Adenauer-Preis verliehen wurde, beklag- Hauptrollen professionellen Schauspielern: «[M] te er, daß die deutsche Literatur versage, weil sie an [nahm] sich einen Stab von sechs Berufsschau- Deutschland nicht in einem günstigeren Licht er- spielern, die aus Freude an der Sache zugesagt ha- scheinen lasse.1058 ben, als das Kernstück des ‹Ensembles› und über- trug der Jugend die Randrollen».1061 Laut Kölner Heiselers christlicher Anspruch auf Versöhnung Stadt-Anzeiger wirkten etwa 60 bis 80 Jugendli- und die dadurch häufige Thematisierung des che mit, finanziert wurde das Stück von der Stadt Nationalsozialismus in seinen Schriften führte, Köln «als Beitrag zu den Jubiläumswochen».1062 durch sein nationalistisches Beharren auf dem Der Schauspieler Heinrich Minden führte «Deutschtum», ab den 1960er Jahren zu einer nicht nur Regie bei diesem Schauspiel, sondern Ausgrenzung aus dem intellektuellen Diskurs der spielte auch den Blaubart. Außerdem wurde er BRD, und er geriet in Vergessenheit. zum Leiter des während der Vorbereitung gegrün- deten Ensembles Der Quell ernannt und führte Regie bei den weiteren Stücken, die danach im Entstehung des Dramas Namen von Der Quell aufgeführt wurden. Im April 1951 wurde die Bühne als ökumenischer Kurz vor der Aufführung vonDas Haus der Angst Verein eingetragen: «Der Quell wird von beiden erschien am 19. Juli 1950 im Kölner Stadt-An- christlichen Konfessionen in dem einmütigen Ge- zeiger ein Artikel, der festhält, wie es zwischen fühl gemeinsamer Verantwortung für die Jugend Heiseler und te Reh zu dessen Realisierung kam. im Alter von 16 bis 25 Jahren getragen und geför- Beschrieben wird die «ungewöhnliche Geschich- 1059 «Bier» 1950b, S. 9. te» dieses Projekts, dessen Beginn in den Feiern 1060 Ebd. 1057 Der Spiegel 1968, S. 84. 1061 Ebd. 1058 Die Zeit 1969, S. 13. 1062 Ebd. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 183 dert», wie es in der Satzung des Vereins heißt.1063 te Komposition an der Hochschule für Musik Das Ensemble zerfiel drei Monate später schon in Köln, wurde 1946 Dozent für Musiktheorie wieder, als bei der Sponsorensuche nicht genug am Robert-Schumann-Konservatorium in Düs- Geld zusammenkam und deshalb die Auflösung seldorf und schloss 1951 noch ein Musikwis- beschlossen wurde. senschaftsstudium an der Universität Köln ab. Den Bühnenbildner Wildermann kannte te 1965 wurde er zum Direktor des Robert-Schu- Reh schon: «Pfarrer te Reh, selbst aus dem Osten mann-Konservatoriums berufen und übernahm stammend, traf hier im Westen unvermutet auf 1971 eine Kompositionsklasse an der Kölner Mu- seinen alten Freund, den Maler Professor Wil- sikhochschule, die er bis zu seiner Pensionierung dermann», wie im Kölner Stadt-Anzeiger steht.1064 1990 leitete. Baur galt als Komponist, der früh Hans Wildermann (1884–1954) war zu dieser offen für «neue» Komposition war, dieser aber in Zeit ein international bekannter Bühnenbildner Respekt vor den «vorhandenen Hörgewohnhei- und Professor für Theatermalerei an der damali- ten» nie ganz folgte, wie Oliver Drechsel im Jahr gen staatlichen Akademie für Kunst und Kunst- 2000 schreibt, der auch ein Werkverzeichnis von gewerbe im heute polnischen Wrocław (Breslau), Baur herausgab.1071 bevor er nach dem Krieg nach Köln zurückkehr- Für das Theater schrieb Baur nur wenig Mu- te.1065 Te Reh fragte ihn 1950 ebenfalls als Archi- sik, und nur um 1950, dieser Teil der Arbeit wird tekt für die Stephanskapelle in Michaelshoven an, aber auf einem kurzen Überblick auf der Web- welche 1954 nach Wildermanns Plänen gebaut site Bach Cantatas besonders gelobt: «his vocal wurde.1066 In Wildermanns Zeichnungen ver- music demonstrates a remarkable sensitivity to mengen sich expressionistische und esoterische poetic texts».1072 In dieser Phase war Baurs Stil Elemente zu einem eigentümlichen Stil, wie sich «gemäßigt-modern» ausgerichtet, wie Drechsel etwa in seinen Illustrationen für eine Rosenkreu- schreibt: «Bach, Bartók und Hindemith sind ihm zer-Meditation von 1926 zeigt.1067 Beim Bühnen- Leitbilder der ‹erweitert-tonalen› Schaffensphase bild für das Haus der Angst handelt es sich laut von Studienbeginn 1937 bis etwa 1954 gewe- dem Verzeichnis bei Irmhild Kuhnt sogar um das sen.»1073 Die Möglichkeit, die Musik zum Haus letzte Bühnenbild seiner über 40-jährigen Tätig- der Angst zu komponieren, erhielt er von Professor keit.1068 Eine Abbildung zu diesem Bühnenbild Gerhard Schwartz, welcher die an ihn als Landes- findet sich in der ZeitschriftThe Augustana Luthe- musikdirektor gegangene Einladung lieber dem ran von 1950.1069 Darauf erkennt man eine ele- jungen Baur weiterleitete, wie Baur im Interview gante, in hellen Tönen gehaltene Säulenhalle mit erzählte.1074 Die Musik zum Haus der Angst wurde gestalterischen Elementen, wie sie aus den 1950er nie aufgenommen oder veröffentlicht, doch er- Jahren bekannt sind: sanft geschwungene Linien, wähnte er sie später als «umfangreiche Musik von die in Schraffierungen übergehen, mit einem or- zum Teil sinfonischer Gewichtigkeit».1075 Für den ganischen Aufbau von Säulen und Decke, der sich jungen Baur bot dieser Auftrag die erste Gelegen- in der Gesamtform an der Gotik orientiert. heit, seine Musik einem breiteren Publikum vor- Der Komponist der Musik zu Das Haus der zustellen, und bildete als «Schauspielvertonung» Angst war Jürg Baur (1918–2010).1070 Er studier- eine besondere Herausforderung: «der Umfang

1063 «Der Quell», Vereinssatzung; hier in: Diakonie in Köln der Musik ging nun wesentlich weiter, als wohl und Region 2004, S. 18. Herr Schwartz und Herr Heiseler sich vorgestellt 1064 «Bier» 1950b, S. 9. 1065 Zu Hans Wildermann vgl. Kuhnt 1969. 1066 Diakoniewerk Coenaculum 2000, S. 23. 1071 Vgl. Drechsel 2000. 1067 Vgl. Wegener 1957. 1072 Bach Cantatas 2009, o.S. 1068 Vgl. Kuhnt 1969, S. 178. 1073 Drechsel 2000, S. 11. 1069 Vgl. Wunderlich 1950. 1074 Vgl. Baur 2009 (Interview), S. 2. 1070 Zu Jürg Baur vgl. Hesse 1993 und Baur 2003. 1075 Baur 1968, S. 17. 184 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 hatten».1076 Baur fand seine «nicht avantgardis- dem sogenannten «Altermarktspiel» Meer sin tische», sondern in einer «neueren Tonsprache» noch do.1080 In diesem am 13. Juli vor rund 5000 auch teilweise von Laien realisierbare Musik gut Zuschauern uraufgeführten und danach etliche genug umgesetzt.1077 Dies auch, weil Hermann Male wiederholten Massenspiel wurde von «his- Nitsche, der Baur und seine Musik kannte, beim torischen Gruppen» in «schönen, reichen Kostü- Haus der Angst das Orchester und den Chor lei- men» die Geschichte Kölns seit den Römern und tete. Ubiern durchgespielt und am Ende «auf höchst realistische Weise mit Fliegeralarmsirenen und Flakscheinwerfern» die «letzte Katastrophe» dar- Die Kölner Stadtfeier und die gestellt.1081 Schließlich kamen die Kölner wieder evangelische Kirche nach dem Krieg aus den Bunkern: «Meer sin widder do.»1082 Das Publikum blieb bei den aktuellen Bezügen nicht Das im Jahr 50 als römische Stadt gegründete Köln immer neutral, wie die Kölnische Rundschau kri- feierte 1950 mit viel Aufwand sein 1900-jähriges tisierte, so sei beim Einzug der Preußen auffällig Bestehen als Rückkehr einer europäischen Groß- laut geklatscht worden – doch in einem Leserbrief stadt in das moderne Europa aus den Trümmern wird dies bloß als «jugendlicher Unfug» beschrie- des Zweiten Weltkriegs. Im Veranstaltungska- ben: «Nicht verwundert habe ich mich darüber, lender der Stadt Köln für das Jahr 1950 sind zu daß humorloser Ernst von Ausländern sich erregt, diesen Feiern zahlreiche offizielle Anlässe aufge- wenn lachlustige Kölner, vor allem junge, die ja listet, als Hauptattraktion werden der (wegen ei- immer zu Streichen aufgelegt sind, ‹begeistert› nes Grubenunglücks in Gelsenkirchen um einen klatschten, als die Preußen beim Alter-Markt- Monat verschobene) «Festakt der Stadt Köln im Spiel zackig einrückten.»1083 festlich hergerichteten alten Gürzenich» am 25. Stärker als politische Aspekte wurden bei den Juni und am 8. Juli eine «Festkundgebung der Feierlichkeiten die Rolle Kölns als katholischem Kölner Bevölkerung unter Teilnahme des Herrn Zentrum unterstrichen, für welche der Dom sym- Bundespräsidenten, der Bundesregierung und der bolisch im Zentrum stand. So fanden am 25. Juni Landesregierung am Kölner Dom» genannt.1078 parallel zum Festakt im Gürzenich in der Stadt Weitere große Veranstaltungen waren im Juli die zahlreiche Pfarrprozessionen und Kirmesfeiern «Volksfestwochen auf dem Alter Markt» und die statt.1084 Bei den Feierlichkeiten vom 8. Juli war Internationale Jugendwoche, an welcher das Stück die katholische Kirche prominent vertreten, und von Heiseler aufgeführt wurde. Es gab auch eine die zentralen Veranstaltungen fanden um und Theater- und Musikfestwoche, Ausstellungen wie im Dom statt. Auch zelebrierte der Erzbischof Köln – 1900 Jahre Stadt im Staatenhaus der Messe Kardinal Josef Frings ein Pontifikalhochamt (bei Köln-Deutz und eine Internationale Sportwoche. welchem ein Kardinal mit allen heiligen Insignien An der großen Feier vom 8. Juni nahmen laut Köl- und in Scharlachrot aufzutreten hat) zu Ehren des nischer Rundschau über eine halbe Million Leute Stadtjubiläums und sprach Klartext in seiner Pre- teil, und auf der Südseite des Domes brachten digt: rund 2000 Sänger in Bläserbegleitung die neue Hymne auf die Stadt Köln von Hermann Schroe- Zum Kölner Stadtjubiläum ist schon viel Gutes ge- der zur Uraufführung.1079 sagt worden, aber ein Gedanke könnte noch mehr Die Stimmung im damaligen Köln wider- unterstrichen werden, nämlich, daß die Stadt Köln spiegelte sich im großen historischen Festspiel, 1080 Vgl. Leptien 1950. 1076 Baur 2009 (Interview), S. 2. 1081 Kölnische Rundschau 1950b, o.S. 1077 Ebd., S. 7. 1082 Ebd. 1078 Vgl. Stadt Köln 1950. 1083 Kölnische Rundschau 1950e, o.S. 1079 Vgl. Kölnische Rundschau 1950f. 1084 Vgl. Kölnische Rundschau 1950d. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 185

immer eine katholische Stadt gewesen ist und daß sie he.1088 So heißt es in der Bibel in der Übersetzung gerade daraus ihre Größe gezogen hat. Damit will von Martin Luther: ich Andersgläubigen nicht zu nahe treten. Wir leben ja im Zeitalter der Toleranz, die anderen Konfessio- Der Herr ist meine Macht/ vnd mein Psalm/ Vnd nen haben die gleichen Rechte. – Wir Kölner Ka- ist mein Heil. tholiken können aber auf die großartige Geschichte Man singt mit freuden vom Sieg in den hütten der Kölns besonders stolz sein und haben besonderen Gerechten/ Die Rechte des Herrn behelt den Sieg! Grund, Gott dem Herrn dafür zu danken.1085 Die Rechte des Herrn ist erhöhet[/] Die Rechte des Herrn behelt den Sieg! Dabei strich er die Rolle der Gesellschaft hervor, Ich werde nicht sterben/ sondern leben/ Vnd des welche dem Reformwillen der Bischöfe während Herrn Werck verkündigen. der Refomation Widerstand leistete: «Als die Re- Der Herr züchtiget mich wol/ Aber er gibt mich formation kam, wollten zwei Kölner Erzbischöfe dem Tode nicht.1089 den alten Glauben verlassen, aber gerade die Stadt Köln, der Rat, das Domkapitel und die Universi- Die Bewohner Kölns, für Müller in diesem «un- tät haben in großer Treue am katholischen Glauben bekannten Sänger» verkörpert, die sich durch festgehalten.»1086 In diesem Traditionsbewusstsein «alle Not» nicht davon abhalten ließen, «ihre fand Frings eine festtaugliche Entschuldigung für kirchlichen Gesänge erschallen zu lassen», fän- den Nationalsozialismus, denn «die Ausgeglichen- den im Glauben auch eine Verpflichtung, denn heit und das Maßhalten der Kölner» seien auch «[z]weifellos sei es ein großer Gewinn, in einer auf der Grund dafür gewesen, dass in Köln der Na- Gläubigkeit aufgebauten Stadt wie Köln zu leben, tionalsozialismus nie echte Wurzeln habe fassen was aber auch eine hohe Verpflichtung mit sich können.1087 Diese Art der Entschuldigung war auf schließe.»1090 An diese Verpflichtung seien die die «Kölner Katholiken» zugeschnitten und ließ Kölner durch die erlebten Züchtigungen erinnert so die eigene Gemeinde in einem besseren Licht worden, und jetzt erscheinen als andere Deutsche und andere Kon- fessionen. komme es darauf an, den Menschen wieder zu Gott Daneben gab es auch Feierlichkeiten der evan- hinzuführen und im Vertrauen auf ihn die Geistes- gelischen Minderheit. So findet sich auf der Seite haltung und damit auch das Gesamtbild der Stadt der Kölnischen Rundschau bei dem Artikel über nach dem alten Vorbild neu zu formen. Unsre Auf- das Pontifikalhochamt in der nächsten Spalte gabe müsste es sein, Gottes Wort zu verkünden und auch ein Artikel zum evangelischen Festgottes- auf ihn zu vertrauen, denn dann werde das Jubilä- dienst in der Martin-Luther-Halle vom Sonntag um so recht die Quelle des Lichtes sein, das weithin 9. Juli, den die Protestanten vermutlich nach der seine Strahlen aussende.1091 allgemeinen Feier vom Vortag zusätzlich besuch- ten. Der predigende Pfarrer Werner Müller legte Für Müller stellte die Nachkriegszeit in seiner Pre- der Messe eine ernste Passage zugrunde, nämlich digt eine Zeit der Mission dar, um die Menschen Psalter 118, Vers 14–18 aus dem Alten Testament, wieder Gott zuzuführen. Er implizierte mögli- in welchem, wie die Kölnische Rundschau die Pre- cherweise, dass in der vergangenen nationalsozia- digt paraphrasierte, «der unbekannte Sänger des listischen Zeit ein falscher Gott angebetet worden Psalms auf die Züchtigung durch Gott» einge- 1088 Werner Müller; hier in: Kölnische Rundschau 1950c, o.S. (Hervorhebung im Original als Zwischentitel). 1085 Josef Frings; hier in: Kölnische Rundschau 1950a, o.S. 1089 Luther 1983, Altes Testament, Psalter 118.14–18. (Hervorhebung im Original als Zwischentitel). 1090 Werner Müller; hier in: Kölnische Rundschau 1950c, 1086 Ebd. o.S. 1087 Ebd. 1091 Ebd. 186 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 sein könnte, weswegen man (durch die Angriffe tont. Dies steht im Gegensatz zu Eva Wunder- der Allierten) gezüchtigt wurde, die Freudenfeiern lich, welche in ihrem Artikel die Annäherung der «in den Hütten der Gerechten» nach der Nieder- Konfessionen betont: «Trotz diesem Überwiegen lage zu ertragen habe und trotzdem dankbar sein des katholischen Elements [in der Bevölkerung müsse, wie darauf im nicht zitierten Vers 21 steht: Kölns] hat die jüngste Jahrhundertfeier eine Ei- «Ich dancke dir/ das du mich demütigest/ Vnd nigkeit zwischen evangelischer und katholischer hilffest mir.»1092 Im Gegensatz zu Frings sprach Bevölkerung gezeigt, die beeindruckend war.»1095 Müller nicht Klartext, sondern verdeckte die Bot- Indem Müller das noch problematischere Ver- schaft, gab dafür aber eine Mitschuld seiner Ge- hältnis zum Judentum offenbar nicht erwähnte, meinde zu. aber der Predigt eine Textstelle aus dem Alten Wie Frings sprach Müller in seiner Predigt Testament zugrunde legte, zeigte er, dass das «jü- nicht von Deutschland, sondern nur von einem dische» Wort immer noch Geltung hat und dis- christlichen Köln und betonte dabei, so berichtet tanzierte sich so von einem allfälligen Neomar- die Kölnische Rundschau, die Anfänge des Chris- cionismus. Als solchen benennt Martin Buber tentums bei den Römern, da nämlich die antijüdische Tendenz der Überwindung des vermeintlich «jüdischen» Alten Testaments zu- lange, bevor der hl. Bonifatius unsern Vorfahren jen- gunsten einer Konzentration auf das «christliche» seits des Rheins die Lehre des Evangeliums brachte, Neue Testament, mit dem sich laut Buber kirchli- das Christentum Eingang in das römische Köln ge- che Kreise im Deutschland der 1930er Jahre vom funden habe. Zu der Zeit, als Köln das Stadtrecht Judentum zu lösen suchten. Sein Kollege Franz erhielt, habe der Apostel Paulus zum ersten Male Rosenzweig habe schon während ihrer gemeinsa- europäischen Boden betreten und seine Botschaft men Übersetzungsarbeit des Alten Testaments in sei auch nach hier gedrungen.1093 den 1920er Jahren bis zu Rosenzweigs Tod 1929 diesen neomarcionistischen «geistigen Prozess» Damit hob sich Müller vom katholischen Frings festgestellt, welcher dann «in den Tätigkeiten der ab, welcher das späte Mittelalter während des ‹Deutschen Christen› und der weitergehenden Dombaus und die frühe Neuzeit während der ‹Deutschen Glaubensbewegung› ihren freilich Reformationsverhinderung in den Mittelpunkt recht problematischen Ausdruck fand», wie Buber gerückt hatte. Der evangelische Pfarrer konnte 1962 schreibt: so das Christentum als Errungenschaft des römi- schen Imperiums und Köln als dessen Vorreiter Es geht um die Lossagung von einem schaffenden im deutschsprachigen Raum darstellen und die und seiner Schöpfung offen bleibenden Gott als Rückkehr zu Gott auch als Rückkehr in die Tra- einem nur «Gerechten», nicht «Liebenden», und dition des Römischen Reichs darstellen. Entspre- damit vom Alten Testament – eine Tendenz, die chend betonte er, dass das «Gesicht Kölns durch auf den christlichen Gnostiker Marcion zurück- das Wort Gottes in Jesus Christus geprägt worden» geht und daher in ihren modernen Ausprägungen sei, und erwähnte mit keinem Wort die Reforma- als Neomarcionismus bezeichnet werden kann.1096 tion.1094 In der Zeitung wird durch die Gegenüber- Müller als Vertreter der evangelischen Kirche in stellung von katholischem Pontifikalhochamt Köln schien Wert darauf zu legen, die jüngste Ge- und evangelischem Festgottesdienst der Graben schichte als Abwendung von Gott und als gerech- zwischen den beiden Konfessionen geradezu be- te Züchtigung zu lesen und vermied antijüdische Tendenzen, wie sie die am Nationalsozialismus 1092 Luther 1983, Altes Testament, Psalter 118.21. 1093 Werner Müller; hier in: Kölnische Rundschau 1950c, 1095 Wunderlich 1950, o.S. o.S. 1096 Buber 1962, S. 26. Zur «Deutschen Glaubensbewe- 1094 Ebd. gung» vgl. Kühl-Freudenstein 2003. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 187 ausgerichtete evangelische Bewegung der «Deut- Auf Übertretung des Gesetzes steht der Tod. schen Christen» vertreten hatte. Dies distanzierte Ich bin die Pflicht. Wie sie. Wie alle. ihn nicht nur von katholischen Unschuldsbeteue- Ich strafe nicht, muß es nur vollziehn.1100 rungen, sondern auch von Heiseler, wie sich im Folgenden nun zeigt. Blaubart sieht sich als ein Vollstrecker höherer Gewalt, «der Herr, der über uns ist, / Hat die Gerechtigkeit, […] In meine Hand gelegt».1101 Heiselers Schauspiel Das Haus der Angst Dieser «Herr» bestimmt nach Blaubarts Meinung von 1950 auch, dass die «Prinzessin» die Probe der ihr ver- botenen Türe zu bestehen hat. Im Fall der Über- Die Uraufführung des musikalischen Schauspiels tretung müsse er sie töten, denn «Unser Herr / Das Haus der Angst oder Der goldene Schlüssel fand Deiner und meiner» verfüge darüber.1102 unter Leitung von Heinrich Minden am Samstag In den Fassungen von 1950 und 1951 werden 22. Juli 1950 in der Aula der Universität Köln Blaubarts Worte in diesem Vorspiel von einem statt.1097 «unsichtbaren Chor» begleitet, der die Frau fas- Die Szenerie des ganzen Schauspiels wird im ziniert und über den sie mehr erfahren möchte. Textbuch von 1950 als «große prächtige Halle auf Doch offenbar konnte dieser Teil nicht der Anwei- Blaubarts Schloß» beschrieben: «In der Rückwand sung entsprechend aufgeführt werden, wie Heise- [sind] nebeneinander fünf wohlverschlossene Tü- ler in der Erläuterung zur Neuauflage des Stücks ren aus hellem Holz mit eingelegter Arbeit; nur 1968 schreibt: «Der Chor blieb unsichtbar hinter die mittelste Tür ist schwarz. Rechts offener Ein- der Szene, wurde daher textlich nicht verstanden. gang mit gotischem Spitzbogen.»1098 Das Vorspiel So ergab sich die Notwendigkeit, die Texte nicht beginnt mit einem Auftritt von Dienern, Blaubart singen, sondern sprechen zu lassen und den Chor (Heinrich Minden) und seiner Frau, genannt die als einen ‹Chor der Schloßbesatzung› sichtbar auf «Prinzessin» (Elisabeth Able). Er erscheint als mit- die Bühne zu stellen.»1103 Im Vorspiel wendet sich telalterlicher Ritter: «Der auf den Treppenabsatz der Chor an die Frau und bestätigt Blaubarts Auf- gestellte Leuchter ist die einzige Lichtquelle, so- forderung an seine Vermählte: «glaube, / Geprüfte daß man von der Prinzessin nur wenig und von Seele, / Daß er dich liebt!»1104 dem Ritter überhaupt fast nur den Umriß der ho- Schon am ersten Tag ihrer Ehe verlässt Blau- hen Gestalt, in Harnisch und Helm mit dunklem bart das Schloss und gibt seiner Frau den golde- Helmbusch und Bart, zu sehen bekommt.»1099 nen Schlüssel, anhand dessen seine Angestellten Im Abdruck von 1951 ist der Anfang verän- sie als «die Herrin» erkennen können.1105 Sie fügt dert und enthält noch eine Instruktion von Blau- sich seiner Order: «Ich will gehorchen, mein bart an seinen Kastellan (Hermann Holve): «Sie Gemahl. / Die Kammer mit der schwarzen Tür muss die Prüfung / Bestehn, wie alle», worauf ihn / Nicht öffnen, nicht betreten!»1106 Als Blaubart dieser fragt: «Auch die Strafe, die furchtbare, / weg ist, singt der Chor und bestätigt sie in ihren Wenn sie fehlt?», worauf Blaubart meint: Vorsatz: «Das ist die Treue / Der hoffenden Seele, / Lerne sie üben!», womit das Vorspiel endet.1107 Auch die Strafe. Ich hab nicht zu fragen, Ob sie zu hart sei. Das Wort ist klar: 1100 Heiseler 1951, S. 224. 1101 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 4. 1097 Die vorliegenden Ausführungen basieren in erster Linie 1102 Ebd. auf dem Textbuch zur Aufführung 1950; vgl. Heiseler 1103 Heiseler 1968, S. 257, Anmerkung. 1950 (Manuskript); herbeigezogen wurden auch die 1104 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 3. redigierten Versionen; vgl. Heiseler 1951 und 1968. 1105 Ebd. 1098 Heiseler 1950 (Manuskript), Vorspann, o.S. 1106 Ebd., S. 5. 1099 Ebd., S. 2. 1107 Ebd., S. 6. 188 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Abb. 13: Bernt von Heiseler: Das Haus der Angst oder Der goldene Schlüssel (1950), Dokumentation mit Pressebild. © Archiv des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region Heiselers christliche Vision des Verzeihens 189

Beim ersten Akt unterhält sich die Prinzessin mit Andrer, / Wenn Ich sie halte!»1113 Die Prinzessin ihrer Dienerin Roswitha, welche sich an der Ra- erkennt schnell die Rolle Kumpans als Versucher dikalität dieser Ehe stört und Blaubart nicht mag: des «Bösen», denkt aber, er handle im Auftrag ih- «Bist aufgewachsen in einem so fröhlichen Haus, res Mannes. Es kommen ihr Zweifel an der Recht- / Und dann kommt einer daher, / So ein finsterer, schaffenheit ihres Ehemannes auf, besonders als trauriger, schwarzer Kerl».1108 Doch die Prinzessin sie den Gesang, den sie am Anfang in der Unter- widerspricht, sie glaubt, dass er sie braucht und redung mit Blaubart gehört hatte, noch einmal sie durch ihn frei werde. Darauf betritt der Diener zu hören wünscht, und der Kastellan behauptet, Kumpan als «Gestalt des Versuchers» die Bühne diesen Gesang nicht zu kennen. Sie misstraut dem und spielt mit einer «singenden Schönen» eine Kastellan und vermutet eine Verschwörung gegen pantomimische Inszenierung der biblischen Ver- sie. Als Kumpan sie zum Öffnen der ihr verbote- suchung Evas durch die Schlange.1109 Offensicht- nen Türe zu verführen sucht, wird der Verdacht lich will Kumpan die Frau so zum Öffnen der zu einer festen Annahme. Zu wissen, was hinter verbotenen Tür animieren, wie schon Crane Blau- der ihr verbotenen Türe ist, wird notwendig – und bart mit der biblischen Verführung Evas durch die ist für sie kein Akt der Neugierde mehr. Sie kann Schlange illustriert hatte.1110 Die Schlange wird nicht mit einem Misstrauen ihrem Mann gegen- hier durch Kumpan verkörpert, und die Frau be- über leben, sondern muss Gewissheit haben, dass singt ihr Glück, als sie vom Apfel isst. So endet ihr Ehemann unschuldig ist und will deshalb die das Schauspiel, über welches die Prinzessin gar Kammer öffnen: nicht erfreut ist. Der Kastellan lässt nicht locker und lädt die Gewißheit muß ich haben! Gewißheit! Prinzessin mit einer Gruppe Musikanten zur Be- Nenn es nicht Neugier. […] sichtigung des Schlosses ein. Als erstes wollen sie Es ist aus Liebe zu ihm, daß ichs tu, die fünf Türen öffnen. In der ersten Kammer fin- Ich kanns nicht ertragen, an ihm zu zweifeln!1114 den sie Leinenstoffe, in der zweiten Seide – Ros- witha ist beide Male begeistert. Als der Kastellan In der Kammer findet sie zwei Leichen, die sie die schwarze mittlere Türe übergeht, tadelt die als ihre bestraften Vorgängerinnen erkennt, und Prinzessin ihn: «Ich will [die Tür] nicht auftun. findet ihren schlimmsten Verdacht bestätigt: «Im / Doch bin Ichs, die bestimmt, / Welche Türen Haus eines Mörders bin ich gefangen!» 1115 Sie man öffne.»1111 Die Musikanten spielen darauf wird sogleich von Kumpan entdeckt, der ihr mit weiter, doch der Tanz-Rhythmus hat sich ins Hilfe von zwei fabelhaften Kindwesen den Schlüs- «Schwere und Ernste verändert», und sie heben sel reinigen will, was ihm aber nicht gelingt. Den erst nach dem Öffnen der Kammer mit Gold und befleckten Schlüssel trägt die Prinzessin daraufhin Silber und der letzten mit Edelsteinen und Perlen in einem kleinen Beutel bei sich. Das Auftreten wieder zu einem erst «versonnenen und ernsten» der beiden an zwergenhafter Fiktion orientierten und dann zu einem «bewegteren und mutigen Fabelwesen macht klar, dass die hier erzählten Er- Ton» an.1112 eignisse nicht in einer realistischen, sondern in Als die Gruppe zur Besichtigung die Bühne einer fiktionalen, wunderbaren Umgebung ange- verlässt, verbleibt Kumpan alleine und siegessi- siedelt sind. Während zu Beginn des Spiels eine cher: «Das ist doch hübsch, daß sie alle noch glau- expressionistisch-mythologische Inszenierung na- ben, / Sie regierten sich selber, / Wenn schon ein heliegend scheint, wird Das Haus der Angst mit dem Auftritt der Fabelwesen zu einem Märchen- 1108 Ebd., S. 7. 1109 Vgl. Luther 1983, Altes Testament, 1. Mose 3. 1110 Vgl. Crane 1875, S. 4. 1113 Ebd., S. 17. 1111 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 15. 1114 Ebd., S. 23. 1112 Ebd., S. 15f. 1115 Ebd., S. 25. 190 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 spiel, was auch die Entdeckung der Leichen in der käuferin die Stimmung eines Kasperltheaters für Kammer nicht realistisch wirken lässt. Kinder, bei welchem die Kinder im Publikum Der zweite Akt beginnt mit der Rückkehr der ihrem Schützling zurufen können, wenn er oder Prinzessin von einem Ausritt. Seit dem Öffnen sie das dräuende Unglück nicht erkennt. der Kammer ist das Schloss von dichtem Nebel Endlich kommt Blaubart zurück. Die Prin- und Trübsal bedeckt. Kumpan offeriert Roswitha, zessin ist zwar voller Furcht, doch sie ist sich dafür sorgen zu können, dass Blaubart nicht mehr sicher: «Ich will hier an der Treppe stehn / Mit zurückkomme, was sie akzeptiert, da ihre Herrin offnem Gesicht, / Und alles gleich sagen.»1121 Als sagt: «Mein Herr und Gemahl ist ein Sklaven- sie gestanden hat, und zur Hinrichtung bereit ist, halter / Und ich – ich haß ihn!»1116 Als Roswitha schaut sie ihm noch einmal in die Augen und Kumpan hereinbittet, will die Prinzessin ihn aber stellt mit einem «Leuchten» über ihrem Gesicht festnehmen lassen, und dieser entgeht durch einen fest: tödlichen Sprung aus dem Fenster. Die Prinzessin ist durch dieses Erlebnis noch mehr erschüttert Du bist nicht falsch und trüb, und beschließt: «Gott im Himmel! […] In deiner Ich kann nicht verstehn, was du tust, Welt, wo man nur durch Mord / Vor Mord sich Aber sterbend will ich dorthin gehen, bewahrt, wo Lüge nur / Vor Lüge schützt, […] Wo ich alles begreife.1122 will ich nicht mehr leben».1117 Sie will sich aber nicht selber töten, sondern auf Blaubart warten, Diese Hingabe, die plötzlich wieder scheinende damit er seine Strafe ausführen und sie hinrichten Sonne und die vom Schlüssel abfallende Trü- kann. bung lösen beim selbsterwählten Richter und In der dritten Szene fügt sich die Prinzessin Henker einen unerwarteten Prozess der Reue aus. zwar ihrem Schicksal, doch kann sie mit ihrem Er begreift, dass nicht die Frauen von Gott dem Mann nicht mitfühlen: «Er ist immer korrekt. Er «Herrn» geprüft wurden, sondern er der Geprüfte vergibt sich nichts / Er nimmt nicht so viel Anteil war. Er sieht ein, dass er selber dieses Vertrauen, an uns, / Um sich die Handschuhe schmutzig zu welches ihm die Prinzessin entgegenbringt, hätte machen!»1118 Trotzdem widersteht sie dem zweiten haben sollen: gemeinsamen Auftritt der beiden Versuchergestal- ten, die dieses Mal als Soldat Kesperlin und als Blut hab ich vergossen – und seine Milde verkannt. Spiegelverkäuferin auftreten. Der Soldat Kesper- […] lin setzt sich für Gerechtigkeit ein und will mit So bin ich kein Richter, bin der Mörder an denen, den Soldaten dem Blaubart die Heimkehr verwei- Die hinter der schwarzen Tür dort starben gern, denn wenn er «was schmeckt von Ungerech- Und die in ihres Herzens Angst tigkeit», dann wird er «wild», «das kann ich nicht Vor mir das Bekenntnis nicht wagten. haben!»1119 Auch die Spiegelverkäuferin singt in Ich bin es, ich, der geprüft worden ist.1123 ihrem Lied davon: «Ich ging durch die / Verbotne Tür […] Aber schlimmer als meine / Schlechtig- In diesem Moment heroischer Katharsis löst sich keit / Ist Blaubarts harte / Gerechtigkeit» – worauf das Prinzip der Strafe kraft der Liebe auf, und die Prinzessin beide wegschickt.1120 Heiseler evo- der Schlosschor singt, «daß die Liebe / Alles ver- ziert bei diesen eingeschobenen Erzählungen vom mag».1124 Die Prinzessin verzeiht Blaubart und Sündenfall Evas und vom Duo Soldat/Spiegelver- kann ihn überzeugen, bei ihr zu bleiben und den toten Frauen ein würdiges Grab zu geben, denn, 1116 Ebd., S. 33. 1117 Ebd., S. 39. 1121 Ebd., S. 49. 1118 Ebd., S. 45. 1122 Ebd., S. 51. 1119 Ebd., S. 46. 1123 Ebd., S. 52. 1120 Ebd., S. 48. 1124 Ebd., S. 53. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 191 wie sie sagt: «die Toten vergeben».1125 So willigt Prinzessinnen-Frisur zurechtmachen lassen wür- er ein und schließt: «Ich bleibe. / Laß uns den de.»1129 Einklang suchen.»1126 Sie wollen nun «zusammen Im Kölner Stadt-Anzeiger wurde am 24. Juli ein Leben beginnen», bei dem sie den goldenen 1950 eine erste Rezension des Stücks abgedruckt. Schlüssel tragen will und somit weiterhin die Her- Sie ist in einem gönnerhaft-kritischen Ton ver- rin des Hauses bleibt und am Schlüssel täglich fasst. Der Autor übernimmt die Argumentation sieht: «Es ist eine Liebe, die duldet und schont, von Heiseler und sieht im «Haus der Angst» ein / Das Getrübte läutert, / Uns neu beginnen hilft Bild für «die menschliche Existenz, in die der von Tag zu Tag.»1127 Mensch eingespannt ist» und in der Kammer Durch die gleichsam «realistische» Wendung «was des Menschen Angst vor dem Lebenmüssen am Schluss wirkt diese letzte Szene dann auch und dem Tode schlechthin ist.»1130 Die freiwilli- viel weniger märchenhaft, als vielmehr naturalis- ge Beichte der Ehefrau schaffe die nötige «Ent- tisch, eine eigentliche glückliche Wendung fehlt, sühnung» und bringe den Wandel in Blaubarts und die Eheleute finden sich mit ihrem Schicksal Verhalten, denn dadurch «verzweifelt» Blaubart ab. Für eine naturalistische Auslegung des Endes an dem, «was er bisher als Diener der Gerechtig- spricht auch, dass Heiseler die von Baur kom- keit zu vollstrecken glaubte».1131 Sie sei es, die ihn ponierte Schlussmusik strich, wie Baur erzählte: lehrt, «an eine höhere Gerechtigkeit und deren «Was tut ein guter Mensch? Er macht am Schluss Gnade [zu] glauben, und, bezwungen durch so einen Einklang – ‹Nein! Die Musik darf nicht am reine christliche Liebe, wird Blaubart von der Ver- Ende sein, sondern das Wort!› […] Ich war schwer zweiflung errettet.»1132 enttäuscht.»1128 Die von Baur geplante Rückfüh- Für den Rezensenten spielt Heinrich Minden rung in ein moderat-modernes Klanggewand und den Blaubart «kraftvoll und nachdrücklich», und somit die Möglichkeit der Anbindung an den seine Frau bemühte sich, «Hoheit und Demut zu symbolistisch orientierten Einstieg fiel so weg. edler Haltung zu verschmelzen», doch verlangten die beiden Rollen eine «statuenhafte Haltung», während die weiteren zwei zentralen Rollen der Rezeption des Stücks Versuchergestalten mehr «Beweglichkeit» zuließen und «lebensvoll und frisch» und «mit gutem schau- Die Aufführung von Heiselers Stück im Rahmen spielerischem Können» gespielt worden seien.1133 der Internationalen Jugendwoche wurde breit, Die «Zwiespältigkeit» der Umsetzung mit Berufs- wohlwollend, aber nicht durchgehend positiv be- schauspielern und Laien wurde für ihn «ausgegli- sprochen. Nach der Uraufführung am 22. Juli er- chen von der gemeinsamen Begeisterung für die schien in der Kölnischen Rundschau vom 23. Juli Sache», und er lobt, dass «trotz der aus Künstlern 1950 ein Artikel, in dem die «übliche Hauptpro- und Laien gemischten Besetzung die Aufführung ben-Nervosität» beim Haus der Angst beschrieben im großen und ganzen einheitlich wirkte, wenn- und Heiselers eigenhändiger Einsatz vor Ort ge- gleich sie natürlich nicht den Hochglanz einer von würdigt wird: «Der Dichter Bernt von Heiseler bühnenerfahrenen Berufsspielern getragenen Vor- versuchte noch händeringend dem Spielleiter bei- stellung haben konnte.»1134 Die anderen Teile, wie zubringen, daß die lange, süße, blonde Locken- das Bühnenbild, die Tänze und Gesänge, erwähnt perücke der Hauptdarstellerin fehl am Platze sei er nur kurz, die Musik von Jürg Baur «untermalt» und stattdessen besser ihre eigenen Haare zu einer 1129 «Gö.» 1950, o.S. 1130 «Bier» 1950a, S. 4. 1125 Ebd., S. 54. 1131 Ebd. 1126 Ebd. 1132 Ebd. 1127 Ebd., S. 53. 1133 Ebd. 1128 Baur 2009 (Interview), S. 2. 1134 Ebd. 192 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 für ihn das Stück «verständnisvoll» und sei auch Megge kritisiert auch das Spiel, welches für ihn von Heiseler «als dem Geiste seines Stücks gerecht» am «Unausgeglichenen und Übertreibenden» anerkannt worden.1135 Grundsätzlich zeigten die krankt: «Denn was zunächst so plausibel und Zuschauerzahl und der «warme Beifall», dass «der leicht schien, Berufsschauspieler und Laienkräfte Gedanke einer christlichen Bühnenkunst mit Zu- gemeinsam als Träger des Stückes einzusetzen, er- neigung aufgenommen wird» und somit te Rehs wies sich im Endergebnis als für beide Teile hin- Bemühungen belohnt würden.1136 dernd.»1141 Die Inszenierung von Heinrich Min- Wilhelm Megge lobt in seiner Rezension vom den bezeichnet er als «ziemlich konventionell», 25. Juli 1950 das Stück als «großen Wurf» der das Bühnenbild von Wildermann aber als «recht Gruppe Der Quell: kultiviert», auf die Musik geht er nicht näher ein. Eva Wunderlich geht in ihren beiden in den Sie wagte ihn in echt jugendlicher Unbekümmert- USA geschriebenen Artikeln über Das Haus der heit und bewies damit, […] daß nicht mehr ver- Angst nicht genauer auf die Aufführungen als allgemeinernd von der abseits stehenden deutschen künstlerische Ereignisse ein (möglicherweise hat- Jugend gesprochen werden kann, sondern daß es te sie sie nicht gesehen), sondern diskutiert vor nur darauf ankommt, ihr Ziele zu weisen und Auf- allem den zeitgenössisch-gesellschaftlichen Hin- gaben zu stellen, um sie genau wie zu alten Zeiten tergrund. Während sie im einen Artikel auf die zu begeistern.1137 drohende Gefahr des Existenzialismus hinweist, rückt sie im anderen Artikel das Zusammen- Dies wertet Megge sehr positiv, «vielleicht ist dies leben der Konfessionen nach dem Krieg in den das wertvollste Ergebnis dieser Uraufführung, Mittelpunkt. Für sie handelt es sich beim Drama daß an einem Ort wieder einmal Publikum über- von Heiseler um ein gutes Beispiel «religionsbe- wunden wurde und statt dessen Gemeinschaft wusster» Literatur, da – wie sie Heiseler folgt – und Gemeinde sich bildete».1138 Die Kritik am im Stück der Sieg christlicher Gnade dargestellt Stück selber ist aber klar negativ, zum einen findet werde: Megge, dass der Text von Heiseler nicht «die ver- sprochene christliche Antwort auf die Frage nach Über die Stufe des Schuldbewusstseins ringt sie sich dem Sinn des Seins» gebe: «Die Möglichkeit hier- durch zum Vertrauen in den ihr im Grunde un- zu ist in dem Augenblick vertan, wo Blaubart sei- verständlichen Mann und damit zur Anerkennung nes allegorischen Charakters entkleidet und zum ihres Schicksals und zum Glauben an eine Rettung bußfertigen Mörder wird, wo also auf eine sym- durch Gnade. Ihr Glaube und ihr Vertrauen sind so bolische Frage eine naturalistische Antwort gege- stark, dass sie der göttlichen Gnade teilhaftig wird, ben wird.»1139 Die Frau finde sich in der Kammer einer Gnade, die sich auch auf den sonst so gewalt- nicht «dem Tod, nach existentialistischem Sprach- tätigen Machthaber erstreckt und ihn wandelt.1142 gebrauch also dem Nichts» gegenüber, sondern dem «Eingeständnis» der «Blutschuld», also des Wunderlichs Haltung gegen den Existenzialismus verbrecherisch vergossenen Blutes durch einen und ihre Betonung des positiven Charakters «re- gewöhnlichen Mann, der anfänglich als «Allego- ligionsbewusster» Literatur sind sicher fragwürdig rie des aller irdischen Schuld entrückten Gerichts- und werden weiter unten noch erläutert. herrn über Leben und Tod» gelesen worden sei.1140 Die Reaktionen in der damaligen Presse zei- gen, dass dieser Haltung durchaus Verständnis 1135 Ebd. entgegengebracht wurde. Die Aufführung des 1136 Ebd. Stücks von Heiseler wurde durchwegs positiv 1137 Megge 1950, o.S. 1138 Ebd. aufgenommen, sei es, weil damit die «christliche 1139 Ebd. 1141 Ebd. 1140 Ebd. 1142 Wunderlich 1951, S. 264. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 193

Bühne» eine Plattform erhielt, oder weil durch das Ungerechtigkeit wehren will, an den Kasperl in Zusammenkommen so vieler Beteiligter – Schau- Poccis Blaubart (1859), der die Frau zum Betre- spieler, Sänger, Musiker, Laien, Jugendlicher und ten der ihr verbotenen Kammer auffordert, da er dem Publikum – eine Gemeinschaft entstand. es als Beleidigung und «Schikanerie» empfindet, dass Blaubart ihr einen Schlüssel gibt, den sie nicht benutzen darf, «grad so, als wenn mir einer Stoff, dramatische Form und inhaltliche ein Bierkrug zum Trinken vorsetzen tät, in dem Absichten nix drin wär».1146 In einzelnen Aspekten erinnert das Stück an Zur Idee von te Reh, ein Stück durch evangelische die Oper von Bartók (1918), denn wie Judith, Jugendliche aufführen zu lassen, wählte Heiseler welche die Mauern weinen hört und bluten sieht, eine Adaption von Perraults La Barbe bleüe. Als merkt auch die Ehefrau von Heiselers Blaubart, Märchen, wie Heiseler das Stück bezeichnete, er- dass etwas nicht stimmt: «Es liegt ein Schatten schien ihm diese Erzählung wohl geeignet, da ihm über Blaubarts Haus – Ach! Ich wollte, ich könnt aus seiner Kindheit Märchen in guter Erinnerung ihn heben!»1147 Auch ist sie wie Judith überzeugt geblieben waren.1143 Auch war Köln grundsätzlich von ihrer Entscheidung, bei Blaubart zu bleiben, eine frankophile Stadt, und so konnte man erwar- und sieht darin ihre Bestimmung. Denn, wie sie ten, dass Perraults Erzählung allgemein bekannt schon am Anfang zu ihrer Dienerin Roswitha war. Das galt aber nicht für andere künstlerische sagt: Adaptionen – Baur meinte im Gespräch, dass er sich beim Komponieren der Musik keiner Vor- Das Eine weiß ich: daß er mich braucht. bilder bewusst war: «Für mich war der Blaubart Er braucht eine Seele, die ihm vertraut. als Thema klar in der Erinnerung, als dieses Mär- Das will ich. Auch wenn ich nicht versteh. chen, als böses Märchen, aber nicht in irgendeiner Wir Frauen – sag selber! ist es nicht so? Form der Vertonung und auch nicht als Schau- Ich glaube, wir lieben immer die Männer, spiel.»1144 Warum das Stück für diesen Anlass be- Die uns am allernötigsten haben.1148 sonders geeignet erschien, ist rückblickend nicht mehr selbstverständlich. Blaubart hatte sich im Die Liebe der «Prinzessin» erscheint im ersten 20. Jahrhundert von einem komischen (Offen- Teil weniger hingebungsvoll als diejenige von bach) und kinderfreundlichen Stück (Pocci) zu Judith, welche angesichts der anderen zu Säulen einer grausamen Auseinandersetzung mit dem erstarrten Frauen deren Schönheit beneidet und Geschlechterkampf (Trakl, Bartók) und dem am Ende widerstandslos selber die Kammer be- Kampf um Gerechtigkeit (Dukas) gewandelt. tritt. Bei Heiseler wird die Liebe zu Blaubart an- Heiseler kannte offensichtlich verschiedene fangs schnell fallen gelassen: Sie will Gewissheit, Adaptionen, denn er orientierte sich weniger an als sie die verbotene Kammer öffnet, sie hasst ihn, Perrault, als an Erzählungen des 19. und Insze- als sie sich von ihm hinrichten lassen will, doch nierungen des 20. Jahrhunderts. Außer der ver- sie verzeiht ihm, als sie am Ende – wie Judith – führerischen Spiegelverkäuferin, welche an die doch bei Blaubart bleiben will und ihm wieder böse Königin und Stiefmutter im Märchen Snee- ihre Liebe anträgt. Als Blaubart bei Heiseler seine wittchen (1812) der Brüder Grimm erinnert, zei- Verbrechen einsieht und sich strafen will, gibt es gen sich auch viele Bezüge auf Blaubart-Adaptio- noch einmal eine Paralelle zu Bartók, als er sagt: nen.1145 So erinnert der Soldat, welcher sich gegen «Ich bin ins Dunkel verstoßen / Ich muss fortge-

1143 Vgl. Heiseler 1971, S. 12. 1146 Pocci 1907, S. 91. 1144 Baur 2009 (Interview), S. 9. 1147 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 13. 1145 Brüder Grimm 1994/2002; darin: Sneewittchen, Band 1148 Ebd., S. 7. 1, S. 269–278, hier S. 273. 194 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 hen.»1149 Danach versinkt sie aber nicht mit ihm kniet der Alte vor Blaubart nieder und meint auf in der Dunkelheit, sondern hält ihn zurück und die Frage, warum er weine: bleibt mit ihm als einem reuigen Verbrecher zu- sammen. Hab’ nie, Herr, einen gesehn in der Welt – An die Adaption von Dukas (1907), wo Aria- Der so wie Ihr von Gott gequält! ne am Ende Blaubart wieder verlässt und die Ein- Gäb’ gern dies bißchen Leben für Euch – samkeit vorzieht, erinnert das Stück in der Musik. Und kann nur weinen und knien vor Euch.1151 Auch Baur setzt einen Chor ein, welcher gerade am Anfang (mit hohen Sopran, Frauen- und Kna- Die Frau will zwar nicht bei Blaubart sein, son- benstimmen) an die eindrückliche Szene am Ende dern bei ihrem (jüngeren) Geliebten, doch Blau- des ersten Aktes erinnert, als Ariane die verbotene bart macht sie trunken und geil und bereit für ihre Kammer betritt und dort den Gesang der «cinq körperliche Vereinigung: «Hei, lustig geschnäbelt filles d’Orlamonde» und somit die eingesperrten zur Nacht, / Bis zweie nur mehr eines macht», (und nicht sichtbaren) Frauen hört. Heiseler aber worauf sie sich hingeben will und gerne auch ihr grenzt sich in der Handlung klar von Dukas ab, Leben opfert: «Mein Knabe, komm! Trink meine denn bei ihm ist es Kumpan (und nicht die frei- Glut! / Bist du nicht durstig nach meinem Blut / heitsliebende Ariane), welcher alle Anwesenden Du Starker – mein Leben – du nimm hin!», und im Schloss als Gefangene bezeichnet, denen er die fragt darauf Blaubart «wie verzaubert»: «Trägst du Freiheit gezeigt habe: nicht am Hals ein Schlüsselein? / Es leuchtet – möcht’s ein goldenes sein?»1152 Als Blaubart über Ihr Eingeschlossnen / In eurem Kerker, sie «herfällt», erkennt sie die Täuschung, dass er Wer hat die Türe / Euch aufgetan, nicht ihr jüngerer Geliebter ist, und wehrt sich. Wer gibt euch Freiheit, / Wenn ich euch nicht führe, Doch er will ihr den Hals «schlitzen» und kündigt Zu kühnen Taten / Die offne Bahn!1150 ihr einen «zuckenden, schäumenden Tod» an.1153 Bevor er, der vom Alten als «Gequälter» bezeich- Der Abschied von Ariane am Schluss der Oper net wurde, sie in die Tiefe zerrt, schreit er «Gott!», von Dukas wäre in dieser Lesart wohl eine Ver- und als er «bluttriefend und trunken außer sich» körperung der «Gestalt des Versuchers», und die alleine wieder heraufkommt, stürzt er «wie nie- in Gefangenschaft verbleibenden Frauen wären dergemäht vor einem Kruzifix nieder» und spricht tapfere Heldinnen. «verlöschend» noch einmal das Wort «Gott!» aus. Wichtiger als die Opern von Bartók und Die Konstellation des grausamen Mannes, der Dukas war für Heiseler vermutlich das Puppen- eine Jungfrau tötet, darunter leidet und als ein von drama Blaubart von Georg Trakl, welches im Gott Gequälter erscheint, bildet neben dem golde- Gegensatz zu diesen eine sarkastische Komödie nen Schlüssel und dem Fenstersturz einen weiteren darstellt. Dieses 1910 verfasste Fragment wurde Hinweis auf eine mögliche Inspiration von Haus der 1939 zum ersten Mal veröffentlicht. Das Drama Angst durch Trakls Fragment. Neben dieser Kons- spielt in Blaubarts Schloss. Dort hört Elisabeth, tellation findet sich in beiden Adaptionen auch die zukünftige Gattin Blaubarts, ein nicht zu ver- eine ähnlich verzweifelte Stimmung, wo in äußers- ortendes Weinen. Herbert, ein Untergebener von ter Not Gott angerufen wird – vom Täter wie vom Blaubart, stürzt sich angesichts der sich anbah- Opfer. In keiner Weise übernahm Heiseler den sar- nenden Hochzeit von Blaubart und Elisabeth aus kastischen Humor von Trakl, dieses brutale Stück Gram aus dem Fenster. Ein ebenfalls im Schloss als «Puppenspiel» aufzuführen, wodurch Trakl die anwesender «Alter» fällt daraufhin auf die Knie pathetischen Mordszenen ins Ungelenk-Lächerli- und weint. Als Blaubart und Elisabeth auftreten, 1151 Trakl 1939, S. 36. 1149 Ebd., S. 53. 1152 Ebd., S. 41f. 1150 Ebd., S. 37. 1153 Ebd., S. 43. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 195 che verdreht. Im Gegensatz zu den Verweisen auf Heiseler weiß, dass die Geschichte der Literatur die bekannten Versionen von Blaubart, die Bibel und der Kunst eine von dauernden Umstürzen und Märchenmotive konnte Heiseler davon aus- und Erneuerungen ist, doch seit «das Neuern gehen, dass das Publikum das Puppendrama von und Umstürzen und Zerbrechen schon fast all- Trakl nicht kannte, und es als Inspiration freier gemein als ein Ruhm gilt, sogar als Forderung an benutzen. Trakl hatte die märchenhafte Erzäh- den Dichter gerichtet wird, sollte er, dünkt mich, lung, welche expressionistisch-tragisch umgedeutet den Geschmack daran verloren haben», und es sei wurde, mit brutal-sarkastischen Allusionen auf den gerade das Altmodische, was ihn reizen solle, und heimischen Katholizismus zugespitzt. Heiseler sei- deshalb wäre es «schade und sogar verwirrend, nerseits bediente sich bei den expressionistischen wenn [ihm] heute der Vorwurf der Rückständig- Motiven von Trakl oder Bartók, um daraus wieder keit, Bürgerlichkeit usw. fehlen würde».1159 eine märchenhafte Erzählung zu machen. Ein wichtiger Aspekt, der sich bei Trakl schon Möglicherweise war für Heiseler ebenfalls findet, ist die Beschreibung der Figuren als Ge- die poetische Form bei Trakl inspirierend – auch quälte, die nicht imstande sind, ihr Leben zu dort sprechen die Figuren in höchster Not noch beenden. Eine ähnliche Darstellung des Lebens in poetischen Versen. Für Heiseler war die lyri- findet sich auch bei Heiseler im Vorwort zum sche Sprache ein wichtiges Kulturgut, mit ihr Textbuch zum Haus der Angst von 1950: «Wir er- wollte er an die höchsten Formen deutscher Po- fahren unser Leben als eine Gefangenschaft. Wir esie anschließen, so erwachse aus dem Reim ein erkennen nicht ihren Sinn und wir wissen nichts beruhigender Fluss, wie er 1947 schreibt: «Die über ihre Dauer; sicher ist nur, daß sie tödlich en- Wirkung liegt natürlich nicht allein im Reim, den wird.»1160 Damit bezieht sich Heiseler mög- sondern im reinen, fließenden Gang der Zeilen, licherweise auf Sartres Stück Huis clos, welchem eben in der Goetheschen Melodie.»1154 Die Kraft er mit dem Haus der Angst entgegentreten wollte. erhalte dieser Reim durch die ihm innewohnen- Heiseler mochte Sartre nicht, er verkörperte für de Ruhe: «Wer den Reim hört, dem kommt eine ihn die Durchschnittlichkeit moderner Literatur, Ruhe ins Herz. Das Anlangen, das Ruhigwerden wie er 1952 schreibt: einer durch Metrum und Tonfall aufgeführten seelischen Bewegung... das ist die Leistung des Ein Mann wie etwa Sartre liebt zu wenig; darum hat Reimes.»1155 Diese Ruhe ermögliche am Ende eine auch sein Leiden, das ich ihm nicht ganz abstreite, Versöhnung: «vom Reim glaube ich, daß in dieser keine Tiefe. Sartre bemüht sich, ebenso eifrig wie Stillung, dieser … wie soll ich sagen?... Versöh- vergeblich, zu beweisen, es sei der natürlichste Zu- nung, sein eigentlicher Sinn liegt.»1156 stand der Welt, unter einer verfinsterten Sonne zu Dass er dabei auf unzeitgemäße Formen zu- leben, und der Glaube an ihr segnendes Licht sei ein rückgreifen musste, beschreibt Heiseler 1948: bürgerliches, ein christliches Vorurteil.1161 «Wenn nun ein Dichter seiner Zeit sagen muß, was ihr ungemäß ist, so ergibt sich von selbst, daß Der Kölner Stadt-Anzeiger vom 19. Juli 1950 er- es auch in einer Form geschehen wird, die zum gänzt, dass das Haus der Angst aus Heiselers «Be- mindesten ihrer Gewohnheit nicht entgegen- schäftigung mit Heidegger und Sartre erwachsen» kommt.»1157 Dies stellt sich dem Dichter als be- sei, indem Heiseler «eine unpessimistische Er- sondere Schwierigkeit entgegen, «denn eine alte, lösung, nämlich die christliche Erlösung aus der große Form ist eine Last und ein Anspruch».1158 Angst», suche».1162 In der Nachkriegszeit lieferten Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) und die 1154 Heiseler 1947, S. 8. 1155 Ebd., S. 8. 1159 Ebd., S. 718. 1156 Ebd. 1160 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 0. 1157 Heiseler 1948, S. 715. 1161 Heiseler 1952, S. 440. 1158 Ebd., S. 717. 1162 «Bier» 1950b, S. 9. 196 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Schriften von Sartre breit diskutierte Argumen- dische deutsche Literatur und Kunst, besonders te für eine Herauslösung aus der christlich-na- der Bühne, ein, und zwar auf dem Weg über das tionalistischen Idee der Pflicht an Gott und dem französische Drama», wie Wunderlich in ihrem Vaterland und dadurch für eine demokratische ersten Essay zum Haus der Angst schreibt.1167 In Neukonstuitierung eines deutschen Nationalbe- der Erzählung vom Blaubart wird dieses Gefühl wusstseins nach der Niederlage. Doch genau die verkörpert, wie Heiseler in seinem Vorwort zum Bindung an «Gott» und «Vaterland» war für Hei- Textbuch der Aufführung schreibt: «Dieses Da- seler sein ganzes Werk hindurch prägnant. seinsgefühl, dem der moderne Existenzialismus Diese Opposition gegen Sartre war überhaupt einen so leidvollen Ausdruck gibt, stellt sich schon ein Grund, warum te Reh die Initiative für ein in dem alten Blaubart-Märchen dar»; doch Heise- eigenes Stück ergriff, da von kirchlichen Krei- ler suchte in seiner Adaption auf die existenziellen sen die Aufführung eines Dramas von Sartre an Fragen eine «christliche Antwort».1168 Es ist davon den Kölner Stadtfeiern offenbar «als destruktiv» auszugehen, dass nicht dieses bestimmte Stück in empfunden wurde.1163 Namentlich an der Thea- kirchlich-konservativen Kreisen Anstoß erregte, ter- und Musikfestwoche wurde am 16. Juni Sar- sondern Sartre und die Ideen des Existenzialismus tres Drama Geschlossene Gesellschaft (Huis clos, an sich. Das deutsche Drama sei davon beein- französische Uraufführung 1944) unter der Regie flusst, so dass «eines der Dramen, das zu den Bes- von Friedrich Siems gezeigt.1164 In diesem 1949 ten gerechnet wird, von keiner Erlösung weiß für auf Deutsch übersetzten Stück begegnen sich den heimgekehrten Soldaten, als nur den Sprung zwei Frauen und ein Mann, die sich alle als ver- in den Fluß», wie Wunderlich schreibt, womit sie brecherische Personen entpuppen, zusammen in auf Wolfgang Borcherts 1947 uraufgeführtes Dra- der Hölle. Dort werden sie aber nicht gemartert, ma Draußen vor der Tür anspielt.1169 wie sie es erwartet haben, sondern die einzigen Sartre selbst wählt nicht den Sprung in den Qualen sind die, die sie sich gegenseitig zufügen. Fluss, sondern fordert in seinem Vorwort zum So stellt eine der Frauen in der ersten Hälfte fest: TheaterstückDie Fliegen in der Ausgabe von 1949 «Körperliche Folter gibt’s keine, nicht wahr? Und die Deutschen zu einem neuen Aufbruch auf, und doch sind wir in der Hölle. Es kommt auch nie- zwar durch eine «totale und aufrichtige Verpflich- mand. Niemand. Wir, allein bleiben wir zusam- tung auf eine Zukunft in Freiheit und Arbeit».1170 men bis ans Ende.»1165 Und am Ende stellt der Dazu habe er schon 1940 nach der Niederlage die Mann in den berühmten Worten fest: «Ihr ent- Franzosen aufgefordert, da auch für sie «Selbstver- sinnt euch: Schwefel, Scheiterhaufen, Bratrost … leugnung nicht die Haltung war», die sie «nach Ach, ein Witz! Kein Rost erforderlich, die Hölle, dem militärischen Zusammenbruch» wählten das sind die anderen».1166 durften.1171 Deshalb postuliert er, dass «nicht eine Das Drama referiert auf das philosophische willfährige Selbstverleugnung» den Deutschen Werk von Sartre und auf dessen Werk L’Être et «jenen Pardon» verschaffe, «den die Welt ihnen le Néant – Essai d’ontologie phénoménologique gewähren kann».1172 So wie auch die Franzosen (1943). Sartre galt in dieser Zeit als Hauptreprä- 1940 ihre Zukunft bestimmen konnten: «[E]s sentant des französischen Existenzialismus und so stand uns frei, daraus eine Zukunft der Besiegten als Feindbild der Konservativen: «Für den Exis- zu machen oder – in umgekehrter Richtung – tenzialisten führt Leiden nie zu etwas Höherem eine Zukunft der freien Menschen, die sich gegen oder Besserem. Diese düstere, alle Transzendenz leugnende Weltanschauung, drang in die mo- 1167 Wunderlich 1950, o.S. 1168 Heiseler 1950 (Manuskript), Vorwort, o.S. 1163 Amt für Diakonie 2004, S. 18. 1169 Wunderlich 1950, o.S. 1164 Vgl. Stadt Köln 1950, S. 4. 1170 Sartre 1949b, S. 3. 1165 Sartre 1949a, S. 17. 1171 Ebd. 1166 Ebd., S. 46. 1172 Ebd. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 197 die Behauptung wehren, daß eine Niederlage das als bedrohliche Eroberungsfantasie, denn Heiseler Ende alles dessen bedeutet, was das menschliche äußert «Hoffnung auf eine von innen nach außen Leben lebenswert macht.»1173 Im Mittelpunkt wachsende, die Nation zur Ganzheit zusammen- steht bei Sartre nicht die Nation, sondern eine fassende Versöhnung, die endlich auch starre aufrecht freiheitliche Haltung des Einzelnen. Grenzen lösen und überschreiten wird».1178 Heiseler seinerseits folgt schon 1938 in seinem Bei der Preisverleihung gab Heiseler eben- Aufsatz zu Hans Grimm dessen Auffassung, dass falls an, dass er «mit Überzeugung dem Glau- der Einsatz für das Vaterland jede andere Tätigkeit ben Martin Luthers» anhänge.1179 Die christliche übersteigen müsse, dass also im Fall der Literatur Argumentation war für Heiseler beim Haus der von jedem Dichter ein unbedingter Nationalis- Angst zentral, und dafür setzte er die Erzählung mus verlangt werden könne: «Grimm fordert die vom Blaubart «als Symbol» ein, wie der Kölner Deutschheit der Art und des Willens. Er fordert Stadt-Anzeiger ihn 1950 zitiert: «Das Haus mit das Erleben und Erleiden des gemeinsamen na- den vielen Türen und der einen verschlossenen tionalen, nicht nur des persönlichen Schicksals. gilt als Gleichnis für die heutige menschliche Er geht noch weiter, wenn er, mit gutem Grunde, Existenz, der goldene Schlüssel, der auch die un- von dem Recht einer Forderung des Volkes an sei- zulängliche Kammer der Existenzangst aufsperrt, ne Dichter spricht.»1174 Zwar streicht er den Auf- ist die alles überwindende christliche Liebe.»1180 satz zu Grimm in der Wiederauflage des Bandes Doch nicht allein die «christliche Liebe» verhilft 1952, nimmt aber die Argumentation in einem zu einem guten Ende, sondern auch das «liebende Vortrag von 1965 wieder auf, wo er die Vernach- Vertrauen» der Frau in ihren Ehemann: «Blau- lässigung des Begriffs «Vaterland» beklagt. Zum bart ist in dem Stück der Vertreter des Gesetzes, einen postuliert er darin, dass sein Vaterland über- aber nur als dessen Vollstrecker. Er ist damit noch all da sei, «wo Menschen deutscher Sprache leben nicht ‹der Gerechte›, sondern bedarf selbst noch und gelebt haben», und schließt: «Auch wenn ich der Erlösung. Sie wird ihm zuteil durch das lie- über heutige Staatsgrenzen hinausgehe, also auch bende Vertrauen, das die Prinzessin ihm aus freien dort, wo ich keinerlei politischen Besitzanspruch Stücken schenkt.»1181 erheben kann und will, bin ich unter Menschen Mögliches Vorbild dieser Versöhnung ist für deutscher Sprache und Geschichte immer noch Heiseler der Märtyrer Stephanus, welcher für sei- im Vaterland.»1175 nen Glauben gesteinigt wurde, wie Heiseler 1948 Aus dieser privaten Träumerei zieht Heiseler schreibt: «Ihn umleuchtet der Friede, sein Gesicht radikale nationalistische Forderungen: «Wir müs- ist ‹wie eines Engels Angesicht›, und seine letzten sen wieder verstehen lernen, daß die Volkswirk- Worte sind Worte der Versöhnung.»1182 Das Bild lichkeit die für uns mögliche – die einzige für uns des Stephanus entspricht laut Heiseler auch der mögliche – Gestalt des vollen Menschseins ist!»1176 Situation, «in der wir als Deutsche uns finden. Diese «Volkswirklichkeit» muss für ihn auch in Vor die Stadt hinausgestoßen und gesteinigt.»1183 einem «vereinigten Europa» geschützt sein. Denn Mit dieser Haltung ringt sich Heiseler zu einer den «Völkern und Stämmen eines freien europäi- Übernahme der Verantwortung der Verbrechen schen Bundes» muss das «Recht auf eigene Spra- des Nationalsozialismus durch, wie er schon 1946 che, Schule, Kultur» erhalten bleiben.1177 In seiner schreibt: «Worin können wir, heute, einen Stolz Ansprache zur Verleihung des Konrad-Adenau- finden? […] im Annehmen und Tragen der vollen er-Preises 1967 zeigt sich diese nationale Haltung 1178 Heiseler 1967b, S. 23. 1173 Ebd. 1179 Ebd., S. 21. 1174 Heiseler 1939, S. 151. 1180 «Bier» 1950b, S. 9. 1175 Heiseler 1967b, S. 8. 1181 Ebd. 1176 Ebd., S. 19. 1182 Heiseler 1948a, S. 267. 1177 Ebd., S. 14f. 1183 Ebd., S. 268. 198 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Verantwortung.»1184 Nur so könnten sie auf die ten hoffen, ihn auch zu finden.»1189 Diesen Mut göttliche Gnade hoffen – und Vorbild in dieser zur Wehrlosigkeit verkörpert für ihn Stephanus, Hoffnung sei Jesus Christus, welcher für die Men- diesen Mut findet auch Blaubarts Frau: «Ja, allen schen und ihre Sünden gestorben sei. Schutz habe ich abgetan, / Ich weiß nicht, wie ich Damit sieht er das Christentum gerade gegen- den Mut dazu fand».1190 über dem jüdischen Volk im Vorteil, wie er 1952 Die ganze Erzählung lässt sich im Umgang mit in seiner Rezension zu Franz Kafka schreibt, denn Gott verstehen, denn der «Oberherr» ist unweifel- dieses hätte durch seine Ablehnung von Jesus als haft als Gott und Schöpfer erkennbar, oder wie Christus und seine Kreuzigung das Gefühl für das Heiseler im Vorwort schreibt, «hoch verborgen» Göttliche verloren: «Indem es sich gegen den er- ist die «Gnadenhaftigkeit der Schöpfung».1191 schienenen Retter verblendet und auf den Mes- Die Drohung von Blaubart lässt sich anfänglich sias zu warten fortfährt, sammeln sich im Juden- mit dem erwähnten Sündenfall Evas im Ersten tum zwei Jahrtausende lang jene unheimlichen Buch Mose vergleichen, wo Gott in der Genesis zu Energien, welche die Welt vom Politischen her Adam sagt: «Aber von dem Bawm des Erkentnis erlösen wollen.»1185 Das Metaphysische geht laut gutes und böses soltu nicht essen/ Denn welches Heiseler bei dieser «Revolution der Diesseitig- tages du da von issest/ wirst du des Todes ster- keit», wie sie etwa diejenige des Kommunismus ben.»1192 Erst in der Überarbeitung von 1968 fügt darstelle, für die Juden verloren: «Verloren aber ist Heiseler noch eine weitere Szene aus der Genesis jede Herzensbeziehung zu Dem, der den Erzvä- hinzu, in welcher Abraham aufgefordert wird, tern erschien und dem die Dichter der Psalmen seinen Sohn Isaak zu opfern, und erst in letzter so dringend, so flehend und beschwörend genaht Minute vom Gottesboten davon abgehalten wird: sind.»1186 Gott werde ihnen so zum Ungeheuer: «Einem, in alter Zeit, war geboten, / Sein Liebstes zu töten. So auch mir. / Und mir – mir hält kein Gott ohne den Sohn, der ans Kreuz gegeben ist, ist Engel den Arm!»1193 Auch die «Prinzessin» akze- kein Vater. Da aber Israel den Sohn von sich gewie- piert Blaubarts Auftrag als Henker. Durch dieses sen hat, da es seinen Gott nur als den Gesetzgeber hingebungsvolle Vertrauen der Frau wird beim kennen wollte, der aus der Wolke nie hervortritt, der ehemals strafenden Mann ein innerer Wandel Hekatomben unschuldigen Blutes fließen sieht, aber ausgelöst und das neutestamentarisch-christliche sich nie selber dem grausigen Drama aussetzt... so Prinzip des Verzeihens kann sich durchsetzen. mußte dieses Gottesbild allmählich zur Fratze, zum Die (neomarcionistische) Überwindung des Ungeheuer werden.1187 Alten Testaments zu einer neutestamentarischen Haltung der Gnade bildet im Haus der Angst ei- Indem Jesus sich ans Kreuz schlagen ließ, «ist die nen wichtigen erzählerischen Bogen. So schreibt Welt ernstgenommen; so ernst, daß das höchste Heiseler im Vorwort zum Textbuch von 1950: Opfer um sie der Liebe nicht zu hoch war».1188 Wer ihn als Christus akzeptiere, erwarte «Gnadenzeit» indem die Prinzessin über die Stufen der Angst, der und lerne von ihm, wie er in Gottes «Eigentum Verzweiflung und der bitteren Resignation dazu kommt, in Knechtgestalt, ohne Schutz»: nämlich kommt, das Unmögliche zu leisten; liebendes Ver- «mit diesem unbegreiflichen Mut zur Wehrlosig- trauen zu der Seele des fürchterlichen Mannes [zu keit. Es ist ein Mut, der aus Liebe entsprungen haben], der Gewalt über sie hat, wird Blaubart von ist. Und nur aus der Liebe können wir, die Chris- 1189 Ebd., S. 267. 1184 Heiseler 1946, S. 20. 1190 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 49. 1185 Heiseler 1952, S. 437. 1191 Ebd., S. 0. 1186 Ebd., S. 439. 1192 Luther 1983, Altes Testament, 1. Mose 2.17. 1187 Ebd. 1193 Heiseler 1968, S. 102; zu Abraham vgl. Luther 1983, 1188 Heiseler 1948a, S. 266f. Altes Testament, 1. Mose 22. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 199

seiner Gesetzeshärte erlöst und es wird wieder sicht- te Diskussion des Bösen findet sich laut Arendt bar, was «hoch verborgen» war: die Gnadenhaftig- gerade in den Aussagen von Jesus von Nazareth: keit der Schöpfung.1194 Evil according to Jesus is defined as a «stumbling Das Überwinden von Unterschieden und Streit- stone», skandalon, which human powers cannot re- punkten für eine Suche nach den Gemeinsamkei- move, so that the real wrongdoer appears as the man ten, dem «Einklang», bildet dabei die Vorausset- who should never have been born – «it were better zung. Die Distanz zu Gott, die sich laut Heiseler for him that a millstone were hanged about his neck bei den Juden finde, sollte durch den christlichen and he cast into the sea.»1197 Gnadengedanken überwunden und so eine «Ver- söhnung» im «Einklang» gefunden werden. Da Damit widersprechen die Worte von Jesus eigen- Blaubarts Frau die verbotene Kammer bei Hei- tlich dem, was sonst als «christlich» betrachtet seler öffnet, um Klarheit zu erhalten, handelt sie wird und laut Arendt eher Paulus zugeschrieben nicht schlecht, sondern der «goldene Schlüssel, werden könne: «This curious selflessness, the -de der auch die unzulängliche Kammer der Existenz- liberate attempt at self-extinction for the sake of angst aufsperrt, ist die alles überwindende christ- God or the sake of my neighbor, is indeed the very liche Liebe».1195 Indem die Frau die Dimension quintessence of all Christian ethics that deserves ihres Handelns erkennt, kann sie sich vertrauend this name.»1198 ihrem Mann hingeben und ist auch nachher be- Für die Aushandlung und Bestimmung, in- reit, mit dem Reuigen «im Gebet» weiterzuleben. wiefern ein Vergehen «normal» oder «vorsätzlich» böse ist, gibt es für Arendt einen festen Ort, den Gerichtssaal: «The almost automatic shifting of Verbrechen, Gewalt und responsibility that habitually takes place in mod- Erinnerungskultur in Das Haus der Angst ern society comes to a sudden halt the moment you enter a courtroom.»1199 Dort wird die Frage Hannah Arendt hielt 1965 in New York einen entschieden, «with whom we wish to spend our li- Vortrag zu Fragen der Moralphilosophie, insbe- ves», wie Arendt es anhand von Cicero und Meister sondere zu Deutschlands Umgang mit dem Nati- Eckhart umschreibt.1200 Zur Beantwortung dieser onalsozialismus. In diesem Vortrag schließt sie die Frage müssen wir in Beispielen denken, «in exam- Möglichkeit der Versöhnung bei den Verbrechen ples of persons dead or alive, real or fictitious, and der Shoa aus: in examples of incidents, past or present».1201 Als solches Beispiel wählt Arendt nun Blaubart: «In We shall not be able to become reconciled to it, to the unlikely case that someone should come and come to terms with it, as we must with everything tell us that he would prefer Bluebeard for compa- that is past […]. It is a past which has grown worse ny, and hence take him as his example, the only as the years have gone by, and this is partly because thing we could do is to make sure that he never the Germans for such a long time refused to pro- comes near us.»1202 Im Gerichtssaal wird entschie- secute even the murderers among themselves, but den, für wen es besser wäre, «that a millstone were partly also because this past could not be «mastered» hanged about his neck and he cast into the sea». by anybody.1196 1197 Ebd., S. 125; vgl. Luther 1983, Newes Testament, Matt- Die Versöhnung ist für Arendt nicht möglich, heus 18.6. weil das Böse hier vorsätzlich ist. Eine dezidier- 1198 Arendt 2003, S. 116. 1199 Ebd., S. 57. 1194 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 0. 1200 Ebd., S. 146. 1195 «Bier» 1950b, S. 9. 1201 Ebd. 1196 Arendt 2003, S. 55. 1202 Ebd., S. 145f. 200 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Am problematischsten ist für Arendt aber nicht sich die «banality of evil» zeige. Was der Frau zu- derjenige, der sich für das Böse entscheidet, und gutegehalten werden kann, ist ihr Einfordern von in den Worten Jesu bestraft werden soll, sondern Erinnerung; ihren Vorgängerinnen soll ein «wür- derjenige, welcher sagt, «that he does not mind diges Grab» gegeben werden. and that any company will be good enough for Bei Heiseler sollen zwar die Verbrechen ge- him», und so die Entscheidung und damit auch standen und dafür die Verantwortung übernom- den Gerichtssaal meidet: «Morally and even po- men, aber dem reuigen Verbrecher darauf die litically speaking, this indifference, though com- Hand der Versöhnung gereicht werden. Es führt mon enough, is the greatest danger.»1203 In diesem dazu, dass am Ende niemand Blaubart bestrafen Moment liegt für Arendt die durch sie sprich- will. Weder die Frau noch ihre Amme distanzie- wörtlich gewordene «banality of evil»: ren sich von ihm, und offenbar gibt es auch sonst niemanden, der sich für die getöteten Frauen Out of the unwillingness or inability to choose one’s einsetzen möchte – seine Verbrechen bleiben examples and one’s company, and out ot the un- ungesühnt. Übertragen auf die Situation im willingness or inability to relate to others through Deutschland der Nachkriegszeit hieße dies, dass judgement, arise the real skandala, the real stum- Übeltäter, die im guten Glauben an die deutsche bling blocks which human powers can’t remove be- Sache gehandelt hatten, nach einem Geständnis cause they were not caused by human and humanly straffrei ausgehen würden. Genau dieser Verzicht understandable motives. Therein lies the horror auf eine Verfolgung der Nazi-Verbrechen führ- and, at the same time, the banality of evil.1204 te aber laut Arendt dazu, dass diese Vergangen- heit für die Deutschen eine Belastung wurde, als Bei La Barbe bleüe von Perrault ist ein Verbleiben «past which has grown worse as the years have bei Blaubart kein Thema, und die Frau steht voll gone by».1205 zu ihren Brüdern, die Barbe bleüe töten, doch bei Die «Prinzessin» bei Heiseler wirkt am Anfang vielen Adaptionen werden die Verbrechen relati- eigentlich verständig und selbstdenkend, etwa im viert oder zieht es die Frau vor, bei Blaubart zu Umgang mit der Dienerschaft. Blaubarts Verbot verbleiben. Das Ende des Schauspiels von Heise- ist ihr unverständlich und zwingt sie, Einsicht ler lässt sich also gut mit der bei Arendt beschrie- zu nehmen, Licht in die Sache zu bringen. Ihre benen Situation vergleichen. In diesem hat Blau- Reaktion auf die Leichenkammer, nämlich sich bart zweimal seine jeweilige Ehefrau ermordet, freiwillig der Hinrichtung durch Blaubart hinzu- ohne Gerichtsbarkeit, vorsätzlich und in diesem geben, entspricht der christlichen Symbolik der Sinn bösartig. Die Reue kommt mit der Einsicht, Widerstandslosigkeit. Da Blaubart selber christ- dass er selber nicht Gott und Richter verkörpert, lich denkt, erkennt er sich so als Monster. Diese sondern anhand seiner Taten geprüft wird. Die- Wandlung von Blaubart zu einem reuigen Sünder ser Wandlung folgt aber kein reguläres Gericht, bringt uns aber weg von der Welt des Mythos und in welchem Blaubart für seine Taten zur Rechen- in die realistische Welt der Selbstkritik. In dieser schaft gezogen wird, auch distanziert sich seine wird ihr gemeinsames Weiterleben mit den Lei- Frau nicht von ihm, sondern möchte mit ihm chen im Keller zum grässlichen Wahnwitz. zusammenbleiben. Folgt man der Argumentation Blaubart wie seine Frau begründen ihr Han- von Arendt, sollte dieser Blaubart, der die Leichen deln jeweils nicht von sich aus, sondern warten seiner Morde in einer Kammer aufbewahrt, zur auf ein Zeichen von Gott. So ist es auch der wie- Rechenschaft gezogen werden. Noch härter tref- der rein glänzende Schlüssel, den Blaubart als fen Arendts Worte Blaubarts «company», hier Zeichen für die Unschuld der Frau wertet. Das seine Frau, denn es sei ihr Verhalten, in welchem Individuum hat in diesem System keine Verant- 1203 Ebd., S. 146. 1205 Ebd., S. 55. 1204 Ebd. Heiselers christliche Vision des Verzeihens 201 wortung selber zu übernehmen, sondern sucht sellschaftliche Diskussion in den Vordergrund rü- eine andere Autorität, die die Entscheidung über- cken. Dennoch richtet sich seine Botschaft auch nimmt. Dies gemahnt an die Studie Der autori- an die Frauen und Verwandten von Männern, die täre Charakter, eine Sammlung von «Studien über möglicherweise in der Armee oder anderswie im Autorität und Vorurteil», die 1950 in den USA als Nationalsozialismus zu Verbrechern wurden. Es Studies in Prejudice veröffentlicht wurde und 1968 ist wichtig, über die Verbrechen zu sprechen und auf Deutsch erschien.1206 Darin wird untersucht, der Opfer zu gedenken, doch die Frau hat ihrem wie damals in den USA sogenannte «Lügenpro- Mann treu zu bleiben und mit ihm einen Neube- pheten» rassistisch-antisemitische Ideologien pre- ginn zu wagen. Aus der Distanz betrachtet, möch- digten, in welchen sie das Wohl der Amerikaner te man aber, wie Arendt sagt, mit beiden «nichts sahen, obwohl sie laut den Verfassern, zu denen zu tun haben», weder mit Blaubart, welcher seine Theodor W. Adorno, Bruno Bettelheim und an- Kammer mit den Leichen der Frauen füllt, noch dere gehörten, eigentlich einer republikanisch-de- mit seiner Frau, welche gerne mit ihm zusammen- mokratischen Haltung widersprachen. lebt. Beide reichen die Verantwortung weiter und Im Haus der Angst folgt die christliche Idee erhalten so ein autoritäres System, an dessen Spit- der Erlösung durch göttliche Gnade ebenfalls ei- ze Gott und das Vaterland stehen. nem solchen autoritären Prinzip: Indem die Frau Das christliche Bemühen von Heiseler und die Verantwortung für ihr Leben an Blaubart te Reh wurde zwar teilweise mit Wohlwollen ver- übergibt, und dieser wieder auf einen Wink Got- folgt, doch standen die beiden Lutheraner mit tes wartet, übergeben sie beide die Entscheidung ihren Ideen quer zur katholischen Dominanz in an eine rational nicht greifbare Instanz weiter. Köln. Auch in der sonst von Reformierten domi- Diese Haltung ist im Schloss von Blaubart Teil nierten evangelischen Kirche in Köln wurde die der Hausregel, denn als die Frau bei Blaubarts zahlreich am Stück beteiligte lutheranische Min- Abwesenheit nach dem Grund seines Handelns derheit sichtbar, welche durch die Zuwanderung fragt, meint der Kastellan nur: «Wir fragen nicht aus Ostgebieten stark anwuchs und durch eine nach den Gründen des Herrn.»1207 Dabei unter- preußisch-großdeutsche Nostalgie geprägt war. scheiden sich die Handlungsmuster von Blau- Die Kraft des Vertrauens von Blaubarts Ehe- bart und seiner Frau: Während er als Henker frau sollte zeigen, dass es eine christliche Antwort agiert, verbleibt die Frau passiv und will, um sich auf den als destruktiv empfundenen Existen- selber seelisch nicht zu verschulden, körperlich zialismus gibt, bei dem keine jenseitige Erlösung ausgelöscht werden. Es ist ein Zufall oder, wie möglich ist. Nur die Versöhnung mit dem Täter es die Beteiligten sehen, ein Zeichen Gottes, das bringt laut Haus der Angst den «Einklang». Im ihr die Kraft gibt, Blaubart zu wandeln und ihn Gegensatz dazu steht Arendts Vortrag von 1965: verzeihen zu lehren. Bei Verbrechen im Ausmaß von Blaubart oder Für Heiseler bildet Blaubart, als Mann der dem Nationalsozialismus kommt für sie nur eine Tat, mit seiner loyalen feinfühligen «Prinzessin» eindeutige Distanzierung in Frage, man will mit ein gutes Team und Vorbild für das Zusammen- einer solchen Person «nichts mehr zu tun haben». leben der Menschen nach dem Krieg. Es ist für Für Heiseler ist dies ein Ausdruck des alttesta- Eheleute und andere Haushalte zum einen wich- mentarischen, unbarmherzig strafenden Gottes, tig, die Leichenkammern des Gegenübers zu öff- welcher im Neuen Testament durch den seinen nen, zum anderen muss man dem Täter verzei- eigenen Sohn opfernden, verzeihenden Gott ab- hen. Durch die Positionierung dieses Ehepaares gelöst wird – folgt man Arendt, so ist Heiselers im Mittelpunkt des Laienspiels der Stadtfeier will Stück ein Aufruf zur Komplizenschaft mit dem Heiseler keine geschlechtliche, sondern eine ge- Verbrecher Blaubart. 1206 Vgl. Adorno 1968. 1207 Heiseler 1950 (Manuskript), S. 13. 202 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

enspiel – das Haus der Angst bleibt unentschieden. Fazit Ungewöhnlich für ein weltliches Drama ist die Präsenz religiös-biblischer Inhalte und Symbole. Heiselers Drama Das Haus der Angst oder der gol- Heiseler schrieb das Stück im Auftrag des neu- dene Schlüssel orientiert sich als Blaubart-Stück gründeten christlichen Vereins Der Quell, wel- vor allem an der Oper von Bartók und am Pup- cher wohl Gelder der evangelischen Landeskirche penspiel von Trakl und möglicherweise an der in Köln und der Stadt Köln erhielt, um an der Kasperliade von Pocci, Perrault hingegen ist 1900-Jahr-Feier der Stadt in der Aula der Univer- weniger präsent. Es ist eine klar deutsche Adap- sität ein Stück für junge Leute zu zeigen. Dieses tion, die sich der deutschen Sache widmet. Die Theaterstück ist tragisch-symbolisch angelegt, mit Figuren sind in diesem Drama neu ausgewählt: einer umfangreichen Komposition und Gesang Der Ehemann als Blaubart hat (wie bei Reznicek) von Solostimmen und Chor, ein Laienstück mit einen Diener und seine Frau (wie bei Dukas) eine Profi-Unterstützung, ein christliches Stück, in Magd, dann gibt es (wie bei Pocci) eine Art Kas- der Absicht wohl ein Volksstück. Trotz der ge- perl, hier Kumpan genannt, das Hausgesinde und wichtigen Musik gibt es davon keine Aufnahme. einen Schattenchor. Das eine magische Element Die konservative Zustimmung galt der Unterneh- bildet der Schlüssel, doch bei der letzten Frau ist mung für ihre Gegenposition zu Sartres Existen- er eben nicht mehr blutbefleckt, sondern rein gol- zialismus, dessen Stück Huis clos ebenfalls an der den. Sie trägt ihn danach gleichsam als Zeichen Feier gezeigt wurde. Im Stück wird sichtbar, was ihrer Schlüsselgewalt auf der Brust und wagt mit Heiseler erst später zum Verhängnis wurde: Die ihrem Gatten den Neubeginn, mit den Gräbern neomarcionistisch-judenfeindliche Zuspitzung der Toten im Garten. Ebenfalls magisch wirkt der seines christlichen Denkens und sein nostalgi- Chor, der aber nur in der Textfassung des Stücks sches Verharren in einer wilhelminisch-großdeut- unsichtbar ist, bei der Aufführung musste er aus schen Ideologie wirkte disharmonisch im wohl akustischen Gründen auf die Bühne geholt wer- gut gemeinten Gemeinschaftsanlass. den. Die Stimmung ist also durchaus wunderlich, Die ideologische Schieflage im Stück löst eine vor allem, wie die Erzählung von christlich ge- besondere Art von Ambiguität aus: Natürlich gibt prägter Symbolik durchdrungen ist. So wandelt es bei Heiseler im Haus der Angst ein Spiel mit sich Blaubart von einem vermeintlichen Abraham der Auslegung der Erzählung, aber es richtet sich (ich töte das mir Liebste, weil Gott es so will) zu am Ende gegen dieses Drama selbst. Der Blau- einem vermeintlichen Stephanus (die Schläge bart-Stoff, zuvor als Kritik an Machtanmaßung wehrlos erdulden). Seine Frau übertritt zwar sein und -missbrauch, an Unterdrückungsverhältnis- Gebot, aber nicht aus Neugierde (wie bei Eva), sen in Zweierbeziehungen und Gesellschaft be- sondern weil sie Gewissheit haben muss. nutzt, wird bei Heiseler zur Entschuldigung für Außer dem Verweis auf den blutigen Schlüssel eben solche Verbrechen herangezogen. Doch der lässt Heiseler vieles aus der Erzählung von Perrault Verweis auf Jesus bei Arendt zeigt: Der christliche weg: Es gibt keine Brüder, Mutter oder Schwester, Vergleich funktioniert nicht, die Metaphorik ist keine Brautwerbung, keinen Turm, nur den «My- kontraproduktiv; wir wollen nicht mit dem Ver- thos» der grausamen Geschlechterbeziehung als brecher Blaubart unser Leben teilen, und auch ein Kernelement von Blaubart. Ebenfalls trug der nicht mit denen, die dies gerne tun. Arendt wirft Protagonist auf der Bühne einen blauen Bart. Die den Deutschen vor, nicht genügend klar gegen expressionistischen Qualitäten der Blaubart-Ad- die Verbrecher des Nationalsozialismus in ihren aptionen von Bartók, Trakl oder Reznicek werden Reihen vorgegangen zu sein. Heiselers seltsame bei Heiseler nicht weiter ausgebaut. Ob Märchen- Art der Distanzierung von den Nazis wurde ihm stück, mit dem großen Chor fast eine inszenierte später zum Verhängnis, er wurde nach 1968 als Sonntagsmesse, ein Moralstück oder ein Histori- Ewiggestriger aus dem Literaturkanon ausge- Heiselers christliche Vision des Verzeihens 203 grenzt. Dabei bot er als sowieso schon am Rand die, sondern tragisch ausgerichtet: Ein mythi- stehender, gerade noch in Kirchenkreisen wahr- scher Anfang wandelt sich zur Märchenfantasie genommener Autor eine einfache Zielscheibe. und endet realistisch. Das Ende mit dem Ehe- Die Angriffe wurden nicht wegenHaus der Angst paar wandte sich nun wieder gegen die damalige lanciert, sondern wegen seinen aggressiven Es- Rezeption, etwa von Maeterlinck, und versucht says. Das Drama von 1950 wurde zu seiner Zeit eine Wiederherstellung der Beziehungsverhält- ziemlich neutral diskutiert. Interessant auch, dass nisse, welche das Verbrechen ermöglicht hatten. die Aufführung zur Kölner 1900-Jahr-Feier zum Mit dem populären Blaubart-Stoff wollte Heise- einen für Hans Wildermann das letzte Bühnen- ler dem Existenzialismus ein christlich-nationales bild einer angesehenen Karriere bildete, und zum Selbstbewusstein entgegensetzen, konnte aber die anderen für den Komponisten Jürgen Baur den bisher machtkritisch, ehekritisch oder gewaltver- ersten größeren Auftritt, mit einer der wenigen herrlichend rezipierte Erzählung nicht genügend Opernkompositionen seines langjährigen Schaf- subvertieren. Die konkurrierenden Lesarten nis- fens. ten sich so in seiner Adaption selber ein. Mutig von Heiseler war, dass er sich nicht Bei Heiseler sind wir mit immensem Pathos scheute, künstlerisch unzeitgemäß zu sein. Dies konfrontiert: Das Stück soll Gemeinde bilden, der zeigt sowohl die Wahl des Stoffs Blaubart, die des Stoff ist tragisch, ein Jugendchor stiftet Identifika- Laienspiels mit professionellen Hauptrollen, die tion, märchenhafte Elemente wecken Vertrautheit mysterienhafte Inszenierung, die Anlehnung an – eine schwülstige Leidenslust wird geweckt. Die- Märchen- und Kinderdrama, die Wahl der lyri- sem Pathos muss sich auch das Bühnenbild und schen Sprache und des eher statischen Auftretens die Musik unterwerfen – zu gut passten sie in die der Figuren. Leider erinnert diese Kombination vorgegebenen Muster. Die biblischen Vergleiche stark an eine laienhafte Aufführung im Rahmen machen klar: Es handelt sich um den Versuch ei- einer Schule oder Kirchgemeinde. Stilistisch wa- ner Mythisierung. Hier werden große Metaphern ren die gemäßigte Form moderner musikalischer angewandt, die das christlich informierte Pub- Sprache von Baur und das wohlgeformte Bühnen- likum aus dem Kirchenbesuch kennt. Aber sol- bild von Wildermann im Gegensatz zu Heiseler che geradlinig übersetzbaren Genres entsprechen dem Zeitgeist entsprechend und wiesen über das nicht der ambivalenten Qualität von Blaubart, Genre eines Schultheaters hinaus. Mit den Anlei- einer Erzählung, die sich immer auch der Identifi- hen an Trakl, seiner expressionistischen Sprache, kation entzieht und vom Rezipienten distanziert. dem sarkastischen Humor und der unverblümten Grausamkeit der Handlung hätten wir ein moder- nes und zeitgemäßes Stück vor uns gehabt. Doch durch die verbrämt christlich-deutschnationale Aussage wird das Stück zu einem Anachronismus. Diese Adaption fällt aus dem Blaubart-Kanon heraus, dies in mehrfacher Hinsicht, und bildet so ein Kuriosum in der Blaubart-Rezeption. Hei- seler war offensichtlich informiert über die Blau- bart-Rezeption, im Gegensatz zu Baur, welcher zu dieser Zeit keine weiteren Blaubart-Kompo- sitionen kannte. Nun richtet Heiseler sich aber gegen die gesamte damalige Blaubart-Rezeption: Die politische Komödie negiert er, indem er mit Blaubart die Verbrechen nicht kritisiert, sondern entschuldigt. Auch ist sein Stück keine Komö- 204 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Abb. 14/15: Christian-Jaque: Barbe-Bleue (1951), Film complet Nr. 300 Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 205 206 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Christian-Jaque und die Die ersten während der Besatzung von ihm ge- drehten Filme, L’assassinat du Père Noël und Nachkriegsversöhnung Premier Bal, die 1941 in die Kinos kamen und beide erfolgreich waren, zeigen ein patriotisches, teilweise gegen die deutsche Besatzung gerichte- Der in Farbe gedrehte Spielfilm Barbe-Bleue von tes Engagement, welches sich aber auch mit der Christian-Jaque wurde 1951 veröffentlicht, und Devise «Travail, Famille, Patrie» des Vichy-Regi- kam als Versionenfilm Blaubart auch in die deut- mes und dessen «révolution nationale» vereinba- schen Kinos.1208 Obwohl das Genre Märchen- ren ließ. Die «comédie policière» L’assassinat du film in der Nachkriegszeit gerade in Deutschland Père Noël, eine freie Verfilmung des Romans von Potential hatte und Offenbachsopéra bouffe eine Pierre Véry von 1934, spielt in einem verschnei- provokative Vorlage lieferte, blieb der Spielfilm ten Bergdorf, wo am Ende Kinder ein mysteriöses Unterhaltungskino, ohne ernsthafte Themen an- Verbrechen aufdecken. Die Kinder fragen ihren zusprechen. Dies zeigt insbesondere ein Vergleich Freund Cornusse, wovon man im fernen China mit dem ebenfalls 1951 veröffentlichten Spielfilm den Kindern erzähle, und er meint: Juliette ou la clef des songes von Marcel Carné und dessen Thematisierung der Notwendigkeit des De la France... et des petits Français... et puis aussi sich Erinnerns. d’une certaine princesse très belle qui dormait dans son petit fauteuil... Il y avait longtemps, bien longtemps qu’elle était endormie... On aurait pu Christian-Jaque als Regisseur zwischen croire qu’elle était morte... elle veillait... toujours le Vichy und «Libération» même... elle rêvait du ‹prince charmant› qui devait un jour venir la réveiller... la réveiller pour lui ap- Der Franzose Christian-Jaque (eigentlich Chris- porter le bonheur.1210 tian Maudet, 1904–1994) war von 1932 bis 1985 als Regisseur tätig. Kriegsbedingt kam es um 1940 Die Lesart liegt nahe, dass zu «bonheur» für das zu einer Unterbrechung seiner Arbeit. Wie Ray- Mädchen auch die eigene Freiheit gehören könn- mond Chirat und Olivier Barrot in ihrer Retro- te. spektive zu Christian-Jaques Filmen 1976 schrei- Christian-Jaque bereitete mit seiner Haltung ben, wurde Christian-Jaque, neben Marcel Carné, der Continental Films und deren Leiter Alfred Georges Lacombe und Léo Joannon, während der Greven ideologische Schwierigkeiten, denn Con- deutschen Besetzung sehr bald von der in Paris tinental Films wurde im Auftrag des Deutschen aktiven deutschen Firma Continental Films für Reichs gegründet, um französische Filme unter Regiearbeit angefragt, was er akzeptierte: deutscher Ägide zu produzieren.1211 Doch für Greven zählte nicht nur die Anpassung an die na- D’accord avec ses collègues, il n’accepta son en- tionalsozialistische Ideologie, sondern er bedachte gagement […] que sous certaines conditions: la auch seinen eigenen Erfolg als Produzent. So ver- participation ou la collaboration devaient entraîner öffentlichte er später mit Erfolg Christian-Jaques la reprise totale de la production française; la propa- biografischen Spielfilm La symphonie fantastique gande serait absolument exclue des films entrepris; (1942) über Hector Berlioz und seine Sinfonie les films exécutés ne pourraient apporter acune aide von 1830 als eigentliche «déclaration d’amour à la économique à l’Allemagne.1209 France».1212 In Christian-Jaques von André Paulvé

1208 Vgl. Christian-Jaque 1989 und 1996; zum Begriff «Ver- 1210 Christian-Jaque: L’assassinat du Père Noël (FR, 1941); sionenfilm» vgl. Abschnitt «Die deutschsprachige Ver- hier in: Chirat und Barot 1976, S. 50. sion im Vergleich» in diesem Kapitel. 1211 Zum Film während der Vichy-Zeit vgl. Engel 2003. 1209 Chirat und Barrot 1976, S. 49f. 1212 Chirat und Barrot 1976, S. 55. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 207 für die französische Firma Discina produzierten Kurz vor der Befreiung Frankreichs zeigte sich romantischen Komödie Premier Bal wiederum Christian-Jaque wieder als «perméable à l’air du stellen Chirat und Barrot ein Bekenntnis zu Vi- temps» und kämpfte in den Reihen der Forces chy fest: «il s’agit là d’un pur produit du cinéma Françaises de l’Intérieur, der Vereinigung der Ré- de Vichy. […] De fait, Premier Bal est l’un des sistance-Kämpfer, welche 1944 unter anderem premiers films à la gloire de la famille».1213 Dies die Befreiung von Paris koordinierte.1218 Chris- zeigt, dass Christian-Jaques widerständige Hal- tian-Jaque befragte dabei auch Kollaborations- tung gegen deutsche Direktiven ihn nicht davon verdächtige nach ihrer Gesinnung und Tätigkeit, abhielt, auch politische Tendenzen der Besetzung war also selber an der épuration beteiligt.1219 Sei- zu übernehmen. nen ersten Film nach der Befreiung, Boule de suif Dieser Druck zwischen französischen und (1945), eine Adaption des Romans von Guy de deutschen Erwartungen schien ihn sogar ange- Maupassant (1880), nutzte er zur Klärung seines spornt zu haben, wie er selber im Interview sagt: politischen Standpunkts. Er nahm darin unge- «entre 40 et 45, on a voulu montrer aux Alle- wöhnlicherweise «un parti directement politique» mands qu’on savait faire des films et qu’on n’était ein, in welchem der idealistische Pazifismus des pas vaincus sur le plan cinématographique.»1214 Drehbuchautors Henri Jeanson mit seinen Inte- Chirat und Barrot beschreiben diese Phase als ressen zusammentrafen, doch Chirat und Barrot besonders wichtig im Schaffen des Regisseurs: nehmen ihm diese Haltung nicht ab: «Cette lon- «la guerre marque la période la plus féconde de gue chevauchée est une excuse.»1220 Ihre Anspie- l’œuvre de Christian-Jaque».1215 Dies bestätigt lung verweist auf die Handlung des Films, in dem auch Jacques Lourcelles: «La fin des années tren- eine sozial durchmischte Gruppe 1870 aus dem te et la période de l’Occupation révèlent chez von den Deutschen besetzten Paris flieht; wäh- [Christian-Jaque] une ambition accrue, la décou- rend diesem «langen Ritt» werden die Werte der verte de ses véritables thèmes et ce qu’on pourrait Beteiligten und ihre ethisch-moralischen Haltun- appeler un lyrisme plastique exprimant parfois la gen herausgefordert, besonders der mitreisenden gravité secrète de certains êtres tourmentés.»1216 Prostituierten Boule de suif (auf Deutsch «Fett- Dabei entwickelte er laut Jean-Pierre Mattei sei- klößchen») gegenüber. Christian-Jaque sah darin nen eigenen Stil: einen Spielfilm «sur l’occupation et la Résistance»:

S’il se plie au cinéma de Vichy, ce n’est pas de la On m’a demandé de faire un film sur la Résistance collaboration, mais cela lui permet de valoriser et, à l’époque, plusieurs productions étaient en pré- sont goût naturel pour la féérie, le merveilleux fan- paration sur ce sujet, dont une qui était merveilleu- tastique, le réalisme poétique, la comédie sentimen- sement faite par mon confrère René Clément, La tale, des genres qui vont lui apporter une maturité, Bataille du rail. J’ai eu alors l’idée de choisir avec exacerbant un sentiment national qui lui est pro- Boule de suif un sujet historique pour montrer que pre.1217 même au siècle dernier, il y avait eu de la résis- tance.1221 Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da Christi- an-Jaque oft als Filmemacher bezeichnet wird, bei So wandelte er sich vom Regisseur der national- dem kein eigentlich eigener Stil zu erkennen sei. sozialistisch geführten Continental Films und der von der Vichy-Regierung geleiteten Comité d’organisation de l’industrie cinématographique 1213 Ebd., S. 53f. 1214 Christian-Jaque; hier in: Bertin-Maghit 1999, S. 50. 1218 Chirat und Barrot 1976, S. 53f. 1215 Chirat und Barrot 1976, S. 70. 1219 Ebd., S. 62. 1216 Lourcelles 1999, S. 3f. 1220 Ebd., S. 63. 1217 Mattei 1999, S. 142. 1221 Christian-Jaque; hier in: Bertin-Maghit 1999, S. 52. 208 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

(COIC) zu einem Wortführer der kritischen Dis- «La couleur du film retiendra particulièrement kussion der Besatzung. l’attention, parce qu’elle est très supérieure à tout Trotzdem waren die Nachkriegsjahre laut ce que les Français ont fait jusqu’à présent.»1226 Chirat und Barrot schwierig für Christian-Jaque: Der Autor der Story von Barbe-Bleue, An- «l’après-guerre correspond, à partir de 1948, au dré-Paul Antoine, schrieb in dieser Zeit auch début d’un déclin qui va perdurer pendant vingt- Drehbücher, etwa für die Melodramen Étoile sans cinq ans. La façon demeure, l’inspiration s’enfuit, lumière (1946, Regie: Marcel Blistène) oder Ro- la répétition s’installe.»1222 Trotzdem hatten seine cambole (1948, Regie: Jacques de Baroncelli). Das Filme immer wieder Erfolg und konnten sich teil- Drehbuch für Barbe-Bleue verfasste Henri Jean- weise sogar neben der Nouvelle Vague behaupten. son, welcher für seinen radikalen Pazifismus und Überaus produktiv (er veröffentlichte zwischen seine Texte bei der Satirezeitschrift Le Canard en- den 1930er und den 1970er Jahren im Schnitt chaîné bekannt war. Produziert wurde Barbe-Bleue mehr als einen Film pro Jahr), bewies er in seinem von Paul-Edmond Decharme für die von 1946 Werk einen stilistischen Eklektizismus sonder- bis 1952 aktive Pariser Firma Alcina. Dechar- gleichen, und vermied, nach der Ausnahme bei ne produzierte vor Barbe-Bleue mit Alcina auch Boule de suif, weiterhin politische Äußerungen. Er das Drama Manon (1949, Regie: Henri-Georges wollte fiktionale Filme für ein breites Publikum Clouzot) mit Cécile Aubry in ihrer ersten Haupt- realisieren, «pour apporter un peu de rêve, d’éva- rolle. Die Produktion war transnational, wie in sion, de joie, de plaisir ou de distraction dans un einem zeitgenössischen Artikel im Spiegel be- monde de violence et d’égoïsme», wie er 1987 im tont wird: «Ritter Blaubart wird von der Pariser Interview mit der französischen Zeitung Libéra- ‹Alcina›-Produktion und der vom Hamburger tion sagte.1223 National-Verleih mit Krediten versorgten ‹Filmfi- Barbe-Bleue war sein erster «film en couleurs», nanz›-Produktion lanciert. […] Dazu kommt die vermutlich die erste große Produktion mit dem Schweizer Rexfilm, die für die Tonapparatur, den 1949 von der oben erwähnten belgischen Gevaert Rohfilm, das Entwickeln und Kopieren […] auf- entwickelten Gevacolor Farbfilm, und für Chris- kommt.»1227 Barbe-Bleue mit Pierre Brasseur und tian-Jaque auch die einzige.1224 Da nach dem Cécile Aubry gehört am ehesten in das Umfeld Aufkauf von Gevaert durch die deutsche AGFA, eines nostalgisch schwelgerischen und kommer- der Nachfolgefirma der I.G. Farben, und deren ziellen «Heimatfilms». Fusion zum Konzern Agfa-Gevaert 1964 das Ver- fahren durch Agfacolor ersetzt wurde, gibt es auch sonst nur wenige Gevacolor-Filme.1225 In den ge- Der Spielfilm Barbe-Bleue von Christian- sichteten Videokopien der französischen und der Jaque von 1951 deutschen Version des Films sind nur noch weni- ge Farben sichtbar, doch in der zeitgenössischen Die Handlung der französischen Filmversion Bar- Kritik wurde deren Qualität und Christian-Jaques be-Bleue ist in einer verschneiten Berglandschaft Umgang damit allgemein gelobt, wie etwa von angesiedelt, in welcher sich hoch über einem Dorf Olivier Delville in der belgischen Zeitung Le Soir: eine Burg erhebt. In einer Totalen wird am An- fang die Burg gezeigt, danach schwenkt die Ka- 1222 Chirat und Barrot 1976, S. 70. mera in das Dorf. Der Erzähler spricht im Prolog: 1223 Christian-Jaque; hier in: Mattei 1999, S. 144. 1224 Vgl. Christian-Jaque 1989, min. 2:00–2:05; vgl. Kapitel «Bertrands und Painlevés Kampf gegen den National- 1226 Olivier Delville: Barbe Bleue; in: Le Soir (23. November sozialismus», Abschnitt «Planung und Produktion von 1951), o.S; hier in: Cinémathèque française 2014 (Res- Barbe Bleue». sources numérisées). 1225 Zu Gevacolor vgl. Students at the Institute for Cultural 1227 Der Spiegel 1951, S. 34. Studies 2008. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 209

Il était une fois un château habité par un puissant gen einer frivolen berceuse ein. Beim Betrachten seigneur qui avait la barbe bleue. Le comte Amédée ihres schlafenden Gatten bemerkt Aline, dass das de Salvère, c’est ainsi le nommé, était le maître de Blau seines Bartes nicht echt ist. tout ces contrées et de tout ce village qu’on appelle Als er sich nach der Hochzeitsnacht ohne le village de Salvère. Un soir d’hiver le comte Amé- Abschied auf die Jagd begibt, nimmt sie in sei- dée de Salvère devint veuf pour la sixième fois.1228 ner Abwesenheit den ihr verbotenen Schlüssel und öffnet einen Kleiderschrank. In diesem fin- In diesem Moment fangen die Glocken zu läuten det sie eine Geheimtüre und entdeckt, dass diese an, die Dorfbewohner schauen erschreckt zur Burg Frauen in einem Kellerverlies leben, aber überra- auf und bekreuzigen sich. Man sieht, wie der comte, schenderweise in fröhlicher Gemeinschaft. Aline der Graf Amédée de Salvère (gespielt von Pierre kann beobachten, wie sie einem Maler für ein Brasseur), am Begräbnis seiner sechsten Frau teil- Gruppenbild posieren und eine leichte Mahlzeit nimmt und sie in seiner Kirche neben den Sarko- zu sich nehmen. Sie wirken gepflegt und wohl- phagen der anderen fünf beigesetzt wird. gekleidet. Da Aline dadurch das Geheimnis von Nach dem Begräbnis möchte Amédée ge- Barbe-Bleue entdeckt hat, rät der majordome dem tröstet werden und beauftragt seinen majordome, comte, Aline und die anderen Ehefrauen nun doch (Hofmeister), mit dem Einfangen von jungen wirklich hinzurichten, um Ruf und Macht zu ret- Frauen: «Alors, comme d’habitude, rassemblez ten. Damit das Geschehene entsprechend seinem vos hommes, filez jusqu’au village!»1229 Im Sturm Willen überliefert wird, beauftragt Amédée den reiten die Männer ins Dorf und packen die Mäd- sich unter den Leuten befindenden Charles Per- chen, welche sich nicht genug gut verstecken rault als Chronisten. Nachdem Alines Schwester konnten. Giglio, ein junger Mann aus dem Dorf, Anne ihr vergeblich zu helfen versucht, stürmen und der örtliche Wirt vermissen die eine Tochter Giglio und die Bewohner von Salvère die Burg, des Wirts, Aline (gespielt von Cécile Aubry). Gig- wo sich ein heftiger Kampf entspinnt. Ebenfalls lio findet sie endlich auf einem Baum, von wel- auf den Fersen von Barbe-Bleue ist im Namen des chem sie schelmisch guckt. Aline hat vom großen Königs ein duc, ein Herzog, der Einhalt gebietet Fest des comte gehört und hätte im Gegensatz zu und zwischen den im Streit begriffenen Partei- den anderen jungen Frauen große Lust, dabei zu en eine kleine richterliche Situation herstellt. Er sein. Ihre Chance ergibt sich, als sich die gelade- schickt Aline und Giglio, die nun zueinander nen Frauen im Wirtshaus ihres Vaters für dieses finden, einen gönnerhaften Blick hinterher und Fest umkleiden. Da sich die Tochter eines anderen dem majordome, den er hinrichten lässt, einen be- Grafen vor dieser Brautschau fürchtet, gibt sich sonders bösen. Dem comte Amédée, welcher mit Aline als diese aus. Sie erweckt am Fest sogleich den ersten sechs Frauen weiterleben muss, der die Aufmerksamkeit von Amédée, der sie zwar enteignet und unter Hausarrest gestellt wird, ei- wegen ihrer unerlaubten Teilnahme an seinem nen strengen Blick, den er auch an die Zuschauer Fest vor die Türe werfen lässt, aber am nächsten direkt in die Kamera richtet. Tag im Wirtshaus um ihre Hand anhält. Sie wil- Durch die Wahl von Pierre Brasseur wird ligt ein, und auch der Schlosskaplan gibt seinen der eigentlich hilflose und machthungrige Bar- Segen. Als Amédée sie nach der Hochzeit mit der be-Bleue zu einer ambivalenten Identifikations- Behauptung einzuschüchtern versucht, er habe figur. Brasseur spielt Amédée exaltiert in possen- ihre Vorgängerinnen umgebracht, glaubt sie ihm hafter Übertreibung, mit Schalk und ungemein nicht. Bei seinen detaillierten Ausführungen zu komisch, und schafft es, den aufgeblasenen und den Morden schläft Aline ein, und als er sie zum dekadenten Mann sympathisch darzustellen. Sei- Vollzug der Ehe weckt, schläft er selber beim Sin- ne Selbstinszenierung zeigt dem Publikum zwar 1228 Christian-Jaque 1989, min. 2:20–2:45. die Unmöglichkeit seines Verhaltens, doch durch 1229 Ebd., min. 6:00–6:10. seine fürsorgliche Haltung – etwa in der Weise, 210 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 wie die ehemaligen Frauen gefangen gehalten und der anderen Dorfbewohner. Ohne die Hil- werden (sie lachen!), oder in seinem Wunsch, fe des duc und ihres mutigen Verehrers wäre sie dass Aline nur «un tout petit peu» und «avec dou- Barbe-Bleue und seinem majordome ausgeliefert ceur» getötet werden soll – erscheint er als harm- gewesen. Sie ist es aber, die das Geheimnis lüftet los witzige Figur. Gleichzeitig ist er ein Tyrann, und dadurch die Macht von Amédée bricht, die welcher das Dorf unterdrückt. Als unsympathisch er sich durch Hehlerei oder, wie der richtende duc böse erscheint nur der majordome, ein zynischer sagt, durch «sacrilège», «mystification», «impru- Machtmensch. Er treibt die Hinrichtung von Ali- dence» und «gasconnade» gefestigt hatte.1232 ne voran und will im letzten Moment auch noch Auffällig im Vergleich mit der Stoffgeschich- alle anderen Frauen töten lassen. In diesem Sinn te von Blaubart ist das Verhalten von Anne, der urteilt auf jeden Fall der duc. Dass Blaubart nicht Schwester von Aline. Beide Töchter des Wirts ar- wirklich bestraft wird, zeigt die Rolle von Perrault, beiten im Wirtshaus ihres Vaters. Während Aline welcher hier anhand des Geschehenen seine conte die Vorbereitungen zum Fest bei Barbe-Bleue er- de fées schreibt und der Nachwelt nicht den ul- kundet, ist ihre Schwester Anne fleißig am Arbei- kigen Versager, sondern den grausamen Blaubart ten. Als später Aline zur Frau von Barbe-Bleue wird überliefert. So wird suggeriert, dass das Märchen und Giglio sie befreien will, ist Anne bereit, ihm von Perrault nur die Version des Grafen Amédée bei der Befreiung ihrer Schwester zu helfen. Sie soll kolportiert und die Wahrheit erst durch den hier Aline bei ihrem Besuch in Barbe-Bleues Schloss diskutierten Film ans Licht kommt. im Geheimen eine Strickleiter überreichen. Da Außergewöhnlich ist die Charakterisierung sie über die Ehe von Aline in Streit geraten und von Aline und ihrer Beziehung zum comte von diese die Strickleiter von Anne nicht annehmen Salvère. Sie passt weder in das Dorfleben, wo sie will, wird ihre Absicht vom majordome entdeckt, ihre Beschützer verärgert, noch in das aristokrati- der sie in ein Verlies steckt. Das Verlies führt auf sche Leben, wo sie ihre Rolle nicht akzeptiert. Sie einen Turm, auf welchem sie nach den Dorfbe- ist äußerst jung – laut Amédée erst 15 Jahre – und wohnern Ausschau hält. Ihre Schwester Aline wird klein und wirkt deshalb körperlich viel schwächer später ebenfalls in das Verlies gebracht, wo der gegenüber dem viel größeren, bärtigen und mit Schlosskaplan ihr die letzte Beichte abnimmt, die Kostümen behangenen Amédée. In der französi- sie wiederholt unterbricht, um ihre Schwester um schen Broschüre Film complet zu Barbe-Bleue wird Neuigkeiten zu bitten. Der Grund für den Auf- sie als «une charmante enfant au visage mutin, à enthalt von Anne auf dem Turm ist also im Kern l’esprit vif» beschrieben.1230 Mit kindlicher Neu- ihre Ungeschicklichkeit und ihre Nicht-Akzeptanz gierde nimmt sie an der Feier teil, heiratet Amé- von Alines Vergnügen an der Ehe mit Barbe-Bleue. dée, benutzt den ihr verbotenen Schlüssel und Die Beziehung der Schwestern spielt eine besonde- bleibt auch nach der Entdeckung des Geheimnis- re Rolle, ist aber höchst ambivalent: Sie ist durch ses gleich aufrichtig: «Je savais bien que c’est un Missverständnisse gezeichnet und bringt beide conte – vous les avez tué ou vous ne les avez pas Schwestern in höchste Gefahr. tué? – Ah!»1231 Nicht nur das, sie schafft es auch, Die Parallelen zur opéra bouffe von Offenbach die Hochzeitsnacht als Liebesnacht mit Amédée sind zahlreich: Zur Brautwerbung erscheint Blau- zu verhindern, für welchen die körperliche Er- bart ebenfalls in einem bäuerlichen Dorf, entschei- oberung dieser jungen Frau den eigentlichen Reiz det sich ebenfalls für eine besonders auffällige und ausgemacht hätte. Amédée ist ihr zwar unterle- eigensinnige Frau, welche ebenfalls herausfindet, gen, doch er will sie mit Gewalt dominieren und dass der Blaubart gar keine Morde begangen hat. hinrichten lassen. Deshalb ist sie am Ende froh Aline wird im Gegensatz zu Boulotte gleichzeitig um die Unterstützung ihrer Schwester, Giglios als naiv, herzlich, aufrichtig, verzeihend und lus- 1230 Film complet 1952, o.S. 1232 Ebd., min. 1.20:25. 1231 Christian-Jaque 1989, min. 1.05:15–1.05:25. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 211 tig dargestellt, und dies in einer Zuspitzung, die die Zuschauer während des ganzen Films um sie Aufführung und Rezeption des Spielfilms bangen lässt. Aus heutiger Sicht ist nicht klar, ob diese Figur negativ gezeichnet ist (und den stren- Die Premiere der französischen Version fand am gen Umgang von Giglio verdient), oder ob sie im 30. Juni 1951 an den Journées du Cinéma de Car- Gegenteil durch ihre Herzlichkeit und sogar ihre cassone statt, am 28. September kam der Film in «Herzigkeit» das Schicksal abwenden kann. Ne- die französischen Kinos und wurde dann auch ben der brutalen Brautwerbung bei Christian-Ja- in Dänemark, Spanien, Schweden und Finnland que ist auch die Charakterisierung des majordome gezeigt. Die Premiere der deutschen Version war von Barbe-Bleue konträr zur Situation bei Offen- am 1. November 1951 in Westdeutschland im bach. Während 1866 der Alchimist Popolani mit Kino Turm-Palast in Frankfurt am Main, am 20. den Opfern sympathisiert und ihr Überleben vor November 1951 in Österreich, aber erst 1968 im seinem Gebieter verschweigt, ist 1951 ihr Weiter- Staatsfernsehen der DDR. 1234 Zu beiden Filmver- leben im Kerker fest vorgesehen. Doch es ist der sionen wurden Broschüren in der französischen majordome, der seinen Gebieter zur Einkerkerung Reihe Film complet und in der deutschen Das angestiftet hat und am Ende die Hinrichtung der neue Filmprogramm mit zahlreichen Abbildun- Frauen nachholen will. Ihm scheint klar, dass die gen produziert, die in ihrer Machart an Infohefte Bevölkerung des Dorfes sich unterdrücken lässt, zu Opernaufführungen erinnern.1235 Laut Chirat wenn sie glauben, dass Blaubart so grausam ist, und Barrot war Barbe-Bleue ein Erfolg: dass er sogar seine Frauen hinrichtet. Komisch im Gegensatz zu Offenbach ist bei Christian-Jaque le succès fut très net et la critique souligna immédi- die Strafe für Amédée, welcher, neben seiner Ent- atement que, «après six ou sept bandes françaises en eignung, statt weiterhin nur mit der letzten gleich couleurs, Barbe-Bleue était la première qui se puisse mit ihr und allen vorherigen Frauen zusammen- comparer aux réussites anglaises et russes […]». On leben muss. So urteilt der duc: «Nous vous con- fut donc sensible à cette décision de ne choisir les damnons à vivre avec ces femmes, jusqu’à la fin de couleurs que dans une palette peu étendue.1236 vos jours», worauf Amédée antwortet: «Oh non! J’ai pas mérité un châtiment si cruel!»1233 In retrospektiven Kritiken wird der Film immer Auffällig sind, gerade im Umgang mit der Vor- noch als «annonciateur des coloriages», aber auch lage von Offenbach, auch Parallelen zur Radiooper als «Barbe Bleue assez statique» dargestellt.1237 So von Ibert, nicht nur in der erneuten Präsenz der schreibt etwa Delville in seiner erwähnten Kritik: Erzählung von Perrault. So findet sich bei Ibert «Vu par Christian-Jaque, Barbe-Bleue devient un auch die Figur des Paters, öffnet die Frau mit dem conte drolatique, et son héros un fumiste, hableur Schlüssel ebenfalls einen Schrank mit Kleidern et vantard, qui finit par sombrer dans le ridicule», und deckt die blaue Farbe des Bartes als falsche und schließt daraus: «on rit, sans doute, mais du auf. Auch verbindet die beiden Versionen die be- bout des lèvres.»1238 Bei Chirat und Barrot trifft sondere Rolle der Beziehung der Schwestern, wel- die Kritik vor allem den Dialog: «un dialogue as- che aber bei Christian-Jaque ihre rettende Kraft sez lourd d’Henri Jeanson, qui tentait sans dou- verliert. Die Rolle des Retters übernimmt hier wie te de retrouver la paillardise musclée des vieux bei Grétry ein jugendlicher Verehrer. Auch ist die fabliaux», und sie schließen: «Le défaut du film, Musik von Gérard Calvi näher bei derjenigen von agréable à l’œil, réside dans sa banalité. […] C’est Ibert als bei Offenbach. Calvi komponiert wie Ibert klar, aber mit stärkerem Wiedererkennungs- 1234 Vgl. International Movie Database 2014. 1235 Vgl. Film complet 1952; Das neue Filmprogramm 1951. effekt und spannungsorientierter. 1236 Chirat und Barrot 1976, S. 74. 1237 Mattei 1999, S. 149. 1233 Ebd., min. 1:20:40–1:20:50 1238 Delville 1951 (wie Fußnote 1225), o.S. 212 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Abb. 16/17: Christian-Jaque Blaubart (1951), Illustrierte Film-Bühne Nr. 1325 Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 213 214 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 en effet une opérette sans musique, soutenue par film Singoalla von Christian-Jaque von 1949 war l’agrément des décors, le dessin des costumes, la ein finanzieller Misserfolg. Trotzdem wurde von variété des scènes à grande figuration, l’éclat des Barbe-Bleue die deutsche Sprachversion Blaubart tableaux et le pittoresque des personnages.»1239 produziert. Die deutsche Fassung des Drehbuchs In der zeitgenössischen Kritik wurde zwar die von Henri Jeanson erstellte Hans José Rehfisch Inspiration durch Offenbachs Barbe-Bleue gelobt, (1891–1960), ein bekannter Dramaturg und jedoch die Musik vermisst, wie in Les Nouvelles Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, laut Matthi- littéraires: «Christian-Jaque a commis une erreur as Heilmann ein Vertreter «der neuen Sachlichkeit qui me paraît inexplicable: il a choisi la situati- und des Zeitstücks», also eines grundsätzlich poli- on de l’operette d’Offenbach, Barbe-Bleue, mais tischen Theaters. 1244 Sein größter Erfolg war das, il a omis de prendre aussi ce qui en constitue le zusammen mit Wilhelm Herzog geschriebene, an principal attrait, la musique.»1240 Offenbar wur- der Volksbühne Berlin uraufgeführte Stück Die de Barbe-Bleue auch für seine kritische Haltung Affäre Dreyfus (1929). Nach der Machtübernahme gegenüber der Frauenfeindlichkeit geschätzt, etwa der Nationalsozialisten musste er als Jude 1933 von Michel Braspart in Opéra: «Par ces temps de aus Deutschland fliehen und wohnte danach in misogynie farouche, ce n’était pas une mauvaise Wien, London und New York. 1950 kehrte er aus idée de solliciter un peu d’admiration en faveur dem Exil zurück, konnte in Deutschland an sei- de Barbe-Bleue».1241 Was den Kritiker aber nicht nen vormaligen Erfolg anknüpfen und veröffent- davon abhält, eine abschätzige Bemerkung zu lichte etwa den historischen Roman Die Hexen Cécile Aubry zu machen: «[Cécile Aubry] laisse von Paris (1951). découvrir qu’elle est une très mauvaise comédien- Die Hauptrolle des Amédée de Salvère wird ne – sa voix, ses gestes, sont faux. Avant de tuer von Hans Albers gespielt, während Cécile Aubry les femmes, Barbe-Bleue savait les regarder, les weiterhin die Rolle von Aline innehat, beschrie- choisir, les aimer. On en douterait.»1242 ben als «die Zierliche, Lustige, das wilde Eich- kätzchen».1245 Ihr Helfer Giglio wird weiterhin von Jacques Sernas gespielt, heißt aber in der Die deutschsprachige Version im deutschen Version Florian. Der Herzog und der Vergleich Kaplan, beides positiv konnotierte Figuren, blei- ben gleich besetzt, doch der verbrecherische Hof- Die Erstellung von Versionenfilmen war von meister und der zögerliche Wirt werden gewech- 1929 bis 1932 sehr verbreitet, gerade auch in selt. Anne und die gefangenen Ehefrauen bleiben der deutschen Filmindustrie. Dafür wurde der gleich. Der Schauplatz und die Kostüme scheinen Film mit den selben Nebenschauspielern und im sehr ähnlich oder gleich zu sein, wie der Vergleich selben Set in einer weiteren Sprache meist mit der französischen Version mit der deutschen neuen Hauptdarstellern noch einmal gedreht.1243 Filmbroschüre zeigt.1246 Während die Musik in Um 1950 wurde diese Technik nur noch selten der französischen Version vom noch jungen Gé- angewandt, und der in schwedischer, englischer rard Calvi stammt, wird in der deutschen Fassung und französischer Version produzierte Historien- der gestandenene Komponist Werner Eisbrenner

1239 Chirat und Barrot 1976, S. 76. 1244 Heilmann 2005, S. 339. 1240 [o.A.]: Barbe-Bleue; in: Les Nouvelles littéraires (11. Ok- 1245 Gerade Hans Albers spielte von 1929 bis 1935 in zahl- tober 1951), o.S; hier in: Cinémathèque française 2014 reichen Versionenfilmen mit, von seinen 16 Rollen wa- (Ressources numérisées). ren 13 in Versionenfilmen. Einige dieser Produktionen 1241 Michel Braspart: Si Peau d’Âne m’était conté. 2 heures waren eigentliche «Großfilme», so gab es vonMelodie de cinéma par Michel Braspart. Opéra (3.10.51); hier in: des Herzens fünf Sprachversionen; vgl. Krützen 1994, Cinémathèque française (Ressources numérisées). S. 74, Fußnote 183; Das neue Filmprogramm 1951, o.S. 1242 Ebd., o.S. 1246 Vgl. Film complet 1952; Das neue Filmprogramm 1951. 1243 Zu Versionenfilm vgl. Distelmeyer 2006. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 215 hinzugezogen, von welchem Lieder bekannt ge- Tyrannen in beiden Versionen und befreit sich blieben sind wie Auf der Reeperbahn nachts um in einem heldenhaften, aber schlecht organisier- halb eins aus dem SpielfilmGroße Freiheit Nr. 7 ten Aufstand. In der französischen Sprachversion (1944, Regie: Helmut Käutner), das von Hans ist es mit Giglio dem Namen nach ein Italiener, Albers gesungen wurde. welcher Zivilcourage beweist, und nicht die ein- Eisbrenner und Albers hatten während des heimische Bevölkerung. Dennoch wäre die von Nationalsozialismus’ große berufliche Erfolge ver- ihm ausgelöste Revolte nicht ohne das rechtzei- buchen können. Laut Albers’ 1994 veröffentlich- tige Eingreifen des Herzogs als Abgesandtem des ter Biografie von Michaela Krützen wurde ihm (französischen) Königs erfolgreich gewesen. Da in in der Nachkriegszeit sein Verhalten im Dritten der deutschen Sprachversion der Retter Florian Reich schnell verziehen, wofür besonders sein heißt, sonst aber das Setting beibehalten wird, Verhältnis mit der Jüdin Hansi Burg wichtig war, wird der heldenhafte Retter zu einem Deutschen. welche aus dem Exil wieder zu ihm zurückkehrte: Zwar spielt der Film weiterhin in Frankreich, doch durch die Wahl von Albers als typisch «deut- Die Beziehung zu der heimgekehrten Exilantin schem» Schauspieler für die Rolle des Blaubarts wirkt sich positiv für Albers aus. […] Das Zusam- verschiebt sich die gesamte Handlung insgeheim menleben mit Burg wird ein so entscheidendes in eine deutsche Umgebung. Es ist ein Mann des Argument für seine Integrität, daß alle Einwände eigenen Volkes, welcher den ebenfalls deutschen gegen sein Verhalten zwischen 1933 und 1945 an Unterdrücker herausfordert. Während die franzö- Bedeutung verlieren.1247 sische Version suggeriert, dass die Hilfe zur Be- freiung von einem Ausländer kommt, schafft es in Albers zeigte aber Mühe, als Schauspieler wieder der deutschen Version ein Einheimischer, dasselbe Fuß zu fassen. Auch Blaubart war für Hans Albers zu tun. eine Enttäuschung, in welchem er laut Krützen Wohl um deutschen wie französischen Be- kaum zur Geltung kam: «Er ist mit Bart, brau- findlichkeiten gerecht zu werden, wurde der Film ner Perücke und schwerem Kostüm kaum zu er- nicht nur übersetzt, sondern die wenigen prob- kennen, und aus dem Blaubart-Stoff wird eine lematischen Aspekte der Erzählung wurden ab- satirische Märchenadaption gemacht.»1248 So ver- geschwächt. Diskussionen um die Virulenz von schärfte dieser Film die Krise für Albers: «1951 Märchen, wie sie von den Allierten bei der Nie- muß der mittlerweile sechzigjährige Albers ernst- derschlagung von Nazi-Deutschland durchaus haft um die Fortsetzung seiner Karriere fürch- geführt wurden, fallen weg.1251 In beiden Filmver- ten.»1249 Im Gegensatz zur französischen war der sionen wird Blaubart verharmlost, das Böse auf deutschen Version bei ihrer Kinovorführung kein den majordome/Hofmeister abgeschoben. Schein- besonderer Erfolg beschert. Dies musste auch für bar nur leichte Anpassungen der Erzählung verän- Christian-Jaque eine Enttäuschung sein, er hatte dern die Lesart markant, wobei das schunkelnde auf große Resonanz und auf «zwei Filme um ein Vergessen einen unangenehmen Beigeschmack Thema, die beide in beiden Ländern laufen kön- enthält. Der Film scheint sich mit der Star-Beset- nen», gehofft.1250 zung in beiden Versionen an ein großes Publikum Die Erstellung einer deutschen Sprachversion gewendet zu haben und vermied Bezüge zum zeit- führt zu diversen Problemen der Lesart, besonders genössischen politischen Geschehen. Die Ausnah- in der Wahl der Schauspieler und Charakterisie- me könnte in der verbotenen Kammer stecken: rung der Figuren. So widersteht das Dorf dem Da die gefangenen Frauen aus verschiedenen Ländern stammen, könnte ihr friedliches Zusam- 1247 Krützen 1994, S. 286. 1248 Ebd., S. 299. menleben in der Gefangenschaft eine schwache 1249 Ebd., S. 301. 1250 Christian-Jaque; hier in: Der Spiegel 1951, S. 35. 1251 Vgl. Zipes 1993. 216 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Allusion an das friedliche Zusammenleben der träglich und unmärchenhaft werden will, muß er Nationen nach dem Krieg wecken, wie es etwa zwangsläufig von der Vorlage der Volkserzählung in den 1945 gegründeteten Vereinten Nationen abweichen.»1252 Der Film muss sich distanzieren: vorgesehen ist. So stehen bei Christian-Jaque alle «Indem der Film als realistische Kunst den Mär- Frauen am Ende in einer Reihe und zeigen Blau- chenstoff verwirklicht, muß er ihn zugleich ent- bart ihre Abneigung – außer in der deutschen Ver- wirklichen.»1253 Dies gilt auch für Blaubart, eine sion Aline, die ihn noch immer attraktiv findet. auch im Märchenkontext brutale Erzählung, die Erst seine darauffolgende Lüge, er habe sie gar eigentlich sehr bildlich angelegt wäre. Gerade die nicht wirklich töten wollen, enttäuscht auch sie. zentrale Szene mit der verbotenen Kammer und Danach ist sie bereit, Florian zu heiraten. (In der der Blutlache, in welcher sich die Leichen der an- französischen Version wirkt sie gegenüber Amé- deren Ehefrauen spiegeln, erscheint wie eine Vor- dées Charme weniger offen.) Eine Frau als natio- lage für einen Horror-Film. Doch für Röhrich ist nale Personifikation ist eine einfach verständliche klar: «Das Blutbad konnte der Film nicht zeigen, Allegorie, und die Darstellung der Nationen als es ist nicht sichtbar vorstellbar, nur erzählbar.»1254 von Blaubart verführte und geraubte wirkt wie ein Deshalb wird die brutale Beschreibung der Mär- Aufruf zur Achtung nationaler Souveränität. Eine chentexte im Film in eine lieblich-reizende Szene beklemmende Parallele zeigt sich also zum Nach- umgewandelt: kriegseuropa, da die Frauen ja alle bei Amédée bleiben werden und so das geeinte Europa ehe- [E]s ist charakteristisch, daß im Blaubartfilm die mals deutsch besetzter Länder illustrieren. Frauen des Blaubart nicht ermordet und zerstückelt Das Weiterleben der Frauen im Kerker als Ver- werden, sondern sie leben in einer Art Harem lustig treterinnen verschiedener Nationen unterscheidet und vergnügt weiter. Nur «die Leute» sagen, Blau- sich auch sonst von Offenbach. Es ist zu fragen, bart sei ein Lustmörder, weil in seinem Schloß jun- ob durch die «bloße» Einkerkerung der Frauen ge Mädchen spurlos verschwinden.1255 wirklich kein Verbrechen begangen wurde. Wenn von der Metapher der Frau als Sinnbild einer Na- Eine solche Brutalität konnte zu dieser Zeit einem tion abgesehen wird, suggeriert das Ende, dass breiten Kinopublikum offenbar nicht zugemutet von einem Gewaltherrscher gefangene Ehefrauen werden, obwohl im englischen Sprachraum der nach der Entdeckung des Verbrechens weiterhin Film noir genau solches thematisierte. freiwillig mit ihm zusammenleben wollen oder Die Vorsicht war wohl auch ökonomisch be- müssen. Die schon ambivalente Anlage bei Of- dingt. Die Produktionsfirma Alcina ging mit den fenbach, wo vermeintlich tote Frauen insgeheim zwei Versionen ein erhebliches Risiko ein, weshalb in einem Harem des Exekutors weiterlebten, wird für die deutsche Version zusätzliche Geldgeber in bei Christian-Jaque vollends unhaltbar. Deutschland und der Schweiz eingespannt wur- Durch den Verzicht auf die Ausführung der den. Ein zu brutaler Film, welcher möglicherwei- Verbrechen fällt ein zentraler Aspekt der Gewalt- se zensiert worden wäre, konnte den marktwirt- darstellung in der Herrschaft von Blaubart weg. schaftlich denkenden Regisseur Christian-Jaque Lutz Röhrich kommentiert 1956 in seiner Studie nicht interessieren. Erstaunlicherweise war der in zu Märchen einen unbenannten Spielfilm, bei Frankreich initiierte Blaubart 1951 in der BRD dem es sich vermutlich um die deutsche Version die erste größere Produktion, welche als «Mär- von Barbe-Bleue handelt. Bei diesem werden in chenfilm» bezeichnet werden kann, und erst 1953 der Kammer von Blaubart keine Leichen gezeigt, entstand mit der Verfilmung eines Märchens von sondern eine Art Harem, in welchem alle Frauen 1252 Röhrich 1964, S. 156. noch leben. Für Röhrich ist diese Abschwächung 1253 Ebd. symptomatisch: «Wenn ein Märchenfilm nicht 1254 Ebd. durch die Darstellung der Grausamkeiten uner- 1255 Ebd. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 217

Wilhelm Hauff von 1825, der DDR-Produktion Theaterstück von Neveux trifft der Protagonist Die Geschichte vom kleinen Muck von Wolfgang Michel auf einer Reise eine junge Frau namens Staudte, der erste deutsche Märchenklassiker der Juliette. Da er befürchtet, sich zu verlieben, reist Nachkriegszeit. Ab dieser Zeit gab es zahlreiche er sofort wieder ab, kehrt aber später zurück, wo Märchenfilme, wie der oben erwähnte Schmitt er entdecken muss, dass er im «pays sans mémoi- aufgezeigt hat.1256 re» gelandet ist. Niemand kann sich an Juliette erinnern, und das Stück wird zu einer Suche zwi- schen den Wänden der Realität, zwischen Leben Juliette ou la clef des songes von Marcel und Tod, Wachheit und Traum, an dessen Anfang Carné und Ende ein Bett dem Zuschauer die Ansiedlung der Handlung im Traum signalisiert. Die Traum- Christian-Jaque hatte vor Barbe-Bleue mit Sou- klammer erinnert an das Ende des Films Das Ca- venirs Perdus (1950) eine Serie von vier Kurz- binet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene, geschichten verfilmt. Verfasst wurden sie unter in welchem die ganze Handlung am Ende sich als anderem von Jacques Prévert und Henri Jeanson, Wahnvorstellung eines Irrenanstaltsinsassen ent- dargestellt etwa von Yves Montand, Pierre Bras- puppt.1258 Ähnlich wurde auch beim Stück von seur und Gérard Philipe, die Musik war von Jo- Neveux diskutiert, ob die Traumklammer nur ein seph Kosma.1257 In einer dieser Episoden spielt fehlgeleiteter Versuch war, die Zensur zu umge- Philipe einen verwirrten Obdachlosen, welcher hen, oder ob sie eine vom Regisseur beabsichtigte bei einer jungen Frau Unterschlupf findet und Ambivalenz der Lesart auslöste. sie als «Barbe-Bleue» im Fieberwahn umbringt. Carné plante schon 1941 eine Verfilmung des Noch bevor der Film Ende 1950 in die Kinos Stücks von Neveux. Nachdem im selben Jahr die kam, wandte Christian-Jaque sich der Produktion Dreharbeiten als Produktion von André Paulvé seines Spielfilms Barbe-Bleue zu. Diese leichte Ko- mit der Firma Discina gestartet hatten, mussten mödie ist weit entfernt von der schwerwiegenden angesichts der Schwierigkeiten (etwa einer Zen- Episode in Souvenirs perdus. In einem anderen surdrohung durch den mächtigen und von den Spielfilm dieser Zeit scheint sie jedoch aufgegrif- Besatzern geförderten Konkurrenten Greven und fen worden zu sein: In Juliette ou la clef des son- seiner Continental Films) die Dreharbeiten wie- ges (1951) des ebenfalls französischen Regisseurs der abgebrochen werden, und das Projekt wurde Marcel Carné (1906–1996) spielt Philipe wieder sistiert.1259 Wie Carné 1975 in seiner Autobiogra- eine verlorene Person und erinnert an seine Rol- fie schreibt, sollte die Verfilmung in vielen Teilen le in Souvenirs perdus. Auch Barbe-Bleue kommt von Neveuxs Drama abweichen: «nous allions wieder vor, jedoch nicht verkörpert von Philipe, inventer un lieu différent, des situations inédites, sondern als sein Gegenspieler. Mit der Beteili- camper des personnages nouveaux etc».1260 Als gung von Prévert, Philipe und Kosma wählte Car- Carné 1950 mit La Marie du port Erfolg hatte, né auch sonst eine sehr ähnliche Besetzung wie wollte der Produzent Sacha Gordine unbedingt Christian-Jaque 1950. einen weiteren Film mit Carné produzieren und Juliette ou la clef des songes basiert auf dem gab ihm dafür freie Hand.1261 Neben anderen gleichnamigen Drama von Georges Neveux, wollte Carné endlich den Film Juliette ou la clef welches 1930 von Alberto Cavalcanti in Paris in- des songes realisieren. Das von Carné und Viot szeniert wurde. Das 1927 verfasste Stück machte verfasste und von Neveux selber redigierte Dreh- Neveux als surrealistischen Dramatiker bekannt und bildete die Vorlage der 1937 in Paris uraufge- 1258 Zur Zensur bei Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene vgl. Jung und Schatzberg 1995. führten Oper Julietta von Bohuslav Martinů. Im 1259 Vgl. Carné 1975, S. 190. 1256 Vgl. Schmitt 1993 und 2010. 1260 Ebd., S. 186. 1257 Vgl. Christian-Jaque 2006. 1261 Ebd., S. 309. 218 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 buch von 1941 erlebte starke Änderungen, wie wie die Schlussszene erzählt und so die Auflö- Carné schreibt: «Au cours de cette deuxième ad- sung am Filmende schon vorwegnimmt: «Dans sa aptation de la pièce de Neveux, l’histoire subit de prison, un homme rêve à celle qu’il aime … son tels remaniements, que l’acte de la forêt seul ou à rêve le conduit au Pays de l’Oubli. A son réveil, peu près subsistait...»1262 Die Musik komponierte libre, déçu par la réalité, c’est dans le Rêve qu’il Joseph Kosma, der unter anderem Namen auch se réfugiera à nouveau …»1266 Dann wird gezeigt, die für Les enfants du paradis geschrieben hatte. wie der Protagonist Michel (gespielt von Gérard Außer einem einzelnen musikalischen Motiv er- Philipe) in einem Gefängnis mit zwei Zellenge- innert bei Kosma nur der Einsatz des Akkordeons nossen in einer Zelle liegt. Er ist inhaftiert, da er an die erwähnte Oper von Martinů, und es wurde seinem Arbeitgeber Geld gestohlen hat, um seiner vermutlich schon im Schauspiel von Neveux ein- Geliebten Juliette (gespielt von Suzanne Cloutier) gesetzt.1263 Die Besetzung des Spiels war gänzlich eine Fahrt ans Meer zu finanzieren. Als Michel in neu, und neu war 1951 auch die Verbindung der der Zelle einschläft, ist plötzlich die Türe offen, «personnage historique» mit Blaubart.1264 er tritt hinaus und befindet sich in einer süd- Pierre Brasseur, der auch bei Souvenirs Per- lich-sonnigen Berglandschaft, erblickt ein altes dus eine Hauptrolle spielt, wird von Carné sogar Dorf am Berg (Peillon in der südfranzösischen für die Rolle der «Personnage Historique» Bar- Region Alpes-Maritimes) und fragt mehrere Leu- be-Bleue angefragt, was dieser aber ablehnt: te nach dessen Namen – doch niemand weiß es. Er betritt das Dorf, welches als zeitlos vergessener, Je contactai […] Pierre Brasseur, à qui je songeais in natürlicher Harmonie funktionierender Ort er- pour le Personnage Historique, lequel redoute dans scheint. Ein Akkordeonspieler verbreitet nostalgi- le scénario d’avoir été jadis Barbe-Bleue... Il eut, je sche Stimmung, und ein Ausrufer bietet an, das dois dire, des prétentions assez fortement exagérées. Anliegen von Michel in alter Manier auszurufen Se souvenant qu’il avait été Frédéric Lemaître, il ou- und nach Juliette zu suchen. Die Nachricht ver- bliait un peu à qui il le devait.1265 breitet sich rasant, führt zu Streit und Diskussio- nen, doch nicht wegen der Suche selber, sondern Es ist erstaunlich, dass Carné rückblickend nicht weil alle Michel beneiden, dass er sich überhaupt erwähnt, dass Brasseur durch das Spielen einer und grundsätzlich an etwas erinnern kann. Das fast identischen Rolle in zwei fast gleichzeitig Dorf leidet an genereller Amnesie, die Bewohner an Festivals in Frankreich gezeigten Spielfilmen haben ihr Leben vergessen, ihre Namen, die Zeit, in einen Interessekonflikt hätte geraten können. ihre Geschichten, und verlieren immerzu die Er- Auch unverständlich, dass weder Christian-Jaque, innerung an alles, was ihnen passiert. «Tu es ici en noch Carné oder die Kritik auf diese Problema- pays des hommes sans mémoire, sans souvenir», tik hinweisen. Gerade bei der Konstellation des sagt ihm der Akkordeonspieler.1267 Deshalb versu- Dorfes und seiner Bewohner auf der einen Seite chen sie, Michel seine Erinnerungen abzupressen, und der Situierung des Schlossherrn und seiner und behaupten wiederholt, von Juliette zu wissen. mächtigen Burg auf der anderen Seite ist die Ähn- Der châtelain (Burgherr) der nahe beim Dorf lichkeit frappant. liegenden Burg befindet sich ebenfalls im Dorf, Der schwarz-weiß gedrehte Film spielt in der als Juliette ausgerufen wird. Da er nach einer damaligen Gegenwart. Dem Vorspann folgt ein Frau sucht, weckt die Ausgerufene sein Interesse. geschriebener Prolog, der sowohl die Anfangs- Juliette, die in dem Dorf wohnt, hört den Aus- rufer und fühlt sich davon angesprochen, getraut 1262 Ebd., S. 310. sich aber nicht auf Michel zuzugehen. So kommt 1263 Vgl. Martinů 2002, etwa CD 1, Track 3, ab min. 1:50, diesem der chatêlain zuvor, der sie auf seine Burg oder Track 4, ab min. 0:50. 1266 Carné 2006, min. 2:27–2:48. 1264 Carné 1975, S. 317. 1267 Ebd., min. 20:10–20:20. 1265 Ebd., S. 310. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 219 einlädt, wo er sich als ihr ehemaliger Liebhaber den Figuren seines Traums: Der Gefängnisdirek- ausgibt und sie so zu einer Heirat überreden will. tor ist der Detektiv, Michels Arbeitgeber die «per- Sie weigert sich, ihn als ihre vermisste Liebe anzu- sonnage historique», genannt Barbe-Bleue. Dieser erkennen, und als ihre Unterhaltung gestört wird, betont, dass Michel die Entlassung nur Juliette sperrt er sie weg, um die Verhandlung mit ihr spä- zu verdanken habe, welche von jenem diesen Ge- ter weiterzuführen. fallen erbeten habe. Nachdem der Gefängnisdi- In dieser Zeit hat Michel auf dem Friedhof rektor dem ehemaligen Arbeitgeber von Michel nach Juliette gesucht, wo er von einem Detektiv noch zu seiner neuen jungen Ehefrau gratuliert, verhaftet wird. Dieser führt ihn für das Verhör in ist Michel klar, dass seine schlimmsten Träume die Nähe der Burg, wo er versucht, aus ihm Er- wahr geworden sind. Seine Entlassung verdankt innerungen zu prügeln, und ihn dann liegen lässt. er nur dem Umstand, dass Juliette seinen ehema- Geschwächt schleppt sich Michel zum Eingang ligen Arbeitgeber geheiratet hat. Michel ist frus- der Burg und bittet um Einlass. Der chatêlain lässt triert, konfrontiert Juliette und muss feststellen, ihn ein und ist ebenfalls an seinen Erinnerungen dass sie zwar von Erinnerungen gequält wird, ihn interessiert. Während die beiden sprechen, kann aber nicht mehr will: «Tu n’aurai pas ma vie tout die weggesperrte Juliette aus der Burg entwei- seul – on n’aurait jamais pu – tu trouveras une chen, ohne zu wissen, dass Michel dort ist. End- autre.»1269 Er rennt weg durch die Straßen von lich finden sich die beiden bei einem Dorffest im Paris und versteckt sich in einem Schuppen, in Wald. Michel hilft ihrem Erinnerungsvermögen welchem er eine Türe mit der Aufschrift «Entrée nach, und beide sind sich ihrer Liebe sicher. Doch interdite, danger» findet. Als er sie öffnet, findet er während einer kurzen Abwesenheit von Michel sich wieder auf dem südlich-sonnigen Weg in das wird Juliette vom chatêlain doch geholt, vergisst pittoreske Dorf am Berg. Michel sofort und sagt die Hochzeit mit dem châ- Die Uraufführung fand im April 1951 am telain zu. Michel schafft es zwar, das Dorf hinter Filmfestival in Cannes statt, der Film wurde da- sich zu scharen und die Burg zu stürmen, auch nach auch in Belgien, Großbritannien, West- finden sie blutverschmierte Kleider von sechs Vor- deutschland, Japan und Schweden gezeigt. Trotz- gängerinnen von Juliette, doch er vermag nicht, dem war der Film laut Carné ein Misserfolg. Eine die Zeremonie zu stoppen. Als die Bewohner das besondere Niederlage erlebt Carné bei der Urauf- festliche Paar sehen, freuen sie sich auf die Hoch- führung in Cannes, wo der zuvor gefeierte Regis- zeit und haben das Blut an den Kleidern verges- seur mit großen (nationalen) Erwartungen kon- sen. Michel ruft: «C’est Barbe-Bleue!», doch nie- frontiert wurde und starke Ablehnung erntete, mand weiss, was es bedeutet, und Juliette meint wie Carné 1975 in seiner Autobiografie schreibt: zum châtelain: «Mais c’est un très joli nom.»1268 «La fin de la projection fut accueillie dans un si- Mehrmals ruft Michel «rappelez-vous», erzählt lence glacé. Pas un applaudissement. Rien.»1270 herzergreifend von den Momenten mit Juliette Nachdem auch die Kritiken negativ ausfallen, und gesteht auch seinen Diebstahl. Zumindest sie wurde der Film in Frankreich bald aus den Kinos scheint sich schließlich vage an ihn zu erinnern. zurückgezogen. In diesem Moment höchster Spannung wacht Ein wichtiges Problem schien die Dominanz Michel auf und findet sich wieder im Gefängnis. des Traums in diesem Film auszumachen, wel- Er wird aufgerufen, zum Direktor zu gehen, wel- che Carné als außergewöhnlich für den damali- cher ihn als renitenten und unerfahrenen, sogar gen Spielfilm beschreibt: «pour la première fois, uninteressanten Fall darstellt, welcher Glück hat, on traitait un rêve prémonitoire.»1271 Der Traum dass sein Arbeitgeber ein Wort für ihn einlegt und und seine Vermischung mit der Realität in die- die Klage zurückzieht. Die Personen entsprechen 1269 Ebd., min. 1.22:00–1.22.20. 1270 Carné 1975, S. 319. 1268 Ebd., min. 1.12:26–1.12:50. 1271 Ebd., S. 310. 220 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 sem Film schien beim Publikum eine regelrechte Der Film ist poetischer als diejenigen des sozial- Furcht ausgelöst zu haben, wie Claude Mauriac kritischen französischen Realismus der 1930er 1951 in seiner vernichtenden Kritik im Le Figaro Jahre, dennoch verrät er eine entsprechende for- beschreibt, eine Furcht, die nicht den Film betraf, male und thematische Stringenz. So wird die sondern das Kino als Kunstform an sich: Realität durch das Gefängnis und labyrinthische Straßen in einem nächtlichen und dunklen Paris Oui, nous avons peur soudain, de n’avoir jamais lu dominiert. Hingegen sind alle sonnigen Szenen, sur les écrans que la poésie que nous y inscrivions. jegliche Nostalgie und Handorgel-Romantik im Nous craignons d’avoir orchestré en nous-mêmes Traum angesiedelt. Darin gibt es wiederum direk- une pauvre musique extérieure. Ainsi nos films n’au- te Anspielungen auf die damalige Realität, etwa raient-ils pas plus de réalité que nos songes. Ainsi auf den erst vergangenen Krieg. So wünscht sich le cinéma serait-il un art du fait de ces artistes que ein junger Soldat von einem Handleser, statt einer nous sommes, nous autres, spectateurs.1272 sonst üblichen Prognose, einen Blick in die Ver- gangenheit und, wie er meint, auf die schöne Zeit, Das Publikum wurde bei diesem Film offenbar die er als Soldat mit Kameraden und Mädchen mit strukturellen Reflektionen des Mediums Kino verbrachte. Doch der Handleser schaut ihn nur konfrontiert. Ein Aufzeigen solcher Zusammen- ernst an und sagt: «Je dit que je vois, des souffran- hänge, welches bei einem kritischen Kinopubli- ces, beaucoup de souffrances.»1274 Der châtelain kum spätestens ab der Nouvelle Vague selbstver- seinerseits wählt aus einer Sammlung von Kriegs- ständlich werden sollte, bildete für Mauriac den orden, unter denen sich auch ein reichsdeutsches zentralen negativen Aspekt dieses Films. Rückbli- Eisernes Kreuz befindet und ein Orden mit Taube ckend ist es diese kunstvoll umgesetzte reflexive im Kreuz, vielleicht der Ordre du Saint-Esprit, um Ebene, die dem Film seine Tiefe und besondere sich für den Empfang von Juliette zu schmücken. Qualität gibt. Wichtiger als einzelne Anspielungen auf das Zeit- Während des Zweiten Weltkriegs war das geschehen ist im Traumteil aber der Hinweis auf Kino für die Franzosen ein wichtiger kultureller die verschiedenen Aspekte der Erinnerung und Treffpunkt, bei dem sie für kurze Zeit den Krieg das Thematisieren von Vergangenheit an sich. und die Besetzung vergessen und stattdessen «un Das Bergdorf im Traum wirkt wie ein idea- peu de rêve, d’évasion, de joie, de plaisir ou de lisiertes Modell der damaligen französischen Ge- distraction» erleben konnten, wie es Christian-Ja- sellschaft. Die unterschiedlichen Figuren können que 1987 für seine Filme programmatisch be- für verschiedene Vermittler kommunikativer schreibt.1273 Die Thematisierung des Verlorenseins Leistungen stehen und damit für verschiedene zwischen Illusion und Wirklichkeit, Wachheit Aspekte der Erinnerung. Sie gehen im Film je und Traum, Leben und Tod, die Neveux vor dem unterschiedlich mit ihrer Amnesie um, was sich Zweiten Weltkrieg aufgeführt und damit auch die besonders in ihrem Verhalten gegenüber Michel Konstruktion von Wirklichkeit und Imagination zeigt. Der Akkordeonspieler, der stellvertretend im Theater thematisiert hatte, erhielt offenbar für die Kunst und die Unterhaltung stehen könn- durch die Rolle des Kinos während des Kriegs te, behauptet, dass ihm beim Akkordeonspiel Fet- eine unerwartete Verschärfung. Das Stück wurde zen der Erinnerung hochkommen: «Moi, j’ai pas durch den stärkeren Gegenwartsbezug in Carnés tout oublié, tout perdu, les choses me reviennent Film verständlicher, was aber im Gegensatz zur quand je joue.»1275 Dennoch rät er Michel, Juliette Absicht des Regisseurs keine stärkere Empathie zu vergessen, selektiert also seine Erinnerungen. für den Film, sondern zu Distanzierung führte. Der Verkäufer seinerseits, welcher für die Wichtig- keit von Gegenständen als Erinnerungsträger ein- 1272 Mauriac 2008, o.S. 1274 Carné 2006, min. 51:45–51:50. 1273 Christian-Jaque; hier in: Mattei 1999, S. 144. 1275 Ebd., min. 21:10–21:25. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 221 steht, bietet Erinnerungsstücke zu berührenden schöne werden wiederholt thematisiert. Die Grä- Momenten im Leben an, Fotoalben, einen Schal, ber ohne Namen auf dem Dorffriedhof erinnern Postkarten. Da niemand sich erinnern kann, er- daran, dass an diesem Ort der Tod jegliche Er- zählt er die dazugehörigen Geschichten und bietet innerung an die Toten auslöscht. Dort fordert dem Käufer dadurch eine beliebige nachträglich der Akkordeonist zum ersten Mal dazu auf, die erstellte Vergangenheit. Der Detektiv wiederum, Vergangenheit zu vergessen, was angesichts der für den die zeugende Rede, das Geständnis im anonymen Gräber makaber klingt. Der Schloss- Vordergrund steht, prügelt die Erinnerungstü- herr selbst brüstet sich vor Juliette bei ihrer ersten cke aus dem von ihm verhafteten Michel heraus. Begegnung als ein berühmter Mann «condamné Er will an romantische Momente und die erste à mort dans plusieurs pays».1276 Bei ihm finden Liebe erinnert werden. Dabei bekommen seine die Dorfbewohner und Michel die blutbefleck- Schläge auf den zusammengekauert am Boden ten Kleider in den sechs Schränken, was aber alle Liegenden etwas fast Sexuell-Züchtigendes. Der außer Michel gleich wieder vergessen. Die Aufru- châtelain hingegen hat Erinnerung in Form von fe von Michel, sein «rappelez-vous», verhallen un- Büchern um sich gesammelt, will alles über die gehört, die Mehrheit will dem freudigen Ereignis Weltgeschichte wissen, und insbesondere seinen der Hochzeit beiwohnen. Michel erscheint dabei Platz darin. Michel ist ihm wichtig, weil dieser als ein Ermahner wider Willen, da er selber sei- wissen könnte, in welchem der Bücher der châte- nen Diebstahl erst nach langem Zögern gesteht. lain selber und seine Rolle in der Weltgeschichte Im Zentrum seiner Suche nach Wahrheit steht die beschrieben werden. Erinnerung an seine Liebe, sie zwingt ihn mora- Besonders grausam ist die Gedächtnisarbeit lisch zu handeln. für Juliette. Der châtelain nutzt ihre Gedächt- Dennoch gibt es Erinnerungsträger: Wie die nislosigkeit aus, behauptet der von ihr erwarte- Hunde und die Pferde, welche sich erinnern kön- te Liebhaber zu sein und zeigt ihr in den sechs nen und den Weg finden, sind auch die Schrän- Schränken die Kostüme der toten Vorgängerin- ke Erinnerungsträger, welche dieser vergesslichen nen als Geschenke zu Juliettes Unterhaltung und und unentschiedenen Gesellschaft als Orientie- ihr Hochzeitskleid im siebten Schrank als beson- rungspunkte helfen könnten. Das Akkordeon dere Überraschung. Beim romantischen Treffen hingegen, von seinem Spieler zum idealen Erin- mit Michel im Wald wäre für sie das Erzählen nerungsträger stilisiert, erscheint als das Sinnbild einer gemeinsamen erlebnisreichen und romanti- einer beschönigenden und von Verdrängung do- schen Vergangenheit als Liebespaar die Krönung minierten Erinnerungskonstruktion. Der größ- ihres Rendezvous. Sein Wunsch nach Zukunft te Erinnerungsträger sind die Sammlungen des und ihr Wunsch nach Vergangenheit führen dazu, Schlossherrn, darunter seine Bibliothek, verschie- dass ihr Treffen beiderseits unbefriedigend ist, denene Kunstgegenstände, zahlreiche Orden, und erst seine Einwilligung auf einen Kompro- Eheringe und die sieben Schränke mit blutbesu- miss bringt sie wieder zusammen. Zurück in der delten Kleidern. Realität wird die wahre Juliette von Erinnerun- Was Michel im Traum erlebt, wird nach dem gen an ihre gemeinsame Liebe gequält – sie will Aufwachen grausam bestätigt: sein Arbeitgeber diese aber vergessen und bei Herrn Belanger, als und Juliette haben ihre «Blaubart-Hochzeit» voll- welcher sich der châtelain entpuppt, bleiben. Ob- zogen. Er kann diese Situation nicht verkraften, wohl Michel seinen Traum noch vor Augen haben will sich der grausamen Realität entziehen und muss, erwähnt er diesen nicht und unterdrückt in den Traum zurückkehren. Doch verlässt man die schreckliche Vorahnung, dass ihr neuer Gatte im Wachzustand den Traum nicht, lauert darin ein «Blaubart» sein könnte. der Wahnsinn, wie schon das Drama von Neveux Bei den vergessenen Erinnerungen werden zwar die schönen Momente gefördert, doch un- 1276 Ebd., min. 32:15–32:20. 222 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 warnt. Ohne den Hinweis auf das Stück von Ne- veux bleibt im Film aber unklar, welches Verbot Erinnerungsarbeit bei Carné und Michel durch sein Übertreten der Türschwelle Christian-Jaque bricht. Auch fehlen verschiedene Figuren aus dem Drama von Neveux, wie etwa der Nachtwächter, Die beinahe obsessive Thematisierung des Verges- der die Leute am Verbleiben im Traum hindert, sens im Film von Carné erinnert an die Situation oder die arabische Familie, welche im Drama ver- nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die Erinnerung wirrend ihre Rolle ändert. Es ist bei Carné durch- an die grausamen Verbrechen und die unermess- gehend ein Wille zu einem «fantastischen Realis- lichen Opfer und Zerstörungen bedrückend sein mus» sichtbar, in welchem keine surrealen Brüche musste und lässt so auch den Versionenfilm von den Erzählfluss stören. Die Ausnahme bei Carné Christian-Jaque in einem anderen Licht erschei- ist ein Kompass, welcher Michel den Weg zu Ju- nen. Obwohl beide während der Vichy-Zeit Fil- liette weist, um den beiden sich Liebenden einen me realisiert hatten, vertraten sie nach dem Krieg Moment des Zusammentreffens zu ermöglichen. eine fast konträre Haltung zur Erinnerung der Den bei Perrault mit Blut beschmierten «ver- jüngsten Vergangenheit, die sich im Diskurs zur zauberten» Schlüssel lässt Carné weg. Auch sonst Erinnerung in der Gesellschaft bestätigt. finden sich in seinem Film nur einzelne Aspekte Eine bahnbrechende Studie zur Erinnerungs- der Erzählung von Perrault. Es ist Michel, wel- soziologie, im Manuskript Mémoire et société cher aus den sieben Schränken, den blutbesudel- betitelt, erschien 1950 erstmals als La mémoire ten Kostümen, dem Bart des Schlossherrn und collective – verfasst unter deutscher Besatzung hat- der Verheiratung mit Juliette den Schluss zieht, te sie der französische Soziologie Maurice Halb- dass es sich bei diesem um Barbe-Bleue handelt wachs (1877–1945).1277 Die Veröffentlichung und dieser nun die Handlung, der allgemein sollte Halbwachs nicht mehr erleben; selber von bekannten Erzählung folgend, zu Ende bringen der deutschen Gestapo deportiert, verstarb Halb- will. Viele andere Aspekte werden ausgelassen, so wachs 1945 im KZ Buchenwald an sogenannter fehlen die Mutter der Ehefrau und ihre Schwes- «Vernichtung durch Arbeit».1278 Das kollektive ter Anne, auch kommen keine Brüder zur Hilfe Gedächtnis vergleicht er in der Studie als erstes und die Frau entdeckt keine Reichtümer in seiner mit einem Sinfonieorchester, welches dank Nota- Abwesenheit. Die Schränke mit den Kostümen tion und Orchestrierung sehr genau aufeinander ihrer Vorgängerinnen öffnet ihr der vergessliche abgestimmt ist. Auch wenn ein Mitglied des Or- Schlossherr gleich selbst, und am Ende hofft der chesters sich von den anderen entfernt, beherrscht informierte Zuschauer vergeblich auf die Befrei- er noch immer dessen Duktus: «il peut bien sortir ung von Juliette durch ihren jungen Retter. Wäh- du groupe et s’en éloigner. Tant qu’il use encore rend die Dorfbewohner und die Art der Brautwer- de ce langage, on peut dire que l’action du groupe bung an die opéra bouffe von Offenbach erinnern, s’exerce toujours sur lui.»1279 Dieses Gedächtnis scheint die Betonung der Rolle des jugendlichen stärkt auch das Selbstvertrauen des Einzelnen: «si Befreiers Michel die (in der Einführung erwähn- notre impression peut s’appuyer, non seulement te) Oper Raoul Barbe Bleue von André Grétry sur notre souvenir, mais aussi sur ceux des autres, von 1789 zu evozieren. Da mit Michel, Juliette notre confiance en l’exactitude de notre appel sera und dem Schlossherrn alle wichtigen Rollen des Filmes mit dem eingebetteten Blaubart-Plot über- 1277 Vgl. Halbwachs 1997; zum Manuskript-Titel vgl. ebd., einstimmen, bleibt die Erzählung von Blaubart S. 9. Leider gibt es keine Übersetzung ins Deutsche, die kein Erzählnebenstrang, sondern vermag den auf der revidierten französischen Version von 1997 ba- siert, weshalb hier die Zitate auf Französisch angegeben Film als Ganzes zu changieren. werden. 1278 Zur Biografie von Halbwachs vgl. Wetzel 2009, S. 36. 1279 Halbwachs 1997, S. 28. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 223 plus grande.»1280 Die Basis findet sich in der Er- der «mémoire autobiographique».1286 Die «äu- innerung des Einzelnen: ßerliche» Erinnerung der Geschichtsschreibung kommt dann zum Zug, wenn die «innerliche» Er- Il y aurait alors, à la base de tout souvenir, le rappel innerung des Kollektivs erlöscht: d’un état de conscience purement individuel, que – pour le distinguer des perceptions où entrent tant Il semble qu’il lui faille attendre que les groupes d’éléments de la pensée sociale – nous admettrons anciens aient disparus, que leur pensée et leur qu’on appelle intuition sensible.1281 mémoire se soient évanouies, pour qu’elle se préoc- cupe de fixer l’image et l’ordre de succession de faits Diese «intuition sensible» wird durch ein kollek- qu’elle seule est maintenant capable de conserver.1287 tives Zusammensein ausgelöst, «produite pour la première fois elle s’expliquait bien, dirons-nous, Damit beschreibt Halbwachs ein Dilemma, auf par le milieu, en même temps que par notre or- welches 1982 Yosef Jayim Yerushalmi im Bezug ganisme qui était en rapport avec lui», und bleibt auf die jüdische Geschichte hinweist: «The mod- von da an fest in der Erinnerung des Einzelnen: ern effort to reconstruct the Jewish past begins at a «ce qui fonderait la cohésion des souvenirs, c’est time that witnesses a sharp break in the continuity l’unité interne de la conscience».1282 Diese Erin- of Jewish living and hence also an ever-growing nerung lässt sich eigentlich nicht auslöschen oder decay of Jewish group memory.»1288 Traditionell durch eine Geschichtsschreibung ersetzen, denn und mit der jüdischen Gemeinde verbunden leb- sie hat sich dem Kollektiv fest eingeprägt: «On ende Juden bräuchten nämlich keinen Historiker: n’oublie rien.»1283 «Those Jews who are still within the enchanted Wenn aber für eine Erinnerung dieses Kollek- circle of tradition, or those who have returned to tiv fehlt, reduziert sich die Erinnerung auf eine it, find the work of the historian irrelevant.»1289 Da Beschreibung: aber eine Lebensführung mit «commemorative ri- tuals and liturgies» der jüdischen Gemeinschaft Si au contraire cette scène paraît n’avoir laissé, com- für die meisten nicht möglich ist und so Erinne- me on dit, aucune trace dans notre mémoire, c’est- rungen neu zu einer «matter of intellection» wer- à-dire si, en l’absence de ces témoins, nous nous den, wird die Geschichtsschreibung zentral und sentons entièrement incapable d’en reconstruire für Yerushalmi das Erinnern viel wichtiger als das une partie quelconque, ceux qui nous la décriront Vergessen: «my terror of forgetting is greater than pourront nous en faire un tableau vivant, mais ce ne my terror of having too much to remember».1290 sera jamais un souvenir.1284 Nicht das Erinnern selbst steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern dessen Ursache, weshalb Dieses Vergessen bringt einen konkreten sozialen Yerushalmi metaphorisch fragt: «Is it possible that Verlust mit sich: «Oublier une période de sa vie, the antonym of ‹forgetting› is not ‹remembering›, c’est perdre contact avec ceux qui nous entourai- but justice?»1291 ent alors.»1285 Dies unterscheidet das kollektive In einem Aufsatz ergänzt Jan Assmann 1988 Gedächtnis klar von der «mémoire de la nation» das «kommunikative Gedächtnis», wie er das kol- und anderen Formen der «mémoires extérieures» lektive Gedächtnis bei Halbwachs nennt, um das oder «historiques» und macht es zu einem Teil «kulturelle Gedächtnis» als «Sammelbegriff für

1280 Ebd., S. 55. 1286 Ebd., S. 99. 1281 Ebd., S. 66f. 1287 Ebd., S. 166. 1282 Ebd., S. 83. 1288 Yerushalmi 1989, S. 86. 1283 Ebd., S. 126. 1289 Ebd., S. 96. 1284 Ebd., S. 55. 1290 Ebd., S. 117. 1285 Ebd., S. 60f. 1291 Ebd. 224 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 alles Wissen, das im spezifischen Interaktions- apparaître, le nôtre: une mémoire-patrimoine.»1295 rahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben Dieses Erbe, welches sich nur im Gedenken zeigt, steuert und von Generation zu Generation zur ist für Nora eine «histoire de type conte-com- wiederholten Einübung und Einweisung an- mémoratif» und lässt sich für ihn sogar zu einer steht».1292 Auf dieses Gedächtnis stützt eine Ge- «boulimie commémorative d’époque» degradie- sellschaft ihr Selbstbild. Die viel kleinere Anzahl ren.1296 Auch Paul Ricœur stellt in seiner Studie zu von verbindenden Aussagen für ein bestimmtes Erinnerung und Geschichte eine «Unheimlichkeit Kollektiv, welches in der Gesellschaft eine Min- der Geschichte» («inquiétante étrangeté de l’his- derheit bildet, mengt sich dabei einer viel grö- toire») fest.1297 Nora seinerseits zieht die pessimis- ßeren und kaum überschaubaren Diversität von tische Bilanz: «La tyrannie de la mémoire n’aura Erinnerungsträgern einer ganzen Gesellschaft bei. duré qu’un temps – mais c’était le nôtre.»1298 Es ist schwer zu unterscheiden, welche Artefakte Ganz anders die Zeit nach dem Zweiten Welt- für ein bestimmtes Kollektiv relevant sind, wel- krieg: Frankreich war durch die Besetzung, die ches sich selbst um deren Tradierung kümmert, Kollaboration, die Befreiung unter der Führung und welche für die gesamte Gesellschaft. Eine sol- von und den Beginn des Kal- che Verunsicherung führt im Zweifelsfall zu einer ten Krieges mit einer ideologischen Flurbereini- Verstärkung und Vermehrung der Erinnerungs- gung konfrontiert, welche zu widersprüchlichen tätigkeit. nationalen Positionen führte, die Gérard Namer Da die Vergangenheit so eine delikate Angele- beschreibt: «Au travers du jeu des commémorati- genheit ist, wird die Geschichtsschreibung durch ons s’affrontent essentiellement deux pouvoirs, le eine Vielzahl von Gedenken abgelöst, wie Pierre pouvoir gaulliste et le pouvoir communiste.»1299 Nora in Présent, nation, mémoire ausführt: Die Jahre unter Marschall Pétain und unter deut- scher Besatzung hinterließen laut Philippe Burin Nous ne sommes plus de plain-pied avec ce passé. eine lebhafte Erinnerung «d’une France réelle Nous ne pouvons le retrouver que par une recon- qui continue de gêner et d’indigner», galten da- struction documentaire, archivistique, monumen- her als «quatre ans à rayer de notre histoire» und tale, par une «ré-appropiation» (mot d’époque) qui lösten im Nachhinein einen «violent désir d’ou- fait de la «mémoire» – une mémoire tout entière bli» aus.1300 Laut Henry Rousso waren die ersten construite pour la réactualisation – le nom actuel Nachkriegsjahre bis 1954 eine Phase der Trauer, de ce que l’on appelait autrefois simplement «his- aber auch der Konfrontation: «la France affronte toire».1293 directement le problème des séquelles de la guer- re civile, de l’épuration à l’amnistie: c’est la phase Bei dieser Erinnerungskultur gibt es laut einem de deuil, dont les contradictions seront lourdes früheren Text von Nora «quatre types de mémoire de conséquences par la suite.»1301 In dieser wur- nationale», nämlich (1) «mémoire essentiellement den besonders linke Aktivisten konfrontiert mit royale», dann die (2) «mémoire-État», (3) «mé- Vertreibung (etwa in der Ausweisung des weiter moire-nation» und (4) «mémoire-citoyen».1294 oben diskutierten Chilenen Vicente Huidobro, Ohne hier auf diese vier Typen genauer einzu- welcher fast seit 30 Jahren meist in Paris gewohnt, gehen, zeigt sich eine Art Über-Gedenkkultur, auf Französisch Bücher publiziert und bei der Ré- gegen die Nora dann auch anschreibt: «C’est que ces quatre types de mémoire ne prennent eux-mê- 1295 Ebd., S. 650. mes leur sens qu’à travers un cinquième qui les fait 1296 Nora 1986b, S. 977. 1297 Ricœur 2004, S. 605. 1298 Nora 1986b, S. 1012. 1292 Assmann 1988, S. 9. 1299 Namer 1987, S. 7. 1293 Nora 2011, S. 411. 1300 Burin 1992, S. 337. 1294 Vgl. Nora 1986a. 1301 Rousso 1987, S. 20. Christian-Jaque und die Nachkriegsversöhnung 225 sistance gekämpft hatte) und Zurückdrängung Auch wird klarer, warum Christian-Jaque seiner- (etwa in der Absetzung des weiter oben disku- seits das Fanal in der Kammer so konsensual und tierten Jean Painlevé aus der Leitung von Cinéma verharmlosend darstellt. Français, des französischen Verbandes von Filme- So zeigen sich bei beiden Filmen augenfälli- machern) konfrontiert.1302 Dieses Frontenden- ge Diskrepanzen im Umgang mit der Erzählung ken führte zu einer einseitigen und bescheidenen Blaubart – während bei Christian-Jaque die Nor- Pflege der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, malität durch den Auftritt des richterlichen Her- wie Namer weiter ausführt: «A la fin, en 1957, zogs wiederhergestellt wird und der Zuschauer on trouvera beaucoup plus d’occasions de com- beruhigt den Film verlassen kann, hat der Film mémorer la guerre de 1914 que de commémorer von Carné durch die Flucht in den Traum etwas la guerre de 1939–1945.»1303 Bis 1971 hielt sich stark Beunruhigendes. Dies wird im einzigen ge- so ein zentraler Mythos, wie Rousso weiter aus- fundenen Vergleich der Filme von Christian-Ja- führt: «Les Français semblent refouler cette guerre que und Carné gegen Letzteren ausgelegt: «enfin civile, aidés en cela par l’établissement d’un mythe préférant cette version optimiste à l’affreux port- dominant: le résistancialisme.»1304 rait que Marcel Carné avait fait de lui».1307 Danach kam es in Frankreich laut Rousso zu Der Film von Carné verzichtet auf radikale einer Einsicht in die Notwendigkeit der Aufarbei- Aussagen, Ziel der Vergleiche mit Blaubart ist die tung: «Entre 1971 et 1974, le miroir se brise et les Verdeutlichung der Botschaft in Neveuxs Drama. mythes volent en éclats», diese Phase zeigte sich Es ist daher bemerkenswert, wie Carné folkloris- als eigentlicher «retour du refoulé».1305 Die darauf tische Setzungen eines nostalgischen Frankreichs folgende Zeit bis in die 1980er Jahre, in welcher (traditionelles Dorfleben, Trachten, Akkordeon, Rousso seine Studie publizierte, bezeichnet er als Volksfest, Aristokratie) negativ darstellte, nach- Phase einer «obsession», «marquée d’une part par dem er selber mit Les enfants du Paradis zu einem le réveil de la mémoire juive, qui a joué et joue wichtigen Bildproduzenten nationaler Identität un rôle crucial dans le syndrome, et de l’autre par geworden war. Carnés Film war durchaus mehr- l’importance des réminiscences de l’Occupation heitsfähig besetzt, Gérard Philipe galt als Super- dans le débat politique interne».1306 In diese Zeit star, welcher 1951 beim wichtigsten kulturellen fällt auch Claude Lanzmanns Dokumentation Ereignis im französischen Sektor der 1949 ge- Shoa (1985), ein bahnbrechender Film zur Erin- gründeten BRD, der Begegnung des Deutschen nerung des Genozids an den Juden. Bundesjugendrings mit europäischen Jugendli- Durch die hier beschriebene Entwicklung der chen auf der Loreley, als Hauptattraktion auftritt, Erinnerungskultur zeigt sich, warum ein Film wie wie Robert Marquant beschreibt.1308 Damit stellte Carnés Juliette ou la clef de songes 1951 Empörung sich Philipe in den Dienst der französischen Re- und Ablehnung hervorrufen konnte. Sein Aufruf gierung, welche mit ihrer Deutschlandpolitik zum Sich-Erinnern musste fast wie Landesverrat während der Besatzung nicht nur ein geeinigtes klingen, obwohl das Drama von Neveux 1927 Europa feiern, sondern durchaus eine Verände- eine solche Reaktion nicht hatte vermuten lassen. rung der örtlichen Kultur bewirken wollte, wie Rainer Hudemann festhält: «[S]ie stellte den An- 1302 Zu Huidobro vgl. Kapitel «Intimer vs. politischer Blau- bart bei Natonek», Abschnitt «Gilles de Rais als fran- spruch einer Veränderung dessen, was man für zösischer Antiheld»; zu Painlevé vgl. Kapitel «Bertrands den deutschen Volkscharakter hielt, eines Volks- und Painlevés Kampf gegen den Nationalsozialismus», charakters, der in den südlichen und westlichen Abschnitt «Jean Painlevé – Dokumentarfilmer mit politi- Teiles des Reichs durch die preußische Vorherr- schem Engagement». 1303 Namer 1987, S. 167. 1307 Michel Braspart: Si Peau d’Âne m’était conté. 2 heures 1304 Rousso 1987, S. 20. de cinéma par Michel Braspart. Opéra (3.10.51); hier in: 1305 Ebd., S. 21. Cinémathèque française (Ressources numérisées), o.S. 1306 Ebd. 1308 Vgl. Marquant 1987, S. 130. 226 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 schaft verformt schien.»1309 Trotz dieser erzieheri- Christian-Jaque realisierte hier eine Komödie, schen Vorsätze war es nicht der Film von Carné, einen Langspiel-, Farb-, Kino-, sogar Kostüm- sondern derjenige von Christian-Jaque, welcher film und nicht zuletzt einen Märchenfilm. Die 1951 gleichsam als Botschafter französischer Kul- Ästhetik entspricht am ehesten einem Heimat- tur in die deutschen Kinos kam. film, womit er eine damals verbreitete Form auf- greift, diese aber nicht wirklich weiterentwickelt. Zu gesellschaftlich-politischen Fragen tritt Chris- Fazit tian-Jaque gemäßigt-rechtsbürgerlich auf. In einer politischen Lesart folgt die Schlussszene mit dem Christian-Jaque orientiert sich klar an Offenbach, Herzog pragmatisch der Politik von de Gaulle, die teilweise möglicherweise sogar an Ibert (etwa in die Nation einen und die aufbegehrende Bevöl- der Figur des Paters). Der Bezug zu Offenbach kerung beruhigen will. Blaubart als Führer hatte zeigt sich bei Barbe-Bleue/Blaubart als Hochstap- die Verbrechen nur vorgegaukelt, der eigentliche ler, bei seiner frechen und mutigen Ehefrau, den Anstifter ist der Hofmeister, welcher am härtesten ehemaligen Frauen in einer Art Harem und den bestraft wird. Danach wird ein Strich unter die Dorfbewohnern als einfältigem Haufen. Giglio/ Vergangenheit gezogen, weitere Sühne und Er- Florian ist der Anführer der Dorfleute und Ver- innerung der jüngsten Verbrechen sieht er nicht ehrer und Befreier der Frau (was an Grétry erin- vor – dies im Gegensatz zu Carné, dessen konträre nert), verbündet mit der Schwester der Frau. Der Auffassung sich hier im Exkurs zur Erinnerungs- Hofmeister ist der eigentliche Bösewicht und will soziologie von Halbwachs bestätigte. den schlechten Ruf von Blaubart durch die wirk- Im Film Barbe-Bleue bzw. Blaubart von Chris- liche Hinrichtung von all dessen Frauen retten. tian-Jaque wirkt die Erzählung entschärft, die Glücklicherweise kann der Herzog der Rangelei Frauenrunde am Ende hat die Sprengkraft bei des Hofstaats mit den Dorfbewohnern Einhalt Offenbach verloren, die Augen richten sich auf gebieten und die Schuldigen bestrafen (eine Sze- Blaubart, welcher es als die härteste Strafe sieht, ne, die in der Blaubart-Rezeption wohl neu war). mit all diesen Frauen zusammenleben zu müssen. Der Spielfilm von Christian-Jaque ist frei von Ma- Geschickter als Heiseler schafft es Christian-Ja- gie, der Schlüssel nicht verzaubert. Die Symbole que, in der Erzählung mit einem schwungvollen in Perraults Erzählung werden ironisiert, die ver- «Schwamm drüber» einen Abschluss mit der Ver- botene Kammer gilt hier als angenehmer Aufent- gangenheit vorzuschlagen. Die nichtbegangenen haltsort. Christian-Jaque nimmt Perrault zwar auf Morde von Blaubart und die Rangelei in der Burg die Schippe, gibt seiner Version aber auch wieder können vom Herzog schnell bestraft bzw. beendet größere Präsenz, nachdem sie bei Offenbach keine werden, stattdessen ist am Ende nationale, ja so- besondere Rolle mehr gespielt hatte: so etwa in gar internationale Eintracht da. der Brautwerbung (als Fest auf seiner Burg) oder Der Film gilt qualitativ als Durchschnitts- dem Turm mit Sœur Anne. Während ein Pater werk, wobei Christian-Jaque viele solche Durch- der Frau vor ihrer Hinrichtung die Beichte ab- schnittsfilme immer wieder anderer Art realisierte. nimmt, ruft diese gleichzeitig ihre Schwester, in Erstaunlich, wie er dabei wiederholt neue Genres Worten, die sich auf den berühmten Dialog bei adaptierte. Einige Filme von ihm sind noch heute Perrault beziehen. Die Dorfgemeinschaft findet bekannt, Barbe-Bleue bzw. Blaubart gehören nicht bei Christian-Jaque im Dorfgasthaus ihren zent- dazu. Es war für mich einigermaßen schwierig, ralen Handlungsort. Die Moralität am Ende von Kopien einsehen zu können, die französische Perraults Erzählung lässt Christian-Jaque aber Version ist bei der BNF in Paris als digitalisierte weg. VHS-Videokassette einsehbar, die deutsche Ver- 1309 Hudemann 1987, S. 20. Zur französischen Kulturpolitik sion als Vorzeigekopie von Kirch Media (in Kon- in Deutschland nach 1945 vgl. auch Mehdorn 2009. kurs) auf einer VHS-Videokassette. Fünf Adaptionen im Vergleich 227

Auffällig ist, dass Christian-Jaque zwar die Er- zählung Blaubart wählt, sie aber nicht wirklich umsetzen will. Man hat fast das Gefühl, er er- zählt sie neu, um sie zu entproblematisieren. Die Erzählung von Perrault wird so banalisiert, und der pointierten Adaption von Offenbach wie den Weiterschreibungen tragischer Art wird gleichsam die Spitze genommen, nach dem Motto: Blaubart ist selbstverständlicher Teil des französischen Kul- turguts, nehmen wir es nicht zu ernst, es ist doch bloß ein Märchen. Augenfällig wird der Gegen- satz im Vergleich mit Juliette ou la clef des songes von Carné, welcher eben gerade das Gegenteil behauptet: Blaubart ist grausame Realität, zwar ein Traum, aber einer, der sich Stück für Stück bewahrheitet. Im Gegensatz zu Ibert hat man bei Christian-Jaque das Gefühl, er spiele Perrault ge- gen Offenbach aus. Er macht sich auf infame Art lustig über die Erzählung. Wie bei Ibert könnten die Frauen als Allegorien von Nationen gelesen werden, doch im Gegensatz zu diesem geht es gerade nicht um Selbstbehauptung, sondern nur darum, sich zu beschweren, um nachher mit dem selben Mann zusammen zu bleiben. Blaubart ist bei Christian-Jaque in erster Linie eine Komödie, die sich mit dem Märchen beschäf- tigt, es aber auf eine altkluge Weise kleinredet. 228 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940

Fünf Adaptionen im Ver- einem kriminellen Hofberater. Blaubarts Frau erscheint bei Ibert, Christian-Jaque und Heise- gleich ler durch ihre Charakterstärke als dem Blaubart überlegen, hilft ihm bei seiner Selbstfindung und verzichtet auf die bei Perrault durch ihre Brüder Die folgende Zusammenfassung beschreibt die ausgeführte Tötung. Bei Ibert gelingt ihr sogar, besprochenen Adaptionen von Blaubart. Auch dass sich Blaubart von seiner «Blaubärtigkeit» soll sich zeigen, inwiefern die doch recht unter- löst und zu menschlicher Sensibilität zurückfin- schiedlichen Adaptionen ähnliche oder gegensätz- det. In dieser Version wird sie im Anschluss an liche Rezeptionslinien entwickelten. Anhand der Offenbach als heißblütig beschrieben, während anfangs gewählten zehn Kriterien lässt sich Fol- sie in den anderen Adaptionen sich doch unter- gendes zusammenfassend resümieren: ordnet. Die Begleitung von Blaubarts Frau wie- 1. Beziehung zur Originalerzählung: Es zeich- derum ist sehr divers: Während ihr bei Bertrand net sich eine Aufteilung nach Sprachen ab. Die die Schwester und bei Heiseler die Amme hilft, ist französischen Adaptionen beziehen sich wieder die Schwester bei Ibert keine wirkliche Hilfe. Bei stärker auf Perrault und das Märchen, die deut- Christian-Jaque und Natonek hat sie einen männ- schen versuchen eine eher mythisch-geschlecht- lichen Befreier, der bei Natonek aber mit ihr in liche Auslegung. Bei Bertrand, Ibert und Chris- den Tod stürzt. Als Ausnahme in den besproche- tian-Jaque ist die Präsenz der Erzählung von nen Adaptionen zeigt Bertrand den Blaubart als Perrault auffällig. Bei Ibert und Christian-Jaque grausamen Schlächter, dessen Frau sich ihm nur ist dies um so bemerkenswerter, da sie als komi- durch seine Hinrichtung entziehen kann. sche Versionen sich eigentlich an Offenbach ori- 3. Magische Elemente und Symbole: Hier zeich- entieren und bei diesem Perrault keine besondere nen sich zwei Lager ab, das eine mit Ibert und Rolle mehr spielte. In den tragisch angelegten Christian-Jaque, wo vermeintlich unrealistische Adaptionen von Natonek und Heiseler spielt Per- Elemente aus der Erzählung von Perrault persif- rault keine markante Rolle. Während Natonek in liert und ironisiert werden, wie das Blau des Barts, Nebensträngen Aspekte aus Perraults Erzählung die Hinrichtung der Frauen und der Inhalt der zu berücksichtigen sucht, baut Heiseler wohl eher verbotenen Kammer oder der Dialog von Blau- auf eine «deutsche» Blaubart-Tradition. barts Frau und ihrer Schwester Anne. Bei Ibert 2. Figuren und ihre Rollen: Alle hier bespro- wird sogar das Blut am Schlüssel ironisiert, wel- chenen Adaptionen zeichnen sich durch eine ches bei Christian-Jaque als einziger Zauber ak- erweiterte Besetzung aus. Bertrand fügt zu den zeptiert wird. Das andere Lager versucht, die Rollen von Perrault die Sarazenen hinzu, Ibert magischen Elemente neu zu setzen: Bei Bertrand und Christian-Jaque zur Besetzung bei Offenbach entpuppt sich das vermeintliche Zurückstellen noch Figuren von Perrault, Natonek erweitert die der Symbolik als Setzung einer neuen Konstella- Personen aus der Geschichtsschreibung zu Gilles tion; zum blauen Bart des Mannes kommt eine de Rais um die fiktive Jeanne d’Armentier, Heise- blaue Rose der Frau, womit sie ebenfalls über ler wiederum ergänzt die Konstellation von Blau- ein Symbol und damit über Macht verfügt. Bei bart und seiner Frau, die Bartók auf das Minimum Natonek und Heiseler sind die Symbole religiös reduziert hatte, wieder um einen ganzen Hofstaat, geprägt, bei Ersterem in einem mittelalterlichen mit Hofmeister, Amme, Narren und Gesinde. Gefüge manichäischer Gegensätze und individu- Blaubart ist in fast allen Versionen ein sensibler, eller Gotteserfahrung, bei Letzterem in einer bib- unschuldiger, reuiger oder bloß seine Verbrechen lischen und christlichen Auslegung. vortäuschender Schlossherr. Unterstützt wird er 4. Neue oder vernachlässigte Elemente: Schauen dabei bei Ibert von einem übersensiblen Pater und wir, welche Elemente aus der Erzählung von Per- bei Natonek, Christian-Jaque und Heiseler von rault in den Adaptionen weiterhin vorkommen, Fünf Adaptionen im Vergleich 229 sind es doch überraschend viele. Neue Figuren te damit auf den europaweiten Wirtschaftszweig wie die Sarazenen oder Elemente aus Offenbachs des Trickfilmschaffens bauen, der sich gegenüber opéra bouffa erübrigen Perraults Präsenz nicht. Na- der überstarken US-amerikanischen Konkur- tonek erzählt die Geschichte von Gilles de Rais, renz zu behaupten suchte. Die Zerstörungen in Heiseler orientiert sich am mythisch orientierten diesem Bereich durch den Zweiten Weltkrieg Geschlechterkampf von Bartók oder Trakl, womit waren immens, Bertrands Film galt sogar lange beide sich doch stärker von Perrault entfernen. als verschollen. Natoneks historischer Roman Doch sogar in der Gilles-Erzählung von Natonek wiederum folgt gut nachvollziehbaren und auf gibt es eine «letzte» Ehefrau, deren Mutter die Ge- Spannung aufbauenden Mustern damaliger belle- schichte von Blaubart als Mise-en-abyme erzählt. tristischer Verlagsproduktion. Durch die Flucht, In den stärker an Blaubart orientierten Versionen welche auch thematisch im Roman aufscheint, lässt etwa Bertrand bloß die Brautwerbung fallen, wurde die Publikation aber ganz verhindert und bei Ibert werden nur die beiden Brüder ausgelas- erst postum nachgeholt, wodurch die Erzählung sen, bei Ibert und Christian-Jaque die Moralität. nun zum Genre der «Vertriebenen-Literatur» ge- 5. Formale und inhaltliche Grenzübertretun- hört. Die komische Radiooper von Ibert war Teil gen: Keine der hier besprochenen Adaptionen will einer umfangreichen und sich schnell entwickeln- als experimentelle wahrgenommen werden, sie den Produktion bei Radio-Lausanne während des ordnen sich einem funktionalen Erzählen unter. Zweiten Weltkriegs. Durch die Rolle des Radios Da sie aber oft neue Genres betreten, finden sich für die Geistige Landesverteidigung handelt es wiederholt Neuerungen, etwa bei Bertrand im sich eigentlich um eine «patriotische Radiooper», intensiven Zusammenspiel von Musik und be- was auf eigensinnige Weise durchaus im Inhalt wegtem Bild, bei Natonek die Behauptung von anklingt. Heiseler wiederum verortete sich im Gilles’ Unschuld für den deutschen Sprachraum, christlichen Volksstück, als Laienstück mit pro- oder bei Ibert die Entwicklung der Radiooper als fessioneller Unterstützung. Die Musik kann ihr eigenständigem Genre. Die auffälligsten Übertre- Gewicht hier nicht ganz entfalten, statt einer tungen sind bei den einen Versionen eher forma- Sprechoper ist es also eher ein Melodram. Chris- ler Art: So ist bei Bertrand erstaunlich, dass ein tian-Jaque wiederum produzierte eine filmische so grausamer Film als ein von Kinderhänden ge- Komödie für den in der Nachkriegszeit schnell machter vorgestellt wird und so auch als Film für wieder aufgebauten Kinobetrieb in Europa, über Kinder, bei Ibert wiederum ist erstaunlich, dass welchen auch die damaligen Nachrichtensendun- ein so schnell erzähltes und rasant vertontes Hör- gen gezeigt wurden, und bot so einen Beitrag zum spiel zu Hauptzeiten gesendet werden konnte, bei Wiederaufbau. In der Besetzung und Behäbigkeit Christian-Jaque erstaunt, dass er nach dem Schei- erinnert er teilweise an den damals verbreiteten tern mehrerer Versionenfilme mitBarbe-Bleue/ Heimatfilm. Blaubart doch noch einmal einen solchen reali- 7. Gesellschaftliche Dimension: Gesellschaftli- sierte. Die anderen überraschen inhaltlich, Na- che Anliegen, seien sie politisch, patriotisch oder tonek durch die Ehrlichkeit der Schilderung des religiös motiviert, sind in den hier besprochenen männlichen Scheiterns an der Frauenbeziehung, Versionen nur über ihren Inhalt und teilweise so- bei Heiseler dadurch, wie stark er eine christliche gar nur über Andeutungen und Metaphern fest- Symbolik in ein eigentlich säkulares Drama ein- stellbar. Die 1940er Jahre waren im damaligen bringen konnte. Europa in allen Lebensbereichen vom Krieg be- 6. Genres und Medien: Jede der Produktio- herrscht, die Frage nach dem Umgang mit dieser nen passte in ein bestimmtes Genre und somit Katastrophe stellt sich demnach auch in den fünf in ein je sehr unterschiedliches Umfeld. Bert- hier besprochenen Blaubart-Adaptionen. In vier rands Kurzfilm versuchte sich im Kinobetrieb davon verkörpert Blaubart einen diktatorischen der Zwischenkriegszeit zu platzieren und konn- Potentaten, klar verurteilt und hingerichtet wird 230 Barbe-Bleue und Blaubart um 1940 er aber nur bei Bertrand. Ibert, Christian-Jaque auch ambivalente, also mehrdeutige Qualitäten und Heiseler bevorzugen die Läuterung und Ab- weiter. Eindrücklich realisiert dies Natonek, bei kehr von dieser Rolle. Nur bei Natonek ist der ihm wird der vermeintliche Massenmörder Gilles vermeintliche Blaubart ein unschuldig Verfolgter de Rais zur zweifelhaften Identifikationsfigur. Bei – das totalitäre Regime ist auf Seiten seiner Verfol- Ibert ist es das Schlussbild, welches die propagier- ger. Die politische Spannweite ist weit: Politisch te Versöhnung in Zweifel zieht, der Nicht-mehr- links und französisch-patriotisch liest sich der Barbe-Bleue wirkt kraftlos und von Melpomène Trickfilm von Bertrand, die barbarische Charak- überrollt. Eine ambivalente Qualität ergibt sich terisierung von Barbe Bleue löst eine Identifika- vielleicht in Heiselers sonst sehr eindeutigem Dra- tion des Publikums mit den Sarazenen aus. Diese ma, da er eine Vielzahl von Referenzen und eine Eindeutigkeit ist für die Rezeption von Blaubart moderne Musik nutzte, womit das Extreme seiner untypisch, der Film wird so gleichsam zum Appell Haltung gar nicht mehr richtig zum Stück selber im Kampf gegen den Nationalsozialismus. In die passt. Im Film von Christian-Jaque erscheint das gleiche Richtung zielt die Anklage bei Natonek, Ende widersprüchlich, da die ersten sechs Frauen nun erscheinen aber die Verfolger von Blaubart, mit Barbe-Bleue/Blaubart zusammenbleiben sol- nämlich die von Paris gebilligten Inquisitoren, in len: Es ist sehr fraglich, ob sie selbst so etwas wirk- einem negativen Licht. Der Schutz von Minder- lich wollen. Die sehr appellarische Adaption von heiten und von abweichenden Liebesvorstellungen Bertrand wiederum entwickelt eine ambivalente fügt sich bei Natonek in ein sonst bürgerlich-li- Qualität im Zeigen der Grausamkeit, welche zwar berales Weltbild ein. Als schweizerisch-patrioti- nicht wie bei Artaud fetischiert wird, aber doch sches, die nationale Vielfalt und die Demokratie auch etwas beängstigend Reizvolles hat. behauptendes Stück zeigt sich die Radiooper von 9. Autorschaft und Würdigung: Populäre Er- Ibert. Sie endet versöhnlich, da Barbe-Bleue die zählformate sind bekannt für das Auslassen und Verbrechen gar nicht wirklich beging. Wiederum Übergehen von Autorennamen und für vielfäl- deutsch-patriotisch ist das Stück von Heiseler tige Strategien der Aneignung und Tradierung. angelegt, es propagiert eine Versöhnung mittels Die Erzählung von Perrault, Vater oder Sohn, christlicher Werte: Jedoch tötete er seine Frauen zeigt dies beispielhaft. Fragen der Autorschaft wirklich und die Argumentation entlarvt sich betreffen in den vorliegenden Adaptionen auch als großdeutsch, neomarcionistisch und somit die akademisch gelehrten Künste, und so um- judenfeindlich. Christian-Jaque wiederum tritt fasst der dauernde Wandel der Rezeption auch gemäßigt-bürgerlich auf, will die von de Gaulle die Würdigung der Autoren. So etwa in Bertrands vertretene nationale Einheit unterstützen, sowohl Film: Zwar ist allen klar, dass er der Regisseur des in der französischen wie in der deutschen Film- Films ist, jedoch wird der Film aus praktischen version. Die Nachsicht gegenüber Verbrechen im Gründen postum dem Werk des viel bekannteren Nationalsozialismus ist aber die kontraproduktive Filmemachers Jean Painlevé zugeordnet. Im Film Seite dieser vielleicht vorschnellen Aussöhnung in selbst werden dann zwar die Kinder von Bertrand der Nachkriegszeit. Grundsätzlich bemerkenswert für ihre Mithilfe erwähnt, in dieser opéra bouf- ist, dass die Erzählung Blaubart in den hier be- fe bleiben dafür die Gesangsstimmen anonym. sprochenen Adaptionen für verschiedene Natio- Bei Natonek wiederum wurde seine erfolgreiche nen unterschiedliche patriotische Lesarten zuließ. Karriere als Feuilletonist und Schriftsteller durch 8. Ambivalenz als Qualität: Alle fünf Adaptio- die nationalsozialistische Verfolgung zerstört und nen wählen ihre Botschaft mit Bedacht und zei- konnte durch die postum veröffentlichten Roma- gen Blaubart in märchenhaftem oder fiktionalem ne nicht wiederhergestellt werden. Der Libret- Gewand. Obwohl somit nicht eindeutig partei- tist Aguet hingegen, während der Sendung von isch, konnten doch Haltungen herauskristallisiert Iberts Radiooper wohl genauso bekannt wie der werden. In unterschiedlicher Weise entwickeln sie Komponist, verlor seine Bekanntheit in der Nach- Fünf Adaptionen im Vergleich 231 kriegszeit nach und nach, auch wegen der Unter- vorliegende immer auch würdigend wirkt, sogar schätzung der Rolle von Radio-Lausanne und von wenn ein Werk negativ beurteilt wird. ihm als Hörspielrealisator. Heiseler wiederum als Es zeigt sich: Die stoffgeschichtliche Gruppie- Autor mit reichsdeutsch-wilhelminischen Idealen rung von Blaubart-Erzählungen wird durch eine wurde, nachdem er nie sehr große Bekanntheit kulturwissenschaftliche Auslegung der Erzählfor- erreicht hatte, in der Nachkriegszeit fast gänzlich schung neu befragbar. So war es auch möglich, ignoriert. Christian-Jaque ist zwar ein bekannter Adaptionen in verschiedenen Sprachen, aus ver- Regisseur, der Film Barbe-Bleue/Blaubart ist aber schiedenen Genres sowohl erzählerischer (diegeti- nicht mehr öffentlich verfügbar und auch kaum scher) wie darstellender (mimetischer) Art mitein- diskutiert worden. Außer bei Bertrand und Nato- ander zu vergleichen. Durch das Aufarbeiten von nek war es schwierig, die Unterlagen zu den Wer- ganz unterschiedlichen Quellen, wie Archivmate- ken einzusehen, und alle fünf Adaptionen waren rialien oder zeitgenössischer Rezeption, konnten bisher und wenn überhaupt, dann nur am Rande inhaltliche Besonderheiten festgemacht werden. Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinan- Doch erst das Verfolgen eines kleinen überra- dersetzung. schenden Moments und dessen genaue Analyse 10. Sich konkurrierende Lesarten und Kanon: ermöglichte die sonst nicht sichtbare Verbindung Bertrand, Ibert und Christian-Jaque benannten dieser Blaubart-Adaptionen mit gesellschaftlichen ihre Adaptionen mit Blaubart und suchten so ein und politischen Fragen, und liefert so ein beson- Publikum zu finden. Natonek nutzte zwar die deres Potential dieser Studie. Bekanntheit von Gilles de Rais, überraschte aber mit einer von der Publikumserwartung stark ab- weichenden Auslegung. Indem auch Heiseler eine ungewohnte Lesart von Blaubart behauptete, sind es hier die tragischen Versionen, welche die von ihnen adaptierte Geschichte oder Erzählung mit einer widersprüchlichen Lesart variierten. Nato- nek brach mit dem Gewaltfetisch um Gilles de Rais, Heiseler wollte Blaubart «verchristlichen». Bei den drei komischen Adaptionen hingegen, die bestehenden Erzähltraditionen von Blaubart folgten, zeigen sich konkurrierende Lesarten erst im Vergleich. Als Oper ist der Trickfilm von Bert- rand doch sehr verschieden von den um 1930 bekannten Produktionen von Offenbach, Dukas und Bartók. Bei Ibert wiederum ist auffällig, wie stark diese komische Adaption Themen wie die Geschlechterbeziehung oder den Feminismus einbezieht, die nach der tragischen Wende aufge- griffen wurden. Bei Christian-Jaque fällt auf, wie sehr er die Erzählung von Blaubart ausschmückt, das heißt mit Kostümen und Exzentrik belädt und somit gleichsam lächerlich macht. Anhand solcher Kontraste oder Brüche wird sichtbar, wie sich möglicherweise der Kanon, eine schwammi- ge und flüchtige Kategorie, sich weiter entwickeln könnte. Klar ist, dass eine kritische Studie wie die 232

Anhang

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Roman Hess, ehem. Museum Strauhof, Zürich; Dank Mark Hewitson, University College London; Dirk Hühner, Berlin; Klaus Karlbauer, Wien; Ar- Betreut wurde die vorliegende Arbeit von Prof. lette Kopp, Universität Basel; Martin Liebscher, Dr. Alfred Messerli, Institut für Sozialanthropo- University College London; Winfried Menning- logie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) haus, Freie Universität Berlin; Ruth Neubau- der Universität Zürich. Die Forschung am Ger- er-Petzoldt, Eckental (DE); Verena Nungesser, man Department des University College London Universität Gießen; Galina Potapova, Universität betreute Dr. Mererid Puw Davies. Ohne sie beide Bremen; Christine Shojaei Kawan, Enzyklopädie wäre das Projekt undenkbar. Prof. Dr. Harm-Peer des Märchens, Göttingen; Beatrice Schwitter, Zimmermann, Institut für Sozialanthropologie Universität Zürich; Monika Szczepaniak, Uniwer- und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der sytet Bydgoszcz, Polen; Hans-Jörg Uther, Göttin- Universität Zürich, amtete als Zweitgutachter gen; Cécile Tschumi, Université Lausanne; Teresa und ermöglichte das Erscheinen der Studie in Tschui, Universität Zürich; Norbert Wernicke, der von ihm mitbetreuten Reihe im Jonas Verlag, Universität Bern; Catherine Velay-Vallantin, Éco- Marburg. le des hautes études en sciences sociales, Paris. Unterstützt wurde die Forschung an der vorlie- Bibliothekarische Dienstleistungen: Renate genden Dissertation vom Schweizerischen Natio- Bleistein, Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am nalfonds (SNF) mit einem Forschungstipendium Main; Carolyn Chun, California State University am University College London und an der Éco- East Bay, Hayward (CA); Ernst J. Huber, Schwei- le des hautes études en sciences sociales in Paris. zerisches Institut für Volkskunde, Basel; Inter- Eine Tagungsteilnahme wurde von der Schweize- nationale Jugendbibliothek Schloss Blutenburg, rischen Akademie der Geistes- und Sozialwissen- München; Autumn L. Mather, Newberry Library, schaften (SAGW) unterstützt. Die Arbeit an der Chicago; Bernhard Schmitz, Burg Wissem Bilder- Publikation wurde auch von Mitgliedern den Fa- buch Museum, Troisdorf (DE). milien Hiltbrunner und Würsch mitgetragen. Bibliotheksrecherchen: Öffentliche Bibliothek Speziellen Dank an Maria Tatar, Harvard Univer- der Universität Basel; Staatsbibliothek zu Ber- sity, Boston; Ingrid Tomkowiak, Universität Zü- lin; Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am rich; und an meine Familie mit Sabina, Roberto Main und Leipzig; Freies Deutsches Hochstift und Elena. im Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt am Hilfe bei Übersetzung aus dem Tschechischen bot Main; Kinder- und Jugendbucharchiv der Go- Helena Capkova, die französischen Passagen lasen ethe-Universität, Frankfurt am Main; Univer- Doriane Laithier und Colin Guillemet. sitäts- und Stadtbibliothek Köln; Narodna in Herzlichen Dank für akademischen Austausch univerzitetna knjižnica, Ljubljana; British Film und Support: Joël Aguet, Genève; Barbara Barni- Institute, London; British Library, London; Na- ni, München; Shuli Barzilai, Hebrew University tional Art Library, Victoria and Alberts Museum, of Jerusalem; Johannes Binotto, Universität Zü- London; UCL Library und UCL Special Collec- rich; tions, University College London; Российская Oliver Drechsel, Hochschule für Musik und Tanz национальная библиотека (Rossijskaja Nati- Köln; Hans-Heino Ewers, Goethe-Universität onalnaja Biblioteka, ehem. Lenin-Bibliothek), Frankfurt am Main; Daniel Fabre, École des hau- Moskwa; Bibliothèque nationale de France, tes études en sciences sociales, Paris; Brigitte Friz- Paris; Fundação Biblioteca Nacional, Rio de Ja- zoni, Universität Zürich; Ursula Ganz-Blättler, neiro; Online-Katalog der Library of Congress, Universität St. Gallen; Marcy Goldberg, Univer- Washington DC; Biblioteka Narodowa, Warsza- sität Zürich; Roxane Hamery, Université Rennes wa; Österreichische Nationalbibliothek, Wien; 2; Casie Hermansson, Pittsburg State University; Sammlung Jürgen Serke, Kunstmuseum Solingen, Anhang 261

Wuppertal; Bibliothek ISEK – Populäre Kulturen versidade Federal do Rio de Janeiro, Brasil; Rani- und Forschungsbibliothek Jakob Jud, Universität ero Fratini, Radio svizzera – Rete Uno, Lugano; Zürich; Zentralbibliothek Zürich. Sandro Jung, University of Salford, Manchester; Archivarische Dienstleistungen: Sven Friedrich, Vytauts Jurevicius und Ani Schulze, Staatliche Wagner-Archiv, Bayreuth (DE); Bellinda Ham- Akademie der Künste, Karlsruhe; Jane Lewin und pel, Archiv der KirchGruppe, KM Materialwirt- Martin Liebscher, University of London; Marc schaft GmbH, Unterföhring (DE); Jan Herold, Matter, Salon des Amateurs, Düsseldorf; Philipp Optisches Museum Jena; Günther Holzhey, Mu- Meier und Adrian Notz, Cabaret Voltaire, Zürich; seum Augenblick, Nördlingen (DE); Stefan Jäggi, Alfred Messerli und Luciano Rossi, Universität Stadtarchiv Luzern; Nathalie Morena, Associa- Zürich; Griselda Pollock, University of Leeds; tion frères Lumière, Paris; Anastasia Sakhnovs- Ivana Wingham, University of Brighton. kaia, César, www.cesar.org.uk; Sabine Seybold, Für weitere Unterstützung danke ich: Arthaus Universitätsbibliothek Augsburg; Maren Siems, Musik, Berlin; René Bauer, Alex Bechberger, Ka- Schlossmuseum Jever (DE); Mike Smith, Magic rolina Dankow, Jogrim Erland, Hannes Graßeg- Lantern Society, London; Stadtverwaltung Pen- ger, Sybille Lacroix, Philipp Messner, Hanspeter vénan (FR); Sara Steiger-Blaettler und Jean-Rémy Meyer, Danielle Nanchen, Hayley Newman, Berthoud, Radio Suisse Romande, Lausanne. Christoph Richter, Giorgio Ronna, Christoph Recherchen in Archivbeständen: Paul Sacher Stif- Schenker, Zoé Schlepfer, Tan Wälchli, Lesley tung, Basel; Archiv der Evangelischen Kirche im Young und Tirdad Zolghadr. Rheinland, Düsseldorf; Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf; Archiv des Evangelischen Kirchen- verbands Köln und Region, Köln, insbesondere Christian Parow-Souchon; Archives Radio Suisse Romande (RSR), Lausanne; Bibliothèque Can- tonale et Universitaire, Lausanne; Bibliothèque de l’Orchestre de chambre de Lausanne (OSL), Lausanne; Deutsches Literaturarchiv Marbach; Archiv Jean Painlevé, Les Documents Cinéma- tographiques, Paris, insbesondere Brigitte Berg; Bibliothèque nationale de France, Arsenal und Richelieu, Paris, und Gallica, gallica.bnf.fr; Ciné- mathèque française und Archives françaises du film du CNC, Paris; Max-Frisch-Archiv, Zürich. Künstlerischer Austausch: François Chalet, Zü- rich; Virginie Lutz, Genève; Michel Tournier, Paris. Die Publikation von Aufsätzen zu Blaubart haben ermöglicht: Marc Matter, Institut für Feinmoto- rik, Brüssel; Jan-Frederik Bandel, Kultur & Ge- spenster, Hamburg; Griselda Pollock, University of Leeds. Leihgaben und kuratorische Beratung: Susanne Feldmann, Museum Strauhof, Zürich. Die Plattform für Präsentationen zu Blaubart boten: XVIIIth Congress of the International Comparative Literature Association (ICLA), Uni- 262 Blaubart – Parodien eines Potentaten

Abbildungen

Abb. 1: Charles Robinson: Blue Beard, in: Fairy Abb. 11: Jean Binet: Barbe-Bleue (1940), Ankün- Tales by Charles Perrault. London: J.M. Dent digung in: Le Radio 18 (Nr. 912, 27. Septem- & Sons; New York: E.P. Dutton, 1913. Samm- ber 1940), S. 1199. Bibliothèque Cantonale et lung Michael Hiltbrunner, Zürich. Universitaire, Lausanne. Abb. 2: Blaubart von Jacques Offenbach. Regie: Abb. 12: Bernt von Heiseler: Das Haus der Angst Walter Felsenstein, Komische Oper Berlin, oder Der goldene Schlüssel (1950), Einladung. 1963. Foto: Willy Saeger, in: Theater heute 4 Nachlass Jürg Baur im Heinrich-Heine-Insti- (Nr. 4, November 1963). Sammlung Michael tut, Düsseldorf. Hiltbrunner, Zürich. Abb. 13: Dokumentation mit Pressebild, Blue- Abb. 3: Perrault: La Barbe bleüe, 1695. © Morgan beard and the princess with the golden key. Ar- Library, New York. chiv des Amtes für Diakonie im Archiv des Abb. 4: Perrault: La Barbe bleüe, in ders.: Histoires Evangelischen Kirchenverbands Köln und Re- ou contes du temps passé. Paris: Claude Barbin, gion, Köln. 1697. © Bibliothèque nationale de France, Abb. 14/15: Umschlag, Film complet Nr. 300, Paris. Christian-Jaque: Barbe-Bleue (1951), Paris Abb. 5–8: René Bertrand: Barbe Bleue (1938), 1952. Sammlung Michael Hiltbrunner, Zü- Filmstills. 2005, Les Documents Cinémato- rich. graphiques, © Archives Jean Painlevé, Paris. Abb. 16/17: Umschlag, Illustrierte Film-Bühne Nr. Abb. 9: René Bertrand: Barbe Bleue (1938), 1325, Blaubart von Christian-Jaque (1951), Set-Foto. © Archives Jean Painlevé, Paris. Frankfurt am Main: Das neue Filmprogramm, Abb. 10: Jacques Ibert: Barbe-Bleue (1943), An- o.J. Sammlung Michael Hiltbrunner, Zürich. kündigung in: Le Radio 21 (Nr. 1070, 10. Ok- tober 1943), S. 1289. Bibliothèque Cantonale et Universitaire, Lausanne.